Christoph Lörtscher «Suchet der Stadt Bestes»

50 Jahre Arbeitskreis für Zeitfragen Biel 1955 – 2005

Eine Chronik Christoph Lörtscher

«Suchet der Stadt Bestes»

herausgegeben vom Arbeitskreis für Zeitfragen Biel © Arbeitskreis für Zeitfragen Biel, 2008

Redaktion: Margrit Wick-Werder Lektorat: Markus Wick, Liliane Lanève Gujer Layout: Stiftung Battenberg, Abteilung Polygrafenausbildung

Erschienen als CD-ROM und in limitierter gedruckter Auflage

2 Inhaltsverzeichnis

Geleitwort – Zeit zu fragen 10

Einleitung 11

Kapitel 1 Der Wunsch nach offenen Gesprächen zu Fragen der Zeit (1954 –1963) «Mit jedem Gesprächspartner in die Diskussion treten» 12 Es begann mit einer Auseinandersetzung zu Fragen des Religionsunterrichts 13 Modernes Bibelverständnis - ein erster Vortragszyklus für alle 14 Der Arbeitskreis thematisiert die Zersplitterung der Kirche… 15 …und erprobt neue Formen des Gottesdienstes 15 Christlicher Glaube zwischen Zweifel und Zuversicht 15 Der Arbeitskreis bewirkt gelebte Ökumene 16 Die ersten politischen Veranstaltungen des Arbeitskreises 16 Das Geheimnis ist gross 17 Weitere Jahre mit ehrenamtlicher Leitung 17 Das Farelhaus als offener, gastfreundlicher Treffpunkt 18 Wird der Arbeitskreis zweisprachig ? 19 Der Arbeitskreis beginnt die Sechzigerjahre im Dialog mit Afrika 19 Engagement für den Dialog – auch auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges 20 Woher kommt der Mensch? und weitere Kurse für Erwachsene 21 Neue Beiträge zu einem zeitgemässen Religionsunterricht 21 Frauen im Pfarramt? 22 Auseinandersetzung mit zeitgenössischer Literatur und Kunst 22 Der moderne Mensch – aus verschiedenen Perspektiven 22 Gespräche mit der Bevölkerung der modernen Stadt 23

Kapitel 2 Zusätzliche «Brennpunkte» erfordern ein Vollamt (1963 –1967) «Suchet der Stadt Bestes» 24 «Es gilt, die Türe zur Kirche und zum Glauben weit zu öffnen» 25 Das Vollamt kommt zum richtigen Zeitpunkt 26 Gute Verankerung in Gemeinde und Kirchgemeinde – und ein neuer Auftritt 26 Die Arbeitsgemeinschaft Arzt und Seelsorger 27 Weltweite Veränderungen fördern die ökumenische Zusammenarbeit 27 Ein christliches Trauerspiel 28 Der evangelische Kirchentag und die Sorge um Israel 28 Grundlage und Ziele einer evangelischen Erwachsenenbildung 29 Begegnung mit moderner Literatur 29 Die Auseinandersetzung mit dem Film 30 Ein Beitrag zum politischen Tauwetter auf nationaler Ebene 31 Siamo italiani in Biel 33 Sensibilität für die Probleme der armen Länder und Solidarität mit Vietnam 34

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Frühes Engagement für Umwelt- und Landschaftsschutz 35 Kirche in Bewegung... 36 …und eine Standortbestimmung des Arbeitskreises 36 Neue Formen des Gottesdienstes für die Jugend 37 Das Foyer Römerquelle 37

Kapitel 3 Der Arbeitskreis und das Epochenjahr 1968 Was bedeutet «Überfremdung» auf Italienisch? 39 Eine «Generation 68» 39 Ich bin neugierig 40 Die Pille 40 Kulturelle Initiativen im Dienst der Stadt 41 Welche Art von Theater braucht die Stadt? 42 Prag, 21. August 1968 – das Ende aller Illusionen? 43 Rabio – Gedanken eines Strafgefangenen 44 Der Bieler Arbeitskreis hat sich über die Schweiz hinaus einen Namen gemacht 44 Die Jahre nach 1968 stellen den Arbeitskreis vor neue Anforderungen 46 Eine neue Organisation für die kommenden Aufgaben 46

Kapitel 4 Im Brennpunkt von Aufbruch und Erneuerung (1969 –1975) Braucht es eine neue Kirche? 48 Die Ordnung des Jahres 1970 49 Die wachsende Bedeutung der Arbeitsgruppen 50 Der Stamm 51 «Befreie uns, Herr. Gib uns Mut gegen falsche Traditionen.» 51 «Erneuerung in der Welt – Erneuerung bei uns» 52 Neue Moral: Hat die Ehe noch eine Chance? 52 Eine Tagung zur Homosexualität 53 Freie Menschen – der Erfolg antiautoritärer Erziehung? 53 Wirken Rauschmittel befreiend? 54 Jesus, Jesus-People und Jesuiten 54 Kirche und Industrie thematisiert die Mitbestimmung im Betrieb 55 Wie informiert die Presse? 56 Thematischer Schwerpunkt Frieden und Friedenserziehung 56 Generalstreik 1918 – die Wiederaneignung verdrängter Zeitgeschichte 57 Politische Kirche? 58 Ein Buch, das nicht mehr in jede Haushaltung passte 58 Ist der Arbeitskreis für Zeitfragen subversiv? 59 Brennpunkt Nahost: Eine Feierstunde mit Dr. Gertrud Kurz… 61 …und die direkte Begegnung mit dem Nahostkrieg 61 Zusammenarbeit mit dem Schweizer Fernsehen 61 Die Auseinandersetzung mit dem Sport 62

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Können wir «wirklich» lesen und schreiben? 63 Ist das Boot schon wieder voll? 64 Ende der Zukunft? 64 Zur Zukunft der Stadt der Zukunft 65

Kapitel 5 Zwischen Forumsfunktion und eigenem Profil (1975 –1981) Ein schwarzes Jahr für die Zukunftsstadt 67 Kirche und Industrie engagiert sich auf verschiedenen Ebenen 67 Welche Bedürfnisse haben Arbeitslose? 68 Die Bieler Arbeitslosen-Zeitung findet ein gutes Echo 68 Ein Schwerpunkt zum Jahr der Frau 1975 69 Eine «Ouvertüre» zu einer Humanisierung des Strafvollzugs 70 Eine Umfrage 71 Gott erfahren – heute 71 Die Arbeitsgruppe Theater thematisiert das Thema «Tod» 72 Ein neues Konzept für den Religionsunterricht 72 Eine «Arbeitsreise» hinter die Frontlinien des Nahen Ostens 73 Der Arbeitskreis reflektiert die Widersprüchlichkeit seiner Aufgabe 73 Pluralistische, aber organisatorisch getrennte Pressearbeit 74 Führt die Wirtschaftskrise zu einer Krise der Demokratie? 75 Wofür stehen wir ein? 77 Was soll evangelische Erwachsenenbildung? 77 Ein Kernproblem spaltet die Schweiz… 79 …und die evangelisch-reformierte Kirche in Biel 80 Das Ringen um einen Konsens 81 Das Statut vom 24. März 1980 und die Angriffe auf den Arbeitskreis 82 «Holocaust» – mehr als das Wort des Jahres 1979 82 Auch im Genesungsurlaub mitten in der Auseinandersetzung 83 Die Kontroverse mit der Christlich-jüdischen Arbeitsgemeinschaft 84 Eine vertiefte Auseinandersetzung mit dem Islam 85 Das Schicksal der Zurückgekehrten 85 O Herr – wie lange noch? 86 Gespräche mit der Gossner-Mission der DDR – und Solidarität mit Solidarnosc 87 Begegnungen mit Kunst, Kult und Kultur zu Sterben und Tod 87 Alternativen als Experimente der Hoffnung 88 Drogen in Biel 88 Gewinnt alternatives Denken die Oberhand? 89 Samuel Maurers Rücktritt 90

Kapitel 6 Dennoch hoffen – auch im Jahrzehnt grosser Bedrohungen (1982 –1987) Ein «bilingue» als neuer Studienleiter : André Monnier 92 Das Buch der Bücher – brennend aktuell 93

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Dennoch hoffen : Die Schweizerische Evangelische Synode 93 Ist die Weltwirtschaft rechtzeitig auf ökologischen Kurs zu bringen? 94 Wird Biel zu einem Vorposten alternativen Wirtschaftens? 95 Droht ein Rückfall in den Kalten Krieg? 96 Sabra, Schatila und die Folgen 96 Waffen sichern keinen Frieden 97 Pax und Schalom 98 Genau beobachtete Behörden 99 Die Option für die Armen: In El Salvador… 99 …Guatemala… 100 …und Nicaragua 101 Begegnung mit lateinamerikanischer Kultur 102 Kritik an Kapitalflucht und Kolonialismus: Von der Banken-Initiative… 102 … zur Abkehr von missionarischem Denken 103 Welche Werte haben Zukunft? 103 Denkanstösse für die moderne Arbeitswelt 103 Kontradiktorisches zum neuen Eherecht 104 Zweisprachigkeit? 104 Standortbestimmung 105 Kurse unter dem Zeichen der Ökumene 106 Kirche und Film : offizielle Anerkennung für beharrliche Arbeit 107 Das Experiment 108 Wird die Schweiz Mitglied der Vereinten Nationen? 109 Neue Formen der Fremdenangst 110 Neue Armut in Biel 111 Für ein Alter mit Zukunft 112 Elternglück um jeden Preis? 112 Afrikanische Sonne durchdringt die Nebeldecke über Biel 113 Wohin treibt Südafrika? 114 Frieden ist keine Utopie : Neve Shalom / Wahat al-Salam 114 Auf den Spuren der Jakobspilger 115

Kapitel 7 Einstehen für Frauenanliegen, Gerechtigkeit, Frieden und Umwelt (1988 –1996) Die Kirche antwortet auf die Nöte der Zeit 117 Der Entscheid für die Frauendekade 117 Die Versammlung für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung 117 Bericht aus einem Brennpunkt der Bedrohung 118 Erneute Standortbestimmung 118 Die Frauenstelle erhält Gestalt und Gesicht : Verena Naegeli 120 Unerhörtes und Unerwartetes zur Landesverteidigung 121 Frauenkultur bedeutet auch, sich zu wehren 121 Frauenplatz Biel – eine wichtige Wegweiserin 122 Eine neue Sprache braucht das Land 123 Glockengeläute zum Frauenstreik 123

6 Inhaltsverzeichnis

Mit Leidenschaft zu besserer Frauenbildung 124 Die Folgen der Frauensession 125 Wo stehe ich? oder Helvetias Blick in den Spiegel 125 Persönliche Verantwortung wahrnehmen 126 Europa im Umbruch… 127 …eine wachsende Kluft zwischen Nord und Süd… 128 …und das frühe Ende der Hoffnung auf dauerhaften Weltfrieden 129 Bilder fallen nicht vom Himmel 130 Nach innen gehen, um wieder nach aussen zu wirken 130 Geschlechterdifferenz – zur Bewahrung des Schöpferischen 130 In Biel verwurzelt : Catina Hieber 131 Wie Kameruns Frauen Projekte ins Fliessen bringen 132 «Stell dir vor, sie machen einen Krieg, und (fast) keiner schaut hin…» 132 Der Schweizer Alleingang in Zeiten der Globalisierung 133 Einsatz zugunsten der Arbeitslosen 134 «Frauen – Saisonarbeitskräfte im eigenen Land?» 134 Weiberwirtschaft 135 Frauen gestalten die Welt 135 «Wollen wir wirklich zum braunen Fleck auf der Weltkarte werden?» 136 Ein Weg nach innen fördert das Engagement in der Welt 137 Mit lebensfreundlichen Tugenden in die Zukunft 137 Kleine, aber wichtige Schritte – zum Beispiel zu Fuss 138 Befreiung aus überlieferten Blickwinkeln: Mit dem Enneagramm… 138 …und feministischer Spiritualität 139 Ökumenische Frauenfeiern 139 Biblische Frauengestalten aus feministischer Sicht 140 Frauenplatz Biel : Eine Vernetzung führt zur Vereinigung 140 Einblicke ins «Allerheiligste»: Eine historische Aktion für mehr Lohntransparenz 141 Männer in Bewegung 142 Neue Strukturen 142 «Haben wir zu viel gewollt?» – André Monniers Rücktritt vom Arbeitskreis 142

Kapitel 8 Vom Rand in die Mitte – ohne eigene Entwürfe aufzugeben (1997 –2005) Wie kann der Arbeitskreis neuen Herausforderungen begegnen? 144 Seit früher Jugend engagiert für mehr Solidarität : Die neue Studienleiterin Liliane Gujer 144 Haben Randständige bei der Stadtkirche nichts mehr zu suchen? 145 Nachrichtenlose Vermögen und das Unvermögen, mit Opfern umzugehen 146 Surava: Der lange Schatten der Kriegsjahre 147 Die Aufarbeitung des christlichen Antijudaismus 147 Ein eindrücklicher Anlass zum Bergier-Bericht 148 Gegen Rassismus und Ausgrenzung 148 Welche Zukunft wollen wir? 148 Wie wirkt sich die Sparpolitik auf die Gleichstellung aus? 149 Kreative Antworten auf Flexibilisierung und Rationalisierung 149

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Ist die Armut in der Schweiz weiblich? 150 «Die grosse Umverteilung»: Kühne Gedanken in schwieriger Zeit 150 Kleine, aber konkrete Projekte gegen die Arbeitslosigkeit 151 Das Private ist politisch – jetzt erst recht! 151 Gewaltprävention : Neue Männer braucht das Land 152 Der Gewalt auf der Spur : Eine Tagung zur Dekade des Ökumenischen Rates der Kirchen 152 Die Arbeit an eigenen Entwürfen von Weiblichkeit 153 Vom Geheimnis der zweiten Lebenshälfte 154 Ein neuer Auftritt und neue Kommunikationsmittel 154 Ein neues Modell für den Frauenplatz 155 Mutterschaftsversicherung : Hundert Jahre Aufklärungsarbeit reichten nicht 155 Frauensolidarität darf Grenzen haben 156 Der lange Marsch gegen Frauenarmut und gegen Gewalt an Frauen 156 Die zweite Schweizer Frauensynode fördert ein neues Rollenbewusstsein 157 Christliche Mystik : auf der Suche nach verborgenen Schätzen 158 Eine ermächtigende Auseinandersetzung mit Paulus-Texten… 158 … und Impulse für geschlechtergerechte Gottesdienste 158 Multikulturalität als wenig beachteter Reichtum 159 Multimondo: der Treffpunkt der Kulturen 159 Vom Rand in die Mitte: Migrantinnen ergreifen das Wort 159 Die zunehmende Bedeutung des interreligiösen Dialogs 160 Der 11. September 2001 und die Folgen 160 Fatimas Töchter: Mit Musliminnen im Gespräch 161 Weibliche Weisheit in den Weltreligionen 162 Open 02 – ein Programm im Zeichen der Öffnung 162 Die Woche der fünf Weltreligionen 162 Der andere Blick – eine Zeitreise durch 500 Jahre Bieler Frauengeschichte 163 Veränderungen beim Frauenplatz Biel 164 Der Zyklus gegen die Gewalt 165 Friedensarbeit in Zeiten entwurzelter Olivenbäume 165 Nicht gleichgültig bleiben angesichts eines angekündigten Krieges 166 Veränderungen in der Kommission 167 Pfingsttage im Tarotgarten von Niki de Saint Phalle 167 Im Gespräch mit Ivone Gebara und Elisabeth Schüssler-Fiorenza 167 Im Gespräch: Wege zu Quellen und Lebensperspektiven 168 Multimondo als Treffpunkt in einer multikulturellen Stadt 168 Viel wirksamer als Don Quijote: Multimondo als Ritter der Kommunikation 169 Christentum und Judentum im Gespräch 170 Grenzen überwinden – die interreligiöse Woche im Plänke-Schulhaus 170 Kulturparcours – ein gelungenes Gesamterlebnis zur Integration in Biel 171 Wieder aktuell: Eine «Kirche für die Stadt» 172 Was für eine Kirche braucht die Stadt? 172 Ist die Bibel gefährlich? 173 Der evangelische Theologiekurs Biel 173 Welche Welt wollen wir? 174

8 Inhaltsverzeichnis

9. Kapitel 50 Jahr Arbeitskreis für Zeitfragen – das Jubiläum Vom Hauch der Zeitgeschichte... 175 ...zur Frage nach brennenden Gegenwartsthemen 175 5 Jahrzehnte – 5 zentrale Themen des Arbeitskreises – 5 Jubiläumsveranstaltungen: 176 Schöpfungskonzepte in den Weltreligionen 21. September : Arbeit ist das halbe Leben 20. Oktober : Naher Osten – ferner Frieden? 17. November : Mann und Frau = 2 oder mehr? Das Einmaleins der Geschlechter 8. Dezember : Jugend, Kultur und Gewalt Der Puls schlägt weiter… 178 Der Gründer, die Studienleiter und -leiterinnen 179 Quellen und Literatur 181 Bildnachweis 183

9 Geleitwort Zeit zu fragen

«Wir sehen unsere Aufgabe darin, überall da Dem Bieler Sekundarlehrer und Historiker das Gespräch zu eröffnen, wo die kirchliche Ver- aus Leidenschaft, Christoph Lörtscher, ist es ge- kündigung nicht oder nicht leicht hingelangen lungen, die Aktivitäten und Veranstaltungen in kann», äusserte sich Robert Leuenberger am 14. die grösseren Zusammenhänge einzubetten. Das Januar 1955 gegenüber dem Bieler Tagblatt. Und Resultat ist weit mehr als eine Geschichte des Ar- weiter: «Dabei geht es (…) darum, aus christlicher beitskreises für Zeitfragen, es ist ein Stück Menta- Verantwortung heraus mit jedem Gesprächspart- litätsgeschichte und ein wichtiger Beitrag zur Ge- ner, gleich welcher weltanschaulichen Haltung, in schichte der Stadt Biel. Dafür danken wir ihm. die Diskussion über die wesentlichen Probleme der Gegenwart zu treten.» Biel, im Oktober 2007 Was die Gründergeneration anstrebte, hat bis Arbeitskreis für Zeitfragen heute Bestand. Zwar hat sich das politische, wirt- Kommission und Studienleiterinnen schaftliche und gesellschaftliche Umfeld in den vergangenen fünf Jahrzehnten enorm verändert, der kalte Krieg ist vorbei, Europa zusammen ge- wachsen, die Welt zum «Global Village» vernetzt. Der Arbeitskreis für Zeitfragen aber hat mit den Veränderungen Schritt gehalten, war dem Zeit- geist nicht selten sogar eine Nasenlänge voraus. Das Geschehen draussen in der Welt, die Wider- sprüche in Wirtschaft und Gesellschaft, die Un- zulänglichkeiten der Politik, sie sind nach wie vor das Substrat für das Programm des Arbeitskreises: «Global denken, lokal handeln». Der Arbeitskreis für Zeitfragen war und ist ein Spiegel der Zeit, vor 50 Jahren ebenso wie heute. Und immer weist ihm dabei das Jeremiaswort den Weg: «Suchet der Stadt Bestes». 50 Jahre Arbeitskreis für Zeitfragen: Der Fest- akt vom 24. Juni 2005 und die Jubiläumsveranstal- tungen sind nur noch Erinnerung. Nun liegt auch die damals versprochene Jubiläumsschrift vor, ge- druckt, elektronisch als CD-ROM und im Internet unter www.ref-bielbienne.ch.

10 Einleitung

Als ich kurz nach den Sommerferien 2004 von Als relativ schwierig erwies sich die Illustration der Kommission des Arbeitskreises für Zeitfragen des Textes. Zu den Aktivitäten des Arbeitskreises angefragt wurde, eine Jubiläumsschrift zu erarbei- liegen nur wenige Aufnahmen vor, und bei man- ten, meldete sich die Erinnerung an meinen ersten chen zeittypischen Fotografien stellte sich das Pro- Besuch einer Veranstaltung des Arbeitskreises im blem der Urheberrechte. Für innere Bilder gab es Farelsaal. Etwa Mitte der Siebzigerjahre hatte ich jedoch Stoff in reicher Fülle. Sie wurden wach in dort die damals international beachtete Ujamaa- den zahlreichen Gesprächen, die ich mit Persön- Bewegung in Tansania näher kennen gelernt. lichkeiten führen durfte, welche die Entwicklung Von dieser auf afrikanischem Boden gewachsenen des Arbeitskreises mitgeprägt hatten: die ehema- Idee gemeinschaftlicher Entwicklung beein- ligen Studienleiter Samuel Maurer und André druckt unterstützte ich kurz darauf den Verkauf Monnier, die erste Studienleiterin Verena Naegeli von Ujamaa-Kaffee, eines der ersten Produkte des sowie die beiden gegenwärtigen Studienleiterinnen gerechten Handels. Gerne ergriff ich deshalb die Liliane Lanève-Gujer und Catina Hieber, die erste Möglichkeit, den Arbeitskreis für Zeitfragen, jene aktive Frau des Arbeitskreises, Hilde Kästli †, der Inst it ut ion, die mich schon in meiner Jugend ange- langjährige Präsident des Leitenden Ausschusses, sprochen hatte, näher vorzustellen. Alfred Bürgi, der ehemalige Leiter der Arbeits- Im Farelhaus verfügte der Arbeitskreis über gruppe Kirchliche Schulung, Reinhard Lanz, der ein umfangreiches Archiv, das bis in die frühen ehemalige Kommissionspräsident Werner Marti Sechzigerjahre zurückreichte. Arbeitskreis-Mit- und der gegenwärtige Jon Andrea Florin. Sehr begründer Samuel Maurer hatte gerade begon- wertvoll war mir auch die Unterstützung durch nen, das zu seiner Amtszeit vorliegende Material Margrit Wick-Werder, die das Vorhaben über die systematisch zu ordnen. Der Begegnung mit ihm ganze Zeit hinweg beratend unterstützt hat. Ihnen verdankte ich nicht nur wertvolle Erläuterungen allen, wie auch Frau Leuenberger-Mauch und vie- zu den A kten, sondern auch wichtige Hinweise zur len hier nicht genannten Gewährspersonen, sei an Gründung und zu den Pionierjahren des Arbeits- dieser Stelle mein herzlicher Dank ausgedrückt. k reises. Sie erlaubten es, das in den Protokollen des Gesamtkirchgemeinderates, des Kirchgemeinde- Biel, im Frühling 2007 rates Biel-Stadt, des Sämann und der Lokalpresse Christoph Lörtscher vorgefundene Material richtig zu interpretieren. Leider starb Arbeitskreis-Initiant Robert Leuen- berger am 2. Oktober 2004, doch erhielt ich von seiner Gattin, Ruth Leuenberger-Mauch, weitere Hinweise zur Gründungszeit. Die Auseinandersetzung mit den Pionierjahren machte mir klar, wie sehr der Arbeitskreis am Puls der Zeit gewirkt hatte. Um dies deutlich zu ma- chen, schien es mir unumgänglich, Hinweise zum damaligen Zeitgeschehen zu integrieren. Ab den Sechzigerjahren verbessert sich die Quellenlage. Allein zu den gesellschaftspolitisch stark bewegten Jahren 1965–1988 sind über 500 Arbeitskreis-An- lässe dokumentiert. Das Material erlaubte es auch, das intensive Innenleben und die Entwicklung des Arbeitskreises zu erschliessen.

11 K apitel 1 Der Wunsch nach offenen Gesprächen zu Fragen der Zeit ( 1 9 5 4 – 1 9 6 3 )

«Mit jedem Gesprächspartner «Wir sehen unsere Aufgabe darin, überall da das in die Diskussion treten» Gespräch zu eröffnen, wo die kirchliche Verkün- digung nicht oder nicht leicht hingelangen kann. Mitte der Fünfzigerjahre befand sich die [...] Im Gespräch mit der Arbeiterschaft, mit ver- Schweiz in einer Zeit raschen Wandels. Eine kri- schiedenen Berufs- und Wirtschaftskreisen sollen tische, vom wissenschaftlich-technischen Fort- Fragen des sozialen, wirtschaftlichen, politischen schritt geprägte Generation wuchs heran, und die und kulturellen Lebens aufgegriffen werden. Da- Kirche musste feststellen, dass sie mit den bisher bei geht es nicht um eine Art christlicher Missio- vorherrschenden Formen der Verkündigung nur nierung von Bevölkerungsgruppen, die der Kirche noch eine Minderheit der Bevölkerung erreichte. entfremdet sind, sondern darum, aus christlicher Erschwerend kam hinzu, dass die evangelisch- Verantwortung heraus mit jedem Gesprächspart- reformierte Kirche im Kanton in mehrere ner, gleich welcher weltanschaulicher Haltung, in Richtungen gespalten war, was den Dialog selbst die Diskussion über die wesentlichen Probleme der innerhalb der K irche erschwerte. Gegenwart zu treten. In diesem Zusammenhang bildete sich in der Dass der Bieler Arbeitskreis keiner so genann- Kirchgemeinde Biel eine kleine, unabhängige Ar- ten kirchlichen Richtung verhaftet ist, sondern beitsgruppe, der Bieler Arbeitskreis für evange- auch hierin das offene Gespräch sucht, soll mit lische Zeitfragen. Die noch kleine Arbeitsgrup- Nachdruck vermerkt werden.» pe – sie umfasste Dr. Robert Leuenberger, Samuel Maurer, Hans Küpfer und Arnold Kellerhals – er- klärte im Bieler Tagblatt vom 14. Januar 1955 ge- nau, was sie mit ihrer Arbeit erreichen wollte:

1954 wurden in der evangelisch-reformierten Kirchgemeinde Biel-Stadt intensive Gespräche zu Fragen des Religionsunterrichts und der Unterweisung geführt. Aus diesen Gesprächen entstand die Idee, den Arbeitskreis zu gründen.

12 K apitel 1 Der Wunsch nach of fenen Gesprächen zu Fragen der Zeit (1954 – 1963)

Es begann mit einer Auseinander- setzung zu Fragen des Religions- unterrichts

Im Verlaufe des Jahres 1954 beschäftigte sich der Kirchgemeinderat Biel-Stadt mehrmals mit der zunehmenden Disziplinlosigkeit von Jugend- lichen, die in Rahmen der Unterweisung den Got- tesdienst besuchten. Mit verschiedenen Massnah- men, zum Beispiel der Zuweisung von Sitzplätzen in den vordersten Reihen, sollte diesem Problem begegnet werden. Die Frage, wie religiöse The- men den Jugendlichen vermittelt werden konnten, beschäftigte die Kirchenglieder auch ausserhalb des Rates. In diesem Zusammenhang wurde auch erwähnt, dass der Religionsunterricht am Städ- Dr. Robert Leuenberger tischen Gymnasium guten A nklang fand. Dass der gymnasiale Religionsunterricht viele Jugendliche interessierte, war weitgehend dem Engagement von Dr. Robert Leuenberger zu ver- traute Sache sachgetreu und ohne Abschweifung danken. Seit dem Schuljahr 1949/50 leitete er den auszurichten.» fakultativen Religionsunterricht in der Sekunda, In diesem Sinne referierte der engagierte Gym- und die gute Teilnehmerfrequenz bewies, dass er nasiallehrer auch an der Versammlung der evange- Wege fand, auch die in einem modern geprägten lisch-reformierten Kirchgemeinde Biel-Stadt vom Umfeld Auf wachsenden für religiöse Fragen zu in- 24. Mai 1954. Die Kirche solle versuchen, auch an teressieren. den übrigen Bieler Berufs- und Mittelschulen mit Leuenberger beschäftigte sich damals sehr den Jugendlichen in ein echtes Gespräch zu kom- eingehend mit den Anforderungen, die ein zeit- men. Allerdings müsse die Bibelverkündigung re- gemässer Religionsunterricht erfüllen musste. In alistischer, sachlicher und kritischer erfolgen als der Zeitschrift Reformatio schrieb er 1954: «Der früher: «Die Kirche muss lernen, in der Sprache Lehrer am heutigen Gymnasium und am heutigen derjenigen zu reden, die sie erreichen möchte». Seminar, der Deutsch, Geschichte oder alte Spra- Leuenbergers Vortrag führte zu einer lebhaften chen unterrichtet, stösst immer wieder auf die Diskussion, die nicht ohne Folgen blieb. Am 16. Ignoranz seiner Schüler hinsichtlich der Bibel, August 1954 konkretisierte der Referent auf Ersu- und er stellt fest, dass die spezifische geistige Sub- chen des Kirchgemeinderates Biel-Stadt, welche stanz, die sich an der Bibel gewinnen lässt, nir- Massnahmen für einen zeitgemässeren Religions- gends erarbeitet wird. [...] Denn es fehlt (bei vie- unterricht zu treffen seien. Es seien Mittel bereit len Lehrkräften) der Glaube, dass der Bibel eine zu stellen, «um den Religionslehrern in Biel, aber jedem andern Text überlegene Kraft inne wohnt, auch weiteren interessierten Laien, Kurse zu ver- die den Schüler sofort anspricht und ins Gespräch mitteln, und zwar in theologisch geleiteter Bibel- – ins echte Gespräch – hineinzieht. [...] Doch der lektüre, im Studium bedeutender Theologen und Mut, zentral zu sein, evangelisch zu sein, lohnt i n Welt a nschauu ng sleh re der G egenwa r t aus eva n- sich, wo immer er ergriffen wird. Deshalb, weil gelischer Sicht.» Leuenbergers Vorschläge fanden die heutige Schule gerade dann ihre Anforderung, ein gutes Echo – vor allem der damalige Kirchge- die sie als Schule stellt, am besten erfüllt weiss, meindepräsident von Biel-Stadt, Oberrichter Emil und weil vor allem auch der Schüler nichts anderes Matter, setzte sich für die Finanzierung der vorge- erwartet als den Mut des Lehrers, die ihm anver- schlagenen Bildungsangebote ein.

13 K apitel 1 Der Wunsch nach of fenen Gesprächen zu Fragen der Zeit (1954 – 1963) Modernes Bibelverständnis ­– ein erster Vortragszyklus für alle

Der Arbeitskreis nahm sich vor, die Religions- Um die Arbeit für die Organisation der Kurse lehrer in ihrer immer schwieriger werdenden Auf- und Vorträge zu sichern, schlug Leuenberger dem gabe zu unterstützen. Um der vorwiegend skep- Primarlehrer Samuel Maurer die Bildung einer tischen, naturwissenschaftlich geprägten Jugend Arbeitsgruppe vor – mit den Zusagen von Maurer wirklich zu begegnen, brauchte es bessere theo- und, etwas später, von Hans Küpfer war der Ar- logische Grundlagen, die den Stand der aktuellen beitskreis für evangelische Zeitfragen geboren. Forschung berücksichtigten. Schon gegen Ende des Jahres 1954 führte der Ar- Als ersten Schritt in diesem Zusammenhang beitskreis eine erste Veranstaltung durch, die Ver- plante er auf den Beginn des Jahres 1955 einen treter unterschiedlicher kirchlicher Richtungen an Vortrags- und Aussprachezyklus über das mo- einen Tisch brachte. Im Musikzimmer des Schul- derne Verständnis der Bibel. Doch wie schon die hauses Rittermatte sprachen Pfarrer Johann Jakob Einladung betonte, sollten die ursprünglich vor Amstutz und Fritz Leuenberger, Religionslehrer allem für Lehrkräfte gedachten Abende ein breites an den Seminarien Thun und Hofwil, zum Thema Publikum ansprechen: «Die Referenten möchten Gestaltung und Auswirkung des Religionsunterrichts. jedermann, auch und gerade dem so genannten Nach den Ausführungen der beiden Referenten ‹Ungläubigen und Zweifler› Rede und Antwort sorgte ein kleines Publikum von interessierten stehen». Lehrerinnen und Lehrern für längere, intensive Als Prof. Eduard Schweizer am 17. Januar im Gespräche. Wyttenbachhaus Das heutige Verständnis des bi- blischen Wunders erörterte, hörte ihm denn auch ein überraschend zahlreiches und gemischtes Pu- blikum zu - der erste Schritt auf eine weiter gefasste Öffentlichkeit war gelungen. Prof. Schweizer be- tonte, es sei nicht wesentlich, ob der Mensch von Am 17. Januar 1955 eröffnete Professor Eduard heute die in der Bibel überlieferten Wunder glaube Schweizer den ersten Vortragszyklus des Arbeits- oder nicht. Es komme darauf an, wie die Zeitge- kreises. nossen Jesu nach demjenigen zu fragen, der Wun- der vollbringe, und zu fragen, in wessen Vollmacht er handle. Diese Frage könne zur Begegnung mit Gott führen, und schliesslich sei der Glaube das grösste aller Wunder. An einem zweiten Ausspracheabend unterschied Prof. Albert Streckeisen zwischen der eigentlichen Offenbarung und den «irdenen Gefässen», also verschiedenen Teilen der Bibel, an denen wissen- schaftliche Kritik erlaubt und sogar erwünscht sei, gerade im Religionsunterricht. Zu diesem Punkt kam es zu einem lebhaften Dialog mit dem wiederum sehr zahlreichen Pu- blikum, und der Arbeitskreis trat dafür ein, gerade im Religionsunterricht eine kritische Lektüre der Bibel zu vertreten, um das eigentliche Wort Gottes hinter dem überlieferten Text wahrzunehmen.

14 K apitel 1 Der Wunsch nach of fenen Gesprächen zu Fragen der Zeit (1954 – 1963) Christlicher Glaube zwischen Zweifel und Zuversicht

Auch zu Beginn des Jahres 1956 trat der Ar- Der Arbeitskreis thematisiert beitskreis in einen öffentlichen Dialog über zen- die Zersplitterung der Kirche... trale Fragen des Glaubens, der wiederum in einer sehr offenen Atmosphäre gestaltet wurde. Am 16. Schon wenige Monate später wiederholte der Januar 1956 eröffnete der ehemalige Zürcher Or- Arbeitskreis seine Bemühungen, den Dialog dinarius für Religionswissenschaft, Prof. Ludwig zwischen verschiedenen Richtungen und Glau- Köhler, den Zyklus mit der Frage nach der Exi- bensgemeinschaften der Kirche zu fördern. Der stenz Gottes. Für viele überraschend bemerkte er: Gesprächszyklus Die Not der zerrissenen Kirche be- «In seiner ‹Kritik der reinen Vernunft› hat Kant gann im Mai 1955 mit einer Aussprache zwischen den Beweis erbracht, dass es keinen zwingenden Vertretern verschiedener kirchlicher Richtungen. Beweis Gottes im Sinne der objektiven Wahrheit «Es ist ein Wagnis, Vertreter verschiedener Rich- gibt. Die protestantische Theologie hat sich Kant tungen hier sprechen zu lassen», eröffnete Dr. angeschlossen». Prof. Köhler betonte aber, dass Leuenberger den Abend, «denn wir wissen nicht, es doch zahlreiche Anhaltspunkte der Existenz ob der Graben zwischen den Fronten nachher nicht Gottes gebe, die in der subjektiven Wahrheit be- noch tiefer sein wird als vor der Aussprache». Das gründet seien. Als Beispiel erwähnte er unter an- Wagnis lohnte sich. In einer Atmosphäre gegen- derem das Rechtsempfinden des Menschen: «Das seitiger Offenheit legten drei Pfarrer die wesent- Recht des einen ist das Recht des andern. Die lichen Merkmale der pietistischen, der neuprote- Menschheit kämpft fortwährend um dieses Recht. stantischen und der dialektischen Richtung dar. Die Erkenntnis des Rechtes ist eine Regung des Ein zweiter Abend widmete sich dem Thema Gewissens. Und das Gewissen kann den Men- der christlichen Gemeinschaften und Sekten - schen zwingen, das Höchste zu leisten. Das Ge- nach einem Referat des Sektenspezialisten Dr. wissen macht den Menschen zum Menschen. Jeder Fritz Blanke kamen auch Vertreter verschiedener Mensch hat in seinem Leben Augenblicke erlebt, in Gemeinschaften zu Wort, und auch hier war der welchen er sich nicht selbst bestimmte, in welchen Arbeitskreis um einen gegenseitigen Dialog be- etwas Undefinierbares ihn leitete. Auch da sehe ich müht. göttlichen Willen am Werk.» Am zweiten Vortragsabend betonten Dr. Hans Conzelmann und Pfarrer Dr. E. Buess, dass Jesus ...und erprobt neue Formen des Gottes- sowohl als Gottessohn wie auch als Menschensohn dienstes zu verstehen sei. Der Zyklus schloss mit einem Abend zur Rolle der Kirche. Prof. Albert Schä- Gegen Ende des Jahres 1955 regte der Arbeits- delin bezeichnete die Kirche als «Leib Christi», kreis an, wie in der Wasserkirche in Zürich, der bemerkte aber, wegen der Aufspaltung in Konfes- Heiliggeistkirche in Bern und der Kirche in Lyss sionen stehe die Kirche noch immer im Schatten einen Werktaggottesdienst zu organisieren. Auf der Sünde. Zur selben Frage äusserte sich schliess- Beschluss des Kirchgemeinderats Biel-Stadt fan- lich Prof. Theodor Ellwein von der evangelischen den die Kurzgottesdienste ab dem 14. Dezember Akademie Bad Boll. versuchsweise am Mittwochabend von 18 Uhr bis 18 Uhr 30 statt, und zwar abwechslungsweise in der Stadtkirche und im Wyttenbachhaus.

15 K apitel 1 Der Wunsch nach of fenen Gesprächen zu Fragen der Zeit (1954 – 1963) dargelegt. Beide Referenten hatten dazu aufgeru- fen, als Christ Verantwortung wahrzunehmen und sich aktiv an den Nationalratswahlen zu beteili- gen. Der Arbeitskreis bewirkt gelebte Das Jahr 1956 wurde durch die Zerschlagung Ökumene der ungarischen Revolution durch sowjetische Truppen tief geprägt. Wie in der ganzen Schweiz Anlässlich der vom Ökumenischen Rat der kam es auch in Biel zu grossen Protestkundge- Kirchen weltweit durchgeführten Gebetswoche für bungen gegen das Vorgehen der Sowjetregierung, die christliche Einheit rief der Arbeitskreis im Ja- und die Hilfsaktionen für die ungarischen Flücht- nuar 1956 ökumenische Gottesdienste ins Leben. linge wurden von breiten Bevölkerungskreisen Diese Gottesdienste sollten in regelmässigen Ab- unterstützt. Die Wut gegen den sowjetischen ständen und abwechselnd in der Stadtkirche, der Einmarsch übertrug sich häufig gegen Anhänger christkatholischen Kirche und der Methodisten- der Partei der Arbeit, die als fünfte Kolonne einer kapelle durchgeführt werden. Die vom Arbeits- expansionistischen Weltmacht wahrgenommen kreis aufgebaute ökumenische Gruppe um Adol- wurde. phe Kuenzi förderte den gegenseitigen Austausch. Der Arbeitskreis reagierte auf die Ereignisse in Kuenzi musste aber 1960 feststellen, dass auch die Ungarn, indem er den Impuls zu einem Fürbitte- Mitglieder der ökumenischen Gruppe nur unre- Gottesdienst für die leidenden Ungarn gab. Vor gelmässig Gottesdienste in den Partnerkirchen diesem Gottesdienst vom 1. November 1956 wurde besucht hatten. auf verantwortungsvolle Art und Weise dazu auf- Zu Beginn des Jahres 1957 trat der Arbeitskreis gerufen, in der Kirche nicht zu protestieren und auch in den Dialog mit der römisch-katholischen vor Gott auch für den einzustehen, der Unrecht tue Kirche, indem er die Vorbereitung der Ausstellung oder als Werkzeug meine, es tun zu müssen. Mit Die Bibel im Laufe der Jahrhunderte unterstützte. der Ungarn-Krise verknüpft war auch ein Arbeits- Die Ausstellung in der städtischen Galerie in der kreis-Anlass im Volkshaus. Im Forumsgespräch Neumarktpost, die unter anderem illustrierte vom 18. Dezember 1956 ging es um die Frage, ob Handschriften aus dem 10. und 11. Jahrhundert die Schweiz weiterhin an einer strikten Neutrali- zeigte, stiess in der Bieler Bevölkerung auf grosses tät festhalten solle. Während Rudolf Stickelberger Interesse. und Johann Tscharner den Abbruch der diploma- tischen Beziehungen zur UdSSR forderten, ver- teidigten die Redaktoren Peter Dürrenmatt und Die ersten politischen Veranstaltungen Peter Gilg die bisherige Neutralitätspolitik. Nur des Arbeitskreises damit, argumentierten sie, könne die Schweiz ihre humanitären Aufgaben wirkungsvoll durchfüh- Von Anfang an war es dem Arbeitskreis ein ren. Auch Prof. Hans Schultz plädierte dafür, die Anliegen, aktuelle Fragen verschiedenster Art seit 150 Jahren bewährte Neutralitätspolitik nicht aufzugreifen – es ging um «weltliches Reden von leichtfertig aufs Spiel zu setzen. Gott» im Sinne Dietrich Bonhoeffers. Dr. Werner Unabhängig von den Ereignissen in Ungarn Marti, der damals als Primarlehrer mit Dr. Hilde hatte der Arbeitskreis auf Mitte November 1956 Kästli zum Arbeitskreis gestossen war, erinnerte einen öffentlichen Ausspracheabend zwischen sich: «Bonhoeffer ging vom mündigen Christen Parteivertretern und Bevölkerung geplant. In der aus – der Mensch sollte selber entscheiden, was er P r e s s e m it t e i l u n g b e t o nt e e r : « A u s c h r i s t l i c h e r Ve r - glaubte. Daher organisierten wir unsere ersten po- antwortung heraus wollen wir ein wirklich unab- litischen Anlässe bewusst kontradiktorisch.» Der hängiges Forum bilden, auf dem in aller Offenheit erste solche Vortrags- und Ausspracheabend hatte von Politikern und Wählern aller Schattierungen schon kurz vor den Nationalratswahlen vom Ok- die konkreten Fragen der Bieler Gemeindepolitik tober 1955 stattgefunden. Zum Thema Christliche besprochen werden dürfen.» Verantwortung vor politischen Wahlen hatte Pfarrer Der Arbeitskreis regte an, das brennende Pro- Bruno Balscheit den sozialdemokratischen, Pfarrer blem des Wohnungsbaus zu thematisieren, und er Rudolf Stickelberger den bürgerlichen Standpunkt rief mit Nachdruck auch die Frauen auf, sich an der

16 K apitel 1 Der Wunsch nach of fenen Gesprächen zu Fragen der Zeit (1954 – 1963) Weitere Jahre mit ehrenamtlicher Leitung

Im Frühjahr 1957 zog Dr. Leuenberger nach Basel, wo er das Pfarramt an der Universität über- nahm, bevor er als Rektor der von ihm gegründe- ten Kirchlich-Theologischen Schule amtete. Für ein Jahr übernahm Dr. Hans Rudolf Guggisberg die Leitung des Arbeitskreises. Er übte sein Amt im Rahmen einer Ordnung aus, die der Gesamt- kirchgemeinderat 1958 erliess, um den Arbeits- kreis strukturell in die Gesamtkirchgemeinde ein- zugliedern. Die einzelnen Kirchgemeinden wählten je zwei bis drei Laien und einen Pfarrer in die neu ge- Dr. Hans-Rudolf Guggisberg schaffene Kommission des Arbeitskreises, die zu- sammen mit dem Leiter das Tätigkeitsprogramm Aussprache zu beteiligen. Am Abend des 13. No- zu besprechen hatte. Die Kommission übernahm vember begaben sich schliesslich Vertreter fast auch die Information der einzelnen Kirchgemein- aller Bieler Parteien ins Wyttenbachhaus, um sich den. Ausführendes Organ war der sechs- bis acht- den Fragen des Publikums zu stellen. Nur die Par- köpfige A rbeitsausschuss, der auf A ntrag der Kom- tei der Arbeit war - vermutlich unter dem Eindruck mission vom Gesamtkirchgemeinderat gewählt der Ereignisse in Ungarn - nicht zu diesem Forum wurde. Der Gesamtkirchgemeinderat bestimmte eingeladen worden. auch den Leiter des Arbeitskreises, der ein Theo- loge oder ein Laie sein konnte. Auch Guggisberg schätzte es, mit angehenden Das Geheimnis ist gross Berufsleuten oder bald Studierenden in den Dialog über die biblische Botschaft zu treten. Er zog sich Auf den 31. Oktober 1956 organisierte der Ar- aber noch 1958 von der Leitung des Arbeitskreises beitskreis einen Vortrags- und Ausspracheabend zurück, und vorerst konnte kein Nachfolger gefun- zum Thema Kameradschaft, Freundschaft und Lie- den werden. I n den folgenden Ja h ren w u rde der A r- be. Unter Ausschluss der Erwachsenen sprach der beitskreis von Arnold Kellerhals, dem Präsidenten bekannte Fachmann Dr. Theodor Bovet im gros- der Kommission, nach aussen vertreten. sen Volkshaussaal mit den Jugendlichen «über alle Auch nach seinem Weggang von Biel beschäf- Fragen, die sich im Zusammenhang mit dem The- tigte sich Leuenberger mit der Verbesserung des ma des Abends nun einmal stellen». Religionsunterrichts und mit kirchlicher Schu- Dr. Bovet, der mit Pfarrer Walter Lüthi zu lung ganz allgemein. 1959 betonte er in der Schrift ähnlichen Themen auch Anlässe für Erwachsene P fa r re r n ot: St u n d e d e r K i rche den hohen Stellenwert durchführte, wurde damals wegen seiner christlich theologischer Laienschulung. Konkret forderte begründeten, grundsätzlich positiven Haltung zur er die Schaffung einer Kirchlich-Theologischen Sexualität nicht selten angefeindet. 1954 hatten Schule – nicht nur zur Ausbildung kirchlicher Vertreter der ausgeprägt antikommunistischen Lehrer, sondern auch zur Schulung theologisch in- Organisation Moralische Aufrüstung gefordert, Bo- teressierter Laien. Die zu schaffende Schule sollte vets Werk Die Ehe – das Geheimnis ist gross müsse auch Forschungsinstitute für verschiedene Be- vernichtet werden, weil die Beschreibung der ero- reiche der modernen Welt umfassen, nämlich für tischen Gemeinschaft und die Schilderung emp- Fragen der Politik, der modernen Arbeitswelt, der fängnisverhütender Mittel moralisch destruktiv Kunst und der Wissenschaft. Mit der Gründung wirkten. Noch am Basler Kirchentag 1963 ver- der Arbeitsgemeinschaft Kirchliche Schulung (AKS) suchten Mitglieder der Moralischen Aufrüstung, ein wurde 1960 ein wichtiges Anliegen Leuenbergers Redeverbot für Bovet durchzusetzen, allerdings umgesetzt – zu den Mitbegründern aus allen Tei- ohne Erfolg. len der Schweiz gehörte auch Samuel Maurer. Die

17 K apitel 1 Der Wunsch nach of fenen Gesprächen zu Fragen der Zeit (1954 – 1963) Das Farelhaus als offener, gastfreundlicher Treffpunkt

Bis anhin waren die meisten Anlässe des Ar- AKS beschloss, ab 1961 in allen angeschlossenen beitskreises im Wyttenbachhaus, also im Haus der Gemeinden einen Jahreskurs zum gleichen Thema Kirchgemeinde Biel-Stadt, abgehalten worden. Ab durchzuführen. In Biel war es der Arbeitskreis, der 1959 standen der Saal und weitere Räume im so- die Erwachsenenbildungszyklen der AKS in sein eben erstellten Farelhaus zur Verfügung, und das Programm integrierte. bedeutete eine Chance. Bis zur Inbetriebnahme des Kongresshauses 1965 diente das Farelhaus als Begeg nu ng sor t f ü r versch iedenste A n lässe – so be- suchten auch Menschen, die den Weg in ein K irch- gemeindehaus nicht gefunden hätten, die Anlässe des Arbeitskreises. Das von der evangelisch-reformierten Ge- samtkirchgemeinde beschlossene Nutzungs- konzept öffnete das Farelhaus ganz bewusst auch nicht-kirchlichen Anlässen. Im Vorschlag, eine Die evangelisch-reformierte Gesamtkirchgemeinde gemischte Kommission für nichtkirchliche Anläs- plante das Farelhaus von anfang an als offenes Begeg- se zu bilden, wurde betont: «Wenn die Kirche das nungszentrum. Farelhaus einem möglichst weit gespannten Inte- ressenten k reis zu r Verf üg u ng stellen w ill, so t ut sie dies aus dem Bewusstsein heraus, dass die Religion nicht die einzige geistige Kraft ist, die dem Mate- rialismus entgegentritt. Sie sucht die Verbindung mit den verschiedenen kulturellen Bestrebungen, die in unserer Stadt am Werke sind; sie möchte im Farelhaus ein Zentrum schaffen, das dazu dienen soll, die Berührungspunkte zwischen der Kirche und den anderen geistigen und kulturellen Kreisen zu verstärken.» Von Beginn weg konnte die Bieler Bevölkerung wahrnehmen, dass der Farelsaal einen offenen, freien Geist ausstrahlte. Während dem Vortrags- zyklus Die Schweiz im werdenden Europa zum Bei- spiel vermochte der Saal die Zuhörenden kaum zu fassen, und manche These der Referenten wurde durch Presse, Radio und das noch junge Fernsehen in der ganzen Schweiz verbreitet.

18 K apitel 1 Der Wunsch nach of fenen Gesprächen zu Fragen der Zeit (1954 – 1963) Der Arbeitskreis beginnt die Sechziger- jahre im Dialog mit Afrika

Schon in den Fünfzigerjahren hatte der Ar- beitskreis in vielen Bereichen Impulse der Öffnung Wird der Arbeitskreis zweisprachig? und der Erneuerung gegeben. Das Schwergewicht seiner Tätigkeit hatte aber noch bei Zeitfragen Im April 1960 rief der Cercle des animateurs de gelegen, die auch im engeren Sinne das kirchliche la Maison Farel dazu auf, eine Reihe von Forums- L eben bet r a fen. Zu Beg i n n der Sech z iger ja h re ver- gesprächen zu aktuellen Themen zu organisie- stärkte der Arbeitskreis sein Engagement für die ren. Das erste forum en rond vom 15. April 1960, Erörterung aktueller Gegenwartsfragen, in einem organisiert von Pfarrer Claude Dolivo und André anfänglich fast zufällig ablaufenden Prozess. Schneuwly, stellte die Frage, ob die Schweizer und Allein 1957 bis 1960 hatten neunzehn Staaten Schweizerinnen durch die Presse gut informiert Afrikas die Unabhängigkeit erlangt, und in ganz oder eher desinformiert würden. Unter Leitung Europa fragte man sich, welchen Weg das neue von Gerichtspräsident Auroi eröffneten vier Jour- Afrika einschlagen werde. Der Arbeitskreis nahm nalisten und vier engagierte Leser und Leserinnen das Thema auf und organisierte unter der Frage- das Gespräch, um es bald auf das Publikum auszu- stellung Afrika – Unser Partner? Unser Bruder? weiten. Mit grosser Offenheit erklärte der Journa- am 16. Januar 1961 einen Vortrags- und Ausspra- list Frank Bridel, es sei schlicht unmöglich, kom- cheabend im Farelsaal. Im Verlauf der Diskussion plizierte Abläufe wie den Verlauf eines Prozesses regte Dr. F. Störi an, nicht nur über die Probleme auf angemessene Weise in der Zeitung wiederzu- des schwarzen Kontinents zu diskutieren, sondern geben. auch «etwas Rechtes für Afrika zu tun». So be- Nach langer, intensiver Diskussion fand der gann eine umfangreiche Aktion, die weit über die gelungene Diskussionsabend seinen Abschluss, reformierten Kirchgemeinden hinausging. Unter und es wurde gewünscht, weitere derartige Anläs- dem Motto Biel hilft Afrika formierte sich ein Ko- se in französischer Sprache folgen zu lassen. Das mitee, dem auch die römisch-katholische Kirch- Forumsgespräch über die Presse war tatsächlich gemeinde und das Hilfswerk für aussereuropäische der Auftakt einer langjährigen erfolgreichen Tä- Gebiete angehörten und das unter dem Patronat tigkeit des Cercle des animateurs de la Maison Farel. des Stadtpräsidenten, Dr. Paul Schaffroth, stand. Die Anlässe in französischer Sprache wurden mit Mit zahlreichen Aktionen sammelte das von Störi denjenigen des Arbeitskreises koordiniert, aber ein präsidierte Komitee für eine Lehrwerkstätte für Zusammenschluss der beiden Institutionen wurde Waisenknaben in Tunesien, für das Lehrerhaus ei- nicht als notwendig erachtet. ner evangelischen Schule in Kamerun und für ein katholisches Sozialzentrum in Tanganjika. Mit dem Vortrags- und Ausspracheabend Afri- ka: Herausforderung und Verpflichtung vom 20. Aus einem Anlass des Arbeitskreises vom 16. Januar September 1961 beteiligte sich der Arbeitskreis 1961 entwickelte sich die Aktion Biel hilft Afrika, die am weiteren Verlauf der Aktion, die bei der Bie- auch von René Gardi unterstützt wurde. ler Bevölkerung ein gutes Echo fand. Schon in den Fünfzigerjahren waren viele Bielerinnen und Bieler durch die Vorträge von Dr. E. Kocher über Albert Schweitzers Urwaldspital mit Problemen Afrikas vertraut geworden. Viele kannten auch die Filme von René Gardi, der sich am 8. September 1961 mit einem Lichtbildervortrag an der Bieler Aktion beteiligte. Am 15. September 1961 sorgte Dr. Regina Kägi-Fuchsmann mit einem Referat im grossen Saal des Volkshauses dafür, dass auch der politischen Entwicklung Afrikas gebührende Auf- merksamkeit geschenkt wurde.

19 K apitel 1 Der Wunsch nach of fenen Gesprächen zu Fragen der Zeit (1954 – 1963) von Atomwaffen, bevor ein hoher Armeevertre- ter und ein Theologe zur atomaren Bewaffnung der Schweiz Stellung nahmen. Während Oberst- divisionär Hans Eichin erklärte, auch eine Ver- Der unkonventionellste Anlass im Rahmen der teidigungsarmee sei auf Atomwaffen angewiesen, Solidarität mit dem jungen Afrika fand leider nur warnte Prof. Max Geiger vor den Folgen radio- w e n i g W i d e r h a l l . A l s S c h a u s p i e l e r d e s S t ä d t e b u n d - aktiver Verstrahlung für künftige Generationen. theaters an der Matinee vom 27. Oktober 1963 aus Geiger betonte auch, dass ein Atomkrieg die Welt Werken moderner afrikanischer Lyrik rezitierten, zerstören könnte – die Menschen dürften aber das waren nur etwa vierzig Plätze besetzt. Ermöglicht jüngste Gericht nicht in eigene Regie nehmen. wurde diese Kulturbegegnung vom Arbeitskreis Moderator Rolf Eberhard rief alle Anwesenden für evangelische Zeitfragen, der diesen Anlass im auf, einander auch nach der Abstimmung Respekt Rahmen des Missionsbasars mit folgenden Wor- und Achtung entgegenzubringen. ten begründete: «Wir sehen heute im heidnischen Gegen Ende des Jahres, also kurz nach der Ku- Mitmenschen den Partner; es wird also unsere er- ba-Krise, wurde das Podiumsgespräch zu einem ste Aufgabe sein, ihn in seinem Wesen zu erfassen Dürrenmatt-Stück für viele zum Höhepunkt des und zu verstehen. Nirgends aber erschliesst sich Jahres. Dem Gespräch, das Physikprofessor J.-P. das Wesen unseres schwarzen Bruders deutlicher Blaser, Nationalratspräsident Walther Bringolf, als in den Liedern und Erzählungen seiner Litera- Theologieprofessor Walter Bernet und die Dür- tur.» renmatt-Spezialistin Dr. Elisabeth Brock-Sulzer über Die Physiker führten, folgten über 700 meist jugendliche Zuhörer und Zuhörerinnen. Engagement für den Dialog – auch auf Schon auf dem Höhepunkt der Berlin-Krise dem Höhepunkt des Kalten Krieges hatte der Arbeitskreis Gelegenheit zu einer Stand- ortsbestimmung gegeben. Am 14. November 1961 Schon in den Fünfzigerjahren verfolgte ein referierte Rolf Eberhard über die tragischen und wachsender Teil der Bevölkerung beunruhigt mit, absurden Folgen des Mauerbaus. Wie schwierig es wie die Bedrohung der Menschheit durch Atom- in jenen Jahren war, die Vorgänge im sowjetisch waffen immer deutlichere Formen annahm. Im dominierten Osteuropa nicht nur aus liberal- April 1957 fanden Albert Schweitzers Proteste marktwirtschaftlicher Sicht zu beleuchten, zeigte gegen die Atombombenversuche weltweite Ver- das Schicksal eines Berichts von Erich Müller- breitung, und in Biel bewogen sie den Stadtrat, sich Gangloff, der am 18. Januar 1963 als Leiter der in einer Erklärung für eine atomwaffenfreie Welt evangelischen Akademie in Berlin ein Gespräch auszusprechen. Die Gefahr eines Atomkrieges mit Nikita Chruschtschow geführt hatte. Keine blieb auch zu Beginn der Sechzigerjahre akut, und Schweizer Zeitung war bereit, über diesen Dialog ab dem 16. Oktober 1962 erreichte sie während zu berichten – während bürgerliche und sozialde- der Kuba-Krise einen Höhepunkt. Während drei- mokratische Blätter fanden, man solle gar nicht zehn Tagen drohte die Konfrontation zwischen erst mit den Russen sprechen, empfand der weitge- Chruschtschow und Kennedy in einen Atomkrieg hend auf der Chruschtschow-Linie politisierende zu münden. Vorwärts den Bericht als zu kritisch. In dieser Situ- Etwa sechs Monate vor der Kuba-Krise, am 22. ation sah sich der Student Paul Ignaz Vogel veran- März 1962, gab der Arbeitskreis mit einem Podi- lasst, die Zeitschrift neutralität zu gründen. Nur so umsgespräch zur Atomwaffenfrage eine erste Ge- konnte Müller-Gangloffs Versuch, auch auf dem legenheit, sich mit dem Ausmass der Bedrohung Höhepunkt des Kalten Krieges dem Dialog eine auseinanderzusetzen. Das Thema war schon im Chance zu geben, veröffentlicht werden. Frühling 1962 brandaktuell – die Atomverbots- Initiative, die einen Verzicht der Schweizer Armee auf atomare Bewaffnung verlangte, stand kurz vor der Abstimmung. Vor etwa 200 Interessierten er- klärte Dr. Wolf Rottenberg vom eidgenössischen Gesundheitsamt die verheerenden Wirkungen

20 K apitel 1 Der Wunsch nach of fenen Gesprächen zu Fragen der Zeit (1954 – 1963) Neue Beiträge zu einem zeitgemässen Religionsunterricht

Woher kommt der Mensch? Die Arbeitsgemeinschaft für Religionsun- und weitere Kurse für Erwachsene terricht des Arbeitskreises setzte sich im Februar und März 1961 mit grundsätzlichen Überlegungen Die Arbeitsgemeinschaft für kirchliche Schulung zum Religionsunterricht auseinander – unter dem (AKS) hatte beschlossen, ab 1961 in allen ange- Titel Die Bibel als Menschenwort und Gotteswort schlossenen Gemeinden einen Jahreskurs zum referierte Dr. Marga Bührig über den biblischen gleichen Thema durchzuführen. Der Arbeitskreis Schöpfungsbericht, während die Theologin Dr. erklärte sich nicht nur bereit, die Durchführung E. Kähler sich mit dem historischen und dem ver- dieser Kurse zu übernehmen – mehrere seiner M it- kündigten Christus befasste. Nach diesen Anläs- glieder erarbeiteten auch das Textheft zum ersten sen richtete sich die Arbeitsgemeinschaft an alle AKS-Kurs für den Kanton Bern. Die Broschüre Lehrkräfte, die in Biel Religionsunterricht erteil- Vom Ursprung des Menschen wurde 1961 in 1400 ten. Sie informierte über ihre Ziele und fragte nach Exemplaren verkauft. Im Zentrum der Publikation aktuellen Bedürfnissen, um die weitere Arbeit so stand die Bewertung des biblischen Schöpfungsbe- wirksam wie möglich zu gestalten. richts in Bezug auf die moderne Evolutionslehre; In der Folge beschäftigte sich ein Zyklus mit ausserdem wurde der Schöpfungsglaube mit mate- dem Thema Wunder im Religionsunterricht, in des- rialistischen und existenzialistischen Standpunk- sen Rahmen auch eine Probelektion zum Bericht ten verglichen. Die Teilnehmerzahlen zeigen, über Jesus auf dem Meer gehalten wurde. Die Ar- welche Resonanz diese Kurse fanden. Christlicher beitsgemeinschaft beschäftigte sich auch mit der Glaube, der im Februar 1962 beginnende zwei- Frage, ob im Religionsunterricht Noten zu setzen te Bieler AKS-Kurs, fand wie der Vorgängerkurs seien – zu dieser Frage wurden bei Dr. H. J. Rin- etwa hundert Teilnehmerinnen und Teilnehmer. derknecht und Pfarrer Dr. W. Neidhart zwei kon- Die Grundlagen für diesen Kurs waren in Zu- troverse Gutachten eingeholt. sammenarbeit mit Laien und Theologen aus dem Kanton Bern erarbeitet worden, ebenso jene des dritten Kurses Das Reich Gottes heute (1963). Die ersten Bieler AKS-Kurse wurden vor allem durch die Mitarbeit von Pfarrer Dr. Kurt Lüthi, Pfarrer Alfred Bürgi, Dr. Hilde Kästli und Samuel Maurer ermöglicht.

Dr. Kurt Lüthi

21 K apitel 1 Der Wunsch nach of fenen Gesprächen zu Fragen der Zeit (1954 – 1963) der Leitung von Pfarrer Dr. Kurt Lüthi erörterten Theologen, Kunstschaffende und Architekten, wie das Verhältnis zwischen christlichem Denken und Kunst zu charakterisieren sei. Dem Einwand, der Frauen im Pfarramt? schöpferische Geist könne den Menschen bis zur Selbst vergöt ter u ng f ü h ren, w u rde dabei ent gegen- 1963 hatte die bernische Kirchensynode be- gehalten, dass Glaube und Kunst in der modernen schlossen, auch Theologinnen zum vollen Pfarr- Zeit aufeinander angewiesen seien und in einem amt zuzulassen. Schon vor diesem Beschluss waren neuen Weltbezug stünden. Echtes religiöses Emp- vereinzelte Pfarrämter allein von einer Frau ge- finden könne gerade in modernen Kunstformen führt worden – die Synode wollte nur die geltende gut zum Ausdruck gebracht werden. Kirchenordnung an die tatsächlichen Verhältnisse Im Sommer 1962 engagierte sich der Arbeits- anpassen. Die Neuerung konnte aber erst in Kraft kreis erneut für das aktuelle Kunstschaffen. Als die treten, wenn sie von einer Mehrheit der Kirchen- 3. Schweizerische Plastikausstellung den Strand- glieder unterstützt wurde. Vier Tage vor der Ab- boden zum Skulpturenpark umgestaltete, löste sie stimmung in den Kirchgemeinden vom 17. März ein vielstimmiges Echo aus; das Publikum reagier- 1963 organisierte der Arbeitskreis ein Podiumsge- te mit Interesse, oft mit Bewunderung, nicht selten spräch zur Vorlage. An diesem Anlass gingen ein aber auch mit heftiger Ablehnung. In einer viel be- Theologieprofessor, eine Pfarrerin im Vollamt achteten Predigt versuchte Pfarrer Dr. Kurt Lüthi, und die Motionärin aus der Synode selbst auf die das Verständnis für die modernen Skulpturen zu Bedenken ein, die gegen das volle Pfarramt für die fördern. Frau vorgebracht wurden. Dem Vorbehalt, Paulus habe der Frau geboten, zu schweigen, wurde entge- gengehalten, dass die Bibel immer wieder Frauen Der moderne Mensch erwähnt habe, die aufgrund besonderer Gaben – aus verschiedenen Perspektiven zum Wort gekommen seien. Den Veranstaltungszyklus zum Menschenbild aus verschiedenen Perspektiven organisierte der Auseinandersetzung mit zeitgenös- Arbeitskreis gemeinsam mit der Volkshochschule. sischer Literatur und Kunst In den Monaten Mai und Juni 1963 sprachen dazu Prof. Dr. H. Fischer (Perspektive des Biologen), Schon 1955 hatte der Arbeitskreis begonnen, Prof. Dr. E. Gruner (Perspektive des Marxismus), das kulturelle Leben Biels zu bereichern. Der frü- Prof. Dr. H. van Oyen (Perspektive des protestan- he Tod des in Leubringen aufgewachsenen Kom- tischen Theologen) und Dr. R. Stoll (Perspektive ponisten Willy Burkhard im Juni 1955 veranlasste der modernen Kunst). Zum Abschluss des Zyklus ihn, zweieinhalb Monate später eine Gedenkfeier fand das Podiumsgespräch Auf dem Weg zu einem für diesen Erneuerer der Kirchenmusik zu organi- neuen Menschenbild statt, an dem die verschie- sieren. A ls ersten A nlass zu r zeitgenössischen Lite- denen Sichtweisen aufeinander prallten oder sich ratur organisierte der Arbeitskreis eine Begegnung – manchmal überraschend – entsprachen. Am von mit dem baltischen Schriftsteller Edzard Schaper. Pfarrer Dr. Kurt Lüthi geleiteten Podiumsge- Mit Auszügen aus seinem Werk Das Martyrium der spräch beteiligten sich Pfarrer Kurt Marti (Litera- Lüge schilderte der christlich geprägte, sozial en- t u r), Dr. R. Stoll ( Ku nst), Dr. P. A . Tschu m i ( Biolo - gagierte Autor das Leid von Gläubigen in den Ge- gie), Pfarrer Dr. W. Hollenweger (Marxismus) und fängnissen des Stalinismus, die durch körperliche Pfarrer Dr. A. Bühler (Theologie). und seelische Folter vielfach sich selber entfremdet wurden. Das Verhältnis zwischen Kirche und Kunst wurde auch ganz grundsätzlich erörtert. Im Rah- men der Ausstellung Art et église organisierte der Arbeitskreis am 1. November 1961 ein Podiums- gespräch zur Rolle der bildenden Kunst. Unter

22 K apitel 1 Der Wunsch nach of fenen Gesprächen zu Fragen der Zeit (1954 – 1963)

Gespräche mit der Bevölkerung der mo- dernen Stadt

Schon in seiner ersten öffentlichen Erklärung hatte der Arbeitskreis angekündigt, er wolle auch mit der Arbeiterschaft und verschiedenen Berufs- und Wirtschaftskreisen das Gespräch eröffnen. Mit dem Gesprächszyklus Der Mensch in der mo- dernen Arbeitswelt brachte er 1963 Gewerkschafts- und Unternehmervertreter zu einem für Biel zen- tralen Thema an einen Tisch. Mehrere tausend Einladungen ergingen an die organisierte Arbei- ter- u nd Unter neh mer sc h a f t , u nd üb er v ierhu nder t Personen folgten den Ausführungen der Experten und Verbandsvertreter. Im Gespräch zwischen SMUV-Zentralpräsident Ernst Wüthrich und Mikron-Verwaltungsratsprä- sident Dr. Christian Gasser vom 13. November 1962 wurde deutlich, dass beide Referenten die Mitverantwortung der Arbeiterschaft in den Be- trieben noch vermehrt fördern wollten. Dr. Gasser betonte, dass der Mensch erst in einer selbstver- antwortlichen, freiheitlichen Atmosphäre optimal wirken könne, ausserdem müssten die Beschäf- tigten die Wertschätzung durch die Arbeitgeber spüren. Der Arbeitskreis beschäftigte sich 1962 auch mit den Anliegen der Jugend. An einem Podiums- gespräch zum Thema Tanzen rangen Vertreter der evangelischen Jugend Biel/Nidau den Erwach- senen das Versprechen ab, Tanzanlässe in einem verantwortbaren Rahmen zu ermöglichen. Der Arbeitskreis unterstützte die Durchführung sol- cher Anlässe im Farelsaal, und dank seiner Unter- stützung konnten dort ab 1963 auch Tanzanlässe stattfinden – natürlich mit gewissen Vorgaben. Nebst Rauch- und Alkoholverbot brauchte es die Organisation und Leitung durch eine kirchliche Vereinigung.

23 K apitel 2 Zusätzliche «Brennpunkte» erfordern ein Vollamt (1963–1967)

«Suchet der Stadt Bestes»

Dass der Arbeitskreis ab 1961 zu sehr vielen neuen Fragen das Gespräch eröffnen konnte, lag zu einem guten Teil an der Bereitschaft der evan- gelisch-reformierten Gesamtkirchgemeinde Biel, das Engagement für Zeitfragen zu stärken. Nach- dem Arnold Kellerhals das Präsidium der Arbeits- kreis-Kommission wegen Arbeitsüberlastung auf den 1. April 1961 niedergelegt hatte, entschädigte sie dessen Nachfolger, den Primarlehrer Samuel Maurer, für den wachsenden Arbeitsaufwand. Das Echo auf die intensivere Tätigkeit war jedoch so gross, dass sich die Gesamtkirchgemeinde auf Ini- tiative von Adolphe Kuenzi entschloss, die Leitung des Arbeitskreises ab dem 1. April 1963 zum Voll- amt auszubauen. Als Samuel Maurer am 26. Mai 1963 in der Stadtkirche Biel zum vollamtlichen Leiter des Arbeitskreises eingesetzt wurde, erläu- terte Pfarrer Kurt Lüthi in seiner Predigt, was die Kirche zu diesem Schritt bewogen hatte: Samuel Maurer «Aus Jeremia 29, 7: Suchet der Stadt Bestes… denn wenn’s ihr wohl geht, so geht’s euch auch wohl! Suchet der Stadt Bestes, das ist die schöne, die grosse und die verantwortliche Aufgabe der Kir- Wort so deutlich: Nur wenn’s der Stadt gut gehe, che, der Christen und von uns allen! Und es ist die dann gehe es auch dem Volk Gottes gut. Dort ent- entscheidende Frage an uns, ob wir der Stadt, und scheidet es sich also, dort im Vorstoss, dort in der sofort unserer konkreten Stadt, das Beste geben. Stadt und nicht hier in den Kirchenmauern. Denn ja: mitten in unserer sich wandelnden Welt Wir dürfen heute dankbar bekennen, dass ist auch die Stadt, ist auch unsere Stadt, in einer es Kreise in unserer Kirche gibt, die über die- raschen Wandlung, um nicht zu sagen in einer Re- se Fragen nachdenken. Sie wollen nun wirklich volution begriffen. Geben wir ihr dafür das Beste? der Stadt und unserer Stadt Bestes und nicht nur Wir können es nur dann, wenn wir sie sehr genau das Beste der Kirche. Wir können nur froh sein, kennen. So steht das Gesicht unserer Stadt vor un- dass es solche Kreise gibt, die einmal einen Stein seren geistigen Augen. So ist die Stadt der Partner in den ruhigen Kirchenweiher werfen, so dass es der K irche, der Christen. […] nun Wellen gibt. Aber wir können auch froh sein, Aber (die Kirche) steht nicht mehr mitten drin dass aufgeschlossene Kirchgemeinderäte sich die- im Leben, im Leben der Stadt. Und dabei steht se Unruhe gefallen lassen. Dass sie bereit sind, auf über ihr ein Herr und Gott, der den Auftrag, den Neues einzutreten. Im Ausbau des Arbeitskreises Befehl gegeben hat, dieser Stadt Bestes zu suchen. und im Einsatz des Vollamtes ist nun den Bieler Dabei steht über ihr ein Herr und Gott, der seine Gemeinden ein Instrument gegeben, das die Ge- Schar hinaus sendet in die Stadt. Dabei ist diesem setze der Stadt studieren, kennen lernen kann. Das Herrn und Gott alles Rückzugschristentum, alles neue Wege suchen soll, um der Stadt das Beste zu Sonntagschristentum ein Gräuel. Sagt doch sein geben. […] Es sei der Gemeinde deutlich gesagt:

24 K apitel 2 Zusätzliche «Brennpunkte» er fordern ein Vollamt (1963–1967) Sitzungen, um den inneren Aufbau der Gemeinden zu vervollkommnen, dagegen wird dem Ausbruch oft eine kleine Chance gegeben. So sehen wir im neu geschaffenen Vollamt für Der Aufbruch geschieht nicht um der Unruhe und den Arbeitskreis eine Chance für den Ausbruch zu der Erneuerungssucht willen, er soll nur wieder den 90 Prozent und eine sinnvolle Ergänzung der neu der Stadt das Beste geben. Denn ja: Gott sel- traditionellen Arbeit der Kirchgemeinden. Dem ber gibt den Auftrag. Denn ja: Gott selber will der Träger des neuen Amtes ist damit eine intensive Stadt Bestes. Unsere kleine Stadt ist dem grossen innere Auseinandersetzung mit den Problemen Gott nicht zu klein. […] der modernen Stadt zugemutet, die der traditionell (Unser radikales Textwort) sagt nicht mehr und arbeitende Pfarrer – im Überdruck seiner Aufga- nicht weniger, als dass die Kirche nur existieren ben – kaum leisten konnte. Natürlich soll das neue und funktionieren kann, wenn’s der Stadt wohl Amt es weder dem Pfarrer noch weiteren Kreisen geht. Da wird’s deutlich: Gott ist der Gott der Stadt ersparen, sich verantwortlich für die 90 Prozent zu u nd n icht der K i rchengot t . Da r u m kön nen w i r h ier wissen.» das Verhältnis nie umkehren. Zuerst kommt die Lüthi begründete auch die Wahl eines Laien Stadt, dann die Kirche, ja, zuerst die Front, dann in die Leitung des Arbeitskreises: «Der Bieler das Hinterland.» Arbeitskreis war ursprünglich vor allem eine Ge- Nach der Amtseinsetzung erklärte Samuel meinschaft von Laien. Als Ergänzung des Pfarr- Maurer der Gemeinde, wie er seinen Auftrag sah: amtes ist die Einsetzung eines Laien an einer «Es gibt für diese Aufgabe kein Vorbild, nach dem verantwortlichen Stelle zu begrüssen. Die Be- sie zu erfüllen wäre. Wir kennen nur den Auftrag, deutung des Laien ist in der evangelischen Kirche das Ziel. Den Weg zu suchen, wird immer neu un- theologisch sichergestellt. Die praktischen Kon- sere Aufgabe sein. In dieser Verantwortung aber sequenzen müssen nun gezogen werden; es geht kann keiner als Einzelner stehen. Sie ist vielmehr um das Ernstnehmen des Laienapostolates und die uns allen als Gemeinde übertragen.» unteilbare Ganzheit des geistlichen Amtes, vor der die Aufspaltung in Theologen und Nichttheologen nicht haltbar ist. Der Laie kennt auch bestimmte «Es gilt, die Türe zur Kirche und zum Situationen des heutigen Lebens, etwa in Schule, Glauben weit zu öffnen» Wirtschaft und Kultur, besser als der Theologe. Er könnte auch eine Hilfe sein, der Kirche eine Die in Pfarrer Kurt Lüthis Predigt erwähnten gewisse Lebensfremdheit bewusst zu machen. Da- aufgeschlossenen Kirchgemeinderäte waren sich rum ist die Besetzung des neuen Amtes mit einem bewusst, dass die Kirche auch in einer Zeit der gut Laien zu begrüssen.» Die Arbeit Samuel Maurers besuchten Gottesdienste und eines regen Gemein- in den folgenden Jahren zeigte, wie treffend Pfar- delebens mit traditionellen Mitteln nur noch etwa rer Lüthi die Situation beurteilt hatte. 10 Prozent der Bevölkerung erreichte. Lüthi erläuterte auch auf gesamtschweize- rischer Ebene, welche Folgerungen die Kirche daraus ziehen sollte. Im Kirchenblatt für die refor- mierte Schweiz erklärte er: «Eine wirkliche Kirche aber weiss, dass sie zu allen gesandt ist, weil über ihr nicht nur der Herr der Kirche, sondern der Herr der Welt steht. Darum ist eine echt missio- narische Kirche an den neuen Institutionen, die wir im Auge haben, interessiert. Damit kann sie in Kreise eindringen, die bisher verschlossen waren; sie wahrt aber mit der neuen Form (hauptsächlich des Dialogs) die echte, innere Freiheit des Partners, den sie sucht. Unser traditionelles Kirchentum treibt einen grossen Aufwand an Geld, Gebäuden,

25 K apitel 2 Zusätzliche «Brennpunkte» er fordern ein Vollamt (1963–1967) des Bundesrates mussten die Verantwortlichen der Befragung Themen wie Militärdienstverweige- rung, atomare Bewaffnung, Niederlassungsrecht für Ausländer oder Schwangerschaftsabbruch aus Das Vollamt kommt zum richtigen dem Fragenkatalog streichen. Doch trotz dieser Zeitpunkt Abwehrstrategie sollten mehrere tabuisierte ge- sellschaftliche Probleme noch vor dem Epochen- Wie die Entwicklungen der Sechzigerjahre jahr 1968 mit aller Macht an die Oberfläche drin- aufzeigten, fällte die evangelisch-reformierte Ge- gen. samtkirchgemeinde Biel mit ihrem Entscheid zum Ausbau des Arbeitskreises einen wegweisenden, weit vorausschauenden Entscheid. Zwar befand Gute Verankerung in Gemeinde und sich die schweizerische Vorstellungswelt bis um Kirchgemeinde – und ein neuer Auftritt die Mitte der Sechzigerjahre noch in einer Art von labilem Gleichgewicht. Die Landesausstellung Als Leiter der Geschäftsstelle legte Samuel von 1964, die Expo am Seegestade von Lausanne, Maurer Wert darauf, den Kontakt zu den Kirch- versuchte den Zwiespalt zwischen Bindung an die gemeinden zu pflegen – der lebendige Kontakt zu Vergangenheit und Ausblick auf die Zukunft mit den Gläubigen gehörte für ihn zu den Vorausset- Charme, aber bezeichnenderweise ohne eigent- zungen einer erfolgreichen Arbeit. Für den Aus- liche Analyse der Probleme zu überbrücken. Diese tausch zwischen dem Arbeitskreis und den Kirch- Oberflächlichkeit brachte der Expo Kritik ein – gemeinden sorgte auch das Reglement des Jahres acht kritische Autoren bezeichneten sie als «phan- 1963. In der Arbeitskreis-Kommission hatten die tasieloser Abklatsch der Bundesbürokratie». Im Gesamtkirchgemeinde und die einzelnen Kirch- Zusammenhang mit dieser Kontroverse gelang es gemeinden beider Sprachgruppen Gelegenheit, dem Arbeitskreis, Arnold Künzli als einen der Kri- Vorschläge und Anregungen zum Arbeitspro- tiker mit René Richterich von der Expo-Direktion gramm zu machen. an einen Tisch zu bringen. Das von Friedrich Salz- In der Praxis lag der massgebende Einfluss auf mann geleitete Gespräch zum Thema Die Schweiz die Programmgestaltung allerdings beim Arbeits- von morgen fand grosse Beachtung. ausschuss. Weil dieser sich viel häufiger traf, konn- Auch der Umgang mit dem Expo-Projekt Gul- te er auf aktuelle Entwicklungen rasch reagieren liver z eig te , w ie u nter s c h ied l ic h dem A n st u r m neu- und die eigenen Aktivitäten mit den Anlässen an- er, aktueller Fragestellungen damals begegnet wer- derer Organisationen koordinieren. den konnte. Mit Gulliver wurde versucht, die erste Ebenso wichtig wie die Verankerung in den soziokulturelle Untersuchung der Schweiz durch- K i r c h g e m e i n d e n n a h m d e r G e s c h ä f t s l e i t e r d i e A u s - zuführen. Auf seiner imaginären Reise durch die weitung des Dialoges mit den gesellschaftlichen Schweiz führte Gulliver an der Expo einen Wahltag Gruppen in der modernen Stadt. Verschiedene Be- durch, an dem die Bevölkerung zu verschiedenen rufsgruppen sollten für eine regelmässige Zusam- Themen ihre Meinung abgab. Mit der Auswertung menarbeit gewonnen werden, wie das mit den Reli- der Antworten sollte den Besuchern und Besuche- gionslehrern schon gelungen war – etwa die Ärzte, rinnen klar werden, dass sie nicht einen eindimen- die in ihrer Arbeit immer wieder mit ethischen sionalen homo helveticus repräsentierten, sondern und religiösen Fragen konfrontiert waren. die Vielfalt der Mentalitäten und Haltungen in der Wie gut verankert der Arbeitskreis in der Bieler Schweizer Bevölkerung widerspiegelten. Politik war, zeigte sich im Zusammenhang mit den Der Arbeitskreis interessierte sich sehr für Abstimmungen zum städtischen Budget. Die wei- dieses Projekt. Auf den 10. September 1964 organi- terhin rasch wachsende Stadt musste sich entweder sierte er auf dem Expo-Gelände bei Lausanne ein verschulden oder den Steuersatz erhöhen, um die Gespräch zu Gulliver und die Kirche zwischen Pfar- nötigen Schulhäuser, Kanalisationen und Was- rer Theo Brüggemann und dem damaligen Präsi- serleitungen zu bauen. In diesem Zusammenhang denten der Kommission des Arbeitskreises, Ge- fragten die Bieler Parteien den Arbeitskreis kurz- meinderat Paul Lachat. Der Landesregierung aber fristig an, ob er zum Thema Wie viel Steuern sollen war Gulliver ein Dorn im Auge. Unter dem Druck wir bezahlen? ein Podiumsgespräch organisieren

26 K apitel 2 Zusätzliche «Brennpunkte» er fordern ein Vollamt (1963–1967)

könne. Nur zwei Tage vor der Abstimmung konn- te das Podium mit dem Stadtpräsidenten und vier Gemeinderäten vor einem vollen Farelsaal durch- geführt werden. Welchen Einfluss der Anlass auf den Ausgang der Abstimmung hatte, blieb unge- wiss – am 2. Februar 1964 wurde das Budget mit 4677 zu 2290 Stimmen verworfen. Nach der Schaffung des Vollamtes beschloss der Arbeitskreis, für sein öffentliches Auftreten ein Si- gnet zu schaffen. Dem Grafiker René Brotbeck ge- lang es, die zu vermittelnden Elemente «Arbeits- kreis», «evangelisch» und «Zeitfragen» optimal Der Grafiker René Brotbeck schuf 1964 ein überzeu- in eine überzeugende Form zu bringen. Das später gendes Signet, das die Elemente Arbeitskreis, evangelisch prämierte Signet mit dem an ein Fragezeichen er- und Zeitfragen beinhaltet. innernden, leicht geöffneten kleinen «e» sollte sich in den folgenden Jahrzehnten gut im Gedächtnis vieler Bielerinnen und Bieler verankern.

Nach dem gleichen Muster organisierte die Ar- Die Arbeitsgemeinschaft Arzt beitsgemeinschaft im März 1965 ein Symposium und Seelsorger zum Thema Angst, und im Herbst 1965/ Winter 1966 wurde die gemeinsame Arbeit mit dem Semi- Im Mai 1963 begann der Arbeitskreis mit der nar Arzt und Krankheit bei Jeremias Gotthelf fort- Konzeptarbeit im Hinblick auf die Gründung ei- gesetzt. Nach 1965 wurde die Arbeitsgemeinschaft ner Arbeitsgemeinschaft engagierter Ärzte und von Pfarrer Ernst Schw yn geleitet. Seelsorger. Dabei konnten die Erfahrungen be- reits bestehender Institutionen einbezogen wer- den, zum Beispiel jene der Schweizerischen Arbeits- gemeinschaft Arzt und Seelsorger um den Zürcher Weltweite Veränderungen fördern Pfarrer Werner Niederer. Die gemeinsame Arbeit die ökumenische Zusammenarbeit sollte ausdrücklich nicht evangelistisch, sondern «als sachliches Gespräch zwischen Partnern» ge- Zu Beginn der Sechzigerjahre erlebte der Öku- staltet werden. Konkret wurden regelmässige the- menische Rat der Kirchen eine tief greifende Ver- matische Gesprächsabende im Farelhaus und eine änderung. An seiner dritten Vollversammlung in jährliche Tagung vorgesehen. Neu-Delhi 1961 wurden zahlreiche Kirchen aus Erfreulich rasch fanden sich viele in der Region Osteuropa, Afrika und Asien aufgenommen. Die- verankerte Ärztinnen und Ärzte, Pfarrerinnen und se Kirchen hatten sich von ihren europäischen und Pfarrer, die an einer gemeinsamen Arbeit interes- nordamerikanischen Mutterkirchen gelöst, und siert waren. Als die Arbeitsgemeinschaft Arzt und sie verstanden unter Mission nicht in erster Linie Seelsorger ihre Tätigkeit im Januar 1964 mit einem die Bekehrung ihrer Gebiete durch die Mutterkir- Symposium zum Thema Die Wertung des Lebens chen, sondern die Verkündigung der christlichen aufnahm, waren über fünfzig Personen aus beiden Botschaft ausserhalb der Kirche, zum Beispiel Berufen vertreten. Das Symposium war zweiteilig auch in den weitgehend materialistisch geprägten aufgebaut. Am Samstag erörterten Prof. W. Ber- modernen Industriegesellschaften. Damit gaben net und Dr. med. R. Kuhn das Leben aus ärztlicher sie auch den Kirchen in der Schweiz neue Impulse. und aus theologischer Sicht, um eine Grundlage Etwa gleichzeitig vollzog sich innerhalb der für die Diskussion vom Sonntagmorgen zu geben. römisch-katholischen Kirche eine bedeutsame

27 K apitel 2 Zusätzliche «Brennpunkte» er fordern ein Vollamt (1963–1967) In Biel herrschte eine andere Auffassung von Ökumene vor. Ende 1963 unterbreitete der Ar- beits-kreis den katholischen und reformierten Geistlichen den Vorschlag, im Rahmen der öku- Wandlung. Im Zeichen des aggiornamento berief menischen Woche ein Podiumsgespräch über den Papst Johannes XXIII 1961 das Zweite Vatika- Stellvertreter zu organisieren. Das Echo war positiv, nische Konzil ein. An diesem Konzil wurde bis 1963 und der Arbeitskreis lud alle religiösen Gemein- die überfällige Öffnung der katholischen Kirche schaften in Biel zu diesem aussergewöhnlichen gegenüber der Moderne vollzogen. Endlich wur- Gespräch ein. Die Einladung machte klar, dass es den zentrale Wertvorstellungen der Aufklärung nicht nur darum gehe, Papst Pius XII zu kritisie- und des Liberalismus wie die Menschenrechte in ren, sondern ganz allgemein darüber nachzuden- ihrem Kern als christlich anerkannt. Zum ersten ken, warum der Holocaust nicht verhindert wurde. Mal lud der Vatikan die anderen Kirchen und den Am 15. Januar 1964 hatten sich über 550 Personen Ökumenischen Rat der Kirchen ein, Beobachter im Farelsaal eingefunden, um die Diskussion über an das Konzil zu entsenden. Dadurch entstand den Stellvertreter mitzuverfolgen. Am Podium be- am Rande des Konzils ein Dialog zwischen den teiligten sich Dr. Gertrud Kurz, Prof. Max Geiger, Konfessionen, der sich positiv auf den Verlauf des Prof. Alois Müller und der Journalist Dr. Alexander Konzils auswirkte. Doch bald zeigte sich an einem J. Seiler. konkreten Beispiel, dass die Entwicklung zur öku- menischen Zusammenarbeit recht widersprüch- lich verlief. Der evangelische Kirchentag und die Sorge um Israel

Ein christliches Trauerspiel Vom 4. bis zum 6. Oktober 1963 fand in Basel der erste deutschschweizerische evangelische War Papst Pius XII mitschuldig an der Judenver- Kirchentag statt. Der Arbeitskreis hatte nicht folgung im nationalsozialistischen Deutschland? nur eine sorgfältige inhaltliche Vorbereitung auf Rolf Hochhuths erstes Schauspiel Der Stellvertre- dieses Ereignis ermöglicht, er organisierte auch ter. Ein christliches Trauerspiel warf derart unbe- den Transport und die Unterbringung der 113 queme Fragen auf, dass einige Gegner des Stückes Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus Biel. Der vor gewalttätigen Aktionen nicht zurückscheuten. Kirchentag beschäftigte sich mit der Zukunft des Auch die schweizerische Uraufführung im Basler Menschen in Familie, Beruf, Gesellschaft, Staat Stadttheater 1963 musste von 200 Polizisten ge- und Politik, aber auch mit der Zukunft der Kir- schützt werden, und Tausende von Katholiken de- che. Dabei wurde unter anderem das Verhältnis monstrierten vor dem Theater zugunsten des Vati- zw ischen K irche u nd Israel t hemat isiert. Die evan- kans. Der Direktor des Stadttheaters hatte vor der gelische Kirche bezeichnete sich als eng mit Israel Aufführung einen Brief erhalten, in dem mit einem zusammengehörig – wenn Israel leide, leide auch Bombenanschlag gedroht wurde, und während die Kirche. Nach den Versäumnissen während der der Premiere quittierte ein Teil des Publikums die nationalsozialistischen Herrschaft sei es nun Zeit, papstkritischen Stellen mit einem Pfeif konzert. aktiv Busse zu tun. Die Kirche müsse gegen den In dieser Situation zeigte sich, wie unterschied- latenten Antisemitismus vorgehen, der auch in der lich der Begriff Ökumene ausgelegt wurde. Da er- Schweiz zu spüren sei, und auf verschiedenen Ebe- suchte eine Ökumenische Laiengruppe Luzern Bun- nen Aufklärungsarbeit leisten. desrat Tschudi um ein Verbot des Schauspiels, und In Biel war der Arbeitskreis schon vor dem Kir- die Aktion junger Christen rief die Öffentlichkeit chentag in diesem Sinne tätig. In den Monaten Mai dazu auf, gegen die Aufführung des Stellvertreters und Juni 1963 organisierte die Arbeitsgemeinschaft zu demonstrieren, «weil wir Schweizer für die To- für Religionsunterricht fünf Kursabende zum The- leranz eintreten und uns darum entschieden gegen ma Israel. Im allgemeinen Teil des Zyklus berich- krampfhafte ausländische Verunglimpfung und tete die «Flüchtlingsmutter» Dr. Gertrud Kurz Beleidigung unserer katholischen Mitbürger weh- über den Leidensweg Israels, worauf Pfarrer H.-P. ren!» Stähli die gegenwärtige Situation des Staates Israel

28 K apitel 2 Zusätzliche «Brennpunkte» er fordern ein Vollamt (1963–1967) bens zu fragen. Das gilt sogar für die Gottesfra- ge. Evangelische Erwachsenenbildung setzt Gott nicht als selbstverständliche Maxime voraus, aber sie leitet an zum ‹verantwortlichen Reden über vorstellte. Die beiden folgenden Anlässe befassten Gott› (Ebeling). Insofern vermittelt evangelische sich mit religiösen Aspekten – Pfarrer Dr. Kurt Erwachsenenbildung kein bestimmtes Glaubens- Lüthi referierte über die biblische Sicht Israels, Sa- gut, sondern hilft in dialogischer Freiheit zur Be- muel Maurer über Möglichkeiten, Israel im Religi- sinnung darüber, wozu christlicher Glaube in der onsunterricht zu thematisieren. Ein Gespräch mit Welt gut ist.» dem Bieler Rabbiner Dr. Aron Silberstein rundete den Zyklus ab. Ein knappes Jahr später, am 4. Mai 1964, organisierte der Arbeitskreis einen Anlass Begegnung mit moderner Literatur zum interreligiösen Dialog. Im Farelsaal referierte Pfarrer H. D. Leuner über die Entwicklung des Mit dem Stellvertreter hatte Rolf Hochhuth christlich-jüdischen Gesprächs seit 1945. Dokumentartheater gemacht – mit seinen histo- rischen Recherchen zeigte er seine Bemühungen um Wahrhaftigkeit. Wahrhaftigkeit war auch das Grundlage und Ziele einer evangelischen Anliegen einer Gruppe von Schriftstellern zu Be- Erwachsenenbildung g i n n der S e c h z ig er ja h re , d ie der t r ad it ionel le n Rol- le der Literatur skeptisch gegenüberstanden. Sie Auch Jahre nach seinem Wegzug aus Biel blieb weigerten sich, in jenen Jahren des zunehmenden Dr. Robert Leuenberger der Institution verbun- Wohlstands ebenfalls marktorientiert und «po- den, die er mitbegründet hatte – wiederholt stellte sitiv» zu schreiben. Als Vertreter der experimen- er sich als Referent zur Verfügung, und auch sei- tierfreudigen Autoren erklärte Kurt Marti: «Der ne grundsätzlichen Gedanken zu den Aufgaben Dichter ist kein Ideologe, der seine Weltanschau- evangelischer Erwachsenenbildung wurden vom ung den anderen einimpfen will mit Met hoden, die Arbeitskreis beachtet. 1966 wiederholte Leuen- auf das Unbewusste einwirken und den Verstand berger zwei wesentliche Punkte: «Evangelische ausschalten. Darum vermeidet die heutige Dich- Erwachsenenbildung versteht ihre Arbeit als Di- tung Mittel wie den Reim, die eher einschläfern akonie (=Dienst). […] Sie will weder ‹bekehren› und auf das Unbewusste wirken, und wird dadurch noch will sie unverbindlich-interessante Einblicke merkwürdig spröde und hart.» Wie andere Vertre- in die akademische Theologie vermitteln. Ihr Ziel ter der «konkreten Poesie» sah Kurt Marti auch besteht ausschliesslich darin, die einzelnen zur die Möglichkeit, auf diese Weise die Lyrik zu de- verantwortlichen Begegnung in der Welt zu füh- mokratisieren: ren, in der sie leben und sterben müssen, und ihnen «Eine Konstellation ist ein aus Worten gebil- so zu helfen, die Anforderungen dieses Lebens zu deter Seh- und Denkgegenstand, der entweder zum verstehen und in der tiefstmöglichen Verantwor- Spiel oder zur Meditation gebraucht, also nicht nur tung und Freiheit zu bestehen. genossen und nachempfunden, sondern wirklich Evangelische Erwachsenenbildung setzt auch ‹gebraucht› werden kann. Der Dichter, scheint keine bestimmte Weltanschauung voraus. […] mir, wird hier seiner Priesterwürde entkleidet und Wenn sie trotzdem ihre Arbeit als diakonische zu einem primus inter pares im allgemeinen Prie- Aktion der Kirche ausübt, so bedeutet das, dass sie stertum der Wort- und Denkspieler gemacht.» die Welt, wie sie heute in Erscheinung tritt, mit Die grosse Mehrheit der Schriftsteller und die der Überlieferung christlichen Denkens konfron- Öffentlichkeit betrachteten die Neuerer mit Skep- tiert, um so die Verantwortlichkeit des Menschen s i s , m a n c h m a l a u c h m it o f f e n e r A b le h nu n g. D e n A r - in Beruf, Familie und Gesellschaft so sachlich und beitskreis jedoch interessierten die neuen Formen, so umfassend wie möglich zur Sprache zu bringen. Literatur herzustellen und zu deuten, sehr. In die- Die ‹Theologie› als Faktor der evangelischen Er- sem Zusammenhang organisierte Samuel Maurer wachsenenbildung will also nicht zum kirchlichen 1965 mehrere Autorenabende mit der literarischen Bekenntnis führen, sondern dient als Anstoss und Gesellschaft. Im April mit Günther Eich und mit als Hilfe, nach dem Sinn und der Aufgabe des Le- Ilse Aichinger, im Oktober mit Kurt Marti.

29 K apitel 2 Zusätzliche «Brennpunkte» er fordern ein Vollamt (1963–1967) matfilmen. Der Arbeitskreis beschloss, die Aus- einandersetzung mit dem Film zu fördern. 1964 gab er den Impuls zur Gründung der ökumenisch geführten Arbeitsgemeinschaft Kirche und Ausgehend von diesem Zyklus stellte der Ar- Film, und noch im gleichen Jahr gründete er den beitskreis die Frage, ob moderne Literatur eine Jugendfilmklub. Herausforderung des christlichen Glaubens sei. Unter der Leitung von Samuel Maurer stellte Als Referenten konnte der Arbeitskreis den ehe- der neue Verein ein Programm mit zehn künstle- maligen Bieler Pfarrer Kurt Lüthi gewinnen, der risch wertvollen Filmen zusammen, das den 300 inzwischen als Theologieprofessor in Wien wirkte. Mitgliedern für zehn Franken zugänglich gemacht Lüthi erklärte, die zeitgenössische Literatur wi- wurde. Von Anfang an erhielt der Jugendfilmclub derspiegle eine besonders wesentliche Wirklich- die grosszügige Unterstützung von Kinobesitzer keitserfahrung. Für den Glauben sei die Begeg- Vital Epelbaum – das Kino Apollo wurde für jfk- nung mit zeitgenössischer Literatur sehr wichtig, Filme kostenlos zur Verfügung gestellt. Nach drei weil diese Begegnung den Glauben lebendig und erfolgreichen Filmzyklen fusionierte der Jugend- offen mache zum Dialog mit der Zeit. Die Begeg- filmklub 1967 mit der Filmgilde Biel. nung zwischen dem Theologen und dem Künstler Auf den 18. Februar 1965 organisierte die Ar- sei aber schwierig: beitsgemeinschaft Kirche und Film ein Podiums- «Der Künstler ist immer zuerst und wesentlich gespräch zum Thema Film – Herausforderung und am Formalen interessiert: an der Sprache, an den Verpflichtung. Bei der schwierigen Arbeit mit dem Techniken der Dichtung, am Spiel oder der Kon- Medium Film konnte die Arbeitsgemeinschaft auf struktion mit Worten. Der Theologe dagegen ist wirksame Unterstützung zählen. in Gefahr, zu schnell nach der Aussage, nach der Die Amateurfilmer Curt Hablützel, Ludwig Botschaft des Künstlers zu fragen. Heutige Lite- Hermann und Mario Cortesi von V-Pictures hatten ratur ist aber weithin Aufbruch und Ausbruch aus eben erst mehrere internationale Filmpreise ge- den Ordnungen. Der Schriftsteller und sein Werk wonnen, und sie waren bereit, am 28. Mai und am leben nicht mehr von einem Erlebnis der Gebor- 4. Juni 1964 eine Einführung in die Filmherstel- genheit her. Er hat nicht eine heile Welt vor Au- lung zu geben. Im Januar und Februar 1966 boten gen, sondern ist ins Unheimliche, ins Fragliche ge- die erfolgreichen Filmemacher gar einen sieben- worfen. Die Realität wird in der Komödie erfasst. teiligen praktischen Filmkurs an. Sehr wichtig für Dabei entsteht eine konstruierte Sprache, die neue den auch weiterhin erfolgreichen Verlauf der Film- Symbole schafft, um die Wirklichkeit zu ertragen. arbeit war der Zuzug von Theo Krummenacher Es kommt zu einer grundsätzlichen Verwandlung im Herbst 1966. Der neue Pfarrer von Mett hatte des Sprachmaterials, das eine völlig neue Wahr- schon im Jura kirchliche Filmarbeit geleistet, und nehmung spiegelt.» in Biel fand sein Engagement guten Boden. Mit Karl Rahner forderte Lüthi von der Kirche die Kairologie, also eine Verkündigung, die ihre Gestaltung ausgehend vom Bedenken des aktu- ellen Zeitpunkts erfährt.

Die Auseinandersetzung mit dem Film

1963 begaben sich die Bieler und Bielerinnen 44 000 mal ins Theater, 155 000 mal ins Fussball- stadion und 1 120 000 mal ins Kino. Das Fernse- hen war noch nicht Allgemeingut, somit lag die dominierende Rolle in der Vermittlung visueller Botschaften noch eindeutig beim Film. In Biel lag Der 1964 gegründete Jugendfilmklub bot alljährlich der Publikumsgeschmack überwiegend bei italie- 300 Bieler Jugendlichen einen preiswerten Zugang zu nischen Monumentalschinken und billigen Hei- Meisterwerken der Filmkunst.

30 K apitel 2 Zusätzliche «Brennpunkte» er fordern ein Vollamt (1963–1967) respektieren und dementsprechend bis Ende des Jahres 1964 einen zivilen Ersatzdienst einzufüh- ren. Für den Fall, dass der Bundesrat nichts unter- nehme, kündigte er mit 1400 Mitunterzeichnern Ein Beitrag zum politischen an, 1965 noch aktiver für einen Zivildienst zu Tauwetter auf nationaler Ebene kämpfen. Annens Aufruf, für diesen Fall den Mi- litärdienst oder die Bezahlung des Militärpflich- Nach der t raumat ischen Erfahr u ng des Zweiten tersatzes zu verweigern, war im Sommer 1964 von Weltkriegs hatte es nur kurze Zeit gedauert, bis der Bundespolizei beschlagnahmt worden – die man in Europa wieder mit der Möglichkeit eines öffentliche Aufforderung zur Dienstverweigerung Krieges rechnete. Während der Fünfzigerjahre brachte dem Gymnasiallehrer eine bedingte Ge- fragten sich viele, ob die Sowjetunion nicht ver- fängnisstrafe von 20 Tagen ein. Andrerseits war suchen würde, die Grenzen ihres durch den «Ei- Bundesrat Chaudet bereit, mit Annen ein offenes sernen Vorhang» begrenzten Machtbereichs west- Gespräch zu führen. In diesem Gespräch erklärte wärts zu verschieben, und vor diesem Hintergrund der EMD-Vorsteher, er verstehe, dass die Zivil- wurde der Sinn der allgemeinen Wehrpflicht kaum dienstbefürworter noch nicht bereit seien, ihr An- in Frage gestellt. Die Armeeführung machte Plä- liegen mit einer Volksinitiative voran zu bringen. ne, die Schweizer Armee mit Atomwaffen auszu- Zu diesem immer aktueller werdenden Thema rüsten, und der Bundesrat verbot eine für 1958 vertrat die evangelisch-reformierte Kirche eine in Basel geplante Konferenz gegen die atomare sehr klare Position. Schon 1947 befürwortete der Aufrüstung, an der Lord Russel, Prof. Karl Barth, Schweizerische Evangelische Kirchenbund ei- Atomphysiker Max Born, der Schriftsteller Erich nen Zivildienst für Militärdienstverweigerer aus Kästner und Robert Jungk gesprochen hätten. Gewissensgründen. Nach einigen besonders pro- Dementsprechend wurde das Engagement des Bie- blematischen Verweigerungsfällen beauftragte er ler Lehrers Arthur Villard gegen die atomare Auf- 1961 die Berner Staatsrechtslehrer Hans Huber r üst ung weit hin als «prokommunist ische Wühlar- und Richard Bäumlin mit der Abklärung der Fra- beit» disqualifiziert. ge, ob ein ziviler Ersatzdienst mit der Verfassungs- In dieser Situation verweigerten pro Jahr nur bestimmung «Jeder Schweizer ist wehrpflichtig» etwa fünfzig Männer den Dienst, die meisten vereinbar sei. Das Gutachten ermutigte dazu, wei- von ihnen bekannten sich als Zeugen Jehovas. tere Schritte in Richtung eines Zivildienstes zu Wer aus Gewissensgründen den Militärdienst ver- unternehmen, wurde vom Eidgenössischen Mili- weigerte, wurde psychiatrisch untersucht – und tärdepartement aber ignoriert. genau diese Abschiebung eines moralisch-religi- Als sich im Herbst 1964 eine Verhärtung der ösen Problems auf das Gebiet der Pathologie stiess Fronten abzeichnete, ergriff der Bieler Arbeitskreis 1962 erstmals auf den hörbaren Protest einer pa- für Zeitfragen die Initiative, einen Dialog zwi- zifistischen Gruppe aus der Suisse Romande. Man schen Befürwortern eines Zivildienstes und dem wusste, dass die meisten Länder Europas Mittel und EMD in Gang zu bringen. Samuel Maurers Vor- Wege gefunden hatten, die Dienstverweigerer aus schlag, diesen Dialog in Form einer geschlossenen Gewissensgründen auf menschlich befriedigende Tagung im Konferenzsaal des Hotels Bellevue in Weise im Dienste der Allgemeinheit einzusetzen, Magglingen zu führen, erhielt die Unterstützung und man erwartete, dass auch in der Schweiz eine des bernischen Synodalrates. Der Rat war bereit, entsprechende Lösung gefunden werde. In diesem die Tagung finanziell zu unterstützen, und auch Sinne schrieben im Oktober 1964 über 200 Bür- der Brief an Paul Chaudet, in dem der Arbeits- ger aus dem Kanton Neuenburg dem Bundesrat, er kreis den Bundesrat zur geplanten Tagung einlud, solle mit der Einführung eines Zivildienstes den wurde vom Rat mit unterzeichnet. Der Vorsteher Minderheiten Gerechtigkeit widerfahren lassen. des EMD antwortete grundsätzlich zustimmend. Noch wesentlich brisanter war die Post, die der Er verzichtete zwar darauf, selbst an der Tagung Bundesrat vom damals 29-jährigen Bieler Gym- teilzunehmen, ermächtigte aber hohe Funktionäre nasiallehrer Pierre Annen erhielt. Annen legte des EMD, sich am 24. März 1965 auf ein Gespräch der Landesregierung nahe, die verfassungsmässig mit Kirchenvertretern und Befürwortern des Zi- garantierte Glaubens- und Gewissensfreiheit zu vildienstes einzulassen.

31 K apitel 2 Zusätzliche «Brennpunkte» er fordern ein Vollamt (1963–1967) den könne. Er räumte aber ein, dass auch er einer Verfassungsänderung den Vorzug geben würde. Oberauditor Keller zeigte sich bereit, den Dienst- verweigerern aus Gewissensgründen entgegenzu- An die Tagung vom 24. März entsandte das kommen, allerdings vorerst innerhalb des Militär- EMD schliesslich Oberauditor R. Keller, Ober- strafrechts: Der Vollzug der Strafe könne statt in feldarzt R. Kaeser und alt Oberfeldarzt H. Meuli Haftanstalten in einem Spital oder in der Berghilfe sowie Prof. Hans Rudolf Kurz. Ausserdem war die geschehen. Das genügte Dr. Braunschweig nicht. Offiziersgesellschaft mit Rektor A. Ory (Biel) ver- Er fragte die EMD-Vertreter, ob sie nicht wahrge- treten. nommen hätten, dass die Dienstverweigererfrage Ihnen gegenüber standen Vertreter der Zivil- den Graben zwischen der Suisse Romande und der dienst- und Friedensorganisationen: Dr. Gertrud Deutschschweiz vertiefe, und er erkundigte sich, Kurz vom CFD, Ralph Hegnauer vom Service aus welchen Gründen sich das EMD so sehr gegen Civil International, Dr. Hansjörg Braunschweig einen Zivildienst sträube. In seiner Antwort zeigte vom Schweizerischen Friedensrat, Otto Siegfried sich Oberauditor Keller besorgt über gewisse Pro- von der Schweizerischen Vereinigung für inter- vokationen und über das Ausmass der Kritik, wel- nationalen Zivildienst und Pfarrer Willy Hirsch cher die Armee durch Pierre Annen und Arthur (Saanen) vom Kirchlichen Friedensbund für Ver- Villard ausgesetzt sei. Er empfand diese Kritik als söhnung. Sie wurden unterstützt vom Genfer Versuch, die Wehrkraft des Volkes auszuhöhlen, Nationalrat A. Borel und von Pfarrer Paul Huber, und befürchtete, dass sich mehrere tausend junge der eine umfassende Studie zum Problem verfasst Schweizer nach Einführung des Zivildienstes wei- hatte. Die weiteren Vertreter der Kirche bildeten gern würden, bewaffnet Dienst zu leisten. Aber er nicht einen geschlossenen Block, sprachen sich würde es respektieren, wenn die bestehende Rege- aber überwiegend für einen Zivildienst aus, eben- lung auf demokratischem Wege geändert würde. so die eingeladenen Fachleute, die Professoren Nach der Pause dankte Gertrud Kurz den An- Richard Bäumlin, Gottfried W. Locher und Adolf wesenden für ihre Gesprächsbereitschaft, und sie Friedemann. Als Vertreter der Feldprediger waren trat dafür ein, Provokationen in dieser Sache mit die Hauptleute F. H. Tschanz und A. Fankhauser Ruhe zu begegnen. Diesem Votum folgte eine eingetroffen. eindrückliche Intervention von Prof. Locher, der Samuel Maurer versuchte gleich in der Eröff- daran erinnerte, dass Dienstverweigerer aus Ge- nung, eine Brücke zu den EMD-Vertretern zu wissensgründen unter einem Zwang handelten – schlagen. Er betonte, dass die anwesenden Zivil- niemand könne von ihnen verlangen, ihren Glau- dienst-Befürworter nicht daran dächten, die Lan- ben zu verleugnen. Er frage den hohen Offizier, desverteidigung in Frage zu stellen. Eine Lösung und er frage den Militärarzt, was sie eigentlich des Dienstverweigererproblems bedeute aber kei- noch verteidigten, wenn sie einen Militärdienst er- ne Gefährdung des Staates, sondern im Gegenteil zwingen wollten, der mit gebrochenem Gewissen seine Gesunderhaltung und damit seine Stärkung. geleistet werde… Oberfeldarzt Kaeser erklärte, Thema des Gesprächs sei daher, mögliche Wege es dürfe niemals vorkommen, dass jemand wegen zu einem Zivildienst und dessen praktische Um- seiner religiösen Überzeugung als krankhaft er- setzbarkeit abzuklären. Bevor Friedrich Salzmann klärt werde. Er werde entsprechende Weisungen als Gesprächsleiter der Tagung das Wort ergriff, an die Untersuchungsrichter ergehen lassen. Sieg- erklärte Samuel Maurer, er habe am Vorabend fried zeigte sich dankbar für jede Milderung von einem Journalisten des Deutschen Fernsehens klar Bundesseite und erinnerte an eine Erklärung, die gemacht, dass eine Berichterstattung über die Ta- Churchill sogar in der dramatischen Situation des gung nicht erwünscht sei. Das von Pfarrer Alfred Jahres 1940 gemacht hatte: Dass niemand zum Bürgi zu erstellende Protokoll der Tagung sei nur bewaffneten Dienst gezwungen werden solle, der für die interne Verwendung bestimmt. nicht mit seinem Gewissen ja dazu sagen könne. Er In der ersten Phase des Gesprächs erläuterte glaube, dass auch die Schweiz etwas in diesem Gei- Prof. R. Bäumlin, weshalb ein Zivildienst trotz ste verwirklichen könne. dem Grundsatz der allgemeinen Wehrpflicht Schliesslich erklärte alt Oberfeldarzt Meuli sei- auch ohne Verfassungsänderung eingeführt wer- nen Standpunkt. Im Verlauf der Jahrzehnte habe

32 K apitel 2 Zusätzliche «Brennpunkte» er fordern ein Vollamt (1963–1967)

er mit vielen Dienstverweigerern gesprochen, und er habe grosse Achtung vor den Motiven eines Herman Greulich oder eines Leonhard Ragaz ge- wonnen. Er glaube, dass es möglich und nötig sei, Die Solidaritätskundgebung für den Militärverweigerer bessere Lösungen zu finden, und dabei dürften die Pierre Annen vom 15. Juni 1966 endete im Tumult. Die Mehrheitsverhältnisse keine entscheidende Rolle tätlichen Übergriffe einiger Angestellter der Anstalt spielen. Er finde eine Zivildienstpflicht als Ersatz Witzwil löste eine schweizweite Debatte aus. für den Militärdienst zwar nicht als gute Lösung, denn hier spielten auch politische Angelegen- heiten h i nei n, zu m Beispiel der Versuch, d ie Weh r- kraft der Schweiz zu schwächen. Er könne sich aber gänge von Witzwil trugen dazu bei, dass sich die vorstellen, den Sanitätsdienst anders zu gestalten, armeekritische und nonkonformistische Szene ab nämlich als Dienst in einer zivilen Heilanstalt oder 1967 auf gesamtschweizerischer Ebene organisier- gar im Landwirtschaftsbetrieb einer Anstalt. He- te. Auf Initiative des Pressebüros Cortesi trafen gnauer entgegnete ihm, es gebe offenbar auf bei- sich kritische Denker und Künstler aus der ganzen den Seiten noch erhebliches Misstrauen, und es Schweiz in La Neuveville und auf der St. Petersin- gelte, dieses Misstrauen abzubauen. Der Vorbehalt sel, um sich zu aktuellen Fragen auszutauschen und der meisten Dienstverweigerer gegenüber dem Sa- die Gründung einer neuen, nonkonformistischen nitätsdienst beruhe darauf, dass dieser Dienst Teil Partei zu erwägen. eines Räderwerks sei, dem er ausweichen müsse. Zum Abschluss appellierte Hegnauer an Oberau- ditor Keller, den Weg zu einer annehmbaren Lö- Siamo italiani in Biel sung zu ebnen, und erklärte, eine nächste Tagung werde sich mit konkreteren Bestimmungen für ei- Zum überaus schnellen Bevölkerungswachs- nen Zivildienst zu befassen haben. tum der Stadt Biel hatte auch die Zuwanderung Somit endete das Gespräch wie vorgesehen von Arbeitskräften aus Italien beigetragen – 1963 ohne konkrete Beschlüsse. In seinem Schlusswort zählte Biel etwa 15 000 Italiener. In den Jahren des erinnerte Samuel Maurer jedoch daran, dass schon Nachkriegsbooms rekrutierten die Unternehmer mit der Durchführung der Tagung ein wichtiger immer mehr Arbeitskräfte in unserem südlichen Schritt unternommen worden war: «Wir sind der Nachbarland, und die Zahl der italienischen Ar- Meinung, dass die Tatsache eines Gesprächs an beitskräfte stieg zu Beginn der sechziger Jahre sich ein sehr positives und verheissungsvolles Er- gesamtschweizerisch auf über eine halbe Million. gebnis ist, und es scheint uns, dass ein echtes Ge- Diese Zunahme stiess anfänglich bei den Gewerk- spräch stattgefunden hat.» schaften, dann aber vor allem in rechtskonserva- Es blieb leider für lange Zeit das einzige die- t iven K reisen auf Unbehagen. 1961 entstand in Zü- ser Art. Weil ein Teilnehmer den geschlossenen rich die Nationale Aktion gegen die Überfremdung Charakter des Gesprächs schon am Tag darauf mit von Volk und Heimat, und der Begriff der «Über- einer Veröffentlichung in der Tagespresse verletz- fremdung» fand in immer breiteren Kreisen der te, brach das EMD auf Anweisung von Bundesrat Deutschschweiz Resonanz. Chaudet den Dialog ab. Der Journalist Alexander J. Seiler interessierte Damit war aber die Konfrontation vom Sommer sich für die Menschen, die ihre Heimat verlassen 1966 in Witzwil, wo Pierre Antenen wegen Mili- hatten, um in der Schweiz zu arbeiten, und suchte tärdienstverweigerung eine 81-tägige Gefängnis- das Gespräch mit ihnen. Unter dem Titel Siamo strafe absass, vorprogrammiert. Die Tatsache, dass italiani veröffentlichte er eine Auswahl dieser Ge- ein Teil des dortigen Anstaltspersonals gegen Teil- spräche in Buchform, und Max Frisch schrieb dazu nehmer einer Solidaritätsdemonstration tätlich eine Einleitung mit den berühmt gewordenen Sät- wurde, erregte landesweit die Gemüter. Die Vor- zen: «Ein kleines Herrenvolk sieht sich in Gefahr:

33 K apitel 2 Zusätzliche «Brennpunkte» er fordern ein Vollamt (1963–1967)

man hat Arbeitskräfte gerufen, und es kommen Menschen. Sie fressen den Wohlstand nicht auf, im Gegenteil, sie sind für den Wohlstand unerlässlich. Aber sie sind da. Gastarbeiter oder Fremdarbei- ter?» Alexander J. Seiler drehte unter dem gleichen Titel auch einen Film, in dem er die schwierige L a g e de r Fr e md a rb e it e r m it e i nd r ü c k l ic he n Sz e ne n Auf Initiative der Arbeitsgemeinschaft Kirche und Film dokumentierte. Mit der Arbeitsgemeinschaft Kir- wurde der DokumentarfilmSiamo italiani am 23. April che und Film holte der Arbeitskreis den Film nach 1965 in Biel uraufgeführt. Biel, wo er im April 1965 als Schweizer Premiere im Cinéac gezeigt wurde. Das Bieler Tagblatt griff den Film als «Pamphlet gegen unser Land» an, was Samuel Maurer zu folgender Replik veranlasste: «Alexander J. Seiler ging es um die Menschen, die armen Ländern formulierte Martin Luther King: hinter dem Problem stehen. Und überall da, wo es «Es ist Mitternacht – was tun?» um den Menschen in seiner unverstellten Wirk- Wie vielen anderen Delegierten aus westlichen lichkeit geht, um seine elementaren Lebensrechte Industriestaaten machte die Genfer Konferenz und um die Respektierung seiner menschlichen auch dem Bieler Industriellen Dr. Christian Gasser Würde, ist die Kirche unmittelbar interessiert und grossen Eindruck. In seinem vom Arbeitskreis or- engagiert. Siamo italiani stellt die Frage nach der ganisierten Vortrag vom September 1966 erklärte Menschenwürde ins Zentrum, und er möchte dem Gasser, man müsste sich täglich vor Augen halten, Zuschauer bewusst machen, dass dies die entschei- dass jede siebente Sekunde ein Mensch den Hun- dende Frage ist.» gertod sterbe. Die technischen Voraussetzungen, Siamo italiani wurde auch im Hinblick auf das den Hunger in der Welt zu besiegen, seien schon Podiumsgespräch vom 30. April 1965 gezeigt, an da, aber die Menschen seien noch nicht fähig, sie dem die Problematik der Fremdarbeiterfrage er- umzusetzen. In der Überzeugung, dass überall örtert wurde. Teilnehmer des Podiums waren Ale- ein kleiner Beitrag im Kampf gegen die Armut ge- xander J. Seiler, der in der Betreuung der Fremdar- leistet werden könne, wies er auf einen für Indien beiter sehr engagierte Bieler Geistliche Abbé Bové, entwickelten Sonnenkocher hin, ebenso auf einen der Industrielle Dr. Christian Gasser, der Gewerk- speziellen Pflug, der auch in Biel hergestellt wer- schafter Robert Meyer und Robert Renatus vom den könnte. Bieler Arbeitsamt. Das engagierte Gespräch wur- Bis weit in die Sechzigerjahre wurde der Krieg, de von etwa 300 Interessierten mitverfolgt. den die USA in Vietnam führten, von vielen im Denkschema des Kalten Krieges wahrgenommen. Unter dem Eindruck der zunehmenden Grausam- Sensibilität für die Probleme keit der Kriegführung und des ständig wachsenden der armen Länder und Solidarität Anteils an zivilen Opfern, aber auch im Zusam- mit Vietnam menhang mit dem zunehmenden Einfluss der jun- gen Kirchen Afrikas und Asiens distanzierten sich Im Juli 1966 führte der Ökumenische Rat der die Kirchen auch in der Schweiz von der offiziellen, Kirchen in Genf eine Konferenz zum Thema strikt antikommunistischen Haltung des Bundes- Kirche und Gesellschaft durch. Die zahlenmässig rates. Sie übernahmen eine Erklärung des Öku- starke Vertretung der asiatischen, afrikanischen menischen Rates der Kirchen, die festhielt, dass und osteuropäischen Kirchen liess die Frage nach der Vietnamkonflikt in grossem Masse Teil einer der sozialen Gerechtigkeit ins Zentrum der Dis- sozialen Revolution darstelle. Sie forderten das k ussionen r ücken, u nd in Bezug auf die Not in den Ende der Feindseligkeiten und die Aufnahme von

34 K apitel 2 Zusätzliche «Brennpunkte» er fordern ein Vollamt (1963–1967) Rohrdommeln, den Fröschen, Unken und Libel- len. Im frühen Sommer blühen da Schwertlilien. Seerosen und Rohrkolben fanden letzte Zuflucht. In den alten Torfstichen ist immer wieder der Kie- Verhandlungen mit allen beteiligten Konfliktpar- bitz zu Gast, Fischreiher stehen wie silberne Pfäh- teien, also auch mit den kommunistischen Kräften le an den Ufern, und in den mächtigen Kopf weiden in Südvietnam. brütet der Wiedehopf. Das vom Arbeitskreis organisierte Vietnam- So kannten wir das Land. Jetzt aber ist wohl Podium vom 14. März 1966 hätte auch einen Ver- manches schon Vergangenheit. Der Altlauf der treter der US-Botschaft einbezogen, dieser sagte Zihl ist zugeschüttet – dies ist eine Grabrede.» aber kurzfristig und ohne Begründung ab. So wa- Mit diesen Worten drückte der Umweltschutz- ren es zwei Redaktoren und zwei Beobachter des Pionier Rudolf Wehren aus, was durch den Bau der Indochina-Konflikts, die erörterten, worum es in Raffinerie Cressier an ursprünglicher Landschaft diesem Krieg ging und inwieweit die Öffentlich- verloren ging. Cressier entstand direkt auf etwa keit darüber informiert wurde. Auf Initiative des 400 000 Kubikmetern Auffüllmaterial, mit dem Arbeitskreises wurde am 15. Mai in allen Kirchen der Altlauf der Zihl überdeckt worden war. Nur der Stadt Biel ein Fürbitte-Gottesdienst für Viet- eine dünne Lehmschicht trennte die Öltanks vom nam durchgeführt. durchlässigen Untergrund, und dies zu einer Zeit, als die Stadt Biel wegen der Verschmutzung des Aare-Grundwassers plante, künftig einen bedeu- tenden Teil des Trinkwassers aus dem Bielersee zu gewinnen. Ohne den Kanton Bern rechtzeitig über das Vorhaben zu orientieren, hatte der Kanton Neu- enburg in der Zihlebene ein Industriegebiet geplant, das die natürlichen Ressourcen weit über die Kantonsgrenzen hinaus gefährdete. Ausserdem konnte Shell in Cressier viele Teile der Raffinerie bauen, bevor die zuständige Be- hörde dazu eine Bewilligung erteilt hatte. Die Reaktion auf derart kopflose Planung konnte nicht ausbleiben. Viele Ärzte warnten öffentlich vor der zu erwartenden Luftverschmutzung, und schon 1963 intervenierten mehrere Gemeinden der Region und die Stadt Biel bei der Berner Re- gierung. Die Interessengemeinschaft Bielersee ge- langte direkt an den Bundesrat. All dies zwang die Shell zwar zu einer nachträglichen Verbesserung Mikron-Verwaltungsratspräsident Dr. Christian Gas- der Sicherheitsvorkehrungen, aber der Versuchs- ser förderte 1966 die Sensibilität für die Armut betrieb der Raffinerie wurde aufgenommen, bevor in der Welt. wichtige Nachbesserungen fertig gestellt waren. Die übergrosse, russige Fackel der Raffinerie reizte nicht nur die Atemwege mancher Anwohner, son- dern brachte die Bevölkerung des Seelandes dazu, Frühes Engagement für Umwelt- am 26. August 1966 zu tausenden gegen die Bedro- und Landschaftsschutz hung ihrer Gesundheit und ihrer Lebensgrundla- gen zu demonstrieren. « A n de n A lt w ä s s e r n de r Z i h l fi nde n s ic h d ie le tz - Der Arbeitskreis verfolgte die Entwicklung ten Reste der Sumpflandschaft. Breite Schilfgürtel dieser frühen Umweltbewegung aufmerksam mit, bieten ihren Bewohnern Schutz und Schirm – den sagte aber ein auf den 7. November geplantes Po- Teichhühnern und Rallen, den Rohrsängern und diumsgespräch zu Cressier ab. Enge Vertraute des

35 K apitel 2 Zusätzliche «Brennpunkte» er fordern ein Vollamt (1963–1967) Wirtschaftsleben, die Politik, die Presse und die Kirche sollte diese für viele unbequeme Frage ge- stellt werden. Die grösste Resonanz fand der Ar- beitskreis mit seiner in den Kinos aufliegenden Arbeitskreises wussten von Verhandlungen, die Kritik am Film Africa addio – der kolonialistische nachträglich zu erheblich strengeren Auflagen in Streifen des Regisseurs G. Jacopetti wollte glauben Bezug auf Luftreinhaltung und Gewässerschutz machen, dass die Unabhängigkeit der jungen afri- führten. Im November und Dezember 1967 infor- kanischen Staaten in die Barbarei führe. mierten die Fachleute Renz und Settelen den Ar- Auf den 2. Mai 1967 organisierte der Ar- beitsausschuss, dass die Gefährdung von Luft und beitskreis ein Podiumsgespräch zu Jacopettis Wasser dank der Wachsamkeit der Umweltbewe- Machwerk, für das er unter anderem einen Be- gung eingedämmt werden konnte. obachter der Dreharbeiten gewinnen konnte. Am 29. April 1968 richtete der Arbeitskreis die Wie aktuell Küngs Thesen zur Wahrhaftigkeit öffentliche Aufmerksamkeit auf die gesamte Ent- waren, zeigten auch die Erfahrungen, welche die wicklung in der Zihlebene. Unter dem Titel Be- Arbeitsgemeinschaft für Religionsunterricht am 22. drohter Lebensraum? r ef er ier t e P r of. G e or g e s G r o s - August 1966 machte. Ihr Weiterbildungskurs jean über die Hintergründe der Industrialisierung Der Zweifel im Religionsunterricht mit Pfarrer Dr. der ehemaligen Naturlandschaft. Der Referent Johann Jakob Amstutz wurde von über hundert erklärte die problematische industrielle Zusam- Lehrkräften besucht – die Konfrontation mit einer menballung zwischen den drei Seen mit steuerpo- sehr kritischen jungen Generation verlangte auch litischen Motiven. Wie der volle Farelsaal zeigte, im Religionsunterricht nach neuen Prioritäten… waren die Raffinerie und die in ihrer Umgebung entstandenen Industrien immer noch umstritten. …und eine Standortbestimmung des Arbeitskreises Kirche in Bewegung… Schon am 13. Mai 1966 hatte der Arbeitskreis Jedes Jahr führte die Arbeitsgemeinschaft für eine Standortbestimmung durchgeführt. An einer Kirchliche Schulung ei nen u mfassenden Ku rs du rch. Sitzung zu Strukturfragen erklärte der Arbeits- Nach den Themen Verantwortung heute (1964), Le- ausschuss, in Zukunft sollten vermehrt Mitarbei- ben und Tod (1965) und Die Frage nach Gott stand ter/innen ohne theologisches Studium beigezogen 1967 das Thema Kirche in Bewegung im Vorder- werden, vor allem bei der Bildung von Unteraus- grund. Nach einem öffentlichen Podiumsgespräch schüssen für einzelne Arbeitsgruppen. Ein ganz unter dem Titel Was erwarten wir von der Kirche? besonderes Anliegen war dem Arbeitsausschuss wurde an fünf Abenden erörtert, was Kirche im der vermehrte Einbezug der Arbeiterschaft – auf neuen Testament bedeutete und welche Aufgaben gesamtschweizerischer Ebene hatten die Pfarrer sie in der modernen Welt wahrzunehmen hatte. Th. Dieterle und Dr. A. Trüb 1964 erste interes- Einen sehr klaren Standpunkt zu dieser Frage sante Erfahrungen mit Kursen in Industriebetrie- vertrat der Tübinger Theologieprofessor Dr. Hans ben gemacht. Küng in seinem Referat vom 20. Februar 1967 im Wie als Zeichen für das zunehmende Gewicht Wyttenbachhaus: Nur eine Kirche der Wahrhaf- ausserkirchlicher Fragen erfolgte an dieser Stand- tigkeit könne in der Welt von heute noch Bestand ortbestimmung auch eine kleine Namensände- haben – ob die Kirche eine Zukunft habe, werde rung. Immer wieder hatte Samuel Maurer zu hö- sich daran entscheiden, ob sie sich von der Forde- ren bekommen, es gehe doch um Zeitfragen ganz rung nach Wahrhaftigkeit her erneuern lasse: Der allgemein, die Kombination «evangelische Zeit- Mensch des 20. Jahrhunderts anerkenne nur mehr fragen» werde von vielen nicht verstanden. Der echte, von innen her sich erweisende Autorität. Antrag des Geschäftsleiters, künftig den Namen Im Zusammenhang mit Küngs Thesen plante A rbeitskreis f ür Zeitfragen – ein A mt der evan- der Arbeitskreis auf das Sommerhalbjahr 1967 gelisch-reformierten Gesamtkirchgemeinde einen Zyklus zur Frage der Wahrhaftigkeit – in zu verwenden, wurde denn auch ohne längere Dis- Bezug auf den Film, die Literatur, die Moral, das kussion angenommen.

36 K apitel 2 Zusätzliche «Brennpunkte» er fordern ein Vollamt (1963–1967) Gebete w urden durch Jugendliche gesprochen, die auch Teile der Predigt übernahmen, oft in Form eines Dialogs. Als neue Formen wurden auch Spielszenen, Bänkellieder, Pantomime, Dias und Neue Formen des Gottesdienstes Anspielfilme eingesetzt. für die Jugend

Du der einst gesprochen hat es werde Das Foyer Römerquelle sprich zu dieser armen erde ein zweites Im Sommer 1966 regte der Arbeitskreis an, am (und ein letztes) mal Technikum eine ökumenische Studentenseelsorge ein neues ins Leben zu rufen. Ausgehend von den Ergebnis- WERDE sen einer Umfrage unter den Studierenden organi- sierten die für das Technikum zuständigen Pfarrer amen ökumenische Kurzgottesdienste in der Kappelle La Source neben dem Technikumsgebäude und un- Die Einleitung zum ersten Jugend-Gottes- terstützten in Zusammenarbeit mit Samuel Maurer dienst vom 19. Juni 1966 im Farelsaal brachte auf die Organisation von Gesprächen zu Themen wie den Punkt, warum der Arbeitskreis die Initiative Weltraumfahrt und Glaube oder Die Bombe. Disku- zu dieser neuen Form des Gottesdienstes ergriff. tiert wurden auch neue Formen des Alltagslebens Die oft sozialkritisch auftretende Jugend sollte den – eine Gesprächsrunde fragte sich etwa: Gammler, Glauben in einer Weise leben können, die ihrem Beatniks, Hippies – was wollen sie? Das grösste Inte- Denken und Fühlen entgegenkam. In Zusammen- resse fanden aber Fragen zu Sexualität, Liebe und arbeit mit der evangelischen Jugend und mit der Ehe. Der Vortrags- und Aussprache-Zyklus von Unterstützung der Kirchgemeinden fand fortan Dr. B. Harnik wurde durchschnittlich von über 90 einmal pro Monat ein Jugendgottesdienst statt, Studierenden besucht. Aufgrund dieser Erfahrung dessen Thema von der vorbereitenden Gruppe beschloss der Arbeitskreis, am Technikum ein re- (meistens der Jungen Kirche, mit Unterstützung gelmässiges Beratungsangebot einzurichten – ab eines Pfarrers) festgelegt wurde und der in gros- Mai 1967 hatte der Eheberater Pfarrer E. Herr- ser formaler Freiheit gestaltet werden konnte. Die mann jeden Mitt wochabend Sprechstunde.

Stacheldraht und Kerzen – Illustrationen zum Jugendgottesdienst vom 3. Dezember 1967.

37 K apitel 2 Zusätzliche «Brennpunkte» er fordern ein Vollamt (1963–1967)

Ein zentrales Projekt der Studentenseelsor- ge entstand aus der Laienpredigt des Architekten André Meier vom 5. Februar 1967. Der Gedanke, für die Studierenden des Technikums ein Foyer zu schaffen, wurde sogleich von Architekt Eduard Lanz und Stadtpräsident Fritz Stähli aufgenom- men. Die Liegenschaftsverwaltung gab den Hin- weis auf die städtische Liegenschaft an der Brunn- gasse, und damit war die wichtigste Voraussetzung erfüllt, um im November 1967 den Verein zur För- derung des Foyers Römerquelle ins Leben zu rufen. Mit der finanziellen Unterstützung des Kantons, der Stadt und der Kirche, aber auch dank über 700 Stunden Fronarbeit von 172 Studierenden konnte das Begegnungszentrum mit Platz für etwa hun- dert Studierende im April 1968 eröffnet werden.

Fragen um Liebe und Sexualität stiessen 1967 auf wach- sendes Interesse.

38 K apitel 3 Der Arbeitskreis und das Epochenjahr 1968

Sizilianern, die Kinder gleichen eben mehr ihrer Was bedeutet «Überfremdung» Zeit als ihren Eltern.» auf Italienisch?

Die Arbeit, die er mit dem Film Siamo italiani Eine «Generation 68» begonnen hatte, führte der Arbeitskreis 1968 mit dem Zyklus Fre m de unter un s weiter. Das i n Zu sa m- Einige Monate später setzte sich der Arbeits- menarbeit mit der katholischen Kirchgemeinde kreis in einem ganz anderen Zusammenhang mit entstandene Programm hatte zum Ziel, das gegen- Professor Niederers These auseinander. In kurzen s e i t i g e Ve r s t ä n d n i s z u f ö r d e r n – d a b e i s o l l t e e i n v i e l - Abständen erstaunten weltweite Ereignisse un- seitiges Kulturprogramm unterstützend wirken. ter dem Zeichen von Ausbruch und Aufbruch die Im Foyer des Kongresshauses luden von Anfang Weltöffentlichkeit. Am 1. April 1968 wurde Ale- bis Ende des Zyklus grossformatige Gemälde zum xander Dubcek zum Ersten Sekretär der tschecho- Nachdenken ein. Die Werke des Tessiner Malers slowakischen Kommunistischen Partei ernannt Mario Comensoli zeigten ungeschminkt den All- und verkündete einen «Sozialismus mit mensch- tag der Fremdarbeiter in der Schweiz. lichem Antlitz.» In den USA kam es nach der Die Bieler Behörden, an der Vernissage vertre- Ermordung Martin Luther Kings zu Massende- ten durch Stadtpräsident Fritz Stähli und vier Ge- monstrationen der schwarzen Bevölkerung. Und in meinderäte, vernahmen am 24. Februar die enga- Frank reich wurde die Fünfte Republik des Charles gierte Eröffnungsrede des ETH-Professors Guido de Gaulle durch einen Generalstreik und die Pro- Calgari, unter anderem dessen Kommentar zum testbewegung der Studenten in ihren Grundfesten Begriff Überfremdung: «Es ist bezeichnend, dass erschüttert. das Wort ‹Überfremdung› nur im Deutschen exi- In der Schweiz nahm der Protest eines Teils der stiert – es ist weder ins Französische noch ins Itali- Jugend zum Beispiel die Form von «Entladungen» enische übersetzbar.» Calgari betonte, die Fremd- anlässlich von Rockkonzerten an. Dazu erklärte die arbeiter seien ein Symbol für den Glauben an ein Antiautoritäre Junge Sektion der Partei der Arbeit: kommendes Europa, das keine Überfremdung «Wer spricht denn da von Ruhe und Ordnung. Was kenne, sondern nur die Arbeit: Die schöpferische wir wollen, heisst Satisfaction. Tag für Tag werden K raft in Wirtschaft und Kultur. wir in staatlichen und privaten Institutionen, von Mehrere Anlässe erlaubten Einblicke in die Fabrik bis Universität, von Schule bis Kirche, von Vielfalt italienischer Kultur. Auf das Konzert mit Kindergarten bis Militär, autoritär abgerichtet. dem italienischen Pianisten Dino Ciani vom 5. Das heisst, wir erhalten eine Ausbildung, die die März folgte eine kleine Reihe mit Fellini-Filmen, Anpassung an die herrschende Spiesserklasse in die Martin Schlappner in seinem Vortrag zum den M it t elpu n k t st el lt . D u rc h d ie D re s s u r z u m w i l- Menschenbild im modernen italienischen Film ligen Arbeitsuntertanen, durch Triebverdrängung vom 7. März näher erläuterte. und Erzeugung von Schuldgefühlen von frühester Die Nationale Aktion und die Republikaner Jugend an, produziert das Establishment autori- behaupteten damals, die starke Zuwanderung tär neurotische Persönlichkeiten, die sich in der von Fremdarbeitern bedeute eine Gefahr für die Gesellschaft einsam fühlen. Menschen, die Angst Schweiz. Zu dieser These äusserten sich am 27. Fe- haben, die deshalb manipulierbar werden und die bruar 1968 namhafte Referenten, unter anderem eines Tages ihre Aggressivität abladen wollen. So der Volkskundeprofessor Arnold Niederer, des- ein Tag war der vom Rolling-Stones-Konzert.» sen Satz ihn in vaterländischen Kreisen verhasst Die grosse Mehrheit der damaligen Öffent- gemacht hatte: «Vielleicht gleichen wir unseren lichkeit hatte Mühe, diesen von Herbert Marcuse Grossvätern weniger als den bei uns weilenden hergeleiteten Erklärungsmustern zu folgen – aber

39 K apitel 3 Der Arbeitskreis und das Epochenjahr 1968 Gewerkschaftsfunktionäre und Politiker auf pro- vozierende Fragen über Krieg und Gewaltlosig- keit, Diktatur und Monarchie, Rassenhass und Sozialpolitik antworten. Unterbrochen wurden die Interviews durch Bildszenen mit Meinungs- auch die Litanei von rechts aussen, der Protest der äusserungen schwarzer Politiker in den USA und Studierenden sei «ferngesteuert», schien vielen russischer Dichter sowie Szenen aus Demonstra- fragwürdig. Um eine sachliche Auseinanderset- tionen gegen die Atombombe. Ergänzend wurde zung zu ermöglichen, organisierte der Arbeitskreis die Neugier der jungen Frau in sexueller Hinsicht bereits am 12. Juni 1968 ein Podiumsgespräch zu gezeigt, indem diese sich mit einem Mann einliess den Studentenunruhen im Farelsaal. Dabei disku- und Geschlechtsverkehr an ausgefallenen Schau- tierten politisch engagierte Studenten mit Dr. Rolf plätzen vollzog. Obwohl die Sexszenen in nüch- Deppeler, dem Sekretär der Europäischen Hoch- terner Sachlichkeit gezeigt wurden, galten sie als schulrektorenkonferenz. gewagt, weil vereinzelt der ganze Körper der bei- Deppeler betonte, es gebe gute Gründe für die den Partner zu sehen war. Unruhe unter der Studentenschaft, auch in der Ich bin neugierig hat te in Biel schon leidenschaf t- Schweiz. Die Schweizer Universitäten beschäf- liche Diskussionen ausgelöst, bevor er gezeigt tigten sich zu wenig mit den aktuellen Weltpro- wurde. Bestimmte Kreise gelangten an die Ar- blemen, und sie seien zu wenig demokratisch beitsgemeinschaft Kirche und Film, um ein Verbot organisiert. Die Studenten verwiesen auf eine des Streifens zu erwirken. Für den Arbeitskreis war Untersuchung von Werner Hadorn, der an den das Grund genug, Ende Mai ein Podiumsgespräch Schweizer Universitäten nur relativ wenige Akti- zum Thema Sex im Film zu organisieren. Die Po- visten der politischen Linken ausgemacht hatte. diumsteilnehmer – zwei Filmkritiker, ein Pfarrer Trotzdem seien Veränderungen dringend nötig und ein Psychiater – waren sich weitgehend darin – die Studenten sollten vermehrt mitbestimmen ei n ig, dass das Zeigen solcher Filme im merh i n bes- dürfen, und der Anteil der Frauen und der Stu- ser als die Verdrängung der Sexualität sei. Pfarrer dierenden aus der Arbeiterschaft müsse deutlich Adolf Rindlisbacher formulierte knapp und prä- erhöht werden. Nach einem enttäuschenden Inter- gnant: «Je mehr Filmerziehung, desto weniger Ju- mezzo mit Bieler Parteivertretern fokussierte sich gendschutz.» Im Diskussionsteil wurde deutlich, die Diskussion auf die Notwendigkeit einer Hoch- dass ein Teil des zahlreich erschienenen Publikums schulreform, die wesentlich grössere staatliche In- befürchtete, in Zukunft werde die Öffentlichkeit vestitionen erfordern werde. zu stark sexualisiert sein. Der Filmkritiker Hans Rudolf Haller bemerkte dazu, dass die Welle der «Aufklärungsfilme» in Skandinavien bereits am Ich bin neugierig Abflauen sei…

Anders als im Film Cinema Paradiso verzichtete die schweizerische Filmzensur in den Sechziger- Die Pille jahren darauf, Kuss-Szenen aus den Filmen zu ent- fernen. Von der körperlichen Seite der Liebe durfte Viele Frühehen und zahlreiche illegale Abtrei- ein wenig mehr gezeigt werden, und die Grenzen bungen zeigten an, dass sich das Sexualverhalten des Zulässigen verschoben sich, gerade in den in im Verlauf der Sechzigerjahre verändert hatte. Der Mode gekommenen «Aufklärungsfilmen». Slogan «make love – not war» verdeutlichte, dass Bevor Peter Bosshard Ich bin neugierig am 15. die «68er» sich nicht nur gegen den Vietnamkrieg Mai 1968 im Kino Studio zeigte, hatte er die Al- engagierten, sondern auch versuchten, eine freiere tersgrenze auf 18 Jahre festgesetzt und in der Pres- Sexualität zu leben. Sie waren inspiriert von den se empfindliche Personen davor gewarnt, dass der Ideen Wilhelm Reichs, der zwischen sexueller und Film des Schweden Vilgot Sjöman mit gewagten gesellschaftlicher Befreiung einen engen Zusam- Szenen schockieren wolle. menhang sah. Die Hauptdarstellerin, Lena Nyman, liess im Als neues, hoch wirksames Verhütungsmittel Hauptteil des Films den Mann auf der Strasse, erleichterte die Pille voreheliche Sexualbezie-

40 K apitel 3 Der Arbeitskreis und das Epochenjahr 1968

hungen – vielen «68ern» war sie ebenso willkom- men, wie sie den Papst beunruhigte. In der Enzyklika Humanae vitae sprach Papst Paul VI ausdrücklich ein Verbot der künstlichen Geburtenregelung aus. In der Schweiz war es der Einsatz der Pille ausserhalb der Ehe, der die Ge- müter bewegte. Als der zürcher student 1968 für die unverheirateten Studentinnen Adressen von Ärz- tinnen und Ärzten veröffentlichte, die grundsätz- lich bereit waren, «mit sich über die Verschreibung der Pille reden zu lassen», blieb der Protest konser- vativer K reise nicht aus. Der Arbeitskreis ging das Thema auf sehr be- hutsame Weise an. Auf den 7. November organi- sierte er ein Symposium für Ärzte und Pfarrer, an dem der Bieler Chefarzt Dr. U. Hermann, der Direktor der psychiatrischen Klinik Waldau, der Theologieprofessor R. Slenczka und der Studen- tenseelsorger J. Venetz die Auswirkungen der Pille erörterten. Diesem Anlass folgte ein öffentlicher Informa- tions- und Diskussionsabend im Farelsaal, der von Der Informationsabend über die Pille vom 26. Novem- Dr. U. Herrmann, dem reformierten Pfarrer und ber 1968 hätte den Farelsaal gleich zweimal gefüllt. Eheberater E. Herrmann und dem katholischen Pater P. Keller bestritten wurde. Dieser Abend w urde zum bisher grössten Publikumserfolg in der Geschichte des Arbeitskreises: Der Farelsaal hätte wohl zweimal gefüllt werden können, und aus Si- Kulturelle Initiativen im Dienst der Stadt cherheitsgründen mussten sehr viele Interessierte abgewiesen werden. Seit seinen Anfängen hatte der Arbeitskreis das In der von Pfarrer Theo Krummenacher gelei- kulturelle Leben in Biel mit eigenen Beiträgen be- teten Diskussion erklärte Pater Keller, es brauche reichert. 1968 ergriff Samuel Maurer die Initiative, auch in der Moderne Menschen, die verzichten um die verschiedenen kulturellen Institutionen könnten. Die Pille sollte nicht aus Egoismus und in Biel besser untereinander zu vernetzen. Am Bequemlichkeit eingenommen werden. Pfarrer 20. August wandte er sich in einem ersten Schritt Herrmann entgegnete, es gehe weniger darum, brieflich an 23 deutschsprachige Institutionen, ob eine Beziehung erlaubt sei oder nicht, als um um sein Anliegen kurz darzulegen: «Anzustreben die Verhinderung einer ungewollten Schwanger- wäre eine möglichst kontinuierliche Fühlungsnah- schaft. In dieser Frage erhielt er Unterstützung me unter den kulturellen Vereinigungen, zwecks von Chefarzt Herrmann, der auch auf Fragen aus Koordination ihrer Bestrebungen, Förderung dem altersmässig stark durchmischten Publikum eines kulturellen Bewusstseins in der Öffentlich- einging. Zum Beispiel warnte er vor den Neben- keit und vermehrter kultureller Verpflichtung bei wirkungen der Pille und riet leberleidenden und an den Behörden.» Maurer schlug weiter vor, einen Krebs erkrankten Frauen ab, die Pille zu nehmen. städtischen Kulturausschuss ins Leben zu rufen und die kulturellen Probleme in Biel gemeinsam zu reflektieren. Der Vorschlag des Geschäftsleiters fand ein gutes Echo – die meisten angeschriebenen

41 K apitel 3 Der Arbeitskreis und das Epochenjahr 1968 wirklichung Biel das Musiktheater gekostet, aber ein Sprechtheater von höchster Qualität garantiert hätte. Die Theaterkommission zog eine Berufung Bremers und ein Eingehen auf seinen Plan gar Vereinigungen unterstützten Maurers Vorschläge. nicht in Betracht.» Nach weiteren Vorarbeiten trafen sich am 19. No- Anfang Mai 1968 wurde die Frage nach der vember 1968 Delegierte von 21 kulturellen Institu- Zukunft des Städtebundtheaters vom Arbeitsaus- tionen, um konkrete Schritte hin zu einer besseren schuss des Arbeitskreises erstmals traktandiert. Koordination zu erörtern. Unter anderem wurde Das erste Veranstaltungsprojekt, ein Podiums- beschlossen, den vom Verkehrsbüro betreuten gespräch mit Claus Bremer und Heinz Zimmer- Veranstaltungskalender zuverlässiger und lücken- mann, kam aber nicht zustande. Inzwischen wur- loser zu beliefern. de die Theaterfrage nicht nur zum Stadtgespräch, In den folgenden Jahren fand mancher Vor- sondern zu einem weit über Biel hinaus interessie- schlag des Arbeitskreis-Leiters Eingang in die renden Thema. Das Manifest Claus Bremer nach städtische Kulturpolitik. Den Anfang machte im Biel wurde unter anderem von Friedrich Dürren- Sommer 1974 eine Kommission, die im Auftrag matt, Max Frisch, Peter Bichsel, Werner Düg- des Gemeinderates Richtlinien für eine Kulturpo- gelin, Jörg Steiner und Walter Vogt unterzeichnet. litik ausarbeitete und dabei die Möglichkeiten für Als der Rücktritt Heinz Zimmermanns im Herbst die Schaffung eines Kultursekretariates abklärte. 1969 den Kulturausschuss veranlasste, die Wahl Bremers auf den 1. Oktober 1969 zu fordern, bot der Arbeitskreis einen Informations- und Aus- Welche Art von Theater braucht spracheabend zu Bremers Theaterkonzeption an. die Stadt? Der von Samuel Maurer geleitete Anlass brachte am 30. September 1969 gegen vierhundert Thea- Dass die Jahre des Umbruchs auch kulturelle terinteressierte in den Farelsaal. Claus Bremer, der Fragen erfassten, zeigte unter anderem eine Aus- sich selbst nie offiziell um die Stelle als Theaterdi- einandersetzung zur Zukunft des Städtebund- rektor beworben hatte, erläuterte einleitend seine theaters. Nachdem die Solothurner Behörden er- Ideen. Darauf appellierten Reinhard Stumm und folgreich Druck ausgeübt hatten, um einen nicht Dr. Heinz F. Schafroth an die Anwesenden, etwas konformistischen Theaterdirektor abzulösen, ver- ganz Neues zu wagen, während die Gegenseite langte der liberal ausgerichtete Kulturausschuss auf die vielen Unwägbarkeiten hinwies, die eine der FdP, das Konzept des Städtebundtheaters ra- Wahl Bremers mit sich brächte. Die in dieser Frage dikal zu überdenken. Nach Besprechungen mit herrschende Polarisierung führte zu heftigen Pu- Stadtpräsident Stähli, Gemeinderat Leuenberger blikumsreaktionen – Zwischenrufe und Pfiffe bei und Theaterfachmann Dr. Heinz F. Schafroth er- bestimmten Voten blieben nicht aus, was eine Ver- hielt Claus Bremer im Herbst 1967 den Auftrag, ständigung weiter erschwerte. einen Reformvorschlag auszuarbeiten. Kurz da- Nach dem Arbeitskreis-Anlass mobilisierten rauf, im Dezember 1967, wählten die Theaterkom- Bremers Gegner massiv – der gegen den Neuerer missionen von Biel und Solothurn in aller Stille gerichtete offene Brief an den Gemeinderat wur- Heinz Zimmermann, einen Vertreter des Boule- de von 1200 Personen unterzeichnet, und es wurde vardtheaters, zum neuen Theaterdirektor. Damit gemunkelt, dass eine «gesamtschweizerische Un- entflammte eine Kontroverse, die Biels Kultur- tergrundorganisation» die Anstellung Bremers er- politik längere Zeit beschäftigen sollte. In seiner zwingen wolle. In dieser Situation zögerte der Ge- Theaterchronik der Saison 1967/68 schrieb Heinz meinderat den Entscheid über die Neubesetzung F. Schafroth Klartext: «Die Wahl wurde reich- der Theaterdirektion hinaus, Bremer seinerseits lich überstürzt getroffen, damit man eine andere wurde auf die Saison 1970/71 als Dramaturg des Lösung nicht zu prüfen brauchte: Es war nämlich Schauspielhauses Zürich engagiert. gelungen, einen der profiliertesten Theatermän- ner Europas, Claus Bremer, an der Direktion des Städtebundtheaters zu interessieren. Bremer legte einen Aufsehen erregenden Plan vor, dessen Ver-

42 K apitel 3 Der Arbeitskreis und das Epochenjahr 1968 Ota Sik in den Farelsaal einzuladen. Der ehema- lige stellvertretende Ministerpräsident der CSSR war der eigentliche Vater des «Prager Frühlings», weil die Demokratisierung ohne die von Ota Sik Prag, 21. August 1968 angeregten Wirtschaftsreformen nicht so zwin- – das Ende aller Illusionen? gend gewesen wäre. Am 23. September 1969, dem Abend seines Vortrags im Farelsaal, lernte Ota Vom 24. bis 30. September 1968 organisierte Sik Dr. Christian Gasser kennen, der den Wirt- der Arbeitskreis im Foyer des Kongresshauses eine schaftsreformer auf eine mögliche Tätigkeit an weitere Ausstellung. Diesmal waren es Fotogra- der Handelshochschule St. Gallen (HSG) hinwies. fien vom 21. August in Prag – dem Tag, an dem die Später, als Dozent der HSG, verfolgte Sik seine Panzertruppen des Warschauer Paktes die aufkei- Suche nach einem «dritten Weg» weiter, indem er menden Hoffnungen in ein weiteres Aufblühen des das Modell der «sozialistischen Marktwirtschaft» «Prager Frühlings» niederwalzten. Anders als im weiterentwickelte. Westen hatte der «Prager Frühling» in der Zen- trale der Macht begonnen – etwa zwanzig Jahre vor Michail Gorbatschow hatten führende tsche- choslowakische Kommunisten um den Ökonomen Ota Sik erkannt, dass die Planwirtschaft ohne De- zentralisierung der Macht und ohne Demokrati- sierung der Gesellschaft keine Zukunft hatte. Weil die Demokratisierung der CSSR in den Augen der Machthaber im übrigen Ostblock eine Bedrohung darstellte, setzten sie dem mutigen Experiment Alexander Dubceks, Ota Siks, Oldrich Cerniks und anderer Reformer ein Ende. Es folgte ein Flüchtlingsstrom, der auch die Dr. Ota S˘iks Theorie von einem dritten Weg zwischen Schweiz erreichte. Unter den rund 50 Flüchtlin- Marktwirtschaft und zentraler Planwirtschaft faszi- gen, die am 7. September nach Biel kamen, war nierte auch viele Bielerinnen und Bieler. Jaroslav Benda. Vom Film, den Benda über die Grenze gebracht hatte, konnte der Arbeitskreis die Fotografien der Ausstellung herstellen lassen. Trotz aller Betroffenheit über die Politik der Sowjetunion versuchte der Arbeitskreis, zu dieser Frage eine möglichst sachliche Diskussion zu er- möglichen. Und die Podiumsdiskussion vom 11. September 1968 erreichte dieses Ziel: Dr. Laszlo Revesz vom Ost-Institut zeigte zwar Parallelen zwischen den Prager Ereignissen und dem Un- garnaufstand von 1956 auf, aber seine Gesprächs- partner warnten davor, wie zur Zeit des Kalten Krieges zu reagieren. Der Historiker Peter Gilg erklärte, nur eine Fortsetzung der Entspannung werde einen noch deutlicheren Rückfall in den Stalinismus verhindern. Hanspeter Meng betonte, man müsse mit den jungen Leuten im Ostblock in Kontakt bleiben und den gegenseitigen Austausch fördern, um so die Reformkräfte zu stärken. Das Gespräch mit dem 350 Personen umfassenden Pu- blikum dauerte bis nach Mitternacht… Etwa ein Jahr später gelang es dem Arbeitskreis,

43 K apitel 3 Der Arbeitskreis und das Epochenjahr 1968 tät aufzubringen habe – auch Reformen im Straf- vollzug dürften et was kosten.

Rabio – Gedanken eines Der Bieler Arbeitskreis hat sich über die Strafgefangenen Schweiz hinaus einen Namen gemacht

1968 w u rde der z wa n z ig ste Ja h re st ag der U NO - In der Einleitung zum Podiumsgespräch Sex im Charta über die Menschenrechte gefeiert. In der Film vom 27. Mai 1968 charakterisierte das Bieler Schweiz war das für viele Menschen eine Gelegen- Tagblatt den Geschäftsleiter des Arbeitskreises heit, über die immer dringender werdende Reform wie folgt: «Samuel Maurer, Persönlichkeit mit des Strafvollzugs nachzudenken. Zwar verlangte unwahrscheinlich sicherem Spürsinn für wirk- Artikel 37 des Strafgesetzbuchs klar, dass der Voll- lich aktuelle Probleme, die weit über esoterische zug von Zuchthaus- und Gefängnisstrafen eine er- Zirkel hinausgehen und (fast) jedermann unter ziehende Wirkung haben sollten, damit der Wie- der Haut brennen, hat wieder einmal ein Thema dereintritt entlassener Strafgefangener erleichtert aufgegriffen, welches das Publikum aller Klassen werde. In Wirklichkeit galten in mehreren Haft- und Altersstufen in hellen Scharen ins Farelhaus anstalten Disziplinarmassnahmen, die mit der strömen liess.» Offensichtlich arbeitete der In- Europäischen Menschenrechtskonvention nicht haber des Vollamtes mit grossem Engagement an vereinbar waren – da gab es Dunkelarrest, Arrest- der Erfüllung seines Auftrages, im Sinne von Kurt strafe mit hartem Schlaflager, Kostschmälerung Lüthis Worten «der modernen Stadt das Beste zu und Zwangsarbeit. geben». Die Bedeutung, die der Arbeitskreis für Mit einem Film- und Gesprächsabend versuchte viele Bielerinnen und Bieler hatte, zeigte sich auch der Arbeitskreis, das Verständnis für die Situation daran, dass Samuel Maurer wiederholt gebeten der Strafgefangenen zu fördern. Am 3. Dezember wurde, bei Kindertaufen oder Eheschliessungen 1968 zeigte er in Zusammenarbeit mit der Bezirks- mitzuwirken. Aufgrund dieser Anfragen reichte synode Nidau den Film Rabio, der den Gefängni- die Gesamtkirchgemeinde Biel ein Gesuch ein, salltag auf dem Thorberg aus der Sicht eines Ge- um in diesem speziellen Fall auch einem Laien die fangenen darstellte. Der Bieler Schriftsteller Jörg Möglichkeit zu geben, pfarramtliche Funktionen Steiner, der den Text zu Rabio geschrieben hatte, zu übernehmen. Aufgrund eines diesbezüglichen nahm nach der Filmvorführung auch an der von Gutachtens des Kirchenbundes konnte dem Ge- Pfarrer Markus Tschabold geleiteten Diskussion such entsprochen werden, was Maurer wiederholt teil – im Gespräch mit Thorberg-Direktor Wer- ein weiteres Arbeitsfeld eröffnete. ren, Fürsprecher Tschanz und Gefangenen-Seel- Welche Bedeutung dem Arbeitskreis aus theo- sorger Balmer ging es um die Schuld an den beste- logischer Sicht zukam, wurde im Zusammenhang henden Verhältnissen und um die Chancen einer mit der Standortbestimmung deutlich, die nach echten Resozialisierung. Während Steiner daran fünf Jahren Vollamt vorgenommen wurde. In ih- erinnerte, dass die Gesellschaft für die Entstehung ren zu diesem Zweck verfassten Grundlagentexten von Delinquenz mitverantwortlich sei und somit untermauerten drei namhafte Persönlichkeiten die auch die Kosten für den Strafvollzug mit zu tra- These, dass der Arbeitskreis gerade für die Kirche gen habe, betonte Werren die drei Funktionen des eine Not wendigkeit darstellte: Strafvollzugs: Neben dem Sühnegedanken und Prof. Kurt Lüthi schrieb, die Arbeit des Ar- der Pflicht zum Schutz der Gesellschaft gehe es beitskreises sei eine «kirchliche Gesprächsform als auch um die Resozialisierung. Auf den Vorwurf, Diakonie (Dienst) an der modernen Welt». Er ver- in den Strafanstalten werde vor allem auf typische stand Kirche als Exodusgemeinde, also als Fort- «Hungerleiderberufe» vorbereitet, erwiderte der setzung des Aufbruchs des Gottesvolkes aus der Gefängnisdirektor, entscheidend sei nicht der er- ägyptischen Versklavung ins gelobte Land. Daraus lernte Beruf, sondern die Vermittlung einer posi- folgerte er: «Konsequenz dieser Sicht ist, dass die tiven Einstellung zur Arbeit. In der Diskussion mit Kirche sich zum Prinzip der steten Neuaufbrüche dem Publikum betonten Steiner und Balmer, dass bekennt und es ablehnt, Bestehendes zu stabili- die Gesellschaft auch für Strafgefangene Solidari- sieren. Oder: Kirche weiss sich – mit Bonhoeffer

44 K apitel 3 Der Arbeitskreis und das Epochenjahr 1968 den einfachsten Erfordernissen des modernen Le- bens nicht standgehalten! Das gilt für die angeb- lich christlichen Wahrheiten nicht weniger als für – als Verkündigungsort, wo ausgerufen wird, dass manche politische und ethische. Darum ist unsere Christus der Herr aller und der Bruder auch der Zeit unerbittlich geworden im Fragen und noch- Gottlosen ist. Sie kann sich deshalb nicht mehr als mals im Fragen. […] ausgesonderten Sakralraum empfinden, sondern Die erste Aufgabe ist nun aber die, sich eben tritt in den Pluralismus moderner Meinungen ein. dieser Zeit zu Red und Antwort zu stellen – sich Damit setzt sie ihr Wort der kritischen Rückfrage also befragen und nochmals befragen zu las- aus. Und damit ist sie an einem mündigen Men- sen. Anders gesagt: Die Kirche muss sich heu- schentyp interessiert, der sich rationaler Überle- te mitsamt ihren Wahrheiten aufs Spiel setzen g ung stellt und der die Dinge im Experiment nach- – sonst nämlich hat sie ihr Spiel verloren. […] prüft.» Daran die Kirche – und vielleicht die ganze Stadt An diese Gedankengänge knüpfte Dr. Robert – zu er i n ner n, das ist der Dienst , f ü r welchen es Or- Leuenberger an, als er den Arbeitskreis als Risiko gane wie den Bieler Arbeitskreis braucht – so un- bezeichnete. Nach der einleitenden Bemerkung, bequem dieser Dienst für die anderen und für ihn der Arbeitskreis bewältige mit einem einzigen Ge- selbst sein mag.» schäftsleiter ein Programm, das sonst nur grosse «Red und Antwort stehen» – zur theologischen Heimstätten und Akademien hätten, stellte er die Bedeutung des Gesprächs äusserte sich Dr. Theo- Frage, ob sich so viel Hingabe lohne. phil Müller, der theologische Leiter der Schule für Die Tatsache, dass der Arbeitskreis zu den weni- Sozialarbeit i n Gwat t. Mü ller verst a nd d ie Verk ü n- gen kulturellen Unternehmungen Biels zähle, die digung als Übersetzungsakt, der es ermöglichen über die Möglichkeiten einer kleineren Stadt hi- müsse, dass die Sache Gottes bei uns eintreffe. In- naus w irk ten, sage noch n icht s über seine Berecht i- dem das Gespräch zwischen Laien, Theologen und gung aus. Entscheidend sei der Ertrag, den der Ar- Wissenschaftlern helfe, die Sache Gottes besser beitskreis der Bieler Kirchgemeinde und der Stadt zu verstehen, fördere es die Verkündigung. Auch Biel bringe. Schliesslich sei es die Kirchgemeinde, wenn «nur» Sachfragen erörtert würden, könnten welche mit der Schaffung des Arbeitskreises meh- die Gesprächspartner durch den Meinungsaus- rere Risiken eingegangen sei. tausch in eine Bewegung geraten, die man nur als Wenn der Arbeitskreis es wage, hochkarä- Umkehr oder Befreiung oder Fröhlichwerden be- tige Atheisten an ein Podiumsgespräch zu holen, zeichnen könne – auch in einer solchen Situation geschehe das mit dem Risiko, dass er im offenen sei Gott am Werk. Und schliesslich schaffe das Gespräch als Verlierer dastehe. Wenn ein radika- Gespräch Gemeinschaft: «Ist auch christliche Ge- ler Theologe und ein bekennender Atheist sich an meinschaft nicht anders zu verstehen als Werk des einem Podium fast einig würden, bestehe das Ri- Heiligen Geistes, so bekennen wir die Wirklich- siko, dass bestehende Grenzen verwischt würden keit solcher Gemeinschaft gerade da, wo ernsthaft und innerkirchlich neue Grenzen gezogen wür- um das Verstehen unserer Welt vor Gott und um den. Und wenn der Arbeitskreis viele grosse Fra- d ie L ö s u ng b ed r ä ngender P robleme G e s pr äc he ge - gen der Menschheit andiskutiere und dabei darauf führt werden. In diesem Sinn gehört das Gespräch, verzichte, die Antworten so lange abzuwägen, bis gehört ‹Diskussion› zum Sein der Kirche, besser : dadurch niemand kompromittiert werden könne, zur Existenz der K irche.» riskiere er, die Kirche öffentlich in Misskredit zu bringen. Leuenberger betonte, dass der Arbeitskreis ge- rade mit diesen Risiken seine Berechtigung habe: «Der Arbeitskreis ist nun einmal ein kleines Zei- chen einer Zeit, vor der ungestraft sich niemand verkriechen kann. Und diese Zeit fordert Rechen- schaft von allem, was Anspruch auf Geltung er- hebt. Zuviele vermeintlich ewige Wahrheiten ha- ben uns in diesem Jahrhundert betrogen und vor

45 K apitel 3 Der Arbeitskreis und das Epochenjahr 1968 wichtigen Kraft in der Lokalpolitik. Die Stadt Biel bewegte sich damit nach links – was in Teilen des bürgerlichen Lagers zu einer Verhärtung führte. Das rauer gewordene Klima widerspiegelte sich Die Jahre nach 1968 stellen den Arbeits- in der Lokalpresse – das freisinnig geführte Mo- kreis vor neue Anforderungen nopolblatt Bieler Tagblatt (BT) tat sich sehr schwer mit der Verantwortung, die einzige Tageszeitung Seit seinen Anfängen hatte der Arbeitskreis einer offener und kritischer gewordenen Stadtbe- versucht, mit den verschiedensten gesellschaft- völkerung zu sein. Scheinbar unberührt von ge- lichen Gruppen den Dialog zu gesellschaftlichen sellschaftlichen Wandel attackierte das BT alle, die Gegenwartsfragen zu führen. Die Schaffung des sich zu weit von der Ideologie der geistigen Landes- Vollamtes 1963 war ein Zeichen dafür, wie wichtig verteidigung entfernt hatten – oft erschien der BT- die Existenz eines offenen und kritischen Forums Redaktion schon verdächtig, Bestehendes auch nur für Biel geworden war. Gegen Ende der Sechziger- zur Diskussion zu stellen. Neben Politikern wie jahre wurde der Arbeitskreis noch mehr gefordert. Arthur Villard und Hans Kern wurde damit auch Der Wertewandel beschleunigte sich – viel bisher der Arbeitskreis zur Zielscheibe rechtsbürgerlicher als zeitlos Geltendes wollte hinterfragt und zur K ritik. Umso wichtiger war in diesem Zusammen- Diskussion gestellt werden. Dem Arbeitskreis fiel hang die Rolle von Bürgerlichen, die sich aus einer die Rolle zu, auch dort Wege zum Dialog zu öff- liberalen, pluralistischen Haltung heraus für eine nen, wo sich zwischen den Generationen oder zwi- freiheitliche Atmosphäre einsetzten. In besonde- schen politischen Lagern Gräben aufgetan hatten. rem Ausmass nahmen in diesem Sinn zwei Präsi- In diesen Jahren war der Farelsaal Schauplatz denten der Arbeitskreis-Kommission ihre Verant- zahlreicher Anlässe mit grossem öffentlichen wortung wahr: Dr. Laurent Carrel (1968–1969) Echo – 1969 bis 1972 wurden die öffentlichen An- und Georg Werner (1970 –1973). lässe des Arbeitskreises von jährlich 3000 bis 4000 Personen besucht. Aber es blieb n icht nu r beim Pu- blikumserfolg. So wie sich tausende meist junger Eine neue Organisation Menschen in den verschiedensten sozialen Bewe- für die kommenden Aufgaben gungen engagierten, konnte auch der Arbeitskreis zahlreiche freiwillige Mitarbeiterinnen und Mit- Die neuen Kräfte, die dem Arbeitskreis zu- arbeiter gewinnen, die sich einer bestehenden Ar- gegangen waren, erforderten auch Neuerungen beitsgruppe anschlossen oder mithalfen, eine neue in der Organisationsstruktur. Es entstanden Arbeitsgruppe zu gründen. Das Zusammenwirken neue Arbeitsgemeinschaften, die sich einem be- engagierter Leute mit oder ohne theologische Aus- stimmten Schwerpunktthema widmeten und die bildung sollte den Arbeitskreis in den folgenden dem Arbeitsauschuss regelmässig ihre Anliegen Jahren stärken und den «Dialog mit der modernen und Informationen unterbreiteten. Von den zwölf Stadt» noch intensiver gestalten. Arbeitsgemeinschaften wurden vier gemeinsam Angesichts der auseinanderstrebenden gesell- mit der katholischen Kirche geführt: Kirche und schaftspolitischen Kräfte war es aber zunehmend Film, Presse, Religionsunterricht und Technikums- schwierig, alle Gruppen für einen sachlichen Di- Seelsorge. Die weiteren Arbeitsgemeinschaften alog zu gewinnen. Schon vor dem Ende des wirt- befassten sich mit Literatur und Theater, Kunst, schaftlichen Booms erlebte die Stadt Biel eine ge- Arbeitswelt, Medizin und Seelsorge, Jugendarbeit, wisse politische Polarisierung. Die Internationale Jugendgottesdiensten, kirchlicher Schulung und der Kriegsdienstgegner (IdK), vor 1968 ein gesamt- Fragen der Geschlechter. schweizerisches Sammelbecken der Opposition, Der Arbeitsausschuss traf sich wöchent- hatte ihr Sekretariat an der Schützengasse in Biel. lich einmal. Ihm gehörten je ein Pfarrer der vier Neben den traditionellen Parteien entstanden deutschsprachigen und ein Pfarrer der franzö- nach 1968 die Organisationen der ausserparla- sischsprachigen Kirchgemeinden an, ausserdem mentarischen Linken, und die ebenfalls links der ein kirchlicher Eheberater und acht Laien, die Mitte politisierende, nonkonformistische Bürger- möglichst die soziologische Zusammensetzung initiative Freie Bieler Bürger w u rde ab 1972 zu einer der Stadt repräsentieren sollten.

46 K apitel 3 Der Arbeitskreis und das Epochenjahr 1968

Die Kommission war Aufsichtsbehörde und Vertretung der Kirchgemeinderäte sowie des Ge- samtkirchgemeinderates. Jedes Jahr reichte sie dem Gesamtkirchgemeinderat das Budget des Ar- beitskreises ein. Damit die Kommission ihre wich- tige Aufgabe besser bewältigen konnte, erhielt sie ab 1968 alle Protokolle der Arbeitsausschuss-Sit- zungen. Ausserdem wurde vorgesehen, dass der Geschäftsleiter einmal pro Jahr in den einzelnen Kirchgemeinderäten über die Tätigkeit des Ar- beitskreises informierte. Um die stark gewachsene Institution und ihr umfangreiches Programm administrativ zu bewäl- tigen, reichte die volle Stelle des Geschäftsleiters nicht mehr aus. Der Gesamtkirchgemeinderat bewilligte daher ein Sekretariat im Umfang einer halben Stelle, das 1972 mit Frau Erika Walther be- setzt werden konnte.

47 K apitel 4 Im Brennpunkt von Aufbruch und Erneuerung (1969–1975)

Braucht es eine neue Kirche? Kirche nicht abseits stehen, und es stehe in ihrer Verantwortung, die Gemeindeglieder zu weltwei- Die revolutionäre Welle des Jahres 1968 erfasste ter Solidarität zu erziehen und zu politisch wirk- auch die Kirche selbst. In praktisch allen west- samem Handeln anzuleiten. In Bezug auf den lichen Industriestaaten organisierten sich junge Einsatz der kirchlichen Mittel empfahl die Studi- Christen, in deren Augen eine sozialistische Um- engruppe eine Ausgabenreduktion bei den kirch- gestaltung eher der Botschaft vom Reich Gottes lichen Bauten, um zusätzliche kirchliche Mitarbei- zu entsprechen schien als die bestehende kapita- ter für aktuelle Aufgaben einzustellen. listische Ordnung. Gerade ihr Verständnis der Das innerkirchliche Echo sollte nicht ausblei- christlichen Botschaft führte sie zu gesellschaft- ben. Als Dr. Laurent Carrel sich Ende 1969 vom lichem und politischem Engagement. Die theo- Präsidium der Arbeitskreis-Kommission zurück- logische Grundlage dieser «kritischen Christen» zog, lag ein Grund für den Rücktritt im unter- bildete die «politische Theologie» des protestan- schiedlichen Kirchenverständnis. Und im April tischen Theologen Jürgen Moltmann und des Ka- 1970 wies die Kirchenverwaltung nicht nur eini- tholiken Johann Baptist Metz. In Weiterführung ge konkrete Vorschläge der Studiengruppe ab, von Barths dialektischer Theologie hatte für Molt- sondern behauptete, der Arbeitskreis werde vom mann Gott seinen Ort in der Welt und ihrer Ge- Geschäftsleiter praktisch als Einmann-Betrieb schichte, wo er gerade im politischen Handeln als geführt, der Arbeits- und Studiengruppen nach wirkende Kraft erfahrbar wurde. seinem Gutdünken einberufe. Überdies sei der Ar- Auch innerhalb der evangelisch-reformierten beitskreis anscheinend daran, die Führungsrolle Gesamtkirchgemeinde Biel machte sich ein neues zu beanspruchen, was den Frieden zwischen den Verständnis von Kirche bemerkbar, vor allem im beiden wichtigsten Sprachgruppen gefährde. Verlauf einer längeren Budget-Debatte an der Ge- I n ihrer Antwort an die Kirchenverwaltung mus - samtkirchgemeindeversammlung vom 27. Januar sten Arbeitsausschuss und Geschäftsleitung daran 1969. Um eine gemeinsame Basis für den Einsatz erinnern, dass die Kommission sehr wohl Einfluss der kirchlichen Mittel zu finden, setzte der Arbeits- auf die konkrete Arbeit des Arbeitskreises ausüben ausschuss des Arbeitskreises eine Studiengruppe könnte, schliesslich erhielten sie allwöchentlich ein, die die aktuellen Aufgaben der Kirche über- Protokolle und Einladungen zu den Ausschusssit- denken sollte. In der Arbeitsgruppe sollten aus- zungen. Dass diese Möglichkeit nicht genutzt wer- ser Vertretern des Arbeitsausschusses kirchliche de, könne ihnen nicht zum Vorwurf gemacht wer- Mitarbeiter und Behördemitglieder mitmachen. den. Der Arbeitskreis funktioniere entsprechend Trotz entsprechenden Einladungen an die kirch- der Ordnung aus dem Jahr 1963, und diese sei lichen Behörden, die Pfarrer und andere kirchliche bisher nie grundsätzlich in Frage gestellt worden. Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen konnte nur eine Die Kontroverse zum Thema Studiengruppe Kir- kleine Arbeitsgruppe gebildet werden, die ab Mai che führte schliesslich zu den Vorarbeiten für eine 1969 ihre Tätigkeit aufnahm. neue Ordnung des Arbeitskreises, die unter ande- In Übereinstimmung mit den Erklärungen des rem der grösser gewordenen Zahl von Mitarbei- Ökumenischen Rates der Kirchen (Siehe, ich ma- tenden Rechnung tragen sollte. che alles neu!, Uppsala 1968) empfahl die Arbeits- gruppe eine Erneuerung der Kirche. Bisher sei der Schwerpunkt der kirchlichen Tätigkeit zu sehr bei der individuellen Seelsorge gelegen, damit sei der gesellschaftliche Charakter des von Jesus prokla- mierten Heils nicht angemessen erfasst worden. Im Kampf für mehr soziale Gerechtigkeit dürfe die

48 K apitel 4 Im Brennpunkt von Auf bruch und Erneuerung (1969–1975) Genehmigung der Leitung von Arbeitsgruppen, Anträge zur Bildung von Arbeitsgruppen, Lau- fende Orientierung aus den Arbeitsgruppen und Aufgreifen aktueller Themen. Im Leitenden Aus- Die Ordnung des Jahres 1970 schuss, der sich vierzehntäglich traf, waren aus- ser den Arbeitsgruppen auch freie Mitglieder, der Am 16. 11. 1970 gab der Gesamtkirchgemein- Geschäftsführer, der Rechnungsführer, ein Kom- derat dem Arbeitskreis wieder eine neue Ordnung, missionsmitglied und der Kommissionspräsident die helfen sollte, das grosse Arbeitsvolumen bes- vertreten. ser zu bewältigen. Die neue Ordnung enthielt eine Arbeitsgruppen: Erstellung von Arbeitspro- Zielformulierung, die mit einem Hinweis auf den grammen zu Handen des Leitenden Ausschusses Artikel 2 der Bernischen Kirchenverfassung er- und Durchf ührung der genehmigten A nträge. Die gänzt wurde: Zusammensetzung der Arbeitsgruppen und ihre Arbeitsweise waren sehr unterschiedlich. «Der Arbeitskreis hat die Aufgabe, sich in Geschäftsstelle und Rechnungsführung: christlicher Verantwortung mit Fragen unserer Mithilfe bei der Durchführung von Veranstal- Gesellschaft, des kulturellen und kirchlichen Le- tungen und Unternehmungen des Arbeitskreises, bens auseinanderzusetzen. Er bildet ein Forum für Erstellen eines koordinierten Tätigkeitspro- Information und Gespräch mit dem Ziel, Situati- gramms, Erstellen des Jahresberichts, Vertretung onen verständlich zu machen, den Meinungsaus- des Arbeitskreises nach aussen und Verbindung zu tausch zu fördern und Verständigung zu ermögli- anderen Institutionen der Erwachsenenbildung. chen. Zu diesem Zweck führt er Veranstaltungen, Samuel Maurer beteiligte sich an sechs von zehn Tagungen und Kurse durch, bildet Arbeits- und Arbeitsgruppen – die intensive Auseinanderset- Studiengruppen und erarbeitet Dokumentati- zung mit verschiedensten Themen gehörte für ihn onen. zur Aufgabe des Geschäftsleiters. Die Wirkung Er arbeitet in Kontakt und in Zusammenarbeit seines ausserordentlichen Engagements wurde nur mit anderen Institutionen und Gruppen, sowie in durch den hohen Anteil rein administrativer Ar- regionaler und ökumenischer Ausrichtung.» beiten begrenzt. Nur die Buchhaltung wurde voll durch einen Rechnungsführer übernommen. Bernische K irchenverfassung, A rtikel 2: Mit dieser Ordnung wurde auch klar, dass der «Die evangelisch-reformierte Kirche des Kan- Arbeitskreis ein Organ der evangelisch-refor- tons Bern […] bezeugt, dass das Wort Gottes für mierten Kirchgemeinde blieb. Noch im Sommer alle Bereiche des öffentlichen Lebens wie Staat 1969 hatte der Arbeitskreis die Möglichkeit eines und Gesellschaft, Wirtschaft und Kultur gilt; sie ökumenisch geführten Arbeitskreises für Zeit- bekämpft daher alles Unrecht sowie jede leibliche fragen lebhaft diskutiert, etwa im Sinne einer von und geistige Not und ihre Ursachen.» Hans Küng geforderten ökumenischen Equipe, Die Funktionen im Arbeitskreises wurden mit für die das brüderliche In-der-Welt-Sein kenn- Inkrafttreten dieser Ordnung folgendermassen zeichnend ist. Obwohl der Ökumenische Rat der auf die Strukturen verteilt: Kirchen zur Bildung konfessionsübergreifender Kommission: Festlegung der Richtlinien und Strukturen aufrief, beschloss der Arbeitsaus- der Arbeitsgebiete, Genehmigung von Arbeits- schuss, vorerst auf ei nen orga n isator ischen Zusa m- gruppen, Verbindung zu den übrigen kirchlichen menschluss zu verzichten. Auch Überlegungen im Institutionen, Wahl der Mitglieder des Leitenden Hinblick auf einen Arbeitskreis mit verstärkt regi- Ausschusses, Aufstellung des Budgets und Bericht- onaler Abstützung wurden nicht weiter verfolgt. er s t at t u ng a n den G e s a mt k i rc hg emei nder at . I n der Kommission waren der Gesamtkirchgemeinderat, die einzelnen Kirchgemeinden, die Kirchenver- waltung und das Pfarrkollegium vertreten. Sie traf sich in der Regel einmal pro Quartal. Leitender Ausschuss: Koordination der Ar- beit, Entscheid über Anträge der Arbeitsgruppen,

49 K apitel 4 Im Brennpunkt von Auf bruch und Erneuerung (1969–1975) Die Arbeitsgruppe Kirche und Industrie war 1969 erst in Planung begriffen. Im Hinblick auf ei- nen Industriekurs mit etwa 30 Theologen aus der ganzen Schweiz dachte Samuel Maurer daran, eine Die wachsende Bedeutung ständige Arbeitsgruppe zu Fragen der Arbeitswelt der Arbeitsgruppen aufzubauen. Die Gruppe sollte einen Dialog zwi- schen Kirche und Industrie führen, vor allem zur Am Ende des Jahres 1971 zählte der Arbeitskreis Frage nach der Stellung des Menschen in der in- 49 regelmässige Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen. dustriellen Arbeitswelt. In den zehn Arbeitsgruppen mit besonderem Ar- Mit zwanzig Mitgliedern wurde das Gesell- beitsgebiet machten elf Frauen und neununddreis- schaftspolitische Forum (GPF) die mit Abstand grös- sig Männer mit, dreizehn davon gleich in mehre- ste Arbeitsgruppe. Bei seiner Gründung 1970 sah ren Arbeitsgruppen. Knapp die Hälfte von ihnen das Forum seine Aufgabe darin, Fragen aus Politik, hatten eine theologische Ausbildung, der grösste Wirtschaft, Recht und anderen Lebensgebieten Teil der übrigen arbeitete im Sozialbereich oder sowie Probleme der Dritten Welt zu bearbeiten. im Erziehungswesen. Mit Befriedigung stellte der In der Praxis beschäftigte es sich anfänglich vor damalige Kommissionspräsident Georg Werner allem mit Fragen des Zusammenlebens – konkrete fest, dass das Schwergewicht der Tätigkeit und der Themen waren der Rassismus, die antiautoritäre Ausstrahlung des Arbeitskreises an der Basis, also Erziehung, die Emanzipation des Mannes oder die bei den Gruppen liege. Zu den schon seit längerer Merkmale einer modernen Ausbildung. Anfäng- Zeit bestehenden Arbeitsgemeinschaften Kirch- lich lag die Leitung des Forums bei Pfarrer Hans liche Schulung, Religionsunterricht, Arzt und Seelsor- Ott, später beim Sozialarbeiter Hans Rickenba- ger und Technikums-Seelsorge gesellten sich neue, cher. Letzte Leiterin des GPF war ab 1977 Irene durchwegs ökumenisch arbeitende Gruppen. Steeb. Im Februar 1969 entstand die Arbeitsgruppe sie Ab September 1970 bildete sich die Arbeits- und er. Gerade in den Jahren des gesellschaftlichen gruppe Kirche und Sport. Die von Pfarrer Markus Aufbruchs wollte die Gruppe Gelegenheit geben, Tschabold geleitete Gruppe erarbeitete Grund- Ehe- und Familienfragen sowie die Partnerschaft lagen zum Thema Sport aus ethischer Sicht und der Geschlechter vertieft zu thematisieren. Kon- fand dabei von Anfang an guten Kontakt mit der kret organisierte die vom Sozialarbeiter Martin Eidgenössischen Turn- und Sportschule (ETS) in Stamm geleitete Gruppe einen Gesprächszyklus zu Magglingen. Fragen w ie Pa r t ner wa h l u nd erste Bez iehu ngen f ü r Gleichzeitig bildete sich auch eine Arbeitsgrup- Jugendliche sowie einen Zyklus zu Möglichkeiten pe Kirche. Ausgehend von einem Impuls der syno- und Problemen der jungen Ehe für Erwachsene. dalen Kommission für Strukturfragen sollten auch Eine Neugründung des Jahres 1969 war auch die in Biel Fragen der inneren Struktur der Kirche Arbeitsgruppe Presse. Mit dem Ziel, der Stimme überdacht werden. Die Leitung der neuen Gruppe der Kirche zu aktuellen Ereignissen und Entwick- übernahm Pfarrer Roland Berlincourt. lungen mehr Gehör zu verschaffen, nahm die von Die Arbeitsgemeinschaft Kirche und Film war Pfarrer Alfred Bürgi geleitete Gruppe bald eine schon 1964 gegründet worden. Aber erst 1968 rege Tätigkeit auf. Trotz den nicht immer unge- bildete sich eine eigentliche Arbeitsgruppe, um trübten gegenseitigen Beziehungen war das Bieler konkret zu einer sinnvollen Begegnung mit dem Tagblatt bereit , der A rbeit sg r uppe regel mässig ei ne Medium Film beizutragen. Mit der Förderung des Spalte für Beiträge in eigener Verantwortung zur guten Films, mit Impulsen zur kritischen Filmbe- Verfügung zu stellen. Unter dem Titel Die Ecke der trachtung und mit Bildungsarbeit zur «7. Kunst» Bieler Kirchen veröffentlichte die Gruppe ab Mai ganz allgemein. In der ersten Zeit konzentrierte 1971 allwöchentlich einen Beitrag zu religiösen sich Kirche und Film auf Film-Tipps für die Lokal- und gesellschaftspolitischen Fragen aus kirch- presse, Plakathinweise auf interessante Filme des licher Sicht. Die Arbeitsgruppe betonte, sie erhebe aktuellen Kinoprogramms und Forumsgespräche mit ihren Beiträgen keineswegs den A nspr uch, den zu wichtigen Filmen. Die Leitung von Kirche und «einzig richtigen, offiziellen Standpunkt der Kir- Film lag bei Pfarrer Theo K rummenacher. che» wiederzugeben.

50 K apitel 4 Im Brennpunkt von Auf bruch und Erneuerung (1969–1975) Die Gruppe Politisches Nachtgebet erläuterte diese Stelle wie folgt: «Bruderliebe – das sehen wir heute viel klarer als frühere Generationen – ist nicht nur private Caritas, Sorge für den einzelnen, dem ich Der Stamm Geld gebe, wenn er in Not ist. Das ist zumeist nur ein Tropfen auf einen heissen Stein. Der einzel- Seitdem sich immer mehr Personen in irgendei- ne lebt immer in einer Gesellschaft. Seine Not ist ner Form aktiv an der Entwicklung des Arbeits- durch diese Gesellschaft mit verursacht. Bruderlie- kreises beteiligten, hatte auch das Bedürfnis zu- be, die wirklich zu helfen sucht, muss darum auch genommen, sich auch ausserhalb der offiziellen die Gesellschaft befragen, warum der einzelne in Zusammenkünfte besser kennen zu lernen. Um Not ist. Damit beginnt politisches Tun. Politik wird diesem Bedürfnis entgegenzukommen, schlug heute in einer bisher nicht da gewesenen Weise zum Samuel Maurer im August 1971 vor, einmal im Ort der Verwirklichung von Nächstenliebe.» Monat einen «Stamm» durchzuführen. In unge- Den gegenüber dem Politischen Nachtgebet laut zwungener Form sollte Gelegenheit zu freiem Ge- gewordenen Vorwürfen wurde so begegnet: «Wir dankenaustausch und zur Besprechung aktueller wollen weder die Vielfalt der biblischen Botschaft Ereignisse geboten werden. Modell für den Stamm verkürzen, noch das Evangelium Jesu Christi in war das informelle Treffen mit Prof. Hans Küng, eine humanistische Selbsterlösungslehre auflösen, der am 14. Februar 1967 mit besonders interessier- auch wollen wir nicht die Glaubenstraditionen der ten Personen aus dem Arbeitskreis-Umfeld über Kirche zerstören. die Entwicklung der katholischen Kirche seit dem Wir begreifen die Kirche als offene Gesell- Konzil gesprochen hatte. Anders als ursprünglich schaft. In ihr sind sozialistische, liberale, konser- vorgesehen wurde der Stamm nicht monatlich vative oder kommunistische Überzeugungen nicht durchgeführt. Zwischen 1971 und 1981 fanden trennende Grenzen. Der Glaube steht quer zu die- aber insgesamt 41 Anlässe zu den verschiedensten sen Unterscheidungen. Er lässt sich weder für den Themen statt, für die immer wieder namhafte einen noch für den anderen vereinnahmen. Er ist Fachleute gefunden werden konnten. offen für alle, die sich der biblischen Botschaft vom Reich Gottes und seiner Gerechtigkeit aufschlies- sen und nach ihr handeln.» «Befreie uns, Herr. Gib uns Mut Das Politische Nachtgebet in Biel war für die gegen falsche Traditionen.» Schweiz das dritte seiner Art. Nicht nur inhaltlich, sondern auch formal erstrebte es eine Erneuerung Seit seinen ersten Anfängen hatte der Arbeits- der Kirche. Die Besucher und Besucherinnen des kreis das Jahr mit einem Anlass zur ökumenischen Gottesdienstes sollten ermuntert werden, sich Gebetswoche für die Einheit der Kirchen einge- von der traditionell passiven Rolle zu lösen. Nach leitet. Für die Weltgebetswoche des Jahres 1970 einem Informationsteil zu einem aktuellen Pro- plante eine ökumenische Gruppe ein Politisches blem fand eine Reflexionsphase statt, die Platz für Nachtgebet, wie es seit Oktober 1969 auf Initiative Zweifel und Diskussion einräumte. Darauf folgte von Dorot hee Sölle in der Kölner A nton ier-K irche oft eine Ansprache, die zu einer Aktion einlud, um durchgeführt wurde. Das Wochenthema Mitar- das behandelte Problem konkret anzupacken, be- beiter Gottes war für diese Gruppe der Anlass, die vor das Gebet den Gottesdienst abschloss. Notwendigkeit einer politisch engagierten Kirche Im Verlauf des Jahres 1970 wurden in Biel und theologisch zu begründen. Im Zentrum des Poli- anderen Städten zahlreiche Politische Nachtgebete tischen Nachtgebets vom 20. Januar 1970 stand der durchgeführt. Die Bieler Gruppe arbeitete bald Erste Johannesbrief: unabhängig vom Arbeitskreis. Kurt Martis Do- «Wenn einer sagt: Ich liebe Gott, und er hasst kumentation wir Kirchenträumer enthält als ein- seinen Bruder, der ist ein Lügner. Denn wer seinen drückliches Zeugnis eines Politischen Nachtgebets in Bruder, den er gesehen hat, nicht liebt, kann Gott Biel den Gottesdienst zugunsten der griechischen nicht lieben, den er nicht gesehen hat. Und dieses Flüchtlinge vom 23. Juni 1970 in der Kirche Christ- Gebot haben wir von ihm, dass der, der Gott liebt, König in Mett. auch seinen Bruder liebt…»

51 K apitel 4 Im Brennpunkt von Auf bruch und Erneuerung (1969–1975) drohung eindrücklich veranschauliche. Mit über 300 Besuchern gehörte der Dialog zwi- schen Lüthi und Farner zu den am besten besuchten Arbeitskreis-Anlässen zu weltanschaulichen The- «Erneuerung in der Welt – Erneuerung men. Er wurde ergänzt mit Vortrags- und Diskus- bei uns» sionsabenden zu Lateinamerika (Dr. Niilus, Bue- nos Aires), zur chinesischen Kulturrevolution (Dr. Auch die seit Anfang der Sechzigerjahre beste- Hans Heinz Holz, Berlin), zur Situation auf Kuba hende Arbeitsgruppe Kirchliche Schulung (AKS) (Hugo Loetscher), zur Wirtschaftsreform wäh- integrierte den weltweit spürbaren Geist des ge- rend des Prager Frühlings (Prof. Ota Sik) und zum sellschaftspolitischen Aufbruchs in ihre Arbeit. Verhältnis zwischen Kirche und Revolution (Prof. Mehrere Anlässe sollten helfen, die weltweite po- Jan Milic Lochman). Wegen zu grossen Arbeits- litische Entwicklung zu verstehen, und erlauben, anfalls konnte der geplante Zyklus zu Perspektiven sinnvolle Ansätze zur gesellschaftspolitischen Er- der Erneuerung in der Schweiz nicht verwirklicht neuerung der Schweiz zu reflektieren. werden. Noch vor dem im Herbst 1969 beginnenden Im Verlaufe des Zyklus Erneuerung in der Welt Zyklus Erneuerungsbewegungen der Gegenwart or- wurde deutlich, dass der Arbeitskreis wieder ein- ganisierte der Arbeitskreis ein Podiumsgespräch mal heisse Eisen angepackt hatte. Vor Beginn des zum Dialog zwischen Christentum und Marxis- Lateinamerika-Abends hatten Aktivisten der jun- mus. Prof. Kurt Lüthi, der schon längere Zeit im gen Linken im Korridor des Farelhauses Flugblät- Gespräch mit führenden Marxisten stand, infor- ter verteilt, was nicht wenige Besucher irritiert mierte im Februar 1969 zusammen mit dem Mar- hatte. Um eine Verwechslung zwischen den An- xisten Dr. Konrad Farner über den gegenwärtigen liegen des Arbeitskreises und den mitunter sehr Stand des christlich-marxistischen Dialogs. Lüthi ideologischen Texten der jungen Linken zu ver- betonte, dass der Dialog mit Marxisten geführt meiden, beschloss der Arbeitsausschuss, politische werde, die ihre Weltanschauung als Humanis- Propaganda jeglicher Herkunft vor Beginn seiner mus interpretierten und für eine demokratische Anlässe zu verbieten. Erneuerung in den Staaten des Ostblocks ein- träten. Als gemeinsamen Boden für den Dialog bezeichnete er die Sorge beider Weltanschau- Neue Moral: ungen, dass das Menschliche durch bestimmte Hat die Ehe noch eine Chance? Verhältnisse und Theorien vernachlässigt würde. Auch Dr. Konrad Farner, der seit 1956 auf Distanz Die 1968er-Bewegung trug dazu bei, dass auch zum «realen Sozialismus» gegangen war, umriss intime Lebensbereiche neu durchdacht wurden. den gemeinsamen Kern der beiden Weltanschau- Der Sexualaufklärer Oswalt Kolle sprach von ei- ungen in ihrer sozialen Botschaft: «Bei beiden ner «neuen Moral», und auch kirchliche Stimmen Lehren wird der Mensch als Mensch gewürdigt, erörterten die Chancen einer befreienden Sexual- beide treten der jetzigen Entwürdigung und Aus- kultur. Zum Beispiel setzte sich Prof. Kurt Lüthi beutung, der Rentabilität des Menschen entgegen. im Sämann mit dem Begriff der «neuen Moral» Und beide sehen in der Arbeit die Sinngebung des auseinander: «Neue Moral versteht sich nach Alex Lebens.» Folgerichtig betonte er, der christlich- Comfort als Humanismus. Sie will einen neu- marxistische Dialog habe erst dann einen Sinn, en Menschentypus schaffen, der in Freiheit und wenn er in der Praxis stattfinde, wenn es um den Verantwortung einen Weg der Erfahrung und Aufbau einer neuen Gesellschaft gehe, damit der des Experimentes geht. Normen, die man nicht neue Mensch auf einer wirklichen Grundlage überprüfen soll, werden abgelehnt […]. Der neue entstehe. Eine grosse Herausforderung für beide Typ wendet sich gegen alle Institutionen, die das Weltanschauungen sei die rasante wissenschaft- ‹Recht auf Lust› in Frage stellen. Gleiches Recht lich-technologische Entwicklung, die weder im für Mann und Frau ist ihm selbst verständlich.» Christentum noch im Marxismus eingebettet sei. Die Arbeitsgruppe s ie u n d e r organisierte auf den Eine sich verselbständigende technologische Re- 11. Mai 1971 einen Informations- und Gesprächs- volution sei hochgefährlich, was die atomare Be- abend, um die veränderten Moralvorstellungen

52 K apitel 4 Im Brennpunkt von Auf bruch und Erneuerung (1969–1975) mit den Homosexuellen weitergeführt werden; in der nächsten Phase ist geplant, die direkt Betrof- fenen in Biel zu einer Aussprache zusammenzu- bringen, die unter Umständen zu einem weiteren zu erörtern. Mit dem Theologen G. Barczay, dem Schritt an die Öffentlichkeit führen könnte.» In Soziologen F. Haag, dem Studentenpfarrer Dr. A. den folgenden Jahren konnte die Gruppe sie und er Ziegler und der Fachfrau Dr. Margrit Weibel von diese Art Arbeit leider nicht mehr weiter begleiten der Zeitschrift Die Frau war das Podium optimal – wegen zu geringer Beteilig ung stellte sie ihre Tä- besetzt, was interessante Beiträge versprach. Ge- tigkeit 1976 ein. Der Bericht über die Tagung zur sprächsleiter Martin Stamm stellte aber bald fest, Homosexualität aber stiess weit über die Region dass in vielen Punkten Einigkeit herrschte. Als hinaus auf grosses Interesse. Auf nationaler Ebe- wichtigste Veränderung im Sexualverhalten wur- ne kam es übrigens erst an der Telearena vom 12. de der frühere Beginn sexueller Begegnungen April 1978 zu einem teilweisen «Coming out» von genannt, aber es gelte nach wie vor, sexuelle Be- Schwulen und Lesben. ziehungen verantwortlich zu gestalten. Einzig in Bezug auf die Zukunft der Ehe kam es zu einer längeren kontroversen Diskussion – als einziger Freie Menschen – der Erfolg Podiumsteilnehmer zweifelte Dr. Barczay daran, antiautoritärer Erziehung? dass die Einehe auch das Leitbild der Zukunft sein werde; die Ehe werde zumindest eine Krise durch- Wen n d ie 68er-Beweg u ng forder te, d ie Fa nt asie machen… sol le d ie Macht erg reifen, stel lte sie Her rschaf t u nd Hierarchie ganz grundsätzlich in Frage. Vor allem in Deutschland beschäftigten sich viele Opposi- Eine Tagung zur Homosexualität tionelle mit der Frage, welche gesellschaftlichen Ursachen die Machtergreifung des Nationalsozia- Schon 1965 hatte der Arbeitskreis Aktivitäten lismus beg ünst igt hatten. Schon in den Dreissiger- zum Thema Homosexualität geplant – damals ge- jahren hatte das Frankfurter Institut für Sozial- lang es dem Psychotherapeuten Dr. Theodor Bo- forschung faschistisches Verhalten unter anderem vet erst nach zwanzig Telefonaten, eine Theologin mit bestimmten Familienkonstellationen und Er- für eine Publikation über Probleme der Homophi- ziehungsidealen in Zusammenhang gebracht. Um lie auch aus kirchlicher Sicht zu finden, und 1968 ein faschistisches System für alle Zukunft zu ver- deutete der Kirchenhistoriker Kurt Guggisberg unmöglichen, dachten viele «Achtundsechziger» Homosexualität als «Symptom der Dekadenz und an neue, antiautoritäre Erziehungsmuster – so Verkehrung der Schöpfungsordnung». Erst in den entstanden zum Beispiel viele «Kinderläden» in Jahren des gesellschaftlichen Auf bruchs nach 1968 Frankfurt und Berlin. begannen Schwule und Lesben, sich vermehrt I m Verlaufe des Jah res 1971 befasste sich der A r- zu organisieren: 1971 entstand die Homosexuelle beitskreis intensiv mit verschiedenen Aspekten der Arbeitsgruppe Zürich (HAZ), 1974 die Dachorga- antiautoritären Erziehung. Gegen Ende des Jah- nisation Homosexuelle Arbeitsgruppen der Schweiz res führte er dazu auch einen vierteiligen Zyklus (HACH). Kurz nach Entstehung der HACH nahm durch. Zur Sprache kamen dabei die psychosoziale die Arbeitsgruppe sie und er mit einigen Vertretern Entwicklung des Kleinkindes (Wir fangen leer an der neuen Organisation Kontakt auf. Im Jahresbe- mit Prof. Dr. Gerd Biermann), die Erfahrungen mit richt 1974 fasste Martin Stamm zusammen: «Als nicht autoritären Schulmodellen und die Frage, ob erstes Ergebnis dieser Gespräche wurde am 26. antiautoritäre Erziehung zu einer antiautoritären Oktober 1974 eine Tagung in Magglingen durch- G esel lschaf t f ü h ren werde. Der A n lass m it Mon i k a geführt, die Sozialarbeitern, Erziehern und kirch- Seifert vom 5. November ermöglichte eine direkte lichen Mitarbeitern eine wertvolle Begegnung mit Auseinandersetzung mit einer Vordenkerin der Homosexuellen ermöglichte. Drei Referate von Kinderläden – die Referentin hatte den ersten an- kompetenten Fachleuten (Dr. med. H. Hoffet, A. tiautoritären Kinderladen in Hamburg gegründet. Muff, Theologe, und lic. jur. M. Killias,) ergänzten Begleitend zum Veranstaltungszyklus hatte der sich vortrefflich. Darüber hinaus soll der Kontakt Arbeitskreis versucht, mit einer Umfrage Anre-

53 K apitel 4 Im Brennpunkt von Auf bruch und Erneuerung (1969–1975) und jenseits der Landesgrenzen als Dekoration sehr gefragt sei…

gungen zur Fortführung der Arbeit einzuholen. Jesus, Jesus-People und Jesuiten Die meisten der 40 Antwortenden interessierten sich für eine Thematisierung der Friedenserzie- Die «Gurus» der Bewusstseinserweiterung hung und für eine antiautoritäre Gestaltung des durch Drogenkonsum lehnten Exzesse und unbe- Religionsunterrichts. schränkten Drogengenuss ab – für die Einnahme bewusstseinserweiternder Drogen hatten sie eine detaillierte «Strategie» entwickelt. Timothy Lea- Wirken Rauschmittel befreiend? ry zum Beispiel betonte: «Die Disziplin der Eksta- se ist das anspruchsvollste Yoga, das ich mir vor- Sobald die Blumenkinder der Hippie-Bewegung stellen kann.» Doch nur eine Minderheit beachtete in den USA erkannt hatten, dass die Gesellschaft diese Rahmenbedingungen, und viele Drogen sich kaum verändern liess, konzentrierten sie sich konsumierende Jugendliche verloren die Kontrolle vermehrt auf Selbstbefreiung und innere Emigra- über ihren Haschisch- und LSD-Konsum. Viele tion – dabei spielte der Drogenkonsum bald eine betrachteten LSD als «Sesam öffne dich», mit dem wichtige Rolle. Die von Theoretikern wie Timo- die «künstlichen Paradiese» ganz umsonst zu ha- thy Leary propagierte «Befreiung durch Bewusst- ben seien. Häufig verband sich LSD-Konsum auch seinserweiterung» faszinierte auch viele meist mit spiritueller Suche, wobei christliche, hinduis- junge Menschen in Europa – für die Schweiz er- tische und buddhistische Elemente oft gleichzeitig gab eine Erhebung, dass 1968 etwa 15 Prozent der integriert wurden. In diesem Umfeld entstanden Jugendlichen schon einmal Drogen wie Haschisch 1967 die ersten Jesus-People. In der Zuwendung zu oder LSD konsumiert hatten. Jesus spürten die jungen Suchenden einen grund- Sehr bald versuchten die Behörden, auf die sätzlich anderen Zugang zum Glück – in Form Gefahren des Drogenkonsums aufmerksam zu der göttlichen Gnade, die «umsonst» zu haben machen, zum Beispiel mit dem Aushang eines Pla- war. Von Los Angeles aus verbreitete sich die Be- k ates, auf dem ein halb als Totenschädel dargestell- geisterung für Jesus über einen Teil der Hippie- ter Mädchenkopf vor Rauschgiftkonsum warnte. Bewegung in der ganzen Welt. Besonders junge Dem Arbeitskreis war nicht entgangen, dass Drogenabhängige erlebten die Begegnung mit den das Thema «Rauschgift» die Gemüter bewegte. Jesus-People als Befreiung – sie wurden einfach Auf den 23. November 1970 organisierte er daher akzeptiert, weil sie Menschen waren. Für nicht einen Informations- und Diskussionsabend mit wenige unter ihnen bedeutete die Hinwendung zu profilierten Fachleuten. Ausser dem Schriftsteller dieser neuen, gefühlsbetonten Frömmigkeit die Sergius Golowin konnten der Zürcher Polizei- Möglichkeit, sich vom Drogenkonsum zu lösen. chef W. Hubatka, der Präventivmediziner Dr. K. Noch bevor das Phänomen «Jesus-People» zu Biener und der Soziologe Dr. Chr. Rauh für das einem grossen Medienereignis wurde, plante der Podium gewonnen werden. Vor einem randvollen Arbeitskreis eine Reihe von Veranstaltungen zum Farelsaal entspann sich unter Leitung des Berner aktuellen Jesus-Verständnis. Der eigentlich für Radiojournalisten H. von Grünigen ein kontro- 1970 vorgesehene AKS-Kurs Wer war Jesus konn- verses, aber sachliches Gespräch. Während Dr. te 1971 in einem idealen Umfeld durchgeführt Rauh betonte, dass Haschisch nicht süchtig mache, werden. Die ab September 1970 neu von Pfarrer gab Hubatka zu bedenken, dass sehr viele Hascher Reinhard Lanz geführte Arbeitsgruppe Kirchliche aus zerrütteten Familien stammten. Keine Einig- Schulung engagierte sich sehr, um für den Zyklus keit erzielte die Gesprächsrunde zur Frage, ob der namhafte Referentinnen und Referenten zu gewin- Drogenkonsum im Westen aus dem Osten fern- nen – schliesslich sprachen in diesem Rahmen unter gesteuert werde, und auch die aktuelle Kampagne anderem Prof. Dr. Kurt Lüthi (am 16. Februar, zum gegen den Drogenkonsum fand nicht ungeteilte Christusbild in der modernen Kunst), Pfarrer Kurt Zustimmung. Golowin berichtete, dass das Plakat Marti (am 23. Februar, zum Jesusbild in der mo- mit dem Mädchenkopf in Hascherkreisen diesseits dernen Literatur), Dr. Konrad Farner (am 2. März,

54 K apitel 4 Im Brennpunkt von Auf bruch und Erneuerung (1969–1975) in der Schweiz aufgehoben werden. Das sachliche Gespräch zwischen Nationalrat Raoul Kohler, Pfarrer Walter Hutzli und Jesuitenpater Josef Bru- hin im Farelsaal half mit, sich im Hinblick auf die zu Jesus aus marxistischer Sicht) und Dr. Dorothee Abstimmung vom 20. Mai 1973 eine Meinung zu Sölle (am 9. März, zum politischen Jesus). Vor allem bilden. Die Aufhebung des Jesuitenverbots, von Dorothee Sölles Referat stiess auf sehr grosses Volk und Ständen mit etwa 54 Prozent Ja-Stimmen Interesse – ihr «Plädoyer für einen neuen Men- recht knapp beschlossen, wurde vom Arbeitskreis schen» wurde von über 500 Personen mitverfolgt. auch durch einen Beitrag der Arbeitsgruppe Presse Parallel zu diesem Vortragszyklus organisierte die unterstützt. Arbeitsgruppe Kirchliche Schulung einen zweitei- ligen Jesus-Kurs. Im ersten Teil erörterten Mar- grit Altwegg und Reinhard Lanz ausgehend von Kirche und Industrie thematisiert historischen Fragen die Rolle von Jesus in der mo- die Mitbestimmung im Betrieb dernen Welt. Der zweite, von Martin Stamm mit den Pfarrern Berlincourt, Dumermuth, Jakob und Im April und Juni 1970 führte die Deutsch- Schwyn gestaltete Kursteil befasste sich mit der schweizerische Arbeitsgemeinschaft Kirche und Auferstehung Jesu. Zu einem besonderen Anlass Industrie in der Region Biel und Grenchen einen kam es am 24. Juni 1971 in der Stadtkirche. Nach zweiwöchigen Kurs für Pfarrer durch, der zwei- einer Einführung von Pfarrer H. Stefan wurde sprachig und interkonfessionell besucht war. Im einem 450-köpfigen Publikum die Rock-Oper Je- Verlauf dieses Kurses konnte der Plan einer regi- sus Christ Superstar ab Schallplatten in Stereo prä- onalen Arbeitsgruppe konkretisiert werden, in der sentiert. Ganz den «Jesus-People» gewidmet war Samuel Maurer und Pfarrer Alfred Bürgi als Ver- schliesslich der Anlass vom 18. Januar 1972. Kurz treter des Arbeitskreises mitarbeiteten. Die von vor dem ersten «Jesus-Festival» in Zürich sprach Pfarrer Philippe Roulet geleitete Gruppe verein- Prof. Dr. Walter J. Hollenweger über die Bedeu- barte mit Vertretern der Firmen Omega, Mikron tung dieser «enthusiastischen Ausdrucksform des und ASSA, zu aktuellen Fragen der Arbeitswelt im Christentums» in den USA und in Europa. Etwa Gespräch zu bleiben. 600 Personen folgten den Ausführungen des Re- Der Arbeitskreis übernahm nicht nur die ad- ferenten, der seinen Vortrag mit einem Film er- ministrative Arbeit der Regionalgruppe, sondern gänzte. auch die Organisation eines ersten Anlasses. Am Im Verlauf der Veranstaltungsreihe und der 24. November 1971 konnte im Centre de Sornetan Kurse zu Jesus war deutlich geworden, dass die eine von 35 Teilnehmerinnen und Teilnehmern Jesus-Forschung nicht stehen geblieben war. Um besuchte Tagung zum Thema Mitbestimmung einen Überblick zum gegenwärtigen Forschungs- stand zu geben, organisierte der Arbeitskreis auf den 20. Februar 1973 einen Anlass mit Prof. H.-W. Bartsch, der selbst ein Werk über Propheten aus Galiläa veröffentlicht hatte. Im Rahmen der Weltgebetswoche für die Einheit der Christen organisierte der Arbeitskreis auf den 23. Januar 1973 ein Podiumsgespräch zur Jesui- tenfrage. Etwa hundert Jahre nach ihrer Einfüh- rung sollte das Verbot der Societas Jesu (Jesuiten)

Zum Dialog mit den Menschen der modernen Stadt gehörte für den Arbeitskreis auch eine vertiefte Ausei- nandersetzung mit der Arbeitswelt.

55 K apitel 4 Im Brennpunkt von Auf bruch und Erneuerung (1969–1975) sachliche Berichterstattung des lokalen Monopol- blattes zur Sprache brachten.

durchgeführt werden. Von gewerkschaftlicher Thematischer Schwerpunkt Frieden Seite erläuterte der Generalsekretär des SMUV und Friedenserziehung die Bedeutung der betrieblichen Mitbestimmung, während der Generalsekretär der Arbeitgeberver- Der Grafiker René Brotbeck hatte im Leitenden einigung und Mikron-Verwaltungsratspräsident Ausschuss angeregt, die Planung der öffentlichen Dr. Christian Gasser die Sicht der Arbeitgeber er- Anlässe nicht mehr ganz den Arbeitsgruppen zu klärte. überlassen – der Ausschuss solle ein übergreifen- des Jahresthema bestimmen, das Prioritäten setze. Der Vorschlag gefiel, verschiedene Gründe bewo- Wie informiert die Presse? gen den Leitenden Ausschuss, als Schwerpunkt für das Jahr 1972 den Themenkreis Frieden und Im Rahmen des Zyklus Wahrhaftigkeit hatte der Friedenserziehung zu bestimmen. «Friedenserzie- Arbeitskreis bereits 1967 ein Podiumsgespräch zur hung» war im Rahmen einer Umfrage ausdrück- Bieler Presselandschaft durchgeführt. Unter Lei- lich gewünscht worden, und in Bezug auf die Ar- tung von Prof. Peter Atteslander erörterten unter mee erhitzte die Erklärung der 32 die Gemüter: 32 anderem Stadtpräsident Fritz Stähli, Dr. Justus katholische und protestantische Geistliche aus der Imfeld, Dr. P. Berger und Pfarrer Alfred Bürgi die Westschweiz bezeichneten die Schweizer Armee aktuelle Situation. Seit das Bieler Tagblatt praktisch als Werkzeug der Wirtschafts- und Finanzmäch- eine Monopolstellung errungen hatte, herrschte in te und erklärten, sie verweigerten aus Solidarität Biel ein gewisses Malaise. Versuche des Arbeits- mit den Dienstverweigerern jeden Militärdienst. kreises, auch zwischen BT-Verleger Gassmann Zudem wurde die Armee auch im Bieler Manifest und einem seiner Kritiker ein Gespräch in Gang des Arbeitskreis kritische Kirche angegriffen. Das zu bringen, waren damals ohne Erfolg geblieben; Gesellschaftspolitische Forum des Arbeitskreises ein Gespräch mit Mario Cortesi, dem Korrespon- hatte schon 1971 verschiedene Texte zum Thema denten der Basler National-Zeitung hätte als indi- gelesen und dabei festgestellt, dass die sich aus rekte Anerkennung der National-Zeitung auf dem der Friedensforschung ergebenden Forderungen Platze Biel verstanden werden können. sich praktisch mit dem «Schalom» (= umfassendes 1972 bot der AKS-Kurs Information: Chance der Heil, umfassender Friede) im alttestamentlichen Freiheit – Gefahr der Manipulation Gelegenheit, Sinn deckten. die problematische Situation wieder aufzugreifen. Die Veranstaltungen teilten sich in zwei Zyklen Im Zusammenhang mit dem Pressekurs Wie eine auf. Im ersten Halbjahr wies der Zyklus Rassismus Nachricht verändert wird organisierte die Arbeits- auf das enorme Konfliktpotential dieses sozialen gruppe Kirchliche Schulung auf den 16. Mai 1972 Unrechts hin, während im zweiten Halbjahr eine zur Frage Wie informiert die Presse? ein brisant be- Veranstaltungsreihe der Frage nachging, wie der setztes Podiumsgespräch. Vertreten waren das Bie- Frieden errungen werden könne. ler Tagblatt, der Blick, der Bund, die Neue Zürcher Der Zyklus zum Thema Rassismus wurde am Zeitung, die National-Zeitung und die Tagwacht. Im 6. Februar 1972 – dem Bernischen Kirchensonn- von Pfarrer Hans Ott geleiteten Gespräch wurde tag – mit dem Fernseh-Gottesdienst Der Fremde bald klar, dass keiner der anwesenden Redaktoren eingeleitet. Unter Mitwirkung des Pantomimen den Anspruch auf völlige Unabhängigkeit erhob. Peter Wyssbrod und des Musikers Ruedi Krebs Kontrovers diskutiert wurde aber die Verantwor- von den Berner Troubadours gestaltete eine Grup- tung einer Monopolzeitung – während BT-Redak- pe mit mehreren Mitgliedern des Arbeitskreises tor Robert Aeberhard betonte, dass das Bieler Tag- ein sozialkritisches Programm. Weitere Anlässe blatt seine Spalten allen «nicht extremistischen» beleuchteten die soziale Ungerechtigkeit in La- politischen Richtungen öffne, meldeten sich im teinamerika und im südlichen Afrika. Die provo- Verlauf der Diskussion mit dem Publikum mehrere kative Frage des letzten Anlasses – Sind wir Schwei- BT-Kritiker, die ihr Unbehagen über die oft un- zer Rassisten? – bezog sich auf eine Erklärung des

56 K apitel 4 Im Brennpunkt von Auf bruch und Erneuerung (1969–1975) theologischen Schule Bern, sehr kritisch zu heissen Themen wie «gottgewollter Krieg» und «Landes- verteidigung und Landnahme» im Alten Testa- ment. Beatrice Möri und Theo Krummenacher von Ökumenischen Rates der Kirchen aus dem Jahr Kirche und Film erarbeiteten mit Lehrkräften aller 1968: «Alle Gesellschaften sind in Spannungen Schulstufen eine Modell-Lektion zur Verwendung […] verwickelt, die sich aus der Diskriminierung des Trickfilms bei Gesprächen über Konflikte, von Gruppen ergeben, die auf Unterschieden der ausserdem organisierte die Arbeitsgruppe ein Po- Rasse, der Religion, der Kultur und ähnlichen Ge- diumsgespräch zum Thema Gewalt in Film und gebenheiten basieren.» Referent war der katho- Fernsehen mit Rolf von Felten und Pfarrer H. D. lische Theologe und Soziologe Dr. Michael Tra- Leuenberger. Die Arbeitsgruppe sie und er führte ber, der es nach der Rückkehr aus dem südlichen einen Vortrags- und Diskussionsabend zum The- Afrika als seine Aufgabe verstand, in Europa über ma Konflikte in der Familie durch, bei dem das etwa die ungerechten Strukturen der Apartheid zu in- hundertköpfige Publikum mit Hilfe von «Tischge- formieren. Traber wies darauf hin, dass die in der sprächen» intensiv mit einbezogen wurde. Schweiz spürbaren Spannungen zwischen Fremd- Zu den letzten grösseren Aktivitäten der Grup- arbeitern und Einheimischen erst ein Anfang sein pe Arzt und Seelsorger gehörte eine Vortragsreihe könnten – wegen der wachsenden Mobilität wür- mit Seminar über Menschen, die aus schwierigen den die am schlechtesten bezahlten A rbeiten künf- Konflikten nicht mehr herausfanden – zum The- tig nicht mehr von südeuropäischen, sondern von ma Schwermut und Lebensmüdigkeit konnte Pfarrer indischen oder afrikanischen Arbeitern übernom- Er n st Schw y n a ls M it gl ied de s I nter nat iona len Ver- men werden. bandes für Selbstmordprophylaxe aus dem Vollen Am 14. September thematisierte das Gesell- schöpfen. Wegen der zunehmenden Beanspru- schaftspolitische Forum ein brandaktuelles und bri- chung durch die Angebote ihrer eigenen Berufs- santes Thema. Unter Leitung von Pfarrer Klaus verbände löste sich Arzt und Seelsorger 1973 auf. Bäumlin debattierten die Nationalräte Fritz Mart- haler und Jean Riesen über die Volksinitiative zum Verbot der Waffenausfuhr in Entwicklungsländer, Generalstreik 1918 deren Anliegen vom Institut für Sozialethik des – die Wiederaneignung verdrängter Zeit- Schweizerischen Evangelischen Kirchenbundes geschichte unterstützt wurden. Den Zyklus Friede mit aller Gewalt… aber wie? Im Zusammenhang mit dem Zyklus zu Frieden führte das Gesellschaftspolitische Forum im Dezem- und Friedenserziehung beschäftigte sich der Ar- ber 1972 in Form einer «Friedenswoche» durch. beitskreis auch mit einem Ereignis der Schweizer Das Programm überzeugte mit hervorragenden Geschichte, das etwa fünfzig Jahre lang vernach- Referenten – nach zwei Vortrags- und Diskussi- lässigt worden war. Von bürgerlichen Kreisen als onsabenden mit Prof. Dr. Ekkehart Krippendorf «bolschewistischer Umsturzversuch» gedeutet (zur Friedensforschung) und Dr. H. U. Wintsch und von der Arbeiterbewegung meistens verschämt (zur Friedenserziehung) hielt Pfarrer Theo Brüg- in den Archiven ihrer Organisationen dem Staub gemann in der Stadtkirche einen Gottesdienst des Vergessens überlassen, blieb der Landesstreik unter dem Titel Zum Frieden anstiften. Zum Ab- vom November 1918 bis zum Ende der Sechziger- schluss der Reihe diskutierten Prof. Dr. Hans Ruh jahre ohne seriöse historische Aufarbeitung. Erst und der Armeevertreter Dr. H. R. Kurz zur Frage, die Arbeiten von Paul Schmid-Ammann und Wil- inwieweit die Schweizer A rmee als Friedensinstr u- li Gautschi (1968) zeigten die grosse Bedeutung ment verstanden werden könne. des Streiks für die weitere politische und soziale Auch andere Gruppen des Arbeitskreises lei- Entwicklung der Schweiz. Dass die Aufarbeitung steten Beiträge zum Gesamtthema. Die von Dr. des sozialen Kampfes von Arbeitern und Arbei- Werner Marti geleitete Arbeitsgruppe Religionsun- terinnen in der Schweiz auch nach 1968 einem terricht thematisierte umstrittene Fragen. An zwei Tabubruch gleichkam, zeigte das Schicksal des Abenden f ür Relig ionslehrer u nd -leherin nen refe- Quellenbandes Schweizerische Arbeiterbewegung im rierte Dr. M. Klopfenstein, Rektor der Kirchlich- Jahr 1974. Nachdem sich der Huber-Verlag u nd der

57 K apitel 4 Im Brennpunkt von Auf bruch und Erneuerung (1969–1975) – für die Arbeitsgruppe Kirche ein Anlass, 1972 und 1973 ein Seminar unter dem Titel Kirche und Politik durchzuführen. Die 25 Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus den verschiedenen Kirch- Suhrkamp-Verlag geweigert hatten, das «tenden- gemeinderäten setzten sich intensiv mit Texten ziöse Werk» herauszugeben, wurde eigens für die von Dorothee Sölle, Helmut Gollwitzer, Jan Mi- Herausgabe des Quellenbands der Limmat Verlag lic Lochman und anderen auseinander, bevor sie geg r ü ndet – dank den Zensu r versuchen recht sbü r- mit der Diskussion zum politischen Engagement gerlicher Kreise wurde Schweizerische Arbeiterbe- der Kirche begannen. Im Jahresbericht 1972 er- wegung» 1975 zum Verkaufserfolg. läuterte Pfarrer Roland Berlincourt: «Wir hatten Der Arbeitskreis wollte vor allem zeigen, dass miteinander offene, manchmal harte Gespräche, es auch in einer Situation, in der es auf Biegen und und doch blieb es immer beim Gespräch, in des- Brechen ging, Stimmen gab, die versuchten, ver- sen Verlauf die Teilnehmer/innen, so verschieden härtete Fronten aufzubrechen. Das Stück General- ihre Ausgangspositionen auch waren, sich be- streik 1918 der Basler Theater zeigte eine solche. mühten, die Anliegen und Denkvoraussetzungen Die Rekonstruktion der ausserordentlichen Bun- der Gegenpartei zu verstehen.» desversammlung vom 12./13. November 1918 an- hand der stenographischen Protokolle liess auch eine der wenigen vermittelnden Stimmen jener Ein Buch, das nicht mehr in jede Haus- Tage wieder aufleben, nämlich den vergeblichen haltung passte Appell des Hundwiler «Weberpfarrers» Howard Eugster-Züst: «Gross ist, wer Städte bezwingt, «Möge es uns vergönnt sein, alles Defätistische, aber grösser ist, wer sich selbst bezwingt! Soll die Unschweizerische und Fremde, das unserem We- innere Unruhe vermieden werden, oder, wo sie sen nicht angepasst ist, auszumerzen und zu über- besteht, aufhören, so kann es nur geschehen auf winden.» Bundesrat Gnägis denkwürdige Worte dem Wege, den unser Herr und Meister […] weist: zum 1. August 1967 illustrierten auf eindrückliche Auf dem Wege der Vergebung und Versöhnung. Weise, wie das EMD versuchte, dem immer aus- Ich bitte Sie – suchen Sie den Weg der Verständi- geprägter werdenden politischen Tauwetter der gung!» Sechzigerjahre zu begegnen. Ganz im Sinne von In Zusammenarbeit mit der Literarischen Ge- Gnägis Aufruf liess die Landesregierung 1969 das sellschaft, den Kulturtätern und dem Gewerk- von Albert Bachmann und Georges Grosjean ver- schaftskartell Biel konnte das Stück der Basler fasste Buch Zivilverteidigung in über 2,6 Millionen Theater am 17. Febr uar 1972 in der Bieler Stadt k ir- Haushalte versenden. Wie Bundesrat von Moos im che aufgeführt werden. Vorwort betonte, sollte das «Zivilverteidigungs- buch» (ZVB) «die Widerstandskraft des Volkes er- halten und stärken». Die Autoren des Buches hatten Politische Kirche? die Ideologie der «Geistigen Landesverteidigung» aus der Zeit des Aktivdienstes praktisch nahtlos Gerade in Fragen der Friedenspolitik hatte der übernommen und versuchten, sie auf das Zeitalter Arbeitskreis durchaus eine eigene Haltung, auch eines möglichen Atomkrieges anzuwenden. Doch wenn er die meisten Anlässe kontradiktorisch ge- schon im Verlaufe des landesweiten Versandes der staltete. Das 1971 gegründete Institut für Sozial- Zivilverteidigungsbücher im Oktober 1969 wurden ethik sprach sich klar für das Recht auf Dienstver- erste Proteste laut. Obwohl manche Erkenntnisse weigerung aus, und es war gegen Waffenexporte zu den Folgen eines Atomkriegs noch kaum ver- in die Entwicklungsländer. Der Friedensforscher breitet waren, löste allein die Botschaft der Landes- Johan Galtung, dessen Thesen im Arbeitskreis in- regierung, die Schweiz könne auch einem atomar tensiv diskutiert wurden, war führendes Mitglied geführten Krieg standhalten, einen Entrüstungs- der Internationale der Kriegsdienstgegner (IdK), sturm aus. Mit noch viel heftigerer Ablehnung re- ebenso wie Pastor Martin Niemöller. Auch in den agierte die liberale Öffentlichkeit auf den zweiten verschiedenen Bieler Kirchgemeinden machte Teil des Büchleins, der die Opposition gegen ato- sich eine zunehmende Politisierung bemerkbar mare Bewaffnung, gegen Rüstungsvorhaben und

58 K apitel 4 Im Brennpunkt von Auf bruch und Erneuerung (1969–1975) einer ausländischen Macht zu geraten. Überraschenderweise verlagerte sich das Gespräch in der Folge auf die Frage des Regie- rungssystems, und beide Lager bedauerten, dass sogar die Besinnung auf das Gebot, nicht zu töten, die Konkordanzdemokratie eine wirksame Op- in die Nähe von Aktivitäten einer ferngesteuerten position verunmöglicht habe. Für Tschäni lag «Fünften Kolonne» rückte. Um keinen Zweifel gerade darin ein wichtiger Grund dafür, dass der über die politische Identität des subversiven «inne- notwendige Erneuerungsprozess in der Schweiz ren Feindes» aufkommen zu lassen, bezeichnete das kaum vorankomme. ZVB diesen zu Beginn des Kapitels Die zweite Form Mochten bei der Abfassung des Zivilverteidi- des Krieges recht unverblümt als «Partei des A ngrei- gungsbuches auch gewisse Ungeschicklichkeiten fers», was den Rückschluss auf die Abkürzung PdA eine Rolle gespielt haben, blieb in der liberalen (Partei der Arbeit) erlaubte. und linken Öffentlichkeit doch ein Unbehagen Massenhaft wurden die Zivilverteidigungsbü- zurück. Dieses Unbehagen verstärkte sich, als c h e r a n d e n B u n d e s r at z u r ü c k g e s c h i c k t . D a s k at h o - verschiedene bekannte Nonkonformisten auf lische Giornale del Popolo sprach von einer «typisch die Aktivitäten des Zürcher Freisinnigen Ernst faschistischen Konstruktion», und der Psychiater Cincera aufmerksam wurden. Kurt Marti zum Walter Vogt diagnostizierte der Landesregierung Beispiel begann sein politisches Tagebuch Zum ein «perfektes Aufleben der Igelneurose». Zwei- Beispiel Bern 1972 nachdem er vom Inhalt eines undzwanzig Schriftsteller verliessen den Schwei- Cincera-Vortrags in Köniz gehört hatte. Der zerischen Schriftstellerverein, weil dessen Präsident Referent habe langhaarige, kritische Studenten Maurice Zermatten am ZVB mitgearbeitete hatte, und die Organisatoren der bernischen Friedens- und gründeten die Gruppe Olten. In Biel beschlag- woche als subversive, von Moskau ferngesteuerte nahmte die Polizei Flugblätter der Internationale Elemente bezeichnet. Sogar die reformierte Bil- der Kriegsdienstgegner ( IdK ), in denen das Z V B k ri- dungsstätte Gwatt sei schon infiziert… Für Cin- tisiert wurde, während eine Jugendgruppe für den cera war offenbar jede Opposition eine Form von gerechten Aufbau Biels unbehelligt Flugblätter ver- Subversion. teilte, die für das ZVB warben. Die jugendlichen Jura-Autonomisten der Gruppe Béliers schliesslich verbrannten auf dem zehntausend Ist der Arbeitskreis für Zeitfragen Exemplare des ZVB, bevor sie mit Tränengas aus- subversiv? einander getrieben wurden. Begrüsst wurde das bundesrätliche «Geschenk» lediglich im streng In dieser Situation war der Arbeitskreis gefor- antikommunistischen Lager. dert – der Gebrauch des Schlagwortes «Subver- Für den Geschäftsleiter des Arbeitskreises war sive» in Bezug auf Andersdenkende tangierte auch die Situation gegeben, zum ZVB ein Podiums- sein Anliegen, den Meinungsaustausch zu fördern gespräch durchzuführen. Als Vorbereitung des und Verständigung zu ermöglichen. Im Hinblick Anlasses befasste sich eine Studiengruppe mit auf ein Podiumsgespräch mit Cincera ging es dem verschiedenen Aspekten des Buches, und der Ar- Arbeitskreis in erster Linie darum, den Begriff beitskreis bemühte sich erfolgreich um ein ausge- «Subversion» zu klären und bewusst zu machen, wogenes Podium. Am 27. Januar 1971 verteidigten dass es ausser «linker» Subversion auch eine solche Mitverfasser Prof. Georges Grosjean und Befür- der politischen Rechten gab. Schon im April 1972 worter Friedrich Salzmann das Büchlein gegen die begann der Leitende Ausschuss mit der Suche nach Kritik des Journalisten Roman Brodmann und des geeigneten Gesprächsteilnehmern, doch wegen Publizisten Hans Tschäni. Vor einem zahlreichen, verschiedenen Terminschwierigkeiten konnte der gut durchmischten Publikum betonte Grosjean, es A nlass erst am 30. Januar 1973 stattfinden. sei keineswegs die Absicht der Verfasser gewesen, Dann aber zeigte sich die grosse Bedeutung des ein bestimmtes politisches Lager als staatsgefähr- Podiumsgesprächs. Die Voten der Gesprächsteil- dend hinzustellen – auch Vertreter des Heimat- nehmer wurden von Radio Bern für eine sechzig- schutzes könnten durch den Widerstand gegen m i nü t i g e S e nd u n g au f g e z e ic h ne t , u nd d e r Fa r e l s a a l Waffenplätze gefährdet sein, unter den Einfluss war einmal mehr bis auf den letzten Sitz- und Steh-

59 K apitel 4 Im Brennpunkt von Auf bruch und Erneuerung (1969–1975) Für Nationalrat Hubacher erfüllte Cinceras Feldzug gegen «subversive Elemente» eine schein- bar staatserhaltende, bei näherer Betrachtung aber eine staatszersetzende Funktion: «Die Rechte platz gefüllt. Trotz geschickter Gesprächsleitung braucht einen inneren Feind, um ihre politischen durch Andreas Blum kam es zwischen den beiden Ziele zu verfolgen. Deshalb ist in ihren Augen alles Lagern auch nicht ansatzweise zu einer Verständi- subersiv, was gegen bestehende Zustände anrennt. gung – die weltanschaulichen Gegensätze waren Die Folge dieser Haltung ist jedoch die Spaltung einfach zu gross. des Volkes in ‹Subversive› und ‹Nichtsubversive›, Unterstützt von Nationalrat Robert Eibel und und dieses Vorgehen ist die eigentliche Subversi- Stabschef Peter Hess umriss Ernst Cincera seine on.» Ausgehend von diesen Ausführungen fragte Auffassung von Subversion: Im Unterschied zur Hubacher seine Kontrahenten, ob sie die 500 000 Opposition leiste die subversive Tätigkeit keinen Schweizer/innen, die sich für ein Waffenausfuhr- konstruktiven Beitrag zur Lösung der Probleme. verbot ausgesprochen hatten, für Kommunisten Sie missachte die Spielregeln, leiste illegalen Wi- hielten. Nationalrat Eibels Antwort: «Ich habe derstand und ziele darauf ab, die bestehende Ord- nie behauptet, eine halbe Million Schweizer seien nung zu zerstören, um diese durch ein totalitäres Kommunisten.» System zu ersetzen. Cincera räumte ein, dass Sub- Nach eineinhalb Stunden wurde das eigentliche version nicht nur von ganz links, sondern auch von Podiumsgespräch beendet, um dem Publikum Ge- der extremen Rechten ausgehen könne. Im Ge- legenheit zu geben, selbst an der Diskussion teil- gensatz zum Rechtsextremismus habe die extreme zunehmen. Dabei wurde Ernst Cincera mit derart Linke jedoch die Taktik der Tarnung und der Ver- direkten Fragen konfrontiert, dass er den Anlass harmlosung gewählt, um die bestehende Ordnung vorzeitig verliess, mit der Begründung, er müsse umso wirkungsvoller zu zersetzen. den letzten Zug erreichen. Eine Antwort auf die Damit war für Prof. Adolf Muschg der Moment Frage, ob der Arbeitskreis für Zeitfragen in seinen gekommen, seine Definition des Begriffs «Subver- Augen subversiv sei, sollte erst die Öffnung des sion» zu geben: «Subversion wird immer für die Cincera-Archivs im November 1976 geben. Zwar andern gebraucht und dient dazu, die eigene, neu- fand sich kein Material über den Arbeitskreis sel- rotische Angst vor Veränderungen zu kaschieren. ber, aber die reformierte Bildungsstätte Boldern, ‹Subversiv› heissen diejenigen gesellschaftsverän- die evangelische Hochschulgruppe, Vertreter der dernden Kräfte, die die Rechte nicht wahrhaben Kritischen Kirche und des Politischen Nachtgebets will, die sie verdrängt – genau wie auf anderer Ebe- waren ebenso detailliert fichiert wie Pfarrer, die ne die Sexualität. Sexualität und Subversion haben Kriegsdienstverweigerer beraten hatten. Fichiert eines gemeinsam: Beide kommen von unten.» waren übrigens auch Helmut Hubacher und Adolf Muschg…

Dass Ernst Cincera mit Helmut Hubacher, Adolf Muschg und Thomas Held über Subversion diskutierte, war schweizweit einmalig. 1977, also vier Jahre nach dem Bieler Gespräch, ergab eine Sichtung des Cincera-Archivs, dass Hubacher und Muschg als «Subversive» registriert waren.

60 K apitel 4 Im Brennpunkt von Auf bruch und Erneuerung (1969–1975) 6. Oktober plötzlich die Sirenen – «It’s war!», hiess es, und die zweite Reisewoche war geprägt von Alarm, Verdunkelung und pausenlosen Nachrich- tensendungen. Brennpunkt Nahost: Eine Feierstunde Nach ihrer Rückkehr legte die Reisegrup- mit Dr. Gertrud Kurz… pe Wert darauf, die von Terrorakten und Krieg vernebelte Sicht auf die Wurzeln des Konflikts Zum Anlass ihres 80. Geburtstages führte der freizumachen. Im Bieler Tagblatt vom 8. Novem- Arbeitskreis am 8. März 1970 eine sehr gut be- ber berichteten Samuel Maurer, Hans Ott und suchte Feierstunde mit Gertrud Kurz durch. Die Alfred Bürgi wesentliche Aspekte des nahöst- während des Zweiten Weltkrieges als «Mutter der lichen Dramas. Sie betonten, dass der Konflikt Flüchtlinge» berühmt gewordene Jubilarin er- zwischen Israel und den Arabern massgeblich auf zählte aus ihrem Leben, das sie in ausserordentlich Grossbritanniens verfehlte, doppelzüngige Kolo- hohem Masse dem Dienst am Mitmenschen ge- nialpolitik zurückzuführen war. Samuel Maurer widmet hatte. berichtete über die Lage der palästinensischen Während der Kriegszeit war ihre Aufklärungs- Flüchtlinge und wies darauf hin, dass neuerdings arbeit zur Flüchtlingsfrage sehr wichtig gewe- einige hohe israelische Politiker die Identität der sen, um die verbreitete Angst vor den Fremden palästinensischen Gemeinschaft anerkannten. Als etwas einzudämmen. Gertrud Kurz hatte auch weiteres hoffnungsvolles Zeichen wertete der Ge- viele Flüchtlingsgruppen betreut und sich bei den schäftsleiter des Arbeitskreises, dass das palästi- Amtsstellen unermüdlich für die Anliegen der nensische Nationalkonzil seit 1970 auch den Juden Flüchtlinge eingesetzt. Damals bildeten sich viele einen Platz in Palästina zuerkannte. Im Hinblick Freundschaften mit Juden, die später nach Israel auf einen Frieden prophezeite er: «Martin Bubers auswanderten. Auch in der Nachkriegszeit brach Bedingung für Frieden in Nahost gilt zuallererst der Kontakt mit ihnen nicht ab – 1954 wurde Ger- im Blick auf die Palästinenser: «Nur mit einer ver- trud Kurz nach Israel eingeladen, wo sie die rasche söhnten und befriedeten arabischen Welt ist für Entwicklung des jüdischen Staates beobachten Israel ein Überleben möglich.» konnte. Besonders beeindruckt war sie vom Kin- Die Möglichkeiten für einen Frieden im Nahen derdorf Kiriath Yearim. Im Rahmen ihrer Tätig- Osten wurden auch an einem Podiumsgespräch keit für den Christlichen Friedensdienst versuchte erörtert, das die Journalisten Peter Braunschweig Gertrud Kurz in den folgenden Jahren, die Ver- und Franz Widmer am 11. Dezember 1973 im Fa- ständigung zwischen Christen und Juden zu för- relsaal führten. dern, vor allem mit der Entsendung Freiwilliger in die israelischen Kibbuzim. Als ihr 1964 ein Haus im Kibbuz Nahshonim geschenkt wurde, wollte Zusammenarbeit mit dem Schweizer Gertrud Kurz daraus ein Zentrum für Gespräche Fernsehen zwischen Juden, Christen und Arabern machen – auch auf das Los der A raber in Israel war sie zuneh- In den Jahren nach der Mondlandung hatte die mend aufmerksam geworden. Zahl der Fernsehgeräte in der Schweiz sprunghaft zugenommen. Für sehr viele Zuschauer/innen war der Fernseh-Alltag etwas Neues, und viele Medi- …und die direkte Begegnung mit dem enfachleute befassten sich mit den Auswirkungen Nahostkrieg des Fernsehkonsums auf die Kinder. In diesem Zusammenhang beschloss die Ar- Nach einer sorgfältigen Vorbereitung hatte sich beitsgruppe Kirche und Film, von Mitte Mai bis eine Gruppe von Mitarbeitern und Freunden des Mitte Juni 1973 in Zusammenarbeit mit dem Arbeitskreises Anfang Oktober 1973 nach Isra- Schweizer Fernsehen einen TV-Kurs für Kin- el begeben. Die Reise führte über Galiläa zu den der durchzuführen. An vier Mittwochnach- Golan-Höhen, bevor die Reisegruppe sich nach mittagen beteiligten sich über 250 Schüler/in- Jerusalem begab. In der heiligen Stadt der Juden, nen der Primarschule Mett an diesem von Theo Christen und Araber heulten am Nachmittag des Krummenacher und Beatrice Möri geleiteten

61 K apitel 4 Im Brennpunkt von Auf bruch und Erneuerung (1969–1975) arbeiten wollte, fand hier moderne Geräte und eine der reichhaltigsten Filmbibliotheken der Schweiz. Besonders an Lehrkräfte und kirchliche Mit- arbeiter/innen richtete sich das Angebot von Pilotkurs, der auf einen kritischen Fernsehkon- Kurzfilm-Visionierungen. Aus den Beständen der sum hinzielte und weit herum Beachtung fand. Verleihstellen ZOOM und Selecta präsentierte die Für die Heranwachsenden bot Kirche und Film ein Arbeitsgruppe regelmässig Werke zu Themen wie vierteiliges Film- und Fernsehseminar mit Theo «Sexualkunde» oder «Zukunft». K rummenacher und Mario Cortesi an. Die grösste Breitenwirkung erzielte die Arbeits- Ein Abend mit Verena Doelker-Tobler, der gruppe aber mit der Herstellung und dem Versand Leiterin des Ressorts Jugend am Schweizer Fern- ihrer Filmbulletins. Über 1200 Personen beider sehen, rundete den Zyklus zum Thema Fernseh- Sprachgruppen erhielten regelmässig Kurzbespre- konsum ab. Doelker-Tobler suchte das Gespräch chungen zu Filmen, die für Biel gerade aktuell wa- mit Kindergärtnerinnen, Lehrkräften und Eltern, ren. Die Filmbulletins konnten in allen Kinos der um Kriterien für den sinnvollen Einsatz des Fern- Stadt gratis bezogen werden, und Kirche und Film sehens zu erörtern. Auch in den folgenden Jahren machte zusätzlich mit etwa 100 grossen Plakaten führte Kirche und Film Fernsehkurse für Schüler/ auf besonders sehenswerte Werke aufmerksam. innen durch – 1975 konnten auch Kurt Felix und Auf eigene Rechnung engagierten sich Beatri- Regina Kempf vom Schweizer Fernsehen für diese ce Möri und Theo Krummenacher auch an ver- A rbeit gewonnen werden. schiedenen Filmfestivals – als Jurymitglieder oder Um der zunehmenden Bedeutung der visuellen mit Vorträgen unterstützten sie die Filmfestivals Medien Rechnung zu tragen, eröffnete Kirche und in Nyon, Solothurn, Berlin, Ludwigshafen und Film am 15. September 1973 im Calvinhaus Mett Mannheim. ein Medienzent r um. Wer sich über Film und Fern- sehen informieren oder selbst mit diesen Medien Die Auseinandersetzung mit dem Sport

Auch die Aktivitäten der Arbeitsgruppe Kirche und Sport fanden weit über die Region hinaus Be- achtung. Ausgehend von der enormen Medienwir- kung des Spitzensports anlässlich der Olympiade 1972 in München lenkte die von Pfarrer Markus Tschabold geleitete Arbeitsgruppe die Aufmerk- samkeit auf die gesellschaftliche Funktion des Spitzensports. Mit einer Fachgruppe der bundes- deutschen Kirche erarbeitete sie ein Informati- onsblatt mit bemerkenswerten Denkanstössen zu verschiedenen Aspekten des Sports, das in einer Auflage von 20 000 Exemplaren am bundesdeut- schen Kirchentag 1973 verteilt wurde. Kirche und Sport warnte davor, dass der Leistungssport eine Mentalität fördere, die den Lebenssinn im Erfolg zu erkennen glaube. Zusammen mit anderen For- men des körperlichen Erlebens wie Mimik, Ge- stik, Tanz und Erotik sei der nicht nur auf Leistung

Kirche und Film leistete auch in der Medienerziehung Pionierarbeit.

62 K apitel 4 Im Brennpunkt von Auf bruch und Erneuerung (1969–1975) als er in seiner Heimat ab 1961 eine gross angelegte Alphabetisierungskampagne leitete, bis der Mili- tärputsch von 1964 ihn zwang, sein Land zu ver- lassen. Als der Arbeitskreis Freire 1974 für einen bezogene Sport aber durchaus zu fördern. Vortrag in Biel gewinnen konnte, arbeitete er beim Kirche und Sport war die einzige kirchliche Stu- Ökumenischen Rat der Kirchen in Genf als Berater diengruppe für Sportfragen in der Schweiz. Schon für Bildungsfragen in den Entwicklungsländern. kurz nach ihrer Gründung im Jahr 1971 konnte sie Am 22. März fanden Freires Thesen beim etwa wesentlich dazu beitragen, dass die Sportschule 180-köpfigen Bieler Publikum ein gutes Echo. auch die ethischen Fragen des Sports angemessen Im Zentrum stand das Bestreben, bestehende berücksichtigte. 1977 löste sich Kirche und Sport Zwänge zu begreifen, um sich von ihnen zu befrei- als Gruppe des Arbeitskreises auf, um fortan als en. Damit traf sich Freires Auffassung von Bildung Schweizerische Arbeitsgemeinschaft Kirche und Sport mit jener von Ernst Lange und Werner Simp- auf nationaler Ebene zu wirken. fendörfer, die beim Ökumenischen Rat der Kirchen für Bildung und ökumenische Aktion verantwort- lich waren. Eine solche Sicht der Bildungsaufgabe Können wir «wirklich» lesen konnte sich auch mit einer Stelle aus Bonhoeffers und schreiben? Werk Widerstand und Ergebung vereinbaren lassen – Bonhoeffer hatte die menschliche Dummheit mit Aus der Sicht des brasilianischen Pädagogen starker Machtentfaltung einer Minderheit erklärt Paulo Freire lebten auch im Europa des Jahres 1974 und gefolgert, dass nicht ein Akt der Belehrung, Millionen von Analphabeten: «Wirklich lesen» sondern allein ein Akt der Befreiung die Dumm- hiess für ihn nämlich, die eigene Wirklichkeit zu heit überwinden könne. Samuel Maurer, der für verstehen, und zum «wirklichen Schreiben» ge- den Arbeitskreis seit längerer Zeit eine ganzheit- hörte die aktive Gestaltung der eigenen Wirklich- lichere Bildungsarbeit anstrebte, kommentierte: keit. Diese Grundideen seiner befreienden Päda- «Bei der Beratung der Frage, wie unsere Bildungs- gogik hatte Freire millionenfach nutzen können, arbeit zu Aktionen führen kann, müsste Freires Praxisverständnis berücksichtigt werden, das Ak- tion und Reflexion, Bildung und Emanzipation in unlösbarem Zusammenhang sieht.»

Paulo Freires These, Bildung sei ein Akt der Befreiung, fand 1974 auch in Biel ein gutes Echo.

63 K apitel 4 Im Brennpunkt von Auf bruch und Erneuerung (1969–1975) lichen Berichterstattung, von der sich auch Hans Mumenthaler distanzierte, bemühte sich der Lei- tende Ausschuss beim Bieler Tagblatt vergeblich um den Abdruck einer Gegendarstellung. Ist das Boot schon wieder voll?

Im Rahmen eines weiteren Zyklus Erneuerung Ende der Zukunft? in der Welt hatte sich der Arbeitskreis auch für die Situation in Chile interessiert, wo der in freien «In einem Gartenteich wächst eine Lilie, die Wahlen gewählte Präsident Allende versuchte, ei- jeden Tag auf die doppelte Grösse wächst. Inner- nen demokratischen Sozialismus zu verwirklichen. halb von dreissig Tagen kann die Lilie den ganzen Allendes engagierte Präsidentschaft dauerte jedoch Teich bedecken und alles andere Leben im Wasser nur bis am 11. September 1973, als der Militär- ersticken. Aber ehe sie nicht mindestens die Hälf- putsch unter General Pinochet vielen Hoffnungen te der Wasseroberfläche einnimmt, erscheint ihr auf eine gerechtere Gesellschaft mit brutaler Ge- Wachstum nicht beänstigend; es gibt ja noch genü- w a l t e i n E n d e s e t z t e . P i n o c h e t e n t f e s s e l t e e i n e n b l u - gend Platz, und niemand denkt daran, sie zurück tigen und grausamen Staatsterrorismus gegen die zu schneiden, auch nicht am 29. Tag; noch ist ja die politische Linke, und tausende von Flüchtlingen Hälfte des Teiches frei. Aber schon am nächsten suchten ein sicheres Exil. In der Schweiz entstand Tag ist kein Wasser mehr zu sehen.» auf Initiative sozialdemokratischer, gewerkschaft- Diese Veranschaulichung des exponentiellen licher und kirchlicher Kreise eine Freiplatzaktion Wachstums wurde 1973 millionenfach und welt- für chilenische Flüchtlinge, die in kürzester Zeit weit diskutiert – unter dem Titel Die Grenzen des dreitausend Plätze sichern konnte. Der Bundesrat Wachstums wurden die computergenerierten Zu- liess chilenische Flüchtlinge aber nur sehr zögernd kunftsprognosen des Massachusetts Institute of einreisen, was 618 protestantische Theologen und Technology in vielen Industrieländern zum Bestsel- Pfarrer zu einem Appell an die Landesregierung ler. Ausgerechnet die technologiegläubigen Fach- veranlasste. Darin erinnerten sie an die Folgen der leute um Dennis Meadows versetzten mit ihrem zögerlichen Flüchtlingspolitik während des Zwei- Zukunftsszenario dem naiven Wachstums- und ten Weltkriegs und die grosszügige Aufnahme Fortschrittsglauben einen nachhaltigen Dämpfer ungarischer und tschechischer Flüchtlinge in der und alarmierten die massgeblichen Politiker, rasch Nachkriegszeit. zu handeln: Ein ungebremstes Wachstum, warnte Auf Initiative des Gesellschaftspolitischen Forums der Club of Rome, würde schon vor dem Jahr 2001 organisierte der Arbeitskreis auf den 13. März zu schwerwiegender Lebensmittelknappheit und 1973 zu dieser Frage ein gut besuchtes Podiums- akutem Rohstoffmangel führen. Dass zum Bei- gespräch. Als Vertreter des eidgenössischen Ju- spiel die Erdölreserven beschränkt waren, wurde stiz- und Polizeidepartements erklärte Hans den Industriestaaten schon 1973 deutlich vor Au- Mumenthaler die zurückhaltende Asylpraxis des gen geführt, als die arabischen Erdölförderländer Bundesrates, während drei Fachleute diese Praxis ihre Exporte drosselten. in staatsrechtlicher und ethischer Hinsicht hin- Für den Arbeitskreis sollte die vom Club of Rome terfragten. Vor allem die Pfarrer Peter Vogelsan- aufgeworfene Thematik sehr wichtig werden. ger und Fritz Schneider wandten sich gegen die Schon im November 1972 erwarb das Gesellschafts- Einführung der Visumspflicht für Chilenen, und politische Forum die Grenzen des Wachstums in fünf auch Nationalrat Jean-François Aubert meinte, die Exemplaren, um im Hinblick auf lokale Anlässe Schweiz solle sich auch den chilenischen Flücht- mit dem Thema vertraut zu werden. In eine ähn- lingen öffnen. liche Richtung ging die Themenwahl der Arbeits- Der Berichterstatter des Bieler Tagblatt ver- gruppe Kirchliche Schulung, deren Jahreskurs 1973 suchte, das Plädoyer für eine offenherzigere Hal- sich mit Planung und Zukunft befassen sollte. tung gegenüber Verfolgten in ein Schema des Etwa gleichzeitig diskutierte der Arbeitskreis Kalten Krieges zu pressen: «Vielen» gehe es nur organisatorische und methodische Neuerungen. darum, mit Hilfe dieser Thematik «unser staatli- Auf Anregung von René Brotbeck beschloss der ches Gefüge anzunagen». Wegen dieser unsach- Leitende Ausschuss, den Arbeitsgruppen ein über-

64 K apitel 4 Im Brennpunkt von Auf bruch und Erneuerung (1969–1975) Spektrum der Beiträge reichte von kritischen Dar- stellungen der Landschaftsverschandelung in der Region Biel, die sich an einer Bilderserie von Jörg Müller orientierten, bis zur Dokumentation noch geordnetes Thema vorzugeben, statt wie bisher intakter, für alle Zukunft zu schützender Biotope, Impulse aus den Gruppen mosaikartig zu koordi- wie der St. Petersinsel. Trotz geringem Medien- nieren. Und in seiner Standortbestimmung nach echo wurde die Ausstellung sehr gut besucht, was zehn Jahren Vollamt fragte sich Samuel Maurer, ob sicher auch daran lag, dass über zweihundert Schü- der Arbeitskreis seine Analysen nicht vermehrt für lerinnen und Schüler sich in irgendeiner Form an begrenzte, überschaubare A ktionen nutzen sollte. einem Projekt zur Zukunft der Stadt Biel beteiligt Aus dem Zusammenwirken der Impulse aus den hatten. Ausser den Schulen wirkten die Schul- Arbeitsgruppen und den neuen Arbeitsformen er- direktion, das Statistische Amt, die Städtischen gab sich ein Zyklus zum Thema Zukunft, der bis Verkehrsbetriebe, die Stadtgärtnerei, der Regio- weit ins Jahr 1974 reichte. nalplaner und einige Lehrkräfte weiterführender Im November und Dezember befassten sich Schulen mit. mehrere Anlässe mit verschiedenen Aspekten Kurz nach der Ausstellung im Kongresshaus einer menschenwürdigen Zukunft. Es ging um fa nd der Zyk lus m it einer beispielhaf ten, zu k u nf t s- die Rolle des Individualverkehrs in Biel, um den weisenden Aktion ihren Abschluss. Auf dem noch Einfluss der Massenmedien auf das Wirtschafts- unbebauten Areal an der Stämpflistrasse errichte- wachstum, um eine christliche Stellungnahme zur ten Schüler/innen der Gewerbeschule Das grosse Umweltkrise und um die Möglichkeiten eines nur Spiel – einen Spielplatz, der Möglichkeiten aktiver noch qualitativen Wirtschaftswachstums – Prof. Freizeitgestaltung aufzeigen sollte. Auch bei die- P. A. Tschumi von der Universität Bern regte an, sem Projekt wirkten städtische Institutionen wie die Produktivitätsfortschritte künftig vor allem das Bauamt und die Stadtgärtnerei mit, ausserdem in Form von Arbeitszeitverkürzungen zu nutzen. halfen mehrere Firmen mit kostenlosem oder sehr Trotz hochaktueller Thematik und sehr guten günstigem Baumaterial aus. Referenten blieb der Besuch der verschiedenen Bei der Planung des Platzes achteten die drei fe- Veranstaltungen jedoch unter den Erwartungen. derführenden Hauptlehrer darauf, dass Kontakte Erst der schwarze Humor des Cabarets Zur frohen zwischen den verschiedenen Altersgruppen geför- Aussicht mit Franz Hohler, Peter Wyssbrod, Urs dert wurden. Zwischen verschiedenen Treffpunk- Graf, Bernard Rolli und Fritz Widmer führte am ten luden Klettergeräte, eine Rollschuhbahn, ein 28. Januar 1974 wieder zu einem deutlich überbe- Tanzplatz, ein Parcours und ein Robinsonspiel- legten Farelsaal. platz zu Spiel und Bewegung ein. Wer lieber sei- ne geistige Fitness überprüfen wollte, konnte dies mit einem zweisprachigen Intelligenz- und Wis- Zur Zukunft der Stadt der Zukunft senstest tun. Das Grosse Spiel wurde nach knapp drei Wochen In vielfacher Hinsicht am fruchtbarsten erwies Bauzeit am 17. Juni 1974 eröffnet. Während den sich das Projekt einer Ausstellung zum Thema Zu- zehn folgenden Tagen erweiterte ein kulturelles kunftsstadt, bei dem der Arbeitskreis frühzeitig die Programm für jung und alt das Grundangebot des Zusammenarbeit mit den Bieler Schulen suchte. Spielplatzes. Kasperlitheater, Batik-, Siebdruck- Aus der anfänglichen Idee, mit statistischem Ma- und Flechtkurse wechselten sich ab mit Darbie- terial der Stadt Biel an sechs Beispielen das expo- tungen der Modelleisenbahngruppe, der Kunst- nentielle Wachstum darzustellen, entstand unter radfahrer, des Damenturnvereins Bözingen oder dem Patronat des Stadtpräsidenten und in Zusam- des Modellflugzeugklubs. menarbeit mit acht Bieler Schulen ein vielfältiges Im Zentrum des Spielareals stand das Kul- Gemeinschaftswerk. Zur Zukunft der Stadt der Zu- turzelt, wo verschiedene Vereine Beispiele für kunft präsentierte zwischen dem 10. und 19. Mai sinnvolle Freizeitgestaltung zeigten. Benützer/ 1974 vielfältige Denkanstösse zu Stadtplanung, innen des Kulturzelts konnten auch aus einer Me- Naturschutz, verschiedenen Wohnformen und dienvielfalt von zweihundert verschiedenen Zeit- utopischen Entwürfen einer idealen Stadt. Das schriften auswählen und verschiedene Kurzfilme

65 K apitel 4 Im Brennpunkt von Auf bruch und Erneuerung (1969–1975)

geniessen, die der Arbeitskreis für dieses Projekt ausgewählt hatte. Ergänzt wurde das Kulturzelt mit einem «Drink-Shop», wo Gewerbeschüler/innen zu günstigen Preisen «alkoholfreie Getränke, Süs- sigkeiten, Sandwichs und Ice Creams» servierten. Das grosse Spiel war durch seine zukunftsweisenden Arbeitsformen und Anliegen sehr gut in den Zy- klus integriert. Als direkten Bezug zum Thema bot das Spielareal aber zusätzlich eine «Klagemauer», an der Ideen für und Forderungen an die Zukunft formuliert werden konnten.

Das Projekt «das grosse Spiel» vom Sommer 1974 schuf an der Stämpflistrasse einen attraktiven Begegnungssport für Jung und Alt.

66 K apitel 5

Zwischen Forumsfunktion und eigenem Profil (1975–1981)

Ein schwarzes Jahr für die Zukunftsstadt Kirche und Industrie engagiert sich auf verschiedenen Ebenen 1975 brachte ein jähes Ende des Wachstums. Fast ohne Vorzeichen brach der langjährige Nach- Der Arbeitskreis war sich im Klaren darüber, kriegs-Boom ein, und gerade in Biel häuften sich dass sowohl unter den Arbeitgebern als auch in Betriebsschliessungen und Personalabbau. 215 der Arbeiterschaft die Nerven vielerorts blank la- Entlassungen bei Bulova und 80 bei Omega er- gen – eine Situation, in der eine Aussprache wert- öffneten die traurige Serie, und schon im Februar volle Klärungen bieten könnte. Aus diesem Grund meldete das Arbeitsamt, es sei mit 150 Arbeitslo- plante die Arbeitsgruppe Kirche und Industrie auf sen stark gefordert. Es kam zu ersten Demonstra- den 20./ 21. Juni 1975 eine Tagung zwischen den tionen, aber schon kurz darauf verordneten die Sozialpartnern in Magglingen. In der Einladung ASUAG, die Rolex und Heuer-Leonidas bis zu 20 an die Sozialpartner betonte die Arbeitsgruppe, Prozent Kurzarbeit – über 15 000 Arbeiter/innen dass sie in erster Linie eine gegenseitige Ausspra- spürten damit ganz direkt, dass die Uhrenindu- che ermöglichen wollte – dabei sei absolute Diskre- strie in eine schwere Krise geraten war. Und wie tion zugesichert. Mit vier Unternehmern und drei wenn dieser Schock noch nicht tief genug gewesen Gewerkschaftsvertretern war das Echo auf diese wäre, kündigte die General Motors im Mai an, sie Einladung aber derart schwach, dass die Arbeits- müsse aus Rentabilitätsgründen die Automontage gr uppe auf die Durchf ühr ung der Tag ung verzich- in Biel einstellen. Weitere 450 Entlassungen wa- tete. Im Gegensatz dazu wurde die ökumenische ren damit beschlossene Sache. Es war nur folge- Tagung mit dem ebenso brisanten Thema Arbeit – richtig, dass der Leerwohnungsbestand der Stadt ein Recht? vom 18./19. November 1975 in Sornetan Biel Ende Oktober 1975 auf über 800 Wohnungen ein Erfolg. Der unter anderem von CMV-Zentral- anschnellte. Schon nach den ersten Monaten des sekretär Gruber und Mikron-Vertreter Dr. Theo- Wirtschaftseinbruchs hatten hunderte von Ein- dor Fässler bestrittene Anlass war sehr gut besucht wohnern ihren Glauben an eine Perspektive in der und fand auch in den Medien ein gutes Echo. Zukunftsstadt verloren. Kirche und Industrie setzte sich auch auf kanto- Die Rezession erfasste praktisch alle westlichen naler Ebene für ein verstärktes soziales Engage- Industriestaaten, aber nur in der Schweiz übertraf ment der Kirche ein. Nachdem in Zusammenar- der Verlust von Arbeitsplätzen die Marke von 12 beit mit Vertretern zahlreicher Institutionen das Prozent. Niemand war auf eine solche Krise vor- Statut für eine ökumenische Dienststelle Kirche bereitet. Die Arbeitslosenversicherung war erst und Industrie erarbeitet worden war, forderte Sa- hochkonjunkturtauglich, die Behörden waren zwar muel Maurer an der kantonalen Synode vom De- alarmiert, aber vom Umfang der Hiobsbotschaften zember 1975 mit einer Motion die Schaffung einer überfordert, und die Bieler Arbeiterbewegung war derartigen kantonalen Dienststelle. Nach inten- alles andere als in der Lage, die Interessen der Ar- siver Debatte war die Synode jedoch nur bereit, beitslosen wirksam zu vertreten. Symbolhaft für den Vorschlag in Form eines Postulats entgegen- ihr Unvermögen, wirksam einzugreifen, stand der zunehmen. Konkurs der Volkshausgenossenschaft im Juni 1975. Immerhin bildete sich gegen Ende des Jahres ein Arbeitslosenkomitee, das mit Unterstützung der extremen Linken Steuererleichterungen und andere soziale Massnahmen für Arbeitslose ver- langte.

67 K apitel 5 Zwischen Forumsfunktion und eigenem Profil (1975–1981) Die Bieler Arbeitslosen-Zeitung findet ein gutes Echo

Welche Bedürfnisse haben Arbeitslose? Noch 1974 hatten die Mitarbeiter/innen des Arbeitskreises selbstkritisch festgestellt, dass sie Eine weitere Initiative lancierte der Arbeits- mit der bisherigen Arbeit nur eine Minderheit kreis gemeinsam mit dem Amt für gesamtstädtische erreichten, nämlich eine intellektuell geprägte kirchliche Aufgaben der Stadt Bern. Am 19. Septem- Mittelschicht. Indem der Arbeitskreis sich nach ber 1975 erhielt der Historiker Tobias Kästli den dem Kriseneinbruch auf die konkrete Arbeit mit Auftrag, Stellensuchende zu ihren Schulungs- und Arbeitslosen konzentrierte, konnte er seinen Wir- Bildungsbedürfnissen zu befragen. Kästli stellte kungskreis wesentlich erweitern. Als Geschäfts- ein starkes Bedürfnis nach Sprach- und Schreib- leiter setzte sich Samuel Maurer ganz besonders maschinenkursen fest. Vor allem aber fiel ihm die für dieses Anliegen ein. Er kämpfte nicht nur für Scheu der Befragten auf, als Stellensuchende zu die Finanzierung der Bieler Arbeitslosen-Zeitung gelten, ebenso ein ausgeprägtes Bedürfnis, sich zu (BALZ), die dank einem Beitrag der kirchlichen solidarisieren. Rezessionskommission und privaten Spenden po- Aus diesen im direkten Gespräch mit Arbeits- litisch unabhängig blieb, sondern erledigte zusam- losen entstandenen Eindrücken entwickelten sich men mit Sepp Kaufmann auch einen erheblichen zwei zentrale, viel versprechende Projekte, die den Teil der Redaktionsarbeit. Journalistische Start- Te nde n z e n z u R ü c k z u g u nd I s ol at io n e nt g e g e nw i r - hilfe erhielt BALZ ausserdem von den Journalisten ken sollten. Beide Projekte wurden durch eine vom Bruno Bossart und Heinz Däpp. Arbeitskreis angeregte ökumenische Arbeitsgrup- Im Verlauf des Jahres 1976 gelang es der BALZ pe in die Wege geleitet und sowohl vom Arbeitsamt immer wieder, den Anliegen der Arbeitslosen Ge- als auch von gewerkschaftlicher Seite unterstützt. hör zu verschaffen. Schon ein Artikel in der er- Im Restaurant Pic/Schlüssel entstand in unmit- sten Nummer fand ihren Widerhall in der ganzen telbarer Nähe des Arbeitsamtes ein Treffpunkt, wo Schweiz – BALZ hatte über ein Privatdetektivbü- sich die Arbeitslosen an Stempeltagen treffen, sich ro berichtet, das bei verschiedenen Bieler Unter- aussprechen und informieren konnten. Betreut nehmern für die Bespitzelung politisch aktiver wurde dieser Treffpunkt vor allem durch den ka- Arbeitnehmer/innen geworben hatte. Wieder- tholischen Laientheologen Sepp Kaufmann. holt widerlegte die Arbeitslosenzeitung Vorur- Am 2. April 1976 erschien die erste Ausgabe teile über die Arbeitslosen, indem sie die Fakten der «Bieler Arbeitslosen-Zeitung (BALZ). Da- sprechen liess – nach Aussage des Vorstehers des mit erhielten die Arbeitslosen ein eigenes, vorerst Arbeitsamtes waren an die neunzig Prozent der monatlich erscheinendes Sprachrohr, um in drei Arbeitssuchenden trotz Einbussen und Umstel- Sprachen über ihre Lage zu berichten und um sich lungen bereit, eine neue Arbeit anzunehmen. Und daraus ergebende Forderungen zu formulieren. dementsprechend kämpfte BALZ unermüdlich Die wesentlich vom Arbeitskreis mitgetragene gegen sinnlose Schikanen wie die Pflicht, dreimal Zeitung bot aber auch Rechtsberatung für Arbeits- pro Woche zu stempeln, oder für den Schutz der lose und förderte den Informationsfluss zwischen Arbeitslosen vor Verarmung. Ausgehend von einer Arbeitslosen, Behörden, Verbänden und Parteien. Anregung der BALZ forderte Nationalrat Arthur Für A rbeitslose war BA LZ kostenlos. Villard, die 150 Taggelder der Arbeitslosenversi- cherung auf 180 zu erhöhen. Nach der Ablehnung dieser Forderung durch den Nationalrat sensibili- sierte BA LZ die Öf fent lichkeit f ür die Folgen, wel- che die Aussteuerung für die Betroffenen hatte. Obwohl auch das ausdauernde Engagement der BALZ-Mitarbeiter auf Gesetzesebene vorerst wenig bewirkte, konnte vielen Arbeitslosen auf individueller Ebene geholfen werden. Dank kom- petenter Rechtsberatung wurden in Fragen der

68 K apitel 5 Zwischen Forumsfunktion und eigenem Profil (1975–1981)

Steuerreduktion, des Versicherungsschutzes oder der Stellensuche gute Resultate erzielt. Mit kritischen, aber sachlichen und sehr kom- petenten Beiträgen wurde BALZ über die Region Biel hinaus bekannt. Weit über tausend Abonne- mente von Arbeitsämtern, Politikern und An- gestellten zeigten, dass ihre Stimme von vielen Seiten beachtet wurde. Sepp Kaufmann wirkte auch massgeblich an der Gründung der ersten ge- samtschweizerischen Arbeitslosen-Organisation mit – die am 26. August 1977 in Biel gegründete Schweizerische Interessengemeinschaft für eine neue Arbeitslosenpolitik (SINAP) konnte mehrere von BALZ formulierte Anliegen in ihr Manifest für eine neue Arbeitslosenpolitik aufnehmen. In ausdau- ernder, engagierter Arbeit auf nationaler Ebene Die Bieler «Arbeitslosenzeitung» (BALZ) wurde bald gelang es der SINAP 1981, die Formulierung des in der ganzen Schweiz gelesen. neuen Arbeitslosenversicherungsgesetzes in eini- gen Punkten positiv zu beeinflussen. Parallel zur BALZ konnte auch der Treffpunkt für Arbeitslose ausgebaut werden. Am 24. Januar 1977 wurde in der Villa Fantaisie das Bieler Ar- Ein Schwerpunkt zum Jahr der Frau 1975 beitslosenzentrum eingeweiht. Hier stand den Stellensuchenden nicht nur eine Infrastruktur Das Jahr 1975 wurde von den Vereinten Nati- mit 15 Tageszeitungen, Merkblättern und einem onen als «Jahr der Frau» proklamiert. Für den kleinen Büro zur Verfügung, sondern auch eine Arbeitskreis war das eine Gelegenheit, mit meh- regelmässige Beratung. Um das Zentrum auch reren Veranstaltungen auf die aktuelle Lage der als Aufenthaltsort attraktiv zu machen, standen Frau einzugehen – Kirche und Film zeigte an einem verschiedene Spiele und eine «Kaffee-Ecke» zur Lehrerfortbildungskurs neun Kurzfilme zum Verfügung. Finanziert wurde das Zentrum von der Thema Frau, und das Gesellschaftspolitische Forum evangelisch-reformierten und der katholischen gab Interessierten die Möglichkeit, sich an einem Kirche. «Stamm» über die Bildungsmöglichkeiten der Zum Angebot des Arbeitslosenzentrums ge- über 30-jährigen Frauen zu informieren. Erneut hörten Sprach-, Foto- und Nähkurse, und jeden wurde auch die Haltung der Kirche zum Schwan- Donnerstag wurde ein gemeinsames Mittagessen gerschaftsabbruch erörtert. Das Schwergewicht organisiert. Die Besucherzahlen gingen jedoch der Aktivitäten lag aber aus aktuellen Gründen bald zurück, obwohl das Vertrauensverhältnis zu beim Thema Frau und Arbeit – das Jahr der Frau vielen Arbeitslosen sehr gut war. Im Kontrast dazu war infolge der Rezession auch zum Jahr der Ent- nahm das Interesse stellenloser Frauen zu, etwas zu lassung sehr vieler Frauen aus der Erwerbsarbeit unternehmen. Im November 1977 bildete sich auf geworden. Anregung des Arbeitslosenzentrums die Gruppe In der Gruppe Frau und Arbeit arbeiteten die «Frau und Arbeit», um Frauen bei ihrer Wieder- Arbeitskreis-Mitarbeiterinnen Rita Jaggi und eingliederung in die Arbeitswelt zu unterstützen. Helen Meyer-Fuhrer mit Fachfrauen vom Arbeits- amt, der Berufsberatung und der Volkshochschule zusammen, ausserdem beteiligten sich Hannelene Döme, Marie-Thérèse Sautebin und Barbara Zim- mermann von der Frauenbefreiungsbewegung

69 K apitel 5 Zwischen Forumsfunktion und eigenem Profil (1975–1981) Eine «Ouvertüre» zu einer Humanisierung des Strafvollzugs

Zu Beginn der Siebzigerjahre machte sich die Biel und weitere interessierte Frauen. Als einziger allgemeine Aufbruchstimmung auch im Straf- Mann begleitete Sepp Kaufmann die Arbeitsgrup- vollzug bemerkbar. 1972 regte sich in mehreren pe. In sorgfältiger, ausdauernder Arbeit entstand Gefängnissen ein gewisser Widerstand gegen die die Broschüre Frau und Arbeit die ausgehend von überholte Strafvollzugspraxis – in Regensdorf, Bo- der Analyse der Situation in Biel konkrete Rat- chuz und Thorberg wandten sich viele Strafgefan- schläge gab, wie der Wiedereinstieg in die Arbeits- gene mit Petitionen an den Bundesrat, um diesen welt auch in wirtschaftlich schwierigen Zeiten um die beschleunigte Umsetzung des Artikels 37 angegangen werden könnte. Ab Juni 1978 konnte StGB (Resozialisierung) zu bitten. Etwas später die in 5000 Exemplaren erschienene Broschüre in bildeten sich mehrere Arbeitsgruppen, um die Re- verschiedenen Aktionen unter die Leute gebracht form des Strafvollzugs voranzubringen und den werden. Als weiteren Schritt organisierte die Ar- Gefangenen Unterstützung anzubieten. In Fran- beitsgruppe Weiterbildungskurse für Frauen. kreich entstand aus dem Widerstand in den Straf- Schon der erste Kurs unter dem Titel Ich will etwas anstalten eine ganze Theorie: 1974 veröffentlich- tun! vom Oktober 1978 wurde für die 25 Kursteil- te Michel Foucault sein Werk «Überwachen und nehmerinnen und die Kursleitung zu einem vollen Strafen», in dem er beschrieb, wie es das Gefäng- Erfolg. nissystem selbst war, das Delinquenten erzeugte. Ebenso positiv verlief der Vortrags- und Dis- Der Arbeitskreis beschäftigte sich ab 1974 ver- kussionsabend mit Ständerätin Emilie Lieberherr, stärkt mit Fragen des Strafvollzugs. Den Anfang drei Bieler Politikerinnen und einer Vertreterin m a c ht e e i n « St a m m» – a m 20 . M ä r z 19 74 b e r ic ht e t e der Frauenbefreiungsbewegung, indem auf ein- der ehemalige Gefangenenseelsorger von Witzwil, drückliche Weise klar wurde, welche Folgen die Pfarrer R. Zimmermann, im kleinen Kreis über Rezession für die Frauen hatte. seine Erfahrungen. Im folgenden Jahr wurde das Thema zu einem wichtigen Schwerpunkt. Nach der Aufführung des Theaterstücks Entlassung von Manfred Schwarz am 8. März organisierte das Ge- sellschaftspolitische Forum eine Diskussion zwischen Theaterpublikum und Regisseur. Am 11. März folgte zur Fragestellung Gesessen – vergessen? ein Podiumsgespräch mit Manfred Schwarz, dem Ge- fangenenseelsorger Paul Berger und der Fürspre- cherin Dr. Marie Boehlen. Ende April t hemat isier- Im Zusammenhang mit der Rezession wurde die te der Arbeitskreis die These, dass der Strafvollzug Frauenfrage für den Arbeitskreis erstmals zu einem selbst Delinquenten schaffe – «Fluchtgefahr», der Schwerpunktthema. erste Film von Markus Imhoof, erzählte die Ge- schichte eines jungen Mannes, der wegen eines dummen Vergehens ins Gefängnis gekommen war und erst durch den Gefängnisalltag zum Verbre- cher «sozialisiert» wurde. Nach der Vorführung des Films fand eine Podiumsdiskussion statt, an der neben Imhoof auch G. Gottardi, Adjunkt der Strafanstalt Thorberg, und E. Sallin, Gefangenen- seelsorger von Bellechasse, teilnahmen. Am 15. November organisierte der Arbeitskreis einen zweiten «Stamm» über Fragen des Straf voll- zugs. Toni Kuster und Arnold Wirth, Mitglieder zweier Arbeitsgruppen zur Strafrechtsreform in den Kantonen St. Gallen und Solothurn, infor-

70 K apitel 5 Zwischen Forumsfunktion und eigenem Profil (1975–1981) viele fanden, dass der Arbeitskreis dieses Forum bisher geboten habe. Nur drei Personen meldeten zurück, sie hätten mehr als eine Veranstaltung als einseitig empfunden. mierten über den aktuellen Stand ihrer Arbeit. Im Podien und Vorträge wurden zeitlich an- März und April 1976 machte ein ökumenischer spruchsvolleren Formen wie Kursen oder Ta- Gottesdienst zum Thema Strafvollzug auf ein- gungen vorgezogen – auch hier eine Bestäti- drückliche Weise klar, dass sinnvolle Reformen gung der bisherigen Arbeit. Bemerkenswert im Strafvollzug finanzierbar waren: Würde für war auch die Rückmeldung, dass fast alle das die meisten Strafen unter 6 Monaten der bedingte Niveau der Veranstaltungen als verständlich be- Strafvollzug gewährt, könnte die Arbeit von Ge- zeichneten, und dass die grosse Themenvielfalt fangenen angemessener entschädigt und ihre be- der Anlässe von den meisten begrüsst wurde. rufliche Qualifikation verbessert werden. Trotz dieser Bestätigung suchten die Mitarbeiter Auf Initiative von Sepp Kaufmann bildete sich des Arbeitskreises nach neuen Formen der Ar- 1978 eine Arbeitsgruppe für die Betreuung von beit, ausserdem setzten sie vermehrt thematische Strafentlassenen. Die ökumenische Gruppe Ou- Schwerpunkte. Oft wurden diese Schwerpunkte vertüre gehörte zwar nicht zum Arbeitskreis, ar- im Zusammenhang mit einem Jahresthema der Ar- beitete aber regelmässig mit ihm zusammen – so beitsgemeinschaft Kirchliche Schulung (AKS) formu- organisierten Arbeitskreis und Ouvertüre im Mai liert. Wie sehr die Arbeit der Bieler AKS-Gruppe 1979 ein Einführungsseminar für den Kontakt mit geschätzt wurde, zeigte ein Ergebnis der Umfra- Strafentlassenen. Die etwa ein Dutzend ehrenamt- ge. Unter der Rubrik «Besonders interessierende liche Mitarbeiter/innen zählende Gruppe leistete Veranstaltungen» wurde der Zyklus Gott erfahren bis 1988 Pionierarbeit in der Betreuung von Straf- – heute noch vor Podiumsgesprächen wie Das Boot entlassenen, bis das Schutzaufsichtamt für diese ist voll oder Subversion genannt. Aufgabe mehr Ressourcen zur Verfügung stellte.

Gott erfahren – heute Eine Umfrage Der von der AKS organisierte Zyklus zum The- Im Verlauf der Jahre erhielten immer mehr In- ma Gotteserfahrung umfasste ein sehr vielseitiges teressierte regelmässig Einladungen zu den Ver- Programm. Im Jahresbericht 1975 kommentierte anstaltungen des Arbeitskreises – 1976 waren es Pfarrer Reinhard Lanz: «Es ging uns darum, Be- über 800 Personen. Sie alle hatten im Februar jenes reiche und Möglichkeiten heutiger Gotteserfah- Jahres Gelegenheit, sich anhand eines Fragebo- rung ausserhalb der traditionellen kirchlichen gens ausführlich zur Tätigkeit des Arbeitskreises Formen zu suchen, aufzuzeigen und – in günstigen zu äussern. Als Grundlage der Beurteilung dienten Fällen – zu erleben. Dabei sollte sowohl thema- die Jahre 1973 bis 1975, zum Beispiel für die Nen- tische Vielgestaltigkeit als auch methodische Viel- nung besonders interessanter Veranstaltungen. falt beachtet und berücksichtigt werden.» Der im 105 Adressaten, also et was über 12 Prozent der A n- September und Oktober durchgeführte Veranstal- gefragten, schickten ihren Fragebogen ausgefüllt tungszyklus umfasste Wege zur Gotteserfahrung zurück. Die dabei gegebenen Antworten erlaubten in Musik (Vortrag von Prof. W. Frei), Mystik und trotz ihrer begrenzten Zahl gewisse Rückschlüsse. Meditation (Gespräch und Übungen mit E. Eggi- Als deutlichsten Wunsch in Richtung einer mann), Politik (Podiumsgespräch mit Nationalrä- Ver ä nder u ng na n nte d ie g ros se Meh rheit der A nt- tin E. Blunschy, Nationalrat F. Zwygart und Kan- wortenden eine Ausweitung des Arbeitskreises zu tonsrat Dr. Ott), bildende Kunst (Diavortrag von einer Institution mit ökumenischer Trägerschaft. Pfarrerin I. Vogelsanger) und Naturwissenschaft Sonst zeigten die Rückmeldungen eine hohe Zu- ( Vortrag von Prof. M. Thürkauf ). friedenheit mit dem Bisherigen: Mit über neunzig Ein weiterer Teil des Zyklus umfasste zwei Ex- Prozent der Rückmeldungen wurde die Funk- kursionen: Am 19. Oktober erläuterte Architekt tion des Arbeitskreises als Forum für ein breites H. Bühler in Ronchamp die von Le Corbusier Meinungsspektrum befürwortet, und fast ebenso entworfene Kirche Notre-Dame-du-Haut, und

71 K apitel 5 Zwischen Forumsfunktion und eigenem Profil (1975–1981) eine Podiumsdiskussion zur Frage des Versorgt- Werdens durchzuführen.

am 25. Oktober erklärte Pfarrerin I. Vogelsanger Wissenswertes zu den Chagall-Fenstern in der Ein neues Konzept Zürcher Fraumünsterkirche. Zum Abschluss des für den Religionsunterricht Zyklus leitete Prof. Kurt Lüthi ein Gespräch über Gotteserfahrung aus theologischer und aus tiefen- Die Schaffung des Amtes für kirchliche Un- psychologischer Sicht. terrichtsfragen erlaubte es 1975, das kirchliche Im folgenden Jahr blieb die Arbeitsgruppe beim Unterrichtswesen in Biel gesamtstädtisch zu re- selben Themenkreis – auch am Meditationswo- organisieren und dabei neuen religionspädago- chenende in der reformierten Heimstätte Leu- gischen Erkenntnissen Rechnung zu tragen. Der enberg und bei der Exkursion nach Taizé unter Beauftragte für Unterrichtsfragen, Pfarrer Walter dem Motto Kultus und Kommunikation, Kampf und E. Meyer, erklärte im Neuen Bieler Jahrbuch des Kontemplation ging es um Formen der Gotteser- Jahres 1976: «Die Kirche als Ort menschlicher und fahrung. Besondere Resonanz fand 1976 der Kurs mitmenschlicher Entfaltung und echten sozialen «Gotteserfahrung im Sterben und im Tod». Zusammenwirkens und Zusammenlebens soll dem gereiften Jugendlichen im Konfirmandenalter vermehrte Möglichkeiten zur Selbstfindung und Die Arbeitsgruppe Theater thematisiert Mitbestimmung geben. Deshalb gibt es neben drei das Thema «Tod» Grundkursen ein grosses Angebot an Freiwahl- kursen und praktischen Einsätzen. […] So erfahren Mitte der Siebzigerjahre erschienen verschie- die Konfirmanden die K irche als Ort k reat iver und dene Werke zu einem oft verdrängten Thema – sozialer Aktivität im Dienst am Mitmenschen und 1975 veröffentlichte Jean Ziegler den Essay «Die im Dienst an einer menschlicheren Gestaltung der Lebenden und der Tod», und Philippe Ariès arbei- Zukunft.» Dieses neue Konzept des kirchlichen tete an seinem grundlegenden Werk Die Geschichte Unterrichts sollte sich viele lange Jahre bewähren. des Todes. Mit dem Stück Himmel und Erde brachte Als neuer Leiter der Arbeitsgruppe Religionsun- das Städtebundtheater Biel–Solothurn im Novem- terricht unterstützte Meyer eine etwa zehnköpfige ber 1975 das Thema Tod auf eindrückliche Wei- Gruppe von Lehrkräften dabei, aktuelle Themen- se auf die Bühne – das Werk der Autorin Gerlind kreise auf verschiedenen Stufen für den Religions- Reinshagen handelte vom Sterben einer vierzig- unterricht aufzuarbeiten. Später führte er seine jährigen Frau, die noch nicht richtig gelebt hatte. Tätigkeit ausserhalb des Arbeitskreises weiter. Bezug nehmend auf Reinhagens Stück orga- nisierte die beim Arbeitskreis 1974 entstandene Gruppe Theater einen Anlass mit Texten, Chan- sons und Tanz zum Thema Tod, an dem auch Ka- rin Mommsen, die Hauptdarstellerin in Himmel und Erde teilnahm. Neben Chansons von Mani Matter trug der Berner Liedermacher Fritz Wid- mer eigene Lieder rund um den Tod vor, und Eri- ka Ackermann zeigte vier thematisch passende Pantomimen. Die Gruppe Theater plante weitere Begleitanlässe zu wichtigen Zeitfragen, löste sich aber schon 1976 auf. Arbeitskreis-Anlässe zu brandaktuellen Theaterproduktionen gab es aber auch weiterhin. Zum Beispiel nahm der Ar- beitskreis im März 1979 die Aufführung von Maja Beutlers Stück Das blaue Gesetz zum Anlass, um mit der Autorin und Fürsorgedirektor Hans Kern

72 K apitel 5 Zwischen Forumsfunktion und eigenem Profil (1975–1981) nen. Während dieser Reise kam es zu besonders eindrücklichen Begegnungen mit dem Personal des Kairoer Sozialzentrums Boulac. In Biel initiierte Samuel Maurer mehrere An- Eine «Arbeitsreise» lässe zum Nahen Osten: Einen Abend zur Situa- hinter die Frontlinien des Nahen Ostens tion der Israelischen Araber, einen Bericht über das Sozialzentrum Boulac und eine Tagung der Unter dem Titel Arbeitsreis für Zeitfragen be- Christlich-jüdischen Arbeitsgemeinschaft zu Jerusa- gründete Reinhard Lanz im Jahresbericht 1976, lem, der heiligen Stadt der Juden, Moslems und warum viele Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen des Araber. Arbeitskreises von Zeit zu Zeit eine gemeinsame Reise organisierten: «Studienreisen haben sich für den Arbeitskreis als ein neues, wert- und sinnvolles Der Arbeitskreis reflektiert Mittel zur Wahrnehmung seiner Aufgabe erwie- die Widersprüchlichkeit seiner Aufgabe sen, deren Ziel es ja ist, ‹Situationen verständlich zu machen, den Meinungsaustausch zu fördern Irene Steeb, seit dem Rücktritt von Hans Ri- und Verständigung zu ermöglichen›. […] Auch da ckenbacher Leiterin des Gesellschaftspolitischen gilt – wie bei den übrigen Tätigkeiten des Arbeits- Forums, machte sich im Jahresbericht 1977 Ge- kreises – das Hauptinteresse den Menschen, ihren danken zu den problematischen Seiten der ge- Lebensbedingungen, ihren Problemen, Nöten meinsamen Arbeit. Manche Schwierigkeiten und Hoffnungen. Darum wird grosser Wert gelegt führte sie auf strukturelle Probleme zurück, vor auf Kontakte, Begegnungen, Gespräche mit Ver- allem auf einen immer wiederkehrenden Wider- tretern und Kennern der einheimischen Bevölke- spruch: «Zwischen ‹politischem Engagement› im rung. […] Diese sollen und können Vor- und Pau- Sinne von ‹selbst eine Meinung haben› und diese schalurteile abbauen, Vertrauen wecken, fremdes a u c h v e r t r e t e n w o l l e n – u n d ‹ p o l i t i s c h e r B i l d u n g s - Denken und Handeln erklären, Sinnvolles im An- arbeit› – im Sinne von ‹eine Plattform schaffen dersartigen erschliessen, Konflikte durchschaubar für alle Meinungen› – besteht ein grundsätz- machen, Beziehungen im Blick auf konkrete Hilfs- licher Zielkonflikt. Konkret auf das Gesellschafts- massnahmen anbahnen.» Lanz betonte, dass jede politische Forum bezogen heisst das: Die meisten Reise gründlich vor- und nachbereitet werde, und Mitglieder sind in irgendeiner Weise politisch mit einem Zitat von Al Imfeld verwies er noch ein- engagiert und bemühen sich, trotz komplizierten mal auf die Chancen, die Studienreisen eröffneten: Zusammenhängen eine Meinung zu bilden. «Tourismus kann zum Beginn von Friedensarbeit Wenn dies dann – zum Beispiel auf eine Abstim- werden, die nicht primär Sicherheitspolitik, Mi- mungsvorlage – nach viel Anstrengung gelungen litär, Verteidigung und gar Réduit ist; sie beginnt ist, möchte man ‹zur Aktion schreiten können›. mit der Grenzüberschreitung, der Entgrenzung, Dem widersetzt sich aber unser ganzes Selbst- d e r B e g e g nu n g, d e r Ve r s t ä n d i g u n g, d e s B e g r e i f e n s , verständnis (oder besser: unser Leitbild), welches des Umg reifens; sie besteht im Zusam menbringen. fordert, keine ‹Propaganda›, keine ‹Agitation› zu Tourismus kann wichtiges Glied von Friedenser- betreiben, sondern jedes Thema kontrovers und ziehung sein.» pluralistisch anzugehen – und damit werden wir Im Frühling 1975 begaben sich die Mitarbeiter gezwungen, unsere mühsam erkämpfte eigene des Arbeitskreises, die sich während des Yom Kip- Meinung wieder zu verleugnen.» pur-Krieges in Israel aufgehalten hatten, erneut in Seit Beginn der siebziger Jahre hatte sich der den Nahen Osten. Die zweiwöchige Studienreise Arbeitskreis bei politischen Vorlagen wiederholt durch Ägypten und Israel hatte zum Ziel, beide konkret engagiert. Seine Inserate gegen die Über- Konflikt parteien auch in der unmittelbaren Erfah- fremdungsinitiative von 1974 stiessen auf ein so po- rung besser kennen zu lernen. 1976 begaben sich sitives Echo, dass die Kosten der Aktion durch pri- Samuel Maurer und Reinhard Lanz noch einmal vate Spenden mehr als gedeckt wurden. Zwei Jahre nach Ägypten, um die dortige soziale Wirklichkeit später planten das Gesellschaftspolitische Forum und mit Besuchen in Werkstätten, Schulen, Sozialzen- der Leitende Ausschuss eine Inseratenkampagne tren und einem Spital noch besser erfassen zu kön- zugunsten der Mitbestimmungsinitiative, diesmal

73 K apitel 5 Zwischen Forumsfunktion und eigenem Profil (1975–1981) und geistige Not und ihre Ursachen.» In den folgenden Jahren konnte die zwischen vier und sieben Mitglieder umfassende Arbeits- gruppe fast jede Woche einen selbst verantwor- aber war die Finanzierung der Inserate aus Mitteln teten Beitrag im Bieler Tagblatt veröffentlichen, des Arbeitskreises vorgesehen. darunter immer wieder solche, die aufhorchen Obwohl das Engagement des Arbeitskreises in liessen. Zum Beispiel erschien am 13. Mai 1975 beiden Fällen mit der Grundhaltung des Schwei- ein Beitrag von Pfarrer E. Buess mit dem Titel Zur zerischen Evangelischen Kirchenbundes überein- illegalen Besetzung von Kaiseraugst, der deutlich stimmte, war die Verwendung kirchlicher Gelder machte, dass auch Illegalität in bestimmten Fällen f ü r ei nen Abst im mu ngsk ampf u mst r it ten. Bei aller von Gott her geboten sein könne. Sympathie für das Anliegen der Mitbestimmung Einige Kirchenglieder des eher evangelikal- befand die Kommission des Arbeitskreises, eine pietistischen Teils des kirchlichen Spektrums um theologische Stellungnahme lasse sich nur mittel- Pfarrer Markus Jakob fragten die Arbeitsgruppe bar aus der Bibel erschliessen, und deshalb sei Zu- 1977 an, ob diese bereit sei, bei Veröffentlichungen rückhaltung geboten. Werner Marti, seit Frühjahr auch den Standpunkt ihrer Strömung zu berück- 1975 neuer Kommissionspräsident, empfahl diese sichtigen. Nach mehreren Gesprächen wurde Vorsicht auch im Hinblick auf eine in Zukunft ver- vereinbart, unter dem Namen Kirche/Christ/Welt mutlich noch deutlicher spürbare Polarisierung. eine unabhängige zweite Pressegruppe zu bilden, Nach diesem Kommissionsentscheid liessen Mit- um abwechselnd mit Kirche und Gesellschaft einen glieder des Gesellschaftspolitischen Forums und wei- Beitrag aus evangelikal-pietistischer Sicht erschei- tere kirchliche Mitarbeiter die Inseratenserie unter nen zu lassen. Abgesehen von vereinzelten Ver- ihrem persönlichen Namen und auf eigene Kosten wechslungen bei der Wahl des Signets funktio- erscheinen. nierte diese Arbeitsteilung einige Jahre ziemlich reibungslos, die Intensität der Arbeit nahm aber in beiden Gruppen deutlich ab. In diesem Zusam- Pluralistische, aber organisatorisch menhang fragte sich Samuel Maurer im Jahres- getrennte Pressearbeit bericht 1979, ob die Arbeit nicht im Sinne eines dialogischen, konstruktiven Zusammenwirkens Ab 1972 konnte die ökumenisch geführte Ar- der beiden Gruppen weitergeführt werden sollte. beitsgruppe Presse ihre Beiträge im Bieler Tagblatt Infolge verschiedener Veränderungen beim Ar- unter dem Titel Kirche und Gesellschaft publizie- beitskreis kam es aber nicht dazu. ren, – der Grafiker René Brotbeck hatte zu diesem Zweck ein passendes Signet entworfen. Für die Leserinnen und Leser wurde bald klar, dass die Arbeitsgruppe ihren Auftrag nicht darin sah, ein Abbild des Meinungsspektrums der Landeskir- chen wiederzugeben. Der Leiter der Arbeitsgrup- pe, Pfarrer Alfred Bürgi, betonte im Jahresbericht 1973: «Unsere Spalte will und kann nicht ‹die Kir- che› im Bieler Tagblatt repräsentieren, auch nicht ‹die Meinung der Kirche› in einem autoritativen Sinn. Sie möchte vielmehr anhand von konkreten Beispielen einige Konsequenzen des Evangeliums sichtbar machen und anregen zur Verantwortung für die Welt, in der wir leben.» Wie der Arbeits- kreis als Ganzes berief sich auch die Pressegruppe auf Artikel 2 der bernischen Kirchenverfassung: «Die Kirche bezeugt, dass das Wort Gottes für alle Bereiche des öffentlichen Lebens […] gilt; sie bekämpft daher alles Unrecht sowie jede leibliche

74 K apitel 5 Zwischen Forumsfunktion und eigenem Profil (1975–1981) den Hinweis, dass sich bei ihnen ein Spitzel Cince- ras betätige. Nach erfolgter Enttarnung führte der Cincera-Mitarbeiter einige DM-Aktivisten zum Archiv seines Chefs, wo diese Akten behändigten Führt die Wirtschaftskrise zu einer Krise und abtransportierten. Ein landesweit ausstrah- der Demokratie? lender Skandal nahm seinen A nfang. Dass Cincera über links stehende Personen eine Die in der BALZ beschriebene Aufforderung Kartei führte, war schon lange vermutet worden. eines Bieler Detektivbüros an Unternehmen, ihre Skandalös wirkte aber die Herkunft vieler Kar- Belegschaft auf politisch missliebige Mitarbeiten- tei-Einträge. Offensichtlich hatten Personen aus de zu überprüfen, betraf keinen Einzelfall. Vor dem EMD, der Zürcher Erziehungsdirektion, der allem im Kanton Zürich beunruhigte eine ganze Berner Kantonalbank, dem Burghölzli und sogar Reihe von politisch motivierten Entlassungen im der Migros vertrauliche Personaldaten an Cincera öffentlichen Dienst und bei den Massenmedien ei- weitergeleitet. Auch die NZZ schrieb von «Frag- nen wachsenden Teil der Öffentlichkeit. Um die- würdigkeit im Verhalten unserer Behörden». sem Unbehagen Ausdruck zu geben, bildete sich Rein rechtlich gesehen konnte Cincera kaum in Zürich zu Beginn des Jahres 1976 eine breit ab- etwas vorgeworfen werden – den Exponenten gestützte Arbeitsgemeinschaft. Das Demokratische des DM umso mehr. Zu Hausfriedensbruch und Manifest (DM) bezweckte die Erhaltung, den Aus- Diebstahl gesellten sich Freiheitsberaubung und bau und die Förderung der demokratischen Rech- Nötigung als mögliche Tatbestände, nachdem der te und Freiheiten in der Schweiz, um den Bestim- enttarnte Spitzel (wahrheitswidrig) behauptet hat- mungen der Erklärung der Menschenrechte und te, er sei zur Mithilfe beim Abtransport des A kten- der Schweizerischen Bundesverfassung Nachach- materials gezwungen worden. Diesem Sachverhalt tung zu verschaffen. entsprechend wurden drei Mitglieder des DM ein- Die Überwachung politisch aktiver Personen geklagt und verhaftet. durch den Staatsschutz lief damals auf Hochtou- Der Cincera-Skandal polarisierte in der ganzen ren. Tausende wurden in einer speziellen «Ex- Schweiz. Die politische Rechte konzentrierte tremistenkartei» registriert, und für eine Zuord- sich darauf, das gesetzwidrige Verhalten des DM nung zu dieser Personengruppe reichte es schon, anzuprangern, während die Linke ausgehend ehrenamtlich in einem Laden mit «Dritt-Welt- vom öffentlich gemachten Archivmaterial die Produkten» mitgearbeitet zu haben. Indem sie jede gesellschaftliche Wirkung der Tätigkeit Cince- Form des politischen und kulturellen Protests als ras deutlich machte. Unter Verletzung von Arzt-, staatszersetzend deutete, blieb die Bundespolizei Bank- und Amtsgeheimnis wurden offenbar In- dem Weltbild des Kalten Krieges verhaftet. Aber formationen über tausende von Andersdenkenden auch für diese Bundespolizei gab es in Bezug auf gesammelt, um diese wirtschaftlich zu schädigen, Überwachung und die Verwendung der gewon- was verfassungsmässig garantierte Grundrechte nenen Informationen gewisse Grenzen, und in in Frage stellte. Die Sorge um diese Grundrechte einem konkreten Fall war es auch ihr nicht mehr rückte so stark ins Zentrum des Interesses, dass in ganz wohl bei der Sache. Ein Mitarbeiter hatte fest- mehreren Städten neue Sektionen des Demokra- gestellt, dass Ernst Cincera dank der Stadtpolizei tischen Manifests entstanden. Im Hinblick auf eine Zürich in den Besitz von Unterlagen der Bundes- DM-Gründung in Biel organisierte die als marxi- polizei gekommen war und diese zu Handen von stisch inspiriert bekannte VPOD-Lehrergruppe Dritten auswertete. Der Bericht der Bundespolizei am 15. Dezember eine Versammlung mit DM-Ver- hielt fest, Cincera habe bereits 1970 Vorträge über tretern aus Zürich. die extreme Linke gehalten und schon damals die Der Arbeitskreis für Zeitfragen hatte das auch tatsächlichen Zusammenhänge durcheinander politisch rauer gewordene Klima bereits in der Aus- gebracht, indem er seinen Zuhörern «ein wirres einandersetzung mit der Arbeitslosigkeit wahrge- Bild von moskaugesteuerter Agitation» ausgemalt nommen. Mit der Wahl des Jahresthemas Bedrohte habe. Demokratie im Januar 1977 wollte er zeigen, wie Im November 1976 erhielten Mitglieder des De- sehr ihm daran lag, gerade in einem schwieriger mokratischen Manifest aus konservativen Kreisen gewordenen Umfeld den Dialog zu fördern. Im

75 K apitel 5 Zwischen Forumsfunktion und eigenem Profil (1975–1981) treten könnte, durch einen unsachlichen Journalis- mus angeprangert. Als die Kirchenverwaltung sich kurz darauf weigerte, dem Demokratischen Mani- fest den Farelsaal zur Verfügung zu stellen, wurde Zusammenhang mit dem Demokratischen Manifest deut lich, dass der Konfl ik t auch in der eva ngelisch- nahm sich der Arbeitskreis vor, innerhalb des DM reformierten Kirche selbst einen alten Graben ge- jene Kräfte zu fördern, die auch für einen Dialog öffnet hatte. mit der Gegenseite offen waren. Ein massgeblich Die polarisierende Haltung des Bieler Tagblatts auf Initiative der Revolutionären Marxistischen Liga liess die angegriffenen Mitarbeiter des Arbeits- gegründetes Bieler DM empfand er deshalb als we- kreis intern Klartext sprechen. Sie machten darauf nig zweckdienlich. aufmerksam, dass das BT über ihm unbequeme Konkret plante der Leitende Ausschuss, an das Gruppierungen mit ähnlichen Methoden berich- Podiumsgespräch über Subversion aus dem Jahr tete, wie es die Presse der Ostblockstaaten in Be- 1973 anzuknüpfen und erneut Exponenten beider zug auf die dortigen Bürgerrechtsbewegungen zu Seiten zum Thema Staatschutz sprechen zu lassen. tun pflegten. Der Kirchgemeinderat Biel-Stadt Der Versuch, Befürworter des Staatsschutzes für distanzierte sich zwar vom illegalen Vorgehen ein kontradiktorisches Gespräch zu gewinnen, des DM bei der Entwendung von Akten aus dem blieb dieses Mal jedoch ohne Ergebnis, obwohl Cincera-Archiv, machte aber klar, welche Rolle Samuel Maurer über dreissig Persönlichkeiten des die Kirche in dieser Sache zu spielen hatte: «Der rechtskonservativen Lagers angefragt hatte. Kirchgemeinderat, alle Pfarrer und Gemeindehel- Weniger problematisch schien der als Einstieg fer treten ein für die Erhaltung, den Ausbau und ins Thema vorgesehene Cabaret-Abend Repressi- die Förderung der demokratischen Rechte und on und Demokratie vom 8. Februar 1977 zu wer- Freiheiten in der Schweiz […]. Im Sinne des befrei- den. Um im Zusammenhang mit marxistisch ge- enden und versöhnenden Evangeliums wenden sie sinnten DM-Befürwortern in Biel nicht als Partei sich auch gegen jede Art von Repression, privaten wahrgenommen zu werden, hatte der Arbeitskreis Schnüffeleien und totalitären Machenschaften.» mit der Vorbereitungsgruppe für ein DM in Biel Als Präsident der Arbeitskreis-Kommission vereinbart, deren Flugblattaktion und Unter- hatte Werner Marti die heikle Aufgabe, das damals schriftensammlung auf den Eingangsbereich des politisch Machbare zu versuchen, um das Klima Farelhauses zu beschränken. zu entschärfen. Im Sinn seiner Argumentation Der Abend des 8. Februar verlief jedoch anders beschloss der Gesamtkirchgemeinderat im März als vorgesehen. Befürworter einer DM-Gründung 1977, im Gespräch mit dem BT zu versuchen, eine in Biel verteilten ihre Flugblätter auch im Farelsaal, Entspannung des Klimas herbeizuführen. und die Kabarettisten glaubten, der Anlass sei eine Propagandaaktion für das Demokratische Manifest. Die scheinbare Vermengung von Arbeitskreis- Mitarbeitern mit Mitgliedern progressiver Grup- pen führte zu heftigen Reaktionen, die zum Teil deutlich machten, bis in welche Kreise man sich Cinceras einfaches Weltbild zu Eigen gemacht hatte. Obwohl die überwiegende Mehrheit der über siebzig Erstunterzeichnenden des DM Biel einen sozialdemokratischen oder linksliberalen Hintergrund hatte, unterstellte ein Journalist des Bieler Tagblatts einigen Mitarbeitern des Arbeits- kreises, nur noch im Kielwasser eines Dampfers zu schwimmen, «der offensichtlich nicht nur eine ro- sarote, sondern eine scharlachrote Flagge gesetzt hat.» Damit wurden genau jene, die mit ihrem Engagement massgeblich dazu beitrugen, dass das Bieler DM auch in einen Dialog mit der Gegenseite

76 K apitel 5 Zwischen Forumsfunktion und eigenem Profil (1975–1981) der Arbeitsgruppe Kirche und Film schliesslich be- f a s sten sic h au s serh a lb i h rer ge woh nten Dok u men- tations- und Schulungsarbeit mit der Herstellung eines Super 8-Dokumentarfilms über das Sozial- Wofür stehen wir ein? zentrum Boulac in Kairo; der Film konnte dank Unterstützung durch Brot für Brüder und HEKS Das Leitwort des Reformationsgedenkjahres produziert und unter dem Titel Insha’Allah am 19. 1978 hatte seine Bedeutung auch für die weiteren Februar 1979 im Calvinhaus uraufgeführt werden. Tätigkeiten des Arbeitskreises. Im Vordergrund stand sehr deutlich das Einstehen für die Schwä- cheren, auch ausserhalb der Projekte mit Arbeits- losen. Was soll evangelische Im Februar begann ein Zyklus über die Lage der Erwachsenenbildung? Campesinos in Peru, der mehrere Gespräche mit Vertretern der Befreiungstheologie in Peru und N a c h ü b e r f ü n f z e h n J a h r e n v o l l a m t l i c h e r T ä t i g - Kolumbien ermöglichte. Der Zyklus knüpfte an keit für den Arbeitskreis beantragte Samuel Mau- die Uraufführung des Films Der Schrei des Volkes rer einen mehrmonatigen Bildungsurlaub, wie er des Regisseurs Peter von Gunten vom 20. Oktober den Studienleitenden an evangelischen Bildungs- 1977 an, in dessen Zentrum die Bergpredigt als stätten in der Regel nach wesentlich kürzerer Zeit Botschaft der Befreiung gestanden hatte, ebenso an gewährt wurde. Gerade die konfliktreichen Jahre den Stamm mit Adrian Hadorn, dessen Bildungs- seit Ausbruch der Rezession motivierten den Ge- projekt in Bolivien sich direkt an den Lebens- und schäf tsleiter, sich mit zent ralen Fragen der evange- Kulturbedürfnissen der Dorfbewohner orientierte. lischen Erwachsenenbildung auseinanderzusetzen Dass mit einem neuen Weg ganz konkret etwas und die in Biel gemachten Erfahrungen mit jenen gegen die Ausbeutung der Plantagenarbeiter un- anderer Bildungsstätten zu vergleichen. In Aner- ternommen werden konnte, wurde am Informati- kennung seines grossen Einsatzes bewilligte der onsabend der Bananenaktion deutlich, der im Mai Gesamtkirchgemeinderat einen dreimonatigen 1978 den Zyklus abrundete. Ursula Brunner zeigte Bildungsurlaub für die Monate August bis Oktober nicht nur auf, warum eine Banane trotz langem 1978. Transportweg weniger kostete als ein Apfel – sie Im Verlauf dieses Bildungsurlaubs trat Samuel konnte mit dem Bananenverkauf zum Solidaritäts- Maurer mit einer Vielzahl von Vertreterinnen und preis einen konkreten Schritt zu fairerem Handel Vertretern der kirchlichen Erwachsenenbildung anbieten. in der Schweiz, der Bundesrepublik Deutschland Ein zweiter Schwerpunkt der Arbeit lag in der und den Niederlanden in Kontakt. Der Austausch Auseinandersetzung mit der Arabischen Welt. Im mit verschiedenen Studienleiterinnen und Stu- April begab sich eine zwanzigköpfige Reisegruppe dienleitern und die Eindrücke aus dem Besuch nach Marokko, wo sie sich unter Leitung von Vreni zahlreicher Bildungsstätten ergaben einen Ge- Schertenleib und Matthias Thönen mit der kom- samteindruck, der es erlaubte, die Tätigkeit des plexen Identität dieses Maghreb-Staates vertraut Arbeitskreises in einen grösseren Zusammenhang machen konnte. Schon fünf Monate vorher hatte zu stellen. In einem 65-seitigen Bericht dokumen- sich der Arbeitskreis indirekt mit Marokko befasst, tierte Samuel Maurer, dass die Problemfelder der als die Poesie- Musik- und Tanzgruppe El Uali Auseinandersetzung mit Zeitfragen vielerorts im Farelsaal auf das Schicksal der Flüchtlinge aus übereinstimmten. Viele Akademien und kirch- Westsahara aufmerksam machte. Seit der Beset- liche Bildungsstätten hatten im Vergleich zu den zung des Landes durch marokkanische Truppen Sechzigerjahren an politischem Profil gewonnen, lebte praktisch das ganze Volk in den Flüchtlings- und Parteinahme in gewissen Fragen wurde nicht lagern des algerischen oder mauretanischen Exils. als Infragestellung der Forumsfunktion gesehen. Eine Kollekte unter dem 240-köpfigen Publikum In den Niederlanden zum Beispiel sprachen sich brachte 1040 Franken für ein Projekt in einem die kirchlichen Bildungsstätten klar gegen Atom- Flüchtlingslager der Saharauis ein. kraftwerke aus, obwohl sie zu 70% von der Regie- Beatrice Möri und Theo Krummenacher von rung finanziert wurden – im Zusammenhang mit

77 K apitel 5 Zwischen Forumsfunktion und eigenem Profil (1975–1981) – Die Kirche habe solidarisch zu sein. Eine un- ausgewogene Weltsituation könne sich nicht in einem ausgewogenen Akademieprogramm wi- derspiegeln. Ein Forum sei zwar unverzichtbar dem niederländischen Toleranzmodell führte das für die Bildungsarbeit, aber nur als Instrument. zu keinen grösseren Konflikten. Auch der Gene- Eine Bildungsstätte dürfe ein eigenes, erkenn- ralsekretär der Ökumenischen Vereinigung der Aka- bares Profil haben, und ausserdem sei eine Pro- demien, Pfarrer Werner Simpfendörfer, betonte filierung durch Stellungnahme unumgänglich. die gesellschaftspolitische Verantwortung der Nur so könne sich der Andersdenkende seiner- Kirche: «Es geht um die Präsenz der Kirche in den seits profilieren, was die Voraussetzung für ei- Spannungsfeldern der Gesellschaft, um dort ihren nen echten Dialog sei. (Dr. Martin Stör, Akade- Beitrag zur Erkenntnis und zur Lösung von Pro- mie Arnoldshain/ Pfarrer Hans-Ulrich Balmer, blemen einzubringen, das heisst im weltlichen Ge- Gwatt) schehen die radikalen Fragestellungen Gottes zu Samuel Maurer reflektierte auch die Bibelstelle ermitteln und zu beant worten.» zu der Pfarrer Kurt Lüthi bei seiner Amtseinset- zung gepredigt hatte. «Suchet der Stadt Bestes» Als konkrete Impulse für die eigene Arbeit er- sei mit Werner Simpfendörfer als «kirchliche Ant- wiesen sich folgende Einschätzungen: wort auf die Herausforderung der Botschaft Jesu – Kirchliche Erwachsenenbildung müsse im Ver- im Bereich des Politischen» zu verstehen, oder im gleich zur seelsorgerischen Arbeit einen grös- Sinne des Kölner Politischen Nachtgebets, das die seren Spielraum zugestanden erhalten. Ein Stu- Politik als «Ort der Verwirklichung von Näch- dienzentrum bedürfe der «Freistatt» und dessen stenliebe» verstand. Im Zusammenhang mit die- Studienleitende der «Narrenfreiheit». Es brau- sen Überlegungen überlegte sich der Geschäftslei- che Experimente der Hoffnung. Das Gebot der ter, die Arbeit künftig vermehrt auf lokalpolitische Nächstenliebe fordere ebenso klar ein gewisses Fragen zu konzentrieren, was in bestimmten Situ- Mass an Loyalität, wie es Toleranz ermögliche. ationen das Handeln als Bürgerinitiative nötig ma- (Prof. Dr. Hans Würgler, Boldern) chen könnte. – Erwachsenenbildung sei konfliktorientiert. Samuel Maurer überlegte sich auch mögliche Strukturen sollten erleichtern, dass Kontrover- thematische Schwerpunkte der künftigen Arbeit. sen bereits bei Vorbereitungsarbeiten ausgetra- Aus seiner Sicht sollten die Frauen dabei eine viel gen würden, um den Erfolg der Aktivitäten nicht wichtigere Rolle spielen: «Eine Arbeitsgruppe, die zu gefährden. Von zentraler Bedeutung sei auch sich ausschliesslich und umfassend mit der Situa- die gegenseitige Toleranz. Entweder sei das in- tion der Frau in der Gesellschaft befassen würde, terne Meinungsspektrum zu erweitern, oder es stellte weder eine Konkurrenz zu Frau und Arbeit sei «eine vielfältige, auch miteinander konkur- noch zu den übrigen in Biel bestehenden Frauenor- rierende Gruppenbildung» zu ermöglichen, ganisationen dar, sondern wäre deren kirchlicher «als primäres Einübungsfeld heute notwendiger Partner.» Toleranz, oder genauer gesagt, wirklich ökume- Auch in einem weit gefassten Verständnis von nischer Gesinnung». (Werner Simpfendörfer) Ökumene sah er Chancen für die künftige Arbeit: – Evangelische Bildungsarbeit habe sich «rück- «Neue und andere Auslegungen des christlichen wärts» auf Jesus und «vorwärts» auf das Reich Glaubens, ausgelegt und gelebt unter Situationen Gottes hin zu orientieren. Sie habe dazu bei- der Diaspora, der Unfreiheit oder der Ungerech- zutragen, dass Christen vermehrt ein Ferment tigkeit, können uns helfen und stimulieren, um bildeten, das die Welt im Sinne der frohen Bot- unseren Glauben neu auszulegen und zu leben. schaft verändere. Theologie sei als Kairologie Ökumenische Partner können sich gegenseitig zu auf aktuell notwendige Veränderungen aus. christlichen Reformatoren werden.» (Werner Simpfendörfer) In Bezug auf die Arbeitsmethoden schlug Sa- – Evangelische Bildungsarbeit greife von anderen muel Maurer vor, vermehrt von den eigenen Er- vernachlässigte oder gar tabuisierte Themen auf, fahrungen auszugehen und Methoden des sozialen wie zum Beispiel den Strafvollzug. (Dr. Martin Lernens in den Gruppen vermehrt einzusetzen. Stöhr, Evangelische Akademie Arnoldshain)

78 K apitel 5 Zwischen Forumsfunktion und eigenem Profil (1975–1981) zeigte sich die breite Basis des Widerstandes – bis zu 25‘000 Personen aus allen politischen Lagern solidarisierten sich mit den Besetzern, und die Re- gierungen der beiden Basel forderten den Verzicht Ein Kernproblem spaltet die Schweiz… auf den K raft werkbau. Im Bundesrat wurde ernsthaft erwogen, das Als sich der Arbeitskreis Mitte der Sechziger- Baugelände mit einem Armeeeinsatz zu räumen – jahre mit den Grossprojekten in Cressier befasste, erst eine Aussprache zwischen der SP-Spitze und erschien die Atomenergie als fortschrittliche und Bundesrat Ritschard trug massgeblich dazu bei, saubere Alternative zu thermischen Kraftwerken. dass die Besetzung mit einer Verhandlungslösung Der schweizerische Bund für Naturschutz sprach endete: Bundesrat und Bauherrschaft versprachen, sich 1965 klar für die Umstellung auf Atomener- die Bautätigkeit zu unterbrechen und Gespräche gie aus, um Flusslandschaften zu schützen und die mit den AKW-Gegnern aufzunehmen. Diese Luftverschmutzung zu bekämpfen. Es war in den provisorische Lösung wurde behördlicherseits zu Siebzigerjahren der Hinweis der Naturschutz- einem Beispiel von staatspolitischer Klugheit, für organisationen, dass die Atomkraftwerke durch die nach 1968 entstandenen Oppositionskräfte den Einsatz von Flusswasser zur Kühlung eine bedeutete sie einen spektakulären Erfolg des aus- erhebliche Erwärmung der betroffenen Fliess- serparlamentarischen und gewaltfreien Wider- gewässer bewirkten, der ein erstes Umdenken in standes. Gang setzte. Wegen den Gesundheitsrisiken auch Auch die Landeskirchen befassten sich mit der schwacher radioaktiver Strahlung begannen zu- Kernenergie. Das Institut für Sozialethik des SEK dem namhafte Wissenschaftler wie die Physiker (Schweiz. Evang. Kirchenbund) und die römisch- Jean Rossel und Theo Ginsburg vor der Atomtech- katholischen Bischöfe brachten den zunehmenden nologie zu warnen. Energiebedarf in Zusammenhang mit einem vor- Im gleichen Zeitraum kam in der ganzen Ge- wiegend materiellen Wohlfahrtsstreben und be- sellschaft ein Umdenken in Gang. Der Bericht tonten die Verantwortung des Menschen für die über die Grenzen des Wachstums bewirkte in wei- Bewa h r u ng der Schöpf u ng. Dement sprechend for- ten Kreisen ein neues Bewusstsein. Neue Projekte derten sie wirksame Energiesparmassnahmen und wurden vermehrt im Hinblick auf ihre globalen eine vermehrte Förderung von Alternativenergien, und langfristigen Auswirkungen beurteilt, und um den endgültigen Schritt ins Atomzeitalter zu gerade die Verfechter der Atomk raft mit ihrer Ori- vermeiden. In diesem Sinne verlangte die Kom- entierung an einem raschen Wirtschaftswachstum mission für Kirche, Industrie- und Wirtschafts- stiessen auf wachsende Skepsis. fragen der evangelisch-reformierten Kirche 1977 Die Erkenntnis, dass Grossprojekte komplexe, eine Denkpause im Atomkraftwerkbau, da zu viele oft erst viel später erfassbare Folgewirkungen langfristige Folgen der Atomtechnologie noch zu auslösten, begünstigte eine Gegenbewegung, die wenig geklärt seien. in einer Fülle von überschaubaren, demokratisch Mit ihrer vorsichtig kritischen Haltung trugen beschlossenen und dezentral organisierten Pro- die Landeskirchen auch der Tatsache Rechnung, jekten eine lebensfreundlichere Zukunftsperspek- dass die Haltung zur Kernkraft die Schweiz in zwei tive sah. Mit der laut Gesetz allein beim Bundesrat grosse, politisch sehr heterogene Lager gespalten liegenden Kompetenz zur Erteilung von Stand- hatte. ortbewilligungen für Atomkraftwerke war damit auch ein möglicher Konflikt mit direkt betroffenen Kantonen vorprogrammiert. Am Beispiel des für Kaiseraugst vorgesehenen Atomkraftwerks zeigte sich, wie weit der Prozess des Umdenkens gediehen war. Nachdem auf dem vorgesehenen Standort trotz fehlender Baubewil- ligung Aushubarbeiten begonnen hatten, wurde das Baugelände von AKW-Gegnern besetzt. In den darauf folgenden spektakulären elf Wochen

79 K apitel 5 Zwischen Forumsfunktion und eigenem Profil (1975–1981) zwei Ebenen zu führen. Einerseits beschritt er den herkömmlichen Weg mit einem gut vorbereiteten, kontradiktorischen Gespräch zwischen Befürwor- tern und Gegnern der Initiative, bei dem peinlich …und die evangelisch-reformierte genau auf Ausgewogenheit geachtet wurde. Trotz Kirche in Biel des stark emotionalen Klimas verlief das Gespräch der Initiativbefürworter Robert Jungk und Pfarrer Unterschiedliche Haltungen zur Kernenergie Hans Schädelin mit Dr. Gian-Reto Plattner und hatten sich auch innerhalb der evangelisch-refor- Dr. Fritz Seiler von der Gegnerseite sehr geordnet. mierten Kirche in Biel früh bemerkbar gemacht, Andererseits nahm der Arbeitskreis öffentlich ohne als Problem wahrgenommen zu werden. Als S t e l l u n g f ü r d i e I n i t i a t i v e , i n d e m e r e i n e n b e f ü r w o r - etwa das Gesellschaftspolitische Forum m it seiner Ein- tenden Artikel im Sämann publizierte und Inserate ladung zum Pfingstmarsch 1977 eine Denkpause einer Bieler Gruppe kirchlicher AKW-Gegner, die im schweizerischen AKW-Bau unterstützte, wur- ab Ende Januar 1979 in der neuen Gratiszeitung de kein Widerspruch laut. Als wesentlich heikler BIEL BIENNE erschienen, finanziell unterstützte. erwiesen sich Stellungnahmen im Abstimmungs- Der Geschäftsführer und der Leitende Ausschuss k a m p f z u r A t o m s c h u t z i n it i a t i v e , d e r v o r d e m Vo l k s - betonten aber, dass der Arbeitskreis damit nicht entscheid vom 18. Februar 1979 von beiden Seiten beabsichtige, anders denkende Kirchenglieder zu sehr engagiert und mit harten Bandagen geführt verurteilen. wurde. Während die Elektrizitätswirtschaft massiv Der offene Konflikt liess dennoch nicht auf öffentliche Gelder einsetzte, um die Initiative zu sich warten. Der Kirchgemeinderat Bözingen, der bodigen, verwendete der WWF Spendengelder für schon im März 1978 kein Interesse an der Mitarbeit die Propaganda zugunsten der Initiative. in der Arbeitskreis-Kommission gezeigt hatte, in- Der Leitende Ausschuss des Arbeitskreises war tervenierte am 3. Februar 1979 beim Gesamtkirch- sich bewusst, dass es in Bezug auf die Kernenergie gemeinderat gegen die Verwendung kirchlicher um Entscheide mit ausserordentlicher Tragweite Gelder in einem Abstimmungskampf. Darüber hi- ging. Das Volksbegehren schien ihm eine Mög- naus verlangte der Rat, einseitige Stellungnahmen lichkeit zu sein, den überstürzten Ausbau einer zu Abstimmungsvorlagen künftig generell zu un- riskanten und noch nicht ausgereiften Technologie terbinden. In einem weiteren, von Georg Werner zu verhindern, und aus diesem Grund beschloss er unterzeichneten Brief wurde deutlich, dass ein- einstimmig, die Initiative öffentlich zu unterstüt- zen. Die Ansicht der Kommission, dass sie zu einem solchen Schritt auch etwas zu sagen habe, wurde vom Leitenden Ausschuss zwar bestritten, aber die Das Engagement des Arbeitskreises für die Atom- Kommission stimmte schliesslich doch über eine schutzinitiative löste 1979 eine interne Grundsatzde- öffentliche Stellungnahme ab – dabei hielten sich batte aus. befürwortende und ablehnende Stimmen genau die Waage. In dieser Situation lag der Stichentscheid beim Kommissionspräsidenten. Obwohl Werner Marti eine positive Haltung zur Kernenergie ver- trat, verzichtete er auf das entscheidende «Nein». Damit wollte er zeigen, dass er den Initiativbefür- wortern zubilligte, sich in einer Gewissensfrage engagiert zu haben. Dementsprechend signalisier- te die Kommission dem Leitenden Ausschuss ihre Zustimmung zu einer öffentlichen Stellungnahme, jedoch mit der Ermahnung, deren konkrete Form gut zu überlegen. Der Leitende Ausschuss beschloss darauf, seine Arbeit im Hinblick auf die Atomschutzinitiative auf

80 K apitel 5 Zwischen Forumsfunktion und eigenem Profil (1975–1981) Die Frage nach dem politischen Profil des Ar- beitskreises blieb dennoch aktuell. An seiner Sit- zung vom 12. November 1979 forderte der Ge- samtkirchgemeinderat auf Antrag von Pfarrer zelne vom Arbeitskreis mit unterstützte Inserate Roland Berlincourt die Organe des Arbeitskreises besonders provokativ gewirkt hatten: Titel wie Ein auf, ihre Vorstellungen zur Aufgabe und zur Tä- Glaubenskrieg? – Ja! seien mit der vom Arbeitskreis tigkeit des Arbeitskreises in Bezug auf politische bisher gepflegten differenzierten Betrachtungs- Fragen darzulegen. weise nicht vereinbar. Im Hinblick auf diesen Auftrag erörterten die Kommission, der Leitende Ausschuss und der Ge- schäftsleiter ihre Vorstellungen von den Aufgaben Das Ringen um einen Konsens und der inneren Ordnung des Arbeitskreises. Auf der Grundlage seiner im Verlauf des Bildungsur- Am 18. Februar wurde die Atomschutzinitiati- laubs gewonnenen Eindrücke hielt Samuel Maurer ve von 51 Prozent der Stimmenden abgelehnt. Wie fest, der Arbeitskreis sei wie jedes andere kirchliche eine Analyse des Abstimmungsverhaltens ergab, Organ der Verkündigung verpflichtet und müsse waren v iele Nein-St im men auf die irrt ü m liche A n- deshalb die dazu nötige Freiheit beanspruchen. nahme zurückzuführen, ein Nein zur Kernener- Demgegenüber definierten Werner Marti und gie müsse mit einem «Nein» auf dem Stimmzettel weitere Kommissionsmitglieder den Arbeitskreis zum Ausdruck gebracht werden. In Biel wurde die als Institution, die in erster Linie als Forum für die Initiative klar angenommen. verschiedensten Meinungen dienen müsse. Diese Als Kommissionspräsident Werner Marti Ende Forumsfunktion setze aber die Unparteilichkeit März 1979 im Gesamtkirchgemeinderat zu den des Veranstalters voraus, auch wenn die Mitarbei- Reaktionen aus Bözingen Stellung nahm, wies er tenden der Institution sehr wohl Partei ergreifen ausdrücklich auf diese Abstimmungsresultate hin, dürften. In theologisch klar begründbaren Fällen ebenso auf die zahlreichen Briefe, welche die Stel- müsse aber auch der Arbeitskreis öffentlich Partei lungnahme des Arbeitskreises ausdrücklich unter- nehmen dürfen. stützten. Man dürfe dem Arbeitskreis angesichts so Mit der Gegenüberstellung dieser beiden un- unklarer Mehrheiten nicht extreme Einseitigkeit terschiedlichen Vorstellungen begann ein mehr- vorwerfen, auch wenn der Inhalt der Inserate frag- monatiges Ringen um eine Neuformulierung der würdig gewesen sei. Nach der Zustimmung der Arbeitskreis-Ordnung aus dem Jahr 1970. Obwohl Kommission zu einer öffentlichen Stellungnahme sich die Standpunkte im Verlauf der Arbeit annä- habe der Leitende Ausschuss in g utem Glauben ge- herten, verschlechterte sich das Klima zwischen handelt, allerdings sei der schon bei früheren Vor- der Kommission und den übrigen Organen des lagen gefasste Entscheid, keine kirchlichen Gelder Arbeitskreises immer spürbarer. Der leitende Aus- einzusetzen, vergessen gegangen. Die Kommissi- schuss und der Geschäftsleiter befürchteten einen on habe sich denn auch von der Finanzierung der Verlust an Freiraum, der die Weiterführung der Inserate distanziert und werde demnächst mit dem Arbeit in Frage stellte, und interpretierten mehre- Leitenden Ausschuss und der Geschäftsleitung die re im neuen Statut vorgesehene organisatorische Formen der Zusammenarbeit neu überdenken. Neuerungen als Ausdruck eines in der Kommis- Die Forderung aus Bözingen nach einem gene- sion vorherrschenden Misstrauens. Die Kommis- rellen Verzicht auf Abstimmungsempfehlungen sion ihrerseits reagierte mit Betroffenheit auf das könne aber keinesfalls gebilligt werden – die Kir- mangelnde Vertrauen in die gemeinsam erarbei- che müsse für spezifisch christliche Anliegen ein- tete Ordnung, und Werner Marti trat wegen des stehen können, und eine entsprechende Weisung verlorenen gegangenen gegenseitigen Vertrauens würde die kirchliche Mitarbeit für engagierte am 14. Mai 1980 als Kommissionspräsident zu- Frauen und Männer unattraktiv machen. Auf diese rück. Paradoxerweise hatten gerade die gegensei- Ausführungen hin verzichtete der Gesamtkirch- tige Verbundenheit und Freundschaft der meisten gemeinderat vorerst auf eine Weisung in Bezug auf Beteiligten und ihr grosses Engagement zu dieser Abstimmungsempfehlungen. bedauerlichen Entwicklung beigetragen.

81 K apitel 5 Zwischen Forumsfunktion und eigenem Profil (1975–1981) «Holocaust» – mehr als das Wort des Jahres 1979

Etwa vierzig Jahre nach dem Massenmord am Das Statut vom 24. März 1980 jüdischen Volk berührte die amerikanische Fern- und die Angriffe auf den Arbeitskreis sehserie Holocaust in den USA und in Westeuropa Millionen von Fernsehzuschauern. Zum ersten Mal Der Inhalt des vom Gesamtkirchgemeinderat seit der Veröffentlichung des Tagebuchs von Anne einstimmig angenommenen neuen Statuts ent- Frank nahm eine Mehrheit der Nachkriegsgene- sprach weitgehend demjenigen aus dem Jahr 1970. ration auch gefühlsmässig an der unermesslichen Der Arbeitskreis berief sich auch weiterhin auf Tragödie Anteil, die heute als grösste Katastrophe Artikel zwei der Bernischen Kirchenverfassung, der Moderne gilt und in Zukunft als Mahnmal ge- der die Bekämpfung jeden Unrechts und jeder gen A ntisemitismus und Rassenhass dasteht. leiblichen und geistigen Not und derer Ursachen Im Umfeld dieser breiten Sensibilisierung verlangte. Einige Änderungen zeigten aber deut- nahm der Arbeitskreis die Gelegenheit wahr, auch lich, aus welchem Anlass eine Neufassung erfolgt die Rolle der Schweiz in jenen dunklen Jahren zu war. Über öffentliche Stellungnahmen entschied erörtern. In Zusammenarbeit mit der Christlich- fortan die Kommission des Arbeitskreises, über jüdischen Arbeitsgemeinschaft (CJA) organisierte er die Inanspr uchnahme ausserk irchlicher M ittel zur am 19. Mai 1979 ein Podiumsgespräch zur Flücht- Verbreitung einer solchen Stellungnahme musste lingspolitik der Schweiz während des Zweiten gar der Gesamtkirchgemeinderat entscheiden. Weltkrieges und zur Fortdauer des Antisemitis- Mit der Wahl von Johannes Flück zum neu- mus. An diesem gut besuchten Anlass betonte der en Präsidenten der Arbeitskreis-Kommission im Publizist Alfred A. Häsler, dass in der Schweizer November 1980 signalisierte der Gesamtkirch- Asylpolitik schon vor dem Zweiten Weltkrieg anti- gemeinderat dem Arbeitskreis, dass er ihm auch semitische Züge erkennbar gewesen seien. Bis zum in Zukunft einen gewissen Freiraum zubilligen Jahr 1942 seien zwar tausende von Flüchtlingen wollte. aufgenommen worden – mit dem nicht wahrheits- Zu einem direkten Angriff auf den Arbeitskreis gemässen Hinweis auf das «volle Boot» habe man kam es an der Versammlung der evangelisch- aber in entscheidenden Phasen der «Endlösung» reformierten Gesamtkirchgemeinde Biel vom 1. die Grenzen geschlossen, und zwar im vollen Wis- Dezember 1980. In Bezug auf den kleinen Auf- sen über die Konsequenzen dieser Politik. Es habe wandüberschuss von 43 699 Franken (0,7 Prozent erhebliche Proteste und die Intervention von Ger- des Aufwands) meldete sich eine starke Oppositi- trud Kurz gebraucht, um vorübergehend doch eine on: «Im Interesse eines ausgeglichenen Budgets» gewisse Öffnung zu erwirken. wurden Bedenken gegen den «grossen Aufwand Zum Antisemitismus der Nachkriegszeit er- bei einzelnen Diensten der Kirche» geäussert, be- klärte CJA-Präsident Kühner, die rechtsextreme sonders beim Arbeitskreis. Ein Antrag, das Defizit Szene habe auf die Ausstrahlung von Holocaust re- vollumfänglich durch entsprechende Ausgaben- agiert, in Zürich sogar mit einem Anschlag auf die kürzung beim Arbeitskreis vorzunehmen, wurde Synagoge. Das Fortleben von Ausdrücken wie «ge- zwar deutlich abgelehnt, aber angesichts der auf- stampfter Jude» für Armee-Büchsenfleisch sei nur getretenen Spannungen schloss Pfarrer Reinhard ein Zeichen des latenten A ntisemitismus. Schliess- Lanz die Versammlung mit gut durchdachten, ver- lich setzte Kühner den aktuellen Antizionismus mittelnden Schlussworten, die zu einem besseren der PLO und der mit ihr sympathisierenden Or- gegenseitigen Verständnis in Bezug auf den Auf- ganisationen mit Antisemitismus gleich, weil bei- trag der K irche beitrugen. de Haltungen in der Ablehnung des Staates Israel übereinstimmten. Dass die Schweiz mit der PLO Kontakte aufgenommen habe, wertete Kühner aus dieser Perspektive als sehr beunruhigend.

82 K apitel 5 Zwischen Forumsfunktion und eigenem Profil (1975–1981) das Verständnis der jüdischen Gemeinde für das ausnahmsweise ziemlich einseitig besetzte Podi- um. Die Atmosphäre war sehr gespannt – am 25. September ging kurz vor dem Podium eine tele- Auch im Genesungsurlaub mitten in der fonische Bombendrohung ein. Trotzdem war der Auseinandersetzung A nlass g ut besucht, u nd u nter den 120 Zu hörenden befanden sich auch mehrere Mitglieder der Arbeits - Im Mai 1979 wurde Samuel Maurer bei einem gemeinschaft, die den Verlauf des palästinensisch- durch einen anderen Strassenbenützer verursach- jüdischen Gesprächs aufmerksam mitverfolgten. ten Unfall erheblich verletzt. Die Erholung verlief Einige unter ihnen waren trotz aller Ablehnung nur sehr langsam, und kurz vor den Sommerferien der PLO als Terrororganisation beeindruckt, wie musste ein Stellvertreter gesucht werden, der dank zwischen Abileah und Barakat ein echtes Gespräch dem raschen Handeln von Werner Marti in der in Gang kam. Auch im zweiten Teil, als Fragen Person von Jürg Seefeld auch gefunden wurde. aus dem Publikum beantwortet wurden, konnten Dank einer bereits in Grundzügen geleisteten sehr heikle Themen wie die Charta der PLO oder Planung konnte sich Jürg Seefeld rasch einarbei- der Terror sachlich besprochen werden. In seinem ten und ein brisantes Thema angehen, das auch spontanen Schlusswort sagte Peter Braunschweig: dem Stelleninhaber sehr am Herzen lag. Um das «Ich glaube, es ist heute Abend deutlich geworden, Schlüsselproblem des Nahostkonflikts aus einer welche Spannung, welche Dynamik und welche neuen Perspektive zu erörtern, hatte Samuel Mau- Detailarbeit zu leisten ist, wenn es darum geht, rer einen Informationsabend angeregt, an dem ein echt für beide da zu sein. […] Ich habe den Ein- Vertreter der Palästinenser seinen Standpunkt druck, dass im Gespräch dieses Abends etwas da- erläutern sollte. Für diese Aufgabe kam auch ein von passiert ist. Wenn Sie es auch so gespürt haben, PLO-Vertreter in Frage. Seit Arafat 1974 erklärt hat der Abend seinen Zweck erreicht.» hatte, dass ein binationaler Staat den israelisch- Die positive Ausstrahlung dieses Podiumsge- palästinensischen Konflikt lösen könnte, wurde sprächs zeigte sich in seiner landesweiten Beach- auch die PLO nach und nach als Gesprächspartner tung: Im November wurden Teile davon von Radio anerkannt, und 1978 kam es zu ersten Gesprächen DRS 1 ausgestrahlt, und der Z-Verlag nahm das von PLO-Vertretern mit der linkszionistischen Gespräch Abileah – Barakat in seine Publikati- Mapam-Partei. on Nahost – einander leben lassen auf, die 1981 er- Douad Barakat von der Genfer Vertretung der schien. PLO erklärte sich bereit, an einem Podium in Biel teilzunehmen, ebenso der Israeli Joseph Abileah, der als Lösung des Konflikts die Schaffung einer Föderation dreier Staaten empfahl – ein aus den besetzten Gebieten entstehendes Palästina sollte eng mit Israel und Jordanien zusammenarbei- ten. Abileah vertrat mit dieser Position eine Strö- mung der in Israel allerdings nur schwach veran- kerten Friedensbewegung. Um das auch in dieser Zusammensetzung ungewöhnliche Gespräch zu fördern, sicherte sich die Kommission in Peter Braunschweig einen erfahrenen und sachkundigen Gesprächsleiter. Als weitere Podiumsteilnehmer stellten sich Karl Gerber von der Gesellschaft Schweiz-Palästina und der Tages-Anzeiger-Re- daktor Hugo Wild zur Verfügung. Als Vorstandsmitglied der Christlich-jüdischen Arbeitsgemeinschaft wurde Samuel Maurer auch in seinem Erholungsurlaub aktiv. In einem Brief an den Vorstand der CJA bemühte er sich brieflich um

83 K apitel 5 Zwischen Forumsfunktion und eigenem Profil (1975–1981) «Wer sich für die Rechte des palästinensischen Volkes auf Identität, auf eigenes Land und einen selbständigen Staat einsetzt, solidarisiert sich mit ihm. Er setzt sich dadurch gleichzeitig in Opposi- Die Kontroverse mit der tion zur bisherigen israelischen Friedens- und Si- Christlich-jüdischen Arbeitsgemein- cherheitspolitik. Er ist aber überzeugt, dass er da- schaft mit etwas vertritt, was letztlich auch im Interesse Israels liegt. Seine Solidarität mit dem palästinen- Für die Mehrheit im Vorstand der Christlich- sischen Volk ist zwar parteilich, schliesst aber eine jüdischen Arbeitsgemeinschaft bedeutete aber auch solidarische Haltung zu Israel mit ein. Es ist mehr ein ausnahmsweise einseitig besetztes Nahost-Po- als ein Sowohl – als auch: Das eine bedingt das an- dium eine Provokation. In einem Brief an den Ge- dere, das eine ist ohne das andere nicht denkbar. samtkirchgemeinderat protestierte der Vorstand Ich habe mich zwar in diesem Fall mit bestimmten gegen den Anlass und stellte die Möglichkeit, echt Interessen solidarisiert, aber ich habe dabei das für beide Seiten des Konflikts da zu sein, überhaupt Interesse des Ganzen im Auge und handle damit in Frage. Innerhalb der Arbeitsgemeinschaft wur- letztlich im Interesse beider beteiligter Partner.» den zudem Stimmen laut, die eine Gesprächsbe- In der Folge lud der Arbeitskreis die Christlich- reitschaft mit PLO-Vertretern als unvereinbar mit jüdische Arbeitsgemeinschaft zu mehreren Anlässen einer Tätigkeit in der CJA bezeichneten. Aus die- ein, die diesen Standpunkt an konkreten Beispielen sem Grund setzte Samuel Maurer seine Tätigkeit erläuterten. 1980 und 1981 kommentierten Vertre- für die CJA aus. ter der israelischen Friedensbewegung die weiteren Schon im Jahresbericht 1977 hatte Maurer sein Ereignisse im Nahen Osten, wo sich der Kon- Engagement, für beide Seiten da zu sein, erläutert: flikt wegen der unvorsichtigen Politik Menachem Begins weiter zuspitzte. Während Begins Politik weltweit befremdete und selbst beim Jüdischen Weltkongress auf heftige Kritik stiess, nahm die CJA Biel Kritik an der israelischen Regierung auch Das Gespräch zwischen dem Israeli Joseph Abileah und weiterhin als Bedrohung des Judentums wahr. dem PLO-Vertreter Daoud Barakat wurde 1979 in der In einem weiteren Brief an den Gesamtkirchge- ganzen Schweiz beachtet. meinderat erklärte die Gruppe, das Vorgehen des Arbeitskreises habe das Verhältnis zwischen den reformierten Kirchgemeinden und der jüdischen Gemeinde schwer belastet. Im Januar 1982 wurde das Schreiben der CJA im Auftrag des Gesamtkirchgemeinderats durch die Kommission des Arbeitskreises beantwortet. Die Kommission betonte, dass die Sympathie des Arbeitskreises für das jüdische Volk in zahlreichen Anlässen Ausdruck gefunden habe – es sei aber mit christlichem Verantwortungssinn unvereinbar, die Argumente der palästinensisch-arabischen Gegenseite einfach zu negieren. Der Arbeitskreis hoffe, dass die CJA für diese Haltung Verständnis auf bringe, u nd er sei an einer weiteren Zusammen- arbeit sehr interessiert. Die Kontroverse mit der Christlich-jüdischen Arbeitsgemeinschaft Biel löste somit keinen Folge- konflikt innerhalb der evangelisch-reformierten Kirchgemeinde aus. Trotzdem nahm Alfred Bür- gi die Häufung von konfliktuellen Themen zum Anlass, sich im Jahresbericht 1979 grundsätzliche

84 K apitel 5 Zwischen Forumsfunktion und eigenem Profil (1975–1981) zwischen Intellektuellen und Geistlichen offen zu halten. Die beiden weiteren Anlässe vermittelten vor allem kulturelle Aspekte – am 2. Juni referierte die Schriftstellerin Helen Kaiser über den isla- Überlegungen zur Konfliktkultur zu machen: mischen Alltag, und am 16. Juni berichtete Prof. «Einen Konflikt austragen wird darin bestehen, Dr. Christoph Bürgel über islamische Elemente in dass die beiden Parteien gerade im Ringen um eine der europäischen Kultur. Austragung und Lösung des Konflikts beieinan- Im Anschluss an diesen Zyklus organisierte der der bleiben. Dies steckt wohl auch im lateinischen Arbeitskreis im Februar 1981 unter der Leitung von Wort ‹confligere› = ‹zusammenstossen, kämpfen›. Pfarrer Reinhard Lanz ein Islam-Seminar, an dem Wenn man nicht beieinander bleibt, wird ein Part- auch der Soziologe Dr. Farhad Afshar teilnahm. In ner niedergeschlagen, besiegt, verwendet man das einem Brief ermahnten die Teilnehmerinnen und lateinische Wort ‹affligere›, das nicht umsonst Teilnehmer des Seminars die Redaktion des Bieler auch die Bedeutung ‹tief betrüben› hat.» Tagblatt, differenzierter über die Vorgänge im Iran zu berichten – Ayatollah Chomeini als «Wirrkopf » darzustellen, sei der Analyse wenig dienlich, und Eine vertiefte Auseinandersetzung bei der Berichterstattung über Menschenrechts- mit dem Islam verletzungen sei auch an die Grausamkeit des Schah-Regimes zu erinnern. Ende der Siebzigerjahre trat der politische Is- lam auf spektakuläre Weise auf die weltpolitische Bühne. Im Iran war die sozial unausgewogene, Das Schicksal der Zurückgekehrten von den USA geförderte «weisse Revolution» des Schahs Reza Pahlewi gescheitert, und die Pro- In Jürg Seefelds Tätigkeit als stellvertretender testbewegung der armen Massen brachte eine Geschäftsleiter bildete die Vorbereitung und besonders konservative Strömung islamischer Durchführung einer Studienreise nach Sizilien Geistlicher an die Macht. Die neuen Machthaber einen Schwerpunkt. Ab August 1979 machte sich um Ayatollah Chomeini errichteten im April 1979 die 27-köpfige Reisegruppe an fünf Abenden mit einen «Gottesstaat», und revolutionäre Studenten der Geschichte und den aktuellen Problemen der provozierten ab dem 4. November 1979 eine akute Insel bekannt. Die beiden ersten Oktoberwochen weltpolitische Krise, indem sie die US-Botschaft boten dann direkten Anschauungsunterricht. Mit besetzten und 70 Botschaftsangehörige als Gei- Unterstützung von Kathrin Bürgi, einer in Paler- seln nahmen. Überrascht nahm die Öffentlichkeit mo arbeitenden Bielerin, besuchte die Reisegruppe in den modernen westlichen Gesellschaften zur zahlreiche soziale Institutionen und Forschungs- Kenntnis, mit welcher Radikalität diese Strömung zentren. Vor allem die Begegnungen im Centro des Islams die Grundlagen einer offenen, plurali- E m i g ra z i o n e S i c i l i a n a i n E u r o p a b e e i n d r u c k t e n v i e l e stischen Gesellschaft ablehnte. Reiseteilnehmer – sie machten klar, wie schwierig In diesem Zusammenhang beschloss der Ar- der Versuch der aus Nordeuropa Zurückgekehrten beitskreis, die Auseinandersetzung mit dem Islam war, in der alten Heimat wieder heimisch zu wer- durch einen Zyklus zu fördern. Erste Erfahrungen den. Besonders deutlich zeigte sich die Entwur- mit interreligiösem Dialog hatte der Arbeitskreis zelung der im Ausland aufgewachsenen Kinder, schon 1976 gemacht – damals hatte Pfarrer Rein- die sich auf Sizilien erst recht heimatlos fühlten. hard Lanz an einem islamisch-christlichen Dialog In Riesi besuchte die Reisegruppe ein Projekt der im libyschen Tripolis teilgenommen und am 22. Waldenser Kirche, nämlich eine landwirtschaft- März 1976 über seine Eindrücke berichtet. Der liche Genossenschaft, die Jugendlichen aus Emi- Vortrag des Nahost-Experten Dr. Arnold Hottin- grantenfamilien eine Berufs- und Zukunftsper- ger vom 9. Juni 1980 bot einen sehr guten Einblick spektive eröffnete. in die aktuellen Vorgänge. Hottinger hoffte, dass Nach der Sizilienreise organisierte der Arbeits- sich die Vertreter eines an der Moderne orien- kreis einen Abend mit dem Leiter des Waldenser- tierten Islams langfristig durchsetzten, und plä- Projekts in Riesi, Pfarrer Georges Paschoud. dierte dafür, den Raum für eine Zusammenarbeit Dieser zeigte die konkreten Fortschritte der Ge-

85 K apitel 5 Zwischen Forumsfunktion und eigenem Profil (1975–1981)

nossenschaft in Riesi auf, legte das Gewicht seines Referates aber auf die weiterhin rückständigen so- z i a le n Ve r h ä lt n i s s e au f Si z i l ie n , d ie au c h i n Z u k u n f t viele Sizilianer/innen in die Emigration trieben. Mit einem Film- und Gesprächsabend zum Werk Lo stagionale des Bielers A lvaro Bizzarri erör- terte der Arbeitskreis im März 1981 auch die pre- kären Lebensbedingungen der Saisonniers in Biel. Der Abend stand im Zusammenhang mit der be- vorstehenden Abstimmung zur Mitenand-Initiati- ve, die eine Abschaff ung des Saisonnierstatuts ver- langte. Mit einer Zusammenstellung kirchlicher Stellungnahmen gegen das Saisonnierstatut warb der Leitende Ausschuss auf zurückhaltende Weise auch im Sämann für die A nnahme der Initiative.

O Herr – wie lange noch?

Im Juni 1980 brachte ein aktuelles Thema der Weltpolitik den Arbeitskreis erneut dazu, unmiss- verständlich Stellung zu nehmen. Ein Aufruf des Friedensnobelpreisträgers und südafrikanischen Bürgerrechtlers Albert Luthuli zum Boykott süd- Der Auftritt von Abdullah Ibrahim (Dollar Brand) im afrikanischer Produkte fand weltweit Echo, und Farelsaal vom 21. Juni 1981 wurde zum grossen Höhe- in Biel beschloss eine Gruppe engagierter Konsu- punkt der Südafrika-Boykottwoche. mentinnen, zum Boykott der aus Südafrika impor- tierten Äpfel der Marke Granny Smith aufzurufen. Durch direkte Kontakte mit Vertretern südafri- kanischer Kirchen gelangte auch der Arbeitskreis zur Überzeugung, dass eine Boykottaktion als symbolische Handlung sinnvoll sei, und schloss sich diesem Aufruf an. Ausserdem organisierte er im Rahmen der Boykottwoche einen Auftritt der südafrikanischen Tanzgruppe Sounds of Soweto, der für einen bis auf den letzten Platz gefüllten Fa- relsaal sorgte. Mit einem Gottesdienst unter dem Titel O Herr, wie lange noch? zeigte der Arbeitskreis auf, wie unmittelbar sein Engagement sich aus dem Evangelium ergab. Die Boykottwoche für südafrikanische Pro- du k te w u rde auch im folgenden Jah r du rchgef ü h r t. Diesmal unterstützte der Arbeitskreis die Aktion mit einem Konzert des weltbekannten südafri- kanischen Musikers Abdullah Ibrahim (Dollar Brand).

86 K apitel 5 Zwischen Forumsfunktion und eigenem Profil (1975–1981) diesem Beginn einer pluralistischen Entwicklung ein vorläufiges Ende. Kurz vor der Militäraktion Jaruzelskis wirkte der Arbeitskreis an einer Veranstaltung zugunsten Gespräche mit der Gossner-Mission der der unabhängigen Gewerkschaft mit: Gemeinsam DDR – und Solidarität mit Solidarnosc mit SP, PSR und SAP organisierte er auf den 4. Dezember 1981 einen Informations- und Diskus- M it Ch r ist i n nen u nd Ch r isten aus der DDR war sionsabend mit Vertreterinnen der Solidarnosc aus der Arbeitskreis wiederholt in Kontakt getreten. Gdansk, Oberschlesien und Warschau. Im Zusammenhang mit der sich abzeichnenden neuen Runde im Wettrüsten schien es ihm wichtig, die Friedensarbeit auch durch direkte Kontakte Begegnungen mit Kunst, Kult und Kultur über den «Eisernen Vorhang» hinweg zu verstär- zu Sterben und Tod ken – konkret ging es ihm um Begegnungen mit Vertretern der Gossner-Mission der DDR. Ähn- Im Hinblick auf die Schweizerische Plastik-Aus- lich wie dem Arbeitskreis war es auch der Goss- stellung (SPA) 1980 in Biel hatte der Schriftsteller ner-Mission ein Anliegen, sich in den Dienst der Jörg Steiner 1979 einen Schwerpunkt zum Thema modernen, städtischen Gesellschaft zu stellen und Friedhöfe/ Grabsteine vorgeschlagen. Das Aktions- das Bewusstsein für soziale Ungerechtigkeiten zu komitee der SPA nahm diese Anregung auf, und schärfen. Im Zentrum der Kritik stand dabei die der Arbeitskreis erklärte seine Bereitschaft, bei der Not in den armen Ländern des Südens – zur DDR Gestaltung eines Programms um diese Thematik als Staat ging die Gossner-Mission nicht grund- mitzuwirken. Dabei ging es auch darum, breite sätzlich auf Distanz. Trotz weltanschaulichen Un- Kreise der Bieler Bevölkerung zu einer Auseinan- terschieden hatte es schon in den Sechzigerjahren dersetzung mit dem Tod einzuladen. Kontakte zwischen Theologen aus der Schweiz Am Wochenende des 14./15. Juni 1980 lud der und der Mission gegeben. An Seminaren in Ost- Arbeitskreis in Zusammenarbeit mit der Litera- berlin hatten Max Geiger, Kurt Lüthi und Hans rischen Gesellschaft zu einer vielseitigen Veranstal- Ruh zu Themen wie Die Theologie von Karl Barth tungsreihe rund um die Plastikausstellung ein. und Dietrich Bonhoeffer oder Theologische Grundle- Eröffnet wurde das Programm im Farelsaal mit gung der Sozialethik gesprochen. Kurzfilmen, die unterschiedliche, of t bedr ückende 1981 weilte Pfarrer Bruno Schottstädt, langjäh- Zugänge zum Thema eröffneten. Den folgenden riger Leiter der Gossner-Mission in der DDR, auf Anlass unter dem Titel Die Lebenden und die Toten Einladung der Berner Kirche ein halbes Jahr in der eröffneten Maja Beutler, Hermann Burger, Kurt Schweiz. Im Verlauf eines mehrtägigen Besuchs in Marti, Gerhard Meier und Jörg Steiner mit Le- Biel regte der Gast an, eine Tagung zur Friedens- sungen, bevor ein Podiumsgespräch und Gruppen- arbeit durchzuführen. Der Arbeitskreis übernahm gespräche einen regen Meinungsaustausch ermög- die Organisation der Tagung, die am 23. Oktober lichten. Nach dem Gottesdienst Lasst die Toten ihre in Biel stattfand. Vor über dreissig interessier- Toten begraben von Pfarrer Hans Schädelin stand ten Teilnehmerinnen und Teilnehmern erklärte am Sonntagabend erneut das Gespräch im Zen- Schottstädt die Friedensarbeit der Gossner-Missi- trum. Unter der Leitung von Radioredaktor Hans on und rief dazu auf, die gegenseitigen Kontakte in Rudolf Lehmann diskutierten Theologen und Zukunft zu verstärken. Geistliche mit einem Philosophen, einem Fried- Eine ganz andere Art der Solidarität war in Be- hofverwalter, einem Bestattungsunternehmer, zug auf die Situation in Polen gefragt. 1980 hatte einer Bildhauerin und einem Bildhauer über Fried- dort ein bedeutender Teil der Arbeiterklasse das höfe als Gedächtnisstätten der Toten. Schliesslich Recht auf eine vom Staat unabhängige Gewerk- zeigte Beat Kuerts Film Schilten, welche Kraft von schaft erstritten – am 10. November 1980 wurde einem Friedhof ausgehen konnte. die Gewerkschaft Solidarnosc vom polnischen Staat offiziell anerkannt. Etwas mehr als ein Jahr später, am 13. Dezember 1981, setzte die Ausru- fung des Kriegsrechts durch General Jaruzelski

87 K apitel 5 Zwischen Forumsfunktion und eigenem Profil (1975–1981) Basisgemeinde zu einem einfachen Essen, um sich anschliessend in Meditat ion u nd Disk ussion einem für die Gruppe wichtigen Thema zu widmen. Der Schwerpunkt bei dieser Gruppe lag in der gegen- Alternativen als Experimente seitigen Vertrauensbildung und Öffnung; das bei der Hoffnung den lateinamerikanischen Gemeinden übliche En- gagement gegen Aussen wurde eher ausserhalb der Schon im Jahresbericht 1976 hatte Pfarrer Gruppe gelebt. Reinhard Lanz erwähnt, dass die Arbeitsgrup- Die Gruppe Alternativkatalog erkundete die pe kirchliche Schulung sich mit dem Thema Alter- Region Biel-Seeland nach alternativen Experimen- nativen auseinandersetzen werde – das gesamt- ten, Projekten und Institutionen. Als «alternativ» schweizerische AKS-Thema Verzicht sollte unter verstand die Gruppe Versuche, etwas für die Ver- der Bezeichnung «Alternativen» eine positivere, besserung der Lebensqualität, für den Schutz der attraktivere Gestalt annehmen. Auch der Theo- Umwelt und für den sozialen Ausgleich zu unter- loge Lukas Vischer, Mitinitiant der Ökumenischen nehmen. Auch Selbstverwaltung, ganzheitliche Le- Arbeitsgemeinschaft Kirche und Umwelt, hatte am bensgestaltung und Selbstverwirklichung waren für Magglinger Forum Welche Schweiz morgen? vom die Gruppe Kriterien, um eine Einrichtung als alter- Oktober 1976 die Bedeutung alternativer Ent- nativ zu verstehen. Ziel dieser Erkundungen war die würfe betont: «Die Diskussion über einen neuen Herausgabe eines Kataloges, der die Inseln der Utopie Lebensstil ist gerade darum so ungeheuer verheis- unserer Region zu Wort kommen lassen sollte. Die sungsvoll, weil sie quer durch die ideologischen dritte Arbeitsgruppe hatte zum Ziel, ein gerade in Positionen neue Perspektiven eröffnet. Die Kirche Biel immer brennenderes Thema anzugehen: könnte einen wichtigen Beitrag liefern, indem sie einen Freiraum der Diskussion anbietet und da- durch die unvoreingenommene Auseinanderset- Drogen in Biel zung ermöglicht.» In der Wahl des Jahresthemas 1981 liess sich der Arbeitskreis ausserdem von der Das Schicksal der heranwachsenden Berliner Weltmissionskonferenz in Melbourne inspirieren, Fixerin Christiane F. bewegte gegen Ende der die ein Jahr zuvor das Reich Gottes als Alternative Siebzigerjahre hunderttausende – ihr autobio- zum Bestehenden interpret iert hatte: als Bef reiung graphischer Bericht Wir Kinder vom Bahnhof Zoo aus Bindung und Ausgeliefertsein an Sachzwänge, erlebte innert drei Jahren zwanzig Neuauflagen. als Ermutigung zu Experimenten der Hoffnung, Beunruhigt stellte die seit Jahren an verbreiteten ja, als Zeichen der G ot tesherrschaf t als einer Herr- Drogenkonsum gewöhnte Öffentlichkeit fest, wie schaft des Lebens. tief das Einstiegsalter in den Drogenkonsum gefal- Der Leitende Ausschuss liess sich nicht nur um- len war und wie sehr harte Drogen die Persönlich- fassend auf alternative Inhalte ein, er ging auch keit heranwachsender Menschen zerstörten. Auf daran, alternative Arbeitsformen auszuprobieren. viele junge Menschen wirkte Christiane F.´s Bericht Der personell stark erneuerte Ausschuss traf sich über das intensive, riskante Leben im Drogenmi- an Wochenenden und zu Abendessen, um das ge- lieu aber wie eine Werbekampagne für Heroin. genseitige zwischenmenschliche Verständnis zu Die Zunahme des Konsums harter Drogen im fördern, und dies begünstigte die gemeinsame Ar- Jugendalter beschäftigte auch die Schweizer Öf- beit, die in drei Untergruppen zum Thema Alter- fentlichkeit. In vielen Schweizer Städten war die nativen geleistet wurde: Junkie-Szene nach einer anscheinend gezielt ge- Die zehn Mitglieder umfassende Gruppe Ba- planten Verknappung des Haschisch-Angebots sisgemeinde versuchte, das Modell der lateina- sprunghaft angewachsen. 1980 zählte die Schweiz merikanischen Basisgemeinden auf hiesige Ver- 107 Drogentote – gemessen an der Bevölkerungs- hältnisse anzupassen. Dabei konnte sie auf die zahl bedeutete dies einen traurigen Europarekord. Erfahrungen des katholischen Laientheologen Zu diesem Rekord trugen auch bedenkliche José Amrein zählen, der während vier Jahren die Zahlen aus Biel bei: Mit etwa 600 Heroinsüchtigen Realität kolumbianischer Basisgemeinden erlebt beherbergte Biel mehr als die Hälfte aller Junkies hatte. Alle zwei Wochen traf sich die neue Bieler im Kanton Bern, und 1977 bis 1980 waren zwan-

88 K apitel 5 Zwischen Forumsfunktion und eigenem Profil (1975–1981) Als einzigen Grossanlass plante die Gruppe einen Gesprächsabend unter dem Titel Drogen in Biel, der am 24. November 1981 über dreihundert Interessierte in den Farelsaal lockte. Ebenso viel- zig Drogentote zu beklagen. An Treffpunkten der fältig wie die Zusammensetzung des Publikums Drogenszene wie dem Pickwick oder der Burg wur- waren denn auch die Fragen, welche die sechsköp- den immer jüngere Einsteiger/innen angetroffen. fige Expertengruppe auf dem Podium zu beant- Mit einem Gesprächsabend zum Film Klei- worten hatte. Manche, die Patentrezepte erwartet ne frieren auch im Sommer hatte der Arbeitskreis hatten, mussten enttäuscht werden. Aber immer- schon 1977 auf die Problematik des Drogenkon- hin nahmen viele Gedankenanstösse mit auf den sums aufmerksam gemacht. Die Zuspitzung der Rück weg, et wa die Empfehlu ng des Erziehu ngsbe- Lage betrachtete er mit Sorge. Die zum Rahmen- raters Rolf von Felten und der Katechetin Beatri- thema Alternativen e nt s t a nd e ne D r o g e n g r u p p e b e - ce Möri, in der Familie ein Klima zu schaffen, in schloss, für die aufmerksam gewordene, aber auch dem Gespräche über den Sinn des Lebens geführt verunsicherte Bieler Öffentlichkeit einen Beitrag werden könnten. Oder die gesellschaftskritischen zur Klärung zu leisten und sinnvolle Massnahmen Bemerkungen des Drop-In-Mitarbeiters Renato zu erörtern. Im Verlauf ihrer Arbeit konnte die Maurer und des Journalisten Stefan Thomi, wel- Gruppe mehrmals auf die kompetente Beratung che die Kriminalisierung der Drogenabhängigen von Pfarrer Paul Berger zurückgreifen, der das in Frage stellten und darauf hinwiesen, dass harte Amt für Drogenfragen der Berner evangelisch- Drogen einen Ersatz für Bedürfnisse böten, die in reformierten Kirche leitete. der Gesellschaft nur noch schwer zu befriedigen Im Herbst 1980 konsultierte die Drogengruppe seien. Gerade mit der breiten Streuung der The- neu n Personen, d ie i n ih rem A llt ag als Ju r isten, So- men und der heterogenen Expertengruppe hatte zialarbeiter, Jugendarbeiter oder Drogenfachleute der Arbeitskreis sein Ziel erreicht, das Gespräch regelmässig mit dem Problem konfrontiert waren. zu einer brennenden Gegenwartsfrage in ganz ver- In ausführlichen Gesprächen wurde die aktuelle schiedenen Gruppen zu fördern. Situation in Biel analysiert, um daraus Empfeh- lungen für wirksame Massnahmen abzuleiten. Als Aufgaben für die Kirche wurden vor allem Gewinnt alternatives Denken die Drogenprävention, die Drogenberatung und die Oberhand? der Ausbau der Gassenarbeit genannt. Die Stadt selbst nahm ihre Verantwortung wahr, indem sie Ende der Siebziger jah re suchten v iele meist ju n- eine Städtische Drogengruppe Biel ins Leben rief, ge Menschen die Möglichkeit, wenigstens im eige- in der auch die Drogengruppe des Arbeitskreises nen Wirkungskreis einen alternativen Lebensstil mitmachte. Ausserdem beauftragte die Fürsorge- zu verwirklichen – in diesem Zusammenhang ent- direktion den Journalisten Stefan Thomi mit der standen zahlreiche selbst verwaltete Betriebe, von Abfassung eines ausführlichen Berichts über das denen der Limmat Verlag 1979 eine Auswahl unter Drogenproblem in Biel. Auf der Grundlage dieses dem Titel Inseln der Zukunft? vorstellte. Die Viel- Berichts erarbeitete Thomi im Auftrag des Stadt- zahl an Alternativbetrieben war aber nur eine Seite rates eine Broschüre, die im Juni 1982 in alle Bieler der Entwicklung. Mit dem Gottlieb-Duttweiler-In- Haushaltungen verschickt wurde. stitut (GDI) wa r im Macht zent r u m der M ig ros ei ne Die Drogengruppe des Arbeitskreises beschloss europaweit einzigartige Denkfabrik für ökologisch 1981, auf verschiedenen Ebenen Informationen zukunftsweisende Ideen entstanden. Mit Manage- und Gespräche zum Drogenproblem anzubieten. ment-Seminaren versuchte GDI-Leiter Hans A. Parallel zur Vorführung des schwedischen Doku- Pestalozzi, auch «von innen» zu einem Umdenken mentarfilms Ein anständiges Leben führten Beatri- in hohen Wirtschaftskreisen beizutragen. ce Möri und andere Gruppenmitglieder mehrere Als die Migros-Geschäftsleitung den zuneh- Gespräche zu dem im Film gezeigten Drogenelend mend unbequemer gewordenen Pestalozzi 1979 an, ausserdem waren sie im Farelhaus präsent, um fristlos entliess, provozierte sie ein Experiment, besorgte und betroffene Eltern anzuhören und zu das sie nicht vorausgesehen hatte: Unter der Be- beraten. zeichnung M-Frühling gelangte im Dezember

89 K apitel 5 Zwischen Forumsfunktion und eigenem Profil (1975–1981) Samuel Maurers Rücktritt

Bereits 1980 hatte Samuel Maurer erklärt, er wolle sich auf Ende des Jahres 1981 frühzeitig pen- 1979 ein Verein kritischer Migros-Genossen- sionieren lassen. Es ging ihm dabei nicht darum, schafter/innen an die Presse, um auf Juni 1980 ihre in einen vorzeitigen Ruhestand zu treten – im Ge- Teilnahme an offenen Migros-Wahlen bekannt genteil: Nach seiner Wahl zum Präsidenten des zu geben. Neben Hans A. Pestalozzi zählten sich Christlichen Friedensdienstes (CFD) wollte er noch viele grün-alternative Persönlichkeiten zum M- radikaler konkretisieren, was immer deutlicher Frühling, darunter auch FdP-Grossrätin Ursula sein Credo geworden war, nämlich den Versuch, Brunner. In der genossenschaftlichen Struktur die «prophetische Funktion» des Christseins und des orangen Riesen sah der M-Frühling die Chan- K ircheseins zu leben: ce, den Marktleader unter den Supermärkten auf «Unter prophetischer Funktion verstehe ich demokratische Weise umzugestalten – als Anfang die wache, offene und zugleich unentwegte und einer ökologischen und sozialen Umgestaltung hartnäckige Bereitschaft, das weltliche Geschehen der übrigen Wirtschaft. Obwohl die Migros den in Beziehung zu setzen mit dem biblischen Ange- M-Frühling im Wahlkampf manche Steine in den bot und Anspruch von «Heil» und «Shalom» im Weg legte, kam der M-Frühling im Juni 1980 auf umfassenden, ganzheitlichen Sinne. Und von da immerhin zwanzig Prozent der Stimmen – wegen her dann der letztlich kompromisslose Wille und des Majorz-Systems reichte das allerdings nicht, der konfliktbereite Mut zu reden, zu handeln und um Einsitz in die Migros-Gremien zu nehmen. einzustehen für das, was ich vom Evangelium her 1980 gab der Arbeitskreis mehrere Male Ge- – so, wie ich es verstehe und wie es für mich darum legenheit, sich näher mit dieser Thematik aus- auch verpflichtend wird – als richtig erachte. Dies einanderzusetzen. Am 29. Januar sorgte Hans A. alles in evangelischer Radikalität (gibt es denn Pestalozzis Vortrag Macht und Mächtige in unserer eindeutigere, radikalere Fragestellungen als die- Gesellschaft für einen vollen Farelsaal, und am 10. jenigen des Evangeliums?), aber gleichzeitig ohne März legte der Arbeitskreis die erste Zeitung des Ausschliesslichkeit, ohne den überheblichen An- M-Frühling seinem Versand bei, um auf den ge- spruch, in unfehlbarer Weise über die Wahrheit zu planten kontradiktorischen Anlass zum Thema verfügen. Und was die «Autorität» dieses Redens hinzuweisen. In einer erneuten Einladung machte und Handelns angeht, bin ich mit Hans Heinrich der Leitende Ausschuss deutlich, welche Haltung Brunner der Meinung, dass «entscheidend für die er in dieser Frage einnahm: «Seit jeher beschäf- innere Autorität dieser Stimme nicht die äussere tigen wir uns mit einer Wirtschaft nach mensch- Autorität ist, sondern die Nähe zum Evangelium lichem Mass und im Dienste des Menschen – eine von Jesus Christus. Das gilt gerade auch für das Wirtschaft also, die sich an unseren wahren Be- Reden und Handeln im politischen Umfeld.» dürfnissen orientiert. Die ein Wachstum unserer Samuel Maurer freute sich auf seine Aufgabe Lebensqualität ermöglicht. Die unsere Umwelt beim CFD und hoffte, künftig «noch eindeutiger, und ihre Zusammenhänge respektiert. Die un- noch kompromissloser, noch radikaler denken, seren Wohlstand nicht auf Kosten der Armen entscheiden und handeln» zu können. In diesem schafft. Und die überschaubare, kontrollierbare Sinne trat er auch der Sozialdemokratischen Partei und demokratische Strukturen hat.» bei. Dem Arbeitskreis-Team wünschte der schei- Die Debatte zwischen M-Frühling und einem dende Geschäftsleiter, «dass ihnen die Gratwan- Migros-Vertreter fand am 10. Juni als erweitertes derung zwischen parteilicher Solidarität und dem Podiumsgespräch statt. An der Diskussion unter Anspruch einer unteilbaren Solidarität glaubwür- der Leitung von Kassensturz-Chef Peter Wettler dig gelinge und dass ihnen das Instrument ‹Ar- beteiligten sich Nationalrat Paul Günter (Vertre- beitskreis› dazu den nötigen Raum von Freiheit, ter der Migros-Genossenschaft Bern), Eric Joseph die auch Experimente einschliesst, gewährleiste.» (Vorstand M-Frühling), Dr. Paul Meyer (Vizedi- Durch alle Krisen hindurch hatte die evange- rektor Coop Schweiz) und Marianne Langenegger lisch-reformierte Gesamtkirchgemeinde den Ar- (Stiftung für Konsumentenschutz). beitskreis garantiert und auch dessen Wachstum ermöglicht. Maurer unterliess es nicht, kurz vor

90 K apitel 5 Zwischen Forumsfunktion und eigenem Profil (1975–1981)

seinem Rücktritt mit Nachdruck darauf hinzu- weisen, wie sehr er diese Pionierleistung schätzte: Als «schönstes Erlebnis der vergangenen Jahre» komme ihm zuerst der Arbeitskreis als Arbeitsin- strument in den Sinn. Der Wechsel in der Geschäftleitung des Ar- beitskreises fand ein breites Echo: Auf beiden Sei- ten des «Röstigrabens» wurde die in der Schweiz einmalige Einrichtung eines Amtes für Zeitfragen und dessen ausdauernde, geschickte und engagier- te Ausgestaltung durch den zurücktretenden Ge- schäftsleiter gewürdigt. Im Porträt eines Piloten, das BIEL BIENNE am 17. Dezember 1981 veröf- fentlichte, bezeichnete Werner Hadorn diesen nicht nur als «Schweizer Meister ohne Medaille» in der Vorbereitung von Podiumsgesprächen – er stellte vor allem fest, dass Samuel Maurer für viele Bieler/innen während zwanzig Jahren so etwas wie ein Pilot gewesen war, der in einer Aufklärungs- maschine unbekanntes Terrain anfliegt.

91 K apitel 6

Dennoch hoffen – auch im Jahrzehnt grosser Bedrohungen (1982–1987)

Ein «bilingue» als neuer Studienleiter: im Vordergrund des Interesses…» André Monnier Wie stellte sich Samuel Maurers Nachfolger die «Gratwanderung zwischen parteilicher Solidarität Als der Gesamtkirchgemeinderat am 29. Juni und dem Anspruch einer unteilbaren Solidarität» 1981 den neuen Geschäftsleiter des Arbeitskreises vor? Musste sich der Arbeitskreis seiner Ansicht wählte, berücksichtigte er unter anderem das für nach als neutrale Institution zeigen, um weiterhin Biel bedeutsame Kriterium der Zweisprachigkeit. als Forum glaubwürdig zu bleiben? André Monnier Als in Zürich aufgewachsener Jurassier mit Berufs- betonte zwar, dass man die Begriffe «Neutralität» erfahrung in beiden Landesteilen brachte André und «Ausgewogenheit» in der Bibel vergeblich su- Monnier ideale Voraussetzungen mit, um die Bie- che. Der Arbeitskreis halte in seinem Statut denn ler Romands vermehrt für den Arbeitskreis zu in- auch ausdrücklich fest, dass seine Aufmerksamkeit teressieren. Für den einstimmigen Entscheid des insbesondere den Schwachen gelte, deren Anliegen Rates zugunsten des 37-jährigen Romand waren er zur Sprache bringe. Er solle und müsse am Mei- aber auch André Monniers Studium als Historiker, nungsbildungsprozess mitwirken. Auf der anderen seine Erfahrungen beim Schweizerischen Evange- Seite bedinge die Funktion als Forum eine Öffnung lischen Kirchenbund und seine in verschiedenen – auch Standpunkten gegenüber, die der Arbeits- Institutionen erworbenen Einblicke in die schwei- kreis nicht unbedingt teile. Der Arbeitskreis dür- zerische Aussen- und Innenpolitik verantwortlich. fe sich nicht abkapseln, und er müsse sich bewusst Am 31. Januar 1982 wurde der neue Leiter des sein, dass es für alternative Lösungen den Konsens Arbeitskreises während eines feierlichen Gottes- brauche. «Die ‹reinen› Lösungen haben den nicht dienstes in der Stadtkirche in Pflicht genommen. unwesentlichen Nachteil, dass sie sich selten oder Durch die Liturgie führte der damalige Präsident nie verwirklichen lassen.» Mit dem Hinweis, der des Leitenden Ausschusses, Pfarrer Alfred Bürgi. Arbeitskreis dürfe den Sinn für Mehrheitsten- Das Mittelschiff der Kirche war, wohl zur Über- denzen in demokratischen Meinungsbildungspro- raschung des In-die-Pflicht-Genommenen, voll- zessen nicht verlieren, setzte André Monnier einen besetzt. In seiner Ansprache nahm André Mon- weiteren eher pragmatischen A kzent. nier Stellung zur Aufgabe des Arbeitskreises als Instrument der reformierten Bieler Kirche. Er meinte, es sollten dort, kurz zusammengefasst, «auf bedrängende Gegenwartsfragen Ansätze zu christlichen Antworten gesucht werden. Nur zum André Monnier Teil neue Antworten, vor allem aber die, die wir vom Evangelium her im Grunde bereits haben.» Es gehe nicht um Antworten im Sinne von Rezep- ten, die es in der Bibel ohnehin nicht gebe, son- dern um solche, die aus einer inneren christlichen Ausrichtung her entstehen könnten. Der Redner erläuterte weiter: «Aber was man hat, muss man umsetzen, muss man anwenden, sonst hat man es nicht mehr. Wir vom Arbeitskreis suchen im Rah- men unserer Möglichkeiten die Situation, wie sie uns erscheint, zu analysieren und in der Öffent- lichkeit zur Diskussion zu stellen. Gegenwärtig stehen beispielsweise Ökologie, also Erforschung und Erhaltung der Umwelt, und Arbeitslosigkeit

92 K apitel 6 Dennoch hof fen – auch im Jahrzehnt grosser Bedrohungen (1982–1987) in unserem Land anzuregen. Gesprächspartner sollen für einmal nicht etablierte Kirchenleitungen sein, sondern über theologische und weltanschau- liche Grenzen hinaus alle, Junge und Alte, Arbei- Das Buch der Bücher – brennend aktuell tende, Arbeitsuchende und Pensionierte, Kirch- liche und Unkirchliche.» Um Dialoge innerhalb Die systematische Arbeit zu verschiedenen eines so breiten Spektrums zu fördern, hatte die Arten der Bibelauslegung war noch von Samuel Schweizerische Evangelische Synode (SES) bei der Maurer angeregt worden – schon im November Auswahl der Delegierten auf eine entsprechende 1981 hatten José Amrein und Niklaus Liggenstor- Vielfalt geachtet. Zu einem Drittel waren die Sy- fer eine Einführung in die Befreiungstheologie nodeteilnehmer/innen von Kantonal- und Freikir- gegeben. Unter dem Titel Theologie im Kontext chen ernannt worden, zu einem Drittel vertraten organisierte André Monnier den weiteren Verlauf sie evangelische Werke und zu einem Drittel den des Bibelzyklus, der unter anderem Fachleuten zu Trägerverein der Synode. Als besonders erfreu- feministischer und ökologischer Theologie Gele- lich bezeichnete es die Leitung der Synode, dass genheit gab, ihr Bibelverständnis zu erläutern. auch ein Vertreter der seit der Reformation jahr- Dr. Marga Bührig und Dr. Dorothee Meili hundertelang verfolgten Mennoniten unter den zeigten die Bezüge der feministischen Theolo- Delegierten war. Ausserdem nahmen Vertreter/ gie zur Theologie der Befreiung auf – sie mach- innen weiterer Kirchen und Gemeinschaften als ten auf Bibelstellen aufmerksam, die speziell für Beobachter/innen an der Synode teil. die Frauen befreiend wirkten, oder auf solche, die Für den Präsidenten der Vereinigung für eine einen Abbau von Herrschaft verlangten. War die Schweizerische Evangelische Synode, Pfarrer feministische Theologie für die Schweiz relativ Michael Dähler, bedeutete die Synode auch eine neu, so galt dies umso mehr für die ökologische Gelegenheit, über die Aufgaben der Gläubigen in Theologie. Dementsprechend fanden die Beiträge einer pluralistisch gewordenen Gesellschaft nach- von Gerhard Liedke einige Beachtung. Der Heidel- zudenken. In diesem Zusammenhang griff die Lei- berger Theologe brachte die Aufforderung «Macht tung der Synode ein Thema auf, das in Biel intensiv euch die Erde untertan» zur Sprache und rief zur besprochen worden war, und integrierte es in die Verminderung der menschlichen Gewalt an der Abschlusserklärung, den Brief an die evangelischen Schöpfung auf. Eine ähnliche Veranstaltung sollte Christen der Schweiz: «Folgende Fragen haben uns dann im Jahr 1987 folgen: Ökologie in der Kirche – während der ganzen Tagung intensiv beschäftigt: mehr als ein Mode-Thema (27. Oktober) mit dem Was können wir tun angesichts der Bedrohung Diplom-Biologen und Theologen Otto Schäfer- des Lebens durch Krieg, Gewalt, Unterdrückung Guignier, der eben zum Beauftragten der neu ge- und Ausbeutung? Welche Kräfte des Lebens lassen gründeten Arbeitsgemeinschaft Kirche und Umwelt sich mobilisieren gegen die Kräfte der Zerstörung? gewählt worden war. Worin besteht ein wirklicher und glaubwürdiger Einsatz für den Frieden? Wir haben begonnen, uns insbesondere mit der Frage eines echten Zivil- Dennoch hoffen: dienstes auseinanderzusetzen. Wir sind der Mei- Die Schweizerische Evangelische Synode nung, dass die Verweigerung des Militärdienstes eine Form des Gehorsams gegenüber Jesus Chri- Vom 12. bis zum 15. Mai 1983 kam es in Biel stus sein kann, und halten es für unrichtig, dass zu einem bemerkenswerten Ereignis: Unter dem in der Schweiz Verweigerer zu Gefängnisstrafen Leitspruch Dennoch hoffen trafen sich in Biel 200 verurteilt werden […]. Wir hoffen, dass wir dieses Delegierte und eine Hundertschaft von weiteren T hem a gemei n s a m m it den O rg a n i s at ionen , B e we - Interessierten von reformierten Kirchen und In- gungen und Gruppen in Angriff nehmen können, stitutionen aus allen Landesteilen. In einer Presse- die bereits daran arbeiten.» erk lär u ng erläuter te A ndré Mon n ier, wor u m es da- Als Beauftragter für die regionale Organisa- bei ging: «Es gilt, sich aus Erstarrungen zu lösen, tion der Schweizerischen Evangelischen Synode über den Kreis der Kirchgemeinden hinaus ein war André Monnier in der ersten Hälfte des Jahres Gespräch von wirklich betroffenen Protestanten 1983 sehr stark mit organisatorischen Aufgaben

93 K apitel 6 Dennoch hof fen – auch im Jahrzehnt grosser Bedrohungen (1982–1987) Ist die Weltwirtschaft rechtzeitig auf ökologischen Kurs zu bringen?

Der schwere AKW-Unfall im amerikanischen absorbiert, konnte sich dem Arbeitskreis also nicht Harrisburg 1979 war nur ein Vorbote mehrerer in gewohntem Ausmass widmen. Ein Bieler OK Grosskatastrophen, die in den Achtzigerjahren mit Frauen und Männern aus allen Kirchgemein- weltweit beachtet wurden und in vielen Ländern den stand ihm für den Aufbau der Infrastruktur zur Ausbildung eines weit verbreiteten Umweltbe- zur Seite. Dessen Tätigkeit wurde an dieser ersten wusstseins beitrugen. Stimmen, die vor katastro- Synodesession sehr gewürdigt. Dass SES-Präsi- phalen Folgen eines weiteren rein quantitativen dentin Madeleine Strub den Idealismus und das Wachstums warnten, fanden auch in der Schweiz Engagement des Bieler OK als vorbildlich bezeich- immer grössere Aufmerksamkeit. Der Arbeitskreis nete, kam indirekt sicher auch dem Arbeitskreis nahm diese Entwicklung zum Anlass, am 1. Juni zugute. Ausserdem machte die Schlusserklärung 1982 ein Forum zwischen Befürwortern einer wei- der Synode deutlich, dass die vom Arbeitskreis terhin wachstumsorientierten Wirtschaft und ih- gewählten Themen eine sehr grosse Zahl von ren Kritikern zu organisieren. An diesem von gut Gläubigen beschäftigten. Der SES-Prozess selbst hundert Personen besuchten Anlass riefen Prof. dauerte insgesamt fünf Jahre, wobei zweimal jähr- Peter Atteslander, Dr. Werner Geissberger und lich eine Session in einer jeweils andern Schweizer der Bieler SP-Präsident Roland Villars zu einem Stadt abgehalten wurde. Gerne wurde in der Folge raschen und radikalen Umdenken auf, während an den Auftakt mit dem «Geist von Biel» erinnert. CVP-Generalsekretär Dr. Hans Peter Fagagni- Die Schlusstagung der SES fand dann vom 12.–15. ni und der Bieler FDP-Gemeinderat Dr. Laurent November 1987 in Bern statt. Carrel an die Verantwortung des Einzelnen appel- lierten und auf die in der Weltwirtschaft vorherr- schenden Sachzwänge hinwiesen.

Der Arbeitskreis trug 1983 massgeblich dazu bei, dass die Schweizerische Evangelische Synode (SES) in Biel erfolgreich durchgeführt werden konnte.

94 K apitel 6 Dennoch hof fen – auch im Jahrzehnt grosser Bedrohungen (1982–1987) Exemplaren gedruckte Katalog fand sehr guten Absatz. Damit hatte die Arbeitsgruppe Alterna- tiven ihr Hauptziel erreicht – nach einer letzten Standaktion in der am 26. Juni löste sie Im Verlauf des Gesprächs kamen sich die Po- sich auf. diumsteilnehmer etwas näher – auch Prof. Attes- Die Krisensymptome der Wirtschaft hinge- lander betonte, dass der Einzelne als Konsument gen machten sich weiterhin bemerkbar. Auch im für das sich abzeichnende Umweltdebakel Mitver- Sommer nahm die Arbeitslosigkeit weiter zu, und antwortung trage. Die von Werner Geissberger die Bieler Arbeitslosenquote betrug wiederum ein eindrücklich geschilderte Gefahr eines baldigen Vielfaches des landesweiten Durchschnitts. Die Verschwindens des Regenwaldes und hunderttau- ökumenisch geführte kirchliche Arbeit mit Stel- sender Tier- und Pflanzenarten könne allerdings lenlosen ging in einer neuen Form weiter. Nach der kaum mit der Initiative Einzelner gebannt werden. Einstellung der Bieler Arbeitslosen-Zeitung BALZ Zu denken gab auch die Prognose, dass Entwick- und der Schliessung des Arbeitslosenzentrums lung der Mikroprozessoren die Schweizer Wirt- entstand im Auftrag der Fürsorgedirektion der schaft hunderttausende von Arbeitsplätzen kosten Stützpunkt für Arbeitslose – ab dem 1. September werde – wegen der hohen Auslandabhängigkeit sei 1982 gingen Giovanna Bösch und Viktor Bührer eine weitere Rationalisierung zwingend. Faga- im ehemaligen Hotel Blaues Kreuz am Unteren gnini warnte vor übertriebenen Zukunftsängsten Quai auf die A nliegen der Stellenlosen ein. und wies darauf hin, dass man die Technik auch als Der Arbeitskreis engagierte sich auf verschie- Chance sehen könne. Hierin traf er sich mit Attes- denen Ebenen, um in dieser Krisensituation einen lander, der eindringlich davor warnte, zu resignie- wirksamen Beitrag zu leisten. Die Arbeitsgruppe ren: «Besorgt bin ich vor allem über jene Leute, die Frau-Arbeit-Arbeitslosigkeit wählte ein Vorgehen immer noch vor dem Flimmerkasten sitzen, ohne in aller Öffentlichkeit und reichte Ende Oktober zu merken, dass es fünf vor zwölf ist. Sie gilt es auf- bei der Stadtkanzlei eine Petition mit 340 Unter- zurütteln, wenn man überhaupt etwas Grosses er- schriften ein, welche die Schaffung einer Bera- reichen will.» tungsstelle für Frauen verlangte. Die Geschäftsstelle zog einen eher informellen Weg vor. Am 3. Dezember organisierte sie einen Wird Biel zu einem Vorposten alterna- «Stamm» zu den psychischen und sozialen Folgen tiven Wirtschaftens? der Arbeitslosigkeit, an dem etwa dreissig Vertre- ter aus Wirtschaft, Gewerkschaften, sozialen In- Der nach sechsmonatiger Arbeit entstandene stitutionen der Kirche und der Wissenschaft teil- Katalog alternativen / alternatives zu über sechzig nahmen. Das einleitende Referat hielt Dr. Plasch nachhaltigen Projekten in der Region Biel – See- Spescha von der neu geschaffenen Sozialstelle der land konnte im Juni 1982 der Öffentlichkeit vor- römisch-katholischen Gesamtkirchgemeinde Biel, gestellt werden. Die Publikation fand nicht nur ein der seit kurzem auch im Leitenden Ausschuss des gesamtschweizerisches Echo – in seinem Artikel Arbeitskreises mitmachte. Die anschliessende über die krisengeschüttelte Uhrenmetropole pro- Diskussion verlief sehr konstruktiv – zum Bei- phezeite ein viel gelesenes deutsches Nachrichten- spiel zeigte der Personalchef einer finanziell arg magazin sogar, in Biel sei das Zeitalter der «Alter- gebeutelten Uhrenfirma auf eindrückliche Weise nativen» angebrochen… seine Dilemmas, was wohl alle Anwesenden sehr Diese krasse Übertreibung wurde zwar unver- bewegte. Im Jahresbericht 1982 kam André Mon- züglich richt ig gestellt. Wie die Herausgeber in ih- nier noch einmal auf diesen Anlass zurück: «Es rem Vorwort schrieben, hofften sie aber durchaus, kam zu einem nützlichen, völlig unpolemischen dass alternative Werte einst Allgemeingut würden. Meinungsaustausch. Bei einer offenen Tagung In einer hoffentlich schon nahen Zukunft sollte ein oder einem Podiumsgespräch wäre dies vermut- ökologisches, nachhaltiges und menschenfreund- lich nicht gleichermassen möglich gewesen, weil liches Wirtschaften, das sich nicht in erster Linie bei solchen Veranstaltungen erfahrungsgemäss am Profit orientierte, massgebend sein. Der von weniger der Dialog als die Selbstdarstellung der der Commune Autonome in einer Auflage von 1000 Teilnehmer vor dem und für das Publikum im Vor-

95 K apitel 6 Dennoch hof fen – auch im Jahrzehnt grosser Bedrohungen (1982–1987) Droht ein Rückfall in den Kalten Krieg?

Der sowjetische Einmarsch in das seit 1978 kommunistisch regierte Afghanistan im Dezem- dergrund steht, der Sache selbst aber damit meist ber 1979 hatte weit reichende Folgen: Das Ende ei- wenig gedient ist.» ner Phase relat iver Ent spa n nu ng z w ischen den bei- Der gelungene «Stamm» und die Perspektive den Supermächten bedeutete nicht nur eine neue eines weiteren tief greifenden wirtschaftlichen Runde gegenseitiger atomarer Abschreckung in Strukturwandels mit steigender Arbeitslosigkeit Europa, es bedeutete auch, dass die Auseinander- veranlassten André Monnier, in Zusammenarbeit setzungen in vielen Krisenherden der Welt wieder mit der Sozialethischen Arbeitsstelle weitere An- vermehrt mit einer Optik des Kalten Krieges in- lässe zum Thema Arbeitslosigkeit und Arbeit zu terpretiert wurden. Besonders der 1981 gewählte planen. US-Präsident Reagan neigte dazu, Befreiungsbe- wegungen in der Welt als Werkzeuge des sowje- tischen «Reichs des Bösen» zu sehen. Diese besorgniserregende Rückkehr zu einem bipolaren Weltbild veranlasste den Arbeitskreis, einen brillanten Analytiker der politischen Ent- wicklung nach Biel zu holen. Am 16. Dezember 1982 referierte Curt Gasteyger, Professor am In- stitut Universitaire des Hautes Etudes Interna- tionales in Genf, im Farelsaal über die aktuellen Krisenherde der Weltpolitik. Gasteyger machte deutlich, wie viele arme Länder des Südens durch gegensätzliche geopolitische Interessen der USA und der UdSSR in absurde, blutige «Stellvertre- terkriege» verwickelt waren. Die Lage im russisch besetzten Afghanistan wurde an einer Kurztagung Der Katalog alternativen / alternatives fand 1982 sehr vom Ethnologenpaar Iren von Moos und Edwin guten Absatz. Huwyler beleuchtet (25./26. Mai 1984). Die junge Völkerkundlerin und Entwicklungshelferin wurde später in Afghanistan unter nie geklärten Umstän- den getötet.

Sabra, Schatila und die Folgen

Was sich im Herbst 1982 im Nahen Osten ab- spielte, bezeichneten manche als Stellvertreter- krieg der besonderen Art. Im Herbst 1982 hatte die israelische Regierung die Armee in den Liba- non einmarschieren lassen, und Anfang Septem- ber 1982 mussten die PLO-Kämpfer den Libanon verlassen. Am 14. September wurde Bachir Gema- yel, der Anführer der mit Israel verbündeten liba- nesischen Falange-Milizen, von einem syrischen Agenten ermordet. Verteidigungsminister Sharon machte die Palästinenser für diesen Mord verant- wortlich und kündigte an, dass die israelische Ar- mee Westbeirut besetzen werde.

96 K apitel 6 Dennoch hof fen – auch im Jahrzehnt grosser Bedrohungen (1982–1987) zunehmen. Israelischer Nationalismus und Chau- vinismus ist den gleichen verhängnisvollen Versu- chungen ausgesetzt wie jeder Nationalismus und Chauvinismus. Vor Übermut und Hochmut sowie Als die israelischen Einheiten in die libane- Missbrauch der Macht ist auch Israel nicht gefeit. sische Hauptstadt einrückten, umzingelten sie die Entscheidend ist aber, ob ein Volk diesen Versu- Flüchtlingslager von Sabra und Schatila, wo sich chungen erliegt oder nicht.» Der Referent zeigte angeblich noch zweitausend PLO-Kämpfer be- im Folgenden auf, dass das demokratische System fanden. Am 16. September liessen die Israelis eine in Israel sogar in einer Situation des Krieges funk- berüchtigte Einheit der Falange-Milizen in die La- tioniere – in freien Demonstrationen habe die Be- ger einmarschieren – nach den Worten von Vertei- völkerung den Rücktritt der Regierung verlangen digungsminister Sharon sollten noch vorhandene können, und die Arbeit der Untersuchungskom- «Terroristennester» ausgehoben werden. Schon mission werde politische Folgen haben. Ohne am Morgen des folgenden Tages informierte ein Begins Haltung zu entschuldigen, verwies der israelischer Beobachter hohe Regierungsstellen in Holocaust-Kenner darauf, dass die Nazis 1943 die Tel Aviv, dass in den Lagern ein Gemetzel an Zivi- ganze Familie des israelischen Regierungschefs listen im Gang sei. Diese gaben aber keinen Befehl ausgelöscht hatten. zum Einschreiten – im Gegenteil: Die Falangisten Häsler mahnte die Medien, auch in einer emo- erhielten Bulldozer der israelischen Armee, um tionalen Atmosphäre sachlich zu informieren. Es die Ermordeten zu vergraben. Erst der Protest des spreche nicht von Sachkenntnis, Israel eine Poli- US-Sonderbeauftragten Morris Draper brachte tik der Ausrottung des palästinensischen Volkes die Israelis dazu, den Falangisten am Samstag den vorzuwerfen. Im Hinblick auf die Zukunft halte er Rückzug aus den Lagern zu befehlen. In Sabra und sich an die zentrale Substanz des Judentums und Schatila blieben an die zweitausend Tote zurück, des Evangeliums: Die Hoffnung und Gewissheit, darunter sehr viele Frauen und Kinder. Die Ver- dass das Reich des Friedens, der Freiheit und der luste der Falange im Kampf gegen die «zweitausend Gerechtigkeit kommen werde. PLO-Kämpfer» beliefen sich auf zwei Personen… Die Massaker in Sabra und Schatila führten in Israel zu Protestdemonstrationen mit 400 000 Waffen sichern keinen Frieden Teilnehmern – ein Zehntel der Gesamtbevölke- rung ging auf die Strasse. Dieser Druck erzwang «Warum Generale für den Frieden?» Unter die Einsetzung einer vom obersten Richter Israels dieser Fragestellung liess der Arbeitskreis im No- geführten Untersuchungskommission, die nach vember 1982 einen ehemaligen NATO-General vier Monaten zum Ergebnis kam, dass Regierung- erklären, warum sich viele ehemalige Generale des schef Begin und insbesondere Verteidigungs- Nordatlantischen Bündnisses aktiv gegen die neue minister Sharon für das Gemetzel in den beiden Runde im Wettrüsten wandten. Generalmajor Flüchtlingslagern die Verantwortung trügen. Die von Meyenfeldt, der in den Niederlanden auch als Kommission forderte Sharon zum Rücktritt auf, Präsident des Interkirchlichen Friedensrates zum und dieser musste sein Amt als Verteidigungsmi- Kommandanten einer Militärakademie befördert nister niederlegen. worden war, setzte sich seit Jahren für Friedens- Die weltweite Kontroverse um die Rolle Isra- lösungen ausserhalb der Logik gegenseitiger Ab- els bei den beiden Massakern veranlasste den Ar- schreckung ein. Im Farelsaal erinnerte Meyenfeldt beitskreis, einen Informations- und Diskussions- daran, dass der Ost-West-Konflikt in vielen Län- abend mit Alfred A. Häsler durchzuführen. Der dern des Südens in Form kriegerischer Auseinan- zusammen mit der Christlich-jüdischen Arbeitsge- dersetzungen geführt wurde, und er warnte vor der meinschaft organisierte Anlass fand am 2. Februar Eigendynamik militärischen Denkens. Mit dem 1983 im Farelsaal statt. Während seines Referats Hinweis auf das vorhandene Vernichtungspoten- machte Häsler klar, dass Begins und Sharons Po- tial von einigen Tonnen Sprengstoff pro Kopf der litik auch bei ihm Unbehagen ausgelöst hatte: «Es Weltbevölkerung machte er klar, dass ein neuer kann nicht darum gehen, den Libanon-Krieg oder Weltkrieg wohl der letzte sein würde. andere A spekte israelischer Politik unbesehen hin- Meyenfeldt war sich im Klaren darüber, wie

97 K apitel 6 Dennoch hof fen – auch im Jahrzehnt grosser Bedrohungen (1982–1987) Pax und Schalom

Grundlegende Gedanken zu Krieg und Frie- den vermittelte später der Vortrag des ehemaligen schwierig es war, dem Rüstungswettlauf ein Ende deutschen Entwicklungsministers Dr. Erhard zu setzen. Um einen anderen Weg zu finden, brau- Eppler vom 16. November 1985. An der Arbeits- che es den Abbau von Feindbildern, vermehrte kreis-Veranstaltung Frieden durch Sicherheit? er- Kontakte mit Menschen jenseits des Eisernen läuterte der engagierte Politiker einem interes- Vorhangs und vielleicht auch den politischen Mut, sierten Publikum von etwa zweihundert Personen in einem beschränkten Bereich einseitig abzurü- zwei grundsätzlich unterschiedliche Auffassungen sten. Wenn sich eine Logik der Abrüstung einmal von Frieden. durchgesetzt habe, werde auch wirtschaftliches In der Realpolitik beschränke sich der Begriff Potential frei werden, um der sozialen Not in «Frieden» nur zu oft auf eine Situation, in welcher den Ländern des Südens zu begegnen und damit der Gegner besiegt oder weithin ungefährlich die Ursachen vieler Konflikte zu beseitigen. Der sei. Diese Art von Frieden gehe auf die Zeit des Schweiz empfahl der Ex-General, nicht nur auf Römischen Reiches zurück, als die Kaiser an den Militär und Zivilschutz zu vertrauen, sondern den Reichsgrenzen eine «Pax Romana» durchsetzten. Frieden vermehrt mit solidarischer Aussenpolitik, In einer Zeit der Massenvernichtungswaffen sei Friedensforschung und Friedenserziehung an den diese Definition von Frieden bei weitem nicht Schulen zu stärken. mehr genügend. Noch immer herrsche in höchsten Die Ausführungen von Meyenfeldts fanden Armeegremien der Glaube, man sei sicher, wenn nicht nur ein sehr interessiertes Publikum, sie das eigene Land dem jeweiligen Gegner auch im führten auch zu Reaktionen in den Leserbrief- schlimmsten aller Fälle gewachsen sei. Diese Art zu spalten der Lokalpresse. Unter anderem warnte denken wirke aber als Motor des Wettrüstens, weil ein Pfarrer, der Arbeitskreis versuche in «Veran- staltungen dieser Art», die schweizerische Wehr- bereitschaft zu schwächen, und forderte André Monnier auf, demnächst auch über das neue Ar- meeleitbild oder die neue Zivilschutzkonzeption Als Reaktion auf den teilweisen Rückfall in den Kalten zu informieren. In seiner Replik konnte der Lei- Krieg, bildete sich auch in der Schweiz eine starke ter des Arbeitskreises aufzeigen, dass es in vielen Friedensbewegung. NATO-Staaten möglich war, auch in Sicherheits- fragen eine kritische Haltung zu vertreten – in der Schweiz jedoch bedeuteten Ideen wie Friedenser- ziehung und solidarische Aussenpolitik noch im- mer einen Tabubruch. Von der Lokalpresse unbeachtet blieb leider der Arbeitskreis-Anlass vom 14. Februar 1984, der es erlaubte, eine damals hoch akute Frage zu erörtern. Unter dem Titel Der ungewollte Atomkrieg erklärte der bekannte Politikwissenschaftler Prof. Dani- el Frei, die grösste Gefahr für einen nicht beab- sichtigten Atomkrieg gehe nicht von technischen Fehlern, sondern von menschlichen Fehleinschät- zungen aus. Der Gutachter des UNO-Instituts für Abr üst u ngsforschu ng ( U N IDIR) hat te die Sicher- heitskonzepte von NATO und Warschauer Pakt eingehend studiert und war zum Schluss gekom- men, dass die Führungszentren in Ost und West im Falle einer akuten Krise so rasch und unter so hohem Stress agieren müssten, dass das Risiko von Fehlentscheiden reell sei. 98 K apitel 6 Dennoch hof fen – auch im Jahrzehnt grosser Bedrohungen (1982–1987) litärdepartement wusste, dass zusätzlich immer mehr junge Männer den Weg der medizinischen oder psychiatrischen Ausmusterung wählten, um sich der Dienstpflicht zu entziehen. Angesichts der auch ei n Zust a nd des Gleichgew icht s je nach St a nd- über 400 000 Dienstleistenden schien das aber den punkt immer anders definiert werde. Der sozialde- meisten bürgerlichen Politikern doch zu wenig, um mokratische Politiker erklärte, dass die Logik des ernsthaft auf die Anliegen der Verweigerer einzu- Wettrüstens nicht nur ungeheure finanzielle Mit- steigen, und die Ziv ildienst init iat ive mit ihrer For- tel verschlinge, sondern auch ihr vordergründiges derung nach freier Wahl zwischen Militärdienst Ziel ad absurdum führe. Stetige Aufrüstung bringe und Zivildienst war offensichtlich chancenlos. mehr Unsicherheit mit sich, indem zum Beispiel Daher hatten kirchliche Kreise angeregt, mit der immer leistungsfähigere Raketen die Vorwarn- Ausarbeitung eines mehrheitsfähigen Gegenvor- zeiten wesentlich verkürzten, so dass auch Falsch- schlags doch noch eine Lösung anzubieten. In der meldungen über angebliche Angriffe kaum mehr Folge bildete sich eine Arbeitsgruppe mit hohen in vernünftiger Zeit abgeklärt werden könnten. Armeevertretern um den ehemaligen Korpskom- Die technologischen Bestrebungen, den «Gegen- mandanten Hans Wildbolz, die sich tatsächlich in schlag» zu automatisieren, würden erst recht eine vielen Punkten auf Kompromissvorschläge einigen unumkehrbare Situation entstehen lassen… konnte. Der Nationalrat lehnte es aber ab, auf auch Der römischen «Pax» stellte Eppler das jü- nur einen dieser Vorschläge überhaupt einzutreten, dische und später auch christliche «Schalom» ent- und provozierte damit eine weitere Polarisierung. gegen: Frieden im Sinne von «Schalom» werde als Ereignisse wie dieses veranlassten den Arbeits- Frucht der Gerechtigkeit verstanden, und die mo- kreis, bewusst «gegenläufige» Anlässe vorzuse- derne Friedensforschung verstehe unter Schalom hen. So ergab sich am 9. Februar 1984 die Gelegen- einen Prozess, bei dem die Gerechtigkeit zunehme heit, diese problematischen Verhärtungen in der und die Gewalt abnehme. Auf die Frage, ob er eine schweizerischen Politik zu erörtern. Unter dem Abschaffung der Schweizer Armee befürworte, Titel Gesprächsverweigerung in der eidgenössischen antwortete Eppler, es gehe ihm mehr darum, zu Politik analysierten der Berner Politologe Hans- zeigen, dass eine Armee keine Sicherheit garantie- Peter Hert ig u nd der spätere Brot f ür alle-Präsident ren könne. Friedensarbeit habe in erster Linie mit Heiner Studer einige Schwachstellen des aktuellen Gerechtigkeit und dem Abbau von Feindbildern zu politischen Systems. In der Diskussion mit dem tun. Publikum kam vor allem eine davon zur Sprache. Als Kontrast zu seinen meistens sehr ernsten Das politische System der Schweiz habe zwar nach Beiträgen zur Friedensfrage organisierte der Ar- und nach alle grossen Verbände in den Entschei- beitskreis einen Abend, an dem es zum gleichen dungsprozess integriert, inzwischen gebe es aber Thema viel zu lachen gab – am 16. Juni 1984 sorgte immer mehr Menschen, die sich ausserhalb dieser das Basler Cabaret Chilegüggel mit seinem Pro- Verbände betätigten und deren Anliegen daher oft gramm Hesch dr Fride für eine heitere Stimmung gar nicht erst zur Sprache kämen. im Farelsaal.

Die Option für die Armen: Genau beobachtete Behörden In El Salvador…

Die mangelnde Bereitschaft, auf mögliche Im damaligen theologisch-kirchlichen Kontext Veränderungen in Sicherheitsfragen einzugehen, verfolgte der Arbeitskreis die politische Entwick- zeigte sich nicht nur bei Leserbriefschreibern – lung in Lateinamerika mit besonderer Aufmerk- 1983 liess auch der Nationalrat jegliche Kompro- samkeit. In Zentralamerika schien sich seit dem missbereitschaft vermissen, als es um Lösungen Sturz des Diktators Somoza durch die Sandinisten für die Frage der Militärdienstverweigerer ging. eine hoffnungsvolle Entwicklung anzubahnen Die Zahl der Dienstverweigerer war seit den Sech- – in Nicaraguas neuer Regierung war ein breites zigerjahren langfristig auf etwa sechshundert pro politisches Spektrum vertreten, darunter auch Jahr gestiegen, und auch das Eidgenössische Mi- Ernesto Cardenal und andere Vertreter der Befrei-

99 K apitel 6 Dennoch hof fen – auch im Jahrzehnt grosser Bedrohungen (1982–1987) …Guatemala…

Der vom Arbeitskreis am 26. Mai 1983 durch- geführte Informations- und Diskussionsabend ungstheologie. Nach der Wahl von Ronald Reagan zur Lage in Guatemala bestätigte den Eindruck, zum Präsidenten der Vereinigten Staaten geriet dass Zentralamerika zu einem Schauplatz absurder aber gerade diese Region in die fatale Logik einer Stellvertreterkriege im Rahmen des Ost-West- Politik, die nur allzu rasch bereit war, in jeder ei- Konflikts geworden war. Pfarrer Fritz Dumer- genständigen politischen Entwicklung den «Welt- muth erklärte in seiner Einleitung, wie die USA kommunismus» am Werk zu sehen. auch mit der Unterstützung evangelikaler Sekten Welche Schlüsse ein unvoreingenommener versuchten, ihren Einfluss in Zentralamerika aus- Geistlicher aus seinen Beobachtungen der sozialen zuweiten. Auch General Efraín Rios Montt, der im Wirklichkeit in Zentralamerika zog, erklärte An- März 1982 durch einen Militärputsch die Macht in dré Monnier an einem Informationsabend zu El Guatemala übernommen habe, sei von einer sol- Salvador im März 1982. chen Sekte bekehrt worden. Rios Montt trete wie Erst aufgrund vieler konkreter Erfahrungen ein Präsident «von Gottes Gnaden» auf, und er hatte sich der vorerst konservative Erzbischof verkünde, die Armee müsse das Volk disziplinie- Oscar Romero zum Vorkämpfer für die sozial Be- ren. nachteiligten und Unterdrückten entwickelt. Ro- Wie sich diese «Disziplinierung» konkret aus- mero engagierte sich besonders gegen die zuneh- wirkte, erläuterten das Juristenpaar Richard und mende Grausamkeit im aufflammenden Konflikt Elisabeth Bäumlin. In der Überzeugung, dass zwischen Armee, paramilitärischen Gruppen und die Indios den sozialen Fortschritt hemmten und linker Guerilla, und er rief die Kämpfenden beider deshalb bekämpft werden müssten, verstärke Rios Seiten auf, aktive Mithilfe bei angeordneten Er- Montt den Kampf gegen die indianische Guerilla. mordungen zu verweigern. Romeros Wissen über Bei ihrer Offensive machten die Militärs keinen die Hintergründe vieler politischer Morde wurde Unterschied zwischen Widerstandskämpfern und offenbar zu gefährlich – am 24. März 1980 wurde Zivilbevölkerung. 448 Indiodörfer seien buch- der im Volk äusserst populär gewordene Kirchen- stäblich von der Landkarte gelöscht worden, dabei führer während der Messe durch den Schuss eines seien zehntausende zu Tode gekommen. Das Ehe- Scharfschützen ermordet. paar Bäumlin zitierte aus einer Erklärung der Bi- Vertreter des Dritte-Welt-Ladens und des schofskonferenz Guatemalas vom Mai 1982: «Die Nicaragua-El Salvador-Komitees erklärten an- Armee schonte nicht einmal das Leben der Alten, schliessend, wie der Konflikt nach der Ermordung der schwangeren Frauen oder der Kinder. Niemals Erzbischof Romeros weiter eskaliert war. Sie do- in unserer Geschichte haben wir so Extremes er- kumentierten den Terror, den Regierungssoldaten lebt.» und Todesschwadronen gegen Mitglieder der Op- Noch im gleichen Jahr löste die Haltung zu Rios position entfesselten, und warnten vor einer US- Montt eine innerkirchliche Kontroverse aus. Im Intervention, die sich immer deutlicher abzeichne. Zusammenhang mit dem Aufschwung evangelika- Der kirchliche Sozialarbeiter Niklaus Liggenstor- ler Sekten in Mittelamerika interessierte sich auch fer betonte, dass die sich wehrenden Arbeiter und der aus einer Jugendgruppe um den Metter Pfarrer Bauern nicht in erster Linie Kommunisten seien, Markus Jakob hervorgegangene evangelische Ver- sondern auf soziale und demokratische Reformen ein Jahu vermehrt für Guatemala, und im Herbst drängten. Dementsprechend setze sich die Oppo- 1982 begab sich Jahu-Leiter Walter Dürr mit ei- sition aus einem breiten Bündnis gewerkschaft- nigen jungen «Jahuanern» in das seit kurzem von licher, politischer und kirchlicher Gruppen zu- Rios Montt regierte Land, wo er auch mit US- sammen. Journalisten sprach. Die «Frömmigkeit des Präsi- denten» beeindruckte Dürr so nachhaltig, dass er nach seiner Rückkehr einen Gebetsrundbrief zu Guatemala versandte, «weil der Leib Christi ein direktes Engagement in Guatemala hat und wir

100 K apitel 6 Dennoch hof fen – auch im Jahrzehnt grosser Bedrohungen (1982–1987) ergaben, verstärkte die US-Regierung ihre Desin- formationskampagne, um Nicaragua als «zweites Kuba» hinzustellen. Mit der Falschmeldung vom unseren Bruder in Christus, Efraín Rios Montt, 9. November 1984, die Sowjetunion habe Nicara- mit lauter Stimme unterstützen wollen». gua Kampfflugzeuge des Typs MIG 21 geliefert, Dürrs Rundbrief führte in beiden grossen versuchte sie, ein psychologisches Klima zu schaf- Landeskirchen der Stadt Biel zu heftigen Gegen- fen, das eine öffentliche militärische Massnahme reaktionen, worauf der Jahu-Leiter und der Jahu- seitens der USA rechtfertigte. Die sandinistische Präsident Pfarrer Markus Jakob im Bieler Tagblatt Regierung ihrerseits reagierte auf die Drohgebär- ihre Haltung präzisierten. Beide räumten ein, dass den aus Washington mit der Mobilisierung von es unter Rios Montt anscheinend Massaker gebe, 20 000 Soldaten zum Schutze der Hauptstadt. Die erklärten dies aber damit, dass Teile der Armee drohende US-Intervention mobilisierte eine welt- noch nicht unter Kontrolle seien. Dass die Un- weite Bewegung der Solidarität mit Nicaragua. tersuchungen von Amnesty International und des Auch eine Gruppe aus Biel reiste als «Friedensbri- Russel-Völker-Tribunals auf eine direkte Verant- gade» in das zentralamerikanische Land, um sich wortung Rios Montts hindeuteten, erklärte Jakob aus eigener Anschauung ein Bild über die Vorgän- mit möglicher «marxistischer Beeinflussung» der ge zu machen. Amnesty-Mitarbeiter und mit der (wahrheitswid- Am 18. Mai 1985 gab der Arbeitskreis der Bie- rigen) Behauptung, schon der Tribunal-Gründer ler Nicaragua-Gruppe Gelegenheit, über die im Russel sei ein Erzkommunist gewesen. Im wei- Verlauf dieser Reise gewonnenen Eindrücke und teren Verlauf der Kontroverse strich der Gesamt- Erfahrungen zu berichten. Brigitte Morgenthaler kirchgemeinderat dem Verein Jahu den jährlichen betonte, dass die Sandinisten im Volk noch immer Zuschuss von 8000 Franken, und Jakob warf dem breite Unterstützung erhielten, weil die verspro- Redaktor des angelus vor, den konfessionellen Frie- chene Landreform tatsächlich umgesetzt werde. den gebrochen zu haben. Im März 1984 zog der Behauptungen, die Sandinisten errichteten ein Kirchgemeinderat Mett einen vorläufigen Strich diktatorisches Regime, wies die Referentin zurück. unter den Konflikt, indem er Pfarrer Jakob sein Laut Amnesty International unterscheide sich Ni- volles Vertrauen aussprach. caragua von den meisten Staaten Lateinamerikas Der Arbeitskreis führte im Juni 1984 einen dadurch, dass die Grundrechte von der Regierung zweiten A nlass zu Guatemala durch, und zwar aus- respektiert würden. Schliesslich hätten sich auch nahmsweise im Kirchgemeindehaus Brügg. Vor bürgerliche Parteien an den Wahlen beteiligt, dem Konzert der Maya-Musikgruppe Kin-Lalat deren Wahlkampagne angemessen unterstützt informierte die bekannte Autorin und Menschen- worden sei. Im zweiten Teil des Abends erläuterte rechtskämpferin Julia Esquivel über die weitere Mathys Wild die politische Zusammensetzung Entwicklung in Guatemala. Nach dem Sturz Rios der nicaraguanischen Regierung. Ausser Vertre- Montts im August 1983 führte General Mejia als tern der Befreiungstheologie seien auch Marxisten neuer Machthaber eine Politik der Repression wei- vertreten, aber das müsse noch lange nicht heissen, ter, und hunderttausende Flüchtlinge in Mexiko dass das Land sich in die Abhängigkeit der Sowjet- warteten noch immer auf eine Regierung, die ih- union begeben möchte. Erst der Versuch der US- nen ein normales Leben erlaubte. Regierung, Nicaragua international zu isolieren, werde es in Zukunft möglicherweise in eine solche Abhängigkeit treiben – Vergleiche mit der seiner- … und Nicaragua zeitigen Entwicklung in Kuba seien nicht von der Hand zu weisen. Es gelte daher erst recht, Nicara- Wenn die US-Regierung schon die Entwick- gua vor einer derartigen Entwicklung zu bewah- lungen in El Salvador und Guatemala in ein über- ren. holtes Ost-West-Schema presste, so tat sie das erst recht im Fall des sandinistisch regierten Ni- caragua. Nachdem die von internationalen Be- obachtern als frei anerkannten Wahlen vom 4. November 1984 einen klaren Sieg der Sandinisten

101 K apitel 6 Dennoch hof fen – auch im Jahrzehnt grosser Bedrohungen (1982–1987) tierte. Mit diesen Geldmitteln wurden je hälftig soziale Projekte des HEKS und des Fastenopfers in Brasilien unterstützt.

Begegnung mit lateinamerikanischer Kultur Kritik an Kapitalflucht und Kolonialismus: Das Engagement des Arbeitskreises zu Latein- Von der Banken-Initiative… amerika beschränkte sich nicht nur auf politische Analysen – er bemühte sich, den Raum zwischen Der Anstoss zur Banken-Initiative lag Jahre dem Rio Grande und Feuerland auch mit kultu- zurück. 1977 war das illegale Treiben in der SKA- rellen Anlässen vertrauter zu machen. Den Anfang Filiale in Chiasso aufgeflogen, wo infolge dubioser dazu machte am 25. April 1983 ein Abend zu einem Geschäfte mit Fluchtgeldern ein Verlust von 1300 Film des Bieler Regisseurs Stefan C. Kaspar, der Millionen Franken entstanden war. Auf Anregung mit peruanischen Filmschaffenden das Kollektiv von Helmut Hubacher lancierte die Sozialdemo- Chaski (= Inka-Meldeläufer) gegründet hatte. Ge- kratische Partei eine «Bankeninitiative», um die meinsam mit den peruanischen Kollegen hatte Kapitalflucht auf Schweizer Bankkonti zu stoppen. Kaspar einen Dokumentarfilm zu den Miss-Uni- Gerade aus Lateinamerika flossen dem Fiskus ent- versum-Wahlen in Lima realisiert, der eindrück- zogene Gelder in die Schweiz, die ein Mehrfaches lich aufzeigte, wie die peruanische Regierung den der Schweizer Entwicklungshilfe ausmachten. Die Anlass benutzte, um ihr angeschlagenes Image im Initiative verlangte deshalb unter anderem, dass Ausland aufzupolieren. Miss Universo en el Peru die Banken grundsätzlich auch in Steuersachen zur zeigte, wie die Organisatoren des Medienereig- Auskunft verpflichtet seien. nisses von grenzüberschreitender Brüderlichkeit Diese Infragestellung des Bankgeheimnisses sprachen, während in den Elendsvierteln Limas alarmierte die Schweizer Finanzwelt. In einer M illionen in ex t remer A r mut oh ne Perspek t ive da- vierundzwanzig Millionen schweren Kampagne hinlebten, und wie die «Fleischschau» genau aus behauptete sie, die Annahme der Bankeninitiative diesem Grund von mehreren peruanischen Bau- hätte eine schwere Krise des Finanzplatzes und des ern- und Frauenorganisationen heftig kritisiert Werkplatzes Schweiz zur Folge. wurde. Wie Niklaus Liggenstorfer in seiner Ein- Der Arbeitskreis gab beiden Seiten der Vorlage leitung zum Film erklärte, entstand Miss Univer- Gelegenheit, ihre Sicht darzulegen – am 24. April so en el Peru unter schwierigen Bedingungen, weil 1984 erläuterte Beat Kappeler die Argumente für kritische Produktionen von den Behörden in der die Initiative, am 9. Mai vertrat Dr. Werner Meyer Regel beschlagnahmt wurden. die Sichtweise der Gegner. Der dritte Anlass zum In Zusammenarbeit mit der Gruppe Chaski und Thema beschäftigte sich mit der Propaganda der dem Dritte-Welt-Laden ergänzte der Arbeitskreis Grossinserenten. A m 16. Mai veranschaulichte Dr. diesen Filmabend mit einem Solidaritätskonzert Beat von Scarpatetti mit Hilfe von Diaprojektoren, im Farelsaal, wo die Folkloregruppe Tiempo Nuevo m it welchem Auf wa nd d ie Ba n ken i h re Nei n-K a m- ein zahlreich erschienenes Publikum mit traditio- pagne führten. Vertreter der Bieler Filialen von nellen und politischen Liedern begeisterte. Am 30. Grossbanken waren an diesen Anlässen zugegen, November präsentierte das chilenische Ensemble beteiligten sich indes kaum an der Diskussion. Karumanta in der Bieler Stadtkirche die Misa Cri- Das Abstimmungsergebnis machte deutlich, wie olla, ein Werk des argentinischen Komponisten wirksam die schweizweite Kampagne der Initia- Ariel Ramírez, das die Traditionen der traditio- tivgegner gewesen war. Am 20. Mai blieb der Ja- nellen Messe mit lateinamerikanischen Rhythmen Stimmen-Anteil für die Bankeninitiative unter aus mehreren südamerikanischen Ländern kombi- dreissig Prozent. nierte. Zu einem gelungenen Grossanlass wurde das mit der katholischen Solidaritätsgruppe Süd- amerika organisierte Konzert mit dem berühmten Gitarristen José Barrense-Dias im April 1984, aus dem ein Erlös von gut zweitausend Franken resul-

102 K apitel 6 Dennoch hof fen – auch im Jahrzehnt grosser Bedrohungen (1982–1987) ren. Trotz modernster Technologien seien gesell- schaftliche Probleme wie der Nord-Süd-Konflikt auch nicht in Ansätzen gelöst. Einen Grund dafür sah der Referent darin, dass die Politik viel zu sehr … zur Abkehr von missionarischem der menschlichen Neigung nachgebe, kurzfristig Denken etwas erreichen zu wollen. Im Hinblick auf die Zukunft rief Ruh dazu auf, nur noch zurückhal- Auf Einladung des Arbeitskreises referierte Al tend in den Haushalt der Natur einzugreifen. Der Imfeld am 11. September 1984 über die Ursachen Mensch müsse sich vermehrt bewusst sein, dass er der Umweltkrise in Afrika. Dass dort immer grös- als ein Geschöpf inmitten von anderen Lebewesen sere Gebiete versteppten oder gar an die Wüsten existiere. Zur Einsicht, auf die Herrschaft über die verloren gingen, sah Imfeld im Zusammenhang Natur zu verzichten, gehöre auch die vermehrte mit einer Geschichte der Abhängigkeit. Zwischen Sensibilität für das eigene innere Gleichgewicht. dem 15. u nd dem 19. Ja h rhu nder t habe der Sk laven- Gerade in einer Zeit der zunehmenden Automa- ha ndel A f r i k as G esel lschaf ten weit räu m ig desi nte- tisierung solle der Mensch auf ein ausgewogenes griert und in eine fatale Abhängigkeit gezwungen. Verhältnis zwischen Anstrengung und Erholung In der darauf folgenden Kolonialzeit hätten die achten. Europäer vielfach versucht, den Kolonisierten ihr Als zweiter Referent betonte der Ingenieur Denken aufzuzwingen, zum Beispiel in der Land- Matthias Zimmermann, dass den «weiblichen» wirtschaft. Die jahrhundertealten, den heiklen Werten in der Gesellschaft mehr Gewicht einge- Ökosystemen angepassten traditionellen Misch- räumt werden sollte. Die Mentalität des Eroberns und Rotationskulturen seien immer mehr durch und Zerstörens solle in Zukunft von einer Kultur intensive Bewirtschaftung im Dienste der Koloni- des Dialogs auf allen Ebenen abgelöst werden. In alwirtschaft ersetzt worden, was vielerorts zu einer Bezug auf die Arbeitswelt regte Zimmermann an, Übernutzung der Böden, zu verstärkter Erosion die bisher unbezahlte Arbeit aufzuwerten. und Verwüstung geführt habe. Imfeld stellte fest, der Kolonialismus habe sich auch in den Köpfen vieler Angehöriger der afrikanischen Elite festge- Denkanstösse für die moderne setzt. Das Schulsystem vieler afrikanischer Staaten Arbeitswelt fördere unproduktive Verwaltungsapparate in den Städten, die Ausbildung in angepasster Landwirt- Die rasante Entwicklung der Mikroelektronik schaft werde vernachlässigt. Abschliessend rief führte in den achtziger Jahren zu einem beschleu- Imfeld zur Ehrfurcht gegenüber dem Fremden nigten Abbau von Arbeitsplätzen. In diesem Zu- auf. Ein Denken, das auf Bekehrung des Anderen sammenhang plante der Leitende Ausschuss im gerichtet sei, ohne überhaupt nach der Richtigkeit Oktober 1982 einen Zyklus zur Arbeit in der In- des eigenen Weges zu fragen, habe keine Zukunft. dustrie- und Informationsgesellschaft. Bei der Gefragt sei stattdessen mehr ganzheitliches Den- Planung der Anlässe war es Plasch Spescha ein ken. Anliegen, auch die Chancen neuer Technologien aufzuzeigen, etwa im Hinblick auf eine Zunahme von frei verfügbarer Zeit. Unter dem Titel Welche Welche Werte haben Zukunft ? Zukunft wollen wir? konnte der Zyklus zwischen Februar und Mai 1984 mit gutem Erfolg durch- Der vom Arbeitskreis am 15. Oktober 1985 orga- geführt werden. Den ersten Anlass bestritt der nisierte Informations- und Diskussionsabend lud Betriebspsychologe Prof. Eberhard Ulich, der zu Versuchen ein, die gesellschaftliche Entwick- auf sachliche Weise Vor- und Nachteile der Auto- lung mit ganzheitlichem Denken zu erörtern. In matisierung erörterte. Zwar vernichte jeder neue seinem einführenden Referat betonte der Soziale- Roboter vier Arbeitsplätze, aber es seien oft gera- thiker Prof. Hans Ruh, dass der Mensch in der Er- de die monotonen, schlecht bezahlten Arbeiten, findung hoch entwickelter technologischer Mittel die durch Maschinenarbeit ersetzt würden. Am grosse Fähigkeiten bewiesen habe, aber weit mehr Beispiel von Volvo zeigte der Referent, wie auch in Mühe bekunde, sich gesellschaftlich zu orientie- der hoch rationalisierten Autoproduktion kreative

103 K apitel 6 Dennoch hof fen – auch im Jahrzehnt grosser Bedrohungen (1982–1987) Jacques-Michel Grossen. Aus politischer und ju- ristischer Sicht vertraten die Podiumsteilnehmer/ innen die längst überfällige Gleichberechtigung von Mann und Frau in der Partnerschaft, und da- und abwechslungsreiche Arbeitsabläufe geschaffen bei achteten sie darauf, im Verlauf des Abends dem werden konnten. Angesichts des massiven Abbaus 30-jährigen Werdegang und allen Aspekten der von Arbeitsplätzen forderte Ulich eine drastische Gesetzesvorlage gerecht zu werden. Im Verlaufe Arbeitszeitverkürzung und Neuerungen in der der Diskussion setzte sich Rechtsexperte Gros- Berufsbildung. Der «Beruf fürs Leben» gehöre sen für eine gute politische Kultur ein – das neue der Vergangenheit an, daher müsse die berufliche Eherecht sollte nicht mit ein paar oberflächlichen Weiterbildung erheblich ausgebaut werden. Schlagwörtern demontiert werden. Nach zwei Abenden zu Fragen des ökologischen Nach dem Publikumserfolg vom 27. August or- Wirtschaftens und zu neuen Arbeitszeitmodel- ganisierte der Arbeitskreis in Zusammenarbeit mit len erläuterte Plasch Spescha am 11. Mai 1984 das der Neuen Helvetischen Gesellschaft ein kontradik- Modell der «Sozialzeit». Gerade nach künftigen torisches Podiumsgespräch, das am 4. September Arbeitszeitverkürzungen werde es wichtig sein, noch einmal Gelegenheit gab, sich mit der Vorlage neben der Arbeitszeit und der Freizeit einen neu- zu befassen. Auch mögliche Probleme des neuen en Bereich zu schaffen, in dem der Mensch seine Eherechtes, etwa die Schlechterstellung der Frau soziale Verantwortung wahrnehmen könne. Es im Falle einer Scheidung, konnten dabei eingehend gehöre zum Menschsein, sich in Gesellschaft und erörtert werden. Politik zu engagieren, betonte Spescha, und gerade Am 22. September wurde das neue Eherecht mit der erhebliche Zeitaufwand für diese Art von En- 54,7 Prozent Ja-Stimmen angenommen – vor allem gagement sei ein Grund mehr, die Arbeitszeiten zu dank den Stimmen der Frauen, der städtischen Be- verkürzen und flexibler zu gestalten. Der Referent völkerung und der Romanischen Schweiz… räumte aber ein, dass die Verwirklichung einer So- zialzeit einen weitgehenden Reifeprozess voraus- setze und daher nicht zu den kurzfristig erreich- Zweisprachigkeit? baren Anliegen gehöre. Am 5. November 1985 referierte Marcel Sch- wander im Farelsaal über das Verhältnis von Kontradiktorisches zum neuen Eherecht Deutsch und Welsch in der Schweiz. Gewiss gebe es auf beiden Seiten der Saane gastronomische Zu Beginn der achtziger Jahre hatten National- Unterschiede, erklärte der ehemalige Bieler, aber und Ständerat den Entwurf für ein neues Eherecht Rösti sei in beiden sprachlichen Gemeinschaften auf partnerschaftlicher Grundlage deutlich ange- populär, und sogar der Name des Kartoffelgerichts nommen. Nach dem erfolgreichen Referendum sei unterdessen schweizweit derselbe. eines rechtsbürgerlichen Komitees um den Zür- S c hwa nder b etonte, da s s ei ne gew is se Spa n nu ng cher Nationalrat Christoph Blocher kam es vor zwischen Deutsch und Welsch auch positive Sei- der Volksabstimmung vom 22. September 1985 zu ten habe – Gegensätze erleichterten es, den eige- einem recht intensiven Abstimmungskampf. nen Standpunkt zu überdenken und zu versuchen, Der Arbeitskreis führte zu diesem Thema zwei auch jenen des anderen zu verstehen. Nach einem öffentliche Anlässe durch. Am 27. August mode- Rückblick auf die Jahre 1914 bis 1918, als der Erste rierte André Monnier ein Podiumsgespräch, das Weltkrieg das Verhältnis zwischen Deutsch und unter dem Patronat des Bieler Komitees für ein Welsch schwer belastete, forderte Schwander eine neues Eherecht stand. Ein prominent besetztes Schweiz mit starken, lebendigen Minderheiten. Podium war bereit, für die Vorlage einzustehen: Nur so könne die Eidgenossenschaft bewahrt und Die vom sehr zahlreich erschienenen Publikum gestärkt werden. mit einem Sonderapplaus empfangene ehema- Ab 1983 verstärkte A ndré Monnier seine Bemü- lige Bundesratskandidatin Nationalrätin Liliane hungen, den Arbeitskreis auch bei den Romands Uchtenhagen, Ständerätin Monique Bauer-Lagier, besser zu verankern. Der Jahresbericht erschien Nationalrat Hans Georg Lüchinger und Prof. vorübergehend in beiden Sprachen, und die Veran-

104 K apitel 6 Dennoch hof fen – auch im Jahrzehnt grosser Bedrohungen (1982–1987) Als Konsequenz solcher Mechanismen machte er eine zunehmende Resignation aus: Viele, die im- mer wieder mit kritischen Fragen Anstoss erregt hatten, hätten sich ins Privatleben zurückgezogen staltungen wurden vermehrt auch in französischer – Resignation sei aber auch eine Form des Schläf- Sprache durchgeführt. Für diese Arbeit konnte der rig-Werdens oder gar des Einschlafens. Auch in Studienleiter regelmässig mit der Gruppe Chrétiens Bezug auf den Besuch mancher Veranstaltungen et questions politiques zusammenarbeiten. Abgese- schien sich ein Rückgang des politischen Enga- hen von meh reren eher i nfor mellen «St am m»- G e- gements bemerkbar zu machen: Es kam mehr als sprächen und zweisprachigen Podiumsgeprächen einmal vor, dass für den Farelsaal geplante Anlässe organisierte der Arbeitskreis auch Anlässe, die wegen spärlich eingetroffenen Publikums in den speziell für die Romands gedacht waren. Im Janu- ersten Stock des Farelhauses verlegt wurden. ar 1984 fand ein kontradiktorisches, von Philippe In diesem Kontext führte der Arbeitskreis Ende Roulet geleitetes Podiumsgespräch zur Zivildienst- Oktober 1984 eine Retraite durch, um seine Ar- initiative ein gutes Echo, und im März des gleichen beitsweise und die Schwerpunkte seiner Arbeit neu Jahres überzeugte auch der Vortrag des bekannten zu hinterfragen. Für den Studienleiter und die teil- Philosophen Louis Evely zur Frage nach dem Sinn nehmenden Mitglieder von Kommission und Lei- des Todes in einem vollen Farelsaal ein interessier- tendem Ausschuss war das gemeinsame Wochen- tes Publikum. Weitere mit gutem Erfolg durch- ende in Prés-d’Orvin auch eine gute Gelegenheit, geführte Anlässe in französischer Sprache fanden den persönlichen Kontakt zu pflegen. Im Zentrum zu den Themen UNO-Beitritt, Tschernobyl und der gemeinsamen Reflexion stand die Herausfor- AIDS (beide 1986) sowie zur Asylgesetzrevision derung, mit einer Erwachsenenbildung im Sinne (1987) statt. Wenig Anklang fand hingegen ein von Bewusstseinswerdung (conscientisation) der französischer Gesprächsabend mit dem brasi- Flucht ins Private in diesen von Pessimismus und lianischen Padre Carlos Cesar dos Santos am 1. Zukunftssorgen geprägten Jahren entgegenzu- Dezember 1987. Das vorgeschlagene Thema hiess wirken. Die Teilnehmenden an der Retraite waren Resistência. Der junge Priester äusserte sich zum sich einig, dass auch in Zukunft die Förderung der Widerstandsaspekt in der lateinamerikanischen Gesprächsbereitschaft ein Hauptziel des Arbeits- Befreiungstheologie. kreises bleiben sollte, und zwar mit dem Ziel, die Trotz diesen Ansätzen in Richtung eines zwei- Übernahme von Mitverantwortung zu fördern. sprachig geführten Arbeitskreises stellte André Als thematischer Schwerpunkt zeichnete sich die Monnier 1985 und in den Folgejahren fest, dass der Sorge um und die Mitverantwortung für die Er- evangelische Bezug zu Zeitfragen in den franzö- haltung einer unversehrten Natur ab – spezifisch sischsprachigen Kirchgemeinden weniger ausge- kirchliche Themen erhielten einen vergleichswei- prägt zu sein schien. se kleinen Stellenwert. Als Ziele der nach aussen wirksamen Arbeit wurden formuliert: Persönlich- keitsentfaltung, Übernahme von Mitverantwor- Standortbestimmung tung und Mitwirkung an einer humaneren Ausge- staltung von Gesellschaft, Wirtschaft und Politik. «Ihr alle seid … Menschen, die zum Licht und In Bezug auf die konkrete Arbeit herrschte zum Tag gehören. Weil wir nun nicht mehr in Einigkeit, dass die herkömmlichen Podiumsge- der Nacht oder Dunkelheit leben, sollen wir auch spräche und Vorträge eher zurückhaltender ein- nicht schlafen…, sondern wach und nüchtern zusetzen seien – aktivierendere und nachhaltigere sein.» Diese Bibelstelle setzte André Monnier sei- Arbeitsformen wie Kurse oder mehrteilige, semi- nem Beitrag zum Arbeitskreis-Jahresbericht 1984 narartige Anlässe sollten dagegen einen breiteren voran. Der Geschäfts- oder Studienleiter sah als Raum einnehmen. An dieser Retraite wurde auch wichtige Funktion des Arbeitskreises auch weiter- A lfred Bürgi als längjähriger Präsident des Leiten- hin das prophetische und unbequeme Amt des Wa- den Ausschusses verabschiedet. Luzius Jordi, Pfar- chens, stellte aber fest, dass gerade Gruppen, die rer in Sutz, übernahm dieses A mt. sich um ein waches Gespür für die Zeichen der Zeit bemühten, gerne an den Rand gedrängt wurden.

105 K apitel 6 Dennoch hof fen – auch im Jahrzehnt grosser Bedrohungen (1982–1987) Gottesbildern und -glauben; wesentlicher Wert wurde auf die Lebensgeschichte Jesu und ihre Nachwirkungen gelegt. Der Mittelteil begann meist mit religiöser Gesellschafts- und Gegen- Kurse unter dem Zeichen der Ökumene wartsanalyse («Markt» der Religionen und Ideo- logien), Schwerpunktthemen in der Schlussphase Bereits 1981 bemühte sich der Ökumenische waren stets: Sinnerfahrungen und ethische Ent- Kreis für Bibelarbeit Biel darum, biblische Texte im scheidungen, solidarischer Lebensstil und inter- Hinblick auf das Nachdenken über aktuelle The- religiöses Gespräch. Im letzen Kursdrittel und an men wirksam werden zu lassen. Der Arbeitskreis den Wochenenden w u rde auf d ie G est a lt u ng s w ü n- machte auch in den folgenden Jahren mit. 1982 sche der Teilnehmenden eingegangen. folgte auf einen ersten, sechsteiligen Kurs unter Die Kursleiter/innen versuchten, ein kontextu- dem Titel Frieden wagen – Schrit te tun ein Wochen- elles Theologieverständnis zu vermitteln. Nicht endkurs unter dem Motto Nid lugg loh – draa blibe. die Vermittlung eines starren Moralkodex war Der Titel des mehrheitlich von Frauen geleiteten das Ziel, sondern die Hinführung zu diskursiver Bibelkurses 1984 kontrastierte angenehm mit dem Ethik und zu einem mündigen Christsein. Die Zeitgeist. «Mit den Flügeln der Morgenröte» liess fünf Grundkurse wurden für jeweils 16 Kursteil- sich besser gegen Zukunftsängste angehen. Sei- nehmer/innen ausgeschrieben, in der Regel nahm tens des Arbeitskreises beteiligte sich vor allem ein gutes Dutzend Personen teil. Reinhard Lanz an der Organisation der jährlich Als Bereicherung des Programms erwiesen sich mindestens einmal durchgeführten Kurse. die Märchenkurse von Rudolf und Verena Weh- Die gute Zusammenarbeit zwischen dem Ar- ren. Ein erster Kurs 1985 führte in die Bilderspra- beitskreis und den entsprechenden Stellen der che des Märchens ein, ein Jahr später verglichen Römisch-Katholischen Kirche zeigte sich auch in Wehrens mit Doris Kläusler-Zbinden und Josef der mehrmaligen gemeinsamen Planung, Durch- Kaufmann die Erlösung im Märchen mit der von führung und Evaluation von meist etwa sechs- der Bibel verheissenen Erlösung. Der Märchen- monatigen ökumenischen Theologiekursen. Der kurs 1987 zum Thema Zauberfrauen fand ein be- erste dieser Kurse (Orientierung am Glauben – die sonders gutes Echo. Frage nach Gott einst und heute) fand 1985/86, der Als Berichterstatterin der Arbeitsgruppe Frau letzte (Lebenssinn und Gotteserfahrung – ein Theo- und Arbeit bemerkte Giovanna Bösch-Massa im logiekurs mit Christ/inn/en und Andersdenkenden) Jahresbericht 1983: «Unsere Gruppe wird immer 1991/92 statt. Insgesamt wurde der ökumenische kleiner […]. Ein gutes Gefühl gibt mir trotzdem Theologiekurs, eigentlich «eiserner Bestand» der die Tatsache, dass unsere Arbeit in vielen kleineren ökumenischen Basiszusammenarbeit, fünfmal an- Gruppen weiter geleistet wird und dass wir uns aus geboten. Der Kern des Leitungsteams – Markus diesem Grund auch gut zurückziehen können.» Buenzli-Buob, Plasch Spescha und André Monnier Tatsächlich löste sich Frau und Arbeit auf, und ihre – wurde von verschiedenen Frauen massgeblich Bestrebungen wurden von der Frauenberatungs- unterstützt, sei es durch Ko-Moderation (Renate stelle Biel weitergeführt. Den von Frau und Ar- Scheller) oder die Übernahme eigener Sequenzen beit angebotenen Kurs Hilfe! Ich möchte etwas tun! (Franziska Bangerter, Silvia Schroer und Verena konnte der Arbeitskreis 1985 in Zusammenarbeit Naegeli). Wichtig waren die integrierten Kurswo- mit der Volkshochschule Biel zweisprachig weiter- chenenden. führen. Ich möchte mehr tun hatte unter anderem Die ökumenischen Theologiekurse bestanden das Ziel, Selbstbewusstsein und Durchsetzungsfä- im Wesentlichen aus drei Teilen. Ging es zu Be- higkeit der Frauen zu fördern. ginn um die Herkunft christlicher Glaubensüber- Die schon seit vielen Jahren bestehende Insti- zeugung und im Mittelteil um das aktuelle theo- tution des «Stamms» erhielt Ende 1984 ein neues logische Nachdenken und Verstehen, wurden im Gesicht. Im «Stübli» des Café Rihs fanden nach Schlussteil Konkretisierungen des christlichen einer kurz gehaltener Einleitung betont unge- Solidaritätsethos erörtert. Im Verlauf eines Kurses zwungene, spontane Gespräche zu aktuellen Fra- gab es etwa einen Streifzug durch einzelne bibli- gen statt. Einem ersten derartigen Stamm zum sche Berichte, Einblicke in die Entstehung von Thema Jugend in Biel mit Hanspeter Gschwend

106 K apitel 6 Dennoch hof fen – auch im Jahrzehnt grosser Bedrohungen (1982–1987)

Im Rahmen der ökumenischen Basiszusammenarbeit wirkte Plasch Spescha an vielen Projekten des Arbeitskreises mit.

Theo Krummenacher, langjäriger Koordinator von «Kirche und Film»

und dem damaligen Jugendsekretär Roland Junod Kirche und Film: offizielle Anerkennung folgten 1985 und 1986 etwa zwanzig weitere, oft für beharrliche Arbeit ausgesprochen anregend und bereichernd verlau- fende Abendgespräche. Wegen einer Abnahme des Ja h r f ü r Ja h r g i ng von Biel au s ei ne Gr at isd ien st- Interesses verzichtete der Arbeitskreis ab 1987 auf leistung in die Welt, die auch in der Vatikanischen weitere A nlässe in dieser Form. Bibliothek oder in der Audiovisuellen Medienzen- t r a le i n K ig a l i ( Ru a nda) ge schät zt w u rde. Die z wei- sprachigen Filmbulletins der Arbeitsgemeinschaft Kirche und Film boten mehr als eine Information über die vielen sehenswerten Filme in den Bieler Kinos – die kompetent verfassten, zweisprachigen Filmkritiken verzichteten auf plakative Wertur- teile und überliessen es den Zuschauern, sich zu den jeweiligen Filmen eine eigene Meinung zu bilden. Als die Stadt Biel die Arbeit Theo Krummenachers als Koordinator von Kirche und Film mit der Eh- rung für kulturelle Verdienste würdigte, hatte die A rbeitsgemeinschaft seit ihrer Gründung im Jahre

107 K apitel 6 Dennoch hof fen – auch im Jahrzehnt grosser Bedrohungen (1982–1987) Das Experiment

Am 26. April 1986 begann im Atomreaktor von Tschernobyl ein Experiment. Das technische Per- 1969 an die 1500 Filmbulletins mit einer Gesamt- sonal wollte abklären, ob die interne Stromversor- auflage von etwa 2 Millionen Exemplaren produ- gung des Reaktors auch bei Ausfall der externen ziert. Die in Zusammenarbeit mit Jacques Dutoit, Versorgung gesichert sei. Ein erster Fehler führte Beatrice Möri und anderen erarbeiteten Bulletins stellenweise zu einer übermässigen Aktivität im bildeten aber nur einen Teil der Tätigkeit von Reaktor – der Versuch wurde aber trotzdem wei- Kirche und Film. Um das Wissen über die aktuelle tergeführt. Die Stromproduktion der Haupttur- Filmproduktion auf dem neusten Stand zu halten bine wurde hinuntergefahren. Davon waren aber und bei der Förderung des guten Films mitzuwir- auch vier Kühlmittelpumpen betroffen, die wegen ken, besuchten Möri und Krummenacher immer des verspätet einsetzenden Notstroms nicht mehr wieder verschiedene Filmfestivals, wo sie in einer genug Kühlwasser pumpten. An den Stellen mit ökumenischen Jury mitmachten oder Workshops überhöhter Aktivität im Reaktor verdampfte das anboten. Die Präsenz an den Filmfestivals wur- verbliebene Kühlwasser, was die Aktivität in den de aus privaten Mitteln finanziert. Warum sie so überhitzten Bereichen weiter steigerte. Die für den wichtig war, erklärte Krummenacher im Jahresbe- Reaktor Verantwortlichen beschlossen nun, die- richt 1983: «Alle diese Betätigungen in regionalen, sen abzuschalten, dabei wurden zum Teil Steuer- nationalen und internationalen Gremien belasten stäbe in den Reaktor eingefahren. Doch entgegen die Kasse unserer Arbeitsgemeinschaft nicht, spie- allen Erwartungen wurde dadurch die Leistung len aber für unsere Arbeit hier eine wichtige Rolle: des Reaktors für kurze Zeit erhöht. Innert weniger Sie verschaffen uns wertvolle Informationen. Weil Sekunden erreichte die Reaktoraktivität das Hun- die g rossen Medien inst it ut ionen so et was w ie Seis- dertfache des Normalbetriebs. Der Überdruck mographen sind, erfahren wir vieles über unsere löste eine Druckwelle aus, die den über tausend bewegte Welt, von dem wir sonst keine Kenntnis Tonnen schweren Betondeckel des Reaktors hoch hätten. Unsere Aufgabe ist nicht die Verkündigung katapultierte und in eine vertikale Lage versetzte. oder die Belehrung, aber irgendwie das Mittragen Es folgte eine zweite Explosion, bei der Wasser- der Leiden der Welt – aus einem Glauben heraus, stoff verpuffte. Sofort wurde Radioaktivität in der uns Hoffnung gibt. Wir versuchen, zu verste- grossen Mengen freigesetzt. Flüchtiges Jod-131 hen, Anteil zu nehmen, zu bekunden, dass wir nicht und Cäsium-137 gerieten in die Luft und wurden fliehen, sondern mit dazugehören.» als radio-aktive Wolke viele tausend Kilometer Dank der regelmässigen Teilnahme am aktu- westwärts verfrachtet. ellen Filmgeschehen konnte auch die Dokumen- Es dauerte mehr als einen Tag, bis die Experten tationsstelle von Kirche und Film auf dem neusten in Tschernobyl das Ausmass der Katastrophe be- Stand gehalten und Interessierten aus Nah und griffen hatten, und das Vorgehen der sowjetischen Fern zur Verfügung gestellt werden. Kirche und Regierung verschlimmerte diese Hilflosigkeit. Film führte auch einen rege benutzten Video- Nach alter stalinistischer Tradition liess Gor- Ausleihdienst. Eine besonders kreative Tätigkeit batschow zu Tschernobyl eine Nachrichtensperre der Arbeitsgemeinschaft war die Filmarbeit mit verhängen. Zwar wurden 100 000 Personen aus der Konfirmandinnen und Konfirmanden. Dank kom- näheren Umgebung des Reaktors evakuiert, und petenter und geduldiger Begleitung durch Möri medizinisches Personal wurde zu tausenden in die und Krummenacher realisierten Jugendliche im- am meisten betroffenen Regionen entsandt. Für mer wieder gelungene Super 8-Filme. Mit Werken die «Aufräumequipen» beim Reaktor selbst be- wie Mofa-Riders, Zelluloid oder Vom Winde verweht deutete der Aufenthalt in unmittelbarer Nähe des verwirklichten manche der beteiligten Jugend- Reaktors jedoch das Todesurteil. In den folgenden lichen einen ihrer Träume. Krummenacher war Jahren kostete Tschernobyl tausende von Men- die Verbindung mit dem Arbeitskreis wichtig. So schenleben. nahm André Monnier etwa einmal jährlich an Zu- Nach verschiedenen Studien führte die radioak- sammenkünften von Kirche und Film teil. tive Wolke aus Tschernobyl auch in verschiedenen Regionen Westeuropas zu einem Anstieg der

108 K apitel 6 Dennoch hof fen – auch im Jahrzehnt grosser Bedrohungen (1982–1987) Wird die Schweiz Mitglied der Vereinten Nationen?

Sechsundsechzig Jahre nach dem Beitritt zum Säuglingssterblichkeit und gewisser genetischer Völkerbund standen die Schweizer Stimmbe- Schäden. Die Welle der Furcht, die im Mai 1986 rechtigten vor der Entscheidung, ob die Zeit reif über Europa zog, hatte also gute Gründe. Auch in geworden sei, auch seiner Nachfolgeorganisati- der Schweiz kam es zu spontanen Protestkundge- on beizutreten. Die Gegner eines UNO-Beitritts bungen, und die Skepsis gegenüber der Atomtech- um AUNS-Gründer Otto Fischer führten eine nologie erfasste noch breitere Kreise. Selbst in bür- geschickte Kampagne, indem sie die UNO als gerlichen Kreisen sprachen immer mehr Politiker subersiv beeinflusste und von Drittweltländern davon, dass in der Energiepolitik die Zeit für eine dominierte Organisation hinstellten. Ausserdem Denkpause gekommen sei. argumentierten die Gegner, ein UNO-Beitritt sei Am 18. Juni führte der Arbeitskreis einen Infor- mit der schweizerischen Neutralität nicht verein- mationsabend zu den möglichen Ursachen und bar. Die gute Resonanz dieser Kampagne deutete Folgen der Katastrophe in Tschernobyl durch. schon vor der Abstimmung darauf hin, dass der Wegen der kurzfristigen Erkrankung des Atom- «Sonderfall Schweiz» noch einige Jahre andauern physikers Jean Rossel referierte der Ingenieur könnte. Pierre Lehmann aus atomkritischer Sicht, wäh- In dieser Situation organisierte der Arbeits- rend Jean-Pierre Kälin als Direktor der EOS kreis unter Mitwirkung der Neuen Helvetischen den Reaktorunfall aus der Sicht der Elektrowirt- Gesellschaft einen Anlass, der grösstmögliche Me- schaf t beu rteilte. I m Rahmen dieser Veranstalt u ng dienwirksamkeit garantierte. Am 30. Januar 1986 zeigten H. P. Kohler und Andreas Urweider erst- hielt Bundesrat Pierre Aubert im restlos gefüllten mals ihre Zeichnungen und Texte über Tscherno- Farelsaal ein engagiertes Plädoyer für den UNO- byl. Beitritt. Der Aussenminister versicherte, dass ein Schon im Januar 1983 hatte sich der Arbeits- Beitritt die Neutralität nicht gefährde: «Die Ge- kreis mit einem schweren AKW-Unfall und des- neralversammlung der UNO ist ein Parlament sen Folgen befasst – damals hatte Louise Brad- unabhängiger Länder und keine übergeordnete ford, ein führendes Mitglied der Frauenbewegung Regierung. Sie kann niemanden zu etwas zwingen. gegen Atomkraftwerke in Pennsylvania, über die Ausserdem anerkennt die UNO die Rolle der neu- Beinahe-Katastrophe im AKW von Three Mile tralen Länder und vertraut ihnen gerade wegen ih- Island bei Harrisburg und den Widerstand gegen rer Neutralität besondere Aufgaben an. […] Auch die Wiederinbetriebnahme des Atomkraftwerks die Mahnung des Niklaus von Flüe, den Zaun nicht informiert. André Monnier war es ein Anliegen, zu weit zu ziehen, ist in diesem Falle nicht anwend- auch über die langfristigen Folgen von «Tscherno- bar – die Welt ist längst zum Dorf geworden. Was byl» zu informieren. Am 21. September 1990 erläu- terte der Bieler Kinderarzt Walter Koch im Farel- saal, dass die Fälle von Schilddrüsenfibrosen und Schilddrüsenkrebs in den radioaktiv verseuchten Gebieten Weissrusslands und der Ukraine viel häufiger geworden seien.

Die Reaktorkatastrophe im russischen Tschernobyl löste auch in Biel tiefe Betroffenheit aus. Mit mehreren Anlässen ermöglichte der Arbeitskreis eine Auseinan- dersetzung mit der Katastrophe.

109 K apitel 6 Dennoch hof fen – auch im Jahrzehnt grosser Bedrohungen (1982–1987) Neue Formen der Fremdenangst

Eine Gesellschaft, die nach Jahrzehnten der Vollbeschäftigung mit einer steigenden Arbeits- sich auf der andern Seite des Erdballs abspielt, inte- losigkeit konfrontiert war, beäugte die wachsende ressiert uns nicht nur, es beeinflusst auch unser Le- Zahl fremder, dunkelhäutiger junger Männer mit ben.» Schliesslich zeigte Aubert, welche konkreten zunehmendem Unbehagen. Nach dem Ausbruch Vorteile ein Beitritt zu den Vereinten Nationen des Bürgerkriegs in Sri Lanka 1983 stellten immer hätte: «Bisher hat die Schweiz nur einen Beobacht- mehr Tamilen ein Asylgesuch in der Schweiz, um erstatus, und damit kann sie nur eine zweitklassige der Repression durch die singhalesisch geführte Rolle spielen. Die zwölftgrösste Wirtschaftsmacht Armee oder der Rekrutierung durch den bewaff- und der viertgrösste finanzielle Investor der Welt neten tamilischen Widerstand zu entgehen. Das sollte aber seine Stimme überall erheben können.» Bild der nicht beschäftigten, oft gruppenweise bei Im Verlauf der Diskussion mit dem Publikum den Bahnhöfen anzutreffenden Flüchtlinge löste in ging der Bundesrat vor allem auf die Behauptung bestimmten Kreisen der Bevölkerung eine starke ein, dass UNO-Resolutionen in der Regel zynisch Abwehrhaltung aus, und unsachliche Berichte in missachtet würden: «Eine Resolution der Verein- der Boulevardpresse gaben dem aufkeimenden ten Nationen erzeugt immerhin einen grossen Hass gegen die Tamilen zusätzliche Nahrung. Für moralischen Druck, der selten ganz ohne Wirkung die neue Generation von Fremdenhassern galten bleibt.» die neuen Fremden als kriminell und arbeitsscheu. Der Versuch der Landesregierung, die Schweiz Die wachsende Zahl von Asylsuchenden über- aussenpolitisch weiter zu öffnen, erlitt trotz guter forderte die Behörden. Im März 1983, als 179 ta- Argumente eine schwere Schlappe: Über drei milische Asylbewerber auf ihren Entscheid war- Viertel der Stimmenden und sämtliche Kantone teten, sprach der Stadtberner Polizeichef von einer lehnten den U NO-Beitritt ab. eigentlichen Flut von Flüchtlingen aus Sri Lanka, die allesamt illegal in die Schweiz eingeschleust worden seien. Bis 1985 stieg die Zahl tamilischer Asylbewerber jedoch auf über dreitausend, und ihr Anteil an allen Asylgesuchen erreichte ein Viertel. In dieser Situation versuchten das Bundesamt für Polizeiwesen und die Landesregierung, die Zahl der Tamilen in der Schweiz so niedrig wie möglich zu halten. Trotz seriösen Berichten eigener Fach- leute vor Ort, die vor Rückschaffungen warnten, Pierre Auberts Plädoyer für einen UNO-Beitritt fand bezeichnete der Bundesrat im Oktober 1984 eine im Farelsaal gute Resonanz. In der Volksabstimmung Rückschaffung von Tamilen als zumutbar. Nach wurde die Vorlage aber klar verworfen. dem Protest der Hilfswerke und von Amnesty In- ternational nahm er diesen Entscheid aber noch im Dezember zurück. Das Hin und Her in dieser Frage verstärkte jedoch die Verunsicherung in der Bevölkerung – viele hatten den Eindruck, in dieser Frage gebe nur innenpolitischer Protest den Aus- schlag. Gegen Ende des Jahres 1985 drohte erneut eine Rückschaffung von Tamilen in ihre vom Bürger- k r ie g v e rhe e r t e He i m at . I n d ie s e m Z u s a m me n h a n g regten dem Arbeitskreis nahe stehende kirchliche Mitarbeiter um Pfarrer Walter E. Meyer kurzfri- stig einen Informations- und Gesprächsabend an, u m die Tam ilenf rage aus ch rist licher Sicht zu erör- tern. In Zusammenarbeit mit Amnesty International

110 K apitel 6 Dennoch hof fen – auch im Jahrzehnt grosser Bedrohungen (1982–1987) orientierte ein Informationsabend mit Amnesty International am 5. Februar 1987 über die geplante Ausschaffung tamilischer Asylsuchender in den Süden Sri Lankas, während der Auftritt des Volks- organisierte der Arbeitskreis ein Forum mit zahl- fremdentheaters Maralam vom 6. März 1987 eine reichen Fachleuten, die am 22. Januar 1986 einem spielerische Annäherung zwischen der tamilisch- interessierten Publikum verschiedene Aspekte des schweizerischen Theatergruppe und einem wenig Problems näher brachten. zahlreichen, aber engagierten Publikum ermög- Mit Hilfe einer Tonbildschau erklärte Ben- lichte. Mit der zunehmenden Verschärfung des dicht Tellenbach von Amnesty International die Asylgesetzes beschäftigte sich am 10. März 1987 historischen Ursachen des Konflikts. Während ein Abend mit Prof. Peter Eicher und Pfarrer Hans der Kolonialzeit hatte Grossbritannien die tami- Jörg Fehle. lische Minderheit gefördert, um sie in ihr System der indirekten Herrschaft einzubinden. Der Am- nesty-Vertreter informierte anschliessend über Neue Armut in Biel die aktuelle Lage in den Tamilengebieten, wo die singhalesische Armee die Gefangenen systema- Die Entlassungswelle, die ab 1982 über Biel tisch foltere und wo es zu willkürlichen Massakern rollte, schien anfänglich etwas weniger gravierend gekommen sei. Dass vor allem junge Männer ge- als der erste K riseneinbruch um die Mitte der sieb- flüchtet seien, erklärte Tellenbach mit ihrer hoch- ziger Jahre. Wie tief greifend auch diese Rezession gradigen Gefährdung. Der blosse Verdacht, zur wirkte, zeigten die Ergebnisse einer Diplomarbeit tamilischen Guerilla zu gehören, berechtige die der vereinigten Schulen für Sozialarbeit Bern, die Polizei, junge Männer bis zu 18 Monaten gefangen sich mit dem Ausmass der neuen Armut in Biel be- zu nehmen. fasste. Zu den rund 800 Fällen tradierter Armut Pfarrer Andreas Urweider betonte, dass schon kamen in Biel inzwischen mindestens 500 Fälle das Alte Testament dem Gastrecht einen ho- von neuer, infolge lang anhaltender Arbeitslosig- hen Platz eingeräumt habe, um den Schutz des keit entstandener Armut. Auch das von der Stadt Schwachen zu garantieren. Pfarrer Meyer stellte Biel organisierte Arbeitsbeschaffungsprogramm fest, dass weite Kreise der Bevölkerung ängstlich für Ausgesteuerte konnte demnach nicht verhin- auf die Fremden reagierten, und hoffte, dass der dern, dass die Zahl der Fürsorgefälle deutlich in Glaube helfe, diese Ängste zu überwinden. Ein die Höhe schnellte. letzter Teil des Abends widmete sich der Realität Um das Gesicht dieser neuen Armut breiter be- tamilischer Asylsuchender in der Schweiz. Der ka- kannt zu machen, organisierte der Arbeitskreis am tholische Sozialarbeiter Viktor Bührer wehrte sich 4. März 1986 ein Informations- und Gesprächsfo- gegen das durch Medienberichte verzerrte Bild der rum mit den Autorinnen und dem Autor der Di- tamilischen Flüchtlinge. Dass Kriminalität auch plomarbeit sowie SP-Grossrat Hans Rickenbacher. unter tamilischen Flüchtlingen vorkomme, dürfe Die jungen Diplomierten betonten, dass immer nicht zu einer pauschalen Ablehnung der Tamilen mehr junge Erwachsene im «leistungsfähigsten» führen. Deren zweitausendjährige Kultur ken- Alter offenbar nicht mehr die Möglichkeit hätten, ne sehr strenge moralische Normen, und erst der für ein ausreichendes Einkommen zu sorgen. Seit Krieg habe viele Werte in Frage gestellt und viele Ausbruch der Rezession seien überdurchschnitt- Menschen traumatisiert. Schliesslich entkräftete lich viele Ausländer fürsorgeabhängig geworden. Maximilian Eisen, Adjunkt der Fürsorgedirek- Lang anhaltende Arbeitslosigkeit habe in vielen tion, die gängigen Vorurteile über das luxuriöse Fällen nicht nur Fürsorgeabhängigkeit zur Fol- Leben der Flüchtlinge. Für Nahrungsmittel und ge, sie verursache auch Frühinvalidität. So gese- Taschengeld zahle der Bund pro Flüchtling mo- hen sei Arbeitslosigkeit sicher die teuerste Form natlich 450 Franken. der Arbeitszeitverkürzung. Hans Rickenbacher Auch in den folgenden Jahren verfolgte der warnte vor zu einfachen Rezepten gegen die neue Arbeitskreis das Schicksal von tamilischen und Armut. Sie könne erst wirksam bekämpft werden, anderen Flüchtlingen sowie den Asylbereich über- wen n zusät zl iche Untersuchu ngen auch a ndere A s- haupt mit grosser Aufmerksamkeit. Zum Beispiel pekte wie das Fehlen preisgünstiger Wohnungen

111 K apitel 6 Dennoch hof fen – auch im Jahrzehnt grosser Bedrohungen (1982–1987) ermöglichen. Die Situation in Biel wurde anläss- lich einer «Poster-Session» im Farelsaal demons- triert: Stellwände mit grossformatigen Plakaten erlaubten es den Interessierten, die Angebote der berücksichtigt hätten. Nicht zuletzt durch diesen verschiedenen mit Altersarbeit und -pflege be- Anlass erhielten die Ergebnisse der Diplomarbeit fassten Institutionen kennen zu lernen. kantonsübergreifende Publizität – nicht zur eitlen Nach einer Performance des Atelier du geste Freude der Kreise, die sich vorab um das «Image» über das Älterwerden beschäftigte sich ein Anlass der Stadt Biel sorgten… mit der Alterspflege in verschiedenen Städten, um Um das Phänomen der «neuen Armut» mit den einen Vergleich mit der Situation in Biel zu ermög- Krisenjahren der Zwischenkriegszeit zu verglei- lichen. Das grösste Medienecho fand das Hearing chen, organisierte der Arbeitskreis am 10. April vom 16. September. Zur Frage, wo der Schwer- einen Vortrag des Historikers Tobias Kästli. Vor punkt der Alterspflege am sinnvollsten zu setzen einem kleinen, aber sehr interessierten Publikum sei, äusserten sich unter anderem Dr. Oskar Bass, erklärte Kästli die bescheidenen Anfänge der Ar- die Grossrätin Claire-Lise Renggli und der Lei- beitslosenversicherung. Während der schweren ter des Amtes für Alters- und Gesundheitspflege, Krise zu Beginn der Dreissigerjahre habe der Bund Jean-Pierre Vallotton. Ein zweiter Teil des Zyklus den Arbeitslosen gerade acht Franken pro Woche widmete sich den Themen Bildung und Wohnung. bezahlt – damals der Tageslohn eines Arbeiters. Am 14. Oktober zeigten eine Erwachsenenbild- Arbeitslosigkeit habe also bittere Not bedeutet, nerin und zwei Sozialarbeiterinnen im Heim am und oft mussten die Kinder zu Verwandten aufs Redernweg, welche Bildungsmöglichkeiten sich Land geschickt werden, damit diese wenigstens auch im Alter noch bieten, und Ende Oktober re- zu Essen hätten. Dass die damals tief verschuldete ferierten im Farelhaus verschiedene Fachleute zu Stadt Biel ein beachtliches Arbeitsbeschaffungs- baulichen Aspekten der A ltersbetreuung. programm organisiert hatte, bezeichnete Kästli als Der Zyklus vermittelte nicht nur eine Fülle von Pionierleistung der damaligen Sozialdemokratie. Denkanstössen, er hatte auch konkrete Folgen. Kurz darauf bewilligte der Stadtrat neue Stel- len im Dienst der Gemeindekrankenpflege, und Für ein Alter mit Zukunft das Büro Interprax erhielt vom Fürsorgeamt den Auftrag, beim Ausbau des ambulanten Dienstes Im Jahr 1976 erreichte die Zahl der AHV- mitzuhelfen. Ein Jahr später erarbeitete der Sozi- Rentebezüger/innen in der Schweiz erstmals eine alrapport Biel ein zukunftsweisendes Modell für Million, und jedes Jahr kamen in den folgenden dezentralisierte Alterswohnungen mit ambulanter Jahren etwas über zwanzigtausend Rentnerinnen häuslicher Pflege. Der Publik u mserfolg des Zyk lus und Rentner dazu. Als Stadt, die nach mehreren ermunterte den Arbeitskreis, im folgenden Jahr Rezessionswellen tausende von Einwohnern im eine ähnlich strukturierte Reihe zur Situation von Erwerbsalter verloren hatte, war Biel in besonde- psychisch K ranken zu veranstalten. rem Ausmass mit der Alterung der Gesellschaft konfrontiert. Die Frage, wie die Stadt zu einer positiven Gestaltung des Lebensabends beitra- Elternglück um jeden Preis? gen könne, stellte sich immer dringlicher: Welche gesellschaftlichen Massnahmen unterstützen ein Zur Alterung der Gesellschaft hatte der deut- «A lter mit Zukunft»? liche Rückgang der Geburtenrate massgeblich Zu dieser Frage fand im Herbst 1986 ein In- beigetragen. Die Möglichkeit, Kinder im Rea- formationszyklus statt, den der Arbeitskreis in genzglas zu erzeugen, erschien manchen kinderlos Zusammenarbeit mit dem Sozialrapport Biel, der gebliebenen Paaren auch in diesem Zusammen- Pro Senectute sowie verschiedenen städtischen und hang als lang ersehnte Lösung. Seit 1983 wurde kantonalen Institutionen organisierte. Mit die- die In-vitro-Fertilisation auch in der Schweiz sem Zyklus versuchte der Arbeitskreis, zu einem durchgeführt, und in der Entwicklung neuer Fort- für die Stadt immer wichtiger gewordenen Thema pflanzungs- und Gentechnologien war die Basler eine vertiefte, nachhaltige Auseinandersetzung zu Chemie gar weltweit führend. Doch die Praxis

112 K apitel 6 Dennoch hof fen – auch im Jahrzehnt grosser Bedrohungen (1982–1987) gesetzliche Grundlagen für die Forschung in den Gen- und Reproduktionstechnologien verlangten.

zeigte bald ethisch bedenkliche Aspekte dieser Afrikanische Sonne durchdringt Technologien. Trotz einer langwierigen Prozedur die Nebeldecke über Biel wurden nur fünf bis fünfzehn Prozent der Frauen, die ein ganzes Befruchtungsprogramm mitmach- Schon im Verlauf des Jahres 1986 arbeitete die ten, schwanger. Ausserdem hatten sie über die im Stiftung Pro Helvetia an einem Projekt, das auf Verlauf dieser Programme überzählig gewordenen ganzheitliche Weise zu interkultureller Begeg- Keimzellen keine Kontrolle mehr, und die als neue nung einladen sollte. Die Begegnung mit dem «Schöpfer des Lebens» erscheinenden Ärzte konn- Reichtum afrikanischer Kultur im Rahmen des ten auf diese Weise neues Forschungsmaterial an Atelier Afrique war als Einladung an die Teilneh- die Forschung vermitteln. menden gedacht, den gewohnten Eurozentrismus Der Zugriff der Wissenschaft auf den äusserst wenigstens ansatzweise zu überwinden. Nach heiklen Bereich der Menschwerdung löste den Wi- verschiedenen Abklärungen entschloss sich Pro derspruch breiter gesellschaftlicher Kreise aus. Helvetia, das Atelier Afrique in Biel durchzuführen Als direkt Betroffene wehrten sich viele Frauen. – die Mentalität der zweisprachigen Uhrenmetro- Für sie gehörten Eizellen und Embryonen noch pole versprach intensive Begegnungen in einer of- klar zur Lebens- und Rechtseinheit der Frau. Um fenen Atmosphäre. sich gegen den Übergriff seitens der Wissenschaft An der von der Schul- und Kulturdirektion gelei- zu wehren, gründeten engagierte Frauen 1988 die teten Vorbereitung des Ateliers nahm auch der Ar- Nationale Organisation gegen Gen- und Reprodukti- beitskreis teil. Er engagierte sich insbesondere für onstechnologien (Nogerete). die Durchführung von zwei Podiumsgesprächen Zu diesem Themenkomplex organisierte der im Farelsaal. Am 2. Februar 1987 sprachen afrika- A rbeitsk reis im Februar 1988 eine Veranstalt ungs- nische und schweizerische Historiker/innen über reihe, die in Zusammenarbeit mit F-Info entstand. die Geschichte Afrikas. Die malische Historikerin Bei dieser Thematik konnte André Monnier die Konaré Adam Ba erklärte, wie sie einen Teil der engagierte und kompetente Unterstützung seiner Geschichte ihres Landes aus der alten mündlichen Sekretärin Elisabeth Frei in besonderem Ausmass Überlieferung rekonstruierte, um ihre Landsleu- in Anspruch nehmen. In diesem Zusammenhang te wieder in Kontakt mit der eigenen Geschichte dachte er erstmals an die Möglichkeit, die Leitung zu bringen. Das gleiche Anliegen beschäftigte des Arbeitskreises im Rahmen einer Stellenpro- Joseph Ki-Zerbo aus Burkina Faso. Die Afrikaner/ zent-Reduktion mit einer gleichberechtigten Kol- innen könnten ihrer Geschichte nicht entfliehen, legin zu teilen. Die drei Abende des Zyklus gaben betonte er, sie klebe an ihrem Rücken und verlan- Gelegenheit, die ethischen Aspekte der Gen- und ge nach Auseinandersetzung, sei aber weitgehend Fortpflanzungstechnologien zu erörtern. Im Zen- unerschlossen. Ki-Zerbo verwies auf die Kulturen trum stand dabei eine These der Theologin Ina und Zivilisationen, die durch die koloniale Unter- Prätorius, die den zweiten Abend des Zyklus be- werfung des Kontinents verloren gegangen seien. stritt: Ethik lasse sich nicht auf Fachleute abschie- Auch die übrigen Podiumsteilnehmer sprachen in ben, und deshalb müssten sich alle mit Gewissens- Bezug auf die Geschichtsschreibung über Afrika fragen auseinandersetzen. Etwa mit der Frage, ob von einer erst zu einem kleinen Teil gelösten Auf- menschliches Leben in der Retorte erzeugt werden gabe – in vielen diktatorisch regierten Ländern solle, was unweigerlich zur Frage führe, ob man seien die Geschichtsbücher so schlecht, dass man mit Embryonen in der Retorte experimentieren sich lieber in historischen Romanen über die Ver- dürfe. Die neuen Möglichkeiten, genetische Schä- gangenheit informiere. den frühzeitig zu erkennen, stelle die Frau auch vor «Wir tragen die gleichen Jeans, hören die glei- die Gewissenfrage, ob ein genetisch geschädigter che Musik und kauen Kaugummi. Alle tragen wir Fötus abgetrieben werden müsse. Zum Abschluss auch die gleichen Waffen, mit denen wir uns be- des aufschlussreichen Zyklus unterzeichneten kriegen: Ist das die famose kulturelle Identität?» viele Frauen einen offenen Brief, in dem sie klare Mit diesem Denkanstoss trug Ki-Zerbo zur De-

113 K apitel 6 Dennoch hof fen – auch im Jahrzehnt grosser Bedrohungen (1982–1987) tige Veränderung zeigte sich auch bei den Buren: Nachdem die «farbigen Kirchen» Südafrikas seit den 60er und 70er Jahren die Praxis der Apartheid als Sünde denunziert hatten, war der Druck inter- batte der zweiten Frage ein, die im Farelsaal disku- nationaler Gremien auf die Apartheid-Regierung tiert wurde. Für ihn gab es keine afrikanische Iden- und Südafrikas «weisse Kirchen» immer stärker tität, jedenfalls keine, die sich in ein paar wenigen geworden. In diesem Zusammenhang bequemte Sätzen zusammenfassen liess. Auch Adam Ba fand, sich die Nederduitse Gereformeerde Kerk 1986 end- dass Afrika sich nicht in einen Topf werfen lasse. lich dazu, Apartheid als ernste Sünde zu bezeich- Identität sei übrigens vor allem ein individuelles nen. Mit der theologischen Rechtfertigung der Phänomen. Und der aus Zaïre geflüchtete Philoso- Apartheid war es also vorbei, und damit musste phieprofessor Mathieu Musey ergänzte, dass man auch innerhalb der «ideologischen Wagenburg» zwar vom «global village» spreche, dass aber die der burischen Minderheit ein radikales Umden- regionale Vielfalt Afrikas noch immer sehr gross ken stattfinden. Den informativen und hoffnungs- sei. Musey kämpfte während des Atelier Afrique für vollen Abend rundete Hans-Peter Rindlisbacher eine humanitäre Aufnahme in der Schweiz – sein mit einigen kritischen Liedern ab. Asylgesuch war abgewiesen worden. Auch Bemü- Auch in den Jahren zuvor hatte der Arbeitskreis hungen des Arbeitskreises und vieler Schüler/in- die Lage in Südafrika aufmerksam mitverfolgt, nen beider Gymnasien konnten nicht verhindern, etwa mit einem Informations- und Gebetsabend dass die Familie Musey die Schweiz noch im glei- zu den Zwangsumsiedlungen (1983) oder mit einer chen Jahr verlassen musste. vom Dritte-Welt-Laden initiierten Theatervor- führung zum Thema Repression (1985).

Wohin treibt Südafrika? Frieden ist keine Utopie: Am 23. Juni 1987 organisierten der Arbeitskreis Neve Shalom / Wahat al-Salam und der Dritte-Welt-Laden Biel einen Informati- onsabend zur Situation in Südafrika. Unter dem Ähnlich spektakulär wie das Umdenken der Titel Südafrika – eine vorläufige Bilanz erklärte Niederländischen Reformierten Kirche in Südafrika die Basler Theologin Vreni Biber, wie sie die Aus- war der Erfolg eines ungewöhnlichen Siedlungs- wirkungen der Apartheid erlebt hatte. Im Zusam- projekts in Israel. Seit Jahren zeigte das wie ein menhang mit dem erneut verhängten Ausnahme- Kibbuz geführte Dorf Neve Shalom /Wahat al- zustand sei die absolute «Trennung der Rassen» in Salam auf eindrückliche Weise, dass ein friedliches hohem Masse Wirklichkeit geworden – man könne Leben zwischen Juden und Palästinensern möglich monatelang in Südafrika verweilen, ohne zu wis- war. Während sich das Leben der verschiedenen sen, wie die schwarze Bevölkerungsmehrheit lebe. Glaubensgruppen im übrigen Israel weitgehend Die Referentin betonte, dass das Apartheid-Re- getrennt abspielte, konnten sich in Neve Shalom gime auch weiterhin mit Gewalt und Einschüch- siebzig junge Juden und Palästinenser unterschied- terung versuche, an der Macht zu bleiben. Jugend- lichen Glaubens im Auf bau ihres Dorfes gegensei- liche würden meist willkürlich von der Strasse weg tig unterstützen – in harter Arbeit versuchten sie, verhaftet und in Gefängnisse gesteckt, wo sie die der Siedlung eine möglichst weitgehende Selbst- Gewalt von Polizisten und Mitgefangenen ertra- versorgung zu sichern. gen müssten. Nur fünf Prozent der inhaftierten Die grosse symbolische Bedeutung von Neve Kinder würden schliesslich wegen eines Delikts Shalom bewog den Arbeitskreis, Evi Guggenheim verurteilt – zum Beispiel zu sieben Jahren Gefäng- zu einem Bericht über die Entwicklung dieser nis wegen Steinewerfens. «Friedensoase» einzuladen. Am 21. Januar 1988 Biber erwähnte aber auch ein Zeichen der erklärte die engagierte Zürcherin im Farelsaal, wie Hoffnung. In der Organisation Black Sash hätten Neve Shalom entstanden war. Als der Dominika- weisse Frauen eine Rechtsberatung für Schwarze nermönch Bruno Hussar in den sechziger Jahren eingerichtet, die sich im Dschungel der Apartheid- nach Jerusalem geschickt wurde, erlebte er mit Gesetze nicht mehr zurechtfanden. Eine nachhal- Bestürzung, dass dort alle seine Identitäten mitei-

114 K apitel 6 Dennoch hof fen – auch im Jahrzehnt grosser Bedrohungen (1982–1987) Auf den Spuren der Jakobspilger

Mit der Organisation einer Reise nach Santia- go de Compostela nahm André Monnier eine alte nander im Streit lagen. Der in Ägypten geborene Tradition des Arbeitskreises wieder auf. Wie bei und dort in einer jüdischen Familie aufgewachsene früheren Reisen brachte Mitorganisator Matthi- Geistliche nahm sich vor, eine Begegnungsstätte as Thönen vom Reisebüro Treff wertvolle An- «für alle drei Konfessionen der Kinder Abrahams» regungen ein. Die 17-tägige Reise begann am 23. zu schaffen – ein eigentliches, ständig bewohntes September 1988 mit einer Bahnfahrt nach Irún, Dorf wurde Neve Shalom jedoch erst um 1977. Zur anschliessend führte die Route per Bus nach Pu- aktuellen Bedeutung des Friedensdorfes konnte ente de la Reina, einem wichtigen Etappenort des Guggenheim aus eigener Erfahrung berichten. alten Jakobswegs. Der Pilgerweg zum berühmten Seit kurzem organisiere die Gemeinschaft Kurse Wallfahrtsort wurde grossteils mit dem Bus be- für Jugendliche verschiedenster Herkunft, um das wältigt, einige besondere Abschnitte wurden aber gegenseitige Verständnis zu fördern. zu Fuss zurückgelegt. Der Arbeitskreis zeigte sein Engagement für Zu den Zielsetzungen der Reise erklärte André eine Verständigung zwischen Israel und den Pa- Monnier: «Der reformierte Arbeitskreis, der sich lästinensern auch mit anderen Anlässen. In Zu- bemüht, in ökumenischer Offenheit zu wirken, sammenarbeit mit dem Christlichen Friedensdienst kann und will begreiflicherweise keine Wallfahrt und der Vereinigung kritischer Juden organisierte er nach Santiago vorschlagen. Ihm geht es bei die- 1987 einen Informationsabend mit Elieser Feiler, ser Reise nach Nordwestspanien lediglich darum, der über Schwierigkeiten des jüdisch-arabischen Einblicke in die Geistigkeit früherer Jahrhunderte Dialogs informierte – zum Beispiel stand er selbst zu gewinnen – eine Geistigkeit, welche die Leu- wegen seiner Teilnahme am Dialog mit PLO-Ver- te zu erstaunlichen Unternehmungen bewegen tretern in Israel unter A nklage. konnte.» Während der Reise konnte der Studien- Trotz unterschiedlichen Standpunkten konn- leiter im Detail erläutern, welche Bedeutung die te der Arbeitskreis die Zusammenarbeit mit der Wallfahrten nach Santiago de Compostela bis zum Christlich-jüdischen Arbeitsgemeinschaft weiter- Ende des Mittelalters hatten. führen. Sehr positiv verlief die mit der CJA orga- Jakobus der Ältere, ein Jünger Christi, soll im nisierte Lesung mit André Kaminski, der am 22. Jahr 44 als Märtyrer in Jerusalem enthauptet wor- Februar einem zahlreich erschienenen Publikum den sein. Auf der Flucht vor den Sarazenen soll der sein Erfolgswerk Nächstes Jahr in Jerusalem näher Sarg mit seinem Leichnam auf wunderbare Weise brachte. Christlich-arabische Themen im Kontext an der Nordwestecke Spaniens an ein christliches der islamischen Welt wurden vom Arbeitskreis Gestade geführt worden sein. Vom «Grabfund» zuvor mit dem Theologieprofessor Wanis Sema- im 9. Jahrhundert an begann die Verehrung des an aus Beirut und Pfarrer Mitri Raheb, Jerusalem, Heiligen in Sant iago. Der entstehende Wallfahrts- durchgeführt. Ein Höhepunkt war dann am 23. ort wurde rasch populär, weil auf diese Weise ein September 1987 der Vortragsabend des langjäh- christlicher Anspruch auf das damals vorwiegend rigen NZZ-Nahostkorrespondenten Dr. Arnold muslimische Spanien erhoben werden konnte. Hottinger, der sich mit den neu ausgebrochenen Zeitweise nahmen die Wallfahrten nach Santia- oder sich abzeichnenden Konflikten (Iran, Irak) go de Compostela fast die Ausmasse von Völker- befasste. In einem kurzen Koreferat erinnerte An- wanderungen an – dabei entstand eine frühe Form dré Monnier an den weiter schwelenden Brandherd des Tourismusgewerbes. Ausserdem wurde der Palästina–Israel. Jakobsweg zum ersten gemeinsamen Erlebnis des Abendlandes – im Zusammenhang mit den Wall- fahrten kam es zu Kontakten zwischen Pilgern aus praktisch allen Regionen Europas. Und schliess- lich galt die Pilgerreise nach Santiago als Sinnbild des menschlichen Lebens – der Wallfahrtsort am westlichen Rand Europas wurde als «Ende der Welt» verstanden. Somit lag dort für viele Pilger

115 K apitel 6 Dennoch hof fen – auch im Jahrzehnt grosser Bedrohungen (1982–1987)

der Eingang zum göttlichen Paradies. Während der Reise berichtete André Monnier aber auch über «Zeitfragen», so über die erstaunliche Ent- wicklung Spaniens seit dem Ende der Franco-Dik- tatur, der Wiedereinsetzung der Monarchie (1975) und dem Beitritt zur Europäischen Gemeinschaft (1986). Die Arbeitskreis-Reisegruppe bewahrte von den Erlebnissen auf den Spuren der Jakobspilger bleibende Erinnerungen. Nach den guten Erfah- rungen dieser Reise griff André Monnier die Idee des gemeinsamen Pilgerns später wieder auf. Zum Beispiel regte er die Durchführung einer Grup- penwanderung an, die sich unter dem Titel Unter- wegs zu Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung näher mit dem alten Pilgerweg zwischen Biel und Ligerz auseinandersetzte.

116 K apitel 7 Einstehen für Frauenanliegen, Gerechtigkeit, Frieden und Umwelt (1988–1996)

Die Kirche antwortet auf die Nöte Der Entscheid für die Frauendekade der Zeit In diese Zeit passte auch die Offenheit des Öku- Das im Verlaufe der Achtzigerjahre wachsende menischen Rates der Kirchen für die Anliegen der P roblemb e w u s s t s ei n f ü h r t e auc h bi s her a n g ep a s s t e erstarkenden Frauenbewegung. Im Anschluss an Kreise zu radikalen Fragestellungen. Das gigan- die Frauendekade der Vereinten Nationen (1975 bis tische Ausmass mancher Probleme förderte aber 1985) hatte der Rat die Stellung der Frau in einigen auch Zukunftsangst und Resignation. Für die Kir- seiner Mitgliedkirchen untersucht und ernüchtert c he b e deut et e d ie Zu s pit z u n g v ieler Welt probleme , festgestellt, dass sich nur wenig geändert hatte. noch nachdrücklicher Stellung zu nehmen. Schon Obwohl Frauen über die Hälfte der kirchlichen 1983 rief die Vollversammlung des Ökumenischen Mitgliedschaft ausmachten, beschränkten sie sich Rates der Kirchen in Vancouver seine Mitgliedskir- in der Regel weiterhin auf traditionelle, unterge- chen auf, in einen konziliaren Prozess gegensei- ordnete Rollen. Um dies zu ändern, rief der Zen- tiger Verpflichtung für Gerechtigkeit, Frieden und tralausschuss des ÖRK im Januar 1987 die ökume- Bewahrung der Schöpfung einzutreten. Durch nische Dekade Kirchen in Solidarität mit den Frauen Vorstösse aus der Kantonalen Synode 1986 und aus, die symbolhaft zu Ostern 1988 beginnen sollte. 1987 nahm auch die bernische reformierte Kirche In ihren Lebenserinnerungen erläuterte Marga diese Bewegung auf und setzte eine Arbeitsgrup- Bührig diese Symbolik: «Es war an Ostern, dass pe ein, um abzuklären, welche konkreten Schritte Frauen von Jesus den Auftrag erhielten, die frohe zu r Umsetzu ng ihrer A nliegen u nternom men wer- Botschaft von seiner Auferstehung weiterzusagen. den könnten. Zum Schwerpunkt «Gerechtigkeit» Sie – als die ersten, in allen Evangelien erwähnten zeigte die bernische Landeskirche an ihrer Bieler Zeuginnen – sind schon im ersten Korintherbrief Tagung vom Herbst 1986, wie ernst sie die Opti- […] vergessen worden. Ob die Kirchen, die offi- on für die Armen nahm. Die Tagung befasste sich ziellen Kirchen, an Ostern 1988 auf die Frauen hö- mit der Frage wie weit die Theologie der Befreiung ren werden? Ob wir Frauen den Geist, Mut und auch in der Schweiz wirksam werden könne. die Kraft haben, wirklich etwas zu sagen? Darauf Auch im Asylbereich verstärkten die Landes- warte ich mit Spannung.» Wie die folgenden Jahre kirchen ihr Engagement, unter anderem mit der zeigen sollten, konnte dank der Frauendekade gar Schaffung eines Amtes für Flüchtlingsfragen und manches auf wundersame Weise bewegt werden… mit kritischen Stellungnahmen zur Revision des Asylgesetzes. In bürgerlichen Kreisen führte diese zuneh- Die Versammlung für Gerechtigkeit, mend als «politisch» wahrgenommene Kirche zu Frieden und Bewahrung der Schöpfung Gegenreak t ionen. Auf nat ionaler Ebene verstärk te die 1987 auf über neuntausend Mitglieder ange- Vom 15. bis zum 21. Mai 1989 kam es in Basel wachsene, rechtskonservative Organisation «Kir- zu einem kirchenhistorischen Ereignis. Als Ver- che wohin» ihre Aktivitäten, und im Kanton Bern treter und Vertreterinnen von 126 Mitgliedskir- reichte SVP-Grossrat Erwin Bischof im August chen fast aller Länder Europas und dem Rat der 1987 eine Motion ein. Er wollte genau wissen, auf 25 nationalen Bischofskonferenzen trafen sich welchen rechtlichen Grundlagen die Einflussnah- 700 Delegierte zur europäischen ökumenischen me der Landeskirchen auf gesellschaftspolitische Versammlung Frieden in Gerechtigkeit. Tausende Fragen beruhe. Die Direktion des Kirchenwesens von Besucherinnen und Besuchern reisten in die des Kantons Bern setzte darauf eine Experten- Rheinstadt, um persönliche Eindrücke von diesem gruppe ein, um das Verhältnis zwischen Kirche gemeinsamen Aufbruch der europäischen Chri- und Politik umfassend abzuklären. stenheit zu gewinnen. Da gab es eine Zukunfts-

117 K apitel 7 Einstehen für Frauenanliegen, Gerechtigkeit, Frieden und Umwelt (1988–1996) einem einzigen Jahr wurde die fünffache Fläche der Schweiz niedergebrannt, und 500 Millionen Tonnen Kohlendioxid stiegen in die Atmosphä- re auf. Am 23. Februar 1989 informierte Bischof werkstatt Europa unter Beteiligung kirchlicher Erwin Kräutler über die Hintergründe dieses Basisgruppen aus der DDR und das Frauenboot verhängnisvollen Raubbaus. Der Vorsteher der Arche Donna, das ein vielfältiges Bild der Kirche brasilianischen Diözese Xingu erklärte, dass die aus Frauensicht bot. Dass der symbolische Dreilän- brasilianische Regierung die marode Wirtschaft dermarsch von etwa 4000 Gläubigen aus Ost- und mit gigantischen Projekten sanieren wolle, weil Westeuropa ohne Visumsformalitäten auskam, das Land mit 110 Milliarden Auslandverschuldung werteten viele Beobachter und Beobeachterinnen seine Exporte um jeden Preis erhöhen wolle. Der als gutes Zeichen für ein zukunftsoffenes Europa. engagierte Referent kritisierte in diesem Zusam- Aufsehen erregend war die Schlusskundgebung menhang die Rolle der Weltbank, die fragwürdige mit der Rede des Physikers und Philosophen Carl Grossprojekte oft bedenkenlos finanziere. Bei der Friedrich von Weizsäcker auf dem Basler Münster- Entlaubung von Waldgebieten sei unter anderem platz. Ihr Medienecho war gewaltig. ein mit Agent Orange vergleichbares Mittel einge- Das grösste ökumenische Ereignis seit der Re- setzt worden, was zu zahlreichen Todesfällen unter formation endete mit einer Erklärung, in der sich der Landbevölkerung geführt habe. Ganz beson- die Kirchen für eine gerechte Weltwirtschaftsord- ders sorgte sich Kräutler um die etwa dreitausend nung, eine Weltfriedensordnung und eine ökolo- Indianer, die in der Diözese lebten. Immer häufiger gische Weltordnung aussprachen. Besorgt wiesen gab die Regierung dem Druck von Privatunterneh- die Delegierten auf die Folgen des Treibhausef- men nach, die auch in den Indianerschutzgebieten fekts, auf die anwachsenden Flüchtlingsströme Rohstoffe fördern wollten. Wie gefährlich das En- und die grösser gewordene Kluft zwischen armen gagement der Kirche für den Regenwald und die und reichen Ländern hin. Selbstkritisch bezeich- Indianer werden konnte, hatte der mutige Bischof neten sie den Aufruf der Versammlung als Zei- am eigenen Leib erlebt. Nach einer von der Regie- chen von Umkehr und Reue, weil die Kirchen in rung initiierten Verleumdungskampagne, die ihn der Vergangenheit oft selbst versucht hätten, Ras- als Vertreter ausländischer Interessen hingestellt sismus, Nationalismus und Sexismus zu rechtfer- hatte, wurde er 1987 bei einem inszenierten Un- tigen. Die Versammlung forderte denn auch eine fall schwer verletzt – ein Mitbruder kam dabei ums ernsthafte Auseinandersetzung mit den Anliegen Leben. Als Ausweg aus der gegenwärtigen Lage feministischer Theologie und ein Ende der Frau- empfahl Kräutler eine Entschuldungsaktion für endiskriminierung. Brasilien, falls die Regierung in einen Stopp der Mit vielen anderen Bielerinnen und Bielern hat- Brandrodung und in ein Abkommen zum Schutz te auch André Monnier an der ökumenischen Ver- der Indianervölker einwillige. Statt Mammutpro- sammlung teilgenommen. Im Rahmen der Nach- jekten sollten die Gelder seiner Ansicht nach jenen arbeit zu diesem Ereignis leitete er mit Pfarrer Bauern und Siedlern zugute kommen, die verlas- Christoph Schmid eine offene Evaluationstagung, senen Boden wieder fruchtbar machen wollten. die unter dem Motto Nach Basel 1989: Jetzt sind wir am Ball! stand. Erneute Standortbestimmung

Bericht aus einem Brennpunkt In seinem Rückblick auf das Jahr 1987 stellte der der Bedrohung Leitende Ausschuss eine gewisse Nostalgie gegen- über den Jahren nach 1968 fest. Viele vermissten Schon vor der Basler Versammlung organisierte den Schwung der Pionierjahre, als das Programm der Arbeitskreis einen Gesprächsnachmittag und von vielen verschiedenen Arbeitsgruppen mit- -abend, um die Bedrohung der Schöpfung an einem getragen wurde. Obwohl der Umfang der Arbeit eindrücklichen Beispiel zu veranschaulichen. 1987 etwa demjenigen früherer Normaljahre entsprach, zeigten Satellitenbilder, wie der Regenwald des empfanden viele eine gewisse Ratlosigkeit. Die Amazonasgebietes an 6800 Stellen brannte – in einzelnen Veranstaltungen des Arbeitskreises

118 K apitel 7 Einstehen für Frauenanliegen, Gerechtigkeit, Frieden und Umwelt (1988–1996) gruppe zudem eine Beschränkung des Aufgaben- bereichs, um dem Arbeitskreis ein klares und ak- tuelles Profil zu geben. Inhaltlich orientierte sich der Vorschlag der Spurgruppe an den Aufrufen des waren zwar sehr gut geplant und durchdacht, Ökumenischen Rates der Kirchen. und sie wirkten wahrscheinlich auch «offener» Die Anliegen Gerechtigkeit, Frieden und Bewah- im Sinne des gesellschaftlichen Pluralismus. Mit rung der Schöpfung und Frauenanliegen im Zusam- dem Einsatz für mehr Dialog und Offenheit, für menhang mit dem Wahrnehmen der einen Welt sollten soziale Gerechtigkeit und eine lebenswerte Um- gleichgewichtig vertreten sein. Konkret schlug die welt waren die Schwerpunkte der Arbeit dieselben Spurgruppe vor, für jeden der beiden Bereiche eine geblieben, und trotzdem kam der Eindruck einer halbe Stelle zu schaffen, wobei die Frauenstel- gewissen Verzettelung auf. In diesem Zusammen- le zwingend mit einer Theologin besetzt werden hang spielte das auch in Biel vielfältiger gewordene müsse. Dieser Vorschlag entsprach auch dem Be- Angebot im Bereich der Erwachsenenbildung eine schluss des Schweizerischen Evangelischen Kir- Rolle. Angesichts zahlreicher ähnlicher Instituti- chenbundes, ab Ende 1988 auf eine Frauenquote onen wurde es umso wichtiger, ein klares Profil zu von fünfzig Prozent in allen kirchlichen Gremien entwickeln. hinzuarbeiten. Dass auch in anderen Institutionen Schwierig- Im September 1988 reichte der Arbeitskreis den keiten auftauchten, hatte sich unter anderem an Vorschlag zur Schaffung von zwei Teilzeitstellen einer Tagung der Arbeitsgemeinschaft für evange- mit thematisch genau definiertem Aufgabenbe- lische Erwachsenenbildung im Mai 1987 gezeigt. reich beim Gesamtkirchgemeinderat ein. Das An- Trotz massiven gesellschaftlichen Problemen blieb liegen der Stellenteilung fand zwar Verständnis im d ie Meh rheit der G e s el l s c h a f t of f e n s ic ht l ic h p a s s i v, Rat, aber die Schaffung einer Stelle für Frauenan- und die Bemühungen der Bildungsarbeit wirkten liegen stiess auf Widerspruch – vor allem wurden allenfalls als Tropfen auf den heissen Stein. Befürchtungen laut, damit einem radikalen Femi- Der Arbeitskreis beschloss deshalb eine erneute nismus zuviel Einfluss einzuräumen. Das Trak- Standortbestimmung und gab im März 1988 einer tandum wurde vertagt. Der Arbeitskreis lud die «Spurgruppe» den Auftrag, Vorschläge zu einer Kirchgemeinderäte und weitere Vertreter der Kir- O pt i m ier u ng der A rb eit z u ent w ic kel n. Die sieb en- che ein, sich am Abend des 7. Novembers genauer köpfige Spurgruppe, in der ausser dem Studienlei- über die Gründe für eine Frauenstelle zu informie- ter mehrere Mitglieder des Leitenden Ausschusses ren. Und er fand ein gutes Echo. und der Kommission mitwirkten, liess sich bei der Susanna Kammacher, Pfarrerin, und Marie- Entwicklungsplanung für die nächsten Jahre von Jeanne Perrenoud, Ex-Leitungsmitglied der SES, europaweiten Richtlinien für die kirchliche Er- konnten vor einem zahlreich erschienenen und wachsenenarbeit und den konkreten Erfahrungen sehr interessierten Publikum deutlich machen, des Studienleiters leiten. welche Bedeutung der Schaffung einer Frauen- Auch die Spurgruppe gewann den Eindruck, stelle zukam. Auch A ndré Monnier engagierte sich dass die komplexer gewordene Aufgabe von einer für die vorgesehene Lösung, ganz besonders mit Person kaum noch zu leisten war. Abgesehen von seinem Einverständnis zur Halbierung des bishe- neuen Themen und einer wachsenden Konkurrenz rigen Beschäftigungsgrades. An der Sitzung vom im Bereich der Erwachsenenbildung spielte dabei 15. November war der Gesamtkirchgemeinderat eine Rolle, dass die Gremienarbeit an Umfang schliesslich bereit, die Stellenaufteilung und die stark zugenommen hatte. Abgesehen von lokalen Schaffung einer Frauenstelle im Sinne eines Ver- Institutionen verlangten auch Vereinigungen wie suchs zu bewilligen. Die genauen Einzelheiten der Schweizerische Ökumenische Leiterkreis oder die wurden vom Rat erst im März 1989 definitiv ge- erwähnte Arbeitsgemeinschaft für evangelische Er- regelt. André Monnier übernahm den Bereich Ge- wachsenenbildung in der Schweiz das Engagement rechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung des Studienleiters. Somit schlug die Spurgruppe (GFS). vor, den Führungsauftrag auf zwei Studienleitende zu verteilen. Angesichts des vielseitigen Angebots in der Erwachsenenbildung forderte die Spur-

119 K apitel 7 Einstehen für Frauenanliegen, Gerechtigkeit, Frieden und Umwelt (1988–1996) Von Anfang an versuchte Verena Naegeli, die Vernetzung bereits bestehender Fraueninitiativen zu unterstützen. Ihre Stelle sollte dazu beitragen, verschiedenste Informationen über Frauenarbeit und Frauenprojekte in Biel zu sammeln und wei- terzugeben. Auf diese Weise, hoffte die Theolo- gin, könnten Doppelspurigkeiten vermieden und für bestehende Angebote ein breiteres Interesse geweckt werden. Die Idee einer verstärkten Ver- netzung konkretisierte sich bereits im Oktober 1989, als im Gespräch mit einer ökumenisch zu- sammengesetzten Beraterinnengruppe die Idee einer «Bieler Frauenzeitung» mit Informationsteil Ab 1989 setzte der Arbeitskreis einen Schwerpunkt auf und inhaltlichen Beiträgen entstand. Aus nahe lie- die Themen Frieden, Gerechtigket und Bewahrung der genden Gründen stand im Herbst/Winter 1989 die Schöpfung. Friedensarbeit im Vordergrund – am 26. Novem- ber 1989 wurde über die Initiative Für eine Schweiz ohne Armee abgestimmt.

Die Frauenstelle erhält Gestalt und Gesicht: Verena Naegeli

A m 8 . M a i 19 8 9 w ä h lt e d e r G e s a m t k i r c h g e m e i n - derat Verena Naegeli als Studienleiterin der neu geschaffenen Frauenstelle. Nach Studienaufent- halten, Seminarien und Sozialprojekten wie auch einer langjährigen öko-landwirtschaftlichen Tä- tigkeit in Frankreich brachte die 34-jährige Theo- login vielseitige Erfahrungen im französischspra- chigen Kulturbereich mit, was der neuen Arbeit in Biel bald zugute kommen sollte. Verena Naegeli hatte auch in Deutschland wertvolle Erfahrungen gesammelt, vor allem mit ihrer Mitwirkung am Verena Naegeli Projekt eines Frauenkulturhauses in Bremen. Die neue Studienleiterin betonte, dass der Ar- beitskreis sich mit der Schaffung der Frauenstelle nicht einfach in zwei Teile gespalten hatte. In der gleichen Sorge für eine lebendige, vielfältige Welt sollten sich künftig beide Bereiche aufeinander be- ziehen und voneinander gewinnen können. Rasch machte sich die neue Studienleiterin mit den in Biel tätigen Frauengruppen vertraut. Ausser bei Frauen für den Frieden und dem im März 1988 ent- standenen F-Info engagierten sich viele Frauen in Projekten wie dem Genossenschaftsbuchladen oder dem Dritte-Welt-Laden. Innerhalb der Kir- chen waren mehrere Frauen in der ökumenischen Frauen-Kirche-Gruppe, der Basisgemeinde und als Organisatorinnen von Kursen in feministischer Theologie aktiv.

120 K apitel 7 Einstehen für Frauenanliegen, Gerechtigkeit, Frieden und Umwelt (1988–1996) Mehr an Rüstung auch ein Mehr an Sicherheit be- deute, konnten die an dieser Frage Interessierten über ihre eigenen Sicherheitsbedürfnisse diskutie- ren. Als Gesprächsleiter machten der Psychologe Unerhörtes und Unerwartetes Hans-Ulrich Wintsch und André Monnier auch zur Landesverteidigung auf den zweiten Teil der Initiative aufmerksam; die Forderung nach Entwicklung einer umfassenden In Zusammenarbeit mit den Frauen f ür den Fr ie- Friedenspolitik hatte durchaus zukunftsweisendes den organisierte die Frauenstelle am 12. November Potential… 1989 eine Matinée zum Thema Militärkult gegen Frauenkultur. Im «Kreuz» Nidau erläuterte die Juristin Zita Küng Marga Bührigs These, dass Fe- Frauenkultur bedeutet auch, minismus genau verstanden Arbeit für den Frieden sich zu wehren b e d e u t e . E s g e h e a b e r k e i n e s w e g s d a r u m , K o n fl i k t e überhaupt zu vermeiden – Frauenkultur bedeute Die Matinée mit Zita Küng organisierte die für sie, die eigenen Sinne zu schärfen, um sich ein Frauenstelle im Rahmen von Hula Hopp, der ersten eigenes Urteil zu bilden, was es erlaube, Selbstver- Bieler Frauenkulturwoche. Das Gemeinschafts- antwortung und Selbstbewusstsein zu entwickeln. werk mehrerer Kultur- und Frauenorganisationen Die Referentin betonte: «Wo immer wir frauen- mit dem ironischen und doch überaus beschwin- verachtende Verhältnisse antreffen, müssen wir genden Titel bot ausser Filmen, Kabarett, Kon- uns wehren. Die Anstrengung, sein eigenes Leben zerten, einem Perkussions-Workshop und Tanz zum Blühen zu bringen, lohnt sich – dies bedeutet auch eine Ausstellung mit Werken von Bieler Frauenkultur.» Im Gegensatz dazu bezeichnete Künstlerinnen. Entstanden war Hul a Ho p p aus dem Küng das Militär als destruktiven Kult, der eine Bedürfnis, rund um den Vortrag der holländischen künstliche Zusammengehörigkeit fördere und Ab- Feministin Anja Meulenbelt einen Ausschnitt aus weichungen mit Verfolgung und Ächtung bestra- dem Wirken selbstbewusster, mutiger Frauen zu fe. Bedenklich sei ausserdem, dass dieser Kult, der zeigen. Der Vortrag von Anja Meulenbelt selbst Destruktivität voraussetze, die Verantwortung der überzeugte durch lockere, humorvolle Gestaltung. Handelnden reduziere. Die Autorin, die in ihren Büchern auch Liebesbe- Mit einem vierteiligen Kurs führte die Frauen- ziehu ngen zu Mä n ner n t hemat isier te, plädier te f ü r stelle die kritische Auseinandersetzung mit Armee, eine breite, offene, selbstkritische Frauenbewe- Pazifismus und Feminismus weiter. Dabei ermuti- gung – durch eine «kleine und reine» Bewegung gten die Kursleiterinnen Liselotte Liggenstorfer würden zu viele Frauen ausgeschlossen. u nd Vere n a Naeg el i , G eg e n mo del le z u m i l it ä r i s c h- Ein konkreter Anlass für ein breit abgestütztes hierarchischen Strukturen zu leben. Frauenarbeit Vorgehen ergab sich aus den Folgen städtischer sollte von unten her aufgebaut werden, und dabei Sparpolitik. Nach der durch bürgerliche Politiker sollten «schwesterliche», also kooperative, nicht angeregten Senkung des Steueransatzes um ein ausschliessende Führungsstile erprobt werden. Zehntel verfügte die Finanzdirektion neben an- Als Institution stand der Arbeitskreis der In- deren Sparmassnahmen eine Arbeitszeitreduktion itiative Für eine Schweiz ohne Armee eher kritisch beim Reinigungspersonal. Für viele der etwa drei- gegenüber. Noch im Februar 1989 äusserte der hundert meist ausländischen Putzfrauen bedeutete Leitende Ausschuss Befürchtungen, der stark die Ausdünnung des Reinigungsdienstes nicht nur polarisierende Initiativtext werde eine wirkliche eine empfindliche Lohneinbusse von bis zu dreis- Diskussion verunmöglichen. Als sich im Verlaufe sig Prozent, sondern auch einen Angriff auf ihre des Jahres zeigte, dass gerade der utopische Cha- Berufsehre. Dass beim Betreten öffentlicher Ge- rakter der Initiative viele Gespräche auslöste, or- bäude der Schmutz des Vortages als Visitenkarte ganisierte André Monnier als Studienleiter der dienen sollte, konnte kaum jemandem einleuchten. GFS-Stelle auf den 3./4. November die Tagung Gemeinsam mit F-Info u nd Gruppo Donne begleite- Der Schweizer Igel: Von der Landesverteidigung zum te die Frauenstelle des Arbeitskreises das Putzper- Sicherheitswahn. Ausgehend von der bereits im sonal in seinem Widerstand gegen den Abbau ihres Verlaufe der 80er Jahre erörterten Frage, ob ein im Stundenlohn entschädigten Arbeitspensums.

121 K apitel 7 Einstehen für Frauenanliegen, Gerechtigkeit, Frieden und Umwelt (1988–1996) köpfiges Redaktionsteam, das von März bis Mai 1990 eine vielfältige Dokumentation zu den in Biel bestehenden Frauenorganisationen und -institu- tionen zusammenstellte. Als Nebeneffekte dieser Mehrere Versammlungen und die Interpellation Arbeit ergaben sich zahlreiche Kontakte zwischen der Stadträtin Marie-Thérèse Sautebin bewirkten engagierten Frauen, was den Vernetzungsprozess im Januar 1990 immerhin einen Teilerfolg. Acht begünstigte. In diesem Zusammenhang beschloss Putzfrauen eines Schulhauses konnten jeglichen des Redaktionsteam, im Rahmen der nächsten Stundenabbau verhindern, und auch in mehreren Frauen-Kulturwoche zu einem eigentlichen Frau- anderen Schulhäusern wurden nur wenige Stun- enforum einzuladen. den abgebaut. Mit einem Stundenlohn von ledig- Frauenplatz Biel erschien im September 1990 als lich dreizehn bis sechzehn Franken blieb die Lage ausschliesslich von Frauen gestaltete Publikation des Reinigungspersonals aber auch weiterhin un- mit einer Auflage von 2500 Exemplaren. befriedigend. Die Wegweiserin zu den Frauenplätzen in Biel Die vielfältigen Probleme der Frauen in der lud die Leserschaft ein, das reichhaltige frauenspe- Arbeitswelt standen auch im Zentrum des interna- zifische Angebot besser kennen und nutzen zu tionalen Frauentages 1990, der mit einem gesamt- lernen. Sie gab aber auch Hinweise auf Fehlendes: schweizerischen Anlass begangen wurde. Am 10. Ein Frauenhaus und ein Begegnungszentrum für März demonstrierten fünfhundert Frauen durch Frauen war in der «Zukunftsstadt» auch weiterhin die Bieler Innenstadt, um gegen die Zunahme Zukunftsmusik. prekärer Arbeitsformen zu protestieren: gegen die Wiedereinführung der Nachtarbeit, gegen die Arbeit auf Abruf und gegen die skandalösen Arbeitsbedingungen ausländischer Frauen im Sex- gewerbe. Die Frauenstelle des Arbeitskreises enga- gierte sich am Bieler Frauentag vor allem mit der Organisation eines Forums zum Umbruch in Ost- europa. Zwei Frauen aus der DDR und eine Frau aus Slowenien machten deutlich, wie unterschied- Die Publikation «Frauenplatz Biel» setzte den Grund- lich sich die aktuelle Lage der Frau in Europa prä- stein für die enge Zusammenarbeit zahlreicher Bieler sentierte. Dank weitgehender Integration in die Frauenorganisationen. Arbeitswelt verfügten die Frauen in Osteuropa über recht beachtliche soziale Rechte – die bevor- stehende Wiedereinführung der Marktwirtschaft könne diese Errungenschaften allerdings wieder in Frage stellen.

Frauenplatz Biel – eine wichtige Wegweiserin

Schon Ende 1989 kam Verena Naegeli vom Pro- jekt einer mehrmals erscheinenden «Bieler Frau- enzeitung» ab – dadurch würde zu viel Energie dauerhaft gebunden werden. Stattdessen regte die Studienleiterin eine einmalige Publikation an, die einen Überblick über die «Frauenstadt Biel» mit ihren Institutionen und Organisationen geben, aber auch auf bestehende Mängel hinweisen sollte. Der Vorschlag fand ein sehr gutes Echo, und in Zusammenarbeit mit F-Info bildete sich ein acht-

122 K apitel 7 Einstehen für Frauenanliegen, Gerechtigkeit, Frieden und Umwelt (1988–1996) Auftretens lag der Frauenstelle des Arbeitskreises ganz besonders am Herzen. Gemeinsam mit einer Theaterpädagogin und einer Videofachfrau führte Verena Naegeli zwischen Mai 1990 und Juni 1991 Eine neue Sprache braucht das Land vier Rhetorikkurse für Frauen durch. Im Zentrum dieser Kurse standen nicht rhetorische Kunst- «Der abgegriffene Spruch über ‹dämliche Da- griffe, sondern der Aufbau von Selbstvertrauen, men› greift aber ins Leere: Während ‹Dame› auf um auch mit «ungehaltenen Reden» endlich an die das lateinische ‹domina› (= ‹vornehme, hochge- Öffentlichkeit zu treten. stellte Frau›) zurückgeht, wird ‹dämlich› vom niederdeutschen ‹Dämel›, ‹Dämlack› (= ‹Dumm- kopf ›) abgeleitet. Dämel u nd Däm lack si nd Mask u- Glockengeläute zum Frauenstreik lina, weibliche Varianten gibt es nicht…». Manche Teilnehmerinnen der zweiten Frauen-Kulturwo- Im Hinblick auf den zehnten Jahrestag der glei- che vom Februar 1991 kannten sich auf einmal in chen Rechte zwischen Mann und Frau zeigten die der eigenen Muttersprache nicht mehr aus, als die Gewerkschaften auf, dass zwischen dem am 14. Juni Sprachwissenschaftlerin Luise F. Pusch für einen 1981 beschlossenen Verfassungsgrundsatz und der bewussteren Umgang mit der Sprache plädierte. sozialen Wirklichkeit weiterhin eine grosse Lücke Die engagierte Linguistin gab zu bedenken, dass klaffte. Noch immer verdienten Frauen durch- nicht gedacht werden könne, was schon in der schnittlich etwa ein Drittel weniger als ihre Kol- Sprache fehle. Gerade das Deutsch als ausgeprägte legen, und in Kaderpositionen waren Frauen wei- Männersprache müsse deshalb total feminisiert terhin klar untervertreten. Der Benachteiligung werden, forderte Pusch. Im Hinblick auf diesen in der Arbeitswelt entsprachen ein Sozialversiche- Prozess habe sie in ihrem Computer bereits zahl- rungssystem, das die meist von Frauen geleistete reiche weibliche Neuschöpfungen gespeichert. jahrelange und unentgeltliche Erziehungsarbeit Während der Diskussion mit dem Publikum be- der Frau ignorierte, und eine Familienstruktur, die tonte die Referentin, sie halte Frauen keineswegs tradierte Rollenbilder grösstenteils weiterführte. für bessere Menschen als Männer. Ohne Wider- Angesichts dieser wenig erfreulichen Stagnation stand werde es den Frauen aber kaum gelingen, beschloss der Schweizerische Gewerkschaftsbund, ge - sich aus ihrer gesellschaftlichen Benachteiligung nau zehn Jahre nach dem Ink rafttreten des Gleich- zu befreien. stellungsartikels einen nationalen Frauenstreik Die zweite Frauen-Kulturwoche beschäftigte durchzuführen. sich auch auf anderer Ebene mit Sprache. Am 24. Die Frauenbewegung in Biel gab dem Frau- Februar trafen sich über achtzig Frauen aus dreis- enstreik vom 14. Juni 1991 eine fantasievolle, sig verschiedenen Frauengruppen der Region im vielseitige Gestalt. Nach Glockengeläute und Restaurant «Kreuz» in Nidau zum ersten Frau- afrikanischem Trommelwirbel begaben sich zwi- enforum, um den gegenseitigen Dialog aufzuneh- schen 500 und 700 Frauen zum Blöschhaus, um men oder zu vertiefen. In der von Françoise Beeler dem Gemeinderat eine Petition mit etwa zwanzig und Verena Naegeli geleiteten Diskussion wur- Forderungen zu überreichen – verlangt wurden de deutlich, dass sich viele Frauen für eine Akti- unter anderem ein Frauenhaus für misshandelte on zum zehnten Jahrestag der «gleichen Rechte» Frauen, genügend Krippenplätze, Tagesschulen engagieren wollten. Auf regionaler Ebene zeich- und existenzsichernde Teilzeitstellen. Während neten sich drei Schwerpunktthemen ab: Bildung Stadtpräsident Hans Stöckli klarmachte, dass er und Berufswelt, Infrastrukturen für Kinder und den Frauenanliegen gerne Gehör schenkte, schei- ein Betreuungsangebot für Frauen in schwierigen terte das vorgesehene Treffen mit den Arbeite- Situationen. Schliesslich sprachen sich die Teil- rinnen der Mido an der zugeknöpften Haltung nehmerinnen für einen verstärkten gegenseitigen der Betriebsleitung. Besser verlief die Solidari- Informationsaustausch aus. tätsaktion mit den Verkäuferinnen, denen Kärt- Das erste Frauenforum erlaubte es vielen chen mit einem kleinen Geschenk verteilt wurden. Frauen, vor einer grösseren Gruppe das Wort zu Am Nachmittag machten die Demonstrantinnen ergreifen. Die Förderung des selbstbewussten Spuren der «Frauenstadt Biel» sichtbar. Auf Anre-

123 K apitel 7 Einstehen für Frauenanliegen, Gerechtigkeit, Frieden und Umwelt (1988–1996) Mit Leidenschaft zu besserer Frauenbildung

Im Hinblick auf die Gestaltung des zweiten gung der Historikerin Dr. Margrit Wick-Werder Frauenforums im November 1991 organisierte die erhielten der Zentralplatz und die Zentralstrasse Frauenstelle des Arbeitskreises eine Umfrage bei neue Namen – wenigstens an diesem Tag erin- allen Frauen, die sich am ersten Forum beteiligt hat- nerten sie an Clementia, die erste urkundlich er- ten. Die Auswertung ergab ein grosses Interesse an wähnte Bielerin, an Marie Goegg-Pouchoulin, die Bildungs- und Förderungsfragen – angesichts der Pionierin der Frauenbewegung und an die Künst- wieder steigenden Arbeitslosigkeit besonders zen- lerin Anna Haller. Mit dieser Aktion erinnerten trale Anliegen. Dementsprechend stellte die Vorbe- die Frauen daran, dass der Bieler Stadtplan die reitungsgruppe des Forums das Programm zusam- Frauengeschichte bisher weitgehend ignoriert hat- men. Nach einem Referat der Psychoanalytikerin te. Einzig der Marie-Louise Blösch-Weg erinnert Katharina Ley sollten verschiedene Workshops daran, dass auch Frauen zum Werden und Gedei- eine aktive Auseinandersetzung mit konkreten An- hen der Zukunftsstadt beigetragen hatten. liegen zur Frauenförderung ermöglichen. Der Frauenstreik war nur ein Ausdruck des Mit Unterstützung des Arbeitskreises, des kan- wachsenden politischen Gewichts der Frauenbe- tonalen Synodalrates und der Stadt Biel konnte das weg u ng. A m Vorabend des St reik s gela ng es den im zweite Frauenforum im November 1991 verwirk- Stadtrat vertretenen Frauen, eine überparteiliche licht werden. Katharina Ley appellierte in ihrem Frauenfraktion zu schaffen, was der Fraktionsspre- einführenden Referat, für den voraussichtlich cherin doppelte Redezeit verschaffte. Eine wich- langwierigen und schwierigen Weg zu besserer tige Funktion nahm auch die Stadt als Arbeitgebe- Frauenbildung die ureigenen Energien zu mobili- rin ein, indem sie Frauen bei gleicher Qualifikation sieren, nämlich die Leidenschaft, für die eigenen in der Neubesetzung von Stellen bevorzugte. Anliegen zu kämpfen. Ley erinnerte daran, dass

Am Frauenstreik vom 14. Juni 1981 wurde unter anderem an Frauen aus der Bieler Stadtgeschichte erinnert, nämlich an Anna Haller, Marie Goegg-Pouchoulin und Clementia, die erste urkundlich erwähnte Bielerin.

124 K apitel 7 Einstehen für Frauenanliegen, Gerechtigkeit, Frieden und Umwelt (1988–1996) sen unterstützt werde. «Bei uns ist eine Frau nur einen Mann weit von der Armut entfernt», betonte Stocker-Meier, um die Dringlichkeit einer frauen- gerechteren Gestaltung der Sozialversicherungen beide Geschlechter für die aktuelle Situation die zu veranschaulichen. Verantwortung trugen, und wandte sich damit gegen eine Sicht, welche den Frauen lediglich eine Rolle als machtlose, handlungsunfähige Opfer Wo stehe ich? oder Helvetias Blick zubilligte. Gerade aus dieser Mittäterschaft der in den Spiegel Frauen leitete die Referentin auch das grosse Po- tential zur Veränderung ab. Indem patriarchale André Monnier als Studienleiter für den Be- Vormacht auch auf dem Verzicht vieler Frauen be- reich GFS hatte gute Gründe, sich anlässlich des ruhte, ihre eigenen Leidenschaften zu leben, sei sie 700-Jahre- Jubiläums intensiv mit der Schweiz zu wesentlich labiler, als es den Anschein mache. Als befassen. Auch der rasche, tief greifende politische hoffnungsvolles Zeichen der Veränderung wertete Wandel in der Welt vermochte die offizielle Poli- Ley den Frauenstreik, der die Kraft der Solidarität tik kaum zu selbstkritischer Bilanz und entspre- leidenschaftlicher, aufeinander bezogener Frauen chender Öffnung zu bewegen – eher das Gegenteil eindrücklich bezeugt habe. war der Fall, was zur weiteren Spaltung des Landes Nach dem Referat diskutierten die Frauen in beitrug. Auch nach der seit 1986 immer deutlicher sieben Arbeitsgruppen, wie die berufliche Stel- gewordenen Entwicklung der Sowjetunion zu lung der Frau verbessert werden könnte. Konkrete mehr Offenheit und demokratischer Erneuerung Möglichkeiten sah frau bei der Berufsberatung, wo und trotz Gorbatschows einseitigen Abrüstungs- sowohl bei Laufbahnentscheiden wie auch im Be- schritten hielten die Bundesanwaltschaft und reich Wiedereinstieg hilfreiche Begleitung mög- hohe Stellen im EMD an ihrer im Kalten Krieg lich war, aber auch in Bezug auf eine Neubewer- erstarrten Weltsicht fest. Nicht nur die als «von tung der Erziehungs- und Hausarbeit. Moskau ferngesteuerten Frontorganisationen» eingestuften Parteien der extremen Linken wur- den systematisch bespitzelt – als «nützliche Idioten Die Folgen der Frauensession Moskaus» waren auch Bürgerinitiativen, Frie- denskomitees und Umweltschutzorganisationen Dass die Anliegen der Frauen auch auf Bundese- Ziel staatlicher Schnüffeltätigkeit. Beispielsweise bene vermehrt Gehör fanden, zeigte die eidgenös- bespitzelte die Bundespolizei noch im Mai 1989 sische Frauensession im Frühjahr 1991 – viele Im- die Ökumenische Versammlung der europäischen pulse der 250 Teilnehmerinnen wurden später bei Kirchen in Basel. Ein halbes Jahr später führte die verschiedenen Gesetzesrevisionen berücksichtigt. Enthüllung, dass allein die Bundespolizei 900000 Im Rahmen einer Vortragsreihe zum 700-Jahr- Personen und Organisationen während Jahrzehn- Jubiläum der Eidgenossenschaft konnte die GFS- ten systematisch überwacht hatte, zu einem lan- Stelle des Arbeitskreises die Hauptorganisato- desweiten Skandal, und weitere Enthüllungen rin der Frauensession als Referentin gewinnen über die Existenz autonom von der Landesregie- – am 23. Mai erläuterte Monika Stocker-Meier vor rung funktionierender Geheimarmeen entlarvten einem vollen Farelsaal die dringendsten Frauenan- so manche «Vaterlandsverteidiger» als Subversive liegen auf Bundesebene. Die grüne Nationalrätin vom rechten Rand des politischen Spektrums. kritisierte, dass Frauenarbeit weiterhin schlechter Auch der Arbeitskreis selbst war in der Kartei des bezahlt werde, weil man sich immer noch am über- Polizeidienstes der Bundesanwaltschaft vermerkt: holten Modell «Ma n n gleich Er nä h rer » or ient iere. «A. ist eine der polit. Organisationen in Biel, die Die Referentin forderte auch die Sozialversiche- ideell die Ansichten der neugegründeten ‹JUN- rungen auf, ihr System dem gesellschaftlichen GEN LINKEN› Biel teilen, jedoch nach aussen Wandel anzupassen. Nur noch 21 Prozent der bemüht sind, den Schein zu wahren»… Schweizerinnen gehörten zur Gruppe der verhei- Kein Wunder, dass in diesem Umfeld viele rateten Mütter von schulpflichtigen Kindern ohne Künstler, unter ihnen Max Frisch, zur 700-Jahr- ausserhäusliche Erwerbsarbeit, die noch angemes- Feier der Eidgenossenschaft einen Kulturboykott

125 K apitel 7 Einstehen für Frauenanliegen, Gerechtigkeit, Frieden und Umwelt (1988–1996) Rahmen der Jubiläumsreihe mit folgenden The- men: Golfkrieg und das Dilemma der Neutralität (Günther Bächler), Ökologie und Kultur (Beat v. Scarpatetti), Abfall und «Abfälligkeit» im zwi- verkündeten. Der Ansatz des Arbeitskreises war schenmenschlichen Bereich (Claudia Müller und etwas anders. Gerade das Jubiläumsjahr sollte An- Hans-Ueli Wintsch), Schweiz und Europa (Jörg lass sein, sich «Unbewältigtem im Schweizerland» Thalmann) sowie Nachhaltigkeit zugunsten der zu stellen und die grossen Herausforderungen der nachkommenden Generationen (Peter Saladin). Zukunft zu benennen. Dazu gehörten neben der Ausserdem beschäftigte sich Pfarrer André Du- Frauenfrage die Umweltprobleme, die Konflikt- plain mit der Frage nach der Aktualität des «Natio- kultur, das Problem der nationalen Identität und nalmythos Bruder Klaus». die europäische Integration. Der Veranstaltungs- Auch auf einer ganz praktischen Ebene ver- reihe Spieglein, Spieglein an der Wand hatte André suchte André Monnier, in Bezug auf das natio- Monnier ein optimistisch-offenes Motto von Adolf nale Selbstverständnis neue Akzente zu setzen. Muschg vorangestellt: «Unsere schweizerische Anknüpfend an die Veranstaltung zur Initiative Identität bilden wir heute durch unsere Zugehö- Schweiz ohne Armee organisierte er eine zweitägige rigkeit zu den Problemen der Welt». Kurztagung mit den Peace Brigades International. Den ersten Anlass des Zyklus bestritt Prof. Jan Im Verlaufe der Kurztagung Gewaltlos, aber nicht M. Lochman, der am 24. April 1991 zur Präambel machtlos f ü h r te das Ehepaar Fra nce u nd Ueli W ild- der Bundesverfassung sprach. Mit der Schweiz als berger-Soubise mit Körperübungen und Rollen- Ve r f a s s u n g s n a t i o n b e f a s s t e s i c h a u c h d i e Ve r a n s t a l - spielen in die Praxis der Gewaltminimierung ein, tung vom 29. Mai 1991 mit dem Philosophen Hans immer wieder unterbrochen von theoretischen Saner. «Wir haben nichts gemeinsam – teilen wir Überlegungen zu Konfliktphasen und deren mög- uns doch!» mit so provokativen Worten im Blick licher Umgestaltung. auf die viersprachige Schweiz regte der Referent das Ein betont lokaler Anlass rundete die Vortrags- Publikum im Farelsaal zur Diskussion über unsere serie zum Jubiläumsjahr der Eidgenossenschaft Identität an. Ausgehend von Spittelers berühmter ab. Mit den Petites Soeurs de Jésus und Brigitte Rede Unser Schweizer Standpunkt (Dezember 1914) Morgenthaler-Subramaniam gestaltete André erläuterte der Philosoph in seinem Referat, welch Monnier im Oktober 1991 einen liturgischen Mor- bedrohliches Ausmass die Risse zwischen arm und genweg durch Biel, der frühmorgens an sechs un- reich, links und rechts sowie zwischen Männer- gewohnten Stationen Gelegenheit gab, sich auf kult und Frauenbewegung angenommen hätten. lokaler Ebene mit der aktuellen Befindlichkeit Der Referent kritisierte den Mechanismus, mit der Bieler Bevölkerung auseinanderzusetzen. Un- dem die Verfassungsnation Schweiz versuche, na- terbrochen wurden diese Auseinandersetzungen tionale Identität zu stiften. Die Schaffung immer durch meditative Momente, und nach vier Stunden neuer, im Ausland angesiedelter Feindbilder halte endete der Morgenweg bei Kaffee und Tee in der aufgeschlossene, moderne Nachbarn auf Distanz Bieler A ltstadt. und fördere einen nationalen Immobilismus. Als Zeichen der Hoffnung wertete Saner gewisse An- sätze zu ehrlicherem, bewussterem Umgang mit Persönliche Verantwortung sich selber. Wenn die Schweiz sich nicht mehr als wahrnehmen privilegierten Sonderfall in Europa sehen würde, schloss Saner, könnte sie mit ihren demokratischen Ähnlich selbstkritisch wie der Jubiläumszyklus Institutionen eine echte Alternative werden – ver- beschäftigten sich zwei ökumenische Halbjahres- gleichbar mit der Zeit von 1848 bis 1874, als von kurse mit dem politischen Leben in der Schweiz. der einzigen demokratischen Republik im Herzen Im ersten Halbjahreskurs von November 1989 bis Europas viele Impulse für eine Demokratisierung Mai 1990 konnten sich die Kursteilnehmer/in- des Kontinents ausgegangen waren. nen unter Leitung von Plasch Spescha und André Abgesehen vom bereits erwähnten Anlass zum Monnier intensiv mit den Mechanismen schwei- Frauen- und Männeralltag mit Monika Stocker- zerischer Politik befassen. An konkreten Beispie- Meier befassten sich die weiteren Anlässe im len wurde deutlich, inwieweit ethische Anliegen

126 K apitel 7 Einstehen für Frauenanliegen, Gerechtigkeit, Frieden und Umwelt (1988–1996) bersichtliches System von Sonderinteressen durch – im Kampf der Egoismen blieb das Gemeinwohl auf der Strecke. So befand sich die UdSSR 1990 in einer tiefen Staatskrise. Dieser Situation entspre- wie Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der chend drängten lang unterdrückte Nationalitä- Umwelt im bestehenden politischen System um- tenkonflikte mit aller Macht zum Ausbruch. Im gesetzt werden konnten. Viele Kursteilnehmer/ europäischen Teil der Sowjetunion bedeutete das innen wurden durch diesen Kurs motiviert, die be- die Unabhängigkeitserklärungen der baltischen stehenden Möglichkeiten zur Mitgestaltung auch Staaten Litauen (11. März), Estland (30. März) und zu nutzen. Der zweite Halbjahreskurs von Okto- Lettland (4. Mai). Nur wenige Monate vor diesen ber 1990 bis März 1991, also unmittelbar vor dem Auflösungstendenzen der Sowjetunion hatte die Jubiläumszyklus, befasste sich mit verschiedenen DDR die innerdeutsche Grenze geöffnet, was ei- aktuellen Herausforderungen für die Schweiz und nen Vereinigungsprozess mit der BRD in Gang den Möglichkeiten, diese auf der Basis christlicher setzte. Sozialethik anzugehen. Schon vor diesen Ereignissen hatte die GFS- Auf die im Verlauf des ersten Halbjahreskurses Stelle versucht, das Verständnis für die europä- erörterte Problematik des Bodenrechts kam An- ische Einigung zu fördern, etwa mit dem Auftritt dré Monnier am 28./29. September 1990 zurück. der Philosophieprofessorin Jeanne Hersch am Am Freitagabend erklärten zwei Mitglieder der IG 4. Mai 1988 im Rahmen der Eurowoche. Zu den Boden Näheres zum Thema. Der Bauer Ernst Där- Vorgängen nach dem Fall der Berliner Mauer or- endinger erzählte, wie er infolge einer Umzonung ganisierte André Monnier gemeinsam mit der zum Millionär geworden war, und zeigte damit die Europa-Union und der Neuen Helvetischen Gesell- Gefahren spekulativen Umgangs mit dem Boden schaft mehrere prominent besetzte Gesprächsforen. auf. Gemeinsam mit dem Lehrer Werner Rosen- Besonders eindrücklich zeigte das Euro-Forum berger versuchte er anschliessend, die Merkmale 90 vom 2. Mai, wie weit die Auswirkungen der eines verbesserten Bodenrechts zu skizzieren. Im Reformpolitik Gorbatschows reichten. Dr. Peter zweiten Teil der Kurztagung beschränkten sich Sager, langjähriger Leiter des Ost-Instituts, be- die Referenten, ihre Thesen vom Vorabend ganz dauerte die vorzeitige Unabhängigkeiterklärung kurz zu wiederholen, um in Dialog und Meinungs- Litauens, weil der Generalsekretär der KPdSU bildung einzuführen, wobei sich einige Kursteil- dadurch zu vermehrten Konzessionen an die kon- nehmende besonders exponierten und profilierten. servativen K räfte veranlasst werde. Der SV P-Poli- Diesem Teil folgte noch die allgemeine Diskussi- tiker sah den Auflösungsprozess in Osteuropa als on, die auf Wünsche nach einer Erneuerung des Chance, den europäischen Integrationsprozess Bodenrechts hinauslief. weiter voran zu bringen. Zu dieser Frage erklärte Das Modell zweiteiliger Veranstaltungen (wie Miklos Molnar, Professor am Genfer Institut für schon 1982) mit dem Ziel, nachhaltigere Wirkung Internationale Studien, die Osteuropäer müssten zu entfalten, wurde auch bei anderen Themen nun Schritt für Schritt zu ihren europäischen recht erfolgreich angewandt. Wurzeln zurück finden. Molnar betonte, dass die- ser Weg für viele auch bedeuten werde, gewisse Illusionen über den stabilen Westen zu verlieren. Europa im Umbruch… Nach den beiden Referaten begann das Podiums- gespräch, an dem sich auch der Bieler Gewerk- Als Michail Gorbatschow 1986 zu mehr Offen- schaftssekretär Dario Marioli und André Mon- heit und zum Umbau der UdSSR aufgerufen hatte, nier beteiligten. Beide Bieler Podiumsteilnehmer geschah es in der Hoffnung, nach Jahrzehnten der sprachen sich nachdrücklich für eine Annäherung Stagnation einen Modernisierungsschub auszu- der Schweiz an die Europäische Union aus, ganz lösen. Doch das System, mit dem er den Umbau zu im Sinne Molnars, der wie Goethe Vaterlandslie- vollziehen suchte, war bereits zu brüchig gewor- be mit Weltbürgertum verbinden konnte. Mit der den. Bevor die Reformen griffen, befand sich die Vermutung, dass die Angst vor Identitätsverlust alte Kommandowirtschaft in einer tiefen Krise, angeboren sei, riet Peter Sager vor einer allzu ra- und im entstandenen Vakuum setzte sich ein unü- schen Öffnung der Schweiz ab.

127 K apitel 7 Einstehen für Frauenanliegen, Gerechtigkeit, Frieden und Umwelt (1988–1996) hen Zinsen immer unerbittlicher ausweitete. Für die grossen Bevölkerungsmehrheiten in den Entwicklungsländern bedeutete das ein verlo- renes Jahrzehnt. Der Druck der Gläubiger und des Auch 1991 engagierte sich der Arbeitskreis für Internationalen Währungsfonds (IWF) bewirkte Veranstaltungen, die den Wandel in Europa the- Strukturanpassungsprogramme, die für immer matisierten, zum Beispiel für das Bieler Literatur- mehr Menschen Verarmung oder gar Verelendung wochenende vom 15.–17. März 1991. Unter dem bewirkten. Titel Seht dort… dort entsteht was, dort! erlaubte Vor diesem Hintergrund organisierte der Ar- eine Vielfalt von Anlässen eine direkte Begegnung beitskreis in Zusammenarbeit mit anderen kirch- mit Kulturschaffenden aus Osteuropa – das Kon- lichen Institutionen und zwei Hilfswerken einen zert zum Auftakt bestritt kein Geringerer als der Vortrags- und Gesprächszyklus zu verschiedenen aus der ehemaligen DDR ausgebürgerten Lieder- Aspekten der Schuldenkrise. Zentraler Anlass des macher Wolf Biermann. Das weitere Programm relativ gut besuchten Zyklus war das Podiumsge- umfasste eine Filmmatinee und Lesungen von spräch vom 15. März 1990, bei dem die Referenten Autoren und einer Autorin aus dem vormaligen sich in überraschend vielen Fragen einig waren. «Ostblock», wobei die Literarische Gesellschaft als Peter Walser, Pressesprecher des Schweizerischen Ko-Organisatorin mit Sorgfalt eine Frau und vier Bankvereins, zeigte sich gegenüber der Politik des Männer eingeladen hatte, die sich auch deutsch IWF ebenso skeptisch wie Urs Hänsenberger verständigen konnten – sie waren aus Budapest, von der Aktion Finanzplatz Schweiz – Dritte Welt. Moskau, Ostberlin, Prag und Tiflis angereist. In Auch der Bankenvertreter glaubte nicht an die der Einleitung zum Schlussanlass machte der Po- Wirksamkeit einer Politik, die bloss an abstrakten litikprofessor Wolf Linder Überlegungen zur Fra- Zahlen wie Wachstumsraten und Bruttosozialpro- ge, inwieweit Kultur als Fenster der Politik wirken dukt interessiert war. Walser räumte überdies ein, könne, worauf Lili Sommer vom Lokalradio Canal dass die Schweizer Banken in den siebziger Jahren 3 ein Podiumsgespräch mit den Autoren und der mit einer unsorgfältigen Kreditpolitik zur Schul- Autorin moderierte. denkrise beigetragen hatten. Hänsenberger wies darauf hin, dass die Schweizer Grossbanken auch weiterhin grosse Mitverantwortung trügen, da je- …eine wachsende Kluft zwischen Nord der sechste Fluchtgelddollar über sie laufe. und Süd… Im zweiten Teil des Podiums ging es um den Versuch von sechs Schweizer Hilfswerken, aus Geplant war eigentlich das Gegenteil: Als das Anlass des 700-Jahre-Jubiläums der Eidgenossen- Wachstum in den westlichen Industriestaaten schaft einen wirksamen Beitrag zur Linderung der ab Mitte der siebziger Jahre ins Stocken geriet, Not in den Entwicklungsländern zu leisten – mit wurden die Entwicklungsländer zum Ziel einer einer Petition verlangten sie vom Bundesrat die Kredit- und Exportoffensive. Im Glauben, in die- Äufnung eines Fonds von 700 Millionen, um dank sen Ländern eine «Industrialisierung auf Pump» bilateralen Entschuldungsprogrammen Projekte durchführen zu können, hoffte man auf neue Im- zu Gu nsten der Bevöl ker u ng i n den Ent w ick lu ngs- pulse für die Weltwirtschaft. Da das Risiko solcher ländern zu finanzieren. Walser gab der Petition Geschäfte meistens vom Staat getragen wurde, gute Erfolgschancen, gab aber zu bedenken, dass gingen die daran beteiligten Unternehmen jedoch die Verantwortung für Hunger und Elend in den äusserst fahrlässig vor. Nur ein Drittel der inve- Entwicklungsländern nicht allein bei internati- stierten Gelder floss in produktive Projekte, oft onalen Finanzinstituten lag. Für soziales Elend in kostspielige und fragwürdige Grossprojekte. seien in erster Linie falsche Prioritäten vieler Re- Den grössten Teil der Exporte machten aber Waf- gierungen in den Entwicklungsländern verant- fen und Luxusgüter aus – kein Wunder, dass dies wortlich, betonte der Bankenvertreter, indem er nur bei der Schuldenlast der Entwicklungsländer auf sinnlose Importe von Waffen und Luxusgütern Wachstum generierte. Im Verlauf der achtziger verwies. Jahre gerieten die meisten Entwicklungsländer in eine Verschuldungsspirale, die sich infolge der ho-

128 K apitel 7 Einstehen für Frauenanliegen, Gerechtigkeit, Frieden und Umwelt (1988–1996) Während Udry sich ganz darauf konzentrierte, die wirtschaftlichen Interessen der USA in der Golf- region darzustellen, erklärte Badeen, warum die- ser Krieg so stark zur Entfremdung der Arabischen …und das frühe Ende der Hoffnung auf Welt vom modern geprägten Westen beitrug. Die dauerhaften Weltfrieden Araber hätten sich immer wieder als eine Nation verstanden, betonte der Orientalist, und sie rea- Nach dem Ende des Kalten Krieges hatten viele gierten sehr empfindlich, wenn Ungerechtigkeiten Menschen auf den Beginn einer längeren Phase mit verschiedenen Massstäben beurteilt würden. echter Entspannu ng gehof f t. Daraus w urde nichts. Dass UNO-Resolutionen im Falle des Iraks mit Nach 1988, also nach dem Ende des Krieges gegen Gewalt durchgesetzt würden, in Bezug auf Israels den Iran, war der einst mit Hilfe der CIA an die Besatzungspolitik aber unbeachtet blieben, fru- Macht gekommene irakische Diktator Saddam striere die arabischen Massen tief – erst in diesem Hussein den US-Interessen nicht mehr dienlich. Zusammenhang sei die verhängnisvolle Sympathie Im Gegenteil: A ls Saddam Hussein im Zusammen- vieler Araber für Saddam Hussein erklärbar. hang mit der gigantischen Verschuldung seines In einem weiteren Zusammenhang mit dem Landes begann, den Nachbarstaat Kuwait in einen Golfkrieg stand auch ein Kurs, den André Mon- Konflikt um gemeinsam ausgebeutete Ölfelder nier 1994 durchführte. Unter dem Titel Mit dem zu verwickeln, sahen die USA auch ihre eigene Schwert gegen den Islam? zeigte der Studienleiter Versorgung mit Erdöl in Gefahr. Der Einmarsch historische Wurzeln des Nahostkonflikts auf. In irakischer Truppen in Kuwait am 2. August 1990 der arabischen Welt liess sich die Wahrnehmung führte zur Bildung einer von den USA angeführten vom Westen als ausgreifende, erobernde Macht und von den Vereinten Nationen unterstützten bis auf die Kreuzzüge im 11. und 12. Jahrhundert Kriegskoalition, die nach Saddams Weigerung, zurückführen. Die Eingriffe US-amerikanischer sich aus Kuwait zurückzuziehen, am 17. Januar Politik im nahöstlichen Raum schienen dieses Bild 1991 den Golfkrieg eröffnete. Nach einem inten- in buchstäblich verheerendem Ausmass zu bestä- siven, 42-tägigen Luftkrieg gegen die irakischen tigen. André Monnier wies aber auch darauf hin, Truppen brauchte die Koalition nur noch drei dass sich mit dem Islamismus eine auch problema- Tage Bodenkrieg, um den Irak zum Rückzug aus tische Gegenbewegung formierte. Wie gefährlich Kuwait zu zwingen. In dieser Situation geriet Sad- ein Teil dieser Gegenbewegung war, sollte sich dam Husseins Macht in Bagdad ins Wanken – die wenige Jahre später zeigen. 1990 hatte allein die von den USA geführte Koalition sorgte aber dafür, vorübergehende Anwesenheit hunderttausender dass der Diktator im Sattel blieb. westlicher Soldaten in Saudi-Arabien einen gewis- Der erste von den Massenmedien systema- sen Osama bin Laden erzürnt… tisch begleitete Krieg nach dem Ende des Kalten Initiativen, welche die Verständigung zwischen Krieges führte auch in der Region Biel zu tiefer der islamischen und der westlichen Welt förderten, Betroffenheit. Ein Ausdruck dieser Betroffenheit kam in diesem Zusammenhang umso grössere Be- war der Zwischenfall vom 24. Januar 1991. Als das deutung zu. Ein Meilenstein dazu wurde vom 25. Infanterieregiment 13 im Rahmen der Feierlich- bis zum 27. November 1995 in Biel gesetzt. Auf keiten zu 700 Jahren Schweiz und 800 Jahren Stadt Einladung der Schweizerischen Akademie für Ent- Bern durch das Städtchen Nidau marschierte, wicklung (SAD) trafen sich hochrangige Theolo- machte eine Gruppe Friedensbewegter mit einer gen und Würdenträger beider Glaubensgemein- Sitzblockade auf die Brutalität des Golfkrieges schaften zum christlich-muslimischen Forum, das aufmerksam. der norwegische Friedenforscher Johan Galtung Am 18. Februar beteiligte sich der Arbeitskreis angeregt hatte. Neunhundert Jahre nach Papst an einer Veranstaltung, die Hintergründe und Urbans Aufruf zum ersten Kreuzzug sollte ein Auswirkungen des Golfkriegs näher beleuchten Zeichen der Versöhnung gesetzt werden. Als Teil- sollte. Als Referenten des Anlasses bemühten sich nehmer dieses Anlasses konnte André Monnier der Jou r na l ist Cha rles-A nd ré Ud r y u nd der i n Isra- mitverfolgen, wie Galtung ein wichtiges Ziel er- el aufgewachsene Orientalist Dr. Edward Badeen, reichte. Die islamischen Vertreter verstanden das zwei Aspekte der Problematik näher zu erläutern. Forum als kleine Geste der Entschuldigung, und

129 K apitel 7 Einstehen für Frauenanliegen, Gerechtigkeit, Frieden und Umwelt (1988–1996) in ihrer weiteren Arbeit grosse Aufmerksamkeit zu widmen.

zum Abschluss konnte im Stadtratssaal die Frie- Nach innen gehen, um wieder nach denserklärung von Biel verlesen werden – ein wich- aussen zu wirken tiges Dokument für die friedliche Koexistenz der beiden Glaubensgemeinschaften. «Die christliche Mystik unterscheidet drei Pha- sen des Labyrinth-Weges: Der Weg zur Mitte, Via Purgativa, ist der Weg der Läuterung, des Loslas- Bilder fallen nicht vom Himmel sens. Die Mitte, Illuminatio, ist der Ort der Er- leuchtung. Der Rückweg, Via Activa, ist der Weg Im Rahmen ihres Auftrags beschäftigte sich in das aktive Leben, den Alltag, zurück» Als sich Verena Naegeli auch mit der Frage nach der reli- die Bilderkursgruppe im Herbst 1991 dem Laby- giösen Identität von Frauen. Die traditionelle rinth-Symbol zuwandte, begegnete ihr unter an- Rolle der Frauen als «Hüterinnen des Friedens» derem auch diese Interpretation. Der Gruppe er- war für die Studienleiterin Ausgangspunkt kri- schien das Labyrinth vor allem als grundsätzlicher tischer Reflexion: «Dient dies wirklichem Frieden? Ausdruck der verschiedenen Wege, welche Frauen Oder führt es nicht einfach die verhängnisvolle auf ihrer doch gemeinsamen spirituellen und poli- Spaltung weiter, dass oft, im Klischee geredet, tischen Suche einschlugen. Männer – äusserlich – kriegen und herrschen und In diesem offenen Sinne setzte sich die Grup- Frauen – äusserlich – pflegen und dienen? Friede, pe bis im Mai 1992 mit verschiedenen Aspekten der nicht einfach ein Waffenstillstand oder eine des Labyrinthsymbols auseinander, nachdem ein gegenseitige Ein- und Ausgrenzung der Bereiche Labyrinthfest und eine Reise zum Labyrinthplatz sein soll, braucht also die Bereitschaft, an diesen in Zürich einen unmittelbaren Einstieg ins The- Rollen zu rütteln und sich mit den so sichtbar wer- ma ermöglicht hatten. Das Labyrinth ermöglichte denden Konflikten auseinanderzusetzen. Dies nicht nur meditative Spaziergänge, es versinnbild- erfordert aber gleichzeitig eine Neufindung in der lichte auch eine nicht hierarchische Art gemein- eigenen Identität und auch eine innere Auseinan- samen Unterwegsseins. Ausserdem ermöglichte dersetzung mit der eigenen, eben auch religiösen der Bezug auf vorchristliche Labyrinthe, sich bis Verwurzelung. Eine lebendige, hinschauende und weit in die Vorgeschichte mit Frauen und Männern in sich starke religiöse Identität vermag dann der vergangener Kulturen zu verbinden. Suche nach Frieden und Gerechtigkeit vielleicht eine noch weitere und tiefere Dimension zu geben und kann zur Befähigung von echter Offenheit von Geschlechterdifferenz – zur Bewahrung innerer und äusserer Friedenshaltung werden, die des Schöpferischen weder Konflikt noch Verschiedenheit – auch Ver- schiedenheit unter Frauen – ausweichen muss.» Ganz im Sinn der «via activa» setzte sich Vere- Um sich gemeinsam kritisch mit der Geschichte na Naegeli 1992 bewusst für eine «Bewahrung des der christlich-patriarchal gewachsenen religiösen Schöpferischen» ein: Tradition auseinanderzusetzen und nach Quellen «Setze ich die Arbeit der Frauenstelle in den der religiösen Kraft zu suchen, organisierte Verena umfassenden Zusammenhang von Gerechtigkeit Naegeli mit einer engagierten Vorbereitungs- und und Friede, so soll klar werden, dass es nicht darum Begleitgruppe einen Zyklus. Bilder fallen nicht vom gehen kann, nur eine für Frauen geschützte Nische Himmel hiessen die Kurse zu Gottesbildern (ge- im so genannt feindlichen Patriarchat zu schaffen, meinsam mit Giovanna Massa), zu Frauenbildern sondern darum, als Bildungsbeauftragte voll in den (gemeinsam mit Elisabeth Weber) und zu Lebens- allgemeinen Lebensprozess einzugreifen. ent würfen (gemeinsam mit Rosmarie Birchler). Die Frauenstelle, entschied ich, konnte so auch Der ganze Zyklus stiess auf grosses Interesse, nicht ausschliesslich Stelle für Frauen bleiben, was Verena Naegeli bewog, der Auseinanderset- vielmehr sollte die Frage nach einem gerechten, zung mit der religiösen und weiblichen Identität friedensstarken Verhältnis unter den Geschlech-

130 K apitel 7 Einstehen für Frauenanliegen, Gerechtigkeit, Frieden und Umwelt (1988–1996) auch in der Stärkung der Hoffnung: «Es gibt auch ei ne Dimension der Verheissu ng, d ie dem Schöpfe- rischen in den Geschöpfen bei allem Schwierigen der Schöpfung doch etwas zutraut, welche sich tern an alle Beteiligte, also Frauen und Männer du rch K rit ik u nd Ver u nsicher u ng h indu rch f ü r ein gestellt werden. Dies hiess nun auch, dass der dritte gutes Leben ausspricht.» Themenkreis, die Bewahrung der Schöpfung, zu Um der eigenen inneren Entwicklung zu fol- einer besonderen Bedeutung finden konnte, die gen, beendete Verena Naegeli im Sommer 1992 ich genauer mit «Bewahrung des Schöpferischen» ihre Tätigkeit als Studienleiterin beim Arbeits- beschreiben möchte. Denn auf die schöpferische kreis; sie vervollständigte im Kanton Zürich ihre Dimension auf verschiedenen Ebenen zu achten, Ausbildung zur Pfarrerin. In ihrem Schlussbericht müsste eigentlich Kriterium jeder äusseren und konnte sie darauf verweisen, dass der Boden für die inneren Entwicklung sein und nicht einfach die Frauenstelle unterdessen gelockert war, um neben Bewa h r u ng dessen, was Frau oder Ma n n a ls so oder schon Gewachsenem Neues zum Blühen zu brin- so Geschaffene erleben. Geht es nun um das Ver- gen. hältnis der Geschlechter, so kann das Achten auf die Bewahrung des Schöpferischen für Frauen und Männer eine kreative Herausforderung werden, In Biel verwurzelt: Catina Hieber eben geschaffene Rollen und Veranlagungen in Bewegung zu bringen. Bei der Neubesetzung der Frauenstelle ent- Für Frauen könnte dies zum Beispiel heissen, schied sich der Gesamtkirchgemeinderat am 14. sich selber und einander, in der Absicht, Leben be- September 1992 für eine Bewerberin, die unter wahren zu wollen, nicht gleichzeitig am neufältiges anderem auch bereit war, sich fest in Biel zu ver- Leben schaffenden, schöpferischen Durchbruch ankern. Catina Hieber-Schilt vereinigte Welter- zu hindern. Und für Männer würde es bedeu- fahrung, Engagement für Frauenanliegen und den ten, nicht im Bestreben, Einmaliges und Grosses gewünschten lokalen Bezug in idealer Weise. Die schaffen zu wollen, dabei den lebensbewahrenden in Biel aufgewachsene Theologin hatte von 1978 Bezug zu verlieren. Vielleicht liegt ja da, mehr bis 1986 in Nigeria angehende Lehrerinnen in als in der Bewahrung von Geschaffenem, gerade Religion unterrichtet und dabei erlebt, wie Frauen im bewahrenden Schöpferischen ein Hauch von auch in einer stark patriarchalisch geprägten Ge- ‹Gottesebenbildlichkeit›, den wir – als Frauen und sellschaft Kraft und Eigenständigkeit entwickelt Männer geschaffene – trotz aller negativen Erfah- hatten. Nach ihrer Rückkehr in die Schweiz hatte r u ngen u nd Ent w ick lu ngen m it festgeleg ter Weib - Catina Hieber bei der Kooperation der Evangelischen lich- und Männlichkeit, nicht aus dem Angesicht Missionen (KEM) ihre Arbeit mit und für Frauen verlieren sollten.» im Süden weitergeführt und sich mit wachsendem Im Sinne dieser Orientierung organisierte die Interesse mit feministischer Theologie auseinan- Studienleiterin zu Beginn des Jahres einen Kurs dergesetzt. An der Frauenstelle des Arbeitskreises für Männer und Frauen, der es erlaubte, sich Weib- wollte sie versuchen, ihr feministisches Interesse lichem und Männlichem in verschiedenen Schöp- mit dem beruflichen Engagement zu verbinden. fungsmythologien anzunähern. Die Zusammen- Kirchliche Bildungsarbeit hiess für sie auch, pa- arbeit mit dem Nidauer Künstler Ruedi Schwyn triarchale Strukturen bewusst zu machen und zur ermöglichte dabei, im Rahmen dieses Kurses viel Sprache zu bringen. Schöpferisches entstehen zu lassen. Sehr bald knüpfte Catina Hieber die ersten Auch wenn Verena Naegeli im zweiten Teil ih- Kontakte mit Frauen der Bieler Kirchen, des ent- rer Aufbauarbeit den Schwerpunkt von der im en- stehenden Frauenhauses und von F-Info, später geren Sinn politischen Arbeit zur Reflexion über auch mit Frauen aus anderen Projekten. Nach einer die innere Entwicklung von Frauen und Männern Phase des Kennenlernens und Vertrautwerdens verschoben hatte, trat sie nach wie vor für eine kri- skizzierte sie drei Schwerpunkte ihrer künftigen tische Auseinandersetzung mit politischen Pro- Arbeit. blemen ein. Sie sah die Aufgabe einer in christlich- Ein zentrales Anliegen schien der neuen Studi- religiöser Tradition stehenden Bildungsstelle aber enleiterin die Weiterentwicklung des Frauenplatzes

131 K apitel 7 Einstehen für Frauenanliegen, Gerechtigkeit, Frieden und Umwelt (1988–1996) liessen sich erst zur Rückkehr bewegen, als ihnen die Ausführung des Wasserprojekts versprochen wurde.» Mit diesem Beispiel erklärte die kamerunische Soziologin und Dichterin Grace Eneme einem interessierten Publikum im Farelsaal, wie Frauen auch in sehr traditionell geprägten Regionen ihres Landes autonom und solidarisch handeln können. Die Referentin des ersten von Catina Hieber orga- nisierten Anlasses konnte aus dem Vollen schöpfen – als Koordinatorin für Frauenarbeit der evange- lischen Kirchen in Kamerun hatte sie auf vielfältige Weise erlebt, wie die Frauen sich für ihre Anliegen zu wehren wussten. Mit eindrücklichen Zahlen zeigte Eneme auf, dass die Frauen auf dem Land Catina Hieber das wirtschaftliche Rückgrat bildeten – sie trugen sechzig bis achtzig Prozent zum Familienunterhalt bei. Mit einem ähnlich hohen Anteil prägten sie auch das kirchliche Leben. Die Referentin betonte, dass immer mehr kirchliche Frauengruppen unab- im Sinne einer zunehmenden Vernetzung der be- hängig von einer Pfarrerfamilie arbeiteten und die stehenden Frauenorganisationen. Im Hinblick auf Alltagsprobleme der Landfrauen zum Zentrum die aktuelle wirtschaftliche Lage sah sie auch die ihrer Tätigkeit gemacht hätten. Im Gespräch mit Notwendigkeit, die Sensibilität für Frauenanlie- dem Publikum betonte sie die Notwendigkeit ei- gen in der ganzen Gesellschaft zu fördern. Nur zu ner gerechteren Weltwirtschaftsordnung – auch in deutlich zeigte sich, wie das traditionelle Rollen- Kamerun zog wirtschaftliche und soziale Not als bild durch die steigende Arbeitslosigkeit wieder in Folge der Schuldenkrise immer weitere K reise. Mode kam. Eine vertiefte Auseinandersetzung mit Rollenverständnis und weiblicher Identität wollte Catina Hieber mit einem Kursangebot zu femi- «Stell dir vor, sie machen einen Krieg, nistischer Theologie und feministischer Spiritua- und (fast) keiner schaut hin…» lität fördern. Das beängstigende Wettrüsten der achtziger Jahre hatte auf ganz unerwartete Weise geendet. Wie Kameruns Frauen Projekte Die durch Gorbatschow eingeleitete Demokrati- ins Fliessen bringen sierung der UdSSR hatte zur fast unblutig verlau- fenen Auflösung der staatssozialistischen Systeme «In einer Landgemeinde sammelten die Frauen in Osteuropa und zum Ende der UdSSR geführt. Geld für ein Projekt, das ihnen das Wasser ins Auf dem Balkan begünstigte die Neugestaltung Dorf bringen sollte. Die zusammengekommene Europas jedoch eine fatale Entwicklung. Um sich Summe übergaben sie der ausschliesslich männ- an der Macht zu halten, setzte die alte kommu- lichen Dorfregierung. Doch sie mussten sich das nistische Elite in Belgrad auf einen aggressiven Wasser weiterhin mühsam ausserhalb des Dorfes serbischen Nationalismus, was in den übrigen beschaffen, denn offenbar hatten die Männer das Teilrepubliken ebenfalls nationalistische Reflexe Geld anderweitig verwendet. Eines Tages hatten provozierte. Um sich dem Machtanspruch des ju- die Frauen genug. Sie liefen mit ihren Kindern den goslawischen KP-Führers Slobodan Milosevic zu Männern davon. Umsonst versuchte der Dorfchef, entziehen, folgten die wirtschaftlich meist etwas die erboste Frauenschar aufzuhalten, umsonst besser gestellte slowenische und kroatische Be- bat er den Chef des Nachbardorfs, die Gruppe zu völkerung im Juni 1991 ihrer jeweiligen nationa- stoppen. Erst als den Frauen Friedenszweige über listischen Führung und unterstützten die Loslö- den Weg gelegt wurden, hielten diese an. Doch sie sung ihrer Teilrepubliken aus dem jugoslawischen

132 K apitel 7 Einstehen für Frauenanliegen, Gerechtigkeit, Frieden und Umwelt (1988–1996) Der Schweizer Alleingang in Zeiten der Globalisierung

Dass die Schweiz auch nach dem Kalten Krieg Staatsverband. Die Proklamation der Unabhän- in Igelstellung verharrte, war vermutlich auch auf gigkeit von Slowenien und Kroatien bedeutete den einen fatalen Bundesratsbeschluss zurückzufüh- Beginn eines blutigen, langjährigen Krieges, des- ren. Kurz vor der Abstimmung über den Beitritt sen Brutalität die europäische Öffentlichkeit scho- der Schweiz zum Europäischen Wirtschaftsraum ckierte. Nach der Unabhängigkeitserklärung von (EWR) beschloss die Landesregierung mit vier zu Bosnien-Herzegowina im März 1992 verlagerten drei St immen, in Br üssel ein Beit rittsgesuch zu de- sich die Feindseligkeiten in die am meisten multi- ponieren. Die Möglichkeit, dass eine Zustimmung kulturell geprägte Region des ehemaligen Jugosla- zum EWR bald weitere Integrationsschritte nach wien, deren Hauptstadt Sarajewo von serbischen sich ziehen könnte, spaltete die EWR-Befürwor- Nationalisten monatelang eingekesselt, von Ver- t e nde n , w a s a n g e s ic ht s de s k n app e n A b s t i m mu n g s - sorgungsgütern abgeschnitten und systematisch ergebnisses wohl entscheidend zum Erfolg eines unter Feuer genommen wurde. aus dem Kalten Krieg übernommenen Musters Auch in Biel löste der Balkankonflikt Betroffen- beitrug. Nicht nur aus Angst vor wirtschaftlichem heit aus. Am 4. März fand ein Protestmarsch gegen Niederg a ng, sonder n auch wegen der Bef ü rcht u ng, diesen Krieg statt, und die Frauen für den Frieden die Schweiz könnte durch «Brüssel» kolonialisiert trafen sich zweimal pro Monat auf dem Zentral- oder satellisiert werden, lehnten 51 Prozent der platz zu einer Mahnwache. Um zu einem besseren Stimmenden am 6. Dezember 1992 einen Beitritt Verständnis der Konflikthintergründe beizutra- der Schweiz zum EWR ab. Bei dieser Fortschrei- gen, organisierte André Monnier auf den 12./13. bung des «helvetischen Sonderfalles» spielte die März 1993 eine Kurztagung. Leider zeigte schon von Christoph Blocher inspirierte Aktion für eine der Informationsabend vom Freitag, dass sich trotz unabhängige und neutrale Schweiz (AUNS) eine allgemeiner Betroffenheit nur sehr wenige zu einer zentrale Rolle – ihr Appell an ein traditionelles direkten Auseinandersetzung aufgerafft hatten. Verständnis von Patriotismus und Neutralität Vor halbleerem Farelsaal erläuterte der Politologe hatte grosse Resonanz gefunden. Wie in anderen und Friedensforscher Günther Bächler, wie cha- europäischen Ländern machte sich ein Erstarken rismatische, populistische Politiker eine nationale des Rechtspopulismus bemerkbar, und alles deu- Identitätskrise ausnützen konnten, um ihre ver- tete auf eine auch längerfristig einflussreichere unsicherte Basis zu fanatisieren und schliesslich in politische Rechte hin. Die nach dem Literaturso- den Krieg zu führen. Als zweite Referentin veran- ziologen Leo Löwenthal als «umgekehrte Psycho- schaulichte Martha Schädelin die Schwierigkeiten, analyse» bezeichnete Technik der Populisten, die sich in einer Situation des Krieges angemessen zu neurotischen Ängste ihres Publikums zu verstär- informieren. Die siebzehn Frauen der Belgrader So- ken, hatte in der verunsicherten Bevölkerung gute lidaritätsgruppe waren während ihres Aufenthaltes Erfolgsaussichten. in der jugoslawischen Hauptstadt vor störenden Für André Monnier war klar, dass die weitere Eindrücken sorgfältig abgeschirmt worden. In an- Öffnung der Schweiz gegenüber Europa nach die- dern Teilen des Konfliktgebiets konnten sich die ser Abstimmung für längere Zeit blockiert war. Solidaritätsfrauen hingegen einigermassen unge- Trotzdem schrieb er in Zusammenarbeit mit der stört mit Betroffenen unterhalten und sich infor- Volkshochschule zunächst einen, dann noch drei mieren. Kurse über das Verhältnis der Schweiz zu Europa Der Austausch mit dem Publizisten Vladimir aus, die einen Überblick zu den zahlreichen euro- Malogajski, der sich bewusst zum Etikett «Ex-Ju- päischen Institutionen boten. Ausserdem hatten goslawien» bekannte, musste wegen des geringen die Kursteilnehmenden Gelegenheit, im Verlaufe Interesses abgesagt werden. In seiner Auswertung eines Besuchs in Strassburg direkte Fragen an Po- des Anlasses deutete André Monnier das geringe litiker/innen der Europäischen Gemeinschaft oder Echo des Anlasses als Ausdruck einer gewissen des Europarats zu richten. «Katastrophenmüdigkeit».

133 K apitel 7 Einstehen für Frauenanliegen, Gerechtigkeit, Frieden und Umwelt (1988–1996) zweisprachigen Treff arbeitsloser Frauen (TEFAC) kamen jede Woche stellensuchende Bielerinnen zusammen, um sich gegenseitig zu beraten und zu unterstützen. Ausserdem konnte Catina Hieber Einsatz zugunsten der Arbeitslosen mit Unterstützung der Erwachsenenbildnerin Eli- sabeth Weber ab Herbst 1993 einen Kurs für ar- In schroffem Kontrast zur mehrheitsfähigen beitslose Frauen organisieren, der vom KIGA un- Ideologie des Alleingangs gestaltete sich die wirt- terstützt wurde. Im Zentrum des Kurses standen schaftliche Entwicklung. Die sich weiter intensi- die persönliche Standortbestimmung und die Stär- vierende Globalisierung bedeutete unter anderem kung des Selbstvertrauens der Teilnehmerinnen. eine Verschärfung des Wettbewerbs, was zu Be- ginn der neunziger Jahre einen weiteren Rationa- lisierungsschub zur Folge hatte, und der Druck auf d ie Reallöh ne na h m massiv zu. Aus d ieser Ent w ick- «Frauen – Saisonarbeitskräfte lung resultierte eine Arbeitslosigkeit, wie sie in der im eigenen Land?» Schweiz seit den dreissiger Jahren nie mehr vorge- kommen war. Zu Beginn des Jahres 1992 wurden Der zweite Jahrestag des Frauenstreiks fand erstmals über hunderttausend Arbeitslose gezählt, nur drei Monate nach einem Affront statt, der und 1993 näherte sich die Arbeitslosenquote mit zehntausende von Frauen in der ganzen Schweiz über vier Prozent dem Niveau anderer europäischer mobilisierte. Als die Nichtwahl der Bundesrats- Staaten. Wie in den vorangegangenen Rezessions- kandidatin Christiane Brunner die in der Ver- jahren war Biel mit etwa neun Prozent registrierter fassung verankerte Gleichstellung zwischen den Arbeitslosigkeit besonders stark vom Beschäfti- Geschlechtern erst recht als Makulatur erschei- gungsrückgang betroffen. Dass die Stadt Biel ab nen liess, zeigte diese Frauengeneration mit aller 1991 ebenfalls Personal abbaute, verschärfte diese Deutlichkeit, dass sie genügend Kraft hatte, um Situation noch mehr. Immerhin war die Stadt be- eine eigene Vertreterin in der Landesregierung zu reit, das Arbeitsbeschaffungsprogramm 1994 auf erkämpfen. Tausende schrieben an Parteien und 240 Vollzeitstellen auszubauen, um dem Risiko der Verbände, und zehntausende demonstrierten ge- Verarmung wegen Langzeitarbeitslosigkeit entge- gen das Vorgehen der bürgerlichen Parteien. Am genzuwirken. 10. März 1993 erzielten sie einen Teilerfolg. Nach Auch die Kirchen nahmen die Auswirkungen der Verzichtserklärung des am 3. März gewähl- dieser Rezessionswelle ernst. Die katholische Pa- ten Francis Matthey wurde die Gewerkschafterin storalkonferenz stellte das halbe Pensum eines So- Ruth Dreifuss als 100. Mitglied des Bundesrates zialarbeiters zur Verfügung, um eine neu entstan- gewählt. In den folgenden Monaten zeigten Wahl- dene Arbeitslosenvereinigung zu begleiten, und auf ergebnisse in verschiedenen Kantonen, dass deut- ökumenischer Ebene wandten sich Catina Hieber, lich mehr Frauen gewählt wurden. Plasch Spescha und André Monnier an die städ- I m Sommer 1993 war der Aufschw u ng der Frau- tische Berufsberatung, um Möglichkeiten kirch- enbewegung auch in Biel spürbar. Das Aktionswo- licher Unterstützung abzuklären. Dank dieser An- chenende, das Catina Hieber gemeinsam mit F- frage ergaben sich Gespräche mit verschiedenen Info u nd v ielen a nderen Frauenorga n isat ionen z wei zuständigen Personen, unter anderem mit Martin Tage vor dem Jahrestag des Frauenstreiks organi- Zeller, dem Verantwortlichen für die Weiterbil- sierte, brachte in zahlreichen kulturellen Anlässen dung von Arbeitslosen, aber auch mit Mitgliedern in der Bieler Altstadt grosse Vitalität und Viel- der Arbeitslosenvereinigung. seitigkeit zum Ausdruck, auch wenn sich nicht so Nach genauer Abklärung der Bedürfnisse er- viele Frauen wie erwartet beteiligten. Der zentrale arbeitete André Monnier mit Plasch Spescha ein Anlass fand an einem symbolischen Ort statt. Im Angebot für über 50-jährige Arbeitslose, während Bieler Stadtratssaal erörterten Fachfrauen von der Catina Hieber in Kontakt mit arbeitslosen Frauen Front wie die Gleichstellungsbeauftragte Marie- trat. Dass die Kontaktaufnahmen bei beiden Ziel- Louise Barben und die Gewerkschafterin Franzis- gruppen zu einem gewissen Erfolg führten, zeigte ka Widmer, in welchem Ausmass die angestrebte sich an der Entstehung regelmässiger Treffs. Im berufliche Besserstellung der Frau durch die neue

134 K apitel 7 Einstehen für Frauenanliegen, Gerechtigkeit, Frieden und Umwelt (1988–1996) oder Pflege ein fiktives Jahreseinkommen von etwa 34 000 Franken gutschrieb.

Krise in Frage gestellt wurde. Die Referentinnen Frauen gestalten die Welt machten aber auch Mut, selbst in schwierigen Zeiten auf Gleichstellung zu pochen. Gesangs- Dass der Aufschwung der Frauenbewegung und Cabareteinlagen der Maxi-Damen ergänzten eine weltweite Entwicklung war, hatte sich an ver- die eindrücklichen Referate mit Esprit und Witz. schiedenen internationalen Konferenzen gezeigt, zum Beispiel 1991 in Miami, als 1500 Frauen aus 83 Ländern schon ein Jahr vor dem Umweltgipfel in Weiberwirtschaft Rio ein Aktionsprogramm gegen die Umweltzer- störung verabschiedeten. Die Hilfswerke Brot für Mit der Wirtschaftskrise war die berufliche alle und HEKS trugen dieser Entwicklung Rech- Besserstellung der Frau ins Stocken geraten. Ca- nung, indem sie ab 1990 das Fachsekretariat Frauen tina Hieber nahm das beunruhigende Ausmass und Entwicklung einrichteten. Ausserdem richte- der Krise zum Anlass, einen Frauenkurs zu Wirt- ten sich viele Projekte der Hilfswerke auf Anliegen schaftsfragen zu organisieren. Als Grundlage der Dekade Solidarität der Kirchen mit den Frauen, diente ihr das Werk «Weiberwirtschaft», in dem die vom Ökumenischen Rat der Kirchen für die Jahre sich die Ökonomin Ulrike Knobloch und Theo- 1988 bis 1998 proklamiert worden war. Auf den 11. loginnen wie Ina Praetorius und Ursula Vock mit und 12. März 1994, kurz nach der Halbzeit dieser dem Themenkreis Frau und Wirtschaft auseinan- Dekade, organisierten die Hilfswerke Fastenopfer dersetzten. Der Kurs versuchte vor allem, die und Brot für alle den Aktionstag Frauen gestalten grosse wirtschaftliche Bedeutung der von Frauen die Welt. In der ganzen Schweiz sollte damit ermög- geleisteten Arbeit bewusst zu machen. Weil die licht werden, eine Zwischenbilanz zu ziehen und zur vorherrschenden ökonomischen Theorien unbe- Unterstützung noch nicht umgesetzter Frauenan- zahlte Arbeit wie Hausarbeit ignorierten, war kaum liegen zu werben. jemandem bewusst, dass die Frauen auch in der Die lokale Ausgestaltung des Aktionstags in Schweiz mehr als die Hälfte der Gesamtarbeitszeit Biel wurde in mehrfacher Hinsicht zu einem vollen leisteten, nämlich 34 Prozent der Erwerbsarbeit Erfolg. Einen bedeutenden Teil der konkreten und 88 Prozent der Nichterwerbsarbeit. Vorbereitungsarbeit hatte Catina Hieber geleistet, Der Kurs beschäftigte sich auch mit den Me- die sich besonders für einen Anlass eingesetzt hat- chanismen, welche die Hausarbeit in der gesell- te. Der demonstrationsähnliche Spaziergang «von schaftlichen Wahrnehmung entwerteten. Mit Be- Frauenplatz zu Frauenplatz» sollte den aktuellen griffen wie «Mütterlichkeit» und «Häuslichkeit» Problemen einen Ort geben und möglichst viele werde ihr Arbeitscharakter verschleiert, ebenso Gruppen mobilisieren. Dass sich über zwanzig durch Bemerkungen vieler Frauen, sie seien «nur» Institutionen am Aktionstag beteiligten, lag nicht Hausfrauen und hätten «nur» Kinder. Die Frauen zuletzt an der vielfältigen Ausgestaltung des Ma- müssten ihren Kampf also auch auf der sprachlichen nifestationszuges. In der Obergasse berichtete Dr. Ebene führen, um den hohen gesellschaftlichen Margrit Wick-Werder über Marie Goegg-Pou- Wert der Hausarbeit im allgemeinen Bewusstsein choulin, deren Appell zur Bildung einer Internati- zu verankern. Dann erst verstehe eine allein ste- onalen Frauenassoziation 1868 die schweizerische hende Mutter das Geld vom Sozialamt nicht mehr Frauenbewegung ins Leben gerufen hatte. Wie viel als Almosen, sondern als einen ihr rechtmässig zu- auf dem Weg zur Gleichstellung noch zu tun war, stehenden Lohn. Ausserdem müsse das als Haus- zeigten die übrigen Stationen. Demonstrierten und Familienarbeit Geleistete in die Gesamtheit Frauen des TEFAC vor dem Arbeitsamt mit einer der Volkswirtschaft mit einbezogen werden. symbolischen «Karriereleiter», wie plötzlich die Nur wenige Jahre später wurde die Erziehungs- Wirtschaftskrise Frauenkarrieren beenden konn- arbeit in der Schweiz zum ersten Mal gesetzlich te, illustrierten Vera Fabbri und Maya Gehri in der anerkannt, als die 10. A H V-Revision den individu- Nidaugasse mit einem Balanceakt den Frauenall- ellen AHV-Konten für jedes Jahr Kindererziehung tag zwischen Familie und Gesellschaft. Vor dem

135 K apitel 7 Einstehen für Frauenanliegen, Gerechtigkeit, Frieden und Umwelt (1988–1996) Welt sah. Leider ermunterten die Wahlerfolge viele SVP-Exponenten, die fremdenfeindliche Stimmung weiter zu schüren, statt ihre staatspo- «Schlüssel», einem Zentrum für Asylsuchende, litische Verantwortung wahrzunehmen. Am äus- zeigten Frauen aus binationalen Familien, wie far- sersten rechten Rand eskalierten Gewalt und Ras- big, aber auch wie zerbrechlich das Leben in einer sismus. Im Verlauf der neunziger Jahre registrierte multikulturellen Gesellschaft ist. Vor der Bera- die schweizerische Stiftung gegen Rassismus und tungsstelle des Frauenhauses begleiteten traurige Antisemitismus einen deutlichen Anstieg rassi- Akkordeontöne die Erinnerung an die alltägliche stischer Vorfälle. Holocaust-Leugner wie Jürgen Gewalt gegenüber Frauen und Kindern, und mit ei- Graf verbreiteten ungestört ihre Lügenpropagan- ner stummen Mahnwache auf dem Zentralplatz er- da, und auch in der Schweiz wurden in manchen innerten die Frauen für den Frieden an die Kriegs- Asylunterkünften Brände gelegt. opfer. Dass auch weiterhin an der Überwindung Als die Schweiz eine Rassismus-Strafnorm ein- frauenfeindlicher Traditionen in Staat und Kirche führen wollte, um dem internationalen Überein- gearbeitet werden musste, zeigten kirchlich und kommen gegen Rassismus beitreten zu können, politisch engagierte Frauen vor dem Rathaus und ergriffen verschiedene Organisationen der äus- vor der Stadtk irche. Catina Hieber stellte fest, dass sersten Rechten das Referendum. Der Bieler Bau- die Frauen zwar in vielen Bereichen tatsächlich die direktor Jürg Scherrer (Auto-, später Freiheitspar- Welt gestalteten, in den Zentren wirtschaftlicher tei) beispielsweise erklärte, der Rassismus in der und politischer Macht aber noch immer kaum an- Schweiz sei zu unbedeutend, um eine Strafnorm zutreffen seien. Mit einem grossen Fest für Frauen einzuf ühren, und warf dem Bundesrat vor, die Völ- und Männer im Wyttenbachhaus wurde der ein- kervermischung forcieren zu wollen. drückliche Bieler Aktionstag abgerundet – das In Zusammenarbeit mit der Neuen Helvetischen Trio Curioso und Silv ia Jost präsent ierten In meinen Gesellschaft und verschiedenen Bieler Organisa- Träumen läutet es Sturm. tionen organisierte der Arbeitskreis am 13. Sep- tember 1994 ein Podiumsgespräch zur geplanten Strafnorm, um verbreiteten Vorurteilen gegenüber «Wollen wir wirklich zum braunen Fleck einem Antirassismus-Gesetz entgegenzutreten. auf der Weltkarte werden?» Mit Muriel Beck Kadima, der Menschenrechtsbe- auftragten des Schweizerischen Evangelischen Kir- Zwischen 1969 und 1995 hatte die Schweizer chenbundes, Nationalrat Peter Vollmer und Stän- Bevölkerung gegenüber Ausländer/innen zu einer derat Ulrich Zimmerli konnte das Podium ideal offeneren Haltung gefunden – insgesamt empfan- besetzt werden. Das von Marc F. Suter geleitete den deutlich weniger Bürgerinnen und Bürger, Gespräch konnte nicht nur Ängste vor dem Beginn die Schweiz sei überfremdet und laufe Gefahr, einer Gesinnungsjustiz abbauen, sondern auch Im- ihre nationale Eigenart zu verlieren. Dass die SVP pulse für eine bessere politische Kultur geben. So mit einer zunehmend rechtspopulistischen Pro- erklärte Ulrich Zimmerli am Ende des Gesprächs: paganda ihren Wähleranteil stark vergrösserte, «Die Probleme der Gesellschaft brauchen Lö- widerspiegelte aber das Anwachsen eines rechts- sungen, aber nicht mit Sündenböcken, nicht mit nationalistischen Milieus, das die Ausländer als Verhunzung und Verhetzung anderer, sondern mit Verursacher der raschen Veränderungen in der Einsatz, Engagement und Arbeit.» Wie wichtig das öffentliche Eintreten für die Rassismus-Strafnorm war, zeigte kurz darauf das relativ knappe Ja in der Volksabstimmung vom 25. September, als das neue Gesetz mit einer Mehrheit von 54,7 Prozent ange- nommen wurde.

Im Rahmen des Aktionstags «Frauen gestalten die Welt» zeigten Freuen des TEFAC, wie plötzlich die Wirtschaftskrise Frauenkarrieren beenden können.

136 K apitel 7 Einstehen für Frauenanliegen, Gerechtigkeit, Frieden und Umwelt (1988–1996) Menschenbild bestätigte die Hoffnung, dass eine sich entfaltende Menschheit fähig war, wenigstens in Zeichen anzudeuten, was im Reich Gottes zur Vollendung gelangen werde. Interessant war auch Ein Weg nach innen fördert der Appell, gemeinsame Züge mit anderen Religi- das Engagement in der Welt onen zu erkennen, zum Beispiel im Aufzeigen von Lebenswegen abseits des Materialismus. In dieser Im Rahmen seiner Tätigkeit für den Bereich Beziehung wurden Parallelen zu Hans Küngs Pro- Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung jekt «Weltethos» sichtbar. Indem das Manifest dazu (GFS) nahm André Monnier auch an der Arbeit aufrief, einen einfachen Lebenswandel zu pflegen, der Bieler GFS-Gruppe teil, die sich etwa einmal zeigte es auch auf, wie Veränderungen schon im pro Monat traf. Die GFS-Gruppe legte unter an- ganz persönlichen Bereich beginnen konnten. derem grosses Gewicht auf gemeinsame Refle- xion, um davon ausgehend konkrete Initiativen zu ergreifen. Gerade wegen der Verbindung von Mit lebensfreundlichen Tugenden geistiger Suche und politischem Engagement fand in die Zukunft ein Werk der ökospirituellen Beaulieu-Gruppe 1994 besondere Aufmerksamkeit: Aufbruch von innen – Im Hinblick auf die ökumenische Fastenak- Manifest für eine Ethik der Zukunft wurde in Grup- tion 1995 plante André Monnier auf den 6. März penlektüre durchgearbeitet und gemeinsam erör- einen grösseren Anlass mit Vertretern der Beau- tert. Mit ihrer Publikation versuchten die Initiant / lieu-Gruppe und dem Ökologie-Professor Jost innen der 1985 im Berner Restaurant Beaulieu Krippendorf. Der von der GFS-Stelle organisierte gegründeten Gruppe vor allem, weit verbreiteten Abend mit Susanne Ziegler, Gil Ducommun, Al- Gefühlen der Hoffnungslosigkeit entgegenzutre- bert Rieger und Jost Krippendorf fand auch bei ten. Als Mitautor des Manifests erläuterte Prof. der Römisch-Katholischen Gesamtkirchgemein- Dr. Jost Krippendorf: «Wie ein Lauffeuer breitet de und den drei kirchlichen Hilfswerken Partner sich in unseren Gesellschaften das Bewusstsein sein, Brot für alle und Fastenopfer gute Resonanz. aus, dass ‹etwas nicht stimmt›. In ganz Europa In seinem einführenden Referat erläuterte der erwacht das Bewusstsein, dass im Wesen unserer Berner Ökologie- Tourismus- und Freizeitfor- Gesellschaft ein grundlegender Irrtum angelegt scher seine Deutung der aktuellen Umweltkrise. ist. Das ist die grosse Chance zur Veränderung – Es handle sich eigentlich um eine «Inweltkrise», mit einer sanften, aber entschiedenen Revolution da die Beziehungen des Menschen zu sich selbst unserer materialistischen Kultur kann eine soziale und zu anderen gestört sei. Nur kaputte Menschen und ökologische Gesellschaft geschaffen werden. seien in der Lage, die Natur kaputtzumachen. Der Unternehmen und Gesetze, Arbeitsplätze und modern geprägte Mensch in den Industrieländern Technologien, Produkte und Dienstleistungen, sei in einem System gefangen, das zu einem ho- Raumplanung und Wohnraum können ökosozial hen ökologischen Preis quantitatives Wachstum gestaltet werden. Ein solcher Umbau verlangt aber erzwinge. Die sich auf diese Weise ausbreitende gewaltige Anstrengungen, und deshalb müssen «Zuvielisation» lasse aber keine Lebensgesell- alle dazu beitragen. Mit unserer Energie, unserer schaft zu. Mit erfreulich unideologischen Wor- Intelligenz, unseren Herzen und unserer K reativi- ten weigerte sich Krippendorf, ökologisch sichere tät. Wir sehen ein Gesellschaftsprojekt, das Hoff- Rezepte für eine bessere Zukunft zu geben. Es nung weckt, Lust zum Engagement macht und die komme meist doch anders, als wir denken. Die Jugend mobilisieren kann.» Evolution gehe in Sprüngen vor sich, und selbst Für die fortschrittlich gesinnten Christ/innen die genauen Physiker wüssten heute nur wenig der GFS-Gruppe brachte die Auseinanderset- darüber. Immerhin empfahl der Referent, statt zung mit dem Manifest viel. Im Gegensatz zu den materieller Ziele vermehrt spirituelles Wachs- meisten New Age-Strömungen forderte die Beau- tum anzustreben. Gewinnen könne man dadurch lieu-Gruppe eine kritisch-rationale Auseinander- vieles: Bescheidenheit, Langsamkeit, Solidarität, setzung mit der Welt im Hinblick auf deren Ver- Gemeinschaft, Vorsorge, Austausch, Wohlbe- änderung. Und das im Manifest skizzierte positive finden, Zeit haben, Nachhaltigkeit und Weisheit.

137 K apitel 7 Einstehen für Frauenanliegen, Gerechtigkeit, Frieden und Umwelt (1988–1996) roni, Francesca Zaugg und Lukas Weiss im April 1995 als erstes Projekt den Ideenwettbewerb Leben und Arbeiten im Biel des Jahres 2010 ausschrieben.

Das dem Referat folgende, von Margreth Noth moderierte Podiumsgespräch mit Einbezug des Befreiung aus überlieferten Blick- zahlreich erschienenen Publikums zeigte, dass die winkeln: Mit dem Enneagramm… meisten Teilnehmenden den Thesen Krippendorfs beipflichteten. Alle könnten ihren kleinen Beitrag Im Sinne einer nachhaltigen Erwachsenenbil- zu einer ökologischeren Gesellschaft leisten, ohne dung engagierten sich sowohl Catina Hieber als bestehende Widersprüche zu verdrängen. Mit Gi- auch André Monnier für gut durchdachte Kursan- tarrenklängen von German Salinas klang der gut gebote im persönlichkeitsbildenden Bereich, die gelungene Anlass aus, der die Fastenaktion mit sie in enger Zusammenarbeit mit verschiedenen dem Motto Gott behüte – Mensch bewahre auf über- Fachpersonen entwickelten. zeugende Weise eingeleitet hatte. Im Zusammenhang mit seiner berufsbeglei- tenden Ausbildung zum Erwachsenenbildner für den Einsatz in der Kirche hatte André Monnier Kleine, aber wichtige Schritte die Arbeit mit dem Enneagramm schätzen gelernt. – zum Beispiel zu Fuss Die Typenlehre des Enneagramms war von kirch- lichen Erwachsenenbildnern als wirksames Instru- In Biel und Umgebung fanden ökologische An- ment zur Persönlichkeitsbildung wiederentdeckt liegen zu Beginn der neunziger Jahre recht gute worden. Ab März 1994 leitete André Monnier in Resonanz. Dass die 1990 gegründete Schweizerische Zusa m menarbeit m it Ha ns Wüt h r ich ei nen ersten, Ausbildungsstätte für Natur und Umwelt (SANU) achtteiligen Enneagramm-Kurs, der mit einem sich in der Zukunftsstadt niederliess, war eine wei- Impulstag begann. Auf betont pragmatische Wei- tere Chance für ein grösseres Umweltbewusstsein. se und ohne therapeutischen Anspruch luden die Mehrere Organisationen verwirklichten kleine, beiden Kursleiter dazu ein, sich mit Prägungen der aber sinnvolle Projekte oder ermunterten dazu, eigenen Persönlichkeit auseinanderzusetzen und konkrete Schritte in Richtung ökologischen Le- sich zu diesem Thema mit den übrigen Kursteil- benswandel zu unternehmen. Im Verlauf des Jah- nehmenden systematisch auszutauschen. Ausge- res 1995 beteiligte sich André Monnier an meh- hend von der Reflexion verschiedener Alltagspro- reren Projekten und versuchte, ihre gegenseitige bleme sollte die innere Aufmerksamkeit geschult Vernetzung zu fördern. Die Gruppe Biel im Ge- werden. Der Kurs versuchte, einen Bewusstsein- spräch warb für Verständigung über parteipoli- sprozess zu unterstützen, der zur Wahrnehmung tische Grenzen hinweg, um den Eidgenössischen auch schwieriger Teile des eigenen Charakters Bettag auf freiwilliger Basis möglichst autofrei zu führen sollte, mit dem Ziel, auch den abgründigen gestalten, und das Bieler Manifest würdigte ver- Teil (den «Schatten») der eigenen Persönlichkeit schiedene ökologische Projekte in Biel und Umge- zu akzeptieren. Gerade die Anerkennung des eige- bung. Eine grosse Chance für mehr Ökologie bot nen Schattens sollte einen gelasseneren Umgang sich in den auf Initiative von Swissaid entstandenen mit eigenen Schwächen ermöglichen. Ein weiteres Entwicklungswerkstätten für die Schweiz. Weil ein Ziel des Kurses war das bessere Kennen und Schät- ökologischer Entwicklungspfad in den armen zen lernen der Mitmenschen, gerade in ihrer cha- Ländern ohne entsprechende Veränderungen in rakterlichen Verschiedenheit. den Industrieländern wenig wahrscheinlich war, Dass ein Enneagrammkurs nicht nur eine indi- wollte Swissaid das ökologische Umdenken in der viduelle Entwicklung ermöglichte, veranschauli- Schweiz mit mehreren Entwicklungswerkstätten chte ein Zitat des Enneagramm-Lehrers Claudio fördern. Auf diesem Weg sollte die Bieler Entwick- Naranjo. Ein Ziel des Enneagramms könne sein, lungswerkstatt als Pilotprojekt erste Erfahrungen «dass jeder in seinem persönlichen Umfeld und ermöglichen. In mehreren Gesprächen beteiligte nach seinen eigenen Möglichkeiten einen Beitrag sich André Monnier am Entstehungsprozess der zu der universellen Aufgabe leistet, eine erträg- Bieler Entwicklungswerkstatt, bevor Helene Si- lichere Welt als die gegenwärtige aufzubauen.»

138 K apitel 7 Einstehen für Frauenanliegen, Gerechtigkeit, Frieden und Umwelt (1988–1996) Blüten. Die nächste Phase begann mit der ersten Menstruation, war symbolisch rot und entsprach Demeter mit dem Granatapfel in der Hand, als Zeichen möglicher Fruchtbarkeit. Schliesslich Das gute Echo auf den ersten Enneagramm- folgte die Phase nach der Menopause, symbolisch Kurs veranlasste die beiden Organisatoren, auch schwarz. Diese entsprach der Göttin Persephone, 1994 und 1996 verschiedene Einführungs- und die in die Anderswelt musste, um die Rückkehr von Aufbaukurse zum Enneagramm durchzuführen. Kore vorzubereiten. Diese drei Phasen sah Voss ebenfalls im monatlich wiederkehrenden weib- lichen Zyklus. Interessant an diesem Deutungs- … und feministischer Spiritualität modell war der ständige Wandel, das im Fluss sein von einer Qualität in die andere, die Bewegung als Ich spüre meine Lebendigkeit und entdecke mei- Lebensenergie. ne vielfältigen Quellen – der Titel dieses von Catina Auch der Kurszyklus war dreiteilig strukturiert Hieber organisierten Kurses war Programm. Nach- – ging es im ersten Teil darum, die drei Aspekte dem die vorherrschende kirchliche Tradition wäh- weiblicher Identität bei sich selbst wahrzuneh- rend Jahrhunderten weibliche Körperlichkeit und men, ermöglichte der zweite eine Auseinanderset- Sexualität negativ bewertet und die Bedeutung der zung mit Künstlerinnen, Rebellinnen und weisen Frau kaum wahrgenommen hatte, fühlten sich ge- Frauen aus Biels Vergangenheit. Der Schlussteil rade engagierte Frauen in der traditionellen Kir- lud dazu ein, den eigenen Körper in meditativem che nicht mehr heimisch. Viele von ihnen suchten Tanz bewusster zu erleben und zu geniessen. Die nach einer neuen weiblichen Identität. Werke wie Nachfrage nach diesem Zyklus war ausserordent- Die Wolfs f rau von Clarissa Pinkola Estés wurden in lich gross – auch hier konnten mehrere Folgekurse diesen Jahren zu absoluten Bestsellern. In diesem durchgeführt werden. Zusammenhang war es Catina Hieber wichtig, gemeinsam mit suchenden Frauen nach angemes- senen Formen weiblicher Spiritualität zu suchen, Ökumenische Frauenfeiern allerdings ohne Festlegung auf eine bestimmte Linie. Mit Verena Engler, Margrit Wick-Werder, Zum Leben weiblicher Spiritualität luden auch Jolanda Knapp Michael und Esther Lüthi organi- die ökumenischen Frauenfeiern ein, die Catina sierte sie dazu 1994 einen Zyklus, der mit verschie- Hieber ab 1995 mit Frauen der evangelisch-re- denen kreativen Arbeitsformen den engen Zusam- formierten Kirche und der römisch-katholischen menhang zwischen Spiritualität und Leiblichkeit Kirche durchführte. Standen die Tänze und Feste erlebbar machte. Um das Erleben des eigenen Kör- mit den je dreimal durchgeführten Treffen zu pers als Quelle von Lust, Kraft und Kreativität zu Aufbruch, Fülle und Wandlung anfänglich noch fördern, griffen die Kursleiterinnen auch auf tra- im Zeichen des Zyklus, richteten sich die Frauen- ditionelle Formen zurück. Einige dieser Formen, feiern ab 1996 nach den vier Jahreszeiten. Dabei etwa die Dreiheit, waren von feministischen Theo- sollte frau nicht nur die Jahreszeiten wahrnehmen, loginnen wie Jutta Voss als Spuren matriarchaler sondern auch Stille erleben, den eigenen Körper Kulturen gedeutet worden. Am Beispiel der über fühlen und loslassen können, um in einem dyna- viertausend Jahre zurückliegenden Hochreligion mischeren Teil zu tanzen. Inhaltlich ging es bei von Eleusis hatte Voss die zentrale Bedeutung des den Frauenfeiern einerseits um die biblische Tra- weiblichen Zyklus erläutert. In den Eleusinischen dition, andrerseits um eine Auseinandersetzung Mysterien ging es um die zyk lische Wandlung, wie mit Frauengeschichte. Änderten die Daten der mit Frauen sie als Schöpfungspotenz im Körper er- Rita Inderbitzin und Dominique Schaub Moor ge- fahren. Ausgehend vom weiblichen Zyklus bildete stalteten Feiern noch von Jahr zu Jahr, so richte- sich eine zyklische, dreiteilige, von Werden, Sein ten sie sich ab dem Jahr 2000 nach astronomischen und Vergehen geprägte Weltsicht, die in der grie- Vorgängen. Die Feiern zum 21. Dezember etwa chischen Mythologie ihre Entsprechung in drei luden zum Auf bruch aus der längsten Nacht ein oder Göttinnen fand. Die Zeit als Mädchen, symbolisch wurden zum Moment, um sich Ruhe zu gönnen. weiss, entsprach der griechischen Kore, Göttin der Stand die Tagundnachtgleiche im Frühling unter

139 K apitel 7 Einstehen für Frauenanliegen, Gerechtigkeit, Frieden und Umwelt (1988–1996) etwas spekulative Rekonstruktion von Mulack, dass Eva Urmutter allen Lebens, Unterweiserin und Sinnstifterin sei, wurde ergänzt mit den For- schungsergebnissen von Helen Schüngel Strau- mann. Die Alttestament-Wissenschaftlerin hatte aufgezeigt, dass die Kombination «Frau – Sexua- lität – Sünde» erst in gewissen frauenfeindlichen Strömungen der letzten vorchristlichen Jahrhun- derte aufkam und vorher keine Rolle gespielt hatte. Die Interpretation «Frau – Sünde» sei das Produkt einer späten Fehlinterpretation. Der Auseinandersetzung mit Eva folgte im Winter 1995/96 ein Zyklus zu aufmüpfigen Frauen im Alten Testament. Die Auseinandersetzung mit Ab 1995 wurden die ökumenischen Frauenfeiern zu der listigen Thamar, der kritischen Mirjam und einem festen Bestandteil des Arbeitskreis-Programms den im Widerstand lebenden Schifra und Pua ge- stalteten Catina Hieber und Verena Engler in Form des Bibliodramas – die Bibelstellen konnten spie- dem Zeichen, sich für Neues zu öffnen, regte eine lerisch und unter Einbezug eigener Erfahrungen Feier des längsten Tages an, die eigene Energie erschlossen werden. zu nutzen. Ganz im Sinne des gemeinsamen Fei- erns stand das «genüssliche Ernten» eines Fests zur herbstlichen Tagundnachtgleiche. Am Ende Frauenplatz Biel: einer Frauenfeier fand in der Regel eine «Teilete» Eine Vernetzung führt zur Vereinigung statt. Über mehrere Jahre hinweg sicherte die gute Zusammenarbeit zwischen Catina Hieber, Helen Schon ab 1994 arbeiteten die am Frauenplatz be- Hagmann, Esther Lüthi und anderen engagierten teiligten Gruppen enger zusammen. Ein Zeichen Frauen eindrückliche, gut gelungene Feiern. In dafür erschien im März 1995 in Gestalt der Kul- den Jahren 2003 und 2004 gab es nur je eine Frau- turELLE, einer alle zwei Monate erscheinenden enfeier. Für die Jahre 2005 und 2006 sind wieder je Informationsdrehscheibe für lokale, regionale vier Frauenfeiern vorgesehen. Dabei wird der Fo- und bisweilen auch nationale Frauenanlässe. In der kus auf alte, zum Teil kirchlich überlagerte Feste Nullnummer erläuterten die Herausgeberinnen im Jahreskreis gelegt und nach ursprünglichen Be- einem grösseren Publikum, welche Funktion der deutungen und Heilkräften gefragt. Frauenplatz er f ü l lt e: «Der Fr aue npl at z i s t ei n Net z - werk verschiedener Gruppen und Institutionen der Region Biel, die aus der neueren Frauenbewe- Biblische Frauengestalten gung hervorgegangen sind. Durch die Vernetzung aus feministischer Sicht erfahren Frauen, woran andere Gruppen arbeiten, sie können voneinander lernen und einander un- Ein wichtiges Anliegen von Catina Hieber war terstützen, sie können auch in einer A ktion zusam- auch eine feministische Analyse der biblischen menspannen, ihre schöpferischen Kräfte vereinen Tradition. Im Mai 1995 begann sie die Auseinan- und haben so grösseres Gewicht. Die Adressliste dersetzung mit biblischen Frauengestalten mit zeigt, welche Gruppen zurzeit vernetzt sind. Jede einem Kurs zu Eva, den sie gemeinsam mit Sabi- Gruppe behält ihre Selbständigkeit. Auch der ne Boser gestaltete. Evas Töchter entSchuldigen sich Frauenplatz ist eine Drehscheibe, wo Gruppenver- verstand sich als betont kritische Auseinanderset- treterinnen sich regelmässig zum Austausch und zung zu Christa Mulacks Buch …und wieder fühle zum Planen gemeinsamer A nlässe treffen.» ich mich schuldig, in dem die Autorin einen Appell Im Herbst 1995 beschlossen vierzehn von an die Frauen richtete, sich angesichts eines in gi- Frauen getragene Institutionen, dem Frauenplatz gantischem Ausmass schuldig werdenden Patriar- rechtlich verbindliche Strukturen zu geben. Zum chats von falschen Schuldgefühlen zu befreien. Die am 14. November 1995 gegründeten Verein Frau-

140 K apitel 7 Einstehen für Frauenanliegen, Gerechtigkeit, Frieden und Umwelt (1988–1996) Juni entwickelten Gewerkschaften und Organisa- tionen der Frauenbewegung in der ganzen Schweiz vielfältige Formen, um Lohntransparenz möglich zu machen. enplatz zählten sich neben den kirchlichen Frau- In Biel wurde die Vorbereitungsarbeit vor allem enstellen und den Frauengruppen der politischen von der Gewerkschaft Bau und Industrie und vom Linken unter anderem die Frauen für den Frieden, Frauenplatz getragen; effe (Espace femmes forma- das Frauenhaus, der Welt-Laden, die Elternbildung, tion emploi) und die Frauenstelle des Arbeitskreises effe, PLUS und die Frauenkulturgruppe Hula Hopp. für Zeitfragen übernahmen dabei einen Grossteil Für Cat ina Hieber bedeutete die Vereinsgr ündung der Koordinations- und Öffentlichkeitsarbeit. Der einen wichtigen Schritt, um verschiedenste Frau- Aktionstag selbst verlief ausgesprochen erfolgreich enanliegen in Biel wirksamer zu vertreten. Die – an den verschiedenen Aktivitäten beteiligten sich an der Gründungsversammlung zur Präsidentin über dreihundert Frauen. Der eigentliche Tabu- gewählte Studienleiterin rief die noch nicht orga- br uch fand an drei Ständen stat t, wo f ü r jede Loh n- nisierten Bieler Frauen dazu auf, dem Frauenplatz kategorie eine Urne bereit stand. Entsprechend einzeln oder als Gruppe beizutreten. ihrem Lohn konnten vorbeigehende Frauen rote, Zu den ersten Aktivitäten des Vereins Frauen- Männer blaue Zettel in die Urnen werfen. Immer- platz gehörte neben der regelmässigen Herausga- hin legten fast neunhundert Frauen und Männer be der KulturELLE die Organisation des 8. März ihre Angaben in die Urnen, und die Auswertung 1996, der zu einem kulturellen und politischen bestätigte klar, dass drei Viertel der Frauen keinen «Highlight» wurde. Der Vogelfreie Frauenchor, Lohn oder nur sehr tiefe Löhne verdienten, wäh- ein etwa zwanzigköpfiges Ensemble engagierter rend die meisten Männer überdurchschnittlich Künstlerinnen, faszinierte die etwa 300 Frauen im entlohnt wurden. Dank der sorgfältigen Öffent- Farelsaal mit … und sie bewegt sich doch, einem wage- lichkeitsarbeit konnte auf Betriebe mit skandalös mut igen und sehr musikalischen St ück über gesell- tiefen Löhnen aufmerksam gemacht werden – Ver- schaftliche Alltagsmuster, die auf kreative Weise käuferinnen in der EPA arbeiteten zum Beispiel in Frage gestellt und durchbrochen wurden. für deutlich weniger als fünfzehn Franken pro Stunde. Der in mehrfacher Hinsicht historische Akti- Einblicke ins «Allerheiligste»: onstag (5 Jahre Frauenstreik, 15 Jahre Gleichstel- Eine historische Aktion für mehr Lohn- lungsartikel, 25 Jahre Frauenstimmrecht) wandte transparenz sich ausserdem mit einer «Tour de femmes» an die Öffentlichkeit – etwa hundert Frauen zeigten Die Frauen, die sich am 14. Juni 1996 in der mit einer Velofahrt symbolisch, wie sehr sich die Bieler Innenstadt für mehr Lohntransparenz Frauen noch immer abstrampeln mussten, um stark machten, erfuhren es unzählige Male: Viele auf dem Weg der Gleichstellung ein wenig vor- Passantinnen und Passanten sprachen lieber über anzukommen. Immerhin zeigte eine Gruppe von die Farbe ihrer Unterwäsche, als Angaben zu ih- Männern den demonstrierenden Frauen ihre Sym- rem Lohn zu machen. Diesem im ganzen Land pathie, indem sie ihnen zum Mittagessen ein «So- verbreiteten Tabu zum Trotz proklamierte der lidaritäts- Risotto» servierten. Schweizerische Gewerkschaftsbund den fünften Der Tag der Lohntransparenz wirkte vor allem Jahrestag des Frauenstreiks zum Tag der Lohn- langfristig. Immer mehr Arbeitende hatten sich transparenz. Der Zeitpunkt war gut gewählt. Am angewöhnt, über ihre Entlöhnung zu sprechen, ersten Juli traten die Ausführungsbestimmungen und Löhne wurden eher hinterfragt. zum Gleichstellungsartikel in Kraft, und damit waren die rechtlichen Grundlagen gegeben, um gegen frauendiskriminierende Lohnunterschiede anzugehen. Ohne genaue Kenntnisse der Lohn- und Arbeitsbedingungen würde aber auch die Möglichkeit, wegen Diskriminierung zu klagen, ohne Wirkung bleiben. Schon lange vor dem 14.

141 K apitel 7 Einstehen für Frauenanliegen, Gerechtigkeit, Frieden und Umwelt (1988–1996) ken, trafen sich Cat ina Hieber und A ndré Monnier regelmässig mit Doris A msler und Johannes Flück, dem Kommissionspräsidenten. Im September 1995 konnte das neue Statut des Männer in Bewegung Arbeitskreises vom Gesamtkirchgemeinderat ver- abschiedet werden. Im Vergleich mit den Satzungen Anders als der Feminismus hatte die Männer- vom 19. September 1988 enthielt es wesentliche bewegung erst wenig Breitenwirkung entfaltet – Verbesserungen. Im Abschnitt Auftrag wurden die nur wenige Männer setzten sich mit einem neuen Bestimmungen des Jahres 1980 betreffend öffent- Rollenverständnis auseinander. Doch für Walter liche Stellungnahmen des Arbeitskreises wieder Hollstein, Professor für politische Soziologie, war aufgehoben – weder Kommission noch Gesamt- die Tatsache, dass Männer zum ersten Mal seit kirchgemeinderat erachteten es als notwendig, Jahrhunderten über sich selbst als Männer nach- auch weiterhin über öffentliche Stellungnahmen dachten, epochal. Der Fachmann für Männerfra- des Arbeitskreises zu befinden. Eine sehr wichtige gen erklärte, ab Mitte der Neunzigerjahre könne Verbesserung brachte die Zusammenlegung von man von einer eigentlichen Männerbewegung Kommission und Leitendem Ausschuss. Das neu sprechen. André Monnier von der GFS-Stelle war geschaffene, Kommission genannte Gremium traf es ein Anliegen, diesen Prozess auch in Biel zu för- sich acht Mal pro Jahr und übernahm neu die Auf- dern, und er gewann den engagierten Professor für gabe, die Tätigkeit des Arbeitskreises regelmässig einen zweiteiligen Arbeitskreis-Anlass. In seinem zu evaluieren und die Arbeit der Studienleiten- Referat vom 12. Mai 1996 unter dem Titel Macht den intensiver zu begleiten. Damit war die neue und Ohnmacht der Männer betonte Hollstein die Kommission in der Lage, ihre Anträge zu Handen Doppeldeutigkeit der männlichen Rolle. Der am des Gesamtkirchgemeinderates aus der genauen folgenden Tag durchgeführte Workshop Männer in Kenntnis der jeweiligen Situation zu begründen. Bewegung war männlichem Publikum vorbehalten. Die Kommission sollte maximal elf Mitglieder Ein Dutzend Männer verschiedener Altersstufen umfassen, und als obligatorische Vertretung der nahm an den von Hollstein angeregten Übungen Evangelisch-Reformierten Kirche war nur noch und Befindlichkeitsrunden sowie der allgemeinen ein Mitglied des Gesamtkirchgemeinderates vor- Diskussion teil. Für einen Teil der Anwesenden gesehen – weitere Kommissions-Mitglieder konn- war es offensichtlich eine neue Erfahrung, über ten A ngehörige der evangelisch-reformierten oder sehr Persönliches zu reden. römisch-katholischen Kirchgemeinden oder sonst Interessierte sein.

Neue Strukturen «Haben wir zu viel gewollt?» Im August 1993 war Luzius Jordi nach neun – André Monniers Rücktritt vom Arbeits- Jahren als Präsident des Leitenden Ausschusses zu- kreis rückgetreten, weil er seine Pfarrstelle in Sutz zu- gunsten einer Kirchgemeinde bei Thun aufgege- Waren die achtziger Jahre auch von Umwelt- ben hatte. Zur Nachfolgerin wählte der Ausschuss katastrophen und einer akuten Verschärfung des Doris Amsler. Schon nach wenigen Monaten stell- Kalten Krieges gekennzeichnet, so stellten die te sich die Frage nach einer Überarbeitung des sehr aktiven und breit verankerten sozialen Bewe- Arbeitskreis-Statuts. Es wurde immer deutlicher, gungen immerhin ein Zeichen der Hoffnung auf dass die Kommission zu selten tagte, um ihre eine gerechtere, friedlichere und ökologischere Funktionen ernsthaft wahrzunehmen. Ausserdem Zukunft dar. In den neunziger Jahren verloren die erschien es als überholt, einen «Kleinbetrieb» mit sozialen Beweg ungen an Breitenwirk ung – abgese- zwei Teilstellen durch drei verschiedene Gremien hen von der erstarkenden Frauenbewegung hatten begleiten zu lassen. In einer Zeit, in der es immer nur noch wenige Organisationen genug Einfluss, schwerer fiel, interessierte Personen für ehrenamt- um sehr viele Menschen für gesellschaftliche An- liche Funktionen zu finden, galt dies umso mehr. liegen zu mobilisieren. Von der Aufbruchstim- Um die Strukturen des Arbeitskreises zu überden- mung, die sich gleich nach dem Ende des Kalten

142 K apitel 7 Einstehen für Frauenanliegen, Gerechtigkeit, Frieden und Umwelt (1988–1996) richtete er kritische Fragen zu verschiedenen ge- sellschaftlichen Bereichen an die Teilnehmerinnen und den Teilnehmer des Hearings, die National- rätin Stephanie Baumann, die Journalistin Rose- Krieges ausgebreitet hatte, war nicht mehr viel zu marie Giustarini-Borle und den Pfarrer Michael spüren. In der Einladung für eine Rückschau auf Dähler. Die Übergänge zwischen den einzelnen die Zeit zwischen 1976 bis 1996 versuchte André befragten Bereichen (Ökonomie und Ökologie, Monnier, diese Veränderungen in einen grösseren Technologie und Forschung, Politik und Kultur) Zusammenhang zu stellen: markierte André Monnier mit blitzlichtartigen «Die Situation der Gegenwart ist spannend und Zitaten aus Büchern, die ihn in seiner langen Stu- beengend zugleich. Viele engagierte Menschen, dienleiter-Tätigkeit besonders angeregt, berührt die sich noch vor wenigen Jahren selbst als ‹pro- oder sonstwie beeinflusst hatten. Obwohl die Ant- gressiv› zu bezeichnen pflegten, sind verunsichert, worten der Befragten recht unterschiedlich aus- scheinen in manchem ratlos. Die Wirtschaftskrise fielen, gab es in Bezug auf die Kernfrage Überein- hat ihre Mahn- und Schandmale zurückgelassen: stimmung: Der optimistische Zukunftsentwurf Hohe ‹Raten› an institutionalisierter Erwerbslo- der 1968er-Generation habe, wenn überhaupt, nur sigkeit, unheimlicher Konkurrenzdruck unter den zum Teil verwirklicht werden können… Zum Ab- wirtschaftlichen Akteuren, Stress und Angstge- schluss seiner letzten öffentlichen Veranstaltung fühle bei vielen, die ‹noch› Arbeit haben, teilwei- konnte André Monnier einen kräftigen, lang an- se leere Staatskassen allerorten, trotz steigendem haltenden Applaus entgegennehmen. Bedarf für die sozialen und ökologischen ‹Repa- Als erfreulichstes Erlebnis seiner letzten Mo- raturkosten›, dafür aber riesige Spekulationsge- nate als Studienleiter erwähnte André Monnier ein winne und –Verluste im eigentlich unproduktiven Zeichen der Hoffnung an der Ingenieurschule. Im Bereich…» Der Studienleiter der GFS-Stelle be- Rahmen der von Plasch Spescha, später von Pfr. schrieb die Vernichtung gigantischer Summen Lukas Schwyn geleiteten Ethik-Tage und -kur- durch Spekulationsgeschäfte im Immobilienbe- se hatte er in seinen zweisprachigen Klassen den reich und überlegte sich, wie viele gesellschaftlich 1990 an der ETH entstandenen Eid des Archimedes si n nvol le P rojek te m it d ie sem G eld h ät ten ver w i rk- diskutieren lassen. Aus einer dieser Klassen erging licht werden können. In Bezug auf die Entwürfe der Impuls an die Schulleitung, diesen Eid an der für eine humanere Gesellschaft fragte er: «Wieso Ingenieurschule einzuführen. Mit der analog zum wurde vergleichsweise wenig davon verwirklicht? hippokratischen Eid formulierten Verpflichtung Viele vormals und heute Engagierte fragen sich bekannten sich etliche Ingenieurinnen und Inge- zu Recht, was während der Wirtschaftskrise aus nieure zum verantwortungsbewussten Umgang den ethischen Postulaten für eine gerechtere und mit ihrem Wissen. Eine Gruppe von Studieren- offenere Gesellschaft geworden ist. Vieles scheint den des Technikums erreichte nun, dass der Eid uns heute wie im Rückwärtsgang begriffen. […]. des Archimedes an der Diplomfeier 1996 in drei Als gesellschaftlich Engagierte müssen wir uns Sprachen vorgelesen und von etwa fünfzig Di- fragen, ob wir am Ende zu viel gewollt haben.» plomandinnen und Diplomanden unterzeichnet Nach vierzehneinhalb Jahren Tätigkeit für den wurde. Auch nach seinem Weggang vom Arbeits- A rbeitsk reis verspürte A ndré Monnier das Bedürf- kreis nahm André Monnier an der ökumenischen nis einer beruflichen Neuorientierung. Auf Ende Bilingue-Gruppe für Kurse in Berufsethik an der Mai 1996 legte er seine Tätigkeit als Studienleiter HTI teil, bis diese Kurse 2004 «reorganisations- nieder, um sich vermehrt auf die Organisation per- bedingt» aufgelöst wurden. sönlichkeitsbildender Kurse und die inzwischen aufgenommene richterliche Tätigkeit zu konzen- trieren. In seiner in Form eines Hearings gehaltenen Abschiedsveranstaltung vom 9. Mai 1996 griff der scheidende Studienleiter die Frage, ob die enga- gierten «68er» zu viel gewollt hatten, wieder auf. In wie gewohnt sprachlich geschickter Moderation

143 K apitel 8 Vom Rand in die Mitte – ohne eigene Entwürfe aufzugeben (1997–2005)

Wie kann der Arbeitskreis Seit früher Jugend engagiert neuen Herausforderungen begegnen? für mehr Solidarität: Die neue Studienleiterin Liliane Gujer Bei der Schaffung einer Frauenstelle und einer GFS-Stelle im März 1989 hatte der Gesamtkirch- Am 16. September 1996 wählte der Gesamt- gemeinderat beschlossen diese Struktur nach eini- kirchgemeinderat Liliane Gujer zur neuen, zwei- gen Jahren zu überprüfen. Nach André Monniers sprachigen Studienleiterin. Dank langjährigem, Entscheid, seine Funktion als Studienleiter im Mai ehrenamtlichem Engagement bei Amnesty Interna- 1996 niederzulegen, sah sich die Kommission da- tional, dem Dritte-Welt-Laden, der Asylbewegung her mit der Notwendigkeit konfrontiert, das Ge- und in der Politik hatte die bald dreissigjährige samtkonzept der Arbeit zu überprüfen. In diesem Historikerin bereits vielfältige Erfahrungen mit Zusammenhang lud sie mehrere Vertreter anderer vernetzter Arbeit gesammelt, die bei ihrer Tätig- Bildungsstätten ein, um deren Entwicklung näher keit für den Arbeitskreis von grossem Nutzen sein kennen zu lernen und aktuelle Prioritäten zu erör- konnten. Im Rahmen ihrer kurzen Präsentation im tern. Bereits im April berichtete Helmute Conzet- Sämann vom Januar 1997 fasste die neue Studien- ti über die Entwicklung von Gwatt und regte an, leiterin ihre bisherige Tätigkeit zusammen: «Das die ganze Stelle des Arbeitskreises unter die Ge- Leitmotiv, welches sich durch die letzten Jahre schlechterfrage zu stellen. Die Genderfrage werde hindurch zog, blieb stets das gleiche: Einsatz für erst dann ernst genommen, wenn alle Zeitfragen Solidarität und Gerechtigkeit, hier und anders- von der Geschlechterperspektive aus betrachtet wo. Die Überzeugung von der Notwendigkeit, für würden. Hans Adam Ritter vom Forum für Zeit f ra- Schwächere einzustehen und ihnen eine Stimme gen Basel beleuchtete andere Aspekte kirchlicher zu verleihen, hat meinen Horizont erweitert, hat Erwachsenenbildung. Die zunehmend komplexer mich aber manchmal auch auf den harten Boden gewordene Welt mache es unmöglich, zu allen der Realität zurückgebracht und immer wieder wichtigen Fragen eine fundierte Position einzu- zur Reflexion angeregt. Heute stellt dieser Erfah- nehmen, und im Vergleich zu früher habe der frei- rungshintergrund eine kleine, aber solide Basis willige Einsatz von fachlich spezialisierten Laien dar, auf welcher ich im Rahmen meiner neuen Ar- deutlich abgenommen. Das Forum für Zeitfragen beit aufbauen kann.» konzentriere sich daher auf seinen eigentlichen Nach mehreren Gesprächen mit der Kommis- Kompetenzbereich, nämlich auf religiöse und sion konnte Liliane Gujer bei ihrem Stellenantritt ethische Fragen. Um der zunehmenden Individu- am 1. November drei Schwerpunkte ihrer künf- alisierung zu begegnen, entwickle das Forum ver- tigen Arbeit definieren. Die Auswirkungen der mehrt konkrete Projekte. Die Kommission nahm neuen Arbeitsgesellschaft, den multikulturellen die Anregungen von Conzetti und Ritter mit In- und interreligiösen Dialog sowie die Gestal- teresse entgegen, wollte aber das Konzept für die tung der Expo 2001. Einen wichtigen Stellenwert zweite Teilstelle in einem längeren Prozess und im sollten aber auch aktuelle Entwicklungen bekom- Dialog mit der neu gewählten Person erarbeiten. men – und gerade dieser Bereich drängte sich im Frühling 1997 auf. Im Zusammenhang mit der aussergewöhnlichen Kontinuität der «geistigen Landesverteidigung» hatten wichtige Politiker und Wirtschaftsführer nach 1989 Mühe, sich auf eine rasch wandelnde Welt einzustellen. Im Zu- sammenhang mit den nachrichtenlosen Vermögen geriet die Schweiz in ihre grösste aussenpolitische Krise seit dem Zweiten Weltkrieg, die auch zen-

144 K apitel 8 Vom Rand in die Mitte – ohne eigene Entwür fe aufzugeben (1997–2005) Geschäfte der wirtschaftlich ohnehin struktur- schwachen Altstadt einen deutlichen Umsatzrück- gang. Doch viele Randständige fühlten sich auf der Kirchenterrasse wohl, und damit entwickelte sich trale Aspekte ihrer Identität berührte. Aber auch in unmittelbarer Nähe der Stadtkirche ein Pro- auf lokaler Ebene galt es, ein brennendes Thema blem, zu dem die Kirche Stellung nehmen musste. zur Sprache zu bringen: Heftige Auseinanderset- Dabei machte sie es sich nicht einfach. Pfarrer An- zungen um die Drogenszene hinter der Stadtkir- dreas Urweider, der sich intensiv mit der Drogen- che tangierten die evangelisch-reformierte Kirche problematik befasst hatte, bemerkte zum Beispiel: Biel ganz direkt. «Unsere ganze Konsumgesellschaft will doch im- mer mehr und mehr. Das ist auch zerstörerisch, und wir tun dann so, als ob die Menschen auf dem Haben Randständige bei der Stadtkirche Letten oder auf der Kirchenterrasse die schlech- nichts mehr zu suchen? teren Menschen seien. Auch wir lassen uns doch immer mehr von einer Scheinwelt gefangen neh- Mitte der neunziger Jahre lebten im Raum Biel men und verlieren dabei den Bezug zur wirklichen etwa 600 bis 1000 Drogenabhängige. Nach der Welt. Dabei sollten wir uns von keiner der beiden Schliessung der offenen Drogenszene in Zürich Welten gefangen nehmen lassen.» nahm diese Zahl zwar nicht wesentlich zu, wie Ausserhalb der Kirche war der Meinungsbil- befürchtet worden war. Die Beschaffungskrimi- dungsprozess recht bald abgeschlossen. Während nalität führte aber zu einer zunehmenden Unsi- der Altstadtleist eine Schliessung der Kirchenter- cherheit im öffentlichen Raum, und verschiedene rasse forderte, suchten das linksalternative Forum Geschäftsinhaber wurden durch die Entwendung und die anarchistische OSL nach anderen Lö- teurer Spirituosen oder grosser Mengen an Rau- sungen. Weil wirksame Massnahmen ausblieben, cherwaren geschädigt. Weil ein Teil des Drogen- willigte die Kirchgemeinde schliesslich in die ge- handels auf der Kirchenterrasse hinter der Stadt- forderte Absperrung ein – für etwa 50 000 Fran- kirche abgewickelt wurde, beklagten auch einige ken sollten die beiden Zugänge massiv vergittert werden. Gerade weil die vorgesehene Absperrung der K irchenterrasse polarisierte, lag Liliane Gujer viel daran, das Gespräch zwischen den in dieser Fra- Liliane Gujer ge engagierten Personen nicht abreissen zu las- sen. Deshalb lud sie diese auf den 16. April 1997 zu einem Podiumsgespräch ein. Und es kam zu einem echten Gespräch. Marianne Zeier von der OSL und der Gassenarbeiter Georges Waeber räumten ein, dass der Drogenumschlagplatz auf der Kirchenterrasse Probleme mit sich brachte, betonten aber, dass auch andere Randständige sich dort heimisch fühlten. Um die Terrasse und ihre nächste Umgebung sauber zu halten, schlugen sie vor, dass die Benützer/innen in Zusammenarbeit mit dem Work-In einen regelmässigen Putzdienst übernehmen könnten. Für die übrigen Podiums- teilnehmer/innen kamen derartige Vorschläge zu spät. Kirchgemeinderatspräsidentin Annette Sala- thé betonte, dass sie über ein Jahr lang bei der Stadt und sonstigen Interessierten vergeblich um Unter- stützung gebeten hatte, und auch für Stadtpräsi- dent Hans Stöckli war Absperrung die einzige ver- bliebene Lösungsmöglichkeit nach vergeblichen

145 K apitel 8 Vom Rand in die Mitte – ohne eigene Entwür fe aufzugeben (1997–2005) Anfrage zu nachrichtenlosen Konten. Auch als die Auseinandersetzung immer mehr auf öffentlicher Ebene geführt wurde, änderten die Banken nichts Bemühungen, etwas Besseres zu finden. Als ein- an ihrer Haltung. Ein Gespür für die Wirkung, ziger Podiumsteilnehmer äusserte Altstadtleist- die ihr Vorgehen in der internationalen Öffent- präsident Theo Griner keine Bedenken in Bezug lichkeit hatte, ging den meisten ihrer Vertreter ab. auf die vorgesehenen Gittertore – für ihn hatte der Dass eine hohe Bearbeitungsgebühr im Falle von Geschäftsgang in der A ltstadt absoluten Vorrang. Holocaustopfern als skandalös empfunden wurde, Kurz darauf beschäftigte sich die Fachstelle Ge- konnten sie sich ebenso wenig vorstellen wie die sellschaft und Entwicklung (Liliane Gujer) erneut mit Empörung, die SBG-Verwaltungsratspräsident Menschen, welche die zunehmende soziale Kälte Robert Studer im Februar 1996 mit der Bemerkung besonders deutlich zu spüren bekommen hatten. auslöste, die jüdischen Anteile an den nachrichten- Gemeinsam mit Josef Kaufmann vom Pfarreizen- losen Vermögen bei seiner Bank seien «Peanuts». trum Bruder Klaus eröffnete Liliane Gujer am 19. Einen konst r ukt iveren Weg in dieser Auseinan- September 1997 die Fotoausstellung Armut sehen dersetzu ng m it der Vergangen heit fand im Dezem- mit eindrücklichen Bildern zur «neuen Armut». ber 1996 der Bundesrat. Die von ihm eingesetzte Unabhängige Expertenkommission Schweiz – Zwei- ter Weltkrieg unter dem Historiker Jean-François Nachrichtenlose Vermögen und das Un- Bergier ging daran, den helvetischen Umgang mit vermögen, mit Opfern umzugehen Vermögenswerten während des Nationalsozialis- mu s u nter d ie Lupe z u neh men. Gleichzeit ig w u rde Nac h der I mplo s ion de s s t a at s s oz i a l i s t i s c he n Sy- die Vernichtung von Akten, die der Kommission stems suchte das wieder zusammenwachsende Eu- dienlich sein konnten, verboten – nur wenige Mo- ropa nach identitätsbildenden Gemeinsamkeiten. nate später sollte dieses Verbot die Schweizerische Befreit von den ideologischen Zwängen des Kalten Bankgesellschaft in erhebliche Verlegenheit brin- Krieges blickten die europäischen Gesellschaften gen, als der dort beschäftigte Wachmann Christoph auf ihre Vergangenheit zurück, um als wichtigen Meili Akten sicherstellte, die aus den Kriegsjahren gemeinsamen Zug die Erfahrung des Holocaust zu stammten und zur Vernichtung bestimmt waren. erkennen. Die neuen Verhältnisse in Europa wa- Doch schon vor dieser Affäre eskalierte der ren auch eine Gelegenheit, frühere Eigentumsver- Konflikt. Im Dezember 1996 forderten die Herren hältnisse wiederherzustellen – dabei konnten we- Bronfmann und Singer als Vertreter des Jüdischen nigstens einige wenige Opfer des antisemitischen Weltkongresses, die Schweiz müsse über die histo- Raubzugs der Jahre 1938 bis 1945 entschädigt wer- rische Abklärung hinaus einen Holocaust-Fonds in den. Bald machte sich diese Entwicklung auch in der Höhe von et wa 250 M i l l ionen Fr a n ken äu f nen – der Schweiz bemerkbar. ohne finanzielle Geste sei eine weitere Verstärkung Ab 1989 mussten Schweizer Grossbanken und des öffentlichen Drucks nicht zu verhindern. Kurz die Eidgenössische Bankenkommission immer häufiger darauf bezeichnete der abtretende Bundespräsi- A nfragen aus Mittel- und Osteuropa beant worten, dent Delamuraz diese Summe öffentlich als «Lö- die nachrichtenlose Vermögen betrafen. Da auch segeld im Rahmen einer Erpressung». Wie seine die Jewish Agency immer häufiger Hinweise auf weiteren Ausführungen zeigten, interpretierte er nachrichtenlose Vermögen in der Schweiz erhielt, die Krise als stark jüdisch geprägte Verschwörung versuchten jüdische und schweizerische Politiker, gegen den Finanzplatz Schweiz. die Banken diskret zur Äufnung eines Fonds für Delamuraz polarisierte: Während eine starke Holocaust-Opfer zu bewegen, der sich auf etwa Minderheit der Bevölkerung verlangte, dass er sich 30 bis 50 Millionen Franken belaufen sollte. Doch von seinen Äusserungen distanziere, wurden diese auch Bemühungen von Altbundesrat Kurt Furgler von fast der Hälfte der Bevölkerung unterstützt. fruchteten nichts. Ohne klare Rechtsgrundlage Ausserdem rollte eine Welle des Antisemitismus wollten die Banken keinen Rappen bezahlen. Nur über das Land, die in diesem Ausmass Betroffen- wer Gebühren zwischen 300 und 1500 Franken heit auslöste. Tausende von Briefen voller Schmä- bezahlte, hatte Anspruch auf Bearbeitung einer hungen und Drohungen an Vertreter der jüdischen

146 K apitel 8 Vom Rand in die Mitte – ohne eigene Entwür fe aufzugeben (1997–2005) Die Aufarbeitung des christlichen Antijudaismus

Der wachsende Antisemitismus veranlasste auch Gemeinschaft und liberal gesinnte Politiker/innen die Kirchen, sich selbstkritisch mit ihrem Anteil machten klar, wie sehr sich das rechtsradikale Mi- an der Entstehung des Antisemitismus zu beschäf- lieu in den vergangenen Jahren ausgeweitet hatte. tigen. In Biel bildete sich 1997 eine Arbeitsgrup- pe zum Thema Christlicher Antijudaismus, für die Liliane Gujer die Koordinationsarbeit übernahm. Surava: Sehr bald gelangte die Gruppe mit einem dreitei- Der lange Schatten der Kriegsjahre ligen Zyklus erstmals an die Öffentlichkeit. Mit einem einführenden Vortrag erklärte Prof. Ulrich Liliane Gujer bemühte sich gezielt, den vieler- Luz am 21. November, wie es überhaupt zur Spal- orts wieder zunehmenden Antisemitismus zu be- tung zwischen Judentum und Christentum gekom- kämpfen. Auf den 11. Juni 1997 organisierte sie die men war. Auf besonderes Interesse stiess die Jesus- Vorführung des Films Er nannte sich Surava mit Interpretation des Referenten – nach der neusten anschliessender Diskussion in Anwesenheit des Forschungsrichtung erschien der historische Jesus Filmemachers und Journalisten Erich Schmied. als Gestalt, welche die christliche Bewegung be- Der Anlass fand ein kleines, aber sehr interessier- gründete, indem sie die jüdische Frömmigkeit voll tes Publikum, das Zugang zu einem nur wenig be- bejahte und gerade dadurch in den tödlichen Kon- kannten Kapitel schweizerischer Mediengeschich- flikt mit den Hütern des Tempels geriet. Erst diese te fand. Betrachtungsweise erlaubte einen Bruch mit dem Schon während des Zweiten Weltkriegs hatte historischen Antijudaismus der christlichen Theo- die Auseinandersetzung um die offizielle Flücht- logie. lingspolitik ein beachtliches Publikum gefunden Im zweiten Vortragsabend erklärte der Histo- – mit mutigen Artikeln war es dem Journalisten riker Ralph Weingarten, wie erst die Verbindung Hans Werner Hirsch gelungen, die Auflage der von Ideologie und politischer Macht zu einer jahr- Wochenzeitung Die Nation von 8000 auf 115 000 hundertelangen Ausgrenzung des Judentums ge- Exemplare zu steigern. Um sich vor zunehmend führt hatte. Der dritte Anlass beschäftigte sich mit antisemitischen Angriffen (wegen seines Namens) der Zukunft. Dr. Edna Brocke, Leiterin der Alten zu schützen, nahm der Katholik ab 1941 den Na- Synagoge in Essen, und der Sozialethiker Dr. Wal- men Peter Surava an. Unter diesem Namen übte er ter Lesch führten ein Gespräch über die Beiträge, wiederholt offene Kritik an der Haltung Bundesrat die Judentum und Christentum für eine friedliche von Steigers in der Flüchtlingsfrage. Doch nach Zukunft in einer vielfältigen, globalisierten Welt Kriegsende zeigte sich, dass der Ungeist einer au- leisten konnten. toritären Ideologie auch weiterhin stark genug war, Mit ihrem beharrlichen Einsatz trug Liliane u m ei ne of fene Au sei na nder set z u ng z u verh i nder n. Gujer massgeblich dazu bei, dass die Gruppe eine Durch perfide Prozesse wurden Suravas Existenz- langfristige und konstruktive Arbeit leisten konn- grundlagen vernichtet, und selbst auf seinen 1941 te. Die Arbeitsgruppe Christentum und Judentum erworbenen Namen musste der unbequeme Kri- im Dialog f ührte jedes Jahr eine Veranstalt ungsrei- tiker ab 1946 verzichten. Dass Personen aus dem he durch, die neue Einsichten zu den Ursprüngen engsten Kreis der Staatsmacht an dieser an stali- des christlichen Antijudaismus ermöglichte und nistische Methoden erinnernden «Unschädlich- das gegenseitige Verständnis förderte. machung» Anteil hatten, wurde im Verlauf dieser Prozesslawine immer wahrscheinlicher. Erst kurz vor seinem Tod im November 1995 erlebte Surava eine späte und vollständige Rehabilitierung – zu dieser späten Besinnung hatte Erich Schmieds Film einen wichtigen Beitrag geleistet.

147 K apitel 8 Vom Rand in die Mitte – ohne eigene Entwür fe aufzugeben (1997–2005) Gegen Rassismus und Ausgrenzung

Im Bewusstsein, dass eine überlegte und sach- liche Medienarbeit viel zu einer objektiveren Ein eindrücklicher Anlass Wahrnehmung zwischen Schweizer/innen und zum Bergier-Bericht Ausländer/innen beitragen konnte, wirkte der Ar- beitskreis unter der Führung von Liliane Gujer am Im Rahmen dieser kontinuierlichen Arbeit or- Aufbau der Arbeitsgruppe Intercontact mit, welche ganisierte der Arbeitskreis gemeinsam mit der den lokalen Medien den Zugang zu engagierten Christlich-jüdischen Arbeitsgemeinschaft, der Ausländer/nnen und ihren Projekten erleichterte. katholischen Gesamtkirchgemeinde und der Isra- Dadurch konnte das oft durch die Sensationspresse elitischen Gemeinde Biel auf den 22. Februar 2000 geprägte Bild über die ausländische Bevölkerung in einen Informationsabend zum Bergier-Bericht. konstruktivem und positivem Sinn verändert wer- Im Zentrum des Anlasses stand die Frage nach der den. Eine feste Gestalt nahmen die Bemühungen Schweizerischen Flüchtlingspolitik zur Zeit des von Intercontact in der Sendung planète bleue an, in Zweiten Weltkrieges. Auf die Frage von Modera- der Canal 3 monatlich über interkulturelle The- tor Mike Sommer, ob die Schweiz damals ihren men informierte. Handlungsspielraum zugunsten der Flüchtlinge Einem brennenden Gegenwartsproblem wid- ausgenützt habe, antwortete Rolf Bloch, der Prä- mete sich der Anlass vom 2. März 1999. Im Farel- sident des Schweizerischen Israelitischen Gemein- saal machten Angéline Fankhauser und Maritza debundes, mit einem Bild: «Es ist wie mit einem le Breton darauf aufmerksam, dass in der Schweiz Blinden an der Strassenecke. Es gibt kein Gesetz, zehntausende «Sans-Papiers» zu prekären Bedin- das einen zwingt, ihm über die Strasse zu helfen. gungen arbeiteten. Zu dieser Gruppe gehörten Die Schweiz hat sich bestimmt ans internationale auch ehemalige Saisonniers aus Ex-Jugoslawien, Recht gehalten. Niemand hat ihr aber verboten, die wegen des «Drei-Kreise-Modells» des Bun- Menschen, die aus rassistischen Gründen verfolgt desrates ihre Aufenthalts- und Arbeitsbewilligung waren, aufzunehmen.» Der Gymnasiallehrer Da- verloren hatten. Die Referentinnen betonten die niel Stern und der Historiker Jacques Picard wie- grundsätzliche Rechtsgleichheit aller Menschen. sen darauf hin, dass die abweisende Haltung der Trotz schwierigen politischen Umfelds gehe es da- offiziellen Schweiz gegenüber jüdischen Flüchtlin- rum, Schritt für Schritt an der Legalisierung der gen zum Teil mit einem latenten Antisemitismus «Sans-Papiers» zu arbeiten. erklärbar war. Weil man keine Sympathien für die Juden emp- fand, blieb man für ihr Leiden, ihr Schicksal un- Welche Zukunft wollen wir? empfindlich. Als Beispiele für den helvetischen An- tisemitismus nannten die Referenten die Erteilung Die Landeskirchen nutzten die bevorstehende von Arierbescheinigungen durch Schweizer Zivil- Revision der Bundesverfassung, um in einer sich standsämter oder die Bereitschaft des Bundesrates, dramatisch rasch wandelnden Welt eine Stand- auf Verlangen Deutschlands den J-Stempel auch ortbestimmung vorzunehmen und Vorschläge für die Pässe von Schweizer Juden einzusetzen. für die Gestaltung einer ethisch verantwortbaren Zusammenfassend hielt Jacques Picard fest, Zukunft zu machen. Unter dem Titel Welche Zu- dass man weder von kollektiver Schuld noch von kunft wollen wir? publizierten die Schweizerische kollektiver Unschuld der Schweiz sprechen könne. Bischofskonferenz und der Schweizerische Evange- Ausserdem warnte er davor, neues Unrecht zu be- lische Kirchenbund im Januar 1998 eine Analyse der gehen. Auch wer fünfundfünfzig Jahre nach dem Globalisierung und ihrer Auswirkungen, um diese Ende des Holocausts den damaligen Opfern und unter christlichen Gesichtspunkten zu beurtei- Verfolgten das Recht auf Entschädigung und auf len und davon ausgehend Handlungsvorschläge Erinnerung verweigere, mache sich schuldig. zu formulieren. In den folgenden Monaten wurde diese A rbeit einer ökumenischen Konsultation un- terzogen, an der sich auch der Arbeitskreis und die Sozialethische Arbeitsstelle beteiligten.

148 K apitel 8 Vom Rand in die Mitte – ohne eigene Entwür fe aufzugeben (1997–2005) zeitstellen durch Teilzeitstellen ersetzt worden. Mit Biel hatte sich die Studie besonders einge- hend befasst. Die im öffentlichen Sektor der Stadt er f a s s t en Z a h len b e s t ät ig t en den Trend z u Tei l z eit- Nach Abschluss der Konsultation verfasste der stellen bei den weiblichen Beschäftigten, ebenso Historiker Tobias Kästli im Auftrag der Arbeits- die viel langsamere Zunahme des Frauenanteils am gruppe Ökumenische Konsultation Kanton Bern ein gesamten Arbeitsvolumen. In Bezug auf die Ent- Positionspapier, das die aktuellen Positionen der löhnung kam die Studie zu wenig aussagekräftigen Kirchen in einen historischen Zusammenhang Ergebnissen. Sowohl bei den obersten als auch bei stellte und damit die Perspektiven einer sozial- den untersten Lohnklassen hatte der Frauenanteil ethisch begründeten Politik verdeutlichte. Unter leicht zugenommen. dem Titel Politik der Gerechtigkeit betonte Kästli, Regula Schmid betonte, dass die Studie the- dass es im Zeitalter der Globalisierung nicht mehr matisch und methodisch Neuland betreten hatte. möglich sei, sich auf die Verteidigung der sozialen Weil es nur sehr vereinzelt nach Geschlechtern Errungenschaften innerhalb der eigenen Landes- aufgeschlüsselte statistische Angaben gab, hatte grenzen zu konzentrieren. Es gehe vielmehr um das mit dem Forschungsprojekt beauftragte Büro eine Globalisierung der Gerechtigkeit, und dazu für arbeits- und sozialpolitische Studien (BASS) Mo- brauche es einen neuen, globalen Gesellschafts- delle für geschlechtsspezifische Budgetprüfungen vertrag, zu dessen Umsetzung es neue Instrumente entwickelt. Nach dem Referat konnten sich Bieler b r au c h e n w e r d e . We it e r e w i c ht i g e P u n k t e d e s Po s i - Politikerinnen und Angehörige des höheren Ka- tionspapiers betrafen zum Beispiel eine gerechtere ders zum Vorschlag äussern, das städtische Budget Aufteilung der Arbeit zwischen Mann und Frau, einer «Frauenverträglichkeitsprüfung» zu unter- Nachhaltigkeit und die Achtung der Rechte künf- ziehen. Die Reaktionen fielen leider eher reserviert tiger Generationen. Dass wenigstens die beiden aus, und Nicole Ding vom Personalamt bilanzierte letztgenannten Anliegen 1999 Eingang in die neue ernüchtert, dass dem obersten Kader die Bereit- Bundesverfassung fanden, war ein kleines Zeichen, schaft zu Experimenten fehle. dass sich die politische Schweiz dem gesellschaft- lichen Wandel nicht ganz entzog. Kreative Antworten auf Flexibilisierung und Rationalisierung Wie wirkt sich die Sparpolitik auf die Gleichstellung aus? Gemeinsam mit verschiedenen Frauenorga- nisationen, der katholischen Frauenstelle und Zu den sehr ernsten Seiten der neunziger Jah- der Dienstleitungsgewerkschaft UNIA organi- re gehörte die Fortdauer einer hohen Arbeitslo- sierte Catina Hieber auf den 15. November 1997 sigkeit. Um dieser für Biel besonders aktuellen eine zweisprachig geführte Tagung, die sich mit Problematik Rechnung zu tragen, wählte Catina brandaktuellen Vorgängen in der Wirtschaft di- Hieber 1997 den Bereich Frau und Ökonomie als rekt auseinandersetzte. Unter dem Titel Flexibel Schwerpunktthema ihrer Tätigkeit. In diesem Zu- oder wegstrukturiert? erörterten Fachfrauen aus sammenhang organisierten beide Fachstellen auf der Wirtschaft, wie die Frauen in einem schwie- den 28. April eine Informationsveranstaltung zu riger gewordenen Umfeld ihre Chancen in der den Auswirkungen der Sparpolitik auf die Frauen. Arbeitswelt wahren konnten. Denkanstösse zu Grundlage des Anlasses war eine Studie, welche diesem Thema gaben zwei Referate. Während die die Konferenz der Gleichstellungsbeauftragten Ökonomin Mascha Madörin die Risiken der flexi- und der VPOD in Auftrag gegeben hatten. Regula bilisierten Frauenarbeit aufzeigte, präsentierte die Schmid, die als Referentin eingeladene Begleiterin Gewerkschafterin Catherine Laubscher Strate- des Projekts, musste zusammenfassend feststellen, gien gegen die weitere Zunahme prekärer Arbeits- dass K rise und Sparpolitik den Prozess der Gleich- verhältnisse und rief die Personalverantwortlichen stellung stark gebremst hatten. Obwohl insgesamt dazu auf, auch kleine Arbeitspensen als feste An- etwas mehr Frauen einer bezahlten Arbeit nachge- stellungen zu gestalten. hen konnten, war mehr als ein Zehntel ihrer Voll- Das Ziel der Tagung, die Teilnehmerinnen für

149 K apitel 8 Vom Rand in die Mitte – ohne eigene Entwür fe aufzugeben (1997–2005) «Die grosse Umverteilung»: Kühne Gedanken in schwieriger Zeit

Während die meisten Unternehmen ihre Ge- die aktuellen Vorgänge in der Wirtschaft zu sen- winne vor allem durch Personalabbau steigerten, sibilisieren und Entscheidungsträgerinnen unter- bildeten Frauen und Männer aus verschiedenen einander sowie mit Betroffenen ins Gespräch zu Parteien, kirchlichen und gewerkschaftlichen bringen, wurde erreicht. Unter den etwa fünfzig Organisationen eine Initiativgruppe, um in Wirt- teilnehmenden Frauen kam es zu langen, engagiert schaft und Gesellschaft auf direktdemokratischem geführten Diskussionen. Weg eine «grosse Umverteilung» herbeizuführen. Das System, das viele Beschäftigte zu Überstun- den zwang, während immer mehr Menschen von Ist die Armut in der Schweiz weiblich? der Erwerbsarbeit ausgeschlossen wurden, sollte dank staatlichen Massnahmen durch eine ge- Um eine Gesamtschau der aktuellen Situati- rechtere Ordnung abgelöst werden. Eine radikale on zu erörtern, organisierte die Frauenstelle in Verkürzung der Erwerbsarbeit und neue Arbeits- Zusammenarbeit mit der Gesellschaft für psycholo- zeitmodelle sollten die entlöhnte Arbeit möglichst gische Beratung einen Vortragsabend mit der Zür- allen zugänglich machen, und die Aufwertung der cher Nationalrätin Christine Goll. Am 15. Mai Teilzeitarbeit sollte eine gerechtere Verteilung 1997 zeigte die engagierte Referentin vor einem der Nichterwerbsarbeit begünstigen. Damit mög- kleinen, aber interessierten Publikum auf, dass lichst alle dauerhaft im Arbeitsprozess verbleiben die Arbeitsmarktkrise das Armutsrisiko stark er- konnten, sollten Weiterbildung und Umschulung höhte. Schon zu Beginn der Krise 1991 hätten 15 ausgebaut werden. Prozent der Bevölkerung in Armut gelebt, weitere Die Initiative zur Verteilung von bezahlter und 10 Prozent an der Armutsgrenze. Wegen sozialer, unbezahlter Arbeit fand bei engagierten Frauen und geschlechtlicher und nationaler Benachteiligung Männern gute Resonanz. Der Arbeitskreis ver- seien besonders junge Ausländerinnen einem er- suchte, die Machbarkeit einer Umverteilung der heblichen Verarmungsrisiko ausgesetzt, betonte Arbeit zwischen den Geschlechtern konkret auf- Christine Goll. Die Spezialistin für Armutsfragen zuzeigen. Im Juni 1998 unterstützte Catina Hieber bezeichnete es als bedenklich, dass die Schweiz als ein Podiumsgespräch des Frauenplatzes und der immer noch zweitreichstes Land der Welt die sozi- Gewerkschaften, an dem zwei Paare erklärten, wie alen Grundrechte noch nicht in der Bundesverfas- sie zur gleichmässigen Aufteilung von Berufs- und sung abgesichert habe. Schliesslich berichtete die Hausarbeit gekommen waren und wie sich dieses Referentin über Erfahrungen, die sie als Kurslei- Modell im Alltag bewährt hatte. Als grossen Vor- terin für Erwerbslose gemacht hatte. In den mei- teil erwähnten beide Paare, dass nun beide Eltern- sten Fällen sei eine erwerbslose Person nicht ohne teile Zeit für die K inder hatten. Arbeit, betonte sie, vor allem die Frauen leisteten Am 10. Juni 1998 übernahm Catina Hieber auch sehr viel unbezahlte Arbeit. Sie wusste von vielen die Gesprächsleitung des Podiums an der Ingeni- Erwerbslosen, die sich erst nach langem Leidens- eurschule, das die Anliegen der Initiative mit der weg aufs Sozialamt getraut hatten, und bedauerte, Formel «Halbe/Halbe – Profit für zwei» auf den dass ein Teil der Schweizer Erwerbslosen frem- Punkt brachte. Auch für die Podiumsteilnehmer/ denfeindliche Tendenzen entwickelt hatte, weil sie innen lagen die Vorteile einer gleichmässigen sich vom Leben hintergangen fühlten. Nach dem Aufteilung von Hausarbeit und Erwerbsarbeit Referat ergab eine längere Diskussion, dass es mit auf der Hand. Marie-Louise Barben, Leiterin der politischen Mitteln trotz allem möglich sein wer- Fachstelle für die Gleichstellung von Frauen und de, mehr soziale Sicherheit zu erkämpfen. Männern, gab aber zu bedenken, dass die Ent- scheidungsfreiheit der Beschäftigten seit Beginn der Wirtschaftskrise deutlich abgenommen habe. Der Gewerkschafter Corrado Pardini gab zu be- denken, dass traditionelle Muster weiterhin sehr wirksam seien. Viele Männer w ünschten sich zwar,

150 K apitel 8 Vom Rand in die Mitte – ohne eigene Entwür fe aufzugeben (1997–2005) und Beratungszentrum Frau und Arbeit am 17. No- vember 1999 seinen Betrieb auf.

weniger zu arbeiten, hätten aber Angst, als Teil- Das Private ist politisch – jetzt erst recht! zeitbeschäftigte nicht mehr als «richtige Männer» zu gelten. Die folgenden Monate zeigten, dass die M i t d e m To d b e d r o h e n , b e i s s e n , m i t G e g e n s t ä n - Zeit für eine gerechtere Verteilung der Arbeit noch den bewerfen, ohrfeigen, packen, treten, umher- nicht reif war. Weil das Volksbegehren zu wenig stossen, mit einem Schuss verletzen, würgen, mit Resonanz fand, musste die Unterschriftensamm- der Faust zuschlagen, mit dem Messer zustechen lung beim Stand von 20 000 Unterschriften abge- – dass Männergewalt in ihren vielfältigen Formen brochen werden. Die Forderungen der Initiative eine politische Dimension hatte, war schon zu Be- wurden deshalb in Form einer Petition beim Bun- ginn der neuen Frauenbewegung erkannt und un- desrat eingereicht. tersucht worden. Die erste breit angelegte Studie zur Männergewalt in der Schweiz erschien aber erst 1997, als Véronique Ducret, Lucienne Gilli- Kleine, aber konkrete Projekte oz und Jacqueline De Puy vorsichtig geschätzte, gegen die Arbeitslosigkeit aber alarmierende Zahlen vorlegten. Im Verlauf ihres Lebens erlitt jede fünfte Frau physische oder Wenn es sich auch als unmöglich erwies, die sexuelle Gewalt innerhalb einer Paarbeziehung, bestehenden Strukturen überhaupt zu verbessern, psychische Gewaltausübung des Partners erlitten so blieb es immerhin möglich, im lokalen Rah- gar zwei von fünf Frauen. Schon vor der Veröf- men ganz konkret an der Wiedereingliederung fentlichung der Studie war klar gewesen, dass die von Stellensuchenden zu arbeiten. In diesem Sinn etwa 700 Frauen und 700 Kinder, welche jährlich engagierte sich Catina Hieber als Personalverant- in den dreizehn Frauenhäusern Schutz suchten, wortliche für den Verein Job Fox, der 1995 von den nur die Spitze des Eisbergs darstellten, aber dieses Gesamtkirchgemeinden der römisch-katholischen Ausmass an häuslicher Männergewalt überraschte und der reformierten Kirche gegründet worden doch. Die Autorinnen der Studie betonten, dass war. Job Fox organisierte berufsnahe Einsätze für häusliche Männergewalt in allen Schichten, allen Stellensuchende, um den Weg zurück in die Er- Nationalitäten und allen Landesteilen vorkam. werbsarbeit zu fördern. Tatsächlich fand ein Drit- Nicht Arbeitslosigkeit oder Alkoholismus erhöh- tel bis die Hälfte der Programmteilnehmenden ten das Risiko häuslicher Gewalt, sondern die nach vier bis sechs Monaten wieder eine Stelle. Struktur der Paarbeziehung. Achtzig Prozent der Um die berufliche Integration der Frau zu för- misshandelten Frauen lebten in einer Beziehung, dern, hatte die Stadträtin Barbara Schwickert 1996 in der der Mann dominierte. ein Postulat eingereicht. Mit Geldern des eidge- Die neuen Erkenntnisse über Männergewalt nössischen Büros für Gleichstellungsfragen sollte hatten Folgen. Trotz vorherrschender Sparpolitik auch in Biel ein niederschwelliges Informations- gelang es im Kanton Bern, die Schliessung von und Beratungszentrum für Frauen entstehen, die Frauenhäusern zu verhindern, und eine landes- sich Fragen zur Arbeitswelt stellten. Nach Annah- weite Aktion Halt! Gewalt gegen Frauen in Ehe und me des Postulates erhielt der städtische Ausschuss Partnerschaft begünstigte viele lokale Initiativen. für Frauenförderung den Auftrag, ein konkretes In Biel organisierte Catina Hieber in Zusammen- Projekt auszuarbeiten. Auch Catina Hieber be- arbeit mit dem Verein Wen-do im März 1997 einen teiligte sich an der folgenden Konzeptarbeit, aus Selbstverteidigungskurs für Mädchen und Frauen, der 1999 das Projekt Info-Café entstand. An einem der dank Beiträgen der Stadt Biel und der Kirche zentral gelegenen, einladenden Ort sollten Frauen sehr günstig angeboten werden konnte. Die Nach- Antworten auf aktuelle Fragen erhalten, zum Bei- frage nach diesem Kurs war ausserordentlich gross, spiel Informationen über Angebote für Kinderbe- so dass bis November 1998 weitere vier Wendo- treuung, um Familie und Beruf besser unter einen Kurse durchgeführt werden konnten. Hut zu bringen. Unter der Bezeichnung frac nahm das vom Verein Info-Café getragene Informations-

151 K apitel 8 Vom Rand in die Mitte – ohne eigene Entwür fe aufzugeben (1997–2005) gehend von seinen Erfahr u ngen empfahl Lempert, Verletzlichkeit und Schwäche ins Männerbild zu integrieren und Anlaufstellen zu schaffen, wo He- ranwachsende ihr Verhältnis zu physischer Gewalt Gewaltprävention: thematisieren konnten. Neue Männer braucht das Land Im folgenden Jahr versuchte der Arbeitskreis auf eindrückliche, ganz konkrete Art und Weise, Bie- Gegen Ende der neunziger Jahre wurde auch ler Jugendliche zum Nachdenken über verschie- die Gewalt, die von Jugendlichen ausging, ver- dene Aspekte männlicher Jugendgewalt anzure- mehrt öffentlich wahrgenommen. Autoren wie Al- gen. In Zusammenarbeit mit der Männerstelle Biel lan Guggenbühl befassten sich intensiv mit diesem gewann Liliane Gujer die TheaterFalle Basel zu ei- Thema und versuchten eine Interpretation. Nach ner Auff ührung im Bieler AJZ. Das am 19. Novem- Guggenbühl hatte es Jugendgewalt seit jeher ge- ber 1999 aufgeführte Stück Hau den Lukas zeigte geben, und nur die Verlagerung dieses Phänomens mit einer packenden Aufführung, wie Machtspiele habe zu vermehrter öffentlicher Aufmerksamkeit einer Jugendbande in blutigen Ernst ausarten geführt. Die humaner gewordene Atmosphäre konnten. Nach 75 intensiven Minuten konnte das an den Schulen und die Verplanung der Freizeit Publikum selber Einfluss nehmen. Die Möglich- durch zusätzliche Kurse habe vielerorts dazu ge- keit, an einer entscheidenden Stelle selber in eine führt, dass traditionellen Bandenaktivitäten an Rolle zu schlüpfen und der Geschichte eine andere den Schulen ausgelebt würden. Ausserdem spiele Richtung zu geben, wurde intensiv genutzt. Auch die aktuell vorherrschende Subkultur eine Rol- die langen Diskussionen im Publikum zeigten, le. Etwa zwanzig Jahre nach der Flower-Power- dass ein wirksamer Beitrag zur Gewaltprävention Generation orientierten sich viele Jugendliche an gelungen war. den Ghetto-Kids der US-Grossstädte, und gerade bei den Homeboys gehöre physische Gewalt als Männlichkeitsritual dazu. Der Gewalt auf der Spur: Eine Tagung Auch die Eidgenössische Kommission für Jugend- zur Dekade des Ökumenischen Rates der fragen ging an ihrer Bieler Tagung vom 12. Mai Kirchen 1998 auf das Thema ein. Während die Mehrheit der Kommission die vermehrte Thematisierung Seit seiner Gründung im Jahr 1948 hatte sich von Jugendgewalt als Projektion einer zunehmend der Ökumenische Rat der Kirchen (ÖRK) immer w ie- härter gewordenen Gesellschaft verstand, belegte der für eine Kultur des Friedens eingesetzt. Am der Soziologieprofessor Manuel Eisner anhand Schluss seiner 8. Vollversammlung in Harare vom von konkreten Zahlen aus Zürich einen deutlichen Dezember 1998 beschloss der Rat, auf die Frauen- Anstieg der Jugendgewalt. Besonders das Verhal- dekade ein Jahrzehnt der Friedensarbeit folgen zu ten schlecht integrierter, männlicher Jugendlicher lassen. Die Jahre 2001 bis 2010 sollten zur Dekade aus Krisengebieten sei an vielen Schulen oder Ju- zur Überwindung von Gewalt werden. Für die kon- gendtreffpunkten zum Problem geworden, be- krete Umsetzung der Dekade machte der ÖRK tonte Eisner. drei Vorschläge. Erstens sollte besonders intensiv Liliane Gujer beteiligte sich im Verlauf des Jah- an Heilige und Märtyrer erinnert werden, also an res 1998 an mehreren Gesprächen, bei denen die Vorkämpferinnen und Vorkämpfer zur Überwin- Gewaltproblematik aus der Sicht verschiedener dung von Gewalt. Zweitens sollte ein Programm städtischer Institutionen beleuchtet wurde. In Zu- unter dem Namen Friede den Städten gegen Gewalt sammenarbeit mit der Männerstelle Biel organi- in urbanen Räumen angehen. Und drittens sollte sierte Liliane Gujer vom 16. bis zum 18. November versucht werden, das Schweigen rund um die all- ein dreitägiges Seminar, in dessen Rahmen auch tägliche Gewalt zu brechen. ein sehr gut besuchter öffentlicher Vortragsabend Bei der Eröffnung der Dekade machte die Fach- stattfand. Am 17. November 1998 erläuterte der stelle für Oekumene, Mission und Entwicklungszu- Psychologe Joachim Lempert, dass das Aggressi- sammenarbeit den Anfang. Gemeinsam mit dem onsverhalten von Buben in einem engen Zusam- Arbeitskreis für Zeitfragen und anderen kirch- menhang mit gängigen Männerbildern stehe. Aus- lichen Institutionen organisierte sie auf den 25.

152 K apitel 8 Vom Rand in die Mitte – ohne eigene Entwür fe aufzugeben (1997–2005) der innere Monolog eines Mannes, der versuchte, sich aus seiner Täterrolle zu befreien und der Be- richt einer Bosnierin, die als Erntearbeiterin im Seeland jahrelang massiv ausgebeutet worden war. November 2000 die Tagung Der Gewalt auf der Schliesslich hatten die Tagungsteilnehmer/in- Spur, die eine umfassende Auseinandersetzung nen die Möglichkeit, sich in elf Ateliers mit einem mit verschiedenen Facetten von Gewalt und ihrer bestimmten Aspekt der Gewalt und Möglichkeiten Überwindung bot. Nach engagierten einführen- ihrer Überwindung auseinanderzusetzen. den Worten von Liliane Lanève-Gujer, Philippe Garbani und Margot Wahl führte der Südafrika- ner Luyanda ka Msuma die etwa 150 Anwesenden Die Arbeit an eigenen Entwürfen direkt zu einem Brennpunkt der Gewalt. I n seinem von Weiblichkeit Township Mdantsane gab es mehr Waffen und Drogen als Lebensmittel… Der Referent, der in Die Auseinandersetzung mit weiblicher Spi- Mdantsane eine Friedensinitiative leitete, berich- ritualität spielte in Catina Hiebers Tätigkeit eine tete vom Beginn einer Wende zum Besseren: «Vor zentrale Rolle. 1999 erläuterte sie im Neuen Bieler einem Jahr bestand ein sehr grosser Prozentsatz Jahrbuch, warum: «Spiritualität ist die Frage nach unserer Schülerinnen und Schüler die Maturi- den Quellen unserer inneren Kraft. Sind diese nur tätsprüfung nicht. Nachdem wir lange Zeit ande- geistig, oder haben sie auch einen Ort im Körper? ren die Schuld dafür gegeben hatten, haben wir Wo? Wie? Dies sind Fragen, die vor allem Frauen uns entschlossen, selber in die Schulen zu gehen, in ihrer spirituellen Neuorientierung beschäftigen. um uns zu vergewissern, was dort geschieht. Eine Frauen haben in der christlich abendländischen Gruppe von sechzig älteren, vom Thema betrof- Geschichte eine besondere Form der Abwertung fenen Frauen begab sich in die Schulen, um über- des Körpers erfahren. In der Neuorientierung geht all Präsenz zu markieren – auf dem Pausenplatz, es um die Befreiung von patriarchalen Mustern im Lehrerzimmer, vor den Toiletten und in den und um die Suche nach Eigenem.» Gängen. Eine Reihe von Problemen wurde durch Im Rahmen dieser Neuorientierung organi- diese Aktion wirklich öffentlich. Lehrpersonen sierte Catina Hieber 1998 den vierteiligen Zyklus und Studierende kamen zu spät oder gar nicht, und Spiritualität und weiblicher Körper, der es unter viele kamen betrunken oder unter Drogeneinfluss anderem ermöglichte, die Haltung verschiedener zur Schule. Erstaunlicherweise genügte die stille Weltreligionen zur weiblichen Sexualität besser Präsenz der Frauen in den folgenden Wochen, um kennen zu lernen. In ihrem Referat Weibliche Se- eine Zone des Friedens zu schaffen und wieder zu xualität in den Weltreligionen vom 20. Oktober 1998 einer positiven Lernkultur zurückzukehren.» betonte Dr. Sung-Hee Lee-Linke, dass Sexualität Es folgten zwei weitere Referate. Während die von frühen Religionen sehr positiv gewertet wur- Ethnologin Dr. Annemarie Sancar-Flückiger Ge- de, nämlich als wesentliche Quelle der Lebense- walt als gesellschaftliches Phänomen beschrieb nergie, die Frauen und Männer zur Harmonie mit und darlegte, wie in einem rassistischen Kontext sich selbst brachte. Nach einer langen Epoche pa- Migrant/innen als minderwertig und rückstän- triarchal geprägter Religiosität gehe es darum, zu dig bezeichnet werden, um Ausgrenzung oder einem freieren Verhältnis zu weiblicher Sexualität Misserfolg dann als natürliche Folge und nicht zurückzufinden. als Ausdruck gesellschaftlicher Bedingungen er- Ein weiterer Abend des Zyklus zeigte auf, wel- scheinen zu lassen, beschrieb die Schriftstellerin che Rolle der weibliche Körper in verschiedenen Irena Brezna in treffenden Kurzgeschichten und Epochen des Christentums gespielt hatte. Mit Sprachbildern verschiedenste Formen privater und Texten, Bildern und Impulsen zeigte die katho- institutioneller Gewalt. lische Theologin Monika Hungerbühler auf, wie Gelegenheit, sich mit Spuren der Gewalt in der widersprüchlich die Sexualität der Frau bewertet Region Biel auseinanderzusetzen, gaben drei in- worden war. szenierte Zeugenberichte nach den Referaten: die Zwei Anlässe widmeten sich ganz der unmittel- Aussage einer Frau, die erst im Frauenhaus Schutz baren Erfahrung. Unter dem Motto Aktiv Frau sein vor ihrem gewalttätigen Partner gefunden hatte, gestaltete Sibylle Spiess im Wyttenbachhaus eine

153 K apitel 8 Vom Rand in die Mitte – ohne eigene Entwür fe aufzugeben (1997–2005) Indirekt hatte die Frauenstelle das Thema des Äl- terwerdens bereits im Rahmen des Zyklus Schwarze Madonna aufgegriffen. Am 4. Mai 1998 hatte An- gela Römer die «nachtschwarze Frau unbekannter «spielerisch ta nzende Reise zu r weiblichen M it te». Herkunft» als mögliche Identifikationsfigur für Der Leiterin der Orientalischen Tanzschule Zü- Frausein und Älterwerden vorgestellt. rich ging es dabei um die Erweiterung des weib- lichen Potenzials: «Wir erwecken die Kraft in uns mit Tanz, Entspannung und speziellen, lustvollen Ein neuer Auftritt Übungen für den weiblichen Körper. Mit langsam- und neue Kommunikationsmittel sinnlichen und rhythmisch-feurigen Bewegungen verbessern wir Beweglichkeit und Koordination, Im Verlauf des Jahres 1997 erarbeiteten die bei- so dass die Energie ungehindert fliessen kann, auf den Studienleiterinnen mit der Kommission neue dass wir uns wohl fühlen im eigenen Körper.» Grundlagen für die gemeinsame Arbeit. Dazu Mit einer ähnlichen Zielsetzung gab Adelheid gehörte auch ein neues Erscheinungsbild. Der Ohlig zum Abschluss des Zyklus eine Einführung Name Arbeitskreis für Zeitfragen wurde zwar bei- in Luna Yoga – im Unterschied zum klassischen behalten, aber innerhalb dieses Namens kam es zu Yoga umfasste Luna Yoga auch Traumreisen und einer Akzentverschiebung. Der Begriff «Arbeits- verschiedene Entspannungsmethoden. Mit die- kreis», der manche an eine geschlossene, nach in- sen Übungen konnten Kreativität, Lebenslust, die nen gerichtete Institution erinnerte, sollte in den Freude an der Sexualität und Fruchtbarkeit geför- Hintergrund rücken, um den aktuelleren Begriff dert werden. Dank sehr positivem Echo konnten «Zeitfragen» in den Mittelpunkt zu rücken. Die- Sybille Spiess und Adelheid Ohlig auch 1999 An- sen Überlegungen sollte ein neues Logo Rechnung lässe zu Luna Yoga und Aktiv Frau sein durchfüh- tragen, das ausserdem eine zweite Akzentverschie- ren. bung zum Ausdruck bringen sollte. Anders als in den Anfangszeiten des Arbeitskreises ging es nicht mehr in erster Linie um das Aufwerfen von Fragen, Vom Geheimnis der zweiten Lebens- sondern auch um Perspektiven, die mit kurz- und hälfte langfristigen Projekten verbunden waren. Mit dem neuen, von Susanne Castelberg entwor- Wallungen, Atemnot, Herzklopfen – mögli- fenen Logo stellte der Arbeitskreis im Neuen Bie- cherweise ein Zeichen dafür, dass etwas in Fluss ler Jahrbuch 1998 auch die neuen Bezeichnungen komme, eine Mahnung, sich selber Raum zu schaf- für die beiden Teilstellen und deren gemeinsame fen und der Ausdruck freudiger Erregung. Im Rah- Zielsetzung vor: «Auf der Fachstelle ‹Gesellschaft men ihres ersten Kurses über seelische Prozesse der und Entwicklung› setzt Liliane Lanève-Gujer Lebensmitte riet Catina Hieber, die Beschwerden einen Schwerpunkt auf die Förderung des inter- der Wechseljahre auch symbolisch zu deuten. Das kulturellen Dialogs und integrationspolitische Programm des fünfteiligen Kurses vom Mai 2000 Fragen. Auf der Fachstelle ‹Frauenanliegen und erlaubte e s, sich g a n z heit l ich au f da s T hema de s Ä l- Frauenperspektiven› setzt Catina Hieber bei der terwerdens einzulassen. Nicht nur das Verständnis Stärkung der Position von Frauen in Kirche und für die körperlichen und seelischen Abläufe in den Gesellschaft an. Beide Studienleiterinnen beteili- Wechseljahren wurde gefördert, sondern auch das gen sich an der Entwicklung von Visionen, einer Wahrnehmen der Grenzen und Chancen dieser am Partnerschaftsgedanken orientierten Gesell- Wandlungszeit wie auch der religiösen Dimensi- schaft. Zu ihrer Arbeit gehört es auch, aktuelle onen des Eintritts in die zweite Lebenshälfte. Den frauenpolitische Themen aufzunehmen.» methodisch vielfältigen Kurs gestaltete Catina Ganz im Zeichen der ökumenischen Arbeit prä- H i e b e r m i t d e r E r w a c h s e n e n b i l d n e r i n Ve r e n a E n g - sentierte sich die Publikation, mit welcher auch der ler. Dank einem sehr guten Echo konnte der Kurs Arbeitskreis ab Januar 1998 für seine aktuellen An- auch in den folgenden Jahren angeboten werden. gebote warb. Nach intensiver Vorarbeit erschien Ausserdem beteiligte sich Catina Hieber im Herbst aKzente als sorgfältig gestaltete, vorerst halbjähr- 2001 an einem Seminar zur gleichen Thematik. liche Agenda aller Bildungsangebote der römisch-

154 K apitel 8 Vom Rand in die Mitte – ohne eigene Entwür fe aufzugeben (1997–2005) dass zwischen den Ansprüchen und der Bereit- schaft, mehr Energie in den Frauenplatz zu inves- tieren, eine grosse Lücke klaffte. Besonders von Vertreterinnen einer Frauengruppe konnte nicht katholischen und der evangelisch-reformierten erwartet werden, zusätzlich zur Tätigkeit in der K irchen von Biel und Umgebung. eigenen Organisation viel Zeit für den Frauenplatz Sehr früh beteiligte sich der Arbeitskreis auch aufzubringen. am neusten Produkt der Bieler Medienlandschaft. Aufgrund dieser Resultate zog Catina Hieber Ab April 1999 arbeiteten sowohl Catina Hieber als in ihrer Studie eine grundsätzliche Schlussfolge- auch Liliane Lanève-Gujer an Téléglise, der Kir- rung: «Eine Lösung des Dilemmas ist möglich, chensendung des lokalen Fernsehsenders TeleBie- wenn der Frauenplatz Biel (FB) in gewissem Sinn lingue mit. einen ‹Blickwechsel› vollzieht und sich als Gefäss im Sinn des postmodernen Feminismus versteht: Der FB macht sich frei von diversen Vorstellungen, Ein neues Modell für den Frauenplatz was der FB müsste, könnte oder sollte, und geht vielmehr von Personen aus, die im FB etwas umset- Der Frauenplatz Biel war auch 1998 eine in der zen wollen. Der FB orientiert sich nicht an einem ganzen Schweiz einzigartige Institution. Mit 85 Ideal, sondern macht Abstriche indem er schaut, Einzelmitgliedern und 23 Mitgliedsorganisati- was mit den wenigen Ressourcen zu verwirklichen onen repräsentierte er fast das ganze Spektrum ist. Er dreht die Blickrichtung um und macht das, der lokalen und regionalen Frauenorganisationen. was ist, zum Programm. Der FB wird so zum Ort, Obwohl als Verein organisiert, funktionierte der wo verschiedene Diskurse nebeneinander und mit- Frauenplatz ohne eigentlichen Vorstand – alles einander geführt werden können. Konkret heisst wurde an den regelmässig stattfindenden Mitglie- dies, dass der FB schaut, welche Interessen diejeni- derversammlungen entschieden. In seinen ersten gen haben, die in einem Netzwerk etwas umsetzen Jahren hatten diese Versammlungen in erster Linie möchten.» als Informationsplattform gedient, was die Koor- Für die Autorin war klar, dass der Frauenplatz dination verschiedener Aktivitäten erleichtert und auf dieser Basis nur mit klaren Entscheidungsbe- zur Verstärkung einzelner Projekte beigetragen fugnissen, geregelten Abläufen und einer guten hatte. Auch bei der Organisation zentraler Anlässe Kommunikation funktionieren konnte. Auf der wie Internationaler Frauentag und Frauenstreiktag Basis ihrer Vorschläge wählte die GV des Frauen- und bei der Herausgabe von KulturELLE spielte platzes am 27. April 1999 eine Koordinationsgrup- der Frauenplatz eine wichtige Rolle. pe mit Entscheidungsbefugnis, die während einer Nach drei Jahren machten sich jedoch gewisse Experimentierphase mit öffentlichen Sitzungen Ermüdungserscheinungen bemerkbar – die allge- die Geschäfte des Frauenplatzes leitete. Der Frau- meine Begeisterung der Anfangszeit war vorbei, enplatz erfuhr aber nicht nur eine organisatorische und für Organisationen mit wenig finanziellen Erneuerung – auch seine Funktion passte sich ak- Ressourcen erwies es sich als sehr schwierig, Kräf- tuellen Bedürfnissen an. Zwar diente er weiterhin te für zusätzliche Netzwerkarbeit aufzubringen. als Info-Markt, aber schwerpunktmässig ging es In diesem Zusammenhang entschloss sich Catina vermehrt um die Erarbeitung eigener Positionen Hieber, die Entwicklung des Frauenplatzes in einer und um ein gezieltes Engagement nach aussen. Diplomarbeit zu reflektieren – ihr Feministisches Kompaktstudium am European Women’s College stand kurz vor dem Abschluss. Mutterschaftsversicherung: Hundert Im April 1999 führte die Präsidentin des Frau- Jahre Aufklärungsarbeit reichten nicht enplatzes unter allen Mitgliedern eine Umfrage durch. Sie erkundigte sich nach den Ansprüchen, Am 5. Oktober 1899 hatten die eidgenössischen die gegenüber dem Frauenplatz bestanden, aber Räte ein Bundesgesetz verabschiedet, das bereits auch nach den Beiträgen, welche die Mitglieder an Versicherungsleistungen bei Mutterschaft vorsah. den Frauenplatz leisten konnten. Nach einem äus- In der Volksabstimmung vom 20. Mai 1900 wurde serst guten Rücklauf der Fragebögen zeigte sich, d a s G e set z z wa r abgeleh nt , ab er d ie Idee ei ner Mut-

155 K apitel 8 Vom Rand in die Mitte – ohne eigene Entwür fe aufzugeben (1997–2005) sich in diesem Zusammenhang die Frage, ob die «Frauensolidarität» am Ende sei. An einer Tagung zur evangelischen Frauenarbeit im Kanton Bern im Dezember 1999 betonte Catina Hieber das Recht terschaftsversicherung (MSV) blieb lebendig. In beider Geschlechter auf unterschiedliche Lebens- der sozialpolitisch äusserst aufgeschlossenen Zeit entwürfe. Gerade der Respekt vor der anderen unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg nahmen Lebensweise und das gegenseitige Unterstützen Volk und Stände den Familienschutzartikel an, der in dieser Vielfalt könne eine neue Grundlage für den Bund verpflichtete, eine MSV einzurichten. Frauensolidarität bilden. Die Studienleiterin de- 1988, vier Jahre nach der Ablehnung einer ent- finierte aber auch in Bezug auf diese Vielfalt eine sprechenden Volksinitiative, forderte der Kanton Grenze: «Wo Frauen die Interessen der Männer Genf den Bundesrat mit einer Standesinitiative vertreten, sind Grenzen der Frauensolidarität». auf, einen Entwurf für eine von der Krankenversi- cherung unabhängige MSV auszuarbeiten. Dieser Weg schien zum Ziel zu führen – am 18. Dezem- Der lange Marsch gegen Frauenarmut ber wurde das Bundesgesetz über die MSV von und gegen Gewalt an Frauen den eidgenössischen Räten angenommen. Das er- folgreiche Referendum rechtskonservativer Kreise Auf Initiative der Fédération des Femmes du führte allerdings zur Referendumsabstimmung Québec hatte die vierte Weltfrauenkonferenz in vom 13. Juni 1999, in der die MSV mit 61,1 Prozent Peking 1995 dazu aufgerufen, im Jahr 2000 zwi- der Stimmen verworfen wurde. schen dem Internationalen Frauentag und dem Am Jahrestag des Frauenstreiks, also gleich Welternährungstag überall auf der Welt mit Ak- nach der Abstimmung, reagierte der Frauenplatz tionen auf die Armut von Frauen und auf Gewalt Biel mit einer spontanen, öffentlichen Aktion vor gegen Frauen aufmerksam zu machen. In einem dem Hauptbahnhof. Frauen verteilten Rosen, die zweiten Schritt sollte versucht werden, mit Ini- mit verschiedenen Kommentaren zum Abstim- tiativen auf verschiedenen Ebenen gegen diese mungsergebnis geschmückt waren – da wurde der Verhältnisse anzugehen. Am 8. März 2000 zeigte Suisse Romande für die Annahme gedankt oder sich, dass die Signale der Konferenz fast überall daran erinnert, dass die Schweiz inzwischen das verstanden worden waren. Unter der Bezeichnung einzige Land in Europa war, in dem die MSV erst Weltmarsch der Frauen m ac hten sic h A k t iv i st i n nen als Verfassungsauftrag existierte. Gegenüber dem in 159 Ländern aller Kontinente auf, um mit ih- Bieler Tagblatt betonte Catina Hieber, dass bei vie- rem Unterwegssein auf die in Peking erörterten len Passantinnen vor allem eine Botschaft ange- Anliegen aufmerksam zu machen. Zum Abschluss kommen sei: «Trotzdem weitermachen». Tatsäch- der Aktion sollten Delegierte der verschiedenen lich sollte die MSV in der Volksabstimmung vom Märsche am 17. Oktober Kofi Annan vor dem 26. September 2004 eine Mehrheit finden. UNO-Hauptsitz in New York die unterwegs ge- sammelten Forderungen übergeben. In der Schweiz begann die «Frauenkarawane» Frauensolidarität darf Grenzen haben in Genf, um über das Wallis in den Kanton Bern zu gelangen. In Biel wurde die Karawane Anfang Die Ablehnung der Mutterschaftsversicherung September erwartet. Der Frauenplatz Biel berei- hatte deutlich gemacht, wie schwierig es war, in tete sich frühzeitig vor, um im Hinblick auf diese wirtschaftlich unsicheren Zeiten einen sozialpoli- Aktion eine hohe Wirksamkeit zu entfalten. Am tischen Rückstand aufzuholen. Und trotzdem hat- 8. März richteten verschiedene Organisationen te die Frauenbewegung seit den achtziger Jahren des Frauenplatzes spezielle Fragen an Behörden viel erreicht – dank dem Verfassungsauftrag hatte und Institutionen, um für ihre Anliegen eine die Gleichstellung auch im Alltag spürbare Fort- Diskussionsplattform zu bekommen. Die Lei- schritte gemacht. In diesem Zusammenhang wur- terinnen des Frauenhauses zum Beispiel erkun- de immer deutlicher, dass die zur Zeit des Frau- digten sich, warum gewalttätige Partner nicht enstreiks sehr umfassende Solidarität unter den systematisch strafrechtlich belangt wurden, und Frauen nachliess – viele engagierte Frauen stellten eine asylsuchende Tamilin wollte wissen, wer

156 K apitel 8 Vom Rand in die Mitte – ohne eigene Entwür fe aufzugeben (1997–2005) Die zweite Schweizer Frauensynode fördert ein neues Rollenbewusstsein

Als Stadt an der Sprachgrenze war Biel ein idea- problem los m it neu n Fra n ken pro Tag (über)leben ler Ort für die zweite Schweizer Frauensynode, die konnte. Mit einer eindrücklichen Performance Ende Oktober 2000 nach über zweijähriger Vorbe- auf verschiedenen Plätzen der Stadt Biel sorgte reitungszeit durchgeführt werden konnte. In die der Frauenplatz dafür, dass eine breite Öffentlich- Planung des Grossanlasses, der hauptsächlich von keit die aktuellen Anliegen zur Kenntnis nahm. der Frauenstelle der römisch-katholischen Kirche Schwarz gekleidete, mit Bändern der Armut und koordiniert wurde, brachte auch Catina Hieber der Gewalt gefesselte Frauen befreiten sich mit viele Impulse ein. Im Verlauf der Synode hatte die einem gemeinsamen Kraftakt, um endlich den Studienleiterin die Ehre, die künftige Bundesrätin ihnen zustehenden Raum einzunehmen und sich Micheline Calmy-Rey zu begrüssen. Im Zusam- zu entfalten. menhang mit den jüngsten Abstimmungsnieder- Auch der Jahrestag des Frauenstreiks widmete lagen beschäftigten sich die 650 Teilnehmerinnen sich einem zentralen Anliegen der Karawane. An der Synode vor allem mit den Schwierigkeiten, die einer zweisprachigen Veranstaltung erläuterten einem Sichtwechsel im Hinblick auf eine neue Rol- Beatrix de Cupis und Eva Ecoffey einige bedenk- lenverteilung im Wege standen. Welche Mythen liche Auswirkungen der 10. und der 11. AHV-Re- verhinderten das Umdenken, und welche Kompe- vision auf die Frauen. Zum Beispiel bedeutete die tenzen der Frauen wurden ungenügend genutzt? Anpassung der bisherigen Witwenrente an die neu In einem zweiten Teil befasste sich die Synode mit eingeführte, restriktiv ausgestaltete Witwerrente der Abklärung von Handlungsspielräumen, um bei nur scheinbar einen weiteren Schritt in der Gleich- der gerechteren Verteilung der Erwerbs- und der stellung; angesichts des real existierenden sozialen Hausarbeit trotz ungünstigen Mehrheitsverhält- Gefälles wurden die verwitweten Frauen massiv nissen ein Stück weit voranzukommen. Für ihre schlechter gestellt. Im Rahmen dieses Anlasses Beiträge zur Förderung der Frauenerwerbsarbeit präsentierte der Frauenplatz auch einige Antwor- wurden die Theologin Ina Prätorius und Marie- ten auf die am 8. März gestellten Fragen. Thérèse Sautebin geehrt. Als die Frauenkarawane Anfang September in Biel eintraf, sorgte der Frauenplatz für ein breites Medienecho. Die fünfzig auf dem Strandboden installierten, von der Gesellschaft Bildender Künstlerinnen gestalteten Zeltgerüste fanden viel Beachtung, vor allem am Nachmittag des 2. Sep- tember, als eine Tanzperformance durch die Ge- rüste den Wunsch der Frauen nach Befreiung ver- anschaulichte. Vor der Weiterreise der Karawane organisierte der Frauenplatz ein Podiumsgespräch, das die Aufmerksamkeit vor allem auf die Folgen häuslicher Gewalt für Migrantinnen lenkte. Viele Ausländerinnen wehrten sich kaum gegen ihre Peiniger, um die Aufenthaltsgenehmigung nicht zu verlieren.

Ende Oktober 2000 trafen sich 650 Frauen in Biel, um im Rahmen der zweiten Schweizer Frauensynode ge- meinsam für eine gerechtere Verteilung von Haus- und Erwerbsarbeit zu wirken.

157 K apitel 8 Vom Rand in die Mitte – ohne eigene Entwür fe aufzugeben (1997–2005) Walker die Visionen Hildegards, um abschliessend auch das musikalische Werk der grossen Mystike- rin zu würdigen. Am 1. Dezember interpretierte sie in der Stadtkirche Biel Gesänge und Texte, die Christliche Mystik: auf der Suche nach Hildegard verfasst und komponiert hatte. verborgenen Schätzen

Mystik wurde schon auch als «Urmutter von Eine ermächtigende Auseinander- Religion und Kultur» bezeichnet, als Strom, der setzung mit Paulus-Texten… durch alle Religionen fliesst. Diese besondere Form der Religiosität, bei der die Menschen durch «Schweigen sollen sie in der Öffentlichkeit, Hingabe und Versenkung versuchen, zu persön- züchtig bedeckt sollen sie sein und schön – doch licher Vereinigung mit Gott zu gelangen, wurde auch wieder nicht zu sehr.» In der neutestament- oft mit okkulten Praktiken verwechselt. Bei der lichen Briefliteratur fanden sich sehr viele repres- Vorstellung des Zyklus Auf den Spuren christlicher sive Vorschriften gegenüber Frauen, und diese Mystikerinnen war es Catina Hieber ein Anliegen, Texte warfen ihre Schatten bis in die Gegenwart – diesen Irrtum zu klären: «Bei der christlichen My- bis dahin, dass Frauen in der römisch-katholischen stik geht es darum, das innere Licht zu entdecken, Kirche der Zugang zu den geweihten Ämtern ver- ganz bei sich zu sein und sich nicht irgendwelchen wehrt blieb. Um gerade zu diesen Texten einen an- dunklen Kräften auszusetzen.» deren Zugang zu ermöglichen, organisierte Catina Im Zusammenhang mit der spirituellen Suche Hieber in Zusammenarbeit mit der Frauenstelle vieler Frauen hatten sich Catina Hieber und Thea der katholischen Kirche einen zweiteiligen Kurs Chevalier von der reformierten Frauenstelle Biel- mit der Bamberger Theologin Sabine Biberstein. Stadt auch mit christlicher Mystik befasst. Dabei Im Juni 2000 zeigte die Referentin auf, dass in den hatten sie festgestellt, dass Mystikerinnen im Mit- Paulus-Texten Spuren von Frauen zu entdecken telalter eine wichtige Rolle gespielt hatten – indem waren, die sich den Mund nicht verbieten liessen sie die inneren Kräfte sammelten, konnten sie bes- und die selbstbewusst und widerspenstig ihre viel- ser nach aussen gehen, um gegen Ungerechtigkeiten fältigen Funktionen erfüllten. in der Gesellschaft zu kämpfen. Das selbständige Handeln vieler Mystikerinnen war der Kirche oft ein Dorn im Auge – nur zu oft wurden sie als ver- … und Impulse für geschlechtergerechte rückt erklärt oder gar als Hexen hingerichtet. Gottesdienste Der Zyklus vom November 2000 ermöglich- te einen vielfältigen Zugang zum Thema. Bot die Obwohl Pfarrerinnen und Pfarrer sich bemüh- reformierte Theologin Angela Römer eine allge- ten, für Frauen und Männer da zu sein, gingen die meine Einführung in die abendländische Mystik, Gottesdienste zu einseitig von der männlichen rückte Dr. Elisabeth Moltmann-Wendel eine Lebensrealität aus. Um innerhalb der evangelisch- besondere Form der Jesusmystik in den Vorder- reformierten Kirche Biel die Sensibilität für dieses grund: die Gottesfreundschaft als Möglichkeit, Phänomen zu fördern, organisierte Catina Hieber sowohl Nähe als auch Freiheit in Bezug auf Gott auf den 31. August 2001 einen Workshop für ge- und Göttliches auszudrücken. In einem zweiten schlechtergerechte Gottesdienste. Teil ging es um die Auseinandersetzung mit be- In Zusammenarbeit mit der reformierten The- deutenden Mystikerinnen. Mit Mechthild von ologin Helmute Conzetti zeigte die Studienlei- Magdeburg und Brigitta von Schweden stellte Dr. terin auf, wie bei geschlechterbewusster Exegese Magdalena Bless Frauen aus dem 13. und 14. Jahr- vorgegangen werden kann. Anhand vorgängig er- hundert vor, und Dr. Victoria Walker ermöglichte arbeiteter Kriterien für die Gestaltung geschlech- einen ganzheitlichen Zugang zur visionären Be- tergerechter Gottesdienste wurden anschliessend nediktinerin Hildegard von Bingen, deren im 12. verschiedene liturgische Texte analysiert. Die Teil- Jahrhundert entstandenes Werk Wirkungskraft nehmer/innen des Workshops zeigten sich beein- bis in die neuste Zeit bewahrt hatte. Unter dem Ti- druckt von den Möglichkeiten, auch in den Gottes- tel Eine Feder auf dem Odem Gottes präsentierte Dr. diensten beiden Geschlechtern gerecht zu werden.

158 K apitel 8 Vom Rand in die Mitte – ohne eigene Entwür fe aufzugeben (1997–2005) Bedürfnis nach einem solchen Treffpunkt hatten. Die Möglichkeit, auch auf der Handlungsebene in der Migrationspolitik mitzuwirken, sprach Lilia- ne Lanève-Gujer sehr an – von Anfang an beteili- Multikulturalität als wenig beachteter gte sie sich an einer Spurgruppe, die dem Projekt Reichtum konkretere Gestalt geben sollte. Im Hinblick auf strukturiertes Vorgehen und die Beschaffung Spätestens seit dem Aufstieg zur Uhrenmetro- nötiger Mittel bildete sich ein Verein, in dessen pole war Biel vom Bilinguismus geprägt worden, Vorstand sich die Studienleiterin sehr engagierte. was den offenen, liberalen Charakter der Seeland- Nach intensiver Vorarbeit mit kulturellen Medi- metropole zusätzlich betonte. Einen wichtigen ator/innen und mit massgeblicher Unterstützung Schritt zur bewussten Pflege der Zweisprachigkeit der reformierten Gesamtkirchgemeinde Biel wur- unternahm die Stadt im August 1997, als sie die de der Traum von einem Begegnungszentrum Stiftung Forum für die Zweisprachigkeit ins Leben Wirklichkeit. Ende Mai 2000 konnte es unter dem rief. Der Leiter des Forums, Jean Racine, interes- Namen Multimondo feierlich eröffnet werden – der sierte sich ganz besonders für die sprachliche und Name des Zentrums war aus vielen Vorschlägen im kulturelle Vielfalt in Biel. In seinen Thesen zur Rahmen eines Wettbewerbs ausgewählt worden. Mehrsprachigkeit betonte er, dass gerade die Spra- Das Zentrum an der Alexander Moser-Strasse chenvielfalt ein auch wirtschaftlich wertvolles Po- 17 hatte von Anfang an Interessantes zu bieten. In tenzial darstelle, das es zu fördern und zu nutzen der Bibliothek Polyglotte konnten Bücher von Ara- gelte. mäisch über Kurdisch bis Urdu ausgeliehen wer- Wie weit der Weg zu einer Umsetzung dieses den. Ei ne Küche, ei ne Computerecke u nd ei n g ros- Gedankens war, zeigte der Anlass Integration von ser Versammlungssaal ermöglichten vielfältige Migrantinnen und Migranten, den die Fachstelle Aktivitäten. Von Anfang an wurden Sprach- und für Gesellschaft und Entwicklung am 31. Oktober Informatikkurse zu ausserordentlich günstigen 1998 im Farelsaal durchführte. In einem Referat Bedingungen durchgeführt. Im Gegensatz zu ge- erklärte die Ethnologin Dr. Annemarie Sancar- wissen Befürchtungen wurde Multimondo sehr bald Flückiger die fatalen Folgen oft jahrelang prekärer zu einem rege benützten multikulturellen Treff- Aufenthaltsbedingungen für Migrant/innen. punkt, in dem auch Schweizerinnen und Schweizer Während die Zugewanderten zögerten, sich ver- ein- und ausgingen. Dank der Gratisarbeit vieler mehrt aktiv zu integrieren, falle es vielen Städten Beteiligter funktionierte der Betrieb gut, und neue leicht, mit dem Hinweis auf den vorübergehenden Initiativen wurden umgesetzt. Die Kurdin Raney Charakter des Aufenthalts ihre fehlende Integrati- Sunna organisierte Diskussionsabende zu Inte- onspolitik zu rechtfertigen. Die Verschärfung der grationsfragen, und multikulturelle Tanzabende Ausländerpolitik habe sehr viele Migrant/innen wurden zu einem eindrücklichen Beispiel für viel- in die Illegalität getrieben, betonte die Referen- fältige Begegnungen. tin, die Ausgrenzung vieler Fremder habe sich also noch verschlimmert. Sancar-Flückiger rief dazu auf, gerade in dieser Situation aktiv zu werden und Vom Rand in die Mitte: kleinen, aber konkreten Projekten zum Erfolg zu Migrantinnen ergreifen das Wort verhelfen. Im Rahmen des Frauenplatz Biel beteiligten sich beide Fachstellen des Arbeitskreises an der Vor- Multimondo: bereitung des 8. März 2001. Das Hauptanliegen der Treffpunkt der Kulturen dieses Internationalen Frauentags war es, jenen Frauen das Wort zu geben, die vor ihrem öffent- Als überschaubares, konkretes Vorhaben mit lichen Auftritt meistens besonders viele Hinder- Zukunft erwies sich das Projekt eines multikul- nisse zu überwinden hatten: den Migrantinnen. turellen Begegnungszentrums in Biel. 1997 ergab Liliane Lanève-Gujer erklärte dazu: «Alle sind seit eine Umfrage bei den lokalen Organisationen der ihrer Ankunft in der Schweiz einen langen Weg Ausländer/innen, dass viele Migrant/innen das gegangen – über rechtliche Schwierigkeiten, sozi-

159 K apitel 8 Vom Rand in die Mitte – ohne eigene Entwür fe aufzugeben (1997–2005) leisten. Einen Durchbruch erzielte das Projekt Wel- tethos 1993 in Chicago, als die Teilnehmer/innen des zweiten Weltparlaments der Religionen die massgeblich von Küng inspirierte Erklärung zum ale Schranken, traditionelle Rollenverständnisse, Weltethos verabschiedeten. Konkret verpflichteten finanzielle Engpässe, psychische Belastungen sich Vertreter aller Religionen auf vier Grundsätze: hinweg strengen sie sich an, sich hier zu behaupten Gewaltlosigkeit und Ehrfurcht vor allem Leben, und zu entfalten. Viele Erfahrungen gleichen de- Solidarität und gerechte Wirtschaftsordnung, nen von Schweizerinnen, andere kommen jedoch Toleranz und Wahrhaftigkeit sowie Gleichbe- verschärfend hinzu und erschweren Unabhängig- rechtigung und die Partnerschaft von Mann und keit und Gleichberechtigung.» Frau. Noch weiter gingen die Theologen Paul F. Die Tschaderin Rhoda Nenodji, die Sri Lanke- K nitter und John Hick, indem sie das Christent um rin Effa Santiago und zwei weitere Frauen erzähl- nicht mehr im Mittelpunkt der religiösen Welt ten vor 150 Frauen im Farelsaal, welche Probleme sahen, sondern als Teil eines umfassenden Spek- sie schon z u lö sen h at ten. Sie ber ichteten von Sit u a- trums der Religionen verstanden. tionen, in denen sie die schweizerische Spielart des Mit grosser Betroffenheit verfolgten die Initi- Patriarchats erfahren hatten, oder von schmerz- ant/innen des interreligiösen Dialogs den Krieg haften Trennungen, wenn der Partner in die Hei- im zerfallenden Jugoslawien, der sich gerade in mat zurückkehrte, während sie aus Rücksicht auf jenen Jahren ausweitete. Dass bei der Zerstörung die K inder in der Schweiz zurückblieben. der multikulturellen Tradition Bosniens nicht nur Nach diesen eindrücklichen Beiträgen berich- rassistisch-nationalistische, sondern auch religiöse tete Maritza Le Breton vom Fraueninformations- Vorurteile eine Rolle spielten, bestärkte sie darin, z ent r u m Zü r ich ( F I Z ) über weitere M ig ra nt i n nen- den Dialog erst recht weiterzuführen. Damit bil- schicksale. Le Breton betonte, dass viele Frauen deten sie einen Gegenpol zu Autoren wie Samuel P. fünf schwierige und manchmal sehr gefährliche Huntington, die behaupteten, nach dem Ende des Jahre bei einem dominanten Schweizer Ehemann Staatssozialismus russischer Prägung werde es zu ausharren mussten, bevor sie in der Schweiz blei- einem Kampf zwischen verschiedenen Kulturkrei- ben konnten. Mit dem Hinweis auf das Gleichstel- sen kommen – als wahrscheinlichsten Gegner des lungsgesetz verlangte sie eine zivilstandsunabhän- westlichen Kulturkreises bezeichnete der ehema- gige Aufenthaltsbewilligung. l i g e A u f s t a nd s b e k ä m pf e r i n V ie t n a m d e n I s l a m u nd Schliesslich verabschiedeten die Anwesenden den chinesisch-konfuzianischen Kulturkreis… eine Resolution zuhanden der zuständigen Bieler Behörden, in der sie die entschlossenere Förde- rung der zugewanderten Frauen verlangten, zum Der 11. September 2001 und die Folgen Beispiel mehr subventionierte Sprachkurse, Wei- terbildung und ein Beratungskonzept für rand- Der erste Angriff auf das Festland der USA ständige Migrantinnen. Um die notwendigen traf die Symbole des globalen Kapitalismus. Um Fördermassnahmen zu koordinieren, forderten sie 8 Uhr 45 schlug eine von Al Khaida-Mitgliedern die Einsetzung einer städtischen Integrationsbe- entführte Boeing 767 in den nördlichen Turm des auftragten. World Trade Center ein. Kurz darauf kollidierte eine zweite entführte Maschine mit dem südlichen Turm, und ein drittes Flugzeug stürzte auf einen Die zunehmende Bedeutung Teil des Pentagon. Nur das vierte entführte Flug- des interreligiösen Dialogs zeug verfehlte vermutlich sein Ziel und stürzte über einem Waldgebiet bei Pittsburgh ab. Insge- In seinem Werk Weltethos hatte Hans Küng samt starben in den fliegenden Bomben 266 Pas- 1990 versucht, eine Grundlage von gemeinsamen sagiere und Besatzungsmitglieder. Nach dem Ein- Werten und Massstäben zu formulieren, dem alle sturz der Zwillingstürme stieg die Zahl der Opfer Religionen zustimmen können. Nur mit diesem auf über dreitausend. Grundkonsens, glaubte Küng, könnten die Welt- Das brutale Massaker an Unschuldigen in New religionen einen wirksamen Beitrag zum Frieden York wurde zu einem globalen Medienereignis.

160 K apitel 8 Vom Rand in die Mitte – ohne eigene Entwür fe aufzugeben (1997–2005) keit zum Islam dient oft als Projektionsfläche für Vorurteile und Ängste. Zerrbilder und Klischees über den Islam verletzen sie in ihrem Recht auf freie Religionsausübung sowie in ihrer Würde als Politiker von Yassir Arafat bis Yang Zemin zeigten Frau. Reaktionen der Abwehr und fehlende Tole- ihre Betroffenheit und sprachen US-Präsident ranz gehören oft zu ihrem A lltag.» Bush ihr tiefes Beileid aus. Ausserhalb der diplo- Um in dieser Situation einen Dialog in Gang matischen Sphäre kam es auch zu anderen Reakti- zu bringen, organisierte Liliane Lanève-Gujer onen. In Ländern, deren Zivilbevölkerung blutige auf den 6. Juni 2001 ein Podiumsgespräch mit vier Erfahrungen mit der US-Armee oder ihren Ver- jungen, inzwischen eingebürgerten Musliminnen. bündeten gesammelt hatte, zeigten manche ihre Trotz hochaktueller Thematik fand sich bloss ein Schadenfreude. Und in den USA behaupteten nicht gutes Dutzend Interessierter im Farelsaal ein – so wenige christlich-fundamentalistische Fernseh- war es wenigstens möglich, nach dem eigentlichen prediger, die Anschläge seien als «Strafe Gottes» Podium in kleinen Gruppen zu diskutieren. Ein für die sündhafte Duldung der Abtreibung und wichtiges Thema des Podiums betraf die Kopf- weitere Gottlosigkeiten zu verstehen. tuch-Kontroverse. Die ursprünglich aus Bosnien Dank «9/11» wurde Huntingtons Kampf der stammende Djula Hasic berichtete, dass sie mit Kulturen zu einem Bestseller. Nur wenige nahmen dem Kopftuch lange Zeit keine Arbeit gefunden zur Kenntnis, dass Osama Bin Laden wie die mei- habe. Die Podiumsteilnehmerinnen bedauerten, sten Angehörigen der Oberschicht in Saudi-Ara- dass es wegen des Kopftuchs zu einer so heftigen bien der radikalen Sekte der Wahabiten angehörte, Auseinandersetzung gekommen sei, obwohl der die für den Islam in keiner Weise typisch war. Die Koran eine derartige Verhüllung bloss empfehle. Vorurteile gegen die Muslime in Nordamerika und Zu einer angeregten Diskussion kam es schliess- Europa nahmen deutlich zu, und nicht wenige Po- lich in Bezug auf die Gleichberechtigung der Ge- litiker behaupteten, es sei ein Fehler gewesen, das schlechter. Eine Podiumsteilnehmerin lehnte die Entstehen multikultureller Gesellschaften zuzu- Gleichberechtigung ab, weil der Koran der Ver- lassen. In vielen Staaten wurde die Asyl- und Aus- schiedenheit von Mann und Frau Rechnung trage länderpolitik verschärft. Abgesehen von der Rück- und den Geschlechtern unterschiedliche Aufträge kehr zu einem oberflächlichen ethnischen Denken erteile. Andere Musliminnen hielten entgegen, kam es zu zwei weiteren langfristigen Folgen. Auf dass Gleichberechtigung und muslimische Iden- politischer Ebene ging die US-Regierung dazu tität für sie sehr gut miteinander vereinbar seien. über, auch ohne Mandat der Vereinten Nationen Auch die Diskussionen in den kleinen Gruppen Kriege zu führen, und auf wirtschaftlicher Ebene wurden ausführlich und engagiert geführt – der wurde der kurze Aufschwung von einer neuen welt- Anfang eines gewiss nicht nur einfachen Dialoges weiten Rezession abgelöst. Auch in der Schweiz mit der zweitgrössten Religionsgemeinschaft der nahmen die Arbeitslosenzahlen wieder zu, und die Schweiz war gemacht. grosse Angst vor Flugreisen trug massgeblich zum Schon im September 1999 hatte der Arbeits- Ende der einst stolzen Swissair bei. kreis die Probleme von Frauen in der patriarchal geprägten marokkanischen Gesellschaft zur Spra- che gebracht. Die Menschenrechtlerin Aicha Ech- Fatimas Töchter: Channa hatte über die Ausgrenzung unverheira- Mit Musliminnen im Gespräch teter Mütter berichtet, die nach marokkanischem Recht mit Prostituierten gleichgesetzt werden Eingewanderte Musliminnen hatten es oft be- konnten. Um die unverheirateten Mütter im A lltag sonders schwer in der Schweiz. Dass es sehr wich- zu unterstützen, hatte Ech-Channa die Organisa- tig war, auch mit ihnen ins Gespräch zu kommen, tion «solidarité féminine» ins Leben gerufen, die erklärte Liliane Lanève-Gujer wie folgt: «Sie ha- den Ausgegrenzten in Restaurants, Kantinen und ben meistens starke Familienbindungen und So- Läden Verdienstmöglichkeiten verschaffte. Die lidarität unter Frauen hinter sich lassen müssen, Projekte von «Solidarité féminine» wurden unter und hier erleben sie als Ausländerinnen per Gesetz anderem vom Christlichen Friedensdienst unter- Diskriminierung und Isolation. Ihre Zugehörig- stützt.

161 K apitel 8 Vom Rand in die Mitte – ohne eigene Entwür fe aufzugeben (1997–2005) stellung von Frauen und Männern, Liliane Lanève- Gujer mit der Teilnahme an der Vernehmlassung der Projektgruppe Eglises de Suisse à l’Expo 2001. Aber wie die allermeisten Projekte der Mitmach- Weibliche Weisheit kampagne hatten auch die Vorschläge der Kirchen in den Weltreligionen vor der Jury unter Fernsehmann Kurt Aeschbacher keine Gnade gefunden. Um den interreligiösen Dialog aus weiblicher Die drei in der Region Biel verankerten Landes- Sicht ging es in einem Veranstaltungszyklus, den kirchen beschlossen daher eine andere Form der Catina Hieber im November 2001 durchführte. Je Mitwirkung. Ihre Projekte sollten organisatorisch ein Vortrags- und Diskussionsabend war einer der unabhängig von der Expo, aber in ihrem Kontext fünf grossen Weltreligionen gewidmet. In Bezug erarbeitet und umgesetzt werden. Als Trägeror- auf das Christentum zeigte Dr. Sophia Bietenhard ganisation gründeten sie am 22. September 1999 auf, wie die neuere Forschung zu «Sophia», also der das Ökumenische Projekt Expo 01 Nachbarschaft Weisheit als weiblicher Himmelsgestalt, manche (OPEN.01), das auch anderen kirchennahen In- Idee über Gott und die spirituellen Wurzeln von stitutionen offen stehen sollte. Als Vertreterin der Jesus veränderte. Die Judaistin Eva Pruschy stell- reformierten Gesamtkirchgemeinde Biel wurde te die emanzipierte Rebekka und andere Urmütter Liliane Lanève-Gujer zur stellvertretenden Pro- Israels vor, während die Islamwissenschaftlerin Sa- jektleiterin des neuen Vereins gewählt. In dieser mia Osman das Engagement starker muslimischer Funktion setzte sie sich dafür ein, dass die Kirchen Frauen vorstellte. Die Ethnologin My Hanh De- während der Landesausstellung Projekte präsen- rungs betonte, dass der Buddhismus nicht immer tieren konnten, die eine breite Bevölkerung an- so frauenfreundlich sei, wie es oft den Eindruck sprachen und wichtige Zeichen setzten. mache. Frauen hätten auch in diesem Machtgefüge Da n k den Beit r ägen v ieler K i rchgemei nden u nd wenig Einflussmöglichkeiten. Immerhin schöpfe Zuschüssen der drei bernischen Landeskirchen er viel Weisheit und Kraft aus dem Weiblichen. Als konnte OPEN.02 mit einem Budget von etwa 700 Frauengestalt stellte die Referentin eine Nonne 000 Franken eine breite Palette kirchlicher Pro- vor. Chan Khong zeichnete sich dadurch aus, dass jekte finanzieren: Von derRollenden Kirche, einem sie sich stets um die Verletzlichsten kümmerte. Bus der Freikirchen, über die kulturellen Ange- Am letzten Abend des Zyklus erklärte Brigitte bote Der andere Ort und Kunst- und Musikkirche Morgenthaler-Subramaniam viel Interessantes Pasquart reichte das Angebot bis zum Ort der Stil- über die lebensspendenden Qualitäten bestimmter le in der Kirche Nidau, wo Expo-Besucher/innen Göttinnen des Hinduismus. Mit etwa vierzig Teil- sich nach einem erlebnisreichen Tag zurückziehen nehmerinnen an jedem Abend wurde der ganze und wieder sammeln konnten. Als eigene Beiträge Zyklus zu einem grossen Erfolg. Die Verbindung verwirklichte der Arbeitskreis zwei markante, gut von Informationen über verschiedene Religionen durchdachte Projekte, die in den nächsten beiden und frauenspezifischem Blickwinkel wurde sehr Kapiteln dargestellt sind. geschätzt.

Die Woche der fünf Weltreligionen Open 02 – ein Programm im Zeichen der Öffnung Als bisher grösstes Projekt des interreligiösen Dialogs in Biel konnte Liliane Lanève-Gujer in Schon früh hatte der Arbeitskreis die langwie- Zusammenarbeit mit den Gemeinschaften der rige, oft schwierige Vorbereitung der Expo mit fünf Weltreligionen ein reichhaltiges Wochen- grossem Interesse mitverfolgt. Nach dem Aufruf programm zusammenstellen. Vom 10. bis zum 15. der Expo-Leitung zu einer Mitmachkampagne Juni 2002 konnte man in einem weissen Festzelt hatten beide Teilstellen versucht, wichtige Anlie- auf dem Gurzelen-Parkplatz dem Buddhismus, gen ins Programm der Landesausstellung einzu- dem Hinduismus, dem Judentum, dem Islam und bringen: Catina Hieber mit der Abklärung eines dem Christentum begegnen. Je ein Wochentag Projekts der Stadt Biel zur Förderung der Gleich- war einer bestimmten Religion gewidmet, und

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zwar bestimmten A ngehörige des jeweiligen Glau- bens selbst, wie sie über ihre Religion und deren Ausgestaltung im alltäglichen Leben informieren wollten. Gewisse Formen waren über die ganze Woche hinweg gleich. Damit jeder Glaube auch emotional erlebbar wurde, begann der Tag mit einem rituellen Einstieg, und am Abend konnte Im Rahmen der Woche der fünf Weltreligionen vom man sich mit einem typischen Gericht verpflegen, Juni 2002 wurde in Biel zum ersten Mal ein Runder bevor Musik aus dem entsprechenden Kulturkreis Tisch der Religionen durchgeführt. den Anlass ausklingen liess. Während der ganzen Woche konnten auch Schulklassen die Möglich- keit wahrnehmen, eine bestimmte Religion ganz unmittelbar kennen zu lernen. In diesem Rahmen wurden auch Ateliers angeboten – zum Beispiel Der andere Blick – eine Zeitreise durch konnte am Gewand Buddhas genäht werden, oder 500 Jahre Bieler Frauengeschichte es wurden Tanzschritte einer bisher unbekannten Kultur eingeübt… Während auf der Bieler Arteplage tausende die Am Samstagmorgen erlaubte ein Runder Tisch Türme zum Thema Macht und Freiheit bestaunten, der Religionen noch einmal eine intensive interre- trafen sich beim Vennerbrunnen in der Bieler Alt- ligiöse Begegnung – zum ersten Mal in Biel nah- stadt jeden Dienstagabend Leute, um sich auf eine men Vertreter/innen aller fünf Weltreligionen an Zeitreise zu begeben: «Ist die Sonne, die sich im einem gemeinsamen öffentlichen Gespräch teil. Wasser des Brunnens spiegelt, nicht die gleiche, die Im Verlaufe dieses Gesprächs wurde eine Fort- unsere Vorfahren vor 500 Jahren erwärmte?» Mit setzung des Dialogs vereinbart, unter anderem, diesen Worten führte die Stadtführerin Félicienne um an einer interreligiösen Plattform zu arbeiten. Villoz-Muamba ihre Zuhörer/innen ins 16. Jahr- Schliesslich rundete das in Zusammenarbeit mit hundert. «Betrachten wir die Häuser um uns he- der Schweizerischen Flüchtlingshilfe organisier- rum», fuhr sie weiter, «sie sind nur drei Stockwerke te Flüchtlingsfest eine gut gelungene Woche ab, hoch, und im Erdgeschoss sehen wir verschiedene deren nachhaltige Wirkung sich bald darauf ganz Werkstätten. Auf dem Platz bieten Händlerinnen konkret zeigte. Im Verlaufe der Auswertung dieser Eier, Hühner und Früchte feil, und hier, rund um Woche wurde beschlossen, auch in Biel einen Run- den Brunnen, hat schmutziges Wasser Pfützen ge- den Tisch der Religionen zu gründen. bildet. An die Kirchenpforte gelehnt, säugt eine Der Runde Tisch der Religionen traf sich ab Som- Bettlerin ihr Kind…» mer 2003 regelmässig, um das gegenseitige Ver- Félicienne Villoz-Muamba gehörte zu den neun ständnis zwischen den verschiedenen Glaubens- Stadtführerinnen, die während der Expo 02 zwei- gemeinschaften zu fördern, gemeinsame Projekte mal wöchentlich einen Stadtrundgang zur Bieler auszuarbeiten und aktuelle Probleme zur Sprache Frauengeschichte anboten. Der Rundgang basier- zu bringen. Zur Sprache kamen dabei Anliegen te auf dem speziell für dieses Projekt erarbeiteten wie ein muslimischer Sektor auf dem städtischen Führer mit dem Titel Der andere Blick, in dem die Friedhof oder die öffentliche Anerkennung nicht- Historikerin Dr. Margrit Wick-Werder viel Fas- christlicher Glaubensgemeinschaften. zinierendes und bisher meist Unbekanntes aus 500 Jahren lokaler Frauengeschichte präsentierte. Ausgehend vom 16. Jahrhundert, als Frauen trotz ihrer Beteiligung an der «Ökonomie des ganzen Hauses» nur selten einen Beruf ausüben durften, konnte die langsame, von Rückschlägen nicht ver- schonte Geschichte einer teilweisen Emanzipation

163 K apitel 8 Vom Rand in die Mitte – ohne eigene Entwür fe aufzugeben (1997–2005) Der Rücktritt Catina Hiebers vom Präsidi- um des Frauenplatzes erwies sich als bedeutender Einschnitt. Seit der Vereinsgründung hatte die Studienleiterin einen Teil der Aufgaben des Frau- mitverfolgt werden – glücklicherweise bis zu einer enplatzes im Rahmen ihrer Tätigkeit für den Ar- Gegenwart, in der engagierte Frauen den Kampf beitskreis erledigen können. Ausserdem hatte sie für eine wirkliche Gleichstellung beharrlich wei- sich auch privat intensiv für den Verein eingesetzt. terführten. Die Suche nach einer Nachfolgerin erwies sich als Die Initiative zur Verwirklichung dieses Stadt- langwierig und schwierig. Schliesslich beschloss rundganges hatte Catina Hieber in Zusammen- die Generalversammlung vom 30. Mai 2002, die arbeit mit dem Frauenplatz ergriffen – den Expo- Präsidialaufgaben auf die drei Frauen der Ge- Besucher/innen sollte auch eine ungewöhnliche, schäftsleitung zu verteilen, also auf Nuria Aellig, gesellschaftspolitisch interessante Begegnung mit Ursula Lipecki und Margrit Schöbi. Weil Catina Biel ermöglicht werden. Doch auch viele Biele- Hieber das Projekt Der andere Blick von Anfang an rinnen und Bieler nutzten die Gelegenheit, mehr betreut hatte, führte sie die Stadtrundgänge zur über Pionierinnen wie Marie-Louise Bloesch oder Frauengeschichte im Rahmen der Frauenstelle Marie Goegg-Pouchoulin zu erfahren. Der Stadt- weiter. Ab Sommer 2002 lag die Koordination des rundgang war so erfolgreich, dass er auch nach der Projekts bei Rita Seiler, der neuen Sekretärin des Expo 02 weitergeführt werden konnte. Arbeitskreises.

Veränderungen beim Frauenplatz Biel Der Zyklus gegen die Gewalt

Auch nach den Jahren des Aufbruchs spielte der Im Zusammenhang mit der neuen ökume- Frauenplatz Biel im lokalpolitischen Leben eine nischen Dekade organisierte Catina Hieber mit wichtige Rolle. Inzwischen zählten sich dreissig Regula Strobel von der römisch-katholischen verschiedene Frauengruppen zum Netzwerk, und Frauenstelle zwischen April und September 2002 auch die Zahl der Einzelmitglieder war leicht auf einen vielfältigen Veranstaltungszyklus. In einem 123 angewachsen. Mit einer Broschüre konnte die ersten Teil gaben zwei Kurse mit Regula Strobel Organisation im März 2001 auf die Entwicklung Gelegenheit zu kritischer Auseinanderersetzung aufmerksam machen, die sie in den fünf Jahren seit mit christlichen Vorstellungen. Im ersten Kurs der Vereinsgründung im November 1995 gemacht konnten Begriffe wie «heilbringende Gewalt» hatte. Im Vergleich zu den Anfängen hatte sich die mit Vorgängen in der aktuellen Politik verglichen Zusammenarbeit der beteiligten Organisationen werden, während der zweite Kurs von der Nor- intensiviert – ausser dem 8. März und dem 14. Juni malität des Reiches Gottes handelte. Regula Stro- wurden weitere Anlässe gemeinsam durchgeführt. bel betonte dabei, dass die Menschen im ersten Die vorerst provisorisch beschlossene Einsetzung Schöpfungsbericht als Bild Gottes in der Welt einer Geschäftsleitung hatte sich bewährt, wurde dargestellt wurden – erst die christliche Traditi- also fest verankert. Ausserdem wurde die bisher on habe ein vorwiegend negatives Menschenbild parallel zum Frauenplatz erscheinende Agenda geprägt. Der folgende, von Catina Hieber or- KulturElle zu Beginn des Jahres 2002 voll in die ganisierte Anlass befasste sich mit den Wurzeln Organisation integriert, und die Geschäftsleitung menschlicher Destruktivität. Dr. Carola Meier- übernahm den grössten Teil der redaktionellen Seethaler erklärte eine gescheiterte Sinnfindung Arbeit. Auf nationaler Ebene engagierte sich der als wesentliche Ursache menschlicher Aggression. Frauenplatz für die Fristenregelung, die am 2. Juni Die Referentin warnte aber auch vor bestimmten 2002 von Volk und Ständen angenommen wur- Mustern polaren Denkens. Auch das Symbol des de. Mit seinem Beitrag zu einer frauengerechten Drachentöters, also des guten Kämpfers gegen Stadtplanung leistete der Frauenplatz auch in Biel das Böse, könne der Gewalt Vorschub leisten. wichtige Arbeit – an mehreren Orten in der Stadt Weitere Anlässe des Zyklus widmeten sich so un- konnte die Sicherheit mit baulichen Massnahmen terschiedlichen Themen wie der sexuellen Ausbeu- verbessert werden. tung von Mädchen durch Frauen, den Chancen für

164 K apitel 8 Vom Rand in die Mitte – ohne eigene Entwür fe aufzugeben (1997–2005) Friedensarbeit in Zeiten entwurzelter Olivenbäume

Mitte der neunziger Jahre schien ein Nahost- den Wiederaufbau Afghanistans nach dem Sturz frieden in Griffnähe. Für ihre Bereitschaft, sich auf der Taliban und der Hoffnung auf eine Friedenslö- den Friedensprozess einzulassen, erhielten Yitzhak sung in Sri Lanka. Zu einem Höhepunkt wurde der Rabin, Shimon Peres und Yasser Arafat den Frie- Anlass vom 14. September, als Dorothee Sölle und densnobelpreis. Zwar waren die dornenvollsten Fulbert Steffensky ihre Gedanken zur Überwin- Themen wie der endgültige Status der Jerusalemer dung von Gewalt äusserten. Der Titel des Anlasses Altstadt noch nicht geklärt, aber der Rückzug Is- lautete Gerechtigkeit und Frieden – die Zwillingsna- raels aus dem grössten Teil des Westjordanlandes men Gottes in unserer Welt… war beschlossene Sache. Doch es sollte ganz anders Nur etwa ein halbes Jahr später, am 27. April kommen. Am 4. November 1995 wurde Minister- 2003, starb Dorothee Sölle in Bad Boll, Deutsch- präsident Rabin von einem rechtsextremen jü- land. Auf den 27. April 2004 organisierte die Frau- dischen Fanatiker ermordet, und in den folgenden enstelle des Arbeitskreises eine Gedenkfeier für Jahren geriet der Friedensprozess immer mehr die grosse Theologin, die es so vielen Christinnen ins Stocken. Das Scheitern der Verhandlungen und Christen ermöglicht hatte, den Namen Gottes zwischen dem neuen israelischen Regierungschef als Befreiung zu erfahren. Dabei wurde an zentrale Ehud Barak und Yasser Arafat wegen Differenzen Anliegen der Verstorbenen erinnert: «Wählt das in Bezug auf Jerusalem und die Flüchtlingsfrage Leben! Dieser biblische Imperativ steht als He- bedeutete einen Wendepunkt. Schon zwei Monate rausforderung hinter jedem ihrer theologischen später löste der Besuch des israelischen Oppositi- Gedanken und hinter jeder ihrer politischen Äus- onsführers Ariel Sharon auf dem Tempelberg die serungen. Dorothee Sölle hat entschieden das «zweite Intifada» aus: Selbstmordattentate auf pa- Leben gewählt. Ihr Leiden an Gewalt und Unge- lästinensischer, brutale Besatzungspolitik und ge- recht igkeit, ihr Wu nsch nach Frieden u nd Gerech- zielte Tötungen auf israelischer Seite stärkten die tigkeit und ihr Glaube an die Macht des Guten, das Extremisten auf beiden Seiten, und angesichts der in allen von uns steckt, hat sie leidenschaftlich und Gewaltspirale schien sich schon Totenstarre auf den zornig kämpfen lassen. Das war für sie Glauben.» Friedensprozess zu legen. Die Besatzungspolitik reduzierte die Begegnungsmöglichkeiten zwischen beiden Völkern auf ein Mindestmass, und unter den Mitgliedern der Friedensbewegung auf beiden Sei- ten machte sich Resig nat ion breit. I n dieser Sit uat i- on liessen zwei Frauenstimmen aufhorchen: «Wir weigern uns, Feindinnen zu sein,» verkündeten die Israelin Gila Svirsky und die Palästinenserin Sumaya Farhat Naser zu Beginn ihrer Erklärung, und sie fügten hinzu: «Hinge es von uns ab, hätten wir schon lange eine Friedensvereinbarung, die die schwierigen Probleme zwischen unseren Staaten regelte.» Diese Erklärung widerspiegelte den langsamen und schwierigen, aber nachhaltigen Annäherungsprozess zwischen Frauen aus beiden Völkern, der 1988 begonnen hatte und an dem Su- maya Farhat Naser auf palästinensischer Seite seit 1997 an führender Stelle beteiligt war. Für ihr be- harrliches Eintreten für Menschlichkeit auf beiden Seiten wurde Farhat Naser 1995 mit dem Bruno- Dorothee Sölle (1926 – 2003) hatte die Tätigkeit des Kreisky-Preis für Menschenrechte, 1997 mit dem Arbeitskreises schon seit dem Ende der Sechzigerjahre Jerusalemer Mount Zion Award und 2000 mit dem inspiriert. Augsburger Preis zum hohen Friedensfest geehrt.

165 K apitel 8 Vom Rand in die Mitte – ohne eigene Entwür fe aufzugeben (1997–2005) trug, dass ein Viertel der Kinder unterernährt war, dass die israelische Armee seit Beginn der Intifa- da zehntausende von Olivenbäumen ausgerissen hatte – das alles liess das Image Israels auch in der A n Ver a n s t a lt u n g e n de s A rb e it s k r e i s e s h at t e Su - Schweiz deutlich sinken. Aus der Überlegung he- maya Farhat Naser bereits 1996 und 1998 über ihre raus, dass eine Linderung der materiellen Not in Friedensarbeit gesprochen. Im Rahmen des Zyklus den besetzten Gebieten ein kleiner Schritt in Rich- zur Vision Gewalt überwinden lud Catina Hieber die tung Frieden bedeute, beteiligten sich verschie- Friedensaktivistin und Dozentin für Biologie und dene kirchliche Organisationen im November Ökologie zu einer Lesung ein. Farhat Naser war 2002 am Verkauf von palästinensischen Agrarpro- im deutschen Sprachraum auch als Schriftstellerin dukten. Innert wenigen Wochen wurden schweiz- bekannt. Am 27. November 2002 las die Autorin weit 30 000 Flaschen Olivenöl und 8000 Säcklein im Farelsaal aus ihrem neuen Werk Verwurzelt im Za’tar (Gewürzmischung) verkauft. In Biel wurde Land der Olivenbäume, das eindrücklich aufzeigte, der Verkauf von der Frauenstelle des Arbeitskreises welche Gratwanderung Friedensarbeit in einem in Zusammenarbeit mit den Frauen für den Frieden mehrfach traumatisierten Umfeld bedeutete. Doch durchgeführt. Auch in den folgenden Jahren be- trotz allen Schwierigkeiten und eigenen Verlet- teiligte sich der Arbeitskreis am Olivenöl-Verkauf, zungen betonte Farhat Naser: «Kein Schritt in der jeweils im November stattfand. Richtung Frieden ist umsonst, jeder noch so kleine Schritt ist wichtig. […] Der Weg zum Frieden ist ein Flickenteppich, ein Netzwerk an Beziehungen. Nicht gleichgültig bleiben angesichts Die Fäden bilden einen Stoff, der schützt und dem eines angekündigten Krieges Glauben Ausdruck gibt, dass wir im Frieden im sel- ben Land leben können.» Dass am Golf ein neuer Krieg ausbrechen werde, Die Besatzungspolitik der israelischen Regie- wurde schon im Herbst 2002 immer wahrschein- rung unter Ariel Sharon wurde auch in der brei- licher. Nach einer Umfrage des Time Magazine ten schweizerischen Öffentlichkeit mit immer glaubten im Oktober drei Viertel der US-Bevölke- grösserem Unbehagen wahrgenommen. Dass die rung an eine enge Verbindung zwischen Saddam Behinderung der Durchreise an den Checkpoints Hussein und der Terrororganisation Al-Khaida, zum Tod von Kranken oder Neugeborenen bei- und 71 Prozent waren gar der Ansicht, der irakische Führer sei höchstpersönlich in die Attentate des 11. September verwickelt. Damit erschien der Irak Auch in Zeiten höchster Polarisierung für den Dialog als logisches Ziel im Rahmen des von Präsident engagiert: Sumaya Farhat-Naser. Bush erklärten Krieges «gegen den Terrorismus». In ganz Europa mobilisierte die Kriegsgefahr vor allem Jugendliche, die gegen Bushs Kriegskoaliti- on auf die Strasse gingen. Als der neue Golfkrieg am 20. März 2003 aus- brach, organisierten Gymnasiastinnen und Gym- nasiasten eine Kundgebung, an der sich zwischen 300 und 400 Personen beteiligten. Auch den Ar- beitskreis liess dieser Krieg nicht gleichgültig. Gemeinsam mit den Frauen für den Frieden orga- nisierte er jeden ersten Montag des Monats eine Mahnwache auf dem Zentralplatz.

166 K apitel 8 Vom Rand in die Mitte – ohne eigene Entwür fe aufzugeben (1997–2005) die mir im Rückblick auf unsere Reise zum Tarot- garten von Niki de Saint Phalle einfallen. Moti- viert zum Antritt dieser Reise hat mich vor allem die Möglichkeit, einmal mit einer Gruppe von Veränderungen in der Kommission Frauen eine kurze spirituelle und kulturelle Aus- zeit zu erleben. Also nicht nur eine Begegnung mit Auf Ende des Jahres 2003 kam es innerhalb der dem Werk dieser faszinierenden Künstlerin, son- Kommission des Arbeitskreises zu markanten Ver- dern auch die Begegnung mit reifen und offenen änderungen: Nach über 40 (!) Jahren Mitarbeit zog Frauen, die ihr Leben sehr eigenständig gestalten. sich A ndré Meier zurück. Mit ihm verlor die Kom- […] Meine Erwartungen wurden noch übertrof- mission das einzige Mitglied, das die Entwicklung fen, da wir zusätzlich die Natur in vollen Zügen des Arbeitskreises seit der Schaffung des Vollamtes genossen: morgendliches Schwimmen im Meer, im Jahr 1963 direkt miterlebt hatte. Auch für Do- abendliche Spaziergänge, Picknicks auf der Ter- ris Amsler-Thalmann ging ein langjähriges En- rasse. Kurz, ein sehr gelungener Ausflug mit viel- gagement zu Ende – nach sechzehn Jahren in der seitigem Angebot und genügend Zeit fürs Verwei- Kommission, davon zehn als Präsidentin, wandte len, Tanzen, Diskutieren und Ausruhen. Absolut sie sich anderen Herausforderungen zu. Das Prä- lohnend!» sidium der Kommission wurde von Ursula Rätz Die guten Erfahrungen mit dieser Reise moti- übernommen. vierten Catina Hieber, auch im folgenden Jahr mit einer Reisegruppe von zwölf Frauen in die Toskana zu fahren. Auch die Auffahrtstage 2004 standen Pfingsttage im Tarotgarten also ganz im Zeichen der Auseinandersetzung mit von Niki de Saint Phalle der Spiritualität von Niki de Saint Phalle und ih- rem faszinierenden Tarotgarten. 2003 führte Catina Hieber zum ersten Mal eine mehrtägige Arbeitskreis-Reise durch. Über Pfingsten reisten 16 Frauen in die Toskana, um Im Gespräch mit Ivone Gebara den Tarotgarten von Niki de Saint Phalle zu be- und Elisabeth Schüssler-Fiorenza suchen, ein Gesamtkunstwerk, an dem die am 21. Mai 2002 verstorbene Künstlerin mehr als 20 Jahre Im Frühling 2003 beteiligte sich Catina Hieber gearbeitet hatte. Ziel der Reise war, das christliche an der Organisation von zwei Anlässen, die Regula Fest des Heiligen Geistes mit der Suche nach Spu- Strobel von der katholischen Frauenstelle organi- ren weiblicher Spiritualität zu verbinden – in jeder sierte. In einem festlich-kulturellen Rahmen sollte Phase ihres künstlerischen Lebens hatte sich Niki die Begegnung mit zwei wichtigen feministischen de Saint Phalle von Fragen des Glaubens, der Reli- Theologinnen ermöglicht werden. Der erste An- gion, des Frauseins in unserer Gesellschaft leiten lass fand am 2. April im Farelsaal statt. Die brasili- lassen. anische Theologin Ivone Gebara erklärte, wie die Der mit Unterstützung ihres Mannes Jean lateinamerikanischen Frauen im sozialen, ökono- Tinguely entstandene Garten sollte ein schöner mischen und kirchlichen Bereich für nachhaltige Ort werden, ein inspirierender Ort, der zu Aus- Entwicklung sorgten. Dabei betonte sie aber: «Die einandersetzungen anregt und gleichzeitig neue Männer können die Verantwortung nicht abschie- Möglichkeiten, Welt zu gestalten, andeutet. Die ben und sich verabschieden. Eine wirklich nach- Gruppe besuchte den Garten mehrere Male, und haltige Entwicklung gibt es nur, wenn beide Ge- sie setzte sich intensiv mit der Künstlerin, ihrem schlechter ihre Verantwortung übernehmen und Werk, ihrem Frauenbild und ihrer Spiritualität gemeinsam wirken.» auseinander. Die Pfingsttage in der Toscana waren Genau einen Monat später gab die führende aber auch eine gute Zeit, um sich über den eigenen feministische Theoretikerin Elisabeth Schüssler- Standort Gedanken zu machen. Fiorenza im Kirchgemeindehaus Madretsch einen Eine Reiseteilnehmerin schrieb: «Frauen- Weiterbildungskurs für Theologinnen und Theo- kraftorte – Eigenwilligkeit – Ringen um weibliche logen. Im folgenden Feierabendgespräch mit Doris Spiritualität: das sind einige der Schlüsselworte, Strahm und Regula Strobel äusserte sie sich zu den

167 K apitel 8 Vom Rand in die Mitte – ohne eigene Entwür fe aufzugeben (1997–2005) Hungerbühler mit Barbara Schwickert. Zum Ab- schluss dieser Reihe trafen sich am 21. Juni 2004 viele Frauen zur Sonnenwendfeier, die von Catina Hieber und Christine Vollmer Al-Khalil geleitet Strukturen der Wirklichkeit: «‹Realität› ist nicht wurde. einfach gegeben, sondern wird durch Informa- tionen, Bilder und Texte hergestellt, die uns eine bestimmte Sicht auf Ereignisse und Geschichte Multimondo als Treffpunkt vermitteln. Wir werden hinein genommen in diese in einer multikulturellen Stadt Perspektive, ja übernehmen sie manchmal unbe- wusst. Die Kriegsrhetorik bezüglich dem Irak oder Das von Anfang an gut genutzte Begegnungs- die einheitliche Darstellung der WEF-Gegner in zentrum an der Alex-Moser-Strasse entfaltete den Medien sind nur zwei der aktuellen Beispiele, auch in den folgenden Jahren ein reges Leben, wie diese Wirklichkeitskonstruktion funktio- nicht zuletzt auch dank der Unterstützung des niert.» Im weiteren Verlauf des Gesprächs forderte K a ntons Ber n u nd der Eidgenössischen Auslä nder- Schüssler-Fiorenza eine radikale Demokratisie- kommission EKA. Die preiswerten Sprach- und rung der Gesellschaft – das alte Ständedenken Informatikkurse wurden weitergeführt, ebenso spiele noch immer in die gegenwärtigen demokra- der Ausleihdienst der polyglotten Bibliothek, der tischen Strukturen hinein. Auch in Bezug auf die Kinderhütedienst und die Tanzabende. Als stän- Theologie plädierte sie für kritisches Hinterfra- dige Angebote kamen ein Nähnachmittag und ein gen: Theologie müsse eine permanente Hinterfra- Coiffure-Angebot für Asylsuchende hinzu. Neben gung der Rede von Gott sein. diesen A ngeboten trugen kulinarische Abende mit Köstlichkeiten aus verschiedenen Ländern, Film- abende und andere kulturelle Anlässe dazu bei, Im Gespräch: Wege zu Quellen dass das Begegnungszentrum als interkultureller und Lebensperspektiven Treffpunkt immer wichtiger wurde. Multimondo wirkte aber auch nach aussen, indem viele seiner Ab November 2003 führte Catina Hieber in Mitglieder bei Anlässen wie der Kinderfasnacht Zusammenarbeit mit Elsbeth Caspar und Christi- oder dem internationalen Frauentag mitmachten. ne Vollmer Al-Khalil einen spannenden Zyklus zu Liliane Lanève-Gujer beteiligte sich weiterhin verschiedenen Frauenbiografien durch: «In dieser engagiert an der Leitung des Zentrums, zeitweise lockeren Reihe geht es um Begegnungen mit zwei als Präsidentin, zeitweise als Mitglied des zehn- Frauen aus verschiedenen Kontexten», verriet die köpfigen Vorstands. Der Vereinsleitung war es ein Einladung, um genauere Angaben folgen zu las- A nliegen, die bestehenden Kurse qualitativ zu ver- sen: «In gemütlicher Ambiance, umrahmt von bessern und das Bildungsangebot zu erweitern. In Live-Musik, sprechen sie über ihre Hoffnungen, diesem Zusammenhang konnte eine Zusammen- Wendepunkte, Lebenskonzepte und Kraftquellen. arbeit mit der association cours de français und Spannende Abende für Frauen rund um Sinnfin- den Deutschkursen des HEKS begonnen werden. dung und Lebensgestaltung – mit Anregungen, Dank einem finanziellen Beitrag der katholischen auch nach den eigenen Quellen zu fragen.» Die Kirche konnten 7 Computer angeschafft werden, Organisatorinnen liessen stets eine Theologin was den Ausbau der Informatikkurse erlaubte. und eine Nichttheologin ins Gespräch kommen, Und schliesslich konnten Kurse zur politischen wobei jeweils eine katholische auf eine reformierte Bildung, zur Geschichte der Schweiz, zu Yoga und Theologin folgte. Die biographisch-kulturellen Theater ins A ngebot aufgenommen werden. Frauenabende im Restaurant Kreuz in Nidau fan- Gerade wegen des Ausbaus vieler Aktivitäten den guten Anklang und wurden im Jahr 2004 fort- stellte sich die Frage der Finanzierung immer gesetzt. Ins Gespräch kamen dabei: Dr. Reinhild dringlicher. Der Anteil an Freiwilligenarbeit war Traitler mit Andrea Frommherz, Silvia Bernet enorm, liess sich aber zeitlich nicht unbegrenzt Strahm mit Christine Lenz, Angela Römer mit Pat in dieser Form weiterführen. Um die Freiwilli- Noser, Regula Grünenfelder mit Steffi Schmid, genarbeit wenigstens entsprechend zu würdigen, Julia Lädrach mit Kathrin Pfaehler sowie Monika erarbeitete die Vereinsleitung mit Elsbeth Caspar

168 K apitel 8 Vom Rand in die Mitte – ohne eigene Entwür fe aufzugeben (1997–2005) Viel wirksamer als Don Quijote: Multimondo als Ritter der Kommunikation

von der Stelle für Freiwilligenarbeit ein Konzept, Zu den am meisten gefragten Angeboten von das die Qualität der Arbeit mit Vereinbarungen Multimondo gehörten die Informatikkurse. Für ein sicherte und die geleistete Arbeit mit Zertifikaten Taschengeld konnten Jugendliche mit oder ohne bestätigte. Migrationshintergrund die Grundlagen der Infor- Im Verlaufe des Jahres 2003 konnte ein Teil der matik erlernen. Gerade für junge Ausländerinnen Finanzierungsprobleme gelöst werden. Die Stadt und Ausländer waren die sonst angebotenen Infor- Biel gewährte mit einem Beitrag von 60 000 Fran- matikkurse kaum erschwinglich – nicht nur zwi- ken die lang erhoffte, rückwirkende Startunter- schen Nord und Süd, sondern auch innerhalb der stützung. In der Begründung wurde Multimondo als Informationsgesellschaften war der Zugang zu Pilotprojekt bezeichnet, welches einen wichtigen weltweiten Wissensquellen durch eine wachsende Beitrag zur Lebensqualität zahlreicher Bewohne- Ungleichheit erschwert. Das Bundesamt für Kom- rinnen und Bewohner leiste. Ausserdem wurde dem munikation (BAKOM) war sich dieser Problema- Kurs- und Begegnungsangebot multiplikatorische tik bewusst und zeichnete jedes Jahr Projekte aus, Wirkung zugebilligt – was die Benützerinnen und die zu mehr Gerechtigkeit im Zugang zu Kom- Benützer des Zentrums erlernten, führe zu realer munikationsmitteln beitrugen. Im Jahr 2003 ging Kompetenzerweiterung und einem erleichterten der BAKOM-Preis Ritter der Kommunikation an Integrationsprozess. Schliesslich würdigte die Multimondo – die wertvolle Integrationsarbeit des Stadt die konsequent zweisprachig geführte In- Zentrums im Informatikbereich wurde damit auf tegrationsarbeit und den Einbezug aller Bevölke- nationaler Ebene anerkannt. rungsschichten – der Stadt war bewusst, dass der Bei der Übergabe des Preises im Rahmen des Zugang zu Bildung gerade für Migrantinnen und Weltgipfels für Kommunikation in Genf fand Migranten nicht immer offen war. Bundesrat Moritz Leuenberger die passenden Worte: «Mit ihren Projekten machen sie Politik. Was Sie tun, wird der Gesellschaft immer dienen, und – egal in welcher Partei Sie sind – niemand

Das Multimondo-Team nach der Übergabe des Preises «Ritter der Kommunikation» durch Bundesrat Moritz Leuenberger.

169 K apitel 8 Vom Rand in die Mitte – ohne eigene Entwür fe aufzugeben (1997–2005) Bacon – auch er ist einst zum Ritter geschlagen worden – konterte die Einwände mit drei Worten: ‹W issen ist M acht .› Menschen u nd G e sel lschaf ten, die nicht von anderen fremdbestimmt werden wol- wird Sie je abwählen wollen. Ihre Taten adeln Sie, len, müssen die Fähigkeit haben, sich das Wissen und darum gehören Sie auch in den Ritterstand. selbständig zu beschaffen, um es für ihre Entwick- Im Gegensatz zu den Rittern des Mittelalters sind lung zu nutzen.» Sie allerdings moderne Ritter der Aufklärung: Sie Bundesrat Leuenberger schloss seine Rede mit verstecken sich nicht hinter Panzerungen und Rü- dem Hinweis, dass der Zugang zu technischen stungen, im Gegenteil: Sie gewähren allen, die das Kommunikationsmitteln allein nicht genüge – möchten, freigiebig einen Einblick in Ihr Wissen entscheidend und unersetzbar seien der grund- und helfen damit, den Graben zwischen Wissenden sätzliche Wille und die Fähigkeit, miteinander und Unwissenden zu verkleinern. […] Damit tra- zu kommunizieren, also auf einander zuzugehen, gen Sie dazu bei, das wichtigste Ziel des UNO- zuzuhören, Verständnis füreinander aufzubringen Gipfels zu erreichen, nämlich den digitalen Gra- und sich gegenseit ig mit Respekt zu begegnen. Da- ben zu verkleinern. Sie tun das in der Schweiz, wo mit beschrieb der Redner haargenau Ziel und Pro- es den Internet-Graben ja ebenfalls gibt. Er trennt fil von Multimondo… nicht nur den Weltnorden vom Süden, er verläuft auch mitten durch unsere Dörfer und Städte: Vier von zehn Menschen in diesem Land haben keine Christentum und Judentum im Gespräch Ahnung, wie mit einem Computer umgegangen werden muss. Nun könnte man sagen: es müssen Parallel zu den Begegnungen am runden Tisch ja auch nicht alle wissen, wie mit einem Bügeleisen der Religionen führte die Gruppe Christentum umgegangen werden muss. Oder mit einem Ra- und Judentum im Gespräch ihre Arbeit weiter. Im sierapparat. Ähnliche Einwände wurden auch im Vordergrund standen geschichtliche Themen. Im Zeitalter der Aufklärung vorgebracht: Warum, so Januar 2003 sprach Dr. Erik Petry über die Ge- wurde von den Hütern des Wissens gefragt, sollten schichte des Zionismus, um jenseits der alltags- denn alle anderen auch lesen und schreiben kön- politischen Schlagworte das breite Spektrum zio- nen? Es reicht doch, wenn wir, ein paar Auserwähl- nistischer Ideen und Ausprägungen vorzustellen. te, es können. Der Aufklärungsphilosoph Francis Am 27. März 2003 sprach der Historiker Dr. Ralph Weingarten über das wohl am weitesten verbreite- te Vorurteil gegenüber dem Judentum – mit Fakten Die Gruppe Judentum und Christentum im Gespräch gab aus der schweizerischen Wirtschafts- und Sozial- immer wieder Gelegenheit, Vorurteile abzubauen. Zu geschichte zeigte er auf, dass das «besondere Flair den eindrücklichsten Anlässen in diesem Zusammen- der Juden für Geld» ein Mythos war – das Verhält- hang gehörte Léon Reichs authentischer Bericht über nis zwischen Christen und Juden in der Schweiz das Konzentrationslager Auschwitz. sei vielmehr vom starken Interesse der Christen an materiellen Vorteilen und Gewinn bestimmt wor- den. Zu einem besonders eindrücklichen Anlass wurde der Bericht des Auschwitz-Überlebenden Léon Reich in der bis auf den letzten Platz gefüllten Synagoge – eine nachhaltige Warnung vor Antise- mitismus und Rassismus.

Grenzen überwinden – die interreligiöse Woche im Plänke-Schulhaus

«In einem dunklen Schulzimmer leuchtet ein Tannenbaum, und jemand erzählt vom Geheimnis der Weihnacht. Weiter unten riecht es nach Brot

170 K apitel 8 Vom Rand in die Mitte – ohne eigene Entwür fe aufzugeben (1997–2005) Kulturparcours – ein gelungenes Ge- samterlebnis zur Integration in Biel

Zu Beginn des Jahres 2005 wurde in Biel ein – eine Gruppe hat soeben ein Nahrungsmittel ge- umfassendes Integrationsprojekt durchgeführt, backen, das für das Christentum sehr wichtig ist. das vom Museum Schwab in Zusammenarbeit mit Und in der Bibliothek gehen die Kinder von einem Liliane Lanève-Gujer, Multimondo und Vereini- ch rist lichen Sy mbol zu m a nderen – ein Brot laib hat gungen verschiedener Nationalitäten der Region sich zu einer Flasche Wein gesellt, auf einem Tisch erarbeitet wurde. Dem Museum Schwab war es prangte eine Bibel, ein Hahn und ein Hase bewun- ein Anliegen, das im Rahmen der Ausstellung Ge- derten ein Kreuz…» Dieser kleine Ausschnitt aus schichtsbilder vorgestellte Thema Burger und Frem- der Lokalpresse dokumentierte, wie die Schüle- de mit den Integrationsanliegen der Gegenwart zu rinnen und Schüler der Primarschule Plänke im verbinden und einen Beitrag an eine bessere Inte- Rahmen der Projektwoche Kulturen eine von fünf gration zu leisten. In einer ersten Phase wurden Weltreligionen (wieder) entdecken konnten. Die Bielerinnen und Bieler aufgefordert, im Hinblick Woche war durch die Zusammenarbeit mehrerer auf eine Ausstellung einen Ort in der Stadt zu be- Institutionen möglich geworden. Die Fachstelle schreiben, der für sie von Bedeutung war. Die ge- Gesellschaft und Entwicklung, der runde Tisch der sammelten Erinnerungen wurden am 20. Februar Religionen und das Kollegium des Plänkeschul- im Rahmen eines Anlasses präsentiert, der für die hauses hatten eine intensive Vorarbeit geleistet. Schweiz neu war. Im Rahmen eines Kulturparcours Als Liliane Lanève-Gujer mit der Idee einer kam es auf den verschiedensten Ebenen zu Mög- multikulturellen Projektwoche an die Schulleitung lichkeiten interkultureller Begegnung. Zu Beginn herangetreten war, war die Reaktion positiv. Hen- des Parcours, als das Museum Schwab die grosse riette Hollenweger, die deutschsprachige Schullei- Zahl Interessierter kaum fassen konnte, hielt Stadt- terin, erklärte: «Es ist sehr wichtig, dass die Kul- präsident Hans Stöckli in seiner Eröffnungsrede turen sich gegenseitig kennen lernen. […] Wir sind fest, dass Biel den Zugewanderten viel zu verdan- jeden Tag mit sehr unterschiedlichen Kulturen ken habe – die Verleihung des Ehrenbürgerrechts konfrontiert. Mit besseren Kenntnissen überei- an den Unternehmer Nicolas Hayek sei dafür nander können wir besser aufeinander eingehen, nur ein brandaktuelles Beispiel. Stöckli verwies u nd die K i nder haben die G elegen heit, ga nz beson- aber auch auf problematische Aspekte. Viele jun- dere Eindrücke zu gewinnen.» Um kein Kind zum ge Migrantinnen und Migranten ohne Kenntnis Wochenthema zu zwingen, stand eine Lehrkraft der Landessprachen seien in überproportionalem zur Verfügung, um andere Themen anzubieten – Ausmass von der Sozialhilfe abhängig. Diese Pro- mangels Nachfrage konnte sie aber administrative blematik wurde am frühen Nachmittag an einem Arbeiten erledigen… Ein grosses Fest der Kulturen Podiumsgespräch aufgegriffen, an dem Bieler Po- schloss die erfolgreiche Kulturwoche ab. Die mei- litiker/innen aus allen politischen Lagern teilnah- sten Schülerinnen und Schüler hatten bleibende men. Während bürgerliche Politiker wie Martin Erinnerungen gewonnen. Aber auch ihre Eltern Rüfenacht eher an die Selbstverantwortung der und Angehörigen waren einbezogen worden. An Zugewanderten appellierten, schlug Stadträtin einem öffentlichen interreligiösen Podium stellten Fatima Simon obligatorische Integrationskurse in Vertreter/innen der fünf beteiligten Religionen der Sprache der verschiedenen Nationalitäten vor. kurz die Kernaussagen ihres Glaubens vor und er- Gemeinderat Pierre-Yves Moeschler signalisierte, klärten, welche Bedeutung sie dem interreligiösen dass er beide Standpunkte verstand: «Die Zuge- Dialog gaben. Anschliessend begaben sie sich in wanderten müssen Anstrengungen machen, um je einen von fünf grossen Kreisen, um das Publi- sich besser zurechtzufinden, aber wir müssen sie kum zum Zug kommen zu lassen. Je nach Interesse dabei auch unterstützen.» Im Verlauf der Diskus- konnte man sich zu den Expertinnen und Experten sion wurde auch erwähnt, dass eine bessere Inte- in den jeweiligen K reisen begeben, um sie zu befra- gration nicht mit Assimilation verwechselt werden gen – das A ngebot wurde intensiv genutzt… dürfe. Der Kulturparcours selbst war während dieses Podiumsgesprächs bereits in vollem Gange. Hun-

171 K apitel 8 Vom Rand in die Mitte – ohne eigene Entwür fe aufzugeben (1997–2005) attraktive Zentren zu gestalten, wo auf städtischer Ebene neue Formen des Glaubens erfahren werden konnten. Auch die evangelisch-reformierte Gesamt- derte von Besuchern waren unterwegs von einer kirchgemeinde Biel interessierte sich für ein City- Station zur anderen – zu Fuss oder mit dem Kul- Kirchen-Projekt. Ab 2002 beteiligten sich Liliane turbus der Verkehrsbetriebe Biel. In der Home- Lanève-Gujer und Catina Hieber an einer zwei- gallery entstanden im Dialog mit den Künstlern sprachigen und ökumenischen Gruppe, die eine Coco Zingila und Xhevat Ganaj grossformatiges erste Projektskizze für eine City-Kirche in Biel Gemälde, und an den übrigen Stationen fand ein ausarbeitete. Als Standort kam für die Arbeits- abwechslungsreiches Kulturprogramm statt – zum gruppe am ehesten das zentral gelegene Farelhaus Beispiel die Tänze kurdischer und albanischer Ju- in Frage. Im Verlauf des Jahres 2003 konkretisier- gendlicher im Farelsaal und die Erzählungen jun- te die Gruppe ihre Skizze mit dem Vorschlag, im ger Bosnier/innen im bosnischen Kulturverein Farelhaus ein niederschwelliges Begegnungsan- Bosnjak. Oder der Kurs in arabischer Kalligrafie gebot einzurichten. Das «Bistro NN» in den Räu- im islamischen Zentrum Sallah und das gemein- men des ehemaligen Café Tschüss sollte zu einem same Erschaffen eines Mandalas im Tamilischen Ort der Begegnung, Besinnung, Beratung und Hindu-Tempel in Grenchen. Als grössten Erfolg Bildung werden. Mit diesem Angebot sollten vor bezeichneten Madeleine Betschart vom Museum allem Menschen angesprochen werden, die kirch- Schwab und Liliane Lanève-Gujer von Multimondo lich nicht mehr oder nur noch wenig eingebunden die Tatsache, dass viele Angehörige der einzelnen waren. Voraussetzung für die Umsetzung des Pro- Nationalitäten grosses Interesse gezeigt hatten, jekts war aber die Renovation des Farelhauses, die möglichst viele Stationen zu besuchen. noch nicht unmittelbar bevorstand.

Wieder aktuell: Was für eine Kirche braucht die Stadt? Eine «Kirche für die Stadt» Obwohl ein geeigneter Ort noch fehlte, orga- Nicht erst zu Beginn des neuen Jahrtausends nisierte der Arbeitskreis in Zusammenarbeit mit befanden sich viele europäische Kirchen in einer der katholischen Bildungsstelle mehrere Anläs- Krise – zahlreiche Kirchenaustritte hatten zur se im Rahmen des City-Kirchen-Projekts. Dazu Folge, dass manche kirchliche Dienste nicht mehr gehörte ein Podiumsgespräch im Stadtratssaal garantiert werden konnten, und auch am Sonntag zur aktuellen Krise der Landeskirchen. Weil die blieben viele Kirchen fast leer. Obwohl die Reli- Mitgliederzahlen der Landeskirchen vor allem giosität nicht so dramatisch abgenommen hatte, in den Städten dramatisch abgenommen hatten, betrachteten immer mehr Menschen Religion als stellte sich ganz konkret die Frage, wo die Kirche Privatsache. In den Zentren der grossen Städte war ihre knapper gewordenen Mittel einsetzen sollte. der Gegensatz zwischen belebten Geschäftshäu- Am 11. März 2004 nahmen drei Kirchenvertre- sern und leeren Kirchen besonders augenfällig – ter und eine Politikerin zu dieser Frage Stellung. und genau an einem solchen Ort entstand Ende der Vor einem interessierten Publikum warnte Gret Siebzigerjahre ein neues Kirchenkonzept. Reve- Haller davor, um jeden Preis mit irgendwelchen rend Donald Reeves entschloss sich, die St. James Events junge Leute anzuziehen. Hansruedi Felix Church in der Londoner City den Randständigen Felix, Initiator der Offenen Kirche Elisabethen in zu öffnen. Damit erfüllte er nicht nur eine soziale Basel, pflichtete ihr bei – die Kirche müsse akzep- Aufgabe, sondern machte auch klar, dass in der tieren, dass sie in der weitgehend diversifizierten «Mitte des Gemeinwesens» nicht das Profitden- Gesellschaft nicht das naheliegendste Angebot ken im Zentrum stehen konnte. Die Idee der City- für die jungen Leute sei. Er plädierte aber für ein Kirche hatte Erfolg, und sie wurde in vielen Städten sehr breites kirchliches Angebot, das ausser einem aufgegriffen – auch in der Schweiz. Zuerst in Basel, traditionellen Gottesdienst auch Meditation und dann auch in anderen grösseren Städten erarbei- Ähnliches umfasse. Pfarrer Claude Ducarroz be- teten die Kirchen Konzepte, um City-Kirchen als tonte die kirchliche Solidarität mit den Armen

172 K apitel 8 Vom Rand in die Mitte – ohne eigene Entwür fe aufzugeben (1997–2005) Abscheu und Widerwillen vorkämen, könnten die Menschen sich wieder erkennen und etwas daraus lernen. Daniel Kallen betonte, dass viele Leute die Bibel als Gottes absolutes Wort betrachteten, und – mit seinem glaubwürdigen Einsatz für die Aus- aus diesem Grund erachtete er frauenfeindliche geschlossenen habe Abbé Pierre sehr viele Men- und rassistische Bibeltexte als gefährlich – zum schen überzeugt. Möglichkeiten zum Sparen sah Beispiel spreche die Bibel klar von Erwählten und Ducarroz in einer noch besseren ökumenischen nicht Erwählten. Auf diese Bemerkung entgegnete Zusammenarbeit. Auch Gret Haller sah in diesem Winzeler, die Geschichte des kleinen Sklavenvolkes Bereich eine sehr wichtige Funktion der Kirchen Israels sei eine Geschichte der Befreiung und damit – sie könnten Möglichkeiten anbieten, die für die ein Lichtblick für unterdrückte Völker. Zahlreiche Politik zu heikel seien. Schliesslich präzisierte Fragen aus dem Publikum zeigten, dass dem Buch Hansruedi Felix Felix seine Sicht von der Kirche der Bücher noch immer viel Interesse entgegenge- als Dienstleistungsunternehmen. Alle Bedürfnisse bracht wurde. seien ernst zu nehmen, auch diejenigen, die das Althergebrachte, Vertraute wünschten. Der evangelische Theologiekurs Biel

Ist die Bibel gefährlich? Die Veranstaltung zu Daniel Kallens Buch mo- tivierte den Arbeitskreis, wieder ein umfassendes Das Jahr 2003 wurde von den Kirchen im Angebot zur evangelischen Theologie zu entwi- deutschsprachigen Raum zum Jahr der Bibel er- ckeln. An der Planung des Kurses beteiligten sich klärt. In diesem Zusammenhang fand das Buch der die Pfarrerin Claudia Kohli, Catina Hieber und Bücher auch in den Medien vermehrte Beachtung. Pfarrer Jean-Eric Bertholet. Der Bieler Theologie- Für ein verstärktes Interesse an der Bibel sorgte kurs übernahm Elemente des dreijährigen Theolo- auch der Pfarrer von Sutz-Lattrigen, Daniel Kallen. giekurses der Erwachsenenbildungsstelle Zürich, Sein Werk …und töte Frauen, Kinder und Säuglinge konzentrierte die Inhalte aber auf zehn Module, unterzog die Grundlage des christlichen Glaubens die im Zeitraum von zwei Jahren angeboten werden einer g nadenlosen K rit ik. Nicht nur das A lte Testa- konnten. Dabei sollten die Themen Altes Testa- ment, auch das Neue Testament war seiner Ansicht ment, Neues Testament, Kirchengeschichte, Re- nach der Religiosität einer globalisierten Welt nicht ligiöse Biografie und Weltweite Kirche, aber auch mehr zumutbar. Selbst auf Jesus, den «griechischen Judentum, Islam, Buddhismus und Hinduismus Mysterienkulten entsprungenen Jüngling», konnte erarbeitet werden. der streitbare Autor anscheinend verzichten. In der Ausschreibung wurde erläutert: «Die In- In der Öffentlichkeit löste Daniel Kallens Werk halte des Kurses beziehen sich aufeinander und ver- viel Beifall oder heftigen Widerspruch aus – Grund binden sich im zweijährigen Kursprozess zu einem genug für den Arbeitskreis, ein Podiumsgespräch Ganzen. Lehre und Vermittlung geschehen mit zur Rolle der Bibel zu organisieren. Vor einem fast heutigen Methoden der Erwachsenenbildung und voll besetzten Farelsaal moderierte Catina Hieber im lebendigen Austausch mit den Erfahrungen der am 27. August 2003 ein Gespräch zwischen Dr. So- Kursteilnehmer/innen. Neben Wissensvermitt- phia Bietenhard, Dr. Peter Winzeler und Daniel lung und persönlichem Weg gibt der Kurs Raum Kallen. Dabei erläuterte der Autor, weshalb er sein zu Begegnung mit anderen Menschen. Er erhebt Werk in derart zornigem Stil geschrieben hatte. keinen Anspruch auf Vollständigkeit, befähigt aber Bei seiner seelsorgerischen Tätigkeit habe er erlebt, zur eigenen theologischen Weiterbildung.» Im Ja- w ie v iele Not leidende i n A ngst vor ei nem eifersüch- nuar 2005 konnte der für mindestens 15 Personen tigen und unterdrückenden Gott lebten. ausgeschriebene Kurs mit über 20 Personen begin- Die feministische Theologin Sophia Bietenhard nen. setzte Kallens Kritik entgegen, dass die Bibel einen Spiegel der Menschheit darstelle; allerdings dürfe dadurch niemals gewalttätiges Handeln gerecht- fertigt werden. Gerade bei Texten, in denen Wut,

173 K apitel 8 Vom Rand in die Mitte – ohne eigene Entwür fe aufzugeben (1997–2005) und Troxler konkrete Beispiele, die dieser «Ideolo- gie des Marktes» widersprachen. Obwohl sowohl Deutschland wie die USA zu den offenen Gesell- schaften zählten, sei das soziale Gefälle in den USA Welche Welt wollen wir? viel grösser als in Deutschland, und in Argentinien habe die Einführung einer neoliberalen Politik Zu Beginn des Jahres 2005 gab das umstrittene zu einer massiven Verarmung des Mittelstands Weltwirtschaftsforum (WEF) in Davos vielen geführt. An konkreten Beispielen zeigte Wyss auf, Menschen Gelegenheit, sich zur Zukunft der Welt dass ungehemmte Liberalisierung sozial unver- Fragen zu stellen. Nach den starken Protestbewe- trägliche Folgen nach sich zog, etwa bei der Pri- gungen der vergangenen Jahre bemühte sich das vatisierung der Wasserversorgung. Stückelbergers WEF, sich als Institution mit sozialem Bewusst- zusammenfassende Bemerkung, dass die Ausge- sein darzustellen. In der Abschlusserklärung wur- staltung der Globalisierung von Land zu Land de betont, dass die Armut auf der Welt das bren- unterschiedlich beurteilt werden müsse, fand all- nendste Problem sei, und dass die Globalisierung gemeine Zustimmung – niemand machte sich für gerecht ausgestaltet werden müsse. Gleichzeitig dogmatische Positionen stark. Schliesslich kam erinnerten die 150 000 Teilnehmer/innen am Stückelberger auf weitere Aspekte der Globalisie- Weltsozialforum in Porto Alegre daran, dass es an rung zu sprechen. Die Frage der Globalisierung der Zeit war, die Globalisierungspolit ik der Gross- dürfe sich nicht nur auf wirtschaftliche Fragen mächte und der internationalen Konzerne grund- beschränken – gefordert sei auch eine Globalisie- sätzlich in Frage zu stellen. rung der Kulturen. Die reformierten Kirchen teilten diesen kri- Am Vormittag des 12. März hatten Interessierte tischen Standpunkt – schon 1997 hatte der refor- Gelegenheit, die Themen des Podiumsgesprächs mierte Weltbund in Accra erklärt, dass die Folgen in verschiedenen Workshops zu vertiefen. Von neoliberaler Globalisierung alarmierend seien. den fünf geplanten Ateliers konnten mangels An- Das reichste Prozent der Erdbevölkerung verfüge meldungen leider nur zwei durchgeführt werden, mitt ler weile über gleich v iel Jahreseinkommen wie nämlich eine Auseinandersetzung mit den Auswir- die ärmsten 57 Prozent, und jeden Tag führe die kungen des internationalen Patentrechts mit Fran- Unterernährung zum Tod von 24 000 Menschen. çois Meienberg (Erklärung von Bern) und dem Im Rahmen des City-Kirchen Angebots orga- Bieler Öko-Projekt Pakriti India. nisierte der Arbeitskreis für Zeitfragen in Zusam- menarbeit mit anderen kirchlichen und entwick- lungspolitischen Organisationen auf den 11. März 2005 ein Podiumsgespräch zur Frage, ob es wirtschaftpolitische Alternativen zur gegen- wärtigen Ausgestaltung der Globalisierung gebe. Mit Johann Schneider-Ammann (FdP-National- rat), Ferdinand Troxler (früherer Redaktor beim Schweizerischen Gewerkschaftsbund), Christoph Stückelberger (Schweizerischer Evangelischer Kirchenbund) und Usula Wyss (SP-Nationalrätin) war das Podium kontrovers besetzt, was den Ver- lauf des Gesprächs aber nur zum Teil prägte. Alle Podiumsteilnehmer und die Podiumsteilnehmerin waren sich einig, dass die krasse soziale Ungleich- heit auf der Welt ein Skandal sei. Erst bei der Frage, wie die Massenarmut überwunden werden könne, schieden sich die Geister. Während Schneider- Ammann behauptete, dass die Ungleichheit in wirtschaftlich offenen, also liberalisierten Gesell- schaften geringer sei, erwähnten Stückelberger

174 9. K apitel 50 Jahr Arbeitskreis für Zeitfrage – das Jubiläum

Vom Hauch der Zeitgeschichte... der Täufer habe die Funktion eines Anzeigers und Aufzeigers gehabt, und der Arbeitskreis wolle ja Ganz seiner Bestimmung gemäss beging der auch in Zukunft auf tiefere Werte hinweisen und Arbeitskreis auch die Feier zu seinem fünfzigjäh- aufzeigen, wo wichtige gesellschaftliche Werte in rigen Bestehen. Die Gelegenheit, Rückschau zu Frage gestellt würden. Für die jüdische Kultusge- halten und die bisherige Tätigkeit zu w ürdigen, er- meinde sprach Klaus Appel, der das langjährige gänzten die beiden Studienleiterinnen mit der Or- gemeinsame Wirken gegen Antijudaismus und ganisation eines Podiumsgesprächs, das Fachleuten Antisemitismus würdigte. Die Vertreter der poli- Gelegenheit bot, brennende Themen der Gegen- tischen Behörden gingen auf die Jahre der grossen wart zu erörtern. Am 24. Juni 2005 füllte sich ein gesellschaftlichen Ziele ein, die der Arbeitskreis in feierlich geschmückter Farelsaal mit zahlreichem, Biel wesentlich mitgeprägt hatte. Stadtpräsident stark gemischtem Publikum. Unter die vielen, die Hans Stöckli würdigte die Pionierarbeit von Ar- das Leben des Arbeitskreises in den vergangenen beitskreis-Mitbegründer Samuel Maurer und er- fünf Jahrzehnten geprägt hatten, mischten sich et- innerte sich, wie manche Abende im Farelsaal sein liche Jugendliche, junge Erwachsene und Kinder. Weltbild mitgeprägt hatten. Regierungsstatthalter In seiner Begrüssung fasste Kommissionspräsi- Philippe Garbani ergänzte mit einem Hinweis auf dent Jon Florin prägnant zusammen, wie der Ar- die Arbeit, die der Arbeitskreis im Hintergrund ge- beitskreis seine Aufgabe, am Puls der Zeit zu sein, leistet hatte und von der unter anderem die Arbeit auf immer neue Weise wahrgenommen hatte. Als des Drop-In profitiert habe. Immer wieder sei der Forum zur Meinungsbildung in den ersten beiden Arbeitskreis durch seinen Mut aufgefallen, Fragen Jahrzehnten, mit engagierten Stellungnahmen in aufzuwerfen und über verschiedene Lager hinweg den Siebziger- und Achtzigerjahren sowie mit ei- Lösungswege zu unterstützen. Hinweise der Hi- ner stark vernetzten Arbeit der kleinen Schritte, storikerin Dr. Margrit Wick-Werder auf die zum nachdem gesamtgesellschaftliche Perspektiven in Jubi l äu m s j a h r vor g e s e he ne n P ubl i k at io ne n u nd e i n den Hintergrund gerückt waren. Florin betonte, spannendes Theater-Intermezzo von Paul Gerber dass der Arbeitskreis inzwischen alle genannten und Marlyse Baeder rundeten die Rückschau ab. Funktionen wahrnehme – Meinungsbildung, die Erarbeitung eines eigenen Standpunktes und das Aufzeigen von Möglichkeiten, etwas von den eige- … zur Frage nach brennenden nen Vorstellungen umzusetzen. Gegenwartsthemen In ihren Grussbotschaften betonten Vertre- ter der evangelisch-reformierten Kirche die Be- Besinnliche Weisen der Musikerinnen Anita deutung des Arbeitskreises für die Zukunft. Der Wysser und Marianne Rutscho leiteten zum Po- Präsident der Gesamtkirchgemeinde Biel, Cédric diumsgespräch über, in dem ausnahmsweise nicht Némitz, wies darauf hin, dass die protestantische eine Zeitfrage, sondern Zeitfragen an und für sich Kirche ohne gegenwartsbezogene Stimme un- erörtert wurden. Wie Moderator Thomas Dähler denkbar sei, und Renate Hofer-Bänninger, Ver- einleitend ankündigte, entwickelten die geladenen treterin der Synode Bern-Jura-Solothurn, meinte Fachleute aus der Frage nach besonders bren- ergänzend, der Arbeitskreis möge auch künftig nenden Gegenwartsthemen einen facettenreichen, seiner Zeit vorauseilen, wo es klug sei. Zwei weitere aussagekräftigen Fächer. Die Historikerin Heidi Beiträge reflektierten die langjährige ökumenische Witzig erklärte, dass der gesellschaftliche Wandel Tradition des Arbeitskreises. Für Elsbeth Caspar für Männer und Frauen eine ganze Reihe neuer von der Bildungsstelle der katholischen Gesamt- Fragen aufwerfe, angefangen beim Generationen- kirchgemeinde verdeutlichte der 24. Juni als Jo- vertrag bis zu den Konsequenzen der Annäherung hannistag die Intention des Festaktes. Johannes von Identifikationsmustern, wie desjenigen der

175 K apitel 9 50 Jahre Arbeitskreis für Zeitfragen – das Jubiläum lung sei weiterhin beachtlich, stellte Waldvogel fest. Ausserdem habe der Arbeitskreis die «grosse Chance der kleinen Kreise». Nirgends sonst sei die engagierte Auseinandersetzung zwischen ver- Superwoman als Antwort auf das altbekannte Kli- schiedenen Standpunkten so unmittelbar erleb- schee des Superman. Der Ökonom Carlo Knöpfel bar wie bei der Bildungsarbeit in überschaubarem bezeichnete den Begriff Unsicherheit als dominie- Rahmen. Strub betonte, die kirchliche Bildungs- rendes Merkmal der gegenwärtigen Entwicklung. arbeit müsse bei der Auswahl der Themen nahe bei Eine von der Globalisierung noch verstärkte Be- der Befindlichkeit der Bevölkerung sein. Witzig schleu nig u ng des w irtschaf t lichen Umbaus bedeu- erinnerte abschliessend an eine weitere Stärke des te mehr Verunsicherung, die inzwischen bis in die Arbeitskreises. Die Frage nach dem Göttlichen in Mittelschichten reiche. Gleichzeitig finde ein ge- jedem Menschen übe eine verändernde Wirkung sellschaftlicher Wandel statt, zum Beispiel in den aus – unter diesem Licht würden Zeitfragen erst Familien, wo neue Familienformen häufiger wür- richtig ernst genommen und mit entsprechendem den, und in der Gesellschaft, wo inzwischen das Engagement thematisiert. Zusammenleben von vier Generationen zu regeln sei. Für den Theologen Hans Strub lag eine wich- tige Zeitfrage im Widerspruch in der Gewichtung 5 Jahrzehnte, zentraler Themen. Die Frage nach dem Sinn des 5 zentrale Themen des Arbeitskreises, Lebens werde von der Kirche gerne erörtert, viel 5 Jubiläumsveranstaltungen: häufiger als innerkirchliche Konflikte, die den kirchlichen Alltag jedoch sehr stark prägten. Der Schöpfungskonzepte in den Weltreligionen Philosoph Markus Waldvogel erinnerte daran, dass für den Menschen einige wenige, zentrale Anliegen Die erste der fünf Jubiläumsveranstaltungen wirklich zeitlos sind. Trotzdem stellten sich wich- vom 19. August lockte auch Interessierte in den Fa- tige Zeitfragen, zum Beispiel im Zusammenhang relsaal, die wohl noch nie an einem Anlass des Ar- m it dem W ider s pr uc h z w i s c he n ei ner G e s el l s c h a f t , beitskreises teilgenommen hatten. Das Gespräch die absehbar mehr Aufgaben zu übernehmen habe, zu den Schöpfungskonzepten der fünf Weltre- und einem Diskurs, der in der Deregulierung das ligionen wurde unter anderem von vielen Mi- Zauberwort für Zukunftsbewältigung zu erkennen grantinnen und Migranten mitverfolgt. Der von glaube. VCS-Präsidentin und Nationalrätin Fran- Pfarrer Reinhard Lanz moderierte Dialog kon- ziska Teuscher rückte die brennendste ökologische zentrierte sich auf das gegenseitige Kennenlernen. Gegenwartsfrage ins Zentrum. Auch dreissig Jah- Aus der Sicht des tibetanischen Buddhismus skiz- re nach den Warnungen des Club of Rome hätten die zierte Lama Rigdzin ein sehr modern wirkendes massgebenden Politiker nicht verstanden, dass der Weltbild, während das Referat des Hinduisten Siva sorglose Umgang mit Ressourcen und Emissionen Thillaibalam durch sehr interessante und wenig d ie Lebensg r u nd lagen k ü nf t iger G enerat ionen ge- bekannte Mythen faszinierte. Auf Gemeinsam- fährdeten. Die Schattenseiten des Wachstumsden- keiten und Unterschiede in den Schöpfungskon- kens machten sich zunehmend auf globaler Ebene zepten der abrahamitischen Religionen gingen bemerkbar. Samia Osman und Pfarrer Peter Egger ein. Eine Die den Kurzvoten folgende Diskussion thema- dialogische, sehr angenehme Atmosphäre prägte tisierte vor allem die Bildungsarbeit, die ausgehend auch den Austausch mit dem Publikum. Das Ziel, von den genannten Gegenwartsfragen zu leisten ausgehend von den verschiedenen Schöpfungs- sei. Für Knöpfel müsste diese Arbeit darauf ausge- und Naturmythen eine gemeinsame Haltung richtet sein, auch bildungsfernere Schichten anzu- gegenüber ökologischen Fragen zu formulieren, sprechen und diese darin zu unterstützen, mit der rückte allerdings etwas in den Hintergrund. Das bereits real erlebten Unsicherheit besser umgehen Bedürfnis, die verschiedenen Welterklärungsmu- zu können. Dass die vom Arbeitskreis geleistete ster zu erörtern, war grösser. Abgerundet wurde Bildungsarbeit auch in Zukunft gefragt sei, war im der A nlass durch einen k ulinarischen Teil, der wei- Podium unbestritten. Das Interesse der Citoyennes tere interreligiöse Begegnungen auf individueller und Citoyens an der gesellschaftlichen Entwick- Ebene erlaubte.

176 K apitel 9 50 Jahre Arbeitskreis für Zeitfragen – das Jubiläum 20. Oktober : Naher Osten – ferner Frieden?

Im Spätsommer 2005 hatte der israelische Re- gierungschef Ariel Sharon seine wohl letzte grosse Militäraktion durchgeführt – dieses Mal musste er die Streitkräfte gegen israelische Siedler im Gaza- 21. September : Arbeit ist das halbe Leben streifen aufbieten, die sich geweigert hatten, das Gebiet wieder ganz den Palästinensern zu überlas- Der zweite Jubiläumsanlass erlaubte die Ausei- sen. Waren die ungewöhnlichen Bilder aus Gaza nandersetzung zu einem brandaktuellen Problem. ein Hinweis darauf, dass der Frieden im Nahen Os- Nach Abschluss des Schuljahres 2004/2005 hat- ten nicht mehr ganz so fern lag? Der dritte Arbeits- ten über zwei Drittel der Bieler Realschülerinnen kreis-Anlass setzte sich zum Ziel, die neusten Ent- keine Lehrstelle gefunden, und auf gesamtschwei- wicklungen in Israel und Palästina zu analysieren zerischer Ebene war der Anteil der unter 26-Jäh- und die Chancen künftiger Schritte zum Frieden rigen unter den Sozialhilfeempfängern auf vierzig zu erörtern. Wohl nicht zuletzt im Zusammenhang Prozent angestiegen. Vor einem angesichts dieser m it der Tage sa k t u a l it ät f a nd sich ei n k napp v ier z ig - Fakten eher wenig zahlreichen Publikum kam köpfiges Publikum im Farelsaal ein, darunter viele, unter der Leitung von Ralph Thomas ein sehr re- die wohl zum ersten Mal einen Anlass des Arbeits- ges und informatives Podiumsgespräch zustande. kreises besuchten. Die Anwesenden konnten ein Persönlichkeiten aus öffentlichen Institutionen äusserst informatives Podiumsgespräch mitverfol- und Organisationen der Sozialpartner erörterten gen , d a s von DR S -Jou r n a l i st Rob er t St ä h l i u m sic h- die Bedeutung der Jugendarbeitslosigkeit und tig geleitet wurde. Bei der Analyse der Folgen des suchten konstruktiv nach sinnvollen Massnahmen. israelischen Rückzugs aus dem Gazastreifen warb Während Markus Weber vom Staatssekretariat für Yves Kugelmann dafür, auch für die Sichtweise der Wirtschaft SECO das Hauptproblem in der gros- Siedler Verständnis aufzubringen. Gleichzeitig be- sen Zahl junger Stellensuchender sah, erinnerte zeichnete der Chefredakteur der jüdischen Medi- der Gewerkschaftsvertreter Peter Siegerist an die en die Genfer Initiative als wichtigen Lichtblick, hohe Dunkelziffer bei Jugendlichen ohne Lehr- der allerdings auf oberster politischer Ebene nicht stelle. Siegerists Betonung der Lehrstellenkrise gebührend wahrgenommen worden sei. In diesem wurde von BIZ-Regionalleiter Robert Kramer be- Punkt stimmte Kugelmann mit dem Islamwis- stätigt. Da zu viele Lehrbetriebe nur noch Jugend- senschaftler Edward Badeen überein, der bei aller liche mit Sekundarschulabschluss selektionierten, Sympathie für die Zweistaatenlösung auf der Basis seien immer mehr Realschülerinnen ausländischer der Grenzen von 1967 einen nahen Durchbruch Herkunft faktisch vom Lehrstellenmarkt ausge- der Initiative bezweifelte. Als Koordinator des schlossen. In Bezug auf Lösungsansätze war un- EDA für den Friedensprozess im Nahen Osten be- bestritten, dass die Wirtschaft mehr soziale Ver- stätigte Nicolas Lang, dass eine echte Beruhigung antwortung übernehmen und insbesondere mehr des Konflikts noch in weiter Ferne liege, rief aber Ausbildungsplätze schaffen sollte. Allerdings gab dazu auf, jede Möglichkeit einer Befriedung wahr- Sophie Ménard zu bedenken, dass viele Unterneh- zunehmen. Franziska Müller vom christlichen men wegen der anhaltend schwierigen Konjunk- Friedensdienst gab eindrückliche Beispiele für den turlage einem grossen Druck ausgesetzt seien. Die schwierigen Alltag der palästinensischen Bevölke- Geschäftsführerin der Bieler Wirtschaftskammer rung und für den ungebrochenen Friedenswillen fügte hinzu, es gebe auch Unternehmen, die für auf beiden Seiten, vor allem zwischen jüdischen und ihre Lehrstellen keine geeigneten Jugendlichen palästinensischen Frauen. Doch auch sie zeigte auf, gefunden hätten. Es gelte also, betonte die Wirt- dass der Einfluss solcher Initiativen auf die «hohe schaftsvertreterin abschliessend, auf beiden Seiten Politik» äusserst gering sei. des Problems Massnahmen zu treffen. Es brauche Somit kamen die Gesprächspartner überein- eine erhöhte Ausbildungsbereitschaft der Unter- stimmend zur ernüchternden Einschätzung, dass nehmen, gleichzeit ig müsse aber die A rbeitsmarkt- der Nahostfriede zwar von vielen ersehnt, aber fähigkeit vieler Jugendlicher verbessert werden. noch lange nicht in Sichtweite sei. Wie um diese Einschätzung noch zu verstärken, kam in der Pu-

177 K apitel 9 50 Jahre Arbeitskreis für Zeitfragen – das Jubiläum 8. Dezember : Jugend, Kultur und Gewalt

Der Gewaltausbruch vieler Jugendlicher in den französischen Vorstädten war wohl mit ein Grund blikumsdiskussion vor allem zum Ausdruck, wie dafür, dass der Arbeitskreis-Anlass zur Jugendge- tief die im Verlauf des Konflikts entstandenen Ver- walt ein recht grosses, zum Teil sehr junges Pu- letzungen in beiden Lagern noch weiter wirken. So blikum fand. Im Zentrum des Abends stand das war es Stähli ein Anliegen, abschliessend daran zu interessante, anschaulich vermittelte Referat des erinnern, wie stark der Nahostkonflikt auf Euro- Psychoanalytikers Mario Erdheim, der zur Erklä- pa ausstrahlen könnte. Auch aus diesem Grund sei rung des Phänomens Jugendgewalt sein eigenes, Engagement für den Frieden unerlässlich. philosophisch-ethnologisches Modell anwandte. Erdheim betonte, repressive Strategien gegen Ju- gendgewalt hätten noch nie getaugt. Gefragt sei 17. November : Mann und Frau = 2 oder mehr ? vielmehr eine Bildungsoffensive. Da neben dem Das Einmaleins der Geschlechter Bedürfnis, sich als allmächtig zu erleben, auch die Erfüllung von Wünschen eine zentrale Ursache Der Tit el der Ver a n s t a lt u n g h at t e e s a n g e de ut et : für Jugendgewalt sei, brauche es die Vermittlung Die Beziehung zwischen den Geschlechtern, vor von Fähigkeiten, die eine Wunscherfüllung ohne vielen Jahren noch solide Grundlage und Keim- Gewalt ermöglichten. Die Thesen des Referenten zelle der Gesellschaft, scheint sich mitten in einer lösten eine lebhafte Diskussion aus, an der sich Entwicklung zu wachsender Unübersichtlichkeit viele direkt Betroffene – Eltern, Gassenarbeiter, zu befinden. Etwa fünfzig Personen waren bereit, Lehrer – beteiligten. Dabei wurde anhand ver- sich auf die möglicherweise etwas verunsichernde schiedener Erfahrungen klar, wie vielfältig sich Thematik einzulassen, die der vierte Jubiläumsan- Jugendgewalt bemerkbar gemacht hatte. Mehrere lass bot. Ihre Erwartung, mit Ungewohntem kon- Beschreibungen von Einzelfällen zeigten auf, dass frontiert zu werden, sollte in jeder Hinsicht erfüllt neben allgemeinen sozialen Faktoren immer eine werden. Der Schriftsteller und Erwachsenenbild- konkrete Biographie mit ihren komplexen Zusam- ner Jürgmeier präsentierte seine Sichtweise der menhängen zur Gewaltbereitschaft geführt hatte. gegenwärtig wirksamen Identifikationsmuster für Ob ein einziges Erklärungsmodell für die aktuell beide Geschlechter, indem er Ausschnitte aktueller auftretenden Formen von Jugendgewalt ausreiche, Fernsehserien in den Farelsaal holte. Da agierte die blieb unter den Gesprächsteilnehmern umstritten. Kommissarin souverän in einer sonst von Männern Dementsprechend gross war bei vielen das Bedürf- dominierten Sphäre, während sie parallel dazu ein nis, das vielschichtige Thema noch tiefer zu er- kompliziertes Gefühlsleben zu bewältigen hatte. gründen – eigentlich eine ideale Situation, um das Da sah sich James Bond mit Frauen konfrontiert, Gespräch weiterzuführen. die sich in erster Linie über ihre totale Fitness und ihre asiatischen Kampfkünste definierten. Eindrücklich zeigte der Referent auf, wie stark Der Puls schlägt weiter ... weibliche Identifikationsfiguren männliche Stere- ot y pen integ riert hat ten. Ergänzend dazu t hemat i- Das Jubiläumsjahr hat aufgezeigt, dass der Ar- sierte er die Krise des traditionellen Männerbildes, beitskreis auch weiterhin erfolgreich am Puls der was den Trend zur Auflösung der Geschlechter- Zeit wirkt. Erneut konnte er sein Anliegen, we- identität bestätige. Anschliessend an die Multime- sentliche Gegenwartsprobleme aufzugreifen und dia-Präsentation richtete Jürgmeier direkte Fragen die Menschen im Dialog darüber zusammenzu- ans Publikum, das Gelegenheit hatte, das Gezeigte bringen, an brisanten Beispielen umsetzen. Seine aus dem eigenen Erfahrungshintergrund zu bestä- Fähigkeit, den Dialog dort weiterzuführen, wo tigen oder zu hinterfragen. Besonders erfreulich andere damit auf hören, wird auch in Zukunft drin- war dabei, dass mehrere Männer im Publikum sich gend gefragt sein! ausführlich zur Veränderung der Rollenbilder in ihrem A lltag äusserten.

178 Der Gründer, die Studienleiter und -leiterinnen

Der Gründer

Robert Leuenberger, 1916–2004, Dr. phil. et theol., Germanist und Theologe, 1946–1957 Lehrer am Gymnasium Biel, dann Studentenseelsorger in Basel, 1965–1983 Professor an der Universität Zürich, 1974–1976 Rektor. Er war der eigentliche Initiant des AfZ. Zum Gründerkreis gehörten ausserdem Samuel Maurer, Hans Küpfer und Arnold Kellerhals, etwas später kamen Werner Marti und Dr. Hilde Kästli dazu.

Die Studienleiter und Studienleiterinnen

[1961–1981] Samuel Maurer, *1918, Lehrer, Mitbegründer des AfZ, 1.4.1961–1.4.1963 Leiter des Arbeitskreises im Nebenamt, 1.4.1963–31.12. 1981 Studienleiter im Voll- amt . – «Es geht um die solidarische Präsenz der Kirche in den Spannungsfeldern der Gegenwart, um dort ihren spezifischen Beitrag zur Erkenntnis und zur Lösung von Problemen einzubringen, d. h. im weltlichen Geschehen die radikalen Fragen Gottes zu ermitteln und zu beantworten.» (W. Simpfendörfer).

[1982–1996] André Monnier, *1943, Historiker und Erwachsenen- bildner, 1.1.1982–31. 5.1996 Studienleiter des AfZ ; heute im Kurswesen tätig und Laienrichter am Kreis- gericht Biel-Nidau. – «Es gilt von den allgegenwärtigen Mustern von Dominanz und Unterwerfung loszukommen. Statt einander abzuwerten, sollten wir gegenseitige Teil- habe und Wertschätzung einüben. Fragen nach Sinn und Verantwortung dürfen nicht zu unverbindlichen Hobbys einzelner Zirkel verkommen.»

[1989–1992] Verena Naegeli, *1955, Theologin, Studienleiterin des AfZ 1.6.1989–31.5.1992, heute Pfarrerin in Zürich. – «(Frauen-)Bilder fallen nicht vom Himmel. Also gemein- sam an Rollenklischees/Rollenbildern rütteln. Und dabei den Himmel neu entdecken: nicht als Prädestination, son- dern als Freiraum. Da haben viele Bilder und Lebenswege Platz.»

179 Die Gründer und die Studienleiter und Studienleiterinnen

[1993–2007] Catina Hieber-Schilt, *1945, Theologin VDM, Studi- enleiterin des AfZ, Fachstelle für Frau und Gesellschaft 1.1.1993 – 30.11.2007 – «Gerechtigkeit für Frauen kann nur erreicht werden, wenn sie auch zur Männersache wird. Ab und zu die Blickrichtung zu ändern, tut uns allen gut; vor allem wenn wir die Gleichstellung als Ziel haben.»

[1996–] Liliane Lanève-Gujer, *1967, lic. phil., Historikerin, seit 1.11.1996 Studienleiterin des AfZ, Fachstelle für Gesell- schaft und Entwicklung. – «Die Schweiz ist längst eines der multikulturellsten Länder Europas. Zugehörigkeit kann sich auch in der Vielfalt entwickeln. Im Integrationsprozess steckt für alle Beteiligten viel Entwicklungspoten-tial. Nicht wegschauen, sondern hinschauen, ist meine Devise.»

[2008–] Luzia Sutter Rehmann *1960, Dr. theol., wurde am 5. November 2007 vom Gesamtkirchgemeinderat zur Nachfolgerin von Catina Hieber-Schilt gewählt. Sie wird ihre Arbeit im Januar 2008 aufnehmen. – «In den letzten 20 Jahren hat die feministische Theologie einen Erweiterungs-, Vertiefungs- und Differenzierungsprozess durchgemacht. Der jüngste Erfolg der Bibel in gerechter Sprache, von der bereits 70000 Exemplare verkauft worden sind, zeigt, mit welchem Interesse die Ergebnisse der feministischen Theologie rezipiert werden.»

180 Quellen und Literatur Zeitschriften und Zeitungen

angelus, 14 und 15, 2005 BALZ 1, 50 Akten der Kirchgemeinde Biel Bienne, 17.12.1981, 13./14.12.1989, 12./13.6.1996, 1.11.2000 Protokollbuch des evangelisch-reformierten Kirchge- Bieler Tagblatt : 14.1.1955, 20.1.1955, 28.1.1955, meinderates Biel-Stadt, 1951 bis 1954 4.2.1955, 24.5.1955, 1.9.1955, 19.10.1955, 19.12.1955, Protokolle des evangelisch-reformierten Gesamt- 18.1.1956, 20.1.1956, 26.1.1956, 20.12.1956, 19.3.1965, kirchgemeinderates Biel, 1961−1968, 1979−1981, 24.2.1966, 25.5.1966, 5.11.1966, 30.4.1968, 14.6.1968, 1988−1989, 1992, 1995 6.12.1968, 29.1.1970, 27.11.1970, 1.2.1973, 8.11.1973, Arbeitsgemeinschaft für evangelische Erwachsenenbil- 15.3.1974, 11 2.1977,19. 5.1979, 28.9.1979, 4.9.1980, dung in der Schweiz, Treffen vom 25.6.1976, 26.11.1981, 7.2.1982, 5.6.1982, 26.11.1982, 9.12.1982, 23.5.1977, 7.11.1977 17.12.1982, 4.8.1983, 6.2.1984, 10.2.1984, 8.3.1984, 14.5.1984, 11.9.1984, 18.5.1985, 6.9.1985, 16.10.1985, 7.11.1985, 4.12.1985, 24.1.1986, 31.1.1986, 10.4.1986, Akten des Arbeitskreises für Zeitfragen 29.6.1987, 24.10.1987, 25.1.1988, 4.2.1988, 20.2.1988, 27.2.1989, 16.5.1989, 14.11.1989, 28.11.1989, 11.12.1989, Protokolle der Kommission, 1977, 1978, 1979, 1980, 8.3.1990, 12.3.1990, 15.3.1990, 4.5.1990, 20.10.1990, 1981, 1982, 1987−1988, 1996−2001 18.2.1991, 28.5.1991, 14.6.1991, 4.6.1991, 15.6.1991, Tätigkeitsbericht für 1963, 1964/Tätigkeitsbericht 11.3.1993, 15.3.1993, 14.3.1994, 17.3.1995, 15.9.1994, April 1963 bis April 1968, Tätigkeitsbericht 1967, 12.4.1995, 12.6.1996, 15.6.1996, 13.6.2000, 18.4.1997, Tätigkeitsbericht April 1963−April 1968: Zur Aufgabe, 30.4.1997, 17.5.1997, 24.11.1997, 13.5.1998, 10.6.1998, Tätigkeit Nov. 1968−Nov. 1969 13.6.1998, 31.10.1998, 17.11.1998, 15.6.1999, 15.9.1999, Jahresberichte und Verwaltungsberichte, 1971, 1972, 2.12.1999, 24.2.2000, 5.9.2000, 9.3.2001, 6.6.2001, 1973, 1974, 1975, 1976, 1977, 1978, 1979, 1980, 1981, 13.6.2002, 17.6.2002, 24.12.2002, 30.5.2004, 9.9.2004, 1982, 1983, 1984, 1985, 1986, 1987/88, 1989−1992, 21.2.2005, 15.3.2005 1993, 1994, 1995, 1996, 1997, 1998, 1999, 2000, 2001, Der Bund, 19.9.1991 2002, 2003, 2004 Gegenwart, Nr. 7, Oktober 1965 Bericht über den Studienurlaub von Samuel Maurer, Journal du Jura, 26.5.2004 1.8.−31.10.1978 Kirchenblatt für die reformierte Schweiz, Nr. 9, 2. Mai Protokolle des Arbeitsausschusses der Jahre 1969 1963, S. 132ff. und 1970 KulturElle, März 1995, Dezember 1995 Unterlagen des Leitenden Ausschusses 1971−1974, National-Zeitung, 17.8.1966, 26.9.1966, 25.2.1968, 1976−1979, 1981−1982, 1986−1989, 1992−1996 26.2.1968, 12.9.1968, 1.2.1973 Ökumenische Gruppe des Arbeitskreises, Brief A. Seeländer Volkszeitung: 3.6.1954, 2.5.1960, 9.9.1966 Kuenzi, 12.1.1960 Der Sämann, Nov. 1955, Jan. 1957, Aug. 1959, Unterlagen der Studiengruppe Kirche, 1969 April 1961, Mai 1961, Juli 1961, Aug. 1961, Sept. 1961, Protokolle des Gesellschaftspolitischen Forums 1970 Nov. 1961, Jan. 1962, Juni 1962, Aug. 1962, Nov. 1962, bis 1974 Jan. 1963, Feb. 1963, März 1963, Mai 1963, Okt. 1963, Jan. 1982, Feb. 1993, Jan. 1997, März 2001 Die Weltwoche, 5. 9. 1973 Weitere Akten

Bundesgerichtentscheid BGE 96 IV 64 in Sachen Schriften und Bücher Bosshard Multimondo, Jahresberichte 2002, 2003 AKW−Gegner in der Schweiz, Rüegger Verlag, Diessenhofen 1982 Günter Amendt, Sucht − Profit − Sucht, rororo, Reinbek bei Hamburg 1990

181 Quellen und Literatur Catina Hieber, Evaluation des feministischen Netz- werkes Frauenplatz Biel − Femmes en réseau Bienne (FB), EWC, Diplomarbeit Juni 1999 Arbeitskreis kirchlicher Publizisten, «Kirche wohin?», Peter Hirsch, Er nannte sich Peter Surava, Bern 1989 Rothenhäusler, Stäfa 1991 Martin Arnold, Von der Landi zur Arteplage, orell Helmut Hubacher, Tatort Bundeshaus, , füssli, Zürich 2001 Bern 1994 Albert Bachmann und Georges Grosjean, Zivilverteidi- Paul Huber, Auch sie lieben die Heimat, polis Nr. 6, gung, Miles−Verlag, Aarau 1969 Evangelischer Verlag, Zürich 1960 D. Bäschlin, H. Büchler, E. Buchwalder, A. Monnier, Jahresbericht des Städtischen Gymnasiums Biel, alternativen − alternatives, Arbeitskreis für Zeitfragen, 1. Oktober 1953 bis 30. September 1956, Schüler AG, Biel 1982 Biel 1956 Heidi Bernhard Filli u. a., Weiberwirtschaft, Edition Tobias Kästli, Untersuchung über die Schulungs- und Exodus, Luzern 1994 Bildungsbedürfnisse Arbeitsloser in den Städten Bern Bieler Arbeitslosenzentrum, Frau und Arbeit, und Biel, Arbeitskreis, Biel 1975 Helio Express, Biel 1978 Tobias Kästli, Politik der Gerechtigkeit, Kirche im Peter Braunschweig, Daniel und Rosmarie Kurz, Regula Dialog, Bern 1998 Renschler, Nahost − einander leben lassen, Z−Verlag, Georg Kreis, Staatsschutz in der Schweiz, Haupt, Basel 1981 Bern 1993 Marga Bührig, Spät habe ich gelernt, gerne Frau zu sein, Patrick Kupper, Weltuntergangs-Vision aus dem Com- Kreuz Verlag, Stuttgart 1987 puter, Steiner Verlag, Stuttgart 2003 Barbara Büschi, Eva Cignacco, Ernestine Kiener und Fredi Lerch, Müllers Weg ins Paradies, Nonkonfor- Hans Niklaus, Neue Armut in Biel?, Biel 1986 mismus im Bern der Sechziger Jahre, Rotpunkt Verlag, Thomas Buomberger, Kampf gegen unerwünschte Zürich 2001 Fremde, Orell Füssli, Zürich 2004 Robert Leuenberger, Zur Frage des Religionsunter- Werner Bourquin und Marcus Bourquin, Stadtge- richts am Gymnasium, in Reformatio III, 1954 schichtliches Lexikon, Büro Cortesi, Biel 1999 Robert Leuenberger, Pfarrernot: Stunde der Kirche, Noam Chomsky, Offene Wunde Nahost, Europa- polis Nr. 5, Evangelischer Verlag, Zollikon 1959 Verlag, Hamburg 2002 Tobias Maissen, Verweigerte Erinnerung, Verlag NZZ, Demokratisches Manifest, Dossier Cincera, DM, Zürich 2005 Zürich 1976 Kurt Marti, Zum Beispiel Bern 1972, Luchterhand, Catherine Duttweiler, Isabelle Meier, Käthi Mühle- Darmstadt 1973 mann, Heidi Stutz, Wo Frauen sich erheben, Lenos, Militär- und Zivilschutzverweigerung in der Schweiz, Basel 1990 ein Handbuch, Limmat Verlag, Zürich 1991 Paulo Freire, Pädagogik der Unterdrückten, Kreuz Martin Muheim/René Holenstein, Eine Lüge kommt Verlag, Stuttgart 1971 selten allein, Christliche Solidarität mit Zentral- Frauenstelle Arbeitskreis für Zeitfragen, Frauenplatz amerika, Luzern 1986 Biel, Biel 1990 Neues Bieler Jahrbuch: 1962, 1963, 1964, 1965, 1966, Fünfzig Jahre Städtisches Gymnasium Biel, Hertig & 1967, 1968, 1969, 1970, 1971, 1972, 1973, 1974, 1975, Co., Biel 1955 1976, 1982, 1983, 1984, 1987, 1994, 1998, 1999, 2001, Peter Gilg, Die Kirchen im gesellschaftlich-politischen 2002, 2003 Spannungsfeld der Schweiz, Verlag Stämpfli, Bern 1991 Daniela Niederberger, Staatliche Lizenz zum Spitzeln, Simone Gojan, Elke Krafka (Hg.), Theater Biel-Solo- in: Die Schweiz und ihre Skandale, Limmat Verlag, thurn/Théâtre Bienne-Soleure, Chronos, Zürich 2004 Zürich 1995 Kurt Guggisberg, Bernische Kirchenkunde, Verlag Paul Max Schmid, Demokratie von Fall zu Fall, Verlagsgenos- Haupt, Bern 1968 senschaft, Zürich 1976 Esther Haas, Dore Heim, Christa Mutter, Linda Stibler, Christoph Sigrist, Citykirche im Aufwind, KiK−Verlag, Der Brunner-Effekt, Limmat Verlag, Zürich 1993 Berg am Irchel 2000 Alfred A. Häsler, Das Ende der Revolte, Ex Libris, Nenad Stefanov, Michael Werz, Bosnien und Europa, Zürich 1976 Fischer Taschenbuch, Frankfurt 1994

182 Quellen und Literatur

Rudolf Strahm, Arbeit und Sozialstaat sind zu retten, Werd Verlag, Zürich 1997 Bruno Strassmann, Die Ehetheologie bei Theodor Bovet, Diss. theol. Universität Innsbruck, Innsbruck 1994 Martin Stürzinger, Mapping der srilankischen Diaspora in der Schweiz, Zürich 2002 Heidi Stutz, An den Frauen sparen?, VPOD, Zürich und Bern 1996 Jakob Tanner, Totale Verteidigung im bedrohten Klein- staat, in: Schutzraum Schweiz, Zytglogge, Bern 1988 Rudolf Wehren, Die Juragewässerkorrektionen, Troxler Verlag, Bern 1966 Jutta Voss, Das Schwarzmond-Tabu, Kreuz Verlag, Stuttgart 1988 Margrit Wick-Werder, Der andere Blick − Stadt- rundgang Biel, Frauenplatz Biel und Arbeitskreis für Zeitfragen, Biel 2002 Heidi Witzig und Elisabeth Joris, Frauengeschichte(n), Limmat Verlag, Zürich 1986

Bildnachweis

Bieler Tagblatt/Pressefoto: S. 32, 23, 106, 109; Neues Bieler Jahrbuch/Bieler Jahrbuch S. 108, 106, 135, 162, 168, 156; edp-Bild (http://oekt.ditnezwork.de) 164. Alle übrigen Abbildungen stammen aus dem Archiv des Arbeitskreises für Zeitfragen (z.T. Ausschnitte aus Publikationen ohne Quellenangabe) oder wurden für diese Publikation zur Verfügung gestellt.

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