Plenarprotokoll 17/37

Deutscher

Stenografischer Bericht

37. Sitzung

Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010

Inhalt:

Glückwünsche zum Geburtstag der Abgeord- (FDP) ...... 3492 A neten (Heidelberg) und Dr. Dr. Hans-Peter Friedrich (Hof) (CDU/CSU) . ...... 3473 A 3492 B (CDU/CSU) ...... 3494 A Begrüßung des neuen Abgeordneten Hans- Werner Kammer ...... 3473 B Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 3494 C Erweiterung und Abwicklung der Tagesord- nung ...... 3473 B Absetzung der Tagesordnungspunkte 5 und 24 . 3474 B Tagesordnungspunkt 4: Begrüßung des Botschafters der Republik Po- Antrag der Abgeordneten , Jutta len, Herrn Marek Prawda ...... 3474 C Krellmann, Matthias W. Birkwald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Gedenken an die Opfer des Absturzes der pol- Mit guter Arbeit aus der Krise nischen Präsidentenmaschine ...... 3474 C (Drucksache 17/1396) ...... 3496 A Gedenken an in Afghanistan ums Leben ge- Klaus Ernst (DIE LINKE) ...... 3496 A kommene Angehörige der Bundeswehr . . . . . 3474 D Dr. (CDU/CSU) ...... 3498 A Klaus Ernst (DIE LINKE) ...... 3498 C Zusatztagesordnungspunkt 3: (SPD) ...... 3499 D Abgabe einer Regierungserklärung durch die Reiner Deutschmann (FDP) ...... 3502 A Bundeskanzlerin: zum Einsatz der Bundes- wehr in Afghanistan ...... 3475 B Beate Müller-Gemmeke (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 3503 B Dr. , Bundeskanzlerin ...... 3475 B (DIE LINKE) ...... 3504 C (SPD) ...... 3480 A (CDU/CSU) ...... 3505 D Birgit Homburger (FDP) ...... 3483 B (SPD) ...... 3507 A Dr. (DIE LINKE) ...... 3484 D (FDP) ...... 3508 C (CDU/CSU) ...... 3487 C Klaus Ernst (DIE LINKE) ...... 3509 C Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 3489 B Ulrich Lange (CDU/CSU) ...... 3509 D Klaus Ernst (DIE LINKE) ...... 3511 B Elke Hoff (FDP) ...... 3490 D Ulrich Lange (CDU/CSU) ...... 3511 D Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 3491 D Dr. (CDU/CSU) ...... 3512 A II Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010

Tagesordnungspunkt 28: BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Finanz- umsatzsteuer auf EU-Ebene einführen a) Erste Beratung des von der Bundesregierung (Drucksache 17/1422) ...... 3514 A eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung krankenversicherungsrecht- b) Antrag der Abgeordneten , licher und anderer Vorschriften , Christine Scheel, weiterer Ab- (Drucksache 17/1297) ...... 3513 B geordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN: Pluralistischen Ansatz b) Erste Beratung des von der Bundesregie- bei Auswahl der Forschungsinstitute für rung eingebrachten Entwurfs eines Sechs- die Gemeinschaftsdiagnose gewährleis- ten Gesetzes zur Änderung des Filmför- ten derungsgesetzes (Drucksache 17/1424) ...... 3514 A (Drucksache 17/1292) ...... 3513 B c) Antrag der Abgeordneten Kerstin Andreae, c) Erste Beratung des von der Bundesregie- Fritz Kuhn, Christine Scheel, weiterer Ab- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- geordneter und der Fraktion BÜND- zes über die Feststellung des Wirt- NIS 90/DIE GRÜNEN: Umweltbericht- schaftsplans des ERP-Sondervermögens erstattung in die Gemeinschaftsdia- für das Jahr 2010 (ERP-Wirtschafts- gnose aufnehmen plangesetz 2010) (Drucksache 17/1423) ...... 3514 A (Drucksache 17/1294) ...... 3513 C d) Antrag der Abgeordneten Michael Schlecht, d) Erste Beratung des von der Bundesregie- Dr. Barbara Höll, Eva Bulling-Schröter, rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- weiterer Abgeordneter und der Fraktion zes zu den Änderungen vom 2. Oktober DIE LINKE: Pluralistischen Ansatz bei 2008 des Übereinkommens vom 3. Sep- Auswahl der Forschungsinstitute für tember 1976 über die Internationale die Gemeinschaftsdiagnose gewährleis- Organisation für mobile Satellitenkom- ten munikation (International Mobile Sa- (Drucksache 17/1405) ...... 3514 B tellite Organization – IMSO) e) Antrag der Abgeordneten Elvira Drobinski- (Drucksache 17/1295) ...... 3513 C Weiß, Dr. Wilhelm Priesmeier, Ulrich e) Erste Beratung des von der Bundesregierung Kelber, weiterer Abgeordneter und der eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Fraktion der SPD: Gentechnisch verän- Umsetzung der Dienstleistungsrichtlinie derte Amflora-Kartoffel zuverlässig aus auf dem Gebiet des Umweltrechts sowie der Lebensmittel- und Futtermittelkette zur Änderung umweltrechtlicher Vor- fernhalten schriften (Drucksache 17/1410) ...... 3514 B (Drucksache 17/1393) ...... 3513 A f) Antrag der Abgeordneten , Dr. , Elke Ferner, weiterer f) Erste Beratung des von der Bundesregierung Abgeordneter und der Fraktion der SPD: eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Qualität und Transparenz in der Pflege Einführung einer Musterwiderrufsinfor- konsequent weiterentwickeln – Pflege- mation für Verbraucherdarlehensver- Transparenzkriterien optimieren träge, zur Änderung der Vorschriften (Drucksache 17/1427) ...... 3514 C über das Widerrufsrecht bei Verbrau- cherdarlehensverträgen und zur Ände- rung des Darlehensvermittlungsrechts Tagesordnungspunkt 29: (Drucksache 17/1394) ...... 3513 D Zweite und dritte Beratung des von der Bun- g) Antrag der Abgeordneten Marlene Rupprecht desregierung eingebrachten Entwurfs eines (Tuchenbach), Petra Crone, Petra Ernstberger, Fünften Gesetzes zur Änderung des Kraft- weiterer Abgeordneter und der Fraktion fahrzeugsteuergesetzes der SPD: Frauenhäuser ausreichend zur (Drucksachen 17/717, 17/1209, 17/1463) . . . 3514 C Verfügung stellen und deren Finanzie- rung sichern (Drucksache 17/1409) ...... 3513 D Tagesordnungspunkt 3: Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- schusses für die Angelegenheiten der Euro- Zusatztagesordnungspunkt 4: päischen Union a) Antrag der Abgeordneten Dr. Gerhard – zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/ Schick, , Dr. Thomas Gambke, CSU und der FDP: Einvernehmensher- weiterer Abgeordneter und der Fraktion stellung von Bundestag und Bundesre- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010 III

gierung zum Beitrittsantrag der Repu- Ferner, weiterer Abgeordneter und der blik Island zur Europäischen Union Fraktion der SPD: Effektivere Arznei- und zur Empfehlung der EU-Kommis- mittelversorgung sion vom 24. Februar 2010 zur Auf- (Drucksache 17/1201) ...... 3528 A nahme von Beitrittsverhandlungen hier: Stellungnahme des Deutschen b) Antrag der Abgeordneten , Bundestages nach Artikel 23 Ab- Dr. , Dr. Ilja Seifert, weite- satz 3 GG i. V. m. § 10 des Geset- rer Abgeordneter und der Fraktion DIE zes über die Zusammenarbeit LINKE: Faire Preise für wirksame und von Bundesregierung und Deut- sichere Arzneimittel – Einfluss der schem Bundestag in Angelegen- Pharmaindustrie begrenzen heiten der Europäischen (Drucksache 17/1206) ...... 3528 B Union c) Antrag der Abgeordneten , – zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Fritz Kuhn, Maria Anna Klein-Schmeink, Diether Dehm, , Andrej weiterer Abgeordneter und der Fraktion Hunko, weiterer Abgeordneter und der BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Qualität Fraktion DIE LINKE: Verhandlungen und Sicherheit der Arzneimittelversor- über die Aufnahme Islands in die Euro- gung verbessern – Positivliste einführen – päische Union eröffnen Arzneimittelpreise begrenzen (Drucksache 17/1418) ...... 3528 B – zu dem Entschließungsantrag der Abge- ordneten , Michael Roth Dr. Karl Lauterbach (SPD) ...... 3528 C (Heringen), Iris Gleicke, weiterer Abge- Heinz Lanfermann (FDP) ...... 3529 D ordneter und der Fraktion der SPD: zu der Abgabe einer Regierungserklärung (CDU/CSU) ...... 3530 D durch die Bundeskanzlerin zum Euro- päischen Rat am 25./26. März 2010 in Kathrin Vogler (DIE LINKE) ...... 3532 C Brüssel , Parl. Staatssekretär – zu dem Entschließungsantrag der Abge- BMG ...... 3533 D ordneten , Viola von Cramon-Taubadel, Ulrike Höfken, weite- Dr. Karl Lauterbach (SPD) ...... 3535 C rer Abgeordneter und der Fraktion Birgitt Bender (BÜNDNIS 90/ BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: zu der Ab- DIE GRÜNEN) ...... 3536 B gabe einer Regierungserklärung durch die Bundeskanzlerin zum Europäischen Dr. Erwin Lotter (FDP) ...... 3537 A Rat am 25./26. März 2010 in Brüssel (CDU/CSU) ...... 3537 D (Drucksachen 17/1190, 17/1059, 17/1191, 17/1172,17/1464) ...... 3515 B Bärbel Bas (SPD) ...... 3538 C Michael Link () (FDP) ...... 3515 C (CDU/CSU) ...... 3539 D Michael Roth (Heringen) (SPD) ...... 3516 C Dr. (CDU/CSU) . . . . . 3518 A Tagesordnungspunkt 7: Andrej Konstantin Hunko (DIE LINKE) . . . . 3519 C Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über Manuel Sarrazin (BÜNDNIS 90/ die aufsichtsrechtlichen Anforderungen an DIE GRÜNEN) ...... 3521 A die Vergütungssysteme von Instituten und Dr. (FDP) ...... 3522 B Versicherungsunternehmen (Drucksachen 17/1291, 17/1457) ...... 3541 A Manuel Sarrazin (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 3522 C Hartmut Koschyk, Parl. Staatssekretär BMF ...... 3541 A Franz Thönnes (SPD) ...... 3523 B Manfred Zöllmer (SPD) ...... 3542 A (CDU/CSU) ...... 3524 D (CDU/CSU) ...... 3526 A Björn Sänger (FDP) ...... 3543 C Harald Koch (DIE LINKE) ...... 3544 B Tagesordnungspunkt 6: Dr. (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 3545 A a) Antrag der Abgeordneten Dr. Karl Lauterbach, Dr. Marlies Volkmer, Elke (CDU/CSU) ...... 3546 A IV Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010

Tagesordnungspunkt 8: Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Eisenbahnsicherheit verbessern a) Antrag der Abgeordneten Brigitte Pothmer, Fritz Kuhn, Katrin Göring-Eckardt, weite- (Drucksachen 17/1162, 17/655, 17/1016, rer Abgeordneter und der Fraktion 17/544,17/1459) ...... 3556 B BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Teilhabe , Parl. Staatssekretär und Perspektiven für Langzeitarbeits- BMVBS ...... lose mit einem verlässlichen Sozialen 3556 C Arbeitsmarkt schaffen (SPD) ...... 3557 C (Drucksache 17/1205) ...... 3547 B Patrick Döring (FDP) ...... 3559 A b) Antrag der Abgeordneten Klaus Ernst, Matthias W. Birkwald, Heidrun Dittrich, (DIE LINKE) ...... 3560 A weiterer Abgeordneter und der Fraktion Patrick Döring (FDP) ...... 3560 D DIE LINKE: Gute öffentlich geförderte Beschäftigung – Eine Alternative zu Dr. (BÜNDNIS 90/ Langzeiterwerbslosigkeit und Ein- DIE GRÜNEN) ...... 3561 C Euro-Jobs Ulrich Lange (CDU/CSU) ...... 3562 C (Drucksache 17/1397) ...... 3547 B Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 3547 C Tagesordnungspunkt 10: (CDU/CSU) ...... 3548 C Beschlussempfehlung und Bericht des Fi- Michael Groschek (SPD) ...... 3549 D nanzausschusses zu dem Antrag der Abgeord- neten , Nicolette Kressl, Ingrid Karl Schiewerling (CDU/CSU) ...... 3550 C Arndt-Brauer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Steuerfreiheit der Zu- (Peine) (SPD) ...... 3551 C schläge für Sonntags-, Feiertags- und Pascal Kober (FDP) ...... 3552 C Nachtarbeit erhalten (Drucksachen 17/244, 17/1458) ...... 3563 D Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 3553 A (CDU/CSU) ...... 3564 A Sabine Zimmermann (DIE LINKE) ...... 3554 A Martin Gerster (SPD) ...... 3565 A Dr. Matthias Zimmer (CDU/CSU) ...... 3554 D Dr. Daniel Volk (FDP) ...... 3566 C Dr. Barbara Höll (DIE LINKE) ...... 3568 A Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/ Tagesordnungspunkt 9: DIE GRÜNEN) ...... 3569 A Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- (CDU/CSU) ...... 3570 A schusses für Verkehr, Bau und Stadtentwick- lung Namentliche Abstimmung ...... 3571 A – zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/ CSU und der FDP: Gewährleistung der Sicherheit der Eisenbahnen in Deutsch- Ergebnis ...... 3572 D land – zu dem Antrag der Abgeordneten Uwe Beckmeyer, Sören Bartol, , Tagesordnungspunkt 11: weiterer Abgeordneter und der Fraktion Zweite und dritte Beratung des von der Bun- der SPD: Gewährleistung der Sicherheit desregierung eingebrachten Entwurfs eines im Schienenverkehr muss Priorität ha- Gesetzes zur Abschaffung des Finanzpla- ben nungsrates – zu dem Antrag der Abgeordneten Sabine (Drucksachen 17/983, 17/1465) ...... 3571 A Leidig, Dr. Gesine Lötzsch, Heidrun (CDU/CSU) ...... 3571 B Bluhm, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Den Schienenver- (Erfurt) (SPD) ...... 3575 A kehr als sichere Verkehrsform erhalten (FDP) ...... 3576 A und stärken Katja Kipping (DIE LINKE) ...... 3577 D – zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Anton Hofreiter, , Fritz (BÜNDNIS 90/ Kuhn, weiterer Abgeordneter und der DIE GRÜNEN) ...... 3578 D Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010 V

Peter Götz (CDU/CSU) ...... 3579 D Tagesordnungspunkt 15: Angelika Krüger-Leißner (SPD) ...... 3581 B Zweite und dritte Beratung des von der Bun- desregierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Vor- Tagesordnungspunkt 12: läufigen Tabakgesetzes (Drucksachen 17/719, 17/996, 17/1257) . . . . 3597 D Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- schusses für Arbeit und Soziales zu dem An- trag der Fraktion der SPD: Beschäftigte vor Tagesordnungspunkt 16: Arbeitslosigkeit schützen – Konditionen für Kurzarbeit verbessern Antrag der Abgeordneten (Köln), (Drucksachen 17/523, 17/1446) ...... 3582 C Markus Kurth, Birgitt Bender, weiterer Abge- ordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU) . . . 3582 D GRÜNEN: Europäische Antidiskriminie- (SPD) ...... 3584 A rungspolitik unterstützen – 5. Gleichbe- handlungsrichtlinie der EU nicht länger Johannes Vogel (Lüdenscheid) (FDP) ...... 3585 C blockieren (Drucksache 17/1202) ...... 3598 B (DIE LINKE) ...... 3586 C Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 3587 C Tagesordnungspunkt 17: (CDU/CSU) ...... 3588 C Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und der FDP eingebrachten Ent- Dr. Heinrich L. Kolb (FDP) ...... 3589 C wurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Errichtung einer Stiftung „Deutsches Historisches Museum“ Tagesordnungspunkt 13: (Drucksache 17/1400) ...... 3598 C Zweite und dritte Beratung des von der Bun- (Heilbronn) (CDU/CSU) . . . . 3598 D desregierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Teleme- Dorothee Bär (CDU/CSU) ...... 3599 D diengesetzes (1. Telemedienänderungsgesetz) Dr. Angelica Schwall-Düren (SPD) ...... 3600 B (Drucksachen 17/718, 17/995, 17/1219) . . . . 3590 D Patrick Kurth (Kyffhäuser) (FDP) ...... 3601 B

Tagesordnungspunkt 14: Dr. Lukrezia Jochimsen (DIE LINKE) ...... 3602 B a) Antrag der Abgeordneten Heike Hänsel, (Augsburg) (BÜNDNIS 90/ Jan van Aken, Sevim Dağdelen, weiterer DIE GRÜNEN) ...... 3602 D Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: VI. EU-Lateinamerika-Kari- bik-Gipfel in Madrid: Den Aufbruch Tagesordnungspunkt 18: zur zweiten Unabhängigkeit Latein- amerikas solidarisch unterstützen Beschlussempfehlung und Bericht des Rechts- ausschusses zu der Unterrichtung durch die (Drucksache 17/1403) ...... 3591 A Bundesregierung: Initiative für eine Richtli- b) Antrag der Abgeordneten Thilo Hoppe, nie des Europäischen Parlaments und des Dr. Hermann Ott, Ute Koczy, weiterer Ab- Rates über die europäische Schutzanord- geordneter und der Fraktion BÜND- nung (inkl. 17513/09 ADD 1 und 17513/09 NIS 90/DIE GRÜNEN: Klimaschutz und ADD 2) gerechten Handel mit Lateinamerika (ADD 1 und ADD 2 in Englisch) und der Karibik voranbringen Ratsdok. 17513/09 (Drucksache 17/1419) ...... 3591 B (Drucksachen 17/720 Nr. A.7, 17/1461) . . . . 3603 C Heike Hänsel (DIE LINKE) ...... 3591 C Dr. Jan-Marco Luczak (CDU/CSU) ...... 3603 D Anette Hübinger (CDU/CSU) ...... 3592 B Dr. Eva Högl (SPD) ...... 3604 D (SPD) ...... 3594 A (FDP) ...... 3605 C (FDP) ...... 3595 C Raju Sharma (DIE LINKE) ...... 3606 D Thilo Hoppe (BÜNDNIS 90/ (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 3596 C DIE GRÜNEN) ...... 3607 B VI Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010

Tagesordnungspunkt 19: Neues SWIFT-Abkommen nur nach euro- päischen Grundrechts- und Datenschutz- Erste Beratung des von der Fraktion der SPD maßstäben eingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes (Drucksache 17/1407) ...... 3623 C zur Änderung der Abgabenordnung (Ab- schaffung der strafbefreienden Selbstan- (CDU/CSU) ...... 3623 D zeige bei Steuerhinterziehung) (Drucksache 17/1411) ...... 3608 C Gerold Reichenbach (SPD) ...... 3625 A (FDP) ...... 3626 C

Tagesordnungspunkt 20: (DIE LINKE) ...... 3627 B a) Antrag der Abgeordneten Martin Gerster, Dr. (BÜNDNIS 90/ Sabine Bätzing, , wei- DIE GRÜNEN) ...... 3628 A terer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Den Sport in Europa voranbrin- gen Tagesordnungspunkt 23: (Drucksache 17/1406) ...... 3609 A Antrag der Abgeordneten , b) Antrag der Abgeordneten Viola von Cramon- Undine Kurth (Quedlinburg), Bärbel Höhn, Taubadel, Winfried Hermann, Volker Beck weiterer Abgeordneter und der Fraktion (Köln), weiterer Abgeordneter und der BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Schaffung ei- Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: nes Naturwalderbes vorbereiten und Mo- Sport in der Europäischen Union – Den ratorium für die Privatisierung von Bun- Lissabon-Vertrag mit Leben füllen deswäldern erlassen (Drucksache 17/1420) ...... 3609 A (Drucksache 17/796) ...... 3629 A Martin Gerster (SPD) ...... 3609 B (CDU/CSU) ...... 3629 A Joachim Günther (Plauen) (FDP) ...... 3610 B Petra Crone (SPD) ...... 3629 D Jens Petermann (DIE LINKE) ...... 3611 A Dr. Christel Happach-Kasan (FDP) ...... 3630 D Viola von Cramon-Taubadel (BÜNDNIS 90/ Sabine Stüber (DIE LINKE) ...... 3631 D DIE GRÜNEN) ...... 3611 D Cornelia Behm (BÜNDNIS 90/ Dr. , Parl. Staatssekretär DIE GRÜNEN) ...... 3632 B BMI ...... 3613 A

Zusatztagesordnungspunkt 5: Tagesordnungspunkt 21: Antrag der Abgeordneten Volker Beck (Köln), Antrag der Abgeordneten Manuel Sarrazin, Tom Koenigs, (Bremen), Dr. , Marieluise Beck (Bre- weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- men), weiterer Abgeordneter und der Fraktion NIS 90/DIE GRÜNEN: Umgang mit Guan- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Den Europäi- tánamo-Häftlingen schen Auswärtigen Dienst europäisch, hand- (Drucksache 17/1421) ...... 3633 B lungsfähig und modern gestalten (Drucksache 17/1204) ...... 3614 C Nächste Sitzung ...... 3633 D (CDU/CSU) ...... 3614 D (CDU/CSU) ...... 3617 B Berichtigung ...... 3633 D Dietmar Nietan (SPD) ...... 3618 B (FDP) ...... 3619 D Anlage 1 Dr. Diether Dehm (DIE LINKE) ...... 3621 C Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . 3635 A Manuel Sarrazin (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 3622 C Anlage 2 Erklärung des Abgeordneten Jörn Wunderlich Tagesordnungspunkt 22: (DIE LINKE) zur Abstimmung über den Än- derungsantrag der Fraktion BÜNDNIS 90/ Antrag der Abgeordneten Gerold Reichenbach, DIE GRÜNEN zu dem Entwurf eines Geset- Dr. Eva Högl, Gabriele Fograscher, weiterer zes zur Abschaffung des Finanzplanungsrates Abgeordneter und der Fraktion der SPD: (Tagesordnungspunkt 11) ...... 3635 C Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010 VII

Anlage 3 Markus Grübel (CDU/CSU) ...... 3645 D Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Christel Humme (SPD) ...... 3646 D Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung Florian Bernschneider (FDP) ...... 3647 D des Telemediengesetzes (1. Telemedienände- rungsgesetz) (Tagesordnungspunkt 13) Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE) ...... 3649 B Andreas G. Lämmel (CDU/CSU) ...... 3635 C Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 3650 B Klaus Barthel (SPD) ...... 3636 D Claudia Bögel (FDP) ...... 3637 D Anlage 6 Kathrin Senger-Schäfer (DIE LINKE) ...... 3638 C Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung Tabea Rößner (BÜNDNIS 90/ des Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung DIE GRÜNEN) ...... 3639 B der Abgabenordnung (Abschaffung der straf- befreienden Selbstanzeige bei Steuerhinter- ziehung) (Tagesordnungspunkt 19) Anlage 4 Manfred Kolbe (CDU/CSU) ...... 3651 C Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Än- Martin Gerster (SPD) ...... 3653 B derung des Vorläufigen Tabakgesetzes (Ta- Frank Schäffler (FDP) ...... 3654 B gesordnungspunkt 15) Richard Pitterle (DIE LINKE) ...... 3655 A Elvira Drobinski-Weiß (SPD) ...... 3640 B Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/ Dr. Erik Schweickert (FDP) ...... 3641 A DIE GRÜNEN) ...... 3655 C (DIE LINKE) ...... 3642 A Ulrike Höfken (BÜNDNIS 90/ Anlage 7 DIE GRÜNEN) ...... 3642 C Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung Julia Klöckner, Parl. Staatssekretärin des Antrags: Umgang mit Guantánamo-Häft- BMELV ...... 3643 D lingen (Zusatztagesordnungspunkt 5) Rüdiger Veit (SPD) ...... 3656 C Anlage 5 Serkan Tören (FDP) ...... 3658 A Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung (DIE LINKE) ...... 3658 C des Antrags: Europäische Antidiskriminie- rungspolitik unterstützen – 5. Gleichbehand- Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/ lungsrichtlinie der EU nicht länger blockieren DIE GRÜNEN) ...... 3659 C (Tagesordnungspunkt 16) Dr. Ole Schröder, Parl. Staatssekretär (CDU/CSU) ...... 3644 D BMI ...... 3660 C

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010 3473

(A) (C) Redetext

37. Sitzung

Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010

Beginn: 9.00 Uhr

Präsident Dr. : Gambke, weiterer Abgeordneter und der Frak- Die Sitzung ist eröffnet. tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Finanzumsatzsteuer auf EU-Ebene einfüh- Nehmen Sie bitte Platz. ren Im Namen des ganzen Hauses möchte ich den Kolle- – Drucksache 17/1422 – gen Lothar Binding und Dr. Diether Dehm nachträg- Überweisungsvorschlag: lich zu ihren 60. Geburtstagen Anfang April gratulieren Finanzausschuss (f) und alles Gute wünschen. Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen (Beifall) Union Haushaltsausschuss Die Kollegin Dr. Martina Krogmann hat am 1. April auf ihre Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag ver- b) Beratung des Antrags der Abgeordneten (B) zichtet. Als Nachfolger begrüße ich den Kollegen Hans- Kerstin Andreae, Fritz Kuhn, Christine Scheel, (D) Werner Kammer. Herzlich willkommen! weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall) Pluralistischen Ansatz bei Auswahl der For- Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbun- schungsinstitute für die Gemeinschaftsdia- dene Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste auf- gnose gewährleisten geführten Punkte zu erweitern: – Drucksache 17/1424 – ZP 1 Abgabe einer Regierungserklärung durch den Überweisungsvorschlag: Bundesminister für Verkehr, Bau und Stadtent- Ausschuss für Wirtschaft und Technologie wicklung c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Kerstin Andreae, Fritz Kuhn, Christine Scheel, zur Sicherheit im Luftverkehr weiterer Abgeordneter und der Fraktion ZP 2 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN SPD: Umweltberichterstattung in die Gemein- schaftsdiagnose aufnehmen Haltung der Bundesregierung zur Finanzier- barkeit der FDP-Steuerpläne – Drucksache 17/1423 – Überweisungsvorschlag: (ZP 1 und 2 siehe 36. Sitzung) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ZP 3 Abgabe einer Regierungserklärung durch die d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Bundeskanzlerin Michael Schlecht, Dr. Barbara Höll, Eva Bulling-Schröter, weiterer Abgeordneter und zum Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan der Fraktion DIE LINKE ZP 4 Weitere Überweisungen im vereinfachten Ver- Pluralistischen Ansatz bei Auswahl der For- fahren schungsinstitute für die Gemeinschaftsdia- gnose gewährleisten Ergänzung zu TOP 28 – Drucksache 17/1405 – a)Beratung des Antrags der Abgeordneten Überweisungsvorschlag: Dr. Gerhard Schick, Lisa Paus, Dr. Thomas Ausschuss für Wirtschaft und Technologie 3474 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010

Präsident Dr. Norbert Lammert (A) e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Elvira Meine Bitte gilt auch unseren Gästen auf den Tribü- (C) Drobinski-Weiß, Dr. Wilhelm Priesmeier, nen, unter denen ich besonders den Botschafter der Re- , weiterer Abgeordneter und der publik Polen, Herrn Marek Prawda, begrüße. Fraktion der SPD Der Deutsche Bundestag und die Bürgerinnen und Gentechnisch veränderte Amflora-Kartof- Bürger unseres Landes sind tief erschüttert über den Ab- fel zuverlässig aus der Lebensmittel- und sturz der polnischen Präsidentenmaschine in der Futtermittelkette fernhalten Nähe von Smolensk am Morgen des 10. April 2010, bei dem alle Mitglieder der Delegation ums Leben kamen. – Drucksache 17/1410 – Unter den 96 Opfern befanden sich der polnische Staats- Überweisungsvorschlag: präsident Lech Kaczynski und seine Ehefrau sowie zahl- Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz (f) reiche hochrangige Repräsentanten des polnischen Staa- Ausschuss für Gesundheit tes und der Kirche. Auch die Vizepräsidentin des Senats Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit und zwei Vizepräsidenten sowie weitere 15 unserer Kol- Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen leginnen und Kollegen des Sejm und des Senats zählen Union zu den Opfern. Mit vielen von ihnen haben wir über un- f) Beratung des Antrags der Abgeordneten Hilde sere Parlamente, ihre Ausschüsse und Gremien in den Mattheis, Dr. Karl Lauterbach, Elke Ferner, vergangenen Jahren eng zusammengearbeitet. Sie waren weiterer Abgeordneter und der Fraktion der uns zu Partnern und Freunden geworden. SPD Staatspräsident Kaczynski und seine Delegation wa- Qualität und Transparenz in der Pflege kon- ren auf dem Weg zu einer Gedenkfeier, um am Mahnmal sequent weiterentwickeln – Pflege-Transpa- von Katyn der fast 22 000 polnischen Offiziere und In- renzkriterien optimieren tellektuellen zu gedenken, die 1940 von Spezialeinheiten des sowjetischen Geheimdienstes in einem Wald bei Ka- – Drucksache 17/1427 – tyn ermordet worden waren. Es ist besonders tragisch, Überweisungsvorschlag: dass diese Reise, die als Geste der Versöhnung zwischen Ausschuss für Gesundheit (f) Polen und Russland gedacht war, mit einer solchen Kata- Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz strophe endete. Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Die große Anteilnahme der internationalen Staatenge- ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Volker meinschaft und die Beteiligung am Staatsbegräbnis in Beck (Köln), Tom Koenigs, Marieluise Beck Krakau belegen die Bedeutung und Wertschätzung, die (B) (Bremen), weiterer Abgeordneter und der Frak- Polen im Kreis der Demokratien der Welt genießt. Unser (D) tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gemeinsames Ziel der Versöhnung der europäischen Völker und Nationen werden wir auch im Gedenken und Umgang mit Guantánamo-Häftlingen Respekt für die Opfer des Unglücks von Smolensk mit – Drucksache 17/1421 – umso größerem Ernst weiterführen. Überweisungsvorschlag: Der Deutsche Bundestag trauert mit dem polnischen Innenausschuss (f) Volk und teilt seinen Schmerz über den furchtbaren Un- Auswärtiger Ausschuss falltod seines Staatsoberhauptes, seiner Ehefrau und der Rechtsausschuss Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe übrigen Mitglieder seiner Delegation. Wir drücken den Angehörigen der Toten und dem gesamten polnischen ZP 6 Abgabe einer Regierungserklärung durch den Volk unser tief empfundenes Mitgefühl und unser Bei- Bundesminister für Wirtschaft und Technologie leid aus. Eine Wirtschaftspolitik für Wachstum und Liebe Kolleginnen und Kollegen, mit Bestürzung ha- Arbeitsplätze ben wir in den letzten Tagen erfahren müssen, dass am Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll, so- Karfreitag drei deutsche Soldaten in Afghanistan gefal- weit erforderlich, abgewichen werden. len sind. Am vergangenen Donnerstag riss in der nordaf- ghanischen Provinz Baghlan eine Sprengstofffalle der Da heute als erster Tagesordnungspunkt eine Regie- Taliban weitere drei unserer Soldaten in den Tod. We- rungserklärung der Bundeskanzlerin aufgerufen wird, nige Stunden später wurden Bundeswehrangehörige mit verschiebt sich der dort ursprünglich vorgesehene Tages- Hand- und Panzerabwehrwaffen beschossen. Dabei ordnungspunkt 3 an die Stelle des Tagesordnungspunk- wurde ein deutsches Sanitätsfahrzeug getroffen und ein tes 5. Dieser wird abgesetzt. Außerdem soll der Tages- Militärarzt getötet. ordnungspunkt 24 abgesetzt werden. Sind Sie mit diesen Vereinbarungen einverstanden? – Ich höre keinen Wi- Wir beklagen inzwischen 43 gefallene deutsche Sol- derspruch. Dann ist das so beschlossen. daten. Wir trauern um die Toten. Unsere Anteilnahme gilt den Angehörigen, unsere besondere Fürsorge gilt Bevor wir in unsere Tagesordnung eintreten, bitte ich den Verletzten. Sie, sich von Ihren Plätzen zu erheben und zweier Ereig- nisse in der parlamentarischen Osterpause zu gedenken. Der Auftrag unserer Soldaten ist ein Beitrag zu unse- rer Sicherheit und unserer Freiheit, die in Zeiten des in- (Die Anwesenden erheben sich) ternationalen Terrorismus auch und gerade dort vertei- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010 3475

Präsident Dr. Norbert Lammert (A) digt werden müssen, wo dieser seine Rückzugsräume mussten wir Abschied nehmen von Martin Augustyniak, (C) und Kommandozentralen hat. Nils Bruns und Robert Hartert. Sie waren am Karfreitag in Afghanistan gefallen, ebenso wie sechs afghanische Der Deutsche Bundestag ist sich seiner besonderen Soldaten. Verantwortung für die Militäreinsätze bewusst, die bis- lang jeweils mit hohen parlamentarischen Mehrheiten Sie alle sind gestorben, weil sie Afghanistan zu einem beschlossen worden sind. Niemand unter den Abgeord- Land ohne Terror und Angst machen wollten. Ich spre- neten macht sich seine Entscheidung leicht. Alle ernst- che den Angehörigen, den Kameraden und Freunden haften Einwände und Aspekte, die unter den Soldaten mein tief empfundenes Mitgefühl aus. Ich tue dies im und in der Öffentlichkeit diskutiert werden, sind auch Namen der ganzen Bundesregierung und der Mitglieder Gegenstand der parlamentarischen Beratung und Ent- dieses Hohen Hauses und für die Bürgerinnen und Bür- scheidung. Aus guten Gründen entscheidet der Bundes- ger unseres Landes. Auch an die Verwundeten denken tag jeweils über ein befristetes Mandat. Dies gibt uns die wir. Auch bei ihnen sind meine und unsere Gedanken Möglichkeit und verpflichtet uns zugleich, immer wie- und Sorgen. Wir wünschen ihnen baldige und vollstän- der neu Auftrag und Ziele im Lichte der Erfahrungen dige Genesung. und Lageveränderungen zu überprüfen. Zur selbstkriti- schen Überprüfung der beschlossenen Einsätze gehört Anlässlich des Gelöbnisses von jungen Bundeswehr- dabei auch, die direkten und indirekten Wirkungen eines rekruten am Jahrestag des Stauffenberg-Attentats hat beschleunigten Rückzugs auf Afghanistan und auch auf Altbundeskanzler Helmut Schmidt am 20. Juli 2008 vor die internationale Staatengemeinschaft zu berücksichti- dem Reichstag gesagt – ich zitiere –: gen. Liebe junge Soldaten! Ihr habt das große Glück …, Über vierzig Staaten unterstützen Afghanistan auf einer heute friedfertigen Nation und ihrem … recht- dem Weg, für die eigene Sicherheit selbst Verantwortung lich geordneten Staat zu dienen. Ihr müsst wissen: zu übernehmen. Von diesem Ziel, ein stabiles, demokra- Euer Dienst kann auch Risiken und Gefahren um- tisches afghanisches Staatswesen aufbauen zu helfen, fassen. Aber ihr könnt euch darauf verlassen: Die- darf sich die internationale Staatengemeinschaft nicht ser Staat wird euch nicht missbrauchen. verabschieden. Diesem Auftrag fühlten sich auch unsere Ende des Zitats. gefallenen Soldaten verpflichtet. Unter Einsatz ihres Le- bens haben sie daran mitgewirkt, den Menschen in Ja, dieser Staat, der im letzten Jahr 60 Jahre alt wurde Afghanistan eine friedfertige Zukunft zu ermöglichen. und der in diesem Jahr 20 Jahre Wiedervereinigung fei- ern kann, verlangt von seinen Soldatinnen und Soldaten Der Deutsche Bundestag und die Bürgerinnen und viel, sehr viel, wie wir gerade in diesen Tagen schmerz- (D) (B) Bürger unseres Landes verneigen sich vor den Toten. haft erfahren müssen. Aber niemals wird er sie miss- Den Hinterbliebenen und Angehörigen bekunden wir brauchen. Er stellt sie in den Dienst der freiheitlichen unser tiefes Mitgefühl. Den Verletzten wünschen wir und demokratischen Werte dieses Landes. eine schnelle und vollständige Genesung. Die im Einsatz in Afghanistan gefallenen Soldaten Liebe Kolleginnen und Kollegen, meine Damen und haben wie alle ihre Kameraden, die als Berufssoldaten Herren, Sie haben sich zu Ehren der Opfer von Ihren oder Soldaten auf Zeit tätig sind, einen Eid geleistet, die- Plätzen erhoben. Ich danke Ihnen. sen Eid: Ich rufe nun den Zusatzpunkt 3 unserer Tagesordnung Ich schwöre, der Bundesrepublik Deutschland treu auf: zu dienen und das Recht und die Freiheit des deut- Abgabe einer Regierungserklärung durch die schen Volkes tapfer zu verteidigen. Bundeskanzlerin Ja, die im Einsatz gefallenen Soldaten, derer wir heute zum Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan gedenken, haben der Bundesrepublik Deutschland treu gedient, indem sie einem Mandat folgten, das der Deut- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für sche Bundestag in den letzten acht Jahren mit unter- die Aussprache im Anschluss an die Regierungserklä- schiedlichen Mehrheitsverhältnissen auf Antrag von rung eineinhalb Stunden vorgesehen. – Auch hierzu darf Bundesregierungen in unterschiedlicher Zusammenset- ich Einvernehmen feststellen. Dann ist das so beschlos- zung immer wieder beschlossen hat. Dieses Mandat ist sen. über jeden vernünftigen völkerrechtlichen oder verfas- Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat sungsrechtlichen Zweifel erhaben. die Bundeskanzlerin, Frau Dr. Angela Merkel. (Widerspruch bei der LINKEN) Es ruht auf den Resolutionen des Sicherheitsrates der Dr. Angela Merkel, Bundeskanzlerin: Vereinten Nationen. Es ist unverändert gültig. Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Übermorgen nehmen wir Unsere im Einsatz gefallenen Soldaten waren tapfer, Abschied von vier deutschen Soldaten, die am letzten weil sie ihren Auftrag, unser Recht und unsere Freiheit Donnerstag in Afghanistan gefallen sind. Wir nehmen zu verteidigen, in vollem Bewusstsein der Gefahren für Abschied von Thomas Broer, Marius Dubnicki, Josef Leib und Leben ausgeführt haben. Tapferkeit – das ha- Kronawitter und Jörn Radloff. Schon vor zwei Wochen ben zuerst sie und ihre Angehörigen, aber dann auch wir 3476 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010

Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel (A) alle schmerzhaft erfahren müssen – ist ohne Verletzbar- In einem Interview, das am letzten Sonntag in der (C) keit nicht denkbar. Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung erschienen ist, hat Hauptfeldwebel Daniel Seibert minutiös ein Gefecht Jeder einzelne gefallene Soldat verpflichtet deshalb beschrieben, in das er am 4. Juni des letzten Jahres ge- uns alle, sorgsam mit seinem Andenken umzugehen. Un- riet. Auf die Frage, ob er selbst in diesem Gefecht ge- ser Entwicklungshilfeminister hat die drei schossen und einen Menschen getötet hat, antwortet er Toten des Karfreitags zurück nach Deutschland beglei- – ich zitiere –: tet. Unser Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg ist unmittelbar nach dem Gefecht der ver- Ich habe ihn erschossen. Er oder ich, darum ging es gangenen Woche zurück nach Masar-i-Scharif geflogen. in diesem Fall. Ich bin vor zwei Wochen nach Selsingen zur Trauerfeier (Zuruf von der LINKEN) gefahren, und ich werde am Samstag gemeinsam mit dem Bundesaußenminister und dem Bundesverteidi- Daniel Seiberts Handeln während des Gefechts war es zu gungsminister in Ingolstadt sein. Wir alle haben das verdanken, dass ein Spähtrupp aus einem Hinterhalt der nicht allein als Regierungsmitglieder getan, wir tun es Taliban befreit werden konnte. Hauptfeldwebel Seibert auch – wie viele andere aus diesem Hohen Hause – als wurde für Tapferkeit ausgezeichnet. Das bedeutet ihm, Abgeordnete des Deutschen Bundestages. Denn auch als wie er in dem Interview weiter ausführt, nicht viel. Abgeordnete haben wir diesen Einsatz beschlossen und Wichtiger seien ihm Anerkennung und Respekt für die damit die Verantwortung dafür übernommen, was mit Härte seines Einsatzes, Anerkennung und Respekt von unseren Soldatinnen und Soldaten geschieht. Das, was uns allen, von allen Bürgerinnen und Bürgern, Respekt unsere toten Soldaten für uns getan haben, hat im Mit- für ihn und alle Soldaten, die in Extremsituationen ihres telpunkt unseres öffentlichen Andenkens zu stehen. Lebens kommen, die wir uns in Deutschland kaum oder gar nicht vorstellen können. Ich habe es in den letzten Tagen und Wochen häufiger gesagt und wiederhole es heute: Dass die meisten Solda- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) tinnen und Soldaten das, was sie in Afghanistan täglich Anlässlich der Verleihung des Friedensnobelpreises erleben, Bürgerkrieg oder einfach nur Krieg nennen, das am 10. Dezember des letzten Jahres hat der amerikani- verstehe ich gut. Wer täglich fürchten muss, in einen sche Präsident Barack Obama gesagt – ich zitiere –: Hinterhalt zu geraten oder unter gezieltes Feuer zu kom- men, der denkt nicht in juristischen Begrifflichkeiten. Ja, die Mittel des Krieges spielen eine Rolle in der Wer so etwas erlebt, der fürchtet vielmehr, dass derje- Erhaltung des Friedens. Und doch muss diese nige, der völkerrechtlich korrekt vom nicht internationa- Wahrheit neben einer anderen bestehen, nämlich (B) len bewaffneten Konflikt spricht, die Situation zu ver- der, dass Kriege menschliche Tragödien bedeuten, (D) harmlosen versucht. Deshalb sage ich ganz deutlich: wie gerechtfertigt sie auch immer sein mögen. Der Niemand von uns verharmlost; niemand von uns – ob er Mut des Soldaten ist ruhmreich, ein Ausdruck der im Deutschen Bundestag für oder gegen diesen Einsatz Aufopferung für sein Land, für die Sache und für gestimmt hat – verharmlost das Leid, das dieser Einsatz seine Waffenbrüder. Doch der Krieg selbst ist nie- bei unseren Soldaten und ihren Familien, aber auch bei mals ruhmreich, und wir dürfen ihn niemals so nen- Angehörigen unschuldiger ziviler afghanischer Opfer nen. hinterlässt. In anderen Worten: Wir müssen das Leid beim Na- Am 10. Februar dieses Jahres hat Bundesaußenminis- men nennen. 43 deutsche Soldaten haben seit Beginn un- ter für die Bundesregierung vor die- seres Einsatzes ihr Leben in Afghanistan verloren. sem Hohen Haus erklärt – ich zitiere –: 24 von ihnen sind durch sogenannte Feindeinwirkung und im Kampf gefallen. Unbeteiligte Menschen haben Die Intensität der mit Waffengewalt ausgetragenen ihr Leben verloren – auch infolge deutschen Handelns, Auseinandersetzung mit Aufständischen und deren wie beim Luftschlag in Kunduz am 4. September ver- militärischer Organisation führt uns zu der Bewer- gangenen Jahres. tung, die Einsatzsituation von ISAF auch im Nor- den Afghanistans als bewaffneten Konflikt im Jeder Tod beendet nicht nur ihr Leben, er trifft auch Sinne des humanitären Völkerrechts zu qualifizie- immer gelebte zwischenmenschliche Nähe, Liebe, Hoff- ren. nungen und Träume. Deshalb ist es wieder und wieder wichtig, dass wir uns klarmachen, warum wir junge Das, meine Damen und Herren, ist das, was landläufig Frauen und Männer in ein fernes Land schicken, wo ihre als kriegerische Handlung oder Krieg bezeichnet wird. Gesundheit an Körper und Seele und ihr Leben immer wieder in Gefahr sind. Jedem Mitglied dieses Hauses, das sich ernsthaft mit dieser Frage beschäftigt hat – und das unterstelle ich je- (Zuruf von der LINKEN: Ja, warum denn?) dem von uns –, war dies vor der Abstimmung über das aktuelle Mandat bewusst. Wir können von unseren Sol- Es ist wieder und wieder wichtig, dass wir Politiker die daten nicht Tapferkeit erwarten, wenn uns selbst der Mut Tatsachen klar benennen. Es ist wieder und wieder wich- fehlt, uns zu dem zu bekennen, was wir beschlossen ha- tig, sich auch als Mitglieder der Bundesregierung und als ben. Abgeordnete zu den menschlichen Zweifeln zu beken- nen, die jeder von uns schon hatte oder hat: die Zweifel, (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) ob dieser Kampfeinsatz in Afghanistan tatsächlich un- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010 3477

Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel (A) abweisbar ist. Erst wenn wir uns diesen Zweifeln stellen, cherheit und die Freiheit unseres Landes dort zu begeg- (C) können wir den Einsatz glaubhaft verantworten. So je- nen, wo sie entstehen. denfalls geht es mir. Dennoch – und so stehe ich wie die große Mehrheit dieses Hauses hinter diesem Einsatz. Es ist müßig und an dieser Stelle auch völlig unnötig, darüber zu diskutieren, in welchem Zusammenhang die (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE historischen Ereignisse der Jahre 1989 und 1990, die GRÜNEN]: Gegen den Willen der Bevölke- zum Ende des Kalten Krieges geführt haben, auch mit rung!) dem ebenfalls 1989 abgeschlossenen Abzug der sowjeti- schen Soldaten aus Afghanistan stehen könnten. Diese Dass afghanische Frauen heute mehr Rechte als frü- Diskussion kann und will ich hier nicht führen, aber et- her haben, dass Mädchen zur Schule gehen dürfen, dass was anderes steht fest, und zwar, dass Afghanistan durch Straßen gebaut werden und dass vieles, vieles mehr ge- den Sieg der Taliban Jahre später zur Heimstatt interna- schafft wurde, ist das Ergebnis unseres Einsatzes in Af- tionaler Terrororganisationen wie al-Qaida gemacht ghanistan. wurde. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie Die Terrorangriffe des 11. September hatten ihre bei Abgeordneten der SPD) Wurzeln in den Ausbildungslagern der al-Qaida im von Das lohnt sich, und das ist mancher Mühe wert. den Taliban beherrschten Afghanistan. Aus ihnen sind die Attentäter von New York und Washington und später Dadurch alleine könnte der Einsatz unserer Soldaten die von London und Madrid unerkannt hervorgegangen. dort aber nicht gerechtfertigt werden. In so vielen ande- Viele dieser Gruppen haben unerkannt unter uns gelebt. ren Ländern dieser Welt werden die Menschenrechte Ja, sie haben inzwischen auch bei uns in Deutschland missachtet, werden Ausbildungswege verhindert, sind verheerende Anschläge geplant. Wir hatten bisher ledig- Lebensbedingungen katastrophal – und trotzdem entsen- lich das Glück, sie noch rechtzeitig verhindern zu kön- det die internationale Gemeinschaft keine Truppen, um nen. sich dort militärisch zu engagieren. Nein, in Afghanistan Es wäre jedoch ein Trugschluss, zu glauben, Deutsch- geht es noch um etwas anderes. land wäre nicht im Visier des internationalen Terroris- Der berühmte Satz unseres früheren Verteidigungsmi- mus. Die Anschläge des 11. September haben uns ahnen nisters Peter Struck bringt das für mich auf den Punkt. Er lassen, was sich mittlerweile bestätigt hat: dass sich un- sagte vor Jahren: ter den Bedingungen der Globalisierung die Herausfor- derungen an unsere Sicherheitspolitik nach dem Ende Die Sicherheit Deutschlands wird auch am Hindu- des Kalten Krieges drastisch gewandelt haben. Es wird (B) kusch verteidigt. in Zukunft weit weniger als bisher um Konflikte zwi- (D) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie schen Staaten gehen. Es sind die asymmetrischen Kon- bei Abgeordneten der SPD – Lachen bei der flikte, die unsere sicherheitspolitische Zukunft dominie- LINKEN – Alexander Ulrich [DIE LINKE]: ren werden. Das wird auch nach Jahren nicht besser! – Es sind Taliban und ihre Verbündeten in Afghanistan, Weiterer Zuruf von der LINKEN: Das ist ein die sich hinter Stammes- und Dorfstrukturen unerkannt Mythos!) verstecken und damit selbst hinter Frauen und Kindern, Bis heute hat niemand klarer, präziser und treffender um dann mit militärischen Mitteln zuzuschlagen. Es sind ausdrücken können, worum es in Afghanistan geht. Bis- Piraten vor der Küste Somalias, die mit räuberischen At- lang ist diesem Satz aber vielleicht noch nicht eine aus- tacken unsere Handelswege in Gefahr bringen. Es sind reichende Debatte darüber gefolgt, was genau es bedeu- die Gefahren, die nicht dem klassischen, dem gewohnten tet, wenn wir sagen: Deutschlands Sicherheit wird auch Muster von Konflikten und Kriegen entsprechen, die am Hindukusch verteidigt. auch aus weiter Entfernung in Windeseile direkt zu uns gelangen können. (Dr. Barbara Hendricks [SPD]: Er hat „Frei- Dennoch: Es ist und bleibt zunächst nicht eine militä- heit“ gesagt! Freiheit!) rische Aufgabe, dieser Bedrohung zu begegnen, ganz im Unsere Sicherheit, in einem freien Rechtsstaat leben Gegenteil: Der Einsatz der Bundeswehr ist und bleibt zu können, wird heute von Entwicklungen gefährdet, die nur Ultima Ratio. weit außerhalb unserer Grenzen entstehen können. Das (Widerspruch bei der LINKEN) ist an sich keine neue Entwicklung, aber in Zeiten der Globalisierung hat es eine neue Qualität erlangt. Er kann stets nur das äußerste Mittel sein, streng gebun- den an Völker- und Verfassungsrecht. Der internationale Terrorismus und die von ihm ausge- hende sogenannte asymmetrische Bedrohung durch Men- Deutschland übt sich auch aufgrund seiner Geschichte schen, denen ihr eigenes Leben nichts bedeutet – dies ist nicht nur in Afghanistan in militärischer Zurückhal- eine der großen Schattenseiten der Globalisierung. Doch tung. Ich sage: Deutschland übt sich aus gutem Grund in sowenig man die Globalisierung abschaffen kann – was militärischer Zurückhaltung. Militärische Zurückhaltung ich nicht will, was aber auch gar nicht ginge, selbst wenn und der Einsatz militärischer Mittel als Ultima Ratio – das man es wollte –, so wenig dürfen wir in unseren Anstren- ist Staatsräson der Bundesrepublik Deutschland, und gungen nachlassen, den Gefahren für das Recht, die Si- zwar verbunden mit der politischen Verantwortung, die 3478 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010

Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel (A) wir aufgrund unserer wirtschaftlichen Stärke, unserer der Nato sind wir bereit, wenn er dem Schutz unserer (C) geografischen Lage im Herzen Europas wie auch als Mit- Bevölkerung oder dem unserer Verbündeten dient. glied unserer Bündnisse wahrnehmen. (Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Nehmen Sie Wir sind eingebunden in die Partnerschaft mit den sich mal ein Beispiel an Kanada!) Verbündeten in der Europäischen Union und der NATO. Wer deshalb heute den sofortigen, womöglich sogar al- Alleine vermögen wir wenig bis nichts auszurichten. In leinigen Rückzug Deutschlands unabhängig von seinen Partnerschaften dagegen schaffen wir vieles. Bündnispartnern aus Afghanistan fordert, der handelt Seit 1990, also seit der Wiedervereinigung und dem unverantwortlich. Ende des Kalten Krieges, ist unser Land einen beachtli- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie chen Weg gegangen. bei Abgeordneten der SPD) (Zuruf von der LINKEN: Ja!) Nicht nur würde Afghanistan in Chaos und Anarchie Im Rahmen der Wiedervereinigung haben wir den Auf- versinken, auch die Folgen für die internationale Ge- bau einer Bundeswehr geschafft, die seit 1990 das ge- meinschaft und ihre Bündnisse, in denen wir Verantwor- samte Bundesgebiet umfasst, also auch das Gebiet der tung übernommen haben, und für unsere eigene Sicher- früheren DDR. Schritt für Schritt hat Deutschland inter- heit wären unabsehbar. Die internationale Gemeinschaft national Verantwortung gemeinsam mit unseren Verbün- ist gemeinsam hineingegangen; die internationale Ge- deten in der NATO, in der europäischen Sicherheitspoli- meinschaft wird auch gemeinsam hinausgehen. Handelte tik und im Auftrag der Vereinten Nationen auch sie anders, wären die Folgen – das ist meine Überzeu- außerhalb des Bündnisgebietes übernommen. gung – weit verheerender als die Folgen der Anschläge vom 11. September 2001. War es unter den Bedingungen des Kalten Krieges noch völlig undenkbar, so stand die Bundeswehr wenige Dies zeigt allein ein Blick auf die Landkarte: Afgha- Jahre nach der deutschen Einheit bereits als Teil von nistan hat in seiner unmittelbaren Nachbarschaft die Nuk- Friedenstruppen in Somalia oder auf dem Balkan. 1999 learmacht Pakistan. Wir müssen davon ausgehen, dass erfolgte die Beteiligung Deutschlands am Einsatz im ein weiterer unmittelbarer Nachbar Afghanistans, der Kosovo. Ohne Zweifel, es sind diese Einsätze im Aus- Iran, alles unternimmt, um Nuklearmacht zu werden. land, die heute den Auftrag, die Struktur und den Alltag Vor einigen Tagen habe ich zusammen mit vielen der Bundeswehr wesentlich bestimmen. Staats- und Regierungschefs auf Einladung des ameri- kanischen Präsidenten Barack Obama am Nukleargip- (Widerspruch bei der LINKEN) fel in Washington teilgenommen. Wir waren uns einig: (B) Der Atomterrorismus gehört zu den größten Bedro- (D) Zurzeit beteiligt sich Deutschland mit rund 6 600 Sol- hungen für die Sicherheit der Welt. Organisationen wie datinnen und Soldaten an elf Missionen. Deutsche Solda- al-Qaida versuchen, in den Besitz von Nuklearwaffen zu tinnen und Soldaten sind in Bosnien-Herzegowina, im kommen oder nukleares Material zu erlangen, um damit Kosovo, im Sudan, vor der Küste des Libanon, im Mittel- als sogenannte schmutzige Bomben nuklear angerei- meer und in Afghanistan im Einsatz. Die rechtliche Ab- cherte konventionelle Waffen zu bauen. sicherung dieser Auslandseinsätze ist in mehreren Ent- scheidungen des Bundesverfassungsgerichts erfolgt. Sie (Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Was hat das finden statt auf dem Boden von Mandaten des Deutschen mit Afghanistan zu tun?) Bundestages. Mit ihnen wird über die Abgeordneten ein Besonders gefährlich ist die Situation in Pakistan, Af- wichtiges Zeichen für die Verbindung der Bürgerinnen ghanistans östlichem Nachbarn. Die Lage dort ist heute und Bürger unseres Landes mit unseren Soldatinnen und schon sehr fragil. Gingen wir nicht ganz konsequent die Soldaten gesetzt. nukleare Abrüstung an, wie wir es uns in Washington (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Zu- vorgenommen haben, und verließen wir planlos Afgha- ruf von der LINKEN: 70 Prozent sind dage- nistan, würde die Gefahr erheblich steigen, dass Nuk- gen!) learwaffen und Nuklearmaterial in die Hände von extremistischen Gruppen gelangen könnten. Dies muss Dies ist wichtiger denn je. Denn die Bundeswehr wird verhindert werden, meine Damen und Herren. ihren Auftrag nur dann erfüllen können, wenn sie sich auf den nötigen Rückhalt in der Gesellschaft verlassen (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie kann bei Abgeordneten der SPD) (Zurufe von der LINKEN: Das kann sie aber Wir dürfen niemals vergessen, worum es für uns in nicht!) Afghanistan geht: Es geht nicht um einen Konflikt zwi- schen sogenanntem Abendland und Morgenland, es geht und wenn dieser Rückhalt auch sichtbar wird. nicht um eine Auseinandersetzung zwischen Christen- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) tum und Islam. Ein Im-Stich-Lassen der moderaten mus- limischen Kräfte in Afghanistan durch einen überstürz- Auf der Grundlage dieses rechtlichen Rahmens für ten oder gar alleinigen Abzug wäre nur eines: eine unsere Bundeswehr sage ich unmissverständlich: Zum Ermutigung für alle Extremisten, die weit über Afgha- Einsatz der Bundeswehr im multilateralen Rahmen wie nistan und seine Nachbarn hinausginge. Deshalb kann den Vereinten Nationen, der Europäischen Union und gar nicht oft genug gesagt werden: Es geht um die Si- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010 3479

Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel (A) cherheit Deutschlands, die Sicherheit Europas, die Si- zum Scheitern verurteilt, weil es die kulturellen, histori- (C) cherheit unserer Partner in der Welt, die auch am Hindu- schen und religiösen Traditionen der afghanischen Ge- kusch verteidigt wird. sellschaft unberücksichtigt ließe. Es ist wahr: Die Tradi- tionen der Stammesversammlungen und der Loya Jirga Die Partner der internationalen Gemeinschaft wissen, in Afghanistan sind uns nicht vertraut, sondern fremd. dass wir Afghanistan nicht zu einer Demokratie nach Aber wahr ist auch: Sie sind eine eigene afghanische westlichem Vorbild machen können. Darum hat es auch Tradition der konsensorientierten Entscheidungsfindung, gar nicht zu gehen. Etwas mehr als acht Jahre nach Be- die auf ihre Weise Prinzipien von Rechtsstaatlichkeit er- ginn des Einsatzes müssen wir feststellen – ich sage dies möglichen kann. durchaus auch selbstkritisch und ohne jede Schuldzu- weisung gegen irgendjemanden –: Es gab manche Fort- Nicht nur aufgrund meiner eigenen Erfahrung in der schritte, es gab zu viele Rückschritte, und unsere Ziele DDR halte ich den Rechtsstaat für die größte zivilisatori- waren zum Teil unrealistisch hoch oder sogar falsch. sche Errungenschaft der Menschheit. (Zuruf von der LINKEN: Der Krieg war (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie falsch, von Anfang an!) bei Abgeordneten der SPD – Alexander Ulrich Es ist deshalb in seiner Bedeutung gar nicht hoch genug [DIE LINKE]: Müssen Sie auch das noch be- einzuschätzen, dass auf der Londoner Afghanistan- mühen?) Konferenz vor gut drei Monaten gemeinsam mit der neuen afghanischen Regierung wichtige neue Weichen- Rechtsstaatlichkeit – das meint nicht nur, aber zunächst stellungen unseres bisherigen Vorgehens in Afghanistan die Freiheit der Menschen von Willkür und Unterdrü- vorgenommen wurden. ckung, von Anarchie und Chaos, von einer Situation, in der jeder in der ständigen Angst leben muss, verfolgt (Widerspruch bei der LINKEN) oder getötet zu werden. Erst wenn den Menschen diese Es wurde die Strategie der vernetzten Sicherheit verab- permanente Angst genommen wird, erst wenn der Staat schiedet, in der die Sicherheitspolitik und die Entwick- in der Lage ist, das elementare Bedürfnis seiner Bevöl- lungspolitik eng miteinander verbunden sind. kerung nach Sicherheit zu erfüllen, erst dann gewinnen Menschen auch den Freiraum, ja die Freiheit, sich dem (Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Großer Feh- Aufbau ihres Landes zu widmen, ihrer Bildung, ihrer ler! Ganz großer Fehler!) Wirtschaft, ihrem sozialen Ausgleich. Die Londoner Strategie schließt alle politischen Kräfte Es ist die vornehme Aufgabe der internationalen Staa- Afghanistans ein. Ja, es ist ein Angebot auch an diejeni- (B) tengemeinschaft, Afghanistan beim Aufbau einer sol- (D) gen unter den Taliban und den Aufständischen, die bereit chen Ordnung zu unterstützen, und zwar weil das unse- sind, Gewalt und Terror abzuschwören. Es ist ein Ange- rer eigenen Sicherheit dient. Das ist der Auftrag, den die bot an alle, die sich am Aufbau einer guten Zukunft ihres NATO und ihre Verbündeten, also auch die Soldatinnen Landes beteiligen wollen. und Soldaten der Bundeswehr, dort erfüllen. Es ist rich- Die Londoner Strategie sieht vor, die afghanischen Si- tig: Sicherheit kann es auf Dauer nicht ohne Entwick- cherheitskräfte so auszubilden, dass sie schnellstmöglich lung geben; aber genauso richtig ist: Sicherheit ist die in die Lage versetzt werden, für die Sicherheit und Stabi- Voraussetzung jeder Entwicklung und die Voraussetzung lität ihres Landes selbst zu sorgen. Bereits 2011 wollen dafür, dass sich in einem Land wie Afghanistan nicht wir mit der Übergabe in Verantwortung beginnen. wieder Brutstätten des internationalen Terrorismus bil- den, die uns in Europa und der Welt bedrohen können. (Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Mit mehr Das eine ist die Voraussetzung des anderen. Die interna- Soldaten!) tionale Gemeinschaft wird ihre militärische Präsenz so Die Londoner Strategie stimmt unsere Aufbau- und lange aufrechterhalten, wie es nötig ist, nicht länger, aber Ausbildungsleistung mit den Entwicklungsmaßnahmen auch nicht kürzer. Unser Einsatz ist nicht auf Dauer an- unserer Partner genau ab. Die Londoner Strategie hat gelegt, aber auf Verlässlichkeit. Das ist der Kern der ausdrücklich eine regelmäßige Überprüfung von Bench- Übergabe in Verantwortung, die wir in London eingelei- marks, Zielen und Maßnahmen festgelegt. Eine erste Bi- tet haben und die wir erfolgreich beenden werden. lanz wird die nächste Konferenz am 20. Juli in Kabul (Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Durchhalte- ziehen, an der der Bundesaußenminister teilnehmen parole!) wird. (Lachen bei Abgeordneten der LINKEN) Herr Präsident, meine Damen und Herren, liebe Kol- leginnen und Kollegen, die 43 Soldaten, die in ihrem In einem Wort: Die Londoner Strategie schafft die Vo- Einsatz für Deutschland in Afghanistan ihr Leben verlo- raussetzungen für eine Übergabe in Verantwortung. Da- ren haben, haben den höchsten Preis gezahlt, den ein rum, um eine Übergabe in Verantwortung, hat es der in- Soldat zahlen kann. Sie haben uns Deutsche mit davor ternationalen Staatengemeinschaft zu gehen, nicht um beschützt, dass wir in Zeiten der globalen Dimension un- einen Abzug in Verantwortungslosigkeit wie auch nicht serer Sicherheit im eigenen Land Opfer von Terroran- um den Versuch, Afghanistan zu einer Demokratie nach schlägen werden. westlichem Vorbild zu machen. Das missachtete entwe- der unsere eigenen Sicherheitsinteressen, oder es wäre (Zuruf von der LINKEN: Unglaublich!) 3480 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010

Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel (A) Alle Soldaten, die in Afghanistan Dienst tun, verdienen deutlich macht: Wenn es um Leib und Leben von Men- (C) unsere Solidarität und unser Mitgefühl. Sie leben ständig schen geht, die im Auftrag der Bundesregierung und auf in Angst, verletzt oder getötet zu werden. Sie leben in Beschluss des Bundestages einen militärischen Einsatz dieser Angst, damit wir zu Hause in Deutschland nicht durchführen, dann stehen wir alle als Mitglieder des Par- Angst haben müssen. Dafür gebühren ihnen unser Dank, laments in einer besonderen Verantwortung, die wir unsere Hochachtung und unsere Unterstützung. nicht delegieren können, weder an dem Tag, an dem wir entscheiden, noch in den Wochen und Monaten und Jah- Herzlichen Dank. ren danach. Aber wir sind als Demokraten zugleich ver- (Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU und pflichtet, den Kolleginnen und Kollegen, die einem sol- der FDP – Beifall bei der SPD sowie bei Ab- chen Einsatz nicht zustimmen können, unseren Respekt geordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- nicht zu versagen. Das gilt umgekehrt übrigens genauso. NEN) Natürlich kommen vielen von uns angesichts von schwer verwundeten und getöteten Soldaten und Zivilis- Präsident Dr. Norbert Lammert: ten in Afghanistan, angesichts des Leids in den betroffe- Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem nen Familien und unserer Hilflosigkeit ihnen gegenüber Kollegen Sigmar Gabriel für die SPD-Fraktion. immer wieder Zweifel, ob wir eigentlich das Richtige (Beifall bei der SPD) tun. Warum sage ich das zu Beginn? Weil wir gut daran tun, diese Zweifel auch im Deutschen Bundestag zuzu- lassen. Sie zwingen uns immer wieder dazu, die Frage Sigmar Gabriel (SPD): nach der Rechtfertigung der Gefährdung von Men- Herr Präsident! Frau Bundeskanzlerin! Meine Damen schenleben, egal ob es Deutsche, Afghanen oder Ver- und Herren! Wie alle hier trauern die Sozialdemokrati- bündete sind, zu überprüfen und zu beantworten. Sind sche Partei Deutschlands und die SPD-Bundestagsfrak- unsere Begründungen und die der Vereinten Nationen tion um die verletzten und getöteten deutschen Soldaten, zutreffend? Sind vor allem unsere gesetzten Ziele in die in den vergangenen Wochen Opfer hinterhältiger An- Afghanistan realistisch und erreichbar? Ganz offen- schläge und Angriffe in Afghanistan wurden. Wir erin- sichtlich – machen wir uns nichts vor! – überzeugen wir nern uns zugleich an die früheren Opfer, übrigens auch die Mehrheit der Deutschen derzeit nicht von unseren unter den zivilen Aufbauhelfern, in Afghanistan. Unser Begründungen und Zielen. Mitgefühl gilt den Angehörigen und Familien. Und doch – das weiß ich jedenfalls und wissen sicher viele (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE von uns –: Niemand von uns kann das Leid der Angehö- GRÜNEN]: So ist es!) rigen und Freunde wirklich nachempfinden, und nichts (B) Wir müssen erkennen: Dieser Afghanistan-Einsatz löst (D) kann den Verlust des Ehemanns, des Lebenspartners, des zunehmend Befürchtungen aus, und mit jedem verletz- Freundes, des Vaters, des Sohnes, des Bruders oder des ten und getöteten Soldaten schwinden offensichtlich Ak- Enkels ungeschehen machen. Auch wenn wir als Abge- zeptanz und Rückhalt in unserer Bevölkerung. ordnete des Deutschen Bundestages heute noch einmal und sicher nicht zum letzten Mal über den Sinn des Af- Seit ihrer Gründung hat die Bundesrepublik einen tie- ghanistan-Einsatzes beraten und ihn begründen: Kein fen und wirklich umfassenden politischen, kulturellen Wort und keine Erklärung von uns werden die Angehöri- und sozialen Wandel durchlebt. Unser Land ist durch gen, Familien und Freunde wirklich trösten können. und durch zivil, dem Frieden verpflichtet, ist eine wirk- lich zivile Gesellschaft geworden. Auslandseinsätze der Wir debattieren heute erneut eine Regierungserklä- Bundeswehr sind zwar seit über 15 Jahren keine Neuheit rung, weil wir zu Recht immer wieder darüber beraten mehr, aber immer noch keine Selbstverständlichkeit – müssen, ob die Gründe, die uns, jedenfalls die übergroße und ich sage: Das muss auch so bleiben. Mehrheit dieses Parlaments, zu diesem Auslandseinsatz der Bundeswehr bewogen haben, wirklich so wichtig, (Beifall bei der SPD) so fundamental und so tragfähig sind, dass wir bereit In Deutschland werden Berichte über getötete und gefal- sind, das Leben anderer zu gefährden. Die Soldatinnen lene deutsche Soldaten und Zivilisten nie als Normalität und Soldaten der Bundeswehr sind nicht freiwillig in Af- und mit Gleichgültigkeit aufgenommen – auch das muss ghanistan. so bleiben. Wir dürfen uns an getötete Soldaten ebenso (Zuruf von der LINKEN: Genau so ist es!) wenig gewöhnen wie an die Toten in der Zivilbevölke- rung. Sie leisten dort Dienst, weil dieses Parlament es so be- schlossen hat. Deshalb haben sie zuallererst Anspruch Die Fähigkeit und die Bereitschaft kollektiver Anteil- auf Solidarität, Unterstützung und natürlich auch auf den nahme sind auch eine Lehre aus der deutschen Ge- Respekt vor ihrem Mut und ihrer Tapferkeit in einem schichte. Sie zeichnen unser heutiges Deutschland als ebenso schwierigen wie gefährlichen Einsatz. Zivilgesellschaft aus. Darauf können wir zuallererst ein- mal stolz sein. (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten des BÜNDNIS- (Beifall bei der SPD) SES 90/DIE GRÜNEN) Aber umso mehr ist die Unterstützung der Mehrheit in Über jeden dieser Einsätze wurde hier im Deutschen unserer Bevölkerung das Entscheidende für den Einsatz Bundestag mit großer Ernsthaftigkeit debattiert, was einer Parlamentsarmee. Denn bleibt es beim schwinden- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010 3481

Sigmar Gabriel (A) den Zutrauen unserer Bevölkerung in unsere Entschei- siertes Afghanistan würde am Ende natürlich auch viele (C) dungen im Parlament, dann ahnen und wissen doch auch andere Länder der Welt, auch die Menschen in Deutsch- die Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr in Afgha- land, erneut und zusätzlich bedrohen. nistan, dass ihr Einsatz am Ende auf wackeligen Füßen steht. Neben allen Solidaritätsbekundungen für die Sol- Man muss nun wirklich kein allzu großer Pessimist daten der Bundeswehr muss es uns Abgeordneten, die sein, um sich dramatische Sorgen um die Entwicklung in wir den Einsatz beschlossen haben und ihn weiterhin für Pakistan zu machen, einem Land, das bereits heute un- richtig halten, vor allem darum gehen, die Unterstützung ter enormen Druck steht und in dem sich Atomwaffen der Mehrheit unserer Bevölkerung für den Einsatz zu- befinden. Es geht also bei dem Einsatz der Vereinten Na- rückzugewinnen. Das ist für die Soldatinnen und Solda- tionen – wir tun in der öffentlichen Debatte manchmal ten die eigentliche Rückendeckung, nicht nur Erklärun- so, als sei es ein Einsatz der Bundeswehr – weiterhin um gen im Parlament. die Verhinderung der Destabilisierung des Weltfriedens. Das ist die Begründung für den Einsatz der Vereinten (Beifall bei der SPD) Nationen. Wir sind gebeten worden, uns daran zu beteili- gen. Die SPD – und die sozialdemokratische Bundestags- fraktion – ist in ihrer großen Mehrheit davon überzeugt, (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP dass die Beteiligung Deutschlands am militärischen Ein- und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) satz im Auftrag der Vereinten Nationen in Afghanistan weiterhin gerechtfertigt und notwendig ist; Man kann nicht öffentlich die Forderung erheben, mi- litärische Gewalt zum Schutz von Menschen dürfe nur (Zuruf von der LINKEN: So kennen wir Sie!) durch die Vereinten Nationen eingesetzt werden, sich denn unter dem Schutz der radikal-islamischen Taliban dann aber der Debatte entziehen, wenn die Vereinten Na- hatte das Terrornetzwerk al-Qaida von Afghanistan aus tionen das tun. Deswegen stehen wir zu diesem Auftrag die monströsen Anschläge mit Tausenden Toten geplant der Vereinten Nationen. Aber wir haben in dem Be- und durchgeführt. Nach nicht einmal drei Monaten wa- schluss auch dafür gesorgt, dass es in Afghanistan zu ei- ren das Taliban-Regime gestürzt, die Al-Quaida-Terro- nem Strategiewechsel kommt. Die Bundesregierung ist risten vertrieben und die Ausbildungslager zerstört. Jetzt dem gefolgt. Deshalb haben wir zugestimmt. Der Ein- geht es darum, Afghanistan eben nicht wieder zu einem stieg in eine verantwortungsvolle Perspektive für den Rückzugsgebiet für international operierende Terroristen Abzug aus Afghanistan, der 2011 beginnen soll und im werden zu lassen. Zeitraum 2013 bis 2015 die Sicherheitslage in Afghanis- tan durch afghanische Kräfte, nicht durch internationale Fest steht: In den ersten Jahren des Einsatzes hat es (B) Truppen sicherstellen soll, die Verdopplung des zivilen (D) unbestritten große Erfolge beim Wiederaufbau gegeben. Engagements in Afghanistan, mehr Ausbildung für die (Zuruf von der LINKEN: Welche?) afghanischen Sicherheitskräfte, die stärkere Unterstüt- zung des innerafghanischen Versöhnungsprozesses und Fest steht aber auch: Spätestens seit 2006 hat sich die noch mehr Sorgfalt beim Schutz der zivilen Bevölkerung Situation in Afghanistan deutlich verändert. Die Tali- – das waren und sind die zentralen Gründe, warum wir ban sind wieder erstarkt, ihr Rückhalt in der Bevölke- Sozialdemokraten der Mandatsverlängerung vor weni- rung wächst. Sie beherrschen weite Teile des Landes, sie gen Wochen zugestimmt haben und zu dieser Zustim- verwickeln die internationalen Truppen in einen asym- mung stehen. metrischen Konflikt mit Selbstmordattentaten, Spreng- fallen und Hinterhalten. Nicht nur in Deutschland – das (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten ist wichtig, auch bei uns zu registrieren –, auch in den der CDU/CSU) USA und anderen Staaten, die Truppen nach Afghanis- tan entsandt haben, macht sich eine wachsende Skepsis Eine Bundesregierung, Frau Bundeskanzlerin, die sich breit, ob denn der militärische Einsatz wirklich die ge- diesem Mandat und der damit verbundenen verantwor- wünschte Sicherheit und Stabilität in Afghanistan bewir- tungsvollen Abzugsperspektive verpflichtet fühlt, kann ken kann. sich auf unsere Zustimmung verlassen. Was uns eher Sorge macht, ist, ob die Bundesregierung eine gemein- Die Bürgerinnen und Bürger unseres Landes wollen same Vorstellung von dem hat, was die Bundeswehr dort von uns wissen, wie es in Afghanistan weitergehen soll, leisten soll. Frau Bundeskanzlerin, genauso wie Sie ver- welche Ziele wir dort eigentlich verfolgen, warum deut- stehe und akzeptiere ich, dass Soldatinnen und Soldaten sche Soldaten dort immer noch eingesetzt werden, wofür der Bundeswehr in Afghanistan und auch die Menschen sie ihr Leben riskieren und 43 von ihnen bereits ihr Le- in unserer Bevölkerung angesichts der dramatischen ben verloren haben. Wir Sozialdemokraten haben mit Lage in weiten Teilen Afghanistans nichts von politischer großer Mehrheit dem neuen Bundestagsmandat zuge- Semantik halten. Ich verstehe, dass die Menschen mit stimmt, weil wir der Überzeugung sind, dass ein Ab- dem technokratischen Begriff „nicht internationaler be- bruch des UN-Einsatzes mit weit mehr Gefahren und waffneter Konflikt“ nichts anfangen können, wenn sie Menschenleben bezahlt werden würde, als das im aktu- den Alltag beschreiben sollen. Aber so sehr ich Emotio- ellen Einsatz der Fall ist und sein kann. Nicht nur die nen respektiere, gerade auch die der Soldatinnen und Sol- durchaus in vielen Bereichen erreichte Freiheit und das daten, die dort täglich mutig ihren Dienst tun: In einer so Leben vieler Afghanen würden wieder gefährdet; die elementaren Frage müssen wir Politiker mehr sein als ein Rückkehr des Terrornetzwerkes in ein weiter destabili- Echolot öffentlicher Gefühle. 3482 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010

Sigmar Gabriel (A) (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Arnold gitimieren wollten, auf einmal die Bundesregierung zum (C) Vaatz [CDU/CSU]) Kronzeugen für ihre ursprüngliche Position erklären. Ich verlange von einer Bundesregierung, dass sie mit (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten einer verantwortungsvollen und klaren Stimme spricht des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) und nicht Außen- und Verteidigungsminister für unter- In Wahrheit löst der Kriegsbegriff keines unserer Pro- schiedliche Interpretationen sorgen. Frau Bundeskanzle- bleme. Er hilft nicht bei der dringenden Begründung des rin, Sie haben vorhin den Begriff „Krieg“ erläutert. Ich Einsatzes und übrigens auch nicht bei der Rechtssicher- lese Ihnen einmal vor, was Ihr Außenminister zu den Auf- heit für die Soldaten. Wer meint, dass die Bundeswehr in forderungen Ihres Verteidigungsministers, diesen Einsatz Afghanistan Krieg führen soll, der muss sagen, ob er da- „Krieg“ zu nennen, am letzten Wochenende wörtlich ge- mit etwas konkret anderes meint, als wir das heute tun. sagt hat. Auf die Frage: Wenn der Verteidigungsminister von Krieg redet und der Aber warum reden dann so viele in Berlin von Außenminister nicht, dann muss die Frage erlaubt sein, Krieg – bis hin zur Kanzlerin? ob die Bundesregierung ein gemeinsames Verständnis vom Einsatz hat. Heißt für den Verteidigungsminister antwortet Herr Westerwelle: „Krieg“, dass das Schwergewicht nun doch auf militäri- … Krieg ist traditionell eine militärische Auseinan- scher Gewalt und nicht auf Ausbildung und zivilen Auf- dersetzung zwischen zwei oder mehr Staaten mit bau gelegt werden soll der Absicht der Eroberung oder Unterdrückung. (Zurufe von der CDU/CSU und der FDP) Das ist in Afghanistan erkennbar nicht der Fall. – Sie können diese Frage nachher beantworten –, oder (Dr. Frank-Walter Steinmeier [SPD]: Da hat er sind Sie der Überzeugung, dass mehr zivile Opfer in recht!) Kauf genommen werden müssen? Wenn das so wäre, Ich stimme Ihrem Außenminister zu. Er hat recht. wäre es das Gegenteil dessen, was gestern der ISAF- Kommandeur, General McChrystal, uns und der Öffent- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten lichkeit hier erklärt hat. Er räumt dem Schutz der Zivil- der FDP) bevölkerung absolute Priorität ein. Er will die militäri- Aber wenn er recht hat, dann passen Sie angesichts Ihrer sche Schwächung der Taliban, um Verhandlungen und Kriegsrhetorik bei der Benutzung des Begriffes „Krieg“ politische Lösungen zu erreichen. Das wäre also das Ge- auf. Ihre eigenen Leute kommen auf wirklich absurde genteil unseres Mandatsbeschlusses. Wer das will, der Gedanken, zum Beispiel wenn dazu aufgefordert wird, muss das Mandat ändern. Wir wollen das Mandat nicht ändern, weder semantisch noch faktisch. (B) wir sollten Leopard-Kampfpanzer nach Afghanistan (D) schicken, damit die Taliban einmal in diese furchterre- (Beifall bei der SPD) genden Rohre schauen. Frau Bundeskanzlerin, wenn ich Sie richtig verstan- (Beifall bei der SPD – Widerspruch bei der den haben, wollen Sie das alles nicht ändern. Deswegen FDP) habe ich die Bitte: Sorgen Sie dafür, dass Ihr Verteidi- gungsminister und Ihr Außenminister in Zukunft eine – Ich kann nichts dafür, dass in Ihrer Koalition solche gemeinsame Sprache für das finden, was dort stattfindet, Debatten geführt werden. Ich stimme dem Bundes- am besten die des Außenministers. außenminister ausdrücklich zu. Ein anderer Punkt macht mir zusehends Sorgen: Wie (Beifall bei Abgeordneten der FDP) gehen das Bundesverteidigungsministerium und die Außerdem dürfen wir der Delegitimierung des Afgha- Bundeswehrverwaltung eigentlich mit den im Einsatz an nistan-Einsatzes nicht dadurch Vorschub leisten, dass wir Körper und Seele verwundeten und verletzten Soldatin- so tun, als hätten wir den Einsatz bislang unterschätzt und nen und Soldaten um? Der Wehrbeauftragte des Parla- würden nun auf einmal feststellen, dass er gefährlich und ments hat dazu einige skandalöse Fälle geschildert, die lebensbedrohlich ist. Wer meint, er könne die Soldaten mich wirklich betroffen und in Teilen sprachlos machen. und die Bevölkerung durch die Kriegsrhetorik vom eige- (Elke Hoff [FDP]: Jetzt erst?) nen Realitätssinn überzeugen, dem sei gesagt: Wir So- zialdemokraten sind bei unseren Mandatsentscheidungen Da wurde von einem Zeitsoldaten, der in Afghanistan für den Bundeswehreinsatz in Afghanistan nie davon aus- schwer verwundet wurde, der Auslandsverwendungszu- gegangen, dass es sich eigentlich um einen Einsatz von schlag zurückgefordert, weil er im Voraus gezahlt wurde. Bausoldaten zum Brunnen- und Häuserbau handelt. Wir Nach seiner vierjährigen Dienstzeit wurde der Soldat ent- haben immer gesagt, dass dieser Einsatz gefährlich ist lassen, weil er keine dauerhafte Erwerbsminderung von und dass unsere Soldaten einem Auftrag folgen, bei dem 50 Prozent nachweisen konnte. Die Fürsorgepflicht ge- die Vereinten Nationen militärische Gewalt nicht nur zur genüber Soldatinnen und Soldaten, die ihr Leben in ei- Selbstverteidigung angefordert haben, sondern auch zur nem hochgefährlichen Einsatz riskieren, müssen wir Durchsetzung ihres Auftrages. Wer also heute so tut, als ernster nehmen als bisher. habe sich ein ursprünglich friedlicher Auftrag zum Krieg (Beifall bei der SPD) entwickelt, der muss sich nicht wundern, wenn diejeni- gen, die den eigentlichen Stabilisierungsauftrag der UN Wenn eine gesetzliche Lücke existiert, müssen wir sie nie wahrhaben und akzeptieren, sondern immer nur dele- schließen. Unsere Soldatinnen und Soldaten müssen sich Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010 3483

Sigmar Gabriel (A) darauf verlassen können, dass sie nicht nur bei ihrem le- der Seite der Soldatinnen und Soldaten. Wir stehen zu (C) bensgefährlichen Einsatz geschützt werden, sondern diesem Einsatz und halten das im Februar beschlossene auch, dass die Fürsorgepflicht ihres Dienstherrn nicht Mandat unverändert weiterhin für eine gute und auch endet, wenn sie nach dem Einsatz verletzt oder traumati- rechtlich vollständig tragfähige Grundlage. Dieses Man- siert zurückkehren. dat hat keine Veränderung nötig. Die Bilanz des Afghanistan-Einsatzes ist höchst (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) ambivalent. Fest steht: Bislang hat sich die Hoffnung nicht erfüllt, dass die Fortschritte bei der Bekämpfung Mit diesem Mandat sind erstmals eine Neubewertung der Taliban, beim Aufbau der Sicherheitskräfte und beim der Sicherheitslage in Afghanistan und ein Strategie- zivilen Aufbau so vorankommen, wie wir uns das vor- wechsel hin zu mehr Ausbildung afghanischer Sicher- stellen. Diese Entwicklung dürfen wir nicht ignorieren. heitskräfte und zu zivilem Wiederaufbau verbunden. Wir brauchen nach einem eingeleiteten Strategiewechsel Endlich wird in Deutschland mit großer Offenheit im Zuge des aktuellen Mandates, das wir mit großer über die tatsächliche Lage in Afghanistan und die Ge- Mehrheit beschlossen haben, zur weiteren Beurteilung fährlichkeit des Einsatzes gesprochen. der Lage in Afghanistan zwei Elemente: (Zuruf von der LINKEN: Warum eigentlich Erstens. Wir brauchen eine unabhängige, systemati- nicht früher?) sche und wissenschaftlich gestützte Überprüfung des bisherigen Engagements, um wissen zu können, ob wir Wer die Unterstützung der Menschen für diesen Einsatz unsere Ziele wirklich erreichen. will, muss sich der Debatte stellen. Wir tun dies hier im Deutschen Bundestag immer wieder. Aber es ist auch Zweitens. Wir brauchen mehr denn je eine internatio- unsere Aufgabe, diesen Einsatz öffentlich noch offensi- nale Debatte darüber, wie wir den innerafghanischen ver zu erklären. Wer die Unterstützung der Menschen für Versöhnungsprozess vorantreiben können. diesen Einsatz will, muss die Wahrheit sagen. Lassen Sie mich abschließend noch einmal etwas zu (Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Ja! Fangen den Soldatinnen und Soldaten sagen: Wir bekennen uns Sie einmal an!) – das sage ich nochmals – zur internationalen Verant- wortung für den Einsatz. Aber wir müssen und wollen Ich kann verstehen – ich sage das ausdrücklich auch auch die Erreichbarkeit der Ziele überprüfen; denn sie an die Adresse von Herrn Gabriel –, dass sich unsere sind keineswegs sicher zu erreichen. Das sind wir den Soldaten in Afghanistan wie in einem Krieg fühlen ange- Soldatinnen und Soldaten am allermeisten schuldig. Nur sichts dessen, dass sie immer wieder in Gefechte geraten so lange, wie wir selbst die Erreichbarkeit der Ziele für und es immer wieder Kampfhandlungen gibt. Diese Ge- (D) (B) möglich halten, dürfen wir Soldaten in den Einsatz schi- fühle müssen wir ernst nehmen, und man muss sie auch cken. Nur so lange, wie eine klare und unmissverständli- zum Ausdruck bringen. Das ist in der Vergangenheit zu che Grundlage für unsere Entscheidungen besteht und lange ignoriert worden. Deshalb finde ich es gut, dass diese vor uns selbst zu rechtfertigen ist, können wir es sich die Bundesregierung dem Alltag der Soldatinnen anderen zumuten, in lebensgefährliche Situationen zu und Soldaten stellt und übereinstimmend deutlich macht, geraten. Das ist der Grund, warum die SPD eine solche dass sie die tägliche Realität der Soldatinnen und Sol- Überprüfung einfordert, bevor wir das nächste Mal, in daten in Afghanistan wahrgenommen hat und ihnen zur circa einem Jahr, über das Mandat entscheiden. Seite stehen will. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) (Anhaltender Beifall bei der SPD) Es war deshalb überfällig, dass der Bundesaußen- minister bei der Debatte über das Afghanistan-Mandat Präsident Dr. Norbert Lammert: für die Bundesregierung eine rechtliche Neueinschät- Das Wort erhält nun die Kollegin Birgit Homburger zung der Sicherheitslage im Norden Afghanistans vorge- für die FDP-Fraktion. nommen und den Einsatz als bewaffneten Konflikt im Sinne des humanitären Völkerrechts charakterisiert (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten hat. Dieses Mandat hat niemanden in diesem Hohen der CDU/CSU) Hause im Unklaren gelassen. Damit sind nämlich eine realistische Einordnung der Lage in Afghanistan und Birgit Homburger (FDP): eine höhere Rechtssicherheit für die Soldatinnen und Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Der Soldaten verbunden. Diese neue rechtliche Qualifizie- Deutsche Bundestag trauert um die in Afghanistan gefal- rung hat Folgen für die Handlungsbefugnisse der Solda- lenen Bundeswehrsoldaten. Unsere Gedanken sind bei tinnen und Soldaten und die Beurteilung ihres Verhal- den Familien, Freunden und Kameraden der Gefallenen. tens. Das hat sich gerade am Montag bei der Einstellung Ihnen gelten unser Mitgefühl und unsere Anteilnahme in des Ermittlungsverfahrens gegen Oberst Klein gezeigt. diesen schweren Stunden. Und den verwundeten Solda- Wir begrüßen ausdrücklich, dass dieses Ermittlungsver- ten wünschen wir schnelle und vollständige Genesung. fahren eingestellt wurde. Wir begrüßen ausdrücklich die höhere Rechtssicherheit für unsere Soldatinnen und Das Geschehene hat in Deutschland zu Recht erneut Soldaten. zu einer öffentlichen Debatte über den Afghanistan-Ein- satz geführt. Die FDP-Bundestagsfraktion steht fest an (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) 3484 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010

Birgit Homburger (A) Diese Debatte hat auch dazu geführt, dass wir uns gegen, sondern gemeinsam mit den teils gewählten, teils (C) neuerlich mit der Frage der Ausrüstung und Ausstat- traditionellen lokalen Autoritäten durchsetzen. tung unserer Soldatinnen und Soldaten auseinanderset- Deshalb muss die Diskussion über nötige Reform- zen. Hier zeigt sich, wie wichtig es ist, dass die Bundes- maßnahmen der afghanischen Regierung im Zentrum wehr eine Parlamentsarmee ist. Das garantiert eine der geplanten Afghanistan-Konferenz im Juli in Kabul öffentliche Debatte und eine ständige Überprüfung des stehen. Das bedeutet, dass die Zusagen, die hinsichtlich Handelns. Genau das sind wir denen, die wir in den Ein- guter Regierungsführung, Korruptionsbekämpfung und satz schicken, schuldig. Verwaltungsreform, hinsichtlich Rechtsstaatlichkeit und (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Garantie der Menschenrechte gemacht wurden, von Prä- der CDU/CSU) sident Karzai und seiner Regierung eingehalten werden müssen. Ich glaube, es ist wichtig, dass die internatio- Mit dem Mandat ist ausdrücklich ein Strategiewech- nale Gemeinschaft immer wieder genau die Einlösung sel verbunden. Das haben wir hier beschlossen; das ist dieser Zusagen einfordert. Bestandteil der Begründung des Mandats. Das Leitmotiv Wir wissen um die Gefährlichkeit des Einsatzes. Ich ist die Übergabe der Verantwortung an die Afghanen. will deshalb zum Schluss hier auch noch mal sehr deut- Ich wiederhole hier ausdrücklich, dass niemand länger lich sagen: Jeder Abgeordnete ist sich seiner persönli- als nötig in Afghanistan bleiben will. Wir wollen eine chen Verantwortung bewusst. Wir machen uns die Ent- Abzugsperspektive erarbeiten. Deshalb ist es richtig, scheidung nicht leicht, und wir begleiten die Umsetzung dass die Ausbildung afghanischer Sicherheitskräfte so des Mandats durch die Regierung intensiv. verstärkt wird, dass die Afghanen selbst für Sicherheit und Ordnung sorgen können. Außerdem gibt es eine völ- Unser Dank gilt allen, die sich in Afghanistan enga- lige Neuorientierung des Mandats in Richtung des zivi- gieren: Soldatinnen und Soldaten, Polizisten und zivilen len Wiederaufbaus. Aufbauhelfern. Durch sie wird erst die Umsetzung der politischen Konzepte möglich. Für ihre Leistungen unter Präsident Karzai hat angekündigt, innerhalb der schwierigsten Bedingungen gebühren ihnen Anerken- nächsten fünf Jahre die Sicherheitsverantwortung für nung, Respekt und Hochachtung. Sie sollen wissen, dass sein Land zu übernehmen. Bis dahin ist es noch ein wei- sie sich auf die Unterstützung des Deutschen Bundesta- ter Weg; aber erstmals ist eine Abzugsperspektive er- ges verlassen können. kennbar. Ich möchte vor diesem Hintergrund auch für Vielen Dank. meine Fraktion deutlich sagen: Wer jetzt kopflos abzieht, wer jetzt die Afghanen in einer Situation alleine lässt, in (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) der sie noch nicht selbst für Sicherheit und Ordnung sor- (B) (D) gen können, der trägt Mitverantwortung dafür, wenn das, Präsident Dr. Norbert Lammert: was erreicht wurde, zunichtegemacht wird und Afgha- Dr. Gregor Gysi ist der nächste Redner für die Frak- nistan wieder zum Zentrum des internationalen Terroris- tion Die Linke. mus wird. Das wollen wir ausdrücklich nicht. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Eine weitere Voraussetzung für den Abzug ist ein zi- Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE): viler Wiederaufbau. Ich habe bei Besuchen in Afgha- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich ver- nistan oder bei Gesprächen mit Afghanen hier in trete hier die Fraktion, die von Beginn an gesagt hat: Deutschland oft genug erlebt, dass wir gebeten wurden, Dieser Krieg ist falsch, er führt in ein Fiasko. Und es zu bleiben. Die Menschen dort wollen eine Perspektive wird deutlich, täglich deutlicher, dass wir leider in jeder für sich und ihre Familien. Deshalb haben wir beschlos- Hinsicht recht hatten. sen, dass das zivile Engagement nahezu verdoppelt wird. (Beifall bei der LINKEN) Allein im Haushalt des Bundesministeriums für wirt- schaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung stehen Neu an der Situation ist, dass jetzt neue Vorwürfe 250 Millionen Euro pro Jahr zur Verfügung, das heißt in auch gegen uns erhoben werden. Zum Beispiel sagt Herr dieser Legislaturperiode 1 Milliarde Euro. Der Vergleich Wolffsohn von der Bundeswehrhochschule: Wer gegen mit den Ausgaben im Zeitraum von 2002 bis 2010 – es den Krieg ist, hilft indirekt den Taliban. war insgesamt 1 Milliarde Euro – zeigt, wie ich finde, (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – eindrucksvoll, dass ein Strategiewechsel an dieser Stelle Zuruf von der FDP: Da hat er recht!) herbeigeführt wurde. – Passen Sie auf, was Sie da sagen. Die SPD, die Grü- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten nen, die Linken und andere haben erklärt, dass Deutsch- der CDU/CSU – Zurufe von der LINKEN) land nicht am Irakkrieg teilnimmt. Wenn Sie daraus schlussfolgern, dass wir Hussein unterstützt hätten, ist Wir haben klare Ziele: Wir wollen den Menschen das eine Unverschämtheit. Ich will das ganz klar sagen. eine verlässliche Energie- und Wasserversorgung geben. Wir wollen, dass mehr Kinder in die Schule gehen kön- (Beifall bei der LINKEN – Hans-Michael nen und eine qualitativ gute Ausbildung erhalten. Wir Goldmann [FDP]: Das ist nicht das Thema! – wollen auch helfen, die wirtschaftliche Entwicklung Günter Baumann [CDU/CSU]: Das ist eine überhaupt erst in Gang zu setzen. Das wollen wir nicht Zumutung!) Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010 3485

Dr. Gregor Gysi (A) Es geht auch um die Frage, ob man Respekt vor Sol- (Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Sie brau- (C) daten hat. chen auch einen! – Widerspruch und Zurufe von der LINKEN) (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Kommen Sie einmal mit zur Bundeswehr, Herr Gysi!) – Herr Lindner, Sie können mich ruhig als geistig gestört betrachten, aber das sagt etwas über Ihr Niveau aus, Der Respekt vor Soldaten wird denen abgesprochen, die nicht über mein Niveau, um das auch einmal ganz klar für Frieden kämpfen. Ich halte das für absurd. zu sagen. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der LINKEN) Diejenigen, die gegen den Krieg waren, haben keine ein- Wer für all das die Verantwortung trägt, ist nicht im zige Soldatin und keinen einzigen Soldaten je gefährdet Geringsten berechtigt, den Kriegsgegnerinnen und und haben das auch nicht gewollt. Wenn unserer Forde- Kriegsgegnern mangelnden Respekt vor den Frauen und rung nach dem sofortigen Abzug stattgegeben würde, Männer der Bundeswehr in Afghanistan vorzuwerfen. würden weitere Verletzte und Tote auf allen Seiten ver- Im Unterschied zu Ihnen sind wir nicht bereit, uns mit hindert. verletzten und toten afghanischen Zivilisten, mit verletz- (Beifall bei der LINKEN – Hans-Michael ten und toten deutschen Soldaten und mit verletzten und Goldmann [FDP]: Das glauben Sie doch selbst toten Soldaten afghanischer und anderer Streitkräfte ab- nicht!) zufinden. Dabei geht es uns auch um die afghanischen Zivilisten, (Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Das unter- die hier überhaupt noch nicht erwähnt worden sind. stellen Sie!) (Beifall bei der LINKEN – Jörg van Essen Wer die sofortige Beendigung des Krieges fordert, will [FDP]: Die sind erwähnt worden!) die Gesundheit und das Leben aller Beteiligten schützen. Eine Grüne hat zu mir gesagt: Wenn deutsche Solda- (Beifall bei der LINKEN) ten sterben, dann sollte ich doch wenigstens schweigen Herr Bundestagspräsident, ich fand es sehr richtig, und nicht in diesem Zusammenhang die Beendigung des und Sie haben meine volle Zustimmung, dass Sie heute Krieges fordern. Warum eigentlich nicht? Ich finde, ge- der toten deutschen Soldaten gedacht haben. Dass wir rade wenn Soldaten sterben, muss der Aufschrei groß dafür aufstehen, ist eine Selbstverständlichkeit. Dass wir werden, dieses Fiasko zu beenden. das alle tun, ist ebenfalls eine Selbstverständlichkeit. (Beifall bei der LINKEN) Aber ich füge hinzu: Einen Teil Ihrer Begründung teilen (B) meine Fraktion und ich nicht. Das muss ich deutlich sa- (D) Außerdem hat die grüne Abgeordnete selbst sofort bei gen. dem Tod der über 100 Zivilisten gesprochen. Wieso soll man in dem einem Fall reden dürfen und in dem anderen (Beifall bei der LINKEN) Fall nicht? Nein, es geht nicht um verschiedene Rege- Ich möchte darauf hinweisen, dass es gut für den Bun- lungen, sondern es geht darum, eine Lösung zu finden. destag gewesen wäre, wenn wir auch für die über 100 to- Und die Lösung sehen wir ausschließlich im sofortigen, ten afghanischen Zivilisten aufgestanden wären und ih- im unverzüglichen Abzug der Bundeswehr. rer gedacht hätten. (Beifall bei der LINKEN – Zuruf des Abg. (Beifall bei der LINKEN) Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]) Frau Bundeskanzlerin, wir haben es mit einer schwie- Ich sage Ihnen: Die Mehrheit des Bundestages und rigen Situation zu tun, weil die Begründung der Bun- die Bundesregierung sollten auch vorsichtig sein, ande- desregierung für den Krieg ständig wechselt. Ich darf ren Respekt abzusprechen. Sie schicken die Soldatinnen Sie erinnern: und Soldaten in den Krieg, und zwar, wie wir jetzt erfah- ren, ohne ausreichende Ausbildung und Ausrüstung. Am Anfang hieß es – das war Ihre erste Begründung –, der Krieg müsse geführt werden, um den Terrorismus zu Sie planen jetzt mit dem US-General und ISAF- bekämpfen. Aber wir alle wissen: Man kann mittels Kommandeur McChrystal die Beteiligung der Bundes- Krieg Terrorismus nicht bekämpfen, man erzeugt nur wehr an einer geplanten Großoffensive. Das bringt neuen. doch wohl auch eine große Gefährdung für alle Betei- ligten mit sich. (Beifall bei der LINKEN) Sie haben für 4 500 Soldatinnen und Soldaten in Af- Wir wissen, dass die Taliban nicht direkt Terroristen wa- ghanistan einen einzigen Facharzt für Psychiatrie zur ren, sondern dass sie den al-Qaida-Terroristen die Aus- Verfügung gestellt. Es war der Wehrbeauftragte, nicht bildung etc. ermöglicht haben. Das Problem ist nur, dass wir, der darauf hingewiesen hat, dass die Versorgung der die al-Qaida nicht mehr in Afghanistan, sondern jetzt in zurückkehrenden Soldatinnen und Soldaten bei seeli- Pakistan und anderen Ländern ist. Wenn die Begründung schen Traumatisierungen unzureichend ist. Er bemän- stimmte, dass man Terrorismus bekämpfen müsste, wo gelte auch, dass es zu wenig Fachärztinnen und Fach- er existiert, wo es Lager und Ausbildung gibt, dann ärzte für Psychiatrie hier in Deutschland bei der müssten wir inzwischen in Pakistan, im Jemen, im Su- Bundeswehr gebe. dan und in Somalia einmarschieren. Das fordert zu 3486 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010

Dr. Gregor Gysi (A) Recht niemand. Also ist die Begründung falsch; denn wenn wir abzögen, würden die Taliban wieder herrschen (C) al-Qaida sitzt nicht mehr in Afghanistan. wie früher. Wenn das stimmt, Frau Bundeskanzlerin, wozu waren wir denn dann fast neun Jahre dort? Haben (Beifall bei der LINKEN) wir nichts anderes erreicht als die Gewissheit, dass die Ich sage Ihnen noch einmal: Wenn man Terrorismus alten Zustände wiederhergestellt werden, wenn wir ge- wirksam bekämpfen will, dann braucht man eine ge- hen? rechtere Weltwirtschaftsordnung, einen neuen Dialog (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) zwischen unterschiedlichen Kulturen und Religionen, uneigennützige Entwicklungshilfe und zivilen Aufbau. Darf ich Sie erinnern? Wenn das oben Genannte der Maßstab für Kriege ist, dann müssten wir doch wohl in Ihre zweite Begründung lautet: Man braucht den mili- Uganda einmarschieren wegen der Kindersoldaten, in tärischen Schutz für den Aufbau einer zivilen Ordnung. Bangladesch wegen der Säureattentate auf junge Frauen, Bundesinnenminister de Maizière hat aber festgestellt, in Kenia wegen der Genitalverstümmelung von Mäd- die Polizeiausbildung in Afghanistan sei keine Erfolgs- chen, im Iran wegen der Hinrichtung von Oppositionel- geschichte. Wie wollen Sie erklären, dass Sie das, was len, in Saudi-Arabien wegen der Verweigerung demo- Ihnen in fast neun Jahren nicht gelungen ist, jetzt in ein kratischer Rechte, insbesondere für Frauen, und in viele paar Monaten erledigt bekommen? Wer soll das glau- andere Länder auch. Das kann doch nicht Ihr Ernst sein. ben? Die UNO berichtete, dass nach fast neun Jahren Die Begründung sticht überhaupt nicht. Niemand will Krieg neben einigen Fortschritten Folgendes festzustel- dort einmarschieren, und das ist auch keine Begründung len ist: Die Zahl der Menschen, die in Afghanistan in Ar- für Krieg in Afghanistan. mut lebt, ist von 33 auf 42 Prozent gestiegen. Unterer- nährt sind nicht mehr 30 Prozent, sondern 39 Prozent der (Beifall bei der LINKEN) Afghaninnen und Afghanen. Zugang zu sanitären Ein- Jetzt kommt die vierte Begründung. Bundesminister richtungen haben nicht mehr 12 Prozent der Bevölke- Niebel erklärte bei Frau Will im Fernsehen und Sie, Frau rung, sondern nur noch 5,2 Prozent der Bevölkerung. In Bundeskanzlerin, sagten es heute auch, es gehe darum, Slums leben nicht mehr 2,4 Millionen, sondern 4,5 Mil- zu verhindern, dass Terroristen Zugriff auf Atomwaf- lionen Menschen. All das belegen die Zahlen der UNO. fen bekommen. Ich bitte Sie, Frau Bundeskanzlerin, in Von den Jugendlichen sind nicht mehr nur 26 Prozent, Afghanistan gibt es keine Atomwaffen. Wenn, dann gibt sondern 47 Prozent arbeitslos. Mohnfelder zur Gewin- es die in Pakistan. Das wäre eine Begründung, wenn Sie nung von Rauschgift umfassen nicht mehr 131 000, son- in Pakistan einmarschieren würden, aber nicht für einen dern 193 000 Hektar. Warlords, also die Rauschgift- und Einsatz in Afghanistan. Waffenhändler, regieren wie vor neun Jahren. Wo ist (B) denn der zivile Fortschritt, den Sie dort angeblich seit (Widerspruch bei Abgeordneten der CDU/ (D) acht Jahren mithilfe der Bundeswehr organisieren? CSU) (Beifall bei der LINKEN) Abgesehen davon sollen, wie jetzt festgestellt worden ist, die Atomwaffen in Pakistan genauso sicher sein wie Zivile Helfer berichten, dass der zivile Aufbau ohne die in anderen Ländern, sodass selbst das keine Begrün- Militär erfolgreicher verläuft als mit Militär. Frau dung wäre. Merkel, Herr Gabriel und Frau Homburger, ich sage Ih- nen: Ziviler Aufbau setzt Waffenstillstand und Verhand- Nein, ich sage Ihnen, was das Problem ist: Das Pro- lungen zwischen den verfeindeten Parteien voraus. blem ist, dass Sie genau wissen, dass keine Begründung überzeugt. Deshalb lassen Sie sich jeden Tag eine neue (Beifall des Abg. Hans-Christian Ströbele einfallen. Das ist das, womit wir uns auseinandersetzen [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) müssen. Krieg dagegen schürt Hass und bereichert die Möglich- (Beifall bei der LINKEN) keiten der Bin Ladens, neue Terroristinnen und Terroris- ten zu rekrutieren. Für den zivilen Aufbau braucht man Frau Bundeskanzlerin, dann haben Sie auch heute ergo Frieden und nicht Krieg. wieder gesagt, ein Abzug sei unverantwortlich gegen- über den Bündnispartnern, weil man die nicht alleine (Beifall bei der LINKEN) lassen könne etc. Wir geben für die Bundeswehr in Afghanistan jähr- Erstens ist dazu zu sagen: Wir sind ein souveräner lich 1 Milliarde Euro aus. Wenn wir nur einen Teil dieses Staat. Wir konnten doch auch beim Irakkrieg Nein sa- Geldes für den zivilen Aufbau ausgegeben hätten, wären gen. Warum können wir hier nicht Nein sagen? wir dort deutlich weiter. Zweitens. Kanada und die Niederlande haben be- (Beifall bei der LINKEN) schlossen, ihre Truppen abzuziehen. Was werfen Sie de- nen denn vor? Das sind doch auch souveräne Länder. Sie Also trifft auch diese Begründung nicht zu. gehen nur einen anderen Weg als wir. Als dritte Begründung haben Sie vorgebracht, die Ta- (Beifall bei der LINKEN) liban-Herrschaft müsse ausgeschlossen werden, es gehe um die Herstellung einer Art demokratischer Verhält- Es kommt noch etwas hinzu: Präsident Obama hat er- nisse, nicht gerade unserer, aber immerhin. Ich bitte Sie, klärt, dass er die amerikanischen Truppen ab Mitte 2011 das ist doch kein Kriegsgrund. Es wird jetzt behauptet, abziehen will. Herr Niebel wurde im Fernsehen von Frau Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010 3487

Dr. Gregor Gysi (A) Will gefragt, ob man denn damit rechnen könne, dass (Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Das ging (C) dann auch die deutschen Truppen abgezogen würden. Er manchmal schon schneller! Wir sind wohl nur war zu keiner Antwort fähig. Sie haben heute auch die falsche Fraktion!) nichts dazu gesagt. Ich bitte Sie, Sie wollen dort doch nicht noch alleine bleiben. Also sagen Sie doch wenigs- Volker Kauder (CDU/CSU): tens, dass Sie diesen Weg dann mitgehen. Das ist doch Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und wohl das Mindeste, was man hier erwarten kann. Herren! Wir trauern um die toten Soldaten der letzten (Beifall bei der LINKEN) Tage und Wochen. Wir werden am kommenden Samstag wieder toter Soldaten gedenken. Unsere Gedanken und Herr Gabriel, ich habe Ihnen genau zugehört. Was ha- unsere Gebete sind bei den Angehörigen, bei den Fami- ben Sie denn gesagt? Sie haben gesagt, der Krieg ist lien dieser Soldaten. Wir drücken ihnen unsere Anteil- richtig, aber Sie wollen ihn nicht so nennen. Das ist doch nahme aus. Wir wissen, was wir jungen Menschen, die keine sozialdemokratische Politik. Ich bitte Sie! im Dienste unseres Landes unterwegs sind, zumuten, ja, (Beifall bei der LINKEN – Widerspruch der auch zumuten müssen im Interesse der Verteidigung un- Abg. Dr. Barbara Hendricks [SPD]) serer Sicherheit und Freiheit. Vollziehen Sie doch einmal den Wechsel und kämpfen Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, nach diesen Sie endlich für den Abzug. tragischen Vorgängen ist es völlig richtig, dass wir uns heute noch einmal fragen: Ist der Einsatz in Afghanistan richtig, und ist er notwendig? Ich finde, die Bundeskanz- Präsident Dr. Norbert Lammert: lerin hat in beeindruckender Weise deutlich gemacht, Herr Kollege Gysi! warum dieser Einsatz notwendig ist, nicht nur konkret der Einsatz in Afghanistan, sondern auch den Zusam- Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE): menhang mit der strategischen Lage dieses Landes. Ich bin sofort fertig, Herr Präsident. – Ich sage es Peter Struck hat 2002 bei der Neuformierung der Bun- ganz klar, Frau Homburger: Wir wollen nicht kopflos deswehr gesagt, dass die Sicherheit unseres Landes am raus. Sie sind kopflos reingegangen. Das ist das Pro- Hindukusch verteidigt wird. Er hat in einer Regierungs- blem, mit dem wir es zu tun haben. erklärung im Jahr 2004 noch einmal präzisiert, was – das müssen wir uns immer wieder ins Gedächtnis zurückru- (Beifall bei der LINKEN) fen – der Ausgangspunkt des Einsatzes der Bundes- Ich sage Ihnen deshalb zum Schluss: Ich bin davon wehr war: Wir verteidigen die Sicherheit unseres Lan- des am Hindukusch, vor allem dann, wenn sich in (B) überzeugt, dass auch die Mitglieder der Bundesregie- (D) rung und viele Mitglieder des Bundestages – weit mehr diesem Land eine Bedrohung wie der Terrorismus for- als die Mitglieder unserer Fraktion – wissen: Dieser miert. Das ist die erste Begründung dafür, dass wir sa- Krieg war, ist und bleibt falsch. Frau Merkel, Ihnen fehlt gen: Wir dürfen nicht zulassen, dass von Afghanistan nur der Mut, dies einzuräumen, die Bundeswehr so wieder große und hohe Gefahren für unser Land, für die schnell wie möglich aus Afghanistan abzuziehen und Menschen in unserem Land ausgehen. Liebe Kollegin- endlich entsprechend dem Willen der großen Mehrheit nen und Kollegen, das ist der entscheidende Punkt. der Bevölkerung unseres Landes zu handeln. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Anhaltender Beifall bei der LINKEN) Die Bundeswehr als eine Armee, die vom Deutschen Bundestag eingesetzt wird, hat Anspruch darauf, dass Präsident Dr. Norbert Lammert: wir, wenn wir sie einsetzen, auch zu ihr stehen. Deswe- Nächster Redner ist der Kollege Volker Kauder für gen haben wir allen Grund, zu sagen: Wir haben das die CDU/CSU-Fraktion. letzte Mandat in klarer Kenntnis dessen, was wir von der Bundeswehr erwarten, erteilt und hier im Deutschen (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Bundestag mit großer Mehrheit beschlossen. Wir haben neten der FDP – Alexander Ulrich [DIE es so formuliert, dass wir einmal dafür sorgen wollen, LINKE]: Kein Ordnungsruf?) dass dieses Land nicht mehr Aufmarschgebiet von Ter- – Darf ich zu den Aufforderungen aus dem Plenum kurz roristen ist, zugleich aber auch dafür sorgen wollen, dass etwas sagen: Zwischenrufe, die ich nicht gehört habe, dieses Land seine Sicherheit und damit auch unsere pflege ich mir im Protokoll anzusehen, bevor ich dazu Sicherheit selbst garantieren kann. Sehr verehrte Kol- Stellung nehme. leginnen und Kollegen, das betrifft sowohl unsere Si- cherheit als auch die Sicherheit der Menschen in Afgha- (Zurufe von der LINKEN: Das haben wir nistan. sogar hier hinten gehört!) Sehr geehrter Herr Kollege Gysi, ich hätte mir von Ih- Aber ich nutze gerne die Gelegenheit, allgemein da- nen an diesem Tag inhaltlich, aber auch von der Form rauf hinzuweisen, dass man die Ernsthaftigkeit dieses her einen anderen Auftritt gewünscht; das ist jedoch Ihre Themas nicht durch Temperamentwettbewerbe auf allen Sache. Ich will nur eines sagen: Wir haben eine Per- Seiten unterstreichen muss. Im Übrigen komme ich auf spektive für den Rückzug aus Afghanistan mit der den Vorgang zurück, sobald ich mich damit vertraut ge- Aussage verbunden, dass die Sicherheitskräfte in Afgha- macht habe. nistan die Sicherheit dort selbst gewährleisten können. 3488 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010

Volker Kauder (A) Ich sage Ihnen: Das war zwingend notwendig. Herr Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen, wir haben in (C) Gysi, wenn wir dies nicht machen würden, sondern Afghanistan keine Ausbildungslager mehr. Von diesen schlicht und ergreifend sagen würden: „Irgendwann, Ausbildungslagern ging aber die Gefahr aus. Wir haben morgen, übermorgen, heute, ziehen wir aus Afghanistan jetzt das eine oder andere Ausbildungslager noch im be- ab“, dann würden wir die Menschen in großer Sorge und nachbarten Pakistan, aber bei weitem nicht mehr in dieser Unsicherheit zurücklassen, Menschen, die nicht wissen, Dichte und Qualität. Trotzdem haben wir noch immer auf wen sie sich verlassen können, und die damit rech- Wanderungsbewegungen von Europa in Ausbildungsla- nen müssen, dass die Taliban zurückkommen und sie ger nach Pakistan. Dies ist eine Bedrohung für unser sich nicht wehren können. Wir wissen doch – davon ha- Land. Nicht umsonst haben wir unter Strafe gestellt, ben Sie keinen Ton gesagt –, dass Taliban-Kämpfer wenn jemand bewusst in ein solches Lager geht, um sich nachts Dörfer überfallen und Menschen hinmetzeln. Das ausbilden zu lassen und dann terroristische Anschläge darf nicht mehr passieren. Deswegen muss die Sicher- auszuführen. heit in Afghanistan für die Menschen dort und für uns in unserem Land gewährleistet werden. Dies alles würde sich weiter verstärken, wenn wir in Afghanistan nicht eine Regierung hätten, die dies unter- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bindet, sondern eine Regierung, die dies zulässt und för- bei Abgeordneten der SPD) dert. Die Taliban sind im Augenblick vielleicht nicht die Gefahr, aber al-Qaida ist von der Terrorlandkarte nicht Deutschland ist an einer Aktion beteiligt – dies hat verschwunden. Herr Gabriel völlig richtig gesagt –, die von der UNO beschlossen worden ist. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE Dass al-Qaida nur darauf wartet, dass sie wieder bessere GRÜNEN]: Wir sind an einem Krieg betei- Möglichkeiten bekommen, ihre „terroristischen Aufga- ligt!) ben“ zu erfüllen, ist doch völlig klar. Nach den bitteren Erfahrungen im vergangenen Jahrhun- Deswegen muss noch einmal klar und deutlich formu- dert mit Weltkriegen war eine der zentralen Forderun- liert werden, worum es geht und was die jungen Menschen gen, eine Einrichtung zu schaffen, die Terror, Ungerech- als Soldatinnen und Soldaten in Afghanistan machen. Es tigkeit und Kriege verhindern kann. Diese haben wir in geht darum, Sicherheit herzustellen, zu verhindern, dass der UNO gefunden. Die UNO selber hat aber kein einzi- der Terrorismus eine neue Aufmarschbasis und einen ges Instrument, um das, was sie beschließt, auch durch- neuen Nährboden bekommt. Es geht schlicht und ergrei- zuführen und umzusetzen. Deswegen ist die UNO darauf fend darum, dass diese jungen Menschen einen entschei- (B) angewiesen, dass ihre Mitglieder das, was dort beschlos- denden Beitrag dazu leisten, dass wir uns in unserem (D) sen worden ist, auch vollziehen. Die Bundeswehr macht Land sicher fühlen und sicher bewegen können, Herr im Verein mit 40 anderen Armeen nichts anderes als das, Gysi. Darum geht es: um die Sicherheit der Menschen in was in der UNO beschlossen worden ist – dafür zu sor- unserem Land. gen, dass kein Terror mehr von Afghanistan ausgeht –, umzusetzen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Ich bin sicher, dass wir mit unserer Arbeit zusammen mit den 40 anderen Nationen erreichen können, dass Wir haben in Afghanistan, wie ich finde, viel erreicht. eine demokratisch gewählte Regierung in Afghanistan Es bleiben aber noch Fragen offen; darauf hat die Bundes- Sicherheit herstellt. Junge Menschen bei der Polizei aus- kanzlerin hingewiesen. Afghanistan hat Grenzen zu Pa- zubilden, braucht auch bei uns mehr als ein Jahr. Wir bil- kistan und zum Iran. Es ist, wie ich glaube, unbestritten den in Afghanistan mit großer Intensität Polizeibeamte – wahrscheinlich auch bei Ihnen, Herr Gysi; das möchte aus. Wir bilden aber auch Soldatinnen und Soldaten aus, ich Ihnen unterstellen –, dass vom Iran eine Gefahr für damit sie ihrer Aufgabe gewachsen sind. Wenn dies ge- die Sicherheit in Europa und in Deutschland ausgeht, lingt, wenn eine gut ausgebildete und gut ausgerüstete wenn dieses Land Atomwaffen hat. Wir sehen jetzt, wie afghanische Armee dem Land Sicherheit bringen und schwer es ist, mit den Mitteln der Diplomatie und der Ver- aufrechterhalten kann, dann haben Terroristen in Afgha- handlung das Ziel zu erreichen, das die UNO formuliert nistan keine Chance mehr. Genau das ist das Ziel. Wenn hat: dass der Iran auf Atomwaffen verzichtet. Wir sehen, wir das erreicht haben – wir gehen mit ganzer Kraft he- wie schwer das ist, obwohl alle in der Welt sagen: Wir ran –, dann können wir die Aufgabe der Sicherheit ver- wollen nicht, dass der Iran Atomwaffen hat. – Wenn wir antwortungsvoll in die Hand der afghanischen Sicher- sehen, wie schwer dies ist, haben wir allen Grund, zu ver- heitskräfte legen. hindern, dass sich in Afghanistan etwas etabliert, was diese Gefahr, die vom Iran ausgeht, vergrößert und nicht (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) verkleinert. Die afghanische Bevölkerung soll wissen: Wir lassen sie (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) nicht im Stich. Wenn die Sicherheit gewährleistet ist und die Bevölkerung keine Angst davor haben muss, dass die Deswegen würde ich dringend raten, die Sache ein biss- Taliban mit ganzer Macht und Brutalität wie vor diesem chen strategischer und auch unter dem Gesichtspunkt der Einsatz wieder zurückkommen, dann haben wir unser Sicherheit der eigenen Bevölkerung zu sehen. Ziel erreicht. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010 3489

Volker Kauder (A) Liebe Kolleginnen und Kollegen, klar ist auch, dass Manchmal sagen Sie als Bundesregierung schlicht und (C) wir alles zur Verfügung stellen müssen, was unsere Sol- ergreifend auch die Unwahrheit. Sie dokumentieren das datinnen und Soldaten brauchen, um ihre gefährliche auch. Sie haben in Ihrem Afghanistan-Konzept geschrie- Aufgabe zu erfüllen. Deswegen sagen wir als Regie- ben, die neue Afghanistan-Strategie sei eine Schwer- rungskoalition zu, dass wir das, was die militärische punktverlagerung von einem eher offensiven Vorgehen Führung und der Bundesverteidigungsminister an Aus- hin „zu einer grundsätzlich defensiven Ausrichtung“. Wir rüstung für die Soldaten im Einsatz und für die Ausbil- haben gestern im Ausschuss sehr genau zugehört, was dung für notwendig halten, auch zur Verfügung stellen General McChrystal gesagt hat. Auf die Frage, was dort werden. Darauf dürfen sich Bundeswehr und unsere Sol- in den nächsten Wochen und Monaten passieren soll, hat datinnen und Soldaten verlassen. er trocken gesagt: It’s classical counterinsurgency. Also klassische Aufstandsbekämpfung. Das nennen Sie (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) „grundsätzlich defensiv“? Es kann ja sein, dass Sie diese Wir können heute feststellen, dass der tragische Tod Aufstandsbekämpfung machen müssen, aber dann sollten der Soldaten, der jungen Menschen, die in diesem Ein- Sie das auch so benennen. Sie praktizieren aber das Ge- satz in Afghanistan fallen, für alle Betroffenen, auch für genteil. uns, furchtbar ist. Keine Entscheidung im Deutschen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Bundestag fällt uns Kolleginnen und Kollegen so schwer wie die Entscheidung, junge Menschen in den Krieg, in Die übergroße Mehrheit meiner Fraktion hat diesem den Einsatz nach Afghanistan zu schicken; denn bei die- Mandat nicht zugestimmt, weil wir in dem Partnering, ser Entscheidung sehen wir alle die Gesichter aus unse- das übrigens in dem Mandat steht, die Gefahr gesehen rer Heimat, aus unseren Wahlkreisen, und wir alle hof- haben, dass man sich auf die Rutschbahn hin zu einer of- fen, dass die Soldatinnen und Soldaten wieder aus dem fensiven Aufstandsbekämpfung begibt. Wir haben davor Einsatz zurückkommen. Zur gleichen Zeit müssen wir gewarnt, dass das mit erheblichen Risiken verbunden ist. aber auch sagen: Es dient einem großen Ziel: der Sicher- Was sagte Ihr Bundesverteidigungsminister Herr zu heit der Menschen in unserer Heimat. Guttenberg – ich zitiere ihn aus der FA Z vom 25. Januar 2010 –: Dieses Konzept sei nicht automatisch mit mehr Herzlichen Dank. Risiken für die Soldaten verbunden. Das ist schon keine (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Beschönigung mehr, das ist schlicht und ergreifend die Unwahrheit gewesen, die Herr zu Guttenberg da gesagt hat. Präsident Dr. Norbert Lammert: (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (B) Das Wort erhält nun der Kollege Jürgen Trittin, Frak- (D) sowie bei Abgeordneten der SPD) tion Bündnis 90/Die Grünen. Partnering – auch hier zitiere ich Stanley McChrystal – ist gefährlich und mit extremen Risiken Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): verbunden. – Das kann man heute nachlesen. Er führt Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich glaube, weiter aus: Da nützt es nichts, um den heißen Brei he- wir alle hätten es schön gefunden, wenn diese Regie- rumzureden. – Ja, der General hat recht, und ich hätte rungserklärung aus diesem Anlass nicht nötig gewesen mir gewünscht, eine Bundesregierung zu haben, die bei wäre. Unsere Gedanken, unsere Trauer gehören den getö- ihrer Afghanistan-Politik endlich aufhört, um den heißen teten und verletzten Soldatinnen und Soldaten und ihren Brei herumzureden. Angehörigen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Vor dem Hintergrund dieser Eskalation, der wir hier sowie bei Abgeordneten der SPD) ins Auge sehen, wäre es allerdings auch Zeit für eine wahrhaftige Bestandsaufnahme gewesen: Was machen Stattdessen klopfen Sie sich selber auf die Schulter, weil wir in Afghanistan? Haben wir einen Stabilisierungsein- Sie sich jetzt trauen, das Wort „Krieg“ in den Mund zu satz, oder machen wir da Aufstandsbekämpfung? Was ist nehmen. eigentlich jetzt das politische Ziel? Wofür halten unsere Als Konsequenz auf Ihre Hilflosigkeit, in die Sie da Soldatinnen und Soldaten den Kopf hin? Wie lange müs- reingestolpert sind – Sie tun so, als ob Sie hineingestol- sen sie das noch tun? pert sind –, Ich habe Ihnen sehr aufmerksam zugehört. Die Ant- (Birgit Homburger [FDP]: Wer ist da reinge- wort auf diese Fragen, Frau Merkel, sind Sie leider weit- stolpert? Wer hat den Einsatz angefangen? Ich gehend schuldig geblieben. Sie haben die Tradition fort- glaube, ich spinne!) gesetzt, die Ihre Afghanistan-Politik der letzten Zeit fordern Sie jetzt die Ausrüstung mit Haubitzen. Mir geprägt hat. Sie sind nicht für Transparenz und Wahrhaf- muss erst einmal jemand erklären, wie Sie mit Haubitzen tigkeit. Sie haben uns hier am 8. September 2009, ob- die Gefährdung durch Sprengfallen – durch sie sind die wohl Sie es besser wussten, nichts über die zivilen Opfer Soldaten gestorben – vermindern wollen. Das ist einfach bei Kunduz gesagt. Ihre Fraktion ist nicht länger gewillt, nur Rhetorik, um die Heimatfront zu beruhigen, aber das, was dort passiert ist, aufzuarbeiten. Sie möchte den hilft den Soldatinnen und Soldaten überhaupt nicht. Deckel der Akten zumachen. Von einer lückenlosen Auf- klärung kann nicht die Rede sein. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) 3490 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010

Jürgen Trittin (A) Wenn Sie jetzt das Wort Krieg verwenden, Frau Bun- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (C) deskanzlerin, dann müssten Sie eigentlich auch den Mut sowie bei Abgeordneten der SPD) haben, zu sagen, was das Ziel dieses Krieges ist. Sie ha- Ich glaube, die Soldatinnen und Soldaten haben An- ben sich dabei etwas leichtfertig, wie ich finde, auf Peter spruch darauf, zu wissen, für welche Ziele und wie lange Struck berufen. In Afghanistan sind wir im Auftrag der sie Leib und Leben zu riskieren haben. Diese Antwort Vereinten Nationen mit 43 anderen Nationen. Der Auf- sind Sie heute schuldig geblieben. trag lautet: Unterstützung der gewählten afghanischen Regierung. Was tut diese Regierung zurzeit? Sie bereitet (Elke Hoff [FDP]: Das ist nicht wahr!) sich intensiv auf die Zeit nach dem Abzug der internatio- nalen Gemeinschaft vor. Dafür sucht sie Verbündete. Afghanistan ist aber kein Einzelfall. Globale Risiken Das ist verständlich. wie Aufrüstung, Armut, Klimaentwicklung und Res- sourcenwettkampf erzeugen Staatszerfall, Bürgerkriege, Ich hätte von Ihnen eine Einschätzung erwartet, was das, was Sie zu Recht asymmetrische Konflikte ge- Sie von diesen Bündnisbemühungen halten, die Herr nannt haben. Friedenssicherung in dieser unsicher ge- Karzai unternimmt. Herr Karzai hat ja Verbündete ge- wordenen Welt setzt dann handlungsfähige Vereinte Na- funden: Indien auf der einen Seite, der Iran auf der an- tionen voraus. Staatszerfall entgegenzuwirken, wird deren Seite und die Nordallianz, die schon heute in sei- auch in Zukunft Stabilisierungseinsätze erfordern. ner Regierung ist. Und er trifft sich mit weiteren Ich sage in dieser Situation: Deutschland wird sich potenziellen Unterstützern. Mitten in Kabul trifft er dem nicht entziehen können. Ich sage auch: Deutschland sich mit Hekmatjar, einem von der UN und den USA ge- wird sich dem nicht entziehen dürfen. Aber gerade des- suchten Kriegsverbrecher, um auf diese Weise einen in- halb müssen wir aus den Erfolgen und aus den Defiziten ternen Ausgleich in Afghanistan herbeizuführen. dieses Einsatzes in Afghanistan lernen. Das ist der Es kann zwar sein, Frau Merkel, dass es eine Befrie- Grund, warum wir eine Evaluierung dieses Einsatzes dung und Stabilisierung Afghanistans nur mit solchen von unabhängiger Stelle brauchen, und zwar eine Evalu- schmutzigen Deals gibt, aber warum haben Sie dann ierung des gesamten Einsatzes, also der jetzigen Afgha- nicht den Mut, zu sagen: „Das ist der Preis für die Stabi- nistan-Politik, der Afghanistan-Politik der Großen Ko- lisierung Afghanistans“? Warum drücken Sie sich vor alition und auch der Afghanistan-Politik von Rot-Grün. diesen unangenehmen Wahrheiten? Die Bereitschaft, sich in dieser Frage überprüfen zu las- sen, gehört zu der notwendigen Wahrhaftigkeit aus die- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) sem Hause, auf die die Zivilisten und die Soldatinnen und Soldaten, die sich in Afghanistan um Stabilisierung Sie setzen Soldatinnen und Soldaten in Afghanistan (B) bemühen, einen Anspruch haben. (D) tödlichen Gefahren aus. Sie sollen im Zweifelsfall selber töten. Sollen sie das tun, damit Herr Karzai eine bessere Vielen Dank. Verhandlungsposition mit Herrn Hekmatjar hat? Das ist (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) doch die Frage, die Sie an dieser Stelle beantworten müssen, und es geht nicht um Kriegsrhetorik. Ich bin Präsident Dr. Norbert Lammert: sehr vorsichtig mit diesem Wort. Es gibt Regionen in Af- ghanistan, in denen kriegerische Zustände herrschen. Es Bevor ich der nächsten Rednerin das Wort erteile, gibt andere Regionen, wo dies nicht der Fall ist. Aber ei- weise ich darauf hin, dass es ausweislich des Stenografi- nes weiß ich gewiss: Einen Stabilisierungseinsatz führen schen Protokolls während der Rede des Kollegen Gysi Sie nicht mit Kriegsrhetorik zu einem Erfolg. Sie führen nach seinem Hinweis auf die Notwendigkeit von mehr ihn damit zwangsläufig zu einem Misserfolg. Fachärzten für Psychiatrie in der Bundeswehr einen Zwischenruf des Kollegen Martin Lindner gegeben hat, Wenn es das Ziel des Bundeswehreinsatzes ist, eine den ich ausdrücklich als unparlamentarisch rüge. Ich Verhandlungslösung zu erreichen, dann muss man auch verbinde dies noch einmal mit dem ausdrücklichen Hin- Verhandlungsziele und einen Zeitrahmen haben. Der weis, dass wir auch und gerade bei einer natürlich kriti- Bundesaußenminister pflegt bei solchen Gelegenheiten schen Auseinandersetzung auf persönlich herabsetzende, immer zu sagen, man dürfe den Taliban nicht sagen, polemische Bemerkungen verzichten sollten. wann man abzieht. Das haben, glaube ich, weder die (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Holländer noch die Kanadier gemacht, und auch die sowie bei Abgeordneten der SPD) USA haben das nicht vor. Nun erteile ich der Kollegin Elke Hoff für die FDP- Die Taliban wissen sehr wohl, dass die Präsenz nicht Fraktion das Wort. auf Dauer sein wird. Wir alle wissen, dass die Präsenz in Afghanistan keine weiteren zehn Jahre andauern wird. (Beifall bei der FDP) Aber wenn man das alles weiß und klar ist, dass es eine Verhandlungslösung geben muss, dann muss denen, die Elke Hoff (FDP): verhandeln sollen, auch klar sein, in welchem Rahmen Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten und bis wann sie die Verhandlungen zu Ende zu führen Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! haben und dass sie die Präsenz internationaler Truppen Herr Kollege Trittin, entgegen der Auffassung, die Sie nicht auf Dauer in ihren Verhandlungspoker einkalkulie- hier vertreten haben, bin ich sehr wohl der Meinung, ren können. Auch dazu haben Sie nichts gesagt. dass die Bundeskanzlerin heute die Ziele des Afghanis- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010 3491

Elke Hoff (A) tan-Einsatzes sehr klar dargestellt hat. Wenn Sie es aber Männern und Frauen, die wir in den Einsatz geschickt (C) nicht hören und dem auch nicht Folge leisten wollen, haben, deutlich zu machen, dass wir diesen Einsatz mit- dann kann ich mir vorstellen, dass Sie ein Problem damit tragen. Ich persönlich habe mir die Frage gestellt, ob wir haben, dass hier heute angeblich nicht klar über die Ziele es im Nachhinein den Angehörigen der Kameradinnen dieses Einsatzes berichtet und diskutiert worden ist. und Kameraden, die bereits jetzt ums Leben gekommen sind, erklären können, wenn wir die Sinnhaftigkeit die- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten ses Einsatzes infrage stellen. Alle Fraktionen in diesem der CDU/CSU) Deutschen Bundestag bis auf eine haben diesen Einsatz Herr Kollege, ich sehe auch keinen Widerspruch gewollt. zwischen einem Stabilisierungseinsatz und einer Coun- Selbstverständlich müssen wir die Benchmarks neu terinsurgency, einer Aufstandsbekämpfung. Eine we- setzen. Auch General McChrystal hat sehr deutlich zum sentliche Voraussetzung, um eine erfolgreiche Counter- Ausdruck gebracht, dass es notwendig ist, flexibel in insurgency durchführen zu können, ist natürlich die Sta- diesem schwierigen Umfeld zu sein, militärisch flexibel, bilisierung der Region. Es gibt keinen militärischen Füh- aber auch politisch flexibel. Herr Trittin, zu erwarten, rer in der NATO, der bisher behauptet hätte, dies könne dass man in dieser Lage schon heute ein fertiges politi- allein mit militärischen Mitteln gemacht werden. Aber sches Drehbuch für eine Lösung hat, wird der Komplexi- es ist eine Voraussetzung zur Herstellung der Stabilisie- tät dieses Konflikts nicht gerecht. Das wissen auch Sie. rung in einem völlig zerstörten Land, in dem sämtliche Dafür sind Sie viel zu sehr mit der Region vertraut. Wir staatlichen Strukturen vernichtet worden sind. Das ist müssen neben der Unterstützung unserer Soldatinnen die Aufgabe, die die Nato und auch die Bundesrepublik und Soldaten dafür sorgen, dass die internationale Ge- Deutschland übernommen haben. meinschaft auch den zweiten Teil ihrer Verpflichtung er- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten füllt, nämlich es dem souveränen Staat Afghanistan zu der CDU/CSU) ermöglichen, zu einer politischen Lösung zu kommen, damit wir der afghanischen Bevölkerung, gegenüber der Deswegen, liebe Kolleginnen und Kollegen, tun wir gut wir uns verpflichtet haben, aber auch der eigenen Bevöl- daran, unseren Soldatinnen und Soldaten, die jeden Tag kerung am Ende sagen können: Wir haben gemeinsam für dieses Ziel und für diesen Auftrag, den wir erteilt ha- eine Mission zum Erfolg gebracht. – Dafür kämpfen wir. ben, ihr Leben und ihre Gesundheit riskieren, auch an Ich bitte Sie noch einmal, an dieser Stelle unseren Solda- dieser Stelle die größtmögliche Unterstützung zu gewäh- ten die notwendige Rückendeckung nicht zu entziehen. ren. Vielen Dank. Lieber Herr Kollege Gysi, Sie haben eben mit Recht (B) darauf hingewiesen, dass wir, egal welcher unterschied- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) (D) lichen politischen Auffassung wir sind, den Soldatinnen und Soldaten den Respekt zollen. Daher bitte ich Sie, in Präsident Dr. Norbert Lammert: Ihrer Fraktion auch dafür zu sorgen – auch, wenn es sehr junge Kolleginnen sind –, dass im Deutschen Bundestag Zu einer Kurzintervention erhält der Kollege Ströbele keine Plakate gezeigt werden, auf denen „Beim Bund ist das Wort. alles doof“ steht und ein Schwein mit einem Stahlhelm abgebildet ist, Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN): (Michael Brand [CDU/CSU]: Schlimm!) Danke, Herr Präsident. – Mir liegt daran, klarzuma- hinter dessen Rücken Rauchwolken zu sehen sind, als chen, dass ich mich nicht für eine verhängnisvolle gebe es eine Explosion. So etwas geht einfach nicht. Kriegspolitik in Afghanistan vereinnahmen lasse. Wenn beispielsweise vonseiten der FDP hier betont wird, der (Michael Brand [CDU/CSU]: Er soll sich ent- Deutsche Bundestag steht hinter dem Einsatz der Bun- schuldigen!) deswehr in Afghanistan, dann sage ich: Ich stehe nicht Wenn Sie sich hier für Respekt aussprechen, dann sorgen hinter diesem Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan, Sie bitte in Ihrer Partei dafür, dass der nötige Respekt ge- und, was vielleicht noch wichtiger ist als die Haltung des zollt wird. Abgeordneten Ströbele, die große Mehrheit der deut- schen Bevölkerung steht nicht hinter dem Kriegseinsatz (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie der Bundeswehr in Afghanistan. Das müssen Sie einmal bei Abgeordneten der SPD) zur Kenntnis nehmen. Ich war bei der Trauerfeier für unsere gefallenen Sol- (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) daten anwesend. Ich gebe zu, dass auch ich mich in die- sen schweren Stunden gefragt habe, ob der Auftrag, den Die deutsche Bevölkerung hat recht mit ihrer Ableh- wir erteilt haben, richtig ist und ob wir diesen Auftrag nung dieses Einsatzes in Afghanistan. Es ist nicht ein gegenüber den Angehörigen rechtfertigen können. Die Vermittlungsproblem, wie das offenbar aufseiten der gleiche Frage habe ich mir auch bei der Debatte gestellt, Union gedacht wird. Gestern wurde der Herr General die wir eben geführt haben. Mehr denn je bin ich der McChrystal in der Ausschusssitzung geradezu angefleht, Überzeugung, dass es gerade in diesen schweren Zeiten doch zu sagen, wie man der deutschen Bevölkerung die unsere Aufgabe ist, unserer Bevölkerung unsere Ent- Notwendigkeit des Afghanistan-Einsatzes vermitteln scheidung zu erklären und hier im Parlament den jungen könne. Der General hat dazu gar nichts gesagt, weil es 3492 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010

Hans-Christian Ströbele (A) ganz offensichtlich nicht seine Aufgabe ist. Sie können auch bei denen, die tagtäglich den Einsatz dort leisten (C) das auch nicht vermitteln, weil die Auffassung der und wissen, dass die Gefahr stets real ist, auch jetzt, in Mehrheit der Bevölkerung richtig ist. Ein Einsatz, der, dieser Stunde, wo wir hier gemeinsam über dieses wie wir inzwischen von General McChrystal, aber auch Thema reden. vom Bundesverteidigungsminister wissen, in diesem Jahr aus Großoffensiven im Süden, im Osten und auch Jeder, der diesem Mandat zugestimmt hat – es war die im Norden Afghanistans besteht, aus Großeinsätzen der große, überwältigende Mehrheit dieses Hauses –, kannte Bundeswehr und Großeinsätzen der Alliierten, bei denen diese Gefahr, kannte dieses Risiko. Wir sehen mit großer unzählige Menschen getötet und bei denen unzählige Bewunderung, mit Respekt und mit Hochachtung, wie Menschen wie jetzt in Helmand in die Flucht getrieben unsere Soldaten vor Ort entschlossen und gewillt sind, werden, ist nicht der richtige Weg, um in Afghanistan zu ihren Auftrag auszufüllen, was sie in ganz hervorragen- deeskalieren und um Verhandlungen vorzubereiten. Wir der Weise tun. können den Soldaten in Afghanistan deshalb guten Ge- Wichtig ist ein Aspekt, auf den heute mehrfach hinge- wissens nicht sagen, dass sie im Namen des deutschen wiesen worden ist: Es handelt sich nicht um eine Aktion Volkes in Afghanistan ihren Dienst tun; vielmehr müs- Deutschlands und der Bundeswehr, sondern um eine sen wir ihnen sagen, dass sie das zwar im Auftrag einer Aktion der internationalen Staatengemeinschaft. Die Mehrheit des Deutschen Bundestages tun, aber gegen internationale Staatengemeinschaft hat beschlossen, den erklärten Willen der Mehrheit der deutschen Bevöl- gemeinsam ein Problem, das für alle zur Bedrohung ge- kerung. worden ist, aus der Welt zu schaffen. Deswegen, lieber (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) Herr Gysi, denke ich, sollten Sie sich schon einmal fra- gen, wer der politische Geisterfahrer ist, ob es die Mehr- Präsident Dr. Norbert Lammert: heit der Staaten rund um den Globus ist oder ob Sie es sind. Zur Erwiderung Frau Kollegin Hoff. (Alexander Ulrich [DIE LINKE]: 70 Prozent Elke Hoff (FDP): der Bevölkerung! Alles Geisterfahrer?) Herzlichen Dank, Herr Präsident! – Sehr geehrter Die Mehrheit der Staaten rund um den Globus hat von Herr Ströbele, sind Sie bereit, anzuerkennen, dass der 2001 bis 2009 in zehn Mandaten der Vereinten Nationen überwiegende Teil der zivilen Opfer in Afghanistan – das letzte ist im Dezember vergangenen Jahres verab- nicht dem Einsatz von NATO-Soldaten zu schulden ist, schiedet worden – die Grundlage dafür gelegt, dass die- sondern den Aufständischen, den Taliban, der al-Qaida, ser Einsatz in Afghanistan stattfinden kann. 16 Nationen und dass die Zivilbevölkerung in Afghanistan einen An- (B) stehen im Norden Afghanistans zusammen mit unseren (D) spruch darauf hat, dass wir ihr, die sich gegen Anschläge deutschen Soldaten. Insgesamt sind 44 Nationen in nicht wehren kann, weil die Heimtücke dieser Anschläge Afghanistan vertreten. Die Staatengemeinschaft hat sich durch nichts zu überbieten ist, diesen Schutz geben? Ich darauf verständigt, ein Problem zu lösen, das alle be- bin der festen Überzeugung, dass wir uns an der Zivilbe- droht. Dieses Problem heißt: Fanatiker haben sich auf völkerung in Afghanistan genauso schuldig machen, den Weg gemacht, unsere Kultur, unsere Freiheit, unsere wenn wir ihr diesen Schutz verweigern. Lebensart zu zerstören. Auch Sie wissen, dass General McChrystal gestern sehr klar und deutlich zum Ausdruck gebracht hat, was (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE der Wunsch der afghanischen Zivilbevölkerung ist: Si- GRÜNEN]: Die Bundeswehr hat sich auf den cherheit, Gerechtigkeit. Dies kann der afghanische Staat Weg gemacht! – Unruhe bei der CDU/CSU) zurzeit noch nicht allein gewährleisten. Der überwie- Der 11. September 2001 ist das Symbol für den Kampf gende Teil des Deutschen Bundestages steht Gott sei dieser Terroristen und dieser Fanatiker. Sie wollen eine Dank hinter diesem Einsatz. Welt zerstören, die ihren Bürgern Toleranz, Lebens- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) freude, Freiheit, Gleichberechtigung und Menschen- würde gibt. Vizepräsidentin : (Zuruf des Abg. Hans-Christian Ströbele Das Wort hat nun der Kollege Dr. Hans-Peter [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Friedrich für die CDU/CSU-Fraktion. Sie wollen eine Welt zerstören, die nicht in ihr persönli- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und ches Weltbild passt. Deswegen haben vor acht Jahren die der FDP) Völker dieser Erde beschlossen, daran etwas zu ändern. Deshalb, Herr Trittin, wundert es mich, dass Sie als ehe- Dr. Hans-Peter Friedrich (Hof) (CDU/CSU): maliges Mitglied einer Regierung, die damals dieses Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Mandat mitgetragen und mit auf den Weg gebracht hat, Herren! Der Tod unserer Soldaten in Afghanistan in den jetzt sagen, man sei da hineingestolpert. Man ist mit dem letzten drei Wochen, aber auch der Tod unserer Soldaten klaren Auftrag nach Afghanistan gegangen, dort mitzu- in den letzten Jahren ist ein Beleg dafür, wie gefährlich helfen, ein Regime zu beseitigen, Terroristen zu entwaff- dieser Einsatz ist. Unsere Gedanken in unserer Trauer nen und mitzuhelfen, dass dieses Land in einen stabilen sind bei den Angehörigen der Gefallenen; aber sie sind Zustand gebracht wird. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010 3493

Dr. Hans-Peter Friedrich (Hof) (A) Nun ist dieser Zustand in der Kürze der Zeit nicht so müssen unsere Soldaten ausgebildet und ausgerüstet (C) stabil geworden, wie man sich das vorgestellt hat. Man sein. hat sich vorgestellt, dass das schneller gehen könnte. Meine Damen und Herren, aber ist das Ziel, auch wenn Ich bin dem Bundesverteidigungsminister sehr dank- man es nicht kurzfristig erreichen konnte, deshalb bar dafür, dass er persönlich vor Ort das Gespräch mit falsch? Nein, das Ziel der Weltgemeinschaft bleibt rich- den Soldaten sucht, auf ihre Wünsche, auch was Aus- tig, einen neuen Aufmarschraum für Terrorismus und rüstung betrifft, eingeht und sofort anordnet, dass das Gewalt zu verhindern. Nur, den Preis dafür zahlen die eine oder andere, was aus ihrer Sicht notwendig ist, auch Soldaten: unsere Soldaten, die Soldaten unserer Verbün- sogleich erfolgt. Wir alle wissen allerdings, dass es in ei- deten. Das ist der Preis, den sie zahlen, um eine Region ner solchen Auseinandersetzung keine hundertprozen- zu stabilisieren. Ich bin dankbar dafür, dass die Frau tige Sicherheit geben kann. Bundeskanzlerin heute sehr ausführlich auf diesen As- Meine sehr verehrten Damen und Herren, neben der pekt hingewiesen hat. Ausrüstung brauchen die Soldaten aber etwas anderes (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE ebenso dringend, nämlich die klare Rückendeckung des GRÜNEN]: Mit Krieg hat man noch nie stabi- Deutschen Bundestages und die klare Rückendeckung lisiert!) der Menschen in unserem Lande. Es geht darum, eine Region zu stabilisieren, in der es (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Atomwaffen gibt. Es geht nicht nur um Afghanistan, neten der FDP – Hans-Christian Ströbele sondern es geht um die Stabilität einer gesamten Re- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber die ha- gion. Nicht auszudenken, was passieren würde, wenn es ben sie nicht!) al-Qaida gelingen würde, Macht – sei es direkt, sei es nur indirekt – über atomare Sprengköpfe in dieser Re- Die jungen Soldatinnen und Soldaten stehen jeden Mor- gion zu erlangen. gen auf und riskieren Leib und Leben. Jeden Tag laufen sie Gefahr, ihr Leben zu verlieren. Sie befinden sich in (Beifall bei der CDU/CSU) einer psychischen Ausnahmesituation. Sie brauchen die Gewissheit, dass wir an ihrer Seite stehen und zumindest Meine Damen und Herren, es ist das Ziel, in Afgha- erahnen können, was täglich von früh bis spät in ihnen nistan eine sich selbsttragende Ordnung zu schaffen, vorgeht. eine Stabilität, die es auch möglich macht, dass man dort einen Ansprechpartner hat, der für das ganze Volk, für Wenn wir hier über Begriffe streiten, über den Begriff den ganzen Staat sprechen kann, eine Ordnung, die eine „Krieg“ und wer wo was gesagt und interpretiert hat, (B) gewisse Rechtsstaatlichkeit gewährleistet, eine Ordnung, dann wird das dem nicht gerecht, was unsere Soldaten (D) die es ermöglicht, dass es Schulen gibt, dass die Bevöl- fühlen. Es gibt für jeden Begriff eine juristische Dimen- kerung versorgt wird. sion. Es gibt auch eine umgangssprachliche Dimension. Aber es gibt für den Begriff „Krieg“ vor allem eine emo- Natürlich wissen wir, dass man all das auch mit zivi- tionale Dimension. Richtig ist natürlich, dass „Krieg“ im len Kräften erreichen muss. Aber, Herr Gysi, glauben klassischen völkerrechtlichen Sinn traditionell für die Sie allen Ernstes, dass es möglich sein könnte, dass diese Auseinandersetzung zwischen zwei oder mehreren Staa- zivilen Kräfte nach einem sofortigen Abzug der interna- ten steht. Aber emotional ist „Krieg“ das Synonym für tionalen Soldaten weiterarbeiten? Wir alle wissen doch, Zerstörung, für Tod und für den Kampf ums nackte was passieren würde, wenn die Soldaten sofort abziehen Überleben. Die Frau Bundeskanzlerin hat in einem Bei- würden. Die zivilen Aufbauhelfer hätten keine Chance. spiel sehr plastisch geschildert, welche Situation allzu Überall dort, wo die Lage unsicher geworden ist, wo die oft vorkommt: Er oder ich – wer wird überleben? In die- militärischen Möglichkeiten ausgeschöpft sind, ist bis- ser Situation fühlen viele, dass es sich um Krieg handelt. her die zivile Hilfe der staatlichen und nichtstaatlichen Hilfsorganisationen zusammengebrochen. Deswegen ist Wie oft wurde nach dem 11. September 2001 gesagt: es heuchlerisch, zu sagen: Wir sind zwar für den zivilen „Die Terroristen haben uns den Krieg erklärt“? Ja, die Aufbau, aber wir sind gegen einen militärischen Einsatz. – Terroristen haben der klassischen Definition von Krieg Es wird und es kann keinen zivilen Aufbau ohne eine eine neue Bedeutung hinzugefügt. Sie haben unserer militärische Absicherung geben. Das ist die Lage. freien Welt den Krieg erklärt. Deswegen haben wir Sol- daten geschickt, die wir jetzt nicht allein lassen dürfen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Es ist richtig, dass dieser Staat Oberst Klein in diesem neten der FDP – Hans-Christian Ströbele Krieg nicht allein gelassen hat. [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist Un- sinn!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Die Bundesregierung hat eine klare Strategie – nicht Unsere Hochachtung und unser Respekt gilt dem Mut sich selbst und allein ausgedacht, sondern wesentlich mit- der Soldaten, ihrem Können, ihrer Professionalität. Es ist gestaltet – zusammen mit den Verbündeten, eine Strategie, ein gefährlicher Einsatz, den die Soldaten an der Seite die seit der Londoner Konferenz unter dem Titel „Über- unserer Verbündeten führen. Es ist ein Einsatz für unsere gabe in Verantwortung“ zusammengefasst wird. Sie setzt Freiheit. Wir danken ihnen dafür. voraus, dass wir die Sicherheitskräfte der Afghanen handlungsfähig und kampffähig machen. Auch dafür (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) 3494 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010

(A) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Herr Ströbele, Sie finden dann Listen afghanischer Frau- (C) Letzter Redner in dieser Debatte ist nun der Kollege enorganisationen, in denen aufgeführt wird, was den Ruprecht Polenz für die CDU/CSU-Fraktion. Frauen alles verboten war und welche Strafen sie zu er- leiden hatten, wenn sie gegen die Bekleidungsvorschrif- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) ten oder etwa gegen die Vorschrift, sich nicht die Finger- nägel zu lackieren, verstoßen hatten. In diesen Fällen Ruprecht Polenz (CDU/CSU): wurden ihnen unter Umständen die Finger abgeschnit- Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol- ten. Auch daran müssen wir erinnern. Das ist ein wichti- legen! Als die erste Entscheidung über einen Einsatz ger Aspekt in Bezug auf diesen Einsatz. deutscher Soldaten in Afghanistan fiel, waren Sie, Herr Trittin, genauso Minister einer Bundesregierung wie Sie, Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Frau Künast. Einer der wesentlichen Gründe, der damals Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des in der Debatte angeführt wurde, war: Wir dürfen den Kollegen Ströbele? Fehler, den die internationale Staatengemeinschaft nach dem Abzug der Sowjetunion 1989 gemacht hat, nämlich Afghanistan sich selbst zu überlassen, im Jahre 2001/02 Ruprecht Polenz (CDU/CSU): nicht wiederholen. Ja. Wir haben in den 90er-Jahren gesehen – rückblickend (Volker Kauder [CDU/CSU]: Muss das sein?) hat es sich als ein Fehler herausgestellt –, dass es nach dem Abzug der Sowjetunion zum Bürgerkrieg kam. Die Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Taliban haben sich durchgesetzt und in weiten Teilen des NEN): Landes eine Schreckensherrschaft errichtet. Sie haben Herr Kollege Polenz, Sie haben mich angesprochen al-Qaida die Zufluchtsräume ermöglicht, die diese Ter- und gefragt, ob mir das bekannt sei. Mir ist das bekannt. rororganisation brauchte, um die Anschläge auf das Es ist schrecklich. Ich will auch viel dafür tun, dass das World Trade Center, auf das Pentagon und auch in ande- nie wieder passiert. ren Teilen der Welt vorzubereiten und durchzuführen. (Lachen bei der CDU/CSU – Jörg van Essen (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE [FDP]: Wie denn? Dann sagen Sie mal, wie GRÜNEN]: Sie waren auch in Hamburg!) Sie es machen wollen!) Wegen der Einschätzung, wir dürfen Afghanistan Aber man darf keinen Krieg führen. Denn die Frauen nicht sich selbst überlassen, weil das eine Gefahr für die sind diejenigen, die am allermeisten unter dem Krieg lei- (B) internationale Sicherheit ist, beteiligen sich seitdem den. (D) über 40 Nationen an dem ISAF-Einsatz. Die Gedanken, die wir heute zum Ausdruck gebracht haben – beginnend Herr Kollege, ich habe vorgestern mit zwei Organisa- mit der Würdigung durch den Bundestagspräsidenten am tionen, mit dem Afghanischen Frauenverein und mit Anfang unserer Sitzung –, machen sich doch auch die Medica Mondiale, gesprochen. Diese sagten mir: Die Si- Angehörigen von 1 550 Soldaten aus Australien, von tuation der Frauen ist heute unter der Regierung Karzai 220 Soldaten aus Neuseeland sowie auch beispielsweise und unter dem Schutz der internationalen Gemeinschaft Angehörige von Soldaten aus Norwegen, Dänemark und in weiten Teilen des Landes noch so schlecht, dass sich Schweden. Natürlich wäre die Entscheidung in diesen jedes Jahr 200 Frauen verbrennen. Diese Frauen können Ländern für einen solchen Einsatz nicht gefallen, wenn den Zustand der Erniedrigung und der körperlichen Qua- die Politiker in Singapur, in den Arabischen Emiraten len – des Geschlagenwerdens usw. – nicht ertragen. Das und in Aserbaidschan – ich will jetzt nicht die über 40 heißt, wir haben es leider überhaupt nicht geschafft, Länder alle aufzählen – nicht zu der gleichen Einschät- diese Strukturen, in denen diese schlimme Gewalt ge- zung gekommen wären, die heute die Bundeskanzlerin genüber Frauen vorkommt und zur Tagesordnung ge- in ihrer Regierungserklärung wiederholt hat. Es ist die hört, zu beseitigen – auch unter dieser Regierung nicht. internationale Sicherheit, die in Afghanistan auf dem Es ist also nicht schwarz-weiß, wie Sie versuchen es dar- Spiel steht. In einer globalisierten Welt heißt das: Es ist zustellen. auch die deutsche Sicherheit, die dort auf dem Spiel steht. Deshalb ist der Satz von Peter Struck, dass unsere Ruprecht Polenz (CDU/CSU): Sicherheit auch am Hindukusch verteidigt wird, nach Herr Ströbele, jedem, der sich mit Afghanistan und wie vor richtig. der Entwicklung dort beschäftigt, ist bekannt, dass es (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- nach wie vor erschreckende Ausmaße häuslicher Gewalt neten der FDP – Volker Kauder [CDU/CSU], gibt und dass die patriarchalischen Strukturen der afgha- an die SPD gewandt: Wollt ihr nicht klat- nischen Gesellschaft in vielen Teilen vor allen Dingen schen? – Gegenruf des Abg. Christian Lange im ländlichen Raum nach wie vor zu einer sehr schlim- [Backnang] [SPD]: Wir nicken!) men Situation für Frauen führen. Aber jedem ist auch bekannt, dass seit dem internationalen Einsatz Mädchen Wir sind in Afghanistan, um Schlimmeres für die in die Schulen gehen können, Frauen studieren können Menschen dort, insbesondere für die Frauen, zu verhü- und Berufschancen haben und dass sich, ausgehend von ten. Ich empfehle Ihnen, einmal auf Google unter den den städtischen Zentren, die Lage der Frauen im Land Stichwörtern „Taliban“ und „Frauen“ nachzuschauen. verbessert. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010 3495

Ruprecht Polenz (A) Wenn Sie sagen, Sie wollten etwas in dieser Richtung wäre. Auch Herr Trittin hat in seinen Beiträgen leider (C) beitragen, dann müssen Sie von Ihrer Rhetorik bei der Ähnliches anklingen lassen, Herr Gysi sowieso. Kritik des Mandats etwas Abstand nehmen. Denn die Wir müssen uns also gegen diese absichtsvolle Ver- von mir genannten Effekte hätten Sie nicht, wenn die Ta- mengung der beiden Ebenen wehren. Eine realistische liban in Kabul wieder herrschen würden. Beschreibung der Zustände muss erfolgen. Aber wir (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie müssen klar festhalten: Es bleibt ein völkerrechtlicher bei Abgeordneten der SPD) Einsatz nach Kapitel VII der Charta der Vereinten Natio- nen. Die Vereinten Nationen führen, völkerrechtlich ge- Ich möchte noch etwas zu den Zielen der Taliban sa- sehen, keinen Krieg. gen. In dem Strategiepapier von McChrystal ist das sehr präzise beschrieben: (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD) The insurgents have two primary objectives: con- trolling the Afghan people and breaking the coali- Noch eine Bemerkung zur Politik. Herr Trittin, Sie tion’s will. Their aim is to expel international haben kritisiert, dass zu wenig zum innerafghanischen forces … Aussöhnungsprozess gesagt worden sei. Ich stimme Ih- nen zu; das ist ein ganz wichtiger Punkt. Denn wenn wir Den Willen der Koalition zu brechen, ist also das Ziel. uns im Rahmen der Strategie der Übergabe in Verant- Deshalb ist es wichtig, wie wir nach solchen schreck- wortung zurückziehen wollen, dann muss nach 30 Jah- lichen Anschlägen diskutieren. Wenn wir den Eindruck ren Krieg und Bürgerkrieg, die in Afghanistan ge- erwecken, es brauche vielleicht nur noch fünf oder zehn herrscht haben, ein Zustand erreicht werden, in dem die weitere Anschläge und dann sei unser Wille gebrochen afghanischen Stämme ihre Interessengegensätze mög- und dann würden wir uns aus Afghanistan zurückziehen, lichst gewaltfrei austragen und auf das Faustrecht ver- gefährden wir die Sicherheitslage unserer Soldaten und zichten. Sie wissen aber sehr genau – deshalb war Ihr laden geradezu zu weiteren Anschlägen ein. Vorwurf unredlich –, dass bei den Gesprächen, die Karzai führt, und angesichts der Grenzen, die er versucht (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordne- einzuhalten, Voraussetzung für diesen Versöhnungspro- ten der FDP und der Abg. [SPD]) zess und die Beteiligung daran ist, dass erstens die af- Wir dürfen im Hinblick auf einen Taliban nicht nur ghanische Verfassung die Grundlage dessen sein soll, die Assoziation „Turban, langer Mantel, barfuß oder mit worauf man sich zu verständigen hat, zweitens auf Ge- Sandalen, Kalaschnikow“ haben, sondern müssen auch walt verzichtet wird und drittens eine scharfe Abgren- an den Laptop denken. Über diesen Laptop erfährt Spie- zung gegenüber al-Qaida erfolgt. Das sind die drei roten (B) gel Online zehn Minuten nach einem Anschlag, welche Linien, innerhalb deren sich der Versöhnungsprozess ab- (D) Ziele die Taliban zur Brechung des Willens der deut- spielen muss. schen Bevölkerung und der deutschen Politiker verfol- Eine letzte kurze – meine Redezeit ist gleich zu Ende – gen. Das müssen wir in unsere Diskussion einbeziehen. Bemerkung zur Einbeziehung der Nachbarn. Wir spre- Deshalb ist auch der eine oder andere Vorwurf an die Art chen meines Erachtens zu wenig darüber, dass wir Af- und Weise zu richten, wie die Linke in Deutschland die ghanistan nicht dauerhaft stabilisieren können, wenn wir Diskussion führt. die Nachbarn nicht in diesen Prozess einbeziehen. Über (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Pakistan wird inzwischen glücklicherweise mehr gere- det. Wir reden aber zu wenig über den Iran. Ohne den Meine Damen und Herren, die Soldaten dürfen si- Iran wird es nicht gehen. Wir haben ebenso wie der Iran cherlich erwarten, dass wir uns ein realistisches Bild von ein Interesse an einem stabilen Afghanistan ohne Dro- der Gefährlichkeit ihres Einsatzes machen und dieses genanbau. Nur bei Stabilität können die Iraner die Bild auch in unseren Reden vermitteln. Flüchtlinge wieder nach Afghanistan zurückschicken; es (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- sind über 1 Million im Iran. Die Iraner sind keine NEN]: Ihr Wort in Guttenbergs Ohr!) Freunde der Taliban, und sie bekämpfen auch al-Qaida. Deshalb ist es richtig, wenn die Bundeskanzlerin, der Es gäbe also genügend Anknüpfungspunkte. Derzeit Außenminister und der Verteidigungsminister – sie alle haben wir natürlich mit dem Iran das Nuklearproblem zu tun es in der gleichen Weise – von kriegsähnlichen Zu- lösen. Ich glaube aber, dass sich das Nuklearproblem ständen oder von Krieg sprechen, um das Geschehen zu möglicherweise leichter besprechen und lösen lassen charakterisieren. Damit ändert sich aber die völkerrecht- würde, wenn wir das Spielfeld im Zusammenhang mit liche Lage nicht; das ist damit auch nicht intendiert. Es einer konstruktiven Zusammenarbeit mit dem Iran im ist und bleibt, Herr Ströbele, ein Einsatz nach Kapi- Hinblick auf Afghanistan erweitern würden und dem tel VII der Charta der Vereinten Nationen. Sie vermischen Iran zeigen würden, welche Rolle wir ihm in der Region diese beiden kommunikativen Ebenen absichtsvoll, zubilligen. (Zuruf des Abg. Hans-Christian Ströbele (Beifall des Abg. Jürgen Trittin [BÜND- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) NIS 90/DIE GRÜNEN] – Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da um gegen einen Krieg zu polemisieren, den Sie als völ- haben Sie recht!) kerrechtlichen Krieg darstellen, wobei Sie genau wissen, dass Deutschland diese Art der Kriegsführung verboten Vielen Dank. 3496 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010

Ruprecht Polenz (A) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie sen in Milliardenhöhe finanzieren muss, um die (C) bei Abgeordneten der SPD) Menschen überhaupt am Leben zu halten. ( [CDU/CSU]: Vorher hat der Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Steuerzahler die Arbeitslosigkeit finanziert!) Ich schließe die Aussprache. – Herr Kollege, das mag aus Ihrer Sicht so sein. Ich Nun rufe ich den Tagesordnungspunkt 4 auf: weiß, dass Ihr Satz immer ist: Sozial ist, was Arbeit schafft. Beratung des Antrags der Abgeordneten Klaus Ernst, Jutta Krellmann, Matthias W. Birkwald, (Max Straubinger [CDU/CSU]: Jawohl!) weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Ich sage Ihnen: Die Arbeitsplätze, die Sie geschaffen ha- ben, sind unsozial. Deshalb ist es falsch, zu sagen: Sozial Mit guter Arbeit aus der Krise ist, was Arbeit schafft. Herr Kollege, Sie müssen schon ein bisschen hinschauen, um zu sehen, wie die Men- – Drucksache 17/1396 – schen wirklich arbeiten. Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) (Beifall bei der LINKEN – Max Straubinger Ausschuss für Wirtschaft und Technologie [CDU/CSU]: Ein Arbeitsplatz ist nie unso- Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend zial!) Ausschuss für Gesundheit Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für Ich sage Ihnen: Die Situation der Frauen, der jungen die Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. – Ich Menschen und der Menschen mit Migrationshintergrund sehe, Sie sind damit einverstanden. Dann werden wir so – das mag nicht Ihre Klientel sein – ist dramatisch. Wir verfahren. müssen uns den Fakten zuwenden. Wir müssen uns der Realität zuwenden, dass die Menschen nach einer Um- Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red- frage des DGB zu 92 Prozent ein verlässliches und fes- ner das Wort dem Kollegen Klaus Ernst für die Fraktion tes Einkommen wünschen. Für sie ist genau das ent- Die Linke. scheidend, was von Ihnen zunehmend infrage gestellt worden ist, auch durch Ihre Politik. Es ist Fakt: 2008 (Beifall bei der LINKEN) waren 7,7 Millionen Menschen entweder in Teilzeit oder in befristeten Arbeitsverhältnissen oder als Leiharbeit- Klaus Ernst (DIE LINKE): nehmer beschäftigt. Es ist auch Fakt, dass 6,5 Millionen (B) Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Arbeitnehmer – das ist fast ein Viertel der Beschäftigten (D) Herren! Erneut müssen wir uns hier aufgrund der Reali- in unserem Lande – nur noch mit Niedriglöhnen abge- täten in unserem Land über die Frage unterhalten, wie speist werden und kein vernünftiges Einkommen mehr es um die Arbeitsbedingungen, die Löhne, die Situation bekommen. der Menschen, die ihr Geld durch Arbeit verdienen (Max Straubinger [CDU/CSU]: Das stimmt müssen, steht. Vor allen Dingen weil es veränderte Ge- doch gar nicht!) winnerwartungen der Unternehmen gab, die von der Politik entsprechend unterstützt wurden, war die Situa- – Wenn Sie glauben, dass das nicht stimmt, müssen Sie tion in den letzten Jahren von einer sinkenden Lohn- die Statistik lesen. Ich weiß nicht, wie Sie die Statistik quote geprägt, verbunden mit drastischen Veränderun- fälschen; das sind jedenfalls Zahlen der Bundesagentur gen in der Arbeitswelt. Ich erinnere an das Zitat von für Arbeit aus dem Jahr 2009. Gerhard Schröder vom Februar 1999: 1,37 Millionen Menschen müssen ihr Gehalt aufsto- Wir müssen einen Niedriglohnsektor schaffen, der cken lassen, weil es nicht mehr ausreicht, um ihr Leben die Menschen, die jetzt Transfer-Einkommen bezie- zu bedienen. In der Altersgruppe der 15- bis 20-Jährigen hen, wieder in Arbeit und Brot bringt. haben nur noch 40,7 Prozent der Beschäftigten eine un- befristete Stelle, in der Altersgruppe der 20- bis 25-Jäh- Ich möchte dazu feststellen: Das mit der Arbeit hat im rigen sind es nur noch 25 Prozent. Mit diesem Zustand Einzelfall geklappt; allerdings ist das Brot ausgeblieben. dürfen wir uns nicht abfinden. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der LINKEN) Menschen müssen zunehmend in Beschäftigungsver- Ich möchte, weil es der eine oder andere vielleicht hältnissen arbeiten – Sie wissen das –, von denen man nicht den Linken glaubt, zur Kenntnis geben, was die nicht mehr leben kann. Die Politik hat die Voraussetzun- Süddeutsche Zeitung am 14. April 2010 dazu geschrie- gen dafür geschaffen: für die Erosion der regulären und ben hat. Die Überschrift des Artikels lautete: „Teilzeit gut abgesicherten Beschäftigung in den Unternehmen und Leiharbeit fressen Demokratie auf“. In dem Artikel unseres Landes. Das Ergebnis sind Leiharbeit, Minijobs, über die veränderten Arbeitsbedingungen heißt es: die Befristung von Arbeitsverhältnissen und der Abbau des Kündigungsschutzes. Hartz IV und Leiharbeit haben Es ändert sich zum Beispiel die Art, in der die sol- bei den Löhnen und bei der Zahl der regulären Arbeits- chermaßen Beschäftigten ihr Leben planen können verhältnisse zu einem Erdrutsch geführt. Der Steuerzah- (oder auch nicht). Es ändert sich das Maß, in dem ler ist in der Situation, dass er dies jährlich mit Zuschüs- Arbeitnehmer ihre Rechte in Anspruch nehmen – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010 3497

Klaus Ernst (A) und, um es leicht pathetisch zu formulieren: Mit werden, weil ihr Vertrag ausläuft und sie dann aus den (C) den Beschäftigungsverhältnissen erodieren auch In- Betrieben entfernt werden. stitutionen, die einst in der Erkenntnis eingeführt Wir fordern deshalb: Wir brauchen eine klare Rege- wurden, dass es Demokratie nicht nur in der Politik, lung für die Leiharbeit. Es muss gelten: gleicher Lohn sondern auch in der Wirtschaft geben muss. bei gleicher Arbeit. In dem Artikel heißt es weiter – das finde ich nun wirk- (Beifall bei der LINKEN – Zuruf von der lich sehr bemerkenswert –: FDP: Das steht im Gesetz!) Wer nur für sechs oder zwölf Monate beschäftigt – Richtig, das steht im Gesetz. Aber Sie wissen genauso ist, wird auf die Gründung einer Familie vorerst gut wie ich, dass dieses Gesetz umgangen wird, unter an- verzichten. derem durch gelbe Gewerkschaften, die niedrige Tarife Frau von der Leyen ist bei diesem Thema nicht mehr an- abschließen. Wir brauchen einen Ausschluss der Mög- wesend. Es ist zwar nett und schön, dass sich Frau von lichkeit, von diesem Prinzip abzuweichen. Dem muss der Leyen um die Fortpflanzungsmöglichkeiten in der sich die FDP anschließen. Bundesrepublik sorgt und die Familien in den Vorder- (Beifall bei der LINKEN) grund stellen will; das ist richtig. Aber man muss auch in den Vordergrund stellen, wie es denn einem 25-Jährigen Wenn Sie dauernd die Einführung eines Mindestlohns oder 22-Jährigen überhaupt noch möglich sein soll, eine verweigern und gleichzeitig sagen, Leistung müsse sich Familie zu gründen, wenn er weiß, dass er seinen Job lohnen, dann belügen Sie die Leute. Das ist die Realität, bloß noch einen Monat hat, oder wenn er als Leiharbei- Herr Kolb; der sollten Sie sich zuwenden. ter beschäftigt ist und weiß, dass er in einer Krise als (Beifall bei der LINKEN) Erster seinen Job verliert. Das ist der Ansatz für Fami- lienpolitik. Ich fahre fort. Wir brauchen eine klare Regelung, dass befristete Arbeitsverhältnisse nicht in der Weise verwen- (Beifall bei der LINKEN) det werden, wie es gegenwärtig geschieht. Ein Arbeits- Der Artikel von Herrn Detlef Esslinger ist auch aus vertrag darf nur wegen eines Sachgrundes befristet wer- den. Es kann nicht sein, dass Regelungen, die der folgendem Grund so interessant: Schaffung vernünftiger Arbeitsbedingungen dienen, aus- Wer auf einen Anschlussvertrag hofft, wird auf der gehebelt werden. In unserem Antrag fordern wir unter Bezahlung von Überstunden keinesfalls bestehen. anderem, dass der Kündigungsschutz gestärkt wird und Kündigungsschutz kennt ein befristet Beschäftigter dass die Vereinbarkeit von Familie und Beruf dadurch (B) allenfalls als Vokabel. Er wird keinen Betriebsrat verbessert wird, dass zum Beispiel Arbeitnehmerinnen (D) konsultieren, und schon gar nicht wird er (oder sie) und Arbeitnehmer, die im Schichtbetrieb arbeiten müs- auf die Idee kommen, selber dafür zu kandidieren. sen, die Möglichkeit haben, aus dem Schichtsystem he- rauszukommen, wenn sie kleinere Kinder haben. Oft ar- Angesichts der realen Arbeitsbedingungen in unserem beiten beide Elternteile im Schichtbetrieb und müssen Land geht es nicht nur um einen Abbau der unmittelba- sich abwechselnd um ihre Kinder kümmern. Da schaut ren Leistungen und um eine Verschlechterung der unmit- das Familienleben so aus, dass der eine auf einen Zettel telbaren Situation der Beschäftigten. Es geht auch um ei- schreibt: Ich komme heute Abend später. – Wenn er wie- nen Abbau von Demokratie in den Betrieben. Den derkommt, hat seine Partnerin auf dem Zettel geschrie- müssen wir doch wohl gemeinsam verhindern. ben: Ja, ich habe es gemerkt. – Das ist nicht der Zustand, den wir wollen. Wir wollen, dass Familie und Beruf bes- (Beifall bei der LINKEN) ser vereinbart werden können. Wir sind nicht damit einverstanden, wenn Sie aus- (Beifall bei der LINKEN) weislich Ihres Koalitionsvertrages nichts gegen Leihar- beit unternehmen wollen; denn wir wissen, dass Leihar- Ich komme zum Schluss. Ich möchte, dass die in un- beit eben nicht dem Abbau von Spitzen dient, sondern serem Antrag formulierte Forderung, die Bezugsdauer letztendlich eine Methode ist, vernünftige Arbeitsplätze des Arbeitslosengeldes I auf 24 Monate zu verlängern, abzubauen und schlecht bezahlte Jobs in den Betrieben realisiert wird, weil wir wissen, dass Leiharbeitnehme- zu schaffen. Wir sind nicht damit einverstanden, dass Sie rinnen und Leiharbeitnehmer besonders von Arbeitslo- in Ihrem Koalitionsvertrag schreiben: sigkeit betroffen sind. Die Verlängerung der Geltungs- dauer der Kurzarbeitsregelungen hat nicht geholfen. Wir werden die Möglichkeit einer Befristung von Wenn die Betroffenen keine Arbeit mehr haben, müssen Arbeitsverträgen so umgestalten, dass die sach- sie von Arbeitslosengeld II leben. Das müssen wir än- grundlose Befristung nach einer Wartezeit von ei- dern. nem Jahr auch dann möglich wird, wenn mit demsel- ben Arbeitgeber bereits zuvor ein Arbeitsverhältnis (Beifall bei der LINKEN) bestanden hat. Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Sie sagen, Sie wollten den Kündigungsschutz nicht ver- Für die CDU/CSU-Fraktion hat das Wort der Kollege schlechtern. Faktisch machen Sie mit dem, was Sie im Dr. Johann Wadephul. Koalitionsvertrag schreiben, den Kündigungsschutz obsolet. Den Menschen muss gar nicht mehr gekündigt (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) 3498 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010

(A) Dr. Johann Wadephul (CDU/CSU): Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: (C) Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herr Kollege, darf ich Sie unterbrechen? – Herr Kol- Herren! Die Bundesrepublik Deutschland ist gemäß lege Ernst möchte gerne eine Zwischenfrage stellen. Art. 20 ihrer Verfassung ein sozialer Rechtsstaat. Die so- ziale Marktwirtschaft ist wahrscheinlich unser bester Ex- (Karl Schiewerling [CDU/CSU]: Was hat er portartikel. Deswegen ist es in der Tat richtig, dass wir nicht verstanden?) immer wieder – besonders in Zeiten einer Wirtschafts- krise, wie wir sie seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr Dr. Johann Wadephul (CDU/CSU): erlebt haben – über die Neujustierung unserer Sozial- Bitte. politik diskutieren, dass wir Fehlentwicklungen aufgrei- fen und überlegen, ob es in der Tat Missbrauch oder ein Klaus Ernst (DIE LINKE): Überhandnehmen der Befristung von Arbeitsverhältnis- sen gibt. Gibt es zu viel Leiharbeit? Gibt es Missbrauch Danke für die Möglichkeit, nachzufragen. – Sie haben von Leiharbeit? Über den Fall Schlecker haben wir be- verschiedene Gründe für eine Befristung genannt. Sie ha- reits kritisch diskutiert. All das ist notwendig. ben erklärt, warum eine Befristung für einen Betrieb möglicherweise sinnvoll sein kann. Am Ende Ihrer Aus- Herr Kollege Ernst, zu Ihrer Rede und zu dem Antrag führungen kommen Sie zu dem Ergebnis, dass man eine Ihrer Fraktion muss ich sagen: Wir brauchen kein sozia- sachgrundlose Befristung braucht. Es tut mir leid, aber listisches Wünsch-dir-was. Was Ihrer Partei eingefallen das kann ich nicht nachvollziehen. Können Sie mir bitte ist, lässt Maß und Mitte völlig vermissen. Es wird ver- erklären, warum Sie trotz der vorgetragenen Sachgründe, sucht, das sozialpolitische Miteinander, das wir in die möglicherweise richtig sind, zu dem Ergebnis kom- Deutschland zwischen Arbeitgebern und Gewerkschaf- men, dass der Arbeitgeber die Möglichkeit haben muss, ten haben, zu diskreditieren. Das haben weder die Tarif- ohne jeden Grund befristet einzustellen? Können Sie mei- vertragsparteien noch die Arbeitnehmerinnen und Ar- ner Behauptung zustimmen, dass die Möglichkeit, sach- beitnehmer verdient. Das leistet auch keinen Beitrag grundlose Befristungen in den Betrieben durchzuführen, dazu, dass das soziale Klima in Deutschland besser wird. zu dem Ergebnis geführt hat – ich habe es vorhin ange- sprochen –, dass inzwischen fast die Hälfte der jungen (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Menschen ohne festen Arbeitsvertrag in den Betrieben Bemerkenswerterweise sind Sie auf viele Punkte Ih- eingestellt wird? res Antrags nicht eingegangen. Vielleicht sind sie Ihnen peinlich gewesen; vielleicht waren Sie auch etwas zu Dr. Johann Wadephul (CDU/CSU): schnell. Als Porschefahrer lieben Sie die Geschwindig- (B) Herr Kollege Ernst, Ihre Rede war an dieser Stelle (D) keit. missverständlicher als der Antrag. In Ihrer Rede haben Sie auch die Sachgrundbefristung infrage gestellt. Des- (Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU) halb habe ich dazu etwas gesagt. Das ist der erste Punkt. Ich möchte mich zunächst kurz mit den Punkten befas- Zweitens. Die Betriebe haben seit Mitte der 80er- sen, die Sie angesprochen haben, insbesondere mit dem Jahre, eingeführt durch Norbert Blüm, die Möglichkeit, Befristungsrecht. Wir werden das genau prüfen. Falls ohne einen Sachgrund für maximal zwei Jahre befristet wir auf der Grundlage des Koalitionsvertrages gesetzlich einzustellen. Das ist ein Erfolgsmodell. Aus vielen be- nachsteuern müssen, dann werden wir das maßvoll tun. fristeten Verträgen sind Dauerarbeitsverhältnisse gewor- Die Forderung, die Sie aufstellen – in Ihrer Rede war das den. Weil man den Arbeitnehmer kennengelernt hat, etwas missverständlich; im Antrag ist es eindeutig –, die weil man gemerkt hat, was er kann, hat man ihn dauer- sachgrundlose Befristung von Arbeitsverträgen völlig haft übernommen. abzuschaffen, macht das Übermaß deutlich, das ich ein- gangs kritisiert habe. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Betriebe brauchen in bestimmten Situationen die Ein solches Erfolgsmodell werden wir nicht infrage stel- Möglichkeit, Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mit len. Diese Regelung ist seit 1986 im deutschen Recht einem Sachgrund – damit haben Sie recht – befristet ein- verankert. Dabei bleiben wir. In der Sache bin ich mit Ih- zustellen. Klassische Fälle sind eine Schwangerschafts- nen vielleicht sogar einer Meinung: Das darf natürlich vertretung, ein hoher Auftragseingang mit der Folge, nicht der Regelfall sein. Der Regelfall soll natürlich ein dass die Aufträge schnell abgearbeitet werden müssen, unbefristetes Arbeitsverhältnis sein. Deshalb habe ich oder der Fall, dass man eine besonders qualifizierte Ar- gesagt: Wenn wir hier modifizieren, schauen wir uns beitskraft nur für ein bestimmtes Projekt braucht, danach ganz genau an, was wir modifizieren. aber nicht mehr. Das alles sind Fälle, in denen wir den Betrieben ermöglichen müssen, befristet einzustellen. Ich möchte zu einem weiteren Punkt kommen, der Man würde das Kind mit dem Bade ausschütten, wenn mich wirklich umtreibt, zu dem Sie aber gar nichts ge- man auch die sachgrundlose Befristung völlig abschaf- sagt haben, nämlich zu den massiven Eingriffen in die fen würde. Das hilft den Arbeitnehmerinnen und Arbeit- Tarifautonomie. Diese ist Ihnen – das wissen wir aus der nehmern nicht, Herr Kollege Ernst. Deswegen lehnen Mindestlohndebatte – ohnehin nicht so wahnsinnig viel wir das schlicht und ergreifend ab. wert. Jetzt wollen Sie in das Tarifvertragsgesetz eingrei- fen. Sie wollen vorschreiben, dass Lohngleichheit zwi- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) schen Frauen und Männern hergestellt wird. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010 3499

Dr. Johann Wadephul (A) Mit einer gewissen Empörung stelle ich fest, dass Sie – Wenn Sie ernsthaft suggerieren wollen, dass die Unru- (C) den Gewerkschaften unterstellen, dass sie genau darauf hen der Jugendlichen in den französischen Vorstädten nicht schon seit Jahrzehnten achten. Das geschieht. Zei- ein Vorbild für Deutschland sind, dann kann ich nur sa- gen Sie mir einen Tarifvertrag, den Gewerkschaften, die gen: Das zeigt ganz klar, wohin Sie wollen. Sie wollen dem DGB angehören, unterschrieben haben, in dem von nicht sozialen Frieden, sondern sozialen Unfrieden. vornherein eine Diskriminierung von Frauen stattfindet! So etwas gibt es nicht. Das möchte ich im Namen der (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Einzelgewerkschaften des DGB zurückweisen. Das ist Dass das in der Debatte deutlich wird, ist vielleicht ganz das Erste. gut. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Das heißt im Ergebnis: Die Linke darf keine politi- Das Zweite ist: In Art. 9 Abs. 3 des Grundgesetzes ist sche Verantwortung tragen, erst recht nicht in Nord- die Tarifautonomie verankert. Sie ist eines der Erfolgs- rhein-Westfalen. modelle der Bundesrepublik Deutschland und der Nach- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) kriegszeit. Manch einer in Ihrer Fraktion kennt das aus FDGB-Zeiten noch etwas anders. Das mag einigen als Möglicherweise dient der Antrag der Profilierung vor Modell der Zukunft vorgeschwebt haben. Ich sage Ihnen der dortigen Wahl. Wir brauchen klare Entscheidungen nur: Das ist ein Holzweg. Wir wollen freie Gewerkschaf- der Bürgerinnen und Bürger. Sie müssen wissen, worum ten und freie Arbeitgeberverbände, die im freien Spiel es geht und vor welchen Alternativen sie stehen. Wir der Kräfte miteinander das Beste für die Arbeitnehme- brauchen keine sibyllinischen Auskünfte, insbesondere rinnen und Arbeitnehmer sowie für die Betriebe aushan- von Frau Kraft nicht, die in einem Slogan ihren Vor- und deln. Da greift der Gesetzgeber nicht ein. Das ist nicht Nachnamen wiederholen lässt. Wir brauchen klare Aus- Aufgabe des Staates. Das ist die Lehre, die wir aus Fehl- sagen, nicht von einer Sibylle Kraft, sondern von einer entwicklungen in der Weimarer Republik und der DDR Frau Kraft. Sie muss klar sagen, welche politische Kon- ziehen. Dabei bleiben wir. stellation sie anstrebt und welche sie definitiv – hoffent- lich mit einem größeren Aussagewert und mit Glaub- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) würdigkeit – ausschließt. Ich ziehe daraus den Schluss, Mein dritter Punkt ist: Der Antrag zeigt, dass die Lin- dass vernünftige Sozialpolitik in einer sozialen Markt- ken teilweise noch in einer utopischen politischen Welt wirtschaft dann gemacht wird, wenn die Union Verant- leben und noch immer nicht begriffen haben, dass die wortung trägt. Jürgen Rüttgers ist dafür der beste Garant. DDR nicht nur finanz- und wirtschaftspolitisch, sondern Vielen Dank. (B) auch sozialpolitisch gescheitert ist. (D) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (Zuruf des Abg. Klaus Ernst [DIE LINKE]) neten der FDP – Zuruf von der LINKEN: Um – Vieles von dem, was Sie vorschlagen, stammt mögli- Himmels willen!) cherweise nicht aus Ihrer Feder. Sie müssen das aber vertreten, weil Sie Vorsitzender werden wollen. Das Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: müssen Sie miteinander aushandeln. Nächster Redner ist der Kollege Ottmar Schreiner für (Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Er ist es noch nicht!) die SPD-Fraktion. Das weiß ich nicht so genau. Aber vieles von dem, was (Beifall bei der SPD) Sie vorschlagen – auf einige Einzelregelungen werden die nachfolgenden Redner noch zu sprechen kommen –, Ottmar Schreiner (SPD): lehnt sich an das Wirtschaftssystem an, das im ehemals Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege unfreien Teil Deutschlands gescheitert ist. Das darf kein Wadephul, ich weiß nicht genau, was der Antrag der Zukunftsmodell für Gesamtdeutschland sein. Linkspartei mit Jürgen Rüttgers zu tun hat. Sie haben da (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) einen sehr weiten Bogen gespannt. Das bedeutet im Ergebnis – das möchte ich Ihnen klar (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Es war aber sagen –: Ich sehe hier einige Gefahren. Sie nutzen das interessant!) soziale Klima – Sie sprechen von sozialer Kälte – für eine populistische öffentliche Propaganda, die gefährlich Sie haben zunächst – wie ich finde: zu Recht – kritisiert, ist. Der Kollege Hunko hat schon im vergangenen dass der Antrag der Linkspartei eine sehr breite Palette Sommer in Nordrhein-Westfalen Unruhen wie in Frank- von unterschiedlichsten Vorstellungen enthält. Man reich heraufbeschworen und für sinnvoll gehalten. Das könnte auch sagen: Er ist ein Sammelsurium, über das ist in der Tat eine Entwicklung – das sage ich insbeson- man in der kurzen Debattenzeit nicht seriös diskutieren dere im Hinblick auf den Wahlkampf in Nordrhein- kann. Sie haben insgesamt circa 40, 45 Vorschläge unter- Westfalen –, die wir mit Sorge sehen. schiedlichster Art zusammengeschrieben. Das macht eine vernünftige parlamentarische Debatte fast unmög- (Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: Wollen lich. Deshalb werde ich versuchen, mich auf einige we- Sie, dass der deutsch-französische Motor stot- nige Punkte zu konzentrieren, die jedenfalls ich für be- tert?) sonders wichtig halte. 3500 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010

Ottmar Schreiner (A) Zunächst einmal wird im Antrag gefordert, gute Arbeit (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (C) zu fördern. Das ist auch zentrales Anliegen der Sozialde- DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der mokraten. Wir wollen gute Arbeit fördern. Viele Arbeit- LINKEN) nehmer wurden gefragt, was für sie gute Arbeit sei. Die Von Ihnen sollten bei diesen Themen nun wirklich keine Ergebnisse sind eindeutig. Alle Befragungen zeigen, Zwischenrufe gemacht werden. dass der überwiegende Teil der bundesdeutschen Arbeit- nehmerinnen und Arbeitnehmer unter guter Arbeit ein (Zuruf des Abg. Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]) auf Dauer angelegtes, stabiles sozialversicherungspflich- tiges Beschäftigungsverhältnis versteht, von dem die – Sind Sie immer noch nicht ruhig? Reicht es nicht? Menschen einigermaßen vernünftig leben können. (Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der (Beifall bei der SPD) SPD) Das ist das zentrale Anliegen bei guter Arbeit. Wenn ich Das Problem ist, dass die Koalition diese Entwick- dies als Messlatte nehme, dann lässt sich überhaupt nicht lung noch verschärfen will. Sie überlegen, die Hinzuver- bestreiten, dass wir es in Deutschland mit mindestens dienstgrenzen für Hartz-IV-Empfänger noch großzügiger zwei zentralen Fehlentwicklungen auf dem Arbeitsmarkt auszugestalten. Das heißt, dass die Armutslohnproble- zu tun haben, die es in diesem Ausmaß möglicherweise matik weiter zunehmen wird. Es ist meine feste Über- in keinem anderen europäischen Land gibt. Diese Fehl- zeugung und die feste Überzeugung der SPD-Fraktion, entwicklungen sind teilweise von der Politik gefördert dass es nicht Aufgabe der Steuerzahler ist, Unterneh- und befördert worden. men, die Armutslöhne zahlen, zu subventionieren, (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Von der (Max Straubinger [CDU/CSU]: Sie sollten SPD sogar!) kein verzerrtes Bild von der Wirklichkeit zeichnen!) Also können sie von der Politik auch wieder korrigiert dass es aber Aufgabe der Politik ist, die Steuerzahler da- werden. Ich sage in aller Deutlichkeit, dass ich es für vor zu schützen, Armutslöhne subventionieren zu müs- eine Schande halte, dass in einem der reichsten Länder sen. Wir wollen kein staatlich subventioniertes Lohn- der Erde immer mehr Menschen so wenig verdienen, dumping. dass sie von ihrem Einkommen nicht mehr leben kön- nen. Das ist nicht christlich. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Deshalb fordern wir die Koalition auf, entsprechende der LINKEN – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Bestrebungen unverzüglich einzustellen und sich unse- (B) SPD wollte Niedriglohnsektor! Die SPD!) ren Überlegungen zum Thema Mindestlohn anzuschlie- (D) ßen. Das mag liberal sein; aber christlich ist es nicht. Herr Kollege Wadephul, ich verstehe überhaupt nicht, Die schlecht bezahlten Jobs werden immer mehr zum warum Sie den Mindestlohn in Verbindung mit einer Armutsrisiko. Inzwischen ist die Entwicklung so, dass möglichen Beschädigung der Tariffreiheit bringen. Der auf zehn Arbeitslose im Hartz-IV-System bereits sechs Deutsche Gewerkschaftsbund hat auf seinem letzten Hartz-IV-Empfänger kommen, die erwerbstätig sind, Bundeskongress vor vier Jahren mit einer Mehrheit von von ihrem Lohn aber nicht leben können und über Hartz- 96 Prozent die Forderung nach der Einführung gesetzli- IV-Leistungen aufstocken müssen. cher Mindestlöhne beschlossen. Die Gewerkschaften (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Aufstockung sind eine zentrale Säule des Tarifsystems. Wenn die Ge- wurde auch von der SPD eingeführt!) werkschaften der Auffassung sind, dass es der politischen Unterstützung bedarf, um zu gewährleisten, dass zumin- – Es geht jetzt im Wesentlichen nicht darum, darüber zu dest im untersten Einkommensbereich halbwegs men- diskutieren, woher es kommt, sondern darum, wie wir es schenwürdige Löhne gezahlt werden, dann sollte sich die ändern wollen. Politik diesem Ansinnen nicht verweigern. Das hat mit (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Uns interessiert Eingriffen in die Tarifautonomie überhaupt nichts zu tun. auch, wo es herkommt!) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten – Lieber Kollege von der FDP, Sie haben all den Rege- der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE lungen, die Sie kritisieren, zugestimmt und zu erhebli- GRÜNEN) chen Teilen weitere Verschärfungen hier im Deutschen Was die Höhe des Mindestlohns betrifft, wird man de- Bundestag angestrebt. battieren müssen, ob der Vorschlag der Linkspartei (Beifall bei Abgeordneten der SPD – – 10 Euro brutto die Stunde – angemessen ist. Ich plä- Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Längst nicht al- diere sehr dafür, die Kirche im Dorf zu lassen. Dieser len!) Vorschlag ist meiner Meinung nach ein bisschen arg populistisch. Es gibt vernünftige, objektive Kriterien, Wenn Sie sich jetzt hier als Rächer der Enterbten darstel- anhand derer man eine Mindestlohngrenze festlegen len, ist das pure Heuchelei. Sie sollten den Mund halten, kann. Man könnte zum Beispiel die Pfändungs- zumindest für die nächste halbe Stunde; danach sehen freigrenze, die Arbeitnehmern im Fall der Überschul- wir weiter. dung einen angemessenen Lebensunterhalt sichert, he- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010 3501

Ottmar Schreiner (A) ranziehen. Dann hätten wir einen Mindestlohn von etwa beitnehmer als auch dem Unternehmen nutzen. Ange- (C) 1 000 Euro netto bei Vollzeitbeschäftigung. Das würde sichts des anstehenden demografischen Wandels – ein ungefähr unseren Vorstellungen von einem Einstiegs- Facharbeitermangel wird vorausgesagt – wäre es grot- mindestlohn in Höhe von 8,50 Euro brutto die Stunde tenfalsch, hochqualifizierte Arbeitskräfte zu entlassen. entsprechen. Ich bin einigermaßen sicher, dass die Ge- Es kommt jetzt darauf an – das ist die zentrale Aufgabe werkschaften auf ihrem anstehenden Bundeskongress der Politik in der nächsten Zeit –, dass diese bewährten ähnliche Überlegungen anstellen werden. Ich plädiere internen Flexibilisierungsinstrumente so ausgestaltet sehr nachdrücklich dafür, in dieser Frage einen mög- werden, dass sie auch dann zur Anwendung kommen, lichst engen Schulterschluss mit den Gewerkschaften zu wenn die tiefe Wirtschafts- und Finanzkrise vorbei ist, suchen, weil sie in besonderem Maße betroffen sind. und dazu beitragen, die eben genannten arbeitnehmer- feindlichen Flexibilisierungsinstrumente – Leiharbeit, Die zweite zentrale Fehlentwicklung auf dem Arbeits- zeitliche Befristung, Praktikantenunwesen usw. usf. – markt ist die systematische Ausbreitung ungeschützter, zurückzudrängen. prekärer oder atypischer Beschäftigungsverhältnisse. Die Arbeitsmarktflexibilisierung zielt, was die Instrumente Eine weitere Bemerkung zu dem Antrag der Linken, betrifft, in die völlig falsche Richtung. Es geht in vielen weil ich finde, dass auch da die Auslassungen des Kolle- Bereichen nicht mehr um die Flexibilisierung des Ar- gen Wadephul von der CDU/CSU zumindest unver- beitsmarktes, sondern um den nackten Missbrauch der In- ständlich waren. Herr Kollege Wadephul, wir wissen aus strumente zum Zweck des Lohndumpings. Dem muss ein Untersuchungen, dass Frauen in Deutschland trotz glei- Riegel vorgeschoben werden. Die Koalition tut auch hier cher oder gleichwertiger Arbeit im Durchschnitt 23 Pro- das Gegenteil. zent weniger verdienen als Männer. Wenn das keine gi- gantische Diskriminierung von Frauen ist! (Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Was?) (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der LIN- KEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- Sie wollen die Regelungen betreffend die zeitliche Be- NEN) fristung noch stärker lockern. Das ist ein Schritt in die falsche Richtung. Da muss der Gesetzgeber handeln. Er muss einen recht- lichen Rahmen schaffen, auf den sich Frauen, die beim (Beifall bei der SPD) Lohn diskriminiert werden, berufen können. 2009 waren fast 50 Prozent der mit jungen Leuten neu geschlossenen Arbeitsverträge zeitlich befristet. Die Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Union behauptet von sich, eine Familienpartei zu sein. Herr Kollege, denken Sie bitte an die Redezeit. (B) Ich sage Ihnen: Diese Entwicklung ist extrem familien- (D) und kinderfeindlich. Wenn ein 28-jähriger Mann oder eine 30-jährige Frau – das ist übrigens unabhängig von Ottmar Schreiner (SPD): der Ausbildung; es gibt auch sehr viele hochqualifizierte Ich will noch einen letzten Punkt kurz ansprechen. und sehr gut ausgebildete junge Menschen, denen Sie den Start ins Berufsleben massiv vermiesen – nicht wis- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: sen, ob sie ein Kind nach zwei Jahren zeitlicher Befris- Sie sind am Ende Ihrer Redezeit. tung noch angemessen kleiden und ernähren können, dann entscheiden sie sich nicht für ein Kind. Wir brau- Ottmar Schreiner (SPD): chen eine Wiederbelebung des Normalarbeitsverhältnis- Wenn ich diesen Punkt angesprochen habe, ist die Re- ses. Auch junge Menschen müssen ihr Leben halbwegs dezeit zu Ende, Frau Präsidentin. vernünftig planen können. Wir brauchen also eine Stär- kung und Ausweitung normaler, stabiler, auf Dauer an- (Heiterkeit) gelegter Arbeitsverhältnisse und eine massive Eindäm- Es geht – diesen Punkt werden Sie nachher wahr- mung prekärer, sozial ungeschützter Beschäftigung. scheinlich noch angreifen – um die Positionierung zu Alles andere wäre die Rückkehr in das 19. Jahrhundert politischen Streiks. Ich will dazu ganz kurz Klaus im modernen Gewand der Tagelöhnerei. Das können Sie Wiesehügel zitieren, der lange Jahre Mitglied dieses Ho- als christliche Partei nicht ernsthaft wollen. hen Hauses gewesen ist und Vorsitzender der IG Bauen- (Beifall bei der SPD und der LINKEN) Agrar-Umwelt ist. Klaus Wiesehügel hat auf dem Bun- deskongress seiner Gewerkschaft ausgeführt: Es gibt Alternativen zu dieser Flexibilisierung des Ar- beitsmarktes. Es ist von einem Jobwunder in Deutsch- Es ist völlig richtig, dieses Thema innerhalb der Ge- land die Rede, und es heißt, dass Deutschland bisher die werkschaften zu diskutieren. Völlig richtig wäre tiefste Wirtschafts- und Finanzkrise seit über 80 Jahren aber ein Antrag an den Deutschen Gewerkschafts- jedenfalls auf dem Arbeitsmarkt einigermaßen gut über- bund, dafür zu kämpfen …, dass in der Bundesrepu- standen hat. Das hat im Wesentlichen mit zwei Flexibili- blik Deutschland genau wie in den anderen europäi- sierungsinstrumenten zu tun: zum einen mit der zeitge- schen Ländern auch der politische Streik eine mäßen Ausgestaltung der Kurzarbeit in Verbindung mit Selbstverständlichkeit ist. Das wäre völlig richtig … Qualifizierung und zum anderen mit dem sehr verant- Wir haben 2004 mit Hunderttausenden in verschie- wortungsvollen Umgang mit Arbeitszeitkonten. Das denen Städten – Köln, Berlin und anderen – gestan- sind Flexibilisierungsinstrumente, die sowohl dem Ar- den und gegen den Sozialabbau dieser Republik de- 3502 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010

Ottmar Schreiner (A) monstriert. Da ging es ja auch um eine politische (Zuruf von der LINKEN: Oh!) (C) Demonstration. Das war ja nicht nur ein Streik. Der Streik kann ja auch durch eine Demonstration an ei- Schauen wir uns das einmal genauer an. Wenn man Ih- nem bestimmten Tag herbeigeführt werden. Es hat ren Antrag liest, könnte man den Eindruck bekommen, in niemand gesagt: Das dürft ihr nicht, das ist verboten. Deutschland herrschten katastrophale soziale Zustände, die ein Fall für den Europäischen Gerichtshof für Men- Ich hoffe sehr, dass das auch weiterhin gilt, liebe Kolle- schenrechte wären. Sie sprechen von Erpressung gegen- ginnen und Kollegen von den Koalitionsfraktionen. über Erwerbslosen und Beschäftigten. Sie sprechen da- von, dass auf Arbeitsuchende der Zwang ausgeübt wird, (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Arbeitsverhältnisse auch zu schlechteren Bedingungen als vorher anzunehmen. Sie sprechen von einem Klima Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: der Angst, das in Deutschland herrscht. In Wahrheit spie- Nächster Redner ist der Kollege Reiner Deutschmann len die Linken selbst mit den durchaus vorhandenen Sor- für die FDP-Fraktion. gen der Menschen. (Beifall bei Abgeordneten der FDP und der Die Linken wollen keine Anreize für Erwerbslose, CDU/CSU) sich um Arbeit zu bemühen. Sie setzen stattdessen auf den immer weiteren Ausbau staatlicher Sozialleistun- Reiner Deutschmann (FDP): gen. Sie sind gegen die geringfügige Beschäftigung, Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten ohne zu berücksichtigen, dass Tausende Menschen in Damen und Herren! Mit dem großen Sündenfall von Deutschland gerade auch diese Beschäftigungsform aus Adam und Eva begann die Vertreibung aus dem Para- ganz unterschiedlichen Motiven heraus und ganz be- dies. Die Einzelheiten dieser Geschichte kennen Sie; ich wusst gewählt haben, und Sie verteufeln befristete Ar- muss sie wohl nicht wiederholen. Ich will mir auch nicht beitsverhältnisse und Zeitarbeitsfirmen mit der Folge, den Zorn der Obstproduzenten zuziehen, indem ich die dass die Arbeitgeber dann überhaupt nicht einstellen und Rolle des Apfels in diesem Drama näher beschreibe. viele Arbeitsuchende weiter arbeitslos bleiben würden. Fakt bleibt: Das Paradies war verloren. Adam und Eva (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten waren fortan gezwungen, zu arbeiten, um ihren Lebens- der CDU/CSU) unterhalt zu bestreiten. So weit, so biblisch. Paradiesische Zustände scheinen die Linken im Blick Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen von zu haben. der Linken, es ist schon erstaunlich, wie Sie versuchen, den Eindruck zu vermitteln, der Staat unternehme nicht (B) (Zuruf von der LINKEN: Jeder muss einen genug für in Not geratene Bürgerinnen und Bürger. Da- (D) Apfel haben!) bei hilft eigentlich schon ein kurzer Blick in den Haus- halt 2010, um zu erkennen, dass fast die Hälfte unserer Diesen Eindruck muss man jedenfalls gewinnen, wenn Ausgaben für Sozialausgaben aufgewendet wird. man ihren Antrag betrachtet. Allein der Titel „Mit guter Arbeit aus der Krise“ bietet eine Steilvorlage für viele Wir haben eines der besten Sozialsysteme der Welt. philosophische Diskussionen bei toskanischem Rotwein. Gerade gestern hat das Kabinett noch einmal Verbesse- Von deutschem Rotwein rede ich vorsichtshalber nicht; rungen zum Schutz von Arbeitsplätzen und bei den Hin- das würden Sie wahrscheinlich wieder Klientelpolitik zuverdienstgrenzen von Hartz-IV-Empfängern beschlos- nennen. Aber zum Thema: Wo es gute Arbeit gibt, muss sen. es der Logik nach zwangsläufig auch schlechte Arbeit geben. Was ist gute Arbeit? Was ist schlechte Arbeit? (Dr. [DIE LINKE]: Woher Wenn es nur mit guter Arbeit einen Weg aus der Krise haben Sie eigentlich das Geld?) gibt: Wer macht dann die schlechte? Durch das Kurzarbeitergeld konnten wir in der Wirt- Der Fraktion Die Linke reichen ein bisschen mehr als schaftskrise den Anstieg der Arbeitslosigkeit, den andere sechs Seiten, um die Formel der Arbeitswelt quasi neu Länder erleben mussten, vermeiden. Jetzt verlängert die zu erfinden. Man fühlt sich wie bei einem der allseits be- christlich-liberale Koalition diese Maßnahme noch ein- liebten Best-of-Alben der Musikbranche: Am Ende der mal bis zum 31. März 2012. Wir werden den Schülerin- Rockkarriere wird noch einmal ein zünftiges Album mit nen und Schülern, die in einer SGB-II-Bedarfsgemein- allen Hits aufgelegt. Genauso lesen sich die Evergreens schaft leben, ermöglichen, durch Sommerferienjobs dieses Antrags, die Sie wie mit einem Füllhorn über uns 1 200 Euro anrechnungsfrei hinzuzuverdienen. ausgießen. Das sind nur einige unserer Maßnahmen. Wir tun et- (Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der was für die Menschen in diesem Land, statt nur leere FDP und der CDU/CSU) Versprechungen zu machen. Anders als den Linken ist es uns wichtig, dass sich Leistung wieder lohnen muss, Es gibt allerdings einen Unterschied: Das waren nie anstatt Wohltaten bedingungslos mit der Gießkanne über Hits. Es ist also wieder einmal Bescherung bei den Lin- diesem Land auszuschütten. ken, und das mitten im Frühling. Schade ist nur, dass sie uns wieder verschweigen, woher das Geld für diese (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Wohltaten kommen soll. Selbst die SED-Millionen dürf- der CDU/CSU – Alexander Ulrich [DIE ten dafür nicht ausreichen. LINKE]: Wie war das mit dem Paradies?) Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010 3503

Reiner Deutschmann (A) Für uns ist es ganz selbstverständlich, dass jeder, der beschäftigung nimmt ab, und sowohl die atypische als (C) dazu in der Lage ist, seinen Beitrag für die Gemeinschaft auch die prekäre Beschäftigung nimmt zu. In der Folge leistet, auch, indem er sich aktiv um Arbeit bemüht, an- reichen die Angst und die Unsicherheit vor sozialem Ab- statt darauf zu warten, dass der Staat kommt und ihm stieg bis weit in die Mitte unserer Gesellschaft. den Arbeitsplatz vor die Tür stellt, wie die Linken es Die FDP und Teile der CDU/CSU wollen den Nied- gerne hätten. riglohnsektor dennoch noch weiter ausbauen. (Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Wieder (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Den Sie erst ge- diese Hartz-IV-Hetze!) schaffen haben, Frau Müller-Gemmeke!) Wir leben in einer Gesellschaft, die die Bereitschaft zur Argumentiert wird ja wieder mit den Arbeitsplätzen. Ob Leistung noch stärker honorieren muss. Die Abkehr vom die Beschäftigten von ihrem Lohn leben können oder Leistungsprinzip war einer der Sargnägel für die DDR- nicht, spielt dabei keine Rolle. Parallel gibt es auch noch Wirtschaft und hat zu ihrem Niedergang geführt. Diese die unsägliche Sozialstaatsdebatte der FDP. Die Ärmsten sollte hier heute nicht unser Maßstab sein. werden gegen die Armen ausgespielt. Dieser Weg kann (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) nicht funktionieren, ohne den sozialen Frieden in unserer Gesellschaft aufs Spiel zu setzen. Ich kann es immer nur wiederholen: Solidarität ist keine Einbahnstraße. Mit nicht finanzierbaren Plänen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN mindern die Linken die Leistungsbereitschaft der Men- sowie bei Abgeordneten der SPD) schen. Sie gefährden die Solidarbereitschaft derjenigen, Das Thema heute ist also richtig und wichtig. Was die die Steuereinnahmen aufbringen, die Sie so großzü- macht die Linke? Sie legen ein als Antrag getarntes Posi- gig verteilen wollen. Durch die Verschärfung des Kündi- tionspapier mit einem wilden Sammelsurium an radika- gungsschutzes und die Einführung eines Mindestlohnes len Forderungen aus Ihrem Programm vor. werden keine neuen Arbeitsplätze entstehen. Das Ge- genteil wäre vielmehr der Fall. (Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Das sagen Sie nur, weil Sie es nicht verstehen!) (Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Den Min- destlohn zahlt der Unternehmer, nicht der Dazu kann ich nur sagen: Die NRW-Wahl lässt grüßen. Staat!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Wir können nicht die Augen vor der globalisierten bei der CDU/CSU und der FDP – Welt verschließen, wir dürfen bestehende Arbeitsplätze Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Die wollen mit nicht mit massiven Eingriffen in den Arbeitsmarkt ge- Ihnen über Rot-Rot-Grün verhandeln, Frau (B) Müller-Gemmeke!) (D) fährden, und wir können nicht mit Steuergeldern Millio- nen neuer Arbeitsplätze an der Realität vorbei schaffen. Mit diesem Antrag versprechen Sie ein Märchenland, Die paradiesische Arbeitswelt, die die Linken den Men- das es so nicht geben wird und das auch linksorientierte schen vorgaukeln, ist ein einziges „Wünsch dir was“. Bürgerinnen und Bürger so nicht wollen. Wir brauchen eine verlässliche sozialökologische Marktwirtschaft. (Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Mindest- lohn!) Ich finde, Sie gaukeln den Menschen etwas vor. Das macht mich wütend; denn ich nehme das Thema wirk- Dagegen sind die Märchen der Gebrüder Grimm ein rei- lich ernst. nes Sachbuch. (Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Das merkt Deshalb sagen wir ein klares Nein zur Umvertei- man aber gar nicht!) lungspolitik der Linken, die auch in diesem vorliegenden Antrag wieder zum Ausdruck kommt. Das ist kein Kon- So werden Sie ihm nicht gerecht. zept, mit dem man unser Land zukunftstauglich aus der Wir Grünen wollen Fairness in der Arbeitswelt und Krise führen kann. treten im Interesse der Beschäftigten für gerechte Löhne Vielen Dank. und gute Arbeitsbedingungen ein. In diesem Sinne gibt es in Ihrem Antrag viele Forderungen, die berechtigt (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – sind und die wir auch unterstützen. Wir fordern eine stär- Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Bitte setzen! kere Regulierung der Leiharbeit, damit die „Schleckeri- Das war das Niveau einer 4. Klasse!) sierung“ in unserer Arbeitswelt ein Ende hat. Wir wollen Mindestlöhne und eine Entfristung der Beschäftigung. Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Wir halten am Kündigungsschutz fest und wollen eine Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat die Kol- echte Mitbestimmung. Wir fordern die Entgeltgleichheit legin Beate Müller-Gemmeke das Wort. zwischen Männern und Frauen. (Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Was für ein Beate Müller-Gemmeke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Sammelsurium!) NEN): Genau bei diesen Themen sehe ich sehr starken Hand- Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegin- lungsbedarf. nen und Kollegen! Der Wandel in der Erwerbsarbeit ist unübersehbar, und der Trend ist eindeutig. Die Vollzeit- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) 3504 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010

Beate Müller-Gemmeke (A) Ich finde, die Linke überzieht aber viele wichtige For- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: (C) derungen. Damit werden Sie die Regierung nicht in Be- Frau Kollegin, darf ich Sie unterbrechen? Frau Kolle- drängnis bringen. Sie differenzieren auch nicht. Bei- gin Kipping möchte gerne eine Zwischenfrage stellen. spielsweise reden Sie immer von „der Wirtschaft“. Erlauben Sie sie? Damit werden Sie vielen Betrieben und vor allem dem Handwerk nicht gerecht. Beate Müller-Gemmeke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Das Hand- NEN): werk profitiert doch davon!) Ja.

Dort gibt es durchaus gute Arbeit. Die Probleme liegen Katja Kipping (DIE LINKE): häufig woanders. Liebe Kollegin, ich bin Ihnen sehr dankbar, dass Sie Teilweise fehlt ein Konzept. Beispielsweise sollen die Ihre Redezeit genutzt haben, um auf das Bündnis für ein Minijobs nicht mehr subventioniert werden. Das fordern Sanktionsmoratorium hinzuweisen und darüber zu in- wir auch. Wir haben aber ein Konzept dafür, nämlich un- formieren. Vor dem Hintergrund, dass mit dem Verweis ser Progressivmodell. auf das Bündnis ein bisschen der Eindruck erweckt wird, als ob ein Gegensatz zwischen dem Bündnis und unse- In Ihrem Antrag werden einfach alle möglichen For- rem Antrag bestünde, frage ich Sie, ob Ihnen bekannt derungen aneinandergereiht. Ich finde das schwach. Ich ist, dass sich die Linke bereits in einem früheren An- habe einen höheren Anspruch an unsere parlamentari- trag konkret für die Streichung des Sanktionsparagra- sche Arbeit. fen ausgesprochen hat und dass wir alle unsere Vor- schläge zu guter Arbeit nicht als Gegenmaßnahme zu (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN dem Sanktionsmoratorium verstehen, sondern dass es sowie bei Abgeordneten der FDP – Alexander im Gegenteil Hand in Hand geht? Denn alle unsere Vor- Ulrich [DIE LINKE]: Das merkt man Ihrer schläge für gute Arbeit erfordern, dass die Erpressbar- Rede aber gar nicht an!) keit von Erwerbslosen ein Ende hat. Darauf wollte ich an dieser Stelle gerne hinweisen. An einer anderen Stelle sind Sie übrigens ziemlich unehrlich, und zwar bei den Zumutbarkeitskriterien. (Beifall bei der LINKEN) Leider schaffen Sie es nicht, Tacheles zu reden. Statt eine Arbeitsvermittlung auf freiwilliger Basis zu for- Beate Müller-Gemmeke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- dern, schrauben Sie die Hürden derart hoch, dass eine NEN): auf Zwang beruhende Arbeitsvermittlung quasi unmög- (B) Frau Kollegin Kipping, als ich Ihren Antrag und den (D) lich wird. Absatz über die Zumutbarkeitskriterien gelesen habe, Fordern Sie doch einfach das Sanktionsmorato- habe ich mich gewundert. Es ist wirklich ein Herum- rium! Das fordern etliche Abgeordnete, darunter auch eiern. ich, ebenso wie die Initiative für ein Sanktionsmorato- (Katja Kipping [DIE LINKE]: Bei den Zumut- rium. barkeitskriterien geht es auch um das Arbeits- (Klaus Ernst [DIE LINKE]: Wir auch!) losengeld I!) – Ja, aber ich finde es trotzdem unehrlich, wenn man he- Das wäre ein klares und eindeutiges Zeichen an die Re- rumeiert und über Zumutbarkeitskriterien redet, wenn gierung, wenn die Opposition gemeinsam Verschärfun- man die Abschaffung der Sanktionen oder zusammen gen bei den Sanktionen kritisiert und Veränderungen an- mit der bereits erwähnten Initiative ein Sanktionsmora- mahnt. torium fordern kann. Dann braucht man Ihre ganzen an- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) deren Forderungen einfach nicht. Eine Arbeitsvermitt- lung, die auf Freiwilligkeit beruht, reicht aus, und man Nun komme ich zu den Punkten in Ihrem Antrag, die muss keine anderen Forderungen stellen. ich durchaus als populistisch bezeichnen kann. Sie wol- len die paritätische Unternehmensmitbestimmung auf Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: alle Unternehmen ab 100 Beschäftigte ausdehnen und Die Kollegin möchte erneut nachfragen. – Sie erlau- fordern, dass bei erheblichen Entscheidungen auch zwei ben es? – Frau Kipping. Drittel des Aufsichtsrates zustimmen müssen. Mit dieser Forderung schießen Sie über das Ziel hinaus. Würden Ihre Forderungen umgesetzt, befände sich die Bundes- Katja Kipping (DIE LINKE): republik im Stillstand. Unternehmerische Entscheidun- Ich habe mit Interesse zur Kenntnis genommen, dass gen wären dann nicht mehr möglich. Sie sich jetzt auch für die komplette Abschaffung der Sanktionen aussprechen. Wie Sie wissen, ist dies noch Sie können mir glauben, dass ich hinter der Mitbe- nicht einmal bei den Grünen eine mehrheitlich vertretene stimmung stehe und noch mehr echte Mitbestimmung Position. Die Linke ist bisher die einzige Fraktion, die fordere. Sie sollte aber konstruktiv sein. Mir geht es um sich eindeutig für die Abschaffung der Sanktionen aus- gleiche Augenhöhe und um den Interessenausgleich zwi- gesprochen hat. Insofern halte ich es schon für sehr an- schen den Beschäftigten und den Unternehmen. gemessen, dass man sich über weitere Zumutbarkeits- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010 3505

Katja Kipping (A) kriterien vor dem Hintergrund verständigt, dass man zu installieren. Wie Sie das schaffen und finanzieren (C) auch Teilschritte auf dem Weg dahin braucht, bis der wollen, sagen Sie aber nicht. Ich halte dies für unredlich, Sanktionsparagraf abgeschafft sein wird. Daher frage zumal Sie mit den Emotionen der Menschen spielen, die ich Sie, ob Ihnen bewusst ist, dass es Sanktionen nicht sich natürlich so schnell wie möglich einen sicheren und nur im SGB II gibt, sondern auch im SGB III – das heißt gut bezahlten Arbeitsplatz wünschen. Vor allem zeigt es dann Sperrzeiten –, und dass es auch für diesen Bereich einmal mehr, dass Sie das mit den Arbeitsplätzen nicht sehr sinnvoll ist, dass es geregelte Zumutbarkeitskrite- richtig verstanden haben, wie im Übrigen die Regie- rien gibt. rungsfraktionen auch. Sie versprechen die 2 Millionen Arbeitsplätze, aber Sie verbinden dies nicht mit Ihrem Beate Müller-Gemmeke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Spiegelstrich i). Hier fordern Sie zwar einen ökologi- NEN): schen Umbau der Wirtschaft, aber Sie führen nicht aus, dass überall im Land neue Arbeitsplätze geschaffen kön- Ich muss noch einmal sagen, dass in dem Wahlpro- nen, wenn man den Energiebedarf ausschließlich aus er- gramm der Grünen durchaus steht, dass wir ein Sanktions- neuerbaren Energien deckt und auf Atomkraft und Kohle moratorium wollen und dass die Vermittlung in Arbeit verzichtet. Vielleicht sollten Sie endlich einmal inner- bzw. in Maßnahmen natürlich den Wünschen, Fähigkei- halb Ihrer Partei die Kohlediskussion führen. ten und Interessen der Menschen entsprechen soll. Von daher sind Sie nicht die einzige Partei, sondern es steht (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) auch in unserem Wahlprogramm. Ich komme zum Schluss und appelliere an die Regie- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – rungsfraktionen: Denken Sie endlich an die Beschäftig- Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Sie verstehen ten, denken Sie endlich an die soziale Balance in unserer die Frage nicht!) Gesellschaft, und beschäftigen Sie sich endlich ernsthaft mit dem Thema „gute Arbeit“. – Wie bitte? In Richtung der Linken kann ich nur noch einmal sa- (Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- gen: Mich ärgert dieser Antrag; das haben Sie sehr wahr- NEN]: Mach einfach weiter, Beate! – Klaus scheinlich auch gemerkt. Ernst [DIE LINKE]: Wir geben Ihnen das noch einmal schriftlich!) (Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Gemerkt ha- ben wir gar nichts!) – Okay, machen Sie das. Mir ist dieses Thema wirklich wichtig. Ihr Antrag ist für Ich komme nun zu Ihrer Forderung nach politischem mich zu überzogen; damit macht er dieses Thema kaputt. (B) Streik. Dazu hat Kollege Schreiner schon etliches ge- Es darf nicht nur um Profilierung gehen, und es macht (D) sagt. Für das Land Berlin, in dem Sie ja an der Regie- auch keinen Sinn, einen Wettbewerb in allen Bereichen rung beteiligt sind, wäre ein solches Streikrecht natürlich zu veranstalten. Vielmehr sollten wir gemeinsam diese schon eine Katastrophe. Auch Sie haben etliche unpopu- wichtigen Themen aufgreifen und uns hier in diesem läre Dinge durchgedrückt, sodass politische Streiks ge- Hause ernsthaft mit dem Thema „gute Arbeit“ auseinan- rechtfertigt gewesen wären. Ich kann hier nur Kollegen dersetzen, und zwar im Interesse der Menschen. Schreiner unterstützen: Wir können jederzeit streiken und politische Demonstrationen machen. Daher braucht Vielen Dank. man so etwas in einem solchen Antrag nicht zu fordern. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Positiv in Ihrem Antrag ist aber, dass Sie wieder ein- mal gesetzliche bzw. branchenspezifische Mindestlöhne Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: fordern. Wir wollen sie ja auch. Als sich Ihre Partei noch Das Wort hat nun die Kollegin Mechthild Heil für die in den Kinderschuhen befand, haben wir schon einen ge- CDU/CSU-Fraktion. setzlichen Mindestlohn gefordert. Ich kritisiere aber, dass Sie alle, auch die Gewerkschaften, mit der Forde- (Beifall bei der CDU/CSU) rung nach einem gesetzlichen Mindestlohn in Höhe von 10 Euro überbieten. Nehmen Sie doch endlich zur Mechthild Heil (CDU/CSU): Kenntnis, dass wir uns nicht in einem Wettrennen um Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und den höchsten Mindestlohn befinden. Viel wichtiger wäre Kollegen! Bei dem Antrag der Linken „Mit guter Arbeit es, dass wir alle gemeinsam an einem Strang ziehen, aus der Krise“ trügt schon die Überschrift. Sie müsste ei- weil dieses Thema momentan das wichtigste ist. gentlich heißen: Mit primitivem Opportunismus immer weiter in die Krise. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) In Richtung Regierungsfraktionen sage ich: Stellen Sie sich endlich dem Thema Mindestlohn. Alle Men- Glauben Sie, dass das Volk das nicht merkt? Wenn sich schen haben das Recht, dass sie für ihre Arbeit gerecht der Sozialismus nicht offen zeigt, dann zieht er im Kleid und fair entlohnt werden. des Neides durch die Gesellschaft. Ein letzter Punkt in Richtung der Linken ist mir jetzt (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. noch wichtig: Sie gaukeln den Menschen vor, dass Sie in Pascal Kober [FDP] – Zuruf von der LINKEN: der Lage seien, schnell mal 2 Millionen Arbeitsplätze Plumper geht es nicht mehr!) 3506 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010

Mechthild Heil (A) Unter dem Punkt „Zumutbarkeit verbessern, Qualität Ich finde es unerträglich, dass Sie keine Verantwor- (C) von Arbeit in den Mittelpunkt rücken“ fordern Sie zum tung für die unterschiedlichen Gruppen in unserer Ge- Beispiel, politische und religiöse Gewissensfreiheit sellschaft übernehmen. Sie säen Misstrauen und Hass müsste gewährleistet werden. Ein Blick in das Grundge- unter den verschiedenen sozialen Gruppen. Sie ziehen setz würde Ihnen diesbezüglich sicherlich Auskunft ge- falsche Schlüsse und blenden einen Teil der Wahrheit ben. Daran sehen Sie, dass Ihr Antrag rein populistisch aus. ist. Es gibt keine Forderung von Ihnen, ohne dass Sie (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und vorher in den dunkelsten Farben ausmalen, in welch der FDP – Widerspruch bei der LINKEN) schlechtem Zustand sich unser Land und der Arbeits- markt vermeintlich befinden. Ihr Blick auf die Welt ist Arbeitgeber und Arbeitnehmer stehen für Sie unversöhn- grau in grau vernebelt. Das mag in Berlin so sein, wo Sie lich gegeneinander. Meine Wirklichkeit ist da wirklich mitregieren. eine andere. (Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Wissen Sie, (Zurufe von der LINKEN) wie viele Millionen mittlerweile in prekärer – Herr Ernst hat schon genug für Sie geschrien. – Viel- Beschäftigung sind?) leicht empfinde ich dies nicht so sehr als Gegensätze, Aber die Realität ist anders. Unser Konzept der Kurzar- weil ich in meinem Leben schon sowohl auf der Arbeit- beit ist zwischenzeitlich ein Exportschlager. Die Men- geber- als auch auf der Arbeitnehmerseite gestanden schen im Betrieb können sofort durchstarten, wenn die habe. Konjunktur anspringt. Das führt zu wirklich guter Ar- Sie schreiben weiter in Ihrem Antrag, dass nur beit. 12 Prozent der Beschäftigten ihre Arbeit als eine gute Arbeit bezeichnen. 55 Prozent bezeichneten ihre Arbeit (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- als mittelmäßig und 33 Prozent sogar als schlecht. Ich neten der FDP – Alexander Ulrich [DIE kenne diese Zahlen; sie stammen aus dem ersten Quartal LINKE]: Die werden von der IG Metall ge- 2009. Ich kenne aber auch den aktuellen Arbeitsmarkt- zwungen, das zu tun!) index des Emnid-Instituts. Die Daten wurden ganz aktu- Sie von der Linken beziehen sich heute auf Angaben ell, im Januar und Februar dieses Jahres, erhoben, und des Statistischen Bundesamts, wonach die Reallöhne sie sprechen eine ganz andere Sprache: Die Befragten um 0,4 Prozent gesunken sind. Keine Frage, die Zahl fühlen sich an ihrem Arbeitsplatz wohl. Der ermittelte stimmt. Sie ist korrekt. Die Verdienstentwicklung in Zufriedenheitsindex von 7,5 ist ein guter Wert. Er ist zu- letzt sogar gestiegen, zum ersten Mal seit 2008 – trotz (B) 2009 hat unter dem Einfluss der Weltwirtschafts- und Fi- (D) nanzkrise gelitten. Ja, das ist in Ordnung. Nicht in Ord- der von Ihnen als „katastrophal“ bezeichneten Entwick- nung sind aber die Schlüsse, die Sie daraus ziehen. Sie lung auf dem deutschen Arbeitsmarkt. Mein Fazit: Sie verschweigen, dass die Statistiker festgestellt haben, der haben das Ohr nicht bei unseren Arbeitnehmern, sondern Rückgang um 0,4 Prozent bei den Reallöhnen hänge vor frönen ideologischer Fiktion. allem von den starken Einbrüchen bei den Sonderzah- (Ottmar Schreiner [SPD]: Was ist denn eine lungen ab. Besonders hohe Verluste bei Sonderzahlun- ideologische Fiktion? Ich habe das nicht ver- gen mussten zum Beispiel Beschäftigte des Bankensek- standen, Frau Kollegin!) tors, der Versicherungen oder der Automobilindustrie hinnehmen. Die ganze Wahrheit ist also: Die Grundver- Bemerkenswert finde ich insbesondere, dass diejeni- gütungen, also die Bruttoverdienste ohne die Sonderzu- gen, die am wenigsten in der von Ihnen geforderten lagen, sind letztes Jahr sogar um 1,2 Prozentpunkte ge- Weise vom Staat abgesichert werden, also die Selbst- stiegen. Es ist traurig, dass Sie nicht die Kraft haben, das ständigen, die Freiberufler oder die Landwirte, mit ei- positiv zu kommentieren. nem Wert von 8,6 ganz besonders zufrieden sind. Auch das passt nicht in Ihr Weltbild; ich weiß. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Sie sollten einmal über Folgendes nachdenken: Auf Einen weiteren Zusammenhang verschweigen Sie. Der dem Höhepunkt der Krise gingen einige Experten sogar Rückgang der Reallöhne um 0,4 Prozent liegt neben dem von einem Anstieg der Arbeitslosenzahl auf 4,5 Millio- Einbruch bei den Sonderzahlungen für Banker vor allem nen aus. Dies hat sich nicht bewahrheitet, zum Glück. an der Kurzarbeit. Sie drückt den statistischen Schnitt, Die Forschungsinstitute gehen für dieses Jahr von 3,4 bis weil nur der reduzierte Lohn in dieser Statistik erfasst 3,5 Millionen Erwerbslosen aus. Das wäre ungefähr das wird, nicht aber das gesamte tatsächliche Einkommen Niveau des vergangenen Jahres. Das sind immer noch der von Kurzarbeit Betroffenen. Also: Die Reallöhne viel zu viele Arbeitslose. Um jeden einzelnen wollen sanken geringfügig um 0,4 Prozent, weil hier das allseits und müssen wir uns kümmern. Das ist Teil unseres für gut befundene Mittel des Kurzarbeitergeldes statis- christlich-liberalen Selbstverständnisses. tisch durchschlägt, aber die Grundvergütung stieg um (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- 1,2 Prozent. Ihre Methoden der Verdrehungen haben Vä- neten der FDP) ter, von denen Deutschland mit dem Abriss der Mauer befreit wurde. Wir sind durch die Krise noch nicht durch. Wir als Regierungskoalition verschließen nicht die Augen vor (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) der Realität. Wir sind uns der demografischen Heraus- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010 3507

Mechthild Heil (A) forderung bewusst. Wir wissen, dass ein Schlüssel zur nehmern, aber auch bei den Arbeitgebern eine steigende (C) positiven Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt darin liegt, Unzufriedenheit, eine Entsolidarisierung und eine stei- wie es uns gelingen wird, Ältere länger in das Arbeitsle- gende Zahl psychischer Erkrankungen. In den Betrieben ben zu integrieren, Alleinerziehenden einen besseren ist nur noch Platz für die Menschen, die bei der Leis- Zugang zur Arbeit zu ermöglichen und Menschen mit tungsoptimierung mithalten können. Menschen, die Migrationshintergrund in den Arbeitsmarkt zu integrie- diese Normen nicht erfüllen können, fallen hinten runter ren. Wir führen so die Menschen zum Einstieg in gute oder erhalten einen Armutslohn. Arbeit. Schreiben Sie weiter Anträge voller Textbau- steine. Wir packen die Probleme an. Zum Schluss werden die von den Arbeitnehmern mühsam erwirtschafteten Gewinne, die durch die Leis- Vielen Dank. tungsverdichtung eingefahren werden, auf dem Finanz- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) markt Spekulationen ausgesetzt und vernichtet. Unsere heutige Wirtschaft ist durch dieses System Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: rein wachstums- und gewinnorientiert. Das geht völlig Nächster Redner ist der Kollege Josip Juratovic für an den Bedürfnissen der Menschen vorbei. die SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD) (Beifall bei der SPD) Wenn ich mich mit den Menschen in meinem Wahl- kreis unterhalte, dann spüre ich eine tiefe Ratlosigkeit. Josip Juratovic (SPD): Zahlreiche Menschen, die Probleme mit ihrer Arbeit ha- Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten ben, kommen in meine Sprechstunden. Zu mir kommen Kolleginnen und Kollegen! Unsere Gesellschaft befindet Familienväter, die es entwürdigend finden, dass sie, ob- sich in einer Krise, und das ist eine viel tiefere Krise als wohl sie Vollzeit arbeiten, Probleme haben, ihren Kin- nur eine Wirtschafts- und Finanzkrise. Wir befinden uns dern die Teilnahme an einer Klassenreise zu ermögli- in einer tiefgreifenden Gesellschaftskrise. Die Men- chen. Zu mir kommen alleinerziehende Mütter, die so schen haben den Wunsch nach Zielen und Orientierung. viel es geht arbeiten und nebenher ihre Kinder betreuen. Das spiegelt sich wider in Familien, in der Freizeit und Sie erzählen mir, wie schwierig es ist, als junge Mutter in der Arbeitswelt. Das Fundament der fortschrittlichen überhaupt einen Arbeitsplatz zu bekommen. Ich unter- Entwicklung unserer Gesellschaft und unserer Wirt- halte mich mit den Hauptschülern, die zahlreiche Bewer- schaft waren lange Jahre unsere Werte und Tugenden. bungen um einen Ausbildungsplatz abschicken. Sie zei- Wir fuhren auf der Hauptstraße der Werte und Tugenden. gen ein hohes Maß an Engagement und kümmern sich Von dieser Hauptstraße des Erfolgs sind wir irgendwann (B) um ihre Zukunft. Trotzdem flattern immer nur Absagen (D) rechts in eine Sackgasse abgebogen. ins Haus, wenn sie überhaupt eine Antwort bekommen. (Pascal Kober [FDP]: Rechts ist nicht wahr!) Die Menschen haben die Orientierung verloren. Nie- Diese Sackgasse heißt: reine Wachstumslogik. mand weiß, wohin sich unsere Gesellschaft entwickelt. Niemand weiß, wie unser Wirtschafts- und Gesell- (Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Und schaftssystem in zwei, in fünf oder in zehn Jahren aus- !) sieht. Die Menschen interessieren sich nicht nur für das Wenn wir uns einmal anschauen, wie unsere heutige Hier und Jetzt, sondern vor allem für die entscheidende Wirtschaft funktioniert, wird diese Sackgasse deutlich: Frage: Wie geht es weiter? Wie kommen wir aus dieser Unsere Wirtschaft ist gekennzeichnet vom Kampf um Sackgasse wieder heraus? die Eroberung der Märkte und von einem knallharten Meine Kolleginnen und Kollegen, es wird zwar frak- Wettbewerb, der nicht auf Innovation, sondern auf Pro- tionsübergreifend gesagt, dass es nach der Krise kein duktionskostensenkung beruht. Es gibt vor allem zwei „Weiter so“ geben darf. In den Sonntagsreden sprechen betriebswirtschaftliche Herangehensweisen, wie die alle von Ethik in der Wirtschaft. Leider finden unsere Kosten zu senken sind: Sitzungen nicht sonntags, sondern donnerstags oder frei- Erstens. Es bestehen komplizierte Zusammenhänge tags statt, und unter der Woche zählen die schönen Re- zwischen dem Stammunternehmen, den Zulieferern, den vom Sonntag, die man allerorten hört, leider nicht Subunternehmen und Auslandsverlagerungen der Fir- viel. men. Das ist die sogenannte Mischkalkulation. Es wird (Beifall bei Abgeordneten der SPD) großer Druck aufgebaut, und von jedem Teil dieses Sys- tems werden Kostensenkungen erwartet. Wir müssen eine Antwort auf die Frage finden, wie wir aus dieser Sackgasse herauskommen. Wir müssen Zweitens. Die Arbeit in diesen Unternehmen ist ge- dafür sorgen, dass die Arbeitnehmerinnen und Arbeit- prägt durch eine Leistungsverdichtung an jedem Arbeits- nehmer in unserem Land wieder wissen, wohin die Reise platz sowie durch Leiharbeit, Befristungen und Mini- geht. Derzeit suchen wir den Ausweg am Ende der Sack- jobs. gasse. Aus der Sackgasse kommen wir aber nicht vor- Der übertriebene Wettbewerb wird auf die Arbeitneh- wärts heraus. Wir müssen umdrehen, um zurück auf die mer übertragen. Alle leiden unter der Leistungsverdich- Hauptstraße der Werte und Tugenden zu kommen. Wir tung, auch ältere Arbeitnehmer müssen oft olympiareife müssen Einsicht üben: Ein Schritt zurück von der Leistungen vollbringen. Daher haben wir bei den Arbeit- Wachstumslogik ist kein Rückschritt! Er bietet vielmehr 3508 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010

Josip Juratovic (A) die Grundlage dafür, danach wieder volle Fahrt aufzu- (Beifall bei der SPD) (C) nehmen und dabei alle in unserer Gesellschaft mitzuneh- men. Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: (Beifall bei der SPD) Das Wort hat nun der Kollege Pascal Kober für die FDP-Fraktion. Eine neue Kultur des Anstands in der Arbeitswelt, eine Ethik in der Wirtschaft, hilft allen. Sie hilft nicht (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten nur den Arbeitnehmern, sondern auch vielen, vor allem der CDU/CSU) kleinen und mittleren Unternehmen in unserem Land, die sich dem System der Kostensenkung und der Leis- Pascal Kober (FDP): tungsoptimierung nicht beugen wollen. Diese anständi- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! gen Unternehmer haben recht. Wir müssen sie darin un- Fast auf den Tag genau vor einem Jahr, am 23. April terstützen, wir müssen zu ihrem Schutz in diesem 2009, haben Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von knallharten Wettbewerb die für sie richtigen Rahmenbe- der Linkspartei, einen Antrag in den Deutschen Bundes- dingungen schaffen. tag mit dem vielversprechenden Titel eingebracht: „Gute In der gesamten Diskussion müssen wir weiter den- Arbeit – Gutes Leben“. Auch wenn Sie in Ihrem heuti- gen Antrag mit der Formulierung Ihres Titels nicht mehr ken als in unseren bisherigen Debatten. Wir müssen über ganz so anmaßend auftreten, als könne die Politik ein den Gegensatz zwischen Gewinnmaximierung und Um- verteilung hinausdenken. Wir brauchen ein neues Kon- gutes Leben garantieren, haben Sie sich inhaltlich über- haupt nicht fortentwickelt. Nüchternen und sachlich ge- zept, in dem die Lebensqualität an erster Stelle steht und botenen Realismus sucht man in Ihrem Antrag vergeb- bei dem diejenigen, die Arbeit verrichten, an der Wert- schöpfung beteiligt werden. Faire Arbeitsbedingungen lich. Der Titel mag sich geändert haben, der Geist ist bedauerlicherweise noch immer derselbe. müssen Grundlage unseres Wirtschaftserfolges sein und nicht Lohndrückerei und Spekulationen. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Eine neue Ethik und Qualität in der Wirtschaft schaffen wir Politiker nicht alleine. Dazu brauchen wir Der Duktus Ihrer Analyse der Wirtschafts- und Ar- unsere ganze Gesellschaft. Wir müssen gemeinsam mit beitsmarktsituation in Ihrem Antrag – darauf haben so- Gewerkschaften und Unternehmen, Kirchen und vielen gar Kolleginnen und Kollegen der Oppositionsparteien weiteren Menschen aus der Gesellschaft zusammenkom- hingewiesen – zielt allein darauf ab, ein Zerrbild der men. Wir müssen unseren Anspruch und unser Verhalten Wirklichkeit zu formulieren und die Menschen zu verun- grundlegend auf den Prüfstand stellen mit dem Ziel, wie- sichern. Wenn Sie, lieber Herr Ernst, von einem erd- (B) (D) der eine gemeinsame Orientierung und gesellschaftli- rutschartigen Einbruch bei der Lohnhöhe durch Hartz IV chen Zusammenhalt zu schaffen. Deswegen brauchen sprechen, konstruieren Sie ein Zerrbild der Wirklichkeit, wir Einrichtungen wie die Fortschritts-Enquete-Kom- das allein darauf abzielt, die Menschen zu verunsichern. mission, die SPD und Grüne diese Woche vorgestellt ha- ben. Eine solche Kommission dient uns als Stadtplan, (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten den wir in die Hand nehmen, um den Weg aus der Sack- der CDU/CSU) gasse zu finden. Meiner Auffassung nach aber steht Politik in der Ver- Wir beraten hier den Antrag der Linken: „Mit guter antwortung, Probleme nüchtern zu benennen, die Ursa- Arbeit aus der Krise“. Meine Kolleginnen und Kollegen chen zu klären, den Menschen Probleme zu erklären und von der Linken, das, was Sie mit diesem Antrag vorle- Lösungen für Probleme zu suchen, die Menschen auf gen, zeugt nicht davon, dass Sie tatsächlich verstanden Herausforderungen vorzubereiten und ihnen Mut für die haben, wo die gegenwärtigen Probleme liegen. Zukunft zu machen. Verunsicherung und Angstpädago- gik sind nicht der Stil einer verantwortungsvollen Poli- (Beifall der Abg. [SPD]) tik. Sie verharren beim Gegensatz von Umverteilung und (Beifall bei der FDP) Gewinnmaximierung. Mit Ihren geballten Forderungen Inhaltlich, liebe Kolleginnen und Kollegen der Links- zeigen Sie keinen Ausweg aus der Sackgasse auf. Ich partei, versprechen Sie den Menschen wieder einmal das frage mich bei Ihrem Antrag: Wollen Sie dabei helfen, Blaue vom Himmel. Darauf im Einzelnen einzugehen, ein Zukunftskonzept mit gesellschaftlicher Tragfähigkeit dafür fehlt an dieser Stelle leider die Zeit. Aber auf einer zu schaffen, oder wollen Sie diesen Antrag kurz vor dem grundsätzlichen und allgemeinen Ebene möchte ich doch 1. Mai nur einbringen, um dafür billigen Applaus zu be- einige Anmerkungen machen, damit die unterschiedli- kommen? che Geisteshaltung zwischen Ihnen und dieser christlich- Wir müssen den Menschen in unserem Land nicht nur liberalen Koalition deutlich wird. am 1. Mai zeigen: Wir nehmen ihre Sorgen und Pro- Im Kern beruhen all Ihre Forderungen auf der Idee ei- bleme ernst. Wir müssen ihnen zeigen, welchen Weg wir nes Idealarbeitsverhältnisses: angestellt, gewerkschaft- in unsere gemeinsame Zukunft gehen wollen: einen lich organisiert, sozialversicherungspflichtig, hoch ent- Weg, der uns aus der Krise herausführt und ein lebens- lohnt. Dass das erstrebenswert ist, ist auch für uns keine wertes Leben für alle ermöglicht. Frage, wobei wir die selbstständige und unternehmeri- Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. sche Tätigkeit in keiner Weise geringschätzen. Der Unter- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010 3509

Pascal Kober (A) schied zwischen uns und Ihnen ist: Wir wissen, dass diese Klaus Ernst (DIE LINKE): (C) Arbeitsverhältnisse am effektivsten und stabilsten im Herr Kollege Kober, vielleicht freuen Sie sich über System der sozialen Marktwirtschaft entstehen und die Verlängerung Ihrer Redezeit. – Menschen mit klei- glücklicherweise für die überwiegende Zahl der Arbeit- nen Kindern fällt es schwerer, ihre Kinder vernünftig zu nehmerinnen und Arbeitnehmer gegenwärtig Wirklich- betreuen, wenn beide Elternteile in Schichtarbeit einge- keit sind, ganz egal, was Sie dagegen sagen. Sie versu- setzt werden. Sie haben aber Folgendes gesagt: Wenn chen – das ist ein weiterer Unterschied –, diese diese Menschen das Recht hätten, vorübergehend aus Arbeitsverhältnisse per Gesetz festzulegen. Dabei über- der Schichtarbeit auszusteigen, dann würde das dazu sehen Sie, dass Sie zugleich um diese Arbeitsverhältnisse führen, dass sie von Betrieben im Schichtbetrieb nicht herum eine Mauer errichten, die gerade für diejenigen, mehr eingestellt würden. Glauben Sie tatsächlich, dass die draußen sind, die keine Arbeit haben, also die Arbeits- Menschen auf Kinder gänzlich verzichten würden, nur losen, unüberwindbar ist. um eingestellt zu werden? Oder glauben Sie nicht, dass die Arbeitgeber, wenn wir eine solche Regelung hätten, (Beifall bei der FDP) gezwungen wären, Eltern mit Kindern einzustellen, weil Liebe Kolleginnen und Kollegen der Linkspartei, was es sonst keine anderen Bewerber mehr gibt? wir aber brauchen, um auch denjenigen Menschen ge- (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Gut gemeint ist recht zu werden, die einen Arbeitsplatz suchen, sind sta- nicht immer gut, Herr Ernst!) bile und gangbare Brücken in den Arbeitsmarkt. Wir als christlich-liberale Regierungskoalition wollen diese Ich muss Ihnen auch noch diese Frage stellen: Was ist gangbaren und stabilen Brücken für diese Menschen denn das für eine Herangehensweise, wenn man nicht bauen. Wir werden verhindern, dass Langzeitarbeitslose akzeptiert, dass es gerade Eltern, die sich in Schichtar- dauerhaft aus dem Arbeitsmarkt herausgehalten werden. beit befinden, massiv erschwert wird, ihre Kindererzie- Das wäre nämlich die Konsequenz aus den Forderungen hung vernünftig zu organisieren und Familie und Beruf Ihres Antrages. zu verbinden? Sind Sie tatsächlich der Auffassung, dass man dies dem freien Spiel der Kräfte überlassen sollte, (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) was dazu führen würde, dass viele Menschen auf Kinder Ich möchte aus Zeitgründen nur ein Beispiel für das verzichten? Es gibt doch schon jetzt einen Geburten- herausgreifen, was Sie in Ihrem Antrag formulieren. Sie rückgang, weil es sich Menschen unter diesen Vorausset- fordern, zungen organisatorisch und finanziell nicht mehr leisten können, Kinder zu haben. dass Eltern von Kindern unter zwölf Jahren auf Ver- (B) langen von Schichtarbeit befreit werden können, Pascal Kober (FDP): (D) ohne dass der Arbeitgeber dagegen betriebliche Lieber Herr Ernst, ich glaube vor allen Dingen, dass Gründe geltend machen kann. wir die Vereinbarkeit von Kindern und Beruf verbessern Auch hier ist deutlich zu erkennen, dass Sie die Folgen müssen. Wir können als Gesetzgeber und als Politiker Ihrer Politik nicht im Blick haben. Wäre es denn dann auf allen Ebenen etwas dafür tun, die Betreuung von nicht so, dass Unternehmen, in denen in Schichten gear- Kindern zu verbessern. beitet wird, weniger oder keine Arbeitnehmer mit Kin- (Beifall bei Abgeordneten der FDP) dern mehr einstellen würden? Ist das Ihr Ziel? Wenn die Forderung aus Ihrem Antrag per Gesetz um- (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Genau so ist es!) gesetzt würde, dann würde es dazu führen, dass sich Un- Ihren Lösungsvorschlag auf dieses Problem kann ich ternehmen bei der Einstellung von Menschen mit Kin- mir leicht vorstellen: Er wäre bestimmt, eine Quote von dern zurückhalten würden. Damit würde auf die Beschäftigten mit Kindern festzulegen, die die Unter- Menschen ein zusätzlicher Druck ausgeübt werden, keine nehmen dann erfüllen müssten. Kinder mehr zu bekommen. Deshalb glaube ich, dass diese Forderung in der Tat nicht richtig ist. Deshalb wehre (Beifall bei der FDP) ich mich dagegen. Liebe Kolleginnen und Kollegen der Linkspartei, es Vielen Dank. ist doch bemerkenswert – das sollte zum Nachdenken anregen –, dass gerade in denjenigen Bundesländern die (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Anzahl an Arbeitsplätzen und an Ausbildungsplätzen am höchsten ist, wo man sich am hartnäckigsten einer sol- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: chen Politik, wie Sie sie hier vorschlagen, enthalten hat. Für die CDU/CSU-Fraktion hat das Wort der Kollege Ulrich Lange. (Beifall bei der FDP – Ottmar Schreiner [SPD]: Dass Sie als Pfarrer so gegen die Kin- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) der argumentieren, ist wirklich erschütternd!) Ulrich Lange (CDU/CSU): Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle- Herr Kollege, erlauben Sie eine Zwischenfrage des gen! Lieber Kollege Schreiner, ich muss Ihnen zum ers- Kollegen Ernst? – Das Wort hat der Kollege Ernst. ten Mal recht geben – aber nur in folgendem Punkt –: 3510 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010

Ulrich Lange (A) Worüber wir heute diskutieren, ist ein unseriöses Sam- (Klaus Ernst [DIE LINKE]: Ja!) (C) melsurium. – Dann geben Sie es endlich zu und schreiben Sie nicht (Beifall bei der CDU/CSU) irgendetwas von Equal Pay usw. Sagen Sie einfach, dass Sie sie beenden wollen. – Sie ignorieren den 11. AÜG- Dies ist eine Tatsache. Wir haben es gehört: Dies ist po- Bericht. Sie ignorieren den Bericht der Bundesagentur, pulistisch der NRW-Wahl geschuldet. Der vorliegende in dem dargelegt wurde, dass Zeitarbeit inzwischen ein Antrag ist eine Verkürzung des sogenannten Parteipro- erheblicher Faktor ist. Über deren Brückenfunktion und gramms der Linken, besser ausgedrückt und zusammen- die damit verbundene Flexibilisierung haben wir in die- gefasst unter dem Stichwort: Lafontaine’sches Mani- sem Hause schon mehrfach gesprochen. fest. Zu Ihrer Forderung eines Kündigungsschutzes für (Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Nur nicht alle. Populistischer geht es nicht mehr. Ihnen sollte klar neidisch sein!) sein, dass Sie damit gerade kleinen Familienbetrieben Er ist zum Glück bloße Theorie. Würde Ernst daraus, bzw. Handwerksbetrieben jeglichen Handlungsspiel- würden wir ihn umsetzen, wir hätten eine beispiellose raum nehmen. Das ist das Ende solcher Betriebe. Ich Rezession in Deutschland. Es gäbe sehr viele Arbeits- kann nur sagen: Sie wollen das wohl so. Diese Forde- lose mehr, und Sie hätten Probleme, sie zu zählen. Das rung ist schlicht und ergreifend nicht realistisch. muss man ganz deutlich sagen. Zu Ihrer Forderung eines Mindestlohns. Über die (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Höhe rede ich gar nicht. Nehmen wir uns ein Beispiel am Pflegedienst. Dies ist eine Sache der Tarifparteien. Wenn diese Bundesregierung – ich nehme die Vor- gängerregierung hinzu – etwas bewiesen hat, dann ist es Sie wollen die Höchstarbeitszeit auf 40 Stunden be- das, dass wir seit Beginn der Krise erfolgreiche Arbeits- grenzen. Wir haben ein sehr gutes Arbeitszeitgesetz. We- marktstrategien gefunden haben. Wir hatten in der Spitze niger Flexibilität bei der Arbeitszeit können wir uns mit fast 5 Millionen Arbeitslose und liegen jetzt trotz Krise Sicherheit nicht leisten. aufgrund der eingeführten Mechanismen bei circa 3,5 Millionen. Sie schreiben in Ihrem Parteiprogramm, dass Sie am Ende eine Wochenarbeitszeit von 30 Stunden bei vollem (Zuruf des Abg. Klaus Ernst [DIE LINKE]) Lohnausgleich wollen. Wie soll das funktionieren? Ich – Herr Ernst, jetzt bin ich an der Reihe. Sie haben heute sage ganz offen: Das ist unseriös. genug gebrüllt. Jetzt darf ich das. Zur sachgrundlosen Befristung. Ich habe heute ei- (B) (D) (Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Sie können nes gelernt: Die sachgrundlose Befristung hängt mit es aber nicht so gut!) Fortpflanzung zusammen. Über dieses Wort, Herr Ernst, bin ich ein bisschen erschrocken. Ich freue mich jeden – Das werden wir schon sehen. Tag an meinen Kindern. Ich empfinde sie nicht als Fort- pflanzung, sondern als ein ganz großes Glück; das muss Ihr Antrag ist letztlich nichts anderes als eine Jobver- ich Ihnen in dieser Deutlichkeit sagen. nichtung. Die Konjunkturlokomotive Deutschland in Europa würde zum Bremser. Nachdem Sie mit Ihrer letz- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- ten Wahlkampfparole „Reichtum für alle“ bei der Bun- neten der FDP) destagswahl gescheitert sind, versuchen Sie es jetzt mit einem neuen Antrag. Herr Ernst, Kollegen von der Lin- Wenn man Kinder nur in einen finanziellen Kontext ken, die Bevölkerung ist viel zu intelligent, um auf diese stellt, dann zeigt das – – Thesen hereinzufallen und zu glauben, dass man in (Abg. Klaus Ernst [DIE LINKE] meldet sich Deutschland damit wirklich weiterkommt. zu einer Zwischenfrage) (Beifall bei der CDU/CSU – Alexander Ulrich – Ich lasse keine Zwischenfrage zu, auch wenn Sie sich [DIE LINKE]: Im Gegensatz zu Ihnen haben fünfmal melden. Sie bekommen von mir keine Redezeit wir zugelegt! – Klaus Ernst [DIE LINKE]: Sie mehr. Da können Sie machen, was Sie wollen. haben verloren, wir haben gewonnen!) Wir halten an der sachgrundlosen Befristung fest. Sie – Wir werden sehen, worauf es am 9. Mai hinausläuft. hat eine positive Wirkung und ist Türöffner für dauer- Ich bin mir sicher, dass die christlich-liberale Koalition hafte Arbeitsplätze in den Betrieben. Sie ist – darum in Nordrhein-Westfalen ein gutes Ergebnis erhalten und geht es in diesem Zusammenhang – im Teilzeit- und Be- weiterregieren wird, damit wir die Krise erfolgreich fristungsgesetz geregelt. Das Gesetz beinhaltet den meistern können. Rechtsanspruch auf Teilzeitbeschäftigung, der die Ver- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – einbarkeit von Familie und Beruf verbessert. Anette Kramme [SPD]: Die Hoffnung stirbt zuletzt!) Zum politischen Streikrecht kann ich nur sagen: Wir haben eine hervorragend funktionierende Sozialpartner- Lassen Sie mich noch zu einigen Punkten in Ihrem schaft, die wir nicht riskieren sollten. Belegschaftsab- Antrag etwas sagen. Im vorliegenden Antrag sehen Sie stimmungen über wesentliche Betriebsentscheidungen letztlich vor, die Zeitarbeit zu beenden. bedeuten letztendlich Enteignung. Ich möchte an dieser Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010 3511

Ulrich Lange (A) Stelle klar festhalten: Das ist mit wahren Demokraten junger Mensch, der nach der Ausbildung nur befristet (C) nicht zu machen. übernommen wird, tatsächlich überlegt, ob er zusammen mit seiner Partnerin Kinder in die Welt setzt oder ob er (Zurufe von der LINKEN) es angesichts der Tatsache, dass er bei einem befristeten Sie wollen mithilfe von Förderprogrammen insge- Arbeitsplatz möglicherweise nur ein halbes Jahr oder ein samt 2,5 Millionen neue Arbeitsplätze schaffen. Sagen Jahr beschäftigt ist, vielleicht gar nicht verantworten Sie doch einmal, wo Sie das Geld hernehmen wollen! kann, weil er gegebenenfalls Probleme hat, seine Familie zu ernähren? Herr Lange, können Sie sich vorstellen, Frau Kollegin, Sie haben mir wirklich aus der Seele dass sich jemand, der sich in einem Leiharbeitsverhältnis gesprochen – das kommt nicht allzu oft vor –: Es ist befindet, angesichts der Tatsache, dass Leiharbeitnehmer wirklich ärgerlich, dass wir uns heute mit Ihren unrealis- die ersten sind, die aus den Betrieben entfernt werden tischen Forderungen beschäftigen müssen. – das war auch in dieser Krise so –, überlegt, ob er Kin- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- der in die Welt setzt, weil er sie kaum noch ernähren neten der FDP) kann, wenn er den Job verliert und auf Sozialleistungen dieses Staates angewiesen ist? Können Sie sich vorstel- Herr Ernst, Sie haben vorhin die Süddeutsche Zeitung len, dass die Familienpolitik auch Ihrer früheren Familien- zitiert; auch ich möchte das tun. Dort heißt es über den ministerin unter diesen Umständen konterkariert wird? Entwurf Ihres neuen Parteiprogramms, er sei „Sozialis- Sie sollte dazu führen, dass man lustvoll dazu beiträgt, mus in Neuauflage“. Letztendlich geht es in Ihrem Pro- dass dieses Land nicht ausstirbt. gramm um nichts anderes. Sie polarisieren: hier der aus- gebeutete Arbeitnehmer, dort der böse Arbeitgeber. So (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Lustvoll! Darum ist jedoch die Realität nicht. Wir haben Unternehmer- geht es! Da spielen ganz andere Fragen eine geist, Ideen, Mut, das Eigentum der Unternehmer, das Rolle!) sie zusammen mit engagierten Arbeitnehmerinnen und Können Sie sich vorstellen, dass wir unter diesen Bedin- Arbeitnehmern in fairer Partnerschaft einbringen. Genau gungen tatsächlich darüber nachdenken müssen, ob wir das wollen wir: soziale Marktwirtschaft. Sie ist ein Er- Regelungen wieder einführen, die wir in diesem Land folg für gute Arbeit, nichts anderes. Daran wollen wir schon gehabt haben? Die Regelungen galten im Westteil, festhalten. nicht im Ostteil des Landes; es handelte sich also nicht (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordne- um irgendeine Form des Sozialismus. Herr Lange, wenn ten der FDP – Zuruf von der LINKEN) Sie all das verneinen, dann kann ich Ihnen sagen: Sie ha- ben sich von der Realität der Menschen, insbesondere Nehmen Sie sich ein Beispiel: Nehmen Sie Nachhilfeun- (B) der jungen Menschen und der Menschen, die in schlech- (D) terricht bei unserer Bundesarbeitsministerin! Ich nenne ten Arbeitsverhältnissen beschäftigt sind, vollkommen nur den Titel des Gesetzentwurfes, der gestern vom Ka- verabschiedet. Das werden wir den Menschen auch sa- binett verabschiedet wurde: Gesetz für bessere Beschäf- gen. tigungschancen am Arbeitsmarkt – Beschäftigungschan- cengesetz. (Beifall bei der LINKEN) Es geht hier letztlich um die Grundsatzfrage: soziale Marktwirtschaft oder Sozialismus? Sie wollen den So- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: zialismus. Damit haben Sie einen Teil Deutschlands Zur Erwiderung Herr Kollege Lange. schon einmal vor die Mauer gefahren. Wir werden uns (Ottmar Schreiner [SPD]: Aber lustvoll!) dagegenstellen. Wir glauben an das Miteinander von Ar- beitnehmern und Arbeitgebern. Wir stehen zur sozialen Marktwirtschaft, die ein Erfolgskonzept für gute Arbeit Ulrich Lange (CDU/CSU): ist. – Gut, also ich antworte lustvoll. Herzlichen Dank. Herr Kollege Ernst, ja, ich kann mir das vorstellen, weil ich nicht davon ausgehe, dass ein Kinderwunsch (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) einzig und allein an der materiellen Situation einer Fami- lie, einer Partnerschaft, der Mütter und Väter hängt. Das Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: ist mir zu wenig. Ich kenne viele damalige Kommilito- Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort dem ninnen und Kommilitonen, die mitten im Studium Kin- Kollegen Ernst. der bekommen haben. (Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Wahnsinnig Klaus Ernst (DIE LINKE): viele!) Herr Kollege Lange, Sie sagen, es sei ärgerlich, dass wir uns mit diesem Thema beschäftigen. Ich kann mir – Das gab es, und das gibt es natürlich heute noch. vorstellen, dass das für Sie ärgerlich ist; denn dabei wer- Ich kenne viele Familien, die Hartz IV empfangen den die Defizite dieser Regierung deutlich vor Augen und interessanterweise auch viele Kinder haben. Ich geführt. kenne viele Familien von Leiharbeitnehmerinnen und Ich möchte auf das Beispiel der Menschen mit Kin- Leiharbeitnehmern, die sehr wohl Kinder haben. Herr dern eingehen. Können Sie sich vorstellen, dass sich ein Ernst, Kinder sind etwas anderes, Kinder sind ein Glück 3512 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010

Ulrich Lange (A) und nicht nur eine Frage des Geldbeutels. So sollten wir Gesellschaft und zu einer materiellen und geistigen Ver- (C) wieder denken. armung. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – (Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Und Demotiva- Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Dass Kinder tion!) ein Armutsrisiko sind, wissen Sie nicht!) Aber mit der materiellen und geistigen Verarmung haben Sie ja historisch schon Ihre eigenen Erfahrungen Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: gemacht. Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Dr. Matthias Zimmer für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Herbert Wehner hat vor 40 Jahren gesagt: Das sozialisti- sche Experiment in der DDR kann nur in einem großen Dr. Matthias Zimmer (CDU/CSU): Katzenjammer enden. Und das ist noch das Höflichste, Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Nach was sich darüber sagen ließ. diesem beinahe lustvollen und – zumindest von einer (Beifall bei der CDU/CSU – Klaus Ernst [DIE Seite des Hauses – an die Grenze des Kabarettistischen LINKE]: Über was reden Sie eigentlich hier?) gehenden Austausches über die Familienpolitik fällt es schwer, sich wieder in die Niederungen dessen zu bege- Der zweite Punkt: Ich habe den Eindruck, dass Sie ben, was wir in dem Antrag der Linken vor uns liegen den Arbeitsmarkt mit Ansprüchen auf gesellschaftliche haben. Änderungen überlasten. Sie begehen damit etwas, was André Comte-Sponville in einem sehr lesenswerten Der Antrag versammelt alles, was es an Monstrositä- Buch über die Frage, ob der Kapitalismus moralisch sein ten und Skurrilitäten aus dem linken Lager so gibt, Herr kann, als Verwechslung der Ordnungen bezeichnet – Ernst, eine beachtenswerte Gesamtschau sozialistischer also etwa das Koalitionsrecht in einem Generalstreik zur Irrungen und Wirrungen, ein Kompendium wirtschaftli- Durchsetzung politischer Forderungen zu missbrauchen chen und sozialpolitischen Kompetenzdefizits. oder die Auftragsvergabe der öffentlichen Hand an ge- (Pascal Kober [FDP]: So ist es!) sellschaftliche Reformziele zu koppeln, die an sich für den Zweck der Auftragsvergabe systemfremd sind. Mit Ich will es mir ersparen, auf die einzelnen Vorschläge diesen teilweise massiven Eingriffen in das Wirtschafts- einzugehen. Da ist viel Richtiges gesagt worden. Aber leben wird die Wirtschaft zur Erreichung gesellschaftli- ich will einige Punkte hervorheben, an denen sich die cher Ziele feingesteuert. André Comte-Sponville nennt Differenz zwischen unseren politischen Ordnungsvor- (B) das die Tyrannei der höheren Ordnung. Wir meinen al- (D) stellungen sehr deutlich konkretisiert. lerdings: Der Staat soll einen Ordnungsrahmen für die Da ist zunächst einmal der Begriff der Solidarität. Wirtschaft setzen, aber nicht versuchen, gesellschaftli- Der wird ja in der Geschichte – auch der Arbeiterbewe- che Utopien durch wirtschaftliche Prozesse zu verwirkli- gung – groß geschrieben, auch wenn diese Solidarität chen. zunächst einmal transnational organisiert werden sollte. Solidarität bedeutet gegenseitiges Einstehen in einer Mit dieser Zurückhaltung sind wir in den 60 Jahren Rechtsgemeinschaft, also ein gegenseitiges Hilfever- der sozialen Marktwirtschaft gut gefahren, mehr noch: sprechen. Dieser Anspruch auf gegenseitige Hilfe ent- Wir haben das konkurrierende Modell einer sozialisti- steht auf der Grundlage von Leistung und Gegenleis- schen Planwirtschaft abgehängt. Wir brauchten es weder tung. Davon ist bei Ihnen aber nichts zu spüren, denn der einzuholen noch zu überholen, wir haben es einfach ab- solidarischen Leistung der Unterstützung bei Arbeitslo- gehängt. Es ist zu Recht in der Asservatenkammer der sigkeit entspricht bei Ihnen keine Gegenleistung. Geschichte gelandet. Dass Sie als Verlierer der Ge- schichte die Stirn haben, uns zu sagen, dass wir ein ande- (Beifall bei der CDU/CSU) res Wirtschafts- und Gesellschaftssystem brauchen, Das machen Sie dadurch deutlich, dass Sie sagen: Wir (Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Ungeheuerlich!) wollen eine sanktionsfreie Mindestsicherung. Das heißt nichts anderes als ein Abschied vom Prinzip der zeigt nur eines: Aus der Geschichte haben Sie nichts ge- Solidarität. Die sanktionsfreie Mindestsicherung ist die lernt. dauerhafte Subventionierung der Arbeitsunwilligen (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) durch die Arbeitswilligen. Ein dritter Punkt. Für Sie kommt alles Heil vom Staat. (Beifall bei der CDU/CSU) Für uns ist es zunächst der Einzelne, der in Freiheit und Es ist der Abschied vom Prinzip der Solidarität zu- Selbstverantwortung handelt. Für uns gilt der Grundsatz gunsten einer Alimentierung der Privatisierung Einzel- der Subsidiarität, der gesellschaftlichen Selbstorganisa- ner auf Kosten der Allgemeinheit. tion. Deshalb ist auch der Staat subsidiär, also nachran- gig gegenüber der Selbstverantwortung des Einzelnen (Zuruf von der CDU/CSU: So ist es!) und der Selbstorganisation der Gesellschaft. Dass Sie Logisch zu Ende gedacht führt aber dieser Abschied von mit diesem Konzept Probleme haben, erstaunt mich der Solidarität nicht zum allgemeinen gesellschaftlichen nicht. Ihre Tradition ist die Tradition staatlicher Gänge- Reichtum, sondern zu einer Entsolidarisierung in der lung, staatlicher Bevormundung und staatlicher Planung. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010 3513

Dr. Matthias Zimmer (A) Damit haben Ihre geistigen und politischen Ahnen die Überweisungsvorschlag: (C) Biografien von Millionen Menschen zerstört. Ausschuss für Kultur und Medien (f) Rechtsausschuss (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – c) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- Klaus Ernst [DIE LINKE]: Bayern war wirk- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die lich ein schlimmes Land!) Feststellung des Wirtschaftsplans des ERP- In einem seltenen Anfall von partieller Selbsterkennt- Sondervermögens für das Jahr 2010 (ERP- nis schreiben Sie in Ihrem Programm über die DDR: Wirtschaftsplangesetz 2010) – Drucksache 17/1294 – Die Demokratie blieb auf der Strecke, und eine ökologische Orientierung hatte keine Chance. Die Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Zentralisation der ökonomischen Entscheidungen Technologie (f) und die bürokratisierte Form der Planung und Lei- Finanzausschuss tung der Volkswirtschaft sowie die weitgehende Ausschuss für Tourismus Einschränkung betrieblicher Selbstständigkeit führ- Haushaltsausschuss ten langfristig zu einem Zurückbleiben der Innova- d) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- tions- und Leistungsfähigkeit. gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu den Än- Das ist alles richtig. Ich frage mich, wie Sie mit dem al- derungen vom 2. Oktober 2008 des Überein- ten Wein der Denkungsart, den Sie lediglich in einen kommens vom 3. September 1976 über die neuen Schlauch einer Partei gegossen haben, eine Wie- Internationale Organisation für mobile Satelli- derholung dieses nationalen Unglücks verhindern wol- tenkommunikation (International Mobile Sa- len. Die Probe aufs Exempel will ich nicht machen, weil tellite Organization – IMSO) ich der Meinung bin: Es gilt, den Anfängen zu wehren. – Drucksache 17/1295 – Mit ihrem Konzept der guten Arbeit wird kein Weg aus Überweisungsvorschlag: der Krise gewiesen. Im Gegenteil: Das Konzept zeigt Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f) nur auf, wie die Krise politisch verstärkt werden kann. Finanzausschuss Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (Klaus Ernst [DIE LINKE]: Über den Antrag haben Sie gar nicht geredet! Ihre Begründung e) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- war äußerst dünn!) gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umset- zung der Dienstleistungsrichtlinie auf dem Ge- Wir werden Ihr Konzept ablehnen, was Sie sicherlich biet des Umweltrechts sowie zur Änderung (B) nicht überraschen wird. umweltrechtlicher Vorschriften (D) Danke schön. – Drucksache 17/1393 – Überweisungsvorschlag: (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f) Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Ich schließe die Aussprache. Verbraucherschutz Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf f) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- Drucksache 17/1396 an die in der Tagesordnung aufge- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Einfüh- führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- rung einer Musterwiderrufsinformation für verstanden? – Ich sehe, das ist der Fall. Dann ist die Verbraucherdarlehensverträge, zur Ände- Überweisung so beschlossen. rung der Vorschriften über das Widerrufs- recht bei Verbraucherdarlehensverträgen und Ich rufe die Tagesordnungspunkte 28 a bis 28 g sowie zur Änderung des Darlehensvermittlungs- Zusatzpunkte 4 a bis 4 f auf: rechts 28 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- – Drucksache 17/1394 – gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände- Überweisungsvorschlag: rung krankenversicherungsrechtlicher und Rechtsausschuss (f) anderer Vorschriften Finanzausschuss Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und – Drucksache 17/1297 – Verbraucherschutz Überweisungsvorschlag: g) Beratung des Antrags der Abgeordneten Marlene Ausschuss für Gesundheit (f) Rupprecht (Tuchenbach), Petra Crone, Petra Rechtsausschuss Ernstberger, weiterer Abgeordneter und der Frak- b) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- tion der SPD gebrachten Entwurfs eines Sechsten Gesetzes Frauenhäuser ausreichend zur Verfügung stel- zur Änderung des Filmförderungsgesetzes len und deren Finanzierung sichern – Drucksache 17/1292 – – Drucksache 17/1409 – 3514 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt (A) Überweisungsvorschlag: Überweisungsvorschlag: (C) Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f) Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Innenausschuss Verbraucherschutz (f) Rechtsausschuss Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO f) Beratung des Antrags der Abgeordneten Hilde ZP 4 a)Beratung des Antrags der Abgeordneten Mattheis, Dr. Karl Lauterbach, Elke Ferner, wei- Dr. Gerhard Schick, Lisa Paus, Dr. Thomas terer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Gambke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Qualität und Transparenz in der Pflege konse- quent weiterentwickeln – Pflege-Transparenz- Finanzumsatzsteuer auf EU-Ebene einführen kriterien optimieren – Drucksache 17/1422 – – Drucksache 17/1427 – Überweisungsvorschlag: Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss (f) Ausschuss für Gesundheit (f) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Verbraucherschutz Haushaltsausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Kerstin Es handelt sich dabei um Überweisungen im verein- Andreae, Fritz Kuhn, Christine Scheel, weiterer fachten Verfahren ohne Debatte. Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an DIE GRÜNEN die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu Pluralistischen Ansatz bei Auswahl der For- überweisen. Die Vorlage auf Drucksache 17/1409, das schungsinstitute für die Gemeinschaftsdia- betrifft den Tagesordnungspunkt 28 g, soll dem Haus- gnose gewährleisten haltsausschuss ausschließlich zur Mitberatung überwie- sen werden. Sind Sie damit einverstanden? – Auch das – Drucksache 17/1424 – ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlos- Überweisungsvorschlag: sen. Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ich rufe den Tagesordnungspunkt 29 auf: c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Kerstin (B) Andreae, Fritz Kuhn, Christine Scheel, weiterer Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre- (D) Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ gierung eingebrachten Entwurfs eines Fünften DIE GRÜNEN Gesetzes zur Änderung des Kraftfahrzeug- steuergesetzes Umweltberichterstattung in die Gemein- schaftsdiagnose aufnehmen – Drucksachen 17/717, 17/1209 – – Drucksache 17/1423 – Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Finanzausschusses (7. Ausschuss) Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie – Drucksache 17/1463 – d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Michael Berichterstattung: Schlecht, Dr. Barbara Höll, Eva Bulling-Schröter, Abgeordnete weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE Ingrid Arndt-Brauer LINKE Dr. Birgit Reinemund Richard Pitterle Pluralistischen Ansatz bei Auswahl der For- Lisa Paus schungsinstitute für die Gemeinschaftsdia- gnose gewährleisten Dabei handelt es sich um eine Beschlussfassung zu einer Vorlage, zu der keine Aussprache vorgesehen ist. – Drucksache 17/1405 – Überweisungsvorschlag: Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun- Ausschuss für Wirtschaft und Technologie desregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Ände- rung des Kraftfahrzeugsteuergesetzes. Der Finanzaus- e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Elvira schuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drobinski-Weiß, Dr. Wilhelm Priesmeier, Ulrich Drucksache 17/1463, den Gesetzentwurf der Bundesre- Kelber, weiterer Abgeordneter und der Fraktion gierung auf den Drucksachen 17/717 und 17/1209 in der der SPD Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die Gentechnisch veränderte Amflora-Kartoffel dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen zuverlässig aus der Lebensmittel- und Futter- wollen, um das Handzeichen. – Wer ist dagegen? – Ent- mittelkette fernhalten haltungen? – Dann ist der Gesetzentwurf in zweiter Be- ratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei – Drucksache 17/1410 – Enthaltung der Oppositionsfraktionen angenommen. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010 3515

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt (A) Dritte Beratung Sie damit einverstanden? – Ich sehe, das ist der Fall. (C) Dann können wir so verfahren. und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Wer ist dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf Aussprache eine Stunde vorgesehen. – Auch dazu sehe ist damit mit dem gleichen Stimmenverhältnis wie in der ich keinen Widerspruch. Ich eröffne die Aussprache und zweiten Beratung angenommen. erteile als erstem Redner das Wort dem Kollegen Michael Link für die FDP-Fraktion. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 3 auf: (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts der CDU/CSU) des Ausschusses für die Angelegenheiten der Euro- päischen Union (21. Ausschuss) Michael Link (Heilbronn) (FDP): – zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Mit der FDP dem heutigen Antrag wollen wir Einvernehmen mit der Einvernehmensherstellung von Bundestag und Bundesregierung über die Aufnahme von Beitrittsver- Bundesregierung zum Beitrittsantrag der Re- handlungen mit Island herstellen. Die FDP unterstützt ebenso wie die Bundesregierung das Ziel einer Vollmit- publik Island zur Europäischen Union und zur Empfehlung der EU-Kommission vom 24. Fe- gliedschaft Islands in der Europäischen Union. Deutsch- bruar 2010 zur Aufnahme von Beitrittsver- land und die EU haben allergrößtes Interesse an der Un- terstützung dieses Beitrittsantrags und an dem Gelingen handlungen des Beitrittsprozesses mit Island. Mit Island würde eine hier: Stellungnahme des Deutschen Bundesta- stabile parlamentarische Demokratie der EU beitreten, ges nach Artikel 23 Absatz 3 GG i. V. m. § 10 die Rechtsstaatlichkeit und Achtung der Menschenrechte des Gesetzes über die Zusammenarbeit von garantiert. Bundesregierung und Deutschem Bundestag (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) in Angelegenheiten der Europäischen Union Island kann als funktionierende Marktwirtschaft an- – zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Diether gesehen werden, auch wenn mit der Bankenkrise deut- Dehm, Alexander Ulrich, , weiterer lich geworden ist, wohin es führt, wenn wir in einem Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Markt keine klaren Aufsichtsregeln haben. Island war Verhandlungen über die Aufnahme Islands in eine funktionierende Marktwirtschaft. Wir sind auch si- (B) die Europäische Union eröffnen cher, dass es wieder eine funktionierende Marktwirt- (D) schaft sein wird. Am Beispiel Island kann man aber, wie – zu dem Entschließungsantrag der Abgeordneten gesagt, sehr gut sehen, wohin es führt, wenn keine starke Dietmar Nietan, Michael Roth (Heringen), Iris Finanzmarktaufsicht vorhanden ist. Gleicke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) zu der Abgabe einer Regierungserklärung durch die Bundeskanzlerin zum Europäi- In der Öffentlichkeit wird teilweise der Eindruck ver- schen Rat am 25./26. März 2010 in Brüssel mittelt – er ist falsch –, dass es Island nur um den Beitritt zur Euro-Zone geht, quasi als Rettungsmechanismus. – zu dem Entschließungsantrag der Abgeordneten Natürlich geht es Island auch um den Beitritt zur Euro- Manuel Sarrazin, Viola von Cramon-Taubadel, Zone. Aber der Beitritt zur Euro-Zone und der Beitritt Ulrike Höfken, weiterer Abgeordneter und der zur Europäischen Union sind und bleiben für uns zweier- Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN lei Paar Stiefel. Wir reden jetzt über den Beitritt zur Eu- zu der Abgabe einer Regierungserklärung ropäischen Union. Der Weg zum Beitritt zur Euro-Zone durch die Bundeskanzlerin zum Europäi- wird für Island ein sehr viel längerer sein; denn er hängt schen Rat am 25./26. März 2010 in Brüssel – ich glaube, da sind wir uns alle einig – mit der strikten Einhaltung der Maastricht-Kriterien zusammen. Hier – Drucksachen 17/1190, 17/1059, 17/1191, 17/1172, können wir keine Abstriche machen. 17/1464 – (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Berichterstattung: der CDU/CSU) Abgeordnete Michael Stübgen Michael Roth (Heringen) Aber auch die EU kann vom Wissen und den Erfah- Dr. Stefan Ruppert rungen Islands profitieren. Island verfügt im Bereich der Andrej Konstantin Hunko erneuerbaren Energiequellen, auch im Bereich der Fi- Manuel Sarrazin schereiwirtschaft über sehr wichtige Erkenntnisse. Is- land hat es geschafft, eine nachhaltige Fischereiwirt- Der Ausschuss hat in diese Beschlussempfehlung den schaft aufzubauen, übrigens ohne öffentliche Beihilfen, Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf ohne Subventionen aus öffentlichen Kassen. Wir sollten Drucksache 17/260 mit einbezogen. Über diese Vorlage darauf achten, dass wir Island im Beitrittsprozess nicht soll jetzt ebenfalls abschließend beraten werden. Sind ohne Not ein überarbeitungsbedürftiges Regime der Eu- 3516 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010

Michael Link (Heilbronn) (A) ropäischen Union an diesem Punkt überstülpen, da fähigkeit des Kandidaten und die Aufnahmefähigkeit der (C) Island mit nachhaltiger Fischerei selbst bereits weiter ist. Europäischen Union. Wir sollten uns davor hüten, zur Unzeit Zeitpunkte zu nennen oder gar Pakete zu schnü- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) ren. Ich glaube, das muss die Lehre aus den großen Er- Klar muss allerdings auch sein, dass beim kommerziel- weiterungswellen der Vergangenheit sein. Die Beitritte len Walfangverbot keine Abstriche, keine Kompromisse waren in jedem Einzelfall richtig. Vielleicht hätte man gemacht werden können. aber darauf verzichten sollen, früh und zur Unzeit ein Beitrittsdatum zu nennen, und vielleicht hätte man auch Dankbar sind wir auch für das, was Island uns Neues nicht jedes Paket so schnüren sollen, wie es geschnürt bringen kann, insbesondere in der Gemeinsamen Sicher- worden ist. Denn dadurch wird verkannt, welche indivi- heits- und Verteidigungspolitik. Island wird an der Nord- duellen Chancen, aber teilweise auch Risiken und Pro- westflanke der Europäischen Union eine ganz wichtige bleme jedes neue Mitglied uns in der Union bringt. Wir Bereicherung sein. Wir alle wissen, dass der arktische sind mehr als ein politischer Klub; wir sind ein Staaten- Raum in Zukunft an strategischer Bedeutung hinzuge- verbund. Dementsprechend sollten wir Aufnahmen im winnen wird. Mit Blick auf das, was Island für die Einzelfall sehr genau prüfen und uns immer die notwen- NATO, das atlantische Bündnis, bereits geleistet hat, ist dige Zeit dazu nehmen. es selbstverständlich, dass wir diesen Beitrag sehr schät- zen und uns deshalb freuen würden, wenn wir Island Die FDP unterstützt die Aufnahme von Beitrittsver- bald als Mitglied willkommen heißen könnten. handlungen mit Island zur Europäischen Union. Island ist im Übrigen bereits lange in der EFTA und (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie im Europäischen Wirtschaftsraum vertreten. Es ist seit bei Abgeordneten der SPD und des BÜND- 2001 Mitglied des Schengener Abkommens. Insofern NISSES 90/DIE GRÜNEN) glaube ich – da können wir über die Fraktionsgrenzen hinweg vermutlich eine Gemeinsamkeit feststellen –: Vizepräsident Dr. : Island wird mit Sicherheit nicht 10 oder 20 Jahre über Das Wort hat jetzt der Kollege Michael Roth von der seinen Beitritt verhandeln müssen. Wenn es aber so ist, SPD-Fraktion. dass die Verhandlungen in einem relativ überschaubaren Zeitraum abgeschlossen werden können, dann muss (Beifall bei der SPD) auch klar sein, dass die heutige Stellungnahme des Bun- destages bereits sehr substanziiert sein muss. Michael Roth (Heringen) (SPD): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich Der relativ kurze Zeitraum von wenigen Jahren für gehöre – wie viele andere auch – zu den Leidtragenden (B) Beitrittsverhandlungen mit Island, den wir vor uns ha- (D) dieses isländischen Vulkans, dessen Namen ich immer ben, erfordert eine umso genauere Begleitung des Pro- noch nicht auszusprechen vermag. Dennoch sollten wir zesses durch den Bundestag von Anfang an. Deshalb ha- vor dem Hintergrund des Ascheregens nicht die falschen ben wir von den Koalitionsfraktionen uns sehr viel Mühe Schlussfolgerungen ziehen und deutlich machen: Wir gemacht, um in diesem Antrag sehr viele inhaltlich an- freuen uns darauf, Beitrittsverhandlungen mit Island gereicherte Punkte des EU-Ausschusses genauso wie der führen zu können. Wir hoffen, Island baldmöglichst in mitberatenden Ausschüsse unterzubringen. Ich habe ge- der Europäischen Union willkommen heißen zu dürfen. rade das Thema Walfangverbot erwähnt. Den Prozess, Wir fänden es gut, wenn der Deutsche Bundestag sich in die Verhandlungen, die die Bundesregierung durchführt, diese Beitrittsverhandlungen aktiv einbringen würde. werden wir sehr genau begleiten. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Wichtig ist uns als FDP auch, deutlich zu machen, der CDU/CSU und der FDP – Manuel Sarrazin dass man das isländische Beitrittsgesuch keinesfalls in [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die Bundes- den Ruch stellen sollte, es sei lediglich erfolgt, weil Is- regierung!) land jetzt in einer Krise ist und deshalb unter den Schirm der EU möchte. So einfach ist das nicht. Wir wissen, Ich kann mich der Kritik meines geschätzten Vorred- dass viele Parteien in Island, insbesondere die Sozialde- ners an Bundeskanzler Helmut Kohl hinsichtlich der mokraten, schon lange für den isländischen Beitritt Nennung eines konkreten Datums nur anschließen; da kämpfen. haben Sie völlig recht, Herr Kollege Link. (Axel Schäfer [Bochum] [SPD]: Sehr wahr!) (Dr. Andreas Schockenhoff [CDU/CSU]: Das war 2004, Herr Kollege!) Die Idee des isländischen Beitritts ist also weit mehr als eine Flucht unter den EU-Rettungsschirm. Sie ist auch – Meines Wissens hatte der Bundeskanzler Dr. Helmut ein Bekenntnis zu gemeinsamen europäischen Werten. Kohl das Datum 2000 in die Diskussion eingebracht. Das respektiert die FDP. Auch deshalb setzen wir uns für (Dr. Andreas Schockenhoff [CDU/CSU]: 2007 den Beitrittsantrag Islands ein. war es, und es wurde 2004!) Zu guter Letzt: Wir sollten uns darüber im Klaren Herr Schockenhoff, wir sollten hier keine Geschichts- sein, dass, anders als in der Vergangenheit – ich betone klitterung beitreiben. das bewusst für meine Fraktion –, nur und ausschließlich die strikte Erfüllung der Kopenhagener Kriterien die Vo- (Veronika Bellmann [CDU/CSU]: Nachlesen raussetzung für den Beitritt sein kann, also die Beitritts- hilft!) Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010 3517

Michael Roth (Heringen) (A) Ich stimme Ihnen auch zu, Herr Kollege Link, wenn Ich bin von der Bundesregierung, insbesondere von (C) Sie sagen, dass wir die richtigen Schlussfolgerungen aus der Bundeskanzlerin und vom Bundesaußenminister, den bisherigen Beitrittsverhandlungen ziehen müssen. enttäuscht, weil diese wichtigen europäischen Impulse Beitrittsverhandlungen sind nicht nur eine Chance für „Wo wollen wir hin?“ und „Was ist unser europapoliti- Island, sondern auch für die Europäische Union und sches Konzept?“ bislang sträflich vernachlässigt worden Deutschland. In den vergangenen Jahren ist es uns nicht sind. Ich fordere alle dazu auf, diese Diskussion zu füh- ausreichend gelungen, deutlich zu machen, dass es bei ren. Möglicherweise können die Beitrittsverhandlungen einem Beitritt zur Europäischen Union nicht vordergrün- auch für uns ein Impuls sein, etwas nachzuholen, was dig um den Binnenmarkt, um den Euro und um ökono- wir sträflich vernachlässigt haben. mische Kriterien geht. Wir sind in erster Linie eine Wer- tegemeinschaft. (Beifall bei der SPD) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Die Beitrittsverhandlungen sind eine Zweibahn-, keine der FDP) Einbahnstraße. Wir sind eine politische Union. Insofern lautet meine Island wäre eine Bereicherung. Ich möchte das an die- Bitte an die isländischen Partner, von Anfang an die is- ser Stelle nur auf einen einzigen Punkt fokussieren: die ländische Zivilgesellschaft einzubeziehen und deutlich Fischereipolitik. Auch dieser Politikbereich ist mühselig zu machen, dass es sich um eine Win-win-Situation han- und ärgerlich. Denken wir nur an die Quotendiskussion delt: nicht nur für die Europäische Union, die ein weite- innerhalb der Europäischen Union. Aber wenn Island res Mitgliedsland bekommt, sondern auch für die Bürge- der Europäischen Union beiträte, wäre Island die größte rinnen und Bürger, für die Zivilgesellschaft. Es geht Fischereination in der Europäischen Union. Auf diesem nicht allein um Vorteile für die isländische Wirtschaft. Gebiet können wir von Island eine Menge lernen. Der Aspekt der Nachhaltigkeit ist ein ganz wesentlicher Be- Denn eine Devise gilt nach wie vor: Kleine Länder standteil der isländischen Fischereipolitik. Insofern soll- ganz groß. Die Größe eines Landes bemisst sich nicht ten wir die isländischen Erfahrungen in die Diskussion vorrangig an der Einwohnerzahl. Länder wie über eine Reform der gemeinsamen Fischereipolitik in Luxemburg, die sich immer als Speerspitze der europäi- der Europäischen Union einbeziehen. Möglicherweise schen Integration gesehen haben, haben sich so unend- kann auch dies dazu beitragen, die Ängste, die gerade lich viele Verdienste um das Projekt der europäischen In- die Fischer in Island vor einem Beitritt zur Europäischen tegration erworben. Man sollte daher den Isländern Mut Union haben, abzubauen. machen und ihnen deutlich sagen: Euer Land ist zwar (Beifall bei der SPD) (B) klein, was die Einwohnerzahl anbelangt, aber ihr habt, (D) was euren Beitrag zur Demokratie und zum Parlamenta- Ich möchte noch einen bundestagsinternen Punkt an- rismus in Europa betrifft, große Verdienste. Bringt die- sprechen, über den wir gestritten haben, bei dem wir also sen demokratischen Geist und diesen Mut zur Autono- nicht einer Meinung waren. Die SPD-Bundestagsfrak- mie offensiv ein! tion hat schon zu einem sehr frühen Zeitpunkt den An- Das sind Werte, auf die die Europäische Union zwin- trag eingebracht, der Bundesregierung eine Stellung- gend angewiesen ist. Insofern kann dieses Angebot nahme mit auf den Weg zu geben. Wir hätten uns durchaus ein Beitrag dazu sein, die vielen, die den Bei- gewünscht, dass schon mit Blick auf den Europäischen tritt Islands immer noch ablehnen, zu überzeugen. Wenn Rat am 25. März dieses Jahres eine parlamentarische Ini- man sich die politische Landschaft in Island ansieht, tiative eingeleitet worden wäre. Ich will mich mit Vor- muss man feststellen: Die Sozialdemokraten in Island würfen zurückhalten. Aber ich meine, dass wir den Nie- sind in dieser Hinsicht eine der wenigen rühmlichen derländern und den Briten, die in Bezug auf die Ausnahmen. Sie konsequent und frühzeitig für den Bei- Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit Island ihre ei- tritt eingetreten. Das Fundament derer, die den Beitritt genen Spielchen getrieben haben, hier in die Hände ge- Islands positiv sehen, muss nach Möglichkeit verbreitert spielt haben. werden. Wir hätten deutlich machen müssen: Der Deutsche (Beifall bei der SPD) Bundestag ist in der Lage und bereit, trotz sehr enger Fristen eine Stellungnahme abzugeben. Wir sind selbst- Das ist auch ein Auftrag an uns. Wir dürfen nicht bewusst, bereit und in der Lage, die Aufgaben und beim Vertrag von Lissabon stehen bleiben. Ich weiß, Pflichten, die uns das Bundesverfassungsgericht im Hin- dass das in den vergangenen Jahren für uns alle sehr blick auf die Umsetzung des Vertrages von Lissabon auf- schwierig, sehr mühselig und manchmal auch nervig getragen hat – hier geht es ja um eine stärkere Beteili- war. Aber jetzt muss eine Debatte über die Fragen ge- gung des Deutschen Bundestages –, vollumfänglich zu führt werden: Was für eine Europäische Union wollen erfüllen. Da hätte ich mir von der CDU/CSU, aber auch wir eigentlich? Welche sind die richtigen Konsequenzen von der FDP ein bisschen mehr Engagement und ein bis- aus der Wirtschafts- und Finanzkrise? Wo müssen wir schen mehr Kooperationsbereitschaft gewünscht. Das vor allem in finanz- und wirtschaftspolitischen und in sollte kein schlechtes Beispiel sein dafür, welche Rolle umweltpolitischen Angelegenheiten noch enger zusam- Stellungnahmen spielen. Für mich sind Stellungnahmen menarbeiten? Wo ist ehrliche und wahrhaftige Solidari- eine zwingende Voraussetzung dafür, Einvernehmen tät gefragt? zwischen Bundesregierung und Bundestag herzustellen. 3518 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010

Michael Roth (Heringen) (A) Wir dürfen nicht nur abstrakt darüber reden, wir müs- mulieren, welches unsere Erwartungen an den Verhand- (C) sen konkret handeln. Insofern finde ich den Antrag, den lungsprozess sind, vor allem, in welchen Bereichen des die Koalitionsfraktionen eingebracht haben, in einem Acquis communautaire der Kandidat noch Anstrengun- Punkt kleinkariert: Ausgerechnet im Hinblick auf einen gen unternehmen muss, um beitrittsfähig zu werden. Das Beitritt Islands eine Diskussion über die Aufnahmefä- betrifft bei vielen Ländern, die eine EU-Perspektive ha- higkeit der Europäischen Union führen zu wollen, das ben – Island nehme ich dabei ausdrücklich aus –, Pro- hätten Sie sich, ehrlich gesagt, sparen können. blemthemen wie Rechtsstaatlichkeit und Bekämpfung von Korruption und Kriminalität. Wenn wir vor allem in (Dr. Andreas Schockenhoff [CDU/CSU]: diesen, aber auch in anderen Fragen vor Beginn von Ver- Nein, nein, nein!) handlungen unsere Erwartungen deutlich formulieren, Wir begrüßen Beitrittsverhandlungen mit Island, wir haben wir eine wichtige Grundlage, um gegenüber dem freuen uns darauf, und wir bitten die Bundesregierung, Kandidatenland, vor allem aber gegenüber unseren Bür- diese Verhandlungen mit aller Sorgfalt und mit aller gern zu begründen, warum wir am Ende der Verhandlun- Ernsthaftigkeit, aber auch mit konstruktivem Wohlwol- gen für ein Ja oder für ein Jetzt-noch-nicht votieren. len zu begleiten. Die SPD wird aufpassen, ob dieser Weg so, wie wir es erwarten, beschritten wird. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der FDP) Vielen Dank. Es wird immer wichtiger, dass wir besser als bisher be- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten gründen, warum wir es für richtig, notwendig und ver- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) antwortbar halten, ein neues Mitglied aufzunehmen – oder eben nicht aufzunehmen. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das alles erfordert, dass wir uns schon vor dem Be- Das Wort hat der Kollege Dr. Andreas Schockenhoff ginn von Verhandlungen ein eigenes genaues Bild über von der CDU/CSU-Fraktion. den Stand der Vorbereitungen des Kandidatenlandes ma- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- chen. Mit Blick auf den Beitrittsantrag Islands denke ich, neten der FDP) für uns alle sagen zu können: Wir haben dies so sorgfäl- tig wie möglich getan. Es wurden Anhörungen durchge- Dr. Andreas Schockenhoff (CDU/CSU): führt, viele Gespräche fanden statt. Einige von uns haben Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- sich vor Ort, in Island, ein genaues Bild gemacht. Vor ren! Die heutige Aussprache ist ein besonderes Ereignis; wenigen Tagen – ganz kurz bevor der Vulkan problema- tisch wurde – (B) denn zum ersten Mal in seiner Geschichte entscheidet (D) der Deutsche Bundestag darüber, ob mit einem Kandida- (Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Kaum waren tenland Verhandlungen über einen Beitritt zur Europäi- Sie da, und schon ist ein Vulkanausbruch!) schen Union aufgenommen werden. haben der Vorsitzende des EU-Ausschusses der französi- Es ist eine Folge des Lissabonner Vertrages, dass Ein- schen Nationalversammlung, Pierre Lequiller, und ich in vernehmen mit dem Deutschen Bundestag erforderlich Reykjavík gemeinsame Gespräche mit der Regierung Is- ist, ehe die Bundesregierung im Rat der Aufnahme von lands und mit Vertretern der isländischen Zivilgesell- Beitrittsverhandlungen zustimmen kann. Der Deutsche schaft geführt. Bundestag hat damit ein starkes Recht erhalten; er über- nimmt damit aber auch eine große Verantwortung. Dies wurde dort im Übrigen als ein Zeichen einer en- gen Abstimmung und Zusammenarbeit zwischen den na- Es geht in der Frage einer Aufnahme von Beitragsver- tionalen Parlamenten in europapolitischen Fragen ver- handlungen nicht nur um ein Ja oder ein Noch-nicht, es standen. Ich denke, es gehört auch zur Wahrnehmung geht vor allem darum, dass wir gegenüber dem Kandida- der neuen Rechte, die die nationalen Parlamente durch tenland schon vor Beginn der Verhandlungen unsere Er- den Lissabonner Vertrag erhalten haben, dass wir uns ge- wartungen an den Verhandlungsprozess deutlich zum meinsam mit Parlamentskollegen anderer EU-Länder ein Ausdruck bringen. Bild verschaffen, um darauf aufbauend zu einer gemein- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- samen Bewertung zu kommen. neten der FDP) Mein französischer Kollege und ich haben am Ende Die schlechten Erfahrungen, die wir noch heute mit der Gespräche in Reykjavík fünf Punkte zum Ausdruck den verfrühten Beitritten Bulgariens und Rumäniens ma- gebracht: chen müssen, sind eine deutliche Ermahnung an uns, Erstens. Wir unterstützen das Ziel einer Vollmitglied- diese Aufgabe anspruchsvoll anzugehen. Wir dürfen schaft Islands. Wir haben ein Interesse am Gelingen des nicht noch einmal in die Situation kommen, dass wir am Beitrittsprozesses, und wir sagen dies auch und gerade Ende nur noch das Verhandlungsergebnis abnicken kön- angesichts von Umfragezahlen, die derzeit nur eine Zu- nen. stimmung von rund 30 Prozent der isländischen Bevöl- Wir müssen am Ende der Verhandlungen über den kerung für einen EU-Beitritt widerspiegeln. Deshalb Beitritt des Kandidaten begründet „Ja“ oder „Jetzt noch hoffe ich, dass die Zustimmung zur EU nach Beantwor- nicht“ sagen können. Um dies begründet sagen zu kön- tung der Fragen im Zusammenhang mit Icesave wieder nen, müssen wir vor Beginn der Verhandlungen klar for- deutlich zunimmt. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010 3519

Dr. Andreas Schockenhoff (A) Denn – das ist unser zweiter Punkt –: Ein Beitritt Is- druck gebracht, dass wir vom Europäischen Rat die (C) lands wäre für die EU ein Gewinn. Mit Island würde nicht schnellstmögliche Entscheidung über die Eröffnung von nur eine stabile parlamentarische Demokratie beitreten, Beitrittsverhandlungen erwarten. Durch die offenen Fra- die Rechtsstaatlichkeit und Achtung der Menschenrechte gen hinsichtlich des Icesave-Abkommens darf eine sol- garantiert, sondern die EU könnte auch – das haben die che Entscheidung nicht noch länger verzögert werden. Vorredner schon gesagt – von Islands Wissen auf dem Liebe Kolleginnen und Kollegen, die CDU/CSU- Gebiet der erneuerbaren Energien profitieren. Nicht zu- Bundestagsfraktion spricht sich aus den genannten letzt ist Island für die EU von strategischem Interesse als Gründen für die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen Tor zur Arktis mit Blick auf Rohstoffe und Energiever- mit Island aus. sorgung. Die Bedeutung des Nordatlantiks wird in den kommenden Jahren weiter wachsen. Deshalb sollte die Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. EU in diesem Gebiet direkt präsent sein. Island ist also (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) für uns strategisch wichtig.

Drittens. Allerdings erwarten wir, dass Island bei ei- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: nem Beitritt die politischen und wirtschaftlichen Krite- Das Wort hat jetzt der Kollege Andrej Hunko von der rien umfassend erfüllt. Das betrifft insbesondere – auch Fraktion Die Linke. das ist schon gesagt worden – die Überwindung der Fi- nanzkrise. Wir wissen, dass die weitere Haushaltskonso- (Beifall bei der LINKEN) lidierung und die Gewährleistung tragfähiger öffentli- cher Finanzen besondere Herausforderungen darstellen. Andrej Konstantin Hunko (DIE LINKE): Diese Anstrengungen müssen aber konsequent fortge- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir nei- setzt werden, um Vertrauen wiederherzustellen und eine gen dazu, die Vorgänge in Island zu unterschätzen. Ich strikte Einhaltung der Kopenhagener Kriterien sicherzu- rede nicht nur von dem Vulkan Eyjafjalla, dessen Asche- stellen. wolke wir gerade in ganz Europa zu spüren bekamen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Heiterkeit und Beifall bei der LINKEN und Übrigens haben uns unsere isländischen Gesprächs- dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Franz Thönnes partner gesagt, dass sie für die angestrebte Einführung [SPD]: Jökull!) des Euro selbst eine Zeitperspektive von rund zehn und mehr Jahren sehen. Ich erwähne das, um deutlich zu ma- – Jökull ist der Gletscher. Eyjafjalla ist der Vulkan. chen, dass es hierzu in Island keinerlei unrealistische (B) Perspektiven und Erwartungen gibt. (Axel Schäfer [Bochum] [SPD]: Experten unter (D) sich! – Iris Gleicke [SPD]: Reisen bildet!) Sichergestellt werden müssen auch das kommerzielle Wahlfangverbot und eine Einigung bei den Fischereifra- Auch die Wellen der gesellschaftlichen Ereignisse in- gen. Diese Fischereifragen seien so schwierig, wurde folge der Finanzkrise sind hier zu spüren. Die Tatsache, dass wir heute über die Aufnahme von Verhandlungen uns von isländischer Seite gesagt, dass sie kaum inner- über einen Beitritt Islands zur Europäischen Union dis- halb von 12 bis 18 Monaten beantwortet werden könn- kutieren, ist auch eine Folge der sozialen Unruhen des ten. Ein Beitritt wird eher im Jahre 2014 als früher er- Winters 2008/2009, der sogenannten Kochtopfrevolu- folgen, wenn er die Zustimmung der isländischen tion. Sie fegte die konservativ geführte Regierung unter Bevölkerung findet. Geir Haarde weg und brachte zum ersten Mal in Island Viertens. Wir erwarten, dass Island nicht nur aus fi- eine sozialdemokratisch-linksgrüne Koalition an die Re- nanziellen Gründen unter das Dach der EU kommen gierung. Diese Regierung stellte im Juli vergangenen möchte. Neben der Erfüllung der vertraglich vereinbar- Jahres ein Beitrittsgesuch zur Europäischen Union. ten Beitrittskriterien ist es für uns wichtig, dass Island Selbstverständlich unterstützen wir als Linke die Auf- die Grundidee einer immer tieferen Integration mitträgt. nahme der Beitrittsverhandlungen. Wie weit Island dazu bereit ist, kann nicht anhand der (Beifall bei der LINKEN) Wirtschaftskriterien oder durch Gesetzestexte geklärt Das Interesse an Island ist aber auch deshalb so groß, werden. Das müssen wir durch den Kontakt zu den weil sich hier die Entwicklungen der letzten beiden Jahr- Partnern in Regierung, Parlament und Zivilgesellschaft zehnte besonders konzentrierten. Nach Jahren der Priva- herausspüren. Deshalb wird die Beurteilung der Inte- tisierung, der Deregulierung und des Aufbaus eines gi- grationsbereitschaft Islands eine unserer wichtigsten und gantischen Spekulationssystems brach der isländische schwierigsten Aufgaben bei der Begleitung des Verhand- Bankensektor im Herbst 2008 komplett zusammen. Ge- lungsprozesses sein. Wir haben auch schon die Erfah- nau wie hier und in anderen europäischen Ländern soll rung gemacht, dass ein Land Mitglied der Europäischen die Bevölkerung die Zeche für die Party der Reichen be- Union werden wollte, um anschließend die weitere Inte- zahlen. Der Unterschied ist allerdings, dass Island als äl- gration eher zu behindern als zu befördern. Auch das teste Demokratie Europas über eine höhere demokrati- müssen wir bei der Beurteilung künftiger Beitrittsgesu- sche Kultur verfügt: Am 6. März lehnten 94 Prozent der che berücksichtigen. Isländerinnen und Isländer die Übernahme der Icesave- Schulden, der Schulden einer privaten Internetbank, ab. Fünftens haben mein französischer Kollege und ich in Island in einer gemeinsamen Presseerklärung zum Aus- (Beifall bei der LINKEN) 3520 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010

Andrej Konstantin Hunko (A) Ich kann dem isländischen Präsidenten Olafur Die Kapitalsverkehrskontrollen der isländischen Re- (C) Grimsson nur zustimmen, der dazu sagte: gierung waren die richtige Reaktion auf den Zusammen- bruch der Finanzmärkte, Wenn Demokratie und Finanzmärkte in Wider- spruch zueinander geraten, muss man sich für die (Beifall bei der LINKEN) Demokratie entscheiden. wie auch der Internationale Währungsfonds, IWF, er- (Beifall bei der LINKEN – Michael Stübgen kannte. Sie waren mit dem IWF abgesprochen, der Is- [CDU/CSU]: Das Gesetz haben doch die Lin- land Kredite gewährte. Der IWF ist zu Recht umstritten, ken vorgelegt!) weil er häufig Staaten neoliberale Strukturanpassungs- programme aufgezwungen hat. Aber immerhin ermögli- Vor wenigen Tagen ist in Island ein umfangreicher chen die Statuten des IWF Kapitalverkehrskontrollen, Untersuchungsbericht über den Finanzkollaps erschie- während der Lissabonner Vertrag diese verbietet. Die nen, der im Land für sehr viel Aufsehen gesorgt hat. Auf EU ist hier neoliberaler und marktradikaler als der IWF. 2 383 Seiten werden die Verantwortlichen des neolibera- Es kann doch nicht sein, dass Island im Zuge der Bei- len Umbaus, der schließlich zum Zusammenbruch trittsverhandlungen gezwungen wird, den Zustand von führte, und die unheilvolle Verquickung von Finanzkon- vor der Krise wiederherzustellen. Hier sind dringend zernen und Politik detailliert benannt. entsprechende Änderungen am Lissabonner Vertrag ein- Wer hier meint, das alles gehe ihn nichts an, dem sage zuleiten. ich: „De te fabula narratur“ – von dir ist hier die Rede; (Beifall bei der LINKEN) denn diese Verquickung gibt es genauso auch in Deutschland. Ein weiterer Punkt im Zusammenhang mit dem Bei- tritt Islands ist der Zugang zur Arktis; dies ist eben auch (Beifall bei der LINKEN) von Herrn Schockenhoff angesprochen worden. In der Arktis liegen die größten bisher nicht erschlossenen Ich wünsche mir, dass das auch hier einmal so transpa- Rohstoffvorkommen. Bislang war die EU hier weitge- rent aufgearbeitet würde wie in Island. hend abwesend vom sogenannten großen Spiel. Islands (Beifall bei der LINKEN) Mitgliedschaft im Arktischen Rat und seine geostrategi- sche Lage würden der EU ermöglichen, am Run auf Island hat im Juli 2009 den Antrag zur Aufnahme in diese letzten Rohstoffvorkommen teilzunehmen. Im De- die EU gestellt. Die isländische Regierung hatte die zember 2009 wurden im Rat der Europäischen Union für Hoffnung, dass der Europäische Rat noch im Dezember Auswärtige Angelegenheiten die Schlussfolgerungen zur unter schwedischer Ratspräsidentschaft über die Auf- Arktis beschlossen. Dort ist die Rede von „den neuen (B) (D) nahme von Gesprächen entscheidet. Im Februar 2010 hat Möglichkeiten, die sich im Zusammenhang mit dem die Europäische Kommission schließlich die Aufnahme Schmelzen des Meereises und den sonstigen Auswirkun- von Beitrittsverhandlungen empfohlen. Leider wurden gen des Klimawandels für den Verkehr, die Gewinnung die Beitrittsgespräche von der niederländischen und bri- natürlicher Ressourcen und sonstige unternehmerische tischen Regierung verzögert, um Island in der Icesave- Tätigkeiten ergeben“. Frage unter Druck zu setzen. Das ist doch an Zynismus nicht mehr zu überbieten. Es ist gut, dass die Mitwirkungsrechte des Bundesta- ges unter anderem durch unsere Klage beim Bundesver- (Beifall bei der LINKEN) fassungsgericht in dieser Frage gestärkt wurden. Anstatt alles Menschenmögliche in Bewegung zu setzen, (Beifall bei der LINKEN – Michael Roth [He- um den Klimawandel zu stoppen, ist hier von den unter- ringen] [SPD]: Das ist jetzt Geschichtsklitte- nehmerischen Möglichkeiten, die sich hieraus ergeben, rung!) die Rede. Statt solcher Spekulationen sollten endlich der Ausstieg aus der fossilen Energieversorgung eingeleitet Aber es wäre möglich gewesen, das Einvernehmen mit und die vollständige Energiewende durchgesetzt werden. dem Bundestag schon vor dem Ratsgipfel Ende März herzustellen. Das war offensichtlich von der Bundesre- (Beifall bei der LINKEN – Manuel Sarrazin gierung nicht gewollt. Jetzt geht es darum, dass sich die [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Fangen Sie in Bundesregierung wenigstens für die Zustimmung zur Er- Brandenburg damit an!) öffnung der Beitrittsgespräche auf dem Gipfel des Euro- Im Hinblick auf die Arktis wollen wir keinen imperialen päischen Rates am 17./18. Juni einsetzt. Wettlauf um die Region. Hier wäre analog zur Antarktis ein Moratorium zur Ressourcenausbeutung die beste Re- Eine Forderung der Europäischen Kommission an Is- gelung. land in dem Bericht vom Februar ist, den freien Kapital- verkehr wiederherzustellen. Wörtlich heißt es im Kom- (Beifall bei der LINKEN) missionsbericht: Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluss. Derzeit unterliegen Finanzgeschäfte zwischen Is- Die Linke spricht sich für die Aufnahme von Beitritts- land und dem Ausland umfassenden Devisenkon- verhandlungen mit Island aus. Wir fordern die Trennung trollen. … Hier muss Island durch Liberalisierungs- der Beitrittsgespräche von der Frage der Icesave-Schul- maßnahmen die Vereinbarkeit mit dem Grundsatz den. In mancher Hinsicht, etwa beim Walfang, muss sich des freien Kapitalverkehrs gewährleisten. Island ändern. Vor allem muss sich aber die EU ändern, Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010 3521

Andrej Konstantin Hunko (A) etwa in der Frage der Kapitalverkehrskontrollen. Eine (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (C) imperiale Verwendung Islands für einen Wettlauf um die des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der Arktis lehnen wir ab. Wir begrüßen es, dass am Ende in FDP) Island der Souverän über den Beitritt entscheidet, die is- ländische Bevölkerung. Dabei sind natürlich besondere Fortschritte, die schon vorhanden sind, zu bewerten. Danke. Wir freuen uns, dass sich Island auf den Weg gemacht (Beifall bei der LINKEN) hat. Island ist gut für die EU. Island ist in vielen Berei- chen vorbildlich und kann uns ein Beispiel geben. Der Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Beitritt Islands wäre im deutschen Interesse, weil der Das Wort hat jetzt der Kollege Manuel Sarrazin von Beitritt eine Stärkung der Zusammenarbeit der Ostseean- der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. rainerländer und der nördlichen Länder in der EU bedeu- ten würde. Das sind Bereiche, die für Deutschland von strategischem Interesse sind. Darüber hinaus hat Island Manuel Sarrazin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): in kultureller Hinsicht eine lange Verbindung gerade Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich kann auch zu Deutschland. Wenn Island beitreten will, dann leider den Namen des Vulkans nicht aussprechen. Ich sind die Türen offen. Dieses Signal geht von allen Frak- kann Ihnen aber unsere Anteilnahme dadurch versi- tionen dieses Hauses aus. Der Beitritt ist aber auch im is- chern, dass die Grünen ihren Länderrat am Sonntag in ländischen Interesse; denn in der Europäischen Union Köln in der Vulkanhalle durchführen. Vielleicht ist das können auch relativ kleine Mitgliedsländer eine ver- immerhin ein Zeichen der Anteilnahme an diesem Ereig- gleichsweise große Bedeutung erreichen, wenn sie aktiv nis. und besonders integrationsfreundlich agieren. Das Bei- Herr Hunko und auch die anderen Vorredner haben spiel Luxemburgs ist oft genannt worden, und das ist si- schon die besondere Bedeutung dieser Debatte darge- cherlich richtig. stellt. Zum ersten Mal wird das Einvernehmen nach § 10 des EUZBBG zur Anwendung kommen. Sie haben Es ist daher richtig, dass wir in unserem Antrag die recht, wenn Sie davon sprechen, dass wir als Bundestag Aufnahme von Beitrittsverhandlungen ohne Vorbedin- eine besondere Verantwortung tragen, wenn wir die Vor- gungen unterstützen. beitrittsverhandlungsprozesse und auch die Verhand- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN lungsprozesse begleiten. Dadurch, dass wir uns jetzt ein sowie bei Abgeordneten der SPD und des Abg. Bild machen, uns einmischen und am Ende des Prozes- Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]) (B) ses den Wählerinnen und Wählern in Deutschland sagen (D) können, dass wir uns von Anfang an damit auseinander- Wir formulieren Maßgaben für den Weg; aber diese gesetzt haben, entstehen Chancen, die für beide Seiten Maßgaben sind keine Vorbedingungen für die Aufnahme gut sind: Einerseits erreichen wir ein größeres Verständ- von Verhandlungen. nis für Erweiterungen. Andererseits wissen vielleicht die Das Thema Walfang ist wichtig. Zugeständnisse oder beitretenden Partner, was uns wichtig ist. – Ich begrüße Übergangsfristen zum Stand des Acquis halten wir für deswegen, dass alle Fraktionen hier Anträge eingebracht nicht akzeptabel. In der Europäischen Union ist vor allem haben, und ich begrüße es auch, dass diese Debatte statt- durch die Flora-Fauna-Habitat-Richtlinie ein hohes findet. Ich glaube, das ist ein wichtiges Signal in dieses Schutzniveau für Wale eingeführt worden. Daran darf Haus und in die Öffentlichkeit. nicht gerüttelt werden. Die Wiederaufnahme des Wal- Wir Grünen glauben weiterhin an die positive Kraft, fangs im Jahr 2003 ist aus meiner Sicht weder ökono- die sowohl politisch als auch im konstruktiv-strategi- misch noch aus anderen Gründen gerechtfertigt. Deswe- schen Sinne von Erweiterungen ausgeht. Wir sind wei- gen sollte es der isländischen Seite nicht so schwerfallen, terhin davon überzeugt, dass der Erweiterungsprozess sich auf den Acquis zuzubewegen. fortgehen muss. Das heißt nicht, dass wir nicht auch Zur Fischerei wurde viel Richtiges gesagt. Die oberste Dinge in der Vergangenheit anders bewerten. Wir halten Priorität muss auf der Nachhaltigkeit der isländischen Fi- die Kopenhagener Kriterien für wichtiger denn je. Wir schereiwirtschaft und der Erhaltung des Fischbestandes denken auch, dass das verfrühte politische Setzen von liegen. Diese Priorität muss aber auch für die gemein- Beitrittsdaten kein kluger Schachzug ist, ganz egal, wel- same Fischereipolitik der Europäischen Union gelten. che konkreten Interessen jeweils einzelne Partner dazu Alle isländischen Rechtsnormen, die jetzt schon diesem bewegen könnten, zu sagen, ein bestimmter Partner solle Ziel dienen, sollten in die Verhandlungen über die Re- schneller oder besonders berücksichtigt werden. Wir form der gemeinsamen Fischereipolitik einbezogen wer- denken auch, dass bilaterale Konflikte, die plötzlich zu den. Vetogründen erhoben werden, nicht europäisiert werden dürfen. Ein solcher Konflikt hat auch bei Island eine Zum Finanzmarkt. Sie haben recht, Herr Hunko: Is- Rolle gespielt, was von Herrn Hunko, von Herrn Roth land braucht eine stabilitätsorientierte Neuausrichtung und auch von Herrn Schockenhoff – Stichwort Icesave – des Finanzmarkts. Das ist eine Maßgabe, die wir für beide erwähnt wurde. Es darf auch keine Erweiterung erster Seiten formulieren wollen, für die isländische Seite und und zweiter Klasse geben. Jedes Land ist an den Kopen- für die Europäische Union. Ich denke, der Grundsatz der hagener Kriterien zu messen und nicht daran, ob man Kapitalverkehrsfreiheit, der in den Verträgen im Primär- ihm näher oder ferner steht. recht festgelegt ist, ist wichtig und richtig, aber er darf 3522 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010

Manuel Sarrazin (A) nicht dazu führen, dass die Fehler, die Island einmal ge- ich froh, dass der Kollege Sarrazin gesagt hat, dieser (C) macht hat, wiederholt werden. Punkt gehöre eher der Vergangenheit als der aktuellen politischen Debatte an. (Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Nicht nur Is- land!) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: – Nicht nur Island, auch das ist richtig. Herr Kollege Ruppert, erlauben Sie eine Zwischen- Was mir wichtig ist – das sage ich an die Adresse des frage des Kollegen Sarrazin von Bündnis 90/Die Grü- Auswärtigen Amts, dessen Vertreter nicht mehr da sein nen? kann; er musste rechtzeitig den Flieger nach Brüssel er- wischen, was auch in Ordnung ist –: Das politische Si- Dr. Stefan Ruppert (FDP): gnal auf dem Juni-Gipfel ist noch nicht gesichert. Wir Gerne, ja. – Gerade habe ich ihn noch gelobt. haben gestern im Ausschuss die Information bekommen, dass es keinen neuen Sachstand bezüglich der Frage Manuel Sarrazin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): gibt, ob die Verhandlungseröffnung auf dem Rat ein Herr Kollege, wir hätten Ihnen nicht vorgeworfen, es Thema sein wird. Wir sollten gemeinsam unsere Bun- durchzupeitschen, weil wir ebenso wie die Koalitions- desregierung dazu auffordern, ihren Teil dazu beizutra- fraktionen der Erstansetzung der Voten der mitberaten- gen, dass die Verhandlungen eröffnet werden, damit wir den Ausschüsse am Tag vor der Zusammenkunft des im Juni einen Beschluss fassen können. Rats zugestimmt haben; insofern hätten wir dieses Ver- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) fahren ganz in Ordnung gefunden. Als Frage formuliert: Sehen Sie das auch so? Die Verzögerungen, die stattgefunden haben, sind Ge- schichte. Man kann das so oder so bewerten. Jetzt geht Dr. Stefan Ruppert (FDP): es darum, ein positives Signal zu senden. Herr Kollege Sarrazin, Sie wissen, dass es durchaus Wir Grüne wollen Verhandlungen mit dem Ziel des er- Wünsche der einzelnen Ausschüsse gab, ausführlich zu folgreichen Beitritts. Die Aufnahme von Verhandlungen beraten. Wenn der Ausschuss für die Angelegenheiten ist für uns ganz klar mit dem Ziel des Beitritts verbunden. der Europäischen Union gesagt hätte: „Beeilt euch bitte Auch die isländische Politik muss das Signal aussenden, ein bisschen; es muss schneller gehen“, dann hätte es si- dass sie am Ende den Beitritt möchte. Das Voranschreiten cherlich den von mir hier beschriebenen Reflex gegeben, in den Verhandlungen ist jetzt besonders wichtig, damit man lasse sich nicht drängen, sondern müsse die Sachen wir, um in einem Bild der letzten Tage zu sprechen, weg- sorgfältig und in aller Ruhe beraten. Wie man es auch (B) kommen vom Sichtflug – Ratsgipfel – und hinkommen macht, im Ergebnis kann man es Ihnen doch nicht recht (D) zum Instrumentenflug – Eröffnung von Kapiteln, Bench- machen. Ich will diese Unterschiede aber gar nicht zu marks, Closure Benchmarks und Schließung von Kapi- sehr betonen; schließlich sind wir uns im Ergebnis einig, teln –, damit Island rechtzeitig Mitglied der Europäischen und das finde ich sehr erfreulich. Union wird und nicht noch länger – wie wir letzte Woche Island ist eine uralte und stabile parlamentarische De- am Flughafen – warten muss, obwohl es schon mehr ma- mokratie. Rechtsstaatlichkeit und die Achtung von Men- chen möchte. schenrechten sind dort seit langer Zeit fest verankert. Danke sehr. Man sieht, wie sehr es den Zusammenhalt, die Architek- tur einer Gesellschaft erschüttert, wenn ein so kleines (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Land eine solche Finanzkrise erlebt. Mir ist wichtig, dass sowie bei Abgeordneten der SPD und des Abg. wir als deutsches Parlament hier klar sagen: Wir stehen Michael Link [Heilbronn] [FDP]) diesem Prozess positiv gegenüber. Wir sehen die Sorgen und Nöte des isländischen Volkes. – Wir können nämlich Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: viel von ihm lernen; das wurde hier schon mehrfach ge- Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Stefan Ruppert von sagt. Ich hätte gern eine Fischereiwirtschaft in der Euro- der FDP-Fraktion. päischen Union, die so auf ökonomischen Sachverstand und ökologische Nachhaltigkeit setzt, die ohne Subven- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten tionen auskommt und insofern Vorbild für uns ist. Ich der CDU/CSU) hoffe nicht, dass wir die Isländer mit den Segnungen un- serer Fischereipolitik überziehen. Dr. Stefan Ruppert (FDP): (Michael Roth [Heringen] [SPD]: Das hört Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- sich doch schon mal gut an!) ren! Ein Wort vorweg zum Verfahren, das hier zumindest von dem Vertreter der Linken und dem der SPD ange- Die Banken- und Finanzkrise hat dieses Land, wie ge- sprochen worden ist: Man stelle sich einmal vor, was sagt, nachhaltig erschüttert; aber Island wird diese Krise passiert wäre, wenn in einem beschleunigten Verfahren bewältigen. die neuen Mitwirkungsrechte des Bundestags nicht so (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) ernst genommen worden wären, wie wir es in diesem Fall getan haben. Wir wären kritisiert worden, etwas Es ist klar, dass dieses Land mit seinem gegenwärtigen durchpeitschen zu wollen und die neu erworbenen hohen Haushaltsdefizit die Konvergenzkriterien der Rechte nicht ausreichend ernst zu nehmen. Insofern bin Euro-Zone im Moment nicht erfüllt. Doch die Regierung Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010 3523

Dr. Stefan Ruppert (A) in Reykjavik hat wichtige finanzpolitische Maßnahmen Rechtzeitig vor der heutigen Debatte hat der Vulkan (C) ergriffen, um die immense Staatsverschuldung zu senken seine Aktivitäten etwas eingestellt, damit wir wohlge- und die Konjunktur wieder anzukurbeln. Ich bin deshalb sonnener werden. Aber eine Eruption ist geblieben – die vorsichtig optimistisch. Dies ist eine Einschätzung, die ist immer noch da –, nämlich die Eruption, die ein unge- auch der Chef des Internationalen Währungsfonds teilt. zügelter Finanzkapitalismus in Island in der westlichen Wir dürfen dieses Beitrittsgesuch nicht auf wirtschafts- Welt, ja nahezu in allen Ländern dieser Erde hervorgeru- politische Fragen reduzieren. Die Kopenhagener Krite- fen hat. Diese Betroffenheit macht deutlich, was durch rien müssen vollständig erfüllt werden. Das haben wir in ungezügelte Finanzmärkte passieren kann. Deshalb ist es unserem Antrag deutlich gemacht. Fischerei, Landwirt- notwendig, aus der Geschichte, in die Island hineingera- schaft, Walfang und Finanzkontrolle in Island waren be- ten ist, den Schluss zu ziehen: Eine Finanzpolitik, die reits in der Vergangenheit Bereiche, über die ernsthaft nur auf Zaster und Zinsen, Rendite und Reibach ausge- verhandelt werden musste. Gerade was die Finanzkon- richtet ist, kann ganze Länder in den Abgrund führen trolle angeht, kann es nicht sein, dass eine zu laxe Fi- und zerstört Gesellschaften. Das darf nie wieder passie- nanzmarktaufsicht dazu führt, dass sich Krisen gegebe- ren. nenfalls wiederholen. (Beifall bei der SPD und des Abg. Manuel (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Auch der Beitritt zur EU kann kein Selbstläufer sein; viel- Wir brauchen daher eine klare Politik, die hier zügelt, mehr müssen die Konvergenzkriterien nachhaltig erfüllt die hier regelt, die auch diesen Teil der freien Wirtschaft werden. Eine langfristige Einhaltung des EU-Stabilitäts- ein Stück weit an die Leine legt. Das ist eine Herausfor- paktes muss gewährleistet werden. Das sind die Lehren, derung für diese Bundesregierung, aber auch für die Ent- die wir aus aktuellen Krisen zu ziehen haben. scheidungen auf europäischer Ebene, die zu treffen sind. Wir ermutigen die isländische Regierung, den Dialog Der europäische Gedanke in Island ist nicht erst in der mit Großbritannien und den Niederlanden fortzuführen, oder durch die Krise entstanden. Island ist uns schon viel um einen fairen Interessenausgleich auch in der Icesave- länger verbunden. Halldor Laxness, der isländische Lite- Problematik zu finden. Island ist sehr wohl bereit – das raturnobelpreisträger, der morgen 108 Jahre alt gewor- kommt in der deutschen Öffentlichkeit nicht immer an –, den wäre, sagte einmal: die angelaufenen Schulden zurückzuzahlen. Es geht da- bei nur um die Konditionen. Wir wünschen uns, dass die Was die Menschen trennt, ist gering, gemessen an niederländischen und britischen Partner dies auch würdi- dem, was sie einen könnte. gen und man sich bald auf einen fairen Interessenaus- 2 344 Kilometer trennen den Deutschen Bundestag vom (B) gleich einigen kann. isländischen Parlament, vom Althing. Dazwischen lie- (D) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) gen ein breites Meer und unterschiedliche Auffassungen. Es gibt unterschiedliche Auffassungen, wie man mit den Am Ende sei gesagt: Wir begrüßen das Beitrittsge- schützenswerten Walen umgeht. Es gibt in Island aber such der Isländer. Wer dort war, spürt, dass dieses Land auch eine andere Fischereipolitik, von der die Europäi- zur Wertegemeinschaft der Europäischen Union gehört. sche Union meines Erachtens nach etwas lernen könnte; Es ist eine Bereicherung. Es ist ein Land in einer Krise; sie ist dort nämlich schon seit langem ökologisch und aber es wird aus dieser Krise herauskommen. Ich glaube, nachhaltig orientiert. Es gibt dort eine Nutzung regene- am Ende steht ein positives Ergebnis. Als Liberale wäre rativer Energien für die Energieversorgung von nahezu uns das eine große Freude. 100 Prozent. Es gibt dort auch eine Tradition der Demo- Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit. kratie, die im Jahr 930 in Thingvellir begonnen hat und die auf ihrer Wegstrecke – ich sage das auch für die jun- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) gen Frauen, die heute im Rahmen des Girls’ Day zu Gast bei der SPD-Fraktion sind – seit 1915 das Frauenwahl- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: recht hat. Das Wort hat der Kollege Franz Thönnes von der (Beifall bei der SPD) SPD-Fraktion. Was uns in Europa eint, das ist, dass Island zur euro- (Beifall bei der SPD) päischen Familie gehört. Die langjährige Mitgliedschaft in vielen Gremien ist von meinen Vorrednern schon ge- Franz Thönnes (SPD): nannt worden. Die nahezu vollständige Übernahme vie- Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- ler europäischer Regelungen in Island ist allgemein be- ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nach dieser Erup- kannt. Island ist Gründungsmitglied der NATO, aktiver tion, die wir in der letzten Woche am Eyjafjallajökull Mitstreiter bei der OSZE, arbeitet mit uns im Polizei- und Justizbereich zusammen und ist, gerade was Demo- (Beifall bei der SPD und der LINKEN) kratie, Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit angeht, in Island erlebt haben, weiß jeder – auch der, der diesen ein Vorbild. Island ist aber auch bei der Sozialstaatlich- Namen nicht aussprechen kann –, wo dieses Land liegt. keit ein Vorbild. Island kann Motor für ein soziales Wir alle haben gemerkt, wie stark wir doch von der Na- Europa werden. Die Gewerkschaften in Island haben tur abhängig sind, wie sie unsere Zivilisation beeinflus- 2008 auf ihrem Kongress mit einer Mehrheit von 290 zu sen und welche Folgen das haben kann. 6 Stimmen beschlossen, Mitglied in der EU werden zu 3524 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010

Franz Thönnes (A) wollen und auch den Euro einzuführen; denn sie wissen, weitergehen. Dabei müssen auch die Kontakte der Par- (C) dass nur in einem gemeinsamen Markt soziale Sicherheit teien und Fraktionen hier in diesem Haus mit denen aus gestaltet werden kann. dem isländischen Parlament verbessert werden. Man wundert sich, warum die eine oder andere Partei in Is- Ich sage Ihnen eines: Europa wird wirklich nur sein, land gegen einen Beitritt ist. Ich will daher mit einem Zi- wenn es auch ein soziales Europa ist. tat aus der Edda von Snorri Sturluson aus dem 13. Jahr- (Beifall bei der SPD) hundert – ein alter Skalde – schließen: „Hast du einen Freund, dem du fest vertraust, geh oft, ihn aufzusuchen, Es ist ebenso wichtig, auch auf die tausendjährigen kul- denn Gesträuch wächst und starkes Gras auf dem Weg, turellen Beziehungen hinzuweisen. Die ersten Bischöfe den kein Wanderer geht.“ – Deswegen ist es wichtig, als Islands haben ihre Ausbildung vor gut 1 000 Jahren im Parlamentarier gerade in diesen Fragen in Kontakt zu Bistum Bremen erhalten. Das, was uns bis heute kultu- treten und die Kontakte auszubauen. rell miteinander verbindet, ist das große Interesse der Is- länder an der germanischen Sprache und ist das große Abschließend will ich die Bundesregierung auffor- Interesse der Deutschen an der Edda und den Sagas. Im dern, im Europäischen Rat Motor dafür zu sein, dass die nächsten Jahr wird Island das Gastland auf der Frankfur- Verhandlungen schnell aufgenommen werden können ter Buchmesse sein. Dort werden die engen kulturellen und dass Island nicht mehr nur zur europäischen Familie Bindungen nochmals deutlich. gehört, sondern baldmöglichst Vollmitglied in der Euro- päischen Union ist. Die Perspektiven sind gut – sie sind bereits genannt worden –: Wir müssen die arktische Region nachhaltig Herzlichen Dank. und erhaltend gestalten und dürfen nicht nur allein öko- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ nomische Prinzipien herrschen lassen. Auch über außen- DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der und sicherheitspolitische Fragen muss gemeinsam disku- LINKEN) tiert werden. Das soziale Europa – ich habe es gesagt – bekäme durch einen Beitritt Islands einen Schub. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Deutschland ist aus isländischer Sicht ein guter und Das Wort hat jetzt der Kollege Thomas Silberhorn verlässlicher Partner. Man fand es sehr sensibel – das von der CDU/CSU-Fraktion. habe ich in Island erfahren können –, wie Deutschland in der internationalen Finanzkrise gehandelt hat. Island ist (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- von uns nicht, wie in Großbritannien unter Bezugnahme neten der FDP) auf ein Anti-Terror-Gesetz, zu Zahlungen verpflichtet (B) worden. Nein, wir sind hier anders vorgegangen. Was Thomas Silberhorn (CDU/CSU): (D) man bei Island beachten und verstehen muss, ist, dass Is- Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und land erst seit 1944 eine freie Republik ist. Man muss also Herren! Auch wenn wir heute darüber reden, so ent- auch das Selbstbewusstsein respektieren und die Men- scheiden wir doch nicht über die Aufnahme Islands in schen so annehmen, wie sie sind. Ich glaube, für uns in die Europäische Union. Wir entscheiden aber sehr wohl Deutschland ist es gut, wenn Island in die Familie der über die Aufnahme von Verhandlungen über einen Bei- europäischen Mitgliedstaaten aufgenommen wird und tritt. Das ist eine echte Premiere. Bisher waren wir erst wir dann gemeinsam eine werteorientierte Außenpolitik nach Abschluss der Verhandlungen beteiligt und durften betreiben, auf die so oft hingewiesen wird. Beitrittsakten zustimmen, an deren Verhandlungen wir nicht beteiligt waren und deren Ergebnis wir nicht än- Man muss einmal die Frage stellen: Was ist hierbei dern konnten. Jetzt sind wir erstmals vor Beginn der Ver- die Schlussfolgerung? Die Schlussfolgerung ist: Märkte handlungen beteiligt. Noch bevor die Bundesregierung brauchen Regeln. Sozialstaatlichkeit hält die Gesell- im Europäischen Rat der Aufnahme von Verhandlungen schaft zusammen. Freiheit kann nur dann entstehen, zustimmt, muss der Bundestag um Einvernehmen gebe- wenn aus guter Arbeit auch gutes Einkommen erwächst. ten werden. Das wollen wir heute im Sinne einer Auf- Bildung muss frei und für alle zugänglich sein, egal aus nahme der Verhandlungen erreichen. welchem Elternhaus man kommt. Der Zugang zu Bil- dung darf nicht vom Einkommen der Eltern, von der (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Ethnie oder von der Rasse abhängen. Hier kann man neten der FDP) sehr viel von Island lernen. Es zeigt sich, dass unsere Begleitgesetzgebung zum (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Stefan Vertrag von Lissabon, die wir im letzten Jahr beschlos- Liebich [DIE LINKE]) sen haben, wirkt. Ich will der historischen Wahrheit Ge- nüge tun und betonen, dass diese Initiative einst von der Wie die anderen Kolleginnen und Kollegen will auch CDU/CSU ausgegangen ist. Wir haben bereits zwei Le- ich mit einem Appell an Sie schließen. Da die Zustim- gislaturperioden zuvor, nämlich im Januar 2005, einen mung zu einem Beitritt Islands auf der Wegstrecke der entsprechenden Antrag vorgelegt. Ich freue mich, dass offenen Entscheidungsphase in der Europäischen Union unsere Position im Zuge des Lissabon-Vertrages eine abgenommen hat, müssen wir Mut machen und über die Mehrheit in diesem Hause gefunden hat. Europa-Union helfen, damit wir bald zu einer mehrheit- lichen positiven Einschätzung des EU-Beitritts in der is- Nicht ganz zustimmen kann ich der Kritik, die hier ländischen Gesellschaft kommen; denn so darf es nicht vor allem vonseiten der SPD geäußert worden ist, dass Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010 3525

Thomas Silberhorn (A) man schneller hätte beraten müssen. Die Kommission gewaltig gestiegen. Das Haushaltsdefizit liegt derzeit bei (C) hat ihre Stellungnahme, mit der sie die Aufnahme von 14,4 Prozent. Das bedeutet, dass Island gewaltige wirt- Verhandlungen empfiehlt, am 24. Februar vorgelegt. Ge- schaftliche Anstrengungen vor sich hat. rade einmal zwei Monate später verabschieden wir im Es ist aber wichtig, darauf hinzuweisen, dass die Kri- Bundestag eine substanziierte Stellungnahme, mit der terien für die Konvergenz in der Euro-Zone nur dann re- wir der Aufnahme von Verhandlungen zustimmen. Was levant werden, wenn es um den Beitritt zur Euro-Zone wollen Sie eigentlich mehr? Entweder will man schnelle geht. Es sind keine expliziten Kriterien für die Auf- Entscheidungen, dann darf man im Zweifel die Abge- nahme in die Europäische Union. Natürlich muss die of- ordneten nicht fragen; oder man will parlamentarische fene Frage, wie der Schaden der niederländischen und Mitwirkung, dann muss man dafür auch Zeit einräumen. der britischen Sparer reguliert wird, beantwortet werden. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Sehen Sie es mir nach, dass ich mir folgenden Kalauer heute nicht verkneifen kann: Bislang haben die Geschä- Wir sind der Meinung: Parlamentarische Beratung digten nur Asche bekommen; aber sie wollen natürlich braucht Zeit; Demokratie insgesamt braucht Zeit. Auch Kohle sehen. Wichtig ist allerdings, dass die wirtschaft- ein Europa der Bürger braucht Zeit. Wir nehmen uns lichen Kriterien erst zum Zeitpunkt des Beitritts erfüllt diese Zeit. Das ist richtig so. sein müssen. Deswegen sind die noch offenen Fragen Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich habe kein Hindernis für die Aufnahme von Verhandlungen. den Eindruck, dass auch die isländische Bevölkerung Im Gegenteil: Der Prozess der Beitrittsverhandlungen durchaus Zeit braucht für diesen Verhandlungsprozess. kann zur wirtschaftlichen Stabilisierung Islands selbst Es gibt dort zwar eine Mehrheit für die Einführung des beitragen. Euro. Aber 70 Prozent der Bevölkerung lehnen derzeit Die wichtigsten Fragen in diesem Beitrittsprozess einen Beitritt zur Europäischen Union ab. Es hat sich in umfassen sicherlich die Fischereipolitik bis hin zum den letzten Monaten in Island erst noch herumsprechen Walfangverbot. Ich kann die Position Islands gut nach- müssen, dass man nicht Ja zum Euro, aber Nein zur vollziehen, da es hier um erhebliche Kompetenzübertra- Europäischen Union sagen kann. Es zeigt sich, dass in gungen auf die Europäische Union in Bereichen geht, Island unter dem Eindruck der Finanzkrise und eines die für Island von existenzieller Bedeutung sind. wachsenden Haushaltsdefizits sowie angesichts von Bankeninsolvenzen kurzfristig die Überzeugung entstan- Umso wichtiger ist es, deutlich zu machen, dass Be- den ist, man könne sich mit dem Euro stabiler aufstellen. hörden der Europäischen Union in der Alltagspolitik Dies zeigt auch der Blick nach Irland, das als Mitglied keine anonymen und autokratischen Entscheidungen der Euro-Zone deutlich besser aus der Wirtschafts- und treffen. Hierfür muss aber im Alltagsgeschäft der Euro- (B) Finanzkrise herausgekommen ist. Der Beitritt selbst er- päischen Union Transparenz herrschen, Bürgernähe (D) fordert natürlich eine langfristige Bindung an die Euro- praktiziert und das Prinzip der Subsidiarität ernst ge- päische Union. Da sind einige Fragen neu zu beantwor- nommen werden. Ich meine, das würde es den Isländern ten. erleichtern, bei den schwierigen Themen „Fischerei“ und „Walfangverbot“ Zugeständnisse zu machen. Gleichwohl gilt: Island ist seit Jahrzehnten auf das Engste mit der Europäischen Union verbunden. Wir un- Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich halte es terstützen das Ziel einer EU-Mitgliedschaft Islands. Die für richtig, dass wir diese Debatte über die Aufnahme politischen Kriterien sind zweifellos erfüllt. Island ist von Verhandlungen mit Island über einen Beitritt zur Eu- eine der ältesten Demokratien der Welt. Fragen nach ropäischen Union zum Anlass nehmen, die Erweite- Rechtsstaatlichkeit oder Menschenrechten stellen sich rungsstrategie der Europäischen Union insgesamt auf nicht. Auch der gemeinschaftliche Besitzstand ist in wei- den Prüfstand zu stellen. Es ist hier schon angesprochen ten Teilen bereits übernommen. Island gehört nach dem worden: Es gab immer wieder politische Rabatte. Des- Beitritt im Jahr 1970 der Europäischen Freihandelszone wegen war es notwendig, in unserem Antrag darauf hin- seit nunmehr 40 Jahren an. Island ist Gründungsmitglied zuweisen, dass erst die Beitrittskriterien strikt erfüllt sein des Europäischen Wirtschaftsraumes, der 1994 geschaf- müssen, bevor man über einen Beitrittstermin sprechen fen wurde. Auch die Zusammenarbeit von Polizei und kann. Es gibt insoweit keinen Automatismus. Justiz funktioniert seit vielen Jahren völlig reibungslos. Island selbst wird das Tempo der Verhandlungen be- Viele Fragen, die Gegenstand der Verhandlungen sein stimmen. Die Europäische Union wird die Fortschritte werden, werden sich also sehr schnell beantworten las- bewerten. Ich stimme zu, Herr Kollege Link, dass wir sen. keine Koppelungsgeschäfte mit der Aufnahme Islands Island ist ohne Zweifel eine funktionierende Markt- verbinden dürfen. Wir müssen jeden Staat gesondert be- wirtschaft. Aber wie wir in unserem Koalitionsantrag handeln. Es ist eine Frage der Glaubwürdigkeit der Eu- ganz bewusst formulieren: Vor der Bankenkrise hatte Is- ropäischen Union, dass wir ein Kandidatenland nicht in land die Fähigkeit, dem Wettbewerbsdruck und den Haftung für die Erfüllung sonstiger Zwecke der Europäi- Marktkräften im Europäischen Wirtschaftsraum standzu- schen Union, für die Vornahme bestimmter Vertragsän- halten. Nach der Bankenkrise ist es erforderlich, dass die derungen oder für andere Kandidatenländer nehmen. Fähigkeit, dem Wettbewerbsdruck und den Marktkräften (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) standzuhalten, auch in Bezug auf die Europäische Union als Ganzes möglich wird. Hier gibt es Defizite. Die Wir unterstützen die Aufnahme von Verhandlungen. Staatsverschuldung ist im letzten Jahr auf 125 Prozent Ich setze darauf, dass die Bundesregierung bereit ist, 3526 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010

Thomas Silberhorn (A) eine enge Abstimmung mit dem Deutschen Bundestag Insofern verstehe ich nicht, warum die Opposition in (C) über die Fortschritte und über den weiteren Zeitplan der den letzten Tagen und Wochen sozusagen im Galopp Verhandlungen zu pflegen. durch diese Vorberatungen hindurch wollte. Für meine Begriffe ist es besser, einen kleinen Schritt zu gehen und Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. voranzukommen, als durch zu große Schritte ins Stol- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) pern zu geraten. Wir haben nun wirklich lange genug um die Mitspracherechte in den Angelegenheiten der Euro- päischen Union gerungen; meine Vorredner haben es Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: sehr oft betont. Jetzt haben wir sie, und wir wollen ver- Als letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt antwortlich damit umgehen, weil genau das für die Ak- hat jetzt das Wort die Kollegin Veronika Bellmann von zeptanz europapolitischer Entscheidungen bei den Bür- der CDU/CSU-Fraktion. gern wichtig ist. Keiner, aber auch wirklich keiner hätte (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) etwas davon gehabt, wenn wir nur durch die Thematik gehastet wären und irgendetwas erzwungen hätten. Veronika Bellmann (CDU/CSU): (Michael Roth [Heringen] [SPD]: Nach Hast Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und sehen Sie ja nun gerade nicht aus!) Herren! Aus Überlieferungen ist bekannt, dass die islän- Ich bin davon überzeugt, dass es der Würde eines Bei- dische Hauptstadt Reykjavik übersetzt so viel wie „rau- trittslandes – sei es auch noch so klein – nicht gerecht chende Bucht“ heißt und die Isländer ihre Vulkane als würde, wenn wir uns nicht ausreichend mit ihm befassen „Eingänge zur Hölle“ bezeichnen. So weit muss man würden. Zudem entspricht es nicht der Würde unseres nicht gehen; aber es sind in den letzten Tagen nun wirk- Hauses, die Ausschüsse, die noch Beratungsbedarf ha- lich viele mehr oder weniger gut gelungene Sprachbilder ben, in Bezug auf Island gebraucht worden. (Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Welche Ausschüsse waren das denn? NEN]: Damit meinten Sie den Kollegen Keiner hat was mitgeteilt!) Silberhorn!) unter Druck zu setzen und ihnen zu sagen: Geht nicht! Es ist uns jedoch allen klar geworden, dass die Bezeich- Wir haben bis zum Fristablauf und zur Befassung des nung „Naturgewalten“ wohl ihre Berechtigung hat. Denn Europäischen Rates zwar noch ausreichend Zeit, aber die Natur hat europäisch, ja sogar global Gewalt ausge- wir wollen – vor wem auch immer – glänzen und müs- übt. (B) sen dafür eure parlamentarischen Rechte leider ein we- (D) Eine ganz andere Form der Gewalt, nämlich die ge- nig einschränken. setzgeberische, ist das, was uns hier in unserem Hause be- Diese Hast und auch diese in der Vergangenheit so oft schäftigt und was auch Mittelpunkt der heutigen Debatte vorgetragene blinde Europa-Euphorie war gestern. ist. Der vorliegende Antrag der Koalitionsfraktionen wurde von den Fraktionen und den Facharbeitsgruppen (Michael Roth [Heringen] [SPD]: Ich sehe sehr intensiv beraten und ist eine gute Arbeitsgrundlage. noch sehr gut!) Insofern brauchen wir uns gerade von Herrn Roth kein zu Heute sind gerade bei geplanten Beitritten Realitätssinn geringes Engagement vorwerfen zu lassen. und ein ganzes Stück Entschleunigung gefragt. Übereilte (Michael Roth [Heringen] [SPD]: Das ehrt Zusagen entziehen den Verhandlungspartnern nur Si- mich aber jetzt!) cherheit. Für ein kleines beitrittswilliges Land bedeutet es Sicherheit, wenn es auf Grundlage eines einstimmi- Ganz im Gegenteil: Wir haben uns sehr zeitig und sehr gen Ratsbeschlusses, der auf stabilen Fundamenten ent- intensiv damit befasst. sprechender Beschlüsse in den Nationalstaaten steht, auf gleicher Augenhöhe mit der großen EU über den Beitritt (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – verhandelt. Zu dieser sehr ehrlichen und offenen Aus- Michael Roth [Heringen] [SPD]: Danke, Frau sage habe ich bei unseren Gesprächen in Island absolut Kollegin, für diese Bemerkung!) keinen Widerspruch gehört. – Ich lobe Sie gleich noch, Herr Roth. Also nehmen Sie Island kann Europa bereichern, Europa kann Island sich mal wieder zurück. bereichern. Das Land gilt als sehr umweltfreundlich. Wir Aber auch die Anträge der anderen Fraktionen sind können gerade im Hinblick auf erneuerbare Energien, von der gleichen Grundintention geprägt, nämlich sich eine moderne Fischereipolitik und nachhaltiges Wirt- positiv in Richtung Island zu artikulieren. Deshalb habe schaften unheimlich viel von ihm lernen. ich auch keine Zweifel, dass wir heute ein Einvernehmen (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und zur Aufnahme von Verhandlungen mit Island über den der FDP – Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/ Beitritt zur EU herstellen können. Damit hat die Bundes- DIE GRÜNEN]: Das ist richtig! Da können regierung rechtzeitig – ich betone: rechtzeitig – den not- wir viel lernen!) wendigen parlamentarischen Rückhalt, um im Europäi- schen Rat ihre Zustimmung zu den Verhandlungen über Island ist bereits heute weitgehend in den Wirtschafts- die Aufnahme Islands in die EU zu geben. und Rechtsraum der EU integriert. Das Land gehört zum Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010 3527

Veronika Bellmann (A) Anwendungsbereich des Schengener Abkommens und die Grundlage für einen gemeinsamen europäischen (C) nimmt am EU-Binnenmarkt teil. Rechtsstaatlichkeit und Weg gelegt haben oder ob das alles – jetzt nutze ich doch Marktwirtschaft sind gesetzt, ebenso die Achtung der ein Sprachbild mit dem Vulkan – ein Tanz auf dem Vul- Menschenrechte. Herr Thönnes hat es schon angespro- kan gewesen ist. Ich hoffe es nicht. Ich hoffe vielmehr, chen: Wenn man sich ein wenig mit der Geschichte Is- dass die Isländer auch hier neue Wege gehen und an ihre lands beschäftigt, dann erfährt man, dass dort bereits seit wichtigste Industrie denken, an die Fischereiindustrie. dem Jahr 930 Parlamente gewählt wurden. Damit hat das Denn die Fischer – so sagt ein altes Sprichwort – suchen Land eine sehr tief verwurzelte demokratische Tradition. ihre Fische dort, wo sie sind, und nehmen jeden Tag ei- nen neuen Weg, um sie ausfindig zu machen. So kann es Wir trauen diesem Land auch zu – das verlangen wir sein, dass der Weg von gestern nicht der Weg zu den Fi- auch, wenn es zum Beitritt kommt –, dass es die Ziele und schen von heute ist. Verpflichtungen der politischen Union, also den gemein- schaftlichen Besitzstand, übernimmt. Deshalb sind An- Jeden Tag einen neuen Weg gehen und Mut zum Bei- passungen in den Bereichen Fischerei, kommerzieller tritt – das wünsche ich den Isländern und auch uns. Walfang – darüber wurde schon viel gesprochen –, Land- wirtschaft, Regionalpolitik, Kapitalverkehr und Finanz- Vielen Dank. dienstleistungen notwendig. Damit werden die Kopenha- gener Kriterien erfüllt; so sieht es zumindest die (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Kommission. Auf die Konvergenzkriterien trifft das al- Michael Roth [Heringen] [SPD]: Das waren lerdings nicht zu – Herr Silberhorn hat es schon angespro- aber mehr als sieben Minuten!) chen –: Mit einer Schuldenstandsquote von 125 Prozent und einem Haushaltsdefizit von 14,4 Prozent ist das Land Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: weit vom Euro-Raum entfernt. Ich schließe die Aussprache. Deutschland hat den Ausbau der Beziehungen zwi- Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus- schen Island und der EU bis hin zu einer Vollmitglied- schusses für die Angelegenheiten der Europäischen schaft immer begrüßt, nur waren die Isländer bisher sehr Union auf Drucksache 17/1464. zurückhaltend. Diese Zurückhaltung löste sich erst mit Beginn der Finanz- und Wirtschaftskrise, die Island in Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Be- ziemliche Turbulenzen gestürzt hat. Lieber gestern als schlussempfehlung die Annahme des Antrags der Frak- heute wäre man dem Euro-Raum beigetreten und erst tionen von CDU/CSU und FDP auf Drucksache 17/1190 dann der EU. Als klar wurde, dass der Mechanismus ge- mit dem Titel „Einvernehmensherstellung von Bundestag nau andersherum verläuft – erst der Beitritt zur EU, dann (B) und Bundesregierung zum Beitrittsantrag der Republik (D) zur Währungsunion –, dass für Island im Beitrittsprozess Island zur Europäischen Union und zur Empfehlung der trotz Krise dieselben Kriterien, Bedingungen und Ver- EU-Kommission vom 24. Februar 2010 zur Aufnahme fahren wie für jeden anderen beitrittswilligen Staat gel- von Beitrittsverhandlungen“. Wer stimmt für diese Be- ten, dass es keinen Beitrittsautomatismus geben würde, schlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltun- ebbte die Euphorie erheblich ab. Hinzu kamen schwie- gen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der rige Verhandlungen über Rückzahlungsforderungen Groß- Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen der Fraktion Die britanniens und der Niederlande; dabei ging es um Linke und Enthaltung der SPD-Fraktion und der Fraktion Schulden der isländischen Direktbank Icesave bei diesen Bündnis 90/Die Grünen angenommen. Ländern in Höhe von immerhin 3,9 Milliarden Euro. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Be- Die Isländer sind beim Thema EU-Beitritt zwischen schlussempfehlung die Ablehnung des Entschließungs- Pro und Kontra hin und her gerissen. Deshalb kommt es antrages der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/1191 nicht nur auf die Verhandlungsweise der EU an, sondern zu der Abgabe einer Regierungserklärung durch die Bun- auch darauf, ob und wie gut der isländischen Regierung deskanzlerin zum Europäischen Rat am 25./26. März die Argumentation für einen EU-Beitritt in der Öffent- 2010 in Brüssel. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh- lichkeit gelingt. Ich denke, dass die isländische Minister- lung? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Die Be- präsidentin nicht unbedingt schlagende Argumente an- schlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitions- wendet, wenn sie auf solche Darstellungen wie auf fraktionen und der Fraktion Die Linke bei Gegenstimmen einem Wandteppich im Kabinettssaal der isländischen der SPD-Fraktion und Enthaltung von Bündnis 90/Die Regierung zurückgreift: Hier hat sie einen Knüppel in Grünen angenommen. der Hand und drischt dem Finanzminister – ich glaube, er ist von den Grünen – so lange auf den Kopf ein, bis Unter Buchstabe c seiner Beschlussempfehlung emp- sich bei ihm zwölf Europasterne um den Kopf drehen. fiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der (Franz Thönnes [SPD]: So ähnlich wie hier in Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/1059 mit dem Ti- der Koalition!) tel „Verhandlungen über die Aufnahme Islands in die Europäische Union eröffnen“. Wer stimmt für diese Be- Die Isländer werden in ein paar Jahren nach Ablauf schlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – der Verhandlungen in einem Referendum beweisen kön- Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Ko- nen, wie sie den EU-Beitritt sehen. Dann werden wir se- alitionsfraktionen gegen die Stimmen der Fraktion Die hen, ob wir mit der heutigen Einvernehmenserklärung Linke bei Enthaltung von SPD und Bündnis 90/Die Grü- hinsichtlich der Aufnahme von Beitrittsverhandlungen nen angenommen. 3528 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms (A) Weiterhin empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe d Widerspruch? – Das ist nicht der Fall. Dann ist das so (C) seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Ent- beschlossen. schließungsantrages der Fraktion Bündnis 90/Die Grü- Ich bitte diejenigen Kolleginnen und Kollegen, die nen auf Drucksache 17/1172 zu der bereits genannten dieser Aussprache nicht bewohnen wollen, den Saal zu Regierungserklärung. Wer stimmt für diese Beschluss- verlassen, damit die anderen ungestört folgen können. empfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koali- Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red- tionsfraktionen und der Fraktion Die Linke bei Gegen- ner das Wort dem Kollegen Dr. Karl Lauterbach von der stimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und Ent- SPD-Fraktion. haltung der SPD-Fraktion angenommen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buchsta- be e seiner Beschlussempfehlung, den Antrag der Frak- Dr. Karl Lauterbach (SPD): tion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/260 mit Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und dem Titel „Rechte des Bundestags nach den Begleitge- Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir tragen setzen zum Vertrag von Lissabon wahren – hier: Einver- heute unsere Vorschläge zur Verbesserung der Wirt- nehmen mit dem Bundestag vor der Aufnahme von Bei- schaftlichkeit der Arzneimittelversorgung vor. Was ist trittsverhandlungen mit Island herstellen“ für erledigt zu der Hintergrund unserer Vorschläge? Der Hintergrund ist erklären. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – der, dass es in der Gesundheitspolitik in den letzten Wo- Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Die Beschlussemp- chen zu einem völligen Stillstand gekommen ist. In den fehlung ist einstimmig angenommen worden. letzten Wochen ist viel geredet worden, zum Teil auch Ich rufe die Tagesordnungspunkte 6 a bis 6 c auf: sehr aufgeregt. Aber de facto ist seitdem nichts passiert. a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Karl (Ulrike Flach [FDP]: Wo waren Sie denn, Herr Lauterbach, Dr. Marlies Volkmer, Elke Ferner, Lauterbach?) weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Sie haben von einer großen Kopfpauschale gespro- Effektivere Arzneimittelversorgung chen, aber es gab kein Konzept. Frau Merkel hat Minis- ter Rösler gebeten, dieses Thema nicht immer wieder zu – Drucksache 17/1201 – erwähnen. Herr Schäuble hat darauf hingewiesen, dass Überweisungsvorschlag: kein Geld da ist. Herr Söder hat ebenso wie Herr Ausschuss für Gesundheit (f) Seehofer darauf hingewiesen, dass kein politisches Man- Ausschuss für Wirtschaft und Technologie dat vorhanden ist. Was ist übrig geblieben? Es gibt kein (B) (D) b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Kathrin Geld, kein Konzept und keinen politischen Willen. Es ist Vogler, Dr. Martina Bunge, Dr. Ilja Seifert, weite- schlicht nichts übrig geblieben. rer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE (Heinz Lanfermann [FDP]: Nicht einmal eine Opposition ist übrig geblieben! – Heiterkeit Faire Preise für wirksame und sichere Arznei- bei Abgeordneten der CDU/CSU und der mittel – Einfluss der Pharmaindustrie be- FDP – Widerspruch bei der SPD) grenzen – Keine Sorge, zu Ihnen komme ich gleich. – Drucksache 17/1206 – Überweisungsvorschlag: Sie haben dann über eine kleine Kopfpauschale philo- Ausschuss für Gesundheit (f) sophiert. Es war von einem Betrag in Höhe von 29 Euro Ausschuss für Bildung, Forschung und die Rede. Herr Rösler hat das halbherzig dementiert. Technikfolgenabschätzung Auch hierfür gilt: Es gab nie ein Konzept, es gab kein c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Birgitt Geld und keine Einigkeit, gar nichts. Bender, Fritz Kuhn, Maria Anna Klein-Schmeink, (Ulrike Flach [FDP]: Wo waren Sie denn?) weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN Das Einzige, was in der Diskussion übrig geblieben ist: Man hört aus Kreisen der Regierungskommission bzw. Qualität und Sicherheit der Arzneimittelver- von Herrn de Maizière, dass der Beitragssatz nach der sorgung verbessern – Positivliste einführen – Wahl in Nordrhein-Westfalen angehoben werden soll. Arzneimittelpreise begrenzen (Widerspruch des Abg. Jens Spahn [CDU/CSU]) – Drucksache 17/1418 – Eine Beitragssatzerhöhung ist alles, was nach diesem Überweisungsvorschlag: Buhei übrig geblieben ist. Das ist zu wenig. Ausschuss für Gesundheit (f) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Heinz Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Lanfermann [FDP]: Blühende Fantasie! Das Ausschuss für Bildung, Forschung und wird jede Woche doller!) Technikfolgenabschätzung Ich fasse dies, wie ich glaube, fair zusammen – auch Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die wenn das eine Enttäuschung für jedermann und jede Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. Gibt es Frau ist –, wenn ich sage: Es ist nichts passiert. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010 3529

Dr. Karl Lauterbach (A) Welche Strategie könnte dahinterstecken? Die Strate- Ich habe das immer für falsch gehalten. Alles, was wir (C) gie – sofern man überhaupt eine erkennt – könnte allen- jetzt hören, ist: Beitragssatzerhöhung. Außerdem kommt falls die sein, dass man versucht, sich über die Wahl in es vielleicht zu einem Umstieg von einem relativ einfa- Nordrhein-Westfalen zu retten, um dann unbeliebte Vor- chen und gerechten Umlagesystem zu einem komplizier- schläge zur kleinen, mittelgroßen oder großen Kopfpau- ten und ungerechten Umlagesystem. Das ist alles, was schale zu bringen. Sollte dies die Strategie sein, dann ist Sie uns bisher hier anbieten können. sie nicht aufgegangen. Denn zu dem Zeitpunkt, zu dem (Heinz Lanfermann [FDP]: Das ist die falsche man eine solche Pauschale hätte beschließen können, hat Rede! Heute geht es um Arzneimittel!) man es nicht gewagt. Demnächst ist die schwarz-gelbe Regierung in Nordrhein-Westfalen weg, dann kann man – Herr Lanfermann, überlassen Sie es bitte uns, die Dinge sie nicht mehr beschließen. vorzubringen, die wir für relevant halten. Ich komme gleich zu den Arzneimitteln. (Beifall bei der SPD) (Zurufe von der CDU/CSU und der FDP: In der Summe: Als man sie hätte beschließen können, Ah! – Jens Spahn [CDU/CSU]: Sie haben hat man es nicht gewagt. Jetzt, da man möglicherweise keine Zeit mehr! Die Zeit ist abgelaufen!) den Mut aufbringt, ist die Zeit abgelaufen. Hat es eine Strategie gegeben, so ist sie nicht aufgegangen. Wenn wir hier Handwerk und Stillstand beklagen, dann tut Ihnen das weh. Sonst würden Sie sich nicht beschwe- (Ulrike Flach [FDP]: Noch nicht einmal Ihre ren, Herr Lanfermann. eigenen Leute wollen sich das anhören! – Heinz Lanfermann [FDP]: Jetzt lächelt er (Jens Spahn [CDU/CSU]: Wir klagen nicht schon selber!) über das Handwerk! Niemals!) Ich komme zum Handwerk: Es ist ja viel über das ge- Nun zur Pharmaindustrie: Der einzige brauchbare sundheitspolitische Handwerkszeug der schwarz-gelben Vorschlag ist die Einführung eines Zwangsrabattes von Koalition geschrieben worden. Ich gehe einmal kurz auf 16 Prozent. Der kommt aber zu spät. den Vorschlag der kleinen Kopfpauschale ein, der halb- ( [CDU/CSU]: Wieso? herzig dementiert wurde. Frau Flach, was käme dabei Viel schneller geht es nicht!) heraus? So werden die Preiserhöhungen, die wir derzeit be- (Ulrike Flach [FDP]: Sie sollten Ihre eigenen obachten, einen Teil dieses Rabattes wegfressen. Das gilt Vorschläge durchrechnen!) übrigens auch, wenn er rückwirkend eingeführt wird. (B) – Frau Flach, das ist auch für Sie lehrreich. Konzentrie- (Ulrike Flach [FDP]: Sie hätten es ja schon (D) ren Sie sich. letztes Jahr machen können! Dann wäre er da! – Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Was (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der wäre denn rechtzeitig?) LINKEN – Lachen bei der CDU/CSU und der FDP) Wir erwarten, dass es zu Preisverhandlungen für neue Arzneimittel kommt. Der Weg über IQWiG wäre ein Was hätten wir dann? Wir hätten einen Arbeitgeberbei- kompliziertes, bürokratisches Verfahren ohne Einspar- trag, wir hätten einen Arbeitnehmerbeitrag, wir hätten potenzial. eine kleine Prämie, wir hätten einen Finanzausgleich zum Arbeitgeber- und Arbeitnehmerbeitrag, wir hätten Was hören wir also auch in diesem Bereich? Bürokra- einen allgemeinen Steuerzuschuss, und wir hätten einen tie pur ohne eine relevante Einsparung. Ihnen laufen die Finanzausgleich für die Prämie. Beiträge quasi davon. Im nächsten Jahr werden 15 Mil- liarden Euro fehlen. Wir hören nicht einen einzigen Vor- (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Wer will denn schlag, wie diese Deckungslücke geschlossen werden so etwas?) soll. Wir hätten im Prinzip sieben Elemente auf der Einnah- (Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Frei- meseite. Das wäre dann das komplizierteste Gesund- lich! Mit den Arzneimitteln!) heitssystem in Europa. Das gesamte Buhei hätte nur den Hintergrund, dass man den Arbeitgeberbeitrag festfrie- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: ren will. Es wäre ein reines Umlagesystem. Herr Kollege Lauterbach, darf ich Sie kurz unterbre- (Ulrike Flach [FDP]: Ist Ihnen eigentlich klar, chen? Der Kollege Lanfermann würde Ihnen gern eine wozu Sie reden sollen?) Zwischenfrage stellen.

Ich bringe in Erinnerung: Die FDP hat uns über Jahre Dr. Karl Lauterbach (SPD): hinweg mit dem Hinweis genervt, dass die Gesundheits- Sehr gerne, Herr Lanfermann. politik nur überleben könnte, wenn ein kapitalgedecktes System eingeführt würde. Davon ist jetzt keine Rede mehr. Heinz Lanfermann (FDP): Vielen Dank. – Herr Kollege Lauterbach, ich gehe ein (Jens Spahn [CDU/CSU]: Kamelle!) wenig zurück: Sie haben gesagt, die Erhöhung des Ra- 3530 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010

Heinz Lanfermann (A) batts auf 16 Prozent käme zu spät, weil wir gerade Preis- Ministers. Der Minister scheint zu denken, dass man für (C) erhöhungen erlebt hätten. Man hätte das stattdessen ir- die Hausarzttätigkeit nicht so schlau sein muss. gendwie rückwirkend festsetzen müssen. (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Jetzt müsste Ist Ihnen bekannt, dass in unserem Eckpunktepapier, ich nach Ihrem Numerus clausus fragen!) das mittlerweile sehr weit verbreitet ist, mit der Einfüh- Darüber hinaus scheint er zu denken, dass diejenigen, die rung einer Rabatterhöhung zum 1. August 2010, wie an- einen guten Numerus clausus haben, keine guten Haus- gekündigt, auch ein Preismoratorium festgelegt wird, ärzte sein können. das auf die Preissituation am 1. August 2009 zurückgeht, weil es insbesondere in den Monaten August und Sep- (Ulrike Flach [FDP]: Das trifft vielleicht auf tember 2009 eine Reihe von Preiserhöhungen gegeben Sie zu, Herr Lauterbach!) hat? Das sind die Vorurteile, die sich hier zeigen. Kein einzi- (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Das kann man ger zusätzlicher Hausarzt wird aufs Land kommen. Die mit Ja beantworten!) Zahl der Medizinstudenten bleibt gleich.

Dr. Karl Lauterbach (SPD): Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das ist durchaus bekannt. Meine Belehrung bestand Jetzt kommen Sie bitte zum Schluss, Herr Kollege lediglich darin, Lauterbach.

(Jens Spahn [CDU/CSU]: „Belehrung“ ist das Dr. Karl Lauterbach (SPD): richtige Wort!) Ich komme zum Schluss. – Die Vorschläge, die wir dass zu Jahresbeginn infolge Ihrer Ankündigung Preiser- bisher gehört haben, bringen allesamt nichts. Bisher höhungen stattgefunden haben und derzeit von den herrscht Stillstand auf hohem Niveau. Man kann nur ab- Krankenkassen die erhöhten Preise bezahlt werden, die- warten, bis sich die FDP wieder aus dieser wichtigen so- ses Geld also weg ist und gemäß Ihrem Vorschlag nicht zialpolitischen Disziplin zurückzieht. zurückgefordert werden soll. Bevor ich Ihnen Ihren eige- (Beifall bei der SPD – Ulrike Flach [FDP]: nen Vorschlag erkläre, Herr Lanfermann, frage ich Sie: Hauptsächlich ist es Ihr Stillstand!) Ist Ihnen klar, dass das Geld, das die Kassen in dieser Periode aufgrund der Erhöhung in den Monaten Januar und Februar mehr haben zahlen müssen, für die Kassen Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat der Kollege Jens Spahn von der CDU/ (B) verloren ist? Ist Ihnen klar, dass dieses Geld durch Ihren (D) Vorschlag nicht zurückgefordert werden kann? Dieses CSU-Fraktion. Geld ist schlicht weg. Das läuft Ihnen durch die Hand. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Dieses Geld können Sie auch durch eine rückwirkende Festlegung und ein Preismoratorium nicht festhalten. Das sage ich dazu. Jens Spahn (CDU/CSU): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! (Jens Spahn [CDU/CSU]: Das nennt sich Herr Kollege Lauterbach, bei aller Wertschätzung, Sie Rechtsstaat!) haben es jetzt geschafft, Ihre ganze Redezeit zu dem Thema „Effektivere Arzneimittelversorgung“, das Sie – Ich habe den Vorschlag ja verstanden, wie auch Sie, hier beantragt haben, mit Belehrungen, zugegebenerma- Herr Spahn. Die Rückfrage kam ja von Herrn ßen professoraler Art, zu füllen und dabei das Wort Lanfermann, der Probleme hat. „Arzneimittel“ nur zweimal zu benutzen; ansonsten ha- (Ulrike Flach [FDP]: Die Probleme haben wir, ben Sie nichts, aber auch gar nichts zum Inhalt des An- weil Sie die Kostendämpfung nicht letztes Jahr trags, den Sie gestellt haben und den wir hier beraten, gemacht haben!) gesagt. Herr Lanfermann hat ja Probleme. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Ich glaube, Sie wissen auch, warum Sie Ihren eigenen (Lachen bei der LINKEN) Antrag nicht erwähnen: Er ist nämlich längst überholt Es ist richtig, wir machen den gleichen Vorschlag. Ich (Ulrike Flach [FDP]: So ist es!) sage nur, dass selbst dieser Vorschlag – das ist der ein- zige Vorschlag, den Sie bisher gemacht haben; daher durch Regierungshandeln. können wir nicht viel diskutieren – Ihnen nicht viel Geld bringt. Sie stehen nachher mit leeren Händen da. (Lachen bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN – [DIE LINKE]: Ich komme zum Abschluss. Ich bringe noch ein letz- Handeln? – Zurufe von der SPD: Wo?) tes Beispiel zum Handwerk. Da wird der Vorschlag ge- – Ja, Handeln. macht, die Mangelversorgung bei Hausärzten dadurch zu verbessern – das müssen Sie sich einmal vorstellen! –, (Heinz Lanfermann [FDP]: Das ist, wenn man dass der Numerus clausus für Medizinstudenten abge- etwas tut! – Ulrike Flach [FDP]: Im Gegensatz schafft wird. Was zeigt das? Das zeigt die Vorurteile des zu Ihnen!) Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010 3531

Jens Spahn (A) – Vor allem ist das mehr, als elf Jahre lang nur irgendet- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Zurufe (C) was zu erzählen. der Abg. [SPD]) Sie von Rot-Grün haben elf Jahre lang nacheinander Wir haben zudem eine Verhandlungslösung vorgese- die Gesundheitsministerin gestellt hen. Das heißt, die Hersteller verhandeln mit den Kran- kenkassen, und zwar in genau vorgegebenen Zeitabläufen (Zuruf der Abg. Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/ von maximal 15 Monaten mit einer Schiedsamtslösung. DIE GRÜNEN]) Sie werfen uns vor, dass wir solche Instrumente ergreifen. und immer davon geredet, dass Sie jenseits von kurzfris- Ich halte das unter den gegebenen Umständen für die tigen Strukturveränderungen die Preisbildung von Arz- beste Lösung. Wir wollen nämlich keine staatliche Preis- neimitteln in Deutschland langfristig verändern wollen, festsetzung. Das ist nicht unsere Vorstellung vom Ge- aber das haben Sie in elf Jahren nicht geschafft. Jetzt sundheitswesen. Wir wollen Verhandlungslösungen, bei sind Sie in der Opposition insgesamt, insbesondere SPD denen die Partner jeweils begründen müssen, welche Vor- und Grüne, erschrocken, dass es nun gerade eine bürger- stellung sie haben. Wir wollen aber auch nicht, dass sich liche Koalition ist, die das, was Sie elf Jahre lang ange- die Verhandlungen unendlich in die Länge ziehen. Des- kündigt, aber nicht geschafft haben, nun wenige Monate wegen haben wir klare zeitliche Rahmen vorgegeben. Es nach Regierungsantritt schafft. ist doch ein großer Unterschied, ob nach spätestens 15 Monaten tatsächlich ein Verhandlungsergebnis vor- (Ulrike Flach [FDP]: So ist es!) liegt oder ob es – so ist es heute – nach oben offene Preis- festsetzungen für die ganze Zeit des Patentes gibt. Das ist Ihr eigentliches Problem. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Wi- Eins ist uns dabei ganz wichtig, nachdem hier immer derspruch der Abg. Birgitt Bender [BÜND- wieder von der sogenannten vierten Hürde bei der Zulas- NIS 90/DIE GRÜNEN]) sung die Rede ist: Wir in der christlich-liberalen Koali- tion legen großen Wert darauf, dass es dabei bleibt, dass Was werden wir tun? Erstens. Wir werden – darüber Patientinnen und Patienten – auch in der gesetzlichen haben Sie gesprochen; auch das wird in Ihren Anträgen Krankenversicherung und nicht nur in der privaten Kran- erwähnt – kurzfristig Sparmaßnahmen ergreifen; das ist kenversicherung – einen direkten Zugang zu neuen Me- nichts Neues, das hat es auch bei früheren Regierungen dikamenten bekommen; gegeben. Sie haben das Defizit der gesetzlichen Kran- kenversicherung erwähnt: Im nächsten Jahr werden zwi- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) schen 10 und 15 Milliarden Euro erwartet. Das ist das denn mit neuen Medikamenten ist auch die Hoffnung (B) größte Defizit in der Geschichte der Krankenversiche- (D) rung. Natürlich muss die Pharmaindustrie da einen Soli- etwa von Krebspatienten, von MS- oder Parkinson-Pa- daritätsbeitrag leisten. Das werden wir in Form eines ge- tienten – stellen Sie sich vor, es gäbe endlich ein Medi- setzlich vorgeschriebenen Herstellerrabattes bewirken, kament gegen die Geißel Demenz – auf Leidminderung der mit allen anderen Maßnahmen zusammen mindes- verbunden. Deswegen wollen wir weiterhin ab Zulas- tens 1,5 bis 2 Milliarden Euro Sparwirkung allein für das sung, zum frühestmöglichen Zeitpunkt, einen Zugang nächste Jahr bringen wird; diese Sparwirkung wird es der Patientinnen und Patienten zu dieser Versorgung. auch in den Jahren darauf geben. Auch das ist für uns ein wichtiger Punkt bei dieser anste- henden Reform. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Das ist ein erster wichtiger Beitrag zu Einsparungen bei den Ausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung. Im Übrigen – ich bin gespannt auf die weiteren Re- den, auch auf die der Opposition – Zweitens – jetzt kommt das Entscheidende, was bei vergangenen Reformen auf dem Arzneimittelmarkt nicht (Heinz Lanfermann [FDP]: Wir nicht!) gelungen ist – werden wir langfristig die Strukturen so verändern, dass nicht der Arzneimittelhersteller nach fand ich es bemerkenswert, Herr Kollege Lauterbach, Zulassung einseitig die Preise festlegt, die dann auch ge- wie sprachlos Sie im Grunde in Bezug auf Ihren eigenen zahlt werden müssen – so ist es bisher in Deutschland Antrag gerade sechs Minuten lang gewesen sind. Sie ha- üblich –, sondern die Preise in Zukunft an den tatsäch- ben über alles Mögliche geredet, über alles, was Ihnen lich wissenschaftlich nachgewiesenen Zusatznutzen von eingefallen ist, bis hin zur ärztlichen Versorgung im Arzneimitteln gekoppelt sein werden. Es wird nur für ländlichen Raum. Das ist ein wichtiges Thema. Aber ich tatsächlich bewiesenen Zusatznutzen in Zukunft mehr weiß nicht, was das in einer Debatte zur effektiven Arz- Geld geben. neimittelversorgung, die Sie selbst beantragt haben, ei- gentlich soll. (Mechthild Rawert [SPD]: Warum wurde Herr Sawicki dann abgesetzt?) Sie wissen ganz genau – das gilt im Übrigen auch für die Anträge der übrigen Oppositionsfraktionen; ich bin Das ist das eigentlich Neue. Davon haben Sie elf Jahre schon gespannt auf Ihre Reden –, geredet. Das werden wir jetzt tun. Sie stört, dass wir es tun und nicht Sie, nachdem Sie dazu nicht die Kraft hat- (Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- ten. NEN]: Danke schön!) 3532 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010

Jens Spahn (A) dass wir vieles von dem, was Sie fordern – zum Teil Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (C) richtigerweise –, nicht nur in Worten vor uns hertragen, Das Wort hat die Kollegin Kathrin Vogler von der sondern auch in Taten umsetzen werden. Fraktion Die Linke. (Dr. Karl Lauterbach [SPD]: Da ist doch nichts (Beifall bei der LINKEN) passiert!) Die ersten Dinge werden zum 1. August in Kraft treten; Kathrin Vogler (DIE LINKE): wir bringen sie jetzt in den Gesetzgebungsprozess ein. Herr Präsident, vielen Dank. – Liebe Kolleginnen Der zweite Teil des Gesetzes, in dem es um die Eck- und Kollegen! Nach so viel Humor will ich versuchen, punkte geht, wird zur Sommerpause hin beraten und wieder ein bisschen Ernst in diese Debatte zu bringen. zum 1. Januar nächsten Jahres in Kraft treten. Vor Ostern ist es ja laut durch den Blätterwald gerauscht: Der FDP-Gesundheitsminister will die Pharmakonzerne Genauso wie wir im Bereich der Arzneimittelpreisfin- entmachten, hieß es. Die Branche jaulte natürlich zu- dung langfristige Lösungen angestrebt haben und jetzt nächst auf. Aber der Bundesverband der Pharmazeuti- auch finden werden – nicht nur kurzfristige, wie in der schen Industrie hat nur trocken kommentiert, da wolle Vergangenheit, sondern langfristige, nachhaltige Lösun- der Minister die Unternehmen wohl zu etwas zwingen, gen –, werden wir Lösungen bei der ärztlichen Versor- was sie sich selbst ausgedacht haben, gung suchen und finden – es ist gut, dass die Debatte da- rüber begonnen hat –, und genauso nachhaltig werden (Ulrike Flach [FDP]: Na, na!) wir eine Lösung für die dauerhafte, breitere, gerechtere weil das Verhandlungskonzept in weiten Teilen von den Finanzierung des Gesundheitswesens finden. Verbänden vorgelegt worden war. (Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Heinz Lanfermann [FDP]: Ja, ja! Deswegen NEN]: Das darf man bei eurem „Kopfgeld“ sind die ja auch so begeistert! – Heiterkeit bei aber bezweifeln!) der FDP) Wir machen das Schritt für Schritt. Wir machen es Uns als Parlament liegt das Konzept der Bundesregie- fundiert. Wir werden vieles von dem, was Sie über Jahre rung noch nicht vor. Aber nach dem, was bisher so erzählt haben, jetzt mit christlich-liberalem Geist, auf durchgesickert ist, lieber Kollege Spahn, scheint es für christlich-liberaler Basis umsetzen, uns in einigen Punkten tatsächlich zustimmungsfähig zu (Dr. Karl Lauterbach [SPD]: Sie haben doch sein. alles blockiert! Ich bitte Sie! Sie waren doch (Jens Spahn [CDU/CSU]: Oh! – Johannes (B) der Bremsklotz!) Singhammer [CDU/CSU]: Dann müssen wir (D) und zwar schneller, als es Ihnen lieb ist, weil damit die allerdings aufpassen!) ganzen Überschriften, die Sie gerne in der Gegend he- Das gilt insbesondere für die Kosten-Nutzen-Bewertung rumposaunen, und damit wahrscheinlich auch manche und die Orientierung an internationalen Vergleichsprei- der vielen Debatten, die Sie hier Woche für Woche bean- sen; das steht auch in unserem Antrag. Diese Schritte tragen, ohne substanziell wirklich Neues vorzutragen, sind alleine aber keineswegs ausreichend, um den überflüssig werden. Selbstbedienungsladen für die Pharmaindustrie zu (Dr. Karl Lauterbach [SPD]: Sie haben doch schließen. alles blockiert!) (Beifall bei der LINKEN) Das ist das eigentliche Problem, Herr Kollege Solange die Pharmaunternehmen selbst die Preise festle- Lauterbach: Sie reden, wir handeln. gen und über die Studien entscheiden, mit denen Nutzen (Dr. Karl Lauterbach [SPD]: Sie handeln nicht! Sie und Risiken belegt werden, so lange werden wir die Arz- waren bisher der Bremsklotz!) neimittelausgaben nicht in den Griff bekommen. Ihr Preisstopp in Kombination mit einem zusätzlichen Aber Sie wollen jede Woche aufs Neue reden und das Zwangsrabatt von 10 Prozent schafft zwar kurzfristig et- Gleiche erzählen. Unsere Taten werden Ihren Worten – – was Luft, aber dann setzen die Hersteller zukünftig die Preise für neue Produkte entsprechend höher an, zumal (Bärbel Bas [SPD]: Folgen! – Heiterkeit) Sie ihnen ja weiterhin für das erste Jahr oder für – Immerhin haben alle aufgepasst. 15 Monate gestatten wollen, diese Mondpreise zu kas- sieren. Außerdem – das haben wir gelernt – werden die (Christian Lange [Backnang] [SPD]: Da verschlägt Unternehmen dafür zu sorgen wissen, dass dann entspre- es ihm die Sprache! Das war entlarvend!) chend mehr Medikamente verordnet werden. Dem müs- Jetzt habe ich es: Unsere Taten werden Ihre Worte Lügen sen wir im Interesse der Versicherten einen Riegel vor- strafen. So wollte ich es sagen. schieben. (Heiterkeit) (Beifall bei der LINKEN) Alles Gute. Das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen, IQWiG, hat vor zwei Jahren in einer (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Studie festgestellt, dass nirgends in Europa so viel für Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010 3533

Kathrin Vogler (A) Medikamente ausgegeben wird wie bei uns, gleichzeitig ben wir gerade einen echten Perspektivenwechsel, oder (C) deutsche Ärzte weniger Zeit für die Patienten aufwenden ist das eher Wahlkampfhilfe für Ihren Parteifreund als ihre Kollegen im Ausland. Zwischen diesen beiden Andreas Pinkwart in NRW, auch um die Mehrheit im Fakten gibt es einen Zusammenhang: Viele Patienten er- Bundesrat für die schwarz-gelbe Kopfpauschale nicht zu leben, dass sie im Wartezimmer sitzen müssen, während verlieren? die freundliche Dame oder der freundliche Herr von der Eine kurze Bemerkung zu dem Antrag der SPD. Wir Pharmaindustrie dem Doktor gerade die neuesten Medi- haben bei dem Beitrag des Kollegen Lauterbach eben kamente vorstellt. Ärzte berichten, dass dies keine Infor- gemerkt, dass er dazu wenig zu sagen hatte. mationsgespräche sind, sondern dass es um knallhartes Marketing geht. Die Erfolge dieses Marketings zahlen (Heiterkeit bei Abgeordneten der LINKEN, die Kassen mit jährlich steigenden Arzneimittelausga- der CDU/CSU und der FDP) ben. In Polen zum Beispiel dürfen Pharmareferenten nicht mehr während der Sprechstunden in die Arztpra- Der Vorwurf, die jetzige Bundesregierung sei schuld an xen. Warum regeln wir das nicht ähnlich? den Zusatzbeiträgen etlicher Krankenkassen, wird auch durch Wiederholung nicht wahr. (Beifall bei der LINKEN) (Jens Spahn [CDU/CSU]: Richtig!) Das Deutsche Ärzteblatt stellt fest, dass die Pharmain- dustrie in großem Stil Studien vortäuscht, manipuliert Erinnern wir uns: Zusatzbeiträge, Praxisgebühr, Sonder- oder unterdrückt, um Medikamente von zweifelhafter beitrag von 0,9 Prozent, Zuzahlungen, das alles wurde in Wirksamkeit und unzureichender Sicherheit an den Ihrer Regierungszeit auf den Weg gebracht. Da können Mann oder die Frau zu bringen. Die großartige Innova- Sie sich nicht aus der Verantwortung stehlen. tionskraft der forschenden Pharmaindustrie, der Sie, (Beifall bei der LINKEN) Kollege Spahn, gerade wieder das Wort geredet haben, Was Ihnen jetzt zu den Arzneimittelpreisen einfällt, (Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Er hat unterscheidet sich leider nur wenig von den Ideen aus doch recht!) dem Ministerium. Ihnen fehlt da wohl der Mut, die un- ist in Wahrheit allzu oft eine Schimäre, die benutzt wird, tauglichen Konzepte aus der eigenen Regierungszeit um hohe zweistellige Umsatzrenditen zu rechtfertigen. über Bord zu werfen und noch einmal ganz neu nachzu- denken. (Ulrike Flach [FDP]: Na, na!) Deswegen lade ich Sie dazu ein, den Antrag der Lin- Wirkliche Neuerungen zum Nutzen der Patienten sind ken zu unterstützen und mitzuhelfen, dass die Bedürf- (B) viel seltener, als die Lobbyisten uns glauben machen nisse der Patientinnen und Patienten endlich über die In- (D) wollen. teressen der Aktionäre gestellt werden. (Jens Spahn [CDU/CSU]: Aber es gibt welche, Herzlichen Dank. oder?) (Beifall bei der LINKEN) – Es gibt welche; aber sie sind deutlich seltener, als im- mer behauptet wird. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Wenn sich, wie die FDP sagt, Leistung wieder lohnen Das Wort hat jetzt der Parlamentarische Staatssekretär soll, dann müssen die Medikamentenpreise konsequent Daniel Bahr. am Nutzen für die Kranken festgemacht werden. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten (Jens Spahn [CDU/CSU]: Machen wir doch! – der CDU/CSU) Ulrike Flach [FDP]: Machen wir doch!) Dafür sollten wir uns gemeinsam einsetzen. Daniel Bahr, Parl. Staatssekretär beim Bundesminis- ter für Gesundheit: (Ulrike Flach [FDP]: Lesen Sie, was wir vor- Herr Präsident! Meine Damen und Herren Abgeord- schlagen!) neten! Der Kollege Lauterbach hat den Eindruck er- Die Linke fordert außerdem ein verbindliches öffentli- weckt, als ob die steigenden Arzneimittelausgaben allein ches Register für Arzneimittelstudien. nach dem Herbst 2009 entstanden seien. Jetzt wollen wir uns einmal kurz daran erinnern, welche Situation die (Jens Spahn [CDU/CSU]: Gibt es doch neue Bundesregierung, die neue Koalition im Herbst schon!) 2009 vorgefunden hat: Die Ausgaben für Arzneimittel liegen mittlerweile deutlich über den Ausgaben für die Damit hätten wir ein Instrument, um Manipulationen in ambulante Versorgung. Das ist in den letzten Jahren der der Bewertung neuer Therapien entgegenzuwirken. Verantwortung der SPD für das Gesundheitsministerium Vor weniger als einem Jahr hat ein gewisser entstanden. Dr. Philipp Rösler, damals niedersächsischer Wirt- (Beifall bei der FDP) schaftsminister, einen Beschluss unterzeichnet, in dem die Kosten-Nutzen-Bewertung von Arzneimitteln sehr Im Herbst 2009 betrug das Defizit in der gesetzlichen kritisch gesehen und gefordert wird, die Interessen der Krankenversicherung 8 Milliarden Euro, und auch für pharmazeutischen Industrie nicht zu beschädigen. Erle- 2011 wird ein Milliardendefizit erwartet, das allerdings 3534 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010

Parl. Staatssekretär Daniel Bahr (A) noch nicht beziffert werden kann. Auch dieses Defizit ist Ziel, das wir mit dem Arzneimittelpaket verfolgen, das (C) in der Verantwortung der SPD für die Gesundheitspolitik wir vorgelegt haben. entstanden. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Wenn hier der Eindruck erweckt wird, die neue Bun- desregierung sei angesichts dieser Milliardenlasten untä- Es sind natürlich einige Vorschläge dabei, die zum tig geblieben, sollte nicht in Vergessenheit geraten, dass Teil auch in Ihren Anträgen stehen, auch wenn Sie, Herr der Steuerzahler eine Kraftanstrengung unternehmen Kollege Lauterbach, dazu anscheinend nicht reden, son- musste, damit das Defizit von 8 Milliarden Euro auf un- dern lieber mit anderen Debatten ablenken wollen. Ge- ter 4 Milliarden Euro gedrückt werden konnte, auch um meinhin denkt man ja, dass man, wenn man als Regie- einen besonderen Beitrag für den Arbeitsmarkt, für die rung Vorschläge der Opposition aufgreift, Applaus dafür Sicherung von Arbeitsplätzen in Deutschland zu leisten. bekommt, aber wahrscheinlich haben Sie lieber ver- Das gerät bei der SPD immer ein bisschen in Vergessen- schwiegen, dass der eine oder andere Vorschlag von Ih- heit. Dabei ist das ein großer Beitrag, der hier zur Stabi- nen durchaus auch aufgegriffen wurde. lität auch der Finanzierung im Gesundheitswesen geleis- tet wird. (Kathrin Vogler [DIE LINKE]: Ich habe es doch gesagt!) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Schauen Sie sich einmal den kurzfristigen Bereich an. Es kommt etwas Zweites hinzu. Die Koalition hat von Mit dem erhöhten Herstellerrabatt auf 16 Prozent tragen Anfang an keinen Hehl daraus gemacht, dass wir im Ge- wir dazu bei, dass das Niveau der Arzneimittelpreise sundheitswesen natürlich auch zu Einsparungen kom- dem Niveau in der Schweiz entspricht und damit kurz- men und alle Beteiligten im Gesundheitswesen einen fristig auch Einsparungen für die Beitragszahler entste- Beitrag dazu leisten müssen. Lieber Herr Kollege hen. Lauterbach und Frau Kollegin Bender, die gleich noch das Wort ergreifen darf, was uns von vergangenen Re- Aber in einem wesentlichen Punkt unterscheiden wir gierungen aber unterscheidet, ist, dass wir nach der Bun- uns: Die christlich-liberale Koalition will erreichen, dass destagswahl zu Beginn der Legislaturperiode eben nicht es für Innovationen und neue Medikamente weiterhin ei- als Erstes ein kurzfristiges Kostendämpfungsgesetz ma- nen offenen Zugang zur Versorgung gibt. Wir wollen chen, keine vierte Hürde, das heißt, wir wollen verhindern, dass Arzneimittel, die neu zugelassen und wirksam sind, (Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: erst einen aufwendigen Prozess durchlaufen müssen, bis Nein, ihr braucht dafür noch länger!) sie in die Anwendung beim Patienten kommen. Wir wol- (B) durch das kurzfristig irgendwo Geld eingespart wird und len, dass der offene Zugang für Innovationen erhalten (D) kurzfristig zusätzliche Instrumente eingeführt werden. bleibt. Das sehen wir in unseren Vorschlägen auch wei- terhin vor. Stattdessen sorgen wir für einen Dreiklang bei diesem Arzneimittelpaket: Ja, wir brauchen kurzfristig wirk- Dieser offene Zugang für neue Medikamente und für same Maßnahmen, aber wir brauchen sie nicht alleine, Innovationen darf aber kein Freifahrtsschein für die ein- sondern wir brauchen auch strukturelle Maßnahmen, die seitige Preisbildung der Pharmaunternehmen sein, son- uns helfen, die Arzneimittelausgaben zu begrenzen, und dern wir wollen, dass die Pharmaunternehmen quasi in wir brauchen auch deregulierende Maßnahmen. einer Bewährungszeit nachweisen sollen und müssen, dass dieses neue Medikament einen wirklichen Fort- Wir haben mittlerweile einen Instrumentenkasten von schritt darstellt und dass deswegen auch ein höherer über 20 Instrumenten, mit denen der Arzneimittelmarkt Preis gerechtfertigt ist. Deswegen schaffen wir mit unse- reguliert werden soll, und wir stellen doch gemeinsam rem Weg der fairen Verhandlungen zwischen den Kran- fest, dass es uns nicht gelingt, die Arzneimittelausgaben kenkassen und den Arzneimittelherstellern eine faire so zu begrenzen, dass wir auf ein vergleichbares Niveau Preisbildung, bei der berücksichtigt wird, dass wirkliche wie in anderen Ländern in Europa kommen. Mittlerweile Innovationen auch einen entsprechenden Preis verdie- haben wir im Arzneimittelbereich Instrumente, die sich nen, und gleichzeitig bringen wir die Interessen der Bei- widersprechen und bei denen auch keiner mehr durch- tragszahler und die Interessen der pharmazeutischen In- blickt. Dadurch wird die Versorgung vor Ort ganz klar dustrie in Einklang. belastet. Der Arzt weiß gar nicht mehr, was er verordnen soll, weil er Angst hat, in Regress genommen zu werden. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Der Patient blickt bei diesen vielen Instrumenten gar nicht mehr durch und hat die Sorge, dass er das Medika- Deswegen ist es unser Ziel, mit den Eckpunkten im ment, das ihm hilft, gar nicht mehr bekommt. Arzneimittelpaket dafür zu sorgen, dass den Menschen im Krankheitsfall die besten und wirksamsten Arznei- Deswegen wollen wir mit diesem Paket dazu beitra- mittel zur Verfügung stehen, dass die Preise und die Ver- gen, dass wir erstens kurzfristig zu Einsparungen für die ordnung von Arzneimitteln wirtschaftlich und kostenef- Beitragszahler kommen, dass wir zweitens Strukturelles fizient sind und dass verlässliche Rahmenbedingungen auf den Weg bringen, um zu einer fairen Preisbildung zu für Innovationen, für die Versorgung der Versicherten kommen, und dass wir drittens am Ende mit weniger In- und für die Sicherung von Arbeitsplätzen entstehen. strumenten auskommen, die aber natürlich wirksamer als die bisherigen Instrumente sein müssen. Das ist das (Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Jawohl!) Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010 3535

Parl. Staatssekretär Daniel Bahr (A) Darüber hinaus wollen wir dafür sorgen, dass die Wahl- Daniel Bahr, Parl. Staatssekretär beim Bundesminis- (C) freiheit des Patienten gewährleistet ist. ter für Gesundheit: Meine Redezeit ist abgelaufen, aber wenn der Präsi- Sie sagen: Wenn es jetzt zu Rabattverhandlungen zwi- dent mir das gestattet, gerne. schen Arzneimittelherstellern und Krankenkassen käme, dann würden die Arzneimittelhersteller Mondpreise bzw. überhöhte Preise verlangen und sich das dann ab- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: handeln lassen. – Herr Lauterbach ist immer wieder mit Der Kollege Lauterbach hatte auch anderthalb Minu- dem Beispiel des Teppichhändlers durch die Medien ge- ten mehr. laufen. Ich hatte eigentlich erwartet, dass Sie dieses aus- (Heinz Lanfermann [FDP]: Wir dachten, es wendig gelernte Beispiel heute wieder vortragen, aber seien fünf!) wahrscheinlich reichte die Zeit nicht mehr. Ich wundere mich nun, weil die SPD diese Verhandlungen im Rah- Daniel Bahr, Parl. Staatssekretär beim Bundesminis- men der Rabattverträge bei Generika einmal selbst mit ter für Gesundheit: eingeführt hat. Dabei haben wir festgestellt, dass Ver- Anderthalb Minuten? Ich bin gerade bei 20 Sekunden. handlungen zwischen Krankenkassen und Arzneimittel- herstellern zu Einsparungen für die Beitragszahler füh- ren. Weil es aber nicht nur einseitig um Preisdrücken Dr. Karl Lauterbach (SPD): geht, wollen wir auch dafür sorgen, dass es einen fairen Herr Bahr, sehen Sie nicht die Gefahr, wenn diese Re- Rahmen für Arzneimittelhersteller und Krankenkassen gelung eingeführt wird und der Patient oder der Kunde, gibt. Der beste Rahmen, der faire Bedingungen für Ver- wie Sie ihn sehen, das Medikament wechseln kann, handlungen gewährleistet, ist das Wettbewerbs- und wenn er die Differenz zu dem im Rabattvertrag vorgese- Kartellrecht. Das wollen wir auch im Arzneimittelbe- henen Mittel zahlt, dass dann der Apotheker und der reich bei den Verhandlungen zwischen Krankenkassen Arzt plötzlich einen Anreiz haben, das teuere Medi- und Arzneimittelherstellern vorrangig anwenden, weil kament anzubieten? Der Patient oder Kunde kann wir faire Bedingungen für Krankenkassen und Arznei- überhaupt nicht bewerten – machen wir uns doch nichts mittelhersteller wollen. vor –, welcher Hersteller beispielsweise den Wirkstoff Diazepam am besten herstellt. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Plötzlich ist der Patient, der ältere Mensch, der auf der CDU/CSU) diese Mittel angewiesen ist, der Kunde. Wir haben mit der Union gemeinsam die Naturalrabatte dichtgemacht, (B) Aber wir wollen auch Wahlfreiheit für die Versicher- (D) ten gewährleisten. Sie haben die Rabattverträge ange- weil wir diese Gefahr einer halblegalen Rückfinanzie- rung, um es einmal so zu sagen, von Mitteln bei Apothe- sprochen. Ich habe in der Praxis, zum Beispiel in der kern und Ärzten vermeiden wollten. Wir wollten als eine Apotheke oder in vielen Gesprächen, erlebt, dass das Art Verbraucherschutz vermeiden, dass der gleiche Verständnis und die Akzeptanz der Bürgerinnen und Wirkstoff teurer verkauft wird, nur weil der Patient nicht Bürger groß sind. Sie finden es gut, wenn die Preisver- in der Lage ist, zu erkennen, dass es der gleiche Wirk- antwortung nicht länger beim verordnenden Arzt, son- stoff ist und in der Regel keinen Unterschied macht. Da- dern bei den Krankenkassen und Arzneimittelherstellern mit öffnen wir die Tür für eine Art der Abzocke, die liegt und wenn Krankenkassen in Verhandlungen mit auch ein unethisches Geschäft ist. Arzneimittelherstellern günstigere Preise heraushandeln, wovon sie als Beitragszahler profitieren. Wenn ein Pa- tient bereit ist, die Differenz für ein teureres Arzneimit- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: tel zu zahlen, weil ihm dieses Mittel lieber ist – aus wel- Bitte. chen Gründen auch immer; es können ganz individuelle Gründe sein, etwa weil man es angenehmer findet oder Daniel Bahr, Parl. Staatssekretär beim Bundesminis- besser verträgt –, dann wollen wir ihm die Möglichkeit ter für Gesundheit: bieten, mit einer Aufzahlung dieses Medikament zu be- Herr Kollege Lauterbach, das ist der Unterschied in kommen statt jenes, das die Krankenkasse mit dem Her- dem Gesellschaftsbild, das wir beide haben, der uns steller in einem Rabattvertrag ausgehandelt hat. Das trennt. Wir gehen vom mündigen Patienten aus, trägt dazu bei, dass die Akzeptanz bei Einsparungen im (Beifall bei der FDP) Arzneimittelbereich auch bei den Patienten und Bei- tragszahlern erhöht wird. Deswegen wollen wir eine der auch im Gesundheitswesen für sich entscheiden Mehrkostenregelung einführen. kann, was er haben möchte. (Beifall bei Abgeordneten der FDP und der Der Anreiz besteht übrigens auch für den Patienten CDU/CSU) wie für den Apotheker und den Arzt. Wenn eine Kran- kenkasse mit einem Arzneimittelhersteller einen Vertrag geschlossen hat, dann ist es für den Patienten möglich, Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: dieses Medikament ohne Zuzahlung zu bekommen. Er Herr Kollege Bahr, erlauben Sie noch eine Zwischen- profitiert davon, dass die Krankenkasse mit dem Arznei- frage des Kollegen Lauterbach? mittelhersteller günstigere Preise ausgehandelt hat. 3536 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010

Parl. Staatssekretär Daniel Bahr (A) Nur dann, wenn der Patient ein anderes Medikament Es kann aber auch bedeuten – so etwas muss die Opposi- (C) haben möchte – aus welchen individuellen Gründen tion immer im Auge haben –, dass er glaubt, dass den auch immer er es für sich besser findet; wir können nicht starken Worten des Ministers im Gesetz vor allem heiße immer beurteilen, was besser ist; vielleicht empfindet Luft folgen wird. Genau dies befürchten wir. der Patient es für sich als besser und ist bereit, diese Dif- Was ist denn die Aufgabe, meine Damen und Herren? ferenz zu tragen –, soll er nach der Mehrkostenregelung Gesundheitspolitik muss Rahmenbedingungen setzen, auch die Freiheit haben, das Medikament zu wählen, das die tatsächlich dazu führen, dass es Innovationen im Ge- er will. sundheitswesen und insbesondere auf dem Arzneimittel- Das ist der Unterschied zwischen Ihrer und unserer markt gibt, nicht aber Mondpreise, die nur dem Solidar- Herangehensweise: Wir wollen den Patienten nicht in system schaden und den Menschen nichts nützen. Hier eine Standardversorgung pressen, die ihm vorgegeben gibt es bei Ihren Eckpunkten einfach weiße Stellen. wird, sondern wir wollen dem Patienten die Möglichkeit Ich nenne Ihnen einige Beispiele. Erstens. Bei Ihnen geben, selbst zu entscheiden, welche Versorgung er wäh- setzen die Arzneimittelhersteller im ersten Jahr weiter- len möchte. hin völlig frei die Preise fest. Danach soll verhandelt (Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Der werden. Nur, was wird denn ein Hersteller tun, der sei- mündige Patient!) nen Aktionären verpflichtet ist? Er wird doch nach wie vor versuchen, im ersten Jahr möglichst viel Gewinn in Das ist ein unterschiedliches Gesellschaftsbild. Wir dem Vertrauen darauf hereinzuscheffeln, dass ihm dies lassen uns davon prägen, dass der Patient und Bürger schon bleiben wird. mündig genug ist und selbst die Entscheidung treffen (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Aber keine kann, weil er sich informieren und beraten lassen und zehn und zwanzig Jahre mehr!) das, was er für seine Gesundheit braucht, selbst viel bes- ser beurteilen kann. Dagegen, meine Damen und Herren, braucht man ein Mittel, und zwar eines, das die Grünen gar nicht erfun- Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. den haben, weil es dieses Mittel in den Nachbarländern (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) schon gibt: einen Regress. Wenn sich also bei der voll- ständigen Kosten-Nutzen-Bewertung herausstellt, dass der Preis im Verhältnis zum Mehrnutzen überteuert ist, Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: dann muss der Hersteller regresspflichtig sein. Nur so Das Wort hat jetzt die Kollegin Birgitt Bender von verhindert man, dass im ersten Jahr nach wie vor Mond- Bündnis 90/Die Grünen. preise genommen werden. (B) (D) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Birgitt Bender (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn man Außerdem muss die Bewertung des Nutzens bereits die Worte des Staatssekretärs hört und an die Überschrif- parallel zum Zulassungsverfahren durchgeführt werden. ten denkt, die der Minister produziert hat, dann könnte Es nützt nichts, wenn man erst danach damit anfängt; man meinen, der Gesundheitsminister der FDP habe sich denn nur so wird sich auch das Studiendesign in dem vom Beschützer der Pharmaindustrie zum Rambo ge- Sinne ändern, dass man in der Phase III nicht nur gegen wandelt, der das Preismonopol der Pharmaindustrie Placebos, sondern auch gegen die Standardtherapie bricht. Wenn man die Aufschreie der Frau Yzer vom prüft. Verband der Forschenden Arzneimittelhersteller hört, (Jens Spahn [CDU/CSU]: Das passiert doch, die sogleich den Untergang des pharmaunternehmeri- machen wir doch!) schen Abendlandes beschwört, dann könnte man fast ge- neigt sein, dem Minister auf die Schulter zu klopfen und Nur damit wird man herausbekommen, was tatsächlich ihm zu sagen: Das machst du schon richtig. der Mehrnutzen ist. (Jens Spahn [CDU/CSU]: Ja, mach doch mal! – Zweitens. Nach Ihren Eckpunkten sollen die Herstel- Heiterkeit bei der CDU/CSU) ler jetzt ein Dossier vorlegen. Das ist zwar schön, aber da besteht die Gefahr, dass dies mehr oder weniger Ver- Aber wir halten einmal Folgendes fest: Um die Phar- kaufsbroschüren werden. Ich brauche doch Qualität und maindustrie muss man sich keine Sorgen machen. Die echten Nutzen nicht nur für Medikamente, sondern auch Renditen in diesem Bereich sind hoch genug. Wenn der für die Unterlagen, die die Unternehmer vorlegen müs- Chef von Boehringer Ingelheim via Interview in der FA Z sen. Dafür brauche ich ein verpflichtendes Studienregis- sagt, die Pläne des Ministers seien absolut unterstützens- ter. wert, dann kann dies zweierlei bedeuten: Entweder hat ein Pharmachef begriffen, dass es darauf ankommt, lang- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) fristig zu denken und die Forschung tatsächlich auf echte Wir müssen wissen, welche Studien sie überhaupt ma- Innovationen auszurichten. chen. Außerdem brauchen wir zum Design der vorzu- (Ulrike Flach [FDP]: Ja, soll es doch geben!) legenden Studie verpflichtende Absprachen mit dem Gemeinsamen Bundesausschuss bzw. dem IQWiG. Das – Das wäre die gute Nachricht, Frau Flach. kann nicht ins Belieben der Hersteller gestellt sein. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010 3537

Birgitt Bender (A) Drittens. Sie wollen auch in Zukunft nicht verhindern, (Ulrike Flach [FDP]: So ein Quatsch! Das darf (C) dass es noch nutzlose oder im Vergleich zur Standardthe- doch nicht wahr sein!) rapie sogar schädlichere Arzneimittel geben kann, die Dann gibt es Arzneimittel erster und zweiter Klasse, und verordnungsfähig sind. Dagegen hilft nur eine Positiv- die Patienten können Geld mitbringen. Dann aber nutzt liste. Wir brauchen ein solches Instrument für Qualität dem Hersteller sein Rabattangebot nichts mehr, weil er und Transparenz. Dies nützt den Patientinnen und Pa- die Grundlage dessen, nämlich den breiten Marktzu- tienten; davor dürfen Sie sich nicht drücken. gang, nicht mehr realisieren kann. Weiterhin müssen Pa- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) tienten, die ein bestimmtes Arzneimittel wollen, Geld mitbringen. Das ist Zweiklassenmedizin. Das setzt die Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Rabattverträge de facto außer Kraft. Dazu müssen Sie stehen, und dann werden wir darüber streiten. Frau Kollegin Bender, erlauben Sie eine Zwischen- frage des Kollegen Dr. Lotter von der FDP-Fraktion? Aber wenn Sie in Sachen Rabattverträgen etwas tun wollen, dann können Sie das tun. Da gibt es durchaus Birgitt Bender (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Handlungsbedarf. Ich meine diejenigen Rabattverträge, die von Originalherstellern über die Dauer der Patent- Bitte. laufzeit hinaus geschlossen werden, um den Wettbewerb durch Generikahersteller zu verhindern. Da ist Hand- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: lungsbedarf, und dafür würden Sie unsere Unterstützung Herr Lotter. haben. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Dr. Erwin Lotter (FDP): und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten Verehrte Frau Kollegin Bender, sind Sie bereit, zur der SPD) Kenntnis zu nehmen, dass es für die Erstellung eines Dossiers durchaus sehr bewährte Verfahren gibt – etwa Ich sage: Zu Risiken und Nebenwirkungen Ihrer Vor- das sogenannte schottische Verfahren –, die eigentlich schläge schauen Sie in die Nachbarländer oder fragen sehr treffsicher sind – sie haben eine Treffsicherheit von Sie uns, die Opposition. Wir haben gute Vorschläge. über 70 Prozent, was die Innovation angeht –, und dass (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN dies eigentlich ein Werkzeug ist, das sehr verlässlich und sowie bei Abgeordneten der SPD – Heinz sehr gut anzuwenden ist? Lanfermann [FDP]: Es gibt Leute, die wollen keine grünen Pillen schlucken!) (B) Birgitt Bender (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (D) Darauf, dass Sie, Herr Kollege, das schottische Ver- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: fahren anwenden wollen, werden wir zurückkommen; Das Wort hat jetzt der Kollege Stephan Stracke von denn bei der schottischen Entsprechung zum NICE ist es der CDU/CSU-Fraktion. so, dass das Arzneimittel erst dann zulasten des Gesund- heitsdienstes verordnungsfähig ist, wenn tatsächlich die (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Kosten-Nutzen-Bewertung abgeschlossen ist. Wenn Sie das britische System wollen, dann werden Sie unsere Stephan Stracke (CDU/CSU): Unterstützung finden, allerdings nur dann, wenn Innova- Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und tionen tatsächlich für alle gleich zugänglich bleiben. Ich Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn ich die glaube, da haben wir in Deutschland einen Vorteil, den Diskussionsbeiträge der Opposition zu den Fragestellun- wir nicht abschaffen wollen. gen höre, dann ist Gesundheitspolitik bei der christlich- liberalen Koalition am besten aufgehoben. Dafür brau- (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Eben!) chen wir Sie und Ihre Ratschläge nur bedingt. Wir wollen eine vorläufige Nutzenbewertung, die zur (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Verordnungsfähigkeit führt, aber eben auch eine endgül- tige Kosten-Nutzen-Bewertung mit der Möglichkeit des Die Gesundheitspolitik ist eine der wichtigsten gesell- Regresses, wenn der bis dahin vom Hersteller festge- schafts- und sozialpolitischen Herausforderungen der legte Preis überteuert war. Zukunft. Ist gerade in der ersten Hälfte des Lebens die Bildungspolitik von herausragender Bedeutung, so ist es (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) sicherlich die Gesundheitspolitik für die zweite Lebens- hälfte. Gerade in einer Situation, in der ein Versicherter Jetzt sage ich noch etwas zu den Rabattverträgen. zum Patienten wird, also in einer Lebenskrise – das sind Was wir eben vom Staatssekretär gehört haben, hört sich häufig extreme Krankheitsfälle –, will jeder von uns die so wunderschön patientenverträglich an. Gewissheit haben, dass ihm geholfen wird, dass alles ge- (Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Ist es tan wird, damit er eine Perspektive auf Heilung hat oder auch!) zumindest seine Lebenssituation verbessert wird. Dabei spielt die Arzneimittelversorgung eine nicht unerhebli- Man kann Geld mitbringen, und dann bekommt man ein che Rolle. Ich möchte, dass auch in Zukunft jeder von Arzneimittel, das nicht rabattiert ist. Sagen Sie doch uns Zugang zu den besten und wirksamsten Arzneimit- gleich, dass Sie die Rabattverträge abschaffen wollen. teln hat. Notwendige Voraussetzung hierfür sind leis- 3538 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010

Stephan Stracke (A) tungsstarke Unternehmen, die in Forschung und Ent- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (C) wicklung investieren; denn exzellente Arzneien setzen Das Wort hat die Kollegin Bärbel Bas von der SPD- exzellente Forschung voraus, und da ist Deutschland Fraktion. Weltspitze. (Beifall bei der SPD – Jens Spahn [CDU/CSU]: (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vielleicht sagt sie ja was zum Antrag!) Ich will, dass wir hier Weltspitze bleiben. Ich will, dass Forschung und Entwicklung hier stattfinden, und ich Bärbel Bas (SPD): will, dass es sich hier in Deutschland auch für Phar- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe maunternehmen lohnt, zu investieren. Kolleginnen und Kollegen! Herr Bahr hat vorhin so schön geschildert, in welcher Lage er die Kassen vorge- Wer neue, gute Ideen und Produkte auf den Markt funden hat. Man kann durchaus sagen, dass die gesetzli- bringt, soll auch einen größeren Gewinn als derjenige che Krankenversicherung in diesem Jahr in eine schwie- machen können, der althergebrachte Produkte anbietet. rige Lage kommt. Maßgeblich verantwortlich dafür sind Das Bessere soll sich durchsetzen. Das ist der Kernpunkt die seit Jahren steigenden Arzneimittelausgaben. Diese unserer Arzneimittelpolitik, der Politik der christlich- Erkenntnis ist wahrlich nicht neu. Das war auch der liberalen Koalition. Wir wollen gute Leistung belohnen Stand der Dinge im letzten Jahr. Nicht umsonst haben und nicht schlechte. Gutes Geld für gute Leistung. So der Schätzerkreis und die Krankenkassen davor gewarnt einfach ist das. Wir wollen bei neuen Medikamenten in und Alarm geschlagen. Zukunft nur noch dann mehr bezahlen, wenn ein echter, tatsächlich bewiesener Zusatznutzen vorliegt, nicht al- Schauen wir uns das Ganze einmal an: Allein im Fe- lerdings für einen bloß scheinbaren, behaupteten. bruar sind die Arzneimittelausgaben im Vergleich zum Vorjahr um 5,5 Prozent gestiegen. Sie haben vorhin von Genau diesen Weg beschreiten wir mit der Umset- Ihren Taten gesprochen. Was hat die Bundesregierung zung der Eckpunkte, die die christlich-liberale Koalition denn getan, seit sie diesen Zustand im letzten Jahr vorge- vorgelegt hat. Entscheidend hierbei ist für mich, dass wir funden hat? die Balance zwischen Innovation auf der einen Seite, Frau Bender, und Bezahlbarkeit auf der anderen wahren. (Jens Spahn [CDU/CSU]: Was haben Sie denn Dazu sind die Dinge, die Sie ansprechen, etwa die Posi- elf Jahre lang getan?) tivliste, sicherlich nicht geeignet; sie gehören in die Mot- tenkiste der Staatsmedizin. Sie haben keine sinnvollen – Ich komme jetzt auf Ihre Taten zu sprechen. – Sie wa- Ansätze und schaden insbesondere dem Vertrauensver- ren erst einmal vollauf damit beschäftigt, Steuerge- hältnis zwischen Arzt und Patient. Entscheiden sollte schenke an Hoteliers zu verteilen; das war die erste Auf- (B) nicht der Staat, sondern allein der Arzt im Zusammen- gabe, die Sie erledigt haben. (D) wirken mit den Patienten. (Christian Lange [Backnang] [SPD]: So ist (Beifall bei der CDU/CSU) es! – Stephan Stracke [CDU/CSU]: So ein Blödsinn!) Wir müssen die Kostendynamik im Blick behalten. Nur dadurch schaffen wir es, dass sämtliche Patientin- Außerdem haben Sie monatelang über die Kopfpau- nen und Patienten einen schnellen Zugang zu unseren schale gestritten, anstatt diejenigen Defizite zu beseiti- fortschrittlichen Medikamenten haben. gen, die Sie angeblich vorgefunden haben. Ich will nicht verschweigen: Natürlich brauchen wir Was hat das Bundesministerium für Gesundheit im auch kurzfristige Entlastungsmaßnahmen. Dazu dient letzten Jahr getan? Man hat mit dem Institutsleiter des beispielsweise, den Abschlag für Arzneimittel ohne IQWiG erst einmal eine pharmakritische Stimme aus Festbetrag von derzeit 6 Prozent auf 16 Prozent zu erhö- dem Weg geräumt. hen. Das kann allerdings gerade bei generikafähigen (Beifall bei der SPD) Arzneimitteln ohne Festbetrag dazu führen, dass es hier zu einer Kumulation von Abschlägen auf 26 Prozent Das war eine der Taten, die Sie im letzten Jahr begangen kommt. Das ist sicherlich eine unangemessen hohe Be- haben; daran sollte man einmal erinnern. Anschließend lastung. Da werden wir mit den entsprechenden Rege- sind Sie zu den Arzneimittelherstellern gegangen und lungen abhelfen. Damit tragen wir auch dem Umstand haben sich Tipps geholt, wie man die Ausgaben für Arz- Rechnung, dass die Preise im generikafähigen Markt im neimittel senkt. Das finde ich auch sehr interessant. Gegensatz zu den Preisen im patentgeschützten gesun- ken sind. (Jens Spahn [CDU/CSU]: Können wir mal was zu Ihrem Antrag hören?) Dies zeigt: Mit unseren Eckpunkten haben wir eine ausgewogene Lösung gefunden, die den Interessen der Da machen Sie den Bock zum Gärtner. Patienten genauso gerecht wird wie denen der Industrie. Dabei ist der Minister tatsächlich als – das muss man Diese Eckpunkte werden wir zügig umsetzen. Ich lade ihm zugestehen – bissiger Tiger abgesprungen. Ich will alle konstruktiven Kräfte ein, uns in diesem Prozess zu an folgenden Satz von ihm erinnern – er hat mich schwer begleiten. beeindruckt –: „Wir wollen das Preismonopol der Phar- Herzlichen Dank. maindustrie brechen.“ Das Einzige, was Sie brechen, sind Ihre Wahlversprechen; das muss man einmal deut- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) lich sagen. Landen werden Sie mit Ihren derzeitigen Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010 3539

Bärbel Bas (A) Vorschlägen allenfalls als zahnloser Bettvorleger der Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: Zur Sache! – (C) Pharmaindustrie. Von Ihren Vorschlägen wird nichts üb- Jens Spahn [CDU/CSU]: Da wird über Lan- rig bleiben. despolitik abgestimmt!) (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Ulrike Die SPD steht und kämpft auch in der Zukunft für die Flach [FDP]: Wir haben gedacht, Sie würden gesetzliche Krankenversicherung, weil sie uns nicht egal uns einmal erzählen, was die SPD will!) ist. Uns ist auch nicht egal, dass die Ausgaben aus dem Ruder laufen Sie präsentieren uns immer wieder das gleiche Schau- spiel: Sie kündigen große Reformen an, und anschlie- (Ulrike Flach [FDP]: Das ist doch mal was ßend werden sie von Ihrem Koalitionspartner infrage ge- Neues!) stellt. Grundsätzlich könnte man sich an diesem oder dass weitere Krankenkassen Zusatzbeiträge erhe- Schauspiel ergötzen, wenn man nicht wertvolle Zeit da- ben müssen. Wir wollen, dass die gesetzliche Kranken- mit verschwenden würde. versicherung auch in Zukunft ihren Versicherten wirk- (Christine Aschenberg-Dugnus [FDP]: Wir haben same und innovative Medikamente bezahlen kann. elf Jahre verschwendet mit Ihnen!) Deshalb müssen die Qualität und die Wirtschaftlichkeit der Arzneimittelversorgung verbessert werden. Schlimmer noch: Sie haben der gesetzlichen Kranken- versicherung für das erste Halbjahr 2010 finanziellen Greifen Sie deshalb unsere Vorschläge für eine effek- Schaden zugefügt. Sie hätten Ihre Vorschläge schon zum tive Arzneimittelversorgung auf. Ende des Jahres 2009 umsetzen können. (Jens Spahn [CDU/CSU]: Welche denn? – Ulrike (Ulrike Flach [FDP]: Warum haben Sie denn Flach [FDP]: Welche sind das denn?) nichts gemacht?) Das ist zum einen die Positivliste, das sind zum anderen Sechs Monate später kommen Sie dann mit der Erhö- europäische Durchschnittspreise, und das ist die Teilung hung des Herstellerrabatts – zugegebenermaßen ein gu- des finanziellen Risikos zwischen Krankenkassen und ter kurzfristiger Vorschlag – und einem Preismorato- Pharmaindustrie bei innovativen Krebstherapien. Und rium. Das hätten Sie schon früher haben können. Sie zur Zulassung von neuen Arzneimitteln gehört eine Kos- brauchten aber sechs Monate, um sich das auszudenken. ten-Nutzen-Bewertung. Das ist wichtig, und nur damit werden Sie das Preismonopol tatsächlich brechen. (Lars Lindemann [FDP]: Nein, weil wir da nicht stehenbleiben wollen! Wir machen ja Danke schön. noch mehr! – Zuruf von der CDU/CSU: Die (Beifall bei der SPD – Jens Spahn [CDU/ (B) Einarbeitungsphase!) (D) CSU]: Stückwerk, alles Stückwerk! – Weitere Sie haben damit der gesetzlichen Krankenversicherung Zurufe von der CDU/CSU) einen finanziellen Schaden zugefügt, und der geht auf Ihre Rechnung, den können Sie uns nicht anlasten. Vizepräsidentin : (Zuruf von der CDU/CSU: Tun wir auch Das Wort hat der Kollege Michael Hennrich für die nicht!) Unionsfraktion. Jetzt sage ich eins: Das passt Ihrer Koalition auch gut (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- in den Kram; denn hinter diesem Zaudern und Zögern neten der FDP) steckt eiskaltes Kalkül – wenn Sie mich fragen. Sie wol- len das Problem der gesetzlichen Krankenversicherung Michael Hennrich (CDU/CSU): eskalieren. Sie wollen, dass das umlagefinanzierte Sys- Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und tem an die Wand fährt, Herren! Weshalb haben wir heute eine Debatte über das (Zuruf von der CDU/CSU: Was? Ach nee! Das Thema Arzneimittelversorgung? Hintergrund: Die ist unmöglich!) Union hat gemeinsam mit der FDP im März 2010 ein Eckpunktepapier zur Arzneimittelversorgung vorgelegt, um Ihre fixe Idee einer Kopfpauschale umsetzen zu kön- das bei den Versicherten, bei der Presse und bei den nen. Krankenversicherungen begeisterten Widerhall gefun- (Jens Spahn [CDU/CSU]: Kamelle, Kamelle!) den hat. Diese wollen Sie dann als Wundermittel für die gesetzli- (Lachen des Abg. Dr. Karl Lauterbach [SPD]) che Krankenversicherung aus dem Hut zaubern. Frau Nahles kritisiert das Papier als Mogelpackung, So blind werden die Menschen nicht sein; sie werden taucht in die Versenkung ab und lässt ihre Arbeitsgruppe auf diese Kopfpauschale nicht hereinfallen. Sie werden Gesundheitspolitik damit allein. Hier stellt sich jetzt die spätestens am 9. Mai 2010 in Nordrhein-Westfalen von Frage: Was machen wir mit dem Eckpunktepapier? Sie den Wählerinnen und Wählern die Quittung dafür be- schauen sich das scheinbar etwas genauer an, sehen, dass kommen. da gar nicht so viel enthalten ist, was Sie kritisieren könnten, übernehmen das in vielen Punkten, garnieren es (Ulrike Flach [FDP]: Ich glaube, erst einmal mit einer Positivliste und denken, irgendwie kämen Sie sind Sie dran mit der Quittung! – Hartwig damit durch. In der Debatte heute haben Sie mehr oder 3540 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010

Michael Hennrich (A) weniger überhaupt nichts Konkretes zu Ihrem Papier ge- chen Beitrag bei der Therapie und beim Behandlungser- (C) bracht. folg. Ich verstehe nicht, wenn immer wieder kritisiert wird, dass der Arzneimittelblock der zweitgrößte Block (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Heinz bei den Ausgaben im GKV-System ist. Vom Handaufle- Lanfermann [FDP]: Genau so war es!) gen alleine ist noch keiner gesund geworden. Wenn wir Es ist schon bezeichnend, dass die Partei der Linken so weit sind, können wir sicherlich auch die Preise sen- sagt, dass einiges aus unserem Papier zustimmungsfähig ken. Das sage ich auch ganz klar in Richtung der Ärzte. sei. Die Pakete und Maßnahmen, die wir auf den Weg brin- gen, sind im Einzelnen schon vorgestellt. Ich möchte da- (Jens Spahn [CDU/CSU]: Das müsste eher rauf gar nicht weiter eingehen. nachdenklich machen!) Ich möchte zum Schluss meiner Rede zwei Aspekte Sie konnten sich dazu nicht durchringen. ganz gezielt aufgreifen. Auch die Grünen haben mit unserem Papier Schwie- Bei dem ersten Aspekt geht es um Rabattverträge. Es rigkeiten gehabt. Sie hatten vier, fünf Wochen Zeit, sich hat immer geheißen, die Union sei für eine Abschaffung das Papier anzuschauen. Sie haben auch wenig gefun- der Rabattverträge. Das war überhaupt nicht der Fall. den, was Sie kritisieren können Wir haben gesagt: Wir wollen, dass die Substitutions- (Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- pflicht aufgehoben wird. NEN]: Aber Wichtiges!) (Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- – das sage ich auch ganz offen –, haben aber zumindest NEN]: Dann sind sie doch kaputt!) inhaltlich einige Punkte in Ihrem Papier, über die wir hier in der Debatte und bei den Anhörungen sicher spre- – Das stimmt doch überhaupt nicht. Sie haben doch die chen können. Möglichkeit, die Rabattverträge in Selektivverträge, in Versorgungsverträge und Ähnliches zu integrieren. Das Was ist der Hintergrund unseres Eckpunktepapieres? wäre durchaus möglich gewesen. Wir aber haben uns mit Wichtig ist uns als Union, dass wir eine qualitativ hoch- der FDP geeinigt, wertige Arzneimittelversorgung sicherstellen können, aber zu vernünftigen Preisen, und vor allem, dass wir (Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- auch verlässliche Rahmenbedingungen für Innovationen NEN]: Ach so!) und Arbeitsplätze schaffen. Deshalb haben wir zu einem dass wir die Rabattverträge weiterentwickeln. Was wir relativ frühen Zeitpunkt unser Papier vorgelegt. Das wollen, ist, die Souveränität und Eigenverantwortung werden wir auch konsequent umsetzen. (B) der Patienten zu stärken. Das ist ein ganz wesentliches (D) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Ziel. Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir stecken (Dr. Karl Lauterbach [SPD]: Ausnehmen! – in einer großen Wirtschafts- und Finanzkrise. Die Auf- Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- träge sind im Maschinenbau teilweise um 50 Prozent zu- NEN]: Ihr macht die Verträge kaputt!) rückgegangen. Wir haben eine hohe Zahl an Kurzarbei- – Darum brauchen Sie sich überhaupt keine Sorgen zu tern. Wir sind beim Abbau der Arbeitslosigkeit nicht so machen. weit vorangekommen, wie wir uns das erhofft haben. All das hat unmittelbare Auswirkungen auf das System der Ich möchte einen zweiten Aspekt anbringen. Wir soll- gesetzlichen Krankenversicherung. Deswegen dürfen ten das Thema Arzneimittelpreise und Arzneimittelkos- wir die Frage, wie wir die Finanzprobleme lösen, nicht ten nicht nur im Zusammenhang mit der gesetzlichen nur im Zusammenhang mit der Einnahmeseite debattie- Krankenversicherung prüfen. Es ist wichtig – das gebe ren, sondern wir müssen auch schauen: Was können wir ich an das Ministerium weiter –, zu prüfen, ob es mög- auf der Ausgabenseite tun? lich ist, im Bereich der privaten Krankenversicherung Einsparungen zu erreichen. Wir werden uns in den Es war und ist vollkommen richtig, zunächst einmal nächsten Tagen und Wochen damit beschäftigen, wie wir beim Thema Arzneimittel anzusetzen; denn die Arznei- das erreichen können. mittelindustrie ist im Gegensatz zu vielen anderen relativ gut durch die Krise gekommen. Schließlich liegen die Als Fazit bleibt am Ende übrig: Es gibt Kritik vonsei- Umsatzrenditen einiger Pharmaunternehmen bei weit ten der Pharmahersteller, und es gibt Kritik von Herrn über 20 Prozent. Daher ist es richtig, dass die Arzneimit- Lauterbach. Beides zeigt mir sehr deutlich, dass wir auf telindustrie ihren Solidarbeitrag leistet. dem richtigen Weg sind. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Herzlichen Dank. neten der FDP) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Ich will auch ganz klar sagen: Es geht hier nicht um Pharma-Bashing. Es geht nicht darum, dass wir die Arz- Vizepräsidentin Petra Pau: neimittelindustrie an den Pranger stellen und sagen wol- Ich schließe die Aussprache. len: Ihr seid an der schwierigen Situation im System der gesetzlichen Krankenversicherung hinsichtlich der Fi- Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf nanzierung schuld. Arzneimittel leisten einen wesentli- den Drucksachen 17/1201, 17/1206 und 17/1418 an die Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010 3541

Vizepräsidentin Petra Pau (A) in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge- wir diesen internationalen Ansatz schnellstmöglich in (C) schlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der deutsches Recht um. Bei dem Gesetzentwurf handelt es Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. sich um den letzten Schritt eines dreistufigen Maßnah- menpaketes der Bundesregierung. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 auf: Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- In einem ersten Schritt haben sich bereits im Dezem- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die ber 2009 acht große deutsche Banken und die drei größ- aufsichtsrechtlichen Anforderungen an die ten deutschen Versicherungsunternehmen freiwillig zur Vergütungssysteme von Instituten und Versi- Umsetzung dieses internationalen Standards verpflichtet. cherungsunternehmen In einem zweiten Schritt hat ebenfalls im Dezember 2009 die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsauf- – Drucksachen 17/1291, 17/1457 – sicht durch zwei aufsichtsrechtliche Rundschreiben Überweisungsvorschlag: nachgesteuert und den Instituten diese internationalen Finanzausschuss (f) Regelungen zur Auflage gemacht. Jetzt geben wir dem Rechtsausschuss Ganzen eine rechtssichere, gesetzgeberische Unterlage. Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Wir ändern durch das vorliegende Gesetz das Kreditwe- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die sengesetz und das Versicherungsaufsichtsgesetz. Banken Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre und Versicherungen werden nun angemessene, transpa- keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. rente und auf eine nachhaltige Entwicklung ausgerich- Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Parla- tete Vergütungssysteme vorweisen müssen. Die näheren mentarische Staatssekretär Hartmut Koschyk. Einzelheiten werden wir durch zwei Rechtsverordnun- gen zeitnah regeln. (Beifall bei der CDU/CSU) Durch dieses Gesetz schaffen wir jetzt die Möglich- keit, dass aufgrund der wirtschaftlichen Situation eines Hartmut Koschyk, Parl. Staatssekretär beim Bun- Finanzinstituts – sei es eine Bank, sei es ein Versiche- desminister der Finanzen: rungsunternehmen – unangemessen hohe Bonuszahlun- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! gen unterbunden werden können. Hierzu wird die Bun- Von Anfang an hat die Bundesregierung im Zuge der in- desanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht befähigt, im ternationalen Finanzmarktkrise darauf gedrungen, auf Falle der Unterschreitung von aufsichtsrechtlichen An- internationaler Ebene zu Vereinbarungen zu kommen, forderungen die Auszahlung variabler Vergütungsbe- mit denen auch die Vergütungssysteme für den Banken- standteile zu untersagen oder auf einen bestimmten An- (B) und Versicherungsbereich in Angriff genommen werden. (D) Die Bundesregierung hat auf solche Vereinbarungen ge- teil des Jahresergebnisses zu beschränken. drungen. Der Finanzstabilitätsrat hat auf internationaler Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen, Deutsch- Ebene Ergebnisse vorgelegt, die von den G 20, also den land gehört mit der heute vorgelegten Umsetzung inter- 20 führenden Wirtschaftsnationen dieser Welt, gebilligt nationaler Anforderungen zur führenden Ländergruppe. worden sind. Mit dem Gesetzentwurf, den wir dem Par- Dies hat eine Überprüfung durch den Finanzstabilitätsrat lament heute vorlegen, setzt die Bundesregierung diese ergeben, deren Ergebnisse kürzlich veröffentlicht wur- internationalen Vereinbarungen, auf die sie gedrängt hat, den. Aber ich sage sehr deutlich: Was wir heute als Ge- in Rekordzeit in innerdeutsches Recht um. setzentwurf vorlegen, ist nur ein Stein eines Mosaiks, zu (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) dem sehr viele Elemente gehören, die bereits in parla- mentarischer Arbeit sind. Auch die Bundesregierung ar- Darüber sind wir uns im Klaren: Mit der Regulierung beitet daran und wird dem Parlament in Kürze dazu wei- der Vergütungspraktiken im Finanzbereich muss eine we- tere Gesetzentwürfe vorlegen. Ich möchte an dieser sentliche Ursache der Finanzmarktkrise angegangen wer- Stelle erwähnen, dass im Parlament zurzeit über die den, nämlich die übermäßige Übernahme von Risiken Neuregelung der Aufsicht über die Ratingagenturen be- durch die Finanzmarktakteure selbst. Die gängigen Ver- raten wird. Die Bundesregierung arbeitet an einem Insol- gütungsstrukturen im Finanzsektor – darüber besteht Ein- venz- und Restrukturierungsrecht für Banken, das wir vernehmen – haben zur Verschärfung der Situation auf mit einer Fondslösung koppeln wollen. Dabei ist eine den internationalen Finanzmärkten beigetragen. Denn Bankenabgabe vorgesehen, mit der risikoadjustiert Vor- eine Vergütungspolitik, die auf kurzfristigen Erfolg aus- sorge für die Zukunft getroffen werden soll. Mit den gerichtet ist und die einseitigen Erfolg belohnt, ohne Eckpunkten, die wir in diesem Bereich vorgelegt haben, Misserfolg hinreichend zu sanktionieren, verleitet dazu, befinden wir uns im Vorfeld der IWF-Tagung in einem den langfristigen und nachhaltigen Unternehmenserfolg bemerkenswerten internationalen Einklang, wie wir fest- aus dem Blick zu verlieren. stellen konnten. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Die Finanzmarktkrise hat deutlich gezeigt, dass die durch eine verfehlte Vergütungspolitik gesetzten Fehlan- Der IWF wird jetzt erste Vorschläge in Washington vor- reize zu Risiken nicht nur für die Stabilität einzelner Un- legen, die in Richtung Abgabenlösung zielen. Die Bun- ternehmen, sondern auch für die gesamte internationale desregierung hat dazu schon ein Eckpunktepapier vorge- Finanzmarktarchitektur führen können. Deshalb setzen legt. 3542 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010

Parl. Staatssekretär Hartmut Koschyk (A) Heute wird ein wichtiger Stein in ein Mosaik einge- Häufig argumentieren die Banker, geringere Gehälter (C) fügt, zu dem viele weitere Mosaiksteine kommen werden. seien im Kampf um die besseren Köpfe ein Nachteil. Sie Ich bitte um zügige Beratung dieses wichtigen Gesetzent- würden die Dynamik der Branche bremsen und damit wurfs der Bundesregierung, mit dem internationale Stan- der ganzen Wirtschaft schaden. Eine solche Argumenta- dards in Rekordzeit umgesetzt werden sollen. tion ist falsch. Wissenschaftliche Untersuchungen zei- gen, dass ein Großteil der besten Universitätsabsolven- Herzlichen Dank. ten in diesen Bereich gehen und nicht dorthin, wo sie (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) gesellschaftlich Nützliches leisten könnten. Dies ist, volkswirtschaftlich gesehen, eine Verschwendung von Humankapital. Es gibt überhaupt keinen ökonomischen Vizepräsidentin Petra Pau: Grund, diese Gehaltsexzesse zu akzeptieren. Das Wort hat der Kollege Manfred Zöllmer für die SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE (Beifall bei der SPD) GRÜNEN)

Manfred Zöllmer (SPD): Gier lässt sich ökonomisch nicht legitimieren. Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die besonders aggressiven Vergütungssysteme der Die „chronische Bonitis“ der Banker ist noch lange nicht letzten Jahre haben Banker dazu angespornt, unvertretbar verheilt. Britische Medien haben jetzt berichtet, dass hohe Risiken zum Schaden der Gesamtökonomie einzu- Goldman Sachs für das erste Quartal Boni in Höhe von gehen. Die schnelle Rendite und Superprofite konnten 3,5 Milliarden Pfund auszahlen will. Zu Risiken und Ne- nur durch ganz hohe Risiken im Eigenhandel, bei Ver- benwirkungen schauen Sie sich einfach einmal an, was briefungen und durch exotische Produkte erreicht wer- die US-Börsenaufsicht SEC ermittelt hat. Die Börsen- den. Die Vergütung setzte an ganz vielen Punkten falsche aufsicht wirft Goldman Sachs vor, Anleger mit einem Fi- Anreize, etwa bei den Finanzmarktgurus, die riskante nanzprodukt getäuscht und um mehr als 1 Milliarde Dol- Produkte entwickelten, bei den Ratingagenturen, die lar gebracht zu haben. umso mehr verdienten, je mehr Papiere sie mit einer mög- (Björn Sänger [FDP]: Was nicht in Ordnung lichst hohen Benotung ausstatteten, bei Anlageberatern, ist!) die ihren Kunden die vermeintlich sicheren und guten Produkte untergeschoben haben, letztlich auch deswegen, Wenn das richtig ist, dann war das ein kriminelles Ver- weil sie hierfür Provisionen bekamen. (B) halten. (D) Bei der G 20 und dem Financial Stability Board hatte (Björn Sänger [FDP]: Richtig!) man sich auf multilaterale Standards für verantwortungs- volle und transparente Vergütungssysteme geeinigt. Investmentbanker werden mit extremen Gehältern eingekauft, um mit extrem riskanten Produkten extreme Es ist richtig, dies nun verbindlich in Gesetzesform zu Gewinne zu erwirtschaften. Das erinnert letztendlich an gießen und nicht nur auf die vorliegende Selbstverpflich- Drogendealer. Der Unterschied liegt einzig und allein tung der großen deutschen Banken und der größten Ver- darin, dass deren Geschäft durch Gesetz verboten ist und sicherungsunternehmen zu vertrauen. Dieses Gesetz ist ihre Gewinnspannen nicht so hoch sind wie die auf dem die Fortführung der neuen Vergütungsregeln für Vor- Finanzsektor. stände, die wir noch in der Großen Koalition mit dem (Christian Freiherr von Stetten [CDU/CSU]: Ein Gesetz zur Angemessenheit der Vorstandsvergütung in kleiner Unterschied ist da schon noch!) Kraft gesetzt haben. Wir müssen feststellen: Die Superboni, die Gehaltsex- Es ist grundsätzlich richtig, wenn die Vergütungssys- zesse gehen weiter. Im Jahre 2006 schütteten allein die teme angemessen und transparent gestaltet werden sollen großen Wall-Street-Banken Boni von umgerechnet rund und sich an einer nachhaltigen Unternehmensentwick- 25 Milliarden US-Dollar aus. Mit solchen Summen lung ausrichten, also nicht mehr nur den kurzfristigen könnte man ein Land wie Griechenland – immerhin ein Gewinn zum Maßstab der Vergütung machen. Feste Ver- 10-Millionen-Volk – nachhaltig sanieren. Dies zeigt die gütungsbestandteile müssen gestärkt, variable zurückge- Dimension und den Wahnsinn solcher Vergütungssys- drängt werden. teme. Der Gesetzentwurf stärkt die Eingriffsrechte der Die weltweite Finanzkrise, die inzwischen zu einer BaFin. Sie soll die Möglichkeit erhalten, im Falle der Wirtschafts- und Staatenkrise wurde, hat nicht nur eine Unterschreitung oder der drohenden Unterschreitung be- Ursache, sondern ist das Ergebnis verschiedener Fakto- stimmter aufsichtsrechtlicher Kapitalanforderungen die ren. Ein ganz wichtiger Faktor in diesem Zusammenhang Auszahlung variabler Vergütungsbestandteile zu unter- ist ein vollkommen verfehltes Vergütungs- und Anreiz- sagen, auch bei Rechtsansprüchen aus bestehenden Ar- system in der Finanzbranche, wie es in den vergangenen beitsverträgen. Dies ist richtig; denn es kann nicht sein, Jahren praktiziert wurde. Dies sind Exzesse, die sich in dass sich im Extremfall einzelne Personen üppige Boni keiner Weise an individueller Leistung, beruflicher Er- genehmigen, während die Allgemeinheit ein Institut mit fahrung, Ausbildung oder Können orientieren. Steuermitteln stützen muss. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010 3543

Manfred Zöllmer (A) Mit diesem Gesetz wird die wichtige Aufsichtsfunk- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten (C) tion der BaFin gestärkt; dies ist richtig so. Wir halten es der CDU/CSU) auch für richtig, Aufsichtsratsmitglieder einzubeziehen. Variable Vergütungsbestandteile für Aufsichtsratsmit- Björn Sänger (FDP): glieder vermag ich sowieso nicht nachzuvollziehen. Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich Herren! Der italienische Dichter Dante Alighieri hat ein- jetzt ein paar Worte zu den Schwachstellen des Gesetz- mal gesagt: entwurfes sagen. Unserer Meinung nach müssen ange- Der Weg zum Ziel beginnt an dem Tag, an dem du messene Sanktionsmöglichkeiten bestehen, wenn ein die hundertprozentige Verantwortung für dein Tun Unternehmen gegen das Gebot verstößt, solide Vergü- übernimmst. tungspraktiken zu implementieren. Sie fehlen aber. Im Hinblick auf die Bewältigung der Finanzkrise befin- Darüber hinaus ist es notwendig, zu überlegen, wel- den wir uns am Beginn eines solchen Weges, der zu ei- cher Personenkreis erfasst werden soll. Problematisch ist ner neuen Verantwortungskultur führt; sie ist das Ziel es, wenn hier nicht differenziert wird. Das Problem ist dieser christlich-liberalen Koalition. nicht der einfache Sachbearbeiter oder der Pförtner. Das Problem sind die Häuptlinge, nicht die Indianer. Hier Ich möchte einen Blick auf die tragende Säule der wird nicht entsprechend differenziert. Außerdem möchte Realwirtschaft werfen. Die tragende Säule der Realwirt- ich daran erinnern, dass wir in Deutschland Tarifautono- schaft ist der Mittelstand. Der Mittelstand arbeitet er- mie haben. Wir müssen sie entsprechend stärken. folgreich. Der Mittelstand muss nicht staatlich gestützt werden. Er trägt vielmehr durch seine erfolgreiche Ar- Ich bin ferner davon überzeugt, dass sich mancher beit dazu bei, die Basis für die Stützungsmaßnahmen, Anreiz eines abenteuerlichen Bonisystems erübrigen die in der Finanzwirtschaft notwendig geworden sind, zu würde, wenn wir deren steuerliche Absetzbarkeit be- schaffen. grenzen und einschränken würden. (Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Die Boni (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten aber auch!) der LINKEN und des Abg. Dr. Gerhard Schick [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Der Mittelstand haftet persönlich, Herr Kollege Binding, und das ist der Unterschied. Ich kenne viele Unterneh- Wir Sozialdemokraten haben dies schon in der letzten men, die in der Rechtsform eines Einzelunternehmens Legislaturperiode gefordert, sind aber am Veto der arbeiten, obwohl ihre Mitarbeiterzahl im dreistelligen (B) Union gescheitert. Bereich liegt. Die Verantwortungskultur, die im Mittel- (D) stand, im Kern unserer Wirtschaft, vorhanden ist, gilt es, (Christian Lange [Backnang] [SPD]: Das stimmt auf die Finanzbranche zu übertragen. allerdings! Wohl wahr! Ich erinnere mich ge- nau!) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Wenn wir die Absetzbarkeit einschränken würden, wür- Das ist das Ziel dieser Bundesregierung. Sie hat sich den wir verhindern, dass der normale Steuerzahler die- auf den Weg dazu gemacht. Das Kabinett hat die Ver- sen Boni-Irrsinn mitfinanziert. Dies ist nicht vorgesehen; dopplung der Verjährungsfristen von fünf auf zehn Jahre das bedauern wir sehr. bei Haftungsfällen in diesem Umfeld beschlossen. Bun- desministerin Leutheusser-Schnarrenberger bereitet hier (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten entsprechende Maßnahmen vor. Aber es geht eben nicht der LINKEN und des Abg. Dr. Gerhard Schick nur darum, den Haftungsfall zu regeln, sondern auch da- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) rum, dafür zu sorgen, dass der Haftungsfall nach Mög- Insgesamt ist der vorliegende Gesetzentwurf ein lichkeit erst gar nicht eintritt. Dazu haben wir diesen Ge- Schritt in die richtige Richtung. Wir sind es der ökono- setzentwurf vorgelegt. Es geht noch um etwas anderes. mischen Stabilität unseres Landes schuldig, hinrei- Ich möchte Otto Fürst von Bismarck zitieren, der einmal chende Regeln zu schaffen, die die Finanzbranche ernst- gesagt hat: „Die Politik hat nicht zu rächen, was gesche- haft an den Kosten der Krise beteiligt, neue wahnwitzige hen ist, sondern zu sorgen, dass es nicht wieder ge- Spekulationen und Krisen verhindert. Wir brauchen des- schehe.“ Manchmal habe ich in diesem Haus ein biss- halb Vergütungssysteme, die nicht einen Irrwitz beför- chen das Gefühl, dass es ein klein wenig um Rache geht, dern, bei dem sich wenige auf Kosten von Millionen was natürlich aus der Emotionalität heraus verständlich maßlos bereichern. Wir sollten die Krankheit der „chro- ist, uns aber nicht weiterbringt. nischen Bonitis“ im Finanzsystem dauerhaft ausrotten. (Dr. [DIE LINKE]: Wiedergut- Vielen Dank. machung!) (Beifall bei der SPD) Der vorliegende Gesetzentwurf ist – Herr Staatssekre- tär Koschyk hat es schon gesagt – ein Teil eines gesam- ten Maßnahmenkataloges, den wir hier einbringen. Ein Vizepräsidentin Petra Pau: Gesetzentwurf betreffend das Rating befindet sich in der Das Wort hat der Kollege Björn Sänger für die FDP- Beratung. Zur Bankenabgabe liegen Eckpunkte vor. Am Fraktion. Insolvenzrecht wird gearbeitet. Schlussendlich wird der 3544 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010

Björn Sänger (A) gesamte Finanzmarkt neu reguliert. Der vorliegende Ge- absurd überhöhten Renditeansprüche waren und sind (C) setzentwurf zielt auf den nachhaltigen Unternehmens- eine zentrale Ursache der momentanen Finanz- und erfolg ab. Da möchte ich wieder an den Mittelstand Wirtschaftskrise. Die frei vor sich hin flottierenden Fi- erinnern. Das sind Familienunternehmen, die in Genera- nanzmärkte haben Vermögenden Renditen im zweistelli- tionen und nicht in Quartalen denken. Das macht sie so gen Bereich ermöglicht, wodurch die Umverteilung von stabil und so erfolgreich. unten nach oben maßgeblich beschleunigt wurde. Ban- ker wurden durch Bonuszahlungen üppig belohnt, wenn (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) sie die vorgegebenen Renditeziele erreichten, was frei- Mit der vorgesehenen Transparenz bei den Vergü- lich nur durch hochriskante Geschäfte möglich war. Da tungssystemen sorgen wir dafür, dass die Eigentümer, wundert es nicht wirklich, dass viele Finanzmarkt- die Aktionäre der Unternehmen – häufig sind es Aktien- akteure nur noch von der Tapete bis zur Wand dachten, gesellschaften –, ihrer Verantwortung nachkommen und sprich: sich allein am kurzfristigen Profit orientierten genauer schauen können, welches Vergütungssystem es und jegliches Risikomanagement wegdrückten. in dem Unternehmen gibt, an dem sie beteiligt sind. Wir Das Kasino war eröffnet, der unregulierte Zock an der wollen positive und negative Vergütungsparameter, weil Tagesordnung. Eine Orientierung am gesamtwirtschaftli- dort, wo ein Bonus ist, logischerweise auch immer ein chen Interesse war schlichtweg out. Für Manager, Vor- Malus sein muss. Es gibt zudem die Eingriffsmöglich- stände, Geschäftsleiter und Aufsichtsräte im Finanz- und keiten der BaFin, die die Rückzahlung von Boni veran- Versicherungssektor gab es eine reine Win-win-Situa- lassen kann, wenn ein Unternehmen in eine Schieflage tion. Gingen ihre Spekulationen auf, wurden sie mit ho- gerät. Nicht, dass es so läuft wie auf der „Titanic“, wo hen Boni beglückt. Bei Misserfolg wurden sie dadurch die Musik bis zum Letzten gespielt wurde. belohnt, dass es kaum Sanktionsmöglichkeiten, keine Wir schließen mit diesem Gesetzentwurf an die gute Malusregelungen gab. Praxis des SoFFin an, durch den bei den Unternehmen, Die Zeche müssen wieder einmal die Bürgerinnen an denen der Staat beteiligt ist bzw. die gestützt wurden, und Bürger zahlen. Dies war und ist von dieser Regie- Gehaltsgrenzen eingeführt wurden. Diese Grenzen wer- rung und der Vorgängerregierung genauso gewollt. Die- den – wir haben das an den Fällen gesehen, die jetzt auf- ser Zustand ist aber schon seit langem unhaltbar. getreten sind – nachhaltig eingehalten. Wer sich als Ma- nager an diese Grenzen nicht halten möchte, hat auf dem (Beifall bei der LINKEN) Arbeitsmarkt sicherlich die Möglichkeit, sich einen an- deren Arbeitgeber zu suchen. Der Steuerzahler ist jeden- Denn so, wie es bislang läuft, ist es doch kein Wunder, falls nicht dafür verantwortlich, dass hier exzessiv Boni dass langfristiges, soziales und nachhaltiges Wirtschaf- ten aus dem Blick gerät. Auch im Gesetzentwurf do- (B) gezahlt werden. (D) miniert trotz gegenteiliger Behauptungen die einzel- Die einzelnen Regelungen dieses Gesetzentwurfs wirtschaftliche Betrachtung und nicht nachhaltiges werden wir uns sicherlich im Zuge der Beratungen ge- volkswirtschaftliches Handeln. Was wird sich durch die- nau anschauen müssen. Da teile ich das, was der Kollege ses Gesetz konkret ändern? Eine Bank, zu deren Ge- Zöllmer gesagt hat. Das Problem sind nicht die Indianer, schäftsmodell es zum Beispiel gehört, auf den Nieder- sondern die Häuptlinge. Es geht nicht um den Bankbera- gang anderer Unternehmen Wetten abzuschließen, wird ter, der beispielsweise für den Abschluss einer Lebens- wohl nicht daran gehindert, so zu agieren wie bisher. Die versicherung eine Provision erhält. Das Problem ist wei- Bank ist nun höchstens ein bisschen mehr vor ihren eige- ter oben, oberhalb der Schalterhalle, angesiedelt. Wir nen Managern geschützt. In der Öffentlichkeit glänzt sie müssen schauen, dass wir mit dem Gesetz nicht über das im schönsten Lichte. Immerhin darf sie sich jetzt als Ziel hinausschießen. Unser Ziel ist, die Verantwortungs- „nachhaltig ausgerichtet“ bezeichnen. Das zieht Kunden kultur in der Finanzbranche insgesamt zu stärken. und damit frisches Geld an. Ich möchte mit einem Zitat von Antoine de Saint- Wir werden uns bei der Abstimmung über diesen Ge- Exupéry – Kollegin Kressl mag ihn sehr gerne – schlie- setzentwurf enthalten. Wir warten gespannt auf die kon- ßen: „Mensch sein heißt verantwortlich sein“. Wenn alle krete Ausgestaltung mittels zweier Rechtsverordnungen. in der Finanzbranche öfter daran gedacht hätten, gäbe es Ich zweifle aber daran, dass die kommenden Einzelrege- die bestehenden Probleme wahrscheinlich nicht. lungen für klare Einschnitte sorgen und so die Verursa- Herzlichen Dank. cher der Krise nachhaltig zur Verantwortung gezogen werden. Für mich gilt: Das Festgehalt muss die Grund- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) lage jeder Entlohnung sein. Boni müssen strikt begrenzt werden, zum Beispiel auf 10 Prozent vom Festgehalt. Vizepräsidentin Petra Pau: Die Linke betont: Die Vergütung höherer Lohngruppen Das Wort hat der Kollege Harald Koch für die Frak- darf nie zum Nachteil anderer Lohngruppen erfolgen tion Die Linke. und nie durch Personalabbau gegenfinanziert werden. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der LINKEN) Meine Damen und Herren von der Regierungskoali- Harald Koch (DIE LINKE): tion, meine Fraktion und ich vermissen bei Ihnen alles in Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und allem ein schlüssiges Gesamtkonzept zur Bekämpfung Kollegen! Die Entfesselung der Finanzmärkte und die der Finanz- und Wirtschaftskrise. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010 3545

Harald Koch (A) (Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Das Gesetz hineinschreiben sollten und nicht alles auf den (C) müssen Sie gerade sagen! – Björn Sänger Verordnungsgeber übertragen, also dahin auslagern soll- [FDP]: Das ist an den Haaren herbeigezogen!) ten, wo wir als Parlament nichts mehr zu sagen haben. Nachher, wenn es auf den Finanzmärkten wieder kracht, Was Sie anbieten, sind kleine Mosaiksteinchen, mehr wird es heißen: Wer ist denn verantwortlich? Natürlich nicht. Die strukturellen Probleme, die vor allem durch haben wir in diesem Parlament eine Verantwortung. die Verselbstständigung der Finanzsphäre ausgelöst wur- Deswegen sollten zentrale Regelungen auch im Gesetz den, lösen Sie damit allein jedenfalls nicht. Vielmehr stehen und nicht ausgelagert werden. brauchen wir ein Gesamtpaket, das von der strikten Re- gulierung des Finanzsektors und seiner Unterwerfung (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN unter gesellschaftliche Kontrolle über ein dauerhaftes sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN- Zukunftsprogramm für Bildung, Verkehr und die Ener- KEN) giewende sowie zwei Millionen neuer Jobs bis hin zu ei- ner viel gerechteren Verteilung von Einkommen und Vom Bundesrat wurden interessante Vorschläge in die Vermögen reicht. Diskussion eingebracht. Ich meine, es lohnt sich, diese aufzugreifen. Der erste Vorschlag ist, dass wir uns nicht Danke schön. nur der Frage der Stabilität widmen – sorgen die Boni (Beifall bei der LINKEN) dafür, dass viel zu riskant gewirtschaftet wird? –, son- dern auch mit der Frage befassen, ob die Vergütungssys- Vizepräsidentin Petra Pau: teme – es geht also um das, was Einzelne in den Banken Das Wort hat der Kollege Dr. Gerhard Schick für die verdienen – dazu beitragen, dass den Kunden die fal- Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. schen Produkte verkauft werden und die Beratung falsch läuft. Ich finde diesen Vorschlag sehr gut. Wir sollten ihn dringend aufgreifen; denn wir wissen, dass nicht nur Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Verkaufslisten, sondern manchmal auch Anreizsysteme NEN): dazu führen, dass ein Bank- oder Versicherungsberater Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! falsch berät und die Kunden auf die falschen Produkte Die Frage nach den Boni und den Finanzmärkten ist ei- zurückgreifen. Deswegen sollten wir diesen Vorschlag gentlich ein Aufregerthema. Leute, die vor kurzem ihr des Bundesrates unbedingt aufgreifen. Institut in den Sand gesetzt haben und dazu beigetragen haben, dass die Finanzmärkte wackeln, verdienen daran Der Bundesrat führt interessanterweise noch zwei an- teilweise Millionen. Es sieht so aus, als wäre nichts ge- dere Punkte an, die ich wichtig finde. Ich möchte anre- (B) wesen. gen, auch diese aufzugreifen. Der eine Punkt ist, dass (D) Wenn man diese Debatte verfolgt, hat man aber nicht wir nicht-finanzielle Aspekte bei der Vergütung in den den Eindruck, dass wir es mit einem Aufregerthema zu Vordergrund stellen sollten, zum Beispiel die Kundenzu- tun haben. Woran liegt das? Das liegt daran, dass dieser friedenheit und die Mitarbeiterzufriedenheit. Der andere Gesetzentwurf im Endeffekt aus einem Satz besteht bzw. Punkt, den der Bundesrat anführt, ist die Frage: Bekom- in einem Satz zusammengefasst werden könnte, der rela- men Männer und Frauen eigentlich gleich viel Geld für tiv nüchtern ist: Die Finanzdienstleistungsaufsichtsbe- gleiche Arbeit? Dass das nicht so ist, ärgert uns Grüne hörde darf die Vergütungsmodelle von Banken und Ver- schon seit langem, und zwar bei uns nicht nur die sicherungen überprüfen. Das ist der Kern. Wesentlich Frauen, sondern auch die Männer; das ist der Unter- mehr beschließen wir nicht, wenn wir dieses Gesetz ver- schied. abschieden. (Manfred Zöllmer [SPD]: Zu wem ist das der (Björn Sänger [FDP]: Wenn es so bleibt, dann Unterschied?) ist es so!) Ich finde den Vorschlag, dieses Thema aufzugreifen, gut. Es stellen sich verschiedene Fragen: Erstens. Ist es Ich finde es sehr interessant, dass der Bundesrat vor- ausreichend, nur dies zu tun? Der Staatssekretär hat ge- schlägt, das im Rahmen dieses Gesetzentwurfs zu be- sagt, dass es auch noch anderes gibt, dass das nur ein handeln. Da sind offensichtlich auch ein paar unionsge- Baustein ist. Wichtig aber ist, dass zentrale Bausteine an führte Länder dabei gewesen. Vielleicht gab es an der dieser Stelle von Ihnen nicht vorgesehen sind; Herr Regierung beteiligte Grüne, die sie dazu ermutigt haben. Zöllmer sagte das schon. Wir sind der Meinung, dass wir Das werden wir uns noch einmal anschauen. auch steuerrechtlich etwas tun müssen, um Gehalts- exzessen vorzubeugen und zu verhindern, dass die All- Auf jeden Fall sollten wir die Aspekte, die der Bun- gemeinheit daran beteiligt wird. desrat angeführt hat, aufgreifen und uns die Fragen stel- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) len: Reicht das Geplante aus? Wollen wir als Gesetzge- ber wirklich die gesamte Verantwortung für die wichtige Zweitens kann man sich fragen: Warum verlagert der Frage der Vergütungssysteme auf den Verordnungsge- Gesetzgeber praktisch alle konkreten Fragen in eine Ver- ber, das heißt auf die Administration, auslagern? Ich ordnung und überlässt sie dem Bundesministerium bzw. meine: Nein. Das ist etwas, das wir als Parlament selbst der Finanzdienstleistungsaufsichtsbehörde? Ich meine, zu leisten haben. dass wir konkrete Rahmenbedingungen, wie sie auf eu- ropäischer Ebene schon vereinbart worden sind, in das Danke schön. 3546 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010

Dr. Gerhard Schick (A) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (C) bei Abgeordneten der SPD) Natürlich müssen wir fragen, ob es richtig ist, dass die Versicherungen einbezogen werden. Wir sagen Ja, weil Vizepräsidentin Petra Pau: die Versicherungen auf ähnlichen Feldern wie die Fi- Das Wort hat der Kollege Ralph Brinkhaus für die nanzdienstleister im Bankenbereich operieren. Wir sa- Unionsfraktion. gen Ja, weil auch große Versicherungen wie AIG, die (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) systemisch sind, in den USA in Schieflage geraten sind. Wir sagen Ja, weil wir an der Diskussion über die Ein- malbeträge bei den Lebensversicherungen sehen, dass Ralph Brinkhaus (CDU/CSU): die Grenze zwischen Banken- und Versicherungsaktivi- Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das Ge- täten durchaus fließend ist. Wir nehmen auch die Kritik setz, dessen Entwurf der Staatssekretär gerade vorgelegt der Menschen ernst, die sagen, dass es zu viel oder zu hat, verpflichtet die Finanzdienstleister und die Versiche- wenig Regulierung gibt. Ich glaube, im vorliegenden rungen dazu, angemessene Vergütungsstrukturen vorzu- Gesetzentwurf ist ein guter Maßstab gesetzt worden, in- halten. Es ermächtigt die Aufsichtsbehörden, in Schiefla- dem man die Begriffe „Nachhaltigkeit“ und „Angemes- gen die Auszahlung von variablen Vergütungen zu senheit“ definiert hat. Diese werden in Form von Rechts- verbieten oder zumindest zu begrenzen. Wie Sie schon er- verordnungen noch umgesetzt werden müssen. Sie wähnt haben, werden damit Regeln zügig umgesetzt, die werden durch das Handeln der Aufsichtsbehörden gelebt vom Financial Stability Board erlassen worden sind. Das werden müssen. Wir als Union werden das eng beglei- ist zu begrüßen. ten. Insofern ist alles erst einmal gut. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Die eigentliche Frage wird durch diesen Gesetzent- neten der FDP) wurf aber nicht beantwortet. Sie lautet: Warum verdienen Es ist – auch das hat der Staatssekretär gesagt – ein Teil einige Banken so viel Geld, dass sie solche enormen Ver- eines größeren Projektes zur Sicherung der Regulierung gütungen zahlen können? Warum hat die Deutsche Bank des Finanzmarktes, mit dem wir alle uns hier befassen. letztes Jahr einen Gewinn von rund 5 Milliarden Euro ge- Wir können das jetzt beliebig ausführen. Wir können macht hat, während Daimler einen Verlust von über über die Regulierung des Derivatemarkts, die Regulie- 2 Milliarden Euro gemacht hat? Warum beträgt das Durch- rung von Hedgefonds, die Neuordnung der Aufsichts- schnittsgehalt bei der Deutschen Bank 150 000 Euro und strukturen oder verschiedene Eigenkapitalregelungen bei Daimler 54 000 Euro? Welches ist der Grund dafür, debattieren. Aber Ihr Vorwurf greift ins Leere; denn es dass Spitzenleistungen im Technologiebereich anschei- nend geringer bewertet werden als im Finanzdienstleis- (B) wird eine Menge getan. Das alles ist nicht immer in nur (D) einem Satz zu erklären. Ich denke, dass es uns gut tun tungsbereich? Diese Frage sollten wir uns stellen. Ich würde, ein bisschen Seriosität in dieser Debatte zu ha- weiß, dass diese Vergleiche nicht ganz fair und nicht ganz ben. richtig sind. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – (Zurufe von der SPD: Doch!) Dr. Gerhard Schick [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Aber wir müssen uns diese Frage stellen. Ich möchte ver- NEN]: Haben wir doch!) suchen – wohlgemerkt versuchen –, diese Frage zu beant- Dieser Gesetzentwurf ist notwendig, weil die Erfah- worten. Der erste Versuch einer Antwort lautet – das ist rungen in den letzten Jahren gezeigt haben, dass Unter- uns allen bekannt –: Es gibt eine Entkopplung von Risiko nehmenspolitik teilweise zu sehr auf kurzfristige An- und Haftung. Es ist so, dass bestimmte Risiken letztend- reize gesetzt hat und dass Bonusstrukturen – im Übrigen lich vom Staat zu tragen sind, aber die Chancen bei den für Manager und Mitarbeiter – dazu geführt haben, dass Instituten, insbesondere bei Fonds und Hedgefonds, blei- eine erhöhte Risikobereitschaft in der Finanzdienstleis- ben. tungsbranche bestand. Diese Risikobereitschaft war Ich möchte auf einen weiteren Punkt eingehen und letztlich ein Grund für die Krise. Deswegen ist es richtig, eine weitere Frage stellen, über die wir bisher nicht ge- dass wir trotz der Selbstverpflichtung der Finanzdienst- nügend diskutiert haben. Das ist die Frage nach dem leister, zumindest der großen Finanzdienstleister, gesetz- Wettbewerb. Wettbewerb kann nur funktionieren, wenn liche Regelungen schaffen und für die Ermächtigung es mehrere bzw. viele Marktteilnehmer gibt. Ist das im sorgen, die Einhaltung dieser Regelungen zu beaufsichti- Investmentbankingbereich der Fall, oder ist es nicht viel- gen. mehr so, dass es nur wenige Marktteilnehmer gibt, die Wir nehmen mit Freude zur Kenntnis, dass dieser Ge- den Markt unter sich aufteilen? Ganz ehrlich: Wer ist setzentwurf einhellig auf Zustimmung stößt. Wir neh- denn überhaupt noch in der Lage, hier in Deutschland men aber auch die Kritik zur Kenntnis. Dies ist die erste bzw. in Europa eine internationale Finanzierung, einen Lesung; wir werden die Kritik ernst nehmen und aufgrei- Börsengang oder eine Anleihe zu organisieren? Ganz fen. Natürlich müssen wir uns fragen, inwieweit das ei- ehrlich: Wie viele Akteure gibt es noch, die auf dem De- nen Eingriff in die Tarifautonomie oder die Vertragsfrei- rivatemarkt tätig sind und dort tatsächlich Marktmacht heit darstellt. Aber wir sind der Meinung, dass dieser ausüben? Ich sage: Wettbewerb ist wichtig. Wettbewerb Eingriff aufgrund des volkswirtschaftlichen Schaden- braucht vernünftige Strukturen. Wettbewerb führt zu fai- potenzials durch falsche Vergütungssysteme gerechtfer- ren Preisen. Wettbewerb führt zu fairen Gewinnen, und tigt ist. Wettbewerb führt auch zu fairen Vergütungsstrukturen. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010 3547

Ralph Brinkhaus (A) Das ist ein Punkt, den wir bedenken müssen. Das ist Überweisungsvorschlag: (C) auch deswegen ein wichtiger Punkt, weil dann, wenn es Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie nur weinige Marktteilnehmer gibt, dies immer dazu Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend führt, dass wir in die Too-big-to-fail-Problematik hinein- Haushaltsausschuss kommen. Ich kann uns nur aufrufen, diesen Gesetzent- wurf zum Anlass zu nehmen, ergebnisoffen – ich habe Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die noch keine Lösung und bin noch nicht zu einem Ergeb- Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre nis gekommen – darüber zu diskutieren, ob die Wettbe- keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. werbsstrukturen im Bereich des Investmentbankings Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kolle- vernünftig sind. Den Bereich der Privatkunden und der gin Brigitte Pothmer für die Fraktion Bündnis 90/Die kleinen Geschäftskunden nehme ich davon ausdrücklich Grünen. aus. In Deutschland gibt es im Gegensatz zu anderen Staaten nämlich zwei zusätzliche Säulen: die Volksban- ken und die Sparkassen. Ich glaube, hier ist der Wettbe- Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): werb einigermaßen vernünftig organisiert. Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Sie alle werden sich daran erinnern, dass sich die Arbeitsuchen- Zusammenfassend kann man sagen: Das Gesetz, des- den in den letzten Monaten eine Menge haben bieten las- sen Entwurf vorliegt, ist kein Allheilmittel. Es wird nicht sen müssen. Sie mussten sich als faule und dekadente So- verhindern, dass eine Finanzkrise 2.0 ausbricht. Wir wis- zialschmarotzer beschimpfen lassen. Ich finde es wirklich sen genau, dass wir viele Bausteine brauchen. Ich denke, unerträglich, dass sowohl Ministerpräsident Koch als dieses Gesetz ist ein solcher Baustein, ein vernünftiger auch Vizekanzler Westerwelle ihre gesammelten Vorur- Baustein. Die Regulierung in diesem Bereich wird dazu teile ausgebreitet haben, um Arbeitslosengeld-II-Bezie- beitragen, dass der Finanzmarkt ein wenig sicherer wird, her zu diffamieren. nicht nur für die Anleger, sondern auch für den Steuer- zahler. Deswegen wird die Union dieses Gesetzesvorha- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, ben konstruktiv und zügig vorantreiben. bei der SPD und der LINKEN) Danke schön. Aber um das gleich zu sagen: Auch die Eingebung einer (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Berliner Grünen-Abgeordneten finde ich hundsmisera- bel. Vizepräsidentin Petra Pau: Grundsätzlich muss klar sein, dass eines gilt: Der so- Ich schließe die Aussprache. ziale Arbeitsmarkt ist ausdrücklich nicht dafür da, ver- (B) (D) Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent- meintlich faule Arbeitsuchende auf Trab zu bringen. Wer wurfs auf den Drucksachen 17/1291 und 17/1457 an die hier diesen Zungenschlag hineinbringt, dem geht es um in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge- alles Mögliche, aber nicht um die Betroffenen. Wenn es schlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? – Das darum geht, Zwangsdienste zu etablieren, damit Men- ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlos- schen davon abgehalten werden, in einer Notsituation sen. ihre Rechte und Ansprüche geltend zu machen, dann kann ich nur sagen: Das ist eine infame Strategie. Diese Ich rufe die Tagesordnungspunkte 8 a und 8 b auf: Strategie werden wir Ihnen nicht durchgehen lassen. a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Brigitte (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Pothmer, Fritz Kuhn, Katrin Göring-Eckardt, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- Fakt ist erstens: Derzeit fehlen in Deutschland unge- NIS 90/DIE GRÜNEN fähr 5 Millionen Vollzeitarbeitsplätze. Fakt ist zweitens: Fast alle Arbeitslosen sind absolut erpicht darauf, einen Teilhabe und Perspektiven für Langzeitar- Job zu finden und so schnell wie möglich aus dem Ar- beitslose mit einem verlässlichen Sozialen Ar- beitslosengeld-II-Bezug herauszukommen. Fakt ist drit- beitsmarkt schaffen tens – das sage ich denjenigen, die immer von Zwangs- – Drucksache 17/1205 – maßnahmen sprechen –: Es gibt derzeit bei weitem nicht Überweisungsvorschlag: genügend Arbeitsplätze im sogenannten gemeinnützigen Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) Sektor. Die Nachfrage ist um ein Mehrfaches höher als Ausschuss für Wirtschaft und Technologie das Angebot. Haushaltsausschuss In genau dem Moment, als der Vizekanzler lautstark b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Klaus dafür plädiert hat, jeden Arbeitslosen zu irgendeinem ge- Ernst, Matthias W. Birkwald, Heidrun Dittrich, meinnützigen Job zu zwingen, hat die Bundesarbeits- weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE ministerin die wenigen Programme, die es für Langzeit- LINKE arbeitslose im gemeinnützigen Sektor überhaupt gibt, Gute öffentlich geförderte Beschäftigung – abgeschafft oder ausgetrocknet. Eine Alternative zu Langzeiterwerbslosigkeit (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und Ein-Euro-Jobs sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN- – Drucksache 17/1397 – KEN) 3548 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010

Brigitte Pothmer (A) Das Programm „Kommunal-Kombi“ ist vollständig ab- Heike Brehmer (CDU/CSU): (C) geschafft worden, und das Programm „JobPerspektive“ Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! wird genau bei den Jobcentern beschnitten, bei denen es Die Grünen möchten, wie aus ihrem Antrag hervorgeht, besonders gut funktioniert hat. Das alles geht bei dieser dass für gute öffentlich geförderte Beschäftigung gesorgt Bundesregierung zusammen: Der Vizekanzler brüllt laut wird. Meine Damen und Herren von den Grünen, als und fordert einen sozialen Arbeitsmarkt, und die Bun- Erstes müssen wir feststellen, dass Sie während Ihrer desarbeitsministerin stellt diesen parallel dazu ein. Das Regierungszeit die Weichen offenbar nicht richtig ge- lassen wir Ihnen nicht durchgehen. stellt haben. Sonst hätte nicht eine ganze Generation mit Langzeitarbeitslosigkeit so viel Erfahrung machen müs- Wir wissen, dass ungefähr 400 000 Langzeitarbeits- sen. Sie hätten bei der Gesetzgebung doch die Vorgabe lose unter den derzeitigen Bedingungen kaum eine machen können, dass jungen Menschen nach einer be- Chance haben, auf dem ersten Arbeitsmarkt Arbeit zu fin- stimmten Frist eine Tätigkeit zugewiesen werden muss. den. Ich frage Sie: Welchen Sinn soll es machen, diese Sie haben das unbestimmt gelassen, mit der Folge, dass Menschen immer wieder in das Auf und Ab von Maßnah- viele junge Menschen in der Langzeitarbeitslosigkeit ge- mekarrieren zu zwingen? Sechs Monate einen 1-Euro- landet sind. Job, dann wieder arbeitslos, dann vielleicht eine Trai- ningsmaßnahme, dann wieder arbeitslos, das demotiviert Wir werden uns verstärkt um die Alleinerziehenden die Betroffenen. Das ist teuer. Das ist schlecht und bringt kümmern. Es ist unsere Arbeitsministerin, die die Al- der Gesellschaft gar nichts. Was wir brauchen, ist ein ver- leinerziehenden aus der Langzeitarbeitslosigkeit heraus- lässlicher zweiter Arbeitsmarkt, der den Langzeitarbeits- holen wird. losen tatsächlich eine Perspektive gibt. Die Grünen haben (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und einen entsprechenden Vorschlag vorgelegt. Es geht um der FDP – Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE sinnstiftende Beschäftigung. Es geht um zusätzliche Be- GRÜNEN]: Macht mal! Wir sind gespannt!) schäftigung und um Beschäftigung, von der die Gesell- schaft profitiert. Das Ganze muss nach dem Prinzip der – Einzelheiten werden morgen hier im Haus erörtert. Freiwilligkeit organisiert sein. Es muss dezentral, kom- Für die christlich-liberale Koalition ist klar: Nach un- munal organisiert sein, und es muss sich um sozialversi- serem christlichen Menschenbild hat Arbeit einen hohen cherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse handeln. Stellenwert. Wir wissen, wie wichtig Arbeit für den Wir müssen weg von diesem Programm-Hopping. Wir Menschen ist. Was uns von den Grünen und den Roten brauchen in diesem Bereich eine verlässliche Basis. jeder Couleur unterscheidet, ist von zentraler Natur: Wir wollen die Menschen an Arbeit heranführen und – wann immer möglich – in den ersten Arbeitsmarkt integrieren. (B) Vizepräsidentin Petra Pau: (D) Kollegin Pothmer, achten Sie bitte auf die Zeit. Dabei sind wir uns im Klaren, dass es Menschen gibt, die den gesamten Weg nicht schaffen. Für diesen Perso- nenkreis werden wir Wege finden, dass sie es zumindest Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): in eine öffentliche geförderte Beschäftigung schaffen. Ununterbrochen, Frau Präsidentin. Wir wollen die Menschen aber nicht in den Kreislauf zwischen Arbeitslosigkeit und öffentlich geförderter Be- schäftigung schicken, nach dem Motto: per Drehtüref- Vizepräsidentin Petra Pau: fekt von der Arbeitslosigkeit in die nächste öffentliche Dann sollten Sie Schlussfolgerungen ziehen. Beschäftigung und zurück. (Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Nur einmal hi- Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): nein und dann gleich in Hartz IV!) Ich komme sofort zum Schluss. – Wir haben Ihnen Diesen Kreislauf wollen wir durchbrechen. mit dem Aktiv-Passiv-Transfer einen Vorschlag ge- macht, wie man diese Beschäftigungsverhältnisse finan- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – zieren kann. Damit wird die Parole, Arbeit statt Arbeits- Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Nein! – Gegen- losigkeit zu finanzieren, endlich mit Inhalt gefüllt. Ich ruf des Abg. Paul Lehrieder [CDU/CSU]: finde, die Betroffenen haben einen Anspruch darauf, ihre Doch! Das machen wir mit oder ohne euch!) Motivation, ihre Talente und ihr Engagement einzubrin- Ihnen von den Grünen ist das leider nicht gelungen. gen. Ich hoffe auf Ihre Unterstützung. Wir wollen nicht so viel Lehrgeld zahlen, wie Sie es mit Ich danke Ihnen. der Ich-AG getan haben. Sie haben viel Geld, das wir heute bräuchten, ohne gute Ergebnisse verbraten. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Seit 2005 sind durch die unionsgeführte Bundesregie- rung viele Programme zur Förderung der Langzeit- Vizepräsidentin Petra Pau: arbeitslosen auf den Weg gebracht worden, wie zum Das Wort hat die Kollegin Heike Brehmer für die Beispiel der Beschäftigungszuschuss für Langzeitar- Unionsfraktion. beitslose, der Jobbonus, die JobPerspektive und der Qua- lifizierungskombi zur Verbesserung der Qualifizierung (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und von jüngeren Menschen unter 25 Jahren mit Vermitt- der FDP) lungshemmnissen. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010 3549

Heike Brehmer (A) Für den Monat März 2010 hat die Bundesagentur für (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. (C) Arbeit mitgeteilt, dass die Zahl der Arbeitslosen, welche Pascal Kober [FDP]) länger als zwei Jahre ohne Job sind, auf circa 405 000 Schauen Sie sich an, was es in den letzten Jahren mit gesunken ist. den Ferienjobs für Kinder von Arbeitslosengeld-II-Emp- (Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Sie haben fängern auf sich hatte. kurzfristig einen 1-Euro-Job bekommen und ( [SPD]: Dahin mussten wir Sie werden nicht mehr gezählt! Statistische Mani- auch tragen!) pulation!) Was war das für ein Theater! Nichts ging; in diesem Das sind im Vergleich zum Vorjahresmonat 12,6 Prozent Sommer geht es. So verhindert man eine Hartz-IV-Kul- weniger. Die Wirtschaftsweisen hatten uns angesichts tur. der größten Wirtschafts- und Finanzkrise weitaus schlechtere Prognosen erstellt. (Katja Mast [SPD]: Sie können in der nächsten Sitzung zustimmen!) (Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Das weiß man doch!) So stellen wir nun die Weichen im Interesse der Men- schen in unserem Land. Dass Ihnen das nicht gefällt, – Das können auch Sie ruhig einmal zur Kenntnis neh- kann ich sehr gut verstehen. men. (Zuruf von der LINKEN: Uns gefällt (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) das sehr gut!) Das zeigt uns, dass die bisherigen Maßnahmenpakete Mit der Umsetzung des Beschäftigungschancengesetzes zur Bekämpfung der Krise durch die unionsgeführten werden sich die Arbeitsmarktchancen für Langzeitar- Bundesregierungen richtig eingesetzt wurden und Wir- beitslose, für Alleinerziehende und für Ältere über 50 in kung zeigen. der nächsten Zeit weitgehend verbessern. (Beifall bei der CDU/CSU) Meine lieben Kollegen von den Linken und von den Mit dem Beschäftigungschancengesetz werden wir Grünen, es wäre deshalb schön, wenn Sie allein schon jetzt den nächsten Schritt gehen, und wir werden den aus diesem Grund das Beschäftigungschancengesetz, Mut haben, das Konzept der Bürgerarbeit, das Sie immer welches unsere Ministerin morgen hier vorstellen wird, in die Ecke gelegt haben und das für Sie immer ein unterstützen würden. Randthema war, umzusetzen. Wir werden die Bürgerar- Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. (B) beit aktivieren. Ich sage Ihnen voraus: Wenn die Jobcen- (D) ter nach jahrelangen Unsicherheiten endlich funktionie- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) ren, dann werden wir uns mit der Bürgerarbeit hier im Bundestag befassen. Vizepräsidentin Petra Pau: Das Instrument der Bürgerarbeit wurde vom sachsen- Das Wort hat der Kollege Michael Groschek für die anhaltinischen Wirtschaftsminister Dr. Reiner Haseloff SPD-Fraktion. und der Regionaldirektion der Bundesagentur für Arbeit (Beifall bei der SPD) Sachsen-Anhalt-Thüringen entwickelt. Die Bürgerarbeit hat sich in Sachsen-Anhalt als ein erfolgreiches Modell Michael Groschek (SPD): zur nachhaltigen Reduzierung der Langzeitarbeitslosig- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! keit bewährt. Durch das Konzept der Bürgerarbeit sollen Wenn hier angekündigt wird, dass morgen ein Entwurf vorrangig Langzeitarbeitslose in eine sozialversiche- eines Beschäftigungschancengesetzes eingebracht wird, rungspflichtige Beschäftigung vermittelt werden, die auf dann wird uns und den Betroffenen angst und bange. dem ersten Arbeitsmarkt kaum eine Chance haben. Das Denn wir erinnern uns an das Wachstumsbeschleuni- alles geht allerdings nicht zum Nulltarif. Daher wird gungsgesetz. Es droht Ungemach, heißt das auf Deutsch nicht alles sofort gehen, dafür aber seriös. gesagt. (Katja Mast [SPD]: Wie die Regierung (Beifall bei der SPD – Paul Lehrieder [CDU/ bisher!) CSU]: Ja! Mit der Kindergelderhöhung!) Es gibt durchaus auch Erfolgsmodelle, wie zum Bei- Wir sollten uns an den Ausgangspunkt der heutigen spiel ein kommunales Modell im Landkreis Marburg- Diskussion erinnern. Das war das Rezept „Mit Demago- Biedenkopf. Im Rahmen des dortigen Modellprojekts gie gegen Demoskopie“. Das war der Versuch des FDP- mit einem ganzheitlichen Beratungsansatz wurden Lang- Vorsitzenden, der im Nebenamt Außenminister ist, den zeitarbeitslose gestärkt und aus der sozialen Isolation he- freien Fall in Umfragen umzukehren. raus und zurück in die Gesellschaft geführt. Zusätzlich wurden arbeitsplatz- und existenzsichernde Beratungs- In dieser Stunde hätten wir uns im Sinne der Betroffe- angebote geschaffen, die mittelfristig die Überwindung nen sehr gewünscht, liebe Kollegin, wenn ein Sturm der der Hilfebedürftigkeit zum Ziel haben. Besonders inte- Entrüstung, gesteuert durch Ihr christliches Menschen- ressant im Hinblick auf Ihre Anträge ist die Erfolgsquote bild, auch durch die CDU/CSU gegangen wäre. Was bei den über 50-Jährigen. Viele ältere Arbeitslose konn- aber war? Schweigen im Walde. Das macht uns betrof- ten in den ersten Arbeitsmarkt integriert werden. fen. 3550 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010

Michael Groschek (A) (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem Michael Groschek (SPD): (C) BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Ja, wenn die Zeit angemessen gestoppt wird. Was war unsere Antwort? Unsere Antwort war der so- ziale Arbeitsmarkt als freiwillige Inanspruchnahme ei- Vizepräsidentin Petra Pau: nes sozialen Rechts auf Integration statt als angedrohte Das ist doch selbstverständlich. Zwangsmaßnahme. Das unterscheidet uns. Ich will Ih- nen eines zugutehalten: Viele von Ihnen werden sicher- Karl Schiewerling (CDU/CSU): lich Schwielen an den Fingern haben vom vielen bußfer- Herr Kollege Groschek, Sie haben gerade behauptet, tigen Beten mit dem Kruzifix in der Hand, weil Sie so das arbeitsmarktpolitische Instrument JobPerspektive sei etwas mitmachen, was Ihnen von Ihrem Koalitionspart- abgeschafft worden. ner serviert wird. (Anette Kramme [SPD]: Rein tatsächlich (Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Wie können Sie ist es so!) das beurteilen?) Können Sie mir bestätigen, dass dieses arbeitsmarktpoli- Lassen Sie uns auf den Punkt kommen. Wir glauben, tische Instrument nach wie vor besteht, dass auch in die- dass das Recht auf Arbeit für alle gelten muss, und zwar sem Jahr die Mittel dafür geflossen sind und dass die auf gute und fair bezahlte Arbeit. Arbeit ist Ausdruck ei- Absicht besteht, es beizubehalten? ner Würde im Menschenbild, wie wir es haben. Gute und Lassen Sie mich die Frage mit einer Feststellung er- fair bezahlte Arbeit ist Voraussetzung dafür, dass jemand gänzen: Wenn Sie sozusagen unterschwellig behaupten, ein würdevolles und selbstbestimmtes Leben gestalten man bekomme Schwielen an den Händen, wenn man kann. Kruzifixe festhält und betet, sollten Sie sich bewusst Deshalb sagen wir, dass gerade diejenigen, die mehr- sein, dass Sie damit viele Menschen in Deutschland fach benachteiligt sind, nicht als abgeschrieben und ab- missachten, die aus ihrer religiösen Grundeinstellung he- geschoben gelten dürfen. Sie dürfen nicht deklassiert raus viel konkrete Hilfe für arbeitslose Jugendliche und und demagogisch verfolgt werden. Gerade sie brauchen Erwachsene leisten. eine reale Chance. Dazu passt das Aushungern der JobPerspektive und das Abschaffen von Kommunal- Michael Groschek (SPD): Kombi nicht. Das ist der Weg in die Sackgasse und nicht Lieber Kollege, lenken Sie nicht ab. Ich denke, Sie in die soziale Integration. wissen, dass ich das zitierte christliche Menschenbild fast jedem von Ihnen und in extenso denen zugestehe, (Beifall bei der SPD und der LINKEN) (B) die als christliche Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer (D) Der soziale Arbeitsmarkt ist das eine. Mehr soziale eine Gruppe in Ihrer Fraktion sind. Deshalb kann ich das Sicherheit am Arbeitsmarkt ist das andere. In der Reali- Leid dieser Menschen angesichts der arbeitsmarktfeind- tät erfolgt jede zweite Neueinstellung befristet. Über lichen und arbeitslosenfeindlichen Demagogie von 1 Million Menschen sind moderne Tagelöhner mit einem Westerwelle verstehen, und deshalb glaube ich, dass Stundenlohn von weniger als 5 Euro. Wir haben in die- viele bußfertig sein werden, weil sie trotz ihres christli- sem Land 1,4 Millionen Aufstocker und mehr als chen Menschenbildes eine solche Regierung mittragen 2,5 Millionen Menschen, die auf Zeit- und Leiharbeit müssen; denn die Demagogie gegen die Langzeitarbeits- angewiesen sind. losen war und bleibt nach meiner festen Überzeugung unchristlich, lieber Kollege. Wenn man diese Realität sieht, dann müssen Sie das doch als Einladung zur Schaffung von Fairness am Ar- Eine zweite Erwiderung auf Ihr Anliegen: Ja, ich beitsmarkt und als Einladung dazu, am Arbeitsmarkt weiß, die JobPerspektive gibt es noch. Aber ich weiß Recht und Ordnung zu schaffen, verstehen. Deshalb hal- auch, dass diese Bundesarbeitsministerin, die ansonsten ten wir neben der Diskussion um den sozialen Arbeits- immer als symbolträchtige Madonna des Arbeitsmarktes markt die Überprüfung der vorhandenen arbeitsmarkt- durch die politische Landschaft geführt wird, politischen Instrumente für notwendig. (Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Das haben Sie schön gesagt!) Wir haben uns darangemacht, die Überprüfung durch- zuführen und Weiterentwicklungen und Korrekturen auf 900 Millionen Euro bei Arbeitsförderungsmaßnahmen den Weg zu bringen. Das ist ein sehr intensiver Diskus- gesperrt hat und die JobPerspektive eben nicht als ad- sionsprozess in unserer Partei. äquates Instrument ansieht, sondern sie über den Tag hi- naus aushungern will, weil Sie ein anderes Instrumenta- Wir laden Sie ein, sich vor einer Entscheidungsfin- rium und eine andere Perspektive sehen. Dass wir Sie dung diesem Diskussionsprozess anzuschließen. hier so kritisch beäugen, hängt auch mit Ihrem Chef- (Beifall bei der SPD) haushälter zusammen, der auf die Frage, wo denn die Konsolidierungspakete seien, die er stemmen müsse, antwortete, dass Frau von der Leyen wohl ein Drittel bis Vizepräsidentin Petra Pau: 50 Prozent dieser Konsolidierungsmaßnahmen werde Kollege Groschek, gestatten Sie eine Zwischenfrage stemmen müssen. Angesichts dessen wissen wir doch, des Kollegen Schiewerling? wohin die Reise möglicherweise gehen wird. Diese Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010 3551

Michael Groschek (A) Reise werden wir nicht mitmachen, weil sie sich gegen Michael Groschek (SPD): (C) die Interessen der arbeitslosen Menschen in diesem Gerne. Lande richtet. (Beifall bei der SPD – Ingrid Fischbach [CDU/ Vizepräsidentin Petra Pau: CSU]: Sie sagen wissentlich die Unwahrheit! Bitte. Das ist nicht gut! Das ist nicht christlich!) Hubertus Heil (Peine) (SPD): Vizepräsidentin Petra Pau: Herzlichen Dank, Frau Präsidentin. – Es ist nicht üb- Gestatten Sie eine zweite Zwischenfrage des Kolle- lich, Zwischenfragen bei Abgeordneten der eigenen gen Schiewerling? Fraktion zu stellen. Dies weiß ich sehr wohl, und wir wollen dies auch nicht dauernd machen. Aber die Frage Michael Groschek (SPD): des Kollegen Schiewerling hat mich ein bisschen dazu Ja. provoziert, noch einen Aspekt hinzuzufügen. Herr Kollege Groschek, die Entsperrung hat gestern Karl Schiewerling (CDU/CSU): im Haushaltsausschuss stattgefunden, weil wir dies im Sind Sie bereit, mir zuzugestehen, dass die Mittel für Rahmen der Jobcenterreform durchgedrückt haben. die JobPerspektive – jetzt komme ich auf den sachlichen Aber noch nicht durch ist, wie eigentlich auch verabre- Gehalt zurück und versuche, Sie dahin zu bringen, dass det, Herr Schiewerling, die Entfristung von 3 200 Job- Sie auch sachlich antworten – insgesamt nicht gekürzt, vermittlern. Dies muss bis zum 5. Mai im Haushaltsaus- sondern in Deutschland anders verteilt worden sind, und schuss passieren. können Sie mir zustimmen, dass 900 Millionen Euro (Ingrid Fischbach [CDU/CSU]: Also hat er entsperrt worden sind, sodass diese Mittel der Arbeits- doch die Unwahrheit gesagt! Wissentlich die marktpolitik zur Verfügung stehen? Unwahrheit!) (Anette Kramme [SPD]: Auf unser Drängen!) Aber ich frage Sie, Herr Groschek, in Bezug auf den 9. Mai und die Situation danach bei all dem, was wir im Michael Groschek (SPD): Bereich der Arbeitsmarktpolitik diskutieren, wie es denn Lieber Herr Kollege, dass die 900 Millionen Euro zu werten ist, wenn der Kollege Barthle, haushaltspoliti- entsperrt worden sind, ist doch nicht das Ergebnis Ihrer scher Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, jetzt mutigen christdemokratischen Intervention, sondern Er- schon einmal ankündigt, dass für die Konsolidierung im (B) gebnis einer sozialdemokratischen Ansage. Das ist Fakt Jahre 2011 im Rahmen von 10 Milliarden Euro Frau von (D) eins. der Leyen die Hälfte bis ein Drittel, also 3 bis 5 Milliarden Euro, aufbringen soll. Diese Frage treibt (Beifall bei der SPD) uns um. Der Eingliederungstitel umfasst fast 6 Milliar- Zweiter Punkt: Wir haben ganz aktuell ein Schreiben den Euro. Dies wäre in vielen Bereichen das Ende einer einer Trägerorganisation aus Aachen bekommen, in dem aktiven Arbeitsmarktpolitik, und alles, was über eine darauf hingewiesen wird, wie in Nordrhein-Westfalen Jobvermittlungsoffensive gesagt wird, wäre hohles Ge- durch die Umverteilung, die in vielen Regionen schwätz, wenn es keine Unterlegung gibt. Diesen Aspekt Deutschlands einer Kürzung gleichkommt, Benachteili- wollte ich Ihnen noch in Frageform mit auf den Weg ge- gungen entstehen. Da helfen kein Laumann und auch ben. kein Rüttgers im Blaumann. Nordrhein-Westfalen wird (Heiterkeit bei der SPD, der CDU/CSU, der von dieser Bundesregierung sozial- und strukturpolitisch LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- über den Leisten gezogen, lieber Kollege. NEN) (Karl Schiewerling [CDU/CSU]: Völliger Quatsch! – Zurufe der Abg. Ingrid Fischbach Michael Groschek (SPD): [CDU/CSU]) Danke, Herr Kollege Heil. Ich hatte schon das denk- würdige Vergnügen, im Rahmen meiner Antwort auf Vizepräsidentin Petra Pau: eine Frage seitens der CDU darauf hinzuweisen, dass of- Das Wort hat eigentlich der Kollege Groschek. Ich fensichtlich der arbeitsmarktpolitische Heiligenschein sehe allerdings eine weitere Zwischenfrage des Kollegen von Frau von der Leyen getrübt werden wird. Sie haben Hubertus Heil. Wenn Sie diese zulassen, Kollege sich bislang nicht dazu geäußert. Das wäre interessant Groschek, füge ich gleich vorsorglich hinzu, dass dies gewesen. Aber es gibt sicherlich noch Gelegenheit, da- die letzte Frage ist, die ich innerhalb dieses Redebeitra- rüber zu reden, ob denn gerade die Arbeitsmarkt- und ges zulasse, Sozialpolitik der große Steinbruch wird, um die Haus- haltskonsolidierung à la Bundesregierung zu schultern. (Anette Kramme [SPD]: Schade!) Aber kommen wir auf das eigentliche Thema zurück. weil wir eine Verabredung haben, die besagt, dass wir Wir wollen mehr soziale Sicherheit auf dem Arbeits- Redebeiträge nicht auf diese Weise verdoppeln oder ver- markt. Dazu zählen für uns nach wie vor anständige dreifachen wollen. Löhne – auf Deutsch gesagt: gesetzliche Mindestlöhne –, Lassen Sie die Frage des Kollegen Heil zu? von denen jeder leben kann, der Vollzeit arbeitet. Wir 3552 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010

Michael Groschek (A) wollen soziale Leitplanken bei der Zeit- und Leiharbeit, (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten (C) weil da ein riesiger Sozialmissbrauch stattfindet. Wir der CDU/CSU) wollen den Anspruch auf Berufsausbildung, statt einer ganzen Generation nur die Perspektive eines Praktikums Pascal Kober (FDP): zu bieten. Wir betonen, dass die Qualifizierung auch in Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! der Arbeitsmarktpolitik eine Schlüsselfunktion hat. Das Diese Koalition hat sich zum Ziel gesetzt, möglichst betrifft auch die Beschäftigten der Bundesagentur für Ar- viele Menschen wieder in den ersten Arbeitsmarkt zu in- beit. Sie hinkt hinter den Abmachungen, die getroffen tegrieren. Wir möchten dabei niemanden aufgeben, und wurden, hinterher. Wir brauchen ein besseres Betreu- wir möchten niemanden zurücklassen. ungsverhältnis, sonst wird es keine gescheite Perspektive am Arbeitsmarkt geben, und wir brauchen letztendlich (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten eine Weiterentwicklung der Bundesagentur für Arbeit hin der CDU/CSU) zu einer Arbeitsversicherung mit einem Recht auf best- Mit den beiden Anträgen, die heute zur Beratung vor- mögliche individuelle berufliche Qualifizierung und Be- liegen, soll ein anderer Weg gegangen werden. Ihre Be- ratung für jeden. Das wäre unsere Perspektive. fürworter geben faktisch einen Teil der Menschen auf. Deshalb werden wir diesen beiden Anträgen nicht zu- (Beifall bei der SPD – Karl Schiewerling stimmen. [CDU/CSU]: Dann hätten Sie es doch machen können! Sie haben es nicht hingekriegt, hier (Beifall bei der FDP) nicht und nicht in Nordrhein-Westfalen!) Hannelore Kraft hat dies Anfang März dieses Jahres im – Es gibt nicht nur Koalitionen mit Ihnen als Hemm- Spiegel deutlich zum Ausdruck gebracht – Zitat –: schuh. Vielleicht gibt es auch einmal eine Fortschritts- Wir müssen endlich ehrlich sein: Rund ein Viertel koalition mit einem Partner, der nicht so schwerfällig ist, unserer Langzeitarbeitslosen wird nie mehr einen wie Sie es an unserer Seite gewesen sind. regulären Job finden. (Karl Schiewerling [CDU/CSU]: Wenn man Diese Aussage ist ein Schlag ins Gesicht der betroffenen keine Ahnung hat, sollte man den Mund hal- Menschen. ten!) (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: So ist das!) Zu den beiden vorliegenden Anträgen haben wir Fol- Sie klassifiziert sie ab, und sie schreibt sie ab. gendes anzumerken: Wir glauben, dass der Grünen-An- Es gibt einen entscheidenden Unterschied zwischen (B) trag eine gute Diskussionsgrundlage für die weiteren (D) Ausschussberatungen ist. Der Antrag der Linkspartei ist Ihnen und uns. Die empirische Wirklichkeit mag einen sehr stark von der Vorstellung geprägt, man könne Glück zwar zu einer solch bedauernswerten Schlussfolgerung und Erfolg mit Methoden von gestern erreichen. Er ist verleiten; das bedeutet aber noch längst nicht, dass man von dem Duktus geprägt: Früher war alles besser. Wir diese empirische Wirklichkeit normativ festschreiben aber haben die Einsicht, dass im Heute und Morgen kein darf. Platz für das Gestern ist. Das ist das große Problem. (Beifall bei der FDP) Wir werden Arbeitsmarktinstrumente weiterentwi- Wir wollen niemanden aufgeben. Wir sind der Überzeu- ckeln müssen. Eine pauschale Schuldzuweisung für alle gung, dass wir durch kluge Politik im Sinne der Men- Nöte des Arbeitsmarktes an die Bundesregierung können schen jedem eine Chance auf dem ersten Arbeitsmarkt selbst wir nicht mittragen. Die Zuständigkeit dieser Bun- bieten können. Bei der Integration von Langzeitarbeits- desregierung geht nicht so weit, dass man sie für alles losen müssen alle Kräfte auf eine umfassende Vermitt- und jedes verantwortlich machen kann. Es reicht, die lungs-, Qualifizierungs- und Betreuungsoffensive kon- politische Verantwortung für die Maßnahmen zu beto- zentriert werden. Dazu hat das Kabinett gestern wichtige nen, für die die Bundesregierung verantwortlich ist. Frau Maßnahmen beschlossen. Diese Bundesregierung nimmt von der Leyen vertritt nach außen eine fortschrittliche sich jetzt vor allem der Alleinerziehenden sowie der jun- Arbeitsmarktpolitik, trägt aber nach innen dazu bei, dass gen und älteren Arbeitnehmer an. Das – nicht die Aus- die Arbeitsmarktförderung zum Steinbruch für die Haus- weitung der öffentlichen Beschäftigung – ist der richtige haltskonsolidierung wird. Wir werden die Situation auch Schritt in die richtige Richtung. nach dem 9. Mai sehr kritisch verfolgen. Wir lassen Sie nicht entkommen. Die Rhetorik vom christlichen Men- (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Ohne neues In- schenbild korrespondiert eben nicht mit der Demagogie, strument!) die der Demoskopie geschuldet ist, und sie nützt nicht Öffentliche Beschäftigung darf es nur als Ausnahme un- den Arbeitslosen in diesem Land. ter eng definierten Bedingungen geben; denn sie ist nicht nur teuer, sondern sie gefährdet auch reguläre Beschäfti- (Beifall bei der SPD) gung. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Vizepräsidentin Petra Pau: der CDU/CSU – Brigitte Pothmer [BÜND- Das Wort hat der Kollege Pascal Kober für die FDP- NIS 90/DIE GRÜNEN]: So wie Westerwelle Fraktion. es sagt: zum Schneeschippen!) Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010 3553

Pascal Kober (A) So kommt ein im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung er- Vizepräsidentin Petra Pau: (C) stelltes Gutachten zu dem Ergebnis, dass – ich zitiere – Das entscheidet der Kollege Kober. Das wäre dann „öffentlich bereitgestellte Beschäftigung zwangsläufig aber die letzte Frage, die ich zulasse. Wie Sie wissen, ha- teurer ist als die Subventionierung eines Beschäftigungs- ben Sie in dieser Debatte schon gesprochen. verhältnisses am ersten Arbeitsmarkt, denn zusätzlich zum Ausgleich der geringen individuellen Produktivität Kollege Kober, lassen Sie noch eine Frage zu? muss noch die Anpassung der Arbeitsabläufe finanziert werden“. Pascal Kober (FDP): Ja. – Frau Pothmer, bitte. Dass ein sogenannter sozialer Arbeitsmarkt, ein Schat- tenarbeitsmarkt, sozialversicherungspflichtige Beschäfti- gung verdrängt, zeigt uns die Erfahrung mit den soge- Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): nannten 1-Euro-Jobs. Dies belegt auch der einschlägige Sie erinnern sich aber durchaus auch daran, dass Ihr Bericht des Bundesrechnungshofes aus dem Jahr 2008. Parteivorsitzender Westerwelle vorgeschlagen hat, alle Bei 80 Prozent der 1-Euro-Jobs wurde beanstandet, dass Langzeitarbeitslosen unmittelbar zu einer Tätigkeit auf sie nicht zusätzlich, sondern anstelle von Tätigkeiten aus- dem sozialen Arbeitsmarkt heranzuziehen? geübt wurden, die eigentlich durch reguläre Beschäfti- (Widerspruch bei der FDP) gung abgedeckt werden müssten, wodurch reguläre Beschäftigungsverhältnisse im ersten Arbeitsmarkt ge- fährdet wurden bzw. verhindert worden ist, dass dort neue Pascal Kober (FDP): Arbeitsplätze entstanden sind. Frau Pothmer, daran erinnere ich mich nicht. Ich glaube, selbst in Berlin lag nicht so viel Schnee, dass es notwendig gewesen wäre, alle Langzeitarbeitslosen mit Vizepräsidentin Petra Pau: Schneeschippen zu beschäftigen. – Vielen Dank. Kollege Kober, gestatten Sie eine Frage der Kollegin Pothmer? Ihre Vorschläge, liebe Kolleginnen und Kollegen der Opposition, sind volkswirtschaftlich schädlich und ver- decken, dass Sie Menschen Chancen auf reguläre Arbeit Pascal Kober (FDP): im ersten Arbeitsmarkt vorenthalten. Fachleute stellen Gerne, Frau Pothmer. fest, dass es fast keine Jobs für einen sozialen Arbeits- markt gibt, die nicht reguläre Beschäftigung verdrängen. Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Straßenreinigung durch öffentlich geförderte Arbeits- Herr Kober, Sie haben sich hier sehr kritisch über die kräfte verdrängt andere Reinigungsunternehmen vom (B) Wirkung von öffentlich geförderter Beschäftigung geäu- Markt. Die Übernahme der Pflege von Grünflächen, die (D) ßert und gesagt, jede öffentlich geförderte Beschäftigung einmal Frau Künast vorgeschlagen hat, verdrängt Gärt- verdränge Arbeitsplätze im ersten Arbeitsmarkt. Wie nereien. Diese Liste ließe sich noch länger fortführen. So stehen Sie zu dem Vorschlag Ihres Parteivorsitzenden wird durch öffentlich geförderte Beschäftigungsmaßnah- Westerwelle, Arbeitslose zum Schneeschippen heranzu- men letzten Endes sogar die Arbeitslosigkeit ausgewei- ziehen? Wie wahrscheinlich auch Sie wissen, finanziert tet. unser Staat normale Arbeitsplätze in der Straßenreini- Arbeitsgelegenheiten wie 1-Euro-Jobs sollten nach gung. Würde das Konzept, das Herr Westerwelle vor- Auffassung der FDP nur dort angeboten werden, wo sie schlägt, Ihren hier vorgeschlagenen Vorstellungen nicht der Qualifizierung und Integration von Langzeitarbeits- zuwiderlaufen? losen in den ersten Arbeitsmarkt dienen. Sie müssen der Qualifizierung der Betroffenen dienen. Wir müssen da- Pascal Kober (FDP): rauf achten, dass Menschen nicht in einen zweiten Ar- Liebe Kollegin Pothmer, ich habe mich nicht generell beitsmarkt abgeschoben werden, sondern dass sie für für einen solchen Beschäftigungsmarkt ausgesprochen. den ersten Arbeitsmarkt aktiviert und qualifiziert wer- Ich habe gesagt: „unter eng definierten Bedingungen“. den. Wir von der FDP sind der Auffassung, dass diese eng de- (Beifall bei der FDP) finierten Bedingungen vor allen Dingen so gestaltet wer- den müssen, dass diese Beschäftigungsverhältnisse der In unserem Konzept des liberalen Bürgergeldes, also Qualifizierung der Menschen dienen. eines gesetzlichen Mindesteinkommens, stellen wir si- cher, dass auch die Menschen im ersten Arbeitsmarkt aus- (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- reichend Einkommen zum Leben haben, deren Fähigkei- NEN]: Wie qualifiziert denn Schneeschip- ten und Begabungen vorübergehend oder auf Dauer nicht pen?) auszureichen scheinen, um ein solches durch eigene Kraft vollständig selbst zu erwirtschaften. Hier sind staatliche – In der Tat bin ich der Auffassung, Frau Pothmer, dass Mittel viel sinnvoller eingesetzt als in einem sogenannten es einen eingeschränkten, kleinen Personenkreis gibt, für sozialen Arbeitsmarkt oder in öffentlich geförderter Be- den Tätigkeiten wie Schneeschippen oder Straßenreini- schäftigung. gung als Qualifizierungsmaßnahme dienen können. Vielen Dank, liebe Kolleginnen und Kollegen, für (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Ihre Aufmerksamkeit. NEN]: Darf ich noch eine Zwischenfrage stel- len?) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) 3554 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010

(A) Vizepräsidentin Petra Pau: gungen oder mit tariflicher Entlohnung schaffen – und (C) Das Wort hat die Kollegin Sabine Zimmermann für das basierend auf dem Prinzip der Freiwilligkeit. die Fraktion Die Linke. Die Hartz-Gesetze, die Sie hier in diesem Saal mit (Beifall bei der LINKEN) Ausnahme der Linken eingeführt haben, sind zuallererst darauf ausgerichtet, Erwerbslose zu disziplinieren. Die Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt sind fatal. Es gibt Sabine Zimmermann (DIE LINKE): einen Erdrutsch bei der Zahl der regulären sozialversi- Frau Präsidentin! Herr Groschek, ich muss Ihnen cherungspflichtigen Arbeitsplätze und einen Vormarsch schon empfehlen, einmal über unseren Antrag nachzu- von Billigjobs. Das muss gestoppt werden! denken. Vielleicht kommen Sie dann doch zu dem Schluss, dass die Hartz-Gesetzgebung menschenunwür- (Beifall bei der LINKEN) dig ist und dass Sie da einen Fehler gemacht haben. Ich Nun hat Frau von der Leyen unter dem schönen Titel empfehle Ihnen das auf jeden Fall. der „Bürgerarbeit“ eine Reform der Arbeitsmarktpolitik und eine Vermittlungsoffensive angekündigt. Meine Da- (Beifall bei der LINKEN) men und Herren, das ist nichts Neues. Begreifen Sie Meine Damen und Herren, 1990 haben wir mit ABM doch endlich, dass es zu wenig Arbeitsplätze gibt, von mit einer Bezahlung in Anlehnung an den damaligen denen die Menschen in Würde leben können! ÖTV-Tarifvertrag angefangen. Dann gab es einige Novel- (Beifall bei der LINKEN) len, und mit Einführung des SGB II gab es dann noch eine Pauschale von 900 Euro. Außerdem wurden diese unsäg- Aber natürlich wird die Bundesregierung ihre Pläne lichen 1-Euro-Jobs erfunden. Mit diesen 1-Euro-Jobs erst nach der Wahl in Nordrhein-Westfalen öffentlich sind die anderen sinnvollen Maßnahmen mehr und mehr machen. Wir werden ganz genau hinschauen, ob damit zurückgefahren worden. Die Rutschbahn der Löhne durch die Hintertür ein Arbeitszwang eingeführt werden wurde in Gang gesetzt. Das alles wird von der Politik be- soll, wie das eigentlich schon verschiedene Unionspoliti- wusst nicht gestoppt, und das ist unerträglich. ker in der Vergangenheit gefordert haben. Das stößt auf unseren entschiedenen Protest, und das werden wir nicht (Beifall bei der LINKEN) hinnehmen. Ob Menschen Arbeit haben oder nicht, ist eine zu- Danke für Ihre Aufmerksamkeit. tiefst demokratische Frage. Denn es geht hier vor allem um die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Die Poli- (Beifall bei der LINKEN) tik hat dieses Problem bisher sträflich vernachlässigt und (B) (D) damit Hunderttausende Menschen ins soziale Abseits Vizepräsidentin Petra Pau: gestellt. Für die Unionsfraktion hat der Kollege Dr. Matthias Zimmer das Wort. Die Antwort der Bundesregierung auf das immer wei- ter wachsende Problem der Langzeiterwerbslosigkeit sind (Beifall bei der CDU/CSU) bisher nur Beleidigungen von Herrn Westerwelle und verschärfte Sanktionen für erwerbslose Menschen. Aber Dr. Matthias Zimmer (CDU/CSU): wo – das frage ich Sie, meine Damen und Herren – sind Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es denn die Arbeitsplätze, die Sie seit 15 Jahren – egal in scheint ja nun doch so zu sein, dass der Wahlkampf in welcher Koalition – den Menschen versprochen haben? Nordrhein-Westfalen seine langen Schatten auch auf die- Das Gegenteil ist der Fall. Die Zahl der Langzeitarbeits- ses Haus wirft. Was der Kollege Groschek als Generalse- losen stagniert seit Jahren auf hohem Niveau. Fast 1 Mil- kretär der SPD in Nordrhein-Westfalen hier abgeliefert lion Menschen waren im März 2010 seit über einem Jahr hat – er ist in Rambo-Manier argumentativ durchgesaust –, ohne reguläre Arbeit. Insbesondere viele Ältere haben wenig Chancen auf eine Rückkehr in den regulären Ar- (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Warten Sie, bis beitsmarkt. Daneben haben wir viele Erwerbslose, die be- der richtig loslegt!) reits seit mehreren Jahren ohne Arbeit sind. Diese Aus- zeugt von einer gewissen Nervosität, und das, lieber Karl grenzung hat bei den arbeitslosen Menschen viele Schiewerling, ist unter dem Strich doch eine ganz posi- körperliche und seelische Spuren hinterlassen. Hier ist tive Botschaft. der Staat in der Pflicht, zu handeln. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Beifall bei der LINKEN) Kritisiert wurde von Ihnen ein gewisser Mangel an Die Linke legt dafür das Konzept einer guten öffent- Wahrhaftigkeit. Einen solchen – das will ich der Rede lich geförderten Beschäftigung vor. Dieses ist Bestand- voranstellen – habe ich auch dem Antrag der Linken ein teil eines Zukunftsprogramms, mit dem wir 2 Millionen wenig entnommen. Ich will an dieser Stelle nur zwei reguläre Arbeitsplätze in der Wirtschaft und im öffentli- Beispiele bringen: chen Bereich schaffen wollen. Sie behaupten in Ihrem Antrag, die falsche Wirt- Gute öffentlich geförderte Beschäftigung heißt für uns: schafts- und Beschäftigungspolitik dieser und der ver- Wir wollen mit Mitteln der Arbeitsmarktpolitik sozialver- gangenen Regierung habe zu der Arbeitslosigkeit beige- sicherungspflichtige Arbeitsplätze zu Mindestlohnbedin- tragen. Wahr ist: Von 2005 bis 2008 ist die Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010 3555

Dr. Matthias Zimmer (A) Arbeitslosigkeit von 4,8 Millionen auf 2,9 Millionen ge- hinzudeuten: Sie betrachten den Staat lediglich als eine (C) sunken. Art Kuh, die man sowohl melken als auch schlachten kann. (Sabine Zimmermann [DIE LINKE]: Lang- zeitarbeitslosigkeit!) Liebe Frau Pothmer, ich will ganz deutlich sagen: Ich Hätten Sie das in Ihrem Leben irgendwann einmal fertig- teile die Intention in Ihrem Antrag, für Langzeitarbeits- gebracht, hätte der Kölner Dom dauergeläutet. lose etwas zu tun, und ich teile auch ausdrücklich Ihre Auffassung, dass die meisten Arbeitsuchenden lieber (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Paul heute als morgen wieder eine Arbeitsstelle wollen. Lehrieder [CDU/CSU]: Die würden heute noch tanzen!) (Zuruf von der LINKEN: Das war der erste richtige Satz! – Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Sie beklagen darüber hinaus, dass Stellen im öffentli- Sagen Sie das dem Ministerpräsidenten chen Dienst abgebaut werden, und erwecken damit so Koch!) ein bisschen den Eindruck, als ob Sie, wenn Sie es denn könnten, Stellen im öffentlichen Dienst schaffen würden. Das wollen wir ermöglichen, weil auch wir der Meinung Ich habe mir das einmal angeschaut. Von 2005 bis 2008 sind, dass Missbrauch kein Volkssport ist – es geht um verzeichnet Berlin den höchsten Abbau von Stellen im eine ganz begrenzte Ausnahmesituation – und dass die öffentlichen Dienst, nämlich einen Abbau um meisten Menschen arbeiten wollen, weil Arbeit eine 3,8 Prozent. Form von Anerkennung mit sich bringt. Auch das wol- len wir ermöglichen. Deswegen bin ich der Idee eines (Zuruf von der CDU/CSU: Da regiert Rot- öffentlich geförderten Sektors persönlich nicht abge- Rot! – Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Die hat- neigt. ten einfach zu viel aufgebläht!) In Brandenburg, Herr Kollege, wird geplant, (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ 11 000 Stellen im öffentlichen Dienst abzubauen. DIE GRÜNEN) (Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Die öffentlichen Ich bin aber sehr dafür, diese Förderung an sehr enge Haushalte sind pleite, durch Ihre Politik!) Kriterien zu knüpfen. Das erste Kriterium ist die Integra- tion in den ersten Arbeitsmarkt. Wir wollen keine Zwei- Ich habe so ein bisschen den Eindruck, dass bei Ihnen klassengesellschaft und keine Stigmatisierung von Ar- ein Realitätsschock eintritt. Das hat mit den Blütenträu- beitsuchenden, sondern wir wollen, dass die Integration men, die Sie hier sonst verkünden, nichts zu tun. in den ersten Arbeitsmarkt gelingt. Das ist ein Punkt, (B) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- den ich im Antrag der Linken vermisst habe. Wir wollen (D) neten der FDP) keine Dauersubventionierung und Verstetigung dieser Subventionen, sondern eine zeitliche Begrenzung. Wir Eine Sache war für mich sehr überraschend, als ich wollen außerdem eine genaue Eingrenzung der Ziel- mir die Zahlen angeschaut habe. Es gab ein Bundesland, gruppe. Das heißt, wir wollen mit einem öffentlich ge- das einen leichten Anstieg der Stellenzahl in der öffentli- förderten Sektor vor allen Dingen diejenigen, die meh- chen Verwaltung hatte, nämlich Bayern. Das finde ich rere Vermittlungshemmnisse aufweisen, fördern und ganz positiv; denn die Bayern haben gesagt: Wir stellen nicht, wie es die Linken vorsehen, den Übergang in die mehr Lehrer ein. Rente unterstützen. (Michael Groschek [SPD]: Weil die FDP dabei Auch das ist sehr wichtig: Wir brauchen eine sehr ist!) enge Betreuung. Ich will es einmal mit dem Begriff „für- Das ist angesichts der Tatsache, dass wir die Bildungsre- sorgliche Belagerung“ umschreiben. Denn nur das führt publik ausbauen wollen, das richtige Signal. dazu, die Qualifikation zu verbessern und die Defizite auszugleichen. Wir wollen eine aktivierende Arbeits- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- marktpolitik, die unter dem Motto „Fordern und För- neten der FDP) dern“ steht. Am Ende soll nicht der betreute, sondern der Meine Damen und Herren von den Linken, in Ihrem selbstständige Mensch stehen. Wir wollen keine Ver- Antrag ist die Rede davon, dass 500 000 öffentlich ge- drängungseffekte für reguläre Arbeit. Kriterium muss förderte Beschäftigungsstellen zu schaffen sind. Wie Sie die Zusätzlichkeit sein. auf die Zahl gekommen sind, erschließt sich mir nicht. Vielleicht haben Sie einfach die Zahl von den Grünen (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Sehr gut!) genommen und noch 100 000 draufgelegt. Man kann ja Wir wollen weiterhin eine sorgfältige und regional diffe- eine gewisse Reserve einbauen; das ist wohl nie falsch. renzierte Auswahl der Beschäftigungsfelder. Das heißt, (Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Wir hatten das zusätzliche Beschäftigung müsste beispielsweise in schon 2006 in einem Antrag!) Frankfurt am Main anders aussehen als in Mecklenburg- Vorpommern. Es ist in Ihrem Antrag in keiner Weise begründet, wie Sie auf die Zahl von 500 000 kommen. Diese Zahl und (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Sehr gut! das, was Sie heute Morgen hier mit Ihrem Antrag zur gu- Schade, dass Sie in der falschen Partei sind! – ten Arbeit vorgelegt haben, scheint mir auf Folgendes Michael Groschek [SPD]: Bravo!) 3556 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010

Dr. Matthias Zimmer (A) Gleichwohl muss ich sagen, dass wir an dieser Stelle terer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- (C) eine ganze Reihe von Instrumenten haben. Die Laufzeit NIS 90/DIE GRÜNEN des Programms „Perspektive 50plus“ wurde gestern vom Bundeskabinett verlängert. Alleinerziehende, die Hartz- Eisenbahnsicherheit verbessern IV-Leistungen bekommen, würden einen Anspruch auf – Drucksachen 17/1162, 17/655, 17/1016, 17/544, einen gesonderten Ansprechpartner erhalten. Wir wollen 17/1459 – – auch das ist im Koalitionsvertrag festgelegt – das In- strument der Bürgerarbeit in die Arbeitsmarktpolitik zu- Berichterstattung: sätzlich einführen. Mit den Modellprojekten haben wir Abgeordneter Uwe Beckmeyer gute Erfahrungen gemacht. Diese Maßnahmen führen nicht zu Mehrkosten, und Verdrängungseffekte sind ver- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die meidbar. Wenn Mittel aus dem Europäischen Sozial- Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre fonds an der Stelle zur Verfügung stehen, dann ist es keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. umso besser. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Parla- mentarische Staatssekretär Enak Ferlemann. Meine Bitte an das Ministerium ist daher: Neben den Maßnahmen, die bereits beschlossen sind, sollte die Idee (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- der Bürgerarbeit zügig angegangen werden. Noch in die- neten der FDP) sem Jahr sollte, wenn möglich, ein erster Entwurf vorge- legt werden, damit wir für die Integration der Langzeit- arbeitslosen etwas tun können. Enak Ferlemann, Parl. Staatssekretär beim Bundes- minister für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung: Vielen Dank. Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Als Erstes möchte ich mich herzlich dafür (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- bedanken, dass sich die Fraktionen des Hauses so inten- neten der FDP – Michael Groschek [SPD]: siv mit der Sicherheit des Eisenbahnverkehrs in Streckenweise gut!) Deutschland und darüber hinaus beschäftigen. Ich möchte direkt an den Anfang stellen, dass für die Bun- Vizepräsidentin Petra Pau: desregierung die Sicherheit der Eisenbahnen in Deutsch- Ich schließe die Aussprache. land absolute Priorität hat. Daran gibt es keine Abstri- che, auch wenn die Oppositionsfraktionen in ihren Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf Anträgen versuchen, hier und da vielleicht ein anderes (B) den Drucksachen 17/1205 und 17/1397 an die in der Ta- Bild aufzuzeigen. Wegen der Probleme, die zugegebe- (D) gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. nermaßen im letzten Jahr stärker als sonst bei der Fahr- Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann zeugtechnik auftraten – allerdings europaweit, nicht nur sind die Überweisungen so beschlossen. in Deutschland –, jetzt das gesamte System Eisenbahn schlechtzureden, geht am Sachverhalt sicherlich völlig Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 auf: vorbei. 9 Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Dadurch wird das Verkehrsmittel, das mit weitem Ab- richts des Ausschusses für Verkehr, Bau und stand das sicherste Landverkehrsmittel ist, zu Unrecht Stadtentwicklung (15. Ausschuss) schlechtgemacht. Unser Land ist auf die Leistungen der Eisenbahnunternehmen, die diese jeden Tag für Millio- – zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU nen Reisende und im Zusammenhang mit dem Transport und der FDP von Millionen Tonnen Güter erbringen, angewiesen. Wir Gewährleistung der Sicherheit der Eisen- können mit Recht stolz sein auf die Qualität, mit der bahnen in Deutschland diese Leistungen erbracht werden, und auf das hohe technische Niveau, das unsere Eisenbahnunternehmen – zu dem Antrag der Abgeordneten Uwe erreicht haben und gewährleisten. Beckmeyer, Sören Bartol, Martin Burkert, wei- terer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Ein technisches System wie das der Eisenbahn ist aber nichts Statisches. Es lebt von Weiterentwicklung, Gewährleistung der Sicherheit im Schienen- neuen Erkenntnissen und Innovationen. Deshalb sind verkehr muss Priorität haben das technische Regelwerk und die technischen und be- trieblichen Vorschriften so angelegt, dass Weiterent- – zu dem Antrag der Abgeordneten Sabine wicklungen berücksichtigt werden. Zurzeit sind wir in Leidig, Dr. Gesine Lötzsch, , einer Phase, in der neue Erkenntnisse zum Verhalten des weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE Materials – ich nenne als Beispiel das Stichwort „Rad- LINKE satzwellen“ – vorliegen und entsprechende Prüfungen Den Schienenverkehr als sichere Verkehrs- erfolgen. Da dies nicht allein ein nationales Thema ist, form erhalten und stärken hat die Europäische Eisenbahnagentur von der Kommis- sion den Auftrag erhalten, gemeinsam mit dem Sektor, – zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Anton das heißt den Eisenbahnunternehmen, der Bahnindustrie Hofreiter, Winfried Hermann, Fritz Kuhn, wei- und den nationalen Sicherheitsbehörden, diese Aspekte Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010 3557

Parl. Staatssekretär Enak Ferlemann (A) aufzuarbeiten und eine gemeinsame europäische Strate- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (C) gie für die Fahrzeuginstandhaltung zu entwickeln. Aber diese Ereignisse sowie die hierzu im Ausschuss Ich habe damit aufgezeigt, dass wir uns bei den Eisen- durchgeführte öffentliche Expertenanhörung haben ei- bahnen mit der Liberalisierung des europäischen Eisen- nen deutlichen Handlungsbedarf im Bereich der Rechte bahnverkehrsmarktes, die wir sehr begrüßen, und der und Pflichten der Betriebsleiter, im Bereich der Fahr- Harmonisierung der technischen Bedingungen nicht gastrechte, im Bereich der Verantwortung von Eisen- mehr allein im nationalen Bereich, sondern vor allem eu- bahnunternehmen und Herstellern sowie bei der Harmo- ropaweit bewegen. Dies gilt natürlich für die Leistungen nisierung der Vorschriften auf europäischer Ebene im Verkehrsmarkt, aber zunächst auch für die rechtli- aufgezeigt. Diese Folgerungen sind im Antrag der Koali- chen Grundlagen. Die Europäische Kommission hatte tionsfraktionen sehr zutreffend dargestellt. Ich darf mich im Zuge der Errichtung eines Binnenmarktes für Eisen- dafür ausdrücklich bei den Koalitionsfraktionen bedan- bahnverkehrsdienste erkannt, dass ein gemeinsamer ken. Die Bundesregierung wird den ihr erteilten Auftrag Rahmen für die Regelung der Eisbahnsicherheit geschaf- für ein Konzept zur Weiterentwicklung der Sicherheit fen werden muss. Dazu hat sie mit der Richtlinie 2004/ der Eisenbahnen in Deutschland, wenn er heute so be- 49/EG vom 29. April 2004 über die Eisenbahnsicherheit schlossen wird, zügig erfüllen. Ich denke, dass wir im in der Gemeinschaft europäisches Recht geschaffen. Von zweiten Halbjahr dieses Jahres das Gesetzgebungsver- besonderer Bedeutung ist dabei die Harmonisierung des fahren dazu durchführen können. Inhalts von Sicherheitsvorschriften, der Sicherheitsbe- scheinigungen für Eisenbahnunternehmen, der Aufga- Herzlichen Dank. ben und Funktionen der Sicherheitsbehörden sowie der (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Untersuchung von Unfällen. Diese Richtlinie wurde in Deutschland am 16. April 2007 mit der Novellierung des Allgemeinen Eisenbahngesetzes sowie des Gesetzes Vizepräsidentin Petra Pau: über die Eisenbahnverkehrsverwaltung in nationales Für die SPD-Fraktion spricht nun der Kollege Uwe Recht umgesetzt. Diese Novelle bildet nunmehr, aufbau- Beckmeyer. end auf dem im deutschen Eisenbahnrecht bewährten (Beifall bei der SPD) System der Aufgabenabgrenzung zwischen den Eisen- bahnunternehmen, den Herstellern, den Haltern und ins- besondere den Aufsichtsbehörden, die Grundlage für die Uwe Beckmeyer (SPD): Gewährleistung der Sicherheit des Eisenbahnverkehrs in Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Deutschland. Herren! Wir beraten hier heute vier Anträge, die sich mit (B) dem Thema Bahnsicherheit beschäftigen. Sie spiegeln (D) Der Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwick- ein bisschen wider, welche Diskussionen in den letzten lung hat sich in den letzten Monaten intensiv mit der vier Monaten insbesondere in der Fachöffentlichkeit ge- Frage auseinandergesetzt: Ist die Sicherheit im Schie- führt wurden. Es gibt seit langem eine ernst zu neh- nenverkehr gewährleistet, und was muss gegebenenfalls mende Diskussion über die Achsproblematik bei den verbessert werden? In einer intensiven Aussprache mit verschiedenen Modellreihen des ICE und die im Winter der Deutschen Bahn und dem Eisenbahn-Bundesamt im so anfällige Konstruktion der ICE-Fahrzeuge der zwei- Dezember letzten Jahres sowie in einer Anhörung mit ten und dritten Generation. Wir führen in Deutschland Vertretern der DB AG und des Verbandes Deutscher eine generelle Debatte über die häufigen Zugausfälle, Verkehrsunternehmen, der Bahnindustrie, der Eisen- die wir in den Wintermonaten erlebt haben und die so- bahnaufsicht und des Konzernbetriebsrats der DB AG wohl die Mobilität als auch das Netz betreffen. Darüber am 3. März dieses Jahres sind alle Aspekte ausführlich hinaus führen wir eine heftige Diskussion über die chao- erörtert worden. tischen Verhältnisse bei der Berliner S-Bahn. All das ist Ich kann die Ergebnisse für mich so zusammenfassen: die Grundlage, auf der wir aktuell diskutieren. Für die Sicherheit der Eisenbahnen in Deutschland be- Bahnchef Grube war mehrfach im Verkehrsausschuss stehen umfassende Regelungen in den nationalen gesetz- zu Gast. Wir haben im Verkehrsausschuss extra ein Ex- lichen Vorschriften auf der Basis des europäischen pertengespräch zum Thema Bahnsicherheit durchge- Rechts zur Sicherheit der Eisenbahnen in der Gemein- führt. Ich denke, allein das zeigt, dass sich alle Fraktio- schaft. Die Serie von gefährlichen Ereignissen mit Rad- nen sehr intensiv darum gekümmert haben. satzwellen bei ICE-Zügen und bei Güterwagen sowie die Probleme bei der S-Bahn in Berlin haben gezeigt, dass Nachdem alle Oppositionsfraktionen einen Antrag die Übertragung der Aufgaben der Sicherheitsbehörde vorgelegt hatten, haben schließlich auch Sie, meine sehr auf das Eisenbahn-Bundesamt und auch die Einrichtung geehrten Damen und Herren von der Koalition, sich be- einer Eisenbahn-Unfalluntersuchungsstelle des Bundes reit gefunden, einen Antrag vorzulegen. Respekt! In der richtige und sachgerechte Weg für schnelle und ef- Kenntnis der öffentlichen Debatte, der Anträge der Op- fektive Reaktionen der staatlichen Aufsicht sowohl im positionsfraktionen und der Forderungen in der Öffent- nationalen Bereich als auch bei der notwendigen Umset- lichkeit meldeten Sie sich Ende März zeitlich als letzte zung auf europäischer Ebene waren. Ich darf mich an mit Ihrem Antrag zu Wort. Ich habe den Worten des dieser Stelle ganz herzlich bei den Mitarbeiterinnen und Staatssekretärs entnommen, dass sein Haus möglicher- Mitarbeitern der Behörden für die exzellente Arbeit in weise Formulierungshilfen gegeben hat; allerdings halte den vergangenen Monaten bedanken. ich das für sehr bedenklich. 3558 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010

Uwe Beckmeyer (A) Wir hatten die Hoffnung, dass der zeitliche Verzug „dauerfest“ und „zeitfest“. Das wiederum, meine sehr (C) nicht nur mit dem Prozess der Abstimmung in der Koali- geehrte Damen und Herren, bringt den Begriff „sattel- tion zu tun hat, sondern auch mit der Qualität des An- fest“ in die Debatte. trags. Doch weit gefehlt – ich will es vorsichtig formu- lieren –: Der Antrag der Koalitionsfraktionen ist leider Trotzdem gelang es nicht, die Bahnindustrie zu be- der mit Abstand nicht beste. Man könnte es auch anders sänftigen. Es gebe keinen Grund für eine Änderung des sagen. Eisenbahngesetzes, sagten Sie der Financial Times Deutschland im April. Weshalb wende ich mich besonders Ihrem Antrag zu? Der gestrige Mehrheitsbeschluss im Ausschuss, der mit Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich glaube, den Stimmen der Koalitionsfraktionen zustande gekom- diese Strategie des BMVBS ist schlicht falsch. Man men ist, hat offenbart, dass Ihr Antrag wohl auch heute kann es nicht jedem recht machen. Allen Beteiligten das eine Mehrheit finden wird. Sie wollen ein Konzept zur Blaue vom Himmel zu versprechen, hilft nicht. Mal sind Weiterentwicklung der Gewährleistung der Sicherheit Sie auf der Seite der Bahnindustrie, dann wieder auf der der Eisenbahn in Deutschland. So weit, so gut. Das wol- Seite der DB AG. Es muss ein schlüssiges Konzept her. len wir hier alle. Doch was ist Ihre Top-eins-Forderung Ich glaube, das ist das Entscheidende. Ich bitte, einfach zur Lösung der Probleme? Die Forderung nach einer einmal unseren Antrag zu lesen. Stärkung der Verantwortung und der Rechte des Be- Fest steht doch eines: Seit 1994 ist der Personalbe- triebsleiters von Eisenbahnverkehrsunternehmen. Alle stand in den DB-Instandhaltungswerken halbiert wor- Achtung! Jetzt ist also die schwache Position des Be- den. Das Durchschnittsalter der Beschäftigten dort triebsleiters in den Eisenbahnverkehrsunternehmen beträgt 45 Jahre. Bei der Wartung im Personenverkehrs- möglicherweise an der Sicherheitsproblematik im ge- bereich besteht eine Auslastung von 100 Prozent. Zu- samten Schienenverkehr schuld. Dazu gibt es in der sätzlich müssen Zeitarbeitskräfte den jeweiligen Mehr- Fachöffentlichkeit nur ungläubiges Kopfschütteln. Die bedarf an Arbeitskräften ausgleichen. Betriebsleiter sind Angestellte der Eisenbahnverkehrs- unternehmen. Sie haben auch die Wettbewerbsfähigkeit Im Expertengespräch des Ausschusses benannte der und die wirtschaftlichen Interessen ihrer Unternehmen Vertreter des Konzernbetriebsrates einen weiteren wich- im Auge zu behalten. Bei den Betriebsleitern anzuset- tigen Punkt: die Ausdünnung der Fahrzeugflotte bei der zen, hieße, das Pferd von hinten aufzuzäumen. DB AG. Die Sicherheitsreserven im Fahrzeugbestand Ich vermisse Antworten und Positionen der Koali- sind in den vergangenen Jahren reduziert worden. Ich tionsfraktionen: Was sagen Sie zur Einhaltung der War- glaube, darüber müssen wir gemeinsam reden. Bei Zug- ausfällen infolge von Wartungsarbeiten wie bei den ICE- (B) tungsintervalle und der Sicherheitsbestimmungen der (D) Hersteller durch die jeweiligen Nutzer? Was sagen Sie Zügen fehlt ein ausreichender Ersatzbestand zur rei- zur Stärkung des Eisenbahn-Bundesamtes? Was sagen bungslosen Fortführung des Schienenverkehrs. Das ist Sie zu einer raschen Auswertung der Unfallprüfberichte auch ein wesentliches Problem. Hinzu kommt: Quali- durch das EBA? Was sagen Sie zu einer ausführlichen tätsstandards werden im DB-Konzern – das haben wir Unfallstatistik zur Art der Unfälle und deren Folgen? gelernt – unterschiedlich gehandhabt. Was sagen Sie zu einer Verpflichtung zur Schadensmel- Während in einzelnen Sparten – Personenfernverkehr, dung an den Hersteller? Was sagen Sie zur Notwendig- Regionalverkehr – nach ISO-Standards zertifiziert und keit eines Datentransfers zwischen Hersteller und Nutzer auf einem hohen Qualitätsniveau geprüft wird, besteht in während der Betriebsphase, zum Beispiel bei Wartungs- anderen Sparten eine unzureichende Auditierung. Im arbeiten? Was sagen Sie zu längeren Garantiezeiten ohne Güterverkehr besteht nach wie vor ein geringes Qualifi- Ausschlussklauseln für Teilprodukte? Was sagen Sie zu zierungsregime. Bei der S-Bahn hat es jahrelang über- alldem? – Nichts. Was wollen Sie politisch durchsetzen? haupt nicht stattgefunden. (Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Nichts!) Meine Damen und Herren, für uns steht fest: Die Si- Beim Bundesverkehrsminister gewinnt man den Ein- cherheit im Schienenverkehr muss oberste Priorität ha- druck, es habe immer derjenige recht, der zuletzt bei ihm ben und ist ein nicht verhandelbares Gut. Wir haben in war: Laut Welt vom 8. Februar 2010 waren noch die unserem Antrag konkrete Vorschläge unterbreitet, und Hersteller schuld an den ICE-Schäden: Sie hätten nicht wir hoffen und erwarten, dass diese auch von den Koali- die nötige Qualität geliefert und die DB AG habe nichts tionsfraktionen und der Bundesregierung aufgenommen für die Probleme gekonnt. Laut Frankfurter Rundschau und bei ihrer zukünftigen Politik berücksichtigt werden. vom 12. März 2010 – ein Monat später – lag der Herzlichen Dank. Schwarze Peter auf einmal doch bei der DB AG, weil sie die falschen Fahrzeuge bestellt habe. (Beifall bei der SPD) Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich glaube, es ist entscheidend, dass man in dieser Frage nicht nur Vizepräsidentin Petra Pau: Meinungen hinterherläuft, sondern sich selbst eine Mei- Für die FDP-Fraktion hat nun der Kollege Patrick nung bildet. Der Minister erläuterte einem erstaunten Döring das Wort. Publikum, dass er beim Besuch der Bahnindustrie etwas dazugelernt habe, nämlich den Unterschied zwischen (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010 3559

(A) Patrick Döring (FDP): senbahnunternehmens sei damit zu begründen, dass die- (C) Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! ses Unternehmen privatwirtschaftlich geführt wird. In der Tat: Die Sicherheit im Schienenverkehr ist nicht Wenn das so ist, dann dürften Sie in kein Flugzeug einer verhandelbar, darüber besteht Konsens bei den Beratun- in Deutschland operierenden Fluggesellschaft einsteigen gen im Ausschuss und auch zwischen den Fraktionen; – denn sie sind alle privatwirtschaftlich organisiert –, zumindest habe ich es so empfunden. Aber neben der noch dürften sie sich an vielen anderen Lebensbereichen vorgetragenen Einigkeit gibt es natürlich Unterschiede des öffentlichen Lebens beteiligen. Es gibt in der Sicher- zwischen den Anträgen der Koalition und den Anträgen heitsphilosophie keinen Unterschied zwischen privaten der Oppositionsfraktionen. Der entscheidende Unter- und staatlichen Unternehmen. Wer das behauptet, han- schied ist, dass wir zwischen dem unterscheiden können, delt fahrlässig gegenüber denjenigen, die sich täglich mit was Unternehmen, die Verkehrsdienstleistungen anbie- Verkehrsmitteln privater Unternehmen fortbewegen. Es ten und dazu Schienenfahrzeuge verwenden, leisten gibt keinen Unterschied. Ganz im Gegenteil: Die Sicher- müssen, was die Unternehmen, die diese Fahrzeuge heit im Luftverkehr ist nicht den Bürokraten und Politi- bauen und warten, leisten müssen und was am Ende über kern zu verdanken, sondern dem außerordentlich hohen die Aufsicht durch das Eisenbahn-Bundesamt und das Engagement der Unternehmen, und das, obwohl sie ge- Allgemeine Eisenbahngesetz in diesem Hause politisch winnorientiert arbeiten. Das ist nämlich kein Wider- und gesetzgeberisch gemacht werden muss. Ich habe der spruch. Es lohnt sich, Ihnen das in jeder Debatte erneut Rede von Uwe Beckmeyer aufmerksam zugehört; er beizubringen. sprach als eine Mischung aus Verkehrspolitiker und Vor- stand eines Eisenbahnunternehmens. Wir haben hier (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – aber nur die eine Rolle, nämlich die des Gesetzgebers, Volker Kauder [CDU/CSU]: Sie versuchen deshalb wird die Koalition das regeln, was sie regeln es!) kann und muss. Wir werden aber keineswegs versuchen, Kollege Uwe Beckmeyer hat gefragt, was die Koali- die Dinge zu regeln, die andere zu regeln haben, liebe tion eigentlich will. Wir bleiben dabei: Wir wollen, dass Kolleginnen und Kollegen. diejenigen, die dicht dran sind, beispielsweise die Be- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) triebsleiter, mehr Rechte bekommen, damit sie sich im Bereich der Sicherheitsanforderungen durchsetzen kön- In der heutigen Debatte geht es darum, dass niemand nen. Wir wollen, dass das Eisenbahn-Bundesamt so stark die Augen davor verschließt, dass in einigen Teilberei- und selbstbewusst ist, dass es noch schneller handeln chen von Verkehrsunternehmen, auch bundeseigener kann. Deshalb hat es dort einen Stellenaufwuchs gege- Verkehrsunternehmen in der Bundesrepublik Deutsch- ben. Gleichzeitig wollen wir, dass im Allgemeinen Ei- (B) land, beispielsweise bei der S-Bahn Berlin, ganz offen- senbahngesetz das geregelt wird, was zu regeln ist. Im (D) sichtlich Führungs- und Verantwortungsversagen vorge- Gesetz ist nicht zu regeln, ob die Eisenbahnunternehmen legen hat, dass Menschen, die die Verantwortung hatten, die Hersteller in ihre Wartungsanlagen lassen. Das alles die Wartung der S-Bahn in Berlin regelkonform und kann man aber privatrechtlich regeln. nach dem Pflichtenheft des Herstellers und des Eisen- bahn-Bundesamtes zu organisieren, dieser Aufgabe nicht Wir sollten überprüfen, warum all das, was in allen nachgekommen sind. anderen Verkehrsbereichen – im Automobilbereich, im Luftfahrtbereich und in der Seeschifffahrt – zwischen (Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Das haben die den Herstellern, den Wartungsbetrieben und den Betrei- vergessen!) bern der Verkehrsmittel privatwirtschaftlich organisiert wird, durch bürgerlich-rechtliche Verträge, ausgerech- Dafür wurden sie zur Verantwortung gezogen. Natürlich net bei der Bahn nicht so stark ausgeprägt ist? Muss man haften die Mitarbeiter und die Leitung des Unterneh- das Allgemeine Eisenbahngesetz oder andere Regelun- mens. Zu glauben, dass der Deutsche Bundestag oder gar gen ändern? Diese Fragen werden wir in den nächsten der Bundesverkehrsminister in der Lage sein könnte Wochen erörtern. Ich appelliere an die Verantwortung – egal, unter welcher Regierung, zumal der Vorfall bei der Bahnindustrie und der Bahnunternehmen, dass sie der S-Bahn Berlin unter einer anderen Koalition stattge- ihre Regelungslücken schließen, was durch entspre- funden hat; insofern müssten andere zur Verantwortung chende Verträge gewährleistet werden kann. Der Staat gezogen werden –, jede Entscheidung eines Unterneh- muss das tun, was ihm auferlegt ist. Das gilt ebenso für mens per Gesetz zu regeln, ist weltfremd. Wir wissen in- die Unternehmen. Darauf legt diese Koalition großen zwischen, dass es bei der S-Bahn Berlin ein solches Füh- Wert. rungs- und Verantwortungsversagen gegeben hat. Das Unternehmen trägt dafür die Verantwortung, es hat die Es gibt keinen Unterschied zwischen den Sicherheits- Konsequenzen gezogen, was bis in die Führung des Un- wünschen der Opposition und der Koalition. Es gibt ternehmens zu spüren war. Es gab dort keine gesetzgebe- vielleicht einen etwas anderen Weg der Umsetzung. rischen Probleme, sondern es ist ein rein operatives Han- Aber ich bin mir sicher, dass wir am Ende die ge- deln in den Unternehmen gewesen. Wir sollten in diesem wünschte Rechtssicherheit schaffen, dass wir starke Ak- Fall klar trennen, wer für was verantwortlich ist. teure haben und dass wir beweisen können, dass es nicht (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) auf die Rechtsform des Verkehrsunternehmens an- kommt, ob Sicherheit herrscht, sondern dass es zu den Zum Kern der Sache. In Teilen des Hauses wird be- Grundpfeilern unserer Verkehrspolitik gehört, dass sich hauptet, Versagen bei den Sicherheitsstrukturen eines Ei- jeder, der sich in der Verkehrswirtschaft engagiert, nach 3560 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010

Patrick Döring (A) den Sicherheitsvorschriften zu verhalten hat, unabhängig – Und, wenn nötig, auszutauschen. Völlig richtig. (C) davon, ob es sich um ein privates oder ein öffentliches (Patrick Döring [FDP]: Das gehört ja wohl Unternehmen handelt. dazu!) Herzlichen Dank. Sie setzt aber nicht auf ein System, das garantiert, dass (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) diese Räder und Radachsen bis zum Lebensende eines Zuges halten. Vizepräsidentin Petra Pau: ( [CDU/CSU]: Es gibt Das Wort hat die Kollegin Sabine Leidig für die Frak- keine Garantie dafür!) tion Die Linke. Sie müssen einfach stärker sein. Aber damit sind sie na- (Beifall bei der LINKEN) türlich auch teurer, und das ist genau der Grund, warum die Deutsche Bahn AG dieses stärkere Material nicht be- stellt hat. Das hat übrigens auch Verkehrsminister Sabine Leidig (DIE LINKE): Ramsauer genau so veröffentlicht. Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte noch einmal betonen, dass mit der Pannenserie (Patrick Döring [FDP]: Es gibt keine stärkeren bei der Berliner S-Bahn, die Ende 2008 begonnen hat, Radachsen, die zugelassen sind!) vor unseren Augen ein beispielloser Niedergang eines Er hat darüber hinaus festgestellt, dass die Börsenorien- funktionierenden öffentlichen Nahverkehrssystems statt- tierung des Unternehmens dafür verantwortlich ist, dass gefunden hat. Dieser Niedergang hatte zwei zentrale an dieser Stelle gespart wird. Gründe: Erstens gab es eine Menge Probleme mit Rä- dern und Radachsen, die zu schwach und nicht ausrei- (Patrick Döring [FDP]: Das hat er nicht festge- chend dimensioniert waren. Zweitens – das ist das Ent- stellt! Das ist falsch! Unverantwortlich!) scheidende gewesen – sind die Wartungskapazitäten, die Nun stellen wir fest, dass offensichtlich auch die der Bahn zur Verfügung stehen, systematisch herunter- Werkstattkapazitäten nicht nur bei der S-Bahn, sondern gefahren worden. Warum? Weil die S-Bahn Berlin jähr- insgesamt so stark heruntergefahren wurden, dass sie lich Zigmillionen Euro Gewinn an die Muttergesell- nicht mehr ausreichen, um das Herausfliegen einer ICE- schaft Deutsche Bahn AG abzuführen hatte. Tür zu verhindern. Wann hat es das in der Zuggeschichte (Patrick Döring [FDP]: Schlichter Quatsch!) jemals gegeben? Das muss man sich einmal vorstellen: Eine Schraubenmutter löst sich. Die löst sich doch nicht Ich glaube, dass man an diesem Beispiel wie in einem einfach so, sondern sie löst sich, weil der Wagen nicht (B) Brennglas sehen kann, worin zentrale Probleme der richtig gewartet worden ist. (D) Bahnsicherheit bestehen, (Patrick Döring [FDP]: Auch das ist Quatsch!) (Patrick Döring [FDP]: Unverantwortlich!) Da darf auf keinen Fall gespart werden. Aus unserer auch im Fernverkehr, bei den ICE, und im Güterverkehr. Sicht ist die zentrale Forderung, dass sich die Deutsche Eines der größten und schwersten Unglücke der Eisen- Bahn AG ganz klar auf einen sicheren Verkehr, auf einen bahngeschichte, die Entgleisung des ICE bei Eschede ausreichend gewarteten Fahrzeugpark orientiert und 1998, hatte genau diesen Grund: Die Radachsen, die Rä- nicht darauf, mehr Gewinn zu machen. der waren den Belastungen nicht gewachsen. (Beifall bei der LINKEN) (Patrick Döring [FDP]: Da ist ein Radreifen gesprungen! Das ist etwas völlig anderes!) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: 24 Radsatzwellenbrüche und 31 Radreifen- und Rad- Frau Kollegin, möchten Sie eine Zwischenfrage des scheibenbrüche im In- und Ausland sind seit 2000 be- Kollegen Döring zulassen? kannt geworden. Die Konsequenz, die man aus diesen Feststellungen bereits 2004 in einer Studie gezogen hat, Sabine Leidig (DIE LINKE): ist, dass das Material anders ausgelegt sein muss, dass Ja. man stärkere, dauerfeste Teile braucht. Im japanischen Fernverkehrssystem und auch beim TGV in Frankreich Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: wird genau diese Schlussfolgerung gezogen. Dort wird Bitte schön. ein stärkeres Material eingesetzt. Die Deutsche Bahn AG wählt diesen Weg nicht. Patrick Döring (FDP): (Patrick Döring [FDP]: Das stimmt nicht!) Frau Kollegin Leidig, sind Sie bereit, zuzugestehen, Die Deutsche Bahn AG hat sich entschieden, die Rad- dass bezüglich der Untersuchung des tragischen Un- achsen einer engmaschigen Kontrolle zu unterziehen, sie glücks mit der herausgerissenen ICE-Tür erstens die Er- mit Ultraschallgeräten zu prüfen und auf feine Haarrisse mittlungen des Eisenbahn-Bundesamtes andauern, zwei- und Kerben zu untersuchen. tens in alle Richtungen ermittelt wird, auch in Richtung Fremdeinwirkung/Sabotage? Und sind Sie bereit, zuzu- (Patrick Döring [FDP]: Und, wenn nötig, aus- gestehen, dass wir zu diesem Zeitpunkt keinerlei Er- zutauschen!) kenntnisse aus dem Eisenbahn-Bundesamt haben, wie es Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010 3561

Patrick Döring (A) zu diesem tragischen Unglück gekommen ist, bevor Sie Sabine Leidig (DIE LINKE): (C) hier weiter verbreiten, es handele sich bei diesem Unfall Die Lieferanten von Rädern und Radachsen sollten um einen Wartungsfehler? nicht in diesem Aufsichtsrat sitzen. (Zuruf von der LINKEN: Das war al-Qaida!) Danke. (Beifall bei der LINKEN) Sabine Leidig (DIE LINKE): Zumindest hat man gelesen, dass es eine lockere Schraubenmutter war. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Der Kollege Dr. Anton Hofreiter hat das Wort für (Volker Kauder [CDU/CSU]: Da ist die Frage, Bündnis 90/Die Grünen. bei wem die Schraube locker ist!)

Ich denke, so etwas muss in einer Werkstatt festgestellt Dr. Anton Hofreiter (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): und geklärt werden. Geschätzte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und (Patrick Döring [FDP]: Unglaublich! Kollegen! Wir haben in diesem Winter und schon davor Quatsch!) eine ganze Reihe von verblüffenden Ereignissen bei der Bahn erleben dürfen: Achsen sind gebrochen, Radschei- Ich möchte dazu, dass Sie in Ihrem Antrag fordern, ben sind gebrochen, und Güterzüge sind entgleist. Wenn die Verantwortung und Rechte der Betriebsleiter zu stär- man nach den Ursachen für all diese Ereignisse geschaut ken, feststellen, dass wir der Meinung sind, dass die Ver- hat, musste man feststellen: Bei der S-Bahn gab es mas- antwortung da nicht an der richtigen Stelle abgeladen sive Schlamperei und einen Abbau der Wartungskapazi- wird. Ein Betriebsleiter, der permanent dem Rendite- täten, beim ICE weiß man eigentlich immer noch nicht druck des Unternehmens ausgesetzt ist, wird in ständi- ganz genau, warum die Achse gebrochen ist. gem Widerstreit stehen zwischen den notwendigen um- fangreichen Sicherheits- und Wartungsarbeiten und der Wir hatten einen wunderschönen parlamentarischen Vorgabe, dass die Züge schnell wieder in Betrieb kom- Abend mit vielen Experten, die alle nicht wirklich darle- men. Das wird übrigens auch von denjenigen, die sich da gen konnten, warum der sogenannte dauerfeste Stahl fachlich auskennen, genauso geschildert. doch nicht dauerfest ist und ob das einfach falsch kon- struiert worden ist. Wir erlebten einen wunderbaren Es geht darum, der Deutschen Bahn AG eine andere Streit zwischen der DB AG und der Bahnindustrie, wer Richtung zu geben. Genau darin besteht die Verantwor- denn jetzt eigentlich schuld sei. Dies ist für Nichtfach- tung der Politik. Wir wollen nicht das operative Geschäft leute kaum nachvollziehbar. Wir haben, wie gesagt, er- (B) betreiben, sondern wir wollen eine Bürgerbahn und lebt, dass Züge entgleist sind. Ich denke zum Beispiel an (D) keine Börsenbahn. Wir wollen, dass die Sicherheit im das Güterzugunglück bei Fürth. Als man genauer hinge- Mittelpunkt steht und nicht die Gewinne. Wir wollen schaut hat, hat man festgestellt, dass die Schrauben, die nicht Arriva in Großbritannien aufkaufen, sondern wir die Gleise befestigen sollten, lose waren, weil sie offen- wollen sicher reisen und das Gefühl haben, dass wir sichtlich seit vielen Jahren nicht mehr genauer überprüft auch in Zukunft gern in die Bahn steigen. worden sind. (Beifall bei der LINKEN) Das heißt, wir können zwei Dinge beobachten: Auf der einen Seite ist die Wartung zurückgefahren worden, Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: auf der anderen Seite ist der Unterhalt der Infrastruktur Frau Kollegin, Sie müssten dringend zum Ende kom- zurückgefahren worden. Jetzt können wir uns lange und men. ausführlich über gesetzliche Regelungen streiten. Sicher gibt es im Detail gesetzgeberischen Nachholbedarf, aber Sabine Leidig (DIE LINKE): es ist auch schon dargelegt worden, dass selbstverständ- Ich komme zum Ende. – Ein erster Schritt, um diesen lich nicht hinter jedem einzelnen Mitarbeiter der Gesetz- Kurs der Bahn zu ändern, wäre, den Aufsichtsrat anders geber stehen kann. Es handelt sich hier jedoch nicht um zu besetzen. ein x-beliebiges Unternehmen. In welchem Unterneh- men treten denn all diese Probleme auf? In einem Unter- nehmen, das sich zu 100 Prozent in öffentlichem Eigen- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: tum befindet, Frau Kollegin, Sie müssten schon zum Ende gekom- men sein. (Patrick Döring [FDP]: Und trotzdem die Sicherheitsprobleme!) Sabine Leidig (DIE LINKE): in einem Unternehmen, das im Schnitt über Regionali- Warum kann man nicht vonseiten der Bundesregie- sierungsmittel, über Zuschüsse zur Infrastruktur rund rung, die das alleinige Berufungsrecht hat, eine Bahnsi- 10 Milliarden Euro Steuergelder bekommt. Jetzt ist hier cherheitsfachkraft in den Aufsichtsrat berufen? Das ist schon zu Recht gesagt worden, dass die Gewährleistung unser Vorschlag. von Sicherheit nicht unbedingt davon abhängt, ob es sich um ein öffentliches oder privates Unternehmen handelt. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Als gutes Beispiel dafür sind die Fluggesellschaften ge- Frau Kollegin. nannt worden. 3562 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010

Dr. Anton Hofreiter (A) Aber bei der Bahn gab es eine ganz spezielle Fehlent- Ulrich Lange (CDU/CSU): (C) wicklung. Was ist in diesem Unternehmen passiert? In Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle- diesem Unternehmen wurde und wird noch immer ein gen! Kollegin Leidig, Kollege Hofreiter, ich habe Angst. Kurs verfolgt, der mehr oder weniger auf einen Börsen- Ich habe ganz große Angst, wenn ich morgen in einen gang hinausläuft. Im Zuge des Anstrebens eines Börsen- Zug steige, um in meinen Wahlkreis zu fahren. Wenn ich gangs hat man beim extrem langlebigen System Eisenbahn mir die Probleme vor Augen halte, die Sie gerade aufge- etwas ganz Einfaches gemacht, um die Gewinnerwartun- zählt haben, bleibe ich besser in Berlin oder suche mir gen zu erhöhen: Man hat schlichtweg weniger in die In- ein anderes Verkehrsmittel. frastruktur und in die Wartung investiert. Was ist der Ef- Ich glaube, es ist gut, dass wir uns über das wichtige fekt? Man spart natürlich kurzfristig Geld, und das Thema Bahnsicherheit unterhalten. Aber die Debatte Ganze schaut finanziell besser aus. Warum hat man das zeigt auch, wie differenziert und unterschiedlich unsere derart rücksichtslos gemacht, auch ohne auf den lang- Ansätze in vielen Punkten sind. Die Bahn ist und bleibt fristigen Wert des Unternehmens zu achten? Weil es ein trotz alledem, was gerade beschrieben wurde, das si- bestimmtes Datum gab, auf das man hingearbeitet hat. cherste Verkehrsmittel; das bitte ich festzuhalten. Wer (Patrick Döring [FDP]: Das gibt es ja nicht gehört hat, was Sie gesagt haben, müsste sonst nämlich mehr!) glauben, dass man in Deutschland in keinen Zug mehr steigen kann. Man hat darauf hingearbeitet, das Unternehmen spätes- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – tens 2008 an die Börse zu bringen. Das ist auch der Un- Dr. Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- terschied zu einem privaten, zu einem schon privatisier- NEN]: Ach! Das stand hier doch nicht zur De- ten Unternehmen. Diesem Ziel hat man alles andere batte! – Weiterer Zuruf vom BÜNDNIS 90/ untergeordnet. DIE GRÜNEN: Das hat doch niemand bestrit- (Patrick Döring [FDP]: Das ist ja vorbei!) ten!) – Ja, Herr Kollege Hofreiter, ich habe wirklich Angst. Man hat zum Beispiel der S-Bahn Berlin die Vorgabe gemacht, einen bestimmten Gewinn abzuliefern: zuerst Über eines müssen wir uns im Klaren sein: Absolute 50 Millionen Euro, dann 80 Millionen Euro und im nächs- Sicherheit wird es in einem Unternehmen mit über ten Jahr 130 Millionen Euro. Das waren harte Vorgaben. 200 000 Beschäftigten und bei über 5 Millionen Passa- Wenn von unten Einspruch geäußert und gesagt wurde, gieren pro Tag – ich brauche die ganze Liste wohl nicht dass diese Gewinnvorgaben nicht realisierbar sind, dann aufzuzählen – nicht geben. Dass wir uns alle um die hieß es: Ihr setzt diese Gewinnvorgaben um, komme, was größtmögliche Sicherheit im Eisenbahnverkehr bemü- (B) (D) da wolle. – Das ist auch an den Aussagen verschiedener hen, dürfte unstreitig sein. Ich glaube, auf die vielen Pro- Mitarbeiter deutlich geworden. Das heißt, die Börsen- bleme, die es in den vergangenen Jahren gegeben hat, ob orientierung hatte mit den Problemen bei der Sicherheit bei der S-Bahn Berlin oder mit ICE-Radsatzwellen, durchaus zu tun. Letztendlich hat der Eigentümer versagt, brauche ich nicht einzugehen. Aber eines funktioniert weil er nicht klargemacht hat, was er erwartet. natürlich nicht – das haben wir auch in der Anhörung im Ausschuss deutlich gemacht –: das Schwarzer-Peter- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Spiel zwischen DB AG und Bahnindustrie. Das können sowie bei Abgeordneten der LINKEN) wir nicht hinnehmen. Was passiert im Moment? Wir sehen, dass die Ent- ( [SPD]: Den Ramsauer will wicklung weiterhin in diese Richtung geht. 2,7 Milliar- keiner haben!) den Euro werden für den Kauf von Arriva ausgegeben. Im Übrigen ist es so, dass die Übertragung dieser An- Dieses öffentliche Unternehmen ist an 130 Standorten in den Bereichen Luftfrachtlogistik, Straßenlogistik und gelegenheit auf das EBA und die Einrichtung einer Seefrachtlogistik tätig. Dorthin verschwindet das Geld. Eisenbahn-Unfalluntersuchungsstelle des Bundes der richtige Ansatz war. Das EBA hat einen guten Job ge- Dieses Geld sollte bei der Schiene reinvestiert werden. Dann gäbe es auch nicht mehr in diesem Umfang Sicher- macht. Die neue Koalition setzt auf eine komplette Neu- heitsprobleme. Als Regierung, als Vertreter des Eigentü- orientierung, nicht auf Panikmache. mers ist es Ihre Aufgabe, dies umzusetzen. Kollege Beckmeyer, wenn ich Ihnen richtig zugehört habe, haben Sie in Ihrer Rede neben der üblichen Pres- Danke. seschau die Ausdünnung der Flotte, der Werkstätten usw. angesprochen. Mit dieser Bilanz des Gespanns (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Mehdorn/Tiefensee haben Sie 4 000 Tage SPD-Ver- sowie bei Abgeordneten der LINKEN) kehrspolitik aufgezählt. Überlegen Sie also vorher, was Sie uns erzählen wollen! Ansonsten wird das Ganze zum Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Bumerang. Für die CDU/CSU-Fraktion spricht der Kollege (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Ulrich Lange. der FDP) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Mit , lieber Kollege Pronold, haben neten der FDP) wir einen ausgezeichneten neuen Verkehrsminister. Das Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010 3563

Ulrich Lange (A) hat er nicht nur bei der Aschewolke bewiesen, das zeigt schlussempfehlung? – Die Gegenstimmen? – Enthaltun- (C) er auch, wenn er die Fehlleistungen des Ministeriums gen? – Damit ist die Beschlussempfehlung angenommen Tiefensee, insbesondere in der Bahnpolitik, korrigieren bei Zustimmung durch die Koalitionsfraktionen. Dage- muss. gen gestimmt haben SPD und Bündnis 90/Die Grünen. Enthalten hat sich die Fraktion Die Linke. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Florian Pronold [SPD]: Das glau- Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ab- ben Sie doch selber nicht einmal!) lehnung des Antrags der Fraktion der SPD auf Druck- – Natürlich. sache 17/655 mit dem Titel „Gewährleistung der Sicher- heit im Schienenverkehr muss Priorität haben“. Wer Sie haben den Antrag der Koalitionsfraktionen sicher- stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Die Gegen- lich gelesen. Er ist in vielen Punkten konkreter als der stimmen! – Enthaltungen? – Damit ist die Beschluss- Antrag der SPD. Sie wollen eine dynamische Sicher- empfehlung angenommen. Zugestimmt haben CDU/ heitsüberprüfung usw. Dazu steht aber nicht viel in Ih- CSU und FDP. Dagegen gestimmt hat die Fraktion der rem Antrag. SPD. Linke und Bündnis 90/Die Grünen haben sich ent- halten. Frau Kollegin Leidig, Sie haben von der guten alten Bahn geschwärmt. Natürlich; denn Sie wollen die Bahn Weiterhin empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe c nicht in private Hände geben, meinen, der Staat könne seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags das Unternehmen besser führen. Sie haben auch von der der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/1016 mit dem alten DDR-Reichsbahn geschwärmt. Ich glaube nicht, Titel „Den Schienenverkehr als sichere Verkehrsform er- dass ein Modell für die Zukunft ist, dass wir wieder in halten und stärken“. Wer stimmt für diese Beschluss- solchen Zügen sitzen wollen. empfehlung? – Die Gegenstimmen! – Enthaltungen? – (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Die Beschlussempfehlung ist ebenfalls angenommen bei Zustimmung durch CDU/CSU, FDP und SPD. Die Frak- Für uns steht der Neuanfang mit Dr. Grube und tion Die Linke hat dagegen gestimmt. Bündnis 90/Die Dr. Peter Ramsauer fest. Bahnpolitik wird im Verkehrs- Grünen haben sich enthalten. ministerium gemacht und nicht wie bei Mehdorn am Potsdamer Platz. Das ist für uns als Politiker das Ent- Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buchsta- scheidende. be d seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Druck- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und sache 17/544 mit dem Titel „Eisenbahnsicherheit ver- der FDP) bessern“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – (B) (D) Der Kunde muss im Mittelpunkt stehen. Pünktlichkeit, Die Gegenstimmen! – Enthaltungen? – Damit ist die Be- Sicherheit, Schnelligkeit und Zuverlässigkeit, das ist schlussempfehlung bei Zustimmung durch die Koali- das, was die Fahrgäste von der Deutschen Bahn und von tionsfraktionen angenommen, dagegen haben Bündnis 90/ den anderen Bahnunternehmen erwarten. Ich bin mir si- Die Grünen gestimmt, und enthalten haben sich SPD cher, dass wir hier auf einem guten Weg sind. und Linke. Lassen Sie mich zum Schluss festhalten: Die Bahn Damit rufe ich den Tagesordnungspunkt 10 auf: setzt ihre Ankündigungen um, ob es um den Vorstands- Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- posten für die Technik geht oder um die 6 Milliarden richts des Finanzausschusses (7. Ausschuss) zu Euro für die Nachfolger der IC- und ICE-Züge und vie- dem Antrag der Abgeordneten Martin Gerster, les mehr. Der Dienstleistungsanspruch steht im Mittel- Nicolette Kressl, Ingrid Arndt-Brauer, weiterer punkt. Die Sicherheit ist das höchste Gut. Wir alle sind Abgeordneter und der Fraktion der SPD der Sicherheit verpflichtet, wissen aber: Absolute Si- cherheit im Verkehr kann und wird es nie geben. Steuerfreiheit der Zuschläge für Sonntags-, Herzlichen Dank. Feiertags- und Nachtarbeit erhalten (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- – Drucksachen 17/244, 17/1458 – neten der FDP) Berichterstattung: Abgeordnete Olav Gutting Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Martin Gerster Ich schließe die Aussprache. Dr. Daniel Volk Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus- Über die Beschlussempfehlung stimmen wir im An- schusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung auf schluss namentlich ab. Drucksache 17/1459. Es ist zwischen den Fraktionen verabredet, dazu eine Unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung emp- halbe Stunde zu debattieren. – Dazu höre ich keinen Wi- fiehlt der Ausschuss die Annahme des Antrags der Frak- derspruch. Dann ist das so beschlossen. tionen der CDU/CSU und FDP auf Drucksache 17/1162 mit dem Titel „Gewährleistung der Sicherheit der Eisen- Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem bahnen in Deutschland“. Wer stimmt für diese Be- Kollegen Olav Gutting für die CDU/CSU-Fraktion. 3564 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt (A) (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. (Florian Pronold [SPD]: Ach nee! – Weitere (C) Dr. Daniel Volk [FDP]) Zurufe von der SPD: Ah!) Der Wegfall von Ausnahmeregelungen ist grundsätz- Olav Gutting (CDU/CSU): lich nur vertretbar, wenn er mit einer Steuerreform kom- Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! biniert wird, und in diesem besonderen Fall müssen zu- Die SPD stellt hier heute einen Antrag, dass die Steuer- sätzlich Tarifvereinbarungen hinzukommen, durch die freiheit der Zuschläge für Sonn-, Feiertags- und Schicht- die Schlechterstellung zum Beispiel gerade der Kranken- arbeit für alle Zeiten unangetastet bleiben soll. Man schwestern vermieden wird. wundert sich geradezu, dass Sie nicht beantragen, dass wir das ins Grundgesetz hineinschreiben. (Florian Pronold [SPD]: Das ist das Hintertür- chen, das aufgemacht wird!) (Martin Gerster [SPD]: Gute Idee!) Es ist ein reines Wahlkampfmanöver der SPD. Sie Wir wollen ein Einkommensteuerrecht, das Leistung versuchen hier wider besseres Wissen, die Union als Par- belohnt, statt sie zu bestrafen. tei hinzustellen, die die Abschaffung der Steuerfreiheit (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der Zuschläge will. Nur: Die Union plant gar keine Ab- der FDP) schaffung der Steuerfreiheit dieser Zuschläge. Ihr Antrag, den wir heute beraten, will aber eine Ausnah- (Florian Pronold [SPD]: Dann können Sie ja mevorschrift zementieren und damit eine die Arbeitneh- zustimmen! – Weiterer Zuruf von der SPD: mer begünstigende Rechtsfortbildung grundsätzlich ver- Sind Sie sich sicher?) hindern. Das würde im Übrigen auch unserem Ansatz widerspre- Wer wirklich arbeitnehmerfreundliche Politik machen chen, der besagt: Wir wollen für die Menschen in und die breite Mitte der Gesellschaft entlasten will, die Deutschland mehr Netto vom Brutto. in diesem Land seit Jahren die Lasten tragen muss, der (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und muss wie wir das Ziel haben, ein leistungsgerechtes, ein- der FDP) facheres und transparenteres Einkommensteuerrecht zu gestalten. Diese Debatte heute hat schlicht und ergreifend zwei Ursachen. Die eine ist: Wir stehen kurz vor den Wahlen (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) in Nordrhein-Westfalen. Die andere ist: Es liegt ein Gut- achten vor, in dem die Ergebnisse der Beurteilung der Das bedeutet nicht zwangsläufig die Abschaffung der (B) Steuerfreiheit der Zuschläge schwarz auf weiß niederge- Steuerfreiheit der Zuschläge für Sonntags-, Feiertags- (D) legt wurden. und Nachtarbeit. Es ist auch in keiner Weise Bestandteil unseres Regierungsprogramms. Das bitte ich Sie zur Es war Ihr Finanzminister Peer Steinbrück, der im Kenntnis zu nehmen. Juli 2007 ebenjenes Gutachten in Auftrag gegeben hat. Ich finde Ihren Antrag nicht nur unnötig, sondern ( [CDU/CSU]: Daran war der auch regelrecht anmaßend. Nicht nur, dass Sie wie im- Poß beteiligt!) mer in typischer SPD-Manier den Menschen in diesem Das Ergebnis dieses Gutachtens hinsichtlich der Steuer- Land vorschreiben wollen, was sie zu tun und zu lassen befreiung von Sonn-, Feiertags- und Nachtzuschlägen haben, können Sie jetzt nachlesen. In diesem Gutachten, das von Ihrem Finanzminister in Auftrag gegeben wurde, (Joachim Poß [SPD]: Reden Sie doch nicht so steht: Durch die Steuerfreiheit wird das Gerechtigkeits- einen Stuss! – Gegenruf von der FDP: Das prinzip verletzt. Verteilungspolitisch werden Besserver- stimmt doch!) dienende mit dieser Steuerbefreiung sogar stärker be- nein, jetzt versuchen Sie auch noch, zukünftigen Politi- günstigt. – Dort steht auch schwarz auf weiß: Die durch kergenerationen Vorschriften zu machen. die Steuerbefreiung der Zuschläge induzierte Anreizwir- kung widerspricht dem Ziel des Schutzes der Arbeitneh- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) merinnen und Arbeitnehmer in diesem Land. – So lautet das eindeutige Ergebnis dieser Studie, die von Ihrem Fi- Was ist denn, meine Damen und Herren von der SPD, nanzminister in Auftrag gegeben wurde. wenn in fünf, zehn oder vielleicht fünfzehn Jahren eine andere Politikergeneration der SPD eventuell auf die Ich will nochmals klarstellen, damit das auch jeder Idee kommt, dass das Ergebnis der von Ihrem Finanzmi- hier kapiert: Die Union und auch die christlich-liberale nister in Auftrag gegebenen Studie vielleicht doch Be- Koalition insgesamt planen trotz dieses Ergebnisses standteil einer großen Steuerstrukturreform werden soll? keine Streichung dieser Steuerfreiheit. Was ist, wenn eine SPD-Politikergeneration genauso wie das Gutachten eines Tages feststellt, dass die Abschaf- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- fung der Steuerfreiheit der Zuschläge eine verbesserte neten der FDP) Steuertransparenz und eine gleichmäßigere Einkommen- Ihrem Antrag, der hinsichtlich des Gestaltungswillens in steuerverteilung mit sich bringen würde? Was ist, wenn der Steuerpolitik ja eine Bankrotterklärung ist, werden eine zukünftige SPD-Politikergeneration wirklich eine wir trotzdem nicht zustimmen. arbeitnehmerfreundliche Politik machen will? Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010 3565

Olav Gutting (A) (Lachen bei Abgeordneten der SPD – Leo hen. Deswegen haben wir auch eine namentliche Ab- (C) Dautzenberg [CDU/CSU]: Das setzt voraus, stimmung beantragt. dass die dann an der Regierung sind!) (Beifall bei der SPD) Die meisten von Ihnen werden dann wahrscheinlich Zur FDP muss man an dieser Stelle ganz klar sagen: nicht mehr in diesem Parlament sein. Aber Ihren Nach- Sie kommen langsam Stück für Stück herunter, in den folgern wird man vorwerfen müssen, dass sie umgefal- Umfragewerten, aber auch in dem Größenwahn, was len sind. Ich weiß, dass Sie das nicht stört. Aber für uns Steuersenkungen anbelangt. Am Wochenende war ich in der Union hat das mit seriöser Politik nichts zu tun. unterwegs und habe festgestellt, dass Sie langsam ver- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) höhnt und verspottet werden. Am Nachbartisch in der Gaststätte wurde gesagt: Kennst du eigentlich das drei- Deshalb werden wir Ihrem populistischen und kurzsich- stufige Steuermodell, das die FDP angestrebt hat? – Na tigen Antrag heute nicht zustimmen. klar: 35 Milliarden Euro Steuersenkungen wurden vor (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – der Bundestagswahl versprochen. Im Koalitionsvertrag Florian Pronold [SPD]: Helau! Die beste Büt- waren es noch 24 Milliarden Euro. Jetzt sind es noch tenrede, die hier je gehalten wurde!) 16 Milliarden Euro. (Dr. Daniel Volk [FDP]: Davon sind 5 Milliarden Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Euro schon umgesetzt!) Martin Gerster spricht für die SPD-Fraktion. Das ist das dreistufige Steuermodell der FDP. (Beifall bei der SPD) (Beifall bei der SPD) Weil Ihnen langsam dämmert, dass dies alles nicht zu- Martin Gerster (SPD): sammenpasst, sagen Sie jetzt, wir bräuchten ein fünfstu- Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle- figes Modell. Na klar, die nächste Stufe wird nach der gen! Um eines klarzustellen: Die SPD steht zur Steuer- Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen zünden, und die freiheit der Zuschläge für Sonntags-, Feiertags- und fünfte Stufe wird dann kommen, wenn Sie sagen, Sie Nachtarbeit. Das war, ist und bleibt auch so, um das ganz hätten leider kein Geld für Steuersenkungen. So sieht klar zu sagen. Ihre Steuerpolitik aus. (Beifall bei der SPD) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (B) Das galt auch für die Zeit, als Bundes- (D) finanzminister war, und es galt für die Zeit, als Peer So langsam dämmert Ihnen auch, dass Sie nicht immer Steinbrück Bundesfinanzminister war. Denn als die Wis- noch mehr Schulden machen können. Der Kollege senschaftler dieses Gutachten vorgelegt haben, hat Peer Wissing hat gestern im Finanzausschuss gesagt: Die Steinbrück über den Sprecher des Ministeriums gleich Schuldenbremse ist ja viel härter, als wir ursprünglich klipp und klar erklären lassen, dass er der Letzte wäre, gedacht haben. der an dieser Regelung etwas ändern würde. (Dr. Daniel Volk [FDP]: Nein, als ursprünglich (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Der war ja gesagt wurde!) auch der letzte!) Sie merken langsam, dass das alles nicht zusammen- Auch das müssen Sie erwähnen, wenn Sie darauf ver- passt. Deshalb kommen Sie jetzt auf die Idee, das Thema weisen, wer die Studie in Auftrag gegeben hat. Subventionen wieder aus der Schublade zu ziehen. Die- ses Thema ist schon richtig. Mir fällt auch ein Subven- (Beifall bei der SPD) tionstatbestand ein, bei dessen Abschaffung wir sofort Das gehört zur Redlichkeit dazu, wenn man hier eine mitmachen würden, nämlich der Subventionstatbestand, Rede hält. den Sie hier im Dezember eingeführt haben: die Steuer- vergünstigung für Hoteliers. Was uns umtreibt und alarmiert, sind die Aussagen, die von der FDP zu hören sind. Noch im Dezember hat (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der haushaltspolitische Sprecher und Parlamentarische des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Geschäftsführer der FDP, Fricke, gesagt: An dieses Ihre Steuerpolitik und Ihre Vorschläge, die Sie jetzt vor Thema müssen wir ran. der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen präsentieren, (Joachim Poß [SPD]: Wo ist er denn jetzt?) zielen doch auf eines ab: Dem Hotelier wird gegeben, dem Nachtportier wird genommen. So sieht es doch de Erst vor ein paar Tagen hat Herr Pinkwart in Nordrhein- facto aus. Westfalen gesagt, dass diese Regelung auf den Prüfstand muss. (Beifall bei der SPD) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Das ist die Rechnung, die Sie aufmachen, wenn Sie sa- gen, die Steuervergünstigungen für diejenigen, die Das können wir nicht zulassen. Deswegen wollen wir nachts, am Sonntag und am Feiertag arbeiten, gehörten heute Klarheit von Ihnen, wo Sie bei diesem Thema ste- auf den Prüfstand. 3566 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010

Martin Gerster (A) (Dr. h. c. [CDU/CSU]: Wie Schauen Sie einmal nach Baden-Württemberg. Wenn die (C) sind die denn für den Chefarzt und die Kran- dortige Landesregierung gesagt hätte: „Jawohl, wir er- kenschwester?) werben diese Steuer-CD“, dann hätten wir entsprechend mehr Einnahmen generieren können, und zwar durch Jetzt müssen wir noch einmal über diejenigen reden, diejenigen, die die Steuerehrlichkeit leider mit Füßen um die es eigentlich geht. Es geht um 20 Millionen Er- treten, weil sie ihre Gelder ins Ausland schieben, zum werbstätige. Fast jeder Zweite hat heutzutage in Beispiel in die Schweiz, nach Liechtenstein oder in an- Deutschland nachts, am Sonntag oder am Feiertag zu ar- dere Länder. Das wäre ein guter Ansatzpunkt gewesen. beiten. Oft sind es Leute, die einen harten Job machen, die dafür sorgen, dass die Maschinen, die Bänder nicht (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Dr. Axel stillstehen, die in der Pflege oder im Gesundheitswesen Troost [DIE LINKE] – Volker Kauder [CDU/ tätig sind, Menschen, auf die wir letztendlich nicht ver- CSU]: Mannomann!) zichten können. Wir sind der Meinung, dass diese außer- Ich möchte ganz deutlich sagen: Die SPD steht zur gewöhnlichen Belastungen, die die Menschen eingehen, Steuerfreiheit der Zuschläge für Sonntags-, Nacht- und auch honoriert gehören. Das muss man auch ganz klar Feiertagsarbeit, weil die Menschen es verdient haben. sagen. Deswegen finde ich es schade, dass Sie davon re- Wir wollen wissen, wo Sie stehen. Deswegen sind wir den, dies alles gehöre auf den Prüfstand. Sind Sie es auf das Ergebnis der namentlichen Abstimmung, die nicht, die immer „mehr Netto vom Brutto“ sagen? nachher stattfindet, gespannt. (Dr. Daniel Volk [FDP]: Das bin ich!) Herzlichen Dank. Das passt doch überhaupt nicht zusammen. (Beifall bei der SPD) Ich will einmal erwähnen, was dies de facto aus- macht. Wir haben es einmal ausrechnen lassen. Ein Che- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: mikant mit zwei Kindern verliert etwa 4 800 Euro im Der Kollege Dr. Daniel Volk spricht für die FDP- Jahr, wenn diese Zuschläge besteuert werden. Ein Fraktion. Schichtarbeiter bei Infraserv – das haben wir von der Gewerkschaft erfahren – verliert bis zu 4 300 Euro im (Beifall bei der FDP) Jahr. Das darf doch wohl nicht wahr sein; das ist doch nicht mehr Netto vom Brutto, sondern das Gegenteil. Dr. Daniel Volk (FDP): Sie schaden nicht nur den Arbeitnehmerinnen und Ar- Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Lieber Herr Gerster, dass die SPD sich wieder (B) beitnehmern, sondern auch den Unternehmen; denn es (D) heißt ja immer wieder, wenn diese Steuerfreiheit falle, einmal zum Beschützer der Schichtarbeiter aufschwingt, müsse dies von den Tarifpartnern ausgeglichen werden. (Zuruf von der SPD: Das tun wir gern!) Das will ich einmal sehen, wenn Einbußen von 20 Prozent und mehr von den Tarifpartnern ausgeglichen die in der elfjährigen Regierungsverantwortung der SPD werden sollen. Das geht überhaupt nicht. Die Gewerk- eher zu den Verlierern der Steuerpolitik gehörten, schaften sind nicht so stark, und die Unternehmen kön- (Joachim Poß [SPD]: Was?) nen es gar nicht finanzieren. Was heißt in diesem Zu- sammenhang eigentlich Arbeitgeber? Es sind ja vielfach ist schon sehr verwunderlich. Arbeitgeber, die sich als öffentliche Hand zusammenfas- sen lassen: die Städte und Gemeinden, die Kreise, die (Beifall bei der FDP – Lachen bei der SPD) Sie mit Ihrer Gesetzgebung in den Ruin treiben. Im Jahr 2005 sind Sie mit dem Versprechen zur Bun- destagswahl angetreten, die Mehrwertsteuer nicht zu er- (Beifall bei der SPD) höhen. Das war ein ganz schön gigantischer Wahlbetrug. Wenn Sie das jetzt auf den Prüfstand stellen wollen, Sie haben es bei der Steuerfreiheit der Schichtzulagen ist das in meinen Augen nichts anderes als ein Anschlag belassen, weil Ihr Finanzminister Steinbrück durch die auf die soziale Balance unserer Arbeitsgesellschaft. Des- Mehrwertsteuererhöhung auf 19 Prozent viel besser ab- wegen verlangen wir an dieser Stelle ein klares Bekennt- kassieren konnte, und zwar insbesondere bei den mittle- nis, dass Sie an der Schraube „Steuerfreiheit für Zu- ren und unteren Einkommensschichten; denn die trifft schläge“ nicht drehen wollen. Nicht mehr und nicht das am stärksten. Schon dies belegt die fehlende Glaub- weniger verlangen wir von Ihnen. Wir wollen hier wis- würdigkeit der Sozial- und Steuerpolitik der SPD. Eine sen, wo Sie stehen, und deswegen wird es nachher eine Mehrwertsteuererhöhung ist die unsozialste Art der namentliche Abstimmung geben. Steuerpolitik, um es klar zu sagen. (Beifall bei der SPD) (Beifall bei der FDP) Wenn Sie sagen, Sie bräuchten mehr Einnahmen, um Ich finde es schon sehr interessant, dass die Steuer- Ihre geplanten Steuersenkungen durchführen zu können, freiheit der Schichtzulagen durch ein Papier aus dem dann habe ich noch eine gute Idee, wie Sie zu mehr Ein- SPD-geführten Finanzministerium infrage gestellt nahmen kommen. wurde; denn es stellt sich die Frage, warum ein SPD-Mi- nister das überhaupt begutachten lässt. Es war also ein (Volker Kauder [CDU/CSU]: Dann mal los!) SPD-Finanzminister, der diese Debatte angeheizt hat. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010 3567

Dr. Daniel Volk (A) (Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Und Stoiber Wenn einem Arbeitnehmer in Deutschland mit einem (C) 2002? Herr Stoiber hatte das 2002 in seinem monatlichen Einkommen von ungefähr 3 000 Euro von Wahlprogramm!) einer Lohnerhöhung netto weniger als die Hälfte bleibt, dann stimmt etwas mit der Steuergerechtigkeit nicht. Für uns Liberale – das möchte ich hier ganz klar sagen – steht eine Änderung bei der Steuerfreiheit der Schichtzu- (Joachim Poß [SPD]: Über Steuern oder über lagen nicht auf der Tagesordnung. Abgaben?) (Florian Pronold [SPD]: Bis wann? – Joachim Genau dort werden wir ansetzen. Nachdem wir die Fa- Poß [SPD]: Das widerspricht Ihrer Linie!) milien im Umfang von 4,6 Milliarden Euro entlastet ha- ben, werden wir nun den Mittelstandsbauch abbauen. Schauen Sie einmal in unser Wahlprogramm. Schauen Durch eine Umgestaltung des Steuertarifs in einen Sie in unser Steuerkonzept. Nirgends ist von einer Ab- Stufentarif kann die Ungerechtigkeit weitgehend besei- schaffung der Steuerfreiheit der Schichtzulagen die tigt werden. Rede. (Joachim Poß [SPD]: Ungerechter Stufentarif! (Florian Pronold [SPD]: Dann stimmen Sie Der zerstört die Besteuerung nach der wirt- halt zu!) schaftlichen Leistungsfähigkeit!) Im Gegensatz zu Ihnen von der SPD halten wir das, was Mit unserem Stufentarif werden genau die Berufs- wir vor der Wahl gesagt haben, auch ein. gruppen entlastet, von denen Sie behaupten, sie schützen (Beifall bei der FDP – Lachen bei der SPD – zu wollen; in Wirklichkeit haben Sie sie aber immer Joachim Poß [SPD]: Der war gut!) mehr belastet. Arbeit muss sich wieder lohnen in diesem Land. Mit (Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Auch das diesem Versprechen sind wir im Wahlkampf 2009 ange- stimmt nicht!) treten. Daran werden wir uns messen lassen. Die ersten Bei unserem Stufentarif wird die halbtags tätige Kran- Schritte sind getan. Für die nächsten haben wir umfang- kenschwester mit 12 000 Euro Jahreseinkommen bei der reiche Vorschläge gemacht. Lohnsteuer um fast 21 Prozent entlastet. Als Erstes ist unser Steuerreformkonzept zu nennen. (Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Das stimmt Wir wollen, dass sich Arbeit für alle Menschen in die- nicht! Die müssen mehr Steuern zahlen!) sem Land wieder lohnt. Deswegen wollen wir vor allem diejenigen entlasten, die in der Vergangenheit unter Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: (B) SPD-Verantwortung in besonderem Maße und über Ge- (D) bühr belastet wurden. Herr Kollege, möchten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Höll zulassen? (Joachim Poß [SPD]: Das ist so was von lüg- nerisch! Die Fakten sehen anders aus!) Dr. Daniel Volk (FDP): Dazu zählen nach unserer Ansicht insbesondere die un- Nein. – Der verheiratete Polizist mit einem Jahresein- teren und mittleren Einkommensschichten. Nach Jahren kommen von 30 000 Euro wird bei unserem Stufentarif der Dauer- und Zusatzbelastung durch rote Regierungs- um mehr als 11 Prozent entlastet. Er wird nur noch beteiligungen werden wir den Bürgern nun etwas von ih- 209 Euro im Monat an Steuern zahlen. rem Geld zurückgeben. Wir Liberale wollen eben einen anderen Weg gehen. Wir wollen Deutschland zu einem (Beifall bei der FDP – Joachim Poß [SPD]: Land des Aufstiegs machen. Worüber reden Sie denn? Bei welcher Gegen- finanzierung?) (Joachim Poß [SPD]: Sie wollen den Klientelweg!) Sie hingegen haben gerade diese Berufsgruppen in den letzten Jahren regelmäßig zur Kasse gebeten. Deshalb wollen wir einen fairen Steuer- und Sozialstaat. Wir wollen solide Staatsfinanzen im Interesse nachfol- (Miriam Gruß [FDP]: Genau so ist es!) gender Generationen. Es ist schon verwunderlich, dass dieser Antrag ausge- (Beifall bei der FDP – Lachen bei Abgeordne- rechnet von der SPD kommt, hat doch vor allem Ihre ten der SPD) Partei so viel an Glaubwürdigkeit verspielt, und das nicht erst seit Wochen, sondern seit Jahren. Ein fairer Steuer- und Sozialstaat stärkt den gesell- schaftlichen Zusammenhalt und erhöht die empfundene (Joachim Poß [SPD]: Dann gucken Sie sich Steuergerechtigkeit bei den Bürgerinnen und Bürgern. mal Ihre Umfragen an, wie es mit Ihrer Glaub- Die Bereitschaft der Bürger, Steuern zu zahlen, bildet die würdigkeit steht! Lassen Sie sich doch als Lift- finanzielle Grundlage jedes staatlichen Handelns boy im Hotel anstellen!) (Joachim Poß [SPD]: Sie wollen Steuerfreiheit Sie haben vor Wahlen oft viel versprochen und hinterher für Millionäre!) wenig davon gehalten. Auch Sie wollten einmal den Mittelstandsbauch abschaffen. Auch Sie wollten einmal und sollte nicht durch eine ungerechte Steuersystematik die Mehrwertsteuer nicht erhöhen. Auch Sie wollten ein- torpediert werden. mal das Gesundheitssystem reformieren. Auch Sie woll- 3568 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010

Dr. Daniel Volk (A) ten einmal gerechte Steuern. Aber nichts davon haben nicht mehr tariflich gebunden sind, weil Verkäuferinnen (C) Sie umgesetzt, da Ihre Wahlversprechen eben nur eine oftmals abends arbeiten müssen. Manche kommen erst sehr geringe Halbwertszeit haben. Das ist eine unehrli- um 23 Uhr aus dem Geschäft, ohne für ihre Nachtarbeit che und unglaubwürdige Politik. Zuschläge zu bekommen. Wir fordern von Ihnen, sich diesem Problem endlich zu stellen und den Mindestlohn (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten gesetzlich zu verankern. Eine solche Vereinbarung sucht der CDU/CSU) man in Ihrem Koalitionsvertrag aber leider vergebens. Allein aus diesem Grund werden wir Ihrem Antrag die Zustimmung verweigern. Zum FDP-Steuerkonzept. Herr Volk, was steht wirk- lich in Ihrem Papier? Sie haben geschrieben, dass alle (Florian Pronold [SPD]: Aha!) Ausnahmen von der Einkommensteuerpflicht zur Dispo- Es kann sowieso niemand erahnen, wann Sie Ihre Mei- sition gestellt werden sollen. Natürlich ist die Steuerfrei- nung wieder ändern. Die christlich-liberale Koalition heit von Zuschlägen eine Ausnahme. Also stellen Sie sie hingegen handelt. Mit unserer Politik sorgen wir für Ver- zur Disposition. Sagen Sie doch bitte wenigstens hier die besserungen in Deutschland, und zwar für alle Men- Wahrheit! schen. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- Vielen Dank. neten der SPD – Dr. Daniel Volk [FDP]: Dann zitieren Sie aber auch richtig!) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Florian Pronold [SPD]: Einmal ganz nebenbei gesagt: Sie laufen immer Schwach begonnen, stark nachgelassen!) durchs Land und sagen, die Sozialabgaben seien zu hoch. Wenn Sie die Steuerfreiheit der Zuschläge ab- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: schaffen, dann ist natürlich auch dieser Teil des Einkom- mens sozialversicherungspflichtig. Damit würden sich Die Kollegin Dr. Barbara Höll hat das Wort für die auch für die Unternehmen die Sozialenabgaben erhöhen. Fraktion Die Linke. Irgendwie wissen Sie auch nicht, was Sie wollen. (Beifall bei der LINKEN) (Dr. Daniel Volk [FDP]: Aber wir wollen das doch gar nicht ändern, Frau Kollegin!) Dr. Barbara Höll (DIE LINKE): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Ich muss Ihnen noch etwas sagen: Gerade für Kran- Kollegen! Herr Gutting hat hier eine völlig neue Weis- kenschwestern – das gilt auch für viele andere Berufe, in (B) heit verkündet: Das Steuersystem soll Leistung beloh- denen wenig gezahlt wird – ist die Steuerfreiheit für (D) nen. – Ihr Steuersystem belohnt den Besitz hoher Ver- Nacht-, Feiertags- und Sonntagszuschläge wichtig für mögen und die Bezieher hoher und höchster die Aufbesserung ihres Einkommens. Wir wissen, dass Einkommen. Das ist die Realität; das ist Ihr Leistungsbe- gerade deshalb viele in diesen Bereichen arbeiten – so griff. sie einen Arbeitsplatz bekommen –, weil sie sich dann darüber freuen können, dadurch wenigstens ein kleines (Beifall bei der LINKEN) bisschen mehr zu verdienen. Ich sage Ihnen – ich glaube, so steht es in jedem Ökono- mielehrbuch –: Steuern dienen in erster Linie dazu, das (Dr. Daniel Volk [FDP]: Deshalb wollen wir es Gemeinwesen zu finanzieren. Steuern sollen nach der doch auch gar nicht ändern!) wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit gezahlt werden. Ge- Wir sagen Ihnen: Die derzeitige Regelung ist richtig, sie nau deshalb ist die Steuerfreiheit von Sonntags-, Nacht- ist wichtig und gesellschaftlich gerechtfertigt. Wenn Sie und Feiertagszuschlägen gerechtfertigt. Subventionen streichen wollen, dann fangen Sie bei Ih- (Beifall bei der LINKEN) rem ermäßigten Mehrwertsteuersatz für die Hotelüber- nachtungen an, der in einer völlig sinnlosen Form veran- Ob unsere gesundheitliche Versorgung sichergestellt ist, kert wurde. ob wir die Zeitung bekommen, weil Drucker nachts ar- beiten, ob Busfahrer und Straßenbahnfahrer nachts tätig Noch ein Letztes, Herr Volk, da Sie meine Zwischen- sind – das alles ist von großer Bedeutung für unser Ge- frage vorhin nicht zugelassen haben. Sie haben hier wie- meinwesen; dies gewährleistet sein Funktionieren. An- der die Unwahrheit gesagt. Sie haben nur den von Ihnen gesichts des zusätzlichen Aufwands, den Menschen in vorgeschlagenen Stufentarif berücksichtigt. Nach Ihrem Kauf nehmen, wenn sie zu ungewöhnlichen Arbeitszei- Gesamtkonzept – falls es jemals Wirklichkeit werden ten tätig sind, ist es gerechtfertigt, dass ein Teil ihres wird – müssten insbesondere die Bezieherinnen und Be- Einkommens von der Steuer befreit wird. Deshalb unter- zieher niedriger Einkommen – um bei Ihrem Beispiel der stützen wir den Antrag der SPD. Krankenschwester mit einem Einkommen von 12 000 Euro zu bleiben, das Sie hier angeführt haben – durch (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- die Streichung der steuerlichen Regelung des Arbeitneh- neten der SPD) merpauschbetrages mehr Steuern zahlen als jetzt. Dabei Ich sage Ihnen hier noch einmal: Der Skandal in die- habe ich noch nicht mal eingerechnet, dass Sie am liebs- sem Lande ist, dass viele Menschen von der Steuerbe- ten auch noch die Zuschläge nicht mehr steuerfrei stellen freiung oft nichts haben, weil Arbeitsverträge vielfach wollen. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010 3569

Dr. Barbara Höll (A) Ich sage Ihnen hier klipp und klar: Sorgen Sie dafür, ging, ob wir eine zusätzliche Ausnahme bei der Umsatz- (C) dass die Leistung aller, die in unserem Land arbeiten, steuer einführen. Was zählte da der Bürokratieabbau? – auch ordentlich bezahlt wird, sodass sie dann auch Steu- Gar nichts zählte er, weil es Ihre Klientel betraf. Wir ha- ern zahlen können, und lassen Sie die Finger von der ben ganz großes Misstrauen – nicht nur wir, sondern Steuerfreiheit der Nacht-, Sonn- und Feiertagszuschläge. auch die Bürgerinnen und Bürger in diesem Land – ge- genüber einer Partei, die immer am falschen Ende die Vielen Dank. Systematik entdeckt. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- neten der SPD) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Der Kollege Dr. Gerhard Schick hat das Wort für Denken wir einmal zurück! Wir wissen sehr gut, wie Bündnis 90/Die Grünen. eine schwarz-gelbe Regierung mit großen Löchern um- geht. In der Frage „Wie finanzieren wir die Wiederverei- Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): nigung?“ hat Schwarz-Gelb durch eine hohe Verschul- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! dung die Zukunft und durch die Anhebung der Es ist ein interessanter Vorwurf vonseiten der FDP, dass Sozialversicherungsbeiträge die Masse der Arbeitnehme- das Wahlkampf sei, wenn man wissen möchte, was Sie rinnen und Arbeitnehmer belastet – mit hoher Arbeitslo- vorhaben. Ist es denn nicht Wahlkampf, wenn wir auf sigkeit als Folge. jede Frage zu den Finanzierungsmöglichkeiten – wir hat- ten das ja gestern in der Aktuellen Stunde – auswei- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN chende Antworten bekommen? Wir wissen, dass im Fi- und bei der SPD) nanzministerium schon vorbereitet wird, was nach der Ich befürchte, Sie werden genau das wiederholen, und Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen alles kommen das lassen wir nicht zu. soll, aber man traut es sich natürlich nicht aufzuschrei- ben. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Dr. Daniel Volk [FDP]: Woher wissen Sie und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der das?) LINKEN – Dr. Daniel Volk [FDP]: Bei Rot- Grün war es nicht besser, nur dass da keine Ist das kein Wahlkampf? – Ich glaube, sauber ist es, vor Wiedervereinigung war!) der Wahl zu sagen, was geplant ist, und nicht erst hinter- (B) her die Katze aus dem Sack zu lassen. Das ist es aber, Wir haben heute genau gehört, dass man sich im End- (D) was Sie vorhaben. effekt nicht festlegen will. Wo immer es um die Frage geht „Wie finanziert man das?“, weichen Sie aus. Die (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Debatte gestern zur Finanzierung der FDP-Vorschläge und bei der SPD – Dr. Daniel Volk [FDP]: Das war doch bezeichnend. Wo waren denn die Antworten? haben wir bei der Bundestagswahl auch so ge- Sie haben verschiedene Vorschläge gemacht. Sie wollen macht!) mit der Kopfpauschale eine Entsolidarisierung im Ge- – Ja, ich erinnere mich sehr gut an die Podiumsdiskussio- sundheitssystem. Die Solidarität soll ins Steuersystem. nen im Bundestagswahlkampf, wo von der FDP auf je- Da kommt sie aber nie an. Das machen wir nicht mit. Sie dem Podium gesagt wurde: Diese 35 Milliarden Euro sagen nicht, was der Ersatz für die Gewerbesteuer sein kommen. Das können wir uns leisten. Wir haben gar soll. kein Haushaltsloch. Das wird alles kommen. – Inzwi- (Dr. Daniel Volk [FDP]: Doch! Das haben wir schen sind Sie bei der Hälfte des Betrages angelangt. gesagt! – Weiterer Zuruf von der FDP: Zuhö- Warum sind Sie da? – Weil es schon damals falsch war, ren!) was Sie im Wahlkampf gesagt haben. Das passiert jetzt wieder. Wenn man unter all Ihre Vorschläge einen Strich macht, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN stellt man fest: Da ist ein ganz großes Loch; es fehlen und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der über 80 Milliarden Euro. Wir haben die große Befürch- LINKEN) tung, dass in dieses Loch von 80 Milliarden Euro die Steuerfreiheit der Zuschläge für Sonntags-, Feiertags- Die lustige Erfahrung, die wir mit Ihnen machen, ist und Nachtarbeit – 2 Milliarden Euro – gehen soll; das – deswegen haben wir genau bei diesem Thema ganz werden Sie brauchen, wenn Sie nachher den Strich da- große Befürchtungen –: Sie ziehen die Themen Vereinfa- runter machen. Sie werden damit die Entsolidarisierung chung und Bürokratieabbau immer dann aus der Tasche, weiterführen. Es wird wieder so sein, wie wir es von Ih- wenn es gerade in Ihr Konzept passt – und das ist das nen kennen: Entlastung oben, Belastung unten. Das wer- Konzept der Entsolidarisierung dieser Gesellschaft. den wir nicht zulassen. Deswegen können wir dem An- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN trag der SPD heute nur zustimmen. sowie bei Abgeordneten der SPD) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Wir haben doch gehört, wie wichtig Ihnen die Vereinfa- und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der chung und der Bürokratieabbau waren, als es darum LINKEN) 3570 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010

(A) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: (Dr. Gerhard Schick [BÜNDNIS 90/DIE (C) Der Kollege Peter Aumer spricht für die CDU/CSU- GRÜNEN]: Und Hoteliers! – Joachim Poß Fraktion. [SPD]: Und Hotelkettenbesitzer!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Gerade das waren auch die Ziele dieses ersten Maßnah- menpakets der Bundesregierung. Diese Ziele in die Tat umzusetzen, ist auch aller Anstrengungen wert, Herr Peter Aumer (CDU/CSU): Schick, denn die Familien sind die Keimzellen unserer Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Gesellschaft; man muss immer das Ganze sehen, Herr Herren! „Steuerfreiheit der Zuschläge für Sonntags-, Dr. Schick. Feiertags- und Nachtarbeit erhalten“ – ein Antrag, der durchaus seine Berechtigung hätte, wenn jemand aktuell (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) daran denken würde, diese Steuerfreiheit abzuschaffen. Die Unternehmen sind mit ihren Mitarbeiterinnen und (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Mitarbeitern für den Erfolg unseres Landes und für das Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: So ist es! – erfolgreiche Schultern dieser schwierigen wirtschaftli- Florian Pronold [SPD]: Niemand will eine chen Situation gemeinsam verantwortlich. Mauer bauen!) Es wird auch weiter steuerliche Entlastungen geben, Was Sie hier zum Thema machen, Herr Pronold, ist in insbesondere für die unteren und mittleren Einkommens- der christlich-liberalen Koalition kein Thema. bereiche sowie für Familien mit Kindern. Die Steuer- schätzung im Mai wird zeigen, welche Potenziale mög- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) lich sind. Ebenso wird es eine spürbare Vereinfachung des Steuerrechts geben. Auch dafür wurden wir gewählt, Anträge wie dieser aus rein politischem Aktionismus he- und dafür steht die Koalition aus CDU/CSU und FDP. raus sind nicht zielführend. Im Gegenteil: Sie schaden in einer ausgewogenen Debatte über eine zukunftsgerich- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) tete und nachhaltige Politik. Gerade in Zeiten knapper Staatskassen ist es grund- Im Koalitionsvertrag der christlich-liberalen Koalition sätzlich richtig, über Subventionen zu diskutieren und steht ein klares Bekenntnis zu einer soliden und zielge- diese zu überprüfen. Wie vorhin schon gehört, war es richteten Haushalts- und Finanzpolitik, eine klare Aus- doch der Bundesfinanzminister der SPD, Herr Steinbrück, richtung also auf Nachhaltigkeit und Generationenge- der in einer Untersuchung die größten Subventionstatbe- rechtigkeit. Grundgesetzlicher Handlungsrahmen hierfür stände im Steuerrecht hinterfragen ließ. Die Ergebnisse, (B) ist die Schuldenbremse. Sie wird bis 2016 und darüber hi- meine Damen und Herren von der Opposition, müssten (D) naus große Anstrengungen von uns allen verlangen. Sie eigentlich kennen, zumal dann, wenn man Mitglied Diese Anstrengungen sind wichtig, um unserem Staat und des Finanzausschusses ist. den nachfolgenden Generationen neue Perspektiven und Spielräume zu geben. Vor diesem Hintergrund wirkt Ihr Das deutsche Steuerrecht muss sich für den Erhalt Antrag, meine Damen und Herren der SPD, wie eine reine von Arbeitsplätzen im internationalen Standortwettbe- Schauveranstaltung, wie Populismus pur. werb um Investitionen behaupten, muss den sozialen Ausgleich sicherstellen und vor allem von den Steuer- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) zahlerinnen und Steuerzahlern als gerecht empfunden werden. Was wollen Sie mit Ihrem Antrag erreichen? Augen- scheinlich wollen Sie die Bösen von CDU/CSU und (Joachim Poß [SPD]: Was macht die CSU?) FDP in die unsoziale Ecke stellen Beispiele hierfür sind der Sparerfreibetrag, die Riester- (Zuruf von der SPD: Genau!) Förderung und eben auch die Steuerbefreiung von Zu- schlägen für Sonntags-, Feiertags- und Nachtarbeit. – genau, ja – Diese wird von der Bevölkerung anerkannt und ge- schätzt. Das wird auch durch die Politik der christlich-li- (Florian Pronold [SPD]: Da gehören sie auch beralen Koalition gewürdigt werden. Gerade deshalb hin!) steht die Aufhebung der Steuerbefreiung von Zuschlä- und die SPD als die großen Retter – von was auch immer – gen für Sonntags-, Feiertags- und Nachtarbeit überhaupt herausstellen. Welch kurzfristig gedachte Oppositions- nicht zur Diskussion. Eine Abschaffung ist mit uns nicht politik! Ja, in die Opposition gehören Sie, meine Damen zu machen. und Herren! (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) neten der FDP) In Ihrer Antragsbegründung wird vor allem deutlich, Wir können Ihrem Antrag nicht zustimmen; denn un- dass Sie die bisherigen Maßnahmen der christlich-libera- antastbar sollte in Deutschland nur eines sein: die verfas- len Koalition nicht verstehen und nicht verstehen wollen. sungsrechtlich garantierten Grundrechte. Mit dem Wachstumsbeschleunigungsgesetz, das zum Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. 1. Januar dieses Jahres in Kraft getreten ist, wurden Fa- milien, Unternehmen und Erben entlastet. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010 3571

(A) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Gesetz zur Übertragung von Aufgaben auf den Stabili- (C) Damit schließe ich die Aussprache. tätsrat interessant finden, freut mich. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Finanz- (Alexander Bonde [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- ausschusses zu dem Antrag der Fraktion der SPD mit NEN]: Warum sind die ersten zwei Reihen der dem Titel „Steuerfreiheit der Zuschläge für Sonntags-, Regierungsbank komplett leer?) Feiertags- und Nachtarbeit erhalten“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Druck- Ich werde in meiner Rede versuchen, Ihnen die interes- sache 17/1458, den Antrag der Fraktion der SPD auf santen Teile davon nahezubringen. Drucksache 17/244 abzulehnen. Die Debatte im Vorfeld hat gezeigt, dass das, was Wir stimmen über die Beschlussempfehlung auf Ver- jetzt ansteht, die Folge von dem ist, was wir vor unge- langen der Fraktion der SPD namentlich ab. Ich bitte die fähr einem Jahr beschlossen haben. Im Mai 2009 haben Schriftführerinnen und Schriftführer, die vorgesehenen wir nämlich im Bundestag die Föderalismuskommission Plätze einzunehmen. – Sind alle Urnen besetzt? – Das ist abgeschlossen, indem wir die Schuldenbremse in der der Fall. Dann eröffne ich die Abstimmung. Verfassung verankert haben. Wer sich vor kurzem die Reden zum Haushalt, aber auch die Reden am heutigen Ist ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine Tag angehört hat, der weiß, dass das Wort „Schulden- Stimme noch nicht abgeben konnte? – Das scheint mir bremse“ in annähernd jeder zweiten Rede vorgekommen nicht der Fall zu sein. Dann schließe ich die Abstim- ist. mung und bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis wird Ih- Nicht nur zwei Drittel des Deutschen Bundestags, nen später bekannt gegeben.1) auch zwei Drittel des Bundesrates und mittlerweile fast zwei Drittel der Bürgerinnen und Bürger halten die Wir setzen jetzt unsere Beratungen fort. Haushaltskonsolidierung und Generationengerechtig- Ich rufe Tagesordnungspunkt 11 auf: keit angesichts der Schulden, die wir anhäufen, für das wichtigste Thema dieser Legislaturperiode. Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre- gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – zur Abschaffung des Finanzplanungsrates Alexander Bonde [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Ihre Regierung nicht, sonst säße je- – Drucksache 17/983 – mand auf der Regierungsbank!) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- In einer Umfrage sagen 62 Prozent der Bürger, ihre richts des Haushaltsausschusses (8. Ausschuss) (B) größte Angst sei nicht der Verlust des eigenen Arbeits- (D) – Drucksache 17/1465 – platzes oder das Entstehen von Umweltschäden. 62 Prozent der Deutschen sagen, sie hätten große bzw. Berichterstattung: sehr große Angst vor den Folgen der nicht nur im Bund, Abgeordnete sondern auch in den Ländern und Kommunen angehäuf- Carsten Schneider (Erfurt) ten Schuldenlast. Wir hatten in der Vergangenheit ausrei- Otto Fricke chend Gelegenheit, über die Situation der Kommunen zu Dr. Gesine Lötzsch reden. Alexander Bonde Die Schuldenbremse ist bei der Haushaltskonsolidie- Hierzu liegen Änderungsanträge der Fraktion Die rung eigentlich das letzte Instrument. Das Verschul- Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor. dungsproblem entsteht nicht erst mit Überschreiten der Es soll eine halbe Stunde debattiert werden. – Dazu Schuldenbremse, sondern ist bereits im Vorhinein abseh- sehe ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlos- bar. Das hat sich durch die Wirtschaftskrise nicht geän- sen. dert: Sie hat die Verschuldungssituation verschärft, aber nicht begründet. (Unruhe) (Alexander Bonde [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- – Das ist ein wirklich interessantes Thema. Denjenigen, NEN]: Aha!) die die Debatte miterleben möchten, empfehle ich, dies im Sitzen zu tun. Denjenigen, die sich aktuell für andere Schon in der Vergangenheit wurden die Haushalte Dinge interessieren, empfehle ich, den Saal zu verlassen. überwacht. Es gab einen Finanzplanungsrat, der eigent- Das Wort hat die Kollegin Antje Tillmann für die lich langfristig Konzepte der Haushaltskonsolidierung CDU/CSU-Fraktion. erstellen sollte. Der Finanzplanungsrat gab Empfehlun- gen für eine Koordinierung der Finanzplanungen des (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Bundes, der Länder und der Gemeinden, insbesondere für eine gemeinsame Ausgaben- und Defizitpolitik. Er Antje Tillmann (CDU/CSU): erörterte die Vereinbarkeit der Haushalte von Bund und Frau Präsidentin, herzlichen Dank für die Mühe, für Ländern mit dem Europäischen Stabilitäts- und Wachs- eine interessierte Zuhörerschaft zu sorgen. Dass Sie das tumspakt. Heute lösen wir den Finanzplanungsrat auf und über- 1) Ergebnis Seite 3572 D tragen Teile seiner Aufgaben auf den neuen Stabilitäts- 3572 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010

Antje Tillmann (A) rat. Das Wort an sich zeigt schon, dass der Stabilitätsrat voranzutreiben. Das ist ein erheblicher Fortschritt ge- (C) weitaus mehr Macht, Einfluss und Gestaltungsmöglich- genüber der bisherigen Regelung beim Finanzplanungs- keiten als der Finanzplanungsrat haben wird. Das Wort rat. „Finanzplanung“ sagt noch nichts über eine Konsolidie- Hinzu kommt, dass die Berichte veröffentlicht wer- rung aus. Das Wort „Stabilität“ hingegen bezeichnet die den. Die aktuelle Situation in Griechenland, aber auch Fähigkeit eines Systems, sich wiederherzustellen, nach die Reaktionen auf den ersten blauen Brief der Europäi- einer Störung wieder in den Ausgangszustand zurückzu- schen Union an Deutschland haben gezeigt, dass gerade kehren. die öffentliche Debatte dazu beiträgt, dass man bei der Wir brauchen nicht nur eine Finanzplanung, sondern Konsolidierung der Haushalte nicht nachlässt; Bürgerin- wir brauchen auch Stabilität. Deswegen ist die Entschei- nen und Bürger kommen ihrer Kontrollpflicht, ihrem dung richtig, dem Stabilitätsrat die Aufgabe der Überwa- Kontrollrecht sehr wohl nach und üben hinsichtlich der chung zu übertragen; sie ist von den Sachverständigen in Konsolidierung Druck auf die Politiker aus. der Anhörung einstimmig als guter Schritt in die richtige Wir sind damit nicht am Ende. Ich gebe zu: Wir haben Richtung bezeichnet worden. im Stabilitätsratsgesetz noch keine Maßnahme dazu be- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- schlossen, was passieren soll, wenn sich ein Land oder neten der FDP – Alexander Bonde [BÜND- der Bund längerfristig gegen Sanierungsmaßnahmen NIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann muss man beim stellt oder in seinen eigenen Sanierungsbemühungen Haushalt auch was machen!) nachlässt. Es gibt also keine Sanktionen. Ich bin aber op- timistisch, dass wir in diesem Augenblick gar keine – Genau das werden wir tun, Herr Kollege. Der Stabili- Sanktionen brauchen; denn die Debatten in diesem tätsrat wird nämlich jährlich über die Haushaltslage des Haus, aber auch im Bundesrat und in den Kommunen Bundes und der einzelnen Länder beraten. Selbstver- zeigen, dass der Ernst der Situation eindeutig angekom- ständlich hat er das Recht, darauf hinzuweisen, wenn der men ist, sowohl bei Politikerinnen und Politikern Haushalt einen Stand erreicht, der weit vor Greifen der Schuldenbremse eine Notlage signalisiert. (Alexander Bonde [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Bei der FDP ja wohl nicht!) (Alexander Bonde [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Diesen Hinweis muss man bei Ihnen – auch bei der FDP, lieber Kollege; da bin ich ganz si- machen!) cher – Der Stabilitätsrat entwickelt mit der entsprechenden (Alexander Bonde [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Gebietskörperschaft, bei der eine Haushaltsnotlage fest- NEN]: Nein!) (B) (D) gestellt wird, ein Sanierungsprogramm, wobei der Bund als auch bei den Bürgern. Ich bin sicher, dass wir die oder das Land das Verfahren in eigener Verantwortung, Konsolidierung gemeinsam fortführen werden. Ich aber unter Beobachtung des Stabilitätsrates durchführt. glaube deshalb, dass wir zurzeit auf Sanktionierungsme- Sind die Sanierungsanstrengungen unzureichend, kann chanismen verzichten können; vielleicht müssen wir ir- der Stabilitätsrat zu einer verstärkten Haushaltssanierung gendwann darauf zurückkommen. auffordern. Im Moment bin ich froh, dass sich der Stabilitätsrat (Alexander Bonde [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- nächste Woche konstituiert und dann seine Aufgaben NEN]: Das wird er ja müssen, so wie Sie drauf wahrnimmt. Ich wünsche allen Beteiligten in diesem sind!) neuen Gremium alles Gute und möglichst wenige Sanie- rungsfälle. Ich bin sicher, dass der Rat einen wesentli- Dabei hilft es, dass es Kennziffern geben wird, die die chen Beitrag zur Haushaltskonsolidierung leistet. Haushaltsdaten vergleichbar machen. Das ist heute nicht so: Wir können die Schuldenstandsquote, die Zinsquote Ich danke Ihnen. und die Schulden gar nicht von Land zu Land oder zwi- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) schen Bund und Ländern vergleichen, weil es unter- schiedliche Kennziffern gibt, je nachdem, ob die Buch- führung doppisch oder kameralistisch durchgeführt Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: wird. Das zu ändern, ist die erste Aufgabe des Stabili- Ich komme zu Tagesordnungspunkt 10 zurück und tätsrates. gebe Ihnen das von den Schriftführerinnen und Schrift- führern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstim- Wir haben den Stabilitätsrat im Vergleich zum Fi- mung über die Beschlussempfehlung des Finanzaus- nanzplanungsrat gestärkt, indem wir das Einstimmig- schusses bekannt. Es ging um die Steuerfreiheit der keitsprinzip aufgegeben haben. Der Finanzplanungsrat Zuschläge für Sonntags-, Feiertags- und Nachtarbeit, konnte nur einstimmig Beschlüsse fassen; der Stabili- Drucksachen 17/244 und 17/1458. Abgegeben wurden tätsrat kann dies mit einer Zweidrittelmehrheit. Das gilt 570 Stimmen. Mit Ja haben gestimmt 308 Kolleginnen für Beschlüsse gegen ein Land, aber auch umgekehrt: und Kollegen, mit Nein haben gestimmt 262 Kollegin- Zwei Drittel der Länder können den Bund ermahnen und nen und Kollegen, Enthaltungen gab es nicht. Die Be- ihn auffordern, seine Haushaltskonsolidierung stärker schlussempfehlung ist damit angenommen. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010 3573

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt (A) Endgültiges Ergebnis Markus Grübel Matthias Lietz Dr. (C) Abgegebenen Stimmen: 570; Dr. Thomas Silberhorn davon Monika Grütters Patricia Lips Johannes Singhammer Dr. Karl-Theodor Freiherr Dr. Jan-Marco Luczak Jens Spahn ja: 308 zu Guttenberg Dr. Michael Luther Carola Stauche nein: 262 Olav Gutting Dr. Dr. Thomas de Maizière Ja Holger Haibach Hans-Georg von der Marwitz Christian Freiherr von Stetten Dr. CDU/CSU Jürgen Hardt (Altötting) Gerda Hasselfeldt Dr. Stephan Stracke Dr. Max Straubinger Mechthild Heil Dr. h. c. Hans Michelbach Peter Aumer Ursula Heinen-Esser Dr. Thomas Strobl (Heilbronn) Dorothee Bär Lena Strothmann Thomas Bareiß Michael Stübgen Norbert Barthle Michael Hennrich Dr. Günter Baumann Dr. Gerd Müller Stefan Müller (Erlangen) Antje Tillmann Ernst-Reinhard Beck Dr. Hans-Peter Uhl (Reutlingen) Ernst Hinsken Nadine Müller (St. Wendel) Veronika Bellmann Dr. (Kleinsaara) Dr. Christoph Bergner (Bremen) Stefanie Vogelsang Robert Hochbaum Andrea Astrid Voßhoff Karl Holmeier Dr. Georg Nüßlein Dr. Johann Wadephul Clemens Binninger Franz-Josef Holzenkamp Franz Obermeier Joachim Hörster Wolfgang Börnsen Anette Hübinger (Hamburg) (Bönstrup) Thomas Jarzombek Dr. Michael Paul Peter Weiß (Emmendingen) Dr. Dieter Jasper Rita Pawelski Sabine Weiss (Wesel I) Dr. Ulrich Petzold Klaus Brähmig (Konstanz) Dr. Karl-Georg Wellmann Michael Brand Dr. Egon Jüttner Sibylle Pfeiffer Annette Widmann-Mauz Dr. Bartholomäus Kalb Klaus-Peter Willsch Hans-Werner Kammer Elisabeth Winkelmeier- Dr. Steffen Kampeter Christoph Poland Becker Dr. Ruprecht Polenz (B) Dr. Matthias Zimmer (D) Heike Brehmer Bernhard Kaster Wolfgang Zöller Ralph Brinkhaus Siegfried Kauder (Villingen- Lucia Puttrich Willi Zylajew Schwenningen) Daniela Raab Leo Dautzenberg Volker Kauder FDP Marie-Luise Dött Dr. Stefan Kaufmann Dr. Peter Ramsauer Dr. Roderich Kiesewetter Enak Ferlemann (Potsdam) Ingrid Fischbach Christine Aschenberg- Hartwig Fischer (Göttingen) Jürgen Klimke Dugnus Dirk Fischer (Hamburg) Daniel Bahr (Münster) Axel E. Fischer (Karlsruhe- Dr. Florian Bernschneider Land) Dr. Kristina Schröder Johannes Röring Sebastian Blumenthal Dr. (Wiesbaden) Dr. Christian Ruck Claudia Bögel Klaus-Peter Flosbach Manfred Kolbe Erwin Rüddel Nicole Bracht-Bendt Dr. Hans-Peter Friedrich Dr. (Weiden) Klaus Breil (Hof) Hartmut Koschyk Anita Schäfer (Saalstadt) Rainer Brüderle Thomas Kossendey Dr. Erich G. Fritz Dr. Hans-Joachim Fuchtel Dr. Günter Krings Karl Schiewerling Marco Buschmann Alexander Funk Rüdiger Kruse Norbert Schindler Sylvia Canel Ingo Gädechens Helga Daub Dr. Dr. Hermann Kues Georg Schirmbeck Reiner Deutschmann Norbert Geis Günter Lach Christian Schmidt (Fürth) Dr. Bijan Djir-Sarai Alois Gerig Dr. Karl A. Lamers Patrick Döring (Heidelberg) Dr. Andreas Schockenhoff Mechthild Dyckmans Josef Göppel Andreas G. Lämmel Dr. Ole Schröder Rainer Erdel Peter Götz Dr. Norbert Lammert Bernhard Schulte-Drüggelte Jörg van Essen Dr. Wolfgang Götzer Ulrike Flach Ulrich Lange (Weil am Otto Fricke Dr. Max Lehmer Rhein) Paul K. Friedhoff Hermann Gröhe Paul Lehrieder Dr. Michael Grosse-Brömer Dr. Hans-Michael Goldmann Astrid Grotelüschen Heinz Golombeck 3574 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt (A) Miriam Gruß Heinz-Joachim Barchmann Ute Kumpf DIE LINKE (C) Dr. Christel Happach-Kasan Jan van Aken Heinz-Peter Haustein Dr. Hans-Peter Bartels Christian Lange (Backnang) Manuel Höferlin Klaus Barthel Dr. Karl Lauterbach Dr. Elke Hoff Sören Bartol Steffen-Claudio Lemme Birgit Homburger Bärbel Bas Gabriele Lösekrug-Möller Matthias W. Birkwald Heiner Kamp Sabine Bätzing Kirsten Lühmann Heidrun Bluhm Dr. Lutz Knopek Katja Mast Uwe Beckmeyer Pascal Kober Lothar Binding (Heidelberg) Hilde Mattheis Dr. Heinrich L. Kolb Petra Merkel (Berlin) Eva Bulling-Schröter Dr. Martina Bunge Hellmut Königshaus Klaus Brandner Franz Müntefering Gudrun Kopp Dr. Rolf Mützenich Willi Brase Sevim Dağdelen Dr. h. c. Jürgen Koppelin Sebastian Körber Manfred Nink Dr. Diether Dehm (Hildesheim) Werner Dreibus Patrick Kurth (Kyffhäuser) Heinz Lanfermann Holger Ortel Dr. Marco Bülow Klaus Ernst Harald Leibrecht Aydan Özoğuz Sabine Leutheusser- Heinz Paula Wolfgang Gehrcke Martin Burkert Schnarrenberger Petra Crone Johannes Pflug Lars Lindemann Joachim Poß Dr. Dr. Gregor Gysi Dr. Martin Lindner (Berlin) Elvira Drobinski-Weiß Dr. Wilhelm Priesmeier Michael Link (Heilbronn) Florian Pronold Heike Hänsel Inge Höger Dr. Erwin Lotter Mechthild Rawert Oliver Luksic Gerold Reichenbach Dr. Barbara Höll Siegmund Ehrmann Andrej Konstantin Hunko Horst Meierhofer Petra Ernstberger Dr. Carola Reimann Patrick Meinhardt Sönke Rix Ulla Jelpke Karin Evers-Meyer Dr. Lukrezia Jochimsen Gabi Molitor Elke Ferner René Röspel Jan Mücke Dr. Katja Kipping Gabriele Fograscher Harald Koch Petra Müller (Aachen) Dr. Karin Roth (Esslingen) Burkhardt Müller-Sönksen Michael Roth (Heringen) Jan Korte Jutta Krellmann Dr. Peter Friedrich Marlene Rupprecht (Tuchenbach) (Lausitz) Dirk Niebel Anton Schaaf Sabine Leidig Martin Gerster Axel Schäfer (Bochum) Iris Gleicke (B) Gisela Piltz Bernd Scheelen (D) Günter Gloser Dr. Birgit Reinemund Dr. Peter Röhlinger (Schwandorf) Ulla Lötzer Angelika Graf (Rosenheim) Dr. Stefan Ruppert Werner Schieder (Weiden) Dr. Gesine Lötzsch Michael Groschek Björn Sänger (Aachen) Dorothée Menzner Michael Groß Frank Schäffler Silvia Schmidt (Eisleben) Cornelia Möhring Christoph Schnurr Wolfgang Gunkel Carsten Schneider (Erfurt) Jimmy Schulz Hans-Joachim Hacker Wolfgang Nešković Marina Schuster Ottmar Schreiner Petra Pau Dr. Erik Schweickert Klaus Hagemann (Spandau) Jens Petermann Werner Simmling Michael Hartmann Richard Pitterle (Wackernheim) Dr. Hermann Otto Solms Hubertus Heil (Peine) Dr. Angelica Schwall-Düren Joachim Spatz Rolf Hempelmann Dr. Martin Schwanholz Paul Schäfer (Köln) Dr. Dr. Barbara Hendricks Michael Schlecht Torsten Staffeldt Dr. Herbert Schui Dr. Rainer Stinner Gabriele Hiller-Ohm Dr. Dr. Ilja Seifert Carl-Ludwig Thiele (Essen) Kathrin Senger-Schäfer Frank Hofmann (Volkach) Dr. Frank-Walter Steinmeier Raju Sharma Dr. Eva Högl Christoph Strässer Dr. Serkan Tören Christel Humme Johannes Vogel Josip Juratovic Dr. h. c. Sabine Stüber (Lüdenscheid) Franz Thönnes Alexander Süßmair Dr. Daniel Volk Johannes Kahrs Dr. Kirsten Tackmann Dr. Claudia Winterstein Dr. h. c. Susanne Kastner Rüdiger Veit Frank Tempel Dr. Ulrich Kelber Dr. Axel Troost Hartfrid Wolff (Rems-Murr) Andrea Wicklein Alexander Ulrich Hans-Ulrich Klose Heidemarie Wieczorek-Zeul Kathrin Vogler Dr. Bärbel Kofler Waltraud Wolff Nein (Leipzig) (Wolmirstedt) Fritz Rudolf Körper Uta Zapf Harald Weinberg SPD Anette Kramme Ingrid Arndt-Brauer Nicolette Kressl Manfred Zöllmer Jörn Wunderlich Angelika Krüger-Leißner Sabine Zimmermann Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010 3575

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt (A) BÜNDNIS 90/ Priska Hinz (Herborn) Renate Künast (C) DIE GRÜNEN Ulrike Höfken Markus Kurth Manuel Sarrazin Volker Beck (Köln) Dr. Anton Hofreiter Undine Kurth (Quedlinburg) Elisabeth Scharfenberg Cornelia Behm Ingrid Hönlinger Christine Scheel Birgitt Bender Thilo Hoppe Nicole Maisch Dr. Gerhard Schick Alexander Bonde Agnes Malczak Dr. Frithjof Schmidt Viola von Cramon-Taubadel Jerzy Montag Dorothea Steiner Ekin Deligöz Memet Kilic Kerstin Müller (Köln) Dr. Wolfgang Strengmann- Katja Dörner Sven-Christian Kindler Beate Müller-Gemmeke Kuhn Hans-Josef Fell Maria Klein-Schmeink Hans-Christian Ströbele Dr. Thomas Gambke Ute Koczy Dr. Konstantin von Notz Dr. Harald Terpe Tom Koenigs Katrin Göring-Eckardt Sylvia Kotting-Uhl Dr. Hermann Ott Jürgen Trittin Britta Haßelmann Elisabeth Paus Fritz Kuhn Brigitte Pothmer Wolfgang Wieland Winfried Hermann Stephan Kühn Tabea Rößner Dr. Valerie Wilms

Ich gebe jetzt dem Kollegen Carsten Schneider für die Länder ändern werden, damit sie diesem unsinnigen Ge- SPD-Fraktion das Wort. setz zustimmen, das zu mehr Steuerunsicherheit und Steuerausfällen geführt hat. Meine Damen und Herren, (Beifall bei der SPD) das war eine Erpressung, der Sie nachgegeben haben. Das ist eine Kastration des Bundestages, und es ist fi- Carsten Schneider (Erfurt) (SPD): nanzwirtschaftlich ein Desaster. Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Sehr geehrte Frau Kollegin Tillmann, die Frage des Fi- DIE GRÜNEN – Otto Fricke [FDP]: Kinder- nanzplanungsrates ist unstrittig. Dem ursprünglichen gelderhöhung!) Gesetzentwurf hätten wir auch zugestimmt. Nicht un- strittig ist allerdings eine maßgebliche Veränderung des Ich kann Ihnen das nicht ersparen. Frau Kollegin Gesetzes, die Sie am gestrigen Tag im Haushaltsaus- Tillmann, ich habe gerade eine Pressemitteilung vom schuss vorgenommen haben. Sie haben nämlich dieses 24. Februar 2010 herausgeholt, die vom Tenor her rich- (B) Gesetz zur Abschaffung des Finanzplanungsrates ge- tig ist. Unter der Überschrift „Zusätzlichkeitskriterium (D) nutzt, ist verantwortungsvoll!“ schreiben Sie – ich zitiere, weil das alles stimmt, was Sie schreiben –: (Alexander Bonde [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Missbraucht!) Die neue Initiative der Länder im Bundesrat, Inves- titionen in Kommunen auch dann aus dem Kon- um eine maßgebliche Änderung am Konjunkturpro- junkturprogramm zu fördern, wenn sie nicht zusätz- gramm vorzunehmen. Sie haben es missbraucht. Das ha- lich sind, hat die Bundesregierung in ihrer heutigen ben Sie entgegen allen Empfehlungen getan, die sowohl Kabinettssitzung zu Recht zurückgewiesen. der Präsident des Bundesrechnungshofes als auch der Bauindustrieverband, Sie selbst und die Bundesregie- (Bettina Hagedorn [SPD]: Ja!) rung, vertreten durch das Bundesfinanzministerium, ge- Nur zusätzliche Investitionen erfüllen den Sinn und geben haben. Zweck des Konjunkturprogramms, neue Aufträge Worum geht es? Im Konjunkturprogramm war festge- zu generieren und dadurch die krisenbedingte legt: 10 Milliarden Euro an Investitionen gehen an die Nachfragelücke zumindest teilweise zu schließen. Gemeinden. Sie müssen diese Mittel aber kofinanzieren, Auch das ist richtig. sodass wir auf 13 Milliarden Euro kommen. Da geht es nun um einen Effekt der Zusätzlichkeit. Das war Bedin- (Bettina Hagedorn [SPD]: Ja!) gung. Diese Bedingung haben wir im Haushaltsaus- „Die Streichung des Zusätzlichkeitskriteriums schuss des Bundestages vor ungefähr einem Jahr einge- würde zu einer Ungleichbehandlung führen. Kom- fügt. Heute geschieht Folgendes: Genau diese munen, die ihre Maßnahmen bereits durchfinanziert Bedingung, die wir mit vier Fraktionen – die Linke hat haben, wären gegenüber Kommunen, die sich mehr nicht zugestimmt – eingefügt haben, streichen Sie nach Zeit gelassen haben, benachteiligt“, so Tillmann. dem Willen und auf Druck des Bundesrates wieder. Wa- rum? Es tut mir leid, Sie haben damit vollkommen recht; nur machen Sie mit diesem Gesetz, zu dem Sie jetzt eben (Heinz-Peter Haustein [FDP]: Wir sind lernfä- kein Wort gesagt haben, genau das Gegenteil. Ich finde, hig!) dafür sind Sie der deutschen Öffentlichkeit eine Erklä- rung schuldig. Zum Wachstumsbeschleunigungsgesetz, wie Sie Ihr Klientelbegünstigungsgesetz genannt haben, gab es for- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ melle Zusagen der Bundeskanzlerin, dass Sie dies für die DIE GRÜNEN) 3576 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010

Carsten Schneider (Erfurt) (A) Ich kann mir vorstellen, dass Ihnen das peinlich ist. nicht nur im Bund, sondern auch in den Ländern und (C) Das kann ich sogar nachvollziehen. Ich würde das nicht Kommunen. Es wird aber auch davon abhängen – das machen wollen. Ich hätte das auch nicht gemacht. Ich möchte ich den Bürgern sagen –, ob wir eine Gesellschaft hätte so etwas auch nicht zugesagt. Ich hätte auch das haben, die es nicht nur akzeptiert, dass gespart werden erste Gesetz, mit dem das in Verbindung steht, nicht ge- soll, sondern die ebenso akzeptiert, dass – entsprechend macht. Aber es zieht sich wie ein roter Faden durch die der jeweiligen Leistungsfähigkeit – auch in Bereichen Finanzpolitik dieser Regierung, dass Sie kein Konzept gespart wird, die einen selber betreffen. Jede Regierung haben, dass wirtschaftliche Effekte, die zu einer Stär- und jede Fraktion will sparen. Wenn es aber konkret kung von wirtschaftlicher Tätigkeit führen, im Hinter- wird – seien wir ehrlich –, sieht es anders aus. grund stehen. Im Gegenteil: Sie betreiben Klientelbe- günstigung. Das, was an guten Maßnahmen noch da war (Alexander Bonde [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- – wir laufen jetzt sogar Gefahr, dass diese Hilfen, die wir NEN]: Bisher haben Sie nur an Vorschlägen gegeben haben, verfassungswidrig sind –, konterkarieren gespart!) Sie. Ich finde, es ist eine bittere Stunde für den Bundes- Ich finde die Reaktionen schon interessant: Die SPD tag, eine bittere Stunde für den Haushaltsausschuss. Ich ist seit einiger Zeit nicht mehr in Regierungsverantwor- kann nur hoffen, dass das in dieser Tendenz mit Ihnen tung. Die Grünen waren sieben Jahre lang an der Regie- nicht so weitergeht. Aber meine Hoffnung wird wahr- rung beteiligt. Auch Sie haben Schulden gemacht. scheinlich trügen. (Alexander Bonde [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Vielen Dank. NEN]: Nicht so schlimm wie ihr! Ihr seid die (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Schuldenkönige! 80 Milliarden!) DIE GRÜNEN) Seien Sie wenigstens so ehrlich und erkennen Sie das Kernproblem der Verschuldung an! Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Otto Fricke hat das Wort für die FDP-Fraktion. Zum Verhalten der Länder. Die Länder müssen – ich finde es gut und ehrenwert, dass fünf Vertreter der Län- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) der hier sind – für ihren Teil kämpfen. Mir wäre es lie- ber, die Länder hätten eigene Steuerrechte und würden Otto Fricke (FDP): sagen: Bürger, weil wir diese oder jene Ausgaben für Sehr geschätzte Frau Präsidentin! Kollege Schneider, richtig halten, wollen wir von euch die entsprechenden Ihr Beitrag war wunderbar. Als Lateiner kann ich nur sa- Steuern. – Diejenigen, die besser sparen, werden bei den gen: Spes saepe fallit, aber nicht immer. Was Sie sagen, (B) Bürgern anders ankommen als diejenigen, die schlechter (D) ist gar nicht so falsch. Aber wenn Sie schon analysieren, sparen. Das gilt ebenso für den Bund. Sie werden sehen, wie es zu der Situation gekommen ist, dann wollen wir dass das Sparen irgendwann belohnt wird. doch einmal festhalten, dass es auch im Rahmen der Föderalismuskommission II nicht gelungen ist, die Frage Die FDP kann sich etwas klarer positionieren als die zu beantworten, wer für welche Steuereinnahmen zu- CDU/CSU, die dieses Konjunkturpaket in der Großen ständig ist und wer im Windschatten bei welchen Steuer- Koalition beschlossen hat. Wir haben es abgelehnt. Die- einnahmen wie vorgeht. ses Konjunkturpaket ist der falsche Ansatz gewesen. Das zeigt sich jetzt deutlich. (Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Sehr richtig!) (Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Otto, das kannst du so nicht sagen!) Sie haben recht – ich bestätige das ausdrücklich –: Es gab eine Absprache mit dem Bundesrat. Nun können Sie Wenn wir uns genauer anschauen, was passiert, stellen fragen: Wie kann man so etwas nur machen? Darauf ant- wir fest, dass in dem Jahr, in dem die Wirtschaft wieder worte ich: Eine Absprache, die dafür gesorgt hat, dass wächst, all die Ausgaben, die im Konjunkturpaket ver- wir eine Kindergelderhöhung bekommen, ist mir man- einbart wurden, prozyklisch wirken. In dem Jahr, in dem ches wert, bei dem ich in den sauren Apfel beißen muss. sie hätten helfen sollen, haben sie nicht geholfen. Das ist Sie sagen, dass es Ihnen das nicht wert ist. Das halte ich der Fehler. schlichtweg für falsch. Das Schönste im ganzen Gesetzgebungsprozess war (Beifall bei Abgeordneten der FDP und der der Sachverständige, der von den Grünen geladen CDU/CSU – Bettina Hagedorn [SPD]: Un- wurde. Er hat sehr deutlich gesagt – daran sieht man, glaublich!) dass die Grünen in der Opposition viele Dinge richtig Grundsätzlich ist die Notwendigkeit dieses Gesetzes, machen, zum Beispiel die richtigen Sachverständigen was den ursprünglichen Titel angeht, unbestritten. Die auswählen –, es sei falsch gewesen, das Konjunkturpaket Abschaffung ist richtig. Die ungeklärte Frage, Frau Kol- überhaupt zu verabschieden. Er hat wörtlich gesagt: Die legin Tillmann, ob das mit der Schuldenregelung funk- bessere Alternative wären Steuersenkungen gewesen. tioniert oder nicht, hängt von allen verantwortlichen (Alexander Bonde [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Politikern ab, NEN]: Er hat gesagt, selbst Steuersenkungen (Alexander Bonde [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- wären besser als der Quatsch, den Sie jetzt ma- NEN]: Richtig!) chen!) Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010 3577

Otto Fricke (A) Insofern bin ich sehr froh, wenn der Sachverständige das besonderer Härtefall vorliegt, kümmert sich diese Koali- (C) vielleicht noch genauer darstellen wird und Sie ihm tion eindeutig und klar darum, dass du nicht ins Boden- möglicherweise folgen. lose fällst. (Alexander Bonde [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Alexander Bonde [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Sie können nicht einmal richtig zitie- NEN]: Wieso ist eigentlich die Regierungs- ren! Jetzt geht es bergab!) bank komplett leer? Da sitzt ja keiner auf der Regierungsbank! Was ist da los?) Warum? Herr Schneider hat eben gesagt, wir hätten keinen Plan. Das zu behaupten, ist sehr leicht, vor allem Die Dinge, die es in elf Jahren SPD-Regierungsbeteili- dann, wenn man selber keinen hat. Aber Herr Kollege gung nicht gab, werden nunmehr endlich geregelt. Das Schneider, wenn man daran glaubt, dass dieses Land die halten wir für eine richtige Lösung. Wirtschaftskrise besser als manch andere Länder über- (Beifall bei der FDP) winden kann, dann muss man sich an das halten, was auch SPD und Grüne im Zuge der Agenda 2010 gemacht Ein letzter Punkt ganz schnell zum Schluss: haben: Man muss Reformen auf den Weg bringen. Das (Alexander Bonde [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: kann man in dem Bereich machen, in dem Sie es ge- Wo ist die Regierung? Leere Bänke!) macht haben – wovon Sie jetzt aber nichts mehr wissen wollen –, oder man kann diejenigen entlasten, von denen Der eigentliche Streit und das verfassungsrechtlich man erwartet, dass sie mit dafür sorgen, dass das Wachs- größte Problem befindet sich – ich sage das ganz be- tum gesteigert wird. wusst – nicht in diesem Gesetzentwurf. Das ist das Prü- fungsrecht des Bundesrechnungshofs. Auch wenn wir an (Carsten Schneider [Erfurt] [SPD]: Redet nicht vielen Stellen Streit haben, Herr Kollege Schneider, so so viel! Macht was!) hoffe ich doch, dass wir uns bezüglich der verfassungs- Für uns in der Koalition sind das ganz wesentlich die un- rechtlichen Streitigkeiten, die jetzt vonseiten der Länder teren und mittleren Einkommen, die wir als FDP prozen- kommen, einig sind. Wenn die Länder sagen: „Bund, du tual am stärksten entlasten wollen. Das ist der Unter- darfst uns zwar Geld geben, aber du darfst nicht mit dei- schied zwischen uns: Sie sehen das absolut. Sie sind nem Rechnungshof kontrollieren, ob wir das Geld rich- bereit, den Menschen absolut möglichst viele Steuern tig verwenden“, können wir nur hoffen, dass klar wird: wegzunehmen. Wir hingegen wollen möglichst viele Wer Geld gibt, hat auch das Recht, zu kontrollieren, ob Menschen, ihrer Leistungsfähigkeit entsprechend, pro- es richtig ausgegeben wird. zentual von ihrer jeweiligen Steuerschuld entlasten. Herzlichen Dank. (B) (D) (Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten GRÜNEN]: Aber nicht absolut!) der CDU/CSU) Das ist der Unterschied zwischen unseren beiden Par- teien: Bei Ihnen bedeutet Gerechtigkeit, dass man denje- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: nigen ungerecht behandeln darf, der viel leistet und viel Katja Kipping hat das Wort für die Fraktion Die verdient, und dass man sich um denjenigen, der wenig Linke. leistet, in anderer Weise kümmert. (Beifall bei der LINKEN) Nach meiner Ansicht ist es so, dass wir bei der Frage der Zusätzlichkeit einen Kompromiss schließen, der für Katja Kipping (DIE LINKE): meine Fraktion sicherlich nicht angenehm ist; aber an Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Bei die- Verträge hält man sich. Das gilt für die Länder – auch sem Gesetzentwurf handelt es sich um ein sogenanntes das will ich deutlich sagen – nicht so ganz; denn die Ver- Omnibusgesetz, in dem ganz verschiedene Regelungen waltungsvereinbarung, die die Länder zur Zusätzlichkeit behandelt werden. Ich möchte mich für die Linke vor al- getroffen haben – das möchte ich kritisch anmerken –, len Dingen zur Härtefallklausel im Bereich Hartz IV äu- beinhaltete eigentlich genau das, was mit dem Kompro- ßern. miss rückgängig gemacht worden ist. Diese Klausel soll vor dem Hintergrund eines Bun- Ich komme noch kurz zur Härtefallregelung, weil desverfassungsgerichtsurteils eingeführt werden. Das auch sie Teil des Gesetzentwurfs ist. Wir setzen das Bun- Gericht hat uns verpflichtet, sicherzustellen, dass es im desverfassungsgerichtsurteil bezüglich der Punkte, bei Härtefall auch Leistungen über den Regelsatz hinaus denen eine offensichtliche Ungerechtigkeit vorliegt – sie gibt. Es geht hier also um nicht weniger als die Umset- sind uns von der SPD im Bereich Hartz IV vorgegeben zung eines verfassungsmäßigen Auftrages. Ich finde, es worden –, mehr oder weniger eins zu eins um. Dieses ist fraglich, ob der vorliegende Gesetzentwurf diesem Problem lösen wir jetzt. Ich hoffe – ich habe leider Anspruch gerecht wird. nichts davon gehört –, dass auch seitens der Opposition (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) anerkannt und für richtig gehalten wird, dass den betrof- fenen Hartz-IV-Empfängern damit vorläufig – das ist In den Beratungen war häufig von Rechtssystematik kein endgültiger Status – Rechtssicherheit gegeben wird, und unbestimmten Rechtsbegriffen die Rede. Bei dieser dass es eine gesetzliche Regelung gibt, die deutlich zum Regelung geht es aber auch um menschliche Schicksale, Ausdruck bringt: Hartz-IV-Empfänger, wenn bei dir ein zum Beispiel um folgenden Fall, von dem mir ein Ver- 3578 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010

Katja Kipping (A) treter des Arbeitslosenverbandes erzählte: Eine Alleiner- gerechnet haben, müssten zumindest bis zu dieser Rege- (C) ziehende, die ein Kind hat, das asthmakrank ist und eine lung Schulbedarfe als Härtefall ergänzt werden. Allergie hat und wegen dieser Allergie einen besonderen (Beifall bei der LINKEN) Ernährungsbedarf hat, der mehr Geld kostet, was vom Hartz-IV-Regelsatz nur schwer zu bestreiten ist, hörte Nun haben Sie, Herr Fricke, nur ein Argument für die von diesem Urteil, schöpfte Hoffnung und hat einen An- vorliegende Formulierung genannt, nämlich dass trag gestellt. Der Antrag ist abgelehnt worden. – Ange- Rechtssicherheit geschaffen wird. Schön wäre es. Bei sichts solcher Meldungen finde ich es fraglich, ob die der Anhörung gab es keinen Sachverständigen, der be- Entscheidungen der Jobcenter wirklich immer im Geiste stätigt hat, dass damit Rechtssicherheit geschaffen wird. des Verfassungsgerichtsurteils sind. Das Freundlichste, was in diesem Zusammenhang zu hö- ren war, sagte der Direktor des Sozialgerichtes in Pots- In dem nun vorliegenden Gesetzentwurf heißt es, ein dam, Graf von Pfeil: Härtefall liege nur dann vor, wenn der Bedarf nicht durch Einsparungsmöglichkeiten beim Hartz-IV-Regel- Der Gesetzentwurf verhält sich … in gewisser satz gedeckt werden kann. Meine Damen und Herren, Weise neutral: Er schafft weder Klarheit noch Un- wo leben Sie denn? Glauben Sie denn ernsthaft, dass klarheit … beim Arbeitslosengeld II noch so viel Luft ist, dass man locker etwas sparen kann? Glauben Sie das ernsthaft? Umgangssprachlich würde ich sagen, dass es sich um Die Linke meint: Nein, das ist nicht möglich. Deswegen einen „Hinischani-Gesetzentwurf“ handelt: hilft nichts, meinen wir, dass der Regelsatz generell erhöht werden schadet aber auch nicht. Für diese Form von Rechts- muss. sicherheit können Sie sich wirklich kräftig auf die Schul- tern klopfen. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der LINKEN – Alexander Bonde Herr Fricke, auch die juristischen Sachverständigen [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wobei man haben in der Anhörung an der Formulierung zu den Ein- schon froh sein muss, wenn Gesetze von denen sparungsmöglichkeiten kein gutes Haar gelassen. Über- nicht schaden!) flüssig und irreführend – das waren die Aussagen von Halten wir fest: Die vorliegende Formulierung schafft Klaus Lauterbach vom Landessozialgericht Sachsen-An- für die Betroffenen kein Mehr an Rechtssicherheit. Inso- halt. Generell muss man sagen, dass die Stellungnahmen fern kann man den Betroffenen nur empfehlen, im Zwei- zur Anhörung und die Wortmeldungen der Sozialver- felsfall einen Antrag zu stellen. Denn nach Aussage aller bände an dem Vorschlag von Schwarz-Gelb kein gutes Sachverständigen ist der Einzelfall entscheidend. Man Haar gelassen haben. (B) kann den Betroffenen nur sagen: Kämpfen Sie um Ihre (D) (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: So ist Rechte! es!) Herzlichen Dank. Ich finde es frappierend, dass Sie trotzdem trotzig darauf (Beifall bei der LINKEN – Patrick Kurth [Kyff- beharren. Das ist Ausdruck höchster Ignoranz. häuser] [FDP]: Das war eine „Hinischani- Wir als Linke haben die Anregung der Sachverständi- Rede“!) gen ernst genommen. Wir haben sie aufgegriffen und ei- nen entsprechenden Änderungsantrag eingebracht. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Alexander Bonde hat das Wort für Bündnis 90/Die (Beifall bei der LINKEN) Grünen. Nun existiert bei der Bundesagentur für Arbeit ein Katalog mit Beispielen für Härtefälle. Solch ein Katalog Alexander Bonde (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): kann niemals abschließend sein; das ist mir bewusst. Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Aber es ist sehr auffällig, dass in diesem Katalog ganz Der Entwurf eines Gesetzes zur Abschaffung des Fi- wichtige Beispiele, auf die die Sozialverbände hinge- nanzplanungsrates hatte als unspektakuläre, breit zu- wiesen haben, fehlen. Beispielsweise fehlen nichtver- stimmungsfähige Veranstaltung begonnen, weil es sich schreibungspflichtige Medikamente im Fall von Neuro- um die logische Umsetzung einer Grundgesetzregelung dermitis oder HIV-Erkrankungen sowie Mehrbedarfe für handelt. Wenn man einen Rat nicht mehr braucht, sollte Brillen und orthopädische Sonderbedarfe. Es fehlen man ihn auch abschaffen. Jetzt haben Sie aber etwas da- auch Mehrkosten, wenn Unverträglichkeiten für spe- raus gemacht, was Sie selber als Omnibusgesetz be- zielle Lebensmittel wie Laktose vorliegen. zeichnen. Dringend müssten vor allem besondere Schulbedarfe (Otto Fricke [FDP]: Nein, wir nicht!) ergänzt werden. Als Freund des öffentlichen Nahverkehrs und des deut- (Beifall bei der LINKEN) schen Fahrzeugbaus muss ich sagen, dass es eine Belei- digung für jeden Omnibus ist, mit diesem Gesetzentwurf Immerhin – das besagt ja auch das Bundesverfassungs- verglichen zu werden. gericht – gibt es einen völligen Ermittlungsausfall im Hinblick auf kinderspezifische Bedarfe. Solange wir Sie haben, um andere Gesetzgebungsprozesse abzu- also im Kinderregelsatz die Schulbedarfe nicht klar ein- kürzen, im laufenden Verfahren zwei Punkte draufge- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010 3579

Alexander Bonde (A) packt. Sie haben das draufgepackt, was Sie für die Um- tigen. Durch die Streichung der summerischen Zusätz- (C) setzung des Urteils des Bundesverfassungsgerichts bei lichkeit fällt das weg, und Sie machen eine verfassungs- der Härtefallregelung halten. Ich will Ihnen offen sagen: widrige Zuweisung an die Kommunen. Wie absurd ist Die Anhörung im Haushaltsausschuss, die auch zu die- die Gesetzgebung unter dieser schwarz-gelben Koalition sem Punkt sehr intensiv stattgefunden hat, ist für Sie voll inzwischen eigentlich geworden? nach hinten losgegangen. Es ist klargeworden, dass Ihre Umsetzung nicht den Anforderungen des Bundesverfas- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sungsgerichts entspricht. Es ist klargeworden, dass Sie und bei der SPD) mit Ihrer Katalogisierung von Positiv- und Negativbei- Die Argumentation, dass man etwas für die Kommu- spielen, statt auf Öffnungsklauseln zu setzen, mehr nen tun muss, ist richtig. Aber sagen Sie doch offen: Es Rechtsstreitigkeiten provozieren, als uns allen lieb sein hätte den Kommunen viel mehr geholfen, wenn Sie auf kann. Damit helfen Sie den Betroffenen nicht. Deshalb Ihre Steuergeschenke verzichtet und die Kommunen in ist der erste Teil des Gesetzentwurfes durchgefallen. die Lage versetzt hätten, mit ihren regulären Steuerein- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN nahmen zu operieren, und offen mit den Kommunen da- sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN- rüber diskutiert hätten, wie wir sie wieder auf eine trag- KEN) fähige Finanzbasis stellen können. Es nützt Ihnen gar nichts, an dieser Stelle ein paar wenigen Kommunen Am Schlimmsten haben Sie es allerdings bei der Ver- durch Umwegfinanzierungen zu helfen, wenn Sie ihnen änderung des Konjunkturpakets der Großen Koalition gleichzeitig den Saft abdrehen: mit dem Wachstumsbe- getrieben. Nachdem Sie ihn monatelang bestritten ha- schleunigungsgesetz, mit Ihren Kommissionen, mit dem ben, wollen Sie nun den schmutzigen Hinterzimmerdeal Anschlag auf die Gewerbesteuer und dem großen An- der Kanzlerin mit dem Bundesrat umsetzen. Ich will da- schlag der FDP mit einer Einkommensteuerreform, alles ran erinnern: Es gab viele Beteuerungen dieser Koali- zulasten der Kommunen. Dieses Paket, das eine ver- tion, niemals habe man den Ländern unter der Hand meintliche Entlastung bringen soll, ist auch noch eine etwas zugesichert, damit sie Ihrem Wachstumstrullala- Bestechung der Länder, und zwar dafür, dass die Länder, gesetz zustimmen. Wir erinnern uns: Mövenpick- die eigentlich der Anwalt der Kommunen sein müssten, Spende, Umsetzung der Entlastungen für Hoteliers und diesem absurden Spiel auf Kosten der Kommunen zu- Ähnliches. stimmen. (Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Das Meine Damen und Herren, dieses Gesetz ist nicht ein- musste ja jetzt kommen!) mal einer Koalition wie Ihrer würdig. Es ist auch nicht würdig, wie hier mit Beschlüssen des Parlaments und Man darf ja nicht vergessen, um was es hier geht und (B) mit dem Grundgesetz dieser Republik umgegangen (D) was Sie über Ihre schmutzige Veranstaltung möglich ge- wird. macht haben. (Carsten Schneider [Erfurt] [SPD]: Peinlich!) Am 22. Januar dieses Jahres hat Kollege Koschyk, Staatssekretär im Finanzministerium, im Finanzaus- Das ist wirklich ein schwarzer Moment in der Parla- schuss zugegeben, man werde bei der Zusätzlichkeit mentsgeschichte. etwas ändern. Staatssekretär Kampeter, ebenfalls im Finanzministerium, hat das Stunden später im Haus- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN haltsausschuss dementiert. Am 10. Februar dieses Jahres und bei der SPD) hat die Koalition den entsprechenden Tagesordnungs- punkt im Haushaltsausschuss abgesetzt, weil man an- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: geblich keine Veränderung plant. Am 24. Februar hat die Peter Götz hat das Wort für die CDU/CSU-Fraktion. Koalition den Tagesordnungspunkt im Haushaltsaus- schuss abgesetzt, weil man angeblich keine Veränderung plant. Am 4. März hat die Koalition diesen Tagesord- Peter Götz (CDU/CSU): nungspunkt im Haushaltsausschuss abgesetzt, weil man Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! angeblich keine Veränderung plant. Jedes Mal hat man Ob man will oder nicht, die weltweite Finanzmarkt- und sich auf aktuelle Beschlüsse des Kabinetts berufen. In Wirtschaftskrise schlägt auch bei den Städten, Gemein- dieser Woche haben Sie zurückgenommen, was Sie im- den und Kreisen für jeden inzwischen sichtbar zu. Des- mer dementiert haben, und offen zugegeben: Das war halb besteht hier Handlungsbedarf. Wir alle wissen: Die eine Bestechung der Länder, damit sie den Weg für das internationale Krise ist noch lange nicht überwunden. Wachstumsbeschleunigungsgesetz freimachen. Auf allen politischen Ebenen sind die Einnahmen weg- gebrochen. Gleichzeitig steigen die Ausgaben, vor allem In der Anhörung haben Sie gehört: Selbst der Präsi- in sozialen Bereich. In diesem Jahr wird für die kommu- dent des Bundesrechnungshofes hält die heute von Ihnen nalen Haushalte bundesweit ein Defizit von 12 Milliar- vorgelegte Regelung für verfassungswidrig. Die einzige den Euro erwartet. Die Gewerbesteuereinnahmen, Herr Grundlage, die der Bund für Zuweisungen an die Kom- Kollege Bonde, sanken 2009 um fast 20 Prozent gegen- munen hat – ich halte es für falsch, dass das die einzige über 2008. Grundlage ist –, war die Hürde, ein Investitionspro- gramm auf den Weg zu bringen. Es geht darum, in einer (Alexander Bonde [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- wirtschaftlich schwierigen Situation Investitionen zu tä- NEN]: Kein Grund, sie abzuschaffen!) 3580 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010

Peter Götz (A) Richtig ist aber auch: 2007 und 2008 waren gute Der gewünschte konjunkturelle Impuls des Konjunk- (C) Jahre für die Kommunen, die besten seit Bestehen der turpakets ist inzwischen nahezu vollständig eingetreten. Bundesrepublik Deutschland. Viele konnten investieren, Der Erfolg des Ansatzes, über kommunale Investitionen Schulden abbauen und Rücklagen bilden. Gleichzeitig zur Stabilisierung der gesamtwirtschaftlichen Entwick- haben die Städte, Gemeinden und Kreise begonnen, den lung beizutragen, Herr Kollege Schneider, ist für jeden durch rot-grüne Politik entstandenen kommunalen In- sichtbar, der mit offenen Augen durch das Land geht. vestitionsstau Zug um Zug abzubauen. (Carsten Schneider [Erfurt] [SPD]: Aber nicht (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) für die FDP!) In Zeiten rot-grüner Regierungsverantwortung war Die kommunalen Investitionsplanungen sind inzwi- daran nie zu denken. schen so weit fortgeschritten, dass selbst bei einer Lockerung der Kriterien keine Änderungen mehr vorge- (Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- nommen würden, so zumindest der Deutsche Städtetag NEN]: Wo leben Sie eigentlich?) bei der Anhörung diese Woche. Damals lag der kommunale Saldo ohne globale Krise (Alexander Bonde [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- jahrelang im Minus – 2003 waren es über 8 Milliarden NEN]: Der war gar nicht da!) Euro –, und damals gab es keine weltweite Finanzmarkt- – Vielleicht haben Sie die Stellungnahme des Deutschen krise. Nicht auszudenken, was geschehen wäre, wenn Städtetages nicht gelesen, dafür kann ich nichts, sie war die weltweite Finanzmarktkrise auf uns zugekommen aber Gegenstand der Beratungen am vergangenen wäre und Sie noch an der Regierung gewesen wären. Montag. (Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Ja! Das Ab Januar nächsten Jahres können Länder und Kom- stimmt! – Bettina Hagedorn [SPD]: Das ist ja munen ihr Investitionsverhalten ohnehin frei gestalten. absurd! Das liegt daran, dass wir die Gemein- Durch die Streichung des sogenannten statistischen Zu- definanzreform 2003 gemacht haben! Ge- sätzlichkeitskriteriums – nur darum geht es – werden schichtsverfälschung!) keine spürbaren nachteiligen gesamtwirtschaftlichen Es ist notwendig, dass wir den Kommunen helfen. Entwicklungen erwartet. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Alexander Bonde [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Das hat in der Anhörung jeder Öko- Durch das Zukunftsinvestitionsgesetz, über das wir nom, auch die von Ihnen benannten, bestrit- (B) jetzt sprechen, hat der Bund mit über 10 Milliarden Euro ten!) (D) einen erfolgreichen Beitrag zur Sicherung wertvoller Ar- Der Wegfall dieser Bestimmung wird aber zu erhebli- beitsplätze im Baugewerbe und im heimischen Hand- chen administrativen Erleichterungen und damit zu einer werk geleistet. deutlichen Entlastung von bürokratischem Aufwand (Bettina Hagedorn [SPD]: Genau! Auf Initia- beim Bund, bei den Ländern und bei den Kommunen, tive der SPD! Da haben Sie recht!) aber auch bei den statistischen Ämtern führen; auch das muss man bei dieser Gelegenheit sagen dürfen. Zusätzliche Investitionen in die energetische Sanierung von Schulen, Kindergärten und Kindertagesstätten tra- (Carsten Schneider [Erfurt] [SPD]: Schaffen gen zum Klimaschutz – der müsste Ihnen von den Grü- wir alle Kontrollen ab; dann gibt es keine Bü- nen immer ein Anliegen sein – und gleichzeitig zur Ver- rokratie mehr!) besserung der Bildungsinfrastruktur bei. Unabhängig von der heute zu beschließenden Geset- Ein Weiteres kommt hinzu: Die Wirtschaftlichkeit zesänderung muss sich der Deutsche Bundestag um die kommunaler Einrichtungen wird erhöht. So spart eine katastrophale Finanzlage der Kommunen kümmern. Die energetisch sanierte Schule in Zukunft erhebliche Be- von Bundesfinanzminister Dr. Schäuble einberufene Ge- triebskosten. Das heißt, die geförderten Investitionen meindefinanzkommission prüft – das ist richtig und gut führen nicht zu Folgekosten, sondern entlasten die kom- so – mögliche Alternativen zu der sehr konjunkturabhän- munalen Haushalte bereits nach wenigen Jahren spürbar gigen Gewerbesteuer. Viele Kämmerer wollen weg von und gleichzeitig nachhaltig. Dies führt zu einer Stärkung der großen Schwankungsbreite und hin zu einer Versteti- der Gemeindefinanzen und zu einer Verbesserung der gung der Einnahmen. kommunalen Infrastruktur. Ich fordere Sie auf, gemeinsam und unvoreingenom- men an dem Reformwerk für die Stärkung der Gemein- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) definanzen mitzuwirken, und zwar bei den Einnahmen Herr Kollege Fricke, liebe Kolleginnen und Kollegen, und bei den Ausgaben und Aufgaben. Nicht blinde Blo- unser Ziel war und ist, einen sinnvollen Weg zwischen ckade, sondern konstruktive Mitarbeit ist auf diesem Ge- Konjunkturimpuls auf der einen Seite und Stabilisierung biet gefordert. der öffentlichen Haushalte auf der anderen Seite zu ge- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) hen. Genau das ist mit diesem Konjunkturpaket gelun- gen. Dabei hat übrigens die Vereinfachung der Aus- Auch die anstehende Steuerstrukturreform darf nicht schreibungsbedingungen bei Vergaben geholfen. auf dem Rücken der Städte und Gemeinden erfolgen. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010 3581

Peter Götz (A) Wir wollen nicht, dass Kindergärten geschlossen werden der Leyen hier vorgelegt hat, können wir nicht zufrieden (C) müssen und Schulen nicht mehr renoviert werden kön- sein, und Sie hätte es besser machen können. nen. Wir müssen vielmehr alles tun, um die kommunalen Finanzen auf ein solides Fundament zu stellen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie der Abg. Katja Kipping (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) [DIE LINKE]) Die kommunale Selbstverwaltung in Deutschland mit Selbst Ihre Sachverständigen haben den Gesetzent- dem großen ehrenamtlichen Engagement in den Räten wurf in der Anhörung am Montag höchst unterschiedlich hat sich bewährt. Sie darf nicht zu einer Worthülse ver- bewertet. Sie alle haben bestätigt, dass es keine drin- kommen. gende Notwendigkeit für diese vorgeschlagene gesetzli- (Beifall des Abg. Alexander Bonde [BÜND- che Regelung gibt. Es sieht also alles nach einem NIS 90/DIE GRÜNEN]) Schnellschuss aus. Es kann aber doch nicht sein, dass wir Menschen in Härtesituationen mit Schnellschüssen Seit der Übernahme der Regierungsverantwortung abspeisen. durch Bundeskanzlerin Angela Merkel haben wir mit unserer kommunalfreundlichen Politik für die Städte, (Beifall der Abg. Anette Kramme [SPD] – Gemeinden und Kreise viel durchgesetzt. Norbert Barthle [CDU/CSU]: Die eine be- hauptet, wir seien untätig, Sie reden von (Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE Schnellschüssen! Was denn nun?) GRÜNEN]: Sie haben die Steuern für die Ho- teliers gesenkt!) Durch die Anhörung wurde deutlich gemacht: Eile ist Wir lassen die Kommunen auch in schwierigen Zeiten in der Sache überflüssig und sogar schädlich. Wir haben nicht im Stich. Zeit bis zum Jahresende. Fakt ist, dass das Urteil an die- ser Stelle sehr eindeutig ist. Der bessere Weg wäre gewe- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) sen, hier zu einer Übergangslösung zu kommen. Sie hät- ten hier den Weg mit einer vorläufigen Härtefallregelung Die heute zu verabschiedende kleine Korrektur im in Anlehnung an die Regelung in § 28 SGB XII be- Zukunftsinvestitionsgesetz liegt im kommunalen Inte- schreiten können. Das ist übrigens auch der Vorschlag resse. Deshalb bitte ich Sie um Ihre Zustimmung. der meisten Sachverständigen gewesen. Vielen Dank. Ich bedauere – und bitte den Staatssekretär auch, das (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und mit ins Haus zu nehmen –, dass die Ministerin diesem (B) der FDP – Alexander Bonde [BÜNDNIS 90/ klugen, pragmatischen Vorschlag vieler Sachverständi- (D) DIE GRÜNEN]: Es ist schlimm, wenn man für gen nicht gefolgt ist; denn mit ihrem Gesetzentwurf hat ein Gesetz reden muss, an das man selber nicht sie nur eine unausgereifte Minimallösung vorgelegt, glaubt!) durch die die Lebenssituation der Menschen nicht wirk- lich verbessert wird. Was wir brauchen, ist eine systema- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: tische, saubere und stimmige Lösung. Ich gebe zu, dass Angelika Krüger-Leißner hat das Wort für die SPD- wir dazu etwas mehr Zeit brauchen, aber die haben wir. Fraktion. Ein weiteres Argument für meinen vorgeschlagenen (Beifall bei der SPD) Weg wurde auch aus Sicht der Bundesagentur für Arbeit als zweckmäßig angesehen, nämlich, in der Übergangs- Angelika Krüger-Leißner (SPD): zeit wertvolle Erfahrungen in der Praxis zu typischen Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Härtefällen zu sammeln und in die gesetzliche Regelung Kollegen! Ich weiß nicht, ob es Ihnen nicht auch so geht einzubeziehen. Zudem erscheint es mir auch sinnvoll, wie mir: Wenn ich die Bundesarbeitsministerin, Frau die erforderliche Neubemessung der Regelsätze im Zu- von der Leyen, beobachte, muss ich staunen, wie sie von sammenhang mit der Härtefallregelung zu sehen und Thema zu Thema fliegt wie ein fleißiges Bienchen von dies auch zeitlich zu verknüpfen. Vielleicht wäre es Ih- Blüte zu Blüte. Gestern Kurzarbeit, letzte Woche Rente, nen dann gelungen, den Handlungsrahmen des Urteils übermorgen Jobcenterreform, einmal die Alleinerziehen- voll auszuschöpfen. So ist das nur Stückwerk. den, dann jüngere Arbeitslose, jeder wird hier bedient. Für mich ist es wichtig, dass wir eine transparente Re- Heute nun die Härtefallregelung im SGB II. gelung bekommen, die den Einzelnen und den vielen Bei genauerem Hinsehen entdeckt man allerdings, Mitarbeitern in den Jobcentern und den Optionskommu- dass viele Themen sehr oberflächlich, gar lieblos abge- nen Klarheit bringt. Mit Ihrem restriktiven Negativkata- tan werden oder das, was vollmundig angekündigt wor- log kommen wir nicht weiter. Keiner kann heute sagen, den ist, herzlos abgelegt wird. So ergeht es mir auch bei was letztendlich als Härtefall anerkannt wird, und nie- diesem Gesetzentwurf zur Aufnahme einer Härtefallre- mand hat einen Negativkatalog gefordert. Ich plädiere gelung in das SGB II. deshalb für einen offenen, positiven, nicht abschließen- den Katalog mit konkreten Fallbeispielen. Ich habe es begrüßt, dass uns das Gericht den Auftrag erteilt hat, hier eine neue gesetzliche Regelung zu tref- Gleichzeitig gebe ich Ihnen noch einen Auftrag mit fen. Aber mit dem, was die Bundesarbeitsministerin von auf den Weg. 3582 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010

Angelika Krüger-Leißner (A) (Bartholomäus Kalb [CDU/CSU]: Sie haben Koalitionsfraktionen. Die Fraktion der SPD hat sich ent- (C) nicht das entsprechende Mandat! – Otto Fricke halten. [FDP]: Quasi von einer Ministerin!) Wir kommen zur Abstimmung über den Änderungs- – Wir werden über diesen Punkt noch eine ganze Weile antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Druck- reden; nehmen Sie das einmal auf! – Ob der Bewilli- sache 17/1473. Wer stimmt für diesen Änderungsantrag? – gungszeitraum von sechs Monaten angesichts dieser Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Damit ist der Problemfälle gerechtfertigt ist, bitte ich Sie zu überprü- Änderungsantrag abgelehnt bei Zustimmung durch fen. Warum denn eigentlich nicht länger? Bündnis 90/Die Grünen, SPD und große Teile der Frak- tion Die Linke und Ablehnung durch die Koalitionsfrak- 1) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: tionen. Enthaltungen gab es in der Fraktion Die Linke. Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Ende. Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um ihr Hand- Angelika Krüger-Leißner (SPD): zeichen. – Wer stimmt dagegen? – Enthalten möchte sich Ja. Darf ich den Gedanken noch zu Ende führen? niemand? – Damit ist der Gesetzentwurf in der Aus- schussfassung in zweiter Beratung angenommen. Zuge- stimmt haben die Koalitionsfraktionen. Abgelehnt haben Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: die Oppositionsfraktionen. Wenn es ein Satz ist, dann ja, sonst nicht. Dritte Beratung Angelika Krüger-Leißner (SPD): und Schlussabstimmung. Wer zustimmen möge, erhebe Ja, ich versuche das. sich bitte. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Damit ist der Gesetzentwurf in dritter Beratung angenommen mit Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: dem gleichen Abstimmungsverhältnis wie vorher. Wenn es ein kurzer ist. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Angelika Krüger-Leißner (SPD): richts des Ausschusses für Arbeit und Soziales Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich ein (11. Ausschuss) zu dem Antrag der Fraktion der Fazit ziehen: Der Gesetzentwurf zur Härtefallregelung SPD ist unnötig und bewirkt nichts, er bringt auch keinen Mehrwert – Beschäftigte vor Arbeitslosigkeit schützen – (B) Konditionen für Kurzarbeit verbessern (D) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: – Drucksachen 17/523, 17/1446 – Frau Kollegin. Berichterstattung: Abgeordneter Paul Lehrieder Angelika Krüger-Leißner (SPD): Hierzu ist verabredet, eine halbe Stunde zu debattie- – und vor allen Dingen hilft er dem Einzelnen nicht. ren. – Dazu höre ich keinen Widerspruch. Darum stimmen wir dem nicht zu. – Das war jetzt aber doch ein zusammenhängender Satz. Ich eröffne die Aussprache. Der Kollege Peter Weiß hat das Wort für die CDU/CSU-Fraktion. (Heiterkeit und Beifall bei der SPD) Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU): Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Das war aber jedenfalls kein kurzer. „Man kann von einem deutschen Arbeitsmarktwunder Ich schließe die Aussprache. sprechen: 5 Prozent Rückgang des Bruttosozialprodukts, kaum Anstieg der Arbeitslosigkeit“, so der Sachverstän- Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun- dige Professor Dr. Gerhard Bosch von der Universität desregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Abschaf- Duisburg-Essen am Montag in einer Anhörung des Aus- fung des Finanzplanungsrates. schusses für Arbeit und Soziales. Das Institut der deut- Der Haushaltsausschuss empfiehlt in seiner Beschluss- schen Wirtschaft hat vor kurzem eine Ausarbeitung vor- empfehlung auf Drucksache 17/1465, den Gesetzentwurf gelegt mit der Aussage: Deutsche Arbeitnehmer am der Bundesregierung auf Drucksache 17/983 in der Aus- geringsten von der Krise betroffen. schussfassung anzunehmen. Hierzu liegen Änderungs- Um über das, so die Formulierung, „Jobwunder Deutsch- anträge vor. Über diese stimmen wir zuerst ab. land“ zu sprechen, war die Bundesarbeitsministerin Abstimmung über den Änderungsantrag der Fraktion Ursula von der Leyen zum G-20-Gipfel nach Washington Die Linke auf Drucksache 17/1474. Wer stimmt für die- eingeladen. Allem Krisengerede zum Trotz: Mit dem sen Änderungsantrag? – Wer stimmt dagegen? – Enthal- Schutzschirm für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitneh- tungen? – Der Änderungsantrag ist abgelehnt. Zuge- mer und insbesondere mit den Regelungen zur Kurzarbeit stimmt haben die einbringende Fraktion Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen, dagegen gestimmt haben die 1) Anlage 2 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010 3583

Peter Weiß (Emmendingen) (A) hat der Staat unter großer internationaler Beachtung mu- Aber wir haben nicht nur die Regelungen zur Kurzar- (C) tig und entschlossen gehandelt und auf die Herausforde- beit verlängert, womit wir dafür sorgen, dass eine tragfä- rungen der Finanz- und Kapitalmarktkrise reagiert. hige Brücke in Beschäftigung nach der Krise möglich wird, sondern wir denken auch an diejenigen, die bereits Zunächst einmal ist festzustellen: Wir Deutschen kön- leider arbeitslos sind, vor allem an diejenigen, die schon nen stolz darauf sein, dass wir in dieser Krisensituation lange arbeitslos sind. Deshalb hat die Koalition gestern so klar, mutig und entschlossen gehandelt haben. im Haushaltsausschuss des Deutschen Bundestages die bislang gesperrten Mittel in Höhe von 900 Millionen (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Euro für den Eingliederungstitel freigegeben; Ohne die Regelung zur Kurzarbeit, die die Betriebe in (Beifall bei der CDU/CSU – Anette Kramme einem beachtlichen Umfang genutzt haben, hätte es zu [SPD]: Nachdem Sie sie vorher gesperrt ha- Massenentlassungen kommen müssen. Die Betriebe wis- ben! Erst verschlechtern und sich dann selber sen aber, es lohnt sich, qualifiziertes Personal zu halten, loben, das ist ja wohl der Witz!) statt zu entlassen, um für die Zeit nach der Krise besser aufgestellt zu sein. Ich habe keinen Zweifel, dass sich denn wir wollen nicht, dass der mittelfristig beginnende dieses Verhalten der deutschen Betriebe nach dem An- Aufschwung an den Beziehern von Arbeitslosengeld II springen der Konjunktur auszahlen wird. vorbeigeht. Deshalb wollen wir auch für sie neue Chan- cen auf neue Arbeit eröffnen. Die Bundesministerin für Im Mai 2009 bezogen 1,5 Millionen Beschäftigte Arbeit und Soziales hat ein Konzept vorgelegt, nach dem Kurzarbeitergeld. Das war der Höchststand. Die Bundes- wir die zusätzlichen Mittel, die jetzt freigegeben worden agentur rechnet für das laufende Jahr 2010 im Durch- sind, vor allen Dingen dafür einsetzen wollen, dass jun- schnitt mit 700 000 Beziehern von Kurzarbeitergeld und gen Menschen unter 25 Jahren sofort ein Jobangebot ge- für 2011 zurückgehend mit 400 000 bis 500 000. Diese macht werden kann, Zahlen zeigen: Mittlerweile geht es in vielen Branchen (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- der deutschen Wirtschaft wieder aufwärts; aber viele Be- NEN]: Das stand schon vorher im Gesetz!) triebe brauchen trotzdem nach wie vor das Instrument der Kurzarbeit und stecken nach wie vor mitten in der dass wir stärker noch Alleinerziehenden helfen, insbeson- Krise. dere dann, wenn das Betreuungsproblem für die Kinder nicht gelöst ist, und dass wir die Beschäftigungschancen Deshalb wäre es töricht, diese Brücke Kurzarbeit ab- älterer Arbeitsloser mit dem Programm „Perspektive zureißen, die die Unternehmen über das Tal der Krise füh- 50plus“ verbessern. ren soll. Deshalb hat die neue Bundesregierung sofort (Anette Kramme [SPD]: Ja, ein gutes Pro- (B) nach ihrem Antritt bereits die Rechtsverordnung in Kraft (D) gramm, das die SPD gemacht hat!) gesetzt, nach der nicht für die im Gesetz vorgesehenen 6 Monate, sondern insgesamt für 18 Monate Kurzarbei- Meine sehr geehrten Damen und Herren, mit diesem tergeldbezug möglich ist. Gestern hat das Bundeskabinett Beschäftigungssicherungsgesetz, mit der Verlängerung mit dem Beschäftigungschancengesetz die weitere ge- der Regelungen zur Kurzarbeit in das nächste und über- setzliche Initiative auf den Weg gebracht, die Sonderre- nächste Jahr hinein, um die Krise durchzustehen, - gelung zu verlängern, die wir in der Krise geschaffen und eigentlich bis zum Ende 2010 begrenzt haben. Diese Re- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: gelung besagt, dass ab dem siebten Monat Kurzarbeiter- Herr Kollege. geldbezug die Sozialversicherungsbeiträge zu 100 Pro- zent von der Agentur für Arbeit übernommen werden, Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU): womit die Betriebe zusätzlich finanziell entlastet werden. – und mit den zusätzlichen Initiativen, die es möglich Mit diesem Gesetzentwurf der Bundesregierung wer- machen sollen, dass Arbeitslosengeld-II-Empfänger Wege den wir weitere Sonderregelungen verlängern, die bis in die Arbeit finden können, setzt diese Koalition ein Ende 2010 befristet waren, zum Beispiel die Regelung, deutliches Zeichen. dass wir in die Kurzarbeiterregelung Beschäftigte von Leiharbeitsunternehmen einbeziehen, oder die Regelung Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: zur Entgeltsicherung. Letztere bedeutet, dass dann, wenn Herr Kollege, Sie müssen dringend zum Ende kom- jemand trotz Kurzarbeit leider entlassen wird, das Ar- men. beitslosengeld nicht nach dem zuletzt bezogenen Kurzar- beitergehalt, sondern nach seinem zuletzt bezogenen vol- Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU): len Gehalt berechnet wird. Auch der Ausbildungsbonus Das wollte ich, Frau Präsidentin. für Lehrlinge insolventer Betriebe wird bis Ende 2013 verlängert. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Meine sehr geehrten Damen und Herren, die Fach- Das ist gut. leute, mit denen wir am Montag diskutiert haben, gehen davon aus, dass wir damit weiterhin dafür sorgen, dass Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU): die Arbeitslosigkeit nicht sprunghaft um 300 000 Perso- Wenn Sie mir den richtigen Schwung noch erlaubt nen ansteigt. hätten, wäre ich jetzt zum Ende gekommen. 3584 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010

(A) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Man darf zu Recht sagen, Herr Weiß: Bei Abnahme (C) Man weiß es nicht sicher. des Bruttosozialprodukts um 5 Prozent und fast keinem Anstieg der Arbeitslosenzahl scheint dieses Mittel in sei- (Heiterkeit) ner Flexibilität und Wirkung ein Erfolgsmodell zu sein. Deshalb haben wir diesen Antrag gestellt. Wir wollen, Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU): dass die Verlängerung der Bezugsdauer des Kurzarbei- Mit beiden Programmen verfolgt die Koalition ein tergeldes auch in Zukunft gilt. Wir sind nämlich nicht so zentrales Ziel. Es heißt: Raus aus der Krise. Wir wollen, blauäugig, zu glauben, dass die Krise schon in den dass die deutschen Arbeitnehmerinnen und Arbeitneh- nächsten Monaten vorbei ist. mer einen starken Schutzschirm durch die Politik behal- ten, dass unsere Unternehmen eine Zukunftsperspektive (Beifall bei der SPD) haben, – Dieses Modell hat 500 000 Jobs gerettet; das konnten wir überall nachlesen. Dieses Modell hat den Arbeitneh- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: mern und den Unternehmen Sicherheit gegeben, und es Herr Kollege! hat den Blick in die Zukunft der betroffenen Unterneh- men sowie der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU): nicht ganz so sehr getrübt, wie wir es im Rahmen der Fi- nanzkrise erlebt haben. Deshalb wollen und werden wir – damit, wenn der Aufschwung kommt, die Arbeitneh- dies weiterführen. merinnen und Arbeitnehmer von diesem Aufschwung tat- sächlich profitieren. Ich erlaube mir vor dem Hintergrund der Anhörung Vielen Dank. des zuständigen Ausschusses auf die finanziellen Aus- wirkungen der Krise auf dieses Instrument hinzuweisen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Dr. Die Hans-Böckler-Stiftung hat sie in einer Studie unter- Heinrich L. Kolb [FDP]: Sehr dynamisch!) sucht und deutlich dargestellt, dass im Jahre 2009 die Kosten für die Agentur für Arbeit circa 4,7 Milliarden Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Euro betrugen. Bei den Unternehmen kam es zu Kosten Willi Brase hat jetzt das Wort für die SPD-Fraktion. in Höhe von circa 5 Milliarden Euro. Bei den Arbeitneh- merinnen und Arbeitnehmern kam es zu Einkommens- (Beifall bei der SPD) verlusten in Höhe von circa 3 Milliarden Euro. Diese Kosten sind, wenn man so will, relativ gleichmäßig ver- Willi Brase (SPD): teilt. (B) (D) Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn wir ehrlich sind und sagen, dass die Wirt- Sehr geehrte Damen und Herren! Mein Vorredner hat auf schaftskrise aufgrund der Finanzkrise entstanden ist, das Erfolgsmodell der Kurzarbeit hingewiesen. dann wird es langsam Zeit, dass endlich diejenigen, die (Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Aber Sie haben sie verursacht haben, dafür bezahlen. nicht geklatscht!) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Sie gestatten, dass ich noch einmal klar und deutlich DIE GRÜNEN) zum Ausdruck bringe, dass es der Arbeitsminister Olaf Eigentlich müssten wir diese Kosten – weit über Scholz war, der aufgrund des Zusammenwirkens mit Ge- 10 Milliarden Euro – den Finanzjongleuren vor die Füße werkschaften und Arbeitgebern und der Rückkopplung, werfen und es dort abholen; Stichwort Finanztransak- die wir über unsere Betriebe und die Betriebsräte aufge- tionssteuer. Das wäre ein gutes und wirksames Instru- nommen haben, gefragt hat: Wie kann ein solches Instru- ment, und es wäre besser als die geplante Bankenabgabe. ment so ausgestattet werden, dass es in der Praxis ver- nünftig wirkt? Wenn man es richtig betrachtet, dann (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ muss man sagen: Das war ein Bündnis für Beschäftigte DIE GRÜNEN) und Zukunft. Wir wollen die Verlängerung der Bezugsdauer des (Beifall bei der SPD) Kurzarbeitergeldes auf 36 Monate; das sehen Sie in un- Es war deshalb ein Bündnis für Beschäftige und Zu- serem Antrag. Bereits im November/Dezember 2008, als kunft, weil es das Ziel war, dass nicht die Arbeitnehme- die Diskussion darüber, dass die kleinen und mittelstän- rinnen und Arbeitnehmer für die Zockerei am Kapital- dischen Unternehmen nicht den Bach runtergehen sol- markt und die damit verbundenen Risiken und Krisen zu len, richtig losging, haben wir erkannt, dass es sehr bezahlen haben. wichtig ist, dass die sogenannten Remanenzkosten, also die Kosten für die sozialversicherungspflichtigen Be- (Beifall bei der SPD) schäftigen, übernommen werden. Es war genauso wich- tig und notwendig, dies mit der Qualifizierung zu ver- Deshalb haben wir es auf den Weg gebracht. Die Union binden. Bei der Qualifizierung ist mir aufgefallen, dass ist mitgegangen. Es war ein guter Weg. Es war ein Weg, bei der Anhörung nur wenige Sachverständige darauf den Sozialdemokraten richtig und vernünftig gepflastert hingewiesen haben – teilweise hat man es in diesen Wo- haben. chen aus der Politik gehört; erst sollte das Kurzarbeiter- (Beifall bei der SPD) geld nicht verlängert werden; jetzt hat man es gemacht –, Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010 3585

Willi Brase (A) dass eine mögliche Verlängerung der Bezugsdauer des Deutschland hier noch ein Stück zurückliegt. All das (C) Kurzarbeitergeldes den notwendigen Strukturwandel be- spricht nicht gegen, sondern für die Verlängerung der hindern könnte. Eine mögliche Verlängerung, die gerade Kurzarbeiterregelung. Deshalb bitte ich Sie: Stimmen den Beschäftigen und den Unternehmen Sicherheit brin- Sie dem Antrag der Fraktion der SPD zu. Für uns geht es gen würde, könnte also einen notwendigen Strukturwan- um ein Bündnis für die Sicherung der Beschäftigung, del verhindern. also um gute Zukunftsaussichten. Wenn Arbeitnehmer wissen, dass sie nicht entlassen werden, dann ist das Wenn man sich das genauer anschaut, muss man eini- auch für die Unternehmen und für die Zukunft in ges feststellen – das haben die Sachverständigen teil- Deutschland gut. weise getan –: Es gab im verarbeitenden Gewerbe trotz Kurzarbeit Entlassungen. Innovation findet doch nicht (Beifall bei Abgeordneten der SPD) nur statt, wenn Unternehmen Beschäftigte entlassen und Eben hat der geschätzte Kollege Bonde von den Grü- sie sich einen neuen Arbeitgeber suchen müssen. Im Ge- nen bezogen auf die Debatte zu einem anderen Tages- genteil: Innovationen in den Betrieben finden statt, wenn ordnungspunkt von einem schwarzen Moment im Parla- es eine entsprechende Innovationskultur gibt. Grundlage ment gesprochen. Ich sage: Das ist ein grüner dafür ist häufig eine sichere Beschäftigung. Es bedeutet Augenblick mit einer roten Zuversicht. Stimmen Sie die- ein Stück Zukunftssicherung, zu wissen, dass man in den ser Regelung deshalb zu. Wir haben sie auf den Weg ge- nächsten Jahren für den gleichen Arbeitgeber arbeiten bracht. Sie wird auch weiterhin benötigt. kann. Diejenigen, für die das gilt, sind doch viel eher be- Vielen Dank. reit, sich in betriebliche Belange einzubringen und einen Beitrag zu Wandel und Fortschritt zu leisten. (Beifall bei der SPD) (Gabriele Hiller-Ohm [SPD]: Wohl wahr!) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Die Kurzarbeit hat dazu geführt, dass nicht entlassen Kollege Johannes Vogel ist der nächste Redner für die worden ist und dass darüber hinaus die Ausbildung nicht Fraktion der FDP. eingestellt wurde, obwohl nach den Zahlen des Statisti- schen Bundesamtes 2009 ein Minus von 7,6 Prozent zu (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten verzeichnen war. Die Befürchtung, dass 2009 aufgrund der CDU/CSU) der Finanz- und Wirtschaftskrise massiv weniger ausge- bildet wird, hat sich nicht bewahrheitet. Wir sind der Johannes Vogel (Lüdenscheid) (FDP): Auffassung, dass gute Ausbildung, vor allen Dingen im Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! verarbeitenden Gewerbe, ein wesentlicher Beitrag zur Es ist richtig, was gerade gesagt wurde: Die Kurzarbeit (B) Innovationsfähigkeit und Innovationskraft im Mittel- ist in der Tat ein sehr wertvolles Instrument in der Krise (D) stand ist. gewesen. Ganz wesentlich hat sie dazu beigetragen, dass das Ausland neidisch auf das sogenannte deutsche Job- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) wunder schaut. Was den Arbeitsmarkt angeht, scheint Liebe Kolleginnen und Kollegen, viele Betriebe in unser Land trotz der schwersten Rezession in der Ge- unserer Republik haben, was Qualifizierung angeht, im- schichte dieser Republik erfreulich gut davongekommen zu sein. Das ist in der Tat ein Lob und auch einen Dank mer noch schwach ausgeprägte eigene Vorstellungen wert an unseren geschätzten Koalitionspartner, aber über ihren Qualifizierungsbedarf und keine Weiterbil- auch, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, an dungsstrategie; darüber haben wir an anderer Stelle Sie und den ehemaligen Minister Scholz. mehrfach diskutiert. Um dem entgegenzuwirken, sind Maßnahmen und Aktivitäten durchgeführt worden, Nur, Arbeitspolitik, die in der Krise gut war, muss Stichwort „WeGebAU“. Wenn man sich das Ganze an- korrigiert werden, wenn sie auch nach der Krise noch schaut, dann erkennt man, dass es nichts mit dem Struk- gut sein soll. Ein Instrument wie die Verlängerung der turwandel zu tun hat, dass die Kurzarbeiterregelung ver- Kurzarbeit, das in der Krise wertvoll war, kann nach ändert wird. Ende der Krise durchaus schädlich sein, weil dadurch Strukturen konserviert und Arbeitsplätze gefährdet wer- Ich will auf Folgendes hinweisen: Qualifizierungen, den. die für die Beschäftigten sinnvoll und gut sind, sind so zu organisieren, dass sie möglichst nachhaltig wirken. Es (Jutta Krellmann [DIE LINKE]: Blödsinn!) ist aber nun einmal so, dass Kurzarbeit abgebaut wird, Niemand kann bestreiten, dass es am Konjunkturhim- wenn ein Unternehmen mehr Aufträge bekommt. Das ist mel Zeichen der Besserung gibt. Wie wir alle wissen, für die Erwachsenenbildung, qualifizierungspolitisch ge- unterscheidet sich das von Branche zu Branche. Ich sehen, manchmal etwas nachteilig. In diesem Bereich glaube, das ist ein Grund, bei dem Thema Kurzarbeit braucht man längere Zeiten. Das spricht nicht gegen eine maßvoll zu agieren, sowohl was die Verlängerung der Kurzarbeiterregelung, sondern im Prinzip dafür, und Sonderregeln bei der Kurzarbeit als auch was die soge- deshalb wollen wir sie aufrechterhalten. nannte Synchronisation der Sozialversicherungsbeiträge angeht. Man muss nämlich auch etwas anderes synchro- Die betriebliche Weiterbildungsstrategie wäre der nisieren: das Ende der Krise und das Ende der Sonderre- Qualifizierung von Kurzarbeitern sicherlich förderlich, gelungen für die Kurzarbeit. wenn wir sie schon umfassender hätten durchsetzen kön- nen. Alle Debatten, auch die im zuständigen Ausschuss, (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten und alle Untersuchungen haben deutlich gemacht, dass der CDU/CSU) 3586 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010

Johannes Vogel (Lüdenscheid) (A) Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, ich (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten (C) habe das Gefühl, diese Herausforderung haben Sie nicht der CDU/CSU) begriffen. Das zeigt sich in meinen Augen in zwei Punk- ten, nämlich zum einen darin, dass Sie gar nichts zur Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Konzernklausel sagen. Die Konzernklausel privilegiert Das Wort hat nun die Kollegin Jutta Krellmann für die ohne Not große Unternehmen gegenüber kleinen. Sie Fraktion Die Linke. war falsch und systemwidrig. (Beifall bei der LINKEN) Genauso falsch ist in meinen Augen zum anderen der Zeitraum von 36 Monaten, den Sie uns hier vorschlagen. Jutta Krellmann (DIE LINKE): Das hat auch die Anhörung, die wir am letzten Montag im Ausschuss für Arbeit und Soziales durchgeführt ha- Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und ben, ganz klar gezeigt. Ich zitiere nur zwei Sachverstän- Kollegen! Die Betriebsräte und Geschäftsleitungen ha- dige aus der Anhörung: ben gehandelt, nicht Sie, Herr Weiß. Sie haben höchstens die Rahmenbedingungen geschaffen, aber sonst nichts. Die OECD sagt: (Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Unsere Vorhersagen gehen aber davon aus, dass wir Gott sei Dank! Das ist doch was gewesen! – uns bereits in einer beginnenden Aufschwungphase Weitere Zurufe von der CDU/CSU) befinden und dass man im jetzigen Augenblick vor- Gehandelt haben andere. sichtig sein sollte mit der Verlängerung und inso- fern auch eine stärkere Eigenbeteiligung vorzuse- Die Krise zeigt, dass nur eine konsequente Arbeits- hen ist. zeitverkürzung Arbeitsplätze schafft und sichert. Statt immer längere Arbeitszeiten für den einen und gar keine Das IAB, das wir alle gern zitieren, weil wir alle wis- für den anderen, muss Arbeit gerechter verteilt werden. sen, dass das ein sehr seriöses Institut ist, sagt: Kurzarbeit ist nämlich nichts anderes als Arbeitszeitver- Eine Verlängerung der maximalen Bezugsfrist des kürzung mit Teillohnausgleich. konjunkturellen Kurzarbeitergeldes auf 36 Monate (Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Reichtum zum jetzigen Zeitpunkt könnte als Signal für eine für alle!) mittelfristig gewährte Subvention missverstanden werden und das Risiko von Strukturverhärtungen Das mit der Kurzarbeit haben zum Glück mittlerweile eher erhöhen. Auch mit der Frist von 24 Monaten auch die CDU, die FDP und Frau von der Leyen verstan- den. Wir unterstützen die Forderung der SPD in ihrem (B) oder heute 18 Monaten dürften die meisten Betriebe (D) ausreichend Zeit haben. Antrag zur Kurzarbeit und werden diesem zustimmen. (Anette Kramme [SPD]: Was halten Sie von Uns geht er aber noch nicht weit genug. Es erfordert Professor Bosch, IAQ?) nur gesunden Menschenverstand, um zu erkennen, dass die gerechte Verteilung von Arbeit der richtige Hebel für – Ich habe jetzt zwei herausgegriffen, liebe Frau Kolle- mehr Beschäftigung ist. gin. (Beifall bei der LINKEN) Man kann also festhalten: Ausgerechnet das Merk- Hier gibt es in Ihren Vorschlägen noch einigen Raum für mal, das Ihren Antrag auszeichnet, die Frist von 36 Mo- Verbesserungen. naten, wurde von zwei seriösen Instituten kritisiert. Ich gehöre zu der Generation, die in den 80er-Jahren Deswegen ist sinnvoller, was wir machen, nämlich für eine Arbeitszeitverkürzung gekämpft hat. Arbeits- eine maßvolle Bezugsdauer von 18 Monaten zu wählen zeitverkürzung bedeutet nicht nur Kurzarbeit, sondern und die Synchronisation der Sozialversicherungsbeiträge sie bedeutet auch, die Arbeitszeit für Vollzeitbeschäftigte 15 Monate lang zu gewähren. Wir steigen schrittweise zum Beispiel auf eine 35-Stunden-Woche zu verkürzen; aus diesem Instrument aus. sie bedeutet, Überstunden zu begrenzen; und sie bedeu- Es bleibt bei sinnvollen Maßnahmen, wie zum Bei- tet, Altersteilzeit einzuführen. spiel der vollen Erstattung bei Qualifizierungsmaßnah- (Beifall bei der LINKEN) men. Wir haben aber im Gegensatz zu Ihnen eine klare Exit-Strategie und haben verstanden, dass ein Instrument Arbeitszeitverkürzung erleichtert die Vereinbarkeit von in einer Krise gut sein kann, aber nach der Krise irgend- Beruf und Familie, und sie wirkt sich positiv auf die Ge- wann auch vernünftig auslaufen muss, wenn es im Inte- sundheit der Beschäftigten aus. Da schlagen Sie gleich resse der Menschen wirken soll. mehrere Fliegen mit einer Klappe. Mir fällt dazu Ihr Ex-Kanzler Schröder ein. Ich Vor dem Hintergrund knapper Arbeit ist es auch völ- glaube, man kann für die Kurzarbeit sagen: Wir werden lig irrsinnig, die Menschen mit 67 Jahren noch in den nicht alles anders machen als Sie, aber vieles besser. Ich Betrieben zu beschäftigen. glaube, das ist genau die richtige Antwort. Deshalb wer- (Beifall bei der LINKEN) den wir Ihren Antrag auch ablehnen. Nehmen Sie die Entscheidung zur Rente mit 67 wieder Vielen Dank. zurück! Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010 3587

Jutta Krellmann (A) Für die Linke ist klar: Die Erstattung von Sozialversi- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: (C) cherungsbeiträgen bei Kurzarbeit ist ebenfalls richtig Nächste Rednerin ist die Kollegin Brigitte Pothmer und muss fortgesetzt werden. Hierbei sind wir ganz auf für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Ihrer Seite. (Gabriele Hiller-Ohm [SPD]: Nun aber los! – (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Welche Seite Heiterkeit – Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/ meinen Sie denn jetzt?) DIE GRÜNEN]: Die SPD feuert mich schon wieder an!) Die Regierung hat lange genug gebraucht, sich dazu durchzuringen, Klarheit zu schaffen. Damit wurden viele Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Kolleginnen und Kollegen in den Betrieben absolut ver- Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Nun unsichert. aber los! – Alle Fraktionen im Hause sind der Auffas- sung – das ist schon hinreichend deutlich geworden –, Die tarifliche Kurzarbeit, wie sie in der Metall- und dass in einer Krisensituation mit Nachfrageeinbrüchen Elektroindustrie ausgehandelt wurde, wäre ebenfalls ein die Kurzarbeit ein richtiges und solidarisches Instrument richtiger Schritt und eine Ergänzung zur konjunkturellen ist, um Arbeitslosigkeit abzufedern. Kurzarbeit gewesen. Sie fehlt in den Vorschlägen der SPD und der Regierung aber komplett. Hier müssten (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) noch Hausaufgaben gemacht und Nachbesserungen vor- Da nehmen wir als Grüne uns auch keineswegs aus; das genommen werden. haben wir immer deutlich gemacht. Wissenschaft, Ge- (Beifall bei der LINKEN) werkschaften und Arbeitgeber – das hat die Anhörung gezeigt – bilden hier eine Phalanx. Die Idee, Kurzarbeit für die Qualifizierung der Be- Kurzarbeit ist ein Instrument der Untertunnelung, und schäftigten zu nutzen, klingt bestechend und einfach; al- zwar der Untertunnelung einer Krise. Wir sollten uns lerdings funktioniert sie in der Praxis nur schwer. Das aber schon die Frage stellen, wie lang denn aus unserer belegt im Grunde die sinkende Zahl von Bildungsmög- Sicht dieser Tunnel sein soll, ob nicht irgendwann auch lichkeiten während der Kurzarbeit. Erstens ist es für Bil- Licht am Ende des Tunnels zu sehen sein muss, und wie dungsträger schwierig, passende Maßnahmen aus dem wir schnellstmöglich aus diesem Tunnel wieder heraus- Boden zu stampfen. Zweitens ist es schwierig, in den kommen. Wir müssen von dieser Art von Subventionie- Betrieben dafür zu sorgen, dass Leute auch bereit sind, rung tatsächlich wieder wegkommen; denn die Krise, daran teilzunehmen. mit der wir es zu tun haben, ist nicht eine einfache Nach- fragekrise; es ist eine Strukturkrise, und das Kurzarbei- (B) Hinzu kommt noch: Wenn die Kurzarbeit endet, endet (D) tergeld wirkt prinzipiell strukturkonservierend. auch die Weiterbildung, weil am nächsten Tag wieder voll gearbeitet werden muss. Das bedeutet: Wenn man (Otto Fricke [FDP]: Sehr wahr!) da etwas erreichen will, muss man über Qualifizierung Deswegen ist es wichtig, dass wir uns darüber ausei- für die Zeit nach dem März 2012 reden, also über Quali- nandersetzen, wie wir es erreichen, dass wir nicht Struk- fizierung als Daueraufgabe und nicht nur als Maßnahme turen konservieren, also Subventionen in einen Bereich bei Kurzarbeit. geben, der nach dem Ende der Krise ohne die Subventio- (Beifall bei der LINKEN) nen nicht konkurrenzfähig wäre. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Ich bin bereit, zu Noch ein Punkt bleibt in Ihren Vorschlägen uner- applaudieren!) wähnt. Sie lassen die Beschäftigten in der Kurzarbeit mit dem Progressionsvorbehalt in die Steuerfalle laufen. Da- Es geht nicht an, dass wir erst Geld für Kurzarbeit ausge- mit ist gemeint, dass das Kurzarbeitergeld zwar erst ein- ben und nachher doch Arbeitslosigkeit finanzieren müs- mal lohnsteuerfrei ist, die Beschäftigten aber im nächs- sen. ten Jahr hohe Steuernachzahlungen leisten müssen. Das (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, können sie sich aber gar nicht leisten. Wovon auch? Sie bei der CDU/CSU und der FDP – Dr. Heinrich sind schon in Kurzarbeit, erhalten weniger Lohn und L. Kolb [FDP]: Das sind die Momente, wo ich können dementsprechend keine Rücklagen bilden. den Glauben an die Kollegin Pothmer wieder- gewinne!) Korrigieren Sie bitte Ihre Steuerungerechtigkeiten! Das ist im Interesse der Beschäftigten. Ich sage noch einmal ausdrücklich: Wir sind für die Weiterführung des Kurzarbeitergeldes. Aber auch in Ih- (Beifall bei der LINKEN) rem Beitrag, Herr Brase, haben Sie überhaupt nicht be- gründen können, warum Sie hier und heute eine Verlän- Sorgen Sie für mehr Steuergerechtigkeit, und haben Sie gerung der Bezugszeit auf 36 Monate beschließen den Mut zu konsequenter Arbeitszeitverkürzung! Nur so wollen. können Arbeitsplätze gesichert und geschaffen werden. (Otto Fricke [FDP]: Jawohl, das stimmt!) Vielen Dank. Sie sollten wenigstens die vom IAB vorgeschlagene (Beifall bei der LINKEN) Überprüfungsklausel in bestimmten Phasen aufgreifen. 3588 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010

Brigitte Pothmer (A) Aber es ist falsch, jetzt einfach die Bezugsdauer auf 36 Mo- Paul Lehrieder (CDU/CSU): (C) nate zu verlängern, und das, ohne zwischendurch hinzu- Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen! schauen. Das halte ich für nicht verantwortbar. Werte Kollegen! Herr Kollege Brase, Sie haben vorhin ausgeführt, die Kurzarbeit, wie sie derzeit geregelt ist, sei (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, während der Zeit unserer gemeinsamen Koalition – mitt- bei der CDU/CSU und der FDP) lerweile sind wir geschiedene Koalitionspartner – einge- führt worden. Wir haben das Kurzarbeitergeld mit der Ich will hier einen weiteren kritischen Punkt aufgrei- FDP fortgeführt. Ich hätte bei dieser Feststellung durch- fen, den Herr Brase schon angesprochen hat, und zwar aus auch den Applaus der SPD erwartet. Denn das Kurz- die Verknüpfung von Kurzarbeit und Weiterbildung. Die arbeitergeld ist eine gute und richtige Maßnahme. Wir Bundeskanzlerin hat hier in vielen Reden immer wieder haben vorhin von mehreren Rednern gehört, dass uns gesagt, wir müssten darauf achten, dass wir Deutschen dieses Kurzarbeitergeld europaweit – ich möchte sagen: aus dieser Krise stärker herauskommen, als wir hinein- weltweit – bei der Bewältigung der Krise einen Vor- gegangen sind. Eines der ganz großen Defizite des deut- sprung verschafft hat. schen Arbeitsmarktes ist die ungenügende Qualifizie- rungs- und Weiterbildungskultur. Was liegt denn näher, (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie als in einer solchen Situation die Krise als Chance zu des Abg. Willi Brase [SPD]) nutzen, dieses Defizit zu beseitigen? Warum nutzen wir Wir müssen uns bei all denen, die dafür den Schweiß der die derzeit nicht gebrauchten Arbeitszeitpotenziale nicht Edlen und Gerechten vergossen haben, bedanken. für Weiterbildung? Diese Verknüpfung wird zurzeit nur ungenügend angewandt. Nur 10 Prozent aller Kurzarbei- Meine Damen und Herren, es besteht im Übrigen terinnen und Kurzarbeiter nutzen die Kurzarbeit, um pa- Konsens in diesem Hause darüber, dass die Kurzarbeit rallel eine Weiterbildung zu machen. das probate, das richtige Mittel für die Bewältigung der Krise ist. Auch die Unternehmen haben erkannt, dass sie (Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Wir qualifizierte und gut ausgebildete Arbeitnehmer sinnvol- haben aber das Angebot im Gesetz!) lerweise möglichst lange halten und ihnen nicht ohne Not kündigen sollten, um so dieses Tal der Krise mithilfe – Herr Weiß, in der Anhörung ist gesagt worden, dass der Verlängerung der Bezugsdauer für das Kurzarbeiter- man dieses Defizit ganz deutlich sehen kann. geld zu überbrücken. Nach sieben Monaten wird das Kurzarbeitergeld ge- Das konjunkturelle Kurzarbeitergeld – die Vorredner zahlt, ohne dass noch irgendwelche Anstrengungen für haben dies bereits ausgeführt – hat einen bedeutenden (B) Weiterbildung unternommen werden müssen. Der Ver- Anteil daran, dass die Unternehmen in Deutschland in (D) treter der Bundesagentur für Arbeit hat gesagt: Man der Wirtschaftsflaute ihre Arbeitnehmer halten konnten. kann genau sehen, wie dieser Tatbestand den Qualifizie- Zwei gegensätzliche Tendenzen zeichnen sich aber der- rungsanreiz dämpft. – Deswegen ist dieser Ansatz zeit ab: Unternehmen sind einerseits in vielen Bereichen falsch. Wenn wir den Gesetzentwurf der Bundesregie- an der Grenze der Belastbarkeit in Bezug auf die Halte- rung im Ausschuss beraten, dann bitte ich Sie darum, kosten angekommen; die wirtschaftliche Erholung ande- dass wir einmal sehr ernsthaft und seriös darüber spre- rerseits beginnt nur langsam. Außerdem stellen die Un- chen sollten, ob diese Regelung nicht korrigiert werden ternehmen, die von der Krise betroffen sind, keine muss. homogene Gruppe dar. Manche Unternehmen erreicht die Krise erst in den nächsten Monaten. Sie wird sie über Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD-Frak- das Jahr 2010 hinaus vor Herausforderungen stellen. An- tion, aus diesen beiden Gründen, also Verlängerung der dere Unternehmen bauen bereits jetzt ihren Mitarbeiter- Bezugsdauer des Kurzarbeitergeldes und unzureichende bestand wieder auf. In den nächsten Monaten wird sich Verknüpfung des Kurzarbeitergeldes mit der Weiterbil- deshalb herausstellen, welche Entwicklung in welcher dung, werden wir uns bei der Abstimmung über Ihren Sparte dominieren wird. Antrag enthalten. Bis spätestens Ende Juni dieses Jahres, also Kündi- Ich danke Ihnen. gungstermin zum Jahresende, wird der Entwicklung und den finanziellen Möglichkeiten entsprechend durch die (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Unternehmen flexibel und kurzfristig reagiert werden sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und müssen. Es hat sich erwiesen: Das Instrument des ver- der FDP – Gabriele Hiller-Ohm [SPD]: Das ist längerten Bezugs von Kurzarbeitergeld hat sich arbeits- aber schade! Ich dachte, Sie wollten zustim- markt- und wirtschaftspolitisch als Kernstück des gelun- men! – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Über genen Krisenmanagements bewährt. Daher soll es weite Strecken sehr ordentlich!) erfolgreich fortgeführt werden. Die Forderung der SPD, liebe Freunde, in der entspre- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: chenden gesetzlichen Regelung die Angabe „24 Mo- Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun der Kollege Paul nate“ pauschal durch die Angabe „36 Monate“ zu erset- Lehrieder das Wort. zen und eine Fristverlängerung bis zum 31. Dezember 2011 vorzusehen, schießt indes über das Ziel hinaus. Die (Beifall bei der CDU/CSU) Kurzarbeit darf nicht dazu führen, dass ein notwendiger Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010 3589

Paul Lehrieder (A) Strukturwandel verhindert wird; darauf haben hier die (Manfred Grund [CDU/CSU]: So ist die CDU/ (C) Kollegin Pothmer und die sehr weise OECD bereits in CSU!) der Anhörung am Montag hingewiesen. Lehnen Sie den Antrag der SPD ab. Sie können versi- (Beifall bei der CDU/CSU) chert sein: Mit der Verlängerung der Dauer des Bezugs von Kurzarbeitergeld tun wir das in der jetzigen wirt- Deshalb ist die Verlängerung der Dauer des Bezugs von schaftlichen Situation Wichtige, Erforderliche, Notwen- Kurzarbeitergeld auf 36 Monate, liebe Genossen von der dige, aber auch Ausreichende. Wenn die Krise überwun- SPD, abzulehnen. Die BDA hat in der Anhörung am den ist, werden wir in dieser christlich-liberalen Montag argumentiert, dass eine Verlängerung der Be- Koalition zu gegebener Zeit die richtigen Maßnahmen zugsfrist auf 36 Monate eine nicht zu rechtfertigende auf den Weg bringen. Da dürfen Sie volles Vertrauen zu Belastung der Arbeitslosenversicherung ist. uns haben. Ich bitte Sie, an unseren sehr weisen Be- schlüssen mitzuwirken. Mit Kabinettsbeschluss von gestern wurde das Be- schäftigungschancengesetz als bessere Lösung auf den Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit. Weg gebracht. Es ist gut, dass wir unbeschadet des An- trags der SPD ein sehr aktives Arbeitsministerium ha- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) ben, das die dahinterstehende Idee unverzüglich in die Tat umgesetzt hat. Dies zeichnet unsere Arbeitsministe- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: rin Frau von der Leyen aus. Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Dr. Heinrich Kolb für die FDP-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Beifall bei der FDP) Die bis zum 31. Dezember 2010 geltende Sonderrege- lung zum Kurzarbeitergeld soll bis zum 31. März 2012 Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): verlängert werden. Eine Ausnahme ist die Konzernklau- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! sel; diese wollen wir nicht fortführen. Ich habe es mir zur Angewohnheit gemacht, mir immer Im Einzelnen: Der Arbeitgeber bekommt für die ers- wieder einmal die Frage zu stellen: Was haben sich Kol- ten sechs Monate 50 Prozent der von ihm allein zu tra- legen eigentlich dabei gedacht, wenn sie einen Antrag in genden Sozialversicherungsbeiträge von der BA in pau- den Deutschen Bundestag einbringen? schalierter Form erstattet. Frau Pothmer, natürlich ist die (Otto Fricke [FDP]: Das ist manchmal gefähr- Qualifizierung gerade in den ersten sechs Monaten wäh- lich!) (B) rend des Bezugs von Kurzarbeitergeld ein großes Ziel. (D) Ich hatte regelrecht die Nöte des Antragsschreibers in (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- der SPD-Fraktion vor meinem geistigen Auge, der sich NEN]: Aber danach!) die Frage gestellt haben muss: Was kann man da eigent- Nur, es gibt Branchen – da sollten wir uns kein X für lich bringen, um noch irgendwie aufzufallen? Nach dem ein U vormachen –, in denen eine Qualifizierung keinen Motto „Viel hilft viel“ hat man einfach einmal in den Sinn macht. Topf gegriffen und eine Verlängerung der Bezugsfrist auf 36 Monate an die Spitze eines Antrags gestellt. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Herr Brase hat reklamiert, dass Herr Scholz das alles Beispielsweise der Lkw-Fahrer einer Spedition hat den ganz toll gemacht habe. Dies fand ich insofern bemer- Führerschein Klasse CE. Er braucht zur Qualifizierung kenswert, als Sie sich in anderen Zusammenhängen während des Bezugs von Kurzarbeitergeld keinen Füh- nicht mehr so gerne an die Tätigkeit Ihrer Arbeitsminis- rerschein der Klasse A zu machen; denn er kann mit sei- ter in den vergangenen elf Jahren erinnern. Ich habe mir nem Führerschein bei steigendem Wirtschaftswachstum einmal angeschaut, wie das alles zu Ihrer Zeit gewesen wieder ganz normal weiterarbeiten. Für den Fernfahrer ist. Die Regelfrist umfasst, wenn es keine Nutzung der macht eine Weiterqualifizierung während des Bezugs Verordnungsermächtigung nach § 182 SGB III gibt, von Kurzarbeitergeld daher verständlicherweise keinen sechs Monate. Sie wird in der Regel tatsächlich durch großen Sinn. Aber es gibt Branchen – Frau Pothmer, da Verordnung verlängert. Siehe da, Herr Brase, während sind wir nahe beieinander –, da macht eine Weiterquali- der gesamten Zeit Ihrer Regierung gab es Verlängerun- fizierung durchaus Sinn, und dort wird sie auch in An- gen, aber nicht in dem Umfang, wie Sie es von Norbert spruch genommen. Es gibt aber Branchen, in denen man Blüm damals übernommen hatten. Ende 1998 haben Sie die Koppelung der Erstattung der Sozialversicherungs- die von Blüm per Verordnung durchgesetzte Verlänge- beiträge an eine Fortbildung als schikanös empfinden rung der Bezugszeit von sechs auf 24 Monate übernom- und sagen müsste: Warum kann ich meine Mitarbeiter men. Dann wurde die Bezugszeit immer wieder per Ver- nicht sinnvoll fortbilden? Ich habe nicht die Möglich- ordnung geändert: Unter Riester betrug sie zunächst keit, diese Kosten übernommen zu bekommen. 24 Monate und wurde dann auf 15 Monate gekürzt. Un- ter Clement stieg die Bezugsdauer auf 18 Monate und Ich hätte noch einiges zu sagen; aber ich merke, sank wieder auf 15 Monate. Bei Müntefering sank die meine Redezeit geht allmählich zu Ende. Ich will die Bezugszeit schließlich auf nur noch zwölf Monate. Erst Zeit nicht wie die anderen Kollegen über Gebühr strapa- unter Scholz ist die Bezugsdauer wieder gestiegen: Sie zieren. wurde erst auf 18 und dann auf 24 Monate verlängert. 3590 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010

Dr. Heinrich L. Kolb (A) Eines verstehe ich nicht: Wenn Sie sich denken, dass wünsche Ihnen jetzt – was wünsche ich Ihnen jetzt ei- (C) es richtig ist, jetzt in die Vollen zu gehen und eine Ver- gentlich? – einen schönen Abend und verabschiede mich längerung der Bezugszeit auf 36 Monate zu fordern, wa- an dieser Stelle. rum ist Ihnen dieser Gedanke dann nicht in den letzten elf Jahren gekommen? Bis morgen. (Gabriele Hiller-Ohm [SPD]: Weil wir da die (Heiterkeit und Beifall bei der FDP und der Wirtschaftskrise noch nicht hatten!) CDU/CSU)

Ich finde das nicht sehr überzeugend. Es wirkt ein biss- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: chen so, als sei das Ganze aus der Not geboren. Herr Kollege Kolb, ich muss allerdings darauf hin- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – weisen, dass es zum Erholen noch etwas zu früh ist. Willi Brase [SPD]: Ein ganz schwaches Argu- (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Die Sitzung ist ment, Herr Kolb! Sie zählen nur auf!) noch nicht geschlossen! – Gegenruf der Abg. – Nein, Herr Brase. Sie wollen jetzt, am Ende einer Iris Gleicke [SPD]: Die Präsidentin sagt, wann Krise – Gott sei Dank bewegen wir uns langsam auf das Schluss ist!) Ende zu –, noch einmal so richtig in die Vollen gehen, Ich schließe die Aussprache zu diesem Tagesord- wo wir mittlerweile dosiert und abgewogen entschieden nungspunkt. haben, die Bezugszeit von 24 auf 18 Monate zu senken. Auch bei der Beitragserstattung haben wir eine Rege- Wir kommen nun zur Beschlussempfehlung des Aus- lung mit Augenmaß gefunden, im Sinne einer Exit-Stra- schusses für Arbeit und Soziales zu dem Antrag der tegie. Sie wollen aber mit dem groben Hammer noch Fraktion der SPD mit dem Titel „Beschäftigte vor Ar- eins draufsetzen. Das macht aus unserer Sicht einfach beitslosigkeit schützen – Konditionen für Kurzarbeit keinen Sinn. verbessern“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Be- schlussempfehlung auf Drucksache 17/1446, den Antrag (Otto Fricke [FDP]: Die wollen Rot-Rot- der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/523 abzuleh- Grün!) nen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer Die Regelung, die die Koalition am letzten Freitag ver- ist dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfeh- einbart hat und die wir morgen hier in erster Lesung be- lung ist angenommen mit den Stimmen der Koalitions- handeln wollen, wurde mit Augenmaß getroffen. fraktionen bei Gegenstimmen der SPD-Fraktion und der Fraktion Die Linke bei Enthaltung der Fraktion Ich bin froh, dass es Klarstellungen gegeben hat, zum Bündnis 90/Die Grünen. (B) Beispiel bei der tariflichen Kurzarbeit. Frau Krellmann (D) hat das heute nicht angesprochen; vielleicht wird sie es Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 13 auf: morgen früh in der Debatte tun. Aus unserer Sicht war Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre- klar, dass es beim tariflichen Kurzarbeitergeld keine Ta- gierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten rifpolitik zulasten der Beitragszahler geben soll. Für uns Gesetzes zur Änderung des Telemediengeset- war wichtig, dass die Konzernklausel, die es in der bis- zes (1. Telemedienänderungsgesetz) herigen Regelung gab – § 421 t SGB III –, herausge- nommen wurde. Man muss ehrlich sagen, dass das Tor – Drucksachen 17/718, 17/995 – zur Kurzarbeit hier viel zu weit offen gewesen ist. Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- (Willi Brase [SPD]: Was haben Sie denn dage- richts des Ausschusses für Wirtschaft und Tech- gen, dass die Beschäftigten ein bisschen Zu- nologie (9. Ausschuss) versicht und Sicherheit haben? Immer auf die – Drucksache 17/1219 – Beschäftigten!) Berichterstattung: All das wurde jetzt mit Augenmaß angepasst. Wir Abgeordneter Martin Dörmann sind auf einem guten Weg und werden auch die weiteren Monate der Krise mit dem Instrument der Kurzarbeit ab- Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion wettern. Die Unternehmen haben ihre Segel im Sturm Bündnis 90/Die Grünen vor. der Wirtschafts- und Finanzkrise heruntergenommen. Ich denke, wir werden am Ende der Krise erleben, dass Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu die Unternehmen ihre Segel wieder hochziehen und diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. – Fahrt aufnehmen. Wir müssen nämlich immer bedenken: Damit sind Sie einverstanden. Es geht um die Reden fol- Es kommt jetzt darauf an, darüber nachzudenken, wie gender Kolleginnen und Kollegen: Andreas Lämmel, die konjunkturelle Erholung mit geeigneten Maßnahmen Klaus Barthel, Claudia Bögel, Kathrin Senger-Schäfer 1) nach vorn gebracht werden soll. Das wird mehr und und Tabea Rößner. mehr auf die Agenda rücken. Wir kommen nun zur Abstimmung. Der Ausschuss für Für heute ist damit genug gesagt. Herr Brase, wir Wirtschaft und Technologie empfiehlt in seiner Be- werden das Thema morgen früh sicherlich weiter disku- schlussempfehlung auf Drucksache 17/1219, den Gesetz- tieren. Ich hoffe, dass Sie dann auch das Wort ergreifen. Dann können wir uns an dieser Stelle austauschen. Ich 1) Anlage 3 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010 3591

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt (A) entwurf der Bundesregierung auf Drucksachen 17/718 Ich eröffne die Aussprache. Als erste Rednerin hat die (C) und 17/995 anzunehmen. Kollegin Heike Hänsel für die Fraktion Die Linke das Wort. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustim- men wollen, um das Handzeichen. – Wer ist dagegen? – (Beifall bei der LINKEN) Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der Heike Hänsel (DIE LINKE): SPD-Fraktion und der Fraktion Die Linke bei Enthaltung Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen. Wir beschäftigen uns heute mit dem anstehenden Gipfel- Wir kommen zur treffen EU-Lateinamerika-Karibik am 18. Mai 2010 in Madrid. Dieses Gipfeltreffen findet unter dem Eindruck dritten Beratung der Feierlichkeiten zu 200 Jahren Unabhängigkeitsbe- und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem strebungen in Lateinamerika statt. Damals begann der Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Kampf um die Befreiung von Kolonialismus, Unterdrü- Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ckung und Ausbeutung. Heute, 200 Jahre später, geht es ist damit mit dem gleichen Stimmenverhältnis wie in der um die sogenannte zweite Unabhängigkeit Lateinameri- zweiten Beratung angenommen. kas, die Unabhängigkeit von imperialer Einmischung, von aufgezwungenen neoliberalen Wirtschaftsbeziehun- Nun kommen wir zur Abstimmung über den Ent- gen, und den Schuldendienst. Die Menschen in Latein- schließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen amerika erkämpfen sich ihre wirtschaftliche, soziale, auf Drucksache 17/1455. Wer stimmt für diesen Ent- ökologische und kulturelle Souveränität. schließungsantrag? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltun- gen? – Der Entschließungsantrag ist damit mit den Stim- (Beifall bei der LINKEN) men der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen der Ein neues Selbstbewusstsein geht von diesem Konti- Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und der Linken und nent aus, genauso wie viele alternative politische An- Enthaltung der Fraktion der SPD abgelehnt. sätze, von denen wir lernen können, zum Beispiel neue Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 14 a und 14 b demokratische Verfassungen, die auch per Referendum auf: abgestimmt werden – im Gegensatz zur Europäischen Union –, die also Menschen direkt an Politik beteiligen. a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Heike Es geht um solidarische Wirtschaftsbeziehungen und ge- Hänsel, Jan van Aken, Sevim Dağdelen, weiterer genseitige Unterstützung, um Verstaatlichung der natür- Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE (B) lichen Ressourcen für Armutsbekämpfung – alles Facet- (D) VI. EU-Lateinamerika-Karibik-Gipfel in ten eines sogenannten Sozialismus des 21. Jahrhunderts. Madrid: Den Aufbruch zur zweiten Unabhän- In Bolivien zum Beispiel geht heute ein großer interna- gigkeit Lateinamerikas solidarisch unterstüt- tionaler Klimagipfel der Völker mit mehr als 20 000 Teil- zen nehmerinnen und Teilnehmern aus aller Welt zu Ende. – Drucksache 17/1403 – Dort gibt es interessanterweise keine Straßenschlachten mit der Polizei wie beim Umweltgipfel in Kopenhagen; Überweisungsvorschlag: Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und denn die sozialen Bewegungen und Umweltgruppen sind Entwicklung (f) Teil des Gipfels und nicht ausgesperrt wie in Kopenha- Auswärtiger Ausschuss gen. Sie können also ihre Ideen und ihre Kritik einbrin- Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe gen. Davon können wir konkret lernen. Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union (Beifall bei der LINKEN) b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Thilo Hoppe, Dr. Hermann Ott, Ute Koczy, weiterer Leider hat die Bundesregierung keine offizielle Vertre- Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ tung zu diesem wichtigen Ereignis geschickt. DIE GRÜNEN Was macht nun die Europäische Union angesichts Klimaschutz und gerechten Handel mit dieser Entwicklung in Lateinamerika? Anstatt diese Ent- Lateinamerika und der Karibik voranbringen wicklung zu stärken und zu unterstützen, versucht sie, über neue Freihandelsabkommen – aktuell mit Kolum- – Drucksache 17/1419 – bien, Peru und Zentralamerika – ihre wirtschaftliche und Überweisungsvorschlag: politische Dominanz in Lateinamerika auszubauen und Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und solidarische, alternative Politikansätze zu boykottieren. Entwicklung (f) Auswärtiger Ausschuss Das alles ist in der sogenannten Global Europe Strategy Ausschuss für Wirtschaft und Technologie der EU-Kommission schriftlich festgehalten. Sie steht Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit für den weltweiten Ausbau der Macht europäischer Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Konzerne. Dazu gehören auch diese neuen Freihandels- Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union abkommen mit Lateinamerika. Es geht dabei um Markt- Interfraktionell wurde vereinbart, darüber eine halbe öffnung und ungehinderten Zugang zu Energie und Roh- Stunde zu debattieren. – Ich sehe, damit sind Sie einver- stoffen. Es geht auch um Militärkooperation und den standen. Export zum Beispiel von Atomtechnologie. In diesem 3592 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010

Heike Hänsel (A) aggressiven Wettbewerb wird es viele Verlierer, aber nur same Handlungswege zu erörtern. Diese Gipfeltreffen (C) wenige Gewinner geben. So warnt zum Beispiel die ko- beruhen auf langen, freundschaftlichen Beziehungen lumbianische Viehzüchterföderation – ich zitiere –: zwischen Europa, Lateinamerika und der Karibik, die vor mehr als zehn Jahren in eine strategische Partner- … das geplante Freihandelsabkommen zerstört die schaft zwischen diesen beiden Regionen mündeten. Die Produktion von Fleisch, Milch und deren Erzeug- gemeinsamen kulturellen Wertvorstellungen wie Freiheit nisse im ungleichen Wettbewerb mit der EU und und Chancengleichheit und unsere gemeinsame demo- bringt mehr Armut und Hunger in die ländlichen kratische Überzeugung sind eine gute Grundlage für Regionen und für 400 000 Familien den Ruin. diese vertiefte Zusammenarbeit, die auch Assoziierungs- Deshalb unterstützt die Linke die Forderungen von so- und Freihandelsabkommen vorsieht. zialen Bewegungen, Gewerkschaften und Umweltgrup- pen und fordert den Stopp dieser Freihandelsabkommen. (Beifall der Abg. Marina Schuster [FDP]) Stattdessen brauchen wir solidarische Handelsabkom- Das diesjährige Treffen in Madrid wird diese strategi- men, die den Interessen der Bevölkerung Lateinamerikas sche Partnerschaft weiter vertiefen und ausbauen. Das entsprechen und eine Entwicklung fördern, die Armuts- Thema des Gipfels lautet: „Eine neue Phase der bi-regio- bekämpfung, Klimaschutz, Sicherung sozialer Standards nalen Zusammenarbeit: Innovation und Technologie für – auch hier in Europa – und den Ausbau der Rechte von eine nachhaltige Entwicklung und soziale Inklusion“. Er Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern möglich macht. schließt an den Gipfel in Lima vor zwei Jahren an und (Beifall bei der LINKEN) stellt sich gleichzeitig aktuellen Herausforderungen. So- wohl die aktuelle Situation als auch die zukünftige Ent- Für uns ist es ein weiterer Skandal, dass in Madrid ein wicklung Haitis, die Wirtschafts- und Finanzkrise sowie Handelsabkommen mit dem kolumbianischen Präsiden- die Klimaverhandlungen stehen auf der Tagesordnung. ten Alvaro Uribe unterzeichnet werden soll, in dessen Amtszeit massive Menschenrechtsverletzungen vonsei- Die Staaten Lateinamerikas sind derzeit bei der Be- ten der kolumbianischen Armee begangen wurden, Hun- wältigung der großen globalen Probleme unserer Zeit derte von Gewerkschaftern getötet und viele Menschen wie Klimawandel und bezüglich der Nutzung der natür- von ihrem Land vertrieben wurden. In unseren Augen ist lichen Ressourcen für Europa ein wichtiger Gesprächs- es völlig inakzeptabel, dass mit einem solchen Mann ein und Handelspartner. Vertreter Lateinamerikas sitzen in Handelsabkommen unterzeichnet wird. Er gehört eigent- jeder Verhandlungsrunde, in der es um diese entschei- lich vor den Internationalen Strafgerichtshof. denden Zukunftsthemen geht. Viele Staaten Lateiname- rikas konnten in den letzten Jahren ein kräftiges Wirt- (Otto Fricke [FDP]: Und Herr Chávez?) (B) schaftswachstum verzeichnen. Selbst die weltweite (D) Die spanischen Bewegungen haben deswegen eine Ini- Wirtschafts- und Finanzkrise hat keine der früher sehr tiative ins Leben gerufen, die Präsident Uribe in Madrid oft anfälligen Volkswirtschaften aus der Bahn geworfen. als persona non grata – unerwünschte Person – erklärt. Im Schnitt schrumpfte das reale Bruttoinlandsprodukt Wir werden uns am alternativen Gegengipfel in Madrid der lateinamerikanischen Staaten 2009 um 2,5 Prozent, beteiligen. Er nennt sich „enlazando alternativas“ und und für 2010 sagt der Internationale Währungsfonds ein richtet sich gegen die Politik der EU. mittleres Wachstum von 3 Prozent voraus. Trotz oder ge- rade wegen dieser positiven wirtschaftlichen Entwick- (Otto Fricke [FDP]: Bei so einer Rede kann lungen wird die Bewältigung des wachsenden sozialen man nur sagen „buenas noches“!) Ungleichgewichts entscheidend für weiteres wirtschaft- Auf dem Gegengipfel wird für eine selbstbestimmte, liches Wachstum sein. Die Bekämpfung der Armut zweite Unabhängigkeit Lateinamerikas gekämpft, die bleibt für die Demokratien in Lateinamerika ein Schlüs- den Menschen Hoffnung, Gerechtigkeit und Würde zu- selfaktor. rückgibt. Die EU und Deutschland wollen den Staaten Latein- (Beifall bei der LINKEN) amerikas und der Karibik bei der Bewältigung dieser Aufgaben helfen. Dazu dienen neben den allgemeinen Zollpräferenzen Freihandelsabkommen, wie sie nun- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: mehr mit Peru und Kolumbien in Madrid zum Abschluss Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun das Wort die Kol- gebracht werden sollen. Diese Freihandelsabkommen legin Anette Hübinger. bieten die Möglichkeit, Märkte in Europa zu erschließen, (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- durch die ein weiteres Wirtschaftswachstum generiert neten der FDP) werden kann. Der Zugang zu den europäischen Märkten ist eine logische Konsequenz unserer Entwicklungszu- sammenarbeit. Denn was nutzt es, den ökologischen An- Anette Hübinger (CDU/CSU): bau von Kakao und Kaffee zu unterstützen und den Sehr verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen Kleinbauern damit Hoffnung zu machen, wenn wir den und Kollegen! Meine Damen und Herren! In Madrid Absatz dieser fair gehandelten Produkte in Europa nicht werden sich am 17. und 18. Mai dieses Jahres zum zu guten Bedingungen ermöglichen? sechsten Mal die Staats- und Regierungschefs Latein- amerikas, der Karibik und Europas treffen, um sich über (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – die globalen Zukunftsfragen auszutauschen und gemein- Marina Schuster [FDP]: Sehr richtig!) Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010 3593

Anette Hübinger (A) Diese Abkommen beinhalten die Verpflichtung zur Ach- (Marina Schuster [FDP]: Sehr richtig!) (C) tung der Menschenrechte und der Rechtsstaatlichkeit so- Nun zu den Anträgen der Fraktionen Bündnis 90/Die wie die Einhaltung von internationalen Standards hin- Grünen und Die Linke. Sehr geehrte Damen und Herren sichtlich Umwelt und Arbeit. Das schließt die Gründung von der Fraktion Die Linke, es wäre wirklich an der Zeit, von Gewerkschaften – sie sind abgesichert – ebenso wie dass Sie sich eingestehen, dass die Politik, die Sie mit die Achtung indigener Rechte und die Einbindung der diesem Antrag wieder verfolgen und in anderen Staaten indigenen Bevölkerung ein. unterstützen, den Menschen keine Zukunft gibt. Wenn wir von Lateinamerika und der Karibik spre- (Lachen bei der LINKEN) chen, dann sehen wir uns einer Vielzahl von Staaten und Völkern gegenüber, die in ihrer Ausprägung, ihrer Sie gaukeln in Ihrem Antrag wieder einmal vor, Latein- wirtschaftlichen Entwicklung und hinsichtlich ihrer poli- amerika und die Karibik sprächen mit einer Stimme, ver- tischen Vorstellungen kaum unterschiedlicher sein weigerten sich den Freihandelszielen der EU und wiesen könnten. Daher gestalten sich Verhandlungen über Asso- – ich zitiere – „die Vorstellung von einem europäischen ziierungsabkommen zwischen regionalen lateinamerika- Vorbild in Sachen Demokratie für Lateinamerika zu- nischen Zusammenschlüssen wie dem Mercosur, der rück“. Die Abkommen mit Mexiko, Chile, Brasilien, Andengemeinschaft oder Zentralamerika und der EU als demnächst mit Peru und Kolumbien und die Verhandlun- äußerst langwierig und oft schwierig. Während die As- gen mit Zentralamerika beweisen das Gegenteil. Die EU soziierungsverhandlungen zwischen Zentralamerika und oktroyiert ihren Partnern auch nichts auf. Jeder ist frei, der EU fortgesetzt werden, haben Bolivien und Ecuador Abkommen zu schließen oder nicht. Dies ist am Beispiel als Staaten der Andengemeinschaft die Verhandlungen von Bolivien und Ecuador leicht zu erkennen. Aber ge- über ein Freihandelsabkommen abgebrochen. Mit Ko- wollte Partnerschaften dürfen nicht an gegenteiligen lumbien und Peru wurde weiterverhandelt, weil der pe- Auffassungen Einzelner scheitern. Das Selbstbestim- ruanische Präsident García zu Recht darauf verwies, mungsrecht der lateinamerikanischen Staaten, das Sie „mit denen zu beginnen, die es auch ernsthaft wollen“. richtigerweise immer wieder betonen, beinhaltet das Recht, Beziehungen – auch im militärischen Bereich – Lateinamerika birgt eine der größten biologischen zu den USA zu unterhalten. Schatzkammern der Welt, die durch kurzfristige Interes- sen leider höchst gefährdet ist. Deshalb wird der Klima- Dass die Hilfseinsätze der Vereinigten Staaten, die und Ressourcenschutz ebenso wie die Zusammenarbeit Entsendung einer Gendarmeriemission der EU und die im Innovations- und Technologiebereich auf der Agenda Aufstockung der UN-Mission MINUSTAH in Ihrem in Madrid stehen. So sind sowohl die Entwicklung und Antrag als sicherheitspolitische und militärische Instru- die breite Anwendung von Technologien im Bereich er- mentalisierung bezeichnet werden, ist abwegig. Ebenso (B) (D) neuerbarer Energien als auch die Energieeffizienz abwegig ist, die Entschließung des Europäischen Parla- Schlüsselfaktoren, um den Klimawandel einzudämmen, ments zur Lage der politischen Häftlinge und der Gefan- den steigenden Energiebedarf zu decken, aber auch um gen aus Gesinnungsgründen in Kuba vom 11. März die- zu nachhaltigem Wirtschaftswachstum und nachhaltiger ses Jahres als einen aggressiven Akt gegen Kuba zu Entwicklung zu gelangen. Dies erfordert eine verstärkte bezeichnen. Diese Beispiele zeigen, durch welche Brille und umfangreiche Technologiekooperation zwischen Sie die Welt betrachten: eine Brille, die Elend, Not und Lateinamerika und Europa. Am 29. und 30. April wird Herabsetzung ausfiltert. ein EU-Lateinamerika-Karibik-Forum zur Energiepoli- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – tik in Berlin stattfinden, das nicht nur den Gipfel in Ma- Heike Hänsel [DIE LINKE]: Ich habe keine drid vorbereitet soll, sondern das auch der Vorbereitung Brille!) der Weltklimakonferenz in Cancún dient. Daher lehnt die CDU/CSU-Fraktion diesen Antrag ab. Insbesondere Brasilien als neuntgrößte Volkswirt- schaft mit einem Bruttoinlandsprodukt, das über dem Ebenso lehnen wir den Antrag von Bündnis 90/Die von China und Indien liegt, kommt dabei eine zuneh- Grünen ab. Dieser Antrag enthält zwar viele gute An- mend bedeutende Rolle zu, und zwar sowohl als Impuls- sätze, insbesondere bei den Themen Klima, Umwelt, geber in Lateinamerika selbst als auch aufgrund der Energie und Menschenrechte, die wir ähnlich sehen. Je- Übernahme internationaler Verantwortung in wichtigen doch werden Forderungen erhoben, die die Aufhebung Politikbereichen. Mit den kürzlich entdeckten Erdöl- der Hermesbürgschaft für den Export deutscher Atom- und Erdgasvorkommen könnte Brasilien zu einem sehr technologie und den Weiterbau von Angra 3 in Brasilien wichtigen internationalen Energielieferanten aufsteigen. betreffen, worüber in Deutschland schon längst entschie- So wird es 2010 und 2011im Rahmen des Deutsch-Bra- den wurde und was unseres Erachtens auf europäischer silianischen Jahres der Wissenschaft, Technologie und Ebene nicht geändert werden sollte, da jeder Staat sou- Innovation zahlreiche Veranstaltungen und Begegnun- verän über seine Energieversorgung entscheiden kann. gen zwischen Wissenschaftlern und Forschern sowohl (Ute Koczy [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: auf deutscher als auch auf brasilianischer Seite geben, Das wird Ihnen einmal sehr leidtun, dass Sie die die Zusammenarbeit im Bereich Forschung und Wis- das so sehen!) senschaft vertiefen und ausbauen werden. Das ist gelebte Partnerschaft; denn nur eine gemeinsame Forschung Dem Gipfel in Madrid wünsche ich eine rege politi- wird uns bei der Beantwortung globaler Fragen weiter- sche Diskussion mit dem Ergebnis einer engen und tie- bringen. fen Zusammenarbeit zwischen Europa, Lateinamerika 3594 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010

Anette Hübinger (A) und der Karibik und gute Fortschritte bei den globalen einer gleichberechtigten Partnerschaft als Grundlage je- (C) Fragen unserer Zeit. der internationalen Politik verstanden. Herzlichen Dank. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Wer wie Herr Westerwelle in seinen Reden Brasilien und andere Länder zu Rohstofflieferanten – auch Frau Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Hübinger konnte sich das Wort „Schatzkammer“ nicht Nächster Redner ist der Kollege Klaus Barthel für die verkneifen – degradieren will und wer wie diese Bundes- SPD-Fraktion. regierung schamlos Sonderinteressen gewisser Konzerne bedient, die dort Großstaudämme und Atomkraftwerke (Beifall bei der SPD) bauen wollen,

Klaus Barthel (SPD): (Christel Humme [SPD]: Genau!) Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! der hat jeden Anspruch verloren, von Partnerschaft, der Dass ein EU-Lateinamerika-Karibik-Gipfel stattfindet Förderung kleiner und mittlerer Unternehmen, vernünf- – und das bereits zum sechsten Mal –, ist an sich schon tiger Energiepolitik und einer breiten politischen Ge- etwas Besonderes. Es gibt weit und breit keine ver- samtstrategie zu reden. gleichbare Einrichtung, die die Europäische Union mit einer ganzen Großregion eines anderen Kontinents zu- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten sammenbringt. Allein das ist aus Sicht der SPD-Bundes- der LINKEN – Hartwig Fischer [Göttingen] tagsfraktion nicht nur ein einmaliger, sondern auch ein [CDU/CSU]: Sie hätten besser zugehört, was vorbildlicher Ansatz in der internationalen Politik. Des- vorhin gesagt worden ist!) wegen ist es gut, dass wir uns hier im Bundestag schon Uns ist der Ansatz des Antrags der Grünen, etwa in im Vorfeld damit befassen. Ich finde es schade, dass die den Punkten 2 bis 15, wesentlich sympathischer. Dort Bundesregierung nicht von sich aus darlegt, wie sie sich werden die Klimaziele betont und dem Export und dem auf dieses Ereignis vorbereitet und mit welchen Vorstel- Ausbau der Kernenergie eine Absage erteilt. Auch viele lungen und Initiativen sie nach Madrid reist. weitere Punkte dieses Antrags können wir unterschrei- (Beifall der Abg. Gabriele Hiller-Ohm [SPD]) ben. Aber der Antrag der Grünen hat eine entscheidende Schwäche, genauso wie der Antrag der Linken: Er ver- Das ist umso bedauerlicher, als der Bundesaußen- liert sich in 34 Einzelpunkten, in Details. minister immer wieder sein besonderes strategisches In- (B) teresse an Lateinamerika bekundet hat. Uns hätte jen- (Ute Koczy [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: (D) seits des inflationären Großsprechs, den er gerne pflegt, Wir sind halt gründlich!) interessiert, welche Grundzüge eine solche Strategie hat. Uns hätte insbesondere interessiert, ob die Bundesregie- Bei den Linken sind es – durchnummeriert – ungefähr rung weiterhin der Meinung ist, dass unsere Außenpoli- genauso viele. Früher gab es Zettelkästen. Heute gibt es tik im Wesentlichen Außenhandelspolitik ist. Dieser Ein- digitale Nachschlagewerke, die Sie offenbar nach dem druck hat sich gerade im Zuge der Reise des Motto „Jetzt schauen wir einmal, was wir alles zum Bundesaußenministers nach Chile, Argentinien, Uru- Stichwort Lateinamerika finden“ genutzt haben: Haiti, guay und Brasilien deutlich verfestigt. Die Delegation, Kuba, Honduras, Venezuela, Freihandelsabkommen, die er dorthin mitgenommen hat, und die ganzen Be- ALBA und Mercosur, indigene Bevölkerung, Vereinte gleitumstände waren im Grunde eine Karikatur von Au- Nationen, Nachhaltigkeit, Doha, Menschenrechte usw. ßenpolitik. Die Grenzen von Außenpolitik, Außenhan- (Ute Koczy [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: delspolitik, puren Verkaufsveranstaltungen und Ach! Ihr seid ja bloß neidisch, weil die SPD persönlichen Interessen einiger Delegationsmitglieder keinen Antrag hat!) wurden hoffnungslos vermischt. Das alles ist richtig und wichtig. Bei den Linken ist der (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Zettelkasten natürlich noch mit der reflexartigen Gut- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Böse-Semantik eines ziemlich aufgesetzten Antikolonia- Manfred Grund [CDU/CSU]: Waren Sie dabei, lismus versehen. oder haben Sie das nur gelesen?) (Heike Hänsel [DIE LINKE]: Ihr habt ja gar – Das wurde von niemandem bestritten. Die Reden, die nichts anzubieten!) er dort gehalten hat, kann man nachlesen. Sie widerspre- chen diesem Eindruck nicht, sondern untermauern ihn. Man kann diese Sichtweisen, diese Sympathien und An- tipathien durchaus teilen und zu bestimmten Einschät- (Gabriele Hiller-Ohm [SPD]: So ist es!) zungen und Schlussfolgerungen kommen. Aber – das Wir sagen: Wer Lateinamerika oder andere Regionen gilt in Teilen auch für den Duktus der Grünen – man der Welt nur als Absatzmarkt für den deutschen Han- kann nicht von Selbstbestimmung der Menschen in La- dels- und Leistungsbilanzüberschuss betrachtet, der hat teinamerika und von Partnerschaft auf gleicher Augen- weder die Ursachen der Wirtschaftskrise – sie haben ge- höhe reden und gleichzeitig Zensuren geben und Rat- rade mit dieser Art von Standortpolitik und den daraus schläge erteilen, die letztlich wieder in Bevormundung entstehenden Ungleichgewichten zu tun – noch die Ziele münden. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010 3595

Klaus Barthel (A) Unser Ansatz ist ein anderer. Wir wollen nicht ständig kussion, die sich zielgerichtet auf das Wesentliche kon- (C) mit Vorbedingungen und Vorhaltungen Gespräche und zentriert, würden wir uns freuen. Die beiden Anträge, Verhandlungen führen. Gerade dann, wenn man nicht die uns vorliegen, können dazu einen Beitrag leisten, schon im Vorfeld Blockaden aufbaut, kann man konse- nicht mehr, aber auch nicht weniger. quent für Menschenrechte, für Arbeiter- und Gewerk- (Beifall bei der SPD – Heike Hänsel [DIE schaftsrechte und gegen Gewalt eintreten und dabei auch LINKE]: Das war wenig überzeugend!) Erfolg haben. Im Übrigen habe ich es satt, dass man im- mer mit zweierlei Maß misst, je nach Macht und Größe des Gegenübers und je nach eigener Interessenlage. Da- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: mit meine ich auch die Haltung der Grünen gegenüber Für die FDP-Fraktion hat die Kollegin Marina Kuba; diesen Punkt kann man nachlesen. Die entschei- Schuster das Wort. dende Kritik an beiden Anträgen ist, dass sie keine Al- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten ternativen zur Regierungspolitik darstellen. Wenn der CDU/CSU) Westerwelle sagt: „Außenhandel und nochmals Außen- handel, alles andere ist nachrangig“, dann kann die Ant- wort darauf keine Spiegelstrichorgie sein, mit der Folge, Marina Schuster (FDP): dass man den Regelwald vor lauter Bäumen und Regen- Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und tropfen nicht mehr sieht, so wichtig der einzelne Baum Kollegen! Herr Kollege Barthel, ich muss mich über Ihre auch sein mag. Wenn wir über den Dialog zweier großer Ausführungen schon sehr wundern. Sie holzen hier. In Weltregionen sprechen, dann kann man keine Liste ein- der Sache selbst nehmen Sie zu den einzelnen Punkten zelstaatlicher Probleme aufstellen. Ich möchte einmal aber gar nicht Stellung. Sie kritisieren eine Reise, bei der sehen, wie Sie von den Linken und den Grünen auf einer Sie gar nicht dabei waren. Ich war bei der Lateiname- solchen Konferenz, die zwei Tage dauert, all diese Kata- rika-Reise von Außenminister Westerwelle dabei. Ich loge abarbeiten wollen. finde, es hätte zur politischen Fairness gehört, sich zu er- kundigen – Sie hätten sich mit Ihrem Kollegen Klaus (Alexander Süßmair [DIE LINKE]: Kommen Brandner unterhalten können; er war bei dieser Reise da- Sie doch mal vorbei! Dann zeigen wir es Ih- bei und hat von wesentlichen Punkten berichtet –, bevor nen!) Sie hier Anschuldigungen erheben. Ein solcher Ansatz ist von vornherein zum Scheitern Wenn Sie uns vorwerfen, wir ließen Lateinamerika verurteilt. außer Acht, dann lassen Sie uns einmal in das Jahr 1999 (Heike Hänsel [DIE LINKE]: Ach! Sie haben zurückgehen. In diesem Jahr wurde die strategische Part- (B) ja keine Ahnung!) nerschaft zwischen der EU und Lateinamerika ins Leben (D) gerufen. Ich frage Sie: Was haben Sie getan, was hat die Worum geht es auf diesem Gipfel im Jahr 2010? Wir SPD getan, um diese Partnerschaft mit Leben zu erfül- sind nicht im Jahr eins nach der Wirtschaftskrise, son- len? dern noch mitten in dieser Krise. Wir müssen uns mit un- seren Partnern darüber verständigen, welches die Ursa- (Dr. Rainer Stinner [FDP]: Nichts!) chen dieser Krise sind, wie wir sie gemeinsam Wir haben im Koalitionsvertrag verankert, dass wir res- bekämpfen und was wir mit Blick auf die G 20 und die sortübergreifend eine neue Lateinamerika-Politik ins Le- internationalen Institutionen wie IWF und Weltbank tun ben rufen werden, weil Lateinamerika in der Vergangen- wollen, zum Beispiel hinsichtlich der Finanzmärkte oder heit links liegen gelassen wurde. Wie Sie sich in dieser des Schutzes der Rohstoffmärkte vor Spekulation zulas- Debatte eingelassen haben, ist ein starkes Stück. ten von Erzeugern und Verbrauchern. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Wir müssen über Klima und Energie sprechen. Beide der CDU/CSU) Seiten können und müssen eine zentrale Rolle spielen. Wir müssen die Probleme und Strukturen herausarbei- Wir konnten bei dieser Reise erkennen, dass bei den ten, bei denen Europa wie Lateinamerika besondere Ver- Gesprächspartnern in den Ländern, die wir besucht ha- antwortung und Handlungsmöglichkeiten haben. Ich ben, großes Interesse besteht, mit der EU enger zusam- nenne hier zum Beispiel den Drogenhandel, der in La- menzuarbeiten. Es liegt im wohlverstandenen europäi- teinamerika ganze Staaten gefährdet und auch in Europa schen Interesse, diese ausgestreckte Hand zu ergreifen. seine gefährlichen Entsprechungen – Stichwort „Mafia“ – Europa und Lateinamerika haben ein gemeinsames Wer- findet. tefundament. Das ist eine gute Basis für Kooperation. Ich bin der Kollegin Hübinger sehr dankbar, dass sie Wir haben wie keine andere Konstellation die große zum Beispiel das Deutsch-Brasilianische Jahr der Wis- Chance, zwischen der EU sowie Lateinamerika und der senschaft erwähnt hat. Wir haben auf dieser Reise unter Karibik eine Debatte über eine soziale und ökologische anderem die größte deutsche Auslandsschule besucht. Wirtschaft voranzutreiben. Wir können nicht nur debat- Dabei konnten wir uns davon überzeugen, dass sich tieren. Es gibt tatsächlich die Chance, Alternativen zu deutsche Schulen großer Beliebtheit erfreuen und realisieren, gerade wenn es um den Zusammenhang von Deutschland in der Region großes Ansehen genießt. Der Verteilung, Wachstum, Beschäftigung, Modernisierung Wunsch, mit Deutschland zusammenzuarbeiten, ist weit und Nachhaltigkeit geht. Diese vielbeschworenen Ge- verbreitet. Das können wir nur unterstützen. Es muss meinsamkeiten können den Weg weisen. Auf eine Dis- deshalb bei dem EU-Lateinamerika-Gipfel darum gehen, 3596 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010

Marina Schuster (A) konkrete Erfolge zustande zu bringen. Das unglaubliche nach einer solchen Naturkatastrophe mit gutem Zureden (C) Potenzial, das eine Zusammenarbeit der EU mit Latein- funktioniert? amerika hat, ist viel zu lange vernachlässigt worden. Ich bin froh, dass es uns – Dirk Niebel und Staatsministerin (Heike Hänsel [DIE LINKE]: Gutes Zureden? Conny Pieper sind hier – gelungen ist, die Kehrtwende Aber auch keine Soldaten! Technisches Hilfs- zu schaffen und Lateinamerika endlich den Stellenwert werk!) zu geben, den es verdient. Ich finde in Ihrem Antrag auch kein Wort zu Men- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten schenrechtsverletzungen in Kuba und zu Einschränkun- der CDU/CSU) gen der Presse- und Meinungsfreiheit unter Chávez. Hier kann ich nur meiner Kollegin Hübinger recht geben: Zu einem Lateinamerika-Konzept gehören natürlich Dort sind Sie auf einem Auge blind. Wirtschafts- und Handelsthemen. Die anstehenden Han- delsabkommen sind angesprochen worden. Aber natür- Ich kann für die FDP-Fraktion nur sagen: Wir sehen lich geht es auch um Fragen der Nichtverbreitung von die Zusammenarbeit mit Lateinamerika als große Nuklearmaterial und um die Bekämpfung von Drogen- Chance an. Wir wünschen uns eine enge Kooperation, handel und Kriminalität sowie um Fortschritte bei der von der beide Seiten profitieren, und ich freue mich auf Entwicklung rechtsstaatlicher Strukturen und bei der die Politik unserer Bundesregierung; denn sie wird der kulturellen Zusammenarbeit. Es ist richtig: Es hat beim Region endlich die Bedeutung geben, die sie verdient. Mercosur interne Probleme gegeben, die dazu geführt (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) haben, dass die Kooperation zwischen den Ländern nicht vorankam. Ich bin allerdings hoffnungsfroh, dass der Streit durch den Schiedsspruch des IGH beigelegt wer- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: den konnte. Ich hoffe, dass wir in den Verhandlungen Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Thilo mit dem Mercosur zügig zu einem Abschluss kommen. Hoppe für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Der Bundesaußenminister hat bei seiner Lateiname- (Alexander Süßmair [DIE LINKE]: Jetzt wird rika-Reise deutlich gemacht – ich glaube, dieser Ansatz etwas Besseres kommen!) ist ganz wichtig –, dass wir die Länder Lateinamerikas als gleichberechtigte Partner wahrnehmen und sie unter- Thilo Hoppe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): stützen sollen, international – etwa bei den Vereinten Nationen oder bei den G 20 – mehr Verantwortung zu Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! übernehmen, wie im Fall Brasilien. Frau Kollegin Schuster, Sie haben mich gerade ange- (B) sprochen und uns vorgeworfen, dass in unserem Antrag (D) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten etwas fehlt. Ich kann das gerne nachliefern und sagen, der CDU/CSU) dass wir die brasilianischen Megastaudammprojekte Es muss eben auch klargemacht werden: Man wünscht sehr kritisch sehen. sich eine engere Kooperation innerhalb der Weltwirt- Hier wird aber ein Dilemma deutlich: Der Kollege schaft, den Abschluss der Doha-Runde, aber auch Frei- Barthel sagt, wir hätten hier eine Spiegelstrichorgie handels- und Assoziierungsabkommen. durchgeführt und es seien viel zu viele Forderungen in Jetzt komme ich noch kurz zu den Anträgen. unserem Antrag. Er selber hat dann aber noch andere Forderungen nachgeliefert. Wir hatten zum Beispiel In dem Antrag der Grünen stehen einige Forderungen nichts zur Drogenbekämpfung gesagt. Das ist ja nun zur Umwelt- und Klimapolitik. Was mich sehr gewun- wirklich ein Dilemma. dert hat, ist, dass Sie zwar sehr ausführlich zur Atom- kraft und zu Atomkraftwerken Stellung nehmen, ich in Wir könnten unseren Antrag spielend noch um sehr dem Antrag aber keinen einzigen Satz dazu finde, wie viele andere Punkte ergänzen, die wichtig wären. Ich Sie sich zu den vielen Staudammprojekten verhalten, die finde es aber mit Verlaub gesagt auch ein bisschen selt- Lula plant, nämlich unter anderem das Projekt Belo sam, keinen eigenen Antrag vorzulegen und den Linken Monte. Ich hoffe, dass Herr Hoppe, der ja nach mir das und den Grünen vorzuwerfen, sie würden zu viele For- Wort hat, dazu Stellung nimmt. derungen stellen. Das geht nun auch nicht. (Ute Koczy [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Sie sind ja wohl dagegen! Hier hätten Sie die und bei der LINKEN) Möglichkeit, Nein zu sagen!) Nun aber zurück zum EU-Lateinamerika-Gipfel. Es Zum Antrag der Linken. Zu der Rede ist nicht viel zu gibt mittlerweile alle zwei Jahre ein solches Gipfeltref- sagen; denn Sie haben die üblichen Ressentiments gegen fen. Die Staats- und Regierungschefs treffen sich, ver- die USA bedient. sammeln sich und beschwören die gemeinsamen Werte. Sie verabschieden eine Schlusserklärung, in der meis- (Heike Hänsel [DIE LINKE]: Ich habe zur EU tens leider nicht viel steht, und dann gibt es noch das Fa- geredet!) milienfoto. Ein Ritual! Ich hoffe, dass sich das in Madrid Ich finde es unglaublich, dass Sie dem Westen und den nicht wiederholen wird; denn es gibt ja wirklich große USA in Ihrem Antrag eine militärische Besetzung Haitis Herausforderungen. Einige Kolleginnen und Kollegen unterstellen. Glauben Sie denn wirklich, dass der Aufbau haben sie beschrieben. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010 3597

Thilo Hoppe (A) Man könnte die vielbeschworene strategische Part- der Lage beitragen und ihre Versprechen einhalten. Lei- (C) nerschaft doch endlich mit Leben füllen, beispielsweise der ist das Gegenteil passiert. Deshalb hätte man sie mit gemeinsamen Initiativen für den Klimaschutz. Me- nicht so schnell als Verhandlungspartner akzeptieren xiko und Brasilien haben hierfür doch interessante Vor- dürfen. schläge auf den Tisch gelegt. Es gilt jetzt, diese aufzu- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN greifen. Was macht aber die Bundesregierung? Sie sowie bei Abgeordneten der FDP) verhandelt ernsthaft über Hermesbürgschaften für neue Atomkraftwerke. Wir haben einen Antrag vorgelegt, der selbstverständ- lich das Große und Ganze umfasst und der zum Beispiel (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE auch die Empfehlungen der Stiglitz-Kommission, in der GRÜNEN]: Pfui!) Frau Wieczorek-Zeul mitgearbeitet hat, mit nach vorne Was machen die Niederländer? Sie planen in Eemshaven bringen will. eines der größten Kohlekraftwerke der Welt, das mit (Klaus Barthel [SPD]: Das ist ein kleiner Spie- Kohle aus Kolumbien befeuert werden soll. gelstrich!) Hat Europa die Zeichen der Zeit denn noch immer – Nein, es sind nicht nur kleine Spiegelstriche. Die Kri- nicht erkannt? Setzt Europa denn noch immer auf eine tik geht ins Leere, Herr Barthel. Wir sollten keine Piese- verfehlte, risikoreiche und umweltschädliche Energie- pampelei betreiben. Nennen Sie mir einen Punkt, mit politik? dem Sie nicht zufrieden sind, und geben Sie sich einen (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE Ruck, diesem Antrag zuzustimmen, statt leere Rhetorik GRÜNEN]: Dabei haben sie so viel Sonne!) zu bringen! Wir fordern mit unserem Antrag, endlich neue Wege (Klaus Barthel [SPD]: Sie müssen uns im Aus- zu gehen. Vamos adelante! Geht gemeinsam vorwärts, schuss noch überzeugen!) vorwärts mit einem ehrgeizigen Ausbau der erneuerba- Ich wollte noch etwas ansprechen, das auch nicht ren Energien. Hier liegt die Zukunft. stimmt. Wir verurteilen Menschenrechtsverletzungen, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN egal in welchem Land sie geschehen, ob in Kolumbien und bei der LINKEN) oder auf Kuba. In dem Punkt unterscheiden wir uns von dem Antrag der Linken, den wir in vielen Passagen un- Neue Wege sind auch in der Handelspolitik notwen- terstützen können. Aber an einigen Stellen ist erkennbar, dig. Die spanische Ratspräsidentschaft hat unglaublich dass die ideologische Zerrbrille aufgesetzt worden ist, Druck gemacht, und mit heißer Nadel wurden Freihan- mit der man dann über Menschenrechtsverletzungen auf (B) dels- und Assoziierungsabkommen gestrickt, die alle (D) Kuba hinwegsieht. Wenn man das nachbessern würde, dann in Madrid feierlich unterzeichnet werden sollen. dann könnte man zusammenkommen. Wenn man sich die aktuellen Versionen zum Beispiel des Abkommens mit Peru und Kolumbien oder mit Zen- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: tralamerika ansieht, dann fällt auf, dass die Europäische Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss. Union immer noch auf den Dreiklang Deregulierung, Privatisierung, Liberalisierung setzt, als ob es nie eine große Wirtschafts- und Finanzkrise gegeben hätte. Thilo Hoppe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Pardon, ich komme zum letzten Satz. – Wir haben ei- (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE nen Antrag vorgelegt, der auf eine nachhaltige und wirk- GRÜNEN]: So ist es!) lich ökologische und soziale Entwicklung setzt, der die Soziologische und ökologische Aspekte und Menschen- Menschen in den Mittelpunkt rückt und zeigt, dass wir rechtskriterien fallen allesamt hinten runter nicht auf dem einen oder anderen Auge blind sind. (Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Falsch!) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: oder sind bestenfalls noch in unverbindlichen Präambeln Ich schließe die Aussprache. zu finden; es gibt keine Sanktionsmechanismen. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf Wie sehr die Exportinteressen alles dominieren, sieht den Drucksachen 17/1403 und 17/1419 an die in der Ta- man daran, dass man sich nicht davor scheut, wieder mit gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Honduras zu verhandeln. Der Kollege Klaus Riegert und Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ich sind gemeinsam in Honduras gewesen und haben mit sind die Überweisungen so beschlossen. dem weggeputschten Präsidenten Zelaya und dem wie auch immer neu gewählten Präsidenten Pepe Lobo ge- Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf: sprochen. Damit Sie mich nicht falsch verstehen: Ich Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre- plädiere nicht dafür, die neue Regierung total zu boykot- gierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten tieren. Aber bevor man die Entwicklungszusammenar- Gesetzes zur Änderung des Vorläufigen Ta- beit wieder startet und bevor man die neue Regierung als bakgesetzes Verhandlungspartner akzeptiert, hätte man darauf beste- hen müssen, dass sie tatsächlich zu einer Verbesserung – Drucksachen 17/719, 17/996 – 3598 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt (A) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Überweisungsvorschlag: (C) richts des Ausschusses für Ernährung, Landwirt- Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f) Rechtsausschuss schaft und Verbraucherschutz (10. Ausschuss) Ausschuss für Arbeit und Soziales – Drucksache 17/1257 – Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu Berichterstattung: diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. – Abgeordnete Marlene Mortler Damit sind Sie einverstanden. Es handelt sich um die Elvira Drobinski-Weiß Reden folgender Kolleginnen und Kollegen: Norbert Dr. Christel Happach-Kasan Geis, Markus Grübel, Christel Humme, Florian Karin Binder Bernschneider, Dr. Ilja Seifert und Jerzy Montag.2) Ulrike Höfken Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion Drucksache 17/1202 an die in der Tagesordnung aufge- Bündnis 90/Die Grünen vor. führten Ausschüsse vorgeschlagen, wobei die Federfüh- Folgende Kolleginnen und Kollegen haben ihre Re- rung beim Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und den zu Protokoll gegeben: Elvira Drobinski-Weiß, Erik Jugend liegen soll. – Damit sind Sie einverstanden, wie Schweickert, Karin Binder, Ulrike Höfken und die Parla- ich sehe. Dann ist die Überweisung so beschlossen. 1) mentarische Staatssekretärin Julia Klöckner. Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 17: Damit kommen wir zur Abstimmung über den von Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/ der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur CSU und der FDP eingebrachten Entwurfs eines Änderung des Vorläufigen Tabakgesetzes. Der Aus- Ersten Gesetzes zur Änderung des Gesetzes schuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucher- zur Errichtung einer Stiftung „Deutsches His- schutz empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf torisches Museum“ Drucksache 17/1257, den Gesetzentwurf der Bundesre- gierung auf Drucksachen 17/719 und 17/996 anzuneh- – Drucksache 17/1400 - men. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zu- Überweisungsvorschlag: stimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer ist Ausschuss für Kultur und Medien (f) dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist damit Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung in zweiter Beratung angenommen mit den Stimmen der Auswärtiger Ausschuss Koalitionsfraktionen, der Fraktion Bündnis 90/Die Grü- Innenausschuss nen und der SPD-Fraktion bei Enthaltung der Fraktion Rechtsausschuss (B) Die Linke. Ausschuss für Bildung, Forschung und (D) Technikfolgenabschätzung Wir kommen zur Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss dritten Beratung Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich dabei Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Ist um folgende Kolleginnen und Kollegen: Thomas Strobl jemand dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf (Heilbronn), Dorothee Bär, Dr. Angelica Schwall-Düren, ist mit dem gleichen Stimmenverhältnis wie in der zwei- Patrick Kurth (Kyffhäuser), Dr. Lukrezia Jochimsen und ten Beratung angenommen. Claudia Roth (Augsburg). Abstimmung über den Entschließungsantrag der Frak- tion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/1456. Wer Thomas Strobl (Heilbronn) (CDU/CSU): stimmt für diesen Entschließungsantrag? – Wer ist dage- In dem Gesetz zur Errichtung einer Stiftung „Deut- gen? – Enthaltungen? – Der Entschließungsantrag ist ab- sches Historisches Museum“, DHMG, vom 21. Dezem- gelehnt mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und ber 2006 wurde die Stiftung „Flucht, Vertreibung, Ver- der SPD-Fraktion bei Enthaltung der Fraktion Die Linke söhnung“ als unselbstständige Stiftung des öffentlichen und Gegenstimmen der Fraktion Die Grünen. Rechts in der Trägerschaft des Deutschen Historischen Museums, DHM, errichtet. Stiftungszweck war und ist Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 auf: die Unterhaltung eines Ausstellungs-, Dokumentations- Beratung des Antrags der Abgeordneten Volker und Informationszentrums in Berlin, um im Geiste der Beck (Köln), Markus Kurth, Birgitt Bender, wei- Versöhnung die Erinnerung und das Gedenken an terer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- Flucht und Vertreibung im 20. Jahrhundert im histori- NIS 90/DIE GRÜNEN schen Kontext des Zweiten Weltkriegs und der national- sozialistischen Expansions- und Vernichtungspolitik und Europäische Antidiskriminierungspolitik un- ihrer Folgen wachzuhalten. terstützen – 5. Gleichbehandlungsrichtlinie der EU nicht länger blockieren Die bisherige Stiftungsarbeit hat gezeigt, dass die Komplexität der Aufgabenstellung und des Meinungs- – Drucksache 17/1202 – spektrums eine Vergrößerung des Stiftungsrates und eine

1) Anlage 4 2) Anlage 5 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010 3599

Thomas Strobl (Heilbronn) (A) Modifizierung des Berufungsverfahrens für den Stif- einfach nicht zukommt, deren historische „Wahrhaftig- (C) tungsrat angezeigt erscheinen lassen. Die zentrale Neue- keit“ nachgewiesenermaßen selbst in eigener Sache rung des Gesetzentwurfs ist, die Berufung der Mitglie- mehr als fragwürdig ist. Denn man braucht ja kaum da- der in den Stiftungsrat fortan dem Bundestag zu über- ran zu erinnern, dass die Linke oft genug Fakten belie- tragen, also der Legislative, statt sie wie bisher der big verändert, geschichtliche Dokumente manipuliert Exekutive anheimzustellen. Dies verbreitert die Ent- hat, wann immer es ihr in den Kram passte. Wer kennt scheidungsbasis erheblich und objektiviert den Beru- nicht die berühmten historischen Fotografien von kom- fungsprozess. Auch die Einbeziehung verschiedener munistischen Parteitagen, auf denen unliebsam gewor- Gruppen, wie etwa die Kirchen und den Zentralrat der dene Parteigenossen, die ursprünglich abgebildet wa- Juden, bürgt für Offenheit und Pluralität der gesamten ren, nachträglich fürs Geschichtsbuch wegretuschiert Stiftungsarbeit. Einseitigkeiten, Geschichtslegenden, ja, wurden, weil sie plötzlich unerwünscht waren und aus gewollte Mythologisierungen sind dadurch ausgeschlos- der Erinnerung getilgt werden sollten? Wahrheit ist für sen. Und genau das ist die Absicht der von uns erarbei- Kommunisten stets veränderlich, situationsbezogen und teten Neuzusammensetzung des Stiftungsrates „Flucht, nur in einer Hinsicht „fest“: als beliebte Worthülse für Vertreibung, Versöhnung.“ Propagandazwecke. Dagegen übrigens zu polemisieren, wie es etwa die Nicht zuletzt deshalb hieß ja auch die Staatszeitung Linke tut, ist entlarvend und bestätigt die Probleme, die der Sowjetunion Prawda, also „Wahrheit“, obwohl sie man in ihren Reihen mit dem Objektivitätsgebot und selten Wahres enthielt, das Volk in politischen Dingen Wahrhaftigkeitspostulat offensichtlich hat. Geradezu systematisch belog und sogar den Wetterbericht unverschämt aber ist die Behauptung, diese Probleme fälschte. Man kann so weit gehen und sagen: Je mehr die lägen im Gegenteil bei uns, und wir wollten Geschichts- Kommunisten von Wahrheit sprechen, desto sicherer verfälschungen vornehmen, indem wir mehr Sitze für kann man sein, dass nun garantiert eine Lüge folgt. Wie den Vertriebenenverband forderten, nämlich sechs von etwa bei Ulbrichts berüchtigtem „Versprechen“ vom den insgesamt 21 Plätzen. Dass aus linker Sicht offen- Juni 1961: „Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu sichtlich in einem Stiftungsrat für Vertreibung ausge- bauen.“ Und ausgerechnet die Nachfolger der so ge- rechnet die Betroffenen nicht angemessen, also mit we- strickten DDR-Kommunisten wollen nun beurteilen, was nigstens einem knappen Drittel, vertreten sein sollen, ist historische Wahrheit in der Vertriebenenproblematik schon bizarr. Es ist typischer Ausdruck ideologischen ist? Das erscheint fast als Witz, und man könnte darüber Scheuklappendenkens. Die Linke verdreht mit ihrer Kri- lachen, wenn die Sache nicht so ernst wäre. Deshalb tik am DHM-Konzept bewusst Ursache und Wirkung; stelle ich hier in aller Ernsthaftigkeit klar: Für mich und denn eher die bisherige Unterrepräsentanz der Vertrie- für alle Demokraten ist die historische Wahrheit etwas (B) benen stand einer objektiven Geschichtsbetrachtung im Absolutes und nicht verhandelbar. Auch auf dem Gebiet (D) Weg, keinesfalls deren nun angestrebte Korrektur. Mit der Geschichte fühlt sich die CDU/CSU-Fraktion dem ihrer Fundamentalkritik beweist die Linke einmal mehr, strikten Objektivitätsgebot liberal-pluralistischer Pro- dass ihr im politischen Tageskampf jede Faktenverbie- venienz verpflichtet. Mit Karl Popper sind wir der Mei- gung recht ist, wenn sie davon zu profitieren glaubt. Das nung, dass die Wahrheit nur bei einem fairen Wettbe- aber lassen wir ihr nicht durchgehen. werb der Meinungen darstellbar ist und keine einzelne Partei sich anmaßen darf, zu glauben, die Wahrheit von Der Gesetzentwurf der Koalitionsfraktionen ist aus- vornherein zu kennen, ja, sie für sich gepachtet zu ha- gewogen, die verschiedensten Gruppierungen und Be- ben. lange werden berücksichtigt, und alle Chancen sind ge- geben, von der Vergangenheit ein im höchsten Maße objektives Bild für die Nachwelt zu entwerfen. Und nur Dorothee Bär (CDU/CSU): dann können wir aus der Geschichte lernen, wenn bei Die Stiftung „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ ihrer Darstellung Objektivität waltet. Historiker, so stand in den letzten Monaten medial oftmals in der Kri- heißt es, sind mächtiger als Götter. Sie können sogar die tik. Inhaltlich wurde vor allem die mangelnde Ausgewo- Vergangenheit verändern. Mit diesem hintersinnig-iro- genheit bei der Zusammensetzung des wissenschaftli- nischen Urteil, das von Geschichtsprofessoren stammt, chen Beirats kritisiert. Nachdem wir deshalb im März wird auf das Problem der Ausdeutbarkeit vergangener drei bedauerliche Austritte aus dem wissenschaftlichen Ereignisse verwiesen. Dass dabei unter Umständen his- Beirat zu vermelden hatten, nehmen wir diese Kritik torische Wahrhaftigkeit zu kurz kommt und „erkenntnis- dankbar auf und beraten heute eine Novellierung des leitende Interessen“ des Betrachters eine verfälschende DHM-Gesetzes. Vorab möchte ich jedoch nicht versäu- Rolle bei der Darstellung geschichtlicher Zusammen- men, Folgendes anzumerken: Etwas zu voreilig, aber hänge spielen können, erlebt man leider allzu oft. Und doch stets mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlich- angesichts des Eifers, mit dem sich momentan die extre- keit, erfolgt in Momenten, in denen Stiftungen oder ähn- mistische Linke anschickt, in der Debatte um die Novelle liche Einrichtungen, die aufgrund politischer Entschei- des Gesetzes zur Errichtung einer Stiftung „Deutsches dungen eingesetzt wurden, ins Kreuzfeuer der Kritik Historisches Museum“ die Wortführerschaft an sich zu geraten, der Fingerzeig auf diejenigen, die es – auf gut reißen, liegt der Verdacht nahe, dass hier „erkenntnis- Deutsch – verbockt haben: die Politiker. Im aktuellen leitende Links-Interessen“ im Spiel sind. Hier soll offen- Fall ist die Entscheidung, wer in den wissenschaftlichen bar eine Deutungshoheit über eine wichtige Frage deut- Beraterkreis berufen wird, aber nicht Sache des Kultur- scher Geschichte angestrebt werden, die den Linken staatsministers gewesen, sondern Sache des Stiftungsra-

Zu Protokoll gegebene Reden 3600 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010

Dorothee Bär (A) tes. Nun müssen wir jedoch sicherstellen, dass die Stif- denen Gründen. Ich nenne hier nur die unklaren Mitglie- (C) tung ihre bedeutende Arbeit auf einem sicheren derzahlen sowie die NS-Verstrickung von früheren BdV- Fundament fortführen kann, und daher bitte ich Sie Funktionären. In der Machbarkeitsstudie zur Aufarbei- heute um konstruktive Zusammenarbeit zur Novellie- tung dieses Kapitels wird offensichtlich der Versuch ei- rung des DHM-Gesetzes. Diese Novellierung ist rein or- ner Bagatellisierung der NS-Verstrickung von BdV- ganisatorischer und nicht inhaltlicher Natur. Um die Funktionären unternommen. Pikant ist diese Geschichte Qualität der Arbeit der Stiftung zu garantieren, wird zudem, da der Direktor der Stiftung „Flucht, Vertrei- eine Erhöhung der Zahl der Mitglieder des Stiftungsra- bung, Versöhnung“, Herr Professor Kittel, beim IfZ tes und des wissenschaftlichen Beirates vorgeschlagen. diese Studie koordiniert hat. Die Geschichte des BdV Auch wenn wir als Deutsche beim Thema Vertreibung muss aufgeklärt werden; sonst verlieren nicht nur seine ganz besondere Verantwortung tragen, ist es trotzdem Funktionäre, sondern auch die Stiftung noch mehr an kein rein deutsches Thema. Die Stiftung trägt das Wort Glaubwürdigkeit. Wenn schon jetzt eine Dominanz des im Titel: Versöhnung. Und so muss unser gemeinsames BdV zu Irritationen führt, wie soll dann mit dem neuen Ziel lauten. Um es zu erreichen, ist gerade die Einbin- Gesetzentwurf die Versöhnung – diesen Auftrag hat die dung der Betroffenen von ganz besonderer Bedeutung. Stiftung ja ebenfalls – mit Polen, Tschechen und anderen Daher halte ich es für richtig, die Stiftung personell Opfern des Zweiten Weltkriegs funktionieren? möglichst breit aufzustellen und mit Experten zu beset- zen, die aus möglichst unterschiedlichen Ländern und Ich möchte kurz auf die einzelnen Änderungsvor- Kontexten kommen, sodass die gesamte Vielfalt des Be- schläge der Gesetzesvorlage eingehen: trachtungsgegenstandes aufgegriffen und bearbeitet werden kann. Darüber hinaus muss es uns ein Anliegen Erstens. Mir ist schleierhaft, warum zukünftig sechs sein, dass sich möglichst viele Gruppen und Länder ein- Vertreter des BdV im Stiftungsrat sitzen sollen. Ich be- gebunden und zur Mitarbeit aufgerufen fühlen. Die Aus- komme viel Post von Vertriebenen, die sich eben nicht gestaltung der weiteren Arbeit der Stiftung ist eine große vom BdV vertreten fühlen. Diese Menschen haben keine Aufgabe. Unsere Aufgabe ist es heute, die Gestaltung Stimme in der Stiftung. Vertriebene müssen im Stiftungs- der Formalien auf den Weg zu bringen, sodass diese Ar- rat vertreten sein; aber angesichts vieler ungeklärter beit mit neuer Motivation aufgenommen werden kann. Fragen beim BdV frage ich mich, warum nicht auch an- Ein Mitglied des Stiftungsbeirates hat vor kurzem den dere Vertriebenenverbände einbezogen werden. Das Wunsch nach einem Neustart der Stiftungsarbeit in ei- Adalbertus-Werk, das sich seit der Nachkriegszeit für nem konstruktiven Klima geäußert. Diesem Wunsch Versöhnung einsetzt, bzw. deren Dachverband, die Ar- schließe ich mich gerne an und bitte Sie, liebe Kollegin- beitsgemeinschaft der Katholischen Vertriebenenorgani- nen und Kollegen, dass auch wir in einem ergebnisori- (B) sationen, AKVO, wären an einer Mitarbeit interessiert. (D) entierten Geiste unseren Teil dazu beitragen. Es gibt genügend deutsche Vertriebenenorganisationen, die mit ihrem Engagement für die Versöhnung einen Sitz Dr. Angelica Schwall-Düren (SPD): im Rat der Stiftung „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ Bei dem vorliegenden Entwurf zur Gesetzesänderung verdient hätten. Man könnte, wenn man nun neu über ist vor allem das Vorspiel der Skandal. Erika Steinbach den Stiftungsrat nachdenkt, auch überlegen, ob nicht hat es geschafft, die Regierungskoalition zu erpressen. auch alternative Projekte, die sich mit dem Thema be- Sie ist nur bereit, auf einen Sitz im Stiftungsrat zu ver- fassen, eingebunden werden, zum Beispiel die Partner- zichten, wenn bestimmte Bedingungen ihres Verbandes städte Görlitz/Zgorzelec, die ein gemeinsames Projekt erfüllt werden. Union und FDP haben mit Erika zum Thema Vertreibungen vorgestellt hatten, oder auch Steinbach als Vorsitzender des Bundes der Vertriebenen einen Vertreter des „Zentrums gegen Krieg“ des Willy- verhandelt, als sei der BdV eine Bundestagsfraktion. Brandt-Kreises. Dabei geht es hier doch um eine öffentlich-rechtliche Stiftung und nicht um eine Institution des BdV. Ich habe in letzter Zeit viel mit Wissenschaftlern ge- sprochen, die mir wichtige Denkanstöße gegeben haben. Hinzu kommt noch, dass der BdV bereits in den Gre- Eine Idee möchte ich Ihnen mit auf den Weg geben. Die mien der Stiftung „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ Kirchen und der Zentralrat der Juden sind im Stiftungs- gut vertreten ist. Die bisherige Präsenz von Wegbeglei- rat vertreten. Es gibt allerdings keinen muslimischen tern Erika Steinbachs über das Zentrum gegen Vertrei- Vertreter. Dabei könnte gerade dieser eine Brücke von bungen im wissenschaftlichen Beirat hat unter Wissen- der Integration der Vertriebenen in die deutsche Gesell- schaftlern bereits zu erheblichen Irritationen geführt. So schaft zu aktuellen integrationspolitischen Debatten haben sich der polnische Historiker Tomasz Szarota und bauen. Es wäre eine Chance, auch Schulklassen mit die tschechische Historikerin Kristina Kaiserová bereits multiethnischer Zusammensetzung stärker für die Aus- zurückgezogen. Der Zentralrat der Juden ist ebenfalls stellung zu interessieren und einen Bogen zur eigenen höchst alarmiert. Wirklichkeit zu spannen. Es ließen sich am Beispiel der Selbstverständlich müssen Vertriebenenvertreter in Integration der Ostdeutschen dann hervorragend Pro- den Gremien der Stiftung „Flucht, Vertreibung, Versöh- bleme thematisieren und diskutieren, die der – jugendli- nung“ vertreten sein. Wir brauchen sie und ihre Erfah- che – Besucher von Dauer- und Wechselausstellungen rungen, ihre Fragen, ihre Anregungen. Der BdV aber der Stiftung in seiner eigenen Lebenswelt entdecken und sollte dazu beitragen, dass das ihm entgegengebrachte aus denen er für seinen gegenwärtigen und zukünftigen Misstrauen abgebaut wird. Dies entstand aus verschie- Alltag lernen kann.

Zu Protokoll gegebene Reden Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010 3601

Dr. Angelica Schwall-Düren (A) Zweitens. Eine Wahl der Mitglieder des Stiftungsrates zur Stiftung „Deutsches Historisches Museum“. Da (C) durch den Deutschen Bundestag statt einer Bestellung diese nun ausgeräumt sind, hat die christlich-liberale durch die Bundesregierung kann ich als Abgeordnete ei- Koalition mit dem nun vorgelegten Änderungsgesetz den gentlich nur begrüßen. Aber hier lauert leider eine Ge- wichtigen Schritt zur sachlichen Debatte über die Stif- fahr: Durch die Abstimmung im Gesamtpaket wird man tung „Flucht, Vertreibung und Versöhnung“ getan. Da- im Zweifel die eigenen Vertreter ablehnen müssen, wenn mit haben wir jetzt die Möglichkeit, die Inhalte und die eine andere vorgeschlagene Person nicht zustimmungs- Ziele der Stiftung in dieser Frage noch einmal deutlich fähig ist. Dies ist für die SPD-Fraktion nicht akzeptabel. zu machen. Deshalb gilt: Wir wissen um die deutsche Schuld. Wir wissen, dass das Deutsche Reich einen Drittens. Die Erweiterung des wissenschaftlichen fürchterlichen Krieg begonnen hatte, in bis dahin unbe- Beirats begrüße ich. Jetzt geht es darum, hochrangige kanntem Ausmaß Verbrechen stattfanden und das Deut- und kompetente Wissenschaftler für die Mitarbeit zu ge- sche Reich furchtbares Leid über Europa gebracht hatte. winnen. Dabei müssen ausgewiesene Experten für die Wir wissen aber auch um die Schrecken der Vertreibung Vertreibungsgeschichte sowie Historiker mit dem aus der Heimat, um die schrecklichen Folgen, die eine Schwerpunkt Zweiter Weltkrieg und Holocaust, außer- Flucht mit sich bringt. Gerade deswegen ist es wichtig, dem Museumspädagogen und neue ausländische Vertre- ein Symbol, einen Anlaufpunkt als Mahnung und Zei- ter gefunden werden. chen zu haben, als Aufzeig für die Jugend stellvertretend Grundsätzlich muss die Koalition einsehen, dass mit für alle Vertreibungen in der Welt; denn nicht nur die dem sogenannten Kompromiss, der mit Frau Steinbach Vertreibung der Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg erzielt wurde, kein Vertrauen gewonnen wurde. Vielmehr wird thematisiert, sondern auch die Schicksale von Ver- stecken wir mitten in einer Krise. Dies habe ich auch bei triebenen anderer Nationen sollen mit einbezogen wer- der letzten Stiftungsratssitzung deutlich zu machen ver- den. Die Stiftung ist eben nicht rein national ausgerich- sucht. Nur ein Neuanfang der Stiftungsarbeit, bei der tet, was die Opposition völlig zu Unrecht moniert hatte. auch kritische Fragen gestellt werden, kann das Projekt Aber: Es darf in der gesamten Diskussion über Krieg positiv voranbringen. Das ist nicht nur meine Meinung, und Kriegsfolgen nicht um Aufrechnung gehen. Das ver- sondern die vieler Wissenschaftler, die das Projekt be- bietet sich. Die Verbrechen der Deutschen werden nicht obachten. Deren Stimmen wurden bisher nicht gehört. kleiner durch Verbrechen an Deutschen. Und: Die Ver- Internationale Expertengremien arbeiten seit Jahren in- brechen der Deutschen rechtfertigen nicht die Verbre- tensiv insbesondere im Bereich der deutsch-polnischen chen an Deutschen. Wir dürfen Verbrechen nicht gegen- und der deutsch-tschechisch-slowakischen Historiker- einander aufwiegen. Leid und Schuld sind immer kommissionen an der Thematik der Vertreibungen. Es individuell, wobei der Holocaust und die Taten der Na- ziherrschaft einen herausragenden Stellenwert besitzen (B) wäre engstirnig und provinziell, auf diese Ressourcen zu (D) verzichten. und auch weiterhin besitzen müssen. Aber auch die Ver- treibung ganzer Bevölkerungsschichten aus den ur- Es muss deutlich werden, dass es sich bei der Stiftung sprünglichen Heimatregionen war eine Schuld, die nicht „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ um eine öffentlich- vergessen oder verharmlost werden soll. Man muss auch rechtliche Einrichtung handelt, die unabhängig und auf dieser Taten gedenken, dafür sensibilisieren, und dafür der Basis aktueller wissenschaftlicher Erkenntnisse ar- dient diese Stiftung. Sie hat aus meiner Sicht die große beitet und nicht als verlängerter Arm der Präsidentin Aufgabe, die Urteilsfähigkeit vor allem junger Men- des BdV. schen aufrechtzuerhalten. Wir gedenken ja nicht nur, um zu erinnern, sondern auch, um urteilsfähig zu bleiben. Die Stiftung muss endlich in einen ernsthaften Dialog mit unseren europäischen Nachbarn eintreten. Wir brau- Mit dem Änderungsgesetz wird nichts an dem Ziel der chen dringend mehr Transparenz. Wir brauchen einen Stiftung geändert. An dem Stiftungszweck, im Geiste der offenen Diskurs über die Ausrichtung der Stiftung und Versöhnung die Erinnerung und das Gedenken an deren Ausstellung, und wir brauchen eine ernst ge- Flucht und Vertreibung im 20. Jahrhundert im histori- meinte Auseinandersetzung über die offenen und kriti- schen Kontext des Zweiten Weltkrieges und der national- schen Fragen. sozialistischen Expansions- und Vernichtungspolitik und ihrer Folgen wach zu halten, wird nicht gerüttelt. Es Wir müssen uns fragen, wie das Verhältnis von Holo- werden lediglich einige verwaltungstechnische Ände- caust und Vertreibungen im Umfeld des Zweiten Welt- rungen eingeführt, die allerdings einen entscheidenden krieges darzustellen ist. Wir müssen klären, wie Versöh- Beitrag zu einer sinnvollen Ausgestaltung der Stiftung nung im Zusammenhang mit dem Thema Vertreibungen und zur Optimierung der Funktions- und Arbeitsweise steht. Wir müssen aufhören, vom Jahrhundert der Ver- leisten. Durch die Erhöhung der Mitgliederzahl des Stif- treibungen zu reden, sonst relativieren wir den Holo- tungsrates von 13 auf 21 Mitglieder schaffen wir die caust! Dies darf aus Respekt gegenüber den Opfern des Möglichkeit, vor allem den wissenschaftlichen Berater- Nationalsozialismus nicht geschehen; das sind wir au- kreis zu verstärken. Bis zu 15 Mitglieder, statt bisher 9, ßerdem auch unserer historischen Verantwortung schul- aus diesem wichtigen Umfeld tragen in Zukunft wert- dig. volle Arbeit und Beiträge in die Arbeit des Rates hinein. Diese Aufstockung trägt der enormen Komplexität und Patrick Kurth (Kyffhäuser) (FDP): geschichtspolitischen Bedeutung der Aufgabenstellung In den letzten Monaten bestimmten leider hauptsäch- und des Meinungsspektrums Rechnung. Die Mitglieder lich Personaldebatten die Diskussion über das Gesetz des Stiftungsrates sollen in Zukunft nicht mehr durch die

Zu Protokoll gegebene Reden 3602 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010

Patrick Kurth (Kyffhäuser) (A) Bundesregierung, sondern durch den Deutschen Bundes- An dieser Bestimmung ist die Personalie Erika (C) tag gewählt werden. Auf diese Weise können übergeord- Steinbach gescheitert. Damit so etwas in Zukunft nicht nete politische Belange berücksichtigt werden. Außer- wieder passiert, bestimmt das neue Gesetz, dass nun- dem ist die demokratische Legitimation und Akzeptanz mehr der Bundestag die Stiftungsratsmitglieder wählt. der gewählten Mitglieder erheblich erhöht, wenn die ge- Das soll folgendermaßen vor sich gehen: wählten Volksvertretern, über die Zusammensetzung im Der Wahl liegt ein Gesamtvorschlag zugrunde, der Zuge einer transparenten Debatte entscheiden. Auch die nur als Ganzes angenommen oder abgelehnt wer- Tatsache, dass die Stiftung unter dem Dach des Deut- den kann. schen Historischen Museums verbleibt, ist ein außeror- dentlich wichtiges Zeichen. Auf diese Weise bleibt auch Nur als Ganzes angenommen oder abgelehnt – diese in Zukunft die staatliche Verantwortung für das Projekt „Paketlösung“ ist ein übler Mehrheitstrick der Koali- gewährleistet. Außerdem wird so jeglichen Vorwürfen, tion. Diese „Paketlösung“ verhöhnt das Parlament, einzelne Gruppen hätten einen dominierenden Einfluss, seine Mitbestimmung und seine Kontrollaufgabe bei ei- frühzeitig der Wind aus den Segeln genommen. ner Bundesstiftung. Der vorliegende Gesetzentwurf kann sich sehen las- Die Linksfraktion war von Anfang an gegen die Er- sen. Wir haben damit eine sehr gute Grundlage für eine richtung dieser Stiftung, und zwar aus drei Gründen: erfolgreiche Arbeit der Stiftung „Flucht, Vertreibung, Erstens war sie wegen ihrer Konzeption dagegen. Wir Versöhnung“ geschaffen. Dies gilt insbesondere für das haben immer gefragt, wer sich – nach der Definition der Ziel der Versöhnung. Durch das breite und internatio- Stiftung – mit wem versöhnen soll. Nun haben wir vom nale wissenschaftliche Fundament wird sichergestellt, Gründungsdirektor der Stiftung erfahren, dass es vor al- dass im Ergebnis eine tiefgründige, neutrale und voll- lem um eine „Versöhnung der Deutschen miteinander“ ständige Aufarbeitung geleistet wird, die frei von Vorur- gehen soll. Das ist nicht hinnehmbar für eine Institution teilen und Einseitigkeit ist. Damit wird die Akzeptanz bei der Erinnerung an einen Weltkrieg und seine Folgen. allen Beteiligten gestärkt. Es handelt sich um ein sehr sensibles historisches Thema. Dieser Sensibilität tragen Zweitens. Wir haben nie verstanden, dass der Sitz der die jetzt vorgelegten Rahmenbedingungen in angemes- Stiftung ausgerechnet Berlin sein soll, der Ort, von dem sener Weise Rechnung. Es ist ein kluges und weitsichti- all die mörderischen Verbrechen ausgegangen sind, die ges Konzept erarbeitet worden, das die Interessen aller schließlich auch zu dem Elend von Flucht und Vertrei- Beteiligten angemessen berücksichtigt. Insbesondere bung geführt haben. die Sorgen unserer polnischen Freunde, die Aufarbei- Drittens. Wir haben nie verstanden, wieso in einer tung könnte allzu revisionistische Aspekte beinhalten, (B) Bundesstiftung – einer Stiftung des Bundes wohlge- (D) räumt das vorgelegte Konzept wirksam aus. Jetzt gilt es, merkt, nicht einer Verbandsstiftung – dem Bund der Ver- dass die Stiftungsorgane so schnell wie möglich gebil- triebenen als weitaus größte Gruppe eine derart domi- det werden und die Stiftung ihre Arbeit aufnimmt, damit nierende Rolle eingeräumt wird. Das haben wir schon 65 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges das nicht verstanden, als im alten Stiftungsrat 3 von 13 Sit- Kapitel „Flucht und Vertreibung“ eine angemessene zen dem BdV zugesprochen wurden. Nun bekommt er Aufarbeitung und Erinnerungsarbeit erfährt. 6 von 21 Sitzen; das heißt, an der Gewichtung hat sich durch das neue Gesetz überhaupt nichts verändert. Dr. Lukrezia Jochimsen (DIE LINKE): Fazit: Das neue Gesetz trägt der Komplexität der Spät am Abend dieses langen Plenartages, mit zu Aufgabenstellung dieser Stiftung in keiner Weise „besser Protokoll gegebenen Reden, haben wir über einen Ge- Rechnung“. Im Gegenteil, es vermehrt nur die Zahl der setzentwurf zu beschließen, der für die Stiftung „Flucht, Ämter und Sitze in der Stiftung und degradiert das Par- Vertreibung, Versöhnung“, die in ihrer bisherigen Struk- lament zu einem Zustimmungsapparat für eine völlig un- tur gescheitert ist, einen Neuanfang ermöglicht. demokratische „Paketlösung“. Schlimmer hätte es ei- gentlich nicht kommen können – unverfrorener nach all „Der Komplexität der Aufgabenstellung und des Mei- der öffentlichen Diskussion im In- und Ausland auch nungsspektrums“ soll noch besser Rechnung getragen nicht. werden als bisher. Und wie soll dies geschehen? Indem Wie gesagt: Wir haben bisher der Errichtung der Stif- Stiftungsrat und wissenschaftlicher Beraterkreis vergrö- tung „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ nicht zuge- ßert und „das Berufungsverfahren für den Stiftungsrat stimmt und für die neue gesetzliche Regelung gilt dies modifiziert werden“ soll. erst recht. Modifiziert – was heißt das? Sie erinnern sich: Bisher gab es ein zweistufiges Berufungsverfahren für die Mit- Claudia Roth (Augsburg) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- glieder des Stiftungsrates. Die beteiligten Institutionen NEN) – Bundestag, Glaubensgemeinschaften, der BdV usw. – Der Gesetzentwurf zur Vertriebenenstiftung ist fak- schlugen ihre Mitglieder nur vor. Die Regierung tisch eine Bankrotterklärung der Regierungskoalition. – sprich: das Bundeskabinett – ernannten. Es wurde Monatelang ließ die Kanzlerin den Konflikt mit dem also über jedes einzelne Mitglied des Stiftungsrates ab- Bund der Vertriebenen und Frau Steinbach treiben, ohne gestimmt. Nur, wer einstimmig von der Regierung beru- sich zu den erpresserischen und undemokratischen An- fen wurde, konnte im Gremium seine Arbeit aufnehmen. sprüchen von Frau Steinbach auch nur zu äußern, ge-

Zu Protokoll gegebene Reden Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010 3603

Claudia Roth (Augsburg) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (A) schweige denn hier politisch zu entscheiden. Statt Ver- tung nach dem von Frau Steinbach provozierten Konflikt (C) antwortung zu übernehmen, duckte die Kanzlerin sich ihrem Zweck der Versöhnung mit den Nachbarländern weg und riskierte damit eine Verschlechterung der Be- überhaupt noch gerecht werden kann. ziehungen zu unseren östlichen Nachbarländern. Der Sehr besorgt macht mich auch, dass sich inzwischen nun vorliegende Gesetzentwurf, der den Konflikt vor- die ausländischen Vertreter im wissenschaftlichen Bei- geblich lösen will, ist tatsächlich ein Ausdruck der rat der Stiftung zurückgezogen haben. Ohne eine ange- Schwäche und Handlungsunfähigkeit der Regierung messene Beteiligung von renommierten Wissenschaft- Merkel. lern und Fachleuten aus den Nachbarländern kann die Der Konflikt drehte sich im Kern um Frau Steinbachs Stiftung nicht im Sinne der Zielsetzung funktionieren. Anspruch, Mitglieder des Stiftungsrats in der mit Steuer- Die Stiftung braucht – wie gesagt – keinen faulen mitteln finanzierten Stiftung „Flucht, Vertreibung, Ver- Kompromiss, sondern ein ernsthaftes Nachdenken im söhnung“ benennen zu können, ohne weitere demokrati- Bundestag und seinen Ausschüssen über einen grundle- sche Legitimation durch die politisch Verantwortlichen. genden Neustart des Projekts. – Vielen Dank! Natürlich dachte Frau Steinbach bei der Benennung von Stiftungsratsmitgliedern an erster Stelle an sich selbst, Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: was die Beziehungen zu unseren östlichen Nachbarlän- dern unerträglich belastet hätte. Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent- wurfs auf Drucksache 17/1400 an die in der Tagesord- Um dem Konflikt aus dem Weg zu gehen, beschloss nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie die Regierungskoalition einen faulen Kompromiss, der damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die uns in Form des Gesetzentwurfs nun vorliegt. Damit Überweisung so beschlossen. Frau Steinbach von ihrem Anspruch ablässt, musste die Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 auf: Zahl der Stiftungsratsmitglieder aus den Reihen des Bundes der Vertriebenen verdoppelt werden. Um das Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Einknicken vor den Ansprüchen von Frau Steinbach zu richts des Rechtsausschusses (6. Ausschuss) zu kaschieren, musste die Regierung dann eine noch wei- der Unterrichtung durch die Bundesregierung tergehende Vergrößerung des Stiftungsrats vornehmen, Initiative für eine Richtlinie des Europäischen von 13 auf die jetzt vorgeschlagenen 21 Mitglieder. Die Parlaments und des Rates über die europäi- Erfahrung zeigt, dass mit einer solchen Erweiterung die sche Schutzanordnung Handlungsfähigkeit eines solchen Gremiums sich nicht (inkl. 17513/09 ADD 1 und 17513/09 ADD 2) verbessert, sondern die Abläufe dadurch komplizierter (ADD 1 und ADD 2 in Englisch) (B) werden. Ratsdok. 17513/09 (D) Die Unfähigkeit der Bundesregierung, die Probleme – Drucksachen 17/720 Nr. A.7, 17/1461 – mit dem Stiftungsrat zu lösen, brachte sie zu einer Flucht aus der Verantwortung. Wie Sauerbier ging sie mit der Berichterstattung: Verantwortung für die Stiftungsratsbenennung hausie- Abgeordnete Dr. Jan-Marco Luczak ren. Auch das BKM und Kulturstaatsminister Neumann Dr. Eva Högl waren zeitweise in der Diskussion. Nun soll der Bundes- Marco Buschmann Raju Sharma tag entscheiden. Was auf den ersten Blick wie eine De- Ingrid Hönlinger mokratisierung des Verfahrens aussieht, erweist sich beim Blick in die Details als eine ziemlich fragwürdige Auch hier wurde schon in der Tagesordnung ausge- Operation. Ja, der Bundestag soll entscheiden – weil die wiesen, dass die Reden folgender Kolleginnen und Kol- Bundesregierung sich damit ein Problem vom Hals legen zu Protokoll genommen werden: Dr. Jan-Marco schaffen will. Und in einem Entscheidungsverfahren, Luczak, Dr. Eva Högl, Marco Buschmann, Raju Sharma das dem zweifelhaften Motto „Friss, Vogel, oder stirb“ und Jerzy Montag. folgt. Der Bundestag soll nur über einen Gesamtvor- schlag für eine Liste der Stiftungsratsmitglieder abstim- Dr. Jan-Marco Luczak (CDU/CSU): men können. Wenn zum Beispiel vom Bund der Ver- Die von zwölf Mitgliedstaaten ergriffene Initiative für triebenen wiederum ein inakzeptabler Kandidat die Europäische Schutzanordnung dient im Kern der vorgeschlagen wird, dann kann der Bundestag nur die Umsetzung eines Teilbereiches des Stockholmer Pro- Gesamtliste ablehnen. Ich kenne dieses Verfahren noch gramms. Ziel der Initiative ist, den grenzüberschreiten- sehr gut aus dem Europaparlament, aus Zeiten einer den Schutz der Opfer von Straftaten gegen Wiederho- sehr mangelhaften demokratischen Legitimation. Da- lungstaten desselben Täters gegen dasselbe Opfer mals wurden so unliebsame Kandidaten auf kaltem Wege innerhalb des europäischen Raums der Freiheit, der Si- durchgedrückt. Und genau das versucht man nun auch cherheit und des Rechts zu verbessern. in diesem Gesetzentwurf. Dieses Ziel teilen wir uneingeschränkt. In einem ge- Was das Projekt der Stiftung „Flucht, Vertreibung, meinsamen Rechtsraum ohne Binnengrenzen muss die Versöhnung“ jetzt braucht, ist kein in Gesetzesform ge- Freizügigkeit der Bürger gewährleistet sein. Es gilt hier gossener fauler Kompromiss. Stattdessen ist die inhaltli- der alte Satz: Ohne Sicherheit keine Freiheit. Diese che Ausrichtung der Stiftung neu zu überdenken. Dabei muss in Europa auch über Grenzen hinweg gewährleis- ist insbesondere die Frage zu stellen, ob und wie die Stif- tet sein. 3604 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010

Dr. Jan-Marco Luczak (A) Die Richtlinie sieht daher vor, dass Verbote oder Ver- von Gewaltopfern, mit der vorgesehenen Richtlinie (C) pflichtungen, die nach dem Recht eines Mitgliedstaates wirklich befördert und verbessert? Erreicht man mit der zum Schutz einer gefährdeten Person gegen eine gefähr- Europäischen Schutzanordnung wirklich einen schnelle- dende Person erlassen wurden, in anderen Mitgliedstaa- ren und effektiveren Schutz? Sieht man sich die Details ten nach dem Prinzip der gegenseitigen Anerkennung der vorgeschlagenen Regelung an, kommen hier Zweifel ebenfalls Wirkung entfalten, wenn die gefährdete Person auf. Es lässt sich zusammenfassen, dass der Richtli- sich dorthin begeben will. nienentwurf ein sehr komplexes, mehrstufiges Verfahren vorsieht: Es gibt ein schwieriges Zusammenspiel der je- So sehr wir dieses Ziel auch begrüßen, muss man bei weils zuständigen Behörden von Anordnungs- und Voll- den Detailfragen doch genau hinsehen. Wir haben das streckungsstaat, damit die zugunsten einer gefährdeten getan und nutzen daher nun die dem Bundestag gege- Person getroffene Schutzmaßnahme und die auf dieser bene Möglichkeit, über eine Stellungnahme nach Art. 23 Grundlage erlassene Europäische Schutzanordnung in Abs. 3 GG unsere Bedenken deutlich zu machen und einem anderen Mitgliedstaat geprüft, anerkannt und über unsere Aufforderungen an die Bundesregierung auf dann eine eigene Schutzmaßnahme nach dessen natio- die Diskussion auf europäischer Ebene entsprechend nalem Recht erlassen werden kann. Hinzu kommen die Einfluss zu nehmen. Ich freue mich insofern, als nach existenten Sprachbarrieren und die daher notwendigen Aussage des Staatssekretärs Stadler im Rechtsausschuss Übersetzungsleistungen. diese Woche unsere – durchaus von anderen Mitglied- staaten geteilten – Bedenken zwischenzeitlich auch bei Insgesamt handelt es sich um einen Vorschlag, der der Kommission angekommen zu sein scheinen. sehr starr, wenig flexibel und daher ineffektiv ist. Zumin- dest in Deutschland ist Schutz auch für Menschen aus Lassen Sie mich einige Bedenken näher erläutern. anderen Staaten der Europäischen Union schneller und Zweifel bestehen nach unserer Auffassung zunächst da- effektiver unmittelbar über das deutsche Gewaltschutz- ran, ob die gewählte Rechtsgrundlage des Art. 82 AEUV gesetz zu erreichen – oftmals binnen weniger Stunden –, einen ausreichenden Kompetenztitel vermittelt. Die ohne dass es einer Anerkennung von Maßnahmen ande- Union darf nach dem Prinzip der begrenzten Einzeler- rer Mitgliedstaaten bedarf. An der Erforderlichkeit bzw. mächtigung bekanntlich nur dann Maßnahmen ergrei- Verhältnismäßigkeit der Ausgestaltung der Regelungen fen, wenn das europäische Recht eine entsprechende Zu- zur Europäischen Schutzanordnung bestehen also ernst ständigkeit enthält. In Art. 82 AEUV geht es um die zu nehmende Zweifel. justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen. In vielen Mitgliedstaaten werden Maßnahmen gegen Gewalttäter Wir sind der Auffassung, dass vor allem der Aspekt zum Schutze der Opfer aber nicht in strafrechtlichen der zügigen Übermittlung und Anerkennung derjenigen Verfahren verhängt, sondern gründen auf verwaltungs- Informationen im Vordergrund stehen sollte, die etwa (B) (D) rechtlichen Titeln, oder es wird – wie in Deutschland ein nationales Gericht für den Erlass einer Schutzmaß- nach dem Gewaltschutzgesetz – zivilrechtlicher Schutz nahme nach nationalem Recht benötigt. Das Opfer einer gewährt. Wenn nun aber verwaltungs- oder zivilrechtli- Straftat soll im Vollstreckungsstaat nicht ein neuerliches che Maßnahmen in Rede stehen, können diese nicht Verfahren anstrengen und durchlaufen, insbesondere ohne Weiteres auf Grundlage eines Kompetenztitels im keine neuen Beweise erheben müssen. Hier kann es ei- Bereich der justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen nen echten Effektivitätsgewinn geben. einem Mechanismus der gegenseitigen Anerkennung zu- geführt werden. Die aufgezeigten Bedenken greift unsere Stellung- nahme auf und weist zugleich auf die Möglichkeiten hin, Auch der Bundesrat teilt diese Bedenken hinsichtlich wie man durch die zügige Übermittlung der für eine der Rechtsgrundlage und hat daher gegen den Richtli- Schutzmaßnahme notwendigen Fakten und deren gegen- nienentwurf Subsidiaritätsrüge erhoben. Diese umfasst seitige Anerkennung einen besseren grenzüberschreiten- neben der eigentlichen Subsidiaritätsfrage als solcher den Opferschutz erreichen kann. Hierfür bitte ich um auch die – gleichsam logisch vorgeschaltete – Frage Ihre Zustimmung. nach der Zuständigkeit der Union. Es ist Aufgabe der Bundesregierung – nicht zuletzt nach den deutlichen Dr. Eva Högl (SPD): Worten des Bundesverfassungsgerichts im letzten Jahr Die Initiative für eine Europäische Schutzanordnung zum Lissabonner Vertrag –, sicherzustellen, dass die ist ausdrücklich zu begrüßen und steht in mehrerlei Hin- Union die ihr übertragenen Kompetenzen nicht über- sicht für eine fortschrittliche Entwicklung. dehnt, sondern insbesondere im grundrechtssensiblen strafrechtlichen Bereich strikt einhält. Zuerst einmal in der Sache selbst. Menschen, die zu Auch gibt es bereits eine Reihe von anderen Rechts- Opfern geworden sind, finden erweiterten Schutz, und akten der Europäischen Union, deren Anwendungsbe- solche, die befürchten müssen, zum Opfer zu werden, be- reich sich zumindest teilweise mit dem der vorgeschla- kommen ein deutlich höheres Maß an Sicherheit gebo- genen Richtlinie für die Europäische Schutzanordnung ten, als dies bisher der Fall ist. Das ist vor allem für überschneidet. Auch hier sind Mechanismen der gegen- Frauen, die gewalttätige Übergriffe fürchten müssen seitigen Anerkennung vorgesehen. Wieso sollten wir dies und diese oft in der Vergangenheit schon erleiden muss- also gleichsam doppelt regeln? ten, eine deutliche Verbesserung. Ich will aber auch diejenigen Fälle nicht unerwähnt lassen, in denen Er- Wir fragen uns aber vor allem: Wird das von uns ge- mittlungsbehörden darauf angewiesen sind, Sicherheits- teilte Ziel, ein besserer grenzüberschreitender Schutz garantien abzugeben, um die Aufklärung von Ver-

Zu Protokoll gegebene Reden Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010 3605

Dr. Eva Högl (A) brechen durch Zeugenaussagen überhaupt erst zu können wir uns als Parlament aktiv in die europäischen (C) ermöglichen. Auch diese Fälle sind wichtig. Verhandlungen einbringen. Der Schutz, den staatliche Organe bisher ermögli- Ich hätte mir gewünscht, dass wir das gemeinsam chen konnten, endete allzu oft an nationalstaatlichen fraktionsübergreifend hinbekommen hätten. Das hat die Grenzen. Was dabei oft übersehen wird: Auch die Souve- unkoordinierte Abstimmung der Koalition im Rechtsaus- ränität der einzelnen Bürgerin, des einzelnen Bürgers, schuss verhindert. Ich hoffe sehr, dass das in Zukunft an- die bzw. der auf Schutz angewiesen ist, endet ebenfalls ders wird. In europäischen Fragen, und darüber waren dort. Erst die Möglichkeit, die Grundfreiheit der Frei- wir uns im Rechtsausschuss erfreulicherweise über zügigkeit tatsächlich verwirklichen zu können, bedeutet Fraktionsgrenzen hinweg einig, werden wir als Deut- eine echte Gleichstellung derjenigen Frauen und Män- scher Bundestag umso mehr Gehör finden, je einiger wir ner, die schon vorher dadurch benachteiligt waren, dass auftreten. Daher sollte eine gemeinsame Stellungnahme sie erst um Schutz staatlicher Organe nachsuchen muss- bei inhaltlich unstrittigen Themen zukünftig nicht an Ab- ten, um Leib und Leben nicht länger unkalkulierbaren stimmungsschwierigkeiten scheitern. Wir sollten ge- Gefahren aussetzen zu müssen. Die Grundrechte in meinsam die neuen Instrumente nutzen, die den nationa- Form der allgemeinen Handlungsfreiheit und der Frei- len Parlamenten mit dem Vertrag von Lissabon an die zügigkeit sind elementare Bürgerrechte, deren verlässli- Hand gegeben wurden, und uns nicht gegenseitig Steine che Ausübung unter staatlicher Garantie steht. Freizü- in den Weg legen. Die SPD-Bundestagsfraktion ist des- gigkeit nicht nur national, sondern, wenn schon nicht halb in der gestrigen Sitzung des Rechtsausschusses als weltweit, so doch EU-weit gewährleisten zu können, be- größte Oppositionsfraktion ihrer Verantwortung für die deutet somit einen spürbaren Abbau faktischer Diskri- europäische Einigung nachgekommen und hat dem An- minierung bzw. Benachteiligung. trag der Koalition zugestimmt. Ich hoffe sehr, dass wir zukünftig dazu kommen, uns mehr um die Sache als um Die in dem Richtlinienentwurf vorgesehene Möglich- Verfahrensabläufe zu kümmern. Damit wir, Regierung keit für den Anordnungsstaat, eine Europäische Schutz- ebenso wie Opposition, unserer Verantwortung für die anordnung erlassen zu können, die vom Vollstreckungs- Bedürfnisse der Bürgerinnen und Bürger Europas ge- staat anzuerkennen und umzusetzen ist, bedeutet dabei recht werden, wie sie sich beispielhaft in der Europäi- nicht nur einen praktikablen Weg der Umsetzung. Ge- schen Schutzanordnung manifestieren. genüber der bilateralen Anerkennung von Rechtstiteln bedeutet sie auch einen Abbau von bürokratischen Hemmnissen. Der Fortschritt, der mir als Europapoliti- Marco Buschmann (FDP): kerin besonders am Herzen liegt, ist der Fortschritt der Der Rechtsausschuss empfiehlt Ihnen, zu der Initia- (B) europäischen Zusammenarbeit. Wir haben uns im Fall tive für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments (D) der Europäischen Schutzanordnung europaweit das ge- und des Rates über die Europäische Schutzanordnung meinsame Ziel gesetzt, Gewalt noch effektiver zu ächten eine Stellungnahme nach Art. 23 Abs. 3 des Grundgeset- und zu bekämpfen. zes abzugeben. Als Koalitionsfraktionen haben wir die- ses Vorgehen im Rechtsausschuss vorgeschlagen, weil Insbesondere das Prinzip der gegenseitigen Anerken- wir es für wichtig halten, dass sich der Deutsche Bun- nung zeigt, dass Entscheidungen, die vor dem Hinter- destag an der Rechtsetzung in der Europäischen Union grund nationaler Rechtsordnungen und Traditionen er- beteiligt. Denn was dort beschlossen wird, findet nicht gehen, von anderen Staaten respektiert und umgesetzt auf einem fernen Planeten „Brüssel“ statt, der mit unse- werden. Die Erweiterung des gewohnten Rechtsrahmens rem Leben hier in Deutschland nichts zu tun hat. Wir als wird durch die Europäische Union erst ermöglicht. Nur Parlament sind vielmehr im Regelfall verpflichtet, die auf nationalstaatlichem Wege könnte das Ziel, in einem dort beschlossenen Vorgaben umzusetzen. Damit wir internationalen Raum effektiven Schutz für Leib und Le- nicht zum bloßen Ausführungsorgan der Rechtsetzungs- ben zu gewährleisten, überhaupt nicht verwirklicht wer- organe der Europäischen Union werden, müssen wir uns den. Auch wenn niemandem zu gönnen ist, von der Euro- als deutsche Parlamentarier frühzeitig in die Debatten päischen Schutzanordnung profitieren zu müssen, zeigt in Brüssel einbringen. sich hier doch der Mehrwert an Lebensqualität, den Europa seiner Bevölkerung bietet. Wir als FDP-Bundestagsfraktion begrüßen es daher sehr, dass der Deutsche Bundestag von dem Instrument Wir sind uns im Deutschen Bundestag darüber einig, einer Stellungnahme nach Art. 23 Abs. 3 GG in der dass die von den Mitgliedstaaten erwählte Rechtsgrund- neuen Legislaturperiode verstärkt Gebrauch macht. Da- lage Fragen aufwirft. Diese Haltung wird im Übrigen bei geht es uns nicht darum, die Bundesregierung durch von der Europäischen Kommission geteilt. Hier wird so- strikteste Vorgaben auf europäischer Ebene manövrier- gar eine Klage erwogen, um die formale Rechtmäßigkeit unfähig zu machen. Aber wenn der Deutsche Bundestag der Richtlinie notfalls zu erzwingen. Es ist deshalb gut, die Punkte zusammenträgt, die ihm bei den Verhandlun- dass der Bundestag diesen Punkt in seiner Stellung- gen besonders wichtig erscheinen, kann dies das Ge- nahme deutlich formuliert hat. Der Weg, gemeinsam wicht der deutschen Position in Europa nur verstärken. eine Stellungnahme nach Art. 23 GG abzugeben und der Bundesregierung damit für die Beratungen und Ver- Die Initiative zur Einführung einer Europäischen handlungen im Rat unsere Bedenken und Anregungen Schutzanordnung ist dabei ein Fall, in dem wir unser mit auf den Weg zu geben, ist daher genau richtig. So Gewicht in die Waagschale werfen sollten.

Zu Protokoll gegebene Reden 3606 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010

Marco Buschmann (A) Das Ziel der Initiative eint uns sicher alle hier im begangener Straftaten. Der Schutz von Opfern poten- (C) Parlament. Denn das Ziel der Initiative ist es, dafür zu zieller Gewalt betrifft allenfalls künftige Straftaten und sorgen, dass der Schutz von Opfern potenzieller Gewalt ist mithin eine Frage der Gefahrenabwehr. Diese veror- nicht an den Landesgrenzen aufhört. Das ist ein Thema, ten wir jedenfalls nach deutschem Verständnis nicht im dessen wir uns annehmen müssen. Denn der Schutz der Bereich des Strafrechts, sondern im Bereich des Gefah- Rechtsgüter des Einzelnen ist ein wesentlicher, wenn renabwehrrechts. nicht der wesentliche Auftrag des Staates. Dieser Schutz vor potenzieller Gewalt muss – unter Wahrung der Eine solche durch die Initiative unterstellte Erweite- Grundrechte – effizient und schnell sein. Ist er nämlich rung des kompetenzrechtlichen Strafrechtsbegriffs um nicht schnell und effizient, dann kann potenzielle Gewalt den Bereich der Gefahrenabwehr verunklart die Zustän- in reale Gewalt umschlagen. digkeitsverteilung zwischen Europäischer Union und Mitgliedstaaten. Genau aber bei dieser Effizienz und Schnelligkeit fan- gen bereits unsere Zweifel an der derzeitigen Ausgestal- Wollten wir aber nicht mit dem Vertrag von Lissabon tung der vorgeschlagenen Europäischen Schutzanord- mehr Transparenz schaffen, insbesondere mehr Trans- nung an. Diese verlangt nämlich zunächst, dass eine parenz, wer für was zuständig sein soll, ob die EU oder Schutzmaßnahme eines Mitgliedstaates der EU vorliegt. die Mitgliedstaaten? Hat uns nicht das Bundesverfas- Auf dieser Grundlage kann der Mitgliedstaat eine Euro- sungsgericht aufgegeben, dass die neue Zuständigkeits- päische Schutzanordnung erlassen. Diese wird dann an verteilung zwischen der EU und den Mitgliedstaaten im den neuen Aufenthaltsstaat der gefährdeten Person ge- Vertrag von Lissabon strikt eingehalten werden muss? schickt. Dort muss sie anerkannt und umgesetzt werden, Hat das Gericht nicht sogar ausdrücklich ausgespro- indem der neue Aufenthaltsstaat eine Schutzanordnung chen, dass hier gerade im Strafrecht besondere Auf- nach seinem Recht erlässt. merksamkeit gefordert ist? Der Vertrag ist gerade ein- mal ein paar Monate in Kraft, und schon wird versucht, Das sind ganz schön viele Zwischenschritte – dabei Maßnahmen unter den Begriff des Strafrechts zu packen, muss es doch aber schnell gehen! Zudem sind diese die dort so nicht hingehören. Schritte unserer Ansicht nach nicht einmal erforderlich, denn bei anderen Rechtsakten brauchen wir für die ge- Natürlich hätten wir diese Bedenken auch im Wege genseitige Anerkennung doch auch keine europäische der Subsidiaritätsrüge geltend machen können, ein- Anordnung; die Entscheidungen der Mitgliedstaaten schließlich der Kompetenzverstöße; denn als FDP-Bun- werden direkt weitergeleitet und anerkannt. Deswegen destagsfraktion vertreten wir die Auffassung, dass auch bitten wir die Bundesregierung in unserer Stellung- Kompetenzverstöße im Wege der Subsidiaritätsrüge gel- (B) nahme, auf europäischer Ebene anzuregen, dass zum tend gemacht werden können. Da wir aber, wie geschil- (D) Opferschutz ein Mitgliedstaat dem anderen die Informa- dert, nicht nur kompetenzrechtliche, sondern vor allem tionen über den zugrunde liegenden Lebenssachverhalt inhaltliche Bedenken gegen den Vorschlag haben, haben übermittelt, die er hat und die dem anderen Mitglied- wir uns für den Weg der Stellungnahme nach Art. 23 staat die Grundlage geben können, nach seinem Recht Abs. 3 des Grundgesetzes entschieden. Lassen Sie uns für den erforderlichen Schutz zu sorgen. unserer Position in Europa Nachdruck verleihen – für einen kompetenzrechtlich sauberen Weg, der schneller Das scheint unserer Meinung nach auch deshalb an- zu unserem gemeinsamen Ziel führt, nämlich einem gebracht zu sein, da die Mitgliedstaaten hier ganz unter- schnellen und effizienten Schutz für Opfer potenzieller schiedliche Systeme für den Schutz von Opfern poten- Gewalt! zieller Gewalt vorhalten. Wir haben uns im deutschen Recht mit dem Gewaltschutzgesetz für ein zivilrechtli- Raju Sharma (DIE LINKE): ches Vorgehen entschieden. Andere Mitgliedstaaten ge- hen hier mit den Mitteln des Strafrechts oder des Verwal- NRW-Ministerpräsident Jürgen Rüttgers hat vor eini- tungsrechts vor. Die Weiterleitung des Lebenssach- gen Tagen in einem „FAZ“-Interview verhaltes macht es unabhängig vom dogmatischen Cha- als „Ideologen“ bezeichnet, und wir können davon aus- rakter der jeweils im Mitgliedstaat einschlägigen Vorge- gehen, dass diese Charakterisierung nicht freundlich ge- hensweise schnell und effizient möglich, den begehrten meint war. Ich bin weit davon entfernt, den Begriff „Ide- Schutz zu gewähren. ologie“ als Schimpfwort zu gebrauchen; allerdings halte ich ideologische Verbohrtheit im politischen Ent- Schließlich haben wir weitere Bedenken. Diese mö- scheidungsprozess für wenig erstrebenswert. gen sich zunächst sehr technisch anhören. Denn es geht um die Frage, ob die Europäische Union überhaupt die Während mir Oskar Lafontaine bei dieser Einschät- Kompetenz besitzt, die Initiative in der Weise auf den zung sicher zustimmen würde, teilt die CDU diese Auf- Weg zu bringen, wie es angedacht ist. Die Europäische fassung offenbar nicht. Anders kann ich mir jedenfalls Schutzanordnung, wie derzeit vorgeschlagen, soll näm- nicht erklären, warum die Union im Fall der Stellung- lich einheitlich der strafrechtlichen Zusammenarbeit zu- nahme zum EU-Richtlinienentwurf über die Europäi- geordnet werden. sche Schutzanordnung die Chance auf interfraktionelle Einigkeit hat verstreichen lassen, obwohl diese leicht zu Damit überdehnen wir den Begriff des Strafrechts, erzielen gewesen wäre. Denn die Linke war trotz einiger wie ihn die Kompetenzordnung der Europäischen Union Bedenken in Detailfragen bereit, sich der Entschließung vorsieht. Denn Strafrecht betrifft die Verfolgung bereits der Koalitionsfraktionen insgesamt anzuschließen.

Zu Protokoll gegebene Reden Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010 3607

Raju Sharma (A) Das Ziel der Richtlinie – grenzüberschreitender, eu- land nach dem Gewaltschutzgesetz erlassen werden, (C) ropaweiter Opferschutz – stellen wir nicht infrage, wohl europaweit und grenzüberschreitend vollstreckt werden aber dessen Umsetzung. Erreicht werden soll der Schutz können. Der Vorschlag beinhaltet, dass solche nationa- durch eine sogenannte Europäische Schutzanordnung. len Schutzanordnungen vom Erlassstaat in eine Euro- Das soll folgendermaßen funktionieren: Eine Person ist päische Schutzanordnung umgewandelt und sodann im zum Beispiel in Deutschland Opfer von Stalking gewor- Vollstreckungsstaat in eine nationale Schutzanordnung den und hat eine Verfügung erwirkt, nach der sich der rückumgewandelt werden. Stalker auf 300 Meter nicht nähern darf. Will das Opfer nach Frankreich umziehen, kann es in Deutschland eine Niemand von uns wendet sich im Grundsatz gegen ei- Europäische Schutzanordnung beantragen. Diese soll nen grenzüberschreitenden Opferschutz. Dieser ist nun in Frankreich dafür sorgen, dass dort vergleichbare wichtig, wenn gewährleistet werden soll, dass von Ge- Schutzmaßnahmen ergriffen werden, ohne dass Sachver- walt betroffene Personen auch tatsächlich von ihrem halt oder Rechtsfolgen erneut geprüft werden müssen. Recht auf Freizügigkeit Gebrauch machen können. Dies ist nach bisher schon bestehenden europäischen Rege- Die Regierungsfraktionen haben hierzu Bedenken formuliert, die wir in mehreren Hinsichten teilen: Wie lungen nicht ausgeschlossen; Verbesserungen sollten die Koalition bezweifeln auch wir die Anwendbarkeit bei tatsächlichem Bedarf beherzt in Angriff genommen der Rechtsgrundlage der Richtlinie, und wie die Koali- werden. tion stellen auch wir die Verhältnismäßigkeit der Richt- Uns Grünen ist es als überzeugten Europäern wich- linie infrage, da das Verfahren kompliziert ist und tig, den mit dem Lissabon-Vertrag auf eine neue Stufe Rechtsschutz auf direktem Wege im jeweiligen Land möglicherweise schneller zu erreichen wäre. angehobenen Prozess der europäischen Integration nicht zu gefährden. Das Bundesverfassungsgericht hat Unsere Kritik geht aber noch weiter: Die Richtlinie uns als den deutschen Gesetzgeber gleichermaßen auf geht davon aus, dass in allen Ländern ausreichende unsere Verantwortung für die europäische Integration Schutzmaßnahmen bestehen. Das halte ich für fraglich. wie auch auf unsere Verantwortung zum Schutz der na- Bevor über eine Anerkennung von Entscheidungen tionalen staatlichen Identität Deutschlands als demo- nachgedacht werden kann, sollten zunächst einheitli- kratischer Rechtsstaat verpflichtet. Beidem gerecht zu che Mindeststandards eingeführt werden. Genauso werden bedeutet insbesondere, den Grundsatz der be- müsste sichergestellt sein, dass bei einem solchen Ver- grenzten Einzelermächtigung ernst zu nehmen, also über fahren rechtsstaatliche Grundsätze eingehalten wer- die Kompetenzen der Europäischen Union und ihre den, insbesondere deshalb, weil dieser Bereich in vie- Grenzen zu wachen. Nicht zuletzt bewahren wir damit len Mitgliedstaaten als Strafverfahren konzipiert ist. die Idee der Europäischen Union vor einer Glaubwür- Bei der Zusammenarbeit in Strafsachen sind laut Bun- (B) digkeitsauszehrung bei den europäischen Bürgerinnen (D) desverfassungsgericht aber besonders strenge Maß- und Bürgern. Diese wollen, dass sich europäische Ge- stäbe für die gegenseitige Anerkennung von Entschei- dungen anzulegen. setzgebungskompetenz durch eine strikte Bezugnahme auf das Primärrecht der Europäischen Union legiti- In ihrer Entschließung gehen CDU/CSU und FDP miert. Dieses beinhaltet neben dem Grundsatz der be- über diesen Punkt hinweg. Sie lehnen zwar die Schutz- grenzten Einzelermächtigung auch und insbesondere die anordnung selbst ab, wollen jedoch die ihr zugrunde lie- Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßig- genden Fakten anerkennen. Gerade die Sachverhaltsbe- keit bei der Überprüfung der jeweils in Angriff genom- stimmung ist aber keine verfahrensrechtliche Kleinig- menen Maßnahmen. Nicht zuletzt der Lissabon-Vertrag keit, sondern wesentlicher Kern dessen, was Grundlage selbst hat insoweit für die nationalen Parlamente, also der Anordnung sein soll. Eine ungeprüfte Anerkennung den Deutschen Bundestag, Rechte und Pflichten der Mit- wäre deshalb ebenfalls problematisch. wirkung statuiert. Trotz der Bedenken in diesem Punkt war die Linke zugunsten einer interfraktionellen, gemeinsamen Stel- Es ist deshalb unsere Pflicht, die Frage zu stellen, ob lungnahme des Bundestages bereit, die Entschließung die Initiative der Mitgliedstaaten für eine Europäische zu unterstützen, zumal ich die Diskussionen im Rechts- Schutzanordnung eine Kompetenzgrundlage im Lissa- ausschuss als erfreulich produktiv und auf die Sache bon-Vertrag hat. Die dem Entwurf zugrunde gelegte konzentriert erlebt habe und auch Positionen der Oppo- Rechtsgrundlage, Art. 82 AEUV, betrifft die justizielle sition in die Stellungnahme eingeflossen sind und zumal Zusammenarbeit in Strafsachen. Diese Rechtsgrundlage den Regierungsfraktionen nach eigenem Bekunden an kollidiert mit deutschem Verfassungsrecht nur dann einem geschlossenen Meinungsbild der Parlamentarier nicht, wenn die europäische Kompetenz restriktiv und sehr gelegen war. Was wäre also näherliegend gewesen keinesfalls extensiv ausgelegt wird. Im Kern geht es um als ein gemeinsamer Antrag? Nichts, sollte man meinen – ein einheitliches Vorgehen der Strafverfolgung in be- wäre da nicht die Sache mit der ideologischen Verbohrt- stimmten Bereichen grenzüberschreitender Kriminalität. heit: Gemeinsame Initiativen mit der Linken schließen Der Schutz vor Straftaten, insbesondere präventive die Christdemokraten ausdrücklich aus. Schutzmaßnahmen auch im Zivil- und Verwaltungsrecht, lassen sich beim besten Willen nicht unter Bezugnahme Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): auf Art. 82 AEUV als Aufgaben der Europäischen Union Einige Mitgliedstaaten der Europäischen Union ha- darstellen. Für Schutzmaßnahmen nach dem deutschen ben eine europäische Gesetzgebungsinitiative gestartet, Gewaltschutzgesetz sind nicht Straf-, sondern Zivilge- mit der Schutzanordnungen, wie sie bei uns in Deutsch- richte zuständig, und Voraussetzung ist nicht unmittel-

Zu Protokoll gegebene Reden 3608 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010

Jerzy Montag (A) bar und nicht ausschließlich eine Straftat gegen das Op- Grundsatz der beiderseitigen Strafbarkeit voll verwirk- (C) fer. licht wäre. Dies ist jedoch schlicht falsch, denn die Prü- fung der beiderseitigen Strafbarkeit und infolgedessen Die Initiative einiger Mitgliedstaaten für eine Euro- die Ablehnung der Anerkennung wird für gut 30 Delikt- päische Schutzanordnung gründet sich auf einer unzu- gruppen explizit ausgeschlossen. Wir haben uns, früher lässigen Ausdehnung des Begriffs der „justiziellen gemeinsam mit der FDP und einigen in der SPD, gegen Zusammenarbeit in Strafsachen“ in den Bereich der diesen Ausschluss des Grundsatzes der beiderseitigen Prävention, die wir nicht unterstützen können. Nach ei- Strafbarkeit in europäischen Rechtsakten gewandt und nigem Zögern scheint auch die Kommission diese kriti- die Abschaffung, zumindest aber eine Präzisierung der sche Haltung zu teilen. Sie will notfalls eine gerichtliche Deliktgruppen gefordert. Es ist schade und unverständ- Klärung dieser Frage vor dem EuGH erzwingen. lich, weshalb die Koalition hier den Text nicht verbes- sert und die Fakten nicht richtig darstellt. Um es noch einmal ganz deutlich zu sagen: Wir Grü- nen unterstützen alle sinnvollen und zielführenden Maß- Des Weiteren wird im Forderungspunkt 5 des Antrags nahmen zum Opferschutz, aber nicht um den Preis einer die Bundesregierung aufgefordert, für den Fall, dass die Verletzung des europäischen Rechts und der damit ein- Initiative für eine Europäische Schutzanordnung nicht hergehenden Beschneidung der Gesetzgebungskompe- zu verhindern ist, wenigstens dafür zu sorgen, dass jeder tenz des Bundestages. Gerade weil wir den Erfolg der Vollstreckungsstaat in vollem Umfang den Einwand feh- europäischen Einigung wollen, pochen wir darauf, die lender beiderseitiger Strafbarkeit erheben darf. Dies durch die europäischen Verträge vorgegebenen Kompe- macht aber bei einer Schutzanordnung keinen Sinn, die, tenzen strikt einzuhalten und zu verteidigen. wie auch bei uns in Deutschland, gar nicht notwendiger- weise mit einer Straftat begründet sein muss. Des Weiteren wirkt das vorgeschlagene Instrument recht aufwendig und wirft die Frage auf, ob sein Einsatz Wir Grünen werden deshalb dem Antrag der Koali- überhaupt zu einer Erleichterung führt, was letztendlich tion nicht zustimmen und uns der Stimme enthalten. zu der Frage der Geeignetheit und Verhältnismäßigkeit führt. Aus einem allein deutschen Blickwinkel mag es Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: tatsächlich so sein, dass eine nach Deutschland kom- mende gefährdete Person schneller eine neue Schutzan- Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschluss- ordnung erwirken kann. Es erscheint aber mehr als empfehlung auf Drucksache 17/1461, in Kenntnis der zweifelhaft, ob dies auch in allen anderen Mitgliedstaa- Unterrichtung eine Entschließung anzunehmen. Wer ten so einfach der Fall ist. Aber es geht der Initiative ja stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Ist jemand da- (B) gerade darum, den Opfern in allen Mitgliedstaaten ei- gegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist (D) nen gleichwertigen Schutz zu gewähren. mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD- Fraktion bei Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Wir Grünen teilen die Kritik an der Initiative für eine Grünen und der Fraktion Die Linke angenommen. Europäische Schutzanordnung, die im Vorschlag von CDU/CSU und FDP für einen Beschluss nach Art. 23 Ich rufe den Tagesordnungspunkt 19 auf: GG vorgetragen wird, insbesondere an der zweifelhaften Erste Beratung des von der Fraktion der SPD ein- Rechtsgrundlage und an der Rechtsauffassung des Ju- gebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur Än- ristischen Dienstes des Rates, sowie die Bedenken im derung der Abgabenordnung (Abschaffung Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung dieser Maß- der strafbefreienden Selbstanzeige bei Steuer- nahme. hinterziehung) Wir werden dem Antrag dennoch aus zwei Gründen – Drucksache 17/1411 – nicht zustimmen: Der eine Grund ist die Verfahrens- weise. Es war vereinbart worden, diesen Antrag über- Überweisungsvorschlag: fraktionell zu gestalten, um ihm, insbesondere auf euro- Finanzausschuss (f) Rechtsausschuss päischer Ebene, mehr Gewicht zu verleihen. Dies setzt Haushaltsausschuss aber voraus, dass es einen Diskurs in der Sache gibt, gemäß § 96 GO was wiederum voraussetzt, dass ein Minimum an Zeit vorhanden ist, um solche Diskussionen führen zu kön- Folgende Kolleginnen und Kollegen haben ihre Re- nen. Leider wurde von der Koalition die Chance vertan, den zu Protokoll gegeben: Manfred Kolbe, Martin diesen Antrag gemeinsam auf den Weg zu bringen. Dies Gerster, Frank Schäffler, Richard Pitterle und Jerzy wiegt umso schwerer, als gerade in Fragen europäischer Montag.1) Gesetzgebung ein einheitliches Auftreten des gesamten Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent- Bundestages vonnöten ist. wurfs auf Drucksache 17/1411 an die in der Tagesord- Der zweite Grund ist inhaltlicher Art. In Punkt 3 des nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie Darstellungsteils des Antrags wird behauptet, dass in damit einverstanden? – Ich sehe, das ist der Fall. Dann bisherigen Rahmenbeschlüssen, die sich mit der gegensei- ist die Überweisung so beschlossen. tigen Anerkennung gerichtlicher Entscheidungen in Straf- sachen beschäftigen, 2008/947/JI und 2009/829/JI, der 1) Anlage 6 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010 3609

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt (A) Ich rufe die Tagesordnungspunkte 20 a und 20 b auf: mehr gegebene europäische Kompetenz ein Meilenstein (C) für den Sport in Europa. Wir leben schon seit langem a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Martin nicht mehr in einer Welt, die vor allem national bestimmt Gerster, Sabine Bätzing, Gabriele Fograscher, ist, sondern in einer zunehmend globalisierten Welt. weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Nicht zuletzt der Vulkanausbruch in Island und die damit Den Sport in Europa voranbringen verbundenen weitreichenden Einschränkungen im euro- päischen Flugverkehr haben uns wieder einmal vor Au- – Drucksache 17/1406 - gen geführt, wie nah wir aneinandergerückt sind. Und Überweisungsvorschlag: wie bei allen Veränderungen ergeben sich daraus Chan- Sportausschuss (f) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie cen, die wir nutzen sollten – aber auch Risiken, die wir Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend nicht außer Acht lassen dürfen. Zunächst zu den Chan- Ausschuss für Gesundheit cen, die sich aus einer europäischen Sportpolitik erge- Ausschuss für Bildung, Forschung und ben werden. Viele Bereiche sind schon im „Weißbuch Technikfolgenabschätzung Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Sport“ angeführt und sollten durch die Sportpolitik der Entwicklung EU aufgegriffen und konkretisiert werden. Ich will hier Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union nur einige wenige Punkte nennen. So muss beispiels- Ausschuss für Kultur und Medien weise die Förderung des Ehrenamts und dessen Schutz b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Viola um eine europäische Dimension erweitert werden. Wir von Cramon-Taubadel, Winfried Hermann, in Deutschland haben ja sehr gute Erfahrungen mit un- Volker Beck (Köln), weiterer Abgeordneter und seren Förderungen des Ehrenamts gemacht. Ohne diese der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Menschen, die jedes Jahr dem Sport Millionen von Ar- beitsstunden unentgeltlich zur Verfügung stellen, wäre Sport in der Europäischen Union – Den Lissa- unser Land um vieles ärmer. Wir sollten den europäi- bon-Vertrag mit Leben füllen schen Einigungsprozess mit den Mitteln des Sports un- – Drucksache 17/1420 – terstützen. Wem, wenn nicht dem Sport mit seinen global Überweisungsvorschlag: gültigen Regeln und seiner niedrigen Zugangsschwelle, Sportausschuss (f) kann es gelingen, Brücken zu bauen? Wir müssen ver- Auswärtiger Ausschuss stärkt Jugendbegegnungen im Bereich des Sports mög- Innenausschuss lich machen und jungen Erwachsenen die Chance ge- Rechtsausschuss ben, Erfahrungen außerhalb ihrer Heimatländer zu Auch hier wurde bereits in der Tagesordnung ausge- machen, in dem sie sich beispielsweise ehrenamtlich en- (B) wiesen, dass die Reden folgender Kolleginnen und Kol- gagieren oder multinationale, sportbezogene Ausbil- (D) legen zu Protokoll gegeben werden: Martin Gerster, dungsmöglichkeiten wahrnehmen. Eine abgestimmte eu- Joachim Günther, Jens Petermann, Viola von Cramon- ropäische Sportpolitik stärkt die Rolle der EU auch auf Taubadel und des Parlamentarischen Staatssekretärs dem internationalen sportpolitischen Parkett. Wenn Eu- Dr. Christoph Bergner. ropa hier mit einer Stimme spricht, wächst auch der Ein- fluss der Europäer in der internationalen Sportpolitik. Martin Gerster (SPD): Europäische Sportpolitik muss auch bedeuten, grenz- In wenigen Tagen kommen die Sportminister Europas übergreifend voneinander zu lernen und Gutes aus dem zum ersten Mal offiziell zu einem Ministertreffen zusam- Bereich des Sports innerhalb Europas zu verbreiten. men. Das ist Anlass für unseren Antrag „Den Sport in Moderne Konzepte von „bewegter Schule“, bewährte Europa voranbringen“. Wir wollen, dass Deutschland Kooperationsvereinbarungen zwischen Schulen und eine aktive Rolle einnimmt und Motor für eine abge- Vereinen, Rahmenbedingungen für den Sport für Men- stimmte, gemeinsame europäische Sportpolitik wird. schen mit Behinderungen, motivierende Bewegungs-an- Schon bei der Debatte über das „Weißbuch Sport“ der gebote für die älteren Bürgerinnen und Bürger unserer EU, aber auch bei anderen Debatten hatten wir als Gesellschaft usw. – in den vielfältigsten Bereichen des Sportpolitikerinnen und Sportpolitiker ja einhellig da- Sports kann man in Europa hervorragende Ansätze fin- rauf gedrängt, dass wir uns als Parlamentarier – und den. Um eine möglichst aktive Bevölkerung zu bekom- auch die Bundesregierung – frühzeitig in die Ausgestal- men, muss nicht jedes Land das Rad neu erfinden. Der tung dieser durch den Lissabon-Vertrag neu geschaffe- Blick über die Landesgrenze und ein intensiver europäi- nen Kompetenz des EU-Parlaments und der EU-Kom- scher Austausch sind wichtig. Noch gibt es auch in den mission einbringen. So hatten wir es auch in unserem Rahmenbedingungen, die der Sport in den einzelnen Antrag aus der letzten Legislaturperiode zur gesell- Ländern Europas vorfindet, große Unterschiede, wie schaftlichen Bedeutung des Sports beschlossen. Daran auch in vielen anderen Politikbereichen. Daher muss wollen wir festhalten – zumindest die SPD-Fraktion! Un- eine europäische Sportpolitik auch dazu führen, auf ser Antrag trägt den veränderten Bedingungen des lange Sicht in allen europäischen Staaten gute Voraus- Sports auf europäischer Ebene Rechnung. Schon seit vie- setzungen für den Sport zu sichern. Dazu gehört eine len Jahren – und spätestens seit dem sogenannten moderne Infrastruktur genauso wie ausreichende finan- Bosman-Urteil – ist jedem klar, dass die europäische zielle Förderung und ein rechtlicher Rahmen, der dem Dimension, insbesondere für den Profisport, an Bedeu- Sport vernünftige Gestaltungsfreiheit lässt. Allerdings tung gewonnen hat und in Zukunft noch wichtiger wer- sieht sich der Sport auch Risiken ausgesetzt, die nicht den wird. Aber auch für den Breitensport ist die nun- nur national begrenzt werden können. Die Dopingbe- 3610 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010

Martin Gerster (A) kämpfung kann nur international erfolgreich sein! So- Chancen für den Sport. Um hier nur einige Punkte zu (C) lange Ermittlungsergebnisse nicht problemlos von ei- nennen: nem Land ins nächste gegebenen werden, solange Sportler in einem Land wegen Dopingvergehen gesperrt Mit der Kompetenz der EU im Bereich der Sportpoli- sind und im anderen Land antreten können und solange tik lässt sich eine verbesserte Koordinierung der Do- die Sanktionen für Dopingsünder nicht einheitlich ab- pingbekämpfung auf internationaler Ebene erreichen. schreckend geregelt sind, können Anti-Doping-Bemü- Aber auch auf Mitgliedstaaten innerhalb der EU, die die hungen nicht erfolgreich sein. UNESCO-Anti-Doping-Konvention noch nicht unter- schrieben haben, kann eingewirkt werden. Der Sport sieht sich auch anderen Manipulationsver- suchen ausgesetzt: Wettbetrug, Bestechung und dubiose Die Bestimmungen des WADA-Anti-Doping-Codes Praktiken bei der Spielervermittlung sind nur einige der und der Anti-Doping-Konvention des Europarates wie Gefahren, denen auf europäischer Ebene begegnet wer- auch der UNESCO-Anti-Doping-Konvention sollen den muss. Eine europäische Sportpolitik muss also nicht nur im Bereich des Profisports, sondern ebenso im Chancen für den Sport nutzen und ausbauen, neue Wege Bereich des Breitensports Anwendung finden. Natürlich eröffnen und die Benefits des Sports fördern. Sie muss stehen dabei ganz besonders das gesundheitliche Wohl- aber auch klare Grenzen setzen und gesetzliche Rah- ergehen von Kindern und Jugendlichen im Fokus der menbedingungen schaffen, die den Risiken für den Sport Präventionsmaßnahmen. Einhalt gebieten. Ich erwarte, dass sich die Bundesre- Die neugeschaffene Kompetenz eröffnet uns weiter- gierung in allen Bereichen aktiv einbringt, auch wenn hin die Möglichkeit eines besseren Schutzes der körper- die Koalitionsfraktionen heute nicht mit eigenen Vor- lichen Unversehrtheit von Sportlern, insbesondere Ju- schlägen für das erste formelle Sportministertreffen auf- gendlicher, und bessere Möglichkeiten der Gewaltbe- warten. Daher sehe ich der Berichterstattung des Bun- kämpfung durch grenzüberschreitende Zusammenarbeit. desministeriums des Innern im Sportausschuss über dieses Treffen mit Interesse entgegen. Ein Kernanliegen der europäischen Sportpolitik sollte auch die Rolle des Sports für ein gesundes und fit- Noch kurz zum Antrag der Grünen. Ich denke, wir tes Leben sein. Wir haben mittlerweile weltweit das Pro- sind da in ganz vielen Bereichen sehr nah beieinander – blem einer steigenden Anzahl von sogenannten Wohl- und nicht nur wir, sondern ich denke auch das ganze standserkrankungen wie Adipositas oder Diabetes, die Haus. Daher möchte ich nur zwei Punkte anmerken. inzwischen einen großen Teil der Kosten unseres Ge- Zum einen vermisse ich bei Ihrem Antrag einen Hinweis sundheitssystems verursachen. Mit ausreichend Bewe- auf die Verantwortung Europas für den außereuropäi- gung und einer guten Ernährung müssen diese Heraus- (B) schen Raum. Die Europäische Union ist eine Erfolgsge- forderungen angepackt werden. (D) schichte, um die uns die anderen Regionen zum Teil durchaus beneiden, die aber auf jeden Fall im Rest der Ebenso werden sich die Möglichkeiten verbessern, Welt sehr intensiv beobachtet wird. Ich glaube, dass wir Sportwettbetrug zu bekämpfen. Wettbetrug ist natürlich als Europäer mit all unserer Wirtschaftsmacht ein we- schädlich und bringt den Sport allgemein zusätzlich zur sentliches Interesse, ja sogar eine Pflicht haben, uns Dopingproblematik in ein schlechtes Licht. Jedoch soll- miteinander für andere einzusetzen – und dies nicht zu- ten Sportwetten nicht allgemein als Ursache für dieses letzt im und durch den Sport. Leider haben die Grünen Übel angesehen werden. Ich möchte an dieser Stelle diesen Aspekt nicht in ihrem Antrag. Zum Zweiten habe deutlich betonen, dass Sportwetten einen wichtigen Pfei- ich eine Frage, da ich einen Punkt in Ihrem Antrag nicht ler für die Sportfinanzierung darstellen, auch im Bereich verstehe: Unter Punkt B Ziffer 6 fordern Sie ein Lizenz- des Breitensports. Die eingebrachten Anträge gehen in vergabesystem für Sportvereine. Ich glaube, da stimmt die richtige Richtung, doch vergessen Sie einmal mehr, einfach die Begrifflichkeit nicht. Wahrscheinlich meinen dass das Geld für Ihre Forderungen auch irgendwo her- Sie eine Zertifizierung bzw. die Schaffung eines Zertifi- kommen muss. kats für Vereine, die sich in der von Ihnen beschriebenen Deshalb fordern wir Liberalen seit langer Zeit die Li- Weise um die Bekämpfung von Rassismus, Homophobie beralisierung des Sportwettenmarktes. Werfen wir doch und Gewalt verdient machen. Sollte dies so sein, dann einen Blick auf Deutschland: Das Beratungsunterneh- unterstützen wir das natürlich; da führt dann aber der men Goldmedia hat in seiner im April 2010 veröffent- von Ihnen gewählte Begriff in die Irre. Auch für die Auf- lichten Studie eine umfassende Erhebung über die klärung solch kleinerer Missverständnisse wird unsere Größe des deutschen Glücksspielmarktes vorgelegt. Sportausschusssitzung gut sein. Ich freue mich auf die Diese zeigt unter anderem, dass trotz der Nichtzulassung Fortsetzung der heute begonnenen Diskussion in diesem privater Sportwettenanbieter in 2009 insgesamt 7,9 Mil- Gremium. liarden Euro an Wetteinsätzen platziert worden sind. Damit entfällt der übergroße Marktanteil von 94 Prozent Joachim Günther (Plauen) (FDP): auf in Deutschland nichtregulierte Angebote: 2,4 Mil- Die FDP sieht es grundsätzlich als positiv an, dass liarden Euro auf die nach wie vor existierenden statio- mit dem Vertrag von Lissabon in Art. 165 eine Kompe- nären Wettshops, 3,9 Milliarden Euro auf Onlineanbie- tenz auf europäischer Ebene für den Sport geschaffen ter und weitere 1,0 Milliarden Euro auf den wurde. Mit der Verankerung im Primärrecht fällt der Schwarzmarkt, der in sogenannten Hinterzimmern und Sport auch erstmalig mit in den Zuständigkeitsbereich mobilen Kassen bzw. Läufergeschäften zu finden ist. Im der Europäischen Union. Dies bietet eine Reihe von Gegensatz dazu kann die staatliche Sportwette Oddset/

Zu Protokoll gegebene Reden Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010 3611

Joachim Günther (Plauen) (A) Toto gerade einmal einen Umsatz durch Spieleinsätze mäßig berichtet. Hier gilt es anzusetzen, um das ge- (C) von 240 Millionen Euro verzeichnen. Die Diskrepanz sellschaftliche Bewusstsein nicht allein auf Dopingprak- könnte kaum größer sein. Das staatliche Monopol und tiken im Leistungssport zu fokussieren. Im Übrigen das Internetverbot sind gescheitert. beginnen so gut wie alle negativen Erscheinungen be- reits im Amateursport, sodass schon hier angesetzt wer- Die Marktzahlen zeigen ganz klar, dass Verbraucher den muss, um Probleme anzugehen. Ich verweise auf den Verbote nicht akzeptieren und zeitgemäße Glücksspiel- Themenkomplex Rassismus, Homophobie und Gewalt produkte nachfragen. In der derzeitigen Situation hat im Sport. Diese Bedrohungen zeigen sich insbesondere der Staat jedoch keine Kontrolle über diesen Graumarkt im Fußball, und das bereits in den unteren Ligen. Für und schöpft zudem die steuerlichen Potenziale nicht ab. lesbische Sportlerinnen und schwule Sportler bietet die Was bedeutet das für Europa? Mit der Einführung ei- Umgebung des Spiels offenbar eine Atmosphäre, in der ner Kompetenz der Europäischen Union im Bereich des sie große Scheu haben, zu ihrer Homosexualität zu ste- Sports ist es nicht getan. Diese Kompetenz muss mit Le- hen. Deshalb ist es unbedingt erforderlich, Fanprojekte ben erfüllt werden. Mit der Aufhebung der Reglementie- zu unterstützen, die sich der Aufklärung verschrieben rung für Sportwetten europaweit könnten zusätzlich zu haben. Gleiches gilt für rassistische Angriffe gegen dem für das Jahr 2012 geplanten ersten EU-Sportför- Menschen anderer Hautfarbe oder Religion. Auf diesem derprogramm zusätzliche finanzielle Mittel zur Förde- Problemfeld sind vor allem grenzüberschreitende Netz- rung des Sports und gesundheitspräventiver Maßnah- werke dringend nötig. Es ist eine gesamteuropäische men erschlossen werden. Aufgabe, sicherzustellen, dass Diskriminierung im Sport wirksam bekämpft wird. In dem „Tatort“ aus Bremen mit dem Titel „Endspiel“ wird diese Problemstellung Jens Petermann (DIE LINKE): exemplarisch genauso aufgegriffen wie eine andere Die Zuständigkeit der EU im Bereich Sport ist erst schwerwiegende Entwicklung im Sport: Talentierte min- mit dem Inkrafttreten des Lissabon-Vertrages am 1. De- derjährige Sportler werden aus ihren meist armen Hei- zember 2009 formalisiert worden. Vor diesem Hinter- matländern von Spieleragenten mit verheißungsvollen grund wird am 10. Mai in Madrid das erste Treffen der Versprechen in die EU gelockt. Oft aber reicht ihr Talent Sportminister der Europäischen Union stattfinden. Dass nicht aus für den ganz großen Sport, und sie geraten fern großer Handlungsbedarf besteht, liegt auf der Hand. So- der Heimat allein gelassen auf die schiefe Bahn. Des- wohl im Weißbuch der Europäischen Kommission zum halb ist es unbedingt notwendig, dass die diesbezügli- Sport als auch in der Entschließung des Europäischen chen Gesetze und Vorschriften umgesetzt werden. Die Parlaments zu diesem Dokument wird ein Aspekt betont, FIFA verbietet Transfers von Spielern unter 16 Jahren, der in Deutschland auf Bundesebene leider immer noch nur wird diese Regelung längst nicht strikt genug ange- (B) ein Stiefkind ist: die Förderung des Breitensports. In wandt. Im Vertrag von Lissabon ist verankert, dass die (D) Deutschland ziehen sich die Verantwortlichen bei die- EU verpflichtet ist, für den Schutz der körperlichen und sem Thema gern auf eine einzige Aussage zurück: Sport- seelischen Unversehrtheit, insbesondere der jüngeren förderung sei Sache der Länder und Kommunen. Die Sportlerinnen und Sportler, zu sorgen. Hier haben die Linke hält dem schon lange entgegen, dass dieses Land Mitgliedstaaten, gerade auch Deutschland, ihre Haus- endlich ein Sportförderungsgesetz des Bundes braucht, aufgaben längst nicht erledigt. Dies sind nur einige aus- damit Länder und Kommunen endlich ihre diesbezügli- gewählte Handlungsfelder aus dem Sportbereich, auf chen Aufgaben befriedigend erfüllen können. Statt ihre denen einerseits die Europäische Union gefordert ist, Hausaufgaben zu machen und ein solches Gesetz auf andererseits die konkrete Umsetzung aber in der Verant- den Weg zu bringen, streichen die Haushälter der wortung der Mitgliedstaaten liegt. Zwar hat die EU mit schwarz-gelben Koalition lieber eines der wenigen Pro- dem Vertrag von Lissabon erstmals Kompetenz im Be- gramme, das auf die Förderung des Breitensports aus- reich Sport erhalten, doch wirkt dies nur unterstützend, gerichtet war: den Goldenen Plan Ost. Die Kommunen koordinierend und ergänzend. Handeln muss jetzt die werden nun mit ihren vielerorts maroden Sportstätten Bundesregierung! mehr denn je allein gelassen. Das ist wahrlich nicht im Sinne der europäischen Idee im Bereich des Sportes. Für Viola von Cramon-Taubadel (BÜNDNIS 90/DIE zweifelhaft halte ich auch die strikte Trennung zwischen GRÜNEN): Breiten- und Leistungssport bei der Bekämpfung von Dopingpraktiken. Die Grenzen sind hier fließend. Ja, es Der Sport war für die EU bisher bestenfalls eine Ne- ist absolut notwendig, den Kampf gegen Doping auf bensache. Wer Sport auf die Europabühne bringen europäischer Ebene zu harmonisieren. Ausreichen wird wollte, musste sich argumentativer Hilfskonstruktionen dies in der globalisierten Welt des Sports jedoch nicht. bedienen. Sport gehörte zu den Politikfeldern, die von der nationalen Politik dauerhaft gepachtet schienen. Zurück zu den fließenden Grenzen: Wie glaubwürdig Diese Pachtregelung hat der Vertrag von Lissabon ver- ist ein lautstark propagierter Kampf gegen Doping im ändert. Die Möglichkeiten zur Förderung von Sport- Spitzensport, wenn das Doping im Alltag – ob im Sport, projekten und – noch wichtiger – die systematische Ein- in Schule oder Universität – längst alltäglich ist? In den beziehung des Sports in andere EU-Politiken und USA nimmt jeder fünfte Student konzentrationsstei- Förderprogramme sind seit Inkrafttreten des Lissabon- gernde Mittel, die sich ebenso im Sport etabliert haben. Vertrags möglich. Der Startschuss für eine Sportpolitik Und von umfangreichen Doping- und Drogenfunden in in der EU fiel zwar schon mit dem „Adonnino-Bericht“ deutschen Fitnessstudios wird bekanntermaßen regel- an den Europäischen Rat vom Juni 1985, der erstmals

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Viola von Cramon-Taubadel (A) die gesellschaftliche Rolle des Sports hervorhob. Aber gration sollen durch die Förderung wissenschaftlicher (C) nun kann die Europäische Union erstmals eigene Maß- Untersuchungen und den Austausch von bewährten Ver- nahmen zur Unterstützung, Koordinierung oder Ergän- fahren besser genutzt werden. Wir fordern die Bundesre- zung der Maßnahmen der Mitgliedstaaten durchführen. gierung auf, ein Konzept für ein von den Mitgliedstaaten Das begrüße ich ausdrücklich. der EU finanziertes europäisches Jugendwerk der inter- Worum es jetzt aber geht, ist doch offenkundig: Wir kulturellen Begegnung und des Sports nach dem Vorbild müssen die neuen Regelungen auch anwenden, oder des deutsch-französischen und des deutsch-polnischen – um im Bild zu bleiben –: Europa muss das neu gewon- Jugendwerkes auszuarbeiten. nene Politikfeld auch bestellen. Und eben bei dieser Be- Es sollen Programme von der EU entwickelt und fi- stellung sehen wir erhebliche Defizite, die endlich beho- nanziert werden, die der Integration von Menschen mit ben werden müssen. Ich sage bewusst „müssen“; denn Behinderung dienen. Die UN-Konvention über die der Sport ist es wert, dass sich Europa – und dazu gehö- Rechte für Menschen mit Behinderung soll in allen Mit- ren eben auch die nationalen Parlamente – im Sinne des gliedstaaten der EU auch im Sportbereich konsequent Lissabon-Vertrages engagiert. Dabei hoffe ich – und das umgesetzt werden. Die EU soll Projekte unterstützen, betone ich als Mitglied einer proeuropäischen Partei –, die sich für die Integration von Frauen und Mädchen, dass es uns gelingt, den Sport für die Herausbildung ei- speziell aus Familien mit Migrationshintergrund, durch ner europäischen Identität zu nutzen. Natürlich ist uns den Sport einsetzen. Netzwerke zum Austausch bewähr- hier die Ambivalenz, die Widersprüchlichkeit des Sports ter Verfahren in diesem Bereich sollen unterstützt wer- bei der Identitätsbildung von Nationen oder Regionen, den. von ethnischen und gesellschaftlichen Gruppen bekannt. Sport kann eine ganze Nation, eine Stadt oder eine Re- Ein weiteres wichtiges Feld ist die Bekämpfung von gion verbinden, er kann aber auch spalten und trennen. Doping. Hier brauchen wir erstens ein europäisches Dieser Realität müssen wir uns bewusst sein, wenn wir Kontrollsystem und zweitens geeignete Präventionsmaß- Sport zu einem Instrument der Förderung einer europäi- nahmen, und zwar sowohl für den Profi- als auch für den schen Identität machen. Und: Wir sollten uns auch kei- Breitensport. Das gilt für Erwachsene, aber besonders ner Illusion hingeben. Gerade im Sport findet Identitäts- für Jugendliche und – bezüglich der Prävention – auch bildung häufig durch Abgrenzung statt. Der europäische für Kinder. Integrationsprozess ist jedoch ein Gegenentwurf zu ei- Die EU muss den Kampf gegen Korruption in Sport- ner Abgrenzungsstrategie. Wer sich das bewusst macht, organisationen und gegen Sportwettbetrug wirksam un- kann wohl auch die Größe der Aufgabe erkennen. terstützen. Auch hier geht es um den Aufbau von Netz- Was fordern wir konkret? Die Bundesregierung muss werken zum Austausch bewährter Maßnahmen. In (B) eine Position für eine kohärente, nachhaltige europäi- Kooperation mit den Sportorganisationen, den Sport- (D) sche Sportpolitik entwickeln. Und natürlich geht es auch wetten- und Glücksspielanbietern und den Mitgliedstaa- hier darum, dass sie sich für diese Maßnahmen und für ten soll ein gemeinsamer Rahmen entwickelt werden, eine angemessene finanzielle Ausstattung des für 2012 der gewährleistet, dass illegale Wettpraktiken verhin- geplanten ersten EU-Sportförderprogramms einsetzt. dert werden. Ein solches Programm ist sicher eine große Aufgabe. Last, but not least: Die europäische Sportpolitik muss Umso wichtiger ist es, sich zu konzentrieren und Priori- sich an den Zielen der nachhaltigen Entwicklung orien- täten zu setzen. Aus meiner Sicht sollte die Bekämpfung tieren. In der Praxis heißt dies: In Europa sollen Sport- von Rassismus, Homophobie und Gewalt in der europäi- großveranstaltungen nur noch klimaneutral ausgerich- schen Sportpolitik ganz oben auf der Agenda stehen. tet werden. Die Sportakteure in der EU sollen dazu Diese Prioritätensetzung passt hervorragend zum euro- ermutigt werden, am System für Umweltmanagement päischen Politikentwurf. Die Überwindung von nationa- und Umweltbetriebsprüfung teilzunehmen. Es sollen len Egoismen, Rassismus und Gewalt war und ist das Projekte entwickelt und unterstützt werden, die das Be- Kernanliegen des europäischen Projekts. Das sollte wusstsein der Menschen für Umwelt- und Naturschutz auch in der Sportpolitik deutlich werden. In diesem Kon- bei der Sportausübung in der freien Natur fördern und text sollte die EU Fanprojekte fördern, Präventions- ihnen Handlungsempfehlungen geben. arbeit im Kampf gegen Rassismus, Homophobie und Ge- walt unterstützen und einen grenzüberschreitenden Ich kenne natürlich die Einwände gegen ein stärkeres Wissenstransfer organisieren sowie die Forschung stär- EU-Engagement im Sport. Dazu gehört auch der Hin- ker auf diese Problemfelder fokussieren. weis auf die unterstützende und koordinierende Rolle, die die EU in erster Linie spielen soll, und dass es hier Es ist eine Aufgabe der EU, die Zusammenarbeit zwi- um Ergänzung der Maßnahmen der Mitgliedstaaten schen Strafverfolgungsbehörden, Sportorganisationen geht. Nach meiner Auffassung ist Sport aber ein so wich- und weiteren staatlichen und nichtstaatlichen Akteuren tiges Feld, dass jedes weitere Engagement willkommen zu verbessern. In diesen Kontext passt die ureigene Auf- sein muss. Es ist ja offensichtlich: Die nationalen Aktivi- gabe des Sports – seine Förderung der Integration. Hier täten reichen nicht aus. Deshalb mein Appell: Nutzen kann das traditionelle Instrument des Jugendaustauschs wir die Möglichkeiten der EU und verstärken wir das eine neue Funktion bekommen. Das EU-Programm „Ju- Engagement gegen die negativen Begleiterscheinungen gend in Aktion“ soll auch über 2013 hinaus fortgeführt im Sport! Verbinden wir die Ideale der europäischen Ei- werden. Der Sport soll darin stärker als bisher berück- nigung mit den Anliegen des Sports! Dazu ist auch ein sichtigt werden. Die Möglichkeiten des Sports zur Inte- gut strukturierter Meinungsaustausch zwischen allen

Zu Protokoll gegebene Reden Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010 3613

Viola von Cramon-Taubadel (A) staatlichen und nichtstaatlichen Akteuren im Sportbe- wie die Arbeitnehmerfreizügigkeit oder das Wettbe- (C) reich der Mitgliedstaaten und in Europa sowie der Kom- werbsrecht von nun an keine Anwendung mehr auf den mission von großer Bedeutung. Um diese Bedeutung Sport finden. Allerdings wird bei der Überprüfung von auch personell zu unterstreichen, sollte auf jeden Fall Maßnahmen, die den Sport betreffen, in Zukunft ver- der zuständige deutsche Minister beim ersten formellen stärkt auf die Besonderheit des Sports zu achten sein. Treffen der europäischen Sportminister am 10./11. Mai Hier gilt es, zukünftig Ansatzpunkte zu entwickeln, die ein klares Zeichen setzen. Er sollte zeigen, welche Be- der gesellschaftlichen Bedeutung des Sports gerecht deutung er dem Sport in Europa beimisst. Dieses Zei- werden. chen wäre ganz einfach: Er müsste am Treffen der Sport- Das Initiativrecht für Maßnahmen unter dem neuen minister teilnehmen. Bisher ist er dazu offensichtlich Sportartikel liegt bei der Europäischen Kommission. nicht bereit. Das Fernbleiben des Ministers wäre ein Die Kommission hat angekündigt, im Herbst 2010 eine Fehler. Genau diesen Fehler sollte die Bundesregierung Mitteilung mit dem Titel „EU-Agenda zur Politikgestal- nicht machen. tung und Kooperation im Sport“ vorzulegen, die, an das Weißbuch Sport anknüpfend, aktuelle sportpolitische Dr. Christoph Bergner, Parl. Staatssekretär beim Themen festlegt, mit denen sich die Kommission befas- Bundesminister des Innern: sen möchte. Zudem wird sie zu diesem Zeitpunkt auch Der Vertrag von Lissabon hat uns die lang erwartete das erste EU-Sportprogramm mit Fördermaßnahmen und nicht zuletzt vom Deutschen Bundestag immer wie- für die Jahre 2012/2013 vorschlagen. In der zweiten der geforderte Kompetenz der Europäischen Union im Jahreshälfte 2011 will die EU-Kommission dann ein Sport gebracht. Förderprogramm für die Jahre 2014 bis 2020 vorlegen. Der Weg bis zu dieser Kompetenz war beschwerlich. Zu der neuen EU-Sportagenda und dem Förderpro- So wurde der Sport durch die Aufnahme der sogenann- gramm für 2012/2013 hat die Kommission einen Kon- ten Gemeinsamen Erklärung zum Sport in das Amster- sultationsprozess gestartet. Die Mitgliedstaaten wurden damer Vertragswerk erstmalig in den Vertragstexten bereits auf dem informellen Sportministertreffen, das der Europäischen Union berücksichtigt. Dieser Erklä- diesen Dienstag und Mittwoch in Madrid stattgefunden rung kam aber lediglich politische Bedeutung zu. Auch hat, angehört. Leider konnte ich, wie die Mehrzahl mei- die Erklärung von Nizza, in der sich die Europäische ner europäischen Kollegen, aufgrund des eingeschränk- Union im Jahr 2000 zu sportfreundlichen Entscheidun- ten Flugverkehrs an diesem Treffen nicht persönlich teil- gen verpflichtete, sowie die Erklärung zum Sport, die nehmen. Ein ausführlicher Bericht über das informelle der Europäische Rat 2008 anlässlich der französischen Ministertreffen wird dem Bundestag in Kürze zugeleitet. Eine weitere Anhörung ist dann für den formellen Minis- (B) Ratspräsidentschaft verabschiedete, stellten politische (D) Absichtserklärungen dar. Spätestens nach dem Bosmann- terrat am 10. Mai 2010 geplant, an dem ich voraussicht- Urteil bestand wiederholt die Sorge, die europäische lich teilnehmen werde. Neben dieser Abfrage bei den Rechtsprechung könnte mangels spezifischer europa- Mitgliedstaaten führt die Europäische Kommission zur- rechtlicher Rahmensetzungen die Besonderheiten des zeit auch eine für alle offene Konsultation über die In- Sports nicht hinreichend berücksichtigen. ternetseite der Sport Unit durch, die noch bis 1. Juni 2010 andauert. Dies ist eine weitere Möglichkeit, die Mit dem von der Kommission 2007 im Anschluss an Vorschläge der Kommission zu beeinflussen. die deutsche Ratspräsidentschaft veröffentlichten Weiß- buch Sport hat die EU-Kommission diesbezüglich eine Die inhaltlichen Vorstellungen der EU-Kommission wichtige Initiative ergriffen. Der Aktionsplan Pierre de im Hinblick auf die für Herbst 2010 geplanten Maßnah- Coubertin, der mit 53 konkreten Maßnahmen aktuelle men liegen Ihnen mit dem sogenannten Non-Paper der sportpolitische Fragestellungen aufgriff, stellt einen Kommission zur Umsetzung der neuen EU-Kompetenz Versuch dar, europäische Gestaltungsräume zu öffnen. für den Sport, das dem Deutschen Bundestag mit den weiteren Vorbereitungsunterlagen für das informelle Nun hat die Europäische Union eine Kompetenz im Sportministertreffen zugeleitet wurde, vor. Sport, und es gilt, nicht nur diese Kompetenz mit Leben zu füllen, wie die Antragsteller richtig betonen, sondern Mit der neuen EU-Sportagenda will die Kommission auch die Beachtung des Subsidiaritätsgedankens einzu- folgende, in Art. 165 AEUV erwähnte Bereiche abde- fordern. cken: erstens die soziale und erzieherische Funktion des Sports, zweitens insbesondere auf Ehrenamt basierende Dabei sollte uns klar sein, dass Art. 165 des Vertrags Sportstrukturen, drittens Fairness und Offenheit im über die Arbeitsweise der Europäischen Union, AEUV, Sport, viertens die körperliche und seelische Unver- dieser lediglich eine unterstützende Kompetenz zuweist, sehrtheit von Sportlern sowie fünftens den Dialog und die keinerlei Spielraum für Harmonisierung im Recht Zusammenarbeit mit Interessenvertretern im Sport. der Europäischen Union lässt. Die Union kann nur er- gänzend zu den Mitgliedstaaten handeln. Sie muss also Als mögliche Prioritäten für ein Sportförderpro- das Subsidiaritätsprinzip und die Autonomie des Sports gramm 2012/2013 schlägt die Europäische Kommission beachten. die soziale Eingliederung im und durch Sport, gesund- heitsfördernde körperliche Betätigung, allgemeine und Art. 165 AEUV stellt allerdings keine generelle Aus- berufliche Bildung im Sport, Anti-Doping, vorbildliche nahmevorschrift für den Sport dar, die dazu führen Organisationsformen, den strukturierten Dialog mit der würde, dass die allgemeinen Regelungen des EU-Rechts Sportbewegung und Sportökonomie und Statistiken vor.

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Parl. Staatssekretär Dr. Christoph Bergner (A) Die Bundesregierung stimmt dem Vorschlag der Eu- werden vielfältige Aktivitäten vorgenommen, die auch (C) ropäischen Kommission grundsätzlich zu. Allerdings im europäischen Kontext von Interesse sind. können wir zum einen den vorgeschlagenen Überwa- Schließlich begrüßen wir, dass die Europäische Kom- chungs-, Prüfungs- und Koordinierungsmechanismus mission aufgrund der Besonderheit des Sports die Not- zur Umsetzung der EU-Leitlinien für körperliche Aktivi- wendigkeit für Handlungsanweisungen zu spezifischen tät auf EU-Ebene nicht unterstützen. Dies würde nur zu Themen sieht. Hier hat die Bundesregierung mit der Ka- zusätzlichem bürokratischem Aufwand führen. Zum an- binettsinitiative „Sport und Wettbewerb“ die Klarstel- deren sehen die Bundesländer, übrigens auch die von lung der Anwendbarkeit des EU-Wettbewerbsrechts auf der SPD geführten, keinerlei Notwendigkeit für Aktio- den Sport gefordert. Die Erstellung von Leitlinien nach nen auf EU-Ebene zur Unterstützung der Rolle des Konsultation des Netzwerks der europäischen Kartellbe- Sports in der Bildung. Es bleibt für uns ein wichtiges An- hörden, ECN, könnte als erster Anwendungsfall für den liegen, den Kompetenzen der Länder angemessen Rech- Kommissionsvorschlag dienen. nung zu tragen. Es sei mir gestattet, angesichts der um- fänglichen Forderungen in den Anträgen, auf unsere Ich hoffe, ich konnte einen ersten Überblick über die Schwerpunkte zu verweisen: aktive Beteiligung der Bundesregierung an der Ausfül- lung der ersten EU-Kompetenz im Sport geben. Ich bin Anti-Doping. Hier könnten wir uns als konkrete Maß- gerne bereit, in der nächsten Sitzung des Sportausschus- nahmen die weitere Unterstützung eines EU-Netzwerks ses näher auf Vorschläge einzugehen, die den Zustän- der nationalen Anti-Doping-Agenturen und die Einrich- digkeitsbereich des Bundesministeriums des Innern oft tung einer Anti-Doping Monitoring Task Force in Eu- beträchtlich überschreiten. Ich darf angesichts der lan- ropa zur Überwachung der Entwicklung von Doping- gen Forderungskataloge der beiden Anträge von SPD Substanzen vorstellen. Die Taskforce könnte mit der und Bündnis 90/Die Grünen darauf hinweisen, dass es WADA zusammenarbeiten. Ich weise an dieser Stelle in der Sache weniger auf die Zusammenstellung langer aber auch darauf hin, dass die europaweite Koordinie- sportpolitischer Stichpunktlisten als vielmehr auf eine rung in Sachen Doping-Bekämpfung in erster Linie in den Belangen des Sports förderliche Kompetenzgestal- den Aufgabenbereich des Europarates fällt. Dieser ver- tung ankommt. fügt auch über eine eigenständige Anti-Doping-Konven- tion, die mit 50 Mitgliedstaaten eine deutlich größere Reichweite hat als die Europäische Union. Zudem sind Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: die Dopingkontrollsysteme bereits über den WADA- Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf Code und die dazugehörigen Standards harmonisiert. den Drucksachen 17/1406 und 17/1420 an die in der Ta- gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. (B) Duale Karriere und Mobilität von im Sport Beschäf- Auch hier frage ich, ob Sie damit einverstanden sind. – (D) tigten. Eine konkrete Maßnahme wäre die Förderung Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so be- der gegenseitigen Anerkennung von Ausbildungen und schlossen. Lizenzen zwischen den Mitgliedstaaten. Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 21: Förderung des Ehrenamts im Sport. Konkret könnten Beratung des Antrags der Abgeordneten Manuel hier in Umsetzung der Studie zur Freiwilligenarbeit in Sarrazin, Dr. Frithjof Schmidt, Marieluise Beck der Europäischen Union Maßnahmen zur Gewinnung (Bremen), weiterer Abgeordneter und der Frak- von Freiwilligen im Sport entwickelt werden. tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Integration durch Sport. Die Bundesregierung wird Den Europäischen Auswärtigen Dienst euro- sich weiter dafür einsetzen, dass die Rahmenbedingun- päisch, handlungsfähig und modern gestalten gen für die Teilhabe von Menschen mit Behinderung am Sport – sei es im Breiten-, Freizeit- oder Spitzensport – – Drucksache 17/1204 – EU-weit nachhaltig verbessert werden. Dementspre- Überweisungsvorschlag: chend halten wir es auch für wichtig, dass die UN-Kon- Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union (f) Auswärtiger Ausschuss Verteidigungsausschuss vention über die Rechte für Menschen mit Behinderung Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe in allen Staaten der Europäischen Union auch im Sport- Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und bereich umgesetzt wird. Wir begrüßen daher auch, wenn Entwicklung die Union Programme entwickelt und finanziert, die der Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden auch Integration von Menschen mit Behinderung dienen. – hier die Reden folgender Kolleginnen und Kollegen zu Gleiches gilt – vor dem Hintergrund der Erfahrungen in Protokoll genommen: Roderich Kiesewetter, Karl Deutschland – auch im Hinblick auf Projekte, die im Be- Holmeier, Dietmar Nietan, Oliver Luksic, Dr. Diether reich des Sports die Integration von Frauen und Mäd- Dehm und Manuel Sarrazin. chen, speziell aus Familien mit Migrationshintergrund, fördern sollen. Roderich Kiesewetter (CDU/CSU): Gesundheitsförderliche Bedeutung von Sport. Sport- Die Einrichtung des Europäischen Auswärtigen liche Betätigung und Bewegung im Alltag sind wesentli- Dienstes, EAD, ist eine großartige Gelegenheit, ganz- che Elemente eines gesunden Lebensstils. Mit dem Na- heitliches und verlässliches auswärtiges Handeln der tionalen Aktionsplan „IN FORM – Deutschlands Europäischen Union zu fördern. Kohärenz und Kontinui- Initiative für gesunde Ernährung und mehr Bewegung“ tät sind hier die Stichworte. Der EAD muss ein leis-

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Roderich Kiesewetter (A) tungsfähiges und innovatives Instrument zur Unterstüt- schen Union und den nationalen Botschaften der (C) zung der Aufgaben der Hohen Vertreterin werden. Er Mitgliedstaaten. Es wäre wenig erfreulich, wenn natio- sollte auch den Präsidenten des Europäischen Rates nale Botschaften und EAD-Vertretungen bei ihren Auf- sowie die Kommission bei der Wahrnehmung ihrer je- gaben miteinander konkurrierten, anstatt sich zu ergän- weiligen Aufgaben im Bereich der Außenbeziehungen zen. Für die Bundesrepublik Deutschland ist auch zu unterstützen und eng mit den Mitgliedstaaten zusam- gewährleisten, dass das nationale Personal nicht nur menarbeiten. Der Vertrag von Lissabon stellt die Euro- aus den auswärtigen Diensten gewonnen wird, sondern päische Union auf ein neues institutionelles Fundament, auf die Kompetenz auch der anderen Ressorts zurückge- das die Handlungsfähigkeit Europas nach innen und au- griffen wird. Zudem geht es uns um Vermeidung von ßen stärkt und ihre demokratische Legitimation über das Doppelstrukturen, um Zusammenlegung statt Zersplitte- Europäische Parlament und die nationalen Parlamente rung von Fähigkeiten, sodass sämtliches Außenhandeln deutlich verbessert. Die Parlamente der Mitgliedstaaten der EU in den angesprochenen Bereichen im EAD zu- – und damit auch Bundestag und Bundesrat – erhalten sammengefasst ist. Aktuell befinden wir uns in der Ab- bessere Mitwirkungsrechte gegenüber den Organen der stimmung zu vielen offenen Detailfragen, wie die Anhö- Europäischen Union bei der Subsidiaritätskontrolle und rung am gestrigen Mittwoch gezeigt hat. Ich sage es bei institutionellen Entscheidungen. Ich betone das be- noch einmal: Sorgfalt muss vor Eile gehen! Wir sollten sonders, weil die Entscheidung des Bundesverfassungs- uns aber die Grundzüge und unsere Ansprüche an den gerichts zum Vertrag von Lissabon vom 30. Juni 2009 EAD nochmals vor Augen führen, um uns nicht in den diese demokratische Kontrolle angemahnt hat. Auch in Detailfragen zu verlieren. der Außenpolitik ist der Wille der Menschen maßgeblich Erstens: Zuständigkeitsbereich. Der EAD sollte so für das Handeln der Europäischen Union. Die Men- aufgebaut sein, dass der Hohe Vertreter seinen im Ver- schen in Deutschland wollen, dass die Union eine Rolle trag festgelegten Auftrag in vollem Umfang erfüllen in der Welt spielt, dass sie für unsere Werte einsteht. In kann. Zur Gewährleistung der Kohärenz und einer bes- einer Umfrage, die die „BBC“ am 19. April veröffent- seren Abstimmung des auswärtigen Handelns der Union licht hat, haben 76 Prozent der befragten Deutschen ge- sollte der EAD auch den Präsidenten des Europäischen sagt: Die EU hat einen positiven Einfluss in der Welt. Zu Rates sowie den Präsidenten und die Mitglieder der den wichtigsten institutionellen Reformen des Vertrages Kommission bei der Wahrnehmung ihrer jeweiligen Auf- von Lissabon gehört die Schaffung des Amtes eines Ho- gaben im Bereich der Außenbeziehungen unterstützen hen Vertreters der Union für die Außen- und Sicherheits- und eng mit den Mitgliedstaaten zusammenarbeiten. politik, der zugleich Vizepräsident der Europäischen Kommission ist, sowie Vorsitzender des Rates für Aus- Zweitens: einheitliche Ressorts. Der EAD sollte sich aus einheitlichen geografischen und thematischen Res- (B) wärtige Angelegenheiten und Außenbeauftragter des (D) Europäischen Rates. Der Europäische Auswärtige sorts für alle Regionen und Länder zusammensetzen, die Dienst, EAD, unterstützt den hohen Vertreter in allen unter der Aufsicht des Hohen Vertreters die gegenwärtig Aufgaben. Die Hohe Vertreterin Catherine Ashton wurde von den zuständigen Diensten der Kommission und des am 19. November 2009 vom Europäischen Rat für das Ratssekretariats wahrgenommenen Aufgaben fortführen Amt des Hohen Vertreters der EU für Außen- und Sicher- müssen. Im EAD wird es zwar geografische Ressorts ge- heitspolitik nominiert und übt diese Funktion seit dem ben, die sich aus allgemeiner außenpolitischer Sicht mit Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon am 1. Dezember den Bewerberländern befassen, aber die Erweiterung 2009 aus. Nun gilt es, die Idee des Europäischen Aus- wird in der Zuständigkeit der Kommission verbleiben. wärtigen Dienstes mit Leben zu füllen. Die CDU/CSU- Für die Handels- und Entwicklungspolitik im Sinne des Bundestagsfraktion unterstützt mit ganzer Kraft die Vertrags sollten weiterhin die betreffenden Mitglieder Schaffung eines leistungsfähigen Europäischen Auswär- und Generaldirektionen der Kommission zuständig blei- tigen Dienstes, weil damit das außenpolitische Handeln ben, aber gemeinsam mit der Hohen Vertreterin die stra- der Union kohärenter und effizienter gestaltet werden tegischen Ziele bestimmen. kann. Sie unterstützt auch die vom Europäischen Parla- Drittens: ESVP und Krisenbewältigungsstrukturen. ment geforderte Anlehnung des EAD an die EU-Kom- Damit der Hohe Vertreter die Europäische Sicherheits- mission, damit das Europäische Parlament seine Kon- und Verteidigungspolitik, ESVP, leiten kann, sollten die trollrechte wahrnehmen kann. Wer die demokratische Direktion Krisenmanagement und Planung, CMPD, der Legitimation der Europäischen Union stärken will, muss Stab für die Planung und Durchführung ziviler Opera- auch den diplomatischen Dienst der Union so organisie- tionen, CPCC, und der Militärstab, EUMS, Teil des ren, dass die wirksame parlamentarische Kontrolle EAD sein, wobei die Besonderheiten dieser Strukturen durch das Europäische Parlament gegeben ist. Die Ar- zu berücksichtigen sind. Ihre jeweiligen Aufgaben, Ver- beiten zur Schaffung eines Europäischen Auswärtigen fahren und Einstellungsbedingungen sollten beibehalten Dienstes befinden sich in ihrer heißen Phase, aber Sorg- werden. Das EU-Lagezentrum, SitCen, sollte in den falt muss vor Eile gehen; denn es sind noch Fragen of- EAD eingegliedert werden, aber so, dass das Lagezen- fen, die gelöst werden müssen. Hierzu gehören neben trum auch weiterhin andere relevante Dienstleistungen der Anbindung des EAD vor allem die Reichweite seiner für den Europäischen Rat, den Rat und die Kommission Kompetenzen und Instrumente, die Ausbildung und erbringen kann. Diese Strukturen werden eine Einheit Laufbahnplanung, die Personalrekrutierung und Perso- bilden, die der direkten Aufsicht und Verantwortung der nalfinanzierung sowie die Klärung der künftigen Bezie- Hohen Vertreterin unterstellt ist. Die Ausarbeitung der hungen zwischen dem Auswärtigen Dienst der Europäi- Maßnahmen im Zusammenhang mit dem GASP-Haus-

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Roderich Kiesewetter (A) halt und dem Stabilitätsinstrument – Sondermaßnahmen die Mitgliedstaaten, die Kommission und das General- (C) und Interimsprogramme – sollte dem EAD übertragen sekretariat des Rates beteiligt werden. Dies schafft die werden. Nur so kann die Hohe Vertreterin ihre Aufgaben nötige Transparenz. Es ist uns wichtig, darauf hinzuwei- im Bereich der Krisenbewältigung effektiv erfüllen. sen, wie bedeutsam die geografische Streuung bei der Beim Entscheidungsprozess wird sich gegenüber der Herkunft des EAD-Personals und auch der Grundsatz derzeitigen Gestaltung nichts ändern, da der Rat, GASP, der adäquaten Präsenz von Staatsangehörigen aus allen und die Kommission – Stabilitätsinstrument – auch wei- EU-Mitgliedstaaten im EAD sind. Zumindest ein Drittel terhin die Beschlüsse fassen. Die technische Umsetzung des Personals des EAD soll, sobald der EAD seinen vol- dieser Instrumente sollte in den Händen der Kommis- len Umfang erreicht hat, aus Bediensteten aus den Mit- sion liegen. Wichtig ist uns von der CDU/CSU, dass die gliedstaaten bestehen. Darüber hinaus sollte, soweit zivilen und militärischen Instrumente der Krisenvor- möglich, Mobilität zwischen dem EAD und der Kommis- sorge, also der Prävention, wie auch der Krisenbewälti- sion sowie dem Generalsekretariat des Rates hinsicht- gung ganzheitlich betrachtet werden. Es handelt sich um lich des Personals aus diesen Organen gewährleistet eine „Werkzeugkiste“ im Sinne des modernen, erweiter- werden. Gerade der personelle Austausch zwischen na- ten Begriffs der vernetzten Sicherheit. Deshalb lehnen tionalen auswärtigen Diensten und dem EAD erhöht die wir den Vorschlag von Bündnis 90/Die Grünen ab, eine Expertise und schafft ein besseres Verständnis für euro- eigenständige Generaldirektion ausschließlich für zivile päisches und nationales Handeln. Ich sehe eine wirkli- Krisenprävention zu schaffen. Das ist nur zusätzliche che Chance, dass ein europäischer „Esprit de Corps“ Bürokratie und widerspricht allen Anforderungen an ein die europäischen Diplomaten inspiriert und motiviert. zeitgemäßes Krisenmanagement. Hier gehören zivile und militärische Verfahren und Fähigkeiten untrennbar Fünftens: zu entscheidende Fragen. A) Grundsatzfra- zusammen. Mit einer „Militarisierung“ der europäi- gen. Die EAD ist eine Institution „sui generis“, deren schen Außenpolitik hat die Eingliederung der Arbeits- Strukturen auf ihre Rolle zugeschnitten sind und von einheiten für Krisenprävention und Krisenbewältigung Kommission und Rat und auch von den Mitgliedstaaten nichts zu tun. Wir haben auch bei der öffentlichen Anhö- nicht dupliziert werden sollen. B) Beteiligung des Euro- rung zum EAD im Auswärtigen Ausschuss am 21. April päischen Parlaments. Wir brauchen die parlamentari- gesehen: Die „Militarisierungs-Experten“ haben keine sche Haushaltskontrolle und zusätzlich die besonderen Sachargumente, sondern nur ein Schlagwort. Die Mili- im Rahmen der GASP vorgesehene Anhörung – Art. 36 tarisierung ist ein polemisches Schlagwort, die Praxis EUV – bei einzelnen strategischen Entscheidungen. C) sieht anders aus. In der Praxis braucht die EU die ganz- Vertretung der Hohen Vertreterin. Offen ist, ob die Hohe heitliche zivile und militärische Fähigkeit, Sicherheit zu Vertreterin durch einen Generalsekretär – so Ashton- schaffen, damit ein Konflikt durch Vermittlung ent- Entwurf – oder durch als Sonderbeauftragte ernannte (B) schärft werden kann, Stichwort „Werkzeugkiste“. Wenn politische Repräsentanten – so EP – vertreten werden (D) es nach den Militarisierungsexperten ginge, könnten wir soll, insbesondere gegenüber dem EP und Drittstaaten. nur zuschauen, statt einer Krise wirksam zu begegnen. Wichtig ist, dass die Vertretung im Sinne einer starken und handlungsfähigen HV erfolgt und trotzdem ad- Viertens: Rechtsstellung und Personalausstattung. äquate Ansprechpartner für Parlament, Rat und Kom- Der EAD sollte einen Organisationsstatus haben, der mission gefunden werden. Hier fordern wir pragmati- seine einzigartige Rolle und Funktion im EU-System wi- sche, vor allem effiziente Lösungen. Derzeit können wir derspiegelt und unterstützt. Der EAD sollte ein von der uns nur eine politische Stellvertretung vorstellen. Dies Kommission und dem Ratssekretariat getrennter Dienst sollte nicht der Generalsekretär sein, dies würde die eigener Art, „sui generis“, sein. Die notwendigen An- Stellung der Hohen Vertreterin eher schwächen. D) Auf- passungen der Haushaltsordnung, der Kommissionsver- gabenumfang. Der EAD sollte aus einheitlichen geogra- ordnung über die Durchführungsbestimmungen zur fischen und thematischen Referaten bestehen, die die Haushaltsordnung sowie des Beamtenstatuts sollten zü- zurzeit von der Kommission und vom Ratssekretariat gig umgesetzt werden. Der EAD wird sein Personal aus durchgeführten Aufgaben übernehmen: Hier gilt es, be- drei Quellen beziehen: aus den Fachabteilungen des Ge- reits auf der Dezernats- und Abteilungsebene zivile und neralsekretariats des Rates und denen der Kommission militärische Fähigkeiten zu vernetzen. Die Organisa- sowie aus den Mitgliedstaaten. Alle drei Kategorien die- tionselemente für Krisenprävention und Krisenmanage- ses Personals sollten gleichbehandelt werden, was auch ment dürfen somit nicht von den Strukturen des EAD ge- bedeutet, dass sie für sämtliche Verwendungen unter trennt sein, sondern müssen im EAD auf Arbeitsebene gleichwertigen Bedingungen in Betracht kommen. Da- zusammengeführt werden. Dies ist unsere feste Überzeu- mit haben sie dieselben Möglichkeiten, Rechte und gung. E) Programmierung. Fraglich ist die Rolle, die Pflichten – zum Beispiel Funktionen, Verantwortlichkei- der EAD bei der Programmierung des Europäischen ten, Beförderung, Dienstbezüge, Urlaub, Sozialleistun- Entwicklungsfonds und des Instrumentes für die Ent- gen – wie das Personal aus den beiden anderen Berei- wicklungszusammenarbeit sowie für die Nachbar- chen. Gerade die Gleichbehandlung des aus drei schafts- und Partnerschaftspolitik spielen soll. Je inte- Quellen stammenden Personals ist das Grundprinzip grativer, umso besser. F) Personalauswahl. Die der Einstellungs- und Personalpolitik des EAD. Die Mitgliedstaaten sind auf allen Ebenen des EAD ange- Hohe Vertreterin allein nimmt die Funktion der Anstel- messen zu berücksichtigen. Die ganzheitliche Zusam- lungsbehörde für das EAD-Personal einschließlich der menarbeit zwischen geografischen und thematischen EU-Delegationen wahr. Auch für die Aufbauphase sollte Ressorts im EAD ist uns wichtig. Gleichzeitig gilt es, ein ein Einstellungsverfahren vorgesehen werden, an dem spezielles Augenmerk auf die besonderen Bedingungen

Zu Protokoll gegebene Reden Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010 3617

Roderich Kiesewetter (A) für die Einbeziehung der Europäischen Sicherheits- und Positionierung der Bundesregierung und insbesondere (C) Verteidigungspolitik, ESVP, und der Krisenbewälti- des Bundesaußenministers, der Lady Ashton wiederholt gungsstrukturen in den EAD zu richten. Es darf nicht zu öffentlich sein Vertrauen zugesagt und um Unterstüt- Doppelarbeit zwischen der Kommission, dem General- zung für sie geworben hat. Ich verweise hier nicht zuletzt sekretariat des Rates und dem EAD kommen. auf seinen Besuch im Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union. Ich fasse für die CDU/CSU zusammen: Der EAD muss nahe der Kommission angesiedelt sein, um die par- Um diesen bedeutsamen Auftrag auch organisato- lamentarische Kontrolle durch das Europäische Parla- risch und personell bewerkstelligen zu können, sieht der ment zu gewährleisten. Doppelstrukturen sind aus Effi- Vertrag die Einrichtung eines Europäischen Auswärti- zienz- und Kostengründen zwingend zu vermeiden. Im gen Dienstes, EAD, vor, auf den sich die Hohe Vertreterin Sinne des erweiterten, vernetzten Sicherheitsbegriffs bei ihrer Aufgabenerfüllung stützt. Da die Organisation sind bereits auf Arbeitsebene die zivilen und militäri- und Arbeitsweise des EAD nicht durch den Vertrag schen Krisenvorsorge- und Krisenbewältigungsmecha- selbst, sondern durch einen Ratsbeschluss näher be- nismen zusammenzufassen, also: „eine Werkzeugkiste“. stimmt wird, kommt diesem eine wegweisende Bedeutung Die Vertretung der HV in Angelegenheiten des EAD ist beim Aufbau der einheitlichen, kohärenten und wirksa- pragmatisch und wirkungsvoll zu gestalten, es sollten men europäischen Außen- und Sicherheitspolitik zu. Hier politische Vertreter in ausreichender Anzahl sein, die will gut Ding Weile haben, denn die Einrichtung eines auch von den nationalen Parlamenten und Drittpart- solch bedeutenden Dienstes zieht enorm viele Detailfra- nern, wie beispielsweise dem Golfkooperationsrat, ak- gen nach sich und birgt ein nicht zu unterschätzendes zeptiert werden. Unser deutsches Personal sollte direkt Konfliktpotenzial. Es gilt, die vielen verschiedenen Inte- entsandt werden. Es sollte die gleichen Rechte und ressen von Mitgliedstaaten, Rat, EU-Kommission und Pflichten haben wie die originären Beamten der EU. Die EU-Parlament miteinander in Einklang zu bringen und CDU/CSU-Bundestagsfraktion wird die Bildung des Eu- dabei dennoch eine starke Einrichtung zu schaffen. ropäischen Auswärtigen Dienstes und sein Aufwachsen aufmerksam und konstruktiv begleiten. Die Europäische Orientierungsmaßstab für die institutionelle Einbin- Union garantiert den Menschen in Europa seit ihrer dung des EAD muss dabei der Auftrag der Hohen Vertre- Gründung Frieden und Wohlstand. Die Union baut auf terin sein; denn diese soll der Dienst letztlich stützen. Demokratie, Menschenrechte und die Grundsätze der Dies zugrundegelegt, muss der EAD organisatorisch un- sozialen Marktwirtschaft. Weltweit können wir diese abhängig von der Kommission und dem Ratssekretariat Werte nur verteidigen und verbreiten, wenn die Staaten sein. Gleichwohl darf dies nicht zu einer vollständigen Europas nach außen als echte Union auftreten. Europas Kontrolllosigkeit des EAD führen. Um eine hinreichende (B) Diplomaten werden für 500 Millionen Bürger Europas demokratische Legitimation sicherstellen zu können, (D) sprechen. Sie werden unsere Werte und Ziele weltweit muss er vielmehr zwingend einer gewissen Kontrolle vertreten. 76 Prozent der Deutschen sagen, dass Europa durch das Europäische Parlament und auch durch den eine positive Rolle in der Welt spielt. Wie alle diese Men- Rat unterliegen. Eine Kontrolle durch den Rat sichert schen wollen wir, die CDU/CSU-Bundestagsfraktion, letztlich auch einen Einfluss der nationalen Parlamente. dass der Europäische Auswärtige Dienst die starke Hierauf müssen wir dringend achten, denn es geht da- Stimme Europas in der Welt wird. rum, die gerade erst mit dem Vertrag von Lissabon ein- geräumten Rechte der nationalen Parlamente und des Europäischen Parlaments nicht sofort wieder zu be- Karl Holmeier (CDU/CSU): schneiden. Wenn wir dabei nicht auf der Hut sind, be- Mit dem Vertrag von Lissabon, auf den wir lange hin- weisen wir, dass wir aus dem Urteil des Bundesverfas- gearbeitet haben, wurde eine neue Ära in der Gemeinsa- sungsgerichts nichts gelernt haben. men Außen- und Sicherheitspolitik der Europäischen Union eingeläutet. Wir haben mit diesem Vertrag end- Des Weiteren muss vor der Arbeitsaufnahme des EAD lich die Möglichkeit zu einem kohärenten auswärtigen eindeutig geklärt sein, wer bzw. welche Institution zu- Handeln der Europäischen Union. gunsten des EAD welche Kompetenzen und Aufgaben abgibt. Dies ist eine besonders schwierige Herausforde- Diese Möglichkeit spiegelt sich in erster Linie in der rung; denn freiwillig gibt so schnell keine Institution Funktion des neu geschaffenen Amtes des Hohen Vertre- ihre Kompetenzen ab. Genau das ist jedoch zur Vermei- ters bzw. der Hohen Vertreterin der Union für die Au- dung unnötiger Doppelstrukturen und überflüssiger Bü- ßen- und Sicherheitspolitik wider – der Britin Catherine rokratie zwingend notwendig. Ashton. Nach dem Vertrag ist es die Aufgabe der Hohen Vertreterin, Sorge für ein einheitliches, kohärentes und Dies sage ich nicht nur an die Adresse der Kommis- wirksames Vorgehen der Union im Bereich der Gemein- sion gerichtet, sondern bewusst auch mit Blick auf die samen Außen- und Sicherheitspolitik zu tragen. Lady Mitgliedstaaten. Es macht aus meiner Sicht wenig Sinn, Ashton ist damit das maßgebende außen- und sicher- wenn wir zu den nationalen diplomatischen Diensten heitspolitische Gesicht Europas in der Welt. noch einen europäischen hinzubekommen. Hier müssen wir die sich bietenden Synergieeffekte unbedingt nutzen. In Anbetracht der Bedeutung dieser Funktion ist es Alles andere lässt sich auch den Bürgerinnen und Bür- unerlässlich, dass Lady Ashton die maximal mögliche gern nicht glaubhaft vermitteln. Wenn wir ernsthaft von Unterstützung bei der Erfüllung ihrer Aufgaben zu- Bürokratieabbau sprechen, müssen wir ihn auch ernst- kommt. Ich begrüße daher ausdrücklich die eindeutige haft betreiben. So ist vor diesem Hintergrund beispiels-

Zu Protokoll gegebene Reden 3618 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010

Karl Holmeier (A) weise fraglich, ob jeder Mitgliedstaat mehrere konsula- tige Schritte auf dem Weg zu einer Gemeinsamen Außen- (C) rische Vertretungen in anderen Staaten haben muss oder und Sicherheitspolitik, GASP, getan. Um jetzt ein noch ob es nicht effizienter wäre, sich hier teilweise auf den größeres Maß an Kohärenz zu erlangen, wird es ent- EAD zu stützen. scheidend sein, ob es der EU bald gelingen wird, den im Lissabon-Vertrag vorgesehenen Europäischen Auswär- In diesem Zusammenhang stellt sich dann natürlich tigen Dienst – kurz EAD – als einen effizienten, unab- die Aufgabe, dafür Sorge zu tragen, dass das Personal hängigen und loyalen Dienst der Hohen Repräsentantin für den EAD aus den unterschiedlichen Institutionen an die Seite zu stellen. Denn je länger sich der momen- und den verschiedenen Mitgliedstaaten gleich behandelt tan vorherrschende Eindruck festsetzen wird, dass die und eingesetzt wird. Es müssen sich also sowohl die Einrichtung des EAD eher einem Gezerre zwischen Kommission wie auch der Rat und die einzelnen Mit- Kommission, Rat und Mitgliedstaaten um Macht, Ein- gliedstaaten personell angemessen im EAD vertreten se- fluss und Posten gleicht, desto größer wird die Gefahr, hen. dass sich die EU weiter in einer aus globaler Sicht au- Vor dem Hintergrund der sprachlichen Vielfalt Euro- ßenpolitisch irrelevanten Wahrnehmung verlieren wird. pas ist es für eine hinreichende Legitimation des EAD Gerade jetzt ist also politische Führung in der EU ge- und dessen Akzeptanz in der Bevölkerung auch dringend fragt. Gerade jetzt bedarf es EU-Mitgliedstaaten, die erforderlich, dass jeder Bürger in seiner Muttersprache dem kleinkarierten Streit ihre eigenen, ambitionierten mit Vertretern des EAD in Kontakt treten kann. Eine an- Vorschläge entgegensetzen. Das wäre die Chance für gemessene Vertretung der Interessen aller Unionsbürger Deutschland, sich wieder als Motor der europäischen nach außen ist anders nicht möglich. Zudem muss sich Integration zu bewähren. Doch das, was wir bisher von bei der Einrichtung des EAD endlich niederschlagen, der derzeitigen Bundesregierung in der Frage des EAD dass Deutsch die meistgesprochene Muttersprache in zur Kenntnis nehmen durften, ist eine einzige große Ent- der Europäischen Union ist. Ihr muss daher eine heraus- täuschung. Lediglich eine konkrete Initiative gibt es zu gehobene Stellung eingeräumt werden. Es kann nicht vermelden: Der Bundesaußenminister ließ in einem sein, dass verschiedene Dokumente nur in Englisch oder Brief an Lady Ashton keinen Zweifel aufkommen, dass Französisch verfügbar sind, sondern hier brauchen wir ihm die angemessene Verwendung der deutschen Spra- eine angemessene Berücksichtigung der deutschen che im zukünftigen EAD sehr am Herzen liegt. Es spricht Sprache. Bände, dass man jedoch über die – zugegebenermaßen Der EAD ist ein Dienst zur Wahrnehmung nicht nur nicht unwichtige – Sprachenfrage hinaus in den bisheri- von außen-, sondern eben auch von sicherheitspoliti- gen öffentlichen Beiträgen von Herrn Westerwelle keine schen Aufgaben. In ihm werden daher zivile aber auch weiteren ambitionierten Vorschläge für den EAD ver- (B) militärische Aspekte gleichermaßen eine wichtige Rolle nehmen konnte. (D) einnehmen. Wenn es tatsächlich unser Ziel ist, einen Natürlich hat sich der Bundesaußenminister auch zu starken Auswärtigen Dienst zu etablieren, mit dem wir vielen Verfahrensfragen geäußert und seine Unterstüt- einheitlich und geschlossen in der Welt auftreten kön- zung für Lady Ashton beteuert. Aber wo bleibt ihr An- nen, dürfen wir uns nicht auf den einen oder anderen Be- spruch, Herr Westerwelle, sich bei diesem wegweisen- reich versteifen. Wir müssen die zivilen und militäri- den Projekt um den viel gerühmten großen Wurf zu schen Bereiche miteinander vernetzen. Wir dürfen uns bemühen? Wie sehen Ihre konkreten Vorschläge für auch nicht nur auf Krisenprävention konzentrieren, wie einen EAD aus, der die EU und deren Hohe Repräsen- im Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen gefor- tantin in die Lage versetzt, dem großen Ziel einer kohä- dert, sondern wir brauchen einen weiten Aktionsradius, renten Außenpolitik näherzukommen? Für eine EU, die der sowohl präventive Maßnahmen wie auch Maßnah- zunehmend mit einer Stimme spricht, wenn es um die men zur aktiven Krisenbewältigung umfasst. großen globalen Herausforderungen wie Klimawandel, Europa steht mit der Einrichtung des EAD vor einer Armut, Hunger, Unterdrückung, Terrorismus oder Ver- bedeutenden Herausforderung. Die Pflöcke, die mit der breitung von Massenvernichtungswaffen geht? Herr Einrichtung dieses Dienstes eingeschlagen werden, sind Bundesaußenminister, Sie reden gerne von einer ge- eine entscheidende Weichenstellung für die Zukunft der meinsamen europäischen Außen- und Sicherheitspolitik Europäischen Union, ihrer Institutionen und der Mit- aus einem Guss. Doch wann werden Sie endlich kon- gliedstaaten. Der Deutsche Bundestag hat die schwie- kret? rige Aufgabe, im Hinblick auf den Ratsbeschluss sowohl Jetzt wäre die Zeit, eine politische Debatte zu führen seine eigenen Interessen und Einflussmöglichkeiten si- für einen EAD, der so gut strukturiert und mit den besten cherzustellen wie auch eine verantwortungsvolle Ent- Mitarbeitern aus Kommission, Rat und den Diplomati- scheidung zur Etablierung eines starken Europäischen schen Corps der Mitgliedstaaten ausgerüstet ist, dass er Auswärtigen Dienstes zu treffen. Wir werden daher in der Hohen Vertreterin nicht nur in der EU, sondern ge- den kommende Wochen genau hinsehen und den Prozess rade in der Welt sichtbar den Rücken stärkt. Jetzt und zum Aufbau des EAD aktiv begleiten. nur jetzt finden wir Rahmenbedingen vor, die gerade da- nach rufen, in der GASP einen großen Schritt voranzu- Dietmar Nietan (SPD): gehen. Jetzt haben wir endlich die Administration in den Mit dem Vertrag von Lissabon und der Berufung von USA, die wir uns so lange gewünscht haben: offen für Lady Catherine Ashton in das neue Amt der Hohen Ver- multilaterale Ansätze, bereit zur Kooperation mit den treterin hat die Europäische Union zwei weitere wich- Europäern, ambitioniert in Fragen der Rüstungskon-

Zu Protokoll gegebene Reden Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010 3619

Dietmar Nietan (A) trolle und Sicherheitspolitik. Die NATO arbeitet an und CDU/CSU-Bundestagsfraktion nicht den guten Vor- (C) neuer Strategie, in der auch die EU Mitgliedstaaten in- schlag für politisch legitimierte Stellvertreter der Hohen nerhalb des Bündnisses eine größere Rolle spielen könn- Vertreterin im EAD, den ihr Parteifreund Elmar Brok ten. Der russische Präsident Medwedjew zeigt großes gemeinsam mit dem früheren belgischen Ministerpräsi- Interesse an neuen Initiativen für ein gemeinsames denten Guy Verhofstadt vorgelegt hat? Mit unserem Europa der Stabilität, Sicherheit und Kooperation. Mit deutschen Modell von Staatsministern und Staatssekre- einem ambitionierten und loyalen EAD an ihrer Seite tären könnten sie doch auf eine erfolgreiche Alternative könnte die Hohe Vertreterin Lady Ashton mit und für die verweisen. EU eine wichtige Rolle spielen, wenn es darum geht, die große Chance zu nutzen, die EU zu einem wichtigen Ak- Auf all diese Fragen wünschen sich viele Kolleginnen teur in einem gemeinsamen Agieren mit den USA und und Kollegen in diesem Hause und auch ich substan- der Russischen Föderation zu entwickeln. Das Fenster zielle Antworten. Wahrscheinlich könnten wir zu all die- einer solchen einmaligen Gelegenheit wird sich mögli- sen Fragen sogar ein weitgehendes Einvernehmen zwi- cherweise bald wieder schließen, wenn wir uns in der schen den Regierungsfraktionen und den Fraktionen von EU weiter mit uns selbst beschäftigen, anstatt die Gele- Bündnis 90/Die Grünen und SPD herstellen. Doch wie genheit beim Schopfe zu packen, die europäische Zu- schon in der Frage des Beitritts von Island zur EU nutzt kunft zu gestalten. die Bundesregierung die Möglichkeiten der Beteiligung des Bundestages nur taktisch und nicht im Sinne eines Vor ein paar Tagen bin ich von politischen Gesprä- gestärkten gemeinsamen Agierens von Parlament und chen mit unseren amerikanischen Freunden aus den Regierung. Auch dies ist wieder eine große Chance, die USA zurückgekehrt. Sie alle haben mich gefragt, was Sie, Frau Bundeskanzlerin und Herr Bundesaußen- mit der EU los sei? Viele fragten mich, ob die Bundes- minister, unnötig vergeben haben. kanzlerin zu einer EU-Skeptikerin geworden sei? Und diejenigen von ihnen, die uns durchaus freundlich ge- Lassen Sie mich zum Abschluss noch einmal betonen: sonnen sind, erklärten mitleidig, dass sie ja Verständnis Mir geht es mitnichten darum, die bisherigen Entwick- dafür hätten, dass wir in der EU noch nicht so weit lungen im EAD schlechtzureden, ganz im Gegenteil. seien. Was für ein verheerendes Bild, wenn man bedenkt, Noch nie hatten wir bessere Rahmenbedingungen für dass US-Außenministerin Clinton vor einigen Wochen eine tiefgreifende Fortentwicklung der Gemeinsamen Europa sogar eine direkte Partnerschaft mit den USA in Außen- und Sicherheitspolitik der EU: Wir haben den sicherheitspolitischen Fragen angeboten hat. Vertrag von Lissabon und das Amt einer Hohen Vertrete- rin für europäische Außenpolitik ins Leben gerufen. In Mir scheint, dass nicht nur die Bundesregierung, son- den USA und in Russland gibt es den ernstgemeinten dern auch viele andere EU-Mitgliedstaaten bei ihrem in- (B) Wunsch nach stärkerer Kooperation mit den Europäern. (D) nereuropäischen Geplänkel um ihren Einfluss auf den Und wir alle wissen, dass dem nicht immer so war. Ein EAD völlig übersehen, dass die Welt nicht darauf wartet, ambitionierter, gut strukturierter EAD, der der Hohen bis sich die EU in der Lage sieht, mit einem effizienten Vertreterin loyal zuarbeitet und mit einer hohen politi- EAD eine kohärente Außenpolitik zu betreiben. In dieser schen Legitimation – auch aus dem Europäischen Par- Situation ist es schon bitter, zu sehen, dass es ausgerech- lament – ausgestattet ist, würde angesichts dieser net der Bundesregierung an ambitionierten, aber reali- Rahmenbedingungen sehr viel erreichen können. Doch sierbaren Konzepten fehlt, wie Europa als globaler Ak- dafür bedarf es politischer Führung und politischen teur aussehen soll und welche positiv verstärkende Rolle Muts. Beides scheint in dieser Bundesregierung jedoch dabei ein gut aufgestellter EAD spielen könnte. Wo ist nicht vorhanden zu sein. Beides würde ich dieser Bun- Deutschlands Vorschlag, den Doppelschlüssel bei der desregierung allerdings von Herzen wünschen, weil es Programmierung der EU-Instrumente so zu gestalten, gut wäre für Europa und deshalb auch gut für unser dass das letzte Wort immer beim EAD und der Hohen Land. Vertreterin bleibt, wenn sich diese nicht mit dem zustän- digen Kommissar auf gemeinsame Programmziele eini- Oliver Luksic (FDP): gen kann? Wo ist Deutschlands Konzept für eine Perso- nalrekrutierungsstrategie, die aus Kommission, Rat und Die Einrichtung des Europäischen Auswärtigen Mitgliedstaaten die wirklich besten Kräfte in den EAD Dienstes unter der Leitung der Hohen Vertreterin für die bringt? Wir hoffen im Übrigen sehr, dass die Bundes- Außen- und Sicherheitspolitik bedeutet ein neues Kapitel regierung hier mit gutem Beispiel vorangehen wird. in der gemeinsamen europäischen Außen- und Sicher- Schicken Sie unsere besten Diplomatinnen und Diplo- heitspolitik. Die FDP-Bundestagsfraktion will eine ef- maten in den EAD! fiziente und kohärente Koordinierung der Politikfelder der europäischen Außen-, Entwicklungs- und Verteidi- Wie sieht die Initiative der Bundesregierung aus, um gungspolitik. Die Einrichtung des EAD als neues außen- einen vernünftigen Kompromiss in der Debatte über den politisches Instrument stellt hierfür eine einzigartige Personalschlüssel der aus Kommission, Rat und Mit- Chance dar, die wir nicht verstreichen lassen dürfen. gliedstaaten zu entsendenden Mitarbeiter des EAD zu Die Europäische Union soll, wo immer möglich, mit ei- erwirken? Sollten wir nicht das große Potenzial der ner Stimme in der Welt sprechen können. Die FDP-Bun- Kommission und ihrer Generaldirektionen effektiver destagsfraktion steht für einen starken und schlagkräfti- nutzen, ohne dabei den Anspruch aufzugeben, dass der gen EAD, der die Interessen der EU nach außen EAD nicht lediglich zum verlängerten Arm der Kommis- bestmöglich vertreten kann. Lady Ashton hat daher un- sion werden darf? Warum unterstützen Bundesregierung sere volle Unterstützung.

Zu Protokoll gegebene Reden 3620 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010

Oliver Luksic (A) Der Europäische Auswärtige Dienst stellt jedoch auf- konsularischen Angelegenheiten nicht an die EU-Dele- (C) grund seiner Stellung im europäischen politischen Ko- gationen wenden könnten. Hier sollten manche Mit- ordinatensystem und der Einbeziehung verschiedener gliedstaaten europäischer denken und handeln. Elemente und Aufgabenfelder eine Institution sui gene- Daneben darf es auf keinen Fall dazu kommen, dass ris dar. Schon jetzt kann man sagen, dass es für die Zu- der EAD durch ein Übermaß an Doppelstrukturen zwi- kunft unvermeidbar sein wird, ihn einer ständigen Adap- schen den Institutionen in Brüssel in seiner Handlungs- tion und Weiterentwicklung unterziehen zu müssen, fähigkeit gelähmt wird. Eine realistische Einschätzung beispielsweise angesichts zukünftiger eventueller Neu- gebietet zwar festzustellen, dass sich Doppelstrukturen zuschnitte der Generaldirektionen der Europäischen aufgrund der sogenannten Doppelhut-Funktion der Ho- Kommission. hen Vertreterin nicht vollständig vermeiden werden las- Lassen Sie mich, bevor ich mich mit dem nun vorlie- sen. Allerdings müssen diese auf ein absolut notwendi- genden Entwurf der Hohen Vertreterin im Einzelnen be- ges Minimum begrenzt bleiben und dürfen nicht die fasse, kurz vorwegschicken, dass die FDP-Bundestags- durch den Vertrag von Lissabon beabsichtigten Syner- fraktion es außerordentlich begrüßt, dass die Hohe gieeffekte für die europäische Außen- und Sicherheits- Vertreterin der Bitte des Bundesaußenministers nachge- politik zunichtemachen. Die vorgeschlagene Doppel- kommen ist und klargestellt hat, dass die deutsche Spra- schlüsselregelung für die Zusammenarbeit zwischen der che für die Personalauswahl und das Verfassen von Do- Hohen Vertreterin und den Generaldirektionen Außen- kumenten des EAD von großer Bedeutung sein wird. beziehungen und Erweiterung gehen hier in die richtige Dies war ein besonderes Anliegen der Bundesregierung, Richtung. Die FDP-Bundestagsfraktion wird sich in den und die FDP-Bundestagsfraktion bedankt sich aus- weiteren Beratungen mit der Europäischen Kommission drücklich bei Herrn Minister Dr. Westerwelle für dessen und dem Europäischen Parlament nachdrücklich für richtige und wichtige Initiative. Deutschland soll jedoch solche effektive Regelungen einsetzen. nicht nur sprachlich, sondern auch personell im EAD Ich komme nun zu einigen Punkten des Entwurfs, die eine Rolle spielen. Angesichts der nach dem vorliegen- in der Diskussion von besonderer Bedeutung sind und den Entwurf hohen Zahlen der Beamten aus der Euro- zum großen Teil auch über Fraktionsgrenzen hinweg kri- päischen Kommission als auch des Ratssekretariats im tisch gesehen werden. EAD stellt sich für mich die Frage, wie die Bundesregie- rung wird sicherstellen können, dass Deutschland in Zuallererst muss natürlich die Finanzierung des EAD ausreichendem Maße im EAD repräsentiert sein wird. abschließend geklärt werden. Der Entwurf schweigt sich Dies ist aus der Sicht der FDP-Bundestagsfraktion ein hierüber leider weitgehend aus. Hier gibt es noch Klä- zentraler Punkt bei den kommenden Verhandlungen. rungsbedarf, wie die für den EAD notwendigen finan- (B) ziellen Mittel bereitgestellt werden sollen. (D) Es ist angesichts des komplexen Aufbaus des EAD sehr erfreulich, dass die Hohe Vertreterin bereits Ende Bezüglich der personellen Struktur des EAD sehen März ihren Vorschlag unterbreitet und diesen nun durch auch wir insbesondere die Frage nach der politischen einen weiteren Annex ergänzt hat. Diese Dokumente Vertretung von Lady Ashton. Nach Ansicht der FDP- können nun als konkrete Grundlage für die weitere Dis- Bundestagsfraktion ist eine politische Stellvertretung kussion dienen. Der Entwurf der Hohen Vertreterin der Hohen Vertreterin insbesondere gegenüber dem Eu- zeichnet sich durch das Bemühen aus, im Sinne eines In- ropäischen Parlament und Regierungsmitgliedern erfor- teressenausgleichs möglichst viele der gemachten Vor- derlich. Hier ist momentan noch viel im Fluss und unge- schläge und Anregungen seitens der verschiedenen klärt. Je nachdem, aus welchem Kreis die Vertreter Akteure zu einem kohärenten Gesamtbild zusammenzu- benannt werden sollen, stellt sich hier aus meiner Sicht fassen. Dies gilt sowohl für die personelle Struktur als jedenfalls generell die Frage nach der politischen Legi- auch für die sachlichen Kompetenzen des EAD. timation. Natürlich bedarf die Hohe Vertreterin bei der Erfüllung ihrer umfangreichen Aufgaben der Unterstüt- Meines Erachtens kommt es bei den nun folgenden zung aus ihrem Stab. Allerdings muss hierbei beachtet Debatten entscheidend darauf an, sicherzustellen, dass werden, dass sich hierdurch die kompetenzrechtlichen der Europäische Auswärtige Dienst handlungsfähig ist. Koordinaten nicht zu weit verschieben. Der FDP-Bun- Dazu müssen insbesondere seine Kompetenzen und destagsfraktion ist es ein wichtiges Anliegen, dass Baro- seine Stellung im EU-Koordinatensystem klar vereinbart ness Ashton die zentrale Figur für die Führung des EAD werden. Nur so wird er die mit seiner Errichtung ver- und das Bild einer kohärenten gemeinsamen Außenpoli- bundenen Erwartungen erfüllen können. Insbesondere tik ist und auch bleibt. sollten die mit seiner Schaffung möglichen und auch be- absichtigten Synergieeffekte umfassend genutzt werden. Für dieses Ziel stellt sich auch zentral die Frage nach Insbesondere sollte vermieden werden, bereits verge- einem von der Hohen Vertreterin ausgehenden einheitli- meinschaftete Politiken in den Bereich der zwischen- chen Weisungsstrang. Dies gilt sowohl für die politische staatlichen Zusammenarbeit im Rahmen der GASP Arbeit in Brüssel als auch gegenüber den in den EU-De- zurückzuführen. Daneben spricht sich die FDP-Bundes- legationen tätigen Beamten der Europäischen Kommis- tagsfraktion für eine flexible Ausübung konsularischer sion. Die FDP-Bundestagsfraktion sieht das durch den Tätigkeiten für EU-Bürger, insbesondere was die Schaf- Entwurf vorgesehene geteilte Weisungsrecht für die EU- fung gemeinsamer Visastellen angeht, aus. Es wird den Delegationen äußerst kritisch. Unseres Erachtens ist es Bürgern nicht zu vermitteln sein, falls sie sich angesichts für eine kohärente Außenpolitik unerlässlich, dass die eines immer enger zusammenwachsenden Europas in Weisungsstränge des EAD eindeutig verlaufen. Alle Wei-

Zu Protokoll gegebene Reden Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010 3621

Oliver Luksic (A) sungen, auch solche, die zunächst in den Generaldirek- über Fraktionsgrenzen hinweg uns über einige Punkte (C) tionen der Europäischen Kommission in Bereichen der werden verständigen können. Gemeinschaftszuständigkeit entworfen werden, müssen durch den EAD bzw. die Hohe Vertreterin an die EU-De- Dr. Diether Dehm (DIE LINKE): legationen erteilt werden. Im Vertrag von Lissabon, Art. 27 Abs. 3 EUV, wurde Ein besonders wichtiger Punkt für die Kollegen aus die Einrichtung des Europäischen Auswärtigen Diens- dem Europäischen Parlament, aber auch für uns hier ist tes, EAD, vertraglich festgeschrieben, der den Hohen naturgemäß die Frage nach der parlamentarischen Vertreter für Außen- und Sicherheitspolitik bei der Ge- Kontrolle des EAD. Auch hier liest sich der Entwurf aus staltung und Umsetzung einer „kohärenten“ europäi- meiner Sicht eher vage. Ich halte es für außerordentlich schen Außenpolitik unterstützen soll. Zwar spitzen sich wichtig, dass hier eine vernünftige Balance zwischen seit der Amtsübernahme von Catherine Ashton als Ho- parlamentarischem Kontrollrecht einerseits und der her Vertreterin weitgehend abgeschottet und unbeachtet Funktionsfähigkeit des EAD andererseits gefunden wird. von der deutschen wie europäischen Öffentlichkeit die Es ist beispielsweise richtig und notwendig, dass das Kontroversen über den EAD zu. Der eng gesteckte Auf- Europäische Parlament auch über das Mittel der Haus- bauzeitplan lässt sich daher nicht mehr einhalten. Den- haltskontrolle die Verwendung der finanziellen Mittel noch nimmt der Dienst immer schärfere – und beunruhi- für und durch den EAD überwachen kann. Natürlich gen-de – Konturen an. Bei den Kontroversen geht es steht die Hohe Vertreterin als Mitglied der Europäischen nicht nur um Rivalitäten zwischen EU-Institutionen. Kommission dem Europäischen Parlament gegenüber in Diese spielen eine wichtige Rolle, doch geht es um Rechenschaftspflicht. Allerdings darf es nicht zu einer zu Grundsätzlicheres: Zur Debatte steht – erstens – die starken Detailkontrolle kommen, die zu einer Behinde- politische Ausrichtung der EU-Außenpolitik. Zweitens rung des EAD in seiner täglichen Arbeit führt. Ich freue geht es um die entscheidende Frage der demokratischen mich daher, dass das Europäische Parlament, beispiels- Kontrolle dieser zentralen EU-Behörde. Die Linke ist weise was die Frage nach der Ernennung von Delega- der Ansicht – wie auch eine wachsende Zahl von europa- tionsleitern angeht, mittlerweile auf die Hohe Vertrete- , sicherheits- und entwicklungspolitischen Expertinnen rin zugekommen ist und anstatt des ursprünglich und Experten –, dass der Aufbau des EAD zu einer qua- geforderten Zustimmungserfordernisses nun die Leiter litativ neuen Stufe der Militarisierung der EU-Außen- der EU-Delegationen nach Amtsantritt zu einer Anhö- und Sicherheitspolitik führt. Wir sind zudem überzeugt, rung in das Europäische Parlament einladen möchte. dass alle derzeitigen Pläne zum EAD als funktional un- Für die Bereiche der Gemeinsamen Außen- und Sicher- abhängiger Einrichtung – als „Institution sui generis“ – heitspolitik, GASP, und der Europäischen Sicherheits- dem Motiv folgen, wirksame demokratische Kontrollme- (B) und Verteidigungspolitik, ESVP, also die nicht verge- chanismen von vornherein auszuschließen. Die man- (D) meinschafteten Aufgabenfelder der Hohen Vertreterin, gelnde parlamentarische Kontrolle des EAD wurde auch steht dem Europäischen Parlament gemäß Art. 36 EUV von den Berichterstattern des EP wiederholt kritisiert. nur ein Konsultationsrecht zu. Ich teile daher die Beden- Lassen Sie mich diese Punkte näher ausführen: Mit dem ken einiger Abgeordneter des Europäischen Parlaments Aufbau des EAD verabschiedet sich die EU endgültig bezüglich der Regelung, dass jene Teile des EAD, in de- vom Selbstverständnis als „Zivilmacht“. Nach Jahren nen die Europäische Sicherheits- und Verteidigungspoli- der eher schleichenden Militarisierung – zum Beispiel tik geplant und ausgeführt wird, der Hohen Vertreterin durch den Auf- und Ausbau militärischer Kriseninter- direkt unterstellt sein sollen. Ich hielte es für besser, ventionskräfte wie den EU-Battle-Groups und der zu- wenn auch diese Politikbereiche wie die übrigen Gene- nehmenden Entsendung bewaffneter Missionen im Rah- raldirektionen in den Abstimmungsprozess einbezogen men von Peacekeeping-Einsätzen nach Kapitel VII der werden würden. Wenn dies nicht der Fall sein sollte, bin UN-Charta – bekennt sich die EU offen zum Militär als ich der Meinung, dass auch der Bundestag hier seiner Instrument zur Wahrung eigener (Sicherheits-)Interes- Verantwortung bei der Frage nach einer parlamentari- sen. Die EU verfolgt mit dem EAD das Ziel, ihre Interes- schen Kontrolle nachkommen sollte. sen künftig „wirksamer“ und unter Einsatz aller Mittel weltweit zu vertreten bzw. durchzusetzen. Ausdrücklich Aus all diesen genannten Gründen glaube auch ich werden hierzu neben diplomatischen, politischen und nicht, dass der vorgegebene Zeitplan einzuhalten sein wirtschaftlichen Instrumenten auch Militär und Nach- wird. Es bedarf weiterer Beratungen, sowohl hier in richtendienste gezählt. Dies spiegelt sich im institutio- Berlin als auch in Brüssel. Hier sollte man sich meines nellen Aufbau des EAD wider, der bestehende militäri- Erachtens aber nicht unter zeitlichen Druck setzen. Alle sche und nachrichtendienstliche Strukturen – den EUMS, offenen Fragen müssen ausführlich geklärt werden. Der EU-Militärstab, das PSK, Politische und Sicherheitspo- Zeitfaktor darf nicht wichtiger sein als die Qualität des litische Komitee, und das Sitcen, Situation Center, – un- Ergebnisses. ter seinem „Dach“ vereint, um den Dienst „schlagkräf- tiger“ zu machen. Dadurch wird die – in Deutschland Einige der von mir genannten Punkte und Bedenken wie der EU – bisher aus gutem Grund eingezogene Tren- finden sich auch in dem vorliegenden Antrag der Frak- nung militärischer und nachrichtendienstlicher Institu- tion Bündnis 90/Die Grünen wieder. Die FDP-Bundes- tionen aufgehoben. Es ist, vorsichtig formuliert, sehr tagsfraktion wird die kommenden Verhandlungen über verwunderlich, dass der Antrag der Grünen auf diesen den Aufbau des EAD weiterhin aufmerksam beobachten Aspekt mit keinem Wort eingeht. In die gleiche Richtung und konstruktiv begleiten. Ich bin sicher, dass wir auch weist die geplante Zusammenführung militärischer

Zu Protokoll gegebene Reden 3622 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010

Dr. Diether Dehm (A) Strukturen mit denen der zivilen Konfliktbearbeitung im EUV, nach der „die Auffassung des EP gebührend be- (C) neuen Planungsdirektorat für Krisenmanagement, Cri- rücksichtigt“ werden soll, gibt dem Parlament keinerlei sis Management Directorate, CMPD. Damit gehören politisch bindende Instrumente an die Hand, um Pla- unabhängige zivile Einsatzplanungen der Vergangenheit nung und Arbeit des EAD wirksam beeinflussen oder an. Die Gefahr ist groß, dass Instrumente der zivilen korrigieren zu können. In Anbetracht der Tatsache, dass Konfliktbearbeitung immer weniger als Alternative in HV und EAD die programmatische Ausgestaltung und politische und operative Planungen einfließen, sondern Durchführung der EU-Außenpolitik entscheidend prä- diese zum „Appendix“ militärgestützter Kriseninterven- gen werden, ist diese mangelhafte politische „Rückbin- tion werden. Und dies ungeachtet der eindeutig negati- dung“ und Rechenschaftspflicht gegenüber den Parla- ven Bilanz zurückliegender Militäreinsätze. Vor dieser menten – gegenüber dem EP wie den Parlamenten der Entwicklung warnen nicht nur Friedensbewegung und Mitgliedstaaten – ein nicht hinnehmbarer Skandal. Auch kritische Friedensforschung. Sehr deutlich äußerte sich in diesem Punkt bleiben die Forderungen der Grünen an unter anderem Alain Délétroz von der International Cri- die Bundesregierung somit auf halber Strecke stehen. sis Group, einem Thinktank, der militärische Interventi- Eine nicht näher ausgeführte „Beteiligung“ des EP zu onen nicht grundsätzlich ablehnt: „Die Kapazität der fordern, ist in keiner Weise ausreichend. Wir lehnen da- EU zur Konfliktverhütung und zur Friedenssicherung her sowohl den EAD als auch den Antrag der Grünen hat [durch die Einrichtung des EAD] einen herben ab. Schlag erlitten.“ Dies gilt auch für die EU-Entwick- lungspolitik, die ebenfalls eng mit dem EAD verzahnt Manuel Sarrazin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): werden soll. Im aktuellen EU-Ratsbeschluss wird zwar Die Regierungsvertreterinnen und Vertreter der EU-Mit- die vollständige Unterstellung der Entwicklungszusam- gliedstaaten streben an, bereits am kommenden Montag menarbeit, EZ, unter den EAD abgelehnt und eine enge eine grundsätzliche politische Einigung über die zukünf- Abstimmung mit der Kommission bei Programmpla- tige Struktur des Europäischen Auswärtigen Dienstes zu nung, -durchführung und -finanzierung eingefordert. erzielen. Ein ambitioniertes Ziel, wird doch in Brüssel Dennoch setzt sich damit programmatisch und institu- und den Hauptstädten auf Hochtouren über die konkrete tionell die „Versicherheitlichung“ der EZ fort, das heißt Ausgestaltung, Arbeitsweise, Aufgabenteilung und Per- ihre Unterordnung unter eine sicherheitspolitische und sonal- und Haushaltsfragen gerungen. Rat und Kommis- militärische Logik. Kritische Beobachter – und auch die sion nutzen die Errichtung des EAD für Kämpfe um Linke – befürchten, dass über die „Mitverantwortung“ – Macht und Einfluss und verhalten sich dabei – meiner EU-Ratsbeschluss – des EAD und unter anderem über Einschätzung nach – nicht konstruktiv. Das Wesentliche das Instrument der Entwicklungszusammenarbeit und scheint dabei ein wenig aus dem Blickwinkel zu geraten. (B) den Europäischen Entwicklungsfonds es zu einer deutli- Ich will hier ganz klar sagen, dass wir Grüne in dem (D) chen Verschiebung der Mittelzuweisungen zuungunsten neuen Amt des Hohen Vertreters für die Außen- und Si- der „klassischen“ EZ kommt und immer mehr Gelder di- cherheitspolitik und dem EAD immer eine großartige rekt oder indirekt in sicherheitsrelevante Programme Chance für eine moderne, kohärente und effektive EU- fließen. Hier, wie die Grünen, nur den Ausbau präventi- Außenpolitik gesehen haben – und dies immer noch se- ver und ziviler Instrumente innerhalb der vorgesehenen hen! Es gibt einige grundlegende Prämissen, die der Strukturen zu fordern und auf „politische Kohärenz“ zu EAD unserer Meinung nach erfüllen muss, um einer eu- pochen, erweckt in Anbetracht der Erfahrungen mit der ropäischen Außenpolitik, wie sie Art. 21 des EU-Ver- Nichtumsetzung entwicklungspolitischer Kohärenzge- trags, EUV, beschreibt, gerecht zu werden. Der EAD bote den Eindruck von Naivität – wenn man gutgläubig muss modern, wertegebunden, effektiv und in seinem sein will. Lassen Sie mich zum zweiten Kritikpunkt kom- Selbstverständnis „europäisch“ sein. Europa ist eine Zi- men: dem systematischen Ausschluss demokratischer vilmacht. Wir wollen eine klare Priorität des EAD auf Kontrollmöglichkeiten. Dies betrifft sowohl die Beteili- Krisenprävention und zivile Konfliktbewältigung. Mo- gung am Aufbau des Dienstes wie auch die parlamenta- dern sein heißt für uns, den Herausforderungen des rische Überwachung seiner Tätigkeit. Sowohl der 21. Jahrhunderts zu entsprechen: Klimawandel, Armuts- Ashton-Vorschlag als auch der Ratsbeschluss verweisen bekämpfung, Umgang mit fragiler Staatlichkeit, gerech- auf die Art. 27 und 36 EUV. Doch sind dadurch weder ter Zugang zu natürlichen Ressourcen und die Bekämp- Transparenz noch wirksame Kontrollen durch das EP fung von Massenvernichtungswaffen – um nur einige zu gewährleistet. Bereits in der Aufbauphase sind lediglich nennen – sind grundlegende Handlungsfelder dafür. Unterrichtungen und Anhörungen des EP vorgesehen, Diese Herausforderungen können nur in Zusammenar- während das Vorschlagsrecht bei der Hohen Vertreterin beit mit der internationalen Gemeinschaft gelöst wer- und die Entscheidung bei der Kommission und – vor al- den. Daher erwarten wir vom EAD einen wichtigen Bei- lem – dem Europäischen Rat liegen. Dieses strukturelle trag zur Stärkung eines effektiven Multilateralismus. Demokratiedefizit besteht fort, wenn der EAD arbeitsfä- Außerdem muss er sich zu den Millenniumsentwick- hig ist. Im letzten Ratsbeschluss findet sich kein Hinweis lungszielen bekennen und die Bekämpfung von Armut mehr auf Einflussmöglichkeiten des EP bei Personalent- und Hunger maßgeblich vorantreiben. Im Geiste „euro- scheidungen im EAD. Und ob das Parlament über die päisch“ bedeutet für uns, dass die Hohe Vertreterin al- Haushaltspolitik die Politik des Dienstes wird beeinflus- lein weisungsbefugt gegenüber allen Bediensteten des sen können, ist äußerst fraglich. Die parlamentarischen EAD sein muss. Gleichzeitig wünschen wir uns, dass Rechte beschränken sich somit auf Unterrichtungen sich unter den Bediensteten ein europäischer „Esprit de durch den Hohen Vertreter. Die Formulierung im Art. 36 Corps“ entwickelt. Dafür ist wichtig, dass sich der EAD

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Manuel Sarrazin (A) und seine Bediensteten mit den Zielen des Art. 21 Abs.1, staatliche Strukturen stellt eine komplette Fehlentwick- (C) EUV identifizieren und sie nach außen vertreten. Ich lung dar. Der EAD und die Hohe Vertreterin bedeuten könnte mir sogar vorstellen, dass die EAD-Bediensteten einen Fortschritt in der europäischen Integration, und bei Aufnahme ihrer Tätigkeit einen Eid auf den Vertrag das muss sich auch in der konkreten Umsetzung wider- von Lissabon schwören. Aber das sind bisher nur Ge- spiegeln. Mit unserem Antrag fordern wir die Bundesre- dankenspiele. Klar ist aber, dass alle EAD-Bediensteten gierung auf, dafür zu sorgen, dass der EAD wirklich mo- dem EU-Personalstatut unterstellt sein müssen. Zudem dern, wertegebunden und europäisch wird. Verhindern muss der Dienst sich an seine Pflichten gegenüber dem Sie, dass die EU dem Vorwurf ausgesetzt wird, sie würde Europäischen Parlament halten und Rechenschaft able- ihre Rolle als Zivilmacht im EAD verkennen! gen. Letztendlich kann der EAD nur effektiv, kohärent und stark sein, wenn die Hohe Vertreterin stark ist. Der Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Begriff der Kohärenz aus dem EU-Vertrag bedeutet für Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf mich, dass die Interpretation der Rolle der Hohen Ver- Drucksache 17/1204 an die in der Tagesordnung aufge- treterin einen deutlichen Mehrwert für die EU und ihr führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Wie ich sehe, sind außenpolitisches Handeln bedeutet. Zudem setzten wir Sie damit einverstanden. Die Überweisung ist somit be- uns für einen finanziell eigenständig budgetierten EAD schlossen. ein, der der strengen haushälterischen Kontrolle des EP untersteht. Die Aufgabenteilung zwischen EU-Kommis- Ich rufe den Tagesordnungspunkt 22 auf: sion und EAD muss vorab eindeutig geklärt sein. Das Beratung des Antrags der Abgeordneten Gerold bringt mich zu dem nun vorliegenden Vorschlag von Reichenbach, Dr. Eva Högl, Gabriele Fograscher, Lady Ashton. Während im Bereich der Entwicklungspo- weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD litik mit der sogenannten Doppel-Schlüssel-Lösung eine – auf den ersten Blick – passable Lösung gefunden Neues SWIFT-Abkommen nur nach europäi- wurde, ist unklar, unter welche Verantwortung das Stabi- schen Grundrechts- und Datenschutzmaßstä- litätsinstrument – das einzig wirklich schnelle Krisenreak- ben tionsinstrument der EU – fällt. Eine Ansiedlung unter die – Drucksache 17/1407 – Krisenmanagementstrukturen, so wie sie im Vorschlag von Ashton vorgesehen sind, wäre fatal. Dies ist nicht Überweisungsvorschlag: Innenausschuss (f) der einzige Schwachpunkt in Ashtons Vorschlag. Be- Rechtsausschuss sorgniserregend und vollkommen kontraproduktiv ist die Finanzausschuss Sonderstellung, die die Krisenmanagementstrukturen Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union (B) des Rates im EAD einnehmen sollen. Ohne jegliche An- Auch hier wurde bereits in der Tagesordnung ausge- (D) bindung an andere für diesen Bereich relevante Struktu- wiesen, dass die Reden folgender Kollegen zu Proto- ren sollen diese Einheiten dem direkten Befehlsstrang koll gegeben werden: Clemens Binninger, Gerold und sogar der täglichen Koordinierung durch die Hohe Reichenbach, Jimmy Schulz, Jan Korte und Vertreterin und dem Generalsekretär unterstellt sein. Dr. Konstantin von Notz. Mit Sorge beobachten wir auch die angedachten Rekru- tierungsvorhaben hierfür. Es spricht nichts dafür, Be- amte im Krisenmanagementbereich gesondert zu behan- Clemens Binninger (CDU/CSU): deln. Konfliktprävention und Friedensunterstützung, Das Europäische Parlament hat am 11. Februar 2010 das heißt Konfliktnachsorge, Wiederaufbau und Media- gegen das SWIFT-Abkommen gestimmt, das die EU-In- tion, spielen im vorliegenden Entwurf keine Rolle. Kri- nen- und Justizminister im November 2009 unterzeich- senmanagement wird somit einseitig auf militärische net haben. Deshalb ist es jetzt notwendig geworden, ein Strukturen reduziert. Das ist weder dem EUV noch den neues Abkommen mit den USA zu verhandeln. Die Kom- Anforderungen an eine moderne Außenpolitik angemes- mission hat hierzu im März einen Entwurf für das neue sen. Stattdessen fordern wir die Einrichtung einer Gene- Verhandlungsmandat formuliert, der seither mehrfach raldirektion „Peace-Building and Civilian Crisis Ma- überarbeitet und nachgebessert wurde. Der JI-Rat soll nagement“ im EAD, unter der sich die oben genannten das Mandat morgen beschließen, sodass die Verhand- Krisenmanagementstrukturen einordnen. Offen ist auch lungen mit unseren amerikanischen Partnern aufgenom- die Frage nach der politischen Vertretung der Hohen men werden können. Vertreterin. Unsere Kolleginnen und Kollegen in Brüssel Dass Zahlungsverkehrsdaten ein zentraler Ansatz- fordern zu Recht eine politische Verantwortung vor dem punkt bei der Aufklärung der Terrorfinanzierung sind Europäischen Parlament. Kritisch betrachten wir auch und dazu beitragen, terroristische Netzwerke zu identifi- die machtvolle Stellung des Generalsekretärs im Vor- zieren, steht außer Frage. Auch, dass wir dabei der Ko- schlag von Frau Ashton. Diese Machtposition würde er- operation mit unseren Partnern bedürfen, dürfte unstrit- möglichen, dass sich dieser zum eigentlichen Strippen- tig sein. Genauso dürfte es auch Konsens in diesem zieher entwickelt und die Hohe Vertreterin zur Hause sein, dass wir dabei bestmögliche Datenschutz- Marionette verkommt. Eine weitere Gefahr besteht in standards und Vorkehrungen gegen den Missbrauch von dem Versuch einiger Mitgliedstaaten, bereits vergemein- Daten brauchen und sicherstellen müssen. Das war die schaftete Politikbereiche über den Umweg des EAD zu- Position der Koalition in der vergangenen Legislaturpe- rückzuerobern. Diese sich abzeichnende Tendenz einer riode, und das ist auch die Position der christlich-libe- Rückabwicklung von gemeinschaftlichen in zwischen- ralen Koalition. Der Bundesinnenminister hat beim Be- 3624 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010

Clemens Binninger (A) schluss zum SWIFT-Abkommen im vergangenen Jahr schutzes macht. Seit dem Januar 2010 liegt jetzt der (C) großen Wert darauf gelegt. Er hat in den aktuellen Ge- neue Bruguière-Bericht vor, der unterstreicht, dass zu- sprächen zum neuen Verhandlungsmandat zahlreiche sätzliche Verbesserungen in Sachen Datenschutz von Verbesserungen in Bezug auf den Datenschutz erreicht, amerikanischer Seite umgesetzt wurden und dass die und auch in den bevorstehenden Verhandlungen mit den Zusammenarbeit mit den USA bei der Nutzung von Zah- USA wird der Datenschutz ein zentrales Anliegen sein, lungsverkehrsdaten auch weiterhin von großer Bedeu- zentral für die europäische Seite wie auch für unsere tung bei der Bekämpfung des internationalen Terroris- amerikanischen Partner. mus ist. Bei aller Kritik, die es in Deutschland in den letzten Monaten gab, gilt es auch, diese unabhängige Der Antrag der SPD zum Verhandlungsmandat, der Einschätzung eines angesehenen Fachmanns anzuer- heute vorgelegt wird, enthält indes nicht viel Neues. kennen. Eine ganze Reihe von Forderungen wurde schon auf Ba- sis des alten Abkommens berücksichtigt, etwa die enge Das 2009 geschlossene SWIFT-Abkommen, das jetzt Beschränkung auf Zwecke der Terrorismusbekämpfung, nicht mehr zur Anwendung kommt, hatte umfassende das Vorliegen eines begründeten Verdachts, das Verbot und verbindliche Datenschutzstandards festgeschrieben. von Data-Mining, kein Zugriff auf Daten von sogenann- Ich bin sicher, dass wir auch mit dem neuen Verhand- ten SEPA-Zahlungen. Diese und weitere Datenschutz- lungsmandat, über das wir hier debattieren, ein hohes vorkehrungen waren bereits in der Vergangenheit Ge- und noch weiter verbessertes Datenschutzniveau errei- genstand der Zusammenarbeit der EU mit den USA in chen werden. diesem Feld. Unter anderem 2007 haben die Vereinigten Staaten solche wesentlichen Zusicherungen zum Daten- Hier wurde schon im Vorfeld bei den Mandatsver- schutz gemacht. Diese Zusicherungen wurden seinerzeit handlungen Wichtiges erreicht. Deutschland hat sich bei von der EU begrüßt. den Verhandlungen aktiv und sehr erfolgreich einge- bracht. Zahlreiche deutsche Nachbesserungsvorschläge Peer Steinbrück hat als Vertreter des Rates der EU wurden im aktuellen Mandatsentwurf bereits aufgegrif- seinerzeit zusammen mit Kommissionsvizepräsident fen. Ganz besonders weise ich auf die Forderungen hin, Frattini dem US-Finanzministerium ausdrücklich für die Innenminister de Maizière beim JI-Rat am 25. Fe- die Kooperation in Sachen Datenschutz und Datensi- bruar vorgegeben hat: Beschränkung der an die USA zu cherheit gedankt. In ihrem Schreiben – im Amtsblatt der übermittelnden Daten, strikte Zweckbindung der Daten, EU nachzulesen – formulieren sie: Beschwerdemöglichkeiten und gerichtlicher Rechts- schutz für die Betroffenen. Eine weitere zentrale Forde- Wir danken Ihnen für Ihre Mitwirkung in dieser rung wurde zumindest teilweise aufgegriffen, nämlich Frage; sie zeigt, wie sehr wir gemeinsam entschlos- die Forderung, die Daten über einen kürzeren Zeitraum (B) sen sind, die bürgerlichen Freiheiten zu wahren, (D) aufzubewahren. Der Kommissionsvorschlag sah hier ur- den Terrorismus zu bekämpfen und für ein rei- sprünglich in Übereinstimmung mit der bisherigen Re- bungsloses Funktionieren des internationalen Fi- gelung und den Aufbewahrungsfristen der Banken nach nanzsystems zu sorgen. internationalen Standards eine Höchstspeicherdauer von Das ist der Weg, den wir auch in Zukunft gemeinsam fünf Jahren vor. Auf unsere Forderung hin wurde – zu- mit den Vereinigten Staaten als Partner beschreiten wer- sätzlich zu dieser absoluten Höchstgrenze – ergänzt, den – Bekämpfung des Terrorismus, verbunden mit dem dass die Speicherdauer im Abkommen „so kurz wie Schutz von Daten und bürgerlichen Freiheiten. Ich möglich“ angelegt sein soll. Das sind greifbare Verbes- warne davor, zu unterstellen, die Amerikaner hätten kein serungen im Mandatsentwurf, die mit Blick auf den vor- Interesse an Datenschutzfragen. Gerade beim Daten- liegenden Antrag auch die SPD-Fraktion begrüßen schutz, der ja auch im Mittelpunkt des SPD-Antrages dürfte. steht, wurden in Kooperation mit den Vereinigten Staa- In diesem Zusammenhang möchte ich vor einem ten wesentliche Fortschritte erreicht. Punkt warnen: Wir dürfen uns nicht der Illusion hinge- Schauen wir uns doch einmal die Entwicklung in die- ben, dass wir beim Datenschutz das Bestmögliche errei- sem Bereich an. Erst gab es – zu Regierungszeiten von chen können, wenn wir nur mit möglichst weitgehenden Rot-Grün – überhaupt kein Abkommen, keine konkreten Forderungen in die Verhandlungen gehen. Das gerade Regelungen, was die Abfrage von Bankdaten zur Terror- ist nicht der Fall. Wir isolieren uns dann vielmehr zu- bekämpfung anging. Ein großer Fortschritt waren dann nehmend von unseren Partnern in der Europäischen die Zusicherungen zum Datenschutz, die die USA unter Union, und am Ende haben wir dann selbst bei denjeni- deutscher EU-Ratspräsidentschaft 2007 gemacht ha- gen erhebliche Probleme, mit denen wir uns gemeinsam ben. Dazu gehörte auch, dass der französische Richter für bessere Datenschutzstandards beim SWIFT-Abkom- Bruguière im Auftrag der EU als unabhängige Persön- men einsetzen. Deshalb wäre es sehr problematisch, lichkeit die Einhaltung der Zusicherungen vor Ort in wenn wir – wie der SPD-Antrag empfiehlt – fordern den USA überprüft hat. Zu seinem Auftrag gehörte auch, würden, nur deutsche Datenschutzmaßstäbe und die den Nutzen des US-Programms für die Terrorismusbe- Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts als kämpfung und die Sicherheit auch in der EU zu bewer- Standards in das Verhandlungsmandat einzubringen. ten. Er legte seinen ersten Bericht 2008 vor, in dem er in Wie soll Deutschland seinen Partnern in der EU erklä- beiden Punkten – Datenschutz und Nutzen – zu einem ren, dass gerade die deutschen Standards das Maß aller positiven Fazit kommt und gleichzeitig zusätzliche Dinge sein sollen? Für das Abkommen zwischen der EU Empfehlungen für die weitere Verbesserung des Daten- und den USA kann nicht allein deutsches Recht der

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Clemens Binninger (A) Maßstab sein, sondern EU-Recht. Alleingänge in diesem Mit dem Vertrag von Lissabon wurden die beiden Be- (C) Bereich verhindern mehr, als dass sie am Ende nutzen. reiche Innen- und Justizpolitik vergemeinschaftet und es wurde erreicht, dass das Europäische Parlament endlich Ich möchte dem Bundesminister des Innern und dem mitentscheiden darf. Die Unterzeichnung des ersten Ministerium ausdrücklich für eine kluge Verhandlungs- SWIFT-Abkommens missachtete das Europäische Parla- führung danken, mit der deutliche Verbesserungen beim ment, und das Ganze einen Tag vor Inkrafttreten des Lis- Mandat zustande kommen werden und gleichzeitig eine sabonner Vertrags! vernünftige und erfolgversprechende Basis für die Ver- handlungen mit den USA erreicht wird. Man muss es sich noch einmal vor Augen führen, dass der Bundesinnenminister und die Bundesjustizministerin zwei unterschiedliche Meinungen vertreten haben – Gerold Reichenbach (SPD): diese vertraten sie leider nur unverbindlich in der Die Bundesregierung hat in ihren Koalitionsvertrag Presse, nicht aber hier im Parlament. Dass eine Enthal- geschrieben: tung bei der Entscheidung einer Zustimmung gleich- kommt, das wusste jeder. Bundesinnenminister de Bei den Verhandlungen zum SWIFT-Abkommen Maizière sagt, dass ein nicht vollständig befriedigendes werden wir uns für ein hohes Datenschutzniveau … Abkommen besser für die Bürger sei als kein Abkommen, und einen effektiven Rechtsschutz einsetzen. Bundesjustizministerin Leutheusser-Schnarrenberger Dass daraus nichts geworden ist, haben wir erlebt. sagt im Gegensatz, dass diese Entscheidung Millionen Am 30. November 2009 unterzeichneten die europäi- von Bürgerinnen und Bürgern in Europa verunsichert. schen Innen- und Justizminister das SWIFT-Abkommen. Ja, wo ist denn da der rote Faden der Bundesregierung, Mit einer Enthaltung der deutschen Bundesregierung wo sind die vorlauten Aussagen der FDP hin? Aus den bei der Abstimmung wurde erst die Annahme des Ab- eigenen Reihen haben sowohl Union als auch FDP kommens im Rat ermöglicht, obwohl es den in der herbe Kritik vernehmen müssen, aber nicht nur von den schwarz-gelben Koalitionsvereinbarung genannten Vo- eigenen Parteifreunden, auch der zentrale Kreditaus- raussetzungen für eine Zustimmung nicht genügte. schuss, der BDI und viele mehr kritisierten das von ih- nen vorangetriebene Datenschutzdumping. Zum Glück war für das Inkrafttreten des Abkommens jedoch die Zustimmung des Europäischen Parlaments Und nachdem das Abkommen durch eine große und erforderlich, welches – nebenbei gesagt – viel zu spät in fraktionsübergreifende Mehrheit im Europäischen Par- den Verhandlungsprozess einbezogen worden war; auch lament abgelehnt wurde, herrscht das gleiche Bild. Die der Deutsche Bundestag wurde ja erst in einem späten Bundesjustizministerin jubelt geradezu auf ihrer Home- (B) Stadium informiert. Das Nein des EU-Parlaments am page mit der Stärkung für die Demokratie und den Da- (D) 11. Februar 2010 zum SWIFT-Abkommen stellt für Bun- tenschutz in Europa, auf der des Innenministers kein desinnenminister de Maizière und die gesamte schwarz- Wort zu der Entscheidung. Dazu fällt mir nur ein: Mit gelbe Koalition eine Klatsche dar; denn wenn die Bun- Zank und Streit kommt man nicht weit! desregierung zu ihrer Enthaltung feststellt, dass Grund- rechte nicht genügend geschützt sind, wäre es ihre Mit unserem heutigen Antrag wollen wir sichergehen, Pflicht gewesen, das Abkommen zu verhindern. dass das neue SWIFT-Abkommen nur nach europäi- schen Grundrechts- und Datenschutzmaßnahmen zu- Die Entscheidung des EU-Parlaments, dieses zusam- stande kommt. Sowohl die Justiz- als auch die Innen- mengeschusterte Abkommen abzulehnen, ist richtig und minister der Europäischen Union stehen in der Pflicht, ein Sieg für den Schutz der Bürgerrechte in Europa ge- sowohl Transparenz, einen effektiven Rechtsschutz und wesen. Dennoch bleibt die Zusammenarbeit mit den eine enge Begrenzung der Zwecke als Leitlinien zu ver- USA im Kampf gegen den Terrorismus wichtig. Das ankern. rechtfertigt aber nicht die schrittweise Aushebelung von Grundrechten europäischer Bürger. Für die anstehenden Verhandlungen muss gelten, dass der Staat die Sicherheit seiner Bürgerinnen und Jetzt hat die Europäische Kommission am 24. März Bürger zu schützen hat. Doch muss er dabei grundrecht- 2010 einen Entwurf für ein Verhandlungsmandat zu liche und menschenrechtliche Garantien beachten, also SWIFT vorgelegt. Mit dem neuen Verhandlungsmandat insbesondere den Datenschutz. Wir fordern die Bundes- wird sich der EU-Ministerrat am 23. April 2010, also regierung daher mit unserem Antrag auf, dass sie ihre morgen, befassen. Der Antrag der SPD-Fraktion ist Zustimmung zum Verhandlungsmandat wie auch zu ei- somit ein Hilfsangebot für die Bundesregierung und ihre nem Abkommen davon abhängig macht, dass die Rege- Bundesminister de Maizière und Leutheusser- lungen datenschutzrechtlichen Maßstäben genügen. Ne- Schnarrenberger. Er ist aber auch ein Glaubwürdig- ben den genannten Punkten von Transparenz und keitstest für die FDP. Wir wollen der Bundesregierung Rechtsschutz fordern wir eine genaue und abschlie- dabei helfen, dass die Bundesjustizministerin mit ihrer ßende Begrenzung nach Art und Umfang der zu übermit- Meinung nicht wieder über Europa ausgehebelt wird. telnden Daten, das Verbot der Übermittlung an Dritt- Darum, und auch weil wir der verstärkten Verantwor- staaten sowie Löschungs- und Berichtigungsansprüche. tung, die der Vertrag von Lissabon und wir als Gesetzge- Außerdem müssen der Ratifizierungsbedarf geklärt und ber dem Parlament gegeben haben, gerecht werden sol- der Bundestag fortlaufend unterrichtet werden. Dies gilt len! auch für die weiteren Verhandlungen. Das Abkommen

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Gerold Reichenbach (A) und eventuelle Anhänge sind der Öffentlichkeit zugäng- Forderungen im Interesse des Schutzes der Bürgerrechte (C) lich zu machen. Geltung zu verschaffen. Von meinen sozialdemokratischen Kollegen aus dem Europaparlament höre ich, dass – und da kann ich mei- Jimmy Schulz (FDP): nen Kollegen nur zustimmen – das Problem des massen- Die USA sind unser wichtigster Partner im Kampf ge- haften Datentransfers und der zu langen Speicherzeiten gen den Terrorismus. Um in diesem Kampf erfolgreich im neuen Verhandlungsmandat nach wie vor ungelöst zu sein, ist die Kooperation zwischen den Partnern äu- und einfach nur unzureichend ist. Ebenso fehlen strikte ßerst wichtig. Aber auch diese Kooperation hat ihre Auflagen, die die Weitergabe der Daten an Drittstaaten Grenzen. Wenn Kooperation heißt, Bürgerrechte aufs regeln. Es kann nicht sein, dass Millionen Daten von Spiel zu setzen, dann ist sie an dieser Stelle nicht zielfüh- Bürgern einfach an die USA weitergegeben werden und rend. Denn dann fördern wir den Kampf nicht, sondern diese dann auch noch fünf Jahre gespeichert werden sol- haben ihn bereits verloren. len. Wir fordern in unserem Antrag die Löschung der übermittelten Daten spätestens nach Ablauf eines Jah- Das neue Verhandlungsmandat für ein neues SWIFT- res; wenn die Daten für die festgelegten Zwecke nicht Abkommen, das am Freitag im Rat der EU-Innen- und erforderlich sind, fordern wir eine unverzügliche Lö- Justizminister verabschiedet werden soll, bedeutet schung. potenziell die Übermittelung von Millionen Daten von EU-Bürgern. Das ist keine leichte Sache und muss sehr Im Großen und Ganzen kann man sagen, dass dem ernst genommen werden. Wie bei jeder Maßnahme zur vorliegenden Mandatsentwurf so auf europäischer Terrorismusbekämpfung müssen Erforderlichkeit und Ebene wieder nicht zugestimmt werden kann. Eines darf Verhältnismäßigkeit geprüft werden. Die Anforderun- man einfach auf keinen Fall vergessen: Ein neues Ab- gen, die das europäische Recht in diesem Zusammen- kommen zur Übermittlung von Bankdaten an die USA hang stellt, sind von höchster Wichtigkeit und müssen muss unbedingt bestimmte Mindestanforderungen des eingehalten werden. Daten- und Rechtsschutzes sicherstellen. Nicht umsonst hat Anfang März das Bundesverfassungsgericht die an- Das neue Mandat, das die Kommission am 24. März lasslose Speicherung von Telekommunikationsdaten vorgestellt hat, stellt gegenüber dem vom Parlament durch den Staat gekippt – obwohl diese Daten nur sechs abgelehnten Interimsabkommen eine erhebliche Verbes- Monate bis zwei Jahre lang aufbewahrt werden sollten. serung dar. Wir sind froh, dass zum Beispiel der Terro- Da auch bei SWIFT umfangreiche Datenpakete ohne rismusbegriff an die Definition in Art. 1 des Rahmenbe- konkreten Verdachtsansatz gesammelt werden sollen, schlusses, 2002/475/JI, angeglichen ist und dass SEPA- (B) kann man eindeutige Parallelen zur Vorratsdatenspei- Daten ausgeschlossen sind. Trotz dieser Verbesserungen (D) cherung sehen. SWIFT wäre somit ein guter Kandidat ist das Mandat aber weiterhin unzureichend und enthält für Verfassungswidrigkeit, wenn eine fünf Jahre lange noch verschiedene besorgniserregende Eingriffe in Bür- Speicherung vereinbart wird. gerrechte. Abstriche bei den Datenschutzbestimmungen darf es Der Transfer von Millionen Daten unbeteiligter Bür- im Verhandlungsmandat nicht geben. Dafür steht die ger in großen Datenpaketen ist inakzeptabel. Es kann SPD, dafür steht unser Antrag! nicht sein, dass aufgrund eines einzelnen Verdachtsfalls die Kontobewegungen Hunderter oder Tausender aus- Verehrte Kolleginnen und Kollegen der Koalitions- geliefert werden! Der Grund dafür ist, dass SWIFT die fraktionen, bekennen Sie Flagge für den Datenschutz, Datenpakete weder öffnen noch lesen kann. Aber den- und schauen Sie sich auch einmal an, was Ihre Kollegin- noch können wir solche technischen Gründe nicht ak- nen und Kollegen aus Bayern und Thüringen als Antrag zeptieren, denn der Transfer dieser großen Pakete kann in den Bundesrat eingebracht haben! Dieser ist der SPD im Nachhinein nicht mehr berichtigt werden. Aufsicht zwar nicht konkret und ausführlich genug; aber es zeigt und Kontrolle kommen zu spät, wenn das Datenschutz- Ihnen den richtigen Weg auf. Nur mit einem ehrgeizigen recht schon verletzt ist. Weiterhin sollen natürlich mög- Mandat kann Europa auf Augenhöhe mit den USA ver- lichst wenig Daten übermittelt werden, und jede Über- handeln und den massenhaften Datentransfer zukünftig mittlung muss an eng gesteckte Bedingungen geknüpft unterbinden. sein. Die Daten müssen auf europäischer Seite kontrol- Die gestiegene Verantwortung unseres Parlaments liert und nicht explizit angeforderte Daten müssen aus- durch die Verträge von Lissabon, die Entscheidungen sortiert werden. Damit diese Kontrolle europäischem des Bundesverfassungsgerichtes und unsere eigene Ge- Recht unterfällt, sollte mit diesen Aufgaben eine euro- setzgebung dazu macht es geradezu zwingend notwen- päische Behörde betraut werden. Eine solche Behörde dig, dass der Deutsche Bundestag den deutschen muss hinsichtlich ihrer rechtlichen Aufsichtsfähigkeiten Einfluss auf das Verhandlungsmandat und die Verhand- klar definiert sein. lungen zu einem neuen SWIFT-Abkommen nicht den Zu- fälligkeiten des Koalitionsgerangels in der Bundesregie- Weiterhin sind die vorgesehenen Sperrfristen in kei- rung überlässt, sondern der Bundesregierung klare ner Weise akzeptabel. Die Speicherfrist soll unter Vorgaben macht. Berücksichtigung der Entscheidung des Bundesverfas- sungsgerichts zur Vorratsdatenspeicherung von Tele- Ich kann Sie deshalb nur auffordern, unserem Antrag kommunikationsverbindungsdaten auf deutlich weniger in den Beratungen zu folgen und den darin enthaltenen als fünf Jahre begrenzt werden.

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Jimmy Schulz (A) Außerdem brauchen wir strikten Daten- wie auch Überwachungsstaat ausgesprochen. In ihrer Durchset- (C) Rechtsschutz. Schließlich geht es um europäische Bür- zungsfähigkeit unterscheiden sie sich damit deutlich von ger, und wir dürfen keine Regelungen akzeptieren, die der FDP, die es nicht einmal schaffte, den Innenminister europäische Standards unterschreiten. Das bedeutet dazu zu bewegen, die Koalitionsvereinbarung umzuset- Transparenz im Sinne von Information über Daten, Kor- zen. Bürgerrechtspartei FDP? – Fehlanzeige! rektur unrichtiger Daten, Löschung und Entschädigung Nach der Ablehnung durch das Europaparlament für zu Unrecht betroffene Bürger. Sehr wichtig ist zudem wird nun fleißig daran gearbeitet, das SWIFT-Abkom- die Gewährung effektiven Rechtsschutzes vor US-Ge- men halbwegs an existente Datenschutzrichtlinien der richten. Schließlich dürfen Daten nur dann an Drittstaa- EU anzupassen. Da kann man sich so viel Mühe geben, ten weitergegeben werden, wenn dort erstens ein ver- wie man will: Das SWIFT-Abkommen wird eine Daten- gleichbares Datenschutzniveau herrscht und zweitens sammlung auf Vorrat bleiben. Immer noch würden ver- eine spezifische Anfrage gestellt wird. Keinesfalls denk- trauliche Bankdaten aller EU-Bürgerinnen und Bürger bar ist eine anlasslose Weitergabe der Daten. verdachtsunabhängig auf Vorrat gespeichert. Dieses Völlige Transparenz ist unabdingbar. Das gesamte Vorgehen ist nicht verhältnismäßig; das sehen nicht nur Abkommen muss publiziert werden, geheime Anlagen wir so. Zur Verhältnismäßigkeit von Vorratsdatenspei- darf es nicht geben. Weiterhin muss eine regelmäßige cherungen hat das Bundesverfassungsgericht bereits Überprüfung stattfinden zusammen mit Vertretern von mehr als deutliche Worte gefunden, die man nicht ein- Datenschutzbehörden der Mitgliedstaaten. Es ist zu eva- fach übergehen sollte. luieren, wie die Daten genutzt werden und inwiefern die Ein weiterer Punkt, den die Linke kritisiert, ist die bis Datensammlung für den Kampf gegen den Terrorismus heute nicht belegbare Notwendigkeit des SWIFT-Ab- überhaupt zweckmäßig ist. Der Antrag der SPD enthält kommens. Bis heute wurde von keiner unabhängigen einige wichtige Ziele; von diesen hat Frau Justizministe- Stelle überprüft, wie effektiv das Abkommen im Kampf rin Leutheusser-Schnarrenberger in den momentanen gegen den Terror ist, wie viele Terrornetzwerke damit Verhandlungen allerdings wesentliche bereits erreicht. aufgespürt wurden, ob Anschläge damit verhindert wer- Interessant ist an dieser Stelle Folgendes: Die Verhand- den konnten oder ob in irgendeiner Form die Terrorge- lungen über das SWIFT-Abkommen wurden unter deut- fährdung seit der Abfrage von Bankdaten bei SWIFT mi- scher Ratspräsidentschaft 2007 vom damaligen SPD- nimiert wurde. Das Gegenteil ist offenbar der Fall: Finanzminister Steinbrück aufgenommen, zum Zeitpunkt Noch vor nicht allzu langer Zeit hat Bundesinnenminis- der Bundestagswahl waren sie bereits weitestgehend ab- ter Thomas de Maizière erklärt, das SWIFT-Abkommen geschlossen. Wir hätten uns also viel Mühe ersparen bringe mehr Sicherheit bei der Terrorbekämpfung. Da- können, wenn die SPD in den Verhandlungen seinerzeit bei hat er sich ganz sicher nicht auf das BKA als Quelle (B) ein paar von ihren eigenen Zielen aus dem jetzt vorge- (D) berufen. Dieses kam zu dem Schluss, dass zur Bekämp- legten Antrag durchgesetzt hätte. Leider war die SPD fung politisch motivierter Kriminalität „kein fachlicher damit nicht sehr erfolgreich. Die Justizministerin hat in Bedarf bzw. kein operatives Interesse an der Nutzung den letzten Wochen mehr geschafft als die SPD in zwei des SWIFT-Datenbestandes zum Zwecke einer systema- Jahren. tischen anlassunabhängigen Recherche“ bestehe. Das Zum Schluss noch einmal das Entscheidende: Wir interne BKA-Papier, das von mehreren Medien zitiert dürfen nicht abweichen von dem, was wir im Koalitions- wurde ging sogar noch weiter: vertrag beschlossen haben, nämlich ein hohes Daten- Die aus fachlicher Sicht zu erwartenden Erkennt- schutzniveau im SWIFT-Abkommen! Ich habe großes nisse aus einem systematischen und umfangreichen Vertrauen in unsere Justizministerin, Frau Leutheusser- Abgleich der SWIFT-Daten rechtfertigen – zumin- Schnarrenberger, dass sie sich durchsetzt und damit da- dest für den Bereich der Finanzierung des Terroris- für sorgen wird, dass nichts Geringeres als die Sicher- mus – aus hiesiger Sicht nicht den mit der Datenre- heit der Daten unserer Bürger bewahrt wird. cherche verbundenen erheblichen materiellen und personellen Aufwand. Jan Korte (DIE LINKE): Aber in den aktuellen Verhandlungen und in der Posi- Wäre das SWIFT-Abkommen, über das wir heute re- tionierung der Bundesregierung spielt dies offenbar den, schon vorher öfter ein Thema im Parlament gewe- keine Rolle. Zur Überprüfung der Verhältnismäßigkeit sen, dann wäre vielen Leuten viel Arbeit erspart worden. wäre eine Evaluation von unabhängiger Seite dringend Tatsächlich ist das Abkommen durch die EU-Innen- und geboten. Justizminister ohne Konsultation des Europaparlaments entstanden und von diesem, als es dann mitentscheiden Lassen Sie mich noch einige Worte zum Antrag der durfte, sofort einkassiert worden – zu Recht, wie wir fin- SPD verlieren. Man könnte bei Lektüre des Antrages den. Ich freue mich, dass das EU-Parlament mit deutli- denken, die SPD habe in der Opposition den Daten- cher Mehrheit dafür gesorgt hat, diesen schwerwiegen- schutz wiederentdeckt. Das klingt alles erst einmal den Eingriff in die Freiheits- und Grundrechte aller EU- schön und gut. Doch die Vorratsdatenspeicherung Bürgerinnen und Bürger zu beenden. Dem massiven bleibt erhalten, und die Sinnhaftigkeit eines neuen Druck der USA und einiger EU-Mitgliedsländer haben SWIFT-Abkommens wird auch nicht hinterfragt. Auch sich die EU-Parlamentarier nicht gebeugt, sondern sie Informationspflichten in eine neue Regelung einzubrin- haben sich für die Rechte der Bürgerinnen und Bürger gen, nutzt den Betroffenen nichts, wenn sie den Schaden der EU und gegen die Fortsetzung des Marsches in den schon haben. Das bisherige Verfahren, angefangen von

Zu Protokoll gegebene Reden 3628 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010

Jan Korte (A) der SWIFT-Datenabfrage durch US-Behörden nach dem Beginn eines neuen Selbstbewusstseins, das deutlich (C) 11. September 2001 bis hin zu den mit der EU geschlos- über den Fall SWIFT hinausstrahlt. senen Abkommen, war nicht nur intransparent, sondern entsprach weder nationalen noch europäischen Daten- Interessant ist der Rückblick auf das damalige Ver- schutzbestimmungen. Die SPD muss sich meiner halten der jetzigen Bundesregierung. In der Abstimmung Meinung nach den Vorwurf gefallen lassen, mit dem vor- am 28. November 2009 wurde sie ihrer Verantwortung liegenden Antrag dieses Verfahren mithilfe von Daten- nicht gerecht und enthielt sich bei der Abstimmung im schutzkosmetik im Nachhinein zu legitimieren. EU-Ministerrat. Praktisch hat sie aber zugestimmt. Dies, obwohl es der FDP gelungen war, eine glasklare Das SWIFT-Abkommen ist vom EU-Parlament per- Formulierung in den Koalitionsvertrag aufzunehmen. fekt korrigiert worden, als die Parlamentarier es beer- Die FDP, allen voran die selbsternannte Freiheitsstatue digten. Dabei sollte es bleiben. Deshalb hat die Linke Westerwelle, hatte jedoch nicht den Schneid, die Koali- den Antrag gestellt, auf ein weiteres Abkommen zu ver- tionskarte zu ziehen. Bundesinnenminister de Maizière zichten und die Bundesregierung aufzufordern, sich in versemmelte seinen Einstand, zumindest für den Bereich diesem Sinne auf europäischer Ebene einzusetzen. der „öffentlichen Sicherheit“. Die selbsternannte Bür- gerrechtspartei FDP war hier schon kurz nach dem Regierungsantritt bei ihrem ersten Belastungstest umge- Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- fallen. Die Justizministerin setzte sich nicht durch, ihr NEN): Parteivorsitzender schloss sich ihrer damals geäußerten Bereits kurz nach dem Anschlägen vom 11. September Kritik an SWIFT nicht an. Trotz aller Bekenntnisse für 2001 verlangten die USA von dem Monopolisten für die mehr Datenschutz hatte die schwarz-gelbe Bundesregie- Abwicklung von internationalen Finanztransaktionen, rung die massive Kritik aus dem EU-Parlament, dem dem Unternehmen SWIFT, die Kontobewegungsdaten Bundesrat sowie von Datenschützern und Bürgerrechts- von Millionen von Bürgerinnen und Bürgern herauszu- organisationen in den Wind geschlagen. Wenn es Ihnen geben – ein unmittelbares Ergebnis von Bushs damali- Ernst gewesen wäre mit mehr Datenschutz und Bürger- gem Krieg gegen Terror. Der CIA bekam die Daten, und rechten, dann hätten Sie nicht unsinnigste Steuersenkun- alles blieb zunächst geheim. Eingeschlossen waren auch gen durchgesetzt, sondern bei SWIFT die Koalitions- Überweisungen innerhalb der EU und Eilanweisungen karte gezogen, liebe Kolleginnen und Kollegen der FDP. innerhalb Deutschlands. Nur um die Dimension zu ver- Dafür hat das Engagement aber nicht gereicht. Gut, deutlichen: Über SWIFT werden täglich im Durch- dass die Bürgerrechte beim Europäischen Parlament so schnitt fast 15 Millionen Transaktionen und Transfers viel besser aufgehoben waren als bei der Bundesregie- mit einem Volumen von etwa 4,8 Billionen Euro abgewi- rung. (B) ckelt. Das SWIFT-Netzwerk in Belgien bündelt Überwei- (D) sungsdaten von 9 000 Banken aus über 200 Ländern. Wir stehen jetzt vor der Aushandlung eines neuen Verhandlungsmandats. Die SPD hat sich in den vergan- Erst als dieser Vorgang 2006 herauskam und allen genen Jahren wahrlich nicht hervorgetan mit Vorstößen bewusst wurde, in welcher Dimension die Kontobewe- zum Schutz der Grundrechte im Feld der öffentlichen gungsdaten von 500 Millionen von Europäerinnen und Sicherheit. Jetzt – wir haben lange auf so etwas von Ih- Europäern über Jahre an die USA abgeflossen waren, nen gewartet – legen Sie einen Antrag vor, der grund- begann eine öffentliche Diskussion. Und der Aufschrei sätzlich Lob verdient. Die dort aufgezählten Standards war groß. Selbst die Kolleginnen und Kollegen der FDP fassen den Stand der Datenschutzdiskussion gut zusam- erwachten damals aus einem bürgerrechtlichen Dorn- men. Wir stellen uns klar gegen jegliche Bestrebungen, röschenschlaf – immerhin ging es ja um Bankdaten! Es die hohen Datenschutzstandards aufzuweichen oder zu waren insbesondere grüne Anträge, mit denen die Befas- schwächen. Die Bundesregierung muss sich dafür ein- sung in diesem Parlament vorangebracht wurde. Die setzen, dass das kommende Mandat so bürgerrechts- Öffentlichkeit war sich weitgehend einig, dass die statt- freundlich als irgend möglich ausgestaltet wird. Es be- findenden SWIFT-Datentransfers an die USA rechtswid- steht kein Zeitdruck, auch wenn einige darüber klagen, rig waren und dass die Daten der Bürgerinnnen und der Datenfluss an die USA sei gegenwärtig gestoppt. Bürger vor dem Zugriff der US-Geheimdienste geschützt Das Bundeskriminalamt erklärte höchstselbst unlängst, werden müssten, um die für den Umgang mit diesen In- es könne mit den Finanztransaktionsdaten nichts anfan- formationen notwendigen Grundrechtsstandards zu gen und halte deren Wert in der Terrorismusbekämpfung wahren. Zunächst verlor sich die Empörung der Bürge- für nicht maßgeblich. Wir werden natürlich auch in die- rinnen und Bürger angesichts des Wartens auf die Ent- sem Verfahren sorgsam beobachten, ob in der Koalition scheidung der belgischen Datenschutzbehörde. Die EU- weitere bürgerrechtliche Rollen rückwärts drohen oder Innenminister, darunter der damalige deutsche Innen- sie gar Gefahr läuft, noch einmal umzukippen. Das sind minister Schäuble, ließen nicht locker. Sie wollten ein wir den Bürgerinnen und Bürgern und dem Schutz ihrer Abkommen mit den USA aushandeln, mit dem der Zu- Daten und schuldig. griff auf die Daten legalisiert werden könnte. Dabei wurden nicht einmal ansatzweise die erforderlichen Standards zum Schutz dieser hochsensiblen Bankdaten Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: erreicht. Das Europäische Parlament verweigerte des- Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf halb im März 2010 zu Recht am Ende seine Zustimmung. Drucksache 17/1407 an die in der Tagesordnung aufge- Es war eine Sternstunde des Europaparlaments und der führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Wie ich sehe, sind Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010 3629

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt (A) Sie auch damit einverstanden. Dann ist die Überweisung zwischen der zuständigen Naturschutzbehörde und dem (C) so beschlossen. Waldbesitzer. Das geforderte Moratorium für die Priva- tisierung von bundeseigenen Waldflächen ist für mich Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 23: nicht nachvollziehbar. Der Bund hat in den vergangenen Beratung des Antrags der Abgeordneten Cornelia Jahren auf die Privatisierung von schützenswerten Flä- Behm, Undine Kurth (Quedlinburg), Bärbel chen verzichtet und rund 70 000 Hektar, darunter Höhn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion umfangreiche Waldflächen, dem Projekt Nationales Na- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN turerbe zur Verfügung gestellt. Obwohl sich nur ein ge- ringer Anteil des Waldes in Bundeseigentum befindet, Schaffung eines Naturwalderbes vorbereiten hat der Bund einen bedeutenden Beitrag dazu geleistet, und Moratorium für die Privatisierung von den Naturwald in Deutschland zu fördern. Bundeswäldern erlassen – Drucksache 17/796 – Gegen den Antrag spricht außerdem, dass er einseitig auf die Naturwälder ausgerichtet ist. Erforderlich ist Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und vielmehr ein umfassendes Konzept. Nicht nur der Erhalt Verbraucherschutz (f) der biologischen Vielfalt, sondern auch der Ausbau er- Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit neuerbarer Energien und der Klimawandel stellen die Haushaltsausschuss Waldpolitik vor große Herausforderungen. Die Bundes- In der Tagesordnung wurde bereits ausgewiesen, dass regierung hat angekündigt, im Herbst die „Waldstrate- die Reden folgender Kolleginnen und Kollegen zu Pro- gie 2020“ vorzulegen und im kommenden Jahr mit der tokoll gegeben werden: Alois Gerig, Petra Crone, Umsetzung zu beginnen. Die Waldstrategie soll die Dr. Christel Happach-Kasan, Sabine Stüber und Cornelia Frage beantworten, wie der Wald der Zukunft aussehen Behm. soll. Die nicht leichte Aufgabe besteht darin, den Wald zu schützen, geänderte Nutzungsansprüche mit der Leis- tungsfähigkeit des Waldes in Einklang zu bringen und Alois Gerig (CDU/CSU): den Wald auf die Klimaveränderungen vorzubereiten. Die Waldpolitik der CDU/CSU ist darauf ausgerich- tet, den Wald in unserem Land zu erhalten, damit er auch Im Zusammenhang mit der Waldstrategie wird auch in Zukunft seine unterschiedlichen Aufgaben gut erfül- über Naturwälder zu reden sein. Meines Erachtens len kann. Im Mittelpunkt unserer Waldpolitik stehen fol- sollte sich die Waldpolitik nicht starr auf die Erreichung gende Ziele: Wir wollen erstens den Wald schützen, weil des 5-Prozent-Ziels ausrichten. Stattdessen sollten die er für das Klima, die Luftqualität, das Landschaftsbild wirklich schützenswerten Waldflächen identifiziert und (B) und die biologische Vielfalt überragende Bedeutung hat. für den Naturschutz gesichert werden. Zwar sind Natur- (D) Zweitens treten wir dafür ein, dass sich die Menschen wälder wichtig, doch ist zu berücksichtigen, dass auch am Wald erfreuen und den Wald zur Erholung nutzen bewirtschaftete Wälder zum Erhalt der biologischen können. Drittens sind uns gute Rahmenbedingungen für Vielfalt beitragen. Voraussetzung für eine nachhaltige die Forstwirtschaft wichtig, weil Holz ein unverzichtba- Waldbewirtschaftung zum Nutzen von Mensch und Natur rer nachwachsender Rohstoff ist. ist, dass sowohl die forstwirtschaftlich tätigen Unter- In einer Waldpolitik, die sich an diesen Zielen aus- nehmen als auch die Forstverwaltung genügend und gut richtet, sind auch Naturwälder erwünscht. Naturwälder ausgebildete Fachkräfte einsetzen. sind dadurch gekennzeichnet, dass sie ihrer natürlichen Die CDU/CSU wird darauf achten, dass beim Thema Entwicklung überlassen wurden und Eingriffe des Men- Naturwald das richtige Augenmaß beibehalten wird. So schen weitgehend unterbleiben. So leisten Naturwälder wünschenswert Naturwälder grundsätzlich sind, so not- einen wichtigen Beitrag zum Artenschutz, weil sie sich wendig ist es, die Produktion des nachwachsenden Roh- gut als Lebensraum für bedrohte Tier- und Pflanzen- stoffes Holz nicht durch zu viele Naturwälder einzu- arten eignen. Zudem kann in einem Naturwald beobach- schränken. Neben der stofflichen Nutzung wird auch die tet werden, wie sich der Wald ohne direkte Eingriffe des energetische Nutzung von Holz zunehmen – es ist also Menschen entwickelt. Aus diesen Beobachtungen lassen mit steigender Holznachfrage zu rechnen. Deutschland sich wichtige Erkenntnisse für eine zukünftige Waldbe- hat sich das Ziel gesetzt, bis 2020 rund 18 Prozent der wirtschaftung gewinnen. genutzten Energie aus erneuerbaren Energiequellen zu Die Große Koalition hatte 2007 das Ziel formuliert, gewinnen. Wenn zu viele Waldflächen stillgelegt werden, dass rund 5 Prozent der Waldflächen in Deutschland bis gefährden wir die Erreichung unserer ehrgeizigen Kli- 2020 in Naturwald umgewandelt werden sollen. In dem maschutzziele. zur Debatte stehenden Antrag fordert die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen die Bundesregierung auf, eine Petra Crone (SPD): Reihe konkreter Maßnahmen umzusetzen, um dieses Ziel In der Ende 2007 beschlossenen nationalen Strategie zu erreichen. zur biologischen Vielfalt hat sich Deutschlands Regie- Aus meiner Sicht ist es nicht sinnvoll, diesem Antrag rung ehrgeizige Ziele gesetzt. 430 Maßnahmen und zuzustimmen. Um Wälder aus der Nutzung zu nehmen 330 Ziele sollen den Erhalt der Biodiversität in Deutsch- und in Naturwälder umzuwandeln, bestehen bereits ge- land leisten. Biologische Vielfalt hat existenzielle Be- eignete Instrumente. Zu nennen wäre die Unterschutz- deutung. Die Anstrengungen zu deren Erhalt erstrecken stellung von Waldflächen sowie der Vertragsnaturschutz sich unter anderem auf den heimischen Wald als Lebens- 3630 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010

Petra Crone (A) raum für eine Vielzahl von Gemeinschaften aus Flora raumtypen muss sichergestellt werden, dass alle heimi- (C) und Fauna. Circa 4 300 Pflanzen- und Pilzarten und schen Waldgesellschaften in ausreichender Biotopgröße mehr als 6 700 Tierarten leben in den Wäldern Deutsch- in den 5 Prozent Berücksichtigung finden. lands. Bevor dieses Ziel nicht erreicht ist, muss Abstand von Ein wichtiges Ziel aus der Strategie für das Ökosys- Privatisierungen bundeseigener Waldflächen genom- tem Wald ist die Herausnahme von 5 Prozent der Wälder men werden. Auch der Privatwald wird bei der Umset- aus der Nutzung bis zum Jahr 2020. So wichtig die Bio- zung des 5-Prozent-Ziels seinen Beitrag leisten müssen. diversitätsstrategie bereits auf dem Papier ist, natur- Insofern ist die Idee eines „Deutschen Naturwalderbes“ schutzrelevante Wirkungen entfaltet sie erst in ihrer kon- eine gute Diskussionsgrundlage für alles Weitere. Die kreten Umsetzung. Daher begrüße ich es, dass die unterschiedlichen Schutzzwecke des Waldes können dem Fraktion Bündnis 90/Die Grünen im vorliegenden An- Waldbesitzer Pflichten und Beschränkungen auferlegen. trag von der Bundesregierung wissen will, wie genau Ich würde mir wünschen, dass diese einfache Feststel- das 5-Prozent-Ziel von Wäldern mit natürlicher Wald- lung öfter Erwähnung findet. entwicklung erreicht werden soll. Die Forderung nach Die Erkenntnis, dass Klimawandel, Landnutzung und einem Maßnahmenplan mit konkretem Zeitfenster ist da- biologische Vielfalt unentrinnbar verbunden sind, nimmt her zu unterstützen. glücklicherweise zu. Sie bedingen sich lokal, regional, Es trifft bei der SPD-Bundestagsfraktion auf Unver- global. Deshalb ist die Zielmarke von 5 Prozent Wald ständnis, wenn in den letzten Monaten durch Äußerun- mit eigener Entwicklung auch für den Klimaschutz so gen mancher politischer Akteure der Eindruck entsteht, immens wichtig. Wir bekommen durch die Vorgänge in dass die Marke von 5 Prozent zur Disposition stünde Naturwäldern die Antworten auf die Frage: Was macht bzw. mit der Tendenz nach unten verhandelbar sei. die Natur selbst im Hinblick auf den Klimawandel? Un- Deutschland hat sich zum Schutz seiner Floren- und gestörte Wälder besitzen durch die unablässige Anpas- Faunendiversität durch eine ressortübergreifende Kabi- sung an ihre Umwelt natürliche Abwehrkräfte, zum nettsstrategie verpflichtet und sollte sich seiner Vorbild- Beispiel gegen Schädlinge oder Krankheiten. Die dyna- funktion für andere Länder bewusst sein und entspre- mischen Prozesse laufen ohne menschlichen Einfluss ab, chend handeln. Es geht also bei den anstehenden und der Wald befindet sich im ökologischen Gleichge- Beratungen in den Ausschüssen nicht um das „Ob über- wicht. Die hier angesprochene kontinuierliche Anpas- haupt“, sondern wie das 5-Prozent-Ziel konkret erreicht sung an die Umwelt ist heute eine andere als vor werden kann. Der Antrag von Bündnis 90/Die Grünen 150 Jahren, und die Wachstums- und Lebensvorgänge ist hierfür ein Beitrag. Gemeinsam mit den Diskussionen im Wald brauchen ihre Zeit. Wir sind aufgefordert und verpflichtet, dem Ökosystem diese Zeit zu geben. Spätes- (B) zur Novellierung des Bundeswaldgesetzes und mit dem (D) Antrag der SPD-Bundestagsfraktion „Bundeswaldge- tens bei dieser Erkenntnis wird klar, dass der Nutzungs- setz nachhaltig gestalten – Schutz und Pflege des Öko- verzicht nicht vorläufig, sondern dauerhaft angelegt systems für heutige und künftige Generationen“ erhoffe werden muss, gekennzeichnet durch Verbindlichkeit und ich mir für die nächsten Wochen, dass die Ergebnisse Rechtssicherheit. der parlamentarischen Beratungen einen nennenswer- Die Abläufe im Naturwald geben uns wertvolle Hin- ten Beitrag für die Pflege und den Erhalt unseres Waldes weise für den naturnahen Waldbau auf ökologischer leisten werden. Grundlage, der dem Wald als Ökosystem am besten ge- Deutschland ist zu 30 Prozent bewaldet. Davon sind recht wird. Die SPD-Bundestagsfraktion bekennt sich nach Erhebungen des Bundesamtes für Naturschutz zwei daher zu einer ordnungsgemäßen, nachhaltigen und na- Drittel keine naturnahen und nur 9 Prozent altersge- turnahen Bewirtschaftung des Waldes nach den Grund- mischte Wälder. Auch unsere Kulturgeschichte verliert, sätzen der guten fachlichen Praxis. Wir sind der Mei- wenn nur 2,3 Prozent aller Bäume älter als 160 Jahre nung, dass dies die beste Garantie für ein stabiles sind. Bei diesen Daten ist es nachvollziehbar, wenn Tier-, Ökosystem ist, und daher gehören diese Grundsätze ei- Pflanzen- und Pilzarten überproportional gefährdet ner nachhaltigen Waldbewirtschaftung in das Bundes- sind, die auf typische Strukturen naturnaher Wälder spe- waldgesetz. zialisiert sind. Bundesminister Röttgen hat zur Eröffnung des Jahres Doch wie hoch ist der Anteil naturnaher Wälder in der biologischen Vielfalt Anfang dieses Jahres angekün- Deutschland schon heute? Die Regierung hat bisher digt, ein „Bundesprogramm Biologische Vielfalt“ aufzu- keine Aussagen über den Anteil des naturbelassenen legen. Eine konkrete Umsetzung des Beschlossenen zum Waldes machen können. Es ist zu begrüßen, dass das Schutz der Natur sei wichtig. Wir nehmen ihn beim Wort. Bundesamt für Naturschutz ein Forschungs- und Ent- Das ökologische Gleichgewicht wurde an mancher wicklungsvorhaben starten wird, an dessen Ende Zahlen Stelle empfindlich gestört. Nun ist es unser aller Pflicht, stehen werden, sozusagen eine Eröffnungsbilanz. Wir die Waldbestände zu schützen, also Ernst zu machen mit wollen eine halbe Million Hektar Wald aus der Nutzung der Schaffung natürlicher Wälder. nehmen. Wo stehen wir? Wie viel Naturwald brauchen wir noch? In einem zweiten Schritt muss dann geklärt Dr. Christel Happach-Kasan (FDP): werden, welche Flächen und artreichen Biotope die Die potenzielle natürliche Vegetation in Deutschland Vielfalt an Flora und Fauna in Deutschland abbilden. ist Wald. Wälder haben daher für die Biodiversität und Nach der Identifizierung der verschiedenen Lebens- den Artenschutz eine besondere Bedeutung. Die Ausfor-

Zu Protokoll gegebene Reden Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010 3631

Dr. Christel Happach-Kasan (A) mung einer nachhaltigen Forstwirtschaft ist in einem wählten Altwaldstandorten, müssen die Waldeigentü- (C) waldreichen Land wie Deutschland von besonderer Be- mer, zum Beispiel mit den Instrumenten des Vertragsna- deutung. Die großen Holzvorräte in unseren Wäldern turschutzes, für solche Nutzungseinschränkungen haben ein hohes Nutzungspotenzial. Holz ist zurzeit un- finanziell entschädigt werden. Ansprüche der Gesell- ser wichtigster nachwachsender Rohstoff. Dies gilt für schaft an eine ausschließlich naturschutzorientierte Be- die rohstoffliche Nutzung genauso wie für die energeti- wirtschaftung der Wälder müssen von der Gesellschaft sche Nutzung. Die nachhaltige Nutzung von Holz bildet finanziert werden, nicht vom einzelnen Waldbesitzer. Wir das Rückgrat einer nachhaltigen Entwicklung. Eine Fo- setzen uns im Naturschutzbereich auch künftig vordring- kussierung der Bewirtschaftung der Wälder allein auf lich für Maßnahmen auf freiwilliger Basis und für den die Belange der Ökologie oder der Ökonomie wird dem Vertragsnaturschutz ein. Der Naturschutz ist eine ge- Anspruch an eine nachhaltige Entwicklung nicht ge- samtgesellschaftliche Aufgabe. Im Waldland Deutsch- recht. Wälder sind CO2-Senken. Sie sind nach dem land hat gerade die Forstwirtschaft zur Sicherung der Kioto-Protokoll anerkannt. Die Nutzung von Holz im biologischen Vielfalt beigetragen. Der deutsche Wald Bau sowie für die Herstellung von Möbeln und die Er- erfüllt die Ziele der Nationalen Strategie zur Sicherung zeugung von Wärme und Strom aus Rest- und Durchfor- der biologischen Vielfalt bereits zu über 80 Prozent und stungsholz liefern einen wichtigen Beitrag zum Klima- hat damit eine Vorreiterrolle. schutz und stärken gleichzeitig die regionale Wirtschaft. Nach unserer Einschätzung hat die deutsche Forst- Die christlich-liberale Koalition hat sich in ihrem wirtschaft im internationalen Vergleich Vorbildcharak- Koalitionsvertrag eindrücklich zu einer verstärkten Nut- ter. Deutschland hat sich in der Nationalen Strategie zur zung des Rohstoffes Holz bekannt. Gleichzeitig sind wir biologischen Vielfalt dazu bekannt, 5 Prozent der Wald- im Begriff, das Bundeswaldgesetz zu novellieren, um die fläche bis zum Jahr 2020 einer natürlichen Waldent- Bedingungen für die privaten und öffentlichen Waldbe- wicklung zu überlassen. Wir wollen in Zusammenarbeit sitzer zu verbessern und die Nutzung von Kurzumtriebs- mit den Bundesländern die Erfassung der Flächen, auf plantagen im Sinne einer nachhaltigen Gewinnung von denen schon jetzt auf eine Holznutzung verzichtet wird, Biomasse zu ermöglichen. Die Wälder bieten zahlrei- verbessern. Es gibt bereits geeignete Instrumente, um chen Menschen einen Arbeitsplatz und ein gesichertes das beschriebene Ziel umzusetzen. Aus diesem Grund Einkommen, insbesondere im strukturschwachen ländli- halten wir die Schaffung neuer Instrumente für nicht er- chen Raum. Insgesamt sind hierzulande in der Forst- forderlich. Der Erhalt der waldlichen Biodiversität in wirtschaft einschließlich der nachgelagerten Bereiche Deutschland ist nur bei der Verfolgung eines integrati- Holzwirtschaft, Papierindustrie und Holzgroßhandel ven Bewirtschaftungsansatzes auf ganzer Fläche mög- nach Schätzungen des Deutschen Forstwirtschaftsrates, lich. Auf vielen Flächen gilt: Schützen durch Nützen. Die (B) DFWR, etwa 1,2 Millionen Menschen beschäftigt. Die Stilllegung wertvoller Einzelflächen ist ein wirksames (D) Bedeutung des Clusters „Forst und Holz“ hat inzwi- Instrument, die Biodiversität lokal zu schützen. Dadurch schen aufgrund der wirtschaftlichen Situation Deutsch- werden auch umliegende, nachhaltig bewirtschaftete lands eine deutlich höhere Wertigkeit erhalten als noch Flächen in ihrer Biodiversität gestärkt. Wir lehnen die vor wenigen Jahren. Das Cluster erwirtschaftete 2008 pauschale Stilllegung von Waldflächen ab, die mit der einen Gesamtumsatz von 168 Milliarden Euro. Erreichung des 5-Prozent-Ziels begründet wird, und be- In unserem dicht besiedelten Land haben Wälder zu- fürworten die Stilllegung von Waldflächen, die nach gleich eine besondere Bedeutung für die naturnahe Er- fachlichen Kriterien ausgewählt wird. Dabei stehen ins- holung sowie für die Naherholung. Repräsentative Um- besondere Altwaldflächen im Fokus. Im Hinblick auf die fragen in Großstädten ergeben, dass der Erholungsraum derzeit in der Vorbereitung befindliche „Waldstrategie Wald das am häufigsten genutzte Freiraumelement dar- 2020“ und den Bericht zur Umsetzung der Nationalen stellt. Der sonntägliche Waldspaziergang gehört bei vie- Strategie zur biologischen Vielfalt halten wir die von len Familien zu den besonders beliebten Freizeitaktivi- Bündnis90/Die Grünen geforderten Maßnahmen für we- täten. Durch die vielgestaltige Nutzung der Wälder nig durchdachte Schnellschüsse, die nicht geeignet sind, ergeben sich verschiedene Zielkonflikte zwischen Wald- die Ziele bei der Schaffung des nationalen Naturwalder- besitzern, Erholungssuchenden und dem Naturschutz. bes zu erreichen. Die letzte Bundeswaldinventur hat gezeigt, dass die Waldbesitzer insgesamt ihre Wälder sehr verantwortlich Sabine Stüber (DIE LINKE): bewirtschaften. Zahlreiche FFH-Gebiete liegen in Pri- vatwäldern sowie in Körperschaftswäldern und zeigen, Naturwalderbe in Deutschland schaffen – warum ist dass auch eine erwerbsorientierte Bewirtschaftung ver- das wichtig? Weil es direkt unsere Zukunftsfrage be- einbar ist mit den Zielen des Naturschutzes sowie mit rührt: Wie schaffen wir die Anpassung an die Klimaver- dem Erhalt der Biodiversität. änderung, an die Wasserverknappung und an die immer noch rückläufige Biodiversität? Besondere Anforderungen des Naturschutzes können andere Nutzungsmöglichkeiten einschränken. Dazu ge- Uns fehlen nicht die Visionen von einem intakten hört insbesondere der totale Verzicht auf Holzeinschlag. Naturhaushalt und auch nicht die erforderlichen Kennt- Wo aus Sicht des Naturschutzes zur Sicherung der Biodi- nisse. Das alles wird in der 2007 von der Bundesregie- versität Bewirtschaftungsauflagen erteilt werden, die rung beschlossenen nationalen Strategie zur biologi- über die Gemeinwohlverpflichtung des Grundgesetzes schen Vielfalt aufgezeigt. Die Konsequenz zum klaren hinausgehen, beispielsweise Nutzungsverzicht in ausge- Handeln ist es, was fehlt.

Zu Protokoll gegebene Reden 3632 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010

Sabine Stüber (A) Für den Wald bedeutet die nationale Strategie, dass gen soll, wären das bei einem Staatswaldanteil von (C) sich Vielfalt, Struktur und Dynamik der heimischen Wäl- 33,3 Prozent im Jahr 2002 etwa 370 000 Hektar. der bis zum Jahre 2020 weitgehend verbessern sollen. Die Frage nach dem Wie bleibt offen. Bisher ist leider Die neue Bundesregierung hat sich in ihrer Antwort kein roter Faden erkennbar. Immerhin ein substanzielles auf unsere Kleine Anfrage zur Schaffung eines Natur- Ziel wurde festgeschrieben: „2020 beträgt der Flächen- walderbes auf 5 Prozent der bundesdeutschen Waldflä- anteil der Wälder mit natürlicher Waldentwicklung che zum Festhalten an diesem Ziel bekannt. Ich weiß 5 Prozent der Waldfläche.“ Das ist erst einmal eine nicht, wie ernst diese Aussage gemeint gewesen ist. Ge- starke Aussage, aber auch hier erkennt man keine kon- messen am politischen Handeln kann man den Eindruck krete Herangehensweise. Die Bundesregierung benötigt gewinnen, dass die Bundesregierung nur pro forma da- offensichtlich einen Fahrplan, der die zeitlichen und in- ran festhält. Sie hat trotz mehrfacher Nachfragen bisher haltlichen Schritte vorgibt, um das Ziel zu erreichen, keinerlei Angaben dazu gemacht, mit welchen Maßnah- 5 Prozent der deutschen Waldflächen bis 2020 als Na- men sie dieses Ziel erreichen will. Daher legen jetzt wir turwalderbe dauerhaft dem Prozess einer natürlichen einen Fahrplan vor, wie für Mitteleuropa typische Wäl- Entwicklung zu überlassen. Deshalb unterstützen wir der und alle in den deutschen Wäldern lebenden Arten den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. auf entsprechend ausgewählten Flächen geschützt wer- den können. Das Ziel – die Schaffung von 5 Prozent Naturwald- Vonseiten der Waldbesitzer wird vielfach argumen- erbe – steht für uns außer Frage, und wir folgen den Ar- tiert, der Schutz der biologischen Vielfalt im Wald be- gumenten des Antrages weitgehend. Als vordringliche dürfe keiner stillgelegten Wälder. Schließlich genügten Aufgabe sehen wir für ein so weitreichendes Vorhaben ordnungsgemäß bewirtschaftete Forsten ohnehin allen ein Umsetzungskonzept. So wollen wir auch das Wort Ansprüchen, die man aus Sicht des Naturschutzes an den „zeitnah“ in dem Antrag durch einen konkreten Zeit- Wald stellen sollte. Wobei mancher meint, das würde be- punkt ersetzen, bis zu dem eine Bestandsaufnahme der reits heute gelten. Andere meinen demgegenüber, das bisher dauerhaft aus der Nutzung genommenen Wälder würde zumindest dann gelten, wenn die Ansprüche des vorgelegt wird. Die Größen der Waldareale mit ihren Naturschutzes flächendeckend in die Waldbewirtschaf- charakteristischen Lebensraumtypen bilden für uns die tung integriert sind, also ein integrierter Naturschutz im Grundlage für ein Umsetzungskonzept. Wald betrieben wird. Jedoch hat jüngst die dritte Tagung Es gibt noch viele Fragen zur Herangehensweise und zur Waldstrategie 2020 belegt, dass nichts davon zu- zu den Maßnahmen. Diese hat die Fraktion Bündnis 90/ trifft. Die Grünen in ihrem Antrag angesprochen. Neben den Bedroht sind vor allem die Arten, die an die Alters- (B) Maßnahmen zur Erreichung des Naturwalderbezieles und Absterbephasen von Bäumen und an Totholz gebun- (D) muss die Bundesregierung auch die berechtigten Be- den sind. Um diese zu schützen, bedarf es eines Mindest- fürchtungen der Holzwirtschaft aufgreifen. Neben sin- anteils an nutzungsfreien Wäldern, in denen sich pro kenden Umsätzen werden steigende Holzimporte aus Hektar mehr als 30 bis 60 Kubikmeter an Totholz an- schutzwürdigen Wäldern anderer Länder erwartet, wo- sammeln. Deshalb ist der dauerhafte Nutzungsverzicht mit wiederum nur ein Verschieben von Problemen statt- für besonders schutzwürdige Waldökosysteme so wich- finden wird. tig. Für die Zeit bis zur Schaffung eines deutschen Natur- Sollte Deutschland den erheblichen Vorbehalten in walderbes gebietet schon der gesunde Menschenver- der Forst- und Holzwirtschaft gegen den Nutzungsver- stand, die weitere Privatisierung bundeseigener Wälder zicht in diesem 5-Prozent-Anteil der deutschen Wälder auszusetzen – von berechtigten Ansprüchen abgesehen. nachgeben, macht sich die deutsche Politik internatio- Eine entsprechende Vereinbarung mit Ländern und nal unglaubwürdig, wenn sie andererseits den Erhalt Kommunen muss gefunden werden. von Urwäldern und damit den Verzicht auf die Nutzung eines Teils der Wälder dieser Welt fordert. Schon aus Die Zusammenfassung der Naturwalderbeflächen in diesem Grund sind wir verpflichtet, ein nationales Na- einem eigenen Pool begrüßen wir sehr, sehen aber zu turwalderbe zu schaffen. dessen Verwaltung die Gründung eines eigens dafür vor- gesehenen Dachverbandes als nicht erforderlich an. Doch seit zweieinhalb Jahren hat es die Bundesregie- Sinnvoll ist doch, eine geeignete, bereits bestehende rung unterlassen, für Klarheit darüber zu sorgen, wie Struktur mit dieser Aufgabe zu betrauen. viel Hektar Naturwald es in Deutschland tatsächlich be- reits gibt. Auch das nährt den Eindruck, dass es die Bun- Cornelia Behm (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): desregierung mit diesem Ziel nicht wirklich ernst meint. Die alte Bundesregierung hat sich 2007 in ihrer na- Dabei könnte man das recht unbürokratisch errei- tionalen Biodiversitätsstrategie zum Ziel gesetzt, bis chen, indem zum Beispiel eine Dachorganisation ge- 2020 5 Prozent der deutschen Wälder mit einer natürli- gründet wird, in die Institutionen und Waldbesitzer ihre chen Entwicklung zu erreichen, wobei unter „natürli- stillgelegten Waldflächen ohne Verzicht auf ihr Eigen- cher Entwicklung“ „aus der Nutzung genommen“ oder tum einbringen können. Diese Dachorganisation hätte „stillgelegt“ zu verstehen ist. Bei gut 11 Millionen Hek- die Aufgabe, einen einheitlichen Standard für die Aner- tar Wald in Deutschland sind das etwa 550 000 Hektar. kennung als verbindlich und dauerhaft nutzungsfreie Da bei den Staatswäldern der Anteil 10 Prozent betra- Wälder festzulegen. Außerdem hätte sie den Überblick

Zu Protokoll gegebene Reden Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010 3633

Cornelia Behm (A) über den aktuellen Bestand. Die Unsicherheit über den Wir kommen nun zum Zusatzpunkt 5: (C) Zielerreichungsgrad hätte dann ein Ende. Beratung des Antrags der Abgeordneten Volker Zur Beruhigung der Privatwaldbesitzer möchte ich Beck (Köln), Tom Koenigs, Marieluise Beck sagen: Bündnis 90/Die Grünen gehen davon aus, dass (Bremen), weiterer Abgeordneter und der Frak- das Naturwalderbe überwiegend aus Wäldern im öffent- tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN lichen Eigentum bestehen wird. Denn Nutzungsverzicht Umgang mit Guantánamo-Häftlingen ist im Privatwald weder durch Ordnungsrecht noch durch Vertragsnaturschutz dauerhaft abzusichern. Nut- – Drucksache 17/1421 – zungsverzicht per Ordnungsrecht ohne eine Entschädi- Überweisungsvorschlag: Innenausschuss (f) gung käme einem enteignungsgleichen Eingriff in das Auswärtiger Ausschuss Privateigentum gleich. Statt einmalig Entschädigungen Rechtsausschuss oder dauerhaft Prämien an Privatwaldbesitzer zu zah- Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe len, dürfte es meist sinnvoller sein, die betreffenden Wäl- Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu der zu erwerben. diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. – Angesichts der vorliegenden Zahlen und Rahmenbe- Auch damit sind Sie einverstanden. Es handelt sich um die Reden folgender Kolleginnen und Kollegen: Rüdiger dingungen kommen wir Bündnisgrüne zu der Einschät- Veit, Serkan Tören, Ulla Jelpke, Volker Beck und des zung, dass zur Schaffung des Naturwalderbes noch Parlamentarischen Staatssekretärs Dr. Ole Schröder.1) erhebliche Flächen fehlen, vielleicht sogar mehrere Hunderttausend Hektar. Daher wird der Bund auch Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Wälder erwerben müssen. Drucksache 17/1421 an die in der Tagesordnung aufge- führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Wie ich sehe, sind In diesem Zusammenhang wäre es kontraproduktiv, Sie damit einverstanden. Dann ist auch diese Überwei- wenn der Bund 165 000 Hektar Bundeswald zunächst sung so beschlossen. privatisieren würde, nur um anschließend wieder Wald für das Naturwalderbe ankaufen zu müssen. Daher for- Für heute sind alle Abstimmungen und Debatten erle- dern wir ein Moratorium für die Privatisierung von digt. Bundeswäldern. Das ist für eine Übergangszeit auch Wir sind am Schluss unserer heutigen Tagesordnung. ohne Gesetzesänderung möglich, auch wenn die bundes- Ich bedanke mich für das lange Ausharren. eigenen Waldbesitzer allesamt gesetzliche Privatisie- Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun- rungsaufträge haben. (B) destages auf morgen, Freitag, den 23. April 2010, 9 Uhr, (D) ein. Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Ich schließe die Sitzung und wünsche Ihnen allen ei- Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf nen schönen und angenehmen Abend. Drucksache 17/796 an die in der Tagesordnung aufge- führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Wie ich sehe, sind (Schluss: 20.17 Uhr) Sie damit einverstanden. Dann ist die Überweisung so beschlossen. 1) Anlage 6

Berichtigung 36. Sitzung, Seite 3436 B, der zweite Redebeitrag ist zu lesen als: (Zuruf von der SPD: Dann muss das ja ein fal- scher Fuffziger sein!)

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010 3635

(A) Anlagen zum Stenografischen Bericht (C)

Anlage 1 Anlage 2 Liste der entschuldigten Abgeordneten Erklärung des Abgeordneten Jörn Wunderlich (DIE entschuldigt bis LINKE) zur Abstimmung über den Änderungs- Abgeordnete(r) einschließlich antrag der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN zu dem Entwurf eines Gesetzes zur Abschaffung des Finanzplanungsrates (Druck- Beck (Bremen), BÜNDNIS 90/ 22.04.2010 sache 17/1473) (Tagesordnungspunkt 11) Marieluise DIE GRÜNEN Das Votum der Fraktion Die Linke ist „Ablehnung“. Binder, Karin DIE LINKE 22.04.2010

Dörmann, Martin SPD 22.04.2010 Anlage 3

Frankenhauser, CDU/CSU 22.04.2010 Zu Protokoll gegebene Reden Herbert zur Beratung des Entwurfs eines Ersten Geset- zes zur Änderung des Telemediengesetzes Dr. Geisen, Edmund FDP 22.04.2010 (1. Telemedienänderungsgesetz) (Tagesordnungs- Peter punkt 13) Herrmann, Jürgen CDU/CSU 22.04.2010 Andreas G. Lämmel (CDU/CSU): Am 25. Februar Höhn, Bärbel BÜNDNIS 90/ 22.04.2010 2010 hatten wir diesen Gesetzentwurf bereits in erster DIE GRÜNEN Lesung im Plenum. Nun kann das Gesetz in zweiter und dritter Lesung verabschiedet werden. Im parlamentari- Kolbe, Daniela SPD 22.04.2010 schen Verfahren war dieser Gesetzentwurf nicht Gegen- stand kontroverser Diskussionen. Worum geht es genau, Krischer, Oliver BÜNDNIS 90/ 22.04.2010 was regelt dieses Gesetz? (B) DIE GRÜNEN Es geht erstens um die Eins-zu-eins-Umsetzung einer (D) Richtlinie der Europäischen Union in deutsches Recht. Kumpf, Ute SPD 22.04.2010 Konkret geht es um die Richtlinie 2007/65/EG des Euro- päischen Parlaments und des Rates vom 11. Dezember Laurischk, Sibylle FDP 22.04.2010 2007 zur Änderung der Richtlinie 89/552/EWG des Ra- tes zur Koordinierung bestimmter Rechts- und Verwal- Lutze, Thomas DIE LINKE 22.04.2010 tungsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Ausübung Dr. de Maizière, CDU/CSU 22.04.2010 der Fernsehtätigkeit, Audiovisuelle-Mediendienste-Richt- Thomas linie – AVMD-RL. Innerhalb des deutschen Rechts enthält das Teleme- Dr. Miersch, Matthias SPD 22.04.2010 diengesetz, TMG, die wirtschaftsbezogenen Regelungen für die Telemedien. Speziell sind dies die Vorschriften, Mißfelder, Philipp CDU/CSU 22.04.2010 die der Umsetzung einer anderen Richtlinie der Europäi- schen Union, 2000/31/EG, sogenannte E-Commerce- Dr. Mützenich, Rolf SPD 22.04.2010 Richtlinie, dienen. Der Rundfunkstaatsvertrag der Bun- desländer beinhaltet ebenfalls Regelungen zum Thema Nietan, Dietmar SPD 22.04.2010 Telemedien. Diese gesetzlichen Regelungen werden durch die Vereinbarungen des Bundes und der Bundes- Ostendorff, Friedrich BÜNDNIS 90/ 22.04.2010 länder aus dem Jahre 2004 zur Fortentwicklung der Me- DIE GRÜNEN dienordnung abgerundet. Dr. Raabe, Sascha SPD 22.04.2010 Es geht zweitens um einheitliche rechtliche Rahmen- bedingungen. Die nunmehr in deutsches Recht umge- Riegert, Klaus CDU/CSU 22.04.2010 setzte Richtlinie erweitert den bestehenden Rechtsrah- men für die Branche. Gerade in einer Branche mit Steinbrück, Peer SPD 22.04.2010 hohem Innovationstempo ist es notwendig, die rechtli- chen Rahmenbedingungen ständig zu aktualisieren und Dr. Volkmer, Marlies SPD 22.04.2010 den Marktteilnehmern Rechtssicherheit zu gewähren. Das neue Telemediengesetz deckt nun sämtliche audio- Winkler, Josef Philip BÜNDNIS 90/ 22.04.2010 visuellen Mediendienste ab. Neben den bisher umfassten DIE GRÜNEN Fernsehdiensten sind nun auch die audiovisuellen Me- 3636 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010

(A) diendienste auf Abruf Gegenstand des Gesetzes. Die haltung von Bündnis 90/Die Grünen angenommen. Die (C) Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaa- Absicht, EU-Richtlinien eins zu eins umzusetzen, ist er- ten für audiovisuelle Mediendienste auf Abruf hatten füllt. Über spätere Nachbesserungen kann selbstver- bisher unterschiedliche Inhalte, die teilweise den freien ständlich nachgedacht werden. Zunächst galt es aber, Dienstleistungsverkehr innerhalb der Europäischen den Auftrag der Umsetzung in nationales Recht zu erfül- Union zu behindern und den Wettbewerb innerhalb des len, um Sanktionen zu vermeiden. EU-Binnenmarkts zu verzerren drohten. Schließlich ist ebenso positiv zu bewerten, dass der Bedenkt man das erhebliche Potenzial für hochquali- Nationale Normenkontrollrat im Rahmen seines gesetz- fizierte Arbeitsplätze, welches die neuen audiovisuellen lichen Prüfauftrags keine Bedenken gegen diesen Ge- Mediendienste auf Abruf – gerade für kleinere und mitt- setzentwurf vorbringt. Zusätzliche Informationspflichten lere Unternehmen – bieten, dann ist die Absicht der für die Unternehmen in unserem Lande werden nicht Europäischen Union, hier gleiche Wettbewerbsbedin- eingeführt, geändert oder aufgehoben. Folglich sind mit gungen zu schaffen, zu begrüßen. Gerade die Prinzipien diesem Gesetzentwurf auch keine zusätzlichen Büro- des Binnenmarktes, freier Wettbewerb und Gleichbe- kratiekosten verbunden, ein Umstand, der mir als handlung aller Marktteilnehmer, sind Vorraussetzungen Wirtschaftspolitiker große Freude bereitet. Unsere Un- für einen transparenten und berechenbaren Markt sowie ternehmen, gerade die kleinen und mittelständischen für einen problemlosen Zugang der Verbraucher zu die- Unternehmen, benötigen nicht mehr Bürokratie, sondern sen Diensten. weniger. Gleiche Wettbewerbsbedingungen und Rechtssicher- Der vorliegende Gesetzentwurf ist mit den Bundes- heit innerhalb der Europäischen Union für die audio- ländern abgestimmt. Diese enge Bund-Länder-Ab- visuellen Mediendienste auf Abruf sind daher unbedingt stimmung wird bewirken, dass die erforderlichen positiv zu bewerten. Aus marktwirtschaftlicher Perspek- Umsetzungsmaßnahmen durch die Bundesländer ohne tive sind aktuelle und klare rechtliche Rahmenbedingun- Probleme geschehen. Die Länder werden die Anforde- gen stets zu begrüßen. rungen aus der Richtlinie mit dem 13. Rundfunkände- Es geht drittens um klare Begriffbestimmungen. Die rungsstaatsvertrag, 13. RÄStV, umsetzen. Ich meine, es neue Richtlinie der Europäischen Union und deren recht- ist gut für das Ansehen des Bundestages und aller Frak- liche Umsetzung in das deutsche Recht sorgen nun dem- tionen, wenn Gesetzesvorhaben ohne juristische Streite- entsprechend auch für eine klare Begriffsbestimmung. reien und rechtliche Unklarheiten umgesetzt werden. Dazu zählen die Begriffe des Diensteanbieters und des Die Bürger unseres Landes erwarten schnelles Handeln. audiovisuellen Mediendienstes auf Abruf. In diesem Fall ist dies durch vorausschauendes Agieren gelungen. (B) (D) Das Gesetz definiert solche Dienste als audiovisuelle Mediendienste auf Abruf, die nach Form und Inhalt dem Klaus Barthel (SPD): Das Internet hat nicht nur alle Fernsehen ähnlich sind. Dies gilt dann, wenn sie sich als gesellschaftlichen Lebensbereiche erfasst, es hat auch Massenmedien an eine breite Öffentlichkeit wenden und unsere Gewohnheiten verändert. Heute ist es beispiels- die Bereitstellung fernsehähnlicher Dienste Hauptzweck weise problemlos möglich, die eigene Lieblingssendung des Angebots ist. Ist dieses Angebot nur Nebenzweck ei- auch über das Internet oder das Mobiltelefon zu sehen. nes Anbieters, so ist dies kein audiovisueller Medien- Da die Benutzung jener audiovisuellen Mediendienste dienst auf Abruf. Audiovisuell erfordert in diesem Fall grenzüberschreitend möglich ist, stehen sie auch im Fo- die Übertragung bewegter Bilder mit oder ohne Ton. kus der Europäischen Union. Der Adressatenkreis des Gesetzes ist ebenfalls einge- Die neuen Möglichkeiten werden von den Menschen grenzt. Anbieter audiovisueller Mediendienste auf Abruf angenommen, und das ist gut so. Die Internetbranche ist sind dem Gesetz nach Anbieter, welche die wirksame ein Wachstumsmarkt für unser Land und hat in den ver- Kontrolle über Auswahl und Gestaltung der oben ange- gangenen Jahren viele Arbeitsplätze insbesondere in führten Inhalte haben. kleineren und mittelständischen Unternehmen geschaf- Es geht viertens um eine Klarstellung des Sitzes und fen. Zugleich aber entstehen praktische und rechtliche des Herkunftslandes. Klarheit bringt das Gesetz eben- Fragen, die es zu lösen gilt. Hier will und muss die Poli- falls zum Problem des Sitzes und des Herkunftslandes. tik Schritt halten; denn es liegt auf der Hand, dass die Gesetz und Richtlinie stellen einerseits auf die Nieder- unzählbare Nutzung des Internets und die technischen lassung des Anbieters ab, den Ort also, an dem die re- Besonderheiten Herausforderungen mit sich bringen. daktionelle Arbeit und das damit beauftragte Personal tä- Das erste Telemedienänderungsgesetz greift diesen tig sind. Andererseits – falls dieses nicht feststellbar ist – Handlungsbedarf auf. Es widmet sich der Umsetzung gilt der Ort der Nutzung einer Satellitenbodenstation. der europäischen Audiovisuelle-Mediendienste-Richtli- Es gab fünftens keine Änderungsanträge in den Aus- nie in nationales Recht. Damit werden Telemedien in die schüssen. Im parlamentarischen Verfahren waren keine Vorschriften der Fernsehrichtlinie aufgenommen, die in Änderungen notwendig. Sowohl im federführenden fernsehähnlicher Form audiovisuelle Inhalte anbieten. Ausschuss für Wirtschaft und Technologie, als auch im Man spricht in diesem Fall von audiovisuellen Medien- mitberatenden Rechtsauschuss sowie dem Ausschuss für diensten auf Abruf, Ondemand. Fernsehähnlich bedeu- Kultur und Medien wurde der Gesetzentwurf mit den tet, dass sich die Abrufdienste vergleichbar mit Fernseh- Stimmen von CDU/CSU, FDP, SPD und Linken bei Ent- sendungen an das gleiche Publikum richten und die Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010 3637

(A) Nutzer zudem einen ähnlichen Regelungsschutz erwar- kerngleich ist, ist jedoch immer noch unklar. Daher gibt (C) ten können. Die Bundesländer haben hierzu den es insbesondere für kleinere Diensteanbieter ein hohes 13. Rundfunkänderungsstaatsvertrag beschlossen, der Haftungsrisiko. Aus unserer Sicht muss ein gerechter am 1. April in Kraft getreten ist. und praktikabler Lösungsweg gefunden werden, der die unterschiedlichen Interessen von Rechteinhabern, Ver- Damit wir in der Europäischen Union weitgehend die brauchern und Internetunternehmen berücksichtigt und gleichen Standards haben, bedurfte es einer Harmonisie- in eine vernünftige Balance bringt. Auch muss geprüft rung innerhalb des Fernsehbinnenmarktes. Die Richtli- werden, ob und inwieweit es einen Handlungsbedarf für nie über audiovisuelle Mediendienste folgt der Richtlinie die Speicherung und Verarbeitung von personenbezoge- „Fernsehen ohne Grenzen“ aus dem Jahre 1989, die nen Daten in sozialen Netzwerken gibt. Dies gilt insbe- 1997 und 2007 überarbeitet worden ist. Sie führt nun sondere für Unternehmen wie Facebook, die ihren Sitz weniger detailreiche, im Gegenzug aber flexiblere Vor- nicht in Deutschland oder der EU haben. Hier muss schriften ein. So werden in der neuen Fassung die Vor- möglicherweise noch klarer formuliert werden, dass die schriften für die Fernsehwerbung modernisiert. Ziel ist Verwendung und Weitergabe von personenbezogenen es, audiovisuelle Inhalte besser zu finanzieren. Hiervon Daten nur bei ausdrücklicher Einwilligung der Nutzerin- profitieren vor allem private Anbieter, die ihre Dienste nen und Nutzer erfolgen darf. An dieser Stelle kann ich mit Werbung finanzieren. die Bundesregierung nur nochmals dazu auffordern, Mit den neuen Regelungen entstehen verbesserte schnellstmöglich einen weiteren Gesetzentwurf vorzule- Wettbewerbsbedingungen und Rechtssicherheit für Sen- gen, der den hier skizzierten Handlungsbedarf aufgreift. der und Dienste der Informationsgesellschaft. Sie stär- Wir werden auch immer ungeduldiger, wenn es da- ken die Wirtschaft und nützen den Verbraucherinnen und rum geht, die Probleme des Datenschutzes und des Ver- Verbrauchern. Dabei steht außer Frage, dass die Begren- braucherschutzes, gerade in der elektronischen Kommu- zungen beim öffentlich-rechtlichen Rundfunk wie bisher nikation, zu lösen. Es reicht einfach nicht, wenn sich die bestehen bleiben. Es wird also auch künftig keine Wer- bung an Sonn- und Feiertagen und nach 20 Uhr geben. zuständige Ministerin öffentlichkeitswirksam, von der Presseerklärung zur Talkshow und zurück, als Rächerin Aus den genannten Gründen wird meine Fraktion der Abgezockten inszeniert. Immer lauter stellt sich dem Gesetzentwurf zustimmen. Ich will aber nicht ver- doch die Frage, wann der Gesetzgeber gegen die miesen hehlen, dass mit Blick auf das Telemediengesetz noch und unlauteren Praktiken und gegen die Gesetzeslücken, ein Stück Arbeit auf uns wartet. Die Regelungen müssen gerade im Internet, vorgeht. mit Blick auf die rasanten Veränderungen im Bereich der elektronischen Kommunikation auf der Höhe der Zeit Deshalb geht der Entschließungsantrag der Grünen, (B) bleiben. Drucksache 17/8718, in die richtige Richtung. Aller- (D) dings stellt er Positionen und Forderungen auf, die einer Es ist daher weitgehend unstrittig, dass es Änderungs- eingehenden Beratung bedürfen. Andere Punkte fehlen. und Ergänzungsbedarf am Telemediengesetz gibt. Wir So etwas kann man hier nicht einfach aus dem Ärmel mussten seinerzeit im Januar 2007 dieses Gesetz unter schütteln. Deshalb enthalten wir uns bei der Abstim- Termindruck verabschieden, damit es zeitgleich am mung über den Entschließungsantrag. 1. März 2007 mit dem neuen Rundfunkstaatsvertrag der Länder in Kraft treten konnte. Damit wurden das frühere Teledienstegesetz und der Mediendienste-Staatsvertrag Claudia Bögel (FDP): Der vorliegende Entwurf soll zusammengeführt. Bestimmte Fragen, wie beispiels- die Audiovisuelle-Mediendienste-Richtlinie umsetzen. weise die Anbieterhaftung, konnten wir damals nicht Das Ziel ist ein einheitlicher Rechtsrahmen für alle au- mehr vollständig klären. diovisuellen Mediendienste, da ein europäischer Binnen- markt zwingend für alle Wettbewerber gleiche Spielre- Hinzu kommt, dass es sich um eine komplizierte geln erforderlich macht. Denn es ist ja unstrittig, dass Rechtsmaterie handelt, die nicht nur auf sich ständig ver- Diensteangebote über das Internet, die alle nationalen ändernde Neuentwicklungen reagieren, sondern auch auf Grenzen überschreiten, nur im europäischen oder welt- neue Geschäftsmodelle und Missbrauchstatbestände an- weiten Rahmen behandelt werden können, wenn man ihr gewendet werden muss. Es besteht insbesondere Hand- wirtschaftliches Potenzial bestmöglich ausschöpfen will. lungsbedarf im Bereich der Fragen von Verantwortung und Haftung der Diensteanbieter. Das bezieht sich auf Das ist das Ziel, und es bedarf keiner Aufforderung die Klärung der Störerhaftung sowie Fragen, die von den der Opposition, die Reform des TMG immer weiter vo- Haftungsbestimmungen der einschlägigen E-Commerce- ranzutreiben. Es ist unser ureigenstes Anliegen, das wir Richtlinie nicht erfasst werden. Diese sind daher bisher auch wiederholt deutlich gemacht haben. Wenn Sie zum im Telemediengesetz nicht ausdrücklich geregelt wor- Beispiel einmal einen Blick in den Koalitionsvertrag den, was insbesondere Folgen für Suchmaschinen und werfen: Hier steht schwarz auf weiß, dass wir das TMG Hyperlinks hat. fortentwickeln wollen. Und wir stehen zu unserem Wort. Die Störerhaftung ist allerdings eine entscheidende Seien Sie versichert: Hier wird nichts auf die lange Frage. Die Rechtsprechung beurteilt die Unterlassungs- Bank geschoben, sondern sorgfältig geprüft und schließ- ansprüche nach allgemeinen Grundsätzen. Daher werden lich, mit dem Ziel, einen ausgewogenen Interessenaus- Unterlassungsansprüche von einem bestimmten Fall auf gleich zu bekommen und zugleich auch mehr Rechtssi- „kerngleiche“ Rechtsverletzungen ausgedehnt. Was cherheit zu schaffen, umgesetzt. 3638 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010

(A) Aber genau bei diesem ausgewogenen Interessenaus- Ihnen aufgeworfenen Fragestellung beschäftigt und ei- (C) gleich hinkt Ihr Antrag, liebe Kollegen von den Grünen. nige Punkte auch bereits gesetzlich festgelegt hat. Einerseits wollen Sie keine Vorabkontrolle und keine Überwachung, sondern ein freies Internet. Andererseits Doch Sie wissen genauso gut wie wir, dass das aber fordern Sie hohe Anforderungen an den Daten- Thema erheblich komplexer ist als Ihr Antrag. Hier muss schutz, und die Urheberrechte sollen gewahrt werden. daher Qualität vor Schnelligkeit gehen. Das sind alles hehre Ziele, deren gänzliche und prompte Darum, nehme ich an, haben Sie auch der Einsetzung Erfüllung ich mir auch wünschen würde; aber es gibt der Enquete-Kommission „Internet und digitale Gesell- eben keine eierlegende Wollmilchsau, sosehr wir uns das schaft“ zugestimmt. Ich bin sicher, dass in diesem Gre- vielleicht alle manchmal wünschen mögen. mium das Thema Rechtssicherheit und Rechtsklarheit Ich möchte kurz auf einige der Punkte Ihres Antrages für Diensteanbieter bearbeitet und diskutiert werden im Einzelnen eingehen. wird, und selbstverständlich ist auch meine Fraktion da- für. Eines ist aber klar: Schnellschüsse sind in jedem Fall Sie fordern eine Klarheit bei der Anbieterdefinition. alles andere als förderlich und ganz und gar hinderlich. Warum? Es gibt hier keine Unklarheiten im TMG. Allen- falls im Jugendmedienschutz-Staatsvertrag lässt sich Der Entschließungsantrag von Bündnis 90/Die Grü- eine solche feststellen, aber das hat nichts mit dem TMG nen wird von meiner Fraktion daher abgelehnt werden. zu tun. Der Anbieterbegriff entspricht im Übrigen den Vorgaben der E-Commerce-Richtlinie. Kathrin Senger-Schäfer (DIE LINKE): Worüber diskutieren wir? Die Bundesregierung muss das erst vor Zu Ihrem zweiten Punkt. Eine verpflichtende Vorab- drei Jahren in Kraft getretene Telemediengesetz korri- kontrolle der Inhalte durch Anbieter bei Web-2.0-Ange- gieren, da die EU-Fernsehrichtlinie das erfordert. Inhalt- boten soll definitiv ausgeschlossen werden. Hierzu lich geht es dabei um Änderungen im Geltungsbereich, möchte ich § 7 Abs. 2 TMG zitieren: in den Begriffsbestimmungen und Regelungen zum Sitz- Diensteanbieter im Sinne der §§ 8 bis 10 sind nicht land der audiovisuellen Mediendienste. Das ist im verpflichtet, die von ihnen übermittelten oder ge- Grunde relativ unproblematisch und folgt der üblichen speicherten Informationen zu überwachen oder Gesetzgebungsroutine. nach Umständen zu forschen, die auf eine rechts- Problematisch ist aber Folgendes: Als das Teleme- widrige Tätigkeit hinweisen. diengesetz im Februar 2007 verabschiedet wurde, gab es Anbieter von Web-2.0-Angeboten, die sie mit Ihrer bereits mehrere schwierige Punkte. Schon damals war klar, dass in der Frage der Haftung für fremde Inhalte (B) Forderung hier geschützt sehen wollen, sind das also be- (D) reits. Sie sind nach § 10 TMG als regelmäßige Hosting- nachgebessert werden muss. Bei der Haftungsfrage müs- Anbieter anzusehen und fallen damit unter diese Norm. sen die Inhalte- und Zugangsanbieter wissen, was er- laubt und was verboten ist. Fakt ist, dass seit Inkrafttre- Ihr Entschließungsantrag sieht außerdem die Schaf- ten des Telemediengesetzes Gerichte in Deutschland in fung von Klarheit für die Haftung von Zugangsanbietern zahlreichen Urteilen in diesen und ähnlichen Fragen völ- wie Suchmaschinen vor. Das ist ganz im Sinne der FDP, lig unterschiedlich entscheiden. und auch wir unterstützen eine Klärung der Verantwort- lichkeit von Suchmaschinenanbietern. Wir sagen klipp und klar: Wir brauchen eine gesetzli- che Klarstellung, damit beispielsweise Webseitenbetrei- Zu den verschiedenen Punkten den Verbraucher- ber und Inhalteanbieter künftig nicht – im vorauseilen- schutz und den Verbraucherdatenschutz betreffend ist den Gehorsam – Überwachungspflichten für fremde von unserer Seite zu sagen, dass die Verwendung von Inhalte ausüben müssen. und der Handel mit Daten nur bei ausdrücklicher Einwil- ligung bereits geregelt sind. Nach § 12 Abs. 1 ist dies Auch zu diesem Beispiel kann ich sagen: Das Tele- nur genehmigt, soweit es durch Gesetz erlaubt ist oder mediengesetz in der aktuellen Fassung ist niederge- der „Nutzer eingewilligt hat“. schriebene Rechtsunsicherheit. Das Haus des Bundes- wirtschaftsministers ist in der Lage, quasi über Nacht ein Außerdem noch ein Wort zu der von Ihnen geforder- Internetsperrgesetz vorzulegen, das ursprünglich eben- ten Selbstverpflichtung sozialer Netzwerke, deutsche falls als eine Änderung des Telemediengesetzes angelegt Datenschutzstandards einzuhalten. Soweit es sich um die war. Aber die immer wieder eingeforderte grundlegende in Deutschland niedergelassenen Anbieter handelt, ist es Novellierung des Telemediengesetzes kann dieses Haus gar keine Frage, dass sie das deutsche Datenschutzrecht bis heute nicht vorlegen. Ich behaupte: Das ist ein Ar- einhalten müssen. Natürlich müssen und werden mit den mutszeugnis für das Bundeswirtschaftsministerium. anderen Anbietern Gespräche geführt werden, sodass man auch hier zu einer Einigung gelangt. Doch unter- Meine Fraktion hat in der letzten Legislaturperiode schätzen Sie den Einfluss der Nutzer selbst hier nicht! Änderungsvorschläge zur Novellierung des Teleme- Schon oft war zu beobachten, dass die sozialen Netz- diengesetzes vorgelegt. Es ist uns wichtig, rechtliche werke die Anliegen ihrer Community sehr ernst nehmen Klarheit über die Haftung von Anbietern von Multime- und ihr Handeln danach ausrichten. diadiensten wie Foren, Chats, Gästebücher und Blogs zu schaffen. Wir wollen den Datenschutz stärken. Daten Zusammenfassend bleibt festzustellen, dass die Bun- dürfen nicht an eine nahezu beliebige Zahl von Interes- desregierung sich aus meiner Sicht intensiv mit der von senten aus Polizei, Geheimdienst und Militär herausge- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010 3639

(A) geben werden. Wir fordern für die Herausgabe von per- terhaftung, dem Datenschutz und dem Verbraucher- (C) sonenbezogenen Daten einen Erlaubnisvorbehalt durch schutz anzugehen. Leider Fehlanzeige! einen Richter oder eine Richterin. Außerdem fordern wir, dass die Erstellung von Nutzerprofilen durch Lassen Sie mich einige Beispiele nennen: Diensteanbieter nur nach vorheriger ausdrücklicher Ein- Bei der Anbieterhaftung muss klargestellt werden, ob willigung möglich ist. Suchmaschinen etwa wie Zugangsanbieter behandelt werden sollen. Die Anbieter von Blogs und Foren müs- Auch die Kolleginnen und Kollegen von den Grünen sen wissen, woran sie sind. Wenn sie verpflichtet werden und der FDP haben damals Änderungen vorgelegt. Wir würden, die Beiträge auf ihren Seiten stündlich, ja mi- dürfen gespannt sein, ob die FDP sich treu bleibt und als nütlich oder sogar jede Sekunde auf mögliche rechtswid- Regierungspartei ihre Vorschläge wieder einbringt. rige Inhalte zu prüfen, würde das diese Anbieter in ihrer An dieser Stelle noch einmal zur EU-Fernsehrichtli- Existenz bedrohen. Damit würde man eine Szene kaputt- nie, die ja die Grundlage für das von der Bundesregie- machen, die für Vielfalt in öffentlichen Debatten sorgt rung vorgelegte 1. Telemedienänderungsgesetz bildet. und eine Alternative zum Mainstream-Journalismus dar- Mit der EU-Fernsehrichtlinie wurden zwei Dinge für die stellt. Anbieter von audiovisuellen Dienstleistungen auf dem Gegenwärtig liegen ziemlich divergierende Gerichts- europäischen Binnenmarkt getan: Werbebeschränkun- entscheidungen zur Reichweite der bestehenden Haf- gen wurden abgebaut und Bedingungen für Werbefor- tungsregelungen vor. Vereinzelt wird sogar die Auffas- men und Produktplatzierungen neu festgelegt. Die EU- sung vertreten, es bestehe eine allgemeine Verpflichtung Fernsehrichtlinie harmonisiert zuallererst Geschäftsbe- zur präventiven Ausforschung und Überwachung der auf ziehungen. Es geht ums Geldverdienen und um Rendite. Userplattformen eigenständig generierten Inhalte. Das Verbraucherrechte, die Bereitstellung eines vielfältigen schafft Rechtsunsicherheit und bestärkt diejenigen, die kulturellen Programmangebots und die Sicherstellung in Verkennung des Mediums und seiner inzwischen ge- journalistisch-redaktioneller Autonomie spielen keine wachsenen kommunikativen gesellschaftlichen Bedeu- Rolle. tung in der Tendenz einer Vorabzensur von Inhalten das Wort reden. Diese Unklarheiten sollten gesetzlich aus Zum 1. April dieses Jahres ist nun der 13. Rundfunk- dem Weg geräumt werden. änderungsstaatsvertrag in Kraft getreten. Mit ihm setzen die Bundesländer die Deregulierungsbestimmungen der Leider findet sich nichts davon im Gesetzentwurf – EU für den Rundfunk in nationales Recht um. Bezahlte trotz der FDP auf der Regierungsbank! Produktplatzierungen müssen nun zu Beginn und zum Die Bundesregierung muss sich klar positionieren, Ende einer Sendung durch einen Hinweis gekennzeich- (B) was sie wem im Internet an Haftungspflichten auferlegen (D) net werden, unbezahlte nicht. Davon profitieren die pri- will, und sich für einheitliche Regelungen einsetzen, denn vaten Fernsehsender und die werbetreibende Industrie, das Internet macht an Länder- oder Landesgrenzen nicht nicht aber die Zuschauerinnen und Zuschauer. Die Län- halt. Sie muss das dann mit den Bundesländern verhan- der haben es versäumt, hier ihren Ermessensspielraum deln – beim Jugendmedienschutz-Staatsvertrag wurde zu nutzen. Denn die Richtlinie ließ zur Umsetzung der das leider versäumt –, und sie muss es bei der EU – Stich- Werbebestimmungen für den Rundfunk ausdrücklich wort: EU-Netzsperren – durchsetzen. Ausnahmen zu. Das ist der Unterschied zu den vorlie- genden Änderungen im Telemediengesetz, die nach der Der vorliegende Gesetzentwurf ist reines Stückwerk. EU-Richtlinie tatsächlich unausweichlich sind. Aus die- Er setzt lediglich die Anforderungen der Audiovisuellen sem Grund werden wir uns den heutigen Änderungen Mediendienste-Richtlinie der EU um. Aber das genügt des Telemediengesetzes nicht verweigern. Diese Ände- nicht. Auch in Fragen des Datenschutzes geht die Bun- rungen sind, wie eingangs schon gesagt, rein formaler desregierung mit dem Gesetzentwurf nicht die notwendi- Art. gen Schritte. Die bestehenden Regelungen tragen dem Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung nicht Meine Damen und Herren von der Koalition, die Auf- ausreichend Rechnung. So sehen sich etwa Nutzerinnen gabe einer grundlegenden Überarbeitung des Tele- und Nutzer immer häufiger damit konfrontiert, dass ihre mediengesetzes bleibt bestehen. Hier müssen Sie nach- persönlichen Daten im Internet veröffentlicht werden. arbeiten. Das fordert auch der heute ebenfalls zur Diskussion und zur Abstimmung anstehende Entschlie- Im Telemediengesetz fehlen auch nach dieser Geset- ßungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Die- zesänderung effektive Regelungen für die Verwendung sem können wir ausdrücklich zustimmen. und den Handel mit personenbezogenen Daten. Das Ge- setz schützt die Nutzerinnen und Nutzer auch nicht hin- reichend vor personalisierter Werbung. Userinnen und Tabea Rößner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das User erhalten in der Regel automatisch personalisierte Telemediengesetz soll Fragen des Internets regeln. Es ist Werbung, solange sie dem nicht gezielt widersprechen. sozusagen das Internetgesetz. Auch fehlt noch immer eine Verpflichtung für die Be- Aber ganz offensichtlich ist das zur schwarz-gelben treiber der Plattformen, darüber aufzuklären, wofür die Bundesregierung noch nicht so richtig durchgedrungen. von Nutzerinnen und Nutzern bereitgestellten Daten ver- Denn sonst hätte sie vielleicht endlich die Notwendigkeit wendet werden sollen. Kundenprofile werden so, ohne gesehen, einige wichtige Problemfelder bei der Anbie- Transparenz gegenüber den Kunden, an die Werbewirt- 3640 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010

(A) schaft verkauft. Eine Nichteinwilligung in die Weitergabe Der aktuellen GEDA-Studie des Robert Koch-Instituts (C) personenbezogener Daten darf auch bei nicht marktbe- zufolge rauchten im Jahr 2009 in Deutschland 33,9 Pro- herrschenden Unternehmen nicht zum Ausschluss aus zent der Erwachsenen. Im Drogen- und Suchtbericht aus dem Angebot führen. dem Jahr 2009 lesen wir, dass etwa 140 000 Menschen jedes Jahr vorzeitig an den direkten Folgen des Rau- Wir Grüne wollen mehr Daten- und Verbraucher- chens sterben, etwa 3 300 Menschen an Folgen des Pas- schutz im Telemediengesetz, so wie wir es in unserem sivrauchens. Die volkswirtschaftlichen Kosten des Rau- Entschließungsantrag formuliert haben. Kundinnen und chens für die Gesellschaft werden auf 18,8 Milliarden Kunden müssen durch Opt-in darüber entscheiden kön- Euro pro Jahr geschätzt. Besonders alarmierend: Das nen, ob sie eine Weitergabe ihrer Daten möchten. Künf- durchschnittliche Einstiegsalter in den Zigarettenkon- tig muss der Grundsatz gelten, dass Werbung nur mit sum liegt bei etwa 13 Jahren. Das sind Zahlen, die auf- ausdrücklicher Einwilligung der Betroffenen erfolgen schrecken! darf. Wir kämpften deshalb die letzten elf Jahre gemeinsam Die Forschung im Bereich von sogenannten Privacy mit der Bundesregierung und der Drogenbeauftragten Enhancing Technologies, also datenschutzspezifischen Frau Bätzing mit aufeinander abgestimmten präventi- Produkten, muss gefördert werden. Neue Produkte und ven, gesetzlichen und strukturellen Maßnahmen gegen Verfahren sollten zudem umfassend auf ihre Daten- den hohen Tabakkonsum, aber auch um Regulierung und schutzfreundlichkeit und Datensicherheit geprüft werden Angebotsreduzierung. Stellvertretend seien hier die kon- können. Hier ist die Vorlage des längst überfälligen Au- tinuierliche Tabaksteuererhöhung, die Einführung von ditierungsgesetzes dringend nötig. Warnhinweisen auf Zigarettenpackungen oder auch die Außerdem wollen wir die Verfolgung und Vermeidung Aufnahme eines Paragrafen zum Nichtraucherschutz in von Spam verbessern. Bislang sind die Schutzmöglich- die Arbeitsstättenverordnung genannt. Jugendlichen dür- keiten gegen ungewollt zugesandte Spam-Mails für Ver- fen Tabakwaren in Automaten seit dem 1. Januar 2009 braucherinnen und Verbraucher überaus schwierig. Für nur noch dann angeboten werden, wenn durch Aufsicht die Verfolgung von Ordnungswidrigkeiten wie Spam- bzw. technische Vorrichtung sichergestellt ist, dass der Mails muss eine zuständige Verwaltungsbehörde konkret Bezug von Zigaretten für Personen unter 18 Jahren an benannt werden. Aus Sicht unserer Fraktion sollte die Zigarettenautomaten nicht möglich ist. Bundesnetzagentur für Elektrizität, Gas, Telekommuni- Zusätzlich verstärkten wir die Suchtprävention und kation, Post und Eisenbahnen diese Zuständigkeit erhal- Suchtberatung und Behandlung. „Be Smart – Don‘t ten. Die Bundesnetzagentur könnte zumindest eine bun- Start“- oder „Rauchfrei“-Wettbewerbe sprachen zum deslandübergreifende Verfolgung gewährleisten. (B) Beispiel direkt Jugendliche an, den Einstieg in das Rau- (D) Sie sehen anhand meiner Beispiele: Das Gesetz ist chen zu verzögern bzw. mindestens vier Wochen nicht völlig unzureichend. zu rauchen. Liebe Kolleginnen und Kollegen der Koalition, ich Langfristig gesehen ist in der deutschen Erwachse- fordere Sie auf, uns so schnell wie möglich ein an die nenbevölkerung nur ein geringfügiger Rückgang des Ni- Realitäten des Internets angepasstes Telemediengesetz kotinkonsums erkennbar. Jedoch Dank der Programme vorzulegen. Wir brauchen klare Definitionen von Anbie- und Förderungen des Nichtrauchens in Schulen ist ein tern, klare und einheitliche Regelungen zu Haftungsfra- Rückgang der Raucherquote unter Kindern und Jugend- gen, wir brauchen einen effektiveren Verbraucherschutz, lichen offensichtlich. Und es findet – langsam – ein ge- der die Verfolgung und Unterlassung von ungewollten sellschaftlicher Bewusstseinswandel statt, Nichtrauchen Spam-Mails ermöglicht, und wir brauchen ein Gesetz, wird immer stärker zur sozialen Norm. Diese kleinen Er- das die persönlichen Daten der Nutzerinnen und Nutzer folge dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, dass noch wirksam schützt. viel zu tun ist. Heute beschließen wir die Umsetzung der sogenann- ten Audiovisuelle-Mediendienste-Richtlinie. In Anbe- Anlage 4 tracht der neuen Übertragungstechniken ist es notwen- Zu Protokoll gegebene Reden dig, nicht nur wie bisher für das Fernsehen als das traditionelle audiovisuelle Medium Regeln zu schaffen. zur Beratung des Entwurfs eines Zweiten Ge- setzes zur Änderung des Vorläufigen Tabakge- Für „Audiovisuelle Medien auf Abruf“ oder einfacher setzes (Tagesordnungspunkt 15) gesagt Videos, egal ob mit oder ohne Ton, wird heute mit der Umsetzung der Richtlinie Rechtssicherheit in Deutschland geschaffen. Danach ist jede Form der au- Elvira Drobinski-Weiß (SPD): Eine weltweite Stu- diovisuellen kommerziellen Kommunikation für Ziga- die der Weltgesundheitsorganisation aus dem Jahr 2008 retten und andere Tabakerzeugnisse, die Produktplatzie- berichtet, dass alle sechs Sekunden ein Raucher stirbt. rung sowie das Sponsoring von Sendungen durch Tabak steht demzufolge an erster Stelle der vermeidba- Unternehmen, deren Haupttätigkeit die Herstellung oder ren Todesursachen. Deutschland zählt zu den zehn Län- der Verkauf dieser Produkte ist, untersagt. dern, wo es die meisten Raucher weltweit gibt, einer von zehn Todesfällen gehe auf Tabak zurück, weltweit insge- Uns ist bewusst: Alle Formen der Werbung für Tabak- samt 5,4 Millionen pro Jahr. erzeugnisse sind noch immer nicht erfasst. Diesem Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010 3641

(A) Schritt müssen weitere folgen, damit insbesondere Ju- Placement von Tabakerzeugnissen und Tabakunterneh- (C) gendliche so wenig wie möglich in Kontakt mit Tabak- men verboten sein. werbung kommen. Ich denke da insbesondere an das Unter Product Placement ist die gezielte Darstellung Verbot von Tabakwerbung auf Plakaten und Postern. eines Kommunikationsobjektes als dramaturgischer Be- Große Teile der Industrie sind mit uns in dieser Forde- standteil einer Video- oder Filmproduktion gegen finan- rung auf einer Linie. Sollte eine wirksame Selbstregulie- zielle oder sachliche Zuwendungen zu verstehen. Man rung nicht erfolgen, fordern wir hier dringend gesetzli- kann darüber streiten, ob es unbedingt ein Tabakunter- che Regelungen. nehmen sein muss, das mit Geld sein Produkt in audiovi- Das Generaldirektorat der Europäischen Kommission suellen Medien platziert. Insofern kann man der Richtli- für Gesundheit und Verbraucherschutz berät zurzeit Über- nie ja auch durchaus positive Aspekte abgewinnen. arbeitungen der Tabakproduktrichtlinie. Fünf Schwer- Eins-zu-eins-Umsetzung bedeutet, dass wir vom Be- punkte kristallisieren sich dabei heraus: die Anpassung griff des Product Placements im engeren Sinne ausge- des Geltungsbereiches, die Änderung der Kennzeich- hen. Dieses meint die Platzierung von Markenartikeln, nungsanforderungen – einschließlich Warnhinweise –, die nicht jedoch die Platzierung unmarkierter Produkte. Einführung von Berichterstattungs- und Registrierungs- Auch die Sozialdemokraten sollten im Übrigen ein gro- vorhaben, die Überarbeitung der Regulierung der In- ßes Eigeninteresse an dieser Form der Umsetzung ha- haltsstoffe sowie die Einführung einer Regulierung der ben. Denn ansonsten wäre die SPD ja bald gar nicht Verkaufs- und Vertriebsformen. mehr positiv im Fernsehen präsent. Interviews mit der Wir wollen den Diskussionsprozess eines stärkeren letzten SPD-Ikone Helmut Schmidt dürften dann ja gar Nichtraucherschutzes aktiv begleiten. nicht mehr ausgestrahlt werden. Jeglichen Rufen aus den linken Reihen, die über eine Dr. Erik Schweickert (FDP): Mit dem vorliegenden Eins-zu-eins-Umsetzung der Richtlinie hinausgehen, er- Gesetzentwurf zur Änderung des vorläufigen Tabakge- teilen wir eine klare Absage. Eine Ausweitung des Tabak- setzes setzen wir eine Europäische Richtlinie aus dem werbeverbots auf Plakatwerbung und andere Werbefor- Jahr 2007 um. Ja, Sie hören richtig, eine Richtlinie aus men ist aus bereits genannten Gründen unangemessen. dem Jahr 2007. Denn die große Koalition hat es inner- Werbung ist integraler Bestandteil der Marktwirtschaft. halb von zwei Jahren nicht fertiggebracht, für eine Sie basiert auf einem freien und fairen Wettbewerb. Die Umsetzung zu sorgen. Aber wie in den anderen Politik- legale Herstellung und der legale Vertrieb eines Produk- bereichen auch wird deutlich: Die FDP steht für Verläss- tes bedürfen der Möglichkeit der legalen Bewerbung. lichkeit. Wir bringen voran, wir setzen um. Wir setzen nicht auf Verbote, sondern auf Informatio- (B) (D) Aber, und das gestehe ich der großen Koalition ja zu, nen und Aufklärung über gesundheitliche Folgewirkun- es gäbe durchaus auch gute sachliche Gründe gegen das gen des Tabakkonsums. Ein Werbeverbot halten wir als Gesetz. Wie Sie sicherlich wissen, stehen wir Liberale Präventionsmaßnahme für nicht geeignet. Stattdessen einer Einschränkung von Werbeverboten sehr kritisch brauchen wir eine gesellschaftliche Sensibilisierung, die gegenüber. Verbote bevormunden den Verbraucher. Was in der Schule beginnt, über den Freundeskreis und die frei verkäuflich ist, soll auch beworben werden dürfen. Familie. Statt auf dirigistische Eingriffe wie Werbeverbote haben wir Liberale immer auf Selbstverpflichtungen gesetzt, Und mit Verlaub, liebe Kolleginnen und Kollegen von die häufig genauso erfolgreich wirken. der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen: Ihre These, dass Tabakwerbung dazu führe, dass Jugendlichen der Aus- Durch Verbote den Konsum steuern zu wollen, ist ein stieg aus dem Rauchen erschwert werde, ist doch nun staatsdirigistischer Trugschluss – das betrifft alle Instru- wirklich an den Haaren herbeigezogen. Das wäre ja so, mente der Kommunikationspolitik, also Werbung ge- als wenn überzeugte Liberale durch Parteiwerbung dazu nauso wie Sponsoring und Product Placement. Bislang gebracht würden, zukünftig die Grünen zu wählen. Auch hat mir auch noch keiner überzeugende Studien zeigen das wird nicht passieren, das sage ich Ihnen. können, in denen ein Zusammenhang von Product Place- ment und Konsumverhalten bewiesen wird. Außerdem Auch der von Ihnen aufgemachte Zusammenhang von zementieren Sponsoringverbote nur Markenbilder und Tabakwerbung und Zigarettenkonsum lässt sich bei ge- fördern dadurch die Großen der Branche. nauerem Hinsehen nicht halten. Denn der Zigarettenkon- sum ist bereits vor der Einführung des Tabakwerbever- Nun also setzen wir eine Richtlinie der Europäischen bots in Zeitungen, Zeitschriften und im Internet im Jahr Union um, weil wir die rechtliche Bindung der Entschei- 2007 deutlich rückläufig gewesen. dungen auf europäischer Ebene anerkennen und respek- Der Argumentation zu folgen, dass Werbung Verbrau- tieren. Denn wir kommen unserer Regierungsverantwor- cher geradezu zwanghaft zu einem Fehlverhalten ver- tung nach – anders als die Große Koalition. leite, entmündigt die Bürgerinnen und Bürger, statt auf Der Gesetzentwurf ist Teil der EU-Richtlinie für soge- Aufklärung und Verbraucherbildung zu setzen und so die nannte audiovisuelle Mediendienste. Die Vorgaben der Mündigkeit zu stärken. Ein über die Eins-zu-eins-Um- Europäischen Kommission setzen wir eins zu eins in na- setzung hi-nausgehendes Tabakwerbeverbot ist Aus- tionales Recht um und kommen somit unseren Verpflich- druck eines Staatsverständnisses, das die Verantwortung tungen nach. Künftig wird das Sponsoring von Fernseh- des Einzelnen zugunsten einer Staatsverantwortung ab- sendungen durch Tabakunternehmen und das Product gibt. SPD, Linke und Grüne begegnen jeder verbrau- 3642 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010

(A) cherpolitischen Herausforderung mit einem Verbot. Als desregierung auf: Nehmen sie die Gesundheitsvorsorge (C) FDP nehmen wir die Gesundheitsgefahren des Rauchens endlich ernst! Setzen sie ein umfassendes Werbeverbot und damit den Gesundheits- und Verbraucherschutz sehr für Tabakwaren durch! ernst. Aber die übliche Verbots- und Symbolpolitik à la Künast oder Höhn hilft dabei nicht weiter. Das kann Ulrike Höfken (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): keine liberale Politik sein. Deshalb werden wir eins zu 140 000 Menschen sterben nach Angaben der Deutschen eins umsetzen. Krebshilfe in Deutschland jährlich an den Folgen des Rauchens. Nach Schätzungen des Deutschen Krebsfor- Karin Binder (DIE LINKE): Die Linke fordert ein schungsinstitutes verursacht das Rauchen Gesamtkosten generelles Werbeverbot für Tabakwaren, um Jugendliche von über 33 Milliarden Euro für unsere Volkswirtschaft und Heranwachsende vor den gesundheitlichen Gefah- und das Gesundheitswesen. ren des Rauchens besser zu schützen. Rauchen schadet der Gesundheit. Das ist allgemein bekannt. Jedem Er- Angesichts dieser Zahlen ist der Regierungsentwurf wachsenen steht es dennoch frei, zur Zigarette zu grei- zur Änderung des Tabakgesetzes eine armselige Mini- fen. Es geht hier auch nicht darum, das Rauchen zu ver- mallösung, welche vor allem die Interessen der Tabak- bieten. Etwas anderes ist es aber, wenn Tabakkonzerne industrie im Blick hat. mit Werbung gezielt Jugendliche und Heranwachsende Die vorgelegte Eins-zu-eins-Umsetzung der EU- ansprechen, um sie zum Rauchen zu verleiten. Die Aus- Richtlinie verbietet nur den eng begrenzten Bereich der wirkungen des Nikotingenusses sind bei dieser Gruppe Werbung in „audiovisuellen Medien auf Abruf“. Damit besonders gesundheitsschädlich. Die Folgen zeigen sich bleibt Deutschland ein Tabakwerbeparadies in der EU. aber erst viele Jahre später. Bei der Plakatwerbung, die nur noch in Deutschland und Aus diesem Grund ist die Tabakwerbung im Fernse- Griechenland erlaubt ist, sind wir Schlusslicht in Europa. hen verboten. Mit ihren Marketingmethoden haben die Auch in der Kinowerbung schon ab 18 Uhr darf munter Zigarettenhersteller diese Einschränkung jedoch ge- weitergequalmt werden. Die Werbung in Tankstellen schickt umschifft. Sie werben indirekt durch Produktpla- und Kiosken, wo neben Postern und anderen Werbemit- zierung und im Internet. Die EU hat darauf reagiert und teln zunehmend Werbefilmchen in Endlosschleife lau- verbietet nun das Sponsering von Sendungen und die fen, soll auch mit dem neuen Gesetz bestehen bleiben. Produktplazierung in TV und Internet. Die Ausweitung Der Zentralverband der deutschen Werbewirtschaft, auf weitere Medien war also auf jeden Fall nötig, und die ZAW, jubelt bereits, weil die audiovisuelle Werbung in vorliegende Regelung stellt eine Verbesserung dar. Verkaufsstellen und im Rahmen des Internetversandhan- (B) Natürlich hinkt Deutschland aber auch hier wieder dels nicht von der Gesetzesänderung betroffen sei. (D) einmal hinterher. Schon Ende letzten Jahres hätte die Solange die Tabakindustrie die bestehenden Werbe- EU-Richtlinie hierzulande umgesetzt werden müssen. verbote durch solche Schlupflöcher umgehen kann, wird Aber der Druck der Tabaklobby bremst ein schnelles die Tabakprävention geschwächt statt gestärkt. Bereits Vorgehen zugunsten des Gesundheitsschutzes bei Ju- 1997 hat das Bundesverfassungsgericht festgestellt, dass gendlichen. Noch viel schlimmer: Das Werbeverbot wird Werbeverbote ein wichtiges Instrument gegen bedenken- nur halbherzig umgesetzt. Denn auch nach der neuen losen Tabakkonsum sind. Regelung bleiben den Zigarettenherstellern ausreichend Lücken, um Jugendliche erfolgreich anzusprechen: Wer- Unser Fokus ist der Kinder- und Jugendschutz. Trotz bung im Kino, Direktwerbung vor Kneipen und Online- der positiven Entwicklung in den letzten Jahren rauchen shops im Internet, um nur einige Beispiele zu nennen. immer noch 15 Prozent aller minderjährigen Jugendli- chen gelegentlich bis regelmäßig. Laut Deutscher Lun- Das Verbot der Produktplatzierung und des Sponso- genstiftung sind Schüler und Schülerinnen im Alter von rings bei Tabakwaren ist also ein Schritt in die richtige 11 bis 14 Jahren besonders gefährdet, das Rauchen anzu- Richtung, greift aber deutlich zu kurz. Die Bundesregie- fangen. Fast zwei Drittel aller rauchenden Kinder und rung setzt nur die Minimalstandards um, statt die Chance Jugendlichen wollen mit dem Rauchen aufhören oder zu nutzen, ein einheitliches Werbeverbot zum Schutz der haben dies schon einmal vergeblich versucht. Tabakwer- Gesundheit zu schaffen. Die Verhinderung einer klaren bung macht es den Jugendlichen doppelt schwer, vom Regelung hat bei der christlich-sozialen Union aber Tra- Glimmstängel loszukommen. dition: Schon der Vorgänger der heutigen Verbraucher- schutzministerin, Herr Seehofer, hatte seine Probleme Studien belegen immer wieder, dass Zigarettenwer- mit dem Nichtraucherschutz. Nach seiner Auffassung bung besonders stark das Rauchverhalten von Kindern hat die Einschränkung des Nikotingenusses „die bayri- und Jugendlichen beeinflusst. Die Imagestrategien der sche Volksseele verletzt“. Schon 2006 wurde die Bun- Tabakindustrie mit Bildern von Freiheit, Spaß, Erfolg desregierung in Sachen Werbeverbot erst auf Druck der und Sexappeal zielen nach wie vor besonders auf Ju- EU-Kommission mit Androhung von Strafzahlungen tä- gendliche und junge Erwachsene. Nicht Figuren wie der tig. Auch jetzt musste Brüssel erst mit den Säbeln ras- Marlboro-Mann, sondern jugendlich wirkende Partygän- seln. ger spielen die Hauptrollen in den Werbekampagnen. Fazit: Wieder einmal gehen bei Schwarz-Gelb Wirt- Die Selbstverpflichtungserklärung der Tabakindus- schaftsinteresse vor Verbraucherschutz. Das ist für die trie zum Jugendschutz läuft daher selbst dann ins Leere, Linksfraktion nicht hinnehmbar. Wir fordern die Bun- wenn alle Vorschriften formal eingehalten werden. Ent- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010 3643

(A) scheidend ist nicht das tatsächliche Alter der Models, ring handelt es sich vereinfacht gesprochen um einen (C) sondern der dargestellte Lebensstil, der oft dem Wunsch- Beitrag von privaten Unternehmen oder natürlichen Per- bild von Jugendlichen entspricht. Dieser Zusammenhang sonen zur Finanzierung von audiovisuellen Medien- wurde erst kürzlich wieder vom Kommunikationswis- diensten oder Sendungen mit dem Ziel, zum Beispiel ih- senschaftler Patrick Rössler sowie der Fachstelle für ren Namen oder ihre Marke zu fördern. Zudem sieht das Suchtprävention bestätigt. Zudem haben Nichtraucher- Gesetz ein Verbot der Produktplatzierung von Tabak- schutzorganisationen in den letzten Jahren zahlreiche erzeugnissen oder Tabakunternehmen in audiovisuellen klare Verstöße gegen die Selbstverpflichtungsgrundsätze Sendungen vor. Eine Produktplatzierung liegt vor, wenn dokumentiert. zum Beispiel gegen Entgelt oder eine ähnliche Gegen- leistung auf eine Marke Bezug genommen wird, sodass Wir fordern die Bundesregierung aus diesen Gründen diese innerhalb einer Sendung erscheint. Zukünftig ist in unserem Entschließungsantrag auf, Tabakwerbung damit ausdrücklich geregelt, dass ein Tabakerzeugnis deutlich über die Umsetzung der EU-Richtlinie hinaus etwa im Rahmen einer Fernsehsendung nicht platziert einzuschränken. Das heißt: werden darf. Erstens. Jegliche audiovisuelle Werbung in Verkaufs- Neben diesen Verboten ist es mir wichtig, zu betonen, stellen und im Internetversandhandel muss gesetzlich dass wir selbstverständlich den Verbraucher gesetzlich verboten werden. vor irreführender Werbung schützen. So ist es beispiels- Zweitens. Auch die Außenwerbung muss in Deutsch- weise untersagt, den Tabakkonsum zu verharmlosen, land wie in fast der gesamten EU verboten werden. seine gesundheitliche Unbedenklichkeit zu suggerieren. Auch ist es verboten, Jugendliche durch zielgerichtete Drittens. Auch die Kinowerbung und die massive Darstellungen und Aussagen zum Rauchen zu veranlas- Werbung in Verkaufsstellen muss weiter eingeschränkt sen. Eine weitere Ausweitung des Verbots der Tabak- werden, um dem Jugendschutz gerecht zu werden. werbung über den vorliegenden Entwurf hinaus steht Statt wirkungsloser freiwilliger Selbstverpflichtungen derzeit für die Bundesregierung nicht an. Mir ist es auch brauchen wir klare gesetzliche Regelungen und wirk- ein besonderes Anliegen, dass wir das Gesetzgebungs- same Sanktionen bei Verstößen gegen diese Regeln. verfahren nun zügig abschließen. Auch gegenüber Brüs- sel wäre es ein verfehltes Signal, die Umsetzung weiter Ohne diese Maßnahmen sind Fortschritte bei der Ta- zu verzögern. Wie gesagt, nimmt der Gesetzentwurf eine bakprävention kaum zu erreichen. Eins-zu-eins-Umsetzung der Richtlinie über audiovi- suelle Mediendienste vor – und das ist gut so. Dies ent- Julia Klöckner (Parl. Staatssekretärin bei der Bun- spricht der allgemeinen Haltung der Bundesregierung (B) (D) desministerin für Ernährung, Landwirtschaft und Ver- zur Umsetzung von EU-Recht. braucherschutz): Der vorliegende Gesetzentwurf nimmt Aus meiner Sicht ist es wichtig, dass die bestehenden eine Eins-zu-eins-Umsetzung der Audiovisuelle-Me- Verbote durch die Länder effektiv durchgesetzt werden. diendienste-Richtlinie für den Bereich der Tabakwer- Dies gilt insbesondere auch für den Bereich des Inter- bung vor. Die weiteren Vorgaben der Richtlinie werden nets. Nichtsdestotrotz ist festzuhalten, dass der Verkauf von den Ländern im Rahmen des 13. Änderungsvertra- von Tabakerzeugnissen auch über das Internet grund- ges zum Rundfunkstaatsvertrag sowie bundesrechtlich sätzlich legal ist. Über das Angebot der Tabakerzeug- mit einem Änderungsgesetz zum Telemediengesetz um- nisse hinausgehende Werbemaßnahmen und demnächst gesetzt. Bekanntermaßen besteht in Deutschland bereits auch die Produktplatzierung in audiovisuellen Medien- eine Reihe von medienspezifischen Verboten. Seit 1975 diensten sind hingegen verboten. ist Tabakwerbung im Hörfunk und Fernsehen verboten. Aufgrund der Vorgaben der Tabakwerberichtlinie der Aus der Sicht unseres Bundesministeriums für Ernäh- Europäischen Union aus dem Jahr 2003 wurden 2006 die rung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ist der Tabakwerbung in der Presse und gedruckten Veröffentli- Schutz der Verbraucher vor Schäden ein zentrales Anlie- chungen grundsätzlich verboten. Ferner ist die Werbung gen. Daher besteht eine wesentliche Aufgabe im Rah- in Diensten der Informationsgesellschaft wie dem Inter- men der Tabakprävention auch darin, den Einstieg in das net bereits seit 2006 entsprechend verboten. Wie Sie alle Rauchen zu verhindern, den Ausstieg aus dem Tabak- wissen, ist dies in § 21 a Abs. 4 des Vorläufigen Tabak- konsum zu fördern und den Schutz vor Passivrauchen zu gesetzes geregelt. Genau das sollten auch die Kollegin- stärken. So ist es Ziel, den Verbraucherinnen und Ver- nen und Kollegen berücksichtigen, die hier kurzfristig brauchern die gesundheitlichen Gefahren des Rauchens noch einen Entschließungsantrag zum Gesetz einge- nachdrücklich vor Augen zu führen und insgesamt auf bracht haben. Daneben besteht ebenfalls seit 2006 ein eine Einschränkung des Tabakkonsums hinzuwirken. Sponsoringverbot für den Hörfunk. Die Umsetzung der Hierbei sind die zwingend vorgeschriebenen Warnhin- Tabakwerberichtlinie erfolgte ebenfalls eins zu eins. weise auf den Tabakerzeugnissen ein wichtiges Element. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf wird nunmehr Die Kennzeichnung von Tabakerzeugnissen ist auf auch ein Sponsoringverbot für audiovisuelle Medien- EU-Ebene im Rahmen der Tabakprodukt-Richtlinie ge- dienste und Sendungen geregelt. Wir erfassen damit Bil- regelt. Danach sind entsprechende Textwarnhinweise auf der mit oder ohne Ton, die vom klassischen Fernsehen Tabakerzeugnissen europaweit verbindlich vorgeschrie- ausgestrahlt werden, aber auch Mediendienste auf Ab- ben und wurden national mit der Tabakprodukt-Verord- ruf, wie zum Beispiel Video-on-demand. Beim Sponso- nung umgesetzt. Des Weiteren eröffnet eine Entschei- 3644 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010

(A) dung der Kommission von 2003 den Mitgliedstaaten die Daher sind weiterhin Maßnahmen notwendig, die den (C) Möglichkeit, diese Textwarnhinweise national durch Rauchverzicht in der Erwachsenenbevölkerung zum Ziel kombinierte Warnhinweise zu ergänzen. Dabei sind aus- haben. Von einem deutlichen Signal zum Verzicht auf schließlich die in einer Bibliothek der Kommission hin- Tabakprodukte bei Erwachsenen wird auch ein positiver terlegten kombinierten Warnhinweise zu verwenden. Effekt für die Senkung des Rauchens bei Kindern und Jugendlichen erwartet. Mit einer zunehmenden Reduzie- Gegenwärtig werden von der Europäischen Kommis- rung des Rauchens in der Erwachsenenbevölkerung wird sion Aktivitäten eingeleitet mit der Zielsetzung, neue Nichtrauchen mehr und mehr die soziale Norm. Die kombinierte Warnhinweise zu entwickeln, die im Hin- BZgA wird deshalb auch 2010 die „rauchfrei“-Erwach- blick auf die Bereitstellung von Informationen über die senenkampagne fortführen und weiterentwickeln. In Er- gesundheitlichen Wirkungen des Tabaks, die Motivation gänzung zu den bisherigen Maßnahmen liegt die des Aufhörens mit dem Rauchen und die Abschreckung Schwerpunktsetzung auf der Aktualisierung und Weiter- vor dem Rauchen geprüft sind. Das Ergebnis dieser entwicklung der Beratungsangebote sowohl im Bereich Überprüfung sollte abgewartet werden. des internetbasierten Ausstiegsprogramms als auch der Ein weiterer Baustein zur Senkung des Tabakkon- Telefonberatung zum Nichtrauchen. 2010 wird die sums ist die nationale Dachkampagne „rauchfrei“ der BZgA das neue Pilotprojekt „Fax to quit“ starten. Ziel ist Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA). es, aufhörwilligen Rauchenden ein niedrigschwelliges, kostenneutrales Angebot der telefonischen Unterstüt- „rauchfrei“ ist längst zu einer bekannten und geschätz- zung beim Rauchstopp zu unterbreiten. ten Marke rund um das Nichtrauchen geworden. Die „rauchfrei“-Kampagne der BZgA setzt sich aus zwei gro- All diese Maßnahmen belegen, dass die Bundesregie- ßen Teilkampagnen zusammen: Ein Kampagnenteil kon- rung den Schutz der Bevölkerung vor den Gefahren des zentriert sich auf die Zielgruppe der Kinder und Jugend- Rauchens sehr ernst nimmt. Der von der Fraktion Bünd- lichen im Alter zwischen 12 und 17 Jahren, ein zweiter nis 90/Die Grünen eingebrachte Entschließungsantrag Teil richtet sich an die Zielgruppe der Erwachsenen. Die wird von mir aus den angeführten Gründen abgelehnt. bisher durchgeführten Maßnahmen zur Förderung des Das nunmehr zur Abstimmung vorliegende Zweite Ge- Nichtrauchens bei Jugendlichen haben sich als erfolg- setz zur Änderung des Vorläufigen Tabakgesetzes bildet reich erwiesen: Nach einem Anstieg beim Rauchen in den einen weiteren wichtigen Baustein in dem dargestellten neunziger Jahren ist – parallel zur Durchführung der Gesamtkonzept. Ich bitte Sie deshalb um Zustimmung „rauchfrei“-Jugendkampagne – seit 2001 ein kontinuier- zum vorliegenden Gesetzentwurf. licher Rückgang im Rauchverhalten Jugendlicher zu ver- zeichnen. Im Jahr 2001 rauchten noch 28 Prozent der Ju- (B) gendlichen im Alter zwischen 12 und 17 Jahren, 2008 Anlage 5 (D) waren es nur noch 15 Prozent. Damit hat das Rauchver- halten in dieser Altersgruppe einen historischen Tiefstand Zu Protokoll gegebene Reden erreicht. Um diesen Trend zu halten und vor allem auf alle zur Beratung des Antrags: Europäische Antidis- Gruppen von Jugendlichen auszudehnen, bedarf es un- kriminierungspolitik unterstützen – 5. Gleichbe- verminderter Anstrengungen und einer kontinuierlichen handlungsrichtlinie der EU nicht länger blockie- Weiterentwicklung der Kampagne. Die BZgA wird die ren (Tagesordnungspunkt 16) „rauchfrei“-Jugendkampagne im Jahr 2010 weiterführen und vor allem an das „Web 2.0“ anpassen. Damit wird dem Bedürfnis der Zielgruppe nach Interaktivität und Norbert Geis (CDU/CSU): Der neue Vorschlag für Kommunikation stärker Rechnung getragen. eine Richtlinie des Rates zur Anwendung des Grundsat- zes zur Gleichbehandlung ungeachtet der Religion oder Wie in vielen Industrienationen ist auch in Deutsch- der Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder land eine stark ausgeprägte Polarisierung des Rauchver- der sexuellen Ausrichtung, bezogen nicht nur auf den haltens zu beobachten. Vor allem unter Jugendlichen aus Arbeitsmarkt, sondern auf den gesamten zivilrechtlichen Familien mit geringer Bildung, geringem Einkommen Bereich, stößt nicht nur in Deutschland auf Ablehnung. und niedrigem beruflichen Status ist der Anteil der Rau- cherinnen und Raucher viel höher als in anderen Bevöl- Dabei lassen die Bundesregierung, der Bundesrat und kerungsschichten. Gerade diese Jugendlichen werden die CDU/CSU-Fraktion keinen Zweifel daran, dass die außerdem schwerer mit Maßnahmen zur Förderung des Bekämpfung von Diskriminierung aller Art eine wich- Nichtrauchens erreicht. Über zielgerichtete Maßnahmen tige Aufgabe darstellt. Durch das AGG wurde diese Auf- in der Schule wird dies versucht auszugleichen. Dort gabe für den Arbeitsmarkt erfüllt. Diese Aufgabe gilt je- können Schülerinnen und Schüler aller sozialen Schich- doch auch außerhalb des Arbeitsmarktes. In einer freien, ten erreicht werden, und es ist auch eine Kopplung von zivilisierten Gesellschaft ist für Diskriminierung kein Strukturmaßnahmen mit verhaltensbezogenen Maßnah- Platz. Es muss Übereinstimmung herrschen, dass ein sol- men möglich. Deshalb haben sich die Maßnahmen und ches Verhalten scharf zu verurteilen ist. Aktivitäten in den Vorjahren bereits schwerpunktmäßig auf das Setting Schule mit einem Schwerpunkt in den Die EU hat aber bereits jetzt den weltweit fortschritt- Haupt-, Real- und berufsbildenden Schulen konzentriert. lichsten Rechtsrahmen im Bereich der Nichtdiskriminie- rung. Das Schutzniveau geht in der Bundesrepublik Leider ist in der Erwachsenenbevölkerung nur ein ge- Deutschland und in vielen anderen Mitgliedstaaten sogar ringfügiger Rückgang des Nikotinkonsums festzustellen. noch über die europäischen Vorgaben hinaus. Deutsch- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010 3645

(A) land liegt in der EU an der Spitze. Der Schutz vor Dis- käme es erneut zu einer Beweislastumkehr. Drittens er- (C) kriminierung ist bei uns und in vielen anderen EU-Staa- gibt sich daraus ein Verstoß gegen das Grundgesetz. ten weltweit am besten gewährleistet. Im Privatrecht herrscht der Grundsatz der Privatauto- Deshalb ist es nicht so sehr erforderlich, uns Gedan- nomie. Jede Bürgerin und jeder Bürger ist frei, Verträge ken darüber zu machen, wie wir uns von dem Standard ab- oder nicht abzuschließen. Nur dann, wenn diese Ver- der EU und in der Welt noch weiter absetzen können. tragsfreiheit besteht, hat unsere freiheitliche Wirtschafts- Wichtiger ist es, den jetzigen Stand zu konsolidieren. ordnung Bestand. Durch staatliche Lenkungsmaßnah- Neue Anforderungen, wie sie die Richtlinie vorsieht, men würde diese Ordnung in einem erheblichen Maße würden neue Anpassungen notwendig machen und da- gestört. Unsere Privatrechtsordnung setzt die Vertrags- mit neue Unsicherheiten und neue Unruhe bringen. freiheit voraus. Sie ist der innerste Kern der freien Marktwirtschaft. Sie muss unantastbar bleiben. Bevor die EU neue Rechtsakte gegen die Diskrimi- nierung erlässt, müssen erst einmal die Erfahrungen der Durch das Diskriminierungsverbot käme ein völlig Mitgliedstaaten mit der Umsetzung der bisherigen Anti- fremder Aspekt in unsere Zivilrechtsordnung. Es müsste diskriminierungsgesetze abgewartet werden. nämlich nach der Gesinnung des Vertragspartners ge- fragt werden, weil ja die Ablehnung eines Vertragsange- Im Übrigen sind wir mit der Bundesregierung und botes ein subjektiver Vorgang ist. Damit aber hätten wir dem Bundesrat der Auffassung, dass anstatt neuer Rege- es mit einer Art Gesinnungszivilrecht zu tun, das, um lungen andere Maßnahmen zielführender sind. seine Ziele durchzusetzen, auch Sanktionen verhängen Um den Konsens in der Gesellschaft zu stärken, geht müsste. Der Betroffene müsste nämlich mit Schadenser- es zum Beispiel um eine entsprechende Bildungspolitik satzansprüchen rechnen. Die Kultur unseres Zivilrechtes in den Schulen. Das ist aber nicht Sache der EU und hatte es aber in ihrer Entwicklung über Jahrhunderte hin- kann nicht durch eine entsprechende Richtlinie erreicht weg sorgsam vermieden, Sanktionen an subjektive werden. Die Verantwortung für die Bildungspolitik Merkmale zu knüpfen. Das BGB kennt nur zwei selten bleibt den Mitgliedstaaten vorbehalten. genutzte Ausnahmen: Schikane nach § 226 BGB und sit- tenwidrige Schädigung nach § 826 BGB. Für Sanktionen Es geht um eine entsprechende Initiative aus der aus Gesinnungsdelikten ist ausschließlich das Strafrecht Mitte der Gesellschaft heraus, insbesondere von den In- zuständig. Dort gilt aber der Grundsatz, dass dem Be- stitutionen innerhalb der Gesellschaft, um das Ziel, Dis- troffenen das Verschulden nachgewiesen werden muss. kriminierung zu ächten, und um das Ziel, einen Konsens zu erreichen, dass Diskriminierung in einer freien Ge- Nach den Vorstellungen der geplanten Richtlinie aber müsste der ablehnende Vertragspartner selbst beweisen, (B) sellschaft nicht möglich sein darf. Es ist aber wiederum (D) nicht Sache der EU, den einzelnen Staaten vorzuschrei- dass die Ablehnung eines Vertrages nichts mit Diskrimi- ben, wie sie dieses Ziel erreichen. nierung zu tun hat. Im Zivilrecht gilt der Grundsatz, dass der, der einen Anspruch geltend macht, auch die Voraus- Schon gar nicht kann dieser Konsens durch Umge- setzung des Anspruches zu beweisen hat. Durch die staltung unseres Zivilrechtes erreicht werden. Ein erheb- Richtlinie aber würde dieser Grundsatz auf den Kopf ge- licher Eingriff wäre notwendig, der zu neuen Unsicher- stellt: Der Ablehnende müsste beweisen, dass er nicht heiten und zu neuen Rechtsstreitigkeiten führen würde. wegen der sexuellen Ausrichtung oder wegen des Alters Es käme zu einer völligen Überregulierung des täglichen oder der Behinderung den Vertragsabschluss ablehnt, Lebens. sondern aus anderen, nicht diskriminierenden Gründen. Der Grundsatz „in dubio pro reo“ würde dann im Zivil- Diese völlige Überforderung wird bei dem Diskrimi- recht, wenn es um den Nachweis der Diskriminierungs- nierungsverbot für Behinderte deutlich. Für sie soll ein absicht geht, in sein Gegenteil verkehrt. Es gilt in diesen diskriminierungsfreier Zugang zu Gütern und Dienstleis- Fällen nicht „in dubio pro reo“, sondern „in dubio contra tungen, die allen zur Verfügung stehen, gewährleistet reum“. werden. Wie aber soll das möglich sein? Muss dann je- der Wirt, um nicht gegen das Diskriminierungsverbot zu Diese Umkehrung der Beweislast widerspricht aber verstoßen, eine Toilette für Behinderte vorsehen? unserer Verfassung. Darin sehen wir die Verletzung des Müsste jeder Tante-Emma-Laden einen behindertenge- Grundgesetzes. rechten Aufgang haben? Muss jede Mietwohnung, so- weit der Vermieter bei der Vermietung gewerblich tätig Nun ist uns natürlich klar, dass das europäische Recht wird, einen behindertengerechten Zugang haben? Dies Vorrang hat vor unserer Verfassung und vor dem unter- kann doch nicht wahr sein. So viele Behinderte gibt es geordneten Recht. Gerade deshalb müssen wir ja auch doch gar nicht, die eine Wohnung suchen. den Versuch unternehmen, zu verhindern, dass die euro- päische Richtlinie erlassen wird. Wir lehnen sie ab und Dies zeigt, wie unpraktikabel der Richtlinienvor- bitten die Bundesregierung, ihr „Veto“ weiterhin geltend schlag ist und wie sehr er Rechtsunsicherheit schaffen zu machen. würde. Deshalb kann man vernünftigerweise diesem Vorschlag der Kommission nicht zustimmen. Markus Grübel (CDU/CSU): Die CDU/CSU-Frak- Unsere Bedenken fassen wir in drei Punkten zusam- tion setzt sich aktiv gegen alle Formen von Diskriminie- men: Erstens würde der Richtlinienvorschlag in erhebli- rung ein. Bereits in der vergangenen Wahlperiode hat die chem Maße in die Vertragsfreiheit eingreifen. Zweitens unionsgeführte Bundesregierung vier Richtlinien der Eu- 3646 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010

(A) ropäischen Union zum Schutz vor Diskriminierung in Die Betroffenen benötigen nicht ständig neue Regelun- (C) deutsches Recht umgesetzt. Im Allgemeinen Gleichbe- gen. Das AGG ist gerade einmal vier Jahre alt. handlungsgesetz haben wir im Jahre 2006 sehr weitrei- chende Regelungen festgeschrieben, die deutlich über Uns geht es darum, im Rahmen des bestehenden das bisherige europäische Recht hinausgehen. Dies be- Rechts die konkrete Situation von diskriminierten Men- scheinigen uns übrigens auch die Grünen in ihrem heute schen in Deutschland weiter zu verbessern und ihnen zur Diskussion gestellten Antrag. noch schnellere und passgenauere Hilfe anzubieten. Die unionsgeführte Bundesregierung hat zu diesem Zweck Die Union hält daher weitere rechtliche Regelungen die Antidiskriminierungsstelle des Bundes, ADS, ins Le- zum gegenwärtigen Zeitpunkt für unnötig. Insbesondere ben gerufen. Die Antidiskriminierungsstelle entwickelt halten wir den Entwurf der Europäischen Kommission sich immer mehr zu dem starken Akteur im Dienste der zur 5. Antidiskriminierungsrichtlinie für ungeeignet und Betroffenen, den wir uns von Anfang an gewünscht ha- lehnen ihn daher ab. Bereits die Umsetzung der bisheri- ben. Ich würde es jedenfalls begrüßen, wenn die ADS gen Antidiskriminierungsrichtlinien hat zu einer großen ähnlich dem Datenschutzbeauftragten zu einer kraftvol- Rechtsunsicherheit in den Mitgliedstaaten geführt. Trotz len Stimme in der gesellschaftlichen Debatte in Deutsch- des weitreichenden Diskriminierungsschutzes im AGG land wird. Die neue Leiterin, Frau Christine Lüders, hat hat die EU-Kommission mehrere Vertragsverletzungs- in der gestrigen Sitzung des Ausschusses für Familie, verfahren gegen Deutschland angestrengt. Insgesamt Senioren, Frauen und Jugend unterstrichen, dass sie die laufen seit dem zweiten Halbjahr 2008 31 Vertragsver- ADS energisch in diesem Sinne weiterentwickeln will. letzungsverfahren gegen 18 Mitgliedstaaten. Der vorlie- Dazu möchte sie ein deutschlandweites Netzwerk gegen gende Entwurf der 5. Antidiskriminierungsrichtlinie ent- Diskriminierung schaffen. Die verschiedenen bereits hält eine Vielzahl von unklaren Begrifflichkeiten, die bei existierenden Akteure, die sich in der Regel einzelnen einer Verabschiedung ähnliche Probleme für die Zukunft Aspekten des Diskriminierungsschutzes widmen und oft befürchten lassen. Auch die finanziellen Folgewirkun- nur lokal oder regional aktiv sind, sollen so miteinander gen des Richtlinienvorschlags sind nicht geklärt, obwohl ins Gespräch kommen und ihre Arbeit verzahnen. doch eine plausible Kostenabschätzung und eine konti- Zukünftig will die Antidiskriminierungsstelle von Dis- nuierliche Folgenbewertung die Voraussetzung eines je- kriminierung betroffenen Personen umgehend einen ge- den gesetzgeberischen Aktes sein sollten. Ich befürchte eigneten Ansprechpartner vor Ort benennen können. erhebliche Belastungen für unsere mittelständischen Un- Diese Anstrengung verdient unser aller Unterstützung. ternehmen, sollte der vorliegende Entwurf Gesetzeskraft Sie zeigt uns zugleich, dass wir keine neue EU-Antidis- erlangen. Auch in diesem Punkt ist uns die EU-Kommis- kriminierungsrichtlinie benötigen. Deutschland ist beim sion noch eine Antwort schuldig. Eine Prüfung der Aus- Diskriminierungsschutz bereits auf einem sehr guten (B) wirkungen hinsichtlich der Selbstverpflichtung nach Weg. (D) dem „Small Business Act“ steht weiterhin aus. Mit die- sen Befürchtungen ist Deutschland übrigens nicht al- leine. Wir wissen, dass zahlreiche andere Mitgliedstaa- Christel Humme (SPD): Wer glaubt, mit dem Allge- ten ähnliche Bedenken haben, auch wenn sie diese nicht meinen Gleichbehandlungsgesetz, AGG, hätten wir so deutlich äußern wie wir. Insofern kann keine Rede da- schon alles gegen Diskriminierung getan, der irrt. Von von sein, dass lediglich Deutschland auf die Bremse einer diskriminierungsfreien Gesellschaft sind wir leider trete und die Richtlinie allein aufgrund der ablehnenden noch immer weit entfernt! Jedes Jahr wird uns der Spie- Haltung Deutschlands nicht zustande komme. gel vorgehalten. Die jährlich durchgeführten repräsen- tativen Studien „Deutsche Zustände“ von Professor Lassen Sie mich noch auf einen grundsätzlichen As- Heitmeyer decken jedes Mal aufs Neue auf, welche Vor- pekt hinweisen. Ich bin ein Anhänger des Subsidiaritäts- urteile und Ressentiments gegenüber Frauen, Muslimen, prinzips: Probleme sollten möglichst dort gelöst werden, Juden, Obdachlosen, Behinderten, Ausländern oder Ho- wo sie entstehen. Dieser Ansatz ist sowohl im europäi- mosexuellen nach wie vor bestehen. Diskriminierung ist schen als auch im deutschen Recht verankert. Der Richt- bedauerlicherweise immer noch alltäglich. So hat die ka- linienvorschlag geht jedoch aufgrund der Breite seines tholische Bischofskonferenz festgelegt, dass katholische Geltungsbereichs über die Zuständigkeit der Europäi- Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu entlassen sind, schen Union hinaus und verstößt gegen das Subsidiari- wenn sie eine eingetragene Lebenspartnerschaft einge- tätsprinzip, da weitestgehend keine grenzüberschreiten- hen. „Homosexualität ist widernatürlich und eine den Regelungen verfolgt werden. menschliche Fehlentwicklung“, so Bischof Overbeck in Der Schutz vor Diskriminierung sollte auf der Ebene der TV-Sendung Anne Will. Neben diesen unmittelbaren der Mitgliedstaaten geregelt werden. Deutschlands An- Diskriminierungen, die klar erkannt werden können, gibt strengungen im Bereich von Gleichstellung und Diskri- es nach wie vor eine Vielzahl mittelbarer, verdeckter minierungsschutz können sich international sehen las- Diskriminierungen, die sich zum Beispiel in geringeren sen. Wir haben in Deutschland ein engmaschiges Netz Löhnen für Frauen bei gleicher und gleichwertiger Ar- von Gesetzen und Regelungen geknüpft, das Betroffene beit niederschlagen. Der Zugang zu Bildung und berufli- effektiv schützt. Neben dem Allgemeinen Gleichbehand- cher Ausbildung hängt in Deutschland immer noch von lungsgesetz sind beispielhaft das Behindertengleichstel- der Herkunft ab, und ein ausländisch klingender Name lungsgesetz, das IX. Buch Sozialgesetzbuch sowie der lässt die Erfolgschancen bei einer Bewerbung nicht sel- Nationale Aktionsplan der Bundesregierung zur Umset- ten sinken. Wenn es um Behinderung geht, streitet zung der VN-Behindertenrechtskonvention zu nennen. Deutschland über Begriffe der Inklusion und Integration Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010 3647

(A) und erschwert damit die gemeinsame Erziehung von EU mische sich unzulässig in nationale Zuständigkeiten (C) Kindern mit und ohne Behinderung in der Kita oder ein. So ist es der Pressemitteilung von Frau Schröder am Grundschule. Diese wenigen Beispiele zeigen: Nach wie 25. Februar 2010 zu entnehmen. Der Beweis dafür seien vor fehlt es an einer Antidiskriminierungskultur in die zahlreichen Vertragsverletzungsverfahren. Ja, es Deutschland. Nach wie vor fehlt es an selbstverständli- stimmt. Es laufen derzeit Vertragsverletzungsverfahren cher Toleranz gegenüber Minderheiten. Mit dem AGG gegen Deutschland im Zusammenhang mit der Umset- aus dem Jahre 2006 und mit der Schaffung einer Antidis- zung der vier EU-Richtlinien im AGG. Diese Verfahren kriminierungsstelle haben wir vier europäische Antidis- sind, soweit mir bekannt, bisher auch noch nicht abge- kriminierungsrichtlinien in nationales Recht umgesetzt. schlossen. Welche Konsequenz zieht die Bundesregie- Das waren wichtige Schritte. Sie haben erst die Voraus- rung daraus? Sie schlussfolgert: Es darf keine weiteren setzungen dafür geschaffen, dass sich Diskriminierte Richtlinien geben, damit solche Vertragsverletzungsver- heute mit rechtlichen Instrumenten wehren können. Die- fahren nicht mehr stattfinden. Richtig wäre: Unsere Ge- ser Erfolg darf uns aber nicht daran hindern, noch besser setzgebung muss besser werden, damit solche Vertrags- zu werden; denn es gibt Kritik am AGG, Kritik von der verletzungsverfahren künftig gar nicht erst eingeleitet Europäischen Kommission, die schon vor längerer Zeit werden müssen! Woher kommt denn die Rechtsunsi- Vertragsverletzungsverfahren eingeleitet hat, Kritik von cherheit, wie Sie sie nennen? Waren es nicht die CDU Organisationen wie dem Deutschen Juristinnenbund, und CSU, die durchgesetzt haben, dass das von Rot- dem DGB und dem Institut für Menschenrechte. Sie for- Grün 2005 vorgelegte gute Antidiskriminierungsgesetz dern, das Gesetz im Sinne eines effektiven Diskriminie- entschärft werden musste? Sonst hätten Sie von der rungsschutzes noch besser auszugestalten. Union in der Großen Koalition Ihre Stimme verweigert. Die FDP hat damals gar nicht erst zugestimmt. Wäre es Vor 13 Jahren hat die damalige schwarz-gelbe Regie- also nach der FDP gegangen, hätte Deutschland lieber rung unter Altkanzler Kohl den Amsterdamer Vertrag ra- eine hohe Bußgeldzahlung billigend in Kauf nehmen tifiziert. Sie hat Deutschland damit verpflichtet, Diskri- sollen, anstatt seinen Bürgerinnen und Bürgern wirksa- minierung aufgrund des Geschlechts, der ethnischen men Schutz vor Diskriminierung zu bieten. Müssen wir Herkunft, der Religion oder Weltanschauung, einer Be- nicht gerade die Chance der 5. Gleichbehandlungsricht- hinderung, des Alters oder der sexuellen Orientierung zu linie der EU nutzen, um unsere Gesetzgebung zu über- bekämpfen. Jeder würde sagen, das sei eine Selbstver- prüfen und zielgenauer zu formulieren? Das wäre die ständlichkeit, denn schließlich habe der Staat mit dem richtige Schlussfolgerung, die aus den Vertragsverlet- Grundgesetz seit 60 Jahren den Schutz der Bürgerinnen zungsverfahren zu ziehen wäre. Die Blockadehaltung und Bürger vor Diskriminierung festgeschrieben. Diskri- gegen einheitliche europäische Standards beim Diskri- minierungsschutz ist ein grundlegendes Menschenrecht, minierungsschutz ist eindeutig der falsche Weg. In der (B) darin sind wir uns doch wohl alle einig. Was macht die Vergangenheit und auch heute sind die Vertreter der (D) heutige schwarz-gelbe Regierung? Was machen Sie, Wirtschaft die heftigsten Kritiker von Antidiskriminie- Frau Schröder? Sie wollen die 5. europäische Richtlinie, rungsregelungen. Sie verkennen noch immer, dass Viel- die seit zwei Jahren auf europäischer Ebene diskutiert falt auch in einem Unternehmen Gewinn bringt. Auch wird, verhindern. Sie wollen zusammen mit Malta und wenn sich Ihr Koalitionsvertrag gegen die 5. Gleichbe- Litauen gegen die umfassende Diskriminierungsrichtli- handlungsrichtlinie wendet: Geben Sie Ihre Klientelpoli- nie stimmen. Mit Ihrem Veto stellen Sie sich gegen das tik im Interesse der Millionen betroffenen Bürgerinnen berechtigte Anliegen, in allen Mitgliedsländern der und Bürger auf! Blockieren Sie die 5. Richtlinie nicht Europäischen Union einen einheitlichen Standard für weiter und machen Sie den Weg frei für ein soziales und wirksamen Antidiskriminierungsschutz zu schaffen! Das gerechtes Europa! ist ein Armutszeugnis für Deutschland! Frau von der Leyen hatte sich bereits in der letzten Legislatur gegen Florian Bernschneider (FDP): Die FDP versteht die Verabschiedung eingesetzt, Frau Schröder setzt diese die Vielfalt von Menschen und Kulturen als Chance. traurige Tradition fort. Sie nimmt damit billigend in Menschen mit verschiedenen kulturellen Hintergründen Kauf, dass in den Staaten der EU, in denen noch keine und verschiedener Herkunft, mit und ohne Handicap, umfassende Antidiskriminierungsgesetzgebung existiert, Jung und Alt, mit unterschiedlichen Glaubenshintergrün- entsprechende Regelungen auf Jahre hinaus verhindert den und sexueller Orientierung bereichern unsere Ge- werden. Sie suggerieren damit, für den Schutz vor Dis- sellschaft. Diese Unterschiedlichkeit macht unsere Ge- kriminierung sei bereits genug getan und alle weiteren sellschaft bunt und lebenswert, fördert Innovationen und Initiativen seien überflüssig. Diese Botschaft, die Kreativität. Deutschland aussendet, ist verheerend und ein Schlag in das Gesicht aller diskriminierten Menschen! Das hat Deswegen geht es in dieser Frage um weit mehr als Amnesty International in einem offenen Brief an die Mi- Antidiskriminierung. Es geht darum, diese Chance der nisterin Kristina Schröder sehr deutlich gemacht und sie Vielfältigkeit zu nutzen und in soziale, gesellschaftliche aufgefordert, ihre Fundamentalopposition aufzugeben. und wirtschaftliche Potenziale umzusetzen. Dieser Aufforderung möchte ich mich im Namen der SPD-Fraktion ausdrücklich anschließen. Geben Sie Ihre Es geht auch darum, Unterschiedlichkeiten nicht nur Blockadehaltung auf! zu akzeptieren oder zu tolerieren, sondern sie zu fördern. Vielfalt wertzuschätzen heißt allerdings nicht, alle Men- Was sind die Argumente der Bundesregierung? Sie schen einfach gleich zu behandeln. Gleichmacherei wird befürchtet weitere Rechtsunsicherheit und kritisiert, die den unterschiedlichen Talenten und Bedürfnissen von 3648 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010

(A) Individuen in keiner Weise gerecht, sondern verhindert die Rechtsunsicherheit bei den Unternehmen, da für sie (C) die gezielte bedarfsgenaue Förderung. nicht absehbar ist, welche Art von Maßnahmen von ih- nen konkret verlangt werden. Die Maßnahmen müssen Meine Fraktion hat sich in der Vergangenheit intensiv von den Unternehmen bereits „im Voraus vorgesehen“ mit diesem Thema beschäftigt. Auch in unserem Wahl- werden, unabhängig davon, ob zum Beispiel eine Nach- programm zur Bundestagswahl 2009 findet sich an meh- frage von Kunden mit Behinderung überhaupt vorliegt. reren Stellen das klare Bekenntnis zu einer Kultur der Von diesen Regelungen wären insbesondere kleine mit- Vielfalt. Dabei haben wir uns beispielsweise für die För- telständische Unternehmen betroffen, für die die gefor- derung betrieblicher Diversity-Strategien und die Veran- derten Maßnahmen einen erheblichen finanziellen und kerung dieser in den Leitbildern öffentlicher Unterneh- bürokratischen Aufwand darstellen. Damit vergrätzen men ausgesprochen. Sie diejenigen, die wir noch stärker als bisher für Diver- Es besteht hier wohl Einigkeit darüber, dass niemand sity-Strategien begeistern wollen: die Unternehmen in aufgrund der genannten Charakteristika diskriminiert unserem Land. werden darf. Es geht hier also nicht darum, ob wir eine Drittens. Auch das in der Richtlinie enthaltene Diskri- vielfältige, weltoffene Gesellschaft haben wollen, son- minierungsmerkmal „Weltanschauung“ sehen wir sehr dern vielmehr um die Frage, wie wir dieses Ziel am bes- kritisch, gerade in Bezug auf den Missbrauch durch radi- ten erreichen. An diesem Punkt jedoch unterscheiden kale Gruppierungen. Zur Erinnerung: Als das AGG ver- wir uns deutlich. abschiedet wurde, hat man sich bewusst dafür entschie- Gerade als Liberaler möchte ich hier festhalten: Wir den, auf das Merkmal „Weltanschauung“ zu verzichten. können eine Kultur der Vielfalt und Toleranz politisch Den Grund für diese Entscheidung will ich Ihnen gerne fördern, unterstützen, flankieren. Aber wir werden – und noch einmal nennen: Man sah die Gefahr, dass zum Bei- das ist entscheidend – einen gesellschaftlichen Wandel spiel Anhänger rechtsradikalen Gedankenguts versuchen nicht mit Gesetzen und Richtlinien erzwingen können. könnten, sich Zugang zu Geschäften zu verschaffen, der ihnen aus anerkennenswerten Gründen verweigert wird. Vielleicht würde dieser Antrag, wenn er denn eine Würde diese neue Richtlinie, wie Sie von Bündnis 90/ Mehrheit in diesem Hohen Hause erhielte, dazu beitra- Die Grünen es fordern, verabschiedet, könnte genau die- gen, das Gewissen einiger Kolleginnen und Kollegen zu ses Problem erneut auftreten. Wollen Sie das? beruhigen. Aber den Menschen, den Betroffenen, wür- den wir mit diesem Antrag relativ wenig helfen, und Viertens. Der Richtlinienentwurf der Kommission zwar deshalb, weil diese Richtlinie an den Lebenswirk- greift schwerwiegend in die Abschluss- und Gestaltungs- lichkeiten der Menschen vorbeizielt. aspekte der Vertragsfreiheit ein. Die Vertragsfreiheit (B) gehört zu den Grundpfeilern unserer sozialen Marktwirt- (D) Wir reden doch gerade über eine Vielfältigkeit im un- schaft und damit unserer Wirtschaftsordnung. Im Zivil- mittelbaren Lebensumfeld der Menschen. Die Chancen recht gilt grundsätzlich Vertrags- und Wahlfreiheit und von beispielsweise kultureller Vielfältigkeit sind schon damit das Recht, keine Gründe dafür benennen zu müs- jetzt in unser aller Alltag greifbar. Deswegen ist es genau sen, einen Vertrag abzuschließen oder zu verweigern. der falsche Weg, politische Entscheidungen auf diesem Würde man jede Bevorzugung als Diskriminierung anse- Gebiet nach Brüssel oder Straßburg zu verlagern. hen, so stünde der gesamte Zivilrechtsverkehr unter ge- Denn nicht zuletzt diese Nähe zur Lebenswirklichkeit nerellem Diskriminierungsverdacht. Auch das kann man der Menschen entscheidet über die Akzeptanz solcher nicht wirklich wollen. Es ist der Vertragsfreiheit fremd, Regelungen. Genau diese Akzeptanz in der Bevölkerung dem Einzelnen vorzuschreiben, welche Gesichtspunkte ist es, die wir bei den bisherigen vier EU-Richtlinien zur für den Abschluss oder die Gestaltung eines Vertrages Gleichstellung so häufig vermissen. Mit dieser neuen, maßgeblich sein dürfen. fünften, Richtlinie, die vor inhaltlichen Fehlern nur so Es gäbe noch etliche weitere Punkte. Um es kurz zu strotzt, riskieren wir, diese Akzeptanz noch weiter zu machen: Für uns Liberale ist dieser Entwurf insgesamt verspielen. nicht geeignet, die Freiheit des Einzelnen mit den be- Ich will Ihnen dafür gerne einige Beispiele nennen: rechtigten Anliegen von Gesellschaft und Wirtschaft zu einem vernünftigen Ausgleich zu bringen. Erstens. Die Richtlinie sieht unter anderem die Be- weislastumkehr vor. Wir warnen dringend davor, die in Es wäre ärgerlich, wenn das Ziel, Gerechtigkeit durch Deutschland schon bestehenden Regelungen des Allge- Gleichbehandlung zu schaffen und Diskriminierung meinen Gleichbehandlungsgesetzes, AGG, auf andere auch im Privatrecht zu vermeiden, wegen mangelnder Rechtsbereiche auszudehnen. Denn was bedeutet das in Akzeptanz einer unnötig ausufernden Regelung verfehlt der Praxis? Es muss zukünftig noch mehr dokumentiert würde. Ich glaube nicht, dass es uns gelingen kann, den und archiviert werden, um im Streitfall abgesichert zu Menschen die Vorteile von Vielfalt und Toleranz quasi sein. am Aktenschrank zu vermitteln. Zweitens. Die Richtlinie enthält eine Fülle an unbe- Deswegen ist es so wichtig, dass wir klar formulieren, stimmten Rechtsbegriffen. So ist im Text von „einer we- wofür wir sind, und endlich damit beginnen, die Men- niger günstigen Behandlung“, „unverhältnismäßigen Be- schen auf die Chancen der Vielfalt hinzuweisen, ohne lastungen“, „grundlegenden Veränderungen“ oder von zusätzliche Ängste und Unsicherheit durch die Umset- „angemessenen Vorkehrungen“ die Rede. Dies fördert zung überflüssiger Richtlinien zu verursachen. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010 3649

(A) Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang im Üb- Derzeit ist der Antidiskriminierungsschutz EU-weit (C) rigen eine Pressemitteilung des Büros gegen Altersdis- äußerst uneinheitlich geregelt. Einen gemeinsamen Stan- kriminierung, das, wie die Grünen, zwar die ablehnende dard gibt es nur beim Schutz vor Diskriminierung am Haltung der Bundesregierung zur Richtlinie kritisiert, Arbeitsplatz. Ausformuliert sind auch die Rechte in Be- aber gleichzeitig feststellt: zug auf Geschlecht und ethnische Zugehörigkeit. … im April 2009 stimmten sie Ich betone – denn mir scheint das immer wieder not- – die Abgeordneten des EP – wendig zu sein –: Die Rechte sind ausformuliert. Die Realität sieht noch immer anders aus; Ungleichbehand- mit immerhin 363 zu 226 Stimmen für die neue An- lung und Ungerechtigkeiten sind Alltag, auch in tidiskriminierungsrichtlinie. Das war möglich, weil Deutschland. die 5. Antidiskriminierungsrichtlinie so viele Aus- nahmen von der Regel enthält, so offen für juristi- Die neue Richtlinie von 2008 soll europaweit einheit- sche Interpretationen ist, wie keine ihrer Vorgänge- liche Standards in Bezug auf Gleichbehandlung unge- rinnen. achtet der Religion oder der Weltanschauung, einer Be- hinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung Es sind genau diese juristisch offenen Fragen und die schaffen. Was ist daran verwerflich? Damit die Richtli- vielen Ausnahmen von der Regel, die bei den Menschen nie gelten kann, bedarf es der Zustimmung aller im Eu- die angesprochenen Ängste verursachen und Verwirrung roparat vertretenen Länder. stiften. Und nun wird es spannend, bzw. hier beginnt unsere Auch die letzte Bundesregierung stand dieser neuen konkrete Verantwortung: Deutschland blockiert. Die Ko- Antidiskriminierungsinitiative der EU-Kommission ab- alition hält den Richtlinienentwurf für ungeeignet. Allen lehnend gegenüber. Damals wurde darauf verwiesen, dass zunächst die Erfahrungen mit dem in Kraft getrete- voran „argumentiert“ die FDP mit der Gefahr der Überre- nen Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz abgewartet gulierung. „Die Freiheit des Einzelnen“, so die FDP in ih- werden sollen. rem Antrag zur Fortsetzung der Blockadehaltung Deutschlands vom Februar 2009 (Drucksache 16/11682), Ich möchte Ihnen auch eine interessante Feststellung sei nicht „mit berechtigtem Anliegen von Wirtschaft und der Antragsteller in ihrer eigenen Antragsbegründung Gesellschaft zu einem vernünftigen Ausgleich zu brin- nicht vorenthalten. Dort heißt es: gen“. Die unternehmerische Freiheit werde gefährdet. Das deutsche Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz Zur unternehmerischen Freiheit gehört jedoch keines- … mit seinem horizontalen Ansatz geht – bei allen falls das Recht, irgendjemanden diskriminierend zu be- Mängeln bei den Instrumenten – in diesem Punkt handeln. (B) (D) bereits über das … europäische Recht hinaus … Und nun wird es noch spannender: Die Richtlinie, der Wofür brauchen wir in Deutschland dann überhaupt die Koalition nicht zustimmen will, geht kaum über die eine weitere Richtlinie, wenn wir deren Inhalt mit dem Bestimmungen des Allgemein Gleichbehandlungsgeset- AGG bereits umgesetzt haben? Sie entgegnen: Um ein zes, AGG, von 2006 hinaus. Der Geltungsbereich des positives Zeichen in der EU für Gleichstellung und Anti- AGG bezieht sich, wie in der Richtlinie gefordert, auf diskriminierung zu setzen. Ich bin der Meinung, bevor den Sozialschutz, soziale Vergünstigungen, die Bildung wir anderen Ländern gute Ratschläge zur Antidiskrimi- und den Zugang zu und die Versorgung mit Gütern und nierung geben, sollten wir zunächst unsere eigene Ge- Dienstleistungen einschließlich Wohnraum und Verkehr. setzgebung ordentlich prüfen und gegebenenfalls auftre- tende Mängel beseitigen. Schließlich würde das den In Hinblick auf Menschen mit Behinderungen geht Menschen in unserem Land tatsächlich helfen. der Richtlinienentwurf auch nicht weit über die Bestim- mungen der UN-Konvention zu den Rechten von Men- schen mit Behinderungen – von Deutschland ratifiziert – Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE): Eines der Hauptargu- hinaus. mente der Gegner der Antidiskriminierungsrichtlinie ist, dass es – angeblich – kaum Diskriminierungstatbestände Die Verpflichtung zur Schaffung diskriminierungs- gäbe. Ein Blick ins „richtige Leben“ genügt, dies ad ab- freier Zugänge zu Sozialschutz, sozialen Vergünstigun- surdum zu führen. Menschen, die anderer ethnischer gen, Gesundheitsdiensten und Bildung besteht also be- Herkunft oder homosexuell sind, die mit Behinderungen reits. Die Koalition verhindert also, dass europaweit gilt, leben oder ein höheres Alter haben, erleben praktisch was in Deutschland schon seit 2006 im Gesetzblatt steht. täglich Benachteiligungen bzw. Herabwürdigungen. Oft sind diese sehr subtil. Häufig ist den Diskriminierenden Um es ausnahmsweise einmal mit den Worten meines nicht einmal bewusst, dass sie mit ihren – üblen – Scher- Kollegen und Fraktionsvorsitzenden Gregor Gysi auszu- zen, Gesten oder Haltungen Menschen verletzen. Das zu drücken: „Ja, wo leben wir denn?!“ Können Sie mir bitte ändern ist eine Herkules-Aufgabe. nachvollziehbar erklären, weshalb Sie in Deutschland alte Menschen vor Diskriminierung schützen wollen, Der Gesetzgeber, also wir, kann dazu seinen Teil bei- aber in anderen EU-Ländern nicht? Was spricht ernsthaft tragen, indem er Diskriminierungen jeglicher Art ächtet gegen ein europaweites Engagement für Gleichbehand- und Zuwiderhandlungen mit spürbaren Sanktionen be- lung? legt. Damit sind längst nicht alle Diskriminierungen be- seitigt, aber es ist ein wichtiger Schritt in die richtige Die Regierung, agierend als Interessensvertreter der Richtung. Wirtschaft, hat Angst vor Verbandsklagerechten, Be- 3650 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010

(A) weislastumkehr, vor hohen Schadensersatzforderungen, Gründen des Geschlechts, der Rasse, der ethnischen (C) die nach dem neuen Richtlinienentwurf nicht mehr nach Herkunft, der Religion und Weltanschauung, einer Be- oben hin begrenzt werden dürfen. hinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung als solche, die von der Union in allen Bereichen ihrer Zu- Aber da kann ich Sie – als Linker und Interessenver- ständigkeit zu bekämpfen sind. treter der Betroffenen – dreifach beruhigen. Hierzu kann der Rat nach Zustimmung des Europäi- Erstens. Wenn nicht diskriminiert wird, wird nicht schen Parlaments einstimmig geeignete Vorkehrungen massenhaft geklagt. treffen. Die Mitgliedstaaten sind verpflichtet, solche Zweitens. Wenn nicht diskriminiert wird, ist die Höhe Maßnahmen in ihren jeweiligen nationalen Rechtsord- der Schadensersatzforderungen egal. nungen zu verankern. Drittens. Die Bestimmungen der Richtlinie in Bezug Im Jahre 2000 entstanden die beiden Richtlinien zur auf die barrierefreie Zugänglichkeit insbesondere für Gleichbehandlung ohne Unterschied der Rasse und eth- Menschen mit Behinderungen zu öffentlichen Gütern, nischen Herkunft sowie zur Verwirklichung der Gleich- Gebäuden und Wohnraum enthalten viele weit ausleg- behandlung in Beschäftigung und Beruf. 2004 und 2006 bare Ausnahmeregelungen. folgten die Richtlinien zur Gleichbehandlung von Män- nern und Frauen beim Zugang zu und bei der Versorgung Die EU schützt mit ihrem Richtlinienentwurf vor „un- mit Gütern und Dienstleistungen und zur Verwirklichung verhältnismäßige[n] Belastungen“, Art. 4 Ziff. 2 RLE. des Grundsatzes der Chancengleichheit und Gleichbe- Unternehmen müssen nur dann für Umbauten oder Ähn- handlung von Männern und Frauen in Arbeits- und Be- liches zahlen, wenn es sie nicht ruiniert. schäftigungsfragen. Die von Ihnen befürchtete Rechtsunsicherheit ist ei- Nach dem damit erreichten Niveau des europäischen gentlich in Ihrem Sinne. Das bedauere ich wiederum; Diskriminierungsschutzes ist festzuhalten, dass für die denn die vielen Ausnahmeregelungen schwächen den unterschiedlichen Diskriminierungsmerkmale – leider – Schutz vor Verstößen gegen elementare Menschen- unterschiedliche Schutzstandards gelten. Manche Richt- rechte. linien gelten nur für bestimmte Merkmale, manche an- Mit ihrem Blockadeverhalten zeigt die Bundesregie- dere gelten für alle Merkmale, aber nur für bestimmte rung: Eine Kultur der Teilhabe und Antidiskriminierung Lebensbereiche. ist ihr nicht wichtig. Vielfalt gilt nur dann als schützens- Wir sind in Deutschland einen konsequenteren Weg wert, wenn sie der Nutzung von Arbeitskräftepotenzial gegangen. Mit dem allgemeinen Antidiskriminierungs- dient, wenn sie den Wirtschaftsstandort Deutschland (B) gesetz hat Rot-Grün einen Vorschlag eines vollwertigen (D) aufwertet. Die „Antidiskriminierungspolitik“ der Koali- Diskriminierungsschutzes in allen Lebensbereichen und tion soll nicht Chancengleichheit und Solidarität europa- unter Bezugnahme auf alle Diskriminierungsmerkmale weit fördern, sondern lediglich das reibungslose Zusam- gemacht. Die Große Koalition, also auch die Union, hat menarbeiten von Beschäftigten, die immer heterogener diesen Vorschlag übernommen und nur unwesentlich ab- werden, organisieren. geändert Gesetz werden lassen. Uns ist damit – ich sage Ich möchte zum Schluss darauf hinweisen, dass es die dies bei aller fortbestehenden Kritik an den gewählten Koalition selbst war, die zu Beginn ihrer Regierungszeit, Instrumenten und einzelnen Regelungen – mit dem All- im Dezember 2009, mit einem eigenen Antrag, Drucksa- gemeinen Gleichbehandlungsgesetz ein Diskriminie- che 17/257, mit dem Titel „Menschenrechte weltweit rungsschutz gelungen, der dem europäischen Geist schützen“ bekannte: entspricht, dabei aber über die bisher zustande gekom- menen europäischen Richtlinien hinausgeht. Angehörige von Minderheiten bedürfen eines um- fassenden staatlich gewährleisteten Schutzes, um Nunmehr hat die EU-Kommission im Sommer 2008 ihr Recht auf Selbstbestimmung ausüben zu kön- einen Richtlinienvorschlag zur Anwendung des Grund- nen. satzes der Gleichbehandlung ungeachtet der Religion oder der Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters Meine sehr verehrten Damen und Herren, nehmen Sie oder der sexuellen Ausrichtung vorgelegt. Die Richtlinie sich eigentlich selbst ernst? soll auch außerhalb der Bereiche der Beschäftigung und des Berufs für die Bereiche Sozialschutz, soziale Ver- Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Mit günstigungen, Bildung sowie Zugang zu Gütern und dem Lissabon-Vertrag ist der Prozess der europäischen Dienstleistungen gelten. Mit ihr sollen die bestehende Integration auf eine neue Stufe gehoben worden. Die Hierarchie der Diskriminierungsmerkmale und ihre nur Werte, auf die sich die Union gründet, zeichnen sich in sektorale Bekämpfung überwunden werden. Das Euro- Art. 2 des Vertrags über die Europäische Union, EUV, päische Parlament hat im April 2009 diese Initiative un- ausdrücklich auch durch Nichtdiskriminierung aus. terstützt und eigene Vorschläge zum Diskriminierungs- Demzufolge kämpft die Union gegen soziale Ausgren- schutz gemacht. zungen und Diskriminierungen, wie Art. 3 Abs. 3 EUV festhält. Aus unserer Sicht sind dies Selbstverständlichkeiten; jedenfalls sind es Regelungen, die bereits Bestandteil des Der Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen deutschen nationalen Rechts sind. Umso unverständlicher Union, AEUV, benennt in Art. 19 Diskriminierungen aus ist, dass sich die Bundesregierung darauf festgelegt hat, Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010 3651

(A) das Zustandekommen dieser Richtlinie zu sabotieren. Da- Heute haben Sie eine Gelegenheit, Ihre Position noch- (C) mit bezieht die Bundesregierung offen Front gegen die mals zu überdenken. Dazu fordern wir Sie ganz aus- spanische Präsidentschaft, die die Gleichstellungspolitik drücklich auf. zu einer ihrer wichtigsten Aufgaben erklärt hat. Aber auch für Belgien und Ungarn ist das Vorgehen der Bundes- regierung wie ein Schlag ins Gesicht, haben doch diese Anlage 6 Mitgliedstaaten in ihrem Triopräsidentschaftsprogramm erklärt, alle Formen der Diskriminierung in Europa be- Zu Protokoll gegebene Reden kämpfen und im Bereich der Nichtdiskriminierung neue zur Beratung des Entwurfs eines … Gesetzes Akzente setzen zu wollen. Ausdrücklich zählt dazu die zur Änderung der Abgabenordnung (Abschaf- Verabschiedung der 5. Gleichstellungsrichtlinie. fung der strafbefreienden Selbstanzeige bei Steuerhinterziehung) (Tagesordnungspunkt 19) Mit ihrem Verhalten sabotiert die Bundesregierung Regelungen in den anderen Mitgliedstaaten, die in Deutschland längst Gesetz sind. Diese irrationale Politik Manfred Kolbe (CDU/CSU): Lassen sie mich zu- ist nur mit der Aversion der FDP und von Teilen der nächst vorausschicken, dass meine Fraktion, die CDU/ Union gegen jede Bekämpfung von Diskriminierungen CSU, die Steuerhinterziehung energisch bekämpft. Wäh- durch staatliche Regelungen zu erklären. Denn sie sehen rend bis 2005 unter Rot-Grün in dieser Richtung wenig Antidiskriminierungsanstrengungen nur als finanzielle passiert ist, hat die unionsgeführte Große Koalition seit Belastungen der Wirtschaft, und sie sind eher bereit, der 2005 zahlreiche gesetzgeberische Maßnahmen zur Be- deutschen Wirtschaft ökonomische Nachteile gegenüber kämpfung der Steuerhinterziehung auf den Weg ge- der europäischen Konkurrenz zuzufügen, indem sie die bracht. deutsche Wirtschaft mit den Kosten der Beachtung des Der verfassungsrechtlich problematische § 370 a Ab- AGG belasten, die europäischen Konkurrenten aber von gabenordnung, gewerbsmäßige oder bandenmäßige diesen Kosten freihalten wollen, als sich zu einer kohä- Steuerhinterziehung, wurde gestrichen und die entspre- renten Diskriminierungsbekämpfung auf europäischer chende Qualifizierung als neuer § 370 Abs. 3 Satz 2 Ebene zu bekennen. Nr. 5 AO neu gefasst. Damit ist eine wirksamere Straf- verfolgung der bandenmäßigen Hinterziehung von Um- Wir Grünen fordern mit unserem Antrag die Koalition satz- oder Verbrauchsteuern möglich. auf, ihren irrationalen und für das Ansehen Deutschlands in Europa schädlichen Kurs aufzugeben und die spani- Das Gesetz zur Neuregelung der Telekommunika- tionsüberwachung vom 21. Dezember 2007 nimmt erst- (B) sche Präsidentschaft zu unterstützen. (D) mals mit diesem § 370 Abs. 3 Satz 2 Nr. 5 AO einen Ich will mit den Worten von Amnesty International qualifizierten Steuerhinterziehungstatbestand in den schließen, die diese Menschenrechtsorganisation an die Katalog des § 100 a StPO auf, der ohne Wissen der Be- Bundesregierung gerichtet hat: troffenen eine Telekommunikationsüberwachung und Aufzeichnung ermöglicht. Damit wird erstmalig eine Te- Vor allem aber sendet Deutschland lekommunikationsüberwachung für schwere Steuerhin- terziehungstatbestände ermöglicht. – mit dem Verhalten der Bundesregierung – Das Jahressteuergesetz 2009 vom 19. Dezember 2008 ein verheerendes Signal aus: Dass die EU nicht tä- verlängert in § 376 AO die Verjährungsfrist für beson- tig werden müsse, um eine Diskriminierung auf- ders schwere Fälle der Steuerhinterziehung auf zehn grund sexueller Orientierung, Religionszugehörig- Jahre. keit, Alter oder Behinderung zu bekämpfen, die zur Wirklichkeit in Europa gehört, und dies nicht nur Auch die Steuerfahndung in Deutschland war grund- auf dem Arbeitsmarkt. sätzlich erfolgreich. Jahr für Jahr haben wir rund 40 000 Verfahren, 17 000 Strafverfahren und Mehreinnahmen in Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, Milliardenhöhe. gestern wurden im Rechtsausschuss Sachverständige zu dem Vorschlag der SPD, der Linken und von uns Grünen Zu begrüßen ist auch, dass der Bundesgerichtshof die gehört, das Merkmal der sexuellen Identität in den Dis- Strafzumessungsregeln bei Steuerhinterziehung präzi- kriminierungsschutz des Grundrechts aus Art. 3 Abs. 3 siert hat. Der Strafrahmen von bis zu zehn Jahren Frei- unserer Verfassung aufzunehmen. Ein von der Union be- heitsstrafe ist durchaus ausreichend, als problematisch empfunden wurde aber mitunter dessen mangelnde Aus- nannter Sachverständiger verstieg sich zu der Behaup- schöpfung durch einzelne Urteile. tung, die Integration von Migranten muslimischen Glau- bens erlaube einen solchen Schutz vor Diskriminierung Der Bundesgerichtshof hat jetzt entschieden, dass in der Verfassung nicht, weil er von diesen Menschen Freiheitsstrafen künftig schon bei einem Steuerschaden abgelehnt werde. Niemand von Ihnen hat im Ausschuss von mehr als 50 000 Euro möglich und ab 100 000 Euro widersprochen. Es war beklemmend zu sehen und zu hö- unerlässlich sind, allerdings bei Ersttätern noch zur Be- ren, dass Ihnen selbst solche unglaublichen „Argu- währung ausgesetzt werden können. Bei Hinterziehung mente“ recht sind, um sich gegen jeden weiteren Diskri- in Millionenhöhe schließt der Bundesgerichtshof die minierungsschutz zu wehren. Möglichkeit einer Aussetzung der Freiheitsstrafe zur Be- 3652 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010

(A) währung grundsätzlich aus. Wer künftig Steuern in Mil- Selbstanzeige mit krimineller Energie bereits von An- (C) lionenhöhe hinterzieht, sitzt tatsächlich im Gefängnis. fang an in die Steuerhinterziehungsplanung mit einbezo- gen wird, engere Schranken ziehen. Schließlich haben wir im Mai 2009 den Koalitionsan- trag „Steuerhinterziehung bekämpfen“ beschlossen, der Die „strafbefreiende Selbstanzeige“ ist der verfas- eine weitere Vielzahl von zu ergreifenden Maßnahmen sungsrechtlich anerkannte Weg zurück in die Steuer- enthält. Insbesondere fordert er im internationalen Be- ehrlichkeit. Den Regelungen der strafbefreienden Selbst- reich eine Überarbeitung und umfassende Erweiterung anzeige nach § 371 AO liegen dabei fiskal- und der Europäischen Richtlinien zur Zinsbesteuerung und kriminalpolitische Zielsetzungen zugrunde: Aus fiskal- einen verbesserten Informationsaustausch auf internatio- politischer Sicht ist § 371 AO ein Instrument zur „Er- naler Ebene. schließung bisher verheimlichter Steuerquellen“. Dem an einer Steuerhinterziehung Beteiligten soll mit der in Besonders im internationalen Bereich sind wir durch Aussicht gestellten Straffreiheit ein attraktiver Anreiz Anstrengungen aller großen Industriestaaten deutlich zur Berichtigung vormals unzutreffender oder unvoll- weitergekommen und haben jetzt weitgehend einen In- ständiger Angaben gegeben werden, um im Interesse des formationsaustausch nach Art. 26 des OECD-Musterab- Fiskus eine diesem bislang verborgene und ohne die Be- kommens durchgesetzt. Derzeit laufen zahlreiche Ver- richtigung möglicherweise auch künftig unentdeckt blei- handlungen mit Staaten, die dazu bisher nicht bereit bende Steuerquelle zu erschließen. Daneben kommt in waren. § 371 AO auch das strafrechtliche Prinzip zum Aus- Der heute in erster Lesung von der Fraktion der SPD druck, dass eine „tätige Reue“ – mit der die Wirkungen eingebrachte Entwurf eines Gesetzes zur Abschaffung einer Tat rückgängig gemacht werden – dem Täter zugu- der strafbefreienden Selbstanzeige bei Steuerhinterzie- tekommen soll. Änderungen in Bezug auf § 371 AO hung macht gleich zu Beginn durch dreierlei erstaunli- müssten daher sowohl auf die fiskalpolitischen als auch che Umstände auf sich aufmerksam: auf die kriminalpolitischen Belange abgestimmt werden. Erstens liegt dieser seit langem angekündigte Gesetz- Weiter ist die strafbefreiende Selbstanzeige auch kein entwurf erst seit gestern ausformuliert dem Hause vor. deutsches Sonderrecht, sondern sie gibt es in der einen Diese lange Reife ist offenbar auf heftige Geburtswehen oder anderen Form auch in den meisten anderen europäi- zurückzuführen. Offenbar war man sich auch unter So- schen Ländern und in den USA. zialdemokraten nicht ganz einig, ob es tatsächlich sinn- Schließlich ist die strafbefreiende Selbstanzeige der- voll ist, die seit über 100 Jahren in der deutschen Steuer- zeit ein besonders wirkungsvolles Instrument im Kampf rechtsordnung verankerte Möglichkeit der gegen die Steuerhinterziehung. (B) strafbefreienden Selbstanzeige abzuschaffen. Jedenfalls (D) dort, wo die Sozialdemokraten noch regieren und den Fi- Seit dem Ankauf der sogenannten Steuersünder-CD nanzminister stellen, herrscht eine etwas realitätsbezoge- in diesem Winter haben sich bisher circa 16 000 Steuer- nere Sichtweise. So verteidigte der rheinland-pfälzische pflichtige auf Grundlage des § 371 Abgabenordnung Finanzminister Carsten Kühl, SPD, die Strafbefreiung selbst angezeigt. Experten rechnen mit wöchentlich durch Selbstanzeige bei Steuerdelikten gegen Kritik aus 1 000 neuen Anzeigen, wobei mit jeder neuen angekauf- seiner Partei mit den Worten: ten Steuersünder-CD auch die Zahl der Selbstanzeiger höher werden wird. Die Finanzministerien von Bund Ich bin dafür, dass wir die Möglichkeit der Strafbe- und Ländern rechnen mit Steuernachzahlungen von freiung durch Selbstanzeige beibehalten. Letztlich mehr als 1 bis zu 3 Milliarden Euro. Genauere Schätzun- profitiert der Staat davon, denn wer sich selbst an- gen wird es beim Bericht der Steuerschätzung im Mai zeigt, muss alles offenlegen. Das ist viel effektiver geben. Ohne das Instrument der Selbstanzeige würden als der Einsatz von Ermittlern. diese Beträge niemals vereinnahmt werden können. Zweitens fällt auf, dass die Sozialdemokraten ihren Auch bei einer Verdoppelung oder Verdreifachung der Gesetzentwurf nicht mit übertriebender Energie einbrin- Zahl der Steuerfahnder könnten die Tausenden von Fäl- gen, wenn sie heute auf die mündliche Erörterung im len niemals ausermittelt werden. Aber: Die Flut der Plenum verzichten und alle Reden zu Protokoll gegeben Selbstanzeigen zeigt aber eben auch, dass vielfach nicht werden. ehrliche Reue der ausschlaggebende Grund für die Rückkehr zur Steuerehrlichkeit ist, sondern vielmehr die Drittens schließlich ist der Gesetzentwurf denkbar Angst vor Entdeckung oder das Nichtaufgehen einer einfach gestrickt und fordert die völlige Abschaffung der kühl kalkulierten Hinterziehungsstrategie. Wir werden strafbefreienden Selbstanzeige. Anstatt sich differen- deshalb die Erkenntnisse aus dem Ankauf der Steuerhin- zierte Gedanken zu machen, wie dieses Instrument fort- terzieher-CDs zum Anlass nehmen, die strafbefreiende entwickelt werden kann und kriminalpolitische Zielset- Selbstanzeige mit dem Ziel zu überprüfen, dass dieses zungen einerseits und fiskalpolitische Zielsetzungen Instrument zwar notwendigerweise erhalten bleibt, aber andererseits besser vereinbart werden können, heißt es nicht mehr als Gegenstand einer Hinterziehungsstrategie nur: Weg damit! Dies ist zu einfach gestrickt und wird missbraucht werden kann. Folgende Änderungen wären der Bekämpfung der Steuerhinterziehung nicht gerecht. zielführend: Meine Fraktion tritt einerseits für die Beibehaltung Erstens: Vorverlegung des Zeitpunktes der Tatent- der strafbefreienden Selbstanzeige gemäß § 371 Abga- deckung, damit für die Inanspruchnahme der strafbefrei- benordnung ein, möchte aber andererseits dort, wo die enden Selbstanzeige der Spielraum für Hinterziehungs- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010 3653

(A) strategien genommen wird. Es sollte schon auf einen nem Instrument im strategischen Werkzeugkasten von (C) tatsachengestützten Anfangsverdacht abgestellt werden Tätern verkommen ist, die ihre baldige Überführung und nicht mehr wie bisher auf eine konkrete Tatent- fürchten müssen. Wir gehen diesen Schritt im Interesse deckung – Wahrscheinlichkeit der Verurteilung. Außer- der überwiegenden Mehrheit unserer Bürgerinnen und dem sollte schon der Zeitpunkt des Zugangs der Betriebs- Bürger, die ehrlich ihre Steuern zahlen, damit unser Ge- prüfungsanordnung und nicht mehr erst das Erscheinen meinwesen seine Leistungen erbringen kann. Deren Ge- des Amtsträgers zur steuerlichen Prüfung maßgeblich rechtigkeitsempfinden wird durch die strafbefreiende sein. Selbstanzeige in empfindlichem Maße verletzt. Zweitens: Ausschluss der sogenannten Teilselbst- Umso enttäuschender ist es, dass Schwarz-Gelb – trotz anzeige, mit der sich Steuerhinterzieher häufig nur vieler Sonntagsreden – bei der Bekämpfung von Steuer- scheibchenweise je nach aktuellem Entdeckungsrisiko hinterziehung kaum wahrnehmbares Engagement an den erklären. Steuerhinterzieher sollen nur noch durch eine Tag legt. In manchen Bundesländern drängt sich sogar umfassende Selbstanzeige die Strafbefreiung in An- der Eindruck auf, dass CDU und vor allem FDP mehr spruch nehmen können. Damit würde verhindert, dass am aktiven Täterschutz Interesse haben als an der Auf- sich Steuerhinterzieher etwa nur im Hinblick auf die klärung von Steuerstraftaten. Wie kann es sein, dass sich Schweiz anzeigen, verstecktes Geld in anderen Ländern diese Bundesregierung noch immer nicht auf einen ein- jedoch weiter verschweigen. Sämtliches auf der Welt deutigen Kurs im Umgang mit Steuerdaten, die ihr zum verstecktes Geld muss künftig offengelegt werden, damit Kauf angeboten werden, hat einigen können? Wie kann es die Strafbefreiung gewährt wird. sein, dass ein baden-württembergischer FDP-Justizminis- ter sich dem Ankauf entsprechender Datenträger verwei- Drittens: Einführung eines Zinszuschlages, damit gert und dafür Bedenken vorschiebt, die sein nordrhein- Steuerhinterzieher bei Inanspruchnahme einer strafbe- westfälischer Kollege und Parteifreund offensichtlich in freienden Selbstanzeige am Ende wirtschaftlich auch keinem Punkt teilt. Statt solcher taktischer Spielchen spürbar stärker belastet sind als ehrliche Steuerzahler, wären CDU und FDP besser beraten, ein klares Signal die lediglich zu spät zahlen – zum Beispiel Stundungs- zu setzen: Steuerehrlichkeit ist eine Bürgerpflicht, die fälle. Derzeit gilt ein Zinssatz von 6 Prozent sowohl für sich unser Staat nicht abhandeln lässt. Es darf nicht sein, ehrliche Steuerzahler als auch für Steuerhinterzieher. dass Menschen unser Gemeinwesen über Jahre hinweg Eine Abschaffung des § 371 Abgabenordnung wird es und systematisch betrügen – mit dem klaren Kalkül, sich mit den Koalitionsfraktionen nicht geben. Wir sind für in letzter Sekunde mit einer Selbstanzeige aus dem eine sachgerechte Reform dieser Vorschrift. Ziehen Sie Sumpf der Kriminalität zu ziehen. Wir beobachten: Das besser Ihren Gesetzentwurf zurück, und lassen sie uns Verhalten der Steuerhinterzieher wird vor allem von der (B) gemeinsam überlegen, wie wir Steuerhinterziehung ef- Angst vor Entdeckung geleitet. Mit jeder CD mit Steuer- (D) fektiver bekämpfen können – unter fiskalischen und kri- daten, die den Steuerbehörden einen Ankauf wert er- minalpolitischen Aspekten. scheint, rollte eine neue Welle von Selbstanzeigen an. Mittlerweile sind es mehr als 16 000, davon allein 4 300 aus meinem Heimatland Baden-Württemberg. Martin Gerster (SPD): Steuerhinterziehung war nie ein Kavaliersdelikt. Sie ist es nicht und wird es niemals Die Selbstanzeigen kommen und gehen – das Phäno- sein. So weit, so gut. Das Bekenntnis zu einem ent- men der Steuerflucht bleibt bestehen; denn offensicht- schlossenen Kampf gegen alle Formen von Steuerkrimi- lich erscheint vielen Steuerkriminellen das Risiko, er- nalität hört man in diesem Haus gegenwärtig aus allen wischt zu werden, noch zu gering. Deshalb streben wir Richtungen. Wir dürfen nicht zulassen, dass es zum Lip- einen Strategiewechsel an, der das uralte Gezeitenspiel penbekenntnis verkommt. Wo andere Leerformeln da- von Steuerflucht und Selbstanzeige neuen Regeln unter- herbeten, wollen wir Sozialdemokraten Steuerhinterzie- wirft. Wir müssen klare Kante ziehen: Der § 371 der Ab- hung wirksam bekämpfen. Der von uns eingebrachte gabenordnung ist ersatzlos zu streichen. Ab dem 1. Ja- Gesetzentwurf führt deshalb den unter Finanzminister nuar 2011 muss die Tür zur Flucht in die Selbstanzeige Peer Steinbrück mutig beschrittenen Erfolgsweg fort. geschlossen sein. Bis dahin bleibt jenen, die den Rück- Seinem Einsatz ist zu verdanken, dass sich das Ge- weg in die Steuerehrlichkeit suchen, eine letzte Frist. schäftsmodell „Steueroase“ international auf dem Rück- Um wirksam zu werden, muss diese Maßnahme jedoch zug befindet. Das Steuerhinterziehungsbekämpfungsge- durch weitere Anstrengungen flankiert werden. Das setz hat Wirkung gezeigt. Seit Herbst 2008 haben heißt, wir müssen unseren Finanzbehörden bereits im zahlreiche Länder den OECD-Standard zu Bankauskünf- Besteuerungsverfahren die notwendigen Mittel an die ten akzeptiert. Damit haben sich auch die Chancen, deut- Hand geben, um auf nationaler, europäischer und inter- schen Steuerkriminellen auf die Schliche zu kommen, nationaler Ebene erfolgreich und effizient zusammenzu- deutlich verbessert. arbeiten. Gleichzeitig muss uns daran gelegen sein, das Schwert der Steuerfahndung so scharf zu halten, dass Angesichts dieser erfreulichen Entwicklung ist es potenziellen Steuerhinterziehern das Entdeckungsrisiko jetzt an der Zeit, den Umgang mit der strafbefreienden jederzeit klar vor Augen steht. Deshalb müssen wir den Wirkung von Selbstanzeigen zu überdenken. Wir wollen Finanzbehörden die notwendigen Mittel in die Hand ge- Steuerhinterziehern in Zukunft die Möglichkeit nehmen, ben, um im In- und Ausland effizient zu ermitteln. sich auf diesem Wege ihrer gerechten Strafe zu entzie- hen; denn wir sind überzeugt, dass die bisherige Rege- Der ein oder andere mag nun argumentieren, durch lung ihren ursprünglichen Sinn verloren hat und zu ei- eine Streichung von § 371 AO würde das Element der 3654 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010

(A) „tätigen Reue“ zu kurz kommen. Darüber können wir wirklich davon überzeugt wären. Sie können sich seitens (C) diskutieren. Ich gebe aber zu bedenken: Das Prinzip der SPD-Fraktion auch nicht mit Hinweis auf den Koali- wird weiterhin im Steuerstrafverfahren berücksichtigt tionspartner herausreden. Denn Sie schreiben ja in dem werden. Insofern bieten sich auch ohne die völlige Straf- Antrag mehrfach, was die SPD alles gegen die Union freiheit bei Selbstanzeige hinreichende Anreize für Steu- durchgesetzt habe. Nach Ihrer eigenen Darstellung hät- erkriminelle, mit den Behörden zusammenzuarbeiten. ten Sie es dann auch hier schaffen müssen. Wir Sozialdemokraten im Deutschen Bundestag stre- Aber wahrscheinlich wissen Sie selbst, dass es nicht ben mit dem vorliegenden Gesetzentwurf einen Paradig- sinnvoll ist, die strafbefreiende Selbstanzeige abzuschaf- menwechsel im Umgang mit Steuerhinterziehung an. fen. Nicht mehr und nicht weniger. Auch aufseiten unseres früheren Koalitionspartners gab es ja noch vor kurzem Seit Jahresbeginn haben sich 13 000 Steuerpflichtige Anzeichen, uns auf diesem Weg zu folgen. Ich denke da selbst angezeigt. Ihre Nachzahlungen summieren sich nicht nur an den Kollegen Hans Michelbach, sondern auf 1,1 Milliarden Euro. Hätte es die strafbefreiende vor allem an den saarländischen Ministerpräsidenten Wirkung der Selbstanzeige nicht gegeben, hätten es viele Peter Müller, der sich in dieser Frage ganz in unserem Steuerpflichtige sicherlich darauf ankommen lassen und Sinne geäußert hat. Ich darf ihn aus der Frankfurter sich nicht bei ihrem Finanzamt gemeldet. Der Staat ist Rundschau vom 22. Februar zitieren: bei der Besteuerung auf die Mitwirkung des Steuer- pflichtigen angewiesen. Wenn jedoch ein Strafverfahren Steuerhinterziehung ist soziales Schmarotzertum. läuft, wird die steuerliche Mitwirkungspflicht verdrängt. Sie muss konsequent verfolgt werden. … Steuer- Dann gilt der Grundsatz, dass sich niemand selbst belas- hinterzieher dürfen künftig nicht mehr generell ten muss. Das Ermittlungsverfahren und das Gerichts- straffrei davonkommen, wenn sie sich selbst anzei- verfahren werden entsprechend aufwendiger und am gen. … Der Staat kann sich doch nicht seinen An- Ende besteht die Gefahr, dass doch nicht alles aufge- spruch, Unrecht zu bestrafen, abkaufen lassen. Wer deckt wird. Unrecht begeht, muss dafür geradestehen, egal, ob es Körperverletzung oder ein Steuerdelikt ist, und Dies macht deutlich, dass der Zweck der strafbefrei- egal, ob es sich um einen armen Schlucker oder ei- enden Wirkung der Selbstanzeige ja gerade darin be- nen Millionär handelt. steht, die Gleichmäßigkeit der Besteuerung sicherzustel- len. Es ist gerade auch im Interesse der ehrlichen Leider ist bis auf Ankündigungen nicht viel von Ih- Steuerzahler, dass Steuerhinterzieher sich offenbaren rem Elan übrig geblieben, liebe Kolleginnen und Kolle- und damit ihrer Steuerpflicht nachkommen. Dadurch (B) gen von der Union. Als es vor der Osterpause um das können sie umfassend nachbesteuert und auch Mittäter (D) Thema Steuerkriminalität ging, haben Sie von uns kon- und Gehilfen verfolgt werden. Durch eine Selbstanzeige krete Vorschläge eingefordert. Wir legen hier einen kon- werden dem Staat auch Steuerquellen für die Zukunft er- kreten Vorschlag vor. Zwischenzeitlich hatten Sie ja mit schlossen. Hat der Steuerpflichtige die verborgene Steu- einem eigenen Gesetzentwurf geliebäugelt. Gestern im erquelle aufgedeckt, so ist es ihm in der Zukunft nicht Finanzausschuss war nur noch von einem Antrag die mehr möglich, diese Quelle nicht mehr anzugeben. Der Rede. Schlagen Sie sich nicht zu ihrem Koalitionspart- Staat wird deshalb auch in Zukunft von dieser Steuer- ner ins gelbe Gebüsch! Verpassen Sie nicht die Chance, quelle profitieren. hier gesetzliche Fakten zu schaffen! Eine Möglichkeit, das Besteuerungsrecht des Staates Ich lade Sie herzlich ein, sich aus ihrer Koalition der durchzusetzen, besteht auch in der derzeit stockenden Unwilligen zu lösen und gemeinsam mit uns die mittler- Überarbeitung der EU-Zinsrichtlinie. Dadurch kann eine weile überkommene Regelung zur Straffreiheit bei Quellenbesteuerung im Ausland ermöglicht werden, die Selbstanzeige aus der Welt zu schaffen. Stimmen Sie un- höher ist als die deutsche Abgeltungsteuer. serem Gesetzentwurf zu, und setzen Sie ein Zeichen, dass es Ihnen mit dem Kampf gegen Steuerkriminalität Die Bundesregierung ist dabei, den Informationsaus- ernst ist! tausch mit ausländischen Staaten zu verbessern. Wir ma- chen das übrigens, anders als Herr Steinbrück, auch ohne befreundete Staaten zu beschimpfen. Dadurch steigen Frank Schäffler (FDP): „Die Strafe tritt nicht ein, die Erfolgsaussichten deutlich. falls der Schuldige, bevor die Sache zur Untersuchung an das Gericht abgegeben ist, seine Angaben an der zu- Wir werden als Koalition die Einzelheiten der Rege- ständigen Stelle berichtigt oder vervollständigt.“ – Diese lung der strafbefreienden Selbstanzeige genau prüfen Regelung stand im Sächsischen Einkommensteuergesetz und sie auch entsprechend ändern. Eine pauschale Strei- vom Dezember 1874. 126 Jahre Rechtsgeschichte wol- chung, wie sie die SPD vorschlägt, lehnen wir ab. len Sie seitens der SPD-Fraktion nun einfach in den Wind schlagen. Und auch auf diesem Gebiet ist es so, Vor allem werden wir aber das Steuersystem einfa- wie wir es schon kennen: Die SPD hat elf Jahre den Fi- cher und gerechter machen. Laut einer Umfrage der Stif- nanzminister gestellt und blieb in vielen Feldern untätig. tung Marktwirtschaft halten rund 50 Prozent der Deut- Nun, da sie das Ministerium nicht mehr führt, bricht der schen Steuerhinterziehung für vertretbar. Wir werden Aktionismus aus. Sie hätten die strafbefreiende Selbst- mit einer Steuerreform dazu beitragen, dass diese Zahl anzeige ja längst abschaffen können, wenn Sie denn deutlich sinkt. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010 3655

(A) Richard Pitterle (DIE LINKE): In meiner Nachbar- Kommunen wieder ihren Pflichtaufgaben nachkommen (C) stadt Leonberg hat die Stadtverwaltung vorgeschlagen, können! Sorgen Sie endlich für Steuergerechtigkeit bei alle fünf Jugendhäuser zu schließen und die Sozialarbei- uns im Land! ter zu entlassen. In meiner Gemeinde Sindelfingen, einst eine der reichsten Städte, wurde beschlossen, eine Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wir Schule, die hervorragende Sozialarbeit betreibt, zu diskutieren heute den Gesetzentwurf der SPD zur Ab- schließen. Eine Hortgruppe soll trotz einer langen Warte- schaffung der strafbefreienden Selbstanzeige bei Steuer- liste aufgelöst werden. Menschen, die Kinder in Musik hinterziehung. Ich sage es ganz offen: Mich überzeugt unterrichten, sollen aus einem sozialversicherungs- weder der Zeitpunkt der Einbringung noch der Inhalt des pflichtigen Arbeitsverhältnis in ein Honorarverhältnis Vorschlags der SPD. gezwungen werden, wodurch sie ein Stück Lebenssi- cherheit verlieren. Viele Gemeinden reduzieren ihre so- Vor zwei Tagen kannten wir noch nicht mal den Text zialen und kulturellen Angebote. Und das alles mit dem des Gesetzentwurfs. Auf Biegen und Brechen muss er Argument, es sei kein Geld da. Aber das Geld ist da. Es heute, in der letzten Sitzungswoche des Bundestages vor liegt bei den Banken in der Schweiz, in Liechtenstein der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen, diskutiert oder auf einer exotischen Insel, weil „ehrenwerte“ Bür- werden. Die SPD-Wahlkämpferinnen und Wahlkämpfer ger dieser Gesellschaft das Geld, das wir dringend zur wollen ab morgen im Land ausschwärmen und sich mit Finanzierung von wichtigen Aufgaben benötigen, der dieser Initiative schmücken. Besteuerung entziehen wollen. Die Begründung des Gesetzes ist außerordentlich Die genaue Höhe der jährlichen Steuerhinterziehung dürftig und kümmerlich. Eigentlich habe ich nur ein lässt sich bekanntermaßen nicht genau beziffern. Wenn „Argument“ in Ihrem Entwurf gelesen: „Erfahrungen jedoch durch die Arbeit von Steuerfahndern, trotz des der vergangenen Jahrzehnte haben gezeigt, dass die Personalmangels bei den Finanzämtern, im Jahr 2004 Möglichkeit zur Selbstanzeige mit Straffreiheit keinen 1,6 Milliarden Euro zusätzlich eingenommen wurden, Rückgang der Steuerhinterziehung bewirkt, sondern nur kann man sich vorstellen, welche Reserven hier stecken. den Täter vor Bestrafung bewahrt.“ Der jüngste Fall des Steuer-CD-Ankaufs aus der Im Jahre 2001 hat die damalige Bundesregierung Schweiz hat die Höhe der Steuerhinterziehungen eben- – zuständig waren der sozialdemokratische Finanzminis- falls deutlich bewiesen: Bei den bundesdeutschen Fi- ter Eichel und die sozialdemokratische Justizministerin nanzämtern sind nach einer Medienmeldung bis heute Däubler-Gmelin – auf Anfrage der PDS erklärt: „Bei der rund 16 000 Selbstanzeigen mit einer durchschnittlichen Selbstanzeige handelt es sich um ein Rechtsinstrument, Rückzahlung von 60 000 Euro pro Anzeige, also insge- das sich über Jahrzehnte hervorragend bewährt hat“ – (B) samt circa 1 Milliarde Euro, eingegangen. Da kann man Bundestagsdrucksache 14/6723. (D) schon eine ziemliche Wut bekommen. Und ganz neben- bei: Steuersünder-CD, das klingt so verharmlosend, ein Ein Jahr später hat der stellvertretende Vorsitzende wenig nach dem Motto: wir sind doch alle Sünder vor der SPD-Bundestagsfraktion und einer ihrer Finanzex- dem Herrn. Daher spreche ich lieber von einer Steuerkri- perten, der Kollege Poß, erklärt, die Selbstanzeige sei minellen-CD. Laut Medienberichten sollten sogar bis zu eine „goldene Brücke“, die nicht infrage gestellt werden 100 000 Deutsche 23 Milliarden Euro an der Steuer vor- dürfe – siehe Handelsblatt vom 5. April 2002. bei auf Schweizer Konten deponiert haben und die Ich frage Sie deshalb angesichts ihres heutigen Geset- Schweiz ist ja auch nur eine der sogenannten Steuer- zesvorschlags: Was ist nun richtig: Hat sich die Selbst- oasen. Das ist doch ein Skandal. anzeige im Steuerrecht jahrzehntelang hervorragend bewährt oder ist sie seit Jahrzehnten nutzlos und kontra- Daher habe ich großes Verständnis für den Antrag der produktiv? SPD, die Straffreiheit bei Selbstanzeigen abzuschaffen. Dieses Anliegen findet auch die Unterstützung meiner Die strafbefreiende Selbstanzeige bei Steuerhinterzie- Fraktion. Nun lese ich Vorschläge von einigen Finanzpo- hung gibt es in Deutschland durchgehend seit 1874. So litikern der Regierungsparteien, wie die Möglichkeit für hieß es in Art. 30 des Badischen Kapitalrentensteuerge- eine straflose Selbstanzeige eingeschränkt werden setzes vom 29. Juni 1874: „Wird die unterbliebene oder könnte, darunter einige Vorschläge, mit denen ich per- zu niedrig abgegebene Erklärung späterhin nachgetragen sönlich auch mitgehen könnte. Aber die Frage ist doch, oder berichtigt, bevor das Vergehen … angezeigt worden Herr Dautzenberg: Warum entfalten Sie Ihre Fantasie ist, so fällt jede Strafe weg.“ auf diesem Gebiet, nachdem die SPD den Antrag gestellt Eine Vorschrift, die es seit 140 Jahren ununterbrochen hatte, die strafbefreiende Selbstanzeige zu streichen? Da – wenn auch in verschiedenen Gesetzen und Formulie- kommt doch der Verdacht auf, dass es Ihnen darum geht, rungen – gibt, kippt man nicht so mir nichts, dir nichts den Antrag der SPD aufzuweichen und sich schützend wegen eines laufenden Wahlkampfs in Nordrhein-West- vor die Steuerhinterzieher zu stellen. Wir brauchen jetzt falen über den Haufen; und das auch noch ohne jede von der Regierung Taten und nicht nur Ankündigungs- überzeugende Begründung. politik, die davon ablenkt, dass die Koalition zugelassen hat, dass sich Vermögende legal oder auch illegal der Wenn die Behauptung der SPD richtig wäre, dass die Steuerzahlung entziehen können. Ich appelliere an die Selbstanzeige über Jahrzehnte zum Rückgang der Steu- Bundesregierung: Sorgen Sie auch durch konsequente erhinterziehung nichts beigetragen habe, müsste sie we- Bekämpfung der Steuerhinterziehung dafür, dass die nigstens verlässliche Zahlen zum Umfang der Steuerhin- 3656 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010

(A) terziehung und ihrer Entwicklung über Jahrzehnte Straffreiheit bei tätiger Reue und nicht seine völlige Be- (C) vorlegen. Nichts davon können wir in der Begründung seitigung im Steuerstrafrecht. lesen, dafür aber mehr vom angeblichen „Rechtsempfin- den der Bevölkerung“. Das Bundesministerium der Fi- Das bedeutet nicht, dass die Regeln zur Selbstanzeige nanzen hat auf seiner Homepage die Ergebnisse der nicht zu verbessern wären. Wir können Wiederholungs- Steuerfahndung 2008 zusammengefasst. Dort können tätern die rote Karte zeigen. Wir können die Bedingun- wir die Aussage lesen: „Das tatsächliche Ausmaß der gen der Freiwilligkeitsschwelle schärfer fassen, und wir Steuerhinterziehung ist nicht messbar.“ können die Rückkehr zur Steuerehrlichkeit auch teurer als bisher machen: Wenn schon – siehe die „goldene Auch zu Ausmaß und Entwicklung der Selbstanzei- Brücke“ des Kollegen Poß –, dann wollen wir den Brü- gen sind verlässliche Zahlen schwer zu bekommen. ckenzoll erhöhen. Dazu werden wir konkrete und kon- struktive Vorschläge machen. Dem Populismus der SPD Gestern konnten wir im Stern von rund 16 000 Selbst- werden wir aber nicht folgen. anzeigen seit Kenntnis vom drohenden Ankauf der Da- ten aus der Schweiz lesen. Das erscheint ein rasanter An- stieg, der uns sowohl fiskalisch als auch rechtspolitisch Anlage 7 freuen könnte. Zu Protokoll gegebene Reden Im Jahre 2001 hat die Bundesregierung auf eine An- frage der FDP folgende Zahlen bekannt gegeben: Im zur Beratung des Antrags: Umgang mit Jahr 1998 gab es 10 400, im Jahr 1999 26 365 und im Guantánamo-Häftlingen (Zusatztagesordnungs- Jahr 2000 27 334 Selbstanzeigen. punkt 5) Es liegt auf der Hand und ist unmittelbar einleuch- tend: Nicht alle, die zur Selbstanzeige greifen, tun dies Rüdiger Veit (SPD): Mit dem vorliegenden Antrag aus Gründen der moralischen Läuterung. Das wäre auch der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen soll die Bundesre- sehr verwunderlich: Wir verlangen ja nicht mal von den gierung aufgefordert werden, die Bitte der USA, Häft- Bürgerinnen und Bürgern insgesamt, dass sie gerne linge aus Guantánamo in Deutschland aufzunehmen, so- Steuern zahlen. Es reicht in einem Rechtsstaat völlig, lidarisch zu prüfen. wenn sie es tun, weil sie dazu verpflichtet sind. Worum geht es hier im Kern? Damit komme ich zum Kernpunkt des Problems, wie Am 11. Januar 2002 wurden die ersten Gefangenen auf wir Grüne ihn sehen: Steuerhinterziehung ist eindeutig den US-Militärstützpunkt Guantánamo Bay in Kuba ge- (B) eine kriminelle Handlung und kein Kavaliersdelikt. Die bracht. Seither ist das Lager zusammen mit dem Gefängnis (D) wirksamste Bekämpfung – im Sinne der SPD gespro- Abu-Ghraib zum Synonym für den Exzess im Kampf ge- chen: „der Rückgang der Steuerhinterziehung“ – ist nur gen den Terror und zum Sündenfall der USA und damit der zu erreichen durch erhöhten Verfolgungsdruck, ein ho- westlichen Welt und ihrer Werte, allen voran dem absolu- hes Entdeckungsrisiko, durch eine schnelle und schuld- ten Schutz der Menschenrechte und -würde geworden: angemessene Bestrafung, vollständige Nachzahlung der Seit sage und schreibe acht Jahren werden in Guan- Steuern und Abschöpfung aller Vorteile aus der Straftat. tánamo nunmehr Menschen ohne Anklage, Anrufung ei- nes Gerichts und ohne anwaltliche Verteidigung ihrer Was ist also zu fordern, welche Maßnahmen sind not- Freiheit beraubt. Unbestritten wurden die Gefangenen wendig und überfällig? – Wir brauchen die Austrock- Verhörmethoden unterzogen, die Folter und grausamer, nung der Steueroasen, keine Duldsamkeit mehr mit Staa- unmenschlicher und erniedrigender Behandlung gleich- ten, die steuerrechtlich unkooperativ sind – niemand will kommen. ernsthaft, wie es aber der letzte sozialdemokratische Bundesfinanzminister halb im Scherz, aber mit drohen- Insgesamt wurden in Guantánamo rund 800 Männer dem Unterton vorschlug, mit der Kavallerie einmar- interniert. Ende 2009 saßen in Guantánamo immer noch schieren; es würde reichen, die Mechanismen der 198 Gefangene. 103 Gefangene sollen in ihre Heimat- OECD-Standards konsequent anzuwenden –, eine kon- länder oder Drittstaaten gebracht werden, weil gegen sie sequente Verfolgung der professionellen Anstifter und offenbar nichts vorliegt; eine Reihe von Gefangenen will Helfershelfer – seien es auch honorige Banken oder Frei- die US-Regierung in den USA vor Zivilgerichten ankla- berufler –, eine Aufstockung und Ausrüstung der Steuer- gen. fahndung und nicht zuletzt eine Bundessteuerverwal- tung. Das sind die Kernaufgaben. Der Streit um die 45 Gefangene können nicht in ihre Heimat zurückkeh- Selbstanzeige ist ein populistischer Nebenkriegsschau- ren, weil ihnen dort Gefahren für Leib und Leben drohen; platz. zum Teil sogar deshalb, weil sie als Guantánamo-Häft- linge stigmatisiert sind. Bei diesen 45 Personen handelt es Die Selbstanzeige ist eine Rückkehr zu Steuerehrlich- sich um Gefangene, die bereits unter der Bush-Regierung keit und Rechtstreue – aus welchen Motiven auch im- befragt und überprüft worden sind und dann noch einmal mer. Sie völlig abzuschaffen ist kontraproduktiv und unter der Obama-Administration und bei denen beide Un- rechtspolitisch verfehlt. Wir Grünen sind überzeugt vom tersuchungen zweifelsfrei ergeben haben, dass gegen sie Grundgedanken der Zurückdrängung des Strafrechts auf nichts vorliegt und keine Anklage vor einem US-Gericht einen Kernbereich unerträglichen, verwerflichen Verhal- erhoben wird. Dieser Sachverhalt wurde mir und weite- tens und wollen einen Ausbau des Grundgedankens der ren Kollegen der SPD-Fraktion anlässlich eines Treffens Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010 3657

(A) am 10. Februar 2010 von Vertretern von ai und von Grünen enthaltene Forderung an die ganze Bundesregie- (C) Rechtsanwälten, die Guantánamo-Häftlinge vertreten ha- rung, in eben dieser Weise tätig zu werden. ben, dargelegt. Darunter war RA Zachary Katznelson, US-amerikanischer Rechtsanwalt und Chefberater für Solche Herangehensweise steht in Kontinuität zur „Reprieve“, einer in London ansässigen Organisation, der Auffassung unseres Fraktionsvorsitzenden und damali- sich für unrechtmäßig Inhaftierte sowie zum Tode Verur- gen Bundesaußenministers Dr. Frank-Walter Steinmeier teilte einsetzt. RA Katznelson hat 40 Gefangene in und der SPD-Fraktion. Guantánamo vertreten und berichtete glaubwürdig, dass Dagegen vorgebrachte Sicherheitsbedenken einiger gegen die oben genannten 45 Personen nichts, aber auch CDU-Bundestagskollegen und einiger der CDU angehö- gar nichts, vorliegen würde. renden Länderinnenminister sind abwegig: Bei den in- Ich möchte noch einmal wiederholen: Gegen insge- frage kommenden Menschen handelt es sich ja gerade samt 103 Gefangene wurden keine Verfahren eröffnet. um solche, die eben nicht wegen des Verdachts terroristi- Sie wurden acht Jahre unschuldig und willkürlich in scher Aktivitäten in den Vereinigten Staaten vor Gericht Guantánamo festgehalten und mussten Unvorstellbares gestellt werden – gegen die möglicherweise niemals erleiden. wirklich konkrete Verdachtsmomente vorgelegen haben, sondern von dritter Seite gegen entsprechende „Kopfprä- So steht Guantánamo heute in aller Welt für einen to- mien“ an die Vereinigten Staaten „verkauft“ wurden. talen, verabscheuungswürdigen Bruch mit den Grundla- gen aller demokratischen Rechtsstaaten der westlichen Allenfalls verständlich ist in diesem Zusammenhang Welt, in deren Reihen sich nach eigenem Selbstverständ- noch die Haltung, vielmehr seien es die USA selbst so- nis sicherlich auch die USA sieht, so dass sie – die inter- zusagen als Verursacher, die zu einer menschenwürdigen nationale Gemeinschaft demokratischer Staaten – ihren Behandlung dieser gequälten Menschen und damit zu ih- Beitrag dazu leisten sollte, dass dieses menschenverach- rer Aufnahme in ihren Staat aufgerufen seien. In der Tat, tende Lager schnellstens aufgelöst wird. die USA hätte wohl alle Veranlassung zu wahrhaft groß- herziger Wiedergutmachung. Dass dies nicht geschieht, Man kann es vereinfacht auch so auf den Punkt brin- muss man auch gegenüber unserem Verbündeten politisch gen: Wer Guantánamo kritisiert und zugleich Mitglied scharf kritisieren. Jedenfalls darf es die internationale dieser westlichen Wertegemeinschaft ist, muss letztlich Völkergemeinschaft nicht hinnehmen, dass Gefangene selbst einen Beitrag leisten wollen, um in seiner Kritik aus Guantánamo in Heimat- und/oder Herkunftsstaaten glaubwürdig zu bleiben. gebracht werden, in denen ihnen aus welchen Gründen Ich darf erinnern: Bereits vor eineinhalb Jahren, im auch immer Gefahren für Leib, Leben oder ihre Freiheit (B) November 2008, fand ein erstes Treffen von ai und An- drohen. (D) wälten des US-amerikanischen Center for Constitutional Rights und Innnenpolitikern aller im Bundestag vertrete- Daneben gibt es aber auch noch eine ganz andere Pro- nen Fraktionen statt, bei dem die Anwälte auf die blematik zu berücksichtigen, die meines Erachtens bis- schreckliche Lage der Inhaftierten hinwiesen und im her nicht ausreichend beleuchtet wurde: Selbst in Fällen, Vorfeld der Wahl von Barack Obama die Situation und in denen die USA ihrerseits bereit sein sollten, ehemali- Bereitschaft europäischer Staaten zur Aufnahme von gen Häftlingen die Einreise zu erlauben, ist ja wohl auch ehemaligen Guantánamo-Häftlingen sondierten. Im An- die Gefühlslage der Betroffenen zu berücksichtigen. schluss an dieses Treffen habe ich je ein Schreiben an Wem will man es verdenken, dass er sich nicht in die den Bundesminister des Auswärtigen Amts und an den Obhut eben desjenigen Staates begeben will, der ihn wo- Bundesinnenminister geschrieben, in dem ich um die möglich jahrelang gequält und mindestens seiner Frei- Aufnahme überprüfter und zu unrecht inhaftierter Häft- heit grundlos beraubt hat? Schließlich kann man vom linge gebeten habe. In den diesbezüglich gleichlauten- Opfer einer schweren Straftat schlecht verlangen, dass er den Antworten aus beiden Ministerien wurde ich darauf nach der Tat ins Haus des Täters sozusagen zur Unter- verwiesen, dass abzuwarten sei, was die „künftige US- miete einzieht. Regierung nach ihrem Amtsantritt am 20. Januar 2009 Dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ist unternehmen wird, um dieses Vorhaben – die Schließung zu entnehmen, dass von den europäischen Staaten der- des Gefangenenlagers Guantánamo – umzusetzen“. zeit Frankreich, Italien, Ungarn, Albanien, die Schweiz Heute ist die neue US-Regierung bekanntermaßen und die Slowakei der Bitte der USA nachgekommen seit über einem Jahr im Amt und Guantánamo Bay ist sind und bereits ehemalige Häftlinge aufgenommen bzw. immer noch nicht geschlossen. Allerdings hat die US- zugesagt haben, dies zu tun. Regierung inzwischen offiziell Deutschland um Hilfe bei der Aufnahme von ehemaligen Häftlingen gebeten, Die Bundesregierung hat jahrelang verlangt, Guan- die – aus welchen Gründen auch immer – nicht in ihre tánamo zu schließen. Wenn sie nun durch die Aufnahme Heimat zurückkönnen. einiger weniger von Sicherheitsbehörden wiederholt überprüfter ehemaliger Inhaftierter – und meinetwegen Die SPD unterstützt ausdrücklich die Ankündigung auch nach einer nochmaligen eigenständig durchgeführ- von Bundesinnenminister Thomas de Maizière, nunmehr ten Überprüfung – die Schließung dieses fürchterlichen nach Vorliegen entsprechender konkreter Anfragen der Camps beschleunigen kann, dann sollte sie nicht mehr USA auch in Deutschland einige Gefangene aufnehmen lange zögern. Auch dies ist eine Frage der Glaubwürdig- zu wollen und somit die im Antrag von Bündnis 90/Die keit. 3658 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010

(A) Ich schlage vor, aus all den vorher genannten Grün- heitsbedenken bei jedem einzelnen Exhäftling geprüft (C) den den Antrag von Bündnis 90/Die Grünen zu unter- und ausgeräumt werden. Die FDP unterstützt daher un- stützen. eingeschränkt das Vorgehen von Bundesinnenminister Dr. Thomas de Maizière. Der Minister agiert aus unserer Serkan Tören (FDP): Wie nicht anders zu erwarten, Sicht sehr vorsichtig und verantwortungsbewusst. lehnen wir den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grü- Wir teilen in der christlich-liberalen Koalition die nen ab. Auffassung, dass wir weder Straftäter noch potenzielle Der Antrag ist weder substanziiert, noch bietet er in- Gefährder nach Deutschland holen wollen. Es muss um haltlich etwas Neues. Er greift in ein laufendes Prü- diejenigen Häftlinge gehen, die selbst nach Einschät- fungsverfahren ein, dessen Ausgang noch völlig offen zung der USA jahrelang unschuldig und unrechtmäßig in ist. dem umstrittenen Lager festgehalten worden sind. Auf keinen Fall darf auf Deutschland ein nicht kalkulierbares Da dieses Thema allerdings für die FDP besonders es- Sicherheitsrisiko zukommen. Wir gehen davon aus, dass senziell ist, möchte ich ausführlich darauf eingehen. die amerikanische Seite dies genauso gewissenhaft und Auf dem US-amerikanischen Militärstützpunkt Guan- gründlich prüft, wie unser Bundesinnenminister. tánamo Bay werden von den USA bis heute circa 180 Ter- Gemeinsam mit unserem Koalitionspartner sind wir rorverdächtige unter rechtsstaatlich zweifelhaften Bedin- uns allerdings auch darüber einig, dass die Prüfung noch gungen gefangen gehalten. Aus Sicht der FDP ist die nicht abgeschlossen ist. Worum es letztlich auch geht, Schließung des Gefängnisses in Guantánamo ohne ist, ob und wie wir der USA als unserem wichtigsten Zweifel überfällig. Dieses Lager hätte niemals gegründet Bündnispartner Hilfeleistung geben können. Daher dür- werden dürfen. fen wir uns in dieser Frage nicht verbarrikadieren. Die Obama-Administration hat mit der erklärten Ab- Den Antrag der Grünen lehnen wir allerdings schon sicht zur Schließung des Gefangenenlagers Guantánamo allein deshalb ab, da er mit der Aufforderung an die Bun- einen wesentlichen Politikwechsel bei der Terrorismus- desregierung, solidarisch die Aufnahme von Guan- bekämpfung eingeleitet, der sehr im europäischen Inte- tánamo-Häftlingen zu prüfen, nichts wesentlich Neues resse liegt. Die US-Regierung hat zahlreiche Schritte un- bringt, sondern eine Tatsache beschreibt, welche zurzeit ternommen, um Lösungen für die noch verbliebenen ein Prüfverfahren durchläuft. Häftlinge zu finden, etwa eine Freilassung oder fortge- setzte Inhaftierung im Hinblick auf Gerichtsverfahren vor zivilen Straf- oder Militärgerichten. Ulla Jelpke (DIE LINKE): Die Linke plädiert ent- (B) schieden dafür, Häftlinge aus Guantánamo aufzuneh- (D) Unsere Position als FDP-Bundestagsfraktion war und men. Diese Forderung richten wir schon seit langem an ist, dass ehemalige Guantánamo-Häftlinge zunächst von die Bundesregierung. Der hauptsächliche Grund hierfür ihren Heimatländern aufgenommen werden müssen. ist ein humanitärer: Die Gefangenen, über die wir hier Wenn dies nicht möglich ist, zum Beispiel wegen dro- sprechen, werden keinerlei Straftat beschuldigt. Nicht hender Folter, dann stehen die Vereinigten Staaten in der einmal die USA, die bekanntlich jahrelang Foltermetho- Pflicht, das von ihnen geschaffene Unrecht zu beseiti- den angewandt haben, können diesen Häftlingen auch gen. Dazu gehört neben der Frage des Aufenthaltes auch nur die geringste Straftat anhängen. Es sind Unschul- die Beantwortung der Frage der Entschädigung der un- dige, die seit Jahren illegal, in völlig unzumutbarer und schuldig einsitzenden Häftlinge. unmenschlicher Haft gehalten werden, was jedem demo- Falls eine Aufnahme in den USA nicht möglich oder kratischen Anspruch spottet. zumutbar ist, dann sollte sich die Bundesrepublik Die Frage, die sich stellt, ist natürlich: Was hat Deutschland einer Aufnahme nicht grundsätzlich ver- Deutschland damit zu tun? Ist das nicht ein Problem der schließen. Es gibt seit Monaten intensive Gespräche USA, die das Folterlager ja selbst geschaffen haben und zwischen dem Bundesinnenministerium und den ameri- jetzt auch selbst damit zurande kommen sollen? Nein, so kanischen Behörden. Wir Liberalen begrüßen ausdrück- einfach ist es nicht. Zunächst ist da die humanitäre Seite, lich, dass der Bundesinnenminister über konkrete Fälle die ich gerade angesprochen habe. In den USA können verhandelt, die für eine Ausreise nach Deutschland in- diese Menschen schließlich nicht bleiben, das könnte ih- frage kommen. nen auch keiner zumuten. Die Aufnahmebereitschaft der Es geht hierbei ausdrücklich um „einzelfallbezogene BRD würde ihnen dagegen endlich die Freiheit bringen, Prüfungen“. Demnach ist zunächst zu prüfen, ob von und wir würden damit dem Beispiel anderer Staaten fol- dem betreffenden Häftling eine Gefahr für die innere Si- gen. Es gibt aber auch eine politische Begründung: Die cherheit in Deutschland ausgeht. Falls dies nicht der Fall Bundesrepublik steckt selbst bis zum Hals im ist, ist zu prüfen, weshalb die jeweilige Person nicht in Guantánamo-Sumpf, sie hat sich selbst mitschuldig ge- den Vereinigten Staaten verbleiben oder in ihr Heimat- macht und muss wenigstens ansatzweise Wiedergutma- land reisen kann. chung leisten. Für die FDP-Bundestagsfraktion steht fest, dass wir Das ist übrigens ein Thema, über das die Grünen in grundsätzliche Sicherheitsrisiken schon im Vorfeld aus- ihrem Antrag wohlweislich nicht reden. Schließlich wa- schließen wollen. Falls wir aus humanitären Gründen ren sie selbst in jener Regierung, die den USA im Jahr ehemalige Häftlinge aufnehmen, müssen alle Sicher- 2001 „unbedingte Solidarität“ gelobt hat und sich dem Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010 3659

(A) schmutzigen Krieg gegen Afghanistan angeschlossen Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (C) hat. Schließlich waren die Grünen Teil jener Regierung, Die Bundesrepublik Deutschland ist in der humanitären die den US-Geheimdiensten beim weltweiten Entführen Pflicht, Gefangene aus Guantánamo aufzunehmen. Die und Foltern geholfen hat. Ich erinnere an Murat Kurnaz Menschenrechte sowie die Achtung und der Respekt vor aus Bremen, der vier Jahre in Guantánamo inhaftiert der Würde eines jeden Menschen lassen der Bundesre- war, ohne dass Rot-Grün auch nur einen kleinen Finger publik Deutschland in dieser Frage überhaupt keine an- für seine Freilassung bewegt hätte. Ich erinnere an den dere Wahl. Ulmer Khaled el-Masri, der nach allem, was wir wissen, von den deutschen Behörden regelrecht an die CIA ver- Guantánamo ist das Kainsmal und der Schandfleck kauft worden ist und der von den Folgen seiner Haft bis der westlichen Demokratien in ihrem Kampf um Men- heute schwerst traumatisiert ist. Ich erinnere an den in schenrechte. Bundeskanzlerin Angela Merkel hat dies Italien lebenden Imam Abu Omar, der von US-Diensten bereits im Jahre 2006 erkannt, als sie dem Spiegel sagte: illegal festgenommen und über den deutschen Flughafen Eine Institution wie Guantánamo kann und darf auf Ramstein verschleppt wurde. Dauer so nicht existieren. Es müssen Mittel und Wege für einen anderen Umgang mit den Gefange- Der Sonderbeauftragte des Europarates, Dick Marty, nen gefunden werden. hat in jahrelanger Kleinarbeit das globale Entführungs- netzwerk der CIA aufgedeckt und dabei auch eindeutig Diese Haltung verdient aktive Unterstützung. festgestellt, dass etliche europäische Regierungen mas- Vollkommen zu Recht sagte deshalb Bundesinnen- sive Beihilfe dazu geleistet haben. Auch die Bundesre- minister Thomas de Maizière am 8. April 2010 im ZDF- gierung hat beide Augen zugedrückt, wenn US-Flug- Morgenmagazin: zeuge durch den deutschen Luftraum, über deutsche Flughäfen Menschen verschleppt haben, die ohne Haft- Wenn unser wichtigster Bündnispartner uns um befehl, ohne Anklage und ohne jegliche Verteidigungs- Hilfe bittet, dann ist das allemal eine solidarische möglichkeit nach Guantánamo und in andere Folterlager Prüfung wert. verbracht wurden. Sie hat nichts dagegen getan, stattdes- sen hat sie hinterher jeglichen Aufklärungsversuch nach Und genau dies fordert nun unser Antrag. Wir unter- Kräften vereitelt. Ich erinnere darüber hinaus daran, dass stützen die Bundeskanzlerin und den Bundesinnenminis- auch deutsche Geheimdienste nach Guantánamo in der ter damit gegen ihre eigene Fraktion. Hoffnung gereist sind, aus diesen verschleppten, gefol- Denn große Teile der Union sind in der Frage, ob die terten, traumatisierten Gefangenen noch Informationen Aufnahme von Häftlingen aus Guantánamo solidarisch herauszulocken und vom Foltersystem der USA zu pro- geprüft werden solle, ganz anderer Auffassung als die (B) (D) fitieren. An all diesen Menschenrechtsverbrechen hat Bundeskanzlerin und der Bundesinnenminister. Der sich die damalige Grünen-SPD-Regierung beteiligt, und Fraktionschef der Union hier im Bundestag, Volker ich finde es nahezu beschämend, dass die Grünen dazu Kauder, machte deutlich, dass die Bundestagsabgeord- bis heute nicht stehen wollen und sich hier als unschul- neten von CDU und CSU die Pläne geschlossen ableh- dige Lämmer darstellen. Und dann legen sie einen voll- nen. Der bayerische Innenminister Herrmann, CSU, kommen nichtssagenden Schaufensterantrag vor, in dem sagte: „Nach Bayern kommt mir keiner rein.“ Der Vor- die Bundesregierung zu etwas aufgefordert wird, was sie sitzende des Innenausschusses des Bundestages, ohnehin tut, nämlich Aufnahmegesuche der USA zu prü- Bosbach, CDU, äußerte, „Es muss ja Gründe geben, wa- fen. Dieser Antrag bringt uns also in der Debatte über- rum diese Menschen noch inhaftiert sind, und deshalb haupt nicht weiter! gibt es nur zwei Möglichkeiten: Rückkehr in die Heimat- länder oder Aufnahme in den Vereinigten Staaten.“ Beschämend ist auch das Gebaren vor allem der CSU, Erika Steinbach, CDU, meint, es könne nicht sein, dass deren Vertreter sich in der bisherigen Debatte hinstellen amerikanische Gerichte den Guantánamo-Häftlingen ein und so tun, als ginge sie das Ganze nichts an. So etwa Bleiberecht verweigerten „und als Konsequenz daraus der bayerische Innenminister Joachim Herrmann, der andere Länder Hilfestellung geben sollen“. Der sächsi- vor wenigen Wochen barsch erklärte: „Nach Bayern sche Ministerpräsident Tillich, CDU, sagte: „Wir sehen kommt mir keiner rein.“ Hermann vertritt die Logik, die uns nicht in der Pflicht. Wir haben sie schließlich auch voriges Jahr auch der alte Innenminister Wolfgang nicht gefangen genommen.“ Der niedersächsische In- Schäuble verfolgt hat: Wer in Guantánamo inhaftiert war, nenminister Schünemann, CDU, schloss für sein Bun- wird schon irgendwie Dreck am Stecken gehabt haben, desland die Aufnahme von Häftlingen ebenfalls aus. „Es sonst hätten die USA ihn ja nicht inhaftiert. – Mit dieser hat sich gezeigt, dass freigelassene Häftlinge Straftaten Logik lässt sich nun wirklich jedes Willkürregime recht- begangen haben“, sagte er. fertigen. Aus Sicht der Linksfraktion ist es also ein Akt der Wiedergutmachung, wenigstens einigen der Häft- Offensichtlich weiß also in der Union die linke Hand linge eine Zukunftsperspektive in Deutschland zu bieten. nicht, was die rechte tut. Dies wäre nicht weiter neu und Ich will allerdings ausdrücklich betonen, dass es uns auch nicht weiter bemerkenswert, wenn die Leidtragen- hier, anders als im Grünen-Antrag formuliert, nicht um den dieser Querelen nicht unschuldige Menschen wären. Solidarität mit den USA geht. Es geht uns einzig und al- Doch leider trägt die Union in der Guantánamo-Debatte lein um Solidarität mit den unschuldigen, widerrechtlich ihre internen Streitigkeiten auf den Rücken von Gefan- eingesperrten Menschen. Es geht uns darum, den Men- genen aus, die ohne Grund und ohne Anklage seit Jahren schenrechten wieder Geltung zu verschaffen. eingesperrt sind. Das zeigt einmal mehr, dass es der 3660 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010

(A) Union an einem Kompass in der Menschenrechtspolitik werden können, nicht genügend Drittstaaten für ihre (C) fehlt. Aufnahme finden. Warum die Bundesrepublik hier nicht Hilfe anbietet, ist mir unbegreiflich. Viele unserer euro- Menschenrechtspolitik ist nicht nur das Zeigen mit päischen Partner haben es vorgemacht: Frankreich, Ita- dem Finger auf ferne Länder und das Schwingen von lien, Ungarn, Albanien, Portugal, die Schweiz oder die Sonntagsreden. Menschenrechtspolitik bedeutet, auch Slowakei. Warum nicht wir? die Innenpolitik und das eigene konkrete Handeln nach menschenrechtlichen Standards auszurichten. Das haben Die Unions-Kakophonie muss jetzt endlich ein Ende die CDU-Landesinnenminister offensichtlich vergessen. haben, damit die Bundesregierung ihren humanitären Dabei müssten sie doch nur dem Bundesinnenminister Verpflichtungen endlich nachkommen kann. Dazu zuhören: Solidarische Prüfung bedeutet nämlich nichts braucht es nicht viel: Wir bitten die Koalitionsfraktionen weiter, als sich für unschuldige Menschen einzusetzen aus CDU/CSU und FDP nur darum, einem wörtlichen und damit einen Beitrag zur Stärkung der Menschen- Zitat des von ihnen gewählten Bundesinnenministers zu- rechte und des Völkerrechts zu leisten. Prüfung heißt zustimmen. Bitte stimmen Sie daher unserem Antrag zu: auch, zu klären, welches Bundesland wie viele Häftlinge „Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung aufnimmt. Wenn es am Ende der Prüfung keine Auf- auf, die Bitte der USA, Häftlinge aus Guantánamo zu nahme gäbe, wäre dies unsolidarisch. übernehmen, solidarisch zu prüfen.“ Doch nicht nur unter humanitären Gesichtspunkten ist die Bundesrepublik Deutschland in der Pflicht, Guan- Dr. Ole Schröder, Parl. Staatssekretär beim Bun- tánamo-Häftlinge aufzunehmen. Auch die transatlanti- desminister des Innern: Der Präsident der Vereinigten sche Partnerschaft mit den USA gebietet eine koopera- Staaten von Amerika, Barack Obama, hat von seiner tive Grundhaltung der Bundesrepublik Deutschland. Die Vorgängerregierung als Erbe das Gefangenlager in Schutzbehauptung, wir hätten keine Verantwortung für Guantánamo übernehmen müssen, ein Erbe, das das An- die Gefangennahme der Häftlinge, ignoriert die still- sehen der USA bis heute belastet. Präsident Obama hat schweigende Arbeitsteilung im Bündnis. Zu Beginn des Einsatzes hat Deutschland die schwierigeren Aspekte gern am 22. Januar 2009 angeordnet, alle Insassen des Ge- seinen Bündnispartnern überlassen, jetzt will die Union fängnisses auf Guantánamo überprüfen zu lassen, um nicht einmal ansatzweise dabei helfen, die schlimmen eine zeitnahe Schließung zu erreichen. Hinsichtlich der Folgen zu beseitigen. Doch nur weil Deutschland im Ge- Personen, gegen die die USA strafrechtliche Vorwürfe gensatz zu den USA in Afghanistan merkwürdigerweise erheben wollen, bemüht sich die US-Administration in nie Gefangene gemacht hat, sind wir an der Situation der Zusammenarbeit mit dem US-Kongress um die Schaf- Guantánamo-Häftlinge nicht unschuldig. Wir können fung einer eigenen Bundeshaftanstalt in Illinois (Thom- (B) (D) nicht einfach so tun, als seien wir nie dabei gewesen. Ge- son Correctional Center). Hinsichtlich der Personen, bei nau jetzt ist die Zeit gekommen, den USA im Rahmen denen die Überprüfung der US-Behörden keinen straf- unseres Bündnisses zur Seite zu stehen. rechtlichen Vorwurf ergeben hat (cleared for release), bittet die US-Administration befreundete Staaten um Als Bundeskanzlerin Angela Merkel in der vergange- Prüfung einer Übernahme. Unter diesen Staaten befin- nen Woche in die USA reisen wollte, hatte sie für Präsi- den sich viele Mitgliedstaaten der Europäischen Union dent Obama eigentlich bereits ein Geschenk in ihren und auch Deutschland. Koffer gepackt: die Zusage, die Aufnahme von Häftlin- gen aus Guantánamo solidarisch prüfen zu wollen. Die- Auch der Rat der Europäischen Union hat sich in sei- ses Geschenk musste sie infolge des unionsinternen ner Schlussfolgerung vom 4. Juni 2009 aus rechtsstaatli- Wirrwarrs wieder auspacken und wurde so von ihren ei- chen und humanitären Erwägungen dafür ausgespro- genen Leuten ohne echte Verhandlungsmöglichkeiten chen, Präsident Obama bei der Schließung des nach Washington D. C. geschickt. Das war die peinliche Gefangenenlagers Guantánamo zu unterstützen und sich außenpolitische Auswirkung dieses Hickhacks. Das ist in der Folge auf gemeinsame Regeln für die Aufnahme einer Regierungspartei absolut unwürdig und schadet von ehemaligen Insassen geeinigt. Verschiedene euro- dem Ansehen der Bundesrepublik Deutschland. päische Staaten haben seitdem bereits Personen aus Unsere Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen macht Guantánamo aufgenommen, bei denen die USA und die sich schon seit Jahren für eine Aufnahme unschuldiger Aufnahmeländer keinen Anlass für eine strafrechtliche Häftlinge aus Guantánamo stark. Denn für uns ist eines Verfolgung sahen. ganz klar: Ein Gefangenenlager, wie Guantánamo es war Der Guantánamo-Sondergesandte der USA hat im und heute immer noch ist, hätte in dieser Form und unter Dezember 2009 erneut an das Bundesministerium des diesen Umständen bereits gar nicht eröffnet werden dür- Innern die Bitte gerichtet, bestimmte Personen für eine fen. Übernahme nach Deutschland zu überprüfen. Der in- Rasch wurde der ganzen Welt klar, dass in Guan- frage kommende Personenkreis wurde zunächst durch tánamo Menschenrechte und Grundfreiheiten auf das die Bundessicherheitsbehörden anhand eigener und von Schlimmste verletzt werden. Das Lager besteht jedoch den US-Behörden übermittelter Erkenntnisse sowie an- unter anderem weiterhin fort, weil sich auch für diejeni- hand von Informationen der Sicherheitsbehörden der gen Inhaftierten, gegen die selbst die USA keine straf- EU-Mitgliedstaaten überprüft. Zudem reiste Ende März rechtlichen Vorwürfe erheben und die aus Gründen ihrer dieses Jahres eine deutsche Delegation, bestehend aus Sicherheit nicht in ihre Heimatstaaten zurückgeschickt Mitarbeitern des Bundesministeriums des Innern, des Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010 3661

(A) Bundeskriminalamtes und des Bundesamtes für Migra- rin Merkel erfolgte eine Neubewertung, bei der am Ende (C) tion und Flüchtlinge, nach Guantánamo. humanitäre Erwägungen den entscheidenden Ausschlag gegeben haben. Derzeit erfolgt eine Auswertung dieser Dienstreise und weiterer Sicherheitserwägungen, auf deren Grund- Die Bundesregierung bleibt, in Kontinuität mit der lage der hierfür nach dem Aufenthaltsgesetz zuständige Vorgängerregierung, bei ihrer Haltung, die Vereinigten Bundesminister des Innern seine Entscheidung treffen Staaten von Amerika bei ihren Bemühungen zur Auflö- wird. Diese Prüfung umfasst vor allem die Auswirkun- sung des Gefangenlagers zu unterstützen. Wir wollen gen auf die Sicherheitslage in Deutschland, die Abwä- unseren selbst gesetzten humanitären Verpflichtungen gung humanitärer Aspekte sowie möglicher ausländer- gerecht werden, ohne dabei die Sicherheit zu vernachläs- rechtlicher und sicherheitsbehördlicher Begleitmaß- sigen. Dies im Einzelfall umzusetzen, erfordert schwie- nahmen. Ich bitte um Verständnis, wenn die Bundes- regierung während eines laufenden Prüfverfahrens rige Abwägungen, die zurzeit ergebnisoffen laufen. hierzu keine weiteren Einzelheiten erläutern kann. Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat beantragt, Deutschland hat bereits in der letzten Legislaturperio- der Deutsche Bundestag möge die Bundesregierung auf- de im August 2006 den türkischen Staatsangehörigen fordern, die Bitte der USA, Häftlinge aus Guantánamo Murat K. aus Guantánamo aufgenommen. Die vormalige zu übernehmen, solidarisch prüfen. Dieser Antrag ist ab- rot-grüne Koalition hatte sich aus Sicherheitserwägun- zulehnen, weil dies – im Gegensatz zur rot-grünen Ko- gen gegen eine Aufnahme von Murat K. entschieden. alition – durch die jetzige Bundesregierung längst ge- Erst mit der Regierungsübernahme durch Bundeskanzle- schieht.

(B) (D)

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