Hermann Adam

Legalität und der Demokratie geschieht. nicht zusammen. 1949 hätte das Grundge­ Natürlich kann man der Meinung sein, dass setz ohne diese gesellschaftspolitische Of­ alles das nicht funktionieren kann und über­ fenheit niemals die Zustimmung der SPD dies die Freiheit bedroht, so wie andere die mit ihren damaligen weitgehenden Umbau­ Meinung vertreten dürfen, kapitalistische konzepten gefunden. Letztlich hat allein der Marktwirtschaft und Demokratie passen Wähler zu entscheiden. ¢

Aus: perspektivends. Zeitschrift für Gesellschaftsanalyse und Reformpolitik, Heft 1/2020

Hermann Adam* Der Weg an die Macht und ihr Verlust Das Dilemma der SPD im parlamentarischen Regierungssystem

Seit 1949 war die SPD im Bund 34 Jahre ment ein. Die SPD war mit 29,2 % zweit­ an der Regierung, davon hat sie 20 Jahre stärkste Kraft hinter CDU/CSU, die eine die Regierung geführt und den Kanz­ Fraktionsgemeinschaft bildeten und zusam­ ler gestellt (1969 bis 1982 und 1998 bis men auf 31 % kamen. Mit einer Stimme 2005). 14 Jahre hat sie bisher als Junior­ Mehrheit – seiner eigenen – wurde Konrad partner in einer Koalition mit CDU/CSU Adenauer (CDU) zum Bundeskanzler ge­ mitregiert (1966 bis 1969, 2005 bis 2009 wählt. Die Koalition aus CDU/CSU, FDP und seit 2013). Dieser Beitrag will analy­ und DP regierte die gesamte erste Legisla­ sieren, welche Faktoren die SPD 1969 und turperiode von 1949 bis 1953. 1998 im Bund an die Macht gebracht ha­ Acht Jahre später, bei der Bundestags­ ben und was die Ursachen des Machtver­ wahl 1957, haben CDU/CSU die SPD mit ei­ lustes 1982 und 2005 waren. Ziel ist, das nem Abstand von mehr als 18 Prozentpunk­ Dilemma der SPD im parlamentarischen ten weit hinter sich gelassen. Mit 50,2 % Regierungssystem aufzuzeigen und Ähn­ erreichten sie – bisher zum ersten und ein­ lichkeiten mit dem Schicksal sozialdemokra­ zigen Mal – die absolute Mehrheit. Die SPD tischer Schwesterparteien in anderen euro­ legte im Vergleich zu 1949 mit 31,8 % nur päischen Ländern aufzuzeigen. wenig zu. Die Zahl der im ver­ tretenen Parteien schrumpfte auf vier. Ne­ Fundamentalopposition in den 1950er-Jahren ben CDU/CSU, SPD und FDP gewann noch ohne Wahlerfolge die Deutsche Partei (DP) sechs Direktman­ date, und die nur in Wahlkreisen, in denen Bei der Wahl zum ersten deutschen Bundes­ die CDU keinen eigenen Kandidaten aufge­ tag am 14. August 1949 zogen 12 Parteien stellt hatte. Die DP zog deshalb trotz der (CSU als eigene Partei gezählt) ins Parla­ insgesamt nur 3,4 % der Zweitstimmen als

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* Prof. Dr. Hermann Adam lehrt als Honorarprofessor Politikwissenschaft am Otto-Suhr-Institut der FU Berlin Der Weg an die Macht und ihr Verlust vierte Partei in den Bundestag ein. Im Laufe zum Prinzip des Wettbewerbs, allerdings der Legislaturperiode löste sie sich jedoch nicht als Ziel an sich, wie die Liberalen, son­ auf und verschmolz mit der CDU. Seitdem dern als Instrument, und verabschiedete bestand bis zur Bundestagswahl 1983 in sich von der staatlichen Planung des Wirt­ der alten Bundesrepublik ein 2 ½-Parteien­ schaftsgeschehens. «Wettbewerb so weit system. wie möglich, Planung so weit wie nötig»2 Die Konzentration auf 2 ½ Parteien ging war der wirtschaftspolitische Leitsatz des zum einen mit einer in den 1950er-Jahren Godesberger Programms. Auch in der Au­ hohen Wahlbeteiligung von 87,8 % (1957) ßen- und Sicherheitspolitik vollzog die SPD und einem in der Geschichte Deutschlands eine Kehrtwende. Hatte die Partei noch in bis dato nie dagewesenen Wirtschaftsauf­ ihrem Deutschlandplan eine Wiedervereini­ schwung einher. Die realen Nettoeinkom­ gung der beiden deutschen Staaten durch men hatten sich 1960 im Vergleich zu Bündnisfreiheit für möglich und erstrebens­ 1950 mehr als verdoppelt, die Arbeitslosig­ wert gehalten, akzeptierte die SPD von keit war 1960 verschwunden und Vollbe­ nun an die Einbindung der Bundesrepub­ schäftigung erreicht. Die Rentenreform von lik Deutschland in das westliche Bündnis­ 1957 brachte sieben Millionen Rentnern in system.3 einem Schritt eine Verbesserung von rund 65 % (Arbeiter) und ca. 72 % (Angestellte). der 1950er-Jahre von Viktor Agartz, einem der Ge­ Zum anderen hat das Verbot der beiden ex­ schäftsführer des Wirtschaftswissenschaftlichen In­ tremistischen Parteien durch das Bundesver­ stituts der Gewerkschaften (WWI), geprägt. Zent­ rale Elemente einer sozialistischen Planwirtschaft fassungsgericht – 1952 der Sozialistischen im demokratischen Rechtsstaat sollten nach Ag­ Reichspartei (SRP) als Nachfolgeorganisa­ artz ein langfristiger volkswirtschaftlicher Gesamt­ tion der NSDAP und 1956 der Kommunisti­ plan und eine vollständige staatliche Kontrolle schen Partei Deutschlands (KPD) – die Ent­ der Investitionstätigkeit durch Verstaatlichung der Grundstoffindustrie sein. Außerdem forderte er eine wicklung hin zu einem 2 ½-Parteiensystem demokratisch aufgebaute wirtschaftliche Selbstver­ begünstigt. waltung durch paritätisch mit Arbeitgebern und Ar­ Nach drei verlorenen Bundestagswahlen beitnehmern besetzte Kammern in den Bereichen Industrie, Handel, Handwerk und Landwirtschaft. blieb der SPD nichts anderes übrig, als ihre Vgl. im Einzelnen Viktor Agartz: Sozialistische Wirt- bisherige Strategie der Fundamentaloppo­ schaftspolitik, Protokoll der Verhandlungen des Par­ sition, die sie seit 1949 in der Innen- und teitages der Sozialdemokratischen Partei Deutsch­ Außenpolitik betrieben hatte, aufzugeben lands vom 9. Bis 11. Mai 1946 in Hannover, Ham­ burg 1947, S. 113 ff. und von unerreichbaren Zielen Abschied 2 Godesberger Programm der SPD von 1959, Ab­ zu nehmen. So schloss sie in ihrem Godes­ schnitt «Stetiger Wirtschaftsaufschwung», letzter berger Programm von 1959 ihren Frieden Satz. Im aktuellen Hamburger Programm der SPD mit der sozialen Marktwirtschaft, ja letzt­ von 2007 taucht der Kernsatz des Godesberger Pro­ gramms leicht verändert wieder auf, es wird aber lich auch mit dem Kapitalismus, und ver­ auf das Wort «Planung» verzichtet, um keine Assozi­ zichtete auf das bisher verfolgte Ziel einer ationen mit der real-sozialistischen Wirtschaftsord­ sozialistischen Planwirtschaft im demo­ nung der DDR aufkommen zu lassen. Er lautet: «Für kratischen Rechtsstaat.1 Sie bekannte sich uns gilt: So viel Wettbewerb wie möglich, so viel regulierender Staat wie nötig.» (Abschnitt «Soziale Marktwirtschaft im 21. Jahrhundert»). 1 Die wirtschaftspolitischen Vorstellungen der SPD 3 Der Schwenk wurde vom stellvertretenden Vorsit­ nach dem Zweiten Weltkrieg wurden bis Mitte zenden am 30.6.1960 in einer his­

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Die Annäherung an die Vorstellungen Sie errang 49,5 % der Stimmen und verwies der Unionsparteien zahlte sich aus: Bei den damit die regierende CDU, die nur 42,8 % Bundestagswahlen 1961 kletterte die SPD erreichte, auf den zweiten Platz. Allerdings erstmals auf 36,2 % und erreichte 1965 be­ kam der SPD zugute, dass die 1964 ge­ reits 39,2 %. Die innerparteilich viel kriti­ gründete rechtsextreme Nationaldemokra­ sierte Gemeinsamkeitspolitik machte «die tische Partei Deutschlands (NPD) in Nord­ SPD für bürgerliche Kreise akzeptabel.»4 rhein-Westfalen nicht kandidierte. So ge­ Zwar reichte es 1965 noch nicht für die schah, was bei einem 2 ½ Parteiensystem Übernahme der Regierung. Doch das Kanz­ mit ausschließlich demokratischen Parteien leramt war in greifbare Nähe gerückt. normal ist: die Enttäuschung der Wähler über die amtierende Regierung führt zur Strukturkrise, erste große Koalition und Wahl der demokratischen Oppositionspar­ Machtwechsel 1969 tei. Anders bei den folgenden Landtags­ wahlen in Hessen, Bayern, Rheinland-Pfalz, Mitte der 1960er-Jahre kam die Krise im Schleswig-Holstein, Niedersachsen und Bre­ Steinkohlenbergbau der SPD auf ihrem men. Hier trat die NPD an und schaffte den Weg an die Macht zur Hilfe. 1965/1966 Einzug in alle Landesparlamente. Die Unzu­ musste die Steinkohleförderung um etwa friedenheit mancher Wähler kam nicht der 10 Mio. Tonnen zurückgefahren werden, demokratischen Oppositionspartei, sondern trotzdem stiegen die Haldenbestände we­ der rechtsradikalen Partei zugute. gen fehlender Nachfrage um weitere fünf Die schwierige wirtschaftliche Lage löste Mio. Tonnen an. Die Zahl der im Bergbau im Herbst 1966 in Bonn eine Regierungs­ Nordrhein-Westfalens Beschäftigten ging krise aus. Aufgrund der schwachen Kon­ um über 30 000 zurück.5 Krisenstimmung junktur taten sich Löcher im Bundeshaus­ verbreitete sich unter den Wählern. Hat­ halt auf, CDU/CSU wollten sie mit Steu­ ten in einer Emnid-Untersuchung im Juli ererhöhungen stopfen. Das wollte der 1965 noch 71 % der Befragten in Nord­ kleinere Koalitionspartner FDP nicht mit­ rhein-Westfalen die wirtschaftliche Lage tragen und zog seine Minister aus der Re­ mit sehr gut oder ziemlich gut bezeichnet, gierung zurück. Die Regierung unter Bun­ waren Anfang 1966 nur noch 37 % dieser deskanzler (CDU) hatte ihre Meinung. Die Folge waren erhebliche Stim­ Mehrheit im Bundestag verloren. Es musste mengewinne der SPD bei der Landtagswahl eine neue Regierung gebildet werden, die in Nordrhein-Westfalen am 10. Juli 1966. erste große Koalition aus CDU/CSU und SPD unter dem Kanzler Kurt-Georg Kiesin­ ger. Vizekanzler und Außenminister wurde torischen Rede vor dem Deutschen Bundestag ver­ kündet. Vgl. Stenographischer Bericht über die 122. . Sitzung des Deutschen Bundestages in der 3. Wahl­ Anders als in den späteren Koalitionen periode am 30. Juni 1960, S. 7052 ff. unter Angela Merkel bekam der SPD die 4 So Helga Grebing: Geschichte der deutschen Arbei- erste große Koalition (1966–1969) gut. terbewegung, Berlin 2007, S. 165. Mit antizyklischer Finanzpolitik gelang es 5 Vgl. hierzu und zum Folgenden Werner Kalteflei­ dem SPD-Wirtschaftsminister Karl Schil­ ter: Wirtschaft und Politik in Deutschland. Konjunk- tur als Bestimmungsfaktor des Parteiensystems, ler und dem CSU-Finanzminister Franz-Jo­ 2. Aufl., Köln und Opladen 1968, S. 165. sef Strauß, innerhalb weniger Monate

124 perspektivends 37. Jg. 2020 / Heft 1 Der Weg an die Macht und ihr Verlust die erste leichte Nachkriegsrezession von Was meinen Sie, wem haben wir diesen 1966/67 zu überwinden. Von 459 500 Ar­ Aufschwung in erster Linie zu verdanken?» beitslosen im Jahr 1967 ging die Zahl be­ antworteten 33 % «Schiller» und nur 14 % reits 1968 auf 323 500 zurück, und 1969 «Strauß». Die Überwindung der Rezession war mit 178 600 Arbeitslosen und einer wurde also stärker als irgendei­ Arbeitslosenquote von 0,9 % wieder Voll­ nem anderen Politiker zugerechnet. Schillers beschäftigung erreicht (Statistisches Bun­ Ansehen in der Bevölkerung ein halbes Jahr desamt, Historische Statistik 2015. Zahlen vor der Bundestagswahl 1969 war so groß, gerundet). Die Bürger honorierten das bei dass er bei der hypothetischen Kanzlerfrage der Bundestagswahl 1969 mit einem Stim­ sogar besser abschnitt als Willy Brandt. Man menanteil der SPD von 42,7 %.6 20 Jahre ging damals von etwa 3 % Schiller-Wählern nach Gründung der Bundesrepublik stellte aus, die in Städten oder deren Vororten leb­ die SPD mit Willy Brandt erstmals den Bun­ ten und meist im Dienstleistungsbereich deskanzler. beschäftigt waren. «Diese Wähler wollten Grund dafür war nicht zuletzt die deut­ 1969 modern und fortschrittlich sein. Schil­ lich gewachsene Wirtschaftskompetenz, die ler war die Personifizierung solcher Moder­ der SPD von der Bevölkerung zugeschrie­ nität – und er gab dieser ökonomisch sensi­ ben wurde.7 Lag die SPD im Herbst 1968 bel reagierenden Gruppe auch das Gefühl, bei diesem oft wahlentscheidenden Fak­ dass die Wirtschaft in guten Händen sei.»8 tor noch über 20 Prozentpunkte hinter der Ihr gutes Abschneiden bei der Bundestags­ CDU/CSU, hatte sie im Mai / Juni 1969, wahl 1969, das den Weg in 13 Jahre sozi­ also gut drei Monate vor dem Wahltermin, al-liberale Koalition öffnete, verdankt die mit CDU/CSU gleichgezogen bzw. sie sogar SPD somit ihrem Wirtschaftsminister und leicht überholt. Auf die Frage «In den letz­ seiner von der Bevölkerung erfolgreich an­ ten zwei Jahren ist es in der Bundesrepub­ gesehenen Politik. Ohne den Sprung über lik wirtschaftlich wieder bergauf gegangen: die 40-Prozent-Marke wäre die Bildung ei­ ner SPD-FDP-Koalition nicht möglich gewe­ sen, weil die FDP bei der Wahl lediglich auf 6 Bei dieser Wahl spielten neben der Außenpolitik 5,8 % kam, also nur mit Mühe die Fünf-Pro­ Willy Brandts vor allem eine wirtschaftspolitische Frage eine Hauptrolle: Soll die Deutsche Mark auf­ zent-Hürde übersprang. gewertet werden, um der anziehenden Inflations­ Eins darf dabei aber nicht übersehen wer­ rate zu begegnen? Der CDU-Bundeskanzler Kie­ den: Bei der Bundestagswahl 1969 wur­ singer sprach sich, offensichtlich gedrängt von den 1 422 010 Zweitstimmen (4,3 %) für der Exportindustrie, gegen eine Aufwertung aus, SPD-Wirtschaftsminister Schiller dafür. Viele Wäh­ die rechtsextreme NPD abgegeben, das wa­ ler vertrauten dem SPD-Wirtschaftsprofessor Schil­ ren 775 815 Stimmen mehr als bei der Wahl ler und seiner wirtschaftspolitischen Kompetenz. 1965. Zwar scheiterte die NPD damit an Die Wahlforscher sprachen damals von «Schil­ ler-Wählern» aus dem bürgerlichen Lager, die der der Fünf-Prozent-Klausel. Da CDU/CSU je­ SPD halfen, erstmals die 40 Prozent-Marke zu über­ doch gleichzeitig 328 881 Stimmen verlo­ springen. 7 Näher hierzu Hermann Adam: Zwischen ökono­ mischen Zwängen und Systemveränderungswün­ 8 Rolf Zundel: Das Wahlergebnis: Wieder Gleich­ schen. Sozialdemokratische Wirtschafts- und Fi­ stand? In: Die Zeit vom 20.10.1972, abrufbar unter nanzpolitik von 1966 bis 1982, in: perspektivends, https://www.zeit.de/1972/42/das-wahlergeb­ Heft 1/2019, S. 109 ff. nis-wieder-gleichstand/komplettansicht.

perspektivends 37. Jg. 2020 / Heft 1 125 Hermann Adam ren hatten, sicher nicht nur, aber auch an Monate vor der Bundestagswahl 1969 ver­ die NPD, verfehlte sie die absolute Mehr­ suchten linke Bezirke wie Hessen-Süd, West­ heit. Addiert man die Stimmen- und Pro­ falen, Schleswig-Holstein und Bremen auf zentzahl von CDU/CSU und NPD, kommt dem Bundesparteitag im April 1969, die man auf 50,4 % der gültigen Stimmen, SPD SPD auf einen linkeren Kurs festzulegen. Sie und FDP hatten dagegen nur auf 48,5 %. forderten in Anträgen höhere Erbschafts- Die sozial-liberale Koalition hatte also zu und Vermögenssteuersätze, eine schärfere Beginn ihrer Amtszeit nicht die Mehrheit Progression der Einkommensteuer und eine der Wähler hinter sich, wegen der Fünf-Pro­ einschneidende Vermögensumverteilung: zent-Klausel aber die Mehrheit der Sitze im Großunternehmen sollten gesetzlich dazu Deutschen Bundestag. gezwungen werden, einen bestimmten Pro­ CDU/CSU machten somit als erste die zentsatz ihrer Gewinne in zu errichtende In­ Erfahrung: Wähler einer großen Volkspar­ vestmentfonds abzuführen, dessen Zertifi­ tei, die mit ihrem politischen Kurs nicht ein­ kate die Arbeitnehmer entweder kostenlos verstanden sind und kritisieren, dass die erhalten oder mit einem Rabatt sollten er­ Partei zu viele Zugeständnisse an den Ko­ werben können.10 Um sicher zu gehen, dass alitionspartner gemacht hat, drücken ihren die Parteispitze diese Pläne nach der Wahl Protest durch Stimmabgabe für eine Rand­ auch umsetzt, wollten die Antragsteller zu­ partei aus. Damit wollen sie erreichen, dass dem die Unterhändler bei den nächsten Ko­ die Partei ihren politischen Kurs korrigiert, alitionsverhandlungen der Weisung eines im Falle von CDU/CSU in eine mehr nati­ Sonderparteitages unterstellen.11 onal-konservative Richtung. Die Protest­ Die Anträge wurden schon vor Beginn wähler erreichen damit jedoch das genaue des Parteitags im Parteivorstand und Par­ Gegenteil: Die von ihnen eigentlich favor­ teirat entschärft: Der Tarif der Erbschafts­ isierte Partei verliert, und das gegnerische steuer sollte nur für Großvermögen über Lager gewinnt die politische Macht. Dieser zehn Millionen DM, die Vermögenssteuer für das parlamentarische Regierungssystem nur noch indirekt angehoben werden, in­ typische Prozess wiederholte sich später dem sie nicht mehr auf die Einkommen­ auch im linken politischen Lager. steuer angerechnet werden sollte, und der Spitzensteuersatz bei der Einkommensteuer Verlust der Mehrheit durch Überläufer sollte nicht mehr, wie ursprünglich im An­ trag formuliert, angehoben, sondern nur Die große Koalition war 1966 im engsten noch überprüft werden. Das Vermögens­ Führungszirkel der SPD beschlossen wor­ fondsprojekt wurde erst auf dem Partei­ den. Eine breitere Diskussion auf einem Par­ tag durch Willy Brandt höchstpersönlich teitag oder gar eine Mitgliederbefragung gestoppt, der dies nicht mittragen wollte. hatte nicht stattgefunden. Große Teile der Auch der Antrag, der SPD-Spitze die Ge­ Mitgliedschaft waren über die Annäherung an die CDU mehr als befremdet, der Eintritt 10 Zu den Plänen einer Umverteilung des Produktiv­ in die große Koalition drohte zu einer inner­ vermögens durch Vermögensbildungsfonds, die 9 auch von großen Teilen der Gewerkschaften unter­ parteilichen Zerreißprobe zu werden. Fünf stützt wurden, siehe Hermann Adam: Macht und Vermögen in der Wirtschaft, 2. Aufl., Köln 1976. 9 Vgl. Helga Grebing, a.a.O., S. 165. 11 Vgl. Der Spiegel Nr. 17/21.4.1969, S. 28 ff.

126 perspektivends 37. Jg. 2020 / Heft 1 Der Weg an die Macht und ihr Verlust schäftsfähigkeit für Koalitionsverhandlun­ den führenden Vertreter des Bundes der gen zu entziehen, wurde nicht verabschie­ Vertriebenen, hatte sich vor der Wahl Her­ det, nachdem Willy Brandt in kleinem Kreis bert Wehner stark gemacht,14 um auch die­ mit Rücktritt gedroht hatte: «Wenn ihr das sen Bevölkerungskreis anzusprechen. beschließt, dann bin ich kein Parteivorsit­ zender mehr.»12 Sonderparteitag 1971: Für ein progressiv Der innerparteiliche Richtungsstreit, der wirkendes Steuersystem schon begann, bevor die sozial-liberale Ko­ alition ihr Amt angetreten hatte, war aller­ War die Ostpolitik Willy Brandts einigen dings nichts Neues. Er durchzieht die ge­ Wenigen in der SPD zu links, war die Wirt­ samte, über 150-jährige Geschichte der schafts- und Finanzpolitik vielen nicht links SPD. Er wurde und wird aber besonders lei­ genug. Nachdem sich die Befürworter einer denschaftlich und mitunter heftig dann ge­ stark umverteilenden Steuerpolitik beim Par­ führt, wenn die SPD an der Regierung ist. teitag 1969 nicht hatten durchsetzen kön­ Die Mehrheit für die Bildung der sozial-li­ nen, unternahmen sie 1971 erneut einen beralen Koalition 1969 war denkbar knapp: Anlauf, um die SPD weiter nach links zu rü­ SPD und FDP hatten im Bundestag zusam­ cken. Zu diesem Zweck wurde extra ein Son­ men 254 Mandate, 249 waren für die Wahl derparteitag einberufen, der vom 18. bis 20. des Bundeskanzlers notwendig. Willy Brandt November 1971 ein steuerpolitisches Grund­ erhielt am 21.Oktober 1969 nur 251 Stim­ satzprogramm verabschiedete. Beim Thema men. Vermutlich hatten ihm drei FDP-Ab­ Steuern geht es seit jeher um ein Herzensan­ geordnete des national-liberalen Flügels, liegen der SPD: die soziale Gerechtigkeit. Sie die später zur CDU übertraten, die Zustim­ verlangt aus sozialdemokratischer Sicht eine mung verweigert. Drei Jahre später sollte Umverteilung der Einkommen von oben ihm die von Anfang an knappe Mehrheit nach unten, wozu das Steuersystem progres­ beinahe zum Verhängnis werden. Vier Ab­ siv ausgestaltet werden muss. geordnete der FDP hatten inzwischen ihre Zu den Kernbeschlüssen des Sonderpar­ Fraktion verlassen, und auch vier SPD-Abge­ teitags gehörten:15 ordnete wollten die Ostpolitik Willy Brandts nicht unterstützen.13 Daran zeigt sich, wie • Die Anhebung des Einkommensteuerspit­ schwierig es für eine linke Volkspartei wie zensatzes von 53 % auf 60 % ab einem die SPD ist, viele gesellschaftliche Gruppen Einkommen von 200 000 DM jährlich bei einzubinden. Das ist aber notwendig, um Verheirateten. eine Wahl zu gewinnen. Für Hubert Hupka, • Die Erhöhung des Körperschaftsteuersat­ zes von 51 % auf 56 %. • Entlastung der unteren Einkommen 12 Ebenda, S. 29. durch Erhöhung des Grundfreibetrages, 13 Die Abweichler waren die FDP-Abgeordneten , Heinz Starke, Siegfried Zoglmann und Wil­ helm Helms, die SPD-Abgeordneten Hubert Hupka 14 Vgl. Bernd Faulenbach: Das sozialdemokratische (Vizepräsident des Bundes der Vertriebenen), Gün­ Jahrzehnt. Von der Reformeuphorie zur Neuen Un- ther Müller (von 1963–1967 Bundesvorsitzender der übersichtlichkeit, Die SPD 196969–1982, Bonn Jungsozialisten) sowie zwei Berliner SPD-Abgeord­ 2011, S. 99. nete ohne Stimmrecht. So war das Stimmenverhält­ 15 Vgl. http://library.fes.de/fulltext/bibliothek/chronik nis SPD/FDP zu CDU/CSU 248 zu 248 – ein Patt. /band3/e235g1761.html.

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des Arbeitnehmerfreibetrages und des und die Bedeutung des Themas für die De­ Weihnachtsfreibetrages. legierten unterschätzt und sich auch nicht • Beseitigung der Steuervorteile des Ehe­ in die vorher stattfindenden innerparteili­ gattensplittings ab einer bestimmten Ein­ chen Diskussionen eingeschaltet. Als über kommenshöhe. die Erhöhung der Körperschaftsteuer abge­ • Ersatz der steuerlichen Kinderfreibeträge stimmt werden sollte, griff er in die Debatte durch ein gestaffeltes Kindergeld. ein und versuchte mit Hinweis auf die nied­ • Abschaffung der degressiven Abschrei­ rigeren Steuersätze selbst im sozialdemo­ bung bei Abnutzung von Gebäuden (Aus­ kratischen Musterland Schweden den Be­ nahme: weiterhin Sonderabschreibung schluss zu verhindern. In diesem Zusammen­ für selbstgenutztes Wohneigentum). hang fiel der später immer wieder zitierte • Streichung der Abzugsfähigkeit von Satz: «Genossinnen und Genossen, lasst bei Schuldzinsen und Bewirtungsspesen. diesem Punkt bitte die Tassen im Schrank.»17 • Besteuerung der Gewinne aus der Ver­ Doch der Parteitag ignorierte seine Be­ äußerung wesentlicher Beteiligungen an denken. Selbst Willy Brandts Ermahnun­ Kapitalgesellschaften. gen, die Kuh (d. h. die Unternehmer, d. V.) • Erhöhung des Vermögenssteuersatzes müsse in guter Verfassung gehalten wer­ von 0,75 % auf 1 % bei gleichzeitiger den und noch wichtiger, es müsse dafür ge­ Streichung der Abzugsfähigkeit von der sorgt werden, dass sie auf der Weide oder Einkommensteuer. im Stall bleibt und nicht woanders landet, fruchteten ebenso wenig wie seine Klarstel­ In dieser Steuerreform sah die Parteilinke lung, dass die Regierungsmitglieder nicht den entscheidenden Hebel, um die Gesell­ alle Beschlüsse der Delegierten in die Tat schaft in großem Stil umzugestalten. Erhard umsetzen könnten, sondern auch die Posi­ Eppler, der die Steuerreform-Kommission tionen des Koalitionspartners FDP zu be­ der Partei geleitet hatte, machte zur Be­ rücksichtigen hätten.18 , zu gründung der Vorschläge deutlich, dass die diesem Zeitpunkt Verteidigungsminister, Qualität des Lebens zunehmend weniger schien den Parteitag und seine Beschlüsse vom Zuwachs des privaten Konsums, son­ nicht ernst zu nehmen. Er tauchte erst beim dern immer mehr von den Leistungen und Parteitag auf, als die zentralen Beschlüsse Investitionen der öffentlichen Haushalte bereits gefasst waren, setzte sich dann ne­ abhinge. Zur Finanzierung wären die Steu­ ben Karl Schiller und fragte ihn: «Na, ist viel ern auf hohe Einkommen und große Vermö­ Blödsinn beschlossen worden?»19 gen zu erhöhen. Eine Anhebung der Mehr­ wertsteuer solle erst erwogen werden, wenn 17 Protokoll der Verhandlungen des außerordent­ alle anderen Steuerquellen ausgeschöpft lichen Parteitages der SPD vom 18. bis 20. No­ seien und das Interesse der Gesellschaft vember 1971, S. 318, hier zit. nach Torben Lütjen, dies erfordere.16 Karl Schiller (1911–1994). «Superminister» Willy Karl Schiller, der an der Herzensangele­ Brandts, Bonn 2007, S. 318. genheit der SPD, der Umverteilung, wenig 18 Vgl. http://library.fes.de/fulltext/bibliothek/chronik /band3/e235g1761.html. interessiert war, hatte die Emotionalität 19 Torben Lütjen: Karl Schiller (1911–1994). «Supermi- nister Willy Brandts, Bonn 2007, S. 319 mit zwei 16 Ebenda. Quellenangaben.

128 perspektivends 37. Jg. 2020 / Heft 1 Der Weg an die Macht und ihr Verlust

Diese Anekdote macht deutlich: Zwischen lungsausschuss angerufen werden. Auch der denjenigen in der Partei, die in der Exeku­ Koalitionspartner FDP hatte sich gegen man­ tive politische Verantwortung tragen, insbe­ che Vorstellungen der SPD gestellt. So blieb sondere den Ökonomen, und der Parteiba­ die Reform deutlich hinter den Wünschen des sis bestand (und besteht auch heute) eine SPD-Steuerparteitages von 1971 zurück. Statt tiefe Kluft. Auf Parteitagen prallen das öko­ eines Spitzensteuersatzes bei der Einkommen­ nomisch Sinnvolle bzw. politisch Machbare steuer von 60 % wurde dieser von 53 auf nur und das nach sozialdemokratischen Wer­ 56 % für Einkommen ab 130 000/260 000 ten Wünschbare aufeinander. Manchmal ge­ DM (Alleinstehende / Verheiratete) jährlich lingt es der Parteitagsregie, besonders linke erhöht. Dies war aber nur eine scheinbare Anträge zu vertagen oder zumindest zu ent­ Erhöhung, weil gleichzeitig die Ergänzungs­ schärfen. Auf dem Sonderparteitag 1971 war abgabe23 abgeschafft und die Abzugsmög­ das nicht der Fall, u. a. auch deshalb, weil Karl lichkeiten von Sonderausgaben erweitert Schiller nicht nur wegen seiner strikt markt­ wurden, von denen insbesondere Spitzenver­ wirtschaftlichen Linie, sondern auch wegen diener profitierten. Nur so gelang es, die Zu­ seines Habitus und seines Lebensstils in der stimmung der CDU im Bundesrat zu gewin­ SPD immer weniger Unterstützer hatte.20 nen.24 Denn die oberen Einkommen wurden letztlich nicht zusätzlich belastet. An der Macht – oder doch nicht? 1977 trat dann noch die Reform der Kör­ Der Vetospieler Bundesrat perschaftsteuer in Kraft. Hier galt vorher: Einbehaltene Gewinne wurden mit 51 %, Da der DGB bereits im Mai 1971, also ein hal­ ausgeschüttete Gewinne mit einem ermä­ bes Jahr vorher, der Öffentlichkeit ähnliche ßigten Satz von 15 %, dann aber beim An­ Steuerreformvorschläge unterbreitet hatte21, teilseigner nochmal mit dessen persönli­ musste die SPD nach der vorgezogenen Bun­ chem Steuersatz besteuert. Dieses System destagswahl ihre bereits 1971 formulierten wurde in der Fachwissenschaft schon seit Eckwerte22 noch einmal nachschärfen. Insbe­ langem kritisiert, weil es die Kapitalgesell­ sondere sollte der Einkommensteuerspitzen­ schaften anders als die Personengesell­ satz auf 60 % angehoben werden. schaften besteuerte und je nach individu­ Doch die SPD hatte die Rechnung ohne den Bundesrat gemacht. Im Gesetzgebungs­ 23 Von 1968 bis 1974 mussten Einkommen- und Kör­ prozess stellte sich der CDU-dominierte Bun­ perschaftsteuerpflichtige ab einem zu versteuern­ desrat quer, zweimal musste der Vermitt­ den Jahreseinkommen von 16 020/32 040 DM (Ledige/Verheiratete) zusätzlich 3 % ihrer Steu­ erschuld als Ergänzungsabgabe zahlen. Etwa 600 000 Personen und etwa 50 0000 Körperschaf­ 20 Vgl. «Wir wollen uns keinen Bruch heben», in: Der ten waren davon betroffen. Vgl. Bernd Reissert, Die Spiegel Nr. 47/15.11. 1971, S. 41. Ergänzungsabgabe: Ein Instrument zur Finanzie­ 21 Vgl. Hans Georg Wehner: Vorschläge des DGB zur rung beschäftigungspolitischer Maßnahmen? in: Steuerreform, in: Gewerkschaftliche Monatshefte, Wirtschaftsdienst, Heft 2/1982, S. 99 f. Heft 7/1971, S. 435 ff. – Viele SPD-Konzepte wer­ 24 Vgl. Gérard Bökenkamp: Das Ende des Wirtschafts- den im DGB und seinen wissenschaftlichen Institu­ wunders: Geschichte der Sozial-, Wirtschafts- und Fi- ten WSI und IMK «geboren». nanzpolitik in der Bundesrepublik, Stuttgart 2010, 22 Vgl. Beschlussfassung über Eckwerte und Grund- S. 96 ff. – Marc Buggeln: «Keine Aktion Volksbeglü­ sätze für die Steuerreform, Protokoll der 71. Kabi­ ckung». Der Spitzensteuersatz als Politikum, in: Mit- nettssitzung vom 9. bis 11. Juni 1971. telweg 36, Heft 1/2018; S. 59.

perspektivends 37. Jg. 2020 / Heft 1 129 Hermann Adam ellem Steuersatz auch beim Anteilseigner mit der Vergemeinschaftung der Umsatz­ zu hohen Belastungen führen konnte. Nun steuer war nun auch der Bund für seine Ein­ beseitigte die sozial-liberale Koalition die nahmen vollständig von der Zustimmung Doppelbesteuerung und führte das Anrech­ des Bundesrates abhängig geworden.»27 nungssystem ein: Für einbehaltene Gewinne Seitdem ist der Bundesrat ein ganz be­ wurde ein Steuersatz von 56 %, für ausge­ deutender Vetospieler im politischen Sys­ schüttete Gewinne ein Steuersatz von 36 % tem der Bundesrepublik, vor allem dann, eingeführt. Die Steuer auf die Ausschüttun­ wenn in der Länderkammer eine andere po­ gen wurden dem Anteilseigner fortan auf litische Mehrheit herrscht als im Bundes­ die Einkommensteuer angerechnet.25 tag. Das war erstmals in der Geschichte der Formal wurde mit dem Steuersatz von Bundesrepublik nach Bildung der sozial-li­ 56 % für nicht ausgeschüttete Gewinne dem beralen Koalition der Fall. Der Bundesrat SPD-Steuerparteitagsbeschluss von 1971 wurde insbesondere in der Steuer- und Fi­ entsprochen. Die Reform war jedoch auf­ nanzpolitik zu einem Instrument der Oppo­ kommensneutral: Mehreinnahmen bei der sition.28 Das war (und ist bis heute) für die Körperschaftsteuer standen entsprechende SPD besonders bitter. Denn eine Umvertei­ Mindereinnahmen bei der Einkommensteuer lung von Reich zu Arm durch eine progres­ gegenüber,26 weil die Körperschaftsteuer mit siv wirkende Steuerpolitik ist eines der Kern­ der Einkommensteuer verrechnet werden ziele sozialdemokratischer Politik, mit der konnte. So gesehen war die Reform keine das Ziel «soziale Gerechtigkeit» verwirklicht Umverteilungsmaßnahme von oben nach werden soll. Doch gegen eine politisch ge­ unten, wie es sich die Mehrheit des Partei­ genläufige Mehrheit im Bundesrat ist dieses tags sechs Jahre zuvor erhofft hatte. Ziel politisch nicht durchzusetzen – selbst Das Scheitern einer in größerem Umfang dann nicht, wenn die SPD im Bundestag umverteilenden Steuerreform, wie sie dem stärkste Fraktion ist, wie es von 1972 bis SPD-Parteitag vorschwebte, ist eine politi­ 1976 und von 1998 bis 2002 der Fall war.29 sche Folge des kooperativen Föderalismus Man könnte sagen: Die SPD war zwar an der in der Bundesrepublik und der daraus resul­ Regierung, aber sie hatte nicht die Macht.30 tierenden Politikverflechtung. Seit der von der großen Koalition 1969 verabschiede­ 27 Fritz W. Scharpf: Föderalismusreform. Kein Ausweg ten Finanzreform teilen sich Bund und Län­ aus der Politikverflechtungsfalle? Frankfurt / New York 2009, S. 26. der das Aufkommen nicht nur aus der Ein­ 28 erklärte am 22. Februar 1970 kommen- und Körperschaftsteuer-, sondern in einem Interview des Saarländischen Rundfunks: auch das aus der Mehrwertsteuer. Das sind «Ich sehe im Bundesrat während dieser Legislatur­ mehr als drei Viertel des gesamten Steuer­ periode in der Tat ein wichtiges Instrument für die Opposition. Wir haben eine solche Mehrheit … Und aufkommens. Durch die Finanzreform von wir werden diese Mehrheit selbstverständlich be­ 1969 «wurden nicht nur die Einnahmen der nützen.» Zit. nach Heinz Laufer: Der Bundesrat als Länder vollständig durch (zustimmungsbe­ Instrument der Opposition? in: Zeitschrift für Parla- dürftige) Bundesgesetze bestimmt, sondern mentsfragen, Heft 3/1970, S. 319, Fn. 8. 29 Zu diesem Problem siehe Hermann Adam: Grenzen der Umverteilung im föderalen Sechs-Parteien-Staat, 25 Vgl. ebenda, S. 167. in: Wirtschaftsdienst, Heft 4/2020, S. 233 ff. 26 Vgl. Jutta Muscheid: Die Steuerpolitik in der Bundesre- 30 Das gilt allerdings auch umgekehrt, wenn die CDU publik Deutschland 1949–1982, Berlin 1986, S.168. regiert und die SPD im Bundesrat die Mehrheit hat.

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Das Ende der sozial-liberalen Koalition und Die Zahl der Arbeitslosen erhöhte sich 1981 die politischen Folgen auf fast 1,3 Millionen. Auch die Verbrau­ cherpreise stiegen wieder stärker: 1981 um Die fatale Rolle des Bundesrates sollte sich fast 6 %. noch verstärkt 1981/82 in der zweiten Öl­ Vor dem Hintergrund der anziehenden krise zeigen. Die erste 1973/74 hatte die Inflationsraten hatte die Bundesbank den Regierung gut gemeistert. Es gelang ihr so­ Diskontsatz 1979 von 3 auf 6 % und 1980 gar, durch ein keynesianisches, mittelfristig auf 7,5 % erhöht. Die Renditen öffentlicher angelegtes Zukunftsinvestitionsprogramm Anleihen stiegen auf 10,2 %. Das engte die Arbeitslosigkeit in den Jahren danach den finanzpolitischen Handlungsspielraum wieder zu reduzieren.31 Doch die zweite Öl­ zusehends ein: Bei derart hohen Zinsen am krise setzte dem gut in Gang gekommenen Kapitalmarkt wäre es für den Staat sehr Aufschwung ein jähes Ende. Äußerer An­ teuer geworden, ein weiteres Konjunktur­ lass war das Ende der Monarchie im Iran programm über Verschuldung zu finanzie­ unter Schah Mohammad Reza Pahlavi und ren. der kurz darauf beginnende Iran-Irak-Krieg. In dieser schwierigen Lage strebte Hel­ Die politische Unsicherheit bewirkte er­ mut Schmidt einen mittleren Weg zwischen neut eine Verknappung der Ölmenge auf angebots- und nachfrageorientierten wirt­ dem Weltmarkt und exorbitante Preisstei­ schaftspolitischen Maßnahmen an33, d. h. gerungen. Von 1978 auf 1979 stieg der Öl­ eine Umschichtung der Staatsausgaben preis um mehr als das Doppelte von 12,79 von konsumtiven zu investiven Ausgaben. US-Dollar / Barrel auf 29,19 US-Dollar / Das bedeutete durchaus Kürzungen im So­ Barrel. 1980 folgte ein weiterer Sprung auf zialbereich, gleichzeitig aber die Förderung 35,52 US-Dollar. privater Investitionen sowie ein Beschäf­ 1982 schrumpfte die Wirtschaft um tigungsprogramm, das allerdings wegen 0,4 %. Aufgrund der schwachen Wirt­ der hohen Zinsen und der – aus damali­ schaftsentwicklung blieben die Steuerein­ ger Sicht – ohnehin schon hohen Staatsver­ nahmen hinter den Erwartungen zurück. Ihr schuldung nicht durch zusätzliche staatli­ Anstieg war 1981 nicht einmal ein Viertel che Kredite, sondern über eine Ergänzungs­ so hoch wie 1980. Gleichzeitig expandier­ abgabe auf hohe Einkommen34 finanziert ten die Ausgaben um unerwartete 8,5 %.32 werden sollte. Doch dieser mittlere Weg war aufgrund Das musste die letzte Kohl-Regierung erfahren, als der nach der Bundestagswahl 1980 ver­ die SPD-regierten Länder von «auf Kurs gebracht» wurden und die von 33 Vgl. Bernd Faulenbach, a.a.O., S. 748. geplante Steuerreform (Petersberger Beschlüsse) im 34 Wenn Bezieher höherer Einkommen mit zusätzli­ Bundesrat blockierte. chen Steuern belegt werden, ist der kontraktive Ef­ 31 Vgl. dazu näher Hermann Adam: Zwischen ökono­ fekt auf die gesamtwirtschaftliche Nachfrage re­ mischen Zwängen und Systemveränderungswün­ lativ gering, weil diese Einkommensgruppen eine schen. Sozialdemokratische Wirtschafts- und Fi­ niedrige Konsumquote haben und die Steuern nanzpolitik von 1966 bis 1982, in: perspektivends, dann überwiegend durch Einschränkung ihrer Er­ Heft 1/2019, S. 107 ff., hier insbes. S. 125 ff. sparnis aufgebracht werden. Zu diesem als Haavel­ 32 Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamt­ mo-Effekt bezeichneten Zusammenhang vgl. Her­ wirtschaftlichen Entwicklung, Jahresgutachtachten mann Adam: Steuerpolitik in 60 Minuten, Wiesba­ 1981/82, Tz. 225 und 236. den 2013, S. 152 ff.

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änderten politischen Konstellation nicht auf die SPD die Entscheidungen in ihrem mehr durchzusetzen. Der polarisierende Sinne erzwingen zu können.»36 Wahlkampf zwischen Helmut Schmidt und Als Ausgleich für die vorgesehenen um­ seinem Herausforderer Franz-Josef Strauß fangreichen steuerlichen Förderungen der hatte noch zu einem Schulterschluss zwi­ Unternehmen37 brachte die SPD eine Ergän­ schen FDP und SPD geführt – die FDP warb zungsabgabe in die Diskussion: eine zeit­ auf ihren Plakaten mit der Parole «Dies­ lich befristete Steuer, die insbesondere jene mal geht’s ums Ganze. Für die Regierung Gruppen zahlen sollten, die von den Haus­ Schmidt / Genscher, gegen Alleinherrschaft haltskürzungen wenig oder gar nicht be­ einer Partei, gegen Strauß.» Als Strauß nach troffen waren. «Doch die Fraktion der FDP der verlorenen Bundestagswahl seine Ambi­ raste vor Wut auf die SPD»38, als die SPD tion, Bundeskanzler zu werden, aufgab und im Juli 1981 mit diesem Vorschlag kam. sein Amt als bayerischer Ministerpräsident Die FDP war sich ihrer Macht voll bewusst weiterführte, eröffnete sich für die FDP eine und nicht bereit, Kompromisse mit der SPD andere Machtoption: eine Koalition mit der einzugehen. Eine wachsende Mehrheit in CDU/CSU unter Helmut Kohl als Bundes­ der FDP wollte vielmehr in der Wirtschafts­ kanzler. Gleichwohl setzte die FDP die sozi­ politik «FDP-Linie-pur», und das hieß, an­ al-liberale Koalition zunächst noch fort. ders als 1969 zu Beginn der sozial-libera­ Die Gegnerschaft zu Franz-Josef Strauß len Koalition: Haushaltskonsolidierung und hatte vor der Bundestagswahl 1980 auch keine staatlichen Konjunktur- und Beschäf­ innerhalb der SPD und der Gewerkschaften tigungsprogramme mehr. Zudem hatte die alle Kräfte unter dem gemeinsamen Ziel: FDP erkannt, dass mit den 1980 gegründe­ «Stoppt Strauß!» zusammengeschweißt. ten GRÜNEN eine neue Partei entstanden Das änderte sich nach der Bundestagswahl, war, die bei der nächsten Wahl eine sozial-li­ als sich die «Gefahr Strauß» erledigt hatte. Als im Rahmen der sog. Haushaltsopera­ 36 Bernd Faulenbach: Das sozialdemokratische Jahr- tion ’82 und der Gemeinschaftsinitiative zehnt. Von der Reformeuphorie zur Neuen Unüber- für Arbeitsplätze, Wachstum und Stabilität sichtlichkeit. Die SPD 1969–1982, Bonn 2011, S. 728 f. Kürzungen u. a. bei den Personalausgaben 37 Die degressiven Abschreibungen für bewegliche im Öffentlichen Dienst, beim Kindergeld Güter wurden ab 1.1.1982 von 25 auf 30 % und und beim Wohngeld, gleichzeitig Erhöhun­ auf 5 % für Betriebsgebäude erhöht. Außerdem gen der Tabaksteuer, der Branntweinsteuer wurde eine Investitionszulage in Höhe von 10 % für und des Beitrags zur Arbeitslosenversiche­ bewegliche Güter des betrieblichen Anlagevermö­ gens und für Betriebsgebäude (in der Zeit vom 1.1.– 35 rung beschlossen wurden , organisierten 31.12.1982 bestellt oder mit der Herstellung begon­ linke Gewerkschaften wie die IG Metall und nen) gewährt. Vgl. Zweites Gesetz zur Verbesserung die damalige IG Druck und Papier Kundge­ der Haushaltsstruktur vom 22.12.1981, BGBl. I, Nr. 58/1981, S. 1523, hier S. 1537 sowie Gesetz über bungen und Demonstrationen gegen die steuerliche und sonstige Maßnahmen für Arbeits­ geplanten weiteren Einschnitte ins soziale plätze, Wachstum und Stabilität (Beschäftigungs­ Netz. Sie schienen zu glauben, «durch Druck förderungsgesetz – BeschäftFG) vom 3.6.1982, BGBl. I, Nr. 19/1982, S. 641. 38 Günter Verheugen: Der Ausverkauf. Macht und Ver- 35 Vgl. Sachverständigenrat zur Begutachtung der ge­ fall der FDP, Hamburg 1984, S. 122, zit. nach Mar­ samtwirtschaftlichen Entwicklung: Jahresgutach- tin H. Geyer: Geschichte der Sozialpolitik …, a.a.O., ten 1981/82, Texttabelle 30. S. 178.

132 perspektivends 37. Jg. 2020 / Heft 1 Der Weg an die Macht und ihr Verlust berale Mehrheit verhinderte. Insofern lag dessen Papier40 als «Scheidungsurkunde» der es im Interesse der FDP und ihres Machter­ sozial-liberalen Koalition gilt, gar nicht so halts, sich rechtzeitig politisch in Richtung fern. Bereits am 27. Juli 1981 hatte Finanz­ CDU umzuorientieren. minister Hans Matthöfer in der Runde der Jetzt wurde der Handlungsspielraum der SPD-Minister ein im Finanzministerium aus­ Regierung immer enger. Der wirtschaftsli­ gearbeitetes Programm vorgestellt, das u. a. berale Flügel der FDP steuerte den Bruch die Einführung von Karenztagen in der Ar­ der Koalition an. Auch in der SPD wuchsen beitslosenversicherung und bei der Lohn­ die Widerstände des linken Flügels, und es fortzahlung im Krankheitsfall, umfassende verstärkte sich die Sehnsucht nach der Op­ Einsparungen in der Renten- und Arbeitslo­ positionsrolle. Viele schauten besorgt auf senversicherung und eine Erhöhung der Hei­ die neuen sozialen Bewegungen, die 1972 zöl- und Erdgassteuer vorsah.41 Doch die üb­ das gute Wahlergebnis für Willy Brandt rigen SPD-Minister vermissten in diesem Kon­ möglich gemacht hatten, sich nun aber von zept die «soziale Gerechtigkeit» und zwangen der SPD abwandten. Ein Konjunkturpro­ ihn, das Papier zurückzuziehen und mit er­ gramm, finanziert durch eine Ergänzungs­ heblichen Abstrichen an seinen Vorschlägen abgabe der Besserverdienenden, hätte das in die Koalitionsverhandlungen zu gehen.42 Maßnahmenpaket sozial ausgewogener ge­ Gut ein Jahr später, schon Wochen be­ macht und den linken Flügel der SPD mög­ vor Lambsdorff seine umstrittenen Vor­ licherweise nochmal zum Einlenken be­ schläge vorgelegt hatte, kursierte ein im wegen können. Aber das war weder mit SPD-geführten Bundesfinanzministerium dem Koalitionspartner FDP, noch mit dem erstelltes Papier, das im Wesentlichen den CDU/CSU-dominierten Bundesrat zu ma­ Lambsdorff-Katalog vorwegnahm. Das Fi­ chen. Zwischen den Positionen des wirt­ nanzministerium wurde seit 1969 von schaftsliberalen Flügels der FDP und des SPD-Ministern geleitet. Bei einer so langen linken Flügels der SPD (und auch der Ge­ Zeitspanne ist davon auszugehen, dass fast werkschaften) war keine Bereitschaft zu ei­ alle leitenden Volkswirte und Juristen des nem Kompromiss mehr vorhanden. So war Ministeriums der SPD nahestanden. Umso die Erosion der politischen Macht der SPD bemerkenswerter ist der Satz in dem Papier: nicht mehr aufzuhalten. «Eine Regierung kann eine Gesellschaft Das Ende der sozial-liberalen Koalition nicht fundamental verändern.»43 Diese lapi­ braucht an dieser Stelle nicht detailliert ge­ schildert zu werden.39 Fest steht: Führende 40 Vgl. : Konzept für eine Politik Ökonomen der SPD wie Helmut Schmidt, zur Überwindung der Wachstumsschwäche und zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, Bonn 9. Septem­ Hans Matthöfer (16.2.1978 bis 28.4.1982 ber 1982. Bundesfinanzminister) und Manfred Lahn­ 41 Vgl. Martin H. Geyer: Geschichte der Sozialpolitik stein (28.4. bis 4.10.1982 Bundesfinanzmi­ in Deutschland seit 1945, Bd. 6: 1974–1982, Ba­ nister) standen den Vorschlägen von Otto den-Baden 2008, S. 172. Graf Lambsdorff (FDP-Wirtschaftsminister), 42 Ebenda. Bemerkenswert in diesem Zusammenhang ist, dass Hans Matthöfer viele Jahre in der IG-Me­ tall-Zentrale in Frankfurt gearbeitet hatte und in 39 Vgl. dazu näher Hermann Adam: Zwischen ökono- der SPD als eher links galt. mischen Zwängen und Systemveränderungswün- 43 Das Papier wird ausführlich von Werner Abels­ schen, a.a.O., S. 127 ff. hauser: Deutsche Wirtschaftsgeschichte seit 1945,

perspektivends 37. Jg. 2020 / Heft 1 133 Hermann Adam dare Aussage mag viele Sozialdemokraten • Viele junge, gesellschaftskritische Wäh­ im Mark erschüttern, gehört doch der An­ ler, die große Hoffnungen in die SPD ge­ spruch, die Gesellschaft verändern zu wol­ setzt und 1972 maßgeblich zu dem tri­ len, zum Markenkern der SPD. Aber prakti­ umphalen Wahlerfolg Willy Brandts bei­ sche Regierungsarbeit – noch nie zuvor in getragen hatten, kehrten der SPD den der Geschichte hatte die SPD so lange re­ Rücken und wählten DIE GRÜNEN. Ih­ giert – führt bei denen, die Verantwortung nen gelang mit 5,6 % der Zweitstimmen übernommen haben, stets zu einer gewis­ der Einzug in den Bundestag. sen Ernüchterung über das, was tatsächlich • Fast 12 % der Wähler, die 1980 für die machbar ist. Und diese Ernüchterung tritt SPD gestimmt hatten, darunter auch bei weiten Teilen der SPD-Mitglieder und Facharbeiter, kehrten zur CDU zu­ der SPD-Wähler nicht ein und führt zu ei­ rück.46 Dies sicher auch, weil Helmut ner Kluft zwischen Parteispitze und Basis. Schmidt, der auch von vielen CDU-An­ Das ist das seit über 150 Jahren immer wie­ hängern geschätzt wurde und bei vielen derkehrende Dilemma der SPD, wenn sie re­ CDU-SPD-Wechselwählern populär war, giert. nicht mehr als Kanzler kandidierte und Die Mahnung Willy Brandts in jenen Ta­ die Union in den Umfragen bei den öko­ gen, entscheidend sei, dass in Bonn weiter­ nomischen Problemen einen klaren Kom­ hin ein sozialdemokratischer Bundeskanz­ petenzvorsprung hatte.47 ler regiere44, und die Warnungen Helmut • Weitestgehend treu blieben der SPD – Schmidts und Herbert Wehners, das Ende trotz der massiven Kritik von Teilen der der sozial-liberalen Koalition würde für die Gewerkschaften – damals noch ihre SPD mindestens 15 Jahre Opposition be­ Stammwähler in der Arbeiterschaft.48 deuten, wurden in der Partei nicht ernst Doch das reicht für eine Volkspartei nicht genommen. Zu sehr waren (und sind) viele aus, um über die 40-Prozent-Marke zu SPD-Mitglieder davon überzeugt, dass ihre kommen. Mit 38,2 % fiel sie wieder auf Auffassungen auch von der Mehrheit der das Ergebnis der sechziger Jahre zurück. Bevölkerung geteilt werden, es eine linke Mehrheit in Deutschland gibt und SPD die nächsten Wahlen gewinnen könnte, wenn die Partei die Sozialkürzungen nicht länger zu können. Die Verfassungsmäßigkeit des Vorgangs war höchst umstritten. mitmacht. 46 Vgl. Josef Schmid: Der Machtwechsel und die Strate- Das Ergebnis der vorgezogenen Bundes­ gie des konservativ-liberalen Bündnisses, in: Werner tagswahl 198345 war für die SPD jedoch er­ Süß (Hg.), Die Bundesrepublik in den achtziger Jah­ nüchternd: ren, Opladen 1991, S. 24 und Max Kaase: The West German General Election of 6 March 1983, in: Elec­ toral Studies, Heft 2/1983, S. 164. 47 So die Wahlanalyse von Manfred Berger, Wolfgang München 2004, S. 443 ff. referiert und befindet G. Gibowski, Dieter Roth, Wolfgang Schulte: Kons­ sich im Archiv der sozialen Demokratie beim Nach­ tanz und Wechsel von Wählerverhalten bei der Bun­ lass von Hans Matthöfer. destagswahl 1983, in: Politische Willensbildung 44 Vgl. Martin H. Geyer, a.a.O., S. 189. und Interessenvermittlung. Verhandlungen der 45 Helmut Kohl hatte am 17. Dezember 1982 im Bun­ Fachtagung der DVPW vom 11.–13. Oktober 1983, destag die Vertrauensfrage gestellt, um zu den ver­ Opladen 1984, S. 319. sprochenen Neuwahlen am 6. März 1983 kommen 48 Ebenda, S. 315.

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Ein derartiges Resultat ist in einer parla­ Investitionshilfeabgabe, einer unverzinsli­ mentarischen Demokratie mit Verhältnis­ chen rückzahlbaren Abgabe von 5 % der wahlsystem normal: Die regierende Partei Steuerschuld ab einem steuerpflichtigen verliert Stimmen nicht nur an ihre größte Einkommen von 50 000 DM.50 Das be­ Konkurrentin im anderen politischen La­ legt: Die sozial-liberale Koalition ist auch ger, sondern auch an die Partei am Rand gescheitert, weil die FDP es satt haben des gleichen politischen Lagers, in diesem zu schien, noch länger mit einer SPD zu­ Fall an die GRÜNEN. Damit hatte die Frag­ sammenzuarbeiten, die ihren linken Flü­ mentierung des Parteiensystems, die in al­ gel nicht mehr im Griff hatte.51 len Demokratien mit Verhältniswahlsystem auftritt, auch in Deutschland eingesetzt. Wie sehr Willy Brandt mit seiner Bemer­ kung, entscheidend sei, dass weiterhin ein Fazit: sozialdemokratischer Bundeskanzler in • Nach Ende der sozial-liberalen Koalition Bonn regiere, Recht hatte, wurde nach der folgten für die SPD 16 Jahre Opposition Bundestagswahl 1983 erschreckend deut­ und 16 Jahre Helmut Kohl. lich. Zwar fiel der von Helmut Kohl ange­ • Der linke Flügel in der SPD hat den Hand­ kündigte Politikwechsel (die «geistig-mo­ lungsspielraum von Helmut Schmidt so ralische Wende») zur Enttäuschung vieler eingeengt, dass er am Ende gar nicht Konservativer nur bescheiden aus.52 Doch mehr anders konnte als die sozial-libe­ rale Koalition zu beenden. Damit hat die 49 50 Vgl. Gesetz zur Wiederbelebung der Wirtschaft und SPD-Linke aber weder die Nachrüstung , Beschäftigung und zur Entlastung des Bundeshalts noch die weiteren Kürzungen im Sozial­ (Haushaltsbegleitgesetz 1983) vom 20. Dezember bereich durch die Kohl-Regierung verhin­ 1982, Bundesgesetzblatt 1982, Teil I, S. 1857 ff., dern können. Es hat vielmehr der SPD auf hier S. 1867 (Art. 10). Die Abgabe wurde allerdings am 6. November 1984 vom Bundesverfassungsge­ Bundesebene viele Jahre politischer Be­ richt für verfassungswidrig erklärt, weil sie nicht un­ deutungslosigkeit beschert, bis sich in der ter die Gesetzgebungskompetenz des Bundes fiel. letzten Amtszeit Kohls die Mehrheitsver­ Vgl. BVerfGe 67: 256 ff. hältnisse im Bundesrat wieder änderten. 51 Ähnlich Hans-Jochen Vogel, der in seinem Buch «Nachsichten» für das Ende der Koalition auch • Wie sich bei den Koalitionsverhandlun­ die zuletzt kaum mehr überbrückbaren Meinungs­ gen von CDU/CSU und FDP heraus­ verschiedenheiten und Gegensätze innerhalb der stellte, war Letztere durchaus zu Zuge­ SPD als ursächlich bezeichnete. Auch Hans-Dietrich ständnissen bereit, wenn auch nicht ge­ Genscher hat anlässlich des 90. Geburtstages von Helmut Schmidt im Tagesspiegel vom 23.12.2008 genüber der SPD. Die von der FDP am die weitgehende sachliche Übereinstimmung mit Ende der sozial-liberalen Koalition strikt einem Bundeskanzler betont, der aber die Unter­ abgelehnte Ergänzungsabgabe für die stützung der eigenen Partei zunehmend verloren hatte. Genscher wollte einen Politikwechsel, aber oberen Einkommen kam zwar nicht als nicht die konkrete Form des personellen Macht­ zusätzliche Steuer, sondern in Form einer wechsels, die stattgefunden hat. Vgl. dazu Bernd Faulenbach, a.a.O., S. 751 f. (Fußnoten. 261 und 49 Die Nachrüstung beruhte auf dem NATO-Doppel­ 263) beschluss vom 12.12.1979: Atomraketen sollten in 52 Vgl. Lars P. Feld: Zur Bedeutung des Manifests der Westeuropa stationiert werden zur Abschreckung Marktwirtschaft oder: Das Lambsdorff-Papier im 31. der UdSSR und als Ausgleich für die sowjetischen Jahr, Freiburger Diskussionspapiere zur Ordnungs- Raketen. ökonomik Nr. 13/9, Freiburg 2013, S. 2. Ähnlich

perspektivends 37. Jg. 2020 / Heft 1 135 Hermann Adam an zwei Punkten lässt sich klar festmachen, 35-Stunden-Woche durchgesetzt hatte. wie das Ende der sozial-liberalen Koalition Ziel war eindeutig, die Gewerkschaften die Machtverhältnisse in der Bundesrepub­ zu schwächen.54 lik für lange Zeit veränderte: 2. Im Herbst 1986 geriet die gewerkschafts­ eigene Neue Heimat, die größte europäi­ 1. Gegen erbitterten Widerstand der Ge­ sche Wohnungsbaugesellschaft und Vor­ werkschaften änderte die Kohl-Regie­ zeigeunternehmen der Gewerkschaften, rung im Mai 1986 den § 116 des da­ das in der Nachkriegszeit Millionen von maligen Arbeitsförderungsgesetzes (AF­ Sozialwohnungen für die ärmeren Bevöl­ G).53 Die alte Regelung sah vor, dass kerungsschichten gebaut und zur schnel­ Arbeitnehmer, die von einem Streik nur len Beseitigung der Wohnungsnot in den mittelbar betroffen waren (z. B. Beschäf­ 1950er-Jahren beigetragen hatte, auf­ tigte in der Zuliefererindustrie, weil das grund von Fehleinschätzungen des Woh­ Haupt-Produktionswerk bestreikt und nungsmarktes in wirtschaftliche Schwie­ deshalb keine Zulieferteile mehr abge­ rigkeiten. Andere gewerkschaftseigene nommen wurden), Anspruch auf Arbeits­ Unternehmen wie die damalige Bank losen- oder Kurzarbeitergeld hatten. Das für Gemeinwirtschaft (BfG) und die Ver­ hatte die Streikkasse vor allem der IG sicherungsgesellschaft Volksfürsorge Metall, in deren Tarifbereich mittelbar mussten verkauft werden, um die Ver­ von Streiks Betroffene besonders häufig luste der Neuen Heimat abzudecken.55 sind, geschont und damit ihre Durchset­ Der Imageverlust der Gewerkschaften zungskraft in den letzten Arbeitskämp­ war groß. Die Kohl-Regierung hat keinen fen gestärkt. Mit der Neuregelung wur­ Finger gerührt, um den Gewerkschaften den diesen mittelbar von Streiks be­ in ihrer schwierigen Lage zu helfen.56 troffenen Arbeitnehmern der Anspruch Es mag zwar Spekulation sein, was ge­ auf Arbeitslosen- oder Kurzarbeitergeld schehen wäre, wenn Helmut Schmidt auch in räumlich anderen Tarifgebie­ noch Kanzler gewesen wäre. Aber vieles ten gestrichen, wenn der Tarifabschluss spricht dafür, dass er die Gewerkschaften nach Art und Umfang auch in den Zu­ nicht im Stich gelassen hätte. lieferbetrieben übernommen wird. Die Initiative zur Neuregelung ging von CDU-Mittelständlern aus. Sie war eine Reaktion auf die Streiks von 1984, mit 54 Vgl. im Einzelnen Ulrich Mückenberger: § 116 AFG: denen die IG Metall den Einstieg in die Stadien eines Gesetzgebungsprozesses, in: Kritische Justiz, Heft 2/1986, S. 166 ff. 55 Vgl. Helga Grebing: Ideengeschichte des Sozi­ aus politikwissenschaftlicher Sicht Reimut Zohlnhö­ alismus in Deutschland Teil II, in: dies. (Hg.), Ge- fer: Die Wirtschaftspolitik der Ära Kohl. Eine Ana- schichte der sozialen Ideen in Deutschland, 2. Aufl., lyse der Schlüsselentscheidungen in den Politikfel- Wiesbaden 2005, S. 564. dern Finanzen, Arbeit und Entstaatlichung, 1982– 56 Zur damaligen politischen Gesamtsituation siehe 1998, Opladen 2001, S. 173: «Insofern lässt sich Christoph Moss: Neue Heimat – Berliner Back­ also für die Periode von 1982 bis 1989 festhalten, wahn, in: Handelsblatt, 22.06.2006, abrufbar un­ dass … nur bescheidene Politikwechsel durchge­ ter https://www.handelsblatt.com/archiv/60-jah­ setzt werden konnten.» re-deutsche-wirtschaftsgeschichte-neue-heimat-ber­ 53 Vgl. BGBl. 1986, Teil I, S. 740 ff. liner-backwahn/2709686-all.html (8.2.2020)

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Exkurs1: Labour – Verlust und Rückeroberung war Mitte der 1970er-Jahre in Großbritan­ der Macht in Großbritannien nien die hohe Inflationsrate. Im August 1975 lag sie bei 27 %, das war weit über An dieser Stelle soll ein knapper Vergleich dem Niveau anderer Länder. der Ursachen und Folgen des Endes sozi­ Großbritannien hatte Mitte der 1970er- aldemokratischer Regierungen in Großbri­ Jahre ein sehr zersplittertes und dezentral tannien und Schweden gewagt werden. Ein organisiertes Gewerkschaftssystem mit rund länderübergreifender Vergleich ist ein be­ 470 Gewerkschaften. Regularien für die Be­ liebtes Mittel in der Politikwissenschaft, um ziehungen zwischen Arbeitgebern und Ge­ zu Erkenntnissen über Ursache-Wirkungs-Zu­ werkschaften wie z. B. zwingende Urabstim­ sammenhänge zu kommen. Der Verfasser mungen vor Arbeitskämpfen, Schlichtungs­ ist sich bewusst: beide Länder haben eine verfahren und Friedenspflicht fehlten. Die andere Geschichte, eine unterschiedliche gewerkschaftlichen Vertrauensleute in den politische Kultur und ein von der Bundes­ Betrieben (shop stewards) unterlagen nicht republik abweichendes politisches System. wie die deutschen Betriebsräte Branchen­ Dennoch scheint es zum Ende der sozial-li­ tarifverträgen, sondern verhandelten auto­ beralen Koalition und ihren Folgen Ähnlich­ nom auf Betriebsebene mit ihrem Arbeit­ keiten in anderen Ländern zu geben. geber und konnten auch Streiks ausrufen. Anders als in der Bundesrepublik gab es Das förderte die Konkurrenz einer Vielzahl in Großbritannien in den ersten 25 Nach­ kleinerer Gewerkschaften um die besseren kriegsjahren keine so lange konservative Abschlüsse und führte zu einem gegenseiti­ Regierungsperiode wie in Deutschland. La­ gen Sich-Hochschaukeln von Lohnforderun­ bour gewann 1945 die Unterhauswahlen gen und Abschlüssen, die von der britischen und regierte bis 1951, dann nochmal von Wirtschaft nicht zu verkraften waren.58 1964 bis 1970. Als die SPD 1969 erstmalig Konservative und Labour hatten deshalb die Bundesregierung führte, hatte Labour schon seit den 1960er-Jahren in ihren Amts­ bereits elf Jahre Regierungserfahrung hin­ zeiten immer wieder versucht, die Struktu­ ter sich. ren der Gewerkschaften zu verändern, sie 1974 gewann Labour erneut die Unter­ in die Wirtschaftspolitik einzubinden und hauswahlen. Vor ihr hatten vier konserva­ auf freiwilliger Basis zu niedrigeren Lohn­ tive und zwei Labour-Regierungen vergeb­ abschlüssen zu bewegen – ohne Erfolg. Der lich versucht, der schwierigen Wirtschafts­ 1974 gewählten Labour-Regierung schien es situation in Großbritannien, englische zunächst zu gelingen. Dabei wurde sie vor Krankheit genannt57, Herr zu werden. Wirt­ allem von der größten Einzelgewerkschaft, schaftspolitisches Problem Nummer eins der Transport and General Workers Union (TGWU), unterstützt. Deren Vorsitzender Jack Jones verfügte als ehemaliger Dockar­ 57 Als englische Krankheit bezeichnet man eine nied­ rige Produktivität und Wettbewerbsfähigkeit einer beiter und Teilnehmer am spanischen Bür­ Wirtschaft in Kombination mit einer hohen Inflati­ gerkrieg über eine hohe Autorität im linken onsrate. Vgl. speziell zu Großbritannien Herbert Dö­ ring: Großbritannien: Regierung, Gesellschaft und politische Kultur, Opladen 1993, Kap. 4: Die «engli­ 58 Siehe Fritz W. Scharpf: Sozialdemokratische Krisen- sche Krankheit»: Wirtschafts- und Währungskrisen, politik in Europa. Das «Modell Deutschland» im Ver- S. 87 ff. gleich, Frankfurt a. M. 1987, S. 101.

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Lager.59 Als jedoch 1977 die Arbeitslosen­ auch die nächsten beiden Unterhauswah­ quote auf 6,1 % stieg, die Inflationsrate bei len 1983 und 1987 mit Pauken und Trom­ unverändert 16 % lag und die Reallöhne um peten (1983: 27,6 %, fast 10 Prozentpunkte fast 10 % sanken, sahen die Gewerkschaf­ weniger als 1979; 1987: 30,8 %). Insge­ ten keinen Sinn mehr in freiwilliger Lohnzu­ samt sollte ihre Oppositionszeit 18 Jahre rückhaltung. Sie kündigten die Zusammen­ dauern. Eine Parallele zum Ende von Sozi­ arbeit mit der Labour-Regierung auf. Jack al-Liberal in Deutschland ist zu erkennen: Jones, der sie möglicherweise noch davon Beide Parteiführungen hatten die Kontrolle hätte abhalten können, war inzwischen aus über die Parteibasis verloren, und die Wäh­ Altersgründen ausgeschieden. ler wandten sich ab. Das liberal-konserva­ Es folgte der in die britische Geschichte tive politische Lager konnte triumphieren eingegangene Winter of Discontent (Win­ und viele Jahre ungestört regieren. ter der Unzufriedenheiten). Massenhafte Zu Beginn der 1990er-Jahre begann die Streiks, die im November 1978 mit wilden Labour-Party, sich organisatorisch und pro­ Streiks der Hafenarbeiter begannen und de­ grammatisch zu erneuern. Ein großes Pro­ nen sich nach und nach – dann auch von blem bestand darin, dass die politischen den Gewerkschaften legitimiert – die Ha­ Ziele der Aktivisten und der Wähler weit aus­ fenarbeiter, die Lokomotivführer, der Ge­ einanderklafften. Denn nur 19 % der Aktivis­ sundheitsdienst, die Lehrer und die Kommu­ ten, aber 55 % der Labour-Wähler befürwor­ nalangestellten anschlossen, legten die Ver­ teten 1978 eine staatliche Einkommenspoli­ waltung und die gesamte Daseinsvorsorge tik, um die Gewerkschaften auszubremsen. des Landes lahm. «Waren wurden nicht Ebenso sprachen sich nur 32 % der Wähler mehr transportiert, der öffentliche Verkehr für mehr Verstaatlichungen von Industrien brach zusammen, die Kinder wurden nicht aus, bei der Parteibasis waren es dagegen mehr unterrichtet und die Toten blieben un­ 81 %.62 So war es unumgänglich, den Ein­ begraben.»60 Damit hatten die Hardliner in fluss der Parteibasis zu reduzieren und die den Gewerkschaften und in der Labour-Par­ Stellung des Parteivorstandes erheblich zu tei die Geduld der Briten überstrapaziert. stärken. Als dies durch entsprechende orga­ Im Mai 1979 wurde die Labour-Regierung nisatorische Reformen gelungen war und die abgewählt. Der Weg für Margaret Thatcher Gewerkschaften den Parteitag nicht mehr und die neoliberale Wende in der Wirt­ dominieren konnten, war auch der Weg für schaftspolitik war frei. eine programmatische Erneuerung frei.63 Gestützt auf eine antigewerkschaftli­ Ähnlich wie die SPD mit ihrem Godesber­ che Stimmung im Land setzte Margaret ger Programm gab Labour traditionelle sozi­ Thatcher als erstes eine Reihe von Maßnah­ alistische Ziele auf, bekannte sich zur Markt­ men durch, die die Macht der englischen wirtschaft, strich die Forderung nach Ver­ Gewerkschaften begrenzte.61 Labour verlor staatlichung bzw. Vergesellschaftung der

59 Ebenda, S. 107. 62 Vgl. Döhring, a.a.O., S. 102. 60 Ebenda, S. 116. 63 Hierzu und zum Folgenden näher Hans Kastendiek: 61 Vgl. dazu näher Roland Sturm: Großbritannien: Großbritannien – ein Erfolgsmodell? Die Modernisie- Wirtschaft – Gesellschaft – Politik, Opladen 1990, rung unter Thatcher und New Labour, Bonn 1999 S. 169 ff. (FES Library 2000).

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Produktionsmittel aus ihrem Programm und politische Kraft und gilt weltweit als erfolg­ kündigte an, sowohl an der von den Kon­ reichste sozialdemokratische Partei. Von servativen verfolgten Deregulierung und 1932 bis 1976 regierte sie 44 Jahre unun­ Flexibilisierung der Arbeitsmärkte als auch terbrochen. Ab 1968 verschlechterten sich an den restriktiven, die Macht der Gewerk­ jedoch ihre Wahlergebnisse. Bei der Reichs­ schaften beschränkenden Gesetzen fest­ tagswahl 1976 wurde sie mit 42,7 % zwar zuhalten. Die neue Parteiführung distan­ immer noch stärkste Partei, aber das bis da­ zierte sich von «Old Labour», um konserva­ hin zersplitterte bürgerliche Lager bildete tiven Wählern, die noch Vorbehalte gegen eine Koalition aus vier Parteien («Allianz Labour hatten, die Berührungsängste zu für Schweden»), die zusammen auf 51 % ka­ nehmen, und «firmierte» als «New Labour», men. Für die nächsten sechs Jahre musste um deutlich zu machen: Mit der alten, sozi­ die SAP in die Opposition. alistisch ausgerichteten Labour-Party haben Der Regierungswechsel 1976 kam nicht wir nichts mehr gemein. aus heiterem Himmel. Ihm war eine «ideo­ Die Wähler honorierten das bei der Un­ logische Radikalisierung»65 der SAP in den terhauswahl von 1997. Labour erzielte mit 1970er-Jahren vorausgegangen. Auslöser ihrem neuen Vorsitzenden Tony Blair einen war u. a. die kapitalismuskritische 68er-Stu­ erdrutschartigen Wahlsieg und gewann dentenbewegung, die eine grundsätzliche 418 von 659 Sitzen, also fast eine Zwei-Drit­ Analyse der schwedischen Wohlfahrtspo­ tel-Mehrheit (63,4 %). Noch nie zuvor hatte litik anstieß. Das schwedische Modell, das eine Partei einen derart hohen Sieg einge­ sich als Kapitalismus plus universeller Wohl­ fahren. Mit seiner pragmatischen Politik des fahrtsstaat66 beschreiben lässt, reichte lin­ «Dritten Weges» im Sinne des britischen So­ ken Kritikern nicht mehr aus. Sie strebten ziologen Anthony Giddens64 gelang es Tony die Weiterentwicklung in Richtung eines Blair sogar, zweimal wiedergewählt zu wer­ egalitär-partizipatorischen Gesellschaftssys­ den. Auch das war bisher noch keiner La­ tems an.67 Das Wohlfahrtssystem wurde als bour-Regierung gelungen. nicht weitreichend genug empfunden, weil es auch in Schweden weiterhin Ungleich­ Exkurs 2: Verlust und Wiedergewinn der Macht in Schweden 65 So die Bewertung von Erik Gurgsdies: Schweden. Zivilgesellschaft im universalistischen Wohlfahrts­ Anders als in Großbritannien und Deutsch­ staat, in: Thomas Meyer (Hg.), Praxis der Sozialen Demokratie, Wiesbaden 2006, S. 71. land ist in Schweden die Sozialdemokrati­ 66 Zum universellen (oft auch universalistischen) sche Arbeiterpartei (SAP) die dominierende Wohlfahrtsstaatstyp siehe den klassischen Aufsatz von Gφsta Esping-Andersen: Die drei Welten des 64 Vgl. Anthony Giddens: Der dritte Weg. Zur Erneue- Wohlfahrtskapitalismus. Zur Politischen Ökonomie rung der sozialen Demokratie, Frankfurt a. M. 1999. des Wohlfahrtsstaates, in: Stephan Lessenich, Ilona Ein wesentliches Element des dritten Wegs sieht Ostner (Hg.), Welten des Wohlfahrtskapitalismus. Giddens im Prinzip «Keine Rechte / Ansprüche Der Sozialstaat in vergleichender Perspektive, Frank­ des Bürgers ohne Verpflichtungen.» Konkret bedeu­ furt / New York 1998, S. 19 ff., hier insbes. S. 44 ff. tet das: Arbeitslosenunterstützung sollte beispiels­ 67 Die folgende Darstellung stützt sich auf Christoph weise an die Verpflichtung zu aktiver Arbeitssuche Hoeft: Narration in der Krise. Zum Wandel des so- gekoppelt sein. (ebenda, S. 81). Das war auch der zialdemokratischen Wohlfahrtsstaatsdiskurses in Kern der von Gerhard Schröderdurchgeführten Ar­ Schweden, Göttinger Junge Forschung Bd. 21, Stutt­ beitsmarktreformen. gart 2014, S. 79 ff.

perspektivends 37. Jg. 2020 / Heft 1 139 Hermann Adam heit und Armut gebe und eine wirkliche ten Gleichheitsideal. Das zeigte sich vor al­ Emanzipation der Individuen immer noch lem an der solidarischen Lohnpolitik der nicht stattgefunden habe. Alle Bürger müss­ in Schweden stark zentralisierten Gewerk­ ten ein erfüllendes und zufriedenstellendes schaften. Ziel war, die Löhne in Branchen Leben führen und sich individuell entfal­ mit unterdurchschnittlicher Arbeitsproduk­ ten können. Chancengleichheit allein rei­ tivität prozentual stärker anzuheben als che dazu nicht aus, weil die Menschen un­ in Branchen mit hoher Arbeitsproduktivi­ terschiedlich stark und durchsetzungsfähig tät, dadurch die Einkommen der Arbeitneh­ seien, die weniger Aggressiven ins Hinter­ mer langfristig zu nivellieren und Niedrig­ treffen gerieten und viele Talentierte vom lohnbereiche stärker am wirtschaftlichen Wohlstand ausgeschlossen würden. Weit­ Wachstum zu beteiligen. Viele Jahre hat­ gehende Umverteilung und die Herstellung ten die Gewerkschaften damit auch Erfolg. effektiver Gleichheit müsse daher das Ziel Von 1959 bis 1976 wurde der relative Un­ sein. Die Einkommen sollten noch egalitä­ terschied zwischen Hoch- und Niedriglöh­ rer, die Hierarchie in Gesellschaft und Be­ nen von 30 auf 13 % reduziert. Auch inner­ trieben flacher, die Steuern progressiver und halb der Tarifbereiche war die Spreizung der stärker umverteilend sein, und keine Le­ Löhne geringer geworden.68 bensform dürfe benachteiligt werden. Auf Dauer ließ sich die solidarische, auf Zu den egalitären Zielen traten Forderun­ Einkommensnivellierung abzielende Lohn­ gen nach mehr Partizipation in der Wirt­ politik jedoch nicht durchhalten. Nicht nur, schaft. Arbeitnehmer und Konsumenten dass die Branchen mit überdurchschnitt­ müssten auch auf die Ausrichtung der Pro­ lichem Anstieg der Arbeitsproduktivität duktion Einfluss nehmen können. Hinter übertarifliche Löhne zahlten und so den dieser Forderung stand der Glaube, dass angestrebten Nivellierungsprozess konter­ jeder Arbeiter auch tatsächlich darüber karierten. Angestellte und Beamte akzep­ entscheiden will, welche Güter «sein Un­ tierten die solidarische Lohnpolitik nur be­ ternehmen» herstellt. Diese weitgehende dingt, Akademiker lehnten sie sogar ab. Wirtschaftsdemokratie hätte eine radikale Nur gutbezahlte Facharbeiter waren über­ Abkehr von der bisherigen SAP-Politik be­ wiegend bereit, geringere Unterschiede ih­ deutet. Die SAP-Wirtschaftspolitik erkannte rer Einkommen zu denen der Niedriglöhner stets die Effizienz des kapitalistischen Sys­ hinzunehmen. Angestellte und Beamte, ob­ tems an, in dem unternehmerische Ent­ wohl sie in Schweden wie die Arbeiter gut scheidungen vom Management nach Ren­ gewerkschaftlich organisiert sind, wollten tabilitätsgesichtspunkten und nicht von dagegen einen gewissen Abstand zu den der Belegschaft in demokratischer Abstim­ Einkommen der Arbeiter gewahrt wissen. mung getroffen werden. Ein effizient wirt­ Das galt erst recht dann, wenn sie Akade­ schaftender, profitmaximierender privater miker waren.69 Sektor wurde stets als unverzichtbar ange­ sehen, um Wachstum zu gewährleisten und 68 Vgl. dazu das Buch des langjährigen Leiters der den universellen Wohlfahrtsstaat finanzie­ IG-Metall-Grundsatzabteilung Hans-Adam Pfromm: Solidarische Lohnpolitik, Köln-Frankfurt a. M. 1978, ren zu können. S. 144 f. Doch nicht alle SAP-Wähler standen 69 Siehe ebenda, S. 153 und 163. Zu den unterschied­ hinter dem vom linken SAP-Flügel verfolg­ lichen Denk- und Verhaltensweisen von Arbeitern

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Gerade die Stimmen dieser Mittelschicht doch so viele, dass es für einen Verlust der aus Angestellten und Beamten, die weni­ politischen Macht 1976 ausreichte.71 ger an egalitären Idealen interessiert sind, Seitdem hat die SAP nie wieder zu ihrer braucht aber jede sozialdemokratische alten Stärke zurückgefunden. In den sechs Partei, um Wahlen zu gewinnen. In den Jahren konservativer Regierung fand in der 1960er-Jahren stimmten 78 % der Indus­ schwedischen Gesellschaft ein Mentalitäts­ triearbeiter und 46 % der Mittelschicht für wechsel statt. Das konservativ-bürgerliche die SAP.70 Doch die nachgewachsene Mit­ Lager wurde selbstbewusster, die SAP verlor telschicht – meist als «neue Mitte» bezeich­ ihre bis dahin bestehende ideologische He­ net – teilte weniger als die intellektuellen gemonie.72 So war 1982, als sie mit einem 68er die Werte Solidarität und Gleichheit, Stimmenergebnis von 45,6 % die Macht sondern strebte mehr nach Individualität zurückeroberte, nichts mehr so wie vorher. und Freiheit. Die neue Mittelschicht ist auf­ Die ökonomischen und politisch-kulturel­ stiegsorientiert, versteht soziale Gerechtig­ len Rahmenbedingungen in Schweden wa­ keit als Leistungsgerechtigkeit und lehnt ren andere geworden, die SAP hatte nicht eine zu starke Nivellierung ab. Als die Um­ mehr die alleinige politisch-moralische Deu­ verteilungspolitik der SAP den Eigen-Unter­ tungshoheit. nehmern nicht nur hohe Grenzsteuersätze, Das wurde bei der Einführung der von sondern auch eine Vermögensteuer und den Gewerkschaften geforderten Arbeit­ so hohe Beiträge zur Sozialversicherung nehmer-Vermögensbildungsfonds deutlich. abverlangte, dass es für einige zu einem Die Pläne dazu stammten noch aus den Grenz-Abgabesatz von über 100 % kam, be­ 1970er-Jahren, konnten jedoch damals we­ gann in Schweden eine kritische öffentliche gen der 1976 verlorenen Wahl nicht mehr Diskussion über das links-sozialdemokrati­ umgesetzt werden. Unternehmen ab einer sche Weltbild, die der SAP schadete. Die be­ bestimmten Größe wurden gesetzlich ver­ kannte Kinderbuchautorin Astrid Lindgren, pflichtet, 20 % ihrer Gewinne in Form von bekennendes SAP-Mitglied, war von diesem Kapitalanteilen an regional gegliederte, steuerpolitischen Fehler betroffen und em­ von den Arbeitnehmern verwaltete Vermö­ pört. Sie wandte sich zwar nicht von der gensbildungsfonds zu übertragen.73 Wie SAP ab, rief jedoch bei der nächsten Wahl keine politische Entscheidung vorher haben dazu auf, diesmal die Regierung nicht mehr die Arbeitnehmerfonds die schwedische Ge­ zu wählen. Diesem Aufruf folgten frühere sellschaft polarisiert. Mit einer Massende­ SAP-Wähler zwar nicht in Scharen, aber

71 Ebenda, S. 54. einerseits und Angestellten bzw. Beamten ande­ 72 Hierzu Fritz W. Scharpf: Sozialdemokratische Krisen- rerseits siehe Hermann Adam: Bausteine der Wirt- politik in Europa. Das «Modell Deutschland» im Ver- schaft, 16. Aufl., Wiesbaden 2015, S. 485 ff. – An­ gleich, Frankfurt / New York 1987, S. 146. gestellte sind eher aufstiegsorientiert und sehen in 73 Vgl. Rudolf Meidner: Vermögenspolitik in Schwe- Arbeitskollegen eher Konkurrenten um eine besser den, Köln 1978. Die Vorstellungen Meidners wur­ bezahlte Stelle als einen Unterprivilegierten in glei­ den allerdings nicht 1:1 umgesetzt. Siehe dazu cher «Klassenlage». Markus Marterbauer: Arbeitnehmerfonds in Schwe­ 70 Vgl. Jens Gmeiner: Abschied von der sozialdemokra- den: Traum und Wirklichkeit, AK Wien, abrufbar tischen Hochburg Schweden? Göttinger Junge For­ unter http://wug.akwien.at/WUG_Archiv/1987 schung Bd. 12, Stuttgart 2012, S. 38. _13_3/1987_13_3_0414.pdf.

perspektivends 37. Jg. 2020 / Heft 1 141 Hermann Adam monstration versuchten 75 000 Unterneh­ heit in Angriff genommen werden76, noch mer, leitende Angestellte und Mitarbeiter, war Geld vorhanden, um den Wählern ver­ das Gesetz zu verhindern. Vergebens. Mit besserte Wohlfahrtsleistungen versprechen den Stimmen der Kommunisten verabschie­ zu können. Bei der Wahl 1991 fiel die SAP dete die SAP-Minderheitsregierung das um­ auf 37,7 % zurück. strittene Gesetz.74 Die folgende bürgerliche Minderheits­ Den Arbeitnehmerfonds, von denen sich regierung konnte sich zwar nur drei Jahre die kapitalismuskritischen SAP-Aktivisten im Amt halten, anders als ihre bürgerliche den Einstieg in die Überwindung des kapi­ Vorgängerregierung von 1976 begann sie talistischen Systems in Richtung einer Wirt­ aber mit Einschnitten ins soziale Netz: das schaftsdemokratie erhofft hatten,75 war je­ Arbeitslosengeld wurde von 90 auf 80 % doch kein langes Leben beschieden. Die des Nettolohns gesenkt, die Lohnersatz­ 1991 nachfolgende bürgerliche Regierung leistungen bei Krankheit ebenfalls. Außer­ löste die Arbeitnehmerfonds wieder auf dem wurde ein Karenztag eingeführt, am und spätere SAP-Regierungen führten sie zweiten und dritten Krankheitstag wurden nicht wieder ein. nur 75 % des Nettolohns gezahlt.77 Da ein Nach der erstmaligen Ablösung der SAP Wohlfahrtsstaat schwedischen Ausmaßes in der Regierungsverantwortung folgten nicht länger zu finanzieren war, setzt die nun 44 Jahre alternierender Regierung. Der SAP, die ab 1994 wieder regierte, diese bürgerliche Block stellte davon 17 Jahre die Sparpolitik bei den Sozialausgaben fort. Regierung, die Sozialdemokraten immerhin Überhaupt: Die wichtigsten Reformen des 27 Jahre. Als die SAP 1982 wieder die Re­ schwedischen Sozial- und Steuerstaates fal­ gierung übernahm, hatte sie gegen schwie­ len in diese 12 Jahre dauernde Phase so­ rige wirtschaftliche Probleme des Landes zu zialdemokratischer Regierungszeit.78 1993 kämpfen. Die Arbeitslosigkeit betrug 3,5 %, hatte die Staatsquote – der Anteil der nach Jahrzehnten der Vollbeschäftigung Staatsausgaben am BIP – rund 70 % er­ für schwedische Verhältnisse ein sehr ho­ reicht. Inzwischen wurde sie – von bürger­ her Wert. Die Inflationsrate lag 1980/81 lichen und sozialdemokratischen Regierun­ jeweils über 10 %, der öffentliche Schul­ gen gleichermaßen – auf 50 % (2019) re­ denstand betrug rund 62 % (zum Vergleich duziert (Deutschland: 45,3 %). Auch in den Bundesrepublik 1982: 38,7 %) Bei diesen Sozialausgaben spiegelt sich die Austeri­ ökonomischen Herausforderungen konnten tätspolitik wider. Die Sozialleistungsquote weder Reformen in Richtung mehr Gleich­

76 Vgl. Erik Gurgsdies: Schweden. Zivilgesellschaft 74 Vgl. Fritz W. Scharpf, a. a. O., S. 145 f. im universalistischen Wohlfahrtsstaat, in: Thomas Meyer (Hg.): Praxis der sozialen Demokratie, Wies­ 75 Eine gewerkschaftliche Arbeitsgruppe hatte errech­ baden 2006, S. 78. net, dass sich die schwedischen Unternehmen in 20 bis 40 Jahren mehrheitlich im Eigentum der Arbeit­ 77 Sehr aufschlussreich dazu der Bericht «Von den nehmerfonds befinden würden. Es hätte also eine Schweden lernen» im Der Spiegel, Heft 47/1996, schleichende Vergesellschaftung der Produktions­ S. 130 ff. mittel stattgefunden. Darüber hinaus war die «Ver­ 78 Vgl. Sven Jochem: Reformpolitik im schwedischen gesellschaftung der Investitionen», also die Ent­ Sozialstaat. Formen, Gründe und Konsequenzen scheidung über die künftige Produktion, eine Vi­ der Austeritätspolitik, in: Wirtschaftspolitische Blät- sion der damaligen Linken. ter 3/2015, S. 604.

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(Anteil der Sozialausgaben am BIP) ist von Das bedeutet: Pflegedienste und Schulen 35,9 % (1993) auf 28,2 % (2018) zurück­ können auch von privaten Trägern ange­ gegangen.79 boten werden. Das blieb für den Wohlfahrtsstaat nicht ohne Folgen: 2006 verlor die SAP erneut die Regie­ rungsmacht an die konservative Allianz für • In den Wechselfällen des Lebens wie Ar­ Schweden. Die bürgerlichen Parteien hat­ beitslosigkeit, Krankheit, Erwerbsunfähig­ ten mittlerweile verstanden, wie Wahlen keit und im Alter gibt es nicht mehr wie gegen die SAP zu gewinnen sind: früher einen (fast) vollständigen Einkom­ mensausgleich (90 %). Vielmehr müssen • Ein politisches Lager, wenn es schon aus Lebensstandardeinbußen hingenommen mehreren Parteien besteht, darf nicht zer­ werden. Die Gesellschaft als Solidarge­ stritten sein. Die konservativen Parteien meinschaft sorgt zwar für die Sicherung einigten sich auf eine gemeinsame Wahl­ der materiellen Existenz, aber nicht mehr plattform und rückten teilweise von frü­ für den Erhalt des sozialen Status.80 Das heren Positionen ab: Radikale Steuer­ ursprüngliche Prinzip des universellen senkungspläne wurden zurückgestellt, Wohlfahrtsstaates, die Lebensbedingun­ wertkonservative Forderungen zurückhal­ gen der Arbeitnehmer vollständig von tender formuliert, das Veto gegen den den Entwicklungen auf den Märkten ab­ weiteren Ausbau der Kernenergie abge­ zukoppeln und damit den von Karl Marx schwächt und die Einwanderungspolitik beschriebenen Warencharakter der Ar­ nicht aggressiv thematisiert. beit im Kapitalismus zu beseitigen (= • Die bürgerliche «Allianz für Schweden» die Dekommodifizierung) wurde aufge­ machte sich zudem auf dem ureigens­ geben. ten Feld der SAP, der Beschäftigungs- • Wer Einkommenseinbußen vermeiden und Wohlfahrtspolitik, sozialdemokrati­ und seinen einmal erreichten sozialen sche Positionen zu eigen. «Was auch im­ Status halten will, muss dafür privat mer die Sozialdemokraten im Bereich der vorsorgen. An die Stelle einer 100-Pro­ Wohlfahrt, der Schule und der Fürsorge zent-Solidarität ist das Prinzip der Subsi­ vorschlagen, wir werden mehr vorschla­ diarität getreten. gen», so wird Fredrik Reinfeldt, der Vorsit­ • Das breite Angebot der von staatlichen zende der konservativen Partei, zitiert.82 Organisationen kostenlos bereitgestell­ (Wer denkt da nicht an Angela Merkel, ten sozialen Dienstleistungen wird redu­ die auch teilweise sozialdemokratische ziert und in den Bereichen Gesundheit, Positionen übernommen hat?) Pflege und Bildung zum Teil privatisiert.81 lichung», weil es sich um das Outsourcen ehemals vom Staat unmittelbar bereitgestellter sozialer 79 Statistisches Jahrbuch Schweden 2019. In Deutsch­ Dienstleistungen an private Träger auf der Basis land betrug die Sozialleistungsquote 27,1 % (1993) vertraglicher Vereinbarungen handelt. Siehe dazu bzw. 29,4 % (2018). Sie lag bislang stets unter Alejandro Rada: Vermarktlichung sozialer Dienste 30 %. in Schweden, Frankfurt a. M. 2014. 80 In Deutschland gab es noch nie eine Sozialleistung, 82 Sven Jochem: Die Reichstagswahl 2006. Eine Zäsur die 90 % des vorherigen Einkommens abdeckte. in der schwedischen Parteiengeschichte, in: NORD- 81 Ebenda, S. 605. Manche sprechen von «Vermarkt­ EUROPAforum 2/2006, S. 11 f.

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Während der bürgerliche Block in die Mitte Denn eine linke Mehrheit aus SAP, Grü­ rückte, verlor die SAP laut Wahlanalysen in nen und Linkspartei gibt es ebenso wenig alle Richtungen. 8 % ehemaliger SAP-Wäh­ wie eine Mehrheit der bürgerlichen Alli­ ler wechselten zu den Konservativen, ein anz für Schweden. Daran änderte auch die «historisch einmalig großer Abwanderungs­ Wahl 2018 nichts, bei der die SAP auf unter prozess» (Jochem, S. 15). Der Rückhalt der 30 % fiel (28,3 %). Im Januar 2019 wurde SAP bei den Gewerkschaftsmitgliedern eine rot-grüne Minderheitsregierung ge­ sank um 6 Prozentpunkte, während die kon­ bildet, die im schwedischen Reichstag nur servative Partei in dieser Gruppe nahezu 7 über 116 der 349 Sitze (33 %) verfügt. Fak­ Prozentpunkte zulegte. Überdurchschnitt­ tisch besteht eine große Koalition, basie­ lich gut schnitt die SAP dagegen bei den rend auf einer Vereinbarung zwischen SAP, über 64-jährigen Wählern ab83 – eine Er­ Grünen, Zentrum und Liberalen.85 Der Preis scheinung, die in letzter Zeit auch bei der für diese Vereinbarung, die Rot-Grün eine SPD zu beobachten ist. Duldung durch die zwei bürgerlichen Par­ Als die bürgerlichen Parteien begannen, teien sichern soll, war für die SAP hoch. Sie sich zunehmend um SAP-Wähler zu bemü­ musste den Bürgerlichen die Abschaffung hen, wurde am rechten Rand der Platz für der Reichensteuer, eine Senkung der Un­ eine rechtspopulistische Partei frei: die ternehmenssteuern und Arbeitgeberabga­ Schwedendemokraten (SD). Sie zogen bei ben, eine Lockerung des Kündigungsschut­ der Reichstagswahl 2010 mit 5,7 % in den zes und die Liberalisierung des Mietrechts Reichstag ein und errangen 20 Sitze. Die zugestehen.86 SAP kam nur noch auf 30,7 % und verlor 18 Bei diesen veränderten Machtverhältnis­ Mandate. Bei der nächsten Reichstagswahl sen ist an eine Wiederherstellung des alten 2014 erzielten die Schwedendemokraten ei­ schwedischen Modells nicht zu denken – von nen Erdrutschsieg. Sie konnte ihren Stim­ den ökonomischen Restriktionen in einer menanteil von 2010 mehr als verdoppeln globalen Weltwirtschaft einmal ganz abge­ und sich von 20 auf 49 Sitze vergrößern, sehen. Der Versuch des linken SAP-Flügels bei der Wahl 2018 nochmal auf 62 Sitze in den 1970er-Jahren, das kapitalistische (17,5 % Stimmenanteil). Ihre Zugewinne System nicht nur durch einen universellen stammten überwiegend aus dem konserva­ Wohlfahrtsstaat einzuhegen, sondern dar­ tiven Lager, z. T. aber auch aus dem klassi­ über hinaus zu einem egalitär-plebiszitären schen Gewerkschaftsmilieu, dem früheren Gesellschaftssystem weiterzuentwickeln, in Stammwählerreservoir der SAP.84 der Gleichheit von Macht und Einfluss al­ Seit 2014 regieren wieder die Sozialde­ ler auf Produktion und Wirtschaftsleben87 mokraten, allerdings als Minderheitsregie­ rung, die Gesetze nur mit Stimmen aus dem 85 https://www.sueddeutsche.de/politik/schweden- bürgerlichen Lager verabschieden kann. neue-regierung-in-sicht-1.4284862 86 https://www.spiegel.de/politik/ausland/schwe­ 83 Ebenda, S. 15 ff. den-stefan-loefven-ist-premier-doch-die-rechten-wit­ 84 Vgl. Sven Jochem: Die schwedische Reichstagswahl tern-ihre-chance-a-1248748.html (3.5.2020) vom 14. September 2014: Regierungswechsel und 87 Vgl. Walter Menningen (Hg.): Ungleichheit im Wohl- Regierungskrise im Minderheitsparlamentarismus, fahrtsstaat. Der Alva-Myrdal-Report der schwedi- in: Zeitschrift für Parlamentsfragen, Heft 3/2015, schen Sozialdemokraten, Reinbek bei Hamburg S. 498. 1971, S. 49.

144 perspektivends 37. Jg. 2020 / Heft 1 Der Weg an die Macht und ihr Verlust herrschen, ist gescheitert. Selbst in einem gerfristigen Grundüberzeugungen der Wäh­ Land mit für Sozialdemokraten günstigen ler hin zu einem sozialdemokratisches Welt­ politischen und gesellschaftlichen Rahmen­ bild gewandelt hatten. bedingungen wie Schweden und einer jahr­ Ausschlaggebend für das Abschneiden zehntelangen Hegemonie der SAP scheint einer Partei bei einer Wahl ist stets, ob sie die Mehrzahl der Menschen zwar einen aus­ ihre Stammklientel vollständig mobilisie­ gebauten Wohlfahrtsstaat, aber keine ega­ ren kann und ob es ihr gelingt, hinreichend litäre Gesellschaft zu wollen.88 Und auch Wechselwähler aus dem anderen politi­ in Schweden sind die Menschen trotz sozi­ schen Lager zu sich herüber zu ziehen. Bei­ aler Absicherung nicht gegen rechtspopu­ des ist der SPD 1998 optimal gelungen.91 listische Heilsversprechen gefeit. Das zeigt: Mit dem Wahlprogramm «Arbeit, Innova­ Rechtsradikalismus ist eine normale Patho­ tion und Gerechtigkeit» wurden breite Wäh­ logie westlicher Industriegesellschaften, lerschichten angesprochen: Arbeit stand für wie Scheuch und Klingemann bereits vor die klassische Gewerkschaftsklientel, Inno­ über 50 Jahren festgestellt haben.89 vation für die neue Mitte der Angestellten, Beamten und Selbstständigen, Gerechtig­ Erdrutschsieg der SPD 1998 – keit für die kritischen Linksintellektuellen. eine linke Mehrheit? Wichtig war: Schröder betrieb keinen Rich­ tungswahlkampf. Mit seinen von den Me­ Zurück nach Deutschland. Nach 16 Jahren dien gern zitierten Aussagen: «Wir wollen Opposition gewann die SPD die Bundes­ nicht alles anders, aber vieles besser ma­ tagswahl 1998 mit 40,9 % und ließ CDU/ chen»92 oder «Es gibt keine linke oder rechte CSU mit über 5 Prozentpunkten Abstand Wirtschaftspolitik mehr, sondern nur noch hinter sich. Der erdrutschartige Wahlsieg eine moderne oder unmoderne»93 sprach er der SPD war Anlass für die Wahlforscher zu bürgerliche Wähler an, die mit der CDU un­ analysieren, ob es sich hierbei um eine «kri­ zufrieden und der Meinung waren, 16 Jahre tische Wahl» handelte, die eine dauerhafte Helmut Kohl seien genug gewesen. Neukonstellation des deutschen Parteien­ Analysen zur Wählerwanderung zeigen: systems signalisierte90, und ob sich die län­ Die SPD hat 1998 per Saldo 1,7 Millionen CDU-Wähler und 300 000 FDP-Wähler dazu 88 Interessant in diesem Zusammenhang ist, dass das Bundesverfassungsgericht in Deutschland das So­ zialstaatsprinzip auch nicht als Einfallstor für eine licher Ausreißer? in: Oskar Niedermayer (Hg.), Die egalitäre Gesellschaft sieht. Es schrieb in seinem Parteien nach der Bundestagswahl 1998, Opladen KPD-Verbotsurteil, das Sozialstaatsprinzip soll «die 1999, S. 37 ff. Gleichheit fortschreitend bis zu dem vernünftiger­ 91 Vgl. zum Folgenden Richard Stöss, Gero Neuge­ weise zu fordernden Maße verwirklichen.» (Bver­ bauer: Die SPD und die Bundestagswahl 1998. Ur- fGE 5, 85, 206 ). In Schweden scheint dieses Maß sachen und Risiken eines historischen Wahlsiegs un- überschritten und die gesellschaftliche Akzeptanz ter besonderer Berücksichtigung der Verhältnisse in falsch eingeschätzt worden zu sein. Ostdeutschland, Berlin 1998 (Arbeitshefte aus dem 89 Erwin K. Scheuch, Hans D. Klingemann: Theorie des Otto-Stammer-Zentrum Nr.2). Rechtsradikalismus in westlichen Industriegesell­ 92 Karl-Ludwig Günsche: SPD, neu justiert, Die Welt schaften, in: Hamburger Jahrbuch für Wirtschafts- 9.10.1998, abrufbar unter: https://www.welt.de/ und Gesellschaftspolitik 1967, S. 15. print-welt/article626520/SPD-neu-justiert.html 90 Vgl. Ulrich von Alemann: Der Wahlsieg der SPD von (6.4.2020) 1998: Politische Achsenverschiebung oder glück­ 93 Der Spiegel, 21/1997, S. 92.

perspektivends 37. Jg. 2020 / Heft 1 145 Hermann Adam gewonnen.94 Im Vergleich dazu waren die aber immerhin auch 630 000 an CDU/CSU Verluste an die Grünen oder die PDS mar­ (Die Zahlen sind jeweils der Saldo aus Zuge­ ginal. Die CDU/FDP-Wechselwähler ver­ winnen und Verlusten). 370 000, die 2002 trauten darauf, dass es mit Gerhard Schrö­ noch SPD gewählt hatten, waren nicht zur der keinen Sozialismus geben wird (auch Wahl gegangen.97 keinen demokratischen!), sondern letztlich Angesichts der vorhin geschilderten alles so bleibt wie es ist. Auch wenn man Struktur der SPD-Wähler kann dieses Er­ die Auffassung von der Bedeutung des Spit­ gebnis nicht überraschen. Die Unionswech­ zenkandidaten für eine Bundestagswahl selwähler, die 1998 zur SPD gekommen nicht teilt95, fest steht: Etwa ein Drittel der waren, sahen keinen Grund mehr, SPD zu Wählerschaft der SPD von 1998 waren eher wählen. Helmut Kohl, den sie 1998 nicht bürgerlich orientiert und hätten sich lieber mehr wollten, stand nicht mehr zur Wahl, eine große oder eine sozial-liberale Koali­ die Spendenaffäre war ausgestanden, tion gewünscht, nur zwei Drittel wollten die der Reformstau, der Deutschland in den tatsächlich gebildete rot-grüne Koalition.96 1990er-Jahren zum kranken Mann Euro­ Genau darin besteht (und bestand schon pas gemacht hatte, war überwunden. Unter während der sozial-liberalen Koalition in Gerhard Schröder waren die Steuerreform den 1970er-Jahren) das Dilemma der SPD: mit massiven Steuersenkungen umgesetzt Wenn sie an die Regierung kommt, wollen worden, die die SPD in ihrer Oppositions­ nicht alle, die sie gewählt haben, eine an­ zeit blockiert hatte. Die Rentenreform der dere linkssozialistische Politik. Sie tolerieren Kohl-Regierung, zunächst von Rot-Grün allenfalls eine typisch sozialdemokratische, rückgängig gemacht, war 2001 dann doch d. h. systemerhaltende, kapitalismusfreund­ nur leicht modifiziert wieder in Kraft ge­ liche Politik. So gesehen gab es vom Wäh­ setzt worden. Die unpopulären Arbeitsmark­ lerwillen her in Deutschland nie eine «linke treformen, die Schwarz-Gelb kaum gewagt Mehrheit»! hätte anzupacken, hatte SPD-Wirtschafts- Als die SPD 2005 die Bundestagswahl und Arbeitsminister Wolfgang Clement im knapp verlor – sie blieb um nur einen Pro­ Auftrag des Bundeskanzlers vollstreckt. In zentpunkt hinter CDU/CSU – gab es eine den Augen der CDU-Wechselwähler hatte rechnerische Mehrheit von 51 % und 325 Schröder seine Aufgaben erledigt. Sie konn­ Sitze für Rot-Rot-Grün. CDU/CSU und FDP ten wieder CDU wählen. kamen nur auf 45 % und 287 Sitze. 970 000 Die Enttäuschung der Anhänger einer rot- Stimmen hatte die SPD an die PDS verloren, rot-grünen Koalition, die historische Chance einer Linksregierung nicht genutzt zu ha­ ben, ist bis heute groß. Doch diese Koalition 94 Richard Stöss, Gero Neugebauer, a.a.O., S. 24. hätte nicht dem Wählerwillen entsprochen. 95 Einen Überblick über andere Erklärungsmuster gibt Ulrich Eith: Bundestagswahl 1998: Ruck zur Mitte Nur 4,6 % der SPD-Anhänger (nicht der Mit­ oder Gerechtigkeitslücke? In: Der Bürger im Staat, Heft 1–2/1999, S. 10 ff. 97 Vgl. Jürgen Hofrichter / Michael Kunert: Wähler­ 96 So Jürgen W. Falter: Die zwei Wählerschaften der wanderung bei der Bundestagswahl 2005: Um­ SPD. Warum die Bonner Sozialdemokratie auf fang, Struktur und Motive des Wechsels, in: Oscar «ihre» Wechselwähler Rücksicht nehmen sollte, in: W. Gabriel / Bernhard Weßels / Jürgen W. Falter Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 36 v. 12.2.1999, (Hg.): Wahlen und Wähler. Analysen aus Anlass der S. 11. Bundestagswahl 2005, Wiesbaden 2009, S. 228 ff.

146 perspektivends 37. Jg. 2020 / Heft 1 Der Weg an die Macht und ihr Verlust glieder) wünschten sich damals eine rot-rot- Sitz für eine rot-rot-grüne Koalition unter grüne Koalition, 28,9 % befürworteten eine Führung der LINKEN, die mit 28,2 % vor große Koalition. Selbst für die Fortsetzung der SPD mit 12,4 % lag. In einem Mit­ von Rot-Grün waren nur 24,4 %.98 Das be­ gliedervotum entschieden sich fast 70 % legt erneut, was viele Sympathisanten von der SPD-Mitglieder (nicht der Wähler!) in Rot-Rot-Grün zu vergessen scheinen: Der Thüringen für dieses Bündnis. Der SPD überwiegende Teil der SPD-Wähler (nicht bekam dieses Bündnis jedoch nicht. Wäh­ der Mitglieder!) möchte keine linke Koali­ rend die LINKE bei der nächsten Land­ tion, sondern lieber eine Koalition mit einer tagswahl 2019 um 2,8 Prozentpunkte Partei aus dem bürgerlichen Lager. zulegte (31,0 %), verlor die SPD 4,2 Pro­ Die bisherigen Erfahrungen mit Rot-Rot- zentpunkte und kam nur noch auf 8,2 % Grün in den Bundesländern scheinen das zu (auch die GRÜNEN verloren leicht um bestätigen: 0.5 Prozentpunkte). Die erste unter Füh­ rung der LINKEN gebildete rot-rot-grüne • Nach der hessischen Landtagswahl im Ja­ Koalition hatte ihre Mehrheit verloren, nuar 2008 gab es weder für Schwarz-Gelb weil ungeachtet des positiven Mitglieder­ noch für Rot-Grün eine parlamentarische votums offensichtlich zu viele SPD-Wäh­ Mehrheit. Die SPD versuchte, eine rot- ler dieses Regierungsbündnis nicht woll­ grüne Minderheitsregierung zu bilden. Zur ten und die SPD bei der nächsten Wahl Wahl von Andrea Ypsilanti zur Ministerprä­ nicht mehr unterstützten. sidentin wären die Stimmen der LINKEN • Das sog. «Magdeburger Modell» in Sach­ erforderlich gewesen.99 Doch vier Mitglie­ sen-Anhalt, eine Minderheitsregierung der der SPD-Fraktion wollten dieses von aus SPD und GRÜNEN (1994–1998) bzw. der LINKEN abhängige Regierungsbünd­ eine SPD-Minderheitsregierung (1998– nis nicht mittragen. Andrea Ypsilanti zog 2002) unter Duldung der LINKEN hielt ihre Kandidatur zurück, und es kam im Ja­ sich zwar acht Jahre lang. Bei der Wahl nuar 2009 zu Neuwahlen. Dabei straften 2002 stürzte die SPD allerdings jäh um die Wähler die SPD für das Manöver ab. mehr als 16,5 Prozentpunkte auf 20,0 % Die SPD sackte von 36,7 auf 23,7 % ab. ab und wurde nach der CDU und der PDS • Nach der Landtagswahl in Thüringen nur noch drittstärkste Kraft. 2014 ergab sich eine Mehrheit von einem • In Berlin regiert seit 2016 eine rot-rot- grüne Koalition. Sie scheint der SPD ebenfalls nicht zu bekommen. In den 98 Vgl. David Johann: Charakteristika und Motive der Stimmensplitter bei der Bundestagswahl 2005, Umfragen ist die SPD schon seit Mona­ in: Steffen Kühnel / Oskar Niedermayer / Bettina ten hinter die GRÜNEN und die LINKE Westle (Hg.), Wähler in Deutschland. Sozialer und zurück gefallen, im Februar 2020 auf politischer Wandel, Gender und Wahlverhalten, 100 Wiesbaden 2009, S. 413. 15 % (GRÜNE 25 %, LINKE 17 %). Die 99 CDU und SPD hatten jeweils 42 Sitze, die FDP 11, die GRÜNEN 9 und die LINKE 6 Sitze. Rot-Grün 100 Vgl. Forsa-Umfrage vom 11.02.2020, http://www. hatte also allein nicht die einfache Mehrheit und wahlrecht.de/umfragen/landtage/index.htm (zu­ konnte deshalb keinen dritten Wahlgang bei der letzt abgerufen am 8.4.2020). In der Corona-Krise Ministerpräsidentenwahl riskieren, weil den ver­ hat sich die SPD laut einer jüngeren Infratest-di­ mutlich ein Kandidat von Schwarz-Gelb gewonnen map-Umfrage vom 29.4.2020 wieder auf 20 % hätte. verbessert und die LINKE überholt. DIE GRÜNEN

perspektivends 37. Jg. 2020 / Heft 1 147 Hermann Adam

SPD führt die Senatsregierung in unter­ Auf Bundesebene ergab sich nach der Bun­ schiedlichen Parteikonstellationen inzwi­ destagswahl 2013 erneut eine rechnerische schen allerdings seit 19 Jahren. Da sind Mehrheit von 320 von insgesamt 631 Sit­ gewisse Abnutzungserscheinungen nicht zen für Rot-Rot-Grün. Dahinter standen zu vermeiden. aber nur 42,9 % der Zweitstimmen, CDU/ • Erfolgreich war für die SPD dagegen die CSU hatten 41,5 %. Da FDP und AfD die Bildung einer rot-grünen Minderheitsre­ Fünf-Prozent-Hürde nicht übersprungen hat­ gierung nach der Landtagswahl 2010 in ten, gab es für Rot-Rot-Grün zwar eine Mehr­ Nordrhein-Westfalen. Dabei wurde keine heit der Mandate im Bundestag, aber keine Tolerierungsvereinbarung mit der LIN­ Mehrheit in der Bevölkerung. FDP und AfD KEN geschlossen, die mit 5,6 % erstmals vereinigten zusammen immerhin 9,5 % in den Landtag eingezogen war. Stattdes­ der Zweitstimmen auf sich. Das ist im Un­ sen einigte sich die Koalition mit der op­ terschied zu den zahlreichen Kleinstpar­ positionellen CDU auf einen «Schulfrie­ teien, die bei einer Bundestagswahl antre­ den»101 sowie mit der oppositionellen ten, eine doch nicht zu vernachlässigende FDP auf ein Stärkungspaket für hoch ver­ Größe. schuldete Kommunen102. Als am 14. März Auch in den Umfragen wollte die Mehr­ 2012 die Verabschiedung des Haushalts heit von 50 % der Bürger eine große Koali­ an den Oppositionsparteien scheiterte, tion. Eine Koalition aus SPD, GRÜNEN und löste sich der Landtag im Einvernehmen LINKEN hätten dagegen 64 % für schlecht aller Parteien auf. Bei den Neuwahlen ho­ befunden.103 Eine Mehrheit von 52 % der norierten die Wähler die Absage der SPD Bevölkerung war auch mit dem zwischen an die LINKE und ihre Zusammenarbeit CDU/CSU und SPD ausgehandelten Koa­ mit den bürgerlichen Oppositionspar­ litionsvertrag zufrieden, darunter 65 % der teien und verschafften der Regierungsko­ CDU-Anhänger und 64 % der SPD-Anhän­ alition eine solide Mehrheit von 50,4 % ger.104 Dem entsprach dann auch das spä­ bzw. 128 Sitzen (absolute Mehrheit: 119 tere Mitgliedervotum der SPD. Sitze). Die SPD hatte gegenüber 2010 um 4,6 Prozentpunkte zugelegt und war auf Die neue Rolle der SPD im Sechs-Parteien- 39,1 % gekommen, die GRÜNEN hatten System leicht um 0,8 Prozentpunkte eingebüßt. Unter den Bedingungen des Verhältniswahl­ systems, das wir in Deutschland haben, er­ lagen mit 21 % allerdings noch vor der SPD. Vgl. http://www.wahlrecht.de/umfragen/landtage/ index.htm. 103 ZDF-Politbarometer September II 2013 der For­ 101 Vgl. Spiegel-Online vom 19.7.2011, abrufbar unter: schungsgruppe Wahlen, abrufbar unter https:// https://www.spiegel.de/lebenundlernen/schule/ www.forschungsgruppe.de / Umfragen / Politba­ schulfrieden-in-nrw-alles-kann-nix-muss-a-775362. rometer / Archiv / Politbarometer_2013/Septem­ html (8.4.20). ber_II_2013/. 102 Vgl. Überschuldete Städte und Gemeinden sollen 104 ZDF-Politbarometer November II 2013 der For­ wieder handlungsfähig werden, Pressemitteilung schungsgruppe Wahlen, abrufbar unter https:// des Ministeriums für Inneres und Kommunales vom www.forschungsgruppe.de / Umfragen / Politba­ 19. 08.2011, und https://www1.wdr.de/neuwahlen rometer / Archiv / Politbarometer_2013/Novem­ 104.html (8.4.2020). ber_II_2013/.

148 perspektivends 37. Jg. 2020 / Heft 1 Der Weg an die Macht und ihr Verlust leben große Regierungsparteien an ihren haben die PDS/LINKE-Wähler erreicht, dass Rändern automatisch Absplitterungen. Das Angela Merkel Kanzlerin wurde, und nicht ist normal, weil große Volksparteien eine etwa, wie beabsichtigt, die Rücknahme der pragmatische, an den Interessen der Wech­ Agenda 2010. selwähler orientierte Politik betreiben und Diese Mechanismen in einem parlamen­ damit Anhänger enttäuschen, die – im Falle tarischen Regierungssystem mit Verhältnis­ von CDU/CSU fundamentale konservativ-­ wahlsystem haben nun auch Deutschland liberale, im Falle der SPD sozialistische ein Sechs-Parteien-System beschert. Da die Werte – vertreten. Wenn diese Enttäuschten herkömmlichen Bündnisse Schwarz-Gelb beim nächsten Mal die radikalere konserva­ oder Rot-Grün in diesem System nur selten tive bzw. linke Partei wählen, schwächen sie eine Mehrheit haben dürften, werden Koa­ regelmäßig aber nicht nur die betreffende litionen mit Parteien aus unterschiedlichen Partei, sondern auch das eigene politische Lagern künftig die Regel sein.106 Diese Koa­ Lager. CDU/CSU haben 1969 die absolute litionen erfordern von den Verantwortlichen Mehrheit verfehlt, weil zu viele die rechts­ sehr viel Flexibilität und Kompromissbereit­ radikale NPD gewählt haben. Die SPD ist schaft. Das unnachgiebige Beharren auf ei­ 1983 auf unter 40 % zurückgefallen, weil genen, möglicherweise von einem Parteitag sich Enttäuschte aus dem 68er Spektrum festgelegten Positionen würde künftige Re­ den GRÜNEN zugewandt haben. In bei­ gierungsbildungen unmöglich machen und den Fällen haben die enttäuschten Abwan­ wäre Wasser auf die Mühlen derjenigen, die derer das Gegenteil von dem erreicht, was behaupten, dass die Demokratie nicht funk­ sie eigentlich wollten. Die NPD-Wähler von tioniert, weil die Politiker sich nur streiten. 1969 haben der CDU die absolute Mehr­ Die SPD, die sich als Programmpartei heit genommen und so der sozial-libera­ versteht, tut sich besonders schwer mit die­ len Koalition zu 13 Jahren Regierungszeit ser neuen Situation. Viele aktive SPD-Mit­ verholfen.105 Die ökologisch bewegten, ka­ glieder an der Basis sind regelrecht verliebt pitalismuskritischen ehemaligen SPD-Wäh­ in das Formulieren und Verabschieden sei­ ler der 1970er-Jahre haben 1983 mit ihrer tenlanger Anträge und Wunschkataloge. Stimme für die GRÜNEN der SPD für lange Sie erwarten, dass diejenigen, die politi­ Zeit jede Machtoption genommen und Hel­ sche Regierungsämter übernommen ha­ mut Kohl den Weg für 16 Jahre Amtszeit ben, diese Wünsche auch 1:1 umsetzen.107 bereitet. 2005 hat die LINKE/PDS so viele Wählerstimmen von der SPD abgezogen, 106 Im derzeitigen Bundestag hätte das rechte Lager dass sie die Mehrheit verloren hat. Damit aus CDU/CSU, FDP und AfD eine rechnerische Mehrheit. Solange die AfD einen mittlerweile auch vom Verfassungsschutz als solchen bezeichneten 105 Vgl. Lutz Niethammer: Integration und «Wider­ rechtsextremen Flügel hat, dürfte eine solche Ko­ stand». Die NPD und die Umgruppierung der Rech­ alition auf Bundesebene ausgeschlossen sein. Eine ten, in: Gewerkschaftliche Monatshefte 3/1971, linke Mehrheit aus SPD, GRÜNEN und LINKE hat S. 136 ff. – Niethammer beschreibt, wie CDU/CSU es in der laufenden Legislaturperiode bei der Sonn­ im Bundestagswahlkampf 1969 versuchten, alles tagsfrage zu keinem Zeitpunkt gegeben, allenfalls rechts von der Mitte abzudecken und das natio­ Gleichstand mit dem anderen Lager. nalkonservative Potenzial für sich auszuschöpfen 107 So z. B. Saskia Esken: «Es geht darum, dass Olaf Sc­ (S. 140). Dabei war sie durchaus erfolgreich, aber holz künftig noch mehr davon umsetzt, was die Par­ es hat halt nicht gereicht. tei will», siehe https://www.spiegel.de/politik/

perspektivends 37. Jg. 2020 / Heft 1 149 Hermann Adam

Dahinter steckt ein fundamental-plebiszi­ entstanden zahlreiche, gut bezahlte und si­ täres Verständnis von Demokratie. Unsere chere neue Arbeitsplätze.109 politische Ordnung ist aber kein Rätesys­ Im Unterschied zu früheren Jahrzehnten tem mit imperativem Mandat, in dem die verläuft der augenblickliche Strukturwan­ Ortsvereine einer Partei ihre Abgeordne­ del nicht nur schneller, sondern auch zerstö­ ten anweisen können, wie sie in einem Gre­ rerischer. Zwar entstehen im Zuge der fort­ mium abzustimmen haben, sondern ein re­ schreitenden Globalisierung und Digitali­ präsentatives parlamentarisches System. sierung auch viele neue Arbeitsplätze. Doch Hier wirken die Parteien zwar nach Art. 21 die sind – vor allem im Dienstleistungssek­ (1) GG bei der politischen Willensbildung tor – häufig schlechter bezahlt und befin­ mit. Mitwirken heißt aber, nicht allein, son­ den sich mitunter auch an einem anderen dern zusammen mit anderen entscheiden. Ort. Das hat für das Leben vieler Menschen Werden dann von der Parteiführung Kom­ einschneidende Folgen. Sie müssen nicht promisse geschlossen, die von Parteitags­ nur ihren Wohnort wechseln, wodurch sie beschlüssen abweichen, wird in der SPD nur ihre vertraute soziale Umgebung ver­ oft Willy Brandt bemüht mit dem Satz: «Es lieren. Sie büßen auch ihren bisher erreich­ hat keinen Sinn, eine Mehrheit für die So­ ten sozialen Status ein. Ein Großteil dieser zialdemokraten zu erringen, wenn der Preis Modernisierungsverlierer, wie Sozialwissen­ dafür ist, kein Sozialdemokrat zu sein.» Mit schaftler sie nennen, resigniert, bleibt den anderen Worten: Wenn «Sozialdemokratie Wahlen fern und zieht sich ins Private zu­ pur» nicht geht, dann soll die Partei lieber rück. Andere wiederum zählen zwar objek­ in die Opposition gehen. Dieser Ausspruch tiv nicht zu den Verlierern, befürchten aber, wird Willy Brandt aber nur zugeschrieben. in Kürze dazu zu gehören. Die tatsächliche Es gibt keinen Beleg dafür, dass er ihn je­ (oder auch nur subjektiv empfundene) Ge­ mals getan hat.108 fahr eines sozialen Abstiegs macht sie emp­ Das Verhältniswahlsystem hat zwar die fänglich für die Botschaften populistischer Fragmentierung des Parteiensystems er­ Parteien.110 möglicht. Eine tiefere Ursache dafür liegt In einer von der Hans-Böckler-Stiftung aber im gravierenden ökonomischen Struk­ in Auftrag gegebenen Studie111 haben So­ turwandel. Früher schrumpfte die Landwirt­ schaft, und deren Arbeitskräfte fanden in 109 Vgl. Jean Fourastié: Die große Hoffnung des 20. der Industrie neue, gut bezahlte Arbeits­ Jahrhunderts, Köln 1954. Die große Hoffnung war für Fourastié, dass nach Automatisierung der Indus­ plätze. Als auch die Industrie stagnierte trie alle Arbeitnehmer im Dienstleistungssektor un­ und Arbeitsplätze abbaute, erwies sich der terkommen würden. Dienstleistungssektor als Auffangbecken. 110 Modernisierungsverlierer bildeten schon immer die Im öffentlichen Dienst, aber auch im Pri­ Basis für extremistische Parteien. Siehe dazu Er­ win K. Scheuch / Hans D. Klingemann: Theorie des vatsektor bei Banken und Versicherungen Rechtsradikalismus in westlichen Industriegesell­ schaften, in: Hamburger Jahrbuch für Wirtschafts- deutschland/saskia-esken-und-norbert-walter- und Gesellschaftspolitik 1967, S. 15. In südeuro­ borjans-scholz-soll-mehr-umsetzen-was-spd- päischen Ländern kommt es eher zu linkspopulisti­ will-a-1299925.html. schen Bewegungen und Parteibildungen. Vgl. dazu 108 Siehe SPD-Geschichtswerkstatt unter https://www. Philip Manow: Die Politische Ökonomie des Populis- spd-geschichtswerkstatt.de/wiki / Diskussion:Zi­ mus, Berlin 2018. tate 111 Vgl. Rita Müller-Hilmer / Jérémie Gagné: Was

150 perspektivends 37. Jg. 2020 / Heft 1 Der Weg an die Macht und ihr Verlust ziologen untersucht, welche Werte und flusslosigkeit. Das Beispiel FDP zeigt, dass Grundauffassungen die deutschen Wäh­ auch eine kleine Partei, wenn sie zur Regie­ ler im Jahre 2017 vertraten. Es kristallisier­ rungsbildung gebraucht wird und vor allem, ten sich neun politische Typen heraus.112 In wenn sie auch regieren will, einem Land ih­ keinem dieser neun Typen hatte die SPD ren Stempel aufdrücken kann. ihren Schwerpunkt. SPD-Wähler verteilen Wie die Umfragen zeigen, sieht die Bevöl­ sich heute ziemlich gleichmäßig über alle kerung die SPD – zumindest auf Bundese­ neun Typen, befinden sich in verschiede­ bene – lieber in einer Koalition mit einer nen sozio-ökonomischen Lagen und haben bürgerlichen Partei als in einem rot-rot-grü­ unterschiedliche Erwartungen an die SPD. nen Bündnis (s. o). Die Bevölkerung scheint Die verbliebenen SPD-Wähler entstammen der SPD die Regierungsverantwortung nur nicht mehr einem homogenen sozialdemo­ mit einem Kanzler anvertrauen zu wollen, kratischen Milieu wie noch die Stammwäh­ der eher zum Flügel der Pragmatiker zählt ler der 1970er-Jahre. Es gibt kein typisch so­ (Helmut Schmidt, Gerhard Schröder) oder zialdemokratisches Milieu mehr. Wir haben wenn sie wie 1969 einen streng markt­ es mit einer «Gesellschaft der Singularitä­ wirtschaftlich orientierten Wirtschaftspoli­ ten»113 zu tun, in der die Individualisierung tiker (Karl Schiller) präsentieren kann. Nur der Menschen und die Pluralisierung der Le­ die Bundestagswahl 1972 war durch ihre benswelten vorherrschen. Zuspitzung auf die Ostpolitik und das al­ Bei diesen im Vergleich zu den 1960er- les überstrahlende Charisma Willy Brandts und 1970er-Jahren grundlegend veränder­ eine Ausnahme. Die Logik des parlamenta­ ten politischen, ökonomischen und gesell­ rischen Systems ist simpel: Um Wahlen zu schaftlichen Rahmenbedingungen wird gewinnen, muss die SPD solche Wähler mo­ die SPD auf absehbare Zeit nicht mehr so bilisieren, die gar keine Sozialdemokraten viele Wähler mobilisieren können, dass sie sind. Und diese Wählerschichten wird sie zu alter Stärke zurückfindet. Das bedeutet nur gewinnen, wenn sie in ihrem Erschei­ allerdings nicht dauerhafte politische Ein­ nungsbild glaubwürdig vermittelt, dass der linke Parteiflügel mit seinen systemüber­ verbindet, was trennt die Deutschen? Werte und windenden Ambitionen nicht den Kurs der Konfliktlinien in der deutschen Wählerschaft im Partei bestimmt. Jahr 2017, Forschungsförderungsreport Nr. 2 der Die sozial-liberale Koalition bot seiner­ Hans-Böckler-Stiftung, Düsseldorf 2018. zeit bürgerlichen Wählern, aber auch Arbei­ 112 Engagiertes Bürgertum (18 %), Kritische Bildungse­ tern, die oft eher national-konservativ den­ lite (9 %), Konservative Besitzstandswahrer (10 %), Zufriedene Generation Soziale Marktwirtschaft ken, stets Möglichkeiten, sich mit der SPD (16 %), Verunsicherte Leistungsindividualisten (9 %), zu identifizieren. Mit dem Slogan «Deut­ Gesellschaftsferne Einzelkämpfer (13 %), Desillusio­ sche – wir können stolz sein auf unser Land» nierte Arbeitnehmermitte (10 %), Missachtete Leis­ tungsträger (10 %), Abgehängtes Prekariat (5 %). appellierte sie im Bundestagswahlkampf 113 Heinrich Oberreuter: In der Gesellschaft der Singu­ 1972 an das Nationalgefühl konservativer laritäten: Wandlungen des Parteiensystems, in: Vol­ Wähler (war das vielleicht sogar einer der ker Kronenberg / Jakob Horneber (Hrsg.), Die re- Faktoren für den großen Erfolg?). In seiner präsentative Demokratie in Anfechtung und Bewäh- Regierungserklärung am 18. Januar 1973 rung, Studien der Bonner Akademie für Forschung und Lehre praktischer Politik, Wiesbaden 2019, sprach Willy Brandt das Problem der be­ S. 23 ff. grenzten Aufnahmefähigkeit Deutschlands

perspektivends 37. Jg. 2020 / Heft 1 151 Hermann Adam für Menschen aus anderen Nationen an.114 ten schwor Willy Brandt seinerzeit als frisch Und als die Arbeitslosigkeit in der ersten Öl­ gebackener Kanzlerkandidat die Delegier­ krise zu steigen begann, wurde noch unter ten des Bundesparteitags 1960 auf den der Kanzlerschaft Willy Brandts ein Aufnah­ Godesberger Kurs der SPD ein, der die Par­ mestopp für ausländische Arbeitnehmer tei dann neun Jahre später tatsächlich auch verhängt mit der Begründung, man müsse an die Macht brachte. Die «bessere CDU» zuerst an die eigenen Landsleute denken.115 zu sein117, die kompetenteren und bei den In einem Sechs-Parteien-System dürfen Wählern beliebteren Männer und Frauen sich die Parteien, die regieren und nicht zu haben, nicht alles anders, sondern vie­ ins politische Abseits geraten wollen, in ih­ les besser machen zu wollen (Gerhard ren Wahlprogrammen nicht stark voneinan­ Schröder), dieses Konzept ist aufgegangen der abgrenzen. Denn spätestens bei Beginn und hat der SPD in der Vergangenheit zur der Koalitionsverhandlungen sind Wahlpro­ Macht verholfen. Und die SPD hat hier wie gramme weitgehend obsolet, andernfalls ist anderswo, wie an den Beispielen Großbri­ keine Verständigung möglich. Programma­ tanniens und Schwedens gezeigt, die Macht tische Annäherung der Parteien und Kom­ wieder verloren, wenn diejenigen in der Par­ promissbereitschaft sind, wie Willy Brandt tei ein Übergewicht bekamen, die die Gren­ schon 1960 feststellte, Zeichen ausgereifter zen des kapitalistischen Wohlfahrtsstaats Demokratien. «In einer gesunden und sich überschreiten, systemüberwindende Refor­ fortentwickelnden Demokratie ist es nichts men durchsetzen wollten und nicht kompro­ Ungewöhnliches, sondern dort ist es das missbereit genug waren. Normale, dass die Parteien auf einer Reihe «Wir müssen aber bleiben, was wir sind: von Gebieten ähnliche, sogar inhaltsglei­ ein linker und sozialistischer Richtungsver­ che Forderungen vertreten. Die Frage der band und der Motor dieser SPD.»118 Mit die­ Prioritäten, der Rangordnung der zu lösen­ sen Worten charakterisierte Andrea Nah­ den Aufgaben, die Methoden und Akzente, les als Juso-Vorsitzende auf dem Juso-Bun­ das wird immer mehr zum Inhalt der politi­ deskongress 1997 die kritische Rolle der schen Meinungsbildung.»116 Mit diesen Wor­ Jugendorganisation. Richtig ist: Ein Mo­ tor ist unverzichtbar, um ein Fahrzeug an­ 114 «Es ist aber, meine Damen und Herren, notwendig zutreiben. Aber der Motor bestimmt nicht geworden, dass wir sehr sorgsam überlegen, wo die die Richtung, in der sich das Fahrzeug be­ Aufnahmefähigkeit unserer Gesellschaft erschöpft ist und wo soziale Vernunft und Verantwortung Halt gebieten.» (Protokoll der 7. Sitzung des Deut­ 117 Umgekehrt hat natürlich die CDU die Rolle ein­ schen Bundestages am 18. Januar 1973, S. 131.). zunehmen, die «bessere SPD» sein zu wollen. An­ 115 «Dies ist natürlich keine feindselige Haltung gegen­ gela Merkel hat die Mechanismen des parlamenta­ über ausländischen Arbeitnehmern, aber wir müs­ rischen Systems verstanden und, statt sich auf die sen in einer solchen Situation natürlich zuerst an neoliberale Linie von Friedrich Merz einzulassen, unsere eigenen Landsleute denken.» (Willy Brandt viele SPD-Positionen übernommen. Das ist bei der in einem ARD-Ausschnitt in der Sendung Menschen CDU einfach, solange sie Wahlen gewinnt Denn bei Maischberger), abrufbar unter https://www. Machtgewinn und -erhalt sind ihr wichtiger als star­ youtube.com/watch?v=jWp7RuXd3M4. res Festhalten an Prinzipien. 116 Willy Brandt, Rede auf dem Bundesparteitag der 118 Rückblende in der ZDF-Sendung Was nun, Frau SPD im November 1960, zit. nach: Manfred Fried­ Nahles? am 7. Februar 2018 nach Ende der Koali­ rich: Opposition ohne Alternative? in: Kurt Kluxen tionsverhandlungen, abrufbar unter https://www. (Hg.): Parlamentarismus, Köln-Berlin 1967, S. 425. youtube.com/watch?v=lrv1umP8Jiw.

152 perspektivends 37. Jg. 2020 / Heft 1 Öffentlicher Brief an die jungen perspektiven und die Jungsozialisten in der SPD wegen soll. Das entscheidet, wer am Lenk­ auch «für bürgerliche Kreise akzeptabel»1 rad sitzt. Und das müssen Persönlichkeiten ist. Denn damit haben sie Wahlen für die wie Willy Brandt, Helmut Schmidt oder Ger­ SPD gewonnen. ¢ hard Schröder sein: Politiker, die ein Gespür dafür hatten, was bei den nicht parteige­ bundenen Wechselwählern «ankommt» und 1 Helga Grebing: a.a.O., S.165.

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Hagen Weiler Öffentlicher Brief an die jungen perspektiven und die Jungsozialisten in der SPD Zur Zukunft eines «Demokratischen Sozialismus»1

Mein1Brief richtet drei Bitten an die Jung­ (a) Vier Hauptfehler erfolgten 1914, 1918/19; sozialisten: (a) Wiederholt nicht die Feh­ 1959; 1998–2005 ler (halbrechter) SPD-Vorstände als (Koali­ tions-)Schwestern der CDU/CSU. (b) Analy­ 1. Bewilligung der sog. Kriegskredite im siert deren Fehler in kritischen Vergleichen Deutschen Reichstag – ohne parlamen­ zu ihren historisch möglichen und notwen­ tarische Kontrollen des preußisch-deut­ digen Alternativen. (c) Begründet diese Al­ schen Eroberungs-Krieges (1914–1918); ternativen auf den historischen Fortschrit­ 2. 1918/19: Nach der «November-Revolu­ ten zu allgemeinen, gleichen Staatsbür- tion» keine Versuche zu Verbindungen ger-Rechten und Pflichten sowie auf deren von repräsentativer Parlaments-Demo­ analogen Wirtschaftsbürger-Rechten und kratie mit den «Arbeiter- und Soldaten­ Pflichten in einem (genossenschaftlichen) räten»; «Demokratischen Sozialismus». 3. Aufgabe traditioneller SPD-Programme Ein Brief sollte nicht zu lang werden. (1869, 1874, 1881, 1925) zu gleichen Deswegen kann ich nicht mehr zur Diskus­ Mitbestimmungsrechten von Arbeitern sion stellen als eine (pointierte) Perspekti­ und Angestellten sowie zu gleichen Ar­ ven-Skizze.2 beitslöhnen bis zu den SPD-Positionen im Parlamentarischen Rat 1949: 1 Vgl. Jan Dieren, Das neue SPD-Führungsduo und der Sozialismus …, in: perspektivends 2019, H. 2, S. 193–197. Sozialismus, Ko-Autor und Hrsg. Bernhard Claußen, 2 Vgl.: Belege und Rechtfertigungen zuletzt in: den ich zu seinem 72. Geburtstag diesen Beitrag Hagen Weiler, Vom Logischen zum Demokratischen widme (Vgl. Thesen im Anhang).

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