HEUSS-FORUM 4/2016

Thomas Handschuhmacher „Entstaatlichung“ in der Bundesrepublik der 1980er Jahre zwischen Verheißung und Beharrung

Theodor-Heuss-Kolloquium 2016 Die neoliberale Herausforderung und der Wandel des Liberalismus im späten 20. Jahrhundert 3.–4. November 2016

In Kooperation mit dem Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam

HEUSS-FORUM I S S N 2 6 9 9 - 0 1 6 4 www.stiftung-heuss-haus.de ϭ „Entstaatlihung“

Thomas Handschuhmacher tertitel der nachträglichen Publikation lässt erkennen, dass es den Teilnehmern um eine Bestandsaufnahme der „Krisensymptome „Entstaatlihung“ in der Bundesrepu- staatlicher Leistungsfähigkeit“ ging. Pieroth lik der 1980er Jahre zwischen Verhei- warnte in seiner einführenden Ansprache gar: ßung und Beharrung „Der Staat, ursprünglich nur Monopolist auf Gewalt nach innen und außen, der Wahrer des

Rechts“, sei „auf dem besten Wege zu einem 1. Einleitung Monopolisten aller denkbaren Dienstleistun- gen zu werden. […] Die Gesellschaft will „Was soll und kann der Staat noch leisten?“ – mehr Staat. Deshalb sind wir auf dem Wege zu dieser Leitfrage waren die sogenannten „Bad einer Verstaatlichung der Gesellschaft.“3 Kreuznacher Gespräche“ des Jahres 1975 ge- Um dieser drohenden Gefahr einer zunehmen- widmet, die am 30. und 31. Mai dieses Jahres den „Verstaatlichung der Gesellschaft“ kon- bereits zum fünften Mal auf Einladung des zeptionell zu begegnen, bildeten die Teilneh- CDU-Wirtschaftspolitikers Elmar Pieroth mer der Bad Kreuznacher Tagung zwei Ar- stattfanden. Tagungsort und zugleich Namens- beitskreise, die sich hinter zwei programmati- geberin der Treffen war dessen Heimatstadt, schen Stichwörtern versammelten: „Rationali- die rheinland-pfälzische Kurstadt Bad Kreuz- nach.1 Den Bad Kreuznacher Diskussionskreis, sierung“ und „Entstaatlichung“. Wortführer und Sprecher des Arbeitskreises „Entstaatli- der sich seit 1971 jährlich traf, bezeichnete chung“ waren die Wirtschaftsprofessoren Pieroth selbst als „Expertenrunde“, die profi- Wolfram Engels und Karl Oettle. Engels, der lierten Politikern der Unionsparteien den not- ebenfalls der CDU angehörte und einem brei- wendigen Rahmen bieten sollte, sich mit ein- teren Publikum bereits als Kolumnist der Wirt- schlägig ausgewiesenen Wissenschaftlern über schaftswoche und als Autor populärwissen- aktuelle finanz- und wirtschaftspolitische schaftlicher Bücher bekannt geworden war4, Themen auszutauschen, inhaltliche Positionen zu erarbeiten und mit ökonomischer Expertise betonte in seinem Vortrag: „In vielen Berei- chen brauchte sich der Staat nicht mit der Ei- zu grundieren. Die thematische Klammer der genproduktion zu belasten, er könnte die Güter ersten fünf Veranstaltungen bildeten Pieroth oder Leistungen billiger kaufen.“5 Oettle zufolge Fragen der „Vermögensbildung“. Der pflichtete seinem Fachkollegen bei und be- Schwerpunkt der Diskussionen im Mai 1975 lag nun auf der Vermögensverteilung zwi- klagte: „Die gegenwärtige Entwicklung ten- diert zu einer Vermehrung der öffentlichen schen Staat und Bürgern.2 Dass die Diskutan- Aufgaben und zu einer Vergrößerung des öf- ten das damalige Verhältnis von öffentlicher fentlichen Anteils an der Verwendung des So- und privater Vermögensbildung für kritikwür- dig hielten, verwundert nicht. Bereits der Un- 3 Ebd., S. 6. 4 Hierunter besonders: Wolfram Engels: Soziale 1 Was soll und kann der Staat noch leisten? Reden, Marktwirtschaft. Verschmähte Zukunft? Streitschrift Thesen und Ergebnisse auf den 5. Bad Kreuznacher wider falsche Propheten mit Bart und Computer, Gesprächen vom 30./31. Mai 1975, Stuttgart 1972. 1975. 5 Wolfram Engels: Leistung und Verschwendung 2 Elmar Pieroth: Einführung in das Thema, in: ebd., der öffentlichen Hand, in: Bad Kreuznacher Gesprä- S. 4-14, hier: S. 4. che, S. 15-66, hier: S. 64.

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zialprodukts.“6 Ziel der anzustrebenden „Ent- chung“ und „Privatisierung“ flammten somit staatlichung“ müsse demzufolge sein, „den bereits in einer Phase wieder auf, als auf Bun- Umfang gemeinwirtschaftlicher Aufgabener- desebene die Zahl staatlicher Unternehmens- füllung im Staatswesen insgesamt im Verhält- beteiligungen noch kontinuierlich anstieg, die nis zum Volumen der gesamtwirtschaftlichen (bundes-)politischen Entscheidungen also die Produktion zu verringern.“7 „Entstaatlichung“ entgegengesetzte Tendenz zur „Verstaatli- war für Engels und Oettle somit gleichbedeu- chung“ begünstigten.11 Gleichwohl blieben die tend mit „Privatisierung“. Und mit „Privatisie- Debatten, die zwar überwiegend von Wirt- rung“ wiederum meinten die beiden Ökono- schafts-, Politik- und Verwaltungswissen- men zuallererst funktionale Privatisierungen, schaftlern, von Institutionen der Politikbera- also die Übertragung staatlicher Aufgaben an tung und wissenschaftlichen Vereinigungen private Unternehmen und Dienstleister.8 Vor- geführt wurden, aber durchaus auch in politi- nehmlich hatten die beiden Wissenschaftler schen Parteien und der massenmedialen Öf- hierbei Aufgaben auf kommunaler Ebene im fentlichkeit auf Resonanz stießen, in den Blick – Müllentsorgung, Straßenreinigung, 1970er Jahren auf funktionale Privatisie- öffentlichen Nahverkehr und den Betrieb von rungsmaßnahmen im kommunalen Bereich Schlachthöfen.9 beschränkt. Eingepasst waren die Überlegungen und The- Am Übergang zu den 1980er Jahren war mit sen des Bad Kreuznacher Arbeitskreises „Ent- „Entstaatlichung“ dann jedoch keineswegs staatlichung“ in eine öffentlichkeitswirksame mehr ausschließlich das politische Vorhaben Diskussion über die Bemessung staatlicher verknüpft, die städtischen Leistungskataloge Zuständigkeitsbereiche, die Mitte der 1970er zusammenzukürzen. Die wissenschaftliche Jahre der Wissenschaftliche Beirat beim Bun- Auseinandersetzung hatte zum einen im Laufe desfinanzministerium mit seinen Thesen zum der 1970er Jahre in zunehmendem Maße in – Zusammenhang von öffentlicher Verschul- im engeren Sinne – politische Kommunikati- dung und funktionaler Privatisierung angesto- ons-zusammenhänge ausgestrahlt. Zum ande- ßen hatte.10 Die Debatten um „Entstaatli- ren blieb der Bedeutungsgehalt von „Entstaat- lichung“ nun nicht mehr auf funktionale Priva- 6 Thesen von: Prof. Dr. Karl Oettle, in: Bad Kreuzna- tisierungen im kommunalen Bereich be- cher Gespräche, S. 92-98, hier: S. 92. 7 Ebd., S. 93. 8 Zur Typologie: Dieter Budäus: Privatisierung öf- Bundesregierung, Nr. 103, 15.08.1975, S. 1001- fentlich wahrgenommener Aufgaben. Grundlagen, 1016. In der sozial- und wirtschaftswissenschaftli- Anforderungen und Probleme aus wirtschaftswis- chen Forschungsliteratur ist auch die irreführende senschaftlicher Sicht, in: Christoph Gusy (Hg.): Pri- Bezeichnung „theoretische Privatisierungsdiskussi- vatisierung von Staatsaufgaben. Kriterien – Gren- on“ gebräuchlich, so etwa bei: Sabine Spelthahn: zen – Folgen, Baden-Baden 1998, S. 12-36, hier: Privatisierung natürlicher Monopole. Theorie und S. 14-17. internationale Praxis am Beispiel Wasser und Ab- 9 Engels: Leistung, S. 64. wasser, Wiesbaden 1994, S. 19. 10 Zur Lage und Entwicklung der Staatsfinanzen in 11 Vgl. etwa die Beteiligungsberichte des Bundesfi- der Bundesrepublik Deutschland. Gutachten des nanzministeriums: Bundesministerium der Finan- Wissenschaftlichen Beirats beim Bundesministeri- zen: Die Beteiligungen des Bundes, Bonn-Bad um der Finanzen zur Lage und Entwicklung der Godesberg 1970ff. Staatsfinanzen in der Bundesrepublik Deutschland, Beteiligungsberichte des Bundesministeriums der in: Bulletin des Presse- und Informationsamts der Finanzen; Knauss.

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schränkt. Wenn der CSU-Finanzpolitiker und Aufgaben“ im Anschluss an seine Wiederwahl vormalige Bundesschatzminister Werner im September 1983 nochmals bekräftigte und Dollinger 1980 in einem Grundsatzpapier über als „Leitgedanken“ der Regierungspolitik be- die Beteiligungspolitik der Unionsparteien zeichnete16, machte Kohl „Entstaatlichung“ zu schrieb: „Auch der Bund sollte sich nicht einem politischen Projekt seiner Regierung, an scheuen, überflüssig gewordene Beteiligungs- das die Verheißung einer grundlegenden Neu- positionen abzustoßen“12, übertrug er die Pri- definition und Begrenzung staatlicher Zustän- vatisierungsforderungen damit nicht nur auf digkeits- und Einflussbereiche geknüpft war. die Ebene des Bundes, sondern forderte zu- Vor diesem Hintergrund möchte ich in mei- gleich materielle Privatisierungen, also den nem Vortrag „Entstaatlichung“ erstens heuris- Verkauf staatlicher Unternehmensbeteiligun- tisch begreifen als Etikett für den Wandel gen. skizzierte 1982 in wirtschaftlicher Aufgaben und Zuständigkeits- Konzept für eine Politik zur Überwin- seinem bereiche des Staates seit den ausgehenden dung der Wachstumsschwäche und zur Be- 17 1970er Jahren. Der Terminus eignet sich kämpfung der Arbeitslosigkeit eine noch enge- deshalb besonders gut, da sich unter dem La- re Begrenzung staatlicher Einflussbereiche, bel „Entstaatlichung“ sowohl Vorhaben zur plädierte er doch neben der Privatisierung auch Privatisierung von staatlichen Unternehmens- ötiger Reglementie- für den „Abbau von unn beteiligungen und Leistungsangeboten als rung und Bürokratie in allen Bereichen der 13 auch das Ziel der Deregulierung im Sinne ei- Wirtschaft“. Die Absicht zum umfassenden nes Abbaus administrativer Markteingriffe Rückbau staatlicher Zuständigkeitsbereiche subsumieren lassen. Zweitens möchte ich und Firmenbeteiligungen bekräftigte der im „Entstaatlichung“ als politisches Projekt unter- Oktober 1982 neu gewählte Bundeskanzler suchen, mit dem der Anspruch verbunden war, mit besonderem Nachdruck, als das Verhältnis von Staat und Wirtschaft neu er während seiner ersten Regierungserklärung und verbindlich zu definieren. vor dem Deutschen den viel zitier- ten Satz sagte: „Wir wollen den Staat auf seine Dazu werde ich im Folgenden in zwei Schrit- ursprünglichen und wirklichen Aufgaben zu- ten vorgehen und zunächst die beschriebene rückführen“.14 Die erklärte Devise lautete: Verheißung eines umfassenden Rückzugs des „weg von mehr Staat, hin zu mehr Markt“.15 Staates aus der wirtschaftlichen Tätigkeit auf Indem der neue Bundeskanzler eine solche ihren „neoliberalen“ Gehalt hin befragen. An- Reduktion des Staates auf den „Kern seiner schließend möchte ich zeigen, dass die verhei- ßungsvollen „Entstaatlichungs“- 12 : Grundsätze der CDU/CSU für Ankündigungen im Laufe der 1980er Jahre die öffentliche Beteiligungspolitik, in: Zeitschrift für öffentliche und gemeinwirtschaftliche Unterneh- 16 Abgabe einer Erklärung der Bundesregierung, in: men 3 (1980), S. 457-464, hier: S. 460. Verhandlungen des Deutschen Bundestages. Ste- 13 Otto Graf Lambsdorff: Konzept für eine Politik nographische Berichte, 10. Wahlperiode, 4. Sitzung, zur Überwindung der Wachstumsschwäche und zur 04.05.1983, S. 56-74, hier: S. 56. Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, o. O. 1982, S. 17. 17 Die Überlegung, den Wandel von Staatlichkeit 14 Abgabe einer Erklärung der Bundesregierung, in: als „Wandel des Staatsaufgaben-Verständnisses“ zu Verhandlungen des Deutschen Bundestages. Ste- untersuchen, geht zurück auf: Gunnar Folke nographische Berichte, 9. Wahlperiode, 121. Sit- Schuppert: Was ist und wie misst man Wandel von zung, 13.10.1982, S. 7213-7229, hier: S. 7224. Staatlichkeit?, in: Der Staat 47 (2008), S. 325-358, 15 Ebd., S. 7218. Zit. S. 342.

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zunehmend in Spannung gerieten zu ihrer Um- Besonderen hinsichtlich der beiden Denkfigu- setzung, die nur sehr zögerlich und zudem ren der Revitalisierung und der Revision libe- wenig umfassend verlief. raler Positionen beleuchten. Einen wichtigen argumentativen Bezugspunkt der bundesdeutschen Debatten bildete das 2. „Entstaatlihung“ als „neolierale“ Ver- heißung Wirtschaftsordnungsmodell der „Sozialen Marktwirtschaft“, das zahlreiche Ökonomen, Der Politikwissenschaftler Thomas Biebricher Politiker und Publizisten seit den 1970er Jah- hat in seinem einführenden Überblickswerk ren in einer geradezu existenziellen Krise zum „Neoliberalismus“ das Walter-Lippmann- wähnten. Der Wirtschaftswissenschaftler Horst Kolloquium als „offizielle Geburtsstunde“ Sander beispielsweise geißelte 1981 eine „Po- neoliberalen Denkens identifiziert.18 Geburts- litik, die die Grundsätze der Sozialen Markt- charakter hatte dieses Treffen aus Biebrichers wirtschaft auf das gröbste verletzte“.21 Sein Sicht nicht nur, weil vom 26. bis 30. August Fachkollege Walter Hamm sprach bereits 1975 1938 in Paris erstmalig Ökonomen und Sozi- am Walter-Eucken-Institut zu der noch weiter alwissenschaftler in größerer Zahl zusammen zugespitzten Frage: „Entartet die Soziale kamen, die gemeinhin mit dem Etikett „neoli- Marktwirtschaft?“.22 Derlei „Verfallsnarrati- beral“ versehen werden. Gegen Ende der Ver- ve“23 fußten auf der Annahme einer konstituti- anstaltung einigten sich die Teilnehmer viel- ven Trennung des marktförmig zu organisie- mehr selbst auf diese Selbstbezeichnung, mit renden Wirtschaftsgeschehens von anderen der sie das zweifache Ziel einer – so Biebri- gesellschaftlichen Funktionsbereichen, die cher – „Revitalisierung und Revision der libe- schon zu den Grundpfeilern des ordoliberalen 19 ralen Agenda“ verbanden. Die Forderung Verständnisses von „Soziale Marktwirtschaft“ nach Revitalisierung war Biebricher zufolge gehört hatte. als Reaktion auf eine von den Diskutanten Davon, dass die im Laufe der 1970er Jahre empfundene äußere Gefährdung des Libera- geäußerten Warnungen vor einem Verfall die- lismus zu verstehen. Das Postulat der Revision ses wirtschaftlichen Ordnungsmodells auf des- wiederum, das untrennbar mit dem der Revita- sen Wiederherstellung – also: dessen Revitali- lisierung verknüpft war, zielte auf eine gleich- sierung – zielten, zeugen weitere Bestandteile sam innere Erneuerung und Überprüfung libe- des ordoliberalen Gedankengebäudes, die seit raler Überzeugungen.20 Im Folgenden möchte den 1970er Jahren als Redefiguren wieder an ich von diesem ideengeschichtlichen Kern des Plausibilität gewannen. So klingt beispielswei- „Neoliberalismus“ ausgehen und die wirt- se in der schon 1970 geäußerten Klage des schaftspolitischen Debatten der Bundesrepub-

lik seit den 1970er Jahren im Allgemeinen 21 Horst Sander: Investitionen – Kern der Sozialen sowie die „Entstaatlichungs“-Forderungen im Marktwirtschaft, in: Lothar Bossle (Hg.): Konservati- ve Bilanz der Reformjahre. Kompendium des mo- 18 Thomas Biebricher: Neoliberalismus zur Einfüh- dernen freiheitlichen Konservatismus, Würzburg rung, Hamburg 2012, S. 33; ebenso: Bernhard Wal- 1981, S. 275-282, hier: S. 277. pen: Die offenen Feinde und ihre Gesellschaft. Eine 22 Walter Hamm: Entartet die Soziale Marktwirt- hegemonietheoretische Studie zur Mont Pèlerin schaft?, Tübingen 1975. Society, Hamburg 2004. 23 Stefan Scholl: Begrenzte Abhängigkeit, „Wirt- 19 Biebricher: Neoliberalismus, S. 35. schaft“ und „Politik“ im 20. Jahrhundert, Frankfurt 20 Ebd., S. 37-38. 2015, S. 339.

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Wirtschaftspublizisten Wolfgang Pohle über nicht mehr gerecht werden könne.28 Überhaupt „wirtschaftsfremde politische und gesell- ging es Hamm – dies betonte er insbesondere schaftspolitische Vorstellungen“24 das wirk- eingangs und am Schluss seines Vortrags – mächtige Diktum Wilhelm Röpkes vom Mo- nicht allein um die „Soziale Marktwirtschaft“, nopol als „Fremdkörper im Wirtschaftspro- sondern vielmehr um eine „Belebung der ord- zess“ an.25 Den Kassandra-Rufen lag also die nungspolitischen Diskussion“29 und eine dem Ordoliberalismus entlehnte Annahme Rückkehr zum „Denken in wirtschaftlichen zugrunde, dass die beschworenen Gefährdun- Ordnungen und sozialen Interdependenzen“, gen nicht etwa der Marktwirtschaft selbst inhä- also um eine Rückbesinnung auf die Grund- rent seien, sondern von außen drohten. Beson- pfeiler des Ordoliberalismus.30 Auch die neue ders augenscheinlich wird dieser Gedanke in schwarz-gelbe Bundesregierung eignete sich dem bereits erwähnten Vortrag Walter das Ziel einer Revitalisierung des ordnungspo- Hamms, der als „Entartung“ diejenigen „Vor- litischen Denkens im Allgemeinen und der gänge“ bezeichnete, die „durch Veränderun- „Sozialen Marktwirtschaft“ im Besonderen an. gen wesentlicher Ziele oder Ordnungselemente Helmut Kohl betonte in seiner zweiten Regie- der Sozialen Marktwirtschaft ausgelöst werden rungserklärung, die von ihm angestrebte „Poli- und die zur Transformation dieses Wirt- tik der Erneuerung“ müsse zuallererst eine schaftssystems führen oder zu führen drohen.“ Politik der „Erneuerung der Sozialen Markt- Hierbei handle es sich „nicht etwa um Ver- wirtschaft“ sein. Dass mit dieser Rückbesin- fallserscheinungen“, sondern vielmehr um nung auch das Ziel einer Begrenzung staatli- „Verstöße staatlicher Instanzen gegen wesent- cher Zuständigkeiten unmittelbar verbunden liche marktwirtschaftliche Regeln“. Es gehe war, stellte der Bundeskanzler ebenso heraus. also „in allererster Linie um die Abwehr äuße- Kohl weiter: „Alle geschichtlichen Erfahrun- rer Feinde einer freiheitlichen Ordnung, und gen dieses Jahrhunderts lehren: Eine Wirt- nicht um den Kampf gegen innere Verfallser- schaftsordnung ist umso erfolgreicher, je mehr scheinungen.“26 Zu den „äußeren Feinden der sich der Staat zurückhält und dem einzelnen marktwirtschaftlichen Ordnung“ zählte Hamm seine Freiheit läßt.“31 Die Jahreswirtschaftsbe- insbesondere einflussreiche „Interessengrup- richte der Bundesregierung aus den folgenden pen“, die ihre Anliegen „mit zunehmender Jahren bekräftigten diese Verknüpfung. 1984 Härte vertreten“ und die marktwirtschaftliche kündigte das Kabinett beispielsweise die Ordnung dadurch gefährdeten.27 Unverkennbar „Neubesinnung auf die Grundsätze der Sozia- lag dieser Diagnose die ordoliberale Problem- len Marktwirtschaft“ an.32 Zu den „Hand- beschreibung eines „Wirtschaftsstaates“ zu- grunde, der zunehmend von gesellschaftlichen 28 Die Problematik des „Wirtschaftsstaates“ skiz- Gruppeninteressen dominiert werde und seiner zierte vor allem: Walter Eucken: Staatliche Struk- Funktion als wirtschaftlicher Ordnungsgarant turwandlungen und die Krisis des Kapitalismus, in: Weltwirtschaftliches Archiv 36 (1932), S. 297-321; vgl. auch: Franz Böhm: Die Ordnung der Wirtschaft 24 Wolfgang Pohle: Das Programm der Wirtschaft. als geschichtliche Aufgabe und rechtsschöpferische Marktwirtschaft als politische Chance, Stuttgart Leistung, Stuttgart 1937. 1970, S. XV. 29 Hamm, Entartet, S. 33. 25 Wilhelm Röpke: Die Gesellschaftskrisis der Ge- 30 Ebd., S. 3-4. genwart, 2. Buch, Erlenbach-Zürich 1942, S. 359. 31 Regierungserklärung 1983, S. 57. 26 Hamm, Entartet, S. 7. 32 Unterrichtung durch die Bundesregierung. Jah- 27 Ebd., S. 9. reswirtschaftsbericht 1984 der Bundesregierung, in:

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lungsschwerpunkte[n]“33 zählte hierbei die desrepublik allerdings nicht lange bestim- „Privatisierung öffentlicher Beteiligungen und mend. Denn gegen Ende der 1970er Jahre ver- Dienstleistungen“34. änderte sich der Bedeutungsgehalt von „Wett- Die Verfechter einer wirtschaftspolitischen bewerb“ nochmals beträchtlich und nachhaltig. Der Impuls zu dieser semantischen Transfor- „Erneuerung“ und der Begrenzung wirtschaft- mation kam von Friedrich August von Hayek, licher Staatsaufgaben strebten also eine Rück- dessen Ideen und Schriften auch in der Bun- besinnung auf das ordnungspolitische Ideal desrepublik zunehmend einflussreich wirkten. einer Trennung von Staat und Wirtschaft an, In seinem berühmten Vortrag unter dem Titel das sie mit der Formel der „Sozialen Markt- Der Wettbewerb als Entdeckungsverfahren aus wirtschaft“ verknüpften. Als revisionsbedürf- dem Jahr 1968 distanzierte Hayek sich zwar tig galt ihnen wiederum die Konzeption von ebenfalls von den neoklassischen Gleichge- „Wettbewerb“ als Modus wirtschaftlichen wichtsannahmen des 19. Jahrhunderts und dem Handelns. Die ordoliberale Denkfigur der Ideal der „vollständigen Konkurrenz“, das für „vollständigen Konkurrenz“, derzufolge An- gebot und Nachfrage auf wirtschaftlichen ihn einen „Stillstand“ des ökonomischen Pro- zesses bedeutete.37 Märkten einem Gleichgewicht zustrebten, war Zugleich sprach er sich als wettbewerbstheoretisches und -politisches aber auch gegen eine funktionale Verknüpfung Leitbild bereits im Zuge der Kartellgesetzno- des ökonomischen Wettbewerbs mit makro- vellen seit den 1960er Jahren verworfen wor- ökonomischen Leitzielen aus, die ebenso irre- den. Den Bezugspunkt der Reformen bildete führend sei. Denn „Wettbewerb“ müsse – wie der Vortragstitel bereits andeutet eine dynamischere Vorstellung von „Wettbe- – als „Entde- werb“, die der englischsprachigen ökonomi- ckungsverfahren“ begriffen werden, das statt 35 Gleichgewichten spontane, unvorhersehbare schen Forschung entstammte und zudem auf Ordnungen entstehen lasse und so neues Wis- „gesamtwirtschaftliche“, also makroökonomi- 36 sen generiere. Diese Vorstellung eines dyna- sche Orientierungsgrößen bezogen war. mischen, unvorhersehbaren, Wissen erzeugen- Ein solches funktionales Wettbewerbsver- den wirtschaftlichen Wettbewerbs gewann ständnis blieb für die wirtschaftswissenschaft- spätestens seit Mitte der 1970er Jahre zunächst lichen und publizistischen Debatten der Bun- in Kreisen der bundesrepublikanischen Wirt- schaftswissenschaft an Plausibilität. Der be- Verhandlungen des Deutschen Bundestages. reits zitierte Ökonom Walter Hamm etwa Drucksachen, 10. Wahlperiode, 952, 02.02.1984, sprach von der Notwendigkeit, „schöpferische S. 8. Kräfte“ anzuregen und die „marktwirtschaftli- 33 Ebd., S. 11. che Dynamik“ zu stärken.38 In den Gutachten 34 Ebd., S. 12. des Sachverständigenrates avancierten der 35 John Maurice Clark: Competition as a Dynamic „dynamische Wettbewerb“ und die wirtschaft- Process, Washington D.C. 1961; Ders.: Toward a Concept of Workable Competition, in: The Ameri- liche „Eigendynamik“ seit Mitte der 1970er can Economic Review, 30, 1940, S. 241-256; Edward H. Chamberlin, The Theory of Monopolistic Com- petition, Cambridge/Mass. 1933; Joan Robinson, 37 Friedrich August von Hayek: Der Wettbewerb als The Economics of Imperfect Competition, London Entdeckungsverfahren, in: Viktor J. Vanberg (Hg.): 1933. Hayek-Lesebuch, Tübingen 2011, S. 188-205, hier: 36 Erhard Kantzenbach: Die Funktionsfähigkeit des S. 195. Wettbewerbs, Göttingen 1966. 38 Hamm: Entartet, S. 4.

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Jahre zu leitenden Orientierungsmustern.39 Der Bundestagsfraktion erklärte die Politik einer Wissenschaftliche Beirat beim Bundesministe- umfassenden „Entstaatlichung“ damit zu dem- rium für Wirtschaft eignete sich bei Abfassung jenigen Rezept, mit dem man nicht nur an die seines Gutachtens zur „Wettbewerbspolitik“ bewährte wirtschaftliche Ordnung der Nach- sogar die Formel Hayeks vom „Wettbewerb kriegszeit anknüpfen, sondern auch die von als Entdeckungsverfahren“ an.40 Im Gutachten Hayek beschriebenen innovativen Kräfte einer war dann vom „Innovationswettbewerb“41 und kompetitiven Marktwirtschaft freilegen könne. 42 dem „Experiment des Marktes“ zu lesen. Nach ihrer Amtsübernahme ging die neue Zugleich fand die neue Semantik von „Wett- schwarz-gelbe Bundesregierung schließlich bewerb“ auch Eingang in politische Kommu- daran, ihre weitreichenden „Entstaatlichungs“- nikationszusammenhänge, wo sie direkt mit Ankündigungen zu konkretisieren. So legte den Forderungen zur Begrenzung staatlicher Bundesfinanz-minister im Aufgabenbereiche verknüpft war. In einem März 1985 ein Gesamtkonzept für die Privati- 1984 erschienenen Aufsatz etwa zeichnete sierungs- und Beteiligungspolitik des Bundes Otto Graf Lambsdorff das Bild einer gehemm- vor. In diesem ersten beteiligungspolitischen ten Wirtschaft, deren „Dynamik“ gleichsam Grundsatzprogramm der bundesrepublikani- freigesetzt werden müsse. Lambsdorff wört- schen Geschichte knüpfte das Kabinett explizit lich: „Unsere Wirtschaft liegt […] wie Gulli- an die Regierungserklärung des Bundeskanz- ver gefesselt am Boden. Von diesen Fesseln lers an, betonte den Vorrang von „privater müssen wir die Wirtschaft wieder befreien und Initiative“ vor „staatlicher Tätigkeit“44 und das heißt: Rückführung des Staates, Privatisie- identifizierte neben materiellen und funktiona- rung, Abbau von Bürokratimus.“43 Der wirt- len Privatisierungsmaßnahmen auch die „Ver- schaftspolitische Sprecher der FDP- einfachung von Rechts- und Verwaltungsvor- schriften“ als beteiligungspolitische Aufga- be.45 Außerdem kündigte die Bundesregierung 39 So etwa im Jahresgutachten 1977/78: Unterrich- an, ihre Prüfungen und Überlegungen würden tung durch die Bundesregierung. Jahresgutachten sich fortan „auf alle Beteiligungen des Bundes 1977/78 des Sachverständigenrates zur Begutach- 46 tung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, in: und der Sondervermögen erstrecken“. Damit Verhandlungen des Deutschen Bundestages. standen auch Privatisierungen von Bundespost Drucksachen, 8. Wahlperiode, 1221, 22.11.1977, und Bundesbahn zur Disposition, die zuvor S. 20, 182, 184. stets ausgeschlossen worden waren. Über die 40 Protokoll der 265. Tagung des Wissenschaftli- Formulierung von „Entstaatlichungs“-Zielen chen Beirats beim Bundesministerium für Wirt- hinaus konkretisierte das Kabinett seine An- schaft am 24. und 25. Oktober 1986 in Nürnberg, kündigungen zudem in dem noch im Herbst Atrium Hotel, 27.10.1986, S. 2, in: Archiv des Insti- tuts für Zeitgeschichte München, ED 150-48-162. 1983 gefassten Beschluss einer erneuten Teil- 41 Der Wissenschaftliche Beirat beim Bundesminis- privatisierung der Vereinigten Elektrizitäts- terium für Wirtschaft, Gutachten vom 5./6. Dezem- ber 1986. Thema: Wettbewerbspolitik, in: Sammel- 44 Der Bundesminister der Finanzen, Gesamtkon- band der Gutachten von 1973 bis 1986, Göttingen zept für die Privatisierungs- und Beteiligungspolitik 1987, 1359-1391, hier: S. 1362. des Bundes, in: Zeitschrift für öffentliche und ge- 42 Ebd., S. 1367. meinwirtschaftliche Unternehmen 8 (1985), S. 203- 43 Otto Graf Lambsdorff: Liberalismus und Markt- 211, hier: S. 206. wirtschaft, in: Zeitschrift für Wirtschaftspolitik 33 45 Ebd., S. 203. (1984), S. 5-12, hier: S. 10. 46 Ebd., S. 206.

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und Bergwerks-Aktiengesellschaft (VEBA). zeitlicher, sprachlicher und materieller Hin- Im Zuge dessen reduzierte sich der Bundesan- sicht näher beleuchten. teil am Grundkapital der VEBA auf rund 30 Mit Blick auf die zeitliche Dimension wird Prozent, die Gesamtzahl der Bundesbeteili- augenscheinlich, dass den weitreichenden Ab- gungen sank wegen der zahlreichen Firmenbe- 47 sichtserklärungen – sieht man von der zügigen teiligungen der VEBA von 958 auf 487. Entscheidung für die Teilprivatisierung der Der Amtsantritt der schwarz-gelben Regie- VEBA ab – zunächst keine weiteren Beschlüs- rungskoalition schürte somit auf Seiten der se folgten. So lagen das erwähnte Gesamtkon- Befürworter einer Begrenzung staatlicher Zu- zept zur Privatisierungs- und Beteiligungspoli- ständigkeitsbereiche hohe Erwartungen, die in tik und das sogenannte Schwerpunktpro- der Folge jedoch in einem zunehmenden gramm, das Privatisierungen von 13 Bundes- Spannungsverhältnis zu beharrenden und ver- beteiligungen – darunter Volkswagen, Luft- zögernden Tendenzen standen. hansa und VIAG – vorsah49, erst zweieinhalb Jahre nach Amtsantritt der neuen Bundesregie- rung vor. Eine „Deregulierungs-kommission“ 3. Verzögerungs- und Beharrungstendenzen setzte das Kabinett gar erst 1987 ein. Im September 1985 etwa kommentierte der Diese Verzögerungstendenzen, die in deutli- Journalist Peter Hort in einem Artikel für die chem Kontrast zur Wende- und Dringlichkeits- Frankfurter Allgemeine Zeitung die Beteili- rhetorik der Regierungserklärung standen, gungspolitik der Bundesregierung und stellte fanden ihre Entsprechung auf sprachlicher spöttisch fest, „von Stoltenbergs ordnungspoli- Ebene. Das Schwerpunktprogramm etwa do- tisch so bedeutsame[m] Vorhaben“ sei „nicht kumentierte lediglich „Verkaufsvorhaben“, 48 viel mehr als ein Skelett übrig“. Diese Ein- „Verkaufsabsichten“ oder „Untersuchungsauf- schätzung drückte stellvertretend die Enttäu- träge“, ohne konkretere Veräußerungsziele zu schungen der „Entstaatlichungs“-Befürworter nennen.50 Vielmehr geriet die Prüfungsbedürf- aus, indem sie das Auseinanderdriften wider- tigkeit des „wichtigen Bundesinteresses“ in spiegelte von hohen, von der Bundesregierung offiziellen Äußerungen der Regierungsfraktio- selbst produzierten Erwartungen einerseits und nen zu einem vielfach bemühten Topos, der den politischen Beschlüssen seit dem Frühjahr sich in Verweisen auf prüfungsbedürftige „De- 1985 andererseits. Dieses Spannungsverhältnis tail[s]“, auf nötige „Vorarbeiten“51 und ausste- zwischen verheißungsvollen „Entstaatli- hende Gutachten aktualisierte und mit dem chungs“-Ankündigungen und deren zögerli- sich Verzögerungen im Verfahrensablauf cher Umsetzung möchte ich im Folgenden in rechtfertigen ließen. Bemerkenswert ist außer-

47 Fritz Knauss: Privatisierung in der Bundesrepublik 49 Fritz Knauss: Die Entscheidungen der Bundesre- Deutschland 1983-1990. Bilanz und Perspektiven, gierung zur Privatisierung. Ein Sachstandsbericht, in: Ders. (Hg.): Privatisierungs- und Beteiligungspo- in: Helmut Brede (Hg.): Privatisierung und die Zu- litik des Bundes, Baden-Baden 1993, S. 121-189, kunft der öffentlichen Wirtschaft, Baden-Baden hier: S. 147. Zur Geschichte der VEBA: Heiner 1988, S. 159-176, hier: S. 172-175. Radzio: Unternehmen mit Energie. Aus der Ge- 50 Ebd., S. 174. schichte der VEBA, Düsseldorf 1990. 51 Verhandlungen des Deutschen Bundestages. 48 Privatisierung – nur noch ein Skelett, in: FAZ, Stenographische Berichte, 10. Wahlperiode, 128. 28.09.1985. Sitzung, 27.03.1985, S. 9445, 9451

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dem, dass die Regierungsfraktionen in den Der Bund veräußerte bis zum Jahr 1988 allein Debatten um die sogenannte „Postreform I“ seine Anteile an den Konzernen VEBA und die Absicht zur „Privatisierung“ der Deutschen VIAG vollständig, während Volkswagen und Bundespost vehement bestritten.52 Stattdessen Lufthansa – um hier nur die umsatzstärksten hoben sie den sogenannten „deutschen Weg“ Unternehmen zu behandeln – lediglich teilpri- der Telekommunikationspolitik heraus, die an vatisiert wurden. Der Bundesanteil an der hergebrachten staatlichen Infrastrukturaufga- Volkswagen AG verringerte sich 1985 zu- ben der „Daseinsvorsorge“ festhalte.53 Das nächst von 20 auf ca. 14 Prozent, ehe er 1988 Wort „Daseinsvorsorge“ erwies sich in den schließlich vollständig abgetreten wurde. Das 1980er Jahren auch über die Debatten zur „Po- Land Niedersachsen hingegen bestand auf streform“ hinaus als plausible Bezeichnung, seiner Sperrminderheit von 20 Prozent, die es mit der sich erfolgreich gegen umfassende seit der ersten VW-Privatisierung Anfang der „Entstaatlichungen“ argumentieren und die 1960er Jahre hielt. Bei der Lufthansa AG kam Beibehaltung staatlicher Aufgaben begründen die Verringerung der Bundesanteile auf ca. 50 ließ.54 Prozent gar lediglich dadurch zustande, dass der Bund auf seine Beteiligung an der im Juli Des Weiteren fanden die angedeuteten zeitli- 1989 beschlossenen Kapitalerhöhung verzich- chen und sprachlichen Beharrungstendenzen tete.56 nicht zuletzt eine inhaltlich-materielle Ent- sprechung in den gefassten Kabinettsbeschlüs- sen. So mutet nicht nur die Zahl von 13 im 4. Schluss Schwerpunktprogramm der Bundesregierung genannten Privatisierungsvorhaben angesichts Das regierungspolitische Projekt einer Rück- der Gesamtzahl von 487 Bundesbeteiligungen führung des Staates auf dessen „Kern“ kann zu diesem Zeitpunkt gering an. Auch wurde insofern als „neoliberal“ bezeichnet werden, der angekündigte Rückzug des Staates aus der als es die „neoliberalen“ Kernelemente der unternehmerischen Tätigkeit in den einzelnen Revitalisierung und Revision liberaler Grund- Fällen zumeist nur sehr zögerlich angetreten.55 überzeugungen aktualisierte. Denn das „Ent- staatlichungs“-Vorhaben knüpfte einerseits mit 52 Verhandlungen des Deutschen Bundestages. dem Verweis auf die „Soziale Marktwirt- Stenographische Berichte, 11. Wahlperiode, 94. schaft“ an eine idealisierte Vergangenheit an, Sitzung, 22.09.1988, S. 6381, 6385. die es zu revitalisieren galt. Andererseits war 53 Ebd., S. 6380. Vgl. auch: Gabriele Metzler: „Ein „Entstaatlichung“ zugleich das Versprechen deutscher Weg“. Die Liberalisierung der Telekom- auf eine Zukunft, in der wirtschaftlicher Wett- munikation in der Bundesrepublik und die Grenzen bewerb – befreit von staatlichen „Fesseln“ – politischer Reformen in den 1980er Jahren, in: Ar- dynamischer, innovativer und damit wohl- chiv für Sozialgeschichte 52 (2012), S. 163-190. 54 So beispielsweise in den Auseinandersetzungen standsfördernder ablaufen würde. Im Laufe der um eine (Teil-)Privatisierung der Deutschen Luft- 1980er Jahre geriet diese zweifache, gleicher- hansa: Verhandlungen des Deutschen Bundesta- ges. Stenographische Berichte, 10. Wahlperiode, Opladen 2001, S. 168-170; Knauss, Entscheidungen, 128. Sitzung, 27.03.1985, S. 9445. S. 174-175. 55 Zum Folgenden: Reimut Zohlnhöfer: Die Wirt- 56 Songül Bozdag-Yaksan: Vom Staatsunternehmen schaftspolitik der Ära Kohl. Eine Analyse der zum Global Player. Die Unternehmensentwicklung Schlüsselentscheidungen in den Politikfeldern Fi- der Deutschen Lufthansa AG, Köln 2008, S. 130- nanzen, Arbeit und Entstaatlichung, 1982-1998, 132.

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ϭϬ „Entstaatlihung“

maßen auf Vergangenheit und Zukunft gerich- tete Verheißung allerdings zunehmend in Spannung gegenüber Beharrungskräften, die sich hemmend und verzögernd auf die Umset- zung der angestrebten „Entstaatlichungs“- Ziele auswirkten. Im Anschluss an diese Beobachtungen ließe sich beispielsweise fragen, ob die „Entstaatli- chungs“-Politik als weiterer Beleg angeführt werden kann für die von Andreas Wirsching beschriebene „widersprüchliche Signatur“ der „Ära Kohl“ zwischen progressiver Rhetorik und prozesspolitischer Kontinuität.57 Fest steht jedenfalls, dass die beschriebene „neoliberale“ Verheißung gerade wegen dieser Widersprüche in fortlaufenden Sinnstiftungs- prozessen immer wieder von Neuem beschwo- ren werden musste. Zwischen dem Verspre- chen einer Reduktion des Staates auf den „Kern seiner Aufgaben“ und dessen zögerli- cher Einlösung tat sich mit anderen Worten ein großer Resonanzraum auf für die Frage: „Was soll und kann der Staat noch leisten?“.

Zitation: Thomas Handschuhmacher: „Entstaatlichung“ in der Bundesrepublik der 1980er Jahre zwi- schen Verheißung und Beharrung, in: HEUSS-FORUM 4/2016, URL: www.stiftung-heuss-haus.de/heuss- forum_4_2016.

57 Andreas Wirsching: Eine „Ära Kohl“? Die wider- sprüchliche Signatur deutscher Regierungspolitik 1982-1998, in: Archiv für Sozialgeschichte 52 (2012), S. 668-684.

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