Entstaatlichung“ in Der Bundesrepublik Der 1980Er Jahre Zwischen Verheißung Und Beharrung

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Entstaatlichung“ in Der Bundesrepublik Der 1980Er Jahre Zwischen Verheißung Und Beharrung HEUSS-FORUM 4/2016 Thomas Handschuhmacher „Entstaatlichung“ in der Bundesrepublik der 1980er Jahre zwischen Verheißung und Beharrung Theodor-Heuss-Kolloquium 2016 Die neoliberale Herausforderung und der Wandel des Liberalismus im späten 20. Jahrhundert 3.–4. November 2016 In Kooperation mit dem Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam HEUSS-FORUM SI S N2 6 9 9 0- 1 6 4 www.stiftung-heuss-haus.de ϭ „Entstaatlihung“ Thomas Handschuhmacher tertitel der nachträglichen Publikation lässt erkennen, dass es den Teilnehmern um eine Bestandsaufnahme der „Krisensymptome „Entstaatlihung“ in der Bundesrepu- staatlicher Leistungsfähigkeit“ ging. Pieroth lik der 1980er Jahre zwischen Verhei- warnte in seiner einführenden Ansprache gar: ßung und Beharrung „Der Staat, ursprünglich nur Monopolist auf Gewalt nach innen und außen, der Wahrer des Rechts“, sei „auf dem besten Wege zu einem 1. Einleitung Monopolisten aller denkbaren Dienstleistun- gen zu werden. […] Die Gesellschaft will „Was soll und kann der Staat noch leisten?“ – mehr Staat. Deshalb sind wir auf dem Wege zu dieser Leitfrage waren die sogenannten „Bad einer Verstaatlichung der Gesellschaft.“3 Kreuznacher Gespräche“ des Jahres 1975 ge- Um dieser drohenden Gefahr einer zunehmen- widmet, die am 30. und 31. Mai dieses Jahres den „Verstaatlichung der Gesellschaft“ kon- bereits zum fünften Mal auf Einladung des zeptionell zu begegnen, bildeten die Teilneh- CDU-Wirtschaftspolitikers Elmar Pieroth mer der Bad Kreuznacher Tagung zwei Ar- stattfanden. Tagungsort und zugleich Namens- beitskreise, die sich hinter zwei programmati- geberin der Treffen war dessen Heimatstadt, schen Stichwörtern versammelten: „Rationali- die rheinland-pfälzische Kurstadt Bad Kreuz- nach.1 Den Bad Kreuznacher Diskussionskreis, sierung“ und „Entstaatlichung“. Wortführer und Sprecher des Arbeitskreises „Entstaatli- der sich seit 1971 jährlich traf, bezeichnete chung“ waren die Wirtschaftsprofessoren Pieroth selbst als „Expertenrunde“, die profi- Wolfram Engels und Karl Oettle. Engels, der lierten Politikern der Unionsparteien den not- ebenfalls der CDU angehörte und einem brei- wendigen Rahmen bieten sollte, sich mit ein- teren Publikum bereits als Kolumnist der Wirt- schlägig ausgewiesenen Wissenschaftlern über schaftswoche und als Autor populärwissen- aktuelle finanz- und wirtschaftspolitische schaftlicher Bücher bekannt geworden war4, Themen auszutauschen, inhaltliche Positionen zu erarbeiten und mit ökonomischer Expertise betonte in seinem Vortrag: „In vielen Berei- chen brauchte sich der Staat nicht mit der Ei- zu grundieren. Die thematische Klammer der genproduktion zu belasten, er könnte die Güter ersten fünf Veranstaltungen bildeten Pieroth oder Leistungen billiger kaufen.“5 Oettle zufolge Fragen der „Vermögensbildung“. Der pflichtete seinem Fachkollegen bei und be- Schwerpunkt der Diskussionen im Mai 1975 lag nun auf der Vermögensverteilung zwi- klagte: „Die gegenwärtige Entwicklung ten- diert zu einer Vermehrung der öffentlichen schen Staat und Bürgern.2 Dass die Diskutan- Aufgaben und zu einer Vergrößerung des öf- ten das damalige Verhältnis von öffentlicher fentlichen Anteils an der Verwendung des So- und privater Vermögensbildung für kritikwür- dig hielten, verwundert nicht. Bereits der Un- 3 Ebd., S. 6. 4 Hierunter besonders: Wolfram Engels: Soziale 1 Was soll und kann der Staat noch leisten? Reden, Marktwirtschaft. Verschmähte Zukunft? Streitschrift Thesen und Ergebnisse auf den 5. Bad Kreuznacher wider falsche Propheten mit Bart und Computer, Gesprächen vom 30./31. Mai 1975, Bad Kreuznach Stuttgart 1972. 1975. 5 Wolfram Engels: Leistung und Verschwendung 2 Elmar Pieroth: Einführung in das Thema, in: ebd., der öffentlichen Hand, in: Bad Kreuznacher Gesprä- S. 4-14, hier: S. 4. che, S. 15-66, hier: S. 64. HEUSS-FORUM 4/2016 Ϯ „Entstaatlihung“ zialprodukts.“6 Ziel der anzustrebenden „Ent- chung“ und „Privatisierung“ flammten somit staatlichung“ müsse demzufolge sein, „den bereits in einer Phase wieder auf, als auf Bun- Umfang gemeinwirtschaftlicher Aufgabener- desebene die Zahl staatlicher Unternehmens- füllung im Staatswesen insgesamt im Verhält- beteiligungen noch kontinuierlich anstieg, die nis zum Volumen der gesamtwirtschaftlichen (bundes-)politischen Entscheidungen also die Produktion zu verringern.“7 „Entstaatlichung“ entgegengesetzte Tendenz zur „Verstaatli- war für Engels und Oettle somit gleichbedeu- chung“ begünstigten.11 Gleichwohl blieben die tend mit „Privatisierung“. Und mit „Privatisie- Debatten, die zwar überwiegend von Wirt- rung“ wiederum meinten die beiden Ökono- schafts-, Politik- und Verwaltungswissen- men zuallererst funktionale Privatisierungen, schaftlern, von Institutionen der Politikbera- also die Übertragung staatlicher Aufgaben an tung und wissenschaftlichen Vereinigungen private Unternehmen und Dienstleister.8 Vor- geführt wurden, aber durchaus auch in politi- nehmlich hatten die beiden Wissenschaftler schen Parteien und der massenmedialen Öf- hierbei Aufgaben auf kommunaler Ebene im fentlichkeit auf Resonanz stießen, in den Blick – Müllentsorgung, Straßenreinigung, 1970er Jahren auf funktionale Privatisie- öffentlichen Nahverkehr und den Betrieb von rungsmaßnahmen im kommunalen Bereich Schlachthöfen.9 beschränkt. Eingepasst waren die Überlegungen und The- Am Übergang zu den 1980er Jahren war mit sen des Bad Kreuznacher Arbeitskreises „Ent- „Entstaatlichung“ dann jedoch keineswegs staatlichung“ in eine öffentlichkeitswirksame mehr ausschließlich das politische Vorhaben Diskussion über die Bemessung staatlicher verknüpft, die städtischen Leistungskataloge Zuständigkeitsbereiche, die Mitte der 1970er zusammenzukürzen. Die wissenschaftliche Jahre der Wissenschaftliche Beirat beim Bun- Auseinandersetzung hatte zum einen im Laufe desfinanzministerium mit seinen Thesen zum der 1970er Jahre in zunehmendem Maße in – Zusammenhang von öffentlicher Verschul- im engeren Sinne – politische Kommunikati- dung und funktionaler Privatisierung angesto- ons-zusammenhänge ausgestrahlt. Zum ande- ßen hatte.10 Die Debatten um „Entstaatli- ren blieb der Bedeutungsgehalt von „Entstaat- lichung“ nun nicht mehr auf funktionale Priva- 6 Thesen von: Prof. Dr. Karl Oettle, in: Bad Kreuzna- tisierungen im kommunalen Bereich be- cher Gespräche, S. 92-98, hier: S. 92. 7 Ebd., S. 93. 8 Zur Typologie: Dieter Budäus: Privatisierung öf- Bundesregierung, Nr. 103, 15.08.1975, S. 1001- fentlich wahrgenommener Aufgaben. Grundlagen, 1016. In der sozial- und wirtschaftswissenschaftli- Anforderungen und Probleme aus wirtschaftswis- chen Forschungsliteratur ist auch die irreführende senschaftlicher Sicht, in: Christoph Gusy (Hg.): Pri- Bezeichnung „theoretische Privatisierungsdiskussi- vatisierung von Staatsaufgaben. Kriterien – Gren- on“ gebräuchlich, so etwa bei: Sabine Spelthahn: zen – Folgen, Baden-Baden 1998, S. 12-36, hier: Privatisierung natürlicher Monopole. Theorie und S. 14-17. internationale Praxis am Beispiel Wasser und Ab- 9 Engels: Leistung, S. 64. wasser, Wiesbaden 1994, S. 19. 10 Zur Lage und Entwicklung der Staatsfinanzen in 11 Vgl. etwa die Beteiligungsberichte des Bundesfi- der Bundesrepublik Deutschland. Gutachten des nanzministeriums: Bundesministerium der Finan- Wissenschaftlichen Beirats beim Bundesministeri- zen: Die Beteiligungen des Bundes, Bonn-Bad um der Finanzen zur Lage und Entwicklung der Godesberg 1970ff. Staatsfinanzen in der Bundesrepublik Deutschland, Beteiligungsberichte des Bundesministeriums der in: Bulletin des Presse- und Informationsamts der Finanzen; Knauss. HEUSS-FORUM 4/2016 ϯ „Entstaatlihung“ schränkt. Wenn der CSU-Finanzpolitiker und Aufgaben“ im Anschluss an seine Wiederwahl vormalige Bundesschatzminister Werner im September 1983 nochmals bekräftigte und Dollinger 1980 in einem Grundsatzpapier über als „Leitgedanken“ der Regierungspolitik be- die Beteiligungspolitik der Unionsparteien zeichnete16, machte Kohl „Entstaatlichung“ zu schrieb: „Auch der Bund sollte sich nicht einem politischen Projekt seiner Regierung, an scheuen, überflüssig gewordene Beteiligungs- das die Verheißung einer grundlegenden Neu- positionen abzustoßen“12, übertrug er die Pri- definition und Begrenzung staatlicher Zustän- vatisierungsforderungen damit nicht nur auf digkeits- und Einflussbereiche geknüpft war. die Ebene des Bundes, sondern forderte zu- Vor diesem Hintergrund möchte ich in mei- gleich materielle Privatisierungen, also den nem Vortrag „Entstaatlichung“ erstens heuris- Verkauf staatlicher Unternehmensbeteiligun- tisch begreifen als Etikett für den Wandel gen. Otto Graf Lambsdorff skizzierte 1982 in wirtschaftlicher Aufgaben und Zuständigkeits- Konzept für eine Politik zur Überwin- seinem bereiche des Staates seit den ausgehenden dung der Wachstumsschwäche und zur Be- 17 1970er Jahren. Der Terminus eignet sich kämpfung der Arbeitslosigkeit eine noch enge- deshalb besonders gut, da sich unter dem La- re Begrenzung staatlicher Einflussbereiche, bel „Entstaatlichung“ sowohl Vorhaben zur plädierte er doch neben der Privatisierung auch Privatisierung von staatlichen Unternehmens- ötiger Reglementie- für den „Abbau von unn beteiligungen und Leistungsangeboten als rung und Bürokratie in allen Bereichen der 13 auch das Ziel der Deregulierung im Sinne ei- Wirtschaft“. Die Absicht zum umfassenden nes Abbaus administrativer Markteingriffe Rückbau staatlicher Zuständigkeitsbereiche subsumieren lassen. Zweitens möchte ich und Firmenbeteiligungen bekräftigte der im „Entstaatlichung“ als politisches Projekt unter- Oktober 1982 neu gewählte Bundeskanzler suchen, mit dem der Anspruch verbunden
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