BR-ONLINE | Das Online-Angebot des Bayerischen Rundfunks http://www.br-online.de/alpha/forum/vor0312/20031209.shtml

Sendung vom 09.12.2003, 20.15 Uhr

Dr. Günter Rexrodt Bundeswirtschaftsminister a.D. im Gespräch mit Werner Reuß

Reuß: Verehrte Zuschauer, herzlich willkommen zum Alpha-Forum. Unser heutiger Gast ist Dr. Günter Rexrodt. Er ist Mitglied des Deutschen Bundestages und Bundesschatzmeister der FDP. Günter Rexrodt war Mitte bis Ende der achtziger Jahre Finanzsenator in und von 1993 bis 1998 Bundeswirtschaftsminister im Kabinett des damaligen Kanzlers . Ich freue mich, dass er heute hier ist, herzlich willkommen, Dr. Rexrodt. Rexrodt: Guten Abend. Reuß: Ihr Motto - ich glaube, ich habe es auf Ihrer Homepage gelesen - lautet: "Man sieht sich im Leben immer mehrmals." Was bedeutet Ihnen dieses Motto und welche Konsequenz hat es für Ihr Tun und Handeln? Rexrodt: Das habe ich mal in einer Zeitung geschrieben, in einer Zeit, in der man mir ziemlich übel mitgespielt hat. Da war das so gewissermaßen eine kleine Revanche: "Passt auf, man sieht sich im Leben zweimal oder öfter!" Da wollte ich einfach zurückgeben. Und das ist auch wirklich so: Ich gebe nicht zurück in dem Sinne, dass ich andere niedermachen würde, aber man merkt sich doch, wenn man persönlich verletzt wird. Ich selbst habe mir zum Vorsatz gemacht, dass ich andere Menschen auch dann, wenn ich politisch oder inhaltlich anderer Meinung bin, nach Möglichkeit nicht persönlich verletze, sondern die Auseinandersetzung in der Sache führen möchte. Reuß: "Politik ist Handwerk, nicht Mundwerk", sagt Ihr ehemaliger Kabinettskollege Norbert Blüm. Was ist denn Politik für den Homo politicus Günter Rexrodt? Rexrodt: Das ist die Möglichkeit, gestalten und verändern zu können. Ich glaube von mir sagen zu können, dass ich historisch immer interessiert war, dass ich die Entwicklung der Menschheit, der Staaten, der Gesellschaftssysteme mit großem Interesse verfolgt habe. Wenn man sich dafür interessiert, dann auch ein Stück Gestaltungsmöglichkeit zu bekommen, ist das eine faszinierende Angelegenheit. Das liegt bei mir allerdings auch ein Stück weit in der Familie: erstens, weil mein Vater bereits in der Weimarer Zeit Politiker, liberaler Politiker gewesen ist, und zweitens, weil ich meine Kindheit in der DDR verbracht habe, in einer DDR, die sich noch nicht etabliert hatte, sondern wo die Menschen und eben auch meine Familie – ich lebte damals in der Familie meiner Tante – nicht nur über das Radio immer nach Westen schauten. Die Teilung Deutschlands und die Überwindung der Teilung Deutschlands war damals wirklich noch ein großes Thema für die Menschen. Reuß: Vom französischen Moralisten Joseph Joubert stammt der Satz: "Politik ist die Kunst, die Menge zu leiten. Nicht wohin sie gehen will, sondern wohin sie gehen soll." Das ist ein Satz, der für einen Menschen wie Sie, der in der DDR aufgewachsen ist, sicherlich einen ambivalenten Klang hat. Dennoch die Frage: Muss ein demokratischer Politiker manchmal auch führen, manchmal auch Entscheidungen gegen den Willen der Mehrheit treffen? Rexrodt: Unbedingt, und je älter und erfahrener ich werde, umso wichtiger erscheint mir das. Auf der anderen Seite fange ich aber besser folgendermaßen an: Man kann nicht nur seinen eigenen Willen, seine eigenen Vorstellungen den Menschen autokratisch aufdrücken. Das wäre auch mit dem Gedanken der Demokratie nicht so ganz im Einklang. Man soll ja Repräsentant des Volkes sein: Man ist vom Volk gewählt und hat die Interessen des Volkes zu vertreten. Dann aber nur blind zu machen, was gerade Zeitgeist ist, würde ich als Populismus bezeichnen: Das ist doch eine ziemlich billige Angelegenheit. Politik zu machen ist andererseits auch nicht eine Sache des eigenen Ziels, das man mit langem Atem verfolgt: Das geht in der Regel nicht auf. Das gibt es zwar, aber in der Regel geht das nicht auf. Deshalb ist es immer eine Wechselbeziehung, inwieweit man etwas aufgreift und umsetzt und wieweit man Eigenes hinzugibt und versucht, dafür Mehrheiten und Anklang zu finden. Ich habe Letzteres, also eigene Ideen und Gedanken, immer einzubringen versucht. Das waren auch unkonventionelle Gedanken und das war daher nicht leicht: Das ist auch oft schief gegangen. Ich will das gleich mal mit einem Beispiel aus meiner Zeit als Bundeswirtschaftsminister illustrieren, ohne mich nun in besonderer Weise irgendwie besserwisserisch machen zu wollen, aber der Beweis des Gegenteils müsste erst noch erbracht werden: Ich habe immer von Liberalisierung der Post, der Energiemärkte, des Ladenschlusses gesprochen, von der Privatisierung, der Veränderung des Arbeitsmarktes und von der größeren Flexibilität des Arbeitsmarktes. Mitte der neunziger Jahre ist mir das jedoch nicht gut bekommen, gar nicht bekommen. Selbst in den eigenen Reihen nicht! Aber auch beim Koalitionspartner nicht! Ich kann mich entsinnen, dass 1994 oder 1995 in einem Papier von mir mal die Aussage enthalten gewesen ist, die Renten seien auf Dauer nicht sicher. Ich bin damals an einem Montagmorgen von Berlin kommend in Bonn gelandet: Das Erste, das ich noch im Auto mitbekommen habe, war ein Anruf des Bundeskanzlers. Er hat mich dermaßen zur Sau gemacht, dass ich dieses Thema aufs Tapet gebracht hatte. Dabei habe ich das ja gar nicht einmal offensiv unternommen: Das hat vielmehr in einem Arbeitspapier gestanden, das irgendwie nach draußen in die Öffentlichkeit gebracht worden war. Er hat mich, wie man sagen kann, bis zum Gehtnichtmehr zur Sau gemacht. Wenn man also eigene Gedanken einbringt, dann muss man auch vorsichtig sein. Aber darauf zu verzichten, wäre doch ein Riesenfehler. Reuß: Sie haben in einem Interview einmal gesagt, Ihnen sei es immer wichtig gewesen, auch die Wahrheit zu sagen, das zu sagen, was Sie für wichtig halten. Nun gibt es aber den schönen Satz des österreichischen Dichters Stefan Zweig: "Wahrheit und Politik wohnen selten unter einem Dach!" Wie offen kann man denn in der Politik überhaupt sein? Wie häufig muss man sich doch taktisch verhalten? Rexrodt: Die Wahrheit sollte man im Allgemeinen schon sagen. Ich glaube sogar, dass das die Regel ist. Ich weiß, dass das jetzt von unserem Publikum wahrscheinlich nur mit großer Skepsis aufgenommen wird: Ich glaube wirklich, dass es sogar die Regel ist, dass Politiker die Wahrheit sagen. Aber sie sagen sie nicht prononciert und zugespitzt. Sondern sie formulieren sie weich, lassen sich ein Hintertürchen und einen Ausweg offen. Das ist aber, wie ich sagen muss, zu einem gewissen Teil sogar notwendig. Denn wenn man als Politiker die Dinge zuspitzt und sie häufig so darstellt, wie sie in der Konsequenz sind oder sein könnten, dann bekommt man einen enormen Ärger von denen, die davon betroffen sind. Deshalb liegt es im Wesen der politischen Sprache, die Dinge weich zu formulieren. Sie hatten mich ja nach mir selbst gefragt: Ich darf von mir sagen, dass ich das zu vermeiden versucht habe. Freilich nicht immer, denn ich formuliere manchmal schon auch so, dass ein Kompromiss erkennbar wird. Aber wenn man genau dieses übertreibt, dann würde man ein unglaubwürdiger Politiker werden. Man würde ein Schwätzer werden und die Leute würden dann von einem sagen: "Der ist doch ein Schwätzer! Was hat der denn überhaupt gesagt? Was war das überhaupt? Das war doch alles und gar nichts!" Man muss also die Dinge nicht nur nicht falsch sagen, sondern man muss sie auch zuspitzen, damit sie die Leute verstehen. Der eine macht das mehr, der andere macht das weniger. Ich neige eher zu denen, die die Dinge wirklich beim Namen nennen. Reuß: Nun wollen ja Politiker wiedergewählt werden. Wir leben in einem föderalen System, was bedingt, dass fast immer irgendwo irgendwelche Wahlen stattfinden. Carl Friedrich von Weizsäcker stellte einmal die pointierte Frage, wie denn eine Regierung das langfristig Notwendige entscheiden könne, wenn dies kurzfristig unbeliebt ist und den Wahlerfolg bedroht. Teilen Sie seine Auffassung, dass das schwer ist? Rexrodt: Das ist zweifellos schwer, aber es führt kein Weg daran vorbei. Wir haben diese Problematik soeben schon ein bisschen angesprochen im Zusammenhang mit der Frage, inwieweit man führen muss. Dinge sind oft unpopulär und müssen trotzdem gemacht werden. Gehen wir doch mal in die gegenwärtige Politik: Wer hat es schon gerne, dass die Rente gekürzt wird oder die Rente nicht erhöht wird oder dass die Zahnbehandlung aus der Krankenversicherung herausgenommen wird? Das hat niemand gerne. Aber es muss gemacht werden, weil wir die Rentensysteme oder die Gesundheitssysteme sonst nicht mehr finanzieren können und irgendwann der große Knall kommt. Ich bin der Auffassung, dass wir aus populistischen Gründen viel zu lange gezögert haben, weil kurzfristig das Unbequeme einfach nicht gesagt wurde und diese Reformen angegangen wurden. Wir haben das so lange wie nur möglich vor uns hergeschoben. Deshalb haben wir nun dieses Desaster. Aber es muss gemacht werden. Reuß: Bleibt die Politik dabei nicht doch manchmal auf halbem Wege stehen? Ich will mal ein Beispiel aufgreifen, das für viele stehen kann. Da wird, um mehr Geld in die Kasse zu spülen, die Beitragsbemessungsgrenze für die Rentenbeiträge erhöht. Das heißt, dies bringt erst einmal mehr Geld in die Kasse. Aber die Rentenansprüche derer, die nun mehr zahlen müssen, steigen damit natürlich auch an. Und dies zu einer Zeit, in der dann später aufgrund der demographischen Entwicklung noch weniger Geld in der Kasse sein wird. Werden also die Probleme in der Politik nicht doch oft ein Stück weit in die Zukunft verlagert? Rexrodt: Das ist leider so, das stimmt. Ein anderes Beispiel von heute ist, dass es sehr populär ist, die Freiberufler oder die Beamten mit in die Rentenversicherung zu nehmen. Bei den Beamten ist das noch einmal ein anderes Thema, das stimmt, darüber müsste man wirklich gesondert sprechen. Aber wenn die Freiberufler heute auch in die gesetzliche Rentenversicherung mit einzahlen, dann kommt damit zwar mehr Geld in die Kasse. Aber am Ende bekommen dann ja auch sie aus dieser Kasse ihre Rente ausbezahlt: Und dies dann in einer demographisch sicherlich sehr schwierigen Zeit! Dies alles liegt ein Stück weit im Wesen der Demokratie begründet. Sie haben das schon angesprochen, Herr Reuß, als Sie gesagt haben, die Politiker wollen ja wiedergewählt werden. Man vermeidet dann eben als Politiker die Boshaftigkeiten, die Belastungen, die unpopulären Dinge, weil das im Wahlkampf von Schaden ist. Wenn ich mich hier in der bayerischen politischen Landschaft so umschaue, dann stelle ich fest – ohne dass ich hier nun Partei ergreifen möchte –, dass auch hier bestimmte Themen auf bundespolitischer Ebene ausgespart werden, um in Bayern keinen Schaden anzurichten. Das betrifft z. B. die Steuerreform und vieles andere mehr. Das ist aber alles ein Stück weit das Wesen der Demokratie. Es kommt dann eben auf die Glaubwürdigkeit, die Kraft und die Ausstrahlung des Politikers an. Es kommt darauf an, wie weit er da mitmacht oder wie weit er konsequent bleibt. Schauen wir doch mal auf den Arbeitsmarkt von heute. Da gibt es jetzt Diskussionen über die Veränderungen beim Kündigungsschutz, über tarifrechtliche Fragen usw. Das sind Dinge, die noch vor einiger Zeit völlig undenkbar gewesen wären. Ich sage Ihnen aber Folgendes: Wenn wir heute aufgrund einer ganz wundersamen Entwicklung einen starken konjunkturellen Boom hätten und die Probleme auf dem Arbeitsmarkt merklich geringer würden, dann bezweifle ich sehr stark, ob diese Diskussionen um die Reformen hinsichtlich Kündigungsschutz oder betrieblicher Vereinbarungen statt Flächentarifvertrag wirklich noch geführt werden würden. Aber diese Diskussionen müssen geführt werden, denn die nächste Abwärtsentwicklung kommt mit absoluter Sicherheit. Reuß: Wir kommen später noch einmal auf die Politik zu sprechen. Ich würde hier jedoch gerne einen kleinen Schnitt machen und unseren Zuschauern den Menschen Günter Rexrodt vorstellen. Sie sind am 12. September 1941 in Berlin geboren. Auch Ihre Familie hat im Zweiten Weltkrieg harte Opfer bringen müssen: Sie haben Ihre Mutter verloren und sind dann bei einer Tante in Arnstadt in Thüringen aufgewachsen. Wie haben Sie Ihre frühe Kindheit erlebt? Rexrodt: Trotz dieses Einschnittes und der Tatsache, dass ich nicht im Elternhaus aufgewachsen bin, habe ich das Wichtigste gehabt, was man wohl als Kind und kleiner Mensch braucht, nämlich Liebe und Zuneigung. Ich war voll integriert in die Familie der Schwester meines Vaters. Meine Mutter war ja umgekommen, aber meine Tante und deren Familie hat mir wirklich die Liebe entgegengebracht, die man sonst nur im Elternhaus haben kann. Das gibt einem Kraft und später selbstverständlich auch Selbstbewusstsein. Daran hatte ich also keinen Mangel: Auf persönlichem Gebiet ist das vielleicht sogar das Wichtigste, das man mit ins Leben nehmen kann. Und ich habe schon von frühester Kindheit an, schon seit ich ein kleiner Schuljunge war, die politische Problematik im geteilten Deutschland bemerkt. Mein Vater ging später nach Westberlin und ich habe dann als Zwölfjähriger den 17. Juni 1953 und den anschließenden Ausnahmezustand erlebt. Ich habe erlebt, wie bürgerliche Lehrer, die man zunächst noch hatte in der Schule, oktroyiert wurden, dass sie uns das Heil des Sozialismus nahe bringen. Ich habe erlebt, wie sich die Menschen verbogen haben: erst diese Lehrer, dann aber auch Schulkameraden – um Vorteile zu haben. Man kann hier im Westen eigentlich gar nicht so richtig begreifen, wie so eine Diktatur arbeitet. Das war ja keine unbedingt blutrünstige Diktatur, aber eben doch eine Diktatur, die mit den Mechanismen der Bestrafung und Isolierung auf der einen Seite und mit der Belohnung des Karrieresprungs auf der anderen Seite gearbeitet hat. Das alles habe ich schon als relativ kleiner Junge miterlebt. Genau deshalb bin ich dann auch politisch geworden. Reuß: Sie haben es vorhin bereits angesprochen: Ihr Vater war bereits zur Zeit der Weimarer Republik Reichsgeschäftsführer der Deutschen Demokratischen Partei. Später war er Mitbegründer der LDPD, also der Liberal Demokratischen Partei, damals noch in der SBZ, also in der Sowjetisch besetzten Zone. Sie haben einmal gesagt, Ihr Vater sei nicht nur ein liberaler Politiker gewesen, sondern auch ein liberaler Mensch. Wie haben Sie ihn erlebt und wie war Ihr Verhältnis zu ihm? Rexrodt: Obwohl ich in der Familie meines Onkels und meiner Tante lebte, hatte ich doch bis 1951 einen sehr engen Kontakt mit meinem Vater, also bis zu dem Zeitpunkt, als er in den Westen ging. Danach dann, das war ja noch vor dem Mauerbau, habe ich ihn immer wieder in Berlin getroffen, wohin ich jedes Mal in den Ferien fuhr. Nun, wie äußert sich Liberalität? Liberalität äußert sich zunächst einmal in großer Toleranz und darin, dass man vermeidet, Menschen etwas als wahr und endgültig zu oktroyieren, sondern sie dahin zu bringen versucht zu verstehen, dass die Dinge immer mehrere Facetten haben, dass es keine absoluten Wahrheiten gibt. Dass die Dinge immer mehrere Facetten haben, gilt sowohl im persönlichen wie auch im wissenschaftlichen oder im politischen Bereich. Liberalität ist, einen dazu zu bringen, diese Facetten zu sehen und sie abzuwägen und dann seine eigene Meinung zu bilden. Das ist liberale oder tolerante Erziehung und genau die habe ich von ihm mitbekommen. Das hat mich dann eben auch geprägt. Reuß: Sie haben in Arnstadt dann noch Ihr Abitur gemacht und hatten sich eigentlich schon an der Technischen Hochschule in Dresden eingeschrieben. Dann sind Sie aber doch nach Berlin gegangen und haben dort ein Ergänzungsjahr gemacht und anschließend Betriebswirtschaft studiert. Was hat den Ausschlag gegeben für Sie, dann doch nach Berlin zu gehen? Rexrodt: Sicherlich waren das auch persönliche Gründe, weil einfach mein Vater dort gelebt hat. Aber das war nicht das Entscheidende. Das Entscheidende war, was ich soeben schon angedeutet hatte: Ich hatte erfasst, dass dieses System in der DDR in eine Sackgasse führt und dass man sich in diesem System nicht entwickeln und entfalten kann. Ich war liberal geprägt, musste aber in der Schule das nachbeten, was die Lehrer einem vorsagten. Nehmen Sie als Beispiel den Einmarsch in Polen seitens Hitlerdeutschlands und der Sowjetunion: Da wurde der Einmarsch der Sowjetunion auf der östlichen Seite einfach negiert. Wenn man das aber ansprach, dann wurde man richtiggehend bestraft. In so einem System, in dem gefälscht wird, konnte ich nicht leben. Das hatte ich also schon recht bald klar erfasst und auch so empfunden. Deshalb war für mich klar, dass ich dort nur noch das Abitur machen werde. Wenn ich davor bereits gegangen wäre, dann wäre das für mich recht problematisch gewesen wegen der unterschiedlichen Schulausbildung in Ost und West. Wir hatten dort ja auch z. B. ganz andere Fremdsprachen gelernt. Mir war also klar: Du machst dort noch das Abitur und dann gehst du. Es kam sicherlich noch hinzu, dass Berlin eine große Faszination auf mich ausübte. Ich war zwar in Arnstadt in einer sehr schönen und hübschen Gegend in dieser sehr viel Geborgenheit ausstrahlenden Kleinstadt aufgewachsen, aber Berlin faszinierte mich einfach. Reuß: Sie haben dann promoviert und waren von 1968 an bei IHK, also der Industrie- und Handelskammer tätig. 1979 sind Sie dann sozusagen erstmals in die aktive Politik geraten: Sie waren unter Wolfgang Lüder von der FDP beim Berliner Senat für Wirtschaft tätig. Ich muss jetzt ein wenig ausholen und Sie müssen mich auch korrigieren, wenn ich etwas Falsches sage: Das war eine ganz spannende Zeit, als Sie dort hinkamen, denn damals ging es Schlag auf Schlag. Sie haben innerhalb von zwei Jahren drei Wirtschaftssenatoren erlebt. Es kam die Garski-Affäre, der Rücktritt von Lüder, der Rücktritt des damaligen Finanzsenators Riebschläger. Der damalige regierende Bürgermeister Stobbe musste dann ebenfalls zurücktreten, obwohl er versucht hatte, seinen Senat umzubilden, und obwohl er im Abgeordnetenhaus eine Mehrheit hatte, denn diese Mehrheit ist ihm dann versagt worden. Es kam der damals amtierende Bundesjustizminister Hans-Jochen Vogel als Regierender Bürgermeister nach Berlin; der spätere EG-Kommissar Guido Brunner wurde Wirtschaftssenator in Berlin. Es kam dann aber doch zu Neuwahlen und Richard von Weizsäcker von der CDU gewann fast aus dem Stand die absolute Mehrheit in Berlin. Daraufhin kam es dort zu einer CDU/FDP- Koalition. Wirtschaftssenator wurde dabei Elmar Pieroth. Wie haben Sie denn diese Zeit in den Jahren von 1979 bis 1981 erlebt? Denn das hat sich ja alles wirklich in sehr kurzer Zeit abgespielt. Rexrodt: Das war in der Tat spannend, aber es war nicht so, dass dort irgendwie eine Welt zusammengebrochen wäre. Es war einfach Zeit, dass die sozialliberale Koalition zu Ende ging. Der ehemalige Regierende Bürgermeister Stobbe war an sich ein feiner Mann, den ich heute noch sehr schätze. Ihn traf damals jedenfalls keine persönliche Schuld. Es kam dann unter Vogel, Sie haben das völlig richtig gesagt, kurzfristig Guido Brunner, ein Liberaler, auf den Posten des Wirtschaftssenators. Er war, wenn ich das mal so sagen darf, ein äußerst kreativer Mann. Er mochte mich und förderte mich. Nach ihm kam Elmar Pieroth. Es war ja ursprünglich so gewesen, dass es in der ersten Phase der Amtszeit von Weizsäcker noch keine Koalition gegeben hat. Stattdessen gab es eine Duldung von Seiten der FDP für Richard von Weizsäcker. Ich bin dann aber gegen enorme Widerstände aus der CDU Staatssekretär unter Pieroth geworden. Die CDU wollte auf diesem Posten ihre eigenen Gewächse haben --das ist ja überhaupt bis heute eine Sorte für sich in der CDU da in Berlin. Weizsäcker und Pieroth, die ich beide sehr schätze, obwohl sie völlig unterschiedliche Typen sind, haben dann aber gesagt: "Nein, wir machen das mit einem Liberalen." Für mich persönlich war das der entscheidende Schritt, denn von da an war ich, als Abteilungsleiter, aus dem mittleren Management als Staatssekretär in eine hohe Position gerückt. Reuß: Sie waren von da an beamteter Staatssekretär. Rexrodt: Ja, aber immerhin. Das war doch eine Basis, von der aus man dann doch in einer anderen Liga spielte. Das war beruflich und politisch für mich vielleicht doch der wichtigste Schritt überhaupt in meinem Leben. Reuß: Es war allerdings so, dass Sie erst sehr spät in die FDP eingetreten waren. Als Sie zu Lüder kamen, waren Sie noch kein FDP-Mitglied. Erst ein Jahr später traten Sie dann in die FDP ein. Ihre politische Heimat war ja wohl nicht selbstverständlich die FDP. Wenn ich das richtig nachgelesen habe – so stand es zumindest mal in einer Zeitung zu lesen –, waren Sie bis in die siebziger Jahre hinein Anhänger der Ostpolitik von und haben in der damaligen Zeit auch SPD gewählt. Was hat dann doch den Ausschlag für die FDP gegeben? War das die Vorprägung durch Ihren Vater? Rexrodt: Im Grunde genommen war ich immer schon FDP-nah gewesen: durch meinen Vater und aufgrund meiner liberalen und toleranten Denkweise, wenn ich das so von mir sagen darf. Aber in der Handelskammer, in der ich damals arbeitete – ich wollte eigentlich gar nicht so lange dort bleiben, war dann aber doch über zehn Jahre dort –, sah man es nicht so gerne, wenn man sich parteipolitisch band. Und ich mache auch gar kein Hehl daraus, dass ich damals in dieser Zeit auch in einem Alter war, in dem ich noch ein paar andere Sachen als Politik im Kopf hatte. Aus diesem Grund habe ich den Eintritt in die Partei immer weiter verschoben. Ich war innenpolitisch, wirtschaftspolitisch, gesellschaftspolitisch usw. von der SPD nicht angetan, aber Sie haben Recht: Die Persönlichkeit von Willy Brandt und seine Ostpolitik faszinierten mich. An sich hätte ich es ja sehr viel lieber gesehen, wenn es gelungen wäre, die Hallstein-Doktrin, also die Isolierung der DDR, umzusetzen, um von dort her die Wiedervereinigung angehen zu können. Diese Option war aber klar gescheitert und die Union zögerte dann einfach sehr lange, diese neuen Realitäten anzuerkennen. Brandt jedoch machte diesen Schritt: sicherlich auch durchdrungen vom Gedanken der Wiedervereinigung. Genau das wollte ich auch immer: Ich habe aufgrund meiner persönlichen Entwicklung Deutschland immer als eine Einheit empfunden. Ich wollte das und so habe ich mich dann in den siebziger Jahren Brandt ein Stück weit zugewandt, indem ich ihn ein oder zwei Mal gewählt habe. Aber dann kam ich halt in den Senat bzw. in die Senatsverwaltung für Wirtschaft: Von da an wollte und konnte ich dann meiner eigentlichen Neigung stattgeben und wurde FDP-Mitglied. In der damaligen Zeit konnte man eben auch sehr schnell Karriere machen in der FDP, das war einfach so. Reuß: Nach der nächsten Wahl zum Abgeordnetenhaus im Jahr 1985 wurden Sie dann Finanzsenator in Berlin. Bei dieser Wahl hatte die FDP mit 8,5 Prozent ein sehr gutes Ergebnis erzielt. Sie hatten dieses Amt bis zur nächsten Wahl im Jahr 1989 inne, denn bei dieser Wahl flog die FDP aus dem Berliner Senat wieder hinaus, weil sie die Fünf-Prozent-Hürde nicht mehr erreichte. In Berlin erlebte die FDP ohnehin immer recht kräftige Ups and Downs. War die Wahlniederlage im Jahr 1989 sehr schmerzhaft für Sie? Rexrodt: Schmerzhaft war das vor allem für die Partei, die ich mittlerweile mochte – trotz vieler Konflikte, aber das ist immer so. Ich hatte mir schon gewünscht, dass die FDP der Berliner Politik auf Dauer in verantwortlicher Position verhaftet sein sollte. Für mich persönlich war das jedoch nicht sehr schmerzhaft. Ich sage mal: Ich war zu diesem Zeitpunkt auf dem Politik- Trip, ohne je richtig selbst in der Wirtschaft gewesen zu sein. Ich habe daher diese Wahl 1989 für mich persönlich so aufgefasst: Ich wollte mir danach dann selbst zeigen, dass ich auch noch etwas anderes kann als Politik zu machen oder in einem öffentlichen Amt zu stehen. Ich habe das also als eine Chance begriffen, in die Wirtschaft zu gehen. Genau das habe ich dann auch gemacht. Ich kann mich noch genau an diesen Wahlabend erinnern: Meine Kollegen im Senat – das war damals ein wirklich brillanter Berliner Senat – sind fast zerbrochen an dieser Niederlage. Ich hingegen war ganz gelöst -- es gab auch viele Schnäpse an diesem Abend. Und mein Wechsel in die Wirtschaft klappte dann auch recht gut: Ich kann mit Stolz sagen, dass ich innerhalb einer Woche 16 Angebote aus der Wirtschaft bekommen habe. Da waren weniger gute und wirklich gute Angebote mit dabei. Und so ging ich eben letztlich zur Citibank. Reuß: Zunächst nach New York, später wurden Sie sogar Vorstandsvorsitzender der Citibank in Frankfurt. Sie haben ja nun den direkten Vergleich zwischen der Wirtschaft und der Politik: Sie wissen, wie es in der Politik abgeht, und Sie wissen, wie es in der Wirtschaft abgeht. Sind die Unterschiede tatsächlich so groß? Was genau ist anders? Rexrodt: Es gibt Gemeinsamkeiten und es gibt Unterschiede. Die Gemeinsamkeiten bestehen eigentlich im Managen der Abläufe. Wenn man in einer hohen politischen Position ist, dann muss man die Abläufe genauso managen wie in der Wirtschaft. Wenn man meinetwegen ein Gesetz machen oder ein politisches Anliegen durchbringen will, dann muss man dafür Mehrheiten organisieren, dann muss man sich inhaltlich die richtigen Positionen erarbeiten, die man dann nach draußen bringen muss, um die Menschen davon zu überzeugen. All das muss man in der Wirtschaft auch machen. Aber den eigentlichen Unterschied habe ich soeben schon angedeutet: Wenn man in der Wirtschaft eine Billigung des eigenen Konzepts oder Projektes bekommen hat, dann hat man auch die Möglichkeit, genau dies umzusetzen. Wenn man sich nicht ganz blöd anstellt, dann kann man das wirklich umsetzen, weil die Leute quasi verpflichtet sind mitzuziehen. Gut, man muss auch dort immer erst die Leute überzeugen, aber wenn es wirklich Querköpfe geben sollte, dann kann man auch mal sagen, "So, das war's jetzt, wir trennen uns und Sie machen etwas anderes". Die Umsetzung, der Prozess der Umsetzung ist also in der Wirtschaft sehr viel leichter als in der Politik, wo man immer wieder aufs Neue um Mehrheiten ringen muss. In der Politik muss man immerzu in der eigenen Fraktion, bei den eigenen Mitarbeitern, beim politischen Gegner und letztlich auch in der Öffentlichkeit um Mehrheiten und um Akzeptanz ringen. In der Wirtschaft muss man das nicht machen. Manches ist also in der Politik viel schwerer als in der Wirtschaft. Das muss ich schon sagen. Was die Sache in der Politik andererseits aber auch wieder einfacher macht, ist die Tatsache, dass zumindest damals noch einigermaßen Geld vorhanden war: Die Dinge waren von daher nicht so eng. In der Wirtschaft jedoch trägt man letztlich Ergebnisverantwortung. Man kann das gut und prima machen, aber wenn am Ende unter dem Strich nichts bleibt, dann ist man weg. Deshalb wünsche ich mir eigentlich bis heute, dass es mehr Durchlässigkeit gibt zwischen der Politik und der Wirtschaft, dass mehr Politiker auch mal in der Wirtschaft arbeiten und dort Ergebnisverantwortung tragen müssen und dass andererseits aber auch Leute aus der Wirtschaft in die Politik gehen können und sehen, wie dort die Dinge wirklich sind. Denn sie sind dort nicht so leicht, wie viele denken. Viele Menschen in der Wirtschaft sagen ja ganz schnell: "Warum machen das und jenes die Politiker nicht endlich?" Viele Wirtschaftskapitäne gehen gar nicht erst in die Politik oder scheitern recht schnell in der Politik, weil sie nicht in der Lage sind, diese Mehrheiten so organisieren zu können, wie man sie dort einfach braucht. Die Sache ist also in der Politik und in der Wirtschaft wechselseitig an vielen Stellen leichter und andererseits auch wieder viel schwerer. Reuß: Es muss Sie dann aber doch wieder in die Politik gezogen haben, denn nach der ersten gesamtdeutschen Bundestagswahl im Dezember 1990 haben Sie sich nach dem Amtsverzicht von Helmut Hausmann um das Amt des Bundeswirtschaftsministers beworben. Sie unterlagen dann aber in einer Kampfabstimmung Jürgen Möllemann, der bereits Mitglied des Kabinetts gewesen ist. Hat Sie diese Niederlage geschmerzt? Rexrodt: Nein, überhaupt nicht, denn das wusste ich ja vorher. Wenn man sich so einer Wahl stellt, dann weiß man einfach, worauf man sich da einlässt: Da gibt es ein Wahlgremium, das aus der Fraktion und dem Vorstand der Partei besteht, aus ungefähr 80 Leuten. Da kann man durchaus in etwa von vornherein abschätzen, ob man da gewinnt oder verliert. Ich wusste, dass ich bei dieser ersten Abstimmung verlieren werde. Aber ich wollte einfach mal den Hut in den Ring werfen. Und das hat sich dann ja auch ausgezahlt. Meine Zeit als Bundeswirtschaftsminister war dann ja auch wirklich faszinierend. Ich war davor bei der Citibank eigentlich ganz glücklich gewesen: Das war eine hoch interessante Tätigkeit und die Internationalität dabei hat mir enorm gefallen. Ich habe jeden Tag viele interessante Menschen aus der ganzen Welt getroffen. Das war wirklich interessant. Dann aber im wiedervereinigten Deutschland mit meinem, wenn Sie so wollen, DDR-Hintergrund Wirtschaftsminister zu sein, das war schon eine enorme Herausforderung. Das hat mich schon gereizt, das gebe ich gerne zu. Reuß: Sie haben meine nächste Frage eigentlich fast schon beantwortet, dennoch stelle ich sie Ihnen: Sie selbst haben einmal gesagt, "Politik ist eine Droge, wenn man einmal infiziert ist, dann kommt man nicht mehr davon los". Was macht denn diesen Suchtcharakter der Politik aus? Rexrodt: Tja, das ist eine etwas komplexe Angelegenheit. Ich habe ja vorhin schon gesagt, dass das, wenn ich es auf den Punkt hin formulieren soll, etwas mit der Macht zu tun hat. In einer Demokratie hat man in der Politik natürlich immer nur in einem begrenzten Umfang Macht, aber man hat eben doch Macht. Das macht natürlich schon einen Reiz aus. Hinzu kommt dann selbstverständlich noch der eigene Gestaltungswille, wenn er stark ausgeprägt ist: Diesen Willen kann man in der Politik durchaus umsetzen. Es kommen aber schon noch sehr subtile andere Sachverhalte hinzu. Wenn man in der Politik ist, dann steht man damit natürlich auch immer unter Beobachtung der Öffentlichkeit. Und da hat man eben nicht nur immer gute Presse: Man hat oft eine kritische, manchmal auch eine recht schlechte Presse. Und dann hat man wieder eine gute Presse usw. Wenn man da einmal ins Feuer der Kritik geraten ist, dann möchte man diese Scharte, sofern sie passiert ist, unbedingt wieder auswetzen. Man möchte es dann wieder gutmachen, man möchte weitermachen, weil man zeigen will, dass man's kann. Das schaukelt sich wirklich hoch. Es spielen also viele Dinge in diesem Zusammenhang eine Rolle. Aber das Entscheidende ist doch, dass man in der Politik in einem Maße Gestaltungsmöglichkeiten hat, die man woanders so schnell nicht wiederfindet. Ich habe wirklich einen hohen Respekt vor der Wirtschaft, aber dort sind die Dinge eben doch eindimensionaler oder doch weniger dimensional. In der Politik sind die Dinge immer multidimensional, breiter. Reuß: Sie waren zunächst einmal jedoch bei der Treuhandanstalt: Dort hatten Sie die doch sehr undankbare Aufgabe - denn das war ja nicht gerade leicht -, diese 8000 ehemaligen volkseigenen Betriebe zu privatisieren, zu sanieren oder sie teilweise auch stillzulegen. Dies alles aber immer mit dem Bemühen, möglichst viele Arbeitsplätze zu erhalten. Dann trat aber 1993 Jürgen Möllemann im Zusammenhang mit der so genannten Briefbogen- Affäre zurück. Er hatte auf dem Briefbogen des Bundeswirtschaftsministers für einen Einkaufswagenchip eines Verwandten geworben. Sie haben erneut Ihren Hut in den Ring geworfen und gewannen dann auch gegen zwei andere Kandidaten. Sie wurden also 1993 Bundeswirtschaftsminister: War das eine Art Höhepunkt Ihrer politischen Karriere? Rexrodt: Der Bundeswirtschaftsminister war zweifellos von der Verantwortung und auch, wenn Sie so wollen, von der Rangigkeit der Höhepunkt in meinem politischen Leben. Aber ich will doch noch etwas zu der Zeit davor sagen, zu meiner Zeit in der Treuhandanstalt. Das war zwar keine lange Zeit, aber wenn ich ehrlich bin, muss ich doch sagen, dass das die schwierigste und herausforderndste Aufgabe war. Zu einem anderen Teil war das aber auch die am meisten befriedigende Arbeit. Man hatte ungeheure Gestaltungsmöglichkeiten. Es gab ja keine Gesetze oder Vorschriften: Das wurde alles learning by doing gemacht, das musste sich alles aus der jeweiligen Situation heraus ergeben. Die Geschichte der Treuhand wird ohnehin erst noch geschrieben werden. Wir standen jedenfalls unter massiver Kritik: Es hieß, wir würden alles platt machen wollen. Aber im Grunde genommen haben wir – immer noch mit viel Geld im Hintergrund – damals eigentlich nur Zeit gebraucht, um privatisieren zu können. Zu dieser Privatisierung hat es nämlich nie eine Alternative gegeben. Das war schon eine sehr befriedigende Aufgabe. Ich bin ja von der Citibank weg und in die Politik bzw. in politiknahe Bereiche nicht deshalb gegangen, um Bundeswirtschaftsminister zu werden, sondern um diese hoch interessante Aufgabe bei der Umgestaltung Ostdeutschlands wahrnehmen zu können. Und dann kam eben das Amt des Bundeswirtschaftsministers. Die Politiker sagen ja immer alle, sie wären gerufen worden. Bei mir war das jedoch wirklich so. Möllemann war gescheitert: Der Chip und der Brief waren dabei jedoch nur der äußere Anlass, denn da hat es schon noch ganz andere Gründe gegeben. Man hat von Parteiseite wirklich zu mir gesagt: "So, jetzt musst du ran!" Und das habe ich dann auch gerne gemacht. Reuß: Auch als politischer Beobachter kann man es durchaus nachvollziehen, was das Faszinosum der Politik ausmacht. Andererseits ist man aber als Beobachter auch sehr froh darüber, nicht mitten drin zu sein. Denn manchmal wirkt das politische Geschehen schon auch so ein bisschen wie ein Haifischbecken. Der Schriftsteller Otto Galo hat einmal gesagt: "Politiker sind Meisterschützen der gezielten Indiskretion." Ist das so? Gilt das zumindest für einen Teil der Politik? Rexrodt: Ja, das gilt nicht für alle, aber das gehört einfach mit zum politischen Instrumentarium. Im Übrigen gehört das nicht nur zum politischen Instrumentarium, aber dort doch vor allem, weil die Presse einfach ein wichtiges Instrument der Politik, der Politikgestaltung ist. Aus diesem Grund gehört die Indiskretion wohl einfach mit dazu. Der politische Gegner oder der politische Freund wird "behandelt", indem man Informationen über ihn nach draußen gibt. Das ist natürlich kein sehr feines Umgehen miteinander. Reuß: Meistens als Information "unter zwei", also ohne Nennung der Quelle. Rexrodt: Ja, ja. Da gibt es unglaublich viele Möglichkeiten. Man kann z. B. auch durch Beschweigen eine Indiskretion begehen oder durch ein leichtes Lächeln oder durch das Verziehen einer Augenbraue usw. Das kann an der richtigen Stelle eine sehr viel größere Indiskretion sein als eine lange Ausführung. Ich will nicht sagen, dass ich davor immer gefeit gewesen wäre: Das stimmt nicht, denn auch ich musste das gelegentlich tun. Aber ich glaube schon von mir sagen zu können, dass das nicht das übliche Instrument gewesen ist, das ich eingesetzt habe. Man konnte sich häufig auch gar nicht wehren, weil man selbst hineingezogen wurde und die Indiskretion einfach eine große Rolle spielt. Es gibt ja auch das Element der Hintergrundgespräche: Kollegen von mir – ich nenne jetzt keine Namen, denn sie sind jetzt noch Weggefährten – hatten z. B. immer ihre so genannte Mittwochsrunde, also ihre Hintergrundgespräche. Unter dreien wurde dann irgendeine Information oder eine Abfälligkeit verbreitet. Reuß: "Unter drei" heißt im Journalismus: ohne Nennung der Quelle und als vertrauliche Information, die man nur indirekt einfließen lassen darf. Rexrodt: Ja, aber das konnte dennoch jedes Mal verwendet werden. Man hatte dann diese Informationen immer irgendwoher, aus dem Raum quasi. Reuß: "Aus gut unterrichteten Kreisen", heißt es in so einem Fall dann immer. Rexrodt: Es kann auch sein, dass die Journalisten irgendwem irgendwelche Worte in den Mund legen. Da heißt es z. B.: "Dann raunte der eine dem anderen zu..." Es raunte zwar nie jemand, aber in solche Sätze wurde dann halt die entsprechende Information verpackt. Diese Art Hintergrundgespräche, die da so manche "Weggefährten" machten, habe ich sehr wohl auch "genießen" dürfen. Denen musste ich schon auch immer begegnen. Reuß: Ich will das Ganze noch etwas stärker zuspitzen. Das Verhältnis zwischen Günter Rexrodt und der FDP scheint zumindest aus der Beobachtung heraus nicht immer ganz unbeschwert gewesen zu sein. Es gab auch Zeiten... Rexrodt: In der Bundesministerzeit! Reuß: Genau, als Sie Bundeswirtschaftsminister waren, gab es z. T. auch aus Ihrer eigenen Partei heftige Kritik. Ein ehemaliger Kabinettskollege hat z. B. einmal öffentlich Ihren Rücktritt gefordert. Der "Spiegel" schrieb damals: "Das Hau-den-Günter-Spiel in der FDP ist eine risikolose Sache." Und die ehemalige Bundesministerin Adam-Schwaetzer meinte einmal öffentlich: "Es ist schon eine Sauerei, wie mit Rexrodt umgegangen wird." Hat Sie dieser Umgang von Parteikollegen, von Parteifreunden mit Ihnen damals ein Stück weit geschmerzt? Rexrodt: Ja, sehr sogar. Das waren zwei, drei Personen, darunter eine sehr wichtige. Reuß: Wie kann man damit umgehen? Rexrodt: Man kann das eigentlich nur, indem man seine Arbeit trotzdem gut macht. Man braucht allerdings auch Freunde und Weggefährten. Ich hatte in der Fraktion, wie ich mir einbilde, immer eine satte Mehrheit. Abschießen konnte man mich also nicht, weil dort viele Leute meine Arbeit geschätzt haben. Mir wurde damals ja u. a. vorgeworfen, dass ich auf Reformen dränge, dass ich unbequeme Sachen sage, dass ich damit im Rentenbereich, im Ladenschlussbereich usw. Leute vor den Kopf stoße, dass ich den so genannten Mittelstand, den es in dieser einheitlichen Form gar nicht gibt, immer ein Stück weit verunsichere usw. All das wurde mir damals vorgeworfen. Und was ist heute? Heute machen sie alle das, was mir damals angelastet worden ist. Das hat mich schon sehr geschmerzt. Aber ich hatte eben auch sehr viele Freunde. Es gab daher keine Mehrheiten gegen mich. Aber es gab eben leider eine sehr wichtige Person in der Fraktion, die in dieser Zeit ganz gezielt meine Demontage betrieben hat, zweimal! Und ich muss Ihnen sagen, das hat mich schon sehr geschmerzt. Reuß: Nun hat die FDP ja viele Attribute, auch manche unglückliche. Manche kommen von ihr selbst: Da war z. B. mal von einer Spaßpartei die Rede, mal von der Partei der Besserverdienenden. Was ist denn die FDP für Sie? Rexrodt: Sie ist weder eine Spaßpartei noch eine Partei, wie Sie sie bezeichnen. Stattdessen sind wir eine politische Kraft, die eigentlich unverzichtbar ist. Wir nehmen den Menschen so, wie er ist: Wir sind eine ideologiefreie Partei, wir wissen, dass im Menschen alles angelegt ist, Gutes, Phantastisches, Großartiges, aber auch Schlimmes und Bösartiges. Und der Mensch muss nun einmal leider so genommen werden, wie er ist: Es kommt eben immer auf die Umstände an. Wir sagen, wir müssen die Kräfte, das Gute, das Dynamische, das im Menschen wohnt, freisetzen, indem wir eine Gesellschaft entwickeln, in der eben diese Leistungen und diese Freiheit und diese Selbstverantwortung sich entfalten können und nicht der Staat für alles sorgt. Und dann gibt es ja auch noch die Schwächeren: Die wollen wir nicht außen vor lassen, aber wenn die Kräfte und die Verantwortung des Einzelnen nicht gefördert werden, dann hat ein Gemeinwesen nicht die Ressourcen, nicht das Geld, nicht die Möglichkeit, um den wirklich Schwächeren zu helfen und ihnen zur Seite zu stehen und sie wirklich in die Gesellschaft zu integrieren. Ich glaube, das ist eine Botschaft, die enorm wichtig ist. Es ist doch auch ein Faktum, Herr Reuß, die Union, aus der christlichen Soziallehre kommend, bewegt sich in diese Richtung; auch die Sozialdemokraten, aus einer ähnlichen, aber unter einer anderen Überschrift stehenden Ideologie kommend, bewegen sich in diese Richtung. Ich stelle immer wieder fest – das mag nun wieder nach Hybris und anmaßend klingen –, dass die anderen Parteien in ihrer Programmatik und in ihrer konkreten Politik sich auf die Aussagen der FDP zu bewegen und eine Politik machen, die wir bereits vor Jahren – ich schließe mich hier persönlich mit ein – für die richtige gehalten haben. Das ist ein Faktum. Und trotzdem werden wir so kritisiert. Aber wir müssen da durch. Wir können uns auch nicht verbiegen, denn dann wären wir nicht mehr die FDP. Reuß: Ich würde gerne noch zwei Extremsituationen ansprechen, durch die Sie hindurch mussten, einmal als unmittelbar und einmal als mittelbar Beteiligter. Unmittelbar waren Sie durch Ihre Erkrankung an der Malaria betroffen: Als Sie 1996 in Südafrika waren, kamen Sie nämlich mit dieser Krankheit zurück. Sie lagen daraufhin drei Monate im Krankenhaus. Ich glaube, fast vier Wochen davon lagen Sie im künstlichen Tiefschlaf. Wenn man eine solche lebensbedrohliche Krankheit überstanden hat, ist man dann danach – das mag jetzt vielleicht etwas sehr groß klingen – ein anderer Mensch? Rexrodt: Ja. Man weiß dann einfach, dass das Eis ganz dünn ist, auf dem man geht. Und man weiß, dass dieses Leben, das man in vollen Zügen genießt, gestaltet und erleidet, von heute auf morgen, also innerhalb kürzester Zeit, zu Ende sein kann. Dies kann nicht nur durch schwere Krankheiten so kommen, sondern meinetwegen auch durch einen Verkehrsunfall usw. Es kann also immer etwas passieren. Man weiß dann wirklich, wie dünn das Eis ist, man erfährt auch, dass alles weitergeht: Man mag sich für noch so wichtig halten, wenn man nicht mehr da ist, geht dennoch alles weiter. Man lernt also, sich zu relativieren, man lernt, sein eigenes Gewicht und seine eigene Bedeutung einzuschätzen. Man wird nachdenklicher und auch gelassener. Das ist der eine Punkt, der bis heute geblieben ist. Der andere Punkt ist: Wenn man dann im Tagesgeschäft wieder gefordert ist, dann tritt das alles natürlich auch wieder in den Hintergrund. Man verhält sich dann eigentlich so, wie man es sich nicht hat vorstellen können, als man im Krankenbett gelegen hat. Aber wenn man dann im Urlaub oder am Wochenende doch wieder für ein paar Augenblicke alleine ist, dann kommen – auch jetzt noch, nach sieben Jahren – jedes Mal diese Bilder wieder hoch, die man hatte, als man im Krankenbett lag und die eigene Hilflosigkeit erleben musste. Das ist wirklich ein Trauma, das man nicht überwinden kann. Insofern hat das, so furchtbar das gewesen ist, meinem Leben auch etwas gegeben und hinzugefügt. Reuß: Die zweite Extremsituation, die man in der Politik ja nicht so häufig erlebt, war die Affäre Möllemann. Zum Schluss, im Bundestagswahlkampf, ging es um ein Flugblatt von Möllemann, das nicht abgestimmt war mit der FDP- Führung und in dem er die israelische Regierung und den damaligen stellvertretenden Vorsitzenden des Zentralrats der Juden in Deutschland, Michel Friedman, scharf angriff. Dieses Flugblatt war nicht nur nicht abgestimmt mit der FDP-Führung, es war offenbar auch dubios finanziert. Sie als Bundesschatzmeister der FDP mussten nun recherchieren, woher denn dieses Geld kam. Es gab dann auch Untersuchungen bei Möllemann privat, bei ihm zu Hause. Just an diesem Tag kam er dann durch einen Fallschirmsprung ums Leben. Es wird sich wohl restlos nie klären lassen, wie das war, aber es spricht einiges zumindest auch für Freitod. In der veröffentlichten Meinung gab es dann aber einige, die meinten, das ganze Verfahren innerhalb der FDP sei auch ein Stück weit Abrechnung mit Möllemann gewesen, der ja die FDP als Enfant terrible über Jahre hinweg geärgert hatte, wenn man es milde formuliert. Wurden in diesem ganzen Verfahren denn auch Fehler gemacht? Was kann man denn menschlich aus dieser ganzen Affäre lernen? Rexrodt: Schauen Sie, ich versuche das mal aus der Sicht dessen darzustellen, der die Verantwortung für die Finanzen der Partei inne hat. Es gibt da aber auch noch andere Fragen, die die Richtung der Partei betreffen, Fragen in der Richtung, wie sich Möllemann etabliert hatte und inwieweit man mit der Übernahme des "Projekts 18", das von ihm gekommen war, richtig oder falsch gehandelt hat. Aber das werde ich als Zweites beantworten, denn zunächst einmal zu meiner Sichtweise als Schatzmeister. Ich musste doch aufklären, ob die Partei zu Unrecht, also rechtswidrig, Spenden erhalten hat oder nicht. Wenn ich das nicht aufgeklärt hätte und nicht offen und frei und auch initiativ an diese Sachen herangegangen wäre, dann hätten die Sanktionsmechanismen aufgrund des neuen Parteiengesetzes gegriffen. Mit anderen Worten, die Partei hätte dann das Dreifache des in Rede stehenden Betrags an Strafe zahlen müssen. Sie wäre dann Pleite gewesen! Deshalb hat es nie eine Alternative gegeben als offen und initiativ an diese Sache heranzugehen. Ich verweise auf die SPD und die CDU, die immer Nebelbomben geworfen haben und die als Parteien dabei sehr schlecht gefahren sind. Die FDP ist das nicht: Wir sind, wie ich glaube, unbeschadet geblieben durch diese initiative und offensive Art, Schaden abzuwenden. Es gab aber auch nie eine Alternative dazu. Es gibt ein paar Parteifreunde, auch aus dem Möllemann-Lager, die sagen: "Der Rexrodt hätte auch anders handeln können!" Das ist alles Unsinn! Ich habe das nicht aus Jux und Tollerei gemacht. Hätte ich es anders gemacht, hätten wir es anders gemacht, dann wäre das für die Partei übel geworden. Reuß: Aber war nach all den Auseinandersetzungen, die auch Sie mit Möllemann gehabt hatten, nicht doch auch ein Stück weit Genugtuung mit dabei? Rexrodt: Nein, nein. Sie werden lachen, aber ich war kein persönlicher Feind von Herrn Möllemann, den ich ja genau kannte, was seine Zuverlässigkeit und diese Dinge angeht. Ich glaube, auch von seiner Seite aus war das nicht so. Möllemann hat mir in meiner Bundesministerzeit manchmal Knüppel zwischen die Beine geworfen und mir das Leben schwer gemacht, aber wir waren nicht verfeindet. Möllemann und ich waren nicht verfeindet! Das kann man wirklich nicht sagen. Insofern habe ich da keine persönlichen Rechnungen. Wenn, dann hätte ich diese persönlichen Rechnungen mit anderen, aber nicht mit Möllemann. Das ist aber nur der eine Komplex. Der andere Komplex ist das "Projekt 18", das ich im Grunde richtig fand und das ich auch unterstützt habe. Wir hatten die Chance, eine große Partei zu werden. Wir haben jedoch überzogen. Wir haben an einigen Stellen wirklich überzogen. Das weiß auch der Parteivorsitzende. Aber sich im Nachhinein hinzustellen und zu sagen, "Das war von vornherein Unsinn", das geht nicht. Einiges war Unsinn, wie beispielsweise einen Kanzlerkandidaten zu nominieren oder der Versuch, sich einklagen zu wollen in das Fernsehduell. Das waren Fehler, aber das Projekt, eine große Partei zu werden, war an sich ein richtiges Projekt. Dazu stehe ich bis heute. Reuß: Es gäbe noch so viel zu besprechen, aber wir sind leider am Ende unsere Sendezeit angelangt. Ich darf mich für das Gespräch ganz herzlich bedanken und würde gerne mit einem Zitat über Sie aus der Tageszeitung "Die Welt" enden: "Wo es so viele Trommler wie in der Politik gibt, zählt jemand, der auch mal die Finger ruhig halten kann, besonders viel. Und so ist Günter Rexrodt weit mehr als eine Beruhigungspille, die FDP-Chef Westerwelle all jenen in der Partei verabreicht, die fürchten, die Liberalen könnten sich in ihrer Aufbruchsstimmung allzu sehr an sich selbst berauschen. Rexrodt dient vor allem als Identifikationsfigur für jene Wähler, die von der FDP auch weiterhin die rückhaltlose Vertretung ihrer Interessen erwarten." Nochmals ganz herzlichen Dank, Herr Dr. Rexrodt. Verehrte Zuschauer, das war unser Alpha-Forum, heute mit Dr. Günter Rexrodt, dem ehemaligen Bundeswirtschaftsminister. Herzlichen Dank für Ihr Interesse und fürs Zuschauen und auf Wiedersehen.

© Bayerischer Rundfunk