Inhaltsverzeichnis Plenarprotokoll 18/39

Deutscher

Stenografischer Bericht

39. Sitzung

Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014

Inhalt:

Glückwünsche zum Geburtstag der Abgeord- (SPD) ...... 3332 B neten , Robert Hochbaum und ...... 3315 A (CDU/CSU) ...... 3333 B Absetzung der Tagesordnungspunkte 11 und 12 3315 B (CDU/CSU) ...... 3334 D Erweiterung der Tagesordnung ...... 3315 B Tagesordnungspunkt 5:

Tagesordnungspunkt 4: a) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Zwei- Erste Beratung des von der Bundesregierung ten Gesetzes zur Änderung des Staats- eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur angehörigkeitsgesetzes Stärkung der Tarifautonomie (Tarifauto- Drucksache 18/1312 ...... 3336 A nomiestärkungsgesetz) Drucksache 18/1558 ...... 3315 B b) Erste Beratung des von den Abgeordneten , Bundesministerin , Sevim Dağdelen, Dr. André BMAS ...... 3315 D Hahn, weiteren Abgeordneten und der (DIE LINKE) ...... 3317 B Fraktion DIE LINKE eingebrachten Ent- wurfs eines Gesetzes über die Aufhe- Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/ bung der Optionsregelung im Staatsan- DIE GRÜNEN) ...... 3318 C gehörigkeitsrecht (CDU/CSU) ...... 3320 A Drucksache 18/1092 ...... 3336 A Michael Schlecht (DIE LINKE) ...... 3321 B Dr. Günter Krings, Parl. Staatssekretär BMI ...... 3336 B Karl Schiewerling (CDU/CSU) ...... 3321 D (Köln) (BÜNDNIS 90/ (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 3337 D DIE GRÜNEN) ...... 3322 A Sevim Dağdelen (DIE LINKE) ...... 3338 D Dr. Carola Reimann (SPD) ...... 3323 B Aydan Özoguz, Staatsministerin (DIE LINKE) ...... 3324 B BK ...... 3340 B Dr. (CDU/CSU) ...... 3325 B Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/ Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 3342 C DIE GRÜNEN) ...... 3326 C (CDU/CSU) ...... 3344 B (CDU/CSU) ...... 3328 A Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/ (SPD) ...... 3329 C DIE GRÜNEN) ...... 3346 D (CDU/CSU) ...... 3331 A Helmut Brandt (CDU/CSU) ...... 3347 A II Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. , Donnerstag, den 5. Juni 2014

Ulla Jelpke (DIE LINKE) ...... 3347 C Deutschland und der Republik der Phil- ippinen zur Vermeidung der Doppelbe- Dr. Eva Högl (SPD) ...... 3348 C steuerung auf dem Gebiet der Steuern Özcan Mutlu (BÜNDNIS 90/ vom Einkommen und vom Vermögen DIE GRÜNEN) ...... 3350 D Drucksache 18/1568 ...... 3370 B Gerold Reichenbach (SPD) ...... 3352 A b) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- (CDU/CSU) ...... 3352 B zes zu dem Luftverkehrsabkommen Özcan Mutlu (BÜNDNIS 90/ vom 25. und 30. April 2007 zwischen DIE GRÜNEN) ...... 3353 C den Vereinigten Staaten von Amerika einerseits und der Europäischen Ge- Christina Kampmann (SPD) ...... 3354 B meinschaft und ihren Mitgliedstaaten (CDU/CSU) ...... 3355 B andererseits (Vertragsgesetz EU-USA- Luftverkehrsabkommen – EU-USA- LuftverkAbkG) Tagesordnungspunkt 6: Drucksache 18/1569 ...... 3370 C a) Erste Beratung des von den Abgeordneten c) Erste Beratung des von der Bundesregie- Bärbel Höhn, , Sylvia rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- Kotting-Uhl, weiteren Abgeordneten und zes zu dem Europa-Mittelmeer-Luftver- der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- kehrsabkommen vom 15. Dezember NEN eingebrachten Entwurfs eines Geset- 2010 zwischen der Europäischen Union zes zur Festlegung nationaler Klima- und ihren Mitgliedstaaten einerseits schutzziele und zur Förderung des und dem Haschemitischen Königreich Klimaschutzes (Klimaschutzgesetz – Jordanien andererseits (Vertragsgesetz KlimaSchG) Europa-Mittelmeer-Jordanien-Luftver- Drucksache 18/1612 ...... 3356 B kehrsabkommen – Euromed-JOR-Luft- verkAbkG) b) Antrag der Abgeordneten Dr. Julia Drucksache 18/1570...... 3370 C Verlinden, Christian Kühn (Tübingen), , weiterer Abgeordneter d) Erste Beratung des von der Bundesregie- und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- GRÜNEN: Die Energiewende durch zes zu dem Abkommen vom 26. Juni Energieeffizienz voranbringen – EU- 2012 zwischen der Europäischen Union Energieeffizienzrichtlinie unverzüglich und ihren Mitgliedstaaten und der Re- umsetzen publik Moldau über den Gemeinsamen Drucksache 18/1619 ...... 3356 C Luftverkehrsraum (Vertragsgesetz EU- Moldau-Luftverkehrsabkommen – EU- Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/ MDA-LuftverkAbkG) DIE GRÜNEN) ...... 3356 C Drucksache 18/1571 ...... 3370 D Dr. (CDU/CSU) ...... 3358 A e) Erste Beratung des von der Bundesregie- Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE) ...... 3359 B rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zur Reform der Besonderen Aus- (SPD) ...... 3360 B gleichsregelung für stromkosten- und Dr. (CDU/CSU) ...... 3362 B handelsintensive Unternehmen Drucksache 18/1572 ...... 3370 D (DIE LINKE) ...... 3364 A f) Erste Beratung des von der Bundesregie- Dr. (SPD) ...... 3365 A rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- Dr. (BÜNDNIS 90/ zes zur Änderung des Umweltinforma- DIE GRÜNEN) ...... 3366 D tionsgesetzes Drucksache 18/1585 ...... 3371 A Hansjörg Durz (CDU/CSU) ...... 3367 C g) Antrag der Abgeordneten Cornelia Carsten Müller (Braunschweig) Möhring, Birgit Wöllert, Sabine (CDU/CSU) ...... 3369 A Zimmermann (Zwickau), weiterer Abge- ordneter und der Fraktion DIE LINKE: Zukunft der Hebammen und Entbin- Tagesordnungspunkt 32: dungspfleger sichern – Finanzielle Sicher- heit und ein neues Berufsbild schaffen a) Erste Beratung des von der Bundesregie- Drucksache 18/1483 ...... 3371 A rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zu dem Abkommen vom 9. Septem- h) Antrag der Abgeordneten Heike Hänsel, ber 2013 zwischen der Bundesrepublik , Wolfgang Gehrcke, wei- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014 III

terer Abgeordneter und der Fraktion DIE wurfs eines Gesetzes zur Weiterent- LINKE: Verhandlungen über die Wirt- wicklung der Finanzstruktur und schaftspartnerschaftsabkommen – Neu- der Qualität in der gesetzlichen start ohne Drohungen und Fristen Krankenversicherung (GKV-Fi- Drucksache 18/1615 ...... 3371 A nanzstruktur- und Qualitäts-Weiter- entwicklungsgesetz – GKV-FQWG) i) Antrag der Abgeordneten Cornelia Drucksachen 18/1307, 18/1579, 18/1657 3372 C Möhring, , Sabine Zimmermann (Zwickau), weiterer Abge- – Bericht des Haushaltsausschusses ge- ordneter und der Fraktion DIE LINKE: mäß § 96 der Geschäftsordnung Bundestagsmehrheit nutzen – Pille da- Drucksache 18/1660 ...... 3372 D nach jetzt aus der Rezeptpflicht entlas- b) Beschlussempfehlung und Bericht des sen Ausschusses für Gesundheit Drucksache 18/1617 ...... 3371 B – zu dem Antrag der Abgeordneten j) Unterrichtung durch die Nationale Stelle , Sabine Zimmermann zur Verhütung von Folter: Jahresbericht (Zwickau), Matthias W. Birkwald, 2013 der Bundesstelle und der Länder- weiterer Abgeordneter und der Frak- kommission tion DIE LINKE: Einführung des Drucksache 18/1178 ...... 3371 B neuen Entgeltsystems in der Psychia- trie stoppen Tagesordnungspunkt 33: – zu dem Antrag der Abgeordneten Maria Klein-Schmeink, Elisabeth a) Zweite und dritte Beratung des von der Scharfenberg, Kordula Schulz-Asche, Bundesregierung eingebrachten Entwurfs weiterer Abgeordneter und der Frak- eines Gesetzes zu dem Abkommen vom tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: 2. Dezember 2010 zwischen der Euro- Unabhängige Patientenberatung päischen Union und ihren Mitgliedstaa- stärken und ausbauen ten einerseits und Georgien andererseits über den Gemeinsamen Luftverkehrs- Drucksachen 18/557, 18/574, 18/1657 . . . 3372 D raum (Vertragsgesetz EU-Georgien- Annette Widmann-Mauz, Parl. Staats- Luftverkehrsabkommen – EU-GEO- sekretärin BMG ...... 3373 A LuftverkAbkG) Drucksachen 18/1224, 18/1641 ...... 3371 C Harald Weinberg (DIE LINKE) ...... 3374 C b) Antrag der Abgeordneten Richard Pitterle, Dr. (SPD) ...... 3375 D Jan Korte, , weiterer Abgeord- Maria Klein-Schmeink (BÜNDNIS 90/ neter und der Fraktion DIE LINKE: zu DIE GRÜNEN) ...... 3377 A dem Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Ra- Kathrin Vogler (DIE LINKE) ...... 3377 D tes über Gesellschaften mit beschränk- Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU) ...... 3378 C ter Haftung mit einem einzigen Gesell- schafter – KOM(2014) 212 endg.; (SPD) ...... 3379 D Ratsdok. 8842/14 – hier Stellungnahme Rudolf Henke (CDU/CSU) ...... 3381 A gemäß Artikel 6 des Protokolls Nr. 2 zum Vertrag von Lissabon (Grundsätze Maria Klein-Schmeink (BÜNDNIS 90/ der Subsidiarität und der Verhältnis- DIE GRÜNEN) ...... 3381 C mäßigkeit) – Umgehung der Unterneh- mensmitbestimmung bei Ein-Personen- GmbH verhindern Tagesordnungspunkt 8: Drucksache 18/1618 ...... 3371 D – Beschlussempfehlung und Bericht des c)–h) Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag Beratung der Beschlussempfehlungen des der Bundesregierung: Fortsetzung der Petitionsausschusses: Sammelübersich- deutschen Beteiligung an der interna- ten 54, 55, 56, 57, 58 und 59 zu Petitionen tionalen Sicherheitspräsenz in Kosovo Drucksachen 18/1476, 18/1477, 18/1478, auf der Grundlage der Resolution 1244 18/1479, 18/1480, 18/1481 ...... 3372 A (1999) des Sicherheitsrates der Verein- ten Nationen vom 10. Juni 1999 und des Militärisch-Technischen Abkommens Tagesordnungspunkt 7: zwischen der internationalen Sicher- heitspräsenz (KFOR) und den Regie- a) – Zweite und dritte Beratung des von der rungen der Bundesrepublik Jugosla- Bundesregierung eingebrachten Ent- wien (jetzt: Republik Serbien) und der IV Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014

Republik Serbien vom 9. Juni 1999 dem Antrag der Abgeordneten Ulla Drucksachen 18/1415, 18/1653 ...... 3382 D Jelpke, Matthias W. Birkwald, Jan Korte, weiterer Abgeordneter und der Fraktion – Bericht des Haushaltsausschusses gemäß DIE LINKE: Renten für Leistungsbe- § 96 der Geschäftsordnung rechtigte des Ghetto-Rentengesetzes ab Drucksache 18/1654 ...... 3383 A dem Jahr 1997 nachträglich auszahlen (SPD) ...... 3383 A Drucksachen 18/636, 18/1649 ...... 3402 D Inge Höger (DIE LINKE) ...... 3384 B Gabriele Lösekrug-Möller, Parl. Staats- sekretärin BMAS ...... 3403 A (CDU/CSU) ...... 3385 B Matthias W. Birkwald (DIE LINKE) ...... 3403 D Dr. (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 3386 D Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU) . . . 3404 C Julia Bartz (CDU/CSU) ...... 3387 C Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN) ...... 3406 A (SPD) ...... 3388 C Kerstin Griese (SPD) ...... 3407 A (CDU/CSU) ...... 3389 C Matthäus Strebl (CDU/CSU) ...... 3408 B Namentliche Abstimmung...... 3390 D Zusatztagesordnungspunkt 1: Ergebnis...... 3392 C Antrag der Abgeordneten , Dr. Franziska Brantner, Tom Koenigs, weite- Tagesordnungspunkt 9: rer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN: Mehr Anerkennung Antrag der Abgeordneten Matthias W. für Peacekeeper in internationalen Frie- Birkwald, Sabine Zimmermann (Zwickau), denseinsätzen Caren Lay, weiterer Abgeordneter und der Drucksache 18/1460 ...... 3409 C Fraktion DIE LINKE: Angleichung der Ren- ten in Ostdeutschland an das Westniveau Agnieszka Brugger (BÜNDNIS 90/ sofort auf den Weg bringen DIE GRÜNEN) ...... 3409 D Drucksache 18/982 ...... 3391 A (CDU/CSU) ...... 3411 A Matthias W. Birkwald (DIE LINKE) ...... 3391 A Kathrin Vogler (DIE LINKE) ...... 3412 A (CDU/CSU) ...... 3394 B Dr. Ute Finckh-Krämer (SPD) ...... 3413 A Markus Kurth (BÜNDNIS 90/ Agnieszka Brugger (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 3396 A DIE GRÜNEN) ...... 3413 C Daniela Kolbe (SPD) ...... 3397 B Dr. Hans-Peter Uhl (CDU/CSU) ...... 3414 B Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU) . . . . 3398 C Dr. Karl-Heinz Brunner (SPD) ...... 3415 B Matthias W. Birkwald (DIE LINKE) . . . . . 3399 C Michael Vietz (CDU/CSU) ...... 3416 A Waltraud Wolff (Wolmirstedt) (SPD) ...... 3400 D

Dr. (CDU/CSU) ...... 3401 D Tagesordnungspunkt 21: Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- Tagesordnungspunkt 10: schusses für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit zu der Verordnung der Bun- a) – Zweite und dritte Beratung des von der desregierung: Siebte Verordnung zur Ände- Bundesregierung eingebrachten Ent- rung der Verpackungsverordnung wurfs eines Ersten Gesetzes zur Drucksachen 18/1281, 18/1379 (neu) Nr. 2.3, Änderung des Gesetzes zur Zahl- 18/1583 ...... 3417 B barmachung von Renten aus Be- schäftigungen in einem Ghetto (SPD) ...... 3417 B Drucksachen 18/1308, 18/1577, 18/1649 3402 D (DIE LINKE) ...... 3418 D – Bericht des Haushaltsausschusses ge- Dr. (CDU/CSU) ...... 3419 C mäß § 96 der Geschäftsordnung Drucksache 18/1650...... 3402 D Peter Meiwald (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 3420 C b) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Soziales zu (CDU/CSU) ...... 3421 B Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014 V

Tagesordnungspunkt 13: Ergänzung personalrechtlicher Bestim- mungen Beschlussempfehlung und Bericht des Fi- Drucksachen 18/1311, 18/1586, 18/1651 . 3438 B nanzausschusses zu dem Antrag der Abgeord- neten Susanna Karawanskij, Klaus Ernst, – Bericht des Haushaltsausschusses gemäß Dr. , weiterer Abgeordneter § 96 der Geschäftsordnung und der Fraktion DIE LINKE: Den Grauen Drucksache 18/1652 ...... 3438 B Kapitalmarkt durchgreifend regulieren Dr. (SPD) ...... 3438 C Drucksachen 18/769, 18/1656 ...... 3422 B Sabine Zimmermann (Zwickau) (DIE (CDU/CSU) ...... 3422 C LINKE) ...... 3439 C Susanna Karawanskij (DIE LINKE) ...... 3423 B Jutta Eckenbach (CDU/CSU) ...... 3440 C Dr. (SPD) ...... 3424 B Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/ Dr. (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 3441 C DIE GRÜNEN) ...... 3425 C

Dr. Volker Ullrich (CDU/CSU) ...... 3426 C Tagesordnungspunkt 17: Antrag der Abgeordneten Frank Tempel, Jan Tagesordnungspunkt 14: Korte, Matthias W. Birkwald, weiterer Abge- ordneter und der Fraktion DIE LINKE sowie Zweite und dritte Beratung des von der Bun- der Abgeordneten Dr. Harald Terpe, Maria desregierung eingebrachten Entwurfs eines Klein-Schmeink, Elisabeth Scharfenberg, Gesetzes zur Anpassung von Gesetzen auf weiterer Abgeordneter und der Fraktion dem Gebiet des Finanzmarktes BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Beabsich- Drucksachen 18/1305, 18/1574, 18/1648 . . . . 3427 C tigte und unbeabsichtigte Auswirkungen Fritz Güntzler (CDU/CSU) ...... 3427 D des Betäubungsmittelrechts überprüfen Drucksache 18/1613 ...... 3442 D Susanna Karawanskij (DIE LINKE) ...... 3428 D Frank Tempel (DIE LINKE) ...... 3443 A Manfred Zöllmer (SPD) ...... 3429 D (CDU/CSU) ...... 3443 D Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 3430 C Frank Tempel (DIE LINKE) ...... 3446 A Dr. (CDU/CSU) ...... 3431 C Emmi Zeulner (CDU/CSU) ...... 3446 C (SPD) ...... 3432 C Dr. Harald Terpe (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 3446 C (SPD) ...... 3447 B Tagesordnungspunkt 15: Antrag der Abgeordneten Dr. Harald Terpe, Maria Klein-Schmeink, Elisabeth Scharfenberg, Tagesordnungspunkt 18: weiterer Abgeordneter und der Fraktion Zweite und dritte Beratung des von der Bun- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Mehr Trans- desregierung eingebrachten Entwurfs eines parenz der Selbstverwaltung im Gesund- Gesetzes zur Anpassung steuerlicher Rege- heitswesen lungen an die Rechtsprechung des Bundes- Drucksache 18/1462 ...... 3433 B verfassungsgerichts Dr. Harald Terpe (BÜNDNIS 90/ Drucksachen 18/1306, 18/1575, 18/1647 . . . . 3448 C DIE GRÜNEN) ...... 3433 C (CDU/CSU) ...... 3448 C Reiner Meier (CDU/CSU) ...... 3434 C Susanna Karawanskij (DIE LINKE) ...... 3449 D Harald Weinberg (DIE LINKE) ...... 3435 A (SPD) ...... 3451 A (SPD) ...... 3435 D (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 3452 B (CDU/CSU) ...... 3437 D Philipp Graf Lerchenfeld (CDU/CSU) . . . . . 3453 C

Tagesordnungspunkt 16: Tagesordnungspunkt 19: – Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs Antrag der Abgeordneten Kathrin Vogler, eines Achten Gesetzes zur Änderung Wolfgang Gehrcke, Jan van Aken, weiterer des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch – Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: VI Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014

Umwidmung nicht genutzter Bundesmittel Dr. (CDU/CSU) ...... 3464 B der United Nations Mission in South Sudan Dr. Volker Ullrich (CDU/CSU) ...... 3466 A (UNMISS) für die Unterstützung des unbe- waffneten Schutzes der Zivilbevölkerung Dr. (SPD) ...... 3466 D im Südsudan Drucksache 18/1614 ...... 3454 C Dr. (SPD) ...... 3467 D Kathrin Vogler (DIE LINKE) ...... 3454 D (DIE LINKE) ...... 3468 D Thorsten Frei (CDU/CSU) ...... 3455 C Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 3469 C Agnieszka Brugger (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 3456 B (SPD) ...... 3457 B Tagesordnungspunkt 23: Kathrin Vogler (DIE LINKE) ...... 3457 D a) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- Emmi Zeulner (CDU/CSU) ...... 3459 B zes zur Änderung des Antiterrordatei- gesetzes und anderer Gesetze Tagesordnungspunkt 20: Drucksache 18/1565 ...... 3470 C Zweite und dritte Beratung des von der Bun- b) Unterrichtung durch die Bundesregierung: desregierung eingebrachten Entwurfs eines Bericht zur Evaluierung des Antiterror- Gesetzes zur Änderung des Rindfleischeti- dateigesetzes kettierungsgesetzes und des Legehennen- Drucksache 17/12665 (neu) ...... 3470 C betriebsregistergesetzes (CDU/CSU) ...... 3470 D Drucksachen 18/1286, 18/1639...... 3460 D Uli Grötsch (SPD) ...... 3471 D Thomas Mahlberg (CDU/CSU) ...... 3460 D Ulla Jelpke (DIE LINKE) ...... 3473 A (CDU/CSU) ...... 3461 C (BÜNDNIS 90/ Elvira Drobinski-Weiß (SPD) ...... 3462 B DIE GRÜNEN) ...... 3474 A (DIE LINKE) ...... 3462 D Dr. Günter Krings, Parl. Staatssekretär (BÜNDNIS 90/ BMI ...... 3474 C DIE GRÜNEN) ...... 3463 B Tagesordnungspunkt 24: Tagesordnungspunkt 22: Erste Beratung des von der Bundesregierung a) Beschlussempfehlung und Bericht des eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ausschusses für Recht und Verbraucher- Anpassung des nationalen Steuerrechts an schutz: zu dem Vorschlag für eine Ver- den Beitritt Kroatiens zur EU und zur Än- ordnung des Rates über die Errichtung derung weiterer steuerlicher Vorschriften der Europäischen Staatsanwaltschaft Drucksache 18/1529 ...... 3475 C (EPPO) – KOM(2013) 534 endg.; Rats- (CDU/CSU) ...... 3475 D dok. 12558/13 – hier: a) Stellungnahme gegenüber der Bundesregierung gemäß (SPD) ...... 3476 C Artikel 23 Absatz 3 des Grundgesetzes, Richard Pitterle (DIE LINKE) ...... 3477 D b) Politischer Dialog mit den EU-Insti- tutionen Lisa Paus (BÜNDNIS 90/ Drucksache 18/1658 ...... 3464 A DIE GRÜNEN) ...... 3478 C b) Antrag der Abgeordneten Halina Wawzyniak, Jan Korte, Dr. , Tagesordnungspunkt 25: weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: zu dem Vorschlag für eine Unterrichtung durch die Bundesregierung: Verordnung des Rates über die Errich- Bericht der Bundesregierung 2013 nach § 7 tung der Europäischen Staatsanwalt- des Gesetzes zur Einsetzung eines Nationa- schaft (EPPO) – KOM(2013) 534 endg.; len Normenkontrollrates: Bessere Recht- Ratsdok. 12558/13 – hier: a) Stellung- setzung 2013: Erfolge dauerhaft sichern – nahme gegenüber der Bundesregierung zusätzlichen Aufwand vermeiden gemäß Artikel 23 Absatz 3 des Grund- Drucksache 18/866 ...... 3479 A gesetzes, b) Politischer Dialog mit den Helmut Nowak (CDU/CSU) ...... 3479 A EU-Institutionen Drucksache 18/1646 ...... 3464 A Andrea Wicklein (SPD) ...... 3481 A Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014 VII

Michael Schlecht (DIE LINKE) ...... 3482 B , , , Renate Künast, , Irene Mihalic, Dr. Thomas Gambke (BÜNDNIS 90/ Özcan Mutlu, Dr. , Hans- DIE GRÜNEN) ...... 3482 D Christian Ströbele und der Fraktion Bünd- nis 90/Die Grünen zum Entwurf eines Geset- Nächste Sitzung...... 3483 D zes zur Anpassung steuerlicher Regelungen an die Rechtsprechung des Bundesverfas- sungsgerichts (Tagesordnungspunkt 18). . . . . 3486 A Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten ...... 3485 A Anlage 4 Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Anlage 2 (SPD) zu den Abstimmun- gen über die Änderungsanträge der Abgeord- Neuabdruck der Kurzintervention der Abge- neten Volker Beck (Köln), Lisa Paus, Ulle ordneten Sevim Dağdelen (DIE LINKE) Schauws, Luise Amtsberg, Kai Gehring, (38. Sitzung, Tagesordnungspunkt 1) ...... 3485 B Katja Keul, Renate Künast, Monika Lazar, Irene Mihalic, Özcan Mutlu, Dr. Konstantin von Notz, Hans-Christian Ströbele und der Anlage 3 Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zum Ent- wurf eines Gesetzes zur Anpassung steuerli- Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten cher Regelungen an die Rechtsprechung des , Dr. , Bärbel Bas, Bundesverfassungsgerichts (Tagesordnungs- (), Dr. Karl-Heinz punkt 18) ...... 3486 D Brunner, Martin Dörmann, Elvira Drobinski- Weiß, Michaela Engelmeier-Heite, Dr. Johannes Fechner, Gabriela Heinrich, Anlage 5 , Gabriele Hiller-Ohm, Dr. Eva Högl, Frank Junge, Christina Kampmann, Erklärung nach § 31 GO des Abgeordneten , Daniela Kolbe, Dr. Carsten Sieling (SPD) zur Abstimmung Dr. , Michelle Müntefering, über den Änderungsantrag der Abgeordneten Dr. Simone Raatz, Dr. Carola Reimann, Volker Beck (Köln), Lisa Paus, , , Sönke Rix, Dr. Martin Luise Amtsberg, Kai Gehring, Katja Keul, Rosemann, Michael Roth (Heringen), Susann Renate Künast, Monika Lazar, Irene Mihalic, Rüthrich, Annette Sawade, Özcan Mutlu, Dr. Konstantin von Notz, Hans- (Wetzlar), Matthias Schmidt (Berlin), Michael Christian Ströbele und der Fraktion Bünd- Thews, und Dr. Jens nis 90/Die Grünen zum Entwurf eines Geset- Zimmermann (alle SPD) zur Abstimmung zes zur Anpassung steuerlicher Regelungen über den Änderungsantrag der Abgeordneten an die Rechtsprechung des Bundesverfas- Volker Beck (Köln), Lisa Paus, Ulle Schauws, sungsgerichts (Tagesordnungspunkt 18). . . . . 3488 A

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39. Sitzung

Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014

Beginn: 9.02 Uhr

Präsident Dr. : Ausschuss für Bildung, Forschung und Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Technikfolgenabschätzung Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 der GO Sitzung ist eröffnet. Nehmen Sie bitte Platz. Hierzu ist nach einer interfraktionellen Vereinbarung Ich beginne mit der erfreulichen Mitteilung, dass die eine Aussprache von 96 Minuten vorgesehen. – Auch Kollegen Rudolf Henke und Robert Hochbaum heute dazu erkenne ich keinen Widerspruch. Dann verfahren ihren 60. Geburtstag feiern. wir so. (Beifall) Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort der Sie haben sich dafür die bestmögliche Kulisse ausge- Bundesministerin für Arbeit und Soziales, Andrea sucht. Nahles. (Vereinzelt Heiterkeit) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) (B) Jedenfalls nutzen wir diese Gelegenheit gerne, Ihnen (D) beiden unsere herzlichen Glückwünsche für das neue Andrea Nahles, Bundesministerin für Arbeit und Lebensjahr zu übermitteln. Das gilt auch für den Kolle- Soziales: gen Herbert Behrens, der vor wenigen Tagen seinen Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir 60. Geburtstag gefeiert hat. beraten heute ein Gesetzesvorhaben, das eine tiefe und (Beifall) grundlegende Bedeutung für unser Land hat: das Tarif- paket. Nicht ohne Grund haben wir das Gesetz „Gesetz Interfraktionell ist vereinbart worden, den Tagesord- zur Stärkung der Tarifautonomie“ genannt. Denn dass nungspunkt 11 abzusetzen. Statt dieses Tagesordnungs- Deutschland wirtschaftlich stark ist, verdanken wir ge- punktes soll der Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die rade auch der guten Tradition verlässlicher Tarifpartner- Grünen auf der Drucksache 18/1460 mit dem Titel schaft und Tarifautonomie. „Mehr Anerkennung für Peacekeeper in internationalen Friedenseinsätzen“ als Zusatzpunkt aufgerufen werden. Dass wir besser als andere in Europa durch die Krise Auch der Tagesordnungspunkt 12 soll abgesetzt werden; gekommen sind, dazu hat das gemeinsame verantwortli- an dieser Stelle soll die Beratung des Tagesordnungs- che Handeln von Arbeitgebern und Arbeitnehmern einen punktes 21 erfolgen. Sind Sie mit diesen Verabredungen wesentlichen Beitrag geleistet. Die Tarifautonomie ist einverstanden? – Das ist offenkundig der Fall. Dann ver- von zentraler Bedeutung für unser Arbeits- und Wirt- fahren wir so. schaftsleben. Sie ist ein Eckpfeiler der sozialen Markt- wirtschaft. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 4 auf: (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- der CDU/CSU) gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Stär- kung der Tarifautonomie (Tarifautonomie- Zwei gleich starke Partner handeln den Wert der Arbeit stärkungsgesetz) in ihrer Branche aus. Damit sind wir über viele Jahr- zehnte gut gefahren. Die Tarifautonomie sichert verant- Drucksache 18/1558 wortliche Abschlüsse und hat eine partnerschaftliche Überweisungsvorschlag: kompromiss- und konsensorientierte Wirtschaftstradi- Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) tion begründet. Sie hat sozialen Frieden im Land und da- Innenausschuss mit auch Stabilität für die gesamte Wirtschaft gesichert. Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Ausschuss für Ernährung und Landwirschaft Sie hat den Arbeitgebern Wettbewerbssicherheit gege- Ausschuss für Gesundheit ben, da in den Branchen für alle die gleichen Lohnbedin- 3316 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014

Bundesministerin Andrea Nahles (A) gungen gelten, und sie hat für Friedenspflicht gesorgt. Zum anderen brauchen wir eine klare Grenze nach un- (C) Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern bietet sie ten, und das geht nur mit dem flächendeckenden gesetz- Schutz, Einkommenssicherheit und gleichzeitig die lichen Mindestlohn. Das Tarifpaket, das wir hier heute Chance zur Mitbestimmung. vorlegen, verbindet vernünftig und wirksam genau diese beiden Teile der Antwort. Gerade wegen dieser Erfolge dürfen wir die Augen aber nicht vor den Problemen verschließen, die in den (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten letzten Jahren parallel zu den genannten Erfolgen immer der CDU/CSU und der Abg. Beate Müller- deutlicher geworden sind. Die Tarifautonomie hat Risse Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) bekommen. Die Stärkung der Tarifautonomie und der Sozialpart- Gestatten Sie mir, einige Zahlen dazu zu nennen: nerschaft erreichen wir, indem wir die Allgemeinver- bindlicherklärung von Tarifverträgen erleichtern. Da- Lag der Anteil der Beschäftigten in tarifgebundenen durch geben wir den Sozialpartnern wieder das Heft des Betrieben in Westdeutschland 1980 noch bei 91 Prozent, Handelns in die Hand. Wir sorgen dafür, dass sie wieder so waren es 1998 nur noch 76 Prozent, und heute liegen mehr Einfluss bekommen und die Arbeitswelt wieder wir in Westdeutschland bei 60 Prozent, während es in wirksam gestalten können. Die Regeln, die sie in Ostdeutschland sogar nur 48 Prozent sind. Betrachtet gemeinsamer Verantwortung für Betrieb und Branche man die Betriebe, dann stellt man fest, dass im Osten nur aushandeln, werden künftig verstärkt wieder für alle Un- noch jeder fünfte Betrieb einem Tarifvertrag unterliegt. ternehmen gelten, auch die, die ansonsten nicht tarifge- Das ist eine dramatische Entwicklung. bunden sind. Die Aushöhlung der Tarifpartnerschaft (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten wird unterbunden, die Flucht aus gemeinsam festgeleg- der CDU/CSU) ten vernünftigen Mindeststandards wird erschwert. Das ist Verantwortung und Gestaltungswille. Im europäischen Vergleich ist Deutschland von einer Spitzenposition ins Mittelfeld zurückgefallen. Österreich (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Beate etwa, die skandinavischen Staaten, Frankreich und Ita- Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- lien verzeichnen auch weiterhin eine hohe Tarifbindung NEN]) von 85 bis 97 Prozent. In diesen Staaten gibt es, wie es Liebe Kolleginnen und Kollegen, der am meisten be- in Deutschland traditionell auch der Fall ist, meist kei- achtete und diskutierte Teil des Tarifpaketes ist zweifels- nen nationalen, sondern lediglich auf einzelne Wirt- ohne der allgemeine gesetzliche Mindestlohn. Auf den schaftszweige beschränkte Mindestlöhne. In Ländern ersten Blick sieht es wie ein Eingriff in die Tarifautono- mit einer niedrigeren Tarifbindung hingegen wird über- (B) mie aus, wenn wir den Mindestlohn gesetzlich festlegen. (D) wiegend über ein allgemeines nationales Mindestlohnre- Auf den ersten Blick wirkt das wie ein Widerspruch zu gime eine Lohngrenze nach unten verbindlich festgelegt. dem, was ich vorhin gesagt habe und was wir mit der Deshalb ist es nicht verwunderlich, dass mit sinkender Stärkung der Tarifautonomie in diesem Gesetz erreichen Tarifbindung in Deutschland auch die Debatte über ei- wollen. Die weißen Flecken, von denen ich gesprochen nen allgemeinen gesetzlichen Mindestlohn begann. habe, zwingen uns aber dazu, diesen Eingriff vorzuneh- Der Weg sollte – darüber waren wir uns in der letzten men. Großen Koalition einig – zunächst über branchenbezo- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten gene Mindestlöhne gehen. Inzwischen sind durch Bran- der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE chenmindestlöhne über 3 Millionen Arbeitnehmerinnen GRÜNEN) und Arbeitnehmer vor Lohndumping geschützt – übri- gens ohne dass es zu dem von manchen im Land be- 5 Millionen Menschen arbeiten zu Dumpinglöhnen. fürchteten Verlust von Arbeitsplätzen gekommen ist. Ohne einen gesetzlichen Mindestlohn würden sie es nicht schaffen, aus diesem Niedriglohnbereich herauszu- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie kommen und einigermaßen anständig bezahlt zu werden, bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE und wir könnten ihnen nicht helfen. All diesen Men- GRÜNEN) schen sagen wir: Der Mindestlohn kommt zum 1. Januar 2015. Das haben wir versprochen, und das wird gehal- Bei allen Erfolgen von branchenbezogenen Mindest- ten. löhnen: Es bleiben große weiße Flecken. Dort haben branchenbezogene Mindestlöhne nicht gegriffen, und sie (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) würden auch in Zukunft nicht greifen. Ab dem 1. Januar 2017 gilt für alle Branchen ohne Aus- 2012 arbeiteten mehr als 5 Millionen Menschen für nahme in Ost und West gleichermaßen ein Mindestlohn einen Stundenlohn von weniger als 8,50 Euro. Was ist von 8,50 Euro. unsere Antwort darauf? Ich meine, eine ausgewogene (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Antwort hat aus zwei Teilen zu bestehen: Zum einen der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE müssen wir alles dafür tun, dass wir aus dem Mittelfeld, GRÜNEN) in das wir bei der Tarifbindung zurückgefallen sind, wie- der zur Spitzengruppe aufschließen. Ja, wir müssen eingreifen. Aber auch hier gilt die Prä- misse der Tarifautonomie. Mit dem Gesetz sorgen wir (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem dafür, dass die Tarifpartner das Heft des Handelns auch BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) bei der Umsetzung des gesetzlichen Mindestlohns in der Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014 3317

Bundesministerin Andrea Nahles (A) Hand behalten. Für die Übergangszeit bis Ende 2016 ( [CDU/CSU]: Dann sagen Sie (C) liegt es eben in der Hand der Tarifparteien, mit spezifi- es halt mal! Führen Sie sich nicht auf wie ein schen Übergangsregelungen eine vernünftige Einpha- Kasper!) sung in den Mindestlohn für ihre Branche auszuhandeln. Der erste Punkt ist: Es ist tatsächlich ein Gesetzent- Auch die künftige Entwicklung des Mindestlohns sol- wurf zur Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns len Gewerkschaften und Arbeitgeber bestimmen. Sie vorgelegt worden. Das ist ein großer Fortschritt in kennen die Lage in den Betrieben und Branchen und Deutschland. können so am besten tragfähige und verantwortliche Entscheidungen treffen. Dafür haben wir das Instrument (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- einer unabhängigen Mindestlohnkommission geschaf- neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE fen. Sie entscheidet in Zukunft über die Erhöhung des GRÜNEN) Mindestlohns, und die Bundesregierung ist an diese Ent- scheidung gebunden. Die zukünftige Festlegung des Das Zweite, das mich freut – ich hätte gar nicht daran Mindestlohns werden wir nicht der Politik, sondern, wie geglaubt, meine Damen und Herren von der CDU/CSU –, es in unserem Land gute Tradition ist, den Tarifpartnern ist die Einsicht in die Realität, dass wir diesen Mindest- überlassen. lohn brauchen. Ich finde es toll, wie Sie Ihre Meinung in diesem Punkt geändert haben. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE (Widerspruch des Abg. Dr. Matthias Zimmer GRÜNEN) [CDU/CSU]) Insoweit ist der Mindestlohn ein neuer Schritt, den Ich kann mich noch daran erinnern, dass das früher an- wir aber konsequent in der alten bewährten Tradition ge- ders klang. Ich zitiere Herrn Lehrieder: „Ein flächende- hen. Alte bewährte Tradition – ich habe es schon mehr- ckender gesetzlicher Mindestlohn funktioniert nicht.“ fach gesagt – heißt für mich soziale Marktwirtschaft. hat gesagt: „Die Auswirkungen gesetz- Nach der Einführung des Arbeitsförderungsgesetzes licher Mindestlöhne bestehen nicht nur in erhöhter Ar- 1969, nach der Neufassung des Betriebsverfassungsge- beitslosigkeit.“ Und so weiter. setzes 1972, nach der Einführung des Arbeitssicherheits- gesetzes 1973 und nach der Zusammenlegung von Ar- Dass Sie sich jetzt, kurz vor Pfingsten – da kommt ja beitslosenhilfe und Sozialhilfe 2003 setzt jetzt in diesem der Heilige Geist –, dazu durchringen konnten, Ihre Mei- Jahr, 2014, der Mindestlohn eine weitere wesentliche nung zu ändern, ist klasse. Leitplanke für Arbeit in Deutschland. (Beifall bei der LINKEN – Michael Grosse- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (B) Brömer [CDU/CSU]: Das waren die Koali- (D) der CDU/CSU und der Abg. Beate Müller- tionsverhandlungen, nicht der Heilige Geist! – Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Zuruf von der SPD: Das ist unser guter Ein- Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir geben den So- fluss!) zialpartnern wieder mehr Einfluss und Gestaltungs- macht. Und wir geben der Arbeit ihren Wert zurück. Der In der Begründung des Gesetzentwurfs heißt es – und Wert der Arbeit bemisst sich nicht nur, aber vor allem das freut mich sehr; ich zitiere –: am Lohn. Die Ordnung des Arbeitslebens durch Tarifverträge (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/ ist in den letzten Jahren deutlich zurückgegangen. CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- … Dies hat den Tarifvertragsparteien die ihnen NEN) durch Artikel 9 Absatz 3 des Grundgesetzes über- antwortete Ordnung des Arbeitslebens strukturell Am Lohn kann ich ablesen, ob meine Arbeit gewürdigt erschwert. und wertgeschätzt wird. Mit dem Tarifpaket setzt die Große Koalition ein kla- Das ist die Anerkennung dessen, dass Ihr in den letz- res Zeichen: Arbeit hat in Deutschland ihren Wert. ten Jahren üblicher Verweis darauf, dass die Tarifver- tragsparteien das Problem regeln sollen, schlichtweg (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) nicht mehr reicht. Sie erkennen mit diesem Gesetzent- wurf an, dass Sie damit falsch gelegen haben. Wenn die Präsident Dr. Norbert Lammert: Tarifvertragsparteien das regeln sollen, dann muss man Das Wort erhält nun der Kollege Klaus Ernst für die sie stärken. Ich freue mich über Ihren Gesinnungswan- Fraktion Die Linke. del. Bravo, meine Damen und Herren! (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der LINKEN)

Klaus Ernst (DIE LINKE): Das Dritte, das mich sehr freut – ich kann es nicht an- Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und ders sagen –, ist, dass die Partei, die sich seit Jahren in Herren! Es gibt tatsächlich vier Punkte, über die ich diesem Land als sozialer Bremser dargestellt mich heute ganz besonders freue. (Max Straubinger [CDU/CSU]: Was?) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) und den Mindestlohn konsequent abgelehnt und verhin- – Ja, da könnt ihr durchaus klatschen. dert hat, diese Debatte von der Tribüne oder vor dem 3318 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014

Klaus Ernst (A) Fernsehgerät verfolgen kann. Auch das freut mich sehr, Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (C) meine Damen und Herren. Sie haben darauf hingewiesen, dass Sie als Linke be- reits 2006 für einen Mindestlohn gekämpft haben. Sie (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) sind auch Mitglied der IG Metall. Der vierte Punkt ist: Mich freut, dass an diesem Ge- (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- setzentwurf deutlich wird, dass sich Hartnäckigkeit SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD) lohnt. Steter Tropfen holt den Stein. Wenn ich mich richtig erinnere, war die IG Metall insbe- (Volker Kauder [CDU/CSU]: Höhlt!) sondere in ihren Führungsgremien deutlich gegen einen – Was habe ich gesagt? Mindestlohn. Sie hat dieses Projekt damals noch be- kämpft. Ich frage Sie ganz persönlich: Hat das bei Ihnen (Sabine Weiss [Wesel I] [CDU/CSU]: Holt!) eigentlich zu schizophrenen Gefühlen geführt? – Er holt ihn auch. Er holt den Stein. (Heiterkeit und Beifall beim BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU und der Herr Wadephul, Sie haben im Dezember 2010 gesagt SPD) – Zitat –:

Diskutieren Sie mit uns über andere sozialpolitische Klaus Ernst (DIE LINKE): Themen als jede Woche über denselben Aufguss al- Das ist eine sehr nette Frage. Dass Sie diese Frage ter Themen. stellen, ist in gewisser Weise verwunderlich. Diese Hartnäckigkeit der Linken hat sich gelohnt. (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Beifall bei der LINKEN – Lachen bei der NEN]: Es geht jetzt nicht um mich!) SPD) Wir haben hier über die Erodierung der Tarifverträge Inzwischen haben auch Sie es begriffen. Sie können sich diskutiert. Wir lösen nun durch die Einführung eines ge- aufführen, wie Sie wollen: Das Thema Mindestlohn ist setzlichen Mindestlohns ein Problem, das Sie in der Ko- ein ursächliches Thema der Linken. alition mit der SPD selbst verursacht haben, und zwar durch die Hartz-Gesetze, durch die die Tarifverträge un- (Beifall bei der LINKEN – Lachen bei der ter Druck geraten sind. Das ist die Wahrheit, Frau SPD) Pothmer.

(B) Wir haben das schon eingebracht, als Sie alle noch dage- (Beifall bei der LINKEN) (D) gen waren. Jetzt freuen Sie sich wieder. 2006 haben wir das Thema zum ersten Mal eingebracht. Alle waren da- Wenn Sie schon damals, als Sie regiert haben, auf die gegen, und die Einzige, die das Thema konsequent im Gewerkschaften gehört hätten, Parlament vertreten hat, war die Linke. Deshalb lassen (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- wir uns das Thema von Ihnen nicht nehmen, meine Da- NEN]: Das haben wir!) men und Herren. So ist die Welt. dann hätten wir dieses Problem nicht; denn die Gewerk- (Beifall bei der LINKEN – Lachen bei der schaften waren gegen die Hartz-Gesetze. Sie waren da- SPD) gegen, dass die Leistungen für Arbeitslose gekürzt wer- den. Die Zweiten, die den Mindestlohn als Erfolg verbu- chen können, sitzen nicht im Parlament. Das sind die (Beifall bei der LINKEN) deutschen Gewerkschaften. Sie haben durch ihre Aktivi- täten wesentlich dazu beigetragen, dass auch Sie sich ei- Hätte Sie damals auf die Gewerkschaften gehört, hätten nem Meinungswandel unterzogen haben. Auch das freut Sie diese Frage nicht stellen müssen. mich ganz besonders, meine Damen und Herren. Ich bin im Übrigen überhaupt nicht schizophren. Ich (Beifall bei der LINKEN) habe schon damals innerhalb der Gewerkschaften und insbesondere innerhalb meiner Organisation durchaus Mich freut auch, dass Sie inzwischen unsere Begrün- zur Kenntnis nehmen müssen, dass wir auch in der dung übernehmen. IG Metall Bereiche haben, die nicht mehr dem Tarifver- trag unterliegen, weil wir nicht mehr die Stärke hatten, Präsident Dr. Norbert Lammert: dort Tarifverträge durchzusetzen. Deshalb sage ich Ih- nen: Es ist vollkommen richtig, was in dem vorliegenden Herr Kollege Ernst, lassen Sie Zwischenfragen zu? Gesetzentwurf steht. Man muss die Tarifautonomie wie- der stärken und darf nicht nur auf sie verweisen, in der Klaus Ernst (DIE LINKE): Hoffnung, dass diese dann das Problem löst. Ohne starke Ja, selbstverständlich! Gewerkschaften sind die Probleme nicht lösbar. Sie ha- ben die Tarifautonomie in Ihrer Regierungszeit ge- Präsident Dr. Norbert Lammert: schwächt. Na also. – Bitte schön. (Beifall bei der LINKEN) Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014 3319

Klaus Ernst (A) Nun zu den Bereichen, in denen wir Probleme mit Jahr 2017 sich die meisten Mindestlohnempfänger in der (C) dem vorliegenden Gesetzentwurf haben. Sie überneh- Bedürftigkeit wiederfinden und Sie somit mit der niedri- men unsere Begründung und sagen: Die Würde des gen Marge des Mindestlohns Ihre eigenen Ziele verfeh- Menschen gilt auch für die Arbeitnehmerinnen und Ar- len. Das ist das Problem in diesem Zusammenhang. beitnehmer. Es hat etwas mit Würde zu tun, ob ein Ar- (Beifall bei der LINKEN) beitnehmer von seinem Lohn leben kann oder nicht. Diese Begründung höre ich inzwischen auch von Ihnen Mein letzter Punkt: Durch einen Tarifvertrag kann der immer öfter. Aber Sie nehmen in Ihrem Gesetzentwurf Mindestlohn – Frau Nahles, Sie selber haben es ange- die unter 18-Jährigen aus; sie sollen vom Mindestlohn sprochen – bis 2017 unterlaufen werden. Was ist denn nicht profitieren. Da frage ich Sie natürlich: Gilt für das für eine Regelung, dass man Gewerkschaftsmitglie- diese nicht der Satz von der Würde? Hat nicht auch der per Tarifvertrag schlechterstellen darf als die, die schon ein 18-Jähriger so viel Würde, dass er vernünftig nicht gewerkschaftlich organisiert sind? Haben denn die entlohnt werden soll? Warum eigentlich? Glauben Sie gewerkschaftlich Organisierten weniger Würde als die tatsächlich, dass viele junge Menschen in letzter Zeit anderen? Hören Sie auf mit diesen Ausnahmeregelun- deshalb keinen Ausbildungsplatz hatten, weil sie woan- gen, meine Dame! Legen Sie vielmehr einen Mindest- ders zu hohe Löhne bekommen haben und deshalb kei- lohn für alle fest, wie Sie es angekündigt haben, und be- nen Ausbildungsplatz angenommen haben? So ein stimmen Sie eine vernünftige Höhe! Damit erreichen Sie Unfug! Ich sage Ihnen: Hören Sie auf, solche Ausnah- Ihre eigenen Ziele. meregelungen für unter 18-Jährige zu schaffen! Sie wol- (Beifall bei der LINKEN – Michael Grosse- len solche Ausnahmeregelungen, weil Sie doch noch Brömer [CDU/CSU]: Unsinn!) nicht alles begriffen haben. Das ist die Einschränkung meines Lobes von vorhin. Noch eine letzte Bemerkung. Ich habe die Äußerun- gen von Herrn Schweitzer und anderen von der Indus- (Beifall bei der LINKEN) trie, dem Handwerk und der Hotelbranche gelesen, die Ich halte es genauso für vollkommen falsch, Ausnah- sich massiv über diese Regelungen beschweren. Ich meregelungen für Langzeitarbeitslose zu schaffen. Ha- habe gedacht, ich traue meinen Augen nicht. Herr ben denn die Langzeitarbeitslosen keine Würde? Wenn Schweitzer vom DIHK verweist auf die Chinesen und Sie sagen, dass es etwas mit Würde zu tun hat, dass man die Amerikaner, die übrigens in einigen Städten teil- von seiner Arbeit leben kann, dann muss das auch für weise einen Mindestlohn von 14 Dollar einführen. Dazu Langzeitarbeitslose gelten. Hören Sie mit diesen Aus- sage ich nur: Lassen Sie sich – da muss ich Sie jetzt nahmeregelungen auf! wirklich in Schutz nehmen – davon nicht beirren! Herr Schweitzer weiß doch genau, wo der Mindestlohn wirkt, (B) (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten nämlich in Branchen, in denen hauptsächlich Frauen ar- (D) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) beiten, und im Dienstleistungsbereich. Der nächste Punkt, der dabei eine Rolle spielt, ist die Jetzt wird gesagt, die Chinesen seien billiger. Glaubt Altersregelung. Frau Nahles hat dazu am 3. April in der denn wirklich einer, dass die Fenster, die geputzt werden Leipziger Volkszeitung gesagt: müssen, nach China zum Putzen und dann wieder zu- rückgeschickt werden, weil es in China niedrigere Löhne Das beste Gesetz gegen Altersarmut ist der flächen- gibt? Sind die denn von allen guten Geistern verlassen? deckende gesetzliche Mindestlohn für alle. Wie kann man denn die chinesischen Löhne im Dienst- Für alle, also auch für Langzeitarbeitslose! leistungsbereich, der ortsgebunden ist, mit unseren Löh- nen vergleichen? Wir haben die Bundesregierung gefragt, wie hoch die Nettorente sein müsste, damit jemand, der sein ganzes Deshalb sage ich Ihnen: Bitte bleiben Sie an der Stelle Leben gearbeitet hat, eine Rente bezieht, die über der hartnäckig! Machen Sie vor allem das, was Sie angekün- Grundsicherung im Alter liegt. Die Antwort möchte ich digt haben, nämlich einen gesetzlichen Mindestlohn für Ihnen nicht vorenthalten – ich zitiere –: alle ohne Ausnahme! Um eine Nettorente … über dem durchschnittlichen (Beifall bei der LINKEN) Bruttobedarf in der Grundsicherung im Alter … bei einer wöchentlichen Arbeitszeit von 38,5 Stunden Präsident Dr. Norbert Lammert: über 45 Jahre versicherungspflichtiger Beschäfti- Herr Kollege Ernst, da Sie vorhin mit Blick auf das gung hinweg zu erreichen, wäre rechnerisch ein bevorstehende Pfingstfest den Heiligen Geist für diese Stundenlohn von rd. 10 Euro erforderlich. Auseinandersetzung bemüht haben, erlaube ich mir den Hinweis, dass die Frage, ob der Heilige Geist im Him- Mit 8,50 Euro lösen Sie das Problem der Altersarmut in mel Mindestlöhne eingeführt hat, bis heute unter den diesem Land überhaupt nicht. Theologen nicht restlos geklärt ist. (Beifall bei der LINKEN) (Heiterkeit und Beifall) Dann frage ich Sie: Was ist das für eine Regelung, die Der Kollege Schiewerling hat nun für die CDU/CSU- erste Erhöhung zum 1. Januar 2018 stattfinden zu las- Fraktion das Wort. sen? Gilt denn die Würde erst ab dem 1. Januar 2018 wieder? Im Übrigen sind die 8,50 Euro von heute im (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Jahre 2017 nur noch 8,16 Euro wert. Das heißt, dass im neten der SPD) 3320 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014

(A) Karl Schiewerling (CDU/CSU): dafür zuständig sind, die Verantwortung nicht überneh- (C) Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe men können oder nicht übernehmen wollen, der Ruf Kolleginnen und Kollegen! Wir müssen schon aufpas- nach dem Staat laut wird. Ich sage Ihnen sehr deutlich: sen, dass die Diskussion über den Mindestlohn und über Es ist nicht garantiert, dass dann automatisch alles besser die Frage der Zukunft der Arbeitswelt in unserer Gesell- wird. Aber wir sind gezwungen und aufgerufen, für Ord- schaft nicht in einem Klamauk endet. nung am Arbeitsmarkt zu sorgen. Daran arbeiten wir. Folglich wird dieses Gesetz auf den Weg gebracht. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der SPD) Dies geschieht mit mehreren Waggons, die wir auf dieses tarifpolitische Gleis gesetzt haben: Wissen Sie, Herr Kollege Ernst: Sie können gerne Ihr Mütchen an früheren politischen Auseinandersetzungen Es geht zunächst einmal um die Reform der Allge- kühlen. Die Union hat von Anfang an in der letzten Le- meinverbindlicherklärung. Es geht darum, dass Tarifver- gislaturperiode an einem Mindestlohnkonzept – ich ge- träge – auch solche mit einer Tarifbindung von unter stehe zu: etwas länger – gearbeitet und dabei konsequent 50 Prozent – dann, wenn ein besonderes öffentliches In- die Frage gestellt, wie wir die Tarifautonomie stärken teresse vorhanden ist, leichter auf diejenigen Gebiete können. Deswegen hat sie das Konzept entwickelt, dass einer Branche, in denen keine Tarifbindung besteht, aus- in Zukunft eine Kommission einen Mindestlohn findet geweitet werden können. Das ist eine konsequente An- und nicht der Deutsche Bundestag. wendung von Tarifautonomie im Hinblick auf die Stär- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- kung von Arbeitgebern und Gewerkschaften. neten der SPD) (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Deswegen werden wir hier im Hohen Hause jetzt zum Daniela Kolbe [SPD]) ersten und zum letzten Mal einen Mindestlohn von Wir werden – das ist der zweite Waggon, der auf dem 8,50 Euro festlegen; danach ist die Kommission zustän- tarifpolitischen Gleis steht – die Ausweitung des Arbeit- dig. Sie gehört dahin, wo die Verantwortung für die nehmer-Entsendegesetzes vornehmen. Wir werden also Löhne liegt, und die liegt bei den Tarifpartnern. Wir wer- eine Ausweitung insbesondere auf diejenigen Branchen den diese nicht aus der Verantwortung entlassen. vornehmen, in denen ausländische Arbeitnehmerinnen (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- und Arbeitnehmer tätig sind. Auf diese Branchen wird neten der SPD und des Abg. Dr. Wolfgang somit dahin gehend Druck ausgeübt, dass dort faire und Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- vernünftige Bedingungen herrschen. Wir werden ermög- NEN]) lichen, dass noch mehr Branchen dem Geltungsbereich (B) des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes unterliegen. Auch (D) Das vorliegende Gesetz trägt nicht umsonst die Über- dort gelten dann zuvörderst die zwischen Arbeitgebern schrift „Stärkung der Tarifautonomie“. In der Tat steht und Gewerkschaften ausgehandelten Tarife. die Tarifautonomie für uns im Mittelpunkt, bei aller Sorge, die wir haben, dass die Tarifbindung abnimmt, Zum gesetzlichen Mindestlohn. Ich habe vorhin schon was zu ganz schwierigen Entwicklungen geführt hat. gesagt: Der Deutsche Bundestag wird einmal einen Min- Das hat zu einem großen Teil auch dazu geführt, dass destlohn festlegen, 8,50 Euro, dadurch eine Marke set- wir heute über Mindestlöhne reden müssen; denn dort, zen und danach die Verantwortung einer Tarifkommis- wo Tarifautonomie vernünftig funktioniert, haben wir sion übertragen, die paritätisch mit Arbeitgebern und mit der Zahlung von Mindestlöhnen überhaupt keine Gewerkschaftsvertretern besetzt ist. Probleme. Nur dort, wo es keine Tarifautonomie gibt und die Bindungskraft der Unternehmen nachlässt, weil Ich kenne mittlerweile den Wunsch aus diesem Be- sie nicht Mitglied in einem Arbeitgeberverband sind, reich, dass man möglichst genau beschreibt, was diese dort, wo Arbeitnehmer einen schwachen Organisations- Kommission zu tun hat, dass man möglichst eng ein- grad in ihrer jeweils zuständigen Gewerkschaft haben, grenzt, welche Aufgaben sie hat. Ich sage Ihnen: Da ha- genau dort haben wir die Probleme und die Schwierig- ben wir eine gänzlich andere Vorstellung. Wenn Arbeit- keiten. Genau dort wollen wir ansetzen, damit wir zu ge- geber und Gewerkschaften für die Findung von Löhnen rechten und ordentlichen Lösungen kommen. Dem dient in unserem Land zuständig sind, dann haben sie auch die dieses Gesetz. Aber im Mittelpunkt steht die Tarifauto- Verantwortung dafür zu übernehmen. Deswegen werden nomie. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion wird dieses wir im Gesetzentwurf einige Kriterien formulieren, an Ziel mit großer Konsequenz, auch bei den jetzt anstehen- denen man sich zu orientieren hat. den Beratungen, zusammen mit ihrem Koalitionspartner (Volker Kauder [CDU/CSU]: Sehr gut!) verfolgen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Dazu gehört die allgemeine wirtschaftliche Entwicklung Daniela Kolbe [SPD]) in unserem Land. Dazu gehört die Bruttolohnentwick- lung in unserem Land. Dazu gehört die Auswirkung ei- Weil wir in vielen Bereichen eine schwache Tarifbin- nes Mindestlohnes auf Branchen und Regionen. Dazu dung haben, wird jetzt der Ruf nach dem Staat laut. Ich gehört natürlich auch die Frage der Auswirkungen eines halte es für eine ganz schwierige Entwicklung in unse- Mindestlohnes auf bestimmte Altersgruppen. Alle diese rem Land, dass überall da, wo etwas nicht mehr gelingt, Fragen sollen von dieser Kommission mit bearbeitet wo Subsidiarität nicht mehr funktioniert, weil die, die werden. Diese Kommission soll auch regelmäßig da- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014 3321

Karl Schiewerling (A) rüber berichten und eine Analyse dazu abgeben, wie was wenn Sie es mit diesem Gesetz ernst meinen und nicht (C) gewirkt hat. nur ein Gesetz machen würden, das über weite Strecken einen Etikettenschwindel darstellt, dann hätte in dieses In der Tat, es ist richtig: Wir beschreiten mit der Im- Gesetz über das hinaus, was drinsteht, ein Verbot der plementierung des Mindestlohnes, mit der Flexibilisie- Leiharbeit gehört. Dann hätte drinstehen müssen eine rung der Allgemeinverbindlicherklärung und der Ände- Neuregulierung der Befristung; die Befristung hat eine rung des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes einen neuen ganz verheerende Auswirkung auf die Tarifautonomie. Weg, dessen sämtliche Auswirkungen wir letztendlich Dann hätte eine Regelung hineingemusst zu den Mini- noch nicht überblicken können. Das gilt insbesondere jobs, nämlich dass die Minijobs ab der ersten Stunde so- für die Frage der Altersgrenze. Das gilt insbesondere für zialversicherungspflichtig sind. Dann hätten hineinge- die Frage, wie sich das Ganze auf die Älteren nun wirk- musst Veränderungen zu Werkverträgen, nämlich dass lich auswirkt. Diesen Prozess haben wir nämlich jetzt die Betriebsräte Mitbestimmungsrechte erhalten, wenn erst eingeleitet. Insofern ist es gut, wenn wir von der Werkverträge in den Unternehmen geschlossen werden Stunde null an die Entwicklungen beobachten und ge- sollen. Dann hätte hineingemusst ein Verbandsklage- meinsam auswerten, um die Frage beantworten zu kön- recht für die Gewerkschaften. Zur AVE, zur Allgemein- nen, wie das Ganze gewirkt hat. verbindlicherklärung, hätte nicht eine Regelung hinein- Eines wollen wir erreichen: Wir wollen, dass der gehört, die nur eine sehr homöopathische Wirkung hat, Mindestlohn und das andere, was wir auf den Weg brin- sondern eine Regelung, nach der Gewerkschaften allein gen, den Menschen dient, Arbeitsplätze schafft und verlangen können, dass in einer Branche eine Allge- keine vernichtet, Menschen hilft, zu faireren und gerech- meinverbindlichkeit hergestellt wird. teren Bedingungen ihre Arbeit erledigen zu können. (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Versu- Wenn wir gemeinsam dieses Ziel verfolgen, kann es uns chen Sie mal, eine Mehrheit zu kriegen! Dann gelingen, Strukturen zu schaffen, die es ermöglichen, können Sie alles in die Gesetze schreiben, was dies auf Dauer gesehen zu bewerkstelligen. Sie wollen!) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Mit diesen Maßnahmen könnte man die verheerenden neten der SPD) Auswirkungen der Agenda 2010 auf die Tarifbindung, Meine Damen und Herren, wir werden noch einige auf das Tarifsystem zurückführen. Aber das sehen Sie Punkte miteinander zu diskutieren und zu klären haben. nicht vor, weil Sie es nicht wollen. Insofern stellt das Das wird wie immer in einer guten Form in den nächsten Ganze in der Tat einen Etikettenschwindel dar. Es ist ein Wochen passieren. Unser Wunsch als Fraktion ist, dass bisschen das Vergießen von Krokodilstränen, wenn man heute feststellt: Die Tarifbindung geht zurück. – Es ist (B) wir auf jeden Fall schauen, dass die Wirtschaft nicht mit (D) unnötiger Bürokratie überzogen wird. Unser Wunsch ist, aber die eigene Politik – Sie haben die Politik von Rot- auf jeden Fall darauf zu schauen, dass Branchen, die Grün in dieser Frage immer unterstützt; es ist die Politik, jetzt noch besondere Beschwer sehen, Übergangsfristen die man vor zehn Jahren gemacht hat –, die dazu geführt bekommen, mit denen wir ihnen helfen, auf den Weg zu hat, dass es überhaupt zu dieser Verschlechterung der kommen. Wir sind darüber miteinander im Gespräch. Tarifbindung gekommen ist. Ich bin sicher, dass wir miteinander zu einvernehmlichen Danke schön. Lösungen kommen. (Beifall bei der LINKEN) Unser Ziel bleibt – das gilt auch für die Unionsfrak- tion –: Es muss fair am Arbeitsmarkt zugehen. Wir wol- Präsident Dr. Norbert Lammert: len alles dafür tun, dass die Tarifpartner die Rahmenbe- dingungen haben, um dieses leisten zu können. Wir Zur Erwiderung: Herr Kollege Schiewerling. werden den Menschen helfen. Wir sind für die Einfüh- rung des Mindestlohns, so wie es das Konzept jetzt vor- Karl Schiewerling (CDU/CSU): sieht. Ich bin ganz sicher, dass wir damit unser Land Kollege Schlecht, ich danke Ihnen herzlich für die weiter voranbringen. Kurzintervention. – Dass Sie die nutzen, um das gesamte Programm der Linken vorzustellen, Herzlichen Dank. (Sabine Weiss [Wesel I] [CDU/CSU]: Ja, ge- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) nau!) ist Ihnen sicherlich nicht zu verwehren. Sie haben genau Präsident Dr. Norbert Lammert: die Argumente dafür genannt, dass es unserem Land Zu einer Kurzintervention erhält der Kollege Schlecht besser geht als anderen Ländern und es uns besser geht, das Wort. als wenn Sie regieren würden.

Michael Schlecht (DIE LINKE): (Beifall bei der CDU/CSU) Herr Schiewerling, es ist ja begrüßenswert, dass Sie Wenn Sie Ihren Katalog durchgesetzt hätten, ginge es sich so viele Gedanken über die Stärkung der Tarifauto- den Menschen schlechter, weil Sie Ihnen etwas vorma- nomie machen, nachdem die Tarifautonomie seit zehn chen würden. Deswegen ist der Katalog, den Sie vorge- Jahren durch politische Rahmenbedingungen, durch tragen haben, nicht dazu geeignet, den Menschen zu die- politische Rahmensetzung unterminiert worden ist. Aber nen. 3322 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014

Karl Schiewerling (A) Wir haben miteinander überhaupt nicht vor, alles zu- Sie beim Rentenpaket auch gesagt; da hätten wir Ihnen (C) rückzudrehen, sondern es geht bei diesem Gesetz, das viel Erfolg gewünscht. Dort ist es leider nicht gelungen. wir jetzt auf den Weg bringen, darum, einen gewissen Auch hier werden die Backen wieder weit aufgeblasen. Ausgleich für die Verwerfungen zu schaffen, die in man- Ich glaube, die Arbeitsministerin kann ganz ruhig schla- chen Bereichen in den vergangenen Jahren entstanden fen. Auch dieser Tiger wird wieder als Bettvorleger lan- sind. Es geht nicht darum, grundsätzlich den großen Er- den. Dabei wird nichts herauskommen. folg, den wir in der Bundesrepublik Deutschland haben (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) und um den wir beneidet werden, nicht nur in Europa, sondern weltweit – niedrigste Arbeitslosigkeit, höchste Dabei muss das Gesetz an entscheidenden Punkten Beschäftigung, auch höchste sozialversicherungspflich- verbessert werden; denn ein Sicherheitsnetz mit lauter tige Beschäftigung –, durch so einen Blödsinn zu gefähr- Löchern ist eben kein Sicherheitsnetz. den, wie Sie ihn vorschlagen. Deswegen werden wir so einen Quatsch nicht mitmachen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN – Sabine Weiss [Wesel I] (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- [CDU/CSU]: Ein Netz hat immer Löcher!) neten der SPD – Klaus Ernst [DIE LINKE]: Wenn Sie 2 Millionen Erwerbstätige aus dieser Rege- Aufpassen, Kollege!) lung herausnehmen, führt das zu großen Lücken beim Mindestlohn; es höhlt ihn aus. Präsident Dr. Norbert Lammert: Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun die Ohne wirksame Kontrolle bleibt es eine Showveran- Kollegin Andreae das Wort. staltung. Wir wissen, dass ungefähr 340 Milliarden Euro pro Jahr in der Schwarzarbeit umgesetzt werden. Aber nur 770 Millionen Euro konnten letztes Jahr aufgedeckt Kerstin Andreae (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): werden. Sie brauchen also mehr Personal. Die Finanz- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Für kontrolle Schwarzarbeit muss personell aufgestockt wer- uns Grüne ist es ein großer Fortschritt, dass wir nicht den. mehr über das Ob, sondern nur noch über das Wie und Wann sprechen. Fast alle wollen diesen Mindestlohn: (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Gewerkschaften, Kirchen, über 80 Prozent der Bevölke- sowie bei Abgeordneten der LINKEN) rung und zunehmend auch die Arbeitgeber. Der Vize- Die Zollverwaltungen brauchen mehr Stellen. Das haben kanzler hatte recht, als er auf dem Katholikentag sagte, Sie aber nicht eingeplant. Wir haben beantragt, im Haus- der Mindestlohn sei kein Instrument der Glückseligkeit. halt Mittel für die Personalaufstockung einzustellen, da- (B) Aber der Mindestlohn ist ein Instrument der Notwendig- mit die Einhaltung des Mindestlohns kontrolliert wird (D) keit. Mit unwürdigem Lohndumping muss Schluss sein. und man nachprüfen kann, ob das, was heute beschlos- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sen wird, auch umgesetzt wird. Darum geht es. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) SPD und der LINKEN) Wo müssen Sie noch nacharbeiten? Die Bundesregie- „Arm trotz Arbeit“ darf es nicht weiter geben. 8 Mil- rung traut sich nicht, eine unabhängige wissenschaftli- lionen Menschen arbeiten im Niedriglohnsektor, zum che Evaluation zuzulassen. Das ist falsch. Der Mindest- Teil für unter 5 Euro die Stunde. Diese Menschen müs- lohn ist keine Sozialromantik, sondern eine große sen aufstocken. Das heißt, der Steuerzahler subventio- sozialpolitische Reform, die Auswirkungen hat. Es ist al- niert Dumpinglöhne. Dass hier ein Riegel vorgeschoben lenthalben über die Frage diskutiert worden, was das be- wird, ist gut; deutet. Diese Auswirkungen muss man sehr genau prü- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) fen. denn Dumpinglöhne behindern fairen Wettbewerb. Ich Wie sieht es jetzt aus? Im Gesetz steht, dass die Bun- kenne viele Handwerker, die sagen, dass für sie der Min- desregierung in sechs Jahren irgendwie prüfen will. Das destlohn richtig ist, weil sie sich dann nicht mehr mit den reicht nicht. Können Sie sich noch an die Handwerksno- Preisdrückern auseinandersetzen müssen, die normaler- velle 2004 erinnern? Auch damals wurde ins Gesetz hi- weise die Ausschreibungen gewinnen. neingeschrieben, dass man irgendwann prüfen wolle. Aber das hat man bis heute noch nicht gemacht. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN- Lassen Sie eine unabhängige wissenschaftliche Eva- KEN) luation zu, und nehmen Sie die Wissenschaft mit ins Boot! Das sollte auch für die Mindestlohnkommission Andere europäische Länder haben bereits entspre- gelten, und zwar mit Stimmrecht. Die Wissenschaft chende Regelungen und gute Erfahrungen mit dem Min- braucht ein Stimmrecht in der Mindestlohnkommission. destlohn. Deutschland zieht jetzt nach. Das ist keine Re- volution, sondern eine Selbstverständlichkeit. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Wir brauchen eine starke und unabhängige Kommis- sion, und zwar aus folgendem Grund: damit Akzeptanz Was wir jetzt erleben, ist, dass der Wirtschaftsflügel für die getroffenen Regelungen geschaffen wird, damit der Union noch gründlich überarbeiten will. Das haben der Mindestlohn nicht zum Zankapfel in Wahlkämpfen Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014 3323

Kerstin Andreae (A) und hier im Bundestag wird, damit Ruhe, Stetigkeit und Langzeitgedächtnis bemühen. Gegen viele Widerstände (C) Planbarkeit in dieses Instrument hineinkommen. Dafür haben wir ihn jetzt durchgesetzt. Es wurde viel darüber brauchen Sie eine unabhängige Mindestlohnkommis- diskutiert, ob wir und ob sich die Unternehmen den Min- sion. destlohn leisten können und wie sich dieser auf die wirt- schaftliche Entwicklung auswirkt. Das sind zweifellos (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) wichtige Fragen. Die Einführung des Mindestlohns war lange überfäl- lig. Es ist gut, dass heute der erste Schritt getan wird. Genauso wichtig ist aber die Frage, ob es sich eine Der Mindestlohn ist gut gegen Lohndumping, und er ist Gesellschaft leisten kann, dass Millionen von Arbeitneh- gut für fairen Wettbewerb. Da darf man sich nicht die merinnen und Arbeitnehmern nicht an der wirtschaftli- Butter vom Brot nehmen lassen. Der Mindestlohn nutzt chen Entwicklung teilhaben. Ich finde, wir können uns den Menschen und den Unternehmen gleichermaßen. Er das nicht leisten, weil es den sozialen Zusammenhalt in ist keine Fürsorgeleistung. Armutsbekämpfung braucht unserer Gesellschaft gefährdet, wenn wir Menschen mit andere Instrumente. Der Mindestlohn ist ein Mindest- Billiglöhnen ausgrenzen. Es ist deshalb Zeit, dass wir standard und hat mit der Würde der Arbeit der Menschen dem endlich mit dem gesetzlichen Mindestlohn einen zu tun. Riegel vorschieben; hier sind wir, Kollegin Kerstin Andreae, ganz dicht beieinander. In einem Land, das (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie wirtschaftlich so gut aufgestellt ist – besser als viele an- der Abg. Dr. [DIE LINKE]) dere EU-Länder, die ich gerade genannt habe –, muss das eine Selbstverständlichkeit werden. Deshalb werden Der Mindestlohn ist für uns von Bündnis 90/Die Grü- wir dafür sorgen, dass der Mindestlohn, wie im Koali- nen wie für einen großen Teil der Bevölkerung elemen- tionsvertrag verabredet und schon im Kabinett beschlos- tare Grundlage sozialer Gerechtigkeit, die diesem Land sen, auch zügig umgesetzt wird. gut ansteht. Bringen Sie ihn auf den Weg. Sorgen Sie für die Unabhängigkeit der Mindestlohnkommission. Ver- (Beifall bei der SPD) bessern Sie die Evaluation. Lassen Sie die Ausnahmen weg. Dann sind Sie auf dem richtigen Weg. Dann be- Wir werden auch dafür sorgen, Frau Andreae, dass die kommen Sie unsere Unterstützung. Umsetzung durch die Finanzkontrolle Schwarzarbeit kontrolliert wird und Verstößen stringent nachgegangen Vielen Dank. wird. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie Meine sehr geehrten Damen und Herren, selbstver- des Abg. Klaus Ernst [DIE LINKE]) ständlich nehmen wir die Sorgen einzelner Branchen (B) sehr ernst. An dieser Stelle möchte ich unserer Ministe- (D) Präsident Dr. Norbert Lammert: rin ausdrücklich dafür danken, dass sie sehr frühzeitig Carola Reimann ist die nächste Rednerin für die SPD- auf einen konstruktiven und intensiven Dialog mit den Fraktion. einzelnen Branchen gesetzt hat und nach wie vor dafür sorgt, dass diese bei der Anpassung an den gesetzlichen (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Mindestlohn die notwendige Unterstützung erhalten. der CDU/CSU) (Beifall bei der SPD) Dr. Carola Reimann (SPD): Ich finde, das Verfahren der Ministerin Nahles ist vor- Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- bildlich. Ich würde mir wünschen, dass das auch in ande- ren! Von 28 Mitgliedstaaten der Europäischen Union ha- ren Bereichen Schule macht. ben 21 branchenübergreifende gesetzliche Mindest- löhne. Worüber wir seit Jahren streiten, ist in Ländern (Beifall bei der SPD) wie Frankreich, Großbritannien und den Niederlanden Dazu gehört auch, dass wir beim Übergang auf tarifver- längst Normalität. Ich freue mich, dass wir heute mit der tragliche Lösungen setzen – das ist hier schon gesagt ersten Lesung des vorliegenden Gesetzentwurfs diesem worden –, um einen vernünftigen, gangbaren Weg für europäischen Standard einen Schritt nähergekommen die Unternehmen, die Probleme haben, zu schaffen. sind; denn es wird höchste Zeit, dass das, was in Europa längst Realität ist, auch in Deutschland zur Selbstver- Kolleginnen und Kollegen, wir haben also Regelun- ständlichkeit wird, gen mit Augenmaß gefunden; ich bin sicher, dass sie sich in der Praxis bewähren werden. Ich sage allen, die (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten jetzt zum wiederholten Male – das ist auch schon ange- der CDU/CSU und des Abg. Klaus Ernst [DIE klungen – schwere Geschütze gegen den gesetzlichen LINKE]) Mindestlohn auffahren wollen: Es wird Zeit, abzurüsten. nämlich dass man nicht duldet, wenn unanständig nied- Der Mindestlohn kommt, und er wird für viele Millionen rige Löhne gezahlt werden. Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gut sein, aber er wird auch unserem Land guttun. Kolleginnen und Kollegen, Sie wissen, trotz europäi- scher Normalität ist die Einführung des gesetzlichen (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Mindestlohns in Deutschland ein bedeutender Schritt, der CDU/CSU und des Abg. Dr. Wolfgang ein Meilenstein, für den wir Sozialdemokraten seit über Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- zehn Jahren kämpfen; Herr Ernst, hier muss ich Ihr NEN]) 3324 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014

Dr. Carola Reimann (A) Vom Mindestlohn wird besonders eine Gruppe profi- (Beifall bei der LINKEN – Brigitte Pothmer (C) tieren: die Arbeitnehmerinnen. Das ist gut, aber es zeigt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber sehr auch, dass nach wie vor insbesondere Frauen von Lohn- spät begonnen haben!) ungerechtigkeiten betroffen sind. Sieben von zehn Be- schäftigten im Niedriglohnbereich sind Frauen. Hier ist Seit 2006 legt die Linke Anträge zum Mindestlohn der gesetzliche Mindestlohn ein ganz wichtiger Schritt. vor. Ich erinnere mich, dass die SPD unsere Anträge zum Weitere Schritte müssen folgen; das ist klar. Dazu gehö- Mindestlohn seit diesem Zeitpunkt abgelehnt hat. Von ren konkrete Maßnahmen gegen Lohndiskriminierung, daher müssen wir nicht streiten, wer welche Anträge ein- Regelungen für Frauen in Führungspositionen und natür- gebracht hat. Wenn Sie uns zugestimmt hätten, hätten lich das große Thema der Familienarbeitszeiten. wir schon seit 2006 einen Mindestlohn. Zum Schluss will ich ansprechen, dass der Mindest- (Beifall bei der LINKEN) lohn auch Schluss machen wird mit den Auswüchsen, Ich würde auch gerne der SPD an dieser Stelle gratu- die wir in den vergangenen Jahren unter dem Schlagwort lieren, aber irgendwie kriege ich das nicht hin. Sie hatten „Generation Praktikum“ in der Praxis erleben mussten. die Chance, die verheerenden Folgen der Agenda 2010 Sich nach der Ausbildung, häufig nach sehr guter Aus- abzufedern. Wie ich der Rede von Frau Nahles entnom- bildung, von einem Langzeitpraktikum zum nächsten men habe, ist die Agenda 2010 der Grund dafür, warum hangeln zu müssen und dabei noch schlecht oder gar wir überhaupt einen Mindestlohn in Deutschland brau- nicht bezahlt zu werden – diese Praxis muss der Vergan- chen. Wegen der Agenda 2010 musste entsprechend kor- genheit angehören. rigiert werden. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Den Wert und die Würde der Arbeit in Deutschland der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE zu verteidigen, und das flächendeckend, das ist die Auf- GRÜNEN) gabe, die wir unbedingt wahrnehmen müssen. Praktikum heißt für uns Qualifizierung und Orientie- rung, aber nicht Ausbeutung. Dazu gehört für uns auch (Beifall bei der LINKEN) mehr Rechtssicherheit durch einen schriftlichen Vertrag Diese Chance haben Sie aus unserer Sicht durch das un- sowie eine Mindestvergütung, insbesondere für freiwil- selige Gefeilsche um die Ausnahmen beim ohnehin zu lige Praktika von bis zu sechs Wochen, die im vorliegen- niedrigen Mindestlohn verpasst. den Gesetzentwurf vom Mindestlohn ausgenommen sind. Die Wahrheit ist, dass dem Gejammer der Arbeitge- berseite nachgegeben wurde. Sie haben dem nichts ent- (Beifall bei der SPD) (B) gegengesetzt. Das Resultat ist, dass wir es jetzt mit ei- (D) Kolleginnen und Kollegen, das Tarifpaket wird für nem Flickenteppich von Ausnahmen zu tun haben, mehr Ordnung und Gerechtigkeit im Wirtschafts- und einem Flickenteppich im Hinblick auf Personengruppen, Arbeitsleben sorgen. Wir führen mit dem Mindestlohn denen gesagt wird: Eure Arbeit ist weniger wert als die ein neues Ordnungsinstrument ein und stärken vor allem Arbeit eurer Kolleginnen und Kollegen. mit der Öffnung des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes für Können Sie sich eigentlich vorstellen, was das für ei- alle Branchen – das gilt dann auch für alle Beschäftigten, nen 17-Jährigen oder eine 17-Jährige bedeutet, wenn der Herr Kollege Ernst – und durch die Reform der Allge- ein Jahr ältere Kollege oder die Kollegin mehr Geld be- meinverbindlicherklärung die Tarifautonomie und die kommt als er oder sie selbst? Das ist doch nicht in Ord- bewährte Sozialpartnerschaft in Deutschland. Das ist nung! nicht nur sozial gerecht, sondern auch ökonomisch ver- nünftig. (Beifall bei der LINKEN) Danke fürs Zuhören. Können Sie sich vorstellen, was es für einen Beschäftig- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten ten, der aus der Langzeitarbeitslosigkeit kommt, bedeu- der CDU/CSU) tet, wenn ihm per Gesetz vom ersten Tag an mitgeteilt wird, dass seine Arbeit weniger anerkannt wird und we- niger wert ist? Das geht doch nicht! Präsident Dr. Norbert Lammert: Das Wort hat nun die Kollegin Jutta Krellmann für die (Beifall bei der LINKEN) Fraktion Die Linke. Das hat mit der guten Idee eines Mindestlohns nichts zu (Beifall bei der LINKEN) tun. Mich ärgert das total. Auch die Tatsache, dass Arbeitgebervertreter jetzt Jutta Krellmann (DIE LINKE): tagtäglich auf der Matte stehen und eine Ausnahme nach Vielen Dank, Herr Präsident. – Sehr geehrte Damen der nächsten fordern, macht mich unglaublich ärgerlich. und Herren! Auch ich möchte wie mein Kollege Klaus Niemand von der Regierungskoalition haut auf den Ernst allen gratulieren, die seit über zehn Jahren für ei- Tisch und sagt: Leute, damit ist jetzt Schluss! Wir führen nen Mindestlohn gekämpft haben, und dabei meine ich das ein, ohne Wenn und Aber! – Aber genau das machen insbesondere meine Kolleginnen und Kollegen von den Sie nicht. Gewerkschaften, die nicht nachgelassen haben, für die- ses Thema immer wieder neu zu streiten. (Beifall bei der LINKEN) Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014 3325

Jutta Krellmann (A) Durch Ihre Haltung, dadurch, dass Sie einfach nichts Meine Damen und Herren, etwas mehr als 100 Jahre (C) tun, geben Sie die Interessen der Beschäftigten preis, später, im Jahre 1891, griff Papst Leo XIII. in der ersten und das ist absolut nicht in Ordnung. Sozialenzyklika Rerum Novarum den Begriff des ge- rechten Lohns wieder auf. Er ist seither fester Bestand- Als Linke können wir die geplanten Ausnahmen nicht teil der katholischen Soziallehre. So nahe wie damals hinnehmen. waren sich Liberalismus und katholische Soziallehre (Beifall bei der LINKEN) vermutlich nie wieder. Die Würde der Menschen kennt keine Ausnahmen. Für Wer dagegen heute den „Sinn“-Spruch eines gleich- Ihren Flickenteppich gibt es keine wirtschaftliche und namigen Münchener Ökonomen vernimmt, die Löhne auch keine juristische Rechtfertigung. Ich fordere Sie müssten nur weit genug fallen, damit jeder Arbeit be- auf: Nehmen Sie Abstand von der Diskriminierung der kommt, vermisst schmerzlich jene normative Dimen- Langzeitarbeitslosen und der Jugendlichen. sion, die einmal die Attraktivität des Liberalismus aus- gemacht hat. (Beifall bei der LINKEN) Liebe Kolleginnen und Kollegen, während wir hier (Beifall der Abg. Daniela Kolbe [SPD]) im Bundestag über dieses Mindestlohngesetz streiten, Wir haben in der sozialen Marktwirtschaft viele Ant- stehen am Brandenburger Tor Kolleginnen und Kollegen worten auf die Frage des gerechten Lohns gegeben. Eine der Gewerkschaften und vom DGB, die unter dem Motto über lange Jahre gebräuchliche Antwort war: Die Lohn- „Mindestlohn für alle, jetzt. Würde kennt keine Ausnah- findung überlassen wir den Sozialpartnern, also den Ar- men“ darauf aufmerksam machen wollen, dass sie mit beitnehmern und den Arbeitgebern. Der Staat soll sich den Ausnahmeregelungen nicht einverstanden sind. aus der Lohnfindung heraushalten, dann wird es gerecht. Wir von der Linken können uns dem nur anschließen. Das setzt aber starke Arbeitgeberverbände und Gewerk- Auf Ihren Flickenteppich Mindestlohn können sich die schaften voraus, und diese Voraussetzung – die Ministe- Menschen da draußen nicht verlassen, aber darauf rin hat es erwähnt – ist seit den 90er-Jahren zunehmend schon: Wir, die Linke, werden nicht lockerlassen, bis alle erodiert. Beschäftigten zu ihrem Recht gekommen sind, und zwar flächendeckend. (Zurufe von der LINKEN: Genau! – Richtig!) Vielen Dank. Wir haben dann gesagt: „Lasst uns nicht über den ge- rechten Lohn, sondern über Einkommen diskutieren“, (B) (Beifall bei der LINKEN) und haben zu niedrige Löhne durch den Staat aufge- (D) stockt. Das war in Zeiten hoher Arbeitslosigkeit durch- Präsident Dr. Norbert Lammert: aus eine breit akzeptierte Vorgehensweise. Wahr ist aber Matthias Zimmer erhält nun das Wort für die CDU/ auch: Diese Aufstockung ist eben auch eine Subvention CSU-Fraktion. wirtschaftlicher Tätigkeit, und zwar in doppelter Weise; denn zum einen stockt der Staat nicht hinreichende (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Löhne auf, zum anderen muss er dann nach dem Arbeits- neten der SPD) leben nicht auskömmliche Renten durch die Grundsiche- rung im Alter finanzieren. Ob das alles im Zeitalter eines Dr. Matthias Zimmer (CDU/CSU): Fachkräftemangels noch sinnvoll ist, mag man füglich Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Im Jahre bezweifeln. 1776, dem Jahr der Unabhängigkeitserklärung der USA, (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie veröffentlichte der Schotte Adam Smith sein wohl be- des Abg. Klaus Ernst [DIE LINKE]) kanntestes Werk über den Wohlstand der Nationen. Es wurde zum wirtschaftspolitischen Grundmanifest einer Wir haben über viele Jahre – recht erfolgreich, wie ganzen Epoche. Smith begründete die politische Ökono- ich finde – branchenbezogene Mindestlöhne für allge- mie, und er wurde zum Stammvater des wirtschaftlichen meinverbindlich erklärt und damit in vielen Branchen Liberalismus. Umso überraschender ist es, dass wir in den Wettbewerb sinnvoll geregelt. Aber es gibt noch diesem Buch auch eine Passage über den gerechten Lohn viele weiße Flecken in der Tariflandschaft. Deshalb ist finden. Es sei der Lohn, der einem Arbeiter zustehe, um es gut und richtig, wenn wir als Schlussstein der Ord- sich und seine Familie zu ernähren. Nein, überraschend nung der Lohnfindung in Deutschland heute den Gesetz- war das eigentlich nicht; denn Smith war Moralphilo- entwurf zur Einführung eines allgemeinen Mindestlohns soph und sah die Wirtschaft in einer auf den Menschen diskutieren, mit dem ein angemessener Mindestschutz bezogenen, dienenden Funktion. Nur so viel, Herr Kol- für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sichergestellt lege Ernst: Wer hat’s erfunden? Die Liberalen waren Ih- werden kann. Der Mindestlohn soll künftig verhindern, nen da 230 Jahre voraus. dass der Wettbewerb über die Fähigkeit definiert wird, (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU so- Löhne zu drücken. Wir erkennen damit an, dass der Ar- wie bei Abgeordneten der SPD – Klaus Ernst beitsmarkt ein abgeleiteter Markt ist und anders behan- [DIE LINKE]: Sie haben es nur nicht umge- delt werden muss als Märkte, die vollkommen vom Spiel setzt! Und was habt ihr gemacht?) von Angebot und Nachfrage geleitet werden. 3326 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014

Dr. Matthias Zimmer (A) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der führlich berichtet; denn das hilft uns am Ende bei der (C) SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- Evaluation des Mindestlohns. NEN) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Das sind wir als Christdemokraten unserem Bild von Ar- neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE beit und unserem Bild des Menschen auch schuldig. GRÜNEN) Wenn wir nun in die parlamentarischen Beratungen Es ist gerade in ersten Lesungen eines Gesetzentwur- über den Gesetzentwurf einsteigen, so habe ich einige fes schon beinahe parlamentarische Folklore, auf das Wünsche dazu. Es ist nur fair, diese am Anfang der Be- Struck’sche Gesetz hinzuweisen, wonach kein Gesetz ratungen auszusprechen. Ich will nur drei nennen: den Bundestag so verlässt, wie es in ihn hineingekom- men ist. Ich will das Struck’sche Gesetz heute um eine Erstens glaube ich nicht, dass wir uns mit der vorlie- Vermutung ergänzen, dass nämlich dann, wenn beide genden Form der Generalunternehmerhaftung wirklich Regierungsfraktionen der Großen Koalition konstruktiv einen Gefallen tun. zusammenarbeiten, das Gesetz nicht nur anders, sondern (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordne- besser den Bundestag verlässt. ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Da gibt Zwar ist es ja durchaus ein biblisches Motiv, Haftung bis es nichts mehr, das man besser machen ins sechste oder siebte Glied – das sagt einiges über die könnte! Alles ist gut!) Bibelfestigkeit der Ministerin aus –, aber ich halte das in Auf eine erste empirische Überprüfung dieser Vermu- der Praxis gerade im Mittelstand für nicht wirklich hilf- tung freue ich mich. reich. Darüber müssen wir noch einmal intensiv nach- denken. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der SPD) Zweitens finde ich die Regelung bei Praktika – Frau Kollegin Reimann, ich stimme Ihnen da vollkommen zu; die Generation Praktikum wollen wir nicht – Präsident Dr. Norbert Lammert: Das Wort erhält nun die Kollegin Brigitte Pothmer für (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Richtig!) noch nicht wirklich überzeugend. Wir nehmen zwar Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Pflichtpraktika von Studierenden vom Mindestlohn aus, Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr (B) aber häufig sind gerade in geisteswissenschaftlichen Stu- Zimmer, Sie haben gerade gesagt: Schön, dass wir heute (D) dienfächern längere Praktika während des Studiums eine über den Mindestlohn diskutieren. Ich habe einmal nach- Brücke in die Beschäftigung nach dem Studium. Das gezählt: In den letzten Jahren haben wir hier in diesem sind aber in aller Regel, weil die Geisteswissenschaften Parlament mehr als 22-mal über den Mindestlohn disku- keine Pflichtpraktika kennen, freiwillige Praktika. Ver- tiert. sperren wir hier nicht Möglichkeiten, anstatt zu helfen, Brücken in den Arbeitsmarkt zu bauen? Mir fehlt im Üb- (Karl Schiewerling [CDU/CSU]: Mindestens!) rigen auch eine genaue Definition des Praktikums, etwa Ich gestehe hier ganz offen: Manchmal hatte ich, insbe- in Abgrenzung zu einem Volontariat oder zu einem Trai- sondere was die rechte Seite des Hauses angeht, das Ge- nee-Programm. fühl, dass ich auf ein totes Pferd einrede. Ein Drittes; dies regt mich ein wenig auf. Das Gesetz (Widerspruch bei der CDU/CSU) soll den schönen Namen Tarifautonomiestärkungsgesetz tragen. Dann sollten wir das auch tun. Wir haben eine Dass dieser Gaul jetzt doch in Trab kommt, Mindestlohnkommission vorgesehen, die einen Vorschlag (Heiterkeit des Abg. Klaus Ernst [DIE zum Mindestlohn erarbeiten soll. Nun höre ich von der LINKE]) BDA und dem DGB, dass man sich dieser Arbeit entzie- hen und einfach den Tarifindex nachgehend zum Maß- halte ich für einen extremen gesellschaftlichen Fort- stab für die Festlegung des Mindestlohns machen will. schritt. Ich finde, das sollten wir deutlich sagen. Ich finde das einigermaßen abenteuerlich. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- sowie des Abg. Klaus Ernst [DIE LINKE] – neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Wenn wir loslaufen, sind wir nicht mehr anzuhalten!) Mir scheint, da will sich jemand die Hände in Unschuld waschen und sagen: Mit dem Mindestlohn habe ich Aber ich finde, wir sollten auch sagen, dass wir die nichts zu tun, das ist Sache der Politik. – Nein, meine Ziellinie leider noch lange nicht erreicht haben. Die Damen und Herren vom DGB und von der BDA, das ist Mindestlohngegner haben noch lange nicht aufgegeben. Sache der Tarifparteien in der Kommission. Ich will Dabei fällt mir die folgende Frage ein: Wo ist eigentlich schon, dass sich die Mindestlohnkommission die Arbeit Herr Linnemann? Herr Linnemann, der über die Presse macht, ihren Vorschlag genau zu begründen, sich dabei immer Neues fordert, ist hier als Redner nicht vorgese- an bestimmten Kriterien ausrichtet und dann auch aus- hen. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014 3327

Brigitte Pothmer (A) (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Warten keine Starthilfe, das ist Stigmatisierung. Die Botschaft, (C) Sie einmal auf die zweite Lesung!) die Sie aussenden, lautet: Die können doch nichts, die kriegt ihr billiger. Wenn das keine Stigmatisierung ist, Sie arbeiten weiter mit Hochdruck daran, den Mindest- dann weiß ich nicht, was Stigmatisierung ist. lohn immer weiter auszuhöhlen. Wenn Sie sich durchset- zen und nur ein Teil der vorgesehenen Ausnahmen im (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Gesetz steht, dann werden wir es nicht mit einem flä- chendeckenden gesetzlichen Mindestlohn zu tun haben. Sie wissen sehr genau, dass es sich bei den Langzeit- Dann werden wir es mit einem Niedriglohnsektor unter- arbeitslosen um eine sehr heterogene Gruppe handelt. halb des Mindestlohns zu tun haben. Ich bestreite überhaupt nicht, dass es darunter auch Men- schen gibt, die erhebliche Leistungseinschränkungen ha- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ben. Für diese Gruppe haben wir aber ein sehr zielge- sowie des Abg. Klaus Ernst [DIE LINKE]) naues Instrument, nämlich die Lohnkostenzuschüsse. Statt dieses Instrument fortzuentwickeln, stigmatisieren Das hätte zur Konsequenz, dass die Niedriglöhner in Sie über 1 Million Menschen als nicht leistungsfähig. Konkurrenz zu den Mindestlöhnern träten. Dann würde der Mindestlohn zu einem Konkurrenznachteil gegen- Ihnen geht es im Übrigen gar nicht um die Integration über den Niedriglöhnern. Das können wir auf gar keinen von Langzeitarbeitslosen. Die Langzeitarbeitslosen sind Fall wollen. das Bauernopfer, das die SPD der Union in Sachen Min- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN destlohn geben musste. sowie der Abg. [SPD] und Klaus (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Ernst [DIE LINKE]) sowie des Abg. Klaus Ernst [DIE LINKE]) Deswegen, liebe Frau Nahles, betrachten wir die Aus- Das ist der Skalp, den die Union gefordert hat, um zu de- nahmen, die der Gesetzentwurf vorsieht, voller Skepsis. monstrieren, dass die Sozialdemokratisierung der Union Ich nenne die Ausnahme für die unter 18-Jährigen. Sie noch nicht vollends abgeschlossen ist. Ich sage Ihnen wissen, dass ich ganz persönlich – daraus habe ich nie aber: Hier geht es ausdrücklich nicht um politische Ge- einen Hehl gemacht – die Sorge sehr ernst nehme, dass ländegewinne in der Koalition; hier geht es um den der Mindestlohn tatsächlich für Jugendliche den Anreiz Schutz vor Lohndumping, und zwar für alle Beschäftig- setzen könnte, auf eine Ausbildung zu verzichten und ten. stattdessen jobben zu gehen. Deswegen hat meine Frak- tion ein sehr hochkarätig besetztes Fachgespräch dazu (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – (B) durchgeführt. Nach diesem Fachgespräch kann ich Ihnen Sabine Weiss [Wesel I] [CDU/CSU]: Ja! Ganz (D) eines klipp und klar sagen: Ihr Vorhaben taugt nichts. genau!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Noch eine Bemerkung: Dieses Gesetz heißt ja Gesetz sowie des Abg. Klaus Ernst [DIE LINKE] – zur Stärkung der Tarifautonomie. Von dieser Ausnahme Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Das bei den Langzeitarbeitslosen profitieren übrigens auch können Sie so nicht sagen!) nur die Betriebe, die keinen Tarifvertrag haben, weil die, Das ist weniger als ein Placebo. Ihre Regelung trifft ge- die einen Tarifvertrag haben, diese Ausnahme nicht ma- nau 9 000 Personen. 9 000 unter 18-Jährige sind sozial- chen können. So weit zur Stärkung der Tarifautonomie. versicherungspflichtig beschäftigt. Das ist Ihre Ziel- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gruppe. Von Ihrer Regelung betroffen sind am Ende aber sowie bei Abgeordneten der LINKEN) 320 000 unter 18-Jährige, die neben der Schule und ne- ben der Ausbildung jobben gehen. 9 000 Personen wol- Meine Damen und Herren, wir werden in den Bera- len Sie treffen, aber 320 000 treffen Sie in Wirklichkeit. tungen noch eine Menge Themen ansprechen müssen. Das ist ein Kollateralschaden, der sich gewaschen hat. Auf die Konstruktion der Mindestlohnkommission ist hingewiesen worden, auf die Evaluierung, die erst 2020 (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN beginnen soll, ebenfalls. Auf die geplanten Ausnahmen sowie bei Abgeordneten der LINKEN) und ihre Folgen müssen wir ebenso eingehen wie auf das Wenn Sie wirklich etwas für junge Leute tun wollen, Einfrieren des Mindestlohns bis 2018. Wissen Sie, was dann müssen Sie dafür sorgen, dass attraktive Ausbil- das bedeutet? Das bedeutet, dass die Politik bis 2018 den dungsplätze zur Verfügung gestellt werden, und die in Mindestlohn festlegt, also genau das passiert, wogegen Ihrer Koalitionsvereinbarung vorgesehene Ausbildungs- Sie sich hier immer wieder zur Wehr setzen. platzgarantie endlich umsetzen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Frau Nahles, richtig übel nehme ich Ihnen die Aus- nahmen für die Langzeitarbeitslosen. Dann müssen wir auch einmal darüber reden, ob die- jenigen, die nicht vom Mindestlohn profitieren, eigent- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN lich überhaupt geschützt werden – sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Sie wollen uns das hier verkaufen als eine Starthilfe für Präsident Dr. Norbert Lammert: Langzeitarbeitslose, um in Arbeit zu kommen. Das ist Frau Kollegin. 3328 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014

(A) Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Tarifbindung in diesem Land stärken und hier auch un- (C) – ich komme zum Schluss – und ob deren Löhne nicht terstützen. die Grenze der Sittenwidrigkeit unterschreiten. Das kön- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- nen Sie doch nicht ernsthaft wollen. neten der SPD) Meine Damen und Herren, Sie sehen: Das alles sind Soziale Marktwirtschaft funktioniert aber nur dann, keine Petitessen. Es geht um mehr als 5 Millionen Men- wenn wir starke Sozialpartner haben. Deswegen müssen schen hier in Deutschland. Es geht um die Bekämpfung wir das Interesse an der Sozialpartnerschaft hochhalten, des Niedriglohnsektors. Ich finde, das ist des Schweißes zum einen auf der Arbeitnehmerseite, indem wir sagen: der Edlen wert. „Geht in die Gewerkschaften, kämpft für eure Interes- Ich danke Ihnen. sen“, zum anderen auf der Seite der Unternehmen, damit diese sagen: „Ja, ich möchte Mitglied in einem Arbeitge- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) berverband werden und damit auch Einfluss auf die Ta- rifgestaltung in diesem Land nehmen.“ Präsident Dr. Norbert Lammert: Tatsache ist aber auch: Die Tarifbindung hat sowohl Nächster Redner ist der Kollege Stephan Stracke für in Ostdeutschland als auch in Westdeutschland abge- die CDU/CSU-Fraktion. nommen, in den letzten 16 Jahren um rund 20 Prozent. Die Anzahl der Betriebe mit Branchentarifbindung liegt (Beifall bei der CDU/CSU) im Westen derzeit bei 53 Prozent, im Osten bei 36 Pro- zent. Das ist eine Entwicklung, die wir stoppen wollen. Stephan Stracke (CDU/CSU): Deswegen werden wir dafür sorgen, dass wir das Netz Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen an Tarifverträgen weiter ausbauen, indem wir die Allge- und Kollegen! Deutschland ist wirtschaftlich und sozial meinverbindlichkeitserklärung stärken und auch den Zu- erfolgreich. Diesen Weg des Erfolgs wollen wir fortset- gang zu den Möglichkeiten, die das Arbeitnehmer-Ent- zen. Unser Erfolgsrezept lautet dabei soziale Marktwirt- sendegesetz bietet, entsprechend erleichtern. schaft. Soziale Marktwirtschaft ist immer eine Wettbe- Aber dort, wo die Lohnfindung auf tarifvertraglicher werbsordnung, die den sozialen Ausgleich aber niemals Ebene nicht funktioniert, weil die Tarifbindung nicht beiseitelässt. Keiner darf verloren gehen; das ist unser gegeben ist oder weil sich die Arbeitnehmer in diesem Anspruch. Natürlich umfasst soziale Marktwirtschaft Bereich unzureichend organisieren, da bedarf es einer auch Wettbewerb: Wettbewerb um innovative Ideen, um Lohnuntergrenze. Deswegen kommt der gesetzliche beste Produkte, um den Vorsprung an Wissen und Kön- Mindestlohn von 8,50 Euro zum 1. Januar 2015. nen. All das zeichnet unser Land aus. Das wollen wir (B) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (D) auch unterstützen, beispielsweise in den Bereichen For- neten der SPD) schung und Wissenschaft, Infrastruktur und duale Aus- bildung. In diesen Bereichen wird Zukunft gewonnen. Wir sagen auch: Einmal werden wir den gesetzlichen Deshalb geben wir hier auch in Zukunft mehr Geld aus. Mindestlohn hier im Rahmen des Gesetzgebungsverfah- rens festlegen, aber in Zukunft werden bezüglich der Soziale Marktwirtschaft beinhaltet nach unserem Ver- Entwicklung des Mindestlohns die Tarifvertragsparteien ständnis aber nicht Dumpinglöhne und Wettbewerb um eine entscheidende Rolle spielen. Sie sind es, die in der die niedrigsten Löhne und die schlechteste Bezahlung. Mindestlohnkommission Verantwortung dafür zu tragen Wir wissen: Gute Arbeit muss sich lohnen. haben, wie sich die Entwicklung des Mindestlohns in (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Zukunft gestaltet. Da hat Automatismus keinen Platz. neten der SPD) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Wo Vollzeit gearbeitet wird, da sollen die Menschen, die Platz hat hier nur eine Gesamtabwägung; denn es ist er- Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, auch angemessen forderlich, dass gut begründet wird, wie denn die Aus- bezahlt werden. Leistung muss fair bezahlt werden. wirkungen von Mindestlohnregelungen auf Beschäf- tigung, auf Branchen, auf Regionen sind. Diese Dies zu gewährleisten, ist in erster Linie Aufgabe un- Auswirkungen sollen dezidiert und genau begutachtet serer Sozialpartner, der Arbeitgeber und Arbeitnehmer werden. Dann soll im Rahmen einer Gesamtabwägung in unserem Land, und nicht des Staates – nicht in erster entschieden werden, welche Höhe des Mindestlohns in Linie. Die Sozialpartnerschaft hat über Jahrzehnte hin- Zukunft angemessen ist. weg für Wohlstand und sozialen Frieden gesorgt. Gute Tarifverträge sind die Garantie dafür, dass Leistung fair Wir haben – das müssen wir konstatieren – derzeit bezahlt wird. Davon profitieren im Übrigen auch die un- keine Erfahrung mit gesetzlichen Mindestlöhnen. Wir tersten Lohngruppen. Wir haben in großzügiger Art und haben Erfahrung mit Branchenlöhnen. Hier haben wir Weise die branchenbezogenen Mindestlöhne ausgewei- derzeit keine feststellbar negativen Beschäftigungsef- tet. 4 Millionen Menschen profitieren derzeit davon, fekte. Aber wir steigen sehr hoch ein – international ge- doppelt so viele wie 2009. Wenn man sich die tariflichen sehen –, und wir gehen auch nicht so vorsichtig vor, wie Mindestlöhne ansieht, dann stellt man fest, dass diese zu dies beispielsweise andere Länder gemacht haben. Des- fast 90 Prozent über 8,50 Euro liegen. Das ist der Erfolg wegen müssen wir darauf achten, dass der Schuss für Einzelne nicht nach hinten losgeht. von tariflichen Mindestlöhnen. 79 Prozent liegen im Üb- rigen bei 10 Euro und mehr. Deswegen wollen wir die (Beifall bei der CDU/CSU) Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014 3329

Stephan Stracke (A) Wir müssen darauf achten, dass wir nicht in großem die Ministerin in ihrem Zuleitungsschreiben an dieses (C) Ausmaß negative Beschäftigungseffekte kreieren. Des- Hohe Haus auch deutlich gemacht, dass sie in bestimm- wegen war uns von Anfang an wichtig: Wenn wir jetzt ten Branchen keine Verwerfungen will, insbesondere den Mindestlohn einführen, dann müssen wir das Gesetz was die Saisonarbeit angeht. Die Ministerin hat verspro- auch entsprechend evaluieren, damit wir tatsächlich die chen, zu liefern. Wir sehen dem, was sie hier auf den Kontrolle haben, wie sich das auf die Lebenswirklichkeit Weg bringt, mit großer Sympathie entgegen. auswirkt. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Deswegen haben wir uns auch für Ausnahmen einge- Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir beraten setzt. Ausnahmen gebieten die Vernunft und die Verant- heute in erster Lesung das Mindestlohngesetz, das auch wortung beispielsweise auch gegenüber denjenigen, die eine Veränderung des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes schwächer aufgestellt sind, die gering qualifiziert sind und der Allgemeinverbindlichkeitserklärung mit sich oder langzeitarbeitslos sind. Das hat, Frau Pothmer, bringt. Es handelt sich insgesamt um ein Tarifpaket, das nichts mit Stigmatisierung zu tun, die Tarifautonomie stärkt. Ich wünsche uns in der nächs- (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- ten Zeit gute Beratungen und hoffe, dass letztlich ein Pa- NEN]: Doch!) ket herauskommt, von dem wir tatsächlich in Gänze sa- gen können: Das bringt Deutschland weiter voran. sondern es hat ausnahmslos damit zu tun, dass wir hier die Chancen auf den Einstieg in das Arbeitsleben bei- Herzlichen Dank. spielsweise für diejenigen, die langzeitarbeitslos sind, (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. die gering qualifiziert sind, hochhalten müssen und Dr. Eva Högl [SPD]) keine neuen, keine zusätzlichen Hürden aufbauen dür- fen. Präsident Dr. Norbert Lammert: (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE Nächste Rednerin ist die Kollegin Kerstin Griese für GRÜNEN]: Lohnkostenzuschüsse!) die SPD-Fraktion. Deswegen haben wir dafür gesorgt, dass Langzeit- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) arbeitslose in den ersten sechs Monaten von dem Min- destlohn ausgenommen werden. Ich glaube, das erhöht die Chancen für Langzeitarbeitslose, in den ersten Ar- Kerstin Griese (SPD): beitsmarkt zu kommen. Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Mindestlohn kommt nun endlich. Er wird für mehr Ord- (B) (Beifall bei der CDU/CSU – Volker Kauder nung am Arbeitsmarkt sorgen, er wird vor Niedriglöh- (D) [CDU/CSU]: Sehr gut! Genau so ist es!) nen schützen und damit für mehr Gerechtigkeit für mehr Wir haben sichergestellt, dass Auszubildende, die bei- als 5 Millionen Menschen in Deutschland sorgen. Ich spielsweise eine duale Ausbildung machen, vom Min- bin stolz darauf. Wir können froh sein, dass sich die vie- destlohn ausgenommen werden. len Jahre sozialdemokratischer, aber auch gewerkschaft- licher Anstrengung gelohnt haben. (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Das ist unstrittig!) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der Abg. Brigitte Pothmer Denn wir wollen die duale Ausbildung hochhalten; sie [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) ist ein Erfolgsgarant für unsere hohe Beschäftigung in Deutschland. Deswegen ist es richtig, dass wir auch hier Ich will ganz klar sagen – weil einige das in der eine Ausnahme machen. Debatte angesprochen haben –: Der Mindestlohn wird kein stumpfes Schwert. Wir werden die Einhaltung kon- Es ist genauso richtig, dass wir eine Altersgrenze ein- trollieren. Wir werden nicht dulden, dass es Schlupflö- führen. Beides hat miteinander zu tun. Wenn ich einen cher gibt, zum Beispiel durch Subunternehmen. Die gesetzlichen Mindestlohn für einen Ungelernten ein- 8,50 Euro sind gesetzlich verankert, und sie gelten flä- führe, dann wird es attraktiver sein, nicht in eine Ausbil- chendeckend, für alle Menschen in Ost und West, für dung zu gehen. Deswegen ist die Altersgrenze von alle Branchen. 18 Jahren bereits ein Erfolg, und wir müssen dann im Rahmen der Evaluation des Gesetzes sehen, wie hier die (Beifall bei der SPD) Wirkungen sind. Liebe Kolleginnen und Kollegen, mit dem gesetzli- Im Übrigen haben wir auch klargestellt, dass Ehren- chen Mindestlohn betreten wir in Deutschland tatsäch- amtlichkeit nichts mit Mindestlohn zu tun hat. Auch das lich Neuland. Das machen wir, weil die Auswüchse im gehört in eine Gesamtordnung mit hinein. Niedriglohnsektor in den letzten Jahren die Politik zum Handeln zwingen. Ich sage durchaus selbstkritisch Wir wissen auch, dass manche Branchen einen beson- – nicht alle haben nämlich immer bei allem recht, wie deren Anpassungsbedarf haben werden. In der Koali- Sie es von sich denken, Herr Ernst –: Die Flexibilisie- tionsvereinbarung wird bereits die Landwirtschaft ge- rung des Arbeitsmarktes hat für viele Menschen neue nannt. Wir haben diesbezüglich zwei Regelungen Chancen mit sich gebracht. Aber es hätte sich am An- vorgesehen: zum einen, dass wir Ausnahmen für Tarif- fang auch niemand vorstellen können, wie sehr Unter- verträge bis Ende 2016 machen, und zum anderen hat nehmen sie ausnutzen, durch Dumpinglöhne und durch 3330 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014

Kerstin Griese (A) Aufstocker, und das auf Kosten der Beschäftigten und ziehen kann. Es ist schwierig, Menschen, von denen vie- (C) damit auf unser aller Kosten. Deshalb ist es notwendig len eine Ausbildung fehlt, die vielfach persönliche, und richtig, jetzt einen gesetzlichen Mindestlohn einzu- gesundheitliche oder – das nimmt immer mehr zu – psy- führen. chische Probleme haben, in den ersten Arbeitsmarkt zu vermitteln. Deshalb sage ich ganz klar: Wir müssen und (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten wollen mehr tun, damit Langzeitarbeitslose eine Per- der CDU/CSU) spektive bekommen, damit sie begleitet werden, und Der Mindestlohn ist kein Allheilmittel. Aber er ist zwar länger als bisher, wenn sie einen Job bekommen, notwendig, um eine Spaltung des Arbeitsmarktes und damit mehr aktive Leistungen statt passiver Leistungen damit auch eine Spaltung der Gesellschaft zu verhin- finanziert werden. Wir werden mittel- und langfristig si- dern. In Europa betreten wir damit übrigens kein Neu- cherlich auch einen sozialen Arbeitsmarkt brauchen, in land. 21 der 28 EU-Staaten haben schon einen Mindest- dem diese Menschen besonders unterstützt werden. lohn. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Der Mindestlohn ist eine Untergrenze, eine Haltelinie der CDU/CSU) nach unten. Noch besser sind immer gute Tariflöhne. Im Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Einfüh- Deshalb ist unser Gesetz auch ein Gesetz zur Stärkung rung eines Mindestlohnes ist für Langzeitarbeitslose, der Tarifautonomie. Wir sorgen dafür, dass Tarifverträge also für Menschen, die mehr als ein Jahr arbeitslos sind, leichter für allgemeinverbindlich erklärt werden können. eine befristete Ausnahme von sechs Monaten vorgese- Wir schaffen eine Übergangsregelung von zwei Jahren, hen. Es ist sicher kein Geheimnis, dass meine Fraktion die dazu führt, dass mehr Branchen Tarifverträge ab- von dieser befristeten Ausnahme beim Mindestlohn für schließen. In den Bereichen, in denen bisher überhaupt Langzeitarbeitslose nicht begeistert ist. Man hat sich in- keine Ordnung auf dem Arbeitsmarkt herrschte – ich nerhalb des Kabinetts aber darauf geeinigt. nenne nur die Fleischindustrie, die wir in diesem Haus erst vor kurzem einstimmig ins Arbeitnehmer-Entsende- Deshalb ist es so wichtig, dass wir festgehalten haben, gesetz aufgenommen haben –, werden endlich Tarifver- dass es schon zum 1. Januar 2017 eine Evaluation geben träge geschlossen, die dann übrigens für die komplette wird, damit wir sehen, ob diese Regelung eine Wieder- Branche gelten, wenn für sie das Arbeitnehmer-Entsen- eingliederung in den Arbeitsmarkt verhindert oder beför- degesetz gilt, und nicht nur für einige Unternehmen. Das dert hat. Wir werden dann auch sehen, ob es sinnvoll ist, ist ein guter und wichtiger Schritt. sie beizubehalten. Ich glaube, es ist wichtig, dass wir aufpassen, dass wir nicht eine bestimmte Gruppe stigma- (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Matthias tisieren. Deshalb ist es so wichtig, dass wir diese Rege- W. Birkwald [DIE LINKE]) (B) lung sehr genau überprüfen. (D) Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Mindestlohn ist Im Zuge der Beratung des Gesetzentwurfes, die wir ein Stück mehr Gerechtigkeit für Arbeitnehmerinnen jetzt vor uns haben, sollten wir auch darauf achten, dass und Arbeitnehmer. Aber er ist auch ein Stück mehr Ge- diese Ausnahme nicht ausgenutzt wird und dazu führt, rechtigkeit für Arbeitgeber, nämlich für die Unterneh- dass zum Beispiel ein Arbeitgeber immer wieder Lang- mer, die anständig zahlen und ehrlich wirtschaften. zeitarbeitslose für sechs Monate einstellt. Ein solches (Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie des „Hire und Fire“ werden wir nicht dulden. Abg. Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/ (Beifall bei der SPD) CSU]) Es darf auch nicht passieren, dass ein Langzeitarbeits- Denn ein Arbeitgeber, dessen Geschäft nur funktioniert, loser immer nur für sechs Monate einen Job erhält. Auch wenn er so niedrige Löhne zahlt, dass der Staat sie auf- dagegen kann man eine Regelung einbauen, sodass das stocken muss, hat kein gutes Geschäftsmodell. Das wol- zum Beispiel nur einmal innerhalb mehrerer Jahre mög- len wir nicht haben. Das belastet die Allgemeinheit, und lich ist. Bei der Evaluation werden wir dann sehen, wie das belastet auch die Steuerzahler. sich das auswirkt. Uns geht es um echte Teilhabeange- (Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie des bote für Langzeitarbeitslose. Deshalb ist es gut, dass wir Abg. Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]) die Gelder für Maßnahmen zur Eingliederung in Arbeit bzw. zur Vermittlung in Arbeit nach vielen Jahren des Insofern wird es auch für die Arbeitgeber in Zukunft Sparens jetzt endlich wieder deutlich aufstocken. gerechter werden. Der Mindestlohn ermöglicht Wettbe- 350 Millionen Euro pro Jahr, also insgesamt 1,4 Milliar- werbsgerechtigkeit. Dabei geht es nicht darum, wer die den Euro in dieser Wahlperiode: Das ist eine richtige Sa- niedrigsten Löhne zahlt und dann auf dieser Basis mit che. anderen konkurriert, sondern es wird um gute Arbeitsbe- dingungen, gute Löhne, gute Produkte und Dienstleis- Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich komme zum tungen gehen. Das ist eine sinnvolle Sache. Schluss. Im Mittelpunkt steht der Mensch. Wir werden den flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn in Ost Liebe Kolleginnen und Kollegen, trotz insgesamt gu- und West für alle Branchen und ohne jede Ausnahme ter Arbeitsmarktdaten befinden sich weiterhin 1 Million einführen. Damit stärken wir auch die Tarifautonomie. Menschen in Langzeitarbeitslosigkeit; ich will auf diese Gruppe eingehen, weil ich die Kritik, die Sie an der vor- Nach vielen Diskussionen mit Gewerkschaften und gesehenen Ausnahme geübt haben, durchaus nachvoll- Arbeitgebern beginnen heute die Beratungen im Bundes- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014 3331

Kerstin Griese (A) tag, und ich bin sehr zuversichtlich, dass wir es noch vor öffentliche Interesse sollte allerdings im besonderen (C) der Sommerpause schaffen werden, den gesetzlichen Maße vorliegen, um zu verhindern, dass bereits eine re- Mindestlohn, beginnend mit 8,50 Euro, einzuführen. Wir lative überwiegende Bedeutung eines Tarifvertrages zu sind stolz darauf, dass wir das in dieser Regierungskoali- dessen Allgemeinverbindlichkeit führen kann. tion schaffen und damit vielen Menschen wirklich hel- fen. (Beifall bei der CDU/CSU) Vielen Dank. Das besondere öffentliche Interesse sollte weiterhin als Korrektiv gegeben sein. Dies gilt auch für die AVE (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten von Tarifverträgen über eine gemeinsame Einrichtung. der CDU/CSU) Diese sollten im Übrigen auch nicht in Konkurrenz zu anderen Tarifverträgen stehen, an die ein Arbeitgeber Präsident Dr. Norbert Lammert: bereits gebunden ist, damit die Tarifautonomie an dieser Das Wort erhält nun der Kollege Wilfried Oellers für Stelle weiterhin gestärkt bleibt. die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (Beifall bei der CDU/CSU) neten der SPD) Zum Mindestlohngesetz sei Folgendes erwähnt: Ar- Wilfried Oellers (CDU/CSU): beitnehmerinnen und Arbeitnehmer sollen einen aus- Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegin- kömmlichen Lohn erhalten. Hierfür hat sich die Union nen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Her- bereits in der Vergangenheit durch die Aufnahme von ren! Wir beraten heute in der ersten Lesung den Entwurf 14 Branchen ins Arbeitnehmer-Entsendegesetz einge- des Tarifautonomiestärkungsgesetzes. Das verfassungs- setzt und damit jeweils bundesweit einheitliche Mindest- rechtlich verankerte hohe Gut der Tarifautonomie hat in löhne eingerichtet, zuletzt für die Fleischindustrie. Damit der Vergangenheit dazu geführt, dass die Tarifvertrags- konnten die Tarifpartnerschaft gestärkt und branchenbe- parteien in allen Bereichen stets erfolgreich gemeinsame zogene Besonderheiten berücksichtigt werden. Letzte- Regelungen und Lösungen erarbeitet haben. Dies war res war insbesondere deswegen wichtig, um dem Um- zum Teil mit harten Verhandlungen verbunden, die zu stand Rechnung zu tragen, dass ein Lohn erwirtschaftet Kompromissen führten, in denen die Interessen beider werden muss. Tarifvertragsparteien akzeptabel berücksichtigt worden sind – und das auch in schwierigen Zeiten. In einigen Bereichen besteht noch ein Lohnniveau von unter 8,50 Euro. Um in diesen die Lohnhöhe von (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (B) 8,50 Euro zahlen zu können, ist es erforderlich, gewisse (D) Daher ist es nur konsequent, dass die Tarifautonomie Übergangszeiten einzuräumen, damit sich das Marktni- durch das hier vorliegende Tarifpaket weiter gestärkt veau und damit das Erwirtschaften von Löhnen der werden soll. Lohnsteigerung anpassen können. Eine Möglichkeit ist, alle bestehenden Tarifverträge für eine Übergangszeit Bei der näheren Betrachtung des Gesetzentwurfs gilt weiter gelten zu lassen. Für den stark betroffenen Be- es jedoch, einige Aspekte nochmals zu bedenken. Ich reich der Saisonarbeit sollte ebenfalls eine Übergangsre- komme zunächst zur Öffnung des Arbeitnehmer-End- gelung geschaffen werden. sendegesetzes für alle Branchen: Diese ist grundsätzlich zu begrüßen, da sie die Tarifautonomie stärkt. Ich bitte (Beifall bei der CDU/CSU) jedoch, auf die Bestimmungen zur Definition der einzel- nen Branchen ein gewisses Augenmerk zu legen, um Darüber hinaus sollte auch berücksichtigt werden, klare Trennungen zu regeln, damit es hier zu keinen dass die Lohngestaltung in Deutschland sehr vielschich- Überschneidungen kommt. Zur Klarstellung sollte hier tig ist: Bei den Zeitungszustellern wird ein Stücklohn ge- insbesondere auch eine gesetzliche Regelung erfolgen. zahlt. Beim Taxigewerbe liegt die Besonderheit vor, dass Einnahmen bzw. Preise durch die Kommunen festgelegt Zur Erleichterung von Allgemeinverbindlichkeitser- werden. Hier sollten Lösungen gefunden werden. klärungen von Tarifverträgen nach dem Tarifvertragsge- setz sei Folgendes erwähnt: Die Allgemeinverbindlich- Im Rahmen des parlamentarischen Verfahrens sind keitserklärung nach dem Tarifvertragsgesetz ist ein noch weitere Bestandteile des Mindestlohngesetzes zu bewährtes Instrument, mit dem einheitliche Standards überdenken. Gewollt ist, einen Mindestlohn in Höhe von branchenbezogen geregelt werden können. Allerdings 8,50 Euro einzuführen. Hierzu steht die Union. Nicht stellt das Erreichen der erforderlichen starren Quote in vereinbart ist allerdings, dass mit dem Mindestlohnge- Höhe von 50 Prozent der in den Geltungsbereich des Ta- setz weitere allgemein geltende Regelungen hinsichtlich rifvertrags fallenden Arbeitnehmer zunehmend ein Pro- der Handhabung von Überstunden oder Dokumenta- blem dar, wenn es darum geht, auf der Arbeitgeberseite tionspflichten eingeführt werden sollen. Dies führt zu die Voraussetzungen zu erfüllen. mehr Bürokratie, was gerade nicht beabsichtigt ist. Diese starre Grenze wird nun aufgehoben. Durch den Beide Themenbereiche sollten genauso wie die The- nunmehr erforderlichen gemeinsamen Antrag der Tarif- matik der Verwirkung wie bisher im Regelungsbereich vertragsparteien und das damit verbundene gemeinsame der Tarifvertragsparteien liegen. Ebenso wenig ist das Handeln wird die Tarifautonomie gestärkt. Das vom Mindestlohngesetz dafür da, strengere Haftungsregelun- Bundesministerium für Arbeit und Soziales zu prüfende gen einzuführen. Die Unternehmerhaftung ist derart 3332 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014

Wilfried Oellers (A) weitgehend angelegt, dass sie eine Haftungskette ermög- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (C) licht, die unverhältnismäßig ist. der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU) Wir reden über einen konsistenten und guten Gesetz- entwurf – ich würde fast sagen: über einen schönen Ge- Begrüßenswert ist, dass der gemeinsame Wunsch be- setzentwurf –, der komplett ohne Branchenausnahmen steht, eine Altersgrenze für die Inanspruchnahme des auskommt und stattdessen – großes Kompliment an die Mindestlohns einzuführen, damit kein Anreiz geschaffen Ministerin und ihr Haus! – Branchengespräche anbietet, wird, nach dem Schulabschluss eher ohne Ausbildung um real existierende Herausforderungen, die es in man- ein Arbeitsverhältnis mit einem Stundenlohn von chen Branchen in der Tat gibt, außergesetzlich zu lösen. 8,50 Euro einzugehen als eine Ausbildung zu absolvie- Den Unternehmern, die jetzt noch zweifeln, kann ich zu- ren, in der man zunächst weniger verdient. Ob eine Al- rufen: Ihre Sorgen werden in Berlin von Andrea Nahles tersgrenze von 18 Jahren an dieser Stelle allerdings rich- ernst genommen und in diesen Branchengesprächen an- tig gewählt ist, muss infrage gestellt werden, wenn man gegangen. Ich finde, das ist exakt der richtige Weg, da- berücksichtigt, dass die meisten Schulabsolventen ihre mit umzugehen. Ausbildung im Alter von über 18 Jahren beginnen. Eine Anpassung erscheint mir hier geboten zu sein, um das (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten erfolgreiche duale Ausbildungssystem in Deutschland zu der CDU/CSU) stärken. Wir als Parlament setzen den konkreten Willen der Zur Arbeit der Mindestlohnkommission ist zu erwäh- Menschen in diesem Land um. 86 Prozent – das ist der nen, dass diese hinsichtlich der Entwicklung des Min- überwiegende Teil der Menschen in Deutschland – wol- destlohns keine starre gesetzliche Vorgabe erhalten len den gesetzlichen Mindestlohn, übrigens auch 82 Pro- sollte. Eine Orientierung an dem Tariflohnindex ermög- zent der Unionsanhänger. Kluge Leute! licht keine uneingeschränkte Gesamtbetrachtung aller (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der zur Neuberechnung des gesetzlichen Mindestlohns he- CDU/CSU – Volker Kauder [CDU/CSU]: ranzuziehenden Umstände. Grundsätzlich, ja! – Michael Grosse-Brömer Nach einer ersten Festlegung des Mindestlohns durch [CDU/CSU]: Aber unabhängig vom Mindest- den Gesetzgeber soll es im Weiteren die gemeinsame lohn!) Aufgabe der Tarifvertragsparteien sein, den Mindestlohn Nach einer Forsa-Umfrage wollen ihn sogar 57 Prozent weiterzuentwickeln, und zwar unter Berücksichtigung der befragten deutschen Manager. Er scheint auch öko- einer wirtschaftlichen und sozialen Gesamtbetrachtung. nomisch sehr viel Sinn zu machen. (B) Da der gesetzliche Mindestlohn eine Neugestaltung des (D) bisherigen Lohnsystems darstellt, sollte eine Evaluie- Es ist kein neues Thema, Herr Ernst. Damit haben Sie rung möglichst zeitnah nach Inkrafttreten erfolgen. völlig recht. Gerade für die ostdeutsche Sozialdemokra- Auch wenn noch über Einzelheiten gesprochen werden tie – das kann ich als einzige Ostdeutsche in der Debatte muss, so sind wir uns einig, dass die Tarifautonomie ge- feststellen – ist heute ein ganz besonderer Tag. Ostdeut- stärkt werden muss und der Mindestlohn in Höhe von sche Sozialdemokraten wie oder Christoph 8,50 Euro kommt. Matschie haben bereits im August 2004 die Einführung von Mindestlöhnen gefordert, um Niedriglöhne, die es Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. schon damals in Ostdeutschland massiv gab, einzudäm- men und den Menschen ihre Würde zurückzugeben. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der SPD) (Beifall bei der SPD) Gerade die geringe Tarifbindung hat dafür gesorgt, Präsident Dr. Norbert Lammert: dass schon damals viele Menschen nicht von ihrer Ich erteile das Wort der Kollegin Daniela Kolbe für Hände Arbeit leben konnten. Ein Mindestlohn ist keine die SPD-Fraktion. elegante Lösung. Aber aufgrund der massiven Betroffen- heit ist er die einzig mögliche Maßnahme, die wir treffen (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten können. Wir als Sozialdemokraten haben die Forderung der CDU/CSU) schon sehr früh aufgenommen, und nach langem Kampf und vielen Diskussionen können wir heute sagen: Der Daniela Kolbe (SPD): einheitliche gesetzliche Mindestlohn kommt. Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Kollegen! Für mich ist heute wirklich ein ganz besonde- der CDU/CSU) rer Tag: Wir beraten heute einen guten und für mich und viele hier im Raum extrem wichtigen Gesetzentwurf. Der Mindestlohn ist wichtig für das gesamte Land, Das Gesetz wird das Leben von Millionen Menschen in aber ganz besonders für den Osten der Republik. In Ost- diesem Land ganz konkret verbessern. Wir reden von deutschland haben 2012 fast 2 Millionen Menschen we- Leistungsträgern, die mit ihrer Hände Arbeit mit dazu niger als 8,50 Euro pro Stunde verdient. Das sind fast beitragen, dass unser Land so gut dasteht. Dieser Arbeit 30 Prozent der Beschäftigten. Gerade die extrem niedri- geben wir mit dem Gesetzentwurf die Würde zurück, die gen Stundenlöhne sind in Ostdeutschland besonders ver- sie verdient. breitet. 11,1 Prozent der ostdeutschen Beschäftigten ha- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014 3333

Daniela Kolbe (A) ben 2012 weniger als 6 Euro brutto pro Stunde verdient. wurf eines Tarifautonomiestärkungsgesetzes. Hierbei (C) Gerade diese Menschen brauchen den Mindestlohn drin- geht es nicht nur um den viel diskutierten Mindestlohn. gend, und er kommt. Das Gesetz zielt vielmehr auf die Zukunft der Tarifland- schaft in unserem Land. So wollen wir unter anderem (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten das Arbeitnehmer-Entsendegesetz allen Branchen zu- der CDU/CSU) gänglich machen und die Hürden senken, um einen Ta- Den Rest meiner Redezeit – sie ist für dieses Thema rifvertrag allgemeinverbindlich erklären zu können. eindeutig zu kurz – Schaut man sich die geplanten Maßnahmen an, dann stellt man fest, dass der Titel des Gesetzentwurfs teil- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) weise für Verwirrung sorgt. Inwieweit Eingriffe seitens möchte ich der Frage der Altersgrenze beim Mindest- des Staates die Autonomie der Tarifvertragsparteien stär- lohn widmen. Ich war immer ein bisschen verwundert ken sollen, erscheint auf Anhieb nicht jedem logisch. darüber, wie über junge Leute geredet wurde, die angeb- Um allerdings die tarifstärkende Wirkung verstehen zu lich keine Ausbildung antreten, wenn es einen gesetzli- können, sollte getreu dem Motto „Zukunft braucht Her- chen Mindestlohn gibt. Ich habe deshalb an die Berufs- kunft“ erst der Blick auf unsere arbeitsmarktpolitische schulen in meinem Wahlkreis in geschrieben Vergangenheit gehen, bevor man den Blick in die Zu- und die jungen Leute gebeten, mir zu schreiben, ob sie kunft richtet. eine Ausbildung begonnen hätten, wenn es bereits einen Das Tarifvertragsgesetz gehört zu den Gründungsdo- Mindestlohn von 8,50 Euro pro Stunde gegeben hätte, kumenten der Bundesrepublik. Im Grundgesetz steht ge- oder ob sie dann lieber gejobbt hätten. Der übergroße schrieben, dass Arbeitgeber und Gewerkschaften Tarif- Teil der Menschen hat geantwortet, natürlich hätten sie verträge eigenständig aushandeln können. Der Staat hält eine Ausbildung gemacht. sich dabei heraus. Diese gelebte Sozialpartnerschaft hat Die jungen Menschen sollen das letzte Wort in der sich jahrzehntelang bewährt. Sie war quasi der Motor Rede haben. Vielleicht ändert das ein bisschen das Bild, des Wirtschaftswunders und hat damit einen wesentli- das wir von der Jugend haben. Ich habe einen ganzen chen Beitrag zu unserem heutigen Wohlstand geleistet. Stapel Zitate mitgebracht. Die klar geregelte Ordnung des Arbeitslebens durch Ta- rifverträge ist jedoch in jüngerer Vergangenheit zurück- Präsident Dr. Norbert Lammert: gedrängt worden. Machen wir uns nichts vor: Fast jeder Nein, das geht leider nicht, weil wir in unserer De- zweite Beschäftigte wird bald ohne Tarifvertrag arbei- batte keine Mindestredezeiten, sondern Höchstredezei- ten, sollte sich diese Entwicklung fortsetzen. ten haben. Dafür sind verschiedene Einflüsse verantwortlich. (B) (D) (Heiterkeit und Beifall im ganzen Hause) Zum einen hat sich unser Industriestaat zu einer Indus- trie- und Dienstleistungsgesellschaft weiterentwickelt. Form und Organisation von Arbeit haben sich grundle- Daniela Kolbe (SPD): gend verändert. Darüber hinaus steht unser Land in einem Aber Sie wollen als Präsident des Bundestages sicher- globalen Wettbewerb. Deutschland ist wirtschaftlich in lich auch die jungen Menschen zu Wort kommen lassen. vielen Bereichen Vorreiter. Damit unsere Wirtschaft Zum Beispiel hat jemand geschrieben: „800 Euro wettbewerbsfähig bleiben konnte, waren politische Wei- netto ohne Ausbildung mein Leben lang? – Nein danke.“ chenstellungen nötig. Diese sind jedoch nicht ohne Fol- Jemand anders schreibt: „Ich übe meinen Job leiden- gen für die Tariflandschaft geblieben. Letztlich haben schaftlich aus, habe mich bewusst für ebendiese Ausbil- auch die Tarifvertragsparteien selbst zu dieser Entwick- dung entschieden.“ Oder: „Man braucht eine Ausbil- lung beigetragen. Während Gewerkschaften seit Jahren dung, um im Leben etwas erreichen zu können.“ Und Mitglieder verlieren, scheiden Arbeitgeber aus der Tarif- schließlich: „Ausbildung ist Pflicht. Ohne geht es nicht.“ – bindung aus. Damit verlieren die Tarifvertragsparteien In diesem Sinne! auch ihre Grundlage, um für alle Beschäftigten sprechen zu können. Für Politik und Gesellschaft bleibt die Er- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten kenntnis: Das System der Tarifverträge ist löchriger ge- der CDU/CSU, der LINKEN und des BÜND- worden. Damit steigt die Gefahr, dass der einzelne Ar- NISSES 90/DIE GRÜNEN) beitnehmer durch das Raster fällt. Der vorliegende Gesetzentwurf greift diese Heraus- Präsident Dr. Norbert Lammert: forderung auf. Politik kann zwar viel bewirken, jedoch Das ist doch ein schöner Schluss. keine Tarifstrukturen stellen. Daher liegt es nahe, die be- Albert Stegemann erhält nun das Wort für die CDU/ stehenden Strukturen zu stützen und zu stärken. Wir CSU-Fraktion. wollen tariffreie Zonen schließen und das bestehende System ergänzen. Mit der geplanten Allgemeinverbind- (Beifall bei der CDU/CSU) licherklärung und der Erweiterung des Arbeitnehmer- Entsendegesetzes greifen wir lediglich dort ein, wo die Albert Stegemann (CDU/CSU): Sozialpartner aus eigener Kraft nicht mehr zu angemes- Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! senen Lösungen kommen können. Aber für die Union ist Liebe Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Her- auch klar: Wir sind klug beraten, in den kommenden ren! Heute beraten wir in erster Lesung über den Ent- Wochen Details genau zu prüfen. Wir dürfen hier in den 3334 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014

Albert Stegemann (A) zwei genannten Elementen nicht über das Ziel hinaus- beit in geeigneter Weise eingehen. Ansonsten gibt es in (C) schießen. diesem Bereich nur Verlierer, sowohl aufseiten der Ar- beitgeber als auch aufseiten der Arbeitnehmer und (Beifall bei der CDU/CSU) schließlich auch aufseiten der Verbraucher. Kommen wir nun zum medial viel beachteten Min- destlohngesetz. Der zentrale Anspruch der Union war es Dabei haben wir im letzten Herbst so viel Herzblut in immer, dass jeder von seiner Hände Werk leben kann. die Ausarbeitung eines sehr guten Koalitionsvertrages gesteckt. Liebe Freunde von der SPD, wer seine Partei in (Beifall bei der CDU/CSU) einer Mitgliederbefragung über ebendiesen Koalitions- Indem wir einen Mindestlohn einführen, schützen wir vertrag abstimmen lässt, sollte dann auch im Sinne sei- Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Zukunft vor ner Mitglieder einmal nachschauen, was dort vereinbart Ausbeutung. Zugleich war immer eine zentrale Forde- wurde. rung der Union: Eine verbindliche Lohnuntergrenze ist (Beifall bei der CDU/CSU) nur in Absprache mit den Tarifvertragsparteien machbar. – Dazu stehen wir noch immer. Der Bundestag soll die Ich jedenfalls werde gerne meinen Beitrag dazu leis- Einführung beschließen. Die weitere Ausgestaltung le- ten, dass es im parlamentarischen Verfahren zu einer gen wir in die Hände der Tarifvertragsparteien. Das weiteren Annäherung des Regierungsentwurfs an den heißt, die geplante Tarifkommission setzt damit künftig Koalitionsvertrag kommt. Daneben bedarf es noch den Mindestlohn fest, und keine Politiker im Bundestag. Nachbesserungen für die Situation der Praktikanten und Das ist Aufgabe der Tarifvertragsparteien. bei der Altersgrenze mit 18 Jahren. In beiden Fällen ist es unstrittig, dass es hier eine Lösung geben muss. Nach (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) dem derzeitigen Stand verfehlen die Regelungen aber ihr Der Mindestlohn muss aber auch mit den wirtschaftli- Ziel. chen Realitäten vereinbar sein. Wir verschließen unsere Wir alle wissen, dass wir den Gesetzentwurf in der Augen nicht vor möglichen Nebenwirkungen. ersten Juliwoche in einer anderen Form verabschieden werden, als er heute vorliegt. Eines ist für uns als Koali- Präsident Dr. Norbert Lammert: tionsfraktionen aber klar: Wir wollen eine Tarifland- Herr Kollege Stegemann, darf Ihnen der Kollege schaft, die drohende soziale Verwerfungen auf dem Ar- Ernst eine Zwischenfrage stellen? beitsmarkt genauso im Auge behält wie die Bedürfnisse einer im globalen Wettbewerb stehenden Wirtschaft. So Albert Stegemann (CDU/CSU): war es auch in der Vergangenheit. Ich hoffe, dass wir (B) Ich würde das lieber nach meiner Rede in einem bila- heute den Grundstein legen, dass dieser Grundsatz auch (D) teralen Gespräch klären. in Zukunft gilt. (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU – Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. Klaus Ernst [DIE LINKE]: Dann mache ich (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- eben eine Kurzintervention!) neten der SPD)

Präsident Dr. Norbert Lammert: Präsident Dr. Norbert Lammert: Gut. Letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin Antje Lezius für die CDU/CSU-Fraktion. Albert Stegemann (CDU/CSU): Nicht nur die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, (Beifall bei der CDU/CSU) sondern auch deren Arbeitsplätze müssen geschützt wer- den. Antje Lezius (CDU/CSU): Ich bin mir sicher, dass die im Regierungsentwurf Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen aufgeführte Generalunternehmerhaftung, die jährliche und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Ge- Abrechnung der Arbeitszeitkonten, die Ausschlussfris- setzentwurf, über den wir heute verhandeln, ist, wie wir ten oder Dokumentationspflichten, um nur einige offene schon mehrmals gehört haben, eine Herzensangelegen- Diskussionspunkte zu nennen, dem Ziel einer tariflichen heit für viele Bürger und Bürgerinnen in diesem Land. Ausgewogenheit entgegenstehen. Für alle diese Punkte, Von den drei Bestandteilen, die darin enthalten sind, ist die im Regierungsentwurf Erwähnung finden, gibt es das Mindestlohngesetz derjenige mit der größten Signal- keine Grundlage im Koalitionsvertrag. wirkung. Laut BMAS befürworten rund 80 Prozent der Bundesbürger einen flächendeckenden gesetzlichen Weiterhin sind aber auch Dinge entscheidend, die Mindestlohn. Zwei Drittel der Deutschen haben uns als sehr wohl im Koalitionsvertrag stehen, jedoch offen- Große Koalition auch deswegen gewählt, weil wir ver- sichtlich im Regierungsentwurf vergessen wurden. So sprochen haben, für einen tariflichen Mindestlohn zu finden zum Beispiel die explizit im Koalitionsvertrag er- sorgen. wähnten Saisonarbeiter im Regierungsentwurf noch keine Berücksichtigung. Hier muss an Lösungen gear- (Beifall bei der CDU/CSU – beitet werden, die auf die besonderen Lebensrealitäten [Spandau] [SPD]: Wer hat das versprochen? – und den außergewöhnlichen Arbeitsalltag der Saisonar- Weitere Zurufe von der SPD) Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014 3335

Antje Lezius (A) Der vorliegende Gesetzentwurf, den wir jetzt noch im nem Mindestlohn von 10 Euro. Das wäre für den Ar- (C) Detail beraten, löst damit nun ein weiteres Versprechen beitsmarkt in manchen Regionen jedoch ein Albtraum. der Koalition ein. Er basiert vor allem auf dem Grundge- Grundsätzlich gönnen auch wir den Menschen einen danken, dass jeder von seiner Arbeit leben können muss. möglichst hohen Stundenlohn. Das ist hier nicht die Frage, auch wenn die Kolleginnen und Kollegen von der Wenn wir uns fragen, liebe Kolleginnen und Kolle- Opposition uns das jetzt nicht recht glauben. Auch wir gen, wie Arbeit in Zukunft beschaffen sein soll, so gibt sehen die Menschen, die für gute Arbeit zu wenig ver- es zahlreiche Anforderungen und Wünsche, die so ver- dienen. Das Problem ist nur, dass dieses Einkommen zu- schieden sind wie die Menschen selbst. Allerdings müs- nächst von den Unternehmen erwirtschaftet werden sen wir uns Gedanken darüber machen, welche Auswir- muss. Wir finden es unehrlich, den Menschen etwas zu kungen der demografische Wandel auf unsere versprechen, was nicht eingehalten werden kann. Gesellschaft und unseren Arbeitsmarkt haben wird. Unternehmen können natürlich nur dann höhere Es wird in Zukunft weniger jüngere und mehr ältere Löhne zahlen, wenn sie sie erwirtschaften können. Am Menschen geben; darauf müssen wir uns einstellen. Wir Beispiel einer Tankstelle wird dies deutlich: Pächter sind von der Union setzen dabei sowohl auf die Eigenverant- selbstständige Handelsvertreter und haben keinen Ein- wortung des Einzelnen als auch auf solidarische Unter- fluss auf die Benzinpreisgestaltung. Sie können auch die stützung. Wir wollen nicht nur die Qualität der Arbeit Shopartikel nicht beliebig verteuern. Wenn sie den Preis durch moderne und gesunde Arbeitsplätze besser gestal- trotzdem erhöhen, beobachten sie einen Effekt, den zum ten, wir wollen auch, dass die Menschen existenzsi- Beispiel auch die Friseure fürchten: Die Kunden bleiben chernde Einkommen haben, von denen sie auch für das aus. Bedauerlicherweise nämlich sind dieselben Kunden, Alter vorsorgen können, sei es durch eigene Beiträge die zu 80 Prozent den Mindestlohn befürworten, oft oder durch private Vorsorge. Bei der Lohnfestsetzung ist nicht bereit, den daraus resultierenden höheren Preis die Tarifautonomie seit Jahrzehnten ein bewährtes Er- auch zu zahlen. folgsmodell der sozialen Marktwirtschaft, wovon wir Ich habe in meinem Wahlkreis zahlreiche Betriebe be- auch heute schon mehrmals gehört haben. sucht, die mir dies bestätigt haben. Hier hat sich übrigens (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) auch gezeigt, dass sich Arbeitgeber grundsätzlich im Klaren darüber sind, dass es ohne guten Lohn schwer ist, Lassen Sie mich ganz deutlich sagen: Wir sind stolz jemanden für offene Stellen zu gewinnen, gerade in auf die Errungenschaften der Tarifvertragspartner. Die- ländlichen Regionen. Auf der anderen Seite müssen sich ser Gesetzentwurf ist aber auch eine Antwort auf die seit Löhne aber auch an der Qualifikation messen lassen. Jahren immer schwächer werdende Tarifbindung. Hier (B) müssen wir entgegenwirken. In Zeiten des Fachkräfte- Wir sehen auch die reale Gefahr, dass durch den Min- (D) mangels bedeutet die Stärkung der Tarifbindung auch destlohn unproduktive Arbeitsplätze wegfallen. Darun- die Stärkung der Attraktivität des Standortes im Wettbe- ter würden gerade diejenigen leiden, die von der Erhö- werb mit den Regionen. hung der Lohnuntergrenze eigentlich profitieren sollten. Diese Fehlentwicklungen wollen wir vermeiden, und wir Uns ist wichtig, dass die Tarifvertragspartner auch werden deswegen einige Beschäftigungsgruppen ganz weiterhin die Verantwortung für die Lohngestaltung in bewusst aus dem Mindestlohn herausnehmen, wie zum unserem Land übernehmen. Die Politik hat nicht die Beispiel Auszubildende, Praktikanten und Jugendliche Aufgabe, Löhne festzusetzen. Wir sind gegen eine staat- unter einer bestimmten Altersgrenze ebenso wie Lang- liche Bevormundung und für die bewährte Balance zeitarbeitslose in den ersten sechs Monaten. zwischen Arbeitnehmer- und Arbeitgeberinteressen. In Rheinland-Pfalz, wo sich mein Wahlkreis befindet, Deswegen sehen wir die Tarifkommission in der Verant- berichten die jüngsten Zahlen der Bundesagentur für Ar- wortung, wenn es darum geht, die Höhe des Mindest- beit von 11 400 jungen Menschen unter 25 Jahre ohne lohns zu überprüfen und anzupassen. Die Sorge über die Arbeit und von 39 200 Langzeitarbeitslosen. Diese Zah- Auswirkungen des Mindestlohns zeigt sich auch in den len sind mir deutlich zu hoch. Es ist vernünftig, wenn zahlreichen Schreiben diverser Institutionen von Wirt- wir hier einen Anreiz schaffen, um diese Menschen in schaftsverbänden bis hin zu Gewerkschaften, die wir alle Arbeit zu bringen. seit einiger Zeit bekommen. Über die Frage der Lohnhöhe hinaus können wir aber Eines der wichtigsten Anliegen unserer Politik ist die sagen: Wir sind kein Volk von Mindestlöhnern. Wir sind Erhaltung der Arbeitsplätze für die Menschen in diesem ein Volk von fleißigen, kreativen und innovativen Ar- Land. Insbesondere der Mittelstand mit 99,6 Prozent al- beitnehmern und Unternehmern, und wir haben mit star- ler Unternehmen der Privatwirtschaft ist es, der Arbeits- kem Zusammenhalt die Krise gemeistert. plätze schafft und es Menschen ermöglicht, durch Erwerbsarbeit ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Des- Ich wünsche mir für die Zukunft, sehr geehrte Damen wegen sollten wir auch die Einwände der Arbeitgeber und Herren, den gleichen Zusammenhalt, indem die Be- nicht einfach ignorieren. völkerung, die sich in großer Mehrheit für einen Min- destlohn ausspricht, diesen am Ende auch mitträgt. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Vielen Dank. Die Höhe des Mindestlohns ist ein wichtiger Faktor. Hier müssen wir behutsam vorgehen. Die Kollegen von (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- der Linken sowie Verdi träumen hier öffentlich von ei- neten der SPD) 3336 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014

(A) Präsident Dr. Norbert Lammert: in Luxemburg gebunden. Ich bitte dafür um Verständnis, (C) Ich schließe die Aussprache. will aber ergänzen: So gern der Minister die Rede selber gehalten hätte, so gern vertrete ich ihn heute hier. Dass das Präsidium, Frau Kollegin Kolbe, Ihre Ein- schätzung teilt, dass dieses Thema sicher noch eine län- Meine Damen und Herren, Deutschland war lange gere Beratungszeit verdient hätte, kommt schon darin Zeit ein Land mit geringer Zuwanderung aus anderen zum Ausdruck, dass wir jetzt nachweislich deutlich län- Staaten. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Mensch sein ger debattiert haben, als wir zu Beginn dieser Debatte gesamtes Leben in der Region, in der Stadt oder gar in gemeinsam beschlossen haben. dem Dorf verbrachte, in dem er geboren wurde, war für Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent- viele Generationen vor uns jedenfalls dann sehr groß, wurfs auf der Drucksache 18/1558 an die in der Tages- wenn sie nicht etwa Opfer von Krieg und Vertreibung ordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt wurden. es dazu alternative Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Heute leben wir in einer Gesellschaft, die mobiler ist Dann ist die Überweisung so beschlossen. denn je. Die Menschen wechseln ihren Lebensmittel- Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 5 a und 5 b: punkt über regionale und nationale Grenzen hinweg: zur Ausbildung, um eine Familie zu gründen, aus wirtschaft- a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- licher Not oder der Karriere wegen. In Deutschland gebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes wohnen über 15 Millionen Menschen mit Migrationshin- zur Änderung des Staatsangehörigkeitsgeset- tergrund. Das entspricht fast einem Fünftel der deut- zes schen Wohnbevölkerung. Drucksache 18/1312 Damit einher geht die Frage: Was ist Heimat? Und ich Überweisungsvorschlag: meine hier „Heimat“ nicht in einem nostalgischen Be- Innenausschuss (f) deutungssinn. Das Wort „Heimat“ war bis zu seiner ro- Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz mantischen Verklärung ein eher nüchterner, im Grunde juristischer Begriff zur Bezeichnung eines Aufenthalts- b) Erste Beratung des von den Abgeordneten Jan status, des Heimatrechts: Man hatte besondere Rechte Korte, Sevim Dağdelen, Dr. André Hahn, weite- – etwa das Recht auf Aufenthalt und Armenpflege – und ren Abgeordneten und der Fraktion DIE LINKE Pflichten in der Gemeinde, zu der man gehörte. Daraus eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die hat sich dann die Staatsangehörigkeit moderner Prägung Aufhebung der Optionsregelung im Staatsan- historisch entwickelt. gehörigkeitsrecht (B) Beide Ansätze des Staatsangehörigkeitsrechts, das ius (D) Drucksache 18/1092 sanguinis und das ius soli, hatten dasselbe Ziel: festzule- Überweisungsvorschlag: gen, wer zu einer Gemeinde, wer zu einem bestimmten Innenausschuss (f) Staat gehört, wobei man annahm, dass er oder sie dort Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend verwurzelt sei und in aller Regel einen dauerhaften Be- Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe zugs- oder Lebensmittelpunkt haben würde. Da die indi- viduelle Mobilität geringer war als heute, liefen Abstam- Auch für diese Aussprache sollen nach einer inter- mung und Geburtsort eben häufig auf dasselbe hinaus. fraktionellen Vereinbarung 96 Minuten vorgesehen wer- den. – Das ist offenkundig allgemeine Auffassung. Dann Seither hat die grenzüberschreitende Mobilität die verfahren wir so. Verhältnisse verkompliziert, nicht nur was die nostalgi- sche Seite des Begriffs „Heimat“ betrifft – wenn sich der Ich eröffne die Aussprache und erteile zunächst für Einzelne heute fragen mag, wo er eigentlich zu Hause ist –, die Bundesregierung das Wort dem Parlamentarischen sondern auch was seine einstmals juristische Bedeutung Staatssekretär Günter Krings. betrifft: das Heimatrecht als eine besondere Rechtsstel- (Beifall des Abg. [Weil am lung zu einem bestimmten Gemeinwesen. Die mitunter Rhein] [CDU/CSU] – Beifall bei Abgeordne- heftigen Diskussionen um die doppelte Staatsangehörig- ten der CDU/CSU – Özcan Mutlu [BÜND- keit spiegeln genau das wider. NIS 90/DIE GRÜNEN]: Das war ja richtige Begeisterung gerade!) Die Lebensgewohnheiten haben sich in den vergange- nen Jahrzehnten rasant verändert, in Deutschland wie überall. Dem trägt die Bundesregierung Rechnung, in- Dr. Günter Krings, Parl. Staatssekretär beim Bun- dem sie für die Optionspflicht im Staatsangehörigkeits- desminister des Innern: recht eine neue Regelung vorschlägt. Das haben wir so Warten Sie erst einmal ab! – Herr Präsident! Meine auch in der Koalitionsvereinbarung zwischen CDU, sehr verehrten Damen und Herren! Lieber Herr Kollege CSU und SPD beschlossen, und diesen Auftrag setzen Schuster! Ich will zu Beginn meiner Ausführungen nicht wir mit dem Gesetzentwurf um. versäumen, den Herrn Bundesinnenminister zu entschul- digen. Er hätte die Rede zur Einbringung des Gesetzent- Der Entwurf findet einen Ausgleich zwischen den In- wurfs zur Änderung des Staatsangehörigkeitsrechts gern teressen junger Deutscher mit mehrfacher Staatsangehö- selber gehalten. Durch die Teilnahme am Justiz-und-In- rigkeit auf der einen Seite und auf der anderen Seite dem neres-Rat der Europäischen Union ist er allerdings heute staatlichen Interesse, die Staatsangehörigkeit als eine be- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014 3337

Parl. Staatssekretär Dr. Günter Krings (A) sondere Loyalitäts- und Verantwortungsbeziehung zwi- che Staatsangehörigkeit birgt auch Komplikationen und (C) schen Gemeinwesen und Bürger zu erhalten. Konflikte. Diese wiegen im Regelfall schwerer als ein gewisser, aber eben sehr überschaubarer Verwaltungs- Der Gesetzentwurf geht von der Einführung der soge- aufwand, der mit der Feststellung verbunden ist, ob je- nannten Ius-soli-Regel im deutschen Staatsangehörig- mand in Deutschland aufgewachsen ist oder nicht. keitsrecht vor über einem Jahrzehnt aus: Hat ein Eltern- teil seit mindestens acht Jahren seinen gewöhnlichen (Ulla Jelpke [DIE LINKE]: Ich möchte gern Aufenthalt in Deutschland, so erwirbt das in unserem mal Argumente dazu hören!) Land geborene Kind die deutsche Staatsangehörigkeit eben unabhängig von der Staatsangehörigkeit der Eltern. Diese Komplikationen haben wir sogar jüngst bei Mehrstaatigkeit innerhalb der EU mit Blick auf die Wah- Nach bisheriger Rechtslage mussten sich diese Kin- len zum Europäischen Parlament erlebt. Auch wenn die der aber spätestens mit Vollendung des 23. Lebensjahres Unionsbürgerschaft innerhalb der EU gleichsam das zwischen der deutschen Staatsangehörigkeit und der Dach für die 28 nationalen Staatsangehörigkeiten bildet Staatsangehörigkeit der Eltern entscheiden. und die Hinnahme der Mehrstaatigkeit innerhalb der Eu- ropäischen Union schon von daher nicht weiter begrün- (Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- dungsbedürftig ist, so entstehen selbst in dieser Konstel- NEN]: Wer hat das verzapft?) lation wegen der Mehrstaatigkeit offenbar besondere Die jungen Erwachsenen, die eine solche Entscheidung Probleme, die wir in diesem konkreten Fall – vorzugs- bisher treffen mussten, haben sich ganz überwiegend für weise durch ein einheitliches europäisches Wahlrecht – die deutsche Staatsangehörigkeit entschieden. Ich halte einer Lösung zuführen können. das für einen großen Vertrauensbeweis für unseren Staat (Zuruf des Abg. Volker Beck [Köln] [BÜND- und für die Bestätigung einer erfolgreichen Integrations- NIS 90/DIE GRÜNEN]) politik. Ich meine: Als Politiker, die wir für unser Ge- meinwesen Verantwortung tragen, können wir darauf stolz Das ist aber nur ein Beispiel dafür, dass Mehrstaatig- sein. keit rechtlich mit einem Verlust an Eindeutigkeit ein- hergeht. Deswegen ist es richtig, Mehrstaatigkeit im (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Regelfall zu vermeiden, wo es keine echte inhaltliche neten der SPD) Rechtfertigung dafür gibt. Und deswegen dürfen wir ge- Dennoch dürfte diese Entscheidung nicht allen Be- rade von denen, die nicht schon mit ihrer Biografie be- troffenen leichtgefallen sein. Genau aus diesem Grund weisen, dass sie ein plausibles Interesse daran haben, die sieht unser Gesetzentwurf eine deutliche Einschränkung deutsche Staatsangehörigkeit auf Dauer zu erhalten, er- (B) der sogenannten Optionspflicht vor: Wer in Deutschland warten, dass sie dieses Interesse dokumentieren, indem (D) geboren ist und hier auch aufwächst, braucht sich nicht sie die Staatsangehörigkeit ihrer Eltern dann aufgeben. mehr zwischen zwei Staatsangehörigkeiten zu entschei- Mit meinem Verständnis von Staatsangehörigkeit den. Nur für den, der als Kind ausländischer Eltern in wäre es nicht vereinbar, wenn wir auf die Optionspflicht Deutschland geboren wird, dann aber nicht hier auf- auch bei den Ius-soli-Deutschen verzichten würden, die wächst, gilt weiterhin die Optionspflicht. Nach der Neu- seit ihrer Geburt kaum etwas mit Deutschland zu tun hat- regelung muss der Optionshinweis bis zum 22. Lebens- ten, hier vielleicht nur wenige Jahre oder Monate gelebt jahr zugestellt werden. Ab Zustellung hat der Betroffene haben. Wer bis zu seinem 21. Geburtstag keine signifi- dann zwei Jahre Zeit, zu optieren. Das heißt, spätestens kante Beziehung zu Deutschland aufgebaut hat, kann vor dem 24. Geburtstag muss er dann diese Entschei- nicht verlangen, lebenslang zwei Staatsangehörigkeiten dung treffen. zu behalten. Diese Lösung folgt einer plausiblen Abwägung: Die- (Beifall bei der CDU/CSU) jenigen, die hier zur Welt kommen und hier aufwachsen, bauen hier eine prägende Bindung auf. Sie sind bei uns verwurzelt. Deutschland ist ihre Heimat – im ursprüngli- Vizepräsident : chen Bedeutungssinn und hoffentlich auch dem Gefühl Herr Staatssekretär, gestatten Sie eine Zwischenfrage nach. des Kollegen Volker Beck? (Zuruf des Abg. Volker Beck [Köln] [BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN]) Dr. Günter Krings, Parl. Staatssekretär beim Bun- desminister des Innern: Wir gestehen ihnen aber die Mehrstaatigkeit als Teil ih- Ich freue mich immer über die Verlängerung meiner rer persönlichen Biografie zu. Wir wollen ihnen die Ent- Redezeit und ganz besonders, wenn das durch Herrn scheidung zwischen ihren Staatsangehörigkeiten erspa- Volker Beck geschieht. ren, und zwar nicht, um ihre Integration zu fördern, sondern weil wir gerade davon ausgehen, dass sie bei Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): uns bereits gut integriert sind. Verehrter Herr Staatssekretär, Sie haben gerade davon Bei denjenigen, die durch Geburt die deutsche Staats- gesprochen, dass man sich zwischen den beiden Staats- angehörigkeit erworben haben, die dann aber nicht hier angehörigkeiten entscheiden soll, wenn keine intensi- aufgewachsen sind, überwiegt allerdings weiterhin das vere Beziehung zu Deutschland besteht. Haben Sie dabei Interesse, Mehrstaatigkeit zu vermeiden. Denn mehrfa- bedacht, dass die deutsche Staatsangehörigkeit auch zur 3338 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014

Volker Beck (Köln) (A) EU-Freizügigkeit berechtigt und dass es sein kann, dass Die neue Regelung lässt sich in der Praxis einfach (C) jemand seine EU-Bürgerschaft und damit auch sein Auf- umsetzen. Diese Voraussetzungen sind in aller Regel enthaltsrecht innerhalb der EU aus dem deutschen Pass einfach nachweisbar. Oft genügen der Blick ins Melde- ableitet? Ihre Regelung hätte zur Folge, dass jemand, der register oder die Vorlage eines Schul- oder Berufsschul- sich mit seinen Eltern in Griechenland, in Frankreich, in abschlusszeugnisses. Ein einfacher Weg, sich in diesen Portugal aufgehalten hat und deshalb nicht die Zeiten er- Fällen die doppelte Staatsangehörigkeit dauerhaft zu er- reicht, die in Ihrem Gesetz stehen, den deutschen Pass halten. verlieren würde. In einigen Mitgliedstaaten würde sich dann unter Umständen die Frage stellen, ob er als Dritt- Meine Damen und Herren, die Staatsangehörigkeit ist staatler überhaupt innerhalb der Europäischen Union – da sind wir uns hoffentlich in weiten Teilen des Hauses einig – mehr als ein nützliches Papier in Form eines Pas- noch aufenthaltsberechtigt ist. Halten Sie diese Konse- ses, das mir die Einreise erleichtert oder ein Aufenthalts- quenz nicht auch wie ich für unverhältnismäßig? recht garantiert. Sie ist ein besonderes Verhältnis zwi- schen Staat und Bürger, geprägt durch Verantwortung Dr. Günter Krings, Parl. Staatssekretär beim Bun- und Loyalität. Dem muss jede Neuregelung der Options- desminister des Innern: pflicht Rechnung tragen. Wer meint, man könne Mehr- Selbstverständlich haben wir diese europarechtlichen staatigkeit generell und voraussetzungslos hinnehmen, Implikationen geprüft. Aus gutem Grund ist das Staats- ignoriert das Wesen und die Bedeutung der Staatsange- bürgerschaftsrecht primär nationales Recht. Dabei soll es hörigkeit. Und wer darauf setzt, dass notfalls solche Ver- bleiben. Ich glaube nicht, dass es gut wäre, dies zu einem änderungen in dem eben dargestellten Sinn auch mit rein europäischen Recht zu machen. Das ist der erste knappen politischen Mehrheiten durchzusetzen wären, Teil meiner Antwort auf Ihre Frage. versündigt sich an einem Kerngedanken der Demokratie. Das Staatsangehörigkeitsrecht ist aufgrund seiner be- (Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie sonderen Bedeutung für unser Gemeinwesen auf einen haben die Frage nicht verstanden!) breiten Konsens angewiesen. Über die Staatsangehörig- Zweitens. Natürlich hat es derjenige in der Hand, keit definiert unsere Verfassung, wer zum Staatsvolk ge- diese Konsequenz auszuschließen, indem er sich für die hört, wer der Souverän ist. Neben anderen Rechtswir- deutsche Staatsbürgerschaft entscheidet. Er muss diese kungen vermittelt die Staatsangehörigkeit das Recht, Konsequenz also gar nicht tragen. Nur wenige Hundert über unser Gemeinwesen mitzubestimmen. Aus diesem haben sich anders entschieden. Das habe ich eben ausge- Grunde ist es nicht klug, zu versuchen, parteipolitische führt. Maximalpositionen durchzusetzen. Keine Parlaments- (B) mehrheit sollte je in den Verdacht geraten, das Volk, das (D) Drittens. Ich komme gleich noch dazu, was das Krite- sie demokratisch trägt, auf streitigem Wege neu zusam- rium „aufgewachsen“ heißt und welche Bedingungen es menzustellen. dafür gibt, zwei Staatsbürgerschaften zu erhalten. Wir (Beifall bei der CDU/CSU – Özcan Mutlu haben beispielsweise auch eine Härtefallklausel vorgese- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie sollten hen. mal den Textbaustein ändern, er ist aus einer Es gibt also drei Antworten auf Ihre Frage. Jede für anderen Zeit!) sich wäre eine überzeugende Antwort. Wir haben das Mit der Neuregelung der Optionspflicht haben wir Problem somit dreifach gelöst, lieber Herr Kollege. eine gute Chance zu einem breiten Konsens. Wenn wir (Beifall bei der CDU/CSU) diesen Konsens auch gemeinsam aktiv vertreten, ist er eine klare Botschaft an die jungen Menschen, deren El- Man kann – hier sind wir beim Thema der konkreten tern oder Großeltern einst nach Deutschland kamen, dass Ausgestaltung – darüber streiten, was die Formulierung sie voll und ganz zu Deutschland gehören. in unserem Koalitionsvertrag „in Deutschland … aufge- Vielen Dank. wachsen“ konkret heißt. Darüber haben wir in den letz- ten Monaten diskutiert. Der Gesetzentwurf zieht aus (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- meiner Sicht eine sehr überzeugende Linie. In Deutsch- neten der SPD) land aufgewachsen ist danach jeder, der hier eine Schul- oder Berufsausbildung abgeschlossen hat. Wer hier kei- Vizepräsident Johannes Singhammer: nen Abschluss gemacht hat, der muss bis zu seinem Vielen Dank, Herr Staatssekretär. – Nächste Rednerin 21. Geburtstag über acht Jahre hier gelebt haben oder ist Sevim Dağdelen von der Linken. sechs Jahre eine deutsche Schule besucht haben. Das sind einfache Regeln. Gerade der Nachweis des Schul- (Beifall bei der LINKEN) abschlusses wird in den meisten Fällen die einfachste Möglichkeit sein. Selbst derjenige, der sein Zeugnis ver- Sevim Dağdelen (DIE LINKE): loren hat, wird noch wissen, wo seine Schule war, und Verehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! sich ein neues besorgen können. Wer hierin Bürokratie sieht, hat die Regelung nicht richtig verstanden. Damit Ich werde der SPD keinen Koalitionsvertrag vorle- sind in Zukunft voraussichtlich über 90 Prozent der Ius- gen, in dem die doppelte Staatsbürgerschaft nicht soli-Deutschen von der Optionspflicht befreit. drin ist. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014 3339

Sevim Dağdelen (A) Dies erklärte der Vorsitzende der SPD und jetzige Vize- In Deutschland aufgewachsen und von der Options- (C) kanzler auf dem SPD-Parteitag – nach pflicht befreit ist nach dem vorliegenden Gesetzentwurf, den Bundestagswahlen, vor dem Koalitionsvertrag – am wer bei Vollendung seines 21. Lebensjahres mindestens 2. November 2013. acht Jahre in Deutschland lebt, sechs Jahre lang eine Schule in Deutschland besucht hat, einen deutschen Im Vorfeld, im Bundestagswahlkampf, ging es vor al- Schulabschluss oder eine abgeschlossene Berufsausbil- len Dingen auch darum, Wählerinnen- und Wählerstim- dung hat. Falls kein Antrag der betroffenen Person vor- men unter Migrantinnen und Migranten zu bekommen. liegt, prüft die Behörde nach dem 21. Geburtstag die Vo- So suchte man die Nähe zu Migrantenselbstorganisatio- raussetzungen von Amts wegen. nen und warb um die Unterstützung bei der Wahl. Das konkrete Versprechen lautete: Man wird sich für die Die Mehrheit wird in Zukunft überhaupt nicht mehr Rechte der Migrantinnen und Migranten, besonders die in Kontakt zu den Behörden treten müssen, der Türkinnen und Türken, einsetzen. Was steht jetzt im so heißt es im vorliegenden Gesetzentwurf. Über 90 Pro- Koalitionsvertrag? Darin steht nichts von doppelter zent der Betroffenen werden die Nachweise über das Staatsangehörigkeit und nichts von der Abschaffung der Aufwachsen in Deutschland erbringen können. Einen Optionspflicht. Darin steht: Wohnsitz im Ausland haben derzeit laut Melderegister Wer in Deutschland geboren und aufgewachsen ist, lediglich 3 Prozent, so das Bundesinnenministerium. soll seinen deutschen Pass nicht verlieren und kei- Angesichts der wirklich kleinen Zahl von überwiegend ner Optionspflicht unterliegen. im Ausland aufgewachsenen Kindern ist es unserer Mei- nung nach nicht zu rechtfertigen, diesen Riesenaufwand Wie befürchtet – von unserer Seite, aber auch von mit Zehntausenden Optionsverfahren pro Jahrgang wei- vielen Migrantinnen und Migranten –, entpuppte sich ter zu betreiben. der Kompromiss im Koalitionsvertrag von CDU, CSU (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) und SPD als faul; denn was die Formulierung „in Deutsch- land geboren und aufgewachsen“ bedeutet, machte im Fe- Es ist wirklich absurd und nur mit ideologischer Bor- bruar dieses Jahres Bundesinnenminister Thomas de niertheit zu erklären, dass an diesen Zehntausenden Op- Maizière deutlich: Entfallen solle die Optionspflicht bei tionsverfahren pro Jahr festgehalten werden soll – ab denjenigen, die bis zu ihrem 23. Lebensjahr zwölf Jahre 2018 etwa 40 000 im Jahr –, nur damit am Ende einigen hier gelebt haben, davon mindestens vier Jahre zwischen wenigen Menschen der Doppelpass vorenthalten werden ihrem 10. und 16. Lebensjahr. Nachgewiesen werden kann. könne dies anhand von Meldebescheinigungen, alterna- (Beifall bei der LINKEN) (B) tiv reiche auch ein deutscher Schulabschluss. (D) So bleibt es bei diesem Wahnsinn der Optionspflicht Bereits seit Jahren wird der bürokratische Aufwand in Deutschland, einer weltweit wirklich einmaligen Re- – man nennt es auch Bürokratiemonster – bei den Op- gelung. Die völlig gleichberechtigte Zugehörigkeit, also tionspflichtigen in den Einbürgerungsbehörden kritisiert. die deutsche Staatsbürgerschaft, hier geborener Kinder Gerade dieser enorme Bürokratieaufwand hat drei von wird in einer oft ohnehin schwierigen Lebensphase – das der SPD mitregierte Länder eine Initiative in den Bun- müsste hier eigentlich jeder wissen – infrage gestellt. desrat einbringen lassen, mit der die generelle Abschaf- Künftig wird es – so das Gesetz – Deutsche nach Ab- fung der Optionspflicht gefordert wird. satz 1 des § 29 Staatsangehörigkeitsgesetz geben, das (Beifall der Abg. Ulla Jelpke [DIE LINKE]) bedeutet nichts anderes als Deutsche zweiter Klasse. Meine Damen und Herren, insbesondere türkische Ich sage an dieser Stelle: Wir als Linke loben diese Bun- Migrantinnen und Migranten fühlen sich erneut vor den desratsinitiative ausdrücklich. Kopf gestoßen; denn Kinder mit einer deutsch-EU- oder (Beifall bei der LINKEN) deutsch-schweizerischen Doppelstaatsangehörigkeit sol- len künftig generell nicht mehr optieren müssen. Man Aber leider, leider wurde die mutige Tat dieser drei sieht: Was für sehr viele gilt, gilt nicht für türkische Bundesländer sofort von der SPD-Generalsekretärin, die Migrantinnen und Migranten. Sie müssen nachweisen, den Unionsparteien Treue schwor, einkassiert. Noch im dass sie wirkliche, tatsächliche Deutsche sind, wenn sie April, also vor zwei Monaten, hatten viele Organisatio- ihren Doppelpass behalten wollen. Dieser diskriminie- nen und Verbände den SPD-Vorsitzenden Sigmar rende Effekt ist etwas, was wir abschaffen wollen. Gabriel in einem offenen Brief aufgefordert, gegenüber den Unionsparteien an der vollständigen Abschaffung (Beifall bei der LINKEN) der Optionspflicht im Staatsangehörigkeitsrecht festzu- Diese Diskriminierungen müssen aus Sicht der Lin- halten und Wort zu halten. Doch auch dieser Appell ken ein Ende haben. Deshalb fordern wir Sie auf: Öffnen blieb leider ohne Erfolg. So ist der vorliegende Gesetz- Sie die Fenster, schaffen Sie endlich die Optionspflicht entwurf kümmerlich geblieben; denn herausgekommen bedingungslos ab, und akzeptieren Sie auch endlich et- ist ein kleingeistiger, engstirniger, ja ein fauler Kompro- was, was mittlerweile zum Normalzustand in der Euro- miss zwischen den Koalitionsfraktionen. päischen Union gehört, nämlich die doppelte Staatsbür- gerschaft! (Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Aber ein Fortschritt!) (Beifall bei der LINKEN) 3340 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014

Sevim Dağdelen (A) Wir als Linke wollen es Ihnen wirklich leichtmachen. NIS 90/DIE GRÜNEN]: Liebe CDU, das ist (C) Wir haben Ihnen einen Gesetzentwurf vorgelegt, der im auch euer Präsident!) Wortlaut eins zu eins der von mir angesprochenen Bun- desratsinitiative der drei SPD-mitregierten Bundesländer In Deutschland sprechen wir in diesen Tagen sehr viel entspricht. Glauben Sie mir wirklich: Es geht nicht da- über Einwanderung. Wir werden sogar gelobt, zum Bei- rum, Sie in irgendeiner Art und Weise im Bundestag vor- spiel von der OECD, dass Deutschland nun ein sehr be- zuführen. Es geht lediglich darum, dass diese Initiative liebtes Einwanderungsland geworden sei, auch für Men- endlich diese Diskriminierungen beseitigt. Es gibt eine schen, die es sich aussuchen können, wohin sie gehen Mehrheit im Deutschen Bundestag und auch im Bundes- wollen. Das war lange Zeit nicht so, wie wir wissen. rat für die bedingungslose Abschaffung dieser wirklich unsäglichen Optionspflicht. Lassen Sie uns gemeinsam Leider unterscheiden wir aber gerade in solchen Zei- diesen Schritt gehen, und lassen Sie uns sagen: Diese ten viel zu wenig, wer bei uns eigentlich alles zu dieser wahnsinnige, weltweit einmalige Regelung gibt es in Kategorie Migrant zählt und was uns dabei von der Zähl- Deutschland nicht mehr, wir sind für ein fortschrittliches weise anderer Länder unterscheidet. Denn auch wenn Staatsbürgerschaftsrecht, wir sind für die Abschaffung wir in diesen Tagen sagen, dass unsere Quote zeigt, wir der Optionspflicht. Lassen Sie uns gemeinsam dieses seien das beliebteste Land gleich nach den USA, muss Zeichen setzen für Integration, doch hinzugefügt werden, dass in dieser Quote auch viele Kriegsflüchtlinge enthalten sind, die es sich nicht (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) aussuchen können, wohin sie denn nun fliehen. Und: Die USA zählen keine jungen Menschen, die dort geboren gegen Diskriminierungen und gegen neue Bürokratie- werden, zu Migranten. Die Second Generation, wie sie monster, die hiermit heute auch geschaffen werden! dort genannt wird, gilt als einheimisch-amerikanisch – (Beifall bei der LINKEN) ohne Wenn und Aber. Bei uns sind solche Menschen zum Teil Deutsche, aber mit Migrationshintergrund. Dass sie überhaupt zum Teil Deutsche sein können, ver- Vizepräsident Johannes Singhammer: danken wir der Einführung des Geburtsortprinzips, also Für die Bundesregierung erteile ich als nächster Red- des Ius soli, das im Jahr 1999 durch die rot-grüne Bun- nerin der Staatsministerin Aydan Özoğuz das Wort. desregierung eingeführt wurde. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Renate der CDU/CSU – Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/ Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) DIE GRÜNEN]: Jetzt bin ich gespannt auf den Spagat!) (B) Damals war die große Neuerung: Wer unter bestimmten (D) Voraussetzungen – es wurde ja gesagt, welche Voraus- Aydan Özoğuz, Staatsministerin bei der Bundes- setzungen das sind – als Kind ausländischer Eltern in kanzlerin: Deutschland geboren wurde, sollte neben seiner Ur- Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Kollegin- sprungsidentität eben auch deutscher Staatsbürger sein nen und Kollegen! Bundespräsident Joachim Gauck hat können. Das war bis dahin nicht der Fall. Ich finde, man am 22. Mai 2014 eine bemerkenswerte Rede bei einer muss schon noch daran erinnern: Es galt das Staatsange- Einbürgerungsfeier im Schloss Bellevue gehalten. Ich hörigkeitsrecht von 1913. Nach diesem Gesetz aus der habe mich sehr über seine Worte gefreut; denn sie haben Kaiserzeit konnte nur derjenige Deutscher sein, der Kind auf den Punkt gebracht, dass wir unverkrampft mit der eines Deutschen war, nicht einmal einer Deutschen. Vielfalt in unserem Land umgehen sollten, auch im Auch das möchte ich betonen: Deutsche Frauen zählten Staatsangehörigkeitsrecht. an dieser Stelle nicht. Eine deutsche Frau konnte ein Kind in Deutschland bekommen, das als Ausländer galt, (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- nämlich wenn der Vater nicht deutsch war. 1974 hat man SES 90/DIE GRÜNEN) immerhin erkannt, dass auch deutsche Frauen das Recht haben sollten, die Staatsangehörigkeit zu vererben. Ich zitiere ihn: Die doppelte Staatsbürgerschaft ist Ausdruck der Ich möchte noch einmal daran erinnern, dass Bundes- Lebenswirklichkeit einer wachsenden Zahl von tagsabgeordnete von heute wie , Sevim Menschen. … Unser Land lernt gerade, dass Men- Dağdelen – die gerade gesprochen hat –, Cem Özdemir schen sich mit verschiedenen Ländern verbunden oder Mahmut Özdemir allesamt in Deutschland geboren und trotzdem in diesem, in unserem Land zu Hause wurden, als – vielleicht war das bei Mahmut Özdemir fühlen können. schon anders; er ist ja der Jüngste von allen – kaum je- mand daran dachte, dass die Gesellschaft der Nach- Es war überdeutlich für alle, die dort gewesen sind: Bun- kriegszeit sich erheblich verändern würde. despräsident Gauck hat dabei allen Anwesenden aus der Seele gesprochen. Ein schönes und richtiges Signal aus Heute machen wir nun nach 1999 den nächsten gro- dem Schloss Bellevue, wie ich finde. ßen Schritt. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der GRÜNEN]: Na! Das ist allenfalls ein Katzen- CDU/CSU – Volker Beck [Köln] [BÜND- sprung!) Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014 3341

Staatsministerin Aydan Özoğuz (A) Wer in Deutschland geboren und aufgewachsen ist, soll In den Koalitionsverhandlungen haben wir uns – das (C) nicht bis zur Volljährigkeit Deutscher unter Vorbehalt möchte ich natürlich nicht unerwähnt lassen – nach har- sein und dann womöglich zum Ausländer in Deutsch- ten und langen Verhandlungen – alle wissen: das war land erklärt werden – wie es ja bereits einigen ergangen wohl morgens um fünf oder halb sechs – auf die Formu- ist. Es wird zukünftig nicht vom Herkunftsland abhän- lierung geeinigt: Für in Deutschland geborene und auf- gen, ob bei in Deutschland geborenen und aufgewachse- gewachsene Kinder ausländischer Eltern entfällt in Zu- nen Kindern die Mehrstaatigkeit hingenommen wird. kunft der Optionszwang. (Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE NEN]: Doch!) GRÜNEN]: Fordern Sie jetzt mildernde Um- stände für Übernächtigte? – Özcan Mutlu Das, meine Damen und Herren, ist ein riesengroßer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist keine Schritt, den wir machen. Entschuldigung!) (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – Zu- – Das habe ich auch nicht gesagt. ruf des Abg. Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Die Union hatte bekanntlich auf dem Kriterium des Aufwachsens in Deutschland bestanden. Da mussten wir Hunderttausende Jugendliche werden damit endlich von uns erst einmal einige Zeit überlegen, wie das nun mess- der belastenden Entscheidung befreit, sich mit dem Er- bar sein soll, zumal – das möchte ich dann schon erwäh- reichen des Erwachsenenalters entweder gegen ihre fa- nen – keine Zahlen vorlagen, die belegt hätten, dass rei- miliäre Herkunft oder gegen Deutschland entscheiden zu henweise Kinder nicht in Deutschland aufwachsen müssen. Es ist einfach lebensfremd, dass wir junge Men- würden. Auch das Bundesinnenministerium konnte sol- schen in unserem Land vor diese Wahl stellen. che Zahlen nicht vorlegen. (Zuruf der Abg. Ulla Jelpke [DIE LINKE]) Von diesem Pult aus wurde immer wieder erklärt, das Das haben wir auch immer wieder betont. Ich weiß aus sei eine große Gefahr für unser Land. Ich bitte, wenn unzähligen Gesprächen der letzten Jahre – erst vor kur- man solche Aussagen macht, sie auch zu belegen. Doch zem habe ich optionspflichtige Jugendliche ins Bundes- genau das war nicht möglich. kanzleramt eingeladen, um direkt von ihnen noch einmal (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Meinungen und Gefühle zu hören; der Tenor war eindeu- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) tig –: Die Jugendlichen verstehen nicht, warum wir ih- nen diese Entscheidung abnötigen; sie empfinden es an- Mit dem Gesetzentwurf setzen wir nun das um, wo- (B) ders; ihre Realität und Lebenswirklichkeit ist, in rauf wir uns im Koalitionsvertrag geeinigt haben. Ich bin (D) mehreren Kulturen zu Hause zu sein. Das bekommen sie überzeugt, dass das Kriterium des Aufwachsens eine übrigens von der Gesellschaft auch immer wieder zu gute Lösung ist, auch wenn wir uns diesbezüglich viel- spüren: dass sie Deutsche sind, aber eben auch etwas an- leicht nicht einig sind. Bis zum 21. Lebensjahr muss der deres. Jugendliche acht Jahre in Deutschland gelebt haben oder sechs Jahre die Schule besucht haben oder einen deut- Frau Dağdelen, diese jungen Menschen haben das, schen Schul- oder Berufsbildungsabschluss besitzen. was wir machen, als einen riesigen Schritt empfunden; die haben nicht das gesagt, was Sie hier gerade kundta- (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE ten; die freuen sich, dass wir endlich noch einen Schritt GRÜNEN]: Das zeigt, dass diese Koalition in weitergehen. Europa nicht angekommen ist!) (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – Das wird auf über 95 Prozent zutreffen. Hier wurde von Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: 90 Prozent gesprochen. Ich denke, es werden weit über Wer weiß, was Sie denen erzählt haben!) 95 Prozent sein. Es wäre interessant, zu wissen, wie viele nicht betroffen sein werden. Ich finde, dass Hun- Die Zahlen brauche ich jetzt nicht weiter zu unter- derttausende Jugendliche ab dem Jahr 2018 nicht in die mauern – es wurde schon gesagt –: 15,3 Millionen Men- Ämter laufen müssen, wie es ursprünglich gedacht war, schen – also jeder Fünfte in unserem Land – hat familiär sondern nur im Bedarfsfall nachgefragt wird, ist ein ganz eine Zuwanderungsgeschichte. Wichtig ist, dass mehr großer Schritt, den wir mit diesem Gesetzentwurf tun. als die Hälfte, 55 Prozent der Menschen mit Migrations- Damit sind die Kinder faktisch mit acht Jahren von der hintergrund, die in Deutschland einst geboren wurden, Optionspflicht befreit, und mit acht Jahren diskutiert minderjährig sind und ein Teil dieser jungen Menschen man in der Regel noch nicht darüber. – das wurde schon richtig gesagt – ohnehin beide Pässe behalten darf. Für die anderen ist unser Gesetzentwurf (Beifall bei der SPD) wichtig; denn wir zeigen, um es noch einmal mit den Worten von Bundespräsident Gauck zu sagen, dass wir Ich möchte unterstreichen, dass es mir wichtig ist, lernen, „vielschichtige Identitäten“ zu akzeptieren – ge- dass der Gesetzentwurf eine Härtefallklausel enthält. Die nau das ist es, was wir heute tun – und „niemanden zu ei- Juristen wissen es wahrscheinlich am besten: Wir kön- nem lebensfremden Purismus“ zu zwingen. nen gar nicht so kreativ denken, wie manche Lebens- wege verlaufen. Ich kann mir viele Beispiele vorstellen (Beifall bei der SPD) – hier wurden einige bereits genannt –, die deutlich ma- 3342 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014

Staatsministerin Aydan Özoğuz (A) chen, dass es wichtig ist, auf einzelne Fälle eingehen zu (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (C) können des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE Ich möchte zum Abschluss noch ein Zitat des Bun- GRÜNEN]: Und woher erfährt der kundige despräsidenten anfügen: Bürger, dass er Einzelfall ist?) Wir verlieren uns nicht, wenn wir Vielfalt akzeptie- – Sie kommen doch gleich dran, Herr Beck –, wo der ren. Wir wollen dieses vielfältige „Wir“. Wir wol- Bezug zu Deutschland vielleicht sehr deutlich nachge- len es nicht besorgnisbrütend fürchten. Wir wollen wiesen werden kann, aber das Gesetz trotzdem nicht es zukunftsorientiert und zukunftsgewiss bejahen. greift. Ich hoffe, mit dieser Denke gehen wir in die parlamenta- Mein Kollege Rüdiger Veit hat in der vergangenen rischen Verhandlungen. Debatte darauf hingewiesen, dass im hessischen Koali- Danke schön. tionsvertrag von Schwarz-Grün Folgendes zu lesen ist – Zitat –: (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Auf bundespolitischer Ebene werden wir die Auf- hebung der Optionspflicht … für in Deutschland Vizepräsident Johannes Singhammer: geborene und aufgewachsene Kinder ausländischer Nächster Redner für Bündnis 90/Die Grünen ist der Eltern unterstützen. Kollege Volker Beck. Es freut mich ausdrücklich, Herr Beck, dass Sie das tun wollen. Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sie haben (Beifall bei der SPD – Özcan Mutlu [BÜND- mit dem Bundespräsidenten geschlossen, Frau Özoğuz. NIS 90/DIE GRÜNEN]: Aufhebung! – Zuruf Ich will mit ihm beginnen. Der Bundespräsident sagte des Abg. Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/ am 22. Mai: DIE GRÜNEN]) Der größte Schritt war wahrscheinlich 1999 die Re- Vielleicht haben Sie ja noch eine Idee dazu. form des Staatsbürgerschaftsrechts. Ich möchte noch auf das eingehen, was Frau ( [SPD]: Genau!) Dağdelen hier erwähnt hat. Es zeugt nicht von riesengro- Neben das ius sanguinis trat das ius soli. Seitdem (B) ßer Kreativität, wenn man Anträge von einer Initiative (D) dreier rot-grüner Bundesländer wortgleich abschreibt kann Deutscher werden, wer in Deutschland gebo- und hier einbringt. Ich glaube, das könnte man auch an- ren wurde, auch wenn seine Eltern es beide nicht ders machen. Wir sind uns unter den Kollegen einig, sind. Inzwischen wächst auch die Gelassenheit, dass auch Sie das machen dürfen. doppelte Staatsbürgerschaften als selbstverständlich hinzunehmen. (Beifall bei der SPD) So weit der Bundespräsident. – Ihrem Gesetzentwurf Wir sehen: Wir sollten den Gesetzentwurf rasch bera- und der Rede von Herrn Krings merkt man die Gelassen- ten. Wir dürfen keine Zeit verlieren; denn jeden Tag heit, von der der Bundespräsident spricht, aber nicht an. müssen Jugendliche nach dem alten Gesetz optieren. Je- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – den Tag droht einem jungen Menschen, der 23 wird, Christine Lambrecht [SPD]: Er war sehr gelas- möglicherweise die Ausbürgerung, obwohl er oder sie sen! Das muss man ihm lassen!) hier geboren und aufgewachsen ist. Das sollten wir den jungen Menschen ersparen. Die Bundesländer warten Sie setzen eine Diskriminierungspolitik fort; die darauf, dass wir hier endlich weiterkommen, weil sie den schwarze Pädagogik der Integrationspolitik der Union jungen Menschen genau das ersparen wollen. führt die Feder. Für ein kleines Häuflein von Menschen, wie der Deutsche Anwaltverein schreibt, bauen Sie ein Wir wissen, dass diese Abschaffung für einige zu spät bürokratisches Monstrum auf, um den jungen Deut- kommt. schen, die hier geboren sind, deren Eltern aber aus dem (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Ausland stammen, weiter zu sagen: Ihr seid Deutsche NEN]: Dafür haben Sie keine Regelung!) auf Bewährung. Ihr seid Deutsche mit Verfallsdatum. Ihr seid Deutsche auf Probe. – Das ist das Gegenteil von Es ist ganz wichtig, dass wir darüber sprechen. Es gibt Willkommenskultur. Deshalb muss die Optionspflicht ungefähr anderthalb Jahrgänge, die optieren mussten, ganz fallen. Erst das wäre ein richtiger Schritt nach also einen Pass abgeben mussten. Einige sind nun tat- vorne. sächlich zu Ausländern in dem Land, in dem sie groß ge- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN worden sind, geworden. Diese jungen Menschen auszu- und bei der LINKEN) schließen, nur weil sie zufällig ein oder zwei Jahre zu früh geboren wurden, halte ich für einen schwer vermit- Ich will noch eines sagen. Der Bundespräsident telbaren und unwürdigen Zustand. Da erhoffe ich mir spricht davon, dass man dann, wenn man in Deutschland eine Lösung im parlamentarischen Verfahren. geboren ist, auch Deutscher ist. Das ist allerdings etwas, Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014 3343

Volker Beck (Köln) (A) was wir noch verwirklichen müssen. Das fassen Sie ist mit denjenigen, die in Frankreich das Baccalauréat (C) überhaupt nicht an. Nach dem heutigen Staatsangehörig- machen und dann zurückkommen, aber erst nach dem keitsrecht müssen die Eltern erst acht Jahre eine Aufent- 21. Lebensjahr ihr Bachelorstudium in Germanistik auf- haltserlaubnis haben, bevor ihre hier geborenen Kinder nehmen? Haben sie keinen Bezug zu Deutschland? Nach auch als Deutsche geboren werden. Ich frage: Warum dem Wortlaut Ihres Gesetzes sind sie alle draußen. Die reicht es nicht aus, einen legalen Aufenthalt in Deutsch- Bundesregierung sagt: Das könnten Sachverhalte für ei- land zu haben, damit der, der hier Kinder bekommt, nen Härtefall sein. Aber welche Gesetzgebung ist das, Deutsche und keine Ausländer gebiert? wo der Bürger nicht weiß, unter welche Regelung er fällt, und alle konkreten Einzelfälle unter eine Härtefall- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN klausel fallen, bei der keiner von Ihnen hier sagen kann, sowie bei Abgeordneten der LINKEN) was das Ausländeramt damit konkret macht, In anderen Ländern besteht darüber Konsens. In Frank- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN reich sind sich von den Gaullisten bis zu den Kommu- sowie bei Abgeordneten der LINKEN) nisten alle einig. Die Einzigen, die dagegen sind, sind die Anhänger des Front National; die wollen wir uns und Sie hoffen können, dass das Bundesverwaltungsge- politisch wohl nicht zum Vorbild nehmen. richt das irgendwann in zehn Jahren klarstellt? Das ist keine Integrationspolitik. Das ist schlechte Gesetzge- Vor dem Hintergrund Ihrer Argumentation bezüglich bung! des Kriteriums „aufgewachsen sein“, Frau Kollegin, sollten Sie sich vielleicht einmal den Artikel von Profes- Sie müssen auch einmal sagen, warum wir bei Kin- sor Zimmermann zu Ihrem Gesetzentwurf durchlesen. dern zwei Klassen von deutschen Doppelstaatlern haben. Er legt nämlich dar, dass das Kriterium „aufwachsen“ Wir haben einerseits die Kinder, von denen beide Eltern- bzw. „aufgewachsen sein“ im Staatsangehörigkeitsrecht teile Ausländer sind. Sie werden durch Geburtsrecht eigentlich schon dann zutrifft, wenn die Eltern dauerhaft Deutsche. Dann haben wir die Kinder von binationalen, hier leben und das Kind hier geboren ist, da man dann also deutsch-ausländischen Ehepaaren, die, weil eine davon ausgehen kann, dass es in der Regel hier aufwach- Deutsche oder einer Deutscher ist, sie also eine deutsche sen wird. Insofern setzen Sie hier ein Kriterium zweimal Abstammung haben, auch beide Pässe haben. Die kom- ein. men für die Optionspflicht freilich nicht infrage. Ich muss Ihnen sagen: Das ist eine ethnische Diskriminie- (Michael Frieser [CDU/CSU]: Das Gegenteil rung derjenigen, die keine deutsche Abstammung haben, ist der Fall!) weil ihnen eine Pflicht auferlegt wird, die für alle ande- Ich fand Ihren Koalitionsvertrag in dem Punkt vollkom- ren Bürgerinnen und Bürger richtigerweise nicht gilt. (B) men in Ordnung. Was Sie dann umgesetzt haben, finde (D) Was muten Sie damit eigentlich dem Bundesrat zu, ich allerdings nicht mehr in Ordnung. Es ist auch lebens- der in seinem NPD-Verbot-Schriftsatz gesagt hat, dass fremd. der ethnische Volksbegriff überkommen ist, und sich da (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) ausdrücklich auf die Staatsbürgerschaftsdiskussion be- zogen hat, wenn Sie ihm einen solchen Gesetzentwurf Sie reden sich ja bei allen Problemen auf die Härte- vorlegen? Deshalb rate ich Ihnen: Denken Sie noch ein- fallklausel heraus. Ich habe vorhin schon Herrn Krings mal gut nach! Lohnt es den Verwaltungsaufwand wirk- gefragt: Was machen wir eigentlich mit Menschen, die lich, für eine Handvoll Leute – ein Häuflein Menschen, mit ihrem deutschen Pass die EU-Freizügigkeit wahr- wie der DAV sagt – hier dazu zu kommen, dass wir ih- nehmen und, wenn sie im Ausland womöglich noch nen die Staatsbürgerschaft wieder aberkennen und dafür nicht einmal erfahren haben, dass sie optionspflichtig jedes Jahr 40 000 Verwaltungsverfahren durchführen? sind, plötzlich die deutsche Staatsangehörigkeit verlieren und dann Drittstaatausländer in einem anderen europäi- Der Deutsche Städtetag hat Ihnen ins Stammbuch ge- schen Land sind und sich damit die aufenthaltsrechtli- schrieben, dass Sie mit den Begriffen beim Härtefall und chen Fragen für diese jungen Menschen auf einmal neu mit der Auslegung des „sonstigen Bezugs zu Deutsch- stellen? Das zeigt: Ihr Gesetzentwurf ist national ge- land“ nicht zurechtkommen, und Ihnen dann noch dar- dacht. Sie sind nicht in Europa angekommen. gelegt, dass die von Ihnen verlangten Daten der Mel- debehörden nach Nummer 4 und 5 bei den Gemeinden (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ gegenwärtig gar nicht zur Verfügung stehen DIE GRÜNEN und der LINKEN) ( [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Auch Migrantenkinder können innerhalb Europas mi- NEN]: Richtig!) grieren und ihre Freizügigkeit wahrnehmen. und sie keine Antwort haben für den Fall, dass jemand Wir haben bei der Bundesregierung ein paar Fälle ab- zwischendrin seine Meldekarriere in Deutschland durch gefragt. Was ist zum Beispiel mit denen, die sieben Jahre einen Auslandsaufenthalt unterbrochen hat; denn dann in Deutschland gelebt haben, hier fünf Jahre zur Schule sind die Meldedaten nicht mehr miteinander verbunden gegangen sind und dann in Österreich Matura gemacht und es kommt ein riesiger Sermon an Verwaltung auf sie haben? Nach Ihrem Gesetzentwurf ist nicht klar, was mit zu. denen passiert. Was ist mit denen, die im Ausland waren und eine deutsche Auslandsschule besucht haben? Die Der Städtetag, die beiden großen Kirchen und der haben keinen inländischen Schulabschluss gemacht. Was Deutsche Anwaltverein sagen Ihnen allen: Es ist unver- 3344 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014

Volker Beck (Köln) (A) hältnismäßig, wegen dieser kleinen Gruppe einen sol- Die deutsche Staatsangehörigkeit erleichtert jedem das (C) chen Verwaltungsaufwand zu betreiben. Sie betreiben Reisen; das ist sicherlich ein zunehmend wichtiges Gut. ihn ja auch gar nicht wegen dieser kleinen Gruppe; Sie Das alles sind sehr praktische Gründe. Die Frage, die wollen allen hier sagen: Ihr müsst euch bewähren. – sich mir allerdings aufdrängt, ist, ob eine Staatsangehö- Nein, Deutsche müssen sich nicht bewähren. Allen rigkeit tatsächlich auch einen integrationspolitischen Deutschen steht nach unserer Verfassung gleiches Recht Wert hat, ob sie das Gefühl der Zugehörigkeit stärkt und zu. Das gilt auch für die Kinder von Menschen, die im damit unser Zusammenleben fördert. Ausland geboren sind. Deshalb: Machen Sie einen Abgeordnete von der Linken und vom Bündnis 90/ Schritt in Richtung Integration! Schaffen Sie die Op- Die Grünen behaupten immer wieder, die Optionspflicht tionspflicht ab! Liebe SPD, Sie haben das noch im Zu- sei integrationsfeindlich. Woher das genommen wird, er- sammenhang mit dem Koalitionsvertrag Ihren eigenen schließt sich mir, offen gesagt, nicht. Der Wert eines Gu- Mitgliedern versprochen, als es um die Abstimmung tes steigt bekanntlich nicht, wenn es leichter zu erwerben ging. Nehmen Sie sich unseren Gesetzentwurf oder den ist. des Bundesrates zum Vorbild, und sagen Sie: Wir besei- tigen die Optionspflicht ganz. Das bringt nichts, kostet (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- nur und funktioniert am Ende nicht, sondern führt nur zu NEN]: Die Leute haben das erworben! Es geht vielen Verfahren. doch nicht um den Erwerb!) Es wäre schön, wenn die Union, die sonst immer ge- Eine Staatsangehörigkeit, die man bekommt – Herr gen Bürokratie ist – ich erinnere mich noch an die Beck, Sie haben ja eben lange genug geredet –, ohne die Diskussion über das Allgemeine Gleichbehandlungsge- Staatsangehörigkeit des Herkunftslandes aufgeben zu setz –, hier einmal zu ihrem Wort stünde und sagte: we- müssen, wird womöglich gerade nicht wertvoller, son- niger Bürokratie, mehr Bürgerrechte, mehr Welt- dern „billiger“. offenheit. – So käme Deutschland tatsächlich voran. Herr Beck, Sie zitieren ja so gerne die juristische (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Fachliteratur und den Deutschen Anwaltverein. Mein sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Zuruf Repetitor hat immer gesagt: Was nichts kostet, ist auch von der CDU/CSU: Genau das machen wir!) nichts wert. (Heiterkeit der Abg. Dr. Eva Högl [SPD]) Vizepräsident Johannes Singhammer: Nächster Redner für die CDU/CSU ist der Kollege Das lag daran, dass man den Repetitor bezahlen muss Helmut Brandt. und damit offensichtlich der Wert der Anhörung steigt. (B) (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (D) (Beifall bei der CDU/CSU) NEN]: Gut, gegen Gebühr erkläre ich Ihnen das dann noch mal!) Helmut Brandt (CDU/CSU): Sehr geehrter Präsident! Liebe Kolleginnen und Kol- Steigert nicht gerade die Auseinandersetzung mit der legen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es ist Frage, welche Staatsangehörigkeit man denn nun gerne noch gar nicht so lange her, da dominierte die Überzeu- behalten möchte, den Wert einer solchen, und fördert gung, dass Einwanderer, die die deutsche Staatsangehö- man nicht gerade dadurch die Integration, wenn am rigkeit erwerben, vor allem Kinder und Nachfahren, den Ende einer solchen Auseinandersetzung das klare Be- deutschen Pass nur unter Aufgabe ihrer ursprünglichen kenntnis zur deutschen Staatsangehörigkeit steht? Wel- Staatsangehörigkeit erwerben bzw. behalten können. chen höheren Wert muss zum Beispiel ein junger Mensch Ausdruck dieser Überzeugung waren unter anderem in- seinem deutschen Pass beimessen, der sechs Jahre in ternationale Verträge zur Vermeidung doppelter Staats- Deutschland zur Schule ging, dann aber – aus welchen angehörigkeit. Dafür gab und gibt es gute Gründe. Aber Gründen auch immer – in das Heimatland seiner Eltern wir leben in einer globalisierten, mobilen Welt, und der zurückkehrt und dort lebt? Sicher, er möchte und wird Doppelpass wird weltweit zunehmend zur Realität. den Pass aus praktischen Gründen gerne behalten, zum Deutschland hat sich sukzessive zu einem Einwande- Reisen und als Sicherheitsgarantie. Aber das ist doch rungsland entwickelt mit einem heute bestehenden ho- nicht der Sinn einer Staatsangehörigkeit. hen Bedarf an Fachkräften. (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Dr. Eva Högl [SPD]) (Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Hört! Hört!) Gestatten Sie mir deshalb an dieser Stelle eine weitere Frage: Sollte es nicht unser Ziel sein, dass Menschen, die Doch worin besteht denn nun eigentlich der Wert ei- in Deutschland leben und hier bleiben möchten, den nes Passes – für uns Politiker, aber insbesondere für die deutschen Pass haben möchten, weil sie sich uns zuge- Bürgerinnen und Bürger? Staatsangehörigkeit bedeutet hörig fühlen und von unserem Land überzeugt sind? Das unter anderem Sicherheit und Schutz vor einer Reihe ist der Maßstab, den jedenfalls ich an die Staatsangehö- staatlicher Maßnahmen. Sie bedeutet uneingeschränkten rigkeit anlege. Zugang zum Arbeitsmarkt, Zugang zu öffentlichen Dienstleistungen, Recht auf Bildung und Teilhabe, Ge- Hinter unserer bisherigen Skepsis gegenüber der dop- sundheitsversorgung und nicht zuletzt – auch ein wichti- pelten Staatsangehörigkeit stand – das gebe ich offen ger Aspekt – das Recht auf Familienzusammenführung. zu – selbstverständlich auch die Frage, ob wir im Gegen- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014 3345

Helmut Brandt (A) zug zur Staatsangehörigkeit auf die Loyalität der Dop- Staatsbürgerschaft für ihre Ziele zu vereinnahmen, die (C) pelstaatler zählen können. Schließlich reden wir hier nicht zwangsläufig mit unseren Wertvorstellungen über- über die deutsche Staatsangehörigkeit und nicht über einstimmen, eine Parkerlaubnis, wie der Kollege Strobl in der letzten Debatte über dieses Thema so markant sagte. Staatsan- (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- gehörigkeit umfasst ein Bündel an Pflichten und Rech- NEN]: Im Gegensatz zu Ihnen habe ich gegen ten, darunter das Wahlrecht und den Zugang zu öffentli- Erdogan demonstriert!) chen Ämtern bis hin zum Beamtentum. Das ist übrigens empfinde ich als grotesk, Herr Beck, und Sie sollten das ein Punkt, den ich für äußerst wichtig halte. Unser Be- auch tun. streben muss sein, mehr Menschen mit Migrationshin- tergrund in das Beamtentum zu bekommen. (Beifall bei der CDU/CSU – Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sagen Sie (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- doch einmal etwas zu Obama! Was halten Sie neten der SPD) von Obamas Rede? Der hat auch hier geredet!) Selbstverständlich müssen wir uns vor diesem Hinter- Das kann doch nicht in unserem Interesse sein. Man grund fragen, wer in den Genuss dieser Rechte kommen stelle sich nur vor, unsere Bundeskanzlerin würde dem- soll und muss, und wir sollten so weit wie möglich si- nächst als Parteivorsitzende Wahlkampf auf Mallorca cherstellen, dass diese Rechte nicht missbraucht werden. machen. Ich würde gerne einmal sehen, was die Spanier Sie haben es selbst erwähnt, Frau Dağdelen: Weil zu einem solchen Auftritt sagten. Menschen mit türkischem Hintergrund den proportional (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- größten Anteil ausmachen, möchte ich – das habe ich NEN]: Die FDP hat das schon gemacht! Herr vorhin etwas vermisst – auf Ihren bzw. auf den – Gott sei Möllemann!) Dank nicht Ihren – Ministerpräsidenten Erdogan zu spre- chen kommen. – Es gibt Leute, die vor nichts zurückschrecken, Herr Beck. Dazu gehören Sie auch. (Sevim Dağdelen [DIE LINKE]: Das verbitte ich mir! – Matthias W. Birkwald [DIE (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – LINKE]: Das ist doch nicht ihr Ministerpräsi- Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: dent!) Unterirdisch! – Renate Künast [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Ihre Rede ist auch ein großer – Ich wollte von Ihnen ja nur die Bestätigung, dass es Schrecken!) nicht Ihr Ministerpräsident ist. (B) – Sie können den Saal ja verlassen. In unserem Land gibt (D) (Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: es die Freiheit, dass man sich alles anhören kann, aber Das zeigt, wie Sie denken! Was hat das mit ihr nicht anhören muss. zu tun?) Ich will ein weiteres Beispiel dafür anführen – das ist – Genau. Das frage ich sie auch. – Aber lassen Sie mich schon angeklungen –, welche Probleme die Doppelstaa- einfach einmal ausreden; Sie haben ja schon genug da- tigkeit mit sich bringt. Der Zeit-Chefredakteur Giovanni zwischengerufen. di Lorenzo hat im Fernsehen offen bekundet, dass er bei Erdogan hat bekanntlich eine Behörde ins Leben ge- der Europawahl sowohl in Deutschland als auch in sei- rufen, die sich speziell an die im Ausland lebenden Tür- nem Konsulat gewählt hat. ken wendet, und verfolgt damit offenkundig das Ziel, sie (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- für seine speziellen Interessen zu gewinnen. Dass jeden- NEN]: Das hätte er auch mit einem italieni- falls die aktuelle Regierung der Türkei im Vergleich zu schen Pass gedurft! Sie sollten sich einmal im uns eine andere Vorstellung von Demokratie hat, hat Europawahlrecht kundig machen!) Präsident Erdogan in der jüngsten Vergangenheit mehr als einmal gezeigt. Sein jüngster Besuch in Köln zeigte – Herr Beck, wir werden das prüfen lassen. – Ich glaube, einmal mehr, dass er völlig unbeeindruckt von zahlrei- 8 Millionen Menschen könnten von einer solchen Mög- chen hier lebenden türkischen Gegendemonstranten ver- lichkeit Gebrauch machen. Deshalb muss man sich doch sucht, im Zuge des Wahlkampfes hier lebende Lands- die Frage stellen: Haben sie ein doppeltes Wahlrecht? leute für seine Ziele zu gewinnen. (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE (Sevim Dağdelen [DIE LINKE]: Gerade des- GRÜNEN]: Nein, das haben sie nicht!) halb sollten Sie sie nicht in die Arme von Ist die Europawahl damit noch gültig? Erdogan treiben! – Özcan Mutlu [BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN]: Ohne Erfolg, wie Sie Wie ich eingangs bereits sagte, leben wir in einer glo- gesehen haben! 70 000 waren auf der Straße!) balisierten Welt, und der Doppelpass wird zunehmend selbstverständlich. Die Bundesregierung hat nun einen – Sie müssen all das, was Sie dazwischenrufen, einmal Gesetzentwurf vorgelegt, der junge Menschen nicht mehr zu Ende denken. Dann kommen Sie zu dem gleichen Er- in die für sie – jedenfalls teilweise – offensichtlich unan- gebnis wie ich. genehme Situation bringt, sich zwischen zwei Staatsbür- Dass ausländische Staatspräsidenten, noch dazu auf gerschaften entscheiden zu müssen, wenn sie hier gebo- deutschem Boden, versuchen, Menschen mit doppelter ren und aufgewachsen sind. Die Entscheidung zwischen 3346 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014

Helmut Brandt (A) der deutschen Staatsangehörigkeit und der des Her- bile soziale und ökonomisch erfolgreiche Gesellschaft (C) kunftslandes der Eltern, ist – zumindest zum Teil – ein sein wollen. Problem für diese jungen Migranten, die hier geboren sind und hier leben wollen. Diese Gruppe wollen wir (Beifall bei der CDU/CSU) durch diese Neuregelung entlasten. Wenn wir nun die hier lebenden jungen Migranten, die hier geboren sind und hier leben wollen, entlasten kön- Bei aller Erleichterung aufseiten der vehementen Be- nen, indem wir die Optionspflicht durch eine praktikable fürworter der doppelten Staatsangehörigkeit sollten wir Neuregelung ihrer Lebenswirklichkeit anpassen, dann eines aber nicht vergessen: Das Problem, um das es hier sollten wir dies tun. eigentlich geht, nämlich die Integration dieser jungen Menschen, ist kein politisches, sondern ein gesellschaft- Trotzdem wollen und müssen wir sicherstellen, dass liches Problem. Integration ist nicht durch einen Verwal- die betroffenen Personen einen konkreten Bezug zu tungsakt zu erreichen und kann auch nicht verordnet Deutschland haben. Ich kann darin beim besten Willen, werden. Integration findet in den Schulen, im Arbeitsle- Herr Beck, keine Zumutung für die Betroffenen erken- ben, in der kulturellen und gesellschaftlichen Praxis und nen. Ich fände es im Gegenteil völlig realitätsfern, unan- nicht zuletzt natürlich in der eigenen Familie statt. gemessen und gefährlich, wenn wir dies an keine Vo- raussetzungen binden würden. Wir wollen und brauchen (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – hier Menschen, die gut integriert sind, die die deutsche Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Sprache sprechen, die unsere Werte nicht nur kennen, NEN]: Sind Sie denn jetzt für das Gesetz oder sondern sie auch teilen. Das ist die Zukunft für uns und dagegen? Ich verstehe gar nichts!) unser Land. – Frau Künast, wenn Sie es nicht verstehen, sage ich es (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- für Sie gleich vielleicht noch einmal deutlicher. NEN]: Und da ist die österreichische Matura schädlich?) (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Ja, gerne! – Özcan Mutlu [BÜND- Es ist ein guter Kompromiss, den die Koalition hier ge- NIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir verstehen Sie funden hat. Ich bitte um Ihre Zustimmung. auch nicht!) (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. – Sie können noch so viel brüllen: Es nutzt nichts. Sie Christina Kampmann [SPD]) müssen sich meine Argumente trotzdem anhören. (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU – Vizepräsident Johannes Singhammer: (B) Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich erteile jetzt das Wort für eine Kurzintervention (D) Welche Argumente?) dem Kollegen Volker Beck.

Seit 2005 haben wir als CDU/CSU gemeinsam mit Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): unseren jeweiligen Koalitionspartnern sehr viel für Zu- Ich möchte jetzt nicht auf die Argumente von Ihnen wanderer getan. Mit Blick auf die demografische Ent- eingehen, Herr Brandt, sondern nur eine Sache klarstel- wicklung haben wir in den letzten Jahren begonnen, Zu- len. Giovanni di Lorenzo konnte zweimal abstimmen, wanderung aktiv zu steuern und klare gesetzliche nicht weil er einen deutschen und einen italienischen Vorgaben zu schaffen, um Zuwanderern den Start in Pass hat, sondern weil er einen italienischen Pass hat und Deutschland zu ermöglichen und ihren Integrationspro- in Deutschland lebt. Gegenwärtig ist es so, dass wir, ob- zess zu fördern. Seitdem sind über 1 Milliarde Euro in wohl das nach dem Europäischen Wahlakt und auch Integrationsmaßnahmen und Sprachkurse geflossen, und nach dem Europawahlgesetz nicht zulässig ist, keine or- zwar mit steigender Tendenz. Diesen Weg wollen und ganisatorischen Vorkehrungen getroffen haben, um sol- müssen wir fortsetzen. che Doppelabstimmungen durch ein einheitliches Wahl- (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- register zu verhindern. Das ist ein Defizit bei der NEN]: Die Studentin an der Humboldt-Uni Exekution des Gesetzes durch die Verwaltung. Das hat braucht gar keinen Sprachkurs! Die kann doch mit dem Besitz von zwei oder drei Pässen oder einem besser Deutsch als wir!) Pass überhaupt nichts zu tun. – Das trifft auf eine Gruppe von Menschen zu, natürlich. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Aber Herr Beck spricht ja immer von den Minderheiten. sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN- Es gibt eben auch Zuwanderer, die Schwierigkeiten mit KEN) der deutschen Sprache haben. Damit die Bürgerinnen und Bürger das wissen, wollte ich das hier richtigstellen. Eines steht fest: Das Wohlergehen und der Zusam- menhalt einer Gesellschaft werden gestärkt, wenn alle Sie haben auch den Auftritt von Herrn Erdogan in Beteiligten, seien sie Einheimische oder Zuwanderer, ein Köln angesprochen. Frau Dağdelen und ich haben auf Gefühl der Zugehörigkeit empfinden. Staatsangehörig- der Gegendemonstration zusammen mit Ihrem Kollegen keit auf eine Weise zu verleihen, die uns bei diesem Ziel Hirte gesprochen und mit 50 000 Deutschen, Türken und voranbringt, ist die eigentliche Herausforderung, der wir Kurden gegen diesen Auftritt demonstriert. Aber ich uns stellen müssen, wenn wir auch in Zukunft eine sta- habe auch schon deutsche Politiker Wahlkampf in Spa- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014 3347

Volker Beck (Köln) (A) nien machen sehen. Schauen Sie einmal in den Gazetten Ulla Jelpke (DIE LINKE): (C) nach, was die FDP im Wahlkampf alles gemacht hat. Ich Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zu Beginn weiß, dass das auch manche bei uns machen. Das ist will ich anhand eines aktuellen Beispiels erläutern, wa- nicht ehrenrührig. Die Politik, die Herr Erdogan macht, rum die Zulassung der doppelten Staatsbürgerschaft so ist anzugreifen, nicht aber die Tatsache, bei einer Ge- wichtig für die Demokratie ist. Beim Volksentscheid in meinde im Ausland aufzutreten und mit den Menschen Berlin zum Tempelhofer Feld konnten nur diejenigen ab- zu diskutieren. Wir sollten dies auseinanderhalten. In Ih- stimmen, die einen deutschen Pass haben. Es ging da- rer Rede klang das so: Wenn das ein Türke macht, ist es rum, ob dieses Feld eine Fläche für Freizeit, Erholung schlimm. Wenn das ein deutscher Politiker auf Mallorca und Sport bleibt. Aber diejenigen, die dort leben, jedoch macht, ist es nicht mehr so schlimm. – Das erschließt keinen deutschen Pass haben – das sind knapp eine halbe sich mir nicht, es sei denn, Türken und Deutsche unter- Million Menschen –, waren ausgeschlossen. Dieses de- scheiden sich doch so wesentlich. mokratische Defizit, dass Menschen an Entscheidungen, die sie unmittelbar betreffen, nicht beteiligt werden, darf (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) es in Deutschland nicht mehr geben.

Vizepräsident Johannes Singhammer: (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten Herr Kollege Brandt, wollen Sie auf die Kurzinter- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) vention erwidern? Auch bei den Wahlen ist es regelmäßig so: Ein großer Teil der Bevölkerung ist ausgeschlossen, weil ihm der Helmut Brandt (CDU/CSU): deutsche Pass bzw. das richtige Papier fehlt. Wer Einbür- Ja, gerne. – Herr Beck, ob es zulässig war oder nicht, gerung erschwert, der erschwert oder verhindert demo- was Herr di Lorenzo gemacht hat, spielt im Endeffekt kratische Teilhabe und Gleichberechtigung. Wir dürfen doch keine Rolle und kann hier und heute gar nicht ent- im 21. Jahrhundert solche demokratiefeindlichen Zonen schieden werden. nicht mehr zulassen. (Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: (Beifall bei der LINKEN) Das hat aber nichts mit dem Tagesordnungs- Nach den Bundestagswahlen war – das wurde schon punkt zu tun!) angesprochen – gerade von der SPD immer wieder zu – Sie rufen ja immer noch dazwischen. – Aber mit die- hören: Die doppelte Staatsbürgerschaft muss her. Meine sem Beispiel wollte ich nur deutlich machen, dass Dop- Kollegin hat schon Sigmar Gabriel zitiert: pelstaatigkeit auch Probleme mit sich bringt (B) Ich werde der SPD keinen Koalitionsvertrag vorle- (D) (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- gen, in dem die doppelte Staatsbürgerschaft nicht NEN]: Das hat doch mit Doppelstaatigkeit drin ist. nichts zu tun! Das hat mit dem Woanderswoh- Man kann nicht oft genug wiederholen, dass dieses Ver- nen zu tun!) sprechen gegeben wurde. Aber wenige Wochen später und dass diese Probleme sich dann auch – und in diesem waren diese markigen Worte vom Tisch. Es sollte jetzt Zusammenhang ist das erwähnt worden – manifestieren. nicht einmal mehr die Abschaffung der Optionsregelung geben, nach der sich viele junge Menschen zwischen der Was die andere Frage angeht, Herr Beck, ob und wel- deutschen Staatsangehörigkeit und der ihrer Eltern ent- che Menschen im Ausland für ihre Sache werben: Ich scheiden müssen. Das ist übrigens nicht nur eine Riesen- habe kein Problem damit, dass jemand das tut. Ich frage blamage für den Vorsitzenden der SPD und Vizekanzler, nur, ob das richtig und sinnvoll ist. Ich denke, dass Herr sondern, wie ich finde, auch für die SPD. Diese Vor- Erdogan – ich bin froh, dass Sie unter denen waren, die würfe müssen Sie sich gefallen lassen: Es ist Wahlbetrug dagegen demonstriert haben – genug damit zu tun hätte, an den Wählern und Wählerinnen, und für die Betroffe- in seinem Heimatland für Ordnung zu sorgen, statt sich nen ist es eine riesengroße Enttäuschung. in Köln von Menschen bejubeln zu lassen, die er hier in Deutschland bewusst für seine Sache in Anspruch (Beifall bei der LINKEN) nimmt. Genau das kritisiere ich. Davor will ich aber Meine Damen und Herren, auch in diesem Haus ist in auch warnen. Wir müssen doch davon ausgehen können, den vergangenen Monaten viel von Willkommenskultur, dass Menschen, die dauerhaft in Deutschland leben und einer Anerkennung der Verdienste von Einwanderern die ich alle sehr schätze, sich auch zu uns bekennen, und einer offenen Gesellschaft die Rede gewesen. Doch statt irgendjemandem nachzulaufen, der in Deutschland was folgt aus diesen hehren Worten? Angesichts der bis- Wahlkampf betreibt. herigen Bilanz dieser Bundesregierung kann ich nur sa- (Beifall bei der CDU/CSU) gen: Es ist weniger als nichts. Ich will ein weiteres Beispiel dafür anführen. Im Ent- Vizepräsident Johannes Singhammer: wurf des Haushalts für das laufende Jahr sind 200 Mil- Vielen Dank. – Frau Kollegin Jelpke, jetzt haben Sie lionen Euro für Integrationskurse eingestellt. Das hört das Wort. sich erst einmal viel an. Tatsächlich liegt der Bedarf aber weit höher. Das wissen Sie von der Union ganz genau. (Beifall bei der LINKEN) Das hat nämlich sogar das Innenministerium einge- 3348 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014

Ulla Jelpke (A) räumt; es hat gesagt, dass schon nach bisheriger Planung Bevölkerung, deren ursprüngliches Herkunftsland die (C) 46 Millionen Euro fehlen. Türkei ist, werden Steine in den Weg gelegt. Bei den Beratungsstellen für Migrantinnen und Mi- granten werden Kürzungen vorgenommen. Spezielle Vizepräsident Johannes Singhammer: Kurse für Frauen werden zusammengestrichen. Gerade Frau Kollegin Jelpke, denken Sie an die Redezeit! von der Union kommt immer wieder das Argument, dass die Einbürgerung am Ende des Integrationsprozesses Ulla Jelpke (DIE LINKE): stehen muss. Sie verweigern aber mit solchen Sparmaß- Ich komme sofort zum Ende. – Gegen diese nahmen genau diesen letzten Schritt zur Integration. Sie Ungleichheiten treten wir an. Es gibt keinen Grund, der legen den Menschen damit schon vorher Steine in den es rechtfertigt, nicht endlich die doppelte Staatsbürger- Weg. Das Herumstolpern dieser Bundesregierung beim schaft für alle einzuführen. Dafür wird die Linke weiter- Staatsangehörigkeitsrecht steht in einer Linie mit der hin streiten; denn das ist das Einzige, was demokratie- verfehlten Integrationspolitik. Ich möchte darauf hinwei- förderlich sein wird. sen, dass das zusammengehört. Danke schön. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Meine Damen und Herren von der konservativen Seite, Sie halten den Inhabern zweier Staatsangehörig- Vizepräsident Johannes Singhammer: keiten immer wieder – soeben haben wir es auch ge- Für die Sozialdemokraten spricht jetzt die Kollegin hört – einen Loyalitätskonflikt vor; man könne nicht Dr. Eva Högl. Diener zweier Herren sein. Aber ich finde, dass es ein Treppenwitz der Geschichte ist, dass solche Argumente (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten von einer Partei kommen, die in Niedersachsen sogar ei- der CDU/CSU) nen Ministerpräsidenten mit doppelter Staatsangehörig- keit gestellt hat. Dr. Eva Högl (SPD): (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN und Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Liebe Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir diskutieren heute in erster Lesung hier im David McAllister war der erste Ministerpräsident mit Deutschen Bundestag mit dem Zweiten Gesetz zur Än- (B) doppelter Staatsangehörigkeit in der Geschichte der derung des Staatsangehörigkeitsgesetzes über ein zwei- (D) Bundesrepublik. Ich kann Sie nur aufrufen: Kommen Sie tes wichtiges Gesetz der Großen Koalition nach dem doch endlich in der Realität an! Mehrfache Staatsbürger- Gesetz zur Einführung eines Mindestlohns, über das wir schaften schwächen die Demokratie nicht, sondern stär- vorhin beraten haben, und damit über ein Thema, das zu ken sie, weil sie mehr Menschen zu demokratischer Teil- den Prioritäten der Großen Koalition gehört. Mit diesem habe und Mitwirkung berechtigen, nach dem Motto „Ein Gesetz wollen wir – ebenso wie mit dem Gesetz zum Mensch, eine Stimme“. Mindestlohn – Verbesserungen für viele Menschen in diesem Land erreichen. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der SPD) Die Linke hat in eigenen Anträgen schon zu Beginn dieser Legislaturperiode die Anforderungen an ein Mit diesem Gesetz zur Staatsangehörigkeit verändern modernes und fortschrittliches Staatsangehörigkeitsrecht wir unsere Gesellschaft; das ist uns sehr wichtig. Wir genannt. Dazu gehört in erster Linie: Mehrstaatlichkeit machen also einen großen Schritt nach vorne. muss bei Einbürgerung und Geburt in Deutschland gene- rell hingenommen werden. Hier noch einmal ganz deut- Nach vielen Jahren gesellschaftlicher Diskussion lich gesagt: Nicht nur in anderen EU-Staaten, sondern – wir haben um das Für und Wider gerungen – legen wir auch in den USA, Israel sowie in vielen anderen Ländern nun den Entwurf eines Gesetzes zur Aufhebung der dieser Welt ist es eine Selbstverständlichkeit, dass ein Optionspflicht vor. Es ist ein wirklicher Erfolg, dass uns Mensch die Staatsbürgerschaft des Landes erhält, in dem das gelingt. er geboren wurde. Er muss sich nicht verbiegen und (Beifall bei der SPD – Ulla Jelpke [DIE irgendwelche Schul- und Ausbildungsabschlüsse nach- LINKE]: Das ist keine Aufhebung! – Özcan weisen, wie es bei uns der Fall ist. Das kann doch wohl Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es ist nicht sein. keine Aufhebung!) (Beifall bei der LINKEN) Das stellt eine wichtige Verbesserung für viele junge Menschen mit Migrationshintergrund in unserer Gesell- Nur in Deutschland gibt es nun enorme Hürden. Ich schaft dar. Wir tragen dazu bei, dass unser Staatsange- will betonen: Die Optionsstaatsbürgerschaft wird nicht hörigkeitsrecht weiter modernisiert wird. Das ist ein abgeschafft. Ist es nicht komisch, dass bei vielen doppel- wichtiges Signal und eine wichtige Reform. ten Staatsbürgerschaften wie bei der des ehemaligen Ministerpräsidenten von Niedersachsen überhaupt kein (Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Problem besteht? Aber einer großen Gruppe unserer NEN]: Murks ist das!) Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014 3349

Dr. Eva Högl (A) Ich finde es sehr gut, dass dieses wichtige Thema zu Wir haben unter Rot-Grün gemeinsam das Staatsangehö- (C) den ersten großen Projekten der Großen Koalition rigkeitsrecht 1999 reformiert. Das war ein ganz großer gehört. Deswegen möchte ich an dieser Stelle ganz aus- Schritt weg vom Abstammungsprinzip hin zum Prinzip drücklich Bundesinnenminister Thomas de Maizière – er des Geburtsortes. Wir machen jetzt, 15 Jahre danach, ist heute nicht da, aber Sie nehmen den Dank stellvertre- den nächsten Schritt mit der Abschaffung der Options- tend entgegen –, Bundesjustizminister – der pflicht, die uns schon immer geschmerzt hat. Staatssekretär nimmt den Dank entgegen – und unserer Staatsministerin Aydan Özoğus – sie ist da – danken, (Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- weil sie an einem Kompromiss gearbeitet haben und uns NEN]: Sie schaffen nicht ab!) hier – wir beraten das Gesetz heute in erster Lesung – ei- Das Optionsmodell war im Übrigen auch ein Integra- nen wirklich guten Vorschlag vorlegen. Herzlichen Dank tionshemmnis in unserer Gesellschaft; denn wenn wir dafür. jungen Leuten sagen, sie seien Deutsche auf Probe, dann (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) sind sie auch auf Probe in unserer Gesellschaft. Ich sage einmal ganz deutlich hier: Wir haben das im (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE Koalitionsvertrag vereinbart, und wir halten unser Wort. GRÜNEN]: Das sagen Sie ja leider!) Natürlich ist das ein Kompromiss. Dieses Signal wollen wir nicht mehr senden. Wir wollen (Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- vielmehr sagen: Ihr alle seid hier herzlich willkommen, NEN]: Murks ist das!) ihr gehört dazu, Das wissen alle hier im Haus. Die Rede von Herrn (Beifall bei der SPD) Brandt hat gezeigt, dass auch wir in der Koalition ver- ihr seid Teil unserer Gesellschaft, und wir stellen deswe- schiedene Akzente setzen und Unterschiede haben. Es gen keine hohen Hürden auf, damit ihr Deutsche werdet. ist ein offenes Geheimnis, dass einige mehr wollen – da- von sitzen einige in den Reihen der SPD-Bundestags- Mir ist es ganz wichtig, nach der Rede von Herrn fraktion – Brandt eines zu sagen: Natürlich ist die Frage der Loya- (Beifall bei der SPD) lität zu einem Staat keine einfache Frage. Wir wissen, dass in Ihren Reihen die Frage eine große Bedeutung und einigen das, was wir heute diskutieren und dann vor hat, ob man überhaupt eine Loyalität zu zwei Staaten ha- der Sommerpause verabschieden werden, vielleicht ben kann und ob es zwei Staatsangehörigkeiten geben schon zu viel ist. kann. Wir glauben, dass man in unserer Gesellschaft (B) mittlerweile ganz viele Identitäten haben kann. Man ist (D) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Berlinerin, so wie ich, man kommt ursprünglich aus Aber wir haben uns darauf verständigt, und deswegen Niedersachsen oder woanders her, man ist Europäerin, ist der Gesetzentwurf über die Abschaffung der Options- wenn man in anderen Ländern ist. So sehen wir an vielen pflicht, über den wir heute beraten, ein erster wichtiger konkreten Beispielen in unserer Gesellschaft, dass die Schritt. Es ist ein guter Vorschlag, über den wir beraten. Identitäten ganz bunt und vielfältig sind und von dem jeweiligen Kontext abhängen. Sie sind keine Gefahr für (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Erika unsere Gesellschaft, sondern es ist eine Bereicherung, Steinbach [CDU/CSU]) wenn wir mehrere Identitäten haben. Ich möchte ganz kurz zurückblicken – ich will das (Helmut Brandt [CDU/CSU]: Ihnen glaube ich nicht lange ausführen; es ist schon gesagt worden, woher das!) die Optionspflicht kommt – und daran erinnern, dass das, was uns alle geschmerzt hat, ist, dass mit diesem Auch zwei Staatsangehörigkeiten können eine Berei- Optionszwang junge Menschen zu Deutschen auf Probe cherung sein. Vor allen Dingen ist es wichtig, dass wir wurden. Das ist etwas, was wir nicht akzeptieren und nicht die Wurzeln der Menschen kappen, die sie haben, was nicht sein darf. Deswegen schaffen wir den Options- die Wurzeln ihrer Familie, ihrer Eltern und Großeltern. zwang ab. Niemand, der oder die hier in Deutschland ge- Wir müssen ihnen vielmehr signalisieren: „Diese Wur- boren ist, ist bei uns Deutscher oder Deutsche auf Probe. zeln kappen wir nicht, sondern ihr könnt sie behalten“, Das ist ein wichtiges Signal. und das mit der Staatsangehörigkeit zum Ausdruck brin- gen. (Beifall bei der SPD sowie des Abg. [Altötting] [CDU/CSU] – Volker Beck (Beifall bei der SPD) [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann Ich möchte noch an Folgendes erinnern: Für mich war müssen Sie den Optionszwang abschaffen!) es ein sehr bewegender Moment, als wir am 23. Mai im Ich erinnere die Grünen daran, dass der Options- Deutschen Bundestag den 65. Geburtstag des Grund- zwang nicht einfach so in das Gesetz gekommen ist. gesetzes gefeiert haben und hier Navid Kermani gespro- chen hat, ein Deutscher, in Deutschland geboren, mit (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE iranischen Wurzeln, ein Muslim. Wir hatten ihn eingela- GRÜNEN]: Das war Rainer Brüderle, Rhein- den, das Jubiläum unseres deutschen Grundgesetzes zu land-Pfalz! Ich war dabei!) feiern. Das empfand ich als eine ganz starke Geste 3350 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014

Dr. Eva Högl (A) (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Helmut obwohl sie mit Blick auf den von uns unterschriebenen (C) Brandt [CDU/CSU] – Volker Beck [Köln] Koalitionsvertrag eigentlich hätten Deutsche bleiben und [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was er zu Ar- auch Türkinnen und Türken sein können. tikel 16 gesagt hat?) (Beifall bei der SPD) und ein ganz starkes Signal in unsere Gesellschaft hi- Ich wäre sehr dankbar – wir beraten diesen Gesetzent- nein. Er hat uns sehr viel mitgegeben. Dass das möglich wurf heute in erster Lesung –, wenn wir noch einmal da- ist, zeigt, dass man mit vielen Identitäten umgehen kann rüber ins Gespräch kommen könnten, um zu klären, ob und dass mehrere Identitäten und damit auch mehrere wir für die infrage kommenden wenigen Hundert jungen Staatsangehörigkeiten überhaupt kein Problem, sondern, Menschen eine Regelung finden können, wie ich schon sagte, eine Bereicherung sind. (Beifall bei der SPD) Insofern ist das, was wir heute besprechen – die Abschaffung der Optionspflicht –, für die betroffenen damit wir ihnen sagen können: Auch ihr seid von dieser Personen ganz wichtig. Wir orientieren uns dabei nicht Reform betroffen. Auch für euch eröffnen wir eine Mög- an Einzelfällen, die vielleicht schwierig sind, nicht an lichkeit zur doppelten Staatsangehörigkeit. Auch ihr Problemen, die es vielleicht im Zusammenhang mit dem könnt beide Staatsangehörigkeiten haben. Auch euch Nachweis des Bezugs zu Deutschland gibt. Vielmehr umfasst dieser Gesetzentwurf. – Wenn wir dazu noch orientieren wir uns an der Mehrheit der Fälle: Das sind einmal beraten könnten, würden jedenfalls wir Sozialde- beinahe 40 000 junge Menschen jährlich, für die die Op- mokratinnen und Sozialdemokraten uns sehr freuen. tionspflicht entfällt. In über 90 Prozent der Fälle brau- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) chen wir überhaupt keine weitere Prüfung, sondern al- lein die melderechtliche Lage dient dazu, gleich sagen Ich sage es noch einmal: Ein guter Kompromiss liegt zu können: Du kannst beide Staatsangehörigkeiten be- zur Beratung vor. Ich freue mich auf die weiteren Bera- halten, und du bist vollständig integriert. Du gehörst tungen hier bei uns im Deutschen Bundestag, und vor dazu, und wir müssen nichts weiter überprüfen. – Der allen Dingen freue ich mich, dass wir in der Koalition Erfolg besteht darin, dass wir dies für die große Mehr- vereinbart haben, diesen Gesetzentwurf noch vor der heit ermöglichen. Allein dafür lohnt sich dieses Gesetz. Sommerpause zu verabschieden. Es wäre ein ganz starkes Signal und eine schöne Sache, wenn wir vor der (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Sommerpause sagen könnten: Wir haben die Options- Uns als SPD war es besonders wichtig, deutlich zu pflicht abgeschafft. Es gibt die Möglichkeit einer dop- machen, dass die Mehrheit der Menschen nicht zum Amt pelten Staatsangehörigkeit. – Das ist ein erster Schritt, (B) muss, dass wir keinen bürokratischen Aufwand betrei- aber ein wichtiger Schritt. Wir Sozialdemokratinnen und (D) ben und dass wir die Mehrheit der Menschen nicht zu Sozialdemokraten bleiben an diesem Thema dran, und einer Aktivität verpflichten, sondern dass von vornhe- wir wollen noch weitere Schritte machen. Dazu werden rein für viele klar ist, dass sie zwei Staatsangehörig- wir weitere Anläufe unternehmen. keiten bekommen können, Stichwort „wenig Verwal- Herzlichen Dank. tungsaufwand“. Aber natürlich geht es nicht ganz ohne Verwaltungsaufwand. Denn selbstverständlich müssen (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten wir in einzelnen Fällen die entsprechenden Vorausset- der CDU/CSU) zungen prüfen. Dafür gibt es logischerweise Kriterien. Vizepräsident Johannes Singhammer: Wir legen diese Kriterien an, weil wir vereinbart ha- ben, dass diejenigen, die hier geboren und aufgewachsen Vielen Dank, Frau Kollegin Högl, auch für die punkt- sind, unbefristet die deutsche Staatsangehörigkeit erhal- genaue Landung und Ausschöpfung der Redezeit. ten, aber auch, weil die Staatsangehörigkeit natürlich Nächster Redner ist für Bündnis 90/Die Grünen der keine Bagatelle ist. Das ist klar geworden, und das be- Kollege Özcan Mutlu. tone ich hier noch einmal. An die Staatsangehörigkeit sind viele Rechte und auch Pflichten geknüpft, die nicht Özcan Mutlu (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): unwesentlich sind, zum Beispiel die Übernahme des Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich Amtes eines Schöffen, einer Wahlhelferin, eines Wahl- möchte hier einmal deutlich sagen: Hören Sie einfach helfers oder ähnlicher Dinge in unserer Gesellschaft. auf mit dem Märchen, dass Sie die Optionspflicht ab- Vieles ist an die Staatsangehörigkeit geknüpft, nicht nur schaffen. das Wahlrecht als solches, sondern eben auch andere Dinge. Deswegen müssen wir genau schauen, was mit (Beifall der Abg. Ulla Jelpke [DIE LINKE]) der Staatsangehörigkeit verbunden ist. Dafür brauchen Sie schaffen sie nicht ab, Sie heben sie nicht auf; denn wir bestimmte Kriterien. § 29 des Staatsangehörigkeitsgesetzes bleibt. Einen Punkt möchte ich noch ansprechen – dabei (Beifall der Abg. Ulla Jelpke [DIE LINKE]) blicke ich in die Richtung des Koalitionspartners –, Stichwort „Altfälle“; kein schöner Begriff. Es geht dabei Dieser Paragraf bleibt nicht nur, sondern er wird in sei- um die Frage, was wir mit denjenigen machen, die eine nen Ausführungen sogar noch präzisiert, wodurch ein Staatsangehörigkeit jetzt schon haben zurückgeben müs- Bürokratiemonster geschaffen wird. Das ist offensicht- sen, die also eine Staatsangehörigkeit verloren haben, lich. Das sehen Sie zum Beispiel, wenn Sie sich § 34 des Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014 3351

Özcan Mutlu (A) Staatsangehörigkeitsgesetzes anschauen. Darin steht, chen Redezettel benutzt er? Den von vor zehn Jahren, (C) was alles für Pflichten die Meldebehörden plötzlich be- oder was? Wir sind doch viel weiter. Wir haben zum Jahr kommen. Sie ignorieren die Lage vor Ort bei den Kom- 2000 das Staatsangehörigkeitsgesetz reformiert und uns munen, bei den Ländern und geben den Behörden dort von dem Wilhelminischen Gesetz, das auf dem Bluts- Aufgaben, die sie vermutlich gar nicht lösen können. recht basierte, verabschiedet. Wir haben das ius soli, Zum Beispiel sollen die Meldebehörden wissen und der wenn auch nicht vollständig, aber optional. Deshalb: Die zuständigen Staatsangehörigkeitsbehörde melden – und Staatsangehörigkeit ist hier wichtig und nicht die Volks- das bis zum zehnten Tag jedes Kalendermonats –, wo zugehörigkeit; das sollten Sie als Staatssekretär inzwi- welcher Optionspflichtige lebt. Das soll keine Bürokra- schen auch gemerkt haben, Herr Krings. tie sein? Das soll eine Abschaffung der Optionspflicht sein? Hören Sie auf mit diesem Märchen, und belügen Wir wollen weiter gehen als Sie. Wir wollen gern das Sie die Bürgerinnen und Bürger nicht! umsetzen, liebe Frau Staatsministerin Özoğuz, was Sie am 29. März 2014 – also in diesem Jahr, nicht irgendwie (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN vor drei Jahren oder im Wahlkampf – gesagt haben, etwa sowie bei Abgeordneten der LINKEN) in der FAZ nachzulesen: Das Ziel der SPD bleibt die volle Abschaffung der Optionspflicht. – Wir nehmen Sie Diese melderechtliche Sache ist ein richtiges Problem beim Wort. und wichtiger Punkt; denn das zeigt genau, dass Sie überhaupt nicht daran interessiert sind, die Options- (Dr. Eva Högl [SPD]: Das ist ja kein Wider- pflicht abzuschaffen. spruch!) Ich habe den Kollegen von der Union zugehört. Der Lassen Sie uns gemeinsam etwas dafür tun! Lassen Sie Herr Krings hat gesagt: Man kann stolz sein auf dieses sich nicht mit solchem Unsinn und Murks von der Union Staatsangehörigkeitsgesetz. – Tut mir leid; ich bin nicht über den Tisch ziehen! stolz darauf. Ein modernes Staatsangehörigkeitsgesetz, lieber Kollege Krings, sieht anders aus. Wenn tatsächlich Es ist keine Abschaffung, was Sie hier betreiben; es nur 5 Prozent der Optionspflichtigen von der neuen Re- ist einfach eine Mogelpackung. Wenn Ihnen junge gelung betroffen sind, warum nehmen wir dann die rest- Leute, denen Sie natürlich erzählen, was Sie Tolles ge- lichen 95 Prozent in Haftung? Warum schaffen wir die- leistet haben, sagen: „Wir sind zufrieden mit dem Ge- ses Bürokratiemonster? Warum sagen wir nicht, wie setz“, dann kann ich Ihnen nur raten: Geben Sie denen unser Bundespräsident es getan hat: „Jeder, der hier zur diesen Entwurf, den Sie vorgelegt haben! Dann werden Welt kommt, dessen Eltern legal in unserem Land leben, die jungen Leute sehr wohl sagen, was das für eine Mo- bekommt aufgrund des ius soli bedingungslos die deut- gelpackung ist. – Mit diesem Entwurf sind wir auf kei- (B) sche Staatsbürgerschaft“? Punkt. Aus. nen Fall einverstanden. (D) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) sowie der Abg. Halina Wawzyniak [DIE LINKE]) Hier ist des Öfteren Hessen zitiert worden. Ich kann Ihnen wirklich sagen: Ein Freund der hessischen CDU Da kann ich nur sagen: Hören Sie auf den Bundespräsi- bin ich nie gewesen, werde ich auch nicht so ohne Wei- denten! teres; aber wenn diese hessische CDU, die noch 1999 auf der Straße Unterschriften gegen die doppelte Staats- Und kommen Sie mir nicht immer wieder mit Ge- bürgerschaft gesammelt hat und gegen Migranten gewet- schichten von Erdogan und der Türkei! Damit zeigen Sie tert hat, heute in einem schwarz-grünen Koalitionsver- nur, dass es Ihnen anscheinend um eine Lex Türkei geht. trag unterschreibt, dass sie quasi der eingeschränkten Während in der Kölnarena 20 000 Leute Erdogan zuge- Abschaffung des Optionsmodells zustimmt, hört haben, haben draußen 50 000 ihr demokratisches Recht genutzt und gegen ihn demonstriert. (Rüdiger Veit [SPD]: Seien Sie doch mit uns zufrieden, bitte schön!) (Helmut Brandt [CDU/CSU]: Gott sei Dank! Sehr gut!) dann ist das doch ein Schritt. Seien Sie doch zufrieden! Was wollen Sie denn? Ich bin nicht unzufrieden damit. Hören Sie also auf mit der Frage der Illoyalität oder der Ich denke, die CDU in Hessen wird auch noch weiter da- fehlenden Loyalität zu diesem Land! zulernen. Außerdem: Deutschland und die Türkei als NATO- Partner werden nie gegeneinander Krieg führen, sodass Herr Präsident, ich komme zum Schluss. – Ich bin ge- auch die Frage „Wo diene ich?“ irrelevant ist. Es ist ein- spannt auf die Beratungen in den Ausschüssen. Ich fach unsinnig, darüber zu reden. hoffe, dass das, was Frau Högl hier angekündigt hat, auch tatsächlich umgesetzt wird und der Entwurf der (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Bundesregierung hinsichtlich der Altfälle verändert und sowie der Abg. Halina Wawzyniak [DIE weiter verbessert wird. LINKE]) Herr Krings hat in seiner Rede irgendetwas von Vizepräsident Johannes Singhammer: Volkszugehörigkeit und von Heimatrecht gesagt und sol- Herr Kollege Mutlu, der Kollege Reichenbach che Begriffe verwendet. Ich habe mich da gefragt: Wel- möchte Ihnen noch eine Zwischenfrage stellen. 3352 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014

(A) Özcan Mutlu (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ich als Vertreter der CDU/CSU habe keinerlei (C) Ja, bitte. Gründe, die SPD von ihren Wahlkampfversprechen zu erlösen. Aber wenn eines richtig ist, dann doch wohl, dass in diesem Koalitionsvertrag die Frage der doppelten Gerold Reichenbach (SPD): Staatsangehörigkeit nicht nur angesprochen, sondern tat- Herr Kollege, können Sie mir die Logik Ihres Satzes sächlich geregelt wird, und das mit Sicherheit nicht von vorhin erklären? Auf der einen Seite sagen Sie, dass schlecht. die Tatsache, dass die CDU in Hessen diesen großen Schritt gegangen ist, indem sie den Koalitionsvertrag un- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und terschrieben hat, eine ganz enorme Leistung der Grünen der SPD) sei. Auf der anderen Seite behaupten Sie, dass das Be- Die etwas marktschreierische Art, die wir heute hier streben der SPD, die CDU auf Bundesebene zu diesem erleben, ist der Sache nicht besonders dienlich. Natürlich großen Schritt in Richtung der Position der SPD zu be- war die Optionspflicht immer ein Kompromiss mit allen wegen, eine kritikwürdige Leistung sei. Nachteilen und Unwägbarkeiten. Vor allen Dingen war (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Armin damit eine große Bürokratie verbunden. Uns geht es da- Schuster [Weil am Rhein] [CDU/CSU] – rum, dass man einerseits das Ganze nicht zu einem büro- Dr. [SPD]: Deutlich erklären!) kratischen Monstrum aufbläst und andererseits die Men- schen nicht in Loyalitätskonflikte bringt. Özcan Mutlu (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Interessant ist das Ergebnis der Optionspflicht: Am Wir haben in Hessen nicht gesagt, wir unterschreiben Ende haben sich weit über 90 Prozent zur deutschen keinen Koalitionsvertrag, in dem nicht eine doppelte Staatsbürgerschaft bekannt und damit eine Confessio ab- Staatsbürgerschaft enthalten ist. Das haben Sie gesagt. gegeben: Jawohl, das will ich, das ist meine Entschei- dung. (Zuruf von der SPD: Oh! – Swen Schulz [Spandau] [SPD]: In Hessen war es wohl nicht Interessant ist weiterhin, dass es beim Staatsbürger- so wichtig! – Dr. Karamba Diaby [SPD]: Sie schaftrecht neben Staatsrecht und Staatslehre immer wollen das also gar nicht!) auch um eine Werte- und Kulturgemeinschaft geht. Die Linke macht es sich da ganz einfach. Sie drücken sozu- Wir kämpfen in Hessen weiterhin dafür. Aber ich bin sagen „copy & paste“ und bringen die Bundesratsvor- Bundestagsabgeordneter, und ich bin gespannt auf die lage als Plagiat im Deutschen Bundestag ein. Dabei Debatten in den Ausschüssen. könnten Sie es sich noch einfacher machen, indem Sie (B) Ich danke Ihnen. das sagen, was Sie wollen. (D) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – (Ulla Jelpke [DIE LINKE]: Das tun wir doch!) Lachen des Abg. Michael Frieser [CDU/ Die Linke will die Abschaffung einer deutschen Staats- CSU]) bürgerschaft. Dann sagen Sie es auch, wenn Sie es so meinen. Vizepräsident Johannes Singhammer: (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Nächster Redner ist für die CDU/CSU der Kollege NEN]: Dann wären wir alle staatenlos!) Michael Frieser, dem ich hiermit das Wort erteile. Dann sagen Sie auch, dass es für Sie ein überkommenes (Beifall bei der CDU/CSU) Modell ist, dass ein Bekenntnis zu diesem deutschen Staat nicht gewollt ist. Dann sagen Sie es aber auch so Michael Frieser (CDU/CSU): und verbergen es nicht hinter einer Kritik, die sich letzt- Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen endlich in einem Werfen von Nebelkerzen abbildet. und Kollegen! Ich glaube, dass wir gerade eine Stern- (Beifall bei der CDU/CSU) stunde der logischen Beweisführung erlebt haben. Ich meine, dass wir bei der Frage, den Menschen in (Beifall bei der CDU/CSU) besonderen Ausnahmefällen eine doppelte Staatsbürger- Ich bin gespannt, ob es uns gelingt, diese Debatte – da- schaft zuzubilligen, heute einen ganz großen Schritt wei- mit greife ich ein Wort eines ehemaligen Bundespräsi- ter sind, weil wir mit einem Akt des Vertrauens auf die denten auf – unverkrampft zu führen. Menschen zugehen. Wir sagen: Sie haben durch fami- liäre Zugehörigkeit oder durch ein Aufwachsen hier den Der Kollege hat gerade in seinem Beitrag einen etwas Beweis geführt. Es ist nicht irgendein Hirngespinst, son- laxen Tonfall gewählt. Ich erlaube mir daher, angesichts dern es ist ein Beleg, dass man in diesem Land Fuß ge- der bevorstehenden Fußballweltmeisterschaft dieses fasst hat, dass man seine Wurzeln gerade nicht kappt, vielleicht etwas laxe Bild vom Doppelpass zu wählen. dass man nicht vergessen muss, woher man kommt, dass Dieses taktische und strategische Mittel setzt mehrere man seine Identität nicht gegeneinander ausspielen Dinge voraus: Es muss genau zum richtigen Zeitpunkt muss. Es geht darum, dass man bezüglich seiner Vergan- sein, es muss zielgenau eingesetzt werden, und der Über- genheit und seiner Perspektiven Fuß gefasst hat, das blick muss gegeben sein. Nur dann funktioniert der Dop- heißt, dass man sich eine Zukunft in diesem Land, eine pelpass. Zukunft mit den Menschen, eine Zukunft im Miteinan- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014 3353

Michael Frieser (A) der einer deutschen Kultur und Wertegemeinschaft vor- nen und Abstammungen. Das kann auch sehr sinnvoll (C) stellen kann. Das bedeutet dieser heutige Gesetzentwurf. sein. Im Ergebnis sage ich am Ende des Tages: Natürlich hat es auch mit einem demografischen Faktor zu tun. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Der Kollege Brandt hat es angeführt. Es geht hier nicht neten der SPD) um die Frage der Quantität. Vielmehr geht es darum, Ich habe bisher kein einziges Argument gehört, was dass die Menschen, die hier ausgebildet wurden, hier diese Frage zum Einsturz brächte. Ich habe kein einziges Abschlüsse gemacht haben, hier etwas gelernt haben, ih- Argument gehört, warum es falsch sein soll, zu erwarten, rerseits eine Bindung zu diesem Land entwickeln und sa- dass ein Mensch in diesem Land aufwächst, zur Schule gen: Das, was diese Gesellschaft in mich investiert hat, geht und letztendlich auch Kontakte für seine Zukunft, diese Kenntnisse möchte ich versuchen, in sie einzubrin- seine Lebensperspektive knüpft. Es tut mir leid: kein gen. einziges Argument. Es geht ausschließlich darum, dass wir von den Menschen, die mit einer Migrationsge- Vizepräsident Johannes Singhammer: schichte, der Zuwanderung ihrer Familie in diesem Land sind, nicht eine Entscheidung verlangen. Natürlich sind Herr Kollege Frieser, gestatten Sie eine Zwischen- es immer Kappungen, Fristen und Entscheidungsgrund- frage des Kollegen Mutlu? lagen, die in Jahren, in bestimmten Akten fußen. Staats- bürgerschaftsrecht ist so. Das können wir mit der heuti- Michael Frieser (CDU/CSU): gen Diskussion nicht abschaffen. Letztendlich müssen Ich dachte schon, ich hätte mich versehen. Bitte wir immer noch deutlich machen: Die deutsche Staats- schön, Herr Kollege, stellen Sie Ihre Frage. bürgerschaft ist etwas Wertvolles, und zwar im Sinne des Wortes: voll Werten. Das bedeutet auch, dass die Men- schen wissen müssen, womit sie umzugehen haben. Özcan Mutlu (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Danke, Herr Präsident. Danke, Herr Frieser. – Ich Hier bin ich bei dem Thema Integrationspolitik. Es habe eine ganz banale und kurze Frage. Ist Ihnen be- gehört schon viel Chuzpe dazu, zu sagen, dass wir mit kannt, dass in unserem Land bereits circa 5 Millionen diesem Gesetz die Integrationspolitik verhindern oder Menschen einen Doppelpass haben und dass die Bundes- behindern würden. republik Deutschland mit 53 Ländern dieser Erde soge- (Ulla Jelpke [DIE LINKE]: Integration als nannte Abkommen zur doppelten Staatsangehörigkeit letzter Schritt zur Einbürgerung!) oder die Hinnahme der Mehrstaatigkeit vereinbart hat? Und warum sehen Sie vor diesem Hintergrund ein Pro- Seit einer Dekade, zehn Jahre hintereinander, wird der blem darin, dass man diese Vereinbarungen auch auf den (B) bundesdeutsche Haushalt bezüglich der Integrations- Rest der Menschen, die in unserem Land leben, auswei- (D) kurse – im Haushalt des Innenministers – tatsächlich tet? Wovor haben Sie Angst? aufgestockt. Er wird aufgedoppelt. Wir legen ständig zu: Milliarde um Milliarde. Deshalb kann ich nur sagen: Wer am Ende des Tages behauptet, es sei ein integra- Michael Frieser (CDU/CSU): tionspolitischer Fehlakt, verkennt die Realität total. Herr Kollege, schon der Begriff „Rest“ macht Ihre Haltung zu diesem Thema deutlich. Dass es die von (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Ihnen genannten Vereinbarungen gibt, hat etwas mit der neten der SPD) Historie unseres Landes zu tun. Vor dem Hintergrund Im Gegenteil. Integrationspolitisch muss man deut- unserer Geschichte tun wir in vielen Einzelfällen lich sagen: Wir wollen den Menschen eine Perspektive gut daran, also zum Beispiel aus Sicherheitsgründen und der Integration geben, weil sie bereits selber ein Be- -bedenken eine doppelte Staatsbürgerschaft zuzulassen. kenntnis abgelegt haben, indem sie in diesem Land auf- Dass wir in diesen Ausnahmefällen so etwas zulassen, wachsen und vor allem auch ausgebildet wurden, Kon- heißt aber im Umkehrschluss nicht, dass wir nun auto- takte geknüpft haben. Das bedeutet Integration. matisch auch sofort akzeptieren, dass alle anderen in die- sen Genuss kommen. Das wäre nichts anderes als Ich muss aber den Menschen auch sagen, wohin sie Gleichmacherei, aber die Voraussetzungen für doppelte sich integrieren sollen. Wenn diese Gesellschaft etwas Staatsbürgerschaft sind da aus meiner Sicht nicht erfüllt. komplett Beliebiges hat, wenn sie in ihrem Kern nicht mehr existiert, dann weiß der Betreffende eigentlich Zweiter Teil der Antwort: Gerade weil sich die Euro- nicht mehr, ob es überhaupt einen Sinn hat, außer prakti- päische Union als Kultur- und Wertegemeinschaft be- schen Gründen des Reisens und vielleicht ein bisschen greift, macht es Sinn, zu sagen: Wir nehmen doppelte Sicherheit, dass er im Ernstfall auch noch die deutsche Staatsbürgerschaften gegenseitig wirklich ernst. Staatsbürgerschaft hat. Es muss noch eine besondere Art Tun Sie mir einen Gefallen: Mit Ihrer stilistischen und Weise sein, warum wir sagen: Eine doppelte Staats- Volte, mit der Reductio ad Absurdum, also indem Sie sa- bürgerschaft kann und soll zugelassen werden. gen, dass ich das jeweils übertriebe, haben Sie immer Das bedeutet aber auch, dass wir an die Ausnahmen noch kein Argument dafür geliefert, warum die doppelte denken müssen. Die doppelte Staatsbürgerschaft soll im- Staatsbürgerschaft nicht ein besonderer Akt bleiben soll, mer noch die Ausnahme sein, weil wir die Menschen so wie das derzeit der Fall ist: In bestimmten Fällen wird trotzdem in einen Wettbewerb schicken. Wir schicken gegebenenfalls die doppelte Staatsbürgerschaft verlie- sie in einen Wettbewerb zwischen verschiedenen Natio- hen. 3354 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014

Michael Frieser (A) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Meine Großeltern haben dort einen Hof, und früher habe (C) neten der SPD – Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/ ich die Sommerferien dort verbracht. Auch dieser Ort ist DIE GRÜNEN]: Das überzeugt nicht!) irgendwie ein Teil von mir. Vielleicht möchte ich aber auch in der Türkei bleiben, eine Familie gründen und Liebe Kollegen, der entscheidende Punkt bleibt, dass den Betrieb meiner Eltern übernehmen. – Aber weiß ich wir die jungen Menschen, auch wenn wir ihnen die dop- das jetzt, mit Anfang 20? pelte Staatsbürgerschaft ermöglichen, dazu auffordern, mit ihren Wurzeln, mit ihren Kenntnissen, mit ihren Liebe Kolleginnen und Kollegen, ein fiktives Bei- Möglichkeiten und mit ihren Perspektiven in einen Wett- spiel, das deutlich macht, vor welch schwierige Ent- bewerb zu treten. Wir ermöglichen den Menschen, ihre scheidung wir junge Menschen mit der Optionspflicht Herkunft in unser Land einzubringen, und wir hoffen, stellen. Es ist vor allem eine Entscheidung, die Men- dass dabei der optimale Fall eintritt. Um bei dem Bild zu schen, die hier geboren sind, in Bürger erster und zweiter bleiben, das ich eingangs gebracht habe: Der schlech- Klasse unterteilt. teste Fall wäre, dass ein Doppelpass im Nirgendwo ver- schwindet. Es wäre schade, wenn wir Menschen verlö- (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Ulla ren, die bei der Gestaltung der Zukunft unseres Landes Jelpke [DIE LINKE] – Özcan Mutlu [BÜND- mithelfen und Perspektiven eröffnen könnten. Der beste NIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann schaffen wir sie Fall wäre, dass wir Brücken bauen, dass wir die Men- ab! Aber vollständig!) schen tatsächlich zusammenbringen und dass sie sich Wenn ich von erster und zweiter Klasse rede, dann geht mit all dem, was sie ausmacht, was sie können und was es dabei nicht um Banalitäten, dann geht es um nichts sie auch an Hoffnungen haben, in Deutschland einbrin- Geringeres als um politische Teilhabe in dem Land, in gen – sogar vor dem Hintergrund der Tatsache, dass sie dem diese Menschen leben, in dem sie arbeiten, in dem irgendwann die Entscheidung treffen, dass sie in unse- sie Steuern zahlen und dessen Gesetze sie zu respektie- rem Land bleiben, sich einbringen und ihre Zukunft ge- ren haben, ohne dass sie in Form von Wahlen darüber stalten wollen. entscheiden können – es sei denn, sie geben die Staats- Danke schön. angehörigkeit ihrer Eltern auf. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Doch was sich vielleicht einfach anhört, ist es ganz neten der SPD – Zuruf des Abg. Rüdiger Veit und gar nicht; denn für die meisten Menschen ist die [SPD]: Zu dem Beispiel klatsche ich!) Staatsangehörigkeit viel mehr als ein Pass. Viele sind, auch wenn sie nicht dort leben, durch die Kultur ihres Landes stark geprägt. Sie verbinden damit Menschen, Vizepräsident Johannes Singhammer: (B) die ihnen etwas bedeuten, Freunde, Familie, vielleicht (D) Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist die Kollegin auch die Großeltern, und nicht selten verbinden sie da- Christina Kampmann, SPD. mit auch ein zweites Zuhause, zu dem sie immer wieder (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten gerne zurückkehren. der CDU/CSU) Liebe Kolleginnen und Kollegen, es gibt viele gute Gründe, die für die Abschaffung der Optionspflicht spre- Christina Kampmann (SPD): chen. Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Der erste ist: Wir kommen zu einem Abbau von Büro- Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! kratie. Das ist in einem Land, in dem nicht gerade ein Nehmen wir einmal an, alles wäre anders, alles wäre ir- Mangel an Bürokratie herrscht, immer schon einmal ein gendwie umgekehrt: Ich wäre als Kind deutscher Eltern richtig guter Grund, glaube ich. in der Türkei geboren; die Türkei wäre Mitglied in der Europäischen Union, Deutschland nicht; und es gäbe Der zweite ist: Mehrstaatigkeit ist in einer globalisier- dort genau wie hier das Optionsmodell; meine Eltern ten Welt bereits gelebte Realität, und die funktioniert im hätten in der Türkei einen kleinen Betrieb; und welche Übrigen ganz wunderbar. Staatsangehörigkeit ich habe, das hat mich eigentlich nie Der dritte und damit wichtigste Grund ist, dass wir bis so wirklich interessiert – bis zu dem Tag, an dem die Be- zu 36 000 jungen Menschen pro Jahr mit dieser Rege- hörde mir sagt, ich müsse mich entscheiden: für die eine lung helfen werden. So viele werden davon profitieren, oder für die andere Staatsangehörigkeit. In der Zeitung und das finde ich richtig gut und wichtig, liebe Kollegin- lese ich von einem Politiker mit einem britisch klingen- nen und Kollegen. den Namen. Er hat die türkische und die britische Staats- angehörigkeit. Seine Eltern kommen aus EU-Mitglied- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten staaten, sagt man mir. Ganz schön ungerecht, finde ich. der CDU/CSU und der Abg. Ulla Jelpke [DIE Wieso muss ich mich entscheiden und andere nicht? Ich LINKE]) frage bei der Behörde nach. Die sagen: Es geht um die Vermeidung von Mehrstaatigkeit. Und ich frage mich: Denn die Optionspflicht ist wie das Haar in der Suppe Warum geht es nur bei mir darum und nicht bei diesem einer modernen Einwanderungsgesellschaft. Man könnte Politiker? auch sagen: Sie ist wie die vier Tore des österreichischen FC Nationalrat in einem interparlamentarischen Fußball- Ich habe gerade angefangen, zu studieren. Vielleicht turnier für unseren FC Bundestag: Niemand will sie, nie- möchte ich einmal als Ärztin in Deutschland arbeiten. mand braucht sie. Deshalb ist es richtig, dass wir endlich Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014 3355

Christina Kampmann (A) eine Antwort gefunden haben, die nichts anderes als die keitsgesetzes rüttelt nicht daran, dass eine doppelte (C) Abschaffung der Optionspflicht bedeuten kann. Staatsangehörigkeit weiterhin kein Normalfall sein sollte, vielmehr bleibt die doppelte Staatsangehörigkeit (Beifall bei der SPD) die Ausnahme. Damit sind wir einen wichtigen Schritt weiter, wenn es darum geht, mehr Gerechtigkeit zu schaffen, wenn es (Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- darum geht, Menschen die Hand auszustrecken und ein- NEN]: Ausnahme mit 5 Millionen!) fach einmal zu sagen: „Schön, dass ihr da seid!“, und Wir wollen aber – auch gemeinsam – mit dem vorlie- wenn es darum geht, zu respektieren, dass auch Men- genden Gesetzentwurf die hier geborenen Zuwanderer- schen, die einen deutschen Pass haben, eine tiefe Verbin- kinder weitgehend nicht mehr in die emotional wirklich dung zu einem anderen Land haben können, die sie zu schwierige Situation bringen, sich spätestens zum Recht gar nicht aufgeben wollen. 23. Lebensjahr entweder für die deutsche Staatsangehö- (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Ulla rigkeit oder für die ihrer Eltern entscheiden zu dürfen Jelpke [DIE LINKE]) oder zu müssen – je nachdem, wie es der Einzelne empfindet. Dazu müssen aber aus unserer Sicht Mindest- Ich bin stolz darauf, dass sich die SPD für die Ab- anforderungen erfüllt sein, und darauf haben wir uns er- schaffung der Optionspflicht starkgemacht hat. Damit freulicherweise gemeinsam verständigen können. beenden wir einen langen Weg und bekennen uns end- gültig zu unserem Dasein als Einwanderungsland. Und Ganz entscheidend ist für uns der Aspekt, dass eine ich begrüße es außerordentlich, dass wir gemeinsam mit Bindung an Deutschland, die über eine emotionale Bin- unserem Koalitionspartner einen ebenso guten wie prak- dung hinausgeht, erkennbar sein muss. Deswegen haben tikablen Kompromiss gefunden haben. wir einen Kriterienkatalog aufgestellt. Die Pflicht, sich für eine Staatsangehörigkeit zu entscheiden, entfällt mit (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE der vorgesehenen Gesetzesänderung für die junge Gene- GRÜNEN]: Na ja, da haben Sie den Mund ja ration, und zwar für die Kinder, die hier acht Jahre gelebt voll genommen!) haben oder sechs Jahr zur Schule gegangen sind oder die Ich sage aber auch: Das ist nicht unser letzter Schritt, Schule bzw. die Ausbildung erfolgreich abgeschlossen Herr Beck. haben. Eine Härtefallklausel für all die Fälle, die man nicht prognostizieren kann, zu denen aber jeder Mensch (Beifall bei der SPD – Volker Beck [Köln] mit Vernunft sagt: „Das darf ja wohl nicht wahr sein, [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Im Koali- dass in diesem Fall keine Lösung möglich ist“, ist natür- tionsvertrag steht, es ist der letzte Schritt!) lich auch enthalten. Uns von der CDU/CSU ist also (B) (D) Die generelle Anerkennung der Mehrstaatigkeit bleibt wichtig, dass mit der vorgesehenen Gesetzesänderung si- das Ziel der SPD. chergestellt wird, dass bei denjenigen, die die doppelte Staatsbürgerschaft erlangen, eine Bindung an Deutsch- (Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- land erkennbar ist. Das halten wir für erforderlich und NEN]: Wann denn?) sinnvoll für dieses Land, für die Gemeinsamkeit in die- Zunächst bin ich aber froh, dass wir einen Anfang ge- sem Land. macht haben, dass wir einen Weg gefunden haben, damit Die Betroffenen können die Frage, ob sie nach dem es für junge Menschen in Zukunft nicht mehr entwe- Gesetz in Deutschland aufgewachsen und damit von der der – oder heißt, sondern einfach nur: Schön, dass du da Optionspflicht befreit sind, schon sehr früh, bereits mit bist, und hoffentlich bist du – ganz im Sinne der Band Vollendung des achten Lebensjahrs, wenn sie acht Jahre „Wir sind Helden“ – Gekommen um zu bleiben. lang hier gelebt haben, klären lassen. Das gibt ihnen Si- Danke schön. cherheit, auch emotionale Sicherheit für die Zukunft; (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- der CDU/CSU) neten der SPD) denn eine frühe Rechtssicherheit stabilisiert. Vizepräsident Johannes Singhammer: Abschließende Rednerin zu diesem Tagesordnungs- Aus den Reihen der Opposition wird die Forderung punkt ist für die CDU/CSU die Kollegin Erika nach einer grundsätzlichen Möglichkeit zur doppelten Steinbach, der ich hiermit das Wort erteile. Staatsbürgerschaft erhoben. Das wollen wir ausdrücklich (Beifall bei der CDU/CSU) nicht. Aber ich habe mich schon amüsiert, dass der Redner der Grünen diesen Gesetzentwurf in Bausch und Bogen verdammt und gleichzeitig die hessische Landes- Erika Steinbach (CDU/CSU): regierung gelobt hat. Als Frankfurterin freue ich mich Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle- natürlich, dass die schwarz-grüne Landesregierung ge- gen! Frau Kampmann hat völlig zu Recht gesagt: Für die lobt wird. Also, Herr Kollege, das, was Sie da losgelas- meisten Menschen ist die Staatsangehörigkeit viel mehr sen haben, war ein Bumerang. als ein Pass. Das ist vollständig richtig. Vor dem Hinter- grund haben wir uns auch gemeinsam entschieden, zu (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- sagen: Die vorliegende Änderung des Staatsangehörig- neten der SPD) 3356 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014

Erika Steinbach (A) Es geht bei dieser gesetzlichen Regelung auch nicht b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Julia (C) um die grundsätzliche Neuordnung der Einbürgerungen, Verlinden, Christian Kühn (Tübingen), Oliver sondern tatsächlich ausschließlich um die hier geborenen Krischer, weiterer Abgeordneter und der Frak- und aufgewachsenen Menschen, die sich sonst als junge tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Erwachsene hätten entscheiden müssen, welche Staats- bürgerschaft sie fortan weiterführen wollen. Es geht also Die Energiewende durch Energieeffizienz vo- nicht um den generellen Doppelpass – allen, die solche ranbringen – EU-Energieeffizienzrichtlinie Sorgen haben, sei das hier noch einmal deutlich gesagt. unverzüglich umsetzen Drucksache 18/1619 Zu einer völligen Gleichstellung – den Hinweis will Überweisungsvorschlag: ich auch noch geben – der Inhaber mehrerer Staatsange- Ausschuss für Wirtschaft und Energie (f) hörigkeiten mit den Menschen, die nur eine Staatsange- Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und hörigkeit haben, kommt es auch nicht. So ist etwa der Reaktorsicherheit diplomatische und konsularische Schutz von Deutschen, Ausschuss für Bildung, Forschung und die weitere Staatsangehörigkeiten besitzen, im Ausland Technikfolgenabschätzung eingeschränkt. Sie können sich beispielsweise gegen- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für über dem Staat, dessen Staatsangehörigkeit sie auch die Aussprache 60 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei- noch besitzen, nicht auf ihre deutsche Staatsangehörig- nen Widerspruch. Dann ist das somit beschlossen. keit berufen. Ich glaube, auch das ist ein Akt der Gerech- tigkeit. Ich eröffne die Aussprache. Erste Rednerin in dieser Aussprache ist die Kollegin Bärbel Höhn, Bündnis 90/ Meine lieben Freunde, liebe Kolleginnen und Kolle- Die Grünen, der ich hiermit das Wort erteile. gen, ich glaube, wir haben, wenn wir jetzt in die Beratungen eintreten, eine gute Vorlage. Ich bin sehr zu- Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): versichtlich, dass wir sie gemeinschaftlich über die Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor Rampe kriegen, und das auch noch vor der Sommer- wenigen Monaten wurde meine jüngste Enkeltochter ge- pause; daran würde mir liegen. boren, die Hannah. Alles Gute! (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- CDU/CSU) neten der SPD) – Danke schön. – Am vergangenen Samstag haben wir (B) Taufe gefeiert. Was heißt das? (D) Vizepräsident Johannes Singhammer: (Dr. Günter Krings, Parl. Staatssekretär: Vielen Dank. – Damit schließe ich die Aussprache. Christliche Erziehung!)

Interfraktionell wird Überweisung der Gesetzesent- Das heißt, Verantwortung zu übernehmen für eine gute würfe auf den Drucksachen 18/1312 und 18/1092 an die Zukunft, und das heißt, sie vor Schaden zu bewahren. in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge- Ich bin ganz sicher, dass jeder von Ihnen in so einer Si- schlagen. Gibt es dazu einen anderweitigen Vorschlag? – tuation genauso denkt wie ich. Dabei geht es nicht nur Das ist nicht der Fall. Dann sind die Überweisungen so darum, dass wir sagen, wir wollen Verantwortung über- beschlossen. nehmen in akuter Not, sondern es geht auch darum, lang- fristigen Schaden von diesen kleinen Krabbelkindern ab- Ich rufe die Tagesordnungspunkte 6 a und 6 b auf: zuwenden. Deshalb müssen wir heute und jetzt etwas gegen den Klimawandel unternehmen; denn diese Klei- a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Bärbel nen, auch Hannah, haben eine gute Chance, das nächste Höhn, Annalena Baerbock, Sylvia Kotting-Uhl, Jahrhundert zu erleben. Dann werden die Vorhersagen weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜND- der Wissenschaftler eintreten. Dann werden die Schäden NIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eingetreten sein. Wenn wir heute nicht handeln, dann eines Gesetzes zur Festlegung nationaler Kli- hinterlassen wir diesen Kindern eine dramatische Bürde. maschutzziele und zur Förderung des Klima- Das wollen wir doch alle nicht. schutzes (Klimaschutzgesetz – KlimaSchG) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN- Drucksache 18/1612 KEN) Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Wir haben zu Recht eine Schuldenbremse eingebaut, Reaktorsicherheit (f) weil wir gesagt haben, wir wollen unsere Kinder nicht Ausschuss für Wirtschaft und Energie mit Schulden belasten. Aber wir müssen ebenso eine Finanzausschuss Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft CO2-Bremse einbauen; denn ansonsten werden wir ih- Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur nen diese Schäden aufbürden. Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Der Punkt ist, dass nicht nur die Generation meiner Haushaltsausschuss Enkelkinder betroffen ist, sondern auch unsere eigene Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014 3357

Bärbel Höhn (A) Generation. Vor einem Jahr haben wir hier über das im neuen EEG ausbremst, dann heißt das nämlich nichts (C) Hochwasser an der Elbe und die dramatischen Schäden anderes, als dass er gegen den Klimaschutz handelt; dort diskutiert. Von diesem Pult aus möchte ich sagen: denn der Ausbau der erneuerbaren Energien ist die er- Herzlichen Dank an die vielen Helfer! Danke für die folgreichste Klimaschutzmaßnahme überhaupt. große Solidarität, auch der Privatleute, die hingegangen sind und geholfen haben! Danke auch an Bund und Län- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN der, die 8 Milliarden Euro Finanzhilfe gegeben haben, sowie bei Abgeordneten der LINKEN) um die Schäden zu beseitigen. Das war gut, das war not- Die Energieeffizienz kommt nicht vom Fleck. Das ist wendig, und das war richtig. bei den Gebäuden so, aber auch bei der schmutzigen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Braunkohle. Diese boomt, weil der Emissionshandel bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Ab- nicht funktioniert. Die Krönung war der Vorschlag, den geordneten der LINKEN) Eigenverbrauch der schmutzigen Braunkohle von der EEG-Umlage auszunehmen, aber Eigenverbrauch von Nicholas Stern sagt: Wir müssen etwas gegen den Photovoltaik bezahlen zu lassen. Ich finde ja interessant, Klimawandel tun, ansonsten werden wir die Schäden dass Gabriel von diesem Vorschlag schon heute ein nicht mehr bezahlen können. Die Wetterextreme kom- Stück abrückt, aber ich bin einmal gespannt, was am men: Dürren, Fluten, Stürme. Das alles wird enorm viel Ende herauskommt. Vielleicht ist das aber auch unter Geld kosten, und es geht offensichtlich schneller, als wir dem Druck der Anhörung geschehen, in der die Experten alle gedacht und die Wissenschaftler vorhergesagt ha- ja gesagt haben: Den Klimakiller Braunkohle zu befreien ben. und die Photovoltaik zu belasten, ist absolut unsinnig; so etwas Verrücktes habe ich selten gehört. Jetzt werden viele von Ihnen sagen: Ja, aber Deutsch- land tut doch so viel; sollen doch die anderen erst einmal (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN was machen. Stimmt das wirklich? Schauen wir uns die sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Fakten an: In Deutschland haben wir pro Kopf einen Ausstoß von 10 Tonnen CO2 pro Jahr. Wie viele sind es Wir legen deshalb unser Klimaschutzgesetz vor. Wir in der EU? Gut 7 Tonnen. In Deutschland steigt der CO2- wollen damit nicht nur langfristig Ziele erreichen, son- Ausstoß in den letzten zwei Jahren wieder und sinkt dern auch Kontrolle, Verlässlichkeit und Planungssicher- nicht. Wir nähern uns den Zielen des Kioto-Abkommens heit. Vor allen Dingen wollen wir eines: Wir wollen ei- von der falschen Seite. Von daher müssen wir etwas tun. nen Mindestpreis für CO2; denn die Klimakiller müssen Deutschland ist auf den Klimakonferenzen nicht mehr für das, was sie tun, auch bezahlen. Wir wollen es so ma- der Vorreiter in der EU. Mittlerweile bewegen sich an- chen wie in Großbritannien, den Niederlanden und (B) (D) dere – zugegebenermaßen auf hohem Niveau. Aber die Schweden: Der Ausstoß von CO2 muss etwas kosten. USA bewegen sich, und auch China muss sich bewegen, Wir müssen an die Ursachen ran, um das hinzubekom- weil es so viele schmutzige Kohlekraftwerke hat, dass men. die Luft gesundheitsschädlich ist. Deshalb müssen auch wir in Deutschland uns bewegen. Das heißt: Deutsch- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie land muss aus der Braunkohlenutzung raus; sonst wer- der Abg. [DIE LINKE]) den wir unsere Klimaziele nicht erreichen können. Meine Enkeltochter Hannah und ihre Krabbelgruppe (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN werden irgendwann einmal erwachsen sein. Dann wer- sowie bei Abgeordneten der LINKEN) den sie uns fragen: Warum habt ihr eigentlich nicht an- ders gehandelt? Die Wissenschaftler haben euch die Deshalb empfand ich es als ein schlimmes Zeichen, Fakten auf den Tisch gelegt, und es wäre eure Verant- dass dieser Tage das Kabinett in den wortung gewesen, uns diese Schäden nicht zuzumuten. – Braunkohleplan genehmigt hat und damit dem Klimakil- Deshalb ist es, glaube ich, Zeit, nicht nur in Sonntagsre- ler Braunkohle für 40 weitere Jahre eine Bestandsgaran- den für den Klimaschutz zu sprechen, sondern endlich tie gegeben hat. auch an Werktagen für den Klimaschutz zu handeln. Wir legen deswegen heute ein Gesetz vor, das Klimaschutz Das Umweltbundesamt warnt seit Jahren davor, dass verbindlich macht, ein grünes Klimaschutzgesetz. Lasst wir das Ziel, die CO -Emissionen um 40 Prozent zu re- 2 uns darüber diskutieren! duzieren, krachend verfehlen werden. Die neue Bundes- ministerin hat gesagt: Mit den jetzigen Maßnahmen wer- Ein Vertreter des IPCC hat bei der Vorstellung des den es wohl nur 33 Prozent. – Experten sagen: Auch eine jüngsten IPCC-Berichtes gesagt: „Es kostet nicht die Reduktion um 33 Prozent werden wir nicht erreichen. Welt, unseren Planeten zu retten“. Ich füge hinzu: „Aber Das werden eher unter 30 Prozent sein, die wir schaffen. es kostet unsere Existenz, wenn wir nichts tun.“ In dem Sinne: Lasst uns über Instrumente diskutieren, damit wir Es wird gesagt, die Bundesministerin lege jetzt ein unsere Kinder und Enkelkinder vor den Schäden bewah- „Aktionsprogramm Klimaschutz 2020“ auf, um etwas zu ren, die wir ansonsten anrichten. tun. Dieses Aktionsprogramm wird aber erst diskutiert. In der Zeit, in der es diskutiert wird, werden von anderen Vielen Dank. Ministerien schon wieder Fakten geschaffen. Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, geht nicht. Wenn Gabriel (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gleichzeitig den Ausbau von Wind- und Sonnenenergie sowie bei Abgeordneten der LINKEN) 3358 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014

(A) Vizepräsident Johannes Singhammer: Sehr große Einsparpotenziale gibt es in Deutschland (C) Für die CDU/CSU spricht jetzt die Kollegin Dr. Anja im Gebäudebereich. Dort fallen rund 40 Prozent des Weisgerber. Endenergieverbrauchs und etwa ein Drittel der CO2- Emissionen an. Deshalb setzen wir weiterhin durch zahl- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) reiche Programme der KfW Anreize zu energieeffizien- tem Bauen. Das ist auch gut so, meine Damen und Her- Dr. Anja Weisgerber (CDU/CSU): ren. Aber – ich werde nicht müde, es zu erwähnen –: Sehr geehrter Herr Präsident! Meine verehrten Kolle- Daneben brauchen wir auch die steuerliche Absetzbar- ginnen und Kollegen! Die Folgen des Klimawandels keit von Investitionen in die Gebäudesanierung. sind bereits heute zu beobachten. Dies hat der letzte Be- (Dr. Julia Verlinden [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- richt des Weltklimarates vor Augen geführt. Deshalb NEN]: Dann können Sie ja zustimmen!) sind wir uns über alle Fraktionen hinweg einig, dass wir einen ambitionierten Klimaschutz brauchen und auch Da sind auch die Bundesländer in der Pflicht. wollen. (Beifall bei der CDU/CSU) Deutschland hat sich ein ehrgeiziges Ziel gesetzt. Wir Einen wesentlichen Beitrag zur Reduzierung der wollen bis 2020 40 Prozent der CO2-Emissionen einspa- Treibhausgasemissionen muss auch der Emissionshan- ren. del leisten. Deshalb machen wir uns auch auf europäi- scher Ebene für eine Reform des Emissionshandels (Dr. Julia Verlinden [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- stark. Unsere Bundeskanzlerin und Um- NEN]: Dann tun Sie auch etwas dafür!) weltministerin Hendricks kämpfen in Brüssel dafür, dass Das ist doppelt so viel, wie sich die EU bis 2020 vorge- der Emissionshandel durch eine Reform wieder flottge- nommen hat. Nach aktuellen Prognosen – Frau Höhn hat macht wird. Dann werden umweltfreundliche Kraft- es erwähnt – werden wir ohne zusätzliche Anstrengun- werke wie zum Beispiel moderne Gaskraftwerke endlich gen aber nur 33 bis 35 Prozent erreichen; diesbezüglich wieder eine faire Chance auf den Märkten erhalten. Das gibt es unterschiedliche Meinungen bei den Experten. ist ganz wichtig zur Treibhausgasemissionsminderung. Um diese Lücke zu schließen – das zu der Frage, ob wir Wir setzen uns sogar an die Spitze der Bewegung für etwas dafür tun –, arbeiten wir gerade an einem „Ak- diesen Reformprozess und fordern diese Reform schon tionsprogramm Klimaschutz 2020“. Umweltministerin für einen Zeitraum vor 2020. Hendricks hat im April Eckpunkte dazu vorgelegt. Die Diskutieren müssen wir auch darüber – Sie haben an- Verabschiedung des Aktionsprogramms ist für Novem- geregt, dass wir diskutieren –, wie wir jetzt diese Reform (B) ber dieses Jahres geplant. machen, wie die Reform ganz konkret aussehen soll. (D) Darüber hinaus will die Bundesregierung 2016 einen Lassen Sie uns doch darüber sprechen! Ein Mindest- nationalen „Klimaschutzplan 2050“ verabschieden. Da- preis, wie die Grünen und die Linke ihn vorschlagen, ist rin sollen dann Zwischenziele für die Zeit nach 2020 meiner Meinung nach nicht der Schlüssel zu einem funk- zum Erreichen des langfristigen Klimaschutzziels, das ja tionierenden Emissionshandel. Der Vorschlag der Ein- sehr ehrgeizig ist – bis 2050 80 bis 95 Prozent Treib- führung einer sogenannten Marktstabilitätsreserve, der hausgasminderung –, enthalten sein. jetzt auf dem Tisch liegt, also automatisch ab einer be- stimmten Schwelle Zertifikate aus dem Markt zu neh- In den Eckpunkten zum Aktionsprogramm werden men oder auch wieder in den Markt zu geben, ist meiner für sämtliche relevanten Sektoren von der Energiewirt- Meinung nach eine gute Basis, auf der wir aufbauen schaft über die Industrie, den Verkehr, die Kreislaufwirt- können. schaft bis hin zur Landwirtschaft mögliche Maßnahmen aufgezeigt. In einem umfangreichen Dialogprozess wer- Sie sehen also: Wir handeln, und wir liegen auch in den diese jetzt gemeinsam mit allen betroffenen Ressorts unseren Absichten gar nicht so weit auseinander. Ob Kli- – das ist auch wichtig, dass alle Ressorts eingebunden maschutzgesetz oder „Aktionsprogramm Klimaschutz werden –, den Bundesländern und den Verbänden kon- 2020“ und „Klimaschutzplan 2050“: Das Einzige, was kret erarbeitet und festgelegt. Sie sehen, meine Damen meiner Meinung nach zählt, ist das Ergebnis. Das Wie, und Herren, die Bundesregierung handelt und schlägt also wie man dort hinkommt, ob über ein Gesetz oder ganz konkrete Klimaschutzmaßnahmen vor. ein Aktionsprogramm, sollte an dieser Stelle im Sinne der Sache nachrangig sein. (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Dr. Matthias Miersch [SPD]) (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber das eine hängt mit dem anderen zusam- Da die Energiewirtschaft der Sektor mit den höchsten men!) Treibhausgasemissionen und den größten Minderungs- Meine Damen und Herren, wir diskutieren heute über potenzialen ist, werde ich mich im Folgenden darauf Klimaschutzmaßnahmen in Deutschland, aber alleine konzentrieren. Das, was in diesem Bereich am meisten können wir die Welt nicht retten. Deshalb müssen wir zur Treibhausgasminderung beiträgt, sind der Ausbau den Klimaschutz auf europäischer und auf globaler der erneuerbaren Energien und der Kraft-Wärme-Kopp- Ebene weiter vorantreiben. lung, der Emissionshandel und die Steigerung der Ener- gieeffizienz, die auch im Sektor Industrie, Gewerbe, (Zurufe des Abg. Dr. [BÜND- Handel und Dienstleistungen eine große Rolle spielt. NIS 90/DIE GRÜNEN]) Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014 3359

Dr. Anja Weisgerber (A) Wie unsere Bundeskanzlerin gestern in ihrer Regie- (Dr. [CDU/CSU]: Ja, wo (C) rungserklärung sagte: Wir müssen alles daransetzen, denn?) dass Lima und dann Erfolge werden. Deshalb ist es wichtig, dass wir als europäische Staaten an einem trotz Euro-Krise und trotz internationaler Konflikte wei- Strang ziehen und gemeinsam mit ambitionierten Zielen ter über den Klimaschutz reden. Dieses wichtige Thema nach Paris fahren. Genau dafür setzt sich Deutschland darf nicht in den Hintergrund der öffentlichen Aufmerk- aktuell in Brüssel weiterhin mit aller Kraft ein wie auch samkeit rücken. für die Beibehaltung der bewährten Zieltrias. Dabei soll- (Beifall bei der LINKEN) ten wir die Bundeskanzlerin und die Umweltministerin bestärken, statt alles schlechtzureden, meine Damen und Die Diskussionen darüber, wie mehr effektiver Kli- Herren. maschutz ohne den Verlust von Arbeitsplätzen und ohne zu hohe Energiepreise zu schaffen ist, sind natürlich (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – nicht neu. Ich weiß sehr gut, wovon ich rede und wie Steffi Lemke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: dick die Bretter sind, die wir zu bohren haben. Seit Mitte Wir reden nichts schlecht!) der 90er-Jahre setze ich mich im Bundestag für nachhal- Wenn Deutschland und Europa weiterhin so ehrgeizig tiges Wirtschaften ein und werbe auf internationalen voranschreiten, dann könnte es gelingen, dass die ande- Konferenzen für globalen Klimaschutz. Der Antrag der ren Staaten außerhalb Europas von uns mitgerissen wer- Grünen geht aus unserer Sicht ganz klar in die richtige den und endlich auch mehr Verantwortung übernehmen. Richtung. Ich freue mich sehr darüber, dass in den letzten Tagen (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- positive Signale aus den USA kamen. US-Präsident NIS 90/DIE GRÜNEN) Obama hat eine für sein Land noch nie dagewesene Kli- marevolution angestoßen. Und Bundeskanzlerin Angela Bindende Verpflichtungen statt Klima-Wischiwaschi, Merkel hat angekündigt – das ist auch entscheidend –, genau das ist das Motto der Stunde. Denn wenn natio- Deutschland wird seine G-7- bzw. G-8-Präsidentschaft nale Ziele zur CO2-Reduktion per Gesetz festgeschrie- auch nutzen, um international dafür zu werben, dass wir ben werden und es zu Verstößen gegen definierte Klima- bei den Klimaverhandlungen wirklich vorankommen. zielzusagen kommt, sind die politisch Verantwortlichen Dies kann – Frau Höhn, Sie haben das schon einmal er- klar zum Handeln gezwungen. Dann können sie sich ge- wähnt – entscheidend dazu beitragen, dass die interna- rade nicht hinter reinen Absichtserklärungen verstecken, tionalen Klimaverhandlungen erfolgreich abgeschlossen über die sich die Kohlelobby bisher genüsslich hinweg- werden. Deshalb begrüße ich diese Ankündigung von gesetzt hat. Angela Merkel besonders. (B) Immer mehr Menschen begreifen, dass der Klima- (D) Meine Damen und Herren, die nächsten Monate wer- wandel bereits Tatsache ist. Das weiß übrigens auch die den entscheidend dafür sein, wie es mit dem Klima- Bundesregierung, die uns in ihrer Antwort auf eine schutz weitergeht. Die Wahrnehmung, die Sie von unse- Kleine Anfrage zu Klimaflüchtlingen bestätigt hat, dass rer Klimapolitik haben, ist nicht die gleiche wie die, die 2012 weltweit über 31 Millionen Klimavertriebene ge- die Welt von ihr hat. Das erkennt man auch an so man- zählt wurden. Über 31 Millionen! Tätig werden will man chen Aussagen. Zum Beispiel hat US-Präsident Obama im Kanzleramt aber nicht, etwa den rechtlichen Schutz- vor einigen Jahren an der Siegessäule hier in Berlin ge- status für Klimaflüchtlinge verbessern, so wie wir uns sagt, dass er die Treibhausgasminderung mit der glei- das wünschen. chen Ernsthaftigkeit angehen möchte wie wir Deut- (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) schen. Lassen Sie uns bei all den Unterschieden in den Details gemeinsam mutig voranschreiten, damit Aber nicht nur aus humanitären, sondern besonders Deutschland und Europa bei der Klimakonferenz in Pa- auch aus realwirtschaftlichen Gründen, die vor unserer ris der große Wurf gelingt! eigenen Haustür eine Rolle spielen, ist mehr Klima- schutz angesagt. Schenkt man dem Deutschen Institut Vielen Dank. für Wirtschaftsforschung Glauben, so kommen bei (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- „business as usual“ bis zum Jahr 2050 Folgekosten des neten der SPD) Klimawandels in Höhe von 800 Milliarden Euro auf un- sere Volkswirtschaft zu; das sind keine Peanuts. Allein Vizepräsident Johannes Singhammer: 300 Milliarden Euro davon entstehen übrigens durch er- Nächste Rednerin für die Linken ist die Kollegin Eva höhte Energiepreise, hier vor allem für private Haus- Bulling-Schröter. halte. Auch der jüngste Klimasachstandsbericht der Ver- einten Nationen kommt zu ähnlichen Ergebnissen. Die (Beifall bei der LINKEN) Entscheidung der Bundeskanzlerin, nicht zum Klimagip- fel der Regierungschefs nach New York zu fahren, halte Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE): ich da natürlich für ein Unding; ich denke, Sie auch. Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten Dass wir heute auf Antrag der Grünen über Klimaschutz des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) sprechen, ist gut und richtig. Es ist wichtig, dass wir trotz zunehmender sozialer Verwerfungen in Deutsch- Wer über Klimaschutz redet, der muss natürlich auch land, über Energie reden. Weltweit ist die Energiegewinnung 3360 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014

Eva Bulling-Schröter

(A) für zwei Drittel der CO2-Emissionen verantwortlich. In zeichnen waren. Gerade auf europäischer Ebene haben (C) Deutschland kommt weiterhin fast jede zweite Kilowatt- wir den Klimaschutz eher blockiert als vorangetrieben. stunde aus Braun- und Steinkohle. Die Energiewende ist Das führt mich zum Jahr 2015. Es wird Sie nicht ver- die beste Medizin gegen den voranschreitenden Klima- wundern, dass ich finde, dass wir gerade dabei sind, zu wandel. Allein durch den Ausbau der Energie aus Wind, einer konsolidierten deutschen Klimaschutzpolitik zu- Sonne und Biogas konnten für das Jahr 2012 über rückzufinden. Dafür will ich hier der Ministerin Barbara 145 Millionen Tonnen CO eingespart werden. Fast ein 2 Hendricks ausdrücklich danken, die jetzt bei den Ver- Drittel des Bruttoenergieverbrauchs stammt heute aus handlungen in Bonn ist. erneuerbaren Energien. Hunderttausende Arbeitsplätze werden in dieser Branche gesichert. Investitionen in Mil- (Beifall bei der SPD) liardenhöhe sorgen für ökologischen Wohlstand. Das war im Übrigen auch dringend notwendig – zu- Wer es mit dem Klimaschutz also ernst meint, der mindest aus zweierlei Gründen: muss den Ausstieg aus den fossilen Energieträgern ganz Erstens ist eine konsolidierte deutsche Klimaschutz- oben auf die Agenda setzen. politik aufgrund der Erkenntnisse des Weltklimarats not- (Beifall bei der LINKEN) wendig: Der Klimawandel schreitet voran, er ist men- schengemacht, er bringt Not und Elend über viele Die Linke hat dazu einen Antrag zu einem Kohleaus- Menschen und Regionen auf der Welt, und – das ist die stiegsgesetz vorbereitet; denn nur über eine saubere vierte und vielleicht wichtigste Erkenntnis – wir können Energieversorgung ist echter Klimaschutz möglich – sei zu relativ überschaubaren Preisen etwas dagegen tun. es in Brandenburg oder in Nordrhein-Westfalen. Deshalb müssen wir handeln. Danke. Zweitens ist es notwendig, zu einer konsolidierten (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten deutschen Klimaschutzpolitik zu kommen, weil es ent- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) gegen einer Fehlwahrnehmung, der wir, glaube ich, auch in der Öffentlichkeit in Deutschland unterliegen, sehr wohl Veränderungen auf der Welt gibt. Das bildet sich Vizepräsidentin : noch nicht immer in internationalen Prozessen ab. Noch Als nächster Redner hat Frank Schwabe von der SPD verpflichten sich in den internationalen Verträgen nicht das Wort. genügend Länder zu einer ambitionierten Klimaschutz- (Beifall bei der SPD – Bärbel Höhn [BÜND- politik, aber in den Ländern geschieht eine ganze NIS 90/DIE GRÜNEN]: Jetzt sag mal was Menge, zum Beispiel beim Ausbau der erneuerbaren (B) zum EEG!) Energien – übrigens orientiert an der Bundesrepublik (D) Deutschland. Die Kollegin Baerbock, die Vizepräsiden- tin und meine Wenigkeit reisen gleich zu einer Konfe- Frank Schwabe (SPD): renz nach Mexiko City. Dort werden wir die deutsche Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Politik im Bereich der erneuerbaren Energien internatio- Vielen lieben Dank an die Grünen – zum einen für die nal präsentieren. Andere Länder haben sich in den letz- Fleißarbeit, ten Jahren schon daran orientiert und werden das, glaube (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ich, auch in den nächsten Jahren tun. sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Wir sehen zum Beispiel auch in China enorme Verän- was ja auch hilfreich für weitere Beratungen ist, und derungen. Es gibt gerade Hinweise darauf, dass im zum anderen dafür, dass wir hier noch einmal über die nächsten Fünfjahresplan ab 2016 feste Treibhausgas- Klimaschutzpolitik in Deutschland und darüber hinaus obergrenzen – das wäre eine Revolution – für China fest- resümieren und auch ausblicken können. gelegt werden sollen. Wer das Land ein bisschen kennt, der weiß, dass das Thema „Umwelt und Auswirkungen Wenn man sich die Phasen der Klimaschutzpolitik an- von Umweltverschmutzung“ eines der zentralen The- guckt – ich rede jetzt nur von diesem Jahrhundert –, men, wenn nicht sogar das zentrale Thema, in der Volks- dann kann man, glaube ich, feststellen, dass die Klima- republik China ist. schutzpolitik zum Anfang dieses Jahrhunderts sehr enga- giert war. Die Hochphase lag zwischen 2003 und 2008, Über die USA ist ja gerade schon gesprochen worden. die sicherlich auch durch neue Erkenntnisse angeheizt Mit dem, was Obama jetzt vorgelegt hat, hat er nur ein wurde, die wir auf internationaler Ebene über die Aus- Versprechen eingelöst, das er der Weltgemeinschaft ge- wirkungen des Klimawandels gewonnen hatten. geben hat. Das ist hochinteressant. Ich komme gleich noch auf einzelne Maßnahmen zu sprechen. Ich muss leider sagen, dass in den Jahren 2009 bis 2013 – das kann der Koalitionspartner ja auf die FDP Klimaschutz ist nicht nur eine Frage des Umwelt- schieben – schutzes, sondern auch eine Frage der Technologiefüh- rerschaft. Wenn man sich die Kommentare zu dem an- (Steffi Lemke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- guckt, was Obama jetzt angestoßen hat, dann sieht man, NEN]: Nein, kann er nicht!) dass Technologieführerschaft ein wichtiges Thema ist. auf diesem Gebiet nicht sehr viel passiert ist, sondern Es ist auch die Frage, welche Rolle ein Land interna- – diesen Eindruck habe ich – eher Rückschritte zu ver- tional spielen will und spielen kann. Deswegen will ich Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014 3361

Frank Schwabe (A) die Frau Bundeskanzlerin an einer Stelle ein bisschen ich nenne das einmal Meseberg II –, um in diesem Jahr (C) kritisieren: Ich jedenfalls habe nicht verstanden – viel- wirklich zu konkreten Veränderungen und Verbesserun- leicht erklärt sie es noch einmal –, warum sie nicht an gen zu kommen. dem Ban-Ki-moon-Gipfel in New York teilnimmt. (Dr. Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE (Beifall des Abg. Dr. Anton Hofreiter [BÜND- GRÜNEN]: Was ist denn ein „mittelfristiges NIS 90/DIE GRÜNEN]) Sofortprogramm“? Erkläre uns das bitte!) Ich will sie aber ausdrücklich dafür loben, dass sie ge- Ich will ausdrücklich die Kollegin Weisgerber unterstüt- sagt hat, sie werde das Thema Klimaschutz – das ist zen: All das ist nicht die Aufgabe einer Ministerin. Nicht nicht das erste Mal – zu einem zentralen Thema der G-8- nur eine Ministerin ist für Klimaschutz zuständig, oder G-7-Präsidentschaft – was auch immer es ist – ma- chen. Es ist richtig und gut, dass dort entsprechender (Annalena Baerbock [BÜNDNIS 90/DIE Druck aufgebaut wird. GRÜNEN]: Nein, die ganze Bundesregie- rung!) (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU) sondern es ist die Aufgabe aller Ministerien, hierzu ihren Beitrag zu leisten. Es ist gut und richtig, dass diese Bundesregierung mit der Ministerin an der Spitze in wenigen Wochen und (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Monaten zwei Dinge erreicht hat: Erstens. Wir sind in der CDU/CSU) der EU wieder zu einem eher führenden Land in Sachen Klimaschutz geworden. Zweitens. Deutschland macht Dabei wäre die Unterstützung des ganzen Hauses sinn- sich ehrlich in der Frage: Wie weit sind wir im Bereich voll. des Klimaschutzes hinsichtlich der Zielerreichung? (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Zur Europäischen Union. Es sind nur wenige Tage Die anderen Minister dürfen das nicht konter- vergangen, bis es Deutschland – auch dank der guten karieren!) Absprachen zwischen Ministerin Hendricks und Minis- Es soll ein Klimaschutzgesetz geben – man könnte es ter Gabriel – gelungen ist, auf europäischer Ebene beim auch „Klimaschutz mit Gesetzescharakter“ nennen –, Thema Emissionshandelsreform und hinsichtlich der weil wir eben wissen müssen – ich glaube, das ist der Ziele für das Jahr 2030 zu guten Regelungen und Posi- Kardinalfehler der letzten Jahre gewesen –: Wo stehen tionen zu kommen. wir eigentlich bei der Zielerreichung? Ambitionierte (B) Es gibt innerhalb der Europäischen Union drei Ziele Ziele haben wir uns gegeben, aber bei der Zielerreichung (D) – das jedenfalls ist die Position der Bundesrepublik wird es kompliziert. Deswegen sage ich: Wir brauchen so etwas wie ein KEÜG. Eigentlich brauchen wir kein Deutschland – für das Jahr 2030: Die CO2-Reduktion soll mindestens 40 Prozent betragen. Der Anteil der er- Klimaschutzgesetz, sondern ein Klimaschutz-Errei- neuerbaren Energien soll bei 30 Prozent liegen. Die chungs-Überprüfungs-Gesetz. Mit einem solchen Gesetz Energieeffizienz – ich finde, der diesbezügliche Vor- wissen wir immer: Wo stehen wir gerade? Da lobe ich schlag der Unionsfraktion ist sehr gut und sollte von der noch einmal die grüne Fraktion: Das, was von ihr vorge- Bundesregierung aufgegriffen werden – soll bis zum legt wurde, ist zumindest eine Möglichkeit, sich in den Jahr 2030 um 40 Prozent verbessert werden. Ohne Zwei- nächsten Monaten in die lebendige Debatte einzubrin- fel – das kann wohl niemand bestreiten – sind wir damit gen. wieder am progressiven Ende der Europäischen Union Vor einer Debatte werden wir uns alle nicht drücken angelangt. All das wurde auf europäischer Ebene er- können – das will ich hier ganz offen sagen –: Wenn wir reicht. das Ziel, die CO2-Emissionen in Deutschland um min- Was wurde in Deutschland erreicht? Deutschland destens 40 Prozent zu reduzieren, ernst nehmen, dann macht sich ehrlich, habe ich gerade gesagt. Wir alle ge- müssen wir sehen, dass die Hälfte davon über den Emis- meinsam haben hier im Deutschen Bundestag bezüglich sionshandel erreicht werden müsste, im Bereich der der CO2-Reduktion ein 40-Prozent-Ziel beschlossen. Es Kraftwerke und im Bereich der Industrie. Ich will aus- ist gerade schon festgestellt worden: Wir sind noch drücklich sagen, dass dies innerhalb der SPD noch nicht längst nicht dabei, dieses Ziel zu erreichen, sondern wir ausdiskutiert ist. Aber es ist wohl klar – das müssen wir liegen bei 33 Prozent, vielleicht noch weniger. alle feststellen –: Der Emissionshandel sendet im Mo- ment nicht ausreichend Signale, um dieses Ziel zu errei- Leider ist es so, dass es seit dem Meseberger Pro- chen. gramm von 2007 kein vernünftiges Programm mehr ge- geben hat, um sich der Herausforderung des Klimaschut- Aus meiner Sicht gibt es hier, wenn wir ehrlich damit zes umfassend zu stellen. Deswegen ist es richtig, dass umgehen, vier Möglichkeiten: die Ministerin deutlich gemacht hat: Es soll – ich will es einmal so nennen – ein mittelfristiges Sofortprogramm Die erste Möglichkeit ist: Wir werden das 40-Prozent- bis zum Ende des Jahres geben – Ziel nicht erreichen. Ein Scheitern wollen wir aber ver- hindern; darin sind wir uns einig. Wir haben im Deut- (Lachen bei Abgeordneten des BÜNDNIS- schen Bundestag festgelegt, dass wir dieses Ziel errei- SES 90/DIE GRÜNEN) chen wollen. 3362 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014

Frank Schwabe (A) Die zweite Möglichkeit ist: Wir müssen in den Berei- ven Betriebe im nächsten Jahr nicht mehr greift. Daher (C) chen, die der Emissionshandel nicht umfasst, mehr leis- haben wir uns zunächst auf das EEG konzentriert. ten, also im Verkehrsbereich oder im Landwirtschafts- bereich. Ich glaube, wir wissen alle: Es ist ziemlich Vor genau drei Jahren, nämlich am 6. Juni 2011, ha- unrealistisch, das zu erreichen. ben wir eine Energiewende beschlossen. Bei dieser Energiewende geht es eben nicht nur um die Steigerung Die dritte Möglichkeit ist, dass wir den Emissions- des Anteils der erneuerbaren Energien an der deutschen handel in der Tat wieder flottmachen. Dafür bleibt aber Stromversorgung. Insoweit liegen Sie mit dem Thema nicht viel Zeit. Das können wir nicht auf den Sankt-Nim- Ihres Antrags absolut richtig. Das unterstreicht aber auch merleins-Tag verschieben. Möglicherweise können wir schon der Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und ihn auch dadurch flottmachen, dass wir auf nationaler SPD, Ebene komplementäre Maßnahmen, wie ich es einmal nennen will, ergreifen. (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Eben nicht!) Die vierte Möglichkeit wäre, dass wir zu der Auffas- sung kommen, der Emissionshandel reicht nicht als Re- der die Verbesserung der Energieeffizienz als zweite gulierungsinstrument, sondern wir müssen uns auch der wichtige Säule für den Umbau der Energieversorgung in Frage des Kraftwerksparks widmen. Dann werden wir Deutschland beschreibt. Dabei brauchen wir einen sek- über das diskutieren müssen, was gerade in den USA im torübergreifenden Ansatz, der Gebäude, Industrie, Ver- Bereich der Effizienzziele gemacht wird. kehr, Gewerbe und private Haushalte gleichermaßen umfasst. Wenn wir das alles nicht tun und die Dinge einfach laufen lassen, dann werden wir am Ende die Ziele ver- Außerdem müssen wir Strom, Wärme und Kälte fehlen. ebenfalls in den Blick nehmen, und zwar gemeinsam. Daher haben wir bereits konkrete Ziele im Koalitions- Liebe Kolleginnen und Kollegen, den Kopf in den vertrag festgelegt, die Sie ganz offensichtlich unterstüt- Sand zu stecken, wird nicht funktionieren. Das ist keine zen. Denn bei genauem Lesen Ihres Antrags fällt auf, Lösung. Wenn man mit Menschen aus allen Teilen der dass Sie viele unserer Forderungen in Ihren Antrag auf- Welt spricht – das werden wir ja in den nächsten Tagen genommen haben. wieder tun –, dann merkt man, welche dramatischen Auswirkungen der Klimawandel hat und welche Verant- (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- wortung wir haben. Wir haben die Lösungsmöglichkei- NEN]: Das ist doch wunderbar! Dann machen ten durchaus in der Hand, um anders zu wirtschaften und wir das doch!) Energie auf andere Weise zu produzieren. Es ist unsere (B) (D) Verantwortung, das wahrzunehmen, und das sollten wir Wenn ich daraus den Schluss ziehen darf, dass Sie uns im deutschen Parlament gemeinsam tun. bei der Umsetzung dieser Ziele tatkräftig unterstützen, würde mich das sehr freuen; im Interesse der Sache wäre Vielen herzlichen Dank. es übrigens auch geboten. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der CDU/CSU) der CDU/CSU und der Abg. Caren Lay [DIE LINKE]) Lassen Sie mich daher einige Punkte aus dem Koali- tionsvertrag nennen. Wir wollen einen Nationalen Ak- tionsplan Energieeffizienz vorlegen, und zwar in der Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: zweiten Jahreshälfte. Wir wollen die KfW-Programme Als nächste Rednerin hat Herlind Gundelach von der aufstocken, verstetigen und vereinfachen. Wir wollen CDU/CSU das Wort. eine unabhängige Energieberatung fördern und kosten- (Beifall bei der CDU/CSU) lose Energieberatung für Haushalte mit niedrigen Ein- kommen ausbauen. Wir wollen auf europäischer Ebene Dr. Herlind Gundelach (CDU/CSU): anspruchsvolle Standards durchsetzen und gegebenen- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! falls in dem einen oder anderen Punkt Forerunner sein, Wir debattieren heute neben dem Gesetzentwurf von und wir brauchen eine bessere Kennzeichnung von Pro- Bündnis 90/Die Grünen zur Etablierung eines Klima- dukten. schutzgesetzes, zu dem meine Kollegin Weisgerber (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und schon ausführlich Stellung genommen hat, erneut einen der SPD) Antrag der Grünen zur Energieeffizienz. Neben dem Ausbau der erneuerbaren Energien, den wir mit der No- Was mich dann allerdings doch wieder etwas nach- velle des EEG auf stabile Füße stellen, zählt die Energie- denklich stimmt, ist die Tatsache, dass Sie uns Untätig- effizienz zweifellos zu den tragenden Säulen der Ener- keit unterstellen, nur weil die konkreten Vorschläge den giewende. Dessen sind sich die Bundesregierung und die Bundestag noch nicht erreicht haben. Den Grund dafür sie tragenden Fraktionen wohl bewusst. habe ich Ihnen schon erklärt. Wir haben uns entschieden, sorgfältig vorzugehen und keine Schnellschüsse ins Derzeit stehen wir aber aufgrund des Beihilfeverfah- Land abzufeuern. rens unter dem Zugzwang, die EEG-Novelle bis zur Sommerpause verabschiedet zu haben, weil sonst die (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Besondere Ausgleichsregelung für die energieintensi- NEN]: Das höre ich seit acht Jahren!) Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014 3363

Dr. Herlind Gundelach (A) Ich kann Ihnen aber versichern, dass sowohl in der Mit Sorge sehe ich aber die von der EU-Richtlinie (C) Regierung als auch in den Fraktionen bereits seit vielen vorgesehenen Energieeffizienzverpflichtungssysteme. Hier Monaten an Ideen gearbeitet wird; wir werden sie in den verfolgen wir ausdrücklich einen anderen Ansatz und nächsten Monaten und Jahren hier sicherlich intensiv de- setzen auf Anreize, Beratung und Förderung; denn staat- battieren. licher Zwang bringt gerade an den Stellen, wo Eigentum und persönliches Handeln tangiert sind, in der Regel we- Nun aber zur Umsetzung der EU-Energieeffizienz- nig, wie wir in den letzten Jahren bei vielen Projekten richtlinie: Ich finde, Sie zeichnen in Ihrem Antrag ein deutlich erfahren mussten. Ganz im Gegenteil: Die Men- sehr dramatisches Bild und verzerren damit die Realität. schen suchen nach Auswegen, um die Maßnahmen nicht Die EU-Energieeffizienzrichtlinie ist am 4. Dezember durchführen zu müssen, oder sie verschieben sie auf der 2012 in Kraft getreten, und sie soll von den Mitglied- Zeitachse. Auch bürokratische Monster, wie sie in Ihrem staaten bis zum Juni dieses Jahres umgesetzt werden. Antrag durchschimmern, sind der Effizienz in der Regel (Dr. Julia Verlinden [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- nicht förderlich. NEN]: Bis heute! – Oliver Krischer [BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN]: Genau heute!) Effizienzfortschritte und Effizienzsteigerungen sind auf eine gut ausgebaute Forschungslandschaft angewie- – Genau. – Die Frist ist aus meiner Sicht sehr ambitio- sen. Daher ist es notwendig, dass die Forschungsgelder niert. im Bereich der Energieeffizienz weiterhin auf dem ho- hen Niveau gehalten werden, auf dem sie sich befinden. (Dr. Julia Verlinden [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Ich plädiere sogar ausdrücklich dafür, sie zu steigern. In NEN]: Sie haben doch zugestimmt!) diesem Zusammenhang ist es auch notwendig, dafür zu So haben beileibe noch nicht alle Länder die Richtlinie sorgen, dass in Deutschland endlich die Forschungsleis- vollständig umgesetzt. Wir stehen da nicht alleine. tungen von Unternehmen steuerlich geltend gemacht werden können. (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Das ist doch wohl ein Witz!) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Hinzu kommen bei uns – ich denke, das muss man auch Wir alle wissen, dass gerade im privaten Bereich noch ins Kalkül ziehen – eine Bundestagswahl und eine Re- erhebliche Effizienzen zu stemmen sind. Smart Grid und gierungsneubildung mit sorgfältigen Koalitionsverhand- Smart Metering bergen hier große Potenziale; denn mit lungen, die ebenfalls Zeit beansprucht haben. ihnen kann der Energieeinsatz auch im privaten Bereich (Dr. Julia Verlinden [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- optimal gestaltet werden. Auf die energetische Gebäude- (B) NEN]: Das passiert in anderen Ländern auch!) sanierung ist meine Kollegin schon eingegangen; ich (D) kann das nur noch nachträglich unterstützen. Glückli- Es ist außerdem gut nachvollziehbar, dass der neue cherweise haben wir in Deutschland bereits gut funktio- Minister in dem von ihm vorzulegenden Maßnahmenka- nierende Strukturen im Energiedienstleistungsmarkt. talog seine Handschrift wiederfinden will. Im Übrigen Auch diese müssen wir nutzen und mit Vernunft und Au- – das übersehen Sie völlig – sind Teile der Energieeffi- genmaß an die Sache herangehen. zienzrichtlinie bei uns schon geltendes Recht. So sind die Artikel 9 bis 11 beispielsweise weitestgehend umge- Vernunft und Augenmaß, das wiederum führt mich setzt. zurück zu Ihrem Antrag. Wie bereits gesagt: Sie spre- chen zum Teil durchaus sinnvolle Maßnahmen an und Außerdem stimmt es nicht, dass Deutschland bei sei- haben marktwirtschaftliche Ansätze, was bei Ihnen nor- nen Reduktionszielen und Effizienzzielen weit hinter- malerweise nicht so häufig vorkommt. Dennoch bietet herhinkt. So steigern wir seit 1990 die Endenergiepro- Ihr Antrag auch blanken Aktionismus, nach dem Motto duktivität jährlich um ungefähr 1,8 Prozent. Wir haben „Viel hilft viel“. Aber das ist bei der Förderung der Ener- kontinuierlich unsere Ausgaben für die Förderung der gieeffizienz so nicht immer richtig. Betrachtet man bei- Energieeffizienz beispielsweise im Gebäudebereich auf- spielsweise die deutschen Förderprogramme, dann stellt gestockt und verstetigt. Wir haben noch nie zuvor so viel man fest: Hier gibt es für die Bürgerinnen und Bürger in- Geld für die Förderung der energetischen Gebäudesanie- zwischen eine so große Bandbreite, dass viele die Förde- rung ausgegeben wie heute. Aber ich stimme Ihnen zu: rung gar nicht mehr durchschauen und deswegen gar Man kann noch mehr tun, und wir werden auch noch nichts machen. Das kann auch nicht Sinn der Übung mehr tun. sein; denn mehr Geld bringt nichts, wenn es nicht abge- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) rufen wird. Ich mache nun seit über 25 Jahren Umwelt- und Ener- Hingegen unterstütze ich Ihre Forderung nach mehr giepolitik. Für viele Fachleute ist Energieeffizienz schon Informations- und Aufklärungsarbeit. Wir haben bereits immer ein schlafender Riese gewesen. im Koalitionsvertrag festgeschrieben, dass wir die unab- (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- hängige Energieberatung fördern werden und die kosten- NEN]: Sie lassen ihn weiter schlafen!) lose Energieberatung für Haushalte mit niedrigen Ein- kommen ausbauen möchten; denn es ist uns allen doch Deshalb bin ich froh, dass dieses Thema endlich die Öf- bewusst, dass der Rebound-Effekt eines unserer größten fentlichkeit erreicht hat und entsprechende Aufmerk- Probleme ist. Dem können wir nur durch gute Informa- samkeit vorhanden ist. tionsarbeit begegnen. 3364 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014

Dr. Herlind Gundelach (A) Liebe Kolleginnen und Kollegen, Energieeffizienz ist deswegen gemeinsam mit vielen Expertinnen und Ex- (C) kosteneffektiv, verbessert die Energieversorgungssicher- perten eine Aufstockung auf 5 Milliarden Euro. heit und hilft, Emissionen zu senken. Deshalb kann Energieeffizienz in mancherlei Hinsicht als Europas (Beifall bei der LINKEN) größte Energieressource betrachtet werden. Ich lade Sie Wir können das Thema Klimawandel und das Thema gerne ein, gemeinsam mit uns an diesem Projekt zu ar- energetische Gebäudesanierung nur anpacken, wenn wir beiten, allerdings realistisch, innovationsoffen und nicht auch Menschen mit geringem Einkommen mitnehmen. ideologisch. Deswegen sagen wir als Linke ganz klar: Der Heizkos- Herzlichen Dank. tenzuschuss beim Wohngeld muss wieder eingeführt werden. Schwarz-Gelb hat ihn in der letzten Legislatur (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- mit der abenteuerlichen Begründung abgeschafft, die neten der SPD) Heizkosten seien gesunken. Schauen Sie sich einmal Ihre eigenen Zahlen an! Auf meine Anfrage zu dem Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Thema wurde geantwortet, sie seien in fünf Jahren um Als nächste Rednerin hat die Kollegin Caren Lay das fast 24 Prozent gestiegen. Wenn wir den Heizkostenzu- Wort. schuss beim Wohngeld wieder einführen, dann müssen wir eine Klimakomponente hinzufügen; denn mit einer (Beifall bei der LINKEN) solchen Klimakomponente bekommen wir eine Gebäu- desanierung hin, die ökologisch und sozial ist. Caren Lay (DIE LINKE): (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Christian Kühn [Tübingen] [BÜNDNIS 90/ Herren! Wenn wir es mit dem Klimaschutz ernst meinen, DIE GRÜNEN]) dann müssen wir heute auch über das Thema der energe- tischen Gebäudesanierung sprechen; denn die energeti- Wenn wir über Klimaschutz reden, dann sollten wir in sche Gebäudesanierung – das wissen viele – ist der un- der Tat auch über das aktuelle Thema EEG-Umlage und gehobene Schatz beim Thema Energieeinsparung. Industrieprivilegien sprechen. Frau Kollegin Gundelach, ich weiß nicht, ob ich Sie richtig verstanden habe, als Sie (Beifall bei der LINKEN) gesagt haben, man dürfe hier keine Schnellschüsse ma- Hier fällt fast ein Drittel der Treibhausgase an. Das chen; denn die EEG-Novelle, die der Minister vorgelegt heißt, wir müssen das Tempo bei der Sanierung anzie- hat, ist ein solcher Schnellschuss. hen, vor allen Dingen beim Bestand. Wenn wir die Kli- Kommen wir zum Thema Industrieprivilegien. In der (B) maschutzziele erreichen wollen, dann müssen doppelt so derzeitigen Form sind und bleiben die Industrieprivile- (D) viele Häuser saniert werden, wie es derzeit der Fall ist. gien eine Einladung zur Energieverschwendung. Das Das ist die eine Seite. dürfen wir überhaupt nicht mitmachen, wenn wir es mit (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten dem Klimaschutz ernst meinen. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der LINKEN) Die andere Frage ist, wer das Ganze bezahlen soll. In Es ist gestern in der Anhörung klar geworden: Die Ef- der gegenwärtigen Situation tragen die Kosten dafür fast fizienzkriterien sind viel zu schwach. Wir sagen: Wir ausschließlich die Mieterinnen und Mieter. Modernisie- wollen eine deutliche Reduzierung der Industrieprivile- rung – das wissen Sie – ist eine der zentralen Ursachen gien, und wir wollen Privilegien nur dort, wo wirklich für die Vertreibung aus den Innenstädten, weil sich die verbindliche, klare und anspruchsvolle Einsparpläne Menschen ihre Wohnung nicht mehr leisten können. vorliegen. Ansonsten können diese Privilegien der Groß- Wenn Sie die Zeitung aufschlagen, dann finden Sie Bei- industrie überhaupt nicht gewährt werden. spiele hier aus der Nähe. In Berlin-Prenzlauer Berg soll ein Haus saniert werden. Die Mieterinnen und Mieter (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN und sollen nachher fast eine Verdreifachung ihrer Mieten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) hinnehmen. So etwas müssen wir unterbinden. Die EEG-Novelle geht insgesamt in die völlig falsche (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten Richtung. Der Ausbaudeckel für die erneuerbaren Ener- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) gien, die Direktvermarktung, die Ausschreibungspflicht – das alles wird die erneuerbaren Energien ausbremsen. Deswegen brauchen wir zum einen eine wirkliche Das alles ist dem Klimaschutz überhaupt nicht förder- Änderung der Modernisierungsumlage für Mieterinnen lich. Wir müssen alles tun, um dieses EEG zu ändern. und Mieter. Es muss sich auch die öffentliche Hand an Das Beste wäre, Sie zögen diese Novelle zurück; denn diesen Kosten beteiligen. Dafür brauchen wir eine an- mit dieser Novelle gehen Sie in die völlig falsche Rich- dere Finanzierung. Wenn wir uns die Lücke ansehen, die tung. Das Gegenteil wäre richtig. Wir müssen alles tun, zwischen den Kosten der Sanierung auf der einen Seite um die erneuerbaren Energien zu fördern, damit wir und den Einsparungen bei den Heizkosten auf der ande- schnellstmöglich aus Kohle- und Atomenergie heraus- ren Seite besteht, dann stellen wir fest, dass es sich um kommen. einen Betrag von 5 bis 9 Milliarden Euro handelt. Das heißt, dass das Gebäudesanierungsprogramm mit 1,5 Mil- (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- liarden Euro viel zu niedrig angesetzt ist. Wir fordern neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014 3365

Caren Lay (A) Carsten Müller [Braunschweig] [CDU/CSU]: gierung verabschiedet wird, werden solche Systeme (C) Dann kann die Linke in Brandenburg ja schon kommen. mal anfangen!) Man sieht daran: Das ist eine Neuauflage von Ener- Klimaschutz ist keine Ökospinnerei, er ist auch kein gieeffizienzpolitik, wie sie mit dem Regierungswechsel Hippiethema, er ist für viele Menschen schon jetzt eine möglich wird. Ich denke, wir sollten das als ersten knallharte Existenzfrage. Deswegen müssen wir uns Schritt in diese Richtung anerkennen und die nächsten deutlich mehr anstrengen. Das geht nicht so nebenbei Schritte in diesem Sinne entschlossen vollziehen. nach dem Motto „Noch 148 Mails checken und dann mal schnell die Welt retten“. Hier müssen wir deutlich (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten mehr tun. Deswegen unterstützen wir diese Anträge. Ich der CDU/CSU) freue mich auf die weitere Debatte zum Klimaschutz und auch zum EEG. Klar ist auch – das sieht man auch an den von mir ge- rade erwähnten Punkten –, dass wir keine Erkenntnis- Vielen Dank. lücken haben. Uns allen ist klar, dass wir unsere Energie- effizienzziele nicht infrage stellen dürfen, auch wenn wir (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. uns darüber bewusst sind, dass es in diesem Zusammen- Christian Kühn [Tübingen] [BÜNDNIS 90/ hang Umsetzungslücken gibt. Selbst wenn die Umset- DIE GRÜNEN]) zungslücken schwierig zu schließen sind, so ist trotzdem eindeutig, dass das Ganze eine Herausforderung und Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: keine Offenbarung ist, dass wir diese Aufgabe einfach Als nächste Rednerin hat die Kollegin Nina Scheer zu bewältigen haben. Ich denke, das werden wir hier das Wort. nicht infrage stellen. Von meiner Seite wird das jeden- falls nicht geschehen. Damit spreche ich mit Sicherheit (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten auch für die Bundesregierung, unsere Koalition und für der CDU/CSU) meine Fraktion.

Dr. Nina Scheer (SPD): (Dr. Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine lieben Kolle- NEN]: Da wäre ich mir nicht so sicher!) ginnen und Kollegen! Es ist gut, dass uns der Antrag der Ein kurzer Überblick: Seit den 90er-Jahren ist durch Grünen „Die Energiewende durch Energieeffizienz Studien belegt, welche Handlungsaufforderungen an uns voranbringen – EU-Energieeffizienzrichtlinie unverzüg- formuliert sind. Es gibt Studien über Studien – etwa vom (B) lich umsetzen“ nun vorliegt, da darin Handlungsbedarfe Wuppertal-Institut für Klima, Umwelt, Energie; neuere (D) angesprochen werden, wodurch wir alle aufgefordert Studien stammen von der Agora Energiewende –, die werden, tätig zu werden. nachweisen, welche Effizienzmaßnahmen wir ergreifen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN müssen bzw. inwieweit wir die Energieeffizienz steigern sowie bei Abgeordneten der SPD, der CDU/ und Ressourcen schonen müssen, um unsere Klima- CSU und der LINKEN) schutzziele zu erreichen. Ich möchte voranschicken, dass die im Antrag enthal- Insofern gibt es kein Erkenntnisdefizit. tene Unterstellung, die Regierung sei untätig bzw. auf diesem Gebiet sei noch nichts passiert, so nicht zutrifft. (Dr. Julia Verlinden [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Wir wissen alle – darauf hat auch die Kollegin NEN]: Aber ein Handlungsdefizit!) Gundelach hingewiesen –, dass ein Regierungswechsel – Es ist ein Handlungsdefizit; das habe ich eingestanden. – stattgefunden hat, dass gewisse Neuordnungen in den Ich denke schon, dass es wichtig ist, sich deutlich zu ma- Ministerien stattfinden mussten und dass wir mit der chen, was für Schritte man nun zu gehen hat. Zwar ist EEG-Novelle derzeit ein großes Projekt zu bewältigen schnell von einem Handlungsdefizit gesprochen; damit haben. ist aber noch keine Zielerreichung in Sicht, und man hat (Dr. Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE damit noch keine Umsetzungsschritte definiert. GRÜNEN]: Das ist genau das Gegenteil von Klimaschutz!) Wichtig ist also, dass wir uns noch einmal vergegen- wärtigen, was die Chancen von Energieeffizienz- Insofern ist vielleicht erwähnenswert, dass selbst in maßnahmen sind. Häufig wird darüber folgendermaßen der EEG-Novelle im Kontext der Besonderen Aus- diskutiert: Verzicht tut weh, Verzicht ist nichts Schönes. gleichsregelung ein Passus enthalten ist, der zwar nicht Dass Energieeinsparmaßnahmen natürlich einen Benefit im Sinne der Umsetzung der Energieeffizienzrichtlinie für die Gesellschaft bedeuten, dass Energieeinsparmaß- zu werten ist – so ist es in der Begründung auch nicht nahmen in den Wertschöpfungskreisläufen und mit Blick dargestellt –, der aber sehr wohl anklingen lässt, dass auf die Ressourcenschonung langfristig ein Benefit sind, Energieeffizienzbemühungen ernsthaft aufgegriffen wer- muss uns noch stärker bewusst werden. Ein typisches den. In dieser Novelle ist zum ersten Mal die Einführung Phänomen von Langfristpolitiken, wie ich sie gerne von vollwertigen Energie- und Umweltmanagementsys- nenne, ist, dass sie, anders als kurzfristige Maßnahmen, temen verbindlich verankert, so wie es der Antrag der erst langfristig effektiv sind; erst die langfristig erzielten Grünen verlangt. Wenn der Gesetzentwurf der Bundesre- Benefits verschaffen uns Erfolge. 3366 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014

Dr. Nina Scheer (A) Grundsätzlich sind die damit verbundenen politischen Zum Schluss noch ganz kurz: Eine sehr große He- (C) Herausforderungen nicht so einfach zu bewältigen, weil rausforderung – das ist ein alter Hut; aber die Frage, wie die Umsetzung der Maßnahmen kurzfristig manchmal wir damit umgehen, ist nach wie vor ungelöst – ist der unbequem ist. Sich unbequeme Maßnahmen vorzuneh- Rebound-Effekt. Wir alle wissen: Nach Energieeinspar- men, ist in der Vergangenheit unzulänglich geschehen. erfolgen kommt es meist zu einem gesteigerten Aber ich denke, wir haben mit den Beispielen, die ge- Verbrauch. Ganz klar muss sein, dass es hier eine Ausge- nannt wurden, die ersten Schritte dargelegt, woraus man wogenheit geben muss zwischen Energiepreisen und erkennen kann, dass das ernsthaft aufgegriffen wird. Energieeffizienzgewinnen. Die Effekte der beiden Kom- Klar ist auch, dass mit Energieeffizienzmaßnahmen ponenten müssen sich die Waage halten, müssen sich eine soziale Aufgabe wahrgenommen wird. Sie vermin- ausgleichen, sodass sich als Endwirkung von Energie- dern das Risiko von Energiearmut. Es ist natürlich auch einsparmaßnahmen und –effizienzmaßnahmen tatsäch- klar, dass der Weg hin zu einem vollständigen Umstieg lich ein Erfolg erzielen lässt. auf erneuerbare Energien damit verkürzt wird. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Wir sollten dabei in den Mittelpunkt stellen, dass die der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE Umsetzungsdiskrepanz – davon sprechen wir ja – GRÜNEN) Beschleunigung in der politischen Umsetzung verlangt. Vielleicht noch ein letzter Schlusssatz, wenn mir das Sonst bräuchten wir nicht von einer Diskrepanz zu spre- erlaubt ist. – Ich möchte noch eine Brücke zu den drei E chen; sonst käme die Umsetzung ja von allein. Die Dis- der Energiewende schlagen. Energieeffizienz und Ener- krepanz fordert also Beschleunigung. Das heißt, dass die gieeinsparung, das ist im Kontext der Energiewende zu Politik gefordert ist, wie es auch die Umsetzung der sehen. Die Energiewende gibt uns eine Chance. Das ha- Energieeffizienzrichtlinie verlangt. Der Staat ist gefor- ben wir auch in der Regierungserklärung von Angela dert. Das müssen wir als Chance begreifen, als Chance, die Langfristziele zu erreichen. Merkel gestern gehört, in der auf den Erfolg beim Aus- bau der erneuerbaren Energien im Stromsektor – 25 Pro- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten zent – hingewiesen wurde. Hier geht es darum, dass sich der CDU/CSU) eine daran aktiv beteiligte Bevölkerung dessen bewusst Wenn der Staat eine aktiv gestaltende Rolle einneh- wird. Nur eine aktiv beteiligte Bevölkerung hat die Mög- men möchte, darf er nicht einfach nur auf freiwillige lichkeit, Know-how zu sammeln und die Initiativen und Vereinbarungen, auf Selbstverpflichtungen der Industrie die Motivation zu entwickeln, um auch im Energieeffizi- setzen – das hat in der Vergangenheit nicht gereicht –, enzbereich die erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen. sondern er muss verlässliche Rahmenbedingungen Auf dieser Grundlage bitte ich uns alle, uns diesem (B) schaffen, die Effizienzinvestitionen ermöglichen. Effizi- wichtigen Thema erneut zu widmen. (D) enzinvestitionen sind meist sehr kostenintensiv und amortisieren sich erst nach längerer Zeit. Vielen Dank. Insofern müssen wir uns auch ehrlich die Frage stel- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten len: Welche Schritte sind wir bereit zu tun? Ist das nur der CDU/CSU) über das Ordnungsrecht zu machen, oder sind es eher monetäre Anreize, die wir geben müssen? Bei den Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: monetären Anreizen ist die Frage: Regulieren wir Men- Als nächste Rednerin hat die Kollegin Julia Verlinden gen oder Preise? Es ist weiterhin in der Koalition und das Wort. natürlich auch in der Bundesregierung im ersten Schritt die Frage zu diskutieren, ob die monetären Anreize aus- Dr. Julia Verlinden (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): schließlich aus Haushaltsmitteln oder auch aus haus- haltsunabhängigen Mitteln gegeben werden können. Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Heute ist ein schlechter Tag für den Zur Erschließung zusätzlicher Finanzierungsquellen Klimaschutz und auch für die Energiewende. Es ist ein möchte ich erwähnen, dass die OECD kürzlich auf eine schlechter Tag für wirtschaftliche Innovationen in Schwäche in unserem Steuersystem hingewiesen hat. Ich Deutschland. Denn heute ist der Stichtag, zu dem die finde, das sollten wir ernst nehmen. Die OECD hat ange- EU-Energieeffizienzrichtlinie hätte umgesetzt werden mahnt, dass in Deutschland ein ausgewogenes, sozial müssen. inklusives und umweltfreundliches langfristiges Wachs- tum die Zielvorgabe sein sollte. Das sehe ich auch als (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Aufforderung an uns im Parlament, für eine sozialökolo- sowie bei Abgeordneten der LINKEN) gische Transformation im Steuersystem zu sorgen. Doch außer Sonntagsreden hat die Bundesregierung Hervorzuheben ist hierbei auch, dass von der OECD nichts vorzuweisen. Ich sage Ihnen: Sie hätten schon Steuervergünstigungen für umweltschädliche Aktivitä- längst handeln müssen. ten negativ vermerkt wurden. In diesem Zusammenhang Die von der Bundesregierung eingesetzte Experten- finde ich es gut, dass Bundesminister Sigmar Gabriel das kommission schreibt in ihrer Stellungnahme zum Ener- schon aufgegriffen hat und die umweltschädlichen giewende-Monitoringbericht, dass zwei Drittel der CO - Dienstwagenvergünstigungen unter die Lupe nehmen 2 Minderung über die Energieeinsparung erreicht werden möchte. müssen. In einer Befragung im Rahmen des Eurobaro- (Beifall bei der SPD) meters sagen über 90 Prozent der Europäerinnen und Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014 3367

Dr. Julia Verlinden (A) Europäer, dass die Regierungen Energieeffizienzmaß- Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: (C) nahmen unterstützen sollten. Leider scheint diese Er- Als nächster Redner hat der Kollege Hansjörg Durz kenntnis immer noch nicht bei Ihnen angekommen zu von der CDU/CSU das Wort. sein, Frau Zypries. (Beifall bei der CDU/CSU) Die Bundesregierung brüstet sich ja gerne damit, dass Deutschland Effizienzweltmeister sei. Doch den Welt- Hansjörg Durz (CDU/CSU): meistertitel kann Deutschland nur verteidigen, wenn die Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Regierung jetzt nicht die Füße hochlegt. Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir alle in diesem Hause wollen die Klimaschutzziele errei- (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) chen. Darüber herrscht Einigkeit. Daher bekennen wir Weltmeisterschaften kann man eben nur mit kontinuier- uns ausdrücklich zum 20-20-20-Ziel in den Bereichen lichem Training, klugen Strategien und schneller Re- Treibhausgasreduktion, Ausbau der erneuerbaren Ener- aktion gewinnen. gien und Energieeffizienz. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Der Verpflichtung, in Deutschland die Effizienz um 20 Prozent zu steigern, kommt dabei eine ganz beson- Beim Thema Effizienz – das haben schon viele Vor- dere Bedeutung zu. Auch wenn beim Thema Energie- redner gesagt – würden so viele Akteure profitieren: die wende im Fokus der öffentlichen Diskussion seit langem Unternehmen, die Effizienztechniken entwickeln, und und aktuell im Besonderen der Ausbau der erneuerbaren das Handwerk, zum Beispiel bei der energetischen Ge- Energien steht, so wird bei Betrachtung der Energiever- bäudesanierung, die schon angesprochen wurde, und brauchsstruktur in Deutschland deutlich, dass Strom auch bei der Installation von Hocheffizienztechnologien eben nur ein Fünftel ausmacht. Einen größeren Anteil an gerade in den kleinen und mittelständischen Betrieben. Energie, nämlich ein Drittel, verbrauchen wir für Ver- Auch die Verbraucherinnen und Verbraucher sowie die kehr; den größten Anteil, nämlich die Hälfte, macht die Kommunen, die unter den hohen Energiekosten leiden, Wärme aus. Damit wird deutlich, welche Bedeutung der sie alle würden von einer ambitionierten Energieeffizi- Energieeffizienz zukommt, aber auch, wie vielschichtig enzpolitik profitieren. Deshalb verlange ich das jetzt von das Thema ist. Ihnen. Andererseits sind die Einsparpotenziale riesig. Laut einer Studie des Fraunhofer-Instituts bietet sich EU-weit (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ein wirtschaftliches Einsparpotenzial von 41 Prozent bis sowie bei Abgeordneten der LINKEN) (B) 2030. Insofern verstehe ich den Ansatz der zwei Vorla- (D) Bis 2020 könnten laut dem Deutschen Institut für gen, die wir heute beraten, als Chance, die Bedeutung Wirtschaftsforschung 150 000 neue Jobs durch Energie- der Energieeffizienz zu bekräftigen und in einer Phase, effizienz geschaffen werden. Zusätzlich würden jährlich in der die Novelle des EEG das alles beherrschende Thema der Energiepolitik in unseren Sitzungen und Ge- 45 Millionen Tonnen CO2 vermieden und rund 10 Mil- liarden Euro Energiekosten eingespart. sprächen sowie in der öffentlichen Wahrnehmung ist, darzustellen, welche Bedeutung Effizienzsteigerung und Während die Europäische Union den Zieleinlauf für Einsparungen haben bzw. bekommen müssen. das Energiesparwettrennen heute schon schließt – heute (Beifall der Abg. Dr. [CDU/ ist die Deadline –, ist Deutschland noch nicht einmal los- CSU] und Marco Bülow [SPD]) gelaufen. Herr Gabriel hat den Startschuss nicht gehört und setzt damit leichtfertig die eigenen Energiewende- Wir müssen gemeinsam dafür sorgen, dass Wirt- ziele aufs Spiel. Die Große Koalition bremst also den schaft, öffentliche Hand und private Verbraucher deut- Klimaschutz aus. Obendrein riskiert die Regierung ein lich mehr als bisher zu Energieeffizienzmaßnahmen mo- Vertragsverletzungsverfahren aus Brüssel wegen Untä- tiviert werden. Die Fragen, die wir uns in diesem tigkeit beim Energiesparen. Zusammenhang immer wieder stellen sollten, sind: Wie schaffen wir es, das Thema Energieeffizienz besser in (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: den Köpfen der Menschen zu verankern? Wie setzen wir Pfui!) Anreize, vor allem solche, die finanzierbar sind? Dabei ist doch klar: Je früher wir in Energiespartech- Mit der Energiewende geht Deutschland einen Weg, nik und Effizienz investieren, desto höher fällt am Ende den kein anderes Land der Welt einschlägt. Klimaschutz die Dividende aus, desto weniger müssen Haushalte und darf aber an Ländergrenzen nicht haltmachen, sondern Industrie für teure Energieimporte bezahlen. Deswegen muss gemeinsam mit unseren europäischen Nachbarn ist es grob fahrlässig, wenn die Energieeffizienzrichtlinie und in enger Abstimmung umgesetzt werden. Deshalb jetzt nicht zügig umgesetzt wird und wir keine vernünf- ist es so wichtig, dass die Energieeffizienzmaßnahmen tige Energieeffizienzpolitik von Ihnen bekommen. auf europäischer Ebene angegangen werden. Deshalb ist die europäische Energieeffizienzrichtlinie auch der rich- Vielen Dank. tige Weg. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Deshalb wird sie nicht umgesetzt!) 3368 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014

Hansjörg Durz (A) Allerdings lässt sich die Umsetzung der Energieeffi- steuerte Auflagen zu schärfen, sondern durch Anreize. (C) zienzrichtlinie nicht wie eine Checkliste stur nach Die Energieeffizienzrichtlinie lässt neben den genannten Schema F abhandeln. Es handelt sich um eine Richtlinie, Energieeinsparverpflichtungssystemen den Mitgliedstaa- die ein sehr breites Spektrum energiepolitischer Berei- ten auch die Möglichkeit, die Zielvorgaben durch alter- che betrifft, deren Umsetzung in nationales Recht durch native Maßnahmen zu erreichen. Der von uns gewählte unterschiedliche Normen geregelt wird. Ich bin mir si- marktorientierte Ansatz ist sicher der schwierigere, aber cher, dass die Bundesregierung intensiv daran arbeitet, der richtige. die Richtlinie so umzusetzen, dass die nationalen und (Dr. Julia Verlinden [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- europäisch verabredeten Ziele auch erreicht werden kön- NEN]: Dann machen Sie das auch!) nen. Aber dies geschieht nicht anhand eines einzigen na- tionalen Gesetzes, sondern durch ein ganzes Bündel an – Das machen wir. – Mit einem vielfältigen Maßnah- Maßnahmen. Die Richtlinie sieht eine solche alternative menmix sorgen wir für Aufmerksamkeit und Sensibili- Vorgehensweise ausdrücklich vor, was wir begrüßen. sierung, Information und Motivation, setzen aber auch Vorhaben zu Beratung, Finanzierung und Förderung um. Die Einführung von Einsparverpflichtungssystemen, wie es die Richtlinie auch ermöglicht, ist für uns defini- Wir werden an der Politik der Anreize festhalten und tiv keine Lösung. Wir dürfen nicht riskieren, dass in bereits bestehende und bewährte Fördersysteme voran- Konsequenz der Umsetzung der EED etwa die Energie- treiben, so wie wir es im Koalitionsvertrag festgeschrie- preise weiter steigen oder mehr Bürokratie aufgebaut ben haben. So wollen wir zum Beispiel die Mittel für das wird. Wir wollen vor allem kein System, das auf Zwang KfW-Programm zur energetischen Gebäudesanierung oder Bevormundung basiert. Statt starrer Vorgaben brau- aufstocken und das Programm verstetigen und deutlich chen wir flexible Lösungen. vereinfachen.

Die Branche für Energieeffizienzprodukte und -dienst- Allein das CO2-Gebäudesanierungsprogramm 2012 leistungen in Deutschland hat sich enorm entwickelt und bis 2014 ist ein bedeutender Beitrag zur Steigerung der verzeichnet einen starken Zuwachs. Ein Umsatz von Energieeffizienz. Schon jetzt bietet es Unternehmen und 162 Milliarden Euro und die Tatsache, dass dort privaten Haushalten vielfältige Möglichkeiten, Unter- 800 000 Menschen tätig sind, verdeutlichen das Poten- stützung bei der Umsetzung von Energieeffizienzmaß- zial, welches das Thema Energieeffizienz auch unter nahmen zu erhalten. Wir müssen die Maßnahmen aber wirtschaftlichen Gesichtspunkten hat. auch ausbauen und verstetigen. Wir müssen auch alles daransetzen, die schon jetzt vorhandenen Mittel und Eine zentrale Rolle bei der Umsetzung nimmt unser Möglichkeiten noch besser zu kommunizieren. heimisches Handwerk ein; das ist bereits erwähnt wor- (B) den. Nicht nur große Konzerne, sondern insbesondere Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, (D) die kleinen und mittelständischen Betriebe haben sich Sie kritisieren, dass die Richtlinie noch nicht fristgerecht diesem Thema verschrieben. Bei jedem Unternehmens- umgesetzt ist. Das ist nachvollziehbar, Ihr gutes Recht besuch in meinem Wahlkreis erlebe ich, wie sehr dieses und letztlich auch die Aufgabe der Opposition. Entschei- Thema im unternehmerischen Bewusstsein an Bedeu- dend ist aber vor allem, was bis 2020 gegenüber 2008 tung gewonnen hat. Allein aufgrund der Entwicklung konkret umgesetzt ist. der Energiekosten ist es für jedes Unternehmen unerläss- (Dr. Julia Verlinden [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- lich, die Effizienz des Energieverbrauchs zu steigern. NEN]: Das eine ist doch die Voraussetzung für Dabei wird immer auch deutlich, dass es nicht die Lö- das andere!) sung gibt, sondern ganz individuelle Ansätze, auf das je- weilige Unternehmen zugeschnitten. So wird in der Pra- Das ist schon heute einiges – zugegeben: noch nicht aus- xis immer wieder deutlich, warum in Deutschland reichend –, hätte aber mit Ihrer Unterstützung bereits in Erstaunliches gelungen ist: Während die Wirtschaftsleis- der letzten Legislaturperiode deutlich mehr sein können. tung in den vergangenen zwei Jahrzehnten deutlich zu- Ich denke da an das Scheitern der steuerlichen Förde- gelegt hat, ist der Energieverbrauch gleichzeitig gesun- rung der energetischen Gebäudesanierung im Bundesrat. ken. (Beifall bei der CDU/CSU) Aber auch in den Privathaushalten ist das Thema Effi- Energieeffizienz ist eine Schlüsselfrage im Rahmen zienz längst angekommen, weil uns allen klar ist, dass der Energiewende. Wir müssen hier unsere gemeinsa- wir in diesem Bereich deutlich mehr tun müssen. Fast men Anstrengungen deutlich verstärken. Ich bin ge- 90 Prozent des Energieverbrauchs eines privaten Haus- spannt auf die Vorschläge des Bundeswirtschaftsminis- haltes in Deutschland werden für Heizung und Warm- ters zur Umsetzung der Richtlinie, die uns sicher bald wasser verwendet. Hier besteht ein riesiges Einspar- vorliegen werden. potenzial, das durch bessere Dämmung und effizientere Heizungen gehoben werden kann. Wie können wir die Vielen Dank. Menschen motivieren, dies zu tun? Die Politik hat zual- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- lererst die Aufgabe, zu informieren und aufzuklären so- neten der SPD – Oliver Krischer [BÜND- wie ein Bewusstsein für Effizienz und Energieeinspa- NIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir auch! Da warten rung zu schaffen. wir schon seit Jahren drauf! – Dr. Julia Es entspricht dabei unserem Gesellschaftsbild, dieses Verlinden [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Bewusstsein nicht durch Zwang oder durch von oben ge- Wir können es kaum noch erwarten!) Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014 3369

(A) Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Meine Damen und Herren, fest steht: Wirksamer Kli- (C) Als nächster Redner hat der Kollege Carsten Müller maschutz gelingt nur, wenn wir der Energieverschwen- von der CDU/CSU das Wort. dung Einhalt gebieten. Dieser Tage passiert auf diesem Gebiet einiges Bemerkenswertes – ich sehe das nicht an- nähernd so schwarz wie meine Kollegin Verlinden –, Carsten Müller (Braunschweig) (CDU/CSU): weil wir beispielsweise nicht nur darüber diskutieren, Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und welche Menge an Geld wir dafür vorsehen, sondern eben Herren! Die Debatte hat eines gezeigt: Was das Ziel an auch darüber, wie wir dieses Geld effizient einsetzen. Ich sich angeht, sind wir hier im Hause eng beieinander; al- finde es gut, dass, nachdem beispielsweise der VKU, die lerdings gibt es durchaus unterschiedliche Vorstellungen DENEFF und auch der BUND schon vor einigen Jahren darüber, wie man das Ziel konkret und am besten errei- wettbewerbliche Modelle im Bereich der Energieeffi- chen kann. zienz in die Diskussion gebracht haben, mittlerweile, in der letzten Woche, auch die dena diesen von ihr einst- Ich persönlich begrüße es beispielsweise ausdrück- mals sehr kritisierten Weg als richtig erkannt hat. Ich lich, dass wir das Aktionsprogramm Klimaschutz 2020 glaube, das hat eine enorm belebende Wirkung auf die auf den Weg bringen und damit ein fest anvisiertes Ziel Anstrengungen, die wir unternehmen wollen. erreichen wollen. Ich halte es auch für einen wesentli- chen Baustein, dass es 2016, darauf aufbauend, einen na- Die Anstrengungen sind erheblich. Bis 2020 müssen tionalen Klimaschutzplan 2050 geben wird, in dem die wir noch 1 500 Petajoule einsparen, um der EU-Energie- Langfristziele festgeschrieben werden sollen, zum Bei- effizienzrichtlinie Rechnung tragen zu können. Dafür spiel – ein kleiner Ausblick –, dass wir bis 2050 die brauchen wir mehr Anstrengungen. Es ist in den Vorre- Treibhausgasemissionen um bis zu 95 Prozent abgesenkt den schon eine ganze Menge Richtiges erwähnt worden. sehen wollen. Wir müssen das also ganzheitlich in Angriff nehmen. Wir brauchen den Blick auf die Energiewirtschaft: Wie Der Beratungsprozess zu diesem ambitionierten Pro- erzeugt sie Energie, wie transportiert sie sie? Wir müs- gramm, auch über die langfristigen Ziele, läuft. Ich bin sen der Industrie Anreize zur Energieeffizienz geben. mir ziemlich sicher, dass die Vorschläge, die die Grünen Gewerbe und Handel sind angesprochen worden, die sowohl in ihrem heute eingebrachten Antrag als auch in Landwirtschaft ist eine wichtige Säule, die wir nicht aus ihrem heute eingebrachten Gesetzentwurf gemacht ha- dem Blick verlieren dürfen. Der Verkehr und die priva- ben, zum Teil berücksichtigt werden können. Auf jeden ten Haushalte haben hier zum Teil Erwähnung gefunden. Fall werden sie die Diskussion beleben. Deswegen – ich habe es eben erwähnt – haben wir uns in der Unionsfraktion intensiv mit diesem Thema auseinan- (B) Wir sind uns Gott sei Dank völlig einig darüber, dass dergesetzt. (D) wir die Treibhausgasemissionen absenken und erneuer- bare Energien ausbauen wollen. Verschiedentlich hat Wir brauchen Ziele und Anreize – das hat mein Vor- mich die Diskussion leider an eine vorweggenommene redner Durz richtigerweise gesagt –, beispielsweise für EEG-Debatte erinnert. Aber, ehrlich gesagt, das ist für Hausbesitzer und Unternehmer. Wir haben einen ganzen die Debatte über die Energieeffizienz und für die Fokus- Strauß von Maßnahmen, die wir kurzfristig umsetzen sierung auf das wichtige Thema der Energieeffizienz oder ausbauen wollen: Wir wollen die KfW-Mittel für nicht immer hilfreich. die energetische Gebäudesanierung aufstocken, versteti- gen und Investitionssicherheit geben sowie energetische Wir haben auch weitgehende Einigkeit darüber er- Investitionen der Haus- und Eigenheimbesitzer steuer- zielt, dass die Energieeffizienz gesteigert werden muss. lich fördern – ein leider in der letzten Legislaturperiode Wir brauchen hierzu – und das ist der CDU/CSU-Frak- nicht zum Erfolg geführtes Projekt. Wir brauchen einen tion besonders wichtig – ein eigenständiges verpflichten- aussagefähigen Energieausweis; auch da gibt es im Mo- des Ziel, nämlich eine Verbesserung der Energieeffizienz ment konkrete Überlegungen. Wir müssen darauf achten um 40 Prozent bis zum Jahr 2030. – da bin ich zuversichtlich –, dass wir die aus meiner Sicht ganz wichtige Kraft-Wärme-Kopplung zum Bei- Dass das Thema für die CDU/CSU-Fraktion nicht nur spiel im Rahmen der EEG-Novelle nicht verunmögli- ein Lippenbekenntnis ist, zeigt sich beispielsweise daran, chen. Wir müssen – das hat der Kollege Schwabe dass die Unionsfraktion hierzu einen eigenen Arbeitskreis richtigerweise angesprochen – dazu kommen, dass for- gegründet hat, der vor einigen wenigen Wochen mit mulierte Energieeffizienzanforderungen an die Industrie durchaus ambitionierten Zielen an die Öffentlichkeit ge- schließlich auch überprüft und nachgehalten werden. treten ist und – was mich besonders freut – eine außeror- Das ist ein wichtiger Baustein. Da sind wir uns Gott sei dentlich belebende Wirkung auf die Bundesministerin Dank in diesem Haus auch weitgehend einig. Hendricks gehabt hat, die sich relativ schnell, daran ori- entierend, neu positioniert hat. Meine sehr geehrten Damen und Herren, abschlie- ßend noch ein Blick auf einige ganz wesentliche Punkte. An dieser Stelle möchte ich ein ausdrückliches Dan- Wenn wir uns über Klimaschutz und Energieeffizienz- keschön an die Bundesregierung richten, verbunden mit politik unterhalten, dann sprechen wir immer auch über dem Zuruf an Herrn Gabriel und an Frau Hendricks, zu Wirtschaftspolitik. Es arbeiten bereits heute 800 000 Be- diesen ambitionierten Zielen, über die wir hier Einigkeit schäftigte in der Energieeffizienzbranche in Deutsch- erzielen, auf EU-Ebene kluge Verhandlungen zu führen land, stark bzw. überdurchschnittlich aufwachsend. Die und sie im Ergebnis durchzusetzen. Produkte, die diese 800 000 Menschen herstellen, kön- 3370 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014

Carsten Müller (Braunschweig) (A) nen zum Exportschlager werden, sind es zum Teil auch b) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- (C) schon. gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Luftverkehrsabkommen vom 25. und 30. Ap- Ein wichtiger Punkt, der zu meiner Überraschung in ril 2007 zwischen den Vereinigten Staaten von dieser Diskussion noch nicht angesprochen worden ist, Amerika einerseits und der Europäischen ist, dass uns Energieeffizienz und das Einsparen von Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten an- Energie unabhängiger von Energieimporten machen. dererseits (Vertragsgesetz EU-USA-Luftver- Das berührt nicht nur die Diskussion um Gasimporte aus kehrsabkommen – EU-USA-LuftverkAbkG) Russland, sondern es gilt generell, weil wir das Geld, das wir jetzt für die Energiebeschaffung einsetzen, viel sinn- Drucksache 18/1569 voller im örtlichen Handwerk einsetzen könnten. Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur (f) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Auswärtiger Ausschuss Wenngleich heute dem Antrag der Grünen und dem Innenausschuss Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Gesetzentwurf wegen verschiedener Details die Zustim- Verteidigungsausschuss mung versagt bleiben muss, c) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- (Dr. Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem NEN]: Sie würden doch sicher supergern zu- Europa-Mittelmeer-Luftverkehrsabkommen stimmen! Seien Sie doch ehrlich!) vom 15. Dezember 2010 zwischen der Euro- so hat doch die bisherige Diskussion und insbesondere päischen Union und ihren Mitgliedstaaten ei- die Nachsichtigkeit der Frau Präsidentin bei leichter nerseits und dem Haschemitischen König- Überschreitung der Redezeiten gezeigt, dass es eine reich Jordanien andererseits (Vertragsgesetz wichtige Debatte war und dass wir uns ganz wesentlich Europa-Mittelmeer-Jordanien-Luftverkehrs- einig sind. Ich erinnere mich insbesondere daran – und abkommen – Euromed-JOR-LuftverkAbkG) das mit Freude; dafür nutze ich die letzte Überschreitung Drucksache 18/1570 der Redezeit gerne –, dass sich Vertreter aller Fraktionen Überweisungsvorschlag: darauf verständigt haben, dem Thema Energieeffizienz Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur (f) eine besondere Bedeutung dadurch zu verleihen, dass es Auswärtiger Ausschuss einen Parlamentskreis geben wird. Ich lade Sie herzlich Innenausschuss ein, auch im Namen der Vertreter anderer Fraktionen, Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz sich daran zu beteiligen. Verteidigungsausschuss (B) d) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- (D) Vielen lieben Dank. gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ab- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) kommen vom 26. Juni 2012 zwischen der Europäischen Union und ihren Mitgliedstaa- Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: ten und der Republik Moldau über den Ge- Liebe Kolleginnen und Kollegen, damit schließe ich meinsamen Luftverkehrsraum (Vertragsge- die Debatte und bitte, die Nachsichtigkeit der Präsiden- setz EU-Moldau-Luftverkehrsabkommen – tin jetzt nicht für alle weiteren Debatten einzufordern. EU-MDA-LuftverkAbkG) Aber es ist richtig: Es ist wirklich eine sehr wichtige De- Drucksache 18/1571 batte, die wir heute miteinander geführt haben. Überweisungsvorschlag: Ich komme jetzt zu der interfraktionell vorgeschlage- Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur (f) Auswärtiger Ausschuss nen Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen Innenausschuss 18/1612 und 18/1619 an die in der Tagesordnung aufge- Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz führten Ausschüsse. Sind Sie damit einverstanden? – Verteidigungsausschuss Das ist der Fall. Damit sind die Überweisungen so be- e) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- schlossen. gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Re- Ich rufe jetzt die Tagesordnungspunkte 32 a bis 32 j form der Besonderen Ausgleichsregelung für auf: stromkosten- und handelsintensive Unterneh- men a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Drucksache 18/1572 Abkommen vom 9. September 2013 zwischen Überweisungsvorschlag: der Bundesrepublik Deutschland und der Ausschuss für Wirtschaft und Energie (f) Republik der Philippinen zur Vermeidung Innenausschuss der Doppelbesteuerung auf dem Gebiet der Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Finanzausschuss Steuern vom Einkommen und vom Vermögen Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur Drucksache 18/1568 Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Überweisungsvorschlag: Reaktorsicherheit Finanzausschuss (f) Ausschuss für Bildung, Forschung und Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Technikfolgenabschätzung Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014 3371

Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn (A) Ausschuss für Tourismus Es handelt sich hierbei um Überweisungen im ver- (C) Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union einfachten Verfahren ohne Debatte. Haushaltsausschuss Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an f) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände- überweisen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der rung des Umweltinformationsgesetzes Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Drucksache 18/1585 Ich rufe die Tagesordnungspunkte 33 a bis 33 h auf. Überweisungsvorschlag: Es handelt sich hier um die Beschlussfassung zu Vorla- Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und gen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist. Reaktorsicherheit (f) Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Ich rufe zunächst den Tagesordnungspunkt 33 a auf: g) Beratung des Antrags der Abgeordneten Zweite und dritte Beratung des von der Bundes- Cornelia Möhring, Birgit Wöllert, Sabine regierung eingebrachten Entwurfs eines Geset- Zimmermann (Zwickau), weiterer Abgeordneter zes zu dem Abkommen vom 2. Dezember und der Fraktion DIE LINKE 2010 zwischen der Europäischen Union und ihren Mitgliedstaaten einerseits und Georgien Zukunft der Hebammen und Entbindungs- andererseits über den Gemeinsamen Luftver- pfleger sichern – Finanzielle Sicherheit und kehrsraum (Vertragsgesetz EU-Georgien- ein neues Berufsbild schaffen Luftverkehrsabkommen – EU-GEO-Luftverk Drucksache 18/1483 AbkG) Überweisungsvorschlag: Drucksache 18/1224 Ausschuss für Gesundheit (f) Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- schusses für Verkehr und digitale Infrastruktur h) Beratung des Antrags der Abgeordneten Heike (15. Ausschuss) Hänsel, Niema Movassat, Wolfgang Gehrcke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE Drucksache 18/1641 LINKE Der Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa- Verhandlungen über die Wirtschaftspartner- che 18/1641, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf schaftsabkommen – Neustart ohne Drohun- Drucksache 18/1224 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, gen und Fristen (B) die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das (D) Drucksache 18/1615 Handzeichen. Wer stimmt dafür? – Alle Fraktionen, so- weit ich das sehe. Wer stimmt dagegen? – Einige Mit- Überweisungsvorschlag: Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und glieder der Linken. Entwicklung (f) (Harald Weinberg [DIE LINKE]: Die Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Energie Fraktion!) Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Wer enthält sich? – Niemand. Dann ist der Gesetzent- wurf damit in zweiter Beratung angenommen. i) Beratung des Antrags der Abgeordneten Cornelia Möhring, Kathrin Vogler, Sabine Wir kommen zur Zimmermann (Zwickau), weiterer Abgeordneter dritten Beratung und der Fraktion DIE LINKE und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Bundestagsmehrheit nutzen – Pille danach Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – jetzt aus der Rezeptpflicht entlassen Das sind die Koalition und Bündnis 90/Die Grünen. Wer stimmt dagegen? – Das ist die Fraktion der Linken. Wer Drucksache 18/1617 enthält sich? – Niemand. Damit ist der Gesetzentwurf Überweisungsvorschlag: mit den Stimmen der Koalition und von Bündnis 90/Die Ausschuss für Gesundheit (f) Grünen bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke ange- Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend nommen worden. j) Unterrichtung durch die Nationale Stelle zur Ich komme zum Tagesordnungspunkt 33 b: Verhütung von Folter Beratung des Antrags der Abgeordneten Richard Jahresbericht 2013 der Bundesstelle und der Pitterle, Jan Korte, Ulla Jelpke, weiterer Abge- Länderkommission ordneter und der Fraktion DIE LINKE Drucksache 18/1178 zu dem Vorschlag für eine Richtlinie des Überweisungsvorschlag: Europäischen Parlaments und des Rates über Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe (f) Gesellschaften mit beschränkter Haftung mit Innenausschuss einem einzigen Gesellschafter Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend KOM(2014) 212 endg.; Ratsdok. 8842/14 3372 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014

Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn (A) hier: Stellungnahme gemäß Artikel 6 des Pro- Tagesordnungspunkt 33 g: (C) tokolls Nr. 2 zum Vertrag von Lissabon Beratung der Beschlussempfehlung des Peti- (Grundsätze der Subsidiarität und der Ver- tionsausschusses (2. Ausschuss) hältnismäßigkeit) Sammelübersicht 58 zu Petitionen Umgehung der Unternehmensmitbestimmung bei Ein-Personen-GmbH verhindern Drucksache 18/1480 Drucksache 18/1618 Wer stimmt dafür? – Das sind die Koalitionsfraktionen und Bündnis 90/Die Grünen. Wer stimmt dagegen? – Die Wer stimmt für diesen Antrag? – Das ist die Fraktion Fraktion Die Linke. Wer enthält sich? – Niemand. Damit Die Linke. Wer stimmt dagegen? – Das sind die Koali- ist die Sammelübersicht 58 mit den Stimmen der Koali- tionsfraktionen. Wer enthält sich? – Das ist Bündnis 90/ tion und von Bündnis 90/Die Grünen angenommen wor- Die Grünen. Damit ist dieser Antrag mit den Stimmen den. der Koalitionsfraktionen abgelehnt worden. Tagesordnungspunkt 33 h: Wir kommen zu den Tagesordnungspunkten 33 c bis 33 h, den Beschlussempfehlungen des Petitionsaus- Beratung der Beschlussempfehlung des Peti- schusses. tionsausschusses (2. Ausschuss) Ich rufe zunächst Tagesordnungspunkt 33 c auf: Sammelübersicht 59 zu Petitionen Beratung der Beschlussempfehlung des Peti- Drucksache 18/1481 tionsausschusses (2. Ausschuss) Wer stimmt dafür? – Die Koalitionsfraktionen. Wer Sammelübersicht 54 zu Petitionen stimmt dagegen? – Bündnis 90/Die Grünen und die Drucksache 18/1476 Fraktion Die Linke. Wer enthält sich? – Niemand. Damit ist die Sammelübersicht mit den Stimmen der Koalition Wer stimmt dafür? – Das sind alle Fraktionen. Wer angenommen worden. stimmt dagegen? – Niemand. Wer enthält sich? – Auch niemand. Damit ist die Sammelübersicht 54 mit den Ich rufe die Tagesordnungspunkte 7 a und 7 b auf: Stimmen aller Fraktionen angenommen. a) – Zweite und dritte Beratung des von der Bun- Ich rufe Tagesordnungspunkt 33 d auf: desregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Weiterentwicklung der Beratung der Beschlussempfehlung des Peti- Finanzstruktur und der Qualität in der ge- tionsausschusses (2. Ausschuss) setzlichen Krankenversicherung (GKV- (B) Finanzstruktur- und Qualitäts-Weiterent- (D) Sammelübersicht 55 zu Petitionen wicklungsgesetz – GKV-FQWG) Drucksache 18/1477 Drucksachen 18/1307, 18/1579 Wer stimmt dafür? – Wiederum alle Fraktionen. Wer Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- stimmt dagegen? – Niemand. Wer enthält sich? – Auch schusses für Gesundheit (14. Ausschuss) niemand. Damit ist die Sammelübersicht 55 ebenfalls mit den Stimmen aller Fraktionen angenommen worden. Drucksache 18/1657 Ich rufe Tagesordnungspunkt 33 e auf: – Bericht des Haushaltsausschusses (8. Aus- schuss) gemäß § 96 der Geschäftsordnung Beratung der Beschlussempfehlung des Peti- tionsausschusses (2. Ausschuss) Drucksache 18/1660 Sammelübersicht 56 zu Petitionen b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- richts des Ausschusses für Gesundheit (14. Aus- Drucksache 18/1478 schuss) Wer stimmt hierfür? – Die Koalitionsfraktionen. Wer – zu dem Antrag der Abgeordneten Harald stimmt dagegen? – Die Fraktion Die Linke. Wer enthält Weinberg, Sabine Zimmermann (Zwickau), sich? – Bündnis 90/Die Grünen. Damit ist die Sammel- Matthias W. Birkwald, weiterer Abgeordne- übersicht 56 mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen ter und der Fraktion DIE LINKE angenommen worden. Einführung des neuen Entgeltsystems in Ich rufe Tagesordnungspunkt 33 f auf: der Psychiatrie stoppen Beratung der Beschlussempfehlung des Peti- – zu dem Antrag der Abgeordneten Maria tionsausschusses (2. Ausschuss) Klein-Schmeink, Elisabeth Scharfenberg, Sammelübersicht 57 zu Petitionen Kordula Schulz-Asche, weiterer Abgeordne- ter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE Drucksache 18/1479 GRÜNEN Wer stimmt dafür? – Alle Fraktionen. Wer stimmt da- Unabhängige Patientenberatung stärken gegen? – Niemand. Wer enthält sich? – Auch niemand. und ausbauen Damit ist die Sammelübersicht 57 mit den Stimmen aller Fraktionen angenommen worden. Drucksachen 18/557, 18/574, 18/1657 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014 3373

Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn (A) Zu dem Gesetzentwurf der Bundesregierung liegt ein entlastet werden können. Die Erhebung von Zusatzbei- (C) Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grü- trägen erfolgt für die Krankenkassen über einen vollstän- nen vor. digen Einkommensausgleich. Damit sorgen wir für faire Wettbewerbsbedingungen zwischen den Kassen, und wir Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für vermeiden Fehlanreize wie zum Beispiel die Bevorzu- die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich höre dazu gung von Besserverdienenden im Wettbewerb. keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Als erste Rednerin hat Durch diese neue Struktur mit wirksamen Informa- Staatssekretärin Annette Widmann-Mauz von der Bun- tionspflichten der Kassen, Transparenz für die Versicher- desregierung das Wort. ten und dem Recht zum Krankenkassenwechsel setzen wir den Rahmen so, dass die Krankenkassen ihre Bei- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- träge möglichst gering halten, maßvoll und effizient neten der SPD) wirtschaften, aber zugleich ein großes Interesse an hoch- wertigen Leistungen, guten Versorgungsstrukturen und Annette Widmann-Mauz, Parl. Staatssekretärin gutem Service haben. Das befördert den Qualitätswett- beim Bundesminister für Gesundheit: bewerb zwischen den Kassen, Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! (Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE Mit dem Entwurf eines Gesetzes zur Weiterentwicklung GRÜNEN]: Wo denn?) der Finanzstruktur und der Qualität in der gesetzlichen Krankenversicherung gehen wir drei wichtige Ziele für und genau das wollen wir. unser Gesundheitswesen an, die wir im Koalitionsver- trag festgehalten haben: Sicherheit für die Versorgung, (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Stärkung der Qualität und die Orientierung an den Inte- neten der SPD) ressen und Bedürfnissen der Patientinnen und Patienten. Diese Ziele bedingen einander, und keines ist ohne das Heute setzen wir einen weiteren überaus wichtigen andere wirklich zu erreichen. Das will ich an diesem Ge- Eckstein für die Zukunft unseres Gesundheitswesens, setzentwurf und wenigen Regelungsbereichen dieses der in der Fachwelt und sogar über Parteigrenzen hinweg Gesetzes zeigen. auf breite Zustimmung stößt. Mit der sehr zügigen Ein- richtung eines unabhängigen wissenschaftlichen Instituts Wir stellen die Finanzierung der gesetzlichen Kran- für Qualitätssicherung und Transparenz im Gesundheits- kenversicherung auf eine dauerhaft solide Grundlage. wesen richten wir die medizinische Versorgung noch stärker grundsätzlich an Qualitätsaspekten und den Be- (B) (Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE (D) GRÜNEN]: Ein Scherz!) dürfnissen der Patientinnen und Patienten aus. In diesem Institut werden unter anderem Instrumente und Verfah- Wir machen die Finanzstruktur der gesetzlichen Kran- ren entwickelt werden, die zur Messung und zur Darstel- kenversicherung zukunftsfest, indem wir einen allgemei- lung von Qualität in der ambulanten und der stationären nen paritätisch finanzierten Beitragssatz von 7,3 Prozent Versorgung geeignet und sachgerecht sind. Damit erhal- für Arbeitgeber und für Arbeitnehmer gesetzlich fest- ten die Verantwortlichen im Gesundheitswesen, insbe- schreiben. Das ist kein Selbstzweck. Wir befördern da- sondere in der Selbstverwaltung, belastbare Qualitätskri- mit eine gute Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt; denn terien, die sie zum Beispiel bei der Krankenhausplanung mehr Arbeit und sichere Arbeitsplätze bedeuten mehr oder bei der Vergütung von Leistungen einsetzen kön- Beiträge und damit mehr Sicherheit, im Krankheitsfall nen. Gleichzeitig schaffen sie mehr Transparenz über die eine gute medizinische Versorgung erhalten zu können. Qualität der Versorgung und bieten damit Patientinnen (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- und Patienten verständlichere Informationen an, ja sie neten der SPD) helfen ihnen zum Beispiel auch bei der Entscheidung auf der Suche nach einem guten Krankenhaus. Das ist eine Wir legen fest, dass die Krankenkassen ihren zusätzli- sehr anspruchsvolle und schwierige Aufgabe, aber sie ist chen Finanzierungsbedarf über kassenindividuelle ein- des Schweißes der Edlen wert; denn Qualität ist ein kommensabhängige prozentuale Zusatzbeiträge decken wichtiger Parameter für unser Gesundheitswesen. können. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) (Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Müssen, nicht können!) Qualität geht nicht ohne oder gar gegen diejenigen, die für die gesundheitliche Versorgung im Alltag stehen Die Mitglieder haben bei der erstmaligen Einführung und die die medizinischen und pflegerischen Leistungen oder bei einer späteren Erhöhung des Zusatzbeitrags das erbringen. Deshalb wird dieses vom Gemeinsamen Bun- Recht, die Krankenkasse zu wechseln. Sie werden in Zu- desausschuss als oberstes Organ der gemeinsamen kunft rechtzeitig und in einem separaten Schreiben auf Selbstverwaltung zu gründende Institut auch von einer die Beitragsänderung und ihr Sonderkündigungsrecht hingewiesen. Sie erhalten darüber hinaus Zugang zu Stiftung getragen. Die Patienteninteressen werden bei Beitragsvergleichen der gesetzlichen Krankenkassen. der inhaltlichen Arbeit des Qualitätssicherungsinstituts, also bei der Entwicklung der Verfahren und der Instru- Wir gehen im Übrigen davon aus, dass im kommen- mente zur Qualitätssicherung, durch ein Mitberatungs- den Jahr bis zu 20 Millionen Versicherte finanziell recht der Patientenvertretung berücksichtigt. 3374 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014

Parl. Staatssekretärin Annette Widmann-Mauz (A) Zu einer verbesserten Patientenorientierung gehört Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: (C) für uns auch die Stärkung und Weiterentwicklung der Liebe Kolleginnen und Kollegen, als nächster Redner unabhängigen Patientenberatung. Insbesondere mit der hat der Kollege Harald Weinberg von der Linken das Ausweitung des telefonischen Serviceangebots wird Wort. diese Beratungs- und Verbraucherschutzeinrichtung in (Beifall bei der LINKEN) Zukunft einer noch deutlich größeren Zahl von Patien- tinnen und Patienten zugänglich werden. Harald Weinberg (DIE LINKE): (Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und GRÜNEN]: Wenigstens das!) Kollegen! Meine Damen und Herren! Das zentrale Finanzierungsgesetz zur gesetzlichen Krankenversiche- Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, neben diesen rung für diese Wahlperiode ist auf der Zielgeraden. Es grundsätzlichen Maßnahmen steht seit Wochen und Mo- macht alles ein wenig anders, aber kaum etwas besser. naten die Sicherstellung der geburtshilflichen Versorgung Im Gegenteil: Gesetzlich Krankenversicherte werden durch Hebammen und damit das Recht der Schwangeren sich auf Mehrkosten einstellen müssen. Sie zahlen zu- auf freie Wahl des Geburtsorts ganz oben auf der ge- künftig mehr. Dagegen werden ihre Arbeitgeber nicht an sundheitspolitischen Themenliste. Wir sind sehr froh, den absehbar steigenden Kosten beteiligt. Das ist ganz dass wir in diesem Gesetz eine Regelung gefunden ha- klassische Umverteilung von unten nach oben. Das Ge- ben, durch die die Hebammen im Hinblick auf steigende meine daran ist, dass kaum jemand wirklich versteht, Prämien für ihre Berufshaftpflichtversicherung dauer- wie genau ihm in die Taschen gegriffen wird. haft finanziell entlastet werden können. Von dem befris- (Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE teten Vergütungszuschlag werden Hebammen profitie- GRÜNEN]: Das ist die Zerschlagung der Soli- ren, die typischerweise nur eine geringe Anzahl von darität!) Geburten betreuen, also Hebammen, die Hausgeburten betreuen, freiberuflich in Geburtshäusern oder als Beleg- Die gesetzliche Krankenversicherung finanziert sich hebammen in der Eins-zu-eins-Betreuung tätig sind. derzeit im Wesentlichen über einen bundesweit einheitli- chen Beitragssatz von 15,5 Prozent. Davon zahlen die Ab dem 1. Juli des nächsten Jahres wird es dann einen Arbeitgeber 7,3 Prozent, die Versicherten 8,2 Prozent. dauerhaften Sicherstellungszuschlag geben, der generell Die Versicherten zahlen also jetzt schon 0,9 Prozent Hebammen hilft, die Haftpflichtprämie aufzubringen, mehr. die aufgrund zu geringer Geburtenzahlen durch die Prä- Die Bundesregierung wird nun den bundesweit ein- (B) mien wirtschaftlich überfordert sind und die – das ist uns heitlichen Versichertenbeitrag wie auch den Arbeitge- (D) sehr wichtig – die an sie gestellten Qualitätsanforderun- berbeitrag bei 7,3 Prozent festschreiben; insgesamt gen auch erfüllen. Auch damit ist das Thema für uns im 14,6 Prozent. Damit fehlt den Krankenkassen Geld, das Übrigen noch nicht erledigt, sondern wir gehen weitere, sie zur Versorgung brauchen. Das Geld müssen die ein- langfristig wirksame Maßnahmen an. Bundesminister zelnen Kassen nun von den Versicherten verlangen. Die Gröhe hat zur Begrenzung der Prämiendynamik in die- Arbeitgeber zahlen nichts. sem Bereich einen Regressverzicht von Kranken- und Da bei dem momentanen Beitragssatz von 15,5 Pro- Pflegekassen zur Diskussion gestellt. Dieser Vorschlag zent die Einnahmen und die Ausgaben in etwa gleich wird jetzt innerhalb der Bundesressorts sorgfältig ge- hoch sind, werden die Kassen von den Versicherten ei- prüft und weiter konkretisiert. nen Zusatzbeitrag in Höhe von durchschnittlich 0,9 Pro- (Beifall bei der CDU/CSU) zent verlangen müssen. Die Kassen haben dabei einen Gestaltungsspielraum. Kassen, denen es gut geht, wer- Meine sehr verehrten Damen und Herren, dieses Ge- den einen Zusatzbeitrag von weniger als 0,9 Prozent ver- setz bringt unser Gesundheitswesen strukturell und qua- langen. litativ weiter. Es bringt spürbare Verbesserungen für die (Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Versicherten und insbesondere für die Patientinnen und Das sind wenige!) Patienten in unserem Land. Es bringt uns den drei gro- ßen Zielen der Großen Koalition in der Gesundheitspoli- Dazu ist ja gesagt worden, 20 Millionen Versicherte tik deutlich näher: mehr Versorgungssicherheit, bessere seien da sozusagen im Vorteil. Nach unserer Kenntnis Qualität in der Versorgung und mehr Patientenorientie- sind es nach wie vor sieben Kassen, die das angekündigt rung. haben, davon nur eine große Versorgerkasse. Da kom- men keine 20 Millionen Versicherte zusammen. Ich danke am heutigen Tag den Kolleginnen und Kol- (Zuruf von der CDU/CSU: Doch!) legen der Koalition und im Ausschuss, insbesondere den Berichterstattern, für die konstruktiven Beratungen im Kassen, denen es durchschnittlich geht, werden so um parlamentarischen Verfahren. Ich freue mich heute auf die 0,9 Prozent nehmen. Also, für die Versicherten än- Ihre Zustimmung zu diesem wichtigen Gesetz. dert sich im ersten Jahr erst einmal nichts. Kassen, denen es schlecht geht, werden mehr als 0,9 Prozent nehmen Vielen Dank. müssen. Das heißt also, der Beitragssatz steigt. Im Durchschnitt zahlen zunächst alle gleich viel, es wird (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) nur von Anfang an zwischen den Kassen anders verteilt Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014 3375

Harald Weinberg (A) sein. Das ist aber auch gewollt, denn diese Koalition will Wir sollten die zwei Jahre nutzen, um dieses Entgelt- (C) ja – wie es gesagt wurde – den Preiswettbewerb zwi- system von Grund auf zu reformieren. schen den Kassen anheizen. (Beifall bei der LINKEN) Aber auch dieses „gleich viel“ wird sich bald ändern. In den vergangenen zehn Jahren sind die Einnahmen der Dazu gehört auch die verbesserte und verlängerte Kassen jährlich um 2 Prozent gestiegen, die Ausgaben Finanzierung der unabhängigen Patientenberatung, die jährlich um 3,7 Prozent. Damit stieg der Beitragssatz re- jedem kostenlose Beratung in allen Fragen rund um die gelmäßig an. Es gibt keinen Grund anzunehmen, dass Krankenversicherung und die Versorgung anbietet – sich das in der Zukunft ändern wird. (Beifall bei der LINKEN) Aber jetzt sind die Zusatzbeiträge die einzige Stell- hier hat die Regierung unseren Vorschlag ja fast über- schraube für die Kassen, um zukünftige Kostensteige- nommen –, und das gilt auch für die Sicherstellung der rungen auszugleichen. Die Versicherten werden alle Hebammenversorgung. Der würden wir ebenfalls gern diese Kosten allein tragen müssen. Sie tragen also einen zustimmen, auch wenn die Bundesregierung hier nur immer größeren Anteil an den steigenden Kosten. Und eine kurzfristige Lösung in das Gesetz geschrieben hat, das geht richtig ins Geld. die nur bis 2016 halten wird. Aber diese ganzen durch- Derzeit zahlen die Versicherten durch den um aus positiven Punkte schaffen nicht genügend Zucker- 0,9 Prozent höheren Beitragssatz jährlich etwa 10 Mil- glasur, um die Linke dazu zu bringen, die bittere Pille ei- liarden Euro mehr als die Arbeitgeber. Im Jahr 2020 ner grundfalschen Finanzierungsreform zu schlucken. wird dieser Betrag auf 34 Milliarden Euro im Jahr ange- Deshalb werden wir den Gesetzentwurf ablehnen. wachsen sein. In Summe werden die Versicherten bis Vielen Dank. 2020 rund 150 Milliarden Euro mehr zahlen als die Ar- beitgeber. Das sind pro Beitragszahler durchschnittlich (Beifall bei der LINKEN) 3 000 Euro. Begründet wird dies in unschöner Tradition Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Schröder’scher Agenda-Politik mit der notwendigen Als nächster Redner hat der Kollege Karl Lauterbach Stabilisierung der Lohnnebenkosten zur Stärkung insbe- das Wort. sondere der deutschen Exportindustrie. Einmal abgese- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten hen davon, dass jede Wechselkursschwankung einen der CDU/CSU) weitaus größeren Einfluss auf die Kostensituation der Unternehmen hat, und einmal abgesehen davon, dass (B) diese Exportorientierung Dr. Karl Lauterbach (SPD): (D) Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und (Dr. Georg Nüßlein [CDU/CSU]: Jetzt Herren! Zunächst einmal: Die Umwandlung der kleinen kommen die Weltökonomen!) Kopfpauschalen in kassenindividuelle, prozentuale Zu- zumindest ein Grund dafür ist, dass sich die Bankenkrise satzbeitragssätze ist ein Schritt in Richtung mehr Solida- zur europäischen Wirtschaftskrise ausgeweitet hat, ist es rität in unserem Gesundheitssystem; ein Raubzug durch die Geldbörsen derer mit kleinen und (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – mittleren Einkommen, der da vorbereitet wird. Das hat Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE weder etwas mit sozialdemokratischer noch mit christli- GRÜNEN]: Ein Zusatz beim Zusatz!) cher Politik zu tun, liebe Kolleginnen und Kollegen. daran ändert auch Ihre Kritik nichts. Sie ist, wie gesagt, (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten ein Schritt in Richtung mehr Solidarität. Ich möchte des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) mich ausdrücklich auch bei den Kolleginnen und Kolle- Die Linke lehnt diese Politik ab, und deshalb lehnen gen von der Union bedanken, dass sie diesen Schritt mit wir auch dieses Gesetz ab, obwohl darin – neben der uns gegangen sind. Er bedeutet den endgültigen Ab- Finanzierung – im Omnibusverfahren auch einige posi- schied von kleinen oder großen Kopfpauschalen. Das ist tive Regelungen getroffen werden. Es handelt sich hier- ein wichtiger Schritt. Das ist ein Schritt, den wir gemein- bei um Forderungen, die wir selbst seit langem erhoben sam gegangen sind. Das ist ein Schritt, der sowohl haben, denen wir eigentlich zustimmen würden und de- christlich als auch sozial und sozialdemokratisch ist. nen wir übrigens im Ausschuss auch zugestimmt haben. Zu dem von Ihnen vorgetragenen Kritikpunkt, Herr Dazu gehört zum Beispiel die Verschiebung der Entgelt- Weinberg, dass zunächst nur die Arbeitgeber entlastet reform für psychiatrische Kliniken. Am Anfang der würden, die Arbeitnehmer aber nicht, muss ich sagen: Es Wahlperiode haben wir selbst einen Antrag eingebracht, ist genau umgekehrt. Wenn Sie es also umgekehrt gesagt der den Stopp dieses Entgeltsystems fordert, weil sich sonst die Versorgung psychisch kranker Menschen hätten, wäre es richtig gewesen. Vielleicht geht es um verschlechtern würde. Nachdem wir und diverse Fach- 20 Millionen Menschen, vielleicht auch um 18 Millio- verbände Druck gemacht haben, verschiebt die Bundes- nen Menschen. Eine andere Zahl haben Sie ja nicht ge- regierung nun die Einführung um zwei Jahre. nannt. Die Zahl, die wir berechnet haben und die von Ihnen in keinem Dokument widerlegt wurde, ist also die (Dr. Georg Nüßlein [CDU/CSU]: Aber nicht Zahl, die unwidersprochen im Raum steht. Die wegen euch!) Menschen, die entlastet werden, sind ausschließlich Ar- 3376 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014

Dr. Karl Lauterbach (A) beitnehmer. Arbeitgeber werden zunächst einmal nicht medizinischen Leistungen transparent machen. Das ist (C) entlastet. der erste gewichtige Schritt in Richtung evidenzbasierter Transparenz und Qualitätskontrolle in unserem Gesund- (Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- heitssystem, wenn man von Zulassungs- und Erstat- NEN]: Was ist das denn für ein Quatsch?) tungsfragen einmal absieht. Somit ist das auch der erste Daher ist es nicht so, wie Sie gesagt haben, sondern ge- richtige Schritt in Richtung eines Qualitätswettbewerbs nau umgekehrt. Wir entlasten zunächst einmal aus- und weg vom Preiswettbewerb, den wir derzeit haben. schließlich die Arbeitnehmer. Der Qualitätswettbewerb ist die einzige Begründung, weshalb wir keine Einheitskasse haben und weshalb wir (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – überhaupt einen Wettbewerb zwischen mehr als 130 Widerspruch bei der LINKEN) Krankenkassen haben wollen. Von einer Entlastung der Arbeitgeber ist keine Rede. Sie (Harald Weinberg [DIE LINKE]: Es sind 132!) haben daher schlicht und ergreifend die Fakten falsch dargestellt. Wir wollen ausschließlich einen Qualitätswettbewerb, (Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE aber keinen Preiswettbewerb, meine Damen und Herren. GRÜNEN]: Karl Lauterbach, das glaubst du (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – doch wohl selber nicht!) Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE – Doch, es ist tatsächlich so. Zunächst einmal werden GRÜNEN]: Aber das kriegst du so doch nicht nur die Arbeitnehmer entlastet; daran ändert auch der hin!) Zwischenruf von den Grünen nichts. Auch hier im Es ist richtig, dass die SPD bei dieser Reform natür- Plenum muss das Faktische noch eine Rolle spielen. Es lich nicht mit allem einverstanden sein kann. Sie ist ein gibt keine einzige Kasse, die zum jetzigen Zeitpunkt Kompromiss. Aus meiner Sicht ist sie ein guter Kompro- eine Belastung der Arbeitnehmer angekündigt hat. Es miss, ein Kompromiss mit Augenmaß. Durch die Kom- gibt aber zahlreiche Kassen, die eine Entlastung ange- bination der Stärkung des Qualitätswettbewerbs und der kündigt haben. kurzfristigen Entlastung der Arbeitnehmer (Harald Weinberg [DIE LINKE]: Sieben, nicht (Birgit Wöllert [DIE LINKE]: Die ist ganz „zahlreiche“!) kurzfristig!) – Das betrifft aber Millionen Versicherte. schaffen wir Raum für die langfristig aus Sicht der SPD (Harald Weinberg [DIE LINKE]: 9 Millio- unbedingt notwendige Einführung einer Bürgerversiche- (B) nen!) rung. Für die SPD bleibt es natürlich dabei: Unser lang- (D) fristiges Ziel ist die Bürgerversicherung. Aber dieser Millionen Versicherte, die Arbeitnehmer sind, werden Kompromiss ist ein Kompromiss mit Augenmaß, ein entlastet. Kein Arbeitgeber wird entlastet, und kein Schritt in die richtige Richtung, ein Schritt, der die Soli- Arbeitnehmer wird belastet. darität in unserem Gesundheitssystem stärkt und nicht (Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE schwächt. GRÜNEN]: Wir fragen dich im Herbst!) Es wird die unabhängige Patientenberatung weiter Daher ist das ein Schritt in die richtige Richtung, ein ausgebaut. Sie kann auf die Ergebnisse des neu einge- Schritt in Richtung mehr Solidarität. richteten Qualitätsinstituts zurückgreifen. Wir stärken die Solidarelemente im Kernstück des Wettbewerbs, des (Birgit Wöllert [DIE LINKE]: Das ist Risikostrukturausgleichs. Wir werden den 15 Jahre lang Quatsch! – Dr. Harald Terpe [BÜNDNIS 90/ geforderten – übrigens auch von Grünen und Linken ge- DIE GRÜNEN]: Oh! Das hätte ich jetzt nicht forderten – vollständigen Einkommensausgleich im gemacht!) Rahmen des Risikostrukturausgleichs einführen. Das – Das ist kein Quatsch; das ist die Wahrheit. führt zu einer Entlastung der Einkommensschwachen und der Krankenkassen, die viele Einkommensschwache (Lachen der Abg. Birgit Wöllert [DIE versichern, und ist ein wichtiger Schritt in Richtung LINKE]) Solidarität. Sie reden ohne Bezug zum Gesetz. Folgende Bemerkung sei mir erlaubt: Wir haben die (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – besonderen Anliegen der Arbeitslosen und der Empfän- Birgit Wöllert [DIE LINKE]: Oh nein! – ger von Sozialhilfeleistungen berücksichtigt, indem Zu- Dr. Harald Terpe [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- satzbeiträge von ihnen gar nicht erhoben werden. Das NEN]: Nein, das hätte ich nicht gemacht! Den wäre eine Erwähnung wert gewesen – gerade von einer zweiten Schritt hätte ich nicht gemacht!) Partei wie der Linken –; denn wir haben hier auf die Zu- satzbeiträge derjenigen, die sie sich am wenigsten leisten Das Gleiche gilt auch an einer anderen Stelle. Es können, komplett verzichtet. Das halte ich für eine wich- wurde eben vorgetragen, demnächst gebe es nur noch tige Leistung und es darf nicht vergessen werden. einen Preiswettbewerb. Durch das neu eingeführte Qua- litätsinstitut werden wir die Qualitätsunterschiede der (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Kliniken und sogar der einzelnen Kassen und einzelnen der CDU/CSU) Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014 3377

Dr. Karl Lauterbach (A) Somit ist zusammenzufassen: bessere Qualität, wich- Finanzierung zurückkehren. Mit Verlaub gesagt: Das (C) tiger und richtiger Schritt in Richtung mehr Solidarität wäre einer Sozialdemokratie würdig! Aufgrund Ihrer und in Richtung eines Qualitätswettbewerbes, weg vom Niederlage im Verhandlungsprozess hätte ich mir an die- derzeitigen Preiswettbewerb, der das Gesundheitssystem ser Stelle durchaus ein bisschen mehr Demut gewünscht. nicht effizienter macht. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten sowie bei Abgeordneten der LINKEN) der CDU/CSU) Ich komme nun zu dem anderen Teil des Gesetzent- wurfes. Sie haben im Gesetzestext betont – die Staatsse- Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: kretärin hat das gerade noch einmal wiederholt –, es Als nächste Rednerin hat die Kollegin Maria Klein- ginge um eine solide und nachhaltige Finanzierung. Schmeink das Wort. Nichts da! Jeder von uns hier im Saal weiß, dass wir spä- testens in der nächsten Wahlperiode erneut über die Maria Klein-Schmeink (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Finanzierung reden müssen, weil es in der Debatte und NEN): auch gesellschaftlich natürlich nicht zu vermitteln ist, Sehr geehrte Präsidentin! Liebe Kolleginnen und dass die Belastungen durch Kostensteigerungen einseitig Kollegen! Erneut konnten wir erleben, dass die Große nur den Versicherten aufgebürdet werden sollen. Sie Koalition versucht hat, sich einen Gesetzentwurf, der werden im Wahlkampf die Frage beantworten müssen, zutiefst ungerecht ist – im Wesentlichen soll nämlich der ob es sein kann, dass jeder Versicherte eine Zusatzbelas- einkommensunabhängige Zusatzbeitrag der CDU/CSU- tung von mehr als 2 bis 3 Prozent zu tragen hat, während FDP-Koalition abgeschafft und dafür ein prozentualer der Beitrag der Arbeitgeber eingefroren bleibt. Das wer- Zusatzbeitragssatz eingeführt werden, mit der Gemein- den Sie der Gesellschaft nicht verkaufen können, und samkeit, dass dieser Zusatzbeitrag alleine durch die Ver- natürlich werden wir in der nächsten Wahlperiode da- sicherten zu zahlen ist –, schönzureden. rüber wieder diskutieren müssen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) und bei der LINKEN! – Dr. Georg Nüßlein [CDU/CSU]: Hat er gut gemacht!) Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Das wird nicht gelingen, weil es im Kern darum geht, Frau Klein-Schmeink, lassen Sie eine Zwischenfrage Zusatzlasten den Versicherten aufzubürden. der Kollegin Vogler zu? – Bitte. Harald Weinberg hat gerade vorgerechnet, was das (B) Kathrin Vogler (DIE LINKE): (D) bedeutet. Ich nenne noch einmal die Zahlen: Im Kern geht es darum, dass die Versicherten in den nächsten vier Vielen Dank, Frau Präsidentin. Vielen Dank, Frau Jahren jährlich 10 Milliarden Euro mehr tragen müssen. Kollegin, dass Sie die Frage zulassen. – Ich habe einmal Das ist der Kern des Gesetzentwurfes, der heute verab- nachgeschaut, was die SPD in ihrem Wahlprogramm schiedet werden soll. hierzu versprochen hat, und möchte gern Ihre Meinung dazu hören, inwieweit das umgesetzt wurde. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Kathrin Vogler [DIE LINKE]: Das soll aus der ( [CDU/CSU]: Was ist das Tasche gezogen werden!) denn?) Karl Lauterbach hat sich sehr viel Mühe gegeben, Die SPD schreibt in ihrem Programm: darum herumzureden: Das überzeugt nicht. Ich muss Wir wollen … die Solidarität zwischen den hohen ehrlich sagen: Man kann als Verhandlungsführer stolz und den niedrigen Einkommen stärken. Und Ar- sein, wenn man meint, man hätte eine Kopfpauschale beitgeber sollen wieder den gleichen Beitrag leisten ausgehebelt. Wenn man aber im Gegenzug akzeptieren wie Beschäftigte, die muss, dass die Versicherten sämtliche Lasten aufgrund des Kostenanstiegs im Gesundheitswesen tragen müs- – und das Folgende ist fettgedruckt – sen, kann man das nicht mehr sein. Das ist nicht gerecht und nicht solidarisch, sondern eine einseitige Belastung tatsächliche Parität muss wiederhergestellt werden. der Versicherten, und darüber kann man überhaupt nicht Der nächste Satz lautet: hinwegreden. Wir werden mehr Nachhaltigkeit durch die Einfüh- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN rung einer stetig ansteigenden Steuerfinanzierung und bei der LINKEN) erreichen. Ich finde es auch perfide – Sie versuchen, ein Mäntel- Können Sie uns vielleicht erklären, ob diese Anforde- chen darum herumzuhängen –, dass darauf verwiesen rungen mit dem vorliegenden Gesetzentwurf und auch wird, dass die Versicherten jetzt auf einem Ver- mit dem Haushalt, der uns für den Einzelplan 15 vor- gleichsportal nachgucken können, welche Versicherung liegt, eingehalten werden? aufgrund eines geringeren Zusatzbeitrages etwas billiger ist. Das kann doch nicht die Lösung dafür sein. Es muss (Thomas Stritzl [CDU/CSU]: Ein knappes doch darum gehen, dass wir zu einer solidarischen „Ja“!) 3378 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014

(A) Maria Klein-Schmeink (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- ben leider in der letzten Wahlperiode erleben müssen, (C) NEN): dass eine Problemlösung verschoben worden ist. Sie ge- Ich danke herzlich, liebe Kollegin, für diese Frage, hen dieses Problem an. Aber wir sind von einer nachhal- weil die Antwort mir Gelegenheit gibt, mehr Zeit dafür tigen Regelung noch immer weit entfernt. Die Hebam- aufzuwenden, auf Folgendes hinzuweisen: men wissen zwar bis zum nächsten Jahr, wie es weitergeht. Aber die eigentliche Lösung der Haftpflicht- (Dr. Georg Nüßlein [CDU/CSU]: Das ist abge- problematik im Gesundheitswesen steht noch immer sprochen!) aus. Auch das werden wir massiv einklagen und diesen Es ist in der Tat ein gemeinsames Anliegen dieser Oppo- Diskussionsprozess vorantreiben. sition und der SPD im letzten Wahlkampf gewesen, Danke schön. deutlich zu machen: Wir wollen zu einer paritätischen Finanzierung zurückkehren. – Genau dieses Ziel wird (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN mit diesem Gesetzentwurf in keiner Weise erreicht. und bei der LINKEN) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Im Gegenteil: Durch die Kürzung des Steuerzuschus- Als nächster Redner hat der Kollege Georg Nüßlein ses zum Gesundheitsfonds wird der Gang in die Zusatz- das Wort. beiträge beschleunigt. Auch das wird dazu führen, dass es noch eher zu den ungerechten Zusatzbeiträgen kom- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und men wird. Genau so stellt es sich dar. der SPD)

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU): und bei der LINKEN) Frau Präsidentin! Meine Damen! Meine Herren! Wir Kommen wir noch einmal zum Thema „solide und reden über die Finanzierung der gesetzlichen Kranken- nachhaltige Finanzierung“. Es stellt sich die Frage: Müs- versicherung nicht unter den üblichen Vorzeichen. Übli- sen wir nicht tatsächlich zu einer nachhaltigen Finanzie- cherweise wird über Leistungseinschränkungen und rung kommen? Genau das sollte mit der Bürgerversiche- Kostendämpfungen diskutiert. Wir haben hier die einma- rung erreicht werden. Mit der Bürgerversicherung hätten lige Chance, über mehr Transparenz, mehr Wettbewerb wir die Gelegenheit gehabt, alle einzubeziehen: sowohl und mehr Qualität bei der Versorgung zu reden. Ich die Besserverdienenden als auch die kleinen Selbststän- stelle das deshalb an den Anfang meiner Rede, weil ich digen, die dadurch eine bessere Chance auf faire Bedin- glaube: Das ist der eigentlich wichtige Aspekt. (B) gungen bei ihrer Krankenversicherung hätten. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (D) Auf der anderen Seite hätten wir die Möglichkeit ge- neten der SPD) habt, andere Einkommensarten einzubeziehen. Das hätte Nun geben wir zu: Das geschieht unter dem Vorzei- zu einer soliden, nachhaltigen und sicheren Finanzierung chen einer guten Finanzlage, die einer guten Wirtschafts- unserer ansteigenden Gesundheitskosten führen können. und Beschäftigungslage geschuldet ist. Wir alle wissen, Genau das wäre der Weg, den wir hätten gehen müssen. dass das nicht zwangsläufig so bleiben muss und dass Davon, liebe Sozialdemokratie, sind Sie weiter denn je natürlich das Thema Kostenbewusstsein auf lange Sicht entfernt. für uns alle als Gesundheitspolitiker ganz entscheidend (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN bleibt. sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Weil die Frau Kollegin Klein-Schmeink das Thema Ich komme zum letzten Teil. Ich habe leider nicht Kürzung des Bundeszuschusses zum Gesundheitsfonds mehr genug Redezeit, um das Positive in diesem Gesetz- angesprochen hat, will ich deutlich sagen: In der jetzigen entwurf zu betonen. Uns ist es wichtig, dass es mit der Situation ist das vertretbar. Es ist insbesondere deshalb UPD, der unabhängigen Patientenberatung, vorangeht vertretbar, weil es keine Kürzungen bei den Zuweisun- und dass wir sie stärken. Uns ist es wichtig, dass wir zu gen an die Krankenkassen und mithin auch keine Leis- einer wirklichen Psychiatriereform kommen. tungskürzungen geben wird. Ich bitte Sie deshalb drin- gend, die Patientinnen und Patienten nicht zu ( [SPD]: Sehr gern!) verunsichern. Dazu gehört natürlich die Verlängerung der Options- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und phase im Psychiatrie-Entgeltsystem. der SPD – Harald Weinberg [DIE LINKE]: (Mechthild Rawert [SPD]: Das ist uns Ende 2015!) gelungen!) Ich will unterstreichen, dass wir auch schon den um- Das halten wir für richtig, und wir finden, dass Sie da gekehrten Weg gegangen sind. Der Bund ist sich seiner den richtigen Weg eingeschlagen haben. Wir haben mit Verantwortung absolut bewusst. Wir haben in den Kri- unseren Anträgen gezeigt, wie weit das Ganze gehen senjahren 2009 und 2010 im Rahmen des Konjunktur- müsste. Da hoffen wir auf eine weitere Debatte. paketes II den Bundeszuschuss erhöht. Dazu habe ich keine Kritik gehört, meine Damen und Herren. Ich will Ein letzter Satz zu den Hebammen. Auch da sind wir klarmachen, dass das keine Einbahnstraße ist und dass froh, dass da etwas in die Gänge gekommen ist. Wir ha- dieser Betrag wieder aufgefüllt wird. Deshalb wird der Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014 3379

Dr. Georg Nüßlein (A) Bundeszuschuss zum Gesundheitsfonds ab 2017 und linken Seite ganz unten in der Mitgliederzeitschrift. So (C) über das Jahr 2018 hinaus dauerhaft auf 14,5 Milliarden kann jeder diese Möglichkeit nutzen. Euro erhöht, sodass wir wieder den Ausgleich schaffen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Das ist ein wichtiges Thema, genauso wie viele an- NEN]: Daran werden wir Sie erinnern!) dere Fragen, die in diesem Zusammenhang eine Rolle Ein zentrales Thema der Vorredner der Opposition spielen. Mit der Regelung zum Risikostrukturausgleich waren die paritätisch getragenen Versicherungsbeiträge. versuchen wir, Gerechtigkeit zwischen den Kassen zu Frau Kollegin Klein-Schmeink hat mehr Demut einge- schaffen. Dazu soll eine verbesserte Anrechnung von fordert. Diese hätte ich an ihrer Stelle selber. Denn dass Sterbefällen auf der einen Seite und ein Ausgleich für die Arbeitnehmer anteilig mehr bezahlen als die Arbeit- Krankengeldzahlungen auf der anderen Seite beitragen. geber und der Arbeitgeberbeitrag eingefroren wird – aus Dabei melden wir allerdings auf Unionsseite noch einen wohlüberlegten Gründen, nämlich weil es um Arbeits- gewissen Gesprächsbedarf für die Zukunft an. Denn wir plätze geht –, ist keine Erfindung dieser oder der vorher- alle wissen, dass das Einkommen bzw. der Grundlohn gehenden Koalition. Das wurde vielmehr unter einer rot- eine Rolle spielt. Wir wollen, dass das im Rahmen der grünen Bundesregierung eingeführt. Daran waren die anstehenden Diskussion stärker berücksichtigt wird. Das Grünen mit beteiligt. ist ganz klar. (Beifall bei der CDU/CSU – Maria Klein- Zu dem Thema Hebammen möchte ich unterstrei- Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: chen, dass wir jetzt eine Lösung und einen gangbaren Nein!) Weg gefunden haben. Es geht um die Hebammen. Ganz wichtig ist aber auch die freie Wahl des Geburtsortes, Damals waren Sie der Auffassung, dass das der rich- und es geht um die Versorgung im ländlichen Raum. tige Weg sei. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte ganz aus- (Kathrin Vogler [DIE LINKE]: Die sind we- drücklich dem Bundesgesundheitsminister dafür danken, nigstens lernfähig! – Maria Klein-Schmeink dass er sich außerordentlich dafür engagiert hat, in die- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist sem Bereich den richtigen Weg einzuschlagen. falsch! Eingefroren wurde der Arbeitgeberan- Vielen herzlichen Dank. teil nie. Es wurde ein Sonderbeitrag einge- führt!) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der SPD) Sie haben nichts dazu gesagt, warum Sie der Meinung sind, dass das jetzt geändert werden sollte und es nicht (B) Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: (D) mehr auf die Arbeitsplätze ankommt. Als nächste Rednerin hat die Kollegin Sabine Dittmar Im Übrigen gehört zur Wahrheit auch, dass die Ar- das Wort. beitgeber über die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten immerhin rund 30 Milliarden Euro – das entspricht drei der CDU/CSU) Beitragssatzpunkten – zusätzlich zahlen. Das muss man der Vollständigkeit halber in diese Rechnung mit einbe- ziehen. Sabine Dittmar (SPD): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und (Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE Kollegen! Mit dem umfangreichen Gesetz zur Weiter- GRÜNEN]: Das ist die erste Errungenschaft, entwicklung der Finanzstruktur und der Qualität in der die es überhaupt in der Sozialversicherung ge- gesetzlichen Krankenversicherung und den 25 Ände- geben hat! – Harald Weinberg [DIE LINKE]: rungsanträgen, die wir gestern im Gesundheitsausschuss Sechswöchiger Streik hat dazu geführt!) beraten und beschlossen haben, werden wir die Finan- – Die erste Errungenschaft, die es überhaupt gegeben zierung der gesetzlichen Krankenversicherung gerechter hat, wie Sie sagen, haben Sie dann offenkundig mit auf- und nachhaltiger ausgestalten sowie die Qualität der Pa- gekündigt. Es ist schon ein bisschen Demut nötig, wenn tientenversorgung verbessern. Zuallererst – das ist die man so etwas in diesem Zusammenhang vorträgt. gute Botschaft heute –: Die unsägliche Kopfpauschale wird in wenigen Minuten hier in diesem Plenum beer- Wir gehen einen anderen Weg. Wir stärken die Bei- digt. tragsautonomie der Krankenkassen und verfolgen den Weg zu mehr Transparenz und Wettbewerb, versehen (Beifall bei der SPD) mit einem Sonderkündigungsrecht, sodass man nicht Die notwendigen Zusatzbeiträge werden zukünftig pro- dazu verurteilt ist, Herr Kollege, höhere Beiträge zu zah- zentual und einkommensabhängig erhoben und sind na- len, sondern wie in einem richtigen Wettbewerb die türlich ein Stück weit gerechter und solidarischer, Frau Krankenkasse wechseln kann. Kollegin Klein-Schmeink. Ich habe Ihnen schon das (Harald Weinberg [DIE LINKE]: Wie viele letzte Mal gesagt: Uns ist die Mehrbelastung der Arbeit- Kassen haben wir dann noch?) nehmer durchaus bewusst. Wir werden darauf einen scharfen Blick haben. Aber ich sage Ihnen auch: Wir Für entscheidend halte ich auch, dass man darauf hinge- hätten, wie Sie wissen, gerne eine ganz andere Finanzie- wiesen wird, und zwar per Brief, statt irgendwo auf der rung gehabt. Hätten Sie im September letzten Jahres ein 3380 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014

Sabine Dittmar (A) besseres Wahlergebnis erzielt, dann hätten wir das hier wird die Patientensouveränität und die Patientenkompe- (C) vielleicht auch umsetzen können. tenz weiter stärken. (Maria Michalk [CDU/CSU]: Seien Sie froh, (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten dass Sie mit uns regieren können! – Maria der CDU/CSU) Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- In den vergangenen Wochen wurde sehr viel über das NEN]: Hochmut kommt vor dem Fall!) pauschalierte Entgeltsystem in der Psychiatrie, PEPP, Ein weiterer wichtiger Bestandteil des Gesetzent- gesprochen. Mit dem nun vorliegenden Gesetzentwurf, wurfs ist die vorgesehene Gründung des Qualitätsinsti- der unter anderem eine Verlängerung der Optionsphase tuts. Für mich ist das ein echter Meilenstein in der Wei- um zwei Jahre vorsieht, nehmen wir den Druck von den terentwicklung der Versorgungsqualität, und zwar Kliniken. Das schafft Zeit, das System einer eingehen- sowohl im ambulanten als auch im stationären Bereich. den Überprüfung zu unterziehen. Ich möchte an dieser Stelle darauf hinweisen, dass hier auch externer Sachver- (Beifall bei der SPD) stand und externe Expertise notwendig sind. Der Minis- ter hat Offenheit gegenüber dieser Thematik signalisiert. Mit der Erarbeitung, Erhebung und Dokumentation von Qualitätskriterien im Gesundheitswesen wird das Institut (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten dem Gemeinsamen Bundesausschuss in der Qualitätssi- der CDU/CSU) cherung sektorenübergreifend massive Unterstützung leisten. Auf Grundlage dieser sicheren, belastbaren und Die Weiterentwicklung des Morbi-RSA hat in der öf- transparenten Daten können dann effiziente Maßnahmen fentlichen Anhörung breiten Raum eingenommen. Es zur Qualitätsverbesserung entwickelt und eingeleitet wurde deutlich gezeigt, dass hier noch großer For- werden. Für mich ist hierbei aufgrund meiner Erfahrun- schungsbedarf besteht. Ich bin der Meinung, dass die gen, die ich in 15 Jahren Hausarzttätigkeit gesammelt von der Koalition beabsichtigte Vorgehensweise, Gut- habe, und angesichts der Verunsicherung der Patienten achten in Auftrag zu geben, die den Einfluss von Grund- ein wesentlicher Aspekt, dass zukünftig Qualitätsbe- lohn, krankengeldauslösender Morbidität sowie sozio- richte der Krankenhäuser in verständlicher Sprache ver- ökonomischen und soziodemografischen Faktoren sehr öffentlicht werden. Hiermit bekommen die Patientinnen differenziert untersuchen, sinnvoll ist und dass die bis und Patienten eine echte Orientierungs- und Entschei- dahin getroffene Übergangsregelung 50/50 eine sachge- dungshilfe an die Hand, um sich in unserer vielfältigen rechte und politisch vernünftige Lösung darstellt. Versorgungslandschaft zurechtzufinden. Zur Hebammenversorgung ist heute schon einiges ausgeführt worden. Ich möchte nur unterstützen, dass (B) (Beifall bei der SPD) (D) mit diesen Sicherstellungszuschlägen und auch den ver- Ich sage in aller Offenheit: Gerne hätten wir die Pa- einbarten Qualitätssicherungsmaßnahmen ein erhebli- tientenvertretung im Vorstand des Qualitätsinstituts stär- cher Beitrag geleistet wird, um die Versorgung aufrecht- ker verankert. Hier war leider keine Verständigung mög- zuerhalten. Es ist aber auch ganz deutlich, auch von der lich. Ich meine, dass wir hier eine echte Chance vertan Frau Staatssekretärin, gesagt worden, dass noch weiterer haben. Wir werden aber darauf achten, dass die Interes- Handlungsbedarf besteht. sen der Patientenvertretung über das Beantragungsrecht Auf die Regionalkennzeichen, die für die Versor- beim Gemeinsamen Bundesausschuss in ausreichendem gungsforschung sehr wichtig sind, möchte ich jetzt nicht Maße berücksichtigt werden. näher eingehen. Wir werden auch diese einführen und Wenn ich schon bei den Patientinnen und Patienten wichtige Daten gewinnen, vor allem für die regionale bin, komme ich nicht umhin, hier und heute meiner Versorgungsforschung. Das ist auch notwendig; denn Freude über die massive Stärkung der unabhängigen Pa- wir werden uns in wenigen Monaten mit einem neuen tientenberatung Ausdruck zu verleihen. Versorgungsstrukturgesetz hier beschäftigen und werden die Herausforderungen der Versorgungsstrukturen sehr (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten intensiv diskutieren. der CDU/CSU) Jetzt bin ich erst einmal froh, dass wir heute dieses Denn sowohl die Etablierung als auch die Stärkung der Gesetz auf den Weg bringen. Ich sage: Es ist ein gutes UPD sind für uns Sozialdemokraten eine wirkliche Her- Gesetz, wir stärken unser Gesundheitssystem nachhaltig zensangelegenheit. Deswegen erfreut es mich, dass wir und fördern Qualität und Transparenz zum Wohle unse- den entsprechenden Etat auf 9 Millionen Euro aufsto- rer Patientinnen und Patienten. cken Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

und so sowohl die telefonische Beratung verbessern als Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: auch die Möglichkeit eröffnen, mehr Beratungsangebote Als letzter Redner in dieser Debatte hat jetzt der Kol- vor Ort zu schaffen. Mit der Verlängerung des Förder- lege Rudolf Henke das Wort. zeitraums haben wir für die Träger mehr Planungssicher- heit erreicht. Das ist ein großer Erfolg der Koalition und (Beifall bei der CDU/CSU) Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014 3381

(A) Rudolf Henke (CDU/CSU): (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (C) Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! neten der SPD – Zurufe von der LINKEN und Meine Damen und Herren! Ich bin Ihnen, Frau Klein- dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Schmeink und Herr Weinberg, dankbar, dass Sie dem Das hätten Sie mit uns vor den Koalitionsverhandlun- Parlament sagen, was es mit diesem Gesetzentwurf tun gen mit der SPD diskutieren müssen. Dann wären wir soll. Sie sagen, das Parlament solle diesen Gesetzent- vielleicht zusammengekommen. Aber das wollten Sie wurf ablehnen. nicht. Sie haben gesagt: Das machen wir nicht. – Dass (Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE Sie jetzt unseren guten Kompromiss mit der SPD torpe- GRÜNEN]: Genau!) dieren, weil Sie an schwarz-gelber Politik festhalten wollen – damit torpedieren Sie die ganzen anderen Ver- Jetzt muss man sich einmal fragen, was eigentlich besserungen –, ist wirklich nicht zu fassen. Die Linke passiert, wenn das Parlament Ihrer Empfehlung in dieser macht dabei mit, obwohl sie den Änderungsanträgen Debatte folgt. Sie haben gesagt, Sie fänden es richtig, gestern im Ausschuss sogar zugestimmt hat. Das ist dass die unabhängige Patientenberatung eine stärkere wirklich nicht zu fassen. Grundlage erhalte. Da reden Sie, und wir handeln. (Beifall bei der CDU/CSU) (Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Hören Sie mal, Herr Henke, das Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: ist unser Antrag! Das ist unverschämt!) Herr Kollege, wollen Sie eine Zwischenfrage zulas- Sie haben gesagt, Sie fänden es richtig, dass wir mit sen? den Monopolverträgen bei Impfstoffen für Schutzimp- fungen Schluss machen und keine Exklusivverträge Rudolf Henke (CDU/CSU): mehr haben. Jedenfalls haben Sie das im Ausschuss ge- Ja, gerne. sagt. Hier im Plenum haben Sie es nicht gesagt. Ihre Empfehlung würde dazu führen, nichts zu tun; wir han- Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: deln. Bitte. Sie haben davon gesprochen, dass die Versorgung der Hebammenhilfe verbessert werden müsse. Maria Klein-Schmeink (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Kathrin Vogler [DIE LINKE]: Das haben wir NEN): schon in der letzten Wahlperiode gefordert!) Herr Kollege, habe ich Sie richtig verstanden, dass (B) Sie im Grunde froh sind, dass die Ergebnisse der vierjäh- (D) Sie haben recht damit, aber wenn man so handelt, wie rigen Regierungszeit von Schwarz-Gelb jetzt begraben Sie das wollen, dann bedeutet das, nichts zu tun; wir worden sind und dass man den einen Zusatzbeitrag, der handeln. zugegebenermaßen mit sehr viel Bürokratie verbunden war, nun gegen einen anderen Zusatzbeitrag ausge- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- tauscht hat? Habe ich Sie richtig verstanden, dass Sie die neten der SPD) letzten vier Jahre im Ergebnis eine relativ schlechte Poli- Sie haben von der Notwendigkeit gesprochen, das tik gemacht haben? PEPP-Entgeltsystem für zwei Jahre auszusetzen und die (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Chancen in der Zwischenzeit zu nutzen. Wenn man Ihrer sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Empfehlung folgt, wird das nicht geschehen, sondern es bleibt, wie es ist. Sie tun nichts, wir handeln. Rudolf Henke (CDU/CSU): (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Nein, da verstehen Sie mich völlig falsch. Das glau- neten der SPD) ben Sie auch nicht im Ernst. Deswegen muss man sich die Frage stellen, aus wel- Die Welt dreht sich natürlich weiter. Ich habe Sie an chem Grund Sie das alles fordern. Da nennen Sie beide Ihren eigenen Ansprüchen gemessen. Ich finde, das ist eine einzige Begründung. Die Begründung ist, dass Sie ein wesentlicher Punkt. das Finanzierungssystem, das Schwarz-Gelb eingeführt hat, behalten wollen, während Sie das Finanzierungssys- Lassen Sie mich noch auf das Thema „Institut für tem, das wir von der CDU/CSU jetzt mit der SPD im Qualitätssicherung und Transparenz im Gesundheitswe- Kompromiss ausgehandelt haben, ablehnen. Weil Sie an sen“ zu sprechen kommen. Ich möchte auf etwas auf- der schwarz-gelben Politik festhalten wollen, lehnen Sie merksam machen, was in den bisherigen Debatten viel- die Änderungen bei der UPD, bei den Hebammenhilfen, leicht nicht ausreichend berücksichtigt worden ist. Herr bei den Impfstoffen und bei der Frage der PEPP-Syste- Kollege Lauterbach hat bei der Einbringung dieses Ge- matik ab. setzentwurfs von einem Quantensprung gesprochen. Die Aufgabe, Qualität zu bewerten, ist natürlich sehr kom- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) plex. Das kann in der Praxis zu riesigen Problemen füh- ren, beispielsweise beim Vergleich von Krankenhäusern. Das müssen Sie einmal Ihren Wählerinnen und Wählern erläutern. Sie drehen doch Pirouetten, wie es schlimmer Derzeit gibt es in Deutschland ungefähr 30 Listen, die nicht sein kann. die Qualität von Krankenhäusern zu vergleichen bean- 3382 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014

Rudolf Henke (A) spruchen. Die besten dieser Listen – Krankenhaus-Di- ner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/1657, den (C) rectory, Weiße Liste, Qualitätskliniken.de – sind einmal Gesetzentwurf der Bundesregierung auf den Drucksa- einer Untersuchung unterzogen worden. Dabei ist fol- chen 18/1307 und 18/1579 in der Ausschussfassung an- gendes Dilemma zutage getreten: Wenn man die Emp- zunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf fehlungen dieser drei Listen, die alle beanspruchen, das in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das jeweils beste Krankenhaus zu nennen, miteinander ver- Handzeichen. – Das sind die Koalitionsfraktionen. Wer gleicht, dann stellt man fest, dass es nur für sehr wenige stimmt dagegen? – Bündnis 90/Die Grünen und Die Krankenhäuser übereinstimmende Empfehlungen gibt. Linke. Wer enthält sich? – Niemand. Damit ist der Ge- Das heißt, der eine Führer empfiehlt eine bestimmte Kli- setzentwurf in zweiter Beratung mit den Stimmen der nik und der andere rät vom Besuch des gleichen Kran- Koalitionsfraktionen angenommen. kenhauses ab. Wir kommen zur Wir haben etwas Wichtiges getan: Durch unsere gest- dritten Beratung rigen Änderungsanträge wurde ein Punkt in die Aufträge an das Institut für Qualitätssicherung und Transparenz und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem im Gesundheitswesen aufgenommen, nämlich die Risi- Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – koadjustierung der Daten. Sie ist von zentraler Bedeu- Das sind die Koalitionsfraktionen. Wer stimmt dagegen? tung; denn nur mit einer solchen Risikoadjustierung ver- – Bündnis 90/Die Grünen und die Fraktion Die Linke. hindert man, dass man Äpfel mit Birnen vergleicht. Wer enthält sich? – Niemand. Damit ist der Gesetzent- Schließlich vergleicht man auch nicht die Leistungskraft wurf mit den Stimmen der Koalition angenommen wor- eines Läufers, der in der Ebene läuft, mit der eines Läu- den. fers, der eine 10-prozentige Steigung zu überwinden hat. Ich komme zur Abstimmung über den Entschlie- Beide unterliegen nämlich einer unterschiedlichen Auf- ßungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf gabensetzung. Die Risikoadjustierung, auf die wir uns der Drucksache 18/1664. Wer stimmt für diesen Ent- als Auftragsbestandteil für die Vergleiche und für die schließungsantrag? – Bündnis 90/Die Grünen und die Untersuchungen des Instituts verständigt haben, ist ein Fraktion Die Linke. Wer stimmt dagegen? – Die Koali- enormer Schritt. tionsfraktionen. Wer enthält sich? – Niemand. Damit ist Ich will angesichts der Tatsache, dass in der Ärzte- dieser Entschließungsantrag mit den Stimmen der Koali- schaft noch der eine oder andere ein bisschen zurückhal- tion abgelehnt worden. tend hinsichtlich dieses Instituts ist, sagen: Ich glaube, Wir setzen die Abstimmung über die Beschlussemp- dieses Institut hat die Chance, den Ärztinnen und Ärzten, fehlung des Ausschusses für Gesundheit auf Drucksache (B) den Pflegekräften, den Angehörigen anderer Gesund- 18/1657 fort. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe (D) heitsberufe, etwa den Physiotherapeutinnen und -thera- b seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des An- peuten, dabei zu helfen, ihr Ziel einer Qualitätsorientie- trags der Fraktion Die Linke auf Drucksache 18/557 mit rung der Arbeit in den Krankenhäusern leichter zu dem Titel „Einführung des neuen Entgeltsystems in der erreichen und davon wegzukommen, dass man sich aus- Psychiatrie stoppen“. Wer stimmt für diese Beschluss- schließlich an Preisen orientiert. empfehlung? – Die Koalition. Wer stimmt dagegen? – Ich bitte alle darum, sich für dieses Institut einzuset- Die Linke. Wer enthält sich? – Bündnis 90/Die Grünen. zen. Wie für die Patientenvertretung besteht auch für an- Damit ist diese Beschlussempfehlung mit den Stimmen dere die Möglichkeit, sich im Beirat daran zu beteiligen, der Koalition angenommen worden. konstruktive Vorschläge für die Beauftragung dieses In- Unter Buchstabe c empfiehlt der Ausschuss die Ab- stituts zu machen. Ich glaube, dass dieses Institut die lehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grü- Chance bieten wird, denen zu helfen, auf die es in der nen auf Drucksache 18/574 mit dem Titel „Unabhängige Versorgung eigentlich ankommt, nämlich denen, die sich Patientenberatung stärken und ausbauen“. Wer stimmt für die Patientinnen und Patienten direkt einsetzen. für diese Beschlussempfehlung? – Die Koalitionsfraktio- Ich bedanke mich sehr, dass Sie mir zugehört haben. nen. Wer stimmt dagegen? – Bündnis 90/Die Grünen und die Fraktion Die Linke. Wer enthält sich? – Nie- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- mand. Damit ist diese Beschlussempfehlung ebenfalls neten der SPD) mit den Stimmen der Koalition angenommen worden. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich rufe jetzt den Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Tagesordnungspunkt 8 auf: Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Kollege Henke feiert heute seinen 60. Geburtstag. Herr Henke, dazu Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- möchte ich Ihnen ganz herzlich gratulieren. richts des Auswärtigen Ausschusses (3. Aus- schuss) zu dem Antrag der Bundesregierung (Beifall) Fortsetzung der deutschen Beteiligung an der Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den von der internationalen Sicherheitspräsenz in Kosovo Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes auf der Grundlage der Resolution 1244 (1999) zur Weiterentwicklung der Finanzstruktur und der Quali- des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen tät in der gesetzlichen Krankenversicherung. Der Aus- vom 10. Juni 1999 und des Militärisch-Tech- schuss für Gesundheit empfiehlt unter Buchstabe a sei- nischen Abkommens zwischen der internatio- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014 3383

Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn (A) nalen Sicherheitspräsenz (KFOR) und den die Überzeugung haben, dass wir in der Europäischen (C) Regierungen der Bundesrepublik Jugosla- Union weiterhin ein großes Interesse daran haben, dass wien (jetzt: Republik Serbien) und der Repu- die gesamte Region, der gesamte sogenannte Westbal- blik Serbien vom 9. Juni 1999 kan, eine faire Chance bekommt, am Ende des Tages Schritt für Schritt mit seinen Staaten Mitglied in der Eu- Drucksachen 18/1415, 18/1653 ropäischen Union zu werden. Deshalb darf es ein Signal Bericht des Haushaltsausschusses (8. Ausschuss) von uns nach dem Motto „Nach dem Beitritt Kroatiens gemäß § 96 der Geschäftsordnung war Schluss, und jetzt geht es nicht mehr“ nicht geben. Das wäre in dieser Lage, wie sie sich jetzt darstellt, kon- Drucksache 18/1654 traproduktiv, liebe Kolleginnen und Kollegen. Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Bündnis 90/Die Grünen vor. der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE Über die Beschlussempfehlung des Auswärtigen Aus- GRÜNEN) schusses werden wir später namentlich abstimmen. Wir müssen uns mehr engagieren. Das heißt für mich Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für aber nicht, dass es automatisch mehr Geld geben sollte die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich höre dazu oder dass es einen Rabatt auf dem Weg zum Beitritt zur keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Europäischen Union geben sollte. Vielleicht wäre es schon sehr hilfreich, wenn es für die Region, insbeson- Wenn die Kolleginnen und Kollegen im Saal sich ge- dere auch für die Menschen im Kosovo, mehr Interesse setzt haben, können wir auch mit der Aussprache begin- und mehr Empathie seitens der europäischen Staaten ge- nen. – Ich eröffne die Aussprache. Ich gebe dazu als ers- ben würde. Manchmal hat man das Gefühl, dass diese tem Redner das Wort an Dietmar Nietan. Region von vielen einfach vergessen wird oder nicht (Beifall des Abg. [SPD]) mehr beachtet wird. Ich glaube, das frustriert gerade die vielen Menschen im Kosovo, die daran glauben, dass sie Dietmar Nietan (SPD): eine europäische Perspektive haben. Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Annalena Der Europäische Rat hat mit Beschluss vom 23. Mai das Baerbock [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) EULEX-Mandat bis in den Oktober 2014 verlängert. Wer sich diesen Beschluss anguckt, findet einen Satz – Ich will in diesem Zusammenhang an einen bemer- sagen wir einmal: in der EU-Sprache formuliert –, der kenswerten Artikel von Una Hajdari, einer jungen Koso- (B) nachdenklich macht. Da heißt es nämlich unter Punkt 6: varin, die als Bosch-Stipendiatin zurzeit hier weilt, erin- (D) Die EULEX-Kosovo-Mission wird in einer Lage durch- nern, der am 21. Mai, einen Tag vor der Debatte zur geführt, die sich möglicherweise verschlechtern könnte. ersten Lesung, in der taz zu lesen war. Sie hat in diesem – Ich glaube, dieser Satz bringt es auf den Punkt, warum Artikel geschrieben: es wichtig ist, das KFOR-Mandat zu verlängern. Sie wollen ein Opfer. … Von den Problemen des Es gibt unbezweifelbar Erfolge in der Heranführung Opfers wollen sie nicht allzu viel wissen. des Kosovos an die Europäische Union, es gibt große Er- Mit „sie“ in diesem Artikel meint sie die politischen Eli- folge in der Normalisierung der Beziehungen zwischen ten in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union. Ich Serbien und dem Kosovo, aber das ist immer noch erst empfehle Ihnen diesen Artikel zur Lektüre, weil er, wie der Anfang eines Weges, von dem wir natürlich hoffen, ich glaube, zum Ausdruck bringt, wie sich viele Men- dass er am Ende dazu führen wird, dass ein unabhängi- schen im Kosovo fühlen. Sie haben eher das Gefühl, ges Kosovo von allen Mitgliedstaaten der Europäischen dass KFOR eine Besatzungsarmee ist, als dass sie das Union anerkannt wird und dass das Kosovo gute nach- Gefühl haben, dass wir uns für sie interessieren und mit barschaftliche Beziehungen nicht nur zu Serbien hat. ihnen diesen Weg nach Europa gehen wollen. Aber auf diesem Weg gibt es auch Risiken. Deshalb, Weil das so ist, müssen wir alles dafür tun, dass wir liebe Kolleginnen und Kollegen, müssen wir, glaube ich, mit unserem Engagement denjenigen zur Seite stehen, beides tun: Wir müssen dieses Mandat verlängern; wir die im Kosovo rechtsstaatliche Strukturen aufbauen wol- müssen uns aber auch sehr gut überlegen, was wir als len. Wir müssen noch mehr in die Entwicklung der ge- Deutscher Bundestag, als Bundesregierung, als Europäi- samten Region investieren. Vielleicht macht es ange- sche Union tun können, um von der militärischen Mis- sichts der Erfahrungen in der Ukraine Sinn, darüber sion Schritt für Schritt immer mehr zu einer zivilen Mis- nachzudenken, ob der Westbalkan nicht so etwas wie ei- sion zu kommen; denn es ist kein Selbstzweck, dass es nen zweiten Stabilitätspakt Südosteuropa braucht. KFOR weiterhin als Mandat gibt. Wir sollten außerdem fair mit allen Ländern des (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Ingo Westbalkans umgehen. Das heißt für mich: Wir sollten Gädechens [CDU/CSU]) endlich denjenigen in der Europäischen Union auf die Ein Punkt ist für mich in diesem Zusammenhang be- Füße treten, die wie zum Beispiel Spanien oder Zypern sonders wichtig: Die Menschen, nicht nur die im Ko- eine Visaliberalisierung aus plumpen egoistischen Grün- sovo, sondern im gesamten sogenannten Westbalkan, den verhindern. Das führt nämlich dazu, dass viele, ge- dürfen nicht nur das Gefühl haben, sondern sie müssen rade junge Menschen im Kosovo das Gefühl haben, dass 3384 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014

Dietmar Nietan (A) es ihnen vor der EU-Beitrittsperspektive im ehemaligen Beides wird durch die Balkanpolitik der Bundesregie- (C) Jugoslawien zumindest hinsichtlich der Reisefreiheit rung nicht bekämpft, sondern befördert. Knapp 40 Pro- besser ging als heute. Ich glaube, das kann nicht in unse- zent der Bevölkerung des Kosovo leben in Armut, etwa rem Interesse sein, liebe Kolleginnen und Kollegen. 15 Prozent in extremer Armut. Die Hälfte der Menschen ist erwerbslos. Diese Situation hat ihre Ursache auch in (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten den Privatisierungen, die die EU und Deutschland dem der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE Kosovo als Bedingung für Unterstützung vorschreiben. GRÜNEN) Die KFOR-Truppen sorgen dafür, dass diese Privatisie- Diejenigen in der Europäischen Union, die den Ko- rungen notfalls militärisch abgesichert werden. Das ist sovo noch nicht als Staat anerkannt haben, müssen wir unglaublich. davon überzeugen, den Abschluss eines Stabilisierungs- (Dietmar Nietan [SPD]: Das, was Sie sagen, und Assoziierungsabkommens nicht zu blockieren. Mit ist wirklich unglaublich!) diesen Schritten – Visaliberalisierung, Stabilitäts- und Assoziierungsabkommen – wollen wir den Menschen im Ich gebe Ihnen gerne ein Beispiel. Im Jahr 2000 ha- Kosovo signalisieren: Es geht weiter; es gibt eine politi- ben KFOR-Soldaten die von Arbeiterinnen und Arbei- sche und ökonomische Perspektive. tern besetzte Trepca-Mine in der Nähe von Mitrovica militärisch geräumt. Das blüht den Menschen, wenn sie Das müssen wir tun, damit eines nicht passiert – nicht sich gegen den Ausverkauf ihres Landes zur Wehr set- nur im Kosovo; wir erleben es leider an vielen Stellen in zen. Die Linke lehnt es ab, die Bundeswehr zur Auf- Europa –: dass Perspektivlosigkeit gerade bei jungen standsbekämpfung in den Kosovo zu schicken. Menschen dazu führt, dass das Gift des Nationalismus – nicht nur im Kosovo – um sich greift. Ob wir es wollen (Beifall bei der LINKEN) oder nicht: Für diese Region und insbesondere für das Die Bundesregierung hat wohl auch deshalb ein Inte- Kosovo tragen wir die Verantwortung dafür, dass es vor- resse an der Stationierung von Soldatinnen und Soldaten wärtsgeht. im Kosovo, weil deutsche Unternehmen dort Geld ma- In diesem Sinne sollten wir das Mandat für KFOR chen wollen. Nun ist der Kosovo nicht gerade ein lukra- verlängern, aber auch an die zivile Perspektive denken. tiver Markt, aber paradoxerweise subventioniert die Nur in Kooperation mit den Menschen und mit Empathie Bundesregierung den Unterhalt deutscher Kohlekraft- für die Menschen vor Ort wird es dort einen Fortschritt werke in diesem Land. Deutsche Steuergelder werden geben. dafür eingesetzt, dass Vattenfall und Co. Profite machen und die Luft im Kosovo verpesten. Vielen Dank. (B) (Dietmar Nietan [SPD]: Das ist unglaublich!) (D) (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE Gleichzeitig tönt Herr Gabriel von einer Energiewende. GRÜNEN) Das ist Heuchelei. Die Linke wird das nicht akzeptieren. (Volker Kauder [CDU/CSU]: Das tut einem weh, Vizepräsident : körperlich weh, was Sie hier erzählen!) Als nächster Rednerin erteile ich der Abgeordneten – Stimmt es oder stimmt es nicht? Nehmen Sie dazu ein- Inge Höger, Fraktion Die Linke, das Wort. mal Stellung. (Beifall bei der LINKEN) (Ingo Gädechens [CDU/CSU]: Das stimmt: Die Rede tut körperlich weh! – Dr. Rolf Inge Höger (DIE LINKE): Mützenich [SPD]: Das ist eine gewisse Dia- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Bevor ich lektik!) zum Kosovo komme, möchte ich ein paar Worte zur Lage in Bosnien-Herzegowina sagen. Das Land wurde Auch an den ethnischen Spannungen im Kosovo ist unlängst von einer Jahrhundertflut erfasst. Angesichts die Bundesregierung nicht unbeteiligt. Dass sich die der humanitären Katastrophe in dieser Region ist es be- Bundesregierung 1999 einseitig auf die kosovo-albani- dauerlich, dass die Notlage der Menschen so wenig Be- schen Separatisten gestützt hat und sich für sie starkge- achtung in Deutschland findet. macht hat, ist hinlänglich bekannt. Aktuell muss ich mich aber sehr wundern, dass Ministerin von der Leyen (Beifall bei der LINKEN) meint, es sei gelungen, den Kosovo von einer gespalte- nen in eine inklusive Gesellschaft zu verwandeln. Beobachter gehen davon aus, dass die materiellen Schä- den größer sind als die im Krieg vor 20 Jahren. Ich selbst ( [CDU/CSU]: Auf diesem Weg werde mir nächste Woche die Hochwasser- und Erd- sind wir!) rutschgebiete ansehen und mit den Betroffenen reden. Die Menschen dort brauchen keine Bundeswehr, son- Frau Ministerin, haben Sie sich auch mit den einfachen dern humanitäre Hilfe und Unterstützung. Menschen des Landes unterhalten oder nur mit Soldatin- nen und Soldaten? (Beifall bei der LINKEN) Ungeachtet des Brüsseler Abkommens, das eine Nor- In Bosnien wie im Kosovo hängen zwei Probleme malisierung der Beziehung zwischen Serbien und dem eng zusammen: Armut und ethnischer Nationalismus. Kosovo postuliert, nehmen die Spannungen zwischen Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014 3385

Inge Höger (A) Albanern und Serben nicht ab. Sinti, Roma, Juden und fang sei gesagt: Diese Geschichts- und Wahrheitsverzer- (C) andere Minderheiten sind von massiver Diskriminierung rung, ja Wahrheitsverfälschung, die Sie hier betreiben, bedroht. Ich habe den Kosovo mehrere Male besucht ertragen wir nicht. und muss sagen, dass zur Bezeichnung „inklusive Ge- sellschaft“ sehr viel Fantasie gehört. Schönreden hilft (Inge Höger [DIE LINKE]: Das kann ich alles nicht. belegen!) (Beifall bei der LINKEN) Das können wir fast nur unter Schmerzen wahrnehmen. Das soll es aber auch schon zu Ihren Ausführungen über Auch die Parlamentswahlen am kommenden Sonntag den KFOR-Einsatz gewesen sein. stehen unter keinem guten Stern. Das Handelsblatt vom 1. Juni findet dazu sehr klare Worte – ich zitiere –: Im Übrigen ist das eine Beleidigung für die Soldatin- nen und Soldaten, die dort Dienst tun. Das darf ich an Es ist ein offenes Geheimnis, dass die Parteien in dieser Stelle auch einmal sagen. der Regel von einigen wenigen Oligarchen abhän- gig sind, die durch Stimmenkauf und Manipulatio- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie nen der Wählerlisten größeren Einfluss auf den bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE Wahlausgang haben als die Bürger selbst. GRÜNEN) (Dietmar Nietan [SPD]: Gott sei Dank gibt es 15 Jahre nach dem Ende des Kosovo-Krieges geht es das in Russland nicht!) darum, die Geschichte des Annäherungsprozesses zwi- schen ehemaligen Kriegsfeinden verantwortungsvoll Dass sich im Kosovo in Zukunft etwas Grundlegen- fortzuschreiben. Es geht darum, die Sicherheit für die des ändern könnte, wird nicht erwartet, weil die Menschen auf dem westlichen Balkan zu stärken und ih- Kandidaten fürs Parlament in der Regel bekannte nen damit Hoffnung auf eine attraktive Zukunft zu ge- Gesichter sind. ben. Die Spuren des Guerillakrieges nach dem Ausein- (Dietmar Nietan [SPD]: Was machen wir anderbrechen Jugoslawiens sind nicht erst nach der jetzt?) verheerenden Flut der vergangenen Wochen gewisser- maßen an das Tageslicht geschwemmt worden. Wie in der Ukraine unterstützt die Bundesregierung auch im Kosovo eine Clique von Oligarchen, die sich berei- Das Kosovo zählt zu den ärmsten Ländern in Europa, chern, während der Großteil der Menschen in Armut und die Menschen brauchen greifbare Perspektiven. Das lebt. Mit dieser Politik muss endlich Schluss sein. haben wir Ihnen 2003 auf dem Gipfel von Thessaloniki versprochen. Daran hat sich nichts geändert. Dazu ste- (B) (Beifall bei der LINKEN) hen wir noch heute. (D) Die KFOR-Truppen sind ein fester Bestandteil des Die Geschichte zeigt uns in den Ländern des westli- ganzen Schlamassels. Die NATO hat 1999 bei ihrem chen Balkans auf beeindruckende Weise, wie man aus völkerrechtswidrigen Angriffskrieg auf Jugoslawien einer schier ausweglos erscheinenden Situation gleich- auch Uranmunition eingesetzt. Besonders betroffen ist wohl den Weg in eine friedliche Zukunft finden kann, der Kosovo. Ein hoher Staatsbeamter aus Pristina hat obwohl die ethnischen, religiösen und politischen Ge- mir unter vier Augen verraten, dass die KFOR den Be- gensätze zwischen Kosovaren und Serben unverändert hörden im Kosovo untersagt hat, Untersuchungen zu sind und das Konflikt- und Eskalationspotenzial nach Umfang und Folgen des Einsatzes von Uran durchzufüh- wie vor hoch ist, besonders im Norden des Landes. ren. Bezeichnenderweise importiert die KFOR Trink- wasser für ihre Soldatinnen und Soldaten. Kenner wis- Die Soldatinnen und Soldaten der Schutztruppe sen eben, dass Uran das Trinkwasser verseucht. KFOR sind nach wie vor ebenso wie die Rechtsstaatlich- keitsmission EULEX ein Sicherheitsanker, den wir noch (Volker Kauder [CDU/CSU]: Kenner trinken nicht lichten können. Wir sollten allerdings für die nä- Württemberger! – Heiterkeit bei Abgeordneten here Zukunft eine weitere Absenkung der Obergrenze der CDU/CSU) der Truppenstärke andenken. Die Linke bleibt dabei: Bundeswehr und KFOR rich- Gewissermaßen als Sinnbild für den nicht beendeten ten im Kosovo nur Schaden an und müssen schnell abge- Konflikt und das Überwinden bestehender Ängste steht zogen werden. Wir sagen Nein zum KFOR-Mandat. die immer noch verbarrikadierte Brücke über den Fluss (Beifall bei der LINKEN) Ivar in der geteilten Stadt Mitrovica. Immer wieder kommt es hier zu Explosionen, zuletzt vor circa zwei Wochen. Auch vor den Kommunalwahlen Ende letzten Vizepräsident Peter Hintze: Jahres war es wiederholt zu gewalttätigen Auseinander- Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Abge- setzungen gekommen. Die anhaltenden Spannungen und ordneten Peter Beyer, CDU/CSU-Fraktion. das gegenseitige Misstrauen zwischen den Bevölke- (Beifall bei der CDU/CSU) rungsgruppen im Norden machen den Einsatz der KFOR in dieser Phase der Integrationsbemühungen unabding- bar. Peter Beyer (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- Meine Damen und Herren, anfangs – und das sollten ren! Verehrte Gäste! Frau Höger, nur ganz kurz am An- wir uns noch einmal in Erinnerung rufen – waren 40 Na- 3386 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014

Peter Beyer (A) tionen mit rund 50 000 Soldaten am KFOR-Einsatz be- zählt auch die Fortsetzung der EU-Rechtsstaatsmission (C) teiligt. Mittlerweile leisten noch knapp 5 000 Soldaten EULEX sowie die insgesamt gut verlaufenen Kommu- Dienst. Seit 1999 waren zusammengenommen über nalwahlen Ende vergangenen Jahres. 100 000 deutsche Soldatinnen und Soldaten im Kosovo im Einsatz. Für ihren wichtigen Beitrag zu Stabilität, Niemand sollte dabei allerdings in der Illusion leben, Frieden und Sicherheit an der serbisch-kosovarischen sich ausruhen zu können. Die dringend erforderliche Staatengrenze sage ich ausdrücklich Danke. Wahlrechtsreform, die eine Durchführung von Wahlen nach internationalen Standards garantieren sollte, ist an- (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. zumahnen. Noch nicht beantwortet wurde die Frage Niels Annen [SPD]) nach den Sitzen für Minderheiten im Parlament. Darüber hinaus wird sich bei den Wahlen am 8. Juni 2014 zeigen, Solange der Normalisierungsprozess nicht abge- wie die Eingliederung des Nordens gelingt und ob in Zu- schlossen ist und niemand die Sicherheit und den Frie- kunft der bereits angemahnte Abbau von Parallelstruktu- den für die Region garantieren kann, wäre es schier ren sowie eine stärkere Einbindung in das kosovarische unverantwortlich, das aktuelle internationale Sicher- Staatengefüge wirklich erkennbar werden. heitsgefüge im Kosovo aufzugeben. Es gilt, das Er- reichte für die Menschen vor Ort zu sichern und Rück- schritte zu verhindern. Vizepräsident Peter Hintze: Herr Kollege, ein kurzer Blick auf die Zeit, bitte. Das Normalisierungsabkommen vom April letzten Jahres, das sogenannte Brüsseler Abkommen, ist ein Peter Beyer (CDU/CSU): wichtiger Schritt auf einer vielsprossigen Leiter vom Genau, ich komme zum Schluss. – Auch mit Blick Dauerkonflikt hin zu einer friedlichen Koexistenz und auf die bevorstehenden Parlamentswahlen am kommen- damit zu einer sicheren Nachbarschaftspolitik. Die kon- den Sonntag erwarten wir, dass der Dialogprozess mit krete Implementierung als nächste Sprosse auf dem Weg Serbien von beiden Seiten mit großer Ernsthaftigkeit in die angestrebte EU-Mitgliedschaft erfordert dabei ak- fortgesetzt wird; denn wer beitreten will, muss beitragen. tives und konkretes Handeln, gerade in Bezug auf den technischen Dialog. Herzlichen Dank. Die Auflösung der Parallelstrukturen im finanziellen (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie und im Justizbereich im Norden des Kosovo ist nach wie bei Abgeordneten und des BÜNDNISSES 90/ vor nicht erreicht. Hier ist Serbien in der Pflicht. DIE GRÜNEN) Besonders heikel ist die Regelung zum Appellations- (B) gericht. Nach wie vor liegen keine Auflistung und keine Vizepräsident Peter Hintze: (D) Übersicht aller von Serbien geleisteten Zahlungen vor. Als nächster Rednerin erteile ich der Abgeordneten Die vollständige Einrichtung des serbischen Gemeinde- Dr. Franziska Brantner, Bündnis 90/Die Grünen, das verbundes ist nicht vollzogen. Das alles sind Herausfor- Wort. derungen, ja Bedingungen für eine erfolgreiche Heran- führung an europäische Standards. Dr. Franziska Brantner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN): Zur Wahrheit gehört auch, zu sagen, dass Europa bedauerlicherweise selbst noch nicht bereit für eine Herzlichen Dank. – Liebe Kolleginnen! Liebe Kolle- Aufnahme des Kosovo in die Staatengemeinschaft ist. gen! Vorrednerinnen und Vorredner haben es schon Kollege Nietan hat es ausgeführt: Immer noch verwei- gesagt: Die Annäherung zwischen Serbien und dem gern fünf EU-Mitgliedstaaten dem Kosovo die völker- Kosovo geht in den nächsten Monaten in eine kritische rechtliche Anerkennung. Das ist wenig ruhmreich und Phase. Das Abkommen vom April des letzten Jahres muss sich alsbald ändern. Zudem halte ich es für überfäl- wurde schon erwähnt. Wir wissen aber gleichzeitig auch, lig, den Menschen des Kosovo Reisefreiheit einzuräu- dass es immer noch Kräfte gibt – rechtsextreme Serben, men. Es ist das einzige Land der gesamten Region, für aber auch Angehörige der organisierten Kriminalität, die dessen Bürger eine Visumspflicht für den Schengenraum gar nicht unbedingt eine nationale Agenda verfolgen –, besteht. Auch hier sollten die Anstrengungen zur Anpas- die eine Annäherung verhindern wollen. Sie schrecken sung der Situation verstärkt werden. vor Gewalt nicht zurück. Das zeigen die Angriffe auf die Kommunalwahlen im November und auch wiederholte (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der Beschüsse der EULEX-Mission im Norden. Deshalb ist SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- der KFOR-Einsatz in dieser Übergangsphase der – zu NEN) hoffenden – Annäherung immer noch notwendig. Einiges ist bereits im Kosovo geleistet worden. So ist Sie haben schon die Parlamentswahlen erwähnt, die die Einrichtung eines Sondertribunals als positiv zu jetzt am Sonntag anstehen. Wir sollten den Grund dafür werten. Es soll die mutmaßlichen Verbrechen der koso- in Erinnerung rufen: Das war eine Abstimmung über varischen Befreiungsarmee untersuchen. Gerade für die eine eigene kosovarische Armee im Parlament, für die es politische Landschaft im Kosovo spielt diese Entschei- keine Mehrheit gab. Alle Serben haben dabei den Saal dung eine wichtige Rolle; denn diese wurde – nach eini- verlassen. Darum gibt es jetzt Neuwahlen. In der Diskus- gen Widerständen – von einer breiten Mehrheit im Parla- sion um eine eigene kosovarische Armee – die vielleicht ment getragen. Zu den anerkennungswerten Punkten in dieser Phase nicht sehr hilfreich für den Annäherungs- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014 3387

Dr. Franziska Brantner (A) prozess ist – war es für die Gegner dieser eigenen Armee (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (C) wichtig, sagen zu können: KFOR ist ja da. – In dieser Si- sowie der Abg. [DIE LINKE] tuation KFOR abzuziehen, wäre fatal und politisch nicht und Dr. Katarina Barley [SPD]) wünschenswert. Wir brauchen endlich einen bundesweiten Abschiebe- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, stopp für Roma und andere Minderheitenangehörige aus bei der CDU/CSU und der SPD) dem Kosovo und eine Visumfreiheit für die Bürger des Kosovo, um zu verhindern, dass es als einziges, letztes Für Serbien muss aber auch klar sein: Ein EU-Beitritt kleines Land keinen Anschluss an Europa hat. ist nur möglich, wenn das Kosovo bis dahin völkerrecht- Ich danke Ihnen. lich anerkannt ist. Ein zweites Zypern kann sich die Europäische Union nicht leisten, und Serbien darf den (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Beitritt des Kosovo nicht blockieren. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Wir wissen, dass die Bedrohung immer noch vorhan- Vizepräsident Peter Hintze: den ist, dass wir im Kosovo eine Art zweite Republika Als nächster Rednerin erteile ich der Abgeordneten Srpska bekommen können und die serbischen Strukturen Julia Bartz, CDU/CSU-Fraktion, das Wort. nicht wirklich in das Land integriert werden. Das müs- (Beifall bei der CDU/CSU) sen wir verhindern. Wir müssen daran arbeiten, dass auch diese Menschen sich im Kosovo wirklich zu Hause fühlen. Julia Bartz (CDU/CSU): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Ich hoffe sehr, dass die serbischen Kosovaren bei den Kollegen! Vor zwei Monaten hat die NATO, 15 Jahre Parlamentswahlen, die jetzt anstehen, ihr Wahlrecht nach dem Ende des Kosovokrieges, den oberen Luft- wahrnehmen, sich beteiligen und nicht auf die Boykott- raum über dem Balkanstaat wieder für zivile Flugzeuge forderungen einzelner Vertreter der serbischen Minder- geöffnet – ein kleines Stück Normalität, das viele posi- heit eingehen. Wir hoffen, dass der Friedensprozess tive Begleiteffekte mit sich bringt. durch die Wahl gestärkt werden kann. Seit 15 Jahren entsenden wir Jahr für Jahr unsere (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Soldatinnen und Soldaten in das Kosovo, seit 15 Jahren sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und verlängern wir Jahr für Jahr das Mandat. Mittlerweile ist (B) der SPD) das Amselfeld vielen Bürgerinnen und Bürgern nur mehr (D) als Weinbauregion bekannt, und das „Land der Skipeta- Uns belastet die Hypothek, dass die Anerkennung des ren“ wird vermehrt wieder als Schauplatz der Geschich- Kosovo durch fünf Mitgliedsländer der Europäischen ten Karl Mays betrachtet. Wer aber denkt, wir bräuchten Union immer noch aussteht. Es ist wirklich eine Krux, den Einsatz nicht mehr, den dürfte spätestens die Krise dass sie das Kosovo immer noch nicht anerkannt haben. in der Ukraine eines Besseren belehrt haben. Präsident EULEX hat deswegen Probleme vor Ort. Die Mission ist Putin bemühte in aller Unsachlichkeit eine von ihm nicht so stark, wie sie sein sollte, von ihren Rechten her, konstruierte Parallele, nämlich zwischen der Unabhän- von ihrem Ansehen her, von der Komplexität der Struk- gigkeit des Kosovo und dessen unverändert bestehenden turen her. Dass wir es immer noch nicht hinbekommen Problemen mit der Situation auf der Krim sowie der haben, dass die gesamte EU das Kosovo anerkennt, ist Lage in der Ostukraine. Doch der völkerrechtliche Ver- eigentlich eine Schande für die Europäische Union. Ich gleich des Kosovokrieges mit der Kriminvasion hinkt; hoffe, dass die Bundesregierung ihren Beitrag dazu leis- die Hinter- und Beweggründe sind vollkommen ver- tet, dass endlich die letzten fünf Länder davon überzeugt schieden. werden können, das Kosovo anzuerkennen. Seit 15 Jahren stabilisieren wir eine Region, in der ein (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Völkermord geplant war, der in letzter Minute abgewen- sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und det werden konnte, der SPD) (Inge Höger [DIE LINKE]: Immer die glei- chen Parolen!) Lassen Sie mich am Ende ein Wort zur Lage der Roma im Kosovo sagen: Ihre Situation ist unverändert vor unserer Haustür, in Europa, in einer Region, in der schlecht. UNICEF berichtet auch von der unzumutbaren 28 Staaten friedlich miteinander leben, an der Schwelle Lage der Rückkehrer, vor allem der Kinder. Drei Viertel zwischen Abendland und Morgenland. Nicht erst seit der Kinder gehen nach der Rückkehr in das Kosovo Ivo Andrics Schilderungen in seinem Werk Die Brücke nicht mehr zur Schule. Sie erkranken körperlich und see- über die Drina wissen wir, welch langes kulturelles Ge- lisch. In der Regel sprechen diese Kinder Deutsch, aber dächtnis und welcher Stolz die Völker dieser Region weder Albanisch noch Serbisch. Insgesamt ist die Lage verbinden – Eigenschaften, die uns mitunter fremd er- dort weiterhin von Ausgrenzung und Diskriminierung scheinen, wo wir selbst mit ehemaligen Gegnern heute geprägt. UNICEF und Amnesty International fordern wunderbare Freundschaften pflegen. Doch gerade die deswegen, die Abschiebung von Minderheitenangehöri- Vertreter nationaler Maximalpositionen beziehen sich gen in das Kosovo zu stoppen. noch heute auf Geschehnisse, die vor 600 Jahren stattge- 3388 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014

Julia Bartz (A) funden haben, und empfinden für das Amselfeld wie an- Wolfgang Hellmich (SPD): (C) dere für Jerusalem. Diese Maximalpositionen wurden in Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! den letzten 15 Jahren so weit verlassen, dass heute mitei- Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Sie der nander geredet und nicht mehr aufeinander geschossen Debatte folgen! Frau Höger, ich will vorab zwei Punkte wird. Deshalb sind heute nicht mehr 50 000 Soldatinnen klarstellen: Sie waren gestern ebenso wie ich in der Sit- und Soldaten nötig, sondern nur noch ein Zehntel davon. zung, in der wir uns über die Frage unterhalten haben, Doch die sind eben noch nötig. Im Norden des Kosovo, wie wir mit den Minen in Bosnien-Herzegowina umge- wo sich die serbische Bevölkerungsminderheit konzen- hen. Sie haben den Ausführungen des Vertreters des triert, weigern sich die meisten Serben immer noch, die Auswärtigen Amtes zugehört und haben erfahren, an Zentralregierung in Pristina anzuerkennen. Im Parla- welchen Initiativen sich die Bundesregierung beteiligt ment, wo sie aufgrund von Schutzklauseln großen und dass mehr Geld gegeben wird, um das Problem zu Einfluss haben, boykottieren sie die Bildung einer eige- lösen. Angesichts dessen ist das, was Sie hier gesagt ha- nen Armee. Parlamentsauflösung und Neuwahlen sind ben, schlichtweg eine Frechheit. Oder Sie waren in einer derzeit die Folge, aber eben kein Bürgerkrieg. anderen Sitzung als ich. Die Region bewegt sich in die richtige Richtung, aber (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der nur langsam. Zu Gesprächen und Verhandlungen, wie CDU/CSU) schmerzhaft und schwer sie für alle Seiten in Zukunft Der zweite Punkt. Dass 25 Jugendliche aus dem auch sein mögen, gibt es keine Alternative, zumindest Kosovo, die ehemals Flüchtlinge waren, aber in den keine, die wir uns für Europa wünschen. Dafür brauchen Kosovo zurückgekehrt sind, unterstützt von der Hand- wir den Schutz von KFOR. 15 Jahre KFOR, das ist eine werkskammer Dortmund in einem dualen System – in lange Zeit; das entspricht fast vier Legislaturperioden. Dortmund und im Kosovo – als Handwerker ausgebildet werden, ist für mich ein gutes Beispiel. Es zeigt, was Sehr geehrte Gäste und Zuschauer! Gerne möchte ich dieses Land tatsächlich braucht: Es braucht Initiativen, die Mandatsverlängerung zum Anlass nehmen, zu erklä- mit denen die Wirtschaftskraft gestärkt und die Bildung ren, wie wir solche Entscheidungen treffen. Unsere aus- verbessert wird. Das ist garantiert kein Beispiel dafür, schlaggebenden Kernfragen bei allen Einsätzen der Bun- dass das Land ausgebeutet wird, wie Sie vonseiten der deswehr lauten: Was ist unser nationales Interesse? Linken das behaupten. Ich glaube, es ist richtig, dieses Welchen beabsichtigten Zielzustand legen wir zu- Programm weiterzuführen. Wir brauchen mehr solcher grunde? Was wollen wir mit dem Einsatz wirklich errei- Initiativen. chen, und wann beenden wir den Einsatz? Für den Ein- (B) satz im Kosovo sind die naheliegenden Antworten auch (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der (D) die Erklärung, warum 15 Jahre gar nicht so lang sind und CDU/CSU) wir vielleicht noch eine 20. oder 25. Verlängerung erle- ben werden: Es liegt in unserem besonderen nationalen An dieser Stelle danke ich den Soldatinnen und Sol- Interesse, in einem einigen und friedlichen Europa zu le- daten der KFOR, die mit ihrem Einsatz die Rahmenbe- ben. Dazu gehört auch der Westbalkan. Eine rechtsstaat- dingungen für solche Initiativen aufrechterhalten. Es liche Entwicklung dieser Länder ist der Schlüssel zum geht darum, die öffentliche Sicherheit zu garantieren, da- mit all diese Initiativen im Kosovo Platz greifen können, Erfolg. Einen Misserfolg würden wir zu spüren bekom- damit diese Initiativen den Raum haben, politisch, ge- men. Organisierte Kriminalität kennt nämlich keine sellschaftlich und zivil zu wirken. Das ist der Kern. Es Grenzen. geht nicht nur um militärische Fragen, sondern es geht (Zuruf der Abg. Inge Höger [DIE LINKE]) vor allem darum, über den KFOR-Einsatz die zivile Ent- wicklung dieses Landes zu ermöglichen. Das ist Kern, Dieser Einsatz darf erst beendet werden, wenn diese Sinn und Auftrag aller Missionen, über die wir in diesem Länder stabile Demokratien sind, in denen man ethnien-, Zusammenhang reden. religions- und kulturübergreifend friedlich über die ge- meinsame Geschichte sprechen kann, eine Geschichte, Wir können auf der Habenseite Fortschritte im Kosovo verzeichnen. Diese Fortschritte müssen wir auf- die auch ein wesentlicher Teil unserer europäischen zählen, weil das die Punkte sind, um die wir uns geküm- Geschichte darstellt. Deshalb bitte ich Sie alle um Ihre mert haben: Im Herbst soll der Beschluss über das SAA- Zustimmung für die weitere Unterstützung unserer Abkommen zwischen dem Kosovo und der EU gefasst Nachbarn. werden. Bei der Polizei wurden die Parallelstrukturen im (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Norden des Kosovo abgebaut; die Bezahlung der neten der SPD) kosovarischen Polizei erfolgt jetzt komplett durch den Kosovo und nicht über Serbien. Wir haben vorgestern Abend gehört, wie aus Belgrad der Aufruf an die serbi- Vizepräsident Peter Hintze: schen Minderheiten im Norden des Kosovo erging, sich Nächster Redner ist der Abgeordnete Wolfgang bitte an der Parlamentswahl zu beteiligen und diese nicht Hellmich, SPD-Fraktion. zu boykottieren. Ich glaube, das alles sind positive Si- gnale, mit denen die Nachbarn, die Kosovaren selber (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten und auch die Serben im Kosovo deutlich machen, dass der CDU/CSU) sie an einer friedlichen Entwicklung des Landes interes- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014 3389

Wolfgang Hellmich (A) siert sind und vorankommen wollen. Wir sollten das Vizepräsident Peter Hintze: (C) nicht behindern. Liebe Kolleginnen und Kollegen – insbesondere die, die sich jetzt unterhalten –, jeder möge sich einmal kurz (Beifall bei der SPD) vorstellen, dass er hier am Pult steht und als einer der letzten Redner in einer solchen Debatte zu sprechen hat Im Gegenteil: Wir sollten durch eine positive Entschei- und dann in ein allgemeines Gemurmel hineinspricht. dung über dieses Mandat deutlich machen, dass wir un- Ich finde das erstens unkollegial und unfair. serer europäischen Verantwortung nachkommen, Sicher- heit, Stabilität und die Sicherheit des öffentlichen (Beifall) Raumes für die Menschen im Kosovo zu garantieren. Zweitens müssen unsere Besucher auf den Tribünen ei- nen unguten Eindruck von uns bekommen. Deswegen Erfreulich ist, dass wir in diesem Zusammenhang als wäre es schön, wenn es etwas zu besprechen gibt, das „third responder“ über die KFOR immer weniger gefragt draußen zu tun oder jetzt dem letzten Redner zuzuhören. sind. Das zeigt, dass die kosovarischen Institutionen auf- grund der Strukturen auch selber zunehmend mehr in der Ich erteile das Wort dem Abgeordneten Roderich Lage sind, die öffentliche Sicherheit herzustellen und im Kiesewetter von der CDU/CSU-Fraktion. öffentlichen Raum aufzutreten. Wir schätzen die Bedro- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- hungslage insgesamt als mittel, im Norden als etwas neten der SPD) stärker ein. Die Menschen dort sagen uns, dass, wenn wir die KFOR zurückziehen, sie nicht wissen, in welche Roderich Kiesewetter (CDU/CSU): Richtung sich das Land entwickeln wird. Sie bitten uns, einem solchen Mandat zuzustimmen und ihnen zu hel- Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich glaube, fen, ihr Land friedlich weiterzuentwickeln. am Ende dieser sehr klugen und übergreifend geführten Ja, es gibt lokale Konflikte, aber Gott sei Dank keine Debatte – bis auf eine Ausnahme: die Linken – ethnischen Konflikte. Wir wissen, dass eine traumati- (Beifall des Abg. Peter Beyer [CDU/CSU]) sierte Situation, die sich tief in die Seelen der Kosovaren eingegraben hat, nicht unbedingt in 10 oder 15 Jahren zu können wir als Bundestag uns durchaus einmal in Erin- beseitigen ist. Es wird eine Generation und mehr dauern nerung rufen, was in den letzten 15 Jahren erreicht – diese Erfahrung haben wir selber gemacht –, um die wurde. Menschen davon zu überzeugen, dass es sich lohnt, et- Wer hätte sich vorstellen können, dass wir heute im was dafür zu tun, um in einem sicheren Land zu leben. Bundestag laut und offen darüber debattieren, ob nicht (B) Diejenigen, die im Ausland Gelder erwirtschaften und dem Kosovo in gewissem Rahmen eine Visafreiheit zu- (D) diese in den Kosovo schicken, um ihre Familien zu er- gestanden wird? Ich bin dem Kollegen Beyer ausdrück- nähren, müssen im Kosovo selber eine Chance haben, zu lich dankbar für diesen Hinweis. Wer hätte sich vor arbeiten, zu wirken, produktiv zu sein und ihr Land wei- 15 Jahren vorstellen können, dass die EU nach den Ver- terzuentwickeln. Es geht auch darum, Arbeitsplätze zu einten Nationen in verantwortlicher Mission dort mit schaffen, Rahmenbedingungen zu schaffen, damit dort über 2 000 Angestellten und Beamten für Rechtsstaat- gut gearbeitet werden kann, und funktionierende Justiz- lichkeit sorgt? Wer hätte sich vorstellen können, dass wir strukturen aufzubauen. Wir wissen, dass dazu im Kern von seinerzeit über 50 000 Soldaten heute bei knapp auch die Bekämpfung der Korruption im Kosovo gehört. 5 000 sind und wir selbst als deutsche Bundeswehr, die wir hier entsenden, von über 6 500 Soldaten bei knapp (Beifall des Abg. Michael Brand [CDU/CSU]) 700 sind? Trotzdem ist unser Land in der Verantwortung, die der Bundestag wahrnimmt, mit den Vereinigten Staa- Das muss die Aufgabe staatlicher Institutionen sein, die ten stärkster Truppensteller. wir durch entsprechende Ausbildung stärken. Unsere Lassen Sie mich, weil vieles Gute und Richtige schon Missionen sind auf die Stärkung des Staates Kosovo aus- gesagt wurde, nur auf einige wenige Aspekte eingehen. gerichtet, damit seine Gesellschaft entsprechend organi- Wer hätte sich noch vor drei oder vier Jahren vorstellen siert werden kann. können, dass sowohl die serbische Regierung, ein Pre- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) mierminister Vučić, als auch der Kosovo KFOR begrü- ßen? Wir hatten erst in dieser Woche in der Arbeits- Solange es nötig ist, eine friedliche Entwicklung zu gruppe eine klare Diskussion und Aussprache mit dem begleiten, sollten wir das mit allen Instrumenten, die wir serbischen Gesandten, der uns ausdrücklich aufgerufen haben, tun, abgesichert durch die entsprechenden Man- hat, es bei der Höhe im KFOR-Mandat zu belassen. date. Ich bitte Sie herzlich, diesem Mandat zuzustim- An dieser Stelle sollten wir aber auch – nicht nur mit men, weil es dem Kosovo und den Menschen dort hilft, Blick auf die anstehenden Wahlen im Kosovo – einen ihre Gesellschaft und ihren Staat weiterzuentwickeln. An Appell an den Kosovo richten. Die kosovarischen Si- der Stelle bitte ich Sie um Zustimmung. Wir helfen da- cherheitskräfte werden zahlenmäßig deutlich erhöht und mit dem Land. in bewaffnete Kräfte umbenannt. Das ist eine historische Chance für den Kosovo, dafür zu sorgen, dass diese Danke. Streitkräfte multiethnisch zusammengesetzt werden, (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) 3390 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014

Roderich Kiesewetter (A) dass in der Bevölkerung Vertrauen in diese Streitkräfte keine Spaltung leisten. Das hat Frau Kollegin Brantner (C) herrscht, dass diese nicht zur Eskalation eingesetzt wer- deutlich angesprochen. den, sondern dass diese Selbstverteidigungskräfte für ei- nen Ausgleich innerhalb des Landes und – das ist auch Angesichts der Entwicklungen in der Ukraine ist es der Zweck militärischer Kräfte – über Militärdiplomatie für mich als überzeugtem Transatlantiker auch erforder- für Aussöhnung in der Nachbarschaft sorgen. lich, dass die USA weiterhin in unsere Missionen einge- bunden sind. Es ist wichtig, dass sie Teil von KFOR (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie sind. Mögen sie uns dort noch lange erhalten bleiben. bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der CDU/CSU) Deshalb sollten wir alles daransetzen, dass die Präsenz Meine sehr verehrten Damen und Herren, das, was im solcher kosovarischen Kräfte auch im Nordkosovo Kosovo erreicht wurde, ist auch für unseren Bundestag selbstverständlich wird – nicht nur einvernehmlich, son- ein Ausweis guter sicherheitspolitischer Arbeit. Es ist dern so, wie es sich für ein souveränes Land gehört. die am besten erklärte Mission, über deren Fortsetzung wir heute abstimmen; sie ist viel besser erklärt als bei- Ein Wort an die Adresse Serbiens: Vom Bundestag, spielsweise der Einsatz in Afghanistan. Sie könnte als von unserer CDU/CSU-Fraktion ging vor zwei Jahren Paradebeispiel dafür dienen, wie eine notwendige si- ein Sieben-Punkte-Plan aus. Fünf dieser sieben Punkte cherheitspolitische Diskussion aussehen könnte: mit kla- sind bereits umgesetzt. Zwei Punkte sind noch nicht um- ren Interessen, die wir im Kosovo haben, mit definierten gesetzt: erstens die endgültige Anerkennung des Kosovo Aufgaben, die wir lösen wollen, mit einer klaren Zielset- durch Serbien – das erwarten wir am Ende des Prozesses – zung und vor allen Dingen – das ist das Wichtigste – mit und zweitens – das erwarten wir ebenfalls von Serbien – einer guten Erklärung für unsere Bevölkerung, warum die Ermittlung derjenigen, die die deutsche Botschaft in unsere Soldatinnen und Soldaten dort sind. Ich bitte um Belgrad im Jahr 2008 in Brand setzen wollten, und deren Zustimmung. Inhaftnahme. Ich glaube, diese Forderungen dürfen wir nicht vergessen. Danke für die Aufmerksamkeit. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie neten der SPD) bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Wir sollten auch deutlich anerkennen, wie sich der Außenminister des Kosovo darum bemüht, den Kosovo international als einen verlässlichen Partner weiterzuent- (B) Vizepräsident Peter Hintze: (D) wickeln. Ich appelliere aber auch an Albanien, weiter Ich schließe die Aussprache. mäßigend auf die albanischen Minderheiten außerhalb Albaniens einzuwirken, wie das in der Vergangenheit Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Auswärti- schon geschehen ist. Es ist wichtig, dass die Staaten des gen Ausschusses auf Drucksache 18/1653 zu dem An- westlichen Balkans gemeinsam begreifen, dass sie eine trag der Bundesregierung zur Fortsetzung der deutschen Perspektive brauchen und es nur gemeinsam erreichen Beteiligung an der internationalen Sicherheitspräsenz in können, in die Europäische Union zu kommen, und zwar Kosovo. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf nicht durch den Wettbewerb des Schlechten, sondern Drucksache 18/1415 anzunehmen. Wir stimmen über die durch die Auswahl des Besten und eine Bewerbung mit Beschlussempfehlung namentlich ab. Ich bitte die gegenseitiger Unterstützung, liebe Kolleginnen und Kol- Schriftführerinnen und Schriftführer, die vorgesehenen legen. Plätze einzunehmen. – Sind die Plätze an den Urnen be- setzt? – Das ist der Fall. Ich eröffne die Abstimmung. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE Ist ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine GRÜNEN) Stimmkarte noch nicht abgegeben hat? – Das ist nicht Wenn wir heute dem KFOR-Mandat zustimmen, soll- der Fall. Dann schließe ich die Abstimmung und bitte ten wir uns erstens bewusst sein, dass wir vor weiteren die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Aus- zählung zu beginnen. Das Ergebnis der Abstimmung Reduzierungsschritten stehen. Diese Reduzierungs- 1) schritte müssen nicht nur im Einklang mit der Sicher- wird Ihnen später bekannt gegeben. heitslage sein, sondern auch dazu führen, dass EULEX Ich bitte die Kolleginnen und Kollegen, die Plätze im bei ihrer schwierigen Aufgabe abgesichert bleibt. Denn Plenum wieder einzunehmen. – Wir kommen nun zur neben den Rechtsstaatlichkeitsaufgaben geht es immer Abstimmung über den Entschließungsantrag der Frak- noch um das Aufspüren, Verfolgen und die Festnahme tion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 18/1665. von Kriegsverbrechern. Hier braucht EULEX Absiche- Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? – Wer rung, die zuverlässig ist. stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Entschlie- Zweitens. Es gibt Überlegungen, möglicherweise in ßungsantrag ist mit den Stimmen aller Fraktionen mit einem weiteren Mandat die Europäische Union verant- Ausnahme der Stimmen der Fraktion Bündnis 90/Die wortlich zu machen. Hier warne ich vor Übereile; denn Grünen, die für ihren Antrag gestimmt hat, abgelehnt. es haben von den Schengen-Staaten mit Deutschland nur 24 Staaten den Kosovo anerkannt. Wir dürfen uns hier 1) Ergebnis Seite 3392 C Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014 3391

Vizepräsident Peter Hintze (A) Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 auf: auf die gleiche Lebensleistung zurückschauen kann – im (C) 25. Jahr nach dem Mauerfall. Das war ungerecht, das ist Beratung des Antrags der Abgeordneten ungerecht, und das bleibt ungerecht. Matthias W. Birkwald, Sabine Zimmermann (Zwickau), Caren Lay, weiterer Abgeordneter (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- und der Fraktion DIE LINKE NIS 90/DIE GRÜNEN) Angleichung der Renten in Ostdeutschland An dieser Ungerechtigkeit ändert auch Ihr Rentenpaket an das Westniveau sofort auf den Weg brin- nichts. Die Rente ab 63 ist für die vielen Hartz-IV-Be- gen troffenen im Osten nicht zu realisieren, und bei der neuen Mütterrente ist ein Kind im Osten noch immer Drucksache 18/982 4,44 Euro weniger wert als ein Kind im Westen. Das war Überweisungsvorschlag: ungerecht, und das bleibt ungerecht. Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) Ausschuss für Wirtschaft und Energie (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- Haushaltsauschuss NIS 90/DIE GRÜNEN) Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für Die Ursache dafür ist: Ein Vierteljahrhundert nach dem die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei- Einheitsvertrag liegt der Rentenwert im Osten mit nen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. 26,39 Euro noch immer knapp 7,8 Prozent unter dem Ich eröffne die Aussprache. Als Erster erhält Matthias Rentenwert im Westen mit 28,61 Euro. W. Birkwald, Fraktion Die Linke, das Wort. Es stimmt: Der Abstand hat sich über die Jahre lang- (Beifall bei der LINKEN) sam verringert. Aber keine Bundesregierung hat bisher die Gerechtigkeitslücke geschlossen. CDU, CSU, SPD, Grüne, sie alle haben hier gemeinsam versagt. Matthias W. Birkwald (DIE LINKE): Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her- (Beifall bei der LINKEN – Beate Müller- ren! Zur Angleichung der Renten in Ostdeutschland an Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: das Westniveau hat die Bundeskanzlerin gesagt – ich zi- Na ja!) tiere –: Es stimmt: Ein einheitlicher flächendeckender gesetzli- Ich stehe dazu, dass wir eine solche Angleichung cher Mindestlohn wird die Rentenlücke verkleinern, von Ost und West brauchen. Ich würde … sagen, aber besonders dann, wenn er bei 10 Euro liegen würde; dass das Thema in den ersten beiden Jahren der denn im Osten erhalten rund 40 Prozent der Beschäftig- (B) nächsten Legislaturperiode erledigt sein wird. ten weniger als 10 Euro brutto die Stunde. 10 Euro Min- (D) destlohn, das würde die Ostrenten den Westrenten ein Herr Kollege Weiß, das hat die CDU-Vorsitzende deutliches Stück näherbringen. Angela Merkel Anfang Juni 2009 bei der Eröffnung des 9. Deutschen Seniorentages in Leipzig versprochen, also (Beifall bei der LINKEN) vor der Bundestagswahl vor fünf Jahren. – Im Koali- Meine Damen und Herren von der Koalition, Sie ha- tionsvertrag 2009 hieß es dann – Zitat –: ben in Ihrem Koalitionsvertrag festgelegt, erst 2016 zu Wir führen in dieser Legislaturperiode ein einheitli- prüfen, ob man 2017 vielleicht etwas machen muss, um ches Rentensystem in Ost und West ein. dann irgendwie zu einer Angleichung der Renten im Jahr 2020 zu kommen. Das alles erzählen Sie seit Jahren. Da- Nach der Bundestagswahl 2009: Pustekuchen! Nach der von stimmt kein Wort. Ich sage Ihnen: Die Ostdeutschen Bundestagswahl ist nichts passiert – bis heute, Juni haben Ihre Vertröstungen satt. 2014. Versprochen, gebrochen – das ist die beschämende Rentenpolitik der CDU für die Rentnerinnen und Rent- (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. ner im Osten. Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN]) (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN) Mit Tippelschritten und dem Hoffen auf eine automa- tische Lohnangleichung kommen wir hier nicht weiter. Und die SPD? Die SPD forderte im Juni 2013, also Die Lohnangleichung stagniert seit Mitte der 90er-Jahre vor der vergangenen Bundestagswahl, in einem Extra- bei unter 80 Prozent. Da tut sich nichts. Deshalb sagen Wahlkampfantrag, einen Gesetzentwurf zu erarbeiten, wir Linken als einzige Partei in diesem Hause: Die An- „der die vollständige Angleichung des aktuellen Renten- gleichung der Renten im Osten an das Westniveau muss wertes (Ost) an den aktuellen Rentenwert in Stufen“ vor- jetzt sofort auf den Weg gebracht werden. sah. Dieses Gesetz sollte 2014 in Kraft treten. Tja, so spricht man vor der Wahl. Nach der Wahl ist davon (Beifall bei der LINKEN) nichts mehr zu sehen. Ich fordere Sie auf: Führen Sie zum 1. Juli dieses Jahres (Beifall bei der LINKEN) einen steuerfinanzierten und stufenweise steigenden Zu- schlag ein, und zwar so, dass die Rentenwerte in Ost und Das heißt: Ein Standardrentner in Rostock erhält nach West bis zum Jahresende 2017 vollständig angeglichen 45 Jahren Arbeit zum Durchschnittslohn noch immer sein werden! Das würde jede Steuerzahlerin und jeden 100 Euro weniger Rente als ein Rentner in , der Steuerzahler in diesem Jahr durchschnittlich nur 1,80 Euro 3392 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014

Matthias W. Birkwald (A) im Monat kosten. 1,80 Euro – das ist doch finanzierbar. Ich komme zum Schluss. Unser Antrag beruht im (C) Das sollte Ihnen die Umsetzung des Prinzips „Gleiche Kern auf dem Stufenmodell des Bündnisses für die An- Rente für gleiche Lebensleistung“ wert sein. gleichung der Renten in den neuen Bundesländern. Dazu gehören Verdi, die GEW, die EVG, die GdP und die (Beifall bei der LINKEN) Volkssolidarität, der Sozialverband Deutschland, die Ar- beiterwohlfahrt, der Beamtenbund und sogar der Bun- Wenn die Löhne und Gehälter in den östlichen Bun- deswehrVerband. Deswegen sage ich: Liebe Große Ko- desländern im Durchschnitt 100 Prozent der Löhne und alition, liebe Frau Nahles, hören Sie auf dieses breite Gehälter der westlichen Bundesländer erreicht haben Bündnis! Erkennen Sie endlich die Lebensleistung der werden, dann ist auch die Linke dafür, die Umrechnung Ostdeutschen an! der ostdeutschen Löhne für die Rente abzuschaffen, aber eben erst dann und nicht vorher. Danke schön. (Beifall bei der LINKEN) (Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das kann ja noch Jahre dauern!) Vizepräsident Peter Hintze: Ansonsten bekäme die Friseurin in Weimar für die glei- Das von den Schriftführerinnen und Schriftführern er- che Menge an frisierten Ostköpfen nicht nur weniger mittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung zur Lohn als die Friseurin in Nürnberg für die gleiche Zahl Fortsetzung der deutschen Beteiligung an der internationa- an frisierten Frankenköpfen, sondern auch noch weniger len Sicherheitspräsenz in Kosovo, Drucksachen 18/1415 Rente für die völlig gleiche Leistung, und das ist nicht in und 18/1653, liegt vor: abgegebene Stimmen 598. Mit Ja Ordnung. haben gestimmt 532, mit Nein haben gestimmt 59, Ent- haltungen 7. Die Beschlussempfehlung ist damit ange- (Beifall bei der LINKEN) nommen.

Endgültiges Ergebnis Michael Grosse-Brömer Hubert Hüppe Abgegebene Stimmen: 597; Cajus Caesar Astrid Grotelüschen davon Markus Grübel Alexandra Dinges-Dierig Sylvia Jörrißen ja: 531 (B) nein: 59 Monika Grütters Dr. (D) enthalten: 7 Thomas Dörflinger Dr. Herlind Gundelach Marie-Luise Dött Fritz Güntzler Bartholomäus Kalb Ja Hansjörg Durz Olav Gutting Hans-Werner Kammer Jutta Eckenbach Steffen Kanitz CDU/CSU Dr. Florian Hahn Hermann Färber Dr. Anja Karliczek Jürgen Hardt Bernhard Kaster Dr. Volker Kauder Artur Auernhammer Dr. Stefan Kaufmann Dorothee Bär Roderich Kiesewetter Ingrid Fischbach Julia Bartz Axel E. Fischer (- Dr. Stefan Heck Dr. Günter Baumann Land) Dr. Dr. Jürgen Klimke (Börde) Klaus-Peter Flosbach Mechthild Heil Thorsten Frei (Chemnitz) Dr. Astrid Freudenstein Mark Helfrich Dr. André Berghegger Dr. Hans-Peter Friedrich Uda Heller Carsten Körber Dr. (Hof) Jörg Hellmuth Hartmut Koschyk Michael Frieser Rudolf Henke Peter Beyer Dr. Michael Fuchs Hans-Joachim Fuchtel Clemens Binninger Alexander Funk Peter Hintze Dr. Günter Krings Ingo Gädechens Rüdiger Kruse Dr. Thomas Gebhart Dr. Alexander Hoffmann Dr. Roy Kühne Klaus Brähmig Günter Lach Michael Brand Cemile Giousouf Franz-Josef Holzenkamp Uwe Lagosky Dr. Josef Göppel Dr. Dr. Karl A. Lamers Helmut Brandt Margaret Horb Andreas G. Lämmel Dr. Ursula Groden-Kranich Bettina Hornhues Dr. Norbert Lammert Dr. Hermann Gröhe Charles M. Huber Klaus-Dieter Gröhler Anette Hübinger Ulrich Lange Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014 3393

Vizepräsident Peter Hintze (A) Barbara Lanzinger Johannes Röring Dr. (C) Dr. Dr. Norbert Röttgen Erwin Rüddel Dr. Sigmar Gabriel Dr. Anita Schäfer (Saalstadt) () Dr. Dr. Wolfgang Schäuble Dr. Anja Weisgerber Philipp Graf Lerchenfeld Peter Weiß (Emmendingen) Iris Gleicke Dr. Karl Schiewerling Sabine Weiss (Wesel I) Antje Lezius Jana Schimke Kerstin Griese Norbert Schindler Karl-Georg Wellmann Gabriele Groneberg Matthias Lietz Uli Grötsch Heiko Schmelzle Wolfgang Gunkel Dr. Christian Schmidt (Fürth) Peter Wichtel Gabriele Schmidt (Ühlingen) Annette Widmann-Mauz Rita Hagl-Kehl Wilfried Lorenz Heinz Wiese (Ehingen) Dr. Claudia Lücking-Michel Dr. Klaus-Peter Willsch Ulrich Hampel Dr. Jan-Marco Luczak Nadine Schön (St. Wendel) Elisabeth Winkelmeier- Dr. Ole Schröder Becker Michael Hartmann Karin Maag Bernhard Schulte-Drüggelte (Wackernheim) Dr. Klaus-Peter Schulze Dagmar G. Wöhrl Dirk Heidenblut Thomas Mahlberg Barbara Woltmann (Peine) Armin Schuster (Weil am Gabriela Heinrich Rhein) Heinrich Zertik Marcus Held Hans-Georg von der Marwitz Christina Schwarzer Emmi Zeulner Wolfgang Hellmich Dr. Matthias Zimmer Dr. Barbara Hendricks Stephan Mayer (Altötting) Gudrun Zollner Heidtrud Henn Reiner Meier Dr. Dr. Patrick Sensburg SPD Gabriele Hiller-Ohm Bernd Siebert Niels Annen Maria Michalk Ingrid Arndt-Brauer Dr. Eva Högl Dr. h. c. Johannes Singhammer Matthias Ilgen Dr. Christina Jantz Philipp Mißfelder Ulrike Bahr Frank Junge Carola Stauche Heinz-Joachim Barchmann (B) Karsten Möring Dr. Dr. Katarina Barley Thomas Jurk (D) Marlene Mortler Dr. Albert Stegemann Dr. Hans-Peter Bartels Johannes Kahrs Dr. Gerd Müller Dr. Matthias Bartke Christina Kampmann Carsten Müller Erika Steinbach Sören Bartol (Braunschweig) Bärbel Bas Gabriele Katzmarek Stefan Müller (Erlangen) Dr. Philipp Murmann Christian Freiherr von Stetten Marina Kermer Dr. Lothar Binding (Heidelberg) Rita Stockhofe Burkhard Blienert Helmut Nowak Willi Brase Dr. Bärbel Kofler Dr. Georg Nüßlein Stephan Stracke Dr. Karl-Heinz Brunner Daniela Kolbe Wilfried Oellers Max Straubinger Edelgard Bulmahn Birgit Kömpel Florian Oßner Matthäus Strebl Marco Bülow Dr. Dr. Hans-Ulrich Krüger Thomas Stritzl Dr. Helga Kühn-Mengel (Heilbronn) Petra Crone Christine Lambrecht Lena Strothmann Christian Lange (Backnang) Michael Stübgen Dr. Dr. Karl Lauterbach Dr. Martin Pätzold Dr. Sabine Sütterlin-Waack Dr. Karamba Diaby Steffen-Claudio Lemme Ulrich Petzold Dr. Sabine Dittmar Dr. Joachim Pfeiffer Martin Dörmann Gabriele Lösekrug-Möller Sibylle Pfeiffer Astrid Timmermann-Fechter Elvira Drobinski-Weiß Dr. Hans-Peter Uhl Siegmund Ehrmann Kirsten Lühmann Dr. Volker Ullrich Michaela Engelmeier-Heite Dr. Birgit Malecha-Nissen Dr. h. c. Hilde Mattheis Petra Ernstberger Dr. Matthias Miersch Alois Rainer Michael Vietz Karin Evers-Meyer Dr. (Kleinsaara) Dr. Johannes Fechner Bettina Müller Sven Volmering Dr. Michelle Müntefering Christel Voßbeck-Kayser Elke Ferner Dr. Rolf Mützenich Christian Flisek Andrea Nahles Dr. Heinz Riesenhuber Dr. Dietmar Nietan 3394 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014

Vizepräsident Peter Hintze (A) Dr. Frank-Walter Steinmeier Irene Mihalic (C) Christoph Strässer Özcan Mutlu Jan Korte Mahmut Özdemir (Duisburg) Dr. Konstantin von Notz Katrin Kunert Aydan Özoğuz Caren Lay Michael Thews Friedrich Ostendorff Sabine Leidig Christian Petry Cem Özdemir Ralph Lenkert Jeannine Pflugradt Carsten Träger Brigitte Pothmer Rüdiger Veit Tabea Rößner Stefan Liebich Joachim Poß (Augsburg) Dr. Gesine Lötzsch Dirk Vöpel (Minden) Elisabeth Scharfenberg Cornelia Möhring Dr. Wilhelm Priesmeier Bernd Westphal Ulle Schauws Niema Movassat Andrea Wicklein Dr. Gerhard Schick Dr. Dr. Dr. Simone Raatz Gülistan Yüksel Kordula Schulz-Asche (Havelland) Dr. Wolfgang Strengmann- Richard Pitterle Mechthild Rawert Dr. Jens Zimmermann Kuhn Stefan Rebmann Manfred Zöllmer Dr. Harald Terpe Michael Schlecht Gerold Reichenbach Dr. Petra Sitte Dr. Carola Reimann Jürgen Trittin Andreas Rimkus BÜNDNIS 90/ Dr. Julia Verlinden Dr. Sönke Rix DIE GRÜNEN Dr. Valerie Wilms Frank Tempel Dr. Dr. Martin Rosemann Luise Amtsberg René Röspel Kerstin Andreae Nein Kathrin Vogler Dr. Annalena Baerbock Dr. Michael Roth (Heringen) Volker Beck (Köln) SPD Halina Wawzyniak Dr. Franziska Brantner Susann Rüthrich Harald Weinberg Agnieszka Brugger Bernd Rützel Dr. Ute Finckh-Krämer Birgit Wöllert Ekin Deligöz Jörn Wunderlich Annette Sawade Katja Dörner DIE LINKE Dr. Hans-Joachim Katharina Dröge Schabedoth Jan van Aken Sabine Zimmermann Axel Schäfer (Bochum) Dr. Thomas Gambke Dr. Dietmar Bartsch (Zwickau) Dr. Nina Scheer Herbert Behrens (B) Kai Gehring Karin Binder BÜNDNIS 90/ (D) Katrin Göring-Eckardt Matthias W. Birkwald DIE GRÜNEN Dr. Dorothee Schlegel () Britta Haßelmann Eva Bulling-Schröter Hans-Christian Ströbele Matthias Schmidt (Berlin) Dr. Anton Hofreiter Dagmar Schmidt (Wetzlar) Bärbel Höhn Sevim Dağdelen Enthalten (Erfurt) Dr. Klaus Ernst SPD Swen Schulz (Spandau) Katja Keul Wolfgang Gehrcke () Sven-Christian Kindler Diana Golze Waltraud Wolff Frank Schwabe Maria Klein-Schmeink (Wolmirstedt) Tom Koenigs Dr. Gregor Gysi Andreas Schwarz Oliver Krischer Dr. André Hahn BÜNDNIS 90/ Dr. Carsten Sieling Stephan Kühn (Dresden) Dr. DIE GRÜNEN Christian Kühn (Tübingen) Inge Höger Norbert Spinrath Renate Künast Sylvia Kotting-Uhl Markus Kurth Sigrid Hupach Monika Lazar Martina Stamm-Fibich Steffi Lemke Ulla Jelpke Peter Meiwald Dr. Susanna Karawanskij Beate Müller-Gemmeke Peer Steinbrück Nicole Maisch Lisa Paus

Als nächster Rednerin in unserer Debatte erteile ich Kommunalwahlen in Brandenburg, woher ich stamme, das Wort Jana Schimke, CDU/CSU-Fraktion. wo ich geboren bin und wo mein Wahlkreis liegt, gab es interessante Ergebnisse: Die Union hat erwartungsge- (Beifall bei der CDU/CSU) mäß zugelegt, (Beifall bei der CDU/CSU) Jana Schimke (CDU/CSU): und die Linke hat verloren, und zwar ordentlich. Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her- ren! Deutschland hat kürzlich gewählt. Auch bei den (Arnold Vaatz [CDU/CSU]: Wie sich das gehört!) Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014 3395

Jana Schimke (A) Das zeigt nicht nur, dass die Linke dort, wo sie in Regie- (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: (C) rungsverantwortung ist, das Vertrauen der Wähler stetig 1,80 Euro!) verliert. Aber Sie schaffen damit Ungerechtigkeiten. Wissen Sie (Beifall der Abg. Sabine Weiss [Wesel I] eigentlich, dass der größte Teil des Vermögens in [CDU/CSU]) Deutschland selbst erarbeitet ist, Es zeigt vor allen Dingen auch, dass ihre Strategie des (Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜND- Schlechtredens nicht mehr länger aufgeht. NIS 90/DIE GRÜNEN]: Das wage ich zu be- zweifeln!) (Beifall bei der CDU/CSU) dass er in Betrieben und mitunter im selbstgebauten Ei- Seit Jahren reden Sie den Menschen in Ostdeutschland genheim steckt? Wie passt diese Politik zu Ihrem selbst- ein, dass deren Lebensleistung nicht gewürdigt wird. erklärten Ziel, bessere Rahmenbedingungen für eine po- Doch indem Sie Vorbehalte zementieren und Wahrheiten sitive Lohnentwicklung im Osten zu schaffen? Sie verklären, sind Sie es, die Lebensleistung nicht anerken- rütteln an dem Fundament, auf dem unser Land fußt, und nen. gefährden Wachstum, Wohlstand und Arbeitsplätze auch in Ostdeutschland. (Beifall bei der CDU/CSU – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Was?) (Beifall bei der CDU/CSU) Als Brandenburgerin sage ich Ihnen: Das ist nicht Auch 25 Jahre nach dem Fall der Mauer dürfen wir mein Verständnis und auch nicht das Verständnis der eines nicht vergessen: Die Wiedervereinigung und auch Ostdeutschen von einer guten Politik für die neuen Bun- die Überleitung des Rentenrechts auf die neuen Länder desländer. Sprechen Sie doch einmal über das, was uns war und ist ein gesamtgesellschaftlicher, solidarischer stark macht! So drückt sich die Lebensleistung der Ost- Kraftakt. Diese Leistung zeigt sich auch bei den Renten deutschen heute konkret auch im Rentenzugang aus. Ge- in den neuen Ländern. Die Renten in Ostdeutschland rade Frauen sind und waren im Osten öfter und länger werden noch heute um circa 18 Prozent hochgewertet, erwerbstätig. Diese kontinuierlichen Erwerbsbiografien und bei gleichem Brutto gibt es im Osten einen höheren ermöglichen es heute vielen, früher in Rente zu gehen. Rentenanspruch als im Westen. So viel zur Klarheit. Frauen in den neuen Ländern gehen im Schnitt fast zwei (Beifall bei der CDU/CSU – Matthias W. Jahre früher in Rente als Frauen in den alten Ländern. Birkwald [DIE LINKE]: Falschherum ge- Das ist möglich, weil sie so lange erwerbstätig waren. dacht!) Dadurch liegt ihre durchschnittliche Rente heute um 44 Prozent höher – das ist also wesentlich mehr – als in (B) Das durchschnittliche Lohnniveau im Osten, verur- den alten Bundesländern. (D) sacht durch eine unterschiedliche Wirtschafts- und Bran- (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Das lag chenstruktur, ist aber immer noch niedriger als im Wes- daran, dass die Vereinbarung von Familie und ten. Das ist ein Umstand, den auch meine Kollegen aus Beruf im Osten so gut war, Frau Schimke!) den neuen Ländern und ich bedauern; aber das sind nicht die Folgen von politisch gewollter Ungerechtigkeit. Das Lassen Sie mich noch auf eines hinweisen: Zum sind immer noch die Auswirkungen von 40 Jahren staat- 1. Juli 2014 steigt der Rentenwert. Er wird in den neuen lich verordneter Plan- und Misswirtschaft. Bundesländern von 91,5 Prozent auf 92,2 Prozent des Westwertes ansteigen. Damit steigen die gesetzlichen (Beifall bei der CDU/CSU) Renten im Osten einmal mehr stärker als im Westen. Deshalb bin ich froh und dankbar darüber, dass wir die Meine Damen und Herren, auch die Union möchte die Angleichung der Lebensverhältnisse als gesamtdeutsche Angleichung der Lebensbedingungen in Ost- und West- Aufgabe anerkennen und auch im Rentenrecht berück- deutschland weiter voranbringen. Das haben wir auch im sichtigen. Zur Erinnerung: 1990 lag das Verhältnis des Koalitionsvertrag so festgeschrieben. Die Renten bis Rentenwerts Ost im Vergleich zum Rentenwert West bei 2020 anzugleichen, ist politisch vernünftig und liegt in durchschnittlich 40 Prozent. Heute sind wir bereits bei einem zeitlich vertretbaren Rahmen. Das bleibt eines un- über 90 Prozent und ab 1. Juli 2014 sogar bei 92,2 Pro- serer wichtigsten politischen Ziele. zent. Das ist Anerkennung von Lebensleistung. (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Da wer- (Beifall bei der CDU/CSU – Matthias W. Birkwald den viele Bestandsrentner nichts mehr von ha- [DIE LINKE]: 100 Euro im Schnitt!) ben!) Wir sind gut beraten, nicht vorschnell in die Renten- Wir sehen uns in der Verantwortung und werden den An- formel einzugreifen. Sowohl die Rentenanpassung durch gleichungsprozess deshalb auch schrittweise fortführen. jetzt steigende Löhne als auch die zusätzliche Hochwer- Aber wir können Folgendes daraus lernen: Eine strin- tung gleichen bestehende strukturelle Unterschiede aus. gente Erwerbsbiografie ist die beste Altersvorsorge. Das schafft ein höchstmögliches und für die Solidarge- Auch deshalb sollten die weitere Integration von Frauen meinschaft verträgliches Maß an Gerechtigkeit. in den Arbeitsmarkt sowie die Vereinbarkeit von Beruf und Familie ein zentraler Punkt unserer Sozial- und Ar- Sie aber wollen mit Steuererhöhungen auf Unterneh- beitsmarktpolitik sein. mensgewinne, Erbschaften und Vermögen Ungerechtig- keiten beseitigen. (Beifall bei der CDU/CSU) 3396 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014

Jana Schimke (A) Das ist eine Stärke der neuen Bundesländer. Auch soll- len wir eine Garantierente einführen und nach 30 Versi- (C) ten wir alle Säulen des Rentensystems im Blick behal- cherungsjahren einen Mindestanspruch sicherstellen. ten. Die gesetzliche Rentenversicherung wird dies künf- Wir glauben, dass man auf diese Art und Weise zielge- tig nicht mehr alleine leisten können. nauer als mit einer pauschalen, je nach Region gewichte- ten Höherwertung Armutsvermeidungspolitik betreiben (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Das kann. könnte sie, wenn man nur wollte! Es fehlen nur die politischen Mehrheiten!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Was ist Bereits heute erwerben über 70 Prozent der Deutschen mit der Lebensstandardsicherung?) Rentenansprüche aus der privaten und betrieblichen Altersvorsorge. Diesen Weg müssen wir künftig konse- Der einzige Punkt, in dem sich die Union gegenüber quent weiterführen. Nur so schaffen wir eine zukunftsfä- der letzten Legislaturperiode als lernfähig erwiesen hat, hige Altersvorsorge, die im Sinne der gesamten Solidar- ist, dass die Formulierungen im Koalitionsvertrag vor- gemeinschaft in Ost und West ist. sichtiger sind und die Ankündigungen nicht mehr ganz Vielen Dank. so vollmundig sind. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Aller- neten der SPD) dings!) Kollege Birkwald hat schon die Aussagen der Kanzlerin Vizepräsident Peter Hintze: aus dem Jahr 2009 zitiert. Ich möchte einen Satz aus Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Abge- dem Koalitionsvertrag vortragen: ordnetem Markus Kurth, Bündnis 90/Die Grünen. Zum 1. Juli 2016 wird geprüft,

Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): – geprüft! – Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! wie weit sich der Angleichungsprozess bereits voll- Frau Schimke, Sie haben zwar sehr wortreich gespro- zogen hat, und auf dieser Grundlage entschieden, chen, aber zur tatsächlichen Problematik, zur Anglei- ob mit Wirkung ab 2017 eine Teilangleichung chung der Renten im Osten an die im Westen sowie zu Gleichstellung und Gleichbehandlung haben Sie fast – eine Teilangleichung! – nichts gesagt. notwendig ist. (B) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Das ist im Grunde nichts weiter als die verkappte An- (D) und bei der LINKEN) kündigung, dass Sie überhaupt nichts gegen das Problem Ich habe noch eine Bitte – auch mit Blick auf die folgen- unternehmen wollen. den Redner –, bevor ich zu meiner eigentlichen Rede (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN komme. Lassen Sie doch einmal die Platte von den und bei der LINKEN – Beate Müller-Gem- 40 Jahren SED-Misswirtschaft im Schrank stehen! Das meke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das bringt doch nichts. Wirklich geistreicher macht es das kennen wir schon!) nicht. Ich möchte noch etwas zu der sogenannten Höher- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN wertung sagen, die nach dem Vorschlag der Fraktion Die und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten Linke – Sie wollen das in mehreren Stufen machen – der SPD) beibehalten werden soll. Wir glauben: Wer im Osten Es ist sinnvoll, dass diese Debatte aufgesetzt ist. Ich 3 000 Euro verdient, der soll den gleichen Rentenan- will gleich mit den Kernforderungen von Bündnis 90/ spruch erwerben wie jemand, der im Westen ebenfalls Die Grünen beginnen. Wir wollen die Anhebung des 3 000 Euro verdient. Rentenwertes Ost auf das Westniveau. Wir wollen die Die Maßeinheit ist das Gehalt und nicht die Zahl fri- Anhebung der Beitragsbemessungsgrenze Ost auf das sierter Köpfe. Westniveau. Wir wollen in der Vergangenheit erworbene Rentenansprüche unangetastet lassen. Wir wollen die Man muss schon der Tatsache Rechnung tragen, dass Gleichstellung auf allen Ebenen. Das bedeutet auch – sich in der Tariflandschaft in den letzten Jahren einiges das sagen wir ganz offen – einen Verzicht auf die Höher- verändert hat. Wirft man einen Blick in das Tarifarchiv wertung nach einer sofortigen Angleichung der Renten- der Hans-Böckler-Stiftung, stellt man fest, dass die Ta- punkte Ost an das Westniveau. rifniveauunterschiede laut WSI – es stimmt, dass nicht alles tariflich abgedeckt ist – im Jahr 2013 nur noch (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – 3 Prozent betragen. In vielen Tarifverträgen ist mittler- Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Deshalb weile die gleiche Bezahlung in Ost und West vereinbart. kann ich jetzt nicht klatschen!) Wenn man sich die regionalen Unterschiede anschaut, Weil wir wissen, dass die Abschaffung der Höherwer- dann stellt man fest, dass die Himmelsrichtung West/Ost tung kurzfristig eine leichte Absenkung des Niveaus be- nicht mehr so aufschlussreich ist. Es gibt auch im Wes- deutet und dann möglicherweise zu Armutsproblematik ten Regionen mit einem sehr niedrigen Lohnniveau. Ich führt – das kommt allerdings auch im Westen vor –, wol- komme aus dem Ruhrgebiet. Wenn man insbesondere Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014 3397

Markus Kurth (A) das nördliche Ruhrgebiet mit Stuttgart oder dem Münch- Bundesländern Wahlkampf macht, weiß, dass es kaum (C) ner Umland vergleicht, dann kommt man zu ganz erheb- ein Thema gibt, das so emotional diskutiert wird. Man lichen Lohnunterschieden, die die Lohnunterschiede spürt immer wieder, dass wegen der Tatsache, dass es zwischen Ost und West weitaus übersteigen. zwei unterschiedliche Rentensysteme in Ost und West gibt, ein massives Ungerechtigkeitsempfinden nach wie Wir wollen daher zielgerichtet über Instrumente wie vor vorhanden ist. Ich war 1989 neun Jahre alt. Es ist ir- die Garantierente und Maßnahmen, die das Rentenni- gendwie schon verrückt, dass wir 25 Jahre nach der veau stabilisieren, die Rente armutsfest machen und uns friedlichen Revolution immer noch zwei unterschiedli- dabei möglichst nahe an einer lebensstandardsichernden che Rentensysteme haben. Aber es lohnt durchaus ein Rente orientieren. Es sollen aber keine Ausgleiche mehr Blick zurück. nach Himmelsrichtung erfolgen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Im Rentenüberleitungsgesetz nach der Wiedervereini- gung sind Regelungen für die bestehenden und für die Das trifft auch auf den Solidarpakt zu. Selbst die ost- zukünftigen Renten in den damals wirklich noch neuen deutschen Länder haben inzwischen erkannt, dass sich Bundesländern getroffen worden. Ich finde, diese Rege- die Situation fast 25 Jahre nach dem Mauerfall verändert lungen verdienen unser aller Hochachtung. hat. Strukturschwache Regionen gibt es in ganz Deutschland. Insofern muss sich eine öffentliche Inter- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) vention nach dem Bedarf und darf sich nicht nach der Denn damals sind zwei völlig unterschiedliche Rechts- Himmelsrichtung richten. Wenn wir in den weiteren Be- systeme zusammengeführt worden, auch mit dem impli- ratungen in diesem Sinne zusammenkommen könnten, ziten Versprechen, dass die Unterschiede lediglich für wäre das gut. eine Übergangszeit gelten sollten. Profitiert davon haben Ich halte fest: Wir brauchen möglichst schnell, am insbesondere die Rentnerinnen und Rentner in der ehe- besten zum 1. Juli, zum nächsten jährlichen Rentenan- maligen DDR, die für ihre Rentenanwartschaften Renten passungstermin, eine Gleichberechtigung und Gleich- bekommen haben und hoffentlich immer noch bekom- stellung von Rentnerinnen und Rentnern in Ost und men, die sie nach DDR-Rentenrecht nie und nimmer be- West. kommen hätten. Ich weiß, einige wollen und können es nicht mehr hören, dennoch sollte man nicht unerwähnt (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) lassen: Das Ganze war und ist immer noch eine riesige gesamtgesellschaftliche Leistung in Ost und West. Vizepräsident Peter Hintze: (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie Als nächste Rednerin erhält Daniela Kolbe, SPD- des Abg. Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]) (B) Fraktion, das Wort. (D) (Abg. Matthias W. Birkwald [DIE LINKE] So weit zur Vergangenheit. Die Rentenüberleitung meldet sich zu Wort) war klug konzipiert. Mit der Lohnangleichung in Ost und West sollten sukzessive gleiche Anwartschaften in – Der Kollege Birkwald hatte eine Kurzintervention an- Ost und West erreicht werden. Irgendwann sollte dann gemeldet. Er hat aber vorhin selber gesprochen. Deswe- der Durchschnittslohn gleich sein, damit auch der Ren- gen kann er zwar eine Frage stellen, aber eine Kurzinter- tenwert in Ost und West gleich. Dann brauchte man vention ist nicht möglich; denn die Idee der keine Höherwertung mehr und hätte sozusagen automa- Kurzintervention besteht darin, dass ein Redner, dem tisch ein Rentensystem. spontan etwas einfällt, etwas sagen kann. Es soll nicht so sein, dass einer, der schon etwas gesagt hat, noch etwas Leider sieht die Realität anders aus. Die Rentenwerte sagen soll. haben sich zwar in der Vergangenheit zunächst sehr schnell angeglichen, in den letzten Jahren hat sich aber (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE], an den das Tempo verlangsamt. Die Frage stellt sich natürlich, Abg. Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- ob wir bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag warten wollen, NEN] gewandt: Hast du Glück gehabt! Ich bis sich diese Rentensysteme automatisch angleichen. wollte dich in Ruhe reden lassen!) Das könnte auch erst in einigen Jahrzehnten sein, wenn Bitte, Frau Kollegin. man sich die Lohnentwicklung anschaut, womöglich auch niemals. Wir, die SPD-Fraktion, sagen: Nein, na- türlich nicht, auch wenn es anders schöner wäre und es Daniela Kolbe (SPD): morgen in Ostdeutschland die gleichen Löhne wie in Jetzt habe ich wieder etwas über die Geschäftsord- Westdeutschland gäbe; den letzten Schritt dieser Renten- nung des Deutschen Bundestages gelernt. angleichung müssen wir politisch hier im Deutschen Bundestag beschließen. Vizepräsident Peter Hintze: Man lernt hier laufend. (Beifall bei der SPD – Markus Kurth [BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN]: Wann? Tun Sie es!) Daniela Kolbe (SPD): Mit dem Passus zur Rentenangleichung haben wir mit Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und unserem Koalitionspartner im Koalitionsvertrag auf Kollegen! Erst einmal danke an die Linke, dass wir über Seite 53 eine vernünftige Formulierung gefunden. Die das Thema sprechen können. Jeder, der in den neuen wird auch im Antrag der Linken zitiert. Es steht darin, 3398 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014

Daniela Kolbe (A) dass es einen Fahrplan zur vollständigen Angleichung vieler Menschen schon morgen angeglichen würden, (C) geben soll, gegebenenfalls mit einem Zwischenschritt. dann würden gerade die jetzt arbeitenden Menschen Das Ganze soll in einem Rentenüberleitungsabschluss- massive Einbußen hinnehmen müssen. Es ist ganz wich- gesetz noch in dieser Legislatur festgeschrieben werden. tig, dass wir uns auf die Lohnpolitik konzentrieren und Das ist für uns eine der zentralen Forderungen für die uns 2016 anschauen, ob das Tarifpaket gewirkt hat. 18. Legislaturperiode. Ich schaue an dieser Stelle zu der Dann können wir im Sinne des Koalitionsvertrags voran- neuen Ministerin Andrea Nahles. Wir haben Sie jetzt als schreiten. Ministerin kennengelernt, die das, was im Koalitionsver- trag beschlossen wurde, auch umsetzt. Insofern verglei- Ich sage aber auch: Dadurch, dass die Unterschiede chen Sie uns bitte nicht mit vorangegangenen Koalitio- eben nicht mehr allein zwischen Ost und West verlaufen, nen, sondern messen Sie uns an unseren Taten. dass es durchaus Konflikte innerhalb des Ostens und des Westens gibt, dass es auch Unterschiede gibt zwischen (Beifall bei der SPD) Beitragszahlern Ost und Rentnern Ost, dass es unter- schiedliche Interessen zwischen Beitragszahlern im Nach dem Koalitionsvertrag muss spätestens zum Westen und Beitragszahlern im Osten gibt, tun wir gut 1. Juli 2016 geprüft werden, wie weit der Angleichungs- daran, das Projekt „Angleichung der Rentensysteme“ prozess vorangekommen ist. Rein mathematisch gese- nicht auf die lange Bank zu schieben, sondern zu einem hen, kann man ja relativ leicht sagen, wo dieser Prozess guten Abschluss zu bringen. stehen müsste. Würde er automatisch ablaufen, müsste der durchschnittliche Rentenwert im Osten bei ungefähr Stichwort „Abschluss“: Ich danke für Ihre Aufmerk- 95 Prozent des durchschnittlichen Rentenwertes im Wes- samkeit. ten liegen. Wenn dieser Rentenwert im Osten darunter- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten liegt und eine Anpassung nötig sein sollte, dann muss der CDU/CSU) sie, wenn Sie mich fragen, möglichst schnell und mög- lichst auch noch in dieser Legislaturperiode erfolgen. Vizepräsident Peter Hintze: Der Passus im Koalitionsvertrag, erst 2016 zu prüfen, Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Kolle- ist wichtig und auch richtig. Mit Blick auf die Einfüh- gen Peter Weiß, CDU/CSU-Fraktion. rung des gesetzlichen Mindestlohns, den wir heute Mor- gen diskutiert haben, bin ich mir hundertprozentig si- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) cher, dass wir bis 2016 eine deutliche Anhebung der Löhne im Osten erleben werden; sie werden deutlicher Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU): als in Westdeutschland steigen. Ich hoffe auch, dass die- Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! (B) ses kluge Gesetz zur Einführung flächendeckender Min- Da in drei der ostdeutschen Bundesländer dieses Jahr (D) destlöhne zu einer höheren Tarifbindung in Ostdeutsch- noch Landtagswahlen stattfinden, muss die Linke natür- land führen wird. Es ist vernünftig, abzuwarten, welche lich einen Antrag zum Thema Rente im Deutschen Bun- Impulse für die Lohnangleichung und dann auch für die destag einbringen. Rentenangleichung notwendig sind. Denn wenn es ohne einen Anpassungsschritt gehen könnte, dann wäre das, (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Das ehrlich gesagt, deutlich eleganter. Insofern finde ich die- machen wir auch, wenn keine Landtagswahlen sen Passus im Koalitionsvertrag wirklich klug. sind, Herr Kollege!) (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der Der Punkt ist nur: Die Linke erzählt den Menschen in CDU/CSU) den neuen Bundesländern nie die wirkliche Wahrheit zum Thema Rente. Wir, die SPD-Fraktion, wollen mit dem Auslaufen des Solidarpaktes ein deutsches Rentensystem. Davon rü- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- cken wir auch nicht ab. Ich denke, es wird auch nicht neten der SPD – Matthias W. Birkwald [DIE erst am Sankt-Nimmerleins-Tag kommen, wie es im LINKE]: Ihr könnt das! Da bin ich einmal ge- Linken-Antrag steht. spannt!) (Widerspruch des Abg. Matthias W. Birkwald Das Rentensystem ist zwischen Ost und West deswe- [DIE LINKE]) gen immer noch gespalten, weil es zwei Faktoren sind, nach denen die Rente im Osten berechnet wird. Weil der – Auch Sie fordern die Rentenangleichung ja nicht für Lohnunterschied zwischen Ost und West leider immer morgen, noch relativ groß ist – Gott sei Dank nimmt er ab; aber er (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Zu- ist immer noch relativ groß –, wird der Rentenanspruch, nächst für den 1. Juli und dann bis Ende den ein ostdeutscher Arbeitnehmer oder eine ostdeutsche 2017!) Arbeitnehmerin bis heute erworben hat, morgen, wenn er oder sie den Rentenantrag stellt, um 18,7 Prozent er- und dafür haben Sie auch gute Gründe. höht. Das heißt, sie oder er hat ein besser gefülltes Ren- tenkonto als jemand Vergleichbares in Westdeutschland. Zur Ehrlichkeit gehört, festzustellen, dass mit dem Das ist die sogenannte Höherwertung. Das ist das Erste. Höherwertungsfaktor, den wir derzeit haben, die ost- deutschen Löhne nach oben gewertet werden. Wenn man Das Zweite ist: Das, was auf diesem Rentenkonto dem Vorschlag der Grünen folgen würde und die Renten liegt, wird mit einem Zahlbetrag multipliziert, dem soge- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014 3399

Peter Weiß (Emmendingen) (A) nannten Rentenwert. In der Tat ist der Rentenwert West Matthias W. Birkwald (DIE LINKE): (C) derzeit noch 8 Prozent höher als der Rentenwert Ost. Vielen Dank, Herr Präsident. Vielen Dank, Herr Aber jeder, der ein bisschen etwas von Mathematik ver- Weiß, dass Sie die Zwischenfrage zulassen. steht, wird erkennen: Wenn man morgen auf einen Schlag, sofort, gleiches Rentenrecht in Ost und West ein- Zunächst möchte ich Ihnen sagen: Selbstverständlich führt, also der gleiche Zahlbetrag gilt und es keine haben wir nicht das vor, was Sie hier eben vorgetragen Höherwertung um 18,7 Prozent gibt, dann hat der haben. Ostrentner oder die Ostrentnerin weniger, als ihm oder ihr nach dem derzeitigen Rentenrecht zusteht. Das ist der Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU): Punkt. Doch! (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der SPD) Matthias W. Birkwald (DIE LINKE): Nein. Um es klar und deutlich zu sagen: Wer einfach nur al- les angleicht, der sorgt für ein Minus für die Rentnerin- Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU): nen und Rentner im Osten. Das ist der Punkt. Guckt doch euren Antrag an! (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Deswe- gen brauchen wir ja die Umrechnung!) Matthias W. Birkwald (DIE LINKE): Die Grünen erklären hier mutig: Ja, das wollen wir. Ich möchte Ihnen das jetzt gern noch einmal erklären. Sie vergleichen immer diejenigen im Osten mit einem (Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Gehalt von beispielsweise 2 000 Euro mit denjenigen im NEN]: Nein, das ist falsch!) Westen, die ebenfalls 2 000 Euro verdienen. Das Pro- Die Linke verschweigt, was sie wirklich vorhat. Sie blem ist, dass es solche Fälle nur selten gibt. Wir haben will nämlich nicht gleiches Rentenrecht in Ost und West nur ein, zwei Branchen, vielleicht auch zwei oder drei – das beantragt sie auch nicht –, sondern sie will, dass mehr – aber es sind insgesamt wenige –, in denen der Deutschland in Sachen Rente weiter in zwei Zonen auf- Lohn Ost und der Lohn West jeweils gleich sind. geteilt wird. Die Tarifbindung im Osten ist deutlich niedriger. Im (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Das ist Westen arbeiten 60 Prozent der Beschäftigten mit Tarif- Unsinn! – Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn vertrag, im Osten nur 48 Prozent. Deswegen ist es so, dass – das habe ich vorhin auch gesagt; ich halte die Ta- (B) [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist rich- (D) tig! Da sind Sie gar nicht so weit weg von- belle gern noch einmal hoch – die Beschäftigten im einander!) Osten 79 Prozent der Einkommen im Westen haben. Das stagniert seit Jahren bei unter 80 Prozent; da tut sich Sie will Folgendes machen: Sie will die Höherwertung nichts. der Rentenansprüche, die man gesammelt hat, beibehal- ten, aber den höheren Zahlbetrag West darauf anwenden. Das bedeutet, dass man auch in dem Bundesland mit Was hat das zur Folge? Dass ein Arbeitnehmer oder eine dem höchsten Durchschnittslohn im Osten – das ist Arbeitnehmerin im Osten, der oder die die gleiche Ar- Brandenburg im Jahr 2013 mit 25 600 Euro brutto – im- beit hinter sich gebracht hat und das Gleiche verdient hat mer noch deutlich unter dem Bundesland im Westen mit wie ein Arbeitnehmer oder eine Arbeitnehmerin im Wes- dem niedrigsten Durchschnittseinkommen – das ist ten, Schleswig-Holstein mit 27 600 Euro – liegt. Solange es so ist, dass selbst in dem östlichen Bundesland, in dem (Zuruf von der LINKEN: Hat er ja nicht!) am besten verdient wird, weniger verdient wird als in dem westlichen Bundesland mit dem niedrigsten Ein- eine höhere Rente bekommt als der Arbeitnehmer oder kommen, so lange ist die Umrechnung, wie der korrekte die Arbeitnehmerin im Westen. Man schafft also eine Begriff heißt, notwendig. neue Ungerechtigkeit, nämlich für die Westrentner und Westrentnerinnen. Das ist die Politik der Linken. Was würde sonst passieren? Ich will es an einem Bei- spiel zeigen. Nehmen wir jetzt nicht eine Friseurin, son- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- dern eine Floristin. Eine Floristin hat in Teilzeit im Wes- neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE ten 1 000 Euro und im Osten 790 Euro im Monat. Die im GRÜNEN) Osten hat natürlich auch nur für 790 Euro Beiträge ge- zahlt. Wenn die beiden am selben Tag in Rente gehen, Vizepräsident Peter Hintze: nachdem sie, die eine in Köln, die andere in Leipzig, Herr Kollege Weiß, der Herr Kollege Matthias W. 45 Jahre Blumen verkauft haben, kriegt die Rentnerin in Birkwald möchte jetzt gern eine Zwischenfrage stellen Leipzig nach wie vor 7,8 Prozent weniger als ihre Kolle- oder eine Zwischenbemerkung machen; beides ist mög- gin im Westen. Das sind bei Durchschnittslöhnen, wenn lich. man alles zusammen betrachtet, 100 Euro im Monat. So herum muss man vergleichen. Man muss dieselben Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU): Jobs vergleichen. Außerdem ist im Osten die Arbeitszeit Bitte schön. länger, und es gibt weniger Sonderzahlungen. Das heißt, 3400 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014

Matthias W. Birkwald (A) insgesamt hat die Kollegin im Osten die deutlich aber doch bitte so, dass es nicht auf der einen oder ande- (C) schlechtere Ausgangsposition und die niedrigere Rente. ren Seite Verliererinnen und Verlierer in großer Zahl Das könnte man mit dem Stufensystem deutlich ändern. gibt. Machen Sie es ab dem 1. Juli! Das Rentensystem – Frau Kollegin Kolbe hat es ja er- (Beifall bei der LINKEN) klärt – ist deshalb unterschiedlich angelegt worden, weil man gedacht hat, dass die Lohngleichheit in Ost und West relativ schnell zustande kommt. Bei Lohngleich- Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU): heit müsste es keine Höherwertung geben, und der Ren- Herr Kollege Birkwald, erstens haben wir in der Tat tenwert in Ost und West wäre der gleiche. Wir wissen in vielen Berufen nach wie vor einen deutlichen Lohnun- heute, dass dies nicht automatisch geschieht. terschied zwischen Ost und West. Aber wir haben in der Ost-West-Angleichung eine (Dr. Carola Reimann [SPD]: Aber nicht nur neue Dynamik. Letztes Jahr gab es eine deutliche Anhe- da!) bung des Rentenwerts Ost. Zum 1. Juli dieses Jahres wird dies erneut der Fall sein. Das Lohnniveau gleicht Deswegen haben wir die Höherwertung von Rentenan- sich also schneller an, als wir gedacht haben. sprüchen um 18,7 Prozent. Deswegen wollen wir diese Höherwertung nicht auf einen Schlag abschaffen. Zum Schluss werden wir – Zielmarke ist das Jahr 2019, also das Auslaufen des Solidarpakts – hoffentlich Zweitens. In der Tat haben wir auch sonst Lohnunter- ein gemeinsames Rentenrecht in Ost und West durch ei- schiede. Die Rentenversicherung ist so gebaut, dass sie nen Gesetzgebungsakt des Deutschen Bundestages beitragsbezogen ist. Weil wir aber wissen, dass im Osten schaffen. Aber wir sollten dies bitte so tun, dass es weder weniger verdient wird, gibt es diese Höherwertung. im Osten noch im Westen Verlierer und Verliererinnen gibt und dass keine neuen Ungerechtigkeiten geschaffen Ich gebe Ihnen ein anderes Beispiel. Ich komme aus werden, die dafür sorgen, dass sich plötzlich Rentner aus Baden-Württemberg, einem Bundesland, in dem durch- dem Westen bei uns über das Rentenrecht beschweren. schnittlich sehr gut verdient wird. Schleswig-Holstein Wir müssen wirklich ein gleiches Rentenrecht schaffen, dagegen hat ein Lohnniveau, das bei 75 Prozent des ba- was bedeutet, dass jeder in die Rentenversicherung ein- den-württembergischen Niveaus liegt. Die Kolleginnen gezahlte Euro das gleiche wert ist – im Osten und im und Kollegen aus Schleswig-Holstein könnten mit glei- Westen. Das ist unser Ziel, das wir miteinander erreichen chem Recht fragen: Warum ist angesichts solcher Lohn- wollen. unterschiede 1 Euro Rentenbeitrag in Baden-Württem- (B) berg und in Schleswig-Holstein gleich viel wert? Diese Wenn die Linken im Osten diese Wahrheit im Wahl- (D) Frage könnte zum Beispiel Frau Kollegin Hiller-Ohm kampf erzählen würden, dann wüssten die Menschen, aus Lübeck stellen. dass die Rentnerinnen und Rentner in Ost und West bei der Großen Koalition besser aufgehoben sind. Ja, wir wollen ein einheitliches Rentenrecht in Ost und West. Aber wenn wir es auf einen Schlag einführen Vielen Dank. würden, hieße dies, die Höherwertung würde wegfallen, (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) und damit hätten die Rentnerinnen und Rentner im Osten weniger, wenn sie morgen einen Rentenantrag stellen würden, als es nach heutigem Recht der Fall wäre. Das Vizepräsident Peter Hintze: wollen wir von der Großen Koalition nicht. Als nächster Rednerin erteile ich das Wort der Abge- ordneten Waltraud Wolff, SPD-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Herr Birkwald, wenn die Linken Gerechtigkeit tat- der CDU/CSU) sächlich ernst nehmen – das tun sie angeblich –, dann darf nicht das passieren, was gemäß Ihrem Antrag pas- Waltraud Wolff (Wolmirstedt) (SPD): sieren würde, nämlich dass plötzlich die Beitragszahlung eines westdeutschen Arbeitnehmers oder einer westdeut- Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Kollegin- schen Arbeitnehmerin weniger wert ist als die von je- nen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Wir mer- mandem aus Ostdeutschland. Es geht erst recht nicht, ken alle, wie emotional die Rentendebatte ist. Das ist dass die Verhältnisse umgekehrt werden. Ihr Antrag be- nicht nur im Wahlkampf im Osten der Republik so, son- deutet: Spaltung Deutschlands auf Dauer. dern auch hier. Aber wir wissen auch, dass der geringere Rentenwert bei den Menschen im Osten ganz eindeutig (Beifall bei der CDU/CSU – Matthias W. Birkwald als ungerecht empfunden wird. Sie haben einfach das [DIE LINKE]: Ich bin Kölner!) Gefühl, dass ihre Lebensleistung weniger wert ist. Nach so langer Zeit eines gemeinsamen Deutschlands wollen Damit habe ich dieses komplexe System einmal dar- sie eine gleiche Rente. gestellt. Natürlich ist es richtig, dass wir 24 Jahre nach der deutschen Einheit zu einem gemeinsamen System in Ich kann diesen Wunsch verstehen und finde ihn auch der Rente kommen müssen, berechtigt. Genau darum bin ich sehr froh, dass wir im Koalitionsvertrag einen ganz klaren Fahrplan zur Ren- (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Aha!) tenangleichung verankert haben. 2020 wird es keine Un- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014 3401

Waltraud Wolff (Wolmirstedt) (A) terschiede mehr geben. Das beschließen wir in dieser positive Lohnentwicklung in Ostdeutschland. Nur mit (C) Legislaturperiode. einer solchen Politik können wir die Probleme bei den Renten im Osten wirklich lösen. Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Linken, manchmal ist die Koalition schneller, als Sie vermuten. (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Matthias (Beifall bei der SPD) W. Birkwald [DIE LINKE] – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Da sind wir uns ei- Heute Morgen gab es die erste Lesung zum Mindest- nig!) lohn und zum Tarifpakt. In der letzten Sitzungswoche haben wir das Rentenpaket beschlossen. Also, meine Das Problem, das wir in Ostdeutschland haben, ist, Bitte: Hören Sie doch auf, im Kaffeesatz immer nur das dass durch den Zusammenbruch der desolaten Industrie Schlechte herauszufischen. Tausende Erwerbsbiografien ein abruptes Ende gefun- den haben, eine wirkliche Erholung der Wirtschaft aus- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) blieb. Bis heute haben wir schlecht bezahlte und schlecht Wenn Sie dafür unsere Gesetzentwürfe lesen würden, abgesicherte Jobs, die damals entstanden sind, und im dann wüssten Sie, dass der Mindestlohn bereits 2015 Osten der Republik spielen Betriebsrenten so gut wie kommt und dass es spätestens 2017 überhaupt keine keine Rolle. Diese Unterschiede, die ich eben genannt Übergänge mehr gibt. Ich finde es sehr unlauter, gerade habe, meine Damen und Herren, können wir über die an einem Tag wie heute das schlechtzumachen, was wir Angleichung des Rentenwertes nicht ausgleichen. Da- für Juli 2016 angekündigt haben. Wir haben einen klaren rum muss etwas anderes passieren. 2015 kommt der Fahrplan, und der gilt. Mindestlohn. Etwa 30 Prozent der Beschäftigten im Osten Deutschlands werden davon direkt profitieren. Sie Liebe Kolleginnen und Kollegen, nur die SPD ist mit erhalten höhere Löhne. Dadurch steigen die Entgelt- einem ganz klaren Konzept für die Rentenangleichung punkte für die Rente. Dadurch wiederum steigt auch der Ost/West in den Wahlkampf gegangen. Rentenwert: weil das Lohnniveau steigt. Meine Damen (Beifall bei der SPD – Matthias W. Birkwald und Herren, das kommt bei den Menschen in den neuen [DIE LINKE]: Nein, das stimmt nun wirklich Bundesländern an. nicht! – Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten GRÜNEN]: Das stimmt nicht!) der CDU/CSU) – Auch die Grünen brauchen sich nicht aufzuregen. Hier Das Rentenpaket ist beschlossen. Auch die Mütter- gibt es weder einen Fahrplan noch eine richtige Pro- rente hilft. Die Solidarrente ist im Koalitionsvertrag fest- grammatik und keine festen Zusagen. (B) geschrieben. Auch dadurch kommen höhere Renten. (D) (Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Also: Wir haben einen festen Fahrplan zur Rentenanglei- NEN]: Stimmt doch gar nicht! Sie wissen doch chung. Wir machen Politik für gerechtere Löhne und hö- gar nicht, wovon Sie reden!) here Renten. Wir packen das an. Daran sollen uns die Menschen im Land messen. Aber wir müssen eines gemeinsam zur Kenntnis neh- men: Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass die Men- Herzlichen Dank. schen im Osten der Republik die Linke mit 21,2 Prozent (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) und die SPD mit 19 Prozent gewählt haben. Das Ver- trauen jedoch hat die Union bekommen. Meine Damen und Herren, hier hat man auch Grenzen für das, was man Vizepräsident Peter Hintze: im Wahlkampf versprochen hat. Als letzter Rednerin in dieser Aussprache erteile ich das Wort der Abgeordneten Dr. Astrid Freudenstein, Die Unterschiede im Rentenrecht sind nach über CDU/CSU-Fraktion. 20 Jahren natürlich nicht mehr akzeptabel. Das haben wir in der Großen Koalition im Koalitionsvertrag festge- (Beifall bei der CDU/CSU) schrieben. Zwar wird der Unterschied in den Durch- schnittslöhnen mit dem Höherwertungsfaktor ausgegli- Dr. Astrid Freudenstein (CDU/CSU): chen, Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der An- (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE], an den trag der Linkspartei ist nichts Neues. Sie fordern in re- Abg. Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU] gelmäßigen Abständen das Parlament auf, die Renten in gewandt: Gut zuhören, Herr Weiß!) Ost und West anzugleichen aber alles das, was in der Rente pauschal berücksichtigt (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) wird, ist für Rentnerinnen und Rentner in den neuen Bundesländern noch immer weniger wert: Kindererzie- und verschweigen dabei, dass der Angleichungsprozess hungszeiten, Wehrpflicht, Zivildienst, Pflegezeiten und seit Jahren in vollem Gange ist. Arbeiten in Werkstätten für Menschen mit Behinderun- (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: In gen. Die Renten sind an die Lohnentwicklung gekoppelt. vollem Gange?) Wir sind stolz darauf, dass Renten sich wie die Löhne entwickeln. Das soll auch so bleiben. Das heißt – das Dass Sie den Menschen im Osten einreden, sie seien ek- schreiben Sie auch in Ihrem Antrag –: Wir brauchen eine latant benachteiligt, ist also nicht in Ordnung. 3402 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014

Dr. Astrid Freudenstein (A) Ich möchte Ihnen ein paar Zahlen nennen. 1990, im (Widerspruch bei Abgeordneten der SPD und (C) Jahre der Wiedervereinigung, hatte ein Entgeltpunkt im der LINKEN – Matthias W. Birkwald [DIE Osten einen Wert von 15,95 D-Mark, im Westen waren LINKE]: Das glaubt Ihnen ja nicht einmal der es 39,58 D-Mark. Das war ein riesiger Unterschied. Koalitionspartner!) Doch schon im Jahr 2000 lag der Rentenwert im Osten dann bei 42,26 D-Mark und im Westen bei und gingen einer Erwerbsarbeit nach. Deshalb bekom- 48,58 D-Mark. Innerhalb von zehn Jahren hatte eine rie- men sie heute auch mehr Rente als ihre westdeutschen sige Angleichung stattgefunden. Im kommenden Jahr Mitbürgerinnen, die auch gearbeitet haben, aber eben da- wird der Rentenwert im Osten auf 26,39 Euro gestiegen heim in der Kindererziehung; und das ist nicht weniger sein und damit nur noch sehr knapp unter dem Wert im wert. Wenn sich jemand beschweren kann, dann sind es Westen von 28,61 Euro liegen. Sagen Sie das den Men- tatsächlich die älteren Frauen im Westen. schen im Osten, statt beharrlich von einer Benachteili- Das feine und akzeptierte System, das gegenwärtig gung zu sprechen, die in dem Ausmaß nicht gegeben ist. die Renten organisiert, funktioniert, und wir wollen es (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Das sa- deshalb auch nicht verändern. In zwei Jahren, zum gen wir! Genau so sagen wir es!) 1. Juli 2016, wird geprüft, wie weit sich der Anglei- chungsprozess bereits vollzogen hat, und auf dieser Die Zahlen belegen, dass das Rentensystem mit der Grundlage werden wir dann entscheiden, was zu tun ist. Wiedervereinigung die bis heute größte Herausforde- Wie man daraus eine Ankündigung ableiten kann, man rung seiner Geschichte mit Bravour gemeistert hat. Nur wolle nichts tun, kann ich nicht erkennen. mit der von Adenauer eingeführten umlagefinanzierten gesetzlichen Rentenversicherung war es überhaupt mög- Eine Angleichung des Rentenwerts durch Zulagen, lich, die ostdeutsche Alterssicherung in das deutsche wie Sie sie fordern, würde neue Ungerechtigkeiten Rentenversicherungssystem einzugliedern. Das war eine schaffen, anstatt alte abzuschaffen. Wir wollen zu einem ganz große Solidarleistung der Rentenbeitragszahler. gemeinsamen Rentensystem in Ost und West kommen, wir wollen aber keine neuen Ungerechtigkeiten schaffen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Kerstin Griese [SPD]) Danke schön. Sie von der Linken sprechen in Ihrem Antrag von ei- (Beifall bei der CDU/CSU sowie der ner vergleichbaren Lebensleistung, die nicht in gleicher Abg. Kerstin Griese [SPD]) Weise anerkannt würde. Sie beziehen sich dabei allein auf den aktuellen Rentenwert. Das ist aber zu kurz ge- Vizepräsident Peter Hintze: dacht; das wurde in der Debatte mehrfach erwähnt. (B) Ich schließe die Aussprache. (D) Nach der Wiedervereinigung galt es, ein ausgeklügel- tes, faires und allgemein akzeptiertes Verfahren zu fin- Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf den, das verschiedene Erwerbsbiografien, Lohnunter- Drucksache 18/982 an die in der Tagesordnung aufge- schiede und eben auch andere Faktoren berücksichtigt. führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- Die Gerechtigkeit an der Gleichheit eines einzigen Werts verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung festzumachen, ist deswegen hanebüchen, gerade in Be- so beschlossen. zug auf die Komplexität des Angleichungsprozesses. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 10 a und 10 b auf: Kollege Weiß hat das ja sehr schön erklärt. a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundes- Damit den Rentnern in Ostdeutschland aus den nied- regierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten rigen DDR-Arbeitsentgelten kein Nachteil entsteht, wer- Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur den diese mit einem Umrechnungsfaktor um gut 18 Pro- Zahlbarmachung von Renten aus Beschäfti- zent erhöht; auch das wurde erwähnt. So haben die gungen in einem Ghetto Versicherten in den neuen Bundesländern heute teils hö- here Ansprüche als in den alten Bundesländern: Bei den Drucksachen 18/1308, 18/1577 Männern sind es im Schnitt 77 Euro mehr, bei den Frauen sogar 209 Euro mehr im Jahr. Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- schusses für Arbeit und Soziales (11. Ausschuss) (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Weil es nicht so viel Arbeitslosigkeit gab!) Drucksache 18/1649 Es gab – das hören Sie wieder ungern – in der sozia- Bericht des Haushaltsausschusses (8. Ausschuss) listischen Planwirtschaft eine vermeintliche, eine künst- gemäß § 96 der Geschäftsordnung liche Vollbeschäftigung, somit durchgängige Erwerbs- Drucksache 18/1650 biografien und längere Lebensarbeitszeiten. (Arnold Vaatz [CDU/CSU]: Arbeitslosigkeit b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- am Arbeitsplatz! – Matthias W. Birkwald [DIE richts des Ausschusses für Arbeit und Soziales LINKE]: Die haben mehr gearbeitet!) (11. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordne- ten Ulla Jelpke, Matthias W. Birkwald, Jan Frauen konnten oder mussten – wie auch immer – ihre Korte, weiterer Abgeordneter und der Fraktion Kinder abgeben DIE LINKE Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014 3403

Vizepräsident Peter Hintze (A) Renten für Leistungsberechtigte des Ghetto- gung anfangs so strikt, dass viele Anträge zunächst (C) Rentengesetzes ab dem Jahr 1997 nachträg- abgelehnt wurden. Erst 2009 wurde diese Rechtsausle- lich auszahlen gung geändert. Jetzt wurden die Renten zwar bewilligt, aber aufgrund einer Ausschlussfrist nur für vier Jahre Drucksachen 18/636, 18/1649 rückwirkend, also meist ab 2005 mit einem Zuschlag. Zu dem Gesetzentwurf der Bundesregierung liegt ein Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf ändern wir das. Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke vor. Ab dem 1. Juli 2014 erhalten nun alle ehemaligen Ghet- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für tobeschäftigten ihre Renten rückwirkend ab 1997. Zu- die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. Sind Sie einver- dem werden alle Renten auf Antrag der Berechtigten von standen? – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so be- Juli 1997 an neu festgestellt und gezahlt. Jeder und jede schlossen. entscheidet selbst, ob er oder sie eine Nachzahlung der Rente wünscht – ohne die bisherigen Zuschläge – oder Als erster Rednerin erteile ich das Wort Frau Staatsse- ob er oder sie stattdessen die bisherige Rente mit Zu- kretärin Gabriele Lösekrug-Möller für die Bundesregie- schlägen – jedoch ohne weitere Nachzahlung – behalten rung. möchte. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Aufgrund ihres hohen Alters müssen die ehemaligen Ghettobeschäftigten nun schnell zu ihrem Recht kom- men. Deshalb bitte ich Sie um Ihre Zustimmung zum Gabriele Lösekrug-Möller, Parl. Staatssekretärin Ghettorentengesetz. bei der Bundesministerin für Arbeit und Soziales: Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte ab- Meine Damen und Herren auf den Tribünen! Bei der ge- schließend noch einmal betonen: Durch die Neuregelung meinsamen Sondersitzung von Bundestag und Bundesrat bei den Ghettorenten können wir nichts wiedergutma- zum Gedenken an das Kriegsende hat der damalige Bun- chen, doch wir stehen zu unserer Verantwortung für die despräsident Horst Köhler am 8. Mai 2005 Folgendes Opfer der Gewaltherrschaft der Nationalsozialisten. Wir gesagt: setzen ein Zeichen gegen das Vergessen. Und wir sorgen dafür, dass die Arbeit im Ghetto anerkannt wird und die Wir Deutsche blicken mit Schrecken und Scham Betroffenen nun zügig und unbürokratisch die Rente er- zurück auf den von Deutschland entfesselten Zwei- halten, die ihnen zusteht. ten Weltkrieg und auf den von Deutschen begange- nen Zivilisationsbruch Holocaust. Vielen Dank. (Beifall im ganzen Hause) (B) Was wir heute beschließen werden, macht nichts gut (D) von all dem Schrecken, den die Nationalsozialisten wäh- rend der Jahre 1933 bis 1945 verbreitet haben, nichts Vizepräsident Peter Hintze: von dem unermesslichen Leid, das sie Millionen von Als nächstem Redner erteile ich dem Abgeordneten Menschen angetan haben. Matthias W. Birkwald von der Fraktion Die Linke das Wort. Der vorliegende Gesetzentwurf, kurz Ghettorentenge- setz, ist aber ein wichtiges Zeichen der Anerkennung, (Beifall bei der LINKEN)

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Matthias W. Birkwald (DIE LINKE): der CDU/CSU und der LINKEN) Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her- der Anerkennung der Arbeit, die Menschen in Ghettos, ren! Im Jahr 1997 stellte das Bundessozialgericht fest, die im nationalsozialistischen Einflussbereich lagen, un- dass NS-Verfolgten, die in einem Ghetto arbeiteten, eine ter unwürdigen Bedingungen geleistet haben. Sie taten Rente nach deutschem Recht zustehe. 2002 hatte dann das – das Wort geht mir schwer über die Lippen – frei- der Bundestag zum ersten Mal beschlossen, allen Über- willig, wobei der Begriff „freiwillig“ aufgrund der Rea- lebenden der Nazighettos eine Rente rückwirkend bis lität im Ghetto einen bitteren Beigeschmack hat; denn zum Zeitpunkt des Urteils, also bis 1997, zu gewähren. die Menschen hegten die verzweifelte Hoffnung, der De- Aber erst heute, 17 Jahre nach dem BSG-Urteil, können portation und dem Tod entgehen zu können, wenn sie 40 000 betroffene hochbetagte Jüdinnen und Juden in al- eine Arbeit hatten. Das Leid, das sie erlitten haben, ist ler Welt nun endlich hoffen, dass dieser Anspruch zum heute unvorstellbar. Diese Menschen – es leben immer ersten Mal Wirklichkeit werden wird. Dafür danke ich noch Zehntausende von ihnen – wollen in der großen der Bundesregierung und dem Bundesministerium für Mehrzahl statt einer einmaligen Entschädigungszahlung Arbeit und Soziales, namentlich Frau Ministerin Nahles eine tatsächliche Sozialversicherungsrente für die Zeiten und Frau Staatssekretärin Lösekrug-Möller, und allen der Beschäftigung im Ghetto. anderen daran Beteiligten im Namen der Fraktion Die Linke. Dass es sich bei Ghettoarbeit nicht automatisch um (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- Zwangsarbeit handelt, hat das Bundessozialgericht be- neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE reits im Jahr 1997 festgestellt. 2002 hat der Deutsche GRÜNEN) Bundestag beschlossen, dass Renten aus Beschäftigun- gen im Ghetto auch tatsächlich ab dem 1. Juli 1997 ge- Sie, meine Damen und Herren, haben sich erstens im zahlt werden können. Allerdings war die Rechtsausle- Gegensatz zu all ihren Vorgängerregierungen endlich 3404 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014

Matthias W. Birkwald (A) den komplizierten rechtlichen Problemen gestellt, statt gierung auf, hier ebenfalls schnell zu einer Lösung mit (C) sich hinter ihnen zu verstecken, haben die mehreren der polnischen Seite im Interesse der hochbetagten Be- Hundert Petitionen dazu ernst genommen; beispielhaft troffenen zu kommen. sei hier nur die Petition des engagierten Sozialrichters (Beifall bei der LINKEN) Dr. Jan-Robert von Renesse erwähnt. Sie haben zweitens nun schnell eine Lösung gefunden. Drittens haben Sie Ich bitte Sie, diesen letzten fehlenden Stein aus dem Weg alle Regelungsvorschläge meiner Fraktion aus unserem zu räumen und das Ghettorentengesetz so zu einem gu- Antrag in Ihren Gesetzentwurf aufgenommen. ten Abschluss zu bringen. Ich danke Ihnen aber vor allem dafür, dass Sie mit Herzlichen Dank. dem heute zu verabschiedenden Gesetz seine unrühmli- (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten che zwölfjährige Vorgeschichte beenden. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der LINKEN) Denn gegen eine angemessene und schnelle Auszahlung Vizepräsident Peter Hintze: der Ghettorenten gab es in Deutschland leider massive Als nächstem Redner erteile ich dem Abgeordneten Widerstände. Ich will das gerade heute sehr ehrlich und Peter Weiß, CDU/CSU-Fraktion, das Wort. sehr deutlich sagen: Die jüdischen Opfer sahen sich über (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten ein Jahrzehnt lang bürokratischen Blockaden durch die der CDU/CSU) Rentenversicherungsträger ausgesetzt. Ausführlich hat das der Warschauer Historiker Stephan Lehnstaedt in ei- Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU): nem Aufsatz in den Vierteljahresheften für Zeitge- schichte im vergangenen Jahr beschrieben. Die Opfer lit- Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! ten unter einer meist restriktiven richterlichen Praxis, Im Jahr 2002 hat der Deutsche Bundestag mit dem Ge- wenn sie gegen ihre abgelehnten Bescheide klagten. Die setz zur Ghettorente einen wichtigen Beitrag geleistet, Bundes- und auch die Landesregierungen versagten als indem den Menschen, die von der Nazidiktatur in Ghet- Aufsichtsbehörden. Denn sie wussten um die Unzuläng- tos zusammengepfercht wurden und die dort selbstver- lichkeiten des Gesetzes, aber sie weigerten sich bis ständlich um ihren Lebensunterhalt gekämpft und dafür heute, daran etwas zu ändern, auch aus Sorge vor finan- gearbeitet haben, erstmalig ein eigener Rentenanspruch ziellen Belastungen. Im Jahr 2008 gab es deshalb 6 100 zuerkannt wurde. Es war 2002 eine wirklich großartige bewilligte Anträge und 65 000 abgelehnte Anträge. Erst Leistung des deutschen Parlaments, dies endlich zu be- das BSG-Urteil aus dem Jahr 2009 hat dazu geführt, dass schließen. (B) Zehntausende von abgelehnten Bescheiden überprüft (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (D) wurden. 24 000 Bescheide wurden anschließend positiv neten der SPD und der LINKEN) beschieden. Aber den Betroffenen – das ist das Pro- blem – wurde der rückwirkende Rentenbeginn ab 1997 Mit dieser Entscheidung von 2002 haben wir dafür ge- versagt. sorgt, dass denen, denen die Nazis durch die Verbrin- gung in Ghettos ihre menschliche Würde rauben wollten Diese Vorgeschichte des heutigen Gesetzes ist kein und geraubt haben, mit dem eigenen Rentenanspruch für Ruhmesblatt für die deutschen Bundesregierungen die- ihre in den Ghettos geleistete Arbeit ein Stück ihrer ser Zeit und auch nicht für die Rentenversicherungsträ- Würde zurückgegeben wurde. Bei der Ghettorente geht ger dieser Jahre. es in Wahrheit nicht nur um eine finanzielle Leistung; es geht zuallererst um die Achtung der Würde des Men- Sicher, es ist viel, viel zu spät dafür; aber ich bin den- schen und um die Achtung der Würde der Arbeit. Das noch froh, dass den Ghettoarbeiterinnen und Ghettoar- war das Entscheidende bei dem Ghettorentengesetz. beitern als Opfern der faschistischen Gewaltherrschaft heute nun endlich ein Stück Gerechtigkeit widerfahren (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- wird. Deswegen wird meine Fraktion diesem Gesetzent- neten der SPD) wurf zustimmen. Nun war es leider so, dass viele Männer und Frauen, (Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem die nach der Intention des Gesetzgebers einen Anspruch BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Ab- auf Ghettorente hatten, erfahren mussten, dass aufgrund geordneten der CDU/CSU) hoher bürokratischer Hürden und einer ziemlich proble- matischen Auslegung durch die Rentenversicherung ihre Meine Damen und Herren, es bleibt aber noch eine Anträge abgelehnt wurden. Als nun das Bundessozialge- Gerechtigkeitslücke. Es war die Klage einer polnischen richt hinsichtlich der Anwendung des Gesetzes neues Jüdin, die zum Urteil von 1997 führte und den Stein bei Recht gesprochen hatte, konnte man eine solche Ghetto- den Ghettorenten ins Rollen brachte. Aber ausgerechnet rente aber nur vier Jahre rückwirkend beantragen. für die Jüdinnen und Juden und die Sinti und Roma, die seit dem 31. Dezember 1990 durchgängig in Polen woh- Mit der heutigen Gesetzesnovelle sorgen wir für Klar- nen, gibt es immer noch keine Lösung. Dem steht leider heit. Jeder und jede, der oder die unter den schrecklichen das deutsch-polnische Rentenabkommen aus dem Jahre Zuständen in einem Ghetto leben und arbeiten musste, 1975 im Weg. Es blockiert in seiner derzeitigen Fassung kann rückwirkend ab dem Jahr 1997 Rente beantragen. die Auszahlung von Ghettorenten in Polen. Darum for- Damit sorgen wir dafür, dass alle, die Anspruch auf eine dern wir in unserem Entschließungsantrag die Bundesre- Ghettorente haben, gleichbehandelt werden. Das, was Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014 3405

Peter Weiß (Emmendingen) (A) 2002 die eigentliche Absicht des Gesetzgebers war, wird auch in Polen lebende ehemalige Ghettoarbeiterinnen (C) im Zuge dieser Novellierung deutlich und klar ins Ge- und -arbeiter ihre Rentenansprüche einlösen können. setz geschrieben. Damit sorgen wir hoffentlich ein Stück Dafür ein herzliches Dankeschön an die Bundesregie- weit für mehr Gerechtigkeit bei der Ghettorente. rung. (Beifall im ganzen Hause) (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Also Wie die Frau Staatssekretärin schon dargestellt hat, doch kein Haar in der Suppe!) kann jeder für sich berechnen lassen, ob er die bisherige, vier Jahre rückwirkend gewährte Rente beziehen will Meine sehr geehrten Damen und Herren, für uns oder ob er sie neu berechnen lassen will und sich ab dem heute Lebende ist ja überhaupt nicht vorstellbar, was es Jahr 1997 ausbezahlen lassen will. Wir sorgen also für bedeutete, zusammengepfercht und vom normalen Le- Wahlfreiheit. Jeder Betroffene kann selbst für sich ent- ben ausgeschlossen in einem Ghetto unter der Nazidikta- scheiden. tur zu leben und zu arbeiten. Eine Betroffene aus Ungarn hat mir in meiner Eigenschaft als Präsident des Zum Zweiten unterliegt derjenige, der es bislang viel- Maximilian-Kolbe-Werks – nicht in meiner Eigenschaft leicht versäumt hat, einen Antrag zu stellen, dann, wenn als Abgeordneter – einen Brief geschrieben, nachdem sie er erstmalig einen Antrag stellt, keiner Verfallsfrist. zu einem von deutscher Seite mitfinanzierten Erholungs- Auch das ist wichtig. aufenthalt eingeladen worden war. Sie schreibt Folgen- Zum Dritten kann auch die Witwe oder der Witwer ei- des: nes mittlerweile verstorbenen Ehepartners, der diese Die Frage „warum“ stellt sich ein jeder, der Ghettorente hätte beantragen können und Anspruch auf Auschwitz überlebt hat. Warum wurde gerade ich sie gehabt hätte, nachträglich für sich diese Witwenrente begünstigt oder bestraft? Dass dort, wo vollkom- beantragen. Es ist, wie ich glaube, wichtig, dass wir de- mene Familien spurlos verschwunden waren, wo nen, die als Hinterbliebene von Anspruchsberechtigten aus zehn Personen im Durchschnitt nicht mehr als heute hochbetagt unter uns leben, die Möglichkeit eröff- zwei zurückgekehrt waren, ich am Leben geblieben nen, die ihnen und ihrem Ehepartner zustehende Rente bin, warum? in Form der Witwenrente zu beziehen. Ich brauchte nach Kriegsende 45 Jahre, um in 1990 (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der nach Deutschland zu reisen, und 59 Jahre, um den SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- Mut zu fassen, nach Auschwitz – freiwillig aus ei- NEN) genem Wunsch – in 2003 zurückzufahren. 1990 (B) Meine sehr geehrten Damen und Herren, zu Recht ist wollte ich meinen Augen nicht glauben. Ich habe (D) darauf hingewiesen worden – die Opposition will ja ein ganz anderes Deutschland gefunden … überall ein Haar in der Suppe finden –, dass wir in Bezug Nach so vielen Jahren – das kann ich im Namen auf Polen eine Sondersituation haben, weil es ein meiner ehemaligen Lagergeschwister und Lager- deutsch-polnisches Sozialversicherungsabkommen gibt. brüder auch sagen – hassen wir schon niemanden. (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Das hat Wir sind zumeist weit über 80 Jahre alt, unsere Tä- nichts mit „Haar in der Suppe finden wollen“ ter leben schon nicht. Wen sollen wir denn jetzt has- zu tun, sondern ist ganz einfach im Interesse sen? Das Leben hat uns auch überzeugt, dass Hass der Menschen!) nur weiter Hass und Angst als Erfolg hat. Darin ist geregelt – was ja auch nicht dumm, sondern ei- Ich finde es menschlich bewegend und großartig, dass gentlich gescheit ist –, dass Rentenansprüche, die ein diejenigen, denen so unendliches Leid geschehen ist, polnischer Staatsbürger gegenüber der Deutschen Ren- heute – hochbetagt – zu einer solchen Haltung, zu einer tenversicherung hat, durch die polnische Sozialversiche- solchen Aussage fähig sind. rung eingelöst werden. Wenn wir hier im Deutschen (Beifall im ganzen Hause) Bundestag ein Gesetz beschließen, hat das aufgrund die- ses Sozialversicherungsabkommens nicht unmittelbar Deshalb freue ich mich, wenn wir heute – hoffentlich Auswirkungen für jemanden in Polen. Aber natürlich einstimmig – die Änderung des Ghettorentengesetzes wünschen wir uns, dass jemand, der in Polen lebt, in beschließen und solch großartigen Menschen, die Polen, wenn auch nach polnischem Recht, eine eigene Schreckliches und Schlimmes in ihrem Leben erfahren Rente für im Ghetto geleistete Arbeit bekommt. Dass er haben, durch die Ghettorente ein Stück ihrer Würde zu- diese vorgesehene Ghettorente bekommt, die wir ihm rückgeben können. zugestehen, ist unser Wille. Vielen Dank. Insofern begrüße ich es, Frau Bundesministerin (Beifall im ganzen Hause) Nahles, dass die Bundesregierung bereits, bevor wir heute dieses Gesetz beschließen, also sozusagen schon in vorauseilendem Gehorsam, mit der polnischen Regie- Vizepräsident Peter Hintze: rung Gespräche aufgenommen hat, wie wir unter den Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Abge- Bedingungen des deutsch-polnischen Sozialversiche- ordneten Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn, Bündnis 90/ rungsabkommens dafür sorgen können, dass möglichst Die Grünen. 3406 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014

(A) Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (BÜNDNIS 90/ Es gab einen Moment, in dem der Prozess fast ge- (C) DIE GRÜNEN): stoppt worden wäre, weil gesagt worden ist: Durch die Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es Rentenaufschläge wird doch ausgeglichen, dass die hat jetzt zwölf Jahre gedauert, bis der Deutsche Bundes- Menschen erst später Rente bekommen haben. Wir tag es schafft, den damals einstimmigen Beschluss recht- konnten aber nachweisen, dass dem nicht so ist. Es ist lich so klarzustellen, dass dem Willen, den der Deutsche vielmehr so, dass Verluste in der Größenordnung eines Bundestag vor zwölf Jahren geäußert hat, tatsächlich vierstelligen Euro-Betrages entstehen. Das sind keine auch Geltung verschafft wird. Die Phase dazwischen war Beträge, mit denen man die Schuld wieder begleichen durchaus beschämend. Das ist beschrieben worden. Der kann, aber sie sind mehr als symbolisch und für die Be- Wille wurde in der Verwaltung nicht umgesetzt. Deshalb troffenen teilweise durchaus viel Geld. Es ist gut, dass hat es bis zum Sozialgerichtsurteil von 2009 gedauert, wir das hinbekommen haben, dass die Menschen dieses bis rechtliche Klarstellung erfolgt ist. Dann wurden halt Geld nun auch ausgezahlt bekommen können. nur rückwirkend ab 2005 die Renten gezahlt, im Gegen- Wir hatten dann eine Anhörung, in der gesagt worden satz zu dem Willen des Gesetzgebers, dass das ab 1997 ist, beide Wege – Entschädigungen und Rentennachzah- passieren sollte. lungen – sind prinzipiell möglich; beide sind schwierig. Es gab aber eine klare Äußerung von den Betroffenen Es ist gut, dass wir so einmütig sind. Aber für diese und von den Betroffenenverbänden; sie haben gesagt: beschämende Phase können wir uns bei den Betroffenen Wir wollen eine rentenrechtliche Lösung, wir wollen – auch wenn es nicht unser Wunsch war – eigentlich nur keine Entschädigung. Wir wollen kein Almosen, son- entschuldigen. Von ihnen sind in der Zwischenzeit ja dern wir haben gearbeitet und möchten dafür unsere auch schon viele gestorben; das muss man an der Stelle wohlverdiente Rente haben. ja auch noch einmal sagen. Das ist mehr als bitter. Das ist eine bewegende Geschichte. Wir waren eigentlich vor einem Jahr fast schon so weit, wie wir heute sind. Leider ist es uns nicht schon Ich will noch einmal kurz beschreiben, was in den vor einem Jahr gelungen, das Gesetz zu verabschieden. letzten vier Jahren passiert ist, denn es war für mich und, Es gab Widerstände. Ich weiß nach wie vor nicht, von wie ich glaube, auch für alle Beteiligten ein ganz beson- wem und mit welchen Gründen. Ich kann es nicht wirk- derer Prozess – nicht nur wegen des Themas, sondern lich nachvollziehen. An der Stelle muss ich es einfach weil wir da einen Parlamentarismus gelebt haben, der in sagen: Ich finde, die Leute, die dafür verantwortlich meinen Augen vorbildlich ist. Wir haben nämlich ge- sind, dass wir das Gesetz nicht schon vor einem Jahr ver- meinsam darum gerungen, wie wir eine Lösung hinkrie- abschiedet haben, sollten sich etwas schämen. (B) gen, damit die Menschen ab 1997 ihre Renten bekom- (D) men. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten Ich möchte mich an der Stelle auch noch einmal bei der SPD) allen seinerzeit beteiligten Berichterstattern bedanken: Denn in der Zwischenzeit sind wieder mehr Menschen bei Karl Schiewerling, bei Peter Weiß, bei Volker Beck gestorben. Im politischen Prozess ist ein Jahr wenig, für aus meiner Fraktion, bei Ulla Jelpke und Matthias Menschen, die 85 Jahre alt sind, die 90 Jahre alt sind, ist Birkwald von den Linken, aber auch bei Heinrich Kolb ein Jahr sehr viel. Umso besser ist es – dafür möchte ich von der FDP und last, not least bei Toni Schaaf von der der Bundesregierung und allen Beteiligten danken –, SPD, der wesentlich mit dazu beigetragen hat, dass wir dass diese Widerstände überwunden worden sind, wir das Thema auf die Tagesordnung gesetzt haben, und da- den Gesetzentwurf sehr zügig beraten haben und dass bei immer eine treibende Kraft war. wir dieses Gesetz heute einstimmig verabschieden kön- (Beifall im ganzen Hause) nen. Ich möchte mit einem Zitat aus der Anhörung enden. Es war eine schwierige Geschichte; denn es ist ren- Uri Chanoch, einer der Überlebenden, hat gesagt: tenrechtlich so, dass man dann, wenn man später Rente bezieht, einen Zuschlag bekommt. Die Menschen, die ab Was wir und eigentlich alle Überlebenden wollen, 2005 ihre Rente bekommen haben, haben eine höhere es ist nicht viel, wirklich nicht viel. Die Ghettoin- Rente bekommen als dann, wenn sie sie schon ab 1997 sassen waren, die sollen die Rente ab 1997 bekom- bekommen hätten. men, und das ist einfach. … Es ist wirklich nicht viel. … macht das mit dem Termin 1997 und fertig. Bis es dazu kam, dass heute der Gesetzentwurf auf Und damit ist dann Schluss, mehr wollen wir nicht dem Tisch liegt, gab es vielfältige Überlegungen. Es von euch. Wir bitten nur darum, dass das erledigt wurde die Möglichkeit erörtert, dass die Menschen eine wird. Nachzahlung bekommen, dafür aber für die Zukunft eine geringere Rente erhalten. Da haben wir gefragt: Kann Das schaffen wir heute – viel zu spät, aber wir schaf- man das den Menschen wirklich zumuten, dass man fen es und senden damit, wie ich finde, ein gutes Signal sagt, ihr kriegt eine geringere Rente? Dann haben wir an die Betroffenen. über steuerfinanzierte Entschädigungslösungen nachge- Vielen Dank. dacht. Das ist alles sehr kompliziert, aber alles durchaus machbar. (Beifall im ganzen Hause) Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014 3407

(A) Vizepräsident Peter Hintze: Wir schaffen zweitens die Optionsmöglichkeit einer (C) Als nächster Rednerin erteile ich das Wort der Abge- rückwirkenden Zahlung ab 1997 oder einer Zahlung mit ordneten Kerstin Griese, SPD-Fraktion. Zuschlägen ab 2005. Drittens – auch das ist interessant – streichen wir die Antragsfrist, die bisher im Jahre 2003 (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten endete. Noch heute stellen Menschen Anträge. Noch der CDU/CSU) heute erfahren Menschen, dass sie aufgrund ihrer Arbeit in Ghettos in der damaligen Zeit eine Rente bekommen Kerstin Griese (SPD): können. Deshalb ist es gut, dass wir die Antragsfrist Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! streichen. Gestern haben wir im Ausschuss für Arbeit und Soziales der Änderung des Ghettorentengesetzes einstimmig zu- (Beifall im ganzen Hause) gestimmt. Alle Fraktionen sind sich einig, dass die Än- derungen, die wir heute in zweiter und dritter Lesung be- Liebe Kolleginnen und Kollegen, in den Beratungen, schließen, für die Betroffenen endlich etwas mehr die wir sehr intensiv geführt haben, sind von den Grünen Gerechtigkeit bedeuten. Ich bedanke mich schon zu Be- und den Linken zwei Anliegen vorgetragen worden; sie ginn meiner Rede ganz herzlich für diese Einmütigkeit sind auch hier gerade vorgestellt worden. Ich will dazu im Deutschen Bundestag. gerne etwas sagen. (Beifall im ganzen Hause) Die Fraktion Die Linke hat die Überlebenden, die heute in Polen leben, ins Gespräch gebracht. Viele Men- Liebe Kolleginnen und Kollegen, es geht – das wurde schen waren ja aufgrund der deutschen Besatzung schon gesagt – um Menschen, die in der NS-Zeit unter Polens im Zweiten Weltkrieg dort in Ghettos. Für diese schlimmsten Bedingungen und zu Hungerlöhnen in von Personengruppe gilt das Ghettorentengesetz nicht, weil den Nazis errichteten Ghettos gearbeitet haben. Ihre Ar- es ein Sozialabkommen zwischen Deutschland und beitskraft wurde ausgenutzt, ihr Leben sollte keine Zu- kunft haben. Dennoch wurden für sie Rentenbeiträge ab- Polen aus dem Jahr 1975 gibt, in dem vereinbart ist, dass geführt. Die Betroffenen selbst haben jahrzehntelang alle Menschen, die in Polen leben, vom dortigen Sozial- gefordert, dass sie für diese Zeit eine Rente und nicht versicherungsträger auch für in Deutschland geleistete etwa eine Entschädigung bekommen, weil sie das, was Arbeit – das Gleiche gilt auch umgekehrt – eine Rente sie dort unter Zwangsbedingungen, eingesperrt im bekommen. Deshalb kann dieses Abkommen nicht ein- Ghetto, erlitten haben, dennoch als Arbeit empfunden seitig von uns verändert oder aufgekündigt werden. Ich haben. bin sehr froh, dass die Bundesregierung bereits Gesprä- che führt – diese Gespräche wird sie auch weiterhin (B) Bis Ende 2013 sind insgesamt rund 57 000 Ghettoren- führen –, um dieses Problem im Sinne der polnischen (D) ten bewilligt worden. 21 500 dieser Renten wurden we- Ghettobeschäftigten einvernehmlich so zu lösen, dass sie gen der Anwendung der Regelung, nur vier Jahre rück- den anderen Personen gleichgestellt werden. wirkend zu zahlen, und knapp 17 000 von ihnen wegen versäumter Antragsfrist erst später ausgezahlt. Etwa Mit dem Entschließungsantrag der Fraktion Die zwei Drittel aller Renten werden jetzt durch dieses Ge- Linke, der uns gerade eben erst vorgelegt wurde, wird setz rückwirkend ab 1997 ausgezahlt. Etwa zwei Drittel also eigentlich das gefordert, was wir schon tun, nämlich der Antragsteller werden jetzt eine entsprechende Unter- Gespräche in diese Richtung zu führen. Wir unterstützen stützung bekommen. die Bundesregierung bei ihren Gesprächen und wün- schen ihr viel Erfolg im Sinne der Betroffenen. Wir ma- Als der Bundestag das Ghettorentengesetz 2002 be- chen das aber auf dem diplomatischen Weg und nicht schlossen hat, war für uns nicht abzusehen, dass es dazu über diesen Antrag. führen wird, dass in den ersten Jahren etwa 90 Prozent der Anträge, also der allergrößte Teil, abgelehnt werden. Die Fraktion der Grünen hatte vorgeschlagen, dass es Erst durch eine Entscheidung des Bundessozialgerichts den Hinterbliebenen – dem Witwer bzw. der Witwe – 2009 hat sich das verändert. Etwa die Hälfte aller bislang von Ghettorentenberechtigten möglich sein soll, auch abgelehnten Anträge wurde dann rückwirkend bewilligt. nach dem Tod der bzw. des Berechtigten einen Antrag Aber das Problem war, dass sie nur vier Jahre rückwir- auf Ghettorente zu stellen. Diese Forderung habe ich aus kend bewilligt wurden; das liegt an unserem Sozialrecht. den Reihen der Betroffenen zwar noch nicht gehört; aber Dies wurde von den Betroffenen als Unrecht empfun- selbst wenn jemand sagt, dass die betroffene Person zeit- den, weil andere diese Rente ja ab 1997 bekamen. Es lebens keinen Antrag auf Ghettorente gestellt hat, weil ging um Ansprüche, die die Menschen verdient haben. die Sorge vor einer Ablehnung so groß war oder weil Auch durch die Möglichkeit, stattdessen Zuschläge zu man keine schlimmen Erinnerungen wecken wollte, bekommen, wurde man dem Gerechtigkeitsbedürfnis der kann man, da die Rente durch eine individuelle Willens- Opfer nicht gerecht. Sie wollten ihr gutes Recht. Sie erklärung beantragt werden muss, nach deren Tod keine wollten die Ghettorenten ab 1997, wie sie ihnen auch Rente für diese Person beantragen. Man kann aber sehr laut Gesetz zustehen. wohl eine Hinterbliebenenrente beantragen. Auch das Es ging und geht den Opfern um die Anerkennung ih- passiert heute noch, und es ist wichtig, dass das weiter- rer geleisteten Arbeit. Mit den drei Änderungen, um die geht. Wir haben die Forderung allerdings sehr ernsthaft es heute geht, erzielen wir tatsächlich Fortschritte: Wir geprüft und sind zu dem heute vorliegenden Gesetzent- geben erstens die zurückwirkende Vierjahresfrist auf. wurf gekommen. 3408 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014

Kerstin Griese (A) Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Präsident des nen Beitrag dazu leisten, die Folgen dieses Unrechts we- (C) Zentralrates der deutschen Juden, Dieter Graumann, hat nigstens teilweise zu mildern. vor ein paar Wochen in der Jüdischen Allgemeinen ge- schrieben – ich zitiere –: Lassen Sie mich in wenigen Worten den Weg nach- zeichnen, der zu der heutigen Beschlussfassung geführt Das Leid, das diese mittlerweile hochbetagten hat: Menschen erfahren haben, lässt sich mit nachträg- lich gezahlter Rente gewiss nicht wiedergutmachen. 1997 hatte eine ehemalige Näherin aus dem Ghetto Lodz auf Zahlung ihrer deutschen Rente geklagt und Er betonte, dass die früheren Ghettoarbeiter bisher mit auch gewonnen. Daraus entstand 2002 das Gesetz zur bürokratischen Vorschriften abgekanzelt worden seien. sogenannten Ghettorente. Alle ehemaligen Ghettoinsas- Jetzt würden sie aber endlich ernst genommen und wür- sen, die in einem Ghetto gearbeitet hatten, konnten nun dig behandelt. Herr Graumann bezeichnet diese Renten- Rentenanträge stellen. regelung als eine „Geste der Menschlichkeit“. Rund 70 000 Betroffene machten davon Gebrauch, Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist beschämend, doch fast alle Anträge wurden leider abgelehnt. Die Be- dass wir diesen Beschluss erst so spät, 69 Jahre nach gründung damals lautete: Die Arbeit im Ghetto war nicht Ende des Zweiten Weltkrieges, 69 Jahre nach Ende der freiwillig, sondern Zwangsarbeit, und Zwangsarbeit war nationalsozialistischen Gewaltherrschaft, fassen, aber es aus den Mitteln der Stiftung „Erinnerung, Verantwor- ist gut, dass wir es heute tun, und es ist vielleicht ein be- tung und Zukunft“ zu entschädigen. Viele Sozialrechtler sonderes Zeichen, dass wir diese überfällige „Geste der gaben dem damaligen Zeitgeist entsprechend den Ren- Menschlichkeit“ einstimmig zeigen werden. Herzlichen tenträgern recht. Dank dafür an die Bundesregierung und an alle Fraktio- nen im Deutschen Bundestag. Es stellte sich allerdings schon bald, wie der Histori- ker Jürgen Zarusky vom Münchner Institut für Zeitge- (Beifall im ganzen Hause) schichte formulierte, die Frage nach dem Unterschied zwischen einem KZ-Häftling, der einem Kommando un- Vizepräsidentin Petra Pau: terstellt ist, der durchgezählt wird, der eingeordnet wird, und einem Ghettoinsassen, der sich selbst bemühen Für die CDU/CSU-Fraktion hat der Kollege Strebl muss, eine Arbeit zu bekommen. Man konnte sich nicht das Wort. vorstellen, dass Arbeit in einem Ghetto freiwillig und (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- ohne Zwang geleistet werden konnte. 2009 hat es dann neten der SPD) eine Änderung in der Beurteilung gegeben, und im Juni (B) 2009 hat das Bundessozialgericht dementsprechend ent- (D) Matthäus Strebl (CDU/CSU): schieden. Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen Unter den gegebenen Umständen reicht es seitdem und Kollegen! Wir beraten heute in zweiter und dritter zur Bestätigung der Freiwilligkeit aus, wenn der Antrag- Lesung die Änderung des Gesetzes zur Zahlbarmachung steller zwischen Arbeit und Hungertod entscheiden von Renten aus Beschäftigungen in einem Ghetto. Die- musste. Alle abgelehnten Bescheide werden seither neu ses Gesetz betrifft einige Zehntausend Menschen und ist bearbeitet. Exakt 23 818 von 26 186 überprüften und ab- in mehrfacher Hinsicht von hoher Symbolkraft. Es ist gelehnten Rentenanträgen wurden nunmehr bewilligt. ein deutlicher Hinweis auf die schwärzesten Jahre deut- scher Geschichte und der in deutschem Namen begange- Allerdings gab es weiterhin ein als Unrecht empfun- nen Verbrechen. Die heutige Debatte zeigt zugleich aber denes Problem: Die Renten wurden nicht rückwirkend auch, dass wir uns als Deutscher Bundestag unserer Ver- ab dem Jahr 1997, sondern wegen der im allgemeinen antwortung stellen – wenn auch mit großer Verspätung. Sozialrecht geltenden Rückwirkung von maximal vier Jahren erst ab Januar 2005 gezahlt. Zum Ausgleich für Rund 70 Jahre sind nunmehr vergangen – das ent- diesen späteren Rentenbeginn erhielten die Betroffenen spricht zwei Generationen –, seitdem das nationalsozia- Rentenzuschläge in Höhe von 6 Prozent pro Jahr. Wegen listische System zusammengebrochen ist. Zur men- des verschobenen Rentenbeginns ergaben sich also Zu- schenverachtenden Politik der damaligen Zeit gehörte schläge bei nachträglich bewilligten Ghettorenten von es, Menschen in Ghettos zu sperren, weil sie anders wa- rund 45 Prozent. ren, als die Führung es sich vorstellte. Nicht nur in den Konzentrationslagern, sondern auch in diesen Ghettos Trotz dieser begrüßenswerten finanziellen Regelun- kämpften die Menschen – vornehmlich jüdische Mitbür- gen wurde der spätere Rentenbeginn von den Rentenbe- gerinnen und Mitbürger – um ihr Leben. rechtigten, ungeachtet der hohen Rentenzuschläge, als ungerecht empfunden. Das heute zur Verabschiedung Historiker befassen sich damit, und die Geschehnisse stehende Gesetz ermöglicht es, dass künftig auch die von damals sind heute zumeist Gegenstand von Gedenk- nachträglich nur für vier Jahre rückwirkend bewilligten veranstaltungen. Es zeigt sich, dass sie zwar untrennbar Renten auf Antrag bereits ab Juli 1997 ausgezahlt wer- zu unserer Geschichte gehören, aber keineswegs Vergan- den können – in diesem Fall jedoch ohne die entspre- genheit sind – bewältigte Vergangenheit schon gar nicht. chenden Rentenzuschläge. Wir können damit erlittenes Unrecht nicht wiedergut- Um weitere Ungerechtigkeiten zu vermeiden, können machen. Mit dem Gesetz zur Ghettorente wollen wir ei- auch diejenigen, die aus unterschiedlichen Gründen ei- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014 3409

Matthäus Strebl (A) nen Antrag auf Ghettorente nicht innerhalb der bisher tion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen (C) geltenden Antragsfrist 30. Juni 2003 gestellt haben, ihre abgelehnt. Rente rückwirkend ab 1997 erhalten, vorausgesetzt, die Anspruchsvoraussetzungen sind erfüllt. Uns allen in die- Tagesordnungspunkt 10 b. Wir setzen die Abstim- sem Hohen Hause ist bewusst, dass die Berechtigten mung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses überwiegend hochbetagt sind. Wir stellen daher sicher, für Arbeit und Soziales auf Drucksache 18/1649 fort. dass sie selbst unmittelbar nach Erhalt ihres Rentenbe- Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Be- scheides über ihre Rentennachzahlung verfügen können. schlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Frak- tion Die Linke auf Drucksache 18/636 mit dem Titel Im Vertrag der Großen Koalition haben CDU/CSU „Renten für Leistungsberechtigte des Ghetto-Rentenge- und SPD festgelegt – ich zitiere –: setzes ab dem Jahr 1997 nachträglich auszahlen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt Wir sind uns der historischen Verantwortung für die dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschlussempfeh- Überlebenden des Holocaust, die in der NS-Zeit un- lung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen sägliches Leid erlebt haben, bewusst. die Stimmen der Fraktion Die Linke und der Fraktion Wir wollen daher, dass den berechtigten Interessen Bündnis 90/Die Grünen angenommen. der Holocaustüberlebenden mit einer angemessenen Ent- Ich rufe den Zusatzpunkt 1 auf: schädigung für die in einem Ghetto geleistete Arbeit Rechnung getragen wird. Beratung des Antrags der Abgeordneten Agnieszka Brugger, Dr. Franziska Brantner, Tom Diese Koalition ist nicht einmal ein halbes Jahr im Koenigs, weiterer Abgeordneter und der Frak- Amt. Sie erfüllt mit dem vorliegenden Gesetz zwar auch tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eine finanzielle Verpflichtung, mehr noch aber ein mora- lisches Gebot. Alle Fraktionen dieses Hohen Hauses tra- Mehr Anerkennung für Peacekeeper in inter- gen dieses Gesetz mit. Ich bin mir sicher, dass wir dieses nationalen Friedenseinsätzen Gesetz heute geschlossen verabschieden werden. Drucksache 18/1460 Recht herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss (f) (Beifall im ganzen Hause) Innenausschuss Verteidigungsausschuss Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Vizepräsidentin Petra Pau: Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (B) Ich schließe die Aussprache. (D) Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun- die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei- desregierung eingebrachten Entwurf eines Ersten Gesetzes nen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. zur Änderung des Gesetzes zur Zahlbarmachung von Ren- ten aus Beschäftigungen in einem Ghetto. Der Ausschuss Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kolle- für Arbeit und Soziales empfiehlt unter Buchstabe a seiner gin Agnieszka Brugger für die Fraktion Bündnis 90/Die Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/1649, den Ge- Grünen. setzentwurf der Bundesregierung auf den Drucksachen 18/1308 und 18/1577 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, Agnieszka Brugger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Hand- NEN): zeichen. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung ein- würde gerne mit der Geschichte von Stephan Fantham stimmig angenommen. beginnen. Er ist Neuseeländer und hat sich im Rahmen Dritte Beratung der UN-Friedensmission UNMIS in Juba für mehr Frie- den und Sicherheit engagiert. Er ist verwundet worden, und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem als der UNMIS-Wagen über eine Landmine gefahren ist, Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – und hat dabei einen Fuß verloren. Nur ein paar Monate Stimmt jemand dagegen? – Das ist nicht der Fall. Enthält später war er wieder dort. Ich finde, dieses Engagement sich ein Mitglied des Hauses? – Auch das ist nicht der ist sehr beeindruckend. Fall. Der Gesetzentwurf ist damit mit den Stimmen aller Mitglieder des Hauses angenommen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) (Beifall im ganzen Hause) Er ist einer von derzeit über 240 000 Menschen welt- Wir sind noch immer bei Tagesordnungspunkt 10 a weit, die sich in den Krisenregionen dieser Welt für die und kommen nun zur Abstimmung über den Entschlie- Menschen dort, für bessere Lebensbedingungen und mehr ßungsantrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache Sicherheit engagieren. Sie tun das als zivile Experten, Sol- 18/1661. – Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? – daten oder Polizisten im Rahmen von Missionen der Ver- Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Ent- einten Nationen, der Europäischen Union, der OSZE, von schließungsantrag ist mit den Stimmen der Unionsfrak- NGOs oder Durchführungsorganisationen der Entwick- tion und der SPD-Fraktion gegen die Stimmen der Frak- lungszusammenarbeit. Sie nehmen so wichtige Aufga- 3410 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014

Agnieszka Brugger (A) ben wahr wie Wahlbeobachtung, Menschenrechtsschutz unserem Antrag, der heute zur Debatte steht, noch eini- (C) und Entwicklung, oder sie tragen zur Entstehung eines ges vor, was dazu dient, gerade die Vereinten Nationen, gerechten Justizsystems bei oder unterstützen eine Re- die Europäische Union und die OSZE und ihre krisen- gierung darin, Good Governance zu leisten. präventiven Instrumente zu stärken. Dazu braucht es aber auch mehr politischen Willen. Viele von uns haben von diesem Pult aus schon ge- sagt, dass sich die Konflikte und Krisen dieser Welt – ei- Wir müssen uns noch eine zweite Frage stellen: Wid- gentlich ist das eine Binsenweisheit – nicht mit militäri- men wir den Menschen und ihrem Engagement in den schen Mitteln lösen lassen. Es ist ein langer und steiniger entsprechenden Missionen genügend Aufmerksamkeit? Weg, bis es zu Frieden und Sicherheit kommt. Die Men- Ist in Bezug auf deren Betreuung und Fürsorge, aber schen, die sich dafür engagieren, tun das unter hohem auch in Bezug auf Dank und Anerkennung alles in Ord- persönlichem Einsatz, getrennt von ihren Familien und nung? Wir haben als grüne Bundestagsfraktion im letz- oft unter der Gefahr, verwundet oder sogar getötet zu ten Jahr ein Fachgespräch für zivile und militärische werden. Diese Menschen verdienen unseren Dank und Rückkehrerinnen und Rückkehrer organisiert. Das waren unsere Anerkennung. sehr unterschiedliche Gruppen mit sehr unterschiedli- chen Ansichten. Aber eines war ihnen allen gemeinsam: (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Sie alle hatten das Gefühl, sich in einem wichtigen Ein- sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN- satz engagiert zu haben. Aber nicht alle hatten, als sie KEN) zurückgekehrt waren, das Gefühl, dass Interesse an ihren Es ist nicht damit getan, dass Gewalt endet oder dass Erfahrungen und Erlebnissen bestand, dass die Lessons es einen Waffenstillstand gibt. Echter Friede ist letztlich Learned im politischen Raum angekommen sind. Viel- mehr als nur die Abwesenheit von Gewalt. Die frühzei- leicht haben Sie, meine Damen und Herren, auch Ge- tige Prävention von Krisen und Gewaltausbrüchen ist si- spräche mit Polizeibeamten geführt, die in Afghanistan cherheitspolitisch effizienter und ökonomischer. Sie ist eingesetzt waren. Diese erzählen, dass sie, nachdem sie in der Regel erfolgreicher und häufig politisch konsens- einen so wertvollen Beitrag für die Ausbildung der af- fähiger als der Einsatz militärischer Mittel. Aktuell gibt ghanischen Sicherheitskräfte geleistet haben, von ihren es eine große Debatte über die Zukunft der deutschen Kollegen nach der Rückkehr gefragt wurden: Einen Außen- und Sicherheitspolitik. Ich habe mich an eini- schönen Urlaub in Afghanistan gehabt? – Wie oft lesen gem in den Reden von Bundespräsident Gauck, Verteidi- wir in den Medien von Menschen, die sich in solchen gungsministerin von der Leyen und Bundesaußenminis- Friedensmissionen engagieren? ter Steinmeier gestört. Aber ganz besonders verwundert war ich darüber, dass in diesen Reden die Vereinten Na- Meine Damen und Herren, nächste Woche, am 11. Juni, begehen wir zum zweiten Mal den Tag des (B) tionen kaum vorgekommen sind, dass man sie sozusagen (D) mit der Lupe suchen musste und dass gerade auf die zi- Peacekeepers in Deutschland. Das ist ein bisschen der vilen und diplomatischen Mittel kaum eingegangen Aufhänger unseres heutigen Antrags. Es ist ein guter wurde. Anfang, dass es einen solchen Tag gibt und dass wir ihn zum zweiten Mal feiern. Aber er sollte für uns auch An- Laut einer aktuellen Umfrage der Körber-Stiftung da- sporn sein, mehr zu tun; denn wir können noch einiges rüber, was die deutsche Bevölkerung über die deutsche machen. Es geht um eine bessere Versorgung und Be- Außen- und Sicherheitspolitik denkt, ist die Unterstüt- treuung der zivilen Einsatzkräfte, aber auch darum, für zung für zivile Mittel und außenpolitisches Engagement diese Mittel mehr Öffentlichkeit zu schaffen sowie an groß. Auch die Zustimmungswerte betreffend humani- Schulen und Universitäten von dem Engagement dieser täre und friedenserhaltende Einsätze sind – das hat mich Menschen zu berichten. Die Menschen, die solche Auf- überrascht – hoch. Wenn man sich aber einige Zahlen in gaben übernehmen, dürfen ihr Engagement nicht als diesem Zusammenhang anschaut, dann sieht man: Karrierehemmnis erleben. Vielmehr muss das etwas Deutschland ist zwar der viertgrößte Geldgeber für VN- Positives in ihrer politischen Laufbahn sein. Auf all das Friedensmissionen; aber bei der Personalbereitstellung zielen unsere Vorschläge ab, die wir heute mit unserem belegen wir Rang 48. Von 6 155 deutschen Einsatzkräf- Antrag vorlegen. ten sind derzeit genau 333 in VN-Friedensmissionen ak- tiv. 5 700 Soldaten und Soldatinnen sind im Auslands- Meine lieben Kollegen und Kolleginnen, ich kann mir einsatz. Die Zahl der zivilen Experten und der Polizisten nicht vorstellen, dass man wirklich etwas dagegen haben beträgt 147 bzw. 188. Ich finde, da geht mehr. kann. Ich möchte Sie gerne dazu einladen, dass wir uns gemeinsam an einen Tisch setzen und wir uns hier viel- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN leicht überlegen, was wir verbessern wollen und können, und bei der LINKEN sowie der Abg. Dr. Ute und dass Sie bei unserer Initiative mitmachen. Ich Finckh-Krämer [SPD]) glaube, es wäre ein schönes Zeichen, wenn wir nächstes Wenn wir uns alle so einig sind, dass Konflikte vor al- Jahr ein drittes Mal den Tag des Peacekeepers feiern. lem zivil gelöst werden müssen, dann müssen wir uns Auf diesem Weg sollten wir ein gutes Stück vorankom- schon die Frage stellen: Haben wir in ausreichendem men. Ich finde, dass die Menschen, die diese wertvollen Maße Instrumente, finanzielle Mittel, Strukturen und Aufgaben erfüllen und dieses gefährliche Engagement Aufmerksamkeit dafür zur Verfügung? Es gibt gute An- auf sich nehmen, das auch verdient haben. sätze. Ich nenne in diesem Zusammenhang das Zentrum Vielen Dank. für Internationale Friedenseinsätze. Wir haben unter Rot-Grün einiges auf den Weg gebracht. Wir schlagen in (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014 3411

(A) Vizepräsidentin Petra Pau: Legislaturperiode umzusetzen. Ich denke beispielsweise (C) Das Wort hat der Kollege Thorsten Frei für die CDU/ daran, dass wir in der Tat mehr Polizeikräfte in zivilen CSU-Fraktion. Friedensmissionen benötigen. Dabei geht es darum, dass wir im Rahmen einer Bund-Länder-Vereinbarung zu gu- (Beifall bei der CDU/CSU) ten Lösungen kommen. Wenn Sie mithelfen, dass wir mit der grün-roten und den rot-grünen Landesregierun- Thorsten Frei (CDU/CSU): gen am Ende zu einem guten Ergebnis kommen, dann Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! haben wir, glaube ich, alle etwas beigetragen. Meine sehr verehrten Damen und Herren! Zunächst ein- mal möchte ich der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen Frau Brugger, Sie haben es angesprochen: Sowohl der gerne dafür danken, dass sie mit ihrem Antrag die Frage, Bundespräsident als auch die Verteidigungsministerin und wie wir mehr Wertschätzung für Peacekeeper in interna- der Bundesaußenminister haben in München Anfang des tionalen Friedensmissionen erreichen können, zum Jahres bemerkenswerte Reden gehalten. Ich habe offen- Thema gemacht und damit in die Debatte eingebracht sichtlich noch etwas mehr gehört als Sie: Ganz zentral hat. war, dass die Frage, wie sich Deutschland aufgrund sei- ner Größe und wirtschaftlichen Kraft in der Welt enga- Ich glaube, wir alle haben vor dem Hintergrund der gieren soll – früher, effizienter und auch substanzieller –, öffentlichen Anhörung unseres Unterausschusses für Zi- eindeutig so beantwortet wurde, dass das Engagement vile Krisenprävention zwei wesentliche Punkte im Kopf, nicht nur militärische Mittel beinhaltet, sondern darüber wenn wir an das Thema denken: zum einen, dass in den hinaus natürlich auch diplomatische, wirtschaftliche und vergangenen zehn, zwölf Jahren unheimlich viel passiert krisenpräventive Mittel. Das hat im Übrigen bereits sei- ist, und zum anderen, dass es natürlich noch viele Aufga- nen Niederschlag in den „Afrikapolitischen Leitlinien ben gibt und die Wegstrecke in die Zukunft lang ist. In- der Bundesregierung“ gefunden. Dort wird ganz eindeu- sofern haben Sie durchaus einige Punkte angesprochen, tig gesagt, dass wir den kompletten Instrumentenkasten die aus meiner Sicht vollkommen richtig sind. ausbreiten möchten und dass die zivilen Mittel dabei ge- radezu von zentraler Bedeutung sind. Es ist vieles passiert. Wir haben es in den letzten zehn Jahren geschafft, die Infrastruktur zu implementieren Ich glaube, es geht auch darum, mehr öffentliche und letztlich auch zu professionalisieren. Sie haben bei- Wertschätzung zu erhalten. Das erreichen wir dadurch, spielsweise das Zentrum für Internationale Friedensein- dass wir dieses Thema in den Mittelpunkt rücken. Auch sätze angesprochen. Auch die Bundesakademie für weniger schöne Dinge wie beispielsweise die Vorkomm- Sicherheitspolitik ist hier zu nennen oder der Zivile Frie- nisse in der Ukraine bzw. der Einsatz der OSZE-Be- densdienst. Außerdem wurde die wissenschaftliche Be- obachter dort haben in das Blickfeld der Öffentlichkeit (B) (D) gleitforschung in diesem Zusammenhang angesprochen. gerückt, dass da viele in einer schwierigen Mission sind, häufig unter Einsatz ihres Lebens, und dass sie dafür die Es ist schon sehr viel passiert. Die Tatsache, dass viel notwendige Wertschätzung benötigen. Geld fließt, dass Deutschland 7,14 Prozent des Haus- halts der Vereinten Nationen finanziert, dass wir gemein- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der sam mit den USA und Japan 40 Prozent der Friedens- SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- missionen finanzieren, zeigt vor allem zwei Dinge: NEN) Erstens. Deutschland ist multilateral unterwegs: im Rah- Ich glaube, dass da sehr viel passiert ist und dass wir die- men von Missionen der Vereinten Nationen, im Rahmen sen Weg konsequent weitergehen müssen. von Missionen der OSZE und im Rahmen von EU-Mis- sionen. Zweitens. Wir lassen uns diese Einsätze viel Das beinhaltet beispielsweise den „Tag des Peace- Geld kosten. Auch damit ist eine Botschaft ausgedrückt. keepers“, der am 11. Juni 2014 das zweite Mal veranstal- tet wird. Dabei werden alle beteiligten Bundesminister Es ist natürlich noch einiges zu tun. Wir sind uns da- in einer öffentlichen und würdevollen Zeremonie den rüber einig, dass es darum geht, ein Leitbild für die zi- Soldatinnen und Soldaten, den Polizistinnen und Polizis- vile Krisenprävention zu entwickeln, ressortübergreifend ten, aber auch den zivilen Einsatzkräften für ihren wich- die Koordinierung der Akteure zu verbessern und im Be- tigen und wertvollen Einsatz danken und diesen Einsatz reich der Krisenfrüherkennung besser zu werden. Wir würdigen. müssen auch besser werden, wenn es darum geht, von Early Warning zu Early Action zu kommen, und vieles Denken Sie beispielsweise daran, dass die Bundesver- andere mehr. Wir brauchen mehr öffentliche Anerken- teidigungsministerin vor wenigen Tagen ihre Pläne vor- nung für diejenigen, die in Peacekeeping-Einsätzen sind. gestellt hat, wie wir es schaffen können, die Bundeswehr Es sind immerhin 49 solcher Einsätze, an denen wir attraktiver zu machen und den Dienst in der Bundeswehr Deutsche beteiligt sind. besser mit der Familie zu vereinbaren. Es ist also vieles zu tun. Trotzdem muss ich Ihnen sa- (Kathrin Vogler [DIE LINKE]: Was hat denn gen, dass der Antrag Ihrer Fraktion letztlich in vielen das mit dem Thema zu tun?) Fällen alter Wein in neuen Schläuchen ist; denn wir ha- Ich verweise auf viele andere Dinge darüber hinaus, an ben vieles von dem, was Sie fordern, bereits umgesetzt. denen man schon sehen kann, dass wir einiges erreichen. Wer einen Blick in die Koalitionsvereinbarung wirft, der sieht, dass wir diesen Weg ganz konsequent weiterge- Lassen Sie mich noch einen letzten Gedanken anspre- hen. Wir haben den festen Willen, das im Laufe dieser chen. Ich war vor wenigen Tagen beim Zentrum für In- 3412 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014

Thorsten Frei (A) ternationale Friedenseinsätze. Ich weiß, dass wir dort wahrgenommen wird, wie der Antrag ebenfalls sugge- (C) noch bessere Ergebnisse erzielen könnten, wenn dessen riert. Leider wird verallgemeinernd immer wieder von Mannschaft größer wäre und wenn wir aus dem Bundes- Einsatzkräften gesprochen; aber das wird der unter- haushalt noch mehr Geld als 2,3 Millionen Euro zur Ver- schiedlichen Situation ziviler und militärischer Einsatz- fügung stellen würden. Wir werden mit dem nächsten kräfte, die Sie, Frau Brugger, selber angesprochen ha- Haushalt etwa fünf zusätzliche Stellen für das ZIF schaf- ben, überhaupt nicht gerecht. fen und damit ganz markant deutlich machen, wie wich- tig und wertvoll uns diese Arbeit ist. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Ich muss leider sagen, dass sich dieser Antrag für der SPD) mich in ein Medien- und Öffentlichkeitskonzept ein- reiht, mit dem die große Mehrheit der Politik die große In diesem Sinne sind wir, glaube ich, auf einem sehr gu- Mehrheit der Bevölkerung in diesem Land schlicht hin- ten Weg. ter die Fichte führen will. Nur 13 Prozent der Bevölke- rung stehen nämlich nach einer aktuellen Umfrage den Herzlichen Dank. Auslandseinsätzen der Bundeswehr positiv gegenüber. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Viele Menschen wissen, dass nicht überall Frieden drin neten der SPD) ist, wo „Frieden“ draufsteht. Ein besonders krasses Beispiel der Verschleierungs- Vizepräsidentin Petra Pau: taktik habe ich einmal mitgebracht. Sie sehen hier vom Das Wort hat die Kollegin Kathrin Vogler für die Zentrum für Internationale Friedenseinsätze, ZIF, das Fraktion Die Linke. schon mehrfach angesprochen worden ist, eine Karte mit (Beifall bei der LINKEN) der Überschrift „Friedenseinsätze“. Hier werden 60 ver- schiedene Missionen dargestellt, in denen im Augen- blick Deutsche im Einsatz sind. Welche Mission ist die Kathrin Vogler (DIE LINKE): größte? Das ist der Bundeswehrkampfeinsatz in Afgha- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! nistan, und das, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist nun Die Grünen wollen mit ihrem Antrag, über den wir heute wirklich kein Friedenseinsatz. reden, mehr Anerkennung für Peacekeeper in internatio- nalen Friedenseinsätzen. Einerseits möchte auch ich da- (Beifall bei der LINKEN) für Danke sagen, dass sie dieses wichtige Thema auf die Die Linke meint, dass man die zivilen Fachkräfte in Tagesordnung gesetzt haben; aber andererseits müssen Friedenseinsätzen würdigen sollte, indem man ihren ei- (B) wir natürlich genau aufpassen, worüber hier gesprochen genständigen Beitrag betont. Genau das leistet der An- (D) wird, wenn von Friedenseinsätzen die Rede ist. trag der Grünen aber leider nicht. Zivil und militärisch, Mir ist wichtig, dass wir klar unterscheiden zwischen das geht bei Ihnen immer munter durcheinander. Maßnahmen, die wirklich dem Frieden dienen, und sol- (Agnieszka Brugger [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- chen, die nur als Friedenseinsätze etikettiert werden. Da- NEN]: So ein Unsinn!) rin, alle möglichen Militäreinsätze, die allen möglichen Interessen und Zwecken dienen, als Friedenseinsätze zu Ich würde einen Vorschlag machen wollen: Warum maskieren, nehmen wir nicht den von den Vereinten Nationen zum Internationalen Tag des Friedens erklärten 21. Septem- (Tom Koenigs [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: ber zum Anlass, um das eigenständige zivile Engage- Ha!) ment wertzuschätzen? sind sich leider alle anderen Fraktionen hier im Haus (Beifall bei der LINKEN) sehr oft einig, und da haben wir nun einmal einen grund- sätzlichen Widerspruch. Wir wollen diejenigen ehren, die sich mit gewaltfreien Mitteln um Frieden und Versöhnung, um die Beendi- (Beifall bei der LINKEN) gung von Gewalt und die Vorbeugung kümmern. Aber Ihr Anliegen hat einen sinnvollen Kern. Sicher Schon seit einigen Jahren begehen viele Organisatio- sind in diesem Antrag einige Punkte, auf die wir uns po- nen, die mit ziviler Konfliktbearbeitung zu tun haben, sitiv beziehen werden, etwa wenn es darum gehen wird, diesen Tag in Bonn mit einem großen Programm. Eine die Arbeit der zivilen Fachkräfte anzuerkennen, die – ich ganze Woche lang gibt es Diskussionsveranstaltungen, zitiere – „unter schwierigen Bedingungen in den Kon- Vorträge, aber auch sportliche und kulturelle Events. Ich fliktregionen lokale und regionale Akteure bei der könnte mir sehr gut vorstellen, dass eine offizielle Ver- Schaffung von Frieden und Sicherheit unterstützen“. anstaltung von Parlament und Regierung die Wertschät- Da bin ich ganz bei Ihnen, gerade als jemand, der aus zung für diese Arbeit gut zum Ausdruck bringen könnte. der Friedensbewegung kommt. Ich frage mich aber, ob Warum sprechen wir nicht darüber, genau diese Wert- wir den Peacekeepern in internationalen Friedenseinsät- schätzung getrennt von der Wertschätzung der militäri- zen wirklich einen Gefallen tun, wenn wir sie mit den schen Einsatzkräfte zu organisieren, um damit auch die Militärs, die in bewaffneten Einsätzen Dienst tun, immer Menschen einzubeziehen, die zum Beispiel im Rahmen in einen Topf werfen. Es ist wirklich nicht wahr, dass der des zivilen Friedensdienstes in Auslandseinsätzen sind? Einsatz von Bundeswehrsoldaten im Ausland zu wenig Das wäre, glaube ich, ein wirklich schönes Zeichen der Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014 3413

Kathrin Vogler (A) Wertschätzung. Daran würden wir uns auch gern beteili- Agnieszka Brugger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (C) gen. NEN): Vielen Dank, Frau Präsidentin. Vielen Dank, liebe (Beifall bei der LINKEN) Frau Kollegin Finckh-Krämer. – Ich stimme Ihnen abso- lut zu. Wir als Grüne haben schon in der letzten Legisla- Vizepräsidentin Petra Pau: turperiode, auch gemeinsam mit Ihrer Fraktion, gefor- Für die SPD-Fraktion spricht nun die Kollegin dert, dass wir die Einsätze besser evaluieren – das gilt Dr. Ute Finckh-Krämer. insbesondere für den Afghanistan-Einsatz – und dass wir daraus Lehren ziehen sollten. Wir haben diese Forderung (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Michael auch in der neuen Legislaturperiode schon mehrfach er- Vietz [CDU/CSU]) hoben. Habe ich Ihre Ausführungen richtig verstanden, dass Dr. Ute Finckh-Krämer (SPD): die Bundesregierung jetzt doch vorhat, den Afghanistan- Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Einsatz wirklich in einem angemessenen Maß zu evalu- Kollegen! Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer oben auf den ieren und nicht nur im Rahmen kleinerer Anhörungen, Tribünen! Als langjährig friedenspolitisch Engagierte die schon stattgefunden haben? begrüße ich das Grundanliegen des Antrags der Fraktion (Beifall der Abg. Kathrin Vogler [DIE Bündnis 90/Die Grünen ausdrücklich. Auch ich setze LINKE]) mich seit langem dafür ein, die Arbeit von Friedensfach- kräften und anderen im Bereich Peacekeeping und Frie- densförderung engagierten Menschen öffentlich zu wür- Dr. Ute Finckh-Krämer (SPD): digen und das deutsche Engagement in diesem Bereich Ich kann nicht für die Bundesregierung sprechen. zu verstärken. Daher werde ich, liebe Kolleginnen und Aber ich kann sagen, dass ich das im Unterausschuss für Kollegen von den Grünen, gerne im Unterausschuss für Zivile Krisenprävention gerne einbringe. Ich hoffe, dass Zivile Krisenprävention, Konfliktbearbeitung und ver- das auch von unserem Koalitionspartner unterstützt netztes Handeln über Ihre Vorschläge diskutieren. wird. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Im Vorgriff auf diese Diskussion möchte ich einige Erst eine solche ehrliche Bestandsaufnahme ermög- Worte zum Inhalt Ihres Antrags sagen. Er enthält viele licht es uns, die Frage zu beantworten, wie Deutschland (B) berechtigte Forderungen. Einige hoffen wir zeitnah um- effektiver zum Frieden in der Welt beitragen kann als (D) setzen zu können – wie die schon erwähnte Erhöhung bisher. Insbesondere müsste also eine außenpolitisch in- der Mittel für das ZIF, aber auch für den Zivilen Frie- tegrierte Strategie für Friedensförderung und Konflikt- densdienst. transformation entwickelt werden. Der Antrag, den wir heute hier debattieren, leistet hierzu leider keinen sub- (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Tom Koenigs stanziellen Beitrag. [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Dass die Frauen und Männer, die sich aktuell in Frie- Allerdings hätte ein roter Faden Ihrem Anliegen nicht densmissionen engagieren, Anerkennung verdienen, ist geschadet. Einen wichtigen Aspekt haben Sie leider in diesem Haus wohl unstrittig. Allerdings sollten wir komplett ausgelassen: die Forderung nach einer umfas- auch das ernst nehmen, was der Geschäftsführer des Fo- senden Evaluation. Eine Bilanzierung deutscher Inter- rums Ziviler Friedensdienst, einer der Durchführungsor- ventionen, sowohl militärischer als auch ziviler, steht ganisationen des Zivilen Friedensdienstes, letztes Jahr nämlich immer noch aus. zum Tag des Peacekeepers formuliert hat. Ich zitiere: (Beifall der Abg. Kathrin Vogler [DIE Bitter erscheint zudem, dass hier mit großem Auf- LINKE]) wand der Fokus auf einen kleinen Teilaspekt des in- ternationalen Friedensengagements gelegt wird. Ich erinnere an den Abschlussbericht des Unterausschus- Peacekeeping, zu deutsch Friedenserhaltung, meint ses für Zivile Krisenprävention aus der letzten Legisla- nur jene Einsätze, die der Eskalation von Gewalt turperiode, in dem eine systematische Auswertung der unmittelbar entgegenwirken. Mit vor allem militäri- Aktivitäten im Bereich der zivilen Krisenprävention und schem Peacekeeping kann also im besten Fall un- Konfliktbearbeitung empfohlen wird. mittelbare Gewalt verhindert werden. Frieden wird damit nicht erreicht. Ein wichtiger Teil … internationalen Friedensengage- Vizepräsidentin Petra Pau: ments gerät dabei aus dem Blickfeld: die Programme Kollegin Finckh-Krämer, gestatten Sie eine Bemer- ziviler Konfliktbearbeitung und langfristiger Frie- kung oder Zwischenfrage der Kollegin Brugger? densförderung, die Ursachen von Konflikten ange- hen und verhindern, dass Konflikte zu Krieg und Dr. Ute Finckh-Krämer (SPD): Gewalt eskalieren. Ja, gern. So weit das Zitat. 3414 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014

Dr. Ute Finckh-Krämer (A) In Ihrem Antrag fordern Sie zwar, liebe Kolleginnen vorstellen, eine Welt mit einem Europa ohne Grenzen. (C) und Kollegen von den Grünen, „in geeigneter Form auch Wie soll da der soziale Friede in Deutschland gewähr- die Arbeit und die Leistungen der anderen Frauen und leistet werden, wie wollen wir angesichts dieser neuen Männer anzuerkennen, die im Rahmen der Durchfüh- Welt unsere Sicherheit erhalten? rungsorganisationen der Entwicklungszusammenarbeit, von NGOs und Hilfsorganisationen in Krisenregionen Wir sind abhängiger geworden von scheinbar weit arbeiten“. Aber auch damit werden diejenigen, die kri- entfernten Regionen. Deswegen erwächst daraus die senpräventiv arbeiten, nicht erfasst. Verantwortung, uns um diese Regionen zu kümmern. Wir müssen dafür sorgen, dass in weit entfernten Regio- Die Würdigung ist das eine, liebe Kolleginnen und nen mit unserer Hilfe rechtsstaatliche Strukturen und Kollegen, eine umfassende friedenspolitische Strategie, funktionierende Sicherheitsbehörden eingerichtet wer- die es diesen Frauen und Männern auch ermöglicht, mit den. ihrem Engagement den bestmöglichen Beitrag zu leis- ten, ist das andere. Dies möchte ich an einem Beispiel Ich gebe Ihnen ein Beispiel – sehr aktuell –: Nigeria. aus Ihrem Forderungskatalog kurz verdeutlichen. In Nigeria leben bereits heute 170 Millionen Menschen. Sie fordern, die Voraussetzungen für die Entsendung Es sind mehr als doppelt so viele Menschen wie in von mehr Polizisten in Missionen der Vereinten Natio- Deutschland. Das Durchschnittsalter in Nigeria beträgt nen und der Europäischen Union zu verbessern. Zu die- 19 Jahre. Es wird erwartet, dass sich die Bevölkerung bis sen Missionen gab es in der letzten Legislaturperiode zum Jahr 2050 – nicht so weit weg – verdreifacht. Wie eine Anhörung im Unterausschuss für Zivile Krisenprä- sieht es in diesem Land mit dieser großen Bevölkerungs- vention, bei der auch Experten zu Wort kamen, die in zahl aus? Zwei Drittel leben schon jetzt in Armut. Was diesen Missionen eingesetzt waren. Es wurde sehr deut- islamistische Kräfte, wie zum Beispiel Boko Haram mit lich, wie beschränkt ihre Möglichkeiten waren, weil eine der Massenentführung von 230 Schulmädchen, anrich- Einbindung in eine Gesamtstrategie fehlte. Deswegen ist ten können, wissen wir alle. es aus meiner Sicht wichtig, zu diesem Thema unter Fe- derführung des Innenausschusses eine weitere Anhörung Das heißt, das Konfliktpotenzial in solchen Regionen durchzuführen, und zwar möglichst noch in diesem Jahr. mit einem solch ungeheuren Bevölkerungswachstum wächst von Tag zu Tag. Diese wachsende junge Genera- Lassen Sie uns also gemeinsam und partnerschaftlich tion, die in Armut und Gewalt aufwächst, will auch ein die Herausforderung angehen, eine friedenspolitische friedliches Leben in Wohlstand und mit Perspektive er- Strategie zu entwickeln, nicht nur, um den zivilen Fach- reichen und für sich einklagen. Das heißt, auch sie wol- kräften, die in Friedenseinsätzen aller Art aktiv sind, zu len glücklich werden und suchen deshalb ihr Glück in (B) der Anerkennung zu verhelfen, die sie verdienen, son- anderen Ländern. Wer sollte ihnen das übel nehmen? Sie (D) dern auch, um ihr Engagement möglichst wirksam wer- suchen ihr Glück bei uns. Ich glaube, auch wir würden den zu lassen. dies so tun, wenn wir in deren Lage wären. Das heißt, Die Fraktion der Grünen und alle anderen Fraktionen massenhafte Migrationswellen in Richtung Europa sind des Hauses sind herzlich eingeladen, ihre Forderungen unumgänglich. In diesem Jahr rechnen wir mit circa in den Unterausschuss für Zivile Krisenprävention, Kon- 200 000 neuen Asylbewerbern. Das ist nur ein Zwi- fliktbearbeitung und vernetztes Handeln einzubringen, schenergebnis. damit wir – hoffentlich fraktionsübergreifend – in die- sem Politikbereich ein Stück weiterkommen. Wir sollten also alles tun, um Hilfe zur Selbsthilfe in solchen Regionen und Ländern zu organisieren. Wir Danke schön. müssen das Konfliktmanagement in diesen Ländern stär- (Beifall bei der SPD) ken. Wir müssen Sicherheitskräfte ausbilden, sie beraten und sie ausrüsten. Wir müssen für rechtsstaatliche Grundsätze sorgen. Wir müssen unser Rechtssystem, so- Vizepräsidentin Petra Pau: weit es dort passt, zu übertragen versuchen. Wir haben Das Wort hat der Kollege Dr. Hans-Peter Uhl für die hiermit einen Markenartikel auf der ganzen Welt. Unser CDU/CSU Fraktion. Rechtsstaat, den wir uns nach vielen Irrungen und Wir- (Beifall bei der CDU/CSU – Philipp Mißfelder rungen in unserer Geschichte geschaffen haben, der in [CDU/CSU]: Jetzt kommt die Stimme der Ver- den letzten Jahrzehnten erprobt und eingeübt wurde, ist nunft!) ein Markenartikel auf der ganzen Welt, mit dem wir uns sehen lassen können. Wir sind auch willkommen. Dr. Hans-Peter Uhl (CDU/CSU): Mehr Polizei, mehr zivile Sicherheitskräfte und nicht Sehr geehrte Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen mehr Soldaten ist die Losung des Tages. Das entspricht und Kollegen! Die Präambel des Grundgesetzes erteilt auch dem Geist des Afrika-Papiers, das in dieser Woche uns bereits den Auftrag, für den Frieden in der Welt zu im Auswärtigen Ausschuss präsentiert wurde, in dem sorgen. Ich glaube, ein stabiles und wirtschaftlich pros- vor allem von zivilen Sicherheitskräften die Rede ist. perierendes Deutschland hat auch die Verantwortung, für Meine Damen und Herren von der Opposition, wir soll- den Frieden in der Welt einzutreten. ten nicht künstlich einen Konflikt herbeireden, der nicht Als die Präambel geschrieben wurde, konnte man sich da ist. Wir sind uns darin einig, dass die zivilen Sicher- die vernetzte und globalisierte Welt von heute noch nicht heitskräfte wichtiger sind als militärische Einsätze. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014 3415

Dr. Hans-Peter Uhl (A) Ich glaube auch, dass wir diesbezüglich eine Grund- Es war gutes Wetter, die Familien gingen spazieren, Kin- (C) satzdebatte in diesem Hause brauchen, und zwar aus der tobten herum. Es herrschte eine fast ausgelassene mehreren Gründen: Wir haben den Vorsatz, mehr zu tun, Stimmung vor all den Barrikaden, ausgemusterten Pan- aber es fehlt in der Tat noch am Vollzug. Wir sollten an- zern und Bildern von zahllosen Toten, dort, wo manch gesichts der komplizierten Struktur unserer polizeilichen einer eine Träne verdrückte und Blumen niederlegte. Kräfte in einem föderalen Deutschland mit 16 Ländern Das Wochenende und die Präsidentenwahl standen und dem Bund endlich dafür sorgen, dass eine Struktur vor der Tür. Wir hatten aus der Presse erfahren, dass alle entsteht, bei der wir in großer Zahl Polizeikräfte zur politischen Kräfte in diesem Land Einfluss haben kön- Ausbildung in das Ausland schicken können. Dies sollte nen, wovon wir bisher gar keine Ahnung hatten. Doch hier diskutiert werden. Es sollte nicht der einzelne Ein- eines hätte ich nie für möglich gehalten: Die Augen der satz legitimiert werden, sondern es sollte im Bundestag Menschen strahlten vor Zuversicht, die die Krise fast eine Grundsatzdebatte über die Frage geführt werden, in vergessen ließ. Bei jedem Gespräch, das ich als Mitglied welcher Art und Weise und unter welchen Bedingungen der deutschen NATO-PV-Delegation, als Deutscher, als wir ins Ausland gehen. Das ist mein Vorschlag. EU-Bürger geführt habe, war diese aufrichtige Zuver- Ich glaube, es gibt genügend Menschen, die dazu be- sicht und Offenheit sichtbar. Mir wurde klar: Die Men- reit sind, ins Ausland zu gehen. Dies ist angesichts unse- schen – ob in der Ukraine oder anderswo auf der Welt – rer Polizeistrukturen keine Frage von Planstellen und wollen nach Umbrüchen, nach teilweise verheerender Kosten. Wir haben bei den Ländern und beim Bund ge- Politik endlich Ruhe, und sie wollen eine Perspektive. nügend pensionierte Polizeibeamte von 60 Jahren, die Meine sehr verehrten Damen und Herren, was heißt gern bereit sind, ihre Expertise freiwillig in verschiede- das für uns? Die Menschen erwarten von uns keine nen Teilen der Welt einzubringen. Man muss nicht un- Wunder, sie erwarten kein überambitioniertes NATO- sere Polizeistrukturen sozusagen entvölkern, um im Engagement, sie erwarten keine Mitgliedschaften, kein Ausland tätig zu sein. Das alles ist möglich. Geld sofort, keine warmen Worte oder Anschuldigun- Wir sollten unseren Koalitionsvertrag, in dem wir gen. Sie erwarten von uns eigentlich nichts anderes als dies alles formuliert haben, aber auch die „Afrikapoliti- eine klare Linie, eine Position, mit der man arbeiten schen Leitlinien der Bundesregierung“ ernst nehmen, kann. Ich bin davon überzeugt: Wir haben uns lange ge- umsetzen und zur Tat schreiten – daran fehlt es –, indem drückt, doch jetzt müssen wir über die Möglichkeiten wir ganz konkrete Beispiele umsetzen, die wir bisher so und Grenzen von Außenpolitik, Friedenspolitik und noch nicht haben. Ich möchte mich bei all denen bedan- nicht zuletzt über unsere Rolle, die Rolle Deutschlands, ken, die sich dieser Aufgabe stellen und ihren Beitrag diskutieren. dazu leisten. Ich möchte insbesondere die Opposition (B) In dieser Debatte reicht es nicht, sich in unbekümmer- (D) bitten, nicht etwas künstlich zu zerreden, das von uns al- tem Vertrauen zu wiegen. Ich finde – und ich zitiere frei len bereits als gemeinsames Engagement anerkannt wor- unseren Außenminister Frank-Walter Steinmeier –, un- den ist und das nur noch hier oder da der Umsetzung be- sere Kultur der Zurückhaltung darf nicht zu einer Kultur darf. des Heraushaltens und schon gar nicht zu Gleichgültig- Wir alle wollen letztlich dasselbe: Wir wollen den keit werden. Wir sind keine Insel – wir sind das in keiner Frieden in der Welt erhalten. Wir danken den Menschen, Hinsicht –, und ich sage: Gott sei Dank sind wir einge- die für andere Menschen da sind. Wir wollen alles tun, bettet in der Mitte Europas. damit wir möglichst wenigen Menschen Grund geben, Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Kolle- ihr Leben bei uns leben zu müssen, weil ihres in der Re- ginnen und Kollegen, was können wir tun, um unsere gion, in der sie leben, unerträglich geworden ist, zum Nachbarschaft zu stabilisieren? Im Osten? In Afrika? Beispiel in Nigeria. Wir wollen, dass ein Land mit einer Tun wir alles, um unseren Beitrag zum Frieden zu leis- hohen Bevölkerungszahl wie Nigeria selbstständig für ten? Was müssen wir tun gegen den Terrorismus? Denn Sicherheit, Ordnung, Frieden und Wohlstand sorgen er ist da, und er wird in seiner Brutalität nichts einbüßen, kann. wenn wir uns einigeln. Interessieren wir uns überhaupt (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- für manche Gegenden dieser Welt? Engagieren wir uns neten der SPD) humanitär und militärisch ausreichend dort, wo unsere Stärken liegen, nämlich in der Konfliktprävention, in der Vizepräsidentin Petra Pau: Mittlerrolle, als Scharnier zwischen Mächten, als Schar- nier, das Krieg vermeidet? Diese Fragen sind vielschich- Der Kollege Dr. Karl-Heinz Brunner hat nun für die tig, und wir haben keine eindeutigen Antworten. Entge- SPD-Fraktion das Wort. gen jeder Verschwörungstheorie führt das aber nicht (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten zwangsläufig zu mehr Militär. der CDU/CSU) Die Debatte darüber – angestoßen von unserem Au- ßenminister Frank-Walter Steinmeier, von unserem Bun- Dr. Karl-Heinz Brunner (SPD): despräsidenten und von unserer Bundesverteidigungsmi- Verehrte Frau Präsidentin! Meine Kolleginnen und nisterin – kann Klarheit schaffen, und ich bin fest davon Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Vor zwei überzeugt: Sie muss auch Klarheit schaffen. Insofern Wochen stand ich mit einigen Kolleginnen und Kollegen verdient der Antrag der Grünen zu den Peacekeepern auf dem Maidan, dem Platz der Unabhängigkeit in Kiew. wenige Tage vor dem 11. Juni, an dem der „Tag des 3416 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014

Dr. Karl-Heinz Brunner (A) Peacekeepers“ begangen wird, Anerkennung und Re- und ermöglichen – ob in Uniform oder in Zivil. Ein herz- (C) spekt. Er enthält gute Bausteine, er zeigt in die richtige liches Danke an dieser Stelle! Richtung. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie Was mir allerdings noch mehr am Herzen liegt – denn der Abg. Agnieszka Brugger [BÜNDNIS 90/ es hängt damit innerlich zusammen; es leistet hervorra- DIE GRÜNEN]) gende Arbeit und denkt einen Schritt weiter –, ist das Zentrum für Internationale Friedenseinsätze selbst. Das Wir diskutieren hier im Plenum regelmäßig intensiv, ZIF vermittelt trotz eines viel zu unsicheren Budgets zi- leidenschaftlich und kontrovers – und zu Recht – über vile Expertinnen und Experten in Missionen der OSZE, jeden Einsatz der Bundeswehr im Ausland, unabhängig der EU oder der Vereinten Nationen. Sie vermitteln ein von der Art der Mission oder der Anzahl der eingesetz- Bild von und Erwartungen an Deutschland, die ich auch ten Soldaten. Um Frieden zu sichern, braucht es jedoch bei der Mission in der Ukraine erfahren habe: Verant- den vernetzten Ansatz, den unsere Kräfte auch in Kri- wortung übernehmen, Friedenseinsätze mit Weitblick, sengebieten verfolgen. Auf militärischer Seite steht es konkrete vertrauenswürdige Außen- und Sicherheitspoli- bereits lange außer Frage, dass es vielseitige Spezialisten tik. Diesen Erwartungen müssen wir gerecht werden. und Experten braucht, um Ordnungsstrukturen wieder- Das lohnt sich nicht nur für die Menschen, sondern auch herzustellen. Gleiches gilt für zivile Einsatzkräfte. Hier für uns und vor allen Dingen für die Wertschätzung der sind wir auf dem richtigen Weg. Peacekeeper. Wolfgang Schäfer – der Name mag den meisten nicht Vielen herzlichen Dank. bekannt sein – wurde im letzten Jahr am „Tag des Peace- keepers“ für sein Engagement in Afghanistan ausge- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten zeichnet. Auf die Frage seiner Heimatzeitung, ob er noch der CDU/CSU) einmal als Friedenshelfer nach Afghanistan gehen würde, antwortete er, dass er offen dafür sei; Arbeit für ihn als Polizeiausbilder gebe es noch auf Jahre hinaus. Vizepräsidentin Petra Pau: Er betonte aber auch, dass seine Arbeit ohne den Schutz Das Wort hat der Kollege Michael Vietz für die CDU/ der Bundeswehr nur schwer machbar gewesen sei. CSU-Fraktion. Gerade dieses Beispiel zeigt, dass nicht nur wir wis- (Beifall bei der CDU/CSU) sen, was wir an unseren Peacekeepern haben, sondern auch, dass sie wissen, was sie aneinander haben. Glei- Michael Vietz (CDU/CSU): ches gilt für unsere Gesellschaft, für unsere Bürgerinnen (B) Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! und Bürger. Niemand zweifelt an der Anerkennung und (D) Ein asiatisches Sprichwort sagt: „Erkennen ist eine dem Respekt, die beispielsweise den Helfern von THW große Leistung des Geistes, Anerkennen eine solche des und GIZ entgegengebracht werden. Nur manchmal wer- Herzens.“ In diesem Hause – wir haben es vielfach ge- den die Töne leiser. hört – mangelt es nicht an Anerkennung für die Männer Natürlich sollten wir generell mehr und lauter darüber und Frauen, die für unser Land direkt oder indirekt im sprechen, auch und gerade weil die jüngsten außenpoliti- Bereich der Friedenssicherung weltweit im Einsatz sind. schen Debatten gern allein auf den militärischen Part re- Dies gilt weder für uns noch für unsere Bürgerinnen und duziert werden. Das Ziel der Bundesregierung – wie Bürger. auch von Minister Steinmeier formuliert – ist, dass Peacekeeping steht für die Bewahrung des Friedens, Deutschland bereit sein muss, sich außen- und sicher- Peacekeeper sind Hüter des Friedens. Nächste Woche heitspolitisch früher, entschiedener und substanzieller – auch das haben wir schon mehrmals gehört – findet der einzubringen. Das umfasst im Wesentlichen und in erster zweite deutsche „Tag des Peacekeepers“ statt – eine Ver- Linie auch die Bündelung unserer zivilen Kompetenzen, anstaltung, die eine junge Tradition begründet und die die zugegebenermaßen auch militärisch flankiert sein vom Zentrum für Internationale Friedenseinsätze beglei- müssen, wenn es die Situation verlangt. National wie in- tet wird. ternational mangelt es dabei nicht an Anerkennung für die Experten der Friedenssicherung. Sie sind und bleiben Gleich drei Minister werden an diesem Tag Soldaten, eine elementare Stütze unserer Außen- und Sicherheits- Polizisten und zivile Experten für ihren Einsatz im Be- politik. Dies belegt auch die Arbeit des Unterausschus- reich der internationalen Friedenssicherung ehren, stell- ses für Zivile Krisenprävention. Unser internationales vertretend für Hunderte andere, die sich tagtäglich ein- Engagement, unsere Verantwortung geht weit über das bringen. Das ist ein deutliches Zeichen, dass deren Militärische hinaus. Unser Handwerkszeug umfasst eben Arbeit geschätzt und gewürdigt wird. Insofern wird zu- mehr als nur den Hammer und die Brechstange. mindest in einem Bereich der Forderung des vorliegen- den Antrags schon entsprochen. Dieses Selbstverständnis spiegelt sich auch in unserer Gesellschaft wider. Laut einer Umfrage der Körber-Stif- Zivile Experten jeder Couleur stehen direkt im Dienst tung ist eine große Mehrheit unserer Bevölkerung durch- Deutschlands, deutscher NGOs oder internationaler Or- aus bereit, international mehr Verantwortung zu über- ganisationen. Um es deutlich zu sagen: Ich danke all die- nehmen. Eine deutliche Mehrheit, mehr als zwei Drittel sen Männern und Frauen, die sich hier einbringen, die der Befragten, ist der Meinung, Deutschland solle sich in auch als unsere Vertreter den Frieden weltweit sichern der humanitären Hilfe, bei Projekten zur Stärkung der Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014 3417

Michael Vietz (A) Zivilgesellschaft, bei der Ausbildung von Polizei- und stehende System – zumindest als Übergangslösung auf (C) Sicherheitskräften oder der Hilfe beim Aufbau staatli- dem Weg zu einem Wertstoffgesetz – zu stabilisieren. cher Institutionen – klassische Elemente der Friedenssi- Die Verpackungsverordnung regelt die Rücknahme cherung – stärker engagieren. Das ist kein Zeichen man- und Verwertung von Verpackungsabfällen, und zwar ba- gelnder Anerkennung; es bleibt einfach das gute Gefühl, sierend auf dem Prinzip der Produktverantwortung. Das dass wir hier gut aufgestellt sind. Prinzip, dass Produzenten oder Vertreiber für die Samm- Ich begrüße eine breitere Diskussion zu unserer Rolle lung und Verwertung ihrer Verpackungsprodukte verant- bei der Friedenssicherung auf dem internationalen Par- wortlich sind und dass sie und nicht die Bürger für den kett und dementsprechend auch die Intention des Antra- Abtransport der gelben Tonne zahlen, ist seit Anfang der ges. Der vorliegende Antrag mag insofern ein Denk- 90er-Jahre in Deutschland etabliert. Insbesondere die anstoß sein. Er bietet einen bunten Strauß an Ideen, Produktverantwortung als Regelinstrument zur Errei- Anregungen und möglichen Maßnahmen – vor allem chung der Ziele der Kreislaufwirtschaft – Abfallvermei- dazu, wo wir noch mehr Geld in die Hand nehmen soll- dung und besseres Recycling – sollte ausgebaut werden. ten. Nur ist Geld allein kein Allheilmittel. Einige Ihrer Vorschläge haben sich bereits erledigt oder werfen prak- Das Duale System hat seine Fehler und Schwächen tische Probleme auf. Lassen Sie uns einfach darüber dis- und bietet, wie wir jetzt sehen, auch Missbrauchsmög- kutieren. lichkeiten. Aber die Grundidee halte ich nach wie vor für schützenswert und nicht für gescheitert. Lassen Sie mich auf mein einleitendes Zitat zurück- kommen. Unser Geist ist in der Lage, zu erkennen, was (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) unsere Peacekeeper leisten, und unsere Anerkennung Es wurde aber in letzter Zeit Missbrauch betrieben, und kommt von Herzen. – Meine Redezeit ist zu Ende. zwar im Zusammenhang mit den sogenannten Eigen- Vielen Dank. rücknahmen und den Branchenlösungen. Diese Instru- mente wurden als Schlupflöcher genutzt, um Kosten zu (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) sparen und sich Wettbewerbsvorteile zu verschaffen. Das hat im Ergebnis zu einer erheblichen Finanzlücke Vizepräsidentin Petra Pau: und letztendlich zu einer Destabilisierung des Dualen Herzlichen Dank. – Ich schließe die Aussprache. Systems geführt. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Die gemeldeten Mengen, die im Rahmen der Eigen- Drucksache 18/1460 an die in der Tagesordnung aufge- rücknahme oder der Branchenlösungen gesammelt führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- worden sein sollen und damit im Ergebnis nicht der Li- (B) verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung zenzpflicht unterlagen, stimmen nicht mit der Lebens- (D) so beschlossen. wirklichkeit überein. Gemäß den gemeldeten Mengen müsste ein Großteil der Verpackungen im Rahmen der Ich rufe den Tagesordnungspunkt 21 auf: Eigenrücknahme vom Käufer in den Laden zurückge- Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- bracht bzw. gleich dagelassen worden sein. Wir alle wis- richts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz, sen aus eigener Erfahrung, dass das nicht mit der Reali- Bau und Reaktorsicherheit (16. Ausschuss) zu tät übereinstimmt. Diese sogenannte Eigenrücknahme der Verordnung der Bundesregierung als Ausnahme von der Lizenzpflicht hat sich nicht be- währt. Sie führte verstärkt zum Missbrauch des Systems. Siebte Verordnung zur Änderung der Verpa- Deshalb wollen wir sie streichen. Das trifft bei fast allen ckungsverordnung Beteiligten auf Zustimmung; diesbezüglich gibt es einen Drucksachen 18/1281, 18/1379 (neu) Nr. 2.3, breiten Konsens. 18/1583 Zumindest einschränken wollen wir die Branchenlö- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für sung. Sie wurde mit der fünften Novelle der Verpa- die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei- ckungsverordnung eingeführt. Es sollte für Branchen, nen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. bei denen die Verpackungen an der Übergabestelle direkt anfallen, die Möglichkeit geschaffen werden, diese sel- Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege ber ohne vorherige Lizensierung über das Duale System Michael Thews für die SPD-Fraktion. zu entsorgen oder entsorgen zu lassen. Laut Gesetzesbe- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten gründung hatte man damals zum Beispiel an die Entsor- der CDU/CSU) gung und Verwertung von Verbrauchsverpackungen von in Kfz-Werkstätten eingesetzten Kfz-Ersatzteilen ge- dacht oder eben an Behälter für Öl und Schmierstoffe in Michael Thews (SPD): Kfz-Werkstätten, Tankstellen oder im Einzelhandel. Das Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kolle- sind durchaus sinnvolle Branchenlösungen. Oft sind es gen! Ich denke, wir sind uns über alle Fraktionen hinweg herstellerbasierte Lösungen mit eigenen Sammelsyste- einig, dass der Missbrauch der Verpackungsverordnung, men, die auch in Zukunft möglich sein werden. wie er in den letzten Monaten verstärkt stattgefunden hat, dringend mit dieser siebten Novelle gestoppt werden Seit der fünften Novelle sind die Verpackungsmen- muss. Einige möchten zwar gleich das ganze Duale Sys- gen, die als Teil einer Branchenlösung gemeldet wurden, tem abschaffen, aber wir halten es für sinnvoll, das be- allerdings massiv angestiegen. Von einigen Unterneh- 3418 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014

Michael Thews (A) men, unter anderem in der Lebensmittelindustrie, wur- andere Wertstoffe schaffen. In vielen Kommunen stehen (C) den so unrealistische Mengen gemeldet, dass der Miss- heute schon Wertstofftonnen, in denen nicht nur Verpa- brauch offensichtlich wurde. Manchmal war es sogar so, ckungen aus Plastik, Metall und Verbundstoffen gesam- dass die Anfallstelle, die als Teil einer Branchenlösung melt werden, sondern auch sogenannte stoffgleiche angegeben wurde, selbst gar nichts davon wusste und Nichtverpackungen wie alte Gießkannen, Kochtöpfe den Verpackungsmüll ganz normal über die gelbe Tonne oder Plastikspielzeug. Diese Wertstofftonnen wollen wir oder den gelben Sack im Dualen System entsorgt hat. bundesweit auf der Grundlage eines Wertstoffgesetzes einführen; denn für sinnvolles und effektives Recycling Zusammenfassend kann man festhalten: Das bishe- müssen Abfälle nach Stoffen und nicht nach ihrem Ver- rige System der Branchenlösung funktioniert nicht; es ist wendungszweck getrennt werden. nicht transparent und auch nicht überprüfbar. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE der CDU/CSU und des Abg. Christian Kühn GRÜNEN) [Tübingen] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Die praktizierte Trennung wurde vom Bürger weder ak- Die Regelung wird deshalb so geändert, dass die zeptiert noch verstanden. Deswegen sprechen wir ja vom Branchenlösungen, die wir damals mit der fünften No- intelligenten Fehlwurf. velle zulassen wollten, weiter möglich sind, der Miss- brauch aber so weit wie möglich beseitigt wird und das In unserem Abfall gibt es noch jede Menge Potenzial. System insgesamt transparenter und damit kontrollierba- Urban Mining, also das Heben von Wertstoffen aus dem rer wird. Abfall und das Zurückführen in den Wirtschaftskreis- lauf, muss unser Ziel sein. Wir können es uns nicht leis- (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Artur ten, darauf zu verzichten. Diese Woche wurde Friedrich Auernhammer [CDU/CSU]) Schmidt-Bleek, der ehemalige Vizepräsident des Wup- Das fordert sowohl von den Herstellern oder Vertreibern pertal Instituts für Klima, Umwelt, Energie, einer der als auch von den Anfallstellen mehr Dokumentations- Pioniere der Umweltbewegung, im Spiegel mit der An- aufwand. So wird zum Beispiel die Möglichkeit, den merkung zitiert, wenn die Politik den Klimawandel stop- Nachweis über die als Teil einer Branchenlösung gelie- pen wolle, müsse sie an der Wurzel des Übels ansetzen, ferten Produkte über allgemeine Marktgutachten zu füh- am Verbrauch natürlicher Ressourcen. ren – Gutachten, die man kaum überprüfen kann –, abge- Hierzu können wir heute mit unserer Entscheidung auf schafft. Die Anfallstellen müssen die im Rahmen der dem eingeschlagenen Weg zu einem Wertstoffgesetz ei- Branchenlösung gelieferten Verpackungsmengen doku- nen wichtigen Beitrag leisten. (B) mentieren, beispielsweise anhand von Lieferbelegen. (D) Das ist zumutbar, machbar und notwendig, um wieder (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) faire Bedingungen zwischen den Herstellern und dem Dualen System herzustellen. Vizepräsidentin Petra Pau: Kollege Thews, das Protokoll des Deutschen Bundes- Ich bin der festen Überzeugung, dass die Idee der Pro- tages verzeichnet zwar schon eine Rede des Abgeordne- duktverantwortung nicht gescheitert ist. Sie ist schon ten Thews, aber diese wurde zu Protokoll gegeben. Des- deshalb nicht gescheitert, weil das Verpackungsrecyc- halb sind wir heute Zeuge Ihrer ersten tatsächlich ling effektiv zur Ressourcenschonung beigetragen hat gehaltenen Rede im Bundestag geworden. Ich gratuliere und damit auch zur Energieeinsparung und zur Reduzie- Ihnen recht herzlich. Im Namen des ganzen Hauses wün- rung von Treibhausgasemissionen. Sie ist auch deshalb sche ich Ihnen alles Gute. nicht gescheitert, weil die gelben Tonnen und Säcke von Bürgerinnen und Bürgern mit großem Engagement ge- (Beifall) nutzt werden. Vor allem aber ist uns durch dieses System Für die Fraktion Die Linke hat nun der Kollege Ralph ein wichtiger Paradigmenwechsel in Deutschland ge- Lenkert das Wort. glückt, der erstens zu der Verantwortung der Hersteller und Vertreiber für die Entsorgung und Verwertung ihrer (Beifall bei der LINKEN) Verpackungen und die daraus entstehenden Abfälle ge- führt hat, zweitens zu einer qualitativ hochwertigen Ralph Lenkert (DIE LINKE): stofflichen Verwertung von Verpackungen und drittens Sehr geehrte Frau Präsidentin! Geehrte Damen und zum Aufbau einer leistungsstarken Recyclingindustrie Herren! Die gelbe Tonne ist ein Dauerbrenner. Die Tinte und einer vorbildlichen Recyclingtechnik. unter der Sechsten Verordnung zur Änderung der Verpa- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten ckungsverordnung ist noch nicht trocken, da kommen der CDU/CSU) Sie bereits mit der siebten Änderung um die Ecke. Wann begreifen Sie, dass jede weitere Änderung der Verpa- Diese Voraussetzungen müssen wir jetzt nutzen, um ckungsverordnung, ob die sechste, siebte, achte oder die Verpackungsverordnung zu einem Wertstoffgesetz zwanzigste, sinnlos ist, solange Sie nicht das Übel selbst weiterzuentwickeln. Wie im Koalitionsvertrag verein- anpacken? Denn die von Ihnen gehätschelten elf priva- bart, wollen wir die rechtlichen Grundlagen zur Einfüh- ten Großfirmen kriegen die Verpackungsentsorgung im rung einer gemeinsamen haushaltsnahen Wertstofferfas- Dualen System nicht in den Griff. Sie sind keine Opfer, sung nicht nur für Verpackungen, sondern auch für sie sind das Problem. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014 3419

Ralph Lenkert (A) Wir alle kennen die Zahlen. 2,4 Millionen Tonnen Vizepräsidentin Petra Pau: (C) Verpackungsabfall fielen 2013 an, aber nur für 1 Million Für die CDU/CSU-Fraktion hat der Kollege Tonnen stellten die elf Firmen Rechnungen aus. Wie Dr. Thomas Gebhart das Wort. kann das sein? Wenn eine Entsorgungsfirma ihrem po- tenziellen Kunden die Lizenzgebühr gemessen an der (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. vollen Menge an Verpackungen berechnet – mit den vol- Michael Thews [SPD]) len Entsorgungskosten –, dann wechselt der Kunde zum nächsten Systemanbieter, der kundenfreundlicher rech- Dr. Thomas Gebhart (CDU/CSU): net. Diesen Wettbewerb des kreativen Gestaltens der Li- Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und zenzgebühren ignorieren Sie von Union, SPD und Grü- Herren! Anfang der 90er-Jahre in Deutschland: Die nen. Lieber toben Sie sich auf Nebenschauplätzen aus. Rede war vom Müllnotstand. Das war die Situation. Ein Beispiel: Dem Möbelanbieter, der bisher fast alle Dann hat der damalige Umweltminister Klaus Töpfer et- Verpackungen selbst einsammelte, streichen Sie die Ei- was auf den Weg gebracht, was ein echtes Erfolgsmodell genrücknahme, weil einige Kunden die Verpackungen wurde: die Verpackungsverordnung. Sie war wegwei- manchmal in die gelbe Tonne warfen. Jetzt muss er nach send. Viele Länder haben dieses Konzept in der Zwi- Ihren Vorstellungen eine der elf Firmen zur Verpa- schenzeit übernommen. ckungsentsorgung über die gelbe Tonne bezahlen. Da werden dann wohl seine Kundendienstmonteure zukünf- Die Idee basierte auf dem Prinzip der Produktverant- tig Folien, Schaumpolysterol und Luftpolster stets beim wortung. Diejenigen, die Verpackungen in den Markt Kunden lassen. Wenn dann plötzlich die gelben Tonnen bringen, sind also auch dafür verantwortlich, diese Ver- vor den Haustüren überquellen, weil die Mehrmengen packungen wieder zurückzunehmen und möglichst wie- beim Abholen nicht eingeplant waren oder die dünnen derzuverwerten. Sammelsäcke reißen, ist die nächste, die achte Änderung (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- der Verpackungsverordnung schon vorprogrammiert. neten der SPD) Ein zweites Beispiel: PU-Schaumdosen werden bis- Es ist eine marktwirtschaftliche Lösung. Die Entsor- her über eine Branchenlösung gesammelt. 90 Prozent gungskosten werden Teil des Preises, und es entsteht ein werden erfasst. Daran waren die elf Firmen nicht betei- ligt. 18 echte Branchenlösungen funktionieren – alle Anreiz, Verpackungen möglichst von Anfang an zu ver- ohne die glorreichen Elf. Ein paar Dutzend Branchenlö- meiden. sungen dagegen funktionieren nicht. Und wer organisiert (Beifall bei der CDU/CSU) diese? – Die elf Firmen. Jetzt zerschlagen Sie alle Bran- (B) chenlösungen zugunsten der elf Firmen. Erklären Sie es! Und die Wirkungen? Die Kosten für die Verbraucher (D) Mit einer Ausnahme: Wenn eine Branche eine vollstän- sind zurückgegangen. Wir haben in Deutschland hoch- dige Erfassung und Selbstabholung ihrer Verpackungen moderne Recyclingtechnologien entwickelt – es war nachweist, darf sie ihre Lösung weiterbetreiben. eine echte Innovation –, und Abfälle sind zu wichtigen 100 Prozent Nachweis: Was für ein Bürokratiemonster! Rohstoffen geworden. 14 Prozent der Rohstoffe, die die Mit dessen Hilfe schanzen Sie den elf Firmen weiteres deutsche Wirtschaft heute einsetzt, stammen aus Abfäl- Geschäft zu. len. (Beifall bei der LINKEN) In Zukunft, meine Damen und Herren, muss dies noch mehr gelten: Es kommt immer mehr darauf an, Übrigens: Die elf Firmen des Dualen Systems ver- dass wir Kreisläufe dort schließen, wo dies ökologisch brauchen bei 1 Milliarde Euro Umsatz rund 60 Prozent, und ökonomisch sinnvoll ist. In Zukunft wird das vor also 600 Millionen Euro, für Verwaltung, Ausschreibun- gen und Gewinne. Nur 400 Millionen Euro werden aus- dem Hintergrund, dass die Nachfrage nach Ressourcen gegeben für Sammlung und Verwertung der Verpackun- weltweit stark steigt, noch mehr notwendig sein. Und gen. Das bringt zwar wenig für die Umwelt, aber der diese Ressourcen sind begrenzt. Rubel rollt. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Wir, die Linke, wollen eine Verpackungsverordnung, neten der SPD) die funktioniert. Führen wir Verpackungsabgaben für Wir wollen daher das Prinzip der Produktverantwor- Hersteller pro Kilogramm Verpackungsmaterial ein. Das tung stärken, den Wettbewerb erhalten und möglichst verhindert Betrug und fördert Verpackungsvermeidung – stärken. Es wäre verrückt, wenn wir dieses gute Prinzip im Handel und bei Produzenten. Beauftragen wir die der Produktverantwortung aufgeben würden. Kommunen mit der Erfassung der Verpackungen, be- zahlt aus der Verpackungsabgabe. Geschätzte 60 Prozent Vor kurzem haben wir hier im Deutschen Bundestag der Verwaltungskosten könnten entfallen. über die sechste Novelle der Verpackungsverordnung debattiert und sie beschlossen. Damit haben wir europäi- Beerdigen wir das Duale System! Die siebte Ände- sche Vorgaben umgesetzt. Wir haben eine Liste von Bei- rung der Verpackungsverordnung ist der erneute Ver- spielen dafür übernommen, was als Verpackung gilt und such, tote Pferde zu reiten. Schaffen wir dafür eine le- bensfähige und ökologische Verpackungsverordnung, was nicht als Verpackung gilt. Seit der sechsten Novelle und lassen Sie das Duale System in Frieden ruhen! wissen wir daher, dass zum Beispiel die Kleiderbügel, die als Teil des Kleidungsstücks verkauft werden, als (Beifall bei der LINKEN) Verpackung gelten, aber die gleichen Kleiderbügel, die 3420 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014

Dr. Thomas Gebhart (A) separat verkauft werden, eben nicht als Verpackung gel- Vizepräsidentin Petra Pau: (C) ten. Das klingt fast schon absurd. Der Kollege Peter Meiwald hat für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das Wort. (Zuruf von der CDU/CSU: Genau!) Aber, meine Damen und Herren, es weist uns auf einen Peter Meiwald (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): zentralen Punkt hin: Wir müssen das Kreislaufwirt- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! schaftssystem weiterentwickeln. Künftig sollten wir Wir haben nur eine Erde. Ich glaube, in ähnlicher Form Verpackungen und sonstige Abfälle aus den gleichen haben wir das heute schon einmal von Bärbel Höhn ge- Materialien in einer einheitlichen Wertstofftonne entsor- hört. Ich kann zwar nicht mit Enkelkindern aufwarten. gen. Wir müssen das jetzt angehen, und wir werden dies Trotz alledem glaube ich, das sollte uns auch weiterhin in einem Wertstoffgesetz angehen. Die Verbraucher sind bewegen. Wir sollten bei der Müllproblematik ähnlich übrigens schon weiter – das Stichwort wurde schon ge- wie bei der Klimaproblematik darauf hinweisen: Wir ha- nannt –: intelligente Fehlwürfe. ben Verantwortung. Die Rohstoffe, von denen wir leben, sind begrenzt. Ihr Abbau ist oftmals mit großen Umwelt- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) belastungen verbunden. Deshalb befassen wir uns als Parlamentarier immer wieder mit dem Ressourcen- Daher ist klar: Die siebte Novelle, die wir heute be- schutz, mit dem sparsamen Umgang mit Ressourcen und schließen werden, ist ein Zwischenschritt. Aber es ist ein mit Recycling. Das ist auch richtig so. notwendiger Zwischenschritt. „Änderung der Verpackungsverordnung“ klingt nicht (Ralph Lenkert [DIE LINKE]: Zur achten!) besonders ambitioniert in Richtung Ressourcenschutz. Aber sie hat natürlich damit zu tun. Am 20. März dieses – Ja, selbstverständlich. – Jahres haben wir uns zuletzt mit dem Thema Verpackun- gen befasst, und zwar anlässlich der sechsten Novelle; (Lachen des Abg. Ralph Lenkert [DIE das ist eben schon angesprochen worden. Schon da ha- LINKE]) ben wir zum Ausdruck gebracht, dass für uns nur schwer Warum ist dieser Zwischenschritt notwendig? Weil die verständlich ist, warum man die damals schon vorliegen- Verpackungsverordnung so, wie sie ausgestaltet ist, den Anträge, die nun in die siebte Novelle eingeflossen Schwachstellen aufweist, die zu akuten Schwierigkeiten sind, im Rahmen der sechsten Novelle nicht gleich mit führen. Diese müssen wir beheben. Konkret bedeutet bearbeitet hat. Wir haben auch entsprechende Anträge dies: Erstens. Die Möglichkeit der Eigenrücknahme wird eingebracht; Nordrhein-Westfalen hatte dies schon län- ger thematisiert. Wir müssen nun damit leben, dass wir gestrichen. Was steckt dahinter? Die Eigenrücknahme (B) in zwei Schritten vorgehen; deswegen stehen wir heute (D) wird offenkundig teilweise als Schlupfloch genutzt, um wieder hier. Trotzdem – das ist verschiedentlich gesagt Lizenzgebühren zu sparen. Die Pflicht, sich am Dualen worden – ist es inhaltlich richtig, am System zu arbeiten, System zu beteiligen, wurde verstärkt umgangen. Der auch wenn das, was wir tun, in der Tat – Kollege Lenkert Wettbewerb ist an dieser Stelle verzerrt. hat darauf hingewiesen – nicht der große Wurf ist. Das Zweitens. Die Anforderungen an die Nachweise bei ist vollkommen klar, und ich glaube, das haben alle in sogenannten Branchenlösungen werden erhöht. Bei der dieser Form mitgetragen. Branchenlösung war uns als Union wichtig, dass es eben Auch der Öffentlichkeit ist mittlerweile bekannt, dass nicht zu einer ausschließlichen Einengung auf direkte immer mehr Unternehmen die Lizenzgebühren umge- Lieferbeziehungen kommt. Dafür haben wir uns starkge- hen; auch das haben wir eben schon gehört. Es stellt sich macht. Dies sieht die Verordnung jetzt auch genau so die Frage: Was können wir kurzfristig tun, und was müs- vor. sen wir langfristig tun? Im Moment umgehen einige Marktteilnehmer die lästigen Lizenzgebühren. Dem (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- muss man zunächst einmal Einhalt gebieten. Aber das ist neten der SPD) nur eine Übergangslösung. Die Änderungen, die wir Meine Damen und Herren, wir leisten mit der siebten jetzt vornehmen – die Streichung der Eigenrücknahme Novelle einen wichtigen Beitrag, um das System zu sta- und die deutliche Einschränkung von Branchenlösun- bilisieren. Der nächste Schritt steht mit dem Wertstoffge- gen –, sind in dieser Form notwendig. Sie sind zwar nicht schön und bringen uns nicht wirklich voran. Aber setz vor der Tür. Dann wird es vor allem darum gehen, wir werden diesen Änderungen zustimmen, weil wir das anspruchsvolle Recyclingquoten durchzusetzen, für eine System erst einmal so weit bringen müssen, dass wir bessere Organisation der Kreislaufwirtschaft insgesamt endlich ein Wertstoffgesetz bekommen können. zu sorgen und vieles mehr. Wir haben eine ganze Menge Arbeit vor uns. Aber das ist auch eine gewaltige Chance; (Beifall der Abg. Katja Keul [BÜNDNIS 90/ denn wir können unser Land in einem wichtigen Zu- DIE GRÜNEN]) kunftsfeld weiter fit machen. Diese Chance sollten wir nutzen. Gehen wir es an! Es handelt sich in der Tat nur um eine Zwischenlö- sung. Dass die Verpackungsentsorgung grundlegend neu Herzlichen Dank. organisiert werden muss, um auch andere Wertstoffe aus dem Hausmüll zu holen und dem Recycling zuzuführen, (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) ist wohl klar; das ist offensichtlich. Verbrennen kann da- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014 3421

Peter Meiwald (A) bei nicht mehr die Hauptlösung sein. Im Moment ist es ist Weltklasse im Fußball, wie wir in den nächsten Wo- (C) ja so, dass alles, was sich unterhalb der Quoten noch ir- chen sicherlich erleben werden. gendwie nutzen lässt, direkt verwendet wird. Aber das meiste landet in der Verbrennung. Das darf, wenn es zu- (Michael Leutert [DIE LINKE]: Na ja!) künftig ein Wertstoffgesetz gibt, nicht mehr so sein. Da- Wir sind aber auch Weltklasse, wenn es darum geht, ran müssen wir dringend etwas ändern. Rohstoffe zu recyceln. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der CDU/CSU) Als wir uns im Umweltausschuss mit diesem Thema befasst haben, hat das Umweltministerium angekündigt Man erkennt, dass die Kreislaufwirtschaft funktio- – Kollege Gebhart hat gerade darauf hingewiesen –, dass niert und dass sie bei einem Jahresumsatz von 50 Mil- ein Wertstoffgesetz in Arbeit ist. Alle Fraktionen arbei- liarden Euro auch ökonomisch Sinn macht. Recycling ist ten in dieser Richtung. Ich freue mich, dass wir ge- zu einem echten Wirtschaftsfaktor geworden. Das erste meinsam an einem System arbeiten, das dynamische dieser Systeme besteht bereits seit den 90er-Jahren; wir Recyclingquoten mit sich bringt, sodass Deutschland haben das schon gehört. auch in der Müllpolitik wieder Vorreiter in Europa wird. An das damals zugrunde gelegte System, die Tren- Das waren wir ja schon einmal; das ist zu Recht erwähnt nung von Abfällen, hat sich auch der Verbraucher grund- worden. Mittlerweile aber versinken die meisten Abfälle sätzlich gewöhnt, und er nimmt es erfolgreich an. An in der sogenannten thermischen Verwertung. Das ist des dieser Stelle sollten wir auch einmal ein großes Lob an Wertes, den die in den einzelnen Produkten enthaltenen die Verbraucherinnen und Verbraucher aussprechen, die Rohstoffe haben, nicht würdig. Deswegen werden wir ihren Müll trennen und diese Systeme erfolgreich nut- aufmerksam verfolgen, ob jetzt schnell ein Wertstoffge- zen. Herzlichen Dank dafür. setz auf den Weg gebracht wird. Nur so ist sichergestellt, dass die Öffentlichkeit angemessen an dieser Diskussion (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- beteiligt werden kann. Wir müssen eine breit angelegte neten der SPD, der LINKEN und des BÜND- Debatte führen. Gerade haben wir schon in einigen NISSES 90/DIE GRÜNEN) Nebensätzen gehört, dass wir die Kommunen und die Länder mit einbinden müssen. Damit müssen wir jetzt Um diese bewährten Systeme zu erhalten, müssen wir endlich beginnen, damit die Diskussion auch in der aber auch da nachsteuern, wo ein System in Schieflage Breite stattfinden kann. geraten ist, und das ist bei der Verpackungsverordnung der Fall. Heute zeigt sich: Das Zusammenspiel von Li- Wir erwarten deutlich höhere und dynamisch anstei- zenzsystem, Eigenrücknahme und Branchenlösungen (B) gende Recyclingziele im Wertstoffgesetz; denn die funktioniert nicht. Die Eigenrücknahme wird miss- (D) jetzigen Vorgaben – das sagen selbst die verwertenden braucht. Unternehmen – werden im Moment spielend erreicht. Alles andere wird dann einfach möglichst kostengünstig Ein Teil der Branche macht Gewinne, die anderen erledigt. Müllverbrennung ist einfach billiger. Daher zahlen die Zeche. Hersteller und Vertreiber nutzen dieses wird im Moment alles, womit die Recyclingquoten über- Zusammenspiel anscheinend gezielt, um das System zu erfüllt würden, verbrannt. umgehen. Klar erkennbar ist dies am deutlichen Rück- gang der lizenzierten Verpackungsmengen, während die Das widerspricht mittlerweile nicht nur der Überzeu- tatsächlich gesammelten verwertbaren Mengen konstant gung der Grünen, sondern – das habe ich in der breiten bleiben. Diskussion hier im Plenum ja mit Freuden zur Kenntnis genommen – auch unser aller Vorstellung von einer zu- Die vor allem in den vergangenen Jahren beobachte- kunftsfähigen Welt. Deswegen freue ich mich auf die ten Folgen waren ein hohes finanzielles Defizit und hoffentlich sehr bald anstehenden Debatten zu einem teilweise ein drohender Zusammenbruch des gesamten echten Wertstoffgesetz. Systems. Sowohl Branchenlösungen als auch die Eigen- rücknahme werden wohl teilweise genutzt, um Verpa- Vielen Dank. ckungsmengen aus den lizenzierungspflichtigen Mengen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN herauszurechnen – wahrscheinlich, um Kunden attrakti- und bei der SPD sowie des Abg. Ralph vere Angebote zu machen. Lenkert [DIE LINKE]) Dieses bewusste Umgehen hat auch einen Nebenef- fekt, der nicht so häufig diskutiert wird und auch heute Vizepräsidentin Petra Pau: noch nicht angesprochen wurde. Ich selbst bin Landwirt Das Wort hat der Kollege Artur Auernhammer für die und Milcherzeuger. Unsere Molkerei muss natürlich wie CDU/CSU-Fraktion. jeder andere Hersteller auch ihre Beiträge an das Duale System zahlen. Leider können diese Beiträge nicht an (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- die Handelsketten weitergereicht werden, sondern im neten der SPD) Endeffekt zahlen wir Milcherzeuger das. Deshalb muss es ein Anliegen von uns sein, hier eine vernünftige Re- Artur Auernhammer (CDU/CSU): gelung zu finden. Dabei ist es wichtig, dass wir die Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und schwarzen Schafe in der Abfallwirtschaft erkennen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Deutschland benennen und diesen Missstand beseitigen. 3422 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014

Artur Auernhammer (A) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Mechthild Heil (CDU/CSU): (C) neten der SPD) Meine sehr verehrte Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ihr Antrag, liebe Kollegen von den Lin- Liebe Kolleginnen und Kollegen, mit dieser siebten ken, ist wieder einmal ein Sammelsurium an finanzpoli- Verordnung streichen wir den Tatbestand der Eigenrück- tischen Forderungen. Sie haben wieder einmal alles in nahme, weil wir das bewährte Gesamtsystem erhalten, einen Topf geworfen. stärken und ausbauen wollen. Gerade deshalb ist es wichtig, dieses Schlupfloch zu schließen. Erstens. Es ist kein regulatorischer Missstand, dass es Wir schaffen die Branchenlösung nicht ab, konzen- einen legalen Grauen Kapitalmarkt gibt, sondern das ist trieren sie aber auf die Bereiche, in denen wirklich funk- ganz einfach Ausdruck von Gewerbefreiheit. Crowd- tionierende Systeme bestehen und sich ein Missbrauch investing und Crowdfunding beispielsweise ermöglichen ausschließen lässt; denn der Ansatz „Wettbewerb bei der Innovationen, die sonst keine Chancen hätten. Entsorgung“ ist und bleibt auch in Zukunft wichtig. Des- Mehr als 3 000 Anleger haben zum Beispiel in den halb geht es hier vor allem darum, die Möglichkeit eines Kinofilm Stromberg Geld investiert. Der fertige Film Mengenabgleichs zu schaffen. mag dem einen oder anderen vielleicht nicht als High- Kurz gesagt: Unser Ziel ist, eine flächendeckende light des kulturellen Daseins, nicht als eine große Pro- Entsorgung von Verkaufsverpackungen unter Beibehal- duktion erscheinen, aber man kann nicht leugnen: Wirt- tung des Prinzips der Produktverantwortung zu sichern schaftlich war der Film sehr erfolgreich. Die Investoren und faire Wettbewerbsbedingungen zu schaffen. Das, haben nicht nur ihr Geld, sondern darüber hinaus noch liebe Kolleginnen und Kollegen, leistet die heute zur eine ansehnliche Rendite erhalten. Aber es hätte auch al- Abstimmung stehende Novelle. Sie wird dazu beitragen, les komplett anders kommen können. Wenn niemand dass Deutschland auch in Zukunft Weltklasse bleibt: bei sich den Film angesehen hätte, wäre das Geld einfach der Mülltrennung und beim Fußball. weg gewesen. Nun die Frage: Muss man die Menschen vor solchen Anlagen schützen? Wir sagen Nein. Wir Vielen herzlichen Dank. wollen solche Innovationen nicht totregulieren. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) (Beifall bei der CDU/CSU)

Vizepräsidentin Petra Pau: Zweitens. Es ist auch falsch, wenn Sie unterstellen, Ich schließe die Aussprache. dass der Graue Kapitalmarkt komplett unreguliert sei. Schon in der letzten Wahlperiode haben wir die Aufsicht Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus- im Bereich des Grauen Kapitalmarkts und auch die (B) schusses für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktor- Transparenz der Produkte deutlich verbessert. Wir haben (D) sicherheit zu der Verordnung der Bundesregierung zur auch den Sach- und Fachkundenachweis eingeführt. Änderung der Verpackungsverordnung. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa- Wir gehen auf diesem Weg noch ein Stück weiter. Wir che 18/1583, der Verordnung der Bundesregierung auf ziehen Konsequenzen aus der Pleite des Windkraftbe- Drucksache 18/1281 zuzustimmen. Wer stimmt für diese treibers Prokon. Wir haben ein ganzes Maßnahmenpaket Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer zum Schutz von Kleinanlegern vorgelegt. Die Unterneh- enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist mit den men werden dadurch zu mehr Transparenz verpflichtet, Stimmen der Koalitionsfraktionen und der Fraktion und auch der Vertrieb wird so geregelt werden, dass Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der Fraktion Finanzprodukte nicht systematisch an Anleger vertrie- Die Linke angenommen. ben werden, für die sie sich nicht eignen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 auf: Wir wollen auch die Verbraucherzentralen mit zusätz- Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- lichen Millionen Euro ausstatten, damit sie den Markt richts des Finanzausschusses (7. Ausschuss) zu noch besser und systematischer beobachten und so viel- dem Antrag der Abgeordneten Susanna leicht auch Missstände schneller aufdecken können. Karawanskij, Klaus Ernst, Dr. Dietmar Bartsch, Dies alles tun wir mit einem Ziel: einen Ausgleich zwi- weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE schen der staatlichen Regulierung auf der einen Seite LINKE und der Eigenverantwortung der Verbraucher auf der an- deren Seite zu schaffen. Den Grauen Kapitalmarkt durchgreifend regulieren Die Kollegin Lay von den Linken hat in einer Presse- mitteilung dieses Maßnahmenpaket kritisiert. Sie hat ge- Drucksachen 18/769, 18/1656 sagt – ich zitiere –: Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für Im Kern bleibt es an den Verbraucherinnen und die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei- Verbrauchern hängen, sich zu informieren und nen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. dementsprechend zu handeln. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kolle- Ja, Frau Kollegin, so kann man das sagen. Am Ende ent- gin Mechthild Heil für die CDU/CSU-Fraktion. scheidet immer der Verbraucher und nicht der Staat; so (Beifall bei der CDU/CSU) wollen zumindest wir das. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014 3423

Mechthild Heil (A) Aber schauen wir uns doch einmal genau an, was Sie Heute wird in der FAZ – das ist nicht gerade ein Par- (C) vorschlagen. Sie fordern zum Beispiel einen Finanz- teiblatt – Bundestagspräsident Norbert Lammert zitiert: TÜV, der alle Finanzinstrumente und -akteure prüfen Es gibt eine Reihe von Phantasieprodukten, die soll. Mit welchem Ergebnis soll er prüfen? Sie denken schon in ihrer Konstruktion schlicht unanständig dabei an ein Ampelsystem. Rot bedeutet demnach Ge- sind. fahr. Das kann ich noch verstehen. Gefahr heißt, das Pro- dukt darf nicht auf den Markt, weil Totalverlust droht. (Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Bei Das bedeutet auch: kein Geld für Filme wie Stromberg. Ihnen ist alles unanständig!) Ihr Konzept – das zeigt das kleine Beispiel – ist nicht Daimler-Finanzvorstand Manfred Gentz sagt dazu in der sinnvoll. Ich schlage Ihnen vor: Packen Sie es einfach in FAZ – lassen Sie mich auch das zitieren –: die Tonne, am besten wird es auch nicht wieder hervor- Man wird wahrscheinlich für bestimmte Produkte geholt und recycelt. ganz simpel zu Verboten kommen müssen. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der LINKEN) Eine weitere Forderung von Ihnen ist, die provisions- Das ist kein Zitat der Linken, sondern eine Aussage des basierte Beratung zu verbieten. Sie unterstellen, alle Be- Daimler-Chefs. rater empfehlen Produkte nicht nach der Qualität, son- dern nach der Höhe der Provision. Sie verleumden damit Dass wir eine Regulierung brauchen, zeigt sich auch einen ganzen Berufszweig. Aber darauf will ich nicht daran, dass Sie jetzt einen Aktionsplan und ein Maßnah- weiter eingehen. Sie wollen eine Vertriebsform unterbin- menpaket vorhaben. Sie sagen selber: Wir brauchen die den, die fast den gesamten Markt ausmacht. Was würden Verbesserung des Schutzes der Kleinanleger im Grauen wir damit erreichen? Welchen Vorteil hätte der Kunde Kapitalmarkt. bzw. der Verbraucher dadurch? Genau da liegt der Hase im Pfeffer. Sie denken nicht Nach Ihrem Wunsch müssten die Kunden dann auch im Traum daran, den Grauen Kapitalmarkt zu regulieren. für jede Hausratversicherung oder Haftpflichtversiche- Sie möchten lediglich den Verbraucherschutz, also sozu- rung eine Honorarberatung bezahlen. Der Stundensatz sagen den Anlegerschutz im Grauen Kapitalmarkt regu- einer Honorarberatung gerade in diesen Bereichen ist lieren, statt diesen endlich von der Bildfläche verschwin- viel höher als die heutige Provision. Das nutzt den Ho- den zu lassen. norarberatern, aber sicherlich nicht den Verbrauchern. (Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Sie (Beifall des Abg. Klaus-Peter Flosbach [CDU/ haben keine Ahnung, was wir schon gemacht (B) CSU]) haben!) (D) Wir wollen dagegen die honorarbasierte Beratung als Wir wollen ebenfalls einen finanziellen Verbraucher- Alternative zum provisionsbasierten Modell weiter aus- schutz, aber das schließt noch lange nicht aus, dass man bauen und fest im Markt etablieren. Denn beide Modelle dem Grauen Kapitalmarkt nicht das Wasser abgraben haben ihre Vorteile für den Verbraucher, und wir wollen, und ihn schlussendlich schlicht und ergreifend beseiti- dass der Verbraucher selber auswählen kann, was für ihn gen kann. gut ist. (Beifall bei der LINKEN) Mit unseren Maßnahmen zum finanziellen Verbrau- Um es ganz klar zu sagen: Unter den von Ihnen vor- cherschutz schützen wir die Verbraucher, ohne sie zu geschlagenen Maßnahmen sind einige bemerkenswerte überfordern oder zu entmündigen. Das ist unser Ziel, und sinnvolle Regulierungen. Das möchte ich gar nicht und auf dieses Ziel richten wir auch alle weiteren Maß- verheimlichen. nahmen aus. Herr Sieling von der SPD hat uns bei der ersten Bera- Vielen Dank. tung des Antrages keck vorgeworfen, dass wir unsere (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Forderungen nur bei Google zusammengesucht hätten. neten der SPD) Sie haben jetzt ein Maßnahmenpaket mit 20 Einzelmaß- nahmen vorgelegt. Vizepräsidentin Petra Pau: (Dr. Carsten Sieling [SPD]: 22!) Für die Fraktion Die Linke hat nun die Kollegin Ihrer Koalition hätte eine ausführlichere Google-Suche Susanna Karawanskij das Wort. gutgetan. Denn Sie rücken dem Grauen Kapitalmarkt (Beifall bei der LINKEN) nicht wirklich zuleibe; Sie gehen das halbherzig an. Dass Sie das nur gebremst tun, zeigt sich auch daran, dass Sie ständig auf die mündigen Anleger und auf die Eigenver- Susanna Karawanskij (DIE LINKE): antwortung verweisen. Gewiss muss jeder Verantwor- Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegin- tung für seine Anlageentscheidungen übernehmen. Die nen und Kollegen! Liebe Gäste! Wir Linken wollen mit Entscheidungen wollen wir den Anlegern auch gar nicht unserem Antrag den Grauen Kapitalmarkt, der eben abnehmen. Aber wir wollen die Anleger nicht in das of- nicht staatlich reguliert ist, umfassend regulieren, damit fene Messer laufen lassen. nicht länger ein lax regulierter Grauer Kapitalmarkt ne- ben dem Weißen Kapitalmarkt existiert. (Beifall bei der LINKEN) 3424 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014

Susanna Karawanskij (A) Sie selbst haben zugegeben, dass die Finanzbranche sehr ausführlich auf das 22-Punkte-Papier der beiden zustän- (C) kreativ ist und einige Produkte sehr undurchsichtig sind. digen Minister, nämlich des Ministers der Justiz und für Die mündigen Anleger und Verbraucher werden und Verbraucherschutz, Heiko Maas, und des Ministers der können das Spiel gegen die mächtige Finanzbranche Finanzen, Herrn Schäuble, bezogen haben, das dazu nicht gewinnen. Da sind Sie auf dem Holzweg; das muss dient, die Beratungen über das voranzubringen, was wir ich Ihnen einfach so klar sagen. in der Großen Koalition auf der Grundlage unseres Ko- alitionsvertrags zum Schutz der Sparerinnen und Sparer, (Beifall bei der LINKEN) der Anlegerinnen und Anleger sowie aller Verbrauche- Wir legen in unserem Antrag tatsächlich einen weit- rinnen und Verbraucher, aber auch zur weiteren Regulie- räumigeren Blick an den Tag. Wir wollen, dass jede rung der Finanzmärkte auf den Weg bringen wollen. Das Geld- und Vermögensanlage in einschlägigen Gesetzen ist doch eigentlich ein gutes Zeichen für die Debatte in reguliert wird. diesem Parlament. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) An Sie geht die Aufforderung, die Lücken im Kapitalan- lagegesetzbuch zu schließen. Darüber hinaus wollen wir Wir von der Koalition können stolz darauf sein, dass den Grauen Kapitalmarkt einer wirksamen Finanzauf- wir nun diesen Weg gehen und entsprechende Maßnah- sicht unterstellen. Dazu gehört beispielsweise, dass die men ergreifen. Wir sind in der glücklichen Situation, Finanzanlagevermittler nicht länger von den Gewerbe- dass schon in der vergangenen Legislaturperiode an ver- ämtern kontrolliert werden. Das hat im Übrigen auch die schiedenen Stellen Schritte gemacht wurden, auch wenn SPD in der letzten Legislaturperiode gefordert. Der Fall diese teilweise unterschiedlich bewertet wurden. Wir Prokon ist tatsächlich der Aufhänger für unseren Antrag. sind allein schon deshalb weiter, weil mittlerweile in die- Aber Sie müssen weiterdenken, damit wir – erlauben Sie sem Parlament in der Frage betreffend die notwendige mir bitte dieses Wortspiel – dem Grauen Kapitalmarkt Regulierung und den Schutz der Sparerinnen und Sparer das Grauen nehmen können. sowie der Anlegerinnen und Anleger und die Vermei- dung von Fehlentwicklungen eine ganz große Koalition (Beifall bei der LINKEN) besteht. Das war in der letzten Legislaturperiode noch Da meine Redezeit abläuft, nicht der Fall. Hier können wir gute Fortschritte ver- zeichnen. Wir werden nun Lücken schließen müssen. (Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Gut so!) Kollegin Heil hat schon einige Punkte des Antrags der Linksfraktion angesprochen. Wir werden und kön- komme ich zum Schluss. In Sachen Vertrieb sollten Sie (B) nen den dort skizzierten Weg so nicht mitgehen. Ange- (D) strenger sein. Sie sollten den provisionsbasierten Ver- sichts der Aufgaben, vor denen wir stehen, darf man das kauf von Finanzprodukten aller Art unterbinden und als Kind nicht mit dem Bade ausschütten. Es gibt eine fach- Alternative die unabhängige Finanzberatung durch Ver- liche und eine politische Dimension. Die fachliche Di- braucherzentralen bzw. Honorarberater stärken. Da Sie mension besteht darin, dass man keine Maßnahmen er- sicher gleich von Erfolgsgarantien und Finanzplaketten greifen darf, die am Ende negative Effekte für die sprechen werden: Wenn ein Fahrer oder eine Fahrerin ei- Menschen, um die es uns geht, haben werden. Das Pro- nes Pkw mit TÜV-Plakette einen Auffahrunfall provo- blem des Provisionsverbots – ich komme gleich darauf ziert, dann wird deswegen nicht gleich der TÜV infrage zurück – ist angesprochen worden. Wenn man so vor- gestellt bzw. in Haftung genommen. Aus unserer Sicht geht, wie Sie es vorschlagen, wird man dieselben negati- führt an einem Finanz-TÜV – egal ob es um die Einfüh- ven Erfahrungen machen, die die Briten gemacht haben. rung einer Ampelkennzeichnung oder schlicht um die In Großbritannien gibt es das Verbot. Das ist schlecht für Frage der Zulassung eines Finanzprodukts geht – ge- die Verbraucherinnen und Verbraucher. Darum gehen nauso wenig ein Weg vorbei wie an einer vollständigen wir einen solchen Weg nicht mit. Überwindung des Grauen Kapitalmarkts. Vielen Dank. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Beifall bei der LINKEN) Man muss auch beachten, dass man am Ende politische Wege suchen muss. Auch da darf man das Kind nicht Vizepräsidentin Petra Pau: mit dem Bade ausschütten. Man muss unterschiedliche Das Wort hat der Kollege Dr. Carsten Sieling für die Kräfte bündeln und Mehrheiten finden. Auch dazu sind SPD-Fraktion. Teile Ihrer Vorschläge nicht geeignet. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Ich will an der Stelle den zweiten Punkt aus meiner der CDU/CSU) Sicht ansprechen. Das ist der sich gut anhörende Vor- schlag eines Finanz-TÜVs. Das Problem besteht darin, Dr. Carsten Sieling (SPD): dass wir insgesamt 1 Million Produkte haben, die sich zu Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! einem großen Teil immer wieder verändern, weil sie sehr Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich möchte als individuell zugeschnitten werden und in dem Zusam- Erstes sagen, dass ich mich ausgesprochen freue, Frau menhang neu konstruiert werden. Wenn Sie alle diese Kollegin Karawanskij, dass Sie sich in Ihrer Rede sehr Produkte einer Behörde, in dem Fall der BaFin, überge- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014 3425

Dr. Carsten Sieling (A) ben wollen – das wäre eine Superbehörde für eine Super- zwischen jetziger provisionsorientierter Beratung und (C) aufsicht –, dann wird das nicht klappen. Die BaFin wird zukünftiger Honorarberatung stattfindet. Wir müssen nicht hinterherkommen können, die Aufsicht wird nicht Honorarberatung auf Augenhöhe ermöglichen. Das wirksam sein. Deshalb lehnen wir den Finanz-TÜV ab werden wir mit dem, was wir machen, schaffen. Das ist und halten seine Einführung für einen Schritt in die fal- vernünftiger als das, was Sie heute hier vorlegen. Aber sche Richtung. vielleicht bringen wir ja eine konstruktive Diskussion zustande, und am Ende steht bei der Beschlussfassung Ich habe gesagt, dass es an der Stelle eine ganz große über das, was dieses Haus irgendwann als Gesetzentwurf Koalition gibt. Die haben wir natürlich auch deshalb erreicht, eine große und das ganze Haus umfassende – das hat sich so gesellschaftlich herausgebildet –, weil Mehrheit. Ich glaube, das wäre gut, um den Grauen Ka- wir mit S&K, Phoenix, aber natürlich auch zuletzt Pro- pitalmarkt einzuschränken und die Verbraucherinnen kon Fälle haben, die wir angehen müssen. Ich will des- und Verbraucher zu schützen. halb auf das kommen, was die Zukunft in unserem Land bestimmen wird, nämlich das Eckpunktepapier, das von Vielen Dank. den beiden zuständigen Ministerien vorgelegt worden (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten ist. der CDU/CSU) Es ist nicht so, wie der Eindruck zu erwecken ver- sucht wurde, dass damit nur – „nur“ in Anführungsstri- Vizepräsidentin Petra Pau: chen – Verbraucherschutz betrieben wird. Natürlich wird Das Wort hat der Kollege Dr. Gerhard Schick für die Verbraucherschutz betrieben, aber es wird auch eine Re- Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. gulierung der Anleger und der Finanzmärkte geben. Es wird zum Beispiel die Frage des Vertriebs aufgegriffen, Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- und die Werbung soll eingeschränkt werden. Dazu NEN): möchte ich zwei Zahlen nennen, die einen wirklich er- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! schrecken und die deutlich machen, wie wirksam es sein Zu dem Antrag der Fraktion Die Linke werden wir uns wird, wenn wir die Werbung für gewisse Produkte ein- enthalten, obwohl er viele richtige Punkte enthält. Die schränken. Linke fordert einen Finanz-TÜV, der alle Finanzinstru- Prokon hatte einen Werbeetat für seine Produkte in mente, -akteure und -praktiken vor ihrer Zulassung da- Höhe von 85 Millionen Euro. Irgendwie musste das, was raufhin untersucht, ob sie – ich zitiere – „gesamtwirt- über die Bildschirme flackerte, bezahlt werden. Der Au- schaftlich keine unerwünschten Nebenwirkungen haben, tomobilkonzern Ford hat einen Jahresetat von 100 Mil- ob das gesamt- und betriebswirtschaftliche Risiko be- (B) lionen Euro für seine Werbung. Wenn man die beiden herrschbar ist und ob sie verbraucherfreundlich sind“. (D) Zahlen ins Verhältnis setzt, sieht man, welcher Aufwand (Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Das bei Prokon betrieben worden ist und was für eine ver- ist Planwirtschaft!) zerrte Vertriebsstrategie gefahren worden ist. Dass das eingeschränkt wird, ist, glaube ich, eine sehr wichtige Das halten wir nicht für sinnvoll; denn solche Wirt- Angelegenheit. schaftlichkeitsprüfungen sind mit hohen Prognoserisiken behaftet. Ein positives Urteil eines solchen Finanz- Die zweite wichtige Angelegenheit, an der wir arbei- TÜVs könnte wie eine Erfolgsgarantie verstanden wer- ten werden, ist, dass die BaFin natürlich eine erweiterte den, ganz zu schweigen von der drohenden Amtshaf- Aufgabe erhält. Wir als SPD haben lange gefordert, dass tung. sie auch die Zuständigkeit für den Verbraucherschutz er- hält. Das ist ein Riesenschritt voran, weil sie dann natür- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN lich – aber nur in Fällen, in denen es richtig schiefgehen sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – kann – auch die Möglichkeit haben wird, Produkte zu Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Er- verbieten. Das Instrument muss sie auch bekommen, folgreiche Planwirtschaft à la DDR!) wenn sie wirksam und durchschlagend sein will. Sie soll Als wir den Antrag der Fraktion Die Linke bei seiner aber nicht Genehmigungen für 1 Million Produkte ertei- Einbringung hier im Plenum behandelt haben, schloss len, sondern gezielt vorgehen, quasi mit dem Florett ar- ich meine Rede mit einem Appell an den Verbraucher- beiten, um diejenigen, die den Markt ausnutzen und schutzminister Maas. Ich habe gesagt, bezüglich seiner Übergriffe tätigen, aus dem Markt zu nehmen. Ankündigungen, ausgehend vom Fall Prokon im Bereich (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des Grauen Kapitalmarkts jetzt etwas zu tun, würden wir der CDU/CSU) ihn schon beim Wort nehmen; denn eine Ankündigungs- ministerin Aigner hatten wir im Verbraucherschutzmi- Lassen Sie mich noch eines zum Schluss sagen. Wir nisterium lange genug. werden große Schritte vorangehen, indem wir auch Maßnahmen ergreifen, um den kollektiven Verbraucher- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) schutz zu stärken, beispielsweise mit dem Aufbau von Mittlerweile hat der Verbraucherschutzminister zu- Marktwächtern. Auch das sagt das Eckpunktepapier der sammen mit dem Bundesfinanzminister Schäuble einen beiden Ministerien. Aber wir werden auch – auch Kolle- Aktionsplan zum Verbraucherschutz im Finanzmarkt gin Heil hat das hier schon angesprochen; das ist ein vorgelegt. Dieser besteht aus einem Maßnahmenpaket wichtiges Vorhaben – dafür sorgen, dass ein Wettbewerb insbesondere zur Verbesserung des Schutzes von Klein- 3426 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014

Dr. Gerhard Schick (A) anlegern im Grauen Kapitalmarkt. Ich muss sagen: Wenn sich hier nichts tut, dann werden die geplanten (C) Wenn das so im Gesetz Niederschlag findet, dann hat der Maßnahmen ins Leere laufen. Deswegen lautet unsere Verbraucherschutzminister meinen Respekt; denn dieser zentrale Aufforderung heute: Tun Sie etwas an diesen Aktionsplan enthält viele Punkte, die wir Grünen seit zwei zentralen Schwachpunkten! langem fordern. Danke schön. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Zum Beispiel begrüßen wir sehr, dass nun Umge- sowie der Abg. Susanna Karawanskij [DIE hungsmöglichkeiten für Anbieter von Graumarktproduk- LINKE]) ten eingeschränkt werden sollen und dass der Katalog der nach dem Vermögensanlagegesetz geregelten Anla- Vizepräsidentin Petra Pau: geformen erweitert wird. Es gibt am Markt nämlich er- Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun der Kollege hebliche Ausweicherscheinungen, zum Beispiel partiari- Dr. Volker Ullrich das Wort. sche Darlehen oder Nachrangdarlehen. Darauf muss man reagieren. Es ist richtig, dass das vorgesehen ist. (Beifall bei der CDU/CSU) Zu begrüßen sind auch die Vorschläge zur verstärkten Transparenz von Vermögensanlagen und die Offenle- Dr. Volker Ullrich (CDU/CSU): gung ihrer Risiken. Es ist zum Beispiel eine Selbstver- Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und ständlichkeit, dass verpflichtende Angaben zu personel- Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bei der De- len Verflechtungen im Umfeld des Anbieters für den batte um den Grauen Kapitalmarkt klaffen Anspruch und Anleger transparent gemacht werden müssen; denn das Lebenswirklichkeit auseinander. Ähnlich verhält es sich kann er selber nicht erkennen. Richtig ist auch, dass die mit der ökonomischen Theorie und der Wirklichkeit. In Finanzaufsicht Befugnisse bekommt, Werbeverbote und der idealen Welt haben alle Teilnehmer Informationen Vertriebsbeschränkungen bei unseriösem und aggressi- über das gesamte Marktgeschehen und handeln rein am vem Anbieterverhalten auf dem Grauen Kapitalmarkt ökonomischen Nutzen orientiert. In der Praxis verhält es vorzunehmen. sich anders. In der Politik stellt man in der Theorie der idealen Welt Anträge in Kenntnis dessen, was bislang Trotz alldem gibt es zwei zentrale Schwachpunkte, passiert ist. In der Praxis liegt ein Antrag wie der der und ich sehe noch nicht, dass Sie sie angehen: Linksfraktion auf dem Tisch. Sie verkennen, dass die Erstens. All die neuen anlegerschützenden Maßnah- Problematiken des Grauen Kapitalmarkts und das men gehören auch umgesetzt. Aber von personellen Ver- strukturelle Versagen, das auf diesem Markt zulasten der Verbraucher aufgetreten ist, von der unionsgeführten (B) besserungen für die Aufsicht ist nirgendwo die Rede. (D) Auf einer Pressekonferenz hat Herr Schäuble auf Nach- Bundesregierung in den letzten Jahren erkannt und beho- frage einer Journalistin an dieser Stelle deutlich den ben worden sind. Kopf geschüttelt. Ich befürchte daher, dass die Durchset- (Beifall bei der CDU/CSU) zung dieser Punkte an mangelnden personellen Kapazi- täten scheitern wird. Das darf nicht passieren. In den Jahren 2011 und 2013 sind mit dem Vermö- gensanlagengesetz und mit dem Kapitalanlagegesetz- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) buch wesentliche Schutzlücken geschlossen worden. Zweitens. Eine Finanzaufsicht mit Befugnissen aus- Gleichwohl erkennt eine vorausschauende Politik, dass zustatten, ist das eine. Das andere ist, dass sie auch da- der Schutz im Augenblick nicht ausreicht. Angesichts von Gebrauch machen will. Es irritiert mich massiv, dass der aktuellen Fälle, die wir alle bedauern, sehen wir ei- die BaFin ihre Handlungsmöglichkeiten nicht nutzt. nen Handlungsauftrag an den Gesetzgeber, weiter tätig Zum Beispiel hat die BaFin bereits 2008/2009, als sie zu werden, und zwar umsichtig und besonnen und unter gegenüber Prokon das Erbringen eines unerlaubten Berücksichtigung der besonderen Aufgaben, die ein Ka- Bankgeschäfts monierte, Handlungsspielräume gehabt, pitalmarkt auch für das Funktionieren unserer Wirtschaft um die Geschäftstätigkeit zu untersagen; aber sie hat es hat. nicht gemacht. Wir haben ein massives Vollzugsdefizit in der deutschen Finanzaufsicht zulasten der Verbrau- Dementsprechend haben die Bundesminister der Fi- cher, und das muss korrigiert werden. nanzen und der Justiz vor zwei Wochen ein weiteres Maßnahmenpaket auf den Weg gebracht, welches in den (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) nächsten Wochen und Monaten in die parlamentarische Debatte eingebracht werden wird. Ich glaube, es ist ein An dieser Stelle gibt es eine klare Verantwortungszu- gutes Signal, dass wir diese Debatte führen werden. Mit teilung: Die Bundesfinanzaufsicht untersteht der Rechts- dem Maßnahmenpaket können wir weitere Schutzlücken und Fachaufsicht des Bundesfinanzministers. schließen. (Lisa Paus [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: So Es darf aber nicht vergessen werden, dass bei der De- ist es!) batte um den Grauen Kapitalmarkt auch die Funktion für Wenn sechs Jahre nach Ausbruch der Finanzkrise noch unsere Wirtschaft nicht aus den Augen verloren werden immer ein solches Vollzugsdefizit besteht, dann ist das darf. an dieser Stelle einfach eine miserable Leistung. (Susanna Karawanskij [DIE LINKE]: Welche (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Funktion hat er denn?) Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014 3427

Dr. Volker Ullrich (A) Sie können nicht einige Fälle, die wir alle bedauern und Vizepräsidentin Ulla Schmidt: (C) in denen Menschen auch ganz konkret betrogen worden Vielen Dank. – Das war der letzte Redner in dieser sind, zum Anlass nehmen, Kapitalbeschaffungsmaßnah- Debatte. men für den Mittelstand, für neue Projekte, für Wind- energie, für Solarenergie, für andere innovative Themen Damit schließe ich die Aussprache. unmöglich zu machen. Sie müssen erkennen, dass in un- Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Finanz- serer Marktwirtschaft – wir sind davon geprägt – auch ausschusses zu dem Antrag der Fraktion Die Linke mit die Allokation von Kapital noch entsprechend funktio- dem Titel „Den Grauen Kapitalmarkt durchgreifend re- nieren muss. gulieren“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschluss- (Widerspruch der Abg. Susanna Karawanskij empfehlung auf Drucksache 18/1656, den Antrag der [DIE LINKE]) Fraktion Die Linke auf Drucksache 18/769 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer Alles andere ist Planwirtschaft. stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Damit ist die Be- schlussempfehlung mit den Stimmen der Koalition ge- Es ist doch Planwirtschaft, wenn Sie durch einen Fi- gen die Stimmen der Fraktion Die Linke bei Enthaltung nanz-TÜV alles regeln wollen, weil Sie damit den Staat der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen. zu einer Art Wirtschaftsprüfer machen, letzten Endes Amtshaftungsansprüche begründen und Erwartungen Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 auf: wecken, die der Staat nicht erfüllen kann. Zweite und dritte Beratung des von der Bundes- regierung eingebrachten Entwurfs eines Geset- (Beifall bei der CDU/CSU) zes zur Anpassung von Gesetzen auf dem Ge- Es sei in dieser Debatte weiter daran erinnert, dass es biet des Finanzmarktes auch um die Bildung unserer Mitbürger in finanziellen Drucksachen 18/1305, 18/1574 Fragen geht. Ich meine, Eigenverantwortung und Bil- dung in finanziellen Fragen, das ist der notwendige Ei- Beschlussempfehlung und Bericht des Finanz- genbeitrag, den alle leisten müssen, und das ergänzt den ausschusses (7. Ausschuss) staatlichen Anlegerschutz. Nur zusammen kann damit ein Schutzniveau erreicht werden, das für alle tauglich Drucksache 18/1648 ist. Um es mit den Worten eines bedeutenden Investors, Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für Warren Buffett, zu sagen: Kaufen Sie nichts, was Sie die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. – Ich höre nicht kennen! (B) hierzu keinen Widerspruch. Damit ist so beschlossen. (D) (Michaela Noll [CDU/CSU]: Was Sie nicht Ich eröffne die Aussprache. Erster Redner in der De- verstehen! – Zuruf des Abg. Richard Pitterle batte ist der Kollege Fritz Güntzler, CDU/CSU-Fraktion. [DIE LINKE]) Bitte schön. Dementsprechend ist „Eigenverantwortung“ nicht ir- (Beifall bei der CDU/CSU) gendwie nur ein liberales Wort, sondern Eigenverant- wortung ist letzten Endes etwas, was den Menschen im Fritz Güntzler (CDU/CSU): Kern angeht. Wir müssen und dürfen den Menschen Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! etwas zutrauen, ohne dass wir vergessen, dass der Staat Meine Damen und Herren! Vor vier Wochen haben wir eine gewisse Schutzpflicht hat. hier in erster Lesung über den Entwurf eines Gesetzes (Susanna Karawanskij [DIE LINKE]: Ja! Neh- zur Anpassung von Gesetzen auf dem Gebiet des Fi- men Sie die wahr!) nanzmarktes beraten. Daraufhin folgen die Anhörung, aber auch viele intensive Gespräche mit Verbänden und Ich bin überzeugt, dass wir mit dem Maßnahmenpa- dem Ministerium. Diese haben zu Änderungsanträgen ket einen Schutz des Grauen Kapitalmarkts vor proble- geführt, über die wir heute ebenfalls beschließen wollen. matischen Anbietern erreichen, der dem Niveau unserer Volkswirtschaft entspricht und die Menschen ruhiger Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf werden im We- schlafen lässt, weil sich die Politik darum kümmert. sentlichen aber nur redaktionelle Korrekturen und euro- Gleichzeitig erlauben wir, dass die Kapitalfunktion in parechtlich notwendige Anpassungen vorgenommen. unserer Wirtschaft beibehalten werden kann. Dies ist insbesondere notwendig, weil die Definition von offenen und geschlossenen Fonds im KAGB an die dele- In diesem Sinne: Warten Sie ab, was wir zukünftig gierte Verordnung der EU-Kommission angepasst wer- vorlegen werden. Wir werden damit den Grauen Kapital- den muss. Diese Verordnung wird voraussichtlich im markt auf eine anlegerfreundliche Art und Weise regu- Juli 2014 in Kraft treten. Als geschlossen gelten dann lieren. nur noch Fonds, deren Anteile nicht vor Beginn der Li- quidation oder Auslaufphase auf Ersuchen eines Anteils- (Beifall bei der CDU/CSU – Susanna eigners zurückgenommen werden können. Vorher waren Karawanskij [DIE LINKE]: Wenn Sie das dies solche Fonds, bei denen die Rückgabe nicht min- wollen, können Sie auch gleich unserem An- destens einmal jährlich möglich war. Dies ist also eine trag zustimmen!) weitaus restriktivere Auslegung des Begriffs. 3428 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014

Fritz Güntzler (A) Aufgrund der unterschiedlichen Anforderungen an ei- Darum haben wir auch eine Evaluierung dieser Ausnah- (C) nen geschlossenen bzw. einen offenen Fonds hat diese mevorschriften für Energiegenossenschaften zum Ende Änderung der Definition erhebliche Auswirkungen. des Jahres 2015 vereinbart, um gegebenenfalls, falls not- Viele bisherige geschlossene Fonds wären damit zu offe- wendig, nachsteuern zu können. nen Fonds geworden. Deshalb wird den bestehenden Ich möchte noch zwei weitere Punkte, die auch Ge- Fonds, den sogenannten Altfonds, durch das Gesetz nun- genstand der Anhörung gewesen sind, kurz ansprechen. mehr Bestandsschutz gewährt. Das ist notwendiger Ver- Durch die Änderung im KAGB ermöglichen wir jetzt trauensschutz. auch das sogenannte Derivatenclearing, also die Auf- Meine Damen und Herren, weiter hätte diese Ände- rechnung von in der Verrechnung des Sondervermögens rung erhebliche negative Auswirkungen auf die zahlrei- begründeten Forderungen und Ansprüchen, künftig auch chen Energiegenossenschaften gehabt, sofern sie denn in für börslich gehandelte Derivate. Bisher war das Clea- den Anwendungsbereich des KAGB fallen, also als In- ring nur für außerbörslich gehandelte Derivate möglich. vestmentvermögen anzusehen sind. In diesem Zusam- Die deutlich strenger regulierten börslich gehandelten menhang möchte ich aber auch einmal darauf hinweisen, Derivate sind im Rahmen der AIFM-Umsetzung verse- dass weit über 90 Prozent der mittlerweile über 800 be- hentlich außen vor geblieben. Das machte so keinen stehenden Energiegenossenschaften operativ tätig sind. Sinn. Darum haben wir dies angepasst. Diese werden somit von der Regulierung des KAGB gar Nicht übernommen haben wir den Vorschlag aus der nicht erfasst. Diese Tatsache wird in der Diskussion teil- Anhörung, der auch von den Grünen übernommen wor- weise nicht richtig gewürdigt. den ist, Ausnahmeregelungen für sogenannte Kleinst- AIF in der Rechtsform einer Genossenschaft zu schaf- Für die unter das KAGB fallenden Energiegenossen- fen. Bei denen sollte unter anderem die Höchstanlage bei schaften – das ist also der weitaus geringere Teil – war 2 500 Euro liegen und das Anlagevolumen einen Betrag noch in den letzten Zügen der Ausschussberatung im von 5 Millionen Euro nicht übersteigen. Ich vermag vergangenen Jahr eine Ausnahmeregelung geschaffen nicht einzusehen, warum Anleger bei diesen Gesell- worden, um diese Bürgerenergieprojekte – um diese schaften einen schlechteren Anlegerschutz erhalten sol- handelt es sich zumeist – nicht durch zu große Regulie- len. Für so manchen von uns sind auch 2 500 Euro viel rung und Anforderungen zu gefährden. Die Ausnahme- Geld. Auch diesen Anlegern gebührt ein angemessener regelung für diese Genossenschaften wäre aufgrund der Anlegerschutz. nach dem Genossenschaftsgesetz vorgesehenen Kündi- gungsmöglichkeiten ausgehebelt worden. Daher haben (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) wir die Ausnahmeregelung an die neue Definition ent- (B) Meine Damen und Herren, mit dem vorliegenden Ge- (D) sprechend angepasst. Wir wollen allen Bürgerenergiege- setzentwurf haben wir bewusst keine größeren materiel- nossenschaften weiterhin ermöglichen, einen wichtigen len Änderungen im KAGB vorgenommen. Um zu wis- Beitrag zur Energiewende in der Bundesrepublik zu leis- sen, an welchen Stellen wir gegebenenfalls noch ten. Anpassungen vorzunehmen haben, sollten wir den Pra- xistest der umfangreichen und komplexen Finanzmarkt- Meine Damen und Herren, ich möchte noch auf einen regulierung abwarten. Ich bin sicher, dass das Finanz- weiteren Punkt hinweisen, den ich auch schon in der marktanpassungsgesetz nicht die letzte Etappe bei der Einbringung des Gesetzentwurfes angesprochen habe. Regulierung des Kapitalmarktes ist. Weitere werden si- Wir haben auch in den Beratungen intensiv über den cher folgen. Nachweis der fachlichen Eignung von Geschäftsleitern Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. von Bürgerenergiegenossenschaften diskutiert. Die CDU/CSU-Fraktion und ich halten es für richtig und (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) wichtig, dass auch diese – neben der Zuverlässigkeit des Geschäftsleiters – geprüft wird. Die BaFin soll künftig Vizepräsidentin Ulla Schmidt: bei der Beurteilung der Zuverlässigkeit und Eignung der Vielen Dank. – Für die Fraktion Die Linke erhält jetzt Geschäftsleitung einer Genossenschaft aber auch die Susanna Karawanskij das Wort. Stellungnahme des zuständigen genossenschaftlichen (Beifall bei der LINKEN) Prüfungsverbandes einbeziehen. Mit diesem Hinweis wird berücksichtigt, dass die Eignung der Geschäftslei- ter bereits bei der Gründung der Energiegenossenschaf- Susanna Karawanskij (DIE LINKE): ten durch die genossenschaftliche Prüfung festgestellt Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegin- wird. Weiterhin geht von uns an die BaFin das klare Si- nen und Kollegen! Liebe Gäste! Wir sprechen – wir ha- gnal, bei ihrer Prüfung ihren Maßstab an der Größe, der ben es gerade gehört – über die Anpassung von Finanz- Komplexität und dem Risikogehalt der Geschäftstätig- marktgesetzen in einem begrenzten, redaktionellen Sinn. keit auszurichten. Wir wollen bürgerliches Engagement Das haben Sie, Herr Kollege, gerade treffend gesagt. So unterstützen und nicht durch übertriebene Anforderun- weit, so gut. Gesetze müssen immer mal wieder überar- gen verhindern. beitet werden, wenn sich die Bezeichnungen von Sach- verhalten, aber auch die Relationen ändern. Aber: Ihr (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Vorgehen beinhaltet gleichzeitig eine ganz klare Bot- neten der SPD) schaft, dass nämlich die Bundesregierung über die tech- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014 3429

Susanna Karawanskij (A) nokratische Aktualisierung von Gesetzen im Finanzsek- und, wenn nötig, eben halt auch mal auf die Finger zu (C) tor hinaus keinen Handlungsbedarf sieht. Das ist, ehrlich klopfen. gesagt, ein Armutszeugnis, und das vor dem Hinter- (Beifall bei der LINKEN) grund, dass wir uns immer noch im siebten Jahr der Ban- ken- und Finanzkrise befinden. Sie werden jetzt sagen: Abschließend möchte ich noch etwas zum Kapitalan- Das ist das siebte Jahr nach der Krise. – Aber wenn Sie lagegesetzbuch sagen. Die dortigen Vorschriften lassen immer wieder behaupten, dass diese vorbei sei, schauen unseres Erachtens noch viel zu viele Umgehungsmög- Sie einmal über den Tellerrand nach Europa, und dann lichkeiten und Ausweichkonzepte für unseriöse Anbieter sehen Sie: Wir stecken immer noch in dem Schlamassel. von Kapitalanlagen zu. Das wurde auch in der Anhörung ganz deutlich. Man muss sich das Tatbestandsmerkmal (Beifall bei der LINKEN) „operativ tätig sein“ erst einmal zu Gemüte führen. Wie Die EZB, die Europäische Zentralbank, führt wieder ist das mit der Grenze zum Tatbestand „Investitionsver- einmal Stresstests durch, wonach Banken und deren Ei- mögen“, der unter die Bestimmungen des Kapitalanlage- genkapital hinsichtlich ihrer Risikotragfähigkeit über- gesetzbuches fällt? Das alles ist sehr schwammig. Das prüft werden. Hier geht es darum, dass man Prävention hatten wir ja schon in der Debatte vorher: Die seit Pro- zu dem Zweck betreibt, dass bei einem erneuten Crash kon berühmt-berüchtigten Genussrechte oder auch die nicht wieder die Hosen heruntergelassen werden müs- Nachrangdarlehen bleiben immer noch unreguliert. sen. Es ist eher eine Prüfung der großen Banken dahin Um es auf den Punkt zu bringen: Das Kapitalanlage- gehend, ob Europa im Ernstfall wieder einspringen darf. gesetzbuch muss endlich wasserdicht gemacht werden. Ich finde, der Koalitionsvertrag war, was Ihre Ambitio- Die Finanzkrise ist immer noch nicht vorbei, auch wenn nen zu weiteren Regulierungen der Finanzmärkte Sie diese Falschaussage mantraartig wiederholen. angeht, beschämend zahm. Dieses Thema plätschert ein- fach dahin. Ehrlich gesagt verspielen Sie die Gelegen- Beenden Sie Ihren Dienst nach Vorschrift! Werden heit, aus der größten Finanzkrise, die wir seit 1929 bzw. Sie aktiv, und ziehen Sie vor allen Dingen die notwendi- den 30er-Jahren hatten, die notwendigen Schlüsse zu gen Schlüsse aus der Finanzkrise, und setzen Sie die ge- wonnenen Erkenntnisse in wirklich wirksame und gute ziehen. Sie brauchen sich nicht hinter Europa und der Gesetze um! Euro-Krise zu verstecken. Die Bundeskanzlerin hat in Europa die unsoziale, ökonomisch kontraproduktive Vielen Dank. Sparpolitik mit aller Härte gegen die Euro-Krisenländer durchgesetzt. Wenn Sie als Bundesregierung nur halb so (Beifall bei der LINKEN) entschlossen wären, den hochriskanten Finanzgeschäf- Vizepräsidentin Ulla Schmidt: (B) ten und dem Grauen Kapitalmarkt den Kampf anzusagen (D) – von den Schattenbanken rede ich gar nicht –, dann wä- Vielen Dank. – Nächster Redner ist der Kollege ren wir im Hinblick auf eine europäische Regulierung Manfred Zöllmer für die SPD-Fraktion. deutlich weiter. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) (Beifall bei der LINKEN) Uns ist natürlich nicht entgangen, dass Sie, vor allem Manfred Zöllmer (SPD): auf Druck der Finanzbranche selbst, wenige inhaltliche Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Veränderungen vorgenommen haben. Auf diese will ich Wenn ein Gesetz „Finanzmarktanpassungsgesetz“ heißt, kurz eingehen. dann könnte man vermuten, es gehe um ganz viel Geset- zestechnik. Das ist in der Tat auch richtig. Der Gesetz- Zur Anzahl der Aufsichtsmandate. Wir finden es voll- entwurf soll im Nachgang zu europaweiten Regelungs- kommen richtig, dass die Begrenzung der Aufsichtsman- vorhaben – es hat viele Regelungsvorhaben gegeben; das date die Sparkassen gegenüber den Privatbanken nicht muss man fairerweise sagen, auch wenn wir in der letz- benachteiligen darf. Wir hätten uns aber eine andere Re- ten Legislaturperiode in der Opposition waren und auch aktion gewünscht: nicht die, dass Sparkassen nun mehr manche Kritik geübt haben; ich nenne nur CRD IV, liebe Mandate wahrnehmen dürfen, sondern dass die Zahl der Kollegin Karawanskij, ein riesiges Regulierungswerk, Mandate der privaten Banken eingeschränkt wird. oder das AIFM-Umsetzungsgesetz – Korrekturen und europarechtlich notwendige Anpassungen vornehmen. Durch die Finanzkrise wurde flächendeckend bestä- tigt, dass neben dem Management und der Finanzauf- Bei dem vorliegenden Gesetzentwurf handelt es sich sicht auch die Aufsichts- und Verwaltungsräte der Ban- um ein Mantelgesetz, mit dem insgesamt elf andere Ge- ken ihre Kontrollfunktion eben nicht erfüllt haben. Es setze geändert werden. Ganz häufig sind es in der Tat rein wäre nur konsequent, dass man der Ämterhäufung bei redaktionelle Korrekturen. Liebe Kollegin Karawanskij, Kontrollmandaten entgegentritt und damit die Bürde auf das kann man als technokratische Weiterentwicklung be- mehr Schultern verteilt. zeichnen, aber so funktioniert unser Rechtsstaat nun ein- mal: Wir müssen die Gesetze entsprechend anpassen; (Zuruf von der CDU/CSU: Machen wir doch!) denn nur dann ist eine saubere Regulierung möglich, und nur dann ist der Staat in der Lage, seine Vorstellungen Wir brauchen mehr kompetentes Personal mit entspre- überhaupt durchzusetzen. Das machen wir hier. chender Zeit, um den verbundenen Instituten – sei es nun im Konzernverbund, sei es im öffentlichen-rechtlichen (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Institutsverbund – intensiver auf die Finger zu schauen der CDU/CSU) 3430 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014

Manfred Zöllmer (A) Ich habe mich gefragt: Wie kann man in einer Rede ist es wichtig, dass der Gesetzgeber flexibel reagiert. Das (C) mit einem solch umfangreichen Werk umgehen? Ich Wort „Nachbesserung“ ist in diesem Zusammenhang habe mich entschieden, zwei politisch wichtige Punkte kein Schimpfwort. Vielmehr wollen wir das Ganze eva- herauszugreifen. luieren, also überprüfen, wie es wirkt, und an den ent- sprechenden Stellschrauben drehen, wenn wir erkennen, Das erste Stichwort ist die Mandatsbegrenzung. Wo- dass Nachbesserung notwendig und möglich ist. rum geht es? Es geht um die grundsätzliche Frage: Wie viele Aufsichtsratsmandate kann eine Person in unter- schiedlichen Bereichen sinnvoll wahrnehmen? Wie groß Vizepräsidentin Ulla Schmidt: darf die Zahl sein, sodass es noch möglich ist, wirklich Sie müssen zum Schluss kommen, Herr Kollege. Aufsicht und Kontrolle über das Geschäftsgebaren aus- zuüben? Wir haben in der Finanzmarktkrise erlebt, dass Manfred Zöllmer (SPD): es häufig ein Versagen in diesem Bereich gegeben hat, Das ist vernünftige Gesetzgebung, die wir in dieser dass die Aufsicht nicht mit der nötigen Sorgfalt durchge- Legislaturperiode umsetzen werden. führt wurde. Das hat im Ergebnis zu existenzbedrohen- den Schieflagen von Banken geführt, die dann mit Steu- Herzlichen Dank. ergeldern gerettet werden mussten. Dieses darf sich (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) nicht wiederholen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Vizepräsidentin Ulla Schmidt: der CDU/CSU) Vielen Dank. – Nächster Redner ist der Kollege Deshalb brauchen wir eine sinnvolle Beschränkung der Dr. Gerhard Schick, Bündnis 90/Die Grünen. Zahl der Mandate. Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Ich glaube, wir haben gemeinsam eine sehr sinnvolle NEN): Regelung gefunden, die der Struktur des deutschen Kre- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! ditsystems Rechnung trägt. Wir haben bei kleinen Insti- Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf werden eine Reihe tuten die alte Rechtslage beibehalten; das sind nicht sys- Fehler in bestehenden Regelungen korrigiert, und das ist temrelevante Institute. Wir haben in Deutschland zum auch richtig so. Bei der Begrenzung von Aufsichtsrats- Glück sehr viele sehr kleine Institute. Aber bei Instituten mandaten haben wir einvernehmlich eine gute Lösung von erheblicher Bedeutung, von denen eine Systemge- gefunden. Wir werden uns allerdings trotzdem bei der fährdung ausgehen kann, wollen wir an der strikten Abstimmung über diesen Gesetzentwurf enthalten; denn Mandatsbegrenzung festhalten. wir sehen Schwächen bei der Korrektur des Kapitalanla- (B) (D) (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der gegesetzbuches. CDU/CSU) (Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Wenn man das einmal in Zahlen übersetzt, kann man Schade!) sagen, dass ungefähr 1 900 Institute unter die alte Rege- Das betrifft zum einen die Energiegenossenschaften. lung fallen. Es sind kleine und sehr kleine Institute. Da bleibt immer noch eine gewisse Rechtsunsicherheit, 52 Institute fallen unter die sehr stark begrenzende Re- die die dezentrale Energiewende erschwert. Zum ande- gelung. Wir haben die Grenze bei einem Bilanzvolumen ren meinen wir, dass die Schwelle für die Ausnahme- von 15 Milliarden Euro gezogen. Das ist eine vernünf- regelung mit 100 Millionen Euro deutlich zu hoch be- tige Regelung, vor allen Dingen wenn wir uns vor Au- messen ist und deswegen noch viele kritische gen führen, dass in Zukunft die EZB für systemrelevante Anlagemöglichkeiten bestehen, die Anleger in die Irre Banken zuständig ist und dafür die Aufsicht übernimmt. führen könnten. Ein zweiter Punkt, den ich noch kurz herausgreifen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) möchte. Es hat Probleme bei der Frage gegeben, was ei- gentlich zum harten Kernkapital einer Bank zählt und Schließlich haben Sie unseren Vorschlag abgelehnt, was nicht. Angesichts des bevorstehenden Stresstests der für Kleinstgenossenschaften Erleichterungen zu schaf- EZB ist das eine wichtige Frage, die geregelt werden fen. Wir meinen: Dort, wo große Risiken bestehen, muss muss, damit Klarheit herrscht; denn das Ganze wird man hart durchgreifen, aber dort, wo es sich um kleine auch veröffentlicht. Wir haben in diesem Gesetzentwurf Institutionen handelt, die einen sehr begrenzten Bereich klargestellt, dass in Zukunft bestimmte Reserven als har- bewirtschaften, ist es auch richtig, bürokratische Lasten tes Kernkapital anzusehen sind, weil sie diese Funktion zu reduzieren. erfüllen. Das Ganze war mehr ein rechtstechnisches als (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) ein inhaltliches Problem. Ich will aber heute einen anderen, etwas grundsätzli- Wir haben ansonsten in dem Gesetz eine Reihe von cheren Aspekt thematisieren. Die Bundeskanzlerin sagte Detailregelungen gefunden – beim Kreditmeldewesen, neulich, 80 Prozent der Finanzmarktregulierung seien beim Geldwäschegesetz, bei der Gewerbeordnung usw. gemeistert. Doch diese Angabe basiert auf einer verfehl- Der Kollege Petry wird gleich noch auf ein paar andere ten Analyse. Als die jetzige Regulierungsagenda beim Punkte hinweisen. G-20-Gipfel 2009 in Pittsburgh skizziert wurde, geschah Die Auswirkungen der einzelnen Regelungen in der das unter Anleitung der Experten, die das Regulierungs- Praxis sind nicht immer präzise vorhersagbar. Von daher regime prägten, das uns in diese Krise geführt hat. Der Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014 3431

Dr. Gerhard Schick (A) Glaube an die Möglichkeit, Risiko zu berechnen, blieb Vizepräsidentin Ulla Schmidt: (C) ungebrochen. So begann eine Bekämpfung von Sympto- Vielen Dank. – Nächster Redner ist Dr. Philipp men, die noch heute die Regulierungsagenda dominiert. Murmann, CDU/CSU-Fraktion. Der Fehler dieser Agenda von Pittsburgh war der Glaube, dass man die Komplexität an den Finanzmärk- (Beifall bei der CDU/CSU) ten mit immer komplexeren Regeln bekämpfen kann. Ich finde, es ist Zeit, zu erkennen, dass das nicht funktio- Dr. Philipp Murmann (CDU/CSU): niert. Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle- gen! Sehr geehrte Besucher! Meine Damen und Herren! (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Wir sind noch bei der Abarbeitung der Krise von 2008 – Werden die vielen Gesetze, die wir in der vergange- das ist sicherlich richtig. Es ist natürlich bedenkenswert, nen Legislaturperiode durch den Bundestag gebracht ha- woran Wolfgang Schäuble erinnerte, als er neulich bei ben, eine neue Krise verhindern? Ich bin da sehr skep- uns im Ausschuss war: Der internationale Bankensektor tisch. Tatsächlich ist die Wahrscheinlichkeit einer hat unserer Gesellschaft, der Wirtschaft und der Politik Finanzkrise heute leider nicht geringer als vor fünf Jah- in den letzten Jahren tatsächlich viel zugemutet. ren. Die Finanzmärkte sind größer als 2007; sie sind Herr Schick, ich gebe Ihnen insoweit recht, dass es si- schneller und komplexer geworden. Nach Berechnungen cherlich auch notwendig ist, an die Wurzeln der Proble- der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich sind matik heranzugehen. Aber Ihrer Behauptung, man könne weltweit Anleihen im Volumen von gut 100 Billionen zukünftige Krisen allein durch Regulierungen und im- Dollar im Umlauf – das sind 43 Prozent mehr als beim mer weiter gehende Regulierungen vermeiden, kann ich Ausbruch der Finanzkrise 2008. Christine Lagarde, die mich nicht anschließen. Im Moment müssen wir erst ein- Chefin des Internationalen Währungsfonds, schrieb im mal dafür sorgen, dass eine Krise, wie sie das letzte Mal vergangenen Jahr: „Derivatemärkte sind so groß und un- eingetreten ist, sich nicht wiederholen kann. Ich denke, durchsichtig wie zuvor.“ Die entscheidenden Reformen dazu sind inzwischen viele Maßnahmen ergriffen wor- am Finanzmarkt stehen also noch aus. Von wegen den, Maßnahmen, die unser Finanzsystem insgesamt „80 Prozent sind geschafft“! Die große Arbeit, die Fi- deutlich stabilisiert haben. nanzmärkte kleiner, langsamer und weniger komplex zu machen, haben wir noch vor uns. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der SPD) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Was brauchen wir? Wir brauchen sicherlich die Rück- Die Finanzaufsichtsbehörden haben häufig keinen kehr zu mehr Verantwortung im Bankensektor; das ist ein ganz zentrales Element. Sie haben einige Beispiele (B) wirklichen Überblick darüber, was auf den Märkten ge- (D) schieht. Wir Politiker können an vielen Stellen die Um- genannt. Die Eigenkapitalbildung ist sicherlich ein wich- setzung der von uns beschlossenen Regelungen und ihre tiger Aspekt, den wir ja auch aufgreifen. Man darf es Wirkung in der Praxis nicht ausreichend nachvollziehen. aber auch nicht übertreiben; denn sonst kann das Ban- Komplexe Regulierung und komplexe Finanzmärkte be- kensystem für unsere Wirtschaft nicht die Rolle erfüllen, dingen sich hier gegenseitig. Wir Grünen plädieren des- die es erfüllen muss, nämlich Kredite zu vergeben, Risi- halb für eine neue Regulierungsagenda, die auf einfa- ken einzugehen und viele Dinge mehr. chere, aber harte Regelungen setzt. In unserem Grundgesetz steht: (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich sowie bei Abgeordneten der LINKEN) dem Wohle der Allgemeinheit dienen. Eine solche Regulierung ist möglich. Dazu gehört ganz Diesen Aspekt müssen wir bei all dem, was wir tun, im- zentral wesentlich mehr Eigenkapital, damit Verluste mer berücksichtigen. Natürlich müssen wir das auch den dort anfallen, wo der Gewinn landet, nämlich bei den Ei- Banken und all denen, die in diesem System arbeiten, gentümern der Finanzinstitute. Es geht um ein Steuer- immer wieder mit auf den Weg geben; denn sie sind Ei- system, mit dem die Privilegierung von Fremdkapital gentümer von zum Teil großen Instituten und tragen des- überwunden wird, ein solides Trennbankensystem, das wegen natürlich eine erhebliche Verantwortung. zusammen mit der europäischen Bankenunion wirklich Die Regulierung, die wir nun auf den Weg bringen, eine Abwicklung auch größerer Banken ermöglicht, ein besteht im Wesentlichen aus drei Elementen: Haftung Verbot des parasitären Hochfrequenzhandels und vor al- durch Eigenkapital, Eigentümer in die Verantwortung lem klare Haftungsregeln. zwingen und Reserven aufbauen. Das Aufbauen von Re- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN serven durch die Bankenabgabe ist ein wichtiges Ele- sowie bei Abgeordneten der LINKEN) ment – über eine europäische Bankenabgabe wird disku- tiert –, mit dem wir das Finanzsystem insgesamt robuster Was jetzt ansteht, ist, eine neue Regulierungsagenda gegenüber einer eventuellen neuen Krise machen kön- auf den Weg zu bringen, die die Finanzmärkte kleiner, nen. langsamer und weniger komplex macht. Hierzu erwarten Der Gesetzentwurf zur Anpassung von Gesetzen auf wir Initiativen der Bundesregierung. dem Gebiet des Finanzmarktes, den wir heute verab- Danke für Ihre Aufmerksamkeit. schieden, enthält viel Technik; das haben wir schon von verschiedenen Seiten gehört. Wir haben im Ausschuss (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) zu dem Ursprungsgesetzentwurf acht Änderungsanträge 3432 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014

Dr. Philipp Murmann (A) eingebracht; die Linken übrigens überhaupt keinen. An- Nochmals herzlichen Dank für die gute Diskussion. (C) gesichts der Kritik, die sie hier vortragen, darf man das Ich bitte um Zustimmung zu dem Gesetzentwurf, in den sicherlich sagen. Herr Troost hat an dem gemeinsamen unsere sehr guten Änderungsanträge eingeflossen sind. Berichterstattergespräch teilgenommen und mehreren dieser Änderungsanträge, die wir gemeinsam verabredet Vielen Dank. haben, zugestimmt. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) (Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: So ist es!) Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Wie gut unsere Große Koalition zusammenarbeitet, Vielen Dank. – Für die SPD-Fraktion spricht jetzt der können Sie daran erkennen, dass Herr Zöllmer und ich Kollege Christian Petry. unter anderem am Himmelfahrtswochenende miteinan- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der telefoniert haben, um uns abzustimmen, der CDU/CSU) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD – Lothar Binding [Heidelberg] Christian Petry (SPD): [SPD]: Das war gut!) Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und und daran, dass genau die Punkte, die Herr Zöllmer ge- Herren! Herr Murmann, dass Sie mit Herrn Zöllmer am nannt hat, auch auf meinem Zettel stehen. Himmelfahrtswochenende telefoniert haben, ist sehr schön. Ich kann auch etwas bieten: Mit Herrn Güntzler (Dr. Carsten Sieling [SPD]: Das ist Transpa- habe ich mich beim Fußballspielen ausgetauscht. Inso- renz in der Großen Koalition!) weit hat die Zusammenarbeit hervorragend funktioniert. Auch ich bzw. wir glauben, dass diese Elemente von großer Relevanz sind: (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU) Ein wesentliches Element sind die drei Kategorien bei den Mandaten: erstens die systemrelevanten großen Dieser Gesetzentwurf bezieht sich auf eine Reihe von Banken – das sind nur 35 –, zweitens die Banken von er- Gesetzen. Er steht in einer Linie mit anderen Gesetzen, heblicher Bedeutung, die eine Bilanzsumme zwischen mit denen wir mehr Transparenz, mehr Verbraucher- 15 und 30 Milliarden Euro ausweisen, und drittens die schutz, mehr Aufsicht und mehr Sicherheit in die Fi- 1 800 neuen Kleininstitute, die wir sozusagen in die alte nanzmärkte bringen. Wir waren in Brüssel und haben Regelung zurückführen und damit aus der Überregulie- uns dort informiert. Dort haben wir die Information er- rung – so sage ich es einmal – herausnehmen. halten, dass es mittlerweile über 100 verschiedene Rege- (B) lungen gibt, mit denen die Finanzmärkte stärker reguliert (D) Das zweite wesentliche Element ist, die Kernkapitalbil- werden sollen, damit solche Krisen wie die der Vergan- dung bei den Banken zu ermöglichen. Dadurch werden, genheit nicht wieder auftreten. Wir haben die Aufgabe, so wurde es uns gesagt, für die Banken auch für den Kri- das nationale Recht anzupassen; das ist ja schon gesagt senfall 1,3 Milliarden Euro mehr Kernkapital verfügbar worden. sein. Ich denke, auch das ist eine sinnvolle Sache. Ganz herzlichen Dank an alle, die daran mitgearbeitet haben. Diese erforderliche Umsetzung bzw. Anpassung be- trifft neben vielen anderen Gesetzen auch das Kapitalan- Zum Schluss möchte ich anmerken, dass es auch da- lagegesetzbuch. Wir wollen dabei zwischen Erleichte- rum geht, dass unsere Banken international wettbe- rungen und Kontrollen die Balance wahren, damit werbsfähig bleiben. Herr Schick, es kann doch nicht niemand durch eine zu harte Prüfung Erschwernisse hin- sein, dass wir hier in Deutschland wild vor uns hinregu- nehmen muss oder unter Umständen am Ende in dem lieren – so sage ich es einmal – und das am Ende dazu Bereich nicht mehr tätig sein darf. führt, dass unser deutsches Bankensystem auf dem Welt- markt nicht mehr agieren kann. Wenn Sie sich die Grö- In diesem Zusammenhang sind, denke ich, die ent- ßenordnung, um die es bei den amerikanischen Banken sprechenden bürgerschaftlichen Engagements in Ener- geht, vor Augen führen, stellen Sie fest, dass es sich da- giegenossenschaften und genossenschaftliches Engage- bei um ganz andere Dimensionen handelt als bei uns, vor ment insgesamt zu nennen. Wir haben das Thema allem, da es bei uns ja viele Kleininstitute gibt. Kleinstgenossenschaften ja behandelt; sie sind ein Bei- spiel. Wir sind davon ausgegangen, dass die BaFin dies Aus meiner Sicht ist es wichtig, dass unsere Banken pragmatisch regelt. Wir sind – das wurde genannt – der wettbewerbsfähig bleiben. Sie müssen vor allen Dingen Auffassung, dass sich die Prüftiefe an der Größe der ent- für unseren starken Mittelstand Kapital zur Verfügung sprechenden Einheit orientieren muss und dass entspre- stellen und Risiken finanzieren. Wenn wir mehr Gründer chend der Größe die Maßstäbe hier auch niedriger ange- in Deutschland haben wollen und wenn wir wollen, dass legt werden müssen. Wir haben die entsprechenden unsere Unternehmen in neue Technologien investieren, Eignungen bei der Genossenschaft so angelegt, dass eine brauchen wir an deren Seite Banken, die in der Lage Prüfung, sofern sie durch eine andere Behörde oder Or- sind, dafür Kapital zur Verfügung zu stellen. ganisation, zum Beispiel nach dem Genossenschafts- (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. recht, bereits vorgenommen worden ist, maßgeblich be- Manfred Zöllmer [SPD]) rücksichtigt wird bzw. in die Entscheidung einfließt. Deswegen müssen wir für eine gute Balance sorgen, um (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten diese Möglichkeiten nicht zu verschenken. der CDU/CSU) Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014 3433

Christian Petry (A) Davon gehen wir aus. Ich glaube, dass damit die Balance Dr. Harald Terpe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (C) zwischen gewünschter Aufsicht und Kontrolle und den Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Erleichterungen, die man braucht, um im Rahmen dieses Selbstverwaltung ist das tragende Prinzip bei der Orga- ehrenamtlichen bürgerschaftlichen Engagements tätig zu nisation der Sicherstellung der Leistungsfähigkeit unse- sein, erreicht wird. res Gesundheitswesens; das wissen wir alle. Das ist so Wir werden nach einer Überprüfung durchaus über gewollt. Ihre Bedeutung dokumentiert sich deshalb auch weitere Änderungen beraten können. Wir gehen davon dadurch, dass die Selbstverwaltungskörperschaften ge- aus, dass es praktikabel ist, wenn Ende 2015 eine ent- setzlich als Körperschaften öffentlichen Rechts veran- sprechende Überprüfung stattfindet. Dann werden wir kert sind. Der Gesetzgeber hat die Verantwortung für das sehen, meine sehr verehrten Damen und Herren, ob das Funktionieren des Gesundheitssystems auf diese Selbst- Gesetz so gewirkt hat, wie wir uns das heute vorstellen. verwaltungskörperschaften übertragen und mithin natür- Wir sind damit aber weiterhin auf einem richtigen Weg lich auch die Verantwortung für fast 200 Milliarden Euro für mehr Verbraucherschutz, für mehr Transparenz, für Versichertengelder und Steuermittel. Allerdings sind so- mehr Kontrolle und Aufsicht und für sicherere Märkte. zialrechtlich – besonders im SGB V – eine vielschich- tige Zweckbindung und grundsätzlich der Maßstab der Glück auf! Zweckmäßigkeit und Wirtschaftlichkeit verankert wor- den. Ich glaube, das ist auch richtig so. Deshalb kann man (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) sagen: Solidarisch aufgebrachte Beitragsgelder – ich glaube, darüber sind wir uns alle einig – und Steuergel- Vizepräsidentin Ulla Schmidt: der müssen dem Solidarsystem zugutekommen und dür- Danke schön. – Der Kollege Petry war der letzte Red- fen nicht zweckentfremdet werden. ner in dieser Debatte. Ich schließe die Aussprache. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun- und bei der LINKEN) desregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Anpassung von Gesetzen auf dem Gebiet des Finanz- Im Rahmen einer Kleinen Anfrage interessierte uns, marktes. Der Finanzausschuss empfiehlt in seiner Be- ob es eine ausreichende Transparenz bei der Mittelver- schlussempfehlung auf Drucksache 18/1648, den Ge- wendung und eine ausreichende Aufsicht über die Mit- setzentwurf der Bundesregierung auf den Drucksachen telverwendung insbesondere bei den bundesweit agie- 18/1305 und 18/1574 in der Ausschussfassung anzuneh- renden Selbstverwaltungskörperschaften gibt. Seitens men. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der des Bundesministeriums ist auf eine entsprechende Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzei- Frage geantwortet worden: (B) chen. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der (D) Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Es besteht keine gesetzliche Regelung, die zu einer Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Enthaltung von … Veröffentlichung der Jahresrechnungen und Bündnis 90/Die Grünen und der Linken angenommen. Haushaltspläne Dritte Beratung – zum Beispiel des GKV-Spitzenverbandes oder der KBV – und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Ge- verpflichtet oder sie ausdrücklich untersagt. genstimmen? – Wer enthält sich? – Damit ist der Gesetz- Die Schlussfolgerung war für uns ein bisschen überra- entwurf mit dem gleichen Stimmenverhältnis angenom- schend – Zitat –: men. Für eine Veröffentlichung … sind gesetzliche Än- Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf: derungen daher nicht erforderlich. Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Harald Terpe, Maria Klein-Schmeink, Das sehen wir anders. Wir fordern deshalb aus Gründen Elisabeth Scharfenberg, weiterer Abgeordneter der größeren Transparenz und aus Aufsichtsgründen in und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Punkt 1 unseres Antrags eine vollständige Offenlegung der Haushaltspläne und Jahresrechnungen. Mehr Transparenz der Selbstverwaltung im Gesundheitswesen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Drucksache 18/1462 Überweisungsvorschlag: Anlass für diese Kleine Anfrage waren Medienbe- Ausschuss für Gesundheit (f) richte über Unregelmäßigkeiten im Finanzsektor einer Ausschuss für Arbeit und Soziales dieser größeren bundesweiten Körperschaften. Es ging Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für dort auch um eine Unternehmensbeteiligung. In der Ant- die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei- wort des BMG war interessant, dass das BMG, obwohl nen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. es formulierte, dass es selbst mit Nachdruck auf Aufklä- rung gedrängt habe, mehr als ein halbes Jahr später noch Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner in der nicht abschließend informiert war. Hier wiederholt sich Debatte hat der Kollege Dr. Harald Terpe, Bündnis 90/ für uns nicht zum ersten Mal, dass vom Gesetzgeber be- Die Grünen, das Wort. auftragte Körperschaften – manchmal sind es auch Stif- 3434 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014

Dr. Harald Terpe (A) tungen – nur widerstrebend auskunftsbereit sind. Ich (Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE (C) finde, das darf nicht hingenommen werden. GRÜNEN]: Wie war das mit der Transpa- renz?) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Lassen Sie uns doch erst einmal das Ergebnis dieser Un- tersuchung abwarten, bevor wir über gesetzliche Schluss- Deshalb fordern wir in unserem Antrag speziell zur bes- folgerungen diskutieren, meine Damen und Herren. seren Transparenz und Aufsicht, dass auch Unterneh- mensgründungen oder Unternehmensbeteiligungen, die (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- nicht mit gesetzlichem Auftrag erfolgten, geprüft wer- neten der SPD – Maria Klein-Schmeink den und sich das entsprechende Prüfrecht der zuständi- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Er will es gen Rechtsaufsicht auch auf private Gesellschaften nicht wissen!) überträgt, bei denen die entsprechenden Selbstverwal- Ich darf Sie übrigens daran erinnern, dass es die tungskörperschaften die Mehrheit haben. christlich-liberale Bundesregierung war, die in den letzten zwei Jahren die einschlägigen Vorschriften im Liebe Kolleginnen und Kollegen, bitte unterstützen SGB IV deutlich verschärft hat. Ein besonderer Schwer- Sie unseren Antrag. Gern können Sie ihn auch noch ver- punkt war zum Beispiel die Vorstandsvergütung. Seit der bessern. Er trägt auf jeden Fall zur Transparenz und zur Gesetzesänderung müssen die Arbeitsverträge aller Vor- besseren Aufsicht bei. stände vom Ministerium genehmigt werden; sonst werden Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. sie unwirksam. Die Genehmigung erteilt das Ministe- rium aber nur, wenn das Vorstandsgehalt in einem ange- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN messenen Verhältnis zu den Aufgaben des Betreffenden und bei der LINKEN) steht. Überzogene Gehälter wird es deshalb also nicht mehr geben. Auch Mietverträge zum Beispiel für Büroge- bäude können die Selbstverwaltungskörperschaften nicht Vizepräsidentin Ulla Schmidt: mehr frei nach Belieben abschließen. Ab einer bestimm- Vielen Dank. – Nächster Redner für die CDU/CSU- ten Fläche und einer Mietdauer von zehn Jahren muss Fraktion ist der Kollege Reiner Meier. der Mietvertrag dem Ministerium vorgelegt werden. Da- mit haben wir langfristige und teure Verpflichtungen (Beifall bei der CDU/CSU) wirksam unterbunden. Ich meine, wenn Ihnen wirklich etwas an Transparenz Reiner Meier (CDU/CSU): in der Selbstverwaltung läge, hätten Sie diesen Änderun- (B) (D) Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten gen vor einem Jahr in diesem Hohen Hause Ihre Zustim- Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! mung geben müssen. Das haben Sie aber nicht getan. Wenn ich das eben Gesagte auf mich wirken lasse, habe Das sagt schon einiges aus. ich das dringende Bedürfnis, einige Dinge klarzustellen. (Beifall bei der CDU/CSU – Harald Weinberg Die Selbstverwaltung ist ein bewährtes System, das [DIE LINKE]: Vielleicht weil sie unzurei- im Großen und Ganzen seit Jahrzehnten gut funktioniert. chend waren?) Es ist ein Markenzeichen der guten Sozialpartnerschaft in unserem Land, dass sich Versicherte, Leistungserbrin- Meine sehr verehrten Damen und Herren, wenn wir ger und Beitragszahler an einen Tisch setzen und die über Selbstverwaltung sprechen, dürfen wir das nicht Angelegenheiten der gesetzlichen Krankenversicherung mit einem Tunnelblick tun und uns nur auf Einzel- weitgehend eigenständig regeln. Ich halte es auch für aspekte in der Gesundheitsverwaltung oder im Gesund- richtig, dass sich der Staat auf die Rechtsaufsicht be- heitswesen fokussieren. Stattdessen sollten wir das Sys- schränkt. Das bürokratische Monster, das wir hätten, tem der Selbstverwaltung als Ganzes betrachten. wenn sich der Staat in jede kleine Sachentscheidung ein- (Dr. Harald Terpe [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- mischen würde, möchte ich mir besser nicht vorstellen. NEN]: Das machen wir!) Wie wir alle wissen, gab es auch in der Vergangenheit Wir haben uns im Koalitionsvertrag vorgenommen, die unschöne Einzelfälle. Ich denke da besonders an die Selbstverwaltung weiterzuentwickeln und insbesondere Vorgänge um die Bürogebäude der Kassenärztlichen die Sozialwahlen zu modernisieren. Die Stichworte dazu Bundesvereinigung hier in Berlin. Zu diesen Vorgängen lauten „Onlinewahlen“ und „mehr Direktwahlen“, vor hat das Bundesministerium für Gesundheit unverzüglich allem in der gesetzlichen Krankenversicherung. eine Prüfung eingeleitet, die gegenwärtig noch andauert. (Harald Weinberg [DIE LINKE]: Da bin ich (Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE mal gespannt!) GRÜNEN]: Eben!) Die Selbstverwaltung soll wieder stärker in das Bewusst- sein rücken, damit möglichst viele Menschen von ihrem Allein die Tatsache, dass diese Kontrollen laufen, zeigt Wahlrecht Gebrauch machen. doch, dass die Rechtsaufsicht bereits heute gut funktio- niert. Genau deshalb ist es noch zu früh, um reflexartig (Beifall bei der CDU/CSU – Maria Klein- nach mehr Kontrolle, nach schärferen Vorschriften zu ru- Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, fen. genau! Und wir brauchen mehr Transparenz!) Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014 3435

Reiner Meier (A) Mit Blick auf meine Redezeit lege ich Ihnen hierzu den (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten (C) Schlussbericht zu den Sozialwahlen 2011 ans Herz, der des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) diese Thematik sehr gut darstellt. Die Jahresrechnungen und die Haushaltspläne des Ge- Meine sehr verehrten Damen und Herren, die konse- meinsamen Bundesausschusses, des GKV-Spitzenver- quente Weiterentwicklung der Selbstverwaltung ist für bandes, der Kassenzahnärztlichen Bundesvereinigung uns ein zentrales Thema, das wir in all seinen Facetten und der Kassenärztlichen Bundesvereinigung müssten anpacken werden. Wenn die laufenden Untersuchungen veröffentlicht werden. Es geht schließlich um Körper- der Unregelmäßigkeiten abgeschlossen sind, werden wir schaften des öffentlichen Rechts – das ist bereits gesagt daraus selbstverständlich unsere Schlüsse ziehen. Der worden –, die sich aus Geldern der gesetzlich Kranken- heutige Antrag, liebe Kolleginnen und Kollegen von den versicherten finanzieren. Außerdem müssten diese Kör- Grünen, ist aber verfrüht. Er bleibt auch den Nachweis perschaften die Absicht zur Ausgründung privatrecht- schuldig, dass die derzeitigen Regelungen unzureichend lichter Unternehmen der jeweiligen Aufsichtsbehörde sind. Da habe ich bessere Schaufensteranträge von Ihnen anzeigen und zur Genehmigung vorlegen. aus der letzten Zeit in Erinnerung. Zusätzlich wird mit diesem Antrag ein Prüfrecht der Vielen Dank. Aufsichtsbehörde bei Ausgründungen gefordert. Hätte (Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Harald Terpe es diese Regelung schon vor 15 Jahren gegeben, dann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Haben Sie hätte sich die Kassenärztliche Bundesvereinigung nicht denen denn zugestimmt, den „besseren“?) über eine Ausgründung eine Immobilie kaufen können, deren Erwerb von der Aufsicht zuvor untersagt worden war. Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Vielen Dank. – Nächster Redner ist Harald Weinberg, Nur am Rande: Der GKV-Spitzenverband ist nach ei- Fraktion Die Linke. genen Angaben – wir haben mit ihm darüber diskutiert – mit diesem Antrag einverstanden, wenngleich er bislang (Beifall bei der LINKEN) nicht selbsttätig und proaktiv alle Haushaltsberichte und Jahresrechnungen veröffentlicht hat. Es gibt bisher Harald Weinberg (DIE LINKE): schließlich kein Gesetz, das die Veröffentlichung unter- Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und sagt. Insofern hätten die Verbände schon mehr Transpa- Kollegen! Meine Damen und Herren! Die Grünen haben renz zeigen können. Da sie dies bisher nicht getan haben, einen Antrag vorgelegt, dessen Titel hohe Ansprüche halte ich es für erforderlich, dass man sie gesetzlich dazu weckt. „Mehr Transparenz der Selbstverwaltung im Ge- verpflichtet. (B) sundheitswesen“ – diese hohen Erwartungen kann Ihr (D) Antrag meines Erachtens nicht ganz erfüllen, da ledig- (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten lich die Rechnungsprüfung, nicht aber das sonstige Han- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) deln der Selbstverwaltung transparenter würde. Dennoch Ich gehe davon aus, dass nicht nur der GKV-Spitzen- geht dieser Antrag aus unserer Sicht völlig in Ordnung. verband, sondern auch der Gemeinsame Bundesaus- Er wird von den Linken wohlwollend begleitet werden. schuss, die Kassenärztliche Bundesvereinigung und die (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten Kassenzahnärztliche Bundesvereinigung nichts gegen des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) diese neue Transparenz einwenden werden; denn im Kern geht es ja darum, die Versichertengelder wirt- Was war Anlass für diesen Antrag? Die Kassenärztli- schaftlich, solidarisch und transparent einzusetzen. che Bundesvereinigung, die KBV, wollte beim Umzug von Köln nach Berlin ein neues Gebäude beziehen. Die Vielen Dank. Aufsicht lehnte dies ab. Daraufhin gründete die KBV ge- meinsam mit einer Bank eine Partnerschaft, die die Im- (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- mobilie baute und dann an die KBV vermietete. Im Rah- NIS 90/DIE GRÜNEN) men dieser intransparenten Geschäfte kam es sogar zu einigen strafrechtlichen Ermittlungen wegen Steuerhin- Vizepräsidentin Ulla Schmidt: terziehung. Die Aufsichtsbehörde bekam von vielem erst Vielen Dank. – Nächster Redner ist der Kollege Dirk viel später etwas mit, weil es bislang keine ausreichende Heidenblut, SPD. Verpflichtung gibt, relevante Rechnungslegungsdaten oder Unternehmensbeteiligungen an die Aufsichtsbe- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten hörde zu übermitteln. Die Aufsichtsbehörde ist in dieser der CDU/CSU) Frage also quasi blind. Das ist die Situation, vor der wir stehen. Dirk Heidenblut (SPD): (Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! GRÜNEN]: Genau!) „Mehr Transparenz der Selbstverwaltung im Gesund- heitswesen“, so lautet der Titel des plakativen Antrags, Wenn der Bundestag diesen Antrag annähme, dann der heute eingebracht wurde. würde sich dies ändern. Man würde die Selbstverwal- tung damit nicht schwächen, sondern meines Erachtens (Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE sogar stärker machen, weil glaubwürdiger. GRÜNEN]: Er ist sehr materiell!) 3436 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014

Dirk Heidenblut (A) Ich denke, es ist gar keine Frage: Das System der Dass Fehlverhalten offenkundig wird und letztlich zu (C) Selbstverwaltung mit seiner enormen Verantwortung für Korrekturen führt, ist ein Zeichen dafür, dass wir hier fast 200 Milliarden Euro Versichertengelder – auch ich keinesfalls über ein komplett intransparentes System re- will hier nicht vergessen: einschließlich der Steuergelder – den. Das signalisiert erfreulicherweise auch der Antrag; baut vor allen Dingen darauf, dass die Versicherten auf denn „mehr Transparenz der Selbstverwaltung“ heißt ja: das Verantwortungsbewusstsein der Handelnden ver- Es gibt bereits Transparenz im System. trauen dürfen und dass diese die Mittel im Bewusstsein der Verantwortung zielgerichtet, wirtschaftlich, sparsam Die Diskussion über Transparenz sollte nicht als und mit der gebotenen Effizienz gerade auch im Verwal- grundsätzliches Misstrauen in die durchaus gut aufge- tungshandeln – das ist hier ja häufig der strittige Punkt – stellte Selbstverwaltung missdeutet werden. Die Ant- verwenden. wort der Bundesregierung auf die Anfrage der Grünen, die diesem Antrag letztlich zugrundeliegt, macht deut- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten lich – da muss ich Ihnen widersprechen –, dass die Auf- der CDU/CSU) sicht keineswegs blind ist. Immer wieder liest oder hört man, dass dies womög- (Beifall der Abg. Karin Maag [CDU/CSU]) lich nicht geschieht – der Kollege Meier hat schon da- rauf hingewiesen – oder verbesserungsbedürftig ist. Alle Abschlüsse der Körperschaften werden extern von Meist sind es die Verwaltungen der Selbstverwaltung, renommierten Wirtschaftsprüfungsgesellschaften ge- die dabei in der Diskussion stehen. Es gibt aber auch prüft. Ergeben sich daraus Beanstandungen oder weite- konkrete Erkenntnisse – wie zuletzt bei der KBV –, dass rer Prüfungsbedarf – das macht der zuletzt erkennbar ge- etwa die Wirtschaftlichkeit und die erwartete zielgerich- wordene Fall sehr deutlich –, werden ergänzende tete Verwendung nicht gegeben sind. Neben solchen Prüfungen beauftragt, und es wird eine Klärung herbei- konkreten Erkenntnissen oder zumindest begründeten geführt. Diese kann natürlich eine gewisse Zeit dauern. Verdachtsmomenten gibt es auch so etwas – ich denke, Das zuständige Ministerium reagiert ebenfalls in an- das ist bei diesen Summen ganz klar – wie ein gesundes gemessener Form. Wie der Antragsteller aus der umfas- Misstrauen. Das ist hier quasi systemimmanent. Umso senden und sehr detaillierten Antwort der Bundesregie- mehr ist der Wunsch nach größtmöglicher Transparenz rung, die mehr als deutlich macht, wie ernst das und einer darauf fußenden effektiven Aufsicht und Auf- Ministerium seine Aufsicht nimmt und wie klar die Er- klärung von möglichen Problemen verständlich und kenntnisse sind, schließen kann, dass die Bundesregie- – um das auch zu sagen – zunächst einmal durchaus be- rung an mehr Transparenz nicht interessiert sei, er- rechtigt. schließt sich zumindest mir nicht wirklich. (B) (D) Transparenz schafft Vertrauen, beseitigt vor allen Der Hinweis, dass mehr Transparenz, also etwa die Dingen das unwohle Bauchgrummeln und hilft nicht zu- Offenlegung von Jahresabschlüssen, eine gesetzliche letzt, vor tatsächlichen Problemen zu schützen oder Regelung nicht entgegensteht, kann so kaum gedeutet schnell zur Klärung von Sachverhalten beizutragen. Da- werden. Vielmehr macht das zuständige Ministerium in her kann man nicht deutlich genug sagen: Die Forderung seiner Antwort deutlich, wie gut die Erkenntnisse sind, nach Transparenz – gerade in Bezug auf das Finanzgeba- wie damit umgegangen wird und dass die Bundesregie- ren aller Beteiligten – findet ganz sicher politische Zu- rung die Aufgaben, die sich aus der schon lange beste- stimmung, muss aber eigentlich auch ein klares Anlie- henden Transparenz ergeben, sehr ernst nimmt. Selbst- gen der Selbstverwaltung sein. herrlichkeit im Umfang mit Versichertengeldern – da (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten sind wir absolut sicher – wird keinesfalls geduldet. der CDU/CSU und des Abg. Dr. Harald Terpe (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Es ist sicherlich auch richtig und im Sinne der Interes- Der von der Kassenärztlichen Bundesvereinigung letzt- sen der Versicherten, dass Transparenz nicht nur für die lich selbst aufgedeckte Fall belegt, dass das auch so ist. Körperschaften selbst, sondern auf jeden Fall auch für Strittig bei der Diskussion zu diesem Antrag kann deren Beteiligungen gelten muss, soweit hier nicht un- aber sicherlich sein, wie tatsächlich mehr Transparenz wesentlich Mittel der Körperschaft eingesetzt oder in geschaffen werden kann, nicht nur scheinbare Transpa- Haftung genommen werden oder in Haftung genommen renz aufgrund einer völlig verwirrenden Informations- werden können, wobei sich hier, je nach Art der Beteili- flut. Da haben wir im Gesundheitsbereich durchaus das gung, zum Teil aus anderen gesetzlichen Regelungen eine oder andere Beispiel, wo am Ende für den Versi- schon Vorschriften ergeben können. cherten und auch den Betreuten keine Transparenz mehr Wir haben ein gutes Gesundheitssystem, gerade auch vorhanden war. wegen der Besonderheit der Selbstverwaltung. Aber wir Natürlich ist auch die Frage, wie man die vorhandene haben auch dafür Sorge zu tragen, dass Mittel, die von Transparenz bewertet und deren Wirksamkeit einschätzt. Versicherten aufgebracht werden, nur insoweit erhoben werden, wie sie für das Gesundheitssystem tatsächlich (Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE nötig sind, und daher auch nur genau dort eingesetzt GRÜNEN]: Das kannst du alles gesetzlich werden. Das schränkt den Spielraum für die Mittelver- festlegen!) wendung ganz klar und deutlich ein. Es ist unsere Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014 3437

Dirk Heidenblut (A) Pflicht, immer wieder genau hinzuschauen, ob sich die aber der Antrag schießt doch über das Ziel hinaus. (C) Selbstverwaltung an diese Vorgabe hält. Ich gebe zu: Auch mich ärgert es, wenn mit solchen Wir werden uns im Ausschuss mit dem Antrag einge- Fehlern die gesamte Selbstverwaltung in ein schiefes hend auseinandersetzen. Ob er letztlich tatsächlich ein Licht gebracht wird. Die Selbstverwaltung – das haben Mehr an Transparenz ermöglicht, ob das dort Beschrie- Sie deutlich gemacht – ist ein tragendes System dieses bene dem wirklich gerecht wird und wie das im Verhält- Gesundheitswesens. Deshalb muss jeder Anschein ver- nis zu bestehenden Regelungen, aber auch zu den ge- mieden werden, dass mit den Mitteln der Beitragszahler, setzlichen Rahmenbedingungen am Ende zu bewerten aber auch der Leistungserbringer und der Verbände nicht ist, das wird die weitere Diskussion zeigen. sorgfältig genug umgegangen wird. Die Frage, ob diese Uns ist wichtig: Die, die am Ende die Kosten zu tra- Mittel tatsächlich zur Erfüllung der gesetzlich vorge- gen haben, müssen neben allem nötigen Vertrauen in die schriebenen Aufgaben verwendet werden, stellt sich na- Selbstverwaltung – ohne das geht es im Gesundheitssys- türlich nicht nur in dem beschriebenen Fall. Ich denke tem nicht – auch die Sicherheit haben, dass das bereitge- auch an eine Krankenversicherung, die laut Zeitungsbe- stellte Geld dem richtigen Zweck dient. Wir als SPD- richten als Sponsor der deutschen Handball-National- Fraktion und damit auch die Große Koalition setzen mannschaft 700 000 bis 1 Million Euro ausgibt. Ich – das macht der Koalitionsvertrag mehr als deutlich – meine, es ist grundsätzlich richtig, solche Fragen zu stel- auf eine gute und fortschrittliche Weiterentwicklung des len. Ob die Körperschaften ihren Handlungs- und Er- Gesundheitswesens. messensspielraum verlassen haben, klären aber nicht wir oder die Öffentlichkeit, sondern immer noch die Auf- (Beifall der Abg. Heike Baehrens [SPD]) sichtsbehörden. Deswegen hilft der Antrag nicht wirk- Wir setzen auf Qualität und Transparenz und damit ganz lich weiter. klar auf eine ordnungsgemäße Mittelverwendung, die genau diesen Kriterien entspricht. Welche weiteren Vorteile zum Beispiel aus der Veröf- fentlichung der Jahresrechnung oder der Haushaltspläne Vielen Dank. erreicht werden, erschließt sich mir aus Ihrem Antrag nicht unbedingt. Die Haushalte der KBV, der KZBV und (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) des GKV-Spitzenverbandes machen nämlich nur einen sehr kleinen Teil der 194 Milliarden Euro Gesamtausga- Vizepräsidentin Ulla Schmidt: ben aus. Darüber werden natürlich nicht nur die Mittel Vielen Dank. – Jetzt erhält die Kollegin Karin Maag, der GKV abgewickelt. Worin liegt denn der Nutzen für CDU/CSU-Fraktion, das Wort. die Öffentlichkeit, wenn sie weiß, wie viel Geld die KBV beispielsweise für IT-Systeme oder Personal aus- (B) (Beifall bei der CDU/CSU) (D) gibt? Die Rechtsaufsicht kennt die Zahlen. Die Öffent- lichkeit kann damit nichts anfangen. Karin Maag (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn es um die Beteiligung an privatrechtlichen Un- Beim Antrag der Grünen, lieber Harald Terpe, handelt es ternehmen geht, gilt die Verordnung über das Haushalts- sich sehr wohl um das Erbe von Biggi Bender, die die wesen in der Sozialversicherung, die ausreichende Aufdeckung im Zusammenhang mit den Unregelmäßig- Schutzmechanismen enthält. keiten bei der KBV mit viel Herzblut betrieben hat. Ihr führt ihre Arbeit jetzt einem Ergebnis zu. Es ist auch nicht Sache der Rechtsaufsicht, Fragen zur Zweckmäßigkeit zu stellen. Selbstverwaltung gibt Ge- Bei der KBV ging es im Wesentlichen um unprofes- staltungsfreiheit. Diese muss man aber auch zulassen sionelles Wirtschaften und fehlende interne und externe und gegebenenfalls sogar ertragen. Der Rechtsaufsicht Genehmigungen. Ein finanzieller Schaden ist, soweit die vorgeschaltet – auch das darf man nicht vergessen – sind Ermittlungen bisher gediehen sind, allerdings nicht ent- die Kontrollen durch die internen Gremien, die Vertre- standen. Die KBV hat übrigens diese Fehler und Ver- terversammlung und die Verwaltungsräte. Wofür die je- säumnisse eingeräumt. Das Ministerium prüft intensiv weiligen Körperschaften Geld ausgeben dürfen bzw. die und nachhaltig. Die Prüfung ist noch nicht abgeschlos- Aufgaben, die sie mit den ihnen zur Verfügung stehen- sen. Aber bislang ist von der Rechtsaufsicht noch kein den Mitteln zu erfüllen haben, sind gesetzlich festgelegt. Grund für die endgültige Versagung der fehlenden Ge- Ein Vorstand, der bewusst dagegen verstößt, riskiert nehmigungen gesehen worden. nicht nur strafrechtliche Konsequenzen, sondern muss Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, ich persönlich für diesen Schaden haften. bin versucht, zu Ihrem Antrag Ja zu sagen. Was die Frage betrifft, wie die Kassen geprüft werden: (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- Das Bundesversicherungsamt und die Landesversiche- SES 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Harald rungsämter prüfen zusätzlich für die Kassen mindestens Weinberg [DIE LINKE]) alle fünf Jahre Geschäfts-, Rechnungs- und Betriebsfüh- rung. Das BMG prüft mindestens alle fünf Jahre beim Ich bin versucht; GKV-Spitzenverband und bei der KBV. Der Bundes- (Dr. Harald Terpe [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- rechnungshof ist beteiligt. Ich meine, wir haben ausrei- NEN]: Ich weiß! Ich führe dich immer wieder chend Sicherungssysteme eingebaut. Falls der Vorstand in Versuchung!) wirklich versuchen sollte, diese Regeln zu umgehen, 3438 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014

Karin Maag (A) wird es jedenfalls nicht im Haushaltsplan widergespie- Dr. Martin Rosemann (SPD): (C) gelt. Liebe Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kol- legen! Zu dieser späten Stunde beraten wir abschließend Meines Erachtens sind die Regelungen detailliert. Die über den Entwurf eines Achten Gesetzes zur Änderung Rechtsaufsicht funktioniert. Dass sie funktioniert, be- des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch. Es geht um drei weist gerade der Fall der KBV. Die Rechtsaufsicht ist ih- unterschiedliche Aspekte personalrechtlicher Bestim- ren Aufsichtsbefugnissen umfassend und nachdrücklich mungen. Es geht um drei Regelungen, die für Klarheit nachgekommen, und die KBV hat entsprechende Konse- und Rechtssicherheit für die Arbeit der Jobcenter sorgen quenzen gezogen. Das Fehlermanagement wurde ver- sollen. Erstens geht es um die Zuständigkeit bei daten- bessert, eine Sonderprüfung veranlasst. Es gibt jetzt eine schutzrechtlichen Ordnungswidrigkeiten. Es gibt bisher Innenrevision. Ich kann aber zusagen: Wenn am Ende eine unklare sachliche Zuständigkeit für die Verfolgung die Prüfung zeigen sollte, dass noch Handlungsbedarf und Ahndung bei datenschutzrechtlichen Ordnungswid- besteht, werden wir entsprechende Änderungen voran- rigkeiten. Die Klarstellung, die durch das Gesetz der treiben. Bundesregierung hier vorgenommen werden soll, be- Ich will zusammenfassen. Dort, wo Probleme beste- steht darin, dass für kommunale Mitarbeiterinnen und hen, schaffen wir Abhilfe. Der Kollege hat an die Neure- Mitarbeiter in den gemeinsamen Einrichtungen die gelung der Vorstandsbezüge erinnert. Wir sollten unsere oberste Landesbehörde sowie für die Mitarbeiterinnen Energie aber vor allem darauf verwenden, die Versor- und Mitarbeiter der Bundesagentur für Arbeit das Minis- gung zu verbessern; das ist die wichtige Aufgabe. Noch terium für Arbeit und Soziales zuständig ist. mehr Verwaltungsvorschriften, die möglicherweise dazu Zweitens geht es um Erstattungsansprüche der Träger dienen, auch die Rechtsaufsicht zu kontrollieren, sind für der Grundsicherung gegenüber der Rentenversicherung. uns jedenfalls keine Option. Das Problem, das sich dahinter verbirgt, ist, dass insbe- Danke schön. sondere nach einem Urteil des Bundessozialgerichts vom 31. Oktober 2012 Unsicherheit über die Entstehung (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- von Erstattungsansprüchen der Jobcenter besteht. Es neten der SPD) geht um den Fall, dass ein Jobcenter, also der Träger der Grundsicherung, in Vorleistung durch Leistungen des SGB II getreten ist und es dann rückwirkende Leistun- Vizepräsidentin Ulla Schmidt: gen durch den Rententräger – konkret: Erwerbsminde- Vielen Dank. – Das war die letzte Rednerin in dieser rungsrenten – gibt. Hier wird durch das Gesetz klarge- Debatte. Ich schließe die Aussprache. stellt, dass es in Zukunft einen Rückerstattungsanspruch (B) Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf der Träger der Grundsicherung, also der Jobcenter, ge- (D) Drucksache 18/1462 an die in der Tagesordnung aufge- genüber den Trägern der Rentenversicherung gibt. führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- Drittens geht es – das ist wohl der politisch bedeu- verstanden? – Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist die tendste Punkt – um die Verstetigung der Zuweisung von Überweisung so beschlossen. Tätigkeiten und damit von Personal bei den gemeinsa- men Einrichtungen. Hintergrund ist, dass die Regelun- Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 auf: gen zur gesetzlichen Erstzuweisung von Tätigkeiten in – Zweite und dritte Beratung des von der Bundes- die gemeinsamen Einrichtungen bis Ende 2015 befristet regierung eingebrachten Entwurfs eines Achten sind und dass daher dringend eine neue Rechtsgrundlage Gesetzes zur Änderung des Zweiten Buches geschaffen werden muss. Die Lösung, die uns mit dem Sozialgesetzbuch – Ergänzung personalrecht- Gesetzentwurf der Bundesregierung vorliegt, ist, eine licher Bestimmungen unbefristete Rechtsgrundlage für die Zuweisung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in die Jobcenter zu Drucksachen 18/1311, 18/1586 schaffen, und zwar für bereits in den Jobcentern tätige Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in Zukunft ohne Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- Zustimmung des Geschäftsführers oder der Geschäfts- schusses für Arbeit und Soziales (11. Ausschuss) führerin und für neue Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter Drucksache 18/1651 weiterhin mit Zustimmung des Geschäftsführers oder der Geschäftsführerin der jeweiligen Grundsicherungs- – Bericht des Haushaltsausschusses (8. Ausschuss) stelle. Bei dringendem dienstlichen Interesse ist in Zu- gemäß § 96 der Geschäftsordnung kunft auch eine Zuweisung ohne die Zustimmung des Betroffenen möglich – allerdings, und das betone ich: Drucksache 18/1652 nur bei dringendem dienstlichen Interesse. Damit wer- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für den die Hürden sehr hoch gelegt. Die Möglichkeit der die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei- Rückkehr der Beschäftigten in die Kommune oder die nen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Bundesagentur für Arbeit bleibt durch die gesetzliche Neuordnung unberührt. Erster Redner in der Debatte ist der Kollege Dr. Martin Rosemann, SPD-Fraktion. Mit diesen Lösungen sorgen wir für eine Verstetigung des Personals in den Jobcentern. Wir schaffen damit (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) mehr Sicherheit für die Mitarbeiterinnen und Mitarbei- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014 3439

Dr. Martin Rosemann (A) ter, Planungssicherheit für ihre berufliche Zukunft, aber letztlich die beste Voraussetzung dafür sind, um Lang- (C) auch in privater Hinsicht. Wir schaffen weiterhin Sicher- zeitarbeitslosen in Deutschland wieder eine bessere Per- heit für die Jobcenter selbst hinsichtlich ihrer Personal- spektive zu geben. entwicklung, und wir sorgen damit auch dafür, dass der Wir legen dafür heute die Grundlagen, und ich Betreuungsprozess der Kundinnen und Kunden in den begrüße ausdrücklich, dass das Bundesministerium für Jobcentern kontinuierlicher erfolgen kann. Arbeit und Soziales auch mit einem eigenen Gutachten (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten die Personalsituation in den Jobcentern, insbesondere im der CDU/CSU) Leistungsbereich, genauer unter die Lupe nimmt. Ich denke, wir müssen gemeinsam die Voraussetzungen wei- Das ist besonders wichtig, weil der Erfolg des Betreu- ter dafür schaffen, in die Qualität der Betreuung und in ungsprozesses gerade von der Beziehung des Betreuers die Qualität des Personals in den Jobcentern zu investie- zum Kunden abhängt. Darüber hinaus ist es so, dass wir ren. durch die dauerhafte Zuweisung erst die Grundlage da- für legen, dass vernünftige Personalentwicklung und Herzlichen Dank. Personalqualifizierung in den Jobcentern betrieben wer- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) den kann. Das ist eine zentrale Voraussetzung für einen guten Betreuungs- und Beratungsprozess. Vizepräsidentin Ulla Schmidt: (Beifall bei der SPD) Vielen Dank. – Für die Fraktion Die Linke erhält jetzt Warum ist das so wichtig? Es handelt sich bei der Ar- die Kollegin Sabine Zimmermann das Wort. beit, die die Menschen in den Jobcentern verrichten, um (Beifall bei der LINKEN) eine Dienstleistung von Menschen an Menschen. Es handelt sich um eine Dienstleistung gegenüber Kundin- Sabine Zimmermann (Zwickau) (DIE LINKE): nen und Kunden mit häufig sehr komplexen Problem- lagen und Vermittlungshemmnissen. Das stellt sehr hohe Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Anforderungen an die Leute, die in den Jobcentern ar- Kollegen! Heute geht es wieder einmal um die Arbeits- beiten, an ihre soziale Kompetenz, die sehr hoch sein fähigkeit der Jobcenter. Ich muss Ihnen sagen: Uns allen muss, an ihre Empathie, Gesprächsführung und ihre muss es doch eigentlich darum gehen, dass wir gute, Konfliktfähigkeit. qualifizierte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter haben, die gute Arbeitsbedingungen haben und dadurch natürlich Es setzt voraus, dass die Leute, die in den Jobcentern eine optimale Vermittlung vornehmen können. arbeiten, auch komplexe Problemlagen erkennen. Es (Beifall bei der LINKEN) (B) setzt voraus, dass sie gemeinsam mit den Kunden Pro- (D) blemlösungsstrategien entwickeln und mit den Kunden Im Jahr 2010 hat das Bundesverfassungsgericht die Problemlösung dann auch angehen. Es setzt voraus, erklärt, dass die Mischverwaltung von Bundesagentur dass man erkennt, wenn eine Problemlösungsstrategie für Arbeit und Kommunen, damals „Argen“ genannt, eben nicht zum Ziel führt, und dass man dann in der unzulässig ist. Kurzerhand haben Sie daraufhin das Lage ist, diese zu ändern. Es setzt voraus, dass man Grundgesetz geändert und die Verwaltungspraxis dem weiß, welche Instrumente, welche Hilfe man einsetzen Hartz-IV-System angepasst. Jetzt heißen die zuständigen kann, um Menschen wieder Perspektiven auf dem Ar- Einrichtungen Jobcenter. beitsmarkt zu vermitteln. Es setzt eine gute Kenntnis der Arbeitsmarktlage und die Kenntnis vieler unterschiedli- Nun muss die Bundesregierung wieder gesetzgebe- cher Berufe voraus. risch handeln, da die Zuweisung von Personal an die Jobcenter für fünf Jahre bis Ende 2015 befristet war und Das ist in meinen Augen eine Qualifikationsanforde- somit deren Arbeitsfähigkeit nicht gewährleistet wäre. rung, die sehr komplex ist, was häufig der Öffentlichkeit Die nun geplante dauerhafte Rechtsgrundlage für Zuwei- und auch vielen hier im politischen Raum nicht so klar sungen schafft natürlich schon eine Planungssicherheit, ist. auch für die Beschäftigten in den Jobcentern. Doch an der grundsätzlich völlig verfehlten Hartz-IV-Konstruk- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten tion ändert das natürlich überhaupt nichts, und das ist der CDU/CSU und des Abg. Matthias W. das Problem. Birkwald [DIE LINKE]) (Beifall bei der LINKEN) Das macht deutlich, dass es gerade auf einen guten und auf einen stabilen Personalkörper in den Jobcentern an- Betroffene und Beschäftigte befinden sich in der kommt. Hartz-IV-Verwaltung von Beginn an in einem dauerhaf- ten Umstellungsprozess. Die Beschäftigten arbeiten dort Wir schaffen mit dem heutigen Gesetzentwurf wich- über ihre Belastungsgrenze hinaus. Strukturelle Defizite tige Grundlagen, um an der Ausgestaltung und Qualität in der Betreuung, zum Beispiel von Menschen mit dieses Personalkörpers weiterzuarbeiten. Wir wissen Behinderung, sind nach wie vor ungelöst. Eine hohe auch, dass das nur die ersten Grundlagen sind, dass wir Anzahl von oft erfolgreichen Klagen vor den Sozial- als politisch Verantwortliche in Regierung und Parla- gerichten ist ein treuer Begleiter des Hartz-IV-Systems. ment aufgerufen sind, daran weiter zu arbeiten. Ich glaube, dass gute Betreuungsschlüssel und eine gute Sie wissen doch alle selbst, wie viele Tausende Qualität der Betreuung durch qualifiziertes Personal Klagen vor den Gerichten Jahr für Jahr notwendig sind. 3440 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014

Sabine Zimmermann (Zwickau) (A) Nehmen Sie doch einfach einmal zur Kenntnis: Die Jutta Eckenbach (CDU/CSU): (C) Beschäftigten in einem Jobcenter leiden von Beginn an Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ideolo- unter einer zu geringen Personalausstattung. Das geht gische Vorgaben werden wir hier heute nicht ändern. Die natürlich auch zulasten der Betroffenen, für die nicht ge- Linke ist an dieser Stelle in der Tat ideologisch behaftet. nügend Zeit bleibt, um wirklich helfen zu können. Die Sie wettert immer wieder gegen die Hartz-IV-Reform, Unterfinanzierung der Jobcenter erkennt man auch da- obwohl sich gezeigt hat, dass Deutschland gerade mit ran, dass alljährlich die Gelder zwischen den Bereichen diesem Instrument Arbeitsmarktmaßnahmen und Verwaltungskosten hin- und herjongliert werden. Das Spiel „linke Tasche, rechte (Sabine Zimmermann [Zwickau] [DIE Tasche“ geht eindeutig zulasten der erwerbslosen Men- LINKE]: Prekäre Beschäftigung in Massen schen. Die Linke sagt ganz klar: Das ist aus unserer bekommen hat!) Sicht im höchsten Maße verantwortungslos. seine Wirtschaftskraft aufrechterhalten konnte, während (Beifall bei der LINKEN) es praktisch allen anderen europäischen Ländern schlechter geht. Das dürfte eigentlich auch bei Ihnen an- Stellen Sie sich einfach einmal vor, Sie sind in einem gekommen sein. Jobcenter angestellt und selbst prekär beschäftigt. Dann (Beifall bei der CDU/CSU) erklären Sie mir einmal, wie die Mitarbeiter voll moti- viert auf die Probleme von Erwerbslosen eingehen sol- Wir haben heute Morgen im Plenum die erste Lesung len. Mit prekärer Beschäftigung erreichen Sie einfach des Mindestlohngesetzes gehabt. Auch dort gab es Ein- nicht das, was wir in den Jobcentern erreichen wollen. sprüche. Auch dort war etwas, was von Ihnen kam, nicht in Ordnung. Ich gestehe Ihnen ja ein bisschen Opposi- Seit 2005 teilen Sie die Menschen in Menschen erster tion zu, und zweiter Klasse ein, in diejenigen, die Arbeitslosen- geld I bekommen, und in diejenigen, die Hartz-IV-Emp- (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- fänger sind – obwohl sie alle das gleiche Schicksal ver- NEN]: Das ist aber großzügig! – Dr. Wolfgang bindet, nämlich Arbeitslosigkeit. Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Wir dürfen auch kritisieren?) Wir kritisieren im vorliegenden Gesetzentwurf, dass das Personal die Möglichkeit haben soll, einzuschrän- aber es ist so, dass an dieser Stelle auch einmal etwas po- ken. Eine Zuweisung ohne Einverständnis des Beschäf- sitiv gesehen werden kann. Ich glaube, das sollte ein tigten ist alles andere als eine verantwortungsbewusste bisschen mehr Anerkennung insgesamt bekommen. und motivierende Personalpolitik. Natürlich ist aus unse- (B) (Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜND- (D) rer Sicht die unterschiedliche Bezahlung für gleiche NIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich habe die Bundes- Arbeit – die Tarifverträge für die Beschäftigten der BA regierung heute schon gelobt!) und für die Beschäftigten der Kommunen sind nicht die- selben – ungerecht. Hier muss einfach eine einheitliche Wir haben heute schon viel zu dem Thema gehört. Ich Bezahlung geschaffen werden. kann natürlich vieles davon wiederholen. In Anbetracht der langen Sitzung heute werde ich auf das eine oder an- (Beifall bei der LINKEN) dere verzichten. Meine Damen und Herren der Großen Koalition, Es sind mir aber ein paar Dinge ganz wichtig. Es geht wenn Sie etwas für die erwerbslosen Menschen und für in der Tat darum – Dr. Rosemann hat das vorhin schon die Beschäftigten in den Jobcentern tun wollen, hören angesprochen –, dass wir jetzt eines schaffen, nämlich Sie endlich auf, an dieser Fehlkonstruktion notdürftig den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in den Jobcentern herumzudoktern. Schaffen Sie klare Strukturen, über- wirklich Planungssicherheit geben, die sie bisher nicht winden Sie das System, und organisieren Sie Hilfe aus hatten. Wir ermöglichen eine Personalplanung, indem einer Hand. wir befristet beschäftigte Mitarbeiter in unbefristete Ar- beitsverhältnisse überführen. Das hat viele positive Sei- (Beifall bei der LINKEN) ten, die man hier ansprechen und auch begrüßen muss. Statten Sie die Jobcenter ausreichend mit finanziellen Eine Planung nur über fünf Jahre – das weiß jeder – Ressourcen aus, sodass die Beschäftigten dort vernünftig kann keine vernünftige langfristige Personalplanung arbeiten können und die Betroffenen wirklich unterstützt sein. Insofern ist es ein richtiger Schritt, den wir heute und eben nicht nur verwaltet werden. hier beschließen werden. Danke schön. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der SPD) (Beifall bei der LINKEN) Damit einhergehend können wir auch mehr für die Mitarbeiter tun. Wir können sie stärker qualifizieren, Vizepräsidentin Ulla Schmidt: besser ausbilden. Wir können die Potenziale nutzen, die Vielen Dank. – Jutta Eckenbach ist die nächste Red- alle Mitarbeiter mitbringen, die in den Jobcentern ange- nerin für die CDU/CSU-Fraktion. siedelt sind. Wir können Sorge dafür tragen, dass sie durch Fortbildung und Qualifikation auch in höherwer- (Beifall bei der CDU/CSU) tige Beschäftigungsverhältnisse kommen können. Es ist Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014 3441

Jutta Eckenbach (A) wichtig, dass Aufstiegschancen für die Zukunft gewahrt handeln im Rahmen ihrer jetzigen Möglichkeiten im In- (C) bleiben, auch wenn man im Jobcenter ist. teresse der Kunden, also der Arbeitslosen und der Leis- tungsempfänger. Dabei wissen wir alle, wie die Wirklichkeit in den Jobcentern nun einmal ist: Wer einmal dort ist, hat es na- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) türlich sehr schwer, wieder herauszukommen. Aber die unbefristeten Arbeitsverhältnisse können auch dazu füh- Wir wollen diesen Weg weitergehen. Wir wollen die ren, dass das kommunal besser ausgestattet wird. Das rechtliche Situation weiter verbessern und bleiben nicht muss eine Zielrichtung sein. bei dem Gesetz stehen, das wir heute verabschieden. Wir werden in dieser Legislaturperiode eine weitere Runde Es gibt noch einen Punkt, den ich ansprechen will und beginnen. der ganz wichtig ist. Natürlich ist es nicht schön, dass in den Jobcentern einmal durch den Bund bezahlte Beamte Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. und zum anderen durch die Kommune besoldete Mitar- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) beiterinnen und Mitarbeiter sind, dass sozusagen die Ta- rifeinheit dort nicht gegeben ist. Aber das muss vor Ort Vizepräsidentin Ulla Schmidt: geregelt werden. Gesetzliche Regelungen in die Kom- Letzte Rednerin ist Brigitte Pothmer, Bündnis 90/Die munen hinein werden wir vom Bund aus nicht schaffen Grünen. können; das wissen wir. Aber dafür, dass das Ungleich- gewicht beseitigt werden kann, werden wir alle Sorge tragen. Dafür haben wir auch schon etwas getan. Wir ha- Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): ben gerade 6 Milliarden Euro zur Entlastung der Kom- Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Frau munen gegeben. Ich glaube, dass wir damit Spielraum Eckenbach, Frau Zimmermann hat zwar das Hartz-IV- schaffen können. Wenn die Haushalte ausgeglichen wer- System kritisiert, sie hat aber nicht gesagt, Hartz IV den, haben auch die Kommunen mehr Spielraum, um ein müsse weg. Das ist schon einmal ein Fortschritt, den Sie, Missverhältnis an dieser Stelle zu beseitigen. Frau Eckenbach, hätten würdigen können. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- SES 90/DIE GRÜNEN, der SPD und der LIN- Wir haben auch noch darauf hinzuweisen – das ist im KEN – Jutta Eckenbach [CDU/CSU]: Ja, gut!) Gesetzgebungsverfahren ganz wichtig –, dass es nicht nur darum geht, Mitarbeiter unbefristet zu beschäftigen. Herr Rosemann, Sie haben vollkommen recht: Ein Wir haben auch an einer anderen Stelle Handlungsbedarf kompetentes Fallmanagement ist tatsächlich die Grund- gesehen. In der Frage der Ausgestaltung von Regelun- voraussetzung für Integration. Dafür brauchen wir quali- (B) (D) gen zu Ordnungswidrigkeiten schaffen wir jetzt auch fiziertes Personal. Dieses qualifizierte Personal muss Rechtssicherheit. Wir schaffen Rechtssicherheit ferner in aber die Freiheit haben, auf individuelle Problemlagen einem dritten Bereich – auch das werden wir heute mit mit individuellen Lösungen zu reagieren. verabschieden –, indem wir Überzahlungen und Doppel- (Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Das hat zahlungen ausgleichen werden. Das führt ebenfalls zur Herr Rosemann gesagt!) Entlastung bei den Kommunen und im Bundeshaushalt. – Wenn Herr Rosemann das gesagt hat, dann gebe ich Insofern sind wir auf dem richtigen Wege. Wir wer- ihm einfach mal recht. den uns aber nicht auf diesem Gesetz – das ist die erste Gesetzgebungsmaßnahme dieser Art – ausruhen, son- (Heiterkeit und Beifall beim BÜNDNIS 90/ dern es wird weitergehen. Die Bund-Länder-Kommis- DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Ab- sion wird sich noch mit organisatorischen Fragen und geordneten der CDU/CSU) mit der Ausgestaltung im Bereich der Jobcenter beschäf- Wir wissen auch, dass mit dieser gesetzlichen Rege- tigen. Wir haben in der letzten Ausschusssitzung gehört, lung die Fluktuation und die Zahl der Befristungen bei dass der Zeitplan schon festgelegt worden ist. weitem noch nicht auf dem Stand sind, den wir erreichen Wir sind schon sehr gespannt auf die Ergebnisse des müssen. Noch immer sind die Jobcenter extrem unterfi- Gutachtens, das vom Bundesministerium dankenswer- nanziert. Das gilt sowohl für das Personal als auch für terweise in Auftrag gegeben worden ist. Wir werden da- den Verwaltungsbereich insgesamt und vor allen Dingen raus Erkenntnisse ziehen können und auch müssen, da- für die Eingliederungsmittel. mit wir da weiter an den richtigen Schrauben drehen Noch immer fehlt es den Jobcentern an flexiblen In- können. An der ersten richtigen Schraube haben wir be- strumenten, insbesondere für die immer schwieriger reits gedreht. werdende Gruppe von Menschen, die bereits Kunden bei Insgesamt gesehen ist es wichtig, dass wir heute ein den Jobcentern sind. Auch da haben wir einen extrem gutes Signal an die Mitarbeiter der gemeinsamen Ein- großen Handlungsbedarf. richtungen und der Jobcenter der Optionskommunen Noch immer belohnen die Jobcenter durch das vor- aussenden, die ich an dieser Stelle einbeziehe. Beide ha- handene Steuerungssystem eher statistische Effekte, be- ben sich grundsätzlich bewährt. Letztere sind von dieser lohnen die Bestenauslese, belohnen aber nicht die nach- Gesetzgebung aber nicht betroffen. Ich will auch noch haltige Integration der schwierigsten Personen. einmal deutlich machen, dass wir in den Jobcentern ins- gesamt hervorragendes Personal haben. Die Mitarbeiter (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) 3442 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014

Brigitte Pothmer (A) Angesichts dieser Problemlagen begrüßen wir jeden warten darauf. Vor allem die Arbeitslosen warten darauf. (C) Schritt, der in die richtige Richtung geht und der zu Ver- Der Ball liegt in Ihrem Spielfeld. besserungen führt. Ich danke Ihnen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Herr Rosemann, Sie haben gesagt, dass dieses Gesetz die Grundlagen für Verbesserungen legen würde. Ich Vizepräsidentin Ulla Schmidt: finde, da blasen Sie die Backen ein bisschen zu sehr auf. Vielen Dank. – Ich schließe die Aussprache. Das heutige Gesetz ist zwar ein kleiner Schritt in die richtige Richtung; deswegen werden wir ihm auch zu- Ich komme damit zur Abstimmung über den von der stimmen. Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch – (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Ergänzung personalrechtlicher Bestimmungen. Der Aus- der SPD) schuss für Arbeit und Soziales empfiehlt in seiner Be- Aber eine Grundlage ist das wirklich nicht. Ich sehe an schlussempfehlung auf Drucksache 18/1651, den Ge- einigen Punkten extremen Handlungsbedarf. setzentwurf der Bundesregierung auf den Drucksachen 18/1311 und 18/1586 anzunehmen. Ich Erstens. Es wurde die Bürokratisierung angespro- bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wol- chen. Ich finde, es wäre ein richtiger Fortschritt, wenn len, um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Wer sich die Bund-Länder-Arbeitsgruppe tatsächlich dazu enthält sich? – Damit ist der Gesetzentwurf mit den durchringen könnte, den Bewilligungszeitraum für Be- Stimmen der Koalition, des Bündnisses 90/Die Grünen scheide auf ein Jahr zu verlängern. Das wäre gut für die bei Enthaltung der Fraktion Die Linke in zweiter Bera- Verwaltung. Das wäre gut für das Personal. Aber es wäre tung angenommen. vor allen Dingen auch gut für die Arbeitslosen. Wir kommen zur (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) dritten Beratung Aber auf keinen Fall darf es unter dem Deckmantel der und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Entbürokratisierung zu Verschärfungen im System kom- Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – men. Darauf werden wir achten. Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Damit ist der (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Gesetzentwurf in dritter Beratung mit dem gleichen Stimmenverhältnis angenommen. (B) Zweitens. Die Zahl der Befristungen muss deutlich (D) zurückgefahren werden. Insbesondere vor dem Hinter- Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 auf: grund der schwierigen Gruppen, die jetzt in den Jobcen- Beratung des Antrags der Abgeordneten Frank tern betreut werden, brauchen wir einen besseren Be- Tempel, Jan Korte, Matthias W. Birkwald, weite- treuungsschlüssel. rer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) sowie der Abgeordneten Dr. Harald Terpe, Maria Klein-Schmeink, Elisabeth Scharfenberg, weite- Es ist inzwischen nachgewiesen, dass ein besserer Be- rer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- treuungsschlüssel tatsächlich zu einer nachhaltigen Inte- NIS 90/DIE GRÜNEN gration von Arbeitslosen führt. Mit anderen Worten: Mehr und besseres Personal in den Jobcentern zahlt sich Beabsichtigte und unbeabsichtigte Auswir- aus. kungen des Betäubungsmittelrechts überprü- fen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Drucksache 18/1613 Zuruf von der SPD: Hat Herr Rosemann ge- sagt!) Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit (f) Drittens. Wer über die Personalausstattung redet, darf Innenausschuss Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz über die Finanzen nicht schweigen. Da sind die 350 Mil- Finanzausschuss lionen Euro wirklich ein Witz, Herr Rosemann. Ausschuss für Wirtschaft und Energie Ausschuss für Arbeit und Soziales (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Damit können die Jobcenter noch nicht einmal die Per- Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und sonalkostensteigerung der letzten Jahre auffangen. Für Entwicklung Eingliederungsmittel bleibt nichts übrig. Diese schlichte Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für Formel – ich komme zum Schluss, ich verspreche es –: die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei- weniger Arbeitslose ist gleich weniger Geld, geht nicht nen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. auf. Ich eröffne die Aussprache. Erster Redner in der De- Das sind eine Menge Baustellen, an denen wir drin- batte ist der Kollege Frank Tempel, Fraktion Die Linke. gend arbeiten müssen. Es muss dringend etwas passie- ren. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Jobcenter (Beifall bei der LINKEN) Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014 3443

(A) Frank Tempel (DIE LINKE): Kann ein Verbot wirklich Angebot und Nachfrage re- (C) Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen duzieren? und Herren! Rund die Hälfte aller Strafrechtsprofessoren (Zuruf von der LINKEN: Nein!) unseres Landes fordert in einer Resolution an den Bun- destag eine Evaluierung des Drogenstrafrechts. Also Welche Nebenwirkungen hat das Verbot, und welches dürfte es im Sinne von uns allen sein, wenn Linke und Ausmaß haben diese Nebenwirkungen? Mit Nebenwir- Grüne nun einen entsprechenden Antrag hier vorlegen. kungen meine ich einen Schwarzmarkt, wo Milliarden in die Kriminalität fließen, ein Markt übrigens, auf dem es (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- keinen Verbraucherschutz und keinen Jugendschutz gibt. NIS 90/DIE GRÜNEN) Glauben Sie mir: Einen Dealer auf dem Schwarzmarkt Während die Positionen in der Politik wie in Beton interessiert nicht, ob der Kunde 14, 20 oder 40 Jahre alt gegossen wirken, ist in der Öffentlichkeit längst eine of- ist. Er gibt auch keine Auskunft darüber, welche Sub- fene und sehr sachliche Debatte in Gange. Verbände und stanz er in welcher Konzentration und mit welchen Organisationen wie die Deutsche Hauptstelle für Sucht- Streckmitteln abgibt. Er ist auch nicht verpflichtet, Prä- fragen, die Deutsche Aids-Hilfe oder der Schildower ventionsprogramme zu unterstützen. Dieser Schwarz- Kreis halten diese Verbotspraxis schon längst für über- markt macht so gefährliche Drogen noch gefährlicher, holt und stehen ihr kritisch gegenüber. International unberechenbarer und vor allen Dingen auch erreichbarer hört man Namen wie Javier Solana, Kofi Annan oder für die Jugend, als sie jetzt schon sind. Auch mit diesen Ban Ki-moon, die den Krieg gegen die Drogenkartelle Nebenwirkungen des Verbots müssen wir uns offen aus- als nicht gewinnbar einordnen und von einer grundle- einandersetzen; denn sie verursachen zusätzlich Krank- genden Umkehr in der Drogenprohibition sprechen. heit, Tod und Sucht. Der neue „Europäische Drogenbericht“ weist übri- Aus dem Ergebnis dieser „Ermittlungen“ habe ich gens aus, dass in Europa bereits 73 Millionen Erwach- Forderungen entwickelt, aber diese Forderungen sind sene Cannabis konsumiert haben. Hier hört sich das oft explizit nicht in dem heute vorliegenden Antrag enthal- so an, als würden wir diese Droge erst bekommen, wenn ten. Was wir anbieten, ist ein wirklich offenes Herange- sie legalisiert wird. Diese Millionen sind übrigens nicht hen an ein sehr strittiges Thema. Bei manchen Anträgen alles Holländer; sagen Sie – das höre ich von der SPD immer wieder –: Das ist ja ganz richtig, aber der Antrag ist schlecht ge- (Heiterkeit bei Abgeordneten der LINKEN und des schrieben, schlecht gemacht, und deshalb können wir lei- BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) der nicht zustimmen. Diese Antwort kennen wir schon. denn dort ist ganz ohne Kriminalisierung der Pro-Kopf- Deswegen sage ich ausdrücklich: Wir sind zur Zusam- (B) Anteil an Cannabiskonsumenten in der Bevölkerung menarbeit bei der Weiterentwicklung dieses Antrages (D) nicht höher als in Deutschland. hin zu anderen Fragekomplexen jederzeit bereit; denn es soll ein gemeinsames Herangehen an ein strittiges Vor viereinhalb Jahren wechselte ich vom Kriminal- Thema werden. dauerdienst in Gera in den Bundestag und begann, mir das Thema Drogenpolitik völlig ergebnisoffen neu zu er- (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- schließen. Ich habe sozusagen die Ermittlungen aufge- NIS 90/DIE GRÜNEN) nommen – gründlich, offen und in alle Richtungen –, so Öffnen Sie sich einem solchen Prozess! Arbeiten Sie wie ich es gelernt habe. mit uns gemeinsam! Denn die Resolution der Straf- Der Drogenkonsument – das ist eine Besonderheit – rechtsprofessoren war an uns alle gerichtet. wird aufgrund einer potenziellen Selbstgefährdung mit (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- Strafe bedroht. Er hat bei Besitz und Erwerb von Drogen NIS 90/DIE GRÜNEN) niemand Fremdes geschädigt. Wir wissen: Wenn der Staat in die Grundrechte seiner Bürger eingreift, muss Vizepräsidentin Ulla Schmidt: das – und das macht er hier sehr drastisch mit einem Ver- bot, dem sogar eine Haftstrafe folgen kann – verhältnis- Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist Emmi Zeulner, mäßig sein; das heißt: geeignet, erforderlich und ange- CDU/CSU-Fraktion. messen. (Beifall bei der CDU/CSU) Die polizeiliche Sicht kannte ich bereits; denn ich selbst war einige Jahre in der Rauschgiftbekämpfung tä- Emmi Zeulner (CDU/CSU): tig. Mein Weg als Bundestagsabgeordneter führte mich Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und also zu Streetworkern, Suchtkliniken und Präventions- Kollegen! Prinzipiell arbeite ich sehr gerne mit Polizis- einrichtungen. In vielen Gesprächen traf ich Rechtswis- ten zusammen; denn die sind in der Regel sehr nett. senschaftler, Sozialwissenschaftler und Gesundheitswis- (Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU senschaftler ebenso wie Praktiker aus der Suchthilfe. Ich und der SPD – Zuruf von der CDU/CSU: Aus- nahm auch die internationale Drogenpolitik genauer un- nahmen bestätigen die Regel!) ter die Lupe, schaute auf Länder wie die Niederlande, Spanien, Portugal oder die Schweiz genauso wie auf – Ja, so ist es. – Der gemeinsame Antrag der Fraktionen Mexiko, Brasilien, Kolumbien, Afghanistan und, natür- Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen aber, der vorder- lich nicht zu vergessen, die USA. gründig lediglich auf die Überprüfung des Betäubungs- 3444 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014

Emmi Zeulner (A) mittelrechts abzielt, kommt für mich wie ein Wolf im Sie folgt einem ganzheitlichen Ansatz und ist von Konti- (C) Schafspelz daher. nuität geprägt. Die Gesundheit der Menschen steht dabei an oberster Stelle. So fordern Sie eine ergebnisoffene Debatte über die Entkriminalisierung von Drogen und meinen, dass die Unsere Drogenbeauftragte Marlene Mortler steht wie Wurzel allen Übels in der Verbotspolitik und nicht im ich für eine ausgewogene Drogenpolitik mit den bewähr- Konsum selbst liegt. ten vier Säulen: Prävention, Beratung und Behandlung, Hilfe zum Ausstieg als Mittel zur Schadensminimierung (Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- und Bekämpfung der Drogenkriminalität. NEN]: Einfach mal lesen, die Resolution!) (Beifall bei der CDU/CSU – Maria Klein- Sie stellen den möglichen gesellschaftlichen und ge- Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: sundheitlichen Abstieg eines Drogenabhängigen in Alles gescheitert!) kausalen Zusammenhang mit dem Sanktionssystem des Betäubungsmittelrechts und verharmlosen dabei das Die Zahlen geben uns recht. Der Konsum illegaler Dro- eigentliche Übel: die Suchtkrankheit. gen und die damit verbundenen gesundheitlichen Risi- ken sind in den letzten Jahren insgesamt rückläufig, was Was Sie im Grunde fordern – da brauche ich Ihre vor allem diesem in sich schlüssigen Konzept geschuldet Wahl- und Parteiprogramme nur aufzuschlagen –, ist ist. Das Konzept sollte nicht gefährdet werden, indem langfristig die Legalisierung von Drogen. einzelne Elemente herausgebrochen werden. (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) Die für mich wichtigste Säule ist die Prävention, wie So fordern die Grünen im ersten Schritt die Entkrimina- sie zum Beispiel die Aufklärungskampagnen der Bun- lisierung aller Drogen, die aber bei Drogen wie Cannabis deszentrale für gesundheitliche Aufklärung und der ent- fließend in die Legalisierung übergehen soll. Die Linke sprechenden Landeszentralen, die Suchtverbände und geht sogar noch weiter und fordert in ihrem Parteipro- auch die Polizei seit vielen Jahren wirkungsvoll und en- gramm – ich zitiere wörtlich –: „langfristig eine Legali- gagiert betreiben. Diese Aufklärung setzt bereits bei den sierung aller Drogen“. jüngeren Mitgliedern unserer Gesellschaft an. Damit entmündigen wir die Jugendlichen nicht etwa, sondern (Zurufe von der LINKEN: Ja!) schützen diese. Wir werden unserem im Grundgesetz festgelegten Auftrag des sozialen Rechtsstaates gerecht. Wobei es mir persönlich egal ist, in welcher Form der Wolf auftritt; denn die Entkriminalisierung bedeutet, Die allgemeine Handlungsfreiheit des Artikels 2 des vereinfacht gesagt, dass ich ein Verbot habe, die Hand- Grundgesetzes erkennen wir selbstverständlich an, je- (B) lung aber ohne sanktionsrechtliche Folgen bleibt. Wenn doch hat bereits das Bundesverfassungsgericht in seinem (D) der Gesetzgeber den Weg einer Legalisierung beschrei- wegweisenden Cannabis-Beschluss von 1994 festge- ten wollte, müsste er bereits vorher ansetzen und die legt, dass ein „Recht auf Rausch“ nicht besteht. Diesen Handlung als nicht verboten definieren. entscheidenden Tenor hat das Gericht wiederholt in aller Deutlichkeit bestätigt. Eine Legalisierung würde die Prä- Vizepräsidentin Ulla Schmidt: ventionsbemühungen gegenüber potenziellen Erstkonsu- Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des menten nachhaltig schwächen und ist ein falsches Si- Kollegen Tempel? gnal. (Beifall bei der CDU/CSU) (Manfred Grund [CDU/CSU]: Er hat doch ge- rade gesprochen! – Weiterer Zuruf von der Sucht ist eine Krankheit mit einer meist langen Ent- CDU/CSU: Wenn es etwas Substanzielles ist!) wicklungsgeschichte. Die Sucht bildet hierbei meist den Endpunkt dieser Entwicklung. Deswegen ist Prävention Emmi Zeulner (CDU/CSU): so wichtig. Dazu, die Prävention weiter zu stärken und Er hat doch gerade gesprochen. – Ich bleibe dabei, die bereits bestehenden erfolgreichen Ansätze weiter was ich am Anfang gesagt habe: Schlussendlich bleibt auszubauen, wird uns in dieser Legislaturperiode auch der Wolf ein Wolf, und dem legalen Konsum von Dro- das Präventionsgesetz dienen. gen wird Tür und Tor geöffnet. Das Ziel der Antragspar- Auch im Rahmen der zweiten und dritten Säule sehe tei ist eine Abkehr von der aktuellen Drogenpolitik und ich keine gravierenden Lücken, die einer Überprüfung damit ein kompletter Systemwechsel. Die Notwendig- bedürften. Die primäre Zielsetzung der Drogenbekämp- keit einer solchen Abkehr erkenne ich nicht. Genau des- fung ist zwar, Sucht und Abhängigkeit zu verhindern, halb werden wir Ihren Antrag ablehnen. aber dennoch arbeiten wir stetig daran, den Hilfesuchen- Die Drogenpolitik der Bundesregierung hat sich be- den die optimale Unterstützung für eine Heilung und währt. Sie steht im Einklang mit den internationalen Ab- Wiedereingliederung zukommen zu lassen. Die Hilfe kommen der UNO und wurde über Jahrzehnte – meist zum Ausstieg – zum einen als Mittel zur Schadensmini- über Parteigrenzen hinweg – von den Parlamentariern mierung und zum anderen als Ausweg aus dem oftmals erfolgreich getragen. leider vorprogrammierten sozialen Abstieg – ist Teil un- serer politischen Agenda. Sozialer Abstieg beginnt nicht (Beifall bei der CDU/CSU – Zuruf des Abg. mit der Kriminalisierung, sondern ist oftmals eine Be- Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]) gleiterscheinung des Drogenkonsums selbst. Der regel- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014 3445

Emmi Zeulner (A) mäßige Konsum illegaler Substanzen verändert die Per- Eine grundlegende Schwäche Ihres Antrags besteht in (C) sönlichkeit, er schädigt die Gesundheit und treibt die einem weiteren Punkt. Liest man die Resolution des Menschen in die soziale Isolation. Schildower Kreises, auf die Sie sich beziehen, stellt man fest, dass keinerlei Differenzierung nach Härte oder Art (Beifall bei der CDU/CSU – Frank Tempel der Drogen vorgenommen wird. Wollen Sie ernsthaft [DIE LINKE]: Wie beim Alkohol, wo Sie sich eine Situation wie in Portugal? – In Portugal findet der sogar vor Werbeverboten drücken! – Matthias Konsum von Kokain, Ecstasy und Amphetaminen auf- W. Birkwald [DIE LINKE]: Wie beim Alko- grund der liberalen Drogenpolitik in aller Öffentlichkeit, hol!) zum Beispiel in Diskotheken, statt. Auch bei der vierten Säule, dem Sanktionsrecht im (Frank Tempel [DIE LINKE]: Bei uns auch! – Hinblick auf die Drogenkriminalität, kann ich keine gra- Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE vierenden Mängel erkennen. Ja, Ihre These, dass eine GRÜNEN]: Ich lade Sie mal ein!) förmliche Strafverfolgung zu einer Stigmatisierung ju- Möchten Sie junge Menschen abends in einem solchen gendlicher Straftäter führen kann, lässt sich nicht be- Umfeld wissen? streiten. Sie wissen genau, dass dies in allen Bereichen Bei aller Liebe zur Eigenverantwortlichkeit und Mün- der Kriminalität zu beobachten ist. Es ist jedoch keines- digkeit: Sie glauben doch nicht im Ernst, dass es einen wegs so, dass, wie in der Resolution des Schildower verantwortungsvollen Konsum von Crystal oder anderen Kreises suggeriert wird, bei jedem kleinen Verstoß sofort schweren Drogen geben kann. Eine Droge, die bereits eine dauerhafte Stigmatisierung stattfindet. Es fließen nach der ersten Einnahme zu einer Abhängigkeit führen selbstverständlich auch das Alter und die Reife mit in die kann, Sanktionsausgestaltung ein. Denn im Gegensatz zum Er- wachsenenstrafrecht liegt dem Jugendstrafrecht der Er- (Zuruf von der LINKEN: Das tun Zigaretten ziehungsgedanke zugrunde. Speziell für den Bereich des im Übrigen auch!) Betäubungsmittelrechts hat das Bundesverfassungsge- nimmt dem Konsumenten gerade die Eigenverantwort- richt in seinem Cannabis-Beschluss festgelegt, dass bei lichkeit. einem geringen individuellen Unrechts- und Schuldge- halt die Möglichkeit besteht, von der Strafverfolgung ab- Zentrales Argument gegen eine Liberalisierung bleibt zusehen. Gerade hierdurch wird einer unnötigen Stigma- für mich schlussendlich – da sind wir uns doch hoffent- tisierung heute schon entgegengewirkt, und der Staat lich alle einig –, dass bei einer Entkriminalisierung die Hemmschwelle, die Drogen tatsächlich auszuprobieren wird dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz gerecht. und einzunehmen, definitiv sinkt. Dafür kann ich in mei- (B) (Beifall bei der CDU/CSU) ner Funktion als Abgeordnete keine Verantwortung (D) übernehmen. Zielsetzung des Betäubungsmittelrechts ist nicht nur, (Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE Verhaltensweisen unter Strafe zu stellen, sondern es geht GRÜNEN]: Oh!) dem Gesetzgeber viel mehr um die Gestaltung des sozia- len Zusammenlebens. Der Schutz vor den sozialschädli- Sosehr ich die europäischen Freiheiten schätze, die chen Wirkungen des Umgangs mit Drogen steht im Mit- uns etwa das Schengener Abkommen mit der Aufhebung telpunkt der Überlegungen. der Zollgrenzen gewährt, so bewusst müssen wir uns da- rüber sein, dass wir die Auswirkungen der liberalen Wir dürfen uns natürlich nichts vormachen: Die Re- Drogenpolitik in manchen Anrainerstaaten zu spüren be- sultate der strafrechtlichen Bekämpfung des Drogenhan- kommen. Unsere Drogenpolitik steht vor der Herausfor- dels sind nicht durchweg ermutigend. Aber daraus dür- derung, hier geeignete Maßnahmen zu finden. Gerade fen wir doch nicht den Umkehrschluss ziehen, wie Sie es bei Crystal kämpfen wir derzeit gemeinsam mit unseren in Ihrem Antrag tun, dass die derzeitige Drogenpolitik tschechischen Kollegen dafür, dieses mittlerweile ge- und insbesondere die Strafverfolgung untauglich sind. samtgesellschaftliche Problem in den Griff zu bekom- men. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Sie wissen, wovon ich spreche; auch Sie bekommen Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Das sa- regelmäßig Briefe von besorgten Müttern und Vätern, gen 122 Strafrechtsprofessoren! – Frank Tempel die wollen, dass die Kinder vor dieser gravierenden [DIE LINKE]: Die sollen alle keine Ahnung Droge geschützt werden. haben?) (Frank Tempel [DIE LINKE]: Ja, genau!) Es ist und bleibt unser zentrales Anliegen, den Handel mit Betäubungsmitteln zu bekämpfen. Doch weder die – Sie sagen: „Ja, genau!“ – Was soll ich diesen Eltern Ih- rer Ansicht nach antworten? Dass das Experimentieren Entkriminalisierung noch die Legalisierung können ge- mit Drogen zum Erwachsenwerden nun mal dazugehört? eignete Mittel sein, um der Drogenkriminalität ihre wirt- Dass „ideologische Vorbehalte“, wie Sie es in Ihrem An- schaftliche Grundlage zu entziehen. Bitte vergessen Sie trag nennen, aufzubrechen sind? – Bei aller Liebe: Eine nicht: Auch beim Handel mit legalen Waren existiert ein solche Argumentation kann und darf nicht die Antwort Schwarzmarkt, und die Beteiligung der organisierten auf die Gefahren illegaler Drogen sein. Kriminalität ist nicht ausgeschlossen. Eine Schattenwirt- schaft, wie die Resolution sie beschreibt, entsteht doch (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- nicht allein aus der Verbotspolitik. neten der SPD) 3446 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014

(A) Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Emmi Zeulner (CDU/CSU): (C) Vielen Dank. – Das Wort zu einer Kurzintervention Die Zielrichtung Ihres Antrages ist schon eindeutig. hat jetzt der Kollege Tempel. Ich freue mich, dass wir jetzt bald zusammen einen Aus- flug unternehmen werden, dass Sie mich mitnehmen. Im Frank Tempel (DIE LINKE): Zusammenhang mit dem Präventionsgesetz werden wir Ich muss leider antworten, weil Sie offensichtlich ein im Ausschuss Gelegenheit haben, darüber zu diskutie- Problem damit hatten, meinem Vortrag vorhin zu folgen. ren. Auf diese Diskussion freue ich mich ganz beson- Es war sehr freundlich, dass Sie aus den Wahl- und Par- ders. teiprogrammen unserer Parteien zitiert haben. Wir haben (Beifall bei der CDU/CSU) aber extra gesagt: In unseren Antrag haben wir keine Forderungen übernommen. Wir wollen eine ergebnis- Vizepräsidentin Ulla Schmidt: offene Evaluierung. Vielen Dank. – Jetzt spricht der Kollege Harald Terpe, (Beifall bei der LINKEN) Bündnis 90/Die Grünen. Und wir wollen sie deswegen, weil das auch die Fach- gremien befürworten, in denen die verschiedenen Wis- Dr. Harald Terpe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): senschafts- und Praxisbereiche zusammentreffen, bei- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! spielsweise die Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen, Natürlich muss ich zu Anfang auf meine Kollegin die jedes Jahr eine dreitätige Fachtagung durchführt. In Zeulner reagieren. Ich glaube, dass es wichtig ist – ich den letzten drei Jahren habe ich weder einen Landes- versuche ja nur, Erfahrung weiterzugeben –, dass man noch einen Bundespolitiker der CDU dort angetroffen. sich auch in der Politik mit bestimmten Fragen ergebnis- Ich bin dort Stammgast. Ich höre den Fachleuten zu. offen auseinandersetzt. Ich habe in Ihrer Rede sehr viel Diese fordern den Dialog mit der Politik, um endlich vorgefasste Meinung gefunden. Ich kann jetzt nur noch eine Änderung herbeizuführen. einmal betonen, dass hier ein Antrag vorliegt, mit dem eine ergebnisoffene, ohne Vorbedingungen geführte Dis- Wenn Sie bei solchen Gelegenheiten dabei wären, kussion in Gang gesetzt werden soll. würden Sie auch Vorträge zur Drogenpolitik in Portugal hören, Wichtig ist auch, wie ich glaube, noch einmal zu sa- gen, dass Anlass für diesen Antrag war, dass über 120 (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) Strafrechtsprofessoren – das sind knapp 50 Prozent – wo nach einer Liberalisierung die Zahl der Drogentoten eine Evaluation gefordert haben. Was hier noch nicht ge- sagt worden ist, ist, dass sich nur 8 der 250 Professoren (B) gesunken und die Zahl der Konsumenten nicht angestie- (D) gen ist. Die Konsumenten müssen sich jetzt nicht mehr ausdrücklich dagegen ausgesprochen haben. Jedenfalls verstecken – man sieht sie jetzt; das stimmt –, aber die vor dem Hintergrund dieser wissenschaftlichen Exper- Zahl der Konsumenten ist nicht angestiegen. Gesunken tise ist eine Evaluation also überfällig. Viele wissen- ist hingegen die Zahl der Erstinfektionen mit Aids und schaftliche Fachgesellschaften setzen sich dafür ein. Im Hepatitis. Gesunken ist auch die Affinität von Konsu- Übrigen setzt sich auch der Bund der Kriminalisten menten, süchtig zu werden. Das besagt eine Studie über mehrheitlich dafür ein. Viele Verbände und viele Teile zehn Jahre liberalisierte Drogenpolitik in Portugal. Wenn der Gesellschaft unterstützen diese Forderung nach einer Sie dieses Arbeitsfeld hier im Bundestag bearbeiten wol- Evaluation. len, wäre es sehr nett, wenn Sie solche Studien auch ein- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN mal lesen würden. Dann müssten Sie hier nicht so ver- und bei der LINKEN) drehte Sachen erzählen. Wir sagen ja auch ausdrücklich, dass wir Parteipolitiker (Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/ an dieser Evaluation gar nicht teilnehmen wollen. Wa- DIE GRÜNEN) rum sollten wir das auch? Damit würden wir ja nur die Es gibt sehr viel Material. Gerade deswegen, weil die- Grabenkämpfe der Vergangenheit weiterführen. Doch ses Material in Ihrer Fraktion nicht ankommt, weil Sie das führt ja zu nichts. sich damit nicht beschäftigen und sich hier im Haus, wo Die Fakten sind, denke ich, relativ eindeutig. Ich will Sie eine Mehrheit haben, fernab jeglicher wissenschaftli- jetzt keine juristische Exegese betreiben; aber wenn man cher Erkenntnisse des Landes bewegen, fordern wir eine sich das Ziel, das vor 40 Jahren mit dem Betäubungsmit- unabhängige wissenschaftliche Evaluierung. telgesetz verbunden wurde, vor Augen führt, entwickelt Ich möchte von Ihnen wissen: Wenn Sie glauben, dass man große Zweifel, dass das große Versprechen, die Ju- Ihre Position richtig ist, warum kneifen Sie dann, wenn gend vor den Gefahren des Drogenkonsums zu schützen, es um eine unabhängige Evaluierung durch Fachleute wirklich eingelöst wurde. Trotz 40 Jahren Betäubungs- geht? mittelgesetz kann man faktisch flächendeckend an jeder Schule Drogen erwerben. Das muss man nicht gut fin- (Beifall bei der LINKEN) den, aber es ist Fakt. Mit anderen Worten: Das Gesetz hat an dieser Praxis überhaupt nichts geändert. Weder Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Drogenerwerb noch Handel noch Verbreitung von Dro- Frau Kollegin Zeulner, möchten Sie antworten? – gen sind verhindert worden, nicht einmal bei Jugendli- Bitte. chen. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014 3447

Dr. Harald Terpe (A) Angesichts dessen kann ich nur wiederholen: Der fessoren mittels einer Resolution zur Reform des Dro- (C) Schwarzmarkt, der ja Folge der Illegalisierung ist, kennt genstrafrechts eine wichtige Debatte angestoßen. Die keinen Jugendschutz und keinen Gesundheitsschutz. Er Rechtsgelehrten fordern in ihr die Einsetzung einer En- kennt nichts dergleichen. quete-Kommission des Bundestages zum Thema „Er- wünschte und unbeabsichtigte Folgen des geltenden (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Strafrechts“. und bei der LINKEN) Zwar hat 1994 das Bundesverfassungsgericht – das ist Wir haben also im Gegenteil erhebliche Chancen, wenn auch schon mehrmals angeklungen – das Betäubungs- wir uns einer unabhängigen Evaluation aussetzen. Wel- mittelstrafrecht für verfassungsgemäß befunden, aber al- che Chancen haben wir? Wir haben Chancen bei der Prä- len Beteiligten war die damalige lückenhafte Erkenntnis- vention. Wir haben Chancen beim Gesundheitsschutz. lage deutlich bewusst. Nun, 20 Jahre später, sind wir hier Wir haben Chancen beim Jugendschutz. Wir haben ein ganzes Stück weiter. Mittlerweile liegen uns durch- Chancen bei der Behandlung. aus umfangreiche Erkenntnisse vor. Ich möchte einige In Ihrer Darstellung sind im Übrigen die Abhängigen einfach nur kurz anreißen. in den Vordergrund geschoben worden. Wir sehen zum Beispiel die Entwicklungen in ande- (Maria Michalk [CDU/CSU]: Das ist nicht ren Staaten, die dort gemachten Erfahrungen und auch wahr! Prävention!) die Korrekturen in der staatlichen Drogenpolitik. Dabei sind es jedoch auch immer sehr spezifische und unter- Auch ich bedaure, dass wir in unserem System nicht ge- schiedliche Aspekte, die zu Neuausrichtungen in den je- nug Mittel dafür einsetzen, damit abhängig Erkrankte – weiligen Ländern geführt haben. Wir nehmen natürlich das sind keine Verhaltensgestörten; das sind Kranke – die Resultate, wie beispielsweise die aus den Niederlan- ausreichend behandelt werden können. Das liegt unter den und aus Portugal, zur Kenntnis. anderem auch daran, dass die Mittel so ungleich einge- setzt werden. Warum jedoch einige Staaten neue Wege gehen, hat wiederum sehr unterschiedliche Gründe. Uruguay gibt Zu Ihrer Bemerkung, dass es ein Präventionsgesetz zum Beispiel den Marihuana-Anbau komplett frei. Der geben wird und dass Sie mit der Bundeszentrale für ge- Bundesstaat Colorado hat den Handel legalisiert, unter sundheitliche Aufklärung schon eine ganze Menge ma- anderem auch, um höhere Steuereinnahmen zu erzielen. chen: Das Bundesministerium hat im Haushalt 10 Mil- Auch das muss man natürlich bedenken. lionen Euro zur Aufklärung über den Konsum legaler und illegaler Drogen bereitgestellt. Demgegenüber wer- Wir sollten daher auch erst einmal politisch beginnen, (B) den 3,3 Milliarden Euro für die Strafverfolgung ausge- gemeinsame Ziele einer fortschrittlichen Drogen- und (D) geben. Das heißt also: Haushaltspolitisch gibt es prak- Suchtpolitik zu formulieren. Das Angebot nehme ich da- tisch eine Fixierung auf die Prohibition, verbunden mit her persönlich erst einmal auch an. In diesem Zusam- der Folge der Entstehung eines Schwarzmarktes. menhang gilt es, Risiken und Nebenwirkungen etwaiger Maßnahmen genauestens abzuwägen. Das Minimieren Ich bitte Sie, rein nüchtern unseren Vorschlag, eine von Gesundheitsrisiken und die Prävention muss bei al- unabhängige Evaluation in Angriff zu nehmen, zu prü- len Überlegungen höchste Priorität haben. fen, und selbst dafür zu sorgen, dass dort politisch kein Einfluss genommen wird. Dann können wir anhand der Liebe Kolleginnen und Kollegen, allein auf Basis der Ergebnisse schauen, was wir in Zukunft ändern müssen. fünf Thesen der Staatsrechtler – auch wenn es wirklich (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie eine große Gruppe deutscher Staatsrechtler ist – zu ar- bei Abgeordneten der LINKEN) beiten, halte ich jedoch für uns als Bundestag für zu dünn. Darauf gegründet eine hundertköpfige Experten- Das ist doch das Entscheidende. Daher kann ich nur da- kommission ins Leben zu rufen, die mittels der soge- rum bitten, das wirklich vorurteilslos mit uns gemeinsam nannten Delphi-Methode neue Erkenntnisse zu den Wir- zu machen. kungen des Betäubungsmittelrechts herausarbeiten soll, halte ich doch für recht experimentell. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) Ich bin zwar einverstanden, wenn wir uns frei von Ideologie diesen Themen nähern; frei von Politisierung Vizepräsidentin Ulla Schmidt: kann es aber nicht gehen. Vielen Dank. – Nächster Redner ist Burkhard (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der Blienert, SPD-Fraktion. CDU/CSU) (Beifall bei der SPD) Ich bin daher nicht sicher, ob diese Methode, die Sie in Ihrem Antrag erwähnen, tatsächlich ein geeignetes Inst- Burkhard Blienert (SPD): rumentarium zum Erkenntnisgewinn sein kann. Auch Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Sie selber sind sich da offensichtlich nicht ganz sicher, Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Zu Beginn wenn Sie in Ihrem Antrag auch andere Verfahren für der Legislaturperiode haben die besagten Strafrechtspro- denkbar erachten. 3448 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014

Burkhard Blienert (A) (Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE rung beim Ausschuss für Gesundheit liegen soll. Sind (C) GRÜNEN]: Wir bauen Brücken, wo wir kön- Sie damit einverstanden? – Ich sehe, das ist der Fall. nen! – Frank Tempel [DIE LINKE]: Wir wol- Dann ist die Überweisung so beschlossen, und in den len es leicht machen!) nächsten Wochen können dann über dieses Thema noch intensive Diskussionen geführt werden. Liebe Kolleginnen und Kollegen, es lohnt sich daher, für eine Debatte im Ausschuss einmal die Erkenntnisse, Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 auf: die vorhanden sind, zusammenzutragen. Zweite und dritte Beratung des von der Bundes- Die Friedrich-Ebert-Stiftung hat zum Beispiel bereits regierung eingebrachten Entwurfs eines Geset- im Juni 2013 eine entsprechende Studie mit dem Titel zes zur Anpassung steuerlicher Regelungen „Entkriminalisierung und Regulierung“ veröffentlicht, an die Rechtsprechung des Bundesverfas- die viele interessante Aspekte hierzu behandelt. Es lohnt sungsgerichts sich schon, dort auch einmal hineinzuschauen. Drucksachen 18/1306, 18/1575 (Beifall bei der SPD) Beschlussempfehlung und Bericht des Finanz- Dabei wird deutlich, dass es eben um mehr als um das ausschusses (7. Ausschuss) Strafrecht bzw. um rechtspolitische Fragestellungen Drucksache 18/1647 geht. Es geht natürlich um gesundheitspolitische Fragen, um ökonomische Auswirkungen, um sozialpolitische Hierzu liegen zwei Änderungsanträge der Fraktion Aspekte, auch um ethische Fragen. Bündnis 90/Die Grünen vor. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für der CDU/CSU) die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei- nen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Mein Fazit ist aber: Man kann und muss auch eine Debatte zu den Auswirkungen des Betäubungsmittel- Ich eröffne die Aussprache. Erste Rednerin in der De- rechts führen. Ihr Antrag greift den wichtigen Beitrag batte ist die Kollegin Anja Karliczek, CDU/CSU-Frak- der Strafrechtsprofessoren und die medialen Bericht- tion. Bitte schön, Frau Kollegin. erstattungen hierzu auf. Ihr Antrag insgesamt ist aber ei- gentlich ein Schnellschuss. Sie versuchen mit ihm, erst (Beifall bei der CDU/CSU) einmal kurzfristig Punkte zu machen, wohl wissend, dass mit der Einsetzung einer derart umfangreichen Ex- Anja Karliczek (CDU/CSU): (B) pertengruppe dann wohl kaum mit Handlungsempfeh- Sehr geehrte Frau Bundestagspräsidentin! Liebe Kol- (D) lungen in dieser Wahlperiode zu rechnen sein dürfte. leginnen und Kollegen! Liebe Gäste! Wir führen heute Auch wenn der Antrag gut gedacht ist, er scheitert an das zu Ende und vervollständigen das, was wir schon im Praktikabilität und zum Teil eben auch an Plausibilität. Sommer 2013 politisch und gesetzgebend begonnen ha- ben: die steuerliche Gleichstellung der Lebenspartner- (Beifall bei der SPD – Frank Tempel [DIE schaft mit der Ehe. LINKE]: Ich glaube, diese Stelle in Ihrem Text hatte ich angekündigt!) Bereits in der letzten Legislaturperiode hat der Bun- destag in Teilen das Einkommensteuergesetz dem Urteil Das Thema ist komplexer, und Lösungswege sind des Bundesverfassungsgerichts angepasst. Aus Zeitgrün- schwieriger zu finden. Der Umgang mit Cannabis und den kam es allerdings vor der Wahl nicht mehr dazu, die dem damit im Zusammenhang stehenden Diskurs nicht steuerliche Gleichstellung in allen betroffenen Gesetzes- nur über das Betäubungsmittelrecht in Deutschland be- bereichen durchzuführen. schäftigt eben nicht ohne Grund Politikerinnen und Poli- tiker seit vielen Jahren. Wir von der SPD-Bundestags- Ich habe mich ausführlich mit den Einzelheiten der zu fraktion – und ich denke, auch die Kolleginnen und ändernden Gesetze beschäftigt und muss schon sagen: Kollegen von der Union – wollen nicht für die Ihrerseits Wir haben eine sehr ordentlich arbeitende Verwaltung. unbedachten Nebenwirkungen dieses Schnellschusses Denn ob es die Kaffeesteuerverordnung ist, die nun ge- verantwortlich gemacht werden. Lassen Sie uns daher in ändert werden muss, oder das Gesetz, in dem die Eigen- den entsprechenden Ausschüssen eingehend dazu bera- heimzulage geregelt wird, die schon seit 2006 nicht ten. Ich denke, dass dies der Sache dann insgesamt dien- mehr für neue Fälle gewährt wird: Wir sorgen für Ord- lich sein wird. nung in unseren Gesetzen. Danke für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der SPD) (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Von den heute anstehenden Änderungen ist eine Viel- Vizepräsidentin Ulla Schmidt: zahl von Gesetzen betroffen: das Altersvorsorgever- Vielen Dank. – Damit schließe ich die Aussprache. träge-Zertifizierungsgesetz, das Wohnungsbau-Prämien- gesetz, das Altersvorsorge-Durchführungsgesetz, die Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Abgabenordnung, das Bewertungsgesetz, das Energie- Drucksache 18/1613 an die in der Tagesordnung aufge- steuergesetz, das Dritte Buch Sozialgesetzbuch, die führten Ausschüsse vorgeschlagen, wobei die Federfüh- Erbschaftsteuer-Durchführungsverordnung, das Bundes- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014 3449

Anja Karliczek (A) kindergeldgesetz und sogar die Deutsch-Schweizerische sein, dass dieser Satz wieder wahr wird; denn nur dann (C) Konsultationsvereinbarungsverordnung. In all diesen werden wir als Gesellschaft innovativ und wettbewerbs- Gesetzen und Verordnungen wird die Lebenspartner- fähig bleiben. schaft nun der Ehe gleichgestellt. (Beifall bei der CDU/CSU) Dass Menschen füreinander Verantwortung überneh- Wir wissen auch, dass finanzielle und wirtschaftliche men – unabhängig von ihrem Lebensentwurf und ihrer Überlegungen bei der Entscheidung für Kinder nicht sexuellen Orientierung –, findet damit auch steuerrecht- ausschlaggebend sind. Letztendlich werden wir Eltern, lich seinen Niederschlag. Im Alltag zeigt sich das zum weil Kinder Reichtum und Vielfalt bedeuten, weil Kin- Beispiel durch die Möglichkeit, eine gemeinsame der uns Erwachsene lehren, die wesentlichen Dinge des Steuererklärung für Lebenspartner abzugeben oder die Lebens zu erkennen, und weil Kinder unsere Zukunft Altersvorsorge gemeinsam zu gestalten. sind. Nicht zuletzt aus genau diesem Grund müssen wir In dieser Debatte liegt mir ein Aspekt besonders am jungen Menschen Mut zu dieser Entscheidung machen. Herzen: Mich erstaunt sehr, wie heftig und emotional in (Beifall bei der CDU/CSU) diesem Haus, in der veröffentlichten Meinung und in der Öffentlichkeit über die Frage der rechtlichen Gleichstel- Wir können das weiter unterstützen durch ein famili- lung gleichgeschlechtlicher Lebenspartnerschaften dis- enfreundliches Klima, aber auch durch die ideelle Aner- kutiert wurde und teilweise immer noch diskutiert wird. kennung von Familienleistung und die Stärkung von Vertrauen. Deshalb sehe ich aus steuerlicher Sicht noch (Mechthild Rawert [SPD]: Das ist aber auch eine weitere Aufgabe, der wir uns – sicherlich unter kein Wunder!) Berücksichtigung des finanziellen Spielraums, aber Was heißt Lebenspartnerschaft? Heißt das nicht, dennoch forciert – künftig widmen sollten: der Weiter- füreinander da zu sein, miteinander zu leben und Verant- entwicklung des Ehegattensplittings zu einem Familien- wortung füreinander zu tragen? Ist das nicht eine Selbst- splitting. verständlichkeit und keine Frage des Lebensentwurfs? Die Verantwortung für unsere Kinder ist eine ganz Ich finde, das ist eine Selbstverständlichkeit. Für mich besondere Verantwortung. Denn Kinder sind der Keim heißt das aber auch: Toleranz gegenüber verschiedenen unserer Gesellschaft – nicht die Eltern und auch nicht Lebensentwürfen ist Ausdruck einer freien Gesellschaft. eine Lebensgemeinschaft. Diese besondere Verantwor- In einer freien Gesellschaft ist die eigene Gestaltung des tung müssen wir auch durch eine besondere steuerliche individuellen Lebensentwurfs selbstverständlich, ich Behandlung zum Ausdruck bringen. möchte sogar sagen: konstitutiv. Das anzuerkennen, Vielen Dank. (B) nenne ich Ausdruck einer liberal-wertkonservativen Hal- (D) tung. (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Frank Junge [SPD])

Die rechtlichen Schritte, die wir heute gehen, nehmen Vizepräsident Peter Hintze: der Würde der Institution von Ehe und Familie damit Liebe Frau Kollegin Karliczek, ich gratuliere Ihnen nichts. Auch durch das Urteil des Bundesverfassungsge- im Namen des ganzen Hauses zu Ihrer ersten parlamen- richtes bleiben Ehe und Familie nach Artikel 6 des tarischen Rede hier im Deutschen Bundestag. Grundgesetzes ein eigener Schutzbereich, und sie erfah- ren dadurch eine besondere Würdigung. (Beifall) Ich streife damit in einer finanzpolitischen Debatte Das war die erste Rede in dieser Debatte und die erste das Thema Familienpolitik. Es steht weiter ganz oben Rede in Ihrem parlamentarischen Leben. Herzlichen auf unserer politischen Agenda. Erst in diesen Tagen hat Glückwunsch und auf viele weitere interessante Debat- das Kabinett die Reform des Bundeselterngeld- und ten! Elternzeitgesetzes beschlossen. Wir wollen damit die Als nächster Rednerin erteile ich das Wort der Kolle- Vereinbarkeit von Familie und Beruf weiter fördern und gin Susanna Karawanskij, Fraktion Die Linke. die wirtschaftliche Sicherheit junger Familien weiter stärken. Wir hoffen, dass dies mehr Mut macht, sich für (Beifall bei der LINKEN – Ingrid Arndt- Kinder zu entscheiden. Brauer [SPD]: Immer müssen die gleichen Leute bei den Linken reden!) Seit der Evaluation der ehe- und familienbezogenen Leistungen, deren Ergebnisse die letzte Bundesregierung Susanna Karawanskij (DIE LINKE): im vergangenen Jahr veröffentlicht hat, wissen wir von Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegin- rund 150 verschiedenen Maßnahmen, in die wir jährlich nen und Kollegen! Liebe Gäste! Dieser Tagesordnungs- – ob durch direkte Auszahlungen oder durch steuerliche punkt, den wir jetzt gerade besprechen, ist bei Lichte be- Förderung – über 200 Milliarden Euro investieren. Den- trachtet ein Dauerbrenner. Es geht um die steuerliche noch haben wir trotz hoher staatlicher Leistungen weiter Gleichstellung einer Lebenspartnerschaft von Lesben eine geringe Geburtenrate in Deutschland. Den Satz von und Schwulen mit der Ehe. Konrad Adenauer: „Kinder kriegen die Leute immer“ haben wir alle im Ohr. Er trifft aber leider nicht mehr zu. Ehrlich gesagt ist es traurig, dass dieses Thema über- Dabei muss doch unser aller Interesse darauf gerichtet haupt zum Dauerbrenner wurde – nicht nur aus unserer 3450 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014

Susanna Karawanskij (A) Sicht, sondern vor allen Dingen aus Sicht der Betroffe- die Nichtgleichstellung eine ganz klare politische Will- (C) nen. kürentscheidung ist. (Beifall bei der LINKEN) Ich möchte das an dieser Stelle noch einmal betonen: Trotz der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts Das lag vor allen Dingen an der Engstirnigkeit der können CDU und CSU von der Diskriminierung der Fraktionsspitze der CDU/CSU, die die bestehenden ge- Lebenspartnerschaften gegenüber der Ehe nicht lassen. sellschaftlichen Realitäten nicht anerkennt. Beenden Sie das! Beenden Sie die ideologischen Gra- (Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Was benkämpfe, und verhalten Sie sich vor allen Dingen ist das denn? Sie haben doch schon zweimal nicht wie bockige Kinder! Das ist wirklich traurig. falsch geredet! Das ist die dritte falsche Rede!) (Beifall bei der LINKEN) Leider nimmt diese Fraktionsspitze Rücksicht auf den Teil der Partei, der dem Familienbild aus dem vorletzten Noch viel trauriger ist, dass die SPD hier neben dem Jahrhundert anhängt. Koalitionspartner wieder einknickt und sich nicht an ihr Wahlprogramm und ihre Wahlversprechen hält. Sie ha- (Beifall des Abg. Alexander Ulrich [DIE ben der Community gegenüber versprochen: „100 Pro- LINKE]) zent … Gleichstellung … nur mit der SPD“. Jetzt lassen Wir, die Linken, fordern hingegen schon seit Jahren die Sie die Menschen schon wieder im Regen stehen. Gleichstellung – vor allen Dingen auch die steuerliche (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) Gleichstellung – der Lebenspartnerschaften mit der Ehe. Sie sind beim Adoptionsrecht eingeknickt, und jetzt kni- (Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Ulle cken Sie auch hier wieder ein. Das ist wirklich enttäu- Schauws [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) schend. Ich frage mich, wann Sie mit diesem Einknicken Die ständige Rechtsprechung des Bundesverfassungs- einmal aufhören. gerichts zwingt den Gesetzgeber zur Gleichstellung in Für uns Linke ist klar, dass wir langfristig die steuerli- allen der ihm vorgelegten Fälle. Das Peinliche daran ist, che Privilegierung der Ehe beenden müssen. Um den dass Ihre Missachtung dieser ständigen Rechtsprechung Beweis anzutreten, dass wir nicht bockig sind, wollen zugleich auch eine Missachtung von Grundrechten be- wir Ihrem Gesetzentwurf – Sie sind in Ihrem Gesetzent- deutet. Nach der Entscheidung des Bundesverfassungs- wurf ja die von uns seit langem geforderte steuerliche gerichts aus dem Jahr 2013 war nämlich erstens klar, Gleichstellung der Lebenspartnerschaften mit der Ehe in dass eine umfassende Gleichstellung von Lebenspartner- vielen Bereichen angegangen – trotz der bestehenden schaften mit der Ehe bei der Besteuerung zwingend er- (B) Lücke, die ich gerade beschrieben habe, zustimmen. (D) forderlich ist. Zweitens war auch klar, dass dafür nicht nur das Einkommensteuergesetz geändert werden muss. (Manfred Zöllmer [SPD]: Hört! Hört! – Mechthild Rawert [SPD]: Das begrüßen wir Die Folgeänderungen in den Steuergesetzen sollen sehr!) durch den nun vorliegenden Gesetzentwurf angegangen werden. Sie betreiben aber wieder einmal Augenwische- Wir betrachten die Öffnung der Ehe als den entscheiden- rei; denn dieser Anspruch wird nicht in Gänze erfüllt. Es den Schritt; denn die Linke will letztendlich die rechtli- gibt leider immer noch keine vollständige Gleichbehand- che Gleichstellung und damit auch die gesellschaftliche lung. Ich will Ihnen das auch erklären. Akzeptanz aller Lebensweisen. Ich bitte Sie daher: Es geht um folgende Lücke: § 52 der Abgabenord- Nehmen Sie das Heft des Handelns weiter in die Hand! nung – das ist sozusagen das Grundgesetz der Steuer- Entlasten Sie vor allen Dingen das Bundesverfassungs- politik – führt einen ganzen Katalog steuerlich anerkann- gericht! ter gemeinnütziger Zwecke auf. Die Förderung des Wir haben als erste Fraktion einen Gesetzentwurf Schutzes von Ehe und Familie ist danach ein förderwür- hierzu in den Bundestag eingebracht. Damit können Sie diger Zweck. Diese Definition muss allerdings meines die entsprechenden Regelungen im Adoptionsrecht bis Erachtens um die Förderung des Schutzes der eingetra- hin zum Steuerrecht abdecken. Wenn Sie es wirklich genen Lebenspartnerschaften erweitert werden. ernst meinen, stimmen Sie unserem Antrag zu. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten Vielen Dank. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Ulle Dieser Diskrepanz ging ich auch mittels einer schrift- Schauws [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] – lichen Frage an das Finanzministerium nach. In der Ingrid Arndt-Brauer [SPD]: Das wird schwer, Antwort vom 30. Mai 2014 teilte die Bundesregierung ganz schwer!) die Auffassung der Linken, dass es keine verfassungs- rechtlichen Gründe für einen Ausschluss der Förderung Vizepräsident Peter Hintze: des Schutzes von Lebenspartnerschaften gibt. Als nächstem Redner erteile ich das Wort Kollegen (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) Frank Junge, SPD-Fraktion. Die Bundesregierung ist sich also der Unvollständigkeit (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten durchaus bewusst. Damit ist der Beweis erbracht, dass der CDU/CSU) Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014 3451

(A) Frank Junge (SPD): (Susanna Karawanskij [DIE LINKE]: Aber (C) Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! das war nicht freiwillig! Sie wurden doch dazu Frau Karawanskij, weil Sie es explizit angesprochen ha- gezwungen!) ben, möchte ich eine Bemerkung vorausschicken. Mich kann dieses Parlament heute ein weiteres wichtiges hat im Vorfeld dieser Debatte ziemlich beunruhigt, was Etappenziel auf dem Weg zur vollständigen Gleichstel- zu diesem Thema in der Presse zu lesen war. Da war von lung eingetragener Lebenspartnerschaften mit der Ehe „Diskriminierung beim Kindergeld“ die Rede. Da war markieren. Ich werbe daher dafür, diesem Gesetz zuzu- – Sie sagten es – von „Bockigkeit“ die Rede. Es wurde stimmen, und bitte Sie, dies am Ende auch zu tun. so getan – das unterstreiche ich zweimal –, als seien wir auf dem Weg zur Gleichstellung von eingetragenen (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Lebenspartnerschaften mit der Ehe nicht einen Millime- der CDU/CSU) ter vorangekommen. Das muss ich ganz klar von uns weisen. Liebe Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, ich beziehe mich kurz auf Ihre zwei Änderungsanträge, die Sie ein- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten bringen werden und die wir im Finanzausschuss sehr der CDU/CSU – Lothar Binding [Heidelberg] ausführlich besprochen haben. [SPD]: Das war sehr unehrlich!) Stichwort Kindergeld. Hier fordern Sie eine Ergän- Das, womit wir uns hier beschäftigen, ist doch vom zung in der Anwendungsvorschrift des Bundeskinder- Grundsatz her genau das, worum es geht. Mit dem heute geldgesetzes. vorliegenden Gesetzentwurf zur Anpassung steuerlicher Regelungen an die Rechtsprechung des Bundesverfas- (Lisa Paus [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: sungsgerichts wird die Ungleichbehandlung homosexu- Ja!) eller Lebenspartnerschaften mit der Ehe unter steuerli- Danach soll Kindergeld nach dem Bundeskindergeldge- chen Gesichtspunkten beseitigt. Punkt! setz nachträglich und rückwirkend zum August 2001 (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten auch für Lebenspartner gewährt werden, sofern die Kin- der CDU/CSU) dergeldbescheide noch nicht rechtskräftig sind. Das ist völlig in Ordnung. Dagegen hat die SPD-Fraktion über- Da gibt es nichts weiter hinzuzufügen: Mit diesem einen haupt nichts einzuwenden. Das ist gut so, das ist recht- Satz lässt sich der Gesetzentwurf der Bundesregierung mäßig, auch wir vertreten das. Wir haben nur etwas ge- zusammenfassen. Wir alle kennen die Entscheidung gen den Weg. Sie wollen dafür das Kindergeldgesetz – Sie haben darauf hingewiesen – des Verfassungsge- ändern. Wir sagen: Dazu reicht eine Änderung der richts vom letzten Jahr, nach der der Ausschluss von ein- Durchführungsanweisung nach dem Bundeskindergeld- (B) (D) getragenen Lebenspartnerschaften beim Ehegattensplit- gesetz. Aus diesem Grund sind wir zwar inhaltlich für ting für verfassungswidrig erklärt wurde. Das haben wir Ihren Antrag, aber weil wir den Weg ablehnen, lehnen konstatiert. Die daraufhin notwendige Anpassung im wir letztendlich auch Ihren Antrag ab. Wir gehen davon Einkommensteuergesetz, mit den Stimmen von allen aus und werden dafür auch Sorge tragen, dass diese Än- Fraktionen dieses Hauses verabschiedet, wurde schon derung über den von mir beschriebenen Weg umgesetzt vorgenommen. wird. Letztendlich ist das ein guter Schritt gewesen. Heute (Beifall bei der SPD) haben wir allerdings die Gelegenheit, die letzten noch offenen Bereiche in diesem Segment glattzuziehen. Stichwort Gemeinnützigkeit. In der Abgabenordnung Wenn man dann auf die großen Bereiche schaut, wie sind mit Blick auf die steuerlich begünstigte gemeinnüt- Bundeskindergeldgesetz, Eigenheimzulagengesetz, das zige Tätigkeit bisher die Vereine und Körperschaften als Wohnungsbau-Prämiengesetz, das Altersvorsorgever- förderungswürdig erachtet worden, die sich dem Schutz träge-Zertifizierungsgesetz und die Abgabenordnung, von Ehe und Familie verschrieben haben; auch Sie dann kann man festhalten: Das sind die richtigen und haben diesen Punkt aufgegriffen, Frau Karawanskij. Sie notwendigen Schritte. beantragen heute, die Förderung des Schutzes von Le- benspartnerschaften als begünstigten Zweck anzuerken- (Beifall bei der SPD – Lothar Binding [Heidel- nen und dort aufzunehmen. Dieser Ansicht können wir berg] [SPD]: Große Schritte!) grundsätzlich folgen. Das sage ich ganz klar. Denn auch nach unserer sozialdemokratischen Ansicht versteht es Es ist auch mehr als das. Es ist mit Blick auf unsere sich in einer aufgeklärten toleranten Gesellschaft ganz moderne und demokratische Gesellschaft, in der homo- von selbst, dass zu einer vollständigen Gleichstellung sexuelle Lebenspartnerschaften und Regenbogenfami- eben auch gehört, die Förderung homosexueller Le- lien genauso zur Lebenswirklichkeit gehören wie die benspartnerschaften als gemeinnützigen Zweck in der klassische Ehe, ein längst überfälliger Schritt. Abgabenordnung zu verankern. Leider lässt sich dieses (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Selbstverständnis anderen nicht verordnen, auch unse- der CDU/CSU) rem Koalitionspartner nicht. Nach der gesetzlich verankerten Vereinfachung der Vor diesem Hintergrund bedauere ich es sehr – auch Sukzessivadoption – Sie erinnern sich: vor genau 14 Ta- das unterstreiche ich zweimal –, dass wir aus diesem gen haben wir zu diesem Punkt Vereinfachungen be- Grund und mit Rücksicht auf unseren Koalitionsvertrag schlossen – dem von Ihnen vorgelegten Antrag nicht zustimmen 3452 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014

Frank Junge (A) können. Wir tun das jedoch nicht, ohne eine Erklärung (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- (C) nach § 31 der Geschäftsordnung des Bundestages abzu- SES 90/DIE GRÜNEN und der LINKEN – geben, in der wir noch einmal ausführlich auf die Zu- Manfred Zöllmer [SPD]: Ja! Sie in der sammenhänge hinweisen. Presse!) Ich bedaure die Ablehnung des Antrags aber auch Wir müssen nämlich erneut mit ansehen, wie die deshalb sehr, weil ich weiß, dass es in den Reihen der Union auf dem Feld der Gleichstellung von Lebenspart- CDU/CSU-Fraktion eine Reihe von Mitgliedern gibt, die nerschaften eine ihrer letzten ideologischen Schlachten ebenfalls ein solch weltoffenes und tolerantes Gesell- zelebriert. Ja, bei diesem Thema kommen bei Ihnen Herz schaftsbild haben wie wir. und Bauch zusammen, meine Damen und Herren von (Beifall des Abg. Bernhard Daldrup [SPD]) der CDU/CSU. In der vergangenen Wahlperiode wurden Sie dabei von der inzwischen abgewählten FDP flan- Ich glaube, dass wir auf dieser Basis auch zukünftig kiert. In dieser Legislaturperiode reiben wir uns schlicht- noch weiter kommen werden als dorthin, wo wir heute weg die Augen, was die SPD mit sich machen lässt oder sind. machen lassen muss. Das ist unwürdig. (Beifall bei der SPD) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Liebe Kolleginnen und Kollegen, eines möchte ich an Ingrid Arndt-Brauer [SPD]: Dann hättet ihr dieser Stelle noch hinzufügen: Damit klar wird, dass wir halt koalieren müssen!) nicht vor einem Riesendilemma stehen, möchte ich un- Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf war angekün- terstreichen, dass § 52 der Abgabenordnung Vereinen digt, endlich die vollständige steuerliche Gleichstellung und Verbänden schon jetzt ganz klar die Möglichkeit von eingetragenen Lebenspartnerschaften, wie vom bietet, sich den Belangen Homosexueller zu stellen und Bundesverfassungsgericht eingefordert, vom Kaffesteu- dafür auch den Status der Gemeinnützigkeit zu bekom- ergesetz bis zur Abgabenordnung umzusetzen. Nun wird men. eine Einwortänderung in der Abgabenordnung zur Ko- Wir reden also heute bei der Beratung Ihres Antrags alitionsräson erklärt. Absurder geht es wirklich nicht über einen Punkt, der im praktischen Leben keine Rolle mehr, meine Damen und Herren. spielt. Vor diesem Hintergrund erscheint die Darstellung (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN in der Öffentlichkeit, hier würde ein Riesenfehler nicht sowie bei Abgeordneten der LINKEN) beseitigt werden, als völlig falsch. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Das Bundesverfassungsgericht hat in jedem seiner (B) der CDU/CSU) Urteile klargestellt, wie groß der Abstand zwischen Ehe (D) und Lebenspartnerschaft sein darf: nämlich genau null. Mir ist absolut klar, dass wir im Prozess bis zur voll- Sie wissen es. Wir wissen es. Alle Menschen in diesem ständigen Gleichstellung gleichgeschlechtlicher einge- Lande wissen es. Doch was tun Sie? Sie unterlaufen tragener Lebenspartnerschaften mit der Ehe noch einen diese Vorgaben nach wie vor. Sie verteidigen bis in die weiten Weg vor uns haben. Gleichwohl nähern wir uns allerletzten Winkel der Gesetzgebung, bis in die Abga- diesem Ziel Schritt für Schritt. Der vorliegende Gesetz- benordnung hinein, die Privilegierung der Ehe. Sie be- entwurf stellt einen solchen Schritt dar. harren auf der Diskriminierung der Lebenspartnerschaft und bleiben bei Ihrer Politik der Nadelstiche, indem Sie Unter diesem Gesichtspunkt ist die homosexuelle ihre Berücksichtigung als gemeinnützigen Zweck, gere- Partnerschaft, sofern wir dem Gesetzentwurf heute zu- gelt in der Abgabenordnung, nicht anerkennen wollen. stimmen, unter steuerlichen Gesichtspunkten der Ehe gleich. Das halte ich für einen Fortschritt. Von diesem Ein bisschen tröstlich ist, dass dies, ähnlich wie im Punkt ausgehend wird die SPD-Fraktion weiterarbeiten, letzten Jahr beim Ehegattensplitting, in der Praxis der bis wir letztendlich das Ziel erreicht haben. Anerkennung der Gemeinnützigkeit wohl keine Rolle (Beifall bei der SPD) spielen wird. (Ingrid Arndt-Brauer [SPD]: Das habt ihr aber Vizepräsident Peter Hintze: vergessen in euren Pressemitteilungen zu er- Als nächster Rednerin erteile ich das Wort der Abge- wähnen!) ordneten Lisa Paus, Bündnis 90/Die Grünen. – Ja, wir hoffen es. Aber wir wissen es nicht. Wir hätten es als Bundestag klar regeln können. – Auch im letzten Lisa Paus (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Jahr beim Ehegattensplitting war es der Union ein be- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr sonderes Anliegen, hinsichtlich der steuerlichen Gleich- Junge, wir werden dem Gesetzentwurf auch zustimmen, stellung etwas zu beschließen. Dabei haben Sie es ge- weil er tatsächlich eine weitgehende Umsetzung der Ver- schafft, das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom fassungsgerichtsentscheidung mit sich bringt. Mai 2013 so zu verbiegen, dass Lebenspartner nicht wie (Beifall bei der SPD) Angehörige betrachtet werden und zwei getrennte Steu- ererklärungen abgeben müssen. Aber nachdem jede Fi- Trotzdem muss man heute darüber reden, welchen Un- nanzbehörde in diesem Land diesen Unsinn als nicht ad- sinn Sie mit diesem Gesetz getrieben haben. ministrierbar kritisiert hat, ist nun damit endlich Schluss. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014 3453

Lisa Paus (A) Hoffentlich wird das auch im Fall der Gemeinnützigkeit Vizepräsident Peter Hintze: (C) so sein. Als letztem Redner in dieser Debatte erteile ich das Wort dem Abgeordneten Philipp Graf von und zu (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Lerchenfeld, CDU/CSU-Fraktion. sowie bei Abgeordneten der LINKEN) (Beifall bei der CDU/CSU) Ich finde es mindestens genauso bemerkenswert, mit welcher Vehemenz Sie eine gesetzliche Klarstellung Philipp Graf Lerchenfeld (CDU/CSU): beim Bundeskindergeldgesetz verhindern. Vielen Dank. – Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte (Ingrid Arndt-Brauer [SPD]: Das ist nicht nö- Kolleginnen und Kollegen! Hohes Haus! Mit der Verab- tig!) schiedung des Gesetzes zur Anpassung steuerlicher Regelungen an die Rechtsprechung des Bundesverfas- Mir unterstellen Sie dabei auch noch in der gestrigen sungsgerichts setzen wir heute die Vorgaben der Ent- Pressemitteilung, ich hätte das alles nicht verstanden. Es scheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 7. Mai geht darum, dass eine Verwaltungsanweisung angeblich 2013 vollumfänglich um. Für manche Änderungen viel besser und zielgenauer ist als eine gesetzliche Klar- wurde durch die Erklärung der Bundesregierung Klar- stellung. Sie wissen, dass das nicht stimmt. Wir hätten es heit geschaffen – beispielsweise auf dem Gebiet des hier einfach und klar gesetzlich regeln können. Nun ist Bundeskindergeldgesetzes –, sodass sich Ihre Ände- eine zusätzliche Handlung notwendig. rungsanträge total erledigt haben. Die Beschlussempfeh- lung unseres Ausschusses, das Gesetz in der jetzt vorlie- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN genden Fassung, die durch einen Antrag auf eine sowie bei Abgeordneten der LINKEN) notwendige Konkretisierung der Lebenspartnerschaften geändert wurde, anzunehmen, wird von allen Fraktionen Der einzige Grund, warum das nun auf diesem Weg ge- mitgetragen, wie man hört. macht werden muss, ist, dass nicht das Finanzministe- rium, sondern das SPD-geführte Familienministerium Von einigen Seiten – auch von Ihnen – wurden weiter zuständig ist. gehende Änderungen gewünscht. Diese Änderungen entsprechen aber nicht der Entscheidung des Bundesver- (Ingrid Arndt-Brauer [SPD]: Gute Frau!) fassungsgerichts, die wir, wie gesagt, bereits in vollem Umfang umgesetzt haben. Insbesondere die Änderungs- Die CDU/CSU muss sich damit die Hände nicht schmut- wünsche hinsichtlich des § 52 Absatz 2 AO sind gerade zig machen. Das finde ich einfach nur beschämend. nicht aus dem Bundesverfassungsgerichtsurteil abzulei- (B) ten. Das Schutz- und Fördergebot – ich ergänze hier: des (D) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Artikels 6 Grundgesetz – bildet einen sachlichen Diffe- sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Ingrid renzierungsgrund, der geeignet ist, die Besserstellung Arndt-Brauer [SPD]: Die Erklärung ist nicht der Ehe gegenüber anderen, durch ein geringeres Maß an ganz überzeugend!) wechselseitiger Pflichtbindung geprägten Lebensge- – Das ist schon überzeugend, liebe Kollegin. Zum Bei- meinschaften zu rechtfertigen. spiel hat das Justizministerium darauf hingewiesen, dass Ich beziehe mich im Folgenden auf mehrere Entschei- es besser gewesen wäre, das gesetzlich zu regeln. Das dungen des Bundesverfassungsgerichts sowohl aus dem wissen Sie genauso gut wie ich. Die Gründe, warum es Jahr 2012 als auch aus dem Jahr 2013. Das Grundgesetz anders gekommen ist, sind diejenigen, die ich gerade an- stellt nämlich in Artikel 6 Absatz 1 Ehe und Familie un- geführt habe. ter den besonderen Schutz der staatlichen Ordnung. Da- mit garantiert die Verfassung nicht nur das Institut der Beamtenbesoldung, Erbschaftsteuer, Grunderwerb- Ehe, sondern gebietet als verbindliche Wertentscheidung steuer, Einkommensteuer und Sukzessivadoption – in Ih- für den gesamten Bereich des Ehe und Familie betreffen- rem Kampf gegen das Verfassungsgericht liegen Sie den privaten und öffentlichen Rechts einen besonderen 0 : 5 hinten. Aber Sie spielen noch immer auf Zeit. Was Schutz durch die staatliche Ordnung. braucht es denn noch, damit Sie endlich umdenken? Wir geben Ihnen nun die letzte Gelegenheit. Wir haben zwei Die Ehe als allein der Verbindung zwischen Mann Änderungsanträge vorgelegt. Stimmen Sie ihnen zu! An- und Frau vorbehaltenes Institut erfährt durch den Arti- sonsten wird es mit Sicherheit weitere Urteile zum Bei- kel 6 Absatz 1 Grundgesetz einen eigenständigen verfas- spiel zum Adoptionsrecht geben. Dann werden wir uns sungsrechtlichen Schutz. Um diesem Schutzauftrag Ge- erneut mit Ihren verklemmten Rückzugstaktiken befas- nüge zu tun, ist es insbesondere Aufgabe des Staates, sen müssen. Bei anderen Themen haben Sie es doch alles zu unterlassen, was die Ehe beschädigt oder sonst auch geschafft, die Oppositionsmeinung zu übernehmen. beeinträchtigt, und sie durch geeignete Maßnahmen zu Lassen Sie den Menschen endlich den Gestaltungsfrei- fördern. Dies kommt im § 52 Absatz 2 Nummer 19 AO raum, der ihnen von unserer Verfassung her zusteht! Ge- zum Ausdruck, wo die Förderung des Schutzes der Ehe ben Sie den Lesben und Schwulen in diesem Land end- und Familie als gemeinnütziger Zweck ausdrücklich an- lich eine Chance auf Nichtdiskriminierung! erkannt wird. Die Anerkennung der Förderung der Ehe und Familie als gemeinnütziger Zweck folgt somit un- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN mittelbar aus dem Grundgesetz und muss auch in dieser und bei der LINKEN) Form erhalten bleiben. 3454 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014

Philipp Graf Lerchenfeld (A) Die Anträge der Grünen sind aus zwei Gründen abzu- entwurf ist mit den Stimmen aller Fraktionen des Hauses (C) lehnen. Der eine ist die Erklärung der Bundesregierung, einstimmig angenommen. die sehr deutlich gemacht hat, dass kein Änderungsbe- darf besteht; der andere Grund ist, weil sie über die Ent- (Beifall bei der SPD) scheidung des Bundesverfassungsgerichts hinausgehen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 19 auf: Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, alle Fraktio- Beratung des Antrags der Abgeordneten Kathrin nen haben diesem Gesetzentwurf in der geänderten Fas- Vogler, Wolfgang Gehrcke, Jan van Aken, weite- sung zugestimmt und einstimmig eine Beschlussempfeh- rer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE lung für den Gesetzentwurf gegeben. Ich bitte Sie deshalb, dem Gesetzentwurf heute in dieser Fassung Ihre Umwidmung nicht genutzter Bundesmittel Zustimmung zu geben. der United Nations Mission in South Sudan (UNMISS) für die Unterstützung des unbe- Vielen Dank. waffneten Schutzes der Zivilbevölkerung im Südsudan (Beifall bei der CDU/CSU) Drucksache 18/1614 Vizepräsident Peter Hintze: Ich darf die Kolleginnen und Kollegen, die jetzt das Ich schließe die Aussprache. Haus zu verlassen gedenken, darauf hinweisen, dass wir Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun- nach dieser Debatte noch eine ganze Reihe von Abstim- desregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur mungen haben. Es wäre schön, wenn sich dazu auch Anpassung steuerlicher Regelungen an die Rechtspre- noch Abgeordnete im Plenum befänden, die diese Ab- chung des Bundesverfassungsgerichts. Der Finanzaus- stimmungen vornehmen könnten. schuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für Drucksache 18/1647, den Gesetzentwurf der Bundesre- die Aussprache zum Tagesordnungspunkt 19 25 Minu- gierung auf den Drucksachen 18/1306 und 18/1575 in ten vorgesehen. Sind Sie damit einverstanden? – Ich der Ausschussfassung anzunehmen. höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Hierzu liegen zwei Änderungsanträge der Fraktion Ich eröffne die Aussprache. Als erster Rednerin er- Bündnis 90/Die Grünen vor, über die wir zuerst abstim- teile ich das Wort der Abgeordneten Kathrin Vogler, men. Zu diesen Änderungsanträgen auf den Drucksa- Fraktion Die Linke. chen 18/1662 und 18/1663 liegen einige Erklärungen (B) nach § 31 der Geschäftsordnung vor, die wir zu Proto- (Beifall bei der LINKEN) (D) koll nehmen.1) Kathrin Vogler (DIE LINKE): Wir kommen zum Änderungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 18/1662. Wer Vielen Dank, Herr Präsident. – Liebe Kolleginnen stimmt für diesen Änderungsantrag? – Wer stimmt dage- und Kollegen! Meine Damen und Herren! Ende 2013 gen? – Wer enthält sich? – Der Änderungsantrag auf entbrannte im Südsudan ein blutiger Machtkampf zwi- Drucksache 18/1662 ist mit den Stimmen der CDU/ schen den Truppen des ehemaligen Vizepräsidenten CSU-Fraktion und der SPD-Fraktion abgelehnt bei Zu- Riek Machar und der Regierungsarmee SPLA. Bis zum stimmung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und der Waffenstillstand im Mai starben Tausende; etwa 800 000 Fraktion Die Linke. Menschen mussten fliehen. Schon 2010, vor der Unab- hängigkeit, als ich mit Kolleginnen und Kollegen meiner Wir kommen zum zweiten Änderungsantrag der Frak- Fraktion im Südsudan vor Ort war, haben wir befürchtet, tion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 18/1663. dass ein solcher Gewaltausbruch wieder möglich wäre. Wer stimmt für diesen Änderungsantrag? – Wer stimmt Es ist ungemein bitter, zu erleben, dass unsere Befürch- dagegen? – Wer enthält sich? – Der Änderungsantrag auf tungen wahr geworden sind. Drucksache 18/1663 ist mit den Stimmen der CDU/CSU und der SPD abgelehnt, dafür stimmten Bündnis 90/Die Aufgrund unserer Beobachtungen haben wir 2011 ei- Grünen und die Fraktion Die Linke. nen Antrag mit konkreten Vorschlägen in den Bundestag eingebracht. Damals haben wir zum Beispiel gefordert: Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf in die Stärkung der Zivilgesellschaft, die langfristige der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Hand- Unterstützung innersudanesischer Ansätze für zivile zeichen. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Konfliktbearbeitung, für Dialog, für Versöhnungs- und Damit ist der Gesetzentwurf in der Ausschussfassung Traumaarbeit und dass sich die Bundesregierung im UN- einstimmig in zweiter Beratung angenommen. Sicherheitsrat dafür einsetzt, dass ein künftiges UN- Mandat nicht der militärischen Logik folgt, sondern auf Dritte Beratung Konfliktlagen frühzeitig mit Mitteln der zivilen und ge- und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem waltfreien Konfliktbearbeitung deeskalierend reagiert. Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Dieses UN-Mandat mit dem Namen UNMISS wurde Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetz- dann allerdings doch ein vorwiegend militärisches. Trotz eines Jahresetats von 924 Millionen US-Dollar und bis 1) Anlagen 3, 4, 5 zu 7 000 Soldaten und 900 Polizisten im Einsatz konnte Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014 3455

Kathrin Vogler (A) UNMISS gegen die Gewaltausbrüche nicht viel mehr Thorsten Frei (CDU/CSU): (C) tun, als Zehntausenden Flüchtlingen die Türen ihrer Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Stützpunkte zu öffnen. Das war ein wertvoller, aber kein Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir haben in ausreichender Beitrag zum Schutz der Zivilbevölkerung. diesem Jahr schon sehr oft in diesem Hause darüber dis- (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- kutiert, wie wir auf krisenhafte Situationen in der Welt NIS 90/DIE GRÜNEN) angemessen reagieren können. Häufig waren damit mili- tärische Einsätze und Aufträge verbunden. Aber insge- Schon im Januar 2013 hatte eine unabhängige Eva- samt sind wir in knapp 50 Friedensmissionen weltweit luation ergeben, dass UNMISS vor allem politisch und unterwegs und tätig. zivil erfolgreich war. Deswegen gab es die Empfehlung, die militärische Komponente radikal zu reduzieren und Ich glaube, die Fraktion Die Linke darf durchaus für gerade politische und zivile Kapazitäten aufzubauen. sich in Anspruch nehmen, dass sie sich mit dem Thema „zivile Friedensarbeit“ sehr intensiv auseinandersetzt. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der LINKEN) Das Gegenteil ist leider passiert, und das findet die Linke grundfalsch. Es ist aber auch richtig, dass die Linken ein typisches (Beifall bei der LINKEN) Schwarz-Weiß-Schema anwenden, bei dem sie auf der einen Seite ein Bild von Frieden und Harmonie zeichnen Deutschland unterstützt UNMISS über den Peace- und auf der anderen Seite den Einsatz militärischer Mit- keeping-Haushalt der Vereinten Nationen, und Deutsch- tel verteufeln. Damit blenden sie einen großen Teil der land gibt noch extra Mittel für den Bundeswehreinsatz Wirklichkeit aus, und damit tun sie so, als ob bei Kon- im Rahmen von UNMISS. Davon wird allerdings nur flikten wie im Südsudan oder auch andernorts allein mit etwa ein Drittel jedes Jahr verbraucht. Allein im letzten zivilen Mitteln eine Besserung der Situation erreicht Jahr sind 1,2 Millionen Euro übrig geblieben. Um diese werden kann. Gerade das ist nicht der Fall. Wer Ihren Mittel geht es in unserem Antrag. Wir wollen sie einset- Vortrag, Frau Vogler, gehört hat, dem ist deutlich gewor- zen, um die Arbeit ziviler Akteure im Südsudan beim den, dass eine rein zivile Antwort in einer solchen Situa- Schutz der Zivilbevölkerung zu fördern. tion schlicht nicht ausreicht. (Beifall bei der LINKEN) Ich glaube sehr wohl, dass wir in unserer Außenpoli- Ich denke zum Beispiel an Nonviolent Peaceforce. tik auch eigene Interessen zu verfolgen haben und dass Nonviolent Peaceforce ist eine internationale Organisa- wir ein Interesse daran haben, in europäischer Nachbar- schaft letztlich für Frieden, für Sicherheit und für Stabi- (B) tion, die mit der lokalen Bevölkerung gemeinsam (D) Schutznetzwerke aufbaut und damit erfolgreich gegen lität zu sorgen. Genau dafür braucht man die UNMISS, ethnische Spaltung agiert. Sie hat dafür gesorgt, dass in die ganz erfolgreich gearbeitet hat und arbeitet. dem Konflikt Dinka Nuer geschützt haben und dass Nuer Dinka geschützt haben. Es wurden Gerüchte aufge- Was haben wir für eine Situation im Südsudan? Es ist klärt, die zu Hass hätten führen können, und Flüchtlinge ein vergleichsweise kleines Land mit gerade einmal aus den Kampfgebieten unterstützt. Für eine solche 9 Millionen Einwohnern. Arbeit braucht es eine flächendeckende, eine große Prä- (Kathrin Vogler [DIE LINKE]: Ein großes senz, vor allem in einem Riesenland wie dem Südsudan. Land!) Deswegen hat sich diese Organisation mit anderen Orga- nisationen im South Sudan Protection Cluster vernetzt. – Ein großes Land, gemessen an der Fläche, aber ein kleines Land, gemessen an der Einwohnerzahl. – Im Jahr Die Arbeit dieser Organisation, so wertvoll sie ist, der Unabhängigkeit wurden bereits 2,2 Milliarden Dol- kostet nicht viel. Aber selbst das wenige Geld, das sie lar an internationaler Hilfe eingesetzt. Im vergangenen braucht, fehlt. Deswegen werben wir dafür, mehr Mittel Jahr – Sie haben die Zahl selber genannt – waren es für genau diese Arbeit zur Verfügung zu stellen, um die 925 Millionen Dollar. Im Mai hat eine internationale Handlungsmöglichkeiten ziviler und gewaltfreier Orga- Geberkonferenz entschieden, die zugesagten Mittel zu nisationen zu verbessern und um damit mehr für den verdoppeln. Es fließt unheimlich viel Geld in dieses Schutz der Menschen vor Gewalt zu tun. Deshalb bitte Land. ich Sie und werbe dafür: Unterstützen Sie unseren An- trag! Unterstützen Sie ziviles, unbewaffnetes Peace- (Zuruf der Abg. Kathrin Vogler [DIE LINKE]) keeping! Darüber hinaus müssen wir, glaube ich, zur Kenntnis Danke. nehmen, dass die Grundvoraussetzungen im Südsudan (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- gar nicht schlecht sind, weil insbesondere aus den NIS 90/DIE GRÜNEN) Ölvorkommen in den vergangenen Jahren Erlöse in Mil- liardenhöhe geflossen sind. Das heißt, es ist keine Frage Vizepräsident Peter Hintze: des Geldes. Man muss vielleicht sehr viel eher überle- gen, wie man die vorhandenen Mittel richtig einsetzt und Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Abge- Eigenverantwortung vor Ort entwickelt. Dazu gehört, ordneten Thorsten Frei, CDU/CSU-Fraktion. dass man klare Erwartungen damit verbindet und diese (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) auch formuliert. 3456 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014

Thorsten Frei (A) Frau Vogler, Sie sind auch darauf eingegangen, dass (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (C) der dahinterliegende ethnische Konflikt zwischen den sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Volksstämmen der Dinka und Nuer, der sich letztlich Sie hat danach gesagt – das haben Sie von der Koali- auch in den beiden Personen des Präsidenten Kiir und tion immer wieder betont –, es gehe vor allem darum, des Rebellenführers Machar abbildet, die große Kon- zivile Instrumente zur Konfliktlösung und zur Krisen- fliktlinie in diesem Land ist. Deshalb, glaube ich, ist es prävention einzusetzen. Das ist die Botschaft, mit der Sie ganz entscheidend, dass man es schafft, die Parteien wie- die neuen „Afrikapolitischen Leitlinien der Bundesregie- der an den Verhandlungstisch zurückzubringen. Der rung“ gerade verkaufen. Friedensschluss vom Mai dieses Jahres war ein erstes zartes Pflänzchen, das sich da gezeigt hat, und jetzt geht Was tun wir denn genau in Afrika? Es gab in den letz- es darum, diesen Friedensschluss nachhaltig umzuset- ten Monaten schöne Bilder von der Mali-Reise der zen. Verteidigungsministerin. Es gibt die schreckliche Ge- walteskalation in der Zentralafrikanischen Republik, wo Es ist wahr, dass unvorstellbare Gräueltaten im der deutsche Beitrag zur Konfliktlösung mit Blick auf Südsudan heute wieder an der Tagesordnung sind, dass den zivilen Bereich ehrlicherweise mehr als bescheiden es Verfolgung gibt, dass Kinder als Soldaten missbraucht ist. werden, dass eine Hungerkatastrophe im Anzug ist und vieles mehr. Über 10 000 Menschen haben in diesem Während wir alle hier sehr abstrakt über Afrika disku- Konflikt erst jüngst ihr Leben verloren, und – Sie haben tieren, ist im Südsudan Folgendes passiert: Präsident es selbst gesagt – etwa 60 000 Flüchtlinge haben Camps Salva Kiir und der Exvizepräsident Machar haben ihren von UNMISS zum Schutz erreichen wollen und auch persönlichen Machtkampf anhand ethnischer Linien erreicht. Daran wird klar, dass rein zivile Mittel und blutig eskalieren lassen. Es ist ein humanitäres Desaster Bürgernetzwerke auf Dorfebene, wie es beispielsweise eingetreten. Es gab über 20 000 Todesopfer, wobei die Nonviolent Peaceforce macht – sicherlich eine sehr gute genauen Zahlen nicht gesichert sind; es sind wahrschein- Arbeit –, den Anforderungen angesichts der Situation lich viel mehr. 1,5 Millionen Menschen sind im Süd- vor Ort letztlich nicht gerecht werden, sondern das ei- sudan intern vertrieben. 863 000 Menschen sind in die gentliche Problem die fehlende Staatlichkeit, die fehlen- Nachbarländer geflohen. Es droht eine Hungerkatastro- den Strukturen sind. phe. Die UN sagen, dass sie in den nächsten drei Jahren 1,1 Milliarden Euro brauchen. Es ist zu grausamsten Genau darauf und auf die Probleme in der Justiz Menschenrechtsverletzungen gekommen. Todesschwa- – Korruption und dergleichen mehr – ist UNMISS die dronen sind durch das Land gezogen. Das Ausmaß an richtige Antwort. Es ist die richtige Antwort, weil es sich sexueller Gewalt ist wirklich erschreckend. Kinder wur- (B) dabei nicht um einen Kriegseinsatz handelt, sondern um den als Soldaten rekrutiert. Es ist eine desaströse Situa- (D) eine Beobachtermission, in der 12 500 Soldatinnen und tion, die wir dort gesehen haben. Soldaten aus 66 Nationen ihren Auftrag in einer hervor- ragenden Art und Weise erledigen. Dazu gab es aber kaum ein Wort von Verteidigungs- ministerin von der Leyen und von Außenminister (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Steinmeier, obwohl die Bundeswehr im Rahmen der UN-Friedensmission UNMISS dort vor Ort ist. Wir glauben, das Problem besteht nicht darin, dass da zu wenig Geld im Spiel ist; wir müssen letztlich auf Ei- Ich habe die Bundesregierung in den letzten Wochen genverantwortung und auf die richtigen Rahmenbedin- mehrfach gefragt, wie sie innerhalb der Vereinten Natio- gungen vor Ort setzen. Darauf müssen wir Rücksicht nen zu dem Thema Individualsanktionen bezüglich der nehmen. Genau das tun wir. Deshalb werben wir dafür, zwei – anders kann man sie nicht nennen – Verbrecher Ihren Antrag abzulehnen. steht. Bis heute hat die Bundesregierung hierzu keine klare Haltung eingenommen. Damit haben sich Ihre gro- Vielen Dank. ßen Ankündigungen von der neuen Verantwortung der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik für mich ein (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Stück weit als Showreden an die Adresse der westlichen neten der SPD) Partner entlarvt. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Vizepräsident Peter Hintze: und bei der LINKEN) Als nächster Rednerin erteile ich das Wort der Abge- ordneten Agnieszka Brugger, Bündnis 90/Die Grünen. In dem Antrag der Linken wird gefordert, nicht abge- rufene Haushaltsmittel für UNMISS in den unbewaffne- ten Schutz der Zivilbevölkerung zu investieren. Herr Agnieszka Brugger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Kollege Frei, egal wie lange ich darüber nachdenke, ich NEN): kann darin nichts Falsches sehen. Es ist eine absolut Herr Präsident! Meine Damen und Herren! „Sit and richtige Forderung. wait is no option.“ Diesen starken Satz hat Verteidigungs- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ministerin von der Leyen auf der Münchner Sicherheits- und bei der LINKEN) konferenz gesagt. Er wurde breit verstanden als Abkehr von der Kultur der militärischen Zurückhaltung. Das Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linkspartei, wäre ein Kurs, den wir Grüne klar ablehnen würden. ich bin wirklich sehr positiv überrascht über Ihren An- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014 3457

Agnieszka Brugger (A) trag und auch darüber, dass Sie so klar einräumen, das Bundesrepublik zum einen UNMISS, die Mission der (C) UNMISS einen sehr wertvollen Beitrag zum Schutz der Vereinten Nationen im Südsudan. Sie hat den klaren Zivilbevölkerung geleistet hat. Über 93 000 Menschen Auftrag, die Zivilbevölkerung zu schützen und die hu- haben dort Zuflucht gefunden. Ich bin denjenigen, die im manitäre Hilfe abzusichern. Rahmen von UNMISS ihren Dienst tun, zutiefst dankbar für jeden Einzelnen, den sie vor Gewalt retten konnten. Der Antrag der Linken erkennt an, dass UNMISS ei- nen Beitrag zum Schutz der Bevölkerung geleistet hat (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) und nennt dabei die Öffnung der UNMISS-Stützpunkte Es ist völlig richtig – das tun auch Sie in Ihrem An- für – das sind meine Zahlen – 65 000 Vertriebene. Es ist trag –, zu der Konzeption von UNMISS kritische Fragen auch richtig, dass UNMISS nicht im ganzen Land für zu stellen und kritische Punkte anzumerken. Aber ich Sicherheit sorgen kann. Auch UNMISS-Soldatinnen und finde, dieser Antrag und auch die Rede der Kollegin -Soldaten sind Angriffen ausgesetzt. Ein Beispiel dafür Vogler stehen in einem sehr wohltuenden Kontrast zu ist der Angriff von Bewaffneten auf ein UNMISS-Ge- den Reden, die Sie von der Linkspartei sonst zum Teil lände in Bor vor zwei Monaten mit mindestens 48 Toten. hier gehalten haben. Teilweise haben Sie, wie ich finde, mit sehr konstruierten Argumenten den UNMISS- Selbst die Welthungerhilfe fordert deshalb, die Einsatz abgelehnt. Schutzfunktion für die Zivilbevölkerung im Rahmen der Erneuerung von UNMISS auszuweiten, wobei auch (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Deutschland seinen Beitrag leisten soll. Die Frage, ob Ihr Antrag wäre aber noch besser gewesen, wenn Sie und wie wir UNMISS weiterentwickeln, wird uns sehr noch weitere Forderungen aufgenommen hätten, zum bald beschäftigen. Fest steht, dass die Forderung der Beispiel die Forderung, UNMISS zu stärken und zu ver- Linken nach unbewaffnetem Schutz der Zivilbevölke- ändern. Da geht es um mehr Personal – es kann ja auch rung, wenn sie als Alternative zu UNMISS gemeint sein ziviles Personal sein, es muss nicht immer militärisches sollte, komplett an der Realität des Landes vorbeigeht. Personal sein –, es geht um Transportkapazitäten. Jetzt Dabei ist die Beteiligung an UNMISS bei weitem schaue ich in Richtung Bundesregierung: Es geht darum, nicht der einzige Beitrag Deutschlands. Außenminister die Mittel für die humanitäre Hilfe zu erhöhen. Herr Au- Frank-Walter Steinmeier hat auf der Geberkonferenz in ßenminister Steinmeier hat 6 Millionen Euro zusätzlich Oslo – das wurde bereits erwähnt – vor kurzem 6 Millio- zur Verfügung gestellt. Wir brauchen aber, wie gesagt, nen Euro für weitere humanitäre Hilfe zugesagt. Ich über 1 Milliarde Euro. würde schon sagen, dass sich der Außenminister an die- Die Bundesregierung muss klare Position beziehen ser Stelle zur Situation des Landes geäußert hat. (B) und sagen: Wenn die beiden Kontrahenten den Waffen- (D) stillstand nicht umsetzen und keine Vereinbarungen für (Beifall bei der SPD) die Zukunft treffen, dann muss politischer Druck ausge- übt werden und dann müssen endlich Sanktionen ver- Vizepräsident Peter Hintze: hängt werden. Frau Kollegin Heinrich, es gibt den Wunsch nach ei- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) ner Frage von Frau Kollegin Vogler. Möchten Sie sie zu- lassen? Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, „Sit and wait is no option.“ Wenn das mehr als nur schöne Schaufensterreden sein sollen, dann sollten Sie Gabriela Heinrich (SPD): dem Antrag der Linken zustimmen. Bitte. Vielen Dank. Kathrin Vogler (DIE LINKE): (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) Frau Kollegin, eigentlich hat es mir schon beim Kol- legen Frei in den Fingern gejuckt, aber jetzt erwischt es Sie. Ich kann den Beiträgen der Regierungskoalition Vizepräsident Peter Hintze: nicht entnehmen, dass Sie unseren Antrag wirklich gele- Als nächster Rednerin erteile ich das Wort der Abge- sen haben. ordneten Gabriela Heinrich, SPD Fraktion. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) (Beifall der Abg. Agnieszka Brugger [BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN]) Gabriela Heinrich (SPD): Wir fordern darin nicht, UNMISS umgehend einzustel- Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kollegen und len. Wir fordern nur, dass die Bundesregierung die Mit- Kolleginnen! Meine Damen und Herren! Hunger, Ar- tel, die sie für UNMISS bereits eingeplant hatte, freigibt, mut, Gewalt, Flucht, Vertreibung und Tod kommen im um damit andere zivile und gewaltfreie Organisationen, Südsudan derzeit zusammen. Die Lage der Menschen im die bereits erfolgreich arbeiten, zu fördern und es ihnen Südsudan – das wurde bereits erwähnt – ist katastrophal. zu ermöglichen, den Schutz der Zivilbevölkerung zu or- In einer solchen Situation geht es jetzt darum – es geht ganisieren. Es handelt sich nur um einen winzigen, klei- uns allen darum –, den Menschen zu helfen, so schnell nen Anteil des Gesamtbeitrages, der über die Vereinten wie irgend möglich. Deswegen unterstützen wir als Nationen in das UNMISS-Budget fließt. Ich verstehe 3458 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014

Kathrin Vogler (A) nicht, zu welchem Antrag Sie hier reden. Wir reden über Die bisherigen Waffenstillstandsabkommen – da wer- (C) einen sehr konkreten Antrag. den Sie mir recht geben – sind brüchig. Deutschland und die EU werden weiter mit ganzer Kraft – ein Kollege hat (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- darauf hingewiesen – die afrikanischen Vermittlungsbe- NIS 90/DIE GRÜNEN) mühungen unterstützen, hier weiter voranzukommen, Es geht um eine relativ kleine Summe, mit der sehr viel und das aus gutem Grund: Der politische Konflikt um bewegt und verändert werden kann. die Macht, um Geld und um Öl ist der Kernkonflikt in diesem Land, an dem alles Weitere hängt. Ohne eine be- Wenn Sie sagen, Sie lehnen einen Antrag von uns ab, lastbare Einigung werden wir keinen nachhaltigen Frie- dann können Sie ihn gerne abschreiben und das Geld den im Südsudan erhalten. Wir werden auch nachgela- von anderer Stelle nehmen. Woher Sie es nehmen, ist gerte Konflikte nicht lösen können, solange die Wurzel mir letzten Endes egal. Wichtig ist mir, dass es bei den des Konflikts unverändert besteht. Menschen und Organisationen ankommt, die zum Schutz der Zivilbevölkerung, der Menschen im Südsu- Um es zusammenzufassen: Die deutsche Unterstüt- dan, die sich in dieser fürchterlichen Situation befinden, zung für den Südsudan ist weit mehr als die Beteiligung beitragen; denn sie haben effektiv gearbeitet. Sie haben an UNMISS. Erfolge erzielt. Ohne diese Organisationen wäre im letz- Die im Antrag der Linken angesprochene unbewaff- ten Bürgerkrieg noch viel mehr passiert. Deshalb muss nete Friedenssicherung – ich habe es schon gesagt – hat man diese Ansätze ausbauen und fördern. für die SPD durchaus einen speziellen Charme. Wir un- terstützen seit langem den Zivilen Friedensdienst, dessen Insofern bitte ich Sie: Sprechen Sie einmal konkret zu Gründung unter Rot-Grün von Heidemarie Wieczorek- diesem Antrag, der vorliegt, und verhalten Sie sich dazu. Zeul vorangetrieben wurde. Die Große Koalition be- (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- kennt sich zum einst von Rot-Grün verabschiedeten Ak- NIS 90/DIE GRÜNEN) tionsplan „Zivile Krisenprävention, Konfliktforschung und Friedenskonsolidierung“. Das BMZ finanziert welt- weit Projekte der deutschen Friedens- und Entwick- Gabriela Heinrich (SPD): lungsorganisationen, die den Zivilen Friedensdienst tra- Frau Vogler, ich werde mich sofort dazu verhalten. gen. Ich habe Ihren Antrag sehr genau gelesen. Dieser Antrag hat unzweifelhaft für die SPD einen gewissen Charme. (Kathrin Vogler [DIE LINKE]: Ja, aber im Ich habe mich auch erkundigt, ob eine Umwidmung die- Südsudan nicht mehr!) ser Mittel möglich wäre, habe aber eine abschlägige Die Stärkung des Zivilen Friedensdienstes war und ist (B) (D) Antwort erhalten; dazu komme ich noch. Ich glaube, wir gerade für uns als SPD ein wichtiges Anliegen; das ha- sind uns einig, dass wir alle miteinander den Menschen ben wir auch bei den diesjährigen Haushaltsberatungen im Südsudan so schnell wie möglich helfen wollen. Ich deutlich gemacht. Ich denke, an dieser Stelle müssen wir möchte aber in meinen Ausführungen darstellen, dass uns nichts vorhalten lassen. Deutschland sich sehr wohl seiner Verantwortung be- wusst ist und an dieser Stelle im Moment sehr viele Mit- Aber davon abgesehen, dass eine Umwidmung im tel einsetzt. Wir können nachher noch einmal darüber re- Haushalt nicht möglich ist, darf man UNMISS und die den. zivile Friedenssicherung nicht gegeneinander ausspie- len. Auch wenn es in einzelnen Dörfern – ich habe Ihren Ich komme nun zu meinen Ausführungen zurück. Die Antrag sehr genau gelesen – möglich sein mag, dass Beteiligung an UNMISS ist bei weitem nicht der einzige Menschen ihre Nachbarn, die einer anderen ethnischen Beitrag Deutschlands. Ich habe es schon gesagt: Der Au- Gruppe angehören, schützen: 800 000 Menschen, Bin- ßenminister hat 6 Millionen Euro für weitere humanitäre nenflüchtlinge, sind im Südsudan aktuell auf der Flucht, Hilfe zugesagt. mindestens 20 000 Menschen – die Zahl wurde schon Insgesamt werden wir allein für humanitäre Hilfe in die- genannt – sind getötet worden. Das Land befindet sich sem Jahr 12,5 Millionen Euro zur Verfügung stellen. Das mitten im Konflikt. Beobachter berichten von Leichen ist dringend notwendig – da gebe ich Ihnen völlig recht –, am Straßenrand und stündlichen Übergriffen der ver- und ich bin sehr froh, dass sich der Außenminister hier schiedenen Milizengruppen. entsprechend einsetzt. Zuletzt sollen im April bei der Eroberung der Öl- Hauptstadt Bentiu allein 200 Zivilisten ermordet worden Der Entwicklungsminister hat bereits im März sein, die in einer Moschee Zuflucht gesucht hatten. Es 10 Millionen Euro für das Welternährungsprogramm zu- soll eine regelrechte Jagd auf Menschen wegen ihrer eth- gesagt. Mit einem Quick Response Fonds in Höhe von nischen Zugehörigkeit gegeben haben. Die Truppen der 5 Millionen Euro wird Deutschland Hilfeleistungen von Vereinten Nationen konnten einige Hundert Zivilisten in Nichtregierungsorganisationen im Südsudan unterstüt- das UNMISS-Camp evakuieren. zen, zum Beispiel die Verteilung von Saatgut. Weitere 7,5 Millionen Euro werden Nichtregierungsorganisatio- Hier müssen wir die Parallelen zu Ruanda beachten. nen vor Ort erhalten. Aber erst Ende April konnte ein (Kathrin Vogler [DIE LINKE]: Bitte?) Expertenteam aus Deutschland wieder einreisen und ver- sucht jetzt, die Hilfe unter sehr schwierigen Bedingun- Auch dort ging es ursprünglich nicht um einen ethni- gen zu starten. schen Konflikt, sondern um die Instrumentalisierung der Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014 3459

Gabriela Heinrich (A) ethnischen Zugehörigkeit. Am Ende stand in Ruanda ein kungsorientierte humanitäre Hilfe bilden. Die Bundes- (C) Völkermord. Auch im Südsudan instrumentalisieren die wehr vor Ort muss voll handlungsfähig bleiben. Wenn Konfliktparteien die ethnischen Zugehörigkeiten. Es die Lage im Südsudan allein durch Geld, insbesondere wurde und es wird Hass im Südsudan gesät, der letztlich durch die von der Linken vorgeschlagene Umbuchung, zu einer Spirale von Gewalt und Gegengewalt geführt zu lösen wäre, glauben Sie dann ernsthaft, dass wir uns hat und weiter führen wird. Ich halte es deshalb für eine zu einem Einsatz bewaffneter deutscher Streitkräfte ent- Illusion, zu glauben, dass aktuell unbewaffnete, zivile schlossen hätten, Kräfte ein weiteres Blutvergießen verhindern können. (Beifall bei der CDU/CSU – Zurufe von der (Kathrin Vogler [DIE LINKE]: Aber sie tun LINKEN: Ja! – Allerdings!) das! Jeden Tag! In einer unmöglichen Situa- bei dem Bundeswehrsoldaten auch ernsten Gefahren tion!) ausgesetzt wären? Wir müssen jetzt die Grundlagen dafür schaffen, dass (Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Leider ja! – sich die Menschen wieder frei und ohne Angst vor Ge- Agnieszka Brugger [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- walt bewegen und ihre Felder bestellen können. Dann NEN]: Das ist traurig und peinlich, was Sie kann auch die Entwicklungszusammenarbeit wieder mit hier machen!) voller Kraft anlaufen. Die Aufarbeitung und die Versöh- nung im Land müssen darauf aufbauen, um die Gefahr Vor allem ist der Antrag schlichtweg nicht mit der künftiger Konflikte zu verringern und den Frieden nach- Haushaltssystematik, insbesondere der Jährlichkeit der haltig abzusichern. Aber zuvor muss die internationale Mittel, vereinbar. Die Linke verkennt, dass die nicht ver- Gemeinschaft darauf hinwirken, dass der Waffenstill- wendeten Haushaltsmittel aus dem Einzelplan 14, die stand dauerhaft eingehalten wird. zunächst für die UNMISS vorgesehen werden, nicht ein- fach ungenutzt bleiben, sondern umgehend in andere in- Mit Ihrem Antrag werden Sie unserer Ansicht nach ternationale Missionen der Bundeswehr wie zum Bei- der aktuellen Situation im Südsudan nicht gerecht, und spiel MINUSMA fließen, wo sie auch dringend benötigt daher werden wir Ihrem Antrag nicht zustimmen. werden. Vielen Dank. Die Rolle und Notwendigkeit von UNMISS muss (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – hervorgehoben werden. Der Südsudan ist seit der Sezes- Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: sion im Jahr 2011 der jüngste Staat der Erde. Er ist aus Mit weniger Geld wäre es besser, oder was?) einer Rebellenbewegung heraus entstanden, die sich noch immer vor der strukturellen Herausforderung der (B) neu gewonnenen Staatlichkeit sieht. Machen wir uns (D) Vizepräsident Peter Hintze: nichts vor: Unser Verständnis von Staatlichkeit, ja Als letzter Rednerin in dieser Debatte erteile ich das Rechtsstaatlichkeit und von einer Regierung ist hier völ- Wort der Abgeordneten Emmi Zeulner, CDU/CSU-Frak- lig verfehlt. Es handelt sich um eine Regierung, die sich tion. in den politischen Machtkämpfen auf blutige Weise (Beifall bei der CDU/CSU) durchgesetzt hat. Im Mittelpunkt steht der ethnische Konflikt zwischen den vom Präsidenten Kiir geführten Dinka und den hinter dem ehemaligen Vizepräsidenten Emmi Zeulner (CDU/CSU): Machar stehenden Nuer. Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir alle sind uns der nicht tragbaren, katastro- Auch wenn es im Mai dieses Jahres auf internationa- phalen Lage im Südsudan bewusst, katastrophal vor al- len Druck hin zu einer Friedensvereinbarung kam, ist lem für die zivile Bevölkerung, die leider – wie so oft – dies leider kein Garant für eine andauernde Stabilität. Leidtragende politischer und ethnischer Machtkämpfe Auf Grundlage dieser Analyse stellt sich nun die ist. Ihr Schutz – da sind wir uns alle einig – ist und bleibt Frage, welche Unterstützung die Bevölkerung benötigt. oberste Priorität für jede Hilfeleistung Deutschlands und Sehr schnell komme ich zu dem Schluss: Unbewaffneter der Vereinten Nationen. Dies hat der Sicherheitsrat in Schutz ist hierbei ein Widerspruch in sich. seiner letzten Resolution auch bewusst mit der Fokussie- rung der UNMISS auf den Schutz der Zivilbevölkerung (Lachen bei der LINKEN – Kathrin Vogler und der humanitären Hilfe klargestellt. Auch Bundes- [DIE LINKE]: Fahren Sie mal hin!) minister Dr. Müller hat bestätigt, dass bereits um die 30 Millionen Euro an finanziellen Zusagen bereitgestellt Dies zeigen die Überfälle auf und in Flüchtlingslagern. wurden und mit der Umsetzung der humanitären Hilfe Zentraler Punkt muss die Hilfe zur Selbsthilfe beim Auf- zügig begonnen wurde. Im laufenden Jahr sollen die bau eines neuen Staates sein. Doch dazu ist es meiner Mittel noch einmal substanziell gesteigert werden. Ansicht nach noch zu früh. Auf den Trümmern eines Bürgerkrieges lässt sich schwer ein stabiler Staat bilden, Gerade vor diesem Hintergrund lautet meine Antwort der der Bevölkerung Sicherheit bieten kann. Ich spreche auf den Antrag der Fraktion Die Linke: Wir brauchen die hier noch nicht einmal von einer Sicherheit im Sinne des im Einzelplan vorgesehenen Bundesmittel für internatio- erweiterten Sicherheitsbegriffes, die den Bürgern Schutz nale Einsätze der Bundeswehr auch weiterhin an dieser nach innen und außen gewährt, auch wenn ich der Mei- Stelle. In Krisengebieten, wie es der Südsudan ist, kann nung bin, dass der erweiterte Sicherheitsbegriff als lang- nur die VN-Mission den nötigen Rahmen für eine wir- fristiges Ziel im Rahmen eines Gesamtkonzeptes für 3460 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014

Emmi Zeulner (A) Afrika von der internationalen Gemeinschaft gelebt wer- Wir stehen dort in der Verantwortung. Denn wenn erneut (C) den muss. blutige Auseinandersetzungen drohen, hilft den Men- schen vor Ort vor allem auch der bewaffnete Einsatz. In (Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: einem Land, in dem Krankenhäuser überfallen und Men- Das ist doch zynisch!) schen willkürlich umgebracht werden, braucht die Bun- Nein, ich spreche zunächst von einem grundlegenden deswehr den finanziellen Rückhalt. Sicherheitsgefüge, welches ein Staat seiner Bevölkerung (Beifall bei der CDU/CSU) gewährleisten sollte. In einem Staat, der von einer Re- bellenarmee ohne Loyalität und Kohäsion unterstützt Ich zumindest möchte nicht die Verantwortung dafür tra- wird, ist dies nicht möglich. gen, zivile Helfer ohne bewaffneten Schutz in dieses Krisengebiet zu entsenden. Deswegen ist der bewaffnete Einsatz der VN so wich- tig. Bewaffneter Einsatz heißt ja nicht, dass die Verein- (Beifall bei der CDU/CSU – Inge Höger [DIE ten Nationen mit gezogener Waffe vor Ort handeln. Be- LINKE]: Das wollen die gar nicht!) waffneter Einsatz heißt, dass es ein robustes Mandat gibt und die Angehörigen von UNMISS ihr Mandat notfalls Vizepräsident Peter Hintze: auch durch Androhung – und erst in der höchsten Eska- Ich schließe die Aussprache. lationsstufe durch Anwendung – von staatlicher Waffen- gewalt durchsetzen können. Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 18/1614 mit dem Ti- (Beifall bei der CDU/CSU) tel „Umwidmung nicht genutzter Bundesmittel der Uni- Diese Bewaffnung dient letztlich auch dem Selbstschutz ted Nations Mission in South Sudan (UNMISS) für die der Soldaten. Unterstützung des unbewaffneten Schutzes der Zivilbevöl- kerung im Südsudan“. Wer stimmt für diesen Antrag? – Die Leistung der VN möchte ich hier ganz deutlich Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Dann ist der hervorheben; denn so wirkungslos, wie uns die Linke Antrag mit den Stimmen von CDU/CSU- und SPD- das in ihrem Antrag schildert, ist UNMISS keinesfalls. Fraktion gegen die Stimmen der Fraktionen Die Linke Auch UNMISS hat „Friedensfachkräfte“, bringt den und Bündnis 90/Die Grünen abgelehnt. „Friedensprozess“ voran und baut „Friedensinfrastruktu- ren“ auf. Diese Begriffe schreibt die Linke in ihrem An- Wir haben jetzt noch eine ganze Reihe von Abstim- trag aber nur den Organisationen zu, die mit dem Antrag mungen vorzunehmen. unterstützt werden sollen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 20 auf: (B) (D) (Agnieszka Brugger [BÜNDNIS 90/DIE Zweite und dritte Beratung des von der Bundes- GRÜNEN]: Das stimmt überhaupt nicht! Das regierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes steht in dem Antrag drin!) zur Änderung des Rindfleischetikettierungsge- Der Antrag verkennt die schützende und verbindende setzes und des Legehennenbetriebsregisterge- Rolle, zu der auch die Bundeswehr ihren Teil beiträgt. setzes Wie kann der geforderte Entzug von Bundesmitteln Drucksache 18/1286 für UNMISS – nichts anderes ist die Umwidmung – Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- diese Lage verbessern? schusses für Ernährung und Landwirtschaft (Kathrin Vogler [DIE LINKE]: Das ist eine ab- (10. Ausschuss) solut absurde Debatte hier!) Drucksache 18/1639 Die richtige Antwort auf gestiegene Soldatenzahlen bei Die Reden sollen zu Protokoll gegeben werden. den Rebellenarmeen sieht für mich anders aus. Ich bin, wie anfangs gesagt, der festen Überzeugung, dass nur das Militär den Rahmen für eine wirkungsvolle humani- Thomas Mahlberg (CDU/CSU): täre Hilfe im Südsudan bilden kann. Das heute behandelte Gesetz scheint auf den ersten Blick rein bürokratischer Natur zu sein. Es hat sich auf (Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Gut der EU-Ebene wieder etwas geändert – oder auch die auswendig gelernt!) Bundesministerien heißen anders –, und schon muss Ich erkenne selbstverständlich die Leistung der zivilen ein neues Gesetz her. Ja, es müssen auch Bezugnahmen Akteure vor Ort an und verweise auf die zahlreichen im nationalen Recht auf das EU-Recht angepasst wer- Programme, die die Bundesregierung bereits unterstützt. den. (Beifall bei der CDU/CSU) Wenn man sich aber gründlich mit der Vorlage be- schäftigt, erkennt man, dass es in dem Gesetzentwurf Gerade jetzt, in dieser instabilen Lage, müssen die der Bundesregierung zur Änderung des Rindfleisch- vorgesehenen Mittel aus dem Einzelhaushalt für die etikettierungsgesetzes und des Legehennenbetriebs- Bundeswehr schnell abrufbar sein. registergesetzes um viel mehr geht, nämlich: um den (Kathrin Vogler [DIE LINKE]: Das passt Ihnen gesundheitlichen Verbraucherschutz, den Schutz der ideologisch nicht in den Kram, oder?) Verbraucher vor Täuschung und Tierwohl. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014 3461

Thomas Mahlberg (A) Um es vorwegzunehmen: Nein, mit der Änderung meinsam mit der Bundesregierung – am Ball und (C) des Rindfleischetikettierungsgesetzes wollen wir kei- kämpfen für eine bäuerliche Landwirtschaft mit ihrer nen neuen sprachlichen Rekord aufstellen und das Vielfältigkeit an Haltungssystemen und hohem Verant- Rindfleischetikettierungsüberwachungsaufgabenüber- wortungsbewusstsein für Mensch, Tier und Umwelt. tragungsgesetz in der Länge des Namens überbieten. Wir wollen die notwendigen technischen Anpassun- Marlene Mortler (CDU/CSU): gen vornehmen, damit dieses wichtige Gesetz richtige Wir reden über die Rindfleischetikettierung und es Verweise enthält. Nur so können wir sicherstellen, dass ist ziemlich spät am Abend. Ganz ehrlich, das ist kein das Gesetz zur besonderen Etikettierung von Rind- schlechtes, es ist ein richtig gutes Zeichen. Denn nach fleisch weiterhin die Verbraucher vor gesundheitlichen stürmischen Zeiten in Sachen Rindfleisch ist wieder Risiken schützt. Denn wir dürfen nicht vergessen, wo- Alltag eingekehrt. Vor 15 Jahren war BSE das große rauf diese gesetzlichen Vorgaben zurückzuführen sind. Thema auf den Titelseiten unserer Boulevardblätter. Sie wurden als Reaktion auf die BSE-Krise eingeführt Ein Gespenst ging um in Europa, ein reales Ge- und bewähren sich bis heute. spenst. Die Menschen hatten Angst vor einer neuen Bei den Änderungen des Legehennenbetriebsregis- großen Epidemie. In Großbritannien erkrankten die tergesetzes handelt es sich nicht nur um Verweiskor- Rinder reihenweise, ganze Herden wurden gekeult. rekturen. Es wird die Überwachung der Legehennen- Ich will nicht sagen, dass BSE und die hiervon wohl haltung in Deutschland verbessert, indem die ausgelöste Creutzfeld-Jakob-Krankheit – ganz bewie- Regelung der Kennnummernvergabe für Legehennen sen ist das ja immer noch nicht – überwunden seien. haltende Betriebe geändert wird. Die neue Regelung Aber es ist doch gelungen, die Krankheit ganz erheb- ermöglicht es, insbesondere Betrugsfällen zu begeg- lich einzudämmen. nen, wie es sie im Februar 2013 mit Bioeiern gab. Die Medien berichteten von den Ermittlungen der Staats- In den letzten fünf Jahren gab es in Deutschland ge- anwaltschaft Oldenburg gegen mehr als 100 Legehen- rade einmal zwei Fälle. Das kommt nicht von nichts. nenbetriebe. Wir haben wirklich etwas erreicht, Bund, Länder, Fleischverarbeitung und Bauern gemeinsam. Zusätz- Der Vorwurf: Überbelegung der Ställe. Hinzu lich zu den allgemeinen Vorschriften des Lebensmittel- kommt, dass die Eier zu Unrecht als Bioprodukt ver- rechts und der Lebensmittelkennzeichnung gibt es marktet wurden und so die Verbraucher getäuscht wur- beim Rindfleisch ein System, das die Herkunft jedes den. Ferner wurde durch die Überbelegung der Ställe Steaks und jeder Rindswurst transparent macht. Sie (B) das Mehr an Tierwohl, das in der Biohaltung eingehal- können heute von der Bedientheke an den Weg jedes (D) ten werden muss, eingeschränkt. Stückes Rindfleisch über alle Vermarktungs- und Er- Um derartigen Betrügereien besser entgegenzusteu- zeugungsstufen zurückverfolgen bis in den Stall, ja so- ern, wird es den Kontrollbehörden künftig möglich gar bis zu einer konkreten Gruppe von Tieren. Und Sie sein, aufgrund der Anzahl der vermarkteten Eier in können ablesen, wo ein Tier geboren, gemästet, ge- Verbindung mit durchschnittlichen Legeleistungen schlachtet und zerlegt wurde. Rückschlüsse auf die tatsächliche Anzahl der gehalte- Unser Transparenz- und Überwachungssystem hat nen Tiere zu ziehen. So werden der Schutz der Verbrau- in den letzten Jahren ausgezeichnet funktioniert, und cher vor Täuschung und das Tierwohl gestärkt. so soll es auch in Zukunft bleiben, weil dieses System Wir sind uns alle einig, dass Missstände in der das Vertrauen der Konsumentinnen und Konsumenten, Landwirtschaft konsequent aufgeklärt, behoben und unser aller Vertrauen, in unser Rindfleisch wieder her- gegebenenfalls auch sanktioniert werden müssen. Und gestellt hat. Ich möchte sagen: Vertrauen, das heute dies unabhängig davon, ob es sich um ökologische absolut berechtigt ist. Es ist beim Rindfleisch wie bei oder konventionelle Landwirtschaft handelt. Denn für fast allen Lebensmitteln: Sie sind heute so sicher wie uns Christdemokraten ist klar: Gesundheitlicher Ver- noch nie zuvor. Und so muss es in Zukunft auch blei- braucherschutz steht an erster Stelle. ben – das ist das klare Ziel unserer Fraktion. Es ist deshalb keine große Nachricht, wenn wir Ebenso steht es für uns fest, dass sich alle Beteilig- heute eine Reihe von Verweisregeln des Rindfleisch- ten an die Regeln halten müssen. Da hilft es nicht wei- etikettierungsgesetzes an den Stand der europäischen ter, ideologisch die einen für die Guten und die ande- Rechtsetzung anpassen. Ich muss gar nicht im Einzel- ren für die Bösen zu erklären. Unsere Bauern – egal, nen beschreiben, was wir durch welche Regelung wie nach welchem Haltungssystem sie wirtschaften – sind genau ersetzen. in Sachen Verbraucher-, Tier- und Umweltschutz spitze. Sie sind Vorreiter nicht nur in Europa, sondern Die Nachricht, die dahinter steht ist: Mit dem Sys- auch weltweit. Darauf können wir stolz sein, dafür ha- tem der Rindfleischetikettierung, das wir nach dem ben wir unseren Landwirten höchsten Respekt zu zol- Auftauchen von BSE aufgesetzt haben, können wir wei- len. termachen. Es hat sich bewährt. Selbstverständlich soll das nicht heißen, dass bei Mehr als über Rindfleisch wurde zuletzt über Hüh- uns alle Probleme gelöst sind. Deswegen sind wir – ge- ner und Eier gesprochen. Nicht weil es dort Krankhei-

Zu Protokoll gegebene Reden 3462 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014

Marlene Mortler (A) ten oder Gefährdungen, geschweige denn einen Ge- Zeitgleich aktualisieren wir auch das Rindfleisch- (C) sundheitsskandal gegeben hätte, sondern weil das eine etikettierungsgesetz. Wir passen Definitionen und Be- oder andere schwarze Schaf unter die Biobauern ge- zeichnungen an, die sich mit der Reform der Gemein- gangen ist – und damit erheblichen Imageschaden an samen Agrarpolitik auf EU-Ebene geändert haben. der Branche ausgelöst hat. Ich denke etwa an den Fall, Das war dringend notwendig. der im April ans Licht gekommen ist: Ein Landwirt aus Niedersachsen hatte in großem Stil konventionelle In Sachen Legehennen gilt es nun allerdings noch Hähnchen als Neuland-Hähnchen verkauft und damit eine weitere Überwachungslücke zu schließen. Um die die Käufer geprellt. Besatzdichten in Legehennenbetrieben tatsächlich ef- fektiv kontrollieren zu können, müssen die Brütereien Weil wir beim Rindfleisch mit der Herkunftsverfol- und die Junghennenaufzucht in die Überwachungs- gung gute Erfahrung gemacht haben, ist es richtig, das kette integriert werden. System der Kennnummernvergabe auch bei der Lege- Herr Minister Schmidt, bitte prüfen Sie schnell, wie hennenhaltung fortzuentwickeln. Deswegen ändern wir dies umsetzen können. Wir sollten alles daranset- wir hier auch das Gesetz mit dem griffigen Titel Lege- zen, den nächsten Eier-Skandal zu verhindern, bevor hennenbetriebsregistergesetz. er passiert. Wir wollen, dass über die Kennzeichnung die An- Die aktuelle Gesetzesänderung ist ein erster Schritt. zahl der vermarkteten Eier sichtbar wird und man da- Aber dabei sollte und darf es nicht bleiben. Um das durch Schlüsse auf die Menge der Hühner in einem Vertrauen der Verbraucher in unsere Lebensmittel- Stall ziehen kann, weil wir Überbelegungen verhin- produktion und unsere Überwachungsbehörden dern wollen. Das geschieht aus drei guten Gründen: wiederherzustellen, müssen wir nicht nur die Voraus- erstens natürlich wegen des Tierschutzes, zweitens setzungen für die lückenlose Überwachung von Lege- zum Schutz all jener Landwirte, die sich an die Regeln hennen schaffen. Wir müssen auch mehr Transparenz halten und die deshalb nicht mit Wettbewerbsnachtei- in die Lebensmittelkette bringen. len bestraft werden dürfen, und drittens zum Schutze der Verbraucherinnen und Verbraucher, die wie beim Ich denke dabei an die Überarbeitung des § 40 des Rindfleisch darauf vertrauen können sollen, dass sie Lebensmittel- und Futtermittelgesetzbuches, genauer das essen, was sie zu essen meinen. Ich sage nur Neu- gesagt die Veröffentlichungspflichten der Behörden bei land. Täuschung, Irreführung und Hygieneverstößen, die wir endlich rechtssicher machen müssen. Denn eine Ich finde es gut, dass das Gesetz nun auch eine buß- (B) drohende Veröffentlichung ist ein massiver Anreiz für (D) geldrechtliche Ahndungsmöglichkeit vorsieht – auch jedes Unternehmen, sich an alle gesetzlichen Vorgaben das dient dem Schutz aller, die ihren Pflichten rechts- und Regeln zu halten. Transparenz wirkt präventiv, treu nachkommen. auch gegen den nächsten Eier-Skandal. Meine Damen und Herren, der Abend ist spät, der Hier endlich Nägel mit Köpfen zu machen, sind wir Freitagmorgen nah. Aber wenn wir dieses Gesetz jetzt den Verbrauchern schuldig. verabschieden, dann kann ich Ihnen für Ihr morgiges Frühstücksei, für die leckere Scheibe Roastbeef mit be- sonders gutem Gewissen einen guten Appetit wün- Karin Binder (DIE LINKE): schen. Verbraucherbetrug bei Lebensmitteln taucht immer da auf, wo es für die Lebensmittelindustrie profitabel ist oder wo sie mit Dumpingpreisen den Markt be- Elvira Drobinski-Weiß (SPD): stimmt. Kosten 400 Gramm Lasagne nur 1,64 Euro, 2013 war nicht gerade arm an Lebensmittelskanda- muss man sich über das Pferd im Fleisch nicht wun- len. Wir erinnern uns: Parallel zum Pferdefleischskan- dern. Ähnliches gilt bei Eiern: Lasche Vorschriften dal wurde im Februar letzten Jahres bekannt, dass führten dazu, dass Eier aus überfüllten Hühnerställen Millionen falsch deklarierter Eier in Umlauf geraten als Bioware verkauft wurden. Eine Lebensmittelbran- waren. Eierproduzenten hatten zu viele Hennen auf zu che, die in diesem Klima weniger staatliche Regulie- wenig Platz gehalten. Was als Freiland- oder Bio-Ei rung fordert, muss sich nicht wundern, dass sie bei den verkauft wurde, hätte allerhöchstens noch als Ei aus Verbrauchern das Image von Hühnerdieben genießt. Bodenhaltung angeboten werden dürfen. Einmal mehr ist das Vertrauen der Verbraucher in Lebensmittel und Der hier nun vorliegende Gesetzentwurf verbessert Lebensmittelüberwachung erschüttert worden. den Verbraucherschutz. Das begrüßen wir. Eine fal- sche Kennzeichnung von Eiern fällt schneller auf, was Um Verbraucher künftig besser vor solchen Täu- Betrugsversuche erschwert. Legehennenbetriebe dür- schungsfällen zu schützen und der Lebensmittelüber- fen künftig pro Stall nur eine Kennzeichnung verwen- wachung die Kontrolle von Legehennenbetrieben zu den, also entweder Boden-, Freiland- oder Biohaltung. erleichtern, haben wir nun das Legehennenbetriebs- Ändert ein Stallbetreiber die Haltungsform, was nur in registergesetz geändert. Die geplante Änderung wird begründeten Ausnahmen möglich ist, muss er dies den es den Behörden einfacher machen, eine Überbele- Behörden unmittelbar vorher anzeigen. Kontrolleure gung von Ställen zu ermitteln und zu ahnden. können durch diese Regelung besser nachvollziehen,

Zu Protokoll gegebene Reden Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014 3463

Karin Binder (A) ob die gesetzlichen Vorgaben zum Tierwohl und zum nahme des Bundesrates kritisiert. Die Bundesregie- (C) Verbraucherschutz eingehalten werden. rung verweist in ihrer Gegendarstellung auf ausste- hende Rechtsprüfungen, die im Vorlauf einer solchen Der vorliegende Gesetzentwurf zeigt, dass es in der Integration zu tätigen seien. Wenn dem so ist, dann lei- Vergangenheit ein buntes Durcheinander gab, das zu ten Sie dies bitte in die Wege. Denn diese Funktion Falschkennzeichnungen einlud. Wir erinnern uns: Eier wäre ein echter Fortschritt, um die Überwachungs- aus konventioneller Haltung wurden den Verbrau- kette zu schließen und um belastbare Belegungsdich- chern als Bioeier untergeschoben. Ställe waren syste- ten aufzunehmen. matisch überbelegt. Profit ging manchen Hühnerhal- tern offenbar vor Tierschutz. Das „Handelsblatt“ Des Weiteren stimmen wir heute über die Änderung schrieb vor einem Jahr dabei von einer „flächende- des Rindfleischetikettierungsgesetzes ab: Die jetzige ckenden Praxis“. Verbraucherbetrug war offenbar ein Anpassung ist, das wissen Sie, werte Kolleginnen und Geschäftsmodell. An diesem Beispiel zeigt sich also, Kollegen, so gut wie ich, eine reine Formalie. Dass wie wichtig klare Regeln bei der Lebensmittelerzeu- Rindfleisch seit der BSE-Krise gesondert ausgewiesen gung sind. und etikettiert werden muss, ist ein Gewinn für Ver- braucherschutz und Transparenz. Der Gesetzgeber muss auch deutlich machen, dass organisierte Verbrauchertäuschung kein Kavaliers- Wir fordern noch Weitergehendes – ein Mehr an delikt ist. Da wünschen wir uns schon lange ein kon- Kennzeichnung von frischem und auch verarbeitetem sequenteres Vorgehen: Die Namen betrügerischer Fleisch: Es muss klar nachvollziehbar sein, woher je- Lebensmittelerzeuger und -händler müssen umgehend des Fleisch kommt, das sich im Handel befindet, egal veröffentlicht werden. Wer wiederholt erwischt wird, ob Frischfleisch oder Raviolifüllung. Ab dem 1. April muss damit rechnen, dass sein Betrieb ein für alle Mal 2015 gelten der Rindfleischetikettierung ähnliche dichtgemacht wird. Wir werden uns daher bei dem Ge- Regelungen für Schweine-, Schaf-, Ziegen- und Geflü- setzentwurf enthalten. gelfleisch. Das begrüßen wir. Wäre mit einer solchen Regelung ein so großflächiger Betrug im Sinne der Konventionelle und Biohaltung müssen strikter ge- Pferde-Lasagne möglich gewesen? Ich glaube nein. trennt und dürfen nicht auf demselben Hof in benach- barten Ställen erlaubt sein. Bei der Reform der EU- Die Kommission plant eine Evaluierung der Rinder- Bioverordnung wäre es zu begrüßen, wenn die gleich- kennzeichnung, um herauszufinden, welche Markt- zeitige Erzeugung von Biolebensmitteln und herkömm- effekte diese in den vergangenen Jahren ausgelöst hat. lichen Produkten im selben Betrieb unterbunden wird. Es soll, so hört man, ermittelt werden, ob die Rind- (B) Nur so funktioniert glaubwürdiger Verbraucherschutz. fleischetikettierung den Bedürfnissen der Verbraucher (D) einerseits und denen der Landwirte und Fleischver- arbeiter andererseits entspricht. Ich hoffe, die Stimme Friedrich Ostendorff (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- der Verbraucherinnen und Verbraucher und die der NEN): Landwirte, die verantwortungsvoll mit ihrem Beruf Der vorliegende Gesetzentwurf und der damit ver- umgehen, wiegt schwerer als die der Fleischindustrie, bundene Änderungsantrag ist solide und beinhaltet die sich in der Vergangenheit nicht unbedingt um mehr primär erforderliche Anpassungen von veralteten Ver- Transparenz und Kundeninformation verdient gemacht weisen auf das Gemeinschaftsrecht. Dem stimmen wir hat. zu. Das Legehennenbetriebsregistergesetz wurde auf Vizepräsident Peter Hintze: Druck des Bundesrates mit einer Öffnungsklausel ver- Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für Er- sehen, um auf Länderebene spezifische Vorlaufzeiten nährung und Landwirtschaft empfiehlt in seiner Be- für die Umstellung des Haltungssystems festzulegen. schlussempfehlung auf Drucksache 18/1639, den Gesetz- So weit, so gut, dies stellt meiner Meinung nach einen entwurf der Bundesregierung auf Drucksache 18/1286 in tragfähigen Kompromiss zwischen nachvollziehbarer der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, Dokumentationspflicht, aber auch Reaktionsmöglich- die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustim- keiten der Betriebe auf beispielsweise Starkregen- men wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt dage- ereignisse dar. Denn nach wie vor muss bei allem ver- gen? – Wer enthält sich? – Dann ist das mit den Stimmen ständlichen Drängen nach Wahrheit und Klarheit bei aller Fraktionen bei Enthaltung der Fraktion Die Linke der Kontrolle dem ureigenen Wesen der Landwirt- so angenommen worden. schaft Rechnung getragen werden: Im Umgang mit der Dritte Beratung Natur ist zwar vieles planbar, doch oftmals muss die Möglichkeit bestehen, kurzfristig Entscheidungen zu und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem treffen und auf Wetter- und Klimaeinflüsse angemessen Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – reagieren zu können. Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Dann ist der Gesetzentwurf mit den Stimmen von CDU/CSU-Frak- Eines ist jedoch anzumerken: Es wurde versäumt, tion, SPD-Fraktion und Fraktion Bündnis 90/Die Grünen die Junghennenaufzucht in die Marktüberwachung bei Enthaltung der Fraktion Die Linke angenommen einzubeziehen. So wurde es zu Recht in der Stellung- worden. 3464 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014

Vizepräsident Peter Hintze (A) Ich rufe die Tagesordnungspunkte 22 a und 22 b auf: und Berichterstatter zu dem Verordnungsvorschlag be- (C) danken. a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- richts des Ausschusses für Recht und Verbrau- Der Unterausschuss Europarecht kann sich intensiv cherschutz (6. Ausschuss) mit den Vorlagen der EU in den Bereichen Rechts- und zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Justizpolitik befassen. Hierauf gibt er dem Rechtsaus- Rates über die Errichtung der Europäischen schuss Empfehlungen für die weitere Vorgehensweise. Staatsanwaltschaft (EPPO) Neben vielen rechtpolitischen Gesetzesentwürfen wird KOM(2013) 534 endg.; Ratsdok. 12558/13 die europäische Rechtspolitik immer wichtiger. Der hier: Unterausschuss hat sich immer mehr zu einem Gre- a) Stellungnahme gegenüber der Bundesregie- mium entwickelt, das besonders die Prüfung der Subsi- rung gemäß Artikel 23 Absatz 3 des Grundge- diarität im Blick hat. Hierbei wird die Subsidiaritäts- setzes rüge nicht als scharfes Schwert des Diskurses gesehen, b) Politischer Dialog mit den EU-Institutio- sondern vielmehr als ein Weg, wie sich nationale Par- nen lamente in den politischen Dialog einbringen können. Nur wenn im Rahmen der Subsidiaritätsprüfung auch Drucksache 18/1658 Stellungnahmen und Rügen erfolgen, kann ein Mitge- b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Halina stalten an Europa Erfolg haben. Wawzyniak, Jan Korte, Dr. Gregor Gysi, weite- Eine solche Teilhabe an Europa gelingt uns mit der rer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE heute zu verabschiedenden Stellungnahme zum Ver- zu dem Vorschlag für eine Verordnung des ordnungsvorschlag Europäische Staatsanwaltschaft. Rates über die Errichtung der Europäischen Hinsichtlich des vorliegenden Verordnungsentwurfs Staatsanwaltschaft (EPPO) KOM(2013) 534 endg.; Ratsdok. 12558/13 gab es einige Kritikpunkte, die ich in der gebotenen hier: Kürze nochmals kurz darstellen darf: a) Stellungnahme gegenüber der Bundesregie- Erstens ist die im Kommissionsvorschlag vorgese- rung gemäß Artikel 23 Absatz 3 des Grundge- hene Unabhängigkeit des Europäischen Staatsanwalts setzes insofern zu weitgehend, als die Kontrollmöglichkeiten b) Politischer Dialog mit den EU-Institutio- unzureichend sind. Über den in Artikel 70 KomV vor- nen gesehenen Jahresbericht hinaus, sollten weitergehende (B) Drucksache 18/1646 und regelmäßige Berichts- und Rechenschaftspflichten (D) vorgesehen werden. Eine justizielle Kontrolle der Tä- Die Reden sollen zu Protokoll gegeben werden. – tigkeit des Europäischen Staatsanwaltes ist notwendig. Ich höre und sehe, dass Sie damit einverstanden sind. Zweitens soll die Geschäftsordnung, Artikel 7 Dr. Patrick Sensburg (CDU/CSU): KomV, die die Organisation der Arbeit der Europäi- schen Staatsanwaltschaft regelt, für alle EU-Bürger- Bereits am 16. Oktober 2013 richtete der Unteraus- innen und EU-Bürger aus Gründen der Transparenz schuss Europarecht ein Schreiben an den Präsidenten einsehbar sein; allgemeine Zuständigkeitsregelungen der Europäischen Kommission, Herrn Dr. José Manuel sollen hingegen nicht dort, sondern in der Verordnung Durão Barroso, und kündigte eine Stellungnahme des selbst geregelt werden. Deutschen Bundestages zu dem Vorschlag für eine Ver- ordnung des Rates über die Errichtung der Europäi- Drittens fehlt es im Verordnungsvorschlag an einer schen Staatsanwaltschaft an. In diesem Schreiben Rechtsschutzmöglichkeit des Betroffenen, um gegen wurde mitgeteilt, dass der Unterausschuss Europa- die Entscheidung der einzelstaatlichen Justizbehörde recht des Rechtsausschusses des Deutschen Bundesta- (Artikel 13 III KomV), welche Staatsanwaltschaft im ges die Arbeit an dem Verordnungsvorschlag über die konkreten Fall zuständig ist, gerichtlich vorzugehen. Errichtung der Europäischen Staatsanwaltschaft in der nun ablaufenden Wahlperiode eng begleitet hat. Viertens müssen die Beschuldigtenrechte auf ein Gespräche mit Frau Kommissarin Reding, Herrn einheitliches europäisches Niveau gebracht werden. Kommissar Šemeta sowie weiteren Mitarbeiterinnen Artikel 32–35 KomV genügen den rechtsstaatlichen und Mitarbeitern der Europäischen Kommission boten Anforderungen insoweit nicht. Der Verordnungsvor- dankenswerterweise mehrfach Gelegenheit zu einem schlag muss Mindeststandards der Beschuldigten- konstruktiven Dialog über die Ausgestaltung einer rechte gewährleisten und vor allem Ermittlungsbefug- künftigen Europäischen Staatsanwaltschaft. nisse gemäß dieser Standards beschränken. Weiter wurde ausgeführt, dass der Verordnungsvor- Der Grundsatz des „ne bis in idem“ fehlt im Kom- schlag im Unterausschuss Europarecht und dann im missionsvorschlag. Bundestag noch intensiv beraten werden wird. Fünftens fehlen wichtige Beschuldigtenrechte, wie Dies ist nun geschehen, und ich darf mich herzlich das Akteneinsichtsrecht und das Recht, bei Einstellung für die konstruktive Arbeit aller Berichterstatterinnen des Verfahrens durch die Europäische Staatsanwalt- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014 3465

Dr. Patrick Sensburg (A) schaft über die Einstellung informiert zu werden, Vierzehntens besteht auch nach Artikel 27 IV des (C) Artikel 15 IV KomV. Verordnungsvorschlags die Gefahr des „Forum Shop- ping“. Der Europäische Staatsanwalt wählt demnach Sechstens benötigt Artikel 17 KomV dahingehend das zuständige Prozessgericht. Präzisierung, dass geklärt werden muss, was unter dem Begriff „Bestätigen“ in Bezug auf Eilmaßnahmen Fünfzehntens steht nach Artikel 6 V des Verord- verstanden werden soll und ob gegebenenfalls eine nungsvorschlages nur fest, dass es einen Abgeordneten rechtliche Prüfung der Maßname(n) erfolgen muss. Europäischen Staatsanwalt in jedem Mitgliedstaat ge- ben soll. Wie wird dies in Deutschland umgesetzt? In Siebtens kann nach Artikel 18 V der Europäische welchem Umfang werden welche Kosten getragen? Staatsanwalt in bestimmten Fällen selbst die Ermitt- lungen leiten. Hier besteht die Gefahr des Eingriffs in Sechzehntens verlangt die Verordnung in Artikel 5 II materielles Recht, vor allem hinsichtlich der Kongru- die Unabhängigkeit von nationalen Weisungen, und enzverhältnisse zwischen verschiedenen Straftaten. In Artikel 6 VI schreibt den Vorrang der Europäischen diesem Fall bleibt die Regelung in Bezug auf die Kom- Staatsanwälte fest; hierbei ist das Weisungsrecht aber petenzen und Überwachungsmöglichkeit dieser Tätig- nicht eindeutig formuliert. keit zu unkonkret. Außerdem ist die vorgesehene Tren- Letztens müssen die Erwägungsgründe des Verord- nung von Ermittlungstätigkeit und Durchführung der nungsvorschlages sicherstellen, dass die Befugnisse Zwangsmaßnahmen durch die mitgliedstaatliche Be- der Europäischen Staatsanwälte nicht immer weiter hörde nicht praktikabel. Unklar bleibt auch, ob es eine ausgedehnt werden. gerichtliche Kontrolle der Europäischen Staatsanwalt- schaft gibt und welches Gericht sie in diesem Fall Festzuhalten bleibt, wie die Stellungnahme aus- durchführt. führt, dass der Deutsche Bundestag den Ansatz der Kommission zur Errichtung einer dezentral aufgebau- Achtens genügen die in Artikel 26 KomV genannten ten Europäischen Staatsanwaltschaft (EU-StA), deren Ermittlungsmaßnahmen rechtsstaatlichen Anforderun- Aufgabe es sein soll, Straftaten zum Nachteil der Euro- gen nicht. Problematisch ist im Besonderen, dass für päischen Union zu bekämpfen, begrüßt. Struktur und die in Artikel 26 I vorgesehenen Maßnahmen neben rechtlicher Handlungsrahmen für die EU-StA müssen der Verordnung auch einzelstaatliches Recht gelten darauf ausgerichtet sein, effektive Ermittlungsverfah- soll, Artikel 26 II KomV. Damit kämen unterschiedli- ren unter Beachtung hoher rechtsstaatlicher Anforde- che nationale Regelungen zum Tragen. rungen zu gewährleisten und eine enge Zusammenar- Aufgrund von Artikel 26 besteht somit die Gefahr beit mit den Behörden der Mitgliedstaaten zu (B) (D) des „Forum Shopping“ und der Absenkung der rechts- ermöglichen. Der Deutsche Bundestag sieht in dem staatlichen Standards. Unklar bleibt darüber hinaus, Verordnungsvorschlag der Kommission vom 17. Juli inwieweit die Maßnahme durch ein Gericht überprüft 2013 (Ratsdokument 12558/13) vor allem unter Be- werden kann. rücksichtigung des von der Ratspräsidentschaft am 17. März 2014 vorgelegten Arbeitsdokuments Neuntens sind die Kriterien, an welchem Ort die (DS 1154/14) eine Verhandlungsgrundlage zur Errich- Anklage erfolgen soll, nicht klar erkennbar. Wün- tung der EU-Staatsanwaltschaft. Der Bundestag be- schenswert wäre es, dass der gewöhnliche Aufenthalts- grüßt, dass mit dem Arbeitsdokument auch Änderun- ort des Beschuldigten Priorität bei der Anklageerhe- gen zu einer Reihe von Regelungen vorgeschlagen bung bekommt. Die örtliche Zuständigkeit sollte werden, die auch der Bundestag kritisch gesehen hatte. überdies gerichtlicher Kontrolle unterliegen. Schließlich bleibt mir noch einmal allen für die gute Zehntens müsste die Möglichkeit des „Vergleichs“ Zusammenarbeit vor allem im Unterausschuss Euro- in Artikel 29 KomV explizit zum Strafklageverbrauch parecht zu danken. Um aber eine Unterstützung des führen; ein Hinweis dazu fehlt in der Vorschrift. Deutschen Bundestages für das wichtige Vorhaben ei- Elftens sollte das Prozessgericht entgegen der Re- ner Europäischen Staatsanwaltschaft zu sichern – hier gelung in Artikel 30 KomV die Möglichkeit bekommen, darf ich nochmals auf den Text der Stellungnahme ver- zu prüfen, ob die Beweiserhebung nach rechtsstaatli- weisen –, wäre es hilfreich, wenn Kommission und Eu- chen Grundsätzen erfolgt ist. ropäisches Parlament den vorgenannten Punkten im weiteren Verhandlungsverlauf Rechnung tragen wür- Zwölftens birgt der Ausschluss der Kontrolle durch den. den Europäischen Gerichtshof bei verfahrensrechtli- chen Maßnahmen, Artikel 36 I KomV, die Gefahr un- Auch für die Zukunft hoffe ich, dass es dem Deut- terschiedlicher Rechtsentwicklungen und damit ver- schen Bundestag möglich sein wird, sich aktiv am poli- schiedener Schutzniveaus in den Mitgliedstaaten und tischen Dialog zu beteiligen. Hierbei ist es vor allem ist daher abzulehnen. wichtig, dass sich die nationalen Parlamente immer besser vernetzen. Zu diesem Zweck ist geplant, eine Dreizehntens fehlt dem Verordnungsvorschlag eine Konferenz zur Europäischen Staatsanwaltschaft in klare Abgrenzung, welche Kompetenz die Staatsan- Paris durchzuführen. Hier sollen die Vertreter der na- wälte haben, wenn sie national und wenn sie interna- tionalen Parlamente zusammen kommen und sich aus- tional tätig sind. tauschen können. Als Ergebnis könnte ein gemeinsa-

Zu Protokoll gegebene Reden 3466 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014

Dr. Patrick Sensburg (A) mes Positionspapier aller teilnehmenden Parlamente bedeutet nicht, jede nur denkbare und vertraglich zu- (C) erstellt werden. Auf diesem Weg könnten die jeweiligen lässige Regelung auch zu ergreifen. Man könnte auch nationalen Interessen sehr gut in den politischen Dia- aus guten Gründen davon absehen. log eingebracht werden. Diese Ansicht teilten auch nicht weniger als 16 Staaten der Europäischen Union, welche im Zuge Dr. Volker Ullrich (CDU/CSU): der Konsultation über die Errichtung einer Europäi- Wir debattieren heute über einen fraktionsübergrei- schen Staatsanwaltschaft Subsidiaritätsrüge erhoben fenden Antrag zur Errichtung einer dezentral aufge- haben. Die Bundesrepublik Deutschland war nicht bauten Europäischen Staatsanwaltschaft (EU-StA), darunter, sodass der Vorschlag des Rates für diese deren Aufgabe es sein soll, Straftaten zum Nachteil der Verordnung sich im weiteren Gesetzgebungsverfahren Europäischen Union zu bekämpfen. befindet. Die Europäische Staatsanwaltschaft soll dabei eine Ich selbst stehe der Verordnung eher kritisch gegen- neue Behörde bzw. Einrichtung auf Ebene der EU über. Das Ziel der Verhinderung von Veruntreuungen werden und der Europäischen Union damit eine Kom- europäischer Mittel ist ohne Frage ein legitimes Ziel. petenz bei der Strafverfolgung verschaffen. Dennoch sollte nicht ohne Not eine neue europäische Grundsätzlich sehen wir in dem Verordnungs- Behörde im Kernbereich staatlichen Hoheitsanspru- vorschlag der Kommission vom 18. Juli 2013 (Rats- ches geschaffen werden. Auch andere Mitgliedstaaten, dokument 12558/13) vor allem unter Berücksichtigung wie zum Beispiel Großbritannien und Irland, stehen des von der Ratspräsidentschaft am 17. März 2014 dem kritisch gegenüber und nehmen erst gar nicht an vorgelegten Arbeitsdokuments (DS 1154/14) eine Ver- der EU-StA teil. handlungsgrundlage. Unsere nationalen Ermittlungs- und Strafverfol- Dennoch ist die Frage der Errichtung der Europäi- gungsbehörden sind in der Lage, einen vergleichbaren schen Staatsanwaltschaft meines Erachtens eine sen- Schutz der finanziellen Interessen der Union und eine sible Frage, welche losgelöst von der parlamentari- gleichwertige Verfolgung entsprechender Straftaten zu schen Routine behandelt und grundlegend durchdacht gewährleisten. Darüber hinaus macht die Unterstüt- werden sollte. Mit dem Arbeitsdokument werden zwar zung durch Eurojust, Europol und OLAF die Errich- Änderungen zu einer Reihe von Regelungen vorge- tung einer EU-StA meines Erachtens entbehrlich. schlagen, die auch wir kritisch gesehen haben. Aller- dings sind meines Erachtens noch eine Reihe von Mit der Errichtung der EU-StA wird erstmalig auf (B) wichtigen Fragen nicht abschließend beantwortet: So dem Gebiet des Strafrechts eine Kernkompetenz der (D) soll die Errichtung einer Europäischen Staatsanwalt- Mitgliedstaaten teilweise auf eine Einrichtung der schaft ohne die gleichzeitige Errichtung eines korres- Union übertragen. pondierenden Verfahrensrechts erfolgen. Das halte ich Dem wäre durchaus noch zu folgen, wenn es ein für ungenügend. Mehr noch: Die Europäische Staats- europäisches Verfahrensrecht und ein Rechtsschutz- anwaltschaft wird agieren können, ohne dem Bürger system gäbe, welches unseren rechtsstaatlichen Anfor- ein Niveau des rechtsstaatlichen Schutzes gewährleis- derungen genügen würde. Dem ist jedoch leider nicht ten zu können, wie es unsere Strafprozessordnung so. vorsieht. Hoheitliches Handeln im Bereich der Straf- verfolgung bedarf aber unbedingt rechtsstaatlicher Es böte sich an, wofür ich plädiere, auf europäi- Kontrolle. Zudem soll die zukünftige Europäische scher Ebene nach der Konstituierung der neuen Euro- Staatsanwaltschaft auch in Fragen ermitteln können, päischen Kommission diese Frage noch einmal grund- welche in bloßem Sachzusammenhang zur Frage der legend zu beraten und insbesondere die hier nur Veruntreuung von EU-Geldern stehen. Damit wird mit- kursorisch vorgetragenen Einwände nochmals mit telbar eine Kompetenz in vielerlei Fragen der Wirt- Nachdruck in die Debatte einfließen zu lassen. Zudem schaftskriminalität geschaffen, welche in echter Kon- sollte auch die Frage, wie die Kommission mit der Si- kurrenz zu den nationalen Ermittlungsbehörden steht. tuation umgeht, dass nicht alle Mitgliedstaaten an der EU-StA teilnehmen, noch einmal durchdacht werden. In den zurückliegenden Tagen haben CDU/CSU mit Nachdruck auf ein besseres und bürgernahes Europa Unabhängig davon müssen im weiteren Verhand- mit mehr Transparenz und weniger Bürokratie ge- lungsverlauf zumindest die von uns wie im Antrag ge- drängt. Die Errichtung einer Europäischen Staatsan- forderten Belange durch die Bundesregierung durch- waltschaft lässt sich damit aber nicht ohne weiteres in gesetzt werden. Einklang bringen. Ich meine sogar, dass vor dem Hintergrund des zu Dr. Katarina Barley (SPD): beachtenden Subsidiaritätsprinzips dieses höher zu Jährlich versickern circa 700 Millionen Euro, die bewerten ist als eine mögliche Ermächtigung zu einer für die Förderung von EU-Projekten gedacht sind. Die Europäischen Staatsanwaltschaft im Vertrag von Dunkelziffer dürfte deutlich höher liegen. Die Zahl der Lissabon, auf welche sich die Kommission bei ihrem aufgeklärten Fälle ist gering, da derzeit zwischen den Verordnungsentwurf bezieht. Europäische Integration nationalen Strafrechtssystemen und den Unionsorga-

Zu Protokoll gegebene Reden Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014 3467

Dr. Katarina Barley (A) nen, die nicht strafrechtlich ermitteln dürfen, eine Lü- besser zu ermitteln sind. Entsprechend dem Grundsatz (C) cke klafft. „ne bis in idem“ sollte sich ein Beschuldigter nicht für dieselbe Tat vor einem nationalen Gericht und der Straftaten gegen die finanziellen Interessen der EU Europäischen Staatsanwaltschaft verantworten müs- treffen nicht nur den EU-Haushalt, sondern unmittel- sen. Die Entscheidung, vor welchem Gericht sich ein bar auch die europäischen Steuerzahler. Deshalb Beschuldigter verteidigen muss, sollte einer gerichtli- begrüßen wir grundsätzlich die Errichtung einer Euro- chen Kontrolle unterliegen. Die Auswahl des Gerichts- päischen Staatsanwaltschaft. Sie kann die Zusammen- ortes muss nach transparenten Kriterien und bereits arbeit der Ermittlungsbehörden auf EU-Ebene verbes- im Ermittlungsverfahren festgelegt werden. sern, um grenzüberschreitende Fälle von Betrug und Korruption mit EU-Mitteln aufzudecken. Durch Regelungen zu präzisieren sind außerdem die Damit der unionsweite Betrug am europäischen rechtlichen Befugnisse bei grenzüberschreitenden Er- Steuerzahler besser strafrechtlich verfolgt werden mittlungsmaßnahmen, damit keine unklare Gemenge- kann, hat die Europäische Kommission im Juli letzten lage von europäischen und einzelstaatlichen Regelun- Jahres einen Vorschlag zur Errichtung einer Europäi- gen entsteht. Klarer Regeln bedarf es auch bezüglich schen Staatsanwaltschaft vorgelegt. Es ist sinnvoll und der Einstellung und Wiederaufnahmen von Ermitt- richtig, dass die Europäische Union die Verschwen- lungsverfahren. dung ihrer Fördergelder künftig mit einer eigenen Vor allem bezüglich der Beschuldigtenrechte muss Strafverfolgungsbehörde bekämpfen kann. ein hoher Mindeststandard gewährleistet sein. Auf ei- Leider war der Vorschlag der Kommission so unzu- nem hohen Level ist hier eine weitere Harmonisierung länglich und an vielen Stellen sogar problematisch, der nationalen Rechtsordnungen notwendig. dass mehrere nationale Parlamente ihn nicht mittra- Wenn es uns gelingt, diese Eckpunkte umzusetzen, gen wollen. Da die grenzüberschreitende Betrugsbe- können wir der Europäischen Union ein effektives In- kämpfung aber nur effektiv arbeiten kann, wenn sie lü- strument zur Betrugsbekämpfung an die Hand geben, ckenlos ist, das heißt wenn sich alle Mitgliedstaaten das gleichzeitig mit den nationalstaatlichen Rechts- beteiligten, bedarf es detaillierter Nachbesserungen. ordnungen in Einklang steht und die Verfahrensrechte Die griechische Ratspräsidentschaft hat hier gute in der EU stärkt und harmonisiert. Nur so kann es uns Arbeit geleistet und wesentliche Änderungsvorschläge gelingen, alle Mitgliedstaaten in ein Boot zu holen und erarbeitet. Viele dieser Vorschläge haben wir im Deut- die rechtsstaatlichen Standards der EU dauerhaft zu schen Bundestag fraktionsübergreifend aufgegriffen verbessern. Davon wird am Ende nicht nur das Budget (B) und weiterentwickelt. Denn die Europäische Staats- der EU, sondern auch die EU als Rechtsgemeinschaft (D) anwaltschaft braucht zwar weitreichende Befugnisse profitieren. Und der EU stehen erhebliche Mittel für für ihre Ermittlungen, diese dürfen aber auf keinen zusätzliche sinnvolle Projekte zur Verfügung. Fall zulasten der Beschuldigten gehen und zu einer Absenkung rechtsstaatlicher Standards führen. Befug- Dr. Johannes Fechner (SPD): nisse und Kontrollrechte müssen detailliert beschrie- ben werden und sich die Waage halten. Wir fordern Vor kurzem diskutierte eine bekannte Zeitung Geld- deshalb die Bundesregierung auf, sich bei den weite- verschwendung auf EU-Ebene und nannte als ein Bei- ren Beratungen – Verhandlungen im Rat – dafür einzu- spiel die Europäische Staatsanwaltschaft. setzen, dass die Berichts- und Rechenschaftsplicht der Überflüssig und vor allem teuer? Das genaue Europäischen Staatsanwaltschaft weiter gestärkt wird, Gegenteil ist der Fall. Denn Straftaten, die gegen die fi- zum Beispiel durch ein gemeinsames Kontrollrecht nanziellen Interessen der EU gerichtet sind, belasten vom Europäischen Parlament und den nationalen Par- unmittelbar die europäischen Steuerzahler. Durch lamenten. Die Stellung und die Aufgaben der soge- Betrug und andere Vermögensstraftaten gehen dem nannten Abgeordneten Europäischen Staatsanwälte EU-Haushalt in jedem Jahr Hunderte Millionen Euro müssen präzisiert werden, damit keine Konfliktfälle verloren. Die Kommission geht aufgrund von Erhe- zwischen dem Weisungsrecht der Europäischen Staats- bungen in den Mitgliedstaaten sogar von circa anwaltschaft und der Unabhängigkeit von nationalen 500 Millionen Euro in jedem der letzten drei Jahre aus. Behörden entstehen. Die Unabhängigkeit der Abge- ordneten Europäischen Staatsanwälte sollte außerdem Das wären 500 Millionen Euro, die nicht in die Ver- durch genau festgelegte Einstellungsvoraussetzungen besserung der Lebensbedingungen in den Kommunen und Entlassungsgründe untermauert werden. Die Eu- fließen können und die damit durch Steuergelder aus- ropäische Staatsanwaltschaft sollte bei Straftaten zum geglichen werden müssen. Und damit ist klar: Die Er- finanziellen Nachteil der EU nicht die ausschließliche richtung einer Europäischen Staatsanwaltschaft, die Zuständigkeit haben – wie beim Vorschlag der Kom- Straftaten zulasten des EU-Haushalts effektiv verfolgt, mission vorgesehen –, sondern eine mit den Mitglied- wird zu einer effektiveren Verwendung der EU-Mittel staaten konkurrierende mit einem Evokationsrecht der beitragen. Das ist der wesentliche Grund, warum die Europäischen Staatsanwaltschaft – das würde dazu SPD-Fraktion und der Deutsche Bundestag die ge- beitragen, dass sich die Europäische Staatsanwalt- plante Einrichtung einer Europäischen Staatsanwalt- schaft auf die Fälle konzentriert, die auf EU-Ebene schaft ausdrücklich begrüßen.

Zu Protokoll gegebene Reden 3468 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014

Dr. Johannes Fechner (A) Trotzdem gibt es einige Punkte, an denen der Ver- anwaltschaft nur solche Ermittlungsmaßnahmen nach (C) ordnungsvorschlag unserer Ansicht nach noch verbes- Artikel 26 Absatz 1 des Verordnungsvorschlages an- sert werden kann. Deshalb haben alle Fraktionen des ordnen können, die auch das nationale Recht vorsieht. Deutschen Bundestages diese Stellungnahme erarbei- tet, die heute hier zur Abstimmung steht. Ausdrücklich Im Fall einer Einstellung des Verfahrens muss der lobe und bedanke ich mich bei den Fraktionen der Beschuldigte von der Einstellung in Kenntnis gesetzt Union, der Grünen und der Linken für die gute und werden. Eine entsprechende Regelung dazu fehlt bis- konstruktive Zusammenarbeit. her im Verordnungsvorschlag. Ich erläutere im Folgenden kurz unsere wesentli- Bei Einstellung des Verfahrens mangels sachdienli- chen Kritikpunkte: cher Beweise muss die Möglichkeit einer Wiederauf- nahme des Verfahrens eingeführt werden. Statt der Ernennung des Leiters der Europäischen Staatsanwaltschaft und seiner Vertreter/-innen durch Gegen Ermittlungsmaßnahmen der Europäischen den Rat – mit Zustimmung des Parlaments – regen wir Staatsanwaltschaft müssen hinreichende Rechtsschutz- ein Wahlverfahren an, das die demokratische Le- möglichkeiten bestehen. Justizielle Kontrolle muss be- gitimation sicherstellt. Der Leiter der Europäischen sonders in den Fällen sichergestellt werden, in denen Staatsanwaltschaft und gegebenenfalls dessen Stell- die europäische Staatsanwaltschaft auf Grundlage der vertreter/-innen könnten vom Europäischen Parlament Vorschriften in der Verordnung ermittelt. direkt gewählt werden. Das zuständige Gericht der Mitgliedstaaten muss Die Entlassungsgründe für die Europäischen die Beweisanträge der Europäischen Staatsanwalt- Staatsanwälte bedürfen einer näheren Präzision, um schaft überprüfen dürfen, und zwar zum einen, ob die willkürlichen Entlassungen vorzubeugen. Beweise nach rechtsstaatlichen Grundsätzen erhoben wurden, und muss zum anderen solche Beweise ableh- Klargestellt werden muss außerdem, dass die Tätig- nen dürfen, deren Verwertung gegen mitgliedstaatli- keit der Europäischen Staatsanwaltschaft an Recht ches Recht verstoßen würde. und Gesetz gebunden ist. Der Bundestag empfiehlt, dass dieser wesentliche Rechtsgrundsatz ausdrücklich Bei Berücksichtigung dieser Kritikpunkte könnte aufgenommen wird. aus unserer Sicht eine effektive Bekämpfung der Straf- taten zulasten des EU-Haushalts bei gleichzeitiger Die Entscheidung, ob die Europäische Staatsan- Verbesserung der rechtsstaatlichen Standards erreicht waltschaft aufgrund einer Zuständigkeit kraft Sachzu- werden. (B) sammenhangs oder die Staatsanwaltschaft des Mit- (D) gliedstaates für das Verfahren zuständig ist, muss Lassen Sie mich zum Schluss noch einmal ausdrück- gerichtlich überprüfbar sein, da diese Entscheidung lich sagen, dass wir als SPD-Fraktion und ich als Be- für die Beschuldigten erhebliche Auswirkungen haben richterstatter hoffen, dass die Europäische Staatsan- kann. waltschaft wie in Artikel 86 AEUV vorgesehen – mit möglichst allen Mitgliedstaaten – errichtet werden Die Geschäftsordnung der Europäischen Staatsan- kann. waltschaft muss für die Bürger einsehbar sein. Die Grundzüge der Zuständigkeit innerhalb der Behörde Daneben halte ich es für wichtig, dass die Kritik- sollten allerdings bereits in der Verordnung geregelt punkte des Bundestages Gehör finden, und bitte Sie werden. daher heute um Zustimmung für unsere Stellung- nahme. Im Interesse des Beschuldigten muss die für den konkreten Fall anwendbare Rechtsordnung bereits im Halina Wawzyniak (DIE LINKE): Ermittlungsverfahren und nicht erst nach Abschluss Wir reden heute über etwas Seltenes und etwas Selt- der Ermittlungen bekannt sein. Bei der Auswahl des sames. Gerichts darf die Europäische Staatsanwaltschaft kein freies Ermessen haben, damit der Gefahr entgegen- Kommen wir zum Seltenen: Mit der vorliegenden getreten werden kann, dass Beschuldigte vor den Ge- Beschlussempfehlung und dem Bericht des Ausschus- richten angeklagt werden, wo ihre Rechte am gerings- ses sowie dem gleichlautenden Antrag der Fraktion ten sind. Die Linke gibt der Bundestag der Bundesregierung ei- Die Möglichkeit, dass die Zentrale der Europäi- nen Verhandlungsauftrag bei den Debatten zur Verord- schen Staatsanwaltschaft die Ermittlungen selbst statt nung zur Errichtung der Europäischen Staatsanwalt- der in den Mitgliedstaaten tätigen Europäischen schaft. Die Europäische Staatsanwaltschaft soll für Staatsanwälte leitet, wird von uns kritisch gesehen, da Delikte zum Nachteil der Europäischen Union, konkre- in Bezug auf das Verfahren noch erhebliche Unklarhei- ter des EU-Haushalts, zuständig sein. Nach Artikel 23 ten bestehen. Absatz 3 Satz 2 GG muss die Bundesregierung die Stellungnahme des Bundestages bei den Beratungen Da die Regelungen zu den Ermittlungsbefugnissen berücksichtigen. Nach § 8 Absatz 2 EUZBBG muss die nicht zu Konflikten mit einzelstaatlichen Verfahrens- Bundesregierung die Stellungnahme sogar ihren Ver- ordnungen führen sollen, soll die Europäische Staats- handlungen zur Grundlage legen. Und nach § 8

Zu Protokoll gegebene Reden Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014 3469

Halina Wawzyniak (A) Absatz 4 EUZBBG muss die Bundesregierung einen Ich hätte gern demonstriert, dass alle Fraktionen sich (C) Parlamentsvorbehalt einlegen, wenn der Beschluss in der Kritik an der Europäischen Staatsanwaltschaft des Bundestages in einem seiner wesentlichen Belange einig sind. Das ist mir aber nicht möglich. Ich will mal nicht durchsetzbar ist. klar und deutlich sagen: Diese Kauder-Doktrin scha- det der Demokratie. Diese Kauder-Doktrin schadet Eine solche Mitsprache des Bundestages bei Ver- dem Parlamentarismus. Diese Kauder-Doktrin ist an- handlungen über Verordnungen ist nicht häufig. Ich tidemokratisch. Sie führt zu Politikverdrossenheit, finde aber, wir alle sollten dieses Instrument viel inten- denn es ist nicht ernsthaft zu vermitteln, warum bei siver nutzen. Denn es macht deutlich: Nationale Re- gleichlautendem Inhalt von Anträgen es unmöglich gierungen nehmen entscheidend auf Europäische sein soll, einen gemeinsamen Antrag vorzulegen und Rechtsetzungsakte Einfluss. Mit dem Finger nach hier abstimmen zu lassen. Kurz zusammengefasst: Brüssel zeigen, bedeutet eben eigentlich, dass auch Dieser Vorgang ist einfach nur peinlich, und Sie soll- zwei Finger zurückzeigen. ten sich schämen. Wir reden heute also nicht über die Errichtung der Die Chance, dies und andere Kritikpunkte in einer Europäischen Staatsanwaltschaft, sondern über Be- gemeinsamen Stellungnahme aller Fraktionen zu be- dingungen, unter denen eine Europäische Staatsan- schließen, wurde vertan. Das tut auch den weiteren waltschaft aus Sicht des Bundestages zustimmungs- Verhandlungen um die Europäische Staatsanwalt- fähig ist. Welche Bedingungen das sind, das werden schaft nicht gut. Die Verantwortung dafür trägt die die Kolleginnen und Kollegen der anderen Fraktionen Fraktionsspitze der Union, die sich somit auch als An- hier sicherlich im Detail noch vortragen. Seien Sie tieuropäer geoutet haben. sich aber sicher, wir werden genau darauf achten, ob die formulierten Bedingungen eingehalten werden oder nicht. Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ich habe bereits darauf verwiesen, dass die Kolle- Auch wir sind dafür, dass Straftaten zum Nachteil ginnen und Kollegen sicherlich die Details der Bedin- der Europäischen Union wirksamer verfolgt werden. gungen für eine Zustimmung zur Europäischen Staats- Der Vorschlag des EU-Rates für die Verordnung über anwaltschaft erklären werden. Wenn ich mich da auf die Europäische Staatsanwaltschaft, EPPO, ist eine die Kolleginnen und Kollegen verlasse, dann hat das brauchbare Diskussionsgrundlage. Sie muss gründlich etwas mit dem Seltsamen oder, besser gesagt, Absur- beraten werden. Schließlich soll sie unmittelbar an- den zu tun. wendbares Recht für die ganze EU schaffen, Bürgerin- (B) nen und Bürger strafrechtlich verfolgt und mit Krimi- (D) Wie Sie sicherlich gemerkt haben, liegen zwei nalstrafen bestraft werden. Nötig sind eine ganze gleichlautende Vorlagen vor. Wenn Sie aufmerksam ge- Reihe Änderungen und Ergänzungen. lesen haben, wird Ihnen aufgefallen sein, dass diese auch wortgleich sind. Das mag insbesondere die Zu- Die Stellungnahme des deutschen Bundestages schauerinnen unter Ihnen verwundern. Und, ja, es ist kommt spät. Zu lange brauchte das deutsche Parla- auch verwunderlich. Es liegen zwei Vorlagen vor, weil ment, um sich zu konstituieren und arbeitsfähig zu wir im Unterausschuss Europarecht sehr kollegial und werden. Gut ist, dass alle vier Fraktionen gemeinsam gemeinsam an einer gemeinsamen Stellungnahme ge- den vorliegenden Antrag erarbeitet haben. Damit arbeitet haben. Meine Fraktion hat konkrete Formulie- könnte er auch mehr Gewicht in den Diskussionen im rungsvorschläge zur Qualifizierung der Stellung- EU-Rat haben. Gar nicht gut ist, dass der Antrag nur nahme des Deutschen Bundestages unterbreitet, die von drei Fraktionen eingebracht wird und unterschrie- sich wortwörtlich in beiden Dokumenten wiederfinden. ben ist. Die Fraktion Die Linke wurde von der Union Mit anderen Worten, beide Anträge tragen auch unsere willkürlich ausgegrenzt. Das ist ungehörig und nicht Handschrift. Es ist also festzustellen, dass hier eine demokratisch. Die Linke hat kollegial und sachdien- große Gemeinsamkeit aller Fraktionen gegeben ist. Es lich mit eigenen Vorschlägen, die im Antrag Aufnahme liegt auf der Hand, dass hier eine gemeinsame Stel- fanden, an der Erstellung mitgearbeitet. Wir verurtei- lungnahme aller Fraktion hätte verabschiedet werden len dies und werden deshalb auch dem gleichlautenden können. Antrag der Linken zustimmen. Doch dem ist nicht so. Ich will ausdrücklich alle Die EU gibt viel Geld aus, das sie aus den Steuer- Kolleginnen und Kollegen des Unterausschusses Eu- einnahmen der Mitgliedstaaten eingenommen hat. Wir roparecht aus meiner Kritik herausnehmen. Ein ge- setzen uns dafür ein, dass das viele Geld auch vernünf- meinsamer Antrag aller Fraktionen scheiterte an der tig für vertretbare Zwecke im Interesse der Bevölke- Fraktionsführung der CDU und hier an der Kauder- rung ausgegeben wird. Darüber, ob dies immer ge- Doktrin. Diese besagt, dass keine gemeinsamen inhalt- lingt, wird viel gestritten. Aber besonders ärgerlich ist, lichen Anträge mit der Linken eingebracht werden wenn geschätzte 700 Millionen Euro im Jahr durch dürfen. Ich muss schon sagen: Diese Kauder-Doktrin Veruntreuung oder in anderer strafbarer Weise in der Unionsfraktionsführung ist ein wenig ballaballa dunklen Kanälen verschwinden. Da dürfen wir nicht und rational nicht zu erklären. Sie hat es zu verantwor- länger einfach zusehen. Es ist auch ungerecht, wenn in ten, dass hier zwei gleichlautende Vorlagen vorliegen. Mitgliedstaaten der EU die Aufklärung und Verfolgung

Zu Protokoll gegebene Reden 3470 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014

Hans-Christian Ströbele (A) von Straftaten zum Nachteil der EU ungleich konse- Kenntnis der Unterrichtung eine Entschließung gemäß (C) quent verfolgt werden. Damit wird zudem Vorurteilen Artikel 23 Absatz 3 des Grundgesetzes anzunehmen. gegen europäische Völker und Skepsis gegenüber der Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer ganzen EU Vorschub geleistet. stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Dann ist die Be- schlussempfehlung einstimmig, mit den Stimmen aller Eine Europäische Staatsanwaltschaft kann ein Mit- Fraktionen, angenommen. tel sein, solche Straftaten konsequenter zu verfolgen und den Schaden zu mindern. Sie kann dazu beitragen, Tagesordnungspunkt 22 b. Abstimmung über den An- dass unabhängige Abgeordnete Europäische Staatsan- trag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 18/1646 zu wälte Strafverstöße gleich konsequent nach gleichen dem Vorschlag für eine Verordnung des Rates über die Kriterien ermitteln, anklagen und vor Gericht zur Ab- Errichtung der Europäischen Staatsanwaltschaft. Wer urteilung bringen. stimmt für diesen Antrag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Damit ist der Antrag mit den Stimmen Dieses Ziel ist schwer zu erreichen in einer Union von CDU/CSU-Fraktion und SPD-Fraktion bei Zustim- von Staaten mit großen Unterschieden in den Rechts- mung der Fraktion Die Linke und der Fraktion Bünd- traditionen, im Straf- und Strafprozessrecht. nis 90/Die Grünen abgelehnt. Die für Straftaten zum Nachteil der EU einschlägi- Ich rufe die Tagesordnungspunkte 23 a und 23 b auf: gen Strafgesetze sind in Ländern häufig verschieden. Dies gilt auch für den Grad der Unabhängigkeit der a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände- Staatsanwälte in der jeweiligen Justiz, für die Rechte rung des Antiterrordateigesetzes und ande- der Beschuldigten, für die Zulassung von Beweismit- rer Gesetze teln und sogar für die Möglichkeit, Beschuldigter zu sein, ob Unternehmen oder nur natürliche Personen. Drucksache 18/1565 Wir haben uns besonders dafür eingesetzt, dass die Überweisungsvorschlag: Innenausschuss (f) Europäischen Staatsanwälte nicht nur dem EU-Parla- Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz ment rechenschaftspflichtig und verantwortlich sind, Ausschuss Digitale Agenda sondern auch von diesem gewählt werden. Wir haben b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundes- eingebracht, den „deal“, also die Beendigung eines regierung Strafprozesses durch einen Vergleich, nur unter den strengen Vorgaben der deutschen Rechtsprechung, Bericht zur Evaluierung des Antiterrordatei- also unter Mitwirkung des Gerichts und mit Transpa- gesetzes (B) (D) renz, zulässig sein soll. Wichtig sind für uns auch die Drucksache 17/12665 (neu) Garantie der Beschuldigtenrechte und die rechtsstaat- liche Begrenzung der Zulassung von Beweismitteln. Überweisungsvorschlag: Innenausschuss (f) Eigentlich wäre es besser, zunächst die Straf- und Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Strafprozessregelungen der Mitgliedstaaten weitge- Ausschuss Digitale Agenda hender zu harmonisieren, bevor grenzüberschreitende Die Reden sollen zu Protokoll gegeben werden. – Strafverfolgung durch eine gemeinsame Behörde ein- Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. geführt wird. Aber dies scheint noch viel Zeit zu brau- chen. Clemens Binninger (CDU/CSU): Wir werden genau verfolgen, ob diese und die zahl- Zwei Erkenntnisse liegen dieser Debatte über die reichen anderen Forderungen aus dem Antrag des Antiterrordatei und die Rechtsextremismusdatei zu- Bundestages in die endgültige Fassung des Vorschla- grunde. Erstens, die Bedrohung, die von Extremisten ges des Rates übernommen werden. Vom Ergebnis für unseren Staat und unsere Demokratie ausgeht, ist werden wir abhängig machen, ob wir diesen mittra- sehr ernst zu nehmen. Das zeigt die Aufarbeitung der gen. Straftaten, die dem rechtsextremistischen Terrortrio NSU zugerechnet werden, durch Untersuchungsaus- Am Wochenende habe ich erfahren, dass EU-Gel- schüsse und das Gerichtsverfahren in München. Das der zur Finanzierung eines Nachbarschaftsheimes in zeigen aber auch die alarmierenden Nachrichten über meinem Wahlkreis beitragen. Für solch gute Zwecke rund 320 Islamisten, die in den vergangenen beiden könnten EU-Finanzen durch eine EU-Staatsanwalt- Jahren als islamistische Kämpfer aus Deutschland schaft geschützt werden. nach Syrien gereist sind und mit einiger Sicherheit zum Teil auch wieder nach Deutschland zurückkehren – ra- Vizepräsident Peter Hintze: dikalisiert, mit Kampferfahrung und entsprechender Tagesordnungspunkt 22 a. Wir kommen zur Abstim- Ausbildung im Umgang mit Waffen. Deshalb müssen mung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses wir unseren Sicherheitsbehörden die richtigen Instru- für Recht und Verbraucherschutz zu dem Vorschlag für mente in Form von gemeinsamen Dateien an die Hand eine Verordnung des Rates über die Errichtung der Euro- geben, die nachweislich effektiv und erfolgreich zur päischen Staatsanwaltschaft. Der Ausschuss empfiehlt in Bekämpfung von Terrorismus und gewaltbereitem Ex- seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/1658, in tremismus beitragen. Zweitens, der Weg eines verbes- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014 3471

Clemens Binninger (A) serten Informationsaustauschs zwischen den Sicher- sungsgericht im vergangenen Jahr in den Blick (C) heitsbehörden in Bund und Ländern – also vor allem genommen. Die Korrekturen, die das Gericht an den Polizei und Nachrichtendiensten – ist mit dem Grund- bestehenden Gesetzen gefordert hat, gehen wir mit gesetz vereinbar. Daran gibt es keinen Zweifel. Auch dem vorliegenden Entwurf an. Dabei geht es unter an- deshalb gilt es, am Instrument der gemeinsamen Da- derem um die Definition bestimmter Merkmale, um teien festzuhalten. den Rahmen, in dem Kontaktpersonen gespeichert werden können, um verdeckte Speicherungsmöglich- Genau das tun wir mit dem vorliegenden Gesetzent- keiten oder die Inverssuche. wurf. Wir halten an dieser Form des Datenaustauschs fest. Wir passen die Regelungen zur Antiterrordatei Die Antiterrordatei wurde auch aufwändig evalu- und zur Rechtsextremismusdatei an die Vorgaben des iert. Solche Evaluationen sind wichtig, weil sie zeigen, Bundesverfassungsgerichts an, und wir wollen die wie Gesetze in der Praxis wirken und an welchen Stel- Auswerte- und Analysefähigkeit der Antiterrordatei in len Bedarf für Nachbesserungen oder Korrekturen be- Anlehnung an die Rechtsextremismusdatei ausbauen. steht. Das betrifft einerseits die Technik, andererseits Diese Verbunddateien geben unseren Sicherheitsbe- die Gesetzgebung. Die Ergebnisse dieser Evaluation hörden die Möglichkeit, auf wesentliche Informationen möchte ich hier nicht im Einzelnen ansprechen. Zwei über gewaltbereite Extremisten, die oft nur bruch- Punkte scheinen mir aber wichtig. stückhaft bei den Behörden in Bund und Ländern vor- Zum einen hat die Evaluation gezeigt, dass es aus liegen, zurückzugreifen und aus diesen Mosaiksteinen Sicht der Nutzer der Datei in den Sicherheitsbehörden der Erkenntnisgewinnung ein aussagekräftiges Bild ein wichtiger Fortschritt für ihre Arbeit wäre, wenn sie zusammenzusetzen. Die Erfahrungen mit den Dateien auch komplexere Abfragen über den Datenbestand zeigen, dass die gemeinsamen Dateien auch eine Art durchführen könnten. Etwa dass zum Beispiel Verknüp- Inhaltsverzeichnis sind, in denen man die vorhandenen fungen zwischen Personen, Gruppierungen und Objek- Erkenntnisse recherchiert, um einen weiteren Informa- ten direkt in der Datei hergestellt werden können. tionsaustausch zwischen den Behörden zu organisie- Erste Erfahrungen mit solchen gemeinsamen Projek- ren. Die Dateien unterscheiden dabei zwischen Grund- ten gibt es auch schon mit der Rechtsextremismusda- daten – also etwa Namen, Geburtsdatum und -ort, tei. Wir haben deshalb vor, mit diesem Gesetz eine ähn- Staatsangehörigkeit, Sprache oder Lichtbilder – und liche Möglichkeit – wenn auch in eingeschränkterem erweiterten Grunddaten – also etwa Telekommunikati- Maße – für die Antiterrordatei zu schaffen. onsanschlüsse, Bankverbindungen, Familienstand, Ausbildung, Fahrerlaubnisse oder ähnlichem. Wichtig Die Evaluierung der Antiterrordatei hat zum ande- (B) ist dabei, dass wir keine neuen Daten erheben, weder ren gezeigt, dass die Datei als ein wichtiges Element (D) bei der Polizei noch bei den Nachrichtendiensten. Wir zur verbesserten Zusammenarbeit und Kommunikation schaffen keine neuen Befugnisse zur Datenerhebung. zwischen den Sicherheitsbehörden in Deutschland bei- Diese gemeinsamen Dateien beziehen sich auf Daten, getragen hat. Und die Evaluierung der Rechtsextre- die bereits vorhanden und in verschiedenen polizeili- mismusdatei – da bin ich sehr zuversichtlich – wird chen und nachrichtendienstlichen Informationssyste- dies in den nächsten Jahren zeigen. men gespeichert sind. Natürlich können dabei gemeinsame Dateien nur In der Vergangenheit gab es das Problem, dass die ein Element einer verbesserten Zusammenarbeit sein, vorliegenden Erkenntnisse nicht ausreichend vernetzt das durch weitere Formen der Zusammenarbeit er- werden konnten. Manchmal dauerte es Wochen oder gänzt werden muss. Das ist in den vergangenen Jahren gar Monate, bis eine wichtige Information zwischen mit der Etablierung der gemeinsamen Zentren, in de- den Behörden ausgetauscht wurde – das hat der NSU- nen Mitarbeiter verschiedener Sicherheitsbehörden Untersuchungsausschuss herausgearbeitet. Wenn 36 zusammenarbeiten, erfolgreich gelungen. Eventuell oder 37 Sicherheitsbehörden in Bund und Ländern für vorhandenes Misstrauen wurde abgebaut, und Exper- die Bekämpfung von Extremismus und extremistischen tennetzwerke haben sich intern herausgebildet. Straftaten zuständig sind, kann die Antwort nicht sein, dass wir das Wissen voreinander abschotten, auf mög- Genau diese Zusammenarbeit ist der Weg, den wir lichst viele Stellen verteilen. Die Antwort kann nicht in einer globalisierten und vernetzten Welt, in der Be- sein, dass keiner mit dem anderen spricht, Informatio- drohungen und Gefährdungslagen immer komplexer nen nur im Ausnahmefall ausgetauscht werden und werden, gehen müssen. Und das tun wir mit diesem man sich hinterher wundert, wenn es zu spät ist. Des- Gesetz. halb ist es wichtig, dass die Daten für beide Bereiche – den gewaltbereiten Rechtsextremismus und den Isla- Uli Grötsch (SPD): mismus – jeweils in einer zentralen und standardisier- Wir beraten heute in erster Lesung den Entwurf ei- ten Datei gespeichert werden. nes Gesetzes zur Änderung des Antiterrordateigesetzes Dass das sogenannte Trennungsgebot dieser Art des und anderer Gesetze. Nach dem Urteil des Bundesver- Datenaustauschs nicht entgegensteht und ausrei- fassungsgerichts, BVerfG, vom 24. April 2013 wird chende Vorkehrungen zum Schutz der personenbezo- diese Änderung notwendig, und ich bin mir sicher, genen Daten getroffen sind, hat das Bundesverfas- dass wir die notwendigen Änderungen bis zur durch

Zu Protokoll gegebene Reden 3472 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014

Uli Grötsch (A) das Verfassungsgericht gesetzten Frist zum 31. Dezem- Außerdem wird künftig das Merkmal des „Befür- (C) ber dieses Jahres auch bewerkstelligen können. wortens“ von Gewalt konkretisiert: Es muss Anhalts- punkte dafür geben, dass die Person tatsächlich Ge- Die Antiterrordatei, ATD, hat sich seit ihrer Einfüh- walt anwenden, unterstützen oder vorbereiten will. rung in jeglicher Hinsicht bewährt: Schon alleine der Umstand, dass sie von den deutschen Sicherheitsbe- Auch die Regelungen zur sogenannten Inverssuche hörden wie dem Bundeskriminalamt, der Bundespoli- werden ergänzt. Hierbei handelt es sich um merkmals- zeidirektion, den Landeskriminalämtern, den Verfas- bezogene Recherchen in den erweiterten Grunddaten, sungsschutzbehörden des Bundes und der Länder, dem die der abfragenden Behörde im Trefferfall weiterfüh- Militärischen Abschirmdienst, dem Bundesnachrich- rende Informationen vermitteln und unmittelbar Zu- tendienst und dem Zollkriminalamt als Verbunddatei gang zu den einfachen Grunddaten verschaffen. Das verwendet werden kann, umreißt die Bedeutung und wird es nicht mehr geben, denn künftig wird der Zu- den Stellenwert für die Arbeit der genannten Sicher- griff bei der Inverssuche nur auf die Grunddaten, die heitsbehörden eindrucksvoll. Vernetzt zu arbeiten und Nennung der informationsführenden Behörde und das damit effektiv bei der Bekämpfung des internationalen Aktenzeichen beschränkt. Terrorismus arbeiten zu können, sind wichtige Aspekte, die den nachweisbaren Erfolg der ATD kenn- Neu ist auch, dass das BKA erstmals zum 1. August zeichnen. 2017 und dann alle drei Jahre dem Bundestag und der Öffentlichkeit über den Datenbestand und die Nutzung Wir alle wissen, dass das Bundesverfassungsgericht der ATD berichten muss. die Verfassungsmäßigkeit der ATD im Grundsatz wie erwartet bestätigt hat. Überraschend ist das sicherlich Daten, die durch Eingriffe in das Telekommunika- nicht. Schließlich speichert die ATD keine neuen Da- tionsgeheimnis und die Unverletzlichkeit der Wohnung ten, sondern führt bereits gespeicherte Erkenntnisse gewonnen wurden, werden künftig nur noch verdeckt der jeweiligen Behörden zusammen. eingestellt, sodass sie nur angezeigt werden dürfen, wenn die datenbesitzende Behörde aufgrund einer An- Auch der ebenfalls heute auf der Tagesordnung ste- frage nach Vorliegen der Übermittlungsvoraussetzun- hende und im Gesetz vorgesehene Evaluierungsbericht gen die Daten freigegeben hat. nach fünf Jahren bestätigt, dass die ATD den Informa- tionsaustausch zwischen den Behörden in der Terroris- Ich bin mir sicher, dass diese Änderungen die musbekämpfung verbessert hat. Das halte ich für einen Transparenz der ATD erhöhen und damit die noch im- sehr wichtigen Aspekt des Evaluierungsberichts: Die mer vorhandenen Ängste in der Bevölkerung ausräu- men können. (B) Einführung ist ein Erfolg und schafft mehr Effektivität (D) bei der Bekämpfung des internationalen Terrorismus Entsprechend werden die genannten Änderungen in all seinen Erscheinungsformen. auch für die Rechtsextremismusdatei vorgenommen, Natürlich gibt es auch Bedenken im Hinblick auf weil das Urteil des BVerfG auch diese Verbunddatei den Datenschutz und die Persönlichkeitsrechte eines betrifft. Menschen. Jeder Eingriff muss natürlich einer Güter- Eine weitere Änderung im ATD-Gesetz betrifft die abwägung standhalten. erweiterte Datennutzung, die auch bereits in der Es gibt aber auch geradezu wahnhafte Gerüchte Rechtsextremismusdatei möglich ist. Diese soll nun ge- über willkürliche Speicherungen und Abfragen von mäß der Koalitionsvereinbarung auch für die ATD ge- Personendaten. Deshalb möchte ich einen für mich schaffen werden. Bei einer erweiterten Nutzung kann entscheidenden Satz aus dem Evaluierungsbericht zi- die beteiligte Behörde zur Terrorismusbekämpfung tieren: einzelfallbezogen Daten zum Beispiel zu Personen, Gruppierungen und Institutionen sammeln, statistisch „Von der Eilfallregelung nach § 5 Absatz 2 ATDG, auswerten und Zusammenhänge herstellen. wonach die abfragende Behörde unmittelbaren Zugriff auf die erweiterten Grunddaten nehmen darf, wenn Diese Recherchemöglichkeit wird aufgrund der dies aufgrund bestimmter Tatsachen zur Abwehr einer weitreichenden Eingriffe nur zeitlich befristet möglich gegenwärtigen Gefahr unerlässlich ist, wurde nur ein und muss auf Antrag angeordnet bzw. dann auch ge- einziges Mal Gebrauch gemacht.“ nehmigt werden; die Zugriffsberechtigung ist auf einen engen Personenkreis beschränkt. Das heißt: Im Berufsalltag wird höchst sensibel mit diesen Daten umgegangen. Kein Wunder also, dass die Auch der Evaluierungsbericht sagt aus, dass erwei- Eilfallregelung vom BVerfG nicht beanstandet wurde. terte „Auswerte- und Analysefunktionen“ erforderlich seien und „die fehlende Möglichkeit, Daten innerhalb Gemäß dem Urteil des BVerfG nimmt die Bundesre- der ATD miteinander zu verknüpfen und weiterfüh- gierung einige „Nachjustierungen“ in der konkreten rende Analysen zu betreiben, nachteilig seien“. Das Ausgestaltung von einzelnen Vorschriften vor, etwa sagen uns diejenigen, die in ihrem Arbeitsalltag mit dass nur derjenige Unterstützer einer terrorismusun- der ATD zu tun haben. terstützenden Gruppierung gespeichert werden darf, der auch willentlich und in Kenntnis der terroristi- Der Bundesrat hat in seiner Stellungnahme vom schen Tätigkeiten diese Gruppierung fördert. 23. Mai 2014 Bedenken bezüglich der Einführung der

Zu Protokoll gegebene Reden Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014 3473

Uli Grötsch (A) erweiterten Nutzung angemeldet. Das mag nicht unbe- ausgeweitete Suchfunktion eine Absage erteilt. Der (C) rechtigt sein, denn natürlich handelt es sich um einen Bundesrat verweist auf die noch ausstehende Evaluie- sehr sensiblen Grundrechtsbereich, aber ich bin mir rung dieser Funktion im Falle der Rechtsextremismus- sicher: Das hat auch der zuständige Innenminister vor datei. Doch die Bundesregierung hält es nicht einmal Augen gehabt und war sich dessen bewusst. Und des- für nötig, das Ergebnis dieser Überprüfung abzuwar- sen sind sich auch in diesem Zusammenhang die Men- ten. Offensichtlich lässt auch die Stellungnahme des schen bewusst, die die Datei verwenden. Das hat der Bundesrates die Regierung kalt – so wie die Regierung Evaluierungsbericht, wie schon erwähnt, gezeigt. die Kritik des Bundesverfassungsgerichts mit Gering- schätzung behandelt. Diese Tatsache entbindet das Parlament natürlich nicht davon, genau hinzuschauen. Wir werden uns in Das Gericht hatte die Speicherung von sogenannten den Ausschüssen mit diesem Gesetz beschäftigen und „Befürwortern“ von Gewalt als Mittel zur Durchset- die verfassungsmäßigen Bedenken prüfen. zung politischer oder religiöser Ziele kritisiert. Weil diese Bewertung auf einer „inneren Haltung“ beruhe, Fest steht, dass die ATD sich in der Praxis bewährt könne sie zu einer einschüchternden Wirkung bei der hat und ihr Ziel erfüllt. Ich bin mir sicher, dass wir ein Wahrnehmung der Freiheitsrechte führen, so das Ge- gutes Gesetz auf den Weg bringen werden. richt.

Ulla Jelpke (DIE LINKE): Ich möchte es noch deutlicher benennen: Es geht hier schlicht um Gesinnungsjustiz – und die darf in ei- Wir verhandeln heute ein von der Bundesregierung nem Rechtsstaat keinen Platz haben. eingebrachtes Gesetz zur Änderung der seit 2007 be- stehenden Antiterrordatei. Dies wurde notwendig, weil Jetzt will die Bundesregierung die Formulierung so das Bundesverfassungsgericht die bisherige Datei im ändern, „dass es Anhaltspunkte geben muss, dass die April letzten Jahres in mehreren entscheidenden Punk- Person tatsächlich Gewalt anwenden, unterstützen, ten für gesetzeswidrig erachtete. Die heute von der Re- vorbereiten oder hervorrufen will“. Das Deutsche In- gierung vorgeschlagenen Änderungen betreffen zum stitut für Menschenrechte hat klargestellt, dass hier Teil auch die nach dem Vorbild der Antiterrordatei ge- weiterhin in unzulässiger Weise ein Rückschluss auf klonte Rechtsextremismusdatei. die „innere Haltung“ erfolgt. Bei diesen Dateien handelt es sich um Datenpools, Die Bundesregierung will also die bisherige rechts- zu denen 38 Landes- und Bundespolizeibehörden und widrige Praxis einfach mit neuen Worten fortschrei- Geheimdienste – die Verfassungsschutzämter, der Bun- ben. Es ist schon ungeheuerlich, wie hier versucht (B) desnachrichtendienst und der Militärische Ab- wird, das höchste deutsche Gericht an der Nase he- (D) schirmdienst – gemeinsamen Zugriff haben. Nur ein- rumzuführen. mal zur Dimension: Die Antiterrordatei enthält mehr In der Antiterrordatei sind eben nicht nur Terrorver- als 17 000 Datensätze, bis 2013 erfolgten 350 000 Such- dächtige, sondern auch zahlreiche sogenannte „Befür- anfragen der Polizeien und Geheimdienste. worter“, „Unterstützer“ und „Kontaktpersonen“ ge- Die Linke hat die Schaffung solcher Verbunddateien speichert – Menschen, die sich nichts zuschulden von Anfang an aus grundsätzlichen bürgerrechtlichen kommen ließen und vielleicht gar nicht wussten, mit Erwägungen abgelehnt. Denn hier wird das als Lehre wem sie in Kontakt standen. Dass es sich hier nicht um aus den Erfahrungen mit der Gestapo unter dem Paranoia handelt, zeigte erst vor drei Wochen das Er- Nazi-Regime geltende grundgesetzliche Trennungsge- gebnis einer Überprüfung von Daten beim niedersäch- bot von Polizei und Geheimdiensten weiter unterlau- sischen Verfassungsschutz durch eine eigens dafür ein- fen. gesetzte Task Force. Rund 40 Prozent der überprüften Personendaten waren illegal gespeichert. Betroffen Leider ging das Bundesverfassungsgericht bei sei- waren Menschen, die sich völlig legal in Bürgerinitia- ner Kritik nicht so weit. Doch selbst gemessen an den tiven politisch engagieren. Gespeichert wurden Mus- Rügen des höchsten deutschen Gerichts an der bisheri- lime, die in den – nach Meinung der Schlapphüte – fal- gen Handhabung dieser Datei ist der vorliegende Ge- schen Moscheen beten. Selbst Minderjährige wurden setzentwurf ein Affront. Denn unter dem Vorwand der erfasst. Das Beispiel Niedersachsen zeigt, wohin die verfassungskonformen Ausgestaltung will die Bundes- unkontrollierte Datensammelwut der Dienste führt. regierung die Datennutzung sogar noch erweitern, wie Und dabei bleibt es ja nicht. Anschließend haben über das bei der Rechtsextremismusdatei bereits Praxis ist. die gemeinsame Verbunddatei auch die Ermittlungsbe- So sollen ein Data Mining unter Einbeziehung mehre- hörden und Geheimdienste der anderen Bundesländer rer Datensätze aus verschiedenen Datenbeständen und Zugriff auf solche unrechtmäßig erfassten Daten. eine statistische Auswertung ermöglicht werden. Mit anderen Worten: Die Fähigkeiten zur digitalen Raster- Schon zum Schutze solcher zu Unrecht erfassten fahndung von Polizeien und Geheimdiensten sollen Personen sollten Geheimdienste keinen Zugriff mehr ausgeweitet werden. auf die Antiterrordatei erhalten – als ersten Schritt zur Abschaffung dieses Datenmonsters. Kritik an diesem Ansinnen erfolgte am 23. Mai durch den Bundesrat. Die Landesregierungen haben Die Linke bleibt dabei: Bürgerrechte dürfen nicht darin einer „erweiterten Datennutzung“ durch eine im Namen der Sicherheit geopfert werden.

Zu Protokoll gegebene Reden 3474 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014

(A) Irene Mihalic (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): anhörung zu diesem Gesetzentwurf beantragt. Wir (C) Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem werden nicht aufhören, für den Datenschutz, die Wah- Grundsatzurteil vom April 2013 erstmals das informa- rung des Trennungsgebotes zwischen Polizeien und tionelle Trennungsprinzip zwischen Polizeien und Nachrichtendiensten und für eine verfassungskon- Nachrichtendiensten ausdrücklich anerkannt und aus forme Sicherheitsarchitektur zu kämpfen. dem Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung abgeleitet. Die Konturen der unterschiedlichen Aufga- Dr. Günter Krings, Parl. Staatssekretär beim Bun- ben der Sicherheitsbehörden und auch des verfas- desminister des Innern: sungsrechtlichen Trennungsgebotes wurden damit Das Antiterrordateigesetz von 2006 war eine von deutlich geschärft. Das Bundesverfassungsgericht hat zahlreichen Antworten auf die gewachsene Bedrohung hohe Anforderungen an die informationelle Trennung durch den internationalen Terrorismus. Durch die Ein- von Polizei und Nachrichtendiensten formuliert. Daraus richtung einer gemeinsamen Fundstellendatei wollten ergibt sich ein enormer Prüf- und Handlungsbedarf, wir – nicht zuletzt im Licht der Anschläge von Madrid der weit über das Antiterrordateigesetz hinausreicht. im März 2004, bei denen 191 Menschen getötet und Und nur deshalb hat das Bundesverfassungsgericht über 1 900 verletzt wurden – die Zusammenarbeit und dem Gesetzgeber eine Umsetzungsfrist für das Urteil die Kontaktaufnahmemöglichkeiten der zuständigen eingeräumt: Sie läuft noch bis zum 31. Dezember Behörden verbessern. 2014. Dank der Datei kann ein Behördenmitarbeiter, der Nach diesem Urteil ist es unsere Aufgabe, die Da- im Bereich des internationalen Terrorismus ermittelt tenübermittlungsvorschriften in den Sicherheitsgeset- oder aufklärt, schnell herausfinden, ob zu einer be- zen am Maßstab der Verfassung neu zu überprüfen und stimmten Person auch bei anderen Behörden bereits zu reformieren – da gibt es zum Beispiel auch dringen- Informationen vorhanden sind und an wen er sich wen- den Handlungsbedarf bei § 19 Bundesverfassungs- den muss. schutzgesetz. Das hat die Innenministerkonferenz auch schon so gesehen. Außerdem geht es in dieser Sache Und im Eilfall, wenn Gefahr im Verzug ist und nie- nicht nur um die gemeinsamen Dateien. Wir brauchen mand in der anderen Behörde erreichbar, kann die Be- nach diesem Urteil auch zwingend eine gesetzliche hörde auch die erweiterten Grunddaten freischalten. Grundlage für die Gemeinsamen Abwehrzentren wie Das ist bislang genau einmal vorgekommen und bestä- das GETZ – soweit der Betrieb überhaupt noch verfas- tigt zweierlei: zum einen, wie zurückhaltend und ver- sungskonform möglich ist. Und wir brauchen eine antwortungsvoll die Behörden mit dieser Datei und ih- (B) deutlich bessere Bund-Länder-übergreifende externe ren Befugnissen umgehen. Zum anderen aber zeigt (D) Kontrolle der Zusammenarbeit von Polizeien und dieser konkrete Einzelfall auch, wie wichtig solche Eil- Nachrichtendiensten. klauseln sind: So konnte der Terrorismusverdacht gegen einen Be- Aber der Gesetzentwurf der Bundesregierung geht troffenen, der am Wochenende im Rahmen einer kon- leider völlig an den Erfordernissen, die sich aus dem kreten Terrorismusfahndung mit mehreren gefälschten Urteil ergeben, vorbei. So wird sogar noch die verfas- Pässen angetroffen wurde, schnell entkräftet werden, sungswidrige erweiterte Datennutzung, die bisher nur obwohl er wegen Namensgleichheit mit einem anderen in der Rechtsextremismusdatei möglich war, nun auch Verdächtigen einen Treffer in der ATD hatte. für die Antiterrordatei neu einführt. Und dass die Ge- setzesgrundlagen beider Dateien entfristet werden Dass die Datei so funktioniert, wie wir uns das vor- sollen, obwohl keine von beiden je einer unabhängigen gestellt haben, hat die gesetzliche Evaluierung in der grundrechtsorientierten Evaluierung unterzogen letzten Legislaturperiode gezeigt. Ganz eindeutig ha- wurde, erweckt bei mir den Eindruck, als interessiere ben die befragten Mitarbeiter, die mit der Datei arbei- die Bundesregierung die Wahrung der Grundrechte in ten, bestätigt, dass diese die Zusammenarbeit insge- der Sicherheitspolitik nicht. Das zeigt sich auch darin, samt verbessert hat. dass uns die Bundesregierung das unabhängige rechtswissenschaftliche Gutachten aus der letzten Noch während die Evaluierung lief, hat ein anderes Wahlperiode zur Evaluierung der Antiterrordatei bis tragisches Ereignis gezeigt, dass sich das terroristi- heute nicht vorgelegt hat. sche Täterpotenzial nicht auf den islamistischen Terro- rismus beschränkt. Die Aufdeckung der Mordserie des Mit diesem Gesetzentwurf missachtet die Bundesre- NSU hat uns deutlich vor Augen geführt, wie dringend gierung das Grundrecht auf informationelle Selbstbe- wir die Zusammenarbeit der zahlreichen Sicherheits- stimmung und ignoriert die Vorgaben des Bundesver- behörden in Deutschland auch im Bereich des gewalt- fassungsgerichts. Das können wir so nicht hinnehmen bereiten Rechtsextremismus verbessern müssen. und deshalb müssen wir hier im Deutschen Bundestag Einer der ersten Schritte war daher auch hier, nach dafür sorgen, dass die Anforderungen des Bundesver- dem Vorbild der ATD eine Rechtsextremismusdatei fassungsgerichtsurteils berücksichtigt werden. Wir ha- einzurichten. ben in der Fraktion bereits ein öffentliches Fachge- spräch zu den Konsequenzen des Urteils durchgeführt. Gerade vor dem Hintergrund des NSU und den Er- Im Innenausschuss haben wir eine Sachverständigen- gebnissen, die auch der parlamentarische Untersu-

Zu Protokoll gegebene Reden Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014 3475

Parl. Staatssekretär Dr. Günter Krings (A) chungsausschuss hierzu in der letzten Legislaturpe- BVerfG, das gerade die Funktion als Fundstellennach- (C) riode gebracht hat, wirkt das Urteil des BVerfG vom weis betont hat. 24. April 2013 zur ATD beinahe anachronistisch, Daher zielt die eng begrenzte Erweiterung der Anti- schreibt es doch erstmals ein verfassungsrechtliches terrordatei hinsichtlich einer Auswerte- und Analyse- informationelles Trennungsprinzip fest, das den Aus- fähigkeit darauf ab, dass nur bereits erhobene Daten tausch von personenbezogenen Daten zwischen Poli- von einer an der ATD beteiligten Behörde systematisch zei- und Strafverfolgungsbehörden einerseits und den recherchiert werden können. Dabei werden hohe for- Verfassungsschutzbehörden andererseits nur unter be- melle und materielle Maßstäbe an die Zulässigkeit sol- stimmten Voraussetzungen gestattet. cher Auswerte- und Analyseprojekte angelegt. Aber im Kern bestätigt auch das BVerfG die ATD Insgesamt legen wir damit einen guten und prakti- – und implizit auch die RED – als sinnvolle Einrich- kablen Gesetzentwurf dem Deutschen Bundestag vor, tung für die Fälle, in denen eine schnelle und unkom- der zwei Ziele erreicht: nämlich die Einhaltung der plizierte Kontaktaufnahme zwischen den einzelnen Be- verfassungsrechtlichen und verfassungsgerichtlichen hörden notwendig wird. Vorgaben auf der einen Seite und die Erfüllung der Daher beschränken sich die Änderungen auch auf praktischen Anforderungen an eine effektive Recher- wenige, wenngleich entscheidende Punkte. So fassen che in den für die Terrorbekämpfung notwendigen Da- wir die Definition der Personen, die in den beiden Da- tenbeständen auf der anderen Seite. teien gespeichert werden, etwas enger, insbesondere werden Kontaktpersonen nur noch mit wenigen Ele- Vizepräsident Peter Hintze: mentardaten, die zur schnellen Identifizierung und Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf Kontaktaufnahme notwendig sind, zu den Hauptperso- den Drucksachen 18/1565 und 17/12665 (neu) an die in nen gespeichert und können nicht mehr eigenständig der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschla- in den Dateien gesucht werden. gen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Außerdem werden künftig Daten, die aus Eingriffen in das Fernmeldegeheimnis oder durch Maßnahmen Ich rufe den Tagesordnungspunkt 24 auf: der Wohnraumüberwachung gewonnen wurden, nur Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- noch verdeckt eingestellt, sind also auch über die Eil- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Anpas- fallregelung nicht abrufbar. Mit weiteren Maßnahmen sung des nationalen Steuerrechts an den Bei- wie der Veröffentlichung der ergänzenden Verwal- tritt Kroatiens zur EU und zur Änderung (B) tungsvorschriften und einem regelmäßigen Tätigkeits- weiterer steuerlicher Vorschriften (D) bericht des BKA an den Bundestag erhöhen wir zudem die Transparenz der Dateien. Und ein Novum ist auch, Drucksache 18/1529 dass die Datenschutzbeauftragten des Bundes und der Überweisungsvorschlag: Länder die Dateiführung nicht nur vollumfänglich Finanzausschuss (f) Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union kontrollieren dürfen. Hierfür hatte bereits das alte Ge- Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 der GO setz eine revisionssichere Vollprotokollierung aller Zu- griffe auf die Dateien vorgeschrieben. Die Reden sollen zu Protokoll gegeben werden. Sind Sie damit einverstanden? – Ich sehe, das ist der Fall. Zukünftig müssen sie – den Vorgaben des BVerfG entsprechend – mindestens alle zwei Jahre Kontrollen Olav Gutting (CDU/CSU): durchführen. Wir beraten heute in erster Lesung das Gesetz zur Eine Änderung im ATDG ist allerdings nicht auf das Anpassung des nationalen Steuerrechts an den Beitritt BVerfG zurückzuführen. Im Zuge der Evaluierung der Kroatiens zur EU und zur Änderung weiterer steuerli- ATD ist eine Forderung der Nutzer immer wieder auf- cher Vorschriften. Ein zugegebenermaßen etwas sper- getaucht: Der bloße Fundstellennachweis, wenn man riger Titel für ein Gesetz, welches überwiegend Vor- bereits einen konkreten Verdächtigen hat, hilft zwar bei schriften enthält, die in der Vergangenheit mit den der Informationsverdichtung. Aber gerade wenn man jeweiligen Jahressteuergesetzen geregelt wurden. So aufgrund weniger spezifischer Hinweise nach Tätern wollen wir neben der fachlichen Umsetzung der not- suchen muss, wie das ja bei den NSU-Morden der Fall wendigen Anpassungen eine Vielzahl von redaktionel- war, wären erweiterte Suchmöglichkeiten äußerst hilf- len Änderungen und auch Vereinfachungen im Steuer- reich. recht vornehmen. Und in der Tat: Wenn man moderne Suchmaschinen Bedeutsam ist, dass im Einkommensteuer-, Körper- kennt, muten die Eingabemasken für die Suche in der schaft- und Gewerbesteuergesetz eine Neuregelung ATD oder RED reichlich altbacken an, was in diesem und Straffung der Anwendungsregelungen erfolgt, wo- Fall nicht der schlechten IT-Ausstattung der Polizei, durch insgesamt über 100 Absätze gestrichen werden sondern den gesetzlichen Restriktionen geschuldet ist. können. Abbau von Bürokratie auch und gerade im Steuerrecht ist uns ein Anliegen. Diesem Ansinnen ha- Nun widerspräche aber eine Suchmöglichkeit, wie ben wir auch im Koalitionsvertrag entsprechend Rech- wir sie von Google kennen, klar den Vorgaben des nung getragen und setzen dies konsequent mit dem 3476 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014

Olav Gutting (A) vorliegenden Gesetzentwurf gemeinsam mit unserem Leistungsempfängers bei Bauleistungen und bei Ge- (C) Koalitionspartner um. bäudereinigungsleistungen nach der aktuellen Recht- sprechung des BFH sein. Die Rechtsprechung sorgte Fakt ist, dass der Abbau von unnötiger Bürokratie jedenfalls in der Bau- und Handwerksbranche für er- die Wettbewerbsfähigkeit unserer Unternehmen stärkt hebliche rechtliche Unsicherheit. Wir wollen jedoch und zudem auch zu einer leistungsfähigeren Verwal- möglichst präzise Gesetze, welche für die Bürger und tung führt. Wir haben im Koalitionsvertrag vereinbart, Unternehmen klar sind. Die Beratungen und auch die dass Gesetze einfach, verständlich und zielgenau aus- anstehende Sachverständigenanhörung bleiben hier gestaltet sein müssen. Bei der Steuergesetzgebung sind abzuwarten. die Anforderungen „einfach“ und „verständlich“ zu- gegebenermaßen oft nur sehr schwer zu erreichen. Da die Gesetzvorlage bisher lediglich politisch Nicht selten ist es so, dass die wünschenswerte Ein- unproblematische Regelungen zum Inhalt hat, dürfte fachheit dem notwendigen Gerechtigkeitsgedanken einer zügigen Umsetzung und dem Abschluss des Ge- nicht immer zuträglich ist. Vereinfachen bedeutet oft, setzgebungsverfahrens nichts entgegenstehen. Pauschalierungen vorzunehmen. Bei Pauschalierun- gen gibt es aber immer Gewinner und Verlierer, trotz Die Beratungsbranche und die Praxis wird mit Er- der damit verbundenen Entbürokratisierung, welche leichterung zur Kenntnis nehmen, dass wir die hier ge- den Bürgern und der Verwaltung zugutekommt. troffenen Regelungen nicht erst kurz vor Abschluss des Kalenderjahres, sondern weit vorher beschließen wer- Ich freue mich daher umso mehr, dass wir der Ent- den. bürokratisierung weiter entgegengehen und unser Steuerrecht – wie im vorliegenden Gesetzentwurf – von Ich freue mich auf eine aufschlussreiche Sachver- unnötigen Regelungen befreien, sozusagen entrüm- ständigenanhörung und auf gute Beratungen in den peln. nächsten Wochen – auch mit der Opposition.

Die Jahressteuergesetze stehen da in einer guten Andreas Schwarz (SPD): Tradition. Im Rahmen dieser Omnibusgesetze wurde bislang eine Vielzahl von Entbürokratisierungsmaß- Zur mittlerweile fortgeschrittenen Stunde will ich nahmen umgesetzt. So weit die bisherige bewährte Ihnen detaillierteste Ausführungen zum Gesetzentwurf Praxis, an die wir mit dem vorliegenden Gesetzentwurf der Bundesregierung ersparen, da wir auch immer nahtlos anknüpfen wollen. noch ganz am Anfang des Verfahrens stehen, aber auf einige wenige Punkte möchte ich doch auch weit nach Ein weiterer wichtiger Punkt der Gesetzesvorlage Sonnenuntergang eingehen. (B) (D) ist, dass zukünftig alle Einrichtungen zur ambulanten Rehabilitation in die Gewerbesteuerbefreiung einbe- Es ist immer wieder spannend, was sich so alles hin- zogen werden. Sie werden damit den stationären Ein- ter Gesetzesbezeichnungen verbirgt, und wenn man richtungen gleichgestellt. dann mal genauer reinschaut, entdeckt man allerlei Überraschendes und Vielfältiges. Ähnlich vielfältig Weiterer wesentlicher Inhalt des Entwurfs ist im Be- wie das Land Kroatien ist, so ist auch dieser Gesetz- reich der Vereinfachungen beispielsweise die Wieder- entwurf. Hangeln wir uns hierbei doch durch allerlei einführung der Fifo-Methode beim Handel mit Fremd- steuerliche Regelungen und Richtlinien, die teilweise währungsbeträgen. Mit der Wiedereinführung lösen sogar Kroatien betreffen. wir die mit jedem weiteren Kauf und Verkauf von Fremdwährungsbeträgen komplizierter werdende Zu einem nicht unwesentlichen Teil handelt es sich Durchschnittsmethode ab, welche wir mit der Geltung beim vorliegenden Gesetzentwurf der Bundesregie- der Abgeltungsteuer eingeführt haben. rung um die Anpassung geltenden Rechts an den be- reits zurückliegenden Beitritt Kroatiens zur Europäi- Im Bereich der Umsatzbesteuerung wollen wir die schen Union. Dies sind weitestgehend unstrittige Einführung einer eigenständigen Umsatzsteuerbefrei- redaktionelle oder rechtsförmliche Anpassungen, die ungsnorm für Arbeitsmarktdienstleistungen nach dem geschehen müssen, um bestehende Gesetze an den Bei- SGB II und dem SGB III schaffen. tritt Kroatiens anzupassen. Ich denke da etwa an die Anpassung der Mutter-Tochter-Richtlinie oder der An- Die Umsatzsteuerbefreiung dient der zielgerichte- passung der Richtlinie über die Zins- und Lizenz- ten Umsetzung der europäischen Mehrwertsteuer- gebühren. Systemrichtlinie, die für die mit der Sozialfürsorge und der sozialen Sicherheit verbundenen Leistungen Um- Aber die Bundesregierung nutzt, und das begrüßen satzsteuerfreiheit vorsieht. wir als SPD-Bundesfraktion ausdrücklich, die Gele- Der Entwurf ist schon gut, bei den kommenden Be- genheit, die Steuergesetzgebung auch etwas zu ent- ratungen werden wir aber sicherlich noch die eine schlacken, teils über redaktionelle Änderungen, teils oder andere zusätzliche Maßnahme ins Gesetz aufneh- aber auch durch berechtigte Straffung des Gesetzes- men. textes. Denken wir etwa an die Neufassung der Anwen- dungsregelungen in § 52 des Einkommensteuergeset- Ein Punkt, den wir bei den Beratungen intensiv zes, in dem nun statt 150 Absätzen künftig nur noch prüfen werden, wird die Steuerschuldnerschaft des 48 Absätze stehen sollen. Das vereinfacht es nicht un-

Zu Protokoll gegebene Reden Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014 3477

Andreas Schwarz (A) wesentlich den Gesetzestext zu nutzen, aber auch erst Krankenhäuser und stationäre Rehaeinrichtungen von (C) einmal zu verstehen. der Gewerbesteuer befreit sind. Der einzige Unter- schied besteht jedoch in der ausbleibenden Übernach- Neben den zahlreichen technischen und redaktio- tung. Hier sehen wir Handlungsbedarf. Ich denke, der nellen Änderungen und rechtlichen Klarstellungen Gesetzentwurf geht hier in die richtige Richtung. gibt es aber auch tatsächlich substanzielle Änderun- gen, die wir begrüßen und die es vor allem auch den Aber ein gutes Steuergesetz ändert auch immer eini- Finanzbeamtinnen und Finanzbeamten in unserem ges in der Umsatzsteuer. Auch hier bin ich sehr ge- Land erleichtern sollen, ihre Arbeit weiterhin so gut zu spannt auf die gestern im Finanzausschuss beschlos- verrichten. Die nun einzuführende Regelung, dass sene Anhörung, weil wir hier den wohl spannendsten künftig die Steuer-ID des Unterhaltsempfängers auf und kontroversesten Teil des Gesetzentwurfes finden der Steuererklärung des Unterhaltspflichtigen genannt können. Die Steuerbefreiungen für Eingliederungsleis- werden muss, erleichtert es, Missbrauch zu vermeiden, tungen nach dem SGB II und der aktiven Arbeitsförde- und ist der richtige Schluss aus der berechtigten Kritik rung nach SGB III scheinen mir nachvollziehbar und der Rechnungshöfe. richtig zu sein. Ganz ähnlich denke ich über die Steu- Die Anhebung des Grenzbetrages für die jährliche erbefreiung für die Personalgestellung durch religiöse Abgabe der Lohnsteueranmeldung von 1 000 Euro auf und weltanschauliche Einrichtungen. 1 080 Euro ist logisch und nachvollziehbar und entlas- Nun hat uns der Finanzausschuss des Bundesrates tet die Steuerverwaltung genauso wie die Arbeitgeber. schon eine Stellungnahme übermittelt, die auch noch Wir unterstützen das. einige interessante Änderungsvorschläge beinhaltet, Zwei notwendige Schritte im Rahmen des Einkom- und ganz besonders spannend ist der Änderungs- mensteuergesetzes werden angepackt, bei denen ich wunsch zu § 13 b Umsatzsteuergesetz. Die Rechtspre- mich besonders auf die Beratungen und Diskussionen chung hat hier einiges verändert oder verschlimmbes- im Finanzausschuss freue, weil ich der festen Überzeu- sert – wie man will. Hier geht es um die dringende gung bin, das wir dort alle gemeinsam einen Schritt Frage, wer denn nun die Umsatzsteuer abführen muss vorankommen wollen. Zum einen richtet sich der Ge- oder nicht, beispielsweise wenn ich einen Auftrag an setzentwurf gegen Modelle, bei denen „gebrauchte“ eine Baufirma vergebe und diese ihn an unterschiedli- Versicherungen von Versicherungsnehmern an Dritte che Subunternehmer weitergibt. Wer führt nun die Um- – häufig Versicherungen oder Fonds – verkauft wer- satzsteuer ab? Das gilt es gesetzlich endlich festzuzur- den. Der Gewinn, den dabei die Käufer erzielen, ist ren, um rechtliche Klarheit wiederherzustellen. Aktuell (B) bisher steuerfrei, und das müssen wir ändern. Es han- etwa kann es unter anderem passieren, dass Subunter- (D) delt sich hierbei häufig um Lebensversicherungen, und nehmer eigentlich Umsatzsteuer zahlen müssten, aber letztlich sind das Wetten auf den Tod, die hier abge- eventuell gar nicht mehr existieren. Hier besteht schlossen werden. Wer daraus Gewinn erzielen will, Handlungsbedarf, und den hat der Bundesrat in seiner der muss darauf auch Steuern zahlen. Das Credo muss Weisheit entdeckt und einen praktikablen Vorschlag nämlich weiterhin lauten: Risikovorsorge darf steuer- gemacht, den wir mit in die Beratungen im Ausschuss befreit bleiben, Renditeerwartungen zweckentfremden nehmen und auch in der Anhörung mit den Verbänden jedoch die Versicherung und sollten somit steuer- diskutieren werden. pflichtig sein. Hier kommen wir einen weiteren Schritt voran. Es bewahrheitet sich also wie so häufig das Struck- sche Gesetz: Kein Gesetz verlässt den Bundestag so, Zum anderen geht es darum, zu vermeiden, dass be- wie es reingekommen ist. Ich freue mich auf die Bera- schränkt Steuerpflichtige ihre Dividendenansprüche tungen im Ausschuss und die gemeinsame Arbeit. kurz vor dem Stichtag veräußern, um die Steuerpflicht zu umgehen. Auch hier sieht der Gesetzentwurf sinn- Richard Pitterle (DIE LINKE): volle Veränderungen vor, die dieses künftig vermeiden sollen. Durch die gesetzliche Klarstellung der gelten- Der Entwurf, den uns die Bundesregierung hier vor- den Rechtslage werden künftig Fehlinterpretationen gelegt hat, heißt ganz unscheinbar „Gesetz zur Anpas- vermieden. sung des nationalen Steuerrechts an den Beitritt Kroa- tiens zur EU und zur Änderung weiterer steuerlicher Im Bereich der Gewerbesteuer sollen auch Ände- Vorschriften“. Man könnte also denken, hier gehe es rungen vollzogen werden, die es zu erwähnen gilt. Die nur um ein, zwei kleine Änderungen, die durch den Erweiterung des Inlandsbegriffes ist aus meiner Sicht Kroatien-Beitritt notwendig geworden wären. unstrittig. Weitere Veränderungen soll es im Bereich der ambulanten Rehaleistungen geben. Wer sich ein Tatsächlich aber setzen Sie, meine Damen und Her- wenig mit Rehabilitationsmaßnahmen in unserem ren von der Bundesregierung, uns hier ein neunzigsei- Land beschäftigt, kennt die Entwicklung, dass heutzu- tiges Monstrum vor, das auf den ersten Blick nur sehr tage Therapien, die früher immer stationär vollzogen schwer zu durchschauen ist. Sie sehen in dem Entwurf wurden, heute häufig ambulant geschehen. Dies ge- so viele Gesetzesänderungen vor, dass er teils sogar schieht häufig auch im Sinne des Patienten. Nun soll es schon als „heimliches Jahressteuergesetz 2014“ be- eine steuerliche Gleichstellung geben, da bisher nur zeichnet wird.

Zu Protokoll gegebene Reden 3478 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014

Richard Pitterle (A) Zwar will ich Ihnen, meine Damen und Herren von sein scheinen, noch ein paar unliebsame Überra- (C) der Bundesregierung, erst einmal zugestehen, dass es schungen durch diesen Gesetzentwurf unterjubeln wol- sich bei vorliegendem Gesetzentwurf zu großen Teilen len. Aber wie heißt es doch so schön: ein Schelm, wer auch um eine begrüßenswerte Entrümpelungsmaß- Böses dabei denkt. nahme im völlig unüberschaubaren Wust des Steuer- rechts handelt. Dass Sie zum Beispiel längst überholte Lisa Paus (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Paragrafen im Einkommensteuergesetz streichen, war sozusagen ohnehin überfällig. Eines können wir näm- Das Spannendste bei diesem Gesetzentwurf, den die lich mit Bestimmtheit sagen: Jedes kleine bisschen Bundesregierung hier vorlegt, sind die Baustellen, die Mehr an Transparenz und Verständlichkeit ist wün- mit diesem Gesetz nicht berührt werden. schenswert. Das wird jeder bestätigen können, der Die Bundesregierung schlägt auf über 80 Seiten Än- schon mal mehr als einen Blick ins deutsche Steuer- derungen in 15 Gesetzen und 3 Durchführungsver- recht werfen musste. ordnungen vor, und am Ende kostet dieses Paket ledig- lich 20 Millionen Euro pro Jahr? Und selbst diese Einige Stellen in Ihrem Entwurf geben aber auch 20 Millionen beruhen allein auf den Änderungen im Anlass zur Sorge. Ich gebe Ihnen mal ein Beispiel: In Umsatzsteuer- und Gewerbesteuergesetz. Das Kroa- Ihrem Entwurf wollen Sie unter anderem das Gewerbe- tienanpassungsgesetz kommt im Mantel eines Jah- steuerrecht ändern, indem Sie die Liste der Ausnah- ressteuergesetzes daher, doch die sehr begrenzte men von der Gewerbesteuerpflicht erweitern. Zwar Aufkommenswirkung zeigt, wie wenig ambitioniert die mag es sich letztlich gemessen an der Summe der da- vorgeschlagenen Maßnahmen sind. Statt dringende durch bedingten Steuerausfälle hier nur um „Peanuts“ Themen anzugehen, präsentieren Sie einen Wust von handeln, Sie wissen aber auf der anderen Seite ganz Vorschriften, die nichts kosten, aber auch niemandem genau, dass die Gemeinden in Deutschland teilweise etwas bringen. so pleite sind, dass sie auf die Einnahmen aus der Ge- werbesteuer, und seien es nur „Peanuts“, schlichtweg Sie haben angekündigt, im Baubereich das Reverse- nicht verzichten können. Charge-Verfahren einführen zu wollen. Wer sich ein- mal ausführlich mit den Empfehlungen des Bundes- Die Linke hat dies im Gegensatz zu Ihnen erkannt rechnungshofes zur Reform der Umsatzsteuer oder mit und erst kürzlich einen Antrag zur Stärkung der Kom- dem Katalog der Steuersubventionen auseinander- munalfinanzen eingebracht. Wir fordern statt der Aus- setzt, stößt auf sehr viel weiter gehende Empfehlungen. höhlung der Gewerbesteuer deren Ausbau und Weiter- Die Erhebungslücke der Umsatzsteuer gefährdet die (B) entwicklung hin zu einer Gemeindewirtschaftsteuer, öffentlichen Haushalte. Betriebsprüfungen und Um- (D) damit die Kommunen ihren öffentlichen Aufgaben end- satzsteuersonderprüfungen kommen regelmäßig zu lich wieder nachkommen können – kaputte Straßen Mehrergebnissen in Höhe von 4 Milliarden Euro pro und verfallende Schulen und Krankenhäuser gehen zu- Jahr, die ohne diese Prüfungen im Erhebungsverfah- lasten der Bürgerinnen und Bürger; das sollte Ihnen ren unter den Tisch gefallen wären. Allein die Steuer- doch wohl klar sein. fahndung sorgt noch für weitere Umsatzsteuermehr- Und wo wir schon dabei sind, hier noch eine weitere einnahmen im Umfang von etwa 2 Milliarden Euro. Anregung, die Sie unbedingt beherzigen sollten: In Ih- Diese prüfungsbedingten Mehreinnahmen sind ein rem Sammelsurium von Änderungen, die Sie mit die- Indiz für den unentdeckt gebliebenen Bereich wirt- sem Gesetzentwurf vorlegen, müssen Sie dringend schaftlicher Tätigkeiten, die der Umsatzbesteuerung auch den durch die Entscheidung des Bundesfinanz- entgehen. Zählt man die Niederschlagungen und Insol- hofes aus dem August letzten Jahres angefallenen Re- venzen dazu, zeigt sich, wie groß das Ausfallrisiko im formbedarf bei den umsatzsteuerlichen Regelungen Umsatzsteuersystem ist. Setzen Sie sich intensiver mit zum Übergang der Steuerschuld bei der Erbringung dem Reverse-Charge-Verfahren auseinander, und Sie von Bauleistungen berücksichtigen. Es kann nicht an- werden dem Bundesrechnungshof vielleicht zustim- gehen, dass bei Bauleistungen zwischen zwei Unter- men, dass damit erhebliche Ausfälle vermieden werden nehmen am Ende keiner weiß, wer denn nun die Um- könnten. satzsteuer zu zahlen hat. Sie haben hier bereits Die Hotelsteuer ist eine ungerechtfertigte Steuer- entsprechende Änderungen im vorliegenden Gesetz- subvention, die zu Steuerausfällen von etwa 1 Mil- entwurf angekündigt. Lassen Sie dem auch Taten fol- liarde Euro jährlich führt. Ansatzpunkte haben Sie ge- gen. nug, und parlamentarische Mehrheiten finden Sie Letztlich befürchte ich, dass im Zuge der kommen- dafür sogar jenseits der Koalitionsmehrheit. den Anhörung im Finanzausschuss noch einiges mehr in diesem Gesetzentwurf aufgedeckt werden könnte, Vizepräsident Peter Hintze: was eher schlecht als recht ist. Man könnte ja sogar Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent- auf die Idee kommen, meine Damen und Herren auf wurfs auf Drucksache 18/1529 an die in der Tagesord- der Regierungsbank, dass Sie uns hier im Vorfeld der nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es Fußballweltmeisterschaft, wo fast sämtliche Augen- dazu andere Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann paare der Republik bereits nach Brasilien gerichtet zu ist die Überweisung so beschlossen. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014 3479

Vizepräsident Peter Hintze (A) Ich rufe den Tagesordnungspunkt 25 auf: terien ist nicht nur vorgeschrieben, sondern stellt mitt- (C) lerweile eine Selbstverständlichkeit dar. Beratung der Unterrichtung durch die Bundes- regierung Auch das ist ebenfalls als großer Erfolg zu verbu- chen. Sowohl in den Ministerien als auch bei Bürgern, Bericht der Bundesregierung 2013 nach § 7 des Gesetzes zur Einsetzung eines Nationalen Verbänden, Verwaltung und Unternehmen ist diese Normenkontrollrates Vorgehensweise auf große Akzeptanz gestoßen. Da- durch erhalten wir größtmögliche Transparenz für den Bessere Rechtsetzung 2013: Erfolge dauerhaft Entscheidungsträger und zudem ein realistisches, pra- sichern – zusätzlichen Aufwand vermeiden xisnahes Bild von den zu erwartenden Folgen einer Regelung. Drucksache 18/866 Überweisungsvorschlag: Trotz des Erfolges verzeichnet die Bundesregierung Ausschuss für Wirtschaft und Energie (f) beim jährlichen Erfüllungsaufwand 2013 im Saldo ei- Innenausschuss nen Anstieg um circa 2,4 Milliarden Euro. Davon ent- Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Verteidigungsausschuss fallen laut Nationalem Normenkontrollrat auf die Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Wirtschaft 1,71 Milliarden Euro, auf Bürgerinnen und Reaktorsicherheit Bürger 0,47 Milliarden Euro und auf die Verwaltung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union 0,25 Milliarden Euro. Allein 2,16 Milliarden Euro sind Die Reden sollen zu Protokoll gegeben werden. Sind allerdings auf die Zweite Verordnung zur Änderung Sie damit einverstanden? – Ich sehe, das ist der Fall. der Energieeinsparverordnung zurückzuführen. Ver- antwortlich hierfür ist insbesondere die Anhebung der Helmut Nowak (CDU/CSU): Energieeffizienzstandards ab 2016. Bürokratieabbau ist eines der zentralen Themen der Mit der Einführung der aktuellen Gesetzentwürfe Großen Koalition. zum Tarifautonomiestärkungsgesetz und zum EEG ist ebenfalls ein Anstieg des Erfüllungsaufwands auf allen Im Koalitionsvertrag heißt es dazu: „Wir wollen Ebenen zu erwarten. Wirtschaft und Bürger weiter spürbar von unnötiger Bürokratie entlasten.“ Uns ist es wichtig, diese Verein- Mit dem Tarifautonomiestärkungsgesetz beispiels- barung in enger Zusammenarbeit mit unserem Koali- weise soll eines der zentralen Vereinbarungen des tionspartner einzuhalten. Koalitionsvertrags umgesetzt werden. Damit einher gehen diverse Änderungen im Arbeitnehmer-Entsen- (B) Als Vorsitzender der AG Bürokratieabbau des Par- (D) degesetz, im Tarifvertragsgesetz und in weiteren Ge- lamentskreises Mittelstand der CDU/CSU-Fraktion ist setzen. Zuständig für die Überprüfung wird die Zoll- es mir deswegen ein Anliegen, die Bundesregierung verwaltung sein. All diese Maßnahmen bewirken einen beim Abbau bürokratischer Überregulierung zu unter- erheblichen Anstieg des Erfüllungsaufwands. stützen. Bei der Einsetzung des Nationalen Normenkontroll- Eine entsprechende Auswertung zur Darstellung rats 2007 waren Unternehmen in Deutschland mit des Erfüllungsaufwands muss gemäß § 4 Absatz 4 rund 50 Milliarden Euro jährlich durch Informations- NKR-Gesetz mittlerweile in jedem Gesetz enthalten pflichten belastet. Um diese Kosten zunächst spürbar sein. Durch die Ermittlung des Erfüllungsaufwands zu senken, wurde ein Nettoabbauziel von 25 Prozent soll der Gesetzgeber eine angemessene vollständige definiert, was einer Senkung von rund 12 Milliarden Übersicht zu den Kostenfolgen und dadurch eine wich- Euro entspricht. Dieses Ziel wurde 2013 erreicht. tige Entscheidungsgrundlage erhalten. Um Bürokratie messbar zu machen, wurde ein Der Normenkontrollrat veröffentlichte bereits eine Bürokratiekostenindex geschaffen. Dies macht es zum Stellungnahme, ob die Anforderungen an eine hinrei- ersten Mal möglich, die Kostenentwicklung darzustel- chende Abschätzung und Darstellung der Gesetzesfol- len. gen entsprechend den Bestimmungen des NKR-Geset- zes gegeben sind. Nach dieser Stellungnahme ist die Im Laufe des Jahres 2013 wurden die Weichen für Darstellung der Regierung in Bezug auf den Erfül- eine bessere Gesetzgebungskultur gestellt. Zu nennen lungsaufwand jedoch sehr lückenhaft. Kritisiert wird, sind hier insbesondere der Beschluss für eine systema- dass wesentliche Aufwände wie beispielsweise die Ver- tische Evaluierung wesentlicher Regelungsvorhaben pflichtung der Zollverwaltung zur Prüfung nicht auf- sowie gemeinsame Vorarbeiten von Bundesregierung, geführt werden. Zudem sei den nach dem NKR-Gesetz Bundestag und Bundesrat für ein elektronisches Un- geforderten Anforderungen für eine Alternativenprü- terstützungssystem zur Vorbereitung von Regelungs- fung nicht entsprochen worden. Genaue Zahlen sind entwürfen. bislang nicht bekannt. Der zu erwartende Erfüllungs- aufwand ist aller Voraussicht nach jedoch erheblich. Im Bericht der Bundesregierung wird deutlich, dass sich die Methodik zur Darstellung des Erfüllungsauf- Auch wenn der Erfüllungsaufwand bereits ein eta- wands nach gut zweijähriger Erfahrung bewährt hat. blierter Mechanismus ist, muss hier weiter nachgebes- Die Kontrolle der Gesetzesfolgen innerhalb der Minis- sert werden. Der Prozess zu den aktuellen Gesetzent- 3480 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014

Helmut Nowak (A) würfen zum Tarifautonomiestärkungsgesetz und auch an, die vierteljährliche Ermittlung des Erfüllungsauf- (C) zum EEG sind bereits zu weit fortgeschritten, um den wands im Sinne von mehr Transparenz auch zu veröf- bürokratischen Lasten wirksam entgegenwirken zu fentlichen. Positiv bewertet der Rat die weiteren Be- können. Bei zukünftigen Gesetzesvorlagen muss des- mühungen zur Spürbarkeit von Maßnahmen, die einen wegen rechtzeitig Einfluss genommen werden. Dazu qualitativen Ansatz beinhalten. bedarf es einer angemessenen Beachtung der Anforde- rungen des NKR-Gesetzes bei der Darstellung des Er- Das aktuelle Arbeitsprogramm weist in die richtige füllungsaufwands und vor allem einer rechtzeitigen Richtung, dennoch besteht noch Verbesserungsbedarf. und transparenten Kostenübermittlung der zuständi- Und dafür müssen wir uns konkrete Ziele setzen. Diese gen Ressorts. Ziele können wir jedoch nur gemeinsam erreichen. Ge- meinsam mit den hochspezialisierten Mitarbeitern in Deswegen gilt es nun, auf Grundlage des bereits Er- den Ministerien. Gemeinsam mit den betroffenen Ver- reichten das Regierungsprogramm „Bessere Rechts- bänden. Gemeinsam mit den betroffenen Bürgern und setzung“ systematisch weiterzuentwickeln. Nur so kön- Unternehmern. Aber auch gemeinsam mit unseren nen wir unsere Zusagen im Koalitionsvertrag für die Kollegen in Brüssel und der Europäischen Union. 18. Legislaturperiode zuverlässig einlösen: „Wir wol- Über 50 Prozent unserer Gesetze kommen von der Eu- len bei den Informations- und Nachweispflichten zu ei- ropäischen Union. Deswegen ist es besonders wichtig, ner Entlastung kommen und den Erfüllungsaufwand auch bereits dort anzusetzen, wo sie entstehen. verringern.“ In den letzten Jahren wurden bereits wichtige Das aktuelle Arbeitsprogramm „Bessere Rechtsset- Schritte auf EU- und Mitgliedstaatenebene erreicht. zung 2014“ wurde am 4. Juni veröffentlicht und baut Ich gehe davon aus, dass das Thema Bürokratieabbau auf den Entwicklungen des Programms von 2013 auf. auch weiterhin in den Mitgliedstaaten, der Kommis- Eines der elementaren Ziele des Programms ist es, sion und dem EU-Parlament hohe Priorität genießt. Entlastungen noch spürbarer zu machen. Deswegen Im Mai war ich auf der internationalen Konferenz soll der Fokus auf qualitativen Elementen liegen, wie zum Thema „Smart Regulation“ in Den Haag. Die beispielsweise einer regelmäßigen Befragung von Bür- gerinnen und Bürgern. Es soll herausgefunden wer- Niederlande sind bereits seit Jahren Vorreiter beim den, wie innerhalb bestimmter Lebenslagen Kontakt Bürokratieabbau. Ihr 25-Prozent-Nettoabbauziel er- und Zusammenarbeit mit der Verwaltung wahrgenom- reichten sie erfolgreich mit einem Ansatz ähnlich dem deutschen Standardkostenmodell. Vor Ort konnte ich (B) men wird, um Hinweise zu möglichen Vereinfachungen (D) und Verbesserungen bei Verwaltungskontakten zu er- mir ein Bild von den Aktivitäten auf EU-Ebene und in langen. Die Befragungen beginnen 2015. Zahlreiche den anderen Mitgliedstaaten machen. Mein Fokus lag Vereinfachungsprojekte für diverse Lebenslagen sollen auf der zukünftigen Gestaltung der EU-Regulierungs- initiiert werden, mit dem Ziel, dass die Ergebnisse zu politik. Ich wollte dadurch konkrete Ansatzpunkte und weiteren spürbaren Entlastungen führen. Ziele für die Mitwirkung des Deutschen Bundestages im europäischen Gesetzgebungsprozess erfahren. Zudem soll der Erfüllungsaufwand bei einer Reihe von Maßnahmen weiter reduziert werden, beispiels- Hierzu führte ich ein aufschlussreiches Gespräch weise durch Normenscreenings oder eine Modernisie- mit Dr. Edmund Stoiber, der seit 2007 die Hochrangige rung des steuerlichen Verfahrensrechts. Der Fokus Gruppe Bürokratieabbau in Brüssel leitet. Gestern liegt hier insbesondere auf der Entlastung kleinerer fand bereits das zweite Treffen statt, bei dem mich und mittlerer Unternehmen sowie einer bürger- und Dr. Stoiber über seine Arbeit in Brüssel informierte. unternehmensfreundlichen Verwaltung. Ein weiteres Auch wenn im September 2014 das Mandat seiner Vorhaben bezieht sich auf die Verbesserung von Recht- Gruppe bereits ausläuft, muss seine wichtige und er- setzungsprozessen, vor allem auf die praktische Erpro- folgreiche Arbeit fortgesetzt werden. bung von Maßnahmen sowie deren systematische Eva- luierung. Um einen besseren Überblick zu erhalten, Ein hoher bürokratischer Aufwand schadet der eu- soll die Entwicklung des Erfüllungsaufwands künftig ropäischen Wirtschaft, schadet der deutschen Wirt- vierteljährlich ermittelt werden. schaft und somit Deutschland insgesamt. Laut einer aktuellen Studie von PriceWaterhouseCoopers ist Wir begrüßen die bisher erzielten Fortschritte sowie „Überregulierung […] das größte Risiko für das Wirt- die weiteren Ziele, die die Bundesregierung sich im schaftswachstum“, zumindest unter den Faktoren, die Rahmen des Arbeitsprogramms „Bessere Rechtsset- von der Politik beeinflusst werden können. zung 2014“ gesetzt hat. Diese sind jedoch laut der ebenfalls am 4. Juni veröffentlichten Stellungnahme Nicht nur Unternehmen, sondern auch Bürger und des NKR noch nicht ausreichend. Der Rat bemängelt, Verwaltungen leiden unter den Lasten überbordender dass im Programm kein neues Abbauziel gesetzt Bürokratie. Im Koalitionsvertrag haben wir bereits di- wurde. Insbesondere vor dem Hintergrund eines stei- verse Maßnahmen hierzu herausgearbeitet, die es jetzt genden Erfüllungsaufwands ist aber ein quantitatives zu konkretisieren gilt, um unser gemeinsames Ziel, be- Abbauziel dringend erforderlich. Zudem regt der Rat lastende Bürokratie abzubauen, zu erreichen.

Zu Protokoll gegebene Reden Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014 3481

(A) Andrea Wicklein (SPD): ihrem Inkrafttreten hinsichtlich der tatsächlich erziel- (C) Wenn auch zu wirklich später Stunde, klar ist: Die ten Wirkungen zu evaluieren. Themen Bürokratieabbau und bessere Rechtsetzung sind und bleiben außerordentlich wichtig für die Bür- Insgesamt besteht durch diese Maßnahmen die gerinnen und Bürger, für Verwaltung und die Wirt- Möglichkeit, die bei uns bestehenden Bürokratiekosten schaft. Denn eine schlanke Verwaltung, verständliche zuverlässig zu erfassen, den Bürokratiekostenabbau Gesetze mit möglichst wenig Bürokratie, aber auch nachprüfbar zu machen und auch für neue Gesetze die regelmäßige Überprüfung, ob Gesetzesziele und weitgehend vorherzusagen. Folgen vertretbar sind, das alles sind wichtige Stand- Der Bericht der Bundesregierung zur besseren ortfaktoren für ein modernes Industrieland wie Rechtsetzung 2013 mit dem Titel: „Erfolge dauerhaft Deutschland. Es ist ganz entscheidend, dass über Re- sichern – zusätzlichen Aufwand vermeiden“ zeigt ein- gelungskosten und Regelungsnutzen Transparenz für mal mehr, dass wir beim Bürokratieabbau zwar den Parlament und Regierung hergestellt wird. richtigen Weg eingeschlagen haben, aber noch lange Klar ist damit auch: Über den Erfolg unseres Wirt- nicht am Ziel sind. schaftsstandortes Deutschland entscheiden nicht al- Aus dem Bericht für das Jahr 2013 geht hervor, dass lein zukunftsträchtige Ideen, hochwertige Produkte das Ziel, die Bürokratiekosten der Wirtschaft dauer- und Dienstleistungen. Auch möglichst niedrige Büro- haft auf niedrigem Niveau zu halten, für 2013 weitge- kratiekosten tragen letztlich dazu bei, ob sich Unter- hend erfüllt werden konnte. So ist der Bürokratiekos- nehmen bei uns ansiedeln und ob Bürgerinnen und tenindex der Wirtschaft um 0,04 Punkte auf 100,31 Bürger sich gesellschaftlich engagieren. Geringe gestiegen und bleibt damit auf relativ niedrigem Ni- Bürokratiekosten sind damit auch ein Markenkern für veau. Positiv ist auch, dass 2013 mehrere Vereinfa- unsere soziale Marktwirtschaft und unser demokrati- chungsprojekte durchgeführt worden sind, wie bei- sches Gemeinwesen, die letztlich auf dem Engagement spielsweise zu den gesetzlichen Leistungen in der des Einzelnen beruhen und die Akzeptanz der großen Pflege, zur Fahrzeug-Online-Zulassung oder zum Bil- Mehrheit der Bevölkerung benötigen. dungs- und Teilhabepaket. Schließlich wurden 2013 Dazu ist die Herstellung von Transparenz ein not- die Weichen für eine systematische Evaluierung we- wendiger Ansatz. Bereits in der vergangenen Großen sentlicher Regelungsvorhaben gestellt, um auch nach Koalition haben wir seit 2005 dazu die richtigen Ent- Inkrafttreten zu prüfen, ob die Ziele erreicht wurden scheidungen getroffen. Damals hatten wir im Koali- und der ermittelte Aufwand vertretbar ist. tionsvertrag beschlossen, Bürger und Wirtschaft von (B) einem Übermaß an Vorschriften und der damit einher- Trotz dieser zweifelsohne erreichten Fortschritte (D) gehenden Belastung durch bürokratische Pflichten und müssen wir auf der anderen Seite erkennen, dass auch Kosten zu entlasten. 2013 der laufende Erfüllungsaufwand in der Summe weiter um rund 2,4 Milliarden Euro angestiegen ist: Der Bundestag hat seitdem die Weichen dafür ge- für die Wirtschaft um rund 1,6 Milliarden Euro, für die stellt, dass wir heute einen handhabbaren und transpa- Bürger um 470 Millionen Euro und für die Verwaltung renten Instrumentenkasten zum Bürokratieabbau vor- um jährlich 245 Millionen Euro. Entscheidender weisen können: Kostentreiber mit einem Anteil von 40 Prozent der im Bereits im Jahr 2006 hat der Bundestag die Einrich- Berichtszeitraum geänderten Vorgaben bleiben darun- tung des Normenkontrollrats als unabhängiges Kon- ter beispielsweise für die Wirtschaft die Informations- troll- und Beratungsgremium beschlossen, das seitdem pflichten. die Angaben der Ministerien über die zu erwartenden Der Nationale Normenkontrollrat fordert in seiner Bürokratiekosten in den Regelungsvorhaben der Bun- Stellungnahme zum Jahresbericht die Bundesregie- desregierung sowie den Normenbestand prüft. rung dazu auf, klare Ziele für eine Begrenzung des Wir haben das Standardkosten-Modell zur objekti- Erfüllungsaufwandes zu setzen und geeignete ven Messung der bürokratischen Belastungen von Un- Maßnahmen zur Kostenreduzierung bzw. -begrenzung ternehmen eingeführt. zu erarbeiten bzw. umzusetzen. Einen besonderen Schwerpunkt legt der Normenkontrollrat bei seinen Seit 2011 erreichen wir mit der Ermittlung des Er- Vorschlägen auf die Kostenfolgen durch EU-Recht und füllungsaufwandes, dass alle mit einem Regelungs- kritisiert, dass bisher keine Transparenz über die von vorhaben verbundenen Belastungen der Wirtschaft, EU-Verordnungen ausgehenden Belastungen für Verwaltung sowie der Bürgerinnen und Bürger syste- Deutschland bestehen. matisch untersucht und dargestellt werden. Ich begrüße es deshalb ausdrücklich, dass die Bun- Seit 2012 wird die Entwicklung der Bürokratiekos- desregierung in ihrem neuen Arbeitsprogramm „Bes- ten für die Wirtschaft mit dem Bürokratiekostenindex sere Rechtsetzung 2014“ genau diesen Punkt teilt, ihre transparent dargestellt. Verfahren zur Mitwirkung an der EU-Gesetzgebung Schließlich hat die Bundesregierung 2012 beschlos- überprüfen und weiterentwickeln will. Auch bei der sen, alle Regelungsvorhaben mit einem Erfüllungsauf- Vereinfachung geltenden EU-Rechts, der Rücknahme wand von über 1 Million Euro drei bis fünf Jahre nach nicht notwendiger Vorschläge und der Aufhebung

Zu Protokoll gegebene Reden 3482 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014

Andrea Wicklein (A) überholter Rechtsvorschriften will die Bundesregie- Verbraucherschutzes oder im Bereich der Steuerbefol- (C) rung mitwirken. gung führt. Der Normenkontrollrat gab in seinem Bericht aus dem Jahr 2012 freimütig zu: „Die vom Die Regierungsfraktionen werden die Maßnahmen NKR (Normenkontrollrat) abschließend geprüften rund um den Bürokratieabbau und für bessere Recht- Regelungsvorhaben führen im Saldo zu einer Reduzie- setzung aktiv begleiten. Wir haben im Koalitionsver- rung des jährlichen Erfüllungsaufwands von rund trag verabredet, Wirtschaft und Bürger weiter spürbar 1,4 Milliarden Euro. Dieser Rückgang des Aufwands von unnötiger Bürokratie zu entlasten. Wir wollen, geht allerdings im Wesentlichen auf eine einzige Maß- dass Unternehmen und Verbände, Normenkontrollrat nahme zurück – die Reduzierung der Aufbewahrungs- und Bundesministerien, Landesbehörden und Kommu- fristen nach dem Steuer- und Handelsrecht. Ohne diese nen gemeinsam Vereinfachungsmöglichkeiten identifi- Maßnahme wäre ein Anstieg des Erfüllungsaufwands zieren und für eine bessere Rechtsetzung sorgen. Wir seit Juli 2011 von rund 1,1 Milliarden Euro zu ver- wollen in geeigneten Fällen Regelungen praktisch er- zeichnen.“ Im Bericht vom Juli 2013 wird dann die proben, schon bevor sie beschlossen werden. Wir wol- Steigerung der Befolgungskosten um 1,5 Milliarden len, dass auch bestehende Rechtsvorschriften hinsicht- Euro bemängelt – Zitat – „Neuregelungen im Zusam- lich ihrer Kosten und ihres Nutzens überprüft werden. menhang mit Energiewende und Finanzmärkten waren Und wir wollen erreichen, dass es auch auf europäi- dabei die größten Kostentreiber.“ Die Regulierung der scher Ebene einen eigenständigen Normenkontroll- Finanzmärkte, die die Euro-Zone in eine tiefe Wirt- mechanismus gibt. Mit diesen Zielen kann der Kreis- schafts- und Finanzkrise gestürzt haben, scheint aus lauf bei den Regelungen geschlossen und noch mehr Sicht des Normenkontrollrates als reines Problem Transparenz hergestellt werden. der Befolgungskosten. Eine solche Beurteilung gerät Die Koalition wird beim Bürokratieabbau und bei zwangsläufig schief. der besseren Rechtsetzung entschlossen die nächsten Im Gegensatz zur Berechnung der Befolgungs- Schritte gehen. Schwerpunkte sind neben den bereits kosten scheint die Berechnung eines Nutzens mit un- genannten Zielen aus Sicht der SPD-Bundestagsfrak- lösbaren methodischen Problemen einherzugehen. tion vor allem klare und überprüfbare Vorgaben für Wenn aber die Sinnhaftigkeit eines Gesetzes außerhalb eine Begrenzung des Erfüllungsaufwands, aber auch der Betrachtung bleibt, sind weder vernunftgeleitete die umfassendere Einbindung von Ländern und Kom- Urteile noch Abwägungen von Kosten und Nutzen munen in die Ermittlung und Reduzierung der Voll- möglich. zugskosten von Bundesrecht sowie die kontinuierliche Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger an den Vor- Bei aller Sinnhaftigkeit von Bürokratieabbau darf (B) (D) haben zum Bürokratieabbau und besserer Rechtset- damit keine Reduzierung von Arbeitnehmer- und Ver- zung. braucherschutzrechten einhergehen und keiner Steuer- vermeidung Vorschub geleistet werden. Das ist aber Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bin sicher, die gerade nicht Prüfauftrag des Normenkontrollrates. Anstrengungen des Bundestages für Bürokratieabbau Vermeidung von überflüssigem bürokratischem Auf- und bessere Rechtsetzung lohnen sich. Sie regen Un- wand, Anpassung von sich widersprechenden gesetzli- ternehmensgründungen, Innovationen und zivilgesell- chen Vorschriften sind alles gute Ziele. Doch bei der schaftliches Engagement insgesamt an. Lassen Sie uns Normenkontrolle darf es nicht zu allererst um reine gemeinsam daran arbeiten. Kostenreduzierung gehen, sondern um die qualitative Verbesserung von Verwaltungsvorgängen. Michael Schlecht (DIE LINKE): Das Wort Bürokratie hat bei vielen Bürgerinnen und Dr. Thomas Gambke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Bürgern einen schlechten Klang. Millionen von Men- NEN): schen in Deutschland sind regelmäßig mit den Mühlen Bürokratieabbau ist und bleibt ein Dauerthema. In der Bürokratie beschäftigt, wenn es darum geht, ihren fast jedem Gespräch mit Vertretern des Mittelstandes Anspruch auf ALG II einzufordern oder ihre Steuer- wird das Thema vorgetragen, immer wieder werden erklärung zu machen. Alles Bereiche in denen ein Vorschläge unterbreitet – aber nur wenig wird letzt- Bürokratieabbau millionenfache Jubelstürme auslösen endlich umgesetzt. Bezeichnend ist, dass diese Debatte würde. Doch der absolute Schwerpunkt des Normen- erst nach Mitternacht von der Koalition aufgesetzt kontrollrates liegt nach wie vor auf der Reduzierung wurde und dann die Reden zu Protokoll gegeben wur- von tatsächlichem und vermeintlichem bürokratischem den. Das zeigt aber auch auf, dass für diese Bundesre- Aufwand für Unternehmen. gierung Bürokratieabbau ein untergeordnetes Thema ist. Nun ist die Reduzierung von unnötiger Bürokratie auch für Unternehmen, welche erheblich zum Wohl- Bevor ich das bewerten will, möchte ich ein paar stand in Deutschland beitragen, insbesondere bei der Sätze zum vorgelegten Bericht der Bundesregierung Beschäftigung, nichts Verwerfliches. Bedenklich wird und zum Jahresbericht des Nationalen Normenkon- es nur, wenn zum Beispiel der Abbau von Berichts-, trollrats sagen. Dieser hat für das Jahr 2013 einen Informations- und Aufbewahrungspflichten zu einer Anstieg des sogenannten Erfüllungsaufwands um gut Verschlechterung im Bereich des Arbeitnehmer- oder 1,5 Milliarden Euro errechnet. Hinzu kommen einma-

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Dr. Thomas Gambke (A) lige Erfüllungsaufwandskosten in Milliardenhöhe. derjenige, der diese Transparenz nicht herstellt, so wie (C) Wenn man den Standpunkt vertritt, dass Bürokratie per die letzte Bundesregierung beim Gesetz zum vermin- se schlecht ist, dann klingt das zunächst ernüchternd. derten Mehrwertsteuersatz für Übernachtungen, bei Wenn man den Jahresbericht des Normenkontrollrats der sie durch Einbringung des Gesetzentwurfs über die dann aber genau betrachtet und sieht, was zu einem Fraktionen die Bewertung durch den Normenkontroll- Aufwuchs des Erfüllungsaufwands geführt hat, dann rat umging. Abschätzungen haben einen erheblichen muss man zu anderen Schlüssen kommen. Bürokratie- und Umsetzungsaufwand aufgezeigt. Sonst wäre diese schon von der Sache her vollkommen fehl- Da haben wir zum Beispiel als größten Posten beim geleitete Branchensubvention vielleicht vollständig in- jährlichen Erfüllungsaufwand Auflagen bei Energie- frage gestellt worden. Übrigens schade, dass sich die einsparvorschriften bei Wohngebäuden und damit bei SPD an dieser Stelle mit dem Status quo abgefunden zu der Energiewende. Daneben haben insbesondere neue haben scheint und auch der Finanzminister sich der Auflagen und Regeln für das Finanzsystem zu einem Verantwortung für eine Korrektur dieser Fehlentschei- höheren Aufwuchs der Bürokratie geführt. Und an die- dung der letzten Regierungskoalition entzieht. ser Stelle muss ich ganz klar sagen: An der richtigen Stelle ist Bürokratie richtig und wichtig. Märkte und Für die Arbeit des Normenkontrollrates ist sehr Marktteilnehmer brauchen Grenzen und Leitplanken, wichtig und richtig, dass nicht mehr alleine der Auf- in denen sie sich bewegen können. Gerade im Bereich wand von Unternehmen berechnet wird, sondern die der Ökologie müssen wir Vorgaben machen, die auch Bürgerinnen und Bürger und die Verwaltungen in die zu einem Mehraufwand bei den Erfüllungspflichten Betrachtung der Bürokratiekosten aufgenommen wur- führen können. Gleiches gilt für das Finanzsystem, das den. Richtig und wichtig ist auch, dass Projekte gestar- ohne nennenswerte Grenzen direkt auf den Crash der tet wurden, um Antragsverfahren für die Bürgerinnen Finanz- und Eurokrise zugesteuert ist. Zu diesen Gren- und Bürger zu erleichtern. zen gehören auch Anforderungen an mehr Transparenz Kritisieren müssen wir an dieser Stelle die Bundes- und damit verbundenen gewisse Auskunftspflichten, regierung, die sich keine quantitativen Bürokratieab- die zu mehr Bürokratie führen. Da müssen Banken, bauziele geben will, sondern lediglich den Status quo Versicherungen und auch die Verwaltung im Zweifel halten will. An zu vielen Stellen gibt es Bürokratie, die mehr Aufwand betreiben. Um weitere Krisen so gut es schlanker und vor allem kundenfreundlicher sein geht zu vermeiden, ist das aber mehr als gerechtfertigt. könnte. Aber Stillstand und fehlende Ambition ist keine Beide Beispiele verdeutlichen: Der Begriff Bürokra- sonderliche Überraschung bei einer Großen Koali- tie hat immer zwei Betrachtungsseiten. Zum einen tion, die den Stillstand als Erfolg preist, sei es in der (B) müssen durch Nachweise die Einhaltung von – sinn- Steuerpolitik, bei der Energiewende oder eben beim (D) vollen – Rahmenbedingungen und Grenzen überprüft Bürokratieabbau. werden. Zum anderen muss aber darauf geachtet wer- Es gilt der Satz von Robert Bosch: „Wer aufhört, den, dass diese Nachweise gezielt auf den Regelungs- besser zu werden, hat aufgehört, gut zu sein!“ Deshalb zweck ausgerichtet werden und technisch mit einem fordere ich die Bundesregierung auf, das Thema Büro- möglichst geringen Aufwand erfüllt werden können. kratieabbau wirklich ernst zu nehmen, die Ergebnisse Insofern muss man sich jedes einzelne Gesetzesvorha- des Normenkontrollrates aufzugreifen und Debatten ben ansehen und dann bewerten, ob etwaige Mehrkos- über seine Arbeit nicht auf nach Mitternacht zu schie- ten beim Erfüllungsaufwand gerechtfertigt sind. Bei ben. den einmaligen Kosten verursacht das Endlagergesetz für die Atomindustrie 2 Milliarden Euro Erfüllungs- aufwand. Wer aber glaubt, Atommüll ohne einen hohen Vizepräsident Peter Hintze: Überprüfungsaufwand lagern zu können, der wird den Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf Risiken dieser Technologie nicht gerecht. Das Problem Drucksache 18/866 an die in der Tagesordnung aufge- ist eben hier, dass die Nutzer dieser Energie diese mit führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- der Lagerung des Atommülls verbundenen Kosten nie verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung in der Gesamtheit erfasst, geschweige denn in die so beschlossen. Stromgestehungskosten internalisiert hatten. Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tages- Und dennoch ist es richtig und wichtig, sich immer ordnung. wieder mit dem Thema Bürokratie auseinanderzuset- Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun- zen. Es gibt nach wie vor viele Regeln, die in dieser destages auf morgen, Freitag, den 6. Juni 2014, 9 Uhr, Hinsicht auf den Prüfstand gehören. Bürokratische ein. Kosten sollten bei allen politischen Entscheidungen Die Sitzung ist geschlossen. berücksichtigt werden, deshalb müssen sie ermittelt und offengelegt werden. Verantwortungslos handelt (Schluss: 22.06 Uhr)

Anlagen

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(A) Anlagen zum Stenografischen Bericht (C)

Anlage 1 Sevim Dağdelen (DIE LINKE): Frau Kollegin Göring-Eckardt, Ihre Rede gerade erin- Liste der entschuldigten Abgeordneten nerte mich an den großen Dichter und Denker Bertolt Brecht, der einmal treffend formuliert hat: entschuldigt bis Wer die Wahrheit nicht weiß, der ist bloß ein Abgeordnete(r) einschließlich Dummkopf. Aber wer sie weiß und sie eine Lüge nennt, der ist ein Verbrecher! Alpers, Agnes DIE LINKE 05.06.2014 (Florian Hahn [CDU/CSU]: Reden Sie über Bätzing-Lichtenthäler, SPD 05.06.2014 sich?) Sabine Es entsetzt mich – ich bin darüber wirklich schockiert –, dass Sie hier die Behauptung aufstellen, dass sich mit Bluhm, Heidrun DIE LINKE 05.06.2014 den geringen Stimmenzahlen für die Kandidaten der Swoboda oder des Rechten Sektors das Problem des Dr. Gauweiler, Peter CDU/CSU 05.06.2014 Neofaschismus, das Problem des Antisemitismus in der Ukraine erledigt habe. Gohlke, Nicole DIE LINKE 05.06.2014 (Volker Kauder [CDU/CSU]: Unverschämt ist Groß, Michael SPD 05.06.2014 das!)

Hänsel, Heike DIE LINKE 05.06.2014 Sie wissen ganz genau, dass das nicht stimmt. Drei Minister der Regierung in Kiew, also der Regierung der Kampeter, Steffen CDU/CSU 05.06.2014 Ukraine, sind Mitglied der neofaschistischen Partei Swoboda. Ein Minister dieser Regierung steht der Klingbeil, Lars SPD 05.06.2014 Swoboda nahe. Ein weiterer Minister gehört der UNA- UNSO, einer neofaschistischen Organisation, an. Das Mast, Katja SPD 05.06.2014 heißt, eigentlich haben fünf Minister dieser Regierung einen neofaschistischen Hintergrund. Der Rechte Sektor Dr. Merkel, Angela CDU/CSU 05.06.2014 kontrolliert weiterhin den ukrainischen Sicherheitsappa- (B) rat. (D) Dr. Neu, Alexander S. DIE LINKE 05.06.2014 (Zuruf des Abg. Omid Nouripour [BÜND- Rüffer, Corinna BÜNDNIS 90/ 05.06.2014 NIS 90/DIE GRÜNEN]) DIE GRÜNEN Sie haben vergessen, davon zu sprechen, dass der Prä- sidentschaftskandidat der extrem rechten Radikalen Par- Schavan, Annette CDU/CSU 05.06.2014 tei, Oleg Ljaschko, über 1,5 Millionen Stimmen und damit über 8 Prozent bei der so genannten Präsident- Schwarzelühr-Sutter, SPD 05.06.2014 schaftswahl bekommen hat. Sie haben von diesen Wah- Rita len gesprochen, ohne auch nur ein einziges Mal darauf hinzuweisen, unter was für Kriegsumständen sie stattge- Tank, Azize DIE LINKE 05.06.2014 funden haben. Thönnes, Franz SPD 05.06.2014 (Volker Kauder [CDU/CSU]: Jetzt ist aber mal Schluss hier!) Wagner, Doris BÜNDNIS 90/ 05.06.2014 DIE GRÜNEN Kandidatinnen und Kandidaten, zum Beispiel von Borotba oder der KP in der Ukraine, und viele andere Walter-Rosenheimer, BÜNDNIS 90/ 05.06.2014 haben ihre Kandidaturen zurückgezogen, weil sie von Beate DIE GRÜNEN Faschisten bedroht worden sind. Der Kandidat der Partei der Regionen ist während seiner Kandidatur unter Haus- Werner, Katrin DIE LINKE 05.06.2014 arrest gestellt worden. Wie kann man da eigentlich von freien, fairen Wahlen sprechen, frage ich Sie. Ziegler, Dagmar SPD 05.06.2014 (Zuruf des Abg. Omid Nouripour [BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN])

Anlage 2 Ich bin wirklich entsetzt darüber, wie hier die Fa- schisten, die Antisemiten verharmlost werden. Neuabdruck (Volker Kauder [CDU/CSU]: Jetzt ist aber mal der Kurzintervention der Abgeordneten Sevim Schluss! Das ist unglaublich! – Zurufe vom Dağdelen (DIE LINKE), 38. Sitzung, Seite 3268 C BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) 3486 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014

(A) Ich bin entsetzt über diesen Tabubruch der deutschen Wir sind froh, dass sich Vereine und Körperschaften (C) Außenpolitik, die von Ihnen, Frau Kollegin, mitgetragen für die Rechte Homosexueller einsetzen. Gemäß § 52 wird. Das ist wirklich schändlich. Absatz 2 Nummer 7 AO können diese Vereine und Kör- perschaften zur Förderung der Volksbildung als gemein- (Beifall bei der LINKEN – Zurufe vom BÜND- nützig anerkannt werden. NIS 90/DIE GRÜNEN: Unverschämt! – Florian Hahn [CDU/CSU]: Peinlich! Peinlich Zu einer vollständigen Gleichstellung gehört auch, für dieses Haus hier!) dass die Förderung der Lebenspartnerschaft als gemein- nütziger Zweck neben Ehe und Familie explizit in der Abgabenordnung verankert wird; denn sie leisten einen Anlage 3 wichtigen Beitrag für die Akzeptanz von Homosexuali- tät in der Gesellschaft. Sie klären auf und unterstützen Erklärung nach § 31 GO Homosexuelle bei der Bewältigung von Problemen. Hier der Abgeordneten Ulrike Bahr, Dr. Matthias die Förderungswürdigkeit in die Abgabenordnung auf- Bartke, Bärbel Bas, Lothar Binding (Heidel- zunehmen, folgt unmittelbar aus der Koalitionsvereinba- berg), Dr. Karl-Heinz Brunner, Martin Dörmann, rung. Elvira Drobinski-Weiß, Michaela Engelmeier- Wir bedauern sehr, dass CDU/CSU dieser Vereinba- Heite, Dr. Johannes Fechner, Gabriela Heinrich, rung noch nicht folgen kann und zwischen den Koali- Marcus Held, Gabriele Hiller-Ohm, Dr. Eva tionspartnern hier keine Einigung über die Erweiterung Högl, Frank Junge, Christina Kampmann, der gemeinnützigen Zwecke erzielt werden konnte. Gabriele Katzmarek, Daniela Kolbe, Dr. Matthias Miersch, Michelle Müntefering, Dr. Aus Rücksichtnahme auf den Koalitionsvertrag, in Simone Raatz, Dr. Carola Reimann, Andreas dem sich die Koalitionspartner auf ein einheitliches Ab- Rimkus, Sönke Rix, Dr. Martin Rosemann, stimmungsverhalten verständigt haben, können wir dem Michael Roth (Heringen), Susann Rüthrich, Antrag der Bündnis 90/Die Grünen-Bundestagsfraktion Annette Sawade, Dagmar Schmidt (Wetzlar), leider nicht zustimmen. Matthias Schmidt (Berlin), Michael Thews, Dieses einheitliche Abstimmungsverhalten ermög- Bernd Westphal und Dr. Jens Zimmermann licht es uns, erfolgreich deutliche Verbesserungen für (alle SPD) zur Abstimmung über den Ände- viele Menschen zu erreichen – auch im Hinblick auf ein rungsantrag der Abgeordneten Volker Beck selbstbestimmtes Leben. Damit wird also – trotz dieses (Köln), Lisa Paus, Ulle Schauws, Luise einzelnen Aspekts in der Abgabenordnung – viel er- Amtsberg, Kai Gehring, Katja Keul, Renate (B) reicht. Diese Erfolge wollen wir nicht durch Zustim- (D) Künast, Monika Lazar, Irene Mihalic, Özcan mung zu dem Antrag von Bündnis 90/Die Grünen ge- Mutlu, Dr. Konstantin von Notz, Hans- fährden. Christian Ströbele und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zum Entwurf eines Gesetzes zur Wir werden uns aber weiterhin für dieses Anliegen Anpassung steuerlicher Regelungen an die einsetzen und eine vollständige Gleichbehandlung von Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Lebenspartnerschaften unterstützen. Mit dem heute ver- (Tagesordnungspunkt 18) abschiedeten Gesetz zur Anpassung steuerlicher Rege- lungen an die Rechtsprechung des Bundesverfassungs- In einer aufgeklärten Gesellschaft ohne Diskriminie- gerichts wird eine steuerliche Gleichbehandlung von rung versteht sich die vollständige Gleichstellung der Ehe und Lebenspartnerschaft, wie vom Bundesverfas- eingetragenen Lebenspartnerschaft mit der Ehe von sungsgericht gefordert, hergestellt. selbst. Gleichwohl lässt sich dieses Selbstverständnis nicht verordnen – es sind Kompromisse zu suchen, über die in einer Demokratie Mehrheiten entscheiden. Anlage 4 Im Koalitionsvertrag zwischen CDU/CSU und SPD Erklärung nach § 31 GO wurde für diese Legislaturperiode vereinbart: der Abgeordneten Mechthild Rawert (SPD) zu Sexuelle Identität respektieren – Lebenspartner- den Abstimmungen über die Änderungsanträge schaften, Regenbogenfamilien der Abgeordneten Volker Beck (Köln), Lisa Paus, Ulle Schauws, Luise Amtsberg, Kai Gehring, Wir wissen, dass in gleichgeschlechtlichen Partner- Katja Keul, Renate Künast, Monika Lazar, schaften Werte gelebt werden, die grundlegend für Irene Mihalic, Özcan Mutlu, Dr. Konstantin unsere Gesellschaft sind. von Notz, Hans-Christian Ströbele und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zum Entwurf Wir werden darauf hinwirken, dass bestehende eines Gesetzes zur Anpassung steuerlicher Re- Diskriminierungen von gleichgeschlechtlichen gelungen an die Rechtsprechung des Bundes- Lebenspartnerschaften und von Menschen aufgrund verfassungsgerichts (Tagesordnungspunkt 18) ihrer sexuellen Identität in allen gesellschaftlichen Bereichen beendet werden. Rechtliche Regelungen, Mit dem Gesetz zur Änderung des Einkommensteuer- die gleichgeschlechtliche Lebenspartnerschaften gesetzes in Umsetzung der Entscheidung des Bundesver- schlechter stellen, werden wir beseitigen. fassungsgerichts vom 7. Mai 2013 war gegen Ende der Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014 3487

(A) 17. Legislaturperiode die steuerliche Gleichbehandlung Körperschaften zur Förderung der Volksbildung als ge- (C) von Lebenspartnerinnen und -partnern nur für das Ein- meinnützig anerkannt werden. Zu einer vollständigen kommensteuerrecht umgesetzt worden. Die Bundesre- Gleichstellung gehört, dass die Förderung der Le- gierung hatte weitere Folgeänderungen angekündigt und benspartnerschaft als gemeinnütziger Zweck neben Ehe setzt diese mit dem heute in dritter Lesung verabschiede- und Familie explizit in der Abgabenordnung verankert ten „Gesetz zur Anpassung steuerlicher Regelungen an wird, denn sie leisten einen wichtigen Beitrag für die die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts“ Akzeptanz von Homosexualität in der Gesellschaft. Sie (Drucksache 18/1306) nun um. Mit dem Gesetz erfolgt klären auf und unterstützen Homosexuelle bei der Be- eine zeitnahe Umsetzung des noch verbliebenen Anpas- wältigung von Problemen. Hier die Förderungswürdig- sungsbedarfs zur steuerlichen Gleichbehandlung von keit in die Abgabenordnung aufzunehmen, folgt unmit- Lebenspartnerinnen und -partnern, insbesondere in der telbar aus der Koalitionsvereinbarung – so die SPD- Abgabenordnung, im Altersvorsorgeverträge-Zertifizie- Haltung. rungsgesetz, im Bewertungsgesetz, im Bundeskin- dergeldgesetz, im Eigenheimzulagengesetz und im Mit großem Ärger muss ich aber konstatieren, dass Wohnungsbau-Prämiengesetz. Mit dem heute verab- CDU/CSU einer erweiterten Definition von gemeinnützi- schiedeten Gesetz zur Anpassung steuerlicher Regelun- gen Zwecken nicht folgen, weil das Bundesverfassungs- gen an die Rechtsprechung des Bundesverfassungsge- gericht dies nicht vorgegeben habe. Trotz intensiven richts wird eine steuerliche Gleichbehandlung von Ehe Bemühens der SPD konnte zwischen den Koalitionspart- und Lebenspartnerschaft, wie vom Bundesverfassungs- nern hier keine Einigung über die Erweiterung der gemein- gericht gefordert, hergestellt. Und das ist gut so. nützigen Zwecke erzielt werden. Aus Rücksichtnahme auf den Koalitionsvertrag, in dem sich die Koalitionspartner Der Gesetzentwurf ist gestern im Finanzausschuss auf ein einheitliches Abstimmungsverhalten verständigt mit den Stimmen aller Fraktionen beschlossen worden. haben, können wir dem Antrag der Bündnis 90/Die Grü- Zuvor war ein klarstellender Änderungsantrag der Koali- nen-Bundestagsfraktion leider nicht zustimmen. tionsfraktionen CDU/CSU und SPD zu Artikel 1 Num- mer 2 angenommen worden. Die SPD-Fraktion stellte Änderungsantrag Drucksache 18/1663 heraus, dass mit dem Gesetzentwurf die Lebenspartner- schaften steuerlich auf das Niveau der Ehe gehoben sind. Dieser Änderungsantrag betrifft nicht bestandskräf- Dies sollte auch bei der Gemeinnützigkeit geschehen, tige Kindergeldbescheide. Die Bundesregierung hat er- auch wenn es über andere Regelungen in der Abgaben- klärt, dass im Rahmen des Bundeskindergeldgesetzes für ordnung die Möglichkeit gebe, dieses Ziel indirekt zu er- alle jetzt noch offenen, nicht bestandskräftigen Kinder- reichen. Die SPD-Fraktion gab eine Protokollerklärung gelbescheide sowohl für die Zukunft als auch für die (B) ab, wonach es in dieser Frage keine Einigung zwischen Vergangenheit die Gleichbehandlung von Lebenspartne- (D) den Koalitionsfraktionen gebe. rinnen und -partnern vollzogen wird. Hierzu bedürfe es keiner zusätzlichen gesetzlichen Regelung, sondern es Im Ausschuss als auch bei der zweiten Beratung wird im Rahmen einer Verwaltungsverordnung erfolgen. des Gesetzentwurfs der Bundesregierung – Drucksa- Dies ist mit dem an dieser Stelle federführendem Bun- chen 18/1306, 18/1575, 18/1647 – hat die Fraktion desministerium für Familie, Senioren, Frauen und Ju- Bündnis 90/Die Grünen zwei Änderungsanträge einge- gend abgestimmt. Damit hat sich der Antrag zum Kin- bracht (Drucksachen 18/1662, 18/1663). Im Ausschuss dergeld aufgrund der Klarstellung der Bundesregierung wurden beide Anträge von den drei Koalitionsfraktionen diskriminierungsfrei erledigt. abgelehnt. Auch ich werde beiden Anträgen in der 2. Be- ratung – aus unterschiedlichen Gründen! – nicht zustim- Im Koalitionsvertrag zwischen CDU/CSU und SPD men. ist für diese Legislaturperiode vereinbart: Änderungsantrag Drucksache 18/1662 Sexuelle Identität respektieren – Lebenspartner- schaften, Regenbogenfamilien Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen will mit dem Antrag erreichen, dass die Definition von gemeinnützi- Wir wissen, dass in gleichgeschlechtlichen Partner- gen Zwecken in der Abgabenordnung nicht nur für Ehe schaften Werte gelebt werden, die grundlegend für und Familie gilt, sondern auf die Förderung des Schutzes unsere Gesellschaft sind. von Lebenspartnerschaft erweitert wird. Diese Forde- rung wird von mir grundsätzlich geteilt. Angesichts der Wir werden darauf hinwirken, dass bestehende schon heftigen gesellschaftspolitischen Debatten möchte Diskriminierungen von gleichgeschlechtlichen Le- ich darauf verweisen, dass diese Forderungen auch sei- benspartnerschaften und von Menschen aufgrund tens Bündnis 90/Die Grünen selber als symbolische ihrer sexuellen Identität in allen gesellschaftlichen Punkte eingestuft werden. Meine Nachfragen in der Bereichen beendet werden. Rechtliche Regelungen, Community und bei Steuerberaterinnen und -beratern die gleichgeschlechtliche Lebenspartnerschaften haben ergeben, dass „unter Umwegen“ ein Spendenab- schlechter stellen, werden wir beseitigen. zug schon heute möglich sei. Ich kann alle nur bitten, Verständnis für parlamentari- Ich unterstütze es, dass sich Vereine und Körperschaf- sche Abläufe, die sich aus den Wahlergebnissen ergeben, ten für die Rechte Homosexueller einsetzen. Gemäß § 52 zu haben. Der gemeinsame Kampf für „100% Gleich- Absatz 2 Nummer 7 AO können diese Vereine und stellung“ geht weiter. 3488 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Juni 2014

(A) Anlage 5 mittelbar aus der Koalitionsvereinbarung, in der wir uns (C) darauf verständigt haben, bestehende Diskriminierungen Erklärung nach § 31 GO von gleichgeschlechtlichen Lebenspartnerschaften und des Abgeordneten Dr. Carsten Sieling (SPD) zur von Menschen aufgrund ihrer sexuellen Identität in allen Abstimmung über den Änderungsantrag der gesellschaftlichen Bereichen zu beenden und alle rechtli- Abgeordneten Volker Beck (Köln), Lisa Paus, chen Regelungen, die gleichgeschlechtliche Lebenspart- Ulle Schauws, Luise Amtsberg, Kai Gehring, nerschaften schlechterstellen, zu beseitigen. Katja Keul, Renate Künast, Monika Lazar, Entsprechend bedauere ich sehr, dass CDU/CSU die- Irene Mihalic, Özcan Mutlu, Dr. Konstantin ser Vereinbarung noch nicht folgen kann und zwischen von Notz, Hans-Christian Ströbele und der den Koalitionspartnern hier keine Einigung über die Er- Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zum Entwurf weiterung der gemeinnützigen Zwecke erzielt werden eines Gesetzes zur Anpassung steuerlicher Re- konnte. Gleichwohl haben sich die Bundestagsfraktio- gelungen an die Rechtsprechung des Bundes- nen von CDU/CSU und SPD im Koalitionsvertrag auf verfassungsgerichts (Tagesordnungspunkt 18) ein einheitliches Abstimmungsverhalten im Deutschen Die vollständige Gleichstellung eingetragener Le- Bundestag verständigt. Daher werde ich dem Antrag der benspartnerschaften in allen Rechtsbereichen ist seit lan- Grünen nicht zustimmen. gem ein Kernanliegen unserer sozialdemokratischen Dieses einheitliche Abstimmungsverhalten ermög- Politik. Dazu gehört für mich selbstverständlich auch, licht es uns, erfolgreich deutliche Verbesserungen für dass die Förderung der Lebenspartnerschaft als gemein- viele Menschen zu erreichen – auch im Hinblick auf ein nütziger Zweck neben Ehe und Familie explizit in der selbstbestimmtes Leben. Damit wird also – trotz dieses Abgabenordnung verankert wird. einzelnen Aspekts in der Abgabenordnung – viel er- Ich bin froh, dass sich Vereine und Körperschaften für reicht. Diese Erfolge will ich nicht durch Zustimmung die Rechte Homosexueller einsetzen, denn sie leisten ei- zu dem Antrag von Bündnis 90/Die Grünen gefährden, nen wichtigen Beitrag für die Akzeptanz von Homose- der ja auch dann keine Mehrheit erreichen würde. xualität in der Gesellschaft. Sie klären auf und unterstüt- Ich werde mich aber weiterhin für dieses Anliegen zen Homosexuelle bei der Bewältigung von Problemen. einsetzen und eine vollständige Gleichbehandlung von Gemäß § 52 Absatz 2 Nummer 7 AO können diese Ver- Lebenspartnerschaften unterstützen. Mit dem heute ver- eine und Körperschaften zur Förderung der Volksbil- abschiedeten Gesetz zur Anpassung steuerlicher Rege- dung als gemeinnützig anerkannt werden. lungen an die Rechtsprechung des Bundesverfassungs- Darüber hinaus die Förderung der Lebenspartner- gerichts wird eine steuerliche Gleichbehandlung von (B) schaft als gemeinnützigen Zweck neben Ehe und Familie Ehe und Lebenspartnerschaft, wie vom Bundesverfas- (D) explizit in der Abgabenordnung aufzunehmen, folgt un- sungsgericht gefordert, hergestellt.

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