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5. März 1968: Fraktionssitzung in Berlin

ACDP, 08-001-1016/1. Zeit: 9.30 Uhr – 12.56 Uhr. Vorsitz: Barzel. [1. Bericht des Fraktionsvorsitzenden] Barzel: Ich eröffne unsere Fraktionssitzung und begrüße herzlich unseren Freund Am- rehn hier. Der Herr Bundeskanzler wird um 10.30 Uhr kommen. Wir tagen heute noch einmal hier im Hotel Kempinski. Inzwischen ist der Saal fertig geworden, der auch uns im Reichstag zur Verfügung steht. Wir werden also das nächste Mal dank der zügigen Arbeit unseres Bundesschatzministers1 im Reichstag tagen können. Wir haben gestern – und ich nehme an, daß Sie damit einverstanden sind – für Vorstand und Fraktion un- serem Freund Lemmer, der ja noch in Bonn im Krankenhaus liegt, die besten Wünsche gesandt.2 In der heutigen Sitzung werden wir vor allem außer dem Bericht des Kanzlers über die agrarpolitischen Dinge3 zu sprechen haben, die, wie jeder spürt, sehr wichtig sind. Nicht nur für die Kollegen, die davon persönlich aus Berufs- oder Wahlkreisgründen betroffen sind. 13.00 Uhr wollen wir unterbrechen, 14.30 Uhr fortsetzen, und um 17.00 Uhr ist dann ein Gespräch mit dem Präsidenten4 und einem gestern vom Vorstand ein- gesetzten Kreis in der Frage des Altersruhegeldes für Abgeordnete. Aber vorher wer- den Sie das Vergnügen haben, meinen Bericht zur Lage zu hören. Ich möchte auch hier mit zwei Sätzen beginnen, die wir auch gestern im Vorstand an den Beginn gestellt haben, weil jeder weiß, in welcher Situation wir hier in der deut- schen Hauptstadt diesmal zusammen sind. Es ist gut, wenn wir mit aller Ruhe noch einmal sagen: Wir tagen hier in Berlin als die frei gewählten Abgeordneten des deut- schen Volkes. Was an der Mauer zu sehen ist und was die Mauer selbst ist, ist ein Zei- chen der Gewalt und die Verletzung internationaler Abkommen. Das, was wir hier tun, ist im Einklang mit internationalen Abkommen. Dies ist wohl wichtig festzustellen. In den letzten Sitzungen der Fraktion haben Sie in dem Bericht des Vorsitzenden – mal direkt, mal etwas versteckt und mal gestützt auf mehr oder weniger offizielle oder offi- ziöse Pressestimmen – immer wieder außenpolitische Sorgen gehört. Sie gingen im we- sentlichen um drei Punkte, und mancher unter uns war besorgt, daß das vielleicht zeit- lich kulminieren könnte, und zwar zu einer politischen Erschütterung der Landschaft führen könnte, die dann für den Konjunkturaufschwung und die Notwendigkeiten des Devisenausgleichs mit den USA zu besonderen Schwierigkeiten hätte führen können. Ich glaube, daß man heute sagen kann und darf, daß die ersten beiden Probleme, die wir hatten, die Fragen, die mit Berlin zusammenhängen, und die Fragen, die mit dem Gewaltverzicht zusammenhängen, in dem Sinne gelöst sind, wie wir sie ins Gespräch gebracht haben, wie sie der Kanzler vorgetragen hat, und ich hoffe nicht, daß es eine neue Verwicklung gibt, denn es gibt eine aus Bonn offensichtlich gesteuerte Informati- onspolitik – nicht von uns, sondern von den anderen –, daß heute mittag bei dem übli- chen Koalitionsgespräch solche Fragen noch einmal kontrovers zur Sprache kommen würden.5 Ich glaube das nicht. Dagegen haben wir einige Sorgen hinsichtlich der Non- proliferation. Wir möchten sie nicht in dieser Woche, aber spätestens in der nächsten

1 Kurt Schmücker. 2 Der Abgeordnete erlitt während der Bundestagsdebatte am 9. Februar 1968 einen Schwächeanfall. Der Arzt des Bundestages ließ Lemmer sofort ins Bonner Johanniter-Krankenhaus einweisen. Erste Diagnose: Verdacht auf Herzinfarkt. Vgl. »Lemmer erlitt Herzinfarkt im Bundes- tag«, in: »Bild-Zeitung« vom 10. Februar 1968. 3 Am 13. März 1968 standen im neben der Aussprache über den Bericht der Bundesregie- rung über die Lage der Landwirtschaft gemäß Paragraph 4 des Landwirtschaftsgesetzes (»Grüner Be- richt«) zwei Gesetzentwürfe der Fraktion der FDP – Entwurf eines Gesetzes über die Errichtung des Deutschen Agrarfonds für Absatzförderung (BT-Drucksache V/2663), Entwurf eines Gesetzes zur Förderung landwirtschaftlicher Investitionen (BT-Drucksache V/2665) – sowie jeweils ein Antrag der Fraktion der SPD – Entwurf eines Gesetzes über die Gewährung von Umstellungshilfen und Umschulungsbeihilfen zur Agrarstruktur (BT-Drucksache V/2672) – und der Fraktion der CDU/CSU – Entwurf eines Gesetzes über die Errichtung eines Strukturfonds für die Land- und Ernährungs- wirtschaft (BT-Drucksache V/2678) – auf der Tagesordnung. 4 . 5 Vgl. Protokoll des Koalitionsgesprächs vom 5. März 1968 in Berlin, in: ACDP, 01-226-010. Teil- nehmer des Koalitionsgesprächs waren Bundeskanzler Kiesinger, die Bundesminister Brandt, Heck, Schiller und Wehner, die Abgeordneten Barzel, Franke (Hannover), Schmidt (Hamburg) und Stück- len, die Parlamentarischen Staatssekretäre Guttenberg und Jahn sowie Staatssekretär Carstens.

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Woche im Vorstand, Arbeitskreis und Fraktion erörtern, denn der Fahrplan, daß die Genfer6 am 15. März einen Bericht an die UNO geben und an die Regierungen, dann im April und Mai diskutiert wird und ab Mai möglicherweise unterschriftsreife Vorla- gen mit der Aufforderung zur Unterzeichnung vorliegen könnten, muß uns veranlas- sen, rechtzeitig, das heißt in der nächsten Woche, unsere Meinung zu bilden in einer sehr, sehr schwierigen Frage. Und ich möchte bitten, daß wir heute hier in Berlin davon Abstand nehmen, und über die Fragen, die den Besuch des Bundeskanzlers in Paris betreffen7, wird er sicher selbst berichten. Ich glaube, daß in den Vordergrund unserer Besorgnis aber innenpolitische Sorgen treten. Und Sie werden mir erlauben, nicht alles so direkt beim Namen zu nennen. Aber wir werden uns sicher gleich verstehen, wenn ich sage, daß sicherlich unsere aller- erste Sorge der sichtbare Autoritätsverlust [des Herrn Bundespräsidenten] ist. Und hier dem in einer vernünftigen Weise Einhalt zu gebieten, und wie dies geschehen könnte, muß Gegenstand von Gesprächen unter uns sein. Ich möchte hier jetzt keine Debatte über all das haben, was in den letzten zehn Tagen vor allem die deutsche Presse und das deutsche Fernsehen gefüllt hat, denn das ist nun alles passiert. Ich kann nur empfehlen, daß wir hier einfach feststellen, daß wir hinter die Erklärung treten, die der Kollege Heck abgegeben hat. Kollege Lücke hat uns mitgeteilt, daß er noch in dieser Woche ei- ne auf den neuesten Stand gebrachte Dokumentation zu den Angriffen auf den Herrn Bundespräsidenten, von denen ich ja hier spreche, uns in dieser Woche vorlegen wird. Ich habe im Vorstand angeboten und möchte das auch hier tun, wenn einer unserer Kollegen meint, zu dieser Sache etwas besonderes auf dem Herzen zu haben, daß wir dann das Verfahren wählen, daß er den Vorsitzenden der Fraktion besucht, damit wir uns hier Debatten ersparen. Ich werde das dankbar begrüßen, wenn wir so verfahren könnten, denn wir wollen ja nicht noch durch Debatten oder Beschlüsse oder sonst was beitragen zu all diesen Minderungen, die unser Staat hier erleben muß. Das zweite, was uns bedrückt, ist, daß wir der Presse haben entnehmen können, daß diesmal die demoskopischen Zahlen umgedreht sind, nämlich schlecht für uns, und die Sozialdemokraten mit 7 Punkten vorne liegen.8 Wir wollen dies nur zur Kenntnis nehmen, ohne uns jetzt hier zu erregen, wie wir das ja miteinander besprochen haben. Die Frage der Unruhe der Bauern wird also heute der Hauptpunkt unserer Debatte sein. Und ich muß noch einen Punkt eben hier aufgreifen, weil ich gerne auch Ihre Zu- stimmung heute mittag für das Gespräch mit dem Koalitionspartner, wo ich das doch sehr deutlich zur Sprache bringen möchte, haben möchte: Nach übereinstimmenden Pressemeldungen hat der stellvertretende Vorsitzende der SPD, Herr Wehner, am Wo- chenende uns kräftig angegriffen auf einer Gebietskonferenz für Niederbayern in Landshut.9 Herr Wehner habe dort erklärt, die CDU/CSU wolle seit Jahren vergam- melte, lebenswichtige Existenzentscheidungen auf einen Verschiebebahnhof stellen. Als Prüfstand für die Existenzberechtigung der gegenwärtigen Regierung bezeichnete er die Ernsthaftigkeit und Folgerichtigkeit, mit der eine Politik entwickelt werde, die zu einem Interessenausgleich zwischen den Bündnissen im Westen und im Osten und zu einer Zusammenarbeit führe. Das kann nun alles heißen und nichts, aber der Vorwurf gegen uns muß zurückgewiesen werden. Ich werde das heute mittag [im Koalitionsge- spräch] tun, und ich glaube, daß ich mich da mit Ihnen einig weiß. In der nächsten Woche werden wir außer der Agraraussprache den Bericht zur Lage der Nation am Montag haben10 und die Aussprache dazu am Donnerstag.11 Die Vor-

6 Gemeint ist die 18-Mächte-Abrüstungskommission. Im Dezember 1961 einigten sich die USA und die Sowjetunion auf die Einsetzung eines neuen Abrüstungsgremiums. Am 13. Dezember 1961 wur- de dieser Vorschlag von der UNO-Vollversammlung angenommen, und am 14. März 1962 nahm die 18-Mächte-Abrüstungskommission in Genf ihre Arbeit auf. Vgl. dazu EA 1962, Z 9 u. 72. 7 Am 15. und 16. Februar 1968 weilte Bundeskanzler Kiesinger, begleitet von einer Regierungsdelega- tion, der die Bundesminister Brandt, Schiller, Strauß, Schröder, Leber, Wischnewski, Stoltenberg und Heck angehörten, im Rahmen der Konsultationen, die der deutsch-französische Vertrag von 1963 vorsah, zu einem Arbeitsbesuch in Paris. Vgl. AdG 1968, S. 13735–13738; AAPD 1968, Nr. 59, 60, 62. 8 Vgl. Untersuchungen des Instituts für Demoskopie Allensbach, »Die Stimmung im Bundesgebiet«, Nr. 793, in: BA, B 145–4253. Für Januar 1968 ergab die sog. Sonntagsfrage für die CDU/CSU einen Wähleranteil von 40 Prozent, für die SPD von 47 Prozent, für die FDP von 6 Prozent, für die NPD von 5 Prozent, auf sonstige Parteien entfiel ein Anteil von 2 Prozent. 9 Vgl. hierzu »Wehner attackiert die CDU/CSU«, in: »Die Welt« vom 4. März 1968. 10 Am 11. März 1968 legte Kiesinger als erster Bundeskanzler in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland einen »Bericht über die Lage der Nation im gespaltenen Deutschland« vor. Für den Wortlaut vgl. BT STEN. BER., 5. Wahlperiode, 158. Sitzung am 11. März 1968, S. 8168–8176. Die In- itiative hierzu ging von den drei Bundestagsfraktionen aus. In einem interfraktionellen Antrag vom 14. Februar 1967 forderten die Fraktionen der CDU/CSU, SPD und FDP die Bundesregierung auf,

Copyright © 2016 KGParl Berlin 2 Fraktionssitzung 5. 3. 1968 50. bereitung dieser Aussprache ist ein bißchen kompliziert, weil wir erst noch mit dem Kanzler sprechen müssen. Das aber kann erst heute stattfinden, und auch mit dem Ko- alitionspartner über den Ablauf. Wir sind deshalb im Vorstand so verblieben, daß wir von der Fraktionsführung aus, je nachdem, mit welchen Tönen zu rechnen ist, die ein- zelnen Kollegen bitten, sich auf diese Debatte vorzubereiten. Es würde also morgen geschehen, daß wir die Kollegen hierher bitten. In diesem Zu- sammenhang werden wir heute oder morgen bei einem dieser Koalitionsgespräche auch folgendes mitzuentscheiden haben: Es besteht Anlaß zu der Annahme, daß unser Part- ner vorschlagen wird, den Bericht über die Lage der Nation zugleich zu benutzen zu einer Aussprache über das Vietnam-Problem. Nun ist der Vorsitzende der Fraktion seit langem der Meinung, daß wir zu Vietnam nicht schweigen sollten. Wir sind aber nicht der Meinung, daß der erste Bericht zur Lage der Nation und die erste Aussprache zu diesen schwerwiegenden Dingen nun auch noch in den Schatten Vietnams geraten sollte. Und wir meinen deshalb, daß wir statt dessen anbieten sollten, eine allgemeinere spätere außenpolitische Aussprache, die nicht nur diesem Punkt gilt. Denn ich möchte gerne, wenn ich über die Friedfertigkeit der Sowjetunion – in Anführungsstrichen – zu sprechen habe, auch dazu etwas hören, was sich im Mittelmeer militärisch tut, was sich im Indischen Ozean militärisch tut, natürlich von einem sachverständigen Kollegen, das ganze Bild der Welt, in der ja Vietnam nur ein Teil ist. Ich denke, wir verstehen uns hier, und wir würden also versuchen, uns auf dieser Linie durchzusetzen. In den Zusammenhang gehört eine Bemerkung über die Denkschrift dieses Bensberger Kreises.12 Wir haben uns im Vorstand gestern ein wenig darüber unterhalten. Ich darf Sie gleich mit dem Ergebnis vertraut machen, was wir nachher als unsere gemeinsame Linie festgestellt haben. Zunächst einmal war die große Mehrheit des Fraktionsvor- standes nicht der Meinung, daß wir als Fraktion durch einen feierlichen Beschluß oder so dazu Stellung nehmen sollten, sondern ich habe ja meine Pressekonferenz hier am Donnerstag; ich werde in mein Statement das nicht aufnehmen. Wenn ich gefragt wer- de, werde ich sagen, wir hätten das zur Kenntnis genommen. Ich hätte bei uns keine Stimme gefunden, die dem zustimme. Unsere Politik bleibe unverändert die, wie sie in Artikel 7 des Deutschland-Vertrags13 und in der Regierungserklärung14 stünde. Wir wollten, daß alle Völker in gesicherten Grenzen leben. Ich glaube, das ist so vernünftig zu machen, denn es besteht Anlaß, anzunehmen, daß wir in der nächsten Zeit aus kirchlichen Kreisen auch noch andere politische Voten bekommen werden. Wir haben

alljährlich zum 15. Januar dem Bundestag einen entsprechenden Bericht vorzulegen. Vgl. BT-Druck- sache V/1407. Der Bundestag nahm am 28. Juni 1967 den Antrag in der Fassung des Ausschusses für gesamtdeutsche und Berliner Fragen einstimmig an, nach der die Bundesregierung aufgefordert wur- de, alljährlich innerhalb des ersten Vierteljahres dem Bundestag einen Bericht über die Lage der Na- tion im gespaltenen Deutschland vorzulegen. Vgl. BT STEN. BER., 5. Wahlperiode, 116. Sitzung am 28. Juni 1967, S. 5823 in Verbindung mit der BT-Drucksache V/1898.

11 Vgl. BT STEN. BER., 5. Wahlperiode, 160. Sitzung am 14. März 1968, S. 8293–8382. 12 Am 2. März 1968 veröffentlichte der Bensberger Kreis, ein Gremium katholischer Laien, ein Memo- randum zur Frage der Aussöhnung mit Polen, das sich vor allem mit dem Problem des Heimatrechts in den 1945 unter polnische Verwaltung gestellten deutschen Ostgebieten befaßte. Darin wurde unter anderem festgestellt, dass diese Gebiete »inzwischen von Polen bewohnt und in das Land und in die Staatsordnung Polens integriert worden sind«. Nicht zuletzt auch deswegen, weil ein Drittel der in den umstrittenen Gebieten lebenden Polen dort geboren worden sei und damit ein Heimatrecht er- worben habe, müssten sich die Deutschen mit dem Gedanken vertraut machen, dass sie »die Rück- kehr dieser Gebiete in den deutschen Staatsverband nicht mehr fordern können«. Außerdem sei das ganze deutsche Volk verpflichtet, für das zu haften, was in seinem Namen während des Nationalso- zialismus geschehen sei. Für den Wortlaut des Memorandums vgl. DOKUMENTE ZUR DEUTSCH- LANDPOLITIK V/2 (1968), S. 302–314. 13 Artikel 7 Absatz 1 des »Vertrages über die Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und den Drei Mächten« vom 26. Mai 1952 in der Fassung vom 23. Oktober 1954 lautet: »Die Unter- zeichnerstaaten sind darüber einig, daß ein wesentliches Ziel ihrer gemeinsamen Politik eine zwi- schen Deutschland und seinen ehemaligen Gegnern frei vereinbarte friedensvertragliche Regelung für ganz Deutschland ist, welche die Grundlage für einen dauerhaften Frieden bilden soll. Sie sind wei- terhin darüber einig, daß die endgültige Festlegung der Grenzen Deutschlands bis zu dieser Regelung aufgeschoben werden muß.« Für den Wortlaut vgl. BGBl. 1955 II S. 220. 14 In seiner Regierungserklärung vom 13. Dezember 1966 führte Bundeskanzler Kiesinger zur Frage der deutschen Ostgrenze folgendes aus: »In weiten Schichten des deutschen Volkes besteht der lebhafte Wunsch nach einer Aussöhnung mit Polen, dessen leidvolle Geschichte wir nicht vergessen haben und dessen Verlangen, endlich in einem Staatsgebiet mit gesicherten Grenzen zu leben, wir im Blick auf das gegenwärtige Schicksal unseres eigenen geteilten Volkes besser als in früheren Zeiten begrei- fen. Aber die Grenzen eines wiedervereinigten Deutschlands können nur in einer frei vereinbarten Regelung mit einer gesamtdeutschen Regierung festgelegt werden, einer Regelung, die die Vorausset- zung für ein von beiden Völkern gebilligtes, dauerhaftes und friedliches Verhältnis guter Nachbar- schaft schaffen soll.« Für den Wortlaut vgl. BT STEN. BER., 5. Wahlperiode, 80. Sitzung am 13. De- zember 1966, S. 3662.

Copyright © 2016 KGParl Berlin 3 Fraktionssitzung 5. 3. 1968 50. damals aus gutem Grund offiziell als Fraktion nichts zur Denkschrift der Evangeli- schen Kirche15 gesagt, und ich meine, es muß doch Sache Einzelner bleiben, zumal wir in einem sehr guten ständigen Kontakt mit beiden Kirchen sind und auch von dort sehr fair informiert werden über das, was hin und her passiert. Wir haben den Kollegen Gradl gebeten, sich zu dieser Sache zu äußern. Er ist unser letzter Vertriebenenminister16 und hat wohl dazu was zu sagen. Wir haben außerdem veranlaßt, daß eine Ausarbeitung zur Oder-Neiße-Frage, die wir vor geraumer Zeit hier in der Fraktion erarbeitet hatten – ich glaube, ein sehr gutes Papier –, noch einmal an alle unsere Kollegen verschickt wird, so daß wir also auch imstande sind, uns hier sachlich einzulassen.17 Vor allen Dingen bitte ich dann auch zu berücksichtigen, daß natürlich solche Schritte, wie immer sie von uns aus zu beurteilen sind, auch mit einem Blick auf den potentiellen Adressaten zu bewerten sind. Bei dem Adressaten – Sie ha- ben ja gesehen, wie die Bensberger zurückgewiesen worden sind, weil sie nicht zugleich auf Atomwaffen verzichtet und die DDR anerkannt haben usw. – dürfen Sie eben nicht übersehen, und das muß man auch als ein Katholik sagen dürfen, daß zur Stunde die Spannung zwischen dem polnischen kommunistischen Regime und der Katholischen Kirche hart ist und es innerhalb des Regimes enorme Spannungen gibt, in anderen Fra- gen auch, und daß dies sicher auch deshalb kein Zeitpunkt ist, einem solchen Adressa- ten eine besondere Wohltat zu erweisen. Wir haben dann außer diesem Koalitionsmittagessen mit dem Kanzler morgen das üb- liche Koalitionsgespräch der Fraktionen. Da geht es unter anderem um diesen Zei- tungsaustausch.18 Dazu wird Herr Gradl mit dazukommen. Wir bleiben hier bei unse- rer Linie: Gegenseitigkeit. Und dies ist, je länger ich darüber nachdenke, eigentlich ein Prinzip für unsere gesamte Ostpolitik. Wir haben nicht so schrecklich viel zu ver- schenken. Wir haben das neulich schon mal besprochen. Ich will nicht sagen, daß die Gegenleistung immer zur gleichen Zeit und in der gleichen Art erfolgen müßte. Aber methodisch muß man fragen: Werden wir eines Tages ein Gewaltverzichtsabkommen haben und drüben wird die Mauer stehen bleiben und der Schießbefehl auch? Und so etwas kann wohl nicht unsere Politik sein. Wir werden dann zu tun haben mit diesem Zinserhöhungsgesetz19, und ich bitte also auch Herrn Hesberg, dazu zu stoßen. Wir werden zu tun haben mit dem sozialdemo- kratischen Antrag über militärische Ausrüstungs- und Ausbildungshilfe.20 Da bleiben

15 Gemeint ist offensichtlich die EKD-Denkschrift »Die Lage der Vertriebenen und das Verhältnis des deutschen Volkes zu seinen östlichen Nachbarn« vom 15. Oktober 1965, in der die Evangelische Kir- che in Deutschland dafür eintrat, die Grundlagen des Verhältnisses zu den östlichen Nachbarn zu überdenken. Um zu einer Aussöhnung mit Polen zu gelangen, warb sie um Verständnis für die in den deutschen Ostgebieten inzwischen geschaffenen Tatbestände, was konkret hieß, für eine Aufgabe der bis dahin gemeinsam vertretenen Rechtspositionen. Für den Wortlaut dieser Denkschrift vgl. DOKUMENTE ZUR DEUTSCHLANDPOLITIK IV/1 (1965), S. 869–897. 16 Der Abgeordnete Johann Baptist Gradl war 1965/66 im Kabinett Erhard Bundesminister für Ver- triebene, Flüchtlinge und Kriegsgeschädigte. 17 Nicht zu ermitteln. 18 Gemeint ist die Frage eines innerdeutschen Zeitungsaustausches. Die Diskussion reichte zurück in das Jahr 1964, als der Erste Sekretär des Zentralkomitees der SED und Vorsitzende des Staatsrats der DDR, Walter Ulbricht, einen entsprechenden Vorschlag unterbreitet hatte. Am 25. April 1964 hatte er sich in seiner Rede auf der II. Bitterfelder Kulturkonferenz bereit erklärt, »einige westdeutsche Zeitungen wie etwa ›Die Zeit‹ oder die ›Süddeutsche Zeitung‹, bei uns zum Verkauf auszulegen, wenn die Garantie dafür gegeben wäre, daß in Westdeutschland das ›Neue Deutschland‹ in gleichem Maße öffentlich verkauft wird«. Für den Wortlaut der Rede Ulbrichts vgl. AdG 1964, S. 11194. Mit der Verabschiedung des Achten Strafrechtsänderungsgesetzes – BGBl. 1968 I S. 741 – wurde eine be- fristete Einfuhr von Zeitungen und Zeitschriften aus der DDR in die Bundesrepublik ermöglicht. 19 Gemeint ist die Regierungsvorlage vom 10. August 1967 für ein Zweites Gesetz zur Änderung woh- nungsbaurechtlicher Vorschriften (BT-Drucksache V/2063), die sich in der Ausschussberatung be- fand. Die 1. Lesung des Gesetzentwurfs, der eine Erhöhung der Verzinsung der öffentlichen Dar- lehen bezweckte, die zum Bau der älteren Sozialwohnungen eingesetzt worden waren, fand am 4. Oktober 1967 statt. Er war an den Ausschuss für Kommunalpolitik, Raumordnung, Städtebau und Wohnungswesen überwiesen worden. Vgl. BT STEN. BER., 5. Wahlperiode, 121. Sitzung am 4. Ok- tober 1967, S. 6152. Der Entwurf trug einer Entschließung des Bundestages vom 8. Dezember 1966 Rechnung. Darin war die Bundesregierung zur Vorlage eines Gesetzentwurfs über eine Zinsanhe- bung aufgefordert worden, da die Notwendigkeit bestehe, die öffentliche Förderung des Wohnungs- baus fortzusetzen und entsprechende Mittel für den Bundeshaushalt sicherzustellen. Für den Wort- laut der Entschließung vgl. ebd., 78. Sitzung am 8. Dezember 1966, S. 3625 (Umdruck 121). 20 Gemeint ist wohl die militärische Ausrüstungshilfe für Griechenland. Mitte April 1967 hatte es in dem südosteuropäischen Land einen Militärputsch gegeben. In ihrer Sitzung am 9. Mai 1967 disku- tierte die Fraktion der SPD die Frage einer Aussetzung der militärischen Ausrüstungshilfe an Grie- chenland, ohne einen Beschluss zu fassen. Vgl. SPD-FRAKTIONSPROTOKOLLE 1966–1969, S. 128 f. Der Abgeordnete berichtete am 5. März 1968 in der Fraktion über die Durchführung und das Ergebnis einer Studienreise nach Griechenland, an der die Abgeordneten Apel, Mattick und

Copyright © 2016 KGParl Berlin 4 Fraktionssitzung 5. 3. 1968 50. wir bei der Linie, die wir wohl hier schon besprochen haben. Da gibt es eine Anregung der Sozialdemokraten, einen Sonderausschuß für die Beratung der Finanzverfassungs- reform einzurichten.21 Da sind wir anderer Meinung. Wir sind der Meinung, daß es hier bei den normalen Ausschußberatungen bleiben muß. Hoffentlich werden wir uns heute verständigen! Und es gibt wieder einen Vorschlag der Opposition hinsichtlich der neuen Terminierung der Plenarsitzungen. Das wollen wir aber noch in Ruhe erör- tern. Und möglicherweise werden wir auch noch über eine andere wichtige Frage aus unserem Aufgabenkatalog heute sprechen können. Erlauben Sie mir noch zwei Punkte: Ich möchte gerne, nachdem wir das auch gestern im Vorstand hatten, ein paar Worte sagen zur Fraktionsarbeit etwa bis zur Sommer- pause. Ich glaube, daß wir ein gutes Karnevalsfest hatten und daß wir feststellen dürfen, daß wir ein konsolidiertes Unternehmen sind, was sehr schön ist. Wir haben unlängst, und ich möchte daran aus gutem Grund erinnern, gesagt, was sind in dieser Zeit, die mit dem Wahlkampf natürlich noch nichts zu tun hat, aber in der doch Startlöcher ge- graben werden, Hauptthemen der Sozialdemokraten? Wir hatten uns dann verständigt, es seien drei Punkte, nämlich das angebliche Finanzchaos 1966, die angebliche Wirt- schaftsmisere im Herbst 1966 und die Tatsache, daß eine Friedenspolitik erst mit der Großen Koalition begonnen habe. Sie erinnern sich, daß wir zu der Frage der Friedenspolitik unseren Freund von Wran- gel gebeten haben, die Ausarbeitung vorzulegen. Sie ist da und gibt jedermann Gele- genheit, die Wahrheit darzutun.22 Wir hatten dann zu der Frage der wirtschaftlichen Situation im Herbst 1966 eine Notiz, gestützt auf die Berichte der Bundesbank, allen zugänglich gemacht. Und in der Frage der Finanzsituation hatten wir verwiesen auf die Rede unseres Kollegen Althammer vom November 1965 im Bundestag23, die wir aller- dings noch nicht aufbereitet haben, weil dies Material ja im nächsten Jahr noch eine große Rolle spielen wird. Heute möchte ich einen Schritt weitergehen. Wir werden in den Auseinandersetzungen draußen, wenn Sie jetzt an so eine Sache wie Bensberg, Bauern und so was denken, uns darauf einzurichten haben, daß nichts mehr stimmt, auch nicht mit den dicksten Erb- höfen! Es wird jedes Mandat hart umkämpft sein, und wir begegnen draußen nicht nur Methoden, sondern auch einer Sprechweise, nicht nur jüngerer Menschen, auf die wir uns einzustellen haben werden. Wir haben uns damals an den Schuhsohlen abgelaufen – möchte ich sagen – unsern Marx und den Kommunismus und die Wirklichkeit in der SBZ. Gut, das haben wir heute intus. Wir haben uns deshalb im Vorstand dahin ver- ständigt, daß wir die Samstage, die uns zur Verfügung stehen, vielleicht aber auch Abende, an denen die Fraktion nur tagt, benutzen wollen, um einige große Themen – das eine oder andere vielleicht sichtbar für die Öffentlichkeit – zu behandeln, weil uns das gut bekommen könnte. Ich will einige dieser Themen nennen. Zunächst meinen wir, es würde uns gut anstehen, recht bald einen Abend oder einen Samstag zu verbrin- gen, indem wir uns aus erster Hand einen Vortrag halten lassen über Probleme der Universitätsreform. Wir haben zwar hier keine Kompetenz als Gesetzgeber – und ich sage das gleich mit der Bitte, das auch allen befreundeten Ministerpräsidenten zu sagen, damit wir nicht die Telegramme bekommen –, aber wir haben sehr wohl eine Kompe- tenz dafür, daß dieser Staat in Ordnung bleibt. Und wir dürfen deshalb diese Frage si- cher in der Fraktion besprechen, so daß wir doch imstande sind, draußen etwas dazu zu sagen. Ein zweiter Kreis betrifft die Deutschlandpolitik. Ich glaube, daß der Zeitpunkt kommt, daß wir Aussagen und Absagen treffen müssen. Es ist eine Ungewißheit da, ob unsere Perspektive immer noch der Artikel 7 des Deutschlandvertrages ist. Wir streben ein wiedervereinigtes Deutschland nach dem gesellschaftspolitischen Leitmodell des

Faller teilgenommen hatten. U. a. sprach Arndt die Empfehlung aus, nach Griechenland keine Pro- dukte, insbesondere keine Waffen, zu liefern, die der Aufrechterhaltung des Militärregimes dienen konnten. Auf Vorschlag des Fraktionsvorsitzenden wurden die Empfehlungen von Arndt zur weiteren Beratung an den Arbeitskreis Außenpolitik überwiesen. Ein konkreter Beschluss bzw. Antrag betreffend militärische Ausrüstungshilfe an Griechenland wurde also nicht gefaßt. Vgl. ebd., S. 363 f. Am 25. Juni 1968 stand diese Frage auf der Tagesordnung des Kreßbronner Kreises, wurde aber zurückgestellt, da der Bundesaußenminister verhindert war und die Beratungen des NATO-Rats zu Griechenland abgewartet werden sollten. 21 Vgl. Antrag der Fraktion der SPD vom 7. Mai 1968 betreffend Einsetzung eines Sonderausschusses »Finanzreform« (BT-Drucksache V/2881). 22 Vgl. Olaf von Wrangel: »Die Friedenspolitik der CDU/CSU«, Ausarbeitung vom 18. Januar 1968, in: ACDP, 08-001-265/1. 23 Für den Wortlaut dieser Rede vgl. BT STEN. BER., 5. Wahlperiode, 7. Sitzung am 29. November 1965, S. 119–127.

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Grundgesetzes an. Oder ist es wirklich das geregelte Nebeneinander? Oder ist es die Konföderation? Oder ist es gar völlig hoffnungslos, an eine deutsche Einheit zu den- ken? Alle diese Perspektiven werden ja auch verbreitet. Und ich glaube, wir sollten da- zu Aussagen und Absagen treffen. Und dies wird wahrscheinlich nicht an einem Sams- tag oder an einem Abend zu machen sein. Wir halten es dann für richtig, uns eben wegen dieser neuen Dinge, die einem draußen begegnen, auch von erster Hand etwas sagen zu lassen über Herrn Mao, seine Lehre, seine Kampftaktik, und über Herrn Marcuse und dessen Theorie und dessen Methode. Man kann dagegen einwenden, es hieße, diese Herren zu sehr aufzuwerten. Sie sind aber da, und ich glaube, uns damit zu beschäftigen, um uns damit besser auseinander- setzen zu können, ist vernünftig. Wir werden uns natürlich genauso mit rechtsradika- len Umtrieben und solchen Geschichten zu beschäftigen haben. Das zur Arbeit der Fraktion! Zu der agrarpolitischen Aussprache, die wir heute haben werden, möchte ich folgendes vorwegnehmen. Einmal, bei der Lage, die entstanden ist, und bei der Notwendigkeit, in der nächsten Woche eine schwere Debatte zu führen, und bei der Schwierigkeit – ich spreche das offen aus –, in dieser Koalition Agrarpolitik zu machen, sollten wir heute nicht nur reden, sondern etwas beschließen. Und ich meine, wir sollten am Schluß ei- nen Beschluß haben mit drei großen Punkten, nämlich daß wir erstens das erörtert ha- ben und uns dafür einen ganzen Tag genommen haben, daß wir die Sorgen kennen, das muß da formuliert sein. Daß wir zweitens feststellen, was ist. Es gibt auch Positives festzustellen, und daß wir drittens sagen, was wir erwarten auf diesem Gebiet. Hier, meine ich, sollte diese Fraktion ruhig den Mut haben, ihre Meinung zu sagen und der Regierung mit auf den Weg zu geben. Die Regierung wird Kompromisse finden müs- sen. Wir können hier wohl unsere Meinung einmal ruhig sagen. Das Letzte hierzu, zur Agrardebatte, sind zwei politische Bemerkungen. Wenn es so ist, daß in den letzten Jahren der Ist-Haushalt auf diesem Gebiet niemals mit dem Soll-Haushalt übereinge- stimmt hat, daß immer Hunderte von Millionen als Reste übriggeblieben sind und nicht ausgegeben wurden, dann ist das nicht nur ein fiskalisches Problem, sondern ein Problem der Autorität dieses Staates. Die Mitbürger, die davon betroffen sind, fühlen sich hier schlecht behandelt. Da beschließt ein Parlament ein Gesetz mit 500 Millionen meinetwegen, und es werden 30 oder 40 nur ausgegeben. Die Leute fühlen sich an der Nase herumgeführt. Solche Dinge dürfen nicht passieren, weil das Autoritätsverlust bedeutet. Und das andere, was ich sagen möchte, kommt aus einer ganz anderen Ecke, aber es soll nur eigentlich den Bogen wieder schließen. Hier in Berlin hat Herr Marcuse die Studenten sehr beeindruckt. Und wenn Sie draußen im Lande sprechen, gerade auch mit christlich gesinnten, jungen Menschen, finden Sie dieses Argument wieder. Er hat beeindruckt, indem er sagte: Pro Jahr verhungern 25 Millionen Menschen, obwohl dies auf dieser Erde mit ihren Ressourcen, mit der Technik, die der Mensch hat, und seinem Intellekt nicht zu sein bräuchte. Wir können alle satt machen. Daß dies nicht geschehe, so Marcuse, sei ein Zeichen für die miserable Gesellschaftsordnung, für die Unfähigkeit des Establishments in der Welt, und das müsse weg. Das war sehr verkürzt, aber diesem Einwand werden Sie bei Menschen begegnen, bei jungen Leuten, die sagen, wie hältst du es als ein christlicher Demokrat mit diesem Problem? Ich weiß darauf im Augenblick keine Antwort. Ich bin kein Sachverständiger dazu. Aber das Problem müssen wir sehen. Und ich wollte es am Schluß hier sagen, weil keine der einzelnen Politiken, ob wir nun die Agrarpolitik oder die Sozialpolitik nehmen, mehr für sich gesondert gesehen werden kann, sondern im Zusammenhang gesehen werden muß. Wird das Wort gewünscht? Wir werden also auf dieser Linie in der Koalition und auch sonst fahren und auch in dem Arbeitsprogramm uns nicht scheuen, diese modernen Akzente zu setzen. [2. Berichte aus den Arbeitskreisen] [a)] Arbeitskreis II – Herr Burgemeister Burgemeister: Der Arbeitskreis II hat sich gestern mit einer Vorlage der Kollegen Dr. Jahn und Prof. Burgbacher befaßt.24 In dieser Vorlage geht es darum, daß die Bundes- regierung ersucht werden soll, im Haushaltsjahr 1968 sechs Millionen DM bereitzu- stellen zur Durchführung von Forschungsmaßnahmen, mit denen geprüft werden soll, ob die Möglichkeit der Hydrierung von Kohle besteht. Der Arbeitskreis hat sich mit

24 Vgl. Antrag der Abgeordneten Burgbacher, Jahn (Braunschweig), Burgemeister und Genossen vom 3. April 1968 betreffend Forschungsauftrag zur Herstellung von Kraftstoffen aus Kohle (BT-Druck- sache V/2806).

Copyright © 2016 KGParl Berlin 6 Fraktionssitzung 5. 3. 1968 50. diesem Problem auseinandergesetzt, pro und contra. Es gab zahlreiche Stimmen, die davor warnten, einen solchen Antrag einzubringen, weil er bei den Kohlegesellschaften unter Umständen Hoffnungen erwecke, die dazu führen könnten, daß die Bemühun- gen, eine Einheitsgesellschaft zu bilden, sich dadurch nur verschlechterten. Es gab an- dere Stimmen, die der Meinung waren, daß es dringend notwendig sei, hier voranzu- kommen und Maßnahmen zur Prüfung zu ergreifen, die für die Sicherstellung der Energieversorgung in kritischen Zeiten etwa notwendig werden könnten. Der Arbeits- kreis hat empfohlen, die Vorlage nicht als Fraktionsantrag einzubringen, sondern als Gruppenantrag passieren zu lassen, damit sie ausgedruckt und an die entsprechenden Ausschüsse überwiesen werden kann. Stecker: Nach meiner Ansicht müßte diese Sache auch noch im Arbeitskreis III behan- delt werden, weil es sich dabei um eine Finanzvorlage handelt. (Zuruf: Auch Arbeits- kreis VI.) Barzel: Also noch an die Arbeitskreise III und VI. Burgemeister: Ferner hat sich der Arbeitskreis gestern noch einmal mit der Novelle zum Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb befaßt. Wir haben schon früher einmal eine Gruppenanfrage eingebracht, die dem Hause unter der Drucksache 2324 vorliegt, aber in 1. Lesung noch nicht behandelt wurde, weil sich kurz vor der ersten Lesung herausstellte, daß die ausgedruckte Drucksache Druckfehler enthielt, die erst noch be- richtigt werden mußten.25 Wir hatten damals, als wir den Gruppenantrag durchgehen ließen, bereits überlegt, inzwischen in einem Arbeitskreis unter Führung von Dr. Fre- richs zu prüfen, ob nicht noch bessere Vorschläge zu dieser Materie gefunden werden könnten, die es möglich machten, aus diesem Antrag einen Fraktionsantrag zu machen. Inzwischen sind die Gespräche in diesem Arbeitskreis Dr. Frerichs geführt worden und haben entsprechende Ergebnisse gezeitigt, die in einem Vorschlag, der gestern den Ar- beitskreisen I und II vorgelegt werden sollte, aber leider nicht in ausreichender Zahl vorlag, niedergelegt sind. Dieser Vorschlag hatte gewisse Verbesserungen zur Folge, die dazu führen könnten oder sollten, sie der Fraktion vorzuschlagen, um dann den Antrag als Fraktionsantrag einzubringen. Doch schon gestern hat sich in den gemeinsamen Beratungen von Ar- beitskreis I und II herausgestellt, daß dort noch erhebliche rechtliche Bedenken beste- hen und die Aussicht, die Vorlage zu einer Fraktionsvorlage zu machen, sich wahr- scheinlich nicht verwirklichen lassen wird. Das Justizministerium ist über unser Vorhaben unterrichtet. Der Minister26 hat seinem Mitarbeiter, dem Justizrat Krieger, die Erlaubnis gegeben, gestern bei unserer Beratung teilzunehmen und uns mitzuteilen, daß das Justizministerium bereit wäre, Formulie- rungshilfe zu geben für einen Antrag, der auch aus der Sicht des Justizministeriums möglich wäre. Nun würde und wird das Verfahren, das wir einzuschlagen haben, ohnehin wahr- scheinlich dahin führen, daß wir mit dem Koalitionspartner sprechen müßten. Und daß dabei, wenn wir also etwa einen Koalitionsantrag einbringen müßten, die Ansichten, wie sie heute im Justizministerium bestehen, Grundlage dieser Verhandlungen sein würden, ist uns allen klar. Wir sind nun aber der Meinung, daß die Verhandlungen mit dem Koalitionspartner im Hinblick auf ein neues Papier, eine neue Drucksache, erheb- liche Zeit in Anspruch nehmen würden. Und deswegen haben die beiden Arbeitskreise gestern beschlossen, der Fraktion zu empfehlen, die Drucksache 2324 umdrucken zu lassen, die Fehler zu beseitigen und sie jetzt in 1. Lesung im Bundestag zu behandeln, ohne Aussprache in die Ausschüsse zu geben und inzwischen mit dem Koalitionspart- ner zu verhandeln, damit dann in den Ausschüssen die Formulierungshilfe des Justiz- ministeriums dazu dienen kann, eine Änderung dieser Drucksache zu bewirken in dem Sinne, daß die Fraktion dann nachher in 2. und 3. Lesung der neuen Fassung zustim- men könnte. Es müßte also dann versucht werden, zunächst einmal zu erreichen, daß der SPD- Koalitionspartner nicht widerspricht, daß die Drucksache 2324 ohne Aussprache an die Ausschüsse überwiesen wird. Dann müßte Dr. Frerichs möglichst gebeten werden, mit dem Partner, der SPD, darüber zu verhandeln, daß entsprechende Gespräche geführt werden, bevor die Beratungen in den Ausschüssen beginnen, damit dann während der Ausschußberatung Übereinstimmung erzielt werden kann.

25 Vgl. Antrag der Abgeordneten Gewandt, Wieninger, Frerichs, Lampersbach, Burgemeister, Luda, Porten und Genossen vom 7. März 1968 zur Änderung des Gesetzes gegen den unlauteren Wettbe- werb (BT-Drucksache V/2324 neu). 26 Gustav Heinemann.

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Barzel: Wenn wir die Sache noch erledigen wollen, muß sie möglichst bald in den Aus- schuß. Da kann sich dann der Justizminister, und was weiß ich wer noch, äußern. Ich empfehle, dem vorgeschlagenen Verfahren beizutreten. In der Sache haben wir uns ja schon entschieden. Das Wort wird nicht gewünscht, es wird also entsprechend verfah- ren. [b)] Arbeitskreis I – Dr. Wilhelmi Wilhelmi: Der Arbeitskreis I hat sich zunächst mit einer Frage befaßt, die vorhin auch angeschnitten wurde und kam zum gleichen Ergebnis, daß es besser ist, über diese Fra- ge nicht weiter zu diskutieren. Alsdann hat er einen eingehenden Bericht über den jetzigen Stand der Notstandsge- setzgebung entgegengenommen, der darauf hinausläuft, daß sowohl der Innenausschuß wie der Rechtsausschuß die 1. Lesung beendet haben; der Rechtsausschuß wird noch diese Woche hier in die 2. Lesung eintreten. Wir haben einige Fragen erörtert und sind der Auffassung, daß es im Augenblick, da Beschlüsse noch nicht vorliegen, noch nicht notwendig ist, die Fraktion in ihrer Gesamtheit mit den Fragen zu befassen. Der Arbeitskreis wird sich nächste Woche wieder mit den Dingen befassen und dann wahrscheinlich in der Lage sein, der Fraktion schon einige Beschlüsse zur endgültigen Entscheidung vorzutragen. [c)] Arbeitskreis III – Herr Pohle Pohle: Der Arbeitskreis III hat sich gestern mit verschiedenen Materien beschäftigt. Zunächst mit der Vorlage des ERP-Vermögens, soweit die Vorlage Berlin betrifft.27 Auf Vortrag des Berichterstatters Dr. Frerichs empfiehlt der Arbeitskreis III der Frak- tion, den Vertretern im Ausschuß für das Bundesvermögen zu empfehlen, sich auf den Standpunkt der Regierungsvorlage zu stellen. Das Wesentliche ist, daß die Auftrags- finanzierung in Berlin um 43 Millionen erhöht wurde. Punkt Nummer zwei waren einige aus dem Vorstand dem Arbeitskreis zugewiesene Vorlagen. Soweit der Entwurf eines Gesetzes betreffend Finanzvorschau auf den Sozi- alaufwand zur Debatte stand, ist darüber nicht gesprochen worden, sondern nur im Zusammenhang mit einem Punkt, der sich mit der finanziellen Auswirkung der ver- schiedenen Fragen in der Rentenversicherung befaßt.28 Darüber möchte ich aber hier nicht berichten, sondern möchte darüber zunächst eine Unterhaltung mit dem Vorsit- zenden des Arbeitskreises IV29 zur weiteren Behandlung dieser Frage herbeiführen. Der Arbeitskreis hat sich nicht beschäftigt mit dem Antrag betreffend Forschungsauf- trag zur Herstellung von Kraftstoffen aus Kohle, über den Herr Burgemeister eben be- richtet hat. Auf Veranlassung von Herrn Stecker ist ja diese Frage noch einmal dem Arbeitskreis III als Finanzvorlage zugewiesen worden. Wohl aber empfiehlt der Ar- beitskreis zwei andere Vorlagen, die aus dem Vorstand gekommen sind. Das eine ist der Initiativantrag von Herrn Dr. Eckhardt betreffend Paragraph 9 des Gewerbesteuer- gesetzes.30 Wir empfehlen, dies zum Fraktionsantrag zu machen. Es geht um die steu-

27 Vgl. den von der Bundesregierung am 1. März 1968 eingebrachten Entwurf eines Gesetzes über die Feststellung der Wirtschaftspläne des ERP-Sondervermögens für das Rechnungsjahr 1968 (BT-Druck- sache V/2625). 28 Auf der Sitzung des Arbeitskreises III am 4. März 1968 in Berlin gab der Abgeordnete Götz eine umfassende Darstellung über das System der Alterssicherung, der Arbeiterrenten- und Angestellten- versicherung. Außerdem stellte er die aktuellen und finanziellen Schwierigkeiten der knappschaftli- chen Rentenversicherung dar. Er schlug die Bildung einer Arbeitsgruppe aus Fachleuten der Arbeits- kreise III und IV im Interesse einer Koordinierung der sozial- und finanzpolitischen Gesichtspunkte vor. Ein Vertreter des Bundesfinanzministeriums hob die finanziellen Schwierigkeiten der Knapp- schaft hervor, die trotz der Ausgleichsmaßnahmen des Finanzänderungsgesetzes anhielten. Der An- teil des Bundeszuschusses würde sich von 71 Prozent im Jahre 1967 auf 79 Prozent im Jahre 1979 er- höhen. Deswegen seien hier ebenfalls Maßnahmen notwendig. Erwin Gaber, der Präsident der Bun- desversicherungsanstalt für Angestellte, wies darauf hin, dass die Kriegsfolgelasten in der Angestell- tenversicherung mit 2,2 – 3,5 Milliarden DM zu beziffern seien. Die Anstalt würde bis 1970 mit leicht steigenden Überschüssen rechnen können. Trotz dieser günstigen finanziellen Situation müsse sich die Versicherungsanstalt gegen den Vorschlag, gegebenenfalls das Vermögen (11,8 Milliarden DM – 1 Jahresausgabe) abzuschmelzen, wenden, da seine Erträge zu einer effektiven Verlangsamung der Beitragserhöhungen beitrügen. Außerdem würde eine Vermögensauflösung in konjunkturell schwachen Zeiten nachteilige wirtschaftliche Auswirkungen nach sich ziehen. Auf keinen Fall könn- ten die Bundeszuschüsse nach 1971 gekürzt werden. Der Arbeitskreis stimmte dem Vorschlag, eine Arbeitsgruppe aus den Arbeitskreisen III und IV zu bilden, zu und beauftragte den Vorsitzenden, ei- ne entsprechende Absprache mit dem Arbeitskreis IV herbeizuführen. Vgl. Protokoll der Sitzung des Arbeitskreises III vom 4. März 1968, in: ACDP, 08-004-001/2. 29 . 30 Vgl. Antrag des Abgeordneten Eckhardt und der Fraktion der CDU/CSU vom 13. März 1968 zur Änderung des Gewerbesteuergesetzes (BT-Drucksache V/2732).

Copyright © 2016 KGParl Berlin 8 Fraktionssitzung 5. 3. 1968 50. erliche Behandlung der Wohnungsbaugesellschaften, die neben der Nutzung des eige- nen Grundbesitzes Wohnbauten betreuen, Eigentumswohnungen errichten usw. Um eine Doppelbesteuerung mit Gewerbesteuer und Realsteuer zu vermeiden, hat die Verwaltungspraxis eine Begünstigung aller dieser Tätigkeiten bei der Gewerbesteuer vorgenommen. Außerdem wurde damit eine Gleichstellung gegenüber den gewerbe- steuerfreien gemeinnützigen Unternehmen erreicht. Jetzt ist aber eine Änderung dadurch eingetreten, daß der Bundesfinanzminister ent- schieden hat, die Steuerbegünstigung könne nur in Anspruch genommen werden, wenn die Verwaltung und Nutzung des eigenen Grundbesitzes die Haupttätigkeit darstelle (nicht der Bundesfinanzminister, sondern der Bundesfinanzhof). Der vorliegende Antrag soll die bisherige Verwaltungspraxis wiederherstellen und ge- setzlich fixieren. Das Bundesfinanzministerium ist damit einverstanden, der Arbeits- kreis III empfiehlt der Fraktion, den Vorschlag als Fraktionsantrag einzubringen. Der Vorstand der CSU-Landesgruppe hat diesen Antrag initiiert. Sollen wir darüber erst sprechen oder soll ich alles zusammen vortragen? Häfele: Ich habe gestern im Arbeitskreis III bestätigt erhalten, was schon seit Wochen in der Presse zu lesen war, nämlich daß die Berechnungen des Arbeitsministeriums be- züglich der Knappschaftsversicherung allein für das Jahr 1968 um 400 Millionen, also fast eine halbe Milliarde, zu niedrig angesetzt waren und sich das in den folgenden Jah- ren noch steigert. Nun sind der Herr Arbeitsminister und der Herr Bundesfinanzmini- ster leider nicht hier, obwohl es natürlich sehr zweckmäßig wäre, wenn wir schon in Berlin arbeiten, daß man hier auch wirklich arbeiten kann. Ich habe, nachdem das also heute nicht möglich ist, zu klären, die dringende Bitte, daß in der nächsten Fraktions- sitzung in Bonn der Herr Arbeitsminister uns erklärt, wie so etwas möglich ist, daß nach ein paar Wochen die Berechnungen auf eine solche Weise nicht mehr stimmen, obwohl doch eigentlich in der Knappschaft etwas völlig Unvorhersehbares – minde- stens für mich – nicht geschehen ist. Das ist ein Thema, das schon jetzt im Landtags- wahlkampf in Baden-Württemberg31 eine große Rolle spielt. Und was soll ich den Leuten sagen? Ich kann nur sagen, für mich ist es ebenso unerklärlich. Pohle: Dann darf ich also annehmen, daß die Fraktion sich dem Vorschlag des Arbeits- kreises anschließt, als Fraktionsantrag die Änderung des Paragraphen 9 des Gewerbe- steuergesetzes vorzunehmen, das ist die Initiative der Landesgruppe. Ein nächster Punkt, auch eine Initiative von Herrn Eckhardt, sind die Paragraphen 5 und 6 des Einkommensteuergesetzes.32 Es handelt sich um die Aktivierung immate- rieller Wirtschaftsgüter, Verbindlichkeiten, Rückstellungen und Rechnungsangren- zungsposten. In dieser Frage besteht wegen abweichender Auffassungen der Länderfi- nanzverwaltungen und des Bundes sowie wegen unterschiedlicher Rechtsprechung des Bundesfinanzhofes eine große Rechtsunsicherheit. Die Paragraphen 5 und 6 des Einkommensteuergesetzes bedürfen einer Ergänzung, nicht einer Änderung. Der Arbeitskreis III empfiehlt der Fraktion, den Entwurf, der allerdings noch der Formulierungshilfe durch das Bundesfinanzministerium bedarf, als Fraktionsantrag einzubringen, um die Rechtssicherheit wiederherzustellen und um den eindeutigen Willen des Gesetzgebers zum Ausdruck zu bringen, daß die handelsrecht- lichen Vorschriften für die Frage, was wird aktiviert, maßgebend sein sollen. Als letzter Punkt die Finanzverfassungsreform, und zwar nur die Terminfrage. Der Arbeitskreis hat hier folgende Beschlüsse gefaßt und trägt sie der Fraktion vor: 1. Der Arbeitskreis hält es für erforderlich, daß der Regierungsentwurf zur Finanzre- form einschließlich Gemeindefinanzreform Mitte März dem Bundesrat zugeleitet wird, damit der Bundesrat über die Vorlage am 5. April im ersten Durchgang entscheiden kann. 2. Der Arbeitskreis hält es für erforderlich, daß er und die Fraktion gleichzeitig nach Verabschiedung der Finanzreform im Kabinett über den Inhalt des Programms von der Bundesregierung umfassend informiert wird. 3. Der Arbeitskreis ist der Auffassung, daß die Vorlage an den Finanzausschuß feder- führend, an den Rechtsausschuß zur Mitberatung überwiesen werden soll. Ein Sonder- ausschuß soll nicht gebildet werden. Der Bundesregierung soll diese Auffassung über die Fraktion mitgeteilt werden.

31 Am 28. April 1968 fanden in Baden-Württemberg Landtagswahlen statt. 32 Vgl. Antrag des Abgeordneten Eckhardt und der Fraktion der CDU/CSU vom 15. März 1968 zur Änderung des Einkommensteuergesetzes (BT-Drucksache V/2773).

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Barzel: Ich glaube, damit sind wir einverstanden. Es deckt sich mit dem, was wir hier beschlossen haben. [d)] Arbeitskreis IV – Herr Stingl Stingl: Zunächst hat der Arbeitskreis sich mit einer Änderung des AVAVG beschäftigt. Wir haben beim Finanzänderungsgesetz eine Neuregelung für den Fall getroffen, daß jemand nicht mehr arbeitseinsatzfähig ist, aber auch noch nicht berufs- oder arbeits- beziehungsweise erwerbsunfähig im Sinne der Rentengesetze.33 Eine solche Person war in der Vergangenheit weder berechtigt, eine Unterstützung aus der Arbeitslosenversi- cherung zu bekommen, noch [berechtigt,] die Renten zu bekommen. Um dies zu be- seitigen, haben wir, wie gesagt, das AVAVG geändert. Dabei aber ist insofern ein Mißgeschick passiert, als wir die bestehende Rechtslage ein- fach mit hinüber ziehen wollten, aber das nicht ausdrücklich sagten. Dadurch kam un- ter den Arbeitslosengeldempfängern Unruhe auf, weil die Arbeitsämter nun Untersu- chungen anstellten. Diese Unruhe wurde dadurch beseitigt, daß der Kollege Müller als Vorsitzender des Ausschusses der Anstalt in Nürnberg mitgeteilt hatte, daß der Bun- destag im Einvernehmen mit allen Fraktionen – Sie haben selber darüber auch beraten – bereit sei, die entsprechende gesetzliche Änderung durchzuführen.34 Diese ist vorbe- reitet. Wir haben ursprünglich gedacht, sie mit dem AFG, dem Arbeitsförderungsge- setz, gemeinsam zu beschließen. Die Anstalt in Nürnberg hält das aber nicht für richtig. Das ist ein zu langer Zeitraum. Sie will das jetzt geklärt haben. Wir haben uns dazu be- reit erklärt. Allerdings hat die SPD zeitliche Bedenken, sie wollte das nicht machen. Ich wäre dank- bar, wenn Sie sich dem Votum des Arbeitskreises anschließen würden, daß wir das jetzt einbringen und den Fraktionsvorsitzenden bitten, mit der SPD gemeinsam jetzt diese kleine Novellierung zu betreiben. Das zweite, wir haben eine Reihe von Problemen behandelt, die mit der Rentenversi- cherung zusammenhängen, und zwar insofern auch mit dem Finanzänderungsgesetz, weil wir beim Finanzänderungsgesetz – Sie werden sich erinnern – gegen das Votum einiger Sozialpolitiker aus unserer Fraktion einen Antrag von Schmitt-Vockenhausen im Plenum angenommen haben, wonach von der Angestelltenversicherung alle die Per- sonen befreit werden, die eine beamtengleiche Versorgung zugesagt haben durch die kommunalen Spitzenverbände.35 Durch diesen Beschluß werden natürlich ähnlich ge- lagerte Versorgungseinrichtungen angereizt, zu verlangen, daß auch sie von der Ange- stelltenversicherungspflicht befreit werden. Diese Fragen sind so schwerwiegend, daß wir eine kleine Arbeitsgruppe eingesetzt ha- ben, die sich mit der Problematik beschäftigt. Daß ich es Ihnen sage, hat seinen Grund darin, daß ich Sie bitten möchte, sofern Sie selber solch eine Angelegenheit bekommen, es entweder dem Arbeitskreis oder dem Kollegen Krampe zuzuleiten. Wir haben uns dabei auch beschäftigt mit der Arbeit des sogenannten Versorgungs- stocks. Es mag sein, daß an den einen oder anderen diese Dinge herangetragen werden. Es gab in der nationalsozialistischen Zeit für gewisse Wirtschaftseinrichtungen »Fett- Kontor«, oder wie die Dinge hießen, einen Versorgungsstock. Dieser Versorgungs- stock war im Grunde ein Sparguthaben, das gesperrt war bis zum 65. Lebensjahr des Betreffenden. Es wurde zum Teil aus Reichsmitteln gespeist. Diese Versorgungsstock- berechtigten, deren Versorgungsstockinstitut im Osten, in Ost-Berlin oder in der Zone, saß, sind über das Fremdrentengesetz als Rentenversicherte in der Zusatzversorgungs- anstalt des Bundes und der Länder nachversichert, weil es adäquat ist den sonstigen Be- strebungen im Fremdrentengesetz. Es ist nicht gültig für den Sitz solcher Institute im Westen. Wir haben gestern nach langen Beratungen uns dazu animiert gefühlt, die Regierung zu bitten, das Problem zu prüfen im Hinblick darauf, ob nicht über eine Härteregelung nach 13136 – dort ist es besser angebracht – das Problem geregelt werden soll. Wir ha- ben auch dazu eine Arbeitsgruppe eingesetzt. Beschlüsse sind zur Zeit nicht nötig. Erst

33 Vgl. »Gesetz zur Verwirklichung der mehrjährigen Finanzplanung des Bundes, II. Teil (Finanzände- rungsgesetz 1967)« vom 21. Dezember 1967, BGBl. 1967 I S. 1259. 34 Vgl. Schreiben des Vorsitzenden des Bundestagsausschusses für Arbeit, Adolf Müller, an den Präsi- denten der Bundesanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung, Anton Sabel, vom 10. Januar 1968, in: ParlA, Gesetzesdokumentation, Gesetz zur Verwirklichung der mehrjährigen Fi- nanzplanung des Bundes, II. Teil – Finanzänderungsgesetz 1967 (Langversion), Band B, Nr. 2.

35 Vgl. BT STEN. BER., 5. Wahlperiode, 142. Sitzung am 8. Dezember 1967, S. 7328 u. 7355 (Umdruck 344). 36 Gemeint ist das »Gesetz zur Regelung der Rechtsverhältnisse der unter Artikel 131 des Grundgeset- zes fallenden Personen« in der Fassung vom 21. August 1961, BGBl. 1961 I S. 1579.

Copyright © 2016 KGParl Berlin 10 Fraktionssitzung 5. 3. 1968 50. nach Abschluß dieser Prüfung – wobei das gleiche für eine Reihe anderer Personen gilt, zum Beispiel für die Kapitulanten oder die Wehrmachtsangehörigen, die vor 35 nach zehnjähriger Tätigkeit beziehungsweise Wehrmachtszugehörigkeit ausschieden und nicht nachversichert worden sind. Auch dieses Problem wollen wir prüfen; an sich sind das Dinge am Rande, aber sie haben immerhin insofern Bedeutung, als alle diese Perso- nen jetzt in das Rentenalter kommen und man das also einmal prüfen muß, ob man da eine Regelung finden kann oder nicht. Auch hierfür haben wir eine Arbeitsgruppe ein- gesetzt. Das dritte und dazu nur einen Satz. Wir haben uns beschäftigt mit der Krankenversi- cherung für die Landwirtschaft, und wir haben kein endgültiges Votum. Aber dazu wird der Kollege Kühn, der die Arbeitsgruppe geführt hat, in der Agrardebatte Stellung nehmen, so daß es also im Zusammenhang mit der Gesamtagrardebatte gesehen werden kann. Als letztes: Der Arbeitskreis hat sich sehr intensiv mit dem Antrag aus der Landes- gruppe CSU zur Aufstellung einer Vorausschau über die Sozialausgaben beschäftigt. Dazu bitte ich, dem Kollegen Dr. Franz das Wort zu geben, unter dessen Leitung eine etwa zehnköpfige Arbeitsgruppe eingesetzt wurde, um das Problem, das vielschichtiger ist als nur eine Vorschau, zu behandeln. Aber ich wäre dankbar, wenn Kollege Franz noch berichten würde. Franz: Hier geht es um den CSU-Antrag, den Herr Kollege Dr. Pohle bereits bei sei- nem Bericht aus dem Arbeitskreis III erwähnt hat. Es ist ein CSU-Antrag, der der Fraktion schon seit mindestens eineinhalb Jahren vorliegt und bisher aus diesem oder jenem Grunde nicht behandelt werden konnte, deswegen aber nichts an Aktualität ein- gebüßt hat. Dieser Antrag umfaßt im wesentlichen drei Punkte: Punkt 1: Die Bundesregierung wird aufgefordert, dem Deutschen Bundestag alljährlich bis zum 30. Juni einen Bericht über den Sozialaufwand des laufenden Jahres und der folgenden fünf Jahre vorzulegen, und zwar spezialisiert nach seinen Auswirkungen auf den Bundeshaushalt, auf die Beitragsgestaltung für Arbeitgeber und Arbeitnehmer, auf die Verwendung des Vermögens und der Vermögenserträgnisse der Sozialversiche- rungsträger. Punkt 2: Die Bundesregierung wird aufgefordert, bei jedem Gesetz, das den Sozialauf- wand berührt, und bei jeder betreffenden Verordnung, die der Zustimmung des Bun- desrates bedarf, die Auswirkungen auf die Beitragsgestaltung, auf den Bundeshaushalt, auf die Verwendung der Vermögen beziehungsweise der Vermögenserträgnisse darzu- stellen. Punkt 3: Die Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages soll dahingehend geändert werden, daß die 3. Lesung eines solchen Gesetzes nicht stattfinden darf, wenn die Bun- desregierung der Verpflichtung, über die Auswirkungen auf den Bundeshaushalt, auf Beiträge von Arbeitnehmern und Arbeitgebern Bericht zu erstatten, nicht nachgekom- men ist. Kollege Stingl hat schon berichtet, daß eine Kommission von etwa zehn Per- sonen festgelegt worden ist, die sich künftig mit dieser Frage beschäftigen soll. Ich würde als Berichterstatter allerdings anregen, daß vorher das Gespräch zwischen Herrn Dr. Pohle und dem Kollegen Stingl stattfinden sollte. [e) Arbeitskreis V – von Eckardt] Eckardt: Ich möchte es kurz machen. Was wir gestern im Arbeitskreis beraten haben: Wir hatten eine ausführliche Aussprache über zwei Papiere gehabt, und zwar über die Studie des »Centre d‘Ètudes de Politique Étrangère«37 und über das Papier des franzö- sischen Generalstabschefs Ailleret im Dezemberheft der »Revue de la Défense Natio- nale«.38 Ich möchte nur das Resultat hier insofern zusammenfassen, als die allgemeine Auffassung ist, daß kein Anlaß besteht, auf diese Papiere nun hektisch, schnell und mit übertriebener Publizität zu antworten, daß wir aber zu gegebener Zeit hier vortragen werden, ob, wann und dann in welcher Form zu diesen beiden Papieren Stellung ge- nommen wird. Der Arbeitskreis ist sich in seiner überwiegenden Mehrheit über die Stellungnahme zu den Papieren einig. [f)] Arbeitskreis VI – Dr. Martin Martin: Im Mittelpunkt unserer Arbeit steht unsere Große Anfrage zu den Unruhen an den Universitäten.39 Ich darf vielleicht dazu zunächst einmal die äußere Lage schil-

37 Für den Wortlaut dieser Studie des nicht-amtlichen, aber dem französischen Außenministerium na- hestehenden Instituts für Auswärtige Politik vgl. BA, N 1371-74.

38 Vgl. hierzu AdG 1967, S. 13583–13585. 39 Vgl. Große Anfrage der Fraktion der CDU/CSU vom 14. Februar 1968 betreffend Wahrung der Freiheit von Forschung und Lehre an den Universitäten (BT-Drucksache V/2587).

Copyright © 2016 KGParl Berlin 11 Fraktionssitzung 5. 3. 1968 50. dern. Die SPD wollte sich ursprünglich an die Große Anfrage anschließen, weil sie in- haltlich in der Fragestellung nichts einzuwenden hat. Dann hat es aber in der Diskussi- on so ausgesehen, daß sie sich nicht anschließen wollte, unterschriftlich, sie tritt aber der Sache bei. Wir kommen aber mit der Sache wegen der Termine in Schwierigkeiten. Wir haben nächste Woche den Bericht zur Lage der Nation, und es ist wohl unver- meidlich, daß der Bundeskanzler zu dieser Sache etwas sagt. Dazu kommt, daß die an- deren Parteien lebhaft daran interessiert sind, nächste Woche schon zu diskutieren. Wir müssen uns darauf einstellen, und die Fraktion muß sich heute darüber klar werden, wer sich nächste Woche verantwortlich für diese Woche vorbereitet. Wir sind gestern soweit gekommen, zu sagen, es sollten zwei oder drei Leute benannt werden, die dann auch dafür gerade stehen. Das ist sehr wichtig. Wir haben kein großes Interesse daran, die Große Anfrage unmittelbar danach zu behandeln, weil es zwischendurch wichtige Ereignisse gibt. Erstens der VDS in München.40 Wir werden erst danach sehen, wie die Eskalation der Forderungen des SDS in die Studentenschaft hinein weitergeht. Dann haben die Kultusminister eine Kommission eingesetzt, um sich mit dieser Frage zu beschäftigen. Dies sollten wir vorausgehen lassen, weil die Kultusminister ja eigent- lich die Zeichnungsberechtigten und die Verantwortlichen in der Sache sind. Dann ist Baden-Württemberg noch wichtig. Das Hochschulgesetz dort kommt ganz offensichtlich in Schwierigkeiten und wird in die Diskussion über die allgemeinen Fra- gen sehr heftig hineingezogen. Für die Baden-Württemberger ist es eine wichtige Frage wegen ihrer Wahlen, wann wir den Termin setzen. Im übrigen, zur Sache haben wir Ihnen vom Arbeitskreis VI eine Dokumentation zu- geleitet, die wir zusammen mit dem RCDS erarbeitet haben.41 Die ist im November etwa abgeschlossen und heute noch gültig. Ich brauche mich heute nicht dazu äußern. Die Analyse, die dort vorgenommen worden ist, ist im großen und ganzen auch noch unsere heutige. Ich glaube, das sind die Grundlagen der Diskussion. Ich wäre sehr dankbar, oder wir wären sehr dankbar, wenn die Fraktion sich etwas auf diese Sprach- regelung einspielen würde. Wir müssen nach außen ziemlich einheitlich auftreten. Wir sind folgender Meinung: Die erste Runde der Auseinandersetzung hat sich wesentlich im Bereich der Exekutive abgespielt, das war notwendig, das war richtig und das war in der Form nicht immer genau, aber wir sind jetzt in einem Stadium, in dem wir uns mit den eigentlichen Fragen ernsthaft auseinandersetzen müssen und uns um Antworten zu bemühen haben. Die Situation bei den Studenten ist, glaube ich, im Augenblick wie folgt: Es sind alle Fronten zerbrochen; es gibt heute niemand mehr, keine Partei, niemand aus den Uni- versitäten, aber auch niemand aus der Publizistik, der wirklich noch echten Zugang zu den Studenten hat, das heißt, die sind weitgehend heimatlos. Und es kommt sehr viel darauf an, wie wir sprechen, was wir sagen, um zu den Studenten zu gelangen, die sich nicht in der radikalen Gruppe befinden. Wir kommen dabei nicht darum herum, Sachaussagen zu machen, denn es ist nicht nur eine weltanschauliche Diskussion oder eine Diskussion über die psychologische Lage der Studenten oder den Hintergrund der Unruhen, sondern es geht um ganz konkrete Fragen, die da aufgeworfen werden und sich auf die Hochschulreform konzentrieren. Die Diskussion ist immer unübersichtlicher geworden in den letzten drei Wochen. Es ist jede Woche ungefähr ein neuer Vorschlag, aber das Verbindende und Ganze wird eigentlich immer weniger sichtbar. Aus diesem Grund haben wir wenig Interesse, jetzt, sehr schnell über diese Dinge zu diskutieren, denn man muß etwas Präzises sagen kön- nen. Es ist wohl jedem hier bekannt, wie der Arbeitskreis VI darüber denkt, weil wir uns schriftlich und mündlich geäußert haben.. Wir sind sehr dankbar für die Unterstützung, die wir von vielen Kollegen, vor allem auch von jungen Kollegen aus der Fraktion haben, und für das große Interesse, das an dieser Frage besteht. Ich halte es für eine vitale Frage. Bitte, täuschen Sie sich nicht über folgendes: Es ist nicht so, daß die Sache in Monaten zu Ende ginge, sondern wir sind einfach in eine neue Situation eingetreten. Der Vorsitzende hat das alles richtig gesagt. Es stimmt alles nicht mehr, und es geht nicht nur um die Studenten, sondern es betrifft die deutsche Jugend, die sich in einer neuen Situation befindet. Unter der Hand ist eine

40 Vom 5. bis 10. März 1968 fand in München die 20. ordentliche Mitgliederversammlung des Verban- des Deutscher Studentenschaften (VDS) statt. Vgl. KRAUSHAAR, S. 70 f. 41 Eine solche Dokumentation ist im ACDP weder in den Unterlagen des Arbeitskreises VI der CDU/CSU-Bundestagsfraktion noch in dem Bestand des RCDS zu ermitteln.

Copyright © 2016 KGParl Berlin 12 Fraktionssitzung 5. 3. 1968 50. neue Jugend auf die politische Szene getreten. Das muß man ganz deutlich sehen, und wir werden noch lange damit zu tun haben und müssen uns darauf einstellen. Dann gibt es eine Menge Routinearbeit im Arbeitskreis. Ich will nur die Titel sagen – verzeihen Sie, es ist eine Sache, die mit mehr als mit Routine zusammenhängt. Wir ha- ben übermorgen im Ausschuß den Antrag der FDP: Rahmenkompetenz des Bundes für Universitätsfragen und für Bildungsplanung.42 Es ist uns bis jetzt nicht gelungen, dazu in der Fraktion eine einhellige Meinung zu finden. Der Kollege Althammer hat es übernommen, die Brücken zu bauen, das heißt, die Sache hinhaltend zu behandeln. Vielleicht hat er die Freundlichkeit, dazu etwas zu sagen. Dann gibt es einen Bericht der Bundesregierung über die Lage der deutschen Sprache in der Welt, der wichtig ist, den wir durcharbeiten.43 Wir haben dazu eine Stellung- nahme. Es gibt ferner einen Bericht über die Kulturpolitik im Ausland, insbesondere eine Stel- lungnahme zu der Kulturpolitik mit den osteuropäischen Staaten.44 Dann gibt es noch die Große Anfrage von Herrn Wörner zur Lage der deutschen Luft- und Raumfahrtin- dustrie.45 Das ist der Bericht. Barzel: Was die Debatte über die Lage der Nation betrifft, stimme ich mit Herrn Mar- tin überein, daß wir die Große Anfrage so ein bißchen als eine Fleet-in-being im Hin- tergrund lassen und einiges dann eben nächste Woche sagen. Ich nehme an, daß Herr Martin selbst bereit sein wird, in der Debatte zu sprechen, und vielleicht noch ein zweiter Redner aus dem Arbeitskreis zur Verfügung steht. Althammer: Zu dem von Dr. Martin noch angesprochenen Punkt. Es kommt jetzt natürlich mehr und mehr in die Debatte hinein die Frage, ist unsere gegenwärtige föde- ralistische Verfassung in der Lage, den Zukunftsaufgaben gerecht zu werden. Zu dem Punkt liegt ja der Antrag der FDP vor, und wir wissen auch, daß nicht nur in unserer Fraktion, sondern auch bei der SPD diese Frage diskutiert wird. Auf der anderen Seite enthält das soviel Sprengstoff, daß es notwendig ist, gerade in dieser Frage in unserer Fraktion eine einheitliche Linie durchzuhalten. Wir wissen alle, daß das auch zusammenhängt mit der jetzt terminlich vorher vorgetragenen Finanzre- form und den Gemeinschaftsaufgaben, die dort erwähnt sind. Ich würde also die Frak- tion herzlich darum bitten, daß wir in dieser Phase der Diskussion uns nicht in der Sa- che oder der Form auf den Antrag der FDP in irgendeiner Form festlegen, sondern daß wir alle Anlaß haben, nun den Weg, den unsere Regierung hier gewiesen hat – im Rah- men der Finanzreform hängt die Gemeinschaftsaufgabe Nummer eins mit dem Hoch- schulwesen zusammen –, weiterzugehen und nicht etwa das Klima, insbesondere auch mit den Ländern, schon von vornherein dadurch zu vergiften, daß wir jetzt in irgend- einer Form diesem FDP-Antrag zustimmen. Das scheint mir sehr wichtig zu sein. Barzel: Damit sind die Berichte aus den Arbeitskreisen beendet. Das Wort hat jetzt der Bundeskanzler. [3. Bericht des Bundeskanzlers] Bundeskanzler Kiesinger: Ich glaube, ich habe Ihnen noch nicht berichtet über unsere Verhandlungen in Paris, wie das Problem des Beitritts Großbritanniens und anderer [zu den Europäischen Gemeinschaften] zu sehen ist. Wir haben, wie Sie wissen, das ganze Jahr versucht, eine Krise der Gemeinschaft zu vermeiden. Es gab Tendenzen, die sehr weit zu gehen bereit waren, daß man mitunter den Eindruck bekommen konnte, daß diejenigen, die diese Tendenzen verfolgten, eine solche Krise der Gemeinschaft in Kauf nehmen würden. Wir waren der Meinung, daß mit Kraftakten und Trotzgesten gar nichts erreicht wird, im Gegenteil! So wie die Dinge nun einmal in Europa liegen, wäre mit solchen Trotz- gesten und Kraftakten nur eine Erschwerung der Dinge erreicht worden. Wir haben unseren englischen Partnern von Anfang an reinen Wein eingeschenkt; wir haben sie

42 Vgl. Antrag der Fraktion der FDP vom 15. November 1967 zur Änderung des Grundgesetzes (BT- Drucksache V/2280). Durch eine Änderung der Grundgesetzartikel 74 und 75 sollte die konkurrie- rende Gesetzgebungskompetenz des Bundes auf das Hochschulwesen ausgedehnt werden. 43 Vgl. Bericht des Bundesministers des Auswärtigen vom 31. August 1967 über die deutschen Aus- landsschulen gemäß Beschluss des Deutschen Bundestages vom 28. Juni 1967 (BT-Drucksachen V/1862, V/2121). 44 Vgl. Bericht des Bundesministers des Auswärtigen vom 30. November 1967 über die Kulturarbeit im Ausland gemäß Beschluss des Deutschen Bundestages vom 28. Juni 1967 (BT-Drucksachen V/1863, V/2344). 45 Vgl. Große Anfrage der Fraktion der CDU/CSU vom 13. Juni 1967 betreffend die Lage der deut- schen Luft- und Raumfahrtindustrie (BT-Drucksache V/1869).

Copyright © 2016 KGParl Berlin 13 Fraktionssitzung 5. 3. 1968 50. auf die Schwierigkeiten, die sie erwarteten, hingewiesen und versprochen, Ihnen nach unseren besten Kräften zu helfen. Natürlich sind wir auch in Paris dabei geblieben, daß wir der Meinung sind, daß der Zeitpunkt der Aufnahme von Verhandlungen mit Großbritannien und den anderen durchaus gekommen sei, daß mit solchen Verhand- lungen begonnen werden könnte und sollte. Wie nicht anders zu erwarten war, blieben unsere französischen Gesprächspartner, blieb Präsident de Gaulle bei seinem Stand- punkt, daß dieser Zeitpunkt aus den verschiedensten Gründen, die er wieder aufzählte, die Ihnen ja allen bekannt sind, noch nicht gekommen sei. Uns lag daran, nun bei diesen Gesprächen zweierlei zu erreichen, nämlich erstens einen gewissen Schritt vorwärts zu kommen in der Sache selbst, und daß zweitens der Faden des Gesprächs mit Großbritannien und den anderen nicht abgeschnitten werde. Und da hat sich dann in den Verhandlungen ergeben, daß man in Paris bereit war zu Regelun- gen, zu einem Arrangement Ja zu sagen, daß Erleichterungen im gewerblichen und agrarischen Güterverkehr mit Großbritannien und den anderen Aufnahmewilligen zu- gestanden wurden, wobei sofort auch von französischer Seite darauf hingewiesen wur- de, daß solche Maßnahmen konform mit dem GATT sein müßten, und das bedeutet, daß sie auf ein größeres Ziel, nämlich auf etwas wie eine europäische Freihandelszone, sei es eine ganze, sei es eine mit diesen Ländern, gerichtet sein müßten. Als wir unsere französischen Partner darauf aufmerksam machten, daß wir den Eintritt Großbritanniens wünschten und daß wir doch annehmen könnten, daß sie dabei blie- ben, daß sie einem solchen Eintritt Großbritanniens auf die Dauer keinen Widerstand entgegensetzen würden, haben die Franzosen selbst gesagt, nein, auch wir wünschen diesen Eintritt. Das heißt, sie legten Wert darauf, daß die Formel lautete, beide Länder wünschen den Beitritt Großbritanniens. Dann kam es also zu diesen Erwägungen, Überlegungen, die wir miteinander angestellt haben. Ganz einig waren wir uns darüber, daß die Gemeinschaft nicht nur erhalten werden müsse, sondern daß sie intensiv weiterentwickelt werden müsse. Hier konnten wir ja unseren französischen Partner beim Wort nehmen und sagen: Ihr habt immer gesagt, Beitritt Großbritanniens und der anderen, das droht zu einer europäischen Freihandelszone zu werden. Das kann man machen, wenn man will. Wir aber wollten und wollen doch gemeinsam eine Gemeinschaft. Das haben wir gesagt. Dann müßt ihr aber auch bereit sein, diese Gemeinschaft weiterzuentwickeln. So ist es zum Punkt 1 der gemeinsamen Erklärung gekommen, wo es ja heißt, daß beide Regierungen ihren Willen bekräftigen, das von ihnen und ihren Partnern mit der Schaffung der Europäischen Gemeinschaft begonnene Werk fortzusetzen. Sie werden alle Anstrengungen unternehmen, um den Gemeinsamen Markt zu vervollständigen und weiterzuentwickeln. Sie bestätigen namentlich ihre Absicht, die Verschmelzung der drei Gemeinschaften sich verwirklichen zu lassen. Ich habe Präsident de Gaulle dabei darauf aufmerksam gemacht, daß wir bei unseren Gesprächen in Rom zu derselben Übereinstimmung der Auffassungen gekommen sei- en, was die Zukunft der Gemeinschaft anlange, daß aber dort unsere italienischen Freunde den Wunsch geäußert hätten, es sollte nur so weiterentwickelt werden, daß der Graben zwischen der Gemeinschaft und den beitrittswilligen Ländern nicht unnötig vertieft wird durch diese Weiterarbeit.46 Ich sagte, ich bin loyalerweise dazu verpflichtet, darauf aufmerksam zu machen, daß wir dem in Rom zugestimmt haben. Nun, damit hängt ja dann auch wieder das Ange- bot zusammen, dann macht mal in der Zwischenzeit diese Erleichterungen auf dem Gebiete des Handels. Es war natürlich klar bei den Gesprächen, daß man in Frankreich nicht gerade mit Enthusiasmus an eine solche Entwicklung heranging. Es war ganz deutlich zu sehen, daß man das eben als einen notwendigen Schritt des Entgegenkom- mens ansah. Und ich habe meinerseits in meinen Gesprächen mit dem Präsidenten ganz klargemacht, daß die deutsche öffentliche Meinung erwarte, daß wir einen Schritt wei- terkommen, daß sie auch erwarte, daß das Gespräch mit Großbritannien nicht abreiße. Natürlich haben wir diese Gespräche über den Beitritt anderer zum Gemeinsamen Markt eingebettet in übrige, andere, wichtige politische Überlegungen. Ich habe wieder mit dem Präsidenten sehr eingehend über unsere Auffassung des At- lantischen Bündnisses, über unsere Auffassung des notwendigen Verhältnisses zu den Vereinigten Staaten von Amerika gesprochen. Ich habe ihm wieder gesagt, daß eine

46 Bundeskanzler Kiesinger und Bundesaußenminister Brandt statteten am 1. und 2. Februar 1968 der italienischen Regierung einen offiziellen Besuch ab. Am 3. Februar 1968 wurde Kiesinger von Papst Paul VI. in Privataudienz empfangen. Vgl. hierzu AdG 1968, S. 13722 f.; AAPD 1968, Nr. 40, 43; EA 1968, Z 46, 49.

Copyright © 2016 KGParl Berlin 14 Fraktionssitzung 5. 3. 1968 50. anti-amerikanische Sprache, wie sie häufig von französischer Seite geführt worden sei, dem französischen Ansehen in Deutschland schade. Ich habe auf die Entwicklung der Meinungsumfragen hingewiesen, die das ganz entschieden bestätigen. Der Präsident hat dann mehr als bisher – diese Auseinandersetzungen fanden ja schon bei meinem Gespräch im Sommer statt47 – Verständnis für den deutschen Standpunkt geäußert. Er hat praktisch auch in der Schlußsitzung erklärt, nun, ich will es so formu- lieren. Er hat eine Erklärung abgegeben, die darauf hinauslief: Wenn ich in eurer Situa- tion wäre, dann würde ich genauso handeln, das heißt also, ich würde im integrierten System der NATO bleiben, ich würde auf der Anwesenheit amerikanischer Truppen in der Bundesrepublik insistieren – und dann kam er mit einer Erklärung heraus, die er so klar bisher noch nie gegeben hatte –, wenn nicht etwas ganz Unvorhergesehenes ge- schehe, werde auch Frankreich das Bündnis nicht verlassen. Ich habe am Schluß bei dem Austausch unserer gegenseitigen Zusammenfassung da eingehakt und habe noch einmal unseren Standpunkt, unsere Auffassung hervorgeho- ben. Was die übrigen Beziehungen zu den USA anlangt, insbesondere zu den Bemü- hungen der Vereinigten Staaten um den Ausgleich ihrer Zahlungsbilanz, so hat man von französischer Seite weniger, als es aus verschiedensten Quellen angekündigt wor- den war, darauf bestanden, daß darüber gründlich geredet werde. Zwar haben die Fachminister, also die Herren Kollegen Schiller und Strauß einerseits und Herr Debré andererseits, darüber gesprochen, aber es gab natürlich auch auf die- sem Gebiet keine Übereinstimmung der Auffassungen. Übereinstimmung bestand dar- über, daß die Restriktionsmaßnahmen, die die Vereinigten Staaten auf dem Gebiete des Außenhandels angekündigt hatten, nach beider Länder Auffassung kein taugliches Mittel seien; es wurde darauf hingewiesen, daß England das vor einigen Jahren schon ohne Erfolg getan hatte. Wir wiederum mußten unseren französischen Gesprächspartnern sagen, daß der Vor- schlag einer erheblichen Dämpfung des amerikanischen Binnenmarktes bei dem gerin- gen Anteil des Außenhandels in Amerika, die Gefahr von Rückschlägen haben würde, Arbeitslosigkeit usw. Unser Vorschlag war, eine Beschleunigung der Kennedy- Runde48, ein Vorschlag, der bei unseren französischen Gesprächspartnern wenig Ge- genliebe gefunden hat. Ich habe dann in meinen Gesprächen gesagt, nun, wir haben versucht, über diese schwierige Zeit hinweg – und man hat es uns oft nicht leicht gemacht – diese deutsch- französische Zusammenarbeit zu bewahren, den Willen zur Zusammenarbeit zu be- wahren, aber allmählich wird es Zeit, daß wir uns gemeinsame Überlegungen machen, wo nun das Hauptfeld dieser Zusammenarbeit liege. Nach meiner Meinung liege es eben im europäischen Bereich. Das ist von französischer Seite bereitwillig aufgegriffen worden; wir werden nun wohl in eine Periode gemeinsamer Überlegungen eintreten, in welchen wir feststellen müssen, ob wir, abgesehen von dieser westeuropäischen Pro- blematik, um die es beim Eintritt Großbritanniens und anderer geht, und abgesehen von dem Entschluß, die Gemeinschaft weiter zu entwickeln, im Rahmen unserer ost- politischen Konzeptionen einen gemeinsamen Entwurf finden könnten, der eine solche Zusammenarbeit auf weiteste Sicht erlaubt, wie sie damals vom General formuliert worden ist, als wir im Januar 1967 zum ersten Mal wieder zusammengekommen wa- ren.49 Hier geht es um sehr prinzipielle, sehr grundsätzliche Fragen, wie Sie alle wissen. Um Fragen, bei denen wir der Meinung sind, daß wir in der Sache gar nicht so weit ausein- ander sind mit den Franzosen. Denn auch wir wollen ein Europa, das auf eigenen Fü- ßen, so gut wie möglich auf eigenen Füßen stehen soll. Ein Europa, dem auch eine wichtige Rolle im Rahmen des weltpolitischen Gefüges zufallen kann, eine wichtige,

47 Am 12. und 13. Juli 1967 hielt sich der französische Staatspräsident de Gaulle mit Premierminister Pompidou und mehreren Ministern zu einem Arbeitsbesuch in Bonn auf. Hauptthemen der Bespre- chungen mit Bundeskanzler Kiesinger und den Mitgliedern der Bundesregierung waren die Ost- West-Beziehungen, die weitere Entwicklung Europas und die Folgen des Nahost-Konflikts. Vgl. AdG 1967, S. 13299 f.; AAPD 1967, Nr. 261–264. 48 Gremium aus GATT und EWG-Kommission, das den Vorschlag des amerikanischen Präsidenten John F. Kennedy aus dem Jahr 1961 zu einer allgemeinen Zollunion zwischen 1964 und 1967 verhan- delte. Die Kennedy-Runde legte im Juni 1967 eine Entschließung vor, wonach das Zollniveau der Mitgliedsländer um etwa 35 Prozent gesenkt wurde. Vgl. AdG 1964, S. 11209 f. u. 1967, S. 13272 f. 49 Im Rahmen der deutsch-französischen Konsultationen trafen Bundeskanzler Kiesinger und Bundes- außenminister Brandt am 13. und 14. Januar 1967 zu Gesprächen mit Staatspräsident Charles de Gaulle und französischen Regierungsmitgliedern zusammen. Vgl. AdG 1967, S. 12933–12937; AAPD 1967, Nr. 14–17.

Copyright © 2016 KGParl Berlin 15 Fraktionssitzung 5. 3. 1968 50. friedenssichernde Rolle. Aber ich wies meine französischen Partner darauf hin, daß man das sehr wohl im guten Einvernehmen und in Freundschaft mit den Vereinigten Staaten erreichen könne, denn diese hätten ja in allen ihren prinzipiellen Äußerungen zur europäischen Frage immer wieder betont, daß es das Beste auch für ihre Politik sei, wenn man einen europäischen Partner habe, der mit einer Stimme spräche. Dem wurde eigentlich nicht viel entgegengesetzt. Über einige Bemerkungen, die der Präsident mir in diesem Zusammenhang machte, möchte ich jetzt nichts sagen, weil so etwas, wenn es in die Öffentlichkeit kommt, leicht mißverstanden werden könnte. Ich wiederhole aber, das Ergebnis dieser Unterhaltungen ist durchaus dies: in der Sache selbst ist vielmehr Einigkeit zwischen uns da, als es in der Verschiedenheit der Sprache, die geführt wird, manchmal scheinen könnte. Ich sagte dem Präsidenten, wir müssen dabei ja davon ausgehen, daß das Interesse dar- an, daß die Sowjetunion keinen dominierenden Einfluß in Westeuropa gewinnt, ein gemeinsames Interesse zwischen Europa und den Vereinigten Staaten ist. Daß das ein dauernder Faktor ist, der notwendigerweise Amerika und Westeuropa aufeinander hinweist. Im großen und ganzen habe ich den Eindruck aus Paris mitgenommen, daß wir einander wieder einen Schritt näher gekommen sind und daß sich Möglichkeiten für eine Zusammenarbeit eröffnen, vor allem wenn es sich um den Entwurf einer euro- päischen Friedensordnung handelt. Und ich habe auch da meinen französischen Part- nern klar gesagt, alle anderen Fragen, auf die wir gelegentlich von unseren französi- schen Freunden angesprochen werden wie die Regelung der Frage unserer Beziehungen zu Polen, alle diese Fragen können nicht, von unserem Standpunkt aus, isoliert be- trachtet werden, sondern müssen ihren Platz im auszuarbeitenden Entwurf einer sol- chen europäischen Friedensordnung finden. Sie kennen aus der Presse Schwierigkeiten, die sich am 29. [Februar 1968] ergeben hat- ten.50 Die Dinge bleiben weiter auf der Tagesordnung. Sie sollen, ich glaube, am 9. [März 1968] weiter behandelt werden. Wir werden unsererseits versuchen, Gedanken, die noch aus anderen Vorschlägen eingepaßt werden können, in die gemeinsamen Überlegungen zu Paris aufzunehmen. Ich weiß, daß inzwischen eine Reihe von Staaten, die gerne dem Gemeinsamen Markt beitreten würde, durchaus froh wäre, wenn Großbritannien den Fuß in die Türe stellen würde, wenn Großbritannien sich mit einem solchen Verfahren als nächste Phase ein- verstanden erklären würde. Es ist nicht meine Sache, Großbritannien einen Rat zu ge- ben, aber ich kann beim besten Willen keinen anderen Weg sehen, auf dem man vor- wärts kommen kann. Es hat Nachrichten gegeben, man sei von französischer Seite wieder zurückgewichen, man wolle nicht ganz zu dem, was in Paris vereinbart worden sei, stehen. Ich habe kei- nen Grund, dies anzunehmen. Wenn natürlich Zeitungen geschrieben haben, was wir nie gesagt haben, Frankreich habe hier eine Schwenkung vollzogen, dann wird man sich in Paris dagegen wehren, das ist selbstverständlich. Man wird darauf hinweisen, man habe immer gesagt, daß man nichts dagegen habe, daß auf die Dauer Großbritannien beitreten könne. Die Zeit sei nur noch nicht reif. Und man habe ja auch schon frühzei- tig die Möglichkeit eines Arrangements angedeutet. Trotzdem bin ich der Meinung, daß wir in der Sache vorwärts gekommen sind und sich auch eine Möglichkeit bietet, das Gespräch mit Großbritannien nun eben auf diesem Gebiet weiter fortzuführen. Uns lag während dieses ganzen Jahres die schwere Bürde auf den Schultern, loyal zu bleiben, allen unseren Partnern gegenüber, denen, die eintreten wollten, wie Frankreich gegenüber; das haben wir strikt durchgehalten. Denen, die sich über Paris wirklich oder angeblich enttäuscht zeigen, kann ich nur sagen, sie wollen uns einen anderen Weg wei- sen, einen Weg, der nicht zu einer Krise oder zu einem Erlahmen der Arbeit der Ge- meinschaft führen kann. Ich war manches mal versucht, in den letzten Wochen und

50 Am 29. Februar 1968 führten die Außenminister der Mitgliedstaaten der Europäischen Gemein- schaften auf ihrer Ratstagung einen Meinungsaustausch über die Beitrittsanträge Großbritanniens, Irlands, Dänemarks und Norwegens und erörterten dabei auch verschiedene Vorschläge für Über- gangslösungen, ohne konkrete Beschlüsse in der Beitrittsfrage zu fassen. Die Außenminister vertag- ten sich bis zum 9. März 1968. Bis dahin sollte Bundesaußenminister Vorschläge über handelspolitische Arrangements mit Großbritannien und den anderen Beitrittskandidaten im Sinne der deutsch-französischen Erklärung vom Februar 1968 auszuarbeiten. Vgl. hierzu AdG 1968, S. 13755. Zum Abschluss der deutsch-französischen Regierungskonsultationen am 15./16. Februar war eine Erklärung herausgegeben worden, in der er es zur Erweiterung der Europäischen Gemein- schaften unter anderem hieß: »In Erwartung, daß die Erweiterung wird stattfinden können, sind die beiden Regierungen bereit, Vereinbarungen zur Entwicklung des Austausches industrieller und landwirtschaftlicher Erzeugnisse zwischen der Gemeinschaft und den Antragstellern ins Auge zu fas- sen.« Für den Wortlaut vgl. ebd., S. 13735.

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Monaten ein etwas kräftigeres Wort zu sagen, zumal sich auch der eine oder andere von draußen zu unserem Zensor aufgeworfen hat. Ich habe es um der Sache willen gelassen, aber hier, bei dieser Gelegenheit, glaube ich, werden Sie es verstehen, wenn ich sage, bis jetzt hat kein anderer irgend etwas erreicht, was man als einen nur kleinen Schritt nach vorne bezeichnen kann. Wir können zwar über das Ergebnis der Pariser Gespräche auch nicht in Jubel ausbrechen, ganz gewiß nicht; und ich habe es nicht getan, der Außenminister51 hat es nicht getan, aber wir können doch mit einiger Genugtuung feststellen, daß wir die Dinge in Bewegung ge- halten haben, daß wir auch, wenn die anderen nur wollen, einen Schritt vorwärts ge- kommen sind und wir hoffen können, daß sich daraus eben ein produktiver Prozeß entwickelt. Und jeder in Europa weiß es, und jeder gesteht es mir zu, wenn aus diesem Europa je etwas werden soll, und wenn wir aus diesem Jahrmarkt nur noch mühselig europäisch maskierter nationaler Interessen, als welches sich uns heute vielfach die Gemeinschaft darbietet, herauskommen sollen, dann steht doch ganz sicher eines fest, ohne daß Frankreich und Deutschland dabei eines Willens wären, das heißt, daß sie beieinander bleiben, wird eben aus diesem Europa nichts werden. Und deswegen stehe ich voll und ganz mit absoluter sicherer Überzeugung zu der mühseligen Politik, die wir in den letzten 15 Monaten bis zu diesem Gespräch in Paris und jetzt in Brüssel be- trieben haben. [4. Aussprache zum Bericht des Bundeskanzlers] Barzel: Wir danken für diesen Bericht und diese Arbeit an dieser mühseligen Politik, wie Sie es selbst bezeichnet haben. Ich möchte nur einen Satz hinzufügen. Der Bundes- kanzler hat selbst gesagt, es sei kein Anlaß zum Jubeln über diese Pariser Ergebnisse. Ein Teil der Presse, auch in Deutschland, hat geschrieben, nun habe der Bundeskanzler und die Bundesregierung den europäischen Schwarzen Peter übernommen. Das halte ich für eine törichte Rederei. Ich finde, daß die Regierung, geführt von unserem Bun- deskanzler, den Mut hat zu einer erwachsenen, eigenständigen deutschen Außenpolitik. Und das soll man einmal anerkennen. Majonica: Ich glaube, daß ich im Grundsatz dem zustimmen kann, was Sie, Herr Bun- deskanzler, hinsichtlich der Erweiterung der EWG gesagt haben. Aber ich sehe eine gewisse Diskrepanz zwischen der Schilderung Ihres Parisbesuches und der letzten Ratstagung in Brüssel. Sie haben in Ihrer Schilderung gesagt, daß Frankreich einer Freihandelszone zugestimmt habe. Wenn Pressemeldungen stimmen, hat der französi- sche Außenminister52 auf der letzten Ratstagung gesagt, daß Frankreich der Bildung einer Freihandelszone nicht zugestimmt habe, sondern daß man sich im wesentlichen auf handelspolitische Vereinbarungen festgelegt habe. Ich fürchte, daß die handelspoli- tischen Vereinbarungen schon deshalb nicht möglich sind, weil sie nicht konform mit dem GATT sind, wie Sie ja selbst ausgeführt haben. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie einmal dazu Stellung nehmen würden. Und eine zweite Frage habe ich, auch wieder nur aufgrund von Presseberichterstattung, nämlich die, es ist in der Presse berichtet worden, daß in der Schlußsitzung der franzö- sische Staatspräsident unter den Punkten, über die völlige Übereinstimmung zwischen Paris und Bonn herrsche, auch das Vietnam-Problem genannt hat, daß es hier eine ge- wisse Übereinstimmung zwischen Bonn und Paris gäbe. Und es hat Pressekommentare in der deutschen Presse dazu gegeben, daß das eine totale Schwenkung der Haltung der Bundesrepublik in der Vietnam-Frage sei. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie auch dazu Stellung nehmen könnten. Birrenbach: Mein erster Punkt knüpft an an die Erklärung meines Freundes Majonica. Die deutsche Delegation hat sich auf der Brüsseler Sitzung vom 29. [Februar] den Re- spekt aller Nationen der fünf, auch Frankreichs, erworben, denn die deutsche Delegati- on war ebenso fest wie gleichzeitig flexibel. Die Frage, die ich nun zu stellen habe, ist die, ob sich im Lichte derjenigen Erklärun- gen, die prominente Vertreter der französischen Regierung in der Zwischenzeit zwi- schen der Unterredung des Bundeskanzlers mit dem französischen Staatspräsidenten in Paris und der Konferenz vom 29. [Februar] abgegeben haben, die Haltung der deut- schen Regierung in der Sitzung am 9. [März] ändert? Die französische Regierung hat drei verschiedenen europäischen Mächten und gleichzeitig den Vereinigten Staaten Erklärungen abgegeben, daß die französische Regierung die sogenannten GATT-Kon- form-Maßnahmen etwa in dem Sinne verstünde, wie die Automobilzölle zwischen den Vereinigten Staaten und Kanada GATT-konform geworden seien aufgrund einer Ver-

51 Willy Brandt. 52 Maurice Couve de Murville.

Copyright © 2016 KGParl Berlin 17 Fraktionssitzung 5. 3. 1968 50. einbarung oder wie das Assoziationsschema zwischen der EWG und der Türkei.53 Auch eine solche Regelung läßt sich auf ein hochindustrialisiertes Land wie England und die drei übrigen Anwärter nicht anwenden. In seinem Presseinterview am vergan- genen Freitag hat Couve de Murville erklärt, daß von einer Freihandelszone überhaupt keine Rede sein könnte, daß darüber auch nicht gesprochen sei, man sich aber dennoch in voller Übereinstimmung mit der Bundesrepublik sehe.54 Das ist die erste Frage. Die zweite Frage ist die, wir wissen seit über zehn Jahren, daß das Konzept einer Frei- handelszone, das heißt einer präferenziellen Lösung nach Artikel 24 des GATT55, von den Vereinigten Staaten nur akzeptiert wird unter der Voraussetzung, daß dieses im europäischen Raum die Vorstufe zu einer politischen Lösung ist. Das haben die Ame- rikaner immer gesagt, und sie haben die EFTA nur toleriert unter der Perspektive, daß sie der Beginn oder die Schaffung einer Zwischenposition, wie die Amerikaner sagen, für die Verhandlungen der EFTA-Länder oder einiger EFTA-Länder mit der EWG ist. In der jetzigen Situation der Vereinigten Staaten mit einem Zahlungsbilanzdefizit, das die USA zwingt, in aller Kürze jetzt die 25-Prozent-Deckung des Banknotenumlaufs mit Gold aufzuheben. Im Repräsentantenhaus ist schon ein entsprechender Beschluß zustande gekommen. In einem Augenblick, wo die Amerikaner nur noch 1,4 Milliarden echte Devisen [...]56 innerhalb der Vereinigten Staaten dauernd im Wachsen sind und nur GATT-konforme Maßnahmen derart akzeptabel erscheinen wie die, die der Herr Bundeskanzler eben erwähnt hat. Deringer: Herr Bundeskanzler, wie Sie wissen, vertreten wohl die meisten, wenn nicht vielleicht sogar alle Kollegen, die aus dieser Fraktion dem Europäischen Parlament an- gehören, die Auffassung, daß, wenn man schon nicht beides zu gleicher Zeit haben kann, das weitere Vorandrängen der Integration den Vorrang vor einer geographischen Erweiterung haben sollte. Das scheint uns wichtiger, denn wir müssen zunächst einmal in der Gemeinschaft einen Punkt erreichen, wo kein Staat mehr heraus oder zurück kann, ohne daß es ihn selber trifft. Aus dieser Sicht begrüße ich natürlich sehr das Ergebnis von Paris und insbesondere den Punkt 1 der Erklärung.57 Ich möchte aber zwei konkrete Fragen anschließen: 1. Frage: Die Erklärung enthält natürlich nur eine Grundsatzfeststellung über das wei- tere Vorantreiben der Integration. Sind darüber hinaus konkrete Schritte verabredet worden, denn wir wissen, daß die Franzosen immer sehr groß in Grundsatzabreden sind, und wenn es ans Stechen geht, sind sie etwas zurückhaltend? 2. Frage: Sie haben mit Recht darauf hingewiesen, daß Europa im Augenblick mehr oder weniger nur noch die Sammelbezeichnung für eine Clearing-Stelle nationaler In- teressen ist. Das hat leider dazu geführt, daß auch die deutschen Beamten im Minister- rat und in den verschiedenen Ausschüssen mehr und mehr dazu übergehen, nicht nur legitime deutsche sachliche Interessen zu vertreten, sondern auch institutionell Lösun- gen zu wählen, die von dem supranationalen Verfahren wieder zum Verhandeln zwi- schen Regierungen übergehen. Haben Sie oder werden Sie durch entsprechende Wei- sungen dafür sorgen, daß wenigstens unsere Beamten weiterhin für ein Gemeinschafts- verfahren eintreten? Jahn (Braunschweig): Herr Bundeskanzler, Sie haben in Ihren Ausführungen Ihr Ge- spräch mit dem Botschafter der UdSSR erwähnt.58 In der Öffentlichkeit, besonders in Berlin, werden wir gefragt, was will die Sowjetunion auf die Dauer wirklich? Was ha- ben wir in der Bundesrepublik, in Berlin, für Berlin, besser gesagt, gegen Berlin zu er- warten? Wie war Ihr Eindruck, wenn Sie keine Einzelheiten darüber sagen können? Lenz (Bergstraße): Herr Bundeskanzler, ich entnehme aus der Ziffer 1 des deutsch- französischen Kommuniqués von Paris, daß die Absicht besteht, die Verschmelzung

53 Zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei bestand seit dem 25. Juni 1963 ein Assoziierungsabkommen. Für den Wortlaut des Abkommens vgl. EA 1963, D 379–382. 54 Vgl. ebd., 1968, Z 69. 55 Für den Wortlaut vgl. »Gesetz über das Protokoll von Torquay vom 21. April 1951 und den Beitritt der Bundesrepublik Deutschland zum Allgemeinen Zoll- und Handelsabkommen« vom 10. August 1951, BGBl. 1951 II S. 173. 56 Lücke in der Überlieferung aufgrund des Wechsels des Tonbandes. 57 Der Punkt 1 der zum Abschluss der deutsch-französischen Regierungskonsultationen am 15./16. Februar 1968 herausgegebenen Erklärung lautete: »Die beiden Regierungen bekräftigen ihren Willen, das von ihnen und ihren Partnern mit der Schaffung der Europäischen Gemeinschaften begonnene Werk fortzusetzen. Sie werden alle Anstrengungen unternehmen, den Gemeinsamen Markt zu ver- vollständigen und weiter zu entwickeln. Sie bestätigen ihre Absicht, die Verschmelzung der Gemein- schaften sich verwirklichen zu lassen.« Für den Wortlaut vgl. AdG 1968, S. 13735. 58 Zum Verlauf des Gesprächs Kiesingers mit Zarapkin vgl. AAPD 1968, Nr. 75.

Copyright © 2016 KGParl Berlin 18 Fraktionssitzung 5. 3. 1968 50. der drei Gemeinschaften sich verwirklichen zu lassen. Haben Sie den Eindruck, daß zwischen der deutschen Regierung und der französischen Regierung und zwischen der deutschen Regierung und großen Teilen dieses Hauses und dieser Fraktion tatsächlich Übereinstimmung über die Prinzipien und die Grundsätze und nachher auch die De- tails erreicht werden kann, nach der eine solche Verschmelzung der drei Gemeinschaf- ten vollzogen werden kann? Giulini: Herr Bundeskanzler, nur eine Frage: Bei Ihren vielen Besprechungen, sowohl mit den Franzosen wie mit den Engländern, fällt mir immer eines auf, ist eigentlich je- mals gefragt worden, ob die Engländer nicht nur über Europa, sondern auch in Europa denken? Denn nach meiner Geschichtskenntnis und meiner Kenntnis der Engländer, haben sie sich immer isoliert gesehen und nie europäisch gedacht. Hat man den Ein- druck, daß da ein neues Denken kommt, daß also wirklich die Engländer nicht nur über Europa, sondern auch in Europa denken gelernt haben? Martin: Herr Bundeskanzler, Sie haben zu der Frage der technologischen Zusammen- arbeit mit Frankreich nichts gesagt; ich möchte gern, daß das zum Thema wird. Und zwar deshalb, weil es ja wohl so gewesen ist, daß wir das Angebot der Engländer zur Zusammenarbeit auf diesem Gebiet, glaube ich, etwas zurückhaltend behandelt haben, obwohl das sehr fruchtbar sein könnte, denn die haben sehr viel zu bieten. Es sind also wohl politische Gründe gewesen, die dazu geführt haben. Das würde auf der anderen Seite natürlich fordern, daß dann mit den Franzosen etwas Effektives zustande kommt. Diese Frage möchte ich einmal erörtert wissen. Die zweite Frage ist, in der ausländischen Presse hat es geheißen, daß Sie in den Ver- handlungen relativ zurückhaltend gewesen seien, weil Sie Wert darauf legten, daß der Flankenschutz der Franzosen in er Ostpolitik erhalten bleibe. Dazu möchte ich auch gerne eine Antwort haben. Bundeskanzler Kiesinger: Herr Martin, ich brauche Sie – um das letztere gleich aufzu- greifen – wohl nicht darauf aufmerksam zu machen, daß in der Presse sehr viel steht. Ich kann Ihnen jetzt nicht sagen, wieviel Prozent quantitativ der unter vier Augen stattgefundenen Gespräche mit General de Gaulle von mir, wieviel von ihm bestritten wurden, wer in den Dingen mehr insistierte, er oder ich – das ist reiner Unsinn, was da in der Zeitung stand. Von einem Flankenschutz der französischen Politik für unsere Ostpolitik kann in dem Zusammenhang überhaupt nicht die Rede sein. Denn entweder entspricht eine solche Ostpolitik den Interessen Frankreichs, dann wird Frankreich diese Ostpolitik auch in seinem eigenen Interesse unterstützen, oder sie widerspricht den französischen Interessen, dann können wir anstellen, was wir wollen, dann wird Frankreich diese Ostpolitik nicht unterstützen. Das ist ja selbstverständlich. Das ist al- so völlig aus der Luft gegriffen. Es hat über Vietnam überhaupt kein Gespräch stattgefunden, auch in der Schlußsit- zung nicht. Wir haben also über Vietnam überhaupt nicht gesprochen, das heißt, wenn irgendwo in irgendeinem Zusammenhang das Wort Vietnam fiel, dann ist von unserer Seite – das ist ständig in allen Gesprächen so gewesen – nur gesagt worden, wir möch- ten, daß es dort bald zu einem Friedensschluß komme, das also, was wir immer sagten. Ich kann jetzt im Moment wirklich nicht hundertprozentig den Wortlaut der Erklä- rungen des Generals wiedergeben, aber es gab in seiner Zusammenfassung einige Punkte, die ich in meiner Erwiderung nicht richtig stellte, aber die Sache noch einmal genau interpretierte. Und wenn eine solche Erklärung darin gewesen wäre, dann hätte ich das bestimmt getan. Es ist ja klar, daß von sehr vielen Seiten versucht worden ist, hier ein bißchen Gift zu mischen. Ich habe sehr viele Artikel gelesen, ich will sie jetzt nicht im einzelnen erwäh- nen, nicht so sehr in der deutschen Presse als in einem Teil der ausländischen Presse. Was nun den Kernpunkt anlangt, diese Frage des Arrangements. Wir haben das ausge- macht, was in der Verlautbarung steht. Ich darf Ihre Aufmerksamkeit noch einmal dar- auf richten. Das steht drin: In Erwartung, daß die Erweiterung wird stattfinden können – also die geographische Erwartung –, sind die beiden Regierungen bereit, den Ab- schluß von Vereinbarungen der Gemeinschaft mit den Antragstellern zur Entwicklung des gegenseitigen Austausches industrieller und landwirtschaftlicher Produkte ins Auge zu fassen. Vereinbarungen dieser Art, die fortschreitende Verringerungen der Handels- hemmnisse für industrielle Erzeugnisse einschließen würden, wären geeignet, die vor- erwähnte Entwicklung, nämlich auf die Fähigkeit zum Eintritt hin, zu fördern, und würden in jeder Hinsicht zur Entwicklung der Beziehungen zwischen den europäi- schen Staaten beitragen.

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Dazu wurde von beiden Seiten sofort darauf hingewiesen, daß das eben konform mit dem GATT sein müsse. Es ist richtig, es wurde, Herr Birrenbach, von französischer Seite gesagt: Nun ja, also, was das ist und wie das ist, das muß man sehen. Der Präsi- dent selber sagte, da gibt es ja zwischen Amerika und Kanada auch Dinge, wo man die Augen zugedrückt hat. Aber von anderer französischer Seite, in dem größeren Kreis, wurde dann sehr viel sachgerechter zu der Frage argumentiert. Und wir waren uns zu Fünfen in dem Kreis durchaus klar, daß da so ein Endziel stehen müsse. Ohne dies könnte man das nicht machen. Nun, was die amerikanische Haltung anbelangt, so ist mir natürlich diese Schwierigkeit sofort klar geworden. Hier kann man nur sagen, daß man eben auch mit den Amerika- nern zusammen nach einer Lösung suchen muß. Die augenblicklichen Zahlungsbilanz- schwierigkeit ist da nicht so entscheidend, denn es dauert ja doch eine erhebliche Zeit, bis diese Dinge realisiert sind. Bis dahin werden ja wohl die Amerikaner über ihre Schwierigkeiten einigermaßen hinweggekommen sein. Aber wir wollen es selbstver- ständlich dabei nicht auch noch mit den Amerikanern verderben. Nur wenn man ir- gend etwas will, irgend jemand, der dagegen ist, meldet sich immer; wenn auf der einen Seite einer sich mit seinem Protest zurückzieht, dann kommt schon ein anderer. Europa muß hier eine Politik treiben, die seinen eigenen Interessen entspricht. Zu sei- nen eigenen Interessen gehört auch, daß man ein vernünftiges freundschaftliches Ver- hältnis mit den Vereinigten Staaten aufrechterhalten kann. Selbstverständlich, da haben Sie völlig Recht, da liegt doch eine erhebliche Schwierigkeit. Doch wir sind uns dieser Schwierigkeit bewußt. Nun ist es ja so gekommen – das ist der berühmte Schwarze Peter –, daß wir es über- nommen haben, für die nächste Sitzung einen Vorschlag auszuarbeiten. Wir haben uns in diese Rolle nicht gedrängt, aber ich finde, es steht uns durchaus wohl an, wenn wir von uns aus noch einmal versuchen würden, Schwung in diese europäische Sache zu bringen; soweit uns das möglich ist, habe ich das im Laufe des kommenden Jahres durchaus vor. Das ist auch einer der großen Gegenstände, die unser eigenes Volk sehr stark interessie- ren. Und hier insbesondere unsere junge Generation. Es sind wenig große Themen mehr übrig, denen sie bereit ist, mit dem ganzen jugendlichen Feuer zuzustimmen. Wir werden ganz sicher die Unterstützung auch unserer jungen Generation haben, wenn hier ohne jede sinnlose Rhetorik, aber mit konkreten Schritten und auf eine überzeu- gende Weise angekündigt wird, diese europäischen Dinge vorwärtszutreiben. Wie das mit der Fusion geht, das ist natürlich ein großes Feld, aber zunächst haben wir uns da- zu entschlossen. Welche Widrigkeiten, welche Schwierigkeiten sich hier dann zeigen werden, bleibt abzuwarten. Ich will jetzt die einzelnen Punkte, die wir ausarbeiten wollen für den 9. [März], nicht vortragen, weil sie noch nicht abschließend beraten worden sind zwischen dem Au- ßenminister und mir und im Kabinett. Das wollen wir vorher tun. Wir hoffen, daß wir mit den Vorschlägen einigermaßen durchkommen werden. Noch eine letzte Bemerkung zu diesem Komplex. Wenn man zu perfektionistisch vor- geht bei solchen Beratungen und alles bis aufs letzte Tüpfelchen schon heraushandeln will, gerade in solchen schwierigen Situationen, wie sie sich ergeben haben, würden wir wahrscheinlich ohne Ergebnis aus Paris zurückgekommen sein. Man muß manches eben der Entwicklung überlassen. Die Franzosen haben diese und jene Gedanken her- ein geworfen, zum Beispiel lineare und sektorale Zollsenkungen, und wir haben gesagt, lineare ziehen wir vor. Das sind alles Dinge, die eben jetzt weiter behandelt werden müssen. Daran lag uns ja. Es lag uns ja daran, daß das Gespräch nicht abgeschlossen ist, sondern weitergeht. Zu England: Was die Engländer denken, fühlen hinsichtlich Europa, darüber könnte man sehr viel sagen. Ich würde folgendes meinen, sicherlich ist es so, daß Großbritan- nien sehr lange gebraucht hat, um sich zu entschließen, sich an Europa zu binden. Daß es einer langen Entwicklung bedurfte, um die öffentliche Meinung in England dafür zu gewinnen. Eine kleine Gruppe von Politikern hat es immer gegeben, die diesen Beitritt Großbritanniens zu Europa ernsthaft meinten. Sicherlich ist es so, daß viele Menschen, auch viele Politiker drüben noch in den Kategorien eines Weltreiches denken, das seit dem Untergang des Römischen Reiches das größte war. Auf der anderen Seite ist sicher, wir dürfen Großbritannien nicht allein lassen. Es hat nun einmal seine Beziehungen zum Commonwealth immer mehr verringert. Es hat sich aus seinen letzten militärischen Positionen und Bastionen im Fernen Osten zurückge- zogen. Sein Wunsch, eine Art Brückenpfeilerstellung zwischen Europa und Amerika

Copyright © 2016 KGParl Berlin 20 Fraktionssitzung 5. 3. 1968 50. zu erlangen, hat sich nicht erfüllt. Deswegen meine ich, tun wir gut daran, wenn wir dabei bleiben, zu sagen: Wir wollen dich bei uns haben. Aber dann mußt du wirklich so zu uns kommen, daß du zu dem Ja sagst, was wir gewollt haben und was wir für die Zukunft wollen. Anders geht es nicht. Nun zu meinem Gespräch mit Botschafter Zarapkin. Das Gespräch verlief in einer durchaus ruhigen und höflich-freundlichen Atmosphäre. Ich habe dem Botschafter zum wievielten Male gesagt, daß wir unser gutes Recht, das gute Recht dieses unseres Volkes nicht preisgeben können, daß wir nicht kapitulieren können und daß ich wie- derhole, was ich immer gesagt habe, daß, solange Sie sich nicht mit ihrem und wir uns mit unserem Standpunkt durchsetzen, wir versuchen sollten, nach Gelände zu suchen, auf dem man allmählich sich aneinander gewöhnt. Ich habe die dauernden Beschuldi- gungen und Verleumdungen zurückgewiesen, die man gegen uns richtet, und ich habe die Antwort zu Berlin im einzelnen erläutert. Was die Sowjetunion wollte, war ja ganz klar. Sie hat die Forderung an uns gerichtet, wir sollten all das, was wir bisher oder das Meiste von dem, was wir bisher in Berlin getan haben, in Zukunft unterlassen. Also Zusammenkünfte wie diese der Fraktionen, der Ausschüsse des Bundestages. Wir kennen die einzelnen Punkte. Ich habe ihm klar- gemacht, daß das so völlig unmöglich wäre, daß wir andererseits aber keineswegs den Wunsch hätten, auf irgendwelche heimliche oder unheimliche Weise weiteres Gelände unter Verletzung des Status von Berlin zu gewinnen, denn wir wollten ebenso wenig, wie sie es in ihrem Papier59 gesagt haben, in dieser Frage zwischen unseren beiden Ländern weitere Belastungen. Das habe ich dem Botschafter erklärt. Er hat selbstverständlich – das war ja seine Pflicht – auf das Papier seiner Regierung hingewiesen. Aber es gab über diese Frage dann keinen weiteren Meinungsaustausch zwischen uns. Deswegen ist die Frage, was die Sowjetunion und die Machthaber im anderen Teil Deutschlands in dieser Frage vorhaben mögen, sehr schwer zu beantworten. Ich kann nun folgendes sagen: Es gab nach meiner Meinung für uns gar keine andere Wahl, als bei unserer bisherigen Berlin-Politik klar und fest zu bleiben. Welchen Ein- druck hätte es in der Welt, hätte es bei den Landsleuten drüben, hätte es vor allen Din- gen in dieser Stadt gemacht, wenn wir hier zurückgezuckt hätten. Aber ich habe mit allem Nachdruck – und ich wiederhole, mit allem Nachdruck, ich will jetzt nicht in Einzelheiten des Gesprächs eingehen – gesagt, daß wir weit davon entfernt sind, in Berlin provozieren zu wollen durch das, was wir tun. Ich habe natürlich die Gelegen- heit nicht vorbeigehen lassen, ohne darauf hinzuweisen, daß drüben, auf der anderen Seite der Mauer, sehr viel mehr Grund vorhanden wäre, darüber zu klagen, daß die Vereinbarungen über den Status von Berlin nicht eingehalten worden sind. Barzel: Sie sehen darin die Bestätigung, daß eine der außenpolitischen Sorgen, die wir vor ein paar Wochen hatten, vom Tisch ist. Und ich hoffe, wir werden in den anderen Fragen in geraumer Zeit ebenso hier vor Ihnen stehen können. [5. Lage der Landwirtschaft] Nun zu unserem Hauptpunkt der Tagesordnung. Wir haben den Kollegen Höcherl im Bundestag gehört.60 Deshalb würde ich jetzt nicht empfehlen, daß wir mit seinem Be- richt zur agrarischen Lage beginnen. Bauknecht: Herr Vorsitzender, wenn ich jetzt abergläubisch wäre, so müßte ich sagen, Herr Bundesminister Höcherl, irgendwie steht diese Debatte in der nächsten Woche deswegen unter einem unglücklichen Stern, weil es die 13. Debatte ist über den Grünen Bericht und am 13. stattfindet. Und wenn ich an die Meinungen unseres verehrten frü- heren Bundeskanzlers Adenauer anknüpfen wollte – aber das Wort ist zu abgegriffen –, dann müßte ich sagen, die Lage war noch nie so ernst wie jetzt. Aber ich glaube, daß es wirklich so ist. Es sind drei Erscheinungen, die in der Innenpo- litik im Augenblick das ganze Volk bewegen, das ist das Strukturproblem der Kohle, die Lage der Landwirtschaft und die Unzufriedenheit der jungen Generation, die sich

59 In Vertretung von Bundeskanzler Kiesinger empfing Bundesaußenminister Brandt am 6. Januar 1968 den Botschafter der Sowjetunion in der Bundesrepublik Deutschland, Semjon Zarapkin, zu einem Gespräch, zu dessen Beginn Zarapkin ein für den Bundeskanzler persönlich bestimmtes Schreiben der sowjetischen Regierung zur Berlin-Frage verlas. Vgl. hierzu AAPD 1968, Nr. 4; AdG 1968, S. 13678. 60 Am 16. Februar 1968 erläuterte Bundeslandwirtschaftsminister Höcherl den sogenannten Grünen Bericht 1968 – »Bericht der Bundesregierung über die Lage der Landwirtschaft gemäß Paragraph 4 des Landwirtschaftsgesetzes« (BT-Drucksache V/2540) – im Bundestag. Vgl. BT STEN. BER., 5. Wahlperiode, 157. Sitzung am 16. Februar 1968, S. 8105–8117.

Copyright © 2016 KGParl Berlin 21 Fraktionssitzung 5. 3. 1968 50. zunächst einmal, wie unser Freund Dr. Martin sagte, dadurch ausdrückt, daß studenti- sche Gruppen revoltieren. Ich will jetzt keine Parallele ziehen, aber einmal wurde ge- sagt, daß bei den Studenten – offenbar ist das wieder in der Wandlung – nur drei Pro- zent ganz Radikale wären, und die anderen würden nur schweigen. In der Landwirtschaft ist es nun leider so, daß die Unruhe nun weiteste Kreise ergriffen hat und daß es nicht etwa nur ein paar Aufwiegler sind oder ein paar Persönlichkeiten, die die Lage anheizen. Nach außen hin kann das Bild verwischt aussehen. Sicherlich gibt es solche Elemente, die die Gelegenheit benützen, politisches Kapital aus der Lage der Landwirtschaft zu schlagen. Aber ich darf sagen, daß die Demonstrationen, die in den letzten Wochen nahezu jeden Tag irgendwo in der Bundesrepublik stattfanden, noch geordnet waren, ich sage, noch kontrolliert waren, und im Gegensatz zu den Re- volten in Frankreich61 ein durchaus geordnetes Bild zeigten. In der Normandie haben französische Bauern Pflastersteine ausgegraben, die Straßen blockiert, die Eisenbahn blockiert – Sie wissen es alle. Das wurde bei uns vermieden, weil bislang noch eine bestimmte Hoffnung bestanden hat, daß die Bundesregierung einlenkt, daß sie ein Verständnis für die Lage der Landwirtschaft findet und gewillt ist, zu einem möglichst frühen Zeitpunkt das zu tun, wozu sie in der Lage ist. Ich habe vorhin darauf hingewiesen, daß bestimmte Elemente diese Lage ausnützen. Und das sind leider in erster Linie unsere früheren Koalitionspartner von den Freien Demokraten. Das muß ich hier sagen. Und die nützen die Dinge so weidlich aus und stellen die Lage so dar, daß eben nur allein diese CDU die Schuld trägt an allem. Die SPD, die hält sich zurück. Sie sagen, mein Gott, wer hat die Agrarpolitik früher immer gemacht? Wer hat denn immer den Bundesernährungsminister gestellt? Das war doch die CDU. Also, was wollt ihr von uns, von der SPD? Da klagt doch die an und geht denen nach, die ja diesen Zustand herbeigeführt haben. Das ist die unerquickliche Lage, und in diesem Zusammenhang muß ich Ihnen noch sagen, daß ein bestimmter Keim des Mißtrauens und der Unzufriedenheit jetzt in der Entwicklung begriffen ist mit den regionalen Landesbauernverbänden, deren Präsidenten in der CDU sind. Das kommt ganz unmißverständlich zum Ausdruck: Ihr habt hier versagt, ihr seid dermaßen un- terlegen, habt euch nicht entsprechend gerührt, wir wollen euch nicht mehr haben. Mir sind solche Dinge passiert, wie ich sie kaum in der Frühzeit des Nationalsozialis- mus erlebt habe. Ich war auf der politischen Bühne tätig zu Ende der zwanziger und Anfang der dreißiger Jahre. Dort hat man wenigstens noch einige gefunden, wenn man unter Anwesenheit der Sturmfahnen der Nazis gesprochen hat in den Versammlungen, die noch den Mut gehabt haben und haben sich auf unsere Seite gestellt bei den Diskus- sionsrednern. Das ist heute nicht mehr der Fall. Keiner steht auf in einer Versammlung und zollt dem Redner Beifall. Unsere Freunde, die schweigen, die verkriechen sich. Und nur die radikalen Elemente, die uns übelwollen, ergreifen das Wort in der Diskus- sion. Soweit ist es heute. Es ist soweit, daß die große Masse den Agrarpolitikern der CDU das Vertrauen unbedingt entziehen will. Die sagt: Mit euch haben wir Schiffbruch er- litten, wir wollen jetzt etwas anderes haben. Das gleiche ist auf verbandspolitischem Gebiet. Es ist die große Gefahr, daß, wenn nichts geschieht, wenn bestimmte Dinge nicht geändert werden, dann auch die Verbände auseinanderfallen und wir eines schö- nen Tages eine neue radikale berufsständische Organisation haben. Das wollte ich einmal in den Vordergrund stellen, und, Herr Bundesminister Höcherl, Sie werden mir Recht geben, das Mißtrauen ist auch dadurch ganz wesentlich entstan- den, daß man von Brüssel Töne hört, die praktisch die Leute in eine Existenzangst bringen. Was soll man denn sagen, wenn der maßgebende Mann für die Agrarpolitik in Brüssel62 kürzlich in seiner Heimat in Groningen in Holland davon gesprochen hat, er sehe die Dinge in der Entwicklung so, daß man auf dem Gebiete der tierischen Ver- edelungsproduktion einen Viehstall mit 400 Kühen und mit 5 fremden Arbeitskräften als Ideal der Zukunft ansehen müsse? Was soll man dazu sagen? Und diese Dinge, die stehen im Raum.

61 In Frankreich kam es seit dem Herbst 1967 zu sich ständig steigernden Studentenunruhen aus ähnli- chen Gründen wie in der Bundesrepublik Deutschland. Im Gegensatz zur Bundesrepublik und wohl auch infolge des Vorgehens der Polizei stellten sich in Frankreich immer weitere Kreise der Bevölke- rung auf die Seite der demonstrierenden Studenten. Es kam zu Streiks im Ausmaße eines General- streiks, zur Besetzung von Betrieben durch die Arbeiterschaft und zu immer neuen Demonstratio- nen, die wegen der Härte der polizeilichen Gegenmaßnahmen stellenweise bürgerkriegsähnlichen Charakter annahmen. Vgl. AdG 1968, S. 13926 f. 62 Gemeint ist Sicco Leendert Mansholt, Vizepräsident der EG-Kommission in Brüssel und Leiter der Abteilung für Agrarpolitik.

Copyright © 2016 KGParl Berlin 22 Fraktionssitzung 5. 3. 1968 50.

Wir können uns dagegen wehren, ob wir wollen oder nicht. Aber die sagen, dort in Brüssel wird die Politik gemacht, dort steuert die Politik hin; und wenn dann dieser Mann noch sagt – das hat er wörtlich gesagt auf dem Europäischen Bauerntag in Düs- seldorf Ende November63 –, er halte von einer solchen Gesellschaftsstruktur absolut nichts, die auch Nebenerwerbs- und Zuerwerbsbetriebe für angemessen hält. Das hat er mit aller Deutlichkeit ausgesprochen. Er strebt praktisch auf eine Landwirtschaft zu, die nur noch nach reinen industriellen Erzeugungsformen drängt. Wenn dann einmal nur große GmbHs oder KGs oder AGs Landwirtschaft in Deutschland betreiben, kann man von den 1,4 Millionen Bauern 1,3 Millionen sofort wegjagen, irgendwohin, um sie ihrem Schicksal zu überlassen. Denn das ist das Ideal, das diesem Mann vorschwebt. Daß diese Dinge, diese Erscheinungen, diese Aussagen zu einer Unruhe führen müssen, das kann man den Leuten wirklich nicht verargen. Aber es gibt noch ein anderes Moment, und ich glaube, gerade dieses Moment, das ich Ihnen jetzt ganz kurz schildern will, hat die Leute noch stärker beunruhigt. Die Bun- desregierung hat erklärt, man habe kein Geld, man müsse sparen, Einsparungen vor- nehmen auf allen Sektoren und zur gleichen Zeit. Ich möchte das wiederholen, was mein Kollege Häfele damals in der Fraktionssitzung gesagt hat; ab dem Zeitpunkt ging es los, wo die Gehälter und die Löhne erhöht wurden, der Bund vorangegangen ist, da war die Unruhe da.64 Man kann nicht verlangen, daß die Landwirtschaft Getreide produziert, dessen Preis um 10 bis 15 Prozent niedriger liegt als der bisher von 1950 bis 1960 geltende Preis. Das hat die Leute nun auf die Palme gebracht. Kein Wort gegen die Beamten. Ich will nur hier mal die Dinge schildern, wie sie sind. Man hat davon gesprochen, man denke fünf Jahre lang an eine vierprozentige Gehaltserhöhung. Ich habe den Schiller zufällig einmal am Fernsehen erlebt in Frankfurt, wo er gesagt hat, daß eine Lohnerhöhung von vier bis fünf Prozent zu Recht bestünde, weil damit die Konjunktur nun erhalten bleibt beziehungsweise eine leichte Steigerung erfährt. Zur gleichen Zeit erklärt man in Brüssel, man kann den Milchpreis nicht mehr halten, man kann den Rinderpreis nicht mehr halten, das kommt noch bei dieser Lage hinzu. Wem aus der Landwirtschaft können Sie denn verargen, daß er nun mißtrauisch wird? Es macht sich Mißtrauen breit, und das Vertrauen geht einfach verloren, ohne das wir eine Politik nicht mehr betreiben können. So ist die Lage. Wir dürfen die Dinge wirklich nicht leicht nehmen. Wir werden jetzt schon erleben, daß in Baden-Württemberg, wo man von einer Art Testwahl bei der Landtagswahl spricht, solche Dinge zum Ausdruck kommen. Die FDP soll sich nicht täuschen; die Wähler der FDP sind schon hinweg gerollt über diese Partei. Die gehen weiter nach rechts, die wählen NPD, so wahr ich hier rede. Sie glauben auch nicht mehr an die FDP, weil sich die Klugen sagen: Ja, wenn die FDP sich solche Chefideologen an das Bein bindet wie den Herrn Prof. Dahrendorf, dann haben wir bei dieser Partei nichts mehr zu suchen. Das haben mir einige Agrarpolitiker er- klärt, dann sind wir fehl am Platze. Wenn den Ton dort Logemann und Ertl angeben würden, dann würden wir bleiben. Aber die werden eines Tages nichts mehr zu melden haben. Die Rechtspartei FDP wird noch weiter nach links driften als die SPD, also kann uns nur noch die NPD helfen. Ich schildere Ihnen die Dinge, wie sie sind und wie ich sie draußen täglich erlebe bei den Versammlungen. Nun erhebt sich die Frage: Kann man etwas tun oder kann man nichts tun? Dankens- werterweise, Herr Vorsitzender, haben Sie gestern uns Gelegenheit gegeben, in einem kurzen Gespräch hier in diesem Hotel uns einmal über einige Grundsätze auszuspre- chen, und Sie haben uns gesagt, bitte, bereiten Sie ein Papier vor, das heute vor dieser Fraktion verabschiedet werden kann. Die gesamte Bauernschaft der ganzen Bundesre- publik schaut nur noch nach der CDU. Das große Mißtrauen, Herr Bundeskanzler, ich weiß, wie sehr Sie sich bemühen, aber das große Mißtrauen geht eben gegen die Große Koalition. Die sagen: Was kann da schon rauskommen! Wir sind nicht schuld, daß die Dinge so gekommen sind, aber das ist ein Tatbestand, der ist da. Diese Spruchbänder, die Sie überall sehen, die wenden sich gerade gegen die Große Koalition. Wir können die Dinge nicht ändern, aber wir müssen verlangen, daß unsere Partei und unsere Fraktion jetzt initiativ werden in einer Reihe von Fragen. Wir

63 Gemeint ist der 4. »EWG-Bauerntag«, der in der zweiten Novemberhälfte 1967 in Düsseldorf statt- fand. Auf dieser Veranstaltung wurden die Gegensätze in der Frage künftiger Agrarpolitik zwischen den EWG-Bauernverbänden und der EWG-Kommission, verkörpert durch den EWG-Vizepräsi- denten Mansholt, sichtbar. Vgl. hierzu KLUGE, S. 39. 64 Vgl. Protokoll der Fraktionssitzung vom 5. Dezember 1967, TOP 4.

Copyright © 2016 KGParl Berlin 23 Fraktionssitzung 5. 3. 1968 50. haben uns erlaubt, zwölf Punkte hier aufzuzeigen, wo wir nicht nur glauben, sondern wo wir davon überzeugt sind, daß hier etwas getan werden kann und der Erfolg auch nicht ausbleibt. Das sind Dinge, die hier zusammengestellt sind, die nicht aus der Luft gegriffen sind, sondern das sind wirklich reale Möglichkeiten. Nach dieser Grünen Debatte muß von dieser Fraktion eine Entschließung verabschie- det werden, in der etwas Habhaftes steht und wo die Leute wieder Vertrauen gewinnen können. Noch ist nicht alles verloren, wenn jetzt eine bestimmte Wende eintritt. Ich will jetzt nicht auf die einzelnen Punkte eingehen, ich möchte sie nur kurz angespro- chen haben. Es sind Dinge, die man hier auf der nationalen Ebene tun kann, das heißt, die im Bereich der Möglichkeiten liegen innerhalb der Bundesregierung. Und es sind Dinge, die man in Brüssel ändern muß. Wir haben immer große Bedenken gehabt gegen die Senkung der Getreidepreise. Nun müssen wir uns in unseren Befürchtungen leider bestätigt fühlen. Wir sind zu einem totalen Fiasko gekommen in der Frage der Prophetie des Herrn Mansholt, der gesagt hat: Herunter mit dem Getreidepreis! Was spielt denn der für eine Rolle in Europa? Ihr müßt veredeln! Und nun haben wir Preise bei den Veredelungsprodukten, die so nied- rig sind, wie sie es seit dem Jahre 1950 nicht mehr waren. Nun sagen die Leute, aha, uns hat man was vorgemacht. Uns hat man hinein gejagt in die Investitionen in unseren Betrieben. Wir haben Schweineställe gebaut, haben Hühnerställe gebaut und all diese Dinge. Und jetzt sitzen wir in unseren Schulden, aus denen wir nicht mehr heraus- kommen trotz der zinsverbilligten Gelder und der Investitionshilfe. Das ist eine Sache, die geändert werden muß. Und ein Wort an die Verbraucher: Was haben sie verspürt bei den Getreideerzeugnis- sen durch die Senkung des Getreidepreises? Nichts haben sie verspürt. Alles hat überall dieselben Preise behalten, im Gegenteil, zum Teil Erhöhungen. Also, man kann mit Fug und Recht verlangen, daß die alten deutschen Getreidepreise wiederhergestellt werden. Das war bisher nicht möglich; so ungeschickt sind wir ja auch nicht, daß wir das nicht einsehen. Für die anderen, die Franzosen, Holländer, Belgier bedeutete es eine Preiserhöhung, aber bei uns war es Preisabstieg. Wenn jetzt dann neue Lohnerhöhun- gen kommen, so wird das für uns bedeuten, daß unsere Produktionskosten erneuten Belastungen begegnen. Das ist entscheidend und dem können wir nur begegnen, indem diese Preise geändert werden. Dann die Frage des Milchpreises: Darüber will ich nicht reden. Der eine oder andere Kollege wird darüber noch sprechen. Aber wenn schon alle Grünen Berichte, auch der 13. Bericht, der letzte, ausweisen, daß die Grünlandbetriebe, die Futterbaubetriebe mit Abstand die letzten sind, dann sollte man doch glauben, daß man einer Herabsetzung dieses Preises widersprechen müßte. Wir haben ein Überschußproblem, aber, Herr Vorsitzender, ich bin Ihnen sehr dank- bar, daß Sie das heute früh schon andeuteten: Eine gewisse junge Welt, die sagt, ja seid denn ihr noch Christen, seid ihr denn verrückt? Wir ersaufen in den Überschüssen und die andern verhungern. Einer der Punkte spricht das an, wo wir die Möglichkeiten bes- ser ausnutzen, etwa Milchprodukte über das Welternährungsprogramm oder die Ent- wicklungshilfe in die Welt zu schicken. Ich will jetzt nicht alles aufzeigen. Aber in der Frage der Struktur sollten wir doch auch etwas auf unsere Partner schauen, einen glücklicheren, besseren und leichteren Über- gang, was die Betriebsaufgabe anlangt, haben doch die Holländer, Franzosen und neu- erdings – vor zwei Monaten – auch die Engländer in beispielhafter Weise geschaffen dadurch, daß sie ein entsprechendes Altersgeld eingeführt haben oder eine Staatsrente. Auf diesem Sektor können wir etwas tun, ohne daß die Belastungen zu groß sind. Mei- ne Freunde werden nachher darüber noch reden. Dann wurde von mir vorhin schon die Frage der bäuerlichen Veredelungsproduktion angesprochen. Ja, was soll denn das heißen? Wenn man hier in Berlin Hühnerhochhäu- ser macht, die zur Zeit 130 000 Hennen beherbergen. Mit Geldern des Bundes will man das jetzt in der Kapazität verdoppeln. Es weiß doch jeder, selbst der, der von diesen Dingen nichts versteht, daß, wenn hier eine Krise entsteht, man ja die 3,2fache Menge mit dem Flugzeug hereinbringen muß, anstatt daß man Geflügelfleisch und Eier her- einbringt. Ich habe gestern im Arbeitskreis II gesagt, das Gerücht hat sich drüben im Westen festgesetzt, daß man hier in Berlin den Plan hat, eine große Schweinemastanlage auf industrieller Grundlage auch noch zu errichten. Das wäre nicht nur eine völlige Fehlinvestition, sondern wieder ein Schlag gegen die bäuerlichen Interessen. Hier muß die Bundesregierung, Herr Minister Höcherl, initiativ werden in Brüssel. Das muß sie tun, daß diese Dinge abgewendet werden.

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Dann sind Bestrebungen im Gange, die Steuergesetzgebung contra Landwirtschaft zu ändern. Ich muß mich wirklich fragen, wenn hier kein Einkommen vorhanden ist, wie kann man denn da nun Gedanken erwägen, die auf diesem Gebiete eine Änderung her- beiführen wollen? Das ist völlig undenkbar. Ich werde mich jetzt darauf beschränken, weil ein Teil meiner Freunde auch noch sprechen will. Aber ich möchte sagen, Herr Bundeskanzler und Herr Vorsitzender, es ist jetzt allerhöchste Zeit, und die draußen erwarten etwas von uns. Und wenn wir einen guten Willen haben, dann können wir das auch tun. Barzel: Wir sind dabei, einen Beschluß zu formulieren, und ich hoffe, daß wir ihn nachmittags auch in einer Anzahl von Exemplaren werden vorlegen können. Bauer (Wasserburg): Ich kann es mir nun wohl ersparen, zu der Lage im allgemeinen von mir aus etwas zu sagen, aber mein Auftrag ist es im Augenblick, die konkreten Dinge zu formulieren, die wir in einer Entschließung der Fraktion vorlegen wollen mit der Bitte, daß Sie dieser Entschließung zustimmen wollen. Selbstverständlich haben wir den Versuch unternommen, einen entsprechenden An- knüpfungspunkt für diese umfassende Agrardebatte der Fraktion heute in Berlin über- haupt zu finden, und wir haben darauf hingewiesen in diesem Zusammenhang, daß natürlich eine ganze Reihe von Gründen vorhanden ist. Da ist einmal die Einbrin- gungsrede zum Grünen Bericht, da ist zum andern die in jüngster Zeit und bis in die letzten Tage hinein fortgehenden und, wie ich meine, recht ungeschickten Äußerungen von Kommissaren und besonders eines Kommissars ins Brüssel, die Existenzangst ver- ursachen, die allen, nicht nur den im ländlichen Raum Arbeitenden, sondern allen ent- gegen schlägt, wenn Sie sich mit Landwirten größerer, kleinerer oder mittlerer Art zu- sammensetzen. Das ist ein weiterer Grund, und das ist eine Bitte an den Herrn Bun- deskanzler, von der ich sicher bin, daß sie sowieso schon vorgesehen ist, daß der Herr Bundeskanzler bei dem Bericht über die Lage der Nation auch diesen Teil der Bevölke- rung, die Landwirtschaft, in gebührender und ausreichender Weise und, wie ich auch sicher bin, in der richtigen Weise ansprechen wird. Und außerdem steht unser Minister und unsere Regierung in den nächsten Wochen vor den, wie ich meine, noch entscheidenderen Fragen in der EWG, nämlich so schmerzlich die Getreidepreisregelung damals gewesen sein mag, was jetzt zur Debatte steht, näm- lich die Ordnung und die Regelung der Rindfleischmärkte und des Milchpreises und des Milchmarktes, geht – und das sage ich jedem, auch und gerade den aus einem rein großstädtischen Wahlkreis kommenden Abgeordneten – an die Substanz unserer Landwirtschaft, und ich glaube, ich darf auch namens meiner Freunde von der CSU- Landesgruppe hier besonders unterstreichen und betonen, Einkommenseinbußen in diesem Bereich, was wir mit Recht so etwas wie den Lohn und das Gehalt des kleinen und des mittleren Betriebes bezeichnen, und zwar deshalb, weil es ja allmonatlich zur Verfügung steht, sind für die CSU – und ich hoffe, daß am Ende dieser Debatte auch ein Beschluß der Gesamtfraktion steht – unannehmbar geworden. Aus diesen Gründen haben wir nun eine Reihe von Dingen angesprochen, die Sie viel- leicht, wenn Sie landwirtschaftlich besonders versiert sind, als selbstverständlich emp- finden, trotzdem hatten wir es für notwendig gehalten, die Dinge aufzuzählen. Wir ha- ben natürlich auch den Mut gehabt, in dieser Entschließung anzusprechen, was die Bundesregierung im Rahmen ihrer Politik, soweit sie national zuständig ist, an Erfol- gen aufzuweisen hat, und auch, soweit sie auf der Brüsseler Ebene Erfolge zu verzeich- nen hatte, diese aufzuzählen. Ich darf nur national die sehr günstige und glückliche Entscheidung um die Nettoumsatzsteuer beim Getreidepreis erwähnen, die uns im- merhin so auf die kalte Tour einen Teil des verlorengegangenen Preisgeländes wieder zugebracht hat. Ich möchte mich ausdrücklich für diesen Entschluß, der auch draußen Anerkennung gefunden hat, bei den Mitgliedern der Bundesregierung von der CDU/CSU und beim Herrn Bundeskanzler sehr herzlich bedanken. Natürlich bringen wir dies hier zum Ausdruck, weil wir wissen, wie schwierig es ist, auch nur die kleinste preisliche Hilfe für unsere Landwirtschaft durchzusetzen. Ich er- innere nur an das Trauerspiel der Erhöhung des Trinkmilchpreises um die 2 Pfennige, wo uns unsere Minister sagen mußten, und auch der Herr Bundeskanzler erklären mußte, daß es wohl drei oder vier Anläufe bedurfte, bis der Herr Bundeskanzler im günstigsten Augenblick sein Kabinett zur Abstimmung bringen konnte, um diese, wenn auch nur kleine und selbstverständliche Hilfe für die Landwirtschaft hinzubrin- gen. Diese Dinge würdigen wir selbstverständlich. Wir sagen, die CDU/CSU fordert deshalb von der Bundesregierung:

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1. Die sofortige Auszahlung der Getreidepreisausgleichszahlungen. Ich erläutere es nur für die Kollegen, die möglicherweise sich darunter nichts vorstellen können: Sie kennen ja alle die 560 Millionen. Wir haben seit Jahr und Tag davon gere- det, daß, wenn diese Dinge nunmehr eingetreten sind, also der verminderte Getreide- preis – und den hat unsere Landwirtschaft bei der Ernte des Vorjahres nunmehr zu spüren bekommen –, man rasch und schnell und ohne weitere Verzögerung versuchen soll, diese Gelder herauszubringen. Ich weiß vom Minister, daß er von sich aus alles getan hat und die Voraussetzungen dafür geschaffen hat, daß wahrscheinlich wir alle ein bißchen Druck, insbesondere bei unseren Landesregierungen werden ausüben müs- sen, wenn es zu einer raschen, schnellen und unbürokratischen Auszahlung dieser Mittel kommen soll. Hier kann man auch sagen, daß diese Hilfe doppelt hilft, wenn sie jetzt rasch und schnell kommt, denn es würde sicherlich auch dazu beitragen, ein biß- chen wieder die Glaubwürdigkeit dessen, was wir in der Vergangenheit im Zusammen- hang mit der Getreidepreissenkung unseren Landwirten im Ausgleich versprochen ha- ben, wiederherzustellen. 2. bitten wir die Bundesregierung um die rascheste Erstattung der Dieselölrückvergü- tung für 1967. Sie wissen, daß wir im Zuge der Umstellung dieser Dieselölrückvergü- tung momentan in der sogenannten kaiserlosen, der schrecklichen Zeit leben in der Landwirtschaft. Im Moment gibt es keine Rückerstattung, und der Plan unseres Mini- sters war der, daß in dieser Zeit, wo wir für 1968 keine Rückerstattung bekommen, dann wenigstens die sowieso schon geminderten Ansprüche des Jahres 1967 zur Aus- zahlung kommen, so daß auch diese Zeit etwas günstiger überbrückbar wird. Auch hier erklärt der Herr Minister, daß er die Anweisung gegeben hat, daß aber leider wieder einmal die Bundesländer, und zwar ganz bestimmte Bundesländer, größte Schwierig- keiten bei der Umstellung der Auszahlung machen. Darum auch hier der Auftrag für uns, meine Kollegen, dafür zu sorgen – ich nehme an, der Herr Bundesminister wird das selbst dann noch entsprechend erläutern –, daß die Geldspritze nicht irgendwo beim Land zu lange versackt, sondern daß sie weitergeht, und die Auszahlung dann auch bei dem einzelnen Landwirt rasch erfolgt. 3. haben wir dann gesagt, bei der Verabschiedung des Haushaltsgesetzes 1968 ist die volle Ausschöpfung der angesetzten Haushaltsmittel im Etat des Bundesernährungs- ministeriums durch gegenseitige Deckungsfähigkeit und Übertragbarkeit der Titel 10.02 und 10.03 sicherzustellen. Ich möchte nicht noch einmal alte Wunden aufreißen, aber wer die Verhältnisse kennt und weiß, wie aufgrund der bisherigen Regelung all- jährlich von sogenannten Soll-Ansätzen in recht beachtlicher Höhe immer wieder Be- träge verfallen sind, und zwar deshalb verfallen sind, weil es sich im Bereich der Wirt- schaftsförderung innerhalb der Landwirtschaft oft um vorher nicht genau zu bestim- mende Ansätze bei den einzelnen Titeln handelt. Ich darf nur darauf aufmerksam machen, wie schwierig es für den Minister und seine Haushaltsabteilung ist, etwa bei der Überleitung nationaler Marktregelungen in die EWG nunmehr die richtigen Ansätze zu finden, wo keine Beispiele, keine Erfahrungen vorliegen, und deshalb sollten wir dem Herrn Bundeskanzler und dem Bundesfinanz- minister danken, die in einem Vorgespräch, das schon vor Wochen stattgefunden hat, grundsätzlich erklärt haben, daß sie uns hier helfen wollen, daß der Bundesminister wirklich sagen kann, die Milliarden, die dieser Landwirtschaft so oft ungerechterweise im Vergleich zu anderen Wirtschaftsbereichen vorgehalten werden, können voll ausge- schöpft werden. Deshalb fordern wir hier die Bundesregierung auf, das so zu beschließen bei der Bera- tung des Haushaltsgesetzes. Und ich kann Ihnen also sagen, daß wir in dieser Frage die Unterstützung sowohl des Herrn Bundeskanzlers als auch des Bundesfinanzministers haben. Was wir auch brauchen, damit wir gemeinsam die Bürokratie bewältigen und überwältigen können, denn ich bin noch nicht so sicher, daß selbst, wenn der Bundes- kanzler sein politisches Jawort gibt, es nicht noch irgendwo eine Maus gibt in irgendei- nem Ministerium, die versucht, im letzten Augenblick noch in das Getriebe da hinein- zuschlüpfen. 4. Punkt, sozialpolitischer Bereich. Ich weiß, für manche schmeckt das jetzt nicht so gut, was ich da sage, und mir selbst auch nicht, denn ich bin Agrarpolitiker. Und in der Agrarpolitik betreibe ich immer viel lieber eine Politik, die in die Zukunft gerichtet ist, weil ich der Meinung bin, daß diese Landwirtschaft auch im Jahre 2000 noch bestehen und existieren wird, daß es noch Aufgaben für sie gibt, daß die Menschheit nicht auf sie verzichten kann, daß also dies durchaus nicht so ist, als sei hier ein sterbender Berufs- stand. Und wenn man deshalb Maßnahmen zur Minderung der Zahl der Bevölkerung in der Landwirtschaft, Stillegungsprämien, und wie diese negativen Formulierungen

Copyright © 2016 KGParl Berlin 26 Fraktionssitzung 5. 3. 1968 50. alle heißen, zu sehr in den Vordergrund stellt, entsteht immer der ungeschickte Ein- druck, als ob die CDU/CSU drauf und dran wäre, im besten Fall noch sozusagen die Bestattungskosten für diesen Zweig unserer Wirtschaft zu erledigen, aber nicht daran glaubt, daß sie überlebt. Wir sollten der Landwirtschaft klarmachen, daß sie Überlebenschancen hat, daß wir ihre Chance sehen, daß wir ihr helfen wollen, sie auch zu bewahren, und daß wir sie auch morgen und übermorgen noch in dem Bestandteil unserer Wirtschaft haben wol- len. Deswegen schmeckt es mir nicht so sehr, wenn wir von den sozialpolitischen Dingen reden. Aber seien Sie sich doch darüber im klaren, Zweidrittel der 1,5 oder 1,6 Millio- nen Betriebe, die wir heute nach der Statistik von 0,5 Hektar bis 100 und mehr Hektar noch haben, sind, so behaupte ich, schon heute im Bereich des Zu- und Nebenerwerbs; und es muß aufhören, daß der Begriff des Zu- und Nebenerwerbs so ein bißchen den Geruch des Armen, Notleidenden, Schlechten bekommt, sondern es ist ein ganz nor- maler Zustand. Wofür wir zu sorgen haben, ist lediglich, daß dieser Teil der Landwirt- schaft, der Teil der Zu- und Nebenerwerbsbetriebe, weiß, daß wir ihnen im Rahmen unserer Politik einen festen Platz einzuräumen bereit sind und daß wir unsere politi- schen Maßnahmen darauf einstellen, daß für sie Lebensraum übrigbleibt. Zu- und Nebenerwerbslandwirt zu sein, heißt nicht, Bauer zweiter oder dritter Klasse zu sein. Im Gegenteil, wahrscheinlich müssen wir eines Tages sagen: Diese Leute, die einen Teil ihres Erwerbs aus der nichtlandwirtschaftlichen Tätigkeit gesichert haben, werden vielleicht eines Tages zu den Betrieben gehören, über die wir uns am allerwe- nigsten Sorge zu machen haben. Mir machen die sogenannten Vollerwerbsbetriebe die wesentlicheren und größeren Sorgen, wobei hier ein ganz anderes Thema auftaucht, das ist die Frage, ob das Modell des Familienbetriebes für den sogenannten Vollerwerbs- betrieb auch noch in unserer dynamischen Wirtschaft die letzte Aussagekraft wirklich besitzt. Damit ich hier ja nicht mißverstanden werde und in Mißkredit gerate. Für mich steht auch im Bereich der Agrarpolitik die bäuerliche Familie im Mittelpunkt unseres Den- kens und Wirkens. Das schließt aber doch nicht aus, daß wir uns neue Gedanken dar- über machen, ob es denn unbedingt schon nicht mehr ins Leitbild unserer Agrarpolitik für die Vollerwerbsbetriebe paßt, wenn es uns gelingen sollte, auch dieser Landwirt- schaft Arbeitskräfte zuzuführen, die einmal dafür sorgen, daß auch größere Betriebs- einheiten in der Zukunft durchaus im bäuerlichen Bereich noch zu bewirtschaften sind und – was mein Herzenswunsch und sicherlich auch der Ihre ist – die Bäuerin eines Tages auf dem Hof wieder zu dem wird, was die Frau in den übrigen 50 Millionen Menschen unseres Volkes als selbstverständlich für sich in Anspruch nimmt, nämlich in erster Linie Frau, Mutter und Sorgerin um die Familie sein zu können. Wir haben mit unserer Politik leider einige Sünden in diesem Bereich, die wir zu bekennen haben. Aber lassen Sie mich zum sozialpolitischen Bereich einiges sagen. Wenn Sie die Alter- spyramide der Betriebsinhaber, die der Minister in seinem Grünen Bericht veröffent- licht hat, ansehen, werden Sie feststellen, daß die einmal von unserem leider allzu früh verunglückten Kollegen Klausner initiierte und von der Fraktion gegen den Widerstand der anderen Fraktionen und gegen die Diffamierung draußen in den Versammlungen beschlossene Altershilfe im Strukturwandel und in der Veränderung der Alterspyrami- de bei den aktiven Betriebswirten zunächst eine hervorragende Wirkung hatte.65 Nur sind wir heute der Auffassung, daß nicht nur bei den Unselbständigen, sondern daß offensichtlich auch im Bereich der Selbständigen – ich erinnere an die Anwaltsversor- gungswünsche, ich erinnere an die Öffnung der Allgemeinen Versicherungskassen für die über den Unselbständigenbereich hinausgehenden anderen selbständigen Gruppen – Unterstützungsbedarf besteht. Von daher hat auch dieses Altersgeld für die Landwirtschaft einen etwas anderen Cha- rakter und eine etwas andere Bedeutung bekommen. Wir wissen, daß auch bei der be- sten Agrarpolitik ganz sicher unter der Voraussetzung, daß die übrige Wirtschaft ihre Anziehungskraft behält, weitere Betriebe werden ausscheiden müssen. Aus diesem Grunde fordern wir die Aufstockung der Altershilfe von 150 DM auf etwa 200 DM. Ich bin der Meinung, daß wir ein vorzeitiges und erhöhtes Altersgeld für ausscheidende Betriebsleiter – wobei man das noch klar definieren muß – fordern. Und für beide

65 Auf der Grundlage des Antrags der Fraktion der CDU/CSU vom 19. Januar 1957 betreffend ein Ge- setz über die Altershilfe der Landwirte (BT-Drucksache II/3118) wurde das »Gesetz über eine Al- tershilfe für Landwirte« vom 27. Juli 1957 (BGBl. 1957 I S. 1063) verabschiedet.

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Gruppen eine Sicherung im Krankheitsfall bei zumutbarer Selbstbeteiligung der Versi- cherten. Soweit zu dem Sozialpolitischen. Es geht um eine Entschließung, die in erster Linie ei- ne politische Aussagekraft haben soll, und nicht um einen schon perfekten Gesetzes- vorschlag, der bis ins Detail nun schon alle Einzelheiten erläutert. 5. Punkt: Wir fordern schließlich für die CDU/CSU-Fraktion einen Beschluß des Ka- binetts, der im Ministerrat in Brüssel den Erzeugermilchpreis von 41,2 Pfennigen in Verbindung mit einer funktionierenden Milchmarktordnung sichert. Das ist der Punkt, wo ich sagte, daß es eigentlich für die CDU/CSU kein Zurück mehr geben kann. Beim Getreidepreis – na gut, hier ist aus politischen Überlegungen uns ein Opfer auferlegt worden. Beim Milchpreis und bei den Einnahmen auf diesem Gebiet stehen wir mit dem Rücken gegen die Wand. Denn hier geht es in Wirklichkeit um das Herzstück der meisten bäuerlichen Betriebe in ihrem Einkommensbereich. Deshalb haben wir gesagt, Preis- und Einkommenseinbußen in diesem Bereich müssen verhindert werden. 6. Einen entschiedenen deutschen Beitrag oder Vorschlag oder feste Haltung zur Rin- dermarktordnung und in der Zielsetzung zu einem Rinderorientierungspreis von 2,80 DM, damit die Existenz der landwirtschaftlichen Betriebe insbesondere in den Grün- landgebieten gesichert ist, denn das ist die andere Säule, neben dem Milchpreis hier die Rinderpreise. In weiten Bereichen unserer Bundesrepublik entfallen die Einnahmen der Landwirtschaft bis zu 80 Prozent allein auf diese beiden Bereiche. Natürlich ist je nach Boden, Lage und Klima das unterschiedlich. Aber schauen Sie sich wiederum den Grü- nen Bericht an, dann werden Sie feststellen, daß in den Futterbaubetrieben und in Grünlandbetrieben die eigentlichen Problemgebiete unserer Landwirtschaft liegen. Und genau in diesen Bereichen spielen Milchpreis und Rinderpreis eine ganz besondere Rolle. Deshalb diese Aufforderung. 7. Die Verbesserung der Trinkmilchqualität durch Anreicherung auf 3,5 Prozent Fett und obligatorische Homogenisierung. Diese Maßnahme würde gleichzeitig ein ent- scheidender Beitrag zur Minderung der Butterüberschüsse in der EWG sein. Und wenn die Frau Strobel die Sorge hat, daß mit der Auffettung oder Anreicherung auf 3,5 Pro- zent Fett die Gesundheit unserer Mitbürger in Gefahr gerät, bin ich der Auffassung, und das kann ruhig über diesen Saal hinausdringen, es gäbe entscheidendere und wich- tigere Kapitel für die deutsche Gesundheitsministerin! 8. Punkt: Bevor die Bundesregierung oder die EWG-Kommission Maßnahmen erwägt, die Milcherzeugung an den Bedarf anzupassen – Kontingentierung und so – verlangen wir a) die volle Ausschöpfung des Binnenmarkts durch verstärkte Werbung und Fortset- zung der humanitären Maßnahmen, b) Werbung für deutsche Milchspezialitäten in der EWG und in Drittländern, und c) überschüssige, hochwertige Nahrungsgüter in stärkerem Ausmaß als bisher im Rah- men des Welternährungsprogramms und der deutschen Entwicklungshilfe einzusetzen. Dies gilt insbesondere für die eiweißhaltigen Milchprodukte. Sie wissen, ganz neue Wortschöpfungen und Formulierungen geistern da in den Köp- fen herum, die Sache der Kontingentierung oder auch mit der sogenannten Kuhstille- gungsprämie. Unsere kleinen Bäuerlein sehen also schon heimlich den Höcherl mit ei- nem langen Schlachtermesser durch die rückwärtige Saaltür kommen und mit einer Keule diese Kühe totschlagen, und vor der Tür steht dann der Bundespostminister und liefert den Scheck von 1000 DM für die totgeschlagene Kuh ab. So geistert es in den Köpfen herum. Wir sind der Meinung, bevor man an die Kontingentierung geht, gibt es eine ganze Menge vernünftige, durchaus vor der Öffentlichkeit zu vertretende wirtschaftspoliti- sche Maßnahmen, die wir ausgeschöpft sehen wollen, ehe man sich derartige Gedanken macht. Hier möchte ich ein Wort besonders an Sie, Herr Bundeskanzler, richten. In der deutschen Entwicklungshilfepolitik gibt es ein unterentwickeltes Gebiet. Das ist der Beitrag unserer eigenen Entwicklungshilfe zur Frage der Minderung und Linderung des Hungers in der Welt auf der einen Seite und einer sinnvollen bescheidenen Koppe- lung technischer, menschlicher, materieller Hilfen mit einer entsprechenden Erstaus- stattung an den notwendigsten Lebensmitteln für diese Projekte und für diese Völker. Ich weiß, daß in der Zeit, in der Sie Bundeskanzler sind, ein kleiner, bescheidener Wandel eingetreten ist. Ich weiß aber auch, daß es nach wie vor unter unseren Diplo- maten ein ganz besonderer Usus und üblich ist, zu sagen, es sei geradezu eine tödliche Beleidigung für ein Entwicklungsland, wenn man ihm neben der maschinellen Aus- stattung etwa sagen würde: Wie wäre es, wenn du für das erste oder halbe oder drei-

Copyright © 2016 KGParl Berlin 28 Fraktionssitzung 5. 3. 1968 50. viertel Jahr auch den Menschen etwas zu essen gäbest, damit sie überhaupt in der Lage sind, an diese Maschinen hinzutreten und vier, sechs, acht oder zehn Stunden – und dort geht es noch nicht so mit der Arbeitszeit – und auch mehr wirklich durchzuhalten und zu arbeiten. Hier ist also ganz zweifellos noch ein Gebiet. Und ich meine, die CDU/CSU-Bun- destagsfraktion oder die Christlichen Demokraten und die Christlich Soziale Union ist hier, meine ich, ganz besonders aufgerufen. Und ich bin unserem Ernährungsminister wirklich dankbar, daß es für ihn hier Prioritäten gibt. Ich weiß, daß es heute in Europa auch schon Gedanken gibt, Überschüsse in verstärktem Ausmaß immer wieder der Vernichtung zuzuführen. Ich bin der Meinung, daß es Menschen in den sechs Ländern der EWG noch genügend gibt, die noch nicht in der Lage sind, sich unbeschränkt hochwertige Nahrungsmittel mit ihren Verdiensteinkommen zu kaufen. Darum bin ich der Meinung, daß hier also auch noch ein weites Feld für humanitäre Maßnahmen im Binnenmarkt ist. Das gleiche gilt aber auch in unserer Hilfe für die Länder in der übri- gen Welt. Deshalb glaube ich, können wir mit gutem Gewissen die vorausgehenden Maßnahmen fordern, ehe man das kleine Bäuerlein draußen aufschreckt, wie ich es ein- gangs gesagt habe. 9. Bei den vor dem 1.8.1968 fälligen Neufestsetzungen der europäischen Getreidepreise ist der frühere deutsche Getreidepreis wiederherzustellen, der von 1950 bis 1967 trotz gestiegener Produktionskosten unverändert geblieben war. Das heißt nicht, daß wir nun darauf abzielen, etwas Unvernünftiges zu tun. Ich weiß, daß der Bundesernäh- rungsminister und seine Kollegen in der EWG im Bereich etwa der Weizenproduktion ganz besondere Sorgen haben. Wir möchten bei der Wiederherstellung des deutschen Getreidepreises in erster Linie es so formulieren, daß die Gesamteinnahmen, die wir vor Inkrafttreten der europäischen Getreidemarktordnung auf diesem Bereich unserer Produktion hatten, wenigstens wieder beschleunigt hergestellt werden. Entscheidend wird sein, daß das Gesamteinkommensvolumen, das man uns hier aus politischen Gründen, und wie ich meine, durchaus unzweckmäßigerweise seinerzeit weggenom- men hat, schleunigst wiederhergestellt wird. Denn die fortschreitenden Preise, Herr Kollege Bauknecht hat vorhin schon darauf hingewiesen, die fortdauernden Forderun- gen der anderen, zerreißt uns allmählich zwischen diesen beiden Berufsständen, den Landwirten und den Verbrauchern. Es ist völlig unmöglich, daß wir sagen, ihr müßt im Interesse der europäischen Einigung, im Interesse einer verstärkten Ostpolitik unent- wegt Opfer bringen, und gleichzeitig fordert dann der Wirtschaftsminister Schiller die anderen sozusagen auf: Nun tretet endlich einmal zur Kasse, es ist höchste Zeit, euch die vier, fünf oder sechs Prozent abzuholen, die ich, euer Karl Schiller, dank meiner Wirtschaftspolitik nun für euch wieder bereitgestellt habe. 10. Zum Schutze des einheimischen Fleischmarktes ist darauf zu drängen, daß bei Im- porten, auch aus den EWG-Ländern, die in Deutschland geltenden veterinärpolizeili- chen Bestimmungen volle Anwendung finden. Eine scheinbar nichtssagende Formulie- rung und trotzdem stecken hinter dieser Aussage ganz knüppeldicke, massive, kom- merzielle Interessen verschiedener unserer Partner. Wenn wir hier nichts anderes tun, als uns auf den Boden der bei uns geltenden Gesetze zu stellen, dann tun wir nichts Unrechtes, denn wir wissen, daß veterinärpolizeiliche Bestimmungen in den anderen Ländern erheblich strapaziert worden sind und sehr ausgedehnt worden sind zur Be- hinderung unseres eigenen Exportes in die betreffenden Länder. 11. Zum Schutze der bäuerlichen Veredelungsproduktion in Brüssel eine baldige Ge- setzesinitiative zu erwirken. Sie wissen, daß Sie, diese Fraktion, sich in den vergangenen Jahren wiederholt darum bemüht haben, auf nationaler Ebene hier zu einem Ergebnis zu kommen. Wir wissen in der Zwischenzeit – und wir alle, auch die Landwirte, haben es erkannt –, daß eine sol- che Maßnahme nur dann noch sinnvoll ist, wenn sie im EWG-Recht wirksam wird. Denn alles, was wir uns an Beschränkungen nationaler Art auferlegen, würde morgen von der Landwirtschaft der übrigen Länder sofort mit Zusatzproduktion ausgefüllt werden. Deshalb ist es nur dann sinnvoll, wenn es zu einer europäischen Initiative kommt. 12. Bei der Fortentwicklung der Steuergesetzgebung – und hier bitte ich besonders un- sere Steuerfachleute mit offenen Ohren und offenen Herzen zuzuhören – ist angesichts der bedrohlichen wirtschaftlichen Lage der Landwirtschaft besonders darauf zu achten, daß hier nicht zuviel passiert – ich erinnere an die Aussagen über die Grundsteuer, die früher oder später zur Auswirkung kommende neue Einheitsbewertung, die wie ein Damoklesschwert im Moment über uns hängt, ich erinnere insbesondere an die unent-

Copyright © 2016 KGParl Berlin 29 Fraktionssitzung 5. 3. 1968 50. wegt in der Aufwärtsentwicklung befindlichen Einkommensteuerrichtsätze für die so- genannten GDL-Landwirte.66 Hier flattern zur Zeit unentwegt zusätzliche Steuer- nachholungen auf dem Gebiet der Einkommensteuer in die Höfe, und ich muß Ihnen sagen, hier hat man also schon ein Maß gefunden, das also keine Schublehre ist, son- dern hier muß ich also sagen, hier mißt man mit dem Ellbogen das Einkommen unserer Landwirte. Hier sind also Sorgen. Ich hatte die Ehre, Ihnen namens der Kollegen, die das vorbereitet haben, diese zwölf Punkte vorzutragen. Ich bin sicher, daß jeder von Ihnen von sich aus sofort noch wei- tere ein, zwei, drei hinzufügen könnte. Lassen Sie uns bei der nachfolgenden Diskussion dafür sorgen, daß wir uns auch in die- sem Bereich unserer Wirtschaftspolitik vor der Bundesregierung und in Gegenwart des Herrn Bundeskanzlers möglichst bescheiden bewegen, denn ich bin der Auffassung, etwas herauszubringen, was sich etwa bei den zwölf Punkten bewegt, mit Billigung und Zustimmung der Bundesregierung und des Bundeskanzlers und hoffentlich auch aller Mitglieder unserer Fraktion, würde uns ein gewaltiges Stück nach vorne bringen. Und ich bin überzeugt, so wie es heute noch ist, die Bauern kommen heute noch, wenn die CDU und CSU sie ruft, zu den Versammlungen. Sie kommen in der Erwartung, weil sie doch auch innerlich spüren, sie sind immer noch diejenigen, die uns am näch- sten stehen. Lassen Sie uns durch diese kleine Tat beweisen, daß sie das mit Recht von uns erhoffen und erwarten können. Barzel: Ich möchte von mir aus nur ein Wort sagen, weil ich das auch in der Fraktion spüre, daß das eigentlich der einzige Punkt war, an dem Ungewißheit herrschte, wenn ich es richtig empfunden habe, und das war im Zusammenhang mit den sozialpoliti- schen Dingen. Das ist ja der einzige Punkt, der den Haushalt belasten könnte, und ich würde hier deshalb nachher empfehlen, eine etwas vorsichtigere Formulierung zu fin- den, denn es ist ja auch unter uns nicht alles ausdiskutiert. Griesinger: Ich glaube, daß zwei Dinge sehr wichtig sind, die wir heute miteinander besprechen müssen und vor allem dann bei der Agrardebatte nächste Woche bespre- chen müssen, wo ich von Herzen bitte, daß auch von der Fraktionsführung aus doch darauf Wert gelegt wird, daß wir bei dieser Debatte möglichst doch im Plenum eini- germaßen anwesend sein sollten. Eine wichtige Frage, die wir ansprechen müssen, scheint mir zu sein, daß das bäuerliche Problem im Augenblick eines der Strukturprobleme ist, das nach dem Bergbau auch andere Berufsgruppen ergreifen wird im Laufe der nächsten Jahrzehnte. Und das müßte man sehr deutlich machen, daß es nicht nur ein typisch bäuerliches Problem ist, sondern ein allgemeines Problem unserer Zeit heute. Ein Zweites sollten wir sehr deutlich zum Ausdruck bringen, daß gerade bei der bäuer- lichen Bevölkerung dieser rasche Entwicklungsprozeß von wissenschaftlichen Er- kenntnissen, die sich heute in so einem kurzen Zeitraum sofort in die Wirklichkeit um- setzen lassen, besondere Schwierigkeiten gebracht hat, weil durch sehr viel weniger Ar- beitskräfte heute nun in diesem Berufsstand eine Überproduktion zustande gekommen ist, die uns neue Maßnahmen zum Überdenken aufzwingt. Eine dritte, wichtige Sache scheint mir noch zu sein, daß man die psychologischen Momente etwas aufklärt, daß nämlich bei den bäuerlichen Produkten die Erzeugerprei- se sehr, sehr viel weniger gestiegen sind, im Augenblick sogar stagnieren und sogar zu- rückgegangen sind, ganz im Gegensatz zu den sonstigen Verbraucherpreisen. Das hat sehr viel Unmut erregt. Und wir müssen deshalb deutlich machen, daß die Zwischen- stufen vor allem dadurch beteiligt sind an den hohen Preisspannen, daß das aber auch nicht nur willkürlich geschehen ist, sondern davon kommt, daß wir als Verbraucher eben auch eine sehr viel höhere Anforderung an diese Nahrungsmittel stellen, weil wir in einer gewissen Wohlstandsgesellschaft eben auch bequemer und qualifizierter unsere Nahrungsmittel angeboten haben wollen. Herr Bauer hat das Problem der Arbeitserleichterung der Bäuerin angesprochen. Dies ist sehr richtig. Wir müssen sie körperlich wohl von der Arbeit entlasten. Es ist aber so, Herr Bauer, das wollte ich als Antwort auf Ihr Argument sagen, daß wir zwar wollen, daß sie Zeit für ihre Familie hat, aber die Bäuerin will sehr viel stärker, als es andere Frauen tun können, weil deren Männer in Berufsgruppen arbeiten, wo sie gar keinen

66 Gemeint sind die Landwirte, die unter das »Gesetz über die Ermittlung des Gewinns aus Land- und Forstwirtschaft nach Durchschnittsätzen (GDL)« – BGBl. 1965 I S. 1350 – fielen. Das Gesetz be- stimmte, dass der Gewinn aus Land- und Forstwirtschaft bei Steuerpflichtigen, die nicht buchfüh- rungspflichtig waren, auf der Grundlage der Einheitswerte der Betriebe der Land- und Forstwirt- schaft ermittelt wurden.

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Kontakt dazu haben, geistige Partnerin ihres Mannes sein. Und sie will hier wirklich auch Betriebsleiterin mit sein und ist bereit, genauso wie die selbständigen Ehefrauen in Handel und Gewerbe, alles daran zu setzen, um diese Betriebe gesund zu machen. Das ist wichtig zu sagen. Wir kommen heute nicht mehr an, auch bei den Frauen dür- fen wir nicht mehr nur von der Emotion her kommen, sondern sie sind sehr bedacht, daß sie sachlich angesprochen werden und man sie in diesen Prozeß mit hineinnimmt und in die Information der großen agrarpolitischen Auseinandersetzungen. Sie sind hier sehr aufgeschlossen. Und das war wohl wichtig, auch dies deutlich zu machen, daß wir hier gerade bei den Landfrauen ein fast noch größeres Interesse haben, weil sie so an der Front stehen, mit diesen Problemen konfrontiert sind, auch alles in den Bil- dungsfragen daransetzen, sich zu informieren, um hier echte Partner ihrer Männer sein zu können. Bewerunge: Ich möchte zu den zwölf Punkten nichts sagen, sondern sie unterstrei- chen. Aber ich möchte mal ein kritisches Wort zu der Haltung des CDU-Agrarpoliti- kers draußen im Lande sagen in Verbindung mit dem Deutschen Bauernverband. Wir haben in der Vergangenheit unentwegt uns identifiziert mit der Politik des Deutschen Bauernverbandes, und es ist uns enorm schlecht honoriert worden. Wenn ich mir land- auf, landab die Unruhe ansehe, dann haben Sie eindeutige Schwerpunkte, und es ist auch festzustellen, daß diese frühere Jonglierpolitik – Wege zwischen den Parteien, um das Optimale zu erreichen – heute noch bei manchem mitspielt. Ich bin der Meinung, wenn wir manche Konsequenz, auch im Deutschen Bauernverband gesehen hätten – und ich bin selbst Präsident einer Landwirtschaftskammer –, dann wäre uns auch im politischen Raum manches erleichtert worden. Man hat vergessen, daß wir Ja gesagt haben zu der EWG-Marktordnung, und man hat vergessen, daß sich daraus für die deutsche Landwirtschaft eindeutige Konsequenzen ergeben. Wir waren gewöhnt, immer im nationalen Raum zu produzieren, haben durch das Ver- halten von Herrn Bundesminister Höcherl die Chance bekommen, uns jetzt ebenfalls exportorientiert zu benehmen und zu bewahren, aber wir haben keinerlei Marktin- strumente aufgebaut, um das zu tun. Es ist geradezu ein Anachronismus – und ich sage das in jeder Versammlung –, daß die CDU-Fraktion sich um ein Marktstruktur- fondsgesetz bemüht hat, daß aber der Deutsche Bauernverband und der Raiffeisenver- band uns das serviert haben als SPD-Antrag, was wir heute haben.67 Wir treffen uns also auf dem Boden des kleinsten gemeinsamen Nenners ohne Marktin- strument. Der holländische, der französische Bauernverband, die spielen mit der Regie- rung, um das Optimale zu erreichen. Und wir haben von Niklas bis Höcherl bis heute eigentlich nur immer erlebt, daß die Regierung nichts tauge. So, meine ich, kann man auf die Dauer keine Politik machen, und ich lehne es ab, ich persönlich, mich unent- wegt mit der Haltung des Deutschen Bauernverbands zu identifizieren, weil meine Bauern in Westfalen mir sagen, die Beiträge werden mir bald zu hoch, wenn denen nicht mehr einfällt. Und es ist erstaunlich, ich bin von Kreis zu Kreis gefahren, vom ra- dikalen Lipper Land bis zum Hauptindustriegebiet, keinerlei Lust zu demonstrieren, nur der Wille: Was können wir tun? Das muß man auch mal sagen! Diese Fraktion der CDU/CSU hat getan, was sie konn- te, um die Dinge zu regeln. Das zweite ist, daß wir natürlich die Wahrheit sagen müssen. Es ist einfach unmöglich, zu behaupten, es bleibt alles so. Wenn ich die Rede von Mansholt durchlese, dann hat er gesagt, wörtlich: Wir müssen uns überlegen, wie das in 20 Jahren mit der Landwirt- schaft aussieht, wenn das Einkommen der unselbständigen Arbeit sich verdoppeln und die Freizeit sich vergrößern würde.68 Ich finde, das ist eine Aussage, der man sich stel- len kann. Und was gibt es für Möglichkeiten? Nun kommt dieses Agrarstrukturpro- blem als Wundermittel in aller Munde, und jeder sagt: Das ist die Lösung! Ja, wenn sie

67 Vgl. Antrag der Fraktion der SPD vom 14. März 1967 betreffend ein Gesetz zur Anpassung der landwirtschaftlichen Erzeugung an die Erfordernisse des Marktes (BT-Drucksache V/1544). Die 1. Lesung des Gesetzentwurfs hatte am 16. März 1967 stattgefunden mit anschließender Ausschuss- überweisung. Federführend war der Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten, mitbe- ratend der Ausschuss für Wirtschaft und Mittelstandsfragen sowie der Haushaltsausschuss gemäß Paragraph 96 der Geschäftsordnung des Bundestages. Vgl. BT STEN. BER., 5. Wahlperiode, 99. Sit- zung am 16. März 1967, S. 4545–4612. 68 Am 16. Februar 1968 stellte EWG-Vizepräsident Mansholt in Groningen seine agrarstrukturellen Reformpläne vor. Seine Überlegungen erstreckten sich bis zum Jahr 2000 und betrafen insbesondere die landwirtschaftliche Betriebsform. Wenn der Familienbetrieb zu einer Verarmung der Landwirte im Vergleich zu den Arbeitnehmern in der übrigen Wirtschaft führte, musste nach Mansholt geprüft werden, welche Betriebsform den Landwirten eine angemessene Existenz und Lebenshaltung ermög- lichte. Zu den Reformplänen von Mansholt vgl. KLUGE, S. 63 f. u. 71–74.

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Boden dazu kaufen oder sich ein Gebäude errichten, dann sind sie über zehn Jahre im Reinertrag so geschmälert, daß sie überhaupt noch kein besseres Einkommen haben. Aber die deutsche Landwirtschaft lebt genau wie die deutsche Wirtschaft, und sie will ein Teil der gesamten Wirtschaft sein, genau von dem, was die übrige Wirtschaft macht, nämlich von der stärkeren Veredelung. Nun haben wir in diesem Jahr 1,6 Millionen Schweine mehr erzeugt, leider mit dem Preisverfall. Aber jetzt tun wir alle so, als ob das ein Drama wäre. Es geht gerade in den nächsten drei, vier Jahren um Marktanteile, und die deutsche Landwirtschaft ist gequält worden mit Qualitätsvorstellungen. Herr Dr. Siemer und ich sind am Wochenende noch einmal in Paris gewesen, um uns die Chance des Agrarexports anzusehen; und ich kann Ihnen sagen, mit keinem Marktinstrument wären wir in der Lage, die notwendige weitere Steigerung der Veredelungsproduktion im EWG-Raum und in Drittländern unterzubringen. Und wenn der Ausrichtungs- und Garantiefonds eine Bedeutung ha- ben soll, dann müßte unser Bundesfinanzminister wissen, daß, je mehr er der deutschen Landwirtschaft die Veredelungschance gibt, er umso sicherer viele selbständige Betriebe hat und daß wir dazu dann auch sinnvolle Leistungen nach Brüssel bezahlen können. Wenn man sich hinstellt und sagt, die Landwirtschaft soll endlich marktkonform pro- duzieren, kann ich diese Forderungen mit Blick auf die Gesamtwirtschaft nicht ganz nachvollziehen. Das ist die Schizophrenie der übrigen Wirtschaft gegenüber der Land- wirtschaft, und ich meine, es wurde ja auch erhellt durch die 12 Millionen DM, die dort bei der Frage der Exporthilfe verschoben wurden. Wenn man sieht, was sich im ge- werblich-industriellen Bereich tut, um den Export von industrialisierten Produkten zu fördern, dann hat die Landwirtschaft den gleichen Anspruch darauf. Das nächste, was ich sagen möchte, gerade dieses Marktinstrument muß frei sein aus der Kontrolle des Bundesrechnungshofes. Das ist in Frankreich so, in Holland so, dort wird ein Marktinstrument geschaffen, da kann man Termingeschäfte machen. Ich bin davon überzeugt, wenn manches Viertel Rindfleisch, das über die Einfuhr und Vorrats- stelle läuft, dort lagert, Lagerkosten verursacht, mit viel geringeren Kosten exportiert werden könnte, den Bundeshaushalt entlasten würde, wenn wir diese administrative Regelung einem kleinen Management übertragen würden. Dabei müßte allerdings die Landwirtschaft sich selbst beteiligen, das heißt, wenn wir nur 27 Millionen Schweine schlachten im Jahr, dann wäre 1 DM pro Schwein schon eine Markthilfe von 27 Millio- nen. Warum tun wir das denn nicht? Wir müssen das per Gesetz erzwingen, daß uns die übrige Wirtschaft auch versteht. Rosenmontag und der Sonntag vorher waren für mich die muntersten Tage. Vier Großunternehmer, die im In- und Export tätig sind, erschienen auf den zwölf Refe- renzmärkten in Nordrhein-Westfalen, überboten die Winterpreise um zehn bis zwölf Pfennig, teilweise mehr, hatten dadurch erreicht, daß der Schutz, der bei der Abschöp- fung gegeben ist, wegfiel. Sie haben, wie ich schätze, 400 000 DM eingesetzt und hatten schon in den Zollverschlußlagern das Gefrierfleisch liegen, das sie nun billig einführen wollten. Dank des Kollegen Unertl – Zusammenarbeit lohnt sich immer –, der mir ein Fernschreiben schickte, konnte ich als Kammerpräsident alle Märkte beeinflussen und sagen, wir notieren nicht. Das Geschäft ist total in die Hosen gegangen. Aber daran se- hen Sie, mit welchen Unwägbarkeiten man hier rechnen muß, und das, Herr Minister Höcherl, muß beseitigt werden. Wir hätten also zu unserem Unglück jetzt das Gefrier- fleisch auf uns zukommen sehen und wir hätten uns nicht mehr in diesem Markt sehen lassen können, und die Landwirtschaft wäre explodiert. Diese Technik, ich will das im einzelnen jetzt nicht ausführen, sollten wir schnellstens anderen überlassen, weil ich meine, so kann eine produzierende Landwirtschaft nicht von Zufälligkeiten abhängig sein. Das nächste ist das Aufbauen von administrativen Schranken im EWG-Raum. Ich habe mir die Importziffern von Italien angesehen, an und für sich für uns ein guter Markt. Hier sollten wir sagen, was für sie recht ist, ist für uns billig. Es darf nicht so sein, daß es immer auf Kosten eines Berufsstandes geht, der deutschen Landwirtschaft. Im übrigen möchte ich sagen, muß die übrige Wirtschaft begreifen, daß man auch keine Ostpolitik betreiben kann oder was auch immer zu Lasten eines Berufsstandes. Sie ha- ben uns mit soviel guten Ratschlägen begleiten können die ganze Zeit, aber ich muß wirklich warnen, das ist unerträglich! Im übrigen wäre eine selbstverständliche Politik für uns durchaus in Ordnung. Und nun einmal die ganzen Betriebszahlen, von denen wir ausgehen, 20-50 Hektar, das sind 138 000 Betriebe, das sind zehn Prozent der Betriebe, bis 100 Hektar, das sind 2800 Betriebe, das sind 0,2 Prozent. Das ist die Ausgangsmasse, auf der wir vorgehen. Ich

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Sie nur, Verständnis dafür zu haben, daß wir nicht gegen die Zeit an können. Sie wis- sen, wie es gelaufen ist und wie es weiter laufen wird. Wir haben seit den letzten 100 Jahren eine Veränderung unserer Bevölkerungsstruktur erlebt, die allen vor Augen liegt. Damals noch die Hälfte der Bevölkerung bäuerlich, jetzt nicht einmal mehr als 10 Prozent. 90 Prozent sind eingegliedert in die moderne Industriegesellschaft. Und der Prozeß geht weiter! Und wenn wir das sehen, daß es so ist, dann müssen wir das, was gehalten werden kann und muß, halten, und für das übrige müssen wir den Übergang so erträglich wie möglich gestalten. Das ist die Aufgabe, die vor uns liegt. Barzel: Meine Damen und Herren! Der Bundeskanzler hat um 13 Uhr einen Termin. Es empfiehlt sich, die Sitzung hier zur Mittagspause zu unterbrechen. Ich unterbreche die Sitzung bis 14.30 Uhr.

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