Konzert 123 4
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musikFabrik im wdr 2003|2004 Konzert 123 4 Iannis Xenakis | Thalleïn (1984) Michael Jarrell | … prisme/incidences II … (2002) Deutsche Erstaufführung Alessandro Solbiati | Nora (2003/2004) Uraufführung Hanspeter Kyburz | Parts (1994/1995) Köln, Funkhaus Wallrafplatz, Klaus-von-Bismarck-Saal Sonntag | 23. Mai 2004 | 20 Uhr musikFabrik Violine Hae-Sun Kang Cimbalom Luigi Gaggero musikFabrik | Ensemble für Neue Musik Flöte, Piccoloflöte Helen Bledsoe Posaune Uwe Dierksen Flöte Elizabeth Hirst Tuba Melvyn Poore Oboe Peter Veale Oboe Anja Schmiel Schlagzeug Thomas Oesterdiekhoff Klarinette, Schlagzeug Arnold Marinissen Bassklarinette Carl Rosman Schlagzeug Dirk Rothbrust Klarinette, Klavier, Celesta Ulrich Löffler Bassklarinette, Gitarre Seth Josel Sopransaxophon Nándor Götz Harfe Virginie Tarrête Klarinette, Bassklarinette Thorsten Johanns Violine Ger ur Gunnarsdóttir Fagott Alban Wesly Violine Maaike Aarts Fagott Stephan Krings Viola Axel Porath Viola Dominica Eyckmans Horn Christine Chapman Violoncello Dirk Wietheger Horn Jodie Lawson Violoncello Françoise Groben Trompete Marco Blaauw Kontrabass Michael Tiepold Trompete Bob Koertshuis Posaune Bruce Collings Dirigent Diego Masson Programm Iannis Xenakis | Thalleïn (1984) für Ensemble Michael Jarrell | … prisme/incidences II … (2002) für Violine und Ensemble | Deutsche Erstaufführung Pause Alessandro Solbiati | Nora (2003/2004) für Cimbalom und sieben Instrumente | Uraufführung Hanspeter Kyburz | Parts (1994/1995) Konzert für Ensemble Eine Produktion der musikFabrik in Zusammenarbeit mit wdr 3, KölnMusik und der Kunststiftung NRW Kommentar Iannis Xenakis | Thalleïn (1984) lässt sich auf einen übergeordneten Prozess beziehen: Rhythmische „Meine Überzeugung ist, dass wir zum Universalismus nicht durch Strukturen scheinen sich in diesem Werk erst nach und nach aus den Religion, Emotion, Tradition gelangen, sondern durch die Naturwissen- anfangs undifferenzierten Klangballungen herauszuschälen, um schließ- schaften […]. Das wissenschaftliche Denken gibt mir ein Instrument an lich zu größerer Komplexität zu gelangen. Es entsteht der Eindruck, als die Hand, mit dem ich meine Vorstellungen nicht-wissenschaftlichen würden in Thalleïn archaische Ursprünge des Rhythmus freigelegt. Ursprungs verwirkliche.“ Als Konsequenz dieser Äußerung stellte Iannis Xenakis sein Komponieren auf eine wissenschaftlich-mathematische Michael Jarrell | … prisme/incidences II … (2002) Basis, indem er komplexe Partituren etwa mit Mitteln der Wahrscheinlich- „Für jemanden, der komponiert, ist nichts zu Ende, hat nichts begonnen; keitsrechnung oder mathematischer Spieltheorien berechnete. In seinen es ist ein Zustand, in dem man sich bewegt […]“. Was Wolfgang Rihm ein- späteren Werken, wie Thalleïn, fand er zu einfacheren, durchsichtigeren mal äußerte, gilt auch für Michael Jarrell: Selbstkritisch greift er immer Strukturen, wenngleich auch hier mathematische Grundlagen auszuma- wieder Ideen bereits ‚abgeschlossener’ Werke auf, um sie umzuformulie- chen sind. So fußt das Tonmaterial oft auf so genannten „Sieben“, Ton- ren oder weiterzuentwickeln – ein kontinuierlicher und offener Prozess, Skalen, die Xenakis im Sinne einer Uminterpretation der antiken Skalen der vielfach intertextuelle Bezüge zwischen seinen Kompositionen zeitigt. mittels mathematischer Siebtheorien zusammenstellte. Bei allen Berech- Sein … prisme/incidences … II für Violine und Ensemble geht zurück auf nungen sind für seine Musik aber immer fundamentale, unmittelbar … prisme/incidences … für Violine und Orchester von 1998, das er auf wahrnehmbare musikalische Ausdruckstopoi bestimmend geblieben, wie Anregung von Hae-Sun Kang und mit der Vorstellung, „mehr Präsenz, sie auch das Geschehen in Thalleïn prägen. Auffallend hier vor allem die gleichzeitig mehr Intimität“ zu erzeugen, für eine kleinere Besetzung Gegenüberstellung verschiedener Klang- und Texturtypen: Strukturen mit überarbeitete. Wie in anderen Werken Jarrells stehen hier Solist und klar definierten, distinkten Tonhöhen, kontinuierlich aber unregelmäßig Ensemble keineswegs in einem fest umrissenen Verhältnis klassischer oszillierende mikrotonale Glissandobewegungen, monolithartige Klang- Prägung – vielmehr wird dessen Wandelbarkeit zum Gegenstand der blöcke, ostinate Mechanismen, wolkenartige Tonfelder und polyrhythmi- Komposition. Einen Hinweis gibt der Titel: dem einzelnen Prisma steht sche Schichtungen. Der Titel – er bedeutet „erblühen“ oder „aufknospen“– die Vielzahl der Lichteinfälle gegenüber, die in diesem optisch aufgespal- Kommentar ten und in unterschiedliche Richtungen reflektiert werden. So regen die merksam und 2002 zu seinem Quaderno d’immagini, einer Sammlung Lineaturen und Figuren der Solo-Violine den Ensembleklang zunehmend von acht fragmentarischen Stücken für Cimbalom solo, angeregt. zu akustischen Reflektionen, Verzerrungen und Verselbständigungen an – Nora ist das Ergebnis einer erneuten Beschäftigung Solbiatis mit seinem ihre Klangqualitäten werden gleichsam wie in einem Prisma aufgebro- Quaderno. Es ging ihm darum, die ursprünglich sehr verschiedenen chen. Die Auslassungspunkte im Titel verweisen auf etwas Ausschnitthaf- Stücke in Nora zu einer formalen und ausrucksmäßigen Einheit zu ver- tes: auf die Offenheit an den Rändern der Komposition, angedeutet durch binden. Solbiati gab hierfür die ursprüngliche Anordnung des Quaderno die zu Beginn noch fragil agierende, von Flageolett-Klängen durchsetzte auf und stellte das ihm wichtig erscheinende musikalische Material in und nur von Schlagwerk, Klavier und Harfe begleitete Violinstimme, und einen größeren und an klassischen Mustern orientierten formalen ein ganz und gar nicht konzertmäßiges Ende, bei dem die im Nichts ver- Zusammenhang. So vergleicht er etwa die energiegeladene Einleitung schwindende Solostimme das Ensemble längst hinter sich gelassen hat. und den sich anschließenden langsamen, dunkel gefärbten Abschnitt Jarrell gab der Partitur ein Zitat aus dem Talmud bei, das seine künstleri- augenzwinkernd mit der dualen Themendisposition des klassischen sche Grundhaltung widerspiegelt: „… wenn du das Unsichtbare begreifen Sonatensatzes. Den Titel Nora entnahm Solbiati der gleichnamigen und willst, beobachte aufmerksam das Sichtbare …“ wohl ältesten antiken Stadt Sardiniens am Golf von Càgliari. Das optische Zusammenspiel der dort ausgegrabenen Ruinen, des Sonnenlichts, des Alessandro Solbiati | Nora (2003/2004) | Uraufführung azurblau und grünlich schimmernden Meeres, der zerklüfteten Felsen Das Cimbalom, ein mit Klöppeln gespieltes Hackbrett, hat sich längst und des schneeweißen Sandes entsprach – so Solbiati – jener Deutlich- über seine Funktion als Volksmusikinstrument hinaus einen Namen keit und Klarheit, die ihm bei der Komposition vorschwebte. Nora ist Luigi gemacht. Komponisten wie Strawinskij, Kodály, Kurtág, Konstantia Gourzi Gaggero und Andrea Pestalozza gewidmet. und Peter Eötvös ließen sich von seinem metallischen Klang inspirieren. Luigi Gaggero, Solist der heutigen Uraufführung, zählt zu den wenigen Interpreten, die das Cimbalom für die zeitgenössische Musik nutzbar machen. Durch ihn wurde Alessandro Solbiati auf das Instrument auf- Kommentar Hanspeter Kyburz | Parts (1994/1995) System, sondern greift dort gestaltend ein, wo ihm die Algorithmen ins Seit der ‚Emanzipation der Dissonanz‘ und dem Ende der Funktionshar- Kraut zu schießen drohen. „Ich rechne brutal viel, aber ich habe eigentlich monik kreisen kompositorische Neuansätze immer wieder um die eine gar keine Lust, dass man es hört“, kommentiert er seine undogmatische Frage: wie dem Verlust des einst Selbstverständlichen, jener aufgekündig- Haltung. Zu hören ist dagegen eine teils überaus sinnliche Musik, mit ten musikalischen Syntax, zu begegnen sei, wie sich also Töne oder Klang- einer latent von Quarten und Terzen geprägten, äußerst reichhaltigen ereignisse dennoch sinnvoll aneinanderfügen und Zusammenhänge Harmonik und Klangfarblichkeit. gestalten lassen. Auch für Kyburz ist dies eine der Grundfragen: „Ich will Ein wesentlicher Ausgangspunkt für Parts war Hermann Brochs Roman- nicht nur intuitiv reagieren, ich will meine Kompositionsweise beschreiben dichtung Der Tod des Vergil. Über philosophisch-ästhetische Erwägungen können. Auch weil mir viel daran liegt, kritisierbar zu bleiben“. Entspre- und Parallelen zwischen Kyburz’ ‚Musiksprache‘ und Brochs Sprachtechnik chend lässt sich sein computergestütztes Komponieren als Formulieren, hinaus lassen sich die vier Abschnitte von Parts programmatisch auf die Ausdifferenzieren und Umsetzen von Regeln verstehen. Allerdings sind Kapitel des Romans beziehen. Nur einige Anhaltspunkte: Aus amorphen, diese Regeln musikalisch abstrakt, abgeleitet aus Analogiebildungen zur chaotisch anmutenden Klangballungen zu Beginn lösen sich allmählich Philosophie, Systemtheorie, Chaosforschung und fraktalen Geometrie. So geordnetere solistische Stimmen heraus, als ob der zunächst globale generiert Kyburz musikalische Prozesse mit Algorithmen, wie sie etwa zur Blick nun wie durch eine Lupe die Detailstrukturen der Textur fokussiert. Beschreibung selbstähnlicher Strukturen in der Botanik herangezogen Dem korrespondieren die wechselnden Sinneseindrücke des todkranken wurden. Nach bestimmten, rekursiven Regeln lässt er Zahlenketten sich Dichters, der bei seiner Ankunft in Brundisium auf einer Sänfte durch die aus einem Ausgangselement heraus fortpflanzen, um dann bei der Partitur- proletarischen Menschenmassen getragen wird. Vergils Fieberphantasien synthese den Zahlen vorgeformte musikalische Klangkonstellationen