Eberhard Kenner Gitarrensound in Wellblech-City
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Eberhard Kenner Gitarrensound in Wellblech-City – Stuttgart im Grip des Indo-Rock Blickt man in die Geschichte der Popularmusik, Schon in ihrem Herkunftsland hatte westliche so sind Begriffspaare wie Rock ’n’ Roll und Elvis Musik – Country & Western und klassischer Rock Presley oder Beat und The Beatles bei Musikwis- ’n’ Roll –, die von den amerikanischen Radiostatio- senschaftlern, Musikkritikern wie auch in der Erin- nen auf den Philippinen und in Australien für die in nerung vieler Musikinteressierter fest verankerte Südostasien stationierten US-Soldaten ausgestrahlt Begriffe der 1950er- beziehungsweise 1960er-Jahre. worden war, bei den jungen »indischen Niederlän- Viele, selbst Experten unter ihnen, wissen hingegen dern« Anklang und Nachahmer gefunden. Man nicht, übersehen oder ignorieren gar, dass es für orientierte sich an dem experimentellen US-Gitar- kurze Zeit »etwas dazwischen« gab: den Indo-Rock. risten Les Paul sowie an Instrumentalgruppen wie Der zunächst namenlos gebliebene Indo-Rock hat den Shadows, Ventures oder String-A-Longs. Ver- seinen Ursprung auf dem Archipel von Niederlän- schmolzen mit den musikalischen Traditionen des disch-Indien, das 1956 von der europäischen Kolo- fernöstlichen Inselreichs und der Südsee, die ihrer- nialmacht als Indonesien in die Unabhängigkeit seits von der Musik portugiesischer Seefahrer beein- entlassen wurde. Seine Protagonisten waren neben flusst worden waren und auf dem Zusammen- und Einheimischen zumeist aus Mischehen hervorge- Wechselspiel von Gitarren und Schlaginstrumenten gangene Abkömmlinge von Niederländern und unterschiedlichster Bauart basierten, entstand so Inselbewohnern. Da sie in ihrer asiatischen Heimat eine Mélange, deren Schwerpunkt auf Instrumen- als Fremdkörper galten, nutzten viele die ihnen talstücken lag. Der Indo-Rock war geboren. Unter- gebotene Gelegenheit, mit holländischem Pass in schiede im Klangbild und in der Präsentation der die Niederlande auszureisen. Sie taten dies in der Darbietungen waren zwangsläufig und spiegelten Erwartung, dort Akzeptanz zu finden und Fuß zu den unterschiedlichen geografischen und kulturellen fassen. Aber das Gegenteil trat ein, sie fühlten sich Hintergrund seiner Interpreten wider. Wenngleich in der neuen Heimat diskriminiert, ausgegrenzt nicht eindeutig definiert, ist der Indo-Rock als eine und lebten abgeschottet. Eine Atmosphäre der Frus- späte Spielart des Rock ’n’ Roll zu charakterisieren, tration, Aggression und Gewalt entstand. Bands zu der heute, nach dem Abtreten der Indo-Generation, gründen und selbst Musik zu machen, bot sich den nicht mehr authentisch reproduzierbar ist. Die ersten jungen »Indos« in diesem Spannungsfeld als Frei- Indo-Bands formierten sich in der zweiten Hälfte der raum an, um in dem fremden Land die eigene Iden- 1950er-Jahre und traten zunächst in ihrer neuen Hei- tität zu leben und zu zeigen. mat Holland auf, auch erste Singles wurden gepresst. Flyer der Tivoli-Tanzbar in der Hauptstätter Straße mit Werbung für den Auftritt der Tielman Brothers im Mai 1964, eingeklebt in den Gitarrenkoffer von Eberhard Kenner Schwäbische Heimat 2021/1 49 Die »Vereinigten Hüttenwerke« zwischen Eberhard- und Hauptstätter Straße, Breuninger und Wilhelmsplatz um die Mitte der 1960er-Jahre Durch die EXPO 1958 kommt der Indo-Rock Folge wagten nun zahlreiche andere Indo-Bands nach Deutschland aus den Niederlanden, etwa »The Javalins« oder Während sich die Holländer dem Rock ’n’ Roll »The Crazy Rockers«, den Schritt über die Grenze. gegenüber im Allgemeinen anfangs reserviert zeig- Ihr vorrangiges Ziel waren die Garnisonsstädte, in ten, begann sich in Deutschland eine junge Fan- denen US-Soldaten stationiert waren. Dort begann gemeinde zu entwickeln, die auf die Anwesenheit sich eine Club- und Nightlife-Szene zu etablieren, der amerikanischen Besatzungstruppen, deren die den Bands lukrative Auftrittsmöglichkeiten bot. Radiosender AFN (American Forces Network) sowie Hauptauftrittsorte waren Städte mit US-Militär- der gleichzeitigen Deutschland-Aufenthalte der stützpunkten in Süddeutschland, allen voran Mann- US-Rock ’n’ Roll-Stars Bill Haley und Elvis Presley heim, Heidelberg, Frankfurt, Hanau und Stuttgart, 1958 zurückgeführt werden kann – Haley und seine Band, bereits seit 1956 durch den Kinofilm »Außer Die Tanzbar »Zum Trichter« an der Ecke Hauptstätter Straße Rand und Band« bekannt, tourten auf einer Kon- und Färberstraße wurde 1960 eröffnet. Ihr Abriss erfolgte im zertreise durch die BRD und West-Berlin, während Juni 1968. Presley in Hessen den Wehrdienst absolvierte und in der Freizeit Autogramme schrieb. In der Folge traten erste deutsche Interpreten wie der Münchner Paul Würges (»der deutsche Bill Haley«) oder Ted Herold (»der deutsche Elvis«) auf den Plan; echte Rock ’n’ Roll-Bands gab es in Deutschland jedoch nicht, der Hörfunk war noch auf den Big-Band- Sound à la Kurt Edelhagen fixiert. All dies waren günstige Voraussetzungen für den Ausgriff des Indo-Rock nach Deutschland. Ausgangspunkt war die Brüsseler Weltausstellung EXPO 1958, wo der Entertainer und Showmaster Hans-Joachim Kulen- kampff die Indo-Gruppe »The Tielman Brothers« entdeckte und für seine Fernseh-Show ins Land des Wirtschaftswunders holte, sein Kollege Peter Fran- kenfeld engagierte sie für einen Auftritt in der 1959 uraufgeführten Kinofilmkomödie »Paprika«. In der 50 Schwäbische Heimat 2021/1 wo auch die Deutschen von den »indonesischen Kapellen« fasziniert waren. Insider schätzen, dass sich in der Hochphase zwischen 1961 und 1964 etwa 100 Indo-Bands in Deutschland tummelten. Rock ’n’ Roll im »Städtle« – in Stuttgarts Vereinigten Hüttenwerken Während er in seinem Ursprungsland Amerika schon längst darnieder lag, frönte Deutschlands Jugend noch dem Rock ’n’ Roll. Anfang der 1960er-Jahre war die Erinnerung an Bill Haleys Auftritt auf dem Killesberg 1958 in der Stadt noch präsent. Der Herr mit der Schmalzlocke brachte Stuttgart, das enga- giert am Wiederaufbau arbeitete, über Nacht in die Schlagzeilen: Es gab Tumult und zertrümmertes Gestühl, vor Halle sechs hielt Polizei zu Pferde die Halbstarken in Schach, Wasserwerfer standen im Die Hauptstätter Straße im April 1968 mit der Rio-Bar. Hintergrund bereit. Die Jugendlichen hörten beim Erst im Oktober 1983 wurde das letzte Vergnügungslokal in AFN Stuttgart, dem amerikanischen Soldatensen- »Wellblech-City« abgerissen. der auf dem Burgholzhof, am liebsten Rock ’n’ Roll. Viele der US-Soldaten kamen nachts auf der Suche nach Vergnügen ins Zentrum, ihre harten Dollars Uhr abends bis um 3 oder 4 Uhr früh, ein bis zwei waren gefragt. Auf dem vom Krieg zerbombten Show-Einlagen inklusive, sonntagnachmittags auch Ruinenfeld zwischen Eberhard- und Hauptstätter Tanztee. Jeden Monat spielte eine andere Kapelle. Straße, Breuninger und Wilhelmsplatz wuchsen die »Vereinigten Hüttenwerke« empor, wie das bürger- Die Tielman Brothers begeistern in Live-Shows liche Stuttgart das innerstädtische Quartier taufte. Eine der ersten indonesisch-niederländischen Auch »Wellblech-City« war für das Provisorium zu Kapellen, die den Verlockungen des Wirtschafts- hören, Rotlichtviertel durfte man auch sagen. Die wunderlands erlagen, waren die erwähnten Tielman Szene nannte es hingegen liebevoll »das Städtle«. Brothers. Binnen kurzer Zeit waren sie die Stars der Hier lagen Bars und Amüsierlokale dicht bei dicht, Szene und die Band mit der höchsten Gage, man untergebracht in primitiven Schuppen und Bretter- sprach von monatlich 10.000 bis 25.000 Mark und buden mit dünnen Wänden unter Wellblechdächern, mehr. Durch ihr außergewöhnliches musikalisches verkleidet mit Dachpappe und Karton. Können, ihre individuelle Spielweise und den Ein- Während Ende der 1950er-Jahre von Tanzcombos satz hochwertigen Equipments entwickelten sie sich noch Swing, Jazz und klassischer Rock ’n’ Roll mit zu Trendsettern der modernen Gitarrenmusik. Mit Gitarre, Saxophon, Klavier, Kontrabass und Schlag- einer bis dahin noch nie gesehenen Akrobatik in den zeug gepflegt wurde, folgten zu Beginn der 60er Fingern wie in den Beinen begeisterten sie das Pub- Gitarren-Instrumental-Bands wie die Telstars, Spot- likum bei ihren furiosen Live-Shows. 1961 waren sie nicks, Fireballs. Bevor dann gegen Mitte der Dekade zum ersten Mal in Stuttgart, und schon nach kurzer britische Beatbands die Szene beherrschten, war in Zeit zum Stadtgespräch avanciert. Nur die Javalins, den Tanzbars an der Hauptstätter Straße die späte, die ebenfalls in Stuttgart auftraten, waren von ver- exklusive Art von Rock ’n’ Roll, die indonesisch-nie- gleichbarem Niveau. derländische Variante, zu hören. Die bekanntesten Herausragende Figur war der Sologitarrist und Tanzschuppen waren das »Tivoli«, der »Trichter« Singer Andy Tielman. Sein Stimmumfang betrug gut und die »Rio-Bar«. Spärliches Licht, wabernde vier Oktaven. Mit schwindelerregenden Gitarrenläu- Rauchschwaden, eine drangvolle Enge und ein stets fen zog er das Publikum in seinen Bann. Er spielte die das Trommelfell strapazierender Sound kennzeich- Gitarre hinter dem Rücken, auf dem Kopf, mit den neten diese sogenannten »Pressluftschuppen«. Hier Zähnen, seinen Boots und nahm vorweg, was Jahre peitschte und wummerte es, hier tobten Rock ’n’ Roll später erst mit dem Namen Jimi Hendrix assoziiert und Twist, hier verkehrten neben Fans und ameri- werden sollte. Es gibt Berichte, wonach Little Richard, kanischen GIs schwere Jungs und leichte Mädchen. der die Tielman Brothers in einer deutschen Bar gese- Fünf Mark und ein »Gedeck« kostete der Eintritt. hen haben soll, seinem Bandmitglied Jimi Hendrix Täglich gab es Live-Musik »on stage«