Das Porträt

Josef Schrage (1881-1953) Der Landrat aus dem Sauerland Von Erhard H. M. Lange

In seinem öffentlichen Wirken verkörperte er in jeder Hinsicht das soziale, katholisch be­ stimmte Milieu einer durch Bodenständigkeit gekennzeichneten südwestfälischen Bevölke• rung des Sauerlandes, welches einst als Teil des Herzogtums Westfalen lange der kurkölnischen Herrschaft unterstand, bis es schließlich nach wechselvoller Geschichte 1816 zu Preußen kam. Die Rede ist von Josef Schrage, nach dem Zweiten Weltkrieg zunächst für kurze Zeit Bür• germeister von Olpe und danach von 1946 bis kurz vor seinem Tode im Herbst 1953 Landrat des gleichnamigen Kreises. Was ihn über den engeren Bereich lokaler Politik ausgreifen ließ, war sein Wirken als Mitglied des Landtages, in dem er für kurze Zeit als Nachfolger von Josef Schrage. Aufnahme von 1950 nach dessen Wahl zum Bundeskanzler bis zu den Neuwahlen im Sommer 1950 den Vorsitz der CDU-Landtagsfraktion übernahm. Als Mitglied des Parlamentarischen Rates gehörte er zudem 1948/49 zu den „Vätern und Müttern" des Grundgesetzes.1 Vor allem aber verbindet sich mit seinem Namen in Nord­ rhein-Westfalen das engagierte Eintreten für die Wiederbelebung der landschaftlichen Selbst­ verwaltung nach dem Kriege, welche in der Errichtung der beiden Landschaftsverbände Westfalen­ Lippe und Rheinland durch die Landschaftsverbandsordnung vom 12. Mai 1953 ihre Grund­ lage fand. So war es nicht zuletzt auch seiner Beharrlichkeit innerhalb und außerhalb des Land-

I Der Verf. ist derzeit mit einem Forschungsprojekt zu den Biographien sämtlicher Mitglieder des Parla­ mentarischen Rates befasst, woraus sich u.a. der Anstoß für den vorliegenden ausführlicheren Beitrag ergab. Dabei weiß sich der Verf. im Hinblick auf die Biographie Schrages gegenüber Herrn Stadtarchivar Josef Wermert vom Stadtarchiv Olpe für zahlreiche Recherchen und Hinweise zu besonderem Dank verpflichtet, desgleichen gegenüber Frau Bürgermeisterin a.D. Wilma Ohly (Olpe), einer Enkelin Josef Schrages.

Geschichte im Westen (GiW) Jahrgang 16 (2001), S.112-127. © Rheinland-Verlag GmbH, Köln. ISSN 0930-3286.

112 Josef Schraoe ( 1881-1953) tages zuzuschreiben, dass diese Frage immer wieder auf die politische Tagesordnung kam. Dabei blieb, wo immer er agierte, der heimatliche Raum des sauerländischen Westfalens Grund­ lage und Bezugspunkt seines politischen Wirkens.2

Herkunft und Jugend

Josef Schrage wurde am 6. Mai 1881 als Sohn des Arbeiters Jacob Schrage ( 1852 - 1939) und dessen Ehefrau Josefa geb. Kraft ( 1852 - 1927) in Olpe geboren. Die Familie war wie der überwiegende Teil der dortigen Bevölkerung katholisch. Die väterliche Linie zählte zu einer der ältesten Familien Olpes. Der Name lässt sich bereits Ende des 15. Jahrhunderts in Olpe nachweisen. 1496 wird dort ein Johan Schraghe als Urkundszeuge genannt. Im Jahre 1508 findet er abermals Erwähnung, nunmehr in der Schreibweise Johann Schrage und als Bür• germeister des Ortes. Auch wenn die überlieferte Stammfolge der Familie für das 16. Jahr­ hundert eine Lücke aufweist, so lässt sich die Genealogie Josef Schrages ununterbrochen bis in die erste Hälfte des 17. Jahrhunderts zurückverfolgen. 3 Die dabei teilweise erfolgten Berufs­ nennungen sind nicht zuletzt Ausdruck der sich in den Jahrhunderten vollziehenden regio­ nalen politischen, wirtschaftlichen und sozialen Veränderungsprozesse, welche wirtschafts­ geschichtlich vor allem in der Eisenerzeugung und -verarbeitung ihren Schwerpunkt fanden. 4 So begegnet uns 1612 ein Hammerteilhaber namens Hans Schrage, gefolgt von dem Kaiser­ lichen Notar und Bergschreiber Heinrich Schrage, der mit Walburga ab Hardt, der Tochter eines Notars aus Bilstein, verheiratet war. Im 18. Jahrhundert findet sich ein Stückschmied namens Wilhelm Schrage ( 1731 - 1796). Schließlich der soziale Abstieg aus dem Handwerkerstand in das wachsende Heer der Fabrikarbeiter! Als ihr Vertreter erscheint Josef Schrages Vater. Am Ort war er Vizepräsident des Katholischen Arbeitervereins und gehörte viele Jahre für das Zentrum der Stadtverordnetenversammlung an, dabei lange Zeit, u.a. bedingt durch das die sozial benachteiligten Schichten diskriminierende

2 Die Biographie Schrages hat bisher keine umfassende Würdigung gefunden. Vielmehr liegen nur einige Kurzbeiträge vor, so. u.a. von: Tonis Harnischmacher: Die Ehrenbürger der Stadt Olpe, in: Heimatstimmen aus dem Kreise Olpe, Olpe 1957 (26. Folge), S. 1375- 1385 (daselbst S. 1382- 1384); Manfred Schöne: Die Bürgenneister von Olpe seit l 795. in: Heimatstimmen aus dem Kreis Olpe 1962 (49. Folge), S. 181 - 197 (daselbst S. 193- 194); Joseph Schrage, in: Jochen Krause, Menschen der Heimat Teil I, Olpe l 987, S. 90-94; Josef Schrage, in: Nordrhein-Westfalen und die Entstehung des Grundgesetzes, Hrsg. Karl Josef Denzer, Düsseldorf l 989, S. l 78- l 80; Josef Schrage- Von den Nazis verfolgt und als Demokrat in hohen Ämtern, in: 1906-1981. 75JahreIG Metall im Kreise Olpe, Hrsg. IG Metall Olpe,Olpe 1981 , S. 22.-Der nicht allzu umfangreiche Nachlass befindet sich im Nordrhein-Westfälischen Hauptstaatsarchiv in Düsseldorf sowie im Archiv für Christlich-Demokratische Politik in St. Augustin. -Vgl. Inventar zu den Nachlässen der deutschen Arbeiterbewegung, Bearb. Hans-Holger Paul , München u.a. l 993, S. 583 f. 3 Zur Genealogie: Stammfolge Schrage aus Olpe, in: Heimatstimmen aus dem Kreise Olpe l 95 l (7. Folge), S. 443 f. ; dazu auch Norbert Scheele (t ): Olper Bürgerbuch. Familienkundliches aus der frühen Stadtge­ schichte, Olpe l 984, S. 243- 246. 4 Vgl. dazu Horst Ruegenberg: Die Wirtschaftsgeschichte des Kreises Olpe, in: Albert K. Hömberg: Heimat­ chronik des Kreises Olpe, 2. erw. u. verb. Aufl., Köln l 967, S. 203-3 l l; aus der älteren Literatur: Franz Sondermann: Geschichte der Eisenindustrie im Krei se Olpe, Münster l 907.

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Dreiklassen-Wahlrecht, als einziger Vertreter der Arbeiterschaft. Die Mutter, Tochter eines Seiler­ meisters, kam gleichfalls aus einer in Olpe ansässigen Familie. Das Elternhaus wurde schon in frühen Jahren Treffpunkt der politisch interessierten christlichen Arbeiterbewegung.5 Demzufolge bot die Familie einen fest gefügten Rahmen, der durch eine traditionelle Bindung an das katholische Milieu und eine über Generationen gewachsene Bodenständigkeit gekenn­ zeichnet war. Hinzu kam ein reges Interesse an öffentlichen Dingen, vornehmlich des eigenen Lebensraumes, doch auch ein Bewusstsein für die sozialen Gefahren, welche in der Industria­ lisierung lagen, war schließlich das Schicksal der eigenen Familie selber augenfällig davon betroffen. Aber obwohl die Arbeiterlöhne in der abgelegenen sauerländischen Region um einiges unter denjenigen in den neu aufblühenden Industriebezirken des Ruhrgebietes lagen, richtet sich der Blick nicht ungebrochen auf die sozialistischen Lehren eines Marx und Engels oder auch diejenigen eines Lassalle oder Bebe), sondern ließ sich von den maßvolleren Strömun• gen der christlich-sozialen Bewegung leiten. Letzteres entsprach der weitgehend verbreiteten Bewusstseinshaltung im Raume Olpe, der zu einer "Hochburg der christlichen Gewerkschafts­ bewegung" wurde. Denn von einem klassenbewussten Proletariat, wie es in den dicht besie­ delten Industriegebieten vorzufinden war, konnte hier angesichts des noch weitgehend länd• lichen Charakters der Gegend, in der kirchliche Bindungen und familiäre Traditionen nach wie vor eine zentrale Bedeutung besaßen, nicht die Rede sein. Seine sozialpolitischen Leit­ bilder suchte man dabei im Bereich der katholischen Kirche, deren Autorität bei allen internen Konflikten zur Sozialpolitik weiter unangefochten blieb. 6 So erhielten selbst bei den Wahlen zur Weimarer Nationalversammlung vom 19. Februar 1919 die Sozialdemokraten in Olpe trotz des dortigen hohen Arbeiteranteils lediglich 2. 750 Stimmen, wohingegen das Zentrum auf 21.313 Stimmen kam. 7 Josef Schrage begann nach dem Besuch der Volksschule zunächst im Kreise Olpe als Arbeiter in der Metallindustrie. Zusätzlich bildete er sich im Selbststudium und durch schulischen Ergänzungsunterricht in der örtlichen Handwerker-Sonntagsschule fort. 8 Im Jahre 1907 heiratete er mit 26 Jahren die rund ein Jahr jüngere Wilhelmine Schmidt (1882- 1956), welche gleich­ falls aus Olpe stammte. 9 Aus der Ehe sollten neun Kinder hervorgehen, von denen allerdings zwei bereits in früher Kindheit verstarben.

5 Michael Olberts: Der Wiederbeginn des politischen Lebens in der Stadt Olpe nach 1945 (Masch.-Manu­ skript), Olpe 1975, S. 29. 6 Vgl. Franz Neuhaus: Geschichte der Gewerkschaft im Kreis Olpe, Olpe 1966, S. 7 ff. Einen besonderen Einfluss gewann dabei der aus Hanemicke im Kreise Olpe stammende katholische Geistliche und Sozi­ alpolitiker Franz Hitze ( 1851 - 1921 ). - Zur Biographie: Hubert Mockenhaupt: Franz Hitze ( 1851 - 1921 ), in: Zeitgeschichte in Lebensbildern. Aus dem Katholizismus des 20. Jahrhunderts Bd. 1, Hrsg. Rudolf Morsey, Mainz 1973, S. 53 -64 u. S. 299 f. (L. ); Heinrich Weber: Franz Hitze, in: Rheinisch-Westfälische Wirtschafts­ biographien Bd. 1, Münster 1932 (Neudruck 1974), S. 318- 338 (L.). 7 Vgl. Herbert Kühr: Zwischen den beiden Kriegen. Die politischen Bewegungen im Olper Kreisgebiet. Der Kampf der Parteien und ihre Erfolge, Olpe 1966, S. 18. 8 Michael Olberts: Der Wiederbeginn (wie Anm. 5), S. 29; Tonis Hamischmacher: Die Ehrenbürger (wie Anm. 2), S. 1383. 9 Stammfolge Schrage (wie Anm. 3), S. 444.

114 Josef Schraoe (1881-1953)

Christlicher Gewerkschafter und Zentrumspolitiker

Wie für viele seiner sozialen Herkunft war für den heranreifenden Josef Schrage das Bildungs­ angebot des „Volksvereins für das Katholische Deutschland" in Mönchengladbach für den sozialen Aufstieg im Rahmen einer verbandspolitischen und allgemeinpolitischen Karriere von maßgeb• licher Bedeutung. 10 So besuchte er dort zwischen 1912 und 1914 eine Anzahl von Kursen. Gegen Ende des Ersten Weltkrieges, in welchem er zunächst als Hilfsdreher im Rüstungseinsatz arbeitete, wurde er im Jahre 1917 hauptamtlicher Gewerkschaftssekretär des Christlichen Metallarbeiterverbandes, zunächst in Siegen und dann in Altenkirchen. 11 Aktiv setzte sich Schrage im November 1918 dafür ein, dass die revolutionären Unruhen nicht auch den Raum Olpe ergriffen. Um den radikaleren sozialistischen Kräften zuvorzukommen, eilte er herbei und initiierte hier selber auf Kreis- und Gemeindeebene die Bildung von Arbeiter- und Soldatenräten, welche er mit zuverlässigen Anhängern der christlichen Richtung besetzte. 12 Wenig später kehrte er gänzlich nach Olpe zurück. Im Jahre 1919 übernahm er die Leitung der hier neu eingerichteten Kreis­ geschäftsstelle seines Verbandes. 13 Parteipolitisch schloss er sich in dieser Zeit der Zentrumspartei an und wirkte seit 1919 in zahlreichen kommunal politischen Ehrenämtern. So wurde er - gewissermaßen in Nachfolge seines zuvor ausgeschiedenen Vaters - im Jahre 1919 Mitglied der Stadtverordnetenversamrnlung von Olpe, wobei er zugleich die Leitung der Zentrumsfraktion übernahm. Hinzu kam ein Mandat im Kreistag, die Mitgliedschaft im Kreisausschuss und als Kreisdeputierter, ferner im Bezirksausschuss der Regierung in Arnsberg. Von 1921 an gehörte er überdies als Vertreter des Zentrums auch dem Westfälischen Provinzial-Landtag in Münster an. Alle diese Ämter sollte er bis zur natio­ nalsozialistischen „Machtergreifung" im Jahre 1933 wahrnehmen.14 Wie den Linken, so trat Schrage in den Anfangsjahren der Republik auch der Bedrohung von rechts entgegen. Entsprechend wirkte er im Mai 1920 in Olpe wesentlich bei der Mobilisierung des Widerstandes gegen den Kapp-Putsch mit. 15 Aber auch die aktuellen sozialen Nöte der Bevölkerung waren für ihn eine wesentliche persönliche Herausforderung. Maßgeblichen Anteil hatte er an der noch vor einer reichsrechtlichen Regelung nach dem Kriege vom Kreistag beschlossenen Einrichtung einer regionalen Arbeitsverrnittlung.16 Als dann durch Reichsgesetz vom Sommer 1927 die „Reichsanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung" errichtet

10 Tonis Harnischmacher: Die Ehrenbürger (wie Anm. 2), S. 1383. Zur Wirksamkeit des „Volksvereins" u.a. Horstwalter Heitzer: Der Volksverein für das katholische Deutschland im Kaiserreich 1890- 1918, Mainz 1979. 11 Tonis Harnischmacher: Die Ehrenbürger (wie Anm. 2), S. 1383; Franz Neuhaus: Geschichte der Gewerk- schaft (wie Anm. 6), S. 22 f. 12 Jochen Krause: Menschen der Heimat (wie Anm. 2), S. 93. 13 Franz Neuhaus: Geschichte der Gewerkschaft (wie Anm. 6), S. 22 f. 14 Jochen Krause: Menschen der Heimat (wie Anm. 2), S. 93; Michael Olberts: Der Wiederbeginn ( wie Anm. 5), S. 29 f. ; Alfred Bruns (Hrsg.): Die Abgeordneten des Westfalenparlaments 1826- 1978, Münster 1978, S. 562 (betr. Provinziallandtag). 15 Franz Neuhaus: Geschichte der Gewerkschaft (wie Anm. 6), S. 27. 16 Dazu auch Theo Hundt: Die neuere Geschichte des Kreises Olpe, in: Albert K. Hömberg: Heimatchronik (wieAnm.4),S. 129-200, S.171.

115 Erhard H. M. Lange und in dessen Folge auch im Kreise Olpe ein Arbeitsamt eröffnet wurde, übernahm Josef Schrage dessen Leitung. 17 Von Anfang an war er dabei mit den besonderen strukturellen Problemen konfrontiert, die sich aus dem Rückgang der Eisenerzeugung und Eisenverarbeitung in der Region ergaben, welche zuvor über Jahrhunderte die regionale Wirtschaftsentwicklung maßgeblich bestimmt hatten. Als dann Ende 1929 die große Weltwirtschaftskrise ausbrach, waren die dem Standort nach benach­ teiligten Betriebe des Kreises Olpe zusätzlich in besonderer Weise von Stilllegungen betroffen. Auf der Höhe der Wirtschaftskrise wurden von dem durch Schrage geleiteten Arbeitsamt etwa 5000 Erwerbslose registriert. 18 Um der allgemeinen sozialen Not zu begegnen, ließ dieser ein großes Notstandsprogramm entwickeln, für welches die Reichsgesetzgebung eine Grundlage bot. In einem freiwilligen Arbeitsdienst, der sich vor allem dem Straßenbau widmete, waren gegen Ende der Weimarer Republik zeitweise 1600 Arbeitskräfte beschäftigt. 19

Josef Schrage in der Zeit der NS-Herrschaft

Den Nationalsozialisten freilich galt er als politischer Gegner. Zunächst blieb aber die Zentrums­ partei bis zu den letzten Wahlen vom 5. März 1933 in Olpe die bestimmende Kraft, errang doch die NSDAP selbst bei dieser Wahl hier nur 4.893 Stimmen, wohingegen das Zentrum - im Wesentlichen ungeschwächt- auf 23.591 Stimmen kam. Weit abgeschlagen die SPD (2.349), die KPD (l.989) und die Deutschnationalen (,,Kampffront Schwarz-weiß-rot") ( 1.123)!20 Dieses Ergebnis blieb allerdings auch für Olpe ohne Belang. Bald darauf verlor Schrage nicht nur seine politischen Ämter, sondern auch seine berufliche Stellung. Ohne finanzielle Ansprüche wurde er 1933 entlassen? Seine soziale Lage schien angesichts der großen Familie, welche er zu ver­ sorgen hatte, aussichtslos. Er war auf die Unterstützung von Angehörigen, persönlichen und politischen Freunde angewiesen. Durch seinen politischen Gesinnungsfreund Lambert Lensing jun. aus Dortmund, nach dem Ende der Hitler-Diktatur maßgeblicher Mitbegründer und 1. Vor­ sitzender der CDU von Westfalen-Lippe, erhielt er eine Anstellung als „Botenbetreuer" bei der von diesem verlegten Tageszeitung „Tremonia", die ursprünglich von Lambert Lensing sen., dem Vater, zusammen mit dessen Bruder Heinrich als „Organ für das katholische Volk" und Sprach-

17 Franz Neuhaus: Geschichte der Gewerkschaft (wie Anm. 6), S. 32 f. 18 Nach Franz Neuhaus: Geschichte der Gewerkschaft ( wie Anm. 6), S. 35. Zur Arbeitslosigkeit im Kreise Olpe auch Horst Ruegenberg: Die Wirtschaftsgeschichte des Kreises Olpe (wie Anm. 4), S. 267 -270, der u.a. daraufhinweist, dass die im März 1933 registrierten ca. 5.000 Arbeitslosen etwa 67 % der Arbeitnehmer ausgemacht hätten. 19 Jochen Krause: Menschen der Heimat (wie Anm. 2), S. 93. :!l 50 Jahre Wahlen in Nordrhein-Westfalen 1919 - 1968, Düsseldorf 1969 (=Beiträge zur Statistik des Landes Nordrhein-Westfalen Heft244), S. 54 f. 21 Tonis Hamischmacher: Die Ehrenbürger (wie Anm. 2), S. 1383; Joachim Krause: Menschen der Heimat (wie Anm. 2), S. 93 f.; Josef Schrage-Von den Nazis verfolgt (wie Anm. 2), S. 22. Bei Franz Neuhaus: Geschichte der Gewerkschaft (wie Anm. 6), S. 33, heißt es, dass Schrage „der erste von allen Arbeitsamts­ direktoren in Südwestfalen" gewesen sei, der entlassen wurde.

116 Josef Schrage ( 1881-1953) rohr des Zentrums gegründet worden war.22 Auch wenn deren Grundtendenz nach 1933 eine erhebliche Abschwächung erfuhr, liegt es auf der Hand, dass die Zeitung vor allem von ein­ stigen Zentrumsanhängern weiter gelesen wurde. So setzte die neue Aufgabe, welche zugleich eine gewisse Mobilität verlangte, Schrage in die Lage, zahlreiche Kontakte zu politisch Gleich­ gesinnten über den engeren räumlichen Lebensbereich hinaus weiter aufrechtzuerhalten oder gar zu entwickeln.23 Dabei reifte in dieser Zeit in den zahlreichen Begegnungen mit politischen Gesinnungsfreunden die Vorstellung, die faktische konfessionelle Begrenzung des einstigen Zentrums für den Fall einer Rückkehr Deutschlands zur Demokratie zugunsten der Gründung einer überkonfessionel­ Ien christlichen Partei zu überwinden, zumal solcherlei Ideen schon zu Beginn der Zwanziger­ jahre in der von Adam Stegerwald angeführten Christlichen Gewerkschaftsbewegung intensiv erörtert worden waren. So wurde bereits vor Ende des Krieges Schrages Haus zu einer Begegnungs­ stätte, in welcher sich christliche Gewerkschafter, einstige Zentrumspolitiker und andere ve1trau­ enswürdige Persönlichkeiten regelmäßig trafen, um eine derartige Parteigründung gedanklich vor­ zubereiten, worauf sich zurückgreifen ließ, sobald die politischen Umstände dieses ermöglich• ten.24

Politischer Neubeginn nach dem Kriege

Obwohl Schrage bei Kriegsende als eine Schlüsselfigur für den politischen und administrativen Wiederaufbau der Stadt galt, bestimmten die Amerikaner, welche den Raum kurz zuvor mili­ tärisch eingenommen hatten, Mitte April 1945 nicht ihn, sondern einen ortsfremden Unterneh­ mer, auf den sie zufällig als Dolmetscher aufmerksam geworden waren, zum provisorischen Bür• germeister von Olpe.25 Auf nachhaltiges Betreiben eines örtlichen Pfarrers und weiterer lokaler Honoratioren auch aus dem Unternehmerbereich wurde Schrage aber bereits am 1. Mai 1945 zu dessen Nachfolger als hauptamtlicher Bürgermeister ernannt.26 Als solcher konnte er maß­ geblich die Zusammensetzung des bald darauf gebildeten „Beratenden Ausschusses" als eine Art kommunales Vorparlament beeinflussen.27 Dabei galt es, vielfältige Aufgaben zu bewältigen: Trüm• merbeseitigung, Wohnraumbewirtschaftung, Brennstoff- und Lebensmittelversorgung, die Vor­ bereitung der Rückführung von Zwangsarbeitern, erste Planungen für den Wiederaufbau der Stadt,

22 Vgl. Carl Höckner: Chronik der CDU des Kreises Olpe. Herausgegeben zum 40jährigen Bestehen des CDU­ Kreisverbandes Olpe 1945- 1985, Olpe 1985, S. 205. Zur „Tremonia" im „Dritten Reich" u.a.: Kurt Koszyk: Die katholische Tagespresse im westfälischen Ruhrgebiet von 1870 bis 1949, Schwerte 1982, insbes. S. 19 ff. 23 Den vorliegenden Aspekt betont vorallem Michael Olberts: Der Wiederbeginn (wie Anm. 5), S. 30 f. 24 Ebd., S. 54 f. 25 Manfred Schöne: Die Bürgermeister (wie Anm. 2), S. 192 f. 26 Olpe unter amerikanisch-britischer Besatzung . Aus dem Nachlass des verstorbenen Pastors Franz Menke. Eine Chronik aus dunklen Tagen, Hrsg. Manfred Schöne, Olpe [ 1958) ( 12 Seiten); Manfred Schöne: Die Bürgermeister (wie Anm. 2), S. 193 f. 27 Michael Olberts: Der Wiederbeginn (wie Anm. 5), S. 32; Verwaltungsbericht der Stadt Olpe 1948- 1952, Hrsg. Stadtverwaltung Olpe [ 1952), S. 8 f.

117 Erhard H. M. Lange die zahlreichen Luftangriffen ausgesetzt gewesen war, sowie die Vorbereitung einer neuen kommunalen Satzung, die nach der Übernahme der Besatzungshoheit durch die Briten, welche in Olpe am 2l. Juni 1945 erfolgt war, - englischen Vorbildern folgend -eine doppelte kom­ munale Spitze aus ehrenamtlichem Bürgermeister und hauptamtlichem Stadtdirektor vorzusehen hatte.28 Bevor es schließlich zur Verwirklichung der kommunalen Neuorganisation kam, wurde Schrage Ende April 1946 zum ehrenamtlichen Landrat des Landkreises Olpe bestellt, womit sich sein Rücktritt von den anderen kommunalen Ämtern der Stadt Olpe verband. Das Amt des Landrates sollte Schrage auch nach den ersten Kommunalwahlen, die in der britischen Zone für die Stadt- und Landkreise am 13. Oktober 1946 stattfanden, weiterführen und - in der nachfolgenden Zeit mehrmals wieder gewählt-bis zu seinem freiwilligen Verzicht im Herbst 1953 ausüben.29 Aber auch auf der Ebene der Parteipolitik spielte er nach dem Kriege in Olpe eine führende Rolle. Dabei forderte er von Anfang an, dass die „christliche Weltanschauung" Grundlage für den Wiederaufbau des deutschen Volkes werden müsse. Seine Stellung als Bürgermeister bot ihm die besten Voraussetzungen, schon früh für den Gedanken der Wiederbelebung einer christli­ chen Partei zu wirken. Die sich aus seiner amtlichen Tätigkeit ergebende größere Mobilität ermöglichte es ihm zudem, bereits in den ersten Monaten nach dem Kriege eine Anzahl von Kontakten zu andernorts bestehenden Gründungsinitiativen zur Bildung einer überkonfessionel• Ien christlichen Partei aufzunehmen, die sich vornehmlich im Ruhrgebiet zügig entwickelten.30 Doch der eigentlichen lokalen Parteigründung in Olpe sollte die offizielle Gründung der Christ­ lich Demokratischen Partei Westfalens ( die sich später in Christlich Demokratische Union, Landesverband Westfalen, umbenannte) vorausgehen, welche am 2. September 1945 in Bochum erfolgte. Schrage wurde in den aus 24 Mitgliedern bestehenden Parteivorstand gewählt, dessen Vorsitz Lensing und aus Herford als Repräsentant des protestantischen Parteiflügels (letzterer als 2. Vorsitzender) übernahmen.31 Als einer der Hauptsprecher des Par­ teitages stellte Schrage bei der Gelegenheit das Zusammengehen der beiden christlichen Volks­ teile als ein historisches Ereignis dar und schloss mit der Feststellung, dass ,jeder, der es ehrlich meine, ... zur Mitarbeit in der Partei willkommen" sei.32 Damit war ein Signal auch für die lokale Parteigründung in Olpe gesetzt! Nachdem Schrage diese vor Ort durch mehrere Treffen eines als Gründungskern gedachten kleineren Kreises sorgfältig vorbereitet hatte, kam es schließlich am 22. September 1945 zur offiziellen Bildung des Kreisverbandes

28 Vgl. Michael Olberts: Der Wiederbeginn (wie Anm. 5), insbes. S. 32-49. ~ Vgl. Der Kreis Olpe 1945- 1949. Nachdruck des Verwaltungsberichtes 1945 -1949 des Landkreises Olpe, Olpe 1989, S. 64; Kreistagssitzung in Olpe. Jos. Metten zum neuen Landrat gewählt, in: Sauerländisches Volksblatt v. 23. l 0. 1953. :!ll Vgl. Michael Olberts: Der Wiederbeginn (wie Anm. 5), S. 54 f. 31 Dazu u.a.: Horstwalter Heitzer: Die CDU in der britischen Zone 1945-1949. Gründung, Organisation, Programm und Politik, Düsseldorf 1988, insbes. S. 83-90; ferner Friedrich Brickwedde: Die Frühgeschich• te der westfälischen CDU (Masch.-Phil.-Magisterarbeit), Münster 1978, S. 28-35; Hans Georg Wieck: Die Entstehung der CDU und die Wiederbegründung des Zentrums im Jahre 1945, Düsseldorf 1953, S. 115-133,S.122f. 32 Bericht der Gründungsversammlung v. 2. 9. 1945, in: Christliche Demokratische Union Westfalen-Lippe. Dokumente des Anfangs, Hrsg. Christlich Demokratische Union Deutschlands. Landesverband Westfalen­ Lippe, Dortmund 1986, S. 5.

118 Josef Schrage (1881-1953)

Olpe als Teil der Christlich Demokratischen Partei Westfalens. Selber konnte Schrage allerdings auf der lokalen Ebene kein offizielles Parteiamt übernehmen, da sich nach den von den Briten erlassenen Vorschriften ein solches Amt nicht mit seiner Stellung als hauptamtlicher Bürgermeister vertrug. Erst nach der Übernahme seiner ehrenamtlichen Funktion als Landrat sah er sich in der Lage, im April 1946 den Vorsitz des CDU-Kreisverbandes Olpe zu übernehmen, als dessen „heim• licher Vorsitzender" er ohnedies bereits zuvor gegolten hatte. Jedoch sollte er im Juni 1947 „wegen Arbeitsüberlastung" nicht mehr für den Kreisvorsitz kandidieren, zumal inzwischen sein Interesse über den lokalen Bereich hinaus verstärkt auf die Landespolitik gerichtet war.33

Gründerzeit: Münster - Düsseldorf - Bonn

Mit der Gründung des Landes Nordrhein-Westfalen im August 1946,welche u.a. mit der Auflösung der einstigen preußischen Provinzen Westfalen und Rheinland einherging, eröffneten sich neue politische Handlungsebenen. Zugleich stellte sich damit verstärkt die Frage nach der Fortexistenz der historisch überkommenen Provinzialverwaltung als übergeordnetem Kommunalverband, wel­ che es gedanklich von der eigentlichen staatlichen Verwaltungsebene der Provinzialregierung, deren Aufgaben nunmehr an das Land übergegangen waren, zu unterscheiden galt. 34 Gerade in Westfalen wurde diese Frage mit besonderem Nachdruck gestellt. Und Josef Schrage als einstiges langjähriges Mitglied des Provinziallandtages in Münster ( 1921-1933) gehörte zweifellos zu denjenigen aus dem Kreise westfälischer Kommunalpolitiker, welche sich am stärksten für den Gedanken landschaftlicher Selbstverwaltung engagierten.35 So übernahm er auch den Vorsitz des als Repräsentationsorgan kommunaler Interessen im Laufe des Jahres 1946 gebildeten „Vorläufigen Provinzialausschusses" (später ,,Beratenden Ausschusses"), der für Westfalen als eine Art Vorläufer der ,,Landschaftsversammlung" angesehen werden kann. 36 Allerdings verging bis zur Bildung der Landschaftsverbände noch einige Zeit! Erst am 6. Mai 1953 verabschiedete der nordrhein-west­ fälische Landtag die Landschaftsverbandsordnung als gesetzliche Grundlage. Landespolitisch zählte es dabei wohl zu Schrages größten politischen Erfolgen, im Landtag maßgeblich zu einer parla­ mentarischen Verständigung in der damals äußerst kontroversen Angelegenheit beigetragen zu haben. 37

33 Carl Höckner: Chronik der CDU (wie Anm. 22), S. 11 ff.

:,i Vgl. dazu insbes. das Rechtsgutachten von Ernst Friesenhahn v. 22. 2. 1947, auszugsweise bei Helmut Naunin: Dokumente zur Entstehung der Landschaftsverbandsordnung v. 12. Mai 1953, in: Westfälische Forschungen 14 (1961), S. 168-225, S. 194 f. 35 Vgl. Peter Hüttenberger: Nordrhein-Westfalen und die Entstehung seiner parlamentarischen Demokratie, Siegburg 1973, S. 523. 36 Offiziell nahm der erstmals im Oktober 1946 zusammengetretene Ausschuss in seiner 5. Sitzung am 26. 4. 1948 die Bezeichnung „Vorläufiger Ausschuß der Provinzialverwaltung" an. - Vgl. Alfred Bruns (Hrsg.): Die Abgeordneten (wie Anm. 14), S. 125; dazu auch Helmut Naunin: Entstehung und Sinn der Landschaftsverbandsordnung in Nordrhein-Westfalen, in: Westfälische Forschungen 13 ( 1960), S. 119- 170, S. l 38 f.; femer S. l 23. 37 Der herausragende Anteil Schrages am parlamentarischen Gesetzgebungsprozess findet seinen konzentrier­ testen Ausdruck in dem bei Helmut Naunin: Entstehung und Sinn (wie Anm. 36), in Anm. 27 zu S. 128, zusammengefassten Gang des Gesetzgebungsverfahrens, bei dem Schrage in jeder Phase maßgeblich in Erscheinung tritt.

119 Erhard H. M. Lange

Dem Landesparlament gehörte Schrage seit Ende 1946 an, als der am 2. Oktober 1946 in Düsseldorf noch auf der Grundlage von Ernennungen konstituierte Landtag im Hinblick auf die Ergebnisse der ersten Kommunalwahlen umgebildet wurde und die CDU zu ihren bisher 66 Mandaten noch weitere 26 hinzu bekam. Bei den am 20. April 1947 folgenden ersten Landtagswahlen wurde schließlich sein Mandat auch unmittelbar durch den Wähler bestätigt, gewann er doch den Wahlkreis Olpe mit einer sicheren Mehrheit von 54,3 %.38 Letzteres bedeutete allerdings nicht, dass er sich nunmehr in erster Linie als Landespolitiker verstand, dem die lokale Verankerung nur noch als Grundlage für weitergehende landespolitische Am­ bitionen diente. Dem entsprach es, dass er auch nach der Gründung der Bundesrepublik, an welcher er als Mitglied des Parlamentarischen Rates aktiven Anteil hatte, keinerlei Anstalten machte, um dem Beispiel Vieler folgend, nunmehr endgültig auf der Bundesebene Fuß zu fassen. 39 Dabei wurde sein praktisches Handeln vor allem von drei wesentlichen Grundzügen bestimmt: Der Idee kommunaler Selbstverwaltung, welche in eine tiefe Bindung an die nähere Heimat eingebettet war; dem in der katholischen Soziallehre wurzelnden Grundsatz der Subsidiarität, der sich für ihn nicht nur räumlich, sondern auch gesellschaftspolitisch realisierte; sowie der von ihm vorausgesetzten Vorstellung mitmenschlicher Solidarität, die er sozialistischem Streben nach Lenkung von oben und liberalem Bedürfnis nach extensiver Entfaltung des Individuums ent­ gegensetzte. So galten seine ersten öffentlichen Beiträge im Plenum des Landtags, wo er zunächst nur zurückhaltend das Wort ergriff, alltäglichen, damals die Menschen beschäftigenden Fragen, wie Hausratsbeschaffung für Flüchtlinge und Evakuierte oder den finanziellen Unterhalt für vorma­ lige berufsmäßige Wehrmachtsangehörige und deren Hinterbliebene.40 Als besonderes Anliegen widmete er sich zudem der Vorbereitung eines Gesetzes zur Errichtung der Provinzial verbände. In Abstimmung mit den kommunalen Spitzenverbänden des Landes brachte er am 28. Februar 1949 den „Entwurf einer Provinzialordnung" als erste offizielle Vorlage zu dem Gegenstand in den Landtag ein. Der Initiativantrag der „Abgeordneten Schrage und Genossen" war sowohl von Abgeordneten der CDU als auch der SPD und des Zentrums, vornehmlich aus Westfalen, unterzeichnet worden. 41 Das darin enthaltene Anliegen kam allerdings erst in der 2. Legislatur­ periode zum Zuge. Zuvor aber standen andere verfassungspolitische Fragen im Vordergrund: die Beratung des Grundgesetzes in Bonn und die der Landesverfassung in Düsseldorf. Schrage zählte zu den 17 Abgeordneten, welche der nordrhein-westfälische Landtag der Bevölkerungsstärke des Landes entsprechend im August 1948 in den Parlamentarischen Rat nach Bonn entsandte. Obwohl er nicht als ausgesprochener Verfassungspolitiker gelten konnte, ließ sich seine Benennung durch die CDU-Landtagsfraktion wohl als Absicht werten, neben den beiden einstigen rheinischen Oberbürgermeistern Adenauer (Köln) und Lehr (Düsseldorf), dem ost­ westfälischen evangelischen LandwirtAdolfBlomeyer, dem Dortmunder Verleger Lambert Lensing

38 Vgl. 50 Jahre Landtag Nordrhein-Westfalen. Das Land und seine Abgeordneten, Hrsg. Landtag Nordrhein­ Westfalen, Düsseldorf 1996, S. 475 f.; 50 Jahre Wahlen (wie Anm. 20), S. 100 (betr. 1947). 11 Von den (einschl. einem Nachrücker) 18 Ratsmitgliedern aus Nordrhein-Westfalen zogen zwölf im Jahre 1949 und eines erstmals im Jahre 1953 (Johannes Brockmann) in den ein. ~ Vgl. Landtag NRW. Stenogr. Bericht 1. W.P., 21. Sitzung v. 28. 11. 1947, S. 110 ff.; 26. Sitzung v. 9. 12. 1947, S. 70 f.; 41. Sitzung v. 28. 4. 1948, S. 283 ff.; 64. Sitzung v. 3. 11. 1948, S. 1111. 41 Landtag NRW. Drucksache 1. W.P. ll-894.

120 Josef Schraoe (1881-1953) und der Wuppertal er Sozialexpertin auch einen Vertreter aus dem Hochsauerland, dazu des christlich-sozialen Parteiflügels, zu beteiligen.42 Im Parlamentarischen Rat, der für seine Arbeiten an der künftigen Verfassung eine Vielzahl von Ausschüssen bildete, gehörte Schrage als ordentliches Mitglied dem Grundsatz- und dem Wahlrechtsausschuss an.43 Auch wenn er zu den weitgehend regelmäßigen Teilnehmern der Sitzungen zählte, war er nicht der Mann, der sich mit Wortbeiträgen in den Vordergrund drängte. Zu bedenken gilt es allerdings, dass sich in dem aus zwölf Mitgliedern bestehenden Grundsatzausschuss, der vor allem für den Entwurf einer Präambel, den Grundrechtsteil und die Staatssymbolik zuständig war, viele der führenden Verfassungspolitiker der damaligen Zeit zusammenfanden, darunter allein vier Profes­ soren. Unter ihnen war der überragende, geistvolle sozialdemokratische Verfassungspolitiker Carlo Schmid, dessen geschliffene Rhetorik sich im Ausschuss mit der Eloquenz des ihm gleichrangigen späteren Bundespräsidenten maß. Hinzu kamen die beiden fachlich versierten Juristen Hermann von Mangoldt, der den Ausschuss leitete, und aus Hessen. Ihnen zur Seite der Historiker Ludwig Bergsträßer, einer der besten Kenner der Paulskirchen-Verfassungsgebung aus dem 19. Jahrhundert. Wäre es da nicht für einen Mann wie Schrage vermessen gewesen, sich auf die Ebene staats- und verfassungstheoretischer Grundsatzdiskussionen zu begeben? So blieben seine wenigen Sachbeiträge in erster Linie auf soziale Alltagsprobleme bezogen und waren praktischer Lebenserfahrung entnommen. Dabei warnte er vor allem vor der Formulierung von einzelnen Grundrechten, vornehmlich sozialen Inhalts, welche „unter den gegenwärtigen Zeitverhältnissen falsche Hoffnungen erwecken und zu falschen Schlussfolgerungen verlocken" könnten. 44 „Man sollte", so Schrage an anderer Stelle, möglichst „nicht mehr sagen, als unbe­ dingt notwendig".45 Auch im Wahlrechtsausschuss, der nicht nur die in das Grundgesetz auf­ zunehmenden allgemeinen Wahlrechtsgrundsätze beriet, sondern auch das 1. Bundestagswahl­ gesetz vorbereitete, verhielt sich Schrage zurückhaltend. Dabei erwies er sich grundsätzlich als Anhänger eines einfachen Mehrheitswahlrechts. 46 Als sich schließlich die CDU/CSU-Fraktion im Parlamentarischen Rat veranlasst sah, um eines Gesamtkompromisses zum Grundgesetz willen ihre Ambitionen auf ein einfaches Mehrheitswahlrecht zurückzustellen, war dieses für Schrage Anlass, die Mitgliedschaft im Wahlrechtsausschuss niederzulegen. 47

42 Zur Teilnahme der Vertreter Nordrhein-Westfalens an den Bonner Grundgesetzberatungen: Karl Josef Denzer (Hrsg.): Nordrhein-Westfalen und die Entstehung des Grundgesetzes, Düsseldorf 1989, insbes. S. 121 - 192; Rudolf Morsey: Nordrhein-Westfalen und der Parlamentarische Rat, in: derselbe, Von Windthorst bis Adenauer. Ausgewählte Aufsätze .. ., Paderborn u.a. 1997, S. 498-517. 43 Außerdem war Schrage stellvertretendes Mitglied des Haupt-, des Organisations- und des Besatzungsstatut­ ausschusses. - Vgl. Harald Rosenbach in der Einleitung zu: Der Parlamentarische Rat 1948- 1949. Akten und Protokolle Bd. 6: Ausschuss für Wahlrechtsfragen, Bearb. Harald Rosenbach, Boppard-Rh. 1994, S. XV. 44 Der Parlamentarische Rat 1948- 1949. Akten und Protokolle Bd. 5n: Ausschuss für Grundsatzfragen, Bearb. Eberhard Pikart/Wolfram Werner, Boppard-Rh. 1993, S. 39. 45 Der Parlamentarische Rat 1948- 1949 (wie Anm. 44), Bd. 5/ll: Ausschuss für Grundsatzfragen, Boppard­ Rh . 1993, S.701.

.,i; Vgl. Harald Rosenbach in der Einleitung zu: Der Parlamentarische Rat 1948-1949 Bd. 6 (wie Anm. 43), S. XV. 47 Siehe Sitzung der CDU/CSU-Ratsfraktion v. 4. 5. 1949, vormittags, in: Rainer Salzmann (Bearb.). Die CDU/ CSU im Parlamentarischen Rat. Sitzungsprotokolle der Unionsfraktion, Stuttgart 1981, S. 542, wo es heißt: „Abg. Schrage bittet, ihn von der Mitarbeit im Wahlrechtsausschuß zu entbinden, da er für kein [sie !] Kompromiß eintreten kann als Anhänger des reinen Mehrheitswahlsystems."

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Es dürfte ihn überdies kennzeichnen, dass er seinen umfangreichsten Redebeitrag zum Grund­ gesetz nicht im Parlamentarischen Rat, sondern in der nachfolgenden Verfassungsdebatte des Landtages leistete. Nachdem der Parlamentarische Rat am 8. Mai 1949 das Grundgesetz mit breiter Mehrheit, der auch Schrage angehörte, verabschiedet hatte, waren nämlich die Landtage am Zuge. Denn das Grundgesetz wurde nur wirksam, wenn dieses auch in Zweidritteln der Landespar­ lamente mehrheitlich Zustimmung fand. Schrage, der in der maßgeblichen Landtagsdebatte vom 20. Mai 1949 als Hauptsprecher der CDU-Fraktion auftrat, verteidigte vor allem den in Bonn gefundenen kulturpolitischen Kompromiss gegen die heftige Kritik des Zentrums, dessen beide Vertreter dem Grundgesetz ihre Zustimmung versagt hatten. Nachhaltig bekannte er sich dabei zu den traditionellen christlichen Werten, sowie Ehe und Familie als „tragende Gemeinschaften". Doch angesichts der schicksalhaften Lage, in welcher man sich derzeit befinde, habe man den realen Mehrheitsverhältnissen Rechnung tragen müssen. ,,Ich würde mich als deutscher Mensch mein Leben lang schämen", äußerte sich Schrage mit einer für ihn ungewöhnlichen Schärfe an das Zentrum gewandt, ,,wenn ich einmal eine so klägliche Haltung in einer so wichtigen deut­ schen Frage eingenommen hätte". 48

Zwischen Landratsamt und Landtag - Die Anfangsjahre der Bundesrepublik

Seine Teilnahme an den Bonner Grundgesetzarbeiten veranlassten Schrage allerdings nicht, wie Konrad Adenauer, oder Helene Weber ein Mandat im ersten Bundestag anzustreben, obwohl er angesichts seiner lokalen Verankerung dafür die besten Aussichten besessen hätte. Doch es war vor allem die Verbundenheit mit den konkreten Problemen seiner engeren Heimat, welche ihm den Verzicht nahe legte. Stattdessen unterstützte er einen rund dreizehn Jahre jüngeren Heimatvertrie­ benen, den aus Oberschlesien ausgewiesenen und nunmehr in lebenden christdemokrati­ schen Vertriebenenpolitiker , der wie er aus der Christlichen Gewerkschaftsbewe­ gung kam und dann in der Tat den Wahlkreis Meschede-Olpe gewann. 49 Schrages politisches Feld aber blieben weiter Kommune und Landtag. In seine Amtszeit als Landrat fiel bald nach der Währungsreform die Wiederaufnahme der großen Talsperrenpläne im Biggetal aus der Vorkriegszeit, ein tiefgreifender Eingriff in die Umwelt, welcher um der Wasserversor­ gung des bevölkerungsreichen Ruhrgebietes willen nach der Fertigstellung der Talsperre im Jahre 1965 das Landschaftsbild grundlegend verändern sollte. Mit allen nur möglichen Argumenten hat sich Schrage zunächst gegen das Vorhaben, durch das rund 2.400 Menschen Haus und Hof aufgeben mussten, zur Wehr gesetzt. Doch angesichts des unerwartet schnellen industriellen Wachstums im Ruhrgebiet in den Anfangjahren der Bundesrepublik konnte man sich schließlich im Interesse des Ganzen der Notwendigkeit des Vorhabens kaum verschließen.50

48 Landtag NRW. Stenogr. Bericht, 1. W.P., 95/96. Sitzung v. 20. 5. 1949, S. 2326 ff. 49 Carl Höckner: Chronik der CDU (wie Anm. 22), S. 15. Zur Biographie von Hermann Ehren u.a.: Amtliches Handbuch des Deutschen Bundestages 3. W.P., Darmstadt 1958, Biographische Angaben der Abgeordneten, S. 107. !il Theo Hundt: Die neuere Geschichte des Kreises Olpe (wie Anm. 16), S. 188 f.; dazu auch Albert K. Hömberg: Heimatchronik des Kreises Olpe (wie Anm. 4), S. 331 - 338 (,,Die Biggetalsperre-Aufgabe und Bedeu­ tung").

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Weitere Aufgaben warteten auf Schrage im Landtag. Am 2. September 1949 wurde er als Nachfolger Adenauers zum Vorsitzenden der CDU-Landtagsfraktion gewählt, zumal er zunächst einer der drei Stellvertreter gewesen war. Allerdings sollte er nur ein „Übergangsvorsitzender" bleiben. Bereits unmittelbar nach den 2. Landtagswahlen, in denen er seinen Direktstimmenanteil in Olpe noch hatte erhöhen können, gab er Mitte Juni 1950 den Vorsitz wieder ab. Entsprechend verhielt es sich mit dem Vorsitz des Hauptausschusses, welchen er einen Monat nach dem Fraktionsvorsitz übernommen hatte.51 Dabei gelang es ihm kaum, in seinem Amt ein eigenständiges Profil zu gewinnen. Die Fraktion war zu der Zeit in nahezu zwei gleich starke Gruppen gespalten, die sich u.a. an der Frage rieben, ob nach den Landtagswahlen von 1950 die bisherige „Große Koalition" mit den Sozialdemo­ kraten unter fortgesetzt oder diese durch eine „Bürgerliche Koalition" nach Bonner Muster ersetzt werden sollte.52 Bundeskanzler Adenauer, der auf ein Zusammengehen mit den Freien Demokraten drängte, machte entschieden Druck. Gegenüber seinem Amtsnachfolger im Fraktionsvorsitz ließ er nur wenig Respekt erkennen und versuchte, diesen in die von ihm gewünschte Richtung zu lenken.53 Als ein Affront eigener Art ließ es sich überdies werten, dass Adenauer nach den Wahlen vor der Bildung der neuen Düsseldorfer Regierung die landespo­ litischen Spitzen seiner Partei zu einem Gespräch in Rhöndorf versammelte, ohne den Frakti­ onsvorsitzenden Schrage und den von der CDU bisher gestellten Ministerpräsidenten Karl Arnold, dem Schrage politisch besonders nahe stand, daran zu beteiligen.54 Solcherlei instinktgeleiteter Ausübung von Macht stand der Landtagsabgeordnete aus Olpe letzt­ lich wehrlos gegenüber. Er galt, wie Ludger Gruber jüngst in einer Untersuchung über die CDU­ Landtagsfraktion in Nordrhein-Westfalen festgestellt hat, ,,persönlich als aufrechter Politiker, der jedoch nicht zu taktieren vermochte" .55 So wurde er denn nach rund neun Monaten von Wilhelm lohnen aus Jülich, gleichfalls Landrat wie Schrage, doch eine eigenwillige, taktisch versierte Persönlichkeit, abgelöst. Stattdessen erhielt er einige Wochen später den „Ehrenvorsitz" der Fraktion angedient.56 Außerdem übernahm er Ende Oktober 1950 als eine Art Kompensation den Vorsitz des Kommunalpolitischen Ausschusses, wobei aber die Beratung der neuen Gemeinde-, Amts­ und Kreisordnung einem speziell dafür gebildeten Sonderausschuss zugewiesen war.57 In der Folgezeit galt Schrages Hauptinteresse vor allem der Schaffung einer Landschafts­ verbandsordnung zur Sicherung landschaftlicher Selbstverwaltung, für deren parlamentarische Vor­ bereitung der KommunalpolitischeAusschuss zuständig war. Ja, man wird wohl sagen können, dieses wurde zu seinem eigentlichen landespolitischen Anliegen. Allerdings hat der Anteil Schrages in der verwaltungshistorischen Forschung noch nicht die gebührende Aufmerksamkeit gefunden. Denn diese konzentrierte sich bisher vor allem auf die beteiligten Hauptvertreter aus dem Bereich der

51 50 Jahre Landtag (wie Anm. 38), S. 475. Zur Charakterisierung als „Der Übergangsvorsitzende": Ludger Gruber: Die CDU-Landtagsfraktion in Nordrhein-Westfalen 1946- 1980. Eine parlamentshistorische Un­ tersuchung, Düsseldorf 1998, S. 32 f. 52 Ludger Gruber: Die CDU-Landtagsfraktion (wie Anm. 51), S. 32 f. 53 Vgl. Brief Adenauer an Schrage v. 22. 4. 1950, in: Adenauer Briefe 1949- 1951, Bearb. Hans Peter Mensing, Berlin 1985 (Rhöndorfer Ausgabe), S. 196; Brief Adenauer an Schrage v. 6. 5. 1950, daselbst S. 206.

;i Ludger Gruber: die CDU-Landtagsfraktion (wie Anm. 51 ), S. 312. 55 Ebd., S. 32. 56 Ebd., S. 32; 50 Jahre Landtag (wie Anm. 38), S. 475. 57 50 Jahre Landtag (wie Anm. 38), S. 475.

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Exekutive.58 Letzteres ist indessen inzwischen verschiedentlich auf Vorbehalte gestoßen. So hat etwa Janbemd Oebbecke bemängelt, dass bei der Beschreibung der Gründerjahre der landschaftlichen Selbstverwaltung Persönlichkeiten wie Schrage gegenüber anderen Beteiligten, wie dem zweifellos besonders wichtigen damaligen westfälischen Landeshauptmann Bernhard Salzmann, zu sehr in den Hintergrund träten.59 Und auch Peter Hüttenberger hat in seiner Untersuchung zur Entstehung der Parlamentarischen Demokratie in Nordrhein-Westfalen die zusätzliche Bedeutung Schrages für das Zustandekommen der Landschaftsverbandsordnung besonders hervorgehoben. 60 Hierzu dürfte zu berücksichtigen sein, dass zu Beginn der Gesamtdiskussion Vertreter sehr unterschiedlicher Vorstellungen und Zielsetzungen im Spiele waren: So unter anderem Befürwor• ter der Schaffung von Gegenkräften gegenüber einer als zu mächtig empfundenen Landes­ zentralgewalt, Anhänger einer Stärkung der administrativen Mittelinstanzebene, Vertreterpartei­ politischer oder ständischer Interessen, schließlich aber auch Verfechter eines älteren genossen­ schaftlichen Wurzeln zuzurechnenden kommunalen Selbstverwaltungsansatzes.61 Innerhalb des hier nur andeutungsweise skizzierten Spektrums von Meinungen und Interessen trat Schrage als der wohl nachhaltigste Verfechter eines historisch begründeten kommunalen Selbstverwaltungs­ konzepts in Erscheinung. Eine Schlüsselstellung nahm er dabei zunächst im Kreise der westfälischen Landräte ein, die seine Vorstellungen mehrheitlich unterstützten.62 Vor allem aber war er im nordrhein-westfä• Iischen Landtag wohl der maßgebliche Initiator und Motor des parlamentarischen Entschei­ dungsprozesses um die umstrittene Landschaftsverbandsordnung. Denn auch nachdem der von ihm im Februar 1949 eingebrachte Initiativantrag, der von 33 Abgeordneten unterzeichnet worden war, zu versanden drohte,63 trieb Schrage die Angelegenheit im Kommunalpolitischen Ausschuss weiter voran. So konnte er am 21. September 1950, dem Tage der Regierungserklärung der unter Karl Arnold nach den Wahlen neu gebildeten Landesregierung aus CDU und Zentrum, welche die bisherige CDU-SPD-Zentrums-Koalition ablöste, im Landtag einen neuen Initiativ­ antrag einbringen,M der von 34 Abgeordneten der CDU und des Zentrums unterstützt worden

58 So etwa Helmut Naunin: Entstehung und Sinn (wie Anm. 36), S. 119-170; der Tendenz nach entsprechend: Al fred Hartlieb von Wallthor: Die landschaftliche Selbstverwaltung, in: Westfälische Geschichte, Hrsg. Wilhelm Kohl, Bd. 2: Das 19. und 20. Jahrhundert. Politik und Kultur, Düsseldorf 1983, S. 165-209, insbes. S. 197 - 204. :JJ Janbemd Oebbecke: Der Landschaftsverband Westfalen-Lippe, in: Karl Teppe (Hrsg.): Selbstverwaltung und Herrschaftsordnung. Bilanz und Perspektiven landschaftlicher Selbstverwaltung in Westfalen, Münster 1987, S. 69-87, S. 71. ro Peter Hüttenberger: Nordrhein-Westfalen (wie Anm. 35), S. 523. 61 Vgl. dazu die Dokumentation bei Helmut Naunin: Dokumente zur Entstehung der Landschafts­ verbandsordnung (wie Anm. 34), insbes. S. 187-225. 62 So u.a. auf der Mitgliederversammlung des Landkreistages in Oelde am 15. 11. 1949, wo sich die Teilnehmer nach Vorträgen der Landräte Dresbach (Vors.) und Schrage in einer an die Landesregierung und an den Landtag gerichteten Entschließung bei 5 Gegenstimmen und 6 Enthaltungen für die Bildung zweier Provinzial­ verbände aussprachen. - Helmut Naunin: Entstehung und Sinn (wie Anm. 36), S. 124. 63 Landtag NRW. Drucks. ll-894 v. 28. 2.1949. Angesichts der in dieser Zeit im Vordergrund der Landtags­ arbeiten stehenden Beratungen der Landesverfassung verfiel der Antrag am Ende der Legislaturperiode dem Grundsatz der Diskontinuität. 61 Landtag NRW. Drucks. 2. W.P. Nr. 30 v. 21. 9. 1950. - Dazu Helmut Naunin: Entstehung und Sinn (wie Anm. 36), S. 143.

124 Josef Schrage (1881-1953) war. Bereits fünf Tage später fand die erste parlamentarische Lesung statt, in welcher Schrage den Entwurfbegründete. 65 In mehr als zwanzig Sitzungen nahm sich in der Folgezeit der Kom­ munalpolitische Ausschuss der weiteren Beratung an, wobei auch Vorschläge der Regierung Berücksichtigung fanden. 66 Ein derart erarbeiteter neuer Entwurf konnte Mitte Dezember 1952 abermals dem Plenum des Landtages vorgelegt werden .67 Als dann schließlich die Landschaftsverbandsordnung am 6. Mai 1953 endgültig das parlamentarische Gesetzgebungs­ verfahren passierte,68 konnte Schrage zu Recht als einer der politischen Hauptgeburtshelfer gelten. Es ergab sich, dass ihm einige Monate später, am 4. November 1953, die Genugtuung zuteil wurde, die erste Landschaftsverbandsversammlung von Westfalen-Lippe im Landeshaus von Münster als Alterspräsident zu eröffnen. Bei der Gelegenheit nannte es Innenminister , welcher die Begrüßungsansprache hielt, ,,mehr als ein(en) Zufall", dass gerade Schrage, ,,der sich so unentwegt für die Schaffung neuer Grundlagen einer landschaftlichen Selbstver­ waltung eingesetzt" habe, nun für das Amt des Altersvorsitzenden berufen sei. ,,Wir wollen das", so Meyers, ,,als ein Symbol dafür nehmen, dass sich das, was er bei der Schaffung des Gesetzes mit verwirklichen half, in der Praxis zum Segen des gesamten Landschaftsver­ bandes auswirken wird."69 Niemand ahnte zu diesem Zeitpunkt, dass der so Geehrte wenige Tage später nicht mehr unter den Lebenden weilen würde. Schrittweise hatte er zuvor, möglicherweise das Ende fühlend, seinen Rückzug aus seinen politischen Ämtern eingeleitet. Am 22. Oktober 1953 hatte er sein Amt als Landrat niedergelegt,7 0 am 19. November den Vorsitz im Kommunalpolitischen Ausschuss des Landtages.71 Zu seinem Rücktritt als Landrat war ihm von Ministerpräsident Karl Arnold das ihm vom Bundespräsidenten verliehene Große Verdienstkreuz des Verdienstordens der Bundes­ republik überreicht worden.72 Bereits zuvor anlässlich seines siebzigsten Geburtstages hatte ihn seine Vaterstadt Olpe Anfang Mai 1951 zum Ehrenbürger ernannt. 73 Aber dann traf ihn, dessen Leben sich gerundet zu haben schien, der Tod doch unverhofft. Am späten Abend des 27. November 1953 ist Josef Schrage im Anschluss an eine Kreistagssitzung an den Folgen eines Gehirnschla­ ges verstorben.74

5 6· Landtag NRW. Stenogr. Bericht. 2. W.P. 15. Sitzung v. 27. 2. 1951 , S. 456 f. 66 Helmut Naunin: Entstehung und Sinn (wie Anm. 36), S. 144. 67 Landtag NRW. Drucks. 2. W.P. Nr. 971.

(;j Landschaftsverbandsordnung v. 12. 5. 1953, in: GVOBI. NRW 1953, S. 271 ff. m Innenminister Franz Meyers, in: Verhandlungen der 1. Landschaftsversammlung Westfalen-Lippe im Landes­ haus zu Münster v. 4. 11 . 1953, S. 24. ~ Vgl. Theo Hundt: Die neuere Geschichte des Kreises (wie Anm. 16), S. 189; Kreistagssitzung in Olpe. Jos. Metten zum neuen Landrat gewählt, in: Sauerländisches Volksblatt v. 23. 10. 1953. 71 50 Jahre Landtag (wie Anm. 38), S. 475. 72 Sauerländisches Volksblatt v. 23. 10. 1953; Heimatstimmen aus dem Kreise Olpe 1953 (13. Folge), S. 818. 73 Tonis Hamischmacher: Die Ehrenbürger (wie Anm. 2), S. 1382 ff. 74 Landrat a. D. Josef Schrage, Olpe t, in: Sauerländisches Volksblatt v. 30. 11 . 1953; Abschied von Landrat a.D. Schrage, in: Sauerländisches Volksblatt v. 2. 12. 1953; Josef Schrage t, in: Heimatstimmen aus dem Krei se Olpe 1954 (14. Folge), S. 858.

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Was bleibt

Anlässlich der Trauerfeier, welche der Landtag am 14. Dezember 1953 beging, sprach Landtags­ präsident Gockeln davon, dass Josef Schrages „Denken und seine politischen Zielsetzungen dem heimatgebundenen Wirken am nächsten" gewesen seien.75 So würde es denn auch seine Persönlich• keit verfehlen, den Blick bei einer abschließenden Würdigung in erster Linie von oben her, der Ebene der Landespolitik oder seines kurzen Bonner Wrrkens, auf ihn zu richten. Der politische Weg Schrages entfaltete sich von unten in aufsteigenden Linien, ,,bürgernah", wie man es später zu nennen pflegte, wobei er die unteren Kreise besonders kräftig auszog. Er war, wozu er sich schon in den Jahren der Weimarer Republik entwickelt hatte, in erster Linie Kommunalpolitiker, welcher die nächst höhere Ebene, die einstige Provinz, von den kleineren örtlichen Lebensbereichen her dachte. Erst dann kam das Land und schließlich der Bund. Nicht, dass er damit die größere Einheit gering veranschlagt hätte. Doch er dachte und handelte vom überschaubaren, vertrauten Lebensbereich her. Dabei war er stets Handwerker, nicht visionärer Architekt der Politik. Seine politischen Ziele ergaben sich aus den praktischen Anforderungen seines regionalen Umfeldes. Auch fühlte er sich zeit seines Lebens seiner Herkunft aus dem Arbeiterstande eng verbunden. ,,Er blieb Arbeiter bis er starb", so konnte sein Fraktionskollege Wilhelm Johnen anlässlich der Trauerfeier im Landtag feststellen. Zugleich hob Johnen aber auch hervor, dass sich Schrage stets „gleichberechtigt, ohne ein Gefühl des Minderwerts, auch ohne ein Gefühl des Höherwerts, neben den anderen Beru­ fenen, gleich welcher Vorbildung, gleich welcher Art" empfunden habe. 76 Auf der so genannten „höheren Ebene der Politik" ist Schrage in der Gegenwart weitgehend vergessen. Welcher aus der jüngeren Generation der Landespolitiker erinnert sich heute noch seiner, von der Bundesebene ganz zu schweigen? In seinem Heimatort Olpe hingegen werden die Bürger in der Öffentlichkeit nach wie vor an ihn erinnert. Anlässlich des 40. Jahrestages des Grundgesetzes, am 23. Mai 1989, erhielt das Areal vor dem Westeingang des Kreishauses den Namen „Landrat-Josef-Schrage-Platz". 77 Der Ort seiner Ehrung als symbolischer Hinweis auf den inhaltlichen Bereich, welcher den Kern seines politischen Denkens und Handelns aus­ gemacht hat, hätte nicht besser gewählt werden können. Auf diese Weise wurde ein Politiker geehrt, der beispielgebend für die große Schar von Kommu­ nalpolitikern steht, die täglich ihr politisches Handwerk verrichten, dabei vor allem praktischen Le­ bensfragen des Alltags zugewandt und ohne die Absicht, je nach den leuchtenden Fixsternen am Politikerfrrmament zu greifen. Gerade in der Zeit, als es vor mehr als fünfzig Jahren darum ging, Bürgersinn und demokratische Lebensfonnen wieder zu entfalten und erlebbar zu machen, besaß diese Aufgabe ihr besonderes, zusätzliches Gewicht. In diesem Sinne gewann zudem die Wahl des Zeitpunktes der posthumen Ehrung Schrages ihre Bedeutung. Denn der Jahrestag des Grundge­ setzes, unter dessen Original auch Josef Schrage seine Unterschrift gesetzt hat, erinnerte zugleich an die Werte, welche die Gründergeneration der Bundesrepublik als Erbe hinterließ.

75 in: Landtag NRW. Stenogr. Bericht. 2. W.P., 95. Sitzung v. 14. 12. 1953, S. 3523 (=Trauerfeier aus Anlass des Ablebens der Abg. Josef Schrage [CDU] und Fritz Henßler [SPD]). 76 Wilhelm lohnen (CDU) in: Landtag NRW. Stenogr. Bericht (wie Anm. 75), S. 3524. 77 Vgl. den Erinnerungsartikel: Josef Schrage im Parlamentarischen Rat. Ein „Vater" des Grundgesetzes kam aus Olpe, in: Westfälische Rundschau (Ausgabe Olpe) v. 22. 5. 1999.

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