Sendung vom 28.1.2014, 21.00 Uhr

Dr. Antje Vollmer Bundestagsvizepräsidentin a. D. und Autorin im Gespräch mit Werner Reuß

Reuß: Verehrte Zuschauer, ganz herzlich willkommen zum alpha-Forum. Unser heutiger Gast ist Dr. Antje Vollmer. Sie gehörte 1983 zur ersten Fraktion der Grünen im Deutschen . Sie war mit wenigen Unterbrechungen Mitglied des Hohen Hauses bis zum Jahr 2005 und sie war Vizepräsidentin des Deutschen Bundestags von 1994 bis 2005, um nur einige ihrer Stationen zu nennen. Ich freue mich, dass Sie hier sind, herzlich willkommen, Frau Dr. Vollmer. Vollmer: Schönen guten Tag. Reuß: Eigentlich sind Sie ja 2005 offiziell aus der aktiven Politik ausgeschieden, aber Sie sind immer noch eine sehr gefragte Gesprächspartnerin und man sucht Ihre Expertise. Es gibt ja dieses schöne Zitat des ehemaligen bayerischen Ministerpräsidenten Edmund Stoiber: "Ein wirklich politischer Mensch kann das Politische gar nicht hinter sich lassen, selbst wenn er es wollte." Und Rudolf Dreßler von der SPD sagte mal: "Politik ist auch eine Sucht." Waren Sie auch ein Politik-Junkie? Vollmer: Mit Einschränkungen. Was ich nicht abstellen kann, ist, dass ich mir jeden Morgen mit der Teetasse in der Hand durch meine Zeitung ein Bild im Ganzen mache. Und auch dieses schnelle Erfassen, das man in der Politik hat, kann ich nicht abstellen: Man beschleunigt die Wahrnehmung selbst der Details, auch der Konfliktlagen usw. Das hört nicht auf. Ich ertappe mich auch öfters dabei, dass ich mir denke: "Jetzt mal so und so eingreifen, um die Situation zu drehen." Das spielt sich jedoch alles nur in meinem Kopf ab. Aber das ist nur die eine Seite, denn ich glaube, dass ich zu den glücklichen Leuten gehöre, die selbstbestimmt Schluss gemacht haben. Diese Entscheidung, aufzuhören im Jahr 2005, war ganz und gar meine eigene Entscheidung. Und damit hat mich das auch wirklich freigemacht. Alles in allem war das nicht nur selbst gewählt, sondern irgendwie auch ein respektvoller Schluss. Und er war früh genug, sodass ich mich noch einmal neu erfinden konnte. Das ganz große Glück meiner Zeit jetzt ist eigentlich, dass ich als Autorin angefangen habe, mich in ganz große historische Bereiche zu versenken, die mich mein Leben lang interessiert haben, vor allem die vergessenen Widerstandskämpfer vom 20. Juli. Je tiefer ich in dieses Thema hineingekommen bin, umso fassungsloser bin ich darüber, wie wenig sich die Deutschen um diese Gruppe, die doch so klein gewesen ist, um diese Gruppe sozusagen von zehn Gerechten gekümmert hat: Niemand wollte wissen, was das eigentlich für Leute waren, diese wenigen, die sich anders verhalten haben als die große Mehrheit. Dass ich das machen kann, dass diese Bücher Leser finden und dass ich auch meine eigene Sicht der Sache verändern kann, ist ein großes Glück. Denn das waren ja durchaus Leute, die ich früher, in meiner 68er-Zeit, sehr mit Abstand gesehen hätte. Dass ich heute die Ruhe habe, die Dinge ganz anders abzuwägen und mich ihnen noch einmal völlig neu zu nähern, empfinde ich als ein ganz großes Glück. Heute sprechen mich fast mehr Leute auf diese Bücher an als auf meine politische Zeit. Reuß: Sie haben es soeben gesagt, Sie haben selbst entschieden, aus der aktiven Politik auszuscheiden. Sie haben dazu mal so schön gesagt, Sie wollten sich selbst in die Freiheit entlassen. Macht denn Politik ein Stück weit unfrei? Ist man zwischen Fraktion, Partei, Interessengruppen doch auch ein bisschen ein Getriebener? Vollmer: Ja, auf jeden Fall. Deswegen ist es ja auch sehr wichtig – das ist überhaupt in allen Dingen sehr wichtig und stellt auch ein Stück meiner politischen Lebensphilosophie dar –, dass man immer einen freien Ausgang bzw. einen Ausweg hat, dass man nie – und zwar auch existenziell nie – in eine Situation kommt, in der man nicht mehr frei wählen kann, weil man es sich z. B. nicht leisten kann, sich mit Mächtigen in der Partei anzulegen. Das ist der Hauptgrund, warum es wichtig ist, dass die Leute neben der Politik noch einen Beruf haben. Vieles, was man fürs politische Geschäft braucht, kann man im Beruf nicht lernen. Wichtig aber ist, dass man weiß, wer man ist, und dass man seinen Platz im Leben auch dann findet, wenn man sich mit allen Parteioberen angelegt hat und sie einen nicht wieder aufstellen wollen. Bei mir persönlich ging es damals ja um die Afghanistan-Entscheidung: Ich war von Anfang an eine starke Kritikerin – und bin das auch heute noch – dieses sogenannten Kriegs gegen den Terror. Ich bin vor allem deswegen dagegen, weil ich überhaupt nicht an seinen Erfolg glaube. Das zog sich durch, das war ja eine der großen, belastenden Entscheidungssituationen auch in der rot-grünen Koalition. Reuß: Sie haben sich damals im Bundestag der Stimme enthalten. Vollmer: Nein. Ganz am Ende musste ich mit Ja stimmen, denn es durften insgesamt nur vier grüne Abgeordnete mit Nein stimmen, weil Gerhard Schröder sonst die von ihm damit verbundene Vertrauensfrage verloren hätte. Es ging dann um die Frage, ob ich mit Nein stimmen darf oder ob ein blutjunger Abgeordneter, ein ganz leidenschaftlicher Pazifist, mit Nein stimmen darf. Ich habe daraufhin gesagt: "Mein Ja ist ein Nein und ich kann das auch öffentlich begründen." Ich hätte das nämlich damals als eine unrechtmäßige Auflösung des Parlaments empfunden – und ich empfinde das heute noch so. Ich bin Gerhard Schröder sehr dankbar dafür, dass er nein zum Irakkrieg gesagt hat: Das werde ich ihm auch nie vergessen, denn das empfinde ich bis heute als einen Höhepunkt unserer rot-grünen Koalition. Aber in dieser Situation war er nicht der starke Gerhard Schröder, sondern er meinte, er müsse den starken Mann machen und er müsse auch die Kritiker und Gegner dieses Kurses in seiner eigenen Fraktion dazu zwingen. Deswegen hat er eben diese Frage der Beteiligung der Bundeswehr am Krieg in Afghanistan mit der Vertrauensfrage verbunden: "Habe ich das Vertrauen, mit dieser Regierung weitermachen zu können?" Auf diesen Teil der Frage konnte man als Mitglied der Regierungsfraktion ja schlechterdings nicht mit Nein antworten, das hat nur die CDU/CSU so gemacht. Aber an sich war es so, dass im Hinblick auf den Afghanistan-Krieg schon früher angekündigt hatte, dass sie da noch viel freiwilliger mitmarschieren würde als die rot-grüne Koalition. Das heißt, in der Sache konnte man sowieso nichts entscheiden, man konnte nur für sein eigenes Seelenheil sorgen. Reuß: Als Sie 1984 mit zwei anderen Kolleginnen zur gleichberechtigten Fraktionssprecherin der Grünen-Fraktion gewählt wurden, haben Sie gesagt: "Ich habe keine Lust, ein Star zu werden." Und an anderer Stelle haben Sie mal gesagt: "Ich bin gar nicht optimal ausgestattet fürs öffentliche Leben, ich bin eigentlich menschenscheu." Sind Sie am Ende aufgrund der Tatsache, dass Sie eine der profiliertesten Vertreterinnen der Grünen waren, nicht doch ein Star geworden? Vollmer: Aber es stimmt schon, was ich gesagt habe: Ich bin medienscheu und auch eher menschenscheu. Reuß: Ist das immer noch so? Vollmer: Ja, das ist auf eine bestimmte Weise immer noch so. Das hat mir auch in mancher Hinsicht Schwierigkeiten gemacht. Das hat sich auch manchmal in meiner Stimme ausgedrückt. Ich habe dann natürlich schon auch gemerkt, dass die Leute dann, wenn man jemandem anmerkt, dass er etwas sagen will, weil er sich sehr lange mit einer Materie beschäftigt hat, bis er ein Urteil gefunden hat, diese gewisse Scheu, diese gewisse Sprödigkeit manchmal sogar als Erleichterung empfinden und genauer zuhören. So habe ich dann irgendwie gelernt, damit zu leben. Aber am Anfang war das natürlich nicht ganz leicht, weil das in einer solchen Sphäre – in der eigentlich die Alphatiere die Dinge bestimmten und in der man immer oben auf der Welle schwimmen muss und auch ausstrahlen muss: "ich habe Macht und ich weiß es!" – nicht so häufig zu finden ist. Aber ich habe dann ja sehr oft in Bereichen arbeiten können, in denen ich etwas sehr lange vorbereiten konnte, bevor ich dann mit doch schon ziemlich guten Ergebnissen an die Öffentlichkeit treten konnte. Nehmen wir mal das Beispiel des "Dialogs mit Terroristen". Das war ja und ist bis heute ein hochgefährliches Thema. Reuß: Das bezog sich auf den Dialog mit den RAF-Terroristen. Vollmer: Der RAF-Terror war für die Bundesrepublik der damaligen Jahre mindestens genauso belastend, wie das heute der al-Qaida-Terrorismus für die USA ist. Reuß: Sie haben diesen Dialog bereits in einer Zeit gesucht, als die RAF noch aktiv war. Vollmer: Heute denke ich mir manchmal und heute muss selbst ich sagen, dass das wirklich höchst risikoreich gewesen ist. Es war höchst risikoreich, noch während gemordet wurde, während man noch gar nicht wusste, wie viele von diesen Terroristen es im Untergrund eigentlich gibt, diesen Terroristen bereits einen Dialog anzubieten. Das hat natürlich auch entsprechend heftige und brutale Konsequenzen gehabt: Damals hatte auch ich die dicken Balken in der Bild-Zeitung. Reuß: Sie sind damals als "Sympathisantin" usw. beschimpft worden. Vollmer: Ja, und wenn wieder ein Mord passiert ist, sollte ich mich persönlich bei der Familie der Opfer entschuldigen, denn ich hätte diese Mörder unterstützt. Seit der Zeit weiß ich jedoch viel: Erstens weiß ich, was es heißt, am Pranger zu stehen. Seit dieser Zeit habe ich eigentlich auch immer auf Leute geachtet, die plötzlich im Zentrum einer solchen Kampagne stehen, und darauf geschaut, wie es ihnen geht. Ich habe aber auch begriffen, dass auch leise Leute geradestehen und so eine Situation überleben können. Ich befand mich damals in dieser Situation wirklich absolut mit dem Rücken an der Wand. Es gab damals ja sogar Kritik aus der eigenen Fraktion, z. B. von usw. Reuß: Otto Schily sagte: "Mit Leuten, die einen Genickschuss verantworten, mit denen unterhält man sich nicht." Vollmer: Ja, "mit denen unterhält man sich nicht". Reuß: Er spielte damit u. a. auf die Ermordung von Hanns Martin Schleyer an. Vollmer: Genau. Ich habe jedoch gesagt: Die bisherigen Methoden der Verfolgung haben doch nicht zum Ziel geführt, und die Annahme, "einmal Terrorist, immer Terrorist", muss bei dieser Gruppe nicht stimmen. Ich habe fast magisch versucht, mich in diese Persönlichkeiten hineinzudenken, ob es da nicht doch irgendwo einen Zugang geben könnte, um sie zum Gewaltverzicht zu motivieren. Reuß: Gab es denn damals vonseiten der RAF-Terroristen eine Reaktion auf Ihre Bemühungen? Vollmer: Ja, es gab sogar ganz erstaunliche Reaktionen. Eigentlich ist das ein sehr verblüffender politischer Prozess gewesen, weil gerade die Heftigkeit der Angriffe auf uns, also auch Christa Nickels und mich – wir beide hatten damals diesen Brief geschrieben –, etwas ausgesagt hat. Eigentlich hatten wir ja nur einen Besuch im Gefängnis machen wollen, um uns über die Lage zu informieren und zu gucken, ob da jemand einen Draht finden kann, sie so in Gespräche verwickeln kann, dass sie am Ende vielleicht eigenständig der Gewalt abschwören. Denn das war die eigentliche Absicht. Weil aber bereits dieser Dialogversuch öffentlich dermaßen gescholten und angegriffen wurde und so viel Aufregung in der gesamten Republik erzeugt hat, hat das offensichtlich bei einigen der Inhaftierten dazu geführt, dass sie gesagt haben: "Wir reagieren mal auf diesen Dialogversuch." Und es gab dann in der Tat eine Antwort. Daraus habe ich dann später ein ganzes Projekt gemacht, zu dem auch Gespräche mit staatlichen Instanzen gehörten wie z. B. mit , mit Justizminister Engelhard usw. Aber auch jemand wie Martin Walser war in diesen Gesprächen mit dabei oder Ernst Käsemann, dessen Tochter Elisabeth Käsemann in den 70er Jahren in Argentinien von der Militärjunta erschossen worden war. In diesen Gesprächen haben sich beide Seiten auf eine bestimmte Weise bewegt. Ich bin bis heute der Meinung, dass das zwar kein politisches Meisterstück geworden ist, aber dass es dann weniger als zehn Jahre später doch zu dieser Gewaltverzichtserklärung der RAF gekommen ist. Daran hatten diese frühen Dialogversuche doch ihren Anteil. Das war immer meine Idee dabei gewesen: Man muss reinkommen in die Köpfe der Leute, um zu wissen: Können sie sich überhaupt noch bewegen? Reuß: , der damalige Innenminister, hatte das ja auch versucht. Vollmer: Er hatte natürlich als Innenminister auch eine Gestaltungsvollmacht. Bei uns bestand die Schwierigkeit jedoch darin, dass wir uns in einer völlig minoritären Oppositionsrolle befanden. Wir mussten über unseren Stand im Parlament und in der Gesellschaft überhaupt erst noch streiten. Durch diese Angriffe auf uns wollte man faktisch sagen: "Grüne sind halbe Sympathisanten von Gewalttätern!" Wir jedoch haben gesagt: "Eine pazifistische Lösung ist das, was wir als Pazifisten nun anstreben müssen." Wenn das gefährlich ist für uns, weil dann die halbe Welt über uns herfällt, dann gehört das doch genau zu unseren bürgerschaftlichen und zivilrechtlichen Strategien. Dass man damit eine gewisse öffentliche Verwirrung und eine Debatte erzeugt, schafft die Möglichkeit, alte Fronten auflösen zu können. Ich hatte immer die Idee, dass es für die Gesellschaft und die Politik am schlimmsten ist, wenn sich zwei Formationen in voller Kampfstärke gegenüberstehen und aufmarschieren und die gesamte Bevölkerung genötigt wird, sich der einen oder anderen Seite zuzuordnen. Genau das war ja eigentlich die Logik des Kalten Kriegs. Ich habe immer gefunden, Freiheit ist, wenn sich Einzelne aus diesen Kampfformationen lösen und in der Mitte zwischen den Fronten miteinander Dialoge führen und sich kennenlernen, wenn der eine oder andere vielleicht sogar ein Grenzgänger ist und Botschaften von der anderen Seite der Barrikade bringt, damit man dann auch weiß, worin eine Lösung liegen kann. Reuß: Aber geht das denn heute überhaupt noch? Wir leben ja in einer Mediendemokratie und man hat oft den Eindruck, dass es weniger auf Inhalte und mehr auf Wirkung ankommt. Der ehemalige Bundesgeschäftsführer der SPD meinte einmal: "Der Unterschied zwischen einem Schauspieler und einem Politiker ist nicht prinzipiell, sondern eher graduell." Sie selbst haben einmal gesagt: "Politik ist immer auch Theater im öffentlichen Raum." Und in einem Zeitungsartikel haben Sie beschrieben, dass sich auch die Kanzlerin Angela Merkel inszeniert, vielleicht sogar inszenieren muss. Und Sie haben auch vom "großen Staatstheater mit der Lufthoheit über die Bild- Zeitung" gesprochen; echte Politik sei eigentlich bilderarm. Was bedeutet das? Sind wir Gefangene der Mediengesellschaft? Muss heute bilderarme Politik in Symbolen ausgedrückt werden? Braucht es Symbole, um überhaupt bilderarme Politik machen zu können? Oder gibt es gar keine echte Politik mehr, sondern nur mehr Symbolpolitik? Vollmer: Es gibt relativ viel Symbolpolitik und es gibt relativ viel Inszenierung. Und das war auch meine Kritik an Angela Merkel. Damals ging es um das Bild, dass sie sozusagen an der Spitze aller Bürgerrechtler die Mauer durchbricht. Jeder, der ihre Geschichte kennt, weiß, dass das nicht ihre wirkliche Geschichte war, sondern dass sie früher eher sehr opportunistisch gewesen ist: Deswegen gehört sie nicht in dieses Bild, dass sie die Speerspitze gewesen sei, hinter die sich große Bürgerrechtler oder jemand wie Lech Walesa oder Michael Gorbatschow einzureihen haben. Ich fand, da ging die Inszenierung wirklich zu weit. Da ging es nicht nur um die Kanzlerin, die eingeladen hatte, sondern die von sich ein Bild rüberbringen wollte. Tatsächlich braucht es große Bilder – auch bei dramatischen Dingen. Der kniende in Warschau z. B. war ein bildhafter Ausdruck einer völlig neuen Politik. Reuß: Das war das Bild für die neue Ostpolitik. Vollmer: Das war eben keine nachgestellte Szene, die so gar nicht gestimmt hat – wie das Bild von Angela Merkel auf der Oberbaumbrücke –, sondern das war der Ausdruck für: "Ich knie hier für mein schuldbeladenes Volk und ich bitte um eine andere Form des Ausgleichs und der Versöhnung." Dies steckte in diesem Bild drin. Ich komme noch einmal auf den Dialog mit der RAF zurück: Wenn ich Besuche im Gefängnis gemacht habe, dann hat das keiner gesehen. Aber es hat auch keiner gesehen, wenn ich einen Besuch bei gemacht habe und auch bei nicht. Ich wollte auch einen Besuch bei Franz Josef Strauß machen: Es wäre damals bei den Grünen selbst hoch gefährlich gewesen, wenn man versucht hätte, so weit jenseits der Parteigrenze miteinander zu reden. Warum aber musste ich mit denen sprechen? Weil sie alle damals in diesem Krisenstab gesessen haben. Ich wusste, dass das Trauma der Bundesrepublik in diesem Krisenstab in dieser Regierung angefangen hat. Und die Mitglieder dieses Krisenstabs hatten damals auch Fantasien: Sie hatten z. B. die Fantasie, mit diesem Terror und seinen Sympathisanten käme eine Bedrohung auf die Bundesrepublik zu, die so schlimm ist wie der Nationalsozialismus. Merkwürdigerweise war ein Teil der RAF-Fantasie, wenn deren Mitglieder ihre Lage beschrieben haben, ebenfalls mit Bildern aus der NS-Zeit belegt. Ulrike Meinhof war da ganz besonders erfinderisch. Ein Teil des Mythos', den sie zu kreieren versucht haben und der dazu geführt hat, dass sich selbst Intellektuelle für sie interessiert haben, hatte mit dieser Vergangenheit zu tun. Da wusste ich, das waren Bomben. Denn Mythen sind auch Bomben: Man muss sie entschärfen, man muss sie entlarven. Und man muss sagen: "Kommt mal raus aus euren Bildern und trefft euch mal in der echten, realen, heutigen Wirklichkeit!" Wir sind jetzt zwar wieder bei diesem Dialog angekommen, aber das liegt wohl einfach daran, dass das eine sehr wichtige Erfahrung für mich gewesen ist: Man muss viele Dinge zuerst einmal im Geheimen vorbereiten, weil man in der Öffentlichkeit dafür nur dann Zustimmung finden kann, wenn man bereits ein gutes Stück dieser "Bombenentschärfung" geschafft hat. Reuß: Durch das, was Sie soeben gesagt haben, haben Sie es eigentlich schon fast beantwortet, dennoch würde ich das gerne genauer fragen. Sie haben einmal gesagt: "In meinem Kopf bin ich immer eine Dissidentin gewesen." Sie waren also eine Andersdenkende in Ihrem Kopf: Inwiefern dachten Sie anders? Und anders als wer? Vollmer: Ich glaube, ich spüre ganz schnell, wenn etwas monokulturell und triumphal wird. Meine Philosophie über das Leben ist aber, dass die Schöpfung und die ganze Welt und auch die Wahrheit über die Dinge und Sachverhalte sich nie alleine in einer Macht und einer Kraft bündelt. Immer dann, wenn ich merke, dass etwas zu mächtig, zu bestimmend wird, zu viel Applaus bei der Mehrheit hat, interessiere ich mich für die Wahrheiten derer, die jetzt gerade am Verlieren sind. Das ist aber auch meine Idealvorstellung von Demokratie. Demokratie sehe ich eigentlich als ein ganz großes Palaver um Wahrheitsanteile, um Lösungsmodelle, um unterschiedliche Wege, eine bestimmte konfliktreiche Situation zu lösen. Und im Idealfall ist das Parlament dafür die Arena: Das Parlament ersetzt den Bürgerkrieg. Aber es ersetzt vor allem auch die Diktatur einer großen, potenten und übermächtigen Macht, die meint, sie müsse auf niemanden mehr hören, weil sie ja das Recht des Stärkeren auf ihrer Seite hat. Deswegen war ich ja auch so fasziniert von der Entspannungspolitik von Willy Brandt. Deswegen habe ich auch diese Grenzüberschreitung gesucht zwischen dem Krisenstab, zu dem ich eine Empathie entwickeln musste, und den verhafteten RAF-Leuten, bei denen ich begreifen musste, warum sie damit überhaupt angefangen haben. Denn das waren ja Kinder aus gutem Haus und für mich stellte sich zuerst einmal die Frage: Warum haben sie überhaupt das Morden angefangen? Ich hoffe, Sie halten mich nun nicht für hybrid, aber im Grunde ist das dieselbe Situation wie die Situation in New York nach dem 11. September: Da gab es auf der einen Seite eine traumatisierte, aber sehr mächtige, in ihrer Substanz durch die Anschläge vom 11. September eigentlich auch nicht bedrohte Supermacht. Denn man darf nicht vergessen: Die Amerikaner hatten ja gerade den Kalten Krieg gewonnen. Sie waren als System, als Freiheitsmodell weltweit unglaublich erfolgreich. Und dann passierte ihnen das! Auf der anderen Seite gab es diese "Desperados" aus einer Welt, für die wir uns ganz offensichtlich nicht interessiert hatten und die wir in diesem Moment auch sicherlich nicht verstanden haben. Das hat jetzt nichts mit Moral zu tun, denn das ist eine Frage der Intelligenz, aber ich habe mir gedacht: Man muss hier wirklich so lange nachfragen, bis man weiß, warum diese Akteure so handeln, wie sie handeln. Gut, das bekommt man nie ganz heraus, aber darum muss man sich bemühen. Erst dann, wenn man das geschafft hat, wenn man quasi in die Köpfe der Akteure hineingekommen ist, kann man berechnen, kann man folgern, wie sie sich entwickeln können, wie sie sich entwickeln werden. Der Konflikt zwischen Israel und Palästina stellt sozusagen den traumatischen Weltkonflikt dar und ich finde, dass es da immer schon daran gemangelt hat, dass es diese Grenzgänger nicht wirklich gibt, diese Grenzgänger, die auch Auskunft darüber geben, wie sich die eine oder andere Seite entwickeln könnte. Reuß: Wir haben jetzt einen weiten Sprung gemacht von der RAF zu al-Qaida. Aber vielleicht gibt es da ja doch etwas Verbindendes, wenn man sich deren Geschichte jeweils genauer anschaut. Es ist bei jungen Menschen heute nicht mehr so präsent, was die Rote Armee Fraktion eigentlich gewesen ist, wie sie entstanden ist, was alles passiert ist, wie der Staat reagiert hat, wie die Terroristen reagiert haben. Würden Sie sagen, dass es unserem Land gut täte, wenn man sich mit diesem Teil der Geschichte wieder intensiver beschäftigen würde, weil dieser Teil unserer Geschichte vielleicht auch ein bisschen darüber Auskunft geben kann, warum es Terrorismus gibt? Ich meine damit ein Verstehen nicht im Sinne von Verständnis haben, sondern im Sinne von nachempfinden können. Gibt es also jeweils ähnliche Wurzeln von Terrorismus? Geht es da um Missachtung, mangelnde Beachtung, geht es um Glaubensfragen usw.? Gibt es da für Sie Verbindungen und wäre es daher Ihrer Meinung nach gut, wenn man sich mit diesem Teil unserer Geschichte wieder beschäftigen würde? Vollmer: Ich bin sogar ganz sicher, dass das so ist – und ich bin übrigens auch nicht alleine dieser Meinung. Ich habe darüber mal einen Artikel geschrieben – und wer hat mir u. a. darauf geantwortet? Horst Herold! Horst Herold war damals der BKA-Chef, der die Strategie des Kampfes gegen die RAF entwickelt hat. Er hat im Laufe der Jahre eben auch sehr viel über die Frage nachgegrübelt: Was hilft hier und was hilft hier nicht? Ich bin mir ganz sicher, dass es da Ähnlichkeiten gibt. Wenn man überhaupt etwas erreichen will auf diesem Gebiet, ist es übrigens ganz wichtig, dass man die erste Generation und deren Köpfe erreicht. Denn da kann man noch begreifen, warum ein Konflikt entstanden ist. Wenn sich aber die Auseinandersetzung zwischen Staat und Terrorismus erst einmal in die dritte und vierte Generation weiterentwickelt hat, wie das bei der ETA in Spanien und bei der IRA in Nordirland der Fall gewesen ist, dann ist es wahnsinnig schwer, da wieder herauszukommen. Denn dann hat man eigentlich nur noch mit Illegalen, mit Kriminellen und mit anonymen Figuren zu tun. Die Anführer von solchen gewalttätigen Gruppen aber kommen in der Regel alle aus gutem Haus, die Anführer von al-Qaida haben doch alle im Westen studiert! Die kannten und kennen den Westen doch. Hoffentlich versteht man, warum ich das jetzt so ausdrücke, wie ich es ausdrücke: Diese Menschen sind übermoralisch motiviert! Sie sind oft von sektenartiger religiöser Gläubigkeit. Sie sind junge Leute und deswegen zum Selbstmord bereit. Denn nur dann, wenn man so jung ist, ist einem das Leben quasi gar nichts wert. Das sind aber auch narzisstische Persönlichkeiten: Sie sehnen ihr Märtyrertum geradezu herbei. Und sie werden gerade darum von ihren Anhängern anerkannt, weil die größte Macht der Welt sagt: "Wir verstehen euch als Kriegsführer! Wir müssen daher in einen Krieg gegen den Terror eintreten." Das wirkt für diese Seite fast wie eine Anerkennung. Damit wird die Sache dann aber töricht. Das heißt, auch diese Mythen muss man demontieren, denn das sind Zeitbomben. Man darf diesem Mythos nicht selbst erliegen, sondern man muss sagen: "Wir sind die größte Macht der Welt, wir sind die westliche Welt, wir sind die freiheitlichen Gesellschaften. Ihr könnt tun, was ihr wollt, ihr werdet es nicht schaffen, uns in dieser inneren Substanz von Freiheit auch nur zu irritieren. Wir erkennen euch einfach nicht an, wir geben euch gar nicht das Recht, über unsere Methoden zu entscheiden. Wir wollen unser Leben so leben, wie wir das wollen." Das wäre die richtige Botschaft gewesen, aber die konnte man am Anfang ganz sicher noch nicht so formulieren. Heute jedoch bin ich davon überzeugt, dass der Westen in seinem Innersten nie wirklich bedroht war. Wenn der Westen überhaupt bedroht ist, dann durch das, was er mit sich selbst anstellt: nämlich durch den Abbau von Freiheiten. Aber diejenigen Gesellschaften, in denen die heutigen Terroristen groß geworden sind, haben noch einen unendlich weiten Weg vor sich zu stabilen, rechtstaatlichen Demokratien. Ich finde, wir helfen diesen Gesellschaften auf diesem Weg zu wenig. Wir versetzen uns viel zu wenig in die wahnsinnigen Schwierigkeiten dieser Gesellschaften, die sie haben, wenn sie diesen Weg gehen wollen. Stattdessen fordern wir ihnen immer noch mehr ab. Dabei sind wir doch diejenigen, die im Vorteil sind: Wir sind es, die in Dialoge eintreten könnten – auch über Werte. Reuß: Lassen Sie uns jetzt einen kleinen Schnitt machen, denn ich würde Sie gerne auch ein wenig mit Ihrer Biografie vorstellen, damit man nachvollziehen kann, woher Ihre Einstellungen kommen, was Sie in Ihrer Sozialisation geprägt hat. Sie sind in Lübbecke, also im Nordosten Nordrhein-Westfalens geboren. Vollmer: Ich bin Ostwestfälin. Und das bedeutet immer eine gewisse Dickköpfigkeit oder zumindest, dass man nicht so schnell aus der Bahn zu schubsen ist. Reuß: Sie haben Evangelische Theologie studiert und ein Zweitstudium absolviert, nämlich Erwachsenenpädagogik. Und Sie waren – wenn man das nachliest, dann klingt das unglaublich beeindruckend – in der Evangelischen Heimvolkshochschule Bethel tätig, die heute Bodelschwinghsche Stiftungen Bethel heißt. "Bethel" leitet sich, wenn ich das richtig weiß, aus dem Hebräischen ab und bedeutet so viel wie "Haus Gottes". Das war und ist ein Zentrum für Menschen, die an Epilepsie erkrankt sind, an psychischen Erkrankungen usw. Es leben dort aber auch wohnungslose Menschen, junge Leute, die soziale Probleme haben. Sie waren dort als Dozentin und als Pädagogin tätig und haben dort einige Jahre gearbeitet. Was war konkret Ihre Aufgabe dort? Und war diese Tätigkeit nicht etwas sehr Kraftzehrendes? Vollmer: Es war anfangs sehr kräftezehrend, denn ich war als Dozentin einer ländlichen Heimvolkshochschule angestellt worden. Diese Heimvolkshochschule hatte mal zu Zeiten der großen Bodelschwinghs mit 20-jährigen jungen Leuten angefangen. Das war nach dem Chaos des Ersten Weltkriegs, als man gesagt hat, man müsse die Bildung nun auch aufs Land tragen. Diese 20-Jährigen waren aber, als ich dorthin kam, bereits über 80 Jahre alt und eigentlich wollte ich doch gar nicht in die Altenbildung eintreten. Deswegen habe ich dann selbst ein wenig gesucht – ich kam schließlich aus , aus der Studentenbewegung –, was es dort noch gibt. Ich fand so etwas wie die 68er-Bewegung auf dem Lande bei der Landjugend. Diese jungen Leute trugen gerade viele Kämpfe mit dem Bauernverband aus und vor allem waren sie gerade dabei, ihre Höfe in Richtung Ökolandbau umzustellen. Das heißt, durch einen reinen Zufall, nämlich durch diese Stellenbesetzung, kam ich genau in die Anfänge der Umsetzung der Ökologiebewegung in die Praxis. Ich habe dann auf vielen Höfen mitbekommen, wie schwer das ist und mit wie viel Selbstausbeutung und Risiko es verbunden ist, diese Höfe umzustellen. Aber diese jungen Bauern waren eben auch gleichzeitig diejenigen, die die Trecker für Gorleben hatten, die also in der Anti-AKW-Bewegung aktiv waren. Denn das war damals ja definitiv keine städtische Bewegung, sondern es war die Bevölkerung auf dem Land, die bei dieser Bewegung das Rückgrat gebildet hat. Und nur so kommt es auch zustande, dass ganze Regionen wie in Gorleben über 20, 25, 30 Jahre so einen Kampf aufrechterhalten können. Das hat mir damals einen riesengroßen Eindruck gemacht und in dieser Zeit gab es bei mir auch ein Zusammenwachsen von verschiedenen Dingen: Da gab es auf der einen Seite meinen Wertekonservativismus und andererseits mein soziales und linkes Engagement. Genau dort, in diesen Auseinandersetzungen auf dem Land, war das eigentlich ideal verkörpert. Die Erfahrungen, die ich dort mit dem konservativen Milieu in diesen ländlichen Gruppen gemacht habe, habe ich bis heute nicht vergessen. All das, was wir später an grüner Agrarpolitik gemacht haben, ist dort entstanden. Und so bin ich damals ja auch für die Agrarpolitik zum ersten Mal in den Bundestag gewählt worden. Das weiß heute kein Mensch mehr. Die Bauern wollten die Grünen damals im Bundestag haben und deswegen mussten ganz schnell die Listen aufgestellt werden. Aber den Bauern waren die Grünen aus der Stadt irgendwie zu windig und zu verrückt. Von den Bauern selbst konnte aber keiner von zu Hause weg, also war ich dann so ein bisschen die Alibikandidatin. So kam es, dass ich für diesen Bereich in den Bundestag gewählt worden bin. Erst als die Bauern dann mit der Zeit selbst diese Plätze eingenommen haben – im Europaparlament und im Bundestag – und wir die grüne Agrarpolitik wirklich entwickelt haben, konnte ich meine andere große Liebe weiterverfolgen, nämlich die Kulturpolitik. Reuß: Sie sind 1983 in den Bundestag gekommen, aber Sie waren damals noch nicht einmal Mitglied der Grünen, wenn ich das richtig weiß. Vollmer: Das stimmt. Reuß: Sie haben als Begründung für Ihr politisches Engagement einmal gesagt: "Ich habe in meiner pastoralen Arbeit eine Not kennengelernt, die ich als Theologin nicht zu lindern oder gar zu beseitigen wusste. Ich dachte damals, ich müsste in einem mächtigeren Bereich aktiv werden, den ich dann freilich in der Politik so auch nicht gefunden habe. Ich bin eine Grenzgängerin geblieben zwischen Kirche und Politik." Waren Sie enttäuscht davon, dass in der Politik zwar vieles, aber nicht alles machbar und möglich ist? Vollmer: Ich hatte diesen Satz ganz vergessen, aber ich habe ihn bestimmt mal so gesagt. Es gibt bei mir tatsächlich auch diese Grenzgängerei. Die Grünen hatten ja zunächst für viele Jahre dieses Prinzip der Rotation: Sie wollten die Macht ihrer Abgeordneten so sehr begrenzen, dass sie immer wieder zurückgeschickt wurden ... Reuß: Alle zwei Jahre musste ein Abgeordneter wieder ausscheiden. Vollmer: Ja, wir hatten auch alle nur einen Facharbeiterlohn, was manchmal ganz schwierig war, wenn man eine alleinerziehende Mutter war und eben auch die Betreuung des Kindes irgendwie geregelt werden musste. Aber jetzt habe ich ein bisschen den Faden verloren. Reuß: Es ging um die Frage, ob Sie ein bisschen enttäuscht waren von der Politik. Denn Sie gingen ja in die Politik, weil Sie glaubten, dort mehr bewegen zu können. Aber dabei stießen Sie eben auch an Grenzen. Vollmer: Ich war damals in der Kirche in Bethel in einem Bereich, in dem man zwar sehr sozial gearbeitet hat, in dem es aber in religiöser Hinsicht auch eine Menge an fundamentalistischer Enge gab. Als ich in die Politik kam, in diesen flirrenden und verrückten Haufen, den die Grünen damals für mich darstellten, habe ich mir zunächst einmal gedacht: "Was ist das für ein tolles, freies Leben!" Ich habe dann aber schon auch bald mitbekommen, dass das in der Politik nicht alles ist. In der Politik geht es nun einmal um Macht, und zwar selbst in kleinen Gruppen. Selbst in so anarchischen Gruppen wie bei den Grünen in ihrer Anfangszeit ging es ebenfalls um Macht: Das war lediglich alles noch sehr viel ungeregelter, das wurde alles sozusagen auf der freien Fläche ausgekämpft. So kam es, dass ich mich dann doch bald und häufig gefragt habe: "Bin ich dafür eigentlich geeignet?" Ich glaube, ich bin dafür letztlich so geeignet gewesen wie andere Leute auch, vielleicht auch wegen meines schon angesprochenen Beharrungsvermögens. Aber ich habe mich schon auch immer ein bisschen rückversichert und bin dann ja, nachdem ich rausrotiert war, wieder zurück in die Kirche gegangen, also zurück nach Bethel. Von dort aus bin ich dann freilich erneut in die Politik gegangen. Die Bilanz, die ich daraus ziehe, lautet: Die Mischung aus guten Menschen und Schweinehunden ist in fast jedem Bereich gleich. Die Leute denken ja immer, in der Politik gäbe es nur schweinisch veranlagte Menschen. Aber diese Aussage würde ich nach meiner genauen Kenntnis dieser Sphäre so nicht unterschreiben wollen, jedenfalls nicht für die Summe der Abgeordneten, von denen es doch unheimlich viele gibt, die sehr lange ehrenamtlich gearbeitet haben und die sich auch für kleine Dinge sehr, sehr stark einsetzen. Aber die sieht man eben nicht in den Talkshows. Dieses Alphatiergehabe bezieht sich nämlich vor allem auf die erste Reihe der Politiker; aber in die wollte ich ja nie rein – und kam letztlich doch in sie hinein. Als ich jedoch dort angekommen bin, habe ich mir gesagt: "Wenn man bestimmte Dinge vorhat, dann darf man sich auch nicht einfach so vom Acker machen." Das wäre mir nämlich als feige vorgekommen. Reuß: Es ging in Ihrem politischen Leben ja doch immer so ein bisschen auf und ab. 1983 kamen Sie in den Bundestag, 1985 schieden Sie aufgrund des Rotationsprinzips wieder aus dem Bundestag aus. 1987 kehrten Sie in den Bundestag zurück und wurden dort schnell eine der profiliertesten Politikerinnen der Grünen. Dann, im Jahr 1990 bei der ersten gesamtdeutschen Bundestagswahl, schieden die Grünen wieder aus dem Bundestag aus. Vollmer: Aber ich wäre sowieso ausgeschieden, weil ich ja rotieren musste. Reuß: Genau, denn dieses Rotationsprinzip galt ja, wenn ich das richtig weiß, bis 1991. Nach 1990 waren Sie publizistisch tätig, haben für den "Spiegel", die "TAZ" und die Frauenzeitschrift "Emma" geschrieben und haben dann ein Comeback versucht: Sie traten auf der nordrhein- westfälischen Landesversammlung der Grünen an, um dort auf die Landesliste für die Bundestagswahl 1994 zu kommen, sind aber nicht gewählt worden. Danach bewarben Sie sich in Hessen um Platz eins auf der hessischen Landesliste und wurden im ersten Wahlgang auch gewählt. Gehört das Scheitern auch mit dazu, um in gewisser Weise eine politische Persönlichkeit zu werden? Gilt der Satz, den Lothar Späth, der ehemalige Ministerpräsident von Baden-Württemberg, einmal gesagt hat: "Wer gewinnen will, muss auch verlieren lernen"? Vollmer: Ich glaube das schon und ich würde das auch für mich in Anspruch nehmen. Manche letzte Eitelkeiten bei mir sind einfach abgeschliffen worden durch die Niederlagen, die ich erlitten habe. Und ich interessiere mich auch für Leute in Niederlagen. Ich kenne nicht wenige davon und ich habe damals auch und Wolfgang Schäuble besucht nach den Attentaten auf sie. So ein Attentat ist ja eine besondere Form von Niederlage, nach der man eigentlich nur ganz schwer wieder in so eine Machtsphäre zurück kann. Es macht gerade Politiker überhaupt nicht schlechter, wenn sie auch mal durch eine Phase mit Niederlagen gehen müssen. Denn das Ego kann dann einfach nicht mehr so explodieren. Ich glaube, man vergisst das auch nicht mehr und man lernt auch ganz anders kennen, auf wen man sich verlassen kann. Und man lernt auch, dass es auf die Dauer Freundschaft in der Politik nicht geben kann. Wenn der Satz stimmt, dass das ganze politische Geschäft der Ersatz für den Bürgerkrieg ist, dann müssen immer neue Konstellationen geknüpft werden, um Dinge voranzutreiben und Konflikte lindern oder auch alte Kriege beenden zu können. Das heißt, man muss dafür sehr frei beweglich sein. Da ist es dann gut, wenn man ein Stück weit in sich selbst ruht. Das gilt aber alles nur für Niederlagen, die man auch überstehen kann. Denn es gibt auch Leute, deren ganzes Talent durch eine einzige Niederlage auf ewig zerstört worden ist. Deshalb muss man wahnsinnig dankbar dafür sein, wenn man nach einer Niederlage doch wieder weitermachen kann und diese harte Zeit hinter sich gebracht hat. Reuß: 1994 kamen Sie in den Bundestag zurück und die Grünen wurden dort nach der Union und der SPD drittstärkste Partei. Danach ist etwas Interessantes passiert: Die Grünen erhoben nämlich den Anspruch, dass jede Fraktion im Bundestag dort einen Vizepräsidenten stellen solle. Die SPD hätte dazu einen Sitz abgeben müssen, war dazu aber nicht bereit. Deswegen kam es dann zu einer Zusammenarbeit zwischen der Union und den Grünen: Der damalige Fraktionsvorsitzende der Union, Wolfgang Schäuble, hat den Antrag der Grünen unterstützt und so sind Sie dann mit den Stimmen der Union zur Bundestagsvizepräsidentin gewählt worden. Vollmer: Ja, das war eine sehr verrückte Geschichte. Reuß: Sie haben damals von einer symbolischen Grenzüberschreitung gesprochen. War es das oder war es nicht auch ein bisschen ein Machtspiel und Taktik von Wolfgang Schäuble, um der SPD ihre Grenzen aufzuzeigen? Vollmer: Es gehört immer alles mit dazu. Es war ein Machtspiel, es war aber auch eine gewisse Bereitschaft von Wolfgang Schäuble vorhanden, zu sagen: "Wir können ja auch mal so eine kleine Kerze in Richtung schwarz-grüne Option anzünden." Das war aber auch, wie man nicht vergessen darf, eine demokratische Notwendigkeit, und das war eigentlich das Hauptargument. Denn 1994 waren die Grünen bereits über 10 Jahre im Bundestag, waren aber auf keiner Ebene des Parlamentspräsidiums vertreten. Das heißt, wir waren immer noch die Schmuddelkinder. Ich finde aber, dass gerade dann, wenn das Parlament der Ersatz für den Bürgerkrieg ist, eine jede im Bundestag vertretene Partei in der Leitung des Bundestags mit mindestens einem Sitz vertreten sein muss. Ich glaube, dass ich damals eben auch der Türöffner dafür gewesen bin, dass es später bei der Linken schon selbstverständlich gewesen ist, dass auch sie dort vertreten sind. Übrigens, dieses erste schwarz-grüne Signal war 1994, und es hat an die 20 Jahre gedauert, bis es dann z. B. eine schwarz-grüne Koalition in Hessen gab. Daran sieht man, dass die CDU sich da für meine Begriffe viel zu lange Zeit gelassen hat: Sie hätte schon mal zwischendurch ein Signal geben können. Heute sind diese Dinge ja wiederum ganz anders. Reuß: Sie haben ja vorhin selbst Ihren Dickkopf angesprochen: Sie haben sich immer sehr, sehr stark für die deutsch-tschechische Aussöhnung eingesetzt. Sie sind in diesem Zusammenhang, fast hätte ich gesagt "in geheimer Mission", aber doch jenseits der öffentlichen Wahrnehmung immer wieder in die Tschechische Republik gefahren: Ich glaube, das war innerhalb von zwei Jahren an die 20 Mal. Das hat sich am Ende auch wirklich gelohnt. Sie haben sich auch sehr stark eingesetzt für die Aussöhnung des Dalai Lama mit den Chinesen, dass er z. B. zurückkehren kann. Ich würde jedoch noch gerne auf eine parlamentarische Entscheidung zu sprechen kommen, die Ihnen sicherlich schwergefallen ist. Wir haben ganz am Anfang unseres Gesprächs vom Afghanistan-Konflikt gesprochen. Aber es gab bereits einen anderen, ähnlich heiß diskutierten Konflikt davor, denn 1999 hat die rot-grüne Bundesregierung, die gerade mal ein Jahr im Amt gewesen ist, eine sehr schwierige Entscheidung treffen müssen: die Entscheidung über den ersten Kriegseinsatz deutscher Soldaten nach dem Zweiten Weltkrieg in Serbien. Es ging damals um eine humanitäre Aktion im Kosovo und darum, die Menschen dort zu schützen. Letztlich wurde das aber die größte Luftkriegsoperation der Militärgeschichte, an der dann eben auch deutsche Tornados beteiligt waren. Der große Konflikt entzündete sich an der Frage: Soll man diese Aktion aus humanitären Gründen machen? Denn ein UN-Mandat gab es dafür ja nicht. Manche meinten sogar, es stünde das Grundgesetz dagegen, weil das Grundgesetz einen Angriffskrieg verbietet. Am Ende hat man sich nach langer Diskussion durchgerungen. War das eine der schwersten Entscheidungen, die Sie als Parlamentarierin treffen mussten? Vollmer: Ganz sicher, und auch eine, über die ich heute mit am meisten nachdenke. Damals hat das angefangen, was ich inzwischen "Menschenrechtsbellizismus" nenne. Denn man sagt heute: "Man kann einen Krieg führen, wenn der moralische Grund für die Öffentlichkeit überzeugend dargestellt werden kann." Vor allem aber war das damals ein Bruch des Völkerrechts. Wir befinden uns diesbezüglich wirklich in einer ganz gefährlichen Situation, ich erwähne hier nur die Stichworte "Drohnenkrieg" und "NSA". Denn das Völkerrecht und das Kriegsvölkerrecht wird heute permanent gebrochen. Über nichts denke ich mehr nach als darüber, wie man in dieser internationalen Sphäre wieder zu festen Regeln kommt, die auch bei den größten moralischen Anliegen nicht einfach gebrochen werden dürfen. Aber da muss man natürlich eine Alternative anbieten. Es hätte damals zum Kriegseinsatz im Kosovo eine Alternative gegeben; es gab sie jedoch nicht im Jahr 1999, sondern in den Jahren von 1990 bis 1999. Denn wenn man in diesen Jahren das damals noch völlig gewaltfreie Kosovo mit dem Segen der UNO unter Schutz gestellt hätte, hätte es diese Vertreibung und diese kriegerische Auseinandersetzung nie gegeben. Dann hätte man hinterher auch nicht das Völkerrecht brechen müssen. Das ist wieder genau das vorhin schon angesprochene Problem: Wenn man zu dumm ist, frühzeitig auf die Konfliktherde zu gucken und sich lediglich darauf verlässt, dass man ja die militärische Stärke hat, dann verletzt man das Völkerrecht leichter, dann vergisst man diplomatische Regelungen. Damals wäre jedenfalls das nötig gewesen, was ich "politischen Pazifismus" genannt habe: Es hätte eine viel stärkere Wahrnehmung für die kommenden Konfliktherde gebraucht und für die Schutzmaßnahmen, die man machen kann, bevor man das Militär schickt. Aber je stärker wir die absolute militärische Dominanz des Westens haben, umso mehr wird gerade die Regelung solcher Konflikte durch das Völkerrecht, die Diplomatie, durch Dialoge, über Schutzmaßnahmen und über das rechtzeitige Erahnen von Konflikten abnehmen. Dies verursacht im Moment wirklich meine größte Unruhe. Reuß: Das ist ein klares Statement zum Schluss, denn unsere Sendezeit ist leider schon wieder zu Ende. Die Zeit ging wahnsinnig schnell vorüber und ich darf mich bei Ihnen, Frau Dr. Vollmer, ganz herzlich für Ihr Kommen und das angenehme Gespräch bedanken. Ich möchte gerne mit zwei kurzen Zitaten über Sie enden, mit denen man versucht hat, Sie zu beschreiben. Der "Spiegel" nannte Sie einmal die "grüne Weizsäckerin", und die "Welt" schrieb über Sie: "Antje Vollmer hat erkannt, dass sie mindestens das Zeug zur Hildegard Hamm-Brücher der Grünen hat. Sie wurde zur Nachdenklichen, die den Kontakt zu den großen Geistern der Republik hielt, die über den Alltag hinaus sprach und die es glänzend verstand, das Politische und das Pastorale in eins fallen zu lassen." Dem kann, dem will ich nichts hinzufügen. Noch einmal ganz herzlichen Dank, Frau Dr. Vollmer. Verehrte Zuschauer, das war unser alpha-Forum, heute mit Dr. Antje Vollmer, der ehemaligen Bundestagsvizepräsidentin. Herzlichen Dank für Ihr Interesse, fürs Zuhören und Zuschauen und auf Wiedersehen.

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