Vernichten Oder Offenlegen? Zur Entstehung Des Stasi-Unterlagen-Gesetzes
Total Page:16
File Type:pdf, Size:1020Kb
Silke Schumann Vernichten oder Offenlegen? Zur Entstehung des Stasi-Unterlagen-Gesetzes. Eine Dokumentation der öffentlichen Debatte 1990/91 Bitte zitieren Sie diese Online-Publikation wie folgt: Silke Schumann: Vernichten oder Offenlegen? Zur Entstehung des Stasi-Unterlagen- Gesetzes. Eine Dokumentation der öffentlichen Debatte 1990/91 (Dokumente – Reihe A). Hg. BStU. Berlin 1995. http://www.nbn-resolving.org/urn:nbn:de:0292-97839421303631 Mehr Informationen zur Nutzung von URNs erhalten Sie unter http://www.persistent-identifier.de/ einem Portal der Deutschen Nationalbibliothek. Reihe A: Dokumente Nr. 1/1995 4 Inhalt I. Die Entstehung des Stasi-Unterlagen-Gesetzes 5 1. Auflösung des Staatssicherheitsdienstes 6 2. Die öffentliche Debatte in der DDR 13 3. Das Volkskammergesetz vom 24. August 1990 19 4. Der Einigungsvertrag 22 5. Von Oktober 1990 bis Dezember 1991 - Die Gesetzgebungsdebatte 28 5.1. Rechte der Betroffenen 33 5.2. Verwendung für Zwecke der Nachrichtendienste 37 5.3. Verwendung für die Strafverfolgung 42 5.4. Zentrale oder dezentrale Verwaltung der MfS-Unterlagen? 47 5.5. Überprüfung auf MfS-Mitarbeit 51 5.6. Zugang für Forschung und Presse 55 5.7. Die Verabschiedung des Gesetzes 60 6. Ausblick 63 II. Dokumentenverzeichnis 67 1. Stellungnahmen zum Umgang mit den MfS-Akten 67 2. Gesetzentwürfe und Gesetzestexte 70 III. Dokumente 72 Abkürzungsverzeichnis 349 Auswahlbibliographie 351 5 I. Die Entstehung des Stasi-Unterlagen-Gesetzes 178 km Akten des Staatssicherheitsdienstes lagern in den Archiven der Behörde des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR1. Sie hat nicht nur die Aufgabe, die Akten zu verwalten, archivisch zu erschließen und zu verwahren. Ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter geben Auskünfte aus den Unterlagen, legen sie zur Einsicht vor und händigen Kopien aus. So können etwa vom Staatssicherheitsdienst Bespitzelte ihre Akten einsehen, um sich über das ihnen angetane Unrecht Gewißheit zu verschaffen. Parlamente, Behörden und Kirchen, Betriebe, Parteien und Verbände können Ersuchen an den Bundesbeauftragten richten, um Personen auf eine frühere Tätigkeit für das MfS zu überprüfen. Fragen der Rehabilitierung, etwa von Opfern des Staatssicherheits dienstes und der politischen Justiz der DDR, der Verfolgung von Straftaten, manchmal sogar Renten- und Vermögensfragen lassen sich nur mit Hilfe einer Mitteilung aus den MfS-Akten klären. Daneben unterstützt der Bundesbeauftragte Medien, Forschung und politische Bildung bei der Aufarbeitung der Tätigkeit des Staatssicherheitsdienstes, indem er die Unterlagen Journalisten, Wissenschaftlern und interessierten Bürgern zur Verfügung stellt. Zur Erfor schung von Struktur, Aufgaben und Wirkungsweise des MfS unterhält die Behörde eine eigene Forschungsabteilung, deren Arbeitsergebnisse in Publikationen, öffentlichen Veran staltungen und Dokumentationszentren präsentiert werden. Gesetzliche Grundlage der Tätigkeit der Behörde ist das "Gesetz über die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik", kurz "Stasi Unterlagen-Gesetz" (StUG)2 genannt. Das Gesetz, das am 29. Dezember 1991 in Kraft trat, ist das Ergebnis einer nahezu zwei Jahre währenden Debatte über den Umgang mit der Hinterlassenschaft des Staatssicherheitsdienstes: Bereits um die Jahreswende 1989/90 war darüber in den Gruppen und Gremien diskutiert worden, die sich mit der Auflösung des Staatssicherheitsdienstes beschäftigten: in den Bürgerkomitees, am Zentralen Runden Tisch und auch in der Regierung Modrow. In den folgenden zwei Jahren fand in der Volkskammer und im Bundestag, in den Bürgerkomitees und der Bürgerbewegung, in den Parteien sowie der interessierten Öffentlichkeit eine lebhafte Debatte statt, deren Spannweite vom Vorschlag der Vernichtung der MfS-Unterlagen bis zur Forderung nach ihrer vorbehaltlosen Offenlegung reichte. 1 Unterrichtung durch den Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik: Erster Tätigkeitsbericht, 11.6.1993, Drucksache 12/5100 (künftig: Tätigkeitsbericht, Drs. 12/5100), in: Verhandlungen des Deutschen Bundestages, Drucksachen (künftig: Bundestag, Drucksachen), 12. Wahlperiode, Bd. 473, S. 5. 2 Dokument 45. 6 Die vorliegende Dokumentation zeichnet den kontroversen Verlauf dieser Diskussion nach, von den Anfängen im Dezember 1989, als die Bürgerkomitees Kreis- und Bezirksämter3 des Staatssicherheitsdienstes besetzten, bis zur Verabschiedung des Stasi-Unterlagen-Gesetzes. Sie konzentriert sich dabei vor allem auf Meinungsäußerungen, die in der Presse veröffentlicht wurden. Des weiteren sind diejenigen Gesetzentwürfe und Gesetzestexte abgedruckt, die die Grundlage der Debatte bildeten. Der Schwerpunkt dieser Einleitung liegt ebenfalls auf der öffentlichen Diskussion, wie sie sich in Parlamentsdebatten, öffentlichen Anhörungen und der Berichterstattung der Medien widerspiegelt. Zu bedenken ist dabei, daß letztere die Wirklichkeit nicht einfach abbildet, sondern ihren eigenen Gesetzen folgt: Journalistische Berichterstattung vereinfacht und konzentriert sich auf einige zentrale Merkmale eines komplexen Vorgangs; sie tendiert zur Personalisierung und Polarisierung. Außerdem sind Journalisten und Redakteure nicht nur Beobachter, ihre Kommentare und Berichte verfolgen zuweilen auch eigene Interessen. Die Einleitung geht zunächst kurz auf die Auflösung des Staatssicherheitsdienstes bis zur Vereinigung beider deutscher Staaten ein. Im Mittelpunkt stehen dabei die Personen und Institutionen, die mit der Auflösung befaßt waren, sowie die ersten, meist vorläufigen Entscheidungen über den Umgang mit dem Aktenmaterial. Danach wird die Diskussion bis zur Verabschiedung des Volkskammergesetzes im August 1990 und die Auseinandersetzung über dessen Weitergeltung nach dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik geschildert. Die Beschreibung des Gesetzgebungsverfahrens nach dem 3. Oktober 1990 konzentriert sich auf die zentralen Streitfragen, die bei der Ausarbeitung des Stasi-Unterlagen-Gesetzes Gegen stand öffentlicher Debatte waren: das Recht der Betroffenen auf Akteneinsicht, aber auch auf Vernichtung der über sie gesammelten Daten, der Zugang von Nachrichtendiensten und Strafverfolgungsbehörden zu den MfS-Unterlagen sowie die Organisation der Aktenver waltung, schließlich die Regeln zur Überprüfung von Personen auf eine frühere MfS- Mitarbeit und die Verwendung der Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes durch Forschung und Medien. 1. Auflösung des Staatssicherheitsdienstes Als am 17. November 1989 der neue Ministerpräsident der DDR, Hans Modrow, seine Regierungserklärung abgab, kündigte er die Umwandlung des Ministeriums für Staats sicherheit (MfS) in ein "Amt für Nationale Sicherheit" (AfNS) an. Die Leitung übernahm Generalleutnant Wolfgang Schwanitz, einer der Stellvertreter des zurückgetretenen Ministers 3 Bei der Umbenennung des Ministeriums für Staatssicherheit in Amt für Nationale Sicherheit (AfNS) im November 1989 erhielten die bisherigen Kreisdienststellen und Bezirksverwaltungen die Bezeichnungen "Kreis-" bzw. "Bezirksämter". 7 für Staatssicherheit Erich Mielke. Offen blieb, inwieweit sich das neue Amt vom alten Staatssicherheitsdienst tatsächlich unterscheiden würde. Zwar kündigte Schwanitz am 23. November eine personelle Reduzierung um 8.000 Mitarbeiter an. Auch gab er zu, daß die "administrative Bekämpfung" Andersdenkender ein Fehler gewesen sei, der unter seiner Leitung nicht mehr vorkommen werde. Was Schwanitz jedoch unter der "Bekämpfung verfassungsfeindlicher Handlungen" verstand, die er zu den zentralen Aufgaben des AfNS zählte, war ungewiß4. Kurze Zeit später sickerten erste Nachrichten über die illegalen Geschäfte Alexander Schalck- Golodkowskis in die Öffentlichkeit. Am 2. Dezember entdeckten Einwohner des Landkreises Rostock in Kavelstorf einen geheimen Waffenumschlagplatz des Bereichs Kommerzielle Koordinierung (KoKo). Schalck, Leiter der KoKo und, wie sich später herausstellte, Offizier im besonderen Einsatz (OibE) des Staatssicherheitsdienstes, floh in der Nacht vom 2. auf den 3. Dezember in den Westen5. Außerdem verbreiteten sich Gerüchte über die Vernichtung wichtiger Unterlagen durch den Staatssicherheitsdienst. Dies brachte die Bürgerinnen und Bürger der DDR so auf, daß sich ein Teil von ihnen ab dem 4. Dezember Einlaß in die Bezirks- und Kreisämter des AfNS verschaffte6. Noch im Laufe des Dezember wurden die Kreisämter aufgelöst und ihr Aktenmaterial in die Bezirksstädte gebracht. Dort und in Berlin entstanden Bürgerkomitees, die die Gebäude des AfNS meist in sogenannten "Sicherheitspartnerschaften" mit der örtlichen Volkspolizei und Staatsanwaltschaft überwachten und die Akten zu sichern versuchten. Nur in seiner Zentrale in Berlin- Lichtenberg konnte der Staatssicherheitsdienst zunächst ungestört weiterarbeiten7. Die Bürgerbewegung zwang die DDR-Regierung zu immer weitergehenden Zugeständnissen. Am 14. Dezember 1989 beschloß der Ministerrat, das AfNS aufzulösen und statt dessen zwei getrennte Dienste, einen Nachrichtendienst und einen Verfassungsschutz, zu bilden. Auf Druck des "Zentralen Runden Tisches" erklärte Modrow am 12. Januar 1990, man werde bis zur Wahl der ersten freien Volkskammer auf die Neubildung nachrichtendienstlicher Organisationen ganz verzichten. Drei Tage später kam es während einer Demonstration zu dem möglicherweise vom Staatssicherheitsdienst selbst mitinszenierten8 "Sturm" auf das 4 Wie geheim ist unser Geheimdienst?, in: Neues Deutschland (künftig: ND), 23.11.1989.