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MNO DAS DEUTSCHE NACHRICHTEN-MAGAZIN

Hausmitteilung Betr.: Titel, Zukunft

a Es gehört zum Schicksal aller Heranwachsenden, daß man ihnen irgendwann das große Etikett verpaßt. So erging es der “skeptischen“ Generation (1957), der “unheimlichen“ Generation (1967), der “verlorenen“ Generation (1989). Publizisten, Soziologen und Psy- chologen finden und deuten die Charakterzüge gan- zer Jahrgänge. Cordt Schnibben (42, unheimliche Generation) und Thomas Hüetlin (33, verlorene Generation) legten den SPIEGEL-Titel “Die Deut- schen von morgen“ an- ders an. Zusammen mit Angehörigen der myste- riösen Generation X, unter ihnen auch Anja Jardine, 27, entwarfen sie einen Fragebogen, den Emnid 2034 Jugend- lichen vorlegte. Und F. SCHUMANN / Hüetlin, Jardine, Schnibben sie baten die oft als Fernsehkinder Geschmäh- ten, über sich und ihre Sicht der Dinge zu schreiben. Herausgekommen ist das widersprüchliche Selbstporträt einer eigensinnigen Generation (Seite 58). In der November-Ausgabe von SPIEGEL Special erscheinen die Beiträge der Jugendlichen in voller Länge, ergänzt um eine ausführliche Auswertung der Studie, Reportagen und Essays.

a “Der womöglich zeitgemäßeste Futurist der Welt“ (Los Angeles Times) wird seinem Ruf gerecht, stellten die SPIEGEL-Redakteure Gerd Meißner und Helmut Sorge fest, als sie Frank Ogden, 73, in Kanada besuchten: Umgeben von Computern, Videore- cordern und Satellitenempfangsanlagen, residiert der Zukunftsforscher auf einem himmelblauen High- Tech-Hausboot, das dem Oberdeck einer Boeing 747 nachempfunden wurde, im Pazifikhafen von Vancouver. Der ehemalige Flugzeughändler, der heute Manager bei IBM oder MTV über Zukunftstechnologien auf- klärt, veröffentlicht seine Werke (“Das letzte Buch, das Sie je lesen werden“) auch auf Compu- ter-Diskette. Dem Buch und der Schule sagt er das Ende voraus. Während in der Nähe Wasserflugzeuge starteten, ließ sich der Mitgründer der kanadi- schen Sektion des Futuristenverbandes World Future Society im SPIEGEL-Gespräch (Seite 148) nicht in seinem Glauben an die High-Tech-Zukunft beirren. Für ihn hat sie sich schon bezahlt gemacht: Fast erblindet, unterzog sich Ogden vor drei Jahren ei- ner experimentellen Linsenoperation – und ließ an- schließend seinen Pilotenschein verlängern.

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TITEL INHALT Cordt Schnibben über eine Jugend, die keine Generation sein will ...... 58 Jugendumfrage ’94 – Selbstporträt der jungen Deutschen ...... 65 Einheit – „nicht das Thema“ Seite 18 SPIEGEL-ESSAY Einheitskanzler Kohl? Noch nach dem Fall Ulrich Beck: Angst vor der Freiheit ...... 248 der Mauer zweifelte er an der Vereinigung. Seine Unterhändler boten der DDR Stabili- sierungshilfen an. Die Einheit, so Kohl zu DEUTSCHLAND SED-Chef Krenz, sei „nicht das Thema“. Panorama ...... 16 Wahlkampf: Noch im Wendeherbst wollte Kanzler Kohl die DDR retten ...... 18 Liberale in Angst Seiten 22, 24, 26, 28 und Erich Honecker am Telefon ...20 Zittern um die Liberalen ...... 22 In der Union wächst die Nervosität, ob es am 16. Oktober für Hartmut Palmer über ...... 24 die Mehrheit reicht. Die Liberalen geraten in Angst, die PDS Daniel Doppler über die tapfere FDP ...... 25 kommt ziemlich sicher wieder ins Parlament. Kanzler Helmut Interview mit dem Magdeburger Kohl schließt jetzt eine Große Koalition nicht mehr aus. SPD- Bündnis-90-Politiker Hans-Jochen Tschiche Troikaner Gerhard Schröder hätte nichts dagegen einzuwen- über Grüne und PDS ...... 26 den. Drei sichere Direktmandate für die PDS? ...... 28 Sinnstifter Schäuble Seite 30 SPIEGEL-Gespräch mit Wolfgang Schäuble über seine Rolle als Wolfgang Schäuble – Sinnstifter der Nation? Im SPIEGEL-Ge- Sinnstifter der Nation ...... 30 spräch wehrt sich der CDU/CSU-Fraktionsvorsitzende gegen den Jürgen Leinemann über den alternativen Vorwurf, er rücke dicht an die junge Rechte oder die Republika- Machtmenschen ...... 40 ner. Er möchte allerdings das „nationale Element nutzen“ und Kriminalität: Triumph für Sicherheitsminister dieses Thema „nicht den Gegnern der Freiheit überlassen“. Kanther ...... 35 Karriere: Das schnelle Ende des Bankiers Günther Krause ...... 36 Wahlen: Siegessichere CSU in Bayern ...... 50 Frauen: Streit um Gleichstellungsbeauftragte Die Deutschen sind wieder da Seite 114 in Hessen ...... 52 Forum ...... 55 Die deutsche Automobil- Glücksspiel: Zocker-Affäre im Casino industrie hat die schwer- Baden-Baden ...... 93 ste Krise der Nach- Spionage: Die -Akte des Dietrich Staritz ....95 kriegszeit überwunden: Ruanda-Hilfe: Care-Chef Nöldner Weltweit wächst die vor dem Sturz ...... 103 Nachfrage nach Autos Polizei: Korpsgeist wie zu Kaisers Zeiten ...... 107 made in , die Interview mit dem Berliner Polizeikritiker Gewinne der Unterneh- Otto Diederichs über den Streß der Beamten ... 108 men steigen wieder. Mit einer beispiellosen Ra- WIRTSCHAFT dikalkur haben sich die Trends ...... 111 Autokonzerne fit ge- Automobilindustrie: Das Comeback macht – Tausende von der Deutschen ...... 114 Arbeitsplätzen wurden T. RAUPACH / ARGUS Mercedes-Produktion Unternehmen: Schlechte Aussichten für wegrationalisiert. den ostdeutschen Waggonbau ...... 117 Affären: Staatsanwalt verschleppte Balsam-Ermittlungen ...... 119 Prügel im Polizeirevier Seiten 107, 108 Manager: Die politischen Ambitionen des Daimler-Chefs Edzard Reuter ...... 124 Gewalttaten und Aus- Multimedia: Philips setzt auf eine länderhaß – in deut- neue Unterhaltungsmaschine ...... 130 schen Polizeirevieren Kosmetik: Discountpreise für hat Amnesty Internatio- Duftwässerchen ...... 132 nal einen „deutlichen Anstieg von Mißhandlun- GESELLSCHAFT gen“ registriert. Die Be- Medien ...... 139 amten werden nur sel- Idole: Ulrich Wickert versucht sich ten bestraft. Nach dem als Philosoph ...... 140 Hamburger Polizeiskan- Psychologie: Eine Autobiographie bedient dal suchen Politiker und

den aktuellen Kult um die Depression ...... 146 ZITZOW / BILD Experten nach den Ursa- Zukunft: SPIEGEL-Gespräch mit dem Polizeieinsatz in Hamburg chen für die Übergriffe. Futuristen Frank Ogden zum Überleben im elektronischen Zeitalter ...... 148

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AUSLAND Panorama Ausland ...... 152 Haiti: Carlos Widmann über Präsident Der weinfrohe Moralist Seite 140 Clintons militärische Verstrickung ...... 154 Frankreich: Der Mythos Mitterrand bröckelt ... 157 Außerhalb des Studios Thierry Pfister über die Widersprüche gibt sich Ulrich Wickert in der Mitterrand-Biographie ...... 158 gern als käsesatter Bosnien: Koschnick im geteilten Mostar ...... 161 Islam: Bonvivant, als TV-Mo- Interview mit Dschihan el-Sadat über die Stellung der Frau ...... 163 derator aber muß er oft Rußland: Der schaurige Atomtest von Tozk .... 164 über traurige Dinge re- Südafrika: Bürgerpolizei gegen Gangster ...... 165 den und sinniert des- Schweiz: Volksabstimmung über halb über den „Zustand Anti-Rassismus-Gesetz ...... 166 dieser Welt“. Nun hat Polen: Rückkehr der alten Kader ...... 167 er einen Essay „über Umwelt: Bedrohtes Öko-Idyll den Verlust der Wer- in Kirgisien ...... 172 te“ herausgebracht, in USA: Matthias Matussek über dem der weltläufige Gewaltverherrlichung und Geschmacksverfall .. 180

J. H. DARCHINGER Plauderer als Philosoph Interview mit Filmregisseur Oliver Stone Moderator Wickert debütiert. über die Faszination der Gewalt ...... 183

SPORT Wildes Bauen mit Frank Gehry Seite 200 Tennis: Luxus macht die Profis faul ...... 188 Handball: Der ungebremste Ehrgeiz Der US-Architekt des Nationaltorhüters Andreas Thiel ...... 194 Frank Gehry feiert Schach: Zwei ungarische Mädchen werden in Europa Trium- zu Profis gedrillt ...... 196 phe. Selbst nüchter- ne Unternehmer und KULTUR Wohnungsbauer be- geistern sich für sei- Szene ...... 198 ne wilde Erdbeben- Architektur: Der Avantgardist Frank Gehry architektur. In Düs- baut fürs Establishment ...... 200 seldorf hat der um- Theater: Gundi Ellerts Stück „Jagdzeit“ triebige Amerikaner bringt Gewalt auf die Bühne ...... 203 sogar der Stararchi- Pop: „Monster“ – das neue Album der amerikanischen Rockband R.E.M...... 208 tektin Zaha Hadid ei- Autoren: Hellmuth Karasek über John Fuegis

nen Großauftrag ab- GAMMA / STUDIO X Attacken auf Bertolt Brecht ...... 210 gejagt. Gehrys Amerikanisches Kulturzentrum in Paris Bestseller ...... 214 Volkskunst: Die vergängliche Malerei indischer Frauen ...... 218 Kino: Dominik Grafs Thriller „Die Sieger“ ...... 220 Abgrund von Fremdenhaß Seite 166 Film: „Eat Drink Man Woman“ von Ang Lee .. 226 Fotografie: SPIEGEL-Gespräch mit Die Volksabstimmung über ein Anti-Rassismus-Gesetz, als Richard Avedon über die hohe Kunst Formsache gedacht, spaltet die Schweiz. Unerwartet zahlreich des Porträts ...... 230 wagen sich Rassisten und rechte Populisten aus der Deckung. Entertainer: Deutschlands schrägster Komiker Helge Schneider als Krimi-Autor ...... 236 Fernseh-Vorausschau ...... 266

Halbwach in der Narkose? Seite 240 WISSENSCHAFT Prisma ...... 237 Betäubt eine Voll- Medizin: Was spüren Patienten unter Narkose? 240 narkose restlos? Atomforschung: Teurer Ersatz für den Oder nehmen Nar- Garchinger Reaktor ...... 245 koseschläfer mitun- Affären: Braune Schatten auf dem ter noch Sinnesrei- Institut für Bevölkerungsforschung ...... 252 ze wahr? Bei Experi- Genetik: Amerikanische Wissenschaftler menten haben Hirn- entdecken ein Brustkrebs-Gen ...... 256 forscher entdeckt: Auch unter Vollnar- kose können Geräu- TECHNIK sche oder etwa Ge- Automobile: Ideenmangel bei Honda ...... 257 spräche der Chirur- gen ins Bewußtsein Briefe ...... 7

GAMMA / STUDIO X von Patienten ein- Impressum ...... 14 Patient in Narkose dringen. Personalien ...... 262 Register ...... 264 Hohlspiegel/Rückspiegel ...... 270

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BRIEFE Arg in Mode Prozent und überschreitet, je nach Stichprobe, auch die 80-Prozent-Marke. (Nr. 36/1994, Medizin: Pille gegen Alko- Aufgrund der therapeutischen Arbeit holismus / Die Wirkungen von Alkohol im mit alkoholabhängigen Menschen bin Gehirn) ich fest überzeugt, daß Sucht nicht als Ich bin Alkoholiker und nütze die wun- „biochemischer Störfall im Kopf“ zu be- dersame „Pille“ Enthaltsamkeit mit greifen ist. Zentrale Erscheinungen der Überzeugung und werde nicht mit Bio- Suchterkrankung wie das Verlangen chemie experimentieren. Ich brauche es nach Alkohol und Kontrollverlust sind nicht. Genauso wie meine Freunde in der psychotherapeutisch weitaus besser und Selbsthilfegruppe. Freunde aus der vier- schlüssiger zu begreifen als über den monatigen stationären Therapie, sie alle wieder arg in Mode geratenen biochemi- brauchen das nicht. Solange wir uns ge- schen Erklärungsansatz. genseitig Kraft und Trost in allen Proble- Kaiserslautern WOLFGANG BENSEL men des neuen zweiten Lebens geben, so Diplom-Sozialarbeiter lange brauchen wir keinen Alkohol, kei- ne Tabletten, keine Drogen mehr. Die Forschungsambulanz der Berliner Jülich DR. PETER WUCHERER Freien Universität hat Ende 1993 mit dem Lisuridprogramm einen Doppel- Sie zeichnen ein hoffnungsloses Bild der blindversuch (Medikament gegen Place- Behandlungsmöglichkeiten bei Alkohol- bo) mit ähnlichem Ansatz beendet. M. SCHARNBERG / NORDLICHT Alkoholopfer in Ausnüchterungszelle: Wundersame „Pille“ Enthaltsamkeit

abhängigkeit und versuchen dies zu be- Nach Entschlüsselung des Codes und der legen anhand von Krankenberichtsda- Daten wurde kein nennenswerter Unter- ten, wonach lediglich 20 Prozent der Be- schied zwischen beiden Gruppen festge- handelten, bezogen auf den Zeitraum stellt. Daraufhin wurde flugs die Dosie- eines Jahres, abstinent bleiben. Hierbei rung erhöht und der Versuch inklusive bleibt jedoch unerwähnt, welche Be- Geldfluß der Deutschen Forschungsge- handlungsverfahren vorausgingen. Zwi- meinschaft verlängert. Leider aktivieren schen den Zeilen ist zu lesen, daß sich Berichte über Entzüge von Dauer oder diese Angaben auf Patientenpopulatio- „neue“ Wundermittel wie Acamprosat nen psychiatrischer Landeskrankenhäu- oft nur wirre Hoffnungen in den Gehir- ser beziehen, in denen Entgiftungsbe- nen intellektueller Alkoholabhängiger. handlungen durchgeführt werden. Ent- Berlin HEIKO GLIESCHE-NEUMANN wöhnungsbehandlungen hingegen wer- den überwiegend in spezialisierten Der Alkoholiker braucht keine Tabletten Fachkliniken beziehungsweise im ambu- oder sonstiges (außer beim Delir); er lanten Bereich in Suchtberatungsstellen braucht Hilfe zur Selbsthilfe. Eine Thera- durchgeführt. Die seit Jahren erfolg- pie unter zwei Jahren istwitzlos und raus- reich angewendeten Behandlungsver- geschmissenes Geld. Wer jahrelang Zeit fahren haben ihre Wirksamkeit in stan- zum Saufen hatte, hat auch Zeit für eine dardisierten Katamneseuntersuchungen langfristige Therapie, aber bitte ohne immer wieder unter Beweis gestellt. Die Psychologen, sondern nur mit Betroffe- Abstinenzquote, bezogen auf den Zeit- nen. Entweder bringt er Zeit mit, oder es raum eines Jahres, liegt nach Entwöh- geht schief. Was hat er also zu verlieren. nungsbehandlungen deutlich über 50 Berlin WERNER MOLKENBUR

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BRIEFE Historische Tragweite Bodenreform unter der Parole „Junker- land in Bauernhand“ unter den gleich (Nr. 36/1994, Vereinigung: Was verlang- harten Bedingungen auch in West- ten die Russen den Deutschen ab? Mi- deutschland stattfände, wenn die Bun- chail Gorbatschow über die Zwei-plus- desregierung nicht bereit ist, den Be- Vier-Verhandlungen) troffenen der ehemaligen Sowjetischen Es geht heute einzig darum, einen Besatzungszone ihr entschädigungslos willkommenen Vermögenszuwachs des enteignetes Grundeigentum zurückzu- Bundes, der sich so ganz neben der Wie- geben nach dem Grundsatz „Gleiches dervereinigung her in Milliardenhöhe (Un-)Recht für alle.“ eingestellt hat, mit Zähnen und Klauen Alicante (Spanien) ALOIS BUDE zu verteidigen. Mein enteigneter Großvater war kein Berlin DR. A. KEILING adeliger Makroparasit. Weder meine Ein Urteil von derart weitreichender Mutter noch ich haben die geringste wirtschaftlicher, politischer und histori- Lust, uns als „Junker-Erben“ beleidigen scher Tragweite wie das Bodenreform- und mit Leuten in einen Topf werfen zu urteil des Bundesverfassungsgerichts lassen, die Deutschland in zwei Welt- muß auf unrevidierbare Wahrheiten ge- kriege getrieben haben. stützt werden können. Schon jetzt hat Frankfurt am Main ULRICH KLOOS das Ansehen des Bundesverfassungsge- richts durch dieses Verfahren schweren Schaden genommen. Die Verfassungs- Ohnmächtig ausgeliefert richter müssen sich düpiert vorkommen, (Nr. 36/1994, Justiz: Ein zweiter Fall wenn der wichtigste Zeitzeuge in aller Deckert? Auszüge aus dem Gerichtsbe- Öffentlichkeit die historischen Vorgän- schluß über eine NPD-Demonstration) ge in einer Weise schildert, die im dia- metralen Gegensatz zu den Feststellun- In dem kurzen Auszug aus dem NPD- gen des Gerichts steht. Es muß jetzt eine Beschluß findet sich viermal ein gram- Phase der Entmythologisierung dieser matikalisch falsch bezogenes „Dies“, ein ganzen Umstände einsetzen, um sie auf „Soweit“ ohne jede semantische Relati- eine Ebene des Allgemein-auch-sonst- on und ein „Nachdem“, das keine besse- Feststellbaren zu bringen. Dabei geht es re Funktion hat als die des bayerischen keineswegs nur um die Interessen der „Nachher“. Wer mag da nicht Karl Alteigentümer, es geht vielmehr auch um die Frage, wie es mit unserer Kraus recht geben, daß, wer keine Ach- Rechtskultur bestellt ist. tung vor der Sprache hat, die jeder Ver- gewaltigung ohnmächtig ausgeliefert ist, Freiburg i. Br. DR. KLAUS MÄRKER auch kein Rechtsgut zu achten fähig ist. Gleichgültig, ob Herr Gorbatschow die Daß die Rechte der Ausländer und das Wahrheit gesagt hat oder nicht – es wäre Grundgesetz revidiert werden sollten, in dieser Angelegenheit nicht mehr als ist nach Meinung des Gerichts eine re- recht, wenn die in der damaligen Sowje- spektable Äußerung, die sich Ausländer tischen Besatzungszone durchgeführte (die weder am Grundgesetz noch an ih- J. H. DARCHINGER Demonstration gegen Enteignung (1990): „Gleiches (Un-)Recht“

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BRIEFE

ren Rechten das geringste zu ändern in gut vorbereitete Lehr- der Lage sind) grundsätzlich gefallen kräfte fehlen. Das Goe- lassen müssen. NPD-Anhänger bedür- the-Institut hat einen fen freilich keiner Kenntnis der Kon- richtigen Weg beschrit- struktionen ihrer Muttersprache, um ei- ten: Hilfe zur Selbsthil- ne solche Rechtsprechung völlig ange- fe, die zum Beispiel die messen zu verstehen. Aus- und Fortbildung Vlotho (Nrdrh.-Westf.) der Deutschlehrer in ERNST-AUGUST KRÄMER den Ländern selbst umfaßt. Nur wenn Wann nehmen die Journalisten in Deutsch in den Län- Deutschland endlich zur Kenntnis, daß dern Mittel- und Osteu- die Justiz in einer Demokratie mit funk- ropas durch eigene Ex- tionierender Gewaltenteilung nicht dazu perten und Strukturen da ist, um politisch willfährige oder der des eigenen Bildungs- DPA öffentlichen (veröffentlichten?) Mei- wesens gefördert wird, Höhenflugzeug Strato 2 C (Modell) nung entsprechende Urteile zu fällen, kann Kolonisierung „Von Kreisen der Wissenschaft gefordert“ sondern sich ausschließlich an Recht vermieden werden. und Gesetz zu orientieren hat, abseits Wien PROF. HANS-JÜRGEN KRUMM Einschlägige Kreise jeglicher Tagesopportunität? Beirat Deutsch als Fremdsprache des Goethe-Instituts (Nr. 36/1994, Forschung: Waigels Freiburg DR. ERHARD ORTHGIESS Gefälligkeiten für einen Allgäuer Wie bitte sollen sich Menschen verste- Flugzeugbauer) hen, wenn sie nicht die Sprache eines Falscher Weg Landes lernen, für das sie sich interes- Sie erwecken in Ihrem Beitrag den Ein- (Nr. 36/1994, Kulturpolitik: Deutsch- sieren. Niemand wird gezwungen, druck, das Stratosphärenforschungsflug- Boom in Osteuropa / Interview mit Goe- Deutsch oder eine andere Sprache zu zeug Strato 2 C werde nicht gebraucht the-Institut-Chef Hilmar Hoffmann über lernen, von Sprachimperialismus ist da und gegen den Rat der Wissenschaftler Kulturexport) keine Rede. Die von einigen Goethe- gebaut. Das Gegenteil ist der Fall. Die Mitarbeitern ideologisch gewünschte Ozonschicht in der Stratosphäre hat sich Die deutsche Sprache hat neben Eng- „konfliktreiche Auseinandersetzung in unvorhergesehener Weise drastisch lisch nicht nur eine Chance als Kom- mit der deutschen Kultur“ geht leider verändert. Die ursächliche Chlor-Bela- merzsprache, sondern ist die europäi- zu häufig völlig an dem Interesse der, stung der Stratosphäre nimmt auch bei sche Nachbarschaftssprache. Das be- zum Beispiel japanischen, Bevölkerung rascher Reduktion der FCKW-Produk- deutet aber, daß sie – gerade auch we- vorbei – auch aus Sprachgründen. Ist tion in den nächsten zehn Jahren noch gen des im Ausland sensibel registrier- das Aufzwingen einer bestimmten zu. In unseren Breiten wurde ein Ozon- ten Erstarkens von Rassismus und Na- Weltanschauung aber nicht gerade ein abbau von bis zu 8 Prozent in 10 Jahren tionalismus – einer besonderen Pflege neuer Kulturimperialismus? beobachtet, ohne daß dies durch Model- bedarf, die sich eben nicht im Sprachun- Kyoto (Japan) GUNTHER KRELL le bisher zufriedenstellend erklärbar wä- terricht pur erschöpfen kann: Die re. Im Jahr 2000 sind Ozonverluste von Schließung von Bibliotheken und Kür- In Ihrem Artikel entsteht der Ein- 10 Prozent im Sommer und bis zu 25 zungen des Kulturprogramms sind eben- druck, als würden Deutsche Schulen Prozent im Winter gegenüber 1975 zu so ein falscher Weg wie das Klotzen mit und Goethe-Institute im Ausland in befürchten. Heute verfügen nur die Sprachkurs-Millionen, für die dann oft Konkurrenz zueinander arbeiten und Amerikaner über ein Stratosphärenfor- als seien dem Aus- schungsflugzeug, die ER-2. In der tropi- landsschulwesen die schen Stratosphäre, über Gewitter und Mittel zugeflossen, die Wirbelstürmen in mehr als 18 Kilometer dem Goethe-Institut Höhe, ist die ER-2 nur sehr begrenzt aufgrund der Haus- einsetzbar. haltskürzungen gestri- Oberpfaffenhofen chen worden sind. Be- PROF. ULRICH SCHUMANN dauerlicherweise wur- Deutsche Forschungsanstalt für den den Deutschen Luft- und Raumfahrt Schulen im Ausland die Schülerbeihilfen so dra- Das von mir mit meinen Mitarbeitern stisch gekürzt, daß unter Einsatz von Eigenmitteln in Höhe nicht wenige Eltern die von über 20 Millionen Mark entwickelte dadurch überproportio- Höhenflugzeug Strato 2 C, das im übri- nal gestiegenen Schul- gen bereits zu 80 Prozent fertiggestellt gelder nicht mehr tra- ist und Anfang 1995 im Flugbetrieb er- gen können.Von Null- probt werden wird, wurde schon vor Runden oder gar Ge- Auftragserteilung von den einschlägigen haltskürzungen und Kreisen der Wissenschaft gefordert und Entlassungen sind na- wird bis zum heutigen Tage nachhaltig tionale Ortskräfte an unterstützt. Ein Erfolg des Projektes den Deutschen Schulen wird nach übereinstimmender fachkun- betroffen. diger Auffassung der deutschen Luft- fahrtindustrie und der Wissenschaft ins- Husum gesamt bahnbrechende, innovative Per- D. KONNERTH / LICHTBLICK WOLFGANG BAIER spektiven eröffnen. Deutschunterricht in Golowkino (Rußland) Verband Deutscher Lehrer Drastisch gekürzte Beihilfen im Ausland Bad Wörishofen DR. BURKHART GROB

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Befristete Aufgabe (Nr. 36/1994, Panorama: Berlin-Umzug) Der Vorschlag des Bundes, erfahrene Baufachleute aus den Ländern vorüber- gehend für die Hauptstadtplanung ein- zusetzen, geht auf den Wunsch der Lan- desbauverwaltungen zurück, die wegen rückläufiger Bauaufgaben zum Teil Per- sonalüberhänge abbauen müssen. Was liegt näher, als Landesbeamte für die befristete Aufgabe der Hauptstadtpla- nung beim Bund einzusetzen? Frau Bru- sis können diese Effizienzüberlegungen übrigens nicht so neu sein, wie sie glau- ben machen will. Grundlage ist seit vie- len Jahren eine „Vereinbarung der Bun- desregierung und der Landesregierun- gen über den Beamteneinsatz bei Ober- sten Bundesbehörden“. JÖRG IHLAU Bundesministerium für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau

Mehrere Sommer lang (Nr. 36/1994, Tierverhalten: Robot-In- stinkt hilft Bienentänze entschlüsseln)

Für die Entschlüsselung der Bienenspra- che wurde bereits 1973 der Nobelpreis an Professor Karl von Frisch verliehen, der ihn gemeinsam mit den Herren Tin- SAVE-BILD PICTURES / MINDEN Robotbiene, Biene Nur fortführende Forschung?

bergen und Lorenz auf dem Gebiet Phy- siologie und Medizin erhielt. Es handelt sich also „nur“ um fortführende For- schung. Braunschweig DR. ROLF GRAMM

Die Robotbiene und das zugehörige wis- senschaftliche Konzept und Versuchs- programm stammen nicht von den Würz- burger Insektenforschern und ihrem „Chefforscher“ Wolfgang Kirchner, son- dern einzig und allein von dem dänischen Zoologen Axel Michelsen. Zusammen mit seinen Mitarbeitern hat er als Gast von Kirchners Doktorvater Martin Lindauer die Robotbiene mehrere Som- mer lang in Würzburg eingesetzt. Göttingen PROF. NORBERT ELSNER Georg-August-Universität, Zoologisches Institut

DER SPIEGEL 38/1994 13 BRIEFE MNO Subtile Offenbarung 20457 Hamburg, Brandstwiete 19, Telefon (040) 3007-0, Telefax (040) 3007 2247, Telex 2 162 477 CompuServe: 74431,736 (Internet: 74431.736 @compuserve.com) (Nr. 37/1994, SPIEGEL-Gespräch mit dem Schriftsteller Per Olov Enquist über HERAUSGEBER: 532 5453 . Prag: Jilska´ 8, 11 000 Prag, Tel. (00422) 24 22 0138, Telefax 24 22 0138 . Rio de Janeiro: Jens Glüsing, Aveni- die Sehnsucht nach dem alten Wohl- CHEFREDAKTEUR: Hans Werner Kilz da Sa˜o Sebastia˜o, 157 Urca, 22291 Rio de Janeiro (RJ), Tel. (005521) 275 1204, Telefax 542 6583 . Rom: Valeska von fahrtsstaat und Nr. 37/1994 Bosnien: STELLV. CHEFREDAKTEURE: Joachim Preuß, Dr. Dieter Wild Roques, Largo Chigi 9, 00187 Rom, Tel. (00396) 679 7522, Tele- Präsident Alija Izetbegovic´ über die neue fax 679 7768 . Stockholm: Hermann Orth, Scheelegatan 4, REDAKTION: Karen Andresen, Ariane Barth, Dieter Bednarz, 11 223 Stockholm, Tel. (00468) 650 82 41, Telefax 652 99 97 . Zuspitzung des Konflikts) Wolfram Bickerich, Wilhelm Bittorf, Peter Bölke, Jochen Bölsche, Tokio: Wulf Küster, 5-12, Minami-Azabu, 3-chome, Minato-Ku, Dr. Hermann Bott, Klaus Brinkbäumer, Stephan Burgdorff, Wer- Tokio 106, Tel. (00813) 3442 9381, Telefax 3442 8259 . War- Gewohnt, den SPIEGEL von hinten zu ner Dähnhardt, Dr. Thomas Darnstädt, Hans-Dieter Degler, Dr. schau: Andreas Lorenz, Ul. Polna 44/24, 00-635 Warschau, Tel. Martin Doerry, Adel S. Elias, Rüdiger Falksohn, Nikolaus von Fe- (004822) 25 49 96, Telefax 25 49 96 . Washington: Karl-Heinz lesen, habe ich mich sehr über den Schuß stenberg, Uly Foerster, Klaus Franke, Gisela Friedrichsen, Angela Büschemann, Siegesmund von Ilsemann, 1202 National Press Gatterburg, Henry Glass, Rudolf Glismann, Johann Grolle, Doja Building, Washington, D. C. 20 045, Tel. (001202) 347 5222, Selbstironie im „Hohlspiegel“ gefreut. Hacker, Dr. Volker Hage, Dr. Hans Halter, Werner Harenberg, Telefax 347 3194 . Wien: Dr. Martin Pollack, Schönbrunner Stra- Auf den Seiten 161 und 165, im Gespräch Dietmar Hawranek, Manfred W. Hentschel, Ernst Hess, Hans ße 26/2, 1050 Wien, Tel. (00431) 587 4141, Telefax 587 4242 Hielscher, Wolfgang Höbel, Heinz Höfl, Clemens Höges, Joachim mit Enquist und Interview mit Izetbego- Hoelzgen, Jürgen Hogrefe, Dr. Jürgen Hohmeyer, Carsten Holm, ILLUSTRATION: Werner Bartels, Renata Biendarra, Martina Blu- Hans Hoyng, Thomas Hüetlin, Rainer Hupe, Dr. Olaf Ihlau, Ulrich me, Barbara Bocian, Ludger Bollen, Katrin Bollmann, Thomas vic´, fand ich dann eine weitere subtile Jaeger, Hans-Jürgen Jakobs, Urs Jenny, Dr. Hellmuth Karasek, Bonnie, Regine Braun, Martin Brinker, Manuela Cramer, Josef Offenbarung Ihrer Redaktion: Der Sabine Kartte-Pfähler, Klaus-Peter Kerbusk, Ralf Klassen, Petra Csallos, Volker Fensky, Ralf Geilhufe, Rüdiger Heinrich, Tiina Hur- Kleinau, Sebastian Knauer, Dr. Walter Knips, Susanne Koelbl, me, Antje Klein, Ursula Morschhäuser, Cornelia Pfauter, Monika Schlachtruf „Wir wählen die Waffen“ Christiane Kohl, Dr. Joachim Kronsbein, Bernd Kühnl, Dr. Romain Rick, Chris Riewerts, Julia Saur, Detlev Scheerbarth, Claus-Dieter paßt, da haben Sie wieder mal recht, im Leick, Heinz P. Lohfeldt, Udo Ludwig, Klaus Madzia, Armin Mah- Schmidt, Manfred Schniedenharn, Frank Schumann, Rainer Sen- ler, Dr. Hans-Peter Martin, Georg Mascolo, Gerhard Mauz, Gerd newald, Dietmar Suchalla, Karin Weinberg, Matthias Welker, Rai- Grunde zu allen SPIEGEL-Beiträgen. Meißner, Fritjof Meyer, Dr. Werner Meyer-Larsen, Michael Mön- ner Wörtmann, Monika Zucht ninger, Joachim Mohr, Mathias Müller von Blumencron, Bettina SCHLUSSREDAKTION: Rudolf Austenfeld, Horst Beckmann, Sa- Aber mußer, imAbstand vonvier Seiten, Musall, Hans-Georg Nachtweh, Dr. Jürgen Neffe, Dr. Renate bine Bodenhagen, Lutz Diedrichs, Dieter Gellrich, Hermann über beiden Interviews stehen? Anderer- Nimtz-Köster, Hans-Joachim Noack, Gunar Ortlepp, Claudia Pai, Harms, Bianca Hunekuhl, Rolf Jochum, Karl-Heinz Körner, Inga Rainer Paul, Christoph Pauly, Jürgen Petermann, Norbert F. Pötzl, Lembcke, Christa Lüken, Reimer Nagel, Dr. Karen Ortiz, Andreas seits könnten Sie auch die Überschriften Dr. Rolf Rietzler, Dr. Fritz Rumler, Dr. Johannes Saltzwedel, Karl- M. Peets, Gero Richter-Rethwisch, Thomas Schäfer, Ingrid Seelig, gänzlich weglassen, dann haben Sie mehr H. Schaper, Marie-Luise Scherer, Heiner Schimmöller, Roland Hans-Eckhard Segner, Tapio Sirkka, Hans-Jürgen Vogt, Kirsten Schleicher, Michael Schmidt-Klingenberg, Cordt Schnibben, Wiedner, Holger Wolters Platz für gewohnt schaurige Berichte. Hans Joachim Schöps, Dr. Mathias Schreiber, Bruno Schrep, Hel- VERANTWORTLICHER REDAKTEUR dieser Ausgabe für Pan- Berlin CLAUDIA FISCHER mut Schümann, Matthias Schulz, Hajo Schumacher, Birgit orama, Wahlkampf, Kriminalität: Dr. Gerhard Spörl; für Karriere, Schwarz, Ulrich Schwarz, Mareike Spiess-Hohnholz, Dr. Gerhard Wahlen, Frauen, Forum, Spionage, Ruanda-Hilfe, Polizei: Chri- Spörl, Olaf Stampf, Hans Gerhard Stephani, Hans-Ulrich Stoldt, stiane Kohl; für Trends, Automobilindustrie, Unternehmen, Affä- Der SPIEGEL bedauert den Fehler. Die Peter Stolle, Barbara Supp, Dr. Rainer Traub, Dieter G. Uentzel- ren (S. 119), Multimedia, Kosmetik: Armin Mahler; für Medien, kämpferische Überschrift war vergange- mann, Klaus Umbach, Hans-Jörg Vehlewald, Dr. Manfred Weber, Zukunft, Kiosk: Uly Foerster; für Glücksspiel, Idole, Psychologie, Susanne Weingarten, Alfred Weinzierl, Marianne Wellershoff, Pe- Pop, Entertainer, Fernseh-Vorausschau: Wolfgang Höbel; für Pan- ne Woche durch ein technisches Versehen ter Wensierski, Carlos Widmann, Erich Wiedemann, Christian orama Ausland, Frankreich, Bosnien, Islam, Rußland, Südafrika, Wüst, Peter Zobel, Dr. Peter Zolling, Helene Zuber Schweiz, Polen, USA: Dr. Romain Leick; für Tennis, Handball, gleich zweimal ins Heft gerutscht. –Red. Schach: Heiner Schimmöller; für Szene, Architektur, Theater, REDAKTIONSVERTRETUNGEN DEUTSCHLAND: Berlin: Wolf- Bestseller, Volkskunst, Fotografie: Dr. Martin Doerry; für Prisma, gang Bayer, Petra Bornhöft, Jan Fleischhauer, Dieter Kampe, Uwe Medizin, Atomforschung, SPIEGEL-Essay, Affären (S. 252), Gene- Klußmann, Jürgen Leinemann, Claus Christian Malzahn, Walter tik, Automobile: Klaus Franke; für namentlich gezeichnete Beiträ- Mayr, Harald Schumann, Gabor Steingart, Kurfürstenstraße ge: die Verfasser; für Briefe, Personalien, Register, Hohlspiegel, Gravierende Unkenntnis 72 – 74, 10787 Berlin, Tel. (030) 25 40 91-0, Telefax Rückspiegel: Dr. Manfred Weber; für Titelbild: Thomas Bonnie; für 25 40 91 10 . Bonn: Winfried Didzoleit, Manfred Ertel, Dirk Gestaltung: Dietmar Suchalla; Chef vom Dienst: Norbert F. Pötzl (Nr. 36/1994, Personalien) Koch, Ursula Kosser, Dr. Paul Lersch, Elisabeth Niejahr, Hartmut (sämtlich Brandstwiete 19, 20457 Hamburg) Palmer, Olaf Petersen, Rainer Pörtner, Hans-Jürgen Schlamp, DOKUMENTATION: Jörg-Hinrich Ahrens, Sigrid Behrend, Ulrich Alexander Szandar, Klaus Wirtgen, Dahlmannstraße 20, 53113 Auch in der Deutschen Gebärden-Spra- . Booms, Dr. Jürgen Bruhn, Lisa Busch, Heinz Egleder, Dr. Herbert Bonn, Tel. (0228) 26 70 3-0, Telefax 21 51 10 Dresden: Se- Enger, Johannes Erasmus, Dr. Karen Eriksen, Dr. Andre´ Geicke, Il- che bedeutet der „gestreckte Zeigefin- bastian Borger, Christian Habbe, Dietmar Pieper, Detlef Pypke, le von Gerstenbergk-Helldorff, Dr. Dieter Gessner, Hartmut Heid- Königsbrücker Str. 17, 01099 Dresden, Tel. (0351) 567 0271, ger auf der Stirnmitte“ Deutscher/ . ler, Wolfgang Henkel, Gesa Höppner, Jürgen Holm, Christa von Telefax 567 0275 Düsseldorf: Ulrich Bieger, Georg Bönisch, Holtzapfel, Joachim Immisch, Hauke Janssen, Günter Johannes, Deutschland und auch Polizei. Gebär- Hans Leyendecker, Richard Rickelmann, Rudolf Wallraf, Oststra- Angela Köllisch, Sonny Krauspe, Hannes Lamp, Marie-Odile Jo- ße 10, 40211 Düsseldorf, Tel. (0211) 93 601-01, Telefax not-Langheim, Walter Lehmann, Michael Lindner, Dr. Petra Lud- 35 83 44 . Erfurt: Felix Kurz, Dalbergsweg 6, 99084 Erfurt, Tel. . wig, Sigrid Lüttich, Roderich Maurer, Rainer Mehl, Ulrich Meier, (0361) 642 2696, Telefax 566 7459 Frankfurt a. M.: Peter Gerhard Minich, Wolfhart Müller, Bernd Musa, Christel Nath, An- Adam, Wolfgang Bittner, Annette Großbongardt, Ulrich Manz, neliese Neumann, Werner Nielsen, Paul Ostrop, Nora Peters, An- „DEUTSCHER“ „CHINESE“ Oberlindau 80, 60323 Frankfurt a. M., Tel. (069) 71 71 81, Tele- na Petersen, Peter Philipp, Axel Pult, Ulrich Rambow, Dr. Mecht- fax 72 17 02 . Hannover: Ansbert Kneip, Rathenaustraße 16, . hild Ripke, Constanze Sanders, Petra Santos, Christof Schepers, 30159 Hannover, Tel. (0511) 32 69 39, Telefax 32 85 92 Rolf G. Schierhorn, Ekkehard Schmidt, Marianne Schüssler, An- Karlsruhe: Dr. Rolf Lamprecht, Amalienstraße 25, 76133 Karls- . drea Schumann, Claudia Siewert, Margret Spohn, Rainer Staud- ruhe, Tel. (0721) 225 14, Telefax 276 12 Mainz: Birgit Loff, hammer, Anja Stehmann, Stefan Storz, Monika Tänzer, Dr. Wil- Wilfried Voigt, Weißliliengasse 10, 55116 Mainz, Tel. (06131) . helm Tappe, Dr. Eckart Teichert, Jutta Temme, Dr. Iris Timpke-Ha- 23 24 40, Telefax 23 47 68 München: Dinah Deckstein, An- mel, Carsten Voigt, Horst Wachholz, Ursula Wamser, Dieter Wes- nette Ramelsberger, Dr. Joachim Reimann, Stuntzstraße 16, sendorff, Andrea Wilkens, Karl-Henning Windelbandt 81677 München, Tel. (089) 41 80 04-0, Telefax 4180 0425 . Schwerin: Bert Gamerschlag, Spieltordamm 9, 19055 Schwe- BÜRO DES HERAUSGEBERS: Irma Nelles rin, Tel. (0385) 557 44 42, Telefax 56 99 19 . Stuttgart: Dr. NACHRICHTENDIENSTE: ADN, AP, dpa, Los Angeles Times/Wa- Hans-Ulrich Grimm, Sylvia Schreiber, Kriegsbergstraße 11, shington Post, Newsweek, New York Times, Reuters, Time 70174 Stuttgart, Tel. (0711) 22 15 31, Telefax 29 77 65 SPIEGEL-VERLAG RUDOLF AUGSTEIN GMBH & CO. KG REDAKTIONSVERTRETUNGEN AUSLAND: Basel: Jürg Bürgi, Abonnenten-Service: Tel. 0130-863006, Telefax (040) Spalenring 69, 4055 Basel, Tel. (004161) 283 0474, Telefax 30072898 Postfach 10 58 40, 20039 Hamburg 283 0475 . Belgrad: Renate Flottau, Teodora Drajzera 36, 11000 Belgrad, Tel. (0038111) 66 99 87, Telefax 66 01 60 . Abonnementspreise: Normalpost Inland: sechs Monate DM 130,00, zwölf Monate DM 260,00, für Studenten (nur Inland) DM Brüssel: Heiko Martens, Marion Schreiber, Bd. Charlemagne 182,00. 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14 DER SPIEGEL 38/1994 Werbeseite

Werbeseite .

DEUTSCHLAND PANORAMA

Parteivermögen übernehmen. Die Unabhän- derte Entwicklungspolitik zu- Verfassungsgericht gige Kommission Parteiver- sätzlich schwächen“, behaup- CDU muß mögen will jetzt klären, wie- ten die Kirchenführer in ih- DDR-Spione viel die CDU zurückzahlen rem Brief von Anfang Sep- zurückzahlen muß. Die Entscheidung kann tember. Da das Entwick- straffrei? Die CDU, die der PDS frühestens auf der Kommissi- lungshilfeministerium bei Das Bundesverfassungsge- im Wahlkampf Manipulation onssitzung am 26. Oktober Auseinandersetzungen auch richt hat offenbar Beden- mit SED-Vermögen vorwirft, fallen – zehn Tage nach der bisher stets den kürzeren ge- ken dagegen, daß ehemalige arbeitet selbst mit DDR-Gel- Bundestagswahl. zogen hat, unterstellen In- DDR-Bürger wegen Spiona- dern zweifelhafter Herkunft. sider den Kirchenmännern ge gegen die Bundesrepublik Mindestens 4,7 Millionen Kabinett ein besonderes Motiv: Bei der verurteilt werden. Kommen Mark haben die Christdemo- Fusion verlöre einer der wich- die höchsten Richter zu dem kraten im Oktober 1990 of- Schwache tigsten Geldgeber der Reli- Ergebnis, daß eine Strafver- fenkundig zu Unrecht den gionsgemeinschaften seine folgung gegen das Grundge- Kassen der einverleibten Entwicklungshilfe Selbständigkeit. setz verstößt, können unter Ost-CDU entnommen – Die Kirchen machen sich Sor- anderem Ex-Spionage- Geld der Demokratischen gen um die Entwicklungshilfe chef Markus Wolf und Bauernpartei Deutschlands im Falle eines SPD-Wahlsie- sein Nachfolger Werner (DBD). Die CDU hat mit ges. In einem gemeinsamen Großmann mit Straf- dem Ost-Geld nach eigenen Brief an Kanzlerkandidat Ru- freiheit rechnen. Wolf Angaben unter anderem „die dolf Scharping warnen der war zu sechs JahrenHaft technische Ausstattung der Bevollmächtigte der evange- verurteilt worden. Landes- und Kreisgeschäfts- lischen Kirche, Prälat Hart- Einen Hinweis auf stellen in den neuen Bundes- mut Löwe, und der Leiter des Zweifel gaben dieKarls- ländern“ finanziert. Da die katholischen Bischofs-Kom- ruher Richter vorige Fusion von DBD und Ost- missariats, Prälat - Woche. Sieschoben den CDU im Sommer 1990 gegen let, davor, das Ministerium Strafantritt der wegen das geltende DDR-Parteien- für wirtschaftliche Zusam- Spionage zu zweiein- gesetz verstieß und somit un- menarbeit in das Auswärtige halb Jahren Haft verur- gültig war, durften die West- Amt einzugliedern. „Das teilten Johanna Olbrich

CDUler auch nicht die Bar- könnte die ohnehin nicht D: HOPPE / NETZHAUT um vier Wochen hinaus. und Bankguthaben der DBD nachdrücklich genug geför- Entwicklungshilfe in Gambia Die Frau hatte als Sonja

Architektur SPIEGEL: Immerhin müssen die beiden in diesem Haus leben. Ungers: Ihren persönlichen Geschmack können sie un- gehindert in ihrem privaten Wohntrakt ausleben, der „Ein undiplomatischer Diplomat“ immerhin 350 Quadratmeter groß ist. Wenn das nicht reicht . . . Der Kölner Architekt Oswald Mathias Ungers, 68, über SPIEGEL: Ihr Haus gilt als Zeichen neuer deutscher Groß- die Kritik an seinem Neubau der Botschafterresidenz in mannssucht. Washington Ungers: Ich habe für Imponiergehabe nichts übrig. Ein 1800 Quadratmeter großes Repräsentations- und Wohnhaus, SPIEGEL: Warum wird Ihr Gebäude als „Teutonenklotz“ durch das jährlich 9000 Besucher geschleust werden, istgewiß beschimpft und mit NS-Bauten wie dem Münchner Haus nicht überdimensioniert. Die Japaner und Engländer haben der Kunst verglichen? weitaus größere Residenzen. Ungers: Der NS-Vergleich ist unverschämt. Die neue Re- SPIEGEL: Woher kommt diese Wut auf den Architekten? sidenz liegt auf einem wunderbaren Hanggrundstück und Ungers: Also, die Amerikaner sind von dem Neubau begei- erinnert eher an Schloß Sanssouci. Der Bau nimmt Ele- stert. Und ein Botschafter, der sich bei der Weltpresse über mente des griechisch inspirierten Stils der amerikanischen sein Badezimmer beschwert, muß schon sehr undiplomatisch Südstaaten auf. sein. Die Zeiten, da diese Leute auch Kulturträger waren, SPIEGEL: Der deutsche Botschafter Immo Stabreit beklagt sind offenbar vorbei. Der Geschmacksverfall ist ungeheuer- sich über die eiskalte Atmosphäre der Repräsentationssä- lich. le und über zu kleine Wohnräu- me. Ungers: Der Botschafter und seine Gattin wollten die Gesellschaftsräu- me mit Flohmarkt-Antiquitäten und Porzellantellern an der Wand bestücken. Das wäre ein Dokument des Gelsenkirchener Barock gewor- den. Das Botschafterpaar hat einen derart schlechten Geschmack, daß es selbst die Originalgemälde und Friese von deutschen Gegenwarts- künstlern wie Lüpertz, Merz oder

Trockel als billige Comic-Verzie- SCHAACK / BUNDESBILDSTELLE GERMAN INFORMATION CENTER rungen abgetan hat. Botschafter Stabreit, Residenz in Washington

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Lüneburg jahrelang im Büro des FDP-Politikers gearbeitet. Ihr Anwalt Johann Schwenn, zu- gleich Wolf-Verteidiger, hat- te den Antrag auf Haftauf- schub mit verfassungsrechtli- chen Bedenken begründet. Auch Olbrich müßte vermut- lich nicht ihre Haft antreten, falls Karlsruhe den Argu- menten ihres Verteidigers folgt. Ein weiteres Indiz für die Karlsuher Zweifel: Im Früh- jahr bestellte der zuständige Zweite Senat des Bundesver- fassungsgerichts beim Max- Planck-Institut für Völker- recht in Heidelberg ein Gut- achten. Es soll klären, ob die NYGARD Wolf

Auftraggeber bei der Staats- sicherheit von den Gerichten anders zu behandeln sind als Stasi-Agenten, die unter fal- scher Identität in die Bundes- republik eingeschleust wur- den, oder Bundesbürger, die sich von der Wolf-Truppe an- werben ließen. Entscheidend ist, ob die Be- strafung ehemaliger DDR- Bürger gegen die Haager Landkriegsordnung verstößt. Deren Artikel 31 verbietet, einen Spion, der zu seinem Heer zurückgekehrt ist und danach vom Feind gefangen wird, für seine früheren Ta- ten verantwortlich zu ma- chen. Während der Bundesge- richtshof diese Bestimmung nur für kriegerische Fälle gel- ten ließ, wollte das Berliner Kammergericht sie auch auf ehemalige DDR-Spione an- wenden. Es legte die Frage dem Bundesverfassungsge- richt zur Entscheidung vor. Der Karlsruher Beschluß ist in den nächsten Wochen zu erwarten.

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Deutschlandpolitik „FEUER NICHT ENTFACHEN“ Im Wahlkampf präsentiert sich der Kanzler als unbeirrbarer Vorkämpfer der deutschen Einheit – zu Unrecht. Dokumente belegen, daß die Deutschlandpolitik der Union auf Zweistaatlichkeit fixiert war. Sogar noch nach dem Fall der Mauer im November 1989 war die Wiedervereinigung für Kohl zunächst „nicht das Thema“.

m Wahlkampf feiert Helmut Kohl sich Kompromiß mit dem Honecker-Regime am 28. November 1989, fast drei Wo- selbst –am liebsten als Kämpfer für die gesucht – wie vor ihm die heute verteu- chen nach dem Fall der Mauer, vorge- Ideutsche Einheit. Im Umgang mit dem felten Sozialdemokraten. stellt und heute als Meilenstein auf dem Honecker-Regime rühmt er sich als un- Kohl wollte den SED-Staat stabilisie- Weg zur Einheit gefeiert, setzte noch nachgiebig. Erinnert sich wie ein alter ren; das war damals ebenso richtig wie auf eine Stabilisierung der ins Wanken Revolutionär an „Barrieren, die wir nie- in den siebziger Jahren. Er versuchte geratenen DDR. dergerissen haben“. in deutsch-deutscher Geheimdiploma- Das große Ziel der deutschen Einheit In Fahrt gekommen, ermahnt er die tie auch noch nach dem Fall der Mauer in Freiheit hatte Pragmatiker Kohl, wie jüngeren Zuhörer, aus der Geschichte zu zu retten, was nicht mehr zu retten die meisten Westdeutschen, schon lange lernen. „In Wahrheit“, ruft Kohl im war. zuvor ins Reich der Visionen verbannt, Wahlkampf pathetisch über die Plätze, Bislang unveröffentlichte Dokumente tauglich höchstens als Floskel in Sonn- „gibt es keinen Kompromiß zwischen aus DDR-Archiven belegen, daß sich tagsreden. Ganz wie seine SPD-Vorgän- Freiheit und Unfreiheit.“ Kohl bis Ende 1989 auf die Zweistaat- ger und Auch ihm sei das „Geschenk der Ein- lichkeit in Deutschland eingerichtet hat- betrieb er eine Politik zwischen Anpas- heit“ von der Geschichte erst nach harter te. Auch sein Zehn-Punkte-Programm, sung und Kooperation. Vorarbeit überreicht worden, der histori- sche Coup nur gelun- gen, weil „wir das gro- ße Ziel der Wieder- herstellung der Ein- heit Deutschlands in Freiheit nicht aus den Augen verloren ha- ben“. Mit „wir“ meint Kohl sich, die Union und alle aufrechten Deutschen. Einen meint er nicht – die SPD. Die Genossentrup- pe, schimpft Kohl, ha- be sich „an der deut- schen Einheit versün- digt“ und bis zum Sturz des SED-Re- gimes „die großartige Idee des einig Vater- land verraten“. Ge- kungelt hätten die So- zialdemokraten erst mit den Kommunisten und jetzt mit der PDS, jenen „rotlackierten Faschisten“. Die Realität sieht anders aus: Nach dem Machtwechsel im Ok-

tober 1982 hat der DPA Kanzler stets den Staatsgast Honecker, Gastgeber Kohl in Bonn (1987): „Nicht in eine ungute Lage bringen“

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Gleich beim ersten Telefonkontakt wolle „keine unnötige öffentliche Pole- gann, ein Kontaktnetz zur SED-Füh- zwischen CDU-Kanzler und SED-Chef mik entfachen“ und sei an einem Besuch rung aufzubauen. Nach Einschätzung am 24. Januar 1983 erteilte Kohl, als des DDR-Staatschefs in Bonn nach wie von damaligen DDR-Gesprächspart- Regierungschef knapp vier Monate im vor sehr interessiert. Honeckers Besuch nern ging es dem Kanzler vor allem dar- Amt, jeder Kursänderung in der in Bonn sollte vier Jahre später die Kar- um, neben den Ost-Beziehungen von Deutschlandpolitik eine Absage (siehe riere des DDR-Staatschefs krönen. CSU-Chef Franz Josef Strauß ein eige- Seite 20). Während der rechte Unions- Schnell merkte Kohl, daß der persön- nes Ost-West-Informationssystem zu flügel öffentlich nach einer Revision des liche Kontakt allein nicht ausreichte, um betreiben. unter Willy Brandt vereinbarten Grund- das nervöse Verhältnis der beiden Manfred Uschner, damals persönli- lagenvertrages verlangte, setzte der Deutschland zu entspannen. Am 19. cher Referent des für Außenpolitik zu- Kanzler auf Kontinuität. Dezember 1983, 14 Monate nach Regie- ständigen SED-Politbüromitglieds Her- In freundlichem Plauderton versprach rungsübernahme, bot er Honecker in ei- mann Axen: „Der Kohl wollte eine Al- er dem damals 70jährigen Honecker, ternative zur Südschiene.“ den Grundlagenvertrag „weiterzuent- Eine Schlüsselrolle im Verhältnis wickeln“. Die DDR und die Bundesre- „Jede Form Kohls zu Honecker spielte Walther publik, so Kohl in dem bisher unveröf- der Radikalisierung Leisler Kiep, damals Bundesschatzmei- fentlichten Telefonprotokoll der DDR- ster und Präsidiumsmitglied der CDU. Regierung, müßten „auch bei schlechte- ist gefährlich“ Schon vor Kohls Machtantritt im Okto- rem Wetter miteinander leben“. ber 1982, das belegen Dokumente aus Gerade zu Beginn seiner Regierungs- nem erneuten Telefonat eine deutsch- dem SED-Archiv, war Kiep Kohls zeit pflegte Kohl den Telefonkontakt, deutsche Geheimdiplomatie an. Emissär. um die mit Minderwertigkeitskomple- In seinem Gespräch, das laut Auf- Neben den offiziellen Ansprechpart- xen beladenen SED-Funktionäre zu be- zeichnungsprotokoll von 14.07 bis 14.41 nern im Kanzleramt – zuerst Kanzler- ruhigen. Als der West-Bürger Rudolf Uhr dauerte, schlug er vor, künftig amtsminister , dann Burkert am 10. April 1983 bei der Ver- „über persönliche Beauftragte außer- dessen Nachfolger Wolfgang Schäuble nehmung durch DDR-Grenzer einem halb jeglicher Öffentlichkeit“ zu verkeh- und – stand Kiep mehr- Herzinfarkt erlag, machten die Kalten ren. mals im Jahr für diskrete Gespräche mit Krieger in der Bundesrepublik gegen Kohl ermunterte den SED-Regie- der SED-Spitze bereit. Der CDU-Politi- die DDR mobil. Strauß sprach von ei- rungschef, das Angebot anzunehmen: ker habe „in in engem Kontakt mit dem nem „Mordfall“. Kohl griff zum Hörer. „Sie sprechen hier mit einem Mann, der Bundeskanzler“ gehandelt, bestätigt Am 18. April 1983, acht Tage nach nichts unternehmen wird, um Sie in eine Hans Otto Bräutigam, damals Ständiger dem Vorfall, versicherte der West- ungute Lage – ich will es nicht näher in- Vertreter der Bundesrepublik in der Kanzler dem SED-Generalsekretär, er terpretieren – zu bringen.“ Kohl be- DDR und derzeit Minister im branden- burgischen Stolpe-Ka- binett. Kiep galt den SED- Genossen als „realisti- sche Kraft“ (Uschner) und führender Inter- pret der Kohlschen Po- litik. Am 22. Februar 1983 erläuterte Kiep dem Abgesandten der SED, Herbert Häber, den Bonner Plan zum Aus- bau gutnachbarlicher Beziehungen. „Von maßgeblichen Kreisen der USA“, zitiert Hä- ber den CDU-Präsi- den, werde versucht, die deutsch-deutsche Annäherung „zu brem- sen“. Doch Kohl wolle gegenhalten und sei – anders als die CSU – auch zu bilateralen Ge- sprächen über Abrü- stungsfragen bereit. Erfreut schrieb Hä- ber aufalsResümee des Austausches mit Kiep: „Damit setze sich Kohl erneut von Strauß und anderen Politikern der Union ab, die . . . das

DPA Verhältnis zur DDR re- Wahlkämpfer Kohl in Erfurt (1990): „Die geschichtliche Stunde“ duzieren wollen auf

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DEUTSCHLAND

Fragen der menschlichen Beziehun- Sofort nach den Bundestagswahlen erstattete, wollte gegenüber der SED ei- gen.“ Um Zweifel am Kohlschen am 6. März l983 wolle Kohl „Tatsachen ne vertrauliche Gesprächsatmosphäre Durchsetzungswillen zu zerstreuen, schaffen, die die Beziehungen zur DDR schaffen. An Lobpreisungen der SED- klärte Kiep seine SED-Gesprächspart- voranbringen“. Zur Überraschung sei- Führung sparte er nicht. „Seine Haltung ner immer wieder über die Kräftever- ner DDR-Gesprächspartner stellte Kiep zur DDR“, hielt Häber im Protokoll hältnisse in der Union auf. Kohls eine Aufwertung der Ständigen Vertre- fest, „sei stark von seiner Achtung ge- freundlicher Kurs gegenüber der DDR tung der Bundesrepublik in Ost-Berlin genüber der Persönlichkeit Erich Ho- sei nur möglich, weil die CSU-Landes- in Aussicht. Denkbar sei es, so der neckers beeinflußt.“ An solche „Bewun- gruppe „nicht mehr so fest an Strauß ge- Bonner Bote, sie „mit einem etwas derungsadressen“ kann Kiep sich heute bunden“ sei. Der neue Vorsitzende der hochrangigeren Politiker besetzen“ zu nicht mehr erinnern. Landesgruppe, , lasse sich lassen. Warum Kohl im deutschen Osten kei- „nicht ohne weiteres von Strauß ein- Kiep, der seine Ostreisen stets bei nen Ärger haben wollte, erläuterte sein spannen“. Kohl anmeldete und hinterher Bericht Emissär am 3. Juli 1984 dem wenige Wochen zuvor ins SED-Politbüro aufge- stiegenen Häber. Treffpunkt war die ZK-Herberge „Haus an der Spree“. Die CDU, so Kiep offenherzig, befin- de sich „in einem Zustand hochgradiger Nervosität“. Die Enttäuschung vieler „Ein gutes Zeichen“ Unions-Anhänger über die Wende, der Helmut Kohl und Erich Honecker im telefonischen Austausch „Hickhack um die Steuerreform“ und das „Debakel um das Amnestiegesetz“ für Parteispender hätten CDU und CSU Am 24. Januar 1983 telefonierte Honecker: Ja, wollen wir es so neh- arg zugesetzt. Kanzler Helmut Kohl mit DDR- men. Die Zugeständnisse der Kohl-Regie- Staats- und Parteichef Erich Ho- Kohl: Wir kommen ja auch aus einer rung an die DDR waren oft nicht uner- necker. Es war das erste Gespräch Landschaft von zu Hause aus, die heblich. Im Sommer l984 hielten rund zwischen beiden nach dem Macht- ähnlich ist. 50 DDR-Bürger die Ständige Vertre- wechsel im Herbst 1982 in Bonn. Honecker: Ja, die ist ganz ähnlich. tung der Bundesrepublik in Ost-Berlin Auszüge: Herr Kohl, ich möchte erst noch ein- besetzt, um ihre Ausreise zu erzwingen. mal danken für Ihren Anruf und Kiep und Jenninger wollten der DDR Honecker: Ja, hallo? möchte sagen, daß ich im gleichen solche Peinlichkeiten künftig ersparen. Kohl: Ja, hier ist Kohl. Guten Tag. Maße der Auffassung bin, daß es Kiep erläuterte der DDR den Vorteil Honecker: Guten Tag, Herr Kohl. doch ein gutes Zeichen ist, daß wir von „Umbaumaßnahmen“ auf dem Ge- Kohl: Ist dort der Herr Generalse- diese Möglichkeit hier nutzen, um lände der Vertretung. Zwei Besuchs- kretär Honecker? Kontakt zu halten. Ebenso wie Sie zimmer, in denen DDR-Bürger ihre An- Honecker: Ja, hier ist Honecker. bin ich selbstverständlich daran in- liegen vortragen konnten, waren fortan Kohl: Ich freue mich, daß das Ge- nur durch eine von in- spräch so prompt funktioniert. Wir nen zu öffnende Glas- machen das ja zum erstenmal, und tür zu betreten – ein ich bin sehr erfreut darüber, daß das wirkungsvoller Schutz so klappt. Ich darf Ihnen nochmals gegen Massenan- für das neue Jahr, Herr Generalse- drang. kretär, alles Gute wünschen und der Kanzleramtsmini- Hoffnung Ausdruck geben, daß es ster Jenninger lieferte unserer gemeinsamen Arbeit ge- rhetorischen Bei- lingt, in diesem wichtigen Jahr auch stand, indem er öf- das Verhältnis zwischen beiden fentlich erklärte, die deutschen Staaten vernünftig und Vertretung sei „kein wenn möglich gut zu gestalten. Ich Hotel“ und stehe für finde, daß diese Möglichkeit, mitein- politische Demonstra- ander zu telefonieren, die Normali- tionen nicht zur Ver- tät unserer Beziehungen an diesem fügung.

Punkt, doch, glaube ich, in einer R. SCHULZE-VORBERG Mit einer „von wichtigen Weise unterstreicht. Telefon-Diplomat Kohl (1983) Kohl gedeckten Er- Honecker: Ich möchte Ihnen vor al- „Normalität unserer Beziehungen“ klärung von Jenninger“, trug Kiep laut len Dingen herzlich danken für Ih- Häber-Bericht vor, sei die Bundesregie- ren Anruf. Ich hatte ihn so gegen elf teressiert, daß die Beziehungen rung „weit stärker auf die Positionen der erwartet. Jetzt kommt er sogar früh- zwischen der Deutschen Demokra- DDR eingegangen, als das jemals zu Zei- zeitig, sozusagen im Sonnenschein. tischen Republik und der Bundes- ten der SPD-Regierung erfolgt ist“. Kohl: Ja, bei uns auch. republik Deutschland entsprechend In den Vor-Wendemonaten des Jahres Honecker: Bei Ihnen auch? dem bereits abgeschlossenen Ver- 1989 lief Emissär Kiep zu Höchstform Kohl: Es ist das Gegenteil von Win- tragssystem sich weiter entwickeln, auf. Im Frühsommer 1989 traf er, beglei- terwetter. und daß in Verbindung damit wir tet von zwei CDU-Parlamentariern und Honecker: Ja, das kann man sagen. alle Möglichkeiten ausschöpfen, um Johann Wilhelm Gaddum, damals wie Es ist schon fast Frühjahr. Dinge so vorwärts zu bringen, wie heute Mitglied im Bundesbank-Direkto- Kohl: Werten wir beide das als gutes sie uns also möglich erschei- rium, unter konspirativen Bedingungen Omen, das Wetter. nen. mit SED-Wirtschaftsexperten aus dem Stab von DDR-Außenhandelsminister Gerhard Beil zusammen.

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In einer dreigeschossigen Villa in Ber- Rettner am 15. Novem- lin-Niederschönhausen präsentierte der ber 1989 im Ost-Berli- CDU-Spitzenpolitiker in zweitägiger Sit- ner Palast-Hotel sollte zung einen Plan zur Rettung der DDR- Kiep einen Besuch von Wirtschaft: Die Bundesrepublik könnte, Kanzleramtschef Sei- so Kiep, mit der DDR einen „Vertrag ters vorbereiten. Kiep über die wirtschaftliche Unangreifbar- kam, so das Protokoll, keit“ schließen. Dieser Vertrag sollte ei- „im Auftrag von BRD- nen umfassenden Verzicht auf Embar- Kanzler H. Kohl“. Kiep gos, Wirtschaftsblockaden und Boykott- schwärmte über die aktionen beinhalten. „Revolution von oben DieDDR, diebiszumSchluß unter der und unten“, rühmte den von den USA initiierten Embargo-Politik „radikalen Reformwil- litt, sollte Anschluß finden an das techni- len in der politischen sche Niveau des Westens. Die sogenann- Führung“ unter SED- te Cocom-Liste, die der DDR den Kauf Chef Krenz. An Wie- von West-Computern verbot, wäre damit dervereinigung, das ver- obsolet gewesen. „Der Vorschlag hat sicherte Kiep, sei der mich fast vom Stuhl gehauen“, erinnert Kohl-Regierung nicht sich Professor Jürgen Nitz, Berater des gelegen – im Gegenteil. DDR-Außenhandelsministers Beil. Der Protokollant no- Kohls Politik der guten Nachbarschaft tierte: zurDDR überdauerte Mauerfall und Ho- Die Wiedervereini- necker-Sturz. „Ausdrücklich begrüße ich gung der beiden deut- diese sehr, sehr wichtige Entscheidung schen Staaten hält der Öffnung“, erklärte der Kanzler in ei- Leisler-Kiep für unrea- nem Telefonat am 11. November 1989 listisch; diese würde mit dem neuen SED-Chef Egon Krenz. weder von der Mehr- Kohl verabredete dabei einen Besuch sei- heit der BRD-Bürger nes Kanzleramtsministers Seiters bei der und schon gar nicht in DDR-Führung und hielt am Plan seines der DDR gewünscht. Er eigenen Besuchs in der DDR, allerdings sprach sich auch in nicht in Ost-Berlin, fest. diesem Zusammen- Zur Lage bemerkte Krenz, die Grenze hang generell gegen durchlässiger zu machen, bedeute nicht, eine Forcierung von „die Grenze abzubauen“. Kohl darauf: Konzeptionen aus, die Er sei „dankbar, wenn Sie auch in dieser der Stärkung von na- Richtung beruhigend einwirken kön- tionalstaatlichen Kon-

nen“. Es sei „meine Politik“, erklärte der zeptionen dienen . . . K. MEHNER Kanzler, „daß jede Form der Radikalisie- Beide Seiten brau- Bonner DDR-Unterhändler Jenninger* rung gefährlich ist“. chen stabile Verhält- Geheimes Informationssystem Sie seien doch „einer Meinung“, insi- nisse. stierte Krenz, „daß die Wiedervereini- Nachdem Kohls Abgesandter – Kiep nisieren. Dort sollte Kohls Idee, für heute: „Ich kann mich an einzelne For- zwei Jahre einen gemeinsamen Devisen- mulierungen nicht mehr erinnern“ – fonds mit der DDR einzurichten, debat- „Die Wiedervereinigung dem „großen Ziel der Wiederherstel- tiert werden. hält der Kohl-Beauftragte lung der Einheit Deutschlands“ (Kohl) Seiters verhandelte fünf Tage später, eine Abfuhr erteilt hatte, beriet die beim Treffen mit Krenz und SED-Mini- für unrealistisch“ Sondierungsrunde neue Formen der sterpräsident , exakt auf deutsch-deutschen Kooperation. Von der vorbereiteten Linie. Der Kanzler- gung Deutschlands gegenwärtig nicht Konföderation war noch keine Rede, amtschef schlug einen Devisenfonds vor auf der Tagesordnung steht“. statt dessen von Joint-ventures und und bot zahlreiche Stabilisierungshilfen Er sei auf die Verfassung der Bundes- Wirtschaftssonderzonen auf dem Bo- für die DDR an. republik vereidigt, „und da steht ja das den der DDR. In seinem Zehn-Punkte-Plan schlug Selbstbestimmungsrecht drin“, erklärte Für den Tag nach einem erfolgrei- auch Kohl selber drei Wochen nach der Kohl unerschüttert: „Bloß, das ist jetzt chen Seiters-Besuch lockte Kiep mit Maueröffnung lediglich „konföderative nicht das Thema“, so der Kanzler, weiteren Stabilisierungsmaßnahmen Strukturen zwischen beiden Staaten in „sondern im Moment muß uns beschäf- des längst moribunden Systems. Kohl Deutschland“ vor. Entgegen allen tigen, daß wir zu vernünftigen Bezie- werde Investitionen in der DDR för- Wahlkampfsprüchen von heute ging der hungen zueinander kommen.“ dern. Der Kanzler, notierte die DDR- Plan von zunächst andauernder Zwei- In diesem Sinne setzte Kiep seine Seite, wolle „den politischen Rahmen staatlichkeit aus. Mittlertätigkeit fort. Ein Gesprächspro- für die Unternehmen und Institutionen Zur Interpretation der Initiative tokoll vom 16. November 1989 bestä- der BRD absichern und ihnen die Sor- schickte Kohl im Dezember l989 seinen tigt, daß die Kohl-Regierung auch unter ge für ein politisches Risiko abneh- außenpolitischen Berater Horst Tel- Krenz auf den Fortbestand des SED- men“. tschik vor. Im vertraulichen Gespräch Staates setzte. Bonn war bereit, den an- Für die finanziellen Nöte wußte wandte sich Teltschik an den DDR- geschlagenen Genossen mit umfangrei- Kiep Abhilfe: Kohl wolle ein „streng chen Hilfsmaßnahmen beizustehen. vertrauliches Gespräch zwischen dem * Im Dezember 1982 beim Verlassen des DDR- In einem vierstündigen Gespräch mit Präsidenten der Bundesbank und ei- Außenministeriums; links: der Leiter der Ständi- dem SED-ZK-Abteilungsleiter Gunter nem Spitzenvertreter der DDR“ orga- gen Vertretung, Bräutigam.

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Wirtschaftsexperten Nitz, einen der we- christdemokratischer Re- nigen Gesprächspartner, die nach dem gierungschef in Deutsch- Sturz des SED-Politbüros noch zur Ver- land erzielt hat. fügung standen. Nitz schildert das Tref- Aus Brandenburg, wo fen mit Teltschik in einem Buch („Län- die CDU gegen den Sozi- derspiel“), das diese Woche im Berliner aldemokraten Manfred Verlag edition ost erscheint. Stolpe (54,1 Prozent) bei Für Bonn, versicherte Teltschik, gehe 18,7 Prozent landete, es nicht um das Ende der DDR. Kohl be- brachte der Spitzenkandi- mühe sich, „die Situation in der DDR und dat Peter Wagner die Zu- die Regierung Modrow nicht zu destabili- versicht mit, bei der Bun- sieren“. destagswahl werde die Am 13. Dezember notierte Nitz in sei- CDU sehr viel besser da- nem „streng vertraulichen“ Papier an Mi- stehen. 70 000 potentielle nisterpräsident Modrow: „Der Kanzler CDU-Wähler hätten näm- wolle kein künstliches Feuer entfachen. lich, weil sie klare Ver- Er sähe jetzt vorrangig Chancen durch hältnisse wollten, für Stol- Zusammenarbeit mit der DDR.“ pe gestimmt. Weitere Teltschik machte dem DDR-Abge- 100 000 CDU-Anhänger sandten deutlich, daß die Bonner unter seien statt zur Wahl „in internationalem Druck stünden. Kohl die Pilze gegangen“, weil stoße mit seinem Plan für eine Konföde- traditionell der 11. Sep- ration auf „Widerstand“ und „Vorbehal- tember in Brandenburg FDP-Wahlwerbung in Nordrhein-Westfalen: Lieber te“ bei den europäischen Nachbarn. Eine Sammeltag sei. Destabilisierung der DDR wäre „für Alles schön und gut, moserte Norbert noch stärker machen. Noch vier Wo- Gorbatschow verhängnisvoll“. Kohl wer- Blüm, aber wie solle es jetzt eigentlich chen bis zum 16. Oktober, und die de daher „den Gedanken an jeden im Wahlkampf weitergehen? Ob etwa, Kanzlerpartei hat Angst vorm großen deutsch-deutschen Alleingang verdrän- fragte der Arbeitsminister, die Union Loch. gen“. weiterhin den Wahlkampf ausschließlich Helmut Kohl als Staatsmann, der erst Kohl nahm Kurs auf die schnelle Ein- gegen die PDS führen werde, um die die russische Armee und dann die Alli- heit erst nach seinem Besuch in Dresden SPD wegen Sachsen-Anhalt zu mar- ierten in Berlin verabschiedet, ist abge- am 19.Dezember 1989. Dort drängte sich tern? feiert. Daß er viel verändern und so das das Volk ins Protokoll, nachdem Kohl Die Union müsse sich fragen, pflich- moderne Deutschland schaffen wolle, und Modrow Verhandlungen über eine tete ihm der CDU/CSU-Fraktionschef sagt der Kanzler im Wahlkampf auch „Vertragsgemeinschaft“ der beiden Wolfgang Schäuble bei, ob die Aktion nicht mehr so laut wie früher. deutschen Staaten vereinbart hatten. gegen die PDS noch lange trage. Statt dessen empfahl er vorige Woche Zehntausende von DDR-Bürgern ver- „Wir haben inzwischen kapiert“, so in Bad Tölz: „Weiter so“ und ermahnte langten vor der Ruine der Frauenkirche ein Kohl-Berater, „daß das bei den Leu- die Kundgebungsbesucher im Regen, unter schwarz-rot-goldenen Fahnen mit ten in der Ex-DDR nicht ankommt.“ „auf verläßlichem Pfad“ zu bleiben und „Deutschland-Deutschland“- und Trotzreaktionen könnten die PDS nur „keine Experimente“ zu wagen. „Helmut-Helmut“-Rufen eine rasche Die Sorge geht um in der Vereinigung. Die ostdeutschen Massen Lieber mit Liberalen Unionsspitze, daß die Partei zu ließen den Bundeskanzler und promo- früh zu gut liegt – und die er- vierten Historiker Kohl plötzlich „die ge- hofften 45 Prozent am Ende schichtliche Stunde“ erkennen. „Wird die FDP erneut den Einzug nicht zu bekommen sind. Erst jetzt wurde die SED für Kohl zum in den schaffen?“ Dem erfahrenen Profi Hei- Nichts. Y ner Geißler graut vor einer ja 37 Lücke in der Kampagne. Und er traut den Prognosen der Koalitionen nein 57 Meinungsforscher nicht recht: „Ich weiß von früher, daß in den letzten Wochen vor den „Angenommen, die FDP kommt nicht mehr Wahlen mit Umfragen auch In die Pilze in den nächsten Bundestag. Wie fänden Politik gemacht wird.“ Sie das?“ Das Institut für Demoskopie 42 in Allensbach, das noch immer gegangen 38 im Bann der Gründerin und Kohl-Beraterin Elisabeth Die Union setzt jetzt auf die abso- Noelle-Neumann steht, glaubt lute Mehrheit oder eine Große zu wissen, daß die Präsentati- 19 on der SPD-Troika den Ab- Koalition – weil die FDP in Not ist. wärtstrend der Genossen nicht bremsen könne. Die SPD s gab nur gute Nachrichten in den plumpste bei den Allensbach- Sitzungen von Präsidium und Vor- Umfragen von 34,2 Prozent Estand der CDU am vorigen Mon- „würde ich „würde ich „wäre mir egal“ auf 33 Prozent. tag. Dennoch blieb die Stimmung mau. begrüßen“ bedauern“ Die Sozialdemokraten hal- konnte mit 58,1 Pro- ten Umfragen ihres Polis-Insti- An 100 fehlende Prozent: keine Angabe; Emnid-Umfrage für den SPIEGEL, zent bei der sächsischen Landtagswahl 1000 Befragte, 12. und 13. September 1994 tuts dagegen – von 34 kletterte das beste Ergebnis vorweisen, das je ein die SPD auf 36 Prozent –,

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Umfragen derzeit etwa Fraktion, Jürgen Rüttgers, forderte gleichauf mit Union plus Kinkel öffentlich auf, er solle für Ord- FDP. nung in seinem Laden sorgen. Kohl werde wahrschein- Klaus Kinkel hatte seine Partei auf lich mit schmaler Mehr- Kohl und die herrschende Regierung heit weiterregieren, da festgelegt. Jetzt versucht er, sich aus der war sich die Mehrheit im Affäre zu ziehen: „Ich habe mit dem CDU-Präsidium im Prin- Saarbrücker Landesverband nichts zu zip Hoffnung einig (der- tun.“ zeit haben Union und Kinkel glaubt unverdrossen an den FDP eine Mehrheit von Wiedereinzug der Liberalen in den Bun- 128 Mandaten). destag und die Fortsetzung der Koaliti- Oder es kommt für die on (siehe Seite 24). Seine Rechnung ist Regierung schlimm, und leicht paradox: Je gewaltiger die Nieder- die Liberalen bleiben auf lagen in den Ländern ausfallen, desto der Strecke. In Sachsen strahlender wird die Bilanz am 16. Ok- (1,7 Prozent) und Bran- tober sein. denburg (2,2 Prozent) en- Die nordrhein-westfälische FDP, dete der Kinkel-Klub als wichtigster Landesverband der Libera- Splitterpartei wie schon kurz zuvor bei der Euro- „Dann müssen NETZHAUT pawahl. In Bayern näch- ohne den Verlierer sten Sonntag sieht es ähn- vernünftige Leute sich lich erschreckend aus. wonach die glorreichen drei die Chan- In Umfragen steht die FDP bundes- zusammensetzen“ cen am 16. Oktober enorm verbessert weit noch bei etwa 7 Prozent. In der hätten. CDU-Spitze aber regen sich Zweifel, ob len, will ihren Wählern den Verlierer in Nur soviel ist inzwischen bei den das so bleibt. Kohl beklagte öffentlich, Serie ersparen: Kinkel-Plakate gibt es Volksbefragungen so gut wie unum- die Liberalen hätten ihre Klientel auf an Rhein und Ruhr nicht. Landeschef stritten: Die PDS dürfte wieder im Kommunal- und Landesebene weitge- Jürgen W. Möllemann läßt lieber sich nächsten Bundestag sitzen. Mindestens hend verloren. Eine Zweitstimmen- selber neben die Veteranen Otto Graf drei Direktmandate sind ihr ziemlich si- Kampagne der CDU zugunsten des klei- Lambsdorff und Hans-Dietrich Gen- cher am 16. Oktober, ergibt sich aus ei- neren Partners, die er schon mal zur scher kleben – „Starke Köpfe braucht ner Emnid-Umfrage im Auftrag des Rettung der FDP erwogen hat, lehnt der das Land“. Zehn Tage vor der Wahl soll SPIEGEL (siehe Seite 29). Kanzler mittlerweile ab: „Wir haben dann Genscher, „der Macht-Techniker, Wahrscheinlich werde die PDS sogar keine Stimme zu verschenken.“ Balance-Künstler und Rückversicherer bis zu sieben direkt gewählte Wahl- Wie hätte die Union auch. Selbst par excellence“ (Die Woche), allein für kreisabgeordnete stellen, sagte Bundes- wenn die Liberalen es wieder schaffen, die Blaugelben werben – als Schachspie- tagspräsidentin Rita Süssmuth ihren muß es ja nicht unbedingt für die alte ler, mit dem Spruch: „Ein kluger Zug: Führungskollegen voraus. Dazu beitra- Regierung reichen. Die FDP könnte Ihre Zweitstimme“. gen könnte eine Flüsterkampagne unter dann in eine Ampel- SPD-Sympathisanten, wonach die PDS Koalition mit SPD und in ihren aussichtsreichen Ost-Wahlkrei- Grünen eintreten. FDP am Boden sen gepäppelt werden soll. Der FDP-Fraktions- Ergebnisse der letzten Wahlen in Prozent Er werde „immer und immer wieder chef Hermann Otto 5,9 dementieren“, daß es solche Abspra- Solms redete vorige 5,6 chen gebe, merkte SPD-Geschäftsfüh- Woche unvermutet an- rer Günter Verheugen an. Dabei ist die ders über die Ampel als 4,4 Einsicht unter Sozialdemokraten ge- sein Parteichef Klaus 4,2 4,1 wachsen, daß die FDP schwach bleiben Kinkel („Es wird nicht 3,6 und die PDS stark werden muß, damit herumgehampelt und Schleswig-Holstein Helmut Kohl und Klaus Kinkel keine nicht rumgeampelt“). 5.4.1992 Mehrheit mehr haben. Wenn es für die Fort- Hamburg 19.9.1993 Erste Vorstöße, bei den Erststimmen setzung der Koalition Baden- 2,2 Württemberg Niedersachsen 13.3.1994 zu mauscheln, sind laut Verheugen so- nicht mehr reiche, er- 5.4.1992 Europawahl 12.6.1994 1,7 gar von der CDU gekommen. Ein Mit- läuterte Solms gravitä- arbeiter des Konrad-Adenauer-Hauses tisch, die FDP aber mit Sachsen-Anhalt 26.6.1994 habe ihm schon vor der Europawahl SPD und Grünen ei- Brandenburg 11.9.1994 vorgeschlagen, man solle doch wechsel- ne Mehrheit besitze, Sachsen 11.9.1994 seitig die Kandidaten von CDU oder „muß man weiterse- SPD in den PDS-dominierten Wahl- hen“. kreisen unterstützen. Er habe das da- Solms dementierte im nachhinein. Der Sozialdemokrat Verheugen, als mals („Ich bin ja nicht blöd“) ebenso Eher sei die FDP bereit, in die Oppositi- einstiger FDP-Generalsekretär und als Kartell der Großen abgelehnt wie on zu gehen. Genschers Ziehsohn bestens mit den li- später einen entsprechenden Vorschlag Die Liberalen wackeln nach allen Sei- beralen Verhältnissen vertraut, ist si- des CDU-Abgeordneten Horst Eyl- ten. In Bonn stehen sie gegen die SPD cher: „Die FDP fliegt raus aus dem mann. und den Troikaner Lafontaine – in Saar- Bundestag. Es gibt immer ein erstes Zusammen mit den PDS-Abgeordne- brücken wollen sie mit der SPD und La- Mal.“ ten – voraussichtlich etwa 30 – liegen fontaine koalieren. Der Parlamentari- Auch Kohl und Schäuble sehen den Sozialdemokraten und Grüne in den sche Geschäftsführer der CDU/CSU- Partner in akuter Absturzgefahr. Jeder

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für sich allein, das ist die Devise der Union für die allerletzten Wochen im Liberale Wahlkampf. Absolute Mehrheit der C-Parteien – 45 Prozent plus x – heißt das Ziel. Die Überlegung: Scheitert die FDP knapp unter 5 Prozent, würde die Union als Der gute Kamerad stärkste Fraktion den größten Anteil beim Aufteilen der Restprozente erhal- SPIEGEL-Redakteur Hartmut Palmer über FDP-Chef Klaus Kinkel ten. Die absolute Mehrheit der Sitze wä- re, FDP und sonstige gescheiterten Par- teien mit rund 8 Prozent veranschlagt, wanzig Minuten vor Beginn der droht am kommenden Sonntag bei der schon bei gut 46 Prozent zu haben. Veranstaltung wird der Saal verklei- Landtagswahl in Bayern ein neues De- Schlägt die Union nicht ganz soviel Znert. Er bietet Platz für 1800 Perso- bakel. heraus, bleibt dennoch Hoffnung, wei- nen und ist zu groß für diesen Gast. Ein „Es gibt Dinge“, jammert der Vorsit- terzuregieren. Denn SPD und Grüne Teil der furchterregend leeren Stuhlrei- zende in einer Mischung aus Wut und dürften, wenn es die PDS schafft, eine hen verschwindet hinter einer faltbaren Wehleidigkeit, „für die ich nichts kann – Mehrheit für den Wechsel schwerlich er- Trennwand – Gnade für Klaus Kinkel. und trotzdem muß ich den Buckel hin- gattern. Und Kanzlerkandidat Rudolf Vor ein paar Tagen standen hier die halten.“ Scharping ist noch strikt gegen eine Dul- Leute bis auf die Straße, als der PDS- Was bleibt ihm anderes übrig, als die dung durch die PDS nach Magdeburger Kandidat Stefan Heym und dessen SPD- Lage für die Bundestagswahl schönzure- Modell oder gar die Beteiligung der So- Kontrahent zum den. Klaus Kinkel hat sich auf ein Spiel zialisten an einer rot-grünen Regierung. Streitgespräch antraten. Kinkel zieht am eingelassen, das ihn Kopf und Kragen Und dann? Bliebe die Große Koaliti- vergangenen Dienstag gerade mal 300 kosten kann. on mit der SPD als Junior-Partner. bis 400 Neugierige ins Verlagshaus der „Wenn es am 16. Oktober nicht Auch diese Möglichkeit schließt der Berliner Zeitung am Ost-Berliner Alex- klappt“, das immerhin ist ihm klar, Kanzler nicht mehr aus: „Dann müssen anderplatz. „dann ist es aus mit mir.“ vernünftige Leute sich zusammenset- „Ich finde Sie wirklich sympathisch“, Wenn es aber klappt und Helmut zen und sagen, daß wir auf Zeit zusam- sagt einer von denen zu ihm. „Aber ich Kohl mit den Liberalen weiterregieren mengehen und das miteinander ma- weiß einfach nicht, warum ich FDP wäh- kann, warten Hans-Dietrich Genschers chen.“ len soll.“ große Schuhe auf ihn. Fürs passende Echo bei den Sozialde- Präziser läßt sich Kinkels Problem So jedenfalls stellt sich Kinkel, der mokraten sorgt Troikaner Gerhard nicht auf den Punkt bringen. Alle mögen Genscher-Zögling, das vor. Hat nicht Schröder. Er ist offenbar für jede Über- den Schwaben. Nur wählen wollen sie auch der Hallenser Meister Jahre ge- raschung gut und engagiert sich inzwi- ihn nicht. Immer mehr Deutsche finden braucht, ehe er Anerkennung in der Öf- schen offen via Fernsehen für die Große seine FDP entbehrlich. Seit Kinkel den fentlichkeit und in seiner Partei fand? Koalition: „Wenn es wirklich so sein Parteivorsitz übernahm, fuhr die FDP Ist nicht Genscher am Anfang seiner sollte, daß nach der Bundestagswahl ei- nur schlimme Niederlagen ein. Nun Laufbahn genauso als Amateur und Lai- ne andere Möglichkeit rechnerisch nicht enspieler verspottet worden wie Kinkel übrigbleibt, dann wird man eine Regie- * In Radebeul. heute? rung bilden müssen, das geht doch gar nicht an- ders.“ Und Scharping? Er spricht einstweilen in Rätseln. Kurz vor der Sachsen- Wahl lobte er den CDU- Mann Biedenkopf: „Wahrlich ein guter Mi- nisterpräsident. Ich sage das, selbst wenn das mei- nen Freunden in Sachsen schadet.“ Nach der Wahl wollte er nur soviel sa- gen: „Unter Kohl wird es keine Große Koalition geben.“ Unter wem aber? Unter Schäuble oder gar Biedenkopf? Unverbrüchlich ist noch gegen das Mammut- Bündnis mit dem Junior- Partner SPD. Ihm wäre eine von den Sozialde- mokraten auf Zeit tole- rierte Minderheitsregie-

rung Kohl lieber – „bis zu M. STEHLIK / TRANSIT Neuwahlen“. Y Wahlkämpfer Kinkel*: „Wenn es nicht klappt, ist es aus mit mir“

24 DER SPIEGEL 38/1994 Als Außenminister fühlt Kinkel sich dem Amtsvorgänger längst gewachsen: „Da bin ich nach 15 Monaten genauso- weit, wie Genscher es nach 15 Monaten war.“ Über einen Mangel an Selbstbe- Vom Winde verweht wußtsein muß er nicht klagen. Die Bewährungsprobe als Parteichef Daniel Doppler über die tapfere FDP aber steht noch aus. Um sie zu beste- hen, hat er – ganz gegen sein Naturell – va banque gespielt. m Herbst 1944, also vor ziemlich tung jenes Mannes, der vom 50. Zum ersten Mal setzte der vorsichtige genau 50 Jahren, die Amerikaner Stockwerk eines Wolkenkratzers Schwabe, der noch nie in seinem Leben Ihatten Aachen erobert, die So- stürzte und, während er an Stock- „eine Wette angeboten hat, von der ich wjetarmee näherte sich Ostpreußen werk 24 vorbeifällt, den euphori- nicht genau wußte, daß ich sie gewin- und damit dem deutschen Reichs- schen Gedanken hatte: „Was soll’ ne“, alles auf eine Farbe. Rien ne va gebiet, stand ein frierender Pimpf, s? Bis jetzt ist doch alles gutgegan- plus. Bestandteil des Jungvolks (der spä- gen.“ Das heißt, er wollte es den- Seitdem, sagt er, fühlt er sich „sehr tere Verfasser dieses Textes), auf ken, denn als er bei Null ankam, viel ruhiger“. Was soll er auch machen, einem zugigen Platz einer ober- war sein Gedanke noch fragmenta- solange die Kugel rollt? schlesischen Kleinstadt. risch: „Bis jetzt ist doch alles gut- Ohne seine vorzeitige Festlegung auf Es wurde zum Volkssturm rekru- geg . . .“ die Koalition mit Kohl „wäre die FDP tiert, und ein rundlicher, trotz der Im Auf- und Abwind kommt längst weg vom Fenster“. Davon ist er klammen Kälte schwitzender Kreis- manches durcheinander, nicht nur überzeugt. Es war „meine strategische leiter erklärte den Angetretenen in oben und unten, hoch und tief, Entscheidung“. Wenn’s schiefgeht, wird markigen Worten, warum es gut, ja Sieg und Niederlage. Während die sie das Aus für ihn bedeuten. geradezu wünschenswert sei, daß FDP dem Null-Wachstum entge- Klar, daß es nach den Treueschwüren die Feinde jetzt Deutschlands gendriftet, rät sie ihren Wählern im auf Helmut Kohl und die Koalition kei- Grenzen erreicht hätten. Der Sieg Saarland, Lafontaine bei der Land- ne Alternative für ihn mehr geben kann. sei greifbar nah. tagswahl die Erststimme zu geben Er hat die FDP so festgezurrt wie kein Denn niemals würden Soldaten und sie ihm bei der Bundestags- liberaler Parteichef seit . besser und entschlossener kämpfen, wahl zu verweigern. Aber im Gegensatz zur FDP der sechzi- als wenn es darum gehe, die eigene Oder war es umgekehrt? Oder ger Jahre kann Kinkels Partei kaum Heimat, den eigenen Boden zu ver- war es die Zweitstimme? Oder war noch pendeln und umfallen. So dicht hat teidigen. Das Wort Aufwind hat er die für Kohl? Als Erststimme, aber der Chef sie mit der CDU vertäut. nicht gebraucht. nur im Aufwind? Und was meint Was Wunder, daß er immer wieder Jetzt, da die FDP in Folge in Möllemann dazu? Und verwechselt zwischen aggressiver Munterkeit und Hamburg, in Niedersachsen, bei Kinkel vielleicht innen und außen, Melancholie hin- und herschwankt, der Europawahl, in Sachsen-An- schmerzerfahren, wie er ist? wenn die Rede auf seine Zukunft halt, Sachsen und Brandenburg aus Früher, ältere Mitbürger erin- kommt. den Parlamenten geflogen und nern sich, galt die FDP unter dem Natürlich kann er jederzeit vorwärts spürbar unter die 5-Prozent-Marke wunderbar graumelierten Erich und rückwärts herbeten, worin sich die gerutscht ist, hat sie fast nichts Mende (er war ein Beau der fünfzi- FDP von der CDU unterscheidet. Sein mehr zu verlieren. ger Jahre) als Umfallerpartei. Da- Problem ist nur, daß er dies den Leuten Das Wort Wahlurne hat für sie mals machte der schöne Vers die überhaupt erst erklären muß. einen schrecklichen Klang von Runde, der durch seinen doppelten Das war früher anders. In sozial-libe- Wahrheit. Daher ist sie, wie ihr Konjunktiv irrealis an den Reich- ralen Zeiten konnte sich die FDP als Generalsekretär Hoyer erklärt, im tum der deutschen Sprache wie den Hüterin der Marktwirtschaft, in den er- Aufwind. politischen Einfallsreich- und Um- sten Jahren der Kanzlerschaft Kohls als Und sei es nicht fabelhaft, daß es fallreichtum der FDP erinnerte: Bewahrerin des Rechtsstaats und der Kinkel gebe, machte sich die FDP „Sage mir Herr Erich Mende / Wo Außenpolitik unentbehrlich machen. nach dem Doppel-Debakel vom 11. er stünde, wenn er stände.“ Die Rolle als Korrektiv des größeren September Mut, denn der Vorsit- Im Saarland reimt sich jetzt Partners verblaßte erst, als Kinkel die zende habe schon so viele Niederla- „stände“ und „stünde“ auf „Ab- Liberalen in Treue fest an die CDU gen erleben und verkraften müssen, und Aufwind“ und „widrige Win- band. daß er darin schon die nötige Er- de“. Obwohl, soviel ist richtig, es Einen guten „Kameraden“ hat Hel- fahrung hat. unterhalb der fünf Prozent für den mut Kohl ihn dafür genannt. Und Kin- Wie schön! Mit der FDP verlie- Unterstützten ziemlich Wurscht ist, kel nennt Kohl, schon um seine Kritiker ren heißt siegen lernen. Und Auf- ob ihn die FDP gerade unterstützt zu ärgern, beharrlich „meinen Schmuse- wind ist die Luftbewegung, der ae- oder nicht unterstützt. partner“. rodynamische Zug, der zwar die Das ist das Schöne am Verlieren, Kinkel muß keine programmatischen Stimmen verweht, unter die 5-Pro- es kommt nicht mehr so drauf an. Pirouetten drehen, wenn er den Leuten zent-Hürde wirbelt wie welkes Und insofern hat Hoyer mit dem erklärt, warum sie die Liberalen wählen Herbstlaub, aber welch ein Gefühl! „Aufwind“ schon recht. Irgendwie. sollen. Entscheidend ist für ihn das Wie der Kinkel Niederlagen weg- PS: Ein gutes halbes Jahr, nach- „funktionale Argument“. Wer FDP steckt, wie Hoyer sich den Sturz dem der wackere Volkssturm-Nazi wählt, wählt Kohl. Ob das für den 16. zum Aufstieg schönlügt, das macht den Sieg aus der Niederlage uner- Oktober reicht? den beiden keiner nach. bittlich und messerscharf gefolgert Zweifel an seiner Strategie wischt Der Heldenmut der FDP-Füh- hatte, war sein Krieg total verlo- Kinkel beiseite. Die neuesten Mei- rung erinnert an die tapfere Hal- ren. nungsumfragen, so argumentiert er, ge- ben ihm recht. Aber er rastet immer

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noch aus, wenn er hört, was in den libe- ralen Landesverbänden oder in den Zei- Parteien tungen, die eigentlich der FDP geneigt sind, über ihn gelästert und geschrieben wird. So dick ist das Fell noch lange nicht, daß er darunter nicht zitterte. „Alles neu sortieren“ Man dürfe nicht zurück, man müsse nach vorne schauen, verkündet er be- Hans-Jochen Tschiche über Grüne und PDS in Ostdeutschland schwörend. Aber er selbst ist ein Mei- ster der vergleichenden Retrospektive. Wären die Landtagswahlen in Branden- SPIEGEL: Herr Tschiche, in Sachsen auch viel zu wenige. Wir haben unseren burg und Sachsen etwa anders ausgefal- und Brandenburg sind die Grünen aus Einfluß maßlos überschätzt. Nun hilft len, wenn oder dem Landtag geflogen. Warum tut sich kein Lamentieren über die Wende, jetzt Hans-Dietrich Genscher die Partei noch Ihre Partei im Osten so schwer? müssen wir nach vorn gucken und unse- führten? Tschiche: Die Grünen im Westen sind re Themenpalette erweitern. Natürlich hat es ihn geärgert, daß der eine etablierte Partei, hervorgegangen SPIEGEL: In welche Richtung? umtriebige Jürgen W. Möllemann, einer aus der 68er Bewegung. Die haben ei- Tschiche: Es geht nicht mehr nur um seiner ärgsten Widersacher, in Nord- nen langen Marsch durch die Institu- bürgerliche Freiheitsrechte wie im rhein-Westfalen ein Plakat kleben wird, tionen gemacht und sind nun in den Herbst 1989. Dieser Bonus, den die auf dem Kinkel nicht vorkommt. Daß Parlamenten angekommen. In dieser Bürgerrechtler hatten, ist aufgezehrt der Parteichef selbst das schlechte Ab- Zeit konnten sie bestimmte Milieus und abgewählt worden. Nun müssen wir schneiden der FDP in Sachsen und fest an sich binden. Uns Grüne im andere Themen in den Mittelpunkt stel- Brandenburg mit dem „Trend zur Per- Osten gibt es erst seit wenigen Jahren. len: das Menschenrecht auf saubere sönlichkeitswahl“ erklärt, haben seine Wir haben nur wenige Mitglieder. Die Umwelt oder das Menschenrecht auf so- Kritiker mit grimmiger Zustimmung Intellektuellen und Akademiker, die ziale Sicherheit. quittiert – sie sehen es genauso. im Westen die Grünen unterstützen, SPIEGEL: Ist in Ostdeutschland über- Wie der CDU-Kanzler verschlingt wählen im Osten meist PDS, weil sie haupt genügend Raum für zwei Parteien auch Kinkel die Meinungsumfragen, ob- sich zu den Verlierern der Einheit links von der SPD? wohl er ihnen angeblich nicht traut. Und rechnen. Tschiche: Jenseits der SPD ist auf Dauer auch sein Verhältnis zu den Meinungs- SPIEGEL: Beschäftigen Sie sich zu sehr für zwei Reformparteien kein Platz. Wir machern in den Medien ist von ähnlich mit der Bewältigung der DDR-Vergan- müssen jetzt neu und unbefangen dar- angstvoller Verachtung geprägt: Wie oft genheit? über nachdenken, wie es mit ökologi- haben sich die Kommentatoren geirrt. Tschiche: Ich mußte akzeptieren, daß scher Reformpolitik im Osten weiterge- Erst in Kohl und dann in Scharping. uns in den neuen Ländern nichts ande- hen soll. Scheuklappen können wir uns Erst in Stolpe – und jetzt in Kinkel? res übrigbleibt, als den neuen Staat mit in dieser Diskussion nicht leisten. „Wenn ich alles glaube, was ich – zwi- den alten Eliten aufzubauen. Schließ- SPIEGEL: Wo und mit wem wollen Sie schen Flensburg und Passau – über mich lich wurden die im Herbst 1989 nicht neu anfangen? in den Zeitungen lese, dann säße ich gar völlig entmachtet. Wir Bürgerrechtler Tschiche: Wenn ich mir die PDS-Frakti- nicht mehr hier.“ So hat man es bisher waren nicht entschieden genug und on hier in Magdeburg angucke, dann se- immer nur von Kohl gehört. Und ähnlich herablassend wie der CDU-Vorsitzende blickt auch Klaus Kinkel auf seine innerparteilichen Wi- dersacher herab: Vor einem Jahr, das rechnet er den Leuten immer wieder vor, saß Helmut Kohl im Meinungsloch, und Scharping war ganz oben. Daß sein Generalsekretär („Die FDP ist im Aufwind“) nach dem Wahl-Desaster von Branden- burg und Sachsen unter Berufung auf neueste Umfrageergebnisse einen steti- gen Aufwärtstrend der FDP auf Bun- desebene sah, hat Hohngelächter und Kopfschütteln ausgelöst. Tags drauf sagt Kinkel das gleiche. Aufwind im freien Fall, spotten seine Parteifeinde, rede sich der Oberliberale da ein. Solche Sticheleien ärgern ihn mehr, als er sich eingesteht. Aber Klaus Kin- PRINT kel hat, wie Genscher, ein gutes Ge- Hans-Jochen Tschiche sammen mit Bärbel Bohley und Jens dächtnis. Er wird nie vergessen, wer von Reich Gründer des Neuen Forums. Auf seinen Parteifreunden die Liberalen ist Fraktionschef von Bündnis 90/Grü- diese Zeit blickt Tschiche heute selbst- jetzt in „Lichtgestalten“ und „Wat- ne in Sachsen-Anhalt. Er gilt als Ver- kritisch zurück:„Wir haben unseren Ein- schenmänner“ einteilt. Nach der Wahl mittler zwischen der rot-grünen Min- fluß maßlos überschätzt.“ Er plädiert wird abgerechnet – so oder so. derheitsregierung und der PDS. Der jetzt für eine stärkere Kooperation sei- „Ich kann auch aufhören“, behauptet Theologe, 64, war zu DDR-Zeiten Bür- ner Partei mit der PDS und hält auch ei- Klaus Kinkel, „dann können die sich ei- gerrechtler der ersten Stunde und zu- ne Listenverbindung für möglich. nen andern suchen.“ Y

26 DER SPIEGEL 38/1994 Werbeseite

Werbeseite he ich da eine ganze Reihe Leute, die auch bei den Grünen sein könnten, so- wohl Fundis als auch Realos. Und bei PDS den Bündnisgrünen gibt es viele, die den Traum vom Sozialismus mit menschlichem Antlitz noch nicht aus- geträumt haben; zu denen gehöre ich Drei plus x auch. Es gibt also Gemeinsamkeiten. SPIEGEL: Sie halten eine engere Zu- Im Osten wirbt die PDS um Erst- sammenarbeit zwischen Bündnisgrünen stimmen. Die Chancen auf und der PDS für wünschenswert? Tschiche: Die Magdeburger PDS-Frak- Direktmandate und damit Einzug tionschefin wäre im Westen in den Bundestag stehen gut. sicher beim feministischen Flügel der Grünen. Ich gebe gerne zu, daß ich ihr politisch näher stehe als dem Grü- keptischen Parteifreunden jagt nen-Bundestagsabgeordneten Werner PDS-Sprecher Hanno Harnisch Schulz, der in Sachsen kandidierte. Er Sgern einen Schrecken ein – um sie hat mit seinen schwarz-grünen Gedan- dann zu erlösen: „Am Wahlabend krie- kenspielereien mit zu verantworten, gen wir nach den ersten Hochrechnun- daß meine Partei nicht mehr im gen 4,8 Prozent und zwei Direktmanda- Dresdner Landtag sitzt. te. Alles ist hin. Doch dann wird um 22 SPIEGEL: Ihr Parteifreund Konrad Uhr das Resultat von Rügen verkün- Weiß schlägt vor, daß sich im Osten det: ein drittes Direktmandat für die eine neue Partei der Mitte unter Ein- PDS.“ schluß der Grünen gründen sollte. Ist Das würde reichen. Aber es muß ja das eine gute Idee? nicht unbedingt die Ostseeinsel Rügen Tschiche: Statt-Parteien haben wir sein, auch wenn die Aussichten dort – doch schon mehr als genug. bei der Europawahl landete die PDS SPIEGEL: Halten Sie die PDS für ko- bei 30,3 Prozent – nicht schlecht sind. operationsfähig? Die Hochburgen der PDS liegen in Ost- Berlin, wo sich die Nomenklatura aus dem alten Staatsapparat der SED und „Die alten die DDR-Intelligenz ballt, und eine Kader und Betonköpfe ungewöhnliche Gemengelage mit der Sponti-Szene und Arbeitslosen bildet. sterben aus“ Nach einer Emnid-Umfrage für den SPIEGEL in drei Ost-Berliner Wahl- Tschiche: In Sachsen-Anhalt sind sie kreisen, in denen die Sozialisten bei der erschreckend kooperativ. Die PDS hat Europawahl stärker waren als CDU im Osten das Gesicht der Opposition. und SPD zusammen, liegen die PDS- Sie ist eine linke, regionale Volkspar- Kandidaten Stefan Heym, tei. Ich rechne damit, daß in dieser Par- und besser als die Konkur- tei ein Differenzierungsprozeß ablaufen renz. Nur die SPD könnte hier der PDS wird. Die alten Kader und Betonköpfe noch gefährlich werden – die CDU- sterben aus oder werden entmachtet. Kandidaten liegen weit abgeschlagen SPIEGEL: Wie weit wollen Sie bei der zurück. Zusammenarbeit gehen? Emnid befragte je 1000 Bürger, wen Tschiche: Die Reformkräfte bei der sie am 16. Oktober zu wählen geden- PDS und bei den Bündnisgrünen müs- ken. Das Ergebnis: In Hellersdorf/ sen in einen Diskussionsprozeß eintre- Marzahn bringt es Gregor Gysi auf 36 ten. Wir müssen alles neu sortieren, Prozent, Angelika Barbe (SPD) auf 24 wenn wir überleben wollen. Beide Prozent. Schon bei der letzten Bundes- Gruppen müssen ihre politische Klien- tagswahl konnte Gysi als einziger PDS- tel finden. Politiker ein Direktmandat erringen. SPIEGEL: Eine grüne PDS? Deutlich vorn liegt auch die ehemali- Tschiche: Die PDS vertritt in der Aus- ge DDR-Wirtschaftsministerin Christa länder-, Innen- und Bildungspolitik Luft (32 Prozent) im Bezirk Friedrichs- durchaus grüne Positionen. Wir müssen hain/ vor dem Berliner Ju- in den nächsten vier Jahren diskutieren, gendsenator Thomas Krüger (SPD), wie sich die Reformkräfte als politische für den vier Wochen vor der Wahl 28 Kraft in den neuen Ländern behaup- Prozent stimmten. ten wollen. Es gibt ja die Möglich- Eng wird es im Bezirk Mitte/Prenz- keit der Listenverbindung. Die könnte lauer Berg. Dort rangiert der Schrift- doch „Freie Liste/Bündnis 90/Grüne“ steller Stefan Heym (PDS) mit 33 Pro- heißen. Ich will mich da auf einen Na- zent mal gerade einen Prozentpunkt men nicht festlegen. An der Debatte vor dem stellvertretenden SPD-Vorsit- kommen wir nicht vorbei, wenn wir zenden Wolfgang Thierse. weiter Reformpolitik im Osten machen wollen. Y

28 DER SPIEGEL 38/1994 DEUTSCHLAND

Schaffen es die drei, kommt der Auf Wahlhilfe kann die PDS am 16. den Bundestag vor allem auf die Erst- PDS zugute, was im Wahlgesetz Oktober nicht bauen. Sie muß es schon stimmen an, da sie ja zumindest „Grundmandatsklausel“ genannt wird. aus eigener Kraft packen. Das kann drei Kandidaten direkt durchbringen Danach genießen kleinere Parteien mit klappen. Die Folge: ein Trend zum Patt muß. regionalen Schwerpunkten ein Sonder- im Parlament. Über fünf Prozent aller abgegebe- privileg. Auch wenn sie insgesamt we- Nach der jüngsten Sonntagsfrage des nen Stimmen wird die PDS schwerlich niger als fünf Prozent erhalten, dürfen Emnid-Instituts für den SPIEGEL hat erhalten, weil sie in Westdeutschland sie in den Bundestag einziehen. Denn die Koalition gegenwärtig lediglich ei- zu schwach ist. Hier schaffte sie bei der haben sie drei Direktmandate, gilt für nen Vorsprung von acht Sitzen. Den Bundestagswahl 1990 gerade 0,3 Pro- sie die 5-Prozent-Klausel nicht. Die Verbündeten von CDU/CSU und FDP zent, in den neuen Ländern waren es Kleinen dürfen dann entsprechend ih- stünde eine etwa gleich starke Oppositi- immerhin 11,1 Prozent. rem Zweitstimmenanteil Abgeordnete on aus SPD, Grünen und PDS gegen- Die Genossen, die aus dem Osten ins Parlament schicken. über. kommen, hoffen nicht nur in drei Kriegt die PDS bei drei Direktman- Allerdings wollen etliche Wähler Wahlkreisen auf Direktmandate. In daten zum Beispiel vier Prozent, stellt noch nicht endgültig sagen, wem sie am den beiden übrigen Ost-Berliner sie etwa 30 Parlamentarier. 16. Oktober ihre Stimme geben, und Wahlbezirken Köpenick/Treptow und Allzuoft kam die „Grundmandats- vielen scheint auch der Unterschied Hohenschönhausen/Pankow/Weißen- klausel“ nicht zum Zuge. Zuletzt zwischen Erst- und Zweitstimme nach see sowie in Schwerin, Rostock, konnte die konservative Deutsche Par- wie vor schleierhaft. Wie anders ist zu Frankfurt/Oder, Neubrandenburg und tei (DP) 1957, bei einem Zweitstim- erklären, daß Gregor Gysi von 36 Pro- sind ihre Kandidaten eben- menanteil von lediglich 3,4 Prozent, 17 zent der Wähler im Bezirk Hellersdorf/ falls gut dabei. Abgeordnete in den Bundestag entsen- Marzahn die Erststimme bekommt, die PDS-Sprecher Harnisch jedenfalls den. Die DP hatte in sechs Wahlkrei- Partei, für die er steht, aber sogar 40 ist optimistisch. Falls es mit dem einen sen Direktmandate errungen – fünf da- Prozent der Zweitstimmen? Direktmandat nicht klappe, dann eben von mit Hilfe der CDU, die dort keine Anders als für FDP und Grüne mit dem anderen. „Wir gehen von 20 eigenen Kandidaten aufgestellt hatte. kommt es für die PDS beim Einzug in aussichtsreichen Wahlkreisen aus.“

Gefahr PDS? Mit Direktmandaten in den Bundestag „Halten Sie eine Regierung aus „Sie haben bei der Bundestagswahl zwei Stimmen. Welcher Kandidatin oder SPD, Bündnis 90/Grüne und PDS welchem Kandidaten werden Sie Ihre Erststimme geben?“ für unsere Demokratie für gefähr- lich oder nicht?“ WAHLKREIS: Berlin-Mitte/ CDU Wilma Glücklich 13 SPD Wolfgang Thierse 32 FDP Gerd Moll 1 B´90/Grüne Uwe Dähn 6 PDS Stefan Heym 33 weiß nicht 15 U. WEISE/PHOENIX 50 WAHLKREIS: Berlin-Hellersdorf/Marzahn 38 CDU Horst Gibtner 14 SPD Angelika Barbe 24 „finde ich 2 gefährlich“ FDP Werner Wiemann B´90/Grüne Andrea Maria Fischer 4 „finde ich PDS Gregor Gysi 36 nicht weiß nicht 20 gefährlich“ J. H. DARCHINGER 39 WAHLKREIS: Berlin-Friedrichshain/Lichtenberg 52 CDU Werner Skowron 15 SPD Thomas Krüger 28 WEST- OST- DEUTSCHE DEUTSCHE FDP Klaus Röhl 2 B´90/Grüne Ralf-Peter Hässelbarth 7

Angaben in Prozent; an 100 fehlende Prozent: keine PDS Christa Luft 32 Angabe; Emnid-Umfrage für den SPIEGEL, 1000 Befragte, 9. bis 14. September 1994 weiß nicht 16 ACTION PRESS

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DEUTSCHLAND FOTOS: M. DARCHINGER Unionsstratege Schäuble: „Die deutsche Geschichte besteht nicht nur aus Auschwitz und Wirtschaftswunder“

SPIEGEL-Gespräch „Das Nationale nutzen“ CDU/CSU-Fraktionschef Wolfgang Schäuble über seine Rolle als Sinnstifter der Deutschen

SPIEGEL: Herr Schäuble, Ihre Gegner sich bringen. Ohne ein Mindestmaß an Schäuble: Der Nationalstaat alter Prä- im Wahlkampf sehen in Ihnen den Chef- nationaler Solidarität sind die nicht zu gung wurde vor allem als Abgrenzung ideologen der Union . . . bewältigen. gegenüber anderen verstanden. Nach Schäuble: . . . zuviel der Ehre . . . SPIEGEL: Im Wahlkampf dringen Sie unserer Überzeugung aber soll das ver- SPIEGEL: . . . genauer gesagt, den Pa- mit Ihren nationalen Ideen nicht durch. einte Deutschland unverbrüchlich in eu- ten einer neuen national-konservativen Es gilt offenbar noch immer als eine Er- ropäische und atlantische Strukturen Strömung, der als Ersatz für Alfred rungenschaft der Deutschen, daß sie eingebunden sein. Westbindung ist und Dregger den rechten Flügel anführt. Ist sich nach einem Wort von Karl Dietrich bleibt die Staatsräson der Bundesrepu- da was dran? Bracher mit ihrer „postnationalen Iden- blik. Schäuble: Mit dummen Klischees ist tität“ zufriedengaben. Warum soll es da- SPIEGEL: Zwei Erfahrungen haben bis- meine Position nicht zu fassen. Aus mei- bei nicht bleiben? lang das Selbstverständnis der Deut- ner wertkonservativen Grundhaltung Schäuble: Es ist ja gut, daß wir aus den schen geprägt: Auschwitz und Wohl- aber habe ich nie ein Hehl gemacht. Verwerfungen unserer jüngeren Ge- stand. Gelten sie nicht mehr? SPIEGEL: Solche Etiketten kommen ja schichte die Lehre ziehen, das Nationale Schäuble: Doch, doch, aber das ist nicht nicht von ungefähr. Mehr als 40 Jahre nicht zu überhöhen. Ich meine, zu den alles. Die deutsche Geschichte besteht lang wurde über die nationale Identität Lehren gehört aber auch, das Nationale Gott sei Dank nicht nur aus Auschwitz der Deutschen kaum geredet. Sie aber für die Stabilisierung von Demokratie, und Wirtschaftswunder. Zu dem Zu- bringen diesen Begriff nun beharrlich in Freiheit und europäischer Einigung zu sammengehörigkeitsgefühl der Deut- die Diskussion. Warum eigentlich? nutzen. schen hat Martin Luther gewiß soviel Schäuble: Seit 1989 hat es ungeheure SPIEGEL: Bundespräsident Roman Her- beigetragen wie Napoleon, Goethe oder Veränderungen gegeben, die das Ende zog meinte unlängst, der Nationalstaat preußische Reformer wie der Freiherr der europäischen Teilung, auch die Wie- alter Prägung sei vorbei. Was ist denn vom Stein. Aus solch einem Verständ- dervereinigung für die Menschen mit die neue Prägung? nis, das gute und schlechte Erfahrungen

30 DER SPIEGEL 38/1994 einschließt, wächst die emotionale Bin- SPIEGEL: Aber helfen die nationalen Gefahren gibt es. Sie werden da kei- dekraft. Bindekräfte, solche Konflikte zu be- nen Gegensatz herstellen können. SPIEGEL: Reicht denn der Verfassungs- herrschen? SPIEGEL: Sehen Sie denn auch die Ge- patriotismus, wie ihn Jürgen Habermas Schäuble: Sie würden alles, was ich ge- fahr, daß Sie mit solchen Diskussionen vertritt, nicht mehr aus, um ein Gefühl sagt und geschrieben habe, grob verfäl- der neuen Rechten und den Rechtsra- der Zusammengehörigkeit zu erzeugen? schen, wenn Sie meinen, das Nationale dikalen Stichworte liefern, sie sogar sa- Schäuble: Die Verfassung ist zuwenig sei das alles Überwölbende. Das ist nur lonfähig machen? auf die Seelenlage der Menschen einge- ein Element. Schäuble: Ich hoffe das Gegenteil. stellt, insofern zu abstrakt. SPIEGEL: Ist nicht die nationale Debatte Was die Wahlergebnisse der Rechtsra- SPIEGEL: Aber die Grundwerte, die un- ein gefährliches Spiel mit dem Feuer, dikalen betrifft, scheint sich meine sere Verfassung tragen, könnten doch wie Ihr sozialdemokratischer Gegen- Hoffnung zu erfüllen. Und ich bin we- durchaus Bindekraft entfalten. Warum spieler Hans-Ulrich Klose im Bundestag der für alte noch für neue Rechte zu dann noch das Nationale? warnt? haben, sondern nur für die Mitte. Schäuble: Werte wie Freiheit, Gleich- Schäuble: Auf Klose antworte ich am SPIEGEL: In Ihrem neuen Buch schrei- heit oder Demokratie haben auch Bin- besten mit Klose: Er hat vor einiger Zeit ben Sie, „schiere Vernunft“ reiche dekraft. Aber daneben gibt es eben gesagt, er teile zwar solche Ängste, ver- nicht aus, „um auftauchende Mühsal noch ein nationales Gefühl der Zusam- suche aber, dagegen anzugehen, weil er zu akzeptieren und zu bewältigen“. In mengehörigkeit. die deutsche Neigung zur Panik für der Jungen Freiheit, der Zeitschrift der SPIEGEL: Als Ersatz für die geschwun- ebenso gefährlich halte. Wir dürfen das neuen Rechten, ist von „Transzen- dene religiöse Bindung? Nationale nicht anderen überlassen, die denz“ statt „Rationalität“ die Rede. Schäuble: Nein, nein, Einspruch. das zur Ausgrenzung, zur Abgrenzung Da werden die Ideen von Carl Schmitt SPIEGEL: Sie selber sprechen vom Ver- gegen Fremde und auch gegen die euro- verbreitet, der sich in den Zeiten der lust der transzendenten Dimension. päische Einigung nutzen. Weimarer Republik als konservativer Sie suchen einen „Aus- Revolutionär verstan- weg“ aus dieser Lage. den hat. Schäuble als Sinnstifter? Schäuble: Um Himmels Schäuble: Unsinn! Mein willen. Darauf habe ich Thema ist Zukunftsfä- gerade gewartet. Ich higkeit. Die Menschen spreche vom Verlust der haben immer aus der transzendenten Dimen- transzendenten Dimen- sion. Das ist ein sozio- sion, also aus dem Glau- logischer Befund, der ben, aus der Religion, doch unbestritten ist. den Mut zur Zukunft SPIEGEL: Aber die Bot- gefunden. Diese Di- schaft heißt: Politik mension ist schwächer braucht etwas Transzen- geworden. Um so wich- dentes, eben Nation als tiger ist es dann, daß wir emotionale Bindekraft. uns der zukunftsstiften- Schäuble: Nein. Ich lese den Kraft, die Gemein- in den Werken von Wis- schaft haben kann, ver- senschaftlern, die davon gewissern. Das reicht mehr verstehen als ich, von der Familie bis hin daß etwa 80 Prozent al- zur Nation. ler menschlichen Ent- SPIEGEL: Also doch die scheidungen eher emo- Gemeinschaft als Er- tional als rational be- satzreligion? gründet sind. Das meine Schäuble: Da wird mir ich, nicht mehr und zum Zweck der Diffa- nicht weniger. mierung ein Etikett an- SPIEGEL: Sabine Leut- gehängt, das ich mir Schäuble beim SPIEGEL-Gespräch*: „Mit Völkischem nichts am Hut“ heusser-Schnarrenber- nicht ankleben lasse. ger, die Justizministerin SPIEGEL: Die Nation begreifen Sie SPIEGEL: Wird nicht gerade durch stän- in Ihrer Koalition, befürchtet, manche auch als Schutzgemeinschaft. Woge- diges Reden von der Nation die Abnei- Formulierungen in Ihrem Buch könnten gen? gung gegen Fremde verstärkt? als Legitimation für Geschichtsrevisioni- Schäuble: Gegen alle Gefährdung von Schäuble: Ich habe mit dem Völkischen sten gedeutet werden, welche die Nazi- Frieden und Freiheit, und zwar nicht gar nichts am Hut. National und fremd Verbrechen relativieren wollen. nur im kriegerischen Sinne. Ich erinne- sind auch gar keine Gegensätze. Die Schäuble: Ich finde das ungeheuerlich. re einmal daran, daß der Club of Deutschen sind doch das Ergebnis von Ich lasse ihr das auch nicht durchgehen, Rome in seinem Bericht geschrieben vielen Wanderungsprozessen. sondern erwarte dafür eine Entschuldi- hat, das dramatische wirtschaftliche, SPIEGEL: Ihr Kanzler scheint nicht so gung. soziale, ökologische und politische Ge- zuversichtlich wie Sie zu sein. „Niemand SPIEGEL: Unter angeblich wissenschaft- fälle zwischen Ost und West in Euro- sollte glauben machen“, sagt Helmut lichen Vorzeichen leugnen die Revisio- pa, und auch zwischen Süd und Nord, Kohl, „das Schreckgespenst des Natio- nisten die Auschwitz-Verbrechen. Der könne zu Wanderungsbewegungen in nalismus und Chauvinismus sei tot und Historiker Ernst Nolte beschäftigt sich einer Dimension führen, die die Stabi- nur auf dem Balkan zu Hause.“ mit „humanen“ Aspekten bei der Ver- lität rechtsstaatlicher Demokratien in Schäuble: Moment. Ich stimme doch gasung der Juden. Westeuropa untergraben könne. Ich mit Helmut Kohl völlig überein: Diese Schäuble: Diese Diskussion widert mich erinnere auch an die globalen Proble- an. Wer mich auch nur in die Nähe sol- me der Übervölkerung. * Mit Redakteur Paul Lersch in Bremerhaven. cher Gedankengänge bringt, der ist ein

DER SPIEGEL 38/1994 31 Werbeseite

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übler Verleumder. Nicht der Hauch ei- Schäuble: Es gibt keine Nähe. Ich weiß, nes Halbsatzes in irgendeiner meiner daß die Rechten mich nicht mögen, und Reden oder Bücher gibt dazu Anlaß. die wissen, warum. Das ist das erste. SPIEGEL: Sie haben geschrieben: „Mir Zweitens: So wie Sie jetzt vorgehen, in- geht es in meinem Plädoyer gegen dem Sie irgendeinen Begriff nehmen und Denkverbote um eine Befreiung unse- schauen, ob man da nicht Ähnliches bei rer Köpfe.“ Auch die Rechten wollen den Rechten findet, kann ich auch belie- Tabus bei der Vergangenheitsbewälti- bige Äußerungen des SPIEGEL in die gung beseitigen. Nolte will den „Nor- Nähe von Kommunisten oder Nazis brin- malgang der Wissenschaft auch in heik- gen. len Punkten herbeiführen“. Insofern SPIEGEL: Es geht nicht nur um einzelne spricht die Justizministerin von „Leer- Äußerungen, sondern um einen größe- räumen“, die allzuleicht „mit nationali- ren Zusammenhang, den Ihr Partei- stischen Vorstellungen gefüllt werden freund Friedbert Pflüger in seinem Buch könnten“. beschrieben hat: „Deutschland driftet“, Schäuble: Da stellen Sie aber ziemlich nämlich nach rechts. Und da hinein ge- künstliche Zusammenhänge her. Auf- hörteine vomKanzler voreinigerZeitbe- klärung hat doch auch was mit dem gonnene Diskussion: Das Asylgrund- Kampf gegen Denkverbote zu tun. recht sollte unter Berufung auf einen an- Daraus den Vorwurf abzuleiten, ich lei- geblichen Staatsnotstand außer Kraft ge- ste den Rechten Vorschub, ist nun setzt werden. Da sind wir wieder bei Carl wirklich absurd. Schmitt, seiner Lehre vom Ausnahmezu- SPIEGEL: Ein recht oberflächlicher Be- stand als Legitimation für Verfassungs- griff von Liberalität habe bei Teilen bruch. „Ich bin weder für die der jungen Generation moralisch-ethi- Schäuble: Es istschontoll, wasSiesich al- alte noch für die sche Desorientierung ausgelöst, schrei- les einfallen lassen. Helmut Kohl ist also ben Sie – auch so eine heikle Ver- jetzt der Stichwortgeber für die neue neue Rechte zu haben“ wandtschaft mit dem Denken der Rechte. Rechten. SPIEGEL: Sie können sich ja von Kohl di- Schäuble: Ich halte das für einen absur- Schäuble: Ein unverschämter Ver- stanzieren. den Gedanken. Pflüger hat mir inzwi- gleich. Ich spreche mich doch damit Schäuble: Das hätten Sie gerne. Nein, in schen geschrieben, daß er mit allem, was nicht gegen den Liberalismus aus, al- diesem SPIEGEL-Gespräch wollten wir in meinem Buch steht, einverstanden ist. lenfalls gegen ein oberflächliches Ver- über meine Rolle reden. Da lege ich Wert SPIEGEL: Immerhin wurde in der Dis- ständnis von Liberalität. auf die Feststellung, daß Sie aus meinem kussion über das Grundsatzprogramm SPIEGEL: Jedenfalls reden auch die Au- Mund das Wort vom Staatsnotstand nie der Union der Vorschlag abgelehnt, toren der Jungen Freiheit von dem fal- gehört haben. Ich habe gesagt: Wir müs- Deutschland als „modernen National- schen Freiheitsbegriff des Liberalismus. sen die Änderung des Grundgesetzes un- staat“ zu definieren. Sie aber halten dar- Eine „an maßlosem Genuß und Profit- bedingt hinkriegen. Mir können Sie also an fest? denken orientierte liberalistische Ge- nicht Carl Schmitt vorhalten. Im Gegen- Schäuble: Moderner Nationalstaat ist sellschaft führt zur Sinnentleerung“, teil, gerade in dieser besonders gefährli- ein Begriff, den ich nicht verwende. heißt es im Programm der Republika- chen Debatte habe ich gezeigt, daß ich SPIEGEL: Fahnen und Hymnen, Rituale ner. Stört Sie solche Nähe nicht? mit solchem Denken nichts gemein habe. wie der Große Zapfenstreich beim Ab- Sie müssen Asche auf Ihr Haupt streuen. schied der Alliierten, wie die Überfüh- SPIEGEL: Istesdenn nicht ratsam fürPoli- rung der Gebeine Friedrichs des Großen tiker, mit heiklen Fragen der Vergangen- nach Potsdam – sind das die Symbole der heit vorsichtig umzugehen? neuen Berliner Republik? Schäuble: Das ist ja wahr. Aber sollen Schäuble: Ich finde schon, Fahnen, Politiker aus lauter Angst, daß irgendein Hymnen und solche Feiern drücken ein Schuft oder Dummkopf uns falsch inter- wenig von der emotionalen Bindung der pretiert, instrumentalisiert oder miß- Menschen an ihre nationale Gemein- braucht, oder um den Beifall von der fal- schaft aus. Franzosen, Engländer und schen Seite zuvermeiden, garnichtsmehr Amerikaner pflegen solche Art des Fei- diskutieren? Dann wird Politik profillos. erns übrigens mehr als wir. Was die Das möchte ich nicht. Überführung der sterblichen Überreste SPIEGEL: Sie wollen im Wahlkampf vor von Friedrich dem Großen angeht: Der allem aus taktischen Gründen das Natio- Chef des Hauses Hohenzollern, Prinz nale nicht einfach den Rechten überlas- Louis Ferdinand, hat damals dem Bun- sen? deskanzler einen Brief gezeigt, in dem Schäuble: Jetzt machen Sie mich zum Erich Honecker die Überführung anreg- taktischen Nationalisten. Das ist aber ei- te. Der Chef des Hauses Hohenzollern ne verkürzte Interpretation. Ich bin aber antwortete: Erst in einem in Frei- schon überzeugt, daß wir für die Aufga- heit wiedervereinten Deutschland. Das ben, die sich uns in Gegenwart und Zu- war für Helmut Kohl der Grund, an der kunft stellen, das nationale Element nut- Feier teilzunehmen. Ich kann auch nicht zen müssen. Das dürfen wir nicht den alles ablehnen, was aus preußischer Tra- „Mir wird zum Zwecke Gegnern der Freiheit überlassen. dition stammt. Denn zum Erbe Preu- SPIEGEL: Im Ergebnis aber wird die Mitte ßens gehören auch Toleranz und Offen- der Diffamierung der Union nach rechts verschoben, arg- heit. ein Etikett angehängt“ wöhnen Ihre eigenen Parteifreunde wie SPIEGEL: Herr Schäuble, wir danken Ih- etwa Pflüger. nen für dieses Gespräch. Y

34 DER SPIEGEL 38/1994 selbstgefällig, wenn sie merke, „daß die i Frisch Ertappte sollten bis zur Haupt- Kriminalität Menschen keinerlei Verständnis für ihre verhandlung in Haft genommen, parteitaktische Blockadepolitik haben“. Strafverfahren noch weiter beschleu- Etwas gequält gab Herta Däubler-Gme- nigt, Beweismittel im Prozeß be- lin, die Schatten-Justizministerin in Ru- schnitten und die Kronzeugenrege- Neidlos, dolf Scharpings Team, zurück: „Die Gift- lung, von der redefreudige Terrori- zähne haben wir dem Entwurf gezogen.“ sten profitieren, auf organisierte Ver- Lange dauerte es, bis Kanther erst die brechen ausgeweitet werden. aber bitter Liberalen und am Ende auch die Sozial- i Die Ausweisung von straffällig ge- demokraten zum Nachgeben genötigt wordenen jugendlichen Ausländern Triumph für die Union: Innenmini- hatte. sollte erleichtert werden. ster Kanther setzte sich mit seinem Rechtsanwälte, Richter und Gewerk- i Mit seinen elektronischen Lauschan- schaften protestierten gegen die Pläne. lagen sollte der BND im Auftrag von Gesetz zur Verbrechensbekämp- Professoren monierten Verfassungswid- Polizei und Staatsanwaltschaft gezielt fung gegen FDP und SPD durch. riges zuhauf – etwa die Vermischung von den drahtlosen internationalen Fern- Polizei- und Geheimdienstaufgaben. Mit meldeverkehr überwachen – falls ein Statistiken über ständig steigende Ver- Richter oder die sogenannte G-10- ur „entscheidenden Keule im Wahl- brechen aber sorgte das Innenministeri- Kommission des Bundestages zuvor kampf gegen die SPD“ werde er das um für Stimmung in der Republik. Hans- die Abhörerlaubnis erteilt hat. Nach ZThema innere Sicherheit machen, Ludwig Zachert, der Chef des Bundeskri- „Suchbegriffen“ – gemeint ist die Ein- drohte CDU-Generalsekretär Peter minalamtes, das dem Innenminister un- gabe bestimmter Schlüsselworte – aus Hintze, falls das Gesetz zur Verbre- tersteht, entwarf bedrohliche Szenarien dem Bereich der Organisierten Kri- chensbekämpfung an deren Widerstand über krakenarmige Mafiabanden. Wer minalität sollte der BND zusätzlich scheitere. Da duckten sich die Sozialde- wollte da bei den Wählern als Quertrei- den Telefonverkehr kontrollieren, mokraten. ber gelten? um Verdächtige aufzuspüren. Schon vorletzte Woche gab das SPD-Präsidium den Un- terhändlern im Vermittlungs- ausschuß von Bundesrat und Bundestag die Weisung auf den Weg: Kompromiß ansteu- ern. „Wir wollen keine Krimi- nalitätsdebatte im Wahl- kampf“, rechtfertigte SPD- Geschäftsführer Günter Ver- heugen den Schwenk. Die Angst saß tief, die Uni- on könne in der letzten Phase vor der Bundestagswahl am 16. Oktober die Sozialdemo- kraten als schlappe Verteidi- ger von Recht und Ordnung anprangern. Der Revision des Grund- rechts auf Asyl hatte die SPD schon zugestimmt. Zum Lauschangriff, dem Einbruch in die Privatsphäre der Bür- ger, war sie, unter Kautelen, auch bereit. „Sicherheit statt Angst“ versprachen die Sozi- aldemokraten vor der Euro- pawahl. Im Bundesrat hielten die SPD-Länder dem Druck zu- Die Welt nächst stand. Nur unstrittige Teile des Gesetzes zur Verbrechensbe- Die freidemokratischen Unterhändler Die SPD-Justiz- und -Innenminister kämpfung – wie die Strafbarkeit der kämpften an zwei Fronten. Justizministe- hatten vor Beginn der Vermittlungsge- Auschwitzlüge oder der Täter-Opfer- rin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger spräche ihre Linie festgelegt: Eine Eini- Ausgleich, wonach Straftäter, die den wehrte an der Seite von gung werde nur möglich sein, wenn die von ihnen angerichteten Schaden wieder- die ärgsten Zumutungen ab – gegen eine Koalition „ihre unhaltbaren Positionen gutmachen, Strafrabatt erhalten können nachgiebige Mehrheit in ihrer eigenen räumt“. Vorige Woche konnten sie Teil- – wollten sie mittragen. Als die Union Fraktion: keine Wanzen in Wohnungen, erfolge vermelden: aber auf stur schaltete, gaben die Sozial- keine „milieubedingten“ Straftaten ver- i Die sogenannte Hauptverhandlungs- demokraten ihren Widerstand gegen das deckter Ermittler, keine Schnüffeleien haft wird es nicht geben. Das beschleu- von CDU-Innenminister Manfred Kan- des Bundesnachrichtendienstes (BND) nigte Verfahren wird an erhöhte Be- ther vorgelegte Sicherheitspaket auf. im Inland. dingungen – einfacher Sachverhalt, Die SPD komme immer erst dann „zur Von Parteichef Klaus Kinkel nur halb- eindeutige Beweislage – gebunden. Vernunft“, meinte Jürgen Rüttgers, Ge- herzig unterstützt, mußten die liberalen i Straffällig gewordene jugendliche schäftsführer der CDU/CSU-Fraktion, Unterhändler einige Kröten schlucken: Ausländer, deren Eltern in Deutsch-

DER SPIEGEL 38/1994 35 land leben, dürfen in der Regel nicht ausgewiesen werden. Im Ermessen der Behörden liegt die Ausweisung nur bei Heranwachsenden. i Als Hilfsorgan der Strafverfolger darf der BND nicht eingeschaltet werden; ob Hinweise, die bei den Lauschak- tionen nach „Suchbegriffen“ anfallen, an Polizei und Staatsanwälte weiter- zugeben sind, entscheidet „ein zum Richteramt befähigter Beamter“. „Neidlos, aber auch bitter“ erkennt der Altliberale Hirsch an, daß die Sozi- aldemokraten einiges von dem erreicht haben, „was uns der Koalitionspartner unbelehrbar verweigert hat“. Eine Posi- tion räumten die Unionschristen aller- dings nicht: keine Kontrolle des BND durch Datenschützer. Am Montag dieser Woche fällt die endgültige Entscheidung über das Ge- setz. Die 32 Mitglieder im Vermittlungs- ausschuß (16 von Union und FDP, 16 von SPD und Grünen) müssen sich dann mit neuerlichen Einwänden befassen. In einer gemeinsamen Erklärung for- dern die Datenschutzbeauftragten von neun Ländern, etlichen Formulierungen „nicht zuzustimmen“: Bei der vom BND praktizierten Fernmeldeaufklärung wür- de nämlich „eine unvermeidlich große Zahl Unbeteiligter“ betroffen – „ein entscheidender Schritt hin zur verfas- sungswidrigen Aufhebung des Tren- nungsgebots“ zwischen Polizei und Ge- heimdiensten. Y

Karriere Niemals nie Ex-Minister Günther Krause hat Probleme, sich in der Finanzwelt zurechtzufinden. Seine Kar- riere als Banker währte nur kurz.

ier Wochen lang träumte Günther Krause, unter Helmut Kohl zwei VJahre lang Verkehrsminister in Bonn, vom Aufstieg in die Welt der Hochfinanz. Seit vergangenem Montag ist der Ex-Minister auch Ex-Bankier. Ende Juli kaufte sich Krause, 41, der 1993 als Minister nach einer Serie von Affären zu Fall kam, zusammen mit den beiden schleswig-holsteinischen Getrei- dehändlern Peter und Alexander Rothe die Kieler Bank Companie Nord (BCN). Weil der ehemalige Minister al- lein nicht genug Geld aufbringen konn- te, führte ein Parteifreund, der stellver- tretende Schatzmeister der schleswig- holsteinischen CDU, Otto Bernhardt, dem Neu-Kapitalisten die reichen Kauf- leute zu. .

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Der Deal erregte nicht nur die Bran- che, sondern auch Krauses Parteifreun- de. „Woher hat der die Penunze“, fragte ein ehemaliger Kabinettskollege spitz. Krause selbst mochte sich zunächst über die Herkunft seines Kapitals nicht äußern. Für die erforderlichen 12,5 Mil- lionen Mark, so behauptete er jetzt ge- genüber dem SPIEGEL, habe er Lände- reien in Börgerende an der Ostsee belie- hen. Seine Frau Heidrun, 38, hatte ins- gesamt 30 Hektar mit in die Ehe ge- bracht. Allerdings nicht alles Bauland. Rothes und Krauses schienen Partner fürs Leben. Mit Champagner wurde im Restaurant „Kieler Schloß“ am 28. Juli der gemeinsame Einstieg ins Bankfach gefeiert. Doch Krause, der sich seit dem Rausschmiß in Bonn als cleverer Ge- schäftsmann versucht und zwei Firmen in Berlin und Zürich betreibt, hatte sei- ne Partner unterschätzt. Mit einem

simplen Manöver drückte ihn der Ge- R. JATSCH-KÖSLING treide-Clan aus der Bank, kaum daß er Kieler Bank Companie Nord: Manöver des Getreide-Clans eingestiegen war. Für die Expansion des Geldhauses, zug aus der Bank eine Rolle gespielt. ausgestattet haben will, sei „beauftragt, eröffneten Vater und Sohn Rothe Krau- Heidrun Krause, mit 25 Prozent an moderne Finanzierungsmethoden zum se bald nach der gemeinsamen Unter- Krauses Berliner Hauptfirma Aufbau- Vorteil der jungen Bundesländer anzu- schrift, müsse das Stammkapital von Investitionen beteiligt, verfolgt den Ex- bieten“, die unter Mitwirkung von Welt- 34,1 auf 42,1 Millionen Mark aufge- pansionsdrang ihres Mannes seit länge- bank, Weltwährungsfonds und US-Zen- stockt werden. Nur so seien die geplan- rem mit Argwohn. Krause: „Insofern tralbankrat erarbeitet worden seien. ten Filialen in Rostock, Stralsund und haben wir uns als Gesellschafter ge- Die Offerte las sich wie ein Lottoge- Berlin zu finanzieren. meinsam entschieden, wir ziehen uns winn: Willige Landesregierungen, lock- Krause stimmte zu – und mußte pas- aus dem Engagement zurück.“ te Krause, könnten an „Erträgen betei- sen. Anfang vergangener Woche gab er Das Bank-Debakel ist nicht der erste ligt werden, ohne Zins- oder Tilgungsla- seine BCN-Anteile zurück. Es wäre Flop des Geschäftsmannes Krause. Der sten befürchten zu müssen“. Toller „schwierig für mich gewesen, diese Ka- frühere Vorzeige-Ostler des Kanzlers pitalerhöhung sofort mitzumachen“, er- hat seit längerem Probleme, sich in der läuterte er. Durch den schnellen Ab- kapitalistischen Welt zurechtzufinden. Dubiose Offerte einer gang könne man ihm Kurzatmigkeit und Im Frühjahr hatten die fünf ostdeut- New Yorker Unbedachtheit vorhalten. „Das muß ich schen Finanzminister einen Brief von akzeptieren.“ Günther Krause erhalten: Seine Firma, Briefkastenfirma Auch private „Schwierigkeiten“ mit die Unternehmensgruppe Aufbau-Inve- Ehefrau Heidrun, räumte er am vergan- stitionen, die das Ehepaar Krause mit noch: Die Darlehen seien „nicht zu- genen Freitag ein, hätten bei dem Rück- fast zwölf Millionen Mark Eigenkapital rückzuzahlen“. Die Reaktion der Finanzminister war für Krause enttäuschend: Zwei lehnten ab, die anderen antworteten gar nicht. Mit seinem dubiosen Angebot ist der frühere Bundesminister offenbar einem windigen Geschäftsmann aufgesessen. Ein dem Länder-Finanzprojekt beige- fügter Brief wies Krause als Bevoll- mächtigten eines Albert Landolt aus, der nach eigener Auskunft für eine Finanzierungsfirma namens Parker, Gold & Company in New York arbei- tet. Bei der Adresse handelt es sich um eine Briefkastenfirma. Das habe er nicht gewußt, gestand Krause jetzt. Doch solche Rückschläge steckt der Jungunternehmer locker weg. Selbst den erneuten Erwerb einer privaten Bank will er nicht ausschließen: „Man soll niemals nie sagen.“ Y

AUGUST * Am 15. August mit Peter (l.) und Alexander Bankier Krause (2.v.l.), Partner*: „Das muß ich akzeptieren“ Rothe (r.) sowie BCN-Vorstand Dietmar Küster.

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DEUTSCHLAND STEHLICK / TRANSIT A. TULLMANN Systemkritiker Fischer (1973), Realo Fischer (1994)*: „Aus meiner Generation sind ja nicht mehr viele da“

Wahlkampf Der Patriarch der Grünen SPIEGEL-Reporter Jürgen Leinemann über den alternativen Machtmenschen Joschka Fischer

rst irritiert die „merkwürdig weihe- Dabei ist er erst 46 Jahre alt. In der Fischer. Aber dessen Botschaft ist die- volle Atmosphäre“ den Redner. deutschen Politik aber gehört der hessi- selbe geblieben. Nur faßt er sie inzwi- EUnd dann sind auch noch 22 Plätze sche Umweltminister zu den Jungen. schen knapper und direkter: „Kohl muß frei im Studiosaal des Kulturpalastes Doch stempelt ihn seine mehr als weg“, sagt er. „Der ist ein Mann des von Dresden, während draußen ein paar 25jährige politische Lebensarbeit, Stra- Stillstandes und der Vergangenheit.“ Dutzend Leute vom Sicherheitsinspek- ßenkampf und Hausbesetzungen mitge- Beschwörend hämmert der Grüne sei- tor am Eintritt gehindert werden. We- rechnet, zum Veteranen. Er selbst zieht nem Publikum ein: „Den interessiert gen Überfüllung. es vor, sich einen „Patriarchen“ zu nen- nichts mehr. Der ist auf Wolke sieben Unruhe entsteht. Also, das wundert nen. und redet nur noch mit dem Weltgeist. jetzt den Redner aus dem Westen. Soll- Jeans und Secondhand-Sakko, offe- Echt. Der ist entschwebt wie ein entfes- te es einfacher sein, ohne Eintrittskarte nes Hemd und Wuschelschopf. Welten- selter Fesselballon.“ in ein Michael-Jackson-Konzert zu ge- weit ist „der Joschka“ entfernt von der Wenn er soweit ist in der variablen langen als in eine Wahlveranstaltung federnden Bedeutsamkeit des schneidi- Standardrede seiner Wahlkampfauftrit- von Bündnis 90/Die Grünen? Besteht da gen Innenministers et- te, hat Fischer längst seine melancholi- noch Wendebedarf? Feixend ordnet er wa, den er einen „formidablen Herrn“ sche Müdigkeit abgestreift, die er so de- an: „Ihr müßt jetzt rausgehen und ihn nennt. Und kosmosfern von der abend- korativ um sich zu hängen pflegt wie anschnarren: Herr Sicherheitsinspektor, füllenden Präsenz jenes Kanzlers, den er einst der Boxer Norbert Grupe, der sich Sie müssen sich nach oben verfügen. schon vor zehn Jahren im Deutschen „Prinz von Homburg“ nannte, seinen Der Minister will Sie sehen.“ Bundestag als „pfälzisches Gesamt- samtweichen Mantel, wenn er in den Er ist noch immer ein ungewöhnlicher kunstwerk“ verspottet hat, „welches in Ring kletterte. Fischer poltert und kek- Minister, der Joseph Fischer von den barocker Opulenz so langsam ver- kert, dampft und tropft. Grünen, den auch in Dresden alle sumpft“. Die „Triebhaftigkeit im Kampf um Joschka nennen. Grau ist er geworden Seither ist viel passiert, mit Deutsch- die Macht“, die ihn an der Politik so fas- und füllig. Müde wirkt er, als er aufs land, mit Helmut Kohl und mit Joschka ziniert, wird jedem sichtbar. Podium im Kulturpalast schlurft, die Wenn es sein muß, kann der Minister Mundwinkel suchen Bodenberührung. überaus sachkundig sein und präzise. * Bei einer Veranstaltung „Foltert die Polizei?“ in Beim Arbeitsamt, sagt er, wäre er jetzt Frankfurt (l.); Anfang September im Dresdner Kul- Aber lebendige und witzige Formulie- schon schwer zu vermitteln. turpalast. rungen gelingen ihm auch dann. Nach-

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bau West nennt er den Aufbau Ost. geworden ist. Eine Apo könnte und Kaum ein anderer Wahlkämpfer über- müßte heute nicht mehr sein: „Jetzt gibt läßt sich so spontan seinen Einfällen. es ja keine Tabu-Schranken mehr.“ „Machen Sie am 16. Oktober getrost Das ist aber erst seit einem Dutzend Ihr Kreuz bei uns“, sagt er am Ende: Jahren so. Im März 1983 seien sie noch „Wir tragen es dann vier Jahre lang ge- als „Outcasts“ in den Deutschen Bun- meinsam.“ destag eingezogen: „Mit uns hat doch Die Zuhörer in Dresden, aber auch der Untergang Deutschlands an die Tür die überwiegend jugendlichen „Freun- des Parlaments geklopft.“ dinnen und Freunde“ in Tübingen, Schon zwei Jahre später wird der Mainz oder Hanau reagieren zunächst „Spontifex Maximus“ (Frankfurter All- beunruhigend verhalten. Verstehen sie gemeine) in Wiesbaden als Minister für Fischers Wortwitzeleien nicht? Ist er ih- Umwelt und Energie vereidigt – in nen zu schnell? Zu aggressiv? Turnschuhen. Wiewohl er sich inzwi- Ob das junge Wahlvolk der neunziger schen auch schon mal mit einer Krawat- Jahre erfassen kann, das im Osten zu- te schmückt, weiß sich Fischer diesem mal, welchen Erfolg der westdeutschen Image bis heute verpflichtet. Und woh- Nachkriegsdemokratie dieser alternati- ler fühlt er sich in Jeans. Natürlich hat er längst aufgehört, sich dafür zu verteidigen, daß er sich als Reformer versteht und nicht als fundamenta- listischer Systemoppo- nent. Angepaßt? Als könnte ein Politprofi, der stellvertretende Regie- rungschef des Landes Hessen, so tun, als rüttele er noch an Bauzäunen. Was muß er auch revo- lutionär sein, wenn die Zeit selbst umstürzlerisch ist? „Nichts wäre schöner als eine ökologisch um- orientierte Wirtschaft in voller Blüte“, säuselt der Alternative manchmal seinem Wahlvolk zu. Das hätten sie wohl nicht ge- dacht von einem Grünen, grinst er dann hinterher, daß er kaufmännisch zu denken vermag. Werden die Grünen die Liberalen von morgen?

DPA Fischer reißt die Augen Koalitionspartner Börner, Fischer (1985)* auf. Er liebt solche Spie- „Kuhhandel oder Vergewaltigung“ le. Er ist überhaupt ziem- lich mit sich zufrieden. Er ve Minister repräsentiert, bezweifelt ist eine grüne Institution geworden, die auch Fischer. Symbolisiert er nicht Programm und Satzung nicht vorsehen. höchstpersönlich jene historische Zäsur Energisch säbelt er sich ein kräftiges des „magischen Jahres 1968“, die er in Stück Käse ab, während er im Anschluß seinem neuen Buch „Risiko Deutsch- an eine Wahlveranstaltung in seiner land“ beschreibt? Frankfurter Wohnung abschlafft. „Ich In den neuen Ländern, das wußte Fi- habe mich durchgesetzt“, grinst er, scher auch vor dem jüngsten Wahl- „ohne daß ich ein einziges Mal gewon- „Fiasko“ in Sachsen und Brandenburg, nen hätte in der Partei.“ fehlt dafür jede Voraussetzung. „Hier Vom Sessel rutscht er auf den Tep- gibt es kein grünes Milieu.“ Deshalb pich, nuckelt satt an der Bierflasche. könne es zu der perversen Entscheidung „Aus meiner Generation sind ja nicht kommen, daß ausgerechnet die PDS, als mehr viele da“, sinniert er, „und was die Erbin des alten Systems, hier in die Jungen bringen, muß man erst mal se- Rolle einer Jugendprotestpartei gerate. hen.“ „Das kann einem Alt-68er die Haare zu In solch behaglich nölenden Phasen Berge treiben.“ wirkt er wie der alternde Fußball-Lieb- Im Westen dagegen, glaubt Fischer, hätten die Grünen dafür gesorgt, daß * Bei der Vereidigung als hessischer Umweltmini- das ganze System flexibler und offener ster in der ersten rot-grünen Landesregierung.

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ling Rudi Völler – eine Tante Käthe der stürzt er sich in Frankfurt in Stra- Politik. ßenrandale, Marxismus-Studi- Beweisen, sagt er, muß er nichts um und Betriebsarbeit. mehr. Das hat er hinter sich. „Mich fas- Bei Jürgen Habermas, Theo- ziniert an der Politik nur die Politik.“ dor W. Adorno und Oskar Negt Minister braucht er nicht mehr zu sein, hockt er in den Vorlesungen. in Bonn schon gar nicht. Andererseits Nächtelang liest er theoretische braucht das aber auch niemand zu glau- Schriften. Sein Freund Daniel ben. Denn wahr ist natürlich, daß sich Cohn-Bendit staunt noch heute, Fischer ganz auf jenes Strukturministeri- wie verbissen und gewissenhaft um aus Verkehr, Energie und Wirt- der Autodidakt Fischer damals schaft spitzt, das auch seinen Rivalen Hegel, Marx und Mao gepaukt hat: „Er wollte der Lehrmeister der Studenten in Marxismus „Mein Idealismus sein.“ ist weg. Aber Fischer wird hart und mißtrau- isch in dieser Zeit, sein Verhält- nicht meine Ideale“ nis zur Politik ist unsentimental und cool. „Wirwaren jaschonda- Gerhard Schröder von der SPD ins mals als Realos verschrien“, be- Regierungsteam gelockt hat. Oder das kennt Cohn-Bendit. Tatsächlich Außenministerium? Er winkt ab. sieht sich Ex-Anarcho Fischer Daß er sich als Vollblutpolitiker bereits als „Reformer“, als er bei fühlt, verhehlt Joschka Fischer nicht. den Grünen mitzumachen be- Die Profession hat ihn mit Haut und ginnt. Haaren erfaßt – „wie eine große Lie- Heute zögert er keinen Augen- be“, mit gleitendem Übergang zum blick, sich als „Machiavellisten“ Psychoterror. zu charakterisieren. Für Fischer Eine robuste Unruhe, ein idealisti- heißt das aber gerade nicht, „im scher Elan haben ihn früh zum Auf- Ego zuenden“, sondern sich „der bruch getrieben. Kann man sich Jo- Rationalität des Erfolges“ zu un- seph Fischer als Hilfssachbearbeiter terwerfen. „Egomanen“, so Fi- vorstellen? Auf der Kindergeldkasse scher, sind „letztendlich keine

beim Arbeitsamt? Oder als Fotogra- Machtmenschen“. S. HUSCH fenlehrling? Beides war er, wenn auch Zu den Grünen stößt Joschka Minister Fischer in Biblis (1992)*: „Kleineres Übel“ nur kurz. Streng katholisch erzogen, ist Fischer mit einem steinhart prag- er bei Stuttgart auf dem Dorf aufge- matischen Politikverständnis, das er den mit Medien-Inszenierungen und juri- wachsen, Sohn eines Metzgers, der mit Amerikanern abgelauscht hat: „Um Tü- stischen Tricks des Gewerbes Politik seiner Familie 1946 als Ungarn-Deut- ren aufzudrücken, brauchst du Mehrhei- weiß Fischer inzwischen umzugehen scher aus Budapest verjagt worden ten. Und die kriegst du durch Kuhhandel wie die Genschers, Kohls und Holger war. oder Vergewaltigung.“ Er bezahlt mit Börners. Noch immer zittert in Fischer die dem Verlust seiner anarchischen Träume Vor allem im „Aussitzen“ ist er Mei- Erbitterung über den Tod seines Va- vom freien Menschen. Fischer: „Mein ster. Das verdankt er seiner Lehrzeit in ters nach, der in einem Schlachthof Idealismus ist weg. Aber nicht meine der grünen Selbsterfahrungsgruppe von malochte und 1965 plötzlich, mit 57 Ideale.“ Bonn, die sich Fraktion nannte. Nie- Jahren, tot umfiel. Wenn er heute Dafür ist er ein Machttechniker von mand, der die selbstquälerischen Sitzun- „dieses Leistungsgebrabbele“ hört, er- Format geworden. Mit den Aggressionen gen miterlebt hat, findet seine Behaup- innert sich Sohn Joschka voller Wut und Dummheiten seiner Mitmenschen, tung anmaßend, er fühle sich seither ge- daran, wie er „vor den rüstet, bis zur Erschöp- stinkenden Klamotten“ fung als Unterhändler seines Vaters saß, der bei EU-Agrarverhand- sich „im Wortsinne tot- lungen in Brüssel er- gearbeitet hatte“. Da- folgreich zu sein. mals entschied er sich Längst ist Joschka Fi- für immer: „So nicht.“ scher wie alle in der Po- Er wählt das Leben litik – eitel, berech- zum Lehrer, freilich ist nend, unausgeschlafen, er ein ehrgeiziger mißtrauisch. Und doch Schüler. Das Gottlieb- ist er anders. Nicht nur, Daimler-Gymnasium weil er sich weiterhin in Stuttgart-Bad Cann- als Schmuddelkind ver- statt verläßt er schon kleidet. Unübersehbar nach der zehnten Klas- bleibt vielmehr: Josch- se. Anstatt sich auf dem ka Fischer hat gelebt. Arbeitsamt verbeam- Es ist nicht einmal aus- ten zu lassen, entflieht er 1967 mit Freundin * Oben: mit Klaus Distler, Edeltraud nach Gretna dem Leiter des Kernkraftwer- kes; unten: bei einer Demon-

Green, um sie dort zu DPA stration der Grünen, mit Da- heiraten. Anschließend Kernkraftgegner Fischer in Biblis (1989)*: „Furchtbar reines Gewissen“ niel Cohn-Bendit (4.v.l.).

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zuschließen, daß er es manchmal noch diesem Sommer bundesweit Furore ge- Nun ja, nach den Niederlagen im tut. macht hat, kommt nicht von ungefähr. Osten gilt es für die Bundestagswahl, Gemeint ist nicht in erster Linie sein Ja, er will ein „starkes“ Deutschland: die Defizite auszugleichen durch ver- Privatleben, das er – inzwischen in drit- „Aber stark als Demokratie, stark als stärkte Anstrengungen in den alternati- ter Ehe verheiratet und Vater eines Soh- Republik.“ Gegen die Risiken des neu- ven Hochburgen des Westens. Denn nes, David, 15, und einer Tochter, Lara, en nationalistischen „Eiapopeia“ hat er mitregieren, das wollen die Grünen 10 – klug abzuschirmen weiß vor allzu- sein Buch geschrieben, das davon Kun- künftig in Bonn. viel Öffentlichkeit. Niemandem entgeht de gibt, wie sorgfältig er sich den Stoff Und manchmal, wenn Joschka Fi- indes, daß er, wie es Freund Cohn-Ben- erarbeitet, mit dem er öffentlich um- scher besonders gut in Form ist, dann dit ausdrückt, „immer die lebenswichti- geht. Und gegen die „Schreckensfanale“ flüstert er seinen Zuhörern schon mal ge Funktion des Kulinarischen gesehen des neuen rechten Trends, dessen Ag- was, ganz unter uns vierhundert, sozu- hat“. Stets mißfiel dem Katholiken Fi- gressionen gespeist werden durch natio- sagen, einfach mal so von Mann zu scher, daß den protestantischen Protest- nale Tiraden über den deutschen Macht- Mann. bewegungen, in denen er sich tummelte, staat, wettert er in jeder Versammlung: „Wenn jetzt nämlich der Töpfer von jede Lust-Dimension abgeht. Üppig hat „Da steht die Union für eine ,Politik oh- den Schwarzen hier wäre und Sie nicht“, er sich dagegen zur Wehr gesetzt. ne Bart‘, aber Wolfgang Schäuble zwir- haucht er dann mit seiner Reibeisen- Und bei aller erkennbaren Manie- belt am Bart von Wilhelm Zwo.“ stimme ins Mikrofon, „dann würde der riertheit hat Fischer Realitäts- und Men- Deutlich wird, daß es eher die Ge- sagen: Fischer, im Grunde ist das na- schennähe in sein professionelles Politi- schichte ist als die Ökologie, die Fischer türlich vernünftig, was ihr Grünen kerleben gerettet. Nicht, daß seine Amtsführung locker wäre. Er leitet sein Ministerium sachorientiert straff. Auch hat er hochmütig wirkende Formen von Abstand entwickelt, schottet sich oft mürrisch ab. Doch nicht einmal in Augenblicken erschöpfter Abwesenheit, in denen er Die Grünen – das ist „die Freisinnige Partei von morgen“

leer vor sich hinzustarren pflegt, senkt sich jene landesväterliche Leichenstarre über ihn, die manchen Gleichaltrigen so vollständig dem Leben entrückt. Fischer bleibt Fischer. So wie er leibt, so lebt er auch. Zu sagen, dieser Mann unterscheide sich zusätzlich von den meisten seiner jüngeren Kollegen aus anderen Partei-

en, weil er eine politische Vision habe, J. EIS wäre aber des Guten zuviel. Ist er als Konkurrenten Fischer, Schröder: „Mit den Sozis etwa?“ Realo nicht gerade deshalb den glühen- den Gläubigen unter den Öko-Linken umtreibt. Und erhaben ist er keineswegs wollt. Und deshalb mache ich das so verächtlich, weil er meist nicht mehr über die Versuchung, sich die Grünen – auch.“ anzubieten hat als das „kleinere Übel“? „die Freisinnige Partei von morgen“ – Da staunt man natürlich. „Töpfer“, Joschka Fischer fährt hoch, als ihm das als neue liberale Partei an die Stelle der fragt dann Fischer, erzählt Fischer, in Mainz ein Jungwähler vorwirft. FDP zu phantasieren. Und sich selbst an „Töpfer – mit wem willst du das denn „Verdammte Hacke“ – wie er „diese die Stelle von Hans-Dietrich Genscher? machen? Mit dem Kohl?“ Übel-Debatte“ haßt. Er kann gar nicht Daß er „Quatsch“ sagt, versteht sich, Aua. Fischer stöhnt als Töpfer auf, so weit gucken, wie sie ihm zum Hals schließlich ist er ein ganz „anderer verzieht schmerzhaft das Gesicht. Ge- raushängt. Nie, bricht es aus ihm her- Typ“. Es versteht sich aber auch, daß lächter im Publikum. „Mit wem, Töp- vor, führe das zu etwas anderem, als „zu ihm der Vergleich schmeichelt. fer? Mit Waigel?“ Aua. Lange Pause. einem furchtbar reinen Gewissen auf Wenn Fischer über den „niedlichen Dann läßt Fischer Töpfer fragen: der einen und zur absoluten Hilflosig- Zustand“ der Blaugelben zu schwadro- „Und mit wem, Fischer, willst du deine keit bei der Nutzung praktischer Chan- nieren beginnt, die er zur Zeit geführt schönen ökologischen Reformen durch- cen auf der anderen Seite“. sieht „aus der Gesäßtasche des Kanz- bringen?“ Pause. Fischer führt vor, wie Die Empörung mag ein bißchen auf- lers“, dann mischen sich Häme und Vor- Fischer sich windet. „Mit den Sozis, et- gedonnert daherkommen. Wahr ist freude zu giftigen Aperc¸us. Für ihn ist wa?“ aber, daß es Fischer mit der realen die FDP heute nur noch eine „käufliche Auch aua. Noch längere Pause. Aus Wahrnehmung von Chancen ernst ist. Interessenvertretung“, von jedermann dem Publikum dringt Stöhnen und Ge- Ja, er will eine grundsätzliche Erneue- zu haben „gegen Meistgebot“. lächter. rung des Landes, seiner Wirtschaft, sei- Solche Beobachtungen machen ihn Und dann legt Joseph Fischer staats- ner Energiepolitik, seiner Verkehrspla- ganz kribbelig vor Jagdfieber, denn männisch seine Stirn in geordnete Fal- nung. Raus aus der Atomindustrie, rein „daß es die Kohl-Regierung wegputzt“ ten, schwenkt den Zeigefinger ins Audi- „in die zweite Eisenbahnrevolution“. bei der Wahl, davon ist er überzeugt. torium und sagt bedeutungsschwer: Die Ozon-Verordnung in Hessen, die in Und dann? „Ja.“ Y

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Max Streibl und die einstigen Wahlen Minister Gerold Tandler (Fi- 54,9% Klare Verhältnisse nanzen) und Ergebnis der bayerischen (Umwelt) sowie der Steuer- Landtagswahl vom Oktober 1990 skandal des Bäderkönigs Edu- Eh Wurscht und Sitzverteilung im Parlament ard Zwick „irgendwann in grau- er Vorzeit“, wieHuber frohlok- 26,0% Vor der Bayern-Wahl gibt sich die kend verkündete. CSU-Chef CSU siegessicher. Die Bür- Waigel triumphierte, die Euro- pawahl habe das „entscheiden- 6,4% ger haben die Amigo-Skandale 5,2% 4,9% 2,6% de Signal“ geliefert: „Bei uns ein Kick und bei der SPD ein offenbar schon vergessen. Knick.“ CSU SPD Grüne FDP Reps Sonstige Politologe Oberreuter kann ür das Finale im bayerischen Land- sich die unerschütterliche tagswahlkampf haben sich die füh- Treue der CSU-Wähler bisheu- Frenden Christsozialen noch schnell te nur unzureichend erklären. eine neue Kleiderordnung verpaßt: flotte FDP: 7 CSU: 127 Einerseits seien die Affären, Freizeitklamotten statt Nadelstreifen. SPD: 58 sagt der Wissenschaftler, derart Parteichef Theo Waigel kommt in Bro- kompliziert gewesen, daß es schüren und Prospekten jetzt im Leinen- Grüne: 12 nicht gelang, „den Leuten bei- hemd daher, Bayerns Ministerpräsident zubringen, worum es wirklich Edmund Stoiber trägt vornehmlich ging“. Andererseits habe Bay- Strickjacken und Poloshirts, CSU-Gene- erns Regierungschef Stoiber of- ralsekretär Erwin Huber hat sich fürs fenbar rüberbringen können, Volk sogar in Jeans gezwängt. das Ergebnis der Europawahl erschien: daß „auf der Beletage der CSU eine Ka- Lässig sehen die CSU-Bosse auch dem Das CSU-Resultat (48,9 Prozent) wirkte tharsis herbeigeführt wurde“. Urnengang entgegen – als sei die Polit- auf die gebeutelte Partei wie ein Befrei- Oder aber, so Oberreuters „schlimm- truppe nicht von Amigo-Affären und ungsschlag. Keiner hatte damit gerech- ste und schlagkräftigste Erklärung“ für Filz-Geschichten gebeutelt worden. net, daß fast zwei Jahre voller Skandale die Wende: „Die Bürger glauben, im Zwar mahnen Stoiber und Waigel das nahezu schadlos an der CSU vorüberge- Grunde würden sich alle Politiker so ver- Parteivolk immer wieder, die „Sache“ sei hen würden. Der Passauer Politologe halten, wennsie’snur könnten.Alsoistes „noch nicht gelaufen“. Doch intern hal- Heinrich Oberreuter, ansonsten ein eh Wurscht, wer dran ist.“ ten sie ihre absolute Mehrheit bei der nüchterner Analytiker, rang nach dem Der Grünen-Abgeordnete Christian Landtagswahl am nächsten Sonntag für verblüffenden CSU-Hoch „um Fassung Magerl, der für seine Partei im Amigo- gesichert. Stoiber entwirft schon sein und Erkenntnis“. Untersuchungsausschuß des Landtages nächstes Kabinett. Und wenn CSUler un- Die Europawahl offenbarte ein bayeri- saß, schiebt’s auf den Volkscharakter: ter sich sind, singen sie alle miteinander, sches Phänomen: eine geradezu wunder- „In Bayern gibt es eine Menge kleiner Minister eingeschlossen, die bayerische same Affärenresistenz der bürgerlichen Amigos, die sich gefühlsmäßig mit der Version des amerikanischen Olympia- CSU-Klientel. CSU solidarisiert haben.“ Im Freistaat, Hits: „Mir san die Champions.“ Die Wähler der bayerischen Staatspar- glaubt Magerl, gehe eszu „wieinsüdame- Der neue Höhenflug begann exakt am tei stimmten ab, als spielten die Affären rikanischen Ländern, wo die Korruption 12. Juni um 20.35 Uhr, als am Bildschirm um den ehemaligen Ministerpräsidenten zum System gehört und wo viele Leute glauben: Ein Präsident, der es nicht schafft, für sich was auf die Seite zu brin- gen, der erreicht auch für uns nichts“. Der Schriftsteller und Landeskenner Carl Amery („Leb wohl, geliebtes Volk der Bayern“) sieht es ähnlich: In Bayern habe eine „geballte Macht“ von Verwal- tung und parlamentarischer Dauermehr- heit der CSU zu mafiosen Strukturen ge- führt. „Wir haben schon so etwas wie ein süditalienisches Patronat. Den Leuten imponiert, wie die CSU Affären weg- putzt. Es fällt ihnen nicht im Traum ein, jemand zu wählen, der schwach ist.“ Zwar klammern sich die Wahlkampf- manager der SPD noch an das Prinzip Hoffnung. Ihre Spitzenkandidatin Rena- te Schmidt bekommt bei ihren Auftritten regelmäßig volle Säle und tosenden Ap- plaus. Doch die Genossen an der Basis haben längst resigniert. In manchen Kleinstädten wirbt die SPD noch nicht einmal mit einem Infostand. Sollte nicht

* Beim diesjährigen Oktoberfest in der bayeri-

AP schen Landesvertretung in Bonn, mit Stoiber-Ehe- Kontrahenten Stoiber, Schmidt*: Ein Kick und ein Knick frau Karin (l.).

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am Wahlsonntag noch ein bayerisches Wunder geschehen, könnte der Grüne Magerl recht bekommen mit seiner Pro- phezeiung: „Wenn wir’s jetzt nicht packen, fährt Stoiber der CSU auf lange Zeit die Mehrheit ein.“ Dies „zu ändern“, prognostiziert Ma- gerl, „wäre dann das Problem unserer Kinder, irgendwann nach dem Jahr 2000“. Y

Frauen Gesetz ist Gesetz Die hessische Frauenministerin

Ilse Stiewitt kämpft hart für FOTOS: K. HILL Gemeindebedienstete in Rockenberg: „Eher einen Männerbeauftragten“ die Gleichberechtigung – nur waserst sein soll. Das ehrgeizige Paragra- rin Endlein. Die Vorzimmerdame ist zur nicht im eigenen Ressort. phenwerk soll Frauen mehr Chancen im Sprecherin des Rockenberger Wider- Öffentlichen Dienst eröffnen. Dazu sind stands aufgestiegen. itten im Urlaub bekam Sieglinde ausgeklügelte Förderpläne in Arbeit, mit Andere Gemeinden wehren sich indi- Oschatz aus dem hessischen Aar- deren Hilfe Vertreterinnen des weibli- rekter gegen die Stiewitt-Order. Da Mbergen einen neuen Job. „Du chen Geschlechts bei Bewerbungen be- melden Verwaltungschefs, sie fänden bist jetzt Frauenbeauftragte“, rief ihr vorzugt werden können – so lange, bis sie keine Frau, die sich für ihre Kolleginnen der Bürgermeister über die Straße zahlenmäßig gleichauf mit den Männern einsetzen wolle. Über hundert Bürger- zu, noch bevor die Gemeindeange- sind. meister hatten sich zunächst gar selbst stellte Ende August an ihren Arbeits- Gleich ob Veterinäramt, Krankenhaus zum Frauenbeauftragten erklärt. Mit ei- platz zurückgekehrt war. Zu tun, oder Berufsfeuerwehr – nach der Stie- ner neuen Vorschrift stopfte die Mini- beruhigte sie der Chef, habe sie aber witt-Order muß in jeder Amtsstube mit sterin dieses Schlupfloch. nichts. mindestens 20 Mitarbeitern zudem eine „Gesetz ist Gesetz“, sagt Stiewitts Eine Frauenbeauftragte, meinen Bür- Frauenbeauftragte berufen werden, lan- Sprecherin Siggi Richter. Wo Frauen germeister Wolf Schrader (SPD) und desweit 1100. Jährlich, so hat der Bund schon gleichberechtigt seien, solle dies seine Mitarbeiter, ist in dem idyllischen der Steuerzahler ausgerechnet, kosten für die Zukunft gesichert werden. Wer 7500-Einwohner-Städtchen bei Wiesba- diese –hauptberuflichen –Stellen minde- sich bockig stelle, müsse „notfalls mit den überflüssig: 16 der 22 Beschäftigten stens 20 Millionen Mark. nachdrücklichen Maßnahmen“ gefügig im Rathaus sind Frauen, 3 von 5 Abtei- Dabei gibt es in vielen Gemeinden und gemacht werden. lungsleitern ebenfalls. Landratsämtern längst offizielle Frauen- Für Stiewitts eigenes Haus gelten of- „Gleichberechtigung“, sagt die Che- vertreterinnen, die freilich nur nach au- fenbar andere Regeln. Im Frühsommer fin der Kämmerei, Sabine Heimann- ßen wirken und sich etwa um Frauenhäu- sollte die Abteilungsleiterin für Arbeits- Behrendt, „ist bei uns längst erreicht.“ ser und Frauenparkplätze kümmern. Die politik zwangsversetzt werden. Rosema- Sachbearbeiterin Oschatz wurde nur neuen Kolleginnen sollen nun die Ver- rie Frühwacht, Frauenbeauftragte im deshalb zur Frauenbeauftragten er- waltungen selbst frauenfreundlicher ge- Stiewitt-Haus, wurde nicht gefragt. nannt, weil es das hessische Gleichbe- stalten – und dies auch dort, wo Frauen „Ein eklatanter Gesetzesverstoß“, rechtigungsgesetz verlangt. längst nicht mehr benachteiligt sind. schimpfte daraufhin die Wiesbadener Bürgermeister Schra- In der Gemeinde Arbeitsgemeinschaft der Frauenbeauf- der hatte zuvor etliche Rockenberg nördlich tragten. In ihrer Wut baten die Gleich- Ermahnungen der Kom- von Frankfurt hält stellungswächterinnen um männlichen munalaufsicht erhalten. Bürgermeister Patrik Beistand: Sie schrieben an Regierungs- Denn die Wiesbadener Bingel (SPD) die Frau- chef (SPD), er solle schleu- Frauenministerin Ilse enstelle für völlig über- nigst seine Ministerin „anweisen“, ihre Stiewitt (SPD) wacht ei- flüssig. Unter den 26 Frauenbeauftragte zu beteiligen. sern darüber, daß ihr Gemeindebeschäftigten Doch Frühwacht hat mittlerweile auf- „Gesetz über die Gleich- des 4000-Einwohner-Or- gegeben. Der Streit um die Abteilungs- berechtigung von Frau- tes sind 9 Männer. leiterin hatte ihr nach etlichen Frustra- en und Männern in der Nur 2 von ihnen ha- tionen im Frauenhaus der Landesregie- öffentlichen Verwal- ben im Rockenberger rung den Rest gegeben. tung“ selbst dann einge- Rathaus überhaupt Füh- Frühwacht habe, so Sprecherin Rich- halten wird, wenn es rungspositionen inne. ter, „nachdrücklich den Wunsch geäu- überflüssig scheint. Fort- „Wir brauchen eher ei- ßert, von ihrem Amt entbunden“ zu schrittliche Kommunen nen Männerbeauftrag- werden. Eine Wiesbadener Kollegin: wie Aarbergen stören – Ministerin Stiewitt ten“, sagt die Sekretärin „Rosi hat einen echten Leidensweg hin- weil noch nicht sein darf, Ehrgeiziges Werk des Bürgermeisters, Ka- ter sich.“ Y

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DEUTSCHLAND FORUM

Gastronomie Kindergarten gleichen. Nach amerikanischem Vorbild sol- Pizza in len Spielautomaten, elektro- nische Schaukelpferde und der Spielhölle Show-Darbietungen vor al- Mit Protesten haben Politi- lem Kinder anlocken. In ei- ker und Jugendschützer auf nem Nebenraum könnten Pläne eines amerikanischen Eltern den Nachwuchs für Unternehmens reagiert, eine bis zu zwei Stunden bei ei- neue Fast-food-Kette in ner Betreuerin abgeben kön- Deutschland aufzubauen. nen, um Einkäufe zu erledi- Die Freizeitanlagen-Firma gen. Ob die Behörden die Brunswick will unter dem Pizza-Kindergärten genehmi- Namen „Circus World Pizze- gen, ist fraglich. Sachsens ria“ zunächst in Kiel, Dres- Kultus-Staatssekretär Wolf- den, Dortmund und Esch- gang Nowak (SPD) fürchtet born neue Schnellrestaurants eine „Fast-Foodisierung der eröffnen, die einer Mischung Kindererziehung“. Und Bay-

aus Mensa, Spielhölle und erns Kultusminister Hans ACTION PRESS Zehetmair (CSU) mahnt: Sylter Steilküste bei Kampen (1990) „Unsere Kinder sind uns mehr wert als eine Pizza und sollen nach Angaben der Küstenschutz ein Spielautomat.“ Post dabei serienweise Briefe und Pakete aufgerissen, Geld Müll gegen Kriminalität und Schmuckstücke entnom- men und die leeren Umschlä- das Meer Postler ge anschließend mit der Aus- Mit ungewöhnlichen Metho- gangspost entsorgt haben. den wollen Küstenschützer als Posträuber Schaden: vermutlich mehr als gegen die wachsende Gefahr Bremer Staatsanwälte haben 100 000 Mark. Allein ein Ju- von Sturmfluten ankämpfen. offenbar eine Bande von welier aus Bremen beklagt So soll nach einem Projekt Posträubern ausgehoben, die den Verlust von Schmuck im der vor kurzem gegründeten seit vielen Monaten Briefe Wert von 55 000 Mark. Die Stiftung Deutscher Küsten- und Päckchen von Postkun- Chancen auf Entschädigung schutz Müll gegen die Kraft den geplündert hat. Beson- sind gering: Einschreiben er- des Meeres eingesetzt wer- ders peinlich: Die mutmaßli- setzt die Post pauschal mit 50 den. Rund 500 000 Kubik- chen Brief-Fledderer sind Mark, für gewöhnliche Brie- meter Abfall einer Deponie Mitarbeiter der Bremer fe gibt es nichts. Nur wenn auf der Ferieninsel Sylt etwa Hauptpost, wo täglich etwa der Täter eindeutig zugeord- könnten, so die Pläne der eine Million Sendungen, teil- net werden könne, sagt ein Stiftung, sortiert und zu mil-

BUSINESS PICTURE / TH. SCHMIDT weise von Hand, sortiert wer- Postsprecher, erhalte der limeterkleinen Kugeln zer- Zirkus-Pizzeria (in den USA) den. Die 13 Beschuldigten Kunde Schadensersatz. rieben werden. Das meer- wasserresistente Granulat, das überwiegend aus den Luftfahrt transatlantische Rufumleitung kostengün- Plastik-Anteilen des Mülls stiger als neues Personal in Kassel. Bisher bestehen soll, könnte dann können allerdings nur Vielflieger über ei- zum Bau von Bollwerken an Ticket aus L. A. ne Geheimnummer den Service nutzen den Sylter Steilküsten ver- Um Lohnkosten einzusparen, nutzt die und damit die oft überlastete Kasseler wendet werden, an denen Deutsche Lufthansa seit neuestem ihr welt- Zentrale (3,3 Millionen Anrufe jährlich) die Nordsee jedes Jahr etwa weites Telefonnetz. Anrufer, die während umgehen. eineinhalb Millionen Kubik- der Nachtstunden in der meter Sand wegspült. Bisher Kasseler Buchungszentra- wird der Sand zum Schutz le ihren Flug bestellen gegen die Brandung wieder wollen, werden automa- an die Küste gespült, ein tisch und kostenfrei zu ei- sehr teures Verfahren. Dem nem Schalter am US-Flug- Projekt massiver Deiche aus hafen Los Angeles umge- Abfall steht Schleswig-Hol- leitet. Dort nehmen die steins Landwirtschaftsmini- Lufthansa-Angestellten, ster Hans Wiesen (SPD), zu- die im fernen Kalifornien ständig für den norddeut- ihrem normalen Tages- schen Küstenschutz, mit dienst nachgehen, die Re- Skepsis gegenüber: „Das servierungswünsche ent- Müllproblem der Nordländer gegen, auch wenn die ließe sich damit vielleicht lö- Fluggäste nur von Nürn- sen, aber wir müssen aufpas-

berg nach Leipzig wollen. LUFTHANSA sen, daß die Deiche nicht Für die Lufthansa ist die Lufthansa-Maschinen wie Atlantis im Meer versin- ken.“

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EINE HEIKLE ZIELGRUPPE SPIEGEL-Reporter Cordt Schnibben über eine Jugend, die keine Generation sein will

st die Jugend noch zu retten?“ fragt sche Botschaft, sagt die Tänzerin, und on (1983), der verlorenen Generation der Herr der Brille und läßt durch die die laute: Lebe deine Freude aus. (1989), und nun, im Sommer 1994, hat IDrehtür des Hotels sieben Jugend- Mehr Liebe in der Politik fordert es auch jene 16 Millionen Deutschen er- kenner in seine Talk-Show spazieren: ei- der Forscher; der Vandalismusgegner wischt, die heute im Alter zwischen 14 ne Dauertänzerin mit grünen Augen- möchte die deutsche Jugend Europa und 29 Jahren sind. brauen, einen zornigen Sprayer, den aufbauen sehen; der Autodieb will nur Lange haben sie sich durch demon- Vorsitzenden des Vereins wider den noch Mountainbike fahren – und der strativen Individualismus, durch die Vandalismus, einen mittellosen Jugend- Talkmaster ist froh, all das „Generation Vielfalt ihrer Stile, durch den schnellen forscher, einen politikverdrossenen X“ nennen und einen „Schönen Abend“ Wechsel ihrer Moden, durch ihre wilden Jungunternehmer, einen gehbehinder- wünschen zu können. Raubzüge in den Dekaden dem Zugriff ten Autoknacker und den graumelierten Es gehört zu den wenigen wirkli- der Welterklärer entzogen, doch nun Herrscher über Tausende Chorknaben. chen Leiden aller Heranwachsenden, können sie sich in Romanen und Essays, Die Jugend heutzutage sei „super“, daß sie alle paar Jahre öffentlich gebün- in Filmen und TV-Serien, in Zeitschrif- meint der Volkschorleiter, weil 150 delt in Fernsehsendungen und Zeit- ten und Talk-Shows betrachten. Punks in Hannover neulich „Hoch auf schriftenartikeln zur Schau gestellt wer- Sie sind, erfahren sie nun jede Wo- dem gelben Wagen“ gesungen hätten. den. So erging es der skeptischen Gene- che, mal lässig verschmuddelt, mal ab- Seine grellen „pieces“ seien Schreie ration (1957), der übertriebenen Gene- sichtslos elegant; sie hängen vorm gegen eine graue Gesellschaft, erklärt ration (1967), der überflüssigen Genera- Schirm, und sie tragen ausgefallene Bü- der Sprayer; Techno habe eine politi- tion (1979), der weinerlichen Generati- cher mit sich herum; sie durchschauen

Deutsche Jugend in Berlin: Öffentlich gebündelt und im Fernsehen zur Schau gestellt L. GRUNWALD

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alles, aber sie tun nichts; wenn sie was tun, tun sie es nur für sich; sie wollen nichts verändern – außer sich selbst; sie glauben an nichts mehr – außer an sich selbst; sie möchten nicht rebellisch sein, weil sie es rebellischer finden, nicht re- bellisch zu sein; denn sie möchten diese alberne, anstrengende Rolle loswerden, die Jugendliche seit den Fünfzigern zu spielen haben. Sie werden „Slacker“ genannt, Hän- ger, oder „Yuffies“, „young urban fail- ure“, Versager, oder „Generation X“ – und alle diese Stereotypen finden sie fürchterlich, weil sie sich nur in einem einig fühlen mit ihren Millionen Mit- slackern: im Haß auf alle Stereotypen. Es wird den jungen Deutschen nichts nützen, daß sie das neue Klischee mal wieder für eine amerikanische Erfin-

dung halten, für ein Hirngespinst der ACTION PRESS Medien, für einen üblen Trick der Deutsche Jugend in Hannover: Haß auf alle Stereotypen Marktforscher. Es wird ihnen auch nicht helfen, daß sie auf die Millionen fleißi- gen jungen Lohnsteuerzahler zeigen, auf die ehrgeizigen Karrieristen und auf die jungen Arbeitslosen, denen das Geld zum Slacken fehlt – jede Generati- on im Nachkriegsdeutschland mußte da- mit leben, daß eine Minderheit für die Mehrheit stand. Wie viele Dutschkes, Teufels und Obermaiers lebten in den Sechzigern das Leben des vögelnden, solidarischen, aufgeklärten Lustmenschen? Wie viele gingen brav zur Schule, zur Arbeit und in die Tanzstunde und träumten vom Leben in der Kommune I oder verfluch- ten diese speckigen Langhaarigen? Wie viele arbeiten noch heute ihren Haß ab an dem Leben, das sie angeblich geführt haben sollen, als sie jung waren? Wie viele deutsche Kurt Cobains, Kate Moss’ und Johnny Depps grübeln heutzutage in den Tag hinein? Drei Pro-

zent der vom SPIEGEL befragten jun- T. MAYER / DAS FOTOARCHIV gen Deutschen sehen in Cobain, dem Deutsche Jugend in Wolfsburg: Diese anstrengende Rolle loswerden Ur-Slacker, dem toten Sänger der Grup- pe Nirvana, den Menschen, vor dem sie den meisten Respekt haben. Von Heinz Rühmann sagen das 21 Prozent (siehe Umfrage Seite 65). Das Bild einer Generation wird wenig bestimmt vom Leben einer Generation, mehr vom eingebildeten Leben ihrer Avantgarde – und diese Einbildung pro- duzieren die Generationen, die fürchten müssen, von den Heranwachsenden um Geld, Macht, Einfluß und Rente ge- bracht zu werden. Der ängstliche Blick auf „die Jugend“ ist ein Blick in die eige- ne Zukunft – in keinem anderen Land wird die Jugend, wohl aus Angst vor der Wiederkehr der Vergangenheit, so in- tensiv erforscht wie in Deutschland. Seit in den Sechzigern ein neuer Typ von Jugend entdeckt wurde – eine Art Klasse, die sich von Jugendlichen frühe-

rer Jahrzehnte durch die Geschlossen- K. MÜLLER / DAS FOTOARCHIV heit ihrer Kultur und von den Erwachse- Deutsche Jugend in Bernried: Vögelnde, solidarische Lustmenschen

DER SPIEGEL 38/1994 59 nen nicht nur durch das Wahlverhalten unterschied –, wuchs die Furcht vor den Millionen Nachkommen, die je nach- dem für besonders links, für besonders haltlos, für besonders süchtig, für be- sonders gewalttätig oder für besonders rechts gehalten wurden. Mal waren sie Hoffnungsträger, mal Vorboten des Niedergangs. Immer aber schienen sie den Vorgenerationen ver- kommener, dümmer und entbehrlich zu sein, immer waren sie zu egoistisch, zu konsumgeil, zu unpolitisch. Das Sterben in Bosnien müßte die „jüngere Genera- tion stärker aufrütteln als das Waldster- ben“, kritisiert Joschka Fischer; „die Exzesse der Selbstverwirklichung füh- ren zur Selbstzerstörung“, moniert Hil- degard Hamm-Brücher – die jungen Deutschen gefallen weder ihren Eltern noch ihren Großeltern. „Unsichtbare Generation“ haben Ju- gendforscher sie genannt, weil von ih- nen außer ein paar glatzköpfigen Brand- stiftern in der Öffentlichkeit nicht viel zu sehen sei. Besorgt erkundigten sich die Bundestagsfraktionen der CDU/ CSU und der FDP bei der Bundesregie- rung nach der „Situation der Jugend in Deutschland“, erhielten aber auf ihre 123 Fragen wenig beruhigende Antwor- ten. Die Anzahl von jungen Mitgliedern in den beiden Volksparteien sei in den letzten zehn Jahren um mehr als ein Drittel zurückgegangen; in Bürgerinitia- tiven engagierten sich nicht mehr als 1,3 Prozent der Jugendlichen, in Parteien etwa 1 Prozent; die Wahlbeteiligung der jungen Wähler sei weit unterdurch- schnittlich; nicht mehr als 6000 Jugendli- che fänden Gefallen am freiwilligen so- zialen Jahr; immer weniger junge Paare bekämen Kinder. 56 Prozent der 16- bis 30jährigen, so eine Gewis-Umfrage, geben „Selbstver- wirklichung“ als Lebensziel an, ebenso viele „Freizeit“. 32 Prozent streben nach „Sozialprestige“, 10 Prozent nach Macht. Wenn sie sich selbst beschreiben sollen, halten sich 51 Prozent für selbst- bewußt, 30 Prozent für vergnügungs- süchtig, 22 Prozent für faul, 16 Prozent für zynisch. Eine Generation von „Milzkranken“ wachse da heran, maulte Die Welt, und das gehört noch zu den netteren Be- schimpfungen. „Der Gemeinsinn“ soll den jungen Deutschen fehlen, sie seien wehleidige Egoisten, die lieber in die Selbsterfahrungsgruppe gehen statt zur freiwilligen Feuerwehr. „Fragt nicht, was euer Land für euch tun kann, son- dern fragt euch, was ihr für euer Land tun könnt“, zitiert der politische Pensio- när das zerflossene Jugend- idol John F. Kennedy, verkennend, daß so mancher der Gescholtenen nicht mal mehr fragt, was das Land für ihn tun kann.

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Das Vertrauen in Parteien, Regierun- retten. Weil sie der Meinung sind, für gen und Behörden ist so geschrumpft, die Welt sei die Uno zuständig oder die daß viele Jugendliche von ihrem Staat Unesco oder die Nato oder Bill Clinton, nicht viel mehr fordern als ihre Rente. auf keinen Fall aber sie selbst. Sie haben keine Erwartungen an Politi- Sie sind nicht unkritischer als die kriti- ker, an Polizisten, an Journalisten, an schen Veteranen, aber sie sind müde, zu Unternehmer, sie suchen dort nicht kritisieren; und sie sind nicht unpoliti- nach Moral, nicht nach Wahrheit, nicht scher, aber sie sind müde, zu politisie- nach Gerechtigkeit. ren. Weil die Antworten der 68er nicht 1991 meinten 28 Prozent der Jugendli- hielten, was ihre Fragen versprachen, chen, sie sähen die Zukunft der Gesell- sind die jungen Deutschen müde, die schaft eher düster. 1994 sagen das 46 Welt mit denselben Fragen zu langwei- Prozent. Aber ihr Pessimismus drückt len. sich nicht wie zu Beginn der achtziger Ihre Weltanschauung ist gesampelt Jahre darin aus, täglich die Hoffnungs- aus den Erfahrungen ihrer Jugendge- losigkeit zu inspizieren – nur jeder zwei- nossen vergangener Jahrzehnte. Den te der düster Gestimmten sieht auch der Skeptizismus haben sie aus den Sechzi- eigenen Zukunft mit Sorge entgegen. gern, den Mangel an Illusionen aus den Die Zahlen einer Umfrage geben Fünfzigern, den Radikalismus aus den Auskunft über Quantitäten, nicht mehr, Siebzigern, den Hedonismus aus den D. OBERTREIS / BILDERBERG Deutsche Jugend in Salem: „Exzesse der Selbstverwirklichung“

nicht weniger. Wer tiefer in das Denken Achtzigern – aber die Visionen dieser der Befragten eindringt, wer hinter Jahrzehnte, die sind erledigt. Die jun- schnellen Antworten nach Begründun- gen Deutschen der Neunziger leben un- gen und Stimmungen sucht, spürt bei ter dem Fluch (mit dem Segen), von der jungen Deutschen einen illusionslosen Vergeblichkeit aller großen Alternati- Optimismus, der mehr Gottvertrauen ist ven überzeugt zu sein. als das Wissen darum, daß alles gut Sie sind die Kinder des Jugendkults wird. Im Gegenteil, sie wissen, daß alles der letzten Jahrzehnte, und der hat nicht ganz schlecht ist – die Luft, der Wald, nur dazu geführt, daß Kinder früher zu das Wasser, die Gülle, die Atomkraft, Jugendlichen und Jugendliche später zu das Auto, die Arbeit, die Wurst, der Erwachsenen werden, er hat auch die Sex, die Gewalt, der Welthunger, die Zeit zwischen 13 und 30 so mystifiziert, Mafia, die Kinderarbeit, die Drogen, daß sie wie der Mittelpunkt des Lebens die Kriege, das Fernsehen. erscheint. Für Soziologen, Politiker, Keine andere deutsche Nachkriegsge- Marktforscher, Journalisten, Polizisten neration ist mit soviel Wissen über den und Unternehmer ist „Jugend“ die wich- Unrat, der sie umgibt, großgeworden; tigste Zielgruppe geworden; und für die ein Wunder, daß nur ein Prozent dieser „Jugend“ bedeutet das, (fast) alle Rech- Generation die Erde noch vor Voll- te und Wünsche eines Erwachsenen zu endung des 30. Lebensjahres wieder haben, nur nicht sein Geld. verlassen möchte. Die Jugendlichen der Neunziger sind Diese jungen Deutschen wissen mehr eine heikle Zielgruppe: Politische Re- über den Zustand der Welt als die un- klame erreicht sie kaum noch; Werbung sterblichen 68er, und dennoch tun sie muß schon als Werbespott daherkom- scheinbar weniger als diese, um sie zu men, um ernst genommen zu werden;

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und Journalisten genießen nicht viel Hackerklub, zur Rave Nation und zu an- mehr Vertrauen als Politiker – Medien deren Gemeinschaften ohne Vaterland sind für viele junge Deutsche mehr und Staatsgrenzen, die ihnen offensicht- Spielzeug als Mittel der Wahrheitsfin- lich mehr Heimatgefühl geben als die dung. Einheit mit 80 Millionen Landsleuten. Gegen den Beschuß mit Spots, Trash Der Tag des Mauerfalls ist nur noch und Trallala wehren sie sich durch Se- für jeden dritten ein Freudentag, er wur- lektion: Nur das kommt durch, was de nicht zum Schlüsselerlebnis eines neu- wirklich Spaß bringt. Inzwischen sind en Nationalgefühls – zur großen Enttäu- die 14- bis 29jährigen diejenigen Deut- schung aller nationalen Erwecker. schen, die am wenigsten fernsehen. Die Generationen, sagen Generationen- dumpfen Dauerglotzer sind ihre Großel- forscher, würden besonders dann zu be- tern. wegenden Gemeinschaften, wenn große In den schönen (amerikanischen) Fil- geschichtliche Ereignisse den Lebens- men, die vom Leben ihrer Generation lauf eines Volkes veränderten. Die erzählen, lesen die großen wahren Kriegsgeneration und die Nachkriegsge- Slacker dicke, verwegene Bücher, und neration und die Generation der 68er ha- wie immer, wenn sich gute Klischeepro- ben das erlebt, die Generation der Ein- duzenten um das Abbild von Wirklich- heit fühlt sich (bisher) nicht zueinander keit bemühen, zeigen sie die Wahrheit – hingezogen, eher voneinander abgesto- Lesen ist für die jungen Nichtsnutze das ßen. Größte, Schreiben das Allergrößte. Mit den „Werten“, die ihnen nun in Die Helden dieser Generation sind Appellen, Manifesten und Anzeigen- nicht unproduktiv; sie sind nicht faul, kampagnen nähergebracht werden, mit weil sie blöd sind; sie tun nichts, weil sie „Gemeinsinn“, „Solidargemeinschaft“, schlau sind. Sie warten darauf, ihr Ding „Nation“ können sie wenig anfangen, zu drehen, ihren Videofilm, ihren No- weil sie Eigennutz als das Wesen dieser belpreis, ihren Fernsehsender, und wäh- Gesellschaft erlebt haben und unintelli- rend sie warten und nicht tun, was alle gente Verlogenheit nicht besonders mö- von ihnen erwarten, fahren sie Taxe und gen. erklären weniger Konsum zum Beweis Deutschkult erscheint den meisten ab- für mehr Moral, obwohl ihnen Moral, surd, weil sie von der Sandkiste bis zum genau betrachtet, eigentlich so suspekt ersten Girokonto den Internationalis- ist wie Ideologie. mus der Pop-, Film-, Mode- und Cola- Sie suchen nicht das Wir-Gefühl einer Industrie genossen haben. Deutschland Jugend-Bewegung; die „Clique“ ist ih- ist für sie nicht so sehr Kultur- und nen, obwohl sie natürlich das Wort nicht Schicksalsgemeinschaft, sondern Ar- mögen, groß genug. 68 Prozent gehören beitsgemeinschaft. einer an, 1962 sagten das nur 16 Pro- Die jungen Deutschen pflegen, wenn zent. In erster Linie als Deutscher sieht überhaupt, einen stillschweigenden Pa- sich nur jeder dritte dieser Generation; triotismus, der allerdings nicht frei ist mehr als Weltenbürger, Europäer, Hes- von klammheimlichem Chauvinismus: se oder Bremer fühlen sich die anderen. 45 Prozent fühlen sich als Deutsche an- Jeder zweite kann mit der deutschen deren Völkern überlegen – neben ande- „Nation“ nichts anfangen: Die jungen ren schlimmen Zahlen das wirklich Deutschen haben Zutritt zu vielen Er- furchterregende Ergebnis der Jugend- satznationen, zur Straßengang, zum studie ’94. H. CHRISTOPH / DAS FOTOARCHIV Deutsche Jugend in Dresden: Stillschweigender Patriotismus

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Wann möchten Sie sterben? Warum sind Sie auf der Welt? Was ist „deutsch“? 2034 repräsentativ ausgesuchte Jugendliche hat das Emnid- Institut im Auftrag des SPIEGEL befragt*, um das Lebensgefühl der jungen Deutschen zwischen 14 und 29 Jahren zu erforschen. Herausgekommen ist das Selbstporträt einer eigensinnigen, illusionslosen Generation.

1. Welche verbotenen Dinge tun Sie ge- 5. Die ideale Wochenendstadt? 7. Möchten Sie lieber in einem Land au-

legentlich? Paris ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 26 % ßerhalb Deutschlands leben?

Schwarzfahren –––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 24 % Berlin –––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 12 % Ja ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 31 %

Etwas aus Langeweile London ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 12 % Nein ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 68 %

beschmieren ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 5% Venedig –––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 11 %

Etwas aus Wut beschädigen –––––––––––– 5% München –––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 11 % 8. Wenn ja, wo?

Klauen –––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 4% New York –––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 11 % USA ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 24 %

Einen anderen verprügeln –––––––––––––––– 2% Kanada ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 10 %

Nichts davon –––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 69 % 6. Was gefällt Ihnen nicht an deutschen Frankreich ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 9%

Städten? Australien –––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 9%

2. Reizt es Sie manchmal, ein Haken- Zuviel Verkehr ––––––––––––––––––––––––––––––––––– 53 % Karibik –––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 5%

kreuz zu kritzeln? Trostlose Wohnblocks ––––––––––––––––––––– 51 % Spanien ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 5%

Nach dem Krieg ist zuviel Italien –––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 4%

Häßliches gebaut worden ––––––––––––––– 26 %

Zu streng und ordentlich –––––––––––––––– 24 % 9. Sind Sie stolz, Deutsche/Deutscher

Keine schönen Plätze ––––––––––––––––––––––– 22 % zu sein?

Zu wenige Fahrradwege ––––––––––––––––– 20 % Ja ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 52 %

Keine Palmen –––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 18 % Nein ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 46 %

»Ich bekenne: GLÜCK Ich gehöre zu den vier Millionen Menschen, die täglich diese Zeitungen mit den gro- ßen Buchstaben lesen. Natürlich in- T. PFLAUM / VISUM Nazi-Parole teressiert mich, wie man einen Fen- stersturz aus dem 12. Stockwerk überlebt, wie man Regenwürmer zu- Ja ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 5% bereitet, und was man gegen die Nein ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 95 % Grippe des Yorkshire-Terriers ma- 3. Sie geben eine laute Party, und Nach- chen kann. Mich fesseln die Schlag- barn schicken Ihnen die Polizei in die zeilen des Glücks: „Mutter machte Wohnung. Sie denken . . . Kind glücklich“, „Politiker K. hatte wieder einmal Glück“, „Rufen Sie Typisch deutsch –––––––––––––––––––––––––––––––––– 40 % an, ich mach’ Sie glücklich“. Ich hätte sie einladen sollen –––––––––– 40 % Das werde ich ihnen heimzahlen 13 % Jedes Kind beginnt früh, das Glück Wir sind mehr, wir sind besser, zu suchen. Bei Umfragen über die großen Wünsche ist es immer auf wir drehen lauter –––––––––––––––––––––––––––––––––– 6% den vordersten Plätzen zu finden, 4. Wie sieht der ideale Freitagabend aber nur wenige meiner Freunde ha- aus? ben es jemals erlebt, das große, schöne, strahlende Glück. Viel- Eine Party besuchen ––––––––––––––––––––––––– 20 % leicht sollte ich eine Annonce auf- Auto-Wochenendtrip ––––––––––––––––––––––– 18 % geben. In eine Disco gehen –––––––––––––––––––––––––– 14 % Eine gute Freundin erzählt mir im- Trinken mit Freunden –––––––––––––––––––––– 12 % mer, daß sie fast jeden Tag um Guter langer Sex –––––––––––––––––––––––––––––––– 10 % Meine Lieblingsfilme laufen Dummheit betet. Bisher habe ich von keinem dieser Schnauzbart- im TV –––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 9% Tennissocken-Vorne-kurz-hinten- Eine Party geben –––––––––––––––––––––––––––––––––– 6%

lang-6-Pack-Träger, die ich so oft S. ALBRECHT Lesen ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 5% nachts an der Tankstelle treffe, ge- Stefan Kohn, 22, Unternehmer. Am Computer spielen –––––––––––––––––––––––– 2% hört: „Ich bin unglücklich“. Lebensziel: „Sich täglich neu verändern“. * Die persönlichen Interviews wurden vom 5. Juli Sie sind glücklich, und ich bin noch Deutschland ist „ein zweifelhaftes Expe- bis 9. August geführt. Die Langfassung der Fra- in 20 Jahren unglücklich.« riment mit ungewissem Ausgang“. gen und Antworten erscheint im November-Heft des SPIEGEL Special.

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Boris Becker –––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 9% Franzosen –––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 6%

Deutsche Soldaten ––––––––––––––––––––––––––––––– 8% Engländer –––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 4%

Deutsche Mode ––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 8% Auf Länder kann man nicht

Deutsche Popmusik –––––––––––––––––––––––––––– 7% stolz sein –––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 32 %

Deutsches Fernsehen –––––––––––––––––––––––––– 4% Weiß nicht ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 38 %

11. Was sind typische deutsche Eigen- 13. Sind die Deutschen einem anderen schaften? Volk überlegen?

Ordnung ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 74 % Nein, keinem ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 52 %

Fleiß ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 71 % Ja, einigen ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 45 %

Überheblichkeit –––––––––––––––––––––––––––––––––– 46 % Ja, allen –––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 2%

Egoismus ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 39 %

A. PACZENSKY / ZENIT Intelligenz –––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 30 %

Wiedervereinigte Intoleranz –––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 26 %

Lebensfreude ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 21 %

10. Worauf kann man als Deutscher Selbstmitleid ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 17 %

stolz sein? Solidarität –––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 14 %

Deutsche Produkte –––––––––––––––––––––––––––– 47 % Militarismus –––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 12 %

Die Leistungen der deutschen Spontaneität ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 9%

Wirtschaft –––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 41 % Pazifismus –––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 3%

Das soziale Netz ––––––––––––––––––––––––––––––––– 37 % Keine ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 5%

Die Wiedervereinigung ––––––––––––––––––– 31 %

Das Grundgesetz –––––––––––––––––––––––––––––––– 31 % 12. Welche Völker haben mehr Grund,

Goethe und Schiller –––––––––––––––––––––––––– 31 % auf ihr Land stolz zu sein, als die Deut- F. BLICKLE / BILDERBERG

Deutsche Sportler –––––––––––––––––––––––––––––– 30 % schen? Golfkriegs-Befürworter

Deutscher Fleiß –––––––––––––––––––––––––––––––––– 29 % US-Amerikaner –––––––––––––––––––––––––––––––––– 13 %

Deutscher Umweltschutz –––––––––––––––– 22 % Schweizer ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 11 % 14. Wenn ja, welchen?

Friedrich der Große –––––––––––––––––––––––––– 10 % Japaner ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 6% Polen ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 87 %

Türken –––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 74 %

Russen –––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 63 %

Franzosen –––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 20 % »Es gab schon US-Amerikanern –––––––––––––––––––––––––––––––– 11 % JUGEND schlechtere Zeiten, um aufzuwachsen. Auch heutzutage ist es 15. Warum sind Sie auf der Welt? kein Kinderspiel, aber für ein Dach über dem Ich möchte das Leben genießen –– 53 % Kopf und einen Hamburger in der Hand Ich suche Geborgenheit in einer reicht es. eigenen Familie ––––––––––––––––––––––––––––––––––– 20 % Woran es liegt, daß „die Jugend“ nicht mehr Ich möchte allen zeigen, daß so einfach von Werten zu überzeugen ist? Es ich was kann ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 14 % ist unwahrscheinlich, daß es an „der Ju- Ich bin auf der Welt, um etwas gend“ liegt. Immerhin sind die Gene in den Gutes zu tun ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 11 % letzten tausend Jahren ziemlich gleich ge- Ich will Macht und Einfluß –––––––––––––– 2% blieben. Die Menschen sind alle gleich, lehrt die Bi- 16. Wovon leben Sie hauptsächlich? bel. Alle Menschen? Na ja, bis auf die Aso- Feste Arbeit ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 52 % ziale, die unser Dachgeschoß mieten wollte. Taschengeld –––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 25 % Die brach ihre Ausbildung ab, weil sie Jobben –––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 18 % schwanger war. Anschließend wollte sie Sozialhilfe / Arbeitslosengeld ––––––––– 6% dem Kind Erziehung spendieren, und seit- Bafög ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 5% dem läßt sie sich von unseren Steuern Sonstiges –––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 8% durchfüttern. Nicht alle Menschen sind gleich, schon gar nicht Punks, Langhaarige, 17. Wieviel Geld haben Sie im Monat Motorradfahrer, Querulanten oder Linke. (netto)? Es ist wichtig, seinen Nächsten zu lieben, 1098 Mark (Durchschnitt) aber für das Rasenmähen muß auch noch Zeit bleiben. Damit das Gras richtig ge- 18. Wieviel Geld möchten Sie im Monat schnitten wird, erklärt der Vater dem Sohne- (netto) haben, wenn Sie 35 Jahre alt mann, wie das geht. Wichtige Sachen, wie sind? die Schnitthöhe beim Mähen, hört die junge 4070 Mark (Durchschnitt) Welt des öfteren. Deshalb flüchtet die neue Welt dahin, wo sie 19. Ihre Oma vererbt Ihnen 1000 Mark. der alten Welt auf keinen Fall begegnen Was würden Sie damit tun? kann. Ich bringe das Geld zur Bank ––––––– 43 %

S. ALBRECHT Wem das nicht ausreicht, der greift auch Ich verreise ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 25 % Münir Kayalar, 18, Energie-Elek- schon mal zur Flasche. Das soll gelegent- Ich kaufe Klamotten ––––––––––––––––––––––––– 20 % troniker. lich bis zum Erbrechen oder bis zum Montag Ich kaufe was Größeres –––––––––––––––––– 19 % Lebensziel: „Das Einfache – kei- morgen gehen. Ich frage mich, wo sind die ne Extravaganz“. Und das nach all dem, was wir für euch ge- restlichen 99 000 Mark ––––––––––––––––––––– 10 % Deutschland „ist vielseitig“. tan haben.« Ich feiere mit Freunden und

zahle alles –––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 6%

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Ich kaufe Aktien –––––––––––––––––––––––––––––––––– 5% 23. Wie heißt Ihr Lieblingsfilm? 28. Sie sind im Ausland, und jemand

Ich spende was für Leute Schindlers Liste ––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 6% grüßt Sie mit „Heil Hitler“.

in Not –––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 3% Der mit dem Wolf tanzt –––––––––––––––––––– 4% Ich zeige ihm den Vogel ––––––––––––––––– 40 %

Dirty Dancing –––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 3% Ich gehe still weiter ––––––––––––––––––––––––––– 38 %

20. Wieviel Geld braucht eine vierköpfi- Pretty Woman ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 3% Ich sage, in Deutschland ist jetzt

ge Familie netto im Monat, um gut leben Das Schweigen der Lämmer ––––––––––– 2% Demokratie ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 16 %

zu können? Jurassic Park –––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 2% Ich rufe „Sieg Heil“ –––––––––––––––––––––––––––– 2%

4059 Mark (Durchschnitt) Terminator –––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 2%

Vom Winde verweht –––––––––––––––––––––––––– 1% 29. Sehen Sie die Zukunft unserer Ge-

21. Bei welchen Produkten ist Ihnen die Philadelphia –––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 1% sellschaft eher düster oder eher zuver-

Marke wichtig? Casablanca –––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 1% sichtlich?

Eher zuversichtlich –––––––––––––––––––––––––––– 54 %

24. Gibt es zu wenige interessante deut- Eher düster ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 46 % sche Filme?

Zu wenige –––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 62 % 30. Ist Ihrer Meinung nach unsere Ge-

Genügend –––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 37 % sellschaftsordnung wert, verteidigt zu werden?

25. Warum gibt es so wenige interes- Ja ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 80 %

sante deutsche Filme? Nein ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 19 % Dem deutschen Film fehlt das

Geld ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 44 % 31. Welche der folgenden Organisatio- Die Leute interessieren sich nen und Persönlichkeiten halten Sie für

nicht für deutsche Filme ––––––––––––––––– 38 % glaubwürdig? Die Deutschen können Autos bauen, aber keine Filme drehen 24 %

H. CHRISTOPH / DAS FOTOARCHIV Die Deutschen haben zuwenig

Teddy-Boy Gefühl ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 21 %

Jeans –––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 51 % 26. Was verbinden Sie mit dem Begriff

Kosmetikartikel –––––––––––––––––––––––––––––––––– 33 % „Vaterland“?

Schuhe –––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 27 % Das Land, in dem ich lebe ––––––––––––– 62 %

Getränke –––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 23 % Heimat –––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 51 %

Jacken, Kleider ––––––––––––––––––––––––––––––––––– 23 % Stolz ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 22 %

Computer –––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 20 % Geborgenheit ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 18 %

Uhren –––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 19 % Spießertum –––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 11 %

Hemden –––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 12 % Das Dritte Reich –––––––––––––––––––––––––––––––– 11 % ANP / DPA

Unterwäsche –––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 12 % Gar nichts –––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 10 % Greenpeace-Aktivistin

Obst ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 10 % Abscheu ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 4%

Strümpfe –––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 6% Greenpeace ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 64 %

27. Wie reagieren Sie, wenn Sie irgend- Amnesty International ––––––––––––––––––––– 50 %

22. Kino- und Fernsehwerbung ist . . . wo im Ausland die schwarzrotgoldene Gewerkschaften –––––––––––––––––––––––––––––––––– 17 %

Überflüssig –––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 40 % Bundesflagge sehen? Kirchen ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 15 %

Unterhaltsam ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 28 % Ist mir egal –––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 57 % Unternehmer ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 8%

Ärgerlich –––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 20 % Freue mich –––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 33 % Parteien –––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 5%

Informativ ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 15 % Ärgere mich ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 9% Minister –––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 3%

»Vor wenigen Heimweh. Doch das verlor sich, als HEIMAT Tagen fragte die alten Freunde wegzogen. Ich zog mich ein Freund, ob ich in den letzten in immer größere Städte, besuchte im- Monaten mal zu Hause war. Er wunder- mer weiter entfernte Länder und sah te sich, daß ich nie in meine Heimat zu immer seltener bei meinen Eltern vor- Besuch fahre, und fragte, ob es für bei. mich eine Heimat gebe oder nur einen In Kalifornien lebte ich länger und er- Ort, wo meine Eltern wohnen. Einer, der lebte, daß ich anders war als die Ame- mich seit fast zwei Jahren kennt, fragt rikaner, obwohl ich die gleiche Musik mich nach meinem Heimatgefühl! hörte, die gleichen Filme sah. Ich Ich habe einfach keine Lust, zu meinen spürte: Heimat ist nicht nur Herkunft. Eltern zu fahren, in meine Heimat-, Ge- Ich habe auch das letzte Band zu mei- burts- und alte Wohnstadt zu fahren. ner Heimat gekappt und bin dort nun Sie ist mir lästig, diese Konfrontation Fremder. Ich kenne mich nicht mehr mit der Familie und der alten Zeit. aus, die Leute schauen mich komisch

Es gab eine Zeit, als ich an dieser Um- S. ALBRECHT an. Heimat lebt nur noch in meiner Er- gebung hing, damals, während des Zi- Tom Kimmig, 25, Kameraassistent. innerung. Ich werde nicht mehr dort- vildienstes in der weit entfernten Groß- Lebensziel: „Guter Kameramann wer- hin zurückziehen können. Ich suche stadt. Obwohl ich aus der Enge meiner den“. Heimat und bin auf eine Weise hei- Kleinstadt fliehen wollte, zog es mich Deutschland ist „ein Land mit wenig Zu- matlos, und das ist nicht schön. Ich in den ersten sechs Monaten zurück. kunftsaussichten“. suche die zweite Heimat.«

70 DER SPIEGEL 38/1994 Werbeseite

Werbeseite .

JUGEND 94

32. Zu wem haben Sie Vertrauen? 38. Aufkleber und Kleiderbuttons, mit Meine Stimme kann ja doch

Eltern –––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 80 % denen Leute ihre politische Überzeu- nichts bewirken ––––––––––––––––––––––––––––––––––– 19 %

Geschwister –––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 50 % gung zeigen, finde ich... Weiß nicht ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 12 %

Ärzte ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 38 % Überflüssig –––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 33 %

Richter –––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 14 % Gut ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 27 % 42. Empfinden Sie es als Beleidigung,

Lehrer ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 13 % Albern ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 24 % wenn jemand sagt, Sie seien „unpoli-

Polizisten ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 9% Mutig ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 16 % tisch“?

Journalisten –––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 4% Nein ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 63 %

Politiker –––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 2% 39. Eine Mitgliedschaft in einer politi- Ja ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 7%

schen Partei . . . Weiß nicht ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 30 % 33. Ist „Demokratie“ für Sie etwas Wert- Kommt grundsätzlich nicht

volles? in Frage –––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 69 % 43. Wie stark interessieren Sie sich für

Ja ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 90 % Kommt grundsätzlich Politik?

Nein ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 10 % in Frage –––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 31 % Sehr stark –––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 5%

Stark –––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 23 %

34. Was würden Sie zur Verteidigung 40. Gehen Sie wählen, bzw. werden Sie Mittel ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 41 %

der Demokratie in Deutschland tun? wählen gehen, wenn Sie wahlberechtigt Schwach –––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 18 %

Eine Bürgerinitiative gründen –––––– 50 % sind? Gar nicht –––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 12 %

Kerzen anzünden ––––––––––––––––––––––––––––––– 29 % Ja, jedesmal –––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 67 %

Unregelmäßig –––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 19 % 44. Welche der folgenden Aussagen be-

Nein ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 13 % schreiben Ihr Verhältnis zum Staat? Ich fühle mich verantwortlich 41. Warum gehen Sie nicht oder manch- für das, was in unserem Land

mal nicht wählen? passiert –––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 52 %

Alle Parteien kotzen mich an ––––––– 35 % Was der Staat macht, interessiert

Es gibt keinen grundsätzlichen mich nur, wenn es mich betrifft ––– 37 % Unterschied zwischen den Was der Staat macht, ist mir

Parteien –––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 34 % egal ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 9%

»Klar, X ist politisch, weil WELT ihm die Völkermorde und das Ozonloch mächtig an die Nieren ge- hen. X würde gern überall helfen, doch X weiß einfach nicht wie. X wird jedenfalls nicht auf die Straße gehen und gegen die ZENIT Ausbeutung der Dritten Welt demonstrie- ren. Denn X glaubt, daß unser Planet so- D. GUST / Lichterketten-Teilnehmer wieso nur von Arschlöchern regiert wird und sich daran niemals etwas ändert. X ist in Wahrheit unpolitisch. Und da das In eine Partei eintreten ––––––––––––––––––– 23 % alles so schrecklich ist, tilgt X die TV- Wände bemalen –––––––––––––––––––––––––––––––––– 11 % Nachrichten per Knopfdruck aus seinem Hungern ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 4% Gewissen. X ist die Konzentration auf die Bomben legen ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 4% eigene Welt, das eigene Leben, das eige- Nichts –––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 19 % ne Ich. 35. Welche der politischen Parteien ist X ist Egozentriker, aber kein Schwein! X Ihnen am sympathischsten? denkt in Kosten-Nutzen-Kategorien. Aber X wird keine Waffen an die Roten Khmer Keine ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 29 % verkaufen und keine Fernsehwerbezeiten SPD –––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 22 % an Faschisten. X möchte alle glücklich se- Bündnis 90/Grüne –––––––––––––––––––––––––––––– 20 % hen. X schätzt Greenpeace, Amnesty In- CDU/CSU ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 16 % ternational und Unicef, X unterschreibt PDS –––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 5% zur Rettung der Wale. X ist Pragmatiker. Republikaner ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 4% Ob HipHop oder Klassik, Wrangler oder FDP –––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 3% Gaultier, McJob oder Traumjob, Bier oder 36. Sie haben Gelegenheit, dem Bun- Marihuana – X kann sich überall einfü- deskanzler bei einem gemeinsamen gen. Abendessen die Meinung zu sagen. Doch wenn man nicht mehr sagen kann, was man möchte, nicht mehr bumsen Ich würde hingehen ––––––––––––––––––––––––––– 63 % kann, wen man will, und auch nicht rau- Ich würde absagen ––––––––––––––––––––––––––––– 20 % Ich würde jemanden schicken, der chen, trinken und hören darf, wozu man Lust hat, und wenn der Rock’n’Roll der ihm ausrichtet: „Tritt zurück“ –––––– 14 % Ich würde jemanden hinschicken, einschlagenden Granaten die Klänge von Nirvana zum Verstummen bringen wird, der ihm ausrichtet: „Weiter so“ ––––– 2% spätestens dann wird es auch für X Zeit,

37. Demonstrationen sind . . . die Fernbedienung aus der Hand zu le- S. ALBRECHT gen.« Nigel Rahimpour, 26, Fotoreporter Grundsätzlich sinnvoll ––––––––––––––––––––– 76 %

Grundsätzlich sinnlos ––––––––––––––––––––––– 22 %

72 DER SPIEGEL 38/1994 Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite .

JUGEND 94

45. Welche politische Partei gefällt Ih- Partner/in ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 4%

ren Eltern am besten? Geschwister –––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 4%

SPD –––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 29 %

CDU/CSU ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 24 % 50. Wie viele Stunden sehen Sie jeden

Bündnis 90/Grüne –––––––––––––––––––––––––––––––– 9% Tag fern?

FDP –––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 3% Gar nicht –––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 3%

PDS –––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 3% Unter 1 Stunde –––––––––––––––––––––––––––––––––––– 21 %

Republikaner ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 2% 1 bis 2 Stunden –––––––––––––––––––––––––––––––––––– 42 %

Keine ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 8% 2 bis 4 Stunden –––––––––––––––––––––––––––––––––––– 28 %

Weiß nicht ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 20 % 4 bis 6 Stunden –––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 5%

Mehr als 6 Stunden ––––––––––––––––––––––––––––– 1% 46. Wie sind Sie erzogen worden?

Liebevoll –––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 40 % 51. Wie viele Videos sehen Sie pro Wo-

Liberal –––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 26 % che? 1. BONGARTS / 2. D. REINARTZ / VISUM

Streng –––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 19 % Keines ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 46 % Trainer Beckenbauer, Schriftsteller Walser

Antiautoritär –––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 6% Ein bis zwei –––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 42 %

Nachlässig –––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 5% Drei bis fünf ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 10 % 55. Von welchem Autor würden Sie so-

Mit Prügel und Hausarrest –––––––––––––– 4% Mehr als zehn –––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 1% fort ein neues Buch lesen?

Gar nicht –––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 2% Stephen King ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 30 %

52. Wie häufig sehen Sie die Nachrich- Johannes Mario Simmel –––––––––––––––––– 11 %

47. Wo sind Sie aufgewachsen? ten im Fernsehen? Umberto Eco ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 9%

Bei beiden Elternteilen ––––––––––––––––––– 85 % Fast jeden Tag ––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 39 % John Grisham –––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 9%

Bei einem Elternteil ––––––––––––––––––––––––– 14 % Oft –––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 32 % Patrick Süskind ––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 7%

Bei Verwandten –––––––––––––––––––––––––––––––––––– 1% Selten –––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 23 % Rosamunde Pilcher ––––––––––––––––––––––––––––– 5%

Nie –––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 4% Martin Walser ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 4%

48. Wo wohnen Sie zur Zeit? Franz Beckenbauer ––––––––––––––––––––––––––––– 4%

Bei den Eltern ––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 50 % 53. Wie oft lesen Sie eine Tageszei- Von keinem dieser Autoren –––––––––– 25 %

Mit meinem Lebenspartner ––––––––––– 24 % tung? Lese keine Bücher ––––––––––––––––––––––––––––– 16 %

Allein –––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 18 % Fast jeden Tag ––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 42 %

In einer Wohngemeinschaft –––––––––––– 6% Selten –––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 26 % 56. Was lesen Sie am liebsten?

Im Wohnheim ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 1% Oft –––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 25 % Zeitschriften ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 47 %

Nie –––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 7% Bücher –––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 32 %

49. Was oder wer hat Sie im Denken am Zeitungen –––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 12 %

meisten beeinflußt? 54. Wie viele Bücher haben Sie in den Comics –––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 8%

Eltern –––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 61 % letzten drei Monaten durchgelesen?

Freunde –––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 17 % Keines ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 41 % 57. Das größte Rock-/Popidol?

Lehrer ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 8% Ein bis zwei –––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 33 % Beatles –––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 12 %

Fernsehen –––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 5% Drei und mehr ––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 25 % Michael Jackson ––––––––––––––––––––––––––––––––––– 8%

Rolling Stones ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 5%

Elvis ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 5%

Queen ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 4% »Es kam mal ein Typ Abba –––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 2% MUT auf meine Taxe zuge- Madonna –––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 2% steuert, den zwei Kollegen schon Prince –––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 1% abgelehnt hatten, weil er aussah, Pur –––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 1% als wäre er gerade in eine Schläge- Die Ärzte ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 1% rei verwickelt gewesen. Er war Grönemeyer ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 1% ziemlich betrunken und machte nicht den Anschein, als wollte er 58. Sollte es Ihrer Meinung nach . . . die Fahrt bezahlen. . . . im Radio mehr deutsche Musik ge- Ich habe ihn dann mitgenommen, ben? und er hat mir erzählt, daß drei Nein ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 64 % Männer ihn überfallen hätten. Die Ja ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 34 % drei Männer haben den jungen Mann ausgeraubt, zusammenge- . . . im Fernsehen mehr deutsche Serien schlagen und auf ihn geschossen. geben? Er konnte sich gerade noch mit ei- Nein ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 64 % nem Sprung in die Elbe retten. Er Ja ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 35 % ist dann, weil er tatsächlich kein Geld hatte, zu einem Freund gefah- 59. Gibt es zuviel Sex im Fernsehen und ren. im Kino oder zuwenig? Es gibt Leute, deren Mut besteht Zuviel –––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 38 % darin, sich an einem Gummiband Zuwenig ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 13 % hundert Meter in die Tiefe zu stür- Gerade richtig ––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 48 %

zen und dafür Geld zu bezahlen. S. ALBRECHT Mein Mut ist völlig umsonst, mein Marianne Krech, 28, Taxifahrerin. 60. Gibt es zuviel Gewalt im Fernsehen Mut will geben – auch wenn ich ge- Lebensziel: „Versuchen, anderen Freude und im Kino? legentlich ein Trinkgeld dafür kas- zu bringen“. Zuviel –––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 71 % siere.« Deutschland ist „für mich Heimat“. Zuwenig ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 4%

Gerade richtig ––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 25 %

DER SPIEGEL 38/1994 75 Werbeseite

Werbeseite .

JUGEND 94

65. Wen oder was hassen Sie? 69. Und einen Homosexuellen?

Rechtsradikale ––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 29 % Schwuler –––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 52 %

Gewalt, Krieg –––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 16 % Homosexueller –––––––––––––––––––––––––––––––––––– 21 %

Kollegen, Verwandte ––––––––––––––––––––––– 15 % Homo –––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 17 %

Politiker –––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 13 % Schwuchtel –––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 5%

Asylanten, Ausländer –––––––––––––––––––––––– 9% Warmer Bruder –––––––––––––––––––––––––––––––––––– 4%

Soziale Ungerechtigkeit –––––––––––––––––––– 7% Perverser –––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 1%

Umweltzerstörer ––––––––––––––––––––––––––––––––––– 5%

Tierquälerei –––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 4% 70. Asylanten sind meiner Meinung

Lehrer ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 2% nach . . .

Faulenzer ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 1% Arme Schweine ––––––––––––––––––––––––––––––––––– 28 %

Autofahrer –––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 1% Wirtschaftsflüchtlinge ––––––––––––––––––––––– 24 %

Politisch Verfolgte ––––––––––––––––––––––––––––– 24 % 66. Wovor haben Sie am meisten Fremde, die uns auf der

Angst? Tasche liegen ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 23 %

KINOARCHIV ENGELMEIER Umweltkatastrophen –––––––––––––––––––––––– 23 %

Terminator Schwarzenegger Einsamkeit –––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 21 % 71. Können Sie sich vorstellen, einen

Arbeitslosigkeit ––––––––––––––––––––––––––––––––––– 21 % Afrikaner oder eine Afrikanerin zu lie-

61. Wie empfinden Sie Gewaltszenen in Gewalt –––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 15 % ben?

einem Film? Kriminalität –––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 11 %

Abstoßend ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 49 % Scheidung der Eltern –––––––––––––––––––––––––– 5%

Spannend ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 36 % Prüfungen –––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 3%

Ich schaue weg –––––––––––––––––––––––––––––––––––– 14 % Ausländer –––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 2%

62. Fühlen Sie sich durch Gewalt heute 67. Sie sitzen allein in einem Bahnab- mehr bedroht als noch vor einigen Jah- teil, herein kommt eine Menschengrup- ren? pe. Welche wäre Ihnen am unange-

Heute mehr bedroht ––––––––––––––––––––––––– 63 % nehmsten?

Heute weniger bedroht –––––––––––––––––––––– 4% Türken –––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 14 %

Hat sich nicht geändert ––––––––––––––––––– 33 % Polen ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 7%

Sachsen ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 6%

63. Wenn Sie alleine und im Dunkeln Schwaben ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 1%

auf die Straße gehen, nehmen Sie dann US-Amerikaner –––––––––––––––––––––––––––––––––––– 1% P. LANGROCK / ZENIT irgendwelche Waffen mit? Die Gruppe, die am lautesten ist 43 % Multikulturelles Liebespaar

Nehme keine Waffen mit ––––––––––––––– 84 % Keine ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 26 %

Nehme Waffen mit –––––––––––––––––––––––––––– 16 % Ja ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 50 %

68. Wie nennen Sie einen Menschen Nein ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 49 % 64. Wenn ja, welche? mit schwarzer Hautfarbe?

CS-Gas –––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 63 % Farbiger –––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 36 % 72. Was würden Ihre Eltern dazu sagen?

Stich- oder Hiebwaffe –––––––––––––––––––––– 21 % Schwarzer –––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 33 % Hauptsache, du bist glücklich! ––––– 43 %

Gas-Pistole –––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 15 % Neger ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 27 % Muß das sein! –––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 40 %

Waffe mit scharfer Munition ––––––––––– 2% Bimbo ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 3% Hau ab! –––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 7%

»Ich bin nicht Jahrzehnten wie die Fliegen ster- POLITIK das, was ihr ben. All diese Dinge machen mich „Konsumkid“ nennt. Ich weiß, daß ihr vollkommen fertig. Ich würde gerne dieses Wort benutzt, und das ist die Nazis schlagen und das Öl aus dem Wahrheit: Ich habe keine Ahnung, Atlantik sieben und schwarze Hun- was es bedeuten soll, und ihr wißt es gerbabys in ein Restaurant einla- auch nicht. den, aber das geht nicht. Oder geht Ich bin nicht das, was ihr „Generati- das doch? Ach was, und: scheiß on X“ nennt. Ich weiß, daß ihr dieses drauf. Wort benutzt, und das hier ist noch Jeden würde ich für schuldig erklä- mal die Wahrheit: Keine Ahnung. ren, jeden zur Rede und Antwort Was soll das bedeuten? stellen und zur Verantwortung – Ich bin nicht mal das, was ihr „poli- bloß nie die Politik. Es käme mir tikverdrossen“ nennt. Scheiß auf ir- nicht in den Sinn. gendeine Verdrossenheit. Scheiß auf Wen ich wählen werde? Die PDS na- Politik, ich habe allerbeste Laune. türlich. Weil ich kein saublöder An- Nennt es „ohne Politik“, „politiklos“ archist sein möchte. Und kein noch

oder „verantwortungslos“. S. ALBRECHT blöderer Reaktionär. Genausogut Ich rege mich nicht über kleine Nazis Moritz von Uslar, 24, Journalist. könnte ich natürlich auch die CDU auf, die Türken morden und die Grä- Lebensziel: „Sex mit Madonna. Einmal eine wählen oder die SPD oder eine Por- ber von Juden schänden, genauso- Herde Rinder hüten“. nodarstellerin, die nur „quieck, wenig wie über die Öltanker, die bei Deutschland ist „okay, aber nicht so okay quieck!“ macht und sich im Fernse- Grönland sinken, oder die schwarzen wie Amerika, ein Glas Rotwein auf Capri, hen ihre Brust massiert. Aber das Babys, die im Kontinent Afrika seit Weihnachten daheim“. gehört sich nicht.«

DER SPIEGEL 38/1994 77 Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite .

Klasse!–––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 5% Wie kannst du Opa so etwas

antun! –––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 5%

73. Über wen kann man Ihrer Meinung nach die besten Witze machen? H. SCHWARZBACH / ARGUS Kanzler Kohl

Helmut Kohl –––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 45 %

Polizisten ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 17 %

Homosexuelle –––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 10 %

Frauen ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 8%

Türken –––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 6%

Juden ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 3%

Asylanten –––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 3%

Schwarze –––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 1%

Behinderte –––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 1%

74. Wer war der beste deutsche Kanz- ler?

Willy Brandt ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 31 %

Helmut Schmidt –––––––––––––––––––––––––––––––––– 25 %

Konrad Adenauer –––––––––––––––––––––––––––––– 23 %

Helmut Kohl –––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 10 %

Ludwig Erhard –––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 4%

Kurt Georg Kiesinger –––––––––––––––––––––––– 1%

75. Wäre Hitler ohne den Zweiten Welt- krieg ein großer deutscher Staatsmann gewesen?

Nein ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 75 %

Ja ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 24 %

76. Die Aufklärung über Adolf Hitler in der Schule war . . .

Zuviel –––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 12 %

Gerade richtig ––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 45 %

Zuwenig ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 42 %

Zu positiv –––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 15 %

Gerade richtig ––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 63 %

Zu negativ ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 16 %

77. Kennen Sie Nazis oder Neonazis?

Nein ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 74 %

Ja ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 26 %

78. Diskussionen über das Dritte Reich sind . . . Interessant, weil wir so lernen, eine Wiederholung solcher

Verbrechen zu verhindern ––––––––––––– 38 % Notwendig, weil wir uns mit dieser Vergangenheit auseinander-

setzen müssen –––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 35 %

80 DER SPIEGEL 38/1994 .

JUGEND 94

Nervend, weil wir uns heute noch 82. Wenn ich das Wort „Deutschland“ schämen sollen für das, was höre, denke ich an . . .

unsere Großväter getan haben ––––– 14 % D-Mark ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 79 %

Langweilig und überflüssig, Mercedes-Benz –––––––––––––––––––––––––––––––––––– 54 %

weil sowieso jeder Bescheid Bier –––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 53 %

weiß –––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 12 % Helmut Kohl –––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 52 %

Arbeitslosigkeit ––––––––––––––––––––––––––––––––––– 35 %

79. Angenommen, die Partei der Repu- Schäferhund ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 33 %

blikaner würde zusammen mit anderen Volksmusik ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 30 %

Parteien die Bundesregierung stellen. Auschwitz –––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 30 %

Was würden Sie tun? Heino –––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 23 %

Demonstrieren –––––––––––––––––––––––––––––––––––– 33 % Umweltschutz –––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 17 %

Mich schämen –––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 33 % Popmusik ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 4%

Auswandern ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 18 %

Nichts –––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 31 % 83. Ich fühle mich in erster Linie . . .

Streiken –––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 14 % Als Deutscher –––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 31 %

Jubeln –––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 2% Als Kölner, Magdeburger,

Mitglied bei den Republikanern Münchner etc. ––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 16 %

werden –––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 2% Als Europäer ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 14 %

Als Weltbürger ––––––––––––––––––––––––––––––––––– 13 %

80. Sollte jeden Morgen in der Schule Als Hesse, Sachse, Bayer etc. –––––– 10 % die Nationalhymne gesungen werden? Als Westdeutscher oder

Nein ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 66 % Ostdeutscher –––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 6%

Ist mir egal –––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 25 %

Ja ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 7% 84. Beim Wort Europa denke ich an . . .

Kultur –––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 29 %

81. Sollten Deutsche bei der Wohnungs- Zukunft –––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 28 %

suche, bei Lehrstellen oder Studienplät- Frieden ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 26 %

zen gegenüber Ausländern bevorzugt Bürokratie ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 23 %

werden? Zahlmeister Deutschland ––––––––––––––– 22 %

Sollten nicht bevorzugt werden ––– 52 % Heimat –––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 16 %

Sollten bevorzugt werden ––––––––––––––– 47 % Nichts Besonderes ––––––––––––––––––––––––––––– 16 %

»Los Angeles. Eine Filmpro- WERTE duzentin steigt ins Taxi. Am Steuer sitzt ein Mädchen – Kaugummi kauend, Zi- garette hinterm Ohr, die Baseballmütze tief in der Stirn. Absichtslos hübsch. Die Frauen kommen ins Gespräch, über Männer. Vor der Villa in Beverly Hills angekommen, macht die Produzentin dem Mädchen ein Filmangebot. Das Mädchen schleppt stumm die Koffer vor die Haustür und antwortet, sie sei Mechanikerin und träume von einer eigenen Werkstatt. Aber nichts für ungut. Gibt es diese Art von Souveränität nur im Kino? Wie lernt man, im Vakuum zu leben, wie rettet man die eigenen Maßstäbe über den Tag? Ein paar Pfosten muß man einschlagen in diese Welt, die einem weismachen will, daßman nur mit Hakle Feucht ein vollständiger Mensch sei. „Ich will alles“, fordert die Frau auf dem Plakat am Bahnhof, und ich weiß nicht, ob sie Zigaretten, Tampons oder schlicht das Lebensglück will. Ich will nicht alles. Ich will mehr als einen „Friday- on-my-mind-Job“. Und ich möchte morgens neben jemandem aufwachen, der sagt: „Guck mal, es regnet.“ Die Liebe sollte einem zufliegen, leiden- schaftlich sein und bis in alle Ewigkeit dauern. Ganz einfach. Da kann es passieren, daß man eben nicht für ein halbes Jahr nach New York geht.

S. ALBRECHT Manchmal kommt jemand des Weges und macht Anja Jardine, 27 Jahre, Jour- ein Angebot, das eigentlich nicht in Frage kommt. nalistenschülerin. „Mach Kompromisse“, rät ein guter Freund. Plötz- Lebensziel: „Barfuß überle- lich wackelt alles. Gründe gibt es immer. Gründe ben“. sind die Pest. Also sagst du dann doch: „Nein“. Deutschland ist „eines von Abends vorm Spiegel ist dir klar: „Das war 207 Ländern“. knapp.“«

DER SPIEGEL 38/1994 81 Werbeseite

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JUGEND 94

Rinderwahnsinn –––––––––––––––––––––––––––––––––– 15 % Tod ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 4%

Butterberg ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 11 % Langeweile –––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 4%

Mafia ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 11 % Weltraum ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 3%

Fremdbestimmung ––––––––––––––––––––––––––––––– 6% Dummheit ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 3%

Interrail –––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 6% Flaschen ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 3%

85. Viele Leute sagen: „Der Jugend geht 91. Ich hätte gern mehr . . .

es zu gut, sie braucht mehr Disziplin.“ Selbstbewußtsein –––––––––––––––––––––––––––––––– 25 %

Stimmt das? Gelassenheit ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 20 %

Stimmt –––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 31 % Ehrgeiz ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 13 %

Stimmt nicht ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 67 % P. V. RECKLINGHAUSEN / OSTKREUZ Intelligenz –––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 13 %

Techno-Fans Mut ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 12 %

86. Sollten alle Jugendlichen der Ge- Humor –––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 7%

sellschaft ein Jahr lang dienen – in 89. Welche Jugendlichen sind Ihnen Schönheit ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 7%

Krankenhäusern, Altenheimen, im Na- sympathisch? Ehrlichkeit –––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 2%

turschutz oder in der ? Alternative –––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 27 %

Ja ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 59 % Ökos –––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 26 % 92. Möchten Sie später Kinder haben?

Nein ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 40 % Hippies ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 20 % Ja ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 85 %

Techno –––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 17 % Nein ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 14 %

87. Bei welcher Art von Bundeswehrein- Manta-Fahrer ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 15 %

sätzen würden Sie mitmachen? Rocker –––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 14 % 93. Warum nicht?

Bei Katastropheneinsätzen –––––––––––– 26 % Punks ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 9% Ich finde, daß man Kindern diese

Bei Militäraktionen zur Yuppies –––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 7% Welt nicht mehr zumuten kann ––– 50 %

Verteidigung Deutschlands –––––––––––– 19 % Grufties –––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 5% Meine Freizeit ist mir wichtiger ––– 25 %

Bei Friedensaktionen der Uno ––––– 19 % Stinos ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 4% Kinder sind viel zu teuer ––––––––––––––––– 19 %

Gar nicht –––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 53 % Teds ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 4% Meine Karriere ist mir wichtiger 17 %

Weiß nicht ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 34 % Skinheads –––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 2% Ich mag keine Kinder ––––––––––––––––––––––– 12 %

Spießer –––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 1% 88. Würden Sie mit der Freundin Ihres 94. Was bedeutet für Sie Arbeit?

besten Freundes bzw. dem Freund Ihrer 90. Wenn Sie das Wort „Leere“ hören, Geld ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 49 %

besten Freundin schlafen, wenn Sie si- woran denken Sie dann? Erfüllung –––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 22 %

cher sein könnten, nicht erwischt zu Einsamkeit –––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 23 % Karriere –––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 10 %

werden? Sinnlosigkeit des Lebens ––––––––––––––––––– 7% Spaß ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 7%

Nein ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 86 % Keine Zukunft ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 6% Ansehen ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 6%

Ja ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 13 % Portemonnaie –––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 5% Zeitverschwendung ––––––––––––––––––––––––––––– 3%

Zeitvertreib ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 2%

95. Wenn Sie frei wählen könnten, wel- »Bei den meisten ches Leben würden Sie führen? LIEBE Leuten fängt das Leben mit Liebe an. Bei mir war da nichts. Irgendwie bin ich mit meinen Eltern ausgekommen, aber Liebe? Als ich vor der Entscheidung stand, entweder meine Eltern zu verlassen oder meine Freundin, war klar: hin zu ihr, die mir alles gab, wonach ich mich sehnte. Ich wollte sie gar nicht mehr loslassen. Nach zwei Jahren konnte sie nicht mehr. Sie ging. Es war zu spät. Viele Freunde habe ich nicht, denn ich will mit ihnen nicht über Autos und Weiber fachsimpeln. Wenn das mal klappt mit einem, ist das auch Liebe. Ich bin nicht schwul, aber ei- nige meiner Freunde, zwei, um ge- nau zu sein, und ich finde, die kön- nen genauso lieben wie ich eine Frau. Mit dem Haß-Kult komme ich nicht DPA mit, warum hassen viele so gern? Playboy Sachs, Starlet Wenn ich noch mal eine Frau finde,

S. ALBRECHT die ich liebe, und sie mich, dann sol- Als Globetrotter auf einem Olaf Herrenkind, 21, Schusterlehrling. len Kinder kommen. Was die Leute Segelboot um die Welt –––––––––––––––––––– 25 % Lebensziel: „Glücklich durch die Welt ge- in meinem Alter immer mit Karriere Als Manager/Managerin und hen“. am Hut haben, ist mir schleierhaft, Single in einer Penthouse-Woh- Deutschland ist: „Ich bin nicht national haben die keinen Spaß? Ist Arbeit nung ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 16 % gesinnt!“ Spaß? Bringt Arbeit Glück?« Als Handwerker/Handwerkerin

in einer kleinen Stadt ––––––––––––––––––––––– 14 %

84 DER SPIEGEL 38/1994 Werbeseite

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JUGEND 94

Als Chirurg/Chirurgin mit Villa 101. Sie sitzen in einem Zug und be- 106. Sollen Ostdeutsche so werden wie

und Familie ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 13 % kommen mit, wie ein Vietnamese zu- Westdeutsche?

Als Künstler/Künstlerin in sammengeschlagen wird. Ja ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 37 %

einer alten Fabrik –––––––––––––––––––––––––––––– 12 % Ich versuche, Helfer unter den Nein ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 61 %

Als Playboy/Model immer da, Mitfahrenden zu finden ––––––––––––––––––– 48 %

wo etwas los ist ––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 8% Ich ziehe die Notbremse ––––––––––––––––– 17 % 107. Am 9. November 1989 wurde die

Als Aktivist/Aktivistin von Ich rede auf den Schläger ein ––––––– 14 % Mauer geöffnet. Dieser Tag ist . . .

Greenpeace ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 4% Ich steige aus ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 11 % Ein Tag wie jeder andere ––––––––––––––– 56 %

Als Bundespräsident oder Ich stürze mich auf den Ein Freudentag ––––––––––––––––––––––––––––––––––– 34 %

Bundespräsidentin im Schloß Angreifer ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 8% Ein Volkstrauertag –––––––––––––––––––––––––––––– 9%

Bellevue ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 4% 102. Sind Sie mit einem Ausländer oder 108. Was können Westdeutsche von 96. In welchem Jahrzehnt wären Sie als einer Ausländerin befreundet? Ostdeutschen lernen?

Jugendlicher gern groß geworden? Ja ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 46 % Solidarität –––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 22 %

Nein ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 21 % Bescheidenheit –––––––––––––––––––––––––––––––––––– 20 %

Keine Angabe ––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 33 % Menschlichkeit –––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 5%

Geduld –––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 5%

103. Kennen Sie Ausländer persönlich? Improvisationstalent ––––––––––––––––––––––––––– 4%

Ja ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 68 % Richtig zu arbeiten –––––––––––––––––––––––––––––– 4%

Nein ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 31 % Unverschämtheit –––––––––––––––––––––––––––––––––– 1%

Nichts –––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 20 % 104. Für Ostdeutsche: Sind Sie mit Westdeutschen befreundet? 109. Und was können Ostdeutsche von

Ja ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 54 % Westdeutschen lernen?

Nein ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 42 % Ehrgeiz ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 24 %

Selbständigkeit –––––––––––––––––––––––––––––––––––– 15 %

105. Für Westdeutsche: Sind Sie mit Wirtschaftliches Know-how ––––––––––––– 8%

Ostdeutschen befreundet? Geschäftssinn ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 4%

Ja ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 42 % Alles –––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 3%

SÜDDEUTSCHER VERLAG Nein ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 56 % Habgier ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 1% Familie in den fünfziger Jahren

In den 50er Jahren ––––––––––––––––––––––––––––– 19 % »Es gibt drei ver- In den 60er Jahren ––––––––––––––––––––––––––––– 18 % FREIHEIT schiedene Arten In den 70er Jahren ––––––––––––––––––––––––––––– 21 % von Menschen“, so fing Marlon Brando in dem In den 80er Jahren ––––––––––––––––––––––––––––––– 9% Film „Der Mann in der Schlangenhaut“ an. Ich In den 90er Jahren ––––––––––––––––––––––––––––––– 5% war gerade zwölf Jahre alt, legte meine Bar- 97. Was ist für Sie das Wichtigste im biepuppe weg, setzte mich in meinem Sessel Leben? auf und hörte aufmerksam zu: „Die Käufer, die Gekauften und die Menschen, die ohne Beine Gesundheit –––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 54 % sind wie diese kleinen Vögel. Im ganzen Leben Liebe ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 54 % berühren sie nur einmal die Erde – wenn sie Freundschaft –––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 45 % sterben.“Ich wollte wie dieser kleine blaue Vo- Familie –––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 43 % gel sein und von oben auf alle runterkacken. Gerechtigkeit ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 25 % Ich wollte mich nie kaufen lassen und auch Geld ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 22 % niemanden kaufen. Aber wie weit kommst du Spaß ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 16 % ohne Bein, wenn du nicht fliegen kannst? Freizeit –––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 12 % Ich bin Jahrgang 1972. Wir sind die, welche in Sex –––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 10 % den Medien als „Kinder der 68er“ bezeichnet Karriere –––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 9% werden. Wir wurden erzogen von Revolutionä- 98. Einem Drogendealer, der mich an- ren, die Sex-Shops, Jeans und lange Haare er- spricht, sage ich: kämpft haben. O.K., wir haben gelernt, kri- tisch zu denken. Wir wußten schon mit zehn „Ich nehme keine Drogen“ ––––––––––– 31 % Jahren, wie man zum Orgasmus kommt, und „Und tschüs!“ –––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 23 % wir wissen, daß wir unbedingt unser „Ich“ fin- „Such dir ’nen anderen Job“ –––––––– 22 % den müssen. Wir sind frei. Wir können unsere Ich laufe weg –––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 16 % Meinung sagen in „Ich find’s Scheiße!“ bei „Hallo“ ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 4% RTL. Jeder weiß, was nicht stimmt, und nie- „Was hast du dabei?“ ––––––––––––––––––––––––– 3% mand kann den wirklich Schuldigen finden. 99. Haben Sie schon einmal Haschisch Deshalb geschieht gar nichts. geraucht? Es gibt diese unsichtbare Grenze, falls du friedlich für Veränderungen kämpfst. Wenn du Nein ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 77 %

sie überschreitest, bekommst du lebensläng- S. ALBRECHT Ja ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 23 % lich, wirst heimlich ermordet, oder kommst in Hanin Elias, 22, Sängerin 100. Wie alt waren Sie, als Sie zum er- die Irrenanstalt. („Atari Teenage Riot“). stenmal an einem Joint gezogen haben? Aber es gibt auch diese Schmerzgrenze, die, Lebensziel: “?“ wenn sie überschritten wird, zum Handeln Deutschland ist „ein Fragezei- Unter 15 ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 15 % zwingt.« chen“. 15 bis 18 ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 57 %

Über 18 –––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 25 %

DER SPIEGEL 38/1994 87 Werbeseite

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JUGEND 94

Hochdeutsch –––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 1% Eigene Kinder und Familie ––––––––––– 11 %

Autofahren ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 1% Selbständigkeit –––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 7%

Nichts –––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 13 % Freunde zu haben –––––––––––––––––––––––––––––––– 7%

Eigene Wohnung –––––––––––––––––––––––––––––––––– 7%

110. Was ist für Sie die „Nation“? Führerschein –––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 6%

Gar nichts –––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 31 % Arbeitsplatz –––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 4%

Ein altmodischer Begriff ––––––––––––––––– 21 % Habe noch nichts erreicht –––––––––––––––– 4%

Eine Notwendigkeit –––––––––––––––––––––––––– 20 % Keine Angabe ––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 17 % Ein anderes Wort für Solidarität 15 %

Ein schönes Gefühl ––––––––––––––––––––––––––– 15 % 115. Vor wem haben Sie den meisten

Der Schutz vor Fremden –––––––––––––––––– 9% Respekt?

Eine Gefahr für den Frieden –––––––––– 5% Richard von Weizsäcker ––––––––––––––––– 46 %

Die Aussicht auf Rente ––––––––––––––––––––– 3% 1. BPK 2. ACTION PRESS Michail Gorbatschow ––––––––––––––––––––––– 34 %

Idole Bismarck, Becker –––––––––––––––––––––––––––––– 25 %

111. Könnte ein deutscher Jude Bun- Heinz Rühmann ––––––––––––––––––––––––––––––––– 21 %

despräsident werden? Franz Beckenbauer ––––––––––––––––––––––––––––– 4% Rosa Luxemburg –––––––––––––––––––––––––––––––– 13 %

Ja ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 57 % Heinrich Heine ––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 4% Franz Beckenbauer ––––––––––––––––––––––––––– 11 %

Nein ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 41 % Steffi Graf ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 3% Reinhold Messner –––––––––––––––––––––––––––––– 10 %

Karl Marx –––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 3% Gregor Gysi –––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 7%

112. Welche großen Deutschen fallen Michael Schumacher ––––––––––––––––––––––––––– 1% Boris Becker –––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 7%

Ihnen ein? Franziska van Almsick ––––––––––––––––––––––– 6%

Johann Wolfgang von Goethe –––––– 35 % 113. Ist Deutschland heute in einer bes- Hillary Clinton –––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 6%

Friedrich von Schiller ––––––––––––––––––––––– 24 % seren oder in einer schlechteren Verfas- Rita Süssmuth ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 6%

Konrad Adenauer –––––––––––––––––––––––––––––– 23 % sung als kurz nach der Wiedervereini- Ignatz Bubis ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 6%

Willy Brandt ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 14 % gung? Madonna –––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 5%

Helmut Kohl –––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 13 % In schlechterer Verfassung ––––––––––––– 48 % Joschka Fischer ––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 5%

Richard von Weizsäcker ––––––––––––––––– 10 % Es hat sich nichts geändert –––––––––––– 35 % Jens Reich ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 3%

Otto von Bismarck –––––––––––––––––––––––––––––– 9% In besserer Verfassung –––––––––––––––––––– 16 % Kurt Cobain ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 3%

Helmut Schmidt –––––––––––––––––––––––––––––––––––– 8% Ulrike Meinhof ––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 3%

Albert Einstein ––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 8% 114. Was ist das Wichtigste, was Sie Sabine Christiansen ––––––––––––––––––––––––––––– 3%

Adolf Hitler –––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 5% bisher erreicht haben?

Boris Becker –––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 5% Schulabschluß –––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 20 % 116. Jesus Christus war . . .

Ludwig van Beethoven –––––––––––––––––––––– 5% Berufsabschluß –––––––––––––––––––––––––––––––––––– 18 % Der Sohn Gottes –––––––––––––––––––––––––––––––– 33 %

Für mich nie ein Thema –––––––––––––––––– 23 %

Ein guter Mensch ––––––––––––––––––––––––––––––– 18 %

Auch bloß ein Mensch ––––––––––––––––––––– 14 % »An der Ein Vorbild ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 11 % DUMMHEIT Universität Ein Scharlatan ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 1% lernt man, daß Wissen auch nichts hilft, wenn man zu dumm ist, es klug weiterzu- 117. Glauben Sie an einen Gott? geben. Nie habe ich mir in meinem Leben Ja ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 54 % soviel Schwachsinn anhören müssen wie Nein ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 45 % an der Universität. Und zwar nicht nur von Dozenten. Sondern auch von Studenten. 118. Was wird in der fernen Zukunft ge- Es gab einmal diese schicke Werbung von schehen? Merz Spezial-Drage´es: Schönheit, die von Die Rohstoffe werden immer innen kommt. In den Seminaren hingegen knapper, Wirtschaftskrisen und kommt gar nichts. Seminare sind wie Bil- Hungersnöte werden ausbrechen 46 % lig-Talk-Shows. Keine Schönheit – rein Technik und Chemie werden äußerlich gesehen –, also nichts fürs Au- die Umwelt zerstören ––––––––––––––––––––––– 45 % ge, und von innen aus dem Kopf nur See- Die Menschen werden sich immer lenmüll. „Ich hab’ echt Probleme mit Tho- mehr isolieren und nur noch an mas Mann.“ Ja nun. Solche Sachen muß sich selbst denken –––––––––––––––––––––––––––––– 37 % ich mir da anhören. Die Studenten brin- Die Menschen werden durch gen nicht nur offen ihr Unverständnis zum Computer total kontrolliert Ausdruck, sie sind auch noch größtenteils werden –––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 30 % zu dumm, sich zu desodorieren. Das ist es Die Menschen werden wieder eben, das Beschränkte. sozialer werden ––––––––––––––––––––––––––––––––––– 15 % Zugegeben, daß Menschen dumme Tätig- Die Welt wird in einem Atom- keiten verrichten, ermöglicht das Leben. krieg untergehen –––––––––––––––––––––––––––––––– 12 % Aber trotzdem rege ich mich auf, wenn die Die Menschen werden auf andere Dummheit einen auf Schritt und Tritt ver- Planeten auswandern müssen ––––––– 10 % folgt: sei es in einer Warteschlange auf Die Kriege werden abgeschafft –––––– 6%

S. ALBRECHT deutschen Behörden oder in Gestalt eines Es wird eine sorgenfreie Gesell- Eckhart Henrik Nickel, 28, Student allwissenden Verkehrspolizisten. Gewiß, schaft geben, in der alles vor- und Barkeeper. Dummheit in Deutschland ist penetrant. handen ist, was man braucht –––––––––– 4% Lebensziel: „Reisen und Schrei- Aber schlimmer ist es, wenn sie auch ben“. noch schlecht gelaunt ist und deine Fahr- 119. Wie alt möchten Sie sein, wenn Deutschland ist „schön“. karte sehen möchte.« Sie sterben? 81,4 Jahre Y

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Trinkaus & Burkhardt rund zwölf Millio- Glücksspiel nen – so ganz genau weiß er es nicht mehr – Mark verspielt: 3 bis 4 Millionen eigenes Vermögen und 7,5 Millionen veruntreutes Kundengeld. Das Landge- Fehlendes richt Baden-Baden verurteilte den unbe- scholtenen Vater dreier Kinder jetzt zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und Funkeln vier Monaten. Die Verteidigung legte Revision ein. Das Casino Baden-Baden hat sich Spielsuchtforscher Gerhard Meyer, rücksichtslos an einem spielsüchti- Gutachter im Verfahren, hat schon man- ches schlimme Zockerschicksal kennen- gen Bankdirektor bereichert. gelernt, aber noch nie einen Fall erlebt, in dem eine „Spielbank ein offensichtli- o die elfenbeinernen Kugeln in ches Suchtverhalten auf so schamlose die Roulettekessel fallen, die Weise ausgenutzt hat“. WRechen der Croupiers über den So genoß Schmalz, der an einem grünen Filz harken und die Schwitzefin- Abend mehrere hunderttausend Mark ger der Spieler die Chips umklammern, verspielte, großzügige Konditionen. Ge- hat, das kapiert jeder, die kühle Ver- gen einen ausgefüllten Scheck in Höhe nunft keine Heimstatt. von 260 000 Mark half man ihm mit Je- Aber was von 1990 bis 1993 in den tons aus. Zur Sicherheit hinterlegte der vornehmen Sälen der Spielbank Baden- Banker Wertpapiere, die er zuvor aus Baden ablief, wenn der Herr Direktor seinem Institut hatte mitgehen lassen. Roland Schmalz Deutschlands ältesten Vor Gericht behauptete der Techni- Glückstempel betrat, das verblüffte sche Direktor des Casinos, Ludwig selbst Kenner: Als seien Chips wertlose Verschl, der Oberzocker Schmalz sei ein Dominosteine, bepflasterte der dunkel- „absolut gelassener Gast“ gewesen. Ihm haarige Mann gleich mehrere Spielti- habe gefehlt, was sonst Spielsüchtige sche mit eckigen 5000-Mark-Jetons. Der auszeichne: „das Funkeln in den Au- „Plattenleger“ hieß Schmalz denn auch gen“. Dabei hatte bereits 1991 Verschls bei den Angestellten, die an ihm über Stellvertreter versucht, den Mann zu den Tronc, die Trinkgeldkasse, kräftig stoppen, „weil er nicht mehr arretieren profitierten. konnte“. Später ließ sich dieser Spiel- Da ging es hoch her. Manchmal verlor bankmann mit den Gewissensresten vom der glücksberauschte Mann den Über- Posten des Vizedirektors entbinden. blick, dann mußte ein Croupier dem von Im Ländle sollen bald neue Spielban- Tisch zu Tisch Hechelnden zurufen: ken zugelassen werden. Da bekommt „Sie haben 170 000 Mark gewonnen.“ der warnende Hinweis des geschäftsfüh- Doch pechwärts lief es öfter. Dann renden Gesellschafters des Casinos Ba- stoppten die Tisch-Chefs das Spiel, da- den-Baden, Hartmann Freiherr von mit Schmalz neues Geld holen konnte. Richthofen, einen ganz neuen Sinn. 543mal, so verzeichnet es die Kartei, Neue Spielbanken dürften nicht „ohne stattete der Plattenleger allein in den Fingerspitzengefühl“ gegründet werden, letzten zweieinhalb Jahren seiner Spie- ließ er verlauten. Auch Umfeld und lerkarriere dem Casino den teuren Be- Atmosphäre müßten stimmen, wenn such ab. Schließlich hatte der Baden- potente Spieler gewonnen werden sol- Badener Filialdirektor der Privatbank len. Y HUBER / SCHAPOWALOW Florentiner Spielsaal im Casino Baden-Baden: „Sucht schamlos ausgenutzt“

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Spionage Berichte von „Erich“ Die Stasi-Akte des DDR-Forschers und früheren Berliner Journalisten Dietrich Staritz W. BORRS NDR Staritz-Orden der Stasi, DDR-Forscher Staritz: „Die Informationen waren operativ auswertbar“

er neue Mann war auf Diskretion Die raffinierte Legende mit dem Im- Spion Staritz, mitten im Kalten Krieg bedacht. Dietrich Staritz, promo- pressum schützte den Agenten vor Ver- an einem der Brennpunkte der Weltpoli- Dvierter Politologe, heuerte 1968 als dacht, falls er von Bekannten mal in Ost- tik postiert, konnte als SPIEGEL-Mann Redakteur beim SPIEGEL an; doch er Berlin gesehen werden sollte. Sie diente unauffällig Kontakte anbahnen und er- legte zunächst Wert darauf, nicht ins Staritz als zwanglose Erklärung dafür, hielt „von allen Institutionen bereitwil- Impressum aufgenommen zu werden. warum er die Mauer passieren konnte. ligst die gewünschten Auskünfte“, wie es Seine Begründung: Staritz wollte als Verdingt hatte sich der Inoffizielle Mit- in einem Treffbericht von „Erich“ mit SPIEGEL-Redakteur nicht öffentlich arbeiter (IM), Deckname „Erich“, durch seinen Führungsoffizieren vom Oktober erkennbar werden, denn er sollte als eine schriftliche Verpflichtungserklä- 1968 heißt. West-Berliner SPIEGEL-Korrespon- rung am 29. September 1961, damals Staritz lieferte an Ost-Berlin, was im- dent auch aus Ost-Berlin berichten. Die noch Student der Freien Universität Ber- mer er von Politikern und Kollegen im DDR aber hatte in jener Zeit des Kalten lin. Bald danach wurde er wissenschaftli- Westen erfuhr. Krieges, sieben Jahre nach dem Mauer- cher Hilfsassistent. Etwa von Karlheinz Vater, von 1966 bau, längst gegen alle im SPIEGEL-Im- Beim SPIEGEL berichtete er, wie bis 1973 Leiter des Berliner SPIEGEL- pressum verzeichneten Redakteure ein jüngst gefundene Stasi-Akten der Gauck- Büros, später Chefredakteur der Wirt- Einreiseverbot verhängt. Behörde beweisen, vier Jahre lang weit schaftswoche, dann der Kieler Nachrich- Das Tarnmanöver klappte. Staritz be- mehr an dasMinisterium für Staatssicher- ten, schließlich der Nürnberger Nach- sorgte Informationen auch von drüben. heit (MfS), als er je im Blatt publiziert richten. Doch getäuscht wurden nicht die DDR- hat. Geführt wurde er von der Stasi-Ab- Vater hatte Zugang zum Bonner Ost- Behörden, die Staritz unbehelligt einrei- teilung XX/5, zuständig unter anderem Unterhändler und zu Diet- sen ließen. Hintergangen wurde der für „Inspiratoren und Organisatoren der rich Spangenberg, dem Staatssekretär SPIEGEL. politischen Untergrundtätigkeit“. von Bundespräsident Gustav Heine- Ende August dieses Jahres flog Sta- Von der Justiz hat der aufgeflogene mann, zuvor Berliner Senator. Er redete ritz, 60, mittlerweile Professor im Ar- Spion nichts mehr zu befürchten: Seine mit Sowjetdiplomaten und Ost-Journali- beitsbereich DDR-Geschichte an der Spitzeltätigkeit ist längst verjährt. sten. IM „Erich“ meldete alles, was er Universität Mannheim, als ehemaliger Doch die Stasi-Akten des IM „Erich“ aufschnappte, nach Ost-Berlin. Stasi-Agent auf. Er war von 1961 bis demolieren nicht nur das Ansehen des Ausführliche Staritz-Dossiers nach 1972 ständig zu Geheimtreffen nach Professors Dietrich Staritz, der seit Ende Bildung der sozialliberalen Koalition Ost-Berlin gefahren, wurde meist durch der siebziger Jahre als DDR-Forscher ei- über Bonner Pläne zur „vertraglich gesi- den Grenzübergang am U-Bahnhof nen ausgezeichneten Ruf genießt. Sie cherten Lösung mit der DDR“ (Span- Friedrichstraße geschleust und traf sich enthüllen auch, daß der SPIEGEL vier genberg) bei „Ausschließung jeglicher mit seinen Agentenführern in konspira- Jahre lang einen Mitarbeiter beschäftig- Diskriminierung“ (Bahr) erregten bei tiven Wohnungen mit Tarnnamen wie te, der laufend Interna und Informanten den Entspannungsfeinden in Ost-Berlin „Kiekemal“, „Nelke“, „Amada“ und des Blattes an seine Auftraggeber im Mißtrauen. Stasi-Vermerk zu einer Lie- „Wengler“. Osten verraten hat. ferung von „Erich“:

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Bei objektiver Einschätzung dieser Be- Staritz keineswegs sicher sein, daß Berg richte muß die Möglichkeit eingeräumt tatsächlich unter Stasi-Schutz stand. werden, daß Vater evtl. im Auftrage an Skrupel hatte Staritz auch sonst nicht. die Quelle „Erich“ diese Materialien zur „Von Beginn der Zusammenarbeit an gezielten Desinformation unterschiebt. berichtete die Quelle stets konkret“, hieß es in einem Stasi-Vermerk über Doch Vater war ahnungslos. Der 1990 „Erich“, „die Informationen waren ope- gestorbene Journalist hatte dem Kolle- rativ auswertbar.“ Umfangreiche Ein- gen Staritz stets vertraut. schätzungen von Studenten, Assistenten Zu den Top-Informanten, die der und Journalisten seien „in einigen Fäl- Agent an die Stasi verriet, gehörte der len auch vorgangsmäßig von uns bear- SED-Funktionär Hermann von Berg. beitet worden“. Zu deutsch: Die Stasi Der Genosse war in den sechziger und nutzte Hinweise ihres Agenten, um siebziger Jahren enger Mitarbeiter des Leute zu observieren, unter Druck zu Ministerpräsidenten Willi Stoph. Sein setzen oder hochgehen zu lassen. Parteiauftrag: Er sollte die Westmedien Gefährlich waren seine Berichte, wie zu freundlicherer Berichterstattung über Staritz klar sein mußte, etwa für ein mit die DDR animieren. Vater befreundetes Journalisten-Ehe- Was Vater über die Ost-Berliner Wirt- paar in der Tschechoslowakei. Der Kol- schafts- und Deutschlandpolitik von dem lege, Redakteur beim Parteiorgan Rude´ M. RUETZ SPIEGEL-Korrespondenten Vater, Staritz (r.)*: „Mehrere Leben“

SED-Mann erfuhr, erzählte er auch Sta- pra´vo, habe Vater in der Dubcˇek-Ära ritz. Der wiederum lieferte ausführliche Auszüge aus einem Aktionsprogramm Berichte über Berg an die Stasi. der Partei noch vor der Veröffentli- Damit denunzierte ein Agent den an- chung übergeben, meldete IM „Erich“. deren. Denn Berg hatte, wie sich inzwi- Die Ehefrau, Redakteurin beim Pra- schen herausgestellt hat, Kontakte zum ger Rundfunk, habe im Herbst 1968 bei MfSund war alsIM „Günter“ eng mit der einem Besuch in der Berliner SPIE- Hauptverwaltung Aufklärung des Mar- GEL-Redaktion Hintergründe über den kus Wolf liiert. Einmarsch der Warschauer-Pakt-Trup- Später fiel Berg, inzwischen im Haupt- pen in die Cˇ SSR erzählt, etwa über beruf Politikprofessor an der Ost-Berli- den zeitweise „total betrunkenen“ ner Humboldt-Universität, in Ungnade. Kremlchef Leonid Breschnew. Die Ehe- Geheimdienstchef Erich Mielke lastete leute seien nach dem Einmarsch zu- dem Genossen an, er habe im SPIEGEL nächst nach Hamburg übergesiedelt. das sogenannte Manifest einer SED- Doch ihre Kinder lebten noch in Prag, internen Oppositionsgruppe lanciert so Staritz an die Stasi, die Mutter sei (SPIEGEL 1-2/1978). Berg saß einige zeitweise dorthin zurückgekehrt. Monate in Stasi-Haft. 1986 ließ ihn die Mitte 1969 übergab ein anderer Infor- DDR in die Bundesrepublik ausreisen. mant aus der Tschechoslowakei, der an Als Staritz den Informanten Berg ver- einem Arbeitsmediziner-Kongreß in der pfiff, kannte er dessen Agententätigkeit DDR teilnahm, bei einem West-Berlin- nicht. Er fügte in einem Bericht zwar vor- Besuch in der SPIEGEL-Redaktion sorglich an, Vater komme „zu dem Er- Material über die heimische Kommuni- gebnis“, daß von Berg „notwendigerwei- se wohl Kontakte zuden Sicherheitsorga- * Im Juni 1968 mit dem zurückgetretenen Berli- nen der DDR haben muß“. Doch konnte ner Bürgermeister Heinrich Albertz.

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stische Partei und einen Aufruf des dorti- ten SPIEGEL-Redakteurs be- gen „Verbandes der geistigen Arbeiter“. schafft worden, einen früheren Für einen weiteren Besuch avisierte Oberst bei BND-Chef Rein- der Gast, wie Staritz der Stasi unter Na- hard Gehlen. mensnennung mitteilte, Material gegen Der Redakteur, so Agent den stalinistischen ZK-Sekretär Lubomı´r „Erich“, sei „womöglich über Sˇtrougal. Stasi-Randvermerk auf der diese familiären Beziehungen Vorlage: „Den Cˇ SSR-Bürger aufklären. seit Jahren der Kontaktmann Wiedervorlage eilt.“ Aufklären hieß im des BND in der Hamburger Klartext: Seine Personalien feststellen SPIEGEL-Redaktion“. Rand- und ihn, falls opportun, verhaften. vermerk der Stasi: „Gesonder- Zumindest einen Westspion hat Staritz te Information gefertigt.“ laut Aktenlage im Osten hochgehen las- Auch den Ost-Berliner sen: Aus einer „Erich“-Information, so Schriftsteller Rolf Schneider schwärzte Staritz an: Schnei- der, meldete er Ende 1969 Der Bruder des nach Osten, habe beim SPIE- Spions kam vorzeitig aus GEL Informationen „gehobe- ner Kader“ über DDR-Interna der DDR-Haft frei ausgeplaudert und sich über Folgen des Devisenmangels ein MfS-Vermerk vom 14. Dezember beklagt. 1970, sei „ein konkreter Hinweis über SED-Chef Walter Ulbricht

Spionagetätigkeit eines DDR-Bürgers gelte in DDR-Kreisen, so BUND-VERLAG ersichtlich“ gewesen. Schneider laut Staritz, als ein DDR-Lobbyist von Berg, Amtschef Stoph (1965) In einem weiteren Fall erhielt Staritz Mann mit „verbrecherischen Bei der Stasi verpfiffen von einem Bekannten Informationen zu Zügen“, Willi Stoph werde der einer Analyse aus dem „Restapparat des „doofe Stoph“ genannt. Schneider, ver- ten“ im Lehrstoff an der Freien Univer- SPD-Ostbüros über die wirtschaftliche gaß der Spitzel nicht zu erwähnen, wolle sität. Situation der Datenverarbeitung in der beim SPIEGEL für ein Skript „1000 Neuen Halt suchte der Republik- DDR“. Diese Informationen, die er DM-West kassieren“ – nach DDR-Ge- flüchtling ausgerechnet in Linientreue weitergab, wurden von der Hauptabtei- setzen alles Delikte, für die der Schrift- zur SED. Vier Wochen nach dem Mau- lung XVIII, zuständig für „Observation steller jederzeit hätte in den Knast ge- erbau wurde ihm klar, „daß dem Sozia- und Ermittlung, Durchsuchung, Fest- hen können. Doch dem im Westen be- lismus die Perspektive gehört“ (MfS- nahme“, laut Aktenvermerk „als sehr kannten Autor passierte nichts. Anwerbevermerk). Die Stasi machte wertvoll bei der Bearbeitung von feind- Die Motive seiner Verräterei sind ihm zudem Hoffnung auf vorzeitige Ent- licher Tätigkeit“ eingestuft. dem Wissenschaftler Staritz heute kaum lassung des Bruders – was nach vierein- Zur Veröffentlichung einer SPIE- noch begreiflich. Er habe, so sagt er halb Jahren Haft auch geschah. Doch er GEL-Serie über den Bundesnachrich- über seinen Lebenslauf, „mehrere Le- spionierte weiter. tendienst, Titel: „Pullach intern“, be- ben“ gehabt. Seiner Behauptung, er ha- Besonders beeindruckt habe Staritz, richtete Staritz im April 1971 an Ost- be „wissentlich niemandem geschadet“, so der erste Kontaktbericht, „daß er als Berlin: „Die Mehrzahl der Informatio- widersprechen die Akten. ,Genosse‘ angesprochen wurde“. Staritz nen über den BND“ sei angeblich über Die Stasi glaubte bei ihrem 1961 neu- war seit 1955 Kandidat der SED gewe- den Onkel eines namentlich genann- geworbenen Agenten eine „Basis der sen, 1964 wurde er als Mitglied aufge- Überzeugung“ ausge- nommen. Im selben Jahr verlieh MfS- macht zu haben. Doch Chef Erich Mielke dem IM „Erich“ die die Stasi-Unterlagen Medaille der Nationalen Volksarmee liefern eher ein Psy- für treue Dienste, 1969 die NVA-Ver- chogramm der Verwir- dienstmedaille in Bronze. rung. Doch mit der ideologischen Klarheit Der Ost-Berliner war es bei ihm schon wieder vorbei. Sei- Student Staritz, dessen ne Agentenführer rügten „verzerrte An- Bruder als Regimekri- sichten“, typische westliche „Eigen- tiker eine achtjährige schaften linksintellektueller Kreise“. Zuchthausstrafe ab- Noch rätselhafter wird das ideologi- saß, war selber mit der sche Vexierbild durch den Hinweis von SED aneinandergera- Staritz nach seiner Enttarnung, er habe ten und 1958 nach auf zwei Schultern getragen. West-Berlin geflüch- „Im etwa gleichen Zeitraum“ wie für tet. Seine Hoffnung die Stasi, erklärte der Politikprofessor, setzte er auf das block- sei er für das Bundesamt für Verfas- freie Jugoslawien, sungsschutz (BfV) tätig gewesen, das kehrte aber von dort von seinen DDR-Kontakten gewußt ha- nach kurzer Zeit ent- be. Er gehe davon aus, daß die Stasi-Tä- täuscht zurück und är- tigkeit „durch die Bindung an das Köl- gerte sich bald auch ner Amt gewissermaßen legalisiert wor- über „die Dummhei- den“ sei.

A. PACZENSKY / ZENIT Selbst wenn es so gewesen sein sollte, Denunzierter Schriftsteller Schneider* * Vor seinem Haus in wischt die doppelte Spitzelei des Diet- „Der doofe Stoph“ Schöneiche/Brandenburg. rich Staritz nicht weg, daß IM „Erich“

100 DER SPIEGEL 38/1994 Informanten ausdem Zugriffsbereich der halten sich aus dem verjährten Vorgang Ein MfS- entwickelte Stasi an Ost-Berlin verraten hat. heraus. Sie erklären zum Fall Staritz einen Drei-Stufen-Plan zur Entlarvung Wieweit das BfV tatsächlich über die lediglich, sie nähmen zu operativen von Staritz’ „möglicher Feindtätigkeit“, Stasi-Umtriebe von Staritz informiert Aspekten grundsätzlich nicht Stellung. zum Abbruch seiner BfV-Kontakte, zur war, ist unklar. Die Stasi-Akten weisen Geheimdienstexperten werten dies als Verhinderung der von Staritz gewünsch- aus, daß das Mielke-Ministerium seine ein Indiz dafür, daß Staritz mit Wissen ten Tätigkeit als SPIEGEL-Korrespon- BfV-Kontakte kannte und „nach Rück- oder im Auftrag des BfV als Stasi-Agent dent in Moskau und letztlich zum sprache mit der HVA“ festlegte, welche gearbeitet habe; sonst hätte das Amt ge- „schrittweisen Abbruch der Zusammen- „Fakten und Zusammenhänge“ aus dem arbeit mit dem IM ,Erich‘“. SPIEGEL er „nach Köln berichten Daß Staritz seinen Job beim SPIE- muß“. Staritz heute: „Das Interesse des Nach der Trennung GEL – zum Herbst 1972 – gekündigt Kölner Amtes am SPIEGEL warherzlich ohne Gruß hatte, teilte er der Stasi erst vier Wo- gering.“ chen später mit. Nach internen Ausein- Um sogrößer wardasMfS-Interesse an das Auto verlassen andersetzungen und Entlassungen in der Informationen über den Verfassungs- Redaktion sei ihm, erklärte er bei schutz. schwiegen. Die Frage sei, „ob Staritz einem Agententreff, das Klima in der Bei einem BfV-Besuch im Oktober dem BfV alles gesagt hat“. Hamburger Redaktion „zu rechts“ ge- 1969, bei dem sich SPIEGEL-Redakteur Zumindest von der Stasi hatte Staritz worden. Staritz „offiziell“ über DDR-Handels- offenbar seit Anfang der siebziger Jahre Am 16. Januar 1973, die Zusammen- vertretungen im Westen informieren genug. Gegen Ende 1971 fiel den Ost- arbeit war endgültig zerrüttet, fuhr IM wollte, erhielt er von einem Beamten Berliner Agentenführern auf, daß IM „Erich“ mit einem Stasi-Hauptmann „kurze Einsicht in einen Bericht eines sei- „Erich“ in „den letzten Jahren schritt- durch Ost-Berlin. Beide einigten sich ner Mittelsmänner zur Lektüre“. Der weise an der Auflösung und inhaltlichen auf die Trennung. Staritz beklagte sich westdeutsche Mittelsmann habe darin Aushöhlung seiner Zusammenarbeit mit über „psychologisches Unvermögen und über Gespräche mit einem Mitarbeiter dem MfS“ arbeite. Mängel in der Arbeit mit dem Men- des DDR-Kulturministeriums berichtet, Er versäumte Termine, wies auf Zeit- schen“. dessen mutmaßlicher Name in der amtli- mangel durch seine SPIEGEL-Tätigkeit In der Nähe des Alexanderplatzes öff- chen „Abschrift vom Tonband“ des IM hin und beharrte darauf, er sei „Ama- nete IM „Erich“, wie der Hauptmann „Erich“ genannt wurde. MfS-Amtsstem- teur“ und kein „Profi“ im Milieu. Seine später notierte, „mit der Bemerkung: pel auf der Abschrift: „ausgewertet“. berufliche Tätigkeit als „sog. Ostexper- ,Mach’s beim nächsten besser‘“ die Au- Das Kölner Amt be- oder entlastet Sta- te“, bilanzierte die Stasi, richte sich totür und verließ „ohne Gruß das Fahr- ritz bislang nicht, die Geheimdienstler „gegen die DDR“. zeug“. Y

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Das Uno-Flüchtlings- bund Hauptgeschäfts- Ruanda-Hilfe hilfswerk in Goma be- führer ist, oft durch schloß bereits, fortan plötzlichen Meinungs- jede Zusammenarbeit wechsel die Kosten in mit der Nöldner-Truppe die Höhe getrieben Laute abzulehnen. Begrün- (SPIEGEL 35/1994). dung: Die Mitarbeiter Nöldner weist die Kri- hätten anderes zu tun, tik der ehemaligen Care- Stimme als sich ständig mit dem Beschäftigten zurück. unkoordinierten Haufen Doch für das Mißma- Care-Chef Nöldner gerät immer der ständig wechselnden nagement des Care- Care-Helfer beschäfti- Chefs gibt es immer stärker unter Druck: Kritiker gen zu müssen. mehr Belege. So stoppte aus den eigenen Reihen wollen „Solide Organisation Nöldner im Sommer vor Ort“ hat auch der 1992 abrupt eine Liefe- ihn stürzen. Geschäftsführer von rung von Geräten und Care Deutschland, Pe- Reagenzien, mit denen m Auswärtigen Amt war das Urteil ter Molt, 65, mehrmals zwölf Kinderkrebsstatio- vernichtend. Die „Fülle von Unzu- vergeblich angemahnt. nen in Rußland ausgerü-

Ilänglichkeiten“ bei dem Ruanda- Verärgert trat der lang- DARCHINGER stet werden sollten. Die Abenteuer von Care Deutschland kön- jährige Nöldner-Ver- Care-Vorsitzender Nöldner Lieferung war seit lan- ne die gesamte deutsche Hilfe für ruan- traute, der seit rund Bürosessel in Bonn gem minuziös geplant dische Flüchtlinge in Verruf bringen, zehn Jahren bei ver- und schon für den Flug warnte das Bonner Außenministerium schiedenen Institutionen Hilfsprogram- bereitgestellt. Nöldners Begründung: Er Ende August in einem internen Papier. me für Ruanda ausgearbeitet hat, am wolle erst die Renovierung der Kinder- Mitarbeiter des Malteser-Hilfswerks, Dienstag vergangener Woche von seinem krebsstationen überprüfen lassen. das ebenfalls in Zaire aktiv ist, seien Posten zurück. Zuvor hatte Nöldner Die Materialien mußten für ein halbes zeitweilig schon gezwungen gewesen, Molts Forderung, zurückzutreten, abge- Jahr in der Nähe von Bonn deponiert von ihrer Ausrüstung die „deutschen lehnt. werden. Durch die „lange Lagerzeit“ Farben abzutrennen“, um nicht für das Doch möglicherweise muß der Care- könnten „Schäden bei der Elektronik Care-Debakel verantwortlich gemacht Chef bald seinen Posten räumen: Seine entstehen“, warnte vergeblich die Lie- zu werden. Als „größtes Problem“, so Kritiker wollen ihn bald auf einer außer- ferfirma Karl-Heinz Böge in Hamburg. der Bericht weiter, habe sich herausge- ordentlichen Mitgliederversammlung Spendengelder verplempert der Care- stellt, daß „in die Arbeit der Care-Füh- kippen. Nur durch eine neue Leitung, Vorstand offenbar auch durch seine rung vor Ort“ hineinregiert werde – glaubt Molt, sei noch Schaden von Care Vorliebe für modernste Gerätetechnik. „vom Bürosessel in Bonn aus“. abzuwenden. Nöldner nehme Rat „über- Am Beispiel von 20 mobilen Zahn- Dort sitzt Klaus Nöldner, 59, der Lei- haupt nicht“ an. arztstationen, die Care in die ehemalige ter der Ruanda-Aktion, und findet das Diese Erfahrung haben auch andere Sowjetunion sandte, hat ein Mitarbeiter dilettantische Unternehmen nach wie Care-Mitarbeiter mit ihrem cholerischen eine ganze Pannenserie aufgeschrieben. vor großartig. Von dieser Einschätzung Chef gemacht. Der Vorsitzende, kritisie- Die „Dentomobile“ seien „eine Erstent- kann den selbstherrlichen Vorsitzenden ren sie, vergebe Aufträge immer wieder wicklung“, die „ohne ausreichende von Care Deutschland offenbar auch „freihändig“ und schere sich nicht um praktische Erprobung“ losgeschickt massive Kritik aktiver Care-Helfer, ehe- Preisvergleiche. Zudem habe Diplom- worden seien, heißt es in der Analyse. maliger Mitarbeiter und anderer Orga- Volkswirt Nöldner, der hauptberuflich Der Lkw-Typ – ein Modell von Mer- nisationen nicht abbringen. bei der Ärzteorganisation Hartmann- cedes-Benz – werde in den GUS-Staaten nicht gefahren, so daß Wartung und Re- paratur „kaum möglich bzw. erschwert“ seien. Für das Fahrzeug könne man vor Ort weder Öl- noch Luftfilter bekom- men. Auch seien die einheimischen Öle für den Lkw nicht geeignet. Hinzu komme, daß die medizinisch- technische Ausrüstung für „die extre- men Einsatzbedingungen“ zu anfällig sei. So habe sich der Behandlungsstuhl „in 5 Fällen“ schon nach kurzer Zeit nicht mehr verstellen lassen, „so daß Behandlung der Patienten in Bodennä- he erfolgt“ – der Arzt müsse neben dem Patienten knien. Nöldner hält die Lieferung der mobi- len Zahnstationen (Kosten pro Stück: rund 300 000 Mark) in ehemalige So- wjetrepubliken wie Turkmenien oder Kasachstan dennoch für eine gute Tat. Fahrzeuge und Geräte könnten jeder- zeit in Moskau repariert werden, be- hauptet der Care-Vorsitzende.

J. GIRIBAS / GEGENDRUCK Wie locker Care Deutschland Aufträ- Care-Einsatz in Goma: Unkoordinierter Haufen ge vergibt, ist auch Lieferfirmen schon

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Werbeseite aufgefallen. Die Firma Frank H. As- beck, ein Ingenieurbüro für Industrie- anlagen in Bonn, wurde beispielsweise im März 1992 von einem Care-Be- schäftigten aufgefordert, für das Hilfs- programm für krebskranke Kinder Preisangebote zu machen. Asbeck war bei früheren Gelegen- heiten mit seinen Offerten bis zu 15 Prozent – in einem Fall nach eigenen Angaben sogar um 30 Prozent – unter den Preisen des langjährigen Care-Lie- feranten Böge aus Hamburg geblieben, ohne allerdings die Aufträge zu be- kommen. Jetzt durfte Asbeck nicht einmal ein Angebot vorlegen. Sechs Tage nach- dem die Bitte um Preisangebote bei Care herausgegangen war, forderte Nöldner die Firma auf, von einer Of- ferte in diesem Fall abzusehen. Care habe bereits „Originalpreise“ vorlie- gen. Wiederum erhielt Lieferant Böge den Zuschlag. „Ihre unklare Geschäftspolitik ver- wundert uns“, schrieb daraufhin Fir- menchef Frank H. Asbeck, 35, an den Care-Vorstand. Ein Vergabeverfahren ohne Wettbewerb führe „erfahrungsge- mäß nicht zur Erlangung der günstig- sten Einkaufspreise“. Am Telefon stauchte Nöldner den Unternehmer daraufhin zusammen. Mit „lauter Stim- me“, notierte Asbeck in einem Akten- vermerk, habe Nöldner ihn ange- herrscht, Care keine Angebote mehr zu machen. Als Vorsitzender könne er „gemäß Vereinsrecht“, so der Care-Chef laut Asbeck, „Aufträge vergeben, wie er wolle“. Y

Gegendarstellung Im SPIEGEL Nr. 34 vom 22. August 1994 erschien auf Seite 22 unter der Überschrift „Schlafende Hunde ge- weckt“ ein Artikel, der sich u. a. mit mir beschäftigte. Es hieß dort: „Eingefädelt hatte das Ge- schäft ein Journalist, der ehemalige Fo- cus-Mitarbeiter Thomas Reinecke, der einen Knüller witterte und die Polizei ins Spiel brachte.“ Soweit hierdurch der Eindruck erweckt wird, ich hätte das Geschäft eingefädelt, bevor ich die Polizei informiert habe, stelle ich fest: Herr Popow hat mich über einen Kontaktmann gebeten, einen Kunden für Plutonium zu finden. Ich habe dieses zur Anzeige bei der Polizei gebracht. Dabei habe ich klargestellt, daß ich an einer Veröffentlichung kein Interesse habe. Ich habe dann mit Wis- sen und Zustimmung der Polizei weitere Verhandlungen mit Herrn Popow ge- führt. Hamburg, den 26. August 1994 Thomas Reinecke

106 DER SPIEGEL 38/1994 . M. SCHOLZ Polizeieinsatz in Hamburg (1990): „Die individuelle Schuld ist das A und O“

handelte er sofort: Der Sozialdemokrat menden Zahl von polizeilichen Gewalt- Polizei trat von seinem Posten zurück. exzessen in deutschen Wachstuben, Auch sein Parteifreund Henning Vo- den sich mehrenden Anzeichen von scherau fühlte sich von der „Dimension Ausländerfeindlichkeit und den Sympa- der Vorwürfe“ nachgerade überwältigt: thiebekundungen mancher Ordnungs- Schwarze Wenn sich die Anschuldigungen bestä- hüter für rechtsradikale Organisatio- tigten, verlangte der Hamburger Bür- nen. germeister barsch, müßten die Beamten Die Gefangenenhilfsorganisation Horden „hinter Gitter“. Amnesty International hat im letzten Doch so lange wollte Voscherau nicht Jahr einen „deutlichen Anstieg von Prügelszenen, Ausländerhaß und warten. Als „vorbeugende politische Mißhandlungen“ auf deutschen Polizei- rechtsradikales Gedankengut: Die Maßnahme“ ordnete er vergangene Wo- wachen angeprangert. Die Übergriffe che die Suspendierung eines kompletten seien teils „rassistisch motiviert“ gewe- zunehmende Gewaltbereitschaft Polizeizuges an. Ohne nähere Prüfung sen. von Polizisten ängstigt Politiker. der Vorwürfe wurden 27 Beamte nach Während Polizeiführer allenfalls eini- Hause geschickt – 3 von ihnen werden ge schwarze Schafe in ihren Reihen Kontakte zu rechtsradikalen Gruppie- ausmachen wollen, sprechen Polizeikri- er Vermerk aus dem Hamburger rungen nachgesagt. tiker wie der Berliner Grünen-Frakti- Polizeirevier 23, in holprigem Prompt hagelte es landauf, landab onschef Wolfgang Wieland bereits von DAmtsdeutsch niedergeschrieben, Proteste gegen den Hamburger Coup. „schwarzen Horden“ – deutsche Polizi- las sich äußerst vage. Suspendierungen „per Formblatt“, kriti- sten, Banden von Prüglern? Im Keller einer Polizeistation in der sierte etwa der Berliner Beamtenrecht- Das wohl nicht. Doch der geschiede- Nähe des Hamburger Hauptbahnhofs ler Ulrich Battis, seien ihm bislang noch ne Senator Hackmann klagt, immer (Amtskürzel: „PR 11“) solle es zu nicht vorgekommen. Battis: „Die indivi- wieder hätten sich einzelne Polizeifüh- strafwürdigen „Handlungen“ gekom- duelle Schuld ist das A und O.“ rer als unfähig oder gar unwillig erwie- men sein, berichtete da ein Polizei- Anfangs hatte der schnelle Streich des sen, Machtmißbrauch und Gewalt von obermeister: Offenbar seien „negroide Hamburger Bürgermeisters noch nach Einsatzbeamten gegen Ausländer zu Personen“ von Beamten mißhandelt einem Musterbeispiel für entschlossenes verhindern. Hessens Innen-Staatssekre- worden. Durchgreifen ausgesehen. Gegen Ende tär Heinz Fromm (SPD) sieht bei Anscheinend, berichtete der Mitar- vergangener Woche entpuppte er sich den Ordnungshütern einen „massiven beiter weiter, nähmen Polizeikollegen als blinder, womöglich rechtswidri- Nachholbedarf in der sozialen Kompe- nachts regelmäßig „farbige Personen ger Aktionismus. Vergangenen Freitag tenz und der politischen Bildung“. fest“ und provozierten sie so lange, bis schließlich mußte auch der Innenstaats- Erst vor einigen Wochen war in Ber- sie einen Vorwand hätten, ihre Opfer rat Dirk Reimers gehen. lin ein Polizeitrupp aufgelöst worden. „zu schlagen bzw. zu mißhandeln“. Die hektischen Aktivitäten offenba- Neun Beamte wurden festgenommen, Ein Papier mit Informationen vom ren die Hilflosigkeit und Nervosität, mit weil sie ausländische und jugendliche Hörensagen. Als der Hamburger In- der Innen- und Rechtspolitiker in der Verdächtige mißhandelt haben sollen. nensenator Werner Hackmann es ver- Bundesrepublik einem wachsenden Pro- Die Berliner Prügelorgien sind nur gangene Woche auf den Tisch bekam, blem zu begegnen suchen: der zuneh- ein Posten auf einer langen Liste von

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DEUTSCHLAND „Eine geschlossene Abteilung“ Interview mit dem Berliner Polizeikritiker Otto Diederichs über den Streß der Beamten

Diederichs, 42, ist Mitherausgeber amter schon sehr gute Nerven, wenn Diederichs: Das Beamtenrecht ist der Zeitschrift Bürgerrechte & Poli- er das durchhalten will . . . dringend reformbedürftig. Wer so et- zei, die seit 1978 über die Entwick- SPIEGEL: . . . oder verständnisvolle was sagt, muß entlassen werden kön- lungen und Probleme bei der deut- Vorgesetzte. nen. Und es muß möglich werden, schen Polizei berichtet. Diederichs: Schön wär’s. Oft erle- Leute auch zurückzustufen, wenn sie ben die Beamten, daß die Vorge- überfordert sind – beides geht heute SPIEGEL: Herr Diederichs, fast täg- setzten die Vorfälle auch nur be- nicht. lich werden neue Übergriffe von Poli- schönigen und daß die eigene Beför- SPIEGEL: Das Beamtenrecht steht zisten gegen Ausländer offenbart. derung plötzlich schleppender ver- auch der Forderung nach mehr Aus- Macht sich in der Polizei Rassismus läuft. ländern in der Polizei entgegen. breit? SPIEGEL: Das werden Polizeiführer Diederichs: Inzwischen haben ja Diederichs: Jetzt sind gerade mal ei- weit von sich weisen. mehrere Bundesländer, darunter nige Fälle aufgedeckt worden, des- Bayern und Berlin, voll- halb richtet sich das Interesse der Öf- mundige Absichtserklä- fentlichkeit darauf. Aber solche rungen abgegeben, ver- Übergriffe sind keineswegs neu. Sie mehrt Ausländer zu be- gehören in Großstadtrevieren zum schäftigen. In Wahrheit polizeilichen Alltag wie Parksünder passen sämtliche Aus- aufzuschreiben. Aggressionen von länder beider deutschen seiten der Ordnungshüter werden Polizei bequem in einen nur selten bekannt, weil es meist Reisebus. Dabei bin ich Gruppen trifft, die sich schlecht weh- überzeugt, daß mit je- ren können, und weil Polizeibeamte dem weiteren ausländi- sich gegenseitig nicht verpfeifen. schen Polizisten die SPIEGEL: Wie erklärt sich die Nei- Chancen steigen, rassi- gung der Polizei zu übertriebenem stische Gewalt zu be- Korpsgeist und Kameraderie? kämpfen. Diederichs: Polizisten sind im Regel- SPIEGEL: Was muß sich fall mit einem eher konservativen an der Ausbildung än- Weltbild aufgewachsen. Viele kom- dern? men vom Land, oft sind schon Vater Diederichs: Als Polizei- oder Onkel bei der Polizei gewesen. lehrer sollten, woimmer Die jungen Leute werden häufig es geht, externe Fach- weitab vom Heimatort kaserniert, leute eingesetzt werden. verlieren ihren bisherigen Freundes- Die abgeschottete Form kreis, alle sozialen Kontakte konzen- der Ausbildung in den

trieren sich auf die Arbeit. Da wird K. MEHNER Polizeischulen ist fatal. der Polizeizug ganz schnell eine ge- Polizeiforscher Diederichs Es wird immer Spezial- schlossene Abteilung. Viele junge „Ein fauler Apfel verdirbt den ganzen Korb“ techniken geben, die Polizisten bringen Idealismus mit. nur von Polizeispeziali- Aber in der Ausbildung werden sie Diederichs: Die Polizei betrachtet sten unterrichtet werden können, et- bald desillusioniert. Sie werden zuge- sich gern als Opfer. Das ist bei den wa die Schießausbildung. Aber war- schüttet mit Rechtsvorschriften, die schlimmen Verhältnissen in vielen um wird nicht ein Teil der juristi- ihnen in der täglichen Arbeit meist Großstädten teilweise verständlich. schen Ausbildung an ganz normalen wenig helfen. Wichtig wäre Anti-Streß-Training, Fakultäten der Uni gelehrt? Das SPIEGEL: Vom täglichen Frust bis zu wo Konfliktbewältigung geübt wird. Problem ist die polizeiliche Hierar- kriminellen Übergriffen ist es eine Aber meist ist der Schutzmann nur chie, das System von Befehl und Ge- weite Strecke. „Karl Arsch“, allein gelassen mit sei- horsam. Diederichs: Prügelpolizisten sind ja nem Frust. SPIEGEL: Wie kann man die Zivil- auch die Ausnahme. Die meisten SPIEGEL: Wenn Politiker durchgrei- courage der Beamten stärken? sind nur schweigende Mitwisser. Die fen, werden sie oft von Gerichten zu- Diederichs: Ich halte einiges von der Polizei redet gern von schwarzen rückgepfiffen. So durfte beispielswei- Idee eines Polizeibeauftragten, ana- Schafen. Ich verwende lieber das Bild se ein Kieler Polizeiführer im Amt log dem Wehr- oder Datenschutzbe- vom faulen Apfel. Der verdirbt den bleiben, der vor einer Hausräumung auftragten. Also jemand, der nicht ganzen Korb, wenn er nicht sofort seinen Untergebenen gesagt hatte, in die Befehlsstrukturen eingebun- entfernt wird. Ein Mitarbeiter, der man solle den Hausbesetzern „den den, sondern dem Parlament verant- seinen Kollegen zurechtweist oder ei- Arm so hochdrehen, daß er viermal wortlich ist. Er oder sie muß Akten nen Vorfall gar weitermeldet, wird aus der Kugel schlägt, dabei lächeln, anfordern und konkreten Fällen aber geschnitten. Da braucht ein Be- lächeln“. nachgehen können.

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Übergriffen durch schlagkräftige Ord- und beschimpft worden“, berichtet ein nungshüter: Hamburger Polizist: „Dealer packen i In Lüneburg wurden im Juli zwei sich Rasierklingen unter den Jackenkra- Polizisten verurteilt, die einen russi- gen, damit ich da reingreife, wenn ich schen Asylbewerber gefesselt und sie festhalten will.“ verprügelt hatten. Der harte Schichtdienst wird schlecht i In Leipzig ist Mitte August ein Beam- bezahlt. Ein Polizeiobermeister, 36 Jah- ter zu mehreren Jahren Haft verur- re, verheiratet, ein Kind, bekommt ge- teilt worden, weil er vier Vietname- rade 3500 Mark im Monat – weniger als sen beraubt, verschleppt und zusam- ein Fahrer bei der Müllabfuhr. Gehalts- mengeknüppelt hatte. erhöhungen sind angesichts knapper i Im brandenburgischen Bernau wur- Länderfinanzen nicht drin. Programme, den sieben Polizisten suspendiert, mit deren Hilfe der wachsende Frust der weil sie auf der Wache 15 vietnamesi- Beamten abgebaut werden könnte, gibt sche Zigarettenhändler geschlagen es ebenfalls kaum. und getreten haben sollen. Reformvorschläge, mit denen gewalt- i In Berlin erhielten vorige Woche drei bereite Beamte zumindest abgeschreckt

Beamte hohe Geldstrafen, weil sie ei- J. RAUPACH / ARGUS werden könnten, werden nur halbherzig nen Iraner mißhandelt hatten. Ex-Senator Hackmann oder gar nicht umgesetzt. Kaum ein Viele Übergriffe werden nicht be- Sofort gehandelt Bundesland beschäftigt Polizeibeauf- kannt, weil sich die Opfer nicht trauen, tragte, die als Ansprechpartner für Bür- Anzeige zu erstatten. Wer dennoch ei- waltsamer Übergriffe aufgefallenen Be- ger wie Polizisten gewalttätige Übergrif- nen Beamten belastet, gilt in Polizei- amten noch vergleichsweise gering. Wie fe verfolgen könnten. kreisen zumeist als Querulant oder Kri- sehr sich jedoch Ressentiments gegen- Der von der Innenministerkonferenz mineller. Oftmals herrscht auf den Re- über Ausländern schon in den Köpfen im Mai 1993 getroffene Beschluß, künf- vieren ein strammer Korpsgeist wie zu ausgebreitet haben, belegt eine aktuelle tig auch Ausländer, als Angestellte, in Kaisers Zeiten: „Polizisten verpfeifen Umfrage: Unter 500 Polizeibeamten in den Polizeidienst aufzunehmen, wird sich gegenseitig nicht“, berichtet der Rheinland-Pfalz betrachteten 66 Pro- nur zögernd befolgt. In Nordrhein- Berliner Polizeiforscher Otto Diede- zent der Befragten Asylbewerber als ei- Westfalen gibt es bis heute nur fünf richs (siehe Interview Seite 108). ne soziale Bedrohung. Gut ein Drittel Schutzmänner ohne deutschen Paß. In Entsprechend schwierig wird es für lehnte eine multikulturelle Gesellschaft Bremen schieben gerade mal drei Aus- Betroffene, den Ordnungshütern Ge- als „nicht sozialverträglich“ ab. Knapp länder Dienst. walttätigkeiten nachzuweisen. So ver- zwei Drittel fanden es problematisch, im Auch die Einführung von Namens- drehten Hamburger Polizisten dem Polizeidienst auch Ausländer einzustel- schildern, anhand derer Gewaltopfer ih- NDR-Journalisten Oliver Neß bei einer len. ren Peiniger identifizieren könnten, Demonstration im Mai den Fuß derart, Hat die deutsche Gesellschaft die fal- werden lediglich in einigen Feldversu- daß der Reporter einen Bänderriß erlitt. sche Polizei oder spiegeln die Ordnungs- chen erprobt. So konnten in Hessen Be- Seither fahnden Staatsanwälte verge- hüter wider, was in dieser Gesellschaft amte nur fünf Monate lang verpflichtet bens nach einem Schuldigen, obwohl virulent ist? Gewalt im Fernsehen, Rau- werden, ein Namensschild am Revers zu Fernsehbilder die Täter zeigen. fereien in der Schule – die Schwelle der tragen. In Beweisnot geraten die Ermittler Gewaltbereitschaft ist überall gesunken. Kürzlich mußte die Anordnung auf auch im Fall eines 30 Jahre alten Polizei- Warum sollen junge Polizisten da anders Druck der Polizisten zurückgenom- beamten (Spitzname „Elvis“), der seit sein als ihre Altersgenossen? men werden – die Beamten befürch- vergangener Woche in Kiel vor Gericht Häufig müssen sie schlimmste Ernied- teten, Opfer krimineller Gewalt zu wer- steht. Laut Anzeige eines Kollegen soll rigungen erdulden. „Ich bin bespuckt den. Y er einen Asylbewerber gefesselt und zu- sammengeschlagen haben. Fotos des polizeilichen Erkennungsdienstes, die die Verletzungen des Ausländers nach der Festnahme hätten beweisen können, sind jedoch, angeblich wegen schlechter Qualität, vernichtet worden. Strafen haben prügelnde Beamte sel- ten zu fürchten. In Berlin gab es 1992 zwar 646 Ermittlungsverfahren gegen Polizeibeamte wegen Körperverletzung im Amt. Nur in 19 Fällen wurden jedoch Anklagen erhoben, die allesamt mit Freispruch endeten. Gewalttätige Beamte, die tatsächlich einmal überführt werden können, müs- sen um ihre Dienstmarke allerdings noch lange nicht fürchten. Ein Raus- schmiß aus dem Staatsdienst ist laut Be- amtenrecht erst bei einer Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr möglich. Trotz der Skandalmeldungen: Ge- messen an den vielen tausend Polizisten,

die in Deutschland ihren Dienst verrich- K. V. APPEN ten, ist die Zahl der bislang wegen ge- Polizeiopfer Neß, Einsatzbeamte: Fernsehbilder vom Täter

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WIRTSCHAFT TRENDS

Treuhand digt. Das Geschäft auf der Schiene ist für die Restau- Kraftfahrzeugsteuer Nachschlag für rantkette ein Verlust. Die Pro-Kopf-Umsätze in den den Abwickler Bordrestaurants liegen zwi- Ein Drittel für die Umwelt Die Nachlässigkeit der Treu- schen 10 und 15 Prozent un- Die Brüsseler EU-Kommission will mit einem Umbau des handanstalt bringt ihrem im ter den Ergebnissen der nor- Steuersystems die Umweltbelastung durch den Straßen- April dieses Jahres ausge- malen McDonald’s-Restau- verkehr in Europa verringern. Noch in diesem Jahr soll schiedenen Abwicklungsdi- rants. Unter der Überschrift die für Steuern zuständige Kommissarin Christiane Scri- rektor Ludwig Tränkner „McTrain“ hatten die Bahn vener entsprechende Vorschläge vorlegen. Die Kommis- wahrscheinlich eine fünf- bis und der Fast-food-Konzern sarin will für die EU-Länder einheitlich festlegen, daß sechsstellige Summe als vor einem Jahr das Modell- sich bestimmte Anteile der Kraftfahrzeugsteuer nach Nachschlag ein. Bei den projekt auf die Schiene ge- ökologischen Kriterien rich- Verhandlungen über die schoben. Zwei Selbstbedie- ten müssen. So könnte ein Auflösung seines Vertrags nungsrestaurants mit jeweils Drittel der Steuer als fester haben die Berliner überse- 27 Sitz- und 8 Stehplätzen Grundbetrag erhoben wer- hen, Tränkner von einem wurden seither in Eigenre- den, ein Drittel wird nach dem gutbezahlten Posten im gie betrieben. Stromausfälle, Verbrauch des Fahrzeugs und mangelhafter technischer das letzte Drittel nach dem Service der Bahn und zu Schadstoffausstoß bemessen. niedrige Fahrgastzahlen trie- Die Höhe der Kraftfahrzeug- ben Gerd Raupeter, Chef steuer soll allerdings nicht eu- von McDonald’s Deutsch- ropaweit harmonisiert wer- land, zur Kündigung. Bahn- den. Die Mineralölsteuer chef Heinz Dürr bat um könnte dagegen aus ökologi- Aufschub. In dieser Woche schen Gründen allgemein an- tagt eine Expertengruppe gehoben werden. Die Idee, beider Unternehmen. Für nach dänischem Vorbild eine die Dauer der Gespräche besondere Kaufsteuer für hat Raupeter die Kündigung neue Personenkraftwagen ein- ausgesetzt. „Kommt es zu zuführen, wurde schon in der

C. SCHULZ / PAPARAZZI keiner Einigung“, droht er, ersten Diskussion vergangene Tränkner „steigen wir endgültig Woche verworfen. Das würde aus.“ den Absatz von Neuwagen er- Gläubigerausschuß der In- schweren, argumentierte vor dustrieanlagenimport (IAI) Konkurse allemder deutsche Kommissar zu entfernen. Der einst Martin Bangemann: Damit größte Außenhandelsbetrieb Strauß verzögere sich die Einführung

der DDR war für den Ab- ökologisch fortschrittlicher R. JANKE / ARGUS wickler ein lukratives Ne- soll haften Autos. Autos im Stau bengeschäft. Sein Honorar Der Münchner Rechtsanwalt bemißt sich nach der Höhe Max Josef Strauß soll für den der IAI-Schulden von einer Gesamtschaden beim Kon- schulden von Strauß zu prü- gelder aufspüren. 16 zusätzli- Milliarde Mark. Einen kurs der ostdeutschen Ma- fen. Der Sohn des ehemali- che Beamte des gehobenen Rücktritt von dem einträgli- schinenfabrik Samag in Höhe gen bayerischen Ministerprä- Dienstes sollen vor allem chen Posten will sich Tränk- sidenten hatte den dubiosen Zehntausende von Belegen ner, gegen den die Staatsan- Samag-Käufer Kurt Mayer prüfen, die seit Januar bei waltschaft wegen überhöhter beraten und den Kaufver- Durchsuchungen von Ge- Liquidatoren-Honorare in trag bei der Treuhand als schäftsräumen der Dresdner seiner Abteilung ermittelt, Bevollmächtigter einer nahe- Bank in Frankfurt und Düs- nur gegen einen finanziellen zu mittellosen Mayer-Firma seldorf beschlagnahmt wur- Trennungsausgleich abhan- unterschrieben. Im Wirt- den. Die Fahnder interessie- deln lassen. Vergangene schaftsprüfungsbericht der ren die Überweisungen auf Woche forderte Finanzmini- Samag für 1992 wird Strauß die Konten der Luxembur- ster Theo Waigel die Treu- als Aufsichtsratsvorsitzender ger Tochtergesellschaft der hand schriftlich auf, schnell- aufgeführt. Der Anwalt Frankfurter Großbank. Sie stens zu klären, ob die An- lehnt die Verantwortung je- hoffen, so Tausende von

stalt noch weitere Ämter J. GIRIBAS / GEGENDRUCK doch ab: Der Aufsichtsrat Steuerhinterziehern zu über- des Ex-Liquidators verges- Strauß habe sich nie rechtmäßig führen. Der Düsseldorfer In- sen habe. konstituiert. formationsbrief Steuertip hat von rund 250 Millionen ausgerechnet, daß die Aus- Bahn Mark haftbar gemacht Fluchtgelder wertung des beschlagnahm- werden. Konkursverwalter ten Materials mindestens McDonald’s Eckart Nellessen beauftragte Steuerfahnder zehn Millionen Mark kosten vergangene Woche den Düs- wird. Trotzdem wird sich die steigt aus seldorfer Rechtsanwalt Lo- rüsten auf Aktion für den Fiskus wohl McDonald’s Deutschland renz Schwegler, ehemals Die Düsseldorfer Steuer- lohnen. Viele aufgeschreckte hat die Verträge mit der Chef der Gewerkschaft fahndung will mit einer ver- Steuerflüchtlinge haben sich Deutschen Bahn AG gekün- HBV, ein mögliches Ver- stärkten Mannschaft Flucht- bereits selbst angezeigt.

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Automobilindustrie ZURÜCK ZUR ALTEN STÄRKE Die deutsche Automobilindustrie gibt sich wieder selbstbewußt. In der schwersten Krise der Nachkriegszeit haben Mercedes und BMW, VW und Porsche ihre Betriebe radikal umgebaut. Jetzt steigen Absatzzahlen und Gewinne. Besonnene Manager warnen bereits vor voreiliger Euphorie.

Verladung von VW-Autos (in Emden): „Die Wettbewerber können sich nicht vorstellen, was auf sie zukommt“ H. SCHWARZBACH / ARGUS

in paar Arbeiter, die neben dem schäft verdarben, jetzt wollen sie verlo- von Arbeitsplätzen wurden gestrichen, Fließband standen, klatschten, als renes Terrain zurückerobern. und die Bilanzen wiesen Milliardenver- Eder BMW 318i die Papierwand Die ersten Erfolge sind beachtlich. In luste aus. durchfuhr. Werksleiter Al Kinzer hielt ei- den ersten acht Monaten dieses Jahres Die Krise erschütterte nicht nur das ne kurze Ansprache, und dann gingen die konnten Mercedes und BMW den Ver- Selbstvertrauen einer Branche, sondern Mitarbeiter wieder ihrem Job nach. kauf in den USA um 11 bis 20 Prozent das der gesamten deutschen Industrie. So ruhig und unauffällig begann am steigern (siehe Grafik). Wenn selbst eine Firma wie Mercedes- Montag vergangener Woche in der Nähe Übertroffen werden die beiden noch Benz nicht mehr mit der Konkurrenz von Spartanburg in South Carolina ein durch das Comeback des Volkswagen- aus Japan und den USA mithalten höchst spektakuläres Ereignis: In der Konzerns. Der Absatz der Wolfsburger konnte, wer dann? neuen BMW-Fabrik lief das erste Auto war im vergangenen Jahr so stark ge- Doch nun ist die Zeit des Klagens und vomBand, dasdieMünchner inden USA schrumpft, daß sich der Vorstand mit Jammerns vorbei. Mercedes-Chef Hel- produzieren. Wenn das Werk einmal voll dem Gedanken trug, den Export in die mut Werner will die Produktion bis En- ausgebaut ist, kann BMW dort 90 000 USA völlig aufzugeben. Inzwischen er- de 1998 von derzeit knapp 600 000 auf Fahrzeuge jährlich montieren. reichen die Wagen aus dem mexikani- rund eine Million Fahrzeuge erhöhen. Ein paar hundert Meilen südwestlich, schen VW-Werk endlich eine akzepta- Sein Kollege bei BMW, Bernd Pischets- in Alabama, errichten Bauarbeiter eine ble Qualität, der Verkauf in den USA rieder, hat die Millionenzahl auf einen Fabrik für Mercedes-Benz. Auch die hat sich mehr als verdoppelt. Schlag erreicht. Durch die Übernahme Stuttgarter wollen in den USA mit einer Der Aufschwung in Amerika zeigt, des britischen Herstellers Rover konnte eigenen Produktion vertreten sein. daß eine der wichtigsten deutschen BMW seine Produktion und seinen Die beiden deutschen Nobelmarken Branchen dabei ist, verlorene Stärke Marktanteil in Europa fast verdoppeln. setzen auf dem größten Automarkt voll wieder zurückzugewinnen. Lange Zeit In Wolfsburg träumt VW-Chef Ferdi- auf Angriff. Jahrelang hatten sie zugese- überboten sich die heimischen Automo- nand Pie¨ch bereits von goldenen Zeiten hen, wie die scheinbar übermächtigen bilhersteller, mit Ausnahme von BMW, für den angeschlagenen Konzern, der im Konkurrenten aus Japan ihnen das Ge- mit Negativ-Meldungen: Zehntausende vergangenen Jahr noch knapp zwei Mil-

114 DER SPIEGEL 38/1994 . DPA C. BLAIR-MILLER Mercedes-Chef Werner, BMW-Werk Spartanburg*: Die beiden deutschen Nobelmarken setzen voll auf Angriff

liarden Mark Verlust einfuhr. 1998 Selbst VW scheint inzwischen die tiefe che der Konkurrenz aus Japan. Lange könnte VW einen Gewinn von 6,5 Milli- Krise überwunden zu haben. Nach dem Zeit konnten Toyota und Nissan, Hon- arden Mark erwirtschaften. Rekordverlust des vergangenen Jahres da und Mazda in Europa und den USA Volkswagen soll seine Kosten so dra- erwirtschafteten die Wolfsburger im er- mit niedrigen Preisen immer neue stisch senken, daß die Konzernmarken sten Halbjahr 1994 nur noch ein Minus Kundschaft gewinnen. Doch seit der VW, Audi, Seat und Sˇkoda ihre Preise von gut 200 Millionen Mark. Selbst das Kurs des Yen steigt, müssen sie ihre Ex- in den nächsten drei Jahren nicht mehr will Pie¨ch mit Hilfe seines umstrittenen portpreise erhöhen. erhöhen müssen. „Die Wettbewerber Kostensenkers Ignacio Lo´pez bis zum Weil zugleich der Absatz auf dem ja- können sich nicht vorstellen“, droht Jahresende noch ausgleichen. panischen Markt stark eingebrochen ist, Pie¨ch, „was auf sie zukommt.“ Nicht nur in den USA, auch auf dem werden einige Hersteller aus Fernost die Ist es die alte Überheblichkeit, die deutschen Markt konnten die Firmen be- Krise sicher nicht als selbständige Her- nun wieder durchbricht, oder sind die reits von der gestiegenen Wettbewerbsfä- steller überleben. Die anderen aber wie kränkelnden Firmen tatsächlich so higkeit profitieren. Im ersten Halbjahr Toyota und Honda reagieren aggressiv schnell genesen? erhöhten die deutschen Hersteller ihren auf die Herausforderung: Sie bauen ihre Die härtesten Einschnitte nahm sicher Absatz um knapp 3 Prozent, die japani- Werke in den USA und Europa noch Mercedes-Chef Helmut Werner vor. In schen Produzenten hingegen verloren gut weiter aus, um unabhängiger von den der fein verästelten Hierarchie strich er 22 Prozent. Wechselkursen zu werden. drei Führungsebenen, in den Fabriken Den Deutschen verhalfen nicht nur Besonnene Firmenführer wie Werner fielen mehrere zehntausend Stellen der neue Modelle und niedrigere Kosten zu warnen deshalb vor einer Euphorie un- Rationalisierung zum Opfer. 1991 benö- diesem Erfolg, sondern auch eine Schwä- ter den deutschen Herstellern. Dem tigten die Stuttgarter noch 100 000 Mercedes-Chef kommt der Aufschwung Beschäftigte, um 590 000 Fahrzeu- fast schon zu früh. Er will noch eine Rei- ge herzustellen. In diesem Jahr Aufschwung in Amerika he harter Sparmaßnahmen durchsetzen, schaffen 80 000 Mitarbeiter die Absatz deutscher Pkw in den USA stößt aber schon jetzt auf heftigen Wi- gleiche Menge. (jeweils Januar bis August) derstand. Der Betriebsrat wehrt sich Ähnlich brutal ging Porsche- massiv dagegen, daß Mercedes seine 1993 1994 Chef Wendelin Wiedeking zu Fertigung von Kunststoffteilen, die jähr- Werke. Er rationalisierte die Pro- 63 511 lich 20 Millionen Verlust einbringt, als duktion so stark, daß ganze Hal- selbständige Firma ausgliedert und an len, die zuvor für die Montage be- BMW 56 382 ein anderes Unternehmen verkauft. Volkswagen-Chef Pie¨ch weiß, trotz nötigt wurden, nun leerstehen. 50 745 Seit einigen Monaten erwirtschaf- 47 367 seiner optimistischen Prognosen, daß tet die Sportwagenfirma sogar ei- Europas größter Autokonzern noch nen kleinen Gewinn. Mercedes längst nicht aus dem Schlamassel heraus BMW wurde als einziger deut- 39 293 ist. Viele Einsparungen bringen nur scher Hersteller von der Krise VW kurzfristig Entlastung. kaum getroffen: Die Münchner Radikal strich Pie¨ch beispielsweise im vergangenen Jahr die Investitionen auf hatten ihre Produktion früher als 25 272 die Konkurrenz modernisiert. die Hälfte zusammen. Das verringert Und in der Modellpolitik leistete die Zinsbelastung um mehrere hundert sich BMW mit dem 8er Coupe´ nur Millionen Mark. Dafür kann der Kon- einen einzigen Flop. Die übrigen Audi zern aber künftig nicht so viele neue Baureihen verkaufen sich bestens. 8211 8615 Modelle auf den Markt bringen wie ge- Porsche plant. 2522 3724 * Produktionsstart am Montag vergange- Mit der Einführung der Vier-Tage- ner Woche. Woche verschiebt VW die Lösung eines

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Problems nur auf die Zukunft. Bis Ende 1995, wenn der Vertrag über die Ar- beitszeitverkürzung ausläuft, spart VW jährlich 1,6 Milliarden Mark Personal- kosten. Aber dann hat Volkswagen noch immer, wie zu Beginn der Verein- barung, 30 000 Mitarbeiter zuviel. Wenn Volkswagen dann Beschäftigte mit Abfindungen zur Aufgabe des Ar- beitsplatzes bewegen will, wird das teu- er. Mercedes-Benz gab mehr als 2 Milli- arden Mark aus, um insgesamt 40 000 Stellen zu streichen. BMW mußte sich bislang um seine Wettbewerbsstärke kaum Gedanken machen. Und durch die Rover-Über- nahme eröffnen sich neue Chancen. Risiken bestehen dennoch: Einige Rover-Modelle sind veraltet, andere ba- sieren auf Entwicklungen des einstigen Kooperationspartners Honda. BMW muß Milliarden investieren. BMW-Chef Pischetsrieder ist Realist geblieben.

„Zwei Drittel aller Fusionen oder Über- A. SCHOELZEL nahmen dieser Art“, sagt er, „sind bis- Waggonbau in Ammendorf: Die West-Konzerne wären die Konkurrenz am liebsten los lang schiefgegangen.“ Auch wenn Manager wie Pischetsrie- „Irgendwie wird es schon weiterge- Dennoch zeigten die West-Konzerne der und Werner vor allzu großer Über- hen“, sagt Czoch. Aber wie? jahrelang Interesse an der Ost-Konkur- heblichkeit deutscher Autochefs warnen Die Deutsche Waggonbau AG renz. „Wir mußten uns bis auf die Un- – ein wenig genießen wollen sie die Er- (DWA), zu der Ammendorf gehört, ist terhose ausziehen“, schimpft Gesamtbe- folge schon, nachdem sie sich lange Zeit der einzige ostdeutsche Konzern, der triebsratschef Jürgen Conrad. „Als die vorhalten lassen mußten, welch schlim- noch existiert. Die derzeit noch 7000 alles wußten, haben sie uns stehenlas- me Versager sie im Vergleich mit ihren Waggonbauer genießen deshalb höch- sen.“ japanischen Konkurrenten seien. sten politischen Schutz: „Der Leucht- Dann brach auch noch das Geschäft Mercedes-Chef Werner erzählt des- turm der ostdeutschen Industrie“ mit den GUS-Staaten zusammen, die halb gern, welche neuen Erfahrungen er (Helmut Kohl) soll auf jeden Fall erhal- Überlebenschancen der Ost-Waggon- auf einer Reise in die USA sammelte. ten werden. bauer schrumpften rapide. Ihre gewalti- Händler der Toyota-Luxusmarke Le- Das hehre Ziel steht auch in einem gen Werke waren auf die riesige Nach- xus, die Mercedes zuvor viele Kunden Sechs-Punkte-Papier, das die Treuhand- frage der ehemaligen Sowjetunion aus- abwarben, haben mittlerweile Probleme anstalt, die IG Metall und die betroffe- gerichtet. Bedarf gäbe es dort noch im- mit dem Verkauf der japanischen Mar- nen Länder Sachsen, Sachsen-Anhalt mer, aber die potentiellen Kunden ha- ke. Sie fragten den Mercedes-Manager, und Brandenburg gemeinsam verfaßt ben kein Geld. Trotz Hermes-Bürg- ob sie künftig, neben den Toyota-Wa- haben. Ein tragfähiges Konzept findet schaften sackte der Umsatz von 2 Milli- gen, auch Mercedes-Limousinen ver- sich in dem Papier nicht. Und ein poten- arden Mark 1991 auf 1,2 Milliarden im kaufen dürfen. Werner: „Das ist doch ter Investor ist nicht in Sicht. vergangenen Jahr. was.“ Y Daß die gute Absicht allein nicht Der dreiköpfige Vorstand um den reicht, weiß auch Hasso Düvel, der als ehemaligen Manager des Schokoladen- sächsischer IG-Metall-Chef im Auf- Unternehmens Jacobs-Suchard, Peter Unternehmen sichtsrat des Konzerns sitzt: „Vor der Witt, ist offenbar überfordert. „Augen- Wahl muß alles in trok- kenen Tüchern sein, sonst ist die DWA weg Bis auf die vom Fenster.“ Das würde zumin- dest die Konkurrenz im Unterhose Westen freuen. Der Markt für Schienen- Die ostdeutschen Waggonbauer fahrzeuge ist fest in der kämpfen ums Überleben. Hand der Konzerne Siemens, Daimler- Ihre Chancen stehen schlecht. Benz (AEG), GEC Alsthom und ABB. Sie m Werk 3 kann Manfred Czoch, Be- wären die unliebsame triebsrat beim Waggonbau Ammen- Konkurrenz aus dem Idorf, seine Kollegen mit Handschlag Osten am liebsten los. begrüßen. Ein Dutzend Männer schwei- Schon ohne die DWA ßen und montieren in der gigantischen können die Schienen- Halle, in der sich zwei Fußballfelder un- fahrzeugbauer 30 Pro-

terbringen ließen, an vier Wagen her- zent mehr produzieren, K. MEHNER um. als gebraucht wird. DWA-Chef Witt: Ohne Partner keine Chance

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wischerei“ nennt Hinrich Krey vom plomatisch, „aber solche Entscheidun- Hamburger Ingenieurbüro für Ver- gen müssen wirtschaftlich Sinn ma- kehrstechnik das 80 Seiten starke „Stra- chen.“ tegiekonzept DWA 2000“ des Vor- Die Konkurrenz kann in Ruhe abwar- stands. „Da stimmt kaum etwas.“ ten. „In den nächsten sechs Monaten Erst die Hälfte des für 1995 kalkulier- passiert nichts“, prophezeit ein AEG- ten Konzernumsatzes von gut 1,1 Milli- Bereichsvorstand, „und dann wird die arden Mark ist gesichert. Wird das Ziel DWA in Einzelteilen verkloppt.“ Y nicht erreicht, und davon gehen Bran- chenkenner aus, wackelt der wichtigste Etat: Für Forschung und Entwicklung Affären sind acht Prozent vom Umsatz einge- plant, zwischen 90 und 100 Millionen Mark jährlich. Der Wert sei für diese Branche sehr Nur zum

anspruchsvoll, heißt es in dem Papier. TEUTOPRESS Er wird jedoch nicht reichen, wenn der Balsam-Ermittler Schmiedeskamp Konzern, wie geplant, kurzfristig ein Abheften „Keine zureichenden Anhaltspunkte“ „führender Systemanbieter“ werden möchte. Die DWA baut gute Waggons, Die Balsam-Affäre, größter Wirt- chenden tatsächlichen Anhaltspunkte die entsprechende Steuerungs- und An- schaftskrimi in Westfalen, für das Vorliegen strafbarer Handlun- triebstechnik aber muß teuer zugekauft gen“ ergäben. Auch bestehe „kein An- werden. blieb monatelang unaufgeklärt – fangsverdacht für eine Steuerstraftat“. Die Düsseldorfer Siemens-Tochter der Staatsanwalt wollte nicht. Beruhigt legte Schmiedeskamp die Duewag verdient an einer in Görlitz Anzeige beiseite. Monatelang kümmer- gebauten Straßenbahn als Zulieferer te sich niemand mehr darum. dreimal soviel wie die Sachsen. „Ohne nfang Dezember 1992 landete ei- Mit soviel Sorgfalt und Nachdruck be- industriellen Partner hat die DWA ne Strafanzeige gegen einen pro- gannen die Ermittlungen in der Balsam- keine Chance“, sagt Eisenbahnexperte Aminenten westfälischen Unterneh- Affäre, dem größten Wirtschaftskrimi in Krey. mer auf dem Schreibtisch des Bielefel- Westfalen. Erst Anfang Juni dieses Jah- Die drei Marktführer Siemens, GEC der Oberstaatsanwalts Jost Schmiedes- res, 18 Monate nachdem die Justiz in Alsthom und ABB wollen nicht in einen kamp, 58. Der heftete das 14seitige Bielefeld genaue Hinweise erhalten hat- Markt investieren, der ohnehin von Schriftstück nebst 38 Anlagen ord- te, flog der Milliardenschwindel bei der Überkapazitäten geprägt ist. Die Daim- nungsgemäß ab – Aktenzeichen 6 JS Balsam AG auf. Der weltgrößte Her- ler-Tochter AEG hat sich bereits mit 415/92. steller von Sportböden mußte Konkurs dem Schienenfahrzeugbau in Hennigs- Zehn Tage später kramte Schmie- anmelden, die Firmenspitze ging in Un- dorf verhoben. Konzern-Chef Edzard deskamp das Schreiben noch einmal tersuchungshaft. Reuter läßt derzeit prüfen, ob sich Ver- hervor. In einer Dienstbesprechung, an Schmiedeskamp, der sich noch vor handlungen über den Waggonbau über- der neben Schmiedeskamp noch zwei Wochen als Balsam-Enthüller feiern haupt lohnen. Oberstaatsanwälte, zwei Staatsanwälte ließ, nutzt der späte Erfolg wenig. Ihm So bleibt nur noch die niederländische und zwei weitere hohe Justizbeamte droht vielmehr ein tiefer Karriereknick. Begemann Groep. Ihre Tochtergesell- sowie drei Regierungsdirektoren von „Strafvereitelung im Amt“ wirft ihm Mi- schaft Holec gilt als ideale Ergänzung der Steuerfahndung teilnahmen, wurde chael Vesper vor. Der Parlamentarische für das Ost-Unternehmen, aber die die anonyme Anzeige „eingehend erör- Geschäftsführer der Grünen im Düssel- Treuhand ist skeptisch. Den Holländern tert“ (Schmiedeskamp). dorfer Landtag stellte vergangene Wo- fehlt anscheinend das nötige Kapital. Die hochqualifizierte Zehnerrunde che Strafantrag gegen den zaudernden „Einen dreistelligen Millionenbetrag“ war sich einig, so ein Aktenvermerk Staatsanwalt. veranschlagt Treuhandvize Hero Schmiedeskamps, daß „die Behauptun- Versagt hat nicht nur der Staatsan- Brahms für die Sanierung der DWA mit gen des Anzeigeerstatters keine zurei- walt. Auch die Steuerfahnder waren of- ihren fünf Produktionsstandorten. Nach einer Studie des sächsischen Atlas- Teams, das sich um nicht privatisierte Treuhandbetriebe kümmert, werden al- lein für die Werke Bautzen, Görlitz und Niesky rund 600 Millionen Mark benö- tigt. Die Sachsen würden die sachsen-an- haltinischen Fabriken in Dessau und be- sonders in Ammendorf am liebsten ab- koppeln. Dort wurden, als es noch Ab- nehmer gab, Waggons für den GUS- Markt gebaut. Jetzt müssen andere DWA-Werke einen Teil ihrer spärlichen Aufträge abgeben. Ob sich unter diesen Umständen eine einvernehmliche Lösung zwischen Vor- stand, Gewerkschaft und Ländern fin- den läßt, scheint fraglich. „Wir wollen

uns nicht ausklinken“, sagt Sachsens DPA Wirtschaftsminister Kajo Schommer di- Pleite-Firma Balsam: Die Banken verloren fast zwei Milliarden Mark

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fenbar auf beiden Augen blind, denn walt. Doch der, so geht aus dem Brief just zu dem Zeitpunkt, als die ersten des Polizeipräsidenten hervor, hielt die Hinweise über Balsam bei der Justiz Recherchen der Kripo für „wertlos“. eintrafen, führte das Finanzamt dort Er habe die Protokolle „zum Abhef- routinemäßig eine Großbetriebsprü- ten“ weitergegeben, soll Schmiedes- fung durch. Obwohl Balsam von frühe- kamp dem Kripomann mitgeteilt ha- ren Verfahren her einen einschlägigen ben. Weitere Vernehmungen solle Ruf bei den Finanzbeamten hatte, fan- Wallmeier „unterlassen, da er vom den sie nichts. Sachverhalt keine Ahnung habe“. Offensichtlich hätten die Betrügerei- Ganz im Sinne dieser Einschätzung en bei Balsam schon viel früher aufge- war die Schmiedeskamp-Truppe offen- deckt werden können. Aus einem sichtlich mit den Kripoberichten umge- Brief des Bielefelder Polizeipräsiden- gangen. Als Wallmeier im Juni 1994 ten an das Innenministerium in Düssel- erstmals die Ermittlungsakte des dorf geht klar hervor, wie der Staats- Staatsanwalts einsehen konnte, stellte anwalt die Ermittlungen verschleppte. er mit Erstaunen fest, daß nicht alle In einem zweiten Schreiben, das ver- seine Vernehmungsprotokolle enthal- gangene Woche in Düsseldorf eintraf, ten waren. Offenbar hatte Schmiedes- wurden die Vorwürfe noch einmal er- kamp den heiklen Fall längst ad acta härtet. gelegt. In der justizinternen „Übersicht Nach Darstellung der Polizei melde- te sich am 8. September 1993 ein ehe- maliger Balsam-Mitarbeiter bei der Der Staatsanwalt Kripo. Es war derselbe Mann, der hat einen sich zuvor anonym der Staatsanwalt- schaft offenbart hatte. Kriminalhaupt- starken Fürsprecher kommissar Karl-Heinz Wallmeier zeig- te Interesse und bat Staatsanwalt über den Stand der Ermittlungsverfah- Schmiedeskamp um Einsicht in die ren (Stand 1. 1. 1994)“ taucht, wie erst Akten. Doch der ließ ihn abblitzen: vergangene Woche bekannt wurde, das An der Sache sei nichts dran, und das Aktenzeichen 6 JS 415/92 gar nicht Verfahren gehe die Polizei nichts mehr auf. Erst nachdem ein anderer an. Staatsanwalt das Verfahren an sich ge- Wallmeier, der das Kommissariat für zogen hatte, flog die Steinhagener Fäl- Wirtschaftskriminalität leitet, besorgte scherwerkstatt im Juni auf. sich eine Kopie der Strafanzeige bei Die unrühmliche Rolle des Ober- dem ehemaligen Balsam-Angestellten staatsanwalts in der Betrugsaffäre sorg- und stellte Ermittlungen auf eigene te schon bald nach der Verhaftung der Faust an. Seine Erkenntnisse teilte er Balsam-Manager für mancherlei Ge- dem Staatsanwalt in mehreren Berich- rüchte in Bielefeld. Von persönlichen ten mit. Beziehungen zum hemdsärmeligen Fir- Als der Staatsanwalt nicht reagierte, mengründer Friedel Balsam war da bat Wallmeier die Kollegen in Frank- die Rede. Staatsanwaltsgattin Utta reich um Hilfe. Anhand einer Liste Schmiedeskamp und Balsams Lebens- über angebliche Sportplatz-Bauten gefährtin Christiane Lissek spielten hoffte der Kommissar weitere Auf- lange Zeit gemeinsam Tennis. Als schlüsse über die Betrügereien der Gruppe „Dallas“ traten sie etwa im Steinhagener Firma zu erhalten. Mit „Ladys Good Morning Cup“ an. der Liste hatte sich Balsam bei der Ob das reicht, das Zaudern des Wiesbadener Finanzierungsgesellschaft Staatsanwalts zu erklären, müssen die Procedo Kredite in Milliardenhöhe be- Ermittlungen ergeben. Schmiedeskamp sorgt. allerdings, der sich inzwischen von den Die Nachrichten aus Frankreich be- Balsam-Ermittlungen befreien ließ, hat stärkten Wallmeiers Verdacht. An 9 einen starken Fürsprecher: Nordrhein- Orten, die auf der Procedo-Liste stan- Westfalens Justizminister Rolf Krum- den, hatte Balsam überhaupt nichts ge- siek (SPD). baut, an 15 weiteren Plätzen war der Der Minister setzte zwar inzwischen Auftragswert viel niedriger als auf der einen Sonderermittler nach Bielefeld in Liste angegeben. Marsch. Aber vor dem Landtag vertei- Nun ließ der wackere Kripomann digte er erst einmal das Verhalten des nicht mehr locker. Selbst im Urlaub Oberstaatsanwalts. ging er erfolgreich auf Spurensuche. Krumsiek hat’s nicht leicht. Sagt er Auch diese neuen Erkenntnisse ließ weniger, als er weiß, könnte das seine Wallmeier umgehend dem Staatsanwalt politische Karriere vorzeitig beenden, zukommen. „Eine Reaktion trat nicht wenn die ganze Wahrheit ans Licht ein“, heißt es im Bericht des Bielefel- kommt. Bestätigt er die Versäumnisse der Polizeipräsidenten. seiner Beamten, muß er mit einer Nachdem Wallmeier fünf weitere Staatshaftungsklage der Banken rech- Zeugen vernommen hatte, unternahm nen: Die haben bei Balsam fast zwei er einen neuen Vorstoß beim Staatsan- Milliarden Mark verloren. Y

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Manager „Ich bin unbelehrbar“ SPIEGEL-Redakteur Dietmar Hawranek über die politischen Ambitionen des Daimler-Chefs Edzard Reuter

er Mann sitzt in Jeans und bieten, wenn es zu einer Gro- Sweatshirt auf der Terras- ßen Koalition kommt und ein Dse, blickt wie ein zufrie- SPD-Mann gesucht wird, den dener Pensionär über den Bo- auch die CDU akzeptiert. densee und erzählt von der Auf welches Abenteuer er großen Liebe seines Lebens: sich da einläßt, spürte Reuter der Politik. bereits, als er im SPIEGEL Wie es damals war, so 1954 (35/1994) sein Berlin-Interesse oder 1955, als Willy Brandt ihn bekundete. fragte, ob er nicht Politiker Einerseits schrieben viele werden wolle. Der junge Ed- Berliner begeisterte Briefe. Sie zard Reuter hatte gerade sein versprechen sich von dem Zweites Staatsexamen abgelegt Daimler-Mann Glamour für ih- und überlegte, „was zu tun ist re Hauptstadt, in der bislang mit meinem Leben“. Nun ja, Polit-Beamte mit Provinzni- er folgte dieser „hirnrissigen veau regieren. Für sie erfüllt Idee“, erst mal „wirtschaftlich Reuter zudem die Forderung, unabhängig zu werden“, bevor daß Schluß sein muß mit der er sich mit einer so wankelmü- Inzucht der Parteisoldaten; tigen Geliebten wie der Politik daß Spitzenkräfte aus Wissen- einläßt. schaft und Wirtschaft für einen Nur die Stimme paßt nicht so Wechsel in Regierungsämter recht zur Szene. Sie wird bei- gewonnen werden müßten. ßend und scharf, wenn Reuter Andererseits ergossen sich eine neue Wirtschafts- und Fi- Hohn und Spott über den nanzpolitik fordert. Dann hat Mann, der für einen Wahl- der begeisterte Segler keinen kampf nicht zur Verfügung ste- Blick mehr für die Boote und hen will. „Kaiser wurde man wirft sich ins Zeug, als wolle er durch Proklamation und Sal- aufspringen und selbst das Re- bung“, kommentierte die gieren übernehmen. Frankfurter Allgemeine, „doch Bereit dazu ist er, jederzeit. das war eine andere Epoche.“ Sollte der Industrielle nach der Und Berliner SPD-Abgeord- Bundestagswahl gefragt wer- nete lästerten. Wenn Reuter den, ob er ein Ministeramt sich für den Wahlkampf „zu übernimmt, will er antworten: vornehm ist“, dann aber als „Ich bin ansprechbar.“ Sollte Retter gerufen werden will, eine Große Koalition ihm nach „sind diese Vorstellungen nicht der Berlin-Wahl im nächsten mehr von dieser Welt“. Jahr den Bürgermeisterposten Der so Verhöhnte registriert in der Hauptstadt anbieten, auf solche Wortmeldungen überra-

dem einst sein Vater, Ernst K. KARWASZ schend gelassen. Nichts ist Reuter, zur Legende wurde, mehr zu spüren von jener gilt die gleiche Antwort. Edzard Reuter Dünnhäutigkeit, die Reuter Doch Reuter signalisiert vor kurzem noch bei jeder klei- nicht nur gnädig die Bereit- wurde als Kind mit Politik in seiner schrecklichsten Form nen Kritik schier ausrasten schaft, mitzuregieren. Es konfrontiert: Nachdem sein Vater Ernst zweimal von den ließ. Allein die Debatte dar- drängt den Daimler-Vorstand Nazis verhaftet worden war, floh die Familie 1935 nach über, daß er möglicherweise nachgerade zu einem Wechsel Ankara. Nach dem Zweiten Weltkrieg rief Ernst Reuter das Erbe des von ihm stets be- in die Politik, als müsse der als Bürgermeister Berlins die „Völker der Welt“ zur Hilfe. wunderten Vaters als Bürger- 66jährige sich und anderen da Edzard Reuter empfand das Wirken seines Vaters stets meister Berlins antreten könn- noch etwas beweisen. als Vermächtnis und blieb Mitglied der SPD, obwohl die- te, erfüllt eine tiefe Sehnsucht Seine Bonner Ambitionen ses Parteibuch seine Karriere in der Industrie lange be- in ihm. hat er mit der SPD-Troika, Ru- hinderte. Am Ende seiner Dienstzeit bei Daimler-Benz In den drei Jahrzehnten, die dolf Scharping, Oskar Lafon- zieht es Reuter in die Politik. Er könnte sich vorstellen, er bei Daimler wirkt, mochte taine und Gerhard Schröder, als Minister in Bonn oder als Bürgermeister in seiner Reuter sich nie auf die Rolle bereits besprochen. Die SPD- Geburtsstadt Berlin zu arbeiten, die er mit seiner Frau des Managers reduzieren las- Strategen können sich vorstel- Helga (Foto) häufig besucht. sen. Stets drängte es ihn, sich len, Reuter als Minister anzu- in der Riege der grauen Zwei-

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reiher, deren ganzes Interesse dem könnte er allemal besser, wenn er sich det. Und dann zelebriert er den Abend Cash-flow gilt, als politischer Kopf zu nicht darauf beschränkte, „zahlendes mit den Stadtkommandanten und Bot- etablieren. Mitglied“ der SPD zu sein. schaftern natürlich genau so, wie er sich Nur leider: In den letzten Jahren Am Ende seiner Managerjahre bietet einen kleinen Staatsakt vorstellt. mußte Reuter sich stark zurückhalten. er der Politik nun seine Dienste an. Im In seiner Ansprache sorgt sich Reuter Wer interessiert sich schon für die Vor- Wirtschafts- und Finanz-, im For- um die neue Rolle Berlins und das Ver- schläge eines Unternehmers, wie die schungs- und Außenministerium sind hältnis Europas zu den USA. Bevor er Wiedervereinigung Deutschlands wirt- nach seiner Überzeugung Wirtschafts- das Glas hebt, „auf das Wohl unserer schaftlich zu meistern sei, wenn der kenntnisse dringend vonnöten. In all Nationen“, regt Reuter die Gründung noch nicht einmal die Vereinigung von diesen Jobs könnte sich Reuter einen einer amerikanischen Universität in Dornier, AEG und MBB unter dem Minister Reuter vorstellen. Auch als Berlin, Paris oder London und die einer Daimler-Stern bewältigt? Hauptstadt-Bürgermeister würde er, europäischen in den USA an, „als Sym- Um so schärfer fiel die Kritik des nach eigener Vorstellung, eine gute Fi- bol der geistigen Verbindung“. Freizeitpolitikers Reuter an den Berufs- gur abgeben. An mangelndem Selbstbe- Den Regierenden Bürgermeister politikern aus. Für seine Verhältnisse wußtsein litt Reuter noch nie. Aber war- Eberhard Diepgen quälte vor diesem war es mitunter fast schon zurückhal- um spricht er nun aus, was er sonst nur Abendessen vor allem die Kleiderfrage. tend, wenn er ihnen „Heuchelei, Feig- dachte? Hat ihn die Hybris gepackt? Seine Frau rief im Schloßhotel an und heit und Opportunismus“ vorwarf. Es ist wohl eher eine diffuse Gemen- wollte wissen, ob der Gatte denn im Wut und Enttäuschung schwangen gelage, die ihn als ersten Wirtschaftsfüh- Smoking erscheinen müsse. bei solchen Äußerungen mit. Nachdem rer des Landes dazu drängt, Interesse So deutlich der Klassenunterschied zwischen dem Berliner Politiker und dem Stuttgarter Unternehmer auch aus- fällt, als Bürgermeister der Hauptstadt ist Reuter schwer vorstellbar. Einen Mann, der mit glanzvollen Re- den beeindruckt, hätten die Berliner si- cher gern im Rathaus. Doch der müßte sich im Parlament dann auch stunden- lang mit der Frage beschäftigen, ob im Winter nun Streusalz oder Granulat auf die verschneiten Straßen geschüttet wird. Und dies wiederum hielte ein Mann kaum aus, der den Vorstand eines 100-Milliarden-Konzerns so dominiert, daß ihm keiner zu widersprechen wagt. Auf mindestens ebenso viele Mißver- ständnisse trifft der Manager, der sich in Richtung Politik orientiert, in Bonn. Von seiner Partei fordert Reuter dort „einen Epochenumbruch“. Eingeladen ist der Daimler-Chef, um im Haus der Deutschen Parlamentarischen Gesell- schaft das Buch des Kanzlerkandidaten vorzustellen. Reuter nutzt die Gelegenheit, Grund-

M. DARCHINGER züge eines Regierungsprogramms vor- Parteifreunde Scharping, Reuter*: Der Unternehmer hat seine Schuldigkeit getan zutragen. Kritik an der SPD kann dabei nicht ausbleiben. Wer war es denn wohl, Reuter die schwäbische Autofirma in ei- für Polit-Jobs zu zeigen. Mit dem von fragt Reuter den „lieben Rudolf“ und nen Rüstungs- und Technologiekonzern ihm gesteuerten Konzern geht es zwar die versammelten Genossen, der zur verwandelt hatte, strichen die Politiker ein wenig aufwärts. Doch einige Auf- „Verteufelung von Innovationsprojek- Militäraufträge derart zusammen, daß sichtsräte verweigern Reuter den er- ten wie der Raumfahrt oder der Bio- der Koloß ins Wanken geriet. warteten Respekt. Sie haben ihm noch und Gentechnologie“, aber auch eines Teilweise übertrug Reuter da auf an- nicht angeboten, nach seinem Ab- „so anspruchsvollen Zukunftsprojekts“ dere eine Wut, die er eigentlich auf sich schied als Vorstandschef den Vorsitz wie des Jäger 90 beigetragen hat? selbst beziehen müßte. Als politisch im Kontrollgremium zu übernehmen. Scharping steht derweil da wie einer, denkender Unternehmer hätte gerade Allein das Zögern der Aufsichtsräte der für das Wachsfigurenkabinett po- er das Ende der Rüstungskonjunktur verärgert ihn maßlos. Und dies mag siert: Die Arme fallen senkrecht herun- voraussehen müssen. In Moskau war dazu beigetragen haben, daß Reuter ter, als gehörten sie nicht zum Körper, Gorbatschow längst an der Macht, als sich intensiver der Politik widmet. Sol- die leicht angehobene Oberlippe soll ein Reuter seinem Konzern noch die Waf- len sie ruhig sehen, daß einer wie er Lächeln vortäuschen. Als Scharping das fenfabriken von MBB einverleibte. mehrere Möglichkeiten hat. Und wird Mikrofon übernimmt, spricht er vom Teilweise verachtete Reuter die Ma- ihm nicht, ganz gleich ob er in Bonn „Postkommunismus“. Auf Reuter geht cher in Bonn aber auch, weil dort ein oder Berlin auftritt, der Eindruck ver- er mit keinem Wort ein. „katastrophaler Mangel an wirtschafts- mittelt, den dort Agierenden weit Der Unternehmer hat seine Schuldig- politischer Führungskompetenz“ ver- überlegen zu sein? keit getan. Die Fotografen haben ihre sammelt ist. Unausgesprochen: Das Mit den Worten „dies ist kein Filme belichtet, die den Kandidaten an Staatsakt“ eröffnet Reuter in Berlin ei- der Seite des Daimler-Chefs zeigen. * Bei der Präsentation des Scharping-Buches nen Empfang, auf dem Daimler-Benz Scharping trinkt einen Wein, plauscht „Was jetzt zu tun ist“ am 1. September in Bonn. die alliierten Schutzmächte verabschie- mit Günter Verheugen. Irgendwann

126 DER SPIEGEL 38/1994 fragt er in die Versammlung: „Ist der Edzard noch da?“ Doch der ist längst auf dem Weg in die Konzernzentrale. Scharping bestärkt ihn darin, daß Wirtschaftsexperten in der nächsten Re- gierung stärker denn je benötigt wer- den. Der Austausch zwischen Wissen- schaft, Wirtschaft und Politik müsse „dringend gefördert werden“. Er könne sich Reuter, sagt Scharping, „sehr gut in einem politischen Amt vorstellen“. Doch einer Auseinandersetzung über Inhalte weicht er aus. Warum sollte er jetzt mit Reuter darüber streiten, ob der Jäger 90 nun technologischer Fortschritt oder militärischer Irrsinn ist? Es genügt ihm offenbar, daß er weiß, Reuter stün- de für einen Ministerposten bereit. In Frage käme diese Variante nur, wenn in einer Großen Koalition der grö- ßere Partner CDU das Wirtschafts- oder Viele Entscheidungen der Genossen hängen ihm „zum Hals raus“

Finanzressort keinesfalls einem Gerhard Schröder oder Oskar Lafontaine anver- trauen wollte. Einen im Grunde Konser- vativen wie Reuter könnten die Christde- mokraten akzeptieren. Ob die Parteien allerdings den Mut ha- ben, einen in keine Parteidisziplin einzu- bindenden Unternehmer in die Regie- rung zu holen, daran zweifelt auch Reu- ter. „So etwas gab es bislang noch nicht“, sagt er, „aber vielleicht passiert es ja mal.“ Höchst zweifelhaft auch ist, wie lange es Reuter in einer Koalitionsregierung aushielte, wenn es ihm schon schwerfällt, in seiner Partei zu bleiben. „Mehrfach schon“ wollte er sein Mitgliedsbuch zu- rückgeben, weil viele Entscheidungen der Genossen ihm „nun wirklich zum Hals raushängen“. Verlockend mag es ja sein für den Ma- nager, sich eine späte Karriere als Bür- germeister in Berlin oder Minister in Bonn vorzustellen. Verlockend für die SPD istes wohl auch. Realistisch betrach- tet aber ist da gegenwärtig der Flirt von zweien zu beobachten, die sich vor allem deshalb anziehen, weil sie so unterschied- lich sind. Eine glückliche Zukunft ver- spricht das nicht gerade. Aberwiedassoistmitdenvermeintlich großen Lieben – trennen mag man sich ungern davon. „Ich bin unbelehrbar“, sagt Reuter und spielt mit dem Gedan- ken, eine Berlin-Flagge, die ihm ein Be- sucher am Urlaubsort am Bodensee über- reichte, auf seinem Segelboot zu hissen. Doch da ist Helga vor, seine eben- so charmante wie bestimmte Gattin. „Kommt nicht in Frage“, sagt sie, „oder soll man auch schon auf dem Wasser von weitem sehen, wer da kommt?“ Y

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Multis hat die Krise, Timmers Sanie- werden. Doch es wurde eine Einführung Multimedia rungsarbeit zum Trotz, noch immer ganz nach Philips-Art: reich an Pannen nicht überwunden (siehe Grafik Seite und Fehleinschätzungen. 132). Die Geräte der ersten Generation wa- Der Umsatz mit Unterhaltungselek- ren noch gar nicht in der Lage, Kinofilme Vier in einem tronik sank im vergangenen Jahr noch abzuspielen. Bei den heutigen Geräten einmal um zwei Prozent auf 19 Milliar- ist für die Wiedergabe von Filmen immer Mit einer großangelegten Werbe- den Mark. Das einst so profitable Ge- noch ein spezielles Zusatzteil erforder- kampagne will Philips sein CD-i-Sy- schäft brachte einen Verlust von 65 Mil- lich. Dieses erhöht den Preis für die All- lionen Mark, der vor allem bei der ange- roundmaschine um 400 Mark. stem doch noch zum Erfolg führen. schlagenen Tochterfirma Grundig ent- Zudem hatten die Philips-Strategen Branchenkenner sind skeptisch. stand. bei ihrem überstürzten Start offensicht- Im laufenden Jahr zeichnet sich eine lich übersehen, wie wichtig es ist, genü- leichte Besserung ab. In den ersten gend Software in deutscher Sprache an- rkan Gilbert“ nennen die Philips- sechs Monaten stieg der Umsatz um bieten zu können. Mit kaum mehr als Werker in Eindhoven ihren Chef sechs Prozent. Philips hofft deshalb, am zwei Dutzend Titeln machte sich bei den OJan Timmer. Ständig macht der Ende des Jahres auch in der Unterhal- ersten Käufern Langeweile breit. massige Manager Druck, nie geht es ihm tungselektronik einen Gewinn auswei- Selbst in den englischsprachigen Län- schnell genug. sen zu können. dern, wo Philips mit einem größeren Pro- Der Niederländer will der Welt zei- Eine gigantische Werbekampagne für grammangebot aufwartete, blieb der Er- gen, daß der verschlafene Elektronik- die CD-i soll in Deutschland nun die folg bescheiden. Gerade 300 000 Geräte multi aufgewacht ist. Künftig werde endgültige Wende bringen. „In keinem konnte der Konzern bis Ende vergange- Philips, meint Timmer, wieder „auf den anderen Land in Europa“, weiß Philips- nen Jahres weltweit absetzen. Mit ihrer Herbstof- fensive ’94 wollen die Niederländer nun im zweiten Anlauf den Fehlstart vergessen machen. Gegenüber dem Vorjahr soll sich der Absatz mehr als verdoppeln. „Wir ha- ben viel gelernt“, be- hauptet Marketing- expertin Traufetter, „der deutschsprachi- ge Markt braucht deutschsprachige Software.“ Das Angebot ist al- lerdings noch immer nicht berauschend. Der deutsche CD-i-

DPA F. HOLLANDER / DIAGONAL Katalog umfaßt nur Philips-Chef Timmer, CD-i-Gerät: Die Niederländer wollen den Fehlstart vergessen machen 150 Titel. Immerhin gelang es den Nieder- vorderen Rängen in der Oberliga der Managerin Birgit Traufetter, „ist der ländern, Lizenzverträge mit wichtigen Elektronikbranche mitmischen“. Kunde so interessiert an neuen Medien Hollywood-Firmen abzuschließen. Bis Das Ziel ist ehrgeizig, vielleicht zu und steht diesen gleichzeitig so kritisch Ende des Jahres soll sich das Angebot ehrgeizig. Der Philips-Chef setzt auf gegenüber.“ nahezu verdoppeln. die „ultimative Entertainment-Maschi- Auf den ersten Blick hat der elektro- So finden sich auf CD-i zum Preis ne“, die er im bevorstehenden Weih- nische Alleinunterhalter, der „vier von knapp 40 Mark einige aktuelle Vi- nachtsgeschäft zum Bestseller machen hochwertige Geräte in einem vereint“ deoknüller wie „Sliver“, „Ein unmora- will. Der großsprecherische Superlativ (Philips-Werbung), durchaus Chancen, lisches Angebot“ oder „Die nackte Ka- gilt einer neuen Generation von CD- ein Bestseller zu werden. Die zwischen none 2 1/2“, im Herbst werden Filme Playern. Timmers Supermaschine 900 und 1200 Mark teure Kiste läßt sich wie „Das Geisterhaus“ oder „Little macht nicht nur Musik, sie bringt auch an nahezu jeden Fernseher anschließen, Buddha“ das Angebot ergänzen. Die Fotos, Grafiken, Sprachkurse, Bil- über den elektronischen Steuerknüppel Spiel-Gemeinde will Philips mit der dungsprogramme und Videospiele, ja (Thumb-Stick) ist das Gerät leicht zu deutschen Version des englischen Best- sogar Spielfilme auf den Fernseher. bedienen. sellers „The 7th Guest“ für die CD-i CD-i-Player nennt Philips das Gerät, Auf den Silberscheiben, die äußerlich begeistern. i steht für interaktiv. Mit dem von von einer normalen Musik-CD nicht zu Unterstützung bekommt Philips vom Philips-Ingenieuren entwickelten Multi- unterscheiden sind, können gewaltige deutschen Mediengiganten Bertels- spieler glaubt sich Timmer gut gerüstet Datenmengen gespeichert werden. So mann. So erscheint im Dezember eine für die neue Multimedia-Welt. lassen sich auf der Daten-CD ganze Le- multimediale Version des Bertelsmann- „Hohe strategische Bedeutung“ mißt xika ebenso unterbringen wie Kinofilme Universallexikons, die Silberscheibe der Chef dem Produkt deshalb bei. oder Videospiele, in denen echte Schau- enthält 40 Minuten historisches Film- Seit Jahren lahmt das Geschäft der spieler als Akteure auftreten. material. Für die jüngsten Kunden Niederländer mit Unterhaltungselek- Eigentlich sollte die CD-i schon vor setzt Bertelsmann die bekannte Kin- tronik, der größte Geschäftszweig des zwei Jahren zu einem Verkaufsschlager derserie „Die Sendung mit der Maus“

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Umsatz in Milliarden Mark anders als die Videokassette auch nahezu verschleißfrei. Aber die gewaltigen Da- 58,852,4 50,757,2 52,058,5 tenmengen, die nötig sind, um einen 49,555,8 50,557,0 Neue Energie 50 Spielfilm digital zu speichern, passen Geschäftsentwicklung nicht auf eine einzige CD. 45 des Philips-Konzerns Spätestens nach 70 Minuten ist Schluß. 1989 90 91 92 93 Dann muß der Zuschauer eine neue Scheibe einlegen. Ein CD-Wechsler soll Gewinn/Verlust in Millionen Mark Beschäftigte am Jahresende in Tausend Abhilfe schaffen, er kommt aber erst An- 1749 305 fang 1995 auf den Markt. 273 1217 1066 252 Im Hintergrund droht schon wieder die 240 238 Konkurrenz. Die Matsushita-Tochter 0 JVC hat für 1995 die Einführung einer 800 Digital-Video-Disc angekündigt. Sie bie- tet angeblich noch einmal eine deutlich verbesserte Bildqualität sowie eine län- gere Spielzeit. 3765 Der Zuschauer muß erst nach 150 1989 90 91 92 93 1989 90 91 92 93 Minuten die Scheibe wechseln, dann sind die meisten Spielfilme längst zu En- de. Y zu einem interaktiven Videospiel cordern ab. Andere Firmen bringen ei- um. gene Entwicklungen für die Daten-CD Trotz solch vielfältiger Aktivitäten auf den Markt. Kosmetik glauben nur wenige Branchenkenner, Videospielanbieter wie Sega und daß Philips mit seiner CD-i der große Nintendo verfügen bereits über eigene Durchbruch gelingen wird. Disc-Player, die Elektronikgiganten Die Kunden haben in der Vergangen- Sony und Matsushita (Panasonic/Tech- Hauch heit mit neuen Produkten aus der Glit- nics) arbeiten an speziellen Geräten zerwelt der Unterhaltungselektronik oft für den Einstieg in das Multimedia-La- schlechte Erfahrungen gemacht. In der byrinth. von Luxus Frühzeit der Videorecorder setzten viele Da sich die Techniker nicht auf ei- auf das falsche System, anfangs groß an- nen gemeinsamen Standard einigen Multis und aggressive Discounter gekündigte Innovationen wie Laserdisc, konnten, wird aber kaum ein System drängen in den Markt für Mini Disc oder Digitalkassette erwiesen mit dem anderen kompatibel sein. Die sich als Fehlschläge. Da ist die Sorge totale Verwirrung scheint unausweich- Parfüms und Kosmetika. Gut für groß, in eine Technik ohne Zukunft zu lich, wenn es das gleiche Spiel oder die Kunden, die Preise fallen. investieren. das gleiche Lernprogramm in vier oder Auch die Software-Firmen sind verun- fünf verschiedenen Versionen gibt. sichert. Sie müssen ihre Programme mit Philips-Chef Timmer treibt deshalb affiniert angebrachte Leuchten erheblichem Aufwand auf immer neue zur Eile. Er will sein System eingeführt verbreiten weiches Licht. In de- Datenträger umsetzen. So hat die Da- haben, bevor die anderen kommen. Rzent dekorierten Nischen und Ka- tenscheibe als sogenannte CD-Rom bei Gegen die starke Konkurrenz der binen können Besucherinnen unter den Computerbesitzern bereits beachtli- Computer setzt Philips die Spielfilm- fachkundiger Anleitung die neuesten che Popularität erlangt. CD. Parfüms und Kosmetika ausprobieren – Die Anbieter von PC-Software forcie- Die hat allerdings einen Nachteil. wenn denn Kunden kommen. Doch die ren den Wandel von der herkömmlichen Das Bild ist zwar exzellent und die CD legen auf derlei Annehmlichkeiten of- Diskette zur CD. Sie ist praktisch immun gegen Raubkopierer. Bei den Video- games und bei Lernprogrammen ist das Angebot an CDs für den Computer deshalb schon erheblich größer als im Philips-Katalog. CD-Rom und CD-i arbeiten nach dem gleichen Prinzip, dennoch läßt sich die Computerscheibe nicht auf dem CD-i- Player abspielen. Computerbesitzer können demnächst dagegen mit einem speziellen Zubehör die CD-i nutzen. Philips möchte ein anderes Publikum erreichen: Mit der narrensicheren CD-i wollen die Niederländer Millionen von Fernsehzuschauern gewinnen, denen der Umgang mit dem Computer zu kom- pliziert ist. Fernseher mit eingebautem CD-i-Player sollen zum Jahresende den Einstieg in die Multimedia-Welt noch einfacher machen.

Doch schon zeichnet sich ein neuer Sy- W. M. WEBER stemkrieg wie weiland bei den Videore- Billiganbieter Royal-Parfümerie (in München): Völlig neue Erfahrung

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Werbeseite WIRTSCHAFT fenbar immer weniger Wert. An man- Inzwischen aber sind die chen Tagen steht die Münchner Parfü- Schönes Geschäft Kundinnen zurückhalten- meriebesitzerin Maxi Krausser mit ih- Die größten Kosmetikhersteller der geworden. Siebenerlei ren fünf Angestellten stundenlang allein Düfte horten die deut- in Milliarden im Geschäft, der Umsatz ist seit Anfang FIRMA MARKEN Dollar UMSATZ schen Frauen im Schnitt im Januar dramatisch geschrumpft. Badezimmer. Da kann der Die Cremes und Essenzen mit den L’Oréal-Gruppe Lancôme, Biotherm, 7,5 Kauf des achten Fläsch- Frankreich Armani, Rubinstein, wohlklingenden Namen und den einst Ralph Lauren, Cacharel, chens noch ein wenig war- abenteuerlichen Preisen gibt es inzwi- Paloma Picasso ten. schen an jeder Ecke. Drogeriemärkte Bei den Herstellern sta- Unilever Elisabeth Arden, 5,1 und die Kosmetikabteilungen großer Niederlande/ Pond’s, Calvin Klein, pelt sich die unverkäufli- Warenhäuser, aber auch immer mehr Großbritannien Chicogo che Ware. In traditionel- Discounter bieten die parfümierten len Fachgeschäften wie der Wässerchen zu Dumpingpreisen an. Procter & Gamble Ellen Betrix, Max Factor, 5,0* Münchner Parfümerie Ma- USA Boss, Laura Biagiotti, xi Krausser läßt sich Maxi Krausser, 64, aus dem Münch- Otto Kern ner Osten kann da nicht mithalten. Sie die Überproduktion nur kämpft, wie viele Parfümeriebesitzer, Shiseido Shiseido 3,8 schwer absetzen. Die ums Überleben. Japan Klein- und Mittelständler In den kommenden zwei Jahren, Avon Avon 2,9 brauchen hohe Spannen, schätzt der Bundesverband Parfüme- USA um ihr Fachpersonal und rien, werden in Ost- und Westdeutsch- die Ladenmieten in den In- land bis zu 400 Duftläden schließen – Estée Lauder Aramis, Estée Lauder, 2,6* nenstädten zu bezahlen. USA Linique rund zehn Prozent der gesamten Bran- Notgedrungen mußten che. Revlon-Gruppe Revlon 1,7 die Produzenten neue Vorbei sind offenbar die Zeiten, als USA *geschätzt Absatzkanäle erschließen. Parfüms noch der Hauch von Luxus Ein Teil der Flakons und umgab und die edlen Flakons nur in ex- genzug garantierten die Produzenten Tinkturen landet auf dem grauen klusiven Geschäften erhältlich waren. den Händlern Gebietsschutz. Markt. Dort decken sich Discounter ein Billiganbieter wie Hertie führen den Preisbrecher hatten in dem engen wie der norddeutsche Drogeriespezialist Männer-Duft „Cool Water“ von Davi- Markt kaum eine Chance. Sie wurden Dirk Rossmann oder der Zürcher Un- doff aus dem Ludwigshafener Bencki- von Herstellern einfach nicht beliefert. ternehmer Beat Curti. ser-Konzern inzwischen schon für Zu Beginn der neunziger Jahre geriet Der Schweizer gibt in Zürich die Welt- knapp 50 Mark. Regulär kostet das das eingespielte System erstmals ins woche heraus und das Wirtschaftsmaga- blaßblaue Fläschchen 65 Mark. Wanken. In einer Grundsatzentschei- zin Bilanz. Nebenher betreibt er 40 Par- Das süßliche, schwere Eau de Toi- dung zwang die Kommission der Euro- fümeriefilialen in der Schweiz. Vor we- lette „Venezia“ von Laura Biagotti gibt päischen Union die Parfümproduzen- es in Filialen der Ulmer Drogeriekette ten, ihre Lieferverträge zu lockern. Müller für rund 50 Mark. Anderswo Zwar gelang es Händlern und Herstel- Ein Teil der kostet es mindestens zehn Prozent lern zunächst, die Preise stabil zu hal- Flakons landet auf dem mehr. ten. Aber dann kamen die Multis. Für die verwöhnte Parfümeriebran- Viele renommierte Parfümhäuser grauen Markt che ist das eine völlig neue Erfahrung. wurden in den vergangenen Jahren von Jahrzehntelang galten hier eigene Ge- großen Unternehmen geschluckt. Der nigen Wochen eröffnete Curti in Nürn- setze. Sie schützten Hersteller und französische Luxuskonzern LVMH berg seine erste deutsche Filiale. Weitere Händler vor unangenehmem Wettbe- (Louis Vuitton–Moe¨t Hennessy) zum Läden sollen folgen. Probleme mit den werb. Beispiel übernahm erst kürzlich den 166 Herstellern dürfte er nicht haben. Der Wer Duftwässerchen von exklusiven Jahre alten Duftspezialisten Guerlain. Preisbrecher Müller aus Ulm wird neuer- Herstellern wie den französischen Par- Die Edelmarke Yves Saint-Laurent ging dings sogar regulär beliefert, was vor kur- fümhäusern Guerlain oder Givenchy an den Pariser Pharmakonzern Elf Sa- zem noch undenkbar war. verkaufen wollte, mußte strenge Aufla- nofi, eine Tochter der französischen Die Fachhändler haben im Preiskampf gen erfüllen. Vorgeschrieben war etwa Staatsholding Elf Aquitaine. Multis wie kaum eine Chance. Einige bauen ihren ein bestimmter Mindestumsatz; im Ge- Unilever und Procter & Gamble bauen Service aus, um gegen die Ketten und ihr Kosmetikgeschäft Discounter zu bestehen. Der Münchner Die Ketten Aufteilung des mächtig aus. Unternehmer Leonhard März, Inhaber deutschen Parfüm- Die neuen Herstel- einer Parfümerie im Zentrum, schickt kommen markts (1993) ler überschütten den Kunden die Ware auf Wunsch kostenlos Handel Monat für Mo- nach Hause. Außerdem bietet er neben Aurel Discounter nat mit fast einem hal- Cremes und Parfüms einfache Drogerie- Yaska Warenhäuser ben Dutzend Kreatio- artikel an. Seine Kollegin Krausser schreckt auch Sonstige Douglas nen. Rund 80 Prozent der Neueinführungen vor unkonventionellen Methoden nicht verschwinden inner- zurück. Vor kurzem stand ein Mann inih- 35% 33% halb von zwei bis drei rem Laden. Er wollte einen Ring ver- 4% Jahren wieder vom packt haben, den er nebenan in einem 4% 11 % 13% Markt. Doch schon Schmuckgeschäft gekauft hatte. ein Erfolgswässer- Eine Angestellte packte das Mitbring- chen spielt die Kosten sel auf Anweisung der Chefin ein. Zum für vorangegangene Dank hinterließ der Fremde ein Fünf- Flops mühelos wieder markstück. Es war die erste Einnahme an ein. diesem Morgen. Y

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firmen vorschreiben, wie Videospiele viele Zuschauer sie höch- stens erreichen dürfen. Da- Gewinn

1994 mit soll der fortschreitenden Medienkonzentration Ein- mit Gewalt halt geboten werden. Die Als gewaltfreier Saubermann Idee scheitert jedoch daran, der Videospiele-Branche hat daß Kirchs Macht nur sich die japanische Firma GOSCINNY / UDERZO ´ schwer zu errechnen ist. Die Nintendo stets präsentiert: meisten solcher Marktan- „Kein Blut in unseren Spie- teilsmodelle, die derzeit dis- len“, lautete das inoffizielle kutiert werden, stellten „die Motto. Mit der Prügelorgie

LES. ED. ALBERT RENE tatsächlichen Macht- und Mortal Kombat II (Herstel- Sturmszene aus „Asterix in Amerika“ Einflußverhältnisse auf den ler: Acclaim) bricht Ninten- Kopf“, heißt es in einem in- Film mußten bis zu 50 Bildschich- ternen Papier des Medien- ten gestaltet und übereinan- konzerns Bertelsmann. So Asterix in derkopiert werden – verar- beherrscht Kirch, statistisch, beitete Datenmenge: 270 nur 16 Prozent des TV-Ge- schwerem Wetter Milliarden Informationsein- schäfts, wenn ihm seine offi- Wenn Ende des Monats heiten. ziellen Beteiligungen (Sat 1, „Asterix in Amerika“ in die Deutsches Sport-Fernsehen, Kinos kommt, können die Premiere) voll angerechnet Zuschauer auch ein Stück Zitat werden, wie es die CDU- Supercomputer-Technologie Medienpolitiker wollen. Die

bestaunen. Die stürmische „Rundfunk, das ist Compagnie Luxembour- M. SCHRÖDER / ARGUS Seereise des gallischen auf dem Elektronik- geoise de Te´le´diffusion und Spielszene aus Mortal Kombat II Kraftzwergs in die Neue Bertelsmann, gemeinsam bei Welt wurde mit besonderer Highway doch nur RTL und RTL 2 aktiv, kom- do das selbstgewählte Tabu. Elektronik und einer Spezi- ein Seitenstreifen.“ men bei dieser Arithmetik Mortal Kombat, das in alsoftware produziert, die dagegen auf jeweils klar Deutschland auf dem Index das Berliner Unternehmen Sat-1-Geschäftsführer über 20 Prozent. Fließen steht, hat eine blutige Tradi- Mental Images program- Jürgen Doetz über die Rolle aber die von Kirch über sei- tion: Erst war es ein Hit in mierte. Die Firma koppelte des Radios in nen Sohn und Geschäfts- den Daddelhallen der Welt, per Glasfasernetz acht Ar- der Medienzukunft partner Thomas gehaltenen dann brachte es als Software- beitsplatz-Computer (Work- Sender Pro 7 und Kabelka- version für die Spielkonsolen stations) von Hewlett- nal in die Rechnung ein, von Nintendo und Sega Mil- Packard aneinander, die auf Fernsehen liegt der Kanzlerfreund mit lionenumsätze. Doch wäh- diesem Weg wie ein Paral- insgesamt 28 Prozent Markt- rend Nintendo die blutigsten lelrechner die datenintensi- Rechnungen anteil bei den Zuschauern Szenen im ersten Teil zen- ven Aufgaben verarbeiten an der Spitze. Bertelsmann sierte, ließ der amerikanische konnten. Dennoch dauerte mit Kirch schlägt ein „einflußgerechtes Erzkonkurrent Sega alle Ge- es insgesamt ein Jahr, bis Ausgerechnet der Münchner Marktanteilsmodell“ vor, walt im Spiel – und gewann die 90 Sekunden kurze See- TV-Mogul Leo Kirch profi- das Mehrheitsbeteiligungen Marktanteile bei der wichtig- fahrer-Sequenz mit in Zei- tiert am stärksten von ge- besonders gewichtet. Da- sten Käufergruppe der 8 bis chentrickfilmen bisher nicht planten Änderungen im nach ist Kirch doppelt so 14 Jahre alten Kids. Ninten- erreichter atmosphärischer Rundfunkstaatsvertrag. Die stark wie jeder seiner Kon- do will nun bei Mortal Kom- Dichte fertig war: Pro Szene Parteien wollen den Fernseh- kurrenten. bat II nicht nachstehen.

HINTERGRUND Die fünf 1 2 3 4 5 Kaufrausch treibt die US-Medien- größten riesen voran: Während sich Bertels- Medien- mann und Sony fast ausschließlich auf konzerne ihr Kerngeschäft (Bücher und Unterhal- tungselektronik) beschränken, sind die DPA OUTLINE/FOCUS der Welt SABA H.SEIDMAN/SIPA Gerald Levin Mark Wössner Sumner Redstone Rupert Murdoch Michael Schulhof großen amerikanischen Entertainment- Konzerne in Bewegung. Time Warner et- Time Warner Bertelsmann Viacom News Corporation Sony Corp. wa verbündet sich mit mehreren US- New York Gütersloh New York Sydney/London/ of America New York Kabelbetreibern, um die Infrastruktur New York für die neue, digitale Kommunikations- UMSATZ welt zu schaffen. Und CNN-Chef Ted in Milliarden Mark 24,118,2 16,4 13,6 11,8 Turner, an dessen Firma, Turner Broad- WICHTIGE Time Inc., Verlag Verlage, Buch- und Paramount, 20th Century Fox, Sony Pictures casting, Time Warner mit 20 Prozent BETEILIGUNGEN Warner Music Schallplattenklubs Filmstudio Filmstudio (Columbia) beteiligt ist, schickt sich an, das TV- Group Bantam Doubleday Blockbuster, The Times, Verlag Sony Music Network NBC zu kaufen. Sumner Red- Warner Brothers, Dell Videoverleih Fox, TV-Kanal stones Unternehmen Viacom plant der- Filmstudio Bertelsmann Music Simon&Schuster, BSkyB, Satelliten- zeit neue TV-Sender in Europa und HBO, Abo-TV Group Verlag TV-Sender Asien. Und Rupert Murdoch investiert letztes Kabelfernsehen Gruner+Jahr MTV, Nickelodeon Delphi, Computer- Milliarden Mark in die Senderechte der Geschäftsjahr RTL, Premiere, Vox Fernsehsender Online-Service amerikanischen Football-Liga.

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GESELLSCHAFT

Idole DER PLAUDERPHILOSOPH Michael Skasa über den Medienhelden, Denker und Bestsellerautor Ulrich Wickert T. RUDDIES / THOMAS & THOMAS „Tagesthemen“-Moderator Wickert: „Auch ich mache mir immer wieder Gedanken über den Zustand dieser Welt“

Skasa, 52, ist Theaterkritiker, Rund- ven Ereignissen in dieser Welt bestimmt prompter zu lesen, für Prominente hal- funkredakteur und -moderator; er war wird, mache auch ich mir – notgedrun- ten, und jene, die ihre Überleitungssät- Chefdramaturg am Berliner Schiller gen – immer wieder Gedanken über den ze selbst zu formulieren befähigt sind, Theater und lebt heute in München. Zustand dieser Welt.“ gar für Deuter des Weltgeschehens? Das sind so die Nöte unsrer Medien- Fernsehmänner fesseln mit Marotten. as müßte schön sein: Ulrich Wik- helden. Manche Herren werden darüber Das abgefeimte Dauerfeixen des Kugel- kert in Strumpfhosen, zierlich ein starr wie Watschenmänner auf dem kopfs Nowottny, Luegs ruckelndes Ge- D Bein anwinkelnd und dann hoch- Jahrmarkt, alles prallt an ihren Poker- näsel im Stockschnupfenbereich, dann geschnellt mit fliegenden Windmühlen- faces ab. Oder, falls sie Damen sind, be- Casdorff, der uns den visuellen Einstieg armen zum Grätschsprung! Es geht harren sie auf versöhnendem Lächeln, zu Verheugen möglich machte – sage nicht, er hat, so sagt er, nie getanzt; wie egal, von welchen Schlachten zu berich- keiner, das Öffentlich-Rechtliche böte schade. Und doch hat er einst das Bal- ten ist: Da bitten sie dann, das Versöhn- nicht die ganze Palette. lettstudio an der Uni Bonn gegründet – liche als verzeihend zu deuten. Manche, Und Friedrichs? Der saß auf seinem warum nun das? „Immer, wenn ich et- in ihrer Not, greifen zum Glas, andere Tagesthemensessel wie an einer Sylter was gut finde, und andere machen es zur Feder. Köpcke tat so und die Dag- Theke, kämpfte stets leicht verwinkelt nicht, mach’ ich es selbst“, sagt Wickert. mar desgleichen. mit dem offenen Jackett, mal das zierli- Hat wirklich niemand über den Ver- Als dann Frau Christiansen in die che Embonpoint freilegend, mal das lust der Werte, hier und heute, geschrie- Welt aufbrach, machte sie davon Bilder Hemd darüber straffstopfend, bis ihm ben? Denn Wickert hat nun selbst ein und schrieb was darüber, ein Buch. All die Schulter beinah aus der Pfanne Buch darüber verfaßt*. Warum nur, das ist legitim; wer weiß, ob wir nicht sprang. Er wurde weiß und weiser, die Herrgott, warum? ein Gleiches täten, wären wir allabends Stimme nuschliger, die Braue hängen- „Als Moderator eines Nachrichten- scheibenfüllend vor unserem Volk. der, und reifte vom Onkel zum Opa, magazins“, so erklärt er im Vorwort, Denn das Medium wirkt nach beiden umflossen vom silbernen Lichte der Ein- „dessen Inhalt weitgehend von negati- Seiten: Moderatoren und Ansager blä- sicht. hen sich, und wir sind platt. Eines Abends dann – war es nicht un- Welch ein Verlust der Werte und ih- gleich spannender als eine Kanzlerkür? * Ulrich Wickert: „Der Ehrliche ist der Dumme. Über den Verlust der Werte“. Hoffmann und Cam- rer Maßstäbe liegt da vor, daß wir Men- – schlug’s wiederum halb elf, und mit ei- pe Verlag, Hamburg; 288 Seiten; 38 Mark. schen, die imstande sind, vom Tele- nem Male saß vor uns ein kaum enden-

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wollender Oberleib mit klafterhohem rottete Medien, Politikerrotten. Dar- Henscheids Wundersatz „Neger sind die Langschädel, und wir fuhren in den über mußte sich doch was sagen lassen, Frauen der Juden. Unserer Zeit.“ Fernsehsesseln zusammen, riefen nach viel sogar, vieles, aber was genau? Wik- Dabei hat Wickert doch bisher hübsch Knoblauch und griffen erregt an die kert blätterte seine vergangenen Mode- parliert über Frankreich und über Paris, Hälse: Was, bei Bram Stoker, war das? rationen durch. Ein kleiner Essay, ein in netten Reportagen über Fußgängerei- Er habe „geguckt wie Dracula“, fand er „Versuch“ eben, schwebte ihm vor. en des Geistes durch Geschichte und selbst. Er, Ulrich Wickert, damals 48, Aber wie das so ist, wenn man das Räume. soeben erkoren zum nächtlichen Für- Ziel nicht kennt, dann wächst es sich aus Allerdings mag man sich nun wun- sten der „Tagesthemen“, ließ sich eine wie süßer Hirsebrei; ständig weicht der dern, wieso er die Selbstbedienungs- Grube graben hinterm Moderations- Autor in Anekdoten aus, verfilzt sich in mentalität unserer Politiker anprangert, tisch, auf daß er nicht mehr so rage. Nun Geschwafel, bricht abrupt mit einem während er im Paris-Buch die maßlose hockt er tiefer, und die Herzen dürfen „Wie dem auch sei“ oder einem „Doch Verschwendung des Edouard Balladur noch höher schlagen. als verfeinertes „Stilgefühl“ der Sind es seine Gardelulatschmaße von Franzosen gelten läßt; kann man fast zwei Metern? Sind’s die graublauen sich fragen, weshalb ihn die Wi- Augen, die möglicherweise grün sind? derlichkeiten der studentischen Die langen Knochen seiner Hände, die „bizutage“, eines Mut- und Ge- lange Nase, der lange Mund, der lange, waltrituals, im Paris-Buch ge- lange Blick? Seine Gabardine-Eleganz meinschaftsbildend dünken, wäh- ist es, umwickelt offenbar von einem rend er in dem Band „Angst vor schlunzigen Trenchcoat; die pfiffige Dis- Deutschland“ besorgt erzählt, es kretion, seine linksgescheitelte Lässig- werde „im Ausland immer wieder keit, die hanseatische Sinnlichkeit ver- mit Verwunderung“ über das wirren wohlig die Zuschauerinnen. „kontrollierte Sich-Besaufen und Daß er in Japan geboren wurde, ein die Duelle“ deutscher Studenten Diplomatenkind, daß er in Washington, berichtet. New York und Paris residierte als ARD- Ach, Philosoph Wickert, si ta- Korrespondent, ein weltläufig interna- cuisses! Wenn du dich darauf be- tionaler, macht uns besonders stolz auf schränkt hättest, die Gutenacht- ihn: So einer kann den Jet-Politikern Schnurren der „Tagesthemen“ zu Paroli bieten, der speiste mit Stäbchen bündeln und sie, wie geschehen, und mit Präsidenten. unter dem Titel „Das Wetter“ in Und jetzt ist er mitten unter uns in Gottes Namen zu veröffentli- Hamburg und kommentiert mit dieser chen!Wenn du dich sodann am er- kennerhaften Ironie und befragt die gro- sten Satz im Vorwort dieses Bänd- ßen Kleingeister der Politik mit Schärfe, chens orientiert hättest; er lautet: wenn’s denn sein muß (und es muß doch „Im Anfang, sostehtgeschrieben, sein). Und das ist es vor allem, was ihn war das Wort, doch das ist ein so sympathisch macht: daß er normal weitverbreiteter Irrtum; denn vor

ist, wie wir’s beim Fernsehen kaum ge- CHOLET / ACTION PRESS dem Wort war das Denken.“ Der wöhnt sind, daß er sogar den Mut hat, Gourmet Wickert: Weinfroh und käsesatt nächste Satz beweist sich dann be- Bücher wichtig zu finden und die Wich- reits selbst: „Leider hat dieser Irr- tigmacherei öffentlicher Blähhälse abzu- das soll uns hier gleichgültig sein“ die tum zur Folge, daß mit dem Wort nicht bürsten. Aberratio ab, schiebt quer ein „Und da- so genau umgegangen wird, wie es das In ihm versöhnten sich die 68er mit mit stellt sich die Frage“ (ohne sie zu be- Denken verdient.“ Oder etwa doch an- Ascot und Wimbledon; diesem Wickert antworten) und beendet ein Greuelbild dersrum? steht das Cocktailglas so gut wie das auf mit dem Hinweis: „Der Fortgang der Er- „Jetzt redet nur noch, wer was weiß“, den Rücken geschnallte Kleinkind (und eignisse ist bekannt.“ Lieber Ulrich Wik- pflegte der Schriftsteller Heinar Kipp- dabei ist er, ach Gott, schon Opa). Mit kert!Es ist uns fast alles, was Sie hier mit- hardt bisweilen in verschwätzte Diskus- dem möchte man gern ein Baguette teilen, bekannt. sionsplapperrunden zu rufen. Welch ein knuspern zu einem Bordeaux und dabei Schmerzlich neu ist die Erkenntnis, wunderbares Dekret. über die Welt reden und wie sie doch so daß unser sympathischer Moderator mit Nein, es war nicht klug von Wickert, schlecht geworden sei. dem klaren Gesichtsausdruck vollkom- jenseits seines erlernten Korresponden- So weinfroh und käsesatt wird es wohl men Wirres hinter seiner Stirne birgt, das ten-Journalismus etwas drucken zu las- gewesen sein, als ihm einfiel, über den man kaum Gedanken, eher Eingefalle- sen. Er hat damit das Geheimnis des Stammtisch hinaus ein Buch aus „all nes nennen kann. Als höre man einem Moderators preisgegeben und entwer- dem“ zu fertigen. Was hatte es da nicht mit Meldungen gepfropften Schädel tet: im Ungefähren zu bleiben, Banalitä- alles gegeben in den letzten Jahren! beim Entleerungsvorgang zu, will man ten als Geheimnis vorzutragen, Kräut- Steuerbetrüger und brennende Auslän- dauernd rufen: „Was denn nu?“ lein und Rübchen als Ragout aufzuti- derheime, Kindersex und den Zerfall Sollen wir ein soziales Pflichtjahr oder schen – nicht aber als Essay. kommunistischer Reiche, schamloses die Prügelstrafe einführen, das Wahl- Und nun wollen wir das alles recht Reality-TV, Gentechnologie und geld- recht ändern und die Mediengesetze schnell vergessen und uns ganz auf Ul- gierige Politiker. Gehörte das alles nicht gleich dazu? Weniger gaffen, mehr schaf- rich Wickerts breitmundig gequetschtes irgendwie zusammen und bedingte ein- fen, nach Berlin umziehen oder „Utopien Moderieren freuen und auf den wunder- ander? Es schien Wickert so, je öfter er umsetzen“? Man liest, man versteht vollen Augen-Blick, wenn er, am darüber moderierte. nicht, das Deutsch ist entsetzlich (und Schnurrenschluß, die Augendeckel so Auf den Heimat- und Gattenverlust Hoffmann und Campe hat wieder mal sanft – oh, so sanft – senkt und schließt, des Weltkrieges folgte nach fast 50 Jah- keinen Lektor – und wenn doch, so ist es bevor das lösende Wort vom „Wetter“ ren Frieden in Sattheit offenbar der keiner), die Sätze behaupten drauflos; uns aus dem Traume reißt: zurück ins „Werteverlust“: verrohte Jugend, ver- was beinahe heranreicht an Eckhard Jetzt mit seinem Werteverlust. Y

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Wurtzel, die auch heute noch das Medi- Psychologie kament einnehmen muß, „ist es das am zweithäufigsten verschriebene Mittel ge- worden.“ Denn Prozac ist ein Antide- pressivum, das nicht nur bei der schwe- Jung und ren, „majoren“ Form der Schwermut hilft, unter der Wurtzel leidet, sondern auch in leichteren Fällen. 1,3 Milliarden hoffnungslos Dollar Umsatz machte Prozac im ver- gangenen Jahr, mehr als zehn Millionen Depression ist ein Leitmotiv der Menschen nehmen die Pille regelmäßig. Popkultur – nun liefert Nun hat Wurtzel ein Buch über ihre Schwermut geschrieben, das jetzt – in eine junge Amerikanerin das Buch miserabler Übersetzung – auf deutsch zum Trübsinnskult. erscheint*. Es ist autobiographisch, und es trifft die amerikanische Zeitstim- mung. Denn das Buch verarbeitet jene ie steht vor dem Spiegel und be- Düsterkeit, die sich, sagt Wurtzel, wie trachtet sich. Große dunkle Au- eine Glasglocke über das ganze Land Sgen, lange Haare. Sie wirft einen gelegt habe: „Wir leben“, schreibt sie im Blick aus dem Fenster und sieht, daß es Nachwort zur Originalausgabe, „in ei- schon dunkel wird, obwohl es erst Nach- ner großen kollektiven Mißstimmung.“ mittag ist. Und plötzlich kriecht etwas Längst ist Depression ein Leitmotiv auf sie zu, erst von hinten, dann von der populären Kultur: Models starren links, von rechts, von überall. mit ödem Blick aus Werbeanzeigen, der Sie rennt aus dem Laden, in dem sie Fotograf Jean-Baptiste Mondino insze- Ohrringe anprobieren wollte – bloß niert sogar den Selbstmord als Modefo- weg, nach Hause, sonst wird diese to. Eddie Vedder, Sänger von Pearl schwarze Welle sie überrollen. Sie ha- Jam, trägt im Fernsehen am liebsten ein stet die Treppe hoch, läuft durch die T-Shirt mit dem Aufdruck „Loser“; der Wohnung in ihr Zimmer, versteckt sich Kalifornier Beck singt in seinem Hit: unter der Bettdecke und hofft, daß der „Ich bin ein Verlierer, also bring mich Alptraum endet. doch um.“ Auch wenn die Angst an diesem Tag Selbst Hillary Clinton entdeckte – irgendwann nachläßt, scheint es ihr, als trotz des Wirtschaftsaufschwungs in den könne die nächste Welle jederzeit her- USA – den gleichen Trübsinn. Sie dia- anrollen. Denn der Oze- an ist in ihrem Kopf, all- gegenwärtig, düster, end- los – ein Ozean aus Schwermut, in dem sie ei- nes Tages versinken wird. Die Amerikanerin Eli- zabeth Wurtzel, 27, war depressiv, jahrelang. Sie versuchte sich selbst zu heilen mit Drogen und mit ebenso verzweifelten wie unglücklichen Bezie- hungen zu Männern, hat viele Therapeuten aus- probiert und verschiede- ne Psychopharmaka – bis schließlich ein Medika- ment anschlug, durch das sie aus der Depression fand: Prozac (deutscher Handelsname: Fluctin) hieß das Präparat, und viele Amerikaner halten es inzwischen für eine Wunderpille. „Seit ich angefangen habe, Prozac zu schlucken“, erzählt

* Elizabeth Wurtzel: „Verdamm- te schöne Welt“. Aus dem Ame- rikanischen von Christiane Bergfeld und Christiane Land- M. ETTINGER / OUTLINE / INTER-TOPICS grebe. Byblos Verlag, Berlin; Depressive Autorin Wurtzel 356 Seiten; 38 Mark. Heilung durch den Fröhlichmacher

146 DER SPIEGEL 38/1994 GESELLSCHAFT gnostizierte kürzlich bei den Amerika- nern „Entfremdung und Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit“, ein „spirituel- les Vakuum“, eine „Sinnkrise“. Und Newsweek versuchte in einer Titelge- schichte zum Selbstmord von Kurt Co- bain zu ergründen, warum so viele jun- ge Menschen sich das Leben nehmen. Gerade die 20- bis 30jährigen, ei- gentlich im Alter für schönste Zu- kunftshoffnungen, bildeten, so behaup- tet Wurtzel, eine Nation von Depressi- ven – zu traurig, um sich auf morgen zu freuen, zu müde, um am Heute Spaß zu haben. Die „Twentysome- things“ hat Wurtzel deshalb umbe- nannt in „Twentynothings“: jung, intel- ligent und hoffnungslos. Und für sie hat Wurtzel auch ihr Buch geschrie- ben. „Viele meiner Freunde erleben die Welt als ein großes Waisenhaus“, er- klärt die Autorin, „wir sind entweder Armani-Anzeige, Cobain als Newsweek-Titel: „Legale Drogenkultur“ weit von unseren Familien entfernt oder haben gar keine Familie oder ha- Sie wuchs bei der Mutter auf, die sich Herz. Bis sie eines Tages dabei von ei- ben keine Familie, die funktioniert.“ mit Halbtagsjobs durchschlug, ab und ner Lehrerin gefunden wird. Von da an Sie interpretiert diese Krise der Fami- zu kam der Vater zu Besuch. Er war geht Elizabeth zum Psychotherapeuten, lie als eine Ursache für die Depression valiumabhängig, deshalb schlief er aber er kann nicht verhindern, daß sie ihrer Generation; schätzungsweise meist bald auf dem Sofa ein. Wenn er weiter abrutscht. mehr als eine Million Amerikaner un- sie mit ins Kino nahm, schlief er im Ihre Eltern zerstreiten sich hoffnungs- ter 18 Jahren kommen aus einer Schei- Kinosessel. los über Unterhaltsforderungen, sie dungsfamilie. Dennoch sei sie, so sieht Wurtzel es, schreien einander am Telefon an, und So war es auch bei ihr selbst. Wurt- ein fröhliches, talentiertes Kind gewe- schließlich weigert sich der Vater, die zels Eltern ließen sich scheiden, bevor sen. Mit sechs Jahren schrieb sie ein wöchentlichen Therapiesitzungen zu be- sie zwei Jahre alt war; zudem sei sie Kinderbuch, sie brachte sich selbst zahlen. Elizabeth nimmt dies im Nebel ohnehin ein ungewolltes Kind gewesen. Tennisspielen bei, und sie gewann je- ihrer Schwermut kaum wahr. des Jahr an ihrer jüdischen „Mein mürrischer Charakter würde Schule einen Wissenstest. nie verschwinden, weil alles an mir De- Sie war ein „Golden Girl“, pression war“, davon sei sie damals eine „Jappy“ (eine „Jewish überzeugt gewesen, „es war, als ob je- American Princess“), sie mand ein einziges brandneues T-Shirt in war „bezaubernd und char- einen Haufen weißer Wäsche geworfen mant“. Bis sie „richtig hätte und es hätte das Wasser und die durchknallte, so mit zehn anderen Kleidungsstücke mit seiner ro- oder elf oder zwölf“, ten Farbe gefärbt.“ schreibt Wurtzel, „hätten Trotzdem schließt sie die High-School Sie mich höchstwahr- mit einem hervorragenden Zeugnis scheinlich als, na ja, eben ab, trotzdem wird sie in Harvard auf- vielversprechend bezeich- genommen. Und wenn sie heute von net“. ihren damaligen Erfolgen berichtet Doch dann, eines Tages, und immer und immer wieder stolz sitzt sie im Umkleideraum auf dieses „Trotzdem“ verweist, dann der Schule, hört den dump- wird klar, daß Depression und Nar- fen Hardrock von „Foreig- zißmus nicht unvereinbar sind; im Ge- ner“. Sie holt ihre Nagel- genteil. feile aus dem Ranzen und Ihre Krankheit, davon war Wurtzel läßt die scharfe Kante über damals überzeugt (und ist es im Grunde ihre Unterschenkel gleiten. immer noch), machte sie erst zu einem Die Feile hinterläßt eine wertvollen Menschen. Denn sie hatte, dünne rote Spur: „Ich war so glaubte sie, eine tiefere Einsicht ins überrascht über die gerade Leben, nur sie wußte, daß „alles Pla- Linie und darüber, wie stik“, alles falsch und tot war. leicht es für mich war, mich In Harvard gibt es genug fröhliche so zu verletzen.“ Parties mit überdrehten Studenten, auf Sie zieht sich immer wie- denen reichlich Ecstasy geschluckt wird. der zurück, um sich mit Doch während die anderen Spaß dabei Rasierklingen oder Mes- haben, fühlt Wurtzel sich lediglich nicht sern Muster in die Haut ganz so schlecht wie sonst: „Ich blieb zu- Mondino-Foto in The Face (Ausriß) zu schneiden – Quadrate, rück, weinte und schrie: Ich wolle mehr, „Ich bin ein Verlierer, also bring mich doch um“ Dreiecke, Sterne, ein ich wolle mein Geld zurück, wolle etwas

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GESELLSCHAFT

Befriedigung, etwas anderes als dieses Gefühl der Leere.“ SPIEGEL-Gespräch So geht es weiter bergab. Wieder und wieder landet sie in der Notaufnahme, ist depressiv, in trostlose Männerge- schichten verstrickt, selbstmordgefähr- Als Technoknecht det. Am Ende liegt sie regungslos im Krankenhausbett und bittet um Morphi- um, um im Schlaf der Schwermut zu ent- gehen. Es sind vor allem Tabletten, die am Nocibur ihr schließlich aus der Depression hel- fen: das seit Jahrzehnten erprobte Lithi- Der Futurist Frank Ogden zum Überleben im elektronischen Zeitalter um – und das neue Wundermedikament Prozac. Irgendwann muß Wurtzel dann fest- SPIEGEL: Herr Ogden, in der elektroni- Lehrkörper wegen fahrlässiger Hirnver- gestellt haben, daß sie nicht die einzige schen Welt, die Sie vorhersagen, ver- letzung verklagen. ist, die den Fröhlichmacher braucht. kehren die Menschen nur noch via SPIEGEL: Ihre eigene Schulzeit haben Daß ihre Freunde diese Pille schlucken, Computer miteinander. Am PC kaufen Sie unbeschadet überstanden? um die Welt ein bißchen netter aussehen sie ein, sie lesen keine Bücher mehr, Ogden: Ja – wohlgemerkt, das war in zu lassen, daß Prominente wie der Ma- und richtiger Sex gehört der Vergan- den dreißiger Jahren. Heutzutage wer- rathonläufer Alberto Salazar über Pro- genheit an. Ihre Vision macht frösteln. den die Kinder durch Erziehung gründ- zac sagen: „Ich fühle mich großartig, Ogden: Keine Angst, es wird keine un- lich deformiert. Schulbücher sind ge- und ich laufe besser“, daß Tierärzte es menschliche Welt sein. Allerdings wird wöhnlich bereits acht Jahre alt, wenn sie Hunden verschreiben. Und daß viel- sich Ihre Haltung wandeln müssen. im Unterricht zum Einsatz kommen. Sie leicht ganz Amerika besser gelaunt wä- SPIEGEL: Sie gehen noch weiter und sind Papiermüll: ohne Nutzen für die re, wenn alle Prozac nähmen. verkünden: „Schulen sind überflüssig.“ Gegenwart, wertlos für die Zukunft. Die New York Times jedenfalls teilt Ogden: Das meine ich auch so. Wenn SPIEGEL: „Lauft aus der Schule weg“, Wurtzels Einschätzung von Amerika als es sich um Fabriken handelte, hätten empfehlen Sie den Jugendlichen. Prozac-Nation und stellte die Diagno- sie bereits vor zehn Jahren geschlossen Ogden: Sie sollten besser zu Hause am se: Im ganzen Land sei eine „legale werden müssen, weil sie ein unverkäuf- PC bleiben. Von dort aus können sie Drogenkultur“ entstanden. Aufgehellte liches Produkt herstellen. Die Schüler durch das Computernetz Internet ziehen Prozac-Benutzer beschreiben in Magazi- lernen nicht mehr richtig lesen und und in den mehr als 10 000 Datenban- nen das Ende ihres Leidens. In Zei- schreiben, am Ende haben sie zwar ei- ken stöbern, die sich auf diesem Weg tungsartikeln wird diskutiert, ob Prozac nen Abschluß, aber anschließend kei- weltweit erreichen lassen. Bei denen, („Sonnenschein in Flaschen“) nur den nen Job. die nicht zu Hause bleiben wollen, wür- Schatten von der Seele nimmt oder ob SPIEGEL: Mit anderen Worten: Lehrer de ich den Eltern empfehlen: Schickt es die Persönlichkeit verändert, also aus wären sowieso entbehrlich? eure Kinder nach Südkorea oder Japan, antriebslosen Depressiven energiestrot- Ogden: Sie werden zukünftig durch mit 2000 Dollar in der Tasche und der zende Extravertierte macht. Wissenslotsen ersetzt. Sie helfen bei Anweisung, zwei Jahre lang nicht zu „Wir gehen zum Fitneßtraining, wir der Orientierung in der Datenwelt der Hause anzurufen. Nach dieser Erfah- halten Diät“, erklärte auch die englische globalen Computernetze. Im Berufsle- rung werden sie für das Informations- Zeitung Daily Mail polemisch, „warum ben bringt es doch nichts, vor 20 Jahren zeitalter gewappnet sein. sollen wir da keine Pille gegen uner- erworbenes Wissen wiederzukäuen, das SPIEGEL: Nicht nur die Schule, auch das wünschtes Verhalten schlucken?“ wahrscheinlich bereits damals zur Hälf- Buch taugt nichts mehr, verkünden Sie. Wenn Wurtzel ihr Buch im amerika- te falsch war. Der Tag ist nicht mehr Ogden: Bücher sind wirtschaftlich nicht nischen Original „Prozac Nation“ fern, an dem Kinder und Eltern ganze mehr vertretbar. 27 Dollar bezahlen Sie nennt, so ist das also Teil einer Marke- tingstrategie: In narzißtischer Selbst- überschätzung stilisiert sie sich zum spektakulären Präzedenzfall für ein de- pressiv gestimmtes Volk. Und doch zeigt das Buch, wenn auch unfreiwillig, eine weitere, durchaus be- denkliche Wirkung von Prozac: Es ent- fremdet von den eigenen Gefühlen. Wurtzel nahm das Antidepressivum, als sie an der Autobiographie arbeitete. Wohl deshalb ist die Beschreibung ihrer Traurigkeit merkwürdig kühl und di- stanziert geraten; fast so, als berichte Wurtzel etwas verwundert über das Schicksal einer anderen, das sie in Wahrheit kaltläßt. Der New Yorker jedenfalls hat keinen Zweifel daran, daß Prozac die poetische Phantasie abtötet. Das Magazin druckte einen Cartoon, in dem Edgar Allan Poe, der Meister düsterer Geschichten, mit

läppischem Grinsen zu einem Raben L. SCHMIDT / JOKER sagt: „Hi, Birdie!“ Y Lernmethode Computer-Unterricht: „Schulbücher sind Papiermüll“

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deln. In meinen Vorträgen vor Managern spreche ich gern von einem Fluß, der überquert werden muß. Diesen Fluß nenne ich dann „Nocibur“ – rückwärts gele- sen ergibt das „Rubicon“. SPIEGEL: Fürs Rückwärts- Denken sind Sie nicht gera- de bekannt. Ogden: Ich will meine Zu- hörer anregen, gewohnte Denkmuster zu verlassen. SPIEGEL: In Ihrem Buch schwärmen Sie vom Com- puter, der gesprochene Be- fehle versteht und selbst Texte vorlesen kann. Sol- che Programme gibt es schon, sie finden allerdings kaum Abnehmer. Ogden: Das wundert mich überhaupt nicht. Wenn Sie jemandem 50 Jahre lang einhämmern, daß er unbe-

K. KALLBERG dingt Bücher braucht, und ihm dann etwas völlig Neu- Frank Ogden spielsweise mittels neuartiger Datenhand- es vorsetzen, wird er sich schuhe bedient wird. Sein jüngstes Werk, das natürlich zuerst widerset- prophezeit, unter dem zugespitzten Motto in Amerika zum Bestseller wurde, veröffent- zen. Doch wer sich nicht än- „Gutenberg kaputt“, das Ende des gedruckten lichte Ogden, 73, zu dessen Fans auch US-Vi- dert, der ist verloren – Wortes: Die Buchkultur sei „unwiderruflich zepräsident Al Gore zählt, gleichwohl noch als change or die. dem Untergang geweiht“, verkündet der kana- Druckausgabe, Titel: „The Last Book You’ll SPIEGEL: Wen wollen Sie dische Zukunftsforscher auf Manager-Semi- Ever Read“ (Macfarlane Walter & Ross) – „Das mit solchen Übertreibungen naren von Weltfirmen wie IBM, Electronic Data letzte Buch, das Sie je lesen werden“. Der denn beeindrucken? Systems, McKinsey oder MTV. Die Zukunft ge- SPIEGEL sprach mit dem Autor in Vancouver Ogden: Natürlich können hört nach Ansicht des Futuristen, der sich den über seine Vision einer elektronischen Zukunft Sie sagen: Ich bin zu alt, um Namen „Dr. Tomorrow“ als Warenzeichen ein- ohne Schule und Bücher. Dem Computerlaien, mich mit dem ganzen Com- tragen ließ, dem Multimedia-Computer am warnt Ogden, drohe die Techno-Knechtschaft: puterzeug auseinanderzu- globalen Daten- und Fernsehnetz, der bei- „Wer sich nicht ändert, ist verloren.“ setzen, dieser Kram ist zu teuer, zu kompliziert sowie- so, und überhaupt, wem für ein Buch, das genausogut auf eine SPIEGEL: Wann haben Sie zuletzt ein nützt das alles? Ich will es Ihnen beant- Computerdiskette für 35 Cent gepaßt richtiges Buch gelesen? worten. Zur Jahrhundertwende gab es hätte. Das Buch ist einfach nicht mehr Ogden: Obwohl ich es eigentlich nicht in Amerika nur verhältnismäßig wenige konkurrenzfähig. Es ist zu schwer, zu will, muß ich noch regelmäßig bedruck- Menschen, die lesen und schreiben sperrig, bezahlt wird für die Verpackung, tes Papier lesen. Wir befinden uns in ei- konnten. Daß es später Abermillionen nicht für den Inhalt. ner Übergangsphase. wurden, liegt daran, daß denen klarge- SPIEGEL: Mit anderen Worten: Kultur in SPIEGEL: Ihr Bestseller „The Last Book macht wurde: Ihr müßt mit Papier und der bisherigen Form hält nur den Fort- You’ll Ever Read“ wurde ebenfalls Bleistift umgehen lernen, sonst habt ihr schritt auf? noch als gebundene Druckausgabe her- keine Zukunft. Denselben Standpunkt Ogden: Ganz ohne Zweifel. Eine Kultur, ausgebracht. Dem Fortschritt vertrauen vertrete ich heute, allerdings spielt da- die sichnicht verändert,hatsichüberlebt. Sie also selber nicht so recht. bei der Computer die Rolle, die damals Wie viele Besucher haben die Bilder im Ogden: Mein Verleger meinte, es gebe der Bleistift hatte. Louvre wirklich betrachten können, seit noch zu viele Unwissende, Techno- Ein Beispiel aus der Praxis: Kürzlich ha- das Museum 1793 eröffnet wurde? Ver- knechte, wie ich sie nenne. Im Grunde be ich zwei Seminare in Australien ab- hältnismäßig wenige. Neuerdings sind handelt es sich dabei wohl noch um 97 gehalten – aber von hier, von meinem die Kunstwerke auf CD-Rom gespei- Prozent der Bevölkerung, und wenn wir Hausboot aus. Mit einer Videokamera, chert, auf computerlesbarer Compact Geld machen wollen, können wir an de- die mit einer Antennenschüssel verka- Disc. Nun werden Millionen von Men- nen nicht vorbei. Für die anderen haben belt war, bin ich via Satellit eingereist schen sie innerhalb kürzester Zeit zu Ge- wir eine Diskette mit dem digital abge- und mit Lichtgeschwindigkeit durch ein sicht bekommen. Und wie viele Men- speicherten Text beigelegt. hochentwickeltes Glasfasernetz weiter- schen lesen Bücher? Ebenfalls ziemlich SPIEGEL: Es ist sehr anstrengend, am befördert worden – der erste photoni- wenige, gemessen an einer Weltbevölke- Bildschirm Ihren Text zu lesen. sche Arbeitsimmigrant auf australi- rung von mehr als fünfeinhalb Milliar- Ogden: Zugegeben, das elektronische schem Boden. Das Honorar wurde kurz den. Doch daswird sich ändern, durch die Buch befindet sich noch ganz am An- darauf elektronisch überwiesen. Computerdisketten und Compact Discs, fang. Da es neu ist, wirkt es noch ziem- SPIEGEL: Sieht so Ihre Zukunft aus? auf der Buchtexte elektronisch gespei- lich grob und ungewohnt. Um damit Ogden: Genau das ist die Zukunft. Wer chert sind. Auf diese Weise kann jetzt umzugehen, muß sich das Bewußtsein sich nicht anpaßt, wird zurückblei- endlich jeder ein Buch lesen. der Konsumenten noch dramatisch wan- ben.

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SPIEGEL: Sie können in Ihrem Wohnraum jetzt schon 1000 Ra- diosender, die meisten über die altmodische Kurzwelle, empfan- gen oder sich durch Hunderte von Fernsehkanälen zappen. Und wenn Sie das alles hinter sich ha- ben, unternehmen Sie eine Da- tenreise durch zahllose Daten- banken, an die Sie angeschlossen sind. Haben Sie eigentlich nichts besseres zu tun, als sich mit Infor- mationen zuzuschütten, die Sie nicht verwerten können? Ogden: Das ist nicht der Punkt. Es geht darum, daß ich den Zu- griff habe und alles nutzen kann. SPIEGEL: Sie meinen, daß der In- formations-Highway geradewegs in eine bessere Welt mit glückli- cheren Menschen führt.

Ogden: Technologie ist nicht W. SCHEIBLE / ZEITENSPIEGEL gleichbedeutend mit Glück. Aber Studienort Uni-Bibliothek: „Geistig plattgequetscht wie eine Colabüchse“ sie bedeutet wirtschaftliches Überleben, für das Individuum, für Un- SPIEGEL: . . . und am Ende womöglich Kommunikationszeitalters betraut sind, ternehmen, für ganze Länder. feststellen, daß sie neues Elend über die Gesellschaft beherrschen, wie Sie SPIEGEL: Könnte die Infobahn nicht ge- diese Welt gebracht haben. glauben, werden neue Klassenstruktu- nausogut in einer Sackgasse enden? Zu Ogden: Wer sich bewegt, lebt immer ge- ren geschaffen. Ein neuer Klassen- viele Angebote und ein Übermaß an Pro- fährlich. Allerdings lösen neue Techno- kampf, auch zwischen Industrieländern grammen führen womöglich dazu, daß logien wiederum auch viele Probleme, und der Dritten Welt, wäre unvermeid- die Nutzer nur noch weiter verwirrt und die von den alten geschaffen wurden, so lich. abgestumpft werden. wie das Industriezeitalter viele Proble- Ogden: Völlig richtig, das Chaos wird Ogden: Ich glaube nicht an die Mär von me der Agrargesellschaft gelöst hat. wachsen. Gleichzeitig jedoch fördert es der Informationsflut. Nur ein Prozent un- Wer ernsthaft versucht, die neuen Tech- den Erfindungsreichtum. Wenn etwas seres Gehirns wird bislang wirklich ge- nologien anzunehmen, mit ihnen her- auf diese Weise zusammenbricht, läßt nutzt, es wird Zeit, daß wirauch den Rest umzuspielen – das halte ich für sehr sich aus den Einzelteilen etwas völlig aktivieren. Im 17. Jahrhundert hatten die wichtig – und sie sich auf diese Weise Neues zusammensetzen. kenntnisreichsten Zeitgenossen auf dem anzueignen, der wird auch davon profi- SPIEGEL: Das rasche Anwachsen der Planeten nicht mehr Wissen, als heute in tieren. Wer sich dagegen sperrt, der elektronischen Kommunikation wird, eine Werktagsausgabe der New York wird höchstwahrscheinlich auf der erwarten Sie, den Zerfall von Gemein- Times paßt. Inzwischen hat sich die Art Strecke bleiben. schaften und Nationalstaaten zur Folge und Weise weiterentwickelt, wie wir In- SPIEGEL: Wenn künftig die 20 Prozent haben. Soll das bedeuten, daß zum Bei- formation aufnehmen. der Beschäftigten, die mit den analyti- spiel Deutschlands Ende bevorsteht, SPIEGEL: „Auf Karavellen aus Silizium schen oder kreativen Aufgaben des weil sich die Computerfreaks ins Inter- und Gallium-Arsenid“, haben Sie ge- schrieben, „segeln die heutigen Entdek- ker ins Unbekannte.“ Wen halten Sie für die Nachfolger eines Magellan oder eines Kolumbus? Ogden: Die modernen Abenteurer sind Kinder, Jugendliche zwischen 10 und 16. Was sie heute am Computer oder spiele- risch, an der Nintendo-Konsole, lernen, das kann ihnen keine Institution auf der Welt vermitteln. Wenn ichalsFirmenboß jemanden einstellen müßte, würde ichein Nintendo-Zeugnis dem Harvard- oder Heidelberg-Abschluß vorziehen. SPIEGEL: Was werden die Jung-Entdek- ker am Ende ihrer Reise durchs Daten- meer denn finden? Ogden: Ich weiß es nicht. Genau wie Ko- lumbus es nicht wußte. Und waser gefun- denhat, warauch nichtdas, wonach er ge- sucht hatte. Sie werden auf Sachen sto- ßen, die die Welt noch nicht gesehen hat . . .

* Gerd Meißner, Helmut Sorge im Hafen von Van- K. KALLBERG couver. Hausboot-Eigner Ogden, SPIEGEL-Redakteure*: Entdeckungsfahrt im Datenmeer

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GESELLSCHAFT BLACK STAR E. MIYAZAWA / Japanische Spiele-Programmierer: „Abenteurer mit Nintendo-Zeugnis“

net davonmachen und Bürgerbeteili- Ogden: Keineswegs, das bedeutet weni- gung in Zukunft nur noch beim interak- ger Kontrolle. Früher hat die Regierung tiven Fernsehen stattfindet? mich überwacht. Heute vermag ich, mit Ogden: Sicher sind Regierungen, wie anderen im Datennetz verbunden, mei- wir sie kennen, bald überflüssig. nerseits die Regierung zu überwachen. SPIEGEL: Und was wird an ihre Stelle Ich bewege mich elektronisch inzwi- treten? Der Milliardär Bill Gates vom schen schneller, als die schwerfällige Software-Riesen Microsoft? Oder Kom- Bürokratie es kann. munikationsgiganten wie Time Warner SPIEGEL: Es wird geschätzt, daß sich im und Murdoch? weltweiten Internet inzwischen mehr als Ogden: Kein großes Unternehmen wird 25 Millionen Computerbenutzer bewe- sich lange an der Spitze halten können. gen. Nicht wenige Nutzer benehmen Die profitabelsten und zukunftsträchtig- sich, als gebe es außerhalb dieser elek- sten Unternehmen bestehen womöglich tronischen Welt keine andere mehr. bald aus Einzelpersonen, die ihr ganzes Könnte es sein, daß sie von der Techno- Geld in ihr eigenes Hirn investieren, logie besoffen sind und ein bißchen weil das die beste Geldanlage ist: das ei- übertreiben? gene Köpfchen. Ogden: Haben Sie mal einen Mann er- SPIEGEL: Sie selber haben sich jeden- lebt, der einen guten Tag beim Golf er- falls eine akademische Ausbildung er- wischt hat? Seine Frau, seine Kinder, spart. der Garten, das Auto, sein Geschäft – Ogden: Und ich bin stolz darauf. Das ist all das tritt völlig in den Hintergrund mein größter Vorteil. Ich habe mich während einer derart euphorischen Pha- nicht geistig verwirren lassen durch se. Jahrzehnte in Klassenzimmern und Se- SPIEGEL: Sie tragen chirurgisch implan- minaren. Am Ende wäre nichts anderes tierte Augenlinsen, Sie haben sich erwiesen gewesen, als daß ich Geduld Zahnpfosten aus Titan einpflanzen las- habe. Ich halte das für ein effektives sen, Sie steuern Ihren Computer mit ei- Verfahren, jemanden geistig auszulö- nem sensorbestückten Stirnband, und in schen. Da ist es nicht verwunderlich, Ihrem Buch fragen Sie: „Was kann ich wenn die Schulabsolventen heute an- als nächstes ausprobieren?“ Haben Sie schließend keinen Job kriegen – die sind schon eine Antwort gefunden? geistig plattgequetscht wie eine breitge- Ogden: Noch nicht. Ich würde liebend tretene Colabüchse. gern mit der amerikanischen Raumfähre SPIEGEL: Bei Ihren Prognosen stützen Spaceshuttle fliegen. Statistisch sind die Sie sich also nicht auf wissenschaftliche Chancen, daß mir das gelingt, allerdings Methodik. ziemlich schlecht. Aber angesichts so Ogden: Sagen wir, ich bin ein unortho- vieler Firmen in verschiedenen Län- doxer Forscher. dern, die an allen möglichen Formen SPIEGEL: Aber offensichtlich nicht un- privater Trägerraketen arbeiten, glaube orthodox genug, die Gefahren der In- ich, daß ich eine 50-Prozent-Chance ha- formationsgesellschaft zu beschreiben. be, es in den Weltraum zu schaffen. Ein Sie bringt vielleicht gar nicht die ver- entsprechendes Angebot würde ich mit sprochene Freiheit, sondern verstärkte Sicherheit annehmen. Kontrolle mit sich – alles und jeder hän- SPIEGEL: Herr Ogden, wir danken Ih- gen neuerdings vom Computer ab. nen für dieses Gespräch. Y

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AUSLAND PANORAMA

heitsentscheidungen die Ab- Rußland stimmungsverhältnisse unter Unglücksstelle des sowjetischen Atom- den zwölf Mitgliedstaaten be- U-Boots „Komsomolez“ im April 1989 kanntzugeben. Den nieder- Nukleare Zeitbombe ländischen Christdemokraten Barentssee Rußland Vor einem „maritimen Tschernobyl“ war- Spitzbergen und Europa-Abgeordneten nen russische Wissenschaftler: Das im Bären-Insel James Janssen van Raay erin- April 1989 nach einem Brand vor der nert diese geheime Gesetzge- nordnorwegischen Küste gesunkene so- bung des Rates an den Stil „diktatorischer Regime eines wjetische Atom-U-Boot „Komsomolez“ Europäisches Ostsee (42 Tote) ist zur radioaktiven Zeitbombe Grönland Nordmeer Mobutu oder Pinochet“ – vor geworden, die schon bald losgehen kann. allem, nachdem die europäi- Nor- Mehrere tausend Quadratkilometer der wegen schen Staats- und Regie- Grönland- und Barentssee wären ver- Nordsee rungschefs 1992 in ihrer Er- seucht, reiche Fischgründe auf lange Zeit Island klärung von Edinburgh den gefährdet. Nach übereinstimmenden Gut- Bürgern mehr Offenheit ver- achten russischer wie auch norwegischer sprochen hatten. Jetzt will Fachleute sind die beiden an Bord befind- Atlantik der Rechtsausschuß der lichen Atomtorpedos spätestens im Som- Meeresströmung Straßburger Volksvertretung mer nächsten Jahres vom Meerwasser eine Klage beim Gerichtshof zersetzt. Sechs Kilogramm Plutonium bloße Propaganda. Zwar sei ein Torpedo- der EU in Luxemburg unter- könnten dann das Wasser vergiften. Mos- schacht mit Gummi und Titan abgedichtet stützen, die sich gegen die kaus offizielle Erklärung, das Wrack sei worden, doch klafften nach wie vor 40 Geheimhaltung der Sitzungs- bei der jüngsten Expedition zur Un- Zentimeter breite und zwei Meter lange protokolle des Ministerrats glücksstelle gründlich gesichert worden, Risse im Rumpf. Sowohl die Raketen und wendet. Mehr Einblick in ist nach Ansicht kritischer Wissenschaftler Torpedos mit gewöhnlichem Sprengstoff Entscheidungsabläufe, be- wie auch die Nuklearladun- haupten die Fachminister in gen werden bereits vom einer ersten Stellungnahme Salzwasser umspült. Nur ei- für das Gericht, sei für ihre ne Hebung des Wracks, das Arbeit nur hinderlich. aber in 1600 Meter Tiefe liegt, könnte die Gefahren- Libanon quelle verläßlich beseitigen. Die russischen Behörden Kampf den favorisieren indes eine überaus fragwürdige Be- Geldwäschern helfslösung: 1995 soll die U- Internationale Waffenschie- Boot-Nase samt Atomtor- ber und Drogenhändler ver- pedos vom Wrack abge- lieren einen der größten Um- trennt und geborgen wer- schlagplätze für Schwarzgeld. den; der Rest des Schiffes Der libanesische Ministerprä- mit dem Nuklearreaktor sident Rafik el-Hariri plant,

AP soll dagegen auf Grund die liberalen Wirtschaftsge- Atom-U-Boot „Komsomolez“ bleiben. setze des Levantestaates zu verschärfen. Seit Finanztrans- aktionen in europäischen und Burundi der Provinz massakrieren men starben Zehntausende. amerikanischen Banken viel Angehörige des einstigen Die Flüchtlingswelle von penibleren Kontrollen unter- Stämme vor Herrenvolkes bereits Hutu- hunderttausend Hutu aus liegen, haben vor allem süd- Mitbürger. In der vergange- dem benachbarten Ruanda amerikanische Drogenkartel- neuem Massaker nen Woche griffen bewaff- heizt den Konflikt weiter an. leBeirut alsbevorzugten Platz Wie im Nachbarstaat Ruanda nete Rebellen den Sitz des für die Geldwäsche entdeckt. droht nun auch in Burundi Hutu-Übergangspräsidenten Europäische Union „Man könnte über dieBanken ein Bürgerkrieg zwischen Sylvestre Ntibantunganya an. Hutu und Tutsi. 85 Prozent Der Staatschef entkam dem Klage auf der gut fünf Millionen Ein- Anschlag unverletzt. Ntiban- wohner des Landes sind zwar tunganya ist einer der weni- mehr Einblick Hutu, doch in der Armee gen Überlebenden aus der Durch einen Richterspruch dienen fast ausschließlich Führung der Front für De- will das Europäische Parla- Tutsi – und die drängen an mokratie in Burundi, die im ment den Ministerrat zu die Macht, seit im benach- Juni 1993 die ersten freien mehr Transparenz zwingen. barten Ruanda die von ihren Wahlen des Landes gewann. Die stets hinter verschlosse- Stammesbrüdern dominierte Doch schon im Oktober er- nen Türen tagende Runde Befreiungsfront RPF regiert. mordeten Offiziere den ge- der Fachminister der Euro- Mit dem Ruf „Iboro!“ – Tö- wählten Hutu-Staatschef päischen Union (EU), in der tet die Hutu! jagen Tutsi-Ex- Melchior Ndadaye, dessen letztlich über die Verordnun- tremisten in der Burundi- Anhänger daraufhin landes- gen und Richtlinien der Ge-

Hauptstadt Bujumbura Men- weit Tutsi angriffen; bei Ra- meinschaft entschieden wird, F. NEEMA / SYGMA schen aus ihren Häusern. In cheakten zwischen den Stäm- weigert sich sogar, bei Mehr- Ministerpräsident Hariri

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im Libanon täglich unzählige Millionen Dollar bewegen, ohne daß jemand fragt, woher das viele Geld stammt“, kriti- siert der von der Regierung als Berater berufene britische Fi- nanzexperte Philip New- house. Hariri will nicht zulas- sen, daß der nahöstliche Fi- nanzplatz Beirut in Verruf ge- rät. Das könnte seriöse Inve- storen abschrecken und den Wiederaufbau der durch jah- relangen Bürgerkrieg zerstör- ten Handelsmetropole ge- fährden.

Großbritannien Harte Arbeit für kriminelle Kids AP Jugendlicher Gewalttäter

Der britische Innenminister Michael Howard will jugend- liche Straftäter strenger be- strafen. Mit „harter Arbeit“ sollen Halbwüchsige künftig ihre kriminellen Vergehen sühnen – etwa als Straßenfe- ger oder als Helfer bei der Instandsetzung verfallener Wohnviertel. Überdies sollen demnächst bereits 10jährige Kinder nach Straftaten für die Entschädigung ihrer Op- fer haftbar gemacht werden – bislang liegt die Untergrenze bei 16 Jahren. Mit solcher Härte, die Sozialarbeiter wie Bewährungshelfer einmütig ablehnen, will die angeschla- gene Regierung John Majors konservativen Bürgern impo- nieren – die Zahl der von Ju- gendlichen begangenen Ein- brüche ist in den letzten Jah- ren deutlich gestiegen.

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AUSLAND

Haiti CLINTON IM VOODOO-LAND SPIEGEL-Reporter Carlos Widmann über Amerikas militärische Verstrickung in der Elendsrepublik

ie ersten Bomben landeten weich. wurde Aristide auf den Flugblättern Die riesigen Flugzeugträger „Eisen- Es waren Transistorradios, abge- genannt, seine baldige Wiederkehr ver- hower“ und „America“, das 237 Meter Dworfen in der Nacht zum Freitag kündet wie das Eintreffen des Messias. lange Sturmlandungsfahrzeug „Wasp“ von US-Kampfhubschraubern, die un- Doch Bill Clinton hat es bis zuletzt (1800 Soldaten, 30 Hubschrauber), das behelligt über Haitis Hauptstadt krei- peinlichst vermieden, mit dem Mann nicht viel kleinere Landungsschiff sten. gemeinsam aufzutreten, den er mit so- „Nashville“, zwei Zerstörer, ein Lenk- Deren anderthalb Millionen Einwoh- viel Aufwand in die Maison Blanche waffenkreuzer, vier Fregatten, zwei ner sollten die Anweisungen der ameri- von Port-au-Prince zurückbefördern Küstenwachboote, ein Lazarettschiff – kanischen Invasoren auch dann verneh- will. Das offenkundig flaue Gefühl, dazu Transporthubschrauber vom Typ men, wenn das Regime ihnen den Strom mit dem der Präsident am Donnerstag „Superhengst“, amphibische Fahrzeuge abdreht. Doch in Port-au-Prince traute im Oval Office seinen Eingriff in Haiti mit Panzern darauf, „Hercules“-Trans- sich niemand, die einschwebenden ankündigte, war zum Teil zweifellos porter voller Fallschirmjäger: Etwa Empfänger vom Boden zu heben. Poli- auf die Person Aristides zurückzufüh- 20 000 GIs standen bereit, um sich in zei, allgegenwärtig, sammelte sie ein. ren. diese Schlacht zu stürzen. Am Vortag waren es Flugblätter ge- Diesem Mann wieder ins Amt zu Denn nur eine „überwältigende wesen, die vom Himmel kamen und im helfen sei die Knochen keines einzigen Übermacht“ könne, wie es der beson- Straßendreck landeten. Die Amerika- amerikanischen Musketiers wert, riefen nen wirkende Verteidigungsminister ner warben mit dem Konterfei des Ar- konservative Republikaner. Newsweek Perry ausdrückte, die Zahl der Opfer menpriesters Jean-Bertrand Aristide, nannte Aristide schlicht „flaky Fa- „auf beiden Seiten“ niedrig halten. Al- den die Militärclique um General Raoul ther“, den bescheuerten Pater. so kein apokalyptisches Bombardement Ce´dras vor drei Jahren aus dem Präsi- Doch nun gab es längst kein Zurück wie das, mit dem George Bush im De- dentenpalais verjagt hat. „Das Licht der mehr. Clinton hatte Ende voriger Wo- zember 1989 das Hauptquartier des Demokratie und der Gerechtigkeit“ che auf die Zwergrepublik im westli- Diktators Noriega in Panama vernich- chen Drittel der Insel Hispaniola eine tete – und ein ganzes Armenviertel in * Nach seiner Fernsehansprache am vergange- Streitmacht angesetzt, als stünde ein Schutt und Asche legte, mit Hunderten nen Donnerstag. karibisches Armageddon bevor. toter Zivilisten? MATRIX REUTER A. QUESADA / Gegenspieler Clinton*, Ce´dras: „Eure Zeit ist um. Geht jetzt, oder wir vertreiben euch mit Gewalt“

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Amerikas Invasionsstreitmacht stand, Aufmarsch der 2 so zumindest suggerierten es dem US- USA HAITI Fläche: 27 750 km (fast Bürger die Fernsehbilder aus Port-au- Invasionsmacht so groß wie Belgien) Kuba Prince, eine groteske Lumpenarmee ge- Vor Haiti kreuzten Ende voriger Mexiko Einwohner: 6,8 Millionen genüber. Frisch rekrutierte Milizionäre Woche 20 US-Kriegsschiffe, dar- Bevölkerung: 80% Schwarze marschierten mit wild schlenkernden Ar- unter die Flugzeugträger „Eisen- 20% Mulatten men vordem Hauptquartier desGeneral- hower“ und „America“, dazu 14 Religion: 80% Katholiken leutnants Ce´dras auf und ab, hantierten Schiffe für Versorgung und Nach- 16% Protestanten ungeschickt mit rostigen Mauser-Karabi- schub. An Bord der Armada: nern aus der Zeit vor dem Zweiten Welt- 5800 Marineinfanteristen und Armeesoldaten. Dazu kommen krieg. Von den 7400 Soldaten der regulä- rund 14 000 US-Soldaten und ren Verbände Haitis galt nur eine winzige 2000 aus Staaten der Karibik, Port-de-Paix Elite von 400 Mann als kampffähig und aus Europa und Lateinamerika, Cap-Haïtien einigermaßen modern ausgerüstet. die in die Region abkomman- Gonaïves In dieser „Chronik einer angekündig- diert sind. ten Invasion“, wie Gabriel Garcı´a Ma´r- quez das Unternehmen der Gringos wohl HAITI betitelt hätte, waren für die Einnahme St.-Marc Haitis „Stunden“ eingeplant, wie aus Gonâve Streitkräfte: dem Pentagon verlautete, höchstens aber 7400 Mann „ein oder zwei Tage“. Das Szenario sah vor, daß Marineinfanteristen und Luft- Jérémie DOMINI- landetruppen alle strategisch wichtigen KANISCHE Léogane Port-au-Prince Positionen einnehmen sollten – von den REPUBLIK Haitianern mit tellergroßen Augen be- Les Cayes Jacmel staunt und alsbald umjubelt. Mehr als symbolischen Widerstand 100 Kilometer sollten die Truppen des Generals Ce´dras Port-Salut nicht leisten; die Mehrheit hatte sich laut Drehbuch seitwärts in die Büsche zu schlagen. Im Idealfall, so hofften die bus wurde, als wäre der weiße Mann an der bestürzend jung wirkend, warb der Amerikaner, würden Ce´dras, der Poli- allem schuld, ins Meer gestürzt. Präsident um Verständnis für diese neue zeichef Joseph Michel Franc¸ois sowie Hervorragend frisiert, doch mit etwas militärische Verstrickung – die erste, die Generalstabschef Philippe Biamby in schief sitzender Krawatte setzte sich Bill er selbst zu verantworten hat. letzter Minute ins Exil flüchten. Clinton in der Nacht zum Freitag vor die Er sprach, wie die New York Times Aber dasmachte eine Besetzung Haitis Kameras, um einer skeptischen Nation anderntags meinte, gegen einen „heu- durch die Amerikaner ja nicht überflüs- zu erklären, warum er ihre „boys“ in lenden Windsturm“ an. Über zwei Drit- sig: Von der Tyrannei ihrer bisherigen den Krieg nach Haiti schicken wollte. tel der Amerikaner hatten sich in Mei- Peiniger befreit, könnte die Elendsrepu- Mit fester Stimme und überaus ge- nungsumfragen gegen das karibische blik nur allzu leicht wieder in ein blutiges spannten Gesichtsmuskeln, dabei wie- Abenteuer, gegen die Besetzung der Chaos von Rache und Vergeltung abglei- ten. Dem Terror der Militärs könnte so- gleich die entfesselte Volkswut folgen, die in Haiti bei Machtwechseln eine ge- wisse Tradition hat. Das Gemetzel, das sich 1986 nach dem Sturz „Baby Doc“ Duvaliers in Port-au- Prince abgespielt hat, wurde den Ameri- kanern vom Fernsehen genau an dem Abend in Erinnerung gerufen, an dem Clinton seine Invasion als unvermeidbar ankündigte. Mit der Machete zerstückel- te Leiber, mit benzingetränkten Autorei- fen lebendig verbrannte Politiker – kein schöner Anblick. Ob zu Recht oder zu Unrecht –die Ge- waltorgie nach dem 7. Februar 1986 wird nicht zuletzt der Agitation des Befrei- ungstheologen Jean-Bertrand Aristide zugeschrieben, der damals seinen politi- schen Aufstieg begann. Noch heute ist auf dem Friedhof das Grabmal der Fami- lie Duvalier als Schutthaufen zu besichti- gen –eswurde nach der Flucht Baby Docs ausführlich geschändet. Auch das Denkmal für Christoph Ko- lumbus, der 1492 in der Nähe von Cap- Haı¨tien die erste Ansiedlung von Euro-

päern in der Neuen Welt gründete, fiel REUTER gelenkter Volkswut zum Opfer: Kolum- US-Truppen auf dem Flugzeugträger „Eisenhower“: Supermacht gegen Zwergrepublik

DER SPIEGEL 38/1994 155 schwarzen Elendsrepublik gewandt. Und die Mehrheit der Zeitungen erteilte Clinton den gleichen Rat wie die Wa- shington Post: „Don’t Do It“. Den Hauptgrund dafür, es dennoch zu tun, durfte Bill Clinton nicht einmal nennen. Nach monatelangem Muskel- spiel, nach all den Invasionsdrohungen und ultimativen Rücktrittsforderungen an das Militärregime hätte der Präsident der Vereinigten Staaten sich vor aller Welt blamiert, wenn er es beim bloßen Fäusteschütteln belassen hätte. Ce´dras & Co. waren dabei, Clinton als Papierti- ger zu entlarven. Alle offiziellen Begründungen für die Invasion, die der Präsident in seiner Fernsehansprache vorbrachte, waren nicht dazu angetan, den US-Kongreß zu überzeugen (der sich gerade anschickte, gegen den Interventionsplan zu stim- men). Die Demokratie müsse in Haiti wiederhergestellt werden? Dann könnte man ja gleich auch in Kuba einmarschie- ren. Die Menschenrechte würden ver- letzt? Guter Grund, rund um den Erd- ball in etwa 80 Ländern mit Truppen einzufallen. Der Flüchtlingsstrom in die USA müsse gestoppt werden? Höchste Zeit, die Regierung Mexikos zu stürzen. Amerikas Grenzen seien zu sichern? Die hatte Ce´dras wirklich nicht bedroht. Clinton sprach markige Worte, die dem begriffsstutzigsten Offizier klarma- Bei historischen Anlässen werden die Geschäfte geplündert chen mußten, daß dies kein Bluff war. „Eure Zeit istum“, rief der Präsident den Militärs in Port-au-Prince zu. „Geht jetzt, oder wirvertreiben euch mit Gewalt.“ Im eleganten Sporthemd und von der Fern- sehgröße Dan Rather befragt, reagierte General Ce´dras mit todernstem Pokerge- sicht: Als Soldat sei er bereit zu sterben. Amerikas letzte Intervention in Haiti ha- be schließlich 50 000 Todesopfer gefor- dert. Starke Übertreibung, gewiß; doch wie der Zufall so spielt: Es ist gerade 60Jahre her, daß die Marineinfanteristen das letz- te Mal aus Haiti abgezogen sind. 1915 wa- ren sie einmarschiert, um die Interessen der US-Geschäftswelt zu sichern und deutschen Einfluß zu unterbinden. Erst 1934 befahl Franklin D. Roosevelt die Räumung Haitis. Das Ereignis wurde von den Einheimischen gefeiert, indem sie einige von den Amerikanern hinter- lassene Brücken und Telefonleitungen in der Hauptstadt zerstörten. Wie es der Landesbrauch vorschreibt, wurden aus historischem Anlaß auch Geschäfte ge- plündert. Erstaunlich immerhin, wie wenig die Amerikaner sich heute für jenen Präze- .

AUSLAND

denzfall interessieren. Er wirkt ja in der sten Judenjäger unter deutscher Besat- Tat abschreckend: Im Kunstmuseum von Frankreich zung bis 1986 freundschaftliche Bezie- Port-au-Prince gibt es ein Gemälde zu hungen gepflegt. besichtigen, auf dem der Führer der Millionen von Franzosen sahen, wie „Cacos“ abgebildet ist, der Widerstands- der alte Wahlmonarch in einem einein- Guerilla, die den Amerikanern damals Fragen Sie halbstündigen TV-Gespräch um seine zu schaffen machte. Charlemagne Pe´ral- Autorität als Staatschef wie um seinen te war sein Name, und das Bild des von Platz in der Geschichte kämpfte: Durch- Marineinfanteristen Erschossenen, ge- ungeniert sichtig die wächserne Gesichtshaut, ha- schmückt mit Kruzifix und Haitis-Flagge, ger und eingefallen, aber geistig wendig, kann noch heute antiimperialistische Ge- Präsident Mitterrand ist zum sarkastisch, charmierend wie eh und je, fühle entfesseln. letzten Gefecht an zwei Fronten ein bißchen verschlagen – der Mann der Auch wenn Bill Clinton nur wider Wil- hundert Masken, der er immer war, gab len in Haiti interveniert, auch wenn die angetreten: gegen den noch einmal eine bewegende Vorstel- US-Kanonenboote 60 Jahre später im Krebs und seine Vergangenheit. lung seines Könnens. Fazit: „Ich lebe im Namen der Menschenrechte und mit Bil- Frieden mit mir selbst.“ ligung der Uno kommen: Mit dem Wi- Doch die Gerüchte, er werde als derstand der Haitianer muß gerechnet on, il ne regrette rien; Franc¸ois Staatschef vorzeitig zurücktreten müs- werden, zumindest langfristig. Mitterrand bereut nichts. Die tief sen, konnte er nicht ersticken. Und auch Ce´dras und Spießgesellen dürften Nin die Höhlen gesunkenen Augen die dargebotene Interpretation der rech- kaum in der Lage sein, den tiefsitzenden des Staatspräsidenten funkeln, seine flü- ten Episoden in seinem Leben befriedig- Antiamerikanismus der Haitianer gera- sternde Stimme wird heiser, sein Zeige- te die Zweifler nicht. de jetzt für sich zu nutzen – aber Aristide finger stößt in Richtung des Fernseh-In- Da in Frankreich die gesamte Politik könnte das sehr wohl. Clinton hat darauf terviewers Jean-Pierre Elkabbach. um den übermächtigen Staatspräsiden- bestanden, daß der Priester-Präsident All die „feindseligen Bücher“ und die ten kreist – er ist oberster Befehlshaber, Ende 1995 (wenn seine reguläre, aber „ungerechte Kampagne“, so Mitterrand kann die Nationalversammlung auflösen kaum genutzte Amtszeit ausläuft) nicht verächtlich, „schmeicheln mir“. Und und lenkt die Außenpolitik –, ist auch noch einmal kandidiert, sondern in de- wenn jemand seinen Rücktritt verlange, dessen Gesundheit ein Politikum. Seit mokratischer Wahl einem anderen den dann „ermutigt mich das, bis zum einer zweiten Operation im Juli ist der Vortritt läßt. „Titid“ wird sich dagegen Schluß durchzuhalten“. Denn er habe Staatschef, der an Prostatakrebs leidet, noch ausgiebig wehren, auch wenn er zu- ein ruhiges Gewissen. sichtbar hinfällig geworden. Le Monde nächst ohne US-Leibgarde den Präsiden- Allmählich hatten sich die Franzosen meldete unter Berufung auf Mediziner, ten nicht einmal mimen könnte. an den Gedanken gewöhnt, daß sich ihr der Tumor sei „unberechenbar“. Als Anfang letzter Woche das Sport- alter König in den letzten acht Monaten Auge in Auge mit dem Volk trat Mit- flugzeug eines Depressiven im Garten seiner 14 Jahre währenden Amtszeit – terrand die Flucht nach vorn an: Seine des Weißen Hauses zerschellte, glaubten der längsten seit Napo- manche Mitglieder des Militärregimes in leon III. – in die Kulis- Port-au-Prince an eine wundersame Fü- sen der Geschichte und gung: Das sei die Warnung der Geister an auf seinen geliebten die vorwitzigen US-Kriegsschiffe in der Landsitz Latche´ zu- Bucht von Gonaı¨ves, ihre todbringende rückziehen würde: ein Fracht nicht auszuspeien. Fin de re`gne in Würde Gegen die Dämonen des Voodoo müs- und Beschaulichkeit. sen die Invasoren sich auf jeden Fall Doch vorige Woche wappnen. Der Blan’, wie jeder Fremde erlebte die Republik ih- in Haiti betitelt wird, ist kein vollwertiger ren Präsidenten plötz- Mensch; ein solcher ist nur der Neg’, der lich im letzten Gefecht einheimische Schwarze. Und US-Solda- an gleich zwei Fronten: ten gelten selbst dann als Blan’, wenn sie Gerüchte, daß er dem schwarzer Hautfarbe sind. Tod nahe sei, trieben Auf Magie, auf die Beschwörungskräf- Mitterrand zu Bekennt- te des Krieges, setzt auf seine Weise auch nissen über sein Krebs- Bill Clinton. Die Solidarisierung der leiden – eine erstaunli- amerikanischen Bevölkerung mit einem che Verletzung der ei- kriegführenden Staatschef gehört nun genen Intimsphäre, die auch zu seinem Instrumentarium: Wie dem sensiblen Feingeist Margaret Thatcher im Falkland-Krieg, zuwider sein mußte. wie Ronald Reagan bei der Besetzung Gleichzeitig mußte der Zwerginsel Grenada, wie George der fast 78jährige sich Bush bei der Intervention in Panama – gegen schwere, die So- auf die kämpferischen Instinkte im Volk zialistenpartei aufwüh- ist Verlaß. lende Anschuldigungen Dieses Szenario kann nun auch von wehren, er sei in seiner Jimmy Carter, vom früheren US-Stabs- Jugend ein Rechtsradi- chef Colin Powell und vom Senator Sam kaler gewesen und ha- Nunn kaum durchkreuzt werden: Die be mit einem der übel- drei Friedensbringer aus Washington mögen Haitis Generäle ins goldene Exil * Bei seinem Fernsehauftritt

geleiten – die Besetzung der Zwergrepu- am Montag vergangener Wo- SIPA PRESS blik aber ist unvermeidlich. Y che. Kranker Mitterrand*: „Ungerechte Kampagne schmeichelt mir“

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seiner Vergangenheit eindeutig ge- brochen hätte. Statt sich loszusagen, Macht und Moral hat er sich darauf beschränkt, die wi- dersprüchlichsten Aspekte seiner Die Enttäuschung der Sozialisten über Mitterrand / Von Thierry Pfister Biographie zu verschleiern. Für die „ge´ne´ration Mitterrand“ (der Begriff wurde von Mitterrands Pfister, 48, ist Autor zahlreicher sten Weltkrieg, Le´on Blum* und PR-Strategen 1988 für seine Wieder- Bücher über die Ära Mitterrand und Pierre Mende`s-France* in der Zeit wahl geprägt), die sich zugleich als die Regierungszeit der Linken. danach. Niemand kann sagen, wie „ge´ne´ration morale“ betrachtete, Jaure`s auf die „Union sacre´e“, die kommt diese Enthüllung einem Erd- or zwanzig Jahren hatte heilige Union aller Franzosen über beben gleich. Ihre Vertreter müssen Franc¸ois Mitterrand die franzö- die Parteigrenzen hinweg, reagiert feststellen, daß sie getäuscht worden Vsische Linke hinter sich vereint, hätte, wäre er nicht am Vorabend sind; sie reagieren begreiflicherweise scheiterte aber bei dem Versuch, an des Kriegs ermordet worden. verbittert. Niemand hat esgern, wenn die Spitze des Staates gewählt zu Es ist müßig, Politiker miteinan- man ihm Hörner aufsetzt. werden. Nach der Niederlage tröste- der zu vergleichen, die unterschiedli- Franc¸oisMitterrand istnichtder er- te er sich mit der Hoffnung, auch oh- che Rollen zu unterschiedlichen Zei- ste und nicht der letzte Staatschef, ne das höchste Amt historische Grö- ten spielten. Mitterrand macht den dem – am Ende seiner Laufbahn und ße zu erlangen: „Wer erinnert sich Fehler, diesen Vergleich herauszu- am Ende seines Lebens – sein Platz in an den Namen des Präsidenten zu fordern. Seitdem sieht er sich ge- der Geschichte wichtiger ist als die Zeiten von Jaure`s?“ zwungen, die Geschichte umzu- Reaktionen seiner Zeitgenossen. Er Der Vergleich ist nicht abwegig: schreiben – so, wenn es um sein ju- Selten und nur unter dem Einfluß ei- gendliches Engagement in rechtsex- ner starken Persönlichkeit schlossen tremen Kreisen geht oder um seine sich die rivalisierenden Gruppen der Bekenntnisse zu Werten, die nur we- französischen Sozialisten zu einer nig gemein haben mit den Prinzipien einheitlichen Kraft zusammen. der Republik und der Demokratie. Mitterrand gehört in diese Ahnen- Das stört sein Verhältnis zu zwei sehr galerie. Ohne ihn hätte gallische unterschiedlichen Generationen von Disziplinlosigkeit die Linke weiter- Franzosen. hin zersplittert, die Kommunistische Die meisten seiner Zeitgenossen Partei hätte die Vorherrschaft behal- fühlen sich unwohl angesichts der ten, und die Machtergreifung der übertriebenen Glorifizierung des Linken wäre unmöglich gewesen. französischen Widerstands, den Ge- Damals, 1974, schien es Mitter- neral de Gaulle verkörperte. In ihrer rand wichtiger, ein politisches Sym- Feigheit reagieren sie erleichtert an- bol zu verkörpern, als die Führung gesichts eines Staatsoberhaupts, das der Staatsgeschäfte zu übernehmen. sich, wie sie, unwissend stellt, um das Als Staatschef hielt er jedoch um je- kompromittierende Arrangement den Preis an der Macht fest – er ver- mit dem Faschismus „a` la franc¸aise“ zichtete nicht nur auf Ideen, die er in zu rechtfertigen und zu vertu- der Opposition verkündet hatte, schen. sondern nahm auch Wahlniederla- Nur: Eine solche Haltung zerstört gen seiner Sozialisten hin. das ganze Erbe der Linken, die Darin liegt der tiefere Grund für glaubten, sich mit der Befreiung die Schwierigkeiten, seinen Traum 1944 von ihrer Schuld reingewaschen

zu verwirklichen und sich in der Ge- zu haben; die verdrängte, daß die GAMMA / STUDIO X schichte zu verewigen: Mitterrand Volksfront die verfassungsrechtli- Pe´tain, Mitterrand (r.) 1942 war nicht imstande, zwischen zwei chen Vollmachten für Marschall Pe´- „Mit Idealen gespielt“ Rollen zu wählen, dem Moralisten tain nach der Niederlage im Parla- oder dem Führer. ment mit verabschiedet hatte; und spricht nicht mehr zu den Franzosen, Die moralische Autorität der Lin- die wähnte, das Gespenst des Vichy- er verteidigt seinen Fall vor den Hi- ken wurde von Persönlichkeiten ver- Regimes durch die spektakuläre storikern von morgen. körpert, die nur kurz oder gar nicht Verurteilung Klaus Barbies, dieses Zweifelsohne hat er sich lediglich regierten: Jean Jaure`s* vor dem Er- reuelosen deutschen Nazis, endgül- im Kapitel geirrt. Er wird seinen tig ausgetrieben zu haben. Platz in der Geschichte Frankreichs * Jaure`s, 1859 – 1914, Mitbegründer der Die jüngeren Generationen, die einnehmen. Doch während er gern Sozialistischen Partei. nur Mitterrands Kampf an der Spitze als Leuchtturm der Moral dastehen Blum, 1872 – 1950, bildete die erste Volks- der Linken und später sein Engage- würde, wird er in Wahrheit an ganz frontregierung. Mende`s-France, 1907 – 1982, Ministerpräsi- ment als Staatsoberhaupt erlebt ha- anderer Stelle auftauchen – weit dent der Vierten Republik und politischer ben, entdecken nun einen Wider- vorn auf der Liste jener Machtpoliti- Mentor Mitterrands. spruch zwischen der Jugend ihres ker, die, von Kardinal Mazarin* bis Mazarin, 1602 – 1661, leitender Staats- mann Ludwigs XIII. Idols und den Werten, für die Mitter- Laval*, der Machtausübung den Laval, 1883 – 1945, Ministerpräsident unter rand sich später einsetzte. Das wäre Vorrang vor allen anderen Werten Pe´tain. nicht schlimm, wenn Mitterrand mit gaben.

158 DER SPIEGEL 38/1994 Erkrankung sei „nicht zurückgegan- gen“, gab er zu, aber sie habe ihn bisher bei der Amtsausübung auch „nicht be- hindert“. Nur wenn die Schmerzen so groß werden sollten, daß er sich mehr mit seinem Leiden beschäftigen müsse als mit den Staatsgeschäften, werde er vorzeitig abtreten. Prompt rätselte Frankreich: War das ein Hinweis, daß er doch früher zu ge- hen gedenkt? Daß Gaullistenführer Jacques Chirac Anfang September seine Kampagne für den Elyse´e überstürzt startete, wird in Paris nunmehr ebenso als Indiz für eine vorgezogene Präsidentenwahl gewertet wie die überraschende Präsentation ei- nes Wahlkampfpapiers durch Ex-Pre- mier Raymond Barre vorige Woche. Den hatte Mitterrand kürzlich als „ei- nen der Fähigsten, den Staat zu len- ken“, ins Gespräch gebracht. Mit demonstrativen Enthüllungen über seinen Gesundheitszustand – „fra-

gen Sie ungeniert“, forderte Mitterrand seinen Gesprächspartner auf – bereitete der listenreiche Stratege seinen zweiten Abwehrkampf vor: Die Franzosen soll- ten glauben, daß, wer so ehrlich über Krebs, Schmerz und Tod spricht, erst recht bei der Vergangenheitsbewälti- gung die Wahrheit sagt. Ans Licht waren Mitterrands rechts- radikale Verstrickungen durch ein Buch des Journalisten Pierre Pe´an gekom- men: „Eine französische Jugend – Franc¸ois Mitterrand, 1934 – 1947“. Be- troffen lasen die Sozialisten, wie der Student Mitterrand vor dem Krieg rechtsaußen agitiert hatte: 1934 schloß er sich, 18 Jahre alt, als Freiwilliger der ultrarechten Bewegung „Feuerkreuz“ des Obristen Franc¸ois de

DER SPIEGEL 38/1994 159 La Rocque an. 1935 demonstrierte der Jüngling im Pariser Quartier Latin ge- gen die Invasion der „me´te`ques“ – ein Schimpfwort für Ausländer. Ein bisher unbekanntes Foto zeigt Mitterrand im Jahr 1942 im Gespräch mit Marschall Philippe Pe´tain, dem Chef der mit Hit- ler kollaborierenden Vichy-Regierung. Am unerträglichsten erschien den So- zialisten jedoch die Offenbarung, daß der Schöpfer des Linksbündnisses und Erneuerer des französischen Sozialis- mus noch bis 1986 freundschaftlichen Umgang mit Rene´ Bousquet gepflegt habe. Der war als Generalsekretär der Vichy-Polizei verantwortlich für die De- portation von Tausenden französischer Juden, von denen die meisten nicht mehr aus den KZs zurückkehrten. Bousquet wurde 1949 von einem Pari- ser Gericht freigesprochen und machte Karriere in der Wirtschaft. Voriges Jahr sollte er erneut vor Gericht gestellt wer- den – kurz vor Prozeßbeginn erschoß ihn ein psychisch gestörter Eiferer. Für die „ge´ne´ration Mitterrand“, der ihr Idol einmal als Inbegriff einer neuen, moralisch sauberen Politik gegolten hat- te, zerbrach ein Mythos. Die Linken fühlten sich betrogen von einem Mann, der „nur um der Macht willen mit Men- „Durch Begegnungen mit einem Lumpen wird ein Mann nicht kleiner“

schen und Idealen gespielt“ habe, schrieb Le Journal du Dimanche. Selbst Mitterrands alter Freund Gilles Marti- net, Ex-Botschafter in Rom, verlangte einen „Bruch mit dem Mitterrandis- mus“. Merkwürdigerweise hat Mitterrand den Sturm um seine Vergangenheit selbst mit entfacht. Siebenmal empfing er Pe´an und ließ ihn private Dokumente einsehen. Mitterrand-Deuter glauben zu wissen, warum: Der Stratege habe die Offenlegung der Vichy-Episode selbst steuern wollen, bevor ihn Historiker posthum demolieren könnten. Mitterrand, so ein führender Sozia- list, „möchte vor der Geschichte als ei- ner der großen französischen Linken dieses Jahrhunderts bestehen – in direk- ter Erbfolge von Jean Jaure`s und Le´on Blum“. Diesen Denkmalssockel wird er wohl nicht mehr erklimmen. Daß die Rechten ihn faszinierten, erklärte er mit seiner kleinbürgerlich-katholischen Herkunft: der Ungnade der frühen Geburt sozusa- gen. Bekannt war, daß der Staatschef nach der Flucht aus deutscher Kriegsgefan- genschaft unter dem Pe´tain-Regime im Kommissariat für die Wiedereingliede- rung von Kriegsgefangenen arbeitete.

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Dafür wurde er mit dem höchsten Vi- ner ehemaligen Wohnung brennt chy-Orden dekoriert; er will ihn nur an- Bosnien Licht. Wahrscheinlich leben darin genommen haben, um seine Tätigkeit Flüchtlinge. Und dann läutet er!“ im Untergrund gegen die Deutschen , dem Administra- seit 1943 (Deckname: Morland) zu tar- tor aus Bremen, bereitet dieses Szena- nen. Auge in Auge rio Alpträume: „Mein Gott, da brau- Doch niemand wollte Mitterrand die che ich eine Polizeimannschaft zum Ausrede glauben, er habe noch 1942 Die kroatisch-moslemische Schutz.“ nichts von Pe´tains 1940 in Kraft gesetz- Föderation droht zu zerbrechen. 50 Europa-Polizisten, darunter auch ten Judengesetzen gewußt (sie schlos- Deutsche, unterstehen bereits seinem sen Juden von Staatsdienst und Univer- In Mostar gerät EU-Verwalter Kommando, eine Hundertschaft wird sitäten aus). Vollends unglaubwürdig Koschnick zwischen die Linien. noch erwartet. Sie sollen eine unbe- fanden der alte Re´sistance-Kämpfer stechliche und unparteiische kroatisch- und gaullistische Abgeordnete Jacques moslemische Sicherheitstruppe in Mo- Baumel sowie der Nazi-Jäger Serge ie Moslemfrau weint. Am Straßen- star aufbauen – auch zu Koschnicks ei- Klarsfeld, daß Mitterrand bis 1986 nicht rand, vor den Trümmern des Kauf- genem Schutz. gewußt haben will, wer Bousquet wirk- Dhauses, stehen ein paar Drehses- Am vorletzten Samstag wollte der lich war. sel, die aus dem zerstörten Postamt ge- sozialdemokratische Europa-Gesandte Der Historiker Henri Amouroux half genüber stammen. Darauf flegeln sich die Öffnung der ersten Behelfsbrücke Mitterrands Gedächtnis nach: 1958 hat- ein halbes Dutzend Soldaten: der kroa- feiern, die den moslemischen und den te Bousquet auf den Listen der Links- tische „Checkpoint“ am Übergang zur kroatischen Teil der Stadt verbindet. partei UDSR für die Nationalversamm- moslemischen Osthälfte der Stadt. Er traf sich mit Gästen auf dem Bal- lung kandidiert. UDSR-Chef damals: Bringt eine internationale Ambulanz kon seiner vorläufigen Residenz, des Franc¸ois Mitterrand. einen Moslem-Patienten ins kroatische Ero-Hotels – einen Steinwurf weit vom Bitter vermerkten die Linken, daß Krankenhaus auf der Westseite, winken kroatischen Kontrollpunkt entfernt. ihr alter Heros kein Wort des Bedau- die Posten den Wagen lässig durch. Die Zuerst knallten die Sektkorken, er- erns für seine Jugendsünden fand. Nach Mutter aber, die zu ihrem schwerver- innert sich eine Angestellte, „dann bösen Wortwechseln über den großen letzten Kind im Hospital möchte und krachte es neben uns“. Koschnicks Boß sprach der Sozialistenvorstand um Durchlaß fleht, weisen die Kroaten Zimmer war verwüstet, gesprengt von (sicherheitshalber ohne Abstimmung) ungerührt ab. einer Granate, die aus unmittelbarer am vorigen Mittwoch dem Parteigrün- Nur etwa 250 Einwohner von Mostar- Nähe abgefeuert worden war. der sein „Vertrauen“ aus. Dessen Ver- Ost erhalten jeden Tag eine Sonderge- Knapp dem Tod entronnen, gab sich gangenheit wollen die Genossen nicht nehmigung „nach drüben“, Rückkehr der Bremer Ex-Bürgermeister gelas- mehr öffentlich diskutieren. bis spätestens 19 Uhr. Für diese sen: „Wir wußten seit langem, daß der Der Pariser Staranwalt Georges Zwangsmaßnahme zeigt ein Mann Ver- Administrator von Mostar liquidiert Kiejman (sein Vater wurde in Ausch- ständnis, der seit acht Wochen im Na- werden soll, nicht ich als Person – von witz umgebracht) plädierte für den al- men der Europäischen Union die zerris- Leuten, die Europa aus Mostar ver- ten Freund: Ein Mann „wird nicht klei- sene Stadt an der Neretva verwaltet: drängen möchten.“ ner durch ein Dutzend Begegnungen „Stellen Sie sich vor, da kommt ein Den Mann, der Europa in den bos- mit einem Lumpen“. Moslem in den Westteil und sieht, in sei- nischen Bergen repräsentiert, schützen Der greise Seigneur versuchte indes, den eigenen, sich über ein halbes Jahrhundert er- streckenden Wandel von rechts nach links (Mitterrand: „besser als in entgegengesetz- ter Richtung“) zum Bestandteil eines na- tionalen Schicksals zu erheben: Frankreich war gespalten in Pe´- tainisten und Gaulli- sten, Kollaborateure und Widerständler. Er wolle, so beschwor er seine Landsleute, die- se „ewigen Bürger- kriege zwischen den Franzosen“ beenden und sie miteinander „versöhnen“. Nur einmal klang er, als bitte er ver- schämt um Verge- bung: „Ich war ein bißchen langsam in

der Wahl meines We- W. STECHE / VISUM ges.“ Y Koschnick-Limousine, Begleitschutz: „Europa aus Mostar verdrängen“

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fortan Leibwächter, drei Uno-Panzer bleiben vor dem Hotel postiert. Wäh- rend Beinahe-Opfer Koschnick bemüht war, die ethnische Schuldzuweisung für den Anschlag neutral zu halten, entrü- stete sich Bonns Außenminister Klaus Kinkel: „Ein Akt extremistischer Ban- den.“ Die Mostar-Expedition der EU mit dem Ziel, die geteilte Stadt wieder zu vereinen, stößt vor allem bei kroati- schen Nationalisten auf Widerstand. Sie lehnen die im März in Washington unter der Schirmherrschaft von Bill Clinton vereinbarte kroatisch-moslemi- sche Föderation noch immer entschie- den ab und drohen, dem EU-Admini- strator „das Handwerk zu legen“. „Wir kämpften für den Anschluß an Kroatien“, erklärt ein Politiker in West- Mostar. Jetzt will er zumindest die na- W. STECHE / VISUM EU-Administrator Koschnick, Moslemin In zwei Jahren die Stadt aufbauen

tionale Trennung innerhalb der Stadt bewahrt wissen. Als der Deutsche kroatische Barrika- den direkt an der Grenzlinie zu den Moslems wegräumen ließ, stoppten sie den Besuchsverkehr. Nun versuchen fünf deutsche Polizisten, gedeckt von zwei Uno-Posten, an dieser Stelle ein Zelt für die moslemischen Kontrollen aufzubauen. Hier beginnt der „Trümmerhaufen Ost“, der von Moslems bewohnte und zu 90 Prozent zerstörte Stadtteil am Ost- ufer des Flusses Neretva: ein Viertel aus Häuserruinen, Mauerbrocken, Eisenge- rümpel. Verglichen damit wirken die Einschüsse an manchen Häuserfronten auf der kroatischen Seite wie harmlose Kratzer. Boutiquen, Cafe´s und sogar Touristenshops – allesamt mit dem kroatischen Wappen verziert – führen eine absurde Vitalität vor.

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Moslem-Polizist Erfim, 25, traut dem Friedenswillen der Kroaten nicht. Er Islam trägt die Uniform der Bosnischen Ar- mee. Als die Serben 1992 den Ostteil von Mostar beschossen, floh Erfim wie viele Moslems auf die kroatische Seite „Diktatur der Männer“ und kämpfte mit den Kroaten gegen die Angreifer. Im Mai 1993 begann Interview mit Dschihan el-Sadat über den Kampf moslemischer Frauen dann der Krieg zwischen Moslems und Kroaten; Erfim suchte samt Familie wieder Schutz im Ostteil. Erfims Mut- SPIEGEL: Die islamische Welt leidet be- SPIEGEL: Prominente islamische Ge- ter wurde von Kroaten erschossen. sonders stark unter der wachsenden Be- lehrte verteufeln Geburtenkontrolle als Zweitausend Menschen starben in völkerung. Auf der Uno-Konferenz in Weltverschwörung, mit der die Zahl der diesem Krieg. „Vielleicht sind wir so Kairo hatten aber gerade islamische Län- Moslems niedrig gehalten werden soll. mißtrauisch, weil wir mit ihnen Auge der deutliche Vorbehalte gegen eine Be- Sadat: Das ist natürlich Irrsinn. Um so in Auge kämpften, auf zehn Meter völkerungspolitik. Fehlt da jede Ein- deutlicher müßten die Regierungen da- Entfernung, während uns die Serben sicht? gegen angehen und die vielen Möglich- nur aus der Ferne bombardierten“, Sadat: Die Bevölkerungsexplosion wäre keiten nutzen, die ihnen offenstehen: et- sagt der Polizist. leichter in den Griff zu bekommen, wenn wa Fernsehen und Rundfunk, am besten Die Serben feuern noch immer täg- wir es in den am stärksten betroffenen sogar die Kanzel, um den Leuten den lich eine Granate in das Zentrum der Ländern mit Entscheidungsträgern zu Hokuspokus der hinterwäldlerischen Stadt. Die Geschütze stehen auf dem tun hätten, die sich nur von technischem Prediger aus den Gehirnen zu treiben. 2000 Meter hohen Berg Velezˇ. Die Sachverstand und materiellen Erforder- In Ägypten sind wir, Gott sei Dank, da- neue Brücke, ein „Geschenk des engli- nissen leiten ließen. Doch so einfach lie- mit schon etwas vorangekommen. schen Volkes und der Ingenieure der gen die Dinge nicht in den arabischen und SPIEGEL: Aber die Einwohnerzahl hat spanischen Brigade der königlichen Ar- islamischen Ländern. Wir führen gleich- sich in nur 25 Jahren fast verdoppelt. mee“, wie auf zwei glänzenden, von zeitig einen Kampf gegen religiöse Eng- Sadat: Und dennoch hat sich das Bevöl- Tannenzweigen eingerahmten Messing- stirnigkeit, die Unterdrückung der Frau kerungswachstum im Vergleich zu frü- tafeln zu lesen ist, hielt bislang stand. und die Bevormundung der öffentlichen her erheblich verringert. Ich selbst hatte Auf den Felsbrocken entlang der MeinungdurchEliten,denen esvorallem schon 1979 eine Reihe von Gesetzen an- grünen Neretva, sonnen sich bei 35 um Machterhalt geht. geregt, die Wirkung zeigten. Grad Sommerhitze einige mutige Frau- SPIEGEL: Unter Ihrem Einfluß en im Bikini. Männer streifen derweil wurde die Mehrehe praktisch mit Axt und Schubkarren durch die abgeschafft. Trümmerhaufen, um Brauchbares ein- Sadat: Sie wurde nur er- zusammeln. Niemand kümmert sich schwert, nicht abgeschafft. Ich mehr um die Warnschilder vor den hatte durchgesetzt, daß eine Kreuzungen: „Vorsicht Heckenschüt- Ehefrau die Scheidung bean- ze!“ tragen darf und die gemeinsa- Der Wind fegt Sand durch die Stra- me Wohnung behält, wenn der ßen. Tausende Sandsäcke, die zu Bar- Ehemann ohne ihre Zustim- rikaden getürmt worden waren, sind mung eine zweite, dritte oder von Ratten angenagt. Um einen Häu- gar vierte Frau heiratet. Das serblock joggt Aleksandar Djakula, 61, war ein großer Erfolg. ehemals jugoslawischer Radrenn- SPIEGEL: Doch Ägyptens Champion. Er trägt bei seinem tägli- Männergesellschaft hat das chen Trainingslauf das gelb-schwarz ge- Gesetz nach der Ermordung streifte Trikot seiner Siegesfahrt im Ihres Mannes wieder verwäs- Jahr 1962. sert. Djakula ist einer der letzten Serben Sadat: Islamische Scharfma- in Mostar, fast alle seine Landsleute cher konnten sich teilweise sind geflohen. Koschnick will in Bel- wieder durchsetzen. Der grad vorstellig werden, um „herauszu- Kampf um die Gleichberechti- finden, ob sie eine Rückkehr planen“. gung aber geht weiter, wir ge- Zwei Jahre will Koschnick bleiben, ben nicht auf. Eine freie Frau um die Stadt als Einheit wiederzubele- ist für die Bevölkerungspla- ben, die Altstadt aufzubauen, die Fö- nung genau so wichtig wie deration zwischen Moslems und Kroa- Schulbildung und ein fort- ten zu festigen. Seine Mission, von schrittliches Eherecht. Neidern als Gnadenbrot am Ende sei- SPIEGEL: Seit geraumer Zeit ner politischen Karriere verunglimpft, B. IVERSON ist der Schleier wieder auf dem soll die Möglichkeit einer friedlichen Dschihan el-Sadat Vormarsch, auch am Nil. Koexistenz der bosnischen Völker be- Sadat: Der islamische Glaube weisen. war nicht nur die Frau des 1981 von Fundamenta- und die islamische Moral ha- Von seinem Freund, dem ehemali- listen ermordeten ägyptischen Staatspräsidenten ben nichts mit sogenannter is- gen Jerusalemer Bürgermeister Teddy Anwar el-Sadat. Die Tochter einer Engländerin lamischer Kleidung zu tun. Ich Kollek, habe er gelernt, wie man Pro- und eines Ägypters engagierte sich auch als Frau- trage keinen Schleier, denn ich bleme einer geteilten Stadt angeht. So enrechtlerin. So gründete und leitete sie die Ara- lasse mir nicht von religiösen betrachtet, sagt Koschnick, „bin ich bisch-Afrikanische Frauenliga. Extremisten, denen es nicht hier doch ganz happy“. Y um den Koran, sondern um

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Macht und Einfluß geht, vorschreiben, sterben immer noch an den Folgen der wien über die verheerende Wirkung des was ich anziehen darf oder wie viele letzten Friedenssicherung“, reagierte Experiments. Kinder ich austragen muß. Wir wollen vor Fernsehkameras verbittert ein örtli- Seine uniformierten Versuchsperso- keinen Schleier, nicht um die Gesich- cher Kolchoschef. nen hatten nicht einmal Schutzkleidung. ter und nicht um die Gehirne. Denn in dieser Gegend fand vor fast Waschen sollten sie sich nach der SPIEGEL: Islamische Tabus erschweren genau 40 Jahren ein schreckliches mili- Übung, war ihnen befohlen worden; weiterhin den Kampf um die Gleichbe- tärisches Experiment statt, dessen Fol- aber in den Unterständen fehlte es an rechtigung der Geschlechter. gen nach jahrzehntelanger Geheimhal- Wasser. Die Kleidung zu verbrennen, Sadat: Der Weg, den die islamischen tung heute zu besichtigen sind. wie eine andere Anweisung lautete, fan- Frauen noch zurückzulegen haben, ist Im Zentrum des einstigen Infernos den die meisten Soldaten zu schade – lang – ebenso lang wie der Kampf für steht ein völlig deformiertes Metallge- hatte man ihnen doch für den großen die Geburtenkontrolle. Die aufgeklär- rüst, daneben ein verrosteter Panzer mit Tag feine Lederkoppeln verabfolgt. ten Frauen der islamischen Welt dür- zerschmettertem Turm. Das triste Mo- Mit Flugzeugen, 600 Panzern, 500 fen aber nicht resignieren. Unser nument erinnert an die Verwüstung Geschützen und 6000 Kraftfahrzeugen Nahziel ist die Abschaffung des Beit Hunderter Quadratkilometer südsibiri- ließ die Moskauer Führung damals den el-Taa . . . scher Steppe: lodernde Dörfer, zerstör- Krieg unter atomaren Bedingungen SPIEGEL: . . . das ist das Recht des te Kriegstechnik, verbrannte Erde. üben – ohne Rücksicht auf Verluste. moslemischen Mannes, seine Frau mit Am 14. September 1954, morgens Die meisten Soldaten warfen schon nach polizeilicher Gewalt zurückzuholen, um 9.33 Uhr, ließ der damalige sowjeti- wenigen Metern die hinderlichen Gas- wenn sie ihn verlassen hat . . . sche Vize-Verteidigungsminister Mar- masken fort; niemand hatte sie über die Sadat: . . . eine grauenvolle Erniedri- schall Georgij Schukow 350,5 Meter Langzeitfolgen der neuen Bombe aufge- gung der Frau. Obwohl das Gesetz in über dem Truppenübungsplatz Tozk bei klärt. Ägypten abgeschafft wurde, führt die Zum moralischen Beistand der Zivili- Polizei es immer noch aus – das ist die sten waren zwei Tage zuvor Lehrgangs- Diktatur der Männer. Doch deren teilnehmer einer benachbarten Panzer- Macht muß gebrochen werden. Mehr schule abkommandiert worden. Sie wie- als zwei Kinder werden wir nicht zur sen die Bevölkerung lediglich an, wegen Welt bringen, und dennoch bleiben wir der immensen Druckwelle die Fenster gute Moslems. Y auszuklinken und die Bilder abzuhän- gen. Frauen und Kinder wurden evakuiert. Rußland Die Männer mußten als Löschtruppe vor Ort bleiben. Beim Atomblitz sollten sie sich im Freien auf den Boden werfen – den Kopf nach Süden gerichtet, mit Lebende den Beinen zum Explosionsherd. Noch heute erinnert RUSSLAND sich Frau Botschkare- Ziele Tozk wa daran, wie sie in ih- Moskau rem Dorf Michailowsk Russisch-amerikanisches Manöver Orenburg auf den Abtransport KASACH- im Südural auf verseuchtem wartete – vergebens. STAN Statt dessen sah sie Schwarzes Gelände – dem Ort eines schauri- Meer plötzlich durch das gen Atomtests vor 40 Jahren. Küchenfenster eine schwarze Rauchsäule Mittelmeer und darüber einen er Vorschlag schien den Amerika- orangefarbenen Feuer- nern nicht ganz geheuer. Als sie Orenburg eine Atombombe mit der pilz: „Als ich zu mir kam, ging ich sofort Dsich vor knapp einem Jahr auf das Sprengkraft von 20 000 Tonnen TNT auf die Straße. Ich fand es furchtbar in- erste Gemeinschaftsmanöver mit den zünden. Daß der Pilot die nukleare Last teressant.“ Russen vorbereiteten, lud der einstige – weitaus wuchtiger als die amerikani- Der Explosion am nächsten lag das Feind ausgerechnet auf den Truppen- sche Hiroschima-Bombe (13 500 Ton- Dorf Machowka. Die Bewohner waren übungsplatz Tozk im Südural. nen) – mit nur zehn Metern Abwei- zwar sieben Kilometer weit ins Hinter- Wochenlang inspizierten US-Speziali- chung übers Ziel brachte, war dem Mar- land gebracht worden, aber bereits am sten das Terrain, bevor sie es „unbe- schall später eine persönliche Auszeich- Nachmittag, als sich der aufgewirbelte denklich“ fanden und in die Übung ein- nung und Belobigung des bis heute un- Staub gelegt hatte, kehrten viele zurück. willigten, die vorige Woche beendet bekannten Fliegers wert. Die Häuser brannten noch, von 162 Hö- wurde. Schon 20 Minuten nach der Detonati- fen waren nur 32 äußerlich unversehrt Auch die Anwohner verfielen in Un- on ließ Schukow 44 000 Soldaten, die geblieben – mitsamt Tomaten, Gurken, ruhe. Nichts Schlimmes werde gesche- dem radioaktiven Fallout in einem ins- Kartoffeln, die „eimerweise vom Feld hen bei der ersten militärischen Umar- gesamt 225 Kilometer umfassenden geholt“ wurden, so die Bäuerin Uljanka mung der Supermächte seit 49 Jahren, Grabensystem beinahe schutzlos ausge- Alexejewa. Der Staat zahlte Entschädi- suchte Verteidigungsminister Pawel liefert waren, ins freie Gelände ausrük- gung, 300 Rubel nach altem Geld. Gratschow die Menschen zu beschwich- ken. Der Sieger von Berlin saß im siche- Derweil stieß Schukows Truppe zum tigen: Die Aktion mit den neuen Waf- ren Panzerzug, 15 Kilometer vom Epi- Epizentrum der Detonation vor. Dort fenbrüdern sei „rein symbolisch“ und zentrum entfernt im Dorf Tozkoje, und waren vorher, säuberlich nach Freund diene „dem Erhalt des Friedens“. diskutierte mit seinem Chef Bulganin, und Feind getrennt, lebensgroße Pup- Das murrende Volk fand den General dem Atomphysiker Kurtschatow sowie pen mit weißen und blauen Mützen po- nicht überzeugend. „Wir hier in Tozk Kollegen aus China, Polen und Jugosla- stiert worden. Dazu hatte Verteidi-

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gungsminister Bulganin umsichtig um „300 Hammel, 40 Rinder, Pferde, Kühe und Kamele“ gebeten, die angepflockt wurden und als „lebende Ziele“ dienten. Wissenschaftler können die Folgen bis heute nicht exakt einschätzen. Daten über die genaue Sprengwirkung, Wind- richtung und Drift der radioaktiven Wol- ke fehlen. Doch von 1955 bis 1960 wuchs die Zahl der Krebskranken in dieser Re- gion von 103 auf 152 pro 100 000 Einwoh- ner. In der russischen Krebsstatistik be- legt das Gebiet Orenburg inzwischen den zweiten Platz. Von den über 44 000Menschen, die im SELECT Anschluß an den Nukleartest erkrank-

ten, sollen nur noch tausend am Leben T.J. LEMON / sein. Veteran Wladimir Banzianow: „Die Polizeieinsatz in Johannesburg: „Mordhauptstadt der Welt“ Tiere wurden vorher und nachher unter- sucht, wir überhaupt nicht.“ Südafrika soll wieder sicherer wer- Zwar ist nach Südafrikas erster de- Laut Sofortmessungen soll die Strah- den. Keenan und seine Freunde wollen mokratischer Wahl im April dieses Jah- lendosis im Kerngebiet zweieinhalb Stun- dabei helfen. Sie operieren als eine Art res die politische Gewalt in den meisten den nach der Explosion nicht mehr als0,1 Bürgerwehr, die Sicherheitsminister Landesteilen deutlich zurückgegangen. Rem betragen haben: „Kein ernsthaftes Sydney Mufamadi jetzt in sein Konzept Aber in keinem anderen Land der Erde Hindernis“, so damals Bulganin, für den einer bürgernahen Polizei einbauen wird soviel eingebrochen, geraubt, Vormarsch der Truppe. Auch Schukow will. überfallen und gemordet wie am Kap. glaubte hinterher, der Atomkrieg sei Mufamadi hat reichlich Erfahrungen In den vergangenen Monaten kamen führbar. Augen- und Ohrenzeugen des mit der Polizei – aus der Zeit vor der in Südafrika pro Tag durchschnittlich 50 Staatsverbrechens mußten sich schrift- Wende. Er war in den achtziger Jahren Menschen durch kriminelle Gewaltein- lich verpflichten, 25 Jahre über das Ge- als Anti-Apartheid-Kämpfer des Afri- wirkung ums Leben. Johannesburg ist schehen zu schweigen. Die Regierungs- can National Congress (ANC) mehr- mit einem Mord auf 647 Einwohner agentur Tass meldete damals: Die Erpro- mals festgenommen und in Polizeige- jährlich die „Mordhauptstadt der Welt“ bung habe „wertvolle Resultate“ er- wahrsam gefoltert worden. (so die Tageszeitung The Star). Die bra- bracht, die „sowjetischen Gelehrten und Mit computergesteuerten Plänen und silianische Desperado-Metropole Rio Ingenieuren in Zukunft helfen, die Auf- generalstabsähnlichen Karten, auf de- de Janeiro, die viele Jahre lang den gabe des Schutzes vor einem Atomangriff nen jedes Haus verzeichnet ist, hält die Spitzenplatz besetzt hielt, bringt es an- erfolgreich zu lösen“. von Keenan geleitete Bürgerwacht den teilig nur auf halb so viele Tötungsde- Selbst der Verteidigungsminister Gra- ganzen Stadtteil unter Kontrolle. Der likte. tschow zeigte sich verstört, als er jetzt Erfolg macht Mut. In Corlett Gardens In Johannesburg fand im Juni alle zum Abschluß des Manövers ins fiel die Zahl der Verbrechen von mo- acht Minuten ein Einbruch oder Über- Übungsgebiet kam. Der Test, befand natlich 80 bis 90 auf weniger als ein fall statt, jeden Tag erbeuten Straßen- er, sei „barbarisch“ und „monströs“ ge- Viertel. Die Polizeiführung schickte ih- räuber mit vorgehaltenen Messern oder wesen. Y ren zivilen Helfern einen Lobesbrief. Pistolen 23 Autos. Präsident Nelson „Mein System ist präventiv, kostet Mandela klagte nach einem Besuch im nichts, und Freiwillige gibt es auch ge- überfüllten Pollsmoor-Gefängnis bei Südafrika nug“, sagt Keenan. „Mister Block- Kapstadt: „Es ist paradox. Wir haben watch“, wie die Johannesburger ihn vor, mehr Schulen und Krankenhäuser nennen, wird deshalb auch von Anfra- zu errichten. Aber es sieht so aus, als gen und Hilfeersuchen überschüttet. ob wir erst mal mehr Gefängnisse bau- Mister Alle wollen sein Überwachungspro- en müßten.“ Für einen Mann, der selbst gramm übernehmen. Denn noch nie 27 Jahre hinter Gittern zugebracht hat, war die Kriminalität in Johannesburg eine deprimierende Erkenntnis. Blockwart und in der benachbarten Hauptstadt Die meisten Verbrechen geschehen Pretoria so beängstigend wie heute. nicht in den weißen Stadtteilen, wo viel, Das Land braucht Schulen und Krankenhäuser, doch Tod in Johannesburg es muß Gefängnisse bauen. 154,6 Anzahl der Mordopfer in ausgewählten Städten je 100 000 eden zweiten Freitag im Monat befe- Einwohner; Angaben 1992 stigt der Ingenieur Lionel Keenan Jaus Corlett Gardens in Johannesburg an seinem Mittelklassewagen ein oran- 86,3 gefarbenes Blinklicht und drei gelbe Po- ster mit der Aufschrift: „Hier patrouil- liert die Blockwacht, die Augen und 23,2 Ohren der Polizei.“ 11,4 Dann kurvt er zusammen mit einem 2,5 Nachbarn vier Stunden lang durch die JohannesburgRio de Janeiro New York Frankfurt London Nacht: „Bürgerpolizei“ auf Streife.

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sondern in den Townships, wo ver- Drogendealer, die in Zürich ihre Ver- gleichsweise wenig zu holen ist. 80 Pro- Schweiz drängungskämpfe mit Messer und Re- zent der bewaffneten Überfälle auf Au- volver austragen, leisten ihnen die beste tos im Raum Johannesburg ereigneten Werbehilfe – auch wenn das eine mit sich im Schwarzenghetto Soweto. dem anderen nichts zu tun hat. Die Polizei ist völlig überfordert. Im Vereint Noch bis vor kurzem glaubten viele südlich von Johannesburg gelegenen Politiker, das eidgenössische Wahlvolk Township Katlehong (500 000 Einwoh- lasse sich mühelos von Standards über- ner) bearbeiteten im vergangenen Jahr zuschlagen zeugen, die im Uno-Übereinkommen 15 Beamte 1058 Mordfälle. Das waren gegen Rassendiskriminierung schon mehr Morde als in ganz Großbritan- Die Volksabstimmung über ein 1965 festgelegt wurden und mittlerweile nien. Antirassismus-Gesetz deckt von 132 Staaten akzeptiert sind. Daß Ein Leben ist nicht viel wert in Süd- rechte Splittergruppen und einige lan- afrika. „Die Jahre brutaler politischer Abgründe von Fremdenhaß auf. desweit bekannte Reaktionäre die erfor- Gewalt unter der Apartheid haben vie- derlichen 50 000 Unterschriften für ein le Menschen, besonders Jugendliche, olerant und gut imprägniert“ sind Referendum gegen die Antirassismus- abgestumpft“, sagt Lloyd Vogelman, Eigenschaften, die Rosmarie Dor- strafnorm gerade noch zusammenbrach- Direktor des Instituts zur Erforschung Tmann, 47, gern für sich in Anspruch ten, erschien den wenigsten als bedroh- der Gewalt an der Witwatersrand-Uni- nimmt. Doch seit sich die christdemo- lich. versität. Mordwerkzeuge sind schnell kratische Abgeordnete aus dem Kanton Doch nach dem 12. Juni, als die ei- zur Hand: Südafrika wurde mit illega- Luzern mit Verve gegen Rassisten und gensinnigen Schweizer gleichzeitig ge- len Waffen aus Angola und Mosambik Rassismus einsetzt, erfährt sie die Gren- gen Uno-Blauhelme, gegen die erleich- geradezu überschwemmt. zen ihrer Belastbarkeit. terte Einbürgerung von jungen Auslän- In den Jahren der Apartheid waren „Sie Sauschwein, Sie Rassenweib“, dern und gegen die Kulturförderung die Polizisten bei der schwarzen Bevöl- pöbelten Briefschreiber, „das Boot ist stimmten, bekamen es Parteiführer und kerung verhaßt. Und es gab Meinungsmacher mit der gute Gründe, sie zu hassen: Angst zu tun. Sie waren die allgegenwärti- Die Regierung war über die gen Vertreter des weißen Un- Renitenz des Volkes derart terdrückerregimes. Selbst im geschockt, daß sie die Abstim- Jahr der Wende wurden bisher mung über das Antirassismus- 183 Polizeibeamte umge- gesetz zunächst verschieben bracht. wollte. Bürgerliche Politiker „Ich habe die Polizei immer beschwören nun den „Testfall als Arm der Apartheid gese- für die Frage: Ist die Schweiz hen“, erzählt Isaac Mogase, noch menschlich?“ Und Linke der drei Jahre aus politischen erwarten den Beweis, daß Gründen in Haft verbracht hat „man den neuen Rechtsextre- und heute Präsident der größ- mismus endlich als Bedrohung ten Bürgervereinigung Sowe- ernst nehmen muß“. tos ist. „Früher haben wir ge- Tatsächlich hat die bürgerli- rufen: Polizei raus aus den che Mehrheit in den letzten Townships. Heute wollen wir Jahren Hunderte rechtsradi- die Gangster raus haben und kaler Übergriffe auf Auslän- dafür mehr Polizisten rein.“ der oder auf Asylbewerber- Doch acht von zehn Polizeista- wohnungen gern als Buben- tionen befinden sich noch im- streiche verharmlost.

mer in den weißen Wohnge- RUTI-PRESSEBILD Biedermännisch bestätigen bieten. Rassismusgegner Lanz, Töchter konservative Volksvertreter Die Bürgerwacht soll jetzt Weltoffen nur in Tourismusprospekten mit unbedachten Äußerungen den Mangel ausgleichen hel- Vorurteile gegen alles „Un- fen. In den letzten Wochen haben sich voll.“ Weil sie die Vernichtung der Ju- schweizerische“. Volkstribun Christoph in den Schwarzensiedlungen zahlreiche den in Auschwitz nicht anzweifelt, wird Blocher, Gegner einer europäischen In- Polizei-Bürger-Foren gegründet. „Die sie „Lügnerin“ genannt; einigen scheint tegration und Herold eines Schweizer Leute kommen zu uns, weil sie einfach sie schlicht eine „Schweizerhasserin“ zu Sonderwegs, setzt die Fremdenangst als genug haben von den Verbrechen“, sagt sein. politischen Hebel gegen die Regierung Polizeisprecher Andy Pieke, „jetzt wer- Zusammen mit Politikern anderer ein. den die schwarzen Südafrikaner nachho- Parteien, Kirchenleuten und Gewerk- Neonazis blieben in der Schweiz seit len, was in weißen Gebieten schon seit schaftern wirbt Dormann im ganzen jeher unbehelligt. So kann der in Jahren üblich ist – die Zusammenarbeit Land für einen neuen Strafrechtsartikel, Deutschland verurteilte Nazi-Ideologe mit den Sicherheitskräften.“ der rassistische Propaganda und die Max Wahl in seinem Hetzblatt Eidge- Der weiße „Block-watch“-Initiator Leugnung von Völkermord unter Strafe noss – bislang ohne Furcht vor straf- Lionel Keenan will seinen schwarzen stellt. rechtlichen Folgen – den Holocaust Mitbürgern dabei zur Hand gehen und Die Kampagne um die Volksabstim- leugnen. Der Faschist Gaston-Armand sein Wachsystem in den schwarzen mung am nächsten Wochenende treibt Amaudruz handelt ungestört mit brau- Townships bekanntmachen. „Was uns viele Rassisten und Ausländerfeinde aus nen Pamphleten, und Berner Skins fei- alle über Parteien und Hautfarben hin- der Deckung. Sie wollen das weit ver- ern Attentäter, die Asylheime anzün- weg verbindet“, sagt Blockwart Kee- breitete Unbehagen über Asylpolitik den, öffentlich mit dem Hitlergruß. Die- nan, „das ist der Kampf gegen das Ver- und Rauschgiftelend nutzen, um die In- ses Treiben wäre ein Fall für die Justiz, brechen.“ Y itiative abzuschmettern. Ausländische wenn das neue Gesetz durchkäme.

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gen auch weiterhin erlaubt. Hausbesit- zer vernahmen beruhigt, sie seien frei, ihre Wohnungen nur an Weiße oder ex- klusiv an Schweizer zu vermieten. Und auch Arbeitgeber dürfen rassisti- sche Überzeugungen bei der Auswahl von Bewerbern ungeniert zugrunde le- gen – denn die neue Strafnorm bedeutet keinen Eingriff in die Vertragsfreiheit. „Wenn es zu einem Nein kommt“, bangt Myrtha Welti, Generalsekretärin der konservativen Volkspartei, „muß ich mich ernsthaft fragen, ob ich in der Schweizer Politik noch mittun kann.“ Und Christdemokratin Rosmarie Dormann würde sogar – GAU für alle Anhänger der direkten Demokratie – „am Volk zweifeln“. Y

Polen

Neonazi-Treffen bei Bern: Türken- und Judenwitze weiterhin erlaubt „Wir sind kein Volk von Rassisten“, Rahm, der sich um die „Koordination Alte rief Außenminister Flavio Cotti vor im Kampf“ bemüht. Den Holocaust- zwei Wochen in Bern 10 000 Demon- Leugnern riet er zu taktischer Zurück- stranten zu. Jazzmusiker, Rockbands haltung: „Wir haben diesen Leuten ge- Gespenster und Folklore-Gruppen versuchten, den schrieben, sie dienen der Sache am be- Bürgern Mut zur Toleranz zu machen. sten, wenn sie sich raushalten mit ihren Rote Kader kehren zurück, Premier „Der Antirassismus“, wunderte sich Thesen. Sie könnten diese wieder auf- Pawlak bremst die Reformen – der Alphornbläser Ueli Lanz, „sollte ei- grund unseres hoffentlichen Sieges äu- gentlich selbstverständlich sein, aber er ßern, aber jetzt ist das gefährlich.“ kommt die samtene Restauration? ist es nicht.“ Deshalb stellte sich der bo- Rahm und seine Kameraden setzen denständige Zimmermann aus dem Em- auf einfache Schlagworte und Verdäch- gentenaustausch um zwölf Uhr mit- mental mit seinen beiden madagassi- tigungen. „Das Wort Maulkorb kommt tags: Am 11. Juni 1985 überquerte schen Adoptivtöchtern vor die Kameras sehr gut an“, empfahl Rahm auf einer AMarian Zacharski die Demarkati- – Symbol einer weltoffenen, multikultu- Strategietagung. Abschreckend wirke onslinie in Berlin auf der Glienicker rellen Schweiz, die es nur noch in Tou- auch die Erwähnung der Uno, das ma- Brücke Richtung Potsdam. Mit ihm im rismusprospekten zu geben scheint. che „die Leute sofort skeptisch“. Bus befanden sich ein Bulgare und zwei Ob solche Sinnbilder viel bewirken, Unter dem Druck der gegnerischen DDR-Bürger. Ihnen entgegen rollte ein ist fraglich. In einer Erhebung gaben Propaganda sehen sich die Befürworter Fahrzeug mit 23 in der DDR und Polen Ende August 41 Prozent der Befragten schon genötigt, irritierten Stammtisch- aufgeflogenen Westspionen. an, sich mit dem Abstimmungsthema brüdern zu versichern, Türken- und Ju- Vier Jahre zuvor war Kundschafter noch nicht befaßt zu haben – Ausreden denwitze blieben als private Äußerun- Zacharski in den USA zu lebenslanger von Neinsagern, glauben Experten. Angeführt wird die Verweigerungs- kampagne von dem evangelikalen Eife- rer und Schaffhauser Weinbauern Emil Rahm, der seit Jahren unentwegt vor einer freimaurerisch-bolschewistisch- zionistischen Weltverschwörung warnt, und von dem rechtskatholischen Publizi- sten Herbert Meier. Um die beiden scharen sich, buntge- mischt, einige rechtsbürgerliche Hinter- bänkler, Antisemiten, Abtreibungsgeg- ner, beschäftigungslose Antikommuni- sten sowie die nationalistischen Schwei- zer Demokraten und die fremdenfeind- lichen „Freiheitlichen“ der einstigen Auto-Partei. Was wie ein chaotischer Haufen Ewiggestriger aussieht, ist in Wirklich- keit gut organisiert. Die reaktionären Gruppen und Seilschaften sind aus frü- heren Kampagnen gegen soziale und po- litische Neuerungen bestens eingespielt.

Die Komitees sollen „getrennt mar- B. EDEL / HJT / GAMMA / STUDIO X schieren, aber vereint zuschlagen“, sagt Ex-Spion Zacharski: Provozierender Beinahe-Aufstieg

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Haft verurteilt worden. Er hatte, als tiengesellschaften verwandeln, an de- Geschäftsmann getarnt, Unterlagen nen der Staat die Mehrheitsanteile und über das Flugabwehrsystem „Patriot“ somit auch weiter die Kontrolle behal- sowie Blaupausen von Kampfbombern ten soll. beschafft. Die Bauernpartei erstrebt einen zen- Spitzenspäher Zacharski drängte tralistisch gelenkten Staat, der ihrer auch nach dem Kalten Krieg wieder ins konservativen Klientel auf dem Lande alte Metier. Die in Warschau derzeit Steuernachlässe, Subventionen und Pri- regierende Koalition aus Postkommu- vilegien gewährt. Deshalb blockiert sie nisten und Bauern ernannte den Major die begonnene Gemeindereform, die jüngst zum Chef der polnischen Auf- Dörfern und Kleinstädten mehr politi- klärung. sche und finanzielle Selbständigkeit Als Präsident Lech Wałe¸sa und Di- bringen soll. plomaten des künftigen Nato-Partners Abgeordnete der Linkskoalition be- USA protestierten, trat Zacharski zwar gannen zudem eine Schmähkampagne einsichtig zurück. Aber sein „provozie- gegen das Außenministerium, das ih- render“ Beinahe-Aufstieg, so die War- nen zu westlich orientiert ist. Viele je- schauer Tageszeitung Zycie Warszawy, ner Diplomaten, die kommunistische läßt um die Haltbarkeit der polnischen AA-Kader ablösten, seien mit Auslän- Reformen fürchten: Der Beförderungs- dern verheiratet. Gegen „Emigranten“,

versuch ist beispielhaft für den Hang KOK / GAMMA Verteidiger der deutschen Minderheit der neuen Führung, alte Genossen aus Sozialminister Miller oder Vertreter „aristokratischer Famili- KP-Zeiten auf wichtige Posten in Zen- Symbol des alten Apparats en“ wandten sich die Deputierten trale und Provinz zu setzen. empört in einem Bericht zur Reform Rund die Hälfte der Nomenklatur- des Auswärtigen Dienstes. Funktionäre hat nach der Wende Be- Zu den Unterzeichnern des Papiers, ziehungen und Kenntnisse zum Um- vor allem gegen Beamte jüdischer stieg in die Privatwirtschaft genutzt. Herkunft gerichtet, gehörte der SLD- Ex-Regierungssprecher Jerzy Urban, Parlamentarier Włodzimierz Konarski. Herausgeber der florierenden Satire- Als Warschaus Botschafter bei der Zeitschrift Nie, gilt mittlerweile als ei- KSZE in den achtziger Jahren war ner der reichsten Männer des Landes. er aufgefallen, weil er eine Debatte Andere, vor allem beim Militär und im über das Kriegsrecht verhindern woll- Sicherheitsdienst, verharrten auf ihren te. Plätzen – sie konnten so schnell nicht Das Pamphlet erinnert den Histori- ersetzt werden. ker und Solidarnos´c´-Vordenker Adam Nun kehren die Gespenster der Ver- Michnik an die typische Mentalität der gangenheit scharenweise wieder zu- „schlimmsten Funktionäre aus der rück; und längst nicht alle gehören wie Volksrepublik“. Polens samtene Revo- der frühere KP-Gebietssekretär des lution habe eine „samtene Restaurati- ostpolnischen Biała Podlaska und jetzi- on“ hervorgebracht. Auch wenn eine ge Sejm-Marschall, Jo´zef Oleksy, zum „Rückkehr zur alten Ordnung“ ausge- Reformflügel der postkommunistischen schlossen scheine – die junge polnische Union der Linken Demokraten (SLD). Demokratie riskiere, mit einem lange Sozialminister Leszek Miller etwa, schwärenden „Wundbrand“ infiziert zu Ex-Politbüromitglied, verkörpert für werden, fürchtet Michnik. viele Polen den alten Parteiapparat. Die aufgeschreckten Nachfahren der

Ireneusz Sekula, Vizepremier der letz- K. WOJCIK Solidarnos´c´-Generation üben Selbstkri- ten kommunistischen Regierung unter Zollchef Sekula tik. Ein Grund für die Renaissance der Mieczysław Rakowski, wurde nach ei- Politischer Dinosaurier Kommunisten, befand Politologe nem Zwischenspiel als Miteigentümer Wnuk-Lipin´ski, sei die Großmut, mit der mittlerweile bankrotten Frachtflug- im Büro von Präsident Wojciech Jaru- der die Schrecken der Diktatur sowie gesellschaft Pol-Nippon oberster Zöll- zelski. Der Direktor der staatlichen die Korruption der Nomenklatura, die ner des Landes. Umweltbank war Minister unter dem umweltzerstörende Industriepolitik Gleichfalls zu den „politischen Dino- Kriegsrechtsgeneral. oder die Schüsse auf streikende Arbei- sauriern“ (Zycie Warszawy) gehört der Zahlreiche Woiwoden aus dem Soli- ter vergeben worden seien. stellvertretende Innenminister Zbi- darnos´c´-Lager mußten in den letzten Deshalb erinnere sich heute kaum gniew Sobotka, vormaliger Kandidat Wochen ihre Sessel an Postkommuni- noch einer an den Namen des vom Ge- der Betonfraktion für das Politbüro sten oder Bauernfunktionäre abgeben. heimdienst ermordeten Priesters Jerzy und laut Stasi-Akten Zuträger des Edmund Wnuk-Lipin´ski, Direktor des Popieluszko. Statt dessen „verbindet DDR-Geheimdienstes. Instituts für politische Studien an der die Mehrheit der jungen Polen mit der Auch die alten Blockflöten der Bau- Akademie der Wissenschaften, macht Volksrepublik eine Ära der Vollbe- ernpartei PSL von Ministerpräsident deshalb schon eine „wachsende Offen- schäftigung“. Waldemar Pawlak schieben ihre be- sive eines neokommunistischen Polens“ Im westpolnischen Leszno wählten währten Leute in strategische Positio- aus. die Bürger kürzlich sogar einen Unter- nen. Im Ministerrat arbeitet zum Bei- Vor allem die Funktionäre der PSL drücker aus dem einstigen Sicherheits- spiel Jan Bisztyga, in den siebziger Jah- bremsen den Reformschwung. Premier dienst zum Ratsherrn. Wnuk-Lipin´ski ren Polens Botschafter in Großbritan- Pawlak stoppte die Massenprivatisie- hat dennoch die Hoffnung nicht verlo- nien und später ZK-Pressesprecher. rung staatlicher Betriebe. Seine Partei ren: „Es ist noch nicht zu spät, aber Pawlaks Kabinettschef diente bereits will die Unternehmen allenfalls in Ak- die Uhr tickt bereits.“ Y

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Werbeseite Kirgisische Hirtenjungen im Himmelsgebirge, Steinkohle-Tagebau in der Bergregion: Grauglitzernde Gletschermassen,

Umwelt „Insel der Glückseligkeit“ SPIEGEL-Redakteur Sebastian Knauer über ein bedrohtes Öko-Idyll in Kirgisien

ärmend schwingt sich der Hub- Direktoren von Nationalparks sowie hensonne, auftauen. „Das hier ist für schrauber in die Höhe. Ein letzter deutsche und kirgisische Regierungsver- mich ein Blumenfest“, sagt der österrei- LMilitärposten, zwei Häuser und eine treter aus der klapprigen Maschine. chische Alpenexperte Georg Grabherr Schafherde werden überflogen. Dann Vorsichtig erkunden die Ökologen das und kratzt an einer seltenen Flechte. liegt nur noch das Panorama der eisbe- bislang völlig abgeriegelte Grenzgebiet Der Alpenschützer hat sich eigens ein deckten Bergriesen des zentralasiati- zwischen der ehemaligen Sowjetunion Stück schwarzen Samtstoff mitgebracht, schen Tienschan-Massivs (zu deutsch: und der Volksrepublik China – sie wol- zur Präsentation der ausgezupften Öko- Himmelsgebirge) vor der gläsernen Pi- len die Region mit ihrer einzigartigen Raritäten. lotenkanzel. Flora und Fauna als „Weltkulturerbe“ Das Himmelsgebirge mit seinen alpi- Drinnen gestikuliert Michael Succow, (Succow) unter Naturschutz stellen. nen Almen, Feuchtwiesen, Fichtenwäl- 53, mit den Piloten. Der deutsche Pro- Türkis glitzert ein Bergsee vor dem dern und trockenen Steppen ist eine bio- fessor möchte in dem abgelegenen Tal ökologischen Sturmkommando. Der logische Schatzkammer. Hier wachsen des Inyltschek-Gletschers nahe bei der Gletschersee, einzigartig in 3500 Meter andernorts vom Aussterben bedrohte kirgisisch-chinesischen Grenze eine Höhe gelegen, ist in eine gewaltige Eis- Sauergräser, das stengelförmige Läuse- Landung wagen. Die russischen Militär- kruste eingebettet. Die Berggipfel, die kraut oder der gelbe Moorsteinbrech. flieger aber sagen strikt „njet“. hinter der Wasseroberfläche aufschim- Auf manchen Wiesen kann der weiße Succow zieht 100 Dollar hervor. Das mern, werden „Rote Berge“ genannt, Enzian noch mit der Sense gemäht wer- Geld zeitigt Wirkung. Wenig später nach dem Blut der vielen Kletterer, die den. setzt der Helikopter sanft auf einer leh- hier tödlich verunglückten. Rund 5500 verschiedene Pflanzen- migen Moräne auf. Am Rande des Sees blühen dicke Bü- und Tierarten beherbergt das zerklüfte- Über eine schmale Aluminiumtreppe schel von gelben Kreuzblümchen, die te Bergland nördlich des Himalaja. Dem klettern eine Handvoll Naturschützer, nur tagsüber, unter der brennenden Hö- Naturforscher Gottfried Merzbacher

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gesamten Landesfläche Kirgisiens, rund 70 000 Quadratkilometer, möchte der Mann deshalb in strikte Schutzzonen für Flora und Fauna aufteilen. Das Himmelsgebirge soll als soge- nanntes Biosphärenreservat in das strenge, 1970 von der Unesco einge- richtete „Man and the Biosphere Pro- gramme“ aufgenommen werden – als ei- ne von einigen hundert handverlesenen ökologischen Kostbarkeiten weltweit. Im Konferenzraum eines ehemaligen Kombinatsheimes, das am Issyk-Kul- See inmitten der zerklüfteten Felsland- schaft Kirgisiens liegt, hat Succow einen Overhead-Projektor aufgebaut. Auf der „Folie Nummer zwei“ sind, quer über die Weltkarte verstreut, lauter schwarze Punkte eingetragen – sie markieren die rund 300 Biosphärenreservate in der Welt (siehe Grafik Seite 178). Bei einigen dieser „zukunftsfähigen Räume“, wie Succow die Öko-Kleinodi- en bescheiden nennt, hat der Biologie- professor persönlich den Unesco-Schutz angeschoben. Kirgisien wird sein bislang größtes Werk. Kann ein einziger Mann ein Gebiet von der Fläche der Niederlande und Belgiens zusammen, fernab von allen politischen Schaltzentralen, unter Na- turschutz stellen lassen? Succow kann.

ZUCHT / DER SPIEGEL Dem Biologen, einstmals stellvertre- tender DDR-Umweltminister unter Lo-

FOTOS: M. thar de Maizie`re, ist schon einmal ein türkisschimmernde Bergseen und wertvolle Rohstoffvorkommen ökologischer Geniestreich gelungen. In der letzten Ministerratssitzung der un- war es vor gut 100 Jahren als erstem Eu- Wildschaf-Rasse. Wilderer stellen mit tergehenden DDR nutzte er 1990 die ropäer gelungen, in das entlegene Fels- schweren Eisenfallen den Schneeleopar- Übergangswirren und ließ per Gesetzes- massiv vorzustoßen. Er entdeckte sei- den nach, von denen es nur noch einige vorlage fünf neue Biosphärengebiete nerzeit den höchsten Gletschersee der hundert in der Welt gibt. Und selbst die zwischen Rügen und der Rhön, der Welt. einheimischen Bauern, Schafhirten und Schorfheide und dem Spreewald ausru- Heute ist das ökologische Kleinod be- Nomaden setzen dem entlegenen Er- fen. Fünf Prozent des ehemaligen DDR- droht. Eine Bergbaufirma will die kost- denflecken zu: Ihre Hammel und Schafe Territoriums stehen seitdem unter be- baren Rohstoffvorkommen, Gold und grasen die Hochweiden derart ab, daß sonderem Schutz, ein „in Europa ein- Quecksilber, in der Bergregion ausbeu- einige Wiesen bereits zu versteppen dro- maliger Kraftakt“, wie Öko-Kollegen ten. Großwildjäger aus den hochentwik- hen. lobten. kelten Westländern gehen auf die Pirsch Derlei Schädigungen will der deut- Mit dem alten SED-Regime hatte nach Bären, Steinböcken und den be- sche Naturschützer Succow, wo immer Succow nichts gemein gehabt. Als Do- gehrten Marco-Polo-Schafen, einer es geht, stoppen. Nahezu ein Drittel der zent an der Universität Greifswald wei-

Himmelsgebirge wird die Bergregion nördlich des Himalaja in der GUS-Republik Kirgisien genannt. Der Greifswalder Biologieprofessor und Ex-DDR-Umweltminister Mi- chael Succow, 53, (rechts, mit Alpenexperte Grab- herr) will das Gebiet mit Unterstützung der Bundesre- gierung vor der Zerstörung durch den Menschen ret- ten und zu einem internationalen Biosphärenreservat nach Unesco-Standard machen. In dem zentralasiati- schen Land liegt der höchste Gletschersee der Welt. Diese einzigartige Berglandschaft beherbergt Pflan- zen- und Tierarten, die hierzulande auf der Roten Li- ste stehen oder schon ausgestorben sind. Bedroht wird das Öko-Kleinod durch den Abbau von Steinkoh- le sowie reiche Goldvorkommen, an denen auch westliche Firmen Schürfrechte erworben haben.

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Werbeseite Steppenlandschaft, Gletscher im Tienschan-Massiv: „Das hier ist für mich ein Blumenfest“ gerte er sich 1968, eine Jubel-Resoluti- täten der deutschen Einheit aushandel- Jetzt soll das Edelmetall abgebaut wer- on zum Einmarsch der russischen Trup- ten. den. pen in Prag mitzuunterzeichnen. Dar- Kaum waren die Politiker fort, inter- Ein weiteres Goldgebiet hat sich der aufhin versetzten die DDR-Oberen den essierten sich die ersten Investoren für kanadische Minenkonzern Cameco gesi- Querkopf in ein abgelegenes Institut den abgelegenen Landstrich. Japanische chert. Es liegt gleich unterhalb der glit- für Bodenkunde. und arabische Firmen stellten Anträge, zernd-grauen Gletschermassen und tür- Succow nutzte die Zeit und schrieb am Schwarzen Meer in einem Sumpfge- kisfarbenen Bergseen. Mitten in dem ein international anerkanntes Lehrbuch biet Torf zu stechen. Die drohende Zer- Öko-Idyll will die Minenfirma eine Lan- über Moore. Mit Hilfe der Gesellschaft debahn für Großraumflugzeuge anle- für Natur und Umwelt, einem von den gen. Dort sollen, direkt aus dem ameri- SED-Machthabern geduldeten Öko- „Die Leute sind kanischen Houston, die Jets mit den Verein, organisierte er überdies Reisen verrückt darauf, wilde Bergbauutensilien einfliegen. Für 20 ins sozialistische Ausland. Gramm Gold pro Tonne, soviel soll in Die Reiseziele von damals versucht Tiere zu sehen“ manchen Gesteinsbrocken stecken, ist Succow, der mittlerweile stellvertreten- das Himmelsgebirge nicht mehr heilig. der Vorsitzender des Deutschen Natur- störung der Moore wendete Succow ge- Schwerwiegende Umweltlasten haben schutzbundes ist, seit der Wende vor rade noch ab. aber auch die einstigen Machthaber zu den Schadeinwirkungen der Zivilisation Als Handlungsreisender in Sachen verantworten. Zwei Dutzend Wasser- zu retten. So bewegte er 1990 das Par- Natur reist Succow um die Welt. Nach kraftwerke, mehrere geschlossene lament des einstigen Sowjetstaates Ge- Kirgisien kommt er womöglich zu spät. Uranerzgruben und katastrophal ge- orgien dazu, fünf bis dato noch weithin Mit dem 3442 Meter hohen Aschursak- führte Steinkohleminen hinterließen unberührte Gebiete im Kaukasus unter Paß, über den noch die alte Grenzstraße schlimme Spuren. Succow will jetzt die Naturschutz zu stellen. Unmittelbar be- führt, hatten Industrielle bereits große „kontrollierte Nutzung“ der wertvollen nachbart liegt jenes historische Fleck- Pläne. Ein gewaltiger Bergrücken soll Rohstoffvorkommen in sein Naturkon- chen Erde, auf dem Bundeskanzler komplett abgetragen werden. Dort ha- zept integrieren. Helmut Kohl und der damalige Sowjet- ben Geologen eine enorm hohe Gold- Der Biologe weiß, gegen die Men- chef Michail Gorbatschow die Modali- konzentration im Gestein ermittelt. schen und ihre Arbeitsinteressen kann

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Basar (in der Hauptstadt Bischkek), kirgisische Nomaden: Millionen und Abermillionen Schafe er nicht gewinnen. Wie es mit der Land- richten. Noch leben rund 45 000 Stein- gabe von Jagdscheinen. Doch ihm wirtschaft weitergehen soll, dem Touris- böcke, 12 000 Marco-Polo-Schafe und ist auch klar: Sein Projekt kann nur mus und der Jagd, fragen denn auch sei- 700 Schneeleoparden im Himmelsgebir- gelingen, wenn er einen Ausgleich ne kirgisischen Gesprächspartner stets ge. Tiere, die andernorts nur noch im schafft zwischen den widerstreben- besorgt. Sie haben längst gehört, daß in Zoo zu besichtigen sind. den Interessen von Bauern, Jägern, einem Schutzgebiet nach Art der Westliche Waidmänner aus Europa Tourismus-Managern und den Umwelt- Unesco-Reservate die wirtschaftliche und den USA lassen sich jedoch immer schützern. Nutzung weitgehend eingeschränkt wer- häufiger mit Genehmigung der örtlichen In einer alten Holzbaracke am See- den muß, in der Kernzone wird jedwede Umweltbehörden per Helikopter zu den ufer diskutiert Succow mit seinen Bearbeitung untersagt. begehrten Wildtieren fliegen. Gegen Begleitern, wie der schädliche Massen- Doch in den Hochtälern des Tien- 30 000 Mark Abschußgebühr darf bei- tourismus aus dem Öko-Idyll Kirgi- schan weiden über den Sommer Millio- spielsweise ein Marco-Polo-Schaf vom sien herausgehalten werden kann. Ei- nen und Abermillionen Schafe, Ziegen Fels geholt werden. nen „angepaßten Tourismus“ schlägt und Pferde. Selbst Kamele, auf denen „Wir können nicht nur Inseln der der Direktor des schweizerischen im 12. Jahrhundert diverses Handelsgut Glückseligkeit schaffen“, sagt der Na- Nationalparks, Klaus Robin, vor. „Die nach Westen (und entführte Prinzessin- turschützer Succow. Zwar streitet er mit Leute“, sagt Robin, „sind doch ver- nen nach Osten) transportiert wurden, den kirgisischen Umweltbehörden rückt drauf, wilde Tiere lebendig zu se- dienen bei den Nomadenvölkern ent- um die, wie er findet, allzu laxe Ver- hen.“ lang der alten Seiden- Der Park im schweizerischen Unter- straße noch als treue KASACHSTAN engadin, dem Robin vorsteht, mache Haustiere. Alles in al- l über eineinhalb Millionen Schweizer Bischkek K u ek- Issyk- ltsch Franken im Jahr Umsatz, berichtet lem zuviel Vieh, das Iny her Gletsc der Mann. Die anwesenden kirgi- auf den empfindlichen KIRGISIEN Weideflächen grast, sischen Tourismus-Manager horchen die Böden sind von e auf. Succow läßt eine Flasche Scharlach- r g Erosion bedroht. b i berg herumgehen – und dämpft die Er- e CHINA Schlimmer noch sind USBEKISTAN - G wartungen. a n die Schäden, die zuge- c h Der Nationalpark-Planer ist bislang reiste Jäger in der n s 200 Kilometer noch weit entfernt von seinem Ziel. i e Hochgebirgsregion an- T Noch gilt es, die Anfangsprobleme zu geplantes Biosphären-Gebiet bewältigen. So hatte beispielsweise, auf TADSCHIKISTAN Succows Drängen, das deutsche Ent- wicklungsministerium bereits seit dem vergangenen Jahr 23 Millionen Mark für Öko-Maßnahmen in Kirgisien bereitge- stellt – bis heute ist kein einziger Pfennig abgeflossen. Eine Meßstation in dem geplanten Nationalpark, die einzige in Zentral- asien, die, für ein internationales Meß- netz, den Klimakiller Kohlendioxid er- faßt, steht aus finanziellen Gründen vor der Schließung. Das Jahresbudget der Meßwarte (10 000 Dollar) entspricht den Reisekosten eines einzigen europäi- schen Umweltministers zum Öko-Gipfel nach Rio. bestehende Biosphären-Reservate Für die Luftmeßstation aber will es keiner aufbringen. Y

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USA Triumph des Vulgären SPIEGEL-Reporter Matthias Matussek über die Verrohung der amerikanischen Gesellschaft

m amerikanischen Kino ist Oliver ten, Stühle, Telefone des zum Verkauf Bobbitt, dem die Frau den Penis ab- Stone der Mann fürs Grobe. Seine Fil- angebotenen O’Hare-Plaza-Hotels in schnitt, absolvierte Autogrammstunden Ime sind lang, laut und sentimental. Sie Chicago versteigert werden, setzt der und tritt ebenso in Talk-Shows auf wie sind keine Kunstwerke, aber sie bekun- Auktionator für die Stücke aus Zimmer „Lobster Boy“ Grady Stiles, der Mann den ein immenses Gespür für die Dämo- 915 Sonderpreise an. Der Grund: Das mit den Scherenhänden, der seine Frau nen der amerikanischen Volksseele. Football-Idol O. J. Simpson hat hier ei- verdrosch. Sein Film „JFK“, eine lärmende Show nen Teil der Nacht nach dem Mord zu- Eine schleimige Billigkeit, eine Verro- zur Wiederbelebung obskurer Ver- gebracht. In diesem Bett hat er gelegen, hung und Vulgarisierung hat sich über die schwörungstheorien über den Kennedy- in dieses Telefon gesprochen, nachdem herrschende Kultur gelegt. Hatten frühe- Mord, eine Collage aus Dokumentar- er, wie die Anklage glaubt, seine Frau re Präsidenten stets auf königliche Di- und Spielszenen, brachte nicht nur volle und deren Freund daheim in Los Ange- stanz geachtet, so spricht der heutige Kassen, sondern beschäftigte den Kon- les abgeschlachtet hatte. Mann an der Spitze in einem Interview greß. Memorabilien von mutmaßlichen mit MTV über seine Unterhosen. Sein neuester Film „Natural Born Kil- oder überführten Mördern sind der letz- Der kühle Zynismus der achtziger Jah- lers“ hat weder eine Handlung, die der te Schrei in der gegenwärtigen amerika- re ist durch den schrillen Exhibitionismus Rede wert ist, noch formalen Witz, der nischen Trivialkultur. Wer will schon der Neunziger abgelöst worden, die über den von MTV-Videoclips hinaus- ein Autogramm von Mutter Teresa, Show der Mondänen von der Beichte der geht. Doch er hat ein aktuelles Thema: wenn er dafür eines des Menschenfres- Freaks. Es geht nicht mehr darum, Hal- die Vergötterung der Gewalt und die see- sers Jeffrey Dahmer haben kann? Das tung zu bewahren, sondern die Fassung lische Verödung Amerikas. exzentrisch Böse wird ebenso gefeiert zu verlieren – möglichst telegerecht. In diesem überaus vergnügten Film, wie das Peinliche, Groteske, Gemeine. Wie eine mörderische Wiederkehr des für den Stone in der vergangenen Woche Sendungen wie „Hard Copy“, ja ganze Verdrängten werden nun Inzest, Ehe- auf dem Filmfestival von Venedig den TV-Anstalten wie Rupert Murdochs bruch, Freßsucht, Verstümmelungen Spezialpreis der Jury erhielt, werden Fox widmen sich lüstern den Nachtsei- und Perversionen zur Massenunterhal- zwei Serienkiller zu Helden. Ihre Ge- ten des Lebens. tung aufbereitet. schichte ist nur der Anlaß für einen Bil- Das Interesse an Tragödien und Per- War das Wappentier der achtziger Jah- derbogen über die Trivialisierung und versionen, an intimen Beichten und re der smarte, Armani-gekleidete Yup- Verschrottung des amerikanischen Monsterprozessen ist unerschöpflich. pie, so istdas Symbol der neunziger Jahre Traums durch die Medien, den Voyeuris- Für stundenlange Vollprogramme sorg- einer wie Joey Buttafuoco, der Autome- mus und die öffentliche Durchbrechung ten die Menendez-Brüder, die ihre El- chaniker in der Trainingshose, der wegen sämtlicher Schambarrieren. tern umbrachten und sich im Prozeß mit der Verführung der minderjährigen Re- Beispiele für Geschmacksverrohung Erfolg darauf beriefen, sie seien als Kin- volver-Nymphe Amy Fisher im Gefäng- finden sich überall. Wenn etwa die Bet- der mißbraucht worden. John Wayne nis saß. Buttafuoco und Fisher sind Ar- R. YAGER / B. PICTURES AP L. LUONGO / OUTLINE / FOCUS O.-J.-Simpson-Rummel in Los Angeles, White-Trash-Symbole Roseanne, Bobbitt: Sämtliche Schambarrieren durchbrochen

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chetypen des „white trash“, des „weißen und sie küssen sich, begleitet von gängi- eine Art Mülleimerfaschismus für die Mülls“. White Trash ist die Fast-food- gen Hits und Fetzen von News-Shows, MTV-Generation: Mord sei Natur- und Six-pack-Kultur der weißen Unter- Tieraufnahmen, Tötungen, Spielszenen impuls, sei Selektion jenseits von Gut schicht, die, jüngsten Erhebungen zufol- und psychedelischen Tripsequenzen, ei- und Böse, sei letzte, größte Freiheit. ge, stark zulegt. nem ständigen Bilderrauschen – Kino als Anders als Stanley Kubricks „Clock- White Trash feiert den vulgären Ge- optische Klospülung. work Orange“, der ein kühler, beunruhi- schmack. White Trash ist die Abdankung Die beiden Teenager-Mörder werden gender Essay über jugendliche Gewalt der ethischen und ästhetischen Stan- von einem Kopfgeldjäger in Uniform ge- war, feiert Stones Film ein fröhliches, dards. Dazu gehört Tonya Harding, die stellt, auf dem Weg ins Gericht von der einverständig feixendes Spektakel, das Eisläuferin aus dem Wohnwagenpark, Menge bejubelt – „Töte mich, Mickey“ – sich vor allem an Teenager wendet, die die ihrer Konkurrentin Nancy Kerrigan und schließlich einem perversen Gefäng- mit dem Analphabetismus der MTV- das Knie zerschlagen lassen wollte. nisdirektor anvertraut. Hier, in der Haft, Idole Beavis und Butt-head groß gewor- White Trash istauch ihr Ex-Mann, der sie wird Mickey von einem schmierigen Re- den sind – ein Happening des White prügelte und der das Video der Hoch- porter befragt, und er gibt sein Credo ab, Trash. zeitsnacht an das Penthouse-Magazin verkaufte, das es derzeit über einen Mas- senversand anbietet. White Trash ist die voluminöse TV- Schlampe Roseanne, die in der David- Letterman-Show kürzlich von ihrem Be- „Der Dämon in uns“ such in der Sixtinischen Kapelle erzählte. Sie war enttäuscht, sie fand sie zu klein. Interview mit Regisseur Oliver Stone über die Faszination der Gewalt Aber ihrBodyguard habe sich im Bett be- währt. Letterman bedankte sich für das Gespräch mit einer Packung tiefgefrore- SPIEGEL: Wie erklären Sie sich den Pu- Stone: . . . so etwas durfte man in den ner Schweineschnitzel. blikumserfolg Ihres Films „Natural fünfziger Jahren noch nicht zeigen. White Trash verachtet Bildung, liebt Born Killers“? Der Serienkiller als Held SPIEGEL: Ein Zeichen für die gesunke- Plastik-Flamingos und vergöttert Elvis – ist das eine spezifisch amerikanische nen moralischen Standards? Presley. White Trash, so der Autor Er- Faszination? Stone: Ein Zeichen für unsere Faszina- nest Mickler, hat „keinen Stolz, keine Stone: Eher schon der Killer als Anti- tion angesichts der Gewalt. Unser Manieren und keinen Respekt vor ir- Held. Es gibt ja eine Kino-Tradition da- Jahrhundert gehört den Massenmor- gendwem“. für. Wenn Marlon Brando in dem Film den, den anonymen Genoziden, in der Natürlich ist auch so ein Phänomen vor „Der Wilde“ gefragt wird, wogegen er Türkei, der Sowjetunion, in Deutsch- Romantisierungen durch das Kulturesta- rebelliert, antwortet er: Was hast du an- land, Kambodscha, China. Die Gewalt blishment nicht sicher. Filmregisseur zubieten? Das ist die Grundhaltung – ei- ist in der Welt, das ist das eine. Das John Waters bewundernd: „Da sitzen sie ne frühere, zahmere Version meines andere ist das Interesse des Publikums in BHs und Unterhosen vor der Glotze, Mörders Mickey. am Intimleben von anderen. Je perver- und wenn jemand vorbeikommt, zeigen SPIEGEL: Brando fährt Motorrad, trägt ser, desto besser – das ist unsere Kul- sie ihm den Stinkefinger – sie sind einfach schwarzes Leder – aber er bringt nie- tur. frei.“ manden um. Ihr Held ist ein unterbe- SPIEGEL: Wann hat diese hemmungslo- Dieser Schicht, ihren Vorlieben und lichteter Massenmörder . . . se Preisgabe von Privatem eingesetzt? ihrem Auftrumpfen hat Stone nun ein Stone: Schon vor Jah- Denkmal errichtet. „Natural Born Kil- ren. Und seit den Ani- lers“ feiert die Gewalt und den ästheti- ta-Hill-Hearings gilt es schen Niedergang. Er verklärt den mora- ja sogar als Heldentat, lischen Verfall als Durchbruch zur Frei- intime Details auszu- heit. Er zeigt Mickey und Mallory, die plaudern, mit Schmutz Amok laufen und als Serienkiller zu Kult- um sich zu schmeißen, figuren werden. egal ob wahr oder er- So, wie sich die schwarze Ghetto-Ge- funden. Jetzt schneidet walt meist gegen Schwarze richtet, so eine Frau ihrem Mann richten Mickey und Mallory vorwiegend den Penis ab, und sie ihresgleichen hin, heruntergekommene wird in der Öffentlich- Weiße, Truckfahrer, Kellnerinnen, keit dafür gefeiert. Hoffnungslose, arme Teufel: die Auto- SPIEGEL: In Ihrem Film aggression einer Klasse, einer Rasse. sagt der Mörder Mik- Mickey ist der Fleischerlehrling mit key: „Jeder hat diesen dem rosafarbenen Netzhemd, der sich Dämon, den Wunsch in Mallory verliebt, ein mit einem zu töten, in sich.“ Auch großen Skorpion tätowiertes Mädchen, Sie? das von seinem Vater mißbraucht Stone: Natürlich. Ich wird – ihre Kindheit wird im Stil der Ro- habe Gewaltbereit- seanne-Show erzählt, samt eingeblende- schaft schon immer in tem Gelächter. mir gespürt, nicht erst Die Kamera kreist und torkelt mit den seit Vietnam. Die Na- beiden jugendlichen Killern auf Mörder- tur ist gewalttätig, alle tour durch ein desolates Südstaaten- Menschen sind es. Amerika, durch eine triste Landschaft SPIEGEL: Jeder ist also

aus Motelzimmern und Müllhaufen und S. HOLLYMAN / GAMMA / STUDIO X ein potentieller Mas- Reservaten. Sie schießen und sie grinsen Filmregisseur Stone: „Je perverser, desto besser“ senmörder?

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Stone: Ganz sicher. Die mei- sten geben es nur nicht zu. Na- türlich kann ich und will ich keine Gewalt propagieren. Aber Mickey und Mallory tö- ten 52 Menschen auch deshalb, weil sie in einer wahnsinnigen Umgebung aufwachsen. SPIEGEL: Die Medien haben sie verroht? Stone: Es ist doch so: Die Ge- waltkriminalitätsrate ist in den letzten 20 Jahren weitgehend gleich geblieben, nur die Be- richterstattung hat sich geän- dert. Wir leben in einem Land, das dem späten Römischen Reich vergleichbar ist. Ein Land ohne zentrale Autorität. Wir haben allerdings einen schlimmen Ersatz gefunden: die Presse. Sie stellt die Wei- chen. Die Medien haben aus dem Tod, aus Tragödien und Perversionen eine Goldgrube gemacht. SPIEGEL: An der Sie, mit Ih- rem Film, nun kräftig mitver- dienen. Stone: Aber nur dieses eine

Mal. Im übrigen wird niemand WARNER BROS gezwungen, meinen Film zu Killerpärchen Mallory und Mickey* sehen, während die Killer- Idol für Teenager shows im Fernsehen frei Haus geliefert werden; und das ist das viel grö- gen wie Simpsons Tochter Sydney. In Ih- ßere Geschäft, da geht es um Werbegel- rem Film gibt es Bilder von Simpsons der. Flucht, von ihm im Gericht. SPIEGEL: Hat Ihr neunjähriger Sohn Stone: O. J. ist ein klassisches Beispiel Sean den Film gesehen? dafür, wie gefährlich es ist, seine Aggres- Stone: Schon viermal. Natürlich gegen sionen zu leugnen und zu unterdrücken. die energischen Proteste der Mutter. Er So was rächt sich. Plötzlich, eines Tages, mag einfach die Musik. hat der Dämon von ihm Besitz ergriffen, SPIEGEL: Die Gewaltkriminalität von und die ganze Sache ist explodiert. Minderjährigen ist sprunghaft angestie- SPIEGEL: Thema Ihres Films ist auch, daß gen.Immer öfter stehenElfjährige wegen die Medien alles zeigen: den Gerichts- Mordes vor Gericht. Wird er den Film saal, Polizeiaktionen, Spielszenen von nicht als Anleitung zur Bewältigung von Gewaltverbrechen. Trotzdem beklagen Schwierigkeiten sehen? Sie, daß der Ruf nach Zensur zunehme. Stone: Sean ist gefestigt genug. Im übri- Stone: Ich glaube, das Klima wird immer gen: Es geht um Liebe. Mickey und Mal- prüder und der Wunsch nach Zensur im- lory ändern sich ja. Plötzlich ist die ganze mer größer. Ich habe meinen Film fünf- Killerei nicht mehr lustig. Und im Knast mal umgeschnitten und habe trotzdem schreibt Mickey einen Liebesbrief. Nur das „R“-Rating** verpaßt bekommen, mit Liebe können wir die Gewalt be- nur weil irgendwelche miesen, fischigen kämpfen – das ist die Botschaft. Politiker mit ihren Saubermann-Parolen SPIEGEL: Schwer zu entdecken unter den Wahlkampf machen. Bergen von Leichen. SPIEGEL: Ist die Gewalt, die Ihr Film Stone: Es ist sicher ein perverser Film, zeigt, ein Klassenproblem? Ihre Täter aber als Filmemacher muß man dieses kommen aus dem Milieu der arbeitslosen Spiel mitmachen. Du mußt dich in diese weißen Unterschicht. Killer verwandeln, du mußt zeigen, daß Stone: Ich zeige White Trash, zwei Typen es ihnen Spaß macht, und du mußt auch aus dem Niemandsland, von ganz unten, selbst Spaß daran haben, weil du die Ge- wo es eine bestimmte Kultur, eine be- schichte aus ihren Köpfen heraus erzäh- stimmte Mentalität gibt. Und die geraten len willst. mit dem System in Konflikt. Alles, was SPIEGEL: Sie kennen O. J. Simpson. Ihr unserer Gesellschaft zur Gewalt einfällt, Sohn Sean ist in die gleiche Schule gegan- istnoch einGesetz, noch mehr Polizisten, noch mehr Gefängnisse. Das löst gar * Aus „Natural Born Killers“. nichts. Das macht alles nur noch faschisti- ** „Restricted“ – frei ab 17 Jahre. scher, als es ohnehin schon ist. Y

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Tennis „NEHMEN, NEHMEN, NEHMEN“ Die Profis müssen nicht mehr unbedingt siegen, um zu verdienen. Beinahe jeder Turnierdirektor lockt die Stars mit Antrittsprämien, Geschenken und einem Rundum-Service. Weil aber Luxus faul macht, stimmt das Preis-Leistungs-Verhältnis nicht mehr. Fans und Sponsoren fühlen sich getäuscht – und bleiben weg.

enn Manager Ion Tiriac zu sei- nem Turnier in die Hanns-Mar- Wtin-Schleyer-Halle in Stuttgart bittet, stehen eine weiße und eine schwarze Dame bereit, die Babys der Profis zu wickeln. Tiriac zahlt die 330 Mark teuren Hotelzimmer und hinter- legt an der Rezeption Tickets für die Ehefrauen. Nach getaner Arbeit finden die Spieler auf ihren Betten Walkman und Rasierapparat, dezent verpackt. Tiriacs Rivale Bernd Nusch bietet bei seinem Turnier in Stuttgart-Weissenhof das gleiche Verwöhnprogramm, doch dazu noch eine Art Beschäftigungsthe- rapie für Millionäre. Nusch bittet die Tennisstars, die sich bei ihm um eine Million Dollar schlagen, in der Freizeit zu Golfpartien oder Testfahrten bei Mercedes-Benz. Dieter Fischer, der dritte Stuttgarter Turnierausrichter, glaubt hingegen, daß sich die schwerreichen Damen, die nach Filderstadt kommen, eher über Präsente wie Schokolade und Modezeitschriften Tennisprofi Agassi, Betreuer: Ein Landeplatz für den Lear-Jet ist Bedingung freuen. Damit die Spielerinnen, denen als Siegprämie ein Porsche winkt, den Kopf auch für die kleinen Dinge frei ha- ben, investiert Fischer allerdings in die Pflege der sensiblen Körper: Sauna, Massage, Kosmetikerin und Friseur ver- wöhnen die Erschöpften noch in der Sporthalle. Der Service muß bestechen – mit die- sem Motto stieg Stuttgart zu jener Handvoll Städte in der Welt auf, die sich gleich drei große Turniere im Terminka- lender der Stars sicherten. Die emsigen Schwaben hatten vor allen anderen das erste Gebot des Tennissports begriffen: Nur wer Luxus bietet, kann auch Stars begrüßen. Gerechter Lohn für ehrliche Arbeit – das ist nicht mehr gefragt, seit sich in den letzten zehn Jahren die Zahl der Männerturniere von 71 auf 87 und das Gesamtpreisgeld von 18 Millionen auf 58,6 Millionen Dollar gesteigert haben. Die Spieler fühlen sich längst den Pop-

EXLER stars ebenbürtig und wünschen entspre- chende Behandlung. Dabei pflegen sie

FOTOS: T. ein Brauchtum, das im Rock’n’Roll Tennisprofi Ivanisevic, Fans: Den Frust am Kaffeetisch ausgelassen schon fast wieder ausgestorben ist.

188 DER SPIEGEL 38/1994 In Frankfurt etwa zertrümmerte der Kroate Goran Ivanisevic nach einer Nie- derlage gegen den Elmshorner Michael Stich in seiner privaten Umkleidekabine den gläsernen Kaffeetisch. „Manche von uns haben vor nichts mehr Respekt“, sagt der Österreicher Thomas Muster. Daß das Anspruchsdenken verhee- rend wirkt, wenn der schmale Grat zur Dekadenz einmal überschritten ist, mö- gen die Profis noch nicht zugeben. Kon- frontiert mit den ersten Anzeichen der Krise, will Michael Stich noch keinen rechten Grund zur Sorge erkennen: Ihm mache „Tennis immer noch Spaß – und das ist die Hauptsache“. Doch die jungen Aufsteiger haben of- fenbar eine Regel des Profisports miß- achtet: Sobald Athleten dasGespürdafür verlieren, wann Luxus alswohlverdienter Lohn wahrer Heroen und wann als Prot- zerei neureicher Mimosen gilt, ist ihr Image nicht mehr zu retten. Sind die Hel- den erst zu Absahnern gestempelt, warnt Tiriac, sei ihre Disziplin „für den Fan rui- niert“. So erleben gerade in Rezessionszeiten Fußballer und Boxer, die als arrogante Schnösel vom Publikum lange verachtet worden waren, einen Boom: Arbeit und Schweiß kommen wieder in Mode. Ten- nisaber, dasinden Glanzzeiten von Boris Becker den Geruch des Snobismus nur scheinbar losgeworden war, ist nach dem „Im gemachten Bett strengt sich keiner an“ raschen Aufschwung schon wieder na- hezu out: Fernsehquoten und Zuschau- erzahlen sinken; bei Männern wie bei Frauen steigen die Sponsoren aus. Die gesamte Branche wurde von der Krise überrumpelt, denn schließlich hat- ten sie ihre Disziplin schon wegen der vielen Pausen für den idealen Sport des Werbe- und Fernsehzeitalters gehalten. Das Geld, ahnen die Manager langsam, hat die Moral untergraben: Luxus macht faul. „Im gemachten Bett“, glaubt der Düsseldorfer Veranstalter Horst Klo- sterkemper, „muß sich doch keiner mehr anstrengen.“ Doch zu Konsequenzen sind sie noch nicht bereit. Im Poker um die Verpflich- tung der besten zehn Spieler der Welt- rangliste übertreffen die Turnierveran- stalter einander. Bieten etwa die Orga- nisatoren der Internationalen Deut- schen Meisterschaften am Hamburger Rothenbaum ein Startgeld von 70 000 Dollar, offerieren die Gastgeber des ei- ne Woche später beginnenden Turniers von Rom beinahe gewohnheitsmäßig 100 000 Dollar. Raffkes wie Ivanisevic akzeptieren gierig beide Angebote, spielen das eine

DER SPIEGEL 38/1994 189 Werbeseite

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Turnier mit halber Kraft und unterliegen Shopping; selbst für käufliche Liebe früh. Beim zweiten mühen sie sich dann, zahlt schon mal der Veranstalter. Der Punkte für die Rangliste zu sammeln. wahre Weltstar reist im Lear-Jet, ordert „Die Spieler“, weiß Klosterkemper, für seinen Betreuer-Clan die zweitbeste „lachen sich kaputt.“ Suite und für sich die beste – nach der Tatsächlich scheinen die Stars dem ur- Rechnung fragt einer wie Agassi nicht. sprünglichen Wettkampfdenken des Folgen haben nur wenige zu fürchten. Sports schon weit entrückt. Selbst der Erst als der Schwede Björn Borg in gewöhnlich strebsame Weltranglistener- München für 80 000 Dollar Antrittsgeld ste Pete Sampras ließ sich für 300 000 eine 1:6, 0:6-Niederlage zu bieten hatte, Dollar Gage, Gold und Diamanten nach zogen andere Veranstalter ähnliche An- Katar locken – wo er in der Auftaktrun- gebote zurück. de ohne Gegenwehr gegen den harmlo- In der Regel aber jagen die Organisa- sen Marokkaner Karim Alami unterlag toren immer noch wie hysterisch hinter und wieder verschwinden konnte. den wenigen Publikumsmagneten her. Seit das einstige Prinzip, Prämien erst Weissenhof-Gastgeber Nusch, der bei nach erbrachter Leistung zu zahlen, au- seinem letzten Turnier selbst Michael ßer Kraft gesetzt ist, sieht Klosterkem- Stichs Bobtail Tessa eine Akkreditie- per im Tennis zunehmend eine „Mogel- rung besorgte und dann von einer gan- packung“. Der Dauerbetrug am Zu- zen Serie gleichgültig hingenommener

schauer, fürchtet der Turnierorganisa- L. BAADER Niederlagen geschockt wurde, wollte im tor, „führt zum Selbstmord der Bran- Tennisprofi Sampras ersten Ärger seinen „Möchtegern-Stars“ che“. Eine Niederlage für 300 000 Dollar alle „Extras streichen“. Inzwischen Als sich die Organisatoren des neuen lockt er die Profis bereits wieder mit be- Turniers im westfälischen Halle um Altmeister wie der ehemalige US- währten Mitteln für sein nächstes Tur- Agassi bemühten, wurde ihnen aus Las Open-Sieger Fred Stolle beschwören nier. Vegas der Wunschzettel des US-Open- längst die gute alte Zeit, in der noch mit Ihre Spendierlaune, behaupten die Siegers gefaxt: 500 000 Dollar Antritts- Leidenschaft um jedes Preisgeld ge- Manager gern, könne für die Tenniskri- geld, Leibwächter, eine Landemöglich- kämpft worden sei. Die neue Bequem- se nicht verantwortlich gemacht werden. keit für den Privatjet, Pizzaservice rund lichkeit hat der Australier in der eigenen um die Uhr, ein Leih-Ferrari, körpergro- Familie ausgemacht. Sein Sohn Sandon, ße Spiegel in der Kabine, ein privater meint Stolle, spiele „nicht herausra- „Das führt Trainingsplatz. gend“ und komme dennoch auf 150 000 zum Selbstmord Die unbedarften Ostwestfalen taten Dollar im Jahr: „Mehr will er gar nicht.“ wie befohlen. Agassi kam, verlor sein er- Diese Einstellung, glaubt der australi- der Branche“ stes Match und entschwand. Freiwillige sche Trainer Bob Brett, gelte für nahezu Niederlagen, behauptet dann der Vize- den gesamten Profikader: „Nicht jeder Schon Ende der siebziger Jahre seien präsident der Spielervereinigung ATP, arbeitet, wenn er nicht muß.“ Spieler wie John McEnroe oder Yan- Peter Alfano, gebe es nicht.Tennis sei Die Profis müssen nie. Bei allen Män- nick Noah mit Gemälden oder Renn- kein Spielfilm: „Wir haben kein Skript, ner-Turnieren wird sämtlichen Teilneh- pferden beschenkt worden; ihr Kollege deshalb gewinnen auch Außenseiter.“ mern Kost und Logis bezahlt; private Roscoe Tanner erhielt eine Beteiligung Agassi ist da weniger naiv. Tennispro- Stewards schützen vor aufdringlichen an einer Ölquelle. fis, gibt er zu, lernen nur noch eines: Fans und gehen Big Macs kaufen; Doch was damals zur Mystifizierung „Nehmen, nehmen, nehmen.“ Chauffeure bringen die Gattinnen zum der Exzentriker beitrug und einen Ten- niskult auslöste, kommt heute anders an. Denn die meist jugendlichen Akteu- re der Moderne sind ähnlich gefürchtet wie der exaltierte Nachwuchs aus neu- reichem Hause. Er sei stets nervös, sagt John Beddington, Turnierdirektor der Canadian Open von Montreal, „wenn ich einen Spieler um einen Gefallen bit- te: Ich habe Angst, er köpft mich“. In einem Telefon-Rundruf ermahnte die ATP ihre Profis, sie seien „zu weit weg von Zuschauern, Medien und Spon- soren“. Die „großartigen Athleten“ soll- ten auch Basisarbeit leisten: „Auto- grammstunden, Showtraining und so“. Die Wirkung blieb aus. Zwar hat der Amerikaner Jim Courier mittlerweile erkannt, „daß wir total verdorben sind“. Als aber Fernseh-Altstar Bud Collins ihn bei einem Turnier in Indianapolis bat, über Lautsprecher einen Satz an das Publikum zu richten, sprach Courier nur ein Wort: „No.“ Y

M. BRANDT / BONGARTS * Der Schwede Magnus Larsson bei der Players- Tombola für Tennisprofis*: Luxus macht faul Night in Hamburg.

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Handball Das Kind in Mister Hyde Nationaltorhüter Andreas Thiel kann’s nicht lassen: Trotz Platten und Schrauben im Bein spielt er weiter.

r spricht nicht gern über „diese Sa- che“. Aber dann schiebt Andreas EThiel doch zwei Bierdeckel und sei- ne Schachtel Marlboro auf dem Knei- pentisch zu einem seltsam verwinkelten Gebilde zusammen: „So sah mein Bein aus.“ Ein prüfender Blick, dann legt er

noch sein Feuerzeug dazu – „und da J. SCHMITZ stand irgendwie so’n Knochen raus“. Torwart Thiel: „Schiß vor dem Karriereende“ Das Knacken war bis in die obersten Reihen melt er böse „keine Ah- sicherung, Streitwert 1000 Mark“ sein der Essener Gruga-Hal- nung“ in seinen Drei- einziger Fall – Christian Fitzek ist ein le zu hören, als Thiel am Tage-Bart. „Grummel Mannschaftskamerad. 13. Februar mit dem Griesgram“ haben sie Den Zuschauern kann es nur recht Essener Spieler Frank ihn deshalb in seinem sein: Im 16. Jahr nach dem Gewinn der Arens zusammenprall- früheren Verein, dem Weltmeisterschaft 1978 ist der deutsche te. Einigen Zuschauern VfL Gummersbach, ge- Handball weiter denn je von den alten wurde bei dem Anblick nannt. Die aufgesetzte glorreichen Zeiten entfernt. Die Natio- übel, den Kollegen zit- Schroffheit schafft Thiel nalmannschaft hat eine verkorkste Eu- terten die Knie – doch eine Distanz, die er im- ropameisterschaft hinter sich; die Bun- den Mann, dessen linker mer dann sucht, wenn desliga ist als unkreative Klopperliga Unterschenkel gerade in Fragen oder Fragesteller verschrien, in der die wenigen ausländi- etliche Splitter und zu lästig werden. Daß er schen Stars den raren Nachwuchs or- Trümmer zerbrochen deshalb als schwierig, dentlich klein halten. war, quälte nur eine Fra- schwer zugänglich und Thiel an seinem Arbeitsplatz, das ist ge: „Wann kann ich wie- eigenbrötlerisch gilt, so, als sei ein Mister Hyde aus ihm aus- der spielen?“ stört ihn nicht. gebrochen. Dann wirkt er nicht mehr Daß er es mit besesse- Thiel-Bruch im Röntgenbild* „Vielleicht habe ich ruhig, manchmal fast autistisch – son- ner Trainerarbeit pünkt- „Ich war mal dran“ bisher tatsächlich ein dern aggressiv wie ein Boxer. Die ab- lich zum Start der Bun- bißchen Schiß vor dem wartende Defensive, mit der viele seiner desliga am vergangenen Wochenende Karriereende gehabt“, sagt er dann und Kollegen ihr Geschäft verrichten, ist geschafft hat, fügt sich nahtlos in die Le- weiß gleichzeitig genau, daß er mit sei- nicht seine Sache. genden um den weltbesten Handballtor- nem Comeback den Absprung ins Le- Thiel spielt im Tor wie ein Angreifer, wart. Andreas Thiel gilt als härtester ben wieder einmal verpassen wird. er wirft sich in die Bälle, in den Gegner Hund in diesem Sport – und damit als Er beteuert, sich „in diesem Herbst und alles, was ihm sonst noch in die einziger echter deutscher Star, seitdem mehr um meinen Beruf“ zu kümmern, Quere kommt – das macht seine Quali- der Gummersbacher Jo Deckarm in ei- und redet nur zwei Minuten später doch tät aus und schuf seinen Ruf, ehrgeizig, ner ungarischen Betonhalle 1979 das wieder ausschließlich über die Weltmei- wild und hart zu sein. Das kopfschüt- Bewußtsein und fast sein Leben verlor. sterschaft in Island 1995. Daß er die mit- telnde Unverständnis, mit dem viele sei- Doch Thiel, 34, spielt weder den Hel- machen will, ist für Thiel selbstverständ- ne Art zu spielen als Masochismus ab- den, noch ist er verrückt – jedenfalls lich. Und wenn dabei die Olympia-Qua- tun, kann Thiel nicht verstehen: „Wer nicht über jenes Maß hinaus, das einer lifikation für 1996 herausspringt, hat er mit der Härte der Bälle aufgewachsen braucht, der sich 20 Jahre lang Lederku- wieder ein Jahr geschafft. ist, für den ist das normal.“ geln mit über 140 Stundenkilometern Das Schild „Andreas Thiel – Rechts- Den Zusammenprall in Essen, als um die Ohren und nicht selten an den anwalt“, das er nach seinem zweiten Arens wie in der Branche üblich mit ho- Schädel werfen läßt. Staatsexamen im vergangenen Jahr an hem Tempo auf ihn zugeflogen kam, Der Torhüter von Bayer Dormagen seine Kölner Wohnungstür geschraubt wertet er als überfälligen Betriebsunfall: ist vollausgebildeter Jurist, hat eine an- hat, dient jedenfalls mehr der Selbstbe- „Ich war mal dran, bis dahin war mir ja sehnliche Karriere hinter sich und hätte ruhigung denn der Werbung: Bis heute nichts passiert“, sagt Thiel. Wenn er da- mithin tausend gute Gründe gehabt, ist der „Fall Fitzek gegen Gothaer Ver- bei seine fünf kurzfristigen Bewußtlosig- nach seiner Verletzung aufzuhören. keiten, die Gehirnerschütterungen und Aber auf die Frage, warum sich einer * Links: vor der Operation; rechts: mit Stahlman- ausgerenkten Finger, einige Knieverlet- wie er all das noch einmal antut, mur- schette. zungen und unzählige Hämatome ver-

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SPORT

gißt, ist das weniger eitles Understate- Dafür ist er beim Deutschen Hand- keit, mit schiefen Schultern und schlaff ment als perfekte Verdrängung. ball-Bund schon zum Vizepräsidenten herunterhängenden Armen schlurft der Doch daß sie ihn den „Hexer“ nen- aufgestiegen. Handball, schrieb einmal 1,93 Meter große Mann bei den Auf- nen, daß er es auf über 200 Länderspiele die Süddeutsche Zeitung, sei „seine WG, wärmeinheiten durch die Halle, als seien gebracht hat, darauf ist er schon stolz. da zieht er nicht aus“. Tatsächlich hat es ihm inseiner Karriere sämtliche Knochen Dabei ziert er sich aber immer noch wie sich Thiel im Mikrokosmos Sport so ge- gebrochen worden. Gymnastik ist dem jener schmale, schüchterne Bursche, der mütlich gemacht, daß er nichts mehr nicht gerade athletisch gebauten Hand- 1979 aus der Pfalz zum großen VfL missen möchte: „Die Reisen, die Jungs, baller ein Greuel, Laufübungen kom- Gummersbach und kurz danach dank den Flachs und das Bierchen hinterher.“ mentiert er mit einem Gesicht, als habe der Protektion eines Vlado Stenzel in Als er nach dem Beinbruch wieder man ihn zutiefst beleidigt. die Nationalmannschaft kam – und stellt das Training begann, erst auf Krücken, Doch beider kleinsten Gelegenheit, im dann wie selbstverständlich fest: „Wer dann mit Gewichtswesten im Schwimm- Tor zu stehen, ist Thiel wie verwandelt. gut ist, beißt sich durch.“ bad, da krachte es ein ums andere Mal Als gelte es, sich endgültig beweisen zu Des Geldes wegen ist er vor drei Jah- zwischen ihm und seinen Physiothera- müssen, nutzt er jedes Wurftraining sei- ren zum, wie er es nennt, „Betriebs- peuten, wenn deren Zeitplan der Gene- ner Mitspieler, um Wettkämpfe zuveran- Sportklub Bayer“ gewechselt. Aber sei- sung nicht mit seinem übereinstimmte. stalten – und zu gewinnen. ne Hoffnung, beim Chemiekonzern ei- Noch immer schmerzt jeder Ball, der an Wenn einer der jungen Spunde in einer nen Job als Jurist zu bekommen, hat das genagelte und mit einer Spezialman- Trainingspause „He! Opa, laß mich mal Thiel schon fast aufgegeben. Bisher ha- schette geschützte Bein prallt. einen Siebenmeter werfen“ ruft, steht be er wohl nicht gerade riesiges Interes- Der Grund für die Quälerei – und Thiel da, als ginge es um die Weltmeister- se dafür gezeigt, zudem „hat Bayer es Thiel quält sich, auch wenn er es nie zu- schaft. Er braucht das einfach: das Spiel, auch nicht mehr so dicke. Neulich haben geben würde – ist ein anderer, und nur den Kick und den Erfolg. So simpel kann sie uns sogar das kostenlose Essen in der wer ihn trainieren sieht, kommt dahin- das sein, wenn 34Jahre alte Männer nicht Werkskantine gestrichen“. ter: Mit an Faulheit grenzender Lässig- erwachsen werden wollen. Y

Schach tig und systematisch gefördert wer- den. Dafür sorgt der riesige Stunden- plan nach dem Polgar-Prinzip, der „Papa, spiel mit uns!“ die Wohnung und das Leben der Ga- ras beherrscht: ein bißchen Schule, Ein Ungar züchtet seine Töchter zu Profis heran viel Sport und noch mehr Schach, bis zu sechs Stunden am Tag, überwacht von Vater, Mutter, Psychologen und ädchen mit neun Jahren wis- Weltrangliste, gilt ehrgeizigen un- Schachlehrern. Zur Belohnung gibt sen genau, was sie später garischen Eltern als kopierens- es abends eine Folge „Dallas“. Mwerden wollen: Tierärztin wertes Vorbild. Ticia und Anita sol- Schlägt Imre Gara zur Abwechslung oder Game-Show-Moderatorin oder len Polgars Theorie belegen, der mal einen Ausflug vor, fordern die so wie Claudia Schiffer. zufolge in jedem Kind ein Genie Töchter Training: „Papa, spiel mit Ticia Gara, 9, und ihre Schwester schlummere – es muß nur rechtzei- uns!“ Anita, 11, haben andere Pläne: Sie Die Wunderkindmaschi- wollen möglichst bald Schachwelt- ne funktioniert: Bei der meisterin werden. diesjährigen Jugend-Euro- Seit drei Jahren büffeln die unga- pameisterschaft zog Ticia rischen Schwestern dafür und kön- auf den dritten Rang, nen, behauptet der Vater, gar nicht die beiden Schwestern oft genug am Brett sitzen. werden mit 2025 Elo- Es mache seinen Töchtern eben Punkten bereits in der „very big Freude“, sagt Imre Gara Weltrangliste geführt. und lächelt aus tiefliegenden Augen. Schon jetzt gehören sie zu Der Kardiologe findet es „unglaub- den besten Zehntausend lich“, mit welcher Energie die unter weltweit 500 Millio- Schwestern ihren Lebensfahrplan er- nen Schachspielern. füllten: „Sie genießen es, Ältere fer- Im Vertrauen hat Pol- tigzumachen.“ gar bereits zugegeben, daß Das Programm für den Aufstieg sich die Gara-Sisters noch vom Laufstall bis auf den Thron des vielversprechender entwik- Champions hat sich Doktor Gara keln als einst die eigenen von Laszlo Polgar geborgt. Der Bu- Töchter. Und Vater Gara dapester Psychologe traktiert seine ist sicher, daß er seine Töchter Judit, 18, Zsofia, 19, und Töchter auf Kurs halten Zsuzsa, 25, seit ihrem vierten Le- kann: „Zur Not muß man

bensjahr mit Schachaufgaben. H. SCHUMACHER / DER SPIEGEL eben seinen psychologi- Judit, mit 2637 Elo-Punkten als Eltern Gara, Töchter Anita, Ticia schen Einfluß geltend ma- beste Frau auf Platz 18 der PCA- Zur Belohnung eine Folge „Dallas“ chen.“

196 DER SPIEGEL 38/1994 Werbeseite

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KULTUR SZENE

ten an Buchhändler und Kri- Theater der Stürmer“) zu Wort kommen. Sein Kum- tiker auf den Weg geben zu mer: Er traut sich nicht, seinen Ministerprä- können. Auf der Frankfurter sidenten „Bayernnazi“ zu nennen, weil er Buchmesse im Oktober wird Kroetz in Amoklaune die Kosten einer Beleidigungsklage fürch- sich der Verlag allerdings Der Herbst wird heiß auf deutschen Büh- tet. „Ich bin nicht grade besonders flüssig.“ noch nicht mit einem eigenen nen, zum Personal aktueller Stücke gehören Stand präsentieren. Conradi: gern Neonazis, die Brandsätze zur Türken- „Wär’ auch komisch, ohne hatz schwingen. Auch Franz Xaver Kroetz, Bücher.“ 48, ist mit dem rechten Stück zur rechten Stunde da und rennt mit Gesinnungspathos Kulturgeschichte weit offene Türen ein. „Ich bin das Volk“ heißt seine Revue „volkstümlicher Szenen Hexen-Schuß aus dem neuen Deutschland“, die in Wup- pertal am Wochenende zur Uraufführung ins Herz kommt. Sein Thema ist Ausländerhaß, und Und ewig hext das Weib: Mit aus prallvollen Zettelkästen zitiert er Kräutern und Extrakten, ma- Spruchblasenträger vom minderjährigen gischen Tränken und Zau- Dumpfkopf über den deutschen Blauhelm bersprüchen umgarnt die im Wüstensand bis zum unsterblichen Ernst Liebeshungrige den Mann. Jünger, wobei er dem Stammtisch-Rassis- Was aber tut er gegen den mus in Polizei, Justiz und Politik den breite- Hexen-Schuß ins Herz? Hi- sten Raum gibt. Sich selbst porträtiert storische Rezeptbüchlein Kroetz mit grimmiger Ironie als einen Au- wissen Rat: „In deinen rech- tor, der auf jene „alldeutschen Dichterwich- ten Schuh“ leg „Dreck oder

ser“ (Strauß, Walser, Enzensberger) BOELLING / ACTION PRESS Koth“ von der penetranten schimpft, die im SPIEGEL („schlimmer als Dramatiker Kroetz Buhle, „welche dir etwas an- gethan oder deine Mannheit genommen hat“. Solche Film von Mafia und FBI gejagt Verlage Tricks und Erkenntnisse ver- wird, bietet kompakten sammelt – in mehr als 500 hi- „Klient“ mit Action-Stoff, und Regisseur Mit Erfolg storischen Zeugnissen – die Joel Schumacher nimmt alle große Ausstellung „Hexen Staranwältin Hürden der Unglaubwürdig- abgeworben und Hexenverfolgung im John-Grisham-Thriller erfül- keit mit Eleganz. Den klei- Das erste Programm steht: deutschen Südwesten“, die len ihren Zweck, indem sie nen Streuner spielt mit fre- Mit 22 Titeln wird der neu das Badische Landesmuseum sich ein halbes Jahr an der chem Charme Brad Renfro, gegründete Berlin Verlag im im Karlsruher Schloß zeigt Spitze der US-Bestsellerli- und aus seinem im Roman kommenden Frühjahr an den (bis 11. Dezember; zweibän- sten halten. Die zwangsläufig großmütterlichen Schutzen- Start gehen. Eindrucksvoll diger Katalog 68 Mark). Im folgenden Grisham-Verfil- gel macht der Film eine an- die Liste jener interna- mungen haben das Ziel, an griffslustige Mittvierzigerin, tionalen Autoren, die den US-Kinokassen jeweils wie sie so bombig weit und der Verleger Arnulf 100 Millionen Dollar einzu- breit niemand als Susan Sa- Conradi, 50, dem spielen. „Der Klient“ ist auf randon spielen kann: Indem Frankfurter Verlags- dem besten Weg dorthin, sie sogar dem unvermeidli- haus S. Fischer, seinem und diese Woche kommt er chen Paragraphen-Hickhack früheren Arbeitgeber, auch in deutsche Kinos. Die eine gewisse erotische Span- abspenstig machen Geschichte des kleinen Jun- nung gibt, reißt sie im Grun- konnte: Sie reicht von gen, der als Geheimnisträger de den ganzen Film heraus. der Kanadierin Marga- ret Atwood über den Russen Viktor Jerofe- jew bis zur Britin Jea- nette Winterson – von der Südafrikanerin Na- dine Gordimer ist ein Roman („Niemand, der mit mir geht“), vom

Amerikaner Richard BADISCHES LANDESMUSEUM Ford eine Novelle Hexen-Darstellung im Mittelalter („Eifersüchtig“) zu er- warten. Auch Sachbuchauto- Kampf gegen die „Teufelshu- ren wie Gerd Ruge und Ri- ren“ beließen es die verhex- chard Sennett sind vom Haus ten Herren allerdings nicht Fischer zum Berlin Verlag bei harmlosen Gegenmittel- gewechselt. In der Greifswal- chen. Mehr als 30 000 Frauen der Straße arbeitet eine klei- wurden in Europa zwischen ne Mannschaft derzeit emsig dem späten 15. und dem 18.

WARNER BROS. daran, die ersten Vorausex- Jahrhundert als Hexen hinge- Schumacher-Film „Der Klient“ emplare noch vor Weihnach- richtet.

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KULTUR

Architektur SONNEN-POP IM NEBELLAND Der US-Architekt Frank Gehry, bislang bloß Lieblingskind der Intellektuellen, erobert die Herzen des bauenden Establishments: Manager und Museumsdirektionen wollen sich Markenzeichen von ihm errichten las- sen. In Düsseldorf hat sich Gehry sogar mit einem Entwurf gegen die Avantgardistin Zaha Hadid durchgesetzt. R. BRYANT / VITRA Gehry-Bau in Birsfelden (bei Basel)*: „Skulptur mit funktionierendem Wasserklosett“

as große Erdbeben in Los Angeles vom Januar dieses Jahres sorgte so- Dgarnochaufder BerlinerMuseums- insel für Verwirrung. Dort ging gerade der Jahrhundert-Bauwettbewerb zur Neugestaltung der weltweit einzigartigen Sammlungen antiker Monumente sei- nem Ende entgegen, als ein Hilferuf aus Kalifornien eintraf: Der Wettbewerbs- teilnehmer Frank Gehry, 65, bat darum, sein Museumsmodell etwas später einrei- chen zu dürfen, weil sein Atelier in Santa Monica verwüstet worden war. Statt Mitgefühl erntete Gehry in Berli- ner Architektenkreisen nur Gelächter. Seine Entwürfe, so ging der Spott, sähen auch ohne Erdbeben so aus, als seien sie

vom Tisch gerutscht und notdürftig wie- COMMERELL der zusammengeklebt worden. Gehry-Modell für die Berliner Museumsinsel: Baukörper, die Bewegungsfreiheit und Weil eigentlich niemand dem Außen- seiter Chancen für den Umbau des deut- ry, das einen strengen, unauffälligen Museen, und Dietrich Wildung, Leiter schen Louvre in Berlin einräumte, ge- Bauriegel des Italieners Giorgio Grassi des Ägyptischen Museums, haben jetzt währte die Jury Fristverlängerung. zum Siegerentwurf kürte. eine umfangreiche Liste mit Änderungs- Sie hätte es wohl nicht getan, wenn sie Daß ein Vertreter der kalifornischen wünschen an den Sieger geschickt. Sie sich der Konsequenzen bewußt gewesen Pop-Moderne bei Museumsleuten An- fordern, den Eingangsbereich, die We- wäre. Denn plötzlich meldeten sich die klang findet, deren architektonische geführung und die Neuordnung der ar- Museumsdirektoren in der Jury zu Wort. Vorlieben sonst weit ins alte Mesopota- chäologischen Bestände so stark an Hartnäckig schoben sie Gehrys Vor- mien zurückreichen, war für Gehry Gehrys publikumswirksame Vorschläge schlag ganz in die vordere Reihe. Nur schon ein unerwarteter Achtungserfolg. anzugleichen, daß vom ersten Preis, wie knapp unterlagen sie dem Votum der Ju- Doch damit sind die Konservatoren der Ägyptologe Wildung hofft, „nichts noch längst nicht zufrieden: Wolf-Dieter mehr übrigbleibt“, ja, daß der Kalifor- * Vitra-Firmenzentrale. Dube, Generaldirektor der Staatlichen nier doch noch zum Zuge kommt.

200 DER SPIEGEL 38/1994 . ROSE / LIAISON / GAMMA / STUDIO X F. GEHRY Architekt Gehry*, Gehry-Projekt in Prag: Tanzen mit „Ginger und Fred“

In Prag sorgt gerade ein holländi- Der Düsseldorfer Investor und Werbe- scher Versicherungskonzern für den er- fachmann Thomas Rempen beteuert: sten postkommunistischen Bauskandal. „Wir haben uns alle Mühe gegeben und An der Moldau, direkt neben dem zehn Millionen in die Vorplanung inve- Wohnhaus von Staatspräsident Va´clav stiert, aber der Entwurf von Zaha Havel, zieht er ein Büro- und Einkaufs- Hadid war einfach nicht zu halten.“ Erst zentrum von Gehry hoch, das wegen fiel der Hauptmieter, eine große Werbe- seines tanzenden Doppelturms im agentur, aus, dann kam die Rezession. Volksmund bereits nach dem Holly- Jetzt soll Gehry das auf 100 Millionen wood-Traumpaar „Ginger und Fred“ Mark veranschlagte KMR für 80 Millio- genannt wird. nen bauen. In Bad Oeynhausen errichtet das Die in London lebende Architektin Elektrizitätswerk Minden-Ravensberg Hadid ärgert sich über Gehry und den ein Kommunikations- und Technologie- wankelmütigen Bauherrn. „Man hat uns zentrum ganz im Stil der kalifornischen keine Chance zur Umplanung gegeben, Improvisationsarchitektur. In Birsfel- sondern unseren anspruchsvollen Ent- den bei Basel weihte kürzlich die Mö- wurf benutzt, um billig an das Grund- belfabrik Vitra mit ihrer neuen Firmen- stück heranzukommen.“ Körperwärme versprechen zentrale bereits ihr zweites Gehry-Ob- Der Bauherr hat bislang zwar nur eine jekt ein. Auch Bielefeld will seine Option auf das Gelände. Doch die sichert Nicht nur Museumsleute zeigen neu- Kunsthalle von Gehry erweitern lassen. ihm einen Kaufpreis von 15 Millionen erdings eine auffällige Vorliebe für die Und in Düsseldorf ist ein ganzes Ha- Mark zu – etwa ein Drittel unter Markt- Bauspektakel von Frank Gehry. Im fengebiet für das wilde Architekturro- wert. Den Rabatt rechtfertigt der Düssel- Frankfurter Stadtviertel Goldstein be- deo freigeräumt worden. dorfer Stadtplanungschef Kurt Schmidt: ginnt die Wohnungsgesellschaft Nas- Dort hat Gehry jetzt sogar eine pro- „Das Projekt soll als Stadtreparatur die sauische Heimstätte, die sonst weder minente Kollegin, Zaha Hadid, 44, aus- Altstadt wieder an den Rhein anbinden.“ Geld noch Sinn für Experimente hat, im gestochen. In viereinhalb Jahren hatte Aber im ehemaligen Hafengebiet, wo nächsten Jahr mit dem Bau von 160 die Irakerin den Entwurf des Düssel- trotz Bürgerprotesten bereits ein ehrwür- buntgewürfelten Sozialwohnungen aus dorfer „Kunst- und Medienzentrum diger Kaispeicher abgerissen wurde, sind dem Atelier des Amerikaners. Rheinhafen“ (KMR) bereits fertigge- weder Baukräne noch Geld in Sicht. Ob stellt, als ihr der Auftrag plötzlich ent- das KMR trotz der Investorennöte noch * Vor seinem Haus in Los Angeles. rissen und Gehry erteilt wurde. zu retten ist, hängt davon ab, wie schnell

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KULTUR

Gehry sein grobgestricktes Modell bau- Der in Toronto geborene Sohn ar- reif und billiger macht. Das muß bis Jah- mer jüdisch-polnischer Immigranten Theater resende geschehen, weil dann die Kauf- begann seine Laufbahn wie sein Vater option ausläuft. als Möbelbauer. Während seines Ar- Der Streit zwischen Gehry und Hadid chitekturstudiums lernte er japanische ist in dem sonst so solidarischen Kampf- Leichtbau-Ideen kennen. Seinen ersten Ein Fest bund des internationalen Architektur- Entwurf unter eigenem Namen reali- Jet-sets ein Novum. Seit einer gemeinsa- sierte er freilich erst 1978 mit fast 50 men Ausstellung 1988 im New Yorker Jahren. Es war sein Wohnhaus in Los der Folter Museum of Modern Art gelten Gehry, Angeles, das er mit Billigmaterialien Hadid, der Pole Daniel Libeskind und wie Wellblech, Maschendraht und Die Gewaltwelle schwappt vom andere Entwerfer als „Dekonstruktivi- Sperrholz zu einer avantgardistischen Kino aufs Theater über: sten“, die sich dem Vorstoß in neue ar- Bruchbude aufmöbelte. Gehrys wach- chitektonische Dimensionen verschwo- sender Ruhm, der 1989 mit dem Pritz- Gundi Ellerts neues Stück „Jagd- ren haben. Jetzt kämpfen zwei der Pro- ker-Preis gekrönt wurde, zeigte, daß zeit“ in München. minentesten von ihnen erstmals unter- die kulturelle Dominanz der Ostküste einander um Auftrag und Geld. auch in der Architektur zu Ende ging. Der Streit am Rhein zeigt, was Gehry Erst recht setzt sich Gehry vom n die Nieren oder in den Bauch treten bei Nutzern und Bauherren so beliebt Dünkel der europäischen Baumeister geht bei Frauen nicht, besser ins Ge- macht: Seine Architektur ist preiswert, ab, die ihre Formen direkt aus dem Isicht.“DereleganteBavaria-Stuntman originell und immer bedingungslos an Ideenhimmel der reinen Geometrie macht es vor, die Schauspielerin krümmt den Wünschen der Kunden orientiert. oder den Nachschlagewerken der Bau- sich am Boden. Ihr Genick kracht, das Der Berliner Ägyptologe Wildung hat geschichte beziehen. Die Postmoderne Geräusch besorgt ein Kollege mit flachen bei Gehrys Entwürfen dasselbe Gefühl und ihre Stilzitate sind ihm verhaßt. Schlägen auf die Stuhlkante. wie bei einem idealen Kleidungsstück: „Die Vergangenheit zu „Es paßt wie angegossen.“ Die Elektri- kopieren“, sagt er, zitätswerker in Bad Oeynhausen, die „wäre so, als erzählte Wohnungsbauer in Frankfurt und der ich meinen Kindern, Vitra-Chef in Basel finden auffallend daß es keine Zukunft ähnliche Lobesworte: Gehrys Architek- mehr gibt.“ tur sei „wunderbar“, „unprätentiös“, Die nur auf dem Pa- „stimulierend“, „wandlungsfähig“. Und pier erlebbaren Ab- vor allem glauben sie, daß jeder Bau straktionen von rech- vom Architekten neu erfunden werde. ten Winkeln und Spie- Das aber ist weder möglich noch wün- gelsymmetrien setzt er schenswert. Der Originalitätsnimbus erst gar nicht in Bau- der konsequenten architektonischen werke um. Seine Auf- Regelverletzung schwindet bei näherer traggeber betört er mit Betrachtung von Gehrys Bauplätzen. einer Art architektoni- Sein typischer Stil überzieht mittlerweile scher Seelenkunde. Er halb Europa: von Bilbao, wo er derzeit lockt aus ihnen in lan- eine Dependance des Guggenheim-Mu- gen Gesprächen ver- seums baut, über das jüngst eröffnete borgene Wünsche her- Amerikanische Kulturzentrum in Paris aus und schneidert ih- bis zum Versicherungsturm in Prag. nen Baukörper auf den Seine Entwürfe zeigen zumeist eine Leib, die gleicherma- völlige Verwirbelung von Grundriß und ßen Bewegungsfrei-

Aufriß; die Pläne lassen nie erkennen, heit, Individualität und W. RABANUS ob man das Gebäude von oben, von der Körperwärme verspre- Ellert-Stück „Jagdzeit“: Trostlose Räuberbande Seite oder im Querschnitt sieht. Diesen chen. Spuk von Simultanperspektiven und Daß gerade nüchterne und strenge Daß die Tritte ins Gesicht sitzen, da- Raumdurchdringungen hatten bereits Leute wie Altertumswissenschaftler, mit steht und fällt die Uraufführung von die Kubisten seit Braque und Picasso ins Versicherungsmanager oder Unterneh- Gundi Ellerts Stück „Jagdzeit“ am Werk gesetzt, aber erst Architekten wie mer begeistert sind, zeigt nur, wie sehr Münchner Residenztheater. Ein Stück Gehry haben ihn begehbar gemacht. sie die Marmor-, Messing- und Mode- zur Zeit: ein Schauspiel über und mit Gehry trennt nicht zwischen Baukon- pracht heutiger Kultur- und Kommerz- Gewalt. struktion und visueller Verpackung, architektur satt haben. Gehrys Häuser Der dynamische Jungregisseur Mat- sondern knetet seine Baukörper wie strahlen selbst in den nordeuropäischen thias Hartmann, 31, trägt eine schwere Teigwaren durch. Auf kleinster Fläche Nebelländern einen Hauch von kalifor- Verantwortung. Seine Inszenierung – erschafft er labyrinthische Räume, die nischer Sonne und Happiness aus. Premiere war am Freitag vergangener den Abwechslungsreichtum eines gan- Wer meint, daß soviel naiver Froh- Woche – „bildet den Auftakt einer Aus- zen Stadtteils entfalten. sinn weder auf die sumpfige Berliner einandersetzung des Bayerischen Staats- Zur Inspiration arbeitet der Self- Museumsinsel noch ins regnerische Prag schauspiels mit Themen zur deutschen made-Architekt mit Künstlern wie Ro- paßt, sollte auf den Schweizer Kunsthi- Geschichte und Gegenwart . . .“ So ver- bert Rauschenberg, Jasper Johns, Claes storiker Kurt Forster hören. Der formu- kündet das Theater mit Stolz. Oldenburg und Richard Serra zusam- lierte das schönste Lob für Gehrys Lange genug hat man den Bühnen men: „Der einzige Unterschied zwi- schwerelos fließende Interieurs: „Wäre vorgeworfen, sie reagierten nicht auf die schen mir und einem Bildhauer ist, daß der Mensch in seinem Raum so zu Hau- Geschehnisse im Land, nicht auf Alltag ich in meine Skulpturen auch ein funk- se wie der Fisch im Wasser, er wohnte in und Aktualität. Jetzt schlägt das „Resi“ tionierendes Wasserklosett einbaue.“ einem Haus von Gehry.“ Y zurück: „Das Theater“, so meinen die

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KULTUR

bei wird gesoffen, bis das Hemd von Erbrochenem starrt und der Kopf in der Pfütze hängt. Nach den Vätern kotzen die Söhne und Töchter. Aus dem Schwank wird nun bitterer Ernst: Die jungen Leute sitzen im Bunker und hängen an den Lippen eines ideologisch verquasten Ei- ferers. Die „Kreuzritter der neuen Zeit“ möchten sie sein. Wenn ihr Füh- rer ihnen seine Aufmerksamkeit ent- zieht, brechen sie winselnd zusammen. Lauter Häufchen Elend. Sie führen sei- ne Befehle stets brav aus, zerscherben Farbfernseher und foltern ein Mäd- chen, das sich nicht wehrt. Allein, weil es sich nicht wehrt. Fast zwei Stunden lang wird diese Folter zelebriert. Es steckt viel Mühe darin, die Blutströme aussehen zu las- sen wie im wirklichen Leben. Viel Kino

NEUMAYR / ACTION PRESS und wenig Theater. Autorin Ellert „Momente von Rast“ wünscht sich Gegenwart als Steinzeit Gundi Ellert, 43, zwischen den Gewalt- ausbrüchen. Doch bei Hartmann geht Dramaturgen, „soll wieder als Ort der alles Schlag auf Schlag. Er wollte sich lebendigen Auseinandersetzung gegen nicht reinreden lassen, deshalb hat er das Verdrängen des Unbequemen wirk- die Autorin von den Proben ferngehal- sam werden.“ ten. „Ich bringe das zum Erfolg“, hat Deshalb „Jagdzeit“, ein Stück, das die er ihr versprochen. Gegenwart als Steinzeit entlarven möch- Vier Familiendramen hat die gelern- te, Deutschland als Kriegsschauplatz al- te Schauspielerin Ellert bisher geschrie- ler Altersklassen. Es liefert von allem ben – „Josephs Töchter“, ein Stück Schlimmen, das in deutschen Köpfen über das Sterben, wird Mitte Oktober spukt – oder das in sie hineingedacht im Malersaal des Hamburger Schau- werden kann –, ein bißchen, gerecht spielhauses uraufgeführt. Dort ist sie verteilt auf die Generationen. zur Zeit auch engagiert. Jossi Wieler Die Alten sind bigott und selbstmitlei- wird inszenieren; sie fände es schön, dig. Ihre geistige Heimat ist der Farb- wenn „man in diesem Stück auch la- fernseher, ihr größter Feind der „Neger- chen“ könnte. schwanz“, ihre Partei sind die Republi- Davon nämlich kann in der „Jagd- kaner. zeit“ keine Rede sein. Hier gibt es nur Die Jungen sind noch schlimmer: ag- eines: den Wunsch, endlich erlöst zu gressive Nervenbündel, feige und bru- werden von den Folterknechten auf der tal. Sie könnten einem leid tun, aber ih- Bühne. Daß die monotone Aneinanderrei- hung von Gewalt schwer zu ertragen Dem Publikum ist, wissen die Münchner Theaterma- bleibt nur eins: die cher. Sie haben diesmal das Abonnen- tenpublikum von der Premiere ver- Waffen strecken schont, eingeladen waren dafür Jugend- liche. Die können mehr verkraften. re Not läßt in München den Zuschauer Gewalt, das sei eigentlich nicht seine kalt. Sache, sagt Matthias Hartmann, der Die trostlose Räuberbande säuft und Regisseur. Der selbstbewußte Aufstei- lamentiert, prügelt und quält. Was hier ger zeigt eher eine Schwäche für die geschieht, erweckt den Eindruck, als ha- deutsche Klassik, bewiesen hat er das be das unermüdlich positive Kinder- mit so perfekten Inszenierungen wie theater der achtziger Jahre nun alle der „Emilia Galotti“ in Hannover und Hoffnung fahrenlassen. Diese Kinder dem „Käthchen von Heilbronn“ am sind Monster. Sie führen Krieg gegen Hamburger Schauspielhaus. sich und den Rest der Welt. Dem Publi- Die Bühne ist Hartmann heilig, gern kum bleibt nur eins: die Waffen zu hielte er sie frei von Springerstiefeln. strecken. Daß sich Gewalt mit ihrer Darstellung Der Ursprung der Gewalt ist die Fa- bekämpfen lasse, glaubt er ohnehin milie. Nachts, im Wald, begeben sich nicht. Bei Ellerts „Jagdzeit“ liefert er die Väter auf Menschenjagd. Bewaffnet allenfalls professionelle Routine. Und mit Gewehren und Literflaschen Hartmann weiß das auch: „Eine Urauf- Schnaps, in der Hoffnung, einen Aus- führung hat dem Stück zu dienen, nicht länder vor die Flinte zu bekommen. Da- dem Regisseur.“ Y Werbeseite

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KULTUR

Rock’n’Roll-Exzesse ist, daß Sänger Mi- Und diese Freunde von Freunden müs- Pop chael Stipe seinem Bassisten Mike Mills senesdannauchsein,diebeider nächsten vor Jahren eine leere Plastikflasche hin- R.E.M.-Welttournee (deren Deutsch- terhergeworfen hat. Oder umgekehrt. landtermine imMärz 1995 angesetzt sind) Gitarrist Peter Buck ist gerade Vater zu Zehntausenden in Sportarenen Ordentlich von Zwillingen geworden und leidet herumhängen und millionenmal ih- höchstens mal unter Pizza-Entzug; Mi- re Platten kaufen: R.E.M. sind die Pau- chael Stipe, dem Chef-Murmler der la Abdul der politisch korrekten Rock- verwackelt Gruppe, wird von verzweifelten Skandal- musik, wie Newsweek treffsicher be- reportern Aids angedichtet, weil er etwas merkt. Die US-Rockband R.E.M. festigt hager im Gesicht ist. Und die etwas weni- Oder in Peter Bucks Worten: „Ich ha- mit ihrem neuen Album „Monster“ ger unseriösen Zeitungen veröffentlich- be das Gefühl, daß wir eine Main- ten in der Vergangenheit schon mal das streamband sind.“ Und den entscheiden- ihren Ruf – als künstlerisch korrek- Gutachten eines Hellsehers, die Band den TrefferinseigeneTor landet er, wenn te Monstergruppe der Neunziger. werde sich im Lauf der Jahre einmal auf- er R.E.M.s Musik beschreibt als „die ak- lösen. zeptable Seite von etwas Unakzeptierba- Der Grauwert der Bandmitglieder er- rem“, nämlich Böser-Buben-Musik, vul- ie größte Rock’n’Roll-Band der klärt das Grauen der Journalisten, wenn go Rock. Welt von einst ist auf Tour: Die ein Interview mit der Gruppe ansteht. Der soll nach den eher introspektiven DRolling Stones bereisen derzeit Gepflegtes Namedropping: Man höre Klängen von „Automatic for the People“ Amerika. Die größte Rock’n’Roll-Band Arvo Pärt, John Cage, Harry Partch, auch auf „Monster“ wieder losgehen. der Welt von heute aber veröffentlicht King Oliver, Clifton Chenier, Big Star. Aber eine Kritik der neuen CD ließe sich am Freitag dieser Woche ihr neuntes Al- Danach wird ein wenig Trunkenheit auch aus Versatzstücken alter Bespre- bum: R.E.M. lassen ihr „Monster“ los. schamvoll eingestanden, einpaar Drogen chungen basteln: „schlecht produziert“ Die Platte ist Nachfol- (New Musical Express ger solcher Millionensel- über „Reconstruction of ler wie „Out of Time“ the Fables“), „Gitarrist und „Automatic for the Peter Buck erfindet Gi- People“, sicherer An- tarrenklänge der späten wärter aufvorderste Hit- sechziger Jahre neu“ paradenplazierungen, (New York Times über ganzer Stolz einer Gene- „Out of Time“), „ir- ration potenter CD- gendwie verwackelt, Käufer, die den Schweiß weil es cooler wirkt“ der rockenden Gründer- (Newsweek über „Tour- väter mit der eklekti- film“), „und ein klein schen Weltsicht der wenig wird experimen- Kompostmoderne kom- tiert“ (Rolling Stone biniert hören wollen. über „Out of Time“). Wem Bruce Spring- Man kann auch sagen: steen zu treudoof ist und Mangels ganz großer U2 zu missionarisch-ver- Einfälle wird der Fundus schnarcht sind, der fin- von Bands wie Crazy det bei R.E.M. – das Horse, Sonic Youth und Kürzel steht für „Rapid Bob Moulds Hüsker Dü Eye Movement“, jene geplündert, auf gepfleg- Augenbewegungen, die tes Mid-Tempo gebracht die intensivste Traum- und in einer Art Lovin’- phase im menschlichen Spoonful-Sound der Schlafzyklus kennzeich- neunziger Jahre abge- nen – die ideale Mi- brötzt. schung von vorgeblicher Und das ist ganz okay Integrität und musikali- so. Sänger Michael Stipe scher Innovation: garan- ist schließlich kein jun-

tiert durchdacht, garan- S. DOUBLE / RETNA / PHOTO SELECTION ger Barrikadenstürmer, tiert von Herzen, garan- Rockband R.E.M.: „Die akzeptable Seite von etwas Unakzeptierbarem“ sondern ein Mittdreißi- tiert politisch korrekt. ger mit Hang zur Melan- Die New York Times hat recht, wenn in den späten siebziger Jahren, Kinder- cholie; ein scheuer Mann, der, statt der sie das Quartett aus Athens, Georgia, sünden, Midlife-crisis, uninteressant. Selbstzerstörung zu huldigen, sogar als die „Führer der weißen, studenti- So brachten auch die Musikjournali- Wahlkampf für Bill Clinton machte. schen Gitarrenfraktion in Zeiten des sten, die nach Los Angeles reisten, um Der musikalische Inhalt ist ab einer Post-Punk“ apostrophiert, eben „die be- Neues von und über die Neuerscheinung gewissen Band-Größenordnung ohne- ste Band der Welt“ (Sunday Times). „Monster“ zu erfahren, vom Magazin Q hin Nebensache: Hier gleichen sich Verglichen mit den dreifaltigen Emi- bis Spex nur schlaffe Journalistenprosa Rolling Stones und R.E.M. wieder. Wo nenzen von den Rolling Stones mit ihrer über Flughafenhallen und Imbißbuden die einen ihren Zynismus zum Stilprin- Historie von Ausschweifungen, Drogen- mit nach Hause. Und dieErkenntnis, daß zip erheben, daddeln die andern mit ein- delikten und Orgien, geben die erfolg- man selbst die Band eigentlich nicht wirk- gebildeter Redlichkeit und Integrität reichen Südstaatler unter Rock’n’Roll- lich liebe, daß man aber von Bekannten durch ihre CD. Doch für größte Rock’n’ Gesichtspunkten wenig her: R.E.M.s von Freunden gehört habe, die ständen Roll-Bands der Welt gilt: Aufzuhalten verwegenster Eintrag ins Buch der da unheimlich drauf. sind sie nicht. Y

208 DER SPIEGEL 38/1994 Werbeseite

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KULTUR

Autoren Von Brecht vollbracht? SPIEGEL-Redakteur Hellmuth Karasek über das denkmalschänderische B.-B.-Buch von John Fuegi

ausdrücklich bekennt, daß seine „Don Juan“-Entdeckung die Triebkraft zu sei- nem Enthüllungsbuch über Brecht dar- stellte*. Wer Brecht auch nur einigermaßen richtig buchstabieren kann, reibt sich über Fuegis Buch verwundert die Au- gen, greift in sein Bücherregal, zieht Band neun der kommentierten Berliner und Frankfurter Ausgabe „Stücke“ her- aus und liest auf Seite 199 die Titelan- kündigung: „Don Juan von Molie`re (in der Bearbeitung des Berliner Ensem- bles)“. Zur Erläuterung: Brecht war da- mals, 1954, Hausregisseur und heimli- cher Hausherr des berühmten Theaters am Schiffbauerdamm, Helene Weigel, seine Frau, war die offizielle Prinzipalin, Elisabeth Hauptmann war als dramatur- gische Mitarbeiterin angestellt und be- schäftigt (obwohl oder weil sie 25 Jahre zuvor mit Brecht zusammen geschlafen und geschrieben hatte). Und Benno Besson war Schüler, Mitarbeiter und

LUCHTERHAND Regisseur des Berliner Ensembles (BE). Brecht, Gefährtin Berlau (1938): Gemeinsam schreiben und schlafen In der zweibändigen, halb offiziö- sen (zumindest von den Brecht-Erben) er damals junge angehende Brech- schied zu Brecht, sehr gut Französisch tolerierten Biographie Brechts, „Das tologe, der Brite John Fuegi, be- konnte, also Zugang zu Molie`re in der Leben des Bertolt Brecht“ des DDR- Dsuchte 1965 erstmals Ost-Berlin, Originalsprache hatte. Besson suchte Wissenschaftlers Werner Mittenzwei vier Jahre nach Errichtung der Mauer der literarische Detektiv als nächsten von 1986, kann man sehr schön nachle- und neun Jahre nach Brechts Tod. Dort heim, und der war da offener. Klar, er sen, wie damals die Arbeit unter Schü- machte er nach und nach eine grausige hatte einen Schweizer Paß. Und so er- lern verteilt wurde: Peter Palitzsch küm- und, wie er fand, höchst brisante, ja für zählte er frank und frei, ja, er und Elisa- merte sich um Programme und Plakate, ihn im damaligen totalitären Ost-Berlin beth Hauptmann hätten die „Don Ju- Egon Monk um den „Urfaust“ und eben lebensgefährliche Entdeckung: an“-Bearbeitung geschrieben. Besson um den „Don Juan“. Alles ge- Er fand heraus, daß Brechts Bearbei- Parbleu! Ein ungeheuerlicher Fall ei- wiß eigenständig, alles gewiß kollegial tung des Molie`reschen „Don Juan“ von nes literarischen Diebstahls, eine Leiche und kollektiv diskutierend, alles unter Benno Besson, einem „Schweizer Re- im Keller des Berliner Ensembles! Fue- der beratenden Oberaufsicht des BE- gisseur“, und Elisabeth Hauptmann, ei- gi sah einen Zacken aus der Krone des Gurus Brecht. ner „früheren Geliebten“, stamme. Die- größten (zumindest er- Auch die Anmer- se Erkenntnis, die dem Forscher allmäh- folgreichsten) Drama- kungen der offiziö- lich dämmerte, während er Manuskripte tikers unseres Jahr- sen Suhrkamp-Ausga- im Brecht-Archiv durchforstete, schien hunderts brechen. Die be machen aus dem ihm im Stasi-Staat DDR, der doch von Brecht bekannte „Don Juan“ kein Ge- Brecht zur „sozialistischen Ikone“ erho- „Laxheit in Fragen gei- heimnis: „Als dem Re- ben hatte, gefährlich kühn. stigen Eigentums“ hin gisseur und Schauspie- Heimlich lief der junge Scholar am 21. oder her – dies schien ler Benno Besson 1951 Oktober 1966 zur Wohnung der 69jähri- Fuegi ein ungeheuer- angeboten wird, eine gen Elisabeth Hauptmann, die ihm aus- licher Vorfall. Und Gastinszenierung am weichende Antworten gab. Weil sie, wie so schrieb der inzwi- Volkstheater Rostock Fuegi suggeriert, trotz hohen Alters im-

schen zum amerikani- PRESS zu übernehmen, be- mer noch aktive Kommunistin war und schen Literaturprofes- schließt er, ,Don Juan‘ der Partei auch in dieser Frage die Stan- sor avancierte Brite, er (1665) von Molie`re für ge hielt? Sie gab zu, daß sie, im Unter- lehrt in Maryland, ein die Bühne neu zu bear- Buch, das er soeben in beiten. Wann genau

den USA veröffent- M.STEINFELDT / GROVE mit den Arbeiten am * John Fuegi: „Brecht & Company. Sex, Politics, and the Making of the Modern Drama“. Grove lichte, „Brecht & Brecht-Biograph Fuegi Text begonnen wird, Press, New York; 704 Seiten; 35 Dollar. Company“, in dem er Offene Geheimnisse enthüllt konnte nicht ermittelt

210 DER SPIEGEL 38/1994 . AKG Brecht-Freundin Hauptmann 80 Prozent der „Dreigroschenoper“?

werden. Elisabeth Hauptmann ist von Beginn an dem Projekt beteiligt. Brecht greift erst unmittelbar vor der Uraufführung (25. Mai 1952) in den Bearbeitungsprozeß ein.“ Punkt. Brecht konnte die Arbeit seinem Schü- ler auch weitgehend überlassen, weil man unter B.B.s Anleitung eine fast schematische Bearbeitungsmethode (Klassenstandpunkt, V-Effekt, Diener- Perspektive etc.) entwickelt hatte. Das einzige gräßliche Geheimnis, das Fuegi also mit dem „Don Juan“ aufdeckte, ist das seiner erschrecken- den Unkenntnis von Theaterpraxis, wo Stücke in Gemeinschaftsarbeit von Dramaturgen, Regisseuren, Assisten- ten, Schauspielern bearbeitet, über- setzt, bei Proben verändert und ange- paßt werden. Das einzig andere bei Brecht, einem im übrigen gesunden Egoisten, selbst- bewußten Theaterpascha, der Arbeit und Beischlaf offenbar auf das für ihn angenehmste zu verbinden wußte, in- dem er alle Mitarbeiterinnen zu Ge- liebten und alle Geliebten dann wieder zu Mitarbeiterinnen machte: Er war als Übervater des Ensembles nach außen für alles die schützende Autorität, er deckte die Arbeit seines Ensembles auch in jenen kritischen Jahren mit sei- nem überlebensgroßen Ruf und Na- men. Anders wurde das nach Brechts Tod, als der Ruhm des Stückeschrei- bers wuchs und wuchs und an die Er- ben, zuerst an seine Witwe Helene Weigel, dann an Brechts Kinder und Kindeskinder, die Tantiemen aus Auf- führungen und Buchveröffentlichungen in Millionenhöhe flossen. Die Mitar-

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beiter hatten zumeist gegen Gehalt gear- Vollends idiotisch wird es, wenn Fue- beitet, den Erben floß der Gewinn zu. gi dem Geheimnis auf die Spur kommt, Vielleicht erklärt sich dadurch ein we- Brecht und Hitler seien gleichzeitig in nig die Aufregung, die Fuegi mit seinem München gewesen, man denke, sogar in Buch hervorgerufen hat. Mit dem Eifer denselben Biergärten. Daß Brechts einer spießigen Political Correctness und Sohn im Rußland-Krieg als Soldat der der Lust des Schlüssellochvoyeurs an deutschen starb, taugt als schmutziger Wäsche (die längst zu Ar- Vorwurf gegen Brecht nicht. Es belegt chivstaub zerfallen ist) entrüstet er sich bestenfalls die traurigen Wirrnisse des über den erotischen Vielfraß Brecht, 20. Jahrhunderts. dessen zahllose Frauen mit ihm Bühne, Bett und Schreibmaschine teilten, nach Beziehungen mit ihm Selbstmordversu- che unternahmen, für ihn abtrieben, sich BESTSELLER für ihn aufopferten, von ihm verschlissen wurden. BELLETRISTIK Brecht und die Frauen, ach ja! Ach, was haben sie vorher alles mit- und Gaarder: Sofies Welt (2) durchgemacht: Carola Neher, Marielui- 1 Hanser; 39,80 Mark se Fleißer, Elisabeth „Bess“ Haupt- mann, Ruth Berlau, Käthe Reichel, Kä- Grisham: Der Klient the Rülicke, Margarete Steffin usw. usf. (1) 2 Hoffmann und Campe; Wer nennt den (Klaus) Völker, zählt die 44 Mark Namen! Brecht hat sie benutzt und sich nicht gewaschen, er hat sie betrogen und dabei 3 Pilcher: Das blaue Zimmer (4) nur kalt die Achsel gezuckt, er hat ihnen Wunderlich; 42 Mark die Gardinen mit Zigarrenrauch verstän- kert und ihre Vorwürfe mit weisen Ge- 4 Høeg: Fräulein Smillas (3) dichten oder schroffen Briefen beant- Gespür für Schnee wortet. Sie wurden über ihr Verhältnis zu Hanser; 45 Mark ihm zu Alkoholikerinnen, krank, schleu- derten seine Gipsmasken durchs Zim- 5 Crichton: Enthüllung (5) mer, bettelten und fluchten. Trotz aller Droemer; 44 Mark Trennungsversuche blieben sie in seiner Abhängigkeit, auch weil sie der unerbitt- George: Denn keiner (7) liche Egomaniak daraus nicht entließ. 6 ist ohne Schuld Das alles und noch mehr breitet Fuegi Blanvalet; 44 Mark aus, und sein Ton ist dabei falsch entrü- stet. So gut wie nichts daran ist neu, au- Mayle: Hotel Pastis (6) ßer ein paar besonders schmuddelige 7 Droemer; 39,80 Mark Wäschestückchen aus Sudelküchen der FBI- und der KGB-Archive. Grimes: Fremde Federn (8) Fuegis Brecht-Biographie wäre wie je- 8 Goldmann; 39,80 Mark de materialreiche Biographie über den Jahrhundert-Lyriker, epochemachen- Gordon: Der Schamane (9) den Theatermann und überschätzten 9 Droemer; 44 Mark Stückeschreiber (an dessen Lehrhaftig- keit, Parabelleere und kommunistischer Begley: Lügen in (15) Besserwisserei wir uns inzwischen ermü- 10 Zeiten des Krieges det haben) sehr lesenswert, weil auch Suhrkamp; 36 Mark hier das pralle, widersprüchliche, scham- lose Leben des armen B.B. durch alle Noll: Die Apothekerin (10) sprachlichen Ritzen und Vorurteile des 11 Diogenes; 36 Mark Biographen schimmert – wäre das Buch nur nicht von jener Gartenzwerg-Menta- Follett: Die Pfeiler lität getragen, die es offenbar auch in an- 12 der Macht gelsächsischer Variante gibt. Lübbe; 46 Mark Was also soll es, wenn Fuegi, um Brecht zu schmähen, herausfindet, zu Mollin: Laras Tochter (12) Brechts „Galilei“-Premiere in Beverly 13 C. Bertelsmann; 49,80 Mark Hills seien Luxus-Limousinen vorgefah- ren – hätte Brecht ihnen die Reifen zer- Brown: Ruhe in Fetzen stechen sollen? Oder: Charles Laughton, 14 Rowohlt; 34 Mark der dicke und bekanntlich schwule große Schauspieler, habe a) einem Geliebten Garcı´a Ma´rquez: Von der Liebe eine kleine Rolle zugeschanzt und b) 15 und anderen Dämonen während der Proben mit Brecht ab und Kiepenheuer & Witsch; 38 Mark zu üppig diniert. Big deal, Herr Profes- sor!

214 DER SPIEGEL 38/1994 Und warum sollte Brecht seinen Sechstel der Einnahmen selbst einge- Freunden Ihering und Bronnen nicht spielt, der „Rest war von Ulbricht“. vergeben, daß sie, um zu überleben, mit Von Theatersubventionen hat der Pro- den Nazis kollaborierten? Niemand als fessor aus Maryland noch nichts gehört. der strikte Antifaschist Brecht hatte ein Daß die DDR das BE als ihr Renom- größeres Recht dazu. miertheater zu fünf Sechsteln aushielt, Aber wie gesagt, Fuegi hat nicht nur ist sicher nicht ihre dümmste und ver- eine miefige Mentalität, er weiß auch werflichste Tat: Immerhin war das nichts vom Theater. So vermerkt er an- Theater am Schiffbauerdamm in den klägerisch, Brecht habe am BE nur ein fünfziger Jahren das Mekka des Welt- theaters, das Zentrum der stilistischen und schauspielerischen Erneuerungen. Dort arbeitete auch Elisabeth Haupt- mann und fuhr beispielsweise mit Brecht nach Mailand, um sich Strehlers SACHBÜCHER „Dreigroschenoper“ anzusehen – einen Triumph des Nachkriegstheaters und N. E. Thing Enterprises: (2) der Brecht-Adaption. Und sie hat im 1 Das magische Auge II Zuschauerraum nicht etwa über das ihr Ars Edition; 29,80 Mark zugefügte Unrecht aufgeschrien, son- dern sich mit Brecht über diesen inter- 2 N. E. Thing Enterprises: (1) nationalen Durchbruch gefreut. Das magische Auge Die „Dreigroschenoper“ sei zu 80 Ars Edition; 29,80 Mark Prozent ihr Werk, posaunt Fuegi in die N. E. Thing Enterprises: Welt und kommt sich vor wie ein großer 3 Das magische Auge III Chefankläger der Kultur, der Rächer Ars Edition; 29,80 Mark der Enterbten und Entrechteten. Auch im Falle der „Dreigroschen- 4 Ogger: Das Kartell (3) oper“ wissen das von Fuegi Verkündete der Kassierer schon alle Biographen von Klaus Völker Droemer; 38 Mark bis Werner Mittenzwei. Carnegie: Sorge dich (4) Wiederum verzeichnet die „Große 5 nicht, lebe! kommentierte Berliner und Frankfurter Scherz; 44 Mark Ausgabe“ die Fakten auf das trefflich- ste. Als Mitarbeiter werden Elisabeth 6 Ogger: Nieten in (5) Hauptmann und (der Komponist) Kurt Nadelstreifen Weill genannt. Elisabeth Hauptmann, Droemer; 38 Mark die im Unterschied zu Brecht Englisch 21st Century Publishing: (6) konnte, so erfahren wir von dem Bio- 7 3D – Die Dritte Dimension graphen, habe das Werk, die „Beggar’s Ars Edition; 19,80 Mark Opera“, die damals wiederentdeckt worden war, empfohlen und übersetzt. 8 Fest: Staatsstreich (8) Dann hat es Brecht, als der Schiffbauer- Siedler; 44 Mark damm-Direktor Ernst Josef Aufricht Hartwig: Scientology – (7) das Junggenie nach einem Werk für sei- 9 Ich klage an ne Eröffnungspremiere fragte, empfoh- Pattloch; 34 Mark len. Mit Weill hat er nächte- und tage- lang in Südfrankreich die Songs, das 10 Phantastische Bilder (12) Herz des Werks, geschrieben und not- Südwest; 14,90 Mark falls geklaut – von Ammers Villon- Wickert: Der Ehrliche (9) Übersetzung. 11 ist der Dumme Brecht war während des Schreibens, Hoffmann und Campe; 38 Mark des Probens, des Ausdenkens der Motor und Magnet, ohne dessen rücksichtslose 12 Wickert: Und Gott (10) Energie es nicht zur Aufführung gekom- schuf Paris men wäre. Zwischendurch fand er noch Hoffmann und Campe; 42 Mark Zeit, mit einigen Schauspielerinnen Kelder: Die Fünf „Tibeter“ (11) (Carola Neher und Helene Weigel, die 13 Integral; 19 Mark ursprünglich die Puffmutter spielen sollte, aber krank wurde) und einigen 14 Schmidt: Das Jahr (14) Autorinnen (der Hauptmann und der Entscheidung Marieluise Fleißer) zu arbeiten und zu Rowohlt Berlin; 34 Mark schlafen. Paungger/Poppe: Vom (13) Und dann kommt uns ein Professor 15 richtigen Zeitpunkt und rechnet uns anklägerisch dies und Hugendubel; 29,80 Mark das vor. Selbst wer zur Zeit, was Brechts Texte anlangt, ein wenig Brecht-müde Im Auftrag des SPIEGEL wöchentlich ermittelt vom ist, muß angesichts des Fuegi-Bandes sa- Fachmagazin Buchreport gen: Brecht hat zwar viel verdient, aber das hat er nicht verdient. Y

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KULTUR HUYLER FOTOS: S. P. Indische Teebäuerin bei der Hausdekoration: „Eine Botschaft, ein gemaltes Gebet“

sign folgt jahrhundertealten Traditionen jeden Morgen ein Muster aus frischen Volkskunst und ist im ganzen Land verbreitet; in je- Blüten, Blättern und Halmen, das sie dem „noch so entlegenen Gebiet“ In- schon am nächsten Tag wegfegen. Zum diens, berichtet Huyler, sei er kunstvoll Pongal-Fest werden sogar die Rinder in gestalteten Häusern begegnet. leuchtenden Farben bemalt. Dank an Dennoch haben die Dekorationen der Eine Auswahl seiner eindrucksvoll- Frauen „bislang kaum Beachtung gefun- sten Aufnahmen hat der Ethnologe in den“. Der Grund dafür liegt, wie Huyler die Göttin glaubt, in einem doppelten Vorurteil: Volkskunst werde für „kaum erwäh- „Action Painting“ in der indischen nenswert“ gehalten und erst recht nicht Provinz – ein amerikanischer solche aus Frauenhand. Ruhm streben die Amateur-Malerin- Ethnologe dokumentiert die Ma- nen allerdings gar nicht an. Sie verzich- lerei von Hindu-Frauen. ten darauf, ihre symbolhaltigen Malerei- en zu signieren, denn diese sind als Ge- bete gedacht, als intime Zwiesprache arum interessieren Sie sich für mit den Gottheiten. Meist wird die Hin- mein einfaches Haus?“ will eine du-Göttin Lakschmi angerufen, die das WFrau im indischen Bundesstaat Heim vor Unheil bewahren soll. „Erst Madhja Pradesch von dem Fremden bin ich ganz still, und in der Stille ent- wissen. Der Mann, ein durchreisender steht das Bild in meinem Herzen“, sagt Wissenschaftler, hatte die Wandmuster die Korbflechterin Kamala. „Es ist eine bewundert, die ihr Lehmhaus an der Botschaft, mein gemaltes Gebet.“ staubigen Dorfstraße schmücken. Tausende solcher Bildmeditationen Solche Fragen ist der amerikanische hat Huyler, der seit den siebziger Jahren Ethnologe Stephen Huyler, 42, ge- auf der Suche nach Volkskunst durch wohnt, auch das Staunen der Inderinnen den Subkontinent stromert, mit der Ka- darüber, daß überhaupt jemand ihre mera eingefangen – als Erinnerung an Alltagsmalerei auf Wänden, Terrassen die vergänglichen Ornamente, die nur und Vorplätzen als Kunst ernst nimmt. wenige Stunden, Tage oder Wochen Das farbenprächtige Architektur-De- überdauern. Mancherorts legen Frauen Rituelle Bemalungen: „Eine gute Zeichnung

218 DER SPIEGEL 38/1994 Farbig geschmückte Architektur in Indien: Jeden Tag ein neues Muster

einer Dokumentation zusammenge- derten das „Action Painting“, auf das Kunst der Bodendekoration, „Kolam“ stellt, die jetzt auf deutsch vorliegt*. sich die westliche Avantgarde viel zugu- genannt, denn angeblich gibt eine gute Die Fotos zeigen auch, mit welch te hält: Mit einer schwungvollen Bewe- Kolam-Künstlerin auch eine gute Ehe- kreativen Tricks die hinduistischen gung aus dem Handgelenk wird die Far- frau ab. Eine gelungene Zeichnung er- Frauen zu Werke gehen. Sie zweckent- be auf die Wand geschleudert. fordere „Talent, Planung und Geduld“, fremden Küchengeräte als Druckstem- Junge Mädchen trainieren in man- erklärt das Schulmädchen Padma, „alles pel und praktizieren schon seit Jahrhun- chen Gegenden besonders eifrig die wichtige Eigenschaften für eine Heirat“. Nur die Urbanisierung kann die Traditionen verdrängen. „Als ich noch in meinem Dorf lebte“, erinnert sich Rekha, die Frau eines Fabrikarbeiters, „wurde viel Zeit daraufverwen- det, die Wände herzurichten und für die verschiedenen An- lässe zu schmücken.“ Jetzt lebt Rekha in einem Wohnblock in Delhi. Die alten Riten befolgt sie nur noch, wenn sie ihr Heimatdorf be- sucht. Ihre Tochter kennt die Malerei schon nicht mehr. „Sie will sie nicht lernen“, sagt Rek- ha, „ich bin die letzte in der Fa- milie, die davon weiß.“ Y

* Stephen P. Huyler: „Die Bilder In- diens. Die Kunst der Frauen im Land der Götter“. Aus dem Englischen von Florian Wolfrum. Verlag Frederking & Thaler, München; 204 Seiten; 128 Mark (bis 31. Dezember 1994; da- erfordert Talent, Planung und Geduld, alles wichtige Eigenschaften für eine Heirat“ nach 148 Mark).

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KULTUR

Kino Den Faust im Nacken SPIEGEL-Autor Claudius Seidl über Dominik Grafs Thriller „Die Sieger“

s wurde schon hell, ein grauer, eine Erinnerung an jene Zeiten, da feuchter Morgen, als der Polizist die deutsche Filme ihr Publikum noch be- EGattin des Staatssekretärs zu ihrem schwingten und berauschten. Gegen das Zimmer brachte, doch in den Köpfen Vergessen kämpft Graf ohnehin und war es noch Nacht. Sie hatten getanzt, achtet dabei auf keine Gürtellinie. geredet und getrunken, und dabei hatte Er hat nicht viele Filme gedreht, seit- sie die Zeit vergessen und er den Wort- dem er 1979 für seinen Hochschul-Ab- laut der Dienstvorschrift. Sie standen vor schlußfilm einen Bayerischen Filmpreis der Zimmertür, und er wußte nicht, ob er bekam. Fünf Jahre ist es her, daß seine sie jetzt küssen durfte. entspannte Komödie „Tiger, Löwe, Sie bat ihn nicht um Erlaubnis, als sie Panther“ in deutschen Kinos lief. Sieben

den Reißverschluß seiner Hose öffnete Jahre alt ist sein präziser Thriller „Die ACTION PRESS und zwischen seine Beine griff. Und als Katze“. Und wenn er dazwischen viel Regisseur Graf er sich an der Wand festhalten mußte und fürs Fernsehen gearbeitet hat, für den Gefährlicher Restalkohol einen Seufzer nicht unterdrücken konn- „Fahnder“, „Morlock“ und den „Tat- te, da grinste sie nur. Warum sie das ge- ort“, liegt das nicht etwa daran, daß ihm Das stimmt vermutlich auch – und hat tan habe, fragte er, als sein Atem ruhiger die Ideen ausgegangen wären. Es ist nur doch wenig mit dem Preis des neuen ging. Sie antwortete: „Ich will, daß Sie leider eine aufwendigere Arbeit, das Films zu tun und kaum etwas mit seiner mich in guter Erinnerung behalten.“ Budget für einen deutschen Spielfilm politischen Brisanz. Denn erstens reich- So fängt, in dem deutschen Thriller zusammenzuschnorren, als das Werk te Grafs Budget in Hollywood noch „Die Sieger“, eine heftige Liebesge- dann zu drehen und zu schneiden. nicht einmal für die Gagen der Stars. schichte an – und wenngleich der Regis- Zwölf Millionen Mark hat Graf für Und zweitens taugte die Behauptung seur Dominik Graf stets behauptet, daß „Die Sieger“ ausgegeben: die teuerste des Drehbuchs, wonach die Spezialein- in seinen Filmen die Menschen, Dinge, deutsche Produktion seit dem „Geister- heiten der Polizei ihre eigenen Fehler Dialoge vor allem für sich selber stehen, haus“. Und als, ein paar Wochen nach vertuschen im Auftrag korrupter Politi- so verbirgt sich doch sein ganzes Konzept den Schüssen von Bad Kleinen, die ker, erst dann für einen Skandal, wenn in dieser kurzen Szene. Filmfirma bekanntgab, daß dieser Thril- der Film ein paar Namen nennen würde. Graf, 42, nimmt die deutsche Wirk- ler von einem Sondereinsatztrupp der Es hat schon eher mit dem Blick zu lichkeit zur Kenntnis und weiß, daß er Polizei erzähle und daß der Showdown tun, den Graf auf die deutschen Ver- hier keine amerikanischen Kinohelden im Hochgebirge spiele, auf den Gipfeln hältnisse wirft, diesem genauen und finden wird; keine hartgesottenen Cops, über Mittenwald, da reisten so viele Re- manchmal mitleidlosen Blick, der sich nur korrekte Beamte – und er holt trotz- porter zu den Dreharbeiten, als rage von Enge und Verzagtheit nicht ein- dem das Beste aus ihnen heraus. Graf Dominik Graf übers deutsche Mittel- schüchtern läßt; der die deutschen Sze- läßt, außerdem, eine gefährliche Menge maß so hoch hinaus wie der Karwendel nen nicht einfach abfilmt, sondern als Restalkohol in seinen Inszenierungen, über Bayerns Täler. Rohstoff für seine Fiktionen nimmt; und der es doch nicht nötig hat, seine Schau- plätze und Menschen mit geborgten My- then und geklauten Attitüden aufs inter- nationale Format zu bringen. Grafs Held, zum Beispiel, heißt Karl Simon (Herbert Knaup) und ist kein harter und kein besonders schöner Mann. Er liebt seine Frau, verwöhnt die Kinder – und will doch dieser kleinen Welt so oft wie möglich entkommen. Er hat bei der Polizei das Schießen und das Prügeln gelernt, doch es kostet ihn Mü- he, einem Gegner unerschrocken ins Gesicht zu schauen. Und wenn es ernst und gefährlich wird, fragt dieser Mann erst nach dem Sinn der Sache und ver- wandelt sich in einen Zauderer. Es ist allein die Kamera, die für Ac- tion sorgt in den grausamen und sehr bleihaltigen Sequenzen, und nur der Schnitt beschleunigt das Tempo. Der

FILM Held hingegen erschrickt vor den Schlä- gen, die er selber austeilt, und vor sei-

SENATOR nem Finger am Pistolenabzug scheint er „Sieger“-Bösewicht Jaenicke: Der Untote als V-Mann sich zu fürchten. Er hat nichts gemein

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mit seinen Filmkollegen aus den USA, weil er sich von seinen Gefühlen verwir- die sich – „action is character“ – in sol- ren läßt. Er liebt die Frau, das macht ihn chen Momenten erst ihrer eigenen Exi- manchmal blind. Er will den einstigen stenz vergewissern. Karl ähnelt schon Freund nicht töten, nur zur Rede stel- eher dem deutschesten aller Helden, len, weshalb er nie als erster schießt. wenn er die Dienstwaffe mit der Faust Und als er Schaefer endlich nahe genug umklammert. kommt, um ihm zuzuhören, da hat der Sein Mephisto heißt Heinz Schaefer Gegner eine Kugel im Bauch und nicht (Hannes Jaenicke) und war einmal mehr lang zu leben. Auch die Geisel ist Karls bester Freund und Kollege. Aber tot, und ein paar Kameraden sind auf dann hat er sein neugeborenes Baby er- der Strecke geblieben. schlagen, weil er dessen Behinderung Er ist ein trauriger und zerrissener nicht ertrug. Und der verweste Körper, Mann, dieser Held; seinen Kameraden den der Rhein wenig später ans Ufer geht es auch nicht besser. Sie haben sich schwemmte, wurde zweifelsfrei als zur Spezialeinheit gemeldet, weil sie an- Schaefers Leiche identifiziert. ders ihrem kleinen Leben nicht entrin- Doch Karl hat Schaefer erkannt, bei nen konnten, doch der Job bietet ihnen einem Einsatz, der danebenging; der nur Leere und viel Langeweile, und Mörder hat Frau und Freunde getäuscht Überstunden können tödlich enden. Sie und seine eigene Beerdigung überlebt. fürchten nichts so sehr wie die Rückkehr Er spukt als Unerlöster und Untoter in den normalen Dienst, doch da, wo sie sind, kommen sie auch nicht weiter. Sie nen- nen sich Sieger und ah- nen, daß sie Verlierer sind. Sie stecken in der Falle und können sich den Weg nicht einmal mit ihren Maschinenpi- stolen freischießen. Sie beneiden heimlich den ehemaligen Kollegen, der alles wagte, bevor er alles verlor. Das ist die Welt der Polizisten, wie Graf und sein Autor Günter Schütter sie zeigen; sie haben sich beim Schrei- ben und beim Drehen

FILM von zwei Profis beraten lassen, und diese Män-

SENATOR ner wollen wenig wis- Darsteller Knaup, Flint: Frauen sind was Wunderbares sen von den Wundern, die in amerikanischen durchs kriminelle Milieu. Er ist, wie einst Polizeifilmen immer dann geschehen, Mabuse oder Caligari, ein Doppelgänger wenn die Wirklichkeit die Helden zu seiner selbst – und zugleich des Helden verschlingen droht. Nur die Frauen sind böser Zwillingsbruder: Er tut all die ver- was Wunderbares bei Graf, und die lockenden und verbotenen Dinge, die blonde Katja Flint (als Gattin des Politi- Karl Simon sich immer versagt. kers) wandelt durch den Film, als käme Der Film erzählt davon, wie Karl ein sie aus einer anderen Welt: einer Welt, wenig schnüffelt und erfährt, daß Schae- die nur in den Träumen der Männer exi- fer als V-Mann arbeitet und den Geldbo- stiert. ten für käufliche Politiker spielt. Karls Das ist es, was Dominik Graf viel bes- Vorgesetzte aber leugnen, lügen und ver- ser kann als die meisten seiner deut- tuschen; nur der Staatssekretär Dessaul schen Kollegen: Er respektiert die Rea- (Thomas Schücke) scheint in der gleichen lität, er mag die Tatsachen nicht beschö- Sache zu recherchieren. Als das Leugnen nigen. Und doch sieht und inszeniert er nicht mehr hilft, wird Karl mitsamt seiner zugleich die Landschaften des Mythos ganzen Einheit vom Dienst suspendiert. und des Traums, weil er weiß, daß sei- Und Schaefer, in die Enge getrieben, ent- nen Helden etwas fehlte, wenn er nur führt den Staatssekretär und verlangt ein deren Wirklichkeit zeigte und nicht de- paar Millionen für seine Reise in ein ren Sehnsucht und Illusion. fernes, sicheres Land. Graf filmt zu realistisch, als daß er die Karl und seine Jungs verfolgen trotz- Bundesautobahn von Düsseldorf nach dem Dessauls Frau, die das Geld überge- München als Route 66, als Weg nach ben soll; auf der Autobahn nach Bayern, Westen, in die Freiheit, verkaufen woll- durch die Münchner Innenstadt und hin- te. Aber in seinen Bildern von der Fahrt auf in die Alpen. Und Karl macht Fehler, schwingt das Bewußtsein mit, daß diese

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Straße in den Süden führt, zu jenen hei- teren Ländern, die schon zu mythischen Film Zeiten das Fernweh der Deutschen zu lindern versprachen. Und wenn Graf sein Finale auf Al- pengipfeln spielen läßt, dann bewegen Essen und sich nicht nur die Schauspieler auf stei- lem und gefährlichem Terrain. Auch Graf kehrt dorthin zurück, wo der deut- Essen lassen sche Film in seiner frühen Zeit nach Pa- thos, Schönheit, Reinheit strebte – und Der „Hochzeitsbankett“-Macher es spricht für ihn, daß er dort oben kei- Ang Lee tischt unter dem nen hohen Ton anschlägt, sondern die Pistolen krachen und die Verletzten Titel „Eat Drink Man Woman“ brüllen läßt. Dann explodiert eine Bom- eine neue Köstlichkeit auf. be, und eine Seilbahn brennt. Und Graf, um die Kaputtheit seiner Men- schen zu bebildern, macht fast soviel ka- ng Lee ist der melancholische putt wie die Regisseure aus Hollywood: Glückspilz, wie er im Buche steht: Es ist nicht nur die Grenze nach Öster- AInsgeheim, so sagt er heute, hatte reich, welche die Männer dort oben er damit gerechnet, daß seine Komödie überschreiten. Es sind die selbstgesetz- „Das Hochzeitsbankett“, die vom Lie- ten Schranken des neuen deutschen Ki- besleben eines jungen Taiwaners in New nos. York handelt, in der prüden Heimat Es wird hell, wenn der Film zu Ende verboten würde. Doch als er 1993 in geht, ein schöner, kühler Morgen, und Berlin einen Goldenen Bären gewann, Karl Simon, der immer der Enge entflie- wurde Lee zu Hause mit einem Volks- hen wollte, hat endlich einen freien fest geehrt, sein Film brach dort alle Re- Blick. Er sieht weit entfernte Gipfel und korde und wurde, was das Kosten-Nut- darüber einen Himmel, der noch weiter zen-Verhältnis angeht, weltweit der lu- ist. Neben sich aber sieht er einen To- krativste des Jahres. ten, und er weiß, daß unten im Tal noch Zum Titel seines neuen Films hat Lee ein paar Leichen liegen. Dieser Berg ist vier elementare Schriftzeichen zusam- keine Lösung, nicht für ihn und auch mengefügt, die vielsinnig aufeinander nicht für den deutschen Film. Karl Si- ausstrahlen, wie das noch der Exportti- mon wird hinuntersteigen und sich sei- tel „Eat Drink Man Woman“ schmek- ner Schuld stellen, so wie Dominik Graf ken läßt. Es sei damit alles gesagt, was sich weiter den deutschen Verhältnissen zu sagen sei, meint Lee, 40, der ein stellen wird. Mensch von korrektester Liebenswür- Aber es verändert doch den Blick auf digkeit ist, und man dürfe ihn nicht auf die deutschen Niederungen, wenn der den Küchenspruch banalisieren, daß die Horizont etwas weiter reicht als bis zur Liebe durch den Magen geht. nächsten Wohnküche oder zum näch- Daß eine der Filmfiguren sich zum sten Polizeirevier. Wo Dominik Graf Christentum bekennt, hält Lee für einen ist, da ist ohnehin oben. Zumindest im schwärmerischen Spleen: Vielleicht ge- deutschen Kino. Y fällt der jungen Frau, deren Herz so leer BLITZ / STILLS / STUDIO X Lee-Film „Eat Drink Man Woman“: Liebe geht nicht durch den Magen

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KULTUR

ist, auch nur die Kirchenmusik. Der Chi- der in Taiwan spielt, und er betrachtet nese an sich, meint Lee, habe keine gro- mit dem teils nostalgischen, teils amü- ßen religiösen Bedürfnisse, auch imGang sierten Blick des Heimkehrers das leicht der Jahrtausende habe es ja nie eine der überständige Familientraditions-Getue, „Kirche“ in Europa vergleichbare Insti- das man in der sonst schon so hektisch tution gegeben. Man gilt als hinreichend verwestlichten Heimat pflegt: In seinem fromm, wenn man bei Gelegenheit auf Spott schwingt Liebe mit. dem Hausaltar einpaar Räucherstäbchen Heimat ist Kuddelmuddel. Strengge- entzündet, vor den Ahnen also, und sich nommen sei er ja ein Kind jener erst zu damit zur Institution Familie als Grund- Zeiten des Bürgerkriegs eingewander- ordnungsprinzip des Lebens bekennt. ten Festland-Chinesen und könne des- Vom Sieg dieses Prinzips durch Betrug halb zumindest bei inselpatriotischen handelte die Komödie „Das Hochzeits- Parteiungen nicht als lupenreiner Tai- bankett“: Die gute alte Lebenslüge er- waner durchgehen, betont Lee, und wies sich mal wieder als unentbehrlich. In überdies sei er schon seit langem ein der neuen Lee-Komödie, deren Hand- Bürger der USA. lungsmittelpunkt, ihr Allerheiligstes al- Offenbar hat er als Schulversager sol- so, der große runde Familieneßtisch ist, che Schande über die Ahnen gebracht, stehen die Dinge kaum besser. Auch das daß er sich zum Studium in die USA da- Essen, so heißt es da, sei eine Form der vonmachte und nur noch besuchsweise Kommunikation, doch man sieht sie (bis zurückkam. Heute lebt er mit seiner zum vorletzten Augen- blick) nur stocken. Der Held Chu ist Taipehs berühmte- ster Meisterkoch. Er herrscht über Kü- chenbrigaden und lu- xuriöse Speisesäle, er herrscht aber auch pri- vat als verwitweter Pa- triarch über drei heran- gewachsene Töchter. Und zu Hause putzt und spitzt und schnet- zelt und brutzelt er am Sonntag mit doppelter Leidenschaft, um an der Familientafel kuli-

narische Kommunika- K. B. KARWASZ tion zu feiern. Die Filmemacher Lee: Lob der Lebenslüge Töchter aber, oh Jam- mer, stochern nur kränkend lustlos mit Frau (einer Taiwanerin, die ihm in Illi- ihren Eßstäbchen zwischen den legendä- nois begegnet ist) und zwei Kindern ren Delikatessen herum. nördlich von New York im schmucken Und die Gründe? Erstens ist jede der White Plains, wo man sonst kaum je ei- drei Hübschen mit ihren Gedanken bei nen Chinesen trifft. einem Mann, der mit seinen Gedanken Identität, scheint es, ist für ihn eine so nicht gleichermaßen bei ihr ist. Zwei- schillernde Sache, daß man am besten tens schnurrt, zum Unmut der Töchter, ganz spielerisch damit umgeht. Zu Tai- neuerdings eine naschhafte Witwe arg wan bleibt er lieber auf Distanz. Denn aufdringlich um den Vater herum. erst aus dem Abstand entwickelt sich je- Und als drittes das Schlimmste: Vater ner stillvergnügte Witz im Detail, der Chu kann nicht mehr verhehlen, daß al- die delikate Melancholie seines Famili- tersbedingt seine hochsensiblen Ge- enfilms auch fernwestlichen Betrachtern schmackssinne schwinden. Die eine zum Genuß macht. oder andere Suppe versalzt er nun Daß ihm offenbar jeder Stoff, dem er schon, Gourmets in Taipeh gemahnt sich zuwendet, zur Komödie gerät, be- diese Künstlertragödie an den berühm- kennt Lee so nachdenklich, als müsse er ten europäischen Komponisten, der das sich dafür bei seinen Ahnen mit ein paar Gehör verlor. Essen und essen lassen: Räucherstäbchen entschuldigen. Von Chu muß dem seidenen Strick nahe vier Liebesaffären und einem Todesfall sein. handelt sein Kochkunst-Stück, und Lee Daß der Film dann doch sehr elegant hält zu Recht daran fest, daß zu jeder am Tod vorbei in ein Glücksfinale hin- Geschichte als Würze und Wahrheit ihre einschlittert, bewirkt die zärtlich-listige Lächerlichkeit gehöre. Und umgekehrt. Kunst des Geschichtenerzählers Lee, Auch die europäischen „Drei Schwe- der die Schicksale und Handlungssträn- stern“ sind ja nicht nur eine Komödie, ge verflicht. „Eat Drink Man Woman“ sondern ein ganzer Familienroman. ist sein dritter Kinofilm, doch der erste, Urs Jenny

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KULTUR

SPIEGEL-Gespräch „Jedes Foto ist ein Tod“ Der Fotograf Richard Avedon über Moral, Modebilder und die Unsterblichkeit

SPIEGEL: Mr. Avedon, wann haben Sie ausgesehen hat, in dem es stattfand, Avedon: Diese Leute wollen einen Ave- Ihr erstes Bild gemacht? kann ich Ihnen keine Antwort geben. don – nicht irgendein gewöhnliches Bild. Avedon: Eigentlich schon als ganz klei- Aber ich kann präzise jeden Knochen Wenn ich den Maler Francis Bacon gebe- nes Kind. Ich gewöhnte mir ein Augen- unter der Gesichtshaut meines Ge- ten hätte, mich zu porträtieren, hätte ich zucken an, eine Art Zwinkern, und mei- sprächspartners beschreiben. auch wie ein Bacon aussehen wollen. ne Eltern sagten immer: Dickie, laß das SPIEGEL: Sie fotografieren Menschen Und nicht wie ein Avedon. bleiben. Aber ich war dabei, Bilder zu mit einer äußerst genauen Großbildka- SPIEGEL: Hat der Fotografierte über- machen. Ich versuchte, die Welt anzu- mera, die jede Falte und Pore regi- haupt einen Einfluß darauf, wie er am halten. So wie andere Menschen das ab- striert, und das stets vor einem neutra- Ende auf Ihrem Porträt aussieht? solute Gehör haben, hatte ich von An- len weißen Hintergrund . . . Avedon: Sicher, sogar großen Einfluß. fang an einen absoluten Blick. Avedon: . . . ein weißer Hintergrund Sobald sich jemand bereit erklärt, für ein SPIEGEL: Eine Art fotografisches Auge? läßt ein Bild leer erscheinen. Er wirkt Porträt zu sitzen, schauspielert er. Auch Avedon: Ja. Ich habe gelesen, daß Tiere rein grafisch. Deshalb macht ein weißer jeder Laie. Jedes Porträt ist eine Perfor- die Augen haben, die sie zum Überle- Hintergrund es sehr schwierig, ein Bild mance, eine Show, in der Fotograf und ben brauchen. Ein Adler kann seine emotional aufzuladen. Wenn dem Foto- Fotografierter mitspielen, und beide Augen wie ein Zoom-Objektiv auf Beu- grafen dies aber gelingt, dann erlaubt bringen ihre eigenen Wunschvorstellun- tetiere einstellen. Auf vergleichbare Art die strenge, harte Bildform dem Porträ- gen mit, wie das Bild aussehen soll. hat sich auch mein Auge so entwickelt, tierten, sozusagen zum Symbol seiner SPIEGEL: Gelingt dieses Zusammenspiel daß ich heute ausschließlich wahrneh- selbst zu werden. immer? me, was mich interessiert. SPIEGEL: Meist wirkt das Ergebnis recht Avedon: Durchaus nicht. Längst nicht je- SPIEGEL: Und das wäre? gnadenlos. Warum setzen sich amerika- der Mensch taugt für ein Avedon-Por- Avedon: Menschen. Wenn Sie mich nach nische Intellektuelle, Künstler und Poli- trät. Zwischen mir und dem Abgebilde- einem Gespräch fragen, wie der Raum tiker trotzdem Ihrer Kamera aus? ten muß eine Beziehung entstehen. SPIEGEL: Was kann ein gutes Porträt zei- gen? Die Oberfläche? Oder auch die Seele des Porträtierten? Avedon: Die Oberfläche ist das einzige, womit ich arbeiten kann. Ich kann mich nur an den wahren Charakter eines Por- trätierten herantasten, indem ich die Äu- ßerlichkeiten – seine Gesten, seine Klei- dung, seinen Ausdruck – auf absolut tref- fende Art und Weise arrangiere. SPIEGEL: Gelangen Sie dadurch zur Wahrheit? Avedon: Eine Fotografie zeigt nie die Wahrheit. Sie müssen verstehen: Ein Porträt ist keine Abbildung. Es ist eine Meinung. Deshalb gibt es auch keine „falschen“ Bilder. Alle Fotografien sind richtig – aber eben nicht wahr. Ich kann nie alles, was ich über einen Menschen weiß, in einer Aufnahme zusammenfas- sen – ganz anders als ein Filmemacher oder Schriftsteller, der Zeit hat, jeman- den genau zu charakterisieren.

G. KREWITT / VISUM SPIEGEL: Dafür haben Sie den Vorteil, daß Ihre Bilder ganz unmittelbar auf den Richard Avedon Show-Business, Literatur und Politik Betrachter wirken – gerade weil die Po- einen Namen gemacht. Eine Avedon- sen Ihrer Figuren oft frappieren. Vor ist einer der berühmtesten Fotografen Retrospektive in der Kölner Josef-Hau- knapp 40 Jahren haben Sie die Welt da- der Welt. Seine Laufbahn begann er brich-Kunsthalle gibt derzeit den bis- mit geschockt, daß Sie Marilyn Monroe Mitte der vierziger Jahre mit revolu- lang umfassendsten Überblick seines auf der Höhe ihrer Popularität als verlo- tionären Modebildern für die Zeit- Werks (bis 30. Oktober). Avedon, 71, renes Hascherl porträtierten. schrift Harper’s Bazaar. Daneben hat wurde vor zwei Jahren zum bislang ein- Avedon: Aber Marilyns Stimmungen wa- sich der aus einer russisch-jüdischen zigen Fotografen des amerikanischen ren echt. Ich habe sehr häufig mit ihr ge- Familie stammende New Yorker vor al- Intellektuellen-Magazins The New lem als Porträtist der Prominenz aus Yorker berufen. Das Gespräch führte die SPIEGEL-Redakteurin Su- sanne Weingarten.

230 DER SPIEGEL 38/1994 arbeitet, und ich wußte, daß sie jedes- mal zwischendurch ihre Hochs, aber auch ihre Tiefs bekam. Es gab immer diese beiden Marilyns. Sie hatte auch ei- nen wunderbaren Sinn für Humor. In meinem Atelier stand damals ein Paß- bildautomat, und ich bat viele Promi- nente, sich hineinzusetzen und ein Foto zu machen. Marilyn zog sofort ihr Kleid aus und machte eine Reihe hinreißender Aktaufnahmen. Mit diesen Fotos hätte ich nie gerechnet. Eine ähnliche Überraschung erlebte ich mit Charlie Chaplin. Ich hatte lange ver- gebens versucht, ihn zu einer Porträtsit- zung zu bewegen. Eines Tages rief er mich an. Ich war sehr aufgeregt. Nach- dem ich meine Aufnahmen gemacht hatte, fragte er mich: Soll ich noch etwas für Sie tun? Ich stimmte natürlich zu. Margot McKendry und China Machado, Fotomodelle (1961) Da preßte Chaplin seine Zeigefinger wie Satanshörnchen an den Kopf und blick- te in die Kamera, erst mit einer wilden Grimasse, dann mit einem Grinsen. SPIEGEL: Hat er sich über Sie lustig ge- macht? Avedon: Nein. Was ich damals nicht wußte: Chaplin hatte sich in meinem Atelier versteckt. Die Kommunisten- hetzer von Senator McCarthy bedräng- ten ihn. Schon am nächsten Tag hat er Amerika für immer verlassen. Das Por- trät war Chaplins letzte Botschaft an die USA: „Seht her, was für ein Teufel ich bin.“ Für dieses Foto bin ich nicht ver- „Meine Bilder sind die Geschichte meines Lebens“

antwortlich. Es war ein Geschenk, wie Ronald Fischer, Imker (1981) Stephanie Seymour, Fotomodell (1992) man es nur einmal im Leben bekommt. SPIEGEL: Sie haben die große Bestands- aufnahme Ihres fotografischen Werks, die voriges Jahr herauskam, „An Auto- biography“ genannt*. Warum? Avedon: Ich habe meine Autobiographie mit den Gesichtern anderer Menschen geschrieben. Die Bilder in diesem Band sind die Geschichte meines Lebens. SPIEGEL: Das heißt doch: Sie selbst sind nichts – Sie sind alle anderen. Avedon: Die Fotos zeigen vor allem, wie ich die Welt sehe. Wenn ich Maler wäre, würden die Leute viel eher anerkennen, daß meine Bilder natürlich von demjeni- gen handeln, der sie gemalt hat. SPIEGEL: Wenn alle Bilder von Ihnen handeln, warum machen Sie dann über- haupt noch Selbstporträts? Avedon: Ich will die Veränderungen in meinem Gesicht festhalten. Es ist para- dox: Einerseits leugnen Fotos den Pro-

* Richard Avedon: „An Autobiography“. Schirmer/ Mosel Verlag, München; 432 Seiten; 198 Mark. Charlie Chaplin vor der Abreise aus Amerika (1952) In diesem Jahr ist erschienen: Richard Avedon: „Evidence 1944–1994“. Schirmer/Mosel Verlag, Avedon-Fotografien: „Ein Geschenk, wie man es nur einmal im Leben bekommt“ München; 184 Seiten; 98 Mark.

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Werbeseite zeß unseres Alterns, und andererseits liefern sie eine Chronik unseres Ver- falls. Indem man das Leben in einem Foto anhält, schafft man eine Art Tod, gleichzeitig aber auch Unsterblichkeit. SPIEGEL: Die Themen Verfall, Sterb- lichkeit und Tod tauchen immer wieder in Ihrem Werk auf. Sie haben viele alte Gesichter fotografiert, auch geisteskran- ke Menschen in Irrenanstalten und Ske- lette in Katakomben. Avedon: Ich fotografiere das, wovor ich Angst habe. SPIEGEL: Und die Fotografie bannt Ihre Angst? Avedon: Ja. Ich glaube daran, daß ich mich all dem, was mir angst macht, un- mittelbar stellen muß. Und das tue ich mit der Kamera. SPIEGEL: Also haben Sie die Modefoto- grafie, mit der Ihre Laufbahn begann, aus Angst vor den Frauen betrieben? Avedon: Damals war ich jung, und das hat sicher eine Rolle gespielt. Heute bin ich nicht mehr einzuschüchtern. Verste- hen Sie mich nicht falsch: Ich habe die Frauen immer geliebt, und ich brauche sie in meinem Leben. SPIEGEL: Das Vorbild Ihrer schmalen, brünetten Lieblingsmodelle aus den Vierzigern und Fünfzigern – Dovima, Audrey Hepburn – soll Ihre Schwester Louise gewesen sein, die mit 40 Jahren in einer Nervenklinik starb. Avedon: Das stimmt. Ich habe es aller- dings erst viel später bemerkt. Bei Louise habe ich erlebt, wie Schönheit ein Leben vernichten kann. Meine El- tern und ich haben immer nur ihr wun- derbares Haar, ihre Augen, ihre langen Beine gesehen. Ich glaube, Louise war davon überzeugt, daß sie nur aus ihrem Äußeren bestand. Sie hat sich schließ- lich ganz in sich selbst verkrochen. SPIEGEL: Ihre Familie hat Louise zu ei- Marilyn Monroe (1957) nem Schönheitsobjekt degradiert? Avedon: Genau. Und das ist auch das Schlimme an den meisten Modefotos. Die Frauen sind nur Objekte. SPIEGEL: Finden Sie wirklich, das sei in Ihren Modeaufnahmen anders? Avedon: Sicher nicht immer. Ich muß Modestrecken so fotografieren, wie Vogue oder andere Zeitschriften es ver- langen. Ich bin immer Teil dieses Kom- merz-Systems gewesen. Aber mein Blick auf die Models hat sich entwickelt, glaube ich. Anfangs habe ich sie oft noch wie Statuen fotografiert, kühl, per- fekt – genauso, wie wir zu Hause Louise auf ein Podest gestellt hatten. Später sind die Frauen komplizierter, auch le- bendiger geworden . . . SPIEGEL: . . . und das entwickelte sich zu Ihrem Markenzeichen: die freien, spontanen Bewegungen der Modelle, die alltäglichen Straßenszenen. Avedon: Wenn ich mir alte Bilder anse- he, dann fällt mir auf, wie fließend die Staatliche Nervenheilanstalt in Louisiana (1963) Grenzen zwischen den Genres sind: Avedon-Aufnahmen: „Ich fotografiere das, wovor ich Angst habe“

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Manche Reportagebilder, die zufällig ei- halten konnten. Und dann griffen die ne attraktive Frau zeigen, könnten auch Kritiker mich an – nicht meine Arbeit an Modefotos sein – und umgekehrt. Ich sich, sondern meine Beweggründe. Das bin einfach Fotograf. Ich halte die ein- Buch wurde ein finanzieller Flop. Im- zelnen Formen meiner Arbeit nicht so merhin: Als es dann verramscht wurde, klar auseinander. In „An Autobiogra- kauften es die jungen Leute, also dieje- phy“ habe ich ein Bild meines sterben- nigen, die man wirklich erreichen muß. den Vaters neben ein Modefoto gestellt. SPIEGEL: Sie sind jüdischer Herkunft SPIEGEL: Diese Sterbebilder sind maka- wie viele Weiße, die in der Bürger- ber. Gibt es für Sie keine Tabus? rechtsbewegung aktiv waren. Glauben Avedon: Natürlich muß ich jedes Bild Sie, daß Ihre eigene Erfahrung als Au- moralisch vertreten können, das ich aus ßenseiter Sie besonders empfindlich auf der Dunkelkammer entlasse, und ich Diskriminierungen reagieren läßt? muß sicher sein, daß ich niemandem Avedon: Vermutlich. Das habe ich noch schade, nur um ein starkes Bild zu ha- nie so betrachtet. In meiner High- ben. Ich habe einmal eine Aufnahme School-Zeit habe ich Baldwin, der da- von einem kleinen Mädchen gemacht, mals in meiner Klasse war, zu mir nach das kopfüber in den Armen seines Va- Hause eingeladen. Als wir ins Foyer ka- ters hing und weinte. Der Vater ging im- men, weigerte sich der Liftboy, uns in mer liebevoll mit der Tochter um. Aber den Aufzug zu lassen, weil Jimmy Avedon-Vater Jacob Israel (1971) diese Aufnahme verwandelte einen kur- schwarz war. Wir mußten die Hinter- zen Moment des Unbehagens in eine treppe nehmen. Als wir oben ankamen, Ewigkeit der Grausamkeit. erzählte ich meiner Mutter, was passiert SPIEGEL: Haben Sie sie je verwendet? war, und sie ging hinunter und schlug Avedon: Nein. dem Liftboy ins Gesicht. Jimmy und ich SPIEGEL: Sie halten tatsächlich gute Fo- sind mit dem Aufzug nach unten gefah- tos aus solchen Bedenken zurück? ren. Avedon: Ich habe 30 Jahre lang die Bil- SPIEGEL: Warum haben Sie nie ver- der, die ich in Vietnam von Napalm-Op- sucht, sich in Ihrer Fotografie mit Ihrer fern gemacht habe, nicht veröffentlicht. jüdischen Identität zu beschäftigen? Sie handeln von Gewalt, und ich will mit Avedon: Ich hatte es vor, und ich bin so- meiner Arbeit nicht zur Summe der Ge- gar nach Israel geflogen, aber ich habe walt in der Welt beitragen. nur Motive gefunden, die vollkommen SPIEGEL: Aber im vorigen Jahr haben klischeebeladen waren. Statt dessen bin Sie die Napalm-Bilder freigegeben. Ei- nige davon sind in „An Autobiography“ und auch in Ihrem Katalogband „Evi- „Ein Fotograf dence“ abgedruckt. muß Ordnung aus dem Avedon: Ja, aber ich bin bis heute nicht sicher, ob Bilder von Grausamkeiten Chaos schaffen“ tatsächlich das bewirken, was sie bewir- ken sollen. Tragen sie wirklich dazu bei, ich nach Berlin weitergeflogen. Das war die Gewalt in der Welt zu beenden? kurz vor Silvester 1989. Ich dachte mir: Oder fördern sie unsere grenzenlose Fä- Vergiß die Sache mit der jüdischen Iden- Avedon-Schwester Louise (1940) higkeit zur Grausamkeit? tität erst einmal, jetzt wird gerade in SPIEGEL: Sie haben in Ihren Reportagen Deutschland Geschichte gemacht. über den Vietnam-Krieg und die Wirren SPIEGEL: So sind Ihre Bilder von der der amerikanischen Bürgerrechtsbewe- Neujahrsnacht am Brandenburger Tor gung für die Opfer Partei genommen. entstanden? Sind Sie ernsthaft politisch engagiert? Avedon: Ja. Ich bin von elf Uhr nachts bis Avedon: Ja, aber die amerikanischen zum Morgengrauen durch die Menge ge- Kritiker tun sich sehr schwer mit dem laufen. Es war eiskalt. Am Ende waren Gedanken, daß jemand, der Erfolg hat, meine Finger steifgefroren. Ich weiß auch gleichzeitig ein soziales Gewissen nicht, wie ich überhaupt noch auf den besitzen könnte. Schon als ich 1963 mit Auslöser drücken konnte. Aber ich habe dem schwarzen Schriftsteller James Hunderte von Fotos gemacht. Die Nacht Baldwin das Buch „Nothing Personal“ war ja einmalig, ein historisches Ereignis, über die Bürgerrechtsbewegung veröf- und ich wußte, daß alle Bilder, die mir fentlichte, haben mich die Kritiker des entgingen, für immer verloren waren. „Pop-Liberalismus“ bezichtigt. Ganz so, SPIEGEL: Wonach haben Sie gesucht? als hätte ich die Bewegung zu meinem Avedon: Nach einer Atmosphäre, einem eigenen Ruhm ausgenutzt. Ein schöner Ausdruck, die mehr als nur den konkre- Ruhm! ten Augenblick einfangen würden. Nach SPIEGEL: Und das haben Sie nicht? einzelnen Gesichtern unter diesen Tau- Avedon: Nein, allerdings nicht. Ich habe senden von Menschen. Der Triumph ei- viel harte Arbeit in „Nothing Personal“ nes Fotografen ist es, Ordnung aus dem gesteckt, ich bin immer wieder in die Chaos zu schaffen, ohne das Chaos dabei Südstaaten gefahren, habe fotografiert zu verraten. Napalm-Opfer in Saigon (1971) und junge schwarze Fotografen ange- SPIEGEL: Mr. Avedon, wir danken Ihnen lernt, damit sie ihre Erfahrungen fest- für dieses Gespräch. Y

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KULTUR

lästig wird, kann er schon mal „wie ein Das merkt man. Einmal büßt Zigar- Entertainer Zwiebelschneider unter die Anwesen- renraucher Schneider beim Benzinnach- den“ dringen und mit einem Skalpell füllen im Superstau den rechten Arm „unorthodox drauflosfetzen“. ein. Im Präsidium ist die Freude groß Nur seine Frau schlägt Kommissar „wegen dem appen Arm, jeder will mal Apper Arm Schneider nicht. Sie geht immer für ihn anfassen“. ans Telefon, und manchmal kocht sie Doch wie soll ein Einarmiger noch Der Komiker Helge Schneider hat Leckeres. Dann liebt er sie sogar, aber mit seinem getunten „Straßenrenner“ einen Kriminalroman geschrieben – nur mit Licht aus, damit niemand etwas durch die Stadt krachen und Frauen mit sieht. Denn Autor Helge Schneider re- Kinderwagen auf die Stoßstange neh- ein wahrhaft schauderhaftes Werk. spektiert die eheliche Intimsphäre: „Nur men können? Der Erzähler verkündet Fickgeräusche sind zu erkennen.“ einsichtig: „Zum Glück hat der Kom- s geschieht in einer kalten Novem- Spätestens die Eheszene im 6. von 55 missar die Sache mit dem appen Arm bernacht. Müde von der Arbeit, Romankapiteln macht Befürchtungen nur geträumt.“ Ekommt der Frauenmörder nach aufrichtiger Schneider-Fans zunichte, Nach diesem Sinkflug in den strato- Hause und legt die Leiche auf dem Kü- der Musikclown aus Mülheim/Ruhr sphärischen Unfug sind Kombinations- chenboden ab. würde seine vor allem auf der Bühne er- gabe und Spurenkunde gefordert. Hier- Leider hat er das Herdlicht brennen worbene Reputation als „Abbild einer in mausert der „Titan des Tiefsinns im lassen, so daß Wespen in der Küche sind zunehmend verblödenden Gesellschaft“ Trivialen“ (Süddeutsche Zeitung) sich und an die Leiche wollen. Das duldet zum Schamanen des der Frauenmörder nicht, er schlägt nach Scharfsinns im Schla- ihnen, eine sticht ihn in den Arm. Der massel. In Blickrich- Mann raucht eine letzte Zigarette, dann tung der aufgerissenen stirbt er am Wespengift. „Doch keiner Augen von Leiche Nr. soll ihn in den nächsten Wochen finden, 5, Kinderschwester auch die Leiche der ermordeten Frau Gertrud, stößt Kom- nicht.“ missar Helge auf ein Mit dieser Verheißung bereits auf der einzelnes Menschen- ersten Seite macht Helge Schneider al- haar, das eindeutige len Spekulationen über den Charakter Kampfspuren aufweist. seines ersten Kriminalromans ein Ende: Der Schlüssel zur Lö- „Zieh dich aus, du alte Hippe“ ist ein sung des Falles: Das ehrliches Buch*. Und es hält das Ab- Haar kann nur vom surditätsniveau, das sein Anfang ver- Mörder stammen, denn spricht. das Opfer ist kahlköp- Der vom Insekt erlegte Bösewicht fig. kommt darin selbstverständlich nicht „Zieh dich aus, du al- weiter vor, was dem Leser, auf der vor- te Hippe“ ist Helge letzten Seite, auch gesagt wird. Dazwi- Schneiders zweites schen ist ein robusterer Blaubart am Buch. In seiner 1992 Werk, und den jagt niemand anderer bei Kiepenheuer & als: Kommissar Schneider! Witsch erschienenen Er heißt mit Vornamen Helge, und Autobiographie „Gu- 1,13 Millionen Menschen haben ihn ten Tach. Auf Wieder- schon einmal gesehen: In „Texas“, dem sehn.“ bekennt der berüchtigten Erfolgswestern seines „wiedergeborene Som- Schöpfers, wo er es allerdings bei einem mersprossen-Heintje“ ebenso undurchsichtigen wie kurzen (Frankfurter Allgemei- Auftritt belassen hatte. Denn Kommis- ne), bereits als Jungmu-

sar Schneider hat Wichtigeres zu tun. Er TEUTOPRESS siker – mit zwölf Stun- muß den „Zieh dich aus, du alte Hip- Komiker Schneider: Schamane im Schlamassel den Baß-Solo täglich – pe“-Fall lösen. seinen ersten Men- Dabei weiß er nur, daß der Täter „die (Tageszeitung) auf dem Terrain der Hin- schen „fertig-gemacht“ zu haben. In den Frau nackend sehen“ wollte und mit ei- tertreppenliteratur verspielen. Profes- vergangenen drei Verkaufswochen sind ner „aufgesägten Chappidose“ hantier- sionell bringt der „Meister der verhed- mindestens 70 000 hinzugekommen. te. Kein Wunder, daß der Kommissar derten Erzählfäden“ (Zeitmagazin) den Sie alle haben, nach Angaben des gereizt ist: Den einzigen Tatzeugen eigenen Kommissar in Verdacht, der die Verlags, die „alte Hippe“ nicht ins Re- schlägt er kurzerhand krankenhausreif. Begattungshandlungen mit „verzerrtem gal zurückgestellt. Wie weiter mitgeteilt Mit dem unterbezahlten Kriminali- Gesicht“ und dem Vokabular des Se- wird, ist die Nachfrage nach den Film- sten, der als Gelegenheitskonditor hin- rienkillers eröffnet: „Zieh dich aus, du rechten am „schlimmsten Buch der zuverdient, ist nicht gut Kirschen essen. alte Hippe!“ Welt“ (Schneider) zurückhaltend. Verhafteten tut er mit einem versteck- Mit Kalkül wird der Spürsinn der Le- Schuld daran sind die Gewaltszenen, die ten Messerchen weh, Schwarzfahrern ser irritiert. Es häufen sich die Leichen, selbst das Stammpublikum einschlägiger heizt er ein wie Dirty Harry, Fotografen der Erfolgsdruck wächst. Auf den Kri- Streifen nicht tolerieren würde: Ein pflegt er „total kaputt“ zu schlagen – minalbeamten Schneider, weil er mit kleines Mädchen faßt beim Aussteigen und wenn ihm der Presserummel gar zu dem Fall nicht weiterkommt; und auf aus dem Bus versehentlich sein Bein an. den Kriminalautor Schneider, weil er in „Ganz klar, daß der Kommissar ihm, so seinem Manuskript, das er laut Verlags- gut es geht, von hinten mit seiner schwe- * Helge Schneider: „Zieh dich aus, du alte Hip- pe“. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln; 108 Sei- lektor Helge Malchow „häppchenweise“ ren Aktenmappe auf den Kopp haut.“ ten; 12,80 Mark. lieferte, nicht weiterweiß. Aua. Y

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WISSENSCHAFT PRISMA

wechseln im Gehirn des Be- Medizin obachters die Raumillusion – ein technisches Kunststück, das nach Auskunft der Erfin- Laserstrahl ins Herz der bei vielen Fluglotsen auf Bei bislang 16 Patienten haben Schweizer Skepsis stößt: „Manche von Chirurgen eine neuartige Laseroperation denen“, so einer der Aache- am offenen Herzen vorgenommen: Mit ei- ner Techniker, „fühlen sich nem Kohlendioxidlaserstrahl schießen die in einen Mickymaus-Film Chirurgen feine Löcher in die Herzmusku- versetzt.“ latur. Durch die jeweils 21 millimeterdün- nen Kanäle wird fortan das sauerstoffrei- Meerestechnik che Blut aus der linken Herzkammer in das geschädigte Herzmuskelgewebe gepreßt. Roboter

Das Verfahren, „transmyokardiale Revas- DR. L. REINBACHER kularisation“ (TMR) genannt, wird an Herzchirurg Maass mit Lasergerät in der Tiefe mehreren US-Herzzentren und seit Febru- Der Vorstoß in immer größe- ar am Schweizerischen Herzzentrum Bo- oder Dehnung verengter Herzkranzgefäße re Meerestiefen zur Förde- densee in Kreuzlingen sowie neuerdings in mit dem Ballonkatheter) zu risikoreich rung von Erdöl und Erdgas Berlin erprobt. Der Laserbeschuß, der oder nicht möglich sind. Mittelfristig könn- wird durch neuartige Robo- nach Auffassung des Schweizer Herzchir- te die Methode nicht nur bei Schwerstkran- ter möglich. Ein von der US- urgen Dierk Maass „faszinierend neue We- ken, sondern auch bei jungen Patienten mit Firma Perry Tritech entwik- ge der Therapie“ eröffnen könnte, ist für noch guter Herzklappenfunktion, aber keltes Triton-Robotgefährt, Patienten gedacht, bei denen die her- zum Beispiel schwerer Angina pectoris ein- dessen Kameras, Scheinwer- kömmlichen Methoden (Bypass-Operation gesetzt werden. fer und armähnliche Manipu- latoren über elektrische und optische Kabel mit einem Luftfahrt Kontrollschiff verbunden sind, kann zum Beispiel 3-D-Bildschirm Schweißnähte kontrollieren, Bohrungen setzen und Ble- für Fluglotsen che vernieten. Kraft-Senso- Das weltweit erste Kontroll- ren in den Robothänden ver- gerät für Fluglotsen, das drei- hindern, daß etwa ein Ventil dimensionale Bilder vom zu stark angezogen und da- Luftraum vermittelt, haben bei zerstört wird. Lernfähige Ingenieure an der Techni- Steuerprogramme führen schen Hochschule in Aachen Standardoperationen zeitspa- vorgestellt. Bislang werden rend per Computerbefehl die Luftstraßen von den Lot- aus. Aufgaben, für welche sen an Monitoren überwacht, Taucher zwei Tage hätten

F. HELLER / ARGUM die den Flugverkehr aus der aufwenden müssen, bewältigt Grabungsstelle bei Unfriedshausen Vogelperspektive zeigen; die der 2,5 Millionen Dollar teu- Höhe der vom Radar erfaß- re Roboter in zwei Stunden. Archäologie ser ruhten auf tief in den Mo- ten Flugzeuge ist auf rast getriebenen Stützstäm- den Bildschirmen nur Kontrollschiff Förder- Moor-Häuser men. Die Fußböden aus Bir- als Zahlencode ables- plattform in Urbayern kenholz schwammen wie Pon- bar. Auf dem in Aa- tons auf dem feuchten Grund. chen entwickelten 3-D- Sensible Hände Pfahlbauten am Bodensee, Das Flußdorf war von einem Monitor hingegen er- aufgeständerte Sumpfkaten hohen Palisadenzaun umge- blickt der Betrachter „Triton“-Unterwasser- bei Laibach und am österrei- ben, seine Bewohner lebten durch eine Spezialbrille roboter im Einsatz chischen Mondsee – vor 6000 von Fischfang und Feldwirt- ein räumliches Bild bei Meerestiefen Jahren erstreckte sich rund schaft. Im hinteren Trakt der vom Luftraum, das zu- über 500 Metern ums Alpenmassiv eine merk- schwimmenden Katen lagen dem aus beliebig wech- würdige Moorkultur. Nun Stallungen für Rinder. Tier- selnden Perspektiven hat der Münchner Archäolo- knochenfunde beweisen, daß beobachtet werden ge Guntram Schönfeld das die Bewohner auch Mäuse kann. Das Aachener Pfahlbau-Phänomen auch auf und Kröten verspeisten. War- Sichtgerät verfügt über bayerischem Boden ent- um die Steinzeit-Bauern solch einen Bildschirm, dem deckt. Bei Unfriedshausen in feuchtes Bauland wählten, ein Flüssigkristall-Filter Nähe des Lech stieß er auf ist den Forschern bislang vorgeschaltet ist, der zehn neolithische Holzhäu- ein Rätsel. Mückenschwär- im Abstand von Milli- Förderkopf ser, die direkt am Ufer des me, klammfeuchte Fellklei- sekunden unterschied- Talsumpfs standen. Baum- der und nasse Füße bei Hoch- liche Bilder aufflim- ring-Datierungen zufolge wasser – „das Leben in der mern läßt. Bei Betrach- wurde das Mini-Dorf 3532 Feuchtbodensiedlung“, sagt tung durch eine Polari- vor Christus gegründet. Schönfeld, „muß furchtbar sationsbrille entsteht Wände und Dächer der Häu- gewesen sein“. aus den rasenden Bild-

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WISSENSCHAFT

Medizin SCHLEICHWEGE INS HIRN Die Tiefe einer Vollnarkose kann trügen. In einigen Fällen mußten wach gebliebene Patienten hilflos miterleben, wie der Chirurg ihre Brust zersägte. Häufiger als angenommen, so belegen Experimente in München, sickern Sinneseindrücke ins Unterbewußte von narkotisierten Patienten auf dem OP-Tisch.

rst hörte er das Sirren der Säge. auf dem Operationstisch. Er hörte die selbst mit elektrischem Werkzeug arbei- Dann, wie sie sich in sein Brustbein Befehle des Chirurgen, das Klappern ten. „Sehr schwierig“, sagt er, „wenn Efräste. Auch, wie etwas Scharfes der Instrumente, die Pumpe, die Blut Sie, wie ich, Elektriker sind.“ tief ins Fleisch seines Oberschenkels aus der Wunde saugte. Er spürte das Sä- Für die Panikanfälle seit der Operati- drang, konnte er deutlich spüren. Das gen, das Rütteln und Schneiden der on, für die nächtlichen Schweißausbrü- schrecklichste aber war die Hilflosig- Ärzte. Doch rühren konnte er nichts, che und die Heimsuchungen am Tag, in keit. „Meine Hände fühlten sich finger- nicht seine Finger, nicht Zunge, Lippen denen Dalton seinen Schrecken immer los an und waren wie an den Tisch gena- oder Stimmbänder, selbst die Augenli- aufs neue durchlebt, haben die Ärzte ei- gelt“, erzählt der Herzpatient. der nicht. nen Namen: posttraumatisches Schock- Sieben Stunden dauerte der Alptraum Noch zehn Monate später erstarrte er syndrom. So nennt sich das psychische von Norman Dalton, 55. Während sei- jedesmal, wenn er den Motor eines Boh- Trauma, mit dem Menschen auf Horror ner Bypassoperation in einem Kranken- rers, einer Säge oder einer Schleifma- reagieren, dem sie hilflos ausgeliefert haus im englischen Leeds lag er wach schine hörte. Schon gar nicht konnte er sind. VISUM M. WOLF / Patient in Narkose: Der Kopf ist umstellt von Monitoren, jenseits des Vorhangs fließt das Blut

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Gehirns benutzen, Wirkstoffen hat seither die Äthernarko- um auf das Befinden se ersetzt. des Patienten einzu- Valium besänftigt meist schon die wirken? Angst des Patienten, ehe er in den Ope- Bisher zählen die rationstrakt des Krankenhauses gefah- betäubenden Gase ren wird. Dort kommt er an den Betäu- Äther und Lachgas zu bungstropf der Anästhesisten: Opiate den wirksamsten Hilfs- überfluten das Hirn und besetzen die mitteln der Narkose- Endorphin-Rezeptoren, gleichsam die ärzte, zugleich aber molekularen Schmerzvermittlungssta- auch zu den am wenig- tionen. Relaxanzien durchströmen den sten verstandenen. Körper und lassen Nervenzellen ver- Noch ist unklar, was stummen, die im Wachzustand Befehle diese Gase überhaupt des Hirns an die Muskeln weiterleiten. betäuben: die Wahr- Die Muskeln erschlaffen, das nehmung, die Wach- Schmerzempfinden ertaubt – aber die heit oder das Bewußt- Gedanken dämmern noch. Erst wenn sein. Und wohin ver- kriecht sich während der Narkose das Un- Amüsiert sahen die terbewußte? Chirurgen, wie der Patient In der Ära der Äthernarkose hatten den Zeh bewegte die Anästhesisten ihr ganzes Können darauf die Schwester dem OP-Kandidaten die verwenden müssen zu Maske aufs Gesicht preßt, durch die ein verhindern, daß der Gemisch aus Lachgas und Sauerstoff Patient in allzu tiefe strömt, entschlummert auch sein Be- Bewußtlosigkeit ver- wußtsein. Was genau geschieht, wenn sank. Noch lange das mit Lachgas betankte Blut das Hirn

BILDARCHIV PREUSSISCHER KULTURBESITZ nachdem er wegge- erreicht, ist ungeklärt. Armamputation um 1700: Sägen, Rütteln, Schneiden dämmert war, zuckten Biochemiker spekulieren, daß be- seine Muskeln. Die stimmte Rezeptoren blockiert und Für die Ursachen der Wachheit wäh- Ätherdosis mußte dann erhöht werden, Membranproteine verformt werden. rend der Narkose haben sich die Medizi- bis die Muskulatur so schlaff war, daß Physiologen mutmaßen: Die Koordina- ner bisher kaum interessiert. Die An- der Chirurg operieren konnte. Zweifel, tion der Nervenzellen wird zerstört; jede ästhesisten hielten sich an die einfache daß bei dieser Prozedur alle Sinne tief Botschaft geht in unentwirrbarem Neu- Regel: Wenn der Patient schläft, spürt entschlafen waren, hatte niemand. ro-Kauderwelsch unter. Anästhesisten er nichts. Und die Chirurgen frotzelten Das änderte sich in den fünfziger vermuten: Das Betäubungsgas gaukelt bei der Arbeit ungeniert über ihren Pa- Jahren mit der Einführung von Curare, dem Hirn eine Sauerstoffunterversor- tienten auf dem Tisch, im sicheren Be- einem Nervengift, das die Muskeln gung vor, die nachfolgende Ohnmacht wußtsein: Der hört ja nichts. lähmt, ohne auf das Bewußtsein zu wäre dann eine Art Notfallprogramm Doch seit die Angst, nie mehr aus der wirken. Plötzlich schien es, als seien des Gehirns, um Energie zu sparen. Si- Narkose aufzuwachen, geringer gewor- chemische Schalter gefunden, mit de- cher ist nur: Hat der Patient genügend den ist, begegnen die Anästhesisten im- nen sich Muskeln, Schmerz und Be- Lachgas geatmet, wird er sich in der Re- mer häufiger der entgegengesetzten Fra- wußtsein unabhängig voneinander ab- gel später an nichts mehr erinnern. ge: „Werde ich nicht während der Ope- schalten lassen. Eine sorgfältig abge- So schiebt man ihn in den OP-Saal. ration plötzlich aufwachen?“ stimme Kombination aus bis zu 15 Der Kopf, umstellt von Monitoren, Erst vor kurzem haben die Mediziner angefangen, sich Fragen zu stellen wie: Ausgeschaltet Übliche Narkoseverfahren i Betäubt eine Vollnarkose verfahren operationsbereich medikament narkosedauer wirklich vollständig? Wie häufig kommt es, wie bei Vereisung Öffnung kleiner Abszesse, Chloraethylspray 2 Sekunden Dalton, zum Versagen der Entfernung von Warzen Narkose? i Führen die immer sanf- Lokalanästhesie Zahnextraktion, z.B. Meaverium, Scandicain 1 Stunde teren Narkosemittel da- Wundnaht zu, daß manchmal Sin- Leitungsanästhesie nesportale offenbleiben, Nervenblockade Finger, Zehe durch die auch ins Hirn ei- Plexusblockade ganzer Arm z.B. Scandicain, Bupivacain 1 bis 2 Stunden nes Bewußtlosen noch Spinalanästhesie Hüft- oder Kniegelenk Reize dringen können? Kaudalanästhesie Entbindung i Welche Folgen hat das für Vollnarkose ganzer Körper Kombination von Betäubungs-, beliebig den Patienten? Versetzt Schmerz-, Entspannungsmitteln ihn jede Wahrnehmung Lachgas-Halothan-Sauerstoff- Medikamente während der Operation in gemisch, Opiate (z.B. Fentanyl) werden fort- Schrecken? Oder können Sedativum (z.B. Brevimytol) dauernd Ärzte womöglich absicht- Muskelrelaxans (z.B. Norcuron) nachgereicht lich die Hinterpforten des

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Kontrollapparaturen und Beatmungsge- Unzuverlässig ist die Anästhesie dann, Aber kann auch während einer Nar- rät, ist nun in der Obhut der Anästhesi- wenn die Ärzte mit Narkosemitteln spa- kose die Stimme eines Chirurgen, der sten. Ein grünes Tuch schirmt ihn ab ge- ren. Beim Kaiserschnitt etwa bemühen Schnitt des Skalpells oder das Knirschen gen das Arbeitsfeld der Chirurgen. Jen- sich die Anästhesisten um eine möglichst der Knochen auf ähnliche Weise bis ins seits des Vorhangs fließt das Blut. flache Narkose, um das Baby nicht zu Gedächtnis eines Patienten dringen, oh- Auch für die Anästhesisten am Kopf- schädigen. Bei Herzoperationen fürch- ne daß er sich daran erinnert? ende ist der Patient nur noch ein vege- ten sie oft die blutdrucksenkende Wir- Erste Experimente, die darauf hin- tierender Leib, reduziert auf Zahlen, kung der Narkosegabe und ersetzen sie deuteten, die Antwort auf diese Frage Kurven, Daten. Die Apparatur gibt deshalb weitgehend, indem sie die Opiat- könne „ja“ lauten, stammen schon aus Auskunft über Herzschlag und Blut- dosierung erhöhen. den fünfziger Jahren: Dem amerikani- druck, Atemfrequenz, Sauerstoff- oder Schätzungen, wie häufig es dabei zu schen Chirurgen David Cheek gelang Kohlendioxidgehalt in Blut und Atem- Narkosepannen wie bei Dalton oder luft. Alles wird da vermessen und über- Grunshaw kommt, gibt es nur wenige. In wacht, nur nicht das Gehirn. Keines der England spüren rund 250 Patienten im „Das Unterbewußte vielen Geräte gibt Auskunft über den Jahr Schmerzen auf dem OP-Tisch, so versteht wörtlich, wie Zustand des Bewußtseins. schätzte kürzlich der Anästhesist Gareth Daß das Hirn im gelähmten Körper Jones vom Addenbrook’s Hospital in ein Kind“ wacher sein kann, als es die Anästhesi- Cambridge. Noch 30mal häufiger, meint sten vermuten, darüber geben vor allem Jones, also etwa bei jedem 300. Eingriff, es, bei 37 Patienten unter Hypnose Er- Schilderungen wie die von Norman Dal- seien Patienten während der Operation innerungen an Operationen wachzuru- ton Auskunft – Fälle, bei denen die An- zumindest vorübergehend wach, ohne fen, obwohl sie zuvor behauptet hatten, ästhetika versagt haben. Fast jeder auf- daß sie dabei Schmerzen empfänden. sie hätten nichts gemerkt. merksame Anästhesist weiß von solchen Doch das sind offenbar nur die augen- Noch mehr Aufsehen erregte B. W. raren Zwischenfällen zu berichten. fälligen Versager. Weitaus häufiger, ver- Levinson: Er spielte narkotisierten Pa- tienten während ihrer Operation eine lebensgefährliche Krise vor. Vier der zehn Versuchspersonen konnten sich später unter Hypnose an den genauen Wortlaut („Stoppt die Operation . . . Seine Farbe gefällt mir gar nicht. Seine Lippen sind zu blau . . .“) erinnern. Vor allem jede Information, die den Gesundheitszustand des Patienten be- trifft, so folgerte Levinson, werde von seinem Hirn gierig aufgesogen. Die Schlußfolgerung war auch als Vorwurf an die Adresse von Chirurgen zu verste- hen, die häufig im Glauben, der Patient höre sie ohnehin nicht, ihre Anspan- nung in zynischen Witzen abreagieren. Die Experimente von Cheek und Le- vinson wurden nie wiederholt und sind unter Fachleuten umstritten. Niemand jedoch bezweifelt die Berichte von Ian Russell, der sich mit Patientinnen wäh- rend ihrer Kaiserschnitt-Entbindung un-

W. M. WEBER terhielt. Anästhesist Schwender*, Patientin in Narkose: Klicklaute über Kopfhörer Russel band ihnen den Arm ab, so daß die Relaxanzien nicht in die Arm- Meist anekdotenhaft werden sie in mutet Jones, sickern die Wahrnehmun- muskeln einströmen konnten. Auf diese Fachpresse und Operationssälen weiter- gen auf subtilere Weise ins Hirn und hin- Weise vermochten einige der Frauen erzählt. terlassen dort weniger leicht nachweisba- während der Operation etwa 20 Minu- Etwa die Geschichte von Nigel re Spuren. Ist es möglich, daß Sinnesein- ten lang mit Handzeichen zu antworten, Grunshaw, 34, dem zunächst niemand drücke das Bewußtsein erreichen, um so- während Russell mit ihnen plauderte. glauben wollte, daß er seine Blinddarm- fort darauf wieder vergessen zu werden? Nach dem Erwachen aus der Narkose operation bewußt miterlebt habe. Doch Könnten sie ins Unterbewußtsein gelan- war bei den Patientinnen jede bewußte dann schockierte er seinen Chirurgen, gen, ohne daß sie je das Bewußtsein pas- Erinnerung spurlos gelöscht. indem er ihn daran erinnerte, er habe siert haben? Bewußtsein ohne Erinnerung, Erin- ihn während der Operation als „innen Vor allem dieses letzte Phänomen, im- nerung ohne Bewußtsein: diesen rätsel- genauso schwabbelig wie außen“ be- plizites Gedächtnis genannt, ist umstrit- haften Phänomenen spürt am Klinikum zeichnet. ten. Zwar istbekannt, daß esSchleichwe- Großhadern in München der Anästhe- Oder der Fall eines 45jährigen Man- ge ins Hirn gibt, die am Bewußtsein vor- sist Dirk Schwender nach. Er hofft eine nes, der spürte, wie die Ärzte Schrau- beiführen. Eindrucksvoll etwa sind die Methode entwickelt zu haben, die auch ben in seine gebrochenen Beinknochen Nachweise des „Blindsehens“: Men- während der Narkose einen Blick unter bohrten. Als es ihm schließlich gelang, schen, deren Sehrinde im Großhirn bei die Schädeldecke ermöglichen könn- seinen Zeh etwas zu bewegen, hörte er einem Verkehrsunfall zerstört wurde, te. nur, wie ein Chirurg seinen Kollegen weichen Hindernissen aus, obwohl sie In einem Experiment las Schwender amüsiert auf das Zehenwackeln hinwies. hartnäckig versichern, blind zu sein. Sie während der Operation seinen Patien- sehen nicht mehr, und doch nehmen sie ten die Geschichte von Robinson Cru- * Beim Ableiten akustisch evozierter Hirnströme. mit den Augen wahr. soe und dem Eingeborenen Freitag

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vor. Keiner konnte sich später bewußt daran erinnern. Und doch konnte Schwender unbewußte Spuren seiner Lesung nachweisen: Als er die Patienten später nach ihrer spontanen Assoziation zu dem Wort „Freitag“ fragte, nannte jeder fünfte die Robinson-Geschichte. Einer Kontrollgruppe dagegen fiel nur „Fisch essen“, „letzter Arbeitstag der Woche“ oder „Karfreitag“ ein. Den geheimnisvollen Weg des Einge- borenen Freitag in die Tiefenschichten des Bewußtseins glaubt Schwender auch

mit Hilfe von Apparaten verfolgen zu J. H. DARCHINGER können: Wenn er dem Patienten über Ratspräsident Hoffmann einen Kopfhörer Klicklaute vorspielt, „Kostendeckel aus Titan“ kann er mit Elektroden am Kopf mes- sen, ob die von diesen Reizen erzeugten kommenen Garchinger For- elektrischen Impulse über Stamm- und schungsreaktor, das „Atom- Mittelhirn bis ins Großhirn gelangen. Ei“. Die Weiterleitung dieser sogenannten Der neue Forschungsreak- akustisch evozierten Potentiale, so tor FRM-II, mit dem die konnte er nachweisen, wird von den Physiker atomaren Vorgän- Narkosegasen gedämpft: je mehr Gas, gen in Festkörpern, biologi- desto zaghafter das elektrische Flackern schen und chemischen Sub- in der Großhirnrinde – und desto gerin- stanzen nachspüren wollen, ger auch später die implizite Erinnerung soll dafür nicht nur einen an die Robinson-Geschichte. rekordverdächtigen Neutro- Möglicherweise, so Schwender, erlau- nenstrahl liefern. Er soll das, be seine Methode auch, mehr über die so hieß es im März 1986, Art zu erfahren, wie das implizite Ge- obendrein mit einem nie dächtnis arbeitet: Nimmt es alle Reize dagewesenen „Fluß-Kosten- gleichermaßen auf? Oder filtert es aus verhältnis“ schaffen. der Sinnesflut nur dasjenige, was ihm re- Unverzüglich machten die

levant erscheint? Kölner Wissenschaftsstrate- DPA Hypothesen hat Schwender bereits. gen – sie wachen nach dem Alter Forschungsreaktor in Garching „Komplizierte Sätze“, mutmaßt er, Hochschulbauförderungsge- Mehr als eine Milliarde für den Nachfolger? „werden nicht verstanden.“ Aus dem setz über die von Bund und aufmunternd gemeinten „Sie werden Ländern gemeinsam zu finanzierenden sie die angekündigte Weigerung der Clin- keine Schmerzen haben“ könnte im Un- Investitionen – die ersten zehn Millionen ton-Administration, den geplanten For- bewußten womöglich nur das Wort Mark für Vorstudien locker. Zwei Jahre schungsmeiler mit atomwaffenfähigem „Schmerzen“ ankommen. „Das Unbe- später hatten die Bayern noch mal nach- Uran-235 zu versorgen (SPIEGEL wußte“, warnt der Anästhesist, „ver- gerechnet. 365 Millionen sollte die Neu- 10/1994). steht wörtlich, wahrscheinlich so ähnlich tronenschleuder für die Technische Uni- Je länger die Haushälter im Münchner wie ein Kind.“ Y versität München nun kosten, Betriebs- Maximilianeum lasen, was zwischen ih- kosten für die ersten zehn Jahre inklusi- rer Regierung und dem Weltkonzern ver- ve. einbart worden war, desto länger wurden Atomforschung Doch wie zuvor beim Schnellen Brüter ihre Gesichter. Der sogenannte Gesamt- in Kalkar oder der Wiederaufarbeitungs- preis war auf fast 680 Millionen Mark ge- anlage Wackersdorf legten auch die Pro- schnellt. Doch das war nicht alles. jektplaner des FRM-II schon vor dem er- Im aktuellen Kostenvoranschlag nicht Wie Graf sten Spatenstich kräftig zu. 1992 waren enthalten sind bereits programmierte sie bei 525Millionen Mark für den schlüs- Verzögerungen wegen „gesetzlicher, be- selfertigen 20-Megawatt-Meiler ange- hördlicher oder gerichtlicher Auflagen“ Koks langt. Dabei blieb es bis Anfang vergan- sowie „Schwierigkeiten beim atomrecht- genen Monats. lichen Genehmigungsverfahren“. Der Die Kosten für den geplanten Völlig überraschend für die Oppositi- Minister selbst veranschlagt allein dafür Forschungsreaktor FRM-II steigen on im bayerischen Landtag flatterte dem „bezifferbare Mehrkosten“ von fast 100 Haushaltsausschuß der FRM-II-Gene- Millionen Mark. Hinzu kommen die ins Gigantische. Den ralunternehmervertrag mit der Firma „allgemeinen Kostensteigerungen“ wäh- Landesherrn Stoiber läßt das kalt. Siemens nebst erläuternden Worten des rend der mindestens siebenjährigen Bau- Kultusministers Hans Zehetmair (CSU) zeit des Forschungsmeilers. auf den Tisch. Edmund Stoibers Kabi- Selbst CSU-Abgeordnete bekannten, er Köder aus München lockte die nettsrunde hatte das Vertragswerk be- daß Gesamtkosten von einer Milliarde Hochschulplaner des Wissen- reits Ende Juni abgesegnet. Nun sollten am Ende „wahrscheinlich“ seien. Die Dschaftsrats in Köln. Für nur 260 auch die Volksvertreter nicken. SPD-Abgeordnete Monica Lochner-Fi- Millionen Mark, säuselten die Abge- Offenbar wollten die Reaktorbefür- scher prognostiziert sogar 1,2 Milliarden sandten der bayerischen Staatsregie- worter mit ihrem Überraschungscoup für das Forschungsgerät. rung, biete die Firma Siemens Ersatz noch vor den Wahlen in Bayern und im So abenteuerlich wie die Kostenent- vom Feinsten für den in die Jahre ge- Bund Pflöcke einschlagen. Zur Eile trieb wicklung mutet die Finanzierungskon-

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struktion für die Neutronensonde an. Das Bonner Forschungsministerium versprach schon vor Jahren einen Fix- beitrag von 160 Millionen plus 80 Mil- lionen als Zuschuß zu den Betriebsko- sten (derzeitige Schätzung: 30 Millio- nen jährlich). Der dicke Rest soll, so die Planung, als Bund-Länder-Gemein- schaftsaufgabe je zur Hälfte aus Bonn und München beigesteuert werden. Das ist pure Illusion. Schon seit An- fang der neunziger Jahre sieht sich der Bund angesichts chronisch leerer Kas- sen nicht mehr in der Lage, seinen An- teil entsprechend den Empfehlungen des Wissenschaftsrats zu entrichten. Statt mit 2,3 Milliarden, wie vom Rat und den Ländern für „unabweislich“ erklärt, schickte die Bonner Kabinetts- runde Wissenschaftsminister Karl-Hans Laermann (FDP) mit mageren 1,8 Mil- liarden für den Hochschulbau nach Hause. Die Länder lehnten ab. Der 24. Rahmenplan ist damit praktisch Maku- latur. Trotz der desolaten Bonner Finanzla- ge hatte der Wissenschaftsrat den ge- planten Forschungsmeiler zunächst im Mai zur „grundsätzlichen Aufnahme in „Wir schieben eine wachsende Bugwelle vor uns her“

den Rahmenplan“ empfohlen, eine spä- tere Baufreigabe jedoch an Bedingun- gen geknüpft. Als wichtigste Hürde setzten die Hochschulplaner dem Reaktor einen „Kostendeckel“ von maximal 600 Mil- lionen Mark auf. „Es gibt bei uns weiche und harte Kostendeckel“, erklärt der Vorsitzende des Wissenschaftsrats Karl- Heinz Hoffmann kämpferisch, „dieser ist aus Titan.“ Die Hoffnungen der Bayern konzen- trieren sich nun auf ein Programm, auf das sich der Bund und vier Bundeslän- der – Bayern, Baden-Württemberg, Hessen und Bremen – im Februar unter der Chiffre „UK 2004“ verständigten. Damit einzelne Länder den Ausbau ih- rer Hochschulen trotz der desaströsen Finanzsituation des Bundes vorantrei- ben können, dürfen sie bestimmte Vor- haben zunächst allein vorfinanzieren, in der Hoffnung, daß Bonn seine Rech- nung irgendwann nach 2004 begleichen wird. Den anderen Ländern und dem Wis- senschaftsrat verursacht die neue Praxis Bauchschmerzen. „Wir schieben eine immer größere Bugwelle vor uns her“, warnt Hoffmann. Deshalb wehrt sich der Vorsitzende des Wissenschaftsrats auch heftig gegen die Aufnahme des teuren Reaktorpro- jekts in das Vorfinanzierungsprogramm.

246 DER SPIEGEL 38/1994 Er weiß, daß der Meiler nach der Bun- destagswahl wohl von keiner denkbaren Regierung mehr so großzügig alimen- tiert wird, wie bisher zugesagt – ein un- ausweichliches Dilemma. Nicht für Edmund Stoiber. Der Münchner Ministerpräsident geht schon jetzt davon aus, daß sein Land in Sa- chen FRM-II gegenüber dem Bund in Vorlage treten muß. Das kann es auch. Wie Graf Koks zieht der Oberbayer derzeit mit der „Heimatquelle FRM-II“ (Kultusminister Zehetmair) und einer Liste von 27 weiteren großzügigen Zu- kunftsprojekten in den Wahlkampf. 450 Millionen will Stoiber im Rahmen sei- ner „Offensive Zukunft Bayern“ allein für das Garchinger Projekt lockerma- chen. Möglich wird die wahlwirksame Frei- gebigkeit durch den soeben abgeschlos- senen Ausverkauf landeseigener Unter- nehmen. Für fast sechs Milliarden Mark verscherbelte die Staatsregierung unter anderem den Stromriesen Bayernwerk und den Rhein-Main-Donau-Kanal. Der Coup machte Bayern zum Krö- sus unter den in ihrer Mehrheit finanz- schwachen Bundesländern. Nun wird reinvestiert, was das Zeug hält. „Priva- tisierungserlöse“, schimpft Emma Kell- ner, Abgeordnete von Bündnis 90/Die Grünen, „sind keine nachwachsenden Rohstoffe.“ Derlei Nörgeleien lassen Stoiber kalt. An der Entschlossenheit, das umstritte- ne Projekt durchzuziehen, läßt er Zwei- fel nicht aufkommen. Im 25. Rahmen- plan für den Hochschulbau, der im nächsten Frühjahr ausgehandelt wird, will das Land im Wissenschaftsrat end- lich die Baufreigabe für den Reaktor durchboxen. Kultusminister Hans Zehetmair hat bereits angekündigt, er wolle „zu gege- bener Zeit“ in Bonn über eine „Zwei- Drittel-Mitfinanzierung des Bundes“ verhandeln. Doch ein Ausstieg Bonns aus dem Projekt scheint selbst dann nicht ausgeschlossen, wenn nach dem 16. Oktober alles beim alten bleibt. Be- gründen könnte die Bundesregierung ihren Abschied von dem Forschungs- meiler mit den Turbulenzen, die er im Verhältnis zu Washington auslöst. Die US-Regierung hat kürzlich ihren Unmut über die Garchinger Reaktor- träume geäußert. Das Konzept drohe die „substantiellen Fortschritte“ bei der weltweiten Umstellung von Forschungs- reaktoren auf nicht bombenfähige Brennstoffe zu „unterminieren“. Während Stoiber noch in Geberlaune das Füllhorn über den bayerischen Phy- sikern ausleert, hat sein Kultusminister dem Reaktorhersteller Siemens schon eine Rücktrittsklausel für den Fall abge- rungen, daß „einer der an der Finanzie- rung der Gesamtanlage Beteiligten die Finanzierung einstellt“. Y SPIEGEL-ESSAY Angst vor der Freiheit

ULRICH BECK

e mehr die Menschen nach Risiken fragen, desto mehr Ri- Buch vorträgt – etwas über die unterschiedlichen Mentalitäten siken sehen sie. Je mehr Risiken sie aber sehen, desto der Völker aus*. Jmehr wird ihr Handeln blockiert. Denn Risiken sagen, Man kann es in der Parallele erläutern: Franzosen schmun- wie wir nicht handeln sollen, sie sagen aber nicht, wie wir han- zeln über „le Waldsterben“. Nicht das Schäumen der Meere, deln sollen. Am Ende wird alles (mehr oder weniger) riskant – aber das Wegbleiben der Touristen öffnet Italienern die Augen Handeln ebenso wie Nichthandeln, Reden wie Schweigen, für das Siechtum der Meere. Die Wald- und Seen-Nation selbstverständlich auch das Aufwerfen von Risiken, und der Schweden hat durch das ganze Jahrhundert hindurch den „sau- Horizont verfinstert sich. ren Regen“ gemessen und angeprangert – vergeblich. Er kam Inzwischen ist fast alles zum Risiko geworden – Fleisch, aus den Schornsteinen der Industrienationen, die davon nichts Müsli, Salat, Sonnenbaden, Kernkraftwerke und das Abschal- wissen wollten. ten derselben, Ehen und Aquaplaning sowieso. Der Deutsche Anders gesagt: Risiken sind nur scheinbar durch und durch Architektentag hat in diesem Sommer auch die Stadt als Risi- objektiv. Sie prunken mit Mathematik, aber setzen kulturelle ko entdeckt und diskutiert. „Risiko Stadt“ – das klingt nach Maßstäbe dessen voraus, was noch und was nicht mehr hinge- homöopathisch dosiertem Antiurbanismus, sozialdemokrati- nommen werden kann. Dieselbe Gefahr erscheint dem einen als schem Neospenglerismus (Weltuntergang plus Rentenvorsor- Regenwurm, dem anderen als Drache. Diese „contradictory ge), Rot und Grün gemischt, also graumeliert, Stau, Gewalt, certainties“, einander ausschließende Gewißheiten, die das Drogen, Organisierte Kriminalität. Wirkliche erst wirklich wirklich machen, brechen dort hervor, Auch die Lösungen zeichnen sich ab: Stauberater, Müllsor- wo die Grenzen in Europa und der Welt fallen. Es ist die Eine tierer, intelligente Unfalltechnik, also zwei sich automatisch Welt, in der die Gegensätze der Kulturen aufeinanderprallen. füllende Luftkissen, wenn es kracht, statt einem; Bürgerrecht Der Journalist Stephan Wehowsky ist durch Europa gereist auf Fahrrad, Bürgerschutz, Bürgerwehr, Bürgernaturschutz- und hat protokolliert, was den Bewohnern der europäischen wehr, genehmigungspflichtige Düngepläne für Balkonpflan- Kleinstaaterei gruselig, skandalös, verbrecherisch oder eben zen, elektronische Sheriffs, Katastrophenknöpfe und quotier- ganz normal erscheint. te Frauenparkplätze überall in Reichweite; Gesellschaft und „Mafia“ – ein Wort, bei dem in deutschen Ohren sich schau- Staat werden zu einer gigantischen Risikovermeidungsorgani- dererregend Spaghetti mit Ketchup-roter Mordlust verbindet –, sation. wird ihm auf Sizilien eröffnet, ist keine Organisation, sondern „Immer öfter und immer selbstbewußter machen Bürger eine Kultur. Eine Kultur der Familie und des Schweigens. Es ist mobil: gegen Rabauken von rechts und links, gegen Kriminel- sogar ein anderes Wort für „Selbstorganisation“. Nach dem En- le, gegen Ruhestörer und Belästiger, gegen Drogen- und Stri- de staatlicher Politik müssen die Menschen ihr Schicksal selbst cherszenen – und gegen ihre ei- in die Hand nehmen. Das klingt genen Zukunftsängste“, stellt wie eine sizilianische Mischung Ronald Hitzler, Soziologe in aus Luhmann und Enzensber- München, fest. ger: Mafia gleich „Selbstbezüg- Eine Bürgerinitiativbewe- lichkeit der Systeme“ plus gung für Sicherheit und Ord- „molekularer Gewalt“. nung scheint die Umwelt-, Vielleicht schützt allerdings Frauen- und Friedensbewegung die anderen europäischen Län- abzulösen und ihren „Marsch der vor italienischen Verhältnis- durch die Institutionen“ anzu- sen nur die Präventivwirkung treten. Hier werden umgekehrt des Nichtwissens. Vielleicht hat die Risiken der Freiheit, der Li- der Unterschied zwischen zum beralität und des Normenzer- Beispiel Bayern und Italien ei- falls angeprangert, Selbst- und nen Namen: Di Pietro, uner- Abhilfe in die Tat umgesetzt. schrockener Staatsanwalt in Die Wahrnehmungs- und Mailand. (Man gönne sich ein- Handlungsformen der Risiko- mal die Vorstellung, es gäbe ei- gesellschaft werden so auf das nen Münchner Di Pietro, der ausgedehnt, was Stephan We- die Ermittlungen gegen die howsky kriminelle „Schattenge- Schweigespirale der CSU auf- sellschaft“ nennt: „Jede Gesell- nähme . . .) Vielleicht ist die schaft hat ihren Schatten – die „Kultur des Schweigens“ in den Illegalität.“ Wie sie mit diesem staatsgläubigen Ländern Frank- Schatten lebt, wie sie ihn be- reich und Deutschland noch in- kämpft oder heimlich duldet, takt, während das Wissen und sagt – wie Wehowsky in seinem die Empörung über die italieni- sche Mafia schon den Zerfall * Stephan Wehowsky: „Schattengesell- derselben anzeigt. schaft. Kriminelle Mentalitäten in Euro- pa“. Verlag Hanser, München; 312 Sei- Und was unterscheidet ten; 39,80 Mark. schweizerische von italienischen

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Verhältnissen? Die Kultur des Bankgeheimnisses. „Das eidge- Fassaden von Wohlstand und Sicherheit ein. Hier hat das all- nössische Emirat ist der Tresor der Welt. In den Ali-Baba- gemeine Raffen und Verriegeln seinen Grund. Höhlen seiner Bankfestungen lagert nicht nur die Beute der Kein Zweifel, die Armut wächst und wird tabuisiert. Auch Kartelle von Medellı´n und Cali, der iranischen und libanesi- läßt sich so unterscheiden, was in der Rede von der „Schatten- schen Drogenhändler, der New Yorker, der sizilianischen und gesellschaft“ leichtsinnig vermengt wird: Verunsicherung, die kalabrischen Mafia, sondern auch der Schatz der wohlhaben- aus der Auflösung traditioneller Lebensformen und Sicherhei- den herrschenden Schichten Afrikas, Asiens und Lateinameri- ten entsteht, und Bedrohung durch enthemmte Gewalt und kas“, zitiert Wehowsky den linken Schweizer Widerborst Jean Kriminalität. Ziegler. Was im Deutschen pauschal „Unsicherheit“ heißt, wird im Verbrechen ist in Europa nicht gleich Verbrechen. Es gibt Englischen klar nach „insecurity“ oder „unsafety“ unterschie- die befleckte präventive Unschuld des Nichtwissens, das teil- den – zwei Herausforderungen, die ganz verschiedenartige habende Schweigen einer ganzen „Kultur“, den Amtsbonus, Antworten erfordern. Neonationalismus und Fremdenfeind- die Glaubbarkeitshierarchie und so weiter. Korruption, gut lichkeit gewinnen nicht zuletzt durch eine gezielte Doppeldra- gemacht, kann staatsmännisches Geschick heißen. maturgie von Wertezerfall und Kriminalitätsbedrohung an Abweichendes Verhalten, das ist eine soziologische Binsen- Durchsetzungsmacht. weisheit, setzt geltende Normen voraus. Die Funktionalisten meinen sogar, der Verbrecher leiste unfreiwillig einen Beitrag zur Integration der Gesellschaft, weil die Empörung über sein och alle diese Erklärungen bleiben konventionell, Verbrechen und seine Aburteilung genau diesen Sinn für die selbstbezüglich. Das Fieber der Unsicherheit, das Normen wecke und schärfe. Nein, sagen andere, das ist alles D Westeuropa erfaßt hat und lähmt, mit Kriminalität eine Frage der sozialen Zuschreibung. Wenn die Sicherheits- und Arbeitslosigkeit zu erklären kommt, im Weltmaßstab be- polizei irgendwo auf der Welt eine Akte anlegt, dann wird trachtet, einem Antisemitismus ohne Juden nahe. Denn es ist normales zu abweichendem Verhalten. ja nicht das katastrophale Afrika oder das gewalttätige Süd- „Entschuldigen Sie, gnädige Frau“, sagt der Ladeninhaber amerika, sondern ausgerechnet die Weltsicherheits- und zur Gattin des Universitätsprofessors von nebenan, die mit -wohlfahrtsnische Westeuropa, die von Selbstzweifeln zerfres- einem unbezahlten Pelzmantel die Kasse passieren will. „Sie sen wird. haben irrtümlich einen zweiten Mantel über den Ihren Diese Epidemie der Angst hat viel mit den noch völlig unbe- gezogen.“ Der unsicher um sich blickende Jugend- griffenen Ereignissen von 1989 zu tun: Nicht nur die Mauern liche aber, der mit einem Riegel Schoko- sind zusammengebrochen; der „Wahnsinn“, lade in der Hosentasche geschnappt wird, als welcher dies spontan kommentiert wur- von dem er beteuert, ihn mitgebracht zu „Man sollte ein de, ist real. Die alte Welt hat ihre Koordina- haben, wird selbstverständlich der Polizei ten verloren – Osten gegen Westen, Kapita- übergeben. Patentamt lismus gegen Sozialismus, Arbeit gegen Ka- Die „Schattengesellschaft“, die Wehow- für Traditionen pital, links gegen rechts. sky an die Wand malt, ist eine Risikogesell- Ein ganzes Wörterbuch des Politischen ist schaft besonderer Art. Mit ihr wird die Ver- gründen“ auf einen Schlag veraltet. Es gibt keine Ab- mutung, daß die gesellschaftliche Moderni- schreckungs-, keine Entspannungs- und kei- sierung ihre eigenen Grundlagen aufhebt, auf die Institutionen ne Neutralitätspolitik mehr. Mit der zweiten Welt sind auch des liberalen Rechtsstaates ausgedehnt. Diese geraten unter die erste und die dritte abhanden gekommen. Ist die Überfüh- den Verdacht, durch den Zerfall von Werten und Normen rung des kommunistischen in ein kapitalistisches System nun überrollt und ausgehöhlt zu werden. ein „linkes“ oder ein „rechtes“ Unternehmen? Adornos Satz, Zweifellos: Die Schatten der „Schattengesellschaft“ haben wer links und rechts bezweifelt, steht rechts, stimmt nicht sich über Europa gelegt. Aber woher kommt, woraus speist mehr. Ernst Jandl hat recht(s): „Manche meinen / lechts und sich dieses elementare Gefühl der Bedrohung? Diese Schlüs- rinks / kann man nicht velwechsern / werch ein illtum.“ Was selfrage stellt Wehowsky nicht. bleibt, ist der „linke Adel“, das trotzige Setzen auf die Arbei- terbewegung, die mit dem Adel die edle Gesinnung und die Träume an vergangene Größe verbindet. eichter ist die Gegenfrage zu beantworten, woher es Selbst die Gegenüberstellung von Natur und Gesellschaft nicht kommt, nämlich nicht mehr von der militärischen greift nicht mehr. Die Ökologiebewegung reagiert auf den LBedrohung. „Deutschland ist von Freunden umzingelt“, Globalzustand einer widerspruchsvollen Verschmelzung von sagt der deutsche Verteidigungsminister und verwandelt sich Natur und Gesellschaft, die beide Begriffe aufgehoben hat, in in einen Suchminister für neue Aufgaben einer feindlosen Ar- wechselseitigen Vernetzungen und Verletzungen, für die wir mee. Auch die Schweiz und Österreich fühlen sich durch die keine Begrifflichkeit haben. Versuche, die Natur als Maßstab fehlende Bedrohung bedroht, die ihre Neutralität sinnlos gegen ihre Zerstörung zu wenden, greifen ins Leere. macht. Warum ist plötzlich so viel von „Nation“ und „Familie“ die Ist es vielleicht ganz einfach, hat die Bedrohung durch Kri- Rede? Weil es sie nicht mehr gibt. Man sollte ein Patentamt minalität zugenommen? „Es gibt Untersuchungen, in denen für Traditionen gründen, denn diese müssen erfunden werden. nach den Ängsten gefragt wird. Da zeigt sich eine interessante Auch wenn sich alle umdrehen, verschwindet die Zukunft Diskrepanz: Die Angst, etwa einen schweren Autounfall zu nicht. Nostalgie ist in der global gewordenen Welt, in der wir erleiden, plötzlich einem gewalttätigen Verbrecher gegen- leben, eine gefährliche Krankheit. überzustehen oder seine Wohnung ausgeplündert vorzufin- Was aber bedeutet es, wenn die alte Welt die Sicherheiten den, ist weitaus größer als die tatsächliche Erfahrung mit sol- ihrer Gegensätze verliert? Die naheliegende Antwort: An- chen Vorkommnissen“, schreibt Wehowsky. Im übrigen ist die thropologische Angst ist durchaus auch falsch. Auch möglich Kriminalität in diesem Jahr erstmals seit langem um fünf Pro- sind die Entdeckung und Erfindung Europas. zent zurückgegangen. Eine Weltordnung ist zusammengebrochen. Welche Chance Aber, tönt es aus Soziologenmund, die nach außen proji- für einen Aufbruch in eine andere Moderne! Doch in zierte Bedrohung spiegelt die massenhafte Labilisierung der Europa geistert ein Gespenst umher: die Angst vor der Lebensbedingungen auch in westlichen Demokratien wider: Freiheit. Y Arbeitslosigkeit, Scheidung, Obdachlosigkeit nehmen zu, ni- sten sich als Schreckgespenst auch hinter den noch stabilen Ulrich Beck, 50, ist Professor für Soziologie in München.

250 DER SPIEGEL 38/1994 Werbeseite

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Affären Gefährliche Fragen Die braunen Schatten ihres Instituts fielen auf die Bevölkerungsforscherin Charlotte Höhn. Denkt sie rassistisch?

ie Frau sei eine „Erbin Hitlers“, schimpfte der SPD-Bundestagsab-

Dgeordnete . Sein poli- AP tisch korrekter Bannstrahl traf Charlotte Professorin Höhn Höhn, 49, Chefin des Wiesbadener Bun- Auflehnung gegen Denkverbote desinstituts für Bevölkerungsforschung (BiB). Menschenzähler verdunkelt. 1990 veröf- Auf der Bevölkerungskonferenz in fentlichte das Bundesinstitut in seiner Kairo hatte die Volkswirtin für einen Schriftenreihe die Arbeit eines Nach- Eklat gesorgt. Kurz vor Konferenzbe- wuchsforschers, der den Rassehygieni- ginn druckte die Tageszeitung (taz) Passa- kern des Dritten Reichs eine „solide gen aus einem zweistündigen Gespräch wissenschaftliche Basis“ bescheinigte. ab, das Höhn vor Monaten mit zwei Hi- Erst nach Protest der SPD-Bundestags- storikerinnen geführt hatte. Darin ver- abgeordneten ließ wahrte sich die Forscherin „mit einer ge- das Innenministerium das Machwerk wissen Bekümmernis“ gegen „Denkver- einstampfen. bote“ in der Wissenschaft, „zum Bei- Schon die Gründung des Instituts war spiel, daß man sagt, daß die durchschnitt- der Sieg von einschlägig vorbelasteten liche Intelligenz der Afrikaner niedriger Bevölkerungsforschern, die jahrelang ist als die anderer“. im verborgenen Lobbyarbeit geleistet Nach dieser „Beleidigung der Ta- hatten. gungsteilnehmer“ (Duve) mußte die Pro- 1952 war auf Initiative des (während fessorin, Mitglied der deutschen Delega- der NS-Zeit mit Zwangssterilisationen tion, vorzeitig abreisen. Letzte Woche befaßten) Hamburger Sozialhygienikers forderte die SPD sogar ihren Rücktritt. Hans Harmsen die Deutsche Gesell- Höhn verschanzte sich hinter Instituts- schaft für Bevölkerungswissenschaft ge- mauern. gründet worden. Ein Jahr später rief Am Freitag letzter Woche wurde die Wis- senschaftlerin vorläufig von ihren Dienstpflich- ten entbunden. In ei- nem Disziplinarverfah- ren gegen sie sollen, wie das Bundesinnen- ministerium mitteilte, „die erhobenen Vor- würfe weiter aufgeklärt werden“. Wird in den Amtsstuben der Wies- badener Demographen tatsächlich, wie die taz meinte, „Politikbera- tung in der Braunzone“ betrieben? Bereits vor vier Jah- ren hatten Schatten der Vergangenheit die Ar- beit der beamteten

* Kopfvermessung bei einer Zigeunerin in der „Rassenhy- BUNDESARCHIV gienischen Forschungsstel- Rassenhygiene im Dritten Reich* le“ in Stein/Pfalz. Nach einer Zeit des Schweigens alte Ideologien?

252 DER SPIEGEL 38/1994 Werbeseite

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Harmsen an der Universität Hamburg die Deutsche Akademie für Bevölke- rungswissenschaft in Leben. „Beide Organisationen“, resümiert der Hamburger Wissenschaftshistoriker Ludger Weß, „wurden zu Sammelbecken der Statistiker, Soziologen und Rassen- hygieniker des NS-Regimes und ihrer Schüler“. Im ersten Nachkriegsjahrzehnt litten sie darunter, daß die belastete Be- völkerungswissenschaft „zur Zeit zum Schweigen verurteilt ist“. Es gab weder ein eigenes Studienfach noch ein For- schungsinstitut. Vorsichtig knüpfte man Kontakte zur Adenauer-Regierung und kungelte Berufungen aus. An vorderster Front agierte damals der Medizinstatistiker Siegfried Koller. 1941 hatte er eine „praktische Lösung“ für das Problem der „Asozialen und Gemein- schaftsunfähigen“ entworfen: Sie sollten von Staats wegen für eheunwürdig er- klärt, zwangsweise unfruchtbar gemacht und im schweren Fall einer tödlichen „Sonderbehandlung“ zugeführt werden. Nach dem Krieg stieg der ehemalige NS-Schreibtischtäter zur grauen Emi- nenz im neugegründeten Statistischen Bundesamt auf. Er bereitete die Volks- zählung 1960/61 vor (mit speziellen, spä- ter gestrichenen Fragen für eine „Frucht- barkeitsstatistik“). Anfang der siebziger Jahre gingen Pro- gnosen um, das Volk der Deutschen wer- de womöglich bald aussterben. Die auf- geschreckte sozialliberale Regierung be- schloß deshalb 1973, ein Bevölkerungsin- stitut zu gründen, das die Politiker bera- ten sollte. Die alte Garde der Bevölke- rungsforscher wähnte sich am Ziel. NS-Statistiker Koller saß im Grün- dungskuratorium des BiB, seine Mitar- beit galt als „unentbehrlich“ (wie es spä- ter in einer Festschrift hieß). Erster Di- rektor des neugegründeten Bundesinsti- „Asoziale Mädchen mischen sich mit vollwertigen Jungen“

tuts wurde der Kieler Anthropologe Hans Wilhelm Jürgens. In seiner Habilitationsschrift 1961, 16 Jahre nach dem Untergang des Dritten Reiches, hatte Jürgens sich – wie vor ihm Koller – mit dem „biologischen und sozi- albiologischen Problem der Asozialität“ befaßt. Aufgrund eigener Untersuchun- gen in Kiel glaubte der spätere BiB-Chef herausgefunden zu haben, an welchen äußeren Merkmalen man Asoziale er- kennt: an „Fingerverkrümmungen“, „Zahnstellungsanomalien“, helleren Haaren und „runderen“ Köpfen. Die Asozialen, die in einer „Atmo- sphäre des Sumpfes“ lebten, seien, so Jürgens weiter, eine „biologische Ge- fahr“ für den „Volkskörper“, weil sich

254 DER SPIEGEL 38/1994 . T. RAUPACH / ARGUS Anthropologe Jürgens* „Belastung für gesunde Sippen“

asoziale Mädchen hemmungslos mit sozi- al „vollwertigen“ Jungen „vermischen“: „Sie wachsen in gesunde Sippen hinein und belasten siemit ihrem negativen Erb- gut.“ Bei der „biologischen Bekämpfung“ der Asozialität seies, so der Gelehrte, lei- der „noch ein weiter Weg . . . bis zu einer stärkeren Einführung der Unfruchtbar- machung“. Als wirksame soziale Maß- nahme betrachtete er zudem die „Ver- weigerung der Genehmigung zur Ehe- schließung“. Bizarre Thesen vertrat Jürgens auch noch später, als er Chef des BiB wurde. So liebäugelte er angesichts des „stetigen Zustroms von Gastarbeitern“ mit einem „Rotationsmodell“ mit jederzeit wider- rufbarer Aufenthaltserlaubnis. Dann wieder schlug er vor, Mütter sollten in den Staatsdienst gehen und als beamtete Frauen vier oder fünf Kinder großziehen. Als der forsche Professor wegen seiner Eigenmächtigkeiten mit dem Innenmini- sterium aneinandergeriet, kehrte er 1979 „im Zorn“ zur Uni Kiel zurück. Dort lehrt er, inzwischen 62, noch heute. Vor allem die jüngeren Mitarbeiter im Wiesbadener Bundesinstitut atmeten auf, als Jürgens endlich ging. Seine Nach- folger Karl Schwarz und Wilfried Linke waren farblose, aber solide Demogra- phen, die zuvor im Statistischen Bundes- amt gearbeitet hatten: „ergebene Diener des Innenministers“, wie Jürgens sie titu- liert. Auch Charlotte Höhn, die 1988 zur Di- rektorin des BiB berufen wurde, hatte „bislang im In- und Ausland einen guten

* Mit der von ihm entwickelten „Kieler Puppe“, deren Körpermaße dem Bevölkerungsdurch- schnitt entsprechen, weshalb sie der Konstrukti- on von Autositzen zugrunde gelegt wurden.

DER SPIEGEL 38/1994 255 .

WISSENSCHAFT

Namen“, wie etwa der Bevölkerungsfor- soms Nummer 17 verbarg und für eine lich bei der vererbten Form von Brust- scher Reiner Dinkel von der Uni Bam- große Zahl von Brustkrebsfällen verant- krebs eine Schlüsselrolle. berg bestätigt. Die Volkswirtin ist stell- wortlich ist. Die King-Theorie löste in den gen- vertretende Vorsitzende der Bevölke- Letzte Woche war das gesuchte Brust- technischen Labors in aller Welt eine rungskommission des Europarats. In krebsgen dingfest gemacht. Forscher hektische Fahndung nach dem fragli- letzter Zeit machte sie sich, so berichtet von sieben Labors in den USA und Ka- chen Teilstück aus. Doch obwohl der ein Kollege, sogar Hoffnungen auf ei- nada, meldete das US-Wissenschafts- Tatort bereits eingegrenzt war, verlief nen Posten bei den Vereinten Nationen. blatt Science in einem anläßlich einer die Suche ungewöhnlich schwierig. Rassistische Formulierungen finden Expertentagung in Salt Lake City (US- Der betreffende Abschnitt auf dem sich in ihren rund 100 Fachveröffentli- Staat Utah) vorab verteilten Sonder- Chromosom 17 gleicht dem Gewusel auf chungen nicht. Ihre Lieblingsthemen druck, hätten das Gen isoliert und sei- den Straßen einer Großstadt am ver- lauteten „Kinderzahl ausgewählter Ehe- nen genauen Bauplan entschlüsselt. kaufsoffenen Sonnabend. Statt zehn jahrgänge“ oder „Die Schlüsselposition „BRCA 1 ist eigentlich ein Krebsbe- Genen, die normalerweise pro Straßen- der Frau in Bevölkerungsentwicklung kämpfer, ein sogenanntes Suppressor- block gefunden werden, entdeckten die und Bevölkerungspolitik“. 1990 setzte Gen“, so erläuterte Mitentdecker Mark Forscher mehr als zwei Dutzend. Diese sie sich kritisch mit „Abtreibung und Skolnik vom in Salt Lake City ansässi- bestanden nicht nur aus jeweils Hun- Eugenik im nationalsozialistischen gen Gen-Labor Myriad Genetics den derttausenden von Einzelbausteinen Deutschland“ auseinander. Fund. Zum Krebsauslöser wird BRCA (Basispaaren), sondern sie waren auch Sie selbst glaubt nicht, „daß Schwarze noch einander überlap- dümmer sind als Weiße“, sagt Charlotte pend angeordnet. Die Höhn. Wissenschaftlich klären lasse sich Bestimmung, wo wel- diese Frage ohnehin nicht, „weil man ches Gen begann und keine homogenen Gruppen findet“. endete, war ebenso Höhn: „Ich bin keine Rassistin. Ich bin mühsam wie die Fest- nur dagegen, nach Art der katholischen stellung, welche Rolle Kirche bestimmte Fragen zu verbie- es spielte. ten.“ Den wissenschaftli- Eine von der taz letzte Woche nachge- chen Wert der nun er- schobene längere Interview-Fassung folgreich abgeschlosse- hatte bereits deutlicher gemacht, daß es nen BRCA-1-Suche Höhn offenbar um die Freizügigkeit wis- stufte der US-Brust- senschaftlicher Fragestellungen gegan- krebsexperte William gen war und nicht um ein Werturteil Wood vom Emory Uni- über Rassen. versity Breast Health Ihrem Vorgänger Jürgens hingegen Center in Atlanta wirft die unter Druck geratene BiB- (Georgia) als „außeror- Chefin vor, er stehe tatsächlich in der dentlich hoch“ ein. „Kontinuität der Ideologie des Natio- Vom Standpunkt eines nalsozialismus“: „Ich lehne diesen Klinikers jedoch, der Mann entschieden ab.“ Y Patientinnen behan- delt, sei die Auswir- kung der Entdeckung Genetik „minimal“: BRCA 1 betrifft nur vergleichs- weise wenige krebs- kranke Frauen.

Gewusel MATUSCHKA Der Brustkrebs ist in Brustkrebspatientin Matuschka: Tabu gebrochen Deutschland das häu- figste weibliche Krebs- am Tatort 1, wenn sich seine molekulare Struktur leiden. Etwa 40 000 Frauen erkranken verändert – das Gen verliert dann die jedes Jahr daran, 17 000 von ihnen ster- Amerikanische Forscher Fähigkeit, ungezügeltes Zellwachstum ben an den Folgen. Doch den Medizin- entschlüsselten ein Brustkrebsgen zu unterdrücken. Mögliche Folge ist ei- statistiken zufolge ist ein vererbter ne Krebserkrankung in der Brust oder BRCA-1-Defekt nur bei 0,3 Prozent der – ein wissenschaftlicher Durch- in den Eierstöcken. Betroffenen die Ursache der Erkran- bruch von begrenztem Nutzwert. Den ersten Hinweis auf den ursäch- kung. lichen Zusammenhang zwischen Dem möglichen Nutzen eines Blut- BRCA-1-Mutationen und Brustkrebs tests, mit dem sich ein defektes oder arald Varmus, Direktor der ameri- gab 1990 die amerikanische Genetikerin fehlendes BRCA 1 nachweisen ließe, kanischen National Institutes of Mary-Claire King von der University of stehen deshalb viele Mediziner skep- HHealth, schlüpfte in die Rolle eines California in Berkeley. tisch gegenüber. Sie befürchten über- Gesundheits-Sheriffs: Anfang April die- Fast zwei Jahrzehnte lang hatte die dies, daß sich ein Trend verstärkt, der ses Jahres erhob er einen seit vier Jah- Wissenschaftlerin Familien untersucht, sich – vor allem in den USA – in den ren namentlich bekannten Killer zum in denen Frauen gehäuft an Brustkrebs letzten Jahren entwickelt hat: Frauen, in „Staatsfeind Nummer eins“ und lobte erkrankten. Sie entdeckte bei den Fami- deren Familie Brustkrebs gehäuft auf- für dessen Ergreifung ein Kopfgeld von lienangehörigen jeweils auf dem Chro- trat, drängten in chirurgische Praxen, zwei Millionen Dollar aus. mosom 17 einen Gen-Abschnitt, der bei um sich vorsorglich beide Brüste ampu- Gefahndet wurde nach BRCA 1, ei- den krebskranken Frauen nicht vorhan- tieren zu lassen. nem Stück Erbmaterial, das sich irgend- den war. Dieses Fehlstück, folgerte die Der Run auf die Chirurgen war in den wo auf dem langen Arm des Chromo- Berkeley-Forscherin, spiele wahrschein- USA auch dadurch gefördert worden,

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Automobile Luft raus Honda, einst das innovativste Unternehmen der japanischen Autoindustrie, leidet an chronischem Ideenschwund.

chon die Wahl des Schauplatzes sollte von der großen Bedeutung Sdes Ereignisses künden. Der Lou- vre in Paris, ein Brennpunkt abendlän- discher Kulturgeschichte, erschien den Japanern würdig. Dorthin reiste Honda- Präsident Nobuhiko Kawamoto am Dienstag vergangener Woche, um mit

L. FISCHMANN / GRÖNINGER seiner Anwesenheit die Präsentation ei- Krebsexperte Jonat nes neuen Honda-Autos zu adeln. Vor Panik gewarnt Geheimnisvoll entfuhr es einer künst- lich erzeugten weißen Rauchwolke auf daß Prominente wie Nancy Reagan der Bühne des Konferenzsaales, wäh- und die New Yorker Bildhauerin Ma- rend Kazue Ito, Europa-Statthalter von tuschka sich öffentlich zu ihrer Ampu- Honda, mit großer Geste erklärte: „Es tation bekannt und damit ein Tabu ge- handelt sich zweifellos um das wichtigste brochen hatten. Doch die von Panik Auto, das wir in Europa je vorgestellt geleiteten Vorsorgeoperationen sind haben.“ nach Ansicht des Hamburger Brust- Beim Anblick der Neuheit beschlich krebsexperten Walter Jonat „absoluter die anwesenden Fachleute allerdings ein Blödsinn“. Auch die in Salt Lake City flaues Gefühl. „Wenn das für Honda zusammengekommenen Wissenschaft- das wichtigste ist, dann gute Nacht“, ur- ler warnten vor übersteigertem Krebs- teilte spontan ein Kritiker im Publikum. test-Optimismus und vor Kurzschluß- Das neue Fahrzeug ist im wesentlichen handlungen. längst bekannt: ein ganz gewöhnlicher BRCA 1, machten die Krebsexper- Honda Civic, der nun in einer fünftüri- ten klar, sei nur eines von vermutlich gen Version das Europa-Geschäft bele- drei Genen, die für eine Brustkrebser- ben soll. krankung verantwortlich sind. Und Um den Wagen nicht ganz alt ausse- statt sich dem Radikaleingriff zu unter- hen zu lassen, verpaßten ihm die Hon- ziehen, täten Frauen, bei denen der da-Designer die Frontpartie nach dem Gen-Defekt entdeckt wird, besser dar- Muster des in Japan angebotenen Mo- an, eine Reihe vonkon- ventionellen Vorsichts- maßnahmen zu ergrei- fen: Um ihr Brust- krebsrisiko zu min- dern, sollten sie etwa aufhören zu rauchen oder die Pille absetzen. Auch die an der BRCA-1-Entdeckung beteiligte US-Forsche- rin Lisa Cannon-Al- bright suchte die Auf- regung zu dämpfen: Bevor alle Frauen von einem Test profitieren könnten, mit dem sich dann womöglich die Wahrscheinlichkeit ei- ner Brustkrebserkran- kung vorhersagen las-

se, „müssen wir alle HONDA noch viel mehr wis- Honda-Präsident Kawamoto, neuer fünftüriger Civic sen“. Y Die Fachleute beschlich ein flaues Gefühl

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Werbeseite TECHNIK dells „Domani“. Der Rest stammt zum mehr leisten, denn zur gleichen Zeit großen Teil vom Honda Civic, der in brach das Autogeschäft ein. dieser Version seit drei Jahren auf dem Geblendet von Rennfieber und Exo- Markt ist. tenglanz, vernachlässigte Honda die Die Pariser Europa-Premiere des Weiterentwicklung der alltäglichen Stra- neuen alten Civic ist ein weiteres ßenautos, mit denen das Geld verdient Zeugnis tiefer Lethargie, in der Honda wird. Die Produktpalette zeugt heute dahinkränkelt – ein Unternehmen, das von unverzeihlichen Versäumnissen: noch vor wenigen Jahren als Muster- Honda hat kein Cabrio, keinen Gelände- beispiel fernöstlicher Innovationskraft wagen, keinen Kleinwagen in Europa galt. Der japanische Autohersteller und – größter Fehler – keinen Dieselmo- war erstaunlich geschwind zum dritt- tor. Erst im kommenden Jahr soll eine größten Fahrzeugbauer im Lande auf- Großraum-Limousine das Angebot er- gestiegen. weitern. In den achtziger Jahren verdreifach- Weltweit muß Honda sich vorläufig te sich der Umsatz, während Honda auf deutlich geringere Absatzzahlen ein- mit einzigartiger Motorentechnik und stellen. Für dieses Jahr ist eine Gesamt- herausragenden Erfolgen im Motor- produktion von höchstens 1,5 Millionen sport die Prestigestufe eines Fernost- Fahrzeugen geplant. 1992 waren es noch BMW erklomm. Mit einer der größten knapp 2 Millionen. Pionierleistungen im Motorenbau ver- Kawamotos Optimismus, Honda kön- blüffte das Unternehmen 1989 Europas ne „seine Geschäftstätigkeit wiederbele- Ingenieure: Die völlig neuartige varia- ben und den Fortschritt stärken“, spie- ble Ventilsteuerung „VTEC“ verhalf gelt sich bisher nicht in neuen Produkten Honda-Motoren zu ungeahnten Rekor- wider, die zu Hoffnung Anlaß geben den in Verbrauch und Leistung. könnten. Wohl aber in kostspieligen Höhepunkt der japanischen High- Pressekonferenzen, in denen Honda ver- Tech-Eruptionen war der 1990 einge- sucht, seine Kreativität auch ohne kon- führte, 274 PS starke Supersportwagen krete Beispiele glaubhaft zu machen. Honda NSX, das erste Serienauto der So lockte das Unternehmen im Juni Welt mit Aluminiumkarosserie. Im über 100 europäische Autotester und Vergleichstest von Auto Motor und Wirtschaftsexperten für eine Woche

Formel-1-Rennwagen von Honda (1992): Teurer Höhenflug

Sport siegte er als erstes Japan-Gefährt nach Tokio mit dem verheißungsvollen aller Zeiten über die etablierte Kon- Versprechen, sie in die geheimen Ge- kurrenz von Porsche und Ferrari. mächer der Entwicklungsabteilung zu Es war ein Triumph mit bitterem führen. Nachgeschmack, denn gelohnt hat sich Die Wissensdurstigen kamen, sahen das NSX-Abenteuer nie. Kleinlaut gab aber nicht viel. Chefentwickler Ken Kawamoto kürzlich in Tokio zu, daß Hashimoto präsentierte den Gästen we- Honda sich bald wieder aus der Exo- nig Spektakuläres. Im Versuchsstadium tenklasse verabschieden wird. Zu weni- befinden sich ein stufenloses Automa- ge Kunden gibt es, die weit über tikgetriebe (wie es Ford und Fiat seit 100 000 Mark für einen Honda ausge- Jahren anbieten), eine Lenkrad-Tipp- ben wollen. schaltung (bei Porsche bereits in der Se- Auch die Erfolge im Rennsport wa- rienfertigung) und eine Meßanlage für ren Pyrrhussiege im Verlauf eines teu- den Reifendruck mit Warnleuchte im ren Höhenflugs. Nach fünf Weltmei- Armaturenbrett (von Porsche schon er- stertiteln in Folge zog sich Honda 1992 probt und verworfen). aus der Formel 1 zurück. Im Rüstungs- „Bei Honda“, schloß einer der ange- wettlauf der Rennställe mitzuhalten, reisten Autoexperten, „ist die Luft konnte sich das Unternehmen nicht raus.“ Y

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Werbeseite . PERSONALIEN

kreis Berlin Mitte/Prenzlauer Berg: „Sie, Herr Heym, könnten noch einmal etwas Gutes für unser Land tun“, ermunterte der Bürgerrecht- ler den 81jährigen Schriftstel- ler: „Verzichten Sie zugun- sten von Wolfgang Thierse auf Ihre Kandidatur.“ Die Wahlhilfe des Grünen für den Sozialdemokraten, eben- falls Direktkandidat in Mitte/ Prenzlauer Berg, ist durchaus eigennützig. Heym würde durch seinen Rückzieher, lockt Weiß, „wirklich mit da- für sorgen, daß sich in Deutschland etwas ändert“. Denn jede Stimme für die PDS, so spekuliert Weiß, sei GAMMA / STUDIO X SABA „eine Stimme gegen die ein- zig realistische Reform-Al-

P. RENAULT / M. SIMON / ternative: gegen Rot-Grün“. Marsalis Clinton ylie Minogue, 26, Popsän- ynton Marsalis, 33, amerikanisches Jazz- tieren. Dann wäre Schluß mit aller Obstrukti- Kgerin aus Australien („I Wtrompetengenie, hat klugen Rat für US- onspolitik im Parlament.“ Doch auch dem Should Be So Lucky“), will Präsident Bill Clinton. Der Starmusiker kom- Musikanten Clinton zollt Demokrat Marsalis ihr Image als das nette Mädel mentierte die neue CD des gelegentlich das Respekt. „Was ihm an Können, Talent, Ima- von nebenan endgültig able- Tenorsaxophon blasenden Regierungschefs: gination, Technik und Swing fehlt“, so der gen. Zu diesem Zweck legte „Wenn der Präsident wieder einmal im Kon- Jazzgigant, mache Clinton „mehr als wett mit sie erst mal alle Kleidungs- greß Schwierigkeiten hat, ein Gesetz durchzu- seiner Begeisterung und seinem Dampf“. Ti- stücke ab und posierte für bringen, dann sollte er die Abgeordneten eine tel der neuen Präsidenten-CD: „Bill Clinton das Titelbild des britischen Stunde lang mit seinem Saxophonspiel trak- Jam Session. The Pres Blows.“ Sky Magazine. Zwar würde sie „nie so weit wie Madonna gehen“, beruhigte die Künst- elmut Kremers, 45, acht- mung im Saal kippte. „Hel- Heroin“), ließ Petschel, lerin biedere Gemüter ihrer Hmaliger Nationalspieler, mut, Helmut“-Sprechchöre selbst Kandidat bei der Land- Gemeinde, „aber warum soll wurde Montag vergangener kamen auf. Mit knapp 400 tagswahl am nächsten Sonn- es zwischen mir und meinen Woche dank einer Ge- Stimmen Vorsprung wurde tag, letzte Woche in seinem Fans nicht ein bißchen kni- schichtsklitterung zum Präsi- der Kandidat gewählt. Dabei Kreis eine „Drogenstatistik stern“. Hintersinniger gibt denten des skandalträchtigen waren die Spiele zwischen der CSU“ plakatieren. In der sich da der Pressesprecher dem BVB und Schalke, auch Tabelle sind die Namen von der Sängerin: „Auf ihrer neu- in der Kremers-Ära, immer einem guten Dutzend promi- en Platte offenbart sie ihr ausgeglichen. Viermal siegte nenter CSU-Mitglieder auf- nacktes („bare“) Talent, war- Schalke, viermal der BVB. geführt, die unter Alkohol- um sollte sie sich da nicht Der Rest war unentschieden. einfluß zum Teil schwere nackt („bare“) fotografieren Aber der Haß auf den Euro- Verkehrsdelikte begangen lassen.“ papokalsieger BVB 09 ist bei haben. Spitzenmann auf der Schalke so groß, daß selbst Suffliste ist Fernsehdirektor Kremers die Regie entglitt. Wolf Feller vom Bayerischen Als der neue Präsident zum Rundfunk (2,36 Promille),

HORST MÜLLER Schluß die Vereinshymne Prominentester der bayeri- Kremers „Blau und Weiß, wie lieb’ ich sche Wirtschaftsminister Ot- Dich“anstimmen wollte, gröl- to Wiesheu (1,6 Promille), Fußballklubs Schalke 04 ge- ten seine Anhänger: „Wir der 1983 einen tödlichen Ver- wählt. Bei seiner Vorstel- scheißen auf den BVB.“ kehrsunfall verursacht hatte. lungsrede in der Gelsenkir- Petschels Plakat soll diese chener Emscher-Lippe-Halle ranz Petschel, 48, Bürger- Woche bayernweit Verwen- war der als Außenseiter ge- Fmeister von Hausen im dung finden. startete Kremers auf seine niederbayerischen Kreis Kel- Spiele gegen den verhaßten heim, der einzige Grüne un- onrad Weiß, 52, Bun- Rivalen Borussia Dortmund ter Bayerns Gemeindeober- Kdestagsabgeordneter von (BVB 09) zwischen 1971 und häuptern, verhalf seiner Par- Bündnis 90/Die Grünen, 1980 eingegangen. „Wenn es tei unverhofft zu einem warb per Leserbrief für Rot- früher gegen den BVB ging“, Wahlkampfschlager. Erbost Grün. In einem Schreiben an prahlte Ex-Kicker Kremers, über ein CSU-Plakat zum die Berliner Zeitung wandte „haben wir uns gar nicht rich- Drogenthema („Nein zu Rot- er sich an den Direktkandi- tig umgezogen.“ Die Stim- Grün – Keine Freigabe von daten der PDS für den Wahl- Minogue

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oman Herzog, 60, Bun- Rdespräsident, unterhielt bei seinem Freundschaftsbe- Alles such in Ungarn Staatspräsi- dent A´ rpa´d Göncz mit Spöt- falsche Kunst? tereien über Wissenschaftler und Politiker: „90 Prozent tragen Bedenken, 10 Prozent Verantwortung.“ Eine Be- merkung wert war ihm auch die professorale Sucht nach prachtvollen Arbeitszimmern auf Kosten der Steuerzahler: „Das ist wie mit Kanarienvö- geln, je größer der Käfig, de- sto weniger gerne singen sie.“ Nicht einmal sich selbst

STUDO X verschonte der Präsident: „Ich bin auch Universitäts- professor und kann es des- halb schwer ertragen, wenn

D. SIMON / GAMMA / mir einer eine gute Rede auf- Tapie schreibt. Aber ich kann es noch weniger ertragen, wenn Bernard Tapie, 51, französischer ein anderer eine gute Rede Unternehmer, Europa-Parlamenta- hält.“ rier, Ex-Adidas-Chef und mit 1,4 Milliarden Francs bei der Staats- homas Zeltner, 47, Arzt bank Cre´dit Lyonnais in der Kreide, Tund als Chef des Bundes- kann womöglich seine Schulden amtes für Gesundheitswesen nicht begleichen. Zumindest ein in Bern für die Aids-Vorbeu- Posten seines inzwischen be- gung in der Schweiz verant- schlagnahmten Eigentums verlor wortlich, wird der Pornogra- peu a` peu erheblich an Wert: Ta- phie bezichtigt. Nach rosa pies Sammlung antiker Möbel und Kondomen und pfiffigen Slo- alter Gemälde war von einem Ex- gans sind auf den neuesten perten auf 350 bis 510 Millionen Plakaten seines Amtes erst- Francs taxiert worden. Doch Prüfer mals Liebespaare im ironisch der britischen Auktionshäuser Chri- durchgestylten Ambiente zu stie’s und Sotheby’s fanden jetzt, sehen – darunter auch zwei die Tapie-Schätze seien allenfalls Jungs im Kornfeld. „Wir 26 bis 50 Millionen Francs wert. schützen uns, weil wir uns lie- Das Bild „L’eau avec Neptune“, Ru- bens oder Snyders zugeschrieben, war von einem französischen Fach- mann auf 30 bis 150 Millionen Francs veranschlagt worden. Tapie hatte den 2,10 Meter mal 3,80 Meter großen Schinken aber für nur 980 000 Francs auf einer Auk- tion ersteigert. Das Gemälde ist möglicherweise nicht einmal das

wert, höhnt die Zeitschrift Le Point. KEYSTONE ZÜRICH / DPA Denn Tapie hat dem Cre´dit Lyon- „Stop Aids“-Plakatausschnitt nais auch einen Modigliani und zwei Chagalls als Originale über- ben“, heißt es darunter. Für schrieben, die er vom Maler manche Eiferer ist die nüch- Jacques Harvey erworben hatte. terne Plakataussage obszön. Harvey, eine Art französischer Ku- Sie zeigten Zeltner an. Der jau, behauptet jetzt: „Ich habe ihm sieht dem Verfahren gelassen sieben oder acht Werke in der Ma- entgegen. Gelassen erträgt nier von Chagall, Modigliani und der Berner auch, daß die Pla- Magritte für 100 000 Francs ver- kate inverschiedenen Landes- kauft.“ Unangenehm für den Fi- teilen der calvinistischen nanzkünstler: Bernard Tapie habe Schweiz beschmiert, abgeris- „sehr genau gewußt, daß es sich sen oder übersprayt wurden. nicht um Originale handelt“. Zeltner: „Wir waren über- rascht, daß wir nicht mehr Re- aktionen hatten.“

DER SPIEGEL 38/1994 263 .. REGISTER

Gestorben

Jessica Tandy, 85. Ihre Filmkarriere startete sie in einem Alter, in dem sich andere Schauspielerinnen längst mit vergilbten Erinnerungsfotos trösten. Als 80jährige gewann sie den Oscar für ihre Titelrolle in „Miss Daisy und ihr Chauffeur“. Die kühle Verve, mit der sie die strapaziöse Lady spielte, ließ Hollywood erkennen, was dem Kino entgangen war. Ein anspruchsvoller Rollen-Reigen in Filmen wie „Grüne Tomaten“ (1991) und „Die Herbstzeit- losen“ (1992) folgte. Zuvor hatte die

gebürtige Londonerin fast nur am ULLSTEIN Theater gearbeitet. Tandys Blanche, die sie 1947 an der Seite Marlon Bran- len) erzielte er im legendären WM-Fi- dos in „Endstation Sehnsucht“ am nale gegen Ungarn 1954 in Bern. Seit 1948 betrieb er eine – eigenhändig er- baute – Lottoannahmestelle und blieb diesem Geschäft ebenso treu wie dem 1. FC Nürnberg, für den er in 24 Jah- ren 900 Spiele bestritt. Den Gedanken an eine Verlängerung der Fußballkar- riere als Trainer oder Funktionär ver- warf er schnell – aus mangelndem Ta- lent, Intrigen zu spinnen und sich selbst darzustellen. Max Morlock starb vorvergangenen Samstag in Nürnberg an Krebs.

D. KIRKLAND / SYGMA Alain Bernardin, 78. Bevor der Grün- der und Chef des Pariser Edel-Strip- Broadway spielte, ist längst Bühnenle- tease-Lokals Crazy Horse Saloon auf gende – und auch, daß sie nicht in die die Entblößung kam, verdiente er sei- Kinofassung übernommen wurde, wohl nen Lebensunterhalt mit dem Verkauf die größte Enttäuschung ihres Lebens. von Feuerlöschern und als Trödelhänd- Jessica Tandy starb am vorvergangenen ler. In seine Kellerwelt, die er seit 44 Sonntag in Easton/Connecticut an Jahren betrieb, drängten sich jährlich Krebs. 200 000 Gäste, um jene Illusionen zu erleben, die ihnen der Gelegenheits- Barry Graves, 52. Mit 22 Jahren ging der maler mit Licht- und Schminkeffekten gebürtige New Yorker nach Berlin, wo vorgaukelte – sexlose Erotik. „In mei- er Soziologie und Publizistik studierte, ne Show“, behauptete er, „können so- und in seiner deutschen Wahlheimat gar Großmütter gehen.“ Seine Tanz- machte er aus seinem Hobby, der Pop- girls erzog Bernardin wie im Mädchen- musik, einen Beruf. Graves arbeitete als pensionat: 20 Prozent ihres Monats- Radiojournalist, veröffentlichte Aufsät- lohns mußten sie auf einem Sperrkonto ze, Rezensionen und 1973 ein bahnbre- festschreiben, der Flirt mit Gästen war chendes Standardwerk, gemeinsam mit verboten, Pünktlichkeit war Pflicht, so- dem damaligen SPIEGEL-Redakteur gar ihre bürgerliche Identität mußten Siegfried Schmidt-Joos: das „Rock-Le- die Mädchen ablegen. Nach der letzten xikon“. Für Fans und Branchenkenner Show am Donnerstag vergangener Wo- gleichermaßen war das informative, in che erschoß sich Alain Bernardin in origineller Diktion verfaßte Buch jahre- seinem Klub. lang eine unentbehrliche Orientierungs- hilfe. Barry Graves, der sich in letzter Zeit gegen Rassenhaß und die Banali- sierung des Rundfunks engagiert hatte, ist am vorvergangenen Donnerstag in Berlin an den Folgen von Aids gestor- ben.

Max Morlock, 69. Halbstürmer war sei- ne Position, Konditions- und Kopfball- stärke galten als Vorzüge des Fußball- spielers aus Nürnberg. Sein wichtigstes

Tor (von immerhin 21 in 26 Länderspie- J. E. PASQUIER / RAPHO / FOCUS

264 DER SPIEGEL 38/1994 Werbeseite

Werbeseite .

19. bis 25. September FERNSEHEN

MONTAG digt der neuen Körperlich- 23.30 – 24.00 Uhr RTL hölzern. „Im Namen des Ge- keit. Gottfried John in der setzes“ (Beginn: 21.15 Uhr 17.55 – 18.50 Uhr ARD ), Rolle eines Hauptkommis- Gottschalk die zweite neue RTL-Serie, Sterne des Südens sars schwitzt, blutet und zit- Das blonde Flach(t)mahr hat der Routinier Harald Wie schwarz muß die Serien- tert hinter den unsichtbaren flattert wieder durch die Vock geschrieben. nacht sein, daß diese Sterne Bösen her, die sich für den Nacht: Dienstags, mittwochs strahlen? Doch das kindische Einbruch von Hackern in und donnerstags sendet Tho- 22.05 – 0.30 Uhr RTL 2 Ferienklubbl-Bubbel mit all ihr Datennetz rächen wol- mas Gottschalk „absolutely den schönen Animateuren len. Die Härte dieses Fahn- live“, montags gibt es High- Ein mörderischer Sommer (Mark Keller, Maria Ketiki- ders stammt aus dem Kampf lights der vergangenen Wo- Isabelle Adjani als aufreizen- dou) hat seine Werbewirk- gegen die eigene Alkohol- che und samstags eine Auf- de Kindfrau in einem franzö- samkeit am Vorabend erwie- sucht, seine Waffen sind sei- zeichnung. Am Freitag, sischen Provinznest. Die Blü- sen, ein jüngeres Publikum ne Instinkte, seine Haut wurde gewonnen. Nach der spürt die Lüge, er riecht die Wiederholung alter werden Spuren der Täter. Einzig die von Januar an 13 neue Fol- schöne Sydne Rome, von ei- gen der „Sterne des Südens“ ner betulichen Synchron- verstrahlt. stimme entstellt, wirkt wie eine Rache des Computers, als sei da ein Serienklischee 18.55 – 19.57 ARD in die Bilder des Films hin- Wildbach eingerechnet worden. Ein Alpen-Casanova (Horst Kummeth), der redliche 20.40 – 22.00 Uhr Arte Martin von der Bergwacht (Siegfried Rauch), die resche Der Stadtneurotiker Eva vom Fremdenverkehrs- Er würde, zitiert Woody Al- büro (Kathi Leitner) – wann len einen Groucho-Marx-

rufen eigentlich die in Serien- Satz, nicht in einen Verein KÖVESDI not geratenen Berge bei eintreten, der ihn als Mit- „Mörderischer Sommer“-Darstellerin Adjani mit Alain Souchon Hans Meiser an: „Bitte, ret- glied aufnähme. So handelt tet uns“? denn diese wunderbar-witzi- wenn demnächst Roger Wil- te ist vergiftet: Das Mädchen ge Tour durch die Psyche lemsen und Reinhold Beck- sucht den Vergewaltiger sei- ner Mutter, der sein Vater 19.25 – 21.00 Uhr ZDF New Yorks (USA 1977) von mann talken, räumt Gott- der Sehnsucht anzukommen schalk das Feld. Da hilft auch ist. Ein spannender Thriller Tödliches Netz und zugleich von den Won- kein Ersatz für den teuren, in (Frankreich 1983, Regie: Jean Der Wind hat sich gedreht. nen des Wissens darum, daß Pension geschickten Hund. Becker), mit vier „Ce´sars“ ge- Die Zeit, da Film und Fern- sie nie in Erfüllung gehen ehrt. sehen der Faszination durch kann. unterkühlte Yuppies und DIENSTAG 23.15 – 0.45 Uhr Bayern III zauberhafte Cyber-Welten 21.45 – 23.15 Uhr Südwest III 20.15 – 22.30 Uhr ARD erlagen, geht zu Ende. Nicht Das Testament nur Hollywood mit Mike Ni- Herbstsonate Fußball des Dr. Cordelier chols’ „Wolf“ entdeckt die Ein Beziehungswestern, wie Pokalfight: Kaiserslautern – Der archaische Lustmolch Intelligenz und Größe des ihn sich nur der nordische Dortmund. Der Betzere soll lauert in jedem braven Bür- menschlichen Körpers wie- Tiefseelentaucher Ingmar gewinnen. ger. Die Doppelbödigkeit ei- der, weil auf den einzig Ver- Bergman ausdenken kann: nes Dr. Jekyll/Mr. Hyde in- laß inmitten der virtuellen Hie, im düsteren norwegi- 20.15 – 22.15 Uhr RTL teressiert den Altmeister des Spiegelkabinette zu sein schen Pfarrhaus, die Tochter französischen Kinos, Jean Re- scheint. Auch dieser wilde (Liv Ullmann), ein häßliches Doppelter Einsatz / noir, in diesem Film von 1959. Film von Vivian Naefe hul- Entlein hinter kugelrunden Im Namen des Gesetzes Jean-Louis Barrault zeigt be- Brillengläsern, dort die Deutscher Doppelschlag auf sonders eindrucksvoll die mondäne Mutter (Ingrid RTL. Wo sonst Columbo Nachtseite des ehrgeizigen Bergman), eine plauder- und Quincy die Serienarbeit Dr. Cordelier: Da schleicht süchtige Pianistin, die über taten, kreiert der Thoma- und tänzelt das Alter ego in zu die Kunst ihre Familie ver- Sender heimische Produkte. großem Anzug, mit schiefem nachlässigt. Wenn es zum Der „Doppelte Einsatz“ soll Kopf und zuckenden Bewe- High-noon kommt, ge- vom Gegensatz zweier Kom- gungen durch die Vorstadt, schieht ein kleines Wunder: missarinnen leben: die eine zwirbelt sein Stöckchen und Die beiden Schauspielerin- ganz etepetete Blonde im quält Kinder und Greise. nen wachsen über das Dreh- eleganten Kostüm (Eva buch hinaus. Liv Ullmann Scheurer), die andere ein verwandelt sich vom gerech- burschikoser Frechdachs MITTWOCH ten Racheengel in ein fle- (Despina Pajanou). Leider 20.00 – 22.15 Uhr Sat 1 hendes Kind zurück, und stiebt es in der ersten Folge Ingrid Bergman zeigt viel (Regie: Peter Keglevic) noch Fußball mehr als bloß eine egozen- nicht so recht zwischen den Bundesliga-Lokalderby: 1860

KÖVESDI trische Rabenmutter (BRD/ beiden, dazu spielen die un- – Bayern. Schlackern die Le- John (r.) mit Niels-Bruno Schmidt Schweden 1978). gleichen Polizeischwestern zu derhosen in der Löwengru-

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be? Voll ist eh alles im Münch- 20.15 – 21.15 Uhr ZDF amerikanischen TV-Film KIOSK ner Olympiastadion. So ein Tag (1993) wechselt die Schau- mit guten Freunden spielerin Victoria Principal 20.15 – 21.44 Uhr ARD das Element und geht auf ei- Schiwys Der Kreuzfahrerkahn „Dres- ne abenteuerliche Wildwas- Ausgerechnet Zoe´ den“ fährt von der tschechi- sertour, wo rauhe Felsen und Flop-Station Weil sie HIV-positiv ist, hängt schen Grenze nach Hamburg ein Psychopath (Peter Ono- Den Berliner Radiosen- die 22jährige Zoe´ (Nicolette und trägt eine teure (Alt-) rati) für zusätzliche Wirbel der r.s.2 hat Peter Krebitz) ihr Studium an den Last: Fischer-Chöre, Frank sorgen (Regie: Robert Is- Schiwy, 58, herunter- Nagel, jobbt und will bis zum Schöbel, Patrick Lindner mit cove). gewirtschaftet – den- Ausbruch der Krankheit ein Shantys singenden blauen möglichst intensives Leben Jungs . . . Wie geht doch noch wurde der Ex-Inten- 21.15 – 21.45 Uhr ZDF dant des Norddeutschen führen. Doch die Männer, die gleich das Spiel „Schiffe ver- Rundfunks mit einer Zoe´ lieben lernt, lassen sie im senken“? Prieros – neuen Lizenz belohnt. Stich. Am Ende fürchtet Zoe´, der fünfte Sommer Vom Bund hatte CDU- daß ihre Seele schneller stirbt 23.05 – 0.05 Uhr ARD Zu DDR-Zeiten war Prieros Mitglied Schiwy den als ihr Körper. Der Film des ein Dorf, in dem SED-Bon- einst populären Sender Schweizers Markus Imboden Schauplatz der Geschichte zen residierten. Das „Vene- Rias 2 übernommen und mit Henry Arnold, Andre´ Susanne Müller-Hanpft und dig Brandenburgs“ ist Ge- zum Minusbetrieb r.s.2 Jung, Jürgen Vogel und Ni- Martin Bosmann untersuch- genstand einer ZDF-Lang- verwandelt: Die Hörer cole Heesters ist eine TV-Pre- ten die schwierige und gefähr- zeitbeobachtung. Im Früh- schalteten um, die miere. dete Lage der ehemaligen jahr 1991 hatte der TV-Autor Schulden wuchsen auf jugoslawischen Teilrepublik Martin Graff („Als Elsässer über zehn Millionen 21.48 – 22.30 Uhr ARD Mazedonien, die ohne krie- bin ich sensibilisiert für poli- Mark. Schiwy verstieß gerische Auseinandersetzung tische Wechselbäder“) zum zudem unentwegt gegen Unter deutschen Dächern die Unabhängigkeit erlangte. erstenmal die 800-Seelen-Ge- die Auflagen der Berliner . . . liegt der Mief von 40 Jah- Medienanstalt, ein jour- ren. Besonders, wenn man nalistisches Programm sich wie Jutta Ackermann und mit hohem Wortanteil zu Wolfgang Dresler mit der Ge- servieren. Weil das Geld schichte der Wahlwerbung nie reichte, bot Großge- beschäftigt. „Alle Wege des sellschafter Schiwy (44 Marxismus führen nach Mos- Prozent) die Flop-Station kau“, polemisierte in den zunächst heimlich feil, fünfziger Jahren ein berühm- dann fand er in der tes CDU-Plakat gegen die Nordwest-Zeitung und SPD. Die Autoren haben in Radio Schleswig-Hol- auch Putziges ausgegraben: stein neue Mehrheits- einen Fünfziger-Jahre-Trick- gesellschafter. Die ge- film, in dem einen Wirtschaftswunder- baum mit reifenden goldenen Markstücken gießt. ROSY-PRESS 22.20 – 23.05 Uhr ZDF „Puppenmörder“-Darstellerin Judy Huxtable Kennzeichen D 23.55 – 1.20 Uhr Sat 1 meinde porträtiert. Sein Ein- Jüngst adelte die Frankfurter druck heute: „Der Schock- Allgemeine die Joachim-Jau- Der Puppenmörder Effekt ist vorbei, das mittel- er-Truppe: Sie produziere das Eine ganze Serie von Morden ständische Gewerbe hat sich „Kleinod unter den Magazi- beunruhigt die Londoner Po- stabilisiert, man vernimmt kaum noch Jammern.“ DPA nen“. Themen: Neue Kame- lizei. Bei jedem Toten wird Schiwy raden – deutsch-polnische eine Wachspuppe mit seinem Soldatenfreundschaft / Wem Konterfei gefunden. Für alle 22.00 – 0.30 Uhr RTL nervten Medienwächter gehören die Mauergrundstük- Zuschauer ist nach zehn Mi- schrieben danach die ke? / NVA-Waffen in Ent- nuten klar, wer der Mörder Thelma & Louise Frequenz neu aus. Bei wicklungsländer / Friedens- ist. Nur der Inspektor (Pa- Am Anfang sind es kleine CDU-Zirkeln jedoch warb preis – Porträt des spanischen trick Wymark) merkt es nicht Fluchten: Thelma (Geena Schiwy für sein Mo- Schriftstellers Jorge Sem- (England 1966, Regie: Fred- Davis), die naive Nur-Haus- dell, die Medienanstalt pru´n. die Francis). frau, und die resignierte Kell- stimmte schließlich zu: nerin Louise (Susan Saran- Schiwy bleibt mit 14 Pro- don) wollen am Wochenende zent an r.s.2 beteiligt, DONNERSTAG FREITAG einfach ein bißchen Ab- aus dem Management ist 20.15 – 20.59 Uhr ARD 20.15 – 21.44 Uhr ARD wechslung erleben. Doch die er aber raus. Schiwy be- beiden Frauen stoßen mit der scheiden: „Eigentlich Pro & Contra Atemlose Flucht Männerwelt zusammen, und wollte ich nie Geschäfts- Geht es aufwärts oder ab- In der Serie „Dallas“ spielte ihr Leben verwandelt sich in führer werden.“ wärts? Special zum Super- sie die schöne Ölprinzessin einen Kampf auf Leben und wahljahr. Pamela Ewing, mit diesem Tod. Als ein Mann Thelma

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vergewaltigen will, erschießt 22.10 – 23.35 Uhr Arte trien der Allerweltsmoderne DIENSTAG die zur Hilfe eilende Freun- Die Straßenkinder hinaus. Ihre Baupläne sind 23.10 – 23.40 Uhr Sat 1 din den Peiniger in Not- von Belfast Drehbücher, die keine ferti- wehr. Beide Frauen wenden gen Gebäude, sondern dra- O’Neill, Frances und Marley SPIEGEL TV sich nicht an die Polizei, matische Raumszenen fest- REPORTAGE sondern gehen auf die sind eine Teenager-Straßen- halten. Wo andere Architek- Sie war „der erste weibli- Flucht. Sie lernen die Igno- gang in West-Belfast. Ihr ge- ten sich teure Material- che Serienmörder“, und ranz der Männerwelt nun fährlicher Lieblingssport ist schlachten liefern, sucht sie jeder wollte aus ihrem erst richtig kennen und en- „Joyriding“ – Autos stehlen den Raumluxus der reinen Schicksal Kapital schla- den als gehetzte Outlaws. und sich zum Spaß Rennen Leere. Lange Zeit wurde sie gen. Aileen Wuornos, 37, Ridley Scotts ungewöhnli- mit der Polizei liefern. Doch als bloße Papiertigerin und sitzt seit drei Jahren als ches Road-Movie (USA dann setzt sich die Bürger- Galeristenliebling belächelt, verurteilte Serienmörderin 1991), heute zum erstenmal wehr der von Bombenterror jetzt erlangen ihre gebauten in der Todeszelle des Ge- im Fernsehen, spaltete und Armeekontrollen ohne- „dekonstruktivistischen“ Ge- fängnisses von Pembroke Amerika: Einige Kritiker sa- hin gepeinigten katholischen sellenstücke Weltruhm. Das Pines (US-Staat Florida). hen in ihm eine Gewaltver- Gemeinde auf die Fersen der Filmporträt von Klaus Leu- Nick Broomfield gelang herrlichung, andere das fe- Crash-kids. Ein Film (Groß- schel und Boris Penth zeigt ein außergewöhnliches ministische Manifest der britannien 1992, Regie: Ri- erstmals Zaha Hadids sämtli- Porträt. neunziger Jahre. Ein schö- chard Spence). che Häuser und Entwürfe zwi- ner Film auf jeden Fall. schen London, Weil am Rhein 22.28 – 0.15 Uhr ARD und Sapporo. Selbst der ame- MITTWOCH rikanische Altmeister Philip 21.55 – 22.40 Uhr Vox 23.00 – 0.20 Uhr Sat 1 Ein Fisch namens Wanda Johnson, der sonst sich selbst Ein echter Darsteller, Autor und Produ- für den bedeutendsten Archi- SPIEGEL TV THEMA Hausfrauenfreund zent dieser englischen Satire, tekten aller Zeiten hält, Mißbrauch auf Kranken- schwärmt: „Zaha istdieGröß- schein? Intimbeziehun- te.“ gen zwischen Patientin- nen und Therapeuten. 20.15 – 22.15 Uhr Sat 1 Das Phantom – FREITAG die Jagd nach Dagobert 22.00 – 22.30 Uhr Vox So mußte wohl selten ein Drehbuch der Wirklichkeit SPIEGEL TV hinterherjagen. Schon 1993 INTERVIEW ging Sat 1 daran, die Ge- SPIEGEL TV INTERVIEW schichte des Kaufhaus-Er- begleitete den ARD-Jour- pressers fürs Fernsehen umzu- nalisten und Grimme- setzen – da war Dagobert, ali- Preisträger Friedhelm Bre- as Arno Funke, noch ein Alp- beck bei Dreharbeiten im traum für die Polizei. Die Sto- Gaza-Streifen. ry versetzte sich deshalb zu- nächst in die Perspektive der Ermittler, die Funke ein ums SAMSTAG andere Mal narrte. Als im 22.05 – 23.45 Uhr Vox P. W. ENGELMEIER April dieses Jahres Dagobert „Wanda“-Darsteller Jamie Lee Curtis, John Cleese, Kevin Kline gefaßt worden war, brachte SPIEGEL TV SPECIAL Nicholas Niciphor das Dreh- SPIEGEL TV SPECIAL zeigt . . . wäre ein Weiser Riese, John Cleese, und ihr jugend- buch in nur einer Woche auf Opfer, Verantwortliche der solche bescheuerten Sex- licher Regisseur, Charles den aktuellen Stand. Unter und die meist armseli- Filme (Deutschland 1974) ins Crichton, zum Entstehungs- der Regie von Roland Suso gen Rettungsversuche im schwarze Loch befördern jahr des Filmes (1988) ganze Richter spielen unter anderen Kampf gegen das Öl nach würde. 78, machen sich über alles lu- Dieter Pfaff (der Dicke aus den Katastrophen der ver- stig, was dem guten Ge- den „Fahndern“), Jörg Gud- gangenen Jahre. schmack heilig ist: alte Da- zuhn und Peter Striebeck. Als SAMSTAG men, Hunde und Sprachfeh- Arno Funke ist dessen Cousin 18.10 – 20.00 Uhr RTL 2 ler. Frischer geht kein fri- Klaus Funke zu sehen, aller- SONNTAG scher Kinofisch über den 21.50 – 22.30 Uhr RTL Lederstrumpf dings nur kurz in der Schluß- Fisch, Verzeihung, Tisch. szene. Mit einem Lederstrumpf, der SPIEGEL TV MAGAZIN von Karl May sein sollte, hat Warten auf „Uncle Sam“ – der SPIEGEL an dieser Stel- SONNTAG 20.15 – 22.35 Uhr Pro 7 Countdown in Haiti / Die le seinen Lesern die Schuhe 16.15 – 17.00 Uhr 3Sat Wall Street gezüchtete Mauer – der ausgezogen. Der Held dieses Der Börsenkrach vom Okto- deutsche Schäferhund im TV-Films geht auf die Figur Weltraum-Design ber 1987 und die Skandale um Schatten der Wiederverei- des amerikanischen Schrift- Unbekannte Flugobjekte, ge- Insidergeschäfte verhalfen nigung / Das Duell: 1860 stellers James Fenimore baute Explosionen – die Ar- diesem Film von Kultregis- München gegen Bayern – Cooper (1789 bis 1851) zu- chitektur der Irakerin Zaha seur Oliver Stone („Platoon“) von Sport-Arbeitern und rück. Huuk, äh, hugh, wir Hadid, 44, geht weit über die mit Michael Douglas zum Er- Fußball-Yuppies. haben gesprochen. nackten, abstrakten Geome- folg.

268 DER SPIEGEL 38/1994 Werbeseite

Werbeseite HOHLSPIEGEL RÜCKSPIEGEL

Aus der Bild-Zeitung: „Der englische Zitat Professor Charles Brook, 58: Je liebe- voller man seine Kinder behandelt, de- Die Zeit zu Peter Schneiders SPIEGEL- sto größer werden sie. Denn: Zärtlich- Beitrag über die Verrohung der politi- keit, Geborgenheit regen die Wachs- schen Debatte (Nr. 32/1994): tumshormone an. Warum das so ist, konnte der Professor nicht erklären. Der Schriftsteller Peter Schneider hat Bild meint: Der liebe Gott darf dieses sich kürzlich im SPIEGEL über das er- Geheimnis ruhig für sich behalten.“ bärmliche Niveau der politischen und in- tellektuellen Debatte in Deutschland be- Y klagt. Wer den Streit über Botho Strauß, seit seinem Essay „Anschwellender Bocksgesang“ im vergangenen Jahr und anläßlich seines eben erschienenen Bu- ches „Wohnen Dämmern Lügen“, ge- nauer betrachtet, wird ihm recht geben müssen . . . Man kann das neue Buch von Botho Strauß gut finden oder weniger gut. Aber der Furor der Kritiker . . . Aus dem Karlsruher Kurier übersteigt den literarischen Anlaß. Wes- halb also erregt Botho Strauß solchen Y Zorn? . . . Iris Radisch findet, Botho Aus dem SPD-Reiseservice-Angebot Strauß sei zum Kultautor für ein bis zwei für den Winter 1994/95: „Kuba wartet Generationen bundesdeutscher Akade- auf den Tod von Fidel Castro, und die miker geworden, und es sei ihm auch kleinen Antillen stehen vor dem touri- diesmal wieder gelungen, die Wünsche stischen Big Bang.“ und Träume seiner Generation in Prosa zu gießen. Und Robin Detje (Zeit) nennt Y den SPIEGEL-Essay von Peter Schnei- der „ein Wehelied auf ,die wachsende Verrohung der politischen Debatte‘, die darin besteht, daß man Schneider und seine alt- und exlinken Kollegen pole- Aus der Märkischen Allgemeinen Zei- misch angreift, anstatt auf Knien ihre in- tung tellektuelle Führungsrolle zu bezeu- gen“ . . . Links gebliebene Linke sind Y nicht die wirklichen Gegner. Deren Aus der Pharma-Marketing Zeitschrift Treue zualten Positionen, wiesieetwa im PM-Report: „Die Freisetzung von Mit- Widerstand gegen die Vereinigung deut- arbeitern wurde häufig ohne Fingerspit- lich wurde, prädestiniert sie dazu, Teil ei- zengefühl brachial vorgenommen. Das ner Tradition zu werden, die bereits Ge- noch verbleibende Human-Capital der- schichte ist. Jene aber, die der gewandel- art agierender Unternehmen hat dies er- ten Lage intellektuell Rechnung tragen, schrocken registriert.“ ereilt der Faschismusverdacht. Peter Schneider hat im SPIEGEL dargelegt, Y wie absurd er ist. Der SPIEGEL berichtete ...... in Nr. 31/1994 NAPOLEON: FBI UN- TERSUCHT DEN TOD DES KAISERS über Aus der Badischen Zeitung den Versuch, die Todesursache des Y 1821 in englischer Verbannung gestor- Aus dem Wochenmagazin des Reutlin- benen Imperators durch die chemische ger Generalanzeigers Heimat + Welt: Analyse seiner Haare aufzuklären. „Rund um den gesamten Erdball toben täglich mehr als 40 000 Gewitter mit Vorige Woche erklärte das FBI, die Un- acht Millionen Blitzen. Gefährdet sind tersuchung von zwei napoleonischen meist nur diejenigen, die sich unvorsich- Kopfhaaren mittels Radio-Immuno-As- tig in Gefahr begeben.“ says und Gaschromatographie-Massen- spektrometrie habe keinen Hinweis auf Y eine Arsenvergiftung ergeben. Napo- leon-Forscher, von denen einige immer noch Mord für die wahrscheinlichste To- desursache halten, zeigten sich unzufrie- den. Der kanadische Historiker Ben Weider bezeichnete die Haare des Kai- sers im nachhinein als „nicht authen- Aus dem Kölner Stadt-Anzeiger tisch“.

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