Begleitmaterial A Clockwork Orange Nach dem Roman von Deutsch von Bruno Max

Premiere am 25. Februar 2012 um 19.30 Uhr in den Kammerspielen

Für alle ab 16 Jahren

Spielzeit 2011/12 Redaktion: Katrin Maiwald

Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung (S. 3)

2. Besetzung (S. 4)

3. Team (S.6)

4. Roman (S.8)

5. Inszenierung (S.15)

6. Freier Wille (S.26)

7. Jugendkriminalität (S.29)

8. Theaterpädagogik (S.32)

9. Medientipps (S.38)

2 1. Einleitung

Liebe Lehrerinnen und Lehrer, liebe Interessierte,

„Jetzt ist er kein Übeltäter mehr. Aber er ist auch kein Geschöpf mehr, das frei zwischen Gut und Böse entscheiden kann“ So resümiert der Gefängnispfarrer über den siebzehnjährigen Protagonisten Alex in A Clockwork Orange. Nach nur zwei Wochen Krankenhausaufenthalt wurde Alex von Ärzten und Politik, durch eine neue Konditionierungsmethode, als von seinen kriminellen und äußerst gewalttätigen Bestrebungen geheilt erklärt. Die an ihm erstmals getestete sogenannte „Ludovico Methode“ soll die überfüllten Gefängnisse entlasten und StraftäterInnen wieder in die Gesellschaft integrieren. Heere Ziele – aber darf ein Staat Gewalt mit Gewalt begegnen und seine BürgerInnen „umpolen“? Heuer feiert der bereits in seiner Entstehungszeit äußerst kontrovers diskutierte Roman sein 50. Jubiläum. Der u\hof: nimmt dies zum Anlass, in einer Zusammenarbeit mit dem Schauspiel den „Klassiker der Gewaltexzesse“ auf die Bühne zu bringen und die Grundfragen des Textes, die nicht an Aktualität und Spannkraft verloren haben, neu zu stellen. Die Inszenierung vom künstlerischen Leiter des u\hof:, John F. Kutil, verspricht einen mitreißenden Theaterabend auf der Kammerspielbühne mit großer Besetzung und vielen Anknüpfungspunkten für ein junges Publikum. Das Stück bietet eine Vielzahl von theaterpädagogischen Zugängen zur Vor- und Nachbereitung und eröffnet spannende ästhetische wie gesellschaftspolitische Diskussionsfelder. In diesem Begleitmaterial finden Sie im Kapitel Theaterpädagogik ausführliche Anleitungen und Ideen für Unterrichtseinheiten im Vorfeld eines Theaterbesuches. Weiters eröffnet sich eine Auswahl an Hintergrundinformationen zur Produktion und spannendes Recherchematerial zu den Themenfeldern rund um A Clockwork Orange. Nun wünsche ich Ihnen aufschlussreiche Lektüre und eine interessante Aufführung. Über Fragen, Anregungen und Kritik freue ich mich!

Mit herzlichen Grüßen, Katrin Maiwald (Theaterpädagogin)

3 2. Besetzung

A Clockwork Orange Theaterstück nach dem Roman von Anthony Burgess Deutsch von Bruno Max

Inszenierung John F. Kutil Bühne Reinhard Taurer Kostüme Natascha Wöss Musik Clemens Pichler Video Bernd Kranebitter Kampfchoreographie Josef J. Borbely Dramaturgie Anke Held Theaterpädagogik Katrin Maiwald

Alex Wenzel Brücher George / Doc / Dr. Brodsky / Polizist 1 Sz. 15 / Dolin / Junkie Sz. 18 Markus Pendzialek Das wunderschöne Mädchen / Krankenschwester / Sängerin Sabrina Rupp Girl in der Billy Boy Gang / Mutter / Pressevertreterin /Assistentin des Arztes Katharina Halus

Dim / Big Jew / Pfleger / Polizist Timon Schleheck Billy Boy / Polizist / Jojohn / Glatzkopf / Polizist / Bully neuer Droog Martin Hueber Frau des Autors / Dr. Branom / Da Silva Jenny Weichert Alte Lady / Innenministerin Katharina Bigus Betrunkener / Polizist 1 / Arzt / Gefängnispfarrer / 1. Alter Thomas Kasten Lehrer Jack / Polizist / Vater / Gefängnisdirektor / 2. Alter Thomas Bammer

Autor / Wärter / 3. Alter Manuel Klein Pete / Deltoid / Pedofil / Joe / Aurel von Arx Beethoven Wolfgang Dürnberger (Statist) Gangmitglied von Billy Boy / Wall / Rick neuer Droog Matthias Trattner (Statist)

4 Gangmitglied von Billy Boy / Junkie Sz. 4 / Polizist / Wärter / Len neuer Droog Robert Jagereder (Statist)

Regieassistenz und Abendspielleitung Julia Ransmayr Ausstattungsassistenz Dido Victoria Sargent Inspizienz Christian Bauer Souffleuse Angela Smejkal

5 3. Team

John F. Kutil (Regisseur, Leiter u\hof: Theater für junges Publikum) Seit 1990 ist John F. Kutil als freier Schauspieler und Regisseur tätig. Er arbeitete bereits als Regisseur für die Theaterachse Linz, das Theater Phönix (Neue Heimat), das Theater des Kindes, die bühne 04 (Rozznjogd), Lainer & Linhart sowie das TAG in Wien. Außerdem ist er Gründungsmitglied vom URTHEATER Wien und der Improgruppe DIE IMPROPHETEN im Posthof Linz. John F. Kutil übernahm im Herbst 2011 die Leitung des u\hof: Theater für junges Publikum. Der u\hof: war ihm bereits bestens vertraut, sowohl als Regisseur von

Rattenkind und Ein Schaf fürs Leben als auch als Schauspieler in Kriegskindl. Seine ersten Erfahrungen als Regisseur und Autor von Kinder- und Jugendstücken sammelte er im Theater des Kindes in Linz. Zuletzt war hier das von ihm inszenierte Kinderstück Die Werkstatt der Schmetterlinge zu sehen. Für das Stationentheater komA in der Fadingerschule erhielt er 2009 den Bühnenkunstpreis des Landes Oberösterreich. Im Sommer 2010 folgte sein erster Ausflug ins Musiktheater, er inszenierte für opera da camera die Operette Der Mikado im Mühlviertel. Seit heuer hat er ebendort gemeinsam mit Brigitta Waschnig und Henry Mason die künstlerische Leitung des Theaters in der Kulturfabrik in Helfenberg übernommen. Unter seiner Regie war im August 2011 Der Talisman von Nestroy zu sehen. Mit An der Arche um Acht (für alle Menschen ab 6 Jahren) hat er am 7. Oktober die heurige Spielzeit im u\hof: eröffnet. A Clockwork Orange ist seine erste Inszenierung in den Kammerspielen.

Reinhard Taurer (Bühne) Reinhard Taurer wurde1963 geboren. Er ist gelernter Molker und Käser sowie Sozialarbeiter und Goldschmied. Seit 1992 arbeitet er als freischaffender Künstler (u. a. Ausstellungen / Installationen in Tropfsteinhöhle Griffen, Galerie Judith Walker, Bierjokl / Pri Joklnu,Schloss Damtschach, Galerija Equrna (Ljubljana), Haus der Architektur Klagenfurt, Heunburg / Haimburg). Als Bühnenbildner bzw. Ausstatter war er u. a. tätig bei Tanztheater – Plesni Theater IKARUS, Theater des Augenblicks Wien, Studiobühne Villach, Neue Oper Wien und Musikwerkstatt Wien.

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Natascha Wöss (Kostüme) Natascha Wöss wurde in Linz geboren. Sie besuchte das Mode-Kolleg in Wien/Michelbeuerngasse und studierte an der Kunstuniversität Linz in der Meisterklasse Textil (Diplom mit Auszeichnung mit der Tanzperformance entgrenzung). Sie arbeitet als freie Kostümbildnerin für diverse Theaterproduktionen, u. a. am Theater Phönix (Linz), Theater Im Hof (Enns), Vorarlberger Landestheater, Tiroler Landestheater, Manus Deaf Theater (Linz), Theaterachse (Linz), Kosmostheater (Wien), Posthof Linz, Burgfestspiele Reichenau, Kulturfabrik Helfenberg. Parallel zu ihrer Ausbildung als bildende Künstlerin studierte sie Butoh-Tanz und hat bereits mehrere eigene Produktionen und Solo-Performances entwickelt und war als. Butoh-Tänzerin tätig in Tanz-, Theater- und Opernproduktionen u. a. TEN PEN Chii art labor, Yumiko Yoshioka – Dock 11 (), Theater am Halleschen Ufer (Berlin) und Theater Orpheum (Graz), Tanztage 2011 Posthof Linz. Weitere Infos unter www.butoh.at

7 4. Roman

Inhalt

Der knapp sechzehnjährige Alex ist vorbestraft, seinen Eltern und seinem Bewährungshelfer begegnet er mit süffisantem, undurchschaubarem Lächeln und Gerissenheit. Nacht für Nacht begibt er sich mit seiner Clique, seinen „Droogs“ auf nächtliche Streifzüge, die meist in der „Korova Milchbar“ beginnen. Danach ziehen sie los um Passanten zu verprügeln, in Häuser einzubrechen, zu zerstören, bedrohen und vergewaltigen. Eines Nachts wird Alex jedoch von seinen Freunden verraten und verhaftet. Fast zwei Jahre verbringt er im Gefängnis, bis er eines Tages von der Innenministerin dazu ausgewählt wird, als erster Häftling der Ludovico Methode unterzogen zu werden. Vom Gefängnis gerät er in ein Krankenhaus, wo er täglich dem „Höllentrip“ einer schmerzhaften Neukonditionierung ausgesetzt wird. Nach bereits zwei Wochen kann er, selbst wenn er wollte, keine körperliche Gewalt mehr ausüben. Jedoch löst auch das Hören seiner geliebten und leidenschaftlich verehrten Beethoven Musik plötzlich furchtbare Schmerzen und Übelkeit aus. Wieder in Freiheit kann Alex sich nirgends mehr Einfinden, weder die Familie noch die alte Clique wollen etwas mit ihm zu tun haben und gegen Bedrohungen wehren kann er sich auch nicht mehr. Völlig am Ende nimmt ihn schließlich ein Autor Namens J.P. Alexander auf. Dessen Frau wurde von Alex und seinen „Droogs“ vergewaltigt und ermordet, aber der Autor erkennt Alex nicht. Er sieht in ihm ein Opfer der von ihm höchst kritisch betrachteten neuen Ludovico Methode. Alexander ist sich sehr sicher, dass ein Mensch kein kontrollierbares Uhrwerk ist, sondern ein nach Freiheit strebendes Individuum. Alex wird schließlich zum Spielball eines politischen Gefechts. Wie wird seine Geschichte weitergehen?

8 Buchbesprechung zu A Clockwork Orange

"Die Uhrwerk-Orange" (auch: "Uhrwerk Orange") ist ein Plädoyer für die Freiheit. Anthony Burgess drückt damit seine Überzeugung aus, dass dem Menschen nicht die Freiheit genommen werden dürfe, sich zwischen Gut und Böse zu entscheiden. Zugleich kann der Roman als Kritik an totalitären Regierungssystemen verstanden werden. (Thematisch ähnelt "Die Uhrwerk-Orange" dem Roman "Einer flog über das Kuckucksnest" von Ken Kesey.)

Der Titel bezieht sich auf einen Menschen, der durch Konditionierung zu einer berechenbaren Maschine wird. Da Anthony Burgess von 1954 bis 1957 in Malaysia lebte, kannte er gewiss das malaiische Wort für Mensch: orang. Das könnte er in dem Titel "A Clockwork Orange" wieder aufgegriffen haben. Er selbst erzählte, er habe einmal in einem Pub gehört, wie jemand über einen anderen Mann sagte, der sei "as queer as a clockwork orange". Dadurch sei er auf die Idee für den Titel gekommen.

Anthony Burgess hat es gewagt, einen gewitzten und tatendurstigen Jugendlichen, der lustvoll und sardonisch Gewalt zelebriert, in der Ich-Form erzählen zu lassen. Dieser Alex prahlt weder mit seinen Untaten, noch zeigt er sich reuig. Er ist Täter und Opfer zugleich. Um diesen widersprüchlichen Erzähler authenisch wirken zu lassen, erfand Anthony Burgess einen eigenen Jargon ("Nadsat").

"Die Uhrwerk-Orange" ist keine moralisierende Fabel, sondern ein dramatischer, stringent erzählter und packender Roman, ein ebenso kühner wie origineller Wurf.

Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2007 Textauszüge: © J. G. Cotta'sche Buchhandlung Nachfolger

Der Autor Anthony Burgess

John Anthony Burgess Wilson wurde am 25. Februar 1917 in Manchester geboren und starb am 25. November 1993 in London. Er arbeitete lange Zeit als Lehrer, war britischer Schriftsteller und Komponist. Bekannt wurde er mit seinem Roman Clockwork Orange und unter seinem Künstlernamen Anthony Burgess.

Leben Burgess wurde in ein katholisches Elternhaus hineingeboren, das zerbrach, noch ehe er drei Jahre alt war: Im November 1918 starben kurz nacheinander seine Schwester und seine Mutter an der damals grassierenden Spanischen Grippe. Der Junge wurde darauf zunächst bei einer Tante untergebracht und kehrte erst in den Haushalt des Vaters zurück, als dieser sich 1922 wieder verheiratet hatte. Burgess empfand sich als einsam und vom Vater zurückgewiesen und beschäftigte sich früh mit Büchern. Als er auf die Schule kam, zunächst die St. Edmund’s Roman Catholic Elementary School, war er erstaunt, dass die anderen Kinder noch gar nicht lesen konnten. Er war schon dort ein Außenseiter und erst recht später als Katholik auf der Bishop Bilsborrow Memorial Elementary School in Moss Side. Seine guten Noten

9 brachten ihn auf das Xaverian College. Das Flötensolo aus Prélude à l’après-midi d’un faune von Claude Debussy weckte in ihm den Wunsch, Musiker zu werden. Seine Familie lehnte das als brotlose Kunst ab, dennoch brachte er sich selbst das Klavierspielen bei. Als sein Vater 1938 starb, erbte Burgess nichts. Zum Studium der Musik nicht angenommen, studierte er 1937–1940 Englische Literatur an der Manchester University und schloss 1940 mit dem Bachelor of Arts ab, mit einer Arbeit über Christopher Marlowes Doctor Faustus. 1942 heiratete er Lynne Isherwood. Er diente danach zunächst beim Royal Army Medical Corps und ließ sich dann zum British Army Education Corps versetzen. Auf Gibraltar stationiert, unterrichtete der sprachbegabte Burgess Deutsch, Französisch und Spanisch und wurde im benachbarten Spanien verhaftet, weil er Franco beleidigt hatte. Die in England zurückgebliebene Lynne wurde während der Verdunkelung von vier desertierten US-Soldaten überfallen und erlitt eine Fehlgeburt. Burgess verließ den Militärdienst 1946 als Sergeant-Major (Feldwebel) und unterrichtete die nächsten vier Jahre an der Mid-West School of Education in der Nähe von Wolverhampton und am Bamber Bridge Emergency Teacher Training College bei Preston. Ende der 1950er Jahre arbeitete er als Englischlehrer am Gymnasium Banbury Grammar und leitete dort die schulische Theatergruppe. Während dieser Zeit und praktisch sein ganzes Leben lang schrieb er Musik, wobei die meisten Stücke allerdings nie veröffentlicht wurden. 1954 nahm Burgess eine Stelle als Lehrer beim British Colonial Service an und ging nach Malaya. Zunächst unterrichtete er in Kuala Kangsar in Perak am Malay College, genannt „das Eton des Ostens“. Nach einem Streit mit seinen Vorgesetzten wechselte Burgess zum Malay Teachers’ Training College in Kota Bharu, Kelantan. Als er nach kurzer Zeit fließend das Malaiische beherrschte, brachte ihm das eine Gehaltserhöhung ein. In seiner Freizeit schrieb Burgess die Romantrilogie The Long Day Wanes, die in Malaysia nicht erscheinen durfte und dort bis heute als unerwünscht gilt. Sein erstes veröffentlichtes Werk war English Literature: A Survey for Students, das er ebenfalls in dieser Zeit verfasste. Nach einem kurzen Aufenthalt in der Heimat im Jahre 1958 nahm Burgess eine Stelle am Sultan Omar Ali Saifuddin College in Bandar Seri Begawan in Brunei an. Hier entstanden die ersten Entwürfe jenes Buches, das 1961 unter dem Titel Devil of a State erscheinen sollte. Der Schauplatz Brunei war darin durch ein fiktives ostafrikanisches Land, eine verfremdete Version von Sansibar, ersetzt; Burgess und vor allem sein Verleger wollten Verleumdungsklagen vermeiden. Auf Borneo brach Anthony Burgess 1959 zusammen, während er Geschichte unterrichtete. Die Ärzte teilten ihm mit, einen unheilbaren Gehirntumor diagnostiziert zu haben, und legten ihm nahe, die noch bleibenden zwölf Monate gut zu nutzen. Burgess entschloss sich, dem Schreiben fortan Priorität zu geben, um seiner Frau etwas Persönliches zu hinterlassen (und veröffentlichte in den folgenden Jahren mehr als 50 Bücher). Er kehrte nach Großbritannien zurück, offiziell aus gesundheitlichen Gründen, doch war die koloniale Verwaltung in Brunei froh, den renitenten Burgess loszuwerden, der sich in Artikeln für die Brunei People’s Party eingesetzt hatte, die die Unabhängigkeit des Landes forderte, und der mit A. M. Azahari befreundet war, dem Führer dieser rebellischen Partei (drei Jahre später scheiterte dann der Aufstand der Volkspartei und löste einen Ausnahmezustand aus, der bis heute andauert). Zuhause in London wurde der todkrank geglaubte Burgess in der Neurologie derart gründlich (und ergebnislos) untersucht, dass er diese Erlebnisse in einem rasch geschriebenen Buch namens The Doctor is Sick verarbeitete. Darin finden sich zahlreiche Beispiele für Slang, die bereits die künstliche Jugendsprache vorbereiten,

10 die später in seinem berühmtesten Werk Clockwork Orange eine Rolle spielt. Er beschloss nun, nur noch zu schreiben, abgesichert durch eine Erbschaft seiner Frau und die Ersparnisse aus sechs Jahren Auslandseinsatz, bis sich seine Bücher – allen voran das 1962 erschienene Clockwork Orange – als eine Quelle wachsenden Wohlstandes erwiesen. Burgess begann 1963 eine Affäre mit der zwölf Jahre jüngeren Italienerin Liliana Macellari, die ihm 1964 einen Sohn gebar. Burgess lehnte es ab, seine Frau Lynne zu verlassen (die mittlerweile Alkoholikerin war), um ihren Cousin George Patrick Dwyer nicht bloßzustellen, den katholischen Bischof von Leeds. Erst nachdem Lynne am 20. März 1968 an Leberzirrhose gestorben war, erkannte er das Kind als seines an und heiratete Liliana. Sie übersetzte einen großen Teil seiner Werke ins Italienische. Burgess’ wachsender Erfolg brachte das Paar angesichts der hohen Steuern dazu, ins Ausland zu gehen. Zunächst lebten sie bis 1970 in Lija, Malta, bis Probleme mit der dortigen Zensur sie nach Rom vertrieben, wo sie eine Wohnung kauften. Hinzu kamen Wohnsitze in Bracciano und Montalbuccio, eine Villa in der Provence, und schließlich ein Appartement in Baker Street, London. Burgess nahm 1970 Lehraufträge an der Princeton University wahr und 1972 am City College of New York, wo er sich mit Joseph Heller anfreundete. Er unterrichtete Creative Writing an der Columbia University und war Writer-In-Residence an der University of North Carolina 1969 und an der University at Buffalo 1976. Er hielt 1975 Vorlesungen über den Roman an der University of Iowa. Schließlich ließ er sich in Monaco nieder, wo er 1984 die Princess Grace Irish Library mitbegründete. Viel Zeit verbrachte er auch in einem seiner Häuser in der Schweiz, einem Chalet zwei Kilometer außerhalb von Lugano. Anthony Burgess starb 1993 als Multimillionär an Lungenkrebs im Hospital of St John & St Elizabeth in London. Seine Asche wurde in Monte Carlo beigesetzt.

Werk Anthony Burgess’ Werk ist durch das Werk von James Joyce, aber auch durch seinen Katholizismus geprägt. In England ist dies eine Religion der Außenseiter, wodurch sich religiöse und gesellschaftliche Erfahrung nicht ausschließen, sondern miteinander eine Allianz eingehen, wie man sie auch bei anderen englischen katholischen Schriftstellern wie Graham Greene, W. Somerset Maugham und Gilbert Keith Chesterton vorfinden kann.

Sein – nicht zuletzt durch die Verfilmung von Stanley Kubrick – bekanntestes Werk ist A Clockwork Orange (1962, dt. Eine Uhrwerk-Orange bzw. Uhrwerk Orange oder auch Uhrwerk Mensch) über die Themen Freier Wille und Moral. Zu den Wurzeln des Buches gehört, neben den Erlebnissen in der Armee, natürlich auch jener Zwischenfall, bei dem Burgess' Frau Lynne ihr Kind verlor und seine lebenslange Liebe zur Musik. In seiner Autobiographie You've Had Your Time beschreibt Burgess, wie er für eine beabsichtigte Schiffsreise mit der Alexander Radishchev der Baltic line nach Leningrad (die er 1963 zu Honey for the Bears verarbeitete) sein Russisch auffrischte ("started to re-learn Russian") und dadurch zu dem Slang Nadsat des Buches fand. Dass er sich in dem Anhang Glossary of Nadsat Language der amerikanischen Ausgabe für Hilfe mit dem Russischen der Freundlichkeit seiner Kollegin Nora Montesinos und einer Reihe von Korrespondenten für verpflichtet erklärte, erwähnt er dabei nicht. Burgess war außerdem neben seiner Muttersprache Englisch nach eigener Darstellung noch einer ganzen Reihe weiterer Sprachen mächtig, darunter Deutsch, Spanisch, Italienisch, Walisisch (Kymrisch) und Malaiisch.

11 Burgess ärgerte sich zunehmend darüber, auf den Roman A Clockwork Orange reduziert zu werden, und erklärte noch kurz vor seinem Tod, dass er diesen Roman (dem er auch seinen Wohlstand verdankte) lieber nie geschrieben hätte. Diese Haltung wird verständlich, wenn man sich die Spannbreite dieses außergewöhnlichen Schriftstellers vergegenwärtigt. Sie reicht von einem formal experimentellen Roman wie Napoleon Symphony bis hin zu einem in seiner Verwendung von Genre-Konventionen geradezu waghalsigen eschatologischen Agenten-Roman „Tremor“. Sein persönlichstes Buch ist der Roman „Beard's Roman Women“ (dt. „Rom im Regen“), in dem er von einem Drehbuchautor erzählt, der frisch verwitwet eine Affäre mit einer jungen Frau begonnen hat und darauf mit der Wiederauferstehung seiner verstorbenen Frau konfrontiert wird. Die Selbstverständlichkeit auch religiöser Geschehnisse im Alltag findet sich in seinem literarischen Hauptwerk, dem 1980 erschienen Roman „“ (dt. Der Fürst der Phantome). Aus der Sicht eines katholischen homosexuellen Schriftstellers namens Toomey (dessen Vorbild William Somerset Maugham ist), der eine Wunderheilung des späteren Papstes Gregor bezeugen soll (dessen Vorbild der spätere Papst des Vatikanischen Konzils, Papst Johannes XXIII. ist), beschreibt Burgess in dieser Tour de Force durch das 20. Jahrhundert, in dem von den Nazi- Gräueln bis hin zu dem Massensuizid der Jones-Sekte der 70er Jahre kaum ein blutiger Schauplatz ausgelassen wird, in dem ihm eigenen Sprachwitz eine in Trivialitäten versunkene gottferne Welt, in der es paradoxerweise gerade die Überhöhungs- und Vollkommenheitsbestrebungen von religiösen und politischen Führern sind, die das Böse in die Welt hineintragen. Der Roman fand begeisterte Kritiken und wurde für den Booker-Preis nominiert, aber wie Burgess im 1990 erschienenen 2. Teil seiner Autobiographie You've Had Your Time schrieb, war er nicht überrascht, dass er ihn nicht bekam: „It was evident for me, anyway, that my novel was no Booker material. It was hard reading for the jurors, and it smelt of the wrong properties, one of which was Catholic Europe“. 1981 entwickelte Burgess für den Film Am Anfang war das Feuer (orig. «la guerre du feu») des Regisseurs Jean-Jacques Annaud eine dem Steinzeitmenschen und seinem Gaumen entsprechende Lautsprache. So blieb Burgess mit seiner kunstvollen Synthese aus diabolischem Entertainment und ernstem Anliegen im Literaturbetrieb ein Außenseiter, dessen reiches Gesamtwerk überdies von dem glanzvollen Erfolg Clockwork Orange immer noch überstrahlt wird.

Quelle: http://de.wikipedia.org/wiki/Anthony_Burgess

Glossar mit „Nadsat“ Wörtern aus A Clockwork Orange

Im Roman wie in der Stückfassung von A Clockwork Orange verwenden Alex und seine „Droogs“ eine eigens von Anthony Burgess entwickelte Jugendsprache. Sie enthält Elemente aus dem Englischen und Russischen. Die jugendliche Clique hebt sich so bereits rein sprachlich vom Rest der Figuren ab.

12 13 14 5. Inszenierung

John F. Kutil inszeniert A Clockwork Orange ausgehend von der deutschen Bühnenfassung von Bruno Max. Gemeinsam mit Bühnenbildner Reinhard Taurer und Kostümbildnerin Natascha Wöss entwickelt er eine eigene Ästhetik, die sich bewusst, von den eindrücklichen Bildern der Verfilmung von 1971 distanziert. Mit wenigen, verschieden einsetzbaren Kulissenteilen werden die zahlreichen Ortwechsel einfach und eindrucksvoll mit minimalistischer Eleganz gelöst. Insbesondere für die Darstellung von Alex’ Umkonditionierung, der Ludovico Methode entwickelt Bernd Kranebitter ein packendes Videokonzept. Die Musik wird von Clemens Pichler für jede Szene genauestens abgestimmt, arrangiert und komponiert. Wenzel Brücher spielt Alex in all seinen ambivalenten Facetten. Es gibt keine Szene, in der er nicht auf der Bühne steht. Alex’ Perspektive ist es, aus der das Stück erzählt wird. So variieren die Szenen zwischen der mitreißenden Handlung und der traumartigen Abstraktion, in der sie immer wieder als die Darstellung seiner Innenwelt gelesen werden können. Die SchauspielerInnen um Wenzel Brücher schlüpfen während der Inszenierung mit Schnelligkeit und Prägnanz jeweils in mindestens vier Rollen. Sie sind so besetzt, dass sie alle jeweils „Täter“ und „Opfer“, Spieler und Gegenspieler verkörpern. Sie spiegeln damit die Rolle des Alex, der vom gefürchteten „Täter“ zum Spielball und „Opfer“ der Staatsgewalt wird. Warum Alex sadistisch und kaltblütig raubt, vergewaltigt und schließlich gar mordet bleibt offen. Anstelle der Psychologisierung seiner Verbrechen treten starke Bilder von Gewalt, die die schmale Gratwanderung von Lust und Grauen provozieren. Die Aufführung stellt die Frage nach dem Umgang mit Gewalttätern, das Handeln von Gesellschaft und Staat ins Zentrum, sowie die philosophische Frage nach dem freien Willen des Menschen und den damit verbundenen Diskurs von Schuldfähigkeit. So endet der Abend mit einem offenen Schluss, der nicht belehrt sondern zum Weiterdenken einlädt.

Hier finden Sie nun Figurinen zu einzelnen Charakteren des Stückes von Natascha Wöss, sowie Zitate aus dem Stücktext, welche wichtige Positionen dieser in Worte fassen. Beide Materialien können gut als Arbeitsmaterial zur theaterpädagogischen Einführung verwendet werden. (siehe Kapitel 8 Theaterpädagogik)

15

Alex

16 Der Gefängnispfarrer

„Bis jetzt ist sie noch nicht angewendet worden. Die Frage ist, ob so eine Technik den Menschen gut machen kann. Gutsein kommt von innen. Für das Gutsein muß man sich entscheiden. Wenn man sich nicht mehr entscheiden kann, hört man auf, ein Mensch zu sein.“

17

Deltoid Bewährungshelfer

„Paß auf, mein kleiner Alex: Beim nächsten Mal landest du im Knast. – Und dann ist meine ganze Arbeit mit dir ruiniert. Denk dran. Ich werde keinen Finger für dich rühren. Nur weil sie dich in letzter Zeit nicht mitgenommen haben, heißt das nicht, daß du nicht wieder ein paar schmutzige Dinger gedreht hast. Also halt deinen süßen kleinen Rüssel aus dem Dreck. Klar?“ […] „Was ist bloß in euch gefahren?“

18

Dr. Brodsky (Durchführender Arzt der Ludovico-Methode)

„Sehr geehrte Frau Innenministerin, Herr Direktor, liebes Publikum, Alex. Morgen schicken wir ihn mit Zuversicht wieder in die Welt hinaus, einen anständigen jungen Mann. Was für ein Unterschied zu dem verkommenen Raufbold, den der Staat vorher zwei Jahre lang einer wirkungslosen Strafe ausgesetzt hat, die ihn nicht verändert hat. Nicht verändert? Doch, er hat etwas im Gefängnis gelernt, falsches Grinsen und heuchlerische Unterwürfigkeit, hinter der sich der alte kriminelle Wille verbarg, und zusätzliche Verbrechenstechniken. Aber, meine Damen und Herren. Genug der Worte. Taten sprechen eine bessere Sprache. Also los. Geben Sie gut acht!“ […] „Das Versuchsobjekt wird paradoxerweise durch seine bösen Absichten zum Guten getrieben. Der Drang, gewalttätig zu werden, löst starkes physisches Unwohlsein aus. Um es niederzukämpfen, muß das Objekt ein diametral entgegengesetztes Verhalten zeigen. Noch Fragen?“

19

Die alte Lady

20 Zitat

ALEX: (über die Sprechanlage) Hilfe, Madame, bitte! Mein Freund ist eben da auf der Straße zusammengeklappt. Lassen Sie mich einen Arzt anrufen.

LADY: Geh'n Sie weg oder ich hetze meine Katzen auf Sie.

(Von draußen hört man Kichern und Psssts.)

ALEX: Oh bitte, Madame. Mein Freund stirbt, glaub ich.

LADY: Verschwindet. Ich kenne diese schmutzigen Tricks. Zuerst soll ich die Tür aufmachen und dann kaufe ich Sachen, die ich gar nicht brauche. Verschwindet, oder ich rufe die Polizei.

ALEX: Schon gut, Madame. Wenn Sie nicht helfen wollen, dann muß ich meinen sterbenden Freund eben woanders hinbringen. Mein armer Freund, wir werden schon noch barmherzige Menschen finden. Dieser alten Dame kann man vielleicht gar keinen Vorwurf machen, daß sie so mißtrauisch ist, wo sich so viele Halunken und Rowdies herumtreiben. Gute Nacht! (Stille. Die alte LADY schlurft weg von der Türe. Die Katzen schnurren und miauen. Plötzlich steht ALEX da, zuerst noch unbemerkt.)

[…]

LADY: Du verkommenes Kriechtier, bei wirklichen Menschen einbrechen gehen. Ich werd's dir geben. Raus hier! Mir reicht's! Ich hab genug erlebt! Ich will in Frieden sterben! Du Schlappschwanz du!

(Sie schlägt weiter auf ihn ein. ALEX wird wütend und haut ihr die Beethoven-Büste auf den Kopf. Sie stürzt. ALEX tritt sie, aber sie rührt sich nicht mehr. Polizeisirenen. Er erschrickt, läuft zur Tür. Die drei Droogs kommen rein.)

21

Die Innenministerin

„Nun, das ist die Stimme des Volkes. Die Lage ist erschütternd. Wenn man einen Haufen Kriminelle zusammenpfercht, bekommt man nur konzentrierte Kriminalität. Verbrechen sogar während des Strafvollzugs. Noch schlimmer, gewöhnliche Kriminelle belegen den Platz, den wir bald für die politischen Verbrecher brauchen werden.“ […] „Aber es gibt dringende Notwendigkeiten. Politische Notwendigkeiten, um ehrlich zu sein. Ich habe großes Vertrauen in Dr. Brodsky. Gewöhnliche Kriminelle, wie diese widerwärtige Bande, werden am besten auf rein medizinischer Basis behandelt. Den kriminellen Impuls abtöten, nicht mehr. Diese Methode landesweit einführen binnen Jahresfrist - das ist das Ziel der Regierung. Bestrafung bedeutet denen doch gar nichts, das sehen Sie doch. Die genießen die sogenannte Strafe und bringen sich noch gegenseitig um.“

22 J.P. Alexander (Der Autor)

„Alle dieselben. Polizisten und Verbrecher. Terroristen und Freiheitskämpfer. Entführer und Befreier. Gewalt steckt schon im Bauplan dieser Welt. Alle gleich.“

23 Zitat

ALEXANDER: Hier, zieh dir deine zerfetzten Sachen aus und diesen alten Morgenmantel an. Ich bin J.P. Alexander, der Schriftsteller. Vielleicht hast du schon von mir gehört.

ALEX: Oh Gott.

(Aber er zieht seine Sachen aus und den Morgenmantel an.)

Den Namen kenn ich, Sir, ich heiß nämlich auch so.

ALEXANDER: Was? Ja aber ... Du bist es!

(ALEX zuckt zusammen.)

Ja. Du bist es. Dein Bild war doch heute in den Zeitungen. Du armes Opfer. Im Gefängnis gequält und dann hinausgejagt, um von der Polizei gequält zu werden. Ich fühle mit dir, mein armer, armer Junge. Das Schicksal hat dich blutüberströmt zu mir geführt.

ALEX: Wie soll ich Ihnen das zurückzahlen.

ALEXANDER: Schon gut, schon gut. Du bist ein Opfer. Ein Opfer, aber auch eine Waffe.

ALEX: Waffe? Schnall ich jez echt nicht.

ALEXANDER: Du hast bestimmt Schlimmes getan, aber diese Strafe hat niemand verdient. Ich habe das alles vor mir - die Nebenkonditionierungen: Musik und Sexualität. Literatur und Kunst. Statt Quellen der Freude jetzt nur Quellen des Schmerzes.

ALEX: Echt wahr, Sir.

ALEXANDER: Ein Mensch, der nicht mehr frei wählen kann, ist kein Mensch mehr.

ALEX: Hat der Pfaffe auch gesagt, Sir. Der Gefängnispfarrer.

ALEXANDER: Wirklich? Das hat er? Ja, natürlich. Es muß so sein, er ist ein Christ. Aber einen jungen Menschen in einen Aufziehmechanismus zu verwandeln, darf nicht zum Triumph einer Regierung werden. Sie werden es mit uns allen machen. Seit meine arme Frau mich verlassen hat, habe ich mein Leben dem Kampf gegen das Böse

24 gewidmet. Und diese Regierung will Satan mit Beelzebub austreiben. Nimm nur mein Buch - ein gutes Beispiel - ein doppeltes Opfer dieser Welt. Das Manuskript zerfetzt von gemeinen Verbrechern, das fertige Buch nach seinem Erscheinen von der Regierung verboten.

ALEX: (schwach) Wie hieß das Buch?

ALEXANDER: Es heißt noch immer A CLOCKWORK ORANGE. Der Mensch ist eine Frucht, ein Geschöpf aus Saft und Farbe und Geruch. Aber sie wollen uns allen das Mark herausreißen und einen Mechanismus einpflanzen. Aber du, armes Opfer, du sollst gegen sie Zeuge sein.

ALEX: im Einschlafen) Ihre Frau, Sir, sie hat Sie verlassen? ALEXANDER: Ja. Sie hat mich verlassen. Sie starb. Sie wurde brutal vergewaltigt und zusammengeschlagen. Der Schock war auf Dauer zuviel für sie. Es war hier im Haus. Ich habe mich zwingen müssen, hier weiter zu leben, aber ich glaube, sie hätte gewollt, daß ich hierbleibe, wo der Duft der Erinnerung an sie noch wie ein Hauch vorhanden ist. (ALEX schläft.)

ALEXANDER: Jajaja. Schlaf nur. Armerarmer Junge. Du hast sicher Furchtbares hinter dir. Ein Opfer der modernen Welt. Genau wie sie. Armes Mädchen. Armes Mädchen.

25 6. Freier Wille

Rechtsprechung ohne freien Willen? Die Gedanken sind Freiwild

03.05.2007, 09:04 Süddeutsche Zeitung

Von Rainer Maria Kiesow Der Autor ist Privatdozent am Fachbereich Rechtswissenschaft der Universität Frankfurt am Main und Referent am dortigen Max-Planck-Institut für europäische Rechtsgeschichte.

Neueste Neurologie will nur noch einen willenlosen Hirnapparat im Kopf entdeckt haben. Unser Autor hat eine Tagung besucht, die nun das Problem wälzte, was die Verabschiedung des freien Willens und der persönlichen Verantwortung für das Strafrecht bedeuten würde. Der himmelschreiende Report.

Sind wir nun frei oder nicht? Möchten wir, was wir sagen, oder sagen wir nur, was wir sagen müssen? Tun wir, was wir wollen, oder können wir nicht anders, als das zu tun, was wir tun? Sind wir wie Woyzeck, der an die Wand pissen musste? "Aber, Herr Doktor, wenn einem die Natur kommt". Regiert uns der freie Wille oder der willenlose Hirnapparat? Viel gab es darüber zu lesen. Die Zeitungen und Magazine waren einige Zeit voll von Debatten über die Willensfreiheit. Philosophen, Neurologen in allen möglichen Schattierungen. Auch ein paar Juristen darunter.

Wolf Singer und Jürgen Roth sind die beiden Hauptmatadore auf Seiten des jüngsten naturalistic turn in Sachen Willen. Singer forscht in Frankfurt. Er stellt den freien Willen in Frage. Den einen Beweger in unserem Kopf, das eine Ich gibt es nicht, ein dezentrales Netzwerk regiert unser Handeln. Doch wissen wir noch nicht so genau, wie das im Einzelnen funktioniert. Singer ist bei allem Naturalismus immer skeptisch. Ein Erforscher eben. Vielleicht war er deshalb nicht dabei in Frankfurt. Dabei war der Kollege Jürgen Roth. Es war eine Podiumsdiskussion in der Aula der Frankfurter Universität. Es ging um die Folgen neurobiologischer Forschung für unser Verständnis von Schuld und Strafe ("Entmoralisierung des Rechts: Ist unser

26 Strafrecht veraltet?"). Denn wenn der Wille nicht frei ist, dann kann auch nicht von Verantwortung und Schuld gesprochen werden. Der Mörder muss morden, ob er will oder nicht. Roth breitet das aus: "Jeder Mensch handelt so, wie seine Persönlichkeit - bestimmt durch Gene, Hirnentwicklung, frühkindliche Erfahrung und spätere Sozialisierung - es vorschreibt." Determinismus also, Motiv-Determinismus. "Alle pädophilen Mörder haben schwere Hirnschäden". Von Schuld könne hier nicht gesprochen werden, da die Möglichkeit des "Anders-Handeln-Könnens" nicht gegeben sei. Darüber kann man reden. Das Strafrecht verhandelt darüber immer dann, wenn es Zweifel daran gibt, dass der Täter in der Lage war, sich normgemäß zu verhalten. Roth radikalisiert diese einzelfallbezogenen Zweifel, indem er die Schuldfähigkeit von Menschen - und damit die Berechtigung zu strafen - prinzipiell bestreitet. Denn wo kein freier Wille, da ist auch keine Schuld. Wenn das alles nur nicht im Gestus des absoluten Wissens vorgetragen würde! "Wir haben das ganz genau untersucht". "Wir wissen jetzt". "Keine Zweifel". "Ein ehemaliger Mitarbeiter von mir hat in der Zeitschrift Nature den Beweis geführt". Ich und wir - wir wissen, wie es wirklich ist. Auf dem Podium saß auch der Initiator der Veranstaltung, Klaus-Jürgen Grün, ein Philosoph. Auch er weiß viel darüber, wie es um die Freiheit des Willens steht. Und dass die Idee der Willensfreiheit nur dazu dient, die philosophischen Lehrstühle der Republik zu erhalten, und deshalb dort die neuen Beweise der Neurowissenschaften ignoriert würden. Denn wo kein freier Wille, da ist auch kein Kant. Und wo kein Kant, da ist auch keine Philosophie. Und wo keine Philosophie, da sind auch keine Philosophieprofessoren. Dann müssten die ja wieder Taxi fahren. Und das können die natürlich nicht wollen. Aber was kann einer schon wollen? - blieb die ungestellte Frage an den Privatdozenten Grün. Dabei waren noch drei Juristen. Dr. jur. Michel Friedman, Rechtsanwalt, Publizist, Journalist, Fernsehmoderator und Doktorand der Philosophie bei Klaus-Jürgen Grün. Die Freiheit des Willens ist auch für Friedman perdu. Unser aktuelles Strafrecht ist - wo kein Wille, da kein Strafzweck - ein lediglich "im Gewande wohlklingender Worte" daherkommendes inhumanes Racheorgan. Nicht Rache brauchen wir, sondern Therapie. Das hatten Roth und Grün auch schon gesagt. Dr. jur. Ulrich Baltzer ist pensionierter Richter. Die menschliche Vernunft in Person. Er macht darauf aufmerksam, dass das Strafrecht es nicht mit unumstößlichen Wahrheiten zu tun hat - im Übrigen also schon deshalb einen ganz anderen Horizont besitzt als die Naturwissenschaften -, sondern Personen Verantwortung für ihr Handeln zuschreibt. Der Annahme oder Ablehnung einer Willensfreiheit bedürfe es für diese Zuschreibung gar nicht. Der dritte Jurist hatte in Frankfurt als Erster gesprochen. Er musste danach gleich wieder gehen, so wie es eben ist, wenn man wirklich wichtig ist und nicht nur Professor, Privatdozent, Doktorand oder Rentner. Eine nicht wirklich sympathische Figur - die Presse ist selten freundlich zu ihm. Und was soll man schon von jemandem halten, der sagt: "Jeder Mensch ist ein potentieller Verbrecher". Das klingt irgendwie ungut. Doch bei genauerem Nachdenken erweist sich dieser Satz als der Schlüsselsatz dieses Frankfurter Nachmittags. Denn in der Möglichkeitsbehauptung steckt die Freiheit, die der naturalistische Determinismus uns austreiben möchte. Es war dem hessischen Justizminister Jürgen Banzer vorbehalten, den empiristischen Träumereien von Roth, Grün und Friedman von Beginn an den Stachel der Skepsis entgegenzuhalten. Von wegen

27 "Unsinnigkeit" der Annahme von Willensfreiheit! Was wissen wir eigentlich? Angesichts der Komplexität der Hirn-Sache doch fast nichts! Die Moral gehört zum limbischen System - ja und? Was bedeuten denn die feuernden Neuronen und flackernden Synapsen? Und ist das nicht alles Induktion? Alle Schwäne sind weiß, bis einmal ein schwarzer auftaucht. Abgesehen davon, dass aus den Apparaturen herauskommt, was man vorher hineingesteckt hat. Bildgebende Verfahren in den Neurowissenschaften - die Bilder werden von den Rechnern errechnet, was hinter den Rechnungen der Rechner wirklich steckt - wer weiß? Und immer wieder: Was bedeutet das eigentlich? Und dass es den freien Willen nicht mehr geben soll - das muss erst einmal bewiesen und der Beweis nicht nur behauptet werden. Doch wie soll die Nichtexistenz von etwas überhaupt bewiesen werden? Und immer wieder auch: Komplexität des Hirnlebens, das sich einer sicheren Beschreibung entzieht. Reden wir nicht vom Verstehen. Der Justizminister: ein bodenständiger Mann und ein wissenschaftstheoretischer Skeptiker. Außer dem pensionierten Richter war dann niemand auf dem Podium mehr an der ministeriellen Frage nach der Grundlegung des Neurowissens interessiert. Michel Friedman sagte zwar zu Recht, dass die Annahme eines freien Willens eine historische Gegebenheit sei. Auf den Gedanken, dass die Annahme der Willenlosigkeit genauso der vergänglichen Geschichte ausgesetzt ist, kam er nicht. Und die, von den heutigen Neurowissenschaften her gesehen, Greisenhaftigkeit des Strafrechts? Nun, für den Abolitionismus gibt es viele und auch gute Gründe. Dass zum Beispiel eine Vielzahl von Eigentumsdelikten nicht unbedingt in den Apparat des Strafens, sondern vielleicht eher in einen Apparat pekuniärer Kompensation gehört, lässt sich hören. Für den Abolitionismus naturwissenschaftlicher Provenienz gibt es jedenfalls nicht den Grund, den deren Vertreter so überzeugt anführen, den Beweis nämlich, dass der freie Wille nicht existiert. Recht, Strafrecht inklusive, ist eine Sache von Zweifeln, Auslegungen, Interpretationen. Daraus resultieren Zurechnungen, die menschengemacht sind. Was vermeintliche naturwissenschaftliche Sicherheiten ausrichten würden, ist nicht ausgemacht. Ob es humaner ist, Gesetzesbrecher in die Fänge des medizinal-therapeutischen Komplexes zu geben als ins Gefängnis zu stecken, ist sehr die Frage. Einem Sein kann man nicht entrinnen, die Therapie wird zum fragelosen, rettungslosen Dasein. Michel Foucault, Pierre Legendre und ihre Analysen der therapeutischen Menschenzurichtungsmaschinenparks - Fehlanzeige, genauso wie der alte Materialismusstreit. Recht jedenfalls ist prekär, unsicher, revisionsfähig, interpretationsbedürftig. Darin liegt sein Menschenmaß. Eine Frage zum Schluss. Mörder, Pädophile, Vergewaltiger treten nicht massenhaft in Erscheinung. In Massen schließen wir Verträge. Kaufverträge, Mietverträge, Arbeitsverträge. Ein Vertrag besteht typischerweise aus zwei übereinstimmenden Willenserklärungen. Welche Auswirkungen hat die ultramoderne Hirnforschung eigentlich auf das, willensmäßig betrachtet, offenkundig ebenfalls völlig altmodische Zivilrecht? Hier sind die Dimensionen ganz andere als bei ein paar Mördern. Aber Zivilrecht ist ziemlich kompliziert. Auf die Antworten des neuen Neurorechts darf man gespannt sein. Doch wir könnten natürlich das Privatrecht gleich mit abschaffen. Wo kein Wille, da kein Recht. Strafrecht ist da nur eine Fußnote. Das wär"s: Legal, illegal, scheißegal!

Quelle: http://www.sueddeutsche.de/kultur/rechtsprechung-ohne-freien-willen-die-gedanken-sind- freiwild-1.416974 28 7. Jugendkriminalität

Wie Europa Jugendgewalt bekämpft

10.01.2008 Herausgeber: netzeitung.de

Erziehung statt Haft - Niederlande oder Schweden legen wie Deutschland beim Umgang mit jugendlichen Straftätern großen Wert auf Resozialisierung. Nicht überall geht es so milde zu. Werden Gewalttaten bekannt, löst dies schnell öffentliche Diskussionen aus. Sind die Täter Jugendliche, Ausländer und ist zudem noch Wahlkampf, werden die Vorfälle schnell zur politischen Debatte. In Deutschland wird über härtete Strafen für jugendliche Gewalttäter und die Einrichtung von Erziehungsheimen diskutiert. Wer als Jugendlicher in Deutschland eine Straftat begeht, kann mit einem Urteil nach dem Jugendrecht rechnen. Als Jugendliche gelten in Deutschland Menschen zwischen 14 und 17 Jahren. Jüngere Straftäter sind nicht strafmündig. Ältere bis zum Alter von einschließlich 20 Jahren gelten als Heranwachsende. Wenn sie erst die sittliche und geistige Reife eines Jugendlichen haben oder es sich bei der Tat um eine so genannte Jugendverfehlung handelt, werden sie nach Jugendstrafrecht beurteilt, sonst gilt das Erwachsenenstrafrecht. Was gilt, legt das jeweilige Gericht fest. Doch nicht nur in Deutschland rauben oder prügeln junge Menschen. Wie begegnen andere europäische Staaten der Jugendkriminalität, insbesondere ihrer verschärften Form, der Jugendgewalt? Dabei gibt es deutliche Unterschiede, etwa zwischen Schweden oder Großbritannien. Das Modell der Bootcamps nach amerikanischem Vorbild wurde in vielen Ländern bereits diskutiert und konnte nicht überzeugen – mehrfache Studien sprechen gegen die Wirksamkeit von autoritären Drilleinrichtungen. Auch die Schweiz entschied sich nach politischen Debatten, die denen in Deutschland ähneln, dagegen. Der Bundessstaat setzt auf längerfristige Gruppenprogramme. Der Bund hat erst kürzlich erstmals ein einheitliches Jugendstrafrecht verabschiedet. In Österreich bietet die Justiz lieber ein außergerichtliches Gespräch zwischen Tätern und Opfern an. Wer hier in die einzige Jugendjustizanstalt des Landes kommt, hat wirklich schwere Schuld auf sich geladen. Schweden möchte so wenig Jugendliche wie möglich bestrafen, sondern ihre Probleme behandeln und verzichten gesetzlich komplett auf eigene Jugendstrafregelungen. Die Niederlande setzen am stärksten auf individualistische Täterbetreuung und setzen ambulante Betreuer ein, die junge Straftäter auf den rechten Weg zurückbringen sollen. Frankreich richtet momentan die ersten Jugendhaftanstalten ein. Die Jugendrichter setzen ebenfalls auf Erziehung - allerdings auch auf Strafmaßnahmen, die ohne großes Aufsehen per Dekret beschlossen und dabei immer härter werden. Während sich europaweit dieser Trend der freiwilligen Selbstkorrektur der Täter abzeichnet, verteilt die Polizei in Großbritannien schnell Warnungen und Einträge ins Strafregister. Der Inselstaat duldet keine weiteren Ausflüchte, schon Kinder werden eingesperrt, um ihre Taten zu büßen.

Quelle: http://www.netzeitung.de/spezial/europa/874792.html

29 Anlass zu Sorge, nicht zu Panik

STANDARD REDAKTION, Printausgabe, 15.1.2008, 18:59

Von Petra Stuiber

Steigende Jugendkriminalität ist nicht durch mehr Law and Order zu bekämpfen

Die Zahl der Jugendlichen, die kriminell werden, steigt von Jahr zu Jahr – zuletzt sogar überdurchschnittlich um 15,3 Prozent. Soll man sich deswegen sorgen? Ja. Soll man sich deswegen fürchten? Nein.

Diese Antwort ist nicht so selbstverständlich, wie sie zunächst klingen mag. Hört man Hessens Ministerpräsident Roland Koch zu, könnte man den Eindruck bekommen, dass in jedem U-Bahn-Waggon, hinter jeder Straßenecke und in jedem Lokal marodierende Jugendbanden harmlose Rentner fertigmachen. Täglich legt CDU- Mann Koch neue Ideen für eine Verschärfung des Jugendstrafrechts nach, will "die sehr kleine Gruppe der besonders Aggressiven" unter 14-Jährigen so bestrafen wie die Großen. Das hat seinen Grund, denn es ist Wahlkampf in Hessen – doch das interessiert, angesichts der aufgeheizten Debatte, kaum jemanden. Sogar der Spiegel warnte vor jungen Männern, der vermeintlich "gefährlichsten Spezies der Welt". Es steht zu befürchten, dass die am Montag veröffentlichte österreichweite Kriminalstatistik für das Jahr 2007 einen ähnlichen Effekt haben wird. Auch hier hyperventilieren manche Medien ob der schlechten Nachricht (15,3 Prozent plus bei der Jugendkriminalität), und in einem großen Bundesland stehen Regionalwahlen bevor. Es ist also nur eine Frage der Zeit, bis auch hierzulande Politiker mit scheinbar sorgenzerfurchter Stirn den Zeigefinger heben und mit dem Strafgesetzbuch wacheln. Die ÖVP hat sowieso vor kurzem dem Thema "Sicherheit" alle anderen politischen Themen untergeordnet, und FPÖ und BZÖ waren noch nie berühmt für differenzierende Sichtweisen. Keine Frage: Wenn steirische Teenager beschließen, eine Frau zu vergewaltigen und zu ermorden, weil sie "einen Menschen sterben sehen wollen", wenn alte Damen in Wien beraubt und schwer verletzt werden, wenn ein Rentner in einer Münchner U- Bahn-Station schwer misshandelt wird – dann hat die Gesellschaft ein großes Problem. Doch dieses ist weder durch schärfere Gesetze noch durch rigorosere Vollziehung derselben zu bewältigen. Die Tatsache, dass die Zahl der gerichtlichen Verurteilungen jugendlicher Straftäter seit Mitte der 80er-Jahre fast konstant geblieben ist, stellt dem österreichischen Rechtssystem eigentlich ein gutes Zeugnis aus. Man setzt mehr auf außergerichtliche Wiedergutmachung und soziale Wiedereingliederung als auf Wegsperren. Das sollte auch so bleiben – denn die steigende Kriminalität sollte zwar Anlass zur Sorge, aber keinesfalls zur Panik sein.

30 Politiker aller Couleurs sollten nur einen Schluss ziehen: Der Jugend muss geholfen werden. Sie braucht Ausbildung, Arbeit, Zukunft und einen Weg aus den Wohnghettos der Städte. Und sie braucht Eltern, die sich um sie kümmern (können), weil die Wirtschaft, bei allem Konkurrenzdruck, begreift, wie wichtig die Vereinbarkeit von Beruf und Familie für die gesamte Volkswirtschaft ist. Soziale Vernachlässigung von Kindern ist kein schichtspezifisches Problem: Auch an Schulen in Wiens nobleren Bezirken gibt es Probleme mit minderjährigen Handydieben und jugendlichen Messerträgern. Allerdings ist der Ruf nach Law and Order in solchen Fällen weit weniger laut als in jenen, wo Migranten- oder überhaupt "Ausländer"-Kinder involviert sind. Da wird schnell einmal nach „Abschiebung“ noch vor Anklageerhebung gerufen – in Österreich wie in Deutschland. Dass marodierende Neonazis nicht minder gefährlich sind, wird gerne vergessen. Vielleicht täte in all der momentanen Aufgeregtheit ein Blick nach Spanien gut: Auch dort nimmt die Gewalt unter Jugendlichen zu. Vor kurzem haben 24 minderjährige Burschen und Mädchen eine 43-jährige Frau nach einem Wortwechsel krankenhausreif geschlagen. Doch statt nach schärferen Gesetzen zu rufen debattiert die Nation über bessere Resozialisierung. Denn, so schrieb die Frankfurter Allgemeine in einer Analyse: "Mit dem Thema Jugendkriminalität sind in Spanien keine Wahlen zu gewinnen." Welch wohltuende Abwechslung.

Quelle: http://derstandard.at/3181937/Anlass-zu-Sorge-nicht-zu-Panik?_lexikaGroup=17

31 8. Theaterpädagogik

In diesem Kapitel finden Sie Vorschläge zur Vor- bzw. Nachbereitung des Theaterbesuches mit Ihrer Klasse. Je nach Gruppe und zur Verfügung stehendem zeitlichen Rahmen können die einzelnen Punkte beliebig variiert und angepasst werden.

Einführung

1. Inhaltliche Einführung Um die Inszenierung sehen zu können, ist es nicht unbedingt notwendig, den Stoff vorher zu kennen. Jedoch ermöglicht eine inhaltliche Vorbereitung einen leichteren Einstieg, gibt wichtige Anknüpfungspunkte und eröffnet in der anschließenden Diskussion eine vergleichende Auseinandersetzung mit Roman/Film und Inszenierung. Lesen Sie deshalb gerne mit Ihren SchülerInnen den Roman A Clockwork Orange, bzw. wichtige Auszüge daraus. Auf Deutsch empfehlen wir die Neuübersetzung von Wolfgang Krege. Ebenso lässt sich der Text aber auch gut im Original im Englischunterricht behandeln. Sollte für Textarbeit keine Zeit sein, können Sie mit den SchülerInnen ebenfalls die Verfilmung von Stanley Cubrick von 1971 anschauen. Sie dient gut zum Überblick über die Handlung und ist ästhetisch interessant. Im Anschluss kann bereits überlegt werden, wie die Geschichte auf einer Bühne inszeniert werden könnte, vor welche Probleme ein Theaterregisseur im Gegensatz zu einem Filmregisseur gestellt ist. Sollte sich im Schulalltag weder für die Auseinandersetzung mit dem Roman noch der Verfilmung Zeit finden, bietet sich ein Gespräch an, indem Sie gemeinsam mit der Gruppe sammeln, was bereits an Wissen über A Clockwork Orange vorhanden ist. Im Anschluss können Sie die Grundzüge der Handlung erzählen und die verhandelten Themen besprechen. Weiters kann ein Ankündigungstext aus unserem Leporello oder dem Theatermagazin hinzugezogen werden. Ebenso bietet es sich an einen Artikel (Kapitel 6 Freier Wille und 7 Jugendkriminalität) oder die Figurinen (Kapitel 5 Inszenierung) aus diesem Begleitmaterial gemeinsam mit den SchülerInnen anzuschauen/ zu lesen und mit Bezug auf den Inhalt des Stückes zu diskutieren.

32 2. Gewalt auf der Bühne Eine große Frage der Inszenierungsarbeit bestand darin, wie es möglich ist, auf der Bühne Gewaltszenen darzustellen. Um Kämpfe möglichst authentisch für das Publikum und gleichzeitig sicher und schmerzfrei für die SchauspielerInnen zu entwickeln, wurde Choreograf Josef J. Borbely engagiert. - Sammeln Sie mit Ihren SchülerInnen an der Tafel: Welche Gewaltszenen gibt es in A Clockwork Orange? Um welche Art von Gewalt handelt es sich in der jeweiligen Szene? Markieren Sie jene Szenen, in denen körperliche Gewalt passiert. Teilen Sie die SchülerInnen nun in Gruppen ein. Jede Gruppe wählt eine der markierten Szenen und überlegt sich ein oder mehrere Konzepte, wie diese inszeniert werden könnte. Die SchülerInnen wählen selbst, ob sie ihre Lösungsvorschläge direkt vorspielen, auf einem Papier skizzieren oder in einer geschriebenen „Regieanweisung“ präsentieren möchten. Die Ergebnisse werden im Anschluss diskutiert. - Eine mögliche Darstellungsform ist es, einen Kampf in Zeitlupe zu zeigen. Im Training haben unsere DarstellerInnen ebenfalls „Slowmotion-Kämpfe“ improvisiert, um Bewegungsabläufe klarer wahrzunehmen und zu koordinieren. Die Kämpfe wirken dadurch besonders real, dass alle Beteiligten sensibel auf Impulse reagieren und auch als „Geschlagene“ Bewegungen mitführen. Weiters kann das Kampfgeschehen und die Schmerzempfindung durch Mimik vermittelt werden. Eine Kampfszene in Zeitlupe mit der ganzen Klasse kann einen sehr reizvollen und ganz körperlichen Zugang zu A Clockwork Orange und seinen DarstellerInnen schaffen. Nebenbei wird die Klassengemeinschaft gestärkt, denn ein sensibler Umgang miteinander und Konzentrationsfähigkeit sind die beiden Komponenten, die diese Übung erfolgreich machen. - Zur Vorübung gehen Ihre SchülerInnen nun jeweils zu zweit zusammen. Einer führt den anderen an einem unsichtbaren Stab durch den Raum. Das bedeutet, die beiden verabreden, welches Körperteil des einen (z.B. Ellenbogen, Kopf, Knie, Schulter, etc.) mit einem immer gleichbleibenden Abstand zur Hand des anderen von dieser durch den Raum geführt wird. Um der Hand folgen zu können, muss die geführte Person ungewöhnlichste Bewegungen machen, vertrauen und sich ganz auf den Abstand konzentrieren. Die führende Person ist dafür verantwortlich, das Tempo so zu

33 regulieren, dass der Abstand immer gleich bleibt und dem Partner keine Bewegungen zugemutet werden, die dieser nicht vollführen kann. Nachdem die Rollen getauscht wurden, wird in der nächsten Übung eine weitere wichtige Grundlage zur Arbeit mit Impulsen gelegt. Hierbei stellt sich eine Person locker hin, die andere „formt“ durch gezielte, sanfte Berührungen eine Figur aus dem Partner, der auf alle Impulse reagiert. Wird zum Beispiel, die Kniekehle berührt, knickt das Bein ein, wird das Kinn angetippt, hebt sich der Kopf, etc. Das intuitive Reagieren der „Puppen“ bestimmt die Form des Körpers. Die „Puppenbauer“ können feinste Haltungen beispielsweise der Finger oder des Gesichts durch Antippen verändern. Auch bei dieser Übung ist es wichtig, die Rollen zu tauschen. - Nun sind die SchülerInnen gut aufgewärmt und sensibilisiert. Alle stellen sich in einem großen Kreis auf. Jeweils drei betreten nun den „Kampfring“ und improvisieren eine erste „Gewaltchoreographie“ in Zeitlupe. Nach wenigen Minuten - bestenfalls an einem Kampfhöhepunkt - beenden Sie das Geschehen mit einem Pfiff oder Klatschen. Nachdem jeder einmal im Ring war, wird besprochen: Wie haben die Kämpfe gewirkt? Welche Bewegungsabläufe waren gut, welche weniger überzeugend? Was fiel den KämpferInnen leicht? Wo traten Schwierigkeiten auf? Wie könnten diese gelöst werden? Auf was soll beim nächsten Mal geachtet werden? Nun gibt es einen Kampf der einen Hälfte der Klasse, danach schauen diese zu und die andere Hälfte kämpft. Final kämpft die ganze Klasse in einer Gesamtchoreographie, bis Ihr Schlusssignal ertönt.

3. Hauptfigur Alex Protagonist Alex ist eine facettenreiche Figur, aus deren Perspektive A Clockwork Orange erzählt wird und die im Verlauf des Stückes mehrere Wandlungen durchläuft. Die Stationen, die Alex durchläuft geben einen guten Überblick über die Handlung des Stückes und können mit der direkten Erlebniswelt der Jugendlichen in Verbindung gebracht werden. - Erzählen Sie Ihren SchülerInnen chronologisch den groben „Werdegang“ von Alex. Bestimmte Situationen halten Sie an der Tafel oder auf Zetteln fest. Z.B.: Alex mit seiner Gang auf nächtlichem Streifzug, Alex mit seinem Bewährungshelfer, Alex mit seinen Eltern, die von seiner Vorstrafe wissen,

34 Alex im Gefängnis, Alex während seiner „Umpolung“ mit den Ärzten, Alex trifft nach seiner Behandlung nun zwei Jahre älter wieder auf seine ehemalige Gang bzw. deren Mitglieder, Alex kommt nach zwei Jahren zu seinen Eltern zurück, Alex leidet unter seiner „Umpolung“, denn er kann nicht mehr nur keine Gewalt mehr ausüben, sondern auch seine leidenschaftlich geliebte Musik von Beethoven nicht mehr hören, Alex Behandlung wurde wieder zurückgenommen: Er ist „der Alte“(?) und frei. - Besprechen Sie mit den SchülerInnen, wie könnte sich Alex in welcher Situation verhalten? Wie verändert er sich von Situation zu Situation? Die SchülerInnen wählen nun in Kleingruppen jeweils eine Situation und denken sich spontan eine Szene aus. Sie dürfen dabei frei improvisieren und ihre eigene Version der Szenen entwickeln. - Die SchülerInnen präsentieren in chronologischer Reihenfolge ihre Alex- Szenen, sodass sich ein ungefährer Ablauf der Geschichte erzählt. Im Anschluss wird besprochen: Was haben wir gesehen? Wie wurde Alex jeweils dargestellt? In welchem Verhältnis stand er jeweils zu den anderen Figuren? Wie könnte seine Geschichte weitergehen?

4. Positionen zum Umgang mit GewaltverbrecherInnen Im Zentrum des Stückes, stehen nicht nur Alex und seine Entwicklung, sondern insbesondere die Darlegung und Verhandlung unterschiedlichster Positionen zum Umgang der Gesellschaft und des Staates mit jugendlichen GewaltverbrecherInnen. Verschiedene Figuren, wie der Gefängnispfarrer, die Innenministerin, der Autor, die Ärzte etc. übernehmen verschiedene Positionen, Alex wird immer mehr zum Spielball und Versuchsobjekt ihrer Überzeugungen. Die Frage nach dem freien Willen sowie danach, ob ein Staat auf ausgeübte Gewalt mit Gewalt reagieren darf, rücken ins Rampenlicht. - Diskutieren Sie mit Ihren SchülerInnen: Wie soll mit GewaltverbrecherInnen umgegangen werden? Wozu haben wir Gefängnisse? Bereichern Sie die Diskussion mit einer Recherche der SchülerInnen zur momentanen Realität in Österreichs Jugendvollzugsanstalten, zu Modellen in anderen Ländern (siehe auch Kapitel 7 Jugendkriminalität) sowie zu unterschiedlichen Stellungnahmen aus Politik, Sozialarbeit und Psychologie. Sind alle Informationen gesammelt

35 und in der Gruppe präsentiert und besprochen, schreibt jede Schülerin, jeder Schüler selbst ein kurzes persönliches Statement zu diesem Themenfeld. - Die SchülerInnen wählen sich nun Figuren aus A Clockwork Orange, deren Positionen sie allein oder in Gruppenarbeit mithilfe von Textauszügen (siehe Kapitel 5 Inszenierung) genauer nachvollziehen. Außerdem können sie die jeweilige Figurine (ebenfalls Kapitel 5 Inszenierung) nutzen, um sich ein Bild von dieser Figur zu machen. Ausgehend von diesem Material, entwickeln die SchülerInnen nun eine Rolle. Wichtige Fragen hierbei sind: Wer ist unsere Figur (Alter, Wohnort, Beruf, persönliche Lebenssituation, Aussehen, etc.)? Welche Haltung vertritt sie zum Thema Umgang mit jugendlichen GewaltverbrecherInnen? Warum? Aus jeder Kleingruppe wird eine Person ausgewählt, die die Figur verkörpern möchte. Die anderen unterstützen sie darin, passende Mimik, Gestik, Gangart etc. für die Rolle zu finden. - Zwei SchülerInnen wählen statt einer Figur die Rolle von Talkshow ModeratorInnen und bereiten ein Fernsehformat vor, indem nachher alle Figuren auftreten und zum Thema Jugendgewalt in Österreich diskutieren. Sie überlegen sich Fragen, aktuelle Bezüge und planen die Präsentation. - Die SchülerInnen schlüpfen nun in ihre Rollen oder formieren sich als Publikum und die Talkshow beginnt. Im Anschluss wird das Ereignis diskutiert, es können Fragen vom Publikum gestellt, Eindrücke geäußert werden. Zum Abschluss können die Positionen aus dem Stück mit den zuvor erarbeiteten Positionen aus der aktuellen Realität und den persönlichen Statements der SchülerInnen verglichen werden.

36 Nachbereitung

Nachdem erste Eindrücke und Fragen der SchülerInnen geäußert und besprochen wurden, können folgende Fragen Ausgangspunkt einer interessanten Diskussion sein:

- Wie hat sich Alex im Verlaufe des Stückes verändert? Welche Stationen hat er durchlaufen? Fandet ihr ihn sympathisch/unsympathisch? Warum? - Wie lassen sich die anderen Figuren beschreiben? (Spiel, Maske, Kostüm, etc.) - Wie hat euch die Bühne gefallen? Was haben die einzelnen Bilder erzählt? An was haben euch die Bühnenelemente erinnert? - Wie würdet ihr den Licht- und Toneinsatz beschreiben? An welchen Stellen sind euch diese Elemente besonders aufgefallen? Was haben sie zum Erzählen der Geschichte beigetragen? - Welche Themen wurden im Stück verhandelt? - Würdet ihr die Geschichte als aktuell beschreiben? Warum? Warum nicht? - Welche Positionen zum Umgang mit GewaltverbrecherInnen wurden im Stück vorgestellt? Welche weiteren Maßnahmen oder Überzeugungen kennt ihr? Was ist eure Meinung? - Was denkt ihr, wie Alex’ Leben weitergehen wird? - Was bedeutet Gewalt? Welche Arten von Gewalt gibt es? - Wo in eurem Leben und Umfeld begegnet ihr Gewalt? - Wie könnte man Gewalt begegnen, sie verhindern?

37 9. Medientipps

Bücher:

- A Clockwork Orange von Anthony Burgess in einer Neuübersetzung von Wolfgang Krege

- Schmerzgrenze. Vom Ursprung alltäglicher und globaler Gewalt von Joachim Bauer

Klappentext: Der Aggressionstrieb, folgenreiche Erfindung von Sigmund Freud und Konrad Lorenz, erklärte die Gewalt zur unverrückbaren Konstante der menschlichen Natur. Joachim Bauer entlarvt den Mythos des Aggressionstriebes und liefert mit "Schmerzgrenze" eine Neukonzeption des Gewaltphänomens, die auf neuesten neurowissenschaftlichen Erkenntnissen beruht. Evolutionärer Zweck der Aggression ist, uns gegen die Zufügung von Schmerzen wehren zu können. Doch die Schmerzgrenze des Gehirns verläuft anders, als wir bisher dachten. Unser Gehirn bewertet Ausgrenzung und Demütigungen wie körperlichen Schmerz und reagiert deshalb auch darauf mit Aggression. Dies bedeutet: Aggression steht im Dienste der Verteidigung sozialer Bindungen.

Filme:

- A Clockwork Orange von Stanley Kubrick, Großbritannien 1971

- Die Kinder sind tot von Aelrun Goette, Deutschland 2003

Auszug aus Filmbesprechung von Evelyn Finger, Die Zeit ,11.03.2004

[…] Die junge Regisseurin und Drehbuchautorin Aelrun Goette wollte die Geschichte einer Frau ergründen, die ihre beiden kleinen Söhne in ein Zimmer schloss und verdursten ließ. Im Jahr 2000 war sie von einem Gericht als Kindsmörderin zu lebenslanger Haft verurteilt worden, man wies ihr das Unerhörte nach, aber wie es geschehen konnte, war damit nicht geklärt. Die Kinder sind tot heißt nun ein Film, der belegt, dass die Katastrophe sehr viel größer ist als die Wohnung, in der sie sich ereignete. Aelrun Goette fuhr in jenen Vorort von Frankfurt/Oder, wo die spätere Mörderin Daniela Jesse ihr Leben lang gewohnt hatte, wo ihre Eltern noch heute wohnen und auch die Nachbarn, die, als die allein gelassenen Kinder um ihr Leben schrien, als sie verzweifelt an die Tür hämmerten, als sie mit Löffeln gegen die Fenster schlugen, nichts anderes dachten, als dass es eben der übliche Radau sei, um den man sich nicht weiter kümmern müsse.

14 Tage dauerte das Sterben der Kinder, 14 Tage lang stellten die Erwachsenen sich tot. Ihre Taubheit ist das Symptom einer selbst gewählten Unmündigkeit: Wenn Aelrun Goette Cindys Bierstube betritt, um ein paar erste harmlose Fragen zu stellen,

38 bekommt man augenblicklich den deprimierenden Eindruck, in eine Gemeinschaft von Autisten geraten zu sein. „Meine Gedanken behalte ich für mich“, sagt der Mann am Fenster. „Jeder ist sich selbst der Nächste“, bestätigt der Mann an der Bar. In einem Kriminalfilm würde man sie als Schurken verdächtigen, die sich hinter einer Mauer des Schweigens verschanzen. In der Wirklichkeit des Dokumentarfilms ist es weit schlimmer. Hier ist niemand schuldig, weil sich niemand für irgendetwas verantwortlich fühlt, deshalb hat auch keiner ein schlechtes Gewissen. Das Bewusstsein, dass all unser Tun und Lassen von unserem Willen abhängt, das Bewusstsein unserer (wie auch immer eingeschränkten) Freiheit, existiert nicht mehr. […]

Internet:

-Plattform Gewaltprävention: www.gewaltpraevention-ooe.at

-Gewaltschutzzentrum: www.gewaltschutzzentrum.at

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