49. Jahrgang • Juli/August 1998 • ISBN 3-928561-77-4 B 2237 F

Zweimonatszeitschrift für Politik und Zeitgeschehen POLITISCHE STUDIEN 360

José María Aznar POLITISCHE STUDIEN-Zeitgespräch mit dem spanischen Ministerpräsidenten

Theo Waigel Die moderne christliche Volkspartei - Das politische Werk Josef Müllers

Norbert Walter Perspektiven der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion

Schwerpunktthema: SED und PDS: Beiträge zu Geschichte und Gegenwart einer sozialistischen Partei

mit Beiträgen von Rüdiger Dambroth, Olaf Kappelt, Otto Wenzel und Manfred Wilke

Hanns Seidel Stiftung eV Atwerb-Verlag KG Hanns Seidel Stiftung eV

Herausgeber: tronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder Hanns-Seidel-Stiftung e.V. verbreitet werden. Redaktionelle Zuschriften wer- Vorsitzender: Alfred Bayer, Staatssekretär a. D. den ausschließlich an die Redaktion erbeten. Hauptgeschäftsführer: Manfred Baumgärtel Verantwortlich für Publikationen, Presse- und Die Beiträge in diesem Heft geben nicht unbedingt Öffentlichkeitsarbeit: Burkhard Haneke die Meinung der Redaktion wieder; die Autoren tragen für ihre Texte die volle Verantwortung. Redaktion: Unverlangt eingesandte Manuskripte werden nur Dr. Reinhard C. Meier-Walser (Chefredakteur) zurückgesandt, wenn ihnen ein Rückporto beiliegt. Paula Bodensteiner (Redakteurin) Verena Hausner (Redakteurin) Bezugspreis: Einzelhefte DM 8,80. Irene Krampfl (Redaktionssekretärin) Jahresabonnement DM 53,40. Für Studierende 50 % Abonnementnachlaß gegen Vorlage eines Hö- Anschrift: rerscheins ihres Instituts. Redaktion POLITISCHE STUDIEN Die Zeitschrift POLITISCHE STUDIEN erscheint im Hanns-Seidel-Stiftung e.V. Periodikum, Sonderheft und Sonderdruck. Lazarettstraße 33 Bestellungen nehmen entgegen: Die Redaktion 80636 München und alle Buchhandlungen. Telefon 0 89 / 12 58 - 260 / 261 Telefax 0 89 / 12 58 - 469 Kündigungen müssen der Redaktion schriftlich, spätestens zwei Monate vor Ablauf des Kalender- Alle Rechte, insbesondere das Recht der Verviel- jahres vorliegen, wenn der Bezug über das fältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, laufende Jahr hinaus nicht mehr gewünscht wird. vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung der Re- daktion reproduziert oder unter Verwendung elek- ATWERB-VERLAG KG Publikation © Inhalt

Reinhard C. Adieu Sozialwissenschaften oder Meier-Walser Was unter Hoch- schulreform versteht ...... 3

José María Aznar POLITISCHE STUDIEN-Zeit- gespräch mit dem spanischen Ministerpräsidenten...... 6

Theo Waigel Die moderne christliche Volkspartei - Das politische Werk Josef Müllers 15

Schwerpunktthema: SED und PDS: Beiträge zu Geschichte und Gegenwart einer sozialistischen Partei ...... 25

Gerhard Hirscher Einführung ...... 27

Rüdiger Dambroth Parlamentarische Bündnisbestrebun- gen von SPD und PDS im Wahljahr 1998 ...... 28

Manfred Wilke Die Diktaturkader André Brie, Gregor ..Gysi, Lothar Bisky und das MfS 39

Olaf Kappelt Das braune Erbe der PDS: Von NS-Mitmachern zu DDR- Schrittmachern ...... 70

Otto Wenzel Atombunker mit Interhotel- Standard ...... 79 Norbert Walter Perspektiven der Europäischen Wirt- schafts- und Währungsunion...... 83

Thomas Buchheim Überlegungen zum Begriff der Elite ...... 91

Edgar Hösch Der Ethnonationalismus im Balkan- raum - Genese und Geschichte .. 104

Im Dialog Monsignore Gerhard Ott, Zum Kultur- begriff aus der Sicht der Künstler- seelsorge, Anmerkungen zu PS 358: Eberhard Simons, Umbau der Kultur - Zum Verhältnis von Ökologie, Lebensökonomie und Ästhetik .... 117

Das aktuelle Buch ...... 119

Buchbesprechungen ...... 122

Autorenverzeichnis ...... 132 Adieu Sozialwissenschaften oder Was Oskar Lafontaine unter Hochschulreform versteht

Reinhard C. Meier-Walser

„Nicht nur das Land, auch die Uni ist am gierungserklärung vom November Rande des Bankrotts“ (Professor Dr. Die- 1994 war das Ziel eines Ausbaus des ter Simon, Vorsitzender des Sachverstän- Zentrums für Umweltforschung sogar digenrates „Hochschulentwicklung Saar- explizit enthalten gewesen. land-Trier-Westpfalz“, zur Misere des Saarlandes und dessen einziger Univer- Bei ihrem hochschulpolitischen sität).1 Streichkonzert beruft sich die saarlän- dische Landesregierung auf die im Im Zuge einer „Strukturreform“ der März diesen Jahres vorgelegten Emp- Universität des Saarlandes (UdS) plant fehlungen der als „Simon-Kommissi- die Regierung Lafontaine die Strei- on“3 bezeichneten Sachverständigen- chung einer ganzen Reihe von Fächern Kommission „Hochschulentwicklung und Studiengängen an der einzigen Saarland-Trier-Westpfalz“. Offiziell Universität ihres Landes. So sollen u.a. hatte das von den beiden SPD-Wissen- die Sozialwissenschaften komplett auf- schaftsministern Henner Wittling gelöst werden, womit das Saarland die (Saarland) und Jürgen Zöllner (Rhein- zweifelhafte Exklusivität erwerben land-Pfalz) im Februar 1997 in Auftrag wird, das einzige Bundesland zu sein, in gegebene Gutachten eine anspruchs- dem es keine Wissenschaften von Staat volle Doppelaufgabe zu erfüllen: 1. Die und Gesellschaft, mithin keine Poli- Systemevaluation des Hochschulbe- tikwissenschaft und Soziologie, mehr reichs der Region Saarland-Trier-West- geben wird. pfalz; 2. die Entwicklung eines tragfähi- Ebenfalls gestrichen werden sollen an gen Konzeptes für die Universität des der Universitas Saraviensis in Saar- Saarlandes. Es wußten jedoch alle Be- brücken neben anderen Fächern2 auch teiligten von Anfang an, daß es nahezu die Volkswirtschaftslehre sowie der Ge- ausschließlich um die Reform der 1948 samtbereich der Umweltwissenschaf- gegründeten Universität des Saarlandes ten, die Oskar Lafontaine zu Beginn sei- ging. Der Kommissionsvorsitzende ner Amtszeit noch als den großen Dieter Simon räumte denn auch un- Durchbruch für die Zukunft der Uni- umwunden ein, alles andere sei „ei- versität bezeichnet hatte. In seiner Re- gentlich eher Schau“.4

Politische Studien, Heft 360, 49. Jahrgang, Juli/August 1998 4 Reinhard C. Meier-Walser

Im Rahmen ihres geplanten, aus der sich auch die wissenschaftlichen Mit- Not erdrückender finanzieller Engpäs- arbeiter am Lehrstuhl des Saarbrücker se geborenen hochschulpolitischen Soziologen Reinhard Stockmann in Kahlschlages haben Lafontaine und einem offenen Brief gegen die diesbe- Wittling das Gutachten der Simon- züglichen Beschlüsse der Regierung La- Kommission in erster Linie als Deck- fontaine. Die ersatzlose Streichung der mäntelchen der Rechtfertigung zu Sozialwissenschaften bedeute u.a., mißbrauchen versucht. Dies wird „daß Arbeitsplätze für Wissenschaftler durch die Tatsache belegt, daß ihre im Saarland verlorengehen und daß Streichpläne in wesentlichen Punkten leistungsfähige Wissenschaftler das erheblich von den Empfehlungen der Saarland verlassen werden.“ Experten abweichen. So raten etwa die Stockmann selbst, dem es innerhalb Gutachter zwar von einer Einführung nur eines Jahres gelungen war, Dritt- des Diplomstudienganges Sozialwis- mittel von über einer Million DM zu senschaften ab („hierzu wären minde- akquirieren, ist über die Initiative der stens 4 bis 6 soziologische und poli- Landesregierung stark verärgert. „Die tikwissenschaftliche Professoren not- haben uns mit Vollgas gegen die Wand wendig“5), sie fordern jedoch gerade fahren lassen“.7 die Fortführung von Politikwissen- Auch in der Politik stoßen die Streich- schaft und Soziologie im Rahmen pläne des Kabinetts Lafontaine auf Un- eines neu zu bildenden Fachbereiches. verständnis. Der Vorsitzende und der Nicht zuletzt wegen der krassen Dis- hochschulpolitische Sprecher der krepanz zwischen Gutachterempfeh- CDU-Fraktion im saarländischen lung und saarländischer Hochschulpo- Landtag, Peter Müller und Kurt Schoe- litik ist der Kabinettsbeschluß zur Zu- nen, kritisierten die geplante Strei- sammenstreichung der UdS allenthal- chung ganzer Studiengänge als einsei- ben mit Bestürzung und Fassungslosig- tige Ausdünnung der Universität, die keit registriert worden. über reduzierte Studienmöglichkeiten Der Anfang Juli in Saarbrücken tagen- auch zu einem Rückgang an Studenten de Philosophische Fakultätentag führen werde. Heftig wehrt sich die geißelte die geplante Neuordnung der Saar-CDU gegen die einseitige Ökono- UdS als „abschreckendes Beispiel für misierung der Universität zu Lasten ein auf vordergründigen Nutzen aus- der Grundlagen- und Geisteswissen- gerichtetes Strukturkonzept“.6 schaften. „Die Bedeutung der Gesell- Der Fachschaftsrat Soziologie an der schaftswissenschaften wird zunehmen UdS fragte in einer Pressemitteilung, und gerade die Sozial- und Umwelt- ob sich das Saarland den Verlust von wissenschaften wären profilbildend kompetenten Sozialwissenschaftlern für die Universität.“8 überhaupt leisten könne. „Wer soll die Auch die Saar-Liberalen lehnen die spezifischen sozialen Probleme des Streichung ganzer Wissenschaftsdiszi- Saarlandes erforschen und lösen hel- plinen ab. Angesichts der vielfältigen fen?“ gesellschaftlichen Herausforderungen „Enttäuscht und geradezu schockiert von Gewalt und Drogenkonsum an darüber, daß innovative, anwendungs- den Schulen bis zur Umweltzerstörung orientierte Forschung aus dem Saar- gerade im Saarland seien die Beschlüs- land vertrieben werden soll“, wandten se der Regierung Lafontaine „nicht Adieu Sozialwissenschaften 5 hinnehmbar“, betonte der FDP-Vorsit- 1985 für die Geschicke des kleinsten zende Werner Klumpp.9 und mittlerweile hochverschuldeten Flächenstaates der Republik und damit Selbst das benachbarte Frankreich zeig- auch für die Misere der Universität ver- te Betroffenheit ob der zweifelhaften antwortlichen Regierung Lafontaine Strukturreform der UdS. In der Saar- wird neben anderen namhaften For- brücker Zeitung kritisierte der namhaf- schungs- und Ausbildungsstätten in te französische Politologe und Publi- Saarbrücken auch die dem politikwis- zist Alfred Grosser vehement die Strei- senschaftlichen Institut angegliederte chung von Soziologie und Politikwis- „Arbeitsstelle Politik Chinas und Osta- senschaft. „Ich kann nicht verstehen, siens“ zum Opfer fallen. Sie war 1975 wie das geschehen kann“.10 von dem mittlerweile emeritierten Po- Wie Grosser bezog sich auch der ge- litikwissenschaftler Jürgen Domes ge- schäftsführende Direktor des Europa- gründet und zu einer herausragenden Instituts der UdS, Abteilung Volkswirt- und weltweit renommierten Einrich- schaftslehre, Christian Keuschnigg, tung der Asienforschung entwickelt auf die Bedeutung des Europa-Profils worden. Wen wundert es, daß Domes, der Universität. Für den Fall, daß die ein Gelehrter von internationalem Streichungspläne nicht revidiert wür- Rang, den saarländischen Ministerprä- den, kündigte er Bildungsminister sidenten und dessen Adlatus im Wis- Wittling bereits seinen Rücktritt an.11 senschaftsressort heute als die „deut- schen Meister im Zerstören von Uni- Der eklatanten Mißwirtschaft der seit versitäten“12 bezeichnet.

Anmerkungen 1 Zitiert nach: , 9. Juli 1998. Trier - Westpfalz. März 1998, S.123. 2Darunter Theologie, Slawistik, Orientali- 6Frankfurter Allgemeine Zeitung, 7. Juli stik, Indogermanische Sprachwissenschaf- 1998. ten, Kunstgeschichte sowie Kunst- und Mu- 7Saarbrücker Zeitung, 18. Juni 1998. sikerziehung. 8„Universitäts-Reform: Stückwerk und 3Benannt nach dem Kommissionsvorsitzen- Streichkonzert“. Informationen der CDU- den und Präsidenten der -Branden- Fraktion im saarländischen Landtag, 15. burgischen Akademie der Wissenschaften, Juni 1998. Dieter Simon. 9Saarbrücker Zeitung, 15. Juni 1998. 4Zitiert nach: DIE ZEIT, 9. Juli 1998. 10Saarbrücker Zeitung, 29. Juni 1998. 5Empfehlungen der Sachverständigenkom- 11Vgl. Saarbrücker Zeitung, 1. Juli 1998. mission Hochschulentwicklung Saarland - 12Im Gespräch mit dem Verfasser. POLITISCHE STUDIEN-Zeitgespräch mit mit dem spanischen Ministerpräsidenten José María Aznar

José María Aznar López wurde am 25. 2. 1953 in Madrid geboren. Nach dem Jurastudium wurde er 1979 Finanzinspektor. Im glei- chen Jahr trat er in die konservativ-liberale Alianza Popular (AP) ein und wurde 1982 im Wahlkreis Avila zum Mitglied des Abge- ordnetenkongresses gewählt. Von 1987 bis 1989 war er Minister- präsident von Castilla y Léon, der flächenmäßig größten Region in Europa. 1989 wurde Aznar zum Vorsitzenden der aus der AP her- vorgegangenen Volkspartei (Partido Popular/PP) gewählt, die er nach einem intensiven Modernisierungs- und Reformprozeß im März 1996 zu ihrem ersten Wahlsieg führte. Seit dem 5. Mai 1996 ist José María Aznar Ministerpräsident des Königreichs Spanien.

POLITISCHE STUDIEN: Sehr geehrter der Vollversammlung der Abgeordne- Herr Ministerpräsident, vor mehr als tenkammer, des Congreso de los Dipu- zwei Jahren gewannen Sie die spani- tados, erhalten höchste Aufmerksam- schen Parlamentswahlen und konnten keit von seiten der Regierung, da wir die Regierung bilden. Sie übernahmen sie als das am besten geeignete Mittel ein Land, das nach 14 Jahren sozialisti- ansehen, um mit Klarheit und Schnel- scher Herrschaft u.a. infolge von Polit- ligkeit all die Probleme zu behandeln, und Korruptionsskandalen in eine mo- die für den Bürger jederzeit von Inter- ralische Krise geraten war und nach esse sein können. In den nächsten Wo- einer anderen Politik verlangte. Sie chen werde ich, im Laufe von zwei Jah- selbst versprachen als Repräsentant ren, eine größere Anzahl parlamentari- einer nicht mehr von der Vergangen- scher Anfragen beantwortet haben als heit geprägten neuen Generation, die mein Vorgänger als Regierungschef Demokratie in Spanien zu reformieren. und an der Spitze der Exekutive in Welche Ergebnisse können Sie nun- mehr als dreizehn Jahren beantwortet mehr zur Halbzeit der Legislaturperi- hat. ode feststellen? Die großen parlamentarischen Debat- J.M. Aznar: Eine der sichtbarsten Ach- ten, die sehr genau von unseren Bür- sen der demokratischen Erneuerung gern verfolgt werden, werden in regel- war die Wiederbelebung des Parla- mäßigen Abständen abgehalten. Wir ments als Zentrum des politischen Le- haben große Anstrengungen unter- bens. Die wöchentlich stattfindenden nommen, um die vielschichtigen na- Sitzungen parlamentarischer Kontrolle tionalen und internationalen politi-

Politische Studien, Heft 360, 49. Jahrgang, Juli/August 1998 POLITISCHE STUDIEN – Zeitgespräch 7 schen Fragen mit Klarheit und Gründ- Verfassung vorgesehenen Autonomie- lichkeit vor den beiden Kammern zu statuten angeglichen. Einige dieser so- behandeln. Die Spanier haben diese genannten „historischen“ Regionen - Haltung einer stärkeren Transparenz obwohl zum Beispiel, auch die Regio- sehr wohl erkannt und bewerten diese nen Aragon, Castilla und León, Asturi- positiv. en oder Andalusien in der Geschichte die gleiche Bedeutung wie Katalonien Zum anderen ist der Dialog ein fester oder das Baskenland haben - bean- Bestandteil des Partido Popular als Re- spruchen einen grundsätzlichen Un- gierungspartei - der Dialog mit den Par- terschied zwischen ihren Regionen teien, die uns im Parlament unterstüt- und dem Rest des Landes. zen, der Dialog mit der Opposition in Staatsfragen, der Dialog mit den Sozi- Es ist offenkundig, daß Unterschiede alpartnern, um der Wirtschaft Impulse bestehen, wir dürfen jedoch nicht ver- zu geben und neue Arbeitsplätze zu gessen, daß die in Barcelona, Bilbao, schaffen. Die Verhaltens- und Vorge- Burgos, Madrid oder Sevilla lebenden hensweisen haben sich grundlegend Spanier sich in vielen wichtigen Aspek- geändert. In Spanien ist heutzutage auf ten des kulturellen, wirtschaftlichen seiten der Bürger ein größeres Vertrau- und politischen Lebens zu keinem en gegenüber den Institutionen und Zeitpunkt unserer Geschichte so nahe- der Zukunft spürbar. standen wie heute. Spanien ist homo- gener als es manchmal, vielleicht ober- POLITISCHE STUDIEN: Die neue de- flächlich gesehen, den Anschein hat, mokratische Verfassung von 1978 er- und die politische und administrative setzte den bisherigen Zentralismus Struktur darf sich dieser Tatsache nicht durch den „Staat der Autonomien“. verschließen. Es ist zu bezweifeln, ob Das spanische Modell unterscheidet wir zu einer ähnlichen Aufteilung der sich vom deutschen u.a. dadurch, daß Zuständigkeiten wie in Deutschland die autonomen Regionen unterschied- kommen werden, obwohl die spani- liche Kompetenzniveaus besitzen und sche Verfassung in dieser Beziehung der Senat, die Kammer der Autonomen viele Möglichkeiten offenhält. Sicher Gemeinschaften in Madrid, nur gerin- ist jedoch, daß der vor zwei Jahrzehn- ge legislative Mitwirkungsrechte hat. ten erfolgte demokratische Übergang Kann Ihrer Meinung nach Spanien in den Weg für die dynamische Entwick- Zukunft zu einem föderalistischen lung einer neuen territorialen Verwal- Staat werden, und würden Sie eine sol- tung geebnet hat, die sehr zufrieden- che Entwicklung unterstützen? stellend verläuft und bereits in eine Phase größerer Stabilität eingetreten M.J. Aznar: Die unterschiedlichen Zu- ist. ständigkeiten der einzelnen Autono- mieregionen, der Comunidades Auto- POLITISCHE STUDIEN: Wegen der nomas, folgen geschichtlichen, kultu- Mehrheitsverhältnisse im Parlament rellen, sprachlichen und auch politi- sind Sie auf die Unterstützung regiona- schen Gegebenheiten. Im übrigen ler Parteien, v.a. der katalanischen haben sich die jeweiligen Zuständig- „Convergencia i Unié“, angewiesen. keiten mittels der Reformen der in der Deren Präsident Jordi Pujol stimmt 8 POLITISCHE STUDIEN – Zeitgespräch

José María Aznar zusammen mit dem Vorsitzenden der Hanns-Seidel Stiftung, Staatssekretär a. D. Al- fred Bayer, und seiner Stellvertreterin, Staatsministerin Prof. Ursula Männle. zwar in der Wirtschafts- und Sozialpo- Sozial- und Wirtschaftspolitik zu ge- litik weitgehend mit Ihrer Regierung währleisten. überein, fordert aber zum Ausgleich immer neue Autonomierechte für Ka- Logischerweise bestehen weiterhin un- talonien, das für ihn eine eigenständi- terschiedliche Auffassungen in Fragen ge Nation ist. Ähnlich problemreich der Autonomie, und wahr ist auch, daß sind ja auch entsprechende baskisch- in diesen Fragen unsere nationalisti- nationalistisch Ambitionen. Wie schen Partner gegen die Vorschläge der schaffen Sie den schwierigen Spagat Regierung gestimmt haben. In allen zwischen den übergeordneten natio- Fällen war jedoch die Transparenz der nalen Interessen und den zentrifuga- Verträge eine ihrer wertvollsten Eigen- len Kräften in Ihrem Land? schaften; sie wurden veröffentlicht und jedem zur Kenntnis gebracht und J.M. Aznar: Durch Befolgung der Ver- diese Verträge sind wie nicht anders zu fassung und ihrer Gesetze. Es steht erwarten, von absoluter Treue gegen- außer Frage, daß jeder Vertrag gegen- über der rahmengebenden Verfassung seitige Zugeständnisse und die Ach- und den Statutenregelungen. tung vor dem Kernpunkt der Bestre- bungen der Vertragspartner voraus- POLITISCHE STUDIEN: Seit über setzt. Ohne diese Voraussetzung kann zwanzig Jahren stellt der Terrorismus es nicht funktionieren. Es ist richtig, eine existentielle Herausforderung für daß die gemäßigten Nationalisten in die spanische Demokratie dar. Durch Katalonien und im Baskenland wert- die gezielte Ermordung von Kommu- volle Anstrengungen unternommen nalpolitikern der Volkspartei will die haben, um die erfolgreiche Durch- baskische ETA Ihre Regierung zu Zuge- führung der gemeinsam getragenen ständnissen zwingen. Sie haben es bis- POLITISCHE STUDIEN – Zeitgespräch 9 her standhaft abgelehnt, auf Forderun- auf eine größere Mehrheit im Parla- gen der ETA einzugehen oder mit den ment zu hoffen? Terroristen zu verhandeln. Wie aber kann man Ihrer Meinung nach den J.M. Aznar: In Spanien hat der Regie- Terrorismus besiegen? rungschef die Rechtsbefugnis, im Ge- gensatz zu dem, was die deutsche Ver- J.M. Aznar: Der Terrorismus wird fassung vorsieht, in alleiniger Verant- durch die Einheit aller politischen wortung dem König die vorzeitige Auf- Kräfte besiegt, und wir benutzen als lösung der Parlamentskammern vor Waffe unsere tiefe Überzeugung von Ablauf der Legislaturperiode vorzu- einem demokratischen Rechtsstaat. schlagen und somit die Parlaments- Die Regierung wird sich niemals den wahlen vorzuziehen. Selbst dann bin Forderungen der Terroristen beugen, ich der Meinung, daß man die Legisla- denn dies würde die Abkehr von turperiode ausschöpfen sollte, da sie grundlegenden Prinzipien des demo- eine stets positive Stärkung der Stabi- kratischen Zusammenlebens bedeu- lität auf allen Ebenen des nationalen ten. Lebens ist. Die nächsten Wahlen wer- den normalerweise im Jahre 2000 statt- Von außerordentlicher Bedeutung ist finden. in diesem Zusammenhang die interna- tionale Zusammenarbeit. Die Bezie- POLITISCHE STUDIEN: Von Beginn hungen zu den Regierungen befreun- an haben alle spanischen Regierungen deter Staaten, wohin die Terroristen die europäische Integrationspolitik un- häufig flüchten, verlaufen diesbezüg- terstützt. Im Gegensatz zu Deutsch- lich zufriedenstellend, obwohl jede land hegt die Bevölkerung in Ihrem Verbesserung der Zusammenarbeit Land keine nennenswerten Vorbehalte höchst willkommmen ist. Das Proto- gegenüber der Einführung des Euro. koll des Vertrages von Amsterdam über Die im Zuge der Osterweiterung not- das Asylrecht in der Europäischen wendige Umorientierung der Hilfen Union und der spanische Vorschlag, für strukturschwache Regionen würde im Rahmen des dritten gemeinschaft- indessen gerade Spanien besonders lichen Pfeilers, die Zuständigkeiten in treffen. Auch die von Brüssel geforder- Terrorismusfragen an Europol zu te Einschränkung agrarischer Produk- geben, sind ebenfalls wichtige Elemen- tionszweige, z.B. des für Andalusien te im Kampf gegen den Terrorismus, besonders wichtigen Olivenölsektors, die keinem Demokraten fremd sein könnte die proeuropäische Stimmung dürfen. in Ihrem Land bald negativ beeinflus- sen. Welche Haltung nimmt Ihre Re- POLITISCHE STUDIEN: Wirtschafts- gierung zu den angesprochenen Pro- daten und Meinungsumfragen bele- blemen ein? gen, daß die Regierung der Volkspartei erfolgreich ist und sich der mehrheitli- J.M. Aznar: Es ist richtig, daß in Fragen chen Unterstützung der Spanier sicher der Teilnahme am europäischen Inte- sein kann. Wäre es unter diesen gün- grationsprozeß innerhalb der wichtig- stigen Vorzeichen nicht verlockend, sten politischen Kräfte Spaniens ein den Wahltermin vorzuverlegen und weiter Konsens bestanden hat und 10 POLITISCHE STUDIEN – Zeitgespräch weiterhin besteht. Unter den Spaniern ebene in größeren Anstrengungen aller meiner Generation gibt es ein ge- Mitgliedsstaaten niederschlagen. So- schichtliches Bestreben, die lange Iso- lange es noch Einkommensunterschie- lierung zu durchbrechen, das Land zu de gibt, muß es auch weiterhin eine Re- modernisieren und es an der ihm gionalpolitik und eine wirtschaftliche gemäßen Stelle zu positionieren, näm- und soziale Kohäsionspolitik geben. lich an der Seite der großen europäi- Sonst laufen wir Gefahr, eines der Ziele schen Nationen. Seit 1986 haben sich des Vertrages aufzugeben. Wir wollen unsere Wirtschaftszweige, ebenso wie in den nächsten Jahren diese Regional- unsere Gesetzgebung, tiefgehenden und Kohäsionspolitik aufrechterhal- Phasen der Anpassung unterzogen, ten, damit sie auch nach der Erweite- und unsere Unternehmen haben sich rung ihre Anwendung auf die neuen in kurzer Zeit an die Rahmenbedingun- Mitgliedsstaaten finden kann. Alle Mit- gen eines stärkeren Wettbewerbs ge- gliedsstaaten, und nicht nur diejeni- wöhnen müssen, jetzt verstärkt durch gen, die, wie wir jetzt einen größeren die Einführung des Euro. Ich meine, Anteil aus den Struktur- und Kohäsi- daß die Antwort der spanischen Gesell- onsfonds erhalten, tragen die Verant- schaft auf die europäischen Herausfor- wortung dafür, daß diese Politik in derungen insgesamt hervorragend ge- einem Europa von zwanzig oder mehr wesen ist und daß wir die Chancen Teilnehmern realisierbar bleibt. Ähnli- richtig erkannt und die Probleme mit ches gilt auch für die gemeinsame Optimismus angegangen sind. Agrarpolitik: Spanien unterstützt deren Reform, die das Ziel haben muß, die Meine Regierung unterstützt ohne Ein- Wettbewerbsfähigkeit der europäi- schränkungen die Osterweiterung. Ich schen Produkte sowie die Rationalisie- bin der Überzeugung, daß dies ein hi- rung der Agrarstrukturen zu fördern. storischer Schritt ist, ein moralischer Aber die Erweiterung darf nicht zur Imperativ und eine politische Entschei- Rechtfertigung werden, um diese wich- dung von großer Tragweite, welche die tige gemeinschaftliche Politik ihres In- Wunden der in Yalta beschlossenen halts zu entleeren, einer Politik, die ungerechten Teilung schließen. Die Er- weiterhin ihren sozialen Aufgaben weiterung symbolisiert all das Kostbare, nachkommen und zur Einkommens- das im Projekt der europäischen Ein- sicherung der Landwirte beitragen soll. heit enthalten ist: Die Versöhnung unter den Völkern, der gemeinsame Die öffentliche Meinung Spaniens ist Wohlstand und die Neubegegnung gegenüber einer Erweiterung sehr posi- verschiedener europäischer Daseinsfor- tiv eingestellt, da Spanien eine beson- men, die von gemeinsamen Werten ge- dere Sensibilität für die Probleme und leitet in einem gemeinsamen Raum be- legitimen Bestrebungen von Ländern stehen. hat, die durch eine demokratische Die These Spaniens hinsichtlich der Fi- Übergangsphase den Weg zur Demo- nanzierung der Osterweiterung ist ein- kratie gegangen sind und jetzt in Euro- fach: Ein Europa der zwanzig oder mehr pa eine Verankerung suchen, auf die sie Nationen wird zweifellos größere Aus- ein Anrecht haben und in dessen Inte- gaben als die jetzigen haben, und diese grationsprozeß sie selbst neue Grenzen Kosten müssen sich auf Haushalts- und wichtige Chancen einbringen. POLITISCHE STUDIEN – Zeitgespräch 11

Überreichung des Franz Josef Strauß-Preises 1998 an Ministerpräsiden José María Aznar durch den CSU- Vorsitzenden und Bundesfinanzminister Theo Waigel sowie den Vorsitzenden der Hanns-Seidel-Stiftung, Staatssekretär a. D. Alfred Bayer. erfahren haben. Es gibt gewichtige geo- POLITISCHE STUDIEN: Spanien graphische, historische und kulturelle bemüht sich, die Aufmerksamkeit der Gründe, daß dies auch so bleiben wird. EU auf die brisante Problematik im Mit- Deshalb hat Spanien seinen europäi- telmeerraum zu lenken. Ich nenne hier schen Partnern diese Sensibilität ver- nur den durch negative Wirtschafts- mitteln wollen, die sie mit anderen entwicklung und islamistische Radika- Staaten der Europäischen Union teilt. lisierung hervorgerufenen Emigrati- onsdruck auf Europa und den ungelö- Die Mittelmeerkonferenz von Barcelo- sten Nahostkonflikt. In Spanien hegt na war ein großer Erfolg für alle, die in man bisweilen auch den Verdacht, daß Europa und an den Küsten des Mittel- weiter nördlich gelegene Länder, so z.B. meers von der lebensnotwendigen Be- Deutschland, sich allzu einseitig Osteu- deutung überzeugt sind, die der Frie- ropa zuwenden. Überdies hat man den den, die Stabilität und der Wohlstand Eindruck, daß der bei der Mittelmeer- am Mittelmeer für das globale Gleich- konferenz in Barcelona begonnene Pro- gewicht haben. Es ist wahr, daß sie zu zeß stagniert. Beabsichtigen Sie, in die- einem Zeitpunkt aufkeimender Hoff- sen Problembereichen Initiativen zu er- nungen für diese Region stattfand, aber greifen? unstrittig ist auch, daß auf der zweiten Konferenz von Malta, aufgrund des sta- J.M. Aznar: Die Mittelmeerregion ist, gnierenden Friedensprozesses im zusammen mit Europa und Lateiname- Nahen Osten, die Zusammenarbeit rika, eines der drei herausragenden Ge- zwischen Europa und den Mittel- biete, die von jeher das besondere Au- meeranrainerstaaten belastet war. genmerk der spanischen Außenpolitik Nichtsdestotrotz meine ich, daß nach 12 POLITISCHE STUDIEN – Zeitgespräch der kürzlich in Palermo abgehaltenen Präsenz spanischer Firmen auf diesem Konferenz es wieder ermutigende An- Kontinent, und zwar in Schlüsselberei- zeichen gibt, und ich hoffe, daß die im chen wie dem Transport, der Telekom- kommenden Jahr in Stuttgart stattfin- munikation und den Infrastrukturen, dende Konferenz ein Erfolg sein wird. die Spanien zum zweitgrößten Investor in Lateinamerika machen, gleich hinter Spanien hat von Anbeginn auf dieses dem traditionell an erster Stelle stehen- Ziel hin gearbeitet. Bei unseren Ge- den Land, den Vereinigten Staaten. sprächen mit den Mittelmeerpartnern haben wir insbesondere auf die Not- Seit unserem Beitritt zur Europäischen wendigkeit einer Fortsetzung der euro- Union haben wir uns für eine Erleichte- mediterranen Zusammenarbeit hinge- rung bei der Annäherung und Intensi- wiesen und darauf, daß diese Zusam- vierung der Beziehungen zwischen Eu- menarbeit nicht fortlaufend durch eine ropa und Lateinamerika eingesetzt, und Stagnation des Friedensprozesses im dies ist eine Konstante der spanischen Nahen Osten behindert wird. Vor der Außenpolitik. Und so unterzeichnete Stuttgarter Konferenz wird - auf Initiati- man in Madrid, unter der spanischen ve der italienisch-französisch-spani- Ratspräsidentschaft und mit Hilfe ver- schen Seite - eine Euromediterrane Kon- stärkter Verhandlungen auf unserer ferenz über Regionale Zusammenarbeit Seite, den Rahmenvertrag zwischen der stattfinden, die sicherlich zu einem Europäischen Union und Mercosur. guten Prolog werden wird. Gleichzeitig wurden die Verhandlun- gen beschleunigt, die zur Vertragszeich- POLITISCHE STUDIEN: Aus vielfälti- nung zwischen Chile und der Europäi- gen Gründen kann sich Spanien als schen Union führten. Brücke zwischen Europa und Iberoame- rika fühlen. Welche Akzente setzt Ihre Wir waren auch die Hauptverfechter Regierung, um dieser wichtigen Funkti- des jetzigen Vorvertrages zwischen on gerecht zu werden? Mexiko und der Europäischen Union, der in Kürze in seiner endgültigen Ver- J.M. Aznar: Traditionell wird die spani- tragsform abgeschlossen werden wird. sche Außenpolitik als europäisch oder Die Zusammenarbeit der Europäischen lateinamerikanisch definiert, so als wür- Union mit diesem Teil der Welt hat den diese beiden Aspekte sich aus- sich in den letzten Jahren ganz erheb- schließen. Ich glaube, daß der eigentli- lich verstärkt und so hat sich auch für che Mehrwert unserer Außenpolitik in diese Länder die Möglichkeit eröffnet, eben dieser Kombination beider Di- bei der Europäischen Investitionsbank mensionen liegt. Spanien ist in Lateina- Kredite beantragen zu können. merika präsenter denn je. Zusätzlich zu den brüderlichen Beziehungen auf kul- Im Grunde basiert die Politik Spaniens, tureller, geschichtlicher und sprachli- von Europa nach Lateinamerika, nicht cher Ebene, ermöglichen verschiedene nur in der festen Überzeugung, daß Faktoren diese Präsenz: Die positive diese Zone riesige Investitions- und Konsolidierung stabiler demokratischer Wirtschaftsmöglichkeiten bietet, viel- Systeme in einem Großteil dieser Län- mehr teilen wir auch eine gemeinsame der, und zweifellos auch die wachsende kulturelle Tradition. Und die Freiheit POLITISCHE STUDIEN – Zeitgespräch 13 und die Demokratie sind glücklicherwei- ten Rede sprach ich davon, daß se in diesem Kontinent zur Norm gewor- Deutschland und Spanien eine gemein- den. Wir können und müssen diese same Sympathie verbindet, die ihre großartige Chance ergreifen, indem wir Wurzeln in der Geschichte hat. unsere wirtschaftlichen, kulturellen und Deutschland und Spanien sind zwei alte politischen Verbindungen weiterhin europäische Nationen, die sich der Kon- wachsen lassen. Wie die von mir ge- struktion Europas und der Verteidigung nannten Initiativen beweisen, hat Spani- des Modells einer offenen Gesellschaft en in dieser Beziehung eine Verantwor- verpflichtet haben, wo die Freiheit die tung, die es gerne erfüllt. Der Vorschlag Grundlage eines friedlichen Zusam- Spaniens, einen gemeinsamen Gipfel der menlebens ist. Staats- und Regierungschefs der Europäi- schen Union und der Staaten Lateina- Ich habe immer schon an den Deut- merikas und der Karibik abzuhalten, der schen, und konkret an den Bayern, ihre im übrigen unter deutscher Präsident- Bereitschaft bewundert, die Freiheit zu schaft im Jahre 1999 stattfinden wird, verteidigen - selbst dann, wenn diese bedeutet eine neue Öffnung für eine Be- Verteidigung die schmerzliche Erfah- ziehung, die im kommenden Jahrhun- rung zweier getrennter Staaten bedeute- dert eine brillante Zukunft vor sich hat. te. Deshalb war auch das gesamte Spa- Ich glaube, daß Deutschland dieses auch nien von Anfang an auf seiten des deut- verstanden hat und der Beweis dafür ist schen Volkes, als es sich schließlich in das Lateinamerikakonzept, das vom Freiheit wiedervereinigen konnte. Bundestag angenommen wurde, aber auch das Interesse, das ich stets beim Unsere bilateralen Beziehungen sind in Bundeskanzler Kohl oder anderen ver- einem hervorragenden Zustand. Des- antwortlichen deutschen Politikern wie halb können wir sicher sein, auf alle im Theo Waigel, gesehen habe, wenn es um Laufe der Zeit auftretenden Fragen eine Verstärkung der Beziehungen zwi- immer eine Lösung finden zu können. schen Deutschland und Lateinamerika ging. Dies ist etwas, das mich als Spanier POLITISCHE STUDIEN: Welche beson- mit Zufriedenheit erfüllt. deren Herausforderungen sehen Sie als junger erfolgreicher Regierungschef für POLITISCHE STUDIEN: Herr Minister- unsere liberal-konservativen und christ- präsident, erlauben Sie eine Frage nach lich-demokratischen Parteien in einem Ihrem persönlichen Verhältnis zu Bay- Europa, das sich zunehmend wieder so- ern und Deutschland. Sie haben vor zialistischen und sozialdemokratischen kurzem den Franz Josef Strauß-Preis der Modellen zuzuneigen scheint? Wie kön- Hanns-Seidel-Stiftung erhalten und in nen wir diesen, unserer Meinung nach, einer eindrucksvollen Rede in der Mün- ungünstigen Trend stoppen? chener Residenz Zeugnis von dem aus- gezeichneten Stand der bilateralen Bezie- J.M. Aznar: Die politischen Bezeich- hungen abgelegt. Welche Kriterien wür- nungen haben heute weniger Sinn als den Sie für unsere Leser noch einmal be- noch vor zwanzig oder dreißig Jahren. sonders hervorheben wollen? Die Welt hat sich enorm verändert; das Verschwinden des Realkommunismus J.M. Aznar: In der von Ihnen erwähn- in Europa war eine wirkliche Revoluti- 14 POLITISCHE STUDIEN – Zeitgespräch on, die verständlicherweise eher den en in wachsendem Maße. Bereich der Linken betraf. Und daraus haben möglicherweise einige Mißver- Ich habe unsere Politik als eine Politik ständnisse resultiert. der Reformmitte definiert. Damit will ich sagen, daß sie sich von alten Dog- Selbstverständlich bestehen noch men entfernt hat und für ein Projekt der grundlegende Unterschiede zwischen Erneuerung und Integration der Gesell- den politischen Parteien mit einer zen- schaft steht, das seinen Bürgern Tag für tralen und liberalen Ausrichtung und Tag eine größere Freiheit sichert. denen mit sozialdemokratischer Ten- denz. Wir glauben an die Verantwor- Unsere Positionen sind grundsätzlich tung jedes einzelnen, an eine geringere andere als die der Sozialisten. Wir stel- Präsenz des Staates und an eine größe- len den einzelnen in den Mittelpunkt re Rolle der Gesellschaft. Wir meinen, unserer Handlungen; wir bauen auf Ei- daß die beste Wohlstandspolitik dieje- geninitiative und deshalb fördern wir nige ist, welche die Schaffung stabiler sie; wir wissen, daß der Wohlstand un- Arbeitsplätze und die Aufrechterhal- trennbar mit dem Fortschritt und dem tung sanierter öffentlicher Finanzen er- wirtschaftlichen Wachstum verbunden möglicht, die eine sichere Zukunft ist. In den letzten zwei Jahren hat Spa- bringen. nien alle verfügbaren Ressourcen zur Schaffung neuer Arbeitsplätze freige- Wir verteidigen die sozialen Absiche- setzt, denn wir wissen, daß die Bürger rungssysteme, indem wir sie gerechter lieber ihr eigenes Gehalt verdienen als und langfristig erfüllbar machen. Wir staatliche Unterstützung erhalten und verstehen die Wirtschaft besser und auch, daß die Gesellschaft auf die aktive wissen deshalb, daß die Senkung der Zusammenarbeit all ihrer Mitglieder an- Steuern ein Mittel ist, um jedem Bürger gewiesen ist. die Entscheidungsfreiheit über die durch eigene Leistung geschaffenen Zum anderen müssen unsere Parteien Vermögenswerte wiederzugeben und in der Lage sein, all jene, die ähnliche somit auch das Wachstum zu fördern. Positionen vertreten, in ihrem Kreis auf- Sparmaßnahmen bei den öffentlichen zunehmen. Die Einheit, die wir in Spa- Ausgaben, niedrige Zinsen, Preisstabi- nien schon vor einiger Zeit erreichten, lität, der ständige Dialog mit den Sozi- ist unabdingbar, um sich der Gesell- alpartnern ..., dies sind die Schlüssel zu schaft gegenüber einem zukunftsträch- unserer Wirtschaftspolitik, die so gute tigen politischen Projekt zu verpflich- Resultate aufweisen kann. Die Schaf- ten. fung qualitativer Arbeitsplätze ist der beste Weg, um den Wohlstand des POLITISCHE STUDIEN: Herr Minister- größten Teils der Bürger anzuheben präsident, wir danken Ihnen für das Ge- und dieses gelingt uns heute in Spani- spräch.

Die Fragen für die POLITISCHEN STUDIEN stellte Dr. Rainer Glagow, Leiter der Verbindungsstelle der Hanns-Seidel-Stiftung in Berlin. Die Übersetzung wurde von Almudena Sebastián de Erice vorgenommen. Die moderne christliche Volkspartei - Das politische Werk Josef Müllers Gedenken des 100. Geburtstags von Dr. Josef Müller

Theo Waigel

1. Einführung Josef Müller war einer der Männer und Frauen, die unserem Vaterland in der Niemand erscheint im Bayern und größten Katastrophe seiner Geschichte Deutschland des Jahres 1945 berufe- die Ehre zurückgaben. ner, eine neue politische Kraft zu be- gründen und anzuführen als der am Josef Müller war darüber hinaus ein 27. März 1898 in Steinwiesen geborene politischer Visionär, der, selbst auf fest- Josef Müller. Er war eine Schlüsselfigur en Wertegrundlagen und im christli- des militärischen und kirchlichen Wi- chen Glauben ruhend, andere Men- derstands gegen Hitler, sein Terrorregi- schen um sich scharen und ihnen neue me und seine Kriegspolitik, die Orientierung geben konnte. Deutschland, Europa und die halbe Welt ins Unglück stürzte. Einer der ersten, die dies im Mai 1945 erkannten, war der amerikanische Of- Kein Geringerer als Winston Churchill fizier Dale Clark. Er hat 1945 den rich- hat bereits im Herbst 1946 in einer tigen Mann und die richtige politische Rede vor dem britischen Unterhaus Konzeption für Bayern und Deutsch- den Widerstand gegen die Nationalso- land unterstützt. Seiner damaligen zialisten gewürdigt. Er sagte dort: „In Hilfe und treuen Verbundenheit zu Deutschland lebte eine Opposition, unserem Land und zur Familie Müller die zahlenmäßig und durch ihre Opfer gebührt großer Dank. Er ließ es sich und eine entnervende internationale beispielsweise vor 8 Jahren nicht neh- Politik immer schwächer wurde, die men, zur Maueröffnung nach Berlin zu aber zu dem Edelsten und Größten fliegen und diesen Glücksfall der Ge- gehört, was in der politischen Ge- schichte mit uns Deutschen zu feiern. schichte aller Völker je hervorgebracht wurde. (...) Wir hoffen auf die Zeit, in der dieses heroische Kapitel der inne- 2. Die politische Aufgabe ren deutschen Geschichte eine gerech- te Würdigung findet.“ Fritz Schäffer, der erste bayerische Mi-

Politische Studien, Heft 360, 49. Jahrgang, Juli/August 1998 16 Theo Waigel nisterpräsident und neben Josef Müller für Deutschland und Europa. zweitwichtigster politischer Pol in der jungen CSU, stellte in einer Rundfunk- Die Fähigkeit und der Mut, das eigene ansprache Anfang Juni 1945 fest: „Die Schicksal und die persönliche Karriere Nazis haben ein Ruinenfeld hinterlas- einem höheren Ziel des Gemeinwohls sen, wie es Europa noch nie gesehen kämpferisch unterzuordnen, sind Tu- hat. (...) Unsere Städte sind Ruinen, die genden, die Josef Müller auf der Ehren- Industrie ist zerstört, Landwirtschaft tafel der deutschen Politiker des 20. und Forsten sind ausgeplündert. Der Jahrhunderts in besonderem Maße Volkswohlstand ist auf Jahrzehnte ver- auszeichnen. nichtet.“ Festigkeit in den Überzeugungen und Allein Bayern beklagte mehr als Kraft zu ihrer Durchsetzung: Dies 250.000 Gefallene. Hunderttausende bleibt an der Wende zum dritten Jahr- waren in Gefangenschaft und Millio- tausend die Kernaufgabe politischer nen Menschen aus ihrer Heimat ver- Führung in der Demokratie. trieben. Deutschland stand unter Be- satzungsrecht und war in vier Zonen Historiker und Politikwissenschaftler geteilt, zwischen denen zunächst kaum haben mit vollem Recht auf das harte Kommunikation ermöglicht wurde. Ringen um die politische Ausrichtung der CSU in ihren ersten Jahren hinge- Josef Müllers politische Ziele in den er- wiesen. Nur: Diese Auseinandersetzun- sten Nachkriegsjahren waren hoch ge- gen waren keine Fehlentwicklungen, steckt und erschienen deshalb vielen sondern vielmehr die logische Konse- Zeitgenossen und Mitakteuren falsch quenz des Gesamkonzeptes „CSU“. oder unerreichbar: Wer bewußt bisher Unvereinbares mit- einander verbinden wollte, mußte be- ● Der Aufbau einer überkonfessionel- reit sein, solche Debatten offensiv zu len Volkspartei; führen und gemeinsam durchzuste- ● das offene Politikmodell, das alle hen. großen gesellschaftlichen Gruppen auf eine gemeinsame politische Es ist der herausragende politische Ver- Zielrichtung vereinen sollte; dienst Josef Müllers, im Vertrauen auf ● die Überwindung der alten politi- die einigende Aufgabe mögliche späte- schen Trennlinien der Weimarer re Brüche in Kauf genommen zu Republik und der althergebrachten haben. Die anfängliche Disparität der Gegensätze innerhalb Bayerns; Flügel und Gruppen entwickelte auf ● die Auseinandersetzung mit separa- mittlere Sicht eine große Integrations- tistischen und monarchistischen kraft auf der Grundlage der Ideen Josef Bestrebungen; Müllers. ● die Bewahrung der politischen Ei- genständigkeit der jungen CSU ge- Josef Müller stritt vehement für einen genüber ihrer Schwesterpartei und eigenständigen bundespolitischen ● schließlich die Verpflichtung ihrer Kurs der CSU und die konsequente Politik auf die entschiedene Wahr- Übernahme bundespolitischer Verant- nehmung unserer Verantwortung wortung - auch in diesem Amt einig Die moderne christliche Volkspartei - Das politische Werk Josef Müllers 17 mit seinem politischen Ziehsohn orientierung nach 12 Jahren men- Franz Josef Strauß und der jungen Ge- schenverachtender Gewaltherrschaft neration in der Partei. Die Forderung auf dem Christentum aufbauen. Adenauers nach Unterordnung der CSU wurde in den folgenden Jahr- Die CSU und die CDU waren in der zehnten von der CDU nie wieder erho- Parteienlandschaft nach dem Krieg die ben. Josef Müller setzte als Vorsitzen- einzigen substanziell neuen Parteien. der der CSU entscheidende Akzente für Sowohl Kommunisten und Sozialde- die Grundlinien der Bayerischen Ver- mokraten als auch die Liberalen sahen fassung und des Grundgesetzes. In sei- ihre politische Arbeit eher als Wieder- ner Eröffnungsrede für die erste Sit- aufnahme der Tätigkeit vor 1933. zung der CSU-Fraktion in der Verfas- sungsgebenden Landesversammlung Die Union, ausgerichtet auf die In- am 15. Juli 1946 sprach er sich für eine teressen der Arbeitnehmer und mit grundlegende Neuorientierung aus: starken liberalen Elementen in ihrer Gesellschaftspolitik, erwies sich den „Wir sind eine neue Gruppierung, eine Fortsetzungsparteien gegenüber als Einigung aller, die konstruktiv aufbau- überlegen. Unsere Politik für eine en. Dann machen wir selbst Schluß neue Zeit faszinierte und errang das mit allen Phrasen, dann wollen wir Vertrauen der Wähler. Bereits bei nicht gute Ideen verbrauchen, indem den Wahlen zur Verfassungsgeben- wir sie in den Tageskampf ziehen! Wir den Landesversammlung 1946 er- haben stets davon auszugehen, daß rang die CSU mit 58,3% ein sensatio- das große Ganze im Vordergrund ste- nelles Ergebnis. Die Landtagswahlen hen muß: Unser Volk und unser Vater- im gleichen Jahr bestätigten die CSU- land.“ Mehrheit mit 52,3%. Seit 1957 im Bund und seit 1970 bei Landtags- wahlen liegt die CSU stets über 50%. 3. CSU: Moderne Volkspartei Aus der Bundestagswahl 1994 ging die CSU als drittstärkste Partei Das Konzept einer modernen, konfes- Deutschlands hervor, obwohl sie nur sionsübergreifenden, alle sozialen in Bayern kandidiert. Schichten und Regionen integrieren- den christlichen Volkspartei, das Josef Dr. Josef Müllers Nachfolger im Partei- Müller vor allem mit Adam Stegerwald vorsitz setzten sein politisches Erbe mit und Karl Scharnagl in wenigen Wo- ihren persönlichen Akzenten und den chen des Frühsommers 1945 ent- Erfordernissen der Zeit entsprechend wickelte, mußte mit alten politischen fort. Traditionen bewußt brechen. ● bekämpfte Wohnungs- Das Ergebnis dieser Überlegungen war not und Arbeitslosigkeit, stellte die zugleich die kämpferische Antwort auf Notversorgung der Bevölkerung si- den Abfall der Nationalsozialisten vom cher und trieb den Aufbau der kom- christlichen Sittengesetz: Moralisch- munalen Selbstverwaltung voran. ethische Fundamente für das neue Ehard organisierte die letzte gesamt- Deutschland und dessen geistige Neu- deutsche Ministerpräsidentenkon- 18 Theo Waigel

ferenz und wurde zum Architekten klare bayerische Grundsatzpositio- des Föderalismus sowohl in der Ver- nen in der Auseinandersetzung mit fassung als auch in der politischen der sozialliberalen Koalition und seit Praxis. 1982 in der Koalition der Mitte als ● Hanns Seidel wurde zum grundle- Partner Helmut Kohls. genden Organisator und Reforma- tor der CSU, der unsere Partei in allen Regionen Bayerns mehrheits- 4. Weichenstellungen für Bayern, fähig machte. Besonderen Wert Deutschland und Europa legte er auf die Konsensbildung zwi- schen Landesgruppe, Mitgliedern Die Partei Josef Müllers wurde bei allen der Bundesregierung, Landtagsfrak- historischen Weichenstellungen der tion und Staatsregierung. Das Ziel letzten 50 Jahre ihrer Verantwortung seiner innovativen Politik war der gerecht. Weil CSU-Politik auf festen Übergang vom Agrar- zum Indu- Werten gründet, mußten wir unsere striestaat. Seine Schwerpunkte Programme und Entscheidungen in waren die Kerntechnik, die Luft- keiner einzigen zentralen Frage fahrtindustrie, eine moderne For- nachträglich korrigieren: schungspolitik und gezielter Ausbau der Verkehrswege. ● Josef Müller, Franz Josef Strauß und ● Unter Franz Josef Strauß und Alfons Sozialpolitiker wie Hugo Karpf setz- Goppel wuchs die CSU zur erfolg- ten die Soziale Marktwirtschaft Lud- reichsten Partei Europas. Notwendi- wig Erhards durch. ge, aber unpopuläre Reformen wur- ● Josef Müller und Franz Josef Strauß den beherzt in Angriff genommen: verhinderten 1949 durch ihre Ent- Die umstrittene Gebietsreform scheidung für eine kleine Koalition konnte nur mit einer starken CSU- unter dem Kanzler Adenauer und Mehrheit durchgesetzt werden. die Ablehnung der Regierungsbetei- Otto Schedl und Toni Jaumann ligung der SPD falsche ordnungspo- schufen eine moderne Energiepoli- litische Kompromisse in der Grün- tik und beendeten die Kohleförde- dungsphase der Bundesrepublik. rung in Bayern - eine Leistung, zu ● Die CSU kämpfte gegen den dama- der Lafontaine, Rau und Clement ligen Zeitgeist für die Aufstellung heute noch nicht in der Lage sind. der Bundeswehr und den Beitritt zur Mathilde Berghofer-Weichner ver- NATO. teidigte das dreigliedrige Schulsy- ● Wir erstritten die Einbindung unse- stem, stritt für den Schutz des unge- res Landes in die Wertegemein- borenen Lebens und gegen liberali- schaft der westlichen Demokratien, stische Tendenzen in der Innen- versöhnten Deutschland mit den und Rechtspolitik, das Verständnis Nachbarstaaten und setzten die ak- für Verbrecher über die Schutzauf- tive Beteiligung unseres Landes an gabe des Staates für seine Bürger zu der Europäischen Einigung durch. stellen. ● Wir hielten gegen eine orientie- ● Richard Stücklen, Fritz Zimmer- rungslose Politik der Annäherung mann, Franz Josef Strauß und ich for- unvereinbarer politischer Systeme mulierten in der CSU-Landesgruppe die deutsche Frage offen und ver- Die moderne christliche Volkspartei - Das politische Werk Josef Müllers 19

pflichteten alle Verfassungsorgane Wie keiner anderen Partei ist es der auf das Ziel der Einheit. CSU gelungen - trotz des um sich grei- ● CSU und CDU blieben in der Frage fenden Wertewandels, der zunehmen- des NATO-Doppelbeschlusses den Auflösung gesellschaftlicher standfest - gegen die sowjetischen Grundstrukturen und der geringer Erpressungsversuche einerseits und werdenden Bindewirkung der großen die Ostermärsche, Lichterketten Parteien in vielen europäischen Nach- und Friedensbewegung anderer- barländern - eine echte Volkspartei zu seits. Wenn heute in Deutschland bleiben, in der alle Schichten der statt 1,5 Millionen nur noch bayerischen Bevölkerung politische 500.000 Soldaten stationiert sind, Heimat finden. die Raketenbedrohung verschwun- den und das Gleichgewicht des Schreckens durch vertrauensvolle 5. CSU: Werteorientierte Politik Zusammenarbeit abgelöst wurde, dann ist dies kein Erfolg der Pazifi- Unsere Partei ist ihren geistigen Wur- sten und der Grünen, sondern das zeln verpflichtet und offen für gesell- Ergebnis unserer Politik. schaftliche Erneuerung. Dabei ist ● Wir haben, als sich dieses Fenster unser Bekenntnis zum christlichen der Geschichte öffnete, die Deut- Menschenbild so aktuell wie es vor 53 sche Einheit ohne Zögern verwirk- Jahren, bei der Gründung der CSU, licht und 17 Millionen Deutschen war. Dessen Grundprinzipien - Perso- nach 40jähriger kommunistischer nalität, Subsidiarität, die Freiheit Diktatur Freiheit, soziale Sicherheit und Würde des einzelnen sowie seine und Teilhabe am Wohlstand gege- Stellung in und seine Verantwortung ben. Die CSU hat die größte Solidar- für die Gemeinschaft - sprechen aktion der Geschichte verwirklicht. nicht nur konfessionell gebundene ● Wir stehen heute für die großen Re- Menschen an. Sie charakterisieren formprojekte, deren Verwirkli- vielmehr das, was nach einem brei- chung über die Zukunft unseres ten Konsens das Individuum in unse- Landes im 21. Jahrhundert ent- rer freien Gesellschaft auszeichnet. scheidet. Wir setzen Innovationen und neue Technologien, über die Wir stehen zu den Grundprinzipien andere Kandidaten nur reden, in die der parlamentarischen, repräsentati- Praxis um und schaffen damit zu- ven Demokratie. ln diesem Jahr, in kunftssichere Arbeitsplätze. Wir dem sich der Zusammentritt des er- geben dem Aufschwung neue Im- sten freien deutschen Parlaments in pulse und werden Bürger und Wirt- der Paulskirche zum 150. Male und schaft steuerlich entlasten. die Verfassungskonferenz auf Her- renchiemsee zum 50. Male jährt, Es ist ein Gebot der Wahrheit, gleich- haben wir allen Grund, dankbar und zeitig festzustellen: Bei allen diesen stolz auf unsere funktionierende De- Grundsatzentscheidungen lagen und mokratie zu blicken. liegen Sozialdemokraten und - seit es sie gibt - die Grünen in steter Regel- Die Soziale Marktwirtschaft als ord- mäßigkeit falsch. nungspolitisches Instrument, das dem 20 Theo Waigel freien und dem sozialen Ausgleich ver- Qualitätsmaßstäbe an ihre Lebens- pflichteten Menschen gemäß ist, bleibt mittel anlegen, können wir uns in ebenso unsere Grundlage. Nach ihrem Bayern glücklich schätzen, kleinteili- glänzenden Sieg im Wettstreit der Sy- ge, naturnahe landwirtschaftliche steme muß sie auch die Basis für die Strukturen zu haben. wirtschaftliche und soziale Zukunft un- seres Landes im neuen Jahrtausend sein. Die CSU ist der Garant der äußeren und inneren Sicherheit. Die Bundes- Wir gestalten Zukunft für die lei- wehr ist für uns die Armee des demo- stungsbereiten und leistungsorien- kratischen Rechtsstaates. In ihrer tierten Arbeitnehmer, indem wir den vielfältigen Aufgabenstellung - ob als Standort Deutschland stärken und Katastrophenhelfer im Oderbruch ein positives Umfeld für Investitio- oder als Wahrer eines noch immer nen und Arbeitsplätze schaffen. brüchigen Friedens in Bosnien-Herze- gowina - verdienen unsere Soldaten Sozial ist, was Arbeit schafft. Deshalb unseren Dank und Rückhalt. sehen wir in einem investierenden Unternehmer nicht den Klassen- Freiheit bedeutet, ohne Angst vor Kri- feind, sondern den Partner in der So- minalität und Gewalt zu leben. zialen Marktwirtschaft. Unser ent- Rechtsstaatlichkeit heißt, die Bürger schiedenes Eintreten für die Belange vor Verbrechern zu schützen. Des- von Handwerk und Mittelstand si- halb ist die CSU die wahre Freiheits- chert nicht nur hunderttausende und Rechtsstaatspartei in Deutsch- selbständiger Existenzen, sondern land. Millionen Arbeitsplätze. Zum Schutz der Bürger bedarf es Mit technologischen Leitprojekten strenger Strafgesetze und deren kon- wie dem Eurofighter stärken wir den sequente Durchsetzung durch die Ju- Luft- und Raumfahrtstandort stiz. Wir brauchen aber auch einen Deutschland und schaffen moderne breiten gesellschaftlichen Konsens: Arbeitsplätze für junge Techniker Opfer müssen mehr Aufmerksamkeit und Hochschulabsolventen. und Zuwendung erfahren als die Täter. Wer Gesetze bricht, muß die Der Schutz der natürlichen Lebens- Konsequenzen tragen - und im Falle grundlagen ist ein zu wichtiges Anlie- krimineller Ausländer ausgewiesen gen, um es grünen Ideologen oder werden. Wir dürfen die Grenzen zwi- weltfremden Fundamentalisten zu schen Recht und Unrecht nicht ver- überlassen. Umweltschutz ist eine wischen lassen. konservative und christliche Kern- aufgabe, um die Zukunft künftiger Generationen zu bewahren. 6. Europa

Dazu gehört der Einsatz für die land- Moderner Patriotismus bedeutet, sich schafts- und ressourcenschonende für das weitere Zusammenwachsen Eu- bäuerliche Landwirtschaft. In einer ropas einzusetzen. Das enge Miteinan- Zeit, da die Verbraucher höchste der der Staaten in der Europäischen Die moderne christliche Volkspartei - Das politische Werk Josef Müllers 21

Union sichert nicht nur Wohlstand oder den Neffen des russischen und Stabilität. Zusammen mit der Außenministers. transatlantischen Partnerschaft ist es ● Die Lehre aus zwei weltgeschichtli- Voraussetzung für dauerhaften Frieden chen Katastrophen war für ihn und und Sicherheit in Europa. die Gründergeneration der CSU, künftig nationalstaatliche Macht- Mit der Politischen Union Europas politik zu überwinden und auf deut- und der WWU realisieren wir die poli- sche Sonderwege zu verzichten. tische Vision, die vor 50 Jahren die Gründer der CSU verbunden hat. Zu- Franz Josef Strauß, , Fritz gleich geben wir eine kraftvolle, ge- Pirkl und viele andere setzten dieses meinsame europäische Antwort auf Bekenntnis mit langem Atem in die die Globalisierung. politische Praxis um.

Bereits im ersten Grundsatzprogramm Als Bundesminister der Finanzen habe der CSU vom 31. Oktober 1946 be- ich die Schaffung einer einheitlichen kennt sich die Partei klar zur Europäi- europäischen Währung von Anfang an schen Einigung. „Im Rahmen der Völ- mitgestaltet. In diesem Prozeß ist es ge- kerfamilie ist Europa eine übernationa- lungen, die grundlegenden Prinzipien le Lebensgemeinschaft. (...) Kein Land der deutschen Währungsverfassung Europas kann für sich allein bestehen: und die Stabilitätsphilosophie, der sich Wir treten ein für die Schaffung einer die CSU verpflichtet fühlt, in Europa europäischen Wirtschafts- und durchzusetzen. Währungsunion! Wir fordern den Abbau der Zollschranken zwischen Die harten ökonomischen Kriterien, den einzelnen Staaten Europas.“ die im Maastricht-Vertrag für eine weitreichende Konvergenz der Teil- Josef Müller wußte: Frieden und Frei- nehmerstaaten verankert wurden, heit konnten für Deutschland im Zen- haben eine neue europäische Stabi- trum des Kontinents nur durch eu- litätskultur geschaffen. Die kürzlich in ropäische Verständigung, Zusammen- den Berichten der EU-Kommission arbeit und Einigung dauerhaft garan- und des Europäischen Währungsinsti- tiert werden. tuts vorgelegten Daten über Inflations- raten, Zinsniveau und Haushaltsdefizi- ● Der CSU-Vorsitzende hatte den er- te machen das deutlich. Staaten, die sten Versuch Stresemanns und vor fünf Jahren unter Inflation, hohen Briands scheitern gesehen - mit Zinsen und übermäßigen Defiziten lit- dem Resultat eines neuen Natio- ten, haben sich uns angenähert oder nalismus und eines verheerenden sind in Teilen besser. Wir erkennen das II. Weltkriegs. neidlos an, wenngleich kein anderes ● Als Verfolgter der Nationalsoziali- Land eine finanzpolitische Herausfor- sten lernte er in den Lagern ihre eu- derung wie die Einheit Deutschlands ropäischen Geiseln kennen: Den schultern mußte. früheren französischen Präsidenten Leon Blum, den österreichischen Die Geldpolitik wird künftig von der Bundeskanzler Kurt Schuschnigg Europäischen Zentralbank bestimmt, 22 Theo Waigel deren Vorbild die Deutsche Bundes- mittelbar bevor, die Identität zwischen bank und deren Unabhängigkeit völ- der CSU und ihren Wählern lasse sich kerrechtlich verbindlich festgeschrie- nicht länger aufrechterhalten. ben ist. Es gelang, sie in Frankfurt am Main anzusiedeln. Eine für uns symbo- Ich nehme solche Ankündigungen mit lische Ortswahl. der entsprechenden christlichen Ge- lassenheit zur Kenntnis. Denn ich bin Von großer psychologischer Bedeu- gewiß: Die Wählerinnen und Wähler tung ist die Namenswahl der Währung in Bayern entscheiden weit klüger und und deren Erscheinungsbild. Mein sachorientierter, als es manche Mata- Vorschlag „Euro“ als ein alle Europäer dore der politischen Stimmung wahr- verbindender Begriff setzte sich ebenso haben wollen. durch, wie die Anregung, auf den Münzen nationale Motive zuzulassen. Glaubwürdige, zukunftsfähige Politik muß sich verantwortungsethisch und Der größte Erfolg ist die Durchsetzung nicht gesinnungsethisch orientieren. des Stabilitätspaktes. Damit wird die Wer seine Politik auf momentane dauerhafte Konvergenz der Finanzpo- Stimmungsbilder ausrichtet und den litiken der WWU-Teilnehmer sicherge- Wählern populistisch nach dem stellt und die Verletzung der Stabi- Munde redet, wird über kurz oder lang litätskriterien mit einschneidenden nicht mehr ernstgenommen. Sanktionen bedacht. Josef Müllers Politik und die Anfänge Erst neulich, beim Ecofin in York, habe der CSU machen uns heute deutlich, ich viel Unterstützung für meinen Vor- wie wichtig die lebendige Diskussion schlag erhalten, die Grundprinzipien und Sachauseinandersetzung im Inne- des Stabilitätspaktes schon ab 1998 an- ren für eine Volkspartei ist - aber auch, zuwenden und damit zusätzliches Ver- wie erfolgsnotwendig ihre Geschlos- trauen zu schaffen. senheit nach außen ist.

Ich stelle heute fest: Die CSU hat eine Franz Josef Strauß nannte die falsche ihrer ältesten politischen Forderungen Vielstimmigkeit in einer öffentlichen realisiert. Das Bundeskabinett hat auf Debatte gern „Kakophonie“ und er- meinen Vorschlag hin nun die Zustim- kannte in ihr den Urgrund politischer mung zum Start der 3. Stufe der Schwächephasen der Union. Währungsunion beschlossen. Für die CSU gelten die Worte John F. Kennedys, an die Bezirkstagspräsident 7. Wo stehen wir? Edgar Sitzmann gerne erinnert: „Wenn wir uneinig sind, gibt es wenig, was wir Die Auguren interessierter Zeitungsre- können. Wenn wir einig sind, gibt es daktionen, soziologischer und politi- wenig, was wir nicht können.“ scher Seminare und mancher Mei- nungsforschungsinstitute prophezeien Wir stehen im September vor einer seit mehr als zwei Jahrzehnten, der Richtungswahl, die allenfalls mit den Niedergang unserer Partei stehe un- Wahlentscheidungen 1949 oder 1969 Die moderne christliche Volkspartei - Das politische Werk Josef Müllers 23 vergleichbar ist. Es geht um nichts we- Grundwahrheiten drin.“ niger als Deutschlands und Bayerns Führung in das neue Jahrtausend. Ernst Jünger, 1895 geboren und vor einiger Zeit verstorben, der mit Josef ● Die Alternativen sind klar: Helmut Müller viele Lebenssituationen ge- Kohl, Theo Waigel und Edmund meinsam hatte, sagte vor einigen Jah- Stoiber oder der rot/grüne Marsch ren auf meine Frage, was er heute un- in eine andere Republik und eine serer Jugend raten würde, zu mir: „Es mehr als ungewisse Zukunft. ist besser in der Hoffnung zu leben als ● Es geht um die klare Entscheidung in der Furcht.“ zwischen Optimismus und Pessi- mismus, zwischen Zuversicht und Dies ist der Auftrag der christlichen lähmender Angst. Frohen Botschaft an die den christli- chen Werten verpflichtete Volkspartei Ich bin gewiß: Wenn wir uns auf den CSU: kämpferischen Mut Josef Müllers be- sinnen und an die Kampagnefähigkeit, ● JA zu sagen zu den großen Heraus- mit der die CSU in harter Auseinander- forderungen unserer Zeit, setzung seit 50 Jahren Profil und Ver- ● sich ihnen mutig zu stellen und trauen gewinnt, werden wir die Jahr- ● Bayern und Deutschen Perspekti- tausendwahlen dieses Jahres erfolg- ven für das 21. Jahrhundert zu reich bestehen. geben.

Wir danken dem Ochsensepp aus 8. Schluß Steinwiesen zum 100. Geburtstag für ein politisches Lebenswerk, das bis Josef Müller antwortete 1945 dem heute weiterwirkt: Josef Müller schuf Papst, der ihn nach seiner Befreiung in tragfähige politische Grundlagen für Privataudienz empfing, auf die Frage, eine „neue Zeit“. wie er die Leiden in Gestapohaft und in den KZs durchgehalten habe: „Hei- Wir werden dafür Sorge tragen, daß liger Vater, ich habe schwerste Situa- diese „neue Zeit“, die spätere Genera- tionen überwunden mit dem, was im tionen die glücklichsten Jahrzehnte Katechismus des kleinen Buben vom der deutschen Geschichte nennen Lande drinnensteht. Da stecken werden, die Zeitenwende überdauert.

Schwerpunktthema

SED und PDS: Beiträge zu Geschichte und Gegenwart einer sozialistischen Partei

Einführung

Gerhard Hirscher

Vor nun schon fast 9 Jahren ist die DDR sung der Partei gezogen wurde. In der zusammengebrochen, hat der revolu- Bundesrepublik hat die PDS dazuge- tionäre Ansturm der demonstrierenden lernt und ist dabei mittlerweile sogar so Volksmassen die kommunistische Dik- erfolgreich, daß sie sich, wie Rüdiger tatur implodieren lassen und den Weg Dambroth zeigt, nach dem erfolgrei- für die Wiedervereinigung geöffnet. chen Auftakt in Sachsen-Anhalt Gedan- Doch so sehr sich die Situation im all- ken über weitere Beteiligungen an Ko- täglichen Leben in den neuen Bundes- operationen und Koalitionen machen ländern verändert hat, so offensichtlich kann. Es liegt dabei an den anderen Par- ist auch, daß in den Einstellungen, den teien - den potentiellen Kooperations- Mentalitäten und in den Verhaltens- partnern - ob man der PDS eine Beteili- weisen noch Relikte der Diktatur vor- gung an der Macht zubilligt. handen sind. Im politischen Bereich sind hierbei vor allem die Einstellungen Gerade bei kommunistischen Parteien zu Demokratie und Marktwirtschaft ist der Blick zurück wichtig: Dies zeigt und die Partei zu nennen, die geradezu wieder einmal der Beitrag von Olaf Kap- den politisch verfaßten Gegenpol zur pelt, der verdeutlicht, daß - trotz aller Ausbreitung und tieferen Verankerung Antifaschismus-Rhetorik - sich die SED- demokratischen Gedankenguts dar- Führung nicht scheute, in den ersten stellt: die PDS. Jahren der DDR auch auf Nazi-Aktivi- sten zurückzugreifen, wenn sie dies für Wie sehr die PDS in der Traditionslinie den Aufbau der eigenen Macht für sinn- der SED steht, verdeutlicht der Artikel voll hielt. Der kurze Beitrag von Otto von Manfred Wilke. Dort zeigt er, daß Wenzel ist ein weiterer Beleg für die Ab- führende Personen der PDS im Unter- gehobenheit der Spitzenfunktionäre drückungsapparat der DDR verankert der DDR, die sich trotz der letztlich töd- waren und daß diese - und noch ande- lichen Devisen- und Ressourcenknapp- re, auch weniger prominente - aktiv heit in den achtziger Jahren für einen daran gearbeitet haben, ja sogar vom Führungsbunker für den Kriegsfall eine alten Apparat dazu auserkoren wurden, höchst luxuriöse Ausstattung geneh- die alte Diktaturpartei SED mit großen migten, von der der normale DDR-Bür- Teilen ihrer Ressourcen und Eliten in ger nur träumen konnte. Man sollte die neue Zeit hinüber zu retten und daß vielleicht die PDS von heute häufiger an nicht etwa ein Schlußstrich unter die ihren Taten messen und sie an die Zeit kommunistische Diktatur durch Auflö- erinnern, als sie noch SED hieß.

Politische Studien, Heft 360, 49. Jahrgang, Juli/August 1998 Parlamentarische Bündnisbestre- bungen von SPD und PDS im Wahljahr 1998

Rüdiger Dambroth

Nach der Fortsetzung des ‘Magdebur- mut Holter das Duldungsmodell in ger Modells’ in Sachsen-Anhalt hat die Sachsen-Anhalt nannte, strebt die PDS nicht nur Mecklenburg-Vorpom- PDS auch in Mecklenburg-Vorpom- mern im Visier für Regierungsbeteili- mern nach den Landtagswahlen am gungen und setzt auf die Akzeptanz 27. September 1998 eine Teilhabe an durch die SPD. der Macht an. Spätestens auf ihrem 5. Parteitag in Schwerin vom Januar 1997 hatte sich die PDS für künftige 1. PDS auf parlamentarischer Regierungsbeteiligungen entschie- Partnersuche trotz Ableh- den.2 nung des Systems Dafür bedarf es jedoch mindestens Die Wahl der Austragungsorte der eines Partners, der die korrespondie- letzten drei Parteitage der PDS war rende Willenserklärung für ein ge- kein Zufallsprodukt: Sowohl die 2. meinsames Bündnis mit den SED- Tagung des 4. Parteitages in Magde- Erben liefert. Wurde die PDS in den Le- burg 1996 sowie die 1. Tagung des 5. gislaturperioden von 1990-1994 im Parteitages in Schwerin 1997 als auch Bund sowie in den Landtagen über- die 2. Tagung des 5. Parteitages in wiegend noch von allen Parteien in Rostock (‘Wahlparteitag’) 1998 eine Art Quarantänezustand versetzt, waren bewußt gewählte Standorte, so schwinden nur wenige Jahre später mit denen symbolisch die Zielrich- die Berührungsängste nicht nur bei tung der PDS auf Regierungsbeteili- den Grünen, sondern auch in den Rei- gungen angezeigt wurde. Die PDS ist hen des wichtigsten Bündnispartners nach acht Jahren ihres Wirkens in der PDS - der SPD - selbst auf höchster der Bundesrepublik bestrebt, aus der Ebene, obgleich gerade der jüngste Par- verordneten Oppositionsrolle zu teitag der SED-Nachfolger in Rostock schlüpfen und Koalitionen einzuge- vom April 1998 jeden demokratischen hen. Nach den “Magdeburger Lehr- Akteur im Parteiensystem von jegli- jahren” 1, wie der PDS-Landeschef chen Kooperationsüberlegungen mit von Mecklenburg-Vorpommern Hel- der PDS abgeschreckt haben müßte.

Politische Studien, Heft 360, 49. Jahrgang, Juli/August 1998 Parlamentarische Bündnisbestrebungen von SPD und PDS im Wahljahr 1998 29

Der Parteitag in Rostock hat den anti- auf Bundes- und Landesebene seit eini- kapitalistischen Charakter der PDS ger Zeit mit dem politischen Instru- sowie ihre Gesinnung „zurück zu den ment „Sprache im Wahlkampf” zu ka- kommunistischen Wurzeln” 3 mehr als schieren. In einer Analyse zum verdeutlicht. Die PDS hat sich längst Wählerpotential der PDS stimmte nicht von ihrer DDR und SED-Vergan- Wahlkampfleiter André Brie seine Ge- genheit gelöst, von einer ‘Modernisie- nossen bereits im Herbst 1996 auf den rung der PDS’ konnte keine Rede sein - bevorstehenden „Wahlkampf der Be- im Gegenteil, weiterhin üben die griffe” ein: Zum Beispiel solle weniger ‘Kommunistische Plattform’, die ‘Jun- vom „Umstürzen von Verhältnissen”, gen GenossInnen’ sowie das ‘Marxisti- sondern eher „von einem Beitrag der sche Forum’ innerhalb der PDS wichti- PDS zu einem weitreichenden Werte- ge Flügelintegrationsfunktionen für und Einstellungswandel in Deutsch- Traditionalkommunisten, DDR- land” gesprochen werden.6 An der da- Nostalgiker und linksextremistische hinter stehenden Intention ändert dies Strömungen gerade in Westdeutsch- allerdings nichts. Die zunehmende po- land aus. Des weiteren mußte sich die pulistische Instrumentalisierung des PDS die ohnehin gescheiterte Westaus- Grundgesetzes für sozialistische Ideale dehnung eingestehen. Darüber hinaus durch die PDS geht so weit, daß der verdeutlichte vor allem die Rede von rechtspolitische Sprecher der PDS Bun- einmal mehr die wah- destagsgruppe und Mitglied des Marxi- ren Ziele der SED-Erben: Er fordert für stischen Forums Uwe-Jens Heuer den dieses Land „eine Fraktion der PDS im Rechtsstaat für „einen historischen Bundestag ..., die nicht leise tritt und Fortschritt” hält, gleichzeitig aber der brav ist, sondern sich als revolutionäre Enquete-Kommission mit ihren Ergeb- sozialistische Partei versteht und als nissen zum SED-Unrecht eine „er- solche wirkt”.4 schreckende Auffassung zum Rechts- staat” attestierte.7 Mit dieser Inan- Wenige Wochen später bezeichnete spruchnahme verfassungsrechtlicher die PDS die im Juni 1998 vorgelegten Urteilsfähigkeit verfolgt die PDS das Ergebnisse der Enquete-Kommission strategische Ziel, in der Außendarstel- des Deutschen Bundestages zur ‘Über- lung Grundgesetzkonformität zu do- windung der Folgen der SED-Diktatur kumentieren und im Hinblick auf par- im Prozeß der deutschen Einheit’ lamentarische Partnersuche Koaliti- sowie die Titulierung der DDR als ‘Un- onsfähigkeit zu signalisieren. rechtsstaat’ als „parteipolitisch moti- vierte Geschichtsfälschung” und warf Die „SED- und MfS-Beständigkeiten in der Kommission unter Vorsitz von Rai- bezug auf die Verantwortlichen” 8 ner Eppelmann eine „Verketzerung der sowie die anhaltende Verharmlosung demokratischen Linken” vor.5 Die der von der SED zu verantwortenden PDS-Führung ist sich dabei durchaus Verbrechen in der DDR bleiben jedoch der Diskrepanz zwischen beabsichtig- Indizien für den antidemokratischen tem demokratischen Antlitz bei gleich- Charakter der PDS und sprechen gegen zeitiger ideologischer Rückwärtsge- eine bereits vollzogene Wandlung der wandtheit bewußt. Insbesondere Spit- SED-Erben hin zu einem positiven Ver- zenpolitiker der PDS versuchen dies hältnis gegenüber der Staats- und Wirt- 30 Rüdiger Dambroth schaftsordnung der Bundesrepublik reits Mitte der letzten Legislaturperi- Deutschland. Trotzdem wurde die PDS ode ab. Ende November 1996 über- durch das ‘Magdeburger Modell’ in stand die rot-grüne Minderheitsregie- den Rang einer „Gelegenheitsregie- rung unter Reinhard Höppner das von rungspartei” gehievt. Gerade deshalb der CDU-Fraktion gegen den Minister- richtet sich der Blick auf die strategi- präsidenten angestrengte Mißtrauens- sche Situation der PDS im parlamenta- votum nur mit Hilfe des Stimmverhal- rischen Parteiensystem. Ins Blickfeld tens der PDS. Christoph Bergner war gerät dabei insbesondere die Haltung jedoch keineswegs niedergeschlagen der SPD gegenüber der PDS. Die Neu- und stellte fest: „Wir haben jetzt Klar- auflage des 1994 ins Leben gerufenen heit und wissen einmal mehr, daß die Tolerierungsmodells einer SPD-Min- SPD in Sachsen-Anhalt auf politischem derheitsregierung unter Duldung der Kurs gemeinsam mit der PDS ist.9“ Das PDS in Sachsen-Anhalt und seine mög- Mißtrauensvotum gegen Höppner liche Übertragung auf weitere Landta- mußte im Zusammenhang mit dem ge verlangt besondere Aufmerksam- von der CDU-Fraktion angestrebten keit. Ähnlich wie vor der Bundestags- Organstreitverfahren10 vor dem Lan- wahl 1994 war im Wahljahr 1998 wie- desverfassungsgericht in Dessau ge- derum die Kooperationsbereitschaft wertet werden, in dem es um die mög- der SPD mit der PDS in Sachsen-Anhalt liche Aberkennung des Oppositions- Auslöser sowie greifbare Grundlage für statuses der PDS ging, da diese nach eine erneute Wahlkampfführung der Auffassung der CDU die SPD Minder- CDU/CSU für den Bundestagswahl- heitsregierung dauerhaft stützte. Die kampf 1998, in dem abermals die War- PDS durfte sich nach der Urteilsver- nung vor einem potentiellen Links- kündung weiterhin ‘Opposition’ nen- bündnis zwischen SPD und Grünen nen, wodurch sich auch die SPD eine mit direkter oder indirekter Unterstüt- Entlastung permanenter Rechtferti- zung durch die PDS einen wesentli- gungszwänge in bezug auf die mehr als chen Eckpunkt darstellt. Den nachfol- fakultative Kooperation mit der PDS gend geschilderten parlamentarischen erhoffte. Bündnisentwicklungen zwischen SPD und PDS in Sachsen-Anhalt und Meck- Die gescheiterten Koalitionsverhand- lenburg-Vorpommern wird daher eine lungen mit der CDU nach der Land- über ihre Grenzen hinausgehende Be- tagswahl vom April 1998 sowie die Be- deutung zugemessen. teuerungen Höppners, die PDS sei in den vergangenen vier Jahren ein ver- läßlicher Partner gewesen, lassen das 2. SPD und Gewerkschaften in Urteil von 1997 sowie die damaligen Sachsen-Anhalt als treibende Prozeßaussagen der SPD - es hätte kei- Kraft für die Neuauflage des nerlei Absprachen mit der PDS gege- ‘Magdeburger Modells’ ben - retrospektiv in einem zumindest zweifelhaften Licht erscheinen. Da- Die Konturen einer Fortsetzung des To- mals war das Urteil zum Oppositions- lerierungsmodells in Sachsen-Anhalt status der PDS unter anderem mit dem nach der Landtagswahl im April 1998 Hinweis ergangen, daß das Abstim- zeichneten sich bei SPD und PDS be- mungsverhalten bei geheimer Wahl Parlamentarische Bündnisbestrebungen von SPD und PDS im Wahljahr 1998 31 nicht einzelnen Fraktionen zugeord- hängigkeit einer „mehr extremistisch net werden könnte. In jedem Fall stellt als demokratischen”16 PDS begeben. dann die mit PDS-Stimmen im ersten Christoph Bergner konstatierte, daß Wahlgang erfolgte Kür Höppners zum die SPD in Sachsen-Anhalt der SED- Ministerpräsidenten am 26. Mai 1998 Nachfolgepartei den Vorzug gegenü- (Höppner erhielt 67 von 112 der abge- ber der Partei der Deutschen Einheit gebenen Stimmen, die SPD verfügt nur gibt.17 Außerdem hat Höppner damit über 47 Sitze) den Oppositionsstatus ein weiteres Mal das Bestreben nach der PDS in Frage. Diesmal bekundete klarer parlamentarischer Rollenvertei- die PDS öffentlich, daß sie mit mehr als lung von Opposition und Regierungs- einem Bein im Regierungsboot der SPD mehrheit ignoriert. Die desolate Haus- Platz nehmen will.11 Die PDS-Lan- haltssituation und die Verzögerungen deschefin Rosemarie Hein geht davon der Verhandlungen zum Landes-Etat aus, daß ihre Partei die SPD in der Re- 1999 sind dem Vertrauen in die Mag- gierungsarbeit aktiv unterstützen deburger Parlamentsarbeit abträglich. werde.12 Schon die Aussagen der SPD Sie verdeutlichen nur wenige Wochen auf ihrem Landesparteitag Anfang nach der Landtagswahl die von den 1998 korrespondierten mit den Inten- Sozialdemokraten eigens verursachte tionen der PDS, die zumindest das und sich zu Lasten des Landes auswir- ‘Magdeburger Modell’ fortsetzen und kende Abhängigkeit der SPD von der als ‘Exportschlager’ für die anderen PDS. In der Logik der Minderheitsre- Ost-Bundesländer sowie den Bundes- gierung liegen die kaum konkrete Re- tag vermarkten wollte. Für den ‘Not- gierungsprogrammatik sowie lähmen- fall‘ mochte man sich jedoch keines- de interfraktionelle Mehrheitsfindun- wegs der Option einer direkten Regie- gen begründet. rungsbeteiligung verschließen.13 Zunächst schien es so, als ob sich Obgleich sich Reinhard Höppner vor Höppner den aus der Bonner SPD-Par- der Wahl 1994 eine tolerierende PDS teizentrale vorgegebenen Strategievor- „nicht vorstellen” konnte,14 rechtfer- stellungen hinsichtlich der Bundes- tigte er damals seine Entscheidung tagswahl unterordnen müßte. Für Ger- nach der Wahl mit der Absicht, die hard Schröder und Oskar Lafontaine PDS durch diese partielle Einbindung kam eine Neuauflage des ‘Magdebur- ‘entzaubern’ zu wollen.15 Dieses Bestre- ger Modells’ diesmal angeblich nicht ben scheiterte kläglich, denn die PDS- in Frage, könnte damit doch einer er- Genossen feierten 1998 bei nur gerin- neuten ‘Rote-Socken-Kampagne’ der gen Verlusten gegenüber 1994 ihre Sta- Union auf Bundesebene Vorschub ge- gnation bei knapp 20% Stimmenan- leistet werden, die 1994 den Negativ- teil. Anders als , der in der trend der Bundes-SPD eingeleitet letzten Legislaturperiode in Baden- hatte.18 Als Höppner nach der Unterre- Württemberg eine Minderheitsregie- dung mit der Bonner Parteizentrale rung ebenso wie die Zusammenarbeit auch angesichts des Wahlerfolges der mit den extremistischen Republika- DVU den Weg in eine Große Koalition nern strikt ablehnte und eine Große einschlug, warf Gregor Gysi ihm Wort- Koalition mit der SPD einging, hat sich bruch vor. Außerdem hagelte es Prote- Reinhard Höppner erneut in die Ab- ste aus den eigenen Reihen. Unter den 32 Rüdiger Dambroth zahlreichen SPD-Positionspapieren für der Bonner Baracke und folgte mit der eine Fortführung der Zusammenarbeit Fortsetzung der SPD-PDS Liaison sei- mit der PDS und gegen eine politische ner bereits vor der Wahl geäußerten Ehe mit der CDU war auch ein von Intention sowie dem Druck der eige- Sachsen-Anhalts Bauminister Jürgen nen Landtagsfraktion und den Ge- Heyer (SPD) unter dem Motto ‘Kurs werkschaften. Danach vollzog plötz- halten - Kohl ablösen’ vorgelegtes Pam- lich auch die Bonner SPD eine argu- phlet. Es gleicht einer Minimalaus- mentative Kehrtwendung und recht- führung der ‘Erfurter Erklärung’, denn fertigte die Entscheidung ihres Magde- neben SPD-Fraktionsmitgliedern befin- burger Landesfürsten. Bundesge- den sich zahlreiche Gewerkschafts- schäftsführer Franz Müntefering funktionäre unter den Erstunterzeich- sprach sogar davon, daß er sich ähnli- nern, deren Hauptgegner die ‘Kohl- che Duldungsmodelle ebenso für Union‘ - nicht aber die PDS - ist. Pas- Mecklenburg-Vorpommern wie für send dazu startete die IG Bauen-Agrar- Thüringen vorstellen könnte.21 Kritiker Umwelt, Bezirksverband Magdeburg, dieses ‘Dammbruchs‘22 gegenüber par- einen später auf alle Bezirksverbände lamentarischen Bündnissen mit der der IG Bau ausgeweiteten Aufruf gegen PDS, deren Gliederungen im Verfas- eine Große Koalition. Nach Angabe des sungsschutzbericht des Bundes sowie SPD-Fraktionsmitgliedes Rainer Metke nahezu aller Länder unter linksextre- haben zudem die Landesvorsitzenden mistischen Bestrebungen behandelt aller Einzelgewerkschaften in Sachsen- werden, und die zu Lasten der inneren Anhalt ihm deutlich die Marschroute Einheit das Vertrauen in das repräsen- für Koalitionsgespräche mit auf den tativ-parlamentarische Regierungssy- Weg gegeben: Absage an eine Große stem untergraben will, weisen schon Koalition mit der CDU.19 Schon bevor seit längerer Zeit auf eine schleichende das erste Wort in den Gesprächen zwi- Auflösung des in der Bundesrepublik schen SPD und CDU gesprochen war, bislang erfolgreich von allen demokra- wies Höppner zwei Tage nach der Land- tischen Parteien praktizierten anti-ex- tagswahl auf einer Pressekonferenz in tremistischen Konsens hin.23 Magdeburg auf die CDU als den Schul- digen für eventuell scheiternde Koaliti- Die PDS verfolgte bis zur Duldungsent- onsgespräche hin. Höppner war es scheidung berechnend einen Zickzack- dann auch, der den Christdemokraten kurs: Sie bot Höppner Unterstützung eine unüberbrückbare Bedingung stell- ohne Vorbedingungen und notfalls te und damit die Koalition mit der CDU auch ein ‘Zeitspiel‘ an,24 obgleich die torpedierte. Gemeinsam sollten laut PDS-Fraktionsvorsitzende Petra Sitte einer Tischvorlage der SPD zwischen vor der Wahl noch vollmundig von den „drei demokratischen Parteien im vertraglich festzulegenden Bedingun- Landtag” (gemeint waren SPD, CDU gen für eine Fortsetzung der Tolerie- und PDS) verbindliche Absprachen zur rung gesprochen hatte. Die Absichtser- Bekämpfung der DVU getroffen wer- klärungen vor der Wahl sowie die für den.20 die CDU inakzeptable Tischvorlage verstärkten den Eindruck, daß Rein- Reinhard Höppner widersetzte sich hard Höppner einen Vorwand gesucht den strategischen Interventionen aus und gefunden hat, um das Pendel zu- Parlamentarische Bündnisbestrebungen von SPD und PDS im Wahljahr 1998 33 gunsten der SED-Nachfolger ausschla- der PDS war keine Rede mehr. Verab- gen zu lassen und sich weiterhin von schiedet wurde letztlich ein Strategie- der für ihn „demokratischen und im papier, welches Ringstorff den erhoff- Osten tiefverwurzelten PDS” 25 tolerie- ten Handlungsfreiraum für zukünftige ren zu lassen. Koalitionen mit auf den Weg gab. Nach der ‘Kühlungsborner Erklärung‘ sollte die Auswahl eines potentiellen 3. Folgt dem ‘Magdeburger’ das Koalitionspartners für 1998 „nach ‘Schweriner Modell’? sachlichen Kriterien und in Abhängig- keit vom erzielten Wahlergebnis erfol- Ebenso wie die Annäherung von SPD gen”. Eine Koalitionsaussage lehnte und PDS in Sachsen-Anhalt hat analog die SPD bis zur Landtagswahl ab.27 Auf- dazu auch die Bündnisentwicklung der schluß über die in diesem Beschluß Sozialdemokraten hin zur PDS in nicht näher genannten ‘sachlichen Mecklenburg-Vorpommern eine Vor- Kriterien‘ für die Auswahl eines Koali- geschichte: Beinahe wäre es 1996 be- tionspartners kann der Blick in den reits zu einer SPD-PDS Koalition in Leitantrag zum Sonderparteitag geben, Mecklenburg-Vorpommern gekom- in dem deutliche Hinweise auf die PDS men. Der SPD-Landeschef Harald zu finden sind. Dazu gehören unter an- Ringstorff wollte die Große Koalition derem die Frage nach u.a. im Wege der Vulkan-Krise been- den und ein Bündnis mit der PDS ein- ● programmatischen Gemeinsamkei- gehen. Nach Intervention u.a. von Jo- ten im Hinblick auf die soziale und hannes Rau verhinderte SPD-Bundes- wirtschaftliche Entwicklung Meck- geschäftsführer Müntefering dies lenburg-Vorpommerns sowie durch ein Gespräch mit den Schweri- ● die Frage nach dem Einfluß von ner Genossen.26 Danach konnte man Minderheiten in der Mitgliedschaft den Eindruck gewinnen, daß sich in anderer Parteien, die das Grundge- der PDS-Frage eine breite innerparteili- setz ablehnen.28 che Front gegen Harald Ringstorff for- miert hatte. Im ‘Güstrower Kreis’ Harald Ringstorff ist aus dem offenen schlossen sich SPD-Mitglieder zusam- Richtungsstreit im SPD-Landesver- men, die im Gegensatz zum ‘Warener band, dessen Ausgang für Beobachter Kreis’ eine Zusammenarbeit der SPD eine Signalwirkung für ganz Ost- mit der PDS in Mecklenburg-Vorpom- deutschland hatte,29 als klarer Sieger mern strikt ablehnten und als „nicht hervorgegangen. Ringstorff wurde am akzeptabel” bezeichneten. 23. Februar 1997 per Urwahl gegen zwei selbst im eigenen Landesverband Doch auf dem Sonderparteitag der relativ unbekannte Kandidaten von Landes-SPD Ende 1996 in Kühlungs- der SPD-Basis mit 79,94% der abgege- born hielten sich die Protagonisten des benen Stimmen zum Spitzenkandida- ‘Güstrower Kreises’, Justizminister Rolf ten der SPD für die nächsten Landtags- Eggert und der Bundestagsabgeordnete wahlen 1998 in Mecklenburg-Vor- Hans Joachim Hacker, allerdings pommern gewählt. Spätestens danach zurück. Von einem zuvor beabsichtig- deutete der Weg der SPD klar in Rich- ten Abgrenzungsbeschluß gegenüber tung PDS, denn diese Wahl galt als 34 Rüdiger Dambroth eine Art ‘Richtungsentscheidung’ über verstummt. Die Protagonisten des ‘Gü- die Frage nach einer möglichen Koali- strower Kreises’ haben inzwischen die tion mit der PDS. Einer der Gegenkan- Rolle rückwärts vollzogen und sind an- didaten Ringstorffs, Bruno Schuck- geblich niemals gegen eine Tolerie- mann, trat für eine strikte Abgrenzung rung einer SPD-Regierung durch die gegenüber der PDS ein. Ganz anders der PDS gewesen, außerdem seien nach gewählte Ringstorff. In ersten Stellung- Auskunft von SPD-Justizminister Rolf nahmen nach seinem innerparteili- Eggert wesentliche Unterschiede zwi- chen Wahlsieg wies er auf sein Ziel für schen der PDS-Programmatik und den 1998 hin: Es könne nun mit Elan für die SPD-Vorstellungen ohnehin nicht er- Beendigung der Großen Koalition aus kennbar.31 Ringstorff legt großen Wert CDU und SPD in Mecklenburg-Vor- darauf, daß er sich diesmal im Ein- pommern nach 1998 gearbeitet wer- klang mit der Bundespartei bewegt.32 den. Für Ringstorff ging es bei dieser Außerdem kann sich der SPD-Lan- Wahl darum, wer für die SPD Minister- deschef offenbar ebenso wie Höppner präsident werden soll.30 Und dieses Ziel in Sachsen-Anhalt auf die Unterstüt- kann er als Spitzenkandidat der gegebe- zung der Gewerkschaften verlassen. nenfalls zweitstärksten Partei nur mit Der dortige Landesvorsitzende des der PDS erreichen. PDS-Chef Helmut DGB, Peter Deutschland, machte sich Holter begrüßte, daß sich in der SPD bereits für ein Regierungsbündnis aus diejenigen durchgesetzt hätten, die für SPD und PDS stark.33 eine neue Politik in Mecklenburg-Vor- pommern nach den Landtagswahlen Mit 95% der Stimmen bestätigte der 1998 offen seien. Im Gegenzug lobte SPD-Wahlparteitag in Torgelow An- der SPD-Landesvorsitzende die wenige fang Juni 1998 Harald Ringstorff als Wochen später gefaßten Beschlüsse des Spitzenkandidat für die Landtags- 5. Parteitages der PDS vom Januar 1997 wahl am 27. September. Diesmal in Schwerin als eine „Abkehr von der wolle er den Machtwechsel durchset- populistischen Seite der PDS”, während zen.34 Wenige Wochen zuvor bekräf- die Entscheidungen der PDS von nahe- tigte Ringstorff die Absicht der Lan- zu allen anderen Politikern verschie- des-SPD, keine Koalitionsaussage vor denster Couleur mit den Vokabeln ‘rea- der Wahl zu treffen. Man dürfe keine litätsfern‘, ‘Bluff‘ und ‘demokratiefeind- Partei von vornherein ausschließen. lich‘ bezeichnet wurden. Helmut Holter Die PDS hätte zumindest schon etwas konnte sich im vergangenen Jahr auch von den an sie gestellten Bedingun- bei einem gescheiterten Abwahlantrag gen abgearbeitet.35 Gregor Gysi be- der CDU gegen ihn als Vorsitzenden des kräftigte seinerseits auf einer Wahl- Treuhanduntersuchungsausschusses kampftour durch Mecklenburg-Vor- auf die Unterstützung der SPD verlas- pommern Anfang 1998 den Regie- sen, als ihm vorgeworfen wurde, wis- rungswillen der PDS im Nordosten sentlich einen durch die Sicherheitsü- Deutschlands.36 Die CDU mußte ih- berprüfung gefallenen Mitarbeiter wei- rerseits bereits in den letzten Wochen terbeschäftigt zu haben. und Monaten zahlreiche Abstim- mungsniederlagen gegen den eige- Der innerparteiliche Widerstand gegen nen Koalitionspartner im Schweriner Ringstorffs PDS-Kurs ist inzwischen Landtag einstecken, da die Sozialde- Parlamentarische Bündnisbestrebungen von SPD und PDS im Wahljahr 1998 35 mokraten gemeinsam mit der PDS tie ist. Darüber werde sich die SPD- stimmten.37 Mecklenburg-Vorpommern selbst ein Urteil bilden.40 Solche Äußerungen der SPD lassen allerdings ein demokrati- 4. Resümee und Ausblick sches gesamtgesellschaftliches Verant- wortungsbewußtsein vermissen. Die Ganz im Sinne einer Analyse über die PDS läßt sich nicht durch Umar- SPD im Wahljahr 1998, die u.a. vom mungsstrategien zähmen, wie das stellvertretenden Parteivorsitzenden Magdeburger Beispiel deutlich ge- der PDS Wolfgang Gehrcke erstellt macht hat. wurde, vollzieht die PDS in Sachsen- Anhalt und Mecklenburg-Vorpom- Dennoch setzt ebenso wie Reinhard mern exemplarisch ihre Strategie zur Höppner und Harald Ringstorff auch Ausweitung ihres Einflusses. Danach der SPD-Landesvorsitzende in Thürin- soll „die generelle Haltung der PDS ge- gen, Richard Dewes, auf ‘Enttabuisie- genüber der SPD - für ein konstruktives rung‘ der PDS. Die Entscheidung über Verhältnis und Zusammenarbeit bei eine Zusammenarbeit der SPD mit der gleichzeitiger Betonung der eigenen PDS werde nach den Landtagswahlen Positionen (...) fortgesetzt werden”.38 1999 in jedem Fall in Erfurt und nicht Eben mit diesem Wortlaut hat die PDS- in gefällt.41 Ob der Lafontaine-In- Fraktionsvorsitzende Petra Sitte die timus 1999 auf Widerstand aus der weitere Zusammenarbeit mit der SPD Bonner Baracke stoßen wird, ist höchst in Sachsen-Anhalt umschrieben. In zweifelhaft. Unterstützung erhalten jedem Fall sieht die PDS in der SPD ihre die SPD-Regierungsanwärter von den Hauptkonkurrenz um Wählerstim- Gewerkschaften, die das parteipoliti- men.39 Die SED-Nachfolger verfolgen sche Neutralitätsgebot im Wahljahr weiterhin das offensive Verdrängungs- 1998 aufgegeben haben und damit konzept und bauen vor allem auf linke auch der auf Verknüpfung von außer- Sozialdemokraten. und innerparlamentarischem Akzep- tanzausbau zielenden Bündnisstrate- Die SPD steht in der Verantwortung, gie der PDS in die Hände arbeiten. ihren demokratischen Integrations- pflichten im linken Parteienspektrum Oskar Lafontaine betonte, daß die SPD nachzukommen. Allerdings ist es ein im Falle eines Wahlsieges im Herbst Unterschied, ob man sich um die 1998 in Bonn eine ‘stabile Regierung‘ Wähler bemüht - vor einer Wahl -, bilden werde. Doch diese Redewen- oder ob man sich zum Zwecke des dung ist seit der Landtagswahl in Sach- Machterwerbs der bereits gewählten sen-Anhalt vom April mit mehreren Fraktion einer noch immer demokra- Fragezeichen behaftet, denn auch tiefeindlichen Partei bedient. Auch Reinhard Höppner versäumte es, in Harald Ringstorff scheint sich für letz- keinem Statement nach der Wahl, tere Variante entschieden zu haben. seine Absicht zur Bildung einer ‘stabi- Nicht nur, weil dies der einfachere len Regierung‘ zu bekunden. Die PDS Weg ist, sondern auch weil er sich hat bereits mehrfach betont, daß ihre nach eigener Aussage nicht von ande- Bundestagsfraktion einen zur Wahl ren vorschreiben lasse, was Demokra- stehenden SPD-Kanzlerkandidaten 36 Rüdiger Dambroth

Schröder wählen würde.42 Nach einer Wer sich jedoch in die Abhängigkeit Allensbach-Umfrage glauben 62% der der PDS begibt, deren Mitglieder zu Deutschen, daß Schröder trotz der 90% bereits der SED angehörten, SPD-Dementis nicht auf PDS-Stimmen macht sich bewußt oder unbewußt verzichten wird.43 Wolfgang Thierses mitschuldig an der Verhöhnung der Thesen44 zum Umgang mit der PDS Opfer des SED-Regimes,47 zumal die sowie die geschilderten Entwicklungen PDS jegliche Stasiaufklärung sowie den in Sachsen-Anhalt und Mecklenburg- Verfassungsschutz am liebsten ganz Vorpommern lassen zudem ein offizi- abschaffen würde. Unverblümt provo- elles Festhalten der SPD an der ‘Dresd- zierte die PDS jüngst alle Demokraten ner Erklärung’45 zur Farce werden. im Landtag von Sachsen-Anhalt, in- dem sie eine ehemalige -Infor- Die PDS-Führung hat längst die Bedeu- mantin ausgerechnet für den Rechts- tung von Koalitionsbereitschaft für und Verfassungsausschuß als Vorsit- eine längerfristige Akzeptanz der PDS zende benannte. Nur CDU und SPD und damit ein Überleben im Parteien- haben gemeinsam die Möglichkeit, system erkannt. Wenn auch nicht auf dies in einem Abwahlverfahren zu re- Bundesebene, so scheint die PDS ihren vidieren. Partner für Regierungsbeteiligungen nach zwei Legislaturperioden in den Die PDS-Koalitionsbereitschaft be- ostdeutschen Bundesländern mit der wegt sich bis zum 27. September 1998 SPD gefunden zu haben. Doch weder weiterhin im strategischen Kalkül der der innerparteiliche Klärungsprozeß SPD. Vieles deutet darauf hin, daß zur DDR- und SED-Vergangenheit SPD und PDS in Sachsen-Anhalt nach noch das Bekenntnis der PDS zum de- der Bundestagswahl in Koalitionsver- mokratischen Rechtsstaat der Bundes- handlungen eintreten werden. In republik bei gleichzeitiger Abwendung Mecklenburg-Vorpommern, wo die vom Unrechtsstaat DDR waren dafür Landtagswahl auf den Tag der Bun- ausschlaggebend, sondern lediglich der destagswahl fällt, bestehen die strate- ‘Faktor Zeit’ sowie die Aussicht auf ge- gischen Ressentiments offenbar oh- meinsame Mehrheiten. Daher drängt nehin nicht. Dabei zeigt die planvolle sich der Eindruck auf, daß Harald Rings- Anlehnung der PDS an programmati- torff, Reinhard Höppner und Richard sche Forderungen anderer Parteien Dewes der PDS zum Selbstzweck ein po- ihre eigene Hilflosigkeit und Unfähig- sitives Zeugnis ausstellen. Denn sie be- keit für die Erarbeitung konstruktiver greifen die PDS als Machtfaktor für Koa- Politikansätze. Gleichzeitig ist es der litionsoptionen im Parteiensystem und verzweifelte Versuch der PDS, durch erhalten dafür nun auch den offiziellen Regierungsbereitschaft ihre parla- Freibrief aus Bonn. Wenn Meinungs- mentarische Lebensdauer zu verlän- forscher mit dem expliziten Hinweis gern. Weiterhin ist der innerdeutsche auf >Magdeburg< drei Monate vor der Ost-West-Konflikt dabei ihr Überle- Bundestagswahl der PDS eine angebli- benselixier. Wer aus Machtkalkül den che ‘neue Wichtigkeit‘46 zuschreiben, Konflikt mit der Nachfolgeorganisati- ist dies im Kausalzusammenhang mit on der diktatorischen Staatspartei dem Hofieren durch die SPD in den SED scheut, sieht sich der Kritik aus- Ländern zu erklären. gesetzt, der inneren Einheit in Parlamentarische Bündnisbestrebungen von SPD und PDS im Wahljahr 1998 37

Deutschland einen Bärendienst zu er- nur durch die Sogwirkung sowie die In- weisen. tegrationskraft der Mitte. Die verant- wortlichen Personen für eine Regie- Die Solidarität der Demokraten hätte rungsbildung in Mecklenburg-Vor- es erfordert, daß Reinhard Höppner in pommern haben die Chance, den Feh- Sachsen-Anhalt eine Koalition mit der ler von Magdeburg nicht zu wiederho- CDU eingeht, schon um keine len und demokratiefeindliche Tenden- ‘falschen Fronten‘ aufzubauen.48 Bei zen ins Abseits zu drängen. Es wäre pa- einem derartigen Wahlergebnis (PDS radox, wenn ein gesamtdeutsch agie- und DVU verfügen zusammen über render Koalitionspartner der von Ver- mehr als ein Drittel der Mandate) ist teilungskämpfen in Deutschland und eine Große Koalition keine politische den innerdeutschen Ost-West-Konflikt Mesalliance. Denn die Geschichte der zehrenden PDS das Zertifikat für Koali- Bundesrepublik hat gezeigt, daß extre- tionstauglichkeit ausstellt und damit mistische Kräfte nicht mit dem Gegen- ihren Einfluß gegen ein zügiges inner- gewicht von rechts oder links deutsches Zusammenwachsen auf den bekämpft werden können, sondern Bundesrat ausweitet.

Anmerkungen 1Vgl. Thoralf Cleven, Parteispitze liebäugelt 9Zitiert nach ‘Zitat der Woche’, in: “Rheini- mit der Macht, in: Ostsee-Zeitung vom 18. scher Merkur” Nr. 48, vom 29. November Januar 1997. 1996. 2Vgl. Rüdiger Dambroth, Der ‘PDS Rich- 10Vgl. die Schriftsätze zum Organstreitver- tungsstreit’ und die Strategie der PDS bis fahren ‘CDU-Fraktion gegen Landtag von zu ihrem 5. Parteitag, in: Zeitschrift des Sachsen-Anhalt’ LVG 1/96, vom 15.08.96, Forschungsverbundes SED-Staat 3/1997, 22.10.96, 4.11.96 sowie die Anträge im Or- S. 106-119. ganstreitverfahren vom 14. 02.96 und 3Vgl. Viola Neu, Zurück zur SED, in: Die 22.10.96. politische Meinung Nr. 343/Juni 1998, 11Vgl. “Höppner wurde mit PDS-Stimmen S. 51-56. zum Ministerpräsidenten gewählt”, in: 4Vgl. Hans Modrow, Für eine kompetente Magdeburger Volksstimme vom 27. Mai und mutige Fraktion im Bundestag, in: Dis- 1998. put Nr. 4/98, S. 2-5. 12Vgl. Katrin Pohl, Die Zickzack-Taktik der 5Vgl. Gemeinsame Presseerklärung des Par- PDS in Sachsen-Anhalt, in: Berliner Mor- teivorstandes und der Bundestagsgruppe genpost vom 16. Mai 1998. der PDS zum Schlußbericht der Enquete- 13Vgl. Marc Rath, “Für den nächsten Land- Kommission ‘Deutsche Einheit‘ des 13. tag darf’s auch etwas mehr sein...”, in: Mag- Deutschen Bundestages, Bonn und Berlin, deburger Volksstimme vom 26.01.1998. 17. Juni 1998. 14Vgl. Axel Brückom, Jenseits des >Mag- 6Vgl. André Brie/ Michael Chrapa, Wähler- deburger Modells<, in: Eckhard Jesse/ potential der PDS: Erkenntnisse, Tendenzen Uwe Backes (Hrsg.), Jahrbuch Extremis- und Möglichkeiten, Berlin, 21. November mus & Demokratie, Jg. 9, Baden-Baden 1996. 1997, S. 174-187. 7Vgl. Pressemitteilung von Uwe-Jens Heuer 15Vgl. Ute Semkat, Die Entzauberung der über die Homepage der PDS im Bundestag PDS blieb aus, in: Die Welt vom 31. März Nr. 2244 vom 18. Juni 1998. 1998. 8Vgl. Patrick Moreau, Die PDS: Profil einer 16Vgl. Jesse, Eckhard: Kein verheißungsvol- antidemokratischen Partei, Hanns-Seidel- les Szenario für Schröder, in: Die Welt vom Stiftung (Hrsg.), München 1998, S. 284. 31.03.98. 38 Rüdiger Dambroth

17Vgl. Dieter H. Michel, Scharfe Kritik an tie”, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung PDS-tolerierter Regierung, in: Das Parla- vom 13. Mai 1998. ment Nr. 27 vom 26. Juni 1998, S. 13. 34Thomas Volkmann, Ringstorff fordert das 18Vgl. Michael Grüter, Bonner SPD erlaubt Ende der Großen Koalition, in: Schweriner Höppner keine Spielereien mit der PDS, in: Volkszeitung vom 2. Juli 1998. Neue Presse vom 28. April 1998. 35Vgl. Stefan Koslik, SPD: Keine vorgezoge- 19So Rainer Metke in einem Interview für die nen Koalitionsgespräche, in: Schweriner ‘heute-Nachrichten’ (ZDF) vom 28. April Volkszeitung vom 14. Juni 1998. 1998. 36Vgl. „Gysi: Regierungsbündnis mit der 20Vgl. Tischvorlage der SPD für die 1. Sit- PDS im Nordosten scheitert nicht an Auto- zung der Verhandlungsgruppe von SPD bahn”, in: Nordkurier vom 22. Januar 1998. und CDU am 8. Mai 1998. 37Vgl. Thomas Volgmann, Firmen sollen Ab- 21Vgl. SPD. ‘Magdeburger Modell’ Vorbild gabe für Lehrstellen bezahlen, in: Schweri- für den Osten, in: Berliner Morgenpost vom ner-Volkszeitung vom 26. Juni 1998 und 14. Mai 1998. ders., Hilfspolizisten blieben im Landtag auf 22Vgl. Oliver Michalsky, Dammbruch im der Strecke, in: Schweriner-Volkszeitung Osten, in: Berliner Morgenpost vom 16. Mai vom 27. Juni 1998. 1998. 38Vgl. „Dokumentation: Der soziale Spreng- 23Vgl. Eckhard Jesse, Das Parteiensystem stoff bleibt”, in: Neues Deutschland vom 8. nach der Bundestagswahl 1994, in: Gerhard Juni 1998. Hirscher (Hrsg.): Parteiendemokratie zwi- 39Vgl. Armin Fuhrer, PDS-Strategen schmie- schen Kontinuität und Wandel, München den Koalitionspläne im Osten, in: Die Welt 1995, S. 33-63. vom 30. Juni 1998. 24Vgl. Holger Becker, Nach Landtagswahl in 40So Harald Ringstorff in der Sat1-Fersehsen- Sachsen-Anhalt: PDS bietet Zeitspiel an, in: dung ‘Talk im Turm’ vom 24. Mai 1998. junge Welt vom 28. April 1998. 41Vgl. Richard Dewes, Die Entscheidung fällt 25Reinhard Höppner im Interview: Herr in Erfurt, in: ‘Disput’ Nr. 9/ 96, S. 22-24. Höppner, wollen Sie den Wahlsieg der SPD 42Vgl. PDS-Chef hält Koalition mit SPD für sabotieren?, in: Stern Nr. 21/98 vom 14. Mai möglich, in: Frankfurter Allgemeine Sonn- 1998. tagszeitung vom 7. Juni 1998. 26Vgl. Rainer Lingenthal, „Ich arbeite für 43Vgl. „Mehrheit glaubt an PDS-Stimmen den Wechsel”, in: Wochenpost Nr. 19 vom für Schröder”, in: Berliner Morgenpost vom 2. Oktober 1996. 2. Juli 1998. 27Vgl. ‘Kühlungsborner Erklärung’. Be- 44Vgl. Wolfgang Thierse, „SPD kann Zusam- schlossen auf dem Sonderparteitag der SPD menarbeit mit der PDS im Osten nicht aus- Mecklenburg-Vorpommerns am 30. No- weichen”, in: Frankfurter Rundschau vom vember 1996 in Kühlungsborn. 19. Dezember 1996. 28Vgl. Leitantrag für den Sonderparteitag der 45Vgl. ‘Dresdner Erklärung’, Pressedienst der SPD Mecklenburg-Vorpommerns am 30. SPD Nr. 590/94 (Punkt 5: (...) Eine Zusam- November 1996 in Kühlungsborn, Be- menarbeit mit ihr kommt für uns nicht in schluß des Landesvorstands der SPD vom Frage. Dies muß jeder wissen, der den poli- 26.10.96. tischen Wechsel in Schwerin, in Dresden, 29Vgl. Christoph Seils, Mit der PDS an die in Erfurt und in Bonn will: Die Ablösung der Macht, in: ‘Wochenpost’ Nr. 49, vom 28. CDU-geführten Regierungen ist mit Stim- November 1996. men der PDS nicht zu erreichen (...), Bonn, 30Vgl. Vorwärts-Regional der SPD in Meck- den 11. August 1994. lenburg-Vorpommern Nr. 2/97. 46Vgl. Klaus-Peter Schöppner, ‘Neue Wich- 31Vgl. Sven Bernitt, SPD, PDS und das eine tigkeit’ belohnt die PDS, in: Neues Deutsch- Ziel: die ‘Toalition’ in Schwerin, in: Welt land vom 2. Juli 1998. am Sonntag vom 21. Juni 1998. 47Vgl. dazu Michael Rutz, Die Volksfrontka- 32Vgl. Adalbert Zehnder, Schweriner Modell tastrophe, in: Rheinischer Merkur Nr. 22 baut auf die PDS, in: Süddeutsche Zeitung vom 29. Mai 1998. vom 13. Mai 1998. 48Vgl. Eckhard Jesse, Nach Magdeburg - und vor 33Vgl. „PDS keine Gefahr für die Demokra- Bonn, in: MUT Nr. 370/ Juni 1998, S. 30-32. Die Diktaturkader André Brie, Gregor Gysi, Lothar Bisky und das MfS

Manfred Wilke

1. Die Wiederkehr ser Wiederaufstieg aus den Trümmern sozialistischer Macht der SED-Diktatur eine politische Lei- stung, sie ist kein zufälliges Produkt der Die deutschen Wähler werden bei der Umstände, sondern beruht auf zielstre- kommenden Bundestagswahl darüber biger Politik gegen widrige Verhältnis- entscheiden, ob die SED-Fortsetzungs- se. partei PDS erneut in den Deutschen Bundestag einzieht. Die SPD dagegen Es sind vor allem drei Personen, die wird entscheiden, ob sie nach der diese Erfolgsgeschichte verkörpern: Wahl in Sachsen-Anhalt, in Mecklen- Lothar Bisky, André Brie und Gregor burg-Vorpommern und in Thüringen Gysi. Alle drei gelten in der öffentli- mit der PDS als Partner Koalitionsre- chen Diskussion über die PDS als Re- gierungen bilden wird. Bedenkt man former, die eine moderne linkssoziali- das Ende der SED-Herrschaft 1989, als stische Partei repräsentieren und mit die totalitäre Staatspartei in der friedli- dem marxistisch-leninistischen Un- chen Revolution ihre Macht verlor, so geist der kommunistischen Plattform, ist Biskys Selbstzufriedenheit verständ- aber auch mit den Praktiken der tota- lich, wenn er auf dem Rostocker Wahl- litären Machtausübung der SED per- parteitag im April 1998 erklärt: „Die sönlich nichts zu tun gehabt hätten. Es Wandlung von der SED zur PDS, von ist wahr, sie waren keine hauptamtli- einer Staatspartei, in der die große Idee chen SED-Parteifunktionäre, und sie des Sozialismus nur noch in den Köp- dienten auch nicht als Offiziere in fen und Herzen vieler ihrer Mitglieder, Erich Mielkes Ministerium für Staatssi- aber längst nicht mehr in der politi- cherheit. Gleichwohl waren sie Dikta- schen und gesellschaftlichen Realität turkader, die auch mit dem MfS zu- lebt, hin zu einer modernen sozialisti- sammenarbeiteten. Um das Selbstbe- schen Partei, die heute in Deutschland, wußtsein von Bisky im Jahre 8 der in einem der mächtigsten Länder der deutschen Einheit zu verstehen, bedarf Welt, eine relevante linkssozialistische es einer Rückblende auf die „Wand- Kraft ist - das ist eine beeindruckende lung von der SED zur PDS“, die Leistung seit 1989!“ 1 In der Tat ist die- 1989/90 nicht freiwillig geschah.

Politische Studien, Heft 360, 49. Jahrgang, Juli/August 1998 40 Manfred Wilke

2. Von der SED zur PDS: Kader- und Krenz als ausgemachter Reformer. kontinuität nach dem Ende Er trat als Ministerpräsident an die des SED-Parteiapparats Spitze der neugebildeten Regierung der DDR. Die SED mußte nun um ihre Po- Der Sturz der SED-Diktatur im Herbst litik werben, sie brauchte Kader, die öf- 1989 traf eine Parteiführung, die mit fentlich auftreten und argumentieren Hilfe ihres Apparates die Macht über das konnten. Aber die Parteisekretäre eigene Partei- und Staatsvolk seit 1945 waren nur an Befehl und Gehorsam als Protagonist der deutschen Spaltung gewöhnt, sie konnten kommandieren, behaupten konnte. Gewöhnt an den aber nicht debattieren. Modrow wußte äußeren Schutz durch die Sowjetunion dies und sprach das auch aus: „Wir und das Funktionieren des MfS im Inne- werden auf manchem Gebiet uns mit ren, war die SED 1989 unfähig zur Selbst- jungen Leuten zusammenfinden müs- reform, sogar dann, als sie von der sow- sen, die in der zweiten und dritten jetischen Führung dazu ermuntert Reihe bis jetzt gearbeitet haben, und wurde. Erst im Herbst 1989, als ihre so- unter denen kluge Köpfe sind, die dar- zialistischen Untertanen auf den auf warten, daß man sie mobilisiert. Straßen und Plätzen ihrer Dörfer und Wer hat denn Gregor Gysi vorher groß Städte sich zu Bürgern emanzipierten gekannt, wer hat ihn wirklich ernst und nachdem die Leipziger Montagsde- und zu Rat genommen. Das sind aber monstration am 9. Oktober 1989 die De- heute Leute, mit denen man reden monstrationsfreiheit in der DDR durch- kann.“ 2 setzte, zwang das SED-Zentralkomitee seinen Generalsekretär Die Agonie der SED-Führung in der zum Rücktritt. Sein Nachfolger wurde Endkrise der Diktatur lähmte auch der ZK-Sekretär für Sicherheit, Egon ihren zentralen Parteiapparat und setz- Krenz. Ihm gelang es nicht mehr, die te seine wichtigste Kompetenz außer Lage für die Partei zu stabilisieren. Nach Kraft, durch eine einheitliche Perso- dem Fall der Berliner Mauer am 9. No- nalpolitik in der SED, im Staatsapparat, vember wandelte sich der demokrati- in der Volkswirtschaft, der Kultur und sche Aufbruch in der DDR zur deut- den Medien, die „führende Rolle der schen Einheitsbewegung, in der es nun Partei“ durchzusetzen. Die Nomenkla- um die Auflösung der DDR als Staat turordnung der SED zerbrach. Parteise- ging. Die Montagsdemonstranten skan- kretäre wurden in dieser revolu- dierten „Wir sind ein Volk!“. tionären Phase der DDR-Entwicklung funktionslos, ihre Macht war am Ende. Erst in dieser Situation wagten die ver- Die SED-Kader mußten die Improvisa- änderungsbereiten Kader in der SED, tion lernen; sie brauchten neue Kader, offen für die Veränderung ihrer Partei die in der Lage waren zu debattieren, einzutreten. Nach dem Rücktritt von und nicht mehr offen den Versuch un- Willi Stoph als Ministerpräsident An- ternahmen, den bereits verlorenen fang November bildete Hans Modrow diktatorischen Machtanspruch der ein Reformkabinett. Seit langem galt Partei restaurativ wiederherzustellen. auch im Westen der erste Sekretär der Bezirksleitung Dresden der SED, Mit der Bildung der Regierung Modrow, im Gegensatz zu Honecker Modrow gewann die SED über den Die Diktaturkader André Brie, Gregor Gysi, Lothar Bisky und das MfS 41

Staatsapparat einen Teil ihrer verlore- nistischen Diktatur. Die Kader waren nen Handlungsfähigkeit zurück, zumal somit Leitungskräfte und wissen- die Opposition weder willens noch in schaftlich ausgebildete Spezialisten der Lage war, die Regierungsverant- ohne Leitungsbefugnisse, sie waren wortung in der DDR sofort zu über- das entscheidende Potential, mit dem nehmen. Die Opposition setzte auf die Ziele der SED, vor allem die Siche- einen Runden Tisch, um diese Regie- rung ihres Machtmonopols, durchge- rung zu kontrollieren, und konzen- setzt wurden. „Die Nomenklaturkader trierte sich auf die bevorstehenden bildeten das Rückgrat des SED-Staa- Volkskammerwahlen im Jahre 1990. tes.“3 Diese Feststellung im Abschluß- Die Kader bekamen Zeit, ihre Partei bericht der Enquete-Kommission neu zu formieren. Zum damaligen „Überwindung der Folgen der SED- Zeitpunkt hatte die SED ca. 2,3 Millio- Diktatur im Prozeß der deutschen Ein- nen Mitglieder und einen hauptamtli- heit“ trifft den Kern. Die Karriere all chen Funktionärsapparat von über dieser Nomenklaturkader stand unter 40.000 Beschäftigten. Die Masse der ständiger Kontrolle des zentralen Par- Mitglieder begann die SED zu verlas- teiapparates der SED und war systema- sen, zurück blieben die Kader, von tisch geplant. Jeder Aufstieg von Ka- denen die meisten in der Folgezeit dern in höhere, leitende und verant- ihren Arbeitsplatz verloren. Damit war wortliche Positionen in der DDR war eine dramatische Veränderung des an politisch-ideologische, fachliche Machtgefüges in der DDR verbunden, und sicherheitspolitische Anforderun- das vorher vollständig von der zentra- gen gebunden. Im Mittelpunkt stand len Personalplanung der Partei geprägt die unbedingte Treue zur „Partei der wurde. Arbeiterklasse“. Die Kaderlaufbahnen wurden mit den systematisch ausge- Alle wichtigen und verantwortlichen wählten Nachwuchskadern am Ende Positionen im Sicherheitsbereich, der ihrer Ausbildung seitens des Parteiap- staatlichen Verwaltung, in der Wirt- parates geplant und führten die Auser- schaft, der Wissenschaft, der Bildung, wählten systematisch über die weitere der Kultur, den Medien sowie in den Qualifizierung in Parteihochschulen Massenorganisationen FDGB und FDJ - an deren Spitze Einrichtungen der besetzte die SED mit Angehörigen der KPdSU standen - an Leitungsfunktio- Kadernomenklatur, einem Verzeichnis nen heran. Der Parteiapparat hatte von Funktionären, die für die Beset- somit genügend Zeit, um die zukünfti- zung von Schlüsselfunktionen geeig- gen Führungskräfte über einen langen net waren. Nach dem Muster der zen- Zeitraum zu beobachten, zu prägen tralen Personalverwaltung durch die und zu beurteilen. Die SED betrachtete KPdSU in der Sowjetunion wurde seit Kaderfragen ausschließlich aus der Per- 1950 auch in der DDR offen nach den spektive der Machtsicherung. Diese Regeln dieses Nomenklaturkadersy- Kadersozialisation gab den Reform- stems verfahren. kräften aus der zweiten Reihe der No- menklaturkader die Kraft, um den Er- Die zentrale Personalplanung durch halt und die Veränderung der SED zu den Parteiapparat war eines der We- kämpfen, zunächst mit dem Ziel, die sensmerkmale der totalitären kommu- DDR und damit die deutsche Zwei- 42 Manfred Wilke staatlichkeit gestützt auf die Sowjet- MfS in gewandelter Form als „Amt für union zu behaupten. Nationale Sicherheit“ (AfNS) fest. Modrow war nicht bereit, „das Haupt- Modrow führte erstmalig in der Ge- instrument des DDR-Totalitarismus, schichte der DDR eine Koalitionsregie- den Staatssicherheitsapparat, als offizi- rung mit den Parteien des zentralen ellen Apparat kompromißlos aufzulö- demokratischen Blocks. Die Wortwahl sen. Es kann und muß gesagt werden, signalisierte eine wichtige Verschie- daß Modrow sich darin mit den Block- bung in der Machtstruktur der noch parteien bis zum 8. Januar 1990 durch- bestehenden DDR. Nicht mehr der Ge- aus einig war. Daß die Auflösung den- neralsekretär, das Politbüro und sein noch geschah, ist eines der Verdienste ZK-Sekretariat bestimmten die Richtli- der Opposition.“ 7 Die Sicherung des nien der Politik, sondern erstmals MfS war das eine strategische Ziel der wurde die Regierung und ihr Minister- SED, das andere betraf die Rettung der präsident zum wirklichen Zentrum der Partei. politischen Entscheidungen. Am 3. Dezember 1989 fand die letzte Eine der zentralen Fragen, mit der Sitzung des SED-Zentralkomitees statt, diese Regierung konfrontiert war, be- auf der u.a. der Ausschluß der vormali- traf das Ministerium für Staatssicher- gen Führung beschlossen wurde. Die- heit und seine Zukunft. Die Montags- ser traf u.a. den ehemaligen Generalse- demonstrationen in der Mehrzahl der kretär der Partei, Erich Honecker, den Städte der DDR führten an den Kreis- früheren Ministerpräsidenten Willy und Bezirksverwaltungen des MfS vor- Stoph und den Minister für Staatssi- bei. Die Motivation der Demonstran- cherheit, Erich Mielke. Rituelle Opfer, ten war nicht nur der Haß, sondern die der Tradition des Führungswech- auch „die jahrzehntelang erfahrene sels in kommunistischen Parteien seit Ohnmacht gegenüber dem gesamten Stalins Tagen entsprachen und die Unterdrückungs- und Disziplinie- nach außen Tatkraft und Reformfähig- rungsapparat im SED-Staat“.4 Armin keit der SED demonstrieren sollten. Mitter hat zurecht darauf hingewiesen, daß sich die Demonstranten kollektiv formulierte im Namen der von dieser Ohnmacht befreiten, Parteifunktionäre die Anklage gegen „indem sie die Stasi-Zentralen die ehemaligen Parteiführer, und er tat zunächst belagerten und schließlich dies mit einem Gestus, als habe er stürmten. Diese innere Befreiung dürf- nicht dazugehört: „Wenn ein Staat bis te für die einzelnen weitaus wichtiger an den Ruin geführt wird, dann ist das gewesen sein als Rachegelüste gegen- Verbrechen. Ich glaube, ein größeres über den Mitarbeitern des MfS.“ 5 Aber kann es nicht geben.“ 8 Verhindert im Gegensatz zu dem Ziel der sich for- wurde der Untergang der SED in diesen mierenden politischen Opposition Dezembertagen des Jahres 1989 durch und der Demonstranten in den die zweite Führungsebene der Partei. Straßen der Städte der DDR hielt die Ohne Beachtung des Parteistatuts setz- Koalitionsregierung Modrow, „alle te sie im Rahmen der ZK-Tagung den Blockparteien eingeschlossen“,6 an Rücktritt von Politbüro und Zentralko- dem Ziel der Aufrechterhaltung des mitee der SED durch und bildete einen Die Diktaturkader André Brie, Gregor Gysi, Lothar Bisky und das MfS 43

„Arbeitsausschuß“. Damit war eine nachfolge der SED antreten soll.10 Die provisorische Parteiführung etabliert, Lösung der Krise suchten Gysi und deren wichtigste Aufgabe darin be- Modrow in einer Umwandlung der stand, einen außerordentlichen „Er- SED, und so entstand die „Partei des neuerungs-“Parteitag für die SED vor- Demokratischen Sozialismus“ aus der zubereiten. Zu seinen Mitgliedern SED heraus, die zunächst noch den gehörten Markus Wolf, jahrzehntelang Doppelnamen SED-PDS führte. Die im Chef der Hauptverwaltung Aufklärung Vergleich mit Ungarn und Polen zu im MfS und zugleich Stellvertreter von spät gekommene Adaption sozialde- Minister Mielke, Gregor Gysi und Lo- mokratischer Programmatik und Se- thar Bisky. Als dieser „Arbeitsaus- mantik durch die SED geschah zu schuß“ durch die Bezirkssekretäre der einem Zeitpunkt, als in der DDR be- SED gebildet wurde, ging es in der in- reits eine neue sozialdemokratische ternationalen Politik bereits um die Partei entstanden war, zu der nun die Wiedervereinigung Deutschlands. SPD Parteibeziehungen herstellt und die zur SED-PDS abbricht.

3. Parteierhalt, Volkskammer- Unabdingbare Voraussetzung der „Er- wahlkampf und André Brie neuerung“ der SED war für den „Ar- beitsausschuß“ der demonstrative Wenige Tage vor Etablierung des Ar- Bruch „mit den stalinistisch geprägten beitsauschusses als provisorische Grundstrukturen der SED“.11 Auf der Parteiführung hatte Bundeskanzler Tagesordnung stand vor allem die Än- seinen Zehn-Punkte-Plan derung der Parteikonzeption der SED. zur deutschen Einheit im Bundestag Eine marxistisch-leninistische Partei- vorgetragen. Ihm antworteten Künst- organisation ließ sich im Dezember ler und Wissenschaftler aus der DDR 1989 angesichts der revolutionären mit einem „Appell für unser Land“. Prozesse in der DDR und der Vereini- Der Aufruf verlangte, „eine sozialisti- gungspolitik der Bundesregierung sche Alternative zur Bundesrepublik zu nicht mehr aufrecht erhalten. Im for- entwickeln“.9 Die Sicherung der Exi- malen Aufbau der Partei und der Rück- stenz der DDR war das zentrale Argu- kehr zur geheimen Wahl der Vorstän- ment, mit dem der „Arbeitsausschuß“ de diente die Satzung der sozialdemo- die Delegierten des außerordentlichen kratischen Partei als Vorbild, um den Parteitages der SED (8. Dezember) Parteiaufbau der SED zu reorganisie- überzeugte, die Partei nicht aufzulö- ren. Die Kader aus der zweiten und sen, wie ein Teil der Delegierten vor- dritten Reihe der SED wußten bereits, schlug. Gysi und Modrow waren die daß vor ihnen der sichere Machtver- Wortführer im Kampf um die Rettung lust in der DDR lag, schlimmer noch, der Partei. Gysi fragte die Parteitagsde- es drohte der Untergang des „Arbeiter- legierten, wem bei einer Auflösung das und-Bauern-Staates“. Dieser wurde zur Vermögen der Partei gehören soll, wer Gewißheit, als die sowjetische die Mitarbeiter des Parteiapparates Parteiführung Ende Januar 1990 ihren noch bezahlen - es sind zu diesem Zeit- Widerstand gegen die deutsche Verei- punkt 44.000 - und welche Nachfolge- nigung aufgab und Modrow selbst für partei im juristischen Sinn die Rechts- die Vereinigung beider deutscher Staa- 44 Manfred Wilke ten eintrat. Nach dem Verlust der Exi- sein, den er im Dezember 1989 publi- stenzgarantie durch die Sowjetunion zierte. Die Orientierung der DDR auf hing die weitere Existenz der SED-PDS die Sowjetunion war für ihn „die außen- von ihrem Abschneiden bei den Volks- politische Existenzfrage“,14 während die kammerwahlen im März 1990 ab. zweite Hauptachse einer künftigen Somit mußte sich die Partei 1990 erst- DDR-Außenpolitik sich auf ein Sonder- mals auf einen wirklichen Wahlkampf verhältnis mit der Bundesrepublik stüt- vorbereiten, in dem die Abgeordneten zen mußte. Bries Argumente von 1989 der Volkskammer nicht wie gewohnt sind auch heute noch als Denkansatz für vom zentralen Parteiapparat der SED die ostdeutsche Interessenpolitik der bestimmt, sondern von den Bürgern PDS im vereinigten Deutschland von gewählt wurden. In dieser Situation Belang und sollen deshalb hier noch meldete sich André Brie mit einer einmal in Erinnerung gerufen werden. Wahlkampfkonzeption für die SED- Unter den Bedingungen deutscher Zwei- PDS zu Wort. staatlichkeit:

Es war absehbar, daß im Mittelpunkt ● „1. ist das internationale wie das des Wahlkampfes der anderen Parteien Kräfteverhältnis in der DDR derge- die Haltung zur deutschen Einheit ste- stalt, daß auf eine deutsch-deutsche hen würde. Brie dagegen rechnete Annäherung realistischerweise noch mit der sowjetischen Existenzga- nicht verzichtet werden kann (auch rantie für die DDR und schlug vor, die wenn man sie negativ bewertet), SED-PDS solle für die „Erneuerung der zumal sich die gemeinsamen natio- DDR“, verbunden mit einer „Vertrags- nalen Wurzeln als außerordentlich gemeinschaft“ zwischen beiden deut- stark erweisen; schen Staaten, eintreten.12 Mit dieser ● 2. kann die BRD eine beträchtliche Konzeption zog die parlamentarisch ökonomische und finanzielle Quel- gewendete totalitäre Staatspartei in le für die Erneuerung der DDR dar- den Wahlkampf. Brie wurde Leiter des stellen; die DDR kann dabei an die Wahlkampfbüros. Interessen einflußreicher BRD-Krei- se anknüpfen; Rückblende: ● 3. entspricht es der historischen André Brie war auf die Lösung dieser Verantwortung und der Möglich- neuen Herausforderung vorbereitet; er keiten der DDR, zur Einbindung der gehörte mit seinem Bruder Michael BRD in eine entmilitarisierte und und dem Politökonomen Dieter Klein kooperative Entwicklung Europas zu einer Projektgruppe an der Berliner beizutragen.“ 15 Humboldt-Universität, die bereits vor dem Herbst 1989 konzeptionell an Diese Sätze des SED-Politikwissen- einer Reform des Sozialismus gearbei- schaftlers zeugen nicht von Aufgabe, tet hatte. Ihre Ideen wurden im De- vielmehr forderte er seine Partei auf, zember 1989 konzeptionelle Grundla- sich auf die neue Lage einzustellen und ge für die Sicherung der Existenz der ihre Möglichkeiten aktiv zu nutzen. Il- SED.13 Hintergrund für Bries Wahl- lusionslos ist er sich darüber im klaren, kampfkonzept scheint sein Entwurf für daß die Existenz der DDR auf der Sow- eine neue Außenpolitik der DDR zu jetunion und deren hegemonialer Stär- Die Diktaturkader André Brie, Gregor Gysi, Lothar Bisky und das MfS 45 ke in Europa beruht. Bries Konzept (FDJ), in deren Zentralrat er von 1947 kann auch als Baustein für eine neue bis 1955 saß. Ab 1958 gehörte er zum sowjetische Deutschlandpolitik inter- diplomatischen Dienst der DDR, er ar- pretiert werden, die darauf hinauslief, beitete an der Botschaft der DDR in der den Deutschen Sonderbeziehungen Volksrepublik China und war an- untereinander zuzugestehen, die öko- schließend Botschafter in Nordkorea, nomische Leistungskraft der Bundesre- Japan und Griechenland.16 publik für den Wiederaufbau der DDR zu nutzen, und sicherheitspolitisch das Der 1950 geborene André Brie wuchs transatlantische Bündnis zu somit als Diplomatenkind in China schwächen sowie die NATO zu über- und Nordkorea auf, machte 1968 in winden. Letzteres wird bei Brie durch Berlin sein und diente bei der die Adjektive „entmilitarisiert“ und NVA. Anschließend studierte er am In- „kooperativ“ angedeutet. stitut für Internationale Beziehungen der Akademie für Staat und Recht in Aber im Februar 1990 war dieses Potsdam-Babelsberg, sein Studien- außenpolitische Konzept zur Rettung schwerpunkt war die Außenpolitik. In der DDR hinfällig. Die Partei hielt sich seiner Dissertation beschäftigte er sich in ihrer Wahlkampfstrategie und mit Fragen der Sicherheitspolitik der Selbstdarstellung an den Rat von Brie, Bundesrepublik und Problemen des sie nannte sich fortan nur noch PDS, militärischen Gleichgewichts in Euro- stilisierte sich als Partei der Opposition pa. 1981 erhielt Brie ein UNO-Stipendi- gegen die westdeutsche Vereinigungs- um, um über Abrüstungsfragen zu ar- politik und trat als Interessenwahrer beiten. Von 1976 bis 1990 war er Mit- der Ostdeutschen auf. Der Erfolg gab arbeiter am Institut für internationale Brie Recht, bei den Volkskammerwah- Beziehungen. 1985 und 1986 gehörte len am 18. März 1990 erreichte die PDS er der DDR-Delegation bei der Genfer DDR-weit 16,3% aller Stimmen und Abrüstungskonferenz an. Mitglied der zog mit 66 Abgeordneten in das Parla- SED wurde Brie 1969.17 Schon diese ment ein. Die PDS hatte mit André Brie knappen Daten aus dieser „ostdeut- einen Wahlkampfmanager, der Kon- schen Biographie“ zeigen, der Horizont stellationen zu analysieren und kon- von Brie war nicht durch die Mauer be- zeptionell zu denken versteht. Sein Le- grenzt, er hatte China und Nordkorea benslauf ist geeignet, um uns eine Vor- erlebt und die DDR im Westen vertre- stellung von der Qualifikation der ten. Brie wurde Mitglied des Parteivor- Kader aus der dritten Reihe der No- standes und leitet bis heute das zentra- menklaturkader zu geben, auf die le Wahlbüro der PDS. Das Wahlbüro ist Modrow setzte und die nach dem Ende ein Arbeitsgremium des Parteivorstan- der totalitären Staatspartei die Ge- des und der Landesverbände, die eige- schichte des deutschen Kommunis- ne Wahlbüros unterhalten. Das zentra- mus in Gestalt der PDS fortführten. le Wahlbüro muß als organisatorischer und strategischer Kernbereich in der Der Vater von André und Michael Brie Parteiführung gewertet werden. ist Horst Brie, er emigrierte 1933 nach England, war dort einer der Mitbe- Brie versucht seit 1989, die SED/PDS in gründer der Freien Deutschen Jugend einer tendenziell noch immer feindse- 46 Manfred Wilke ligen Gesellschaft politikfähig zu ma- vierzehn bezirklichen Rechtsanwalts- chen. Das führt immer wieder zu Kon- kollegien der DDR vor. Die Kollegien flikten innerhalb der eigenen Partei waren „die sozialistische Form der Or- mit den kommunistischen „Heimat- ganisation der Arbeit der Rechtsanwäl- vertriebenen“18 aus den alten Struktu- te“.20 Der Einzelanwalt war in der DDR ren vergangener totalitärer Staats- ein begründeter Einzelfall. „1988, also macht der SED. Er fordert eine politi- in der Endzeit der DDR, waren von 606 sche Konzeption, die die politische Anwälten 580 Mitglieder eines Kollegi- Wirklichkeit in Europa und im verein- ums - mithin waren noch 26 als Einzel- ten Deutschland zur Kenntnis nimmt. anwälte tätig, Rechtsanwalt Wolfgang Nach seiner Überzeugung muß die PDS Vogel zum Beispiel, der ein Vierteljahr- als parlamentarische Partei agieren, hundert ein Mandat der DDR-Regie- um das politische Kräfteverhältnis in rung in Sachen Häftlingsfreikauf inne Deutschland zu beeinflussen. Dabei hatte, und der als Inoffizieller Mitar- vertritt er nach wie vor einen klaren beiter des MfS enttarnte Rechtsanwalt politischen Machtanspruch, wie er es Wolfgang Schnur.“21 Das Amt des Vor- als Nomenklaturkader der SED gelernt sitzenden des Ost-Berliner Anwaltskol- hat. Sein Ziel ist die geistige und politi- legiums war somit eine Schlüsselfunk- sche Hegemonie der Linken unter Ein- tion für die parteiliche Organisation schluß der PDS in der Bundesrepublik. der Rechtsanwälte in der DDR, sein In- „Er will die ‘kulturelle Hegemonie der haber hielt die Kontakte zur Abteilung Konservativen brechen’, sich also mit Staats- und Rechtsfragen im Zentralko- der bundesdeutschen Gesellschaft ein- mitee der SED und zum Ministerium lassen, um sie demokratisch umzubau- der Justiz. Genau diese Schlüsselfunkti- en. Dafür braucht es ein breites Bünd- on hatte Gysi inne. nis, inklusive Sozialdemokraten und Grüne.“19 Öffentlich bekannt wurde Gregor Gysi im November 1989. Nach seinem Ein- 1989 war Brie in der SED ein wissen- tritt in den Arbeitsausschuß der SED schaftlicher Spezialist für Außen- und portraitierte ihn Peter Jochen Winters Sicherheitspolitik, der aber bereits vor in der Frankfurter Allgemeinen Zei- dem Fall der Mauer bezogen auf den tung. Das von Winters entworfene Por- Westen bündnispolitisch denken trait des „Reformers Gysi“ prägte mußte. Im Gegensatz zu Brie standen fortan dessen Erscheinungsbild in den der Justizkader Gregor Gysi und der westlichen Medien. „Für eine Erneue- Kulturfunktionär Lothar Bisky bereits rung des Rechtswesens in der DDR hat in der zweiten Reihe. sich Gysi ... nicht erst in den letzten Wochen stark gemacht. Doch seit der ‘Wende’ hat sein Wort an Gewicht ge- 4. Gregor Gysi und die Oppositi- wonnen. Unermüdlich plädiert er für onspartei PDS die Änderung der Verfassung, damit die Grund- und Menschenrechte stär- Der Rechtsanwalt Dr. Gregor Gysi war ker zur Geltung gebracht werden; die 1989 Vorsitzender des Ost-Berliner An- Einrichtung eines Verfassungsgerichts- waltskollegiums, und in dieser Funkti- hofs; die Reduzierung des Strafrechts on saß er dem Rat der Vorsitzenden der auf wirklich kriminelles Verhalten; für Die Diktaturkader André Brie, Gregor Gysi, Lothar Bisky und das MfS 47

Gesetze zur Gewährleistung höherer Was nun Gysis Verdienste um den Rechtssicherheit hinsichtlich der Rechtsstaat in der DDR vor dem Fall Tätigkeit von Volkspolizei und Staats- der Mauer angeht, so war dem Berliner sicherheit und nicht zuletzt für wirk- FAZ-Korrespondenten für die DDR be- lich freie Wahlen. Auf der großen De- kannt, daß Gysi Robert Havemann, monstration am 4. November in Ost- Rudolf Bahro und Bärbel Bohley als Berlin, zu der mehr als eine halbe Mil- Mandanten vertreten hatte. lion Menschen kamen, war Gysi einer Grundsätzlich konnten die Mandan- jener Redner auf dem Alexanderplatz, ten in der DDR ihre Rechtsanwälte frei die ein neues Versammlungs-, Vereini- wählen, aber im Regelfall bestand an- gungs- und Demonstrationsrecht gesichts der vergleichsweise wenigen sowie Pressefreiheit forderten. Als der Rechtsanwälte, die es überhaupt gab, alte Innenminister Dickel seinen Ent- nur eine enge Auswahl. Das galt be- wurf des Reisegesetzes präsentierte, da sonders für den Strafverteidiger in po- war es Gysi, der öffentlich die schärfste litischen Verfahren, hier gab es in der Kritik erhob und zusammen mit sei- DDR keine Unabhängigkeit des An- nen Rechtsanwaltskollegen einen walts, er mußte ebenso wie der Staats- rechtsstaatlichen Alternativentwurf anwalt und der Richter als zuverlässi- vorlegte. Wenn man ihn reden hört, ger Justizkader des sozialistischen Staa- glaubt man, einem westlich geschul- tes funktionieren. ten Anwalt zuzuhören, der in einem Rechtsstaat aufgewachsen ist und des- Nach der internationalen Anerken- sen Strukturen verinnerlicht hat.“ 22 In nung der DDR und der Unterzeich- dieser journalistischen Momentauf- nung der KSZE-Schlußakte von Helsin- nahme - geschrieben, als Gysi im Ar- ki 1975 verstärkte die DDR ihre beitsausschuß die Parteigeschäfte der Bemühungen, bei der politischen Ver- SED in die Hand nahm - wird sichtbar, folgung der Opposition ein rechts- wie notwendig die SED zu dieser Zeit staatliches Verfahren vorzutäuschen. Kader brauchte, die öffentlich argu- Das ging nicht ohne eine anwalt- mentieren können, Anerkennung fin- schaftliche Verteidigung der Angeklag- den und in der Lage waren, auf verän- ten vor Gericht. „Selbst im MfS begrif- derte Situationen neue Antworten zu fen die führenden Köpfe, wie politisch finden. Auffällig ist, daß Winters Gysi nützlich, weil dem Image des ‘soziali- als einen Anwalt des Rechtsstaates vor- stischen Rechtsstaates’ zuträglich, die stellte und besonders sein Eintreten für Mitwirkung eines Verteidigers im die Demonstrations- und Versamm- Strafprozeß sein konnte, wenn er nur lungsfreiheit am 4. November hervor- fortschrittlich gesinnt war. Häufig hob. In diesen anerkennenden Worten waren das Rechtsanwälte, die auf Emp- gingen die eigentlichen Akteure in Leip- fehlung des MfS zu ihrem Mandat ge- zig, Pirna und anderen Städten bereits kommen waren.“ 23 Bei dieser struktu- vollständig unter, die diese Demon- rellen Einbindung der Rechtsanwälte strations- und Versammlungsfreiheit in den Justizapparat des SED-Staates in der DDR erkämpften. Zur Nebensa- verwundert es nicht, daß es auch che wird in diesem Portrait, daß Gysi Rechtsanwälte gab, „auf die sich die noch im Dezember 1989 am MfS als In- Staatssicherheit verlassen konnte, stitution festhielt. ohne daß sie zu Inoffiziellen Mitarbei- 48 Manfred Wilke tern verkommen waren. Sie wurden als auf Gysi: „Wer bestimmte politische Strafverteidiger geschätzt und geför- Strafprozesse in der DDR daraufhin un- dert, weil ihre politische Nützlichkeit tersucht, welche Rechtsanwälte zu Of- erkannt worden war. ... Und kein ge- fizialverteidigern bestimmt wurden, ringerer als Erich Mielke, der Minister der stößt auf Namen, die sich häufig für Staatssicherheit höchstpersönlich, wiederholen. Tut ihnen Unrecht, wer äußerte in einem Referat vor Untersu- sie als Vertrauensanwälte der Staatssi- chungsführern des MfS, die offenbar cherheit charakterisiert?“ 26 ihre Anwaltsfeindlichkeit noch nicht überwunden hatten, die Auffassung: All diese strukturellen Zusammenhän- ‘Die Institution der Verteidigung ist ge über die Rechtsanwälte als Justizka- doch eine Waffe für uns zur Festigung der der SED blieben im Dezember 1989 der sozialistischen Gesetzlichkeit’. Das der Leserschaft der FAZ verborgen. Recht auf Verteidigung war aus der Peter Jochen Winters behauptete statt- Sicht des MfS eine Frage der politi- dessen, Gysi habe sich „nicht erst in schen Zweckmäßigkeit.“ 24 den letzten Wochen ... für eine Er- neuerung des Rechtswesens in der Karl Wilhelm Fricke illustriert das ap- DDR ... stark gemacht“. Einmal mit parative Zusammenspiel von Staatssi- dem Image als engagierter Verteidiger cherheit, Staatsanwaltschaft und Ge- Havemanns, Bahros und Bohleys aus- richt am Beispiel von Robert Have- gestattet, glaubte man diesem Nomen- mann, der am 20. Juni 1979 vom Kreis- klaturkader aus der zweiten Reihe der gericht Fürstenwalde unter der Be- SED auch seine neuen Rollen als Par- schuldigung eines Devisenvergehens teivorsitzender einer gewandelten zu einer hohen Geldstrafe verurteilt SED-PDS und sozialistischer Oppositi- wurde. Hintergrund des Verfahrens onsführer in der Volkskammer sowie waren ungenehmigte Publikationen im Bundestag. Havemanns im Westen. „Der Wahl- verteidiger, den sich der Angeklagte in Die Namensänderung der SED-PDS der Person des Madrider Rechtsanwalts Anfang Februar 1990, ab sofort führte Enrique Gimbernat ausgesucht hatte, sie allein den Namen PDS, war verbun- wurde ihm aus formalen Gründen ver- den mit der Annahme einer neuen weigert. Havemann hatte sich für den Rolle als Oppositionspartei in der spanischen Juristen entschieden, Volkskammer der noch bestehenden nachdem drei Jahre zuvor sein Anwalt DDR. Nachdem ihr Vorhaben der „Er- Götz Berger, ... aus dem Ost-Berliner neuerung der DDR“ gescheitert war, Anwaltskollegium ausgeschlossen und mauserte sie sich zum selbsternannten mit Berufsverbot belegt worden war. Anwalt der DDR-Interessen im Vereini- Statt dessen wurde Robert Havemann gungsprozeß. Selbstkritisch räumte durch Gerichtsbeschluß einen Tag vor Gysi ein, daß er und die neue SED- der Urteilsverkündung Rechtsanwalt Führung im Dezember 1989 bei der Re- Gysi als Pflichtverteidiger beigeord- form der Partei einer doppelten Fehl- net.“ 25 Das grundsätzliche Resümee, einschätzung unterlagen: Der Eini- das Karl Wilhelm Fricke über die gungswille der Mehrheit der Bevölke- Rechtsanwälte in politischen Strafpro- rung wurde unter- und die „Stärke der zessen der DDR zieht, bezieht er auch sowjetischen Position“ überschätzt.27 Die Diktaturkader André Brie, Gregor Gysi, Lothar Bisky und das MfS 49

Die angemaßte Vertretung ostdeut- bindet und der PDS ihre Zukunft als scher Interessen durch die PDS setzte ostdeutsche Regionalpartei mit ge- eine Bewertung des Verhältnisses von samtdeutschem Anspruch garantieren totalitärer Staatspartei SED und ihrem sollte. Staatsvolk voraus. Der eigenen Klientel zugewandt, behauptete Gysi nun mit- Mit der Erfindung der „ostdeutschen ten im Vereinigungsprozeß, als es um Identität“, in die die PDS das DDR- die Auflösung der DDR ging, daß es Staatsbewußtsein der SED-Kader trans- über „weite Strecken der Geschichte formierte, setzte sie zugleich einen der DDR eine Grundakzeptanz dieser Kontrapunkt gegen die westlich ge- Partei und dieses Staates gab.“ Diese prägte Vereinigungspolitik und setzte Akzeptanz sei nicht unberechtigt ge- in modifizierter Form die Spaltungspo- wesen: „Für mich gab es wichtige litik der SED fort. Es sind viele Gründe, Punkte, die mein ganzes Engagement die es der PDS in den letzten Jahren er- auf dies Land fixierten. Dazu gehörte, laubten, sich in Thüringen, Sachsen- daß man immer das Gefühl hatte, in Anhalt, Sachsen, Mecklenburg-Vor- dem Deutschland zu leben, das zumin- pommern, Brandenburg und dem Ost- dest im Vergleich mit dem anderen teil von Berlin als größte Oppositions- eine aktivere Friedens- und auch Abrü- partei zu behaupten. Aber ohne den stungspolitik betrieb; auch das Gefühl, politischen Machtwillen, der bei Ka- in dem Deutschland zu leben, in dem dern wie Brie, Gysi und Bisky ungebro- die Produktionsmittel vergesellschaf- chen ist, wäre ihr Erfolg nicht möglich tet sind, so daß bei allen Schwächen gewesen. Der Lebenslauf von Gregor doch bessere Ausgangsbedingungen Gysi zeigt aber auch die Kontinuität zur Lösung zukünftiger Fragen gege- kommunistischer Milieus in der deut- ben sind. Und man lebte in der Tat in schen Gesellschaft. dem Deutschland, in dem zumindest das finanzielle Bildungs-, Kultur- und Der 1948 in Berlin geborene Gregor Sportprivileg gebrochen war, was auch Gysi stammt wie André Brie aus einer eine gewisse Werteverschiebung zu- kommunistischen Familie. Sein Vater, gunsten solcher qualitativen Lebens- Klaus Gysi, trat 1931 in die KPD ein. faktoren hervorbrachte. Und die Nach dem Krieg arbeitete er im Kultur- immer wieder erfahrene Bestätigung, bund, war von 1952 bis 1957 Abtei- in einer Gemeinschaft zu leben, in der lungsleiter im Verlag „Volk und Wis- die sozialen Unterschiede doch zusam- sen“, um danach bis 1966 den Aufbau- mengeschmolzen waren.“ 28 Verlag zu leiten. Er war Nachfolger des 1956 verhafteten Walter Janka. 1966 Mit der versuchten Verschiebung des wurde Klaus Gysi Kulturminister, die- DDR-Bildes von der SED-Diktatur zur ses Amt übte er bis 1973 aus, danach behüteten und bevormundeten Gesell- war er der erste Botschafter der DDR in schaft mit gesicherten Arbeitsplätzen Rom. 1979 wurde Klaus Gysi wieder und gebrochenen bürgerlichen Bil- auf einen für die Innen- und Kulturpo- dungsprivilegien konstruierte Gysi litik der DDR wichtige Regierungsposi- jene sozialistisch fundierte „Ostiden- tion berufen: Er wurde Staatssekretär tität“, die die Lebensgeschichte der für Kirchenfragen und übte dieses Amt DDR-Bewohner mit der der SED ver- bis zu seiner Pensionierung 1988 aus. 50 Manfred Wilke

Sein Sohn Gregor besuchte 1962 bis halt tolerierte die PDS die Minderheits- 1966 die Erweiterte Oberschule, absol- regierung des sozialdemokratischen vierte nach seinem Abitur eine „Aus- Ministerpräsidenten Reinhard Höpp- bildung zum Facharbeiter für Rinder- ner, die dieser mit Bündnis 90/Grüne zucht“, um danach an der Berliner bildete. Somit war sie bereits fünf Jahre Humboldt-Universität Jura zu studie- nach dem Sturz der SED-Diktatur in ren. 1967 wurde er Mitglied der SED.29 einem ostdeutschen Bundesland an 1990 gelang der PDS bei den ersten ge- der Regierungsverantwortung betei- samtdeutschen Bundestagswahlen der ligt. Vier Jahre später brüstete sich Gysi Einzug in das Parlament mit 17 Abge- mit dem Einfluß seiner Partei auf die ordneten. Gysi gewann in Berlin-Hel- Landespolitik in Sachsen-Anhalt. Er lersdorf/Marzahn das einzige Direkt- behauptete: „Fast alles, was Minister- mandat für seine Partei und übernahm präsident Höppner heute als Erfolg sei- den Vorsitz der Bundestagsgruppe. Im ner Landesregierung preist, kam gegen Januar 1991 wurde er mit großer Mehr- seinen Willen und auf Druck der PDS heit als Parteivorsitzender wiederge- zustande.“ 30 Für das gesamtdeutsche wählt, dieses Amt hatte er bis zum drit- Parteiensystem bedeutete Magdeburg ten Parteitag der PDS im Januar 1993 1994 einen wichtigen Einschnitt. Der inne. Im Bundestag bleibt er Vorsit- Konsens der demokratischen Parteien zender der Bundestagsgruppe. Gysi der alten Bundesrepublik - niemals mit konsolidiert die PDS als Opposition Unterstützung einer extremistischen und vertritt sie eloquent und schlag- bzw. antidemokratischen Partei eine fertig in den Medien und der Öffent- Regierung zu bilden - wurde von der lichkeit. SPD durchbrochen. Höppner setzte in Sachsen-Anhalt auf das Konzept einer ostdeutschen Eigenentwicklung, die - 5. Lothar Bisky, der Stolpe- gestützt auf die „Schicksalsgemein- Untersuchungsausschuß schaft“ DDR - die gewendeten Dikta- und der Weg zurück zur turkader der SED als Partner in demo- Regierungsmacht im Osten kratischen Landesregierungen einbe- ziehen sollte. Lothar Bisky wurde 1993 auf dem drit- ten Parteitag zum Parteivorsitzenden Realistischerweise kann die PDS auch gewählt. Wie Gysi gehörte er 1989 als in den neuen Ländern noch nicht mit Rektor der Hochschule für Film und Mehrheiten bei Landtagswahlen rech- Fernsehen der DDR in Potsdam-Babels- nen, sie kann nur in Koalitionsregie- berg und als Vizepräsident des Verban- rungen mit den Sozialdemokraten Re- des der Film- und Fernsehschaffenden gierungsverantwortung erlangen. Um- dem Arbeitsausschuß der SED an. 1990 gekehrt braucht die SPD nach dem Ab- wurde er Fraktionsvorsitzender der sinken der Bündnisgrünen in die par- PDS im Landtag von Brandenburg, von lamentarische Nichtexistenz die PDS, 1991 bis 1993 war er außerdem Lan- um in den ostdeutschen Ländern Ko- desvorsitzender. Aus den Landtags- alitionsregierungen ohne die CDU zu wahlen 1994 ging die PDS in den bilden. In beiden Parteien kam es vor neuen Ländern durchgängig als dritt- und nach Magdeburg zu Diskussionen stärkste Partei hervor. In Sachsen-An- über die Formen, in denen eine Zu- Die Diktaturkader André Brie, Gregor Gysi, Lothar Bisky und das MfS 51 sammenarbeit zwischen beiden Partei- Regierungsämtern begann aber bereits en stattfinden soll. So wurde Ende 1992 in Brandenburg und ist mit dem 1996 ein Thesenpapier aus den Lan- Namen von Bisky verbunden. Damals desverbänden der SPD im Osten be- setzte der Landtag von Brandenburg kannt, das bei einem Treffen mit dem einen Untersuchungsausschuß ein, stellvertretenden Bundesvorsitzenden um die MfS-Verstrickungen des Konsi- der SPD, Wolfgang Thierse, diskutiert storialpräsidenten im Wartestand, wurde. In diesem Papier ging es um Dr.h.c. Manfred Stolpe, Ministerpräsi- eine Zusammenarbeit der SPD mit der dent des Landes Brandenburg, zu über- PDS in den ostdeutschen Bundeslän- prüfen. Vorsitzender des Untersu- dern bei entsprechenden Wahlergeb- chungsausschusses wurde der Frakti- nissen. „Die SPD könne - wie es wört- onsvorsitzende der PDS. Stolpe war lich im Papier heißt - einer ‘Zusam- zum damaligen Zeitpunkt der einzige menarbeit mit der PDS im Osten nicht sozialdemokratische Ministerpräsident ausweichen’. Konkrete Aussagen über in den neuen Ländern. Er führte eine Koalitionen und Bündnisse sollten je- „Ampel-Koalition“ aus SPD, FDP und doch erst nach dem Vorliegen konkre- Bündnis 90/Die Grünen. In diesem ter Wahlergebnisse gemacht werden, Untersuchungsausschuß war die SPD Festlegungen in der Öffentlichkeit ge- auf die kritische Solidarität der PDS an- nerell aus wahltaktischen Gründen bis gewiesen, als sie sich entschloß, trotz 1998 vermieden werden. Wörtlich aller Aktenfunde über die engen MfS- heißt es: ‘Alle vorhergehenden festle- Kontakte von Stolpe an ihm als Mini- genden Äußerungen schaden eher und sterpräsidenten festzuhalten. sollten sich vielmehr durch eine Flexi- bilität auszeichnen, die zwei Fehler Um diese Entscheidung zu verstehen, vermeidet: daß wir durch frühe Festle- ist eine Rückblende auf die Rolle von gung den jeweils anderen Teil unserer Stolpe vor dem Fall der Mauer notwen- potentiellen Wähler und Wählerinnen dig, die Günter Nooke überzeugend abschrecken, die von uns eine genau beschrieben hat: „Ende der achtziger entgegengesetzte Festlegung erwarten Jahre stand der Kirchenjurist Manfred würden; daß wir durch vorzeitige Fest- Stolpe an der ‘politischen’ Spitze der legungen unsere späteren Handlungs- evangelischen Kirche in der DDR. Er optionen einengen’. Dies bedeutet: war die Autorität in dieser einzigen, Das Ziel ist klar, aber in der Öffentlich- politisch relevanten Struktur, die zu keit soll darüber nicht gesprochen wer- DDR-Zeiten nicht korrumpiert war den!“ 31 Allein der sächsische Landes- und durch den Herbst ‘89 sogar noch vorsitzende der SPD, Karl-Heinz Kun- aufgewertet wurde. Er hatte schon, kel, verweigerte dieser Taktik seine Zu- bevor er als Ministerpräsident gewählt stimmung. wurde, politische und Medienerfah- rung in Ost und West gesammelt, er Nur wenige Wochen später schloß die verstand sich mit West-Journalisten PDS auf ihrem Schweriner Parteitag genauso gut wie mit der SED-Nomen- 1997 eine Beteiligung der Partei an Re- klatur. Es kann hier nicht deutlicher gierungen in Ländern und Bund nicht ausgeführt werden, aber in Manfred mehr aus.32 Stolpe vereinten sich meines Erachtens Der Weg zurück an die Schwelle von wie in keiner anderen Person sowohl 52 Manfred Wilke

Amtsautorität im Sinne von Zustän- kommen, die das ARD-Fernsehmaga- digkeit, funktionale Autorität, also zin Report aus München plante, räum- Sachkompetenz, und personale, cha- te Stolpe im Spiegel ein, „seit Ende der rismatische Autorität - all das verkör- 60er Jahre im Auftrag der Kirche und in perte er zu DDR-Zeiten, und all das deren Interesse ‘umfangreiche Kontak- wurde ihm auch jetzt zugeschrieben. te zum MfS gehabt zu haben’. Er habe Diese Wahrnehmung wurde in die ost- den SED-Staat mit dessen eigenen deutsche Bevölkerung schon vor der Machtmitteln ‘überlisten’ und ‘politi- Wende und während des Vereini- sche Ziele gezielt auch über den gungsprozesses über Westmedien und Umweg über die Staatssicherheit’ errei- westdeutsche Politiker, die über hohe chen wollen.“ 37 Autorität in der DDR verfügten, zurückgekoppelt.“ 33 Zu diesem Zeitpunkt war die nationale Euphorie über die deutsche Vereini- Bereits 1990 existierte im damaligen gung im Osten vorüber. Mit der Wirt- Ministerium für innerdeutsche Bezie- schafts-, Sozial- und Währungsunion hungen eine Materialsammlung über mit der Bundesrepublik im Sommer Stolpe, die ihm vorwarf, „er habe ge- 1990 wurde noch vor der Vereinigung meinsam mit anderen Kirchenmän- von heute auf morgen das ganze Wirt- nern wie den Bischöfen Christoph schafts-, Sozial- und Rechtssystem aus- Demke und Gottfried Forck das alte Sy- gewechselt, wie es zuvor schon mit der stem der DDR ‘nicht generell verur- politischen Ordnung geschah. Die Ost- teilt’. Er habe früher ‘ohne Not’ immer deutschen mußten die Sorgen eines wieder betont, daß ein besserer Sozia- neuen Alltags - der über Nacht eine lismus möglich und wünschenswert völlige Veränderung von Lebensper- sei.“ 34 Das Papier wurde im Vorfeld des spektiven, den Verlust von sicher ge- brandenburgischen Landtagswahl- glaubten Arbeitsplätzen, die Entwer- kampfes bekannt und „mit Empörung tung erworbener Qualifikationen und aufgenommen. Stolpe selbst sprach ge- von Erfahrungs- und Orientierungs- genüber dem Berliner Tagesspiegel von wissen mit sich brachte - verkraften. einer ‘schamlosen Zusammenstellung Hinter den Problemen der ökonomi- von Verleumdungen’.“ 35 Die öffentli- schen und sozialen Transformation che Diskussion zwang den Staatsse- verschwand im Osten der Zorn über kretär im innerdeutschen Ministeri- das vergangene Unrecht der SED und um, Walter Priesnitz, zum öffentlichen wuchs in vielen Fällen auch der über Rückzug. Er erklärte, „es handele sich westdeutsche Beutemacher und Igno- um eine Arbeit, die nicht in Auftrag ge- ranten, zumal die Deutschen im We- geben worden sei. ‘Sowohl die Anferti- sten von den Folgen der Einheit nur gung des Papiers als auch der Inhalt wenig berührt waren. würden mißbilligt’. Die Folgen hatte die Referentin zu tragen.“ 36 Die Geschichte der SED-Diktatur, vor allem die quälende Stasi-Diskussion Eineinhalb Jahre später änderte sich und die Frage, wie der Rechtsstaat mit das Bild. Um der Veröffentlichung der den Tätern der zweiten deutschen Dik- ihn belastenden Dokumente aus den tatur umgehen sollte, schienen nur die Aktenbeständen des MfS zuvor zu neuen Bundesbürger anzugehen. Die Die Diktaturkader André Brie, Gregor Gysi, Lothar Bisky und das MfS 53 voyeuristisch geführte Debatte über ten. Ab diesem Zeitpunkt ging es im die MfS-Verstrickungen von einigen Fall Stolpe nicht mehr um die histori- zehntausend früheren Staatsbürgern sche Wahrheit, sondern um politische der DDR stand unter dem Motto: Es ge- Macht. Nooke hat auch diese emotio- schah in der DDR, aber nicht in nale Reaktion vieler Menschen in den Deutschland. Es wurde offenkundig neuen Ländern festgehalten: „Mit der und spürbar: Nach vierzig Jahren der Wende waren zwar die SED-Machtha- Teilung muß das deutsche Volk sich als ber gestürzt worden. Aber es kann sich Nation erst wiederfinden; ein gesamt- doch keiner von den alten westdeut- deutsches Geschichtsbild der Teilung schen ‘Revanchisten aus der Ecke eines von 1945 bis 1990 existierte noch Franz-Josef Strauß’ anmaßen, uns Ost- nicht einmal in Umrissen. In dieser Si- deutschen vorzuschreiben, wer in der tuation 1992 wurde verstärkt nicht das neuen Demokratie unser Vertrauen Einende der Deutschen wahrgenom- verdient.“ 40 men, sondern sie bemerkten wechsel- seitig ihre Unterschiede. Doch die Vorwürfe gegen den bran- denburgischen Ministerpräsidenten Nooke: „Die Menschen in der ehema- waren öffentlich und mußten geklärt ligen DDR hatten weit mehr andere Le- werden. Im Abwehrkampf gegen diese bensgewohnheiten entwickelt, als sie „westlichen Zumutungen“ etablierte sich selbst und anderen eingestehen sich erstmals eine ostdeutsche „Schick- wollten. Sie erkannten sich allein an salsgemeinschaft“, in die notwendiger- der Sprache. In vierzig Jahren DDR ent- weise auch die PDS einbezogen werden standen andere, eigene Identifikati- mußte. Am Stolpe-Untersuchungsaus- onsfiguren, die gerade ins öffentliche schuß läßt sich das Netzwerk der Kräf- Bewußtsein zurückkehrten. Es ist diese te zeigen, die die PDS nutzen konnte, emotionale Befindlichkeit, die in Man- um wieder regierungsfähig zu werden. fred Stolpe ihre Symbol- und Leitfigur Nooke, damals Koalitionspartner von schlechthin findet. Auf dem emanzi- Stolpe, erinnert sich, daß es diesem patorischen Weg in eine demokrati- zunächst um Zeitgewinn ging: sche Gesellschaft geschieht der Rück- fall in die ostdeutsche Schicksalsge- „Die ‘Verschleppungsidee’ eines Un- meinschaft.“ 38 tersuchungsausschusses hatte intern, als erste Vorwürfe gegen Manfred Stol- Diese Schicksalsgemeinschaft wurde pe schon 1991 laut wurden, der ehe- für Stolpe mobilisiert, als der Modera- malige Leiter der Ständigen Vertretung tor von Report und Fernsehchef des der Bundesrepublik Deutschland in Bayerischen Rundfunks, Heinz-Klaus der DDR, der Brandenburger Justizmi- Mertes, in einem journalistischen nister Bräutigam. Parlamentarisch Kommentar in seiner Sendung dem wurde sie vom damaligen CDU-Frakti- life zugeschalteten brandenburgischen onsvorsitzenden Peter-Michael Diestel Ministerpräsidenten das bevorstehen- in die Diskussion gebracht. Vorgeses- de Ende seiner Amtszeit prophezeite.39 sen hat diesem Untersuchungsaus- Der Großteil der Brandenburger stand schuß der PDS-Landesvorsitzende Lo- nach dieser Münchener Provokation thar Bisky, weil die PDS demokratisch solidarisch zu ihrem Ministerpräsiden- an der Reihe war - welche Naivität von 54 Manfred Wilke uns. Diese Namen sind entscheidend und Politiker“ gerechtfertigt, „die, für eine die bundesweite Öffentlich- selbst als Gorbatschow schon regierte, keit bestimmende Debatte zu Stasi, lieber mit der SED Termine verabrede- Staat-Kirche-Verhältnis und DDR-Ver- ten, als sich auch für die Ansichten der gangenheit. Ohne daß Absprachen Opposition zu interessieren“.43 nötig gewesen wären, ergänzen sich die einzelnen Interessenlagen. Ver- 1994 beendete der Untersuchungsaus- ständlicherweise kämpft Manfred Stol- schuß des Landtages von Brandenburg pe in seinem eigenen Interesse und für seine Arbeit. Die Mehrheit, bestehend so manchen Oberkirchenrat und Bi- aus SPD, FDP und PDS, sprach Stolpe schof.41 Schließlich entzieht sich sein von dem Vorwurf frei, daß er sich „ge- Fall ja wirklich allen herkömmlichen genüber dem MfS schriftlich oder in Klischees und verdient eine differen- anderer Form ausdrücklich zur Mitar- zierte Beurteilung. Da die Brandenbur- beit verpflichtete“.44 Erhard Neubert, ger hinter ihm stehen, sieht auch seine der für die Fraktion Bündnis 90 im Partei, die SPD - Verantwortung hin, Landtag Brandenburg das Minderhei- Verantwortung her - keinen Grund, tengutachten erstellte, kam zu einem kritische Stimmen zuzulassen. Der anderen Schluß: „Der Hergang der letzte Innenminister der DDR, Peter- Werbung Stolpes als IM kann wegen Michael Diestel, steht wie damals zu der Vernichtung der IM-Akte nicht seinen Leuten und jetzigen Mandan- mehr vollständig aufgeklärt werden. In ten. Prof. Bisky, zu DDR-Zeiten an der jedem Fall aber muß als gesichert gel- Babelsberger Filmhochschule, weiß, ten, daß das MfS die Vereinbarung mit wenn Stolpe bleibt, bleiben meine Par- Stolpe als Werbung betrachten konn- tei und die Genossen. Als Partei konn- te. Von nun an hat Stolpe dauerhafte te nur die PDS die neu konstituierte MfS-Kontakte und erfüllt bis 1990 ostdeutsche Schicksalsgemeinschaft auch die wichtigste Anforderung an und die Gefühle von Larmoyanz und einen IM: die Einhaltung der Konspi- vermeintlicher Benachteiligung, der ration.“45 Bitter resümiert Günter ‘Erniedrigung’, durch die ‘bösen West- Nooke: „Heute ist deutlich, von Bran- deutschen’, wahltaktisch nutzen und denburg ging ein Rechtfertigungskar- in Stimmengewinne ummünzen.“ 42 tell aus, das alle jene begünstigt, die an die Ewigkeit der DDR glaubten und Die erfolgreiche Konstruktion einer sich deshalb so verhielten, wie sie sich biographischen Ost- und damit ge- verhalten haben. Daß Freiheit, Demo- samtdeutschen Legende über die DDR- kratie, Rechtsstaatlichkeit und die wie- Zeit des brandenburgischen Minister- dererlangte Einheit der Nation einen präsidenten war nur möglich unter der unschätzbaren Wert haben, erreicht tätigen Mithilfe westdeutscher Journa- das öffentliche Bewußtsein dagegen listen und Politiker. Eine besondere Be- nicht mehr. Störende Akten und Fak- deutung scheint in diesem Bezie- ten werden nach Belieben uminterpre- hungsgeflecht der brandenburgische tiert. ... Wir erleben die Konstruktion Justizminister Bräutigam gespielt zu einer Wirklichkeit.“ 46 haben, werden doch mit der erfolgrei- chen Verteidigung von Stolpe zugleich Bisky operierte im Stolpe-Untersu- „die vielen westdeutschen Freunde chungsausschuß gegenüber der SPD Die Diktaturkader André Brie, Gregor Gysi, Lothar Bisky und das MfS 55 mit einer Doppelstrategie, der sich die 6. Die Stasi-Frage im Vereini- Sozialdemokraten nur bedingt entzie- gungsprozeß hen konnten, wollten sie einen Frei- spruch für Stolpe durchsetzen. Bisky In der friedlichen Revolution des Herb- war bereit zur Kooperation, ohne im stes 1989 in der DDR und in den De- Konfliktfall auf politischen Druck auf batten um die deutsche Vereinigung die Sozialdemokraten zu verzichten. 1990 standen das MfS und namentlich Regelmäßig hat der PDS-Vorsitzende seine Inoffiziellen Mitarbeiter im Mit- die Sozialdemokraten an seine Ver- telpunkt der öffentlichen Debatte. Die dienste im Stolpe-Untersuchungsaus- eigentlich Verantwortlichen für die schuß erinnert. Seine Funktion als Vor- Diktatur, die Nomenklaturkader der sitzender des Untersuchungsausschus- SED, blieben weitgehend unbeachtet. ses nutzte Bisky geschickt, um die poli- tische Ächtung der PDS aufzubrechen. Um diese mentale Reaktion nachzu- Dies war Voraussetzung für eine po- vollziehen, ist es notwendig, sich die tentielle Koalition der PDS mit Sozial- hypertrophe Dimension des Überwa- demokraten. chungsapparates des MfS vor Augen zu führen. 1989 hatte das Ministerium Bisky war für seine politische Funktion 91.000 Mitarbeiter, einschließlich der in diesem Untersuchungsausschuß Offiziere und Soldaten seines Wachre- ebenfalls gut vorbereitet. 1941 geboren, gimentes Felix E. Dzierzynski. Das studierte er in Leipzig Kulturwissen- Rückgrat der Überwachung der Gesell- schaften, promovierte dort 1969, war schaft bildeten ungefähr 13.000 MfS- Mitarbeiter am Zentralinstitut für Ju- Offiziere,48 die kurz vor dem Ende der gendforschung in Leipzig, wo er empiri- DDR ein verdeckt operierendes, kon- sche Untersuchungen über die Einstel- spirativ abgesichertes Informations- lungen von Jugendlichen in der DDR netz von ca. 170.000 Inoffiziellen Mit- durchführte. Von 1980 bis 1986 lehrte arbeitern (IM) und sonstigen Zuträ- er Kulturtheorie an der Akademie für gern führten. Sie sollten Gegner und Gesellschaftswissenschaften beim Zen- Feinde der SED unter den 17 Mio. Ein- tralkomitee der SED und war zudem als wohnern melden, ihre zwi- Honorarprofessor an der Berliner Hum- schenmenschlichen Beziehungen boldt-Universität beschäftigt. Schließ- „aufklären“ und gegebenenfalls „zer- lich wurde er 1986 als ordentlicher Pro- setzen“. fessor für Film- und Fernsehwissenschaft an die Hochschule für Film und Fernse- Die Bürgerbewegung der früheren hen Potsdam-Babelsberg berufen, deren DDR, die Mehrzahl der politischen Par- Rektor er bis 1990 war.47 Bisky gehörte teien und eine breite demokratische auch zu denjenigen Mitgliedern der Öffentlichkeit waren sich 1989/90 in Akademie für Gesellschaftswissenschaf- einem einig: Wer in der DDR Mitarbei- ten, die in die Gespräche mit der Grund- ter oder inoffizieller Zuträger des Mini- wertekommission der SPD einbezogen steriums für Staatssicherheit war, sollte wurden, die im Ergebnis zu der gemein- in einer demokratischen Republik samen Erklärung über den „Streit der weder ein Abgeordnetenmandat aus- Ideologien und die gemeinsame Sicher- üben dürfen, noch Mitarbeiter in ver- heit“ vom August 1987 führten. antwortlicher Position im öffentlichen 56 Manfred Wilke

Dienst sein. Aktensicherung und ihre Jagen aufrufen von diesem Tisch hier. Öffnung waren somit ein Akt der Also, ich halte das wirklich für völlig Selbstbefreiung von den diktatori- widersinnig’.“ 49 schen Strukturen, die nicht öffentlich erkennbar, aber für jeden, der in der Die systematische Aktenvernichtung DDR individuelle und selbstbestimmte im MfS begann bereits durch Mielke Wege gehen wollte, spürbar waren. Es im November 1989. Zunächst ging es war eine nachholende Transparenz um die Verwischung von Spuren, wie über die geheimdienstliche Struktur im Fall der Pläne zur Errichtung von der Diktatur, die jeglicher, auch ge- Internierungslagern für die Opposition tarnter, kommunistischer Restaurati- im Krisenfall. In der MfS-Spitze herr- onspolitik begegnen wollte, indem sie schte auch nach dem Rücktritt von die tatsächlichen Biographien der Mit- Mielke Einigkeit hinsichtlich „der wei- arbeiter des MfS im Konfliktfall offen- teren Vernichtung von belastendem legte. Gerade die Vertreter der sich neu Material. Die Mitarbeiter wurden auf- konstituierten Oppositionsgruppen im gefordert, diese Angelegenheit ‘sehr Herbst 1989 wußten aus eigener leid- klug und sehr unauffällig’ zu handha- voller Erfahrung, wie dicht das Netz ben, schließlich hätte es keinen Zweck, der Inoffiziellen Mitarbeiter des MfS ‘einen Haufen Papier mitzuschleppen, geknüpft war. Aber sie kannten selbst- der uns in der gegenwärtigen und redend die Spitzel in ihren Reihen künftigen Zeit nicht nützt’.“ 50 nicht. Die Aktenvernichtung bezog sich im „Spätere Enttarnungen offenbarten je- Zusammenhang mit der Auflösung des doch in nahezu allen Gruppen die Mit- Amtes auch auf den Schutz wichtiger wirkung von ‘Genossen des MfS’ in Inoffizieller Mitarbeiter des MfS, und führenden Positionen. Selbst am Run- es ist gewiß kein Zufall, daß zum Bei- den Tisch saßen mindestens fünfzehn spiel die IM-Personalakte von Stolpe Personen, die in irgendeiner Form mit nicht mehr existiert. dem alten Staatssicherheitsdienst zu- sammengearbeitet hatten. Selbst wenn Mit den Fragen der Aktensicherung des sie nicht mehr operativ tätig gewesen MfS und ihrer Öffnung für die Opfer, sein sollten, waren sie doch erpreßbar die historische Forschung und die Ju- und nur in engen Grenzen politisch stiz verbanden sich viele politische handlungsfähig. Ein Antrag von Mar- Probleme im Vereinigungsprozeß, auf tin Gutzeit auf Überprüfung der Teil- die hier kurz eingegangen werden nehmer des Runden Tisches auf MfS- muß. Im Frühjahr 1990 wurden ca. 178 Mitarbeit lehnte das Gremium gegen km laufende MfS-Akten vor der Ver- nur zwei (!) Stimmen ab, wobei neben nichtung gesichert. Die Frage, was mit dem Antragsteller noch sein Parteikol- ihnen geschehen soll, trat damals lege Ibrahim Böhme (IMF des MfS zurück hinter der Vorbereitung auf die ‘Paul Bonkarz’) dafür votierte. Der für erste freie Volkskammerwahl in der das Neue Forum an den Runden Tisch DDR, die im März 1990 stattfand. Die delegierte Reinhard Schult wies diesen Mehrheit der Abgeordneten in der Antrag mit den Worten zurück: ‘Wir Volkskammer war willens, die deutsche können ja nicht zum Stasi-Spitzel- Teilung durch den Beitritt der DDR Die Diktaturkader André Brie, Gregor Gysi, Lothar Bisky und das MfS 57 zur Bundesrepublik Deutschland zu wurde, kam es in der noch bestehen- beenden. den DDR zu heftigen Reaktionen. Bür- Der Verlauf der Debatte um den Um- gerrechtler besetzten Räume in der gang mit den MfS-Akten bei der Ver- früheren Zentrale des MfS in Berlin, handlung des Einigungsvertrages of- um die Öffnung der Akten für die be- fenbarte die Asymmetrie, die in beiden troffenen Opfer und die historische deutschen Gesellschaften und in der Forschung zu erzwingen. Die Volks- Politik hinsichtlich der eigenen Betrof- kammer beschloß, nicht zuletzt vor fenheit von der Geschichte der zwei- dem Hintergrund dieser Aktion, ein ten deutschen Diktatur bestand. Noch Gesetz, nach dem die Akten auch nach nie hatte ein Staat die Akten eines Ge- der Vereinigung auf dem Gebiet der heimdienstes freiwillig geöffnet, und DDR zu bleiben haben. Schließlich ei- viele verantwortliche Politiker aus der nigten sich die beiden Regierungen auf Bundesrepublik fürchteten, mit den eine Zusatzvereinbarung zum Eini- MfS-Akten würde eine Büchse der Pan- gungsvertrag. Der 1990 zu wählende dora geöffnet. erste gesamtdeutsche Bundestag sollte eine gesetzliche Regelung beschließen, An einem Randproblem entzündete die den betroffenen Opfern des MfS sich im Sommer 1990 der erste Streit ein Auskunftsrecht über den Inhalt der um den Umgang mit dem Erbe des von der Staatssicherheit über sie ange- MfS durch das vereinigte Deutsch- legten Akten einräumt und die politi- land. Zu entscheiden war die Frage: sche, historische und juristische Aufar- Sollen westliche Agenten der Haupt- beitung der Tätigkeit des MfS ermög- verwaltung Aufklärung des MfS der licht. DDR weiterhin in der Bundesrepublik wegen ihrer Agententätigkeit vor Ge- Am 20. Dezember 1991 wurde mit dem richt gestellt werden? Bundesinnen- Stasi-Unterlagen-Gesetz die „Bundes- minister Schäuble wollte eine Amne- oberbehörde des Beauftragten für die stie für diese „teilungsbedingten Unterlagen des Staatssicherheitsdien- Straftaten“, und der Bundesjustizmi- stes der ehemaligen DDR (BStU)“ mit nister legte auch einen entsprechen- Sitz in Berlin errichtet. Wichtigster den Gesetzesentwurf vor.51 Der Plan Zweck dieser Behörde, deren Grün- scheiterte, der Innenminister hatte die dung auf einen Beschluß der letzten Widerstände gegen eine solche Teil- DDR-Volkskammer zurückgeht, ist es, amnestie von Agenten unterschätzt. den Opfern der MfS-Repression und - Entscheidend für die Aktenöffnung Bespitzelung Akteneinsicht zu ge- war allerdings der Versuch von beiden währen und Beschäftigte im öffentli- deutschen Regierungen, im Einigungs- chen Dienst der neuen Länder und Ab- vertrag „eine restriktive Nutzung der geordnete in ihren Landtagen darauf- Stasi-Akten festzulegen“.52 Sie planten, hin zu überprüfen, ob sie inoffiziell für die Unterlagen des MfS dem westdeut- das Ministerium für Staatssicherheit schen Bundesarchiv zu überstellen, gearbeitet haben. um eine endgültige Regelung über die Modalitäten ihrer Öffnung dem ge- Heute wird der Akt der Selbstbefreiung samtdeutschen Gesetzgeber zu über- durch Akteneinsicht, der in der Öff- lassen. Als diese Absicht bekannt nung der Stasi-Akten für die betroffe- 58 Manfred Wilke nen Opfer lag, zunehmend auch im reaktiviert und die deutsche Politik Westen verstanden und anerkannt. daran erinnert, daß die Teilung des 1996 bekannte sich Bundeskanzler Landes eine direkte Folge des vom Helmut Kohl zu seinem Lernprozeß in Deutschen Reich 1939 vom Zaun ge- dieser Frage: „Wenn ich heute zurück- brochenen Zweiten Weltkrieges war. schaue, dann halte ich diese Entschei- Die Erinnerung an diese Epoche der dung von damals für richtig, wenn- deutschen Geschichte diente als Folie gleich ich zeitweise daran gezweifelt für Ängste vor der künftigen Politik habe, ich fürchtete, der ganze Unrat, eines neu entstehenden souveränen der da hochkommen würde, könnte deutschen Nationalstaates in der Mitte das Klima in Deutschland vergiften. Europas. Diese historische Debatte war Dies ist nicht eingetreten, weil es die für die Bundesregierung damals von Opfer verstanden haben, mit dieser weitaus größerer politischer Bedeu- düsteren Hinterlassenschaft verant- tung als die über die kommunistische wortungsbewußt umzugehen.“ 53 Diktatur auf deutschem Boden. Beson- ders gegenüber der Sowjetunion, die Das Zögern der Bundesregierung, der Auflösung der DDR zustimmen durch Öffnung der MfS- und SED- mußte, galt es seitens der Bundesregie- Akten eine schnelle öffentliche Aus- rung, Rücksicht zu nehmen auf deren einandersetzung um die zweite deut- Status als Siegermacht des Zweiten sche Diktatur herbeizuführen, hatte Weltkrieges, der die Voraussetzung für 1989/90 auch mit den langen Schatten die Stationierung sowjetischer Trup- der Hitler-Diktatur zu tun. Die Über- pen in Mitteleuropa schuf. Wenn auch windung der Teilung des Landes war die Einbeziehung eines vereinten damals Gegenstand der praktischen Deutschland in die NATO in der ame- Politik. Weder die Bundesregierung rikanischen Deutschlandpolitik nach noch die Parteien und auch nicht der dem Fall der Berliner Mauer oberste Bundestag hatten Zeit und Sinn für die Priorität besaß und das Weiße Haus die deutsche Teilungsgeschichte. War Wiedervereinigungspolitik der Bun- doch die Bundesregierung damit be- desregierung nachhaltig unterstützte, schäftigt, das Land zu einen und die auch in der amerikanischen Öffent- 1945 in Potsdam zwischen den alliier- lichkeit war die nationalsozialistische ten Siegermächten offen gebliebene Vergangenheit der Deutschen nicht deutsche Frage international ab- vergessen. Aber der amerikanische Prä- schließend zu regeln. Dieser histori- sident George Bush vertraute auf die schen Aufgabe angemessen befaßte Kraft der gefestigten Demokratie in der sich die damalige internationale De- Bundesrepublik. Er war der Ansicht, batte um die Folgen der Rekonstrukti- daß Deutschland „für seine Sünden on eines deutschen Nationalstaates Buße getan hatte und daß es ‘irgend- mehr mit Analogien zur Politik des wann einmal genug sein mußte’“.54 Deutschen Reiches zwischen 1871 und 1945 als mit der Geschichte der SED- Die Bundesregierung war gezwungen, Diktatur. Besonders an der Frage der die innen- und außenpolitischen Fra- Anerkennung der polnischen West- gen, die mit der deutschen Einheit zu- grenze wurden die Erinnerungen an sammenhingen, unter unerhörtem die nationalsozialistischen Verbrechen Zeitdruck zu klären und im Rahmen Die Diktaturkader André Brie, Gregor Gysi, Lothar Bisky und das MfS 59 des Zwei-plus-Vier-Prozesses interna- kein von Anfang an für die Verwaltung tional zu lösen. Namentlich die außen- einheitlich zu praktizierendes System politischen Rahmenbedingungen der Personalauswahl und des Perso- ließen das moralisch-politische Pro- nalabbaus geschaffen. blem, wie das vereinigte Land mit ver- antwortlichen Nomenklaturkadern Die außerordentliche Kündigung der der SED-Diktatur strafrechtlich umge- durch Tätigkeiten für das MfS belaste- hen soll, in den Hintergrund treten. ten Personen und auch die ordentliche Kündigung ehemaliger Systemträger Erneut erwiesen sich die MfS-Akten als haben zunächst Probleme aufgewor- Katalysator in dem Prozeß der poli- fen. Für die außerordentliche Kündi- tisch-historischen Auseinanderset- gung hat der Einigungsvertrag das Tat- zung mit der SED-Diktatur. Abgesehen sachenmerkmal der Unzumutbarkeit von den Parteisekretären der SED, den des Festhaltens am Arbeitsverhältnis Offizieren und Mitarbeitern des MfS für den Arbeitgeber normiert. und dem größten Teil der Berufssolda- Während die Voraussetzungen (Abs. 5, ten der Nationalen Volksarmee der Nr. 1 - Verstoß gegen die Menschlich- DDR wurden die Angehörigen der Ver- keit oder Rechtsstaatlichkeit - bzw. waltung, die Lehrer und die Polizisten Abs. 5, Nr. 2 - Tätigkeit für das in den öffentlichen Dienst der in der MfS/AfNS) durch Unterlagen des BStU DDR neugebildeten Länder übernom- nachweisbar bzw. durch § 6 Stasi-Un- men. Deren Überprüfung auf inoffizi- terlagengesetz (StUG) in der Praxis elle Tätigkeit für das MfS diente nicht handhabbar waren, wurde die Feststel- nur der historischen Delegitimierung lung der Unzumutbarkeit unterschied- der totalitären Herrschaft der SED, son- lich gehandhabt.“ 55 dern sollte auch eine demokratisch zu- verlässige Verwaltung in den neuen Schon die SED und erst recht die PDS Bundesländern sichern helfen. konnten nach der Zerschlagung des MfS nur noch hinhaltenden Wider- Der Schlußbericht der Enquete-Kom- stand leisten, den sie zunehmend mit mission „Überwindung der Folgen der den Mitteln des Rechtsstaates organi- SED-Diktatur im Prozeß der Deutschen sierten. Für die SED-PDS war das MfS Einheit“ kommt hinsichtlich der Lö- ein legitimer Teil des DDR-Staatsappa- sung dieser Aufgabe zu folgendem Er- rates. Die Taktik hieß, geordnet gebnis: „Bei der Überprüfung von Be- zurückweichen. „Die klügeren kom- werbern für den öffentlichen Dienst munistischen Kader zogen sich unter im Rahmen der Errichtung neuer dem Zwang der Verhältnisse in die Ge- Behörden, der Übernahme von Perso- sellschaft zurück. Dort hatten sie Ver- nal aus fortgeführten Behörden und bündete in jenem Personenkreis, der der Behördenverschmelzung bei Bund, während der SED-Diktatur in allen öf- neuen Ländern und Kommunen stand fentlichen Bereichen korrumpiert wor- neben der fachlichen Qualifikation der den war. Tausende IM haben bis zum Bewerber deren persönliche Eignung letzten Moment für das MfS gearbeitet, im Vordergrund. Die in großer Eile ge- und als dies nicht mehr möglich war, schaffenen Sonderkündigungstatbe- wußten sie immer noch, daß sie in stände des Einigungsvertrages haben einem Boot mit den alten Machtha- 60 Manfred Wilke bern saßen. Die in Staat, Wirtschaft der Arbeiterklasse, das konsequente und Gesellschaft eingeschleusten Handeln auf der Grundlage und in hauptamtlichen Mitarbeiter und die Durchsetzung ihrer Beschlüsse war ‘Offiziere im besonderen Einsatz’ und bleibt für uns Tschekisten das ent- (OibE) konnten ihr Treiben oft noch scheidende Unterpfand für die Erfül- lange fortsetzen.“ 56 Die PDS schwieg lung unseres Klassenauftrages. Die Be- zunächst verständlicherweise zu die- schlüsse der Partei sind für uns der zu- sem Thema. verlässige politische Kompaß. Das wichtigste für unseren Kampf ist die führende Rolle, ist die Einheit und Ge- 7. Die PDS und die MfS-Frage schlossenheit unserer Partei’.“ 57

Das MfS war innerhalb der Macht- Dieses Dienstverhältnis zwischen MfS strukturen des SED-Regimes zweifellos und Partei verwandelte sich für die der zentrale Macht- und Disziplinie- SED-PDS während des Vereinigungs- rungsapparat der SED in der Gesell- prozesses in der öffentlichen Stasi- schaft der DDR. Im Unterschied zu den Debatte in einen strukturell-politi- Oppositionsgruppen, den Kirchen, schen Vorteil gegenüber ihren Kon- aber auch den „befreundeten Parteien“ kurrenten, da die viel bedeutsamere LDPD, NDPD, DBD und CDU, konnte Rolle der SED-Nomenklaturkader für das MfS in der SED selbst nicht opera- die Aufrechterhaltung der Diktatur tiv tätig sein und schleuste keine Inof- in der Diskussion nicht angemessen fiziellen Mitarbeiter ein. „Erst wenn berücksichtigt wurde. Von der Sozial- das Politbüro oder die zentrale Partei- demokratie über den Demokrati- kontrollkommission oder nachgeord- schen Aufbruch bis zu den Christde- nete Führungs- und Kontrollinstanzen mokraten gab es immer wieder Rück- ‘Abweichler’ oder ‘Parteifeinde’ in der tritte im Zusammenhang mit beleg- SED als solche entlarvt und gebrand- ter IM-Tätigkeit für das MfS. Die ein- markt hatten, durfte und mußte die zige Partei, die zunächst von solchen Stasi tätig werden. Die Stunde der Vorgängen verschont blieb, war die Staatssicherheit schlug erst, nachdem PDS. die betreffenden Genossen ins Visier der Herrschenden geraten waren. Nie Ein gutes Beispiel für die strukturel- hat das MfS eigenmächtig gehandelt, len Zusammenhänge zwischen SED ohne Wissen, ohne Zustimmung der und MfS lieferte ausgerechnet Bisky Parteibürokratie. höchstpersönlich. 1995 wurden Ak- Generell basierten alle Richtlinien, tensplitter in der Behörde des Bun- Dienstanweisungen und Befehle des desbeauftragten gefunden, die auf MfS auf Beschlüssen der Parteiführung. eine aktive Zusammenarbeit Biskys Das war auch Mielkes Maxime in MfS- mit der Hauptverwaltung Aufklärung internen Dienstkonferenzen. So erklär- des MfS hinwiesen. Bei einer solchen te er am 16. Januar 1986 laut Tonband- Zusammenarbeit zwischen höheren Protokoll ... auf einer Delegiertenkon- Parteikadern und dem MfS ging es ferenz der SED in der Hauptabteilung weniger um gewöhnliche Spitzelei. Aufklärung: Vielmehr ergab sich die Kooperation ‘Die zielklare Führung durch die Partei mit den „Tschekisten“ bei der Erfül- Die Diktaturkader André Brie, Gregor Gysi, Lothar Bisky und das MfS 61 lung des gemeinsamen Kampfauftra- ausschusses des Brandenburger Land- ges geradezu naturgemäß. tages zu disqualifizieren, soll das Er- gebnis der Tätigkeit dieses Ausschusses In dem Vorschlag zur Werbung eines angegriffen und der CDU die Möglich- IMS der Leipziger MfS-Dienststelle, in keit zur Wiederholung des Verfahrens dem es um die Ehefrau Biskys ging, gegeben werden.“ 59 Die Sorge war un- heißt es über die Ergebnisse der Re- begründet. Drei Jahre später kam der cherche zu ihren elektronisch gespei- Vorsitzende der PDS in seiner Rede auf cherten Daten im MfS: „Der Kandidat dem Wahlparteitag in Rostock erneut war bis Mitte 1980 für die HVA/SWT auf das Thema zurück, um die SPD (Sektor Wissenschaft und Technik, der unter Druck zu setzen. Verfasser) XV/4 erfaßt. Der Grund für die Erfassung bestand in der Kenntnis Anlaß waren MfS-Verstrickungen von und Absicherung der inoffiziellen Zu- PDS-Abgeordneten im Sächsischen sammenarbeit des Ehepartners mit un- Landtag und im Deutschen Bundestag, serem Organ. Bedingt durch die Abla- die in beiden Parlamenten aufgedeckt ge des IM-Vorgangs des Ehepartners wurden. „Zweieinhalb Jahre habe ich - Grund keine bestehende operative als Vorsitzender des Stolpe-Untersu- Perspektive - erfolgt auch die Freigabe chungsausschusses im Landtag Bran- des Kandidaten und seine Erfassung denburg in aller Öffentlichkeit für durch unsere Diensteinheit auf Siche- einen differenzierten Umgang mit den rungsvorgang der DE (Diensteinheit, sogenannen Stasi-Verstrickungen ge- der Verfasser). Bei dem Ehepartner stritten. Ich stehe nach wie vor zu den handelt es sich um einen Zuzug aus der Feststellungen, die im Abschlußbe- BRD.“ Unter dem Gliederungspunkt richt des Ausschusses getroffen wur- Verbindungen, Verwandte und Be- den - und genauso zur Entschließung, kannte steht dann der Name (Prof. Dr. die im Brandenburger Landtag im Zu- Bisky, Lothar), Geburtstag und Beruf, sammenhang damit von allen Parteien abschließend heißt es: „Er ist leitender angenommen wurde und die mensch- Mitarbeiter des Instituts für Gesell- liches Maß und differenzierte Einzel- schaftswissenschaften beim ZK der fallprüfung einfordert. SED. Häufig führen ihn Dienstreisen in NSW-Staaten.“ (NSW: Nicht-Sozialisti- Gerade weil ich dazu stehe, frage ich sches Wirtschaftsgebiet/Währungsge- die SPD, warum sie in dieser Frage wie- biet, der Verfasser).58 der mit gespaltener Zunge agiert und wieder einmal zwei sich ausschließen- Biskys Akte über seinen „IM-Vorgang“ de Konzepte des Umgangs mit der ging in das Archiv, als er seinen Dienst Stasi-Problematik vertritt - gleichzeitig in der ZK-Akademie antrat. Natürlich und nach blanker Opportunität. Die bestritt der Parteivorsitzende, jemals Brandenburger SPD steht zur genann- IM gewesen zu sein. Nach seiner Mei- ten Entschließung. Die Sächsische SPD nung ging es in den Veröffentlichun- strebt mit der CDU gemeinsam eine ju- gen auch gar nicht in erster Linie um ristisch sehr fragwürdige Abgeordne- ihn, sondern um Stolpe. „Indem ver- tenklage gegen die PDS-Abgeordneten sucht wird, mich als ehemaligen Vor- Bartel, Kosel und Durchschmidt an. sitzenden des Stolpe-Untersuchungs- Und im Bundestag verwandelt die SPD 62 Manfred Wilke in trauter Einheit mit der CDU/CSU eine eventuelle Abwahl des entspre- und den Bündnis-Grünen den Immu- chenden Genossen entscheiden kön- nitätsausschuß in einen Wahl- nen.62 Der Ernstfall traf den Berliner kampfausschuß. ... Und ich frage Landesverband, der den Beschluß auch mich, wohin das führen soll. Ich werde anwandte. Im August 1991 trat der Ber- jetzt nicht in den SPD-Stil verfallen, liner Landesvorsitzende der PDS, Wolf- um meine Haltung zur Biographie Stol- ram Adolphi, zurück, als seine MfS-Mit- pes wahlkampftaktisch zu verän- arbeit bekannt wurde, Nachfolger dern.“ 60 Bisky bemühte also auch in wurde André Brie. Dieser mußte im Ok- der MfS-Frage die DDR-Schicksalsge- tober 1992 erklären, fast zwanzig Jahre meinschaft, die natürlich erst recht für lang für das MfS gearbeitet zu haben. die eigenen Parteimitglieder galt. So verfaßte die Bezirksverwaltung Eine erste Richtlinie zum innerparteili- Potsdam am 10. Juli 1984 eine Beur- chen Umgang mit einer MfS-Mitarbeit teilung des IM „Peter Scholz“ alias beschloß der zweite Parteitag der PDS André Brie. Hervorgehoben wird seine im Juni 1991. Vorlage war ein Beschluß Zuverlässigkeit, seine Kontakte zu Per- des Berliner Landesparteitags zu diesem sonen aus dem „Kunst- und Kulturle- Thema: „Die Tätigkeit für das MfS als ben der DDR, führenden Personen aus ein ‘zentrales Element’ der Sicherheits- staatlichen und wissenschaftlichen konzeption müsse in eine ‘differenzier- Einrichtungen in der DDR“.63 Brie be- te Auseinandersetzung mit der DDR- treute auch im Auftrag des Zentralrats Gesellschaft’ eingebunden werden. der FDJ Delegationsreisen verschiede- Dazu gehöre, sich einer ‘pauschalen’ ner Jugendverbände aus der Bundes- Verurteilung und Ausgrenzung ehema- republik in der DDR und erstattete liger MfS-Mitarbeiter ebenso zu wider- darüber dem MfS regelmäßig Bericht, setzen wie einer pauschalen Entschul- dies tat er auch, wenn er im Ausland digung. Eine Pflicht zur Offenlegung Dienstreisen absolvierte. „Die Treue wird den Genossen an der Basis nicht Bries zum MfS veranlaßte Stasi-Chef auferlegt.“ 61 Nur Parteimitglieder, die Mielke im Namen des Ministeriums bereits Abgeordnete waren oder sich der DDR (Auszug aus dem Befehl Nr. um ein parlamentarisches Mandat be- K 110/87, Berlin, den 8. Februar 1987) warben, oder Funktionäre, die die Par- zu folgendem Lob: ‘In Anerkennung tei öffentlich repräsentierten, sollten langjähriger Zusammenarbeit mit ihre Stasi-Mitarbeit angeben. Sollten dem Ministerium für Staatssicherheit, sich Abgeordnete oder Funktionsträger der dabei bewiesenen hohen Einsatz- in der Partei nicht an diesen Beschluß bereitschaft und Zuverlässigkeit sowie halten, so sollten sie nicht automatisch der Verdienst bei der Lösung von ope- Mandat oder Parteifunktion verlieren. rativen Maßnahmen, zeichne ich zum In einem solchen Fall sollten sie von Anlaß des 37. Jahrestags der Bildung den jeweilig zuständigen Vorständen des MfS aus: Genossen Dr. Andreas bzw. Gremien von ihrer Funktion ent- Brie mit der Verdienstmedaille der bunden werden und der Vorgang in NVA in Bronze. Gezeichnet Mielke, den wählenden Delegiertenkonferen- General.’“ 64 zen oder Mitgliederversammlungen verhandelt werden, so daß diese über Brie wurde zum Prüfstein für die Ernst- Die Diktaturkader André Brie, Gregor Gysi, Lothar Bisky und das MfS 63 haftigkeit des MfS-Beschlusses der PDS. nen und Mitarbeitern, Armee- und Po- Er wurde in Berlin nicht sofort von sei- lizeiangehörigen usw. eingebracht. Das ner Funktion als Landesvorsitzender hat insgesamt zu einer Schwächung der entbunden, sondern der Vorstand bat Partei und ihrer Politikfähigkeit ge- ihn ausdrücklich, „im Amt zu bleiben. führt.“ Gregor Gysi mußte einräumen, Brie habe ihm bereits im Sommer 1990 Die PDS besann sich auf ihre Pflicht: „Es über seine IM-Tätigkeit informiert. wäre unsere Aufgabe gewesen, die be- Gysi habe sein Wissen nicht nur für rechtigten Interessen ehemaliger MfS- sich behalten, sondern Bries Parteikar- Mitarbeiterinnen und -Mitarbeiter wie riere sogar nach Kräften unterstützt. auch andere öffentlicher Bediensteter Erst auf den öffentlichen Druck hin der ehemaligen DDR entschiedener zu trat Brie wenig später zurück. Gleich- verteidigen. Wir hätten mehr um sie wohl schmälerte dies seine Macht in kämpfen müssen, um sie mitzunehmen der Partei nicht, im Gegenteil: Er blieb auf dem Weg der Gewinnung demokra- Chef der Grundsatzkommission, die tisch-sozialistischer Positionen.“66 für die Programmarbeit und Ideologie verantwortlich zeichnet“.65 Brie blieb Diesen Beschluß legten Parteivorstand auch weiterhin verantwortlich für das und Parteirat gemeinsam vor. Er ver- zentrale Wahlbüro. knüpfte verschiedene Aspekte der MfS- Frage, die die PDS zu bedenken hatte. Der dritte PDS-Parteitag übte danach in Das klare Bekenntnis zur sozialen Inter- bezug auf den MfS-Beschluß tätige essenvertretung der MfS-Angehörigen Selbstkritik. Die Partei warf sich vor, wurde als demokratische Kärrnerarbeit „die Förderung und Initiierung des de- der PDS dargestellt. Die SED hätte die mokratischen Widerstandes gegen alle Angehörigen des MfS, der NVA und der Formen der pauschalen politischen Dis- Volkspolizei mit einem Politikverständ- kriminierung und sozialen Ausgren- nis indoktriniert, die die bewaffnete zung von hauptamtlichen und inoffizi- Macht des Staates sowie die Bereitschaft ellen Mitarbeiterinnen und Mitarbei- der politischen Führung, sie einzuset- tern des ehemaligen MfS“ nicht hinrei- zen, überbetonte. Die PDS forderte nun chend „unterstützt“ zu haben. „Die PDS die Überwindung dieses Politikver- hat aus Furcht, als ‘Stasi-Partei’ diffa- ständnisses, „weil es auch einen Reso- miert zu werden, die staatsbürgerlichen nanzboden für demokratiefeindliches Rechte und berechtigten sozialen Inter- und inhumanes Denken sein kann. Die essen ehemaliger Mitarbeiterinnen und Gewinnung von ehemaligen Angehöri- Mitarbeiter des MfS - wie auch anderer gen bewaffneter Organe - einschließlich bewaffneter Organe und Bereiche des ehemaliger Mitarbeiterinnen und Mit- öffentlichen Dienstes der ehemaligen arbeiter des MfS - für das Engagement in DDR - nicht nachdrücklich genug arti- einer demokratischen sozialistischen kuliert und verteidigt. Das hat sie vor Partei liegt im Interesse der Stärkung der der Etikettierung als bloße SED-Fortset- demokratischen Substanz einer Gesell- zerin durch politische Gegner und Mas- schaft.“ 67 senmedien nicht bewahrt, ihr aber so- gleich einen enormen Vertrauensver- Dieser Position kann vernünftigerwei- lust bei ehemaligen MfS-Mitarbeiterin- se nicht widersprochen werden, sie 64 Manfred Wilke würde allerdings eine rückhaltlose Of- in den von der Staatssicherheit über fenheit der PDS gegenüber ihrer dikta- die akribisch angelegten operativen torischen Vergangenheit und den Op- Vorgangsakten. Statt weiter zu bestrei- fern der kommunistischen Repression ten, was längst nicht mehr zu bestrei- voraussetzen. Vor allem aber würde ten ist, sollte sich Gregor Gysi endlich sich die Tätigkeit von MfS-Mitarbei- zu den Tatsachen bekennen. Seine un- tern in der Parteiführung und als Ab- ablässigen Versuche, sich mit formalen geordnete im Bundestag oder den Län- Klagen in juristischen Winkelzügen derparlamenten verbieten. Das Gegen- der Wahrheit zu entziehen, sind sinn- teil wird von der PDS praktiziert, wie los ... Auf Dauer führt auch für Gregor der Fall Gysi zeigt. Gysi kein Weg an der Wahrheit vor- bei.“ 70 Seit Januar 1992 überprüfte der Aus- schuß für Wahlprüfung, Immunität Der Bundestags-Ausschuß beginnt sei- und Geschäftsordnung des Deutschen nen Abschlußbericht mit der Feststel- Bundestages in beiden Legislaturperi- lung, das MfS sei das zentrale Instru- oden den Verdacht, Gysi habe als ment der SED bei der Bekämpfung der Rechtsanwalt inoffiziell mit dem MfS politischen Opposition in der DDR ge- zusammengearbeitet. In seiner 87. Sit- wesen. Für Rechtsanwälte und Vertei- zung am 8. Mai 1998 hat der Ausschuß diger von Oppositionellen in Strafpro- nach den Richtlinien des Überprü- zessen sei eine offizielle Zusammenar- fungsverfahrens mit der dort vorgese- beit nur mit der Hauptabteilung IX des henen „Mehrheit von zwei Dritteln MfS möglich gewesen. Diese „war seiner Mitglieder eine inoffizielle gemäß § 88 der Strafprozeßordnung Tätigkeit des Abgeordneten Dr. Gregor der DDR offizielles Untersuchungsor- Gysi für das Ministerium für Staatssi- gan in strafrechtlichen Ermittlungsver- cherheit der ehemaligen Deutschen fahren. Sie war für sogenannte ‘Staats- Demokratischen Republik als erwiesen verbrechen’ und ‘politisch-operativ be- festgestellt“.68 deutsame Straftaten gegen die staatli- che Ordnung’ zuständig.“ 71 Gysi bestreitet diese Feststellung vehe- ment. Er behauptet: „Insgesamt ist es Der wesentlichste Teil der Gysi betref- dem Ausschuß nicht gelungen, die fenden MfS-Unterlagen, die der Aus- Vorwürfe zu belegen, die er gegen schuß zu bewerten hatte, stammten mich erhebt. Ein solcher Nachweis aber aus der Hauptabteilung XX, in der kann auch nicht gelingen, weil ich zu alle Aktivitäten des MfS konzentriert keinem Zeitpunkt inoffiziell mit dem waren, die auf die Bekämpfung des MfS zusammengearbeitet habe.“69 Die „politischen Untergrundes“ zielten, Antwort auf diese Rechtfertigungsver- wie es in der Sprache des MfS hieß. Of- suche bekam Gysi von einer Reihe von fiziell war die HA XX kein Ansprech- Mandantinnen und Mandanten wie partner für die Verteidigung. Kontakte Bärbel Bohley, Katja Havemann, Gerd mit ihr konnten nur inoffiziell aufge- und Ulrike Poppe. Sie erklärten: „Wir nommen werden. Nach der Dienstan- wissen schon lange, daß Gregor Gysi weisung von Mielke, Nr. 2/85, war die ein Vertrauensanwalt des MfS war. Die HA XX ermächtigt worden, „gegen- Belege dafür fanden seine Mandanten über anderen operativen Diensteinhei- Die Diktaturkader André Brie, Gregor Gysi, Lothar Bisky und das MfS 65 ten - u.a. auch der für strafprozessuale wälte des MfS. Hierzu nun einige Er- Maßnahmen zuständigen HA IX, dem gebnisse aus dem Ausschußbericht: sogenannten ‘Untersuchungsorgan’ „Dr. Gysi hat nach Überzeugung des des MfS - die Federführung bei der Ausschusses seine Anwaltstätigkeit für Bekämpfung politischer Unter- Robert Havemann, Rudolf Bahro, grundtätigkeit wahrzunehmen. Die Franz Dötterl sowie Gerd und Ulrike Tätigkeit der HA XX erschöpfte sich Poppe dazu benutzt, um im Rahmen dabei nicht nur in der Beschaffung von seiner inoffiziellen Zusammenarbeit Informationen, sondern umfaßte auch dem MfS Informationen über seine die Einleitung von operativen Perso- Mandanten zu liefern und Arbeitsauf- nenkontrollen, das Anlegen von ope- träge des MfS auszuführen. ... Im Zu- rativen Vorgängen oder auch ‘Maß- sammenhang mit der Anwaltstätigkeit nahmen der Zersetzung’.“ 72 Wie Bisky von Dr. Gysi für Robert Havemann hatte Gregor Gysi aber zunächst von und Rudolf Bahro hat der erste Aus- 1975 bis 1977 Kontakt zur Hauptver- schuß jeweils in mehreren konkreten waltung Aufklärung (HVA), die für die Einzelfällen die inoffizielle Zusam- Auslandsspionage des MfS zuständig menarbeit von Dr. Gysi mit dem MfS war. „Nach der Beendigung der inoffi- nachweisen können. Die vom Abge- ziellen Zusammenarbeit mit der HVA ordneten Dr. Gysi vorgetragene Er- arbeitete Dr. Gysi ab 1978 mit der für klärung, wonach er ausschließlich mit die Bekämpfung der politischen Oppo- dem ZK der SED Kontakt gehabt habe, sition zuständigen Hauptabteilung ist als nicht stichhaltige Schutzbe- XX/OG, der späteren HA XX/9 des hauptung widerlegt.“ 74 MfS, inoffiziell zusammen. Nach Über- zeugung des ersten Ausschusses dauer- Im Zusammenhang mit der Prüfung te diese inoffizielle Zusammenarbeit der Frage, ob Gysi inoffiziell mit dem zumindest bis 1986 an.“ 73 MfS zusammengearbeitet hat, war des- sen Einlassung eine Schutzbehaup- Es ging der SED um die Bekämpfung tung. Aber in der Sache benennt Gysi und Ausschaltung politischer Opposi- damit selbst den Herrn in all den poli- tion in der DDR. Um dieses Ziel zu er- tischen Verfahren gegen die Oppositi- reichen, besaß das Regime viele Mög- on: die Parteiführung und ihren zen- lichkeiten. Hierzu zählten drakonische tralen Apparat, in den besprochenen Haftstrafen wie im Fall von Rudolf Fällen zeichnete die Abteilung Staat Bahro, Zersetzung von Freundschafts- und Recht verantwortlich. kreisen und Gruppen durch den Ein- satz Inoffizieller Mitarbeiter und zu- nehmend die Abschiebung in die Bun- 8. Die Schlußstrich-Partei desrepublik mit und ohne Haft. Wel- cher Weg beschritten wurde, um vor- Es ist nicht zu bestreiten: Modrows beugend oppositionelle Tätigkeit zu SED-Nomenklaturkader aus der zwei- verhindern oder auszuschalten, war ten und dritten Reihe - der Vorsteher eine Frage der Zweckmäßigkeit. Nur im der DDR-Rechtsanwälte, der Medien- Rahmen dieser von der Partei vorgege- wissenschaftler und wichtige Kultur- benen Zielsetzung agierten in den po- funktionär sowie der Politikwissen- litischen Verfahren die Vertrauensan- schaftler, der sich als Wahlkampfma- 66 Manfred Wilke nager bewährte - haben es vermocht, die All diesen Tendenzen zum Schlußstrich Partei vor dem Untergang zu bewahren unter die SED-Diktatur hat der Bundes- und in weiten Bereichen die politische präsident Roman Herzog auf dem Bür- Ächtung zu überwinden, der die PDS gerrechtler-Kongreß der Konrad-Aden- unmittelbar nach dem Zusammenbruch auer-Stiftung in Leipzig deutlich wider- der Diktatur noch ausgesetzt war. Aber sprochen: die Erblasten der SED, die sie ökono- „Nichts wäre fataler, als die friedliche misch, politisch und moralisch hinter- Revolution von 1989 und den Beitrag ließ, sind zu groß, um ihrer Fortset- der Bürgerrechtler zur Überwindung zungspartei ein demokratisches Gütesie- der Diktatur ausschließlich in die Ru- gel auszustellen, zumal die von der PDS brik ‘historische Ereignisse’ einzuord- propagierte „ostdeutsche Identität“ ge- nen: Das wäre ein sicherer Weg, sie eignet ist, die Spaltung Deutschlands schnell in Vergessenheit geraten zu las- politisch zu verlängern. Kein Zweifel, die sen. Und manch einer hat an einem gestrigen SED-Kader halten die Zeit für schnellen Vergessen großes Interesse: gekommen, um in den neuen Ländern Vor allem natürlich diejenigen, die für Regierungsverantwortung zu überneh- Diktatur und Spitzelsystem, für Repres- men. Dabei stört sie die Erinnerung an sion und Pressezensur verantwortlich die Realgeschichte der zweiten deut- waren. Sie sind mit dem Ruf nach schen Diktatur in diesem Jahrhundert. einem Schlußstrich schnell bei der Diese Geschichte soll um der eigenen Hand. Daneben gibt es andere, die Zukunft willen entsorgt werden. gegen diesen Vorschlag nichts einzu- wenden haben, weil er die Konfrontati- Bisky verlangte auf dem Rostocker on mit Unbequemen vermeidet. Wahlparteitag 1998 den politischen Schlußstrich: „Wir kämpfen weiter Aber hier erhebe ich Widerspruch - und für einen differenzierten Umgang nicht zum ersten Mal. Wer der Vergan- mit ostdeutschen Biographien. Es genheit ausweicht, belügt sich selbst muß Schluß gemacht werden mit der und kann auch die Zukunft nicht ge- Diskriminierung und Diffamierung winnen. Wir haben in Deutschland der Ostdeutschen und mit der völlig schon einmal in der verständlichen unnötigen Demütigung tausender Freude über die wiedergewonnene Frei- Menschen im Osten. Wir fordern heit und den Wunsch, uns schnell und Gleichbehandlung. Wir fordern das unbelastet neuen Aufgaben zu stellen, Ende politischer Ausgrenzung.“ 75 die Verantwortlichkeiten für eine dik- tatorische Vergangenheit nur halbher- Wenn der Parteivorsitzende auch im zig in den Blick genommen - und da Namen der Ostdeutschen sprach und war eine Flucht, die nicht gelingen den differenzierten Umgang mit konnte. Meine Schlußfolgerung daraus „ostdeutschen Biographien“ einfor- lautet: Nichts vertuschen, nichts ver- derte, so sind damit keineswegs alle gessen, Verantwortlichkeiten benen- Bewohner der früheren DDR ge- nen und klare Konsequenzen für die meint: Bisky bezieht sich auf die „Le- Zukunft ziehen. Dieser Versuch, Wahr- bensleistungen“ der Nomenklaturka- heit und Klarheit zu gewinnen, betrifft der der SED, deren Macht im Herbst das Licht und die Schatten der Vergan- 1989 gebrochen wurde. genheit.“ 76 Die Diktaturkader André Brie, Gregor Gysi, Lothar Bisky und das MfS 67

Anmerkungen

1Rede des Vorsitzenden der PDS, Prof. Lo- rung. Von der SED zur PDS. Eine Doku- thar Bisky, auf dem Wahlparteitag der PDS mentation, Berlin 1991, S. 351 f. in Rostock am 3.4.1998. 13Vgl. Christian V. Ditfurth: Ostalgie oder 2Ausführungen von Ministerpräsident Hans linke Alternative. Meine Reise durch die Modrow anläßlich der Diensteinführung PDS, Köln 1998, S. 13. von Generalleutnant Wolfgang Schwanitz 14André Brie: Thesen zu einer neuen Außen- als Leiter des Amtes für Nationale Sicherheit politik, in: Hubertus Knabe (Hg.): Aufbruch in Berlin am 21. November 1989, in: Gert- in eine andere DDR, Reinbek 1989, S. 245. Rüdiger Stephan, unter Mitarbeit von Dani- 15A.a.O., S. 246. el Küchenmeister (Hg.): Vorwärts immer, 16Günther Buch: Namen und Daten wichti- rückwärts nimmer! Interne Dokumente ger Personen der DDR, 4. überarbeitete Auf- zum Zerfall von SED und DDR 1988/89, Ber- lage 1987, Berlin, Bonn 1987, S. 34. lin 1994, S. 261. 17Vgl. Jürgen P. Lang/Patrick Moreau: PDS - 3Schlußbericht der Enquete-Kommission Das Erbe der Diktatur, POLITISCHE STU- „Überwindung der Folgen der SED-Diktatur DIEN, Sonderdruck 1/München 1994, S. 136. im Prozeß der deutschen Einheit“, Deut- 18Christian von Ditfurth, a.a.O., S. 19. scher Bundestag, 13. Wahlperiode, Druck- 19A.a.O., S. 19. sache 13/11.000, 10.6.98, S. 80. 20Friedrich Wolf: Der Weg zur sozialisti- 4Armin Mitter: Die Aufarbeitung der DDR- schen Rechtsanwaltschaft, in: Neue Justiz, Geschichte, in: Eckart Jesse/Armin Mitter 13 (1959), Sammelband, S. 683, zit. nach: (Hg.): Die Gestaltung der deutschen Ein- Karl Wilhelm Fricke: Der Rechtsanwalt als heit. Geschichte-Politik-Gesellschaft, Bd. „Justizkader“. Zur Rolle des Verteidigers in 308 der Schriftenreihe der Bundeszentrale politischen Strafverfahren der DDR, in: Aus für politische Bildung, Bonn 1992, S. 371. Politik und Zeitgeschichte, B 38/95, 5Ebd. 15.9.1995, S. 11, künftig zitiert: „Justizka- 6Uwe Thaysen: Fortwirkende Maßnahmen der“. der Regierung Modrow, in: Materialien der 21Karl Wilhelm Fricke: „Justizkader“, a.a.O., Enquete-Kommission „Aufarbeitung von S. 11. Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in 22Peter Jochen Winters: Anwalt und Ahnder, Deutschland“, 9 Bände in 18 Teilbänden, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 5. De- hrsg. vom Deutschen Bundestag, Baden- zember 1989. Baden 1995, Band VII/2, S. 2001. 23Karl Wilhelm Fricke: Der Rechtsanwalt als 7Uwe Thaysen: Fortwirkende Maßnahmen „Justizkader“, a.a.O., S. 15. der Regierung Modrow, a.a.O., S. 2001 f. 24Ebd. 8Vorwärts immer, rückwärts nimmer! 25Karl Wilhelm Fricke, a.a.O., S. 15 f. A.a.O., S. 286. 26Ebd., S. 16. 9Text des Appells in: Zeno und Sabine Zim- 27Irene Runge/Uwe Stellbrink: Gregor Gysi: merling: Neue Chronik DDR, Folge 1-7/8, 3. „Ich bin Opposition“. Zwei Gespräche mit Folge, Berlin (Ost) 1990, S. 16. Gregor Gysi, Berlin (Ost) 1990, S. 82. 10Vgl. Gregor Gysi: Wenn wir alle für die 28Vgl. ebd., S. 74. neue Partei streiten, wird sie stark bleiben! 29Vgl. Jürgen P. Lang/Patrick Moreau: PDS - In: Außerordentlicher Parteitag der Das Erbe der Diktatur, POLITISCHE STU- SED/PDS. Partei des Demokratischen Sozia- DIEN, Sonderdruck 1/1994, München, S. 140. lismus, 8./9. und 16./17. Dezember 1989, 30Gregor Gysi: Organisiertes CDU-Chaos Materialien, Berlin (Ost) 1990, S. 25. nicht ausgeschlossen, Neues Deutschland, 11Für einen alternativen demokratischen So- 17. April 1998, S. 14. zialismus. - Diskussionsstandpunkt des Ar- 31Gerhard Hirscher: Das Verhältnis von SPD beitsausschusses zu der von der Basis ausge- und Bündnis 90/Die Grünen zur PDS - Von henden Neuformierung der SED als moder- der Konkurrenz über die Tolerierung zur ne sozialistische Partei, in: Manfred Beh- Kooperation? In: Patrick Moreau: Die PDS: rend/Helmut Meier (Hg.): Der schwere Weg Profil einer antidemokratischen Partei, Son- der Erneuerung von der SED zur PDS. Eine derausgabe der POLITISCHEN STUDIEN, Dokumentation, Berlin 1991, S. 250. München 1998, S. 36 f. 12Vgl. André Brie: Wahlkampf nicht gegen 32Vgl. Patrick Moreau: Die PDS: Profil einer andere Parteien, sondern für unsere Ziele. antidemokratischen Partei, a.a.O., S. 24. Demokratischen Wandel der Partei mit de- 33Günter Nooke: Aufklärung und Ver- mokratischen Mitteln entschieden fort- klärung, in: Christian Striefler/Wolfgang führen, zit. nach: Manfred Behrend/Helmut Templin (Hg.): Von der Wiederkehr des So- Meier (Hg.): Der schwere Weg der Erneue- zialismus. Die andere Seite der Wiederverei- 68 Manfred Wilke nigung, Berlin/Frankfurt/Main 1996, S. 80. 48Vgl. Helmut Müller-Enbergs: Inoffizielle 34Ralf-Georg Reuth: IM „Sekretär“. Die Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssi- „Gauck-Recherche“ und die Dokumente cherheit, Berlin 1996, S. 14. zum „Fall Stolpe“, Frankfurt a.M./Berlin 49Klaus Schroeder unter Mitarbeit von Steffen 1992, S. 23. Alisch: Der SED-Staat. Geschichte und Struk- 35Ralf-Georg Reuth: IM „Sekretär“, a.a.O., S. turen der DDR, München 1998, S. 339 f. 23. 50Klaus Schroeder: Der SED-Staat, a.a.O., S. 36Ebd., S. 24. 339f. 37Ebd., S. 25. 51Vgl. Wolfgang Schäuble: Der Vertrag, 38Günter Nooke: Aufklärung und Ver- Stuttgart 1991, S. 269 ff. klärung, a.a.O., S. 81. 52Wolfgang Schäuble, a.a.O., S. 274. 39Vgl. Ralf-Georg Reuth, IM „Sekretär“, S. 53Helmut Kohl: „Ich wollte Deutschlands 25. f. Einheit“, dargestellt von Kai Dieckmann 40Günter Nooke: Aufklärung und Ver- und Ralf Georg Reuth, Berlin 1996, S. 463 f. klärung, a.a.O., S. 80. 54Philip Zelikow/Condolee Zza Rice: Stern- 41Der Abschlußbericht der Enquete-Kom- stunde der Diplomatie. Die deutsche Ein- mission „Aufarbeitung von Geschichte und heit und das Ende der Spaltung Europas. Folgen der SED-Diktatur in Deutschland“ Berlin 1997, S. 59. stellt über die Erfolge des MfS in der ge- 55Schlußbericht der Enquete-Kommission heimdienstlichen Durchdringung der evan- „Überwindung der Folgen der SED-Diktatur gelischen Landeskirchen durch inoffizielle im Prozeß der deutschen Einheit“, Deut- Mitarbeiter fest: „Die IM wurden auf allen scher Bundestag, 13. Wahlperiode, Druck- Ebenen in den Kirchen eingesetzt. Besonde- sache 13/11000, 10.6.98, S. 72. re Bedeutung kam selbstverständlich sol- 56Erhard Neubert: Geschichte der Oppositi- chen IM zu, die in Leitungsfunktionen Zu- on in der DDR 1949-1989, Schriftenreihe griff auf interne Informationen hatten, die der Bundeszentrale für politische Bildung, von der SED bei ihrer differenzierenden Ge- Band 346, Bonn 1997, S. 896. sprächspolitik verwendet werden konnten. 57Karl-Wilhelm Fricke: „Schild und Diese wirkten sich auf kirchliche Entschei- Schwert“: Die Stasi, Funkdokumentation, dungen und auch auf die Personalpolitik in- Deutschlandfunk, Köln 1/1993, S. 14. nerhalb der Kirchen maßgeblich aus. Be- 58Bezirksverwaltung für Staatssicherheit, sonders interessant war deshalb für das MfS Abt. XX/7, Leipzig, 25. Juli 1981. Vorschlag vor allem die Gruppe der leitenden Kir- zur Werbung eines IMS im Schwerpunktbe- chenjuristen und der kirchlichen Verwal- reich „ausgewählte profilierte Schriftsteller, tungsbeamten, bei denen inzwischen eine Künstler und Kulturschaffende sowie opera- besonders starke geheimdienstliche Durch- tiv-relevante Personen“ der Bezirksverwal- dringung nachgewiesen worden ist. Seit tung Leipzig des MfS vom 24.7.1981, S. 5 f. Mitte der 50er Jahre ist eine ausgedehnte 59Bisky weist MfS-Vorwürfe zurück, in: IM-Tätigkeit leitender Kirchenjuristen in Neues Deutschland, 27.11.1995, S. 4. fast allen Landeskirchen festzustellen.“ In: 60Rede des Vorsitzenden der PDS, Prof. Lo- Bericht der Enquete-Kommission „Aufar- thar Bisky, auf dem Wahlparteitag der PDS beitung von Geschichte und Folgen der in Rostock am 3.4.1998, Manuskript. SED-Diktatur in Deutschland“, Deutscher 61Patrick Moreau/Jürgen Lang: Was will die Bundestag, 12. Wahlperiode, Drucksache PDS? A.a.O., S. 135. 12/7820, 31.5.1994, S. 162. 62Zweiter Parteitag, zweite Tagung, Berlin, 42Günter Nooke: Aufklärung und Ver- 21.-23. Juni 1991, Reden, Beschlüsse und klärung, a.a.O., S. 84 f. Dokumente, Hg. PDS, ohne Ort, ohne Jahr, 43A.a.O., S. 85. S. 169. 44SPD-Landtagsfraktion: Der Bericht. Der 63Zit. nach: Jürgen P. Lang/Patrick Moreau: Stolpe-Untersuchungsausschuß. Ergebnis- PDS - Das Erbe der Diktatur, a.a.O., S. 136. Analysen-Argumente, Potsdam 1994, S. 53. 64Jürgen P. Lang/Patrick Moreau: PDS - Das 45Erhard Neubert: Untersuchung zu den Erbe der Diktatur, a.a.O., S. 136 f. Vorwürfen gegen den Ministerpräsidenten 65Patrick Moreau/Jürgen Lang: Was will die des Landes Brandenburg, Dr. h.c. Manfred PDS? A.a.O., S. 136/137. Stolpe, Potsdam 1993, S. 30. 66Zur konsequenten offenen und öffentli- 46Günter Nooke: Aufklärung und Ver- chen Auseinandersetzung der PDS mit der klärung, a.a.O., S. 85. Problematik der Staatssicherheit, Disput 3/4 47Vgl. Lothar Bisky, in: Disput Pressedient 1993, Sonderausgabe, Der dritte Parteitag, PDS, 3/4, Sonderheft Februar 1993 zum 3. a.a.O., S. 12. Parteitag, S. 48 und Jürgen P. Lang/Patrick 67A.a.O., S. 12. Moreau: PDS. Das Erbe der Diktatur, a.a.O., 68Bericht des Ausschusses für Wahlprüfung, S. 134. Immunität und Geschäftsordnung (1. Aus- Die Diktaturkader André Brie, Gregor Gysi, Lothar Bisky und das MfS 69 schuß) zu dem Überprüfungsverfahren des Juni 1998, S. 4. Abgeordneten Dr. Gregor Gysi gemäß § 44b 71Drucksache 13/10893, S. 10. Abs. 2 Abgeordnetengesetz (Überprüfung 72Drucksache 13/10893, S. 9. auf eine Tätigkeit oder eine politische Ver- 72A.a.O., S. 50. antwortung für das Ministerium für Staatssi- 74Ebd. cherheit/Amt für nationale Sicherheit der 75Lothar Bisky: Rede des Vorsitzenden auf ehemaligen Deutschen Demokratischen Re- dem Wahlparteitag der PDS, Rostock, am publik), Deutscher Bundestag, 13. Wahlperi- 3.4.1998, Manuskript. ode, Drucksache 13/10893, 29.5.98, S. 3. 76Rede von Bundespräsident Roman Herzog 69Drucksache 13/10893, a.a.O., S. 68. auf dem Bürgerrechtler-Kongreß der Konrad- 70„Stasi-Spitzel nicht ins Parlament“. Ehe- Adenauer-Stiftung am 23. Juni 1998 in Leip- malige DDR-Oppositionelle zur Klage Gre- zig, Mitteilung für die Presse Bundespräsidi- gor Gysis, in: Frankfurter Rundschau, 30. alamt, Berlin, 23. Juni 1998, Manuskript. Das braune Erbe der PDS: Von NS-Mitmachern zu DDR-Schrittmachern

Olaf Kappelt

1. Wahlaufruf ehemaliger freiheitsfeindliche personelle Potential NSDAP-Mitglieder für erkennen, wobei die PDS nicht nur die PDS marxistisch-sozialistische Kräfte ver- eint, sondern reaktionäre, spießbürger- Der politische Extremismus hat in die- liche Elemente bindet, die für einen sem zu Ende gehenden Jahrhundert in überkommenen Obrigkeitsstaat ste- Deutschland viel Unheil angerichtet, hen. So versteht es die PDS sogar, Rest- dabei haben sich die Extreme von links bestände ehemaliger Nationalsoziali- und rechts oftmals auf unheilsame sten über den Untergang der DDR hin- Weise berührt, denn vielfach war es für aus an sich zu binden, die trotz NS-Be- einen Extremisten von rechts leichter, lastungen über vierzig Jahre treu und zum Linksextremismus zu konvertie- brav der SED dienten, wie eine interne ren, oder auch umgekehrt, als sich von Studie des Ministeriums für Staatssi- antidemokratischer Position aus zum cherheit feststellte.1 Demokraten zu kehren. Die Affinität für totalitäre, antidemokratische Struk- Einer dieser ehemaligen Nationalsoziali- turen erscheint als ein mehr oder we- sten, die in Treue fest zur PDS standen, niger menschliches Problem, was zwei- war der ehemalige Gaustudentenführer felsohne nicht auf Deutschland be- Siegfried Dallmann, der mit anderen schränkt ist, aber die Hypothek von Alt-Parteigenossen am Vorabend der Nationalsozialismus und DDR-Sozia- letzten Bundestagswahl aufrief, „nur die lismus wirkt im geeinten Deutschland PDS“ zu wählen. Der entsprechende nach und birgt Gefahren für Gegen- Wahlaufruf erfolgte in der „Sozialisti- wart und Zukunft. schen Tageszeitung Neues Deutsch- land“.2 NS-Führer Dallmann trat 1934 Seit in Sachsen-Anhalt und anderswo der NSDAP bei und für ihn und alle an- die SPD die in PDS umbenannte DDR- deren Unterzeichner des Wahlaufrufs Staatspartei SED salonfähig gemacht zugunsten der PDS sind „die Altparteien hat, verschiebt sich in Deutschland das für uns nicht wählbar“ und kritisieren politische Koordinatensystem nach „die zahnlose Opposition der SPD“. Es links. Eine Kaderanalyse von SED und verbliebe „als echte Wahlalternative nur PDS läßt das antidemokratische und die PDS“.3 Mit Egbert von Frankenberg

Politische Studien, Heft 360, 49. Jahrgang, Juli/August 1998 Das braune Erbe der PDS: Von NS-Mitmachern zu DDR-Schrittmachern 71 und Proschlitz gehörte selbst ein „Alter weitaus mehr ehemalige Nationalso- Kämpfer“ der NSDAP zu den PDS-Wahl- zialisten dienten, als bisher angenom- helfern. Einst kämpfte er in der Legion men. Im Rahmen meiner Dissertation Condor im spanischen Bürgerkrieg auf an der Universität Würzburg habe ich seiten der Hitler-Koalition, 1943 war er nachgewiesen, wie sehr sich der SED- Kommodore des Kampfgeschwaders Staat NS-belasteter Bürger bediente.4 Edelweiß und frühzeitig hatte er sich Mitläufer und Akteure des dritten Rei- zum Nationalsozialismus bekannt. Er ches konnten in der DDR in größerem trat 1931 in die NSDAP ein, was ihn Ausmaß eine neue Karriere machen. nicht hinderte, nach dem Ende des Na- Tausende ehemaliger Nationalsoziali- tionalsozialismus in der DDR militärpo- sten, darunter SS- und Gestapo-An- litischer Kommentator des Staatlichen gehörige, KZ-Wächter und Mitarbeiter Komitees für Rundfunk zu werden. des Volksgerichtshofes fanden bereits kurze Zeit nach Ende des Krieges in der Weitere PDS-Wahlhelfer im Greisenal- Sowjetischen Besatzungszone eine ter mit nationalsozialistischer Belastung neue Verwendung beim Aufbau des waren Fritz Geißler, der einst nicht nur Sozialismus. in den Reihen der NSDAP stritt, sondern auch als SS-Angehöriger für den brau- Dank der Überalterung der DDR- nen Totalitarismus mit der Waffe in der Führungskader und der Kontinuität Hand kämpfte, ebenso wie Horst Hein- der Kaderpolitik saßen ehemalige Par- rich und Erhard Lonscher, die als Ex- teigenossen der NSDAP bis zum bitte- NSDAP-Mitglieder nun Wahlkampf für ren Ende der DDR in allen Führungs- die PDS betrieben. Max Simon und Frie- etagen von Partei und Staat. Sie saßen drich Pfaffenbach waren ebenso ehema- als Dekane an den Universitäten und lige NSDAP-Mitglieder, die ihr ganzes in den Chefredaktionen der Medien, Leben in den Dienst antidemokratischer sie waren bei der NVA und im DDR-Mi- Kräfte stellten. Ihre Jugend opferten sie nisterrat vertreten, ebenso wie im Zen- dem Nationalsozialismus und danach tralkomitee der SED.5 dienten sie vierzig Jahre dem SED-Staat, um nach der friedlichen Revolution sich Einer dieser Exponenten mit NS-Ver- als Wahlhelfer für die PDS zu exponie- gangenheit war Generaloberst Horst ren. Wobei ein Mann wie Siegfried Dall- Stechbarth, der zur NSDAP-Ortsgruppe mann sicher nicht nur ein Mitläufer des Eichenrode in der Mark Brandenburg 3. Reiches war, sondern ein Akteur im gehörte und nach der Wende des Jah- Dienste des Nationalsozialismus, der res 1945 sich der SED anschloß und bis von Jugend an bis ins hohe Greisenalter ins ZK der SED aufstieg und der nach antidemokratische Parteien förderte, 1989/90 sich Amtsmißbrauch, Korrup- seien sie nun links- oder rechtsradikal. tion und persönliche Bereicherung vorwerfen lassen mußte und sich als Chef der DDR-Landstreitkräfte wegen 2. NSDAP-Mitglieder dienten der Todesschüsse an der DDR-Grenze dem SED-Staat zu verantworten hatte.

Was die PDS bis heute leugnet, ist die Stellvertreter von Erich Honecker im Tatsache, daß der DDR und der SED DDR-Staatsrat war bis 1989 Heinrich 72 Olaf Kappelt

Homann, der als Sohn eines westdeut- lands. Als erste Partei faßte die SED am schen Reedereidirektors sich 1933 der 15.6.1946 nach einer entsprechenden NSDAP anschloß und erst mit der tota- Einführung von Wilhelm Pieck einen len militärischen Niederlage den Weg förmlichen Beschluß zur Aufnahme in die Reihen des Kommunismus fin- ehemaliger Nationalsozialisten. Das det. Als stellvertretender DDR-Staats- SED-Zentralsekretariat revidierte in ratsvorsitzender gehört Homann zwei- dieser Sitzung die „bisherige Bestim- felsohne zu den einflußreichsten ehe- mung, daß keine ehemaligen Pg’s in maligen Nationalsozialisten in der die Partei aufgenommen werden kön- DDR, auf die sich Erich Honecker bis nen“ grundlegend. Die „Frage der Auf- zuletzt stützen konnte. nahme von ehemaligen Pg’s“ sei eine Entscheidung „in den Parteiorganisa- tionen“, die „durch individuelle Beur- 3. Öffnung der SED für Ex- teilung“ zu treffen wäre, wobei „insbe- NSDAP-Mitglieder sondere Rücksicht genommen werden muß auf die Jugendlichen“.7 Die SED war im Nachkriegsdeutsch- land die erste Partei, die sich ehemali- Was dies in der DDR-Realität bedeute- gen NSDAP-Mitgliedern öffnete. Be- te, läßt sich noch 40 Jahre später an reits 1946 hob das SED-Zentralsekreta- dem letzten amtierenden SED-Zentral- riat einen entsprechenden Unverein- komitee unter Erich Honecker erken- barkeitsbeschluß auf und somit konn- nen. Es wurde auf dem XI. Parteitag ten in den ersten Nachkriegsjahren vom 17. bis 21. April bestimmt und frühere Mitglieder der NSDAP in die führte insgesamt 12 Tagungen durch, SED aufgenommen werden. Dies war die letzte Sitzung erfolgte am eine gezielte Maßnahme kommunisti- 3.12.1989, in der „Erich Honecker und scher Bündnispolitik. In einer Rede in weitere Spitzenfunktionäre aus der Dresden sagte der damalige SED-Chef SED“ ausgeschlossen wurden. Doch Wilhelm Pieck: „Wir können nicht noch nach über 40-jährigem Ende der den Stab über alle brechen, sondern nationalsozialistischen Diktatur gab es müssen ihnen die Hand reichen, damit in Honeckers ZK geradezu eine Kon- sie an unserer Seite kämpfen für ein zentration ehemaliger Nationalsoziali- neues Deutschland. Wer sich nicht be- sten, es ist zweifelsohne ein er- währt, wird beiseite geschoben. Wer klärungsbedürftiges Phänomen, wenn sich bewährt, dem werden wir weiter- im letzten ZK von Erich Honecker im- helfen, den werden wir am Ende auf- merhin sechzehn frühere Parteigenos- nehmen in unsere Partei. Aber dafür sen der NSDAP anzutreffen waren. gilt es, eine große Bewährungsprobe durchzumachen.“6 4. Ehemalige NSDAP-Mitglieder Nicht erst am Ende, sondern sehr im ZK der SED schnell waren die deutschen Kommu- nisten bereit, den Gegnern von gestern Kein Zufall war es, wenn ehemalige die Hand zu reichen, um neue Feinde Nationalsozialisten bis ins Zentralko- zu besiegen, den Weg zu ebnen für die mitee der SED aufsteigen konnten. sozialistische Umgestaltung Deutsch- Eine solche kadermäßige Entwicklung Das braune Erbe der PDS: Von NS-Mitmachern zu DDR-Schrittmachern 73 entstand nicht zufällig, schon gar Bruno Lietz, Helmut Sakowski, Bern- nicht aus Unwissenheit um die Ver- hard Seeger, Werner Scheler, Horst gangenheit der Betroffenen. Die SED Stechbarth, Waldemar Liemen, Erich führte genau Buch über die NSDAP- Rübensam, Rudolf Winter, Herbert Mitglieder in ihren Reihen und Erich Weiz und Arnold Zimmermann als Mielke und das Ministerium für Staats- Kandidat des ZK der SED und Otfried sicherheit wußten genau um die Steger als Mitglied der Zentralen Revi- Schwachstellen ihrer Genossen. Trotz sionskommission. Sie alle waren mehr ihrer NS-Belastungen waren sie gefrag- oder weniger durch ihre NSDAP-Mit- te und beliebte Helfer der SED-Dikta- gliedschaft vorgeprägt.9 tur.

Selbst der langjährige SED-Kaderchef 5. Massenaufnahme ehemaliger Fritz Müller war ein ehemaliges NSDAP-Mitglieder in die SED NSDAP-Mitglied, er beantragte 1938 seine Aufnahme in die NSDAP. SED- Spät, erst mit der Wende des Jahres Kaderchef Fritz Müller gehörte zur 1989 bröckelte der Mythos der DDR NSDAP-Ortsgruppe Forst, im soge- von einem „besseren, weil antifaschi- nannten Gau Kurmark.8 Als langjähri- stischen Deutschland“. Es war eine der ger Leiter der Kaderabteilung beim größten Propagandalügen der DDR, SED-Zentralkomitee war er für die ge- mit der Wende kam eine interne Ana- samt Personalpolitik der DDR-Staats- lyse des ZK der SED aus dem Jahre 1954 partei verantwortlich. Fritz Müller be- ans Tageslicht. Demzufolge waren „re- fand über das gesamte Nomenklatursy- publikweit 25,8 Prozent der Mitglie- stem der DDR. Ihm unterstanden die der“ der SED „durch ihre NS-Vergan- Entwicklungskarteien, in denen nicht genheit belastet“. Nach Öffnung der nur fachliche Fähigkeiten beurteilt DDR-Archive ließ sich ermitteln, daß wurden, sondern auch politische und „die Alt-Braunen laut SED-Statistik moralische Qualitäten. Er hatte als Ka- sogar mehr als 85 Prozent der Mitglie- derchef einen bestimmenden Einfluß der“ in einzelnen Parteiorganisationen auf die gesamte Personalpolitik aller stellten. Für den Berliner Historiker DDR-Organisationen und Institutio- Armin Mitter war dies Veranlassung zu nen, einschließlich der Blockparteien. der Erkenntnis: „Die NSDAP stellte ge- Sämtliche Einstellungen und Beförde- radezu ein Kaderreservoir dar.“ Und rungen bedurften der Genehmigung für das Nachrichtenmagazin „Der Spie- durch die Kaderabteilung. Ex-Nazi gel“ war die SED „ein großer Freund Müller entschied selbst über das der kleinen Nazis“.10 Schicksal von DDR-Spitzenfunk- tionären. Schon der Alt-Genosse Wilhelm Pieck philosophierte am 21.2.1947 im Unter den ehemaligen NSDAP-Mitglie- Neuen Deutschland über den „Sinn dern im SED-Zentralkomitee war auch der Entnazifizierung“ und in Band 2 Manfred Ewald, der sogenannte Sport- „Reden und Aufsätze“ von Wilhelm Papst der DDR. Weitere NS-belastete Pieck wird als Grund für die milde Be- ZK-Mitglieder waren: Gerhard Beil, handlung der Alt-Nazis genannt: „Es Wolfgang Biermann, Horst Heintze, sind vorwiegend die werktätigen Mas- 74 Olaf Kappelt sen, die wir nicht von uns stoßen, son- starken Deutschland. Ritterkreuzträger dern die wir auf das engste an uns her- Wilhelm Adam in der Volkskammer: anziehen und an der Aufbauarbeit betei- ligen müssen.“ Somit war für Pieck klar: „Wir wollen in Ehren leben! Wir wollen „Es würde aber diese Aufgabe sehr er- uns Ehre erwerben“ und wer „in schweren, wenn gegen sie auch jetzt Schmach weiter leben“ möchte, „der noch mit Strafmaßnahmen, Entlassung mag seinen Nacken in Amerikas Joch aus der Arbeit, Beschlagnahme ihres Ei- beugen“.13 NDPD-Sprecher Adam war gentums oder Verächtlichmachung vor- bereits 1923 der NSDAP beigetreten und gegangen wird.“ 11 war 1933 Oberscharführer der SA und Referent für weltanschauliche Schulung, in der DDR avancierte er zum General- 6. Eigene Partei für ehemalige major der Nationalen Volksarmee. Und Nationalsozialisten der einstige Wehrmachtsgeneral Vin- cenz Müller verkündete auf dem NDPD- Noch zu DDR-Zeiten kam eine For- Parteitag in Leipzig 1951: „Unser Pro- schungsarbeit an der Humboldt-Univer- gramm muß ein Kampfprogramm sein, sität zu dem Ergebnis: „Im Sommer 1948 weil unser Vaterland durch Amerika zer- erhielten die ehemaligen Mitglieder der rissen und mit einem neuen Krieg be- NSDAP sowie die ehemaligen Angehöri- droht ist“.14 gen der Wehrmacht die Möglichkeit, sich im Rahmen einer eigenen Partei“ Mit der NDPD, dem Bündnispartner der am politischen Leben zu beteiligen. SED, hatten die ehemaligen Nationalso- Dabei sollten sie „vorbehaltlos“ einge- zialisten einen vehementen Fürsprecher. gliedert werden und „zu allen Berufen Der NDPD-Vorsitzende Lothar Bolz for- zugelassen werden, auch bei der Justiz, derte, daß „für zahlreiche Deutsche“ der Polizei und als Neulehrer.“ 12 Um die eine „politische, wirtschaftliche, soziale eigenen Reihen nicht über das vorhan- und vor allem die moralische Zurückset- dene Maß zu belasten und um die ande- zung als ein besonderes Erbe der Hitler- ren bürgerlichen Parteien, die CDU und zeit, in der sie der NSDAP angehörten“ die LDPD, zu schwächen, entstand im aufzuhören habe. Mit dieser Zurückset- Sommer 1948 mit Hilfe der SED die Na- zung der Ehemaligen sollte Schluß ge- tional-Demokratische Partei Deutsch- macht werden. Bolz machte es erklärter- lands (NDPD). Es sollte verstärkt um Of- maßen zu seinem Ziel, für die ehemali- fiziere der Wehrmacht und um ehemali- gen Nationalsozialisten „die gleichen ge Nationalsozialisten geworben wer- Staatsbürgerrechte“ zu erringen, „vor den, um diejenigen anzusprechen, die allen Dingen aber“ müßte „mit ihrer nicht den direkten Weg in die SED such- moralischen Zurücksetzung ein für alle- ten, aber als Bündnispartner treue Dien- mal Schluß gemacht“ werden.15 ste leisten sollten.

Mit antiamerikanischem Kurs und be- 7. Erich Mielkes Kaderauswahl tont nationalistischer Wortwahl wurden unter ehemaligen National- Mitstreiter rekrutiert. In der DDR-Volks- sozialisten kammer sprach für die NDPD-Fraktion Wilhelm Adam von einem schönen und Bereits vor Gründung der DDR war Das braune Erbe der PDS: Von NS-Mitmachern zu DDR-Schrittmachern 75

Erich Mielke von der sowjetischen Be- dem Namen Hans Schwerte zu den satzungsmacht unter dem Deckmantel führenden deutschen Wissenschaft- der Entnazifizierung mit Personalfra- lern gehörte, mit linksliberalem Image gen beauftragt worden. Als Vizepräsi- stieg er auf zum Rektor der Techni- dent der Deutschen Verwaltung des In- schen Hochschule Aachen und erst nern wertete er Hunderttausende von 1995 wurde der hochdekorierte linke Biographien aus und entschied über Universitätsprofessor enttarnt. die Zukunft NS-belasteter Bürger. Be- reits 1946 nutzte er die Entnazifizie- Wenn es solche Fälle im Westen gab, rung, um eine eigene Polizeiorganisati- was hat es dann unter der Regie von on aufzubauen, das Kommissariat 5, Erich Mielke und seinem Ministerium mit direktem Zugriff auf jede Ortspoli- gegeben? Hier ergibt sich ein enormer zeibehörde und unter zentraler Lei- Forschungsbedarf. Bekannt sind die tung auf SBZ-Ebene durch Erich Miel- Fälle von DDR-Spionen mit NS-Ver- ke. Erich Mielke kam zu der Erkennt- gangenheit. So war der DDR-Superspi- nis, daß vielfach die politische Bedeu- on Heinz Felfe einst Referatsleiter im tung der Entnazifizierung nicht er- Reichssicherheitshauptamt und SS- kannt wurde und die persönliche „Ver- Obersturmführer. Nachdem der Bun- flechtung der Bevölkerung, auch der desgerichtshof ihn zu 15 Jahren Haft Mitglieder der SED“ mit beschuldigten verurteilte, wurde Felfe 1969 durch Nationalsozialisten ein Aufklärungs- Agentenaustausch in die DDR entlas- hindernis darstellte. Mielke stellte fest, sen. Vom DDR-Top-Spion im Bundes- daß die „Rechte der Polizei“ überaus kanzleramt bei , von Gün- „vielen unangenehm“ wären, weil sie ter Guillaume ist ebenso belastendes „in irgendeiner Weise mit den Verbre- aus der NS-Zeit aktenkundig, Guillaume chern verbunden waren, zum Teil gehörte der Hitler-Jugend und der auch Mitglieder der SED sind“.16 NSDAP an, bevor er sich nach dem Krieg der SED anschloß und 1956 in Erich Mielke zog daraus seine Schlüsse die Bundesrepublik mit nachrichten- und interne Unterlagen des späteren dienstlichem Auftrag geschickt wurde. Ministeriums für Staatssicherheit der DDR belegen, wie sehr die NS-Vergan- genheit von Führungskadern genutzt 8. Testfall Sachsen wurde bei der „Werbung von ehrli- chen, an der Zusammenarbeit mit dem Für die SED war 1946 Sachsen der MfS interessierten und damit zur Wie- Testfall, ob das Bündnis zwischen dergutmachung ihrer Schuld bereiten ehemaligen Nationalsozialisten und Personen“.17 deutschen Kommunisten auf Dauer erfolgversprechend sein kann. Es Die zeitgeschichtliche Forschung steht ging bei einem Volksentscheid um bei diesem Thema sicher erst am An- die Sozialisierung der Schlüsselindu- fang. Nur die Spitze eines Eisberges ist strie, ob etwa dreitausend Unterneh- sichtbar. Wir wissen, im Westen hat es men enteignet werden sollten. Am Biographiefälschungen gegeben. Bei- 30.6.1946 kam es zur Abstimmung. spielsweise den SS-Führer Hans Ernst Die SED setzte ihren Kurs erfolgreich Schneider, der nach dem Krieg unter durch. 77 Prozent stimmten in Sach- 76 Olaf Kappelt sen für die geplanten Enteignungs- sonal und beim neuen Aufstieg waren maßnahmen. von Anfang an die ehemaligen Partei- genossen der NSDAP dabei. Fachkräfte In einem Leitartikel im Neuen waren gefragt und die einsetzende Deutschland am 4. Juli wurde der Er- Fluchtbewegung begünstigte das Wie- folg der Politik der Partei der Arbeiter- derverwenden erfahrener alter NS- klasse gelobt, wobei der SED bewußt Kader. war, daß die ehemaligen Mitglieder der NSDAP zusammen mit ihren Familien- angehörigen etwa die Hälfte der Ab- 9. Lob von Walter Ulbricht für stimmungsberechtigten stellten. „Ein Ex-Nazis ganz beträchtlicher Teil von ihnen“ habe sich für die Enteignung ausge- Walter Ulbricht fand am 28.2.1948 be- sprochen: „Diese Tatsache kann nicht reits anerkennende Worte für die ehe- bestritten werden“. Das ND vom maligen „Mitglieder nazistischer Orga- 4.7.1946 bekräftigt, der Volksent- nisationen“, die als „Techniker und In- scheid in Sachsen war für die ehemali- genieure“ einen neuen Weg einge- gen NSDAP-Mitglieder „der Prüfstein.“ schlagen hätten. Ulbricht wörtlich im SED-Zentralorgan Neues Deutschland: Der Volksentscheid in Sachsen war „In den letzten Monaten haben sich eine „Bewährungssituation“, in der viele frühere Mitglieder von Naziorga- sich die Masse der NSDAP-Mitglieder nisationen in der großen Bewegung für für „Veränderungen ausgesprochen die Produktionssteigerung als ehrliche hatte“, nun galt es, den Kreis der „sich Mitarbeiter am Aufbau bewährt.“ Nach aktiv am Aufbau beteiligten systema- Auffassung von Walter Ulbricht konn- tisch zu erweitern“ und es sei richtig te in der „neuen Periode des Aufbaus“, gewesen, daß der Masse der NSDAP- kurz vor Gründung der DDR, „die Mitglieder „das aktive Wahlrecht bei frühere Organisationszugehörigkeit“ dem Volksentscheid in Sachsen und nicht mehr „der Maßstab für die Beur- bei den Wahlen nicht entzogen wor- teilung des einzelnen sein“.19 den war“.18 Was nach der Wende offensichtlich So waren die ehemaligen Nationalso- wurde, ist die Tatsache, daß Tausende zialisten geschätzte Bündnispartner von SED-Parteisekretären durch NS- bei der Sozialisierung der DDR-Wirt- Mitgliedschaften belastet waren. Laut schaft. Die Industrieenteignungen er- parteiinterner Statistik waren zu DDR- folgten aber nur in Sachsen ausgehend Zeiten nahezu dreizehntausend Lei- von einem Volksentscheid, in den tungsmitglieder der SED-Grundorgani- übrigen Ländern der SBZ wurden diese sationen durch ihre NS-Vergangenheit Maßnahmen ohne Abstimmungsvo- erfaßt. Über zehntausend SED-Partei- tum realisiert. Wer sich umstellte, sich sekretäre waren Mitglied der NSDAP mit den neuen Machthabern arran- oder ihrer Gliederungen, wie die inter- gierte, der konnte durchaus ökonomi- ne SED-Statistik belegt.20 sche Macht behalten und neue politi- sche Macht erlangen. Der Aufbau der Mit dem Ziel des Aufbaus des Sozialis- neuen Diktatur brauchte Führungsper- mus hatte sich die Feindstellung der Das braune Erbe der PDS: Von NS-Mitmachern zu DDR-Schrittmachern 77 deutschen Kommunisten geändert. die Enteignungsmaßnahmen befür- Nach Auffassung von Walter Ulbricht wortet hätten: „Sie bejahen die Über- waren die „Feinde des deutschen führung der großen Konzerne und Tru- Volkes“ diejenigen, „die mit Hilfe der ste in Volkseigentum“. Für die DDR- Wallstreet Deutschland zerreißen, um Blockpartei stand fest, wenn ein das deutsche Volk besser ausbeuten Schlußstrich unter die „politische Ver- und knebeln zu können.“ Laut SED- gangenheit“ der ehemaligen NSDAP- Generalsekretär Ulbricht versuchten Mitglieder gezogen würde, dann stün- „manche sogenannten Hitlergegner de „die überwiegende Mehrheit der aus den Reihen des Monopolkapitals“ Ehemaligen“ für den Einsatz „und für nunmehr „das deutsche Volk den In- den Aufbau“ zur Verfügung, sie wür- teressen der Wallstreet gefügig zu ma- den „dann wie ein Mann ihre ganze chen.“ Demgegenüber plädierte Wal- Kraft“ einsetzen. Und die NDPD for- ter Ulbricht für einen „kameradschaft- derte zugunsten der ehemaligen Par- lichen Meinungsaustausch“ und eine teigenossen der NSDAP „im Namen gemeinsame Aufbauarbeit mit frühe- Deutschlands“ eine „befreiende Tat“. ren Mitgliedern „der Naziorganisatio- „Unendlich viel Energie wird durch nen“.21 diese befreiende Tat frei werden“, es ginge darum, Hunderttausenden den Weg „eines neuen Lebens“ zu öffnen.22 10. Nazis für Bodenreform und Enteignung Nach Auffassung der NDPD würden die so „begünstigten“ ehemaligen Na- tionalsozialisten „mit heißem Herzen“ Wie sehr die ehemaligen Nationalso- danach streben, am Aufbau teilzuha- zialisten die Enteignungsmaßnahmen ben, denn sie würden es „beweisen“, und sozialistischen Umgestaltungen in „daß sie es wert sind“.23 Wie sehr sie es der DDR befürworteten, ist an Er- bewiesen, ist daran erkennbar, daß die klärungen nicht nur der SED ablesbar, Ex-Nazis der DDR über vierzig Jahre sondern auch den Werbeschriften der treue Dienste erwiesen und noch über NDPD zu entnehmen, in denen lo- den Untergang des SED-Staates hinaus bend festgehalten war, daß „Zehntau- der umbenannten SED, der PDS die sende früherer Mitglieder der NSDAP“ Treue hielten.

Anmerkungen 1Der Bundesbeauftragte für die Unterlagen als ein soziologisches Phänomen, Hamburg des Staatssicherheitsdienstes der ehemali- 1997. gen Deutschen Demokratischen Republik 5Siehe: Olaf Kappelt: Braunbuch DDR - (BStU), SV 3/82, Bd. 1a, Bl. 000055. Nazis in der DDR, Berlin 1981. 2Neues Deutschland, Sozialistische Tages- 6IML, ZPA, NL 36/424. zeitung, Berlin, 28.9. 94, S. 9. 7Stiftung Archiv der Parteien und Massenor- 3Ebenda. ganisationen der DDR im Bundesarchiv, 4Siehe: Olaf Kappelt: Die Entnazifizierung Sig. IV 2/2. 1/13, Zentrales Parteiarchiv, Be- in der SBZ sowie die Rolle und der Einfluß stand Sozialistische Einheitspartei Deutsch- ehemaliger Nationalsozialisten in der DDR lands, Zentralsekretariat, Bl. 3. 78 Olaf Kappelt

8Bundesarchiv Abt. II, ehemals Berliner Do- organisationen der DDR im Bundesarchiv, cument Center, Fritz Müller, geb. Sig. IV 2/13/4, Inst. für Marxismus-Leninis- 3.12.192O Forst. mus beim ZK der SED, Zentrales Parteiar- 9Ebenda 3. chiv, Bestand Sozialistische Einheitspartei 10Der Spiegel, Nachrichtenmagazin, S. 101, Deutschlands, Zentralkomitee, Staat und Nr. 12, Hamburg 1992. Recht, Bericht vom 31.10.1947, S. 5. 11Berlin 1952, S. 125. 17BStU, Sig. JHS Vertrauliche Verschlußsa- 12Wolfgang Meinicke: Zur Entnazifizierung che 384/80 K 414. in der Sowjetischen Besatzungszone, Phil. 18Ebenda 11, S. 30. Diss. Humboldt- Universität 1983, S. 32 ff.. 19Stellungnahme von Walter Ulbricht zur 13National-Demokratische Partei Deutsch- Auflösung der Entnazifizierungskommis- lands: Demokratie der erprobten Leistun- sionen, Neues Deutschland, 28.2.1948. gen. Das zweite Jahr der Deutschen Demo- 20Ebenda 3, S. 370. kratischen Republik, Berlin 1951, S. 70f.. 21Vgl. Anm. 19. 14Vincenz Müller: Unser Programm, Natio- 22Mit Nationalem Kurs. National-Demokrati- nal-Demokratische Schriftenreihe, Berlin sche Hefte, Nr. 12, Entscheidende Fragen! Her- 1951, S. 10f.. ausgegeben von der National-Demokratischen 15Mit Nationalem Kurs. National-Demokra- Partei Deutschlands, Berlin, S. 6, 17 u. 26. tische Hefte, Heft Nr.4, Berlin, S. 6f.. 23Ebenda 20, Heft Nr. 18: Auch wer einmal 16Stiftung Archiv der Parteien und Massen- geirrt, ist ein Deutscher! S. 14. Atombunker mit Interhotel- Standard

Otto Wenzel

Berichte von Inoffiziellen Mitarbeitern Armeegeneral Mielke, in dem er mit- (IM) des Ministeriums für Staatssicher- teilte, „inoffiziell“ sei ihm bekanntge- heit (MfS) der DDR brauchten nicht worden, daß beim Bau des Vorhabens unbedingt denunziatorischen Charak- VH 17/5005 (die im Kriegszustand zu ter zu haben, verbunden mit der Auf- beziehende „Ausweichführungsstelle“ deckung von wirklichen oder angebli- des MfS, Tarnbezeichnung: Komplex chen Mißständen in Einrichtungen „Filigran“, ein unterirdischer Atom- außerhalb des MfS. Wie der folgende bunker 3 km nordwestlich der Ort- Vorgang zeigt, konnte sich in ihnen schaft Biesenthal) die Anforderungen mitunter der gesunde Menschenver- des Bedarfsträgers, des MfS, eine Aus- stand Gehör verschaffen und der Ruf stattung beinhalteten, „die keinen Ein- nach Sparsamkeit, verbunden mit fluß auf die Funktionserfüllung des einer deutlichen Kritik an der Spitze Bauwerks haben“.2 des MfS. Beim VH 17/5005 handelte es sich um Die Hauptabteilung I des MfS hatte mit einen von vier „zentralen Spezialbau- einem Personalbestand von (1989) ten“3, unterirdische Atombunker, die 2.457 Mitarbeitern die Aufgabe, die in den Jahren 1983 bis 1988 für Spit- „personelle und funktionelle Siche- zenfunktionäre der Partei- und Staats- rung“ der Nationalen Volksarmee führung fertiggestellt wurden. Es han- (NVA) und der Grenztruppen der DDR delte sich um: zu gewährleisten. Ihr Leiter war Gene- ralleutnant Dietze, der im Ministerium ● Die Hauptführungsstelle der Partei- für Nationale Verteidigung (MfNV) als und Staatsführung, fertiggestellt Chef der „Verwaltung 2.000“ firmierte. 1983; Diese Bezeichnung führten auch die ● die Führungsstelle des Vorsitzenden Diensteinheiten der Hauptabteilung I des Ministerrates, fertiggestellt in Dienstgebäuden der Teilstreitkräfte, 1986; der Militärbezirke, der Regimenter und ● die Führungsstelle des Ministers des der selbständigen Bataillone der NVA.1 Innern und Chefs der Deutschen Volkspolizei, fertiggestellt 1987 und Am 10. Juni 1985 richtete General ● die Führungsstelle des Ministers für Dietze ein Schreiben an den Minister, Staatssicherheit, fertiggestellt 1988.4

Politische Studien, Heft 360, 49. Jahrgang, Juli/August 1998 80 Otto Wenzel

General Dietze fuhr in seinem Schrei- könne, da Brandsicherung usw. durch ben an Mielke fort, inoffiziell werde Tapeten, Holzfußböden, Wandverklei- eingeschätzt, daß allein für den Aus- dungen und modernste Möbel nicht bau, der unter anderem Möbel in Son- mehr gegeben sei. Sollte der Feinaus- derausfertigung, textilen Bodenbelag bau an diesem Vorhaben, wie jetzt vor- und eine repräsentative Ausführung gesehen, verwirklicht werden, werde der Wände vorsehe, Mittel bzw. Auf- in Kollegenkreisen bereits von einer wendungen in Höhe von etwa 3 Mil- „Fürstensuite“ gesprochen. lionen Mark erforderlich seien. Der IM habe angeregt, daß im Interesse des ef- Verbittert stellte der IM fest, „daß wir fektiven Einsatzes der bereitgestellten bei der Projektierung von Anlagen für Mittel eine nochmalige Prüfung und die Stationierung von Raketen gespart Reduzierung der Forderungen auf haben, aber beim Innenausbau von sachliche und doch ansprechende Aus- Schutzwerken einen zu hohen Auf- stattung erfolgen sollte. wand betreiben“. Im übrigen habe ein Oberst der für den Bau verantwortli- Dem Schreiben war ein zweiseitiger Be- chen Verwaltung Militärbauwesen richt des IM beigefügt5, der ausführte, und Unterbringung des MfNV die Mei- daß der Feinausbau einen unvertretbar nung der sowjetischen Spezialisten hohen Kostenaufwand beinhalte und über die 1983 fertiggestellte Bunkeran- „bestes Interhotel-Niveau“ 6 darstelle. lage für Partei- und Staatschef Die kürzlich eingetroffenen Ausstat- Honecker (bei Prenden nordöstlich tungsrichtlinien für den Feinausbau von Ost-Berlin) wiedergeben: „Das hätten einen höheren Geheimhal- Bauwerk ist gut, entspricht den Forde- tungsgrad erhalten und seien nur dem rungen insgesamt. Aber unzufrieden Direktor des zuständigen „Spezialbau“- bzw. nicht ganz einverstanden waren Betriebs ausgehändigt worden. Dieser sie mit dem betriebenen Aufwand für habe lediglich zwei Kollegen zur Ein- die Ausstattung, da Probleme aus sicht befugt. Damit wolle man vermut- schutzbautechnischer Sicht.“ lich unliebsamen Diskussionen unter den Kollegen aus dem Weg gehen. Der Dietzes indirekter Kritik an Minister IM erinnerte daran, daß überall nach Mielke hat seiner Karriere nicht ge- Einsparung von Material gerufen schadet. Er blieb bis zum Ende des MfS werde und alle Beteiligten nachweisen Leiter der Hauptabteilung I. Aber seine müßten, wieviel eingespart wurde. Kritik wurde vom Leiter des für die Spe- „Beim Innenausbau von Schutzbau- zialbauten zuständigen Bereichs B der werken für führende Personen aus Arbeitsgruppe des Ministers, Oberst Staat und Partei gelten aber diese Fest- Thomas, in recht rüder Form zurück- legungen nicht.“ Die neuen Festlegun- gewiesen, ohne daß er auf die einzel- gen sollen von den „höchsten Instan- nen Angaben des IM einging. In einer zen“ getroffen worden sein. Diese Ge- Stellungnahme vom 18. Juni 1985 nossen seien aber offenbar nicht dar- schrieb er, die Information des Gene- auf aufmerksam gemacht worden, daß rals sei „wertlos und unrichtig“. Er bei den angenommenen Belastungen drehte den Spieß um und behauptete, keine Garantie mehr für das Leben im der Bericht des IM stelle einen ernsten Schutzbauwerk gegeben werden Verstoß gegen Mielkes Geheimhal- Atombunker mit Interhotel-Standard 81 tungsvorschriften für den Komplex geschützte Unterbringung von 185 „Filigran“ dar. Mit der Reduzierung des Personen. Für den Minister für Staats- Investitionsmittel laut „Festlegung“ sicherheit stand ein Raumkomplex mit des Vorsitzenden des Nationalen Ver- einem Arbeitsraum, einem Raum für teidigungsrates der DDR, Honecker, den persönlichen Referenten, ein Vor- vom 29. Juni 1982 sei der Aufwand für zimmer, ein Aufenthalts- und Ruhe- den Innenausbau bedeutend verrin- raum, ein Sanitätsraum und ein direkt gert worden.7 anschließendes Führungszentrum zur Verfügung. Acht Arbeitszimmer mit Am 9. September 1988 meldete der Lei- Vorzimmer und Ruhemöglichkeit im ter der Arbeitsgruppe des Ministers, Arbeitszimmer waren für leitende Mit- Generalmajor Rümmler, in einem arbeiter vorgesehen, 20 Arbeitszimmer Schreiben an Mielke die Fertigstellung für das „operative Personal“. Zum Be- des Vorhabens 17/5005. Es sei in den reich „Sicherstellung“ zählten eine Jahren 1984 bis 1988 mit einem Ko- Küche mit den notwendigen Bevorra- stenaufwand von 118 Millionen Mark8 tungsräumen, zwei Speiseräume, Ru- in Verantwortung des MfNV errichtet heräume mit 57 Plätzen und Sa- worden. Das Übergabeprotokoll, das nitäreinrichtungen. An Nachrichten- am 29. April 1988 vom Chef Militär- und Informationsanlagen wurden Ver- bauwesen und Unterbringung des mittlungstechnik mit 470 An- MfNV, Generalleutnant Kaiser, und schlußmöglichkeiten und Fernschreib- vom Stellvertreter des Leiters der Ar- vermittlungen mit 80 Anschlußmög- beitsgruppe des Ministers für Staatssi- lichkeiten eingebaut.10 cherheit, Oberstleutnant Beulich, un- terzeichnet wurde, enthielt u.a. Anga- Der dargestellte Vorgang macht deut- ben über die Belastbarkeit der Bunker- lich, daß die Spitzen der Partei- und anlage: Demnach bot sie Schutz vor Staatsführung der DDR selbst in einer dem Einschlag einer betonbrechenden Bunkeranlage, die im Kriegszustand Bombe mit einem Kaliber von 250 kg, bezogen werden sollte, nicht gewillt der Detonation einer Atombombe von waren, auf ihre - am Lebensstandard 50 kt9 in einer Entfernung von 550 m der DDR-Bevölkerung gemessen - „lu- und vor chemischen Kampfstoffen, xuriösen“ Ansprüche zu verzichten. biologischen Kampfmitteln, radioakti- Allerdings kam es vor, daß außerhalb ver Verseuchung und Brandmitteln. und sogar innerhalb des MfS solche Die Bunkeranlage war ausgelegt für die Ansprüche deutlich kritisiert wurden.

Anmerkungen cherheitsdienstes der ehemaligen Deut- schen Demokratischen Republik, Reihe A, 1Otto Wenzel, „Einnahme von Westberlin - Nr. 2/93), S. 119 ff. Einnahme von Westdeutschland“. Aus den 2Der Bundesbeauftragte für die Unterlagen Akten des Ministeriums für Nationale Ver- des Staatssicherheitsdienstes der ehemali- teidigung und des Ministeriums für Staats- gen Deutschen Demokratischen Republik sicherheit der DDR, in: POLITISCHE STU- (künftig zitiert: BStU), AGM 117, Bl. 48, 2. DIEN Heft 355, 1997, S. 52; Die Organisati- 3Die Verbindung mit den Wörtern „Spezial-“ onsstruktur des Ministeriums für Staatssi- oder „speziell“ war in der DDR eine Tarnbe- cherheit 1989 (= Dokumente des Bundesbe- zeichnung für militärische Bauten, Pro- auftragten für die Unterlagen des Staatssi- duktion, Dienstleitungen und Import bzw. 82 Otto Wenzel

Exporte. teidigungsrats (NVR) am 2. Oktober 1981 4Otto Wenzel, Kriegsbereit. Der Nationale war eine Information über den Stand der Verteidigungsrat der DDR 1960 bis 1989, Realisierung des Programms zentraler Spezi- Köln 1995, S. 123. albauten vorgelegt worden, der für die 5BStU (Anm. 2), Bl. 49 f. Führungsstelle des MfS einen Betrag von 6Interhotels waren in der DDR Hotels für 328 Millionen Mark auswies (Protokoll der Gäste, die mit Devisen bezahlten. Sie hatten 64. Sitzung des NVR, in: Bundesarchiv - einen weit höheren Standard als die Hotels ehemaliges Militärisches Zwischenarchiv für DDR-Normalbürger. Potsdam, VA 01/39525, Bl. 336 ff.). 7BStU (Anm. 2), Bl. 46. 9Die Hiroshima-Bombe hatte ein TNT-Äqui- 8Dieser Betrag erscheint unwahrscheinlich valent von 13,5 kt. niedrig. Der 64. Sitzung des Nationalen Ver- 10BStU (Anm. 2), Bl. 13 ff. Perspektiven der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion

Norbert Walter

1. Einführung vorgelegten Werner-Plan, über das von Giscard d’Estaing und Schmidt 1978 Die Geschichte der europäischen Inte- initiierte Europäische Wechselkurssy- gration erreicht in Kürze einen weite- stem EWS bis hin zum Delors-Bericht ren Höhepunkt: Pünktlich am 1. Janu- sind die Namen bedeutender europäi- ar 1999 beginnt die Europäische scher Persönlichkeiten mit diesem hi- Währungsunion (EWU). Dies bestätig- storisch einmaligen Projekt verbunden te der Europäische Rat der Staats- und und dafür verantwortlich, daß wir die Regierungschefs erwartungsgemäß auf Einführung des Euro am Anfang 1999 dem Sondergipfel der Europäischen als nunmehr fast selbstverständlich Union (EU) Anfang Mai 1998 in Brüs- ansehen können. sel. Euroland nimmt Gestalt an. Von den 15 Mitgliedstaaten der EU werden Wie sieht nun der Übergang zu dieser zunächst elf Länder der EWU an- Einheitswährung konkret aus? Im gehören, und zwar Frankreich, Italien, Maastrichter Vertrag wird die schnelle Deutschland, Spanien, die Niederlan- Einführung der einheitlichen Wäh- de, Belgien, Österreich, Finnland, Por- rung verlangt, sobald mit dem 1. Janu- tugal, Irland und Luxemburg. Großbri- ar 1999 die dritte Stufe auf dem Fahr- tannien, Dänemark, Schweden und plan zur Währungsunion automatisch Griechenland werden aus unterschied- begonnen hat. Auf dem Amsterdamer lichen Gründen nicht von Anfang an Gipfel im Juni 1997 wurden drei Pha- dabei sein. sen zum Übergang zum Euro verbind- lich beschlossen: Die Erreichung dieses entscheidenden Etappenziels war alles andere als selbst- ● Die erste Phase (A) begann bereits verständlich. Es verlangte den ganzen Anfang Mai 1998 mit der Entschei- Einsatz einer kleiner Elite von weit- dung über die Teilnehmerländer, sichtigen Politikern und Ökonomen, der Festlegung der Umtauschkurse um die Idee der Europäischen Integra- der einzelnen Währungen unterein- tion auch gegen vielfältige Widerstän- ander und der Nominierung des de und Rückschläge zu verwirklichen. EZB-Direktoriums. Spätestens zum Angefangen bei Churchills Rede in 01. Juli 1998 wird dann aus dem Eu- Zürich im Jahre 1946, über die Römi- ropäischen Währungsinstitut die schen Verträge von 1957, den 1970 Europäische Zentralbank hervorge- Politische Studien, Heft 360, 49. Jahrgang, Juli/August 1998 84 Norbert Walter

gangen sein und ihre Tätigkeit auf- für einen Euro angegeben werden. genommen haben. Zusammen mit Mit dem 1. Januar 1999 übernimmt den nationalen Notenbanken bildet die EZB die Verantwortung für die sie dann das Europäische Zentral- Geldpolitik. Das kann sich für die bankensystem. Es ist wichtig, daß einzelnen Volkswirtschaften spür- die EZB früh über die Strategie ihrer bar auswirken: Die EZB muß einen Geldpolitik entscheidet und erklärt, gemeinsamen Zins für das gesamte welche Indikatoren sie zur Messung Euro-11-Land festlegen und kann des Erfolgs dieser Strategie heran- nicht auf nationale Besonderheiten zieht und mit welchen Instrumen- Rücksicht nehmen, selbst wenn sich ten sie steuert, so daß sich die Markt- ein Land im Gegensatz zur Mehr- teilnehmer darauf einstellen kön- heit der anderen Teilnehmerländer nen. Viel spricht dafür, daß die EZB von Euro-11-Land in einem Boom sehr bald ein sehr ehrgeiziges Inflati- befindet und ein höheres Zinsni- onsziel von eineinhalb bis zwei Pro- veau zur Dämpfung der Nachfrage zent verkünden wird. hilfreich wäre. Hierfür müssen nun andere Mechanismen benutzt wer- ● Die Phase B beginnt dann mit dem den, vor allem die der Finanzpolitik. 1. Januar 1999. Zwar wurden die bi- Ein weiterer Fixpunkt der Umstel- lateralen Umtauschkurse der einzel- lung wird die Einführung des Euro nen Währungen untereinander am Kapitalmarkt sein: Sowohl staat- schon Anfang Mai 1998 festgelegt, liche Neuemissionen als auch um- die Umrechnungskurse zum Euro laufende staatliche börsennotierte können allerdings erst zur Jahres- Titel werden auf Euro umgestellt. wende 1998/99 fixiert werden, und Ansonsten herrscht aber der Grund- zwar aus folgendem Grund: Der satz vor: Keine Behinderung, kein Euro wird gemäß Vereinbarung im Zwang zur Verwendung des Euro. Maastrichter Vertrag den gleichen Erst Ende 2001 endet diese Phase B Wert wie der bis dahin noch gültige und damit die Schonfrist für die Ecu haben, und in diesen fließen die öffentliche Hand, für die Unter- gewichteten Währungen auch der nehmen und die privaten Haus- Länder mit ein, die vorerst nicht an halte. Hierbei sorgt die angekün- der EWU teilnehmen, also das briti- digte spätestmögliche Umstellung sche Pfund, die dänische und der öffentlichen Hand in Deutsch- schwedische Krone und die griechi- land (erwähnt seien z.B. die Fi- sche Drachme. Da die Wechselkurse nanzämter) für unnötige Reiberei- dieser Währungen noch schwanken en und Kosten, da sich die meisten können, kann sich auch der Wert Unternehmen sehr viel früher um- des Währungskorbes Ecu und damit stellen müssen und sich so zu auch der des Euro noch ändern, so einer doppelten Buchführung, Bi- daß man derzeit noch keine defini- lanzierung etc. gezwungen sehen. tive Aussage zu den Umtauschkur- Gerade seitens der öffentlichen sen der einzelnen Währungen in Hand hätte ein beispielhaftes, zu- den Euro treffen kann. Als grobe packendes Herangehen an diese Vorstellung kann jedoch ein Um- Herausforderung erwartet werden tauschverhältnis von etwa DM 1,95 können. Perspektiven der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion 85

● In der letzten Phase (C) schließlich – verlaufendes Referendum oder die im ersten Halbjahr 2002 - werden Erfüllung einiger - über die Konver- die Euro-Noten und Euro-Münzen genzkriterien des Maastrichtvertra- (Frankreich hat Mitte Mai bereits ges hinausgehender - ökonomischer mit der Prägung begonnen) als ge- Voraussetzungen (u.a. Konvergenz setzliches Zahlungsmittel einge- der Konjunkturzyklen). Allerdings führt, während die nationalen Bank- hat die Entwicklung in den anderen noten und Münzen noch maximal Teilnehmerländern gezeigt, daß weitere sechs Monate ihre Gültigkeit durch die Entscheidung für einen behalten. Beitritt und die damit einhergehen- Mit der Festlegung der bilateralen de Angleichung der monetären Po- Wechselkursverhältnisse zwischen litik die wichtigste Voraussetzung den elf EWU-Teilnehmern hat die für die ökonomische Konvergenz Währungsunion de facto bereits erfüllt ist. Lediglich das Referendum Anfang Mai begonnen, auch wenn und damit die Haltung der Bevölke- der offizielle Startschuß erst am 1. rung stellt ein ernsthaftes Hindernis Januar 1999 fallen wird. Euro-11- für einen zügigen Beitritt dar. Ein Land wird hinter den USA der zweit- „ja“ ist indes umso wahrscheinli- größte Wirtschaftsraum mit einer cher, je mehr die Vorteile der gemeinsamen Währung sein. Währungsunion offenbar und die Knapp 30% des BIP der OECD wer- Kosten einer weiter ablehnenden den von Euro-11-Land erwirtschaf- Haltung sichtbar werden. Dieses Re- tet. Auch im Welthandel wird Euro- ferendum wird Tony Blair sicherlich 11-Land eine wichtige Rolle spielen. erst in einer (erhofften) zweiten Le- Mit einer durchschnittlichen Ex- gislaturperiode und damit wohl erst bzw. Importquote in Nicht-EWU- ab 2003 durchführen. Staaten von gut 11% bzw. 10% des BIP wird Euro-11-Land eine höhere Um Euro-11-Land zu verwirklichen, außenwirtschaftliche Verflechtung mußten im Vorfeld einige Hürden ge- aufweisen als die USA oder Japan. nommen werden: Die einstimmige Da die übrigen vier EU-Mitglieds- Entscheidung der Staats– und Regie- länder Großbritannien, Dänemark, rungschefs für die EWU war keine Schweden und Griechenland in ab- Selbstverständlichkeit. Verschiedene sehbarer Zeit der EWU beitreten Institutionen mußten ihre Voten über dürften, verändern sich diese Rela- die Erreichung der Maastricht-Kriteri- tionen noch stärker zugunsten Eu- en abgeben. Zwar haben alle dem Ur- ropas. Von Großbritanniens Ent- teil zugestimmt, daß 14 der 15 EU-Län- scheidung für oder gegen einen Bei- der euro-fit sind (drei aus politischen tritt zum Euro geht sicherlich eine Gründen freilich – noch – nicht mit- Signalwirkung auf die anderen Län- machen wollen). Aber lediglich der der aus (mit Ausnahme Griechen- Kommissionsbericht war ohne Wenn lands, welches sofort beitreten will, und Aber. Im Votum des EWI und in sobald es die fiskalischen Anforde- dem Sondervotum der Bundesbank rungen erfüllt). Zwar knüpfte Groß- wurden indes eine Reihe von Risiken britannien seinen Beitritt an mehre- im Zusammenhang mit der Staats- re Bedingungen wie z.B. ein positiv schuld Italiens und Belgiens betont 86 Norbert Walter und fortgesetzte Stabilisierungsan- stabilität verpflichtete Zentralbankpo- strengungen dort wie andernorts litik erwarten. In der Anfangsphase er- (Deutschland etwa) angemahnt. scheint sogar eine noch rigidere Geld- Der fristgerechten Einführung des politik möglich, wenn die EZB die Euro drohte eine weitere Gefahr von durch die jüngsten Diskussionen even- mehreren Verfassungsbeschwerden tuell aufgekommenen Zweifel an ihrer vor dem Bundesverfassungsgericht, die Unabhängigkeit zerstreuen will. allerdings Anfang April 1998 einstim- mig mit Hinweis auf die bereits Sowohl die institutionellen als auch 1992/93 gefällte Grundsatzentschei- die personellen Weichenstellungen ga- dung als „offensichtlich unbegründet“ rantieren somit, daß der Euro minde- abgelehnt wurden. Noch im selben stens so stabil sein wird wie die DM. Monat haben dann Bundestag und Diese Einschätzung wurde durch die Bundesrat den Start der 11 Länder um- Reaktion der Märkte nach der Be- fassenden EWU mit breiter Mehrheit kanntgabe dieser Entscheidungen be- gebilligt. stätigt: Die europäischen Währungen blieben stark, die Börsenkurse stiegen Nachdem diese Hürden genommen weiter. waren, konnten auch die Unstimmig- keiten im Zusammenhang mit der Be- Wichtig ist nun, das durch die setzung des Direktoriums der EZB und Währungsunion geschaffene Potential die dadurch in der Öffentlichkeit ent- für höheres Wachstum und mehr Be- fachte Diskussion um die Unabhängig- schäftigung in Europa auch auszu- keit der EZB den Zug nicht mehr auf- schöpfen. Dazu ist es notwendig, sich halten. Der Präsident des EWI, der Nie- auf die neuen wirtschaftspolitischen derländer Wim Duisenberg, wurde of- Rahmenbedingungen in der EWU ein- fiziell als erster Präsident des EZB no- zustellen. Der Verzicht auf Abwertung miniert. Sein Angebot, seine achtjähri- und eigenständige Geldpolitik als Mit- ge Amtszeit nicht voll auszuschöpfen, tel der nationalen Wirtschaftspolitik führte angesichts der Sackgasse, in die führt zu wachsenden Anforderungen sich Franzosen, Niederländer und an die in nationaler Verantwortung Deutsche hineinmanövriert hatten, zu verbleibenden Bereiche der Wirt- der besten noch möglichen Lösung: schaftspolitik. Der Reformdruck wird Mit ihm und seinem bereits auserkore- verstärkt durch die im Vertrag von nen Nachfolger Jean-Claude Trichet Maastricht gezogenen Grenzen für die stehen der EZB für insgesamt 12 Jahre Nettoneuverschuldung des Staates zwei ausgewiesene Fachleute vor. und durch die Verpflichtung, mittelfri- Beide haben sich ihren Ruf als unbe- stig einen nahezu ausgeglichenen stechliche Stabilitätspolitiker bereits Staatshaushalt oder sogar einen Über- im zähen Ringen gegenüber ihren ei- schuß zu erzielen. genen Regierungen erworben. Auch die anderen fünf Mitglieder des Direk- Das Wachstumspotential wird in vie- toriums – darunter Otmar Issing für die len EU-Staaten nach wie vor aufgrund Konzeption der Geldpolitik zuständig einer unvertretbaren Einengung pri- wie schon in der Bundesbank - lassen vatwirtschaftlicher Aktivitäten durch eine unabhängige, allein der Geldwert- den Staat geschmälert. Privatisierung, Perspektiven der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion 87

Subventionsabbau, Deregulierung und men geführt haben, werden innerhalb Reformen der Steuer- und Sozialversi- von Euro-11-Land der Vergangenheit cherungssysteme werden die ord- angehören. Damit werden durch die nungspolitische Agenda zukünftiger EWU Wachstum und Beschäftigung in Wirtschaftspolitik in Euroland charak- allen Teilnehmerländern gefördert. terisieren. Auch die Tarifparteien wer- den sich, angesichts einer zumeist Es spricht alles dafür, daß ein stabiler hohen Arbeitslosigkeit in Euroland, ge- Euro in vieler Hinsicht sogar erfolgrei- fordert sehen, durch eine verantwor- cher als die DM sein wird: Als Handels- tungsbewußte Tarifpolitik dazu beizu- währung wird der Euro nicht nur unter tragen, daß die neu entstehenden den Euroländern verwendet werden, Wachstums- und Beschäftigungschan- sondern auch von den an Euroland an- cen in der EWU genutzt werden. grenzenden Ländern wie den „pre-ins“ (die Euro-4-Länder, die noch nicht an der EWU teilnehmen) oder den mit- 2. Chancen und Risiken der telosteuropäischen Ländern. Diese Währungsunion stärkere Rolle als Transaktions- währung wird zur Folge haben, daß der Der Eintritt in die Europäische Wirt- Euro auch als Anlage- und Reserve- schafts- und Währungsunion stellt die währung eine deutlich größere Rolle Krönung eines zwanzigjährigen geld- spielen wird, da die Zentralbanken der politischen Kooperationsprozesses dar, an Euroland angrenzenden Länder der zu einer nicht für möglich gehalte- dazu übergehen werden, einen Teil nen Konvergenz und Stabilitätskultur ihrer Währungsreserven von US- der Teilnehmerländer geführt hat. Dollar auf Euro umzuschichten. Wei- Ein wesentlicher Vorteil der Wäh- tere Länder wie z.B. China oder andere rungsunion liegt im Wegfall der Klein- asiatische Länder werden eine Diversi- staaterei auf dem Währungsgebiet. Das fikationsstrategie verfolgen, um so bedeutet eine größere Unabhängigkeit vom US- Dollar zu erzielen. Haben die europäi- ● zum einen, daß sowohl Transakti- schen Währungen derzeit einen Anteil ons- als auch Kurssicherungskosten an den Weltwährungsreserven von entfallen und dadurch der Verkehr rund 22%, so dürfte der Euro einen von Waren, Dienstleistungen und Marktanteil von rund einem Drittel er- Kapital erleichtert wird. obern. ● Zum anderen erhöht sich die Pla- nungssicherheit bei Handel und bei Aus deutscher Sicht hat dies nicht zu- grenzüberschreitenden, langfristi- letzt den Vorteil, daß die Last der Re- gen Investitionen. servewährungsrolle auf die wesentlich breiteren Schultern des gemeinsamen Die Entlastung von diesen Kosten wird Finanzmarktes verteilt wird. Dieser auch den Verbrauchern durch niedri- wird eher in der Lage sein, nachteilige gere Preise zugute kommen. Wechsel- Auswirkungen massiver Kapitalzu- kursschwankungen, welche in der EU oder abflüsse auf die EU-Konjunktur immer wieder zu Verzerrungen der sowie auf die Zins- und Inflationsent- Wettbewerbsfähigkeit der Unterneh- wicklung abzufedern. 88 Norbert Walter

An dieser Stelle soll einer weitverbrei- te Geldpolitik erfüllt. Und der Boden teten, mißverständlichen Interpretati- für eine solche Politik, die zwar in on der Währungsunion vorgebeugt Deutschland seit langem selbstver- werden: Im Gegensatz zu den Wäh- ständlich erscheint, sich in anderen rungsreformen von 1923 und 1948, Teilnehmerländern aber erst gegen teil- welche eine Entwertung des Finanz- weise heftige Widerstände durchsetzen vermögens mit sich brachten, ist die mußte, ist inzwischen so günstig, wie Umstellung auf den Euro lediglich ein es noch vor kurzem undenkbar schien: rein mathematischer Vorgang. Geld- Die Konvergenz der Inflationsraten vermögen und Geldschulden werden wurde auf einem historisch niedrigen wertgleich umgestellt. Die Umrech- Niveau erreicht – 1997 lagen die Infla- nung erfolgt anhand der jeweiligen tionsraten aller elf Teilnehmerländer Umtauschkurse von nationalen unter 2%. Bei der Bewertung der Schul- Währungen in den Euro und ist bis auf denkriterien wurde zwar der im Maas- sechs signifikante Stellen gesetzlich tricht-Vertrag gegebene Spielraum vom vorgeschrieben. Das Risiko eines Kauf- Europäischen Rat ausgeschöpft; aller- kraftverlusts oder –gewinns durch den dings geht hiervon keine Gefahr für die Umrechnungsvorgang auf den Euro Währungsunion aus. Die fortgesetzte selbst ist dabei ausgeschlossen. Hinge- Konsolidierung der öffentlichen Haus- gen ist es sehr wohl möglich, daß im halte ist jedoch nach wie vor eine vor- Lauf der Währungsumstellung Preis- dringliche Aufgabe. Diese Tatsache anpassungen, beispielsweise durch spiegelt sich indes im Stabilitätspakt den Einzelhandel, vorgenommen wer- wider, der weiteren Druck ausübt im den. Ein Signalpreis von 1,99 DM ver- Sinne einer stabilitätsorientierten liert seine Signalfunktion, wenn er um- Haushalts- und Schuldenpolitik. gerechnet 1,02051 Euro ist. Hier dürfte der zunehmende Wettbewerb aller- Doch genausowenig wie man eine Ga- dings dafür Sorge tragen, daß es nicht rantie für eine feste DM geben kann – zu einer generellen „Aufrundung“ der es sei hier an die höheren Inflationsra- Euro–Beträge gegenüber den umstel- ten der DM zu Anfang der neunziger lungskursgerechten Preisen kommt. Jahre im Zuge der Wiedervereinigung erinnert -, kann man eine Stabilitätsga- Vor allem die deutsche Bevölkerung rantie für den Euro abgeben. mit ihren traumatischen Erfahrungen Gelegentlich werden Bedenken ge- zweier Geldentwertungen in diesem äußert, daß in einer Währungsunion Jahrhundert ist an einer Frage beson- die wirtschaftlich stärkeren Länder den ders interessiert: Wird der Euro genau- wirtschaftlich schwächeren mit Trans- so stabil wie das, was wir dafür herge- ferleistungen unter die Arme greifen ben, die DM? Sowohl die institutionel- müßten, so wie es in Deutschland - len als auch die personellen Weichen- Stichwort „Länderfinanzausgleich“ - stellungen für einen stabilen Euro sind der Fall ist. Die Erkenntnis, daß sich getroffen. Seitens der Europäischen ein solches Transfersystem negativ Zentralbank, der die Steuerung der auswirkt auf die Bemühungen um Geldpolitik obliegt, sind die Vorausset- einen soliden Konsolidierungskurs, zungen für eine unabhängige, allein hat sich inzwischen zumindest auf eu- der Wertstabilität des Euro verpflichte- ropäischer Ebene durchgesetzt. Der bis Perspektiven der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion 89 dato existierende europäische Kohäsi- Neben den bereits besprochenen Vor- onsfonds, der in abgeschwächter Form teilen der EWU wie z.B. der Einsparung eine ähnliche Zielsetzung hat wie der von Transaktionskosten oder der er- Länderfinanzausgleich, wird mit dem höhten Planungssicherheit bedeutet Übergang in die dritte Stufe ab Januar die EWU aber auch eine strategische 1999 abgewickelt. Der Maastrichter Herausforderung für die Unterneh- Vertrag verbietet in der sogenannten men. So eröffnet der durch Wegfall der „no bail out“-Klausel die Übernahme Wechselkursschwankungen verschärf- finanzieller Verbindlichkeiten eines te Wettbewerb den Unternehmen Mitgliedstaates durch ein anderes. Än- neue Marktchancen, erleichtert indes derungen dieser Vorkehrungen bedür- auch den Marktzutritt neuer Konkur- fen der einstimmigen Entscheidung renten. Gleichzeitig engt die europa- der Teilnehmerländer und sind damit weit zunehmende Transparenz den angesichts der knappen Kassen der Spielraum für eine Strategie der Preis- meisten Öffentlichen Haushalte so gut differenzierung ein. Der innereuropäi- wie ausgeschlossen. sche Wettbewerb kann folglich auch eine Überprüfung von Produktgestal- Wie schon weiter oben erläutert tung, von Beschaffungsmärkten und wurde, fördert die Währungsunion auf Produktionsstandorten erforderlich lange Sicht Wachstum und Beschäfti- machen. Das Ausmaß, in dem ein Un- gung im Euroland. Das Parkett, auf ternehmen von der Währungsunion dem man sich zukünftig bewegen betroffen ist - und damit auch das Aus- muß, wird nicht mehr ein nationaler maß der möglichen Chancen und Risi- Markt sein, sondern wird ganz Euro- ken - hängt wesentlich von der Bran- land umfassen. Der durch den Eintritt che ab, in der es angesiedelt ist. Die Ko- neuer Konkurrenten verschärfte Wett- sten der technischen Umstellung bewerb wird mittelfristig die Konkur- sowie die strategischen Fragestellun- renzfähigkeit der Unternehmen im in- gen unterscheiden sich dabei wesent- ternationalen Vergleich stärken. Kurz- lich in den einzelnen Wirtschaftszwei- fristig könnten jedoch in einigen Bran- gen. Für eine erfolgreiche Umstellung chen zunächst Arbeitsplätze, die unter gilt jedoch für alle Unternehmen glei- den neuen Bedingungen nicht mehr chermaßen, daß frühzeitige Maßnah- wettbewerbsfähig sind, abgebaut wer- men und ausführliche Informationen den, u.a. als Folge von Unternehmens- unabdingbare Voraussetzungen sind. zusammenschlüssen. Aber ebenso wie der Euro nicht die Lösung aller Proble- me auf den Arbeitsmärkten bedeutet, 3. Schlußfolgerungen für die darf ihm nicht die Schuld für eine ra- Geld- und Fiskalpolitik tionalisierungsbedingte Arbeitslosig- keit in die Schuhe geschoben werden. Die Europäische Wirtschafts- und Der Euro verkürzt aber wohl die Schon- Währungsunion bedeutet für alle elf frist, die einigen Branchen für notwen- Teilnehmerstaaten eine einheitliche dige Umstrukturierungen und Ratio- Geldpolitik, welche ab dem 1. Januar nalisierungen angesichts der unauf- 1999 in den Händen der Europäischen haltsamen Globalisierung noch gege- Zentralbank liegen wird. Zwar gab es ben war. seit den späten achtziger Jahren bereits 90 Norbert Walter eine de facto Währungsunion zwi- Impulse auf die Konjunktur ausgehen schen Frankreich, Deutschland, Öster- sollten, den meisten öffentlichen reich und den Beneluxländern, aller- Haushalten aber - zumindest derzeit dings wurde die Geldpolitik weitge- durch die bereits angespannte Defizit- hend von der Bundesbank festgelegt, situation (nahe an 3% des BIP) und an- die sich überwiegend an den Gegeben- gesichts des in einigen Fällen hohen heiten der deutschen Wirtschaft orien- Schuldenstandes (von über 60% des tierte. Die abweichende wirtschaftli- BIP) - die Hände gebunden sind. An che Situation in den anderen Ländern einer zügigen Konsolidierung der öf- sowie deren unterschiedliche Bonität fentlichen Haushalte führt daher kein spiegelte sich in den Zinsaufschlägen Weg vorbei, will man für künftige Kri- wider. Die einheitliche Geldpolitik in sen-Zeiten Handlungsspielraum ha- der EWU wird demgegenüber zu einem ben. einheitlichen Niveau der kurzfristigen Zinsen im gesamten EWU-Raum führen. Daraus können für die einzel- 4. Fazit nen Länder durchaus Spannungen re- sultieren, vor allem dann, wenn ihr Die Weichen sind gestellt, der Zug rollt Konjunkturzyklus von dem der ande- unaufhaltsam: Der Euro kommt, die ren Länder merklich abweicht. Die EZB Hürden sind genommen, Chancen wird ihre geldpolitischen Entschei- und Risiken ausführlich untersucht dungen an der wirtschaftlichen Ent- und kommentiert. Die Hausaufgaben wicklung im gesamten EWU-Raum sind leider nur teilweise gemacht. Vor ausrichten. Kann also die Geldpolitik allem die nationalen Regierungen soll- nicht länger zu einer national differen- ten nachsitzen. Die vorangegangenen zierten, antizyklischen Steuerung des Ausführungen haben gezeigt, daß die Wirtschaftsgeschehens eingreifen, fällt Chancen einmalig sind und sich nur diese Aufgabe mit um so größerem Ge- mit dem Euro bieten. Die Risiken hin- wicht anderen Formen der Wirt- gegen sind auch ohne den Euro in die- schaftspolitik und hier vor allem der ser Zeit der zunehmend globalisierten Fiskalpolitik zu. Daraus resultieren Märkte vorhanden, die Ursachen für mehrere Probleme. Am gravierendsten bereits bestehende Probleme wie der ist indes, daß von der Fiskalpolitik im Arbeitslosigkeit müssen auch ohne Falle einer Abkühlung stimulierende den Euro gelöst werden. Überlegungen zum Begriff der Elite

Thomas Buchheim

1. Einführung Menschen sei die „vergleichende Selbstliebe“, „sich nämlich nur in Ver- Am Begriff der Elite scheiden sich die gleichung mit anderen als glücklich Geister wie an kaum einem anderen oder unglücklich zu beurteilen. Von soziologischen Begriff. Kein Wunder! ihr rührt die Neigung her, sich in der Denn bei aller scheinbar noch so un- Meinung anderer einen Wert zu ver- beteiligten Reflexion über den Gegen- schaffen. (...) Die Laster, die auf diese stand, geht es doch immer auch um Neigung gepfropft werden, können die eigene Zugehörigkeit oder Nichtzu- daher auch Laster der Kultur heißen gehörigkeit zu ihr, die Verteidigung und werden im höchsten Grad ihrer einer Position oder den Angriff auf sie. Bösartigkeit (...) teuflische Laster ge- Jeder hat nun mal nur sein Leben und nannt. (Kant, Religionsschrift B 17f.). möchte es als einigermaßen bedeuten- der Mensch und jedenfalls nicht als Um dieser teuflischen Potenz des The- Mitglied der bloßen „Masse“ - des oft mas von vornherein auszuweichen, tut evozierten Gegenteils der Elite1 - ver- es am besten, es mit einem Schuß von bringen. Das Schwierige und Affekt- Ironie zu behandeln. Z.B. so wie Musils weckende an der Elite ist nämlich, daß ‘Mann ohne Eigenschaften’ (S.34f.): sie ein Wertbegriff ist, der sich zugleich „Dieser Mann (...) konnte sich keiner gesellschaftlich objektivieren läßt. An- Zeit seines Lebens erinnern, die nicht ders als beim, ‘Guten’, der ‘wahren von dem Willen beseelt gewesen wäre, Liebe’ oder dem ‘Glück’: Diese drücken ein bedeutender Mensch zu werden; ebenfalls Werte aus, die jedes mensch- mit diesem Wunsch schien Ulrich ge- liche Leben erstrebt, doch bleibt es boren worden zu sein. Es ist wahr, daß stets diskutierbar, ob und wie jemand sich in einem solchen Verlangen auch sie erreicht oder nicht. Bei der ‘Elite’ Eitelkeit und Dummheit verraten kön- hingegen öffnet sich die Schere zwi- nen; trotzdem ist es nicht weniger schen subjektiver Selbsteinschätzung wahr, daß es ein sehr schönes und rich- und objektivem Vergleich des Erfolgs. tiges Begehren ist, ohne das es wahr- Das macht die Leute böse, wie schon scheinlich nicht viele bedeutende Kant vermerkte: Das Typische für den Menschen gäbe. Das Fatale daran war

Politische Studien, Heft 360, 49. Jahrgang, Juli/August 1998 92 Thomas Buchheim bloß, daß er weder wußte, wie man ginald Földy)5; die anderen erkennen einer wird, noch was ein bedeutender in ihm eine grassierende Erosion regio- Mensch ist. In seiner Schulzeit hatte er nalen Verantwortungsbewußtseins für Napoleon dafür gehalten. (...) Die das Gemeinwesen (z.B. Christopher Folge war, daß Ulrich, sobald er der Lasch)6 oder - immer noch - eine schlei- Schule entrang, Fähnrich in einem Rei- chende Subversion und Aushöhlung terregiment wurde.“ D.h. Ulrich tritt demokratischer Prinzipien und der einer Elite bei - und scheitert natürlich Gleichbehandlung der Menschen. alsbald kläglich, weil er nur in Rollen schlüpft, anstatt irgendetwas zu sein: Vielleicht ist es angesichts dessen rich- „Er gab sich einem großartigen Pessi- tig, jemanden über den Begriff reflek- mismus hin: es schien ihm, da der Sol- tieren zu lassen, der davon nicht mehr datenberuf ein scharfes und glühendes versteht als jeder andere Bürger moder- Instrument ist, müsse man mit diesem ner Gesellschaften auch, der aber nach Instrument die Welt zu ihrem Heil Art philosophischer Betrachtungsweise auch brennen und schneiden.“ Usw. ein paar Unterschiede, die der Begriff der Elite an sich zu haben und zu erfor- Im Gegensatz dazu hat der Elitebegriff dern scheint, in Erinnerung ruft, deren eine reichlich unironische Geschichte Berücksichtigung mancher Ereiferung und gleicht, selbst in wissenschaftli- für oder gegen den Sachverhalt von cher Theoriebildung, mehr einer poli- vornherein den Boden entzieht. Dabei tischen Parole, entweder gegen die ist es auch Philosophenart, nicht Partei Propagierung einer ‘klassenlosen Ge- zu ergreifen, sondern allen Kontrahen- sellschaft’ - wie bei Gaetano Mosca2 ten Recht zu geben, zugleich aber auch und Vilfredo Pareto3 - oder auch, weni- - wie Kant es uns in seinen berühmten ger bekannt, für einen Protosozialis- Antinomien vorgemacht hat - beiden mus wie ihn Henri Claude de Saint- Seiten Unrecht. Denn Recht zu behal- Simon zu Anfang des 19. Jahrhunderts ten, besänftigt die Gegner, ihr beider- entwickelte, für den die Elite der von seitiges Unrecht aufzuzeigen aber ist ihm so bezeichneten „Industriellen“ - geeignet, den Streit auf eine andere d.h. der Handwerker, Arbeiter und Ebene zu manövrieren. Wenn nun die Bauern - die tonangebende Schicht einen beteuern, ohne Elite geht es einer künftigen Gesellschaft sein soll- nicht, und die Gleichheit eine „Illusi- te, nach deren Bedürfnissen und zu on“ nennen, so haben sie ja, wie es deren Förderung und Optimierung alle scheint, auch wirklich Recht aus zwei ihre sonstigen Elemente nützlich zu naheliegenden Gründen: Erstens weil sein hätten.4 Menschen immer unterschiedliche Fähigkeiten besitzen und dies in sehr Etwas Parolenhaftes und Ideologisches verschiedenem Grade, so daß die Aus- klebt demselben Begriff bis heute an, bildung von vollkommenerer und we- wenn auch mit etwas anderen Vorzei- niger vollkommener Anwendung ge- chen. Für die einen bedeutet er buch- wisser Fähigkeiten unter ihnen schon stäblich die einzig mögliche Rettung aus natürlichen Gründen unvermeid- der Menschheit in die globale Wissens- lich ist. Zweitens aber sind die objekti- oder ‘Bewußtseins’-Gesellschaft des ven Herausforderungen an die sozialen 21. Jahrhunderts (wie etwa für Re- Verbände, in denen Menschen existie- Überlegungen zum Begriff der Elite 93 ren müssen, allemal so groß, daß es ver- ‘elire’, wo der Terminus Elite sich zuerst schenkte Lebenschancen für alle ihre einbürgerte - daß sie also die „Auslese“ Mitglieder bedeuten würde, wenn man einer Elite zumeist gleichsetzen mit nicht manchen Gruppen einen größe- einer Art sozialdarwinistischer, d.h. ren Einfluß auf die Gestaltung des ge- quasinatürlicher Selektion der Geeig- meinsamen Lebens zubilligen würde netsten oder Überlebensfähigsten. als anderen, um eben mit jenen Her- Doch müssen, und das ist der erste we- ausforderungen besser zurandezukom- sentliche Unterschied, auf den ich auf- men. Ausdifferenzierung von Eliten in merksam machen möchte, natürliche Sozialsystemen scheint so in der Tat Selektion und soziale Auslese strikt aus- unvermeidlich und unentbehrlich zu einandergehalten werden. Elite wird sein. mißverstanden, wenn sie wie ein sozial- darwinistisches Konzept gerechtfertigt Recht haben aber auch die anderen, die und eingesetzt wird. sagen, Elitebildung beschränke demo- kratische Prinzipien oder höhle sie aus Die zweite Unterscheidung, die ich tref- und mache die Menschen ungleich in fen möchte, richtet sich auf eine eben- Punkten, wo sie mit Recht Gleichheit so häufig zu beobachtende Unrichtig- beanspruchen. Auch sie haben für diese keit auf seiten der egalitär-demokrati- Vermutung mindestens zwei gute schen Kritiker des Elitebegriffs, weil sie Gründe: Erstens nämlich neigen Men- in Elitebildung und Elitenförderung schen, denen man größeren Einfluß moderne Feudalismen wittern und oder gar Entscheidungsgewalt in einer einen Rückfall in aristokratische oder bestimmten Hinsicht zubilligt, dazu, oligarchische Zustände befürchten. sie sich auch in anderer anzumaßen; Denn vielmehr ist der Machtstatus von zweitens ist das gern offerierte demo- Eliten zu unterscheiden von dem einer kratische Mäntelchen der ‘Chancen- Aristokratie oder Oligarchie, d.h. von gleichheit’ für alle, die modernen, so- der Herrschaft einer bestimmten genannt ‘offenen’ Eliten zu erreichen, Schicht oder Gruppe, weil nämlich der eben doch nur ein Mäntelchen, weil Begriff der politischen Herrschaft über- die Möglichkeit der Wahrnehmung haupt etwas anderes bedeutet als das, von Chancen wiederum an Vorausset- was Eliten als solche haben können. zungen und Ressourcen geknüpft ist, Deshalb ist es auch falsch, wie selbst die, blickt man auf die gegebene Exi- viele positiv eingestellten Vertreter der stenz etablierter Eliten in einer Gesell- Elitetheorie - etwa Mosca oder Pareto - schaft, auch deshalb höchst unter- und ihnen folgend viele andere es bis schiedlich verteilt sind. heute tun, die Elite mit der ‘herrschen- den Klasse’ oder der ‘politischen Klasse’ So weit das Recht beider Parteien. Doch zu identifizieren. haben beide, wie ich schon sagte, bei ihrer Verteidigung oder Gegnerschaft häufig auch Unrecht. Unrecht haben 2. Soziale Elitenauslese versus die Anwälte der Eliten darin, daß sie die biologische Selektion „Auslese“ der Angehörigen von Eliten - denn das kennzeichnet den Wortsinn Zur ersten Unterscheidung ist zu sagen, von lateinisch ‘eligere’ und französich daß sich die natürliche Selektion auf 94 Thomas Buchheim

Überlebenschancen des gesamten We- ren ihrer umfassenden Lebenstüchtig- sens bezieht, welches sich als „fitte- keit. Vielmehr ist dieses Selbstmißver- stes“ behauptet, und somit in der sum- ständnis bereits ein alarmierendes An- mierten Durchsetzungskraft begrün- zeichen für falsche Selbstgefälligkeit det ist, die die betreffenden Individuen und Selbstabgrenzung, damit aber durch ihre biologische Ausstattung be- auch Erstarrung einer Elite, und ihr sitzen. Die soziale Auslese hingegen be- sollte ständig entgegengearbeitet wer- zieht sich erstens grundsätzlich nur auf den. bestimmte, sozial prämierte Fähigkei- ten, die gewisse Individuen haben oder Die soziale Vermitteltheit des Elite-Sta- in besonderem Maße an den Tag legen; tus läßt interessante Rückschlüsse auf und sie wird zweitens denselben Indi- nötige Strukturzüge einer Elite selbst viduen durch andere mit vergleichba- zu. Denn es ist offenbar unzureichend, ren Fähigkeiten erst zuteil oder zuge- der sogenannten „Masse“ oder Mehr- billigt. Dies begründet, wie ich gleich zahl von Mitgliedern einer Gesellschaft näher erklären werde, eine zweifache auf der einen Seite unmittelbar die Elite soziale Angewiesenheit der Elite auf als Oberschicht oder herrschende Klas- die, die ihr nicht angehören. se auf der anderen entgegenzustellen, wie es z.B. Ortega y Gasset tat.(s. Anm.1) Angehörige einer Elite haben immer Richtig dagegen meint schon der bibli- eine vielgestaltige passive Auswahl sche locus classicus zum Thema Elite: durch andere Mitglieder ihrer Refe- „multi vocati, pauci electi“7, der besagt, renzgruppe hinter sich, biologisch se- daß viele unter dem Anspruch der Reli- lektierte Überlebenskünstler nicht. gion leben müssen, damit nur wenige Vergleichbar mit einer Elite ist in die- die wirklich Erwählten sein können. Es ser Hinsicht der Begriff der Autorität bedarf also vielmehr, eben wegen der oder auch - wenigstens in der Spielart mit Elite allemal verbundenen Auslese, des Begriffs, die Hannah Arendt be- stets vermittelnder Stufen der Affinität schrieben hat - der Begriff der Macht: und Annäherung zur Elite, auf denen Autorität und Macht sind Eigenschaf- die Konkurrenz und Auswahl vonstat- ten, die Menschen nur haben, auf- ten geht. grund der Zustimmung oder eines be- sonderen Lebensverhältnisses anderer Um mit der Schilderung einer solchen Menschen zu ihnen; sie wachsen erforderten Elitestruktur am oberen ihnen also erst im sozialen Kontext zu Ende zu beginnen, so ist zu sagen, daß und sie besitzen sie nicht als Eigen- keine Elite ein singuläres Haupt haben schaften von Natur aus, wie sehr wohl kann, sondern immer irgendeine Pa- die biologischen Vorteile. Man begeht rität des Ausgezeichnetseins gegeben deshalb einen ziemlich offenkundigen sein muß, die die Situation des Kon- Fehler, wenn man den Aufstieg in Eli- kurrierens in den Elitestatus selbst hin- ten mit selektionierter Durchsetzungs- ein verlängert. Denn andernfalls fähigkeit von Individuen gleichsetzt. würde ein solcher Status, sobald je- Ja, die Angehörigen einer Elite bege- mand die Elite erreicht hat, mutieren hen oft selbst diesen Fehler zu meinen, zu einer veritablen und nicht mehr zur sie verdankten ihren Erfolg zum einen Disposition stehenden Eigenschaft sei- überhaupt sich selbst und zum ande- nes Inhabers, was dem oben erläuter- Überlegungen zum Begriff der Elite 95 ten Verständnis des Begriffs zuwider- getragen wird von einer oder mehreren laufen müßte. Schon deshalb ist es Sub-Eliten (wie manche sie nennen)10, falsch, Herrschaftsstrukturen, die d.h. der viel größeren Zahl derer, die durchaus hierarchisch bis zu einer sin- Interesse haben und die auch ihren gulären Spitze organisiert sein können, Fähigkeiten nach in Frage kommen, in mit Elitestrukturen gleichzusetzen, wie die Kernelite aufzusteigen; und dies etwa Mosca es tut, wenn er schreibt: Ganze ist wiederum eingebettet in eine „Erstens sieht jeder, daß an der Spitze Elite-Basis, deren Mitglieder irgendei- eines jeden politischen Gebildes ein ne besondere Beziehung zu derjenigen einzelner steht, ein Haupt der Hierar- Fähigkeit unterhalten, welche diese chie der gesamten herrschenden Klas- Elite definiert: also im politischen Be- se [Elite bei Mosca], ein »Staatshaupt«.8 reich beispielsweise die Parteien, aber Da lob ich mir Nietzsche, den Philoso- auch zunehmend große Teile der enga- phen der „Vornehmheit“, d.h. der an- gierteren Öffentlichkeit; im sportli- spruchsvollsten Elite überhaupt, der, chen Bereich das ganze Vereins- und wenn er auch vieles zu weit getrieben Fan-Wesen; im kulturellen die Käufer, hat, hier richtiger sieht: „Will man Anhänger, Vorstellungsbesucher, Pro- recht unverhüllt jenes Gefühl (...) der moter und Vermittler einer Kunstrich- Notwendigkeit des Wettkampfes in tung; im klerikalen Bereich die gläubi- seinen naiven Äußerungen sehen, so gen Laien, Diakone etc. etc.. denke man an den ursprünglichen Sinn des Ostrakismos: wie ihn z.B. die Die ganze spezifische Referenzgruppe, Ephesier bei der Verbannung des Her- auf die eine Elite wesentlich angewie- modor aussprechen. »Unter uns soll sen ist, bildet ihren Einzugsbereich und niemand der beste sein; ist jemand es bestreitet auf formellere oder informel- aber, so sei er es anderswo und bei an- lere Weise den Ausleseprozeß, durch deren.« (...) man beseitigt den überra- den die Elite zustandekommt und ge- genden einzelnen, damit nun wieder tragen wird. Eine Elite, die ihre Träger- das Wettspiel der Kräfte erwache. (...) gruppe einbüßt, kann sich nur durch Das ist der Kern der hellenischen Wett- starrsinnigen Traditionalismus oder kampf-Vorstellung: Sie verabscheut die mehr oder minder gewaltsame Immu- Alleinherrschaft und fürchtet ihre Ge- nisierungsstrategien behaupten und fahren, sie begehrt, als Schutzmittel nimmt leicht tyrannische Züge an, gegen das Genie - ein zweites Genie.“9 während ihre Tage gezählt sind. Die Demgemäß ist also das Haupt der Eli- Pflege der eigenen ‘Basis’ und das Be- tenpyramide vielmehr ein Plateau, wußtsein sozialer Dependenz und Ge- d.h. schon eine Mehrzahl, die man tragenheit des eigenen, hervorgehobe- neudeutsch als ‘peer-group’ dieser Elite nen Ranges ist daher eine innere Not- oder ‘Kernelite’ bezeichnen könnte. wendigkeit für Mitglieder von Eliten im echten Sinne des Worts. Ein solches Be- Aber diese Auslese steht nicht nur wußtsein müßte eigentlich das Gegen- unter sich in Konkurrenzverhältnis- teil von ‘elitär’ oder ‘arrogant’ sein, was sen, sondern stammt auch aus Kon- selten genug der Fall sein mag. Doch ist kurrenz, Bewertung und Wahl in bun- es keineswegs wahr, daß umgekehrt der tester Vielfalt und Schichtung, so daß Elite als solcher ein elitärer Standpunkt das Plateau der Elite notwendigerweise inhärent sein müßte. 96 Thomas Buchheim

Weiterhin folgt aus der Notwendigkeit nicht ausreichend, so kommt dies einer spezifischen Referenzgruppe für einem Mißbrauch des eigenen Macht- integre Eliten, daß ihr herausgehobe- status gleich, der freilich möglich und ner Status eine gedoppelte Begrün- sogar verbreitet ist, obwohl seine lang- dungsstruktur besitzt oder sich aus fristige Zunahme allemal auch eine zwei Begründungssträngen zusam- Selbstgefährdung der Elite darstellt, die mensetzt, die in weitergehenden Dis- irgendwann zur Krise führen kann. Die kussionen um diesen Begriff nicht ein- jüngste Krise dieser Art war der Nieder- fach miteinander vermengt werden gang sozialistischer Eliten in den Staa- dürfen, obwohl dies oft geschieht. Eine ten des Ostblocks. Elite besitzt nämlich erstens, wie schon erläutert, einen aus interner Konkur- Um diesen Punkt noch einmal zusam- renz begründeten Rang in Beziehung menzufassen, so ist zu sagen: Die Aus- auf die Referenzgruppe und die sie de- wahl einer Elite besitzt im Unterschied finierenden Fähigkeiten oder Zustän- zur biologischen Selektion eine sogar digkeiten. Zweitens aber beansprucht doppelte soziale Rückgebundenheit, sie auch eine längerfristige, extern be- aufgrund derer nur besondere Fähig- gründete Zustimmung zur herausge- keiten eines Individuums - nicht seine hobenen Bedeutung eben dieser Fähig- umfassende Lebenstüchtigkeit - einer- keiten im gesellschaftlichen Kontext. seits innerhalb einer Referenzgruppe D.h. es braucht Gründe, warum Indivi- ausgelesen werden und andererseits im duen, die gerade diese Fähigkeit besit- gesamtgesellschaftlichen Kontext eine zen, entweder einen herausgehobenen Auszeichnung erhalten. sozialen Status oder gesellschaftlichen und sogar politischen Einfluß inner- halb der gesamten Sozietät besitzen 3. Elite versus Aristokratie sollten. Warum z.B. ist es so, daß eine Wirtschaftselite oder gar der bloße Ein anderer Punkt, in dem Kontrahen- Geldadel heute bei uns besonderes So- ten zum Thema Elite oft beide Unrecht zialprestige und zudem großen politi- haben, betrifft die umstandslose schen Einfluß besitzt oder eine mi- Gleichsetzung von Elite mit politisch litärische Elite in der Türkei oder eine herrschender Klasse oder speziell mit klerikale Elite im Iran? Dies hat jeweils einer Aristokratie11 oder Oligarchie12. ganz bestimmte historische Gründe und ist beileibe keine Natur- oder Kul- Zunächst könnte es freilich so schei- turkonstante und unverrückbare Gege- nen, als wäre gerade ‘Aristokratie’ im benheit. ursprünglichen Wortsinn ein gutes Äquivalent für den Begriff der Elite. Eine Elite muß also sowohl ihrer sozi- Denn Aristokratie heißt bekanntlich alspezifischen Getragenheit durch die „Herrschaft der Besten“ oder „Herr- Referenzgruppe als auch der sozialall- schaft der Tüchtigsten“, unter Elite gemeinen Bevorzugung ihrer definie- aber möchte man die Tüchtigsten oder renden Befähigung eingedenk sein Besten in einer bestimmten Hinsicht und ist daher gut beraten, dem Dünkel zusammengefaßt wissen. Daß demge- der Selbstgefälligkeit sogar doppelte genüber Aristokratie de facto erblicher Zügel anzulegen. Tut sie das nicht oder Blutadel sei, steckt ja nicht in dem Be- Überlegungen zum Begriff der Elite 97 griff Aristokratie, sondern in der histo- nur in der folgenlosen Darbietung rischen Selbstinterpretation gewisser ihrer definierenden Befähigung be- politisch und militärisch führender Fa- steht, sondern einen daran sich hef- milien oder Geschlechter als eben tenden Macht- und Verantwortungs- ‘Beste’ oder ‘Tüchtigste’ in ihrer Ge- status wahrzunehmen hat, ist der sellschaft. Schritt zur Kooptation in die Elite zu- allermeist nicht noch einmal als eine ‘Oligarchie’ hingegen bedeutet „Herr- Steigerung des Grades jener Fähigkeit schaft weniger“ und ist als Begriff in anzusehen. Deshalb ist z.B. Paretos An- dem Bewußtsein geprägt worden, daß satz nach meinem Dafürhalten von eben nicht der erbliche Adel vornherein verfehlt, wenn er schreibt: grundsätzlich auch politische Herr- „So wollen wir also diejenigen zu einer schaft besitzt, daß oft Nicht-Adelige zu Klasse zusammenfassen, die den höch- einem abgeschlossenen Zirkel politi- sten Index in dem betreffenden Zweig sche Herrschaft Übender gehören kön- ihrer Aktivität aufweisen, und wollen nen, und vor allem, daß die politische ihr den Namen „ausgewählte Klasse“ Herrschaft zwar meistens von weni- (classe eletta, élite) geben.“13 Denn gen, aber selten von den Tüchtigsten man fragt sich mit Recht, was denn innegehabt wird. hier wohl noch eine Auswahl bewirken sollte und wer sie vorzunehmen hätte, Wie dem auch sei, gegen die Gleichset- wenn bereits durch den Erfüllungsgrad zung von Elite mit Aristokratie im ur- der spezifischen Tätigkeit die Zu- sprünglichen Sinne des Worts sind gehörigkeit zur Elite festgelegt zu sein sogar zwei Einwände vorzubringen. scheint. Der erste ist, daß Auserwähltheit in eine Elite eben deswegen nicht Best- Wohl läßt sich sagen, daß sich eine heit oder größte Tüchtigkeit impliziert, große Zahl von hochgradig befähigten weil ein sozial vermittelter Auslesepro- Personen in der Sub-Elite ansammeln zeß eingeschaltet ist, der niemals nur wird, aber auch dies schon ergänzt um und eigentlich nicht einmal in erster andere Prävalenzen, die bereits ver- Linie auf die objektive Qualität und schiedentlich honoriert, d.h. ausgele- Feststellung des Besten gerichtet ist. sen wurden. Die Sub-Elite enthält also Die Berufung in ein Elite-Orchester das, was man die ‘Hoffnungen’ der oder an eine Elite-Hochschule oder Elite nennen könnte. Hier ist wieder Elite-Galerie oder in ein Elite-Rechtsor- ein Spott Musils am rechten Platz: „Er gan, und erst recht die Wahl in ein Par- war das geblieben, was man eine Hoff- teipräsidium oder in den Firmenvor- nung nennt, und Hoffnungen nennt stand erfolgt nicht ausschließlich oder man in der Republik der Geister die Re- nicht einmal in erster Linie unter Ge- publikaner, das sind jene Menschen, sichtspunkten optimaler Erfüllung der die sich einbilden, man dürfe seine elite-spezifischen Fähigkeiten, son- ganze Kraft der Sache widmen, statt dern auch mit Blick darauf, ob jemand einen großen Teil von ihr auf das äuße- die damit verbundenen Einfluß- und re Vorwärtskommen zu verwenden; sie Vertretungsaufgaben vermutungswei- vergessen, daß die Leistung des einzel- se möglichst erfolgreich wird wahr- nen gering, das Vorwärtskommen da- nehmen können. Weil eine Elite nicht gegen ein Wunsch aller ist, und ver- 98 Thomas Buchheim nachlässigen die soziale Pflicht des re, nur ungesiebten Eliteflüchtern oder Strebens, bei dem man als ein Streber Erfolglosen Regierungsgewalt zu über- beginnen muß, damit man in den Jah- tragen, sondern nur, daß sie diese Ge- ren des Erfolgs eine Stütze und Strebe walt nicht qua Angehörige einer Elite abgeben kann, an deren Gunst sich an- innehaben sollen. Man muß vielmehr dere emporarbeiten.“14 Nicht die Be- überall noch unterscheiden zwischen sten also, sondern zunächst die Streber der Übertragung politischer Herrschaft und dann die „Streben“ bilden eine und der Auslese von Geltung und Ein- Elite. Diesen Wermutstropfen muß fluß besitzenden Eliten. sich einschenken lassen, wer gern da- zugehören möchte. Helmut Plessner15 Auch hier liegt ein grundlegendes Ver- hat ein gutes Beispiel für den Unter- säumnis von Pareto, immerhin einem schied zwischen einer Elite und den der wichtigsten Theoretiker zum sozio- Besten ihrer Sparte gefunden, indem er logischen Elitebegriff, der fast lapidar, in der Sparte des Katholizismus die aber nichtsdestoweniger irrtümlich Kardinäle als typische Elite, jedoch die schreibt: „Jedes Volk wird von einer Heiligen als zugestandenermaßen élite, d.h. von einem ausgewählten Beste namhaft macht. Sicher aber sind Teil, regiert.“ (§246, a.a.O., S.70). Re- die meisten Kardinäle keine Heiligen. gierungsgewalt aber bedarf immer einer Legitimation vor allen von ihr Ebenso denke ich, daß man tatsächlich Betroffenen, die durch das Prinzip der in allen Fällen mit guten Gründen der Repräsentation der Gesamtbevölke- Elite den Rang, Beste zu sein, streitig rung begründet wird, Elitenmacht hin- machen muß, was übrigens gut ist zur gegen bedarf keiner solchen Repräsen- Förderung des Bewußtseins der sozia- tativität für alle, sondern besteht auf- len Angewiesenheit von Eliten und grund der geschilderten langfristigen dem potentiellen Dünkel ihrer Mitglie- Auslese durch Formen der sozialen Kri- der entgegenwirkt. stallisation innerhalb von Teilberei- chen der Gesellschaft und definiert Schon aus diesem Grund ist also die sich gerade durch ein besonderes, Geltung und der Machtbesitz von Eli- nicht repräsentatives Interesse. Weil ten keine moderne und wortwörtlich dies zwei Paar Schuhe sind, kann es genommene Aristokratie. überhaupt eine politische Herrschaft geben, die nicht nur vor allen von ihr Doch gibt es einen weiteren, vielleicht Betroffenen legitim, d.h. repräsentativ noch wichtigeren Grund, die besagte ist (wie z.B. auch erbliches Königtum Gleichsetzung zu vermeiden. Ich oder aus Tradition gewachsenes Patrizi- meine den, daß der unbestrittene at es sein können), sondern sogar Machtbesitz oder die soziale Geltung durch sie legitimiert, d.h. demokratisch von Eliten gar nicht unmittelbar über- erzeugte Repräsentativität politischer haupt eine ‘Kratie’ oder ‘Archie’ im po- Regierungsgewalt. Umgekehrt kann es litischen Sinne des Worts (und das ist aber keine demokratisch legitimierte strenggenommen der einzige) ausma- Elite geben. Das ist also zweierlei. chen muß und auch nicht, wie ich meine, ausmachen sollte. Das heißt Ich möchte, auch wenn ich die Exi- nun keineswegs, daß ich dafür plädie- stenz etwaiger Eliten verteidige, kei- Überlegungen zum Begriff der Elite 99 neswegs von einer sich herauskristalli- gang besitzenden Naturen davon aus- sierenden Elite gleich welcher Art, po- geschlossen werden, wird kein Ende litisch regiert werden. Leider bestehen politischer Übelstände sein“.16 Platon in unserer eigenen aktuellen politi- ist also ein Elitokrat par excellence ge- schen Situation nicht nur in Deutsch- wesen. Mag Platon dies auch als ein land für meinen Geschmack schon viel unerreichbares Ideal gekennzeichnet zu starke Annäherungen zwischen kri- haben, so ist es doch aus mindestens stallisierten Eliten und legitimer politi- den beiden genannten Gründen schon scher Herrschaft. Ich nenne als Bei- als ein Ideal in der Sache verfehlt und spiele die Wirtschaftseliten, die Orga- wird auch durch wissenschaftliche nisatoren elektronischer Massenmedi- Wiederholungen in unserem Jahrhun- en und allgemein das Lobbyistentum. dert nicht besser; Wiederholungen wie Zu befürchten ist, daß diese Annähe- z.B. die im berühmten Buch von rung und schleichende Gleichsetzung Robert Michels über die notwendiger- von politischer Herrschaft und Eliten- weise oligarchischen Tendenzen der macht sich auf europäischer Ebene Demokratie, der geschrieben hat: „Die noch verstärken wird zu einer verita- inneren Nachteile der Demokratie sind blen Euro-Elitokratie, weil zu wenig nicht zu verkennen. Trotzdem ist als auf unmittelbare Legitimationskon- Form die Demokratie das geringere takte, d.h. auf die Gesamtrepräsentati- Übel. Das Ideal wäre eine Aristokratie vität für alle Bürger Europas gesonnen sittlich guter und technisch brauchba- wird. Hier wäre m.E. ein besserer Ort, rer Menschen. Aber wo ist sie zu fin- politische Wachsamkeit zu üben, als in den? Manchmal - selten - durch Ausle- dem Streit um hinterletzte Stabilitäts- se“17, sprich in Eliten. Doch bleibt dies kriterien bloß des Geldes, mit dem wir als Modell politischer Herrschaft ein einst bezahlen wollen. systematischer Irrtum.

Es war übrigens zuerst Platon, der in großem Stil dem verhängnisvollen Irr- 4. Elite und Demokratie tum aufgesessen ist zu glauben, politi- sche Herrschaft solle von der denkbar Aus der Einsicht, daß man dies beides bestauskristallisierten Elite der bestin- auseinanderzuhalten habe - obwohl es formierten und besterzogenen Mitglie- natürlich günstig ist, wenn Angehöri- der einer Gesellschaft ausgeübt wer- ge kristallisierter Eliten sich nicht ge- den, welches eben - und das sollte nerell abwenden vom politischen Legi- mich immerhin trösten - die Philoso- timationsprozeß und staatlichen phen seien. Weil dieses Credo ebenso Funktionsinstanzen - begründe ich zu- schön anzuhören wie verfehlt ist, gleich die weitere These, daß es keines- führe ich es noch einmal an: „Solange wegs so ist, daß Demokratie und Eli- nicht entweder die Philosophen in den tenbildung miteinander unverträglich Staaten herrschen oder die heute soge- sind. Vielmehr ist die Demokratie die nannten Herrscher und Machthaber der Elitenbildung am meisten aufge- authentisch und zureichend philoso- schlossene Form politischer Herr- phieren und solange nicht politische schaft, weil keine politisch dominante Herrschaft mit Philosophie zusam- Elite die Kristallisation anderer Eliten menfällt und nicht die jetzt dort Zu- verhindern oder gleichschalten muß. 100 Thomas Buchheim

Unter solchen Bedingungen kann man sondern Einfluß, weist also eine diffu- von einer für demokratische Herr- sere, schwer greifbare und uneinheitli- schaft unentbehrlichen „Autonomie“ che Gestalt auf und kann deshalb auch der Eliten sprechen.18 Im Unterschied nicht letztinstanzlich oder unmittel- dazu war es eines der hervorstechend- bar wirksam für die Gestaltung des po- sten Merkmale nationalsozialistischer litischen Schicksals eines Staates oder und auch sozialistischer Elitokratien politischen Verbandes sein. Unsere oder besser Cliquentyrannei, daß alle fünf Wirtschafts-Weisen zum Beispiel bis dato existierenden Eliten entweder sind eine klassische Elite mit sicher unterdrückt und vernichtet oder aber nicht unbeträchtlichem Einfluß, aber in die Herrschafts“elite“ wenigstens sie regieren doch in keiner Weise und tentativ eingebettet wurden und ihr üben nicht Herrschaft im eigentlichen Vorschub leisteten.19 Ich erinnere an Sinn aus. die Eliten der Ministerialbürokratie und des Militärs unter Hitler und an- Eliten, so können wir dies generell und dererseits an die politischen Parteien kurz ausdrücken, machen Einfluß gel- in der DDR. tend, aber sie regieren nicht Bürger. Doch ist ihre Form der politischen Ein- Solange politische Herrschaft und Eli- flußnahme nicht etwa als parasitär an- tenmacht einigermaßen getrennt zusehen, sondern in gewissen Grenzen bleiben (obwohl sie es natürlich nie- sogar notwendig, soll die Politik in mals völlig sind), solange können un- einem Staatswesen mit den langfristig terschiedliche oder sogenannte ‘plu- gebildeten Interessen und Wertauffas- rale’ Eliten florieren.20 Aus diesem sungen einer Gesellschaft Kontakt be- Grund gräbt sich ein elitäres Prinzip halten. Denn diese artikulieren sich der Gesellschaftsorganisation sozusa- nicht unmittelbar in jedem einzelnen, gen selbst das Wasser ab, wenn von sondern im äußeren Geflecht und der den betreffenden Eliten zu stark nach inneren Aufschichtung von Eliten. Es politischer Herrschaftsausübung ge- sollte wohl nicht so sein, daß der strebt wird, d.h. wenn eine Elite zur schnell wechselnde Geschmack und Oligarchie zu werden versucht. Das die ephemeren Vorlieben der Mehr- würde ich gern einigen Vertretern un- zahl einer Bevölkerung oder gar nur serer ökonomischen oder elektronisch- mit besonders vernehmlicher Stimme medialen Elite ins Stammbuch schrei- sprechender Gruppen aus ihr das ein- ben. Zwar kann nicht geleugnet wer- zige Korrektiv bilden, an dem die In- den, daß mit dem Begriff Elite ein ge- stanzen des Staates, insbesondere die wisser Führungsanspruch und eine er- Verfassungsorgane sich - von Wahl zu höhte Entscheidungskompetenz im ei- Wahl - ausrichten. Vielmehr ist es ver- genen Bereich verbunden ist neben der nünftig, den von längerer Hand ent- größeren Verantwortlichkeit für das wickelten, durch die Filter mannigfa- elite-spezifische Handeln im Vergleich cher Traditionen und Auswahlverfah- mit Personen, die ihr nicht angehören, ren gegangenen und daher probateren doch ist diese Form des Machtbesitzes, Interessen eben derselben Bevölke- auch wenn sie politische Relevanz rung, wie sie in den kristallisierten Eli- haben sollte, eben nicht politische ten zu finden sind, ein besonderes Ge- Herrschaft oder Regierung zu nennen, wicht beizumessen. Und es ist m.E. zu Überlegungen zum Begriff der Elite 101 bedauern, daß heute manchmal die neuem sich auf den Weg machen Massenmedien unter Umgehung aller kann, in solche Eliten aufzusteigen vermittelnden Gesellschaftsformatio- oder nicht, obwohl natürlich die nen und ihrer Eliten direkt eine unter Nachkommen auch derartiger Eliten- Umständen hochwirksame Auffassung angehörigen es oft leichter haben, wie- der Majorität schüren oder erzeugen derum Angehörige zu werden, als an- können, die politisches Handeln zu dere. entsprechenden Reaktionen zwingt. Ein aktuelles Beispiel dafür ist das Fias- Dennoch, obwohl dieser Fortgang von ko der Castor-Transporte, ein anderes geschlossenen zu offenen Eliten insge- die in mancher Hinsicht zu sehr an samt eine soziale Errungenschaft Zeit- und Mehrheitsauffassungen orien- heißen kann, ist ein Elitebegriff und ist tierte Hochschulreform. Elitenselbstverständnis ganz ohne Substantialisierung nach meiner Auf- fassung unzureichend. Denn allzu- 5. Elite und Mentalität leicht kann die zu erbringende Lei- stung oder Funktion so ausgedünnt Die letzte Erwägung führt mich auf und ins Beliebige verschoben werden, einen wichtigen Punkt zum Schluß. mit einem Wort: Allzuleicht können Ich habe den bisherigen Unterschei- die gestellten Ansprüche so sehr absin- dungen einen moderneren Typ von ken, daß überhaupt kein nennenswer- Eliten zugrundegelegt, als es die Ober- ter Zusammenhang zwischen persönli- schicht oder führende Klasse einer Ge- cher Tüchtigkeit und Elitenzugehörig- sellschaft in früheren Zeiten gewesen keit mehr übrigbleibt. Eine solche Ent- ist. Jenen alten und in unseren Breiten wicklung kann man z.B. bei heute zu- weitgehend historischen Elitetyp nehmend an Bedeutung und Einfluß könnte man als den der Substanz-Eli- gewinnenden monetären und (oft zu- ten bezeichnen. Bei ihnen gibt es, dem gleich) Trend-Eliten feststellen, wo die Ausdruck zufolge, irgendeine bleiben- reine Tatsache des zu-Geld-Gekom- de ‘Substanz’ - entweder Blutadel oder menseins jemanden an Einflußstellen vererbte Besitzstände oder auch ein befördert, an denen er eigentlich nur über Generationen stabiles Wert- und aufgrund gewisser ausgelesener Fähig- Standesbewußtsein verbunden mit keiten sein sollte. Das bloße Geldma- einer entsprechenden Erziehung und chen und Mitvollziehen eines gewis- Bildung wie es z.B. auch die sogenann- sen, gerade herrschenden und modi- te „Arbeiteraristokratie“ der Gewerk- schen Bewußtseins ist eigentlich über- schaften und der SPD der 50er Jahre haupt keine ausgezeichnete Befähi- verkörperte - eine Substanz, durch die gung, niemand hat die Betreffenden je eine sozusagen geborene Zugehörig- ausgewählt im Wettbewerb um elite- keit zur Elite verbürgt ist. Man nennt spezifische Qualitäten, sondern es re- sie statt Substanz-Eliten oft auch ge- giert nur der ganz allgemeine Gesichts- schlossene Eliten. Demgegenüber bin punkt des monetären Erfolgs wie es ich bei meinen Schilderungen von z.B. in der zur Zeit hochkommenden, einem Konzept offener Eliten, den so- mafiosen russischen Geldelite der Fall genannten Leistungs- oder Funktions- zu sein scheint. eliten ausgegangen, wo also jeder von 102 Thomas Buchheim

Wenn solche und andere Erfolgsver- klug wäre, einen Rest von Selbstregene- wöhnten nun in die Machtposition von ration der Eliten durch Erziehung und Eliten gelangen, so bedeutet dies einen über mehrere Generationen anhaltende Rückfall in die quasibiologische Selekti- Bildung einer ‘Substanz’ ihres Status on; denn niemand befindet darüber, und Wertes durch eine falsche Politik zu keine Instanzen lesen sie aus als nur die unterbinden. Auch in dieser Frage ent- monetäre Fitneß, weil eben alle mögli- hält, was Nietzsche einmal bemerkt hat, chen sozialen Steuerungen heute über wenigstens ein Körnchen Wahrheit, das das jemandem zu Gebote stehende man vielleicht nicht zu entschlossen Geld abgewickelt werden, so wie in der verwerfen sollte: „Im allgemeinen ist natürlichen Auslese über bestehende jedes Ding so viel wert, als man dafür Fortpflanzungsvorteile. So wenig aber bezahlt hat. Dies gilt freilich nicht, planmäßige Steuerungen der Märkte wenn man das Individuum isoliert ihnen gut tun mögen, so wenig ist doch nimmt; die großen Fähigkeiten des ein- auch eine Monokultur des profitorien- zelnen stehen außer allem Verhältnis zu tierten Wirtschaftshandelns als einzi- dem, was er selbst dafür getan, geopfert, gem noch ehrgeizentbindenden Leben- gelitten hat. Aber sieht man seine Ge- selexier des Menschen gut für seine po- schlechts-Vorgeschichte an, so entdeckt litische Existenz. man da die Geschichte einer ungeheu- ern Aufsparung und Kapital-Sammlung Aus diesem zwar pointiert vorgetra- von Kraft, durch alle Art Verzichtlei- genen, aber, wie ich glaube, nicht im sten, Ringen, Arbeiten, Sich-Durchset- wesentlichen übertriebenen Beispiel er- zen. (...) Für das, was einer ist, haben sieht man, daß es wichtig ist, die Frage seine Vorfahren die Kosten bezahlt“.21 der Substanzialisierung von Elitenzu- gehörigkeit nicht völlig aus dem Blick Ich meine nur, daß man eine solche zu verlieren. Es muß so etwas wie die Restmöglichkeit nicht von Staats wegen langfristige Bildung von Mentalität, unterbinden soll, wenn man auf einen eines selbstverständlichen Zugehörig- in Zukunft vielleicht wieder zunehmen- keitsbewußtseins zu einer Elite und den Gemeinsinn von Eliten hoffen will. damit zugleich des entsprechenden Und da solches Sich-zuständig-Fühlen Verantwortungsbewußtseins für eben für irgendetwas nun einmal große Ko- die zu erbringende Funktion oder Lei- sten verursachen kann, ist ja vielleicht stung, an der die Gesellschaft Interesse auch ein gesellschaftlich unzuständiges, nimmt, verlangt werden, wenn über- aber dafür billigeres Leben nicht einmal haupt der Ausdruck Elite seinen Sinn das allerschlechteste Los, so daß wir am behalten soll. Zur Bildung einer Menta- Ende doch nicht alle krampfhaft zur lität reicht aber ein Menschenleben oft Elite zu gehören oder stur bedeutende nicht, reichen Jahre glücklicher Prospe- Menschen zu werden streben sollten. rität an den Finanzmärkten jedenfalls Denn auch das hat Nietzsche - zur dies- nicht aus, weswegen es zumindest un- bezüglichen Abwerbung - gut gedichtet: Überlegungen zum Begriff der Elite 103

Der Einsame

Verhaßt ist mir das Folgen und das Führen. Gehorchen? Nein! Und aber nein - Regieren! Wer sich nicht schrecklich ist, macht niemand Schrecken: Und nur wer Schrecken macht, kann andre führen. Verhaßt ist mirs schon, selber mich zu führen! Ich liebe es, gleich Wald- und Meerestieren, Mich für ein gutes Weilchen zu verlieren, In holder Irrnis grüblerisch zu hocken, Von ferne her mich endlich heimzulocken, Mich selber zu mir selber - zu verführen.22

Anmerkungen 1Vgl. z.B. Josè Ortega y Gasset, Der Aufstand Democracy, Oxford l993; Zoltan Tibor Pál- der Massen, Reinbek bei Hamburg l984, z.B. linger, Die politische Elite Ungarns im Sy- S.8ff. und l26ff.. stemwechsel 1985-l995, Bern/Stuttgart/Wien 2Die Herrschende Klasse. Grundlagen der l997. politischen Wissenschaft, mit einem Geleit- 11Vgl. z.B. Mosca, a.a.O., S.6l. wort von Benedetto Croce, München l950. 12Vgl. z.B. Robert Michels, Zur Soziologie des 3Vilfredo Pareto, System der allgemeinen Parteiwesens in der modernen Demokratie. Soziologie. Einl. Texte und Anm. von G. Ei- Untersuchungen über die oligarchischen sermann, Stuttgart l962. Tendenzen des Gruppenlebens, Stuttgart 4Catèchisme des industriels (Oeuvres choi- 1957. sies III, 67f.): „Die industrielle Klasse soll an 13System der allgemeinen Soziologie §2031, der Spitze stehen, weil sie die wichtigste von hg. G. Eisermann, Stuttgart 1962, S.150. allen ist; weil sie all die anderen entbehren 14S.44. kann, während keine andere sie entbehren 15Elite und Elitebildung, in: Gewerkschaftli- kann; weil sie aus eigener Kraft, durch ihre che Monatshefte 6 (1955), S.602-606, hier: eigene Arbeit besteht. Die anderen Klassen S.603. müssen für sie arbeiten, weil sie ihre Ge- 16Politeia 473 c-d. schöpfe sind und von ihr unterhalten wer- 17Michels, a.a.O., S.377. den; mit einem Wort, da alles durch die In- 18Siehe vor allem Etzioni-Halevy, a.a.O., dustrie geschieht, soll alles für sie gesche- S.65; 91ff. und bes. S.104-106. hen“ (zit. nach: ders.: Ausgewählte Texte, 19Zur Kritik des Elitebegriffs unter Bedin- hg. von Jean Dautry, Berlin l957, S.159). gungen totalitärer Herrschaft s. bes. das Ka- 5Ohne Elite geht es nicht. Die Illusion von der pitel „Das zeitweilige Bündnis zwischen Gleichheit, München 1990. Vgl. auch Robert Mob und Elite“, in: Hannah Arendt, Ele- Reich, The Work of Nations, N.Y., 1992. mente und Ursprünge totaler Herrschaft, 6Die blinde Elite. Macht ohne Verantwor- München/Zürich 1986, S.528-545. tung, Hamburg l995. 20Deshalb ist auch die Hauptthese Michels 7Mt. 22, 14. zu verwerfen, es gebe eine „notwendige“ 8Die herrschende Klasse. Grundlagen der oligarchische Entartung aller modernen De- politischen Wissenschaft, Bern 1950, S.53. mokratie, vgl. bes., a.a.O., S.351; 361-378. 9Homers Wettkampf, Werke, hg. Schlechta, 21Aus dem Nachlaß der achtziger Jahre, Bd.III, S.295f.. Werke (Schlechta) Bd.III, S.552. 10Z.B. Eva Etzioni-Halevy; The Elite Connec- 22Die Fröhliche Wissenschaft Nr.33, Werke tion. Problems and Potential of Western (Schlechta) Bd.II, S.24. Der Ethnonationalismus im Balkanraum - Genese und Ge- schichte1

Edgar Hösch

1. Der Balkan - „europafern“? zum 5. Jahrestag der Unabhängigkeit seines Landes auf die Frage nach der Der Balkanraum ist seit dem scho- Beteiligung der Großmächte USA und nungslosen Volkstumskampf im zer- Rußland am Jugoslawienkonflikt: fallenden Jugoslawien weltweit ins Ge- „Also eines muß man bedenken: durch rede gekommen. Längst verblaßte Er- das Territorium des ehemaligen Jugos- innerungen an das sprichwörtliche lawien verläuft die Grenze zwischen Pulverfaß an der südosteuropäischen dem oströmischen und dem weströmi- Peripherie wurden wieder wach. Sie lö- schen Reich, und das vergißt man sten typische Abwehrreaktionen in der recht oft. Ich spreche aber immer wie- Bevölkerung der europäischen Staa- der davon, weil ich daran erinnern tenwelt aus, die sich gegen ein europa- möchte, daß hier zwei europäische fernes, barbarisches „Asien“ abgrenz- christliche Zivilisationen aufeinander- te.2 Selbst ein so besonnener Diplomat treffen, eine östliche und eine westli- und Historiker wie George F. Kennan, che, und daß der jugoslawische Staat, der über einschlägige osteuropäische der ein künstliches Gebilde gewesen Erfahrungen verfügt, wollte in dem ag- ist, diesen Widerspruch in sich trug. gressiven Nationalismus der Balkan- Als Jugoslawien zerfiel, wurde dieser völker einen der europäischen Zivilisa- Gegensatz wieder offensichtlich.“ Im- tion fremden Charakterzug erkennen, merhin gesteht er selbst noch andere der auf eine entfernte Vergangenheit Ursachen zu und warnt vor voreiligen zurückverweist.3 Der amerikanische Verallgemeinerungen. „Der Einfluß Politologe Samuel P. Huntington hat von Rußland auf Serbien und den öst- inzwischen mit dem griffigen Schlag- lichen Teil Jugoslawiens wurde merk- wort vom „Kampf der Kulturen“ den bar, aber es wäre doch eine Vereinfa- Generalschlüssel zum vermeintlich chung, die These aufzugreifen, daß es besseren Verständnis der aktuellen sich um eine Konfrontation von EU Konflikte geliefert.4 Dieser wird inzwi- und Rußland gehandelt hat. Eigentlich schen von verschiedenen Händen in hatten ja auch die EU-Mitglieder keine Gebrauch genommen. einheitliche Meinung hinsichtlich der Lösung der Balkan-Krise. Genau ge- Der slowenische Staatspräsident Milan nommen war der Interessenkonflikt Kucan meinte anläßlich eines Interviews auf dem Balkan jenem vor Ausbruch

Politische Studien, Heft 360, 49. Jahrgang, Juli/August 1998 Der Ethnonationalismus im Balkanraum - Genese und Geschichte 105 des ersten Weltkrieges ähnlich, natür- der Balkan keineswegs eine „barbari- lich unter Berücksichtigung der zeitli- sche Enklave in einem zivilisierten Eu- chen Distanz“.5 ropa“7 darstellt und der Fluch der Ge- walt bis in das 20. Jahrhundert auch Andere Zeitgenossen sind bei ihren hi- auf unserer eigenen Geschichte lastet. storischen und kulturmorphologi- Der übersteigerte Ethnonationalismus, schen Spekulationen weniger zurück- dessen gräßliche Exzesse tagtäglich haltend. Nach dem in den USA lehren- dem Fernsehpublikum in blutrünsti- den deutschen Slavisten Walter gen Bildern nahegebracht wurden, ist Schamschula verläuft durch Europa zudem kein balkanisches Eigenge- „in nordsüdlicher Richtung eine Kul- wächs. Die Balkanvölker sind nur die turisomorphe, deren Grenze scharf ge- Nachzügler in einem gesamteuropäi- zogen ist. Das Erbe des Religionsgegen- schen Entwicklungsvorgang, der zu satzes zwischen dem orthodoxen und nachhaltigen Erschütterungen und dem römischen Christentum ist - auch Umwälzungen in der europäischen in einer säkularisierten Welt - noch Staatenordnung geführt hat. Sie sind wirksam, insofern als sich in der römi- infizierte Opfer einer grassierenden schen Sphäre nach Renaissance/Refor- Krankheit, die zunächst in unseren mation, Barock/Gegenreformation, Breiten ausgebrütet worden war. Klassizismus/Aufklärung, Romantik, Realismus/Positivismus, Parnassismus, Symbolismus und Moderne in vielen 2. Nationswerdung auf dem Etappen eine dynamische Energie aus- Balkan gewirkt hat, die in der orthodoxen Welt vor 1700 nur als Fernwirkung, Betrachtet man die säkularen Verände- nicht als inneres Agens, nachweisbar rungen auf der Staatenkarte Europas, ist. Diese Dynamik führte zu einer Öff- dann wird man in der zeitlichen Per- nung und Pluralität, die letztendlich spektive des letzten Jahrtausends zwei allem Fortschreiten, sowohl in Wissen- Perioden mit grundlegend unter- schaft und Technik als auch in Gesell- schiedlichen Organisationsstrukturen schaft, Politik und Kunst, außerordent- voneinander abheben können. lich gewogen war.“ Diese Grenze mar- kiere einen deutlichen „Gegensatz von dynamischer und stationärer Kultur“, 2.1 Die Zeit des dynastisch-territo- von westlicher und östlicher, d.h. von rialen Ordnungsprinzips lateinischer Kultur auf der einen und orthodoxer bzw. islamischer Kultur auf Sie war gekennzeichnet durch sog. „zu- der anderen Seite.6 sammengesetzte Staaten“. Einzelne Herrscher und ihre Dynastien sammel- Ein Blick zurück in die Geschichte soll- ten Herrschaftstitel durch Inkorporie- te Anlaß geben, die strengen Bewer- rungen neuer Gebiete, die auf unter- tungskriterien, die wir an die Nach- schiedlichen Wegen - mittels Erobe- barn anzulegen pflegen, kritisch zu rungen, Annexionen, Erbverträgen, überprüfen und die eigenen Verfeh- Huldigungseiden, Schutzverträgen - lungen der jüngsten Vergangenheit zu zuerworben wurden (vgl. das Schlag- bedenken. Dann wird sich zeigen, daß wort von der „Sammlung der russi- 106 Edgar Hösch schen Lande“ oder die Umschreibung fürsten in Sachsen und Könige in vergleichbarer Vorgänge: tu, felix Aus- Polen (1697-1763). Die Romanovs tria, nube). Die Erfolgsbilanz dieser Er- (Dynastie Romanov-Holstein-Gottorp) werbungen fand ihren sichtbaren Nie- regierten in Rußland, in Finnland derschlag in den offiziellen Herrscher- (1809-1917), in den Ostseeprovinzen titulaturen, die alle territorialen Verän- (1710-1918) und in Polen (Zartum derungen auflisteten und selbst nicht Polen) und dehnten ihren Herrschafts- realisierte historische Ansprüche im bereich über den asiatischen Reichsteil Gedächtnis festhielten. zeitweise bis nach Nordamerika (Alas- ka bis 1867) aus, die Anjous in Neapel, Auf diese Weise waren seit dem Aus- Ungarn (1308-1386) und Polen (1370- gang des Mittelalters in Mittel- und 1386). Osteuropa zahlreiche Personalunio- nen entstanden. Nur wenige Dynasti- Dynastische Unionen führten Gebiets- en, die mehrfach miteinander ver- teile, die oft nur wenige Gemeinsam- schwägert waren, teilten sich mit ihren keiten aufzuweisen hatten, zu mehr Seitenlinien die Herrschaft über weite oder minder stabilen politischen Ein- Teile Europas. Das Geschlecht der heiten zusammen. Die jeweiligen Un- Wasa (und seine dynastischen Nach- tertanen unterschieden sich sowohl folger auf dem schwedischen Thron) nach Herkommen, Recht und Brauch- regierten in seinem protestantischen tum wie in den ethnischen, sprachli- und katholischen Zweig in Schweden chen oder religiösen Zuordnungen. (1523-1654), Finnland (bis 1809), Nach den geltenden Organisations- Polen (1587-1668), Estland (d.i. prinzipien des mittelalterlichen Perso- Reval/Nordestland, 1561-1710), Liv- nenverbandsstaates und der alteu- land (1629/1660-1710) und in Teilen ropäischen Ständegesellschaft behiel- Norddeutschlands (1648 bis 1720 bzw. ten sie bei einem Herrscherwechsel in 1815), die Hohenzollern waren u.a. der Regel ihre bisherigen Vorrechte Herren in Brandenburg, im Deutschor- und Freiheiten bei. densland Preußen (seit 1525), in Schle- sien (ab 1742) und seit dem Ausgang des 18. Jahrhunderts in den Polni- 2.2 Die Zeit unter dem Einfluß der schen Teilungsgebieten (Westpreußen, Aufklärungsphilosophie und Ermland, Netzedistrikt, Großpolen einer romantischen Volkstums- und Teile Masowiens). Die litauischen ideologie an einem ethnozen- Jagiellonen stellten die Herrscher in trischen Ordnungsprinzip ihrem Stammland Litauen, außerdem in Polen (1386-1572), Böhmen (1471- Die Väter der amerikanische Unabhän- 1526) und Ungarn (1440-44, 1490- gigkeitserklärung (1776) und die Vor- 1526). Die Habsburger regierten im kämpfer der Französischen Revolution Heiligen Römischen Reich, in Bur- (1789) pochten auf das Selbstbestim- gund, in den Niederlanden, in Spanien mungsrecht der Völker. Seine schritt- und den überseeischen Besitzungen, in weise Umsetzung brachte eine völlige Neapel-Sizilien, Böhmen (1526-1918), Umstrukturierung der europäischen Ungarn (1526-1918) und in Galizien Staatenkarte und förderte eine fort- (1772-1918). Die Wettiner waren Kur- schreitende „Balkanisierung“. Die bis- Der Ethnonationalismus im Balkanraum - Genese und Geschichte 107 herigen Vielvölkerreiche brachen aus- schichtsmythologie und Sprache, einander, und die Grenzlinien der und die wichtigste von den dreien neuen Kleinstaaten richteten sich vor- war die Sprache“. nehmlich nach den ethnographischen Gegebenheiten. Ein wachsender Ho- Gegen eine pauschale und dichotomi- mogenisierungsdruck erzwang auf sche Gegenüberstellung eines westeu- dem Wege zur Moderne eine Beseiti- ropäischen liberalen, demokratischen gung noch verbliebener lokaler Son- und zukunftsweisenden Nationalismus derrechte, und ein allgemeines Staats- und eines archaischen, destruktiven, bürgerrecht ersetzte die frühere Privile- antiindividualistischen und potentiell gienvielfalt, die zugunsten einzelner rassistischen östlichen Nationalismus Personengruppen bestanden hatte. hat kürzlich der Schweizer Neuzeithi- storiker Urs Altermatt gewichtige Ein- Nach Hugh Seton-Watson waren bei wände erhoben. „Eine solche Typolo- der Entstehung des Nationalbewußt- gie vernachlässigt die unterschiedli- seins die bestimmenden Kräfte Staat, chen Ausgangsbedingungen der Gesell- Religion, Sprache, historische Mytho- schaften in Ost und West.“9 Das logie und soziale Schichtenbildung.8 Wachstum der staatsbürgerlichen Sie haben sich in den einzelnen Ge- Emanzipation wurde nämlich erheb- sellschaften mit einem unterschiedli- lich erleichtert, wenn schon ein Natio- chen relativen Gewicht ausgewirkt. Er nalstaat als institutioneller Rahmen unterscheidet drei Typen der moder- vorhanden war. Wenn aber der Staat nen Nationswerdung: erst errungen werden mußte gegen eine andere Nation, wenn eine Fremdherr- ● Staat und Nation entstehen „lang- schaft zu beseitigen war, gewann der sam Seite an Seite, mit starkem ge- Nationalismus eine unantastbare Legi- genseitigen Einfluß“, so bei Franzo- timität. Altermatt unterscheidet daher sen und Engländern und im osteu- vier Zeitzonen bei der Entstehung der ropäischen Raum in Polen, Ungarn modernen politischen Karte in Europa. und Rußland. ● Der Staat entsteht früher als die Na- ● In Westeuropa konnten die entste- tion wie in Holland oder in Afrika, henden Nationalstaaten schon vor wo neue Staaten innerhalb zufälli- 1789 auf zentralistisch organisier- ger und künstlicher Kolonialgren- ten Monarchien aufbauen mit terri- zen geschaffen worden sind. Dazu torial abgegrenzten Staaten, mit zählen auch die neuen Staaten Ame- einer standardisierten Hochspra- rikas, die, wie die USA und die Staa- che, mit einer Einheit von Staat und ten des ehemaligen spanischen Im- Kultur. Dazu zählt er England, periums, Unabhängigkeitskriegen Frankreich, Spanien, Portugal, aber ihre Entstehung verdanken. auch Schweden, Dänemark und die ● Die Nation entsteht früher als der Niederlande, zusammen mit den Staat, ein Vorgang, der für Mittel- Staaten, die durch Separationen aus und Osteuropa und für einen Groß- dieser Pioniergruppe entstanden teil der muslimischen Welt zutrifft. sind: aus den Niederlanden Belgien „Hier haben drei Momente die (1830/31) und Luxemburg (1867), Hauptrolle gespielt: Religion, Ge- Norwegen (das 1814 von Dänemark 108 Edgar Hösch

an Schweden kam und 1905 selbst- bedeutend. Erst in der zweiten Hälfte ändig wurde). Auch die Entstehung des 19. Jahrhunderts stellte sich eine des schweizerischen Bundesstaates schleichende Entliberalisierung des na- (1798-1848) aus der Eidgenossen- tionalen Gedankens ein, die ungeahn- schaft fällt in diese Kategorie. te Gewaltpotentiale freisetzte. In Süd- ● Auf dem Gebiet des früheren Heili- osteuropa hat nach Wolfgang Höpken gen Römischen Reiches Deutscher die „Ungleichzeitigkeit von Staatsbil- Nation gab es wohl weit zurückrei- dung und Nationbildung“ die „un- chende Sprach- und Hochkulturen, glückselige Zwillingsverwandtschaft doch keine politische Einheit. von Nationalismus und Gewalt“ noch ● In Ost-, Ostmittel- und Südosteuro- verstärkt.10 Zu ihrer Erklärung reichen pa besaßen die Völker weder eine die bisher vorgebrachten makrotheore- etablierte Hochkultur noch ein poli- tischen Konzepte keineswegs aus. tisches Gemeinwesen, sie lebten in Weder die Vorstellung von Gewalt als multinationalen Reichen (Osmani- Derivat der unbewältigten Moderne, sches Reich, Habsburgerreich, Ro- als Wesenselement peripherer balkani- manovreich). Der Weg zu einer na- scher Rückständigkeit oder als Folge tionalen Identität führte hier über von Modernisierungsdefiziten und eine kollektive Anamnese, d.h. über eines „un-europäischen Zivilisations- die mühsame Wiederentdeckung versagens“, noch das gegenteilige Ver- der Volkskultur und der verschütte- ständnis von Gewalt als Folge post- und ten ethnischen, sprachlichen und spätmoderner Krisenphänomene, ver- religiösen Wurzeln durch die An- ursacht durch Individualisierung, Iden- strengungen der Eliten, die sich bis- titätserschütterung und zunehmenden her ihrem Volk entfremdet hatten Verlust der Integrationsfähigkeit spät- und in der Kultur der Fremdherr- moderner Gesellschaften oder gar die schaft - in Südosteuropa über lang- Auffassung von Gewalt als „Schicksal fristige Prozesse der Romanisierung, der Gattung“ berücksichtigen in hin- Hellenisierung/Gräzisierung, Ger- reichendem Maße die unverkennbaren manisierung, Magyarisierung, Ita- regionentypischen Spezifika im Bal- lianisierung oder Islamisierung - kanraum, die eine Kontinuität der Ge- aufgegangen waren. walt begünstigt haben. Höpken sieht ● Auf dem Gebiet der früheren Sow- vor allem in dem Zusammenwirken jetunion drängen nach 1989/90 die spezifisch balkanischer strukturge- bisher unterdrückten Völker zur schichtlicher Einflußfaktoren, akteur- Verwirklichung ihrer nationalen Ei- bezogener Determinanten und situati- genständigkeit. Es ist eine Region ver Faktoren, d.i. spezifischer Krisen- mit Übergangscharakter, der Prozeß und Umbruchsituationen in Südosteu- der Verselbständigung ist noch ropa, einen Schlüssel zum Verständnis nicht abgeschlossen. der Gewaltphänomene.

Nach Altermatt waren für die national- liberalen Bewegungen in der ersten 3. Die Mitschuld Europas Hälfte des 19. Jahrhunderts, die unter dem Schlagwort der Freiheit angetreten Kaum mehr wahrgenommen wird in waren, Volk und Nation noch gleich- der öffentlichen Diskussion, daß sich Der Ethnonationalismus im Balkanraum - Genese und Geschichte 109 die offensichtliche Strukturkrise in Süd- gung hat aktiv an der Wiedergeburt der osteuropa nicht nur auf endogene Fak- Griechen Anteil genommen und toren zurückführen läßt und die ge- gleichzeitig den künftigen Ethnonatio- genwärtige Misere nicht allein den Bal- nalismus dieser „erträumten“ griechi- kanvölkern anzulasten ist. Europa hat schen Nation12 gefördert. Schulungs- eine nicht unerhebliche Mitschuld zu zentren griechischer Patrioten entstan- tragen. Es lieferte zumindest die Idee den in der Diaspora außerhalb der und versuchte lange Zeit, deren Aus- Grenzen des Osmanischen Reiches in führung zu kontrollieren. Der den Handelsniederlassungen von Wunschtraum einer durch gemeinsa- Odessa bis Marseille und Amsterdam. me Herkunft, Kultur und Geschichte Der geistige Wegbereiter des moder- legitimierten Sprachnation ist kein nen Hellas, Adamantios Korais, lebte balkanisches Eigengewächs, sondern in Paris, und sein Weggefährte, der ein europäisches Exportprodukt. Seine Dichter Rigas Velestinlis Pheräos, ursprüngliche Verwurzelung ist nicht stand im Dienste des walachischen in den ethnischen Kernräumen auf der Hospodaren. Balkanhalbinsel zu suchen. Unter den Bedingungen einer jahrhundertelan- Diese Vorarbeit in der Diaspora ist in gen Fremdherrschaft und des alltägli- gleicher Weise auch für die Slowenen, chen Überlebenskampfs waren die Kroaten, Serben, Rumänen, Bulgaren Kommunikationsmöglichkeiten in und Albaner eine wesentliche Voraus- den traditionellen balkanischen Agrar- setzung für den Erfolg der nationalen gesellschaften erheblich einge- Bewegungen gewesen. Erst in fremder schränkt. Die bestehenden Standes- Umgebung sind sich die nationalen Er- schranken haben auch innerhalb des wecker der Balkanvölker ihrer Ge- christlichen Kirchenvolkes kaum An- schichte und Sprache bewußt gewor- stöße für die Suche nach politischen den. Wien entwickelte sich nicht zu- Alternativkonzepten geboten. Die Idee fällig zum Zentrum der modernen Sla- einer nationalen Schicksalsgemein- ven- und Balkankunde. Einen ver- schaft ist von lernbegierigen Studie- gleichbaren Einfluß übte das ungari- renden aus Südosteuropa in den west- sche Druck- und Bildungszentrum lichen Bildungszentren rezipiert und Ofen-Pest auf die serbische und slowa- in die jeweiligen Heimatländer hinein- kische Intelligenz aus. Der große serbi- getragen worden.11 sche Aufklärer Dositej Obradovic, der u.a. an den Universitäten in Leipzig Selbst die Griechen waren noch am und Halle studiert und über ein Jahr- Vorabend ihres Aufstandes von 1821 zehnt in Wien gelebt hatte, entstamm- im Phanar, auf den Inseln, in der Pelo- te nicht zufällig dem südungarischen ponnes oder in der Diaspora in jeweils Serbentum. Otec Paisij, der Vater der völlig andersgeartete Lebenszusam- bulgarischen Wiedergeburt, hat sein menhänge eingebunden. Ihnen mußte programmatisches Werk, die „Slaveno- nach Jahrhunderten der osmanischen bulgarische Geschichte“, in seiner Herrschaft der Gedanke, dem gleichen Mönchszelle auf dem Berge Athos nie- Volk der „Hellenen“ zuzugehören, erst dergeschrieben, und die Rumänen ver- wieder von außen vermittelt werden. danken die Wiederentdeckung ihrer Eine weltweite philhellenische Bewe- Latinität den gelehrten Theologen aus 110 Edgar Hösch

Siebenbürgen, die sich im päpstlichen ihres unabhängigen Staates versuchen. Rom und im kaiserlichen Wien ihr gei- Die bosnischen Muslime schließlich stiges Rüstzeug für den nationalen konstituierten sich erst unter den frag- Kampf aneigneten. Die Programm- würdigen Bedingungen des Titoregi- schriften der jungen albanischen Na- mes zu einer eigenen Nation. Umge- tionalbewegung Rilindja sind zu Ende kehrt ist auch zahlenmäßig starken des 19. Jahrhunderts im unmittelbaren ethnischen Gruppen, denen ein festge- Umfeld des Sultanhofes in Istanbul fügter territorialer Bezugsrahmen fehl- konzipiert worden. te, wie beispielsweise den Aromunen, der Weg sowohl zur Nationswerdung In Südosteuropa ist bei allen Völkern wie zur Eigenstaatlichkeit auf Dauer die Staatswerdung der Nationsbildung verbaut geblieben. teilweise um Jahrzehnte vorausgegan- gen.13 Eher zufällige administrative Ab- Nationen sind nach Jürgen Habermas grenzungen haben sich dabei stärker „höchst artifizielle Gebilde“ und „als auf den Verlauf der Nationsbildungs- fiktive Einheiten waren sie stets das Er- prozesse ausgewirkt, als dies übereifri- gebnis gewaltsamer Homogenisie- ge nationale Ideologen in der Rück- rungsprozesse“.15 Nur ein romanti- schau wahrhaben mochten. Dies läßt scher Nationalismus, der in allen kul- sich an - dem später wieder abgebro- turellen Erscheinungen und sozialen chenen - eigenen Nationsbildungspro- Institutionen die Ausprägungen der zeß unter den Montenegrinern im 19. Volksseele sehen will16, verkennt die Jahrhundert ebenso nachweisen wie Zufälligkeiten nationaler Selbstfin- an der Entstehung der makedonischen dungsmechanismen und unterschätzt Nation im 20. Jahrhundert, die zurecht die erhebliche Bandbreite regionalisti- dem Typus der Verwaltungsnationen scher Abweichungen. In Südosteuropa zugeordnet worden ist. ist nie eine vollständige Kongruenz von Nation und Staat erreicht worden. Unter den Südslawen hat nicht die Die ererbten siedlungs- und sozialge- Sprache, sondern die eher zufällige schichtlichen Gegebenheiten auf der und willkürliche Sprachnormierung Balkanhalbinsel haben eine Identität die entscheidenden Anstöße zu neuen von Staatsvolk und Sprachnation Identitätsbildungen gegeben. Bei den kaum zugelassen, und an den wieder- Kroaten haben die Ungunst der ver- holten Einsprüchen der Schutzmächte streuten Siedlungslage und die wech- war eine frühzeitige Zusammen- selnden administrativen Zuordnungen führung aller Konnationalen in einem der einzelnen Teilgebiete die Ausfor- Staat gescheitert. mung einer tragfähigen, einheitlichen nationalen Ideologie behindert.14 Die Der Balkanraum ist im Verlaufe des Albaner mußten wegen der erhebli- 19.Jahrhunderts zur peripheren Spiel- chen regionalen Differenzierungen in wiese europäischer Machtinteressen ihren kulturellen, sozialen und kirchli- und zum Experimentierfeld ausländi- chen Einrichtungen die endgültige scher Entwicklungshelfer und des eu- Formierung eines einheitlichen Staats- ropäischen Investitionskapitals gewor- volkes in einem langwierigen Anglei- den. Ausländische Potentaten garan- chungsprozeß innerhalb der Grenzen tierten in Griechenland, Bulgarien, Der Ethnonationalismus im Balkanraum - Genese und Geschichte 111

Rumänien und kurzzeitig auch in Al- unangenehm war, aber dennoch ge- banien in gleicher Weise die Erhaltung schehen mußte, vorzunehmen. Insbe- des monarchischen Systems wie die sondere die Finanzen, Justiz, Admini- Förderung einer Entwicklungspolitik, stration, das Kirchen- und Schulwesen, die auf eine völlige Umorientierung das Kriegs- und Seewesen in Ordnung des gesellschaftlichen und politischen zu bringen, und auf diese Weise den Lebens nach europäischen Standards Grund für eine bessere Zukunft zu angelegt war. Die Fürsten verfügten legen, worauf vom 1. Juni 1835 an der weder über eingehendere Landes- treffliche junge König selbst weiter kenntnisse noch beherrschten sie die bauen könnte. Dies war die große Auf- Sprache ihrer Untertanen, sie teilten gabe der Regentschaft.“17 auch nicht ihre kirchlich-religiösen Überzeugungen. Landfremde Verwal- Maurers Schlüsselbegriffe waren „Or- tungsfachleute, Handwerker und Wis- ganisation“ und „Zivilisation“. Der Zu- senschaftler bereiteten einer Europäi- strom westeuropäischen Kapitals er- sierung im eigentlichen Wortsinne möglichte den Balkanstaaten in der den Weg. Die sog. Bavarokratie unter Folgezeit notwendige Maßnahmen zur dem Wittelsbacher König Otto I. Verbesserung der Infrastruktur bei der brachte den Griechen bayerischen Be- Verkehrserschließung, dem Eisen- amtendrill, bayerische Uniformen und bahnbau, und bei der Verwertung der bayerisches Bier und mit der Justizre- natürlichen Ressourcen, doch lieferte form des Regentschaftsmitgliedes er ihre noch anfällige Wirtschaft fast Georg Ludwig von Maurer bayerische ungeschützt den europäischen Geldge- Gesetzbücher und europäisches Recht. bern aus.18 Er zwang ihnen einen Die Rumänen in den Donaufürstentü- Schuldendienst auf, der die Wirt- mern lernten während der russischen schaftskraft der jungen Agrarstaaten Okkupationszeit seit 1828 unter dem bei weitem überstieg und sie an den reformfreudigen General Pavel D. Kise- Rand des Staatsbankrotts brachte. lev im sog. Regime des Organischen Unter dem Vorzeichen eines „periphe- Reglements russische Verwaltungstra- ren Kapitalismus“ wurden die Balkan- ditionen kennen. länder so zwar aus der islamischen Fremdherrschaft befreit, aber als billige Der bayerische Staatsrechtler Georg Rohstofflieferanten und als aufnahme- Ludwig von Maurer selbst formulierte fähige Absatzgebiete für Industriewa- den „Auftrag“, den er nach dem Willen ren in einen europäischen Wirtschafts- seines griechenfreundlichen Königs markt zurückgeholt, der ihnen keine ausführte, in seiner späteren Rechtfer- freien Entfaltungsmöglichkeiten be- tigungsschrift so: ließ.

„In dieses ganz unendliche Chaos nun Ordnung zu bringen. Die feindseligen 4. Probleme der Zwischen- Elemente zu vereinigen. Was nicht zu kriegszeit vereinigen war, auszuscheiden. Mit fester kräftiger Hand alle diese wider- Den Balkanvölkern ist ohne Zweifel im strebenden Elemente zu beherrschen. 19. Jahrhundert eine Vorreiterrolle bei Dasjenige, was bei dem Unternehmen der Ablösung der Vielvölkerstaaten in 112 Edgar Hösch

Europa zugefallen. Den Griechen, Ser- onsbegriff, der auf die politische Wil- ben, Rumänen, Montenegrinern, Bul- lensentscheidung des einzelnen mün- garen und Albanern hatte die europäi- digen Bürgers nach dem Schweizer sche Diplomatie noch vor dem Aus- Modell, die tägliche Abstimmung (Er- bruch des Ersten Weltkrieges die er- nest Renan) setzte. Diese von den na- strebten Gründungen von National- tionalen Ideologen des 19. Jahrhun- staaten ermöglicht. Die Rahmenbedin- derts favorisierte und propagierte Nati- gungen waren allerdings von den onsidee mußte zwangsläufig verhäng- Großmächten vorgegeben. Über das nisvolle Auswirkungen in einem mul- Schicksal der Balkanvölker verhandel- tiethnischen Umfeld haben und die ten die europäischen Staatsmänner interethnischen Kontakte nachhaltig mit dem Sultan in der Regel ohne An- stören. Bei den Grenzregelungen hörung der Betroffenen. Sie diktierten wurde die praktische Umsetzung des die Grenzziehungen und legten die Re- ethnographischen Prinzips in Regio- gierungsform fest. Das ethnographi- nen, die durch ein extremes Gemenge- sche Prinzip spielte als Organisations- lage der Völker und ethnischen Grup- modell der Balkanstaaten im 19. Jahr- pen gekennzeichnet sind, zu einer hundert nur eine untergeordnete Quadratur des Kreises. Die siedlungs- Rolle. Anders im 20. Jahrhundert am geschichtlichen Gegebenheiten der Ende des Ersten Weltkrieges, als die Balkanhalbinsel ließen keine einver- Vielvölkerstaaten Rußland, Österreich- nehmlichen Lösungen zu. Der ange- Ungarn und das Osmanische Reich zur strebte ethnisch-sprachlich homogene Disposition standen und das national- Nationalstaat war nur durch die Dis- staatliche Prinzip zur bestimmenden kriminierung fremdsprachiger Grup- Organisationsform der Staatenwelt pen, durch minderheitenfeindliche ad- wurde. Die Grenzen der sog. Nachfol- ministrative Maßnahmen, durch Be- gestaaten in Ostmittel- und Südosteu- völkerungsaustausch oder durch geziel- ropa sollten auf der Basis des Selbstbe- te Flurbereinigungen, d.i. Zwangsassi- stimmungsrechtes ermittelt werden. milierungen und gewaltsame „ethni- Der amerikanische Präsident Wilson sche Säuberungen“, zu verwirklichen. hatte in seinen 14 Punkten die morali- Die Wortführer der modernen natio- sche Rechtfertigung geliefert und teil- nalstaatlichen Bewegung in Südosteu- weise schon die konkrete Handlungs- ropa knüpften in ihren Raumvorstel- anleitung vorgegeben. Ihre Umsetzung lungen unmittelbar an die mittelalter- blieb dem Verhandlungspoker der Frie- lichen Reichsbildungen an und igno- densmacher in Paris vorbehalten. rierten Kontinuitätsbrüche ebenso wie die offenkundigen Veränderungen der In Ost- und Südosteuropa hat der Siedlungsverhältnisse. Ihre nationale sprachlich-ethnische Nationsbegriff, Ideologie lebte von Mythen, die Histo- der die Zugehörigkeit zu einer Nation riker und Sprachwissenschaftler ge- an objektiven Merkmalen (Herkunft, schaffen haben - vom Mythos des Sprache, Kultur, gemeinsames Iden- Volkes, vom Mythos der Sprache, titätsbewußtsein) festmachte, wäh- vom Mythos der gemeinsamen Ge- rend der Periode der sog. nationalen schichte und der gemeinsamen Ab- Erweckung die Oberhand gewonnen stammung. Der große Orientreisende gegenüber einem etatistischen Nati- und streitbare Gelehrte Jakob Philipp Der Ethnonationalismus im Balkanraum - Genese und Geschichte 113

Fallmerayer hatte schon 1830 während goslawien als eine bequeme Handha- der Hochphase der Hellenenbegeiste- be, ihre aggressive großserbische Poli- rung den ernüchternden Satz formu- tik historisch zu legitimieren. Nach liert, daß in den Adern der modernen dem gleichen Argumentationsverfah- Griechen kein Tropfen antiken Blutes ren hatte schon der serbische Politiker mehr zu finden sei. Er hatte vergeblich Ilja Gara(anin 1844 die Wiedererste- davor gewarnt, die Auswirkungen der hung des Du(an-Reiches des 14. Jahr- slavischen Landnahme und der späte- hunderts mit der Begründung betrie- ren Siedlungsausbreitung der Albaner ben: „Unserem Streben kann man auf die interethnischen Beziehungen nicht vorwerfen, daß es etwas Neues, in Südosteuropa völlig zu übersehen Unbegründetes, daß es Revolution und und in den modernen Griechen vorei- Umsturz sei, sondern jeder muß erken- lig die unmittelbaren Nachfahren der nen, daß es politisch notwendig ist, antiken Griechen wiedererkennen zu daß es in sehr alter Zeit begründet wollen. wurde und seine Wurzel im ehemali- gen staatlichen und nationalen Leben Die moderne vergleichende Nationa- der Serben hat.“21 lismusforschung verschließt sich heute nicht mehr der Einsicht, daß Daß Kompromisse notwendig waren, Völker keine statischen Gebilde sind, ist 1919 den Experten auf der Pariser sondern ihre Geschichte haben, und Friedenskonferenz durchaus bewußt daß die modernen Nationen eher Zu- gewesen. Man mußte auf die Überle- fallsprodukte des historischen Wan- bensfähigkeit der entstehenden Klein- dels sind, die sich nicht unbesehen in staaten Rücksicht nehmen. So ist der das Mittelalter zurückverlängern las- Grenzverlauf oft übergeordneten geo- sen.19 Aber eine derart ernüchternde graphischen oder ökonomischen Ge- Bestandsaufnahme läßt sich dem ge- gebenheiten angepaßt worden. Natio- sunden Menschenverstand wohl nur nale Egoismen haben ebenso auf die sehr schwer vermitteln.20 Selbst ein Entscheidungen eingewirkt wie ver- überzeugter Kommunist wie Nicolae meintliche oder echte Sicherheitsüber- Ceausescu fühlte sich als conducator, legungen der Großmächte, die sich als Führer seines Volkes, unmittelbar von den neuen Staaten ein Bollwerk eingebunden in eine die Jahrtausende gegen das bolschewistische Rußland überspannende dako-rumänische oder einen cordon sanitaire gegenüber Kontinuität. Den Albanern sind in Deutschland erhofften. Wilson favori- ihrem nationalen Geschichtsbild die sierte für die anstehenden Grenzzie- illyrischen Vorfahren ebenso gegen- hungen objektive Kriterien („we know wärtig wie den Bulgaren das fortwir- the ethnographical facts, and there kende Erbe der Thraker und des turk- was no need to add a plebiscite“), sprachigen Reitervolkes der Proto-Bul- Großbritannien wollte sich mehr auf garen. Im fortlebenden Kosovo-My- die subjektive Einschätzung und Ein- thos unter den Serben wird dieser un- willigung der betroffenen Bevölkerung mittelbare Rückbezug auf eine ferne vor Ort verlassen, die über faire Ab- Vergangenheit in besonders anschauli- stimmungen zu ermitteln sei, während cher Weise sichtbar. Er dient den ge- Frankreich eher für eine Begrenzung genwärtigen Machthabern in Rest-Ju- der Entscheidungsfreiheit im Hinblick 114 Edgar Hösch auf die anzustrebende Homogenität und Verteidigungsbündnissen (Kleine der neuen Staaten eintrat. Das Ergebnis Entente), die notwendige Solidarisie- der Pariser Vorortsverträge war daher rungen unter den Nachfolgestaaten zwiespältig sowohl hinsichtlich der und eine engere wirtschaftliche Ko- mangelnden Konsequenz - Großreiche operation verhinderten. Die Friedens- wurden zerschlagen und gleichzeitig macher suchten vorzubauen. Ein ok- neue multiethnische Komplexe ge- troyierter Minderheitenschutz sollte schaffen (Tschechoslowakei, Jugosla- Benachteiligung ausgleichen und der wien, Großrumänien) - wie hinsicht- Völkerbund sich bei allen Streitigkei- lich der unterschiedlichen Prinzipien, ten als ausgleichende Instanz einschal- die bei Grenzziehungen Anwendung ten.22 Die Völkerbundsatzung sah aus- fanden. Sie erfolgten wahlweise nach drücklich Grenzrevisionen vor. Über historischen, ethnischen, strategi- die rechtliche Ausgestaltung des Min- schen oder ökonomischen Gesichts- derheitenschutzes wurde heftig gestrit- punkten. „Strategische“ Grenzen gab ten. Das Ergebnis war eine sehr unter- es beispielsweise am Brenner und im schiedliche Verfahrensweise über Ver- Sudentenland, aber auch zwischen träge zwischen den Alliierten und As- Ungarn und Jugoslawien (zur Vorfeld- soziierten Staaten mit den Nachfolge- sicherung Belgrads), zwischen der Slo- staaten (Polen, Tschechoslowakei, wakei und Ungarn (Donaugrenze), Rumänien, SHS-Staat, Griechenland), zwischen Jugoslawien und Bulgarien über Regelungen des Minderheiten- (strategische Pässe und Rückverlage- schutzes im Rahmen der Friedensver- rung der Grenze von der Bahnlinie Bel- träge (Österreich, Bulgarien, Ungarn, grad-Saloniki) und zwischen Griechen- Türkei), über einseitige Verpflich- land und Bulgarien (Westthrazien fiel tungserklärungen einzelner Staaten an Griechenland, um Bulgarien von (Albanien, Litauen, Lettland, Estland, der Ägäis abzudrängen). Anstoß erre- und Irak) sowie über bilaterale Abkom- gen mußte die Ungleichbehandlung men (Åland, Oberschlesien, Danzig). der Sieger und der Verlierer. Extremes Die praktischen Konsequenzen blie- Beispiel ist die Benachteiligung Un- ben mangelhaft, weil allen Beteiligten garns und die Bevorzugung Rumäni- noch der Wille zu einem gerechten ens. Trianon-Ungarn verlor 2/3 seines Ausgleich fehlte und die eingegange- Territoriums und 1/3 der magyari- nen Verpflichtungen durch einen ad- schen Bevölkerung, die nunmehr als ministrativen Zentralismus und durch wenig geachtete Minderheiten den eine minderheitenfeindliche Boden- Nachbarstaaten zugeschlagen wurden. und Schulpolitik unterlaufen werden konnten. Durch die in Paris vorgenommenen Regelungen waren anhaltende Grenz- Die Nachfolgestaaten waren in der streitigkeiten und offene Feindseligkei- Zwischenkriegszeit extremen innen- ten in den nachbarschaftlichen Bezie- politischen Belastungen ausgesetzt, die hungen vorprogrammiert. Revisions- eine normale Entwicklung verzögert forderungen stellten das gesamte Ver- oder ganz verhindert haben. In Jugos- tragswerk grundsätzlich in Frage („nie, lawien mußten ähnlich wie in Rumä- nie, niemals“ bei den Ungarn) und ani- nien Regionen zu einem einheitlichen mierten zu einseitigen Absprachen politischen und wirtschaftlichen Der Ethnonationalismus im Balkanraum - Genese und Geschichte 115

Ganzen zusammengeführt werden, die setzen des Weltmarktes. Großbritanni- bisher völlig verschiedenen Systemen en und Frankreich verschlossen sich zugehört hatten. Neue Ressourcen den Agrarexporten aus Südosteuropa. mußten erschlossen und die Währun- Die Wirtschaftsplaner der Weimarer gen stabilisiert werden. Die Balkanlän- Republik stuften den Balkanraum als der haben sich durch eigenes Zutun nützlichen Ergänzungswirtschafts- eine Normalisierung der zwi- raum für die mitteleuropäische Indu- schenstaatlichen Beziehungen er- strie ein und diktierten die Bedingun- schwert, weil sie auf Autarkie setzten gen der Tauschbeziehungen. Im sog. und sich als Agrarexporteure gegensei- „Großen Plan“ Hjalmar Schachts vom tig die Absatzmärkte streitig machten. Jahre 1934 wurde über Clearingsab- Das Parteiensystem war auf derartige kommen die enge Anbindung der Bal- Belastungen nicht vorbereitet. Aus den kanstaaten an die Wirtschaftsinteres- Clanverbindungen einer institutions- sen des nationalsozialistischen armen Agrargesellschaft entstanden, Deutschlands festgeschrieben. Die war es noch ganz auf einzelne heraus- kommunistische Machtergreifung ragende Führerpersönlichkeiten zuge- nach dem Ende des Zweiten Weltkrie- schnitten und spiegelte noch nicht die ges sollte an diesen Abhängigkeiten klassischen Richtungsparteiungen nur wenig ändern. Auch die postkom- eines funktionierenden parlamentari- munistische Ära hält bislang kaum schen Systems wider. Typische Bauern- günstigere Zukunftsperspektiven be- parteien wurden zu Sammelbecken reit, sofern nicht die Europäische Staa- eines verbreiteten Unmutes über den tengemeinschaft bereit ist, ihre Außen- Einbruch einer bauernfeindlichen In- grenzen zu öffnen und den Balkanvöl- dustriegesellschaft in den ländlichen kern faire Kooperationsbedingungen Raum. Sie fanden einflußreiche Wort- und Absatzchancen anzubieten. In der führer in Stjepan Radic´ in Kroatien Bevölkerung der südosteuropäischen oder Alexander Stambolijski in Bulga- Länder muß sich dagegen erst noch die rien. Die Weltwirtschaftskrise ver- Einsicht durchsetzen, daß nur die Ab- schärfte die angespannte wirtschaftli- kehr von dem bisher praktizierten ag- che Situation und machte alle Hoff- gressiven Ethnonationalismus positive nungen der Politiker zunichte, das na- Aufbaukräfte freisetzen und ein friedli- tionale Schicksal in die eigenen Hände cheres Zusammenleben in der krisen- zu nehmen. Sie konfrontierte die Bal- geschüttelten Balkanregion verheißen kanvölker mit den unerbittlichen Ge- kann.

Anmerkungen

1Der Vortragstext beruht in einzelnen Pas- Elvert (Hg.), Der Balkan. Eine europäische sagen auf Ausführungen in früheren Veröf- Krisenregion in Geschichte und Gegenwart. fentlichungen des Verfassers u.a. „Die Ent- Stuttgart 1997. S.37-48; Nationalstaatliche stehung des Nationalstaats in Südosteuro- Ordnung oder „Balkanisierung“ in Südost- pa“, in: „Osteuropa zwischen Nationalstaat europa?, in: Zum Gedenken an Klaus-Det- und Integration“. Hrsg. von Georg Brunner. lev Grothusen und Günter Moltmann. Berlin 1995, S.73-89 (=Osteuropaforschung (=Hamburger Universitätsreden 57). Ham- Band 33); Europa und der Balkan, in: Jürgen burg 1997, S.11-35; Konfliktregion Südost- 116 Edgar Hösch europa in historischer Perspektive, in: Kon- Die erträumte Nation. Griechenlands Wie- fliktregion Südosteuropa. Vergangenheit dergeburt im 19. Jahrhundert. München und Perspektiven. Herausgegeben von Wil- 1993. fried Potthoff (=Aus der Südosteuropa-For- 13Holm Sundhaussen, Nationsbildung und schung Band 8). München 1997, S.1-10. Nationalismus im Donau-Balkan-Raum, in: 2Maria Todorova, Imagining the Balkans. Forschungen zur osteuropäischen Ge- New York, Oxford 1997, vgl. auch die the- schichte 48 (1993) S.233-258 mit Verzeich- senhafte Vorstudie: The Balkans: From Dis- nis der neueren Forschungsliteratur und covery to Invention, in: Slavic Review 53, 2 Ders., Nation und Nationalstaat auf dem (Summer 1994) S.453-482 und die pointier- Balkan. Konzepte und Konsequenzen im te Äußerung der gleichen Verfasserin zu den 19. und 20. Jahrhundert, in: Jürgen Elvert politischen Implikationen dieser Ausgren- (Hg.), Der Balkan. Eine europäische Krisen- zung der Balkanhalbinsel: Maria N. Todoro- region in Geschichte und Gegenwart. Stutt- va, Hierarchies of Eastern Europe: East-Cen- gart 1997, S. 77-90. tral Europe versus the Balkans. Occasional 14Dazu Kessler, Wolfgang: Programm und Papers. The Woodrow Wilson Center, Politik der nationalen Integration in den Washington Number 40 (1995). kroatischen Ländern in der zweiten Hälfte 3The Other Balkan Wars: A 1913 Carnegie des 19. Jahrhunderts, in: Grothusen, K.-D. Endowment Inquiry in Retrospect with a (Hrsg.): Jugoslawien. Integrationsprobleme New Introduction and Reflections on the in Geschichte und Gegenwart. Göttingen Present Conflict by George F. Kennan. Wa- 1984, S.151-163. shington 1993. 15Jürgen Habermas, Gelähmte Politik, in: 4Samuel S. Huntington, Der Kampf der Kul- Nr.28, 47. Jahrgang, 12. Juli turen. The Clash of Civilizations. Die Neu- 1993, S.50ff., hier S.55. gestaltung der Weltpolitik im 21. Jahrhun- 16Dazu Thomas Nipperdey, Auf der Suche dert. München, Wien 1996. nach Identität: Romantischer Nationalis- 5Abgedruck in: „Die Presse“ (Wien) vom mus, in: Ders., Nachdenken über die deut- 24.6.1996. sche Geschichte. Essays. München 1986, 6Walter Schamschula, Gedanken zu einer S.132-150. Kulturmorphologie Ostmittel- und West- 17Georg Ludwig von Maurer, Das griechi- mitteleuropas, in Westmitteleuropa. Ost- sche Volk in öffentlicher, kirchlicher und mitteleuropa. Vergleiche und Beziehungen. privatrechtlicher Beziehung vor und nach Festschrift Ferdinand Seibt zum 65. Ge- dem Freiheitskampfe bis zum 31. Juli 1834. burtstag. Hrsg. von Winfried Eberhard, Band 2, Heidelberg 1835, S.45. Hans Lemberg, Heinz-Dieter Heimann und 18John R. Lampe and Marvin R. Jackson, Bal- Robert Luft. 1992, S.47-58, hier S.50-51. kan Economic History, 1550-1950. From 7Vgl. Wolfgang Höpken „Blockierte Zivilisie- Imperial Borderlands to Developing Nati- rung?“ Staatsbildung, Modernisierung und ons. Bloomington 1982. ethnische Gewalt auf dem Balkan (19./20. 19Sulzbach, Walter: Die Zufälligkeit der Na- Jahrhundert), in: Leviathan. Zeitschrift für tionen und die Inhaltslosigkeit der interna- Sozialwissenschaft 25 (1997) S.516-538. tionalen Politik. Frankfurt 1969. 8Hugh Seton-Watson: Nationalbewußtsein 20Anderson, Benedikt: Die Erfindung der als historisches Phänomen, in: Südostfor- Nation. Zur Karriere eines folgenreichen schungen 43 (1984) S.271-285. Konzepts. Frankfurt, New York 1988. 9Urs Altermatt, Das Fanal von Sarajevo. Eth- 21Zitiert nach Wolf Dietrich Behschnitt, Na- nonationalismus in Europa. Paderborn, tionalismus bei Serben und Kroaten 1830- München, Wien, Zürich 1996. 1914. Analyse und Typologie der nationa- 10W. Höpken (wie Anm.7) S.524. len Ideologie. München 1980, S.56. 11Holm Sundhaussen, Der Einfluß der Her- 22Erwin Viefhaus, Die Minderheitenfrage derschen Ideen auf den Nationsbildungs- und die Entstehung der Minderheiten- prozeß bei den Völkern der Habsburger schutzverträge auf der Pariser Friedenskon- Monarchie. München 1973. ferenz 1919. Eine Studie zur Geschichte des 12Vgl. den Begleitband zu einer Münchener Nationalitätenproblems im 19. und 20. Ausstellung: Reinhard Heydenreuter, Jan Jahrhundert. Würzburg 1960 (=Marburger Murken und Raimund Wünsche (Hrsg.), Ostforschungen 11). Im Dialog

Gerhard Ott terien sucht; nun aber die Kunst in einen Zusammenhang mit der Ökolo- Zum Kulturbegriff aus der gie zu bringen, würde bedeuten, ihr so- Sicht der Künstlerseelsorge, fort, nachdem sie sich vermeintlich von Anmerkungen zu PS 358: allen Dienstbarkeiten befreit und die Eberhard Simons, Umbau der lange ersehnte Autonomie gewonnen Kultur - Zum Verhältnis von hat, wieder ein neues Spinnennetz, Ökologie, Lebensökonomie diesmal eben das ökologische, überzu- und Ästhetik werfen.

Gegenüber dem Gedanken einer Ästhe- Die sogenannte „Autonomie der Kunst“ tisierung der Ökologie oder einer Öko- ist überhaupt nur als Ergebnis eines Pro- logisierung der Ästhetik ist aus der Sicht zesses der Befreiung von Dienstbarkei- der Künstlerseelsorge äußerste Skepsis ten denkbar. An der Geschichte der angebracht. In der Theologie gibt es die abendländischen Kunst ist dies deutlich sogenannte und berüchtigte „Genitiv- ablesbar. Kunst diente jahrhunderte- Theologie“, zum Beispiel eine Theolo- lang der Verkündigung des Glaubens gie der Arbeit, eine Theologie des Tan- und der Feier des Gottesdienstes. Eines zes ... . Diese Genitiv-Theologien sind der beliebtesten Sujets in der Kunstge- nichts anderes als der Versuch, die ver- schichte bis hin zur spätmittelalterli- schiedenen Bereiche der Realität auf chen Malerei ist die Verkündigung des ihre theologische Relevanz hin abzu- Engels an die Jungfrau Maria. An die- klopfen und mit theologischen Bezü- sem Thema wird zunächst einmal deut- gen zu verknüpfen. Manchmal erkennt lich, daß „Aggiornamento“ nicht erst man nach solchen Bemühungen das ein Prinzip des II. Vatikanischen Konzils Objekt der theologischen Reflexionen ist. Die Jungfrau Maria wird auf den nicht mehr wieder, weil es wie von Bildtafeln keineswegs im Milieu der bib- einem theologischen Spinnennetz ein- lischen Zeit dargestellt, sondern vor- gewickelt erscheint. Will man sich einer zugsweise in den Palazzi und Kemena- Realität wirklich nähern, muß man sie ten und bürgerlichen Stuben des Mit- zunächst einmal als Phänomen ernst telalters. Interessant hierbei ist, daß nehmen und darf sie nicht mit ver- diese Räume in der Regel ein Fenster schiedenen Schichten von Bedeutungs- haben, das einen Ausblick auf die Hügel ebenen überfrachten, zumal diese Be- der Toskana erlaubt. Dieser Blick war deutungsebenen ihr Gewicht dauernd zunächst fast die einzige Möglichkeit, verändern. Man spricht dann neu- Landschaft und Realität und Welt in die deutsch von einem Paradigmenwech- Malerei hereinzuholen. Im Laufe der sel. Es ist nichts dagegen einzuwenden, Zeit öffnet sich dann das Fenster immer daß die Ökologie nach ästhetischen Kri- weiter, es wird immer größer, so daß

Politische Studien, Heft 360, 49. Jahrgang, Juli/August 1998 118 Im Dialog sich auch der Blickwinkel weitet und als das, was in Museen und Ausstellun- nicht nur Landschaft, Wetter, Jahres- gen, in Galerien und Katalogen zu be- zeit, sondern auch Szenen sozialen und sichtigen ist. Aus der Perspektive der bäuerlichen Lebens hereinnimmt. Der Künstlerseelsorge ist die Kunst, sowohl religiöse Inhalt wird schließlich zum als Kunst, die sich als ancilla eccelesiae Anlaß und verschwindet dann ganz aus verstand als auch als artes liberales eine der Malerei. Dieser Prozeß vollzog sich Einheit. Wenn aber die Kunst eine Ein- allerdings in großer Behutsamkeit und heit darstellt, die sich als autonom ver- Langsamkeit, so daß Friedrich der steht, dann muß sie auch die Freiheit Große noch die größten Schwierigkei- haben zu erklären, daß und wo sie - hor- ten hatte, Sanssouci mit Bildern auszu- ribile dictu - dienen will. Im Dialog zwi- statten, denn er hatte verfügt, daß in schen Kirche und Kunst bedeutet dies, seinem Lieblingsschloß die Bilder keine daß die Kunst ihre Würde behält, daß biblischen oder religiösen Szenen zei- die Kirche sehr genau hinhören muß, gen dürften. um die Kunst und die Künste in ihrem Selbstverständnis zu sehen und sich War nach diesem sich über Jahrhunder- dann in eine gegenseitige Beziehung be- te erstreckenden Prozeß die Kunst nun geben zu können. Die Kunst als Einheit autonom? Wohl eher nicht, denn nach- hat für die Kirche weitere Konsequen- dem sie nicht mehr der Kirche diente, zen. Sie kann nicht nur den Dialog mit hatte sie jetzt andere Herren, Bürger, den Künsten suchen und pflegen, die Fürsten, Könige und Kaiser, die sich der sich in der historischen Rolle der ancil- Kunst bedienten, um ihren Wohlstand, la befanden, sondern muß auch den ihre soziale Rolle oder ihre Macht zu de- Rückstand aufholen, den ihre Bezie- monstrieren. Diese Kunst erlag insofern hung zu den artes liberales, insbesonde- einer großen Täuschung, als sie sich re zu Theater, Tanz und Film aufweist. ihres dienenden Charakters nicht mehr bewußt war. Die sakrale Kunst hinge- Ein weitgehend neues Terrain wäre die gen wußte sehr genau, daß sie „ancilla Erprobung dieser artes liberales in ihrer ecclesiae“ war. Das traf insbesondere Beziehung zur Liturgie im sakralen auf die Malerei, die Kunst der Plastik, Raum. Für die Allerheiligen-Hofkirche, die Musik und die Architektur zu. Die die hoffentlich in absehbarer Zeit zur anderen Künste wie zum Beispiel das Künstlerkirche wird, besteht die Ab- Theater, verstanden sich als „artes libe- sicht, auszuloten, wie ein solches Kraft- rales“, also als freie Künste, die aller- feld aussehen könnte. Hierbei wird es dings gesellschaftlich in mancher Hin- nicht nur darum gehen, starke Kontra- sicht so frei waren, daß sie als vogelfrei ste zu erproben, sondern auch Bilder, galten. Plastiken, neue musikalische Formen, dramatische und choreographische Se- Diese Überlegung zur historischen Ent- quenzen auf ihre spirituelle Dimension wicklung des Begriffes Kunst sollte uns hin zu befragen. Daß solche Sequenzen heute etwas vorsichtiger machen, wenn und Formen zunächst oft fragmentari- wir von Kunst sprechen. Vor allem die schen Charakter haben werden, liegt in bildende Kunst hat es sich weitgehend der Natur der Sache und der Zeit. Auf angewöhnt, sich selbst mit der Kunst als jeden Fall wird es sich um spannende solcher in eins zu setzen. Kunst ist mehr Prozesse handeln. Das aktuelle Buch

Stéphane Courtois, Nicolas Werth, Jean- lanz der Zahl von hundert Millionen Toten Louis Panné, Andrzej Paczkowski, Karel nahe“ (S.16). Wie ein Reflex auf die teilweise Bartosek, Jean-Louis Margolin: Das abstruse Diskussion des „Historikerstreits“ in Schwarzbuch des Kommunismus. Unter- Deutschland mutet Courtois’ Schlußfolgerung drückung, Verbrechen und Terror. Mit in Bezug auf die Parallelen des „Rassen-Geno- dem Kapitel „die Aufarbeitung des Sozia- zids“ der Nazis und des „Klassen-Genozids“ lismus in der DDR“ von Joachim Gauck der Kommunisten an: „Der Tod eines ukraini- und Ehrhart Neubert. Piper Verlag: Mün- schen Kulakenkindes, das das stalinistische chen/Zürich, 987 Seiten, 68,00 DM. Regime gezielt der Hungersnot auslieferte, wiegt genauso schwer wie der Tod eines jüdi- schen Kindes im Warschauer Ghetto, das dem Es gibt Bücher, von denen man sich fragt, vom NS-Regime herbeigeführten Hunger zum warum sie nicht schon längst geschrieben wor- Opfer fiel“ (S.21). Man glaubt als deutscher den sind. Bücher, die praktisch mit ihrem Er- Leser schon im Hintergrund den imaginären scheinen schon zum Klassiker geworden sind. Linksintellektuellen zu hören, der angesichts Hierzu gehört das mittlerweile schon weltbe- solcher Sätze vor einer unzulässigen Relativie- kannte „Schwarzbuch des Kommunismus“ rung warnt. Courtois selbst gibt die richtige einer französischen Wissenschaftlergruppe Antwort: „Es geht hier nicht darum, irgend- unter der Koordination von Stéphane Courtois, welche makabren arithmetischen Vergleiche das 1997 in Frankreich erschien und nun auch aufzustellen, eine Art doppelte Buchführung in deutscher Sprache vorliegt. des Horrors, eine Hierarchie der Nicht nur die Tatsache, daß es in Grausamkeit. Die Fakten zeigen einer Startauflage von 100.000 aber unwiderleglich, daß die Stück auf den deutschen Markt kommunistischen Regime rund kommt, sondern auch die jetzt in hundert Millionen Menschen Deutschland voll in Gang ge- umgebracht haben, während es kommene Diskussion zeigen, im Nationalsozialismus rund 25 daß das Buch in der Tat in einen Millionen waren. Diese einfache ganz sensiblen Bereich hinein- Feststellung sollte zumindest stößt. Es beweist summarisch zum Nachdenken über die Ähn- das, was Kommunismusfor- lichkeit anregen, die zwischen schern in vielen Ländern auch dem NS-Regime, das seit 1945 vor 1989 schon bekannt war: Im als das verbrecherische System Namen des Kommunismus sind des Jahrhunderts angesehen in diesem Jahrhundert Verbre- wird, und dem kommunistischen chen von einer Qualität und einer besteht, dessen Legitimation auf Dimension verübt worden, die internationaler Ebene bis 1991 schier unglaublich sind. unangefochten war, das bis heute in bestimmten Ländern die Macht in- In seinem Einführungskapitel über die Verbre- nehat und nach wie vor über Anhänger in der chen des Kommunismus ruft Courtois einige ganzen Welt verfügt“ (S.27). Tatsachen in Erinnerung, die jedem, der seine Lehren aus der Geschichte des 20. Jahrhun- Warum aber wurden diese Verbrechen - vor der derts ziehen will, bewußt sein sollten: „In die- Politik, der Öffentlichkeit, der akademischen ser Epoche der Tragödien gehört der Kommu- Welt - so oft und so lange mit Schweigen über- nismus, ja, er ist eines ihrer stärksten und be- gangen - ganz im Gegensatz zu den Verbrechen deutendsten Momente. Als wesentliches Phä- des Nationalsozialismus? Courtois macht eini- nomen dieses kurzen 20. Jahrhunderts, das ge der komplexen Gründe hierfür deutlich: Zu- 1914 beginnt und 1991 in Moskau endet, steht erst natürlich die oftmals erfolgreichen Versu- er im Zentrum des Geschehens. Der Kommu- che der Henker, ihre Spuren zu verwischen. nismus bestand vor dem Faschismus und vor Dann war es für Opfer des Kommunismus über dem Nationalsozialismus, er hat sie überlebt Jahrzehnte sehr schwer - wenn nicht unmög- und sich auf den vier großen Kontinenten ma- lich -, die Rehabilitierung oder auch nur die Er- nifestiert“ (S.13). Die zugrunde liegende Ideo- innerung an ihre Leiden öffentlich zu betrei- logie mag nicht immer vollständig umgesetzt ben. Und schließlich haben Kommunisten worden sein, aber, daran hat Courtois keinen immer in den Ländern, wo er nicht herrschte, Zweifel, die Verbrechen wurden vom real exi- Beweihräucherer gefunden. Hierzu trugen auch stierenden Kommunismus ausgeübt. Allein die das Festhalten an der Revolutionsidee und Dimension der Verbrechen an Personen löst ihrer Symbolik bei, die Beteiligung der Sowjet- Schaudern aus: „Alles in allem kommt die Bi- union am Sieg über den Nationalsozialismus

Politische Studien, Heft 360, 49. Jahrgang, Juli/August 1998 120 Das aktuelle Buch und dadurch bei der Linken der Triumph des tikel von Stéphane Courtois und Jean-Louis Begriffs des Antifaschismus als „Wahrheits- Panné über die Komintern, der unter anderem kriterium“. Daß auch die Sowjetunion zu sol- den Terror innerhalb der kommunistischen chen Verbrechen fähig war, wurde zwar mit Parteien behandelt, sowie einem gesonderten Chrustschows Geheimrede aus dem Jahr 1956 Teil über den NKWD im spanischen Bürger- offen eingestanden, im Westen aber oftmals krieg. Der dritte Artikel - leider etwas kurz - be- ebensowenig wirklich akzeptiert wie die Publi- handelt Kommunismus und Terrorismus und kationen zahlreicher Dissidenten und Emi- belegt, daß kommunistische Regime wie Nord- granten. korea bis in die unmittelbare Gegenwart terro- ristische Gewalt auch außerhalb ihrer Grenzen Courtois sieht die Aufgabe des Buches in zwei- ausüben. erlei Hinsicht: Einmal als historiographischen Beitrag zum Thema Totalitarismus. Man Der dritte Teil gibt einen Überblick über die an- könne keine Geschichte des Totalitarismus deren europäischen Länder als Opfer des Kom- schreiben ohne seine leninistisch/stalinistische munismus. Polen ist dabei ein eigenes Kapitel Variante. Der Kommunismus dürfe auch nicht von Andrzej Paczkowski und Karol Bartosek auf seine nationalen, sozialen oder kulturellen gewidmet. Das zweite Kapitel von Karel Barto- Aspekte reduziert werden: „Jede nationale Aus- sek behandelt umfassend die Länder Mittel- prägung des Kommunismus war wie über eine und Südosteuropas. Auch hier bietet der erwei- Nabelschnur mit der sowjetrussischen Matrix terte Zugang zu bisher unzugänglichen Quellen verbunden und trug gleichzeitig zur Entwick- bereits interessante Einblicke in das Zusam- lung dieser weltweiten Bewegung bei. Die Ge- menwirken von nationalen Kommunisten und schichte, mit der wir hier zu tun haben, ist die der KP-Spitze in Moskau bei der Unterdrückung eines Phänomens, das sich überall auf der demokratischer Politiker und Parteien in den Welt entfaltet und die ganze Menschheit be- Nachkriegsjahren. trifft“ (S.40). Die zweite Aufgabe ist die der Er- innerung an die Opfer - dies sei umso wichti- Teil vier ist den kommunistischen Regimen in ger, als dies fast ganz ohne Bilder geschehen Asien gewidmet, die teilweise noch an der muß, was die Aufmerksamkeit einer mit Bil- Macht sind, was zur Folge hat, daß trotz bes- dern übersättigten Mediengesellschaft nicht serer Reise- und damit Forschungsmöglichkei- unbedingt erleichtert. ten wichtige Quellen noch nicht zugänglich sind. Die führende Rolle spielte dabei natürlich Im Buch werden in fünf großen Teilen mit we- China (behandelt von Jean-Louis Margolin), nigen kleinen Ausnahmen alle Herrschaftsepo- wobei interessant ist, daß dort die Armee in der chen und -gebiete des Weltkommunismus be- Regel die Funktionen der Geheimpolizei in der handelt. Zunächst behandelt auf fast 250 Sei- UdSSR wahrnahm. Der Autor verdeutlicht aber ten Nicolas Werth Gewalt, Terror und Unter- auch auf Basis der vorhandenen Quellen ein- drückung in der Sowjetunion. Es ist immer wie- drucksvoll, daß Mao-Tse Tung und das von der erschreckend zu lesen, wie rasch diese Re- ihm geschaffene System verantwortlich waren volution, die zunächst ja nur ein Putsch war, für die „größte Hungersnot aller Zeiten“ 1959- sich Instrumentarien zur Bekämpfung der 1961 und das „am dichtesten bevölkerte Ker- „Volksfeinde“ ohne Rücksicht auf rechsstaatli- kernetz aller Zeiten“. Besonders lehrreich che oder moralische Bedenken zulegte. Der scheint die Lektüre über den Terror der chinesi- „rote Terror“ begann unmittelbar mit der schen Kommunisten bis hin zur Kulturrevolu- Machtübernahme durch Lenin und seine Ge- tion deswegen zu sein, da der „große Vorsit- nossen; die „soziale Ausrottung“ der Gegner zende“ und sein „rotes Buch“ ja zeitweise ge- entstand nicht erst in irgendwelchen späteren radezu zum Kultobjekt der Wohlstandslinken Phasen der Revolution. Lenin wird - auch aus der 68er-Zeit einiger westlicher Länder wurde. bislang offenbar nicht bekannten Quellen - mit Nordkorea, Vietnam und Laos werden von Forderungen beispielsloser Brutalität und Men- Pierre Rigoulot behandelt - dort ist die Quel- schenverachtung zitiert - der Leser findet viele lenlage noch unbefriedigender, aber die terrori- Belege dafür, daß die Sowjetunion nicht erst stischen Auswirkungen der dortigen kommuni- unter Stalin durch äußeren Druck „entartete“. stischen Herrschaft noch skurriler und nicht Die differenzierte Darstellung der Zyklen der weniger brutal. Ausführlicher kann Kambod- Gewalt bis zum Ende der Sowjetunion endet scha behandelt werden - das „Land der unfaß- mit einer Zusammenfassung, die nicht unter- baren Verbrechen“. Der Grund hierfür liegt vor schlägt, daß die Zugänglichkeit neuer Quellen allem in Pol Pots Versuch, den Kommunismus auch weitere Fragen zur Politik- und Sozialge- dort sofort - praktisch ohne irgend eine Über- schichte der UdSSR aufweisen, die noch ihrer gangsperiode - einzuführen. Das Ergebnis Antwort harren. waren Säuberungen und Massaker durch die Der zweite Teil mit dem Titel „Weltrevolution, Roten Khmer von bislang ungekannter Inten- Bürgerkrieg und Terror“ beginnt mit einem Ar- sität und Brutalität. Aber auch in Kambodscha Das aktuelle Buch 121 sei, so der Autor, nicht irgend ein „roter Fa- - extra für die deutsche Ausgabe geschrieben schismus“ an der Macht gewesen, sondern eine - von Ehrhardt Neubert befassen sich zwar fanatische Variante des Marxismus-Leninis- eigentlich mit der Aufarbeitung des Sozialis- mus. Bei allen Unterschieden stehe in den asia- mus in der DDR sowie mit „dem schwierigen tischen Ländern aber die gemeinsame ideologi- Umgang mit der Wahrnehmung“ (von Joa- sche Verwandtschaft und vor allem das Modell chim Gauck), versucht aber auch Antworten Chinas im Vordergrund. auf die Frage, warum sich totalitäre Systeme wie in den kommunistischen Staaten so Im fünften Teil geben Pascal Fontaine, Yves lange halten können. „Generell gilt offen- Santamaria und Sylvain Boulouque einen sichtlich: Wenn sich die Herrscher totalitä- Überblick über den Kommunismus in der Drit- rer Systeme lediglich auf die Furcht der Un- ten Welt. Im Abschnitt über Lateinamerika terdrückten oder auf negative Gefühle wie werden neben Kuba auch Nicaragua und Peru Neid, Haß, Atavismus, Sadismus stützen, behandelt. Dem Afrokommunismus anhand würden ihre Staaten eher zusammenbrechen. der Länder Äthiopien, Angola und Mocambique Dauerhafter werden sie, weil aus den positi- widmet sich der nächste Abschnitt. Auch hier ven Motivschichten heraus der Mechanismus sei im Zeitraum von 1974 bis 1991 bei allen von Akzeptieren, Teilnehmen, Mitgestalten Unterschieden „die Ernsthaftigkeit der Bezug- und Mitverantworten entsteht“ (S.889). nahme auf Marx, den Bolschewismus und die Damit wird auch deutlicher, warum die Auf- Sowjetunion durch die hier behandelten Partei- arbeitung so schwer ist, warum auch die en, Staaten und Regime nicht bestritten wor- Opfer totalitärer Systeme nachträglich be- den, weder von den Akteuren, noch von ihren kunden, nicht alles sei in Wirklichkeit so Gegnern und erst recht nicht von der legitimie- schlecht gewesen. renden Instanz, nämlich von der Sowjetunion und der internationalen kommunistischen Be- Courtois und seine Mitautoren haben zwei- wegung“ (S.749). Der letzte Abschnitt ist Af- fellos eines der wichtigsten Bücher der letz- ghanistan gewidmet. ten Jahre vorgelegt. Trotz seiner fast tausend Seiten ist damit aber noch lange keine ab- Mit der Frage „Warum?“ versucht Stéphane schließende Bilanz des Kommunismus ge- Courtois am Ende des Buches eine zusammen- schrieben. Es hat dafür aber wichtige Tore fassende Einschätzung. „Warum etablierte geöffnet und auf dramatische Weise deutlich sich der 1917 erstmals auftretende moderne gemacht, wie wichtig eine solche Auseinan- Kommunismus beinahe sofort als blutige Dik- dersetzung ist und wieviel Arbeit in den tatur und dann als verbrecherisches Regime?“ nächsten Jahren und Jahrzehnten noch vor (S.795) Dies konstatiert Courtois, ohne die de- uns steht. Denn wir stehen bei den Fragen mokratischen Entwicklungslinien sozialisti- nach den Ursachen, Wechselwirkungen und scher Bewegungen zu ignorieren. Er läßt dann Folgen der Diktaturen des 20. Jahrhunderts die gesamte Entwicklung der Sowjetunion noch vor einer Menge Fragen, die wohl erst Revue passieren, was für ihn offenbar der das 21. Jahrhundert beantworten wird. Schlüssel zum Verständnis des Kommunismus ist - ohne aber dem „Warum?“ eine schlüssige Antwort entgegenstellen zu können. Die hervorragenden abschließenden Beiträge Gerhard Hirscher Buchbesprechungen

Emil Hübner/Ursula Münch: Das politi- Ordnungen ersatzlos zu beseitigen. sche System Großbritanniens. Eine Ein- führung. München: Beck, 215 Seiten, 1998, Hübner und Münch weisen jedoch auch darauf 19,80 DM hin, daß dieses bemerkenswerte Charakteristi- kum des politischen Systems Großbritanniens insbesondere wegen der möglichen Implikatio- Das Verfassen von Einführungen in das politi- nen der gegenwärtig diskutierten facettenrei- sche System eines Staates gilt unter einschlägig chen Verfassungsreform durch einen „nicht erfahrenen Autoren als schwieriges Unterfan- mehr zu kontrollierenden Domino-Effekt“ in gen. Publikationen dieses Profils sollen sowohl Frage gestellt werden könnte, zumal „eine Re- der ersten Orientierung des interessierten Laien formmaßnahme leicht eine andere nach sich dienlich sein als auch der sachkundigen Exper- ziehen“ könne (S.160) und im Falle einer nicht tenschaft neue Erkenntnisse und Interpretatio- kanalisierbaren Reformdynamik letzten Endes nen vermitteln. Sie sollen leicht lesbar sein, sogar die nationale Einheit und der Bestand des ohne die komplexen Wirkungszusammenhän- Vereinigten Königreiches in Frage gestellt ge, die einem politischen System zugrunde lie- würde. gen, außer acht zu lassen. Sie sollen im besten Sinne des Wortes „einführen“, ohne dabei Sollten Verlag und Autoren der Publikation, oberflächlich zu sein. Sie können keine Stan- deren Profil als Einführungswerk durch die in dardwerke der Politikwissenschaft sein, müssen den einzelnen Kapiteln enthaltenen Hinweise sich aber an den Standards sozialwissenschaft- auf Forschungsstand und -kontroversen sowie licher Forschung orientieren. die in den Anhang aufgenommene nützliche Auswahlbibliographie zusätzlich abgerundet Nicht einfacher wird die ohnehin nicht leichte wird, in einigen Jahren eine Neuauflage erwä- Aufgabe, wenn es sich bei dem Sujet um das po- gen, um die gegenwärtig nicht absehbaren Aus- litische System Großbritanniens handelt, eines maße und Konsequenzen der britischen Verfas- Staates, dessen Bewohner etwa vom langjähri- sungsreform mit zu berücksichtigen, so könnte gen ARD-Korrespondenten in London, Wolf auch eine intensivere Würdigung der auswärti- von Lojewski, lapidar als „anders“ bezeichnet gen Beziehungen Großbritanniens ins Auge ge- werden und dessen „Westminister-Modell“ vor faßt werden. Die exogene Dimension des briti- dem Hintergrund eines Vergleiches mit den schen politischen Systems würde nicht nur den sozio-politischen Strukturen und Funktionswei- Band nutzbringend ergänzen, sondern auch dem sen kontinentaleuropäischer Demokratien in primär an der britischen Außenpolitik interes- mehrfacher Weise als idiosynchratisch charak- sierten Leser die - häufig leider vernachlässigten terisiert werden muß. - innenpolitischen und historischen Hintergrün- de der Außenbeziehungen („außenpolitische In- Um es vorweg zu nehmen: Diesen wissen- frastruktur“) des Vereinigten Königreiches ver- schaftlich-publizistischen Drahtseilakt haben deutlichen, die Hübner und Münch kenntnis- Emil Hübner und Ursula Münch souverän be- reich und differenziert aufbereitet haben. wältigt. Den beiden Autoren, die am Geschwi- ster-Scholl-Institut für Politische Wissenschaft Reinhard C. Meier-Walser der Ludwig-Maximilians-Universität München tätig sind, ist es gelungen, dem Leser mit leich- ter Feder das schwer durchschaubare Geflecht verfassungsgeschichtlicher, kultureller, gesell- schaftlicher, ökonomischer, struktureller, insti- Mir A. Ferdowsi (Hrsg.): Afrika zwischen tutioneller und sonstiger Determinanten des po- Agonie und Aufbruch. Bayerische Landes- litischen Systems Großbritanniens zu entwirren zentrale für politische Bildungsarbeit, und die Wirkungsfelder, die dieses System kon- München 1998 stituieren, erschöpfend zu erschließen.

Die Publikation zeichnet sich insbesondere aus durch eine sorgfältige Abwägung der Kräfte der Dürre, Überbevölkerung, Ernährungskrisen, Kontinuität und Tradition auf der einen, des Armut, Hunger, Clankämpfe, Bürgerkrieg oder Wandels und der Transformation auf der an- auch Völkermord; das sei, so der Herausgeber deren Seite, wobei bei der Lektüre deutlich wird, des Bandes, Mir A. Ferdowsi, in seiner Einlei- daß zu den außergewöhnlichen Wesensmerk- tung, unser „Afrikabild“. malen des britischen Systems die Fähigkeit Bei genauerem Hinsehen könne man dieses Bild gehört, Wandel und Veränderung herbeizu- jedoch nicht aufrecht erhalten. Viel zu differen- führen, ohne gleichzeitig die Elemente älterer ziert stelle sich der Kontinent dafür da, ja im

Politische Studien, Heft 360, 49. Jahrgang, Juli/August 1998 Buchbesprechungen 123

Grunde müsse man sagen: „Afrika gibt es lungsprioritäten zu setzen und für ein besseres nicht.“ Regierungs- und Verwaltungshandeln (Good Governance) zu sorgen. Sie waren schwach und Dieser Satz kann mehr als jeder andere als Pro- abhängig, aber der Neokolonialismus eignet grammsatz für die Autoren dieses Sammelban- sich nicht als Generalabsolution für alles, was des gelten, der mit seinen sehr kenntnisreichen in Afrika schieflief.“ und auch anspruchsvollen Einzelbeiträgen ge- Die „Veräußerung der Eigenverantwortung“ eignet ist, dem am Thema interessierten Leser durch die afrikanischen Eliten sieht Nuscheler nicht nur eine Fülle an interessanten Informa- letztlich als eine Hauptursache der fortgesetzten tionen, sondern auch einen differenzierten Ein- Misere vieler afrikanischer Länder. Die westli- druck hinsichtlich der Probleme, ebenso aber chen Industriestaaten will er deshalb aber nicht der Chancen der Staaten südlich der Sahara zu aus ihrer Mitverantwortung entlassen. vermitteln. Die „afrikanische Krise“, so meint er ab- Der eilige Leser, der - aus welchen Gründen schließend, enthalte die Chance des Lernens auch immer - zunächst auf die Lektüre des und der „Veränderung zum Besseren.“ Afrika ganzen Bandes verzichten muß, erhält durch brauche dafür allerdings eine neue Elitengene- die Einleitung Ferdowsis bereits einen guten ration, die nach der Unabhängigkeit geboren Überblick und eine Zusammenfassung der und bereit sei, aus den Fehlern ihrer Vorgänger wichtigsten Argumente und Schlußfolgerungen die richtigen Schlüsse zu ziehen. Der Westen, der Autoren, die dann doch Appetit auf mehr dessen Unterstützung auch weiterhin notwen- macht und zur Vertiefung in die Einzelbeiträge dig sei, könne derweil aus dem Ende der „von verleitet. ihm gehätschelten Kleptokratie von Mobutu“ Schade ist es angesichts der Fülle von Fakten, lernen, daß es sich langfristig nicht lohne, auf aber auch einer Vielzahl von Tabellen, graphi- Diktaturen zu setzen. schen Darstellungen usw., daß der Band weder über ein Stichwortverzeichnis noch über ein Mit „kriegerischen Konflikten und friedlicher Verzeichnis der Tabellen und Abbildungen ver- Konfliktbearbeitung in Afrika“ befaßt sich fügt. Volker Matthies in seinem Beitrag. Auch er be- zieht sich zunächst auf das vor allem von vie- Die Themen der einzelnen Autoren reichen von len Medien gepflegte „katastrophische“ Afrika- der politischen Geschichte Afrikas über kriegeri- bild und wendet sich gegen die These, Kriege in sche Konflikte und Konfliktlösung, Chancen Afrika hätten eine eigene, archaischen und für von Wirtschaftsreformen und Demokratisie- Außenstehende nicht nachvollziehbaren Prin- rung bis zur Bedeutung von Demokratie und zipien unterliegende Charakteristik. Den „Ge- Menschenrechten in der deutschen Entwick- notypus des bellum africanum“, so stellt er ka- lungszusammenarbeit. tegorisch fest, gebe es nicht. Über eine Kategorisierung von 54 afrikanischen Mit der Frage „Afrika - ein geschichtsloser Kon- Kriegen seit 1947, wobei er unterscheidet zwi- tinent?“ beginnt Franz Nuscheler seinen Beitrag schen „Anti-Regime-Kriegen“, „sonstigen in- über die politische Geschichte des Kontinents. nerstaatlichen Kriegen“, „zwischenstaatlichen Er sieht in dem seit Beginn der Kolonialzeit ge- Kriegen“ und „Dekolonisationskriegen“ (je- pflegten europäischen Bild eines geschichtslo- weils noch differenziert nach dem Kriterium sen Afrika vor allem den Versuch, den Prozeß „Fremdbeteiligung“/„ohne Fremdbeteiligung“) der Kolonisierung als „große Kulturmission“ zu und verschiedenen Mischformen kommt er am verbrämen und beginnt zunächst mit einigen Beispiel Ruanda zur Feststellung, daß auch so- kurzen Absätzen über Herrschaftsformen im genannte „ethnische“ Kriege ihre eigentlichen vorkolonialen Afrika, alte afrikanische Großrei- Ursachen in mehr oder weniger rational erfaß- che und über Bedingungen der Staatenbildung. baren Interessengegensätzen haben. Zur ge- Der Schwerpunkt der Arbeit liegt dann aber waltsamen Lösung dieser Interessengegensätze doch in der kolonialen und nachkolonialen werde dann „Ethnizität“ - aus der Sicht des Au- Entwicklung. tors zunächst „wesentlich ein soziales und po- Das „Erbe des Kolonialismus“ und der „Neoko- litisches Konstrukt“ - in Form einer „politisier- lonialismus“ mit der Darstellung der Rolle des ten Ethnizität“ instrumentalisiert. Kontinents als Nebenkriegsschauplatz für die Auf die Rolle Afrikas im Kalten Krieg und den Großmächte im Kalten Krieg nehmen breiten Einfluß außerafrikanischer Macht- und Interes- Raum ein. Nuscheler thematisiert aber auch senpolitik auf Genese und Verlauf von Konflik- das Versagen der afrikanischen Eliten nach der ten auf dem Kontinent geht Matthies schließ- Unabhängigkeit, „aus einem ‘Beutestaat’ einen lich ebenso ein wie auf das Phänomen der „Mi- ‘Entwicklungsstaat’ zu machen.“ Bei allen ko- litarisierung der afrikanischen Gesellschaften“, lonialen Strukturvorgaben und „neokolonialen für die er vor allem die Einbeziehung Afrikas in Zwängen“, so meint er, hätten diese Staaten den Ost-West-Konflikt verantwortlich macht. „durchaus die Chance gehabt, andere Entwick- Das Hauptanliegen des Autors liegt schließlich 124 Buchbesprechungen

- nach dieser Bestandsaufnahme - in der Darle- größtes Problem die Verfestigung des „crony gung unterschiedlicher Möglichkeiten der fried- statism“, der durch seine nur an Eigeninteres- lichen Konfliktbearbeitung und Konfliktbeile- sen der Eliten orientierten klientelistischen gung. Er untersucht in diesem Zusammenhang Strukturen die Entwicklung behindere. Wirt- die tatsächliche oder potentielle Bedeutung ver- schaftliche und politische Reformen seien daher schiedener Akteure, angefangen bei zivilgesell- dringend notwendig. Die Frage sei nur, wie schaftlichen Gruppen, Kirchen, Staaten, subre- diese Reformen konkret aussehen müßten. Hier gionalen und regionalen überstaatlichen Orga- sieht Kappel bisher wenig positives. Alle bishe- nisationen bis zur UN. Eingegangen wird dabei rigen Ansätze kranken nach seiner Ansicht auch auf die jeweiligen Interessen inner- und daran, daß sie zwar bestimmte Schlüsselpro- außerafrikanischer Akteure. Gefragt wird ins- bleme wie die „Rentenorientierung der Staats- besondere nach der Herausbildung von Mecha- klasse“ oder die einseitige Exportorientierung nismen zur friedlichen Konfliktbearbeitung und und Exportabhängigkeit der Volkswirtschaften Konfliktlösung innerhalb der Organisation für berücksichtigen, aber den Globalisierungsdruck afrikanische Einheit (OAU) und deren Unteror- ausklammern und „nicht systematisch die Ein- ganisationen und die Auswirkungen bisheriger bindung Afrikas in die globale Ordnung und in UN-Operationen auf dem Kontinent. Die breit die internationalen Strukturprozesse“ einbezie- angelegte Analyse mündet schließlich in die hen. Frage nach den Chancen für eine „Pax Africa- Fest stehe jedenfalls, so der Verfasser, daß der na“ in absehbarer Zeit. Die Antwort des Autors Marginalisierungsdruck auf die afrikanischen auf diese Frage fällt eher ernüchternd aus: „Eine Staaten anhalten und sich weiter verstärken Pax Africana wird noch lange auf sich warten werde. Selbst höhere ausländische Direktinve- lassen.“ stitionen und verbesserte Terms of Trade wür- Es müsse zwar alles getan werden, um afrika- den daran kaum etwas ändern. nische Ansätze zur Konfliktprävention und zur Dennoch, so Kappels Fazit, hätten die Regie- Konfliktlösung zu stärken und Wirtschafts- rungen Afrikas Handlungsmöglichkeiten. Vom und Sicherheitskooperation im regionalen und Weltmarkt hätten sie zwar wenig zu erwarten, subregionalen Rahmen zu fördern. Das Enga- aber in den meisten afrikanischen Staaten gement außerafrikanischer Akteure - allerdings, könnten die Regierungen zumindest einen Bei- wie der Autor betont, frei von herkömmlicher trag zur wirtschaftlichen Entwicklung und zur Macht- und Interessenpolitik -werde auch wei- Armutsbekämpfung leisten, wenn ihre Maß- terhin notwendig bleiben. nahmen auf die Schaffung kohärenter Volks- wirtschaften abzielten. Diese Chance gelte es Robert Kappel untersucht in seinem Beitrag die allerdings zu nutzen, denn Entwicklungszu- „Ursachen der afrikanischen Entwicklungskri- sammenarbeit und „gerechtere“ internationale sen und Chancen der Wirtschaftsreformen“ aus Strukturen könnten, so Kappel, zwar etwas wei- dem Blickwinkel der ökonomischen Theorie der terhelfen, die Eigenanstrengungen der betroffe- Politik. nen Länder allerdings nicht ersetzen. Er beginnt zunächst mit der faktenreichen Be- schreibung und Analyse der maßgeblichen en- In seinem Beitrag zu den Risiken, Chancen und dogenen und exogenen Faktoren, die für die Voraussetzungen der Demokratisierung schlägt wirtschaftliche Situation afrikanischer Länder Rainer Tetzlaff einen weiten Bogen von demo- bestimmend sind. Er benennt dabei unter ande- kratietheoretischen Überlegungen über die tra- rem verzerrte Handelsstrukturen, eine schwache ditionelle afrikanische politische Kultur und die industrielle Basis, die niedrige Produktivität, Analyse konkreter afrikanischer Demokratie- ein niedriges Niveau der sogenannten „human versuche zur Rolle unterschiedlicher Akteure im resources“, geringe Kaufkraft in zu kleinen Bin- Transformationsprozeß. nenmärkten usw. Der Autor stellt fest, ein bloßes „Elitenrecyc- Breiten Raum nehmen in seiner Arbeit die Dar- ling“ ohne Systemwandel könne zu keiner dau- stellung der Rolle des Staates und der staatli- erhaften Demokratisierung führen; nur struk- chen Wirtschaftspolitik sowie die Auswirkun- turbildende Veränderungen, die über ausrei- gen von Strukturanpassungsprogrammen von chenden gesellschaftlichen Tiefgang verfügten, IWF und Weltbank ein. Letzteren kreidet er an, hätten Chancen, zu einer Konsolidierung de- daß sie in vielen Fällen dazu geführt hätten, mokratischer Herrschaftsformen zu führen. daß „ohnehin schon schwache und instabile Aber auch Länder, in denen dieser Struktur- Regierungen und Institutionen“ durch sie „eher wandel während einer Transformationsphase geschwächt als gestärkt“ wurden. noch nicht stattfinde, seien deshalb nicht ganz Dazu komme, daß durch die Auflösung staatli- verloren. Immerhin könne man auch geschei- cher und institutioneller Strukturen durch über- terte Demokratieversuche dort als Teil eines kol- triebene Deregulierung rechtsfreie Räume ge- lektiven Lernprozesses sehen, der sich aber wohl schaffen würden. über Generationen werde fortsetzen müssen. Auf politischer Ebene benennt der Autor als Versuche, Demokratie in die Länder des Südens Buchbesprechungen 125 von außen hineinzutragen, hält Tetzlaff für Raum stellt. wenig aussichtsreich, wenn es dafür keine ein- Agonie sicher nicht. Aufbruch zumindest ein heimische Basis gibt. Sie wirkten eher kontra- bißchen, aber in vielen Fällen noch ohne klar produktiv und seien häufig verbunden mit einer erkennbare Zielrichtung. So könnte man die Eskalation von Gewalt. Ausführungen der Autoren dieses sehr lesens- Insgesamt hebt sich dieser Beitrag, der das werten Buches, dem man gerne weitere Verbrei- Thema sehr differenziert und unter Berück- tung wünscht, zusammenfassen. sichtigung aller möglichen Blickwinkel auf- Aus der Summe der Beiträge kann der interes- greift, zwar wohltuend vom in den letzten sierte Leser ein durch viele Fakten fundiertes Jahren feststellbaren Trend zum Afropessi- realistisches Bild des sogenannten schwarzen mismus ab, ist aber nichtsdestoweniger ge- Kontinents gewinnen, das zwar keineswegs eu- kennzeichnet von einem kräftigen Schuß phorisch ist, aber sich vom verbreiteten Kata- Afrika-Skeptizismus. Eine Textstelle kann strophenszenario vieler Medien wohltuend un- man in diesem Sinne - auch wenn sie nicht terscheidet. am Ende der Ausführungen steht - als Fazit des Autors betrachten: Rainer Gepperth „Eine Mehrzahl der afrikanischen Staaten befindet sich ... auf dem Weg oder auch Umweg zu einer pluralistischen Demokra- tie... Gleichwohl ist vor Optimismus bezüg- lich des Erreichens des Zieles einer konsoli- Hannes Adomeit: Imperial Overstretch: dierten Demokratie zu warnen.“ in Soviet Policy from Stalin to Gorbachev: An Analysis Based on New Ar- chival Evidence, Memoirs, and Interviews. Im letzen Abschnitt des vorliegenden Bandes Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden schließlich befaßt sich Peter P. Waller mit 1998, 609 Seiten, 69,- DM. „Demokratie und Menschenrechten in der deutschen Entwicklungszusammenarbeit mit Die Antwort des letzten sowjetischen Staats- Afrika“. Er stellt hier die grundsätzliche chefs Michail Gorbatschow auf die Frage Frage, „ob man Demokratie und Menschen- nach einer möglichen Vereinigung der beiden rechte überhaupt von außen fördern kann“, deutschen Staaten klang fünf Jahre lang wie und versucht am Beispiel von Afrika südlich ein Mantra: „Die Geschichte wird entschei- der Sahara eine Antwort zu geben. Zur Spra- den.“ Gorbatschow war vom historischen che bringt er dabei auch die Bedeutung deut- Materialismus inspiriert, die Deutschen im scher Interessen in Afrika und an der Ent- Osten vom Wunsch nach Freiheit. In der wicklung des Kontinents. Nacht des 9. November 1989 fiel die Berliner Anhand verschiedener Beispiele der vergange- Mauer und die Geschichte entschied sich für nen Jahre, wobei er sich auch auf die Arbeit Demokratie. Der „real existierende Sozialis- der politischen Stiftungen in Südafrika be- mus“ zerbarst, vom „antifaschistischen zieht, kommt er zu dem Schluß, daß Demo- Schutzwall“ blieben Betonreste. Die Ereignis- kratieförderung unter bestimmten Vorausset- se mündeten am 3. Oktober 1990 in der Ver- zungen von außen durchaus möglich ist. Die einigung der beiden deutschen Staaten auf Wirkung von politischer Konditionierung der der Grundlage einer freiheitlich-demokrati- Entwicklungszusammenarbeit und von soge- schen Grundordnung, eingebunden in die nannten „Positivmaßnahmen“ sei allerdings westliche Wertegemeinschaft. Warum in den verschiedenen Phasen des Demokrati- stimmte die sowjetische Führung einer deut- sierungsprozesses unterschiedlich. schen Vereinigung, einschließlich der Mit- Trotz der eher optimistischen Grundeinstel- gliedschaft des vereinten Deutschland in der lung, die Waller in seinem Beitrag erkennen NATO zu, nachdem die sowjetische Position läßt, muß er letztlich doch zu folgendem zu dieser Frage seit der Unterzeichnung der Fazit kommen: „Demokratisierung kann nur KSZE-Schlußakte 1975 bis zum Jahr 1989 von innen kommen, aber sie kann wirksam unverändert geblieben war? von außen unterstützt werden.“ Letzteres, so fährt er einschränkend fort, aber nur dann, Hannes Adomeit, Spezialist für russische „wenn das Land von Entwicklungshilfe ab- Außen- und Sicherheitspolitik bei der Stiftung hängig ist, wenn es keine strategische Bedeu- Wissenschaft und Politik in Ebenhausen, greift tung besitzt und wenn die westlichen Geber- bei der Beantwortung dieser Frage zurück auf länder an einem Strang ziehen.“ die Stalin-Ära. Warum, will er wissen, wagte in den 40 Jahren der Teilung Deutschlands nie- mand zu sagen, daß diese „künstlich und wi- Afrika - Agonie oder Aufbruch? So lautet die dernatürlich“ sei und die europäische Sicherheit Frage, die der Titel dieses Sammelbandes in den eher gefährde als schütze, wie dies der sowjeti- 126 Buchbesprechungen sche Außenminister Eduard Schewardnadse wenngleich sie vor allem für amerikanische ge- erst im Juli 1990 beim KPdSU-Parteitag den schrieben ist. Mit dem Stichwort „Expansion“ zürnenden Delegierten vortrug? Hätte nicht überschreibt der Autor im Anschluß an einen schon Stalin die Nachteile, die der Sowjetunion Überblick über die wichtigsten Imperialismus- und dem Rest der Welt aus dem geteilten Theorien das zweite Kapitel seiner Studie. Es Deutschland entstanden - insbesondere die an- zeichnet die Perzeption der deutschen Proble- haltende Konfrontation mit dem Westen, die matik und die deutschlandpolitischen Aktionen nur von wenigen Perioden der Entspannung un- Moskaus in den Zeiten der Herrschaft Stalins, terbrochen wurde - erkennen müssen? Und vor Chruschtschows und Breschnews nach. Für allem: Warum überhaupt wurde Deutschland Stalin sei 1945 die Frage angestanden, wie man nach dem Zweiten Weltkrieg geteilt? sich vor einem aggressiven Deutschland schüt- zen solle. Doch der Diktator konnte sich nicht Adomeit ist nicht der erste Autor, der diese Fra- entscheiden - und versuchte auf seine Weise gen stellt, zweifellos gehören seine Antworten eine Lösung zu erreichen. Zunächst mit der Ber- aber zu den bisher interessantesten. Sie basieren lin-Blockade im Jahr 1948, mit der er einerseits auf Notizen und Gesprächsprotokollen aus dem Berlin dem sowjetischen Imperium einverleiben Archiv des ZK der KPdSU, das nur von 1992 bis wollte, um seinen Einflußbereich im Osten Eu- 1993 geöffnet wurde; auf Materialien des SED- ropas abzurunden, die andererseits aber auch Parteiarchivs, in dem, wie der Autor dem Leser als „Hebel“ gedacht war, um die Gründung erklärt, die „red prussians“ in deutscher Ord- eines westdeutschen Staates zu verhindern. nung und Gründlichkeit jedes Zettelchen säu- 1952 schlug Stalin die Vereinigung Deutsch- berlich beschrifteten und abhefteten; er zieht lands vor - eine Aktion, die, wie die heutige Ar- Biographien und Erinnerungen sowjet-russi- chivlage beweist, von der Adenauer-geführten scher (Michail Gorbatschow, Walentin Falin), Bundesregierung zu Recht als taktisches deutscher (Helmut Kohl, Hans-Dietrich Gen- Manöver interpretiert wurde, das die Integrati- scher) und amerikanischer (Philip on der Bundesrepublik in die Europäische Ver- Zelikow/Condolezza Rice, James Baker) Prove- teidigungsgemeinschaft ebenso wie freie deut- nienz heran und führte Gespräche mit Zeugen sche Wahlen unter UN-Aufsicht verhindern der Wendejahre. und die Westdeutschen von den Alliierten tren- nen sollte. Die deutsche Teilung, so resümiert Adomeit, war nicht die Folge Stalinscher Planung oder In den Jahren 1952/53, mit der anhaltenden Teil einer durchdachten sowjetischen Politik, Massenflucht und dem Volksaufstand in der die auf die Gründung eines Imperiums im Osten DDR, konstatiert Adomeit, begann das „impe- Europas einschließlich des Ostens Deutsch- riale Dilemma“. Der bröckelnde Rand des Im- lands zielte. Vielmehr entstand die DDR aus periums mußte gekittet werden. Nach langem ungeplanten Prozessen, unkoordinierten Aktio- Zögern und großem Druck von seiten Walter nen und einem Mangel an besseren Alternati- Ulbrichts gab Nikita Chruschtschow im August ven. Das geteilte Deutschland nicht Absicht, 1961 seine Zustimmung zum Bau der Mauer sondern Panne, Zufall, Nebenwirkung? Ja, durch Berlin. Eine Maßnahme, so versicherte meint Adomeit, aber mit Einschränkungen. Ulbricht Chruschtschow am 15. September Stalin folgte seiner eigenen imperialen und ideo- 1961 brieflich, die trotz Störungsversuchen des logischen Logik - und diese war für den Lauf der Gegners immensen Erfolg zeige und den Versu- Ereignisse ein entscheidender Faktor. Stalin chen, die Hauptstadt der DDR wirtschaftlich wollte politische und militärische Macht, und er und kulturell zu untergraben, Einhalt gebiete. wollte diese Macht nicht nur erhalten, sondern Sowjetische Experten sahen eine Konsolidierung weiter ausdehnen. Die marxistisch-leninisti- der Verhältnisse und die endgültigen Voraus- sche Ideologie erhielt eine neue Prägung Stalin- setzungen für einen erfolgreichen Aufbau des scher Couleur. Die Vorstellung vom Osten Sozialismus. Die Entspannungspolitik der 60er Deutschlands unter sowjetischer Kontrolle war und 70er Jahre war aus Kreml-Sicht das Ergeb- für Stalin „unwiderstehlich“. Gleichzeitig aber nis sowjetischer Rüstungspolitik und harter Po- überdehnte er damit das sowjetische Imperium: sitionen. Ähnliches glaubte man auch von der Wo Ost und West permanent aneinander- neuen Bonner Ostpolitik ab 1966. Sie, so Ado- stießen, wo keine Sprachbarriere Ost und West meit, war aus sowjetischer Sicht ein weiteres voneinander entfremdete, sondern Familien auf Beispiel dafür, daß der Westen sich an die ihre Wiedervereinigung hofften, dort kam es „neuen Realitäten“ anpaßte. zum „imperial overstretch“, dort nahm das Ende des sowjetischen Imperiums seinen An- Das imperiale Dilemma setzte sich fort. Eine fang. „Krise“, und so überschreibt Adomeit den drit- ten Teil seiner überzeugend gegliederten Studie, Adomeits „imperial overstretch“-Ansatz dürfte ergriff alle drei Säulen des sowjetischen Imperi- die deutschen Leser seiner Studie überzeugen, ums: Die marxistisch-leninistische Ideologie, Buchbesprechungen 127 die die Staaten Südost- und Mitteleuropas nie lisierung der sowjetischen Wirtschaft einen ganz durchdringen konnte und letztlich durch wertvollen Beitrag leisten. Diesen Perzeptions- die sowjetische Unterzeichnung der Schlußakte rahmen, meint Adomeit, hätte Gorbatschow von Helsinki 1975 langsam ausgehöhlt wurde; erst 1986/87 aufgrund dreier miteinander ver- die militärische Macht, von deren rücksichtslo- knüpfter Faktoren aufgegeben: der Verbesse- ser Ausdehnung man sich in Moskau weltwei- rung der sowjetisch-amerikanischen Beziehun- ten politischen Einfluß erhoffte, aber nur Isola- gen, der allmählichen Erkenntnis, daß er die tion gleichen Umfangs erreichte und das wirt- DDR als politisch stabilen, technologisch hoch- schaftliche Potential, das man vor allem durch entwickelten und wirtschaftlich effizienten Al- die schier grenzenlose Aufrüstung hoffnungslos liierten völlig überschätzt hatte und der Abkehr überdehnt hatte. Die Erosion dieser drei Säulen vom bisherigen ideologischen und imperialen verknüpft Adomeit mit der inneren politischen Paradigma und gleichzeitiger Hinwendung zum Krise. Korruption und Vetternwirtschaft be- ‘Neuen Denken’, das politische, wirtschaftliche herrschten das Agieren von etwa einer halben und soziale Entwicklung im Innern und die Zu- Million Beamten in den KP-Labyrinthen ab der sammenarbeit mit den westlichen Industriena- zweiten Hälfte der 70er Jahre und produzierten tionen im Hinblick auf die internationalen Be- ein unentwirrbares Knäuel von Bürokratisie- ziehungen betonte. rung und politischem Einfluß. Schade ist, daß Adomeit diesen Aspekt nur Erneut trug die DDR zur Erosion des Imperiums streift. So passieren Ungenauigkeiten. Das bei. Mit den Milliardenkrediten der Bundesre- ‘Prinzip der freien Wahl’, mit dem der Rückzug publik für die DDR 1983/84 erreichte die von der Sowjetunion innerhalb des Ostblocks erfolg- allen Kremlherren kritisierte wachsende finan- te, wurde nicht, wie Adomeit schreibt, am 7. zielle Abhängigkeit der DDR von der Bundesre- Dezember 1988 vor der UNO verkündet. Dort publik einen Höhepunkt. Das Ausmaß an Ko- wurde es nur erstmals im internationalen Rah- ordination und Konsultation zwischen beiden men benannt. Aber bereits zwei Jahre früher, im Staaten sank. Die DDR kochte mehr und mehr November 1986, postulierte Gorbatschow die ihr eigenes außenpolitisches Süppchen, Moskau Abkehr von der sozialistischen Interventions-, war verärgert über Honeckers Besuchspläne in der sogenannten ‘Breschnew-Doktrin’, vor dem Bonn, und mußte sich von Honecker sagen las- RGW: Niemand könne eine besondere Rolle in sen, daß „in der heutigen Welt nur noch der sozialistischen Gemeinschaft beanspru- Dummköpfe keine Kredite aufnehmen wür- chen, lautete die Botschaft. Ein zweites Mal den“. formulierte Gorbatschow das neue Prinzip am 10. April 1987 in Prag: „Die Bruderparteien Adomeit glaubt - und diese These vertritt er legen den politischen Kurs unter Berücksichti- überzeugend -, daß die Krise des sowjetischen gung der nationalen Bedingungen fest.“ Dies Imperiums in den frühen 80er Jahren in erster war eine eindeutige Botschaft. Erste Hinweise Linie deswegen einen Höhepunkt erreichte, weil fielen noch früher, etwa im Februar 1986 ge- keiner der Generalsekretäre der KPdSU das genüber Honecker. Es gebe Besonderheiten in deutsche Problem nach dem Zweiten Weltkrieg der kommunistischen Weltbewegung, in jedem zu regeln in der Lage war. Als Gefangene ihres Land und Nuancen: „Es können Fragen auf- ideologischen und imperialen Paradigmas, tauchen“. Adomeit hat darauf verzichtet, be- habe keiner von ihnen es geschafft, sich „der reits publizierte Dokumente-Bände zu benut- imperialen Last im Zentrum Europas zu entle- zen. Auch dort hätte er Fingerzeige finden kön- digen“. Die Folge erläutert Adomeit im vierten, nen. anteilsmäßig größten Teil seines Buchs: den „Zusammenbruch“ des Imperiums unter der Nach 1987 erfolgte eine Umkehrung der tradi- Ägide Michail Gorbatschows. Der letzte Gene- tionellen imperialen Rollenverteilung: Der Rand ralsekretär, zunächst „Hebamme der Geschich- des Imperiums, die DDR, begann das Zentrum te“, so Adomeits pointierte Formulierung, wird zu kritisieren. Gorbatschow konnte die SED- ab 1989 zum „Zauberlehrling“, dem die Gei- Spitze nicht von Reform und Perestrojka über- ster von Perestrojka und nicht mehr zeugen. Mit der DDR-Führung zu reden, so der gehorchen. nicht erhörte Kremlchef im Anschluß an die Feier zum 40. Jahrestag der DDR am 7. Okto- Auch Gorbatschows Deutschland-Perzeption, ber 1989, sei, als würde man „Erbsen an die so bemerkt Adomeit zu Recht, unterschied sich Wand werfen“. Zehn Tage nach Gorbatschows anfangs nicht von der seiner Vorgänger. Die Ost-Berlin-Besuch mußte Honecker zurücktre- DDR war ideologisches Bollwerk des sowjeti- ten. Am 10. November war die Mauer offen - schen Imperiums im Osten Europas und sowohl mit Moskau war dies zuvor nicht abgestimmt militärstrategisch als auch wirtschaftlich von worden. größter Bedeutung. Gorbatschow habe zunächst geglaubt, die DDR könne zur Revita- Gorbatschow wollte das Imperium nicht auflö- 128 Buchbesprechungen sen. Er baute auf die Reformfähigkeit des So- Friedrich-Wilhelm Schlomann, Mit Flug- zialismus. Im Glauben daran begann er die blättern und Anklageschriften gegen das Umstrukturierung verschiedener Institutionen SED-Regime. Die Tätigkeit der Kampfgrup- und nahm personelle Veränderungen vor. Ado- pe gegen die Unmenschlichkeit (KgU) und meit untersucht die Rolle der wissenschaftli- des Untersuchungsausschusses freiheitli- chen Institute, des KGB, der Ministerien für cher Juristen der Sowjetzone (UfJ). Zeit- Außen- und Verteidigungspolitik, des Polit- zeugenbericht und Dokumentation, hrsg. büros, des ZK und der verschiedenen Abteilun- vom Landesbeauftragten für Mecklen- gen der KPdSU. Gorbatschow, so die Auffas- burg-Vorpommern für die Unterlagen des sung Adomeits, hätte auch zum Zeitpunkt der Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Maueröffnung noch immer einer reformierten, Deutschen Demokratischen Republik, sozialistischen DDR den Vorzug gegeben. Nicht Schwerin 1998. 57 Seiten und Anhang, zuletzt deswegen reagierte er auf den Zehn- 10,- DM Punkte-Plan Helmut Kohls vom 28. November 1989 ausgesprochen ablehnend und verärgert. Der bekannte Publizist Friedrich Schlomann fügt Letztlich stimmte er einer Vereinigung der bei- der langen Reihe seiner Veröffentlichungen über den deutschen Staaten aber doch zu. Ein Man- die kommunistische Herrschaft eine weitere Bro- gel an Weitblick und bürokratische Konfusion, schüre hinzu. Hierin werden sehr interessante glaubt Adomeit, hätten dazu beigetragen. Drei Dokumente veröffentlicht, die die Tätigkeit zwei- Ebenen, so Adomeits Fazit, waren im Hinblick er Widerstandsorganisationen gegen die SED- auf Gorbatschows Entscheidung in der letzten Diktatur belegen. Die „Kampfgruppe gegen Un- Krise des Imperiums, welche die Vereinigung menschlichkeit“, die sich in West-Berlin vor Deutschlands barg, miteinander verwoben: (1) allem aus Flüchtlingen aus der Ostzone rekru- der radikale Wandel und die steigenden wirt- tierte, begann bald mit Aktionen wie dem Ver- schaftlichen Probleme und Nationalitätenkon- sand von Flugblättern mit Luftballons, aber flikte in der UdSSR - ein Faktor, der die Kon- auch von gezielten Fälschungsaktionen, mit zentration der sowjetischen Führung von außen denen Preissenkungen oder die Verteilung von nach innen verlagerte; (2) die Neudefinierung Lebensmitteln erreicht werden sollten. Bis zu der Beziehungen Moskaus zu Ost-Berlin im ihrer Selbstauflösung 1959 wurde sie von der Kontext neuer Beziehungen der Sowjetunion zu DDR als Sabotageorganisation diffamiert und den anderen Staaten Osteuropas - die letztlich gefürchtet. Die abgedruckten Dokumente zeigen den Ostblock sprengte und die Grenzen öffnete allerdings überwiegend, daß in den Flugblättern sowie (3) die wachsende Bedeutung der Bun- klar der Kampf gegen das Unrecht der SED-Herr- desrepublik im Hinblick auf die finanziellen schaft im Mittelpunkt stand. Ähnliches versuch- Probleme Moskaus und die Neuordnung der eu- te auch der „Untersuchungsausschuß freiheitli- ropäischen Sicherheit mit der Bundesrepublik che Juristen“, der allerdings stark unter Skanda- als wichtigstem sowjetischen Partner in Europa. len in der Führung sowie durch die Infiltration durch das MfS zu leiden hatte. Auch diese Ein- Die verschiedenen sowjetischen Vorschläge im richtung hatte ihre Verdienste darin, daß sie Verlauf der Zwei-plus-Vier-Verhandlungen, lange Zeit mit Detailinformationen auf Rechts- welche die äußeren Aspekte der deutschen Ein- verletzungen in der DDR aufmerksam machte. heit regeln sollten, reichten von Neutralität über Die kommentierte Edition dieser Dokumente, die einen Friedensvertrag hin zu einer doppelten Schlomann im Auftrag des Landesbeauftragten Bündnis-Zugehörigkeit (also zu NATO und für die Stasi-Akkten in Mecklenburg-Vorpom- WVO). Immer wieder verhärtete sich die sow- mern vorgelegt hat, ist ein wichtiger Beitrag zur jetische Position, was, wie Adomeit völlig zu Erforschung des Widerstandes gegen die SED- recht behauptet, auch durch oppositionelle Strö- Diktatur. Gerade für diese frühen Jahre bleibt für mungen in Militär und Partei bedingt war. die Zukunft noch einiges an Forschung zu lei- Letztlich setzte sich der Westen durch. Die Zu- sten. Dies ist umso wichtiger, als gerade ange- stimmung zur Mitgliedschaft des vereinten sichts der Tatsache, daß sich die SED-Nachfol- Deutschland in der NATO, so die Vermutung gepartei anschickt, normaler Bestandteil unseres Adomeits, erfolgte auch deswegen, weil weder Parteiensystems zu werden, nicht oft genug dar- Gorbatschow noch der sowjetische Außenmini- auf aufmerksam gemacht werden kann, daß es ster Schewardnadse die Konsequenzen der deut- immer mutige Menschen in Deutschland gab, die schen Vereinigung zu Ende gedacht hatten. sich dieser Diktatur widersetzten. Angesichts der Hinzu kamen die Kooperations-Angebote der Dikussion um den Landesbeauftragten in Meck- NATO und die allmähliche Veränderung der lenburg-Vorpommern bleibt allerdings zu be- Strukturen des Warschauer Paktes. Ein weite- fürchten, daß solche Publikationen bald dort rer, nicht zu unterschätzender Faktor waren die nicht mehr möglich sein werden. Schreiben dann deutschen Hilfen für die marode sowjetische die Herrschenden von ehedem ihre eigene Ge- Wirtschaft. schichte? Tanja Wagensohn Gerhard Hirscher Buchbesprechungen 129

Erich Reiter (Hg.): Österreichisches Jahr- sich mit Untersuchungen zur Wirkungsfähig- buch für internationale Sicherheitspolitik keit der westlichen Zusammenschlüsse Eu- 1997. Graz - Wien - Köln 1997, 475 Seiten, ropäische Union (Heinrich Schneider) und 35,- DM, 4755. NATO (Erich Reiter) zu einem facettenreichen Panorama der Grundlagen europäischer Sicher- heit, das ergänzt wird durch perspektivisch an- Obwohl der österreichischen Sicherheits- und gelegte Studien zum Verhältnis Rußlands und Verteidigungspolitik lediglich ein bescheidener der NATO vor dem Hintergrund der Öffnung Raum in der hier anzuzeigenden, fast 500 Sei- des Bündnisses nach Osten (Andrei Zagorski, ten umfassenden Edition beigemessen wurde, Lothar Rühl, Peter Schmidt, Oliver Thränert). steht die erstmalige Publikation des Öster- reichischen Jahrbuches für internationale Si- Eine Reihe von Beiträgen, darunter Analysen cherheitspolitik in unverkennbarem Zusam- der Situation im Baltikum (Henn-Jüri Uibo- menhang mit der aktuellen Diskussion um eine puu), im südlichen Mittelmeerraum (Sigrid NATO-Mitgliedschaft der seit Oktober 1955 Faath) und in Ostasien (Barbara Krug), sind re- „immerwährend“ neutralen Alpenrepublik. gionalen Sicherheitsfragen gewidmet. Udo Steinbach („Die europäische Rolle der Türkei im Sowohl in der Gliederung („Grundlagen eu- Angelpunkt zwischen den Krisenregionen Bal- ropäischer Sicherheit“, „Deutschland - Perspek- kan, Kaukasus, Mittleren Osten und Naher tiven des zentraleuropäischen Zentrums“, Osten“) und Dieter Rothermund („Indiens Rolle „Rußland und die atlantische Allianz“, „Na- in der globalen Politik“) richten den Focus ihrer tionale, regionale und globale Sicherheitsfra- Betrachtungen auf die einzelstaatliche Sicher- gen“, „Informationstechnik“) als auch in der heitspolitik von Schlüsselstaaten. Akzentuierung der diesen Themen gewidmeten Einzelbeiträge kommt das Anliegen des Her- Bemerkenswert ist schließlich, daß die Perspek- ausgebers zum Ausdruck, Grundfragen interna- tiven des „zentraleuropäischen Zentrums“ tionaler Sicherheitspolitik vor dem Hintergrund Deutschland in zwei Beiträgen diskutiert wer- der vielfältigen Veränderungen seit dem Ende den (Gregor Schöllgen und Wolfram Wette), der Ost-West-Konfrontation von (überwiegend während die sicherheitspolitischen Vorstellun- österreichischen und deutschen) namhaften gen der Grande Nation Frankreich keine Autoren erörtern zu lassen, um - in einem spä- Berücksichtigung finden. teren Stadium - die diesbezüglichen Entwick- lungen im Hinblick auf ihre Relevanz als Kode- Reinhard C. Meier-Walser terminanten österreichischer Sicherheitspolitik und damit letzten Endes der Zukunft der öster- reichischen Neutralität hinterfragen zu können. Klaus Hornung, Scharnhorst - Soldat, Re- In den Worten Herausgeber Erich Reiters, seines former, Staatsmann, Bechtle-Verlag, Eßlin- Zeichens Beauftragter für Strategische Studien gen-München, 1997, 334 Seiten, 44,00 DM. im Bundesministerium für Landesministerium in Wien, soll das Jahrbuch sich nicht primär Diese Biographie lenkt die Aufmerksamkeit mit spezifischen Fragen der Sicherheitspolitik eines breiten, historisch und geistesgeschicht- Österreichs befassen, sondern diese in den lich nicht unbedingt vorgebildeten Publikums größeren Rahmen globaler und europäischer erneut (die letzte Scharnhorst-Biographie ist Veränderungen einbetten und damit insofern 1988 erschienen) auf eine der Leitfiguren der „einen Beitrag zur Intensivierung der Behand- Bundeswehr. Denn die Armee unseres Staates lung der sicherheitspolitischen Probleme Öster- wurde bewußt an Scharnhorsts 200. Geburts- reichs leisten“. tag gegründet, am 12. November 1955. Den da- Strukturierung und Inhalt der Publikation kor- maligen Staatsmännern erschien der preußi- respondieren mit dieser Intention des Herausge- sche General und Heeresreformer aus napoleo- bers, eines seit vielen Jahren und in zahlreichen nischer Zeit als das Urbild des „denkenden Sol- eigenen Veröffentlichungen ausgewiesenen Ex- daten“, der sich nicht auf sein militärisches perten im Bereich der Außen- und Sicherheits- Handwerk beschränkt, sondern als bewußter politik Österreichs. Staatsbürger an der politischen Entwicklung seiner Zeit aktiv teilnimmt, um eben dadurch Theoriegestützte Erwägungen etwa Heinz Gärt- seinem Vaterland besser dienen zu können. ners („Konzepte zur europäischen Sicherheit - Ausdrücklich nennt ein Traditionserlaß des ein Theorievergleich“), Hanspeter Neuholds Bundesverteidigungsministeriums die „Preußi- („Kooperative Sicherheit - kollektive Sicherheit - schen Reformen“ der Jahre 1807-1813 als Aus- kollektive Verteidigung“) und Uwe Nerlichs gangspunkt von „politischem Mitdenken und („Die Rolle nuklearer Waffen in der zukünfti- Mitverantwortung“ in der deutschen Militärge- gen europäischen Sicherheitsordnung“) fügen schichte, denn - und hierbei zitiert der Autor 130 Buchbesprechungen

Gordon A. Craig - „ohne Traditionsbewußtsein militärischen Ereignissen der Epoche leisten ist eine Streitmacht perspektiv- und orientie- können. Zuzugeben ist aber, daß dieser Stil dem rungslos, ihr Berufsethos schwindet, und sie ist Charakter des Helden entspricht, der streng, in Gefahr, zu einer rein technischen Einrichtung schweigsam, verschlossen, unbedingt redlich reduziert zu werden, deren Sinn und Zweck das und gesellschaftlich schwunglos gewesen sein Töten ist.“ Insofern ist die Person Scharnhorsts soll. Scharnhorst war kein Causeur und auch also zum festen Bestandteil des Schatzes deut- kein Theatraliker. scher Geschichte geworden, zu dem sich auch die offizielle Bundesrepublik Deutschland be- Bringt der Autor einerseits nichts neues, so legt kennt. Wenig will es demgegenüber bedeuten, er andererseits doch ausführlich dar, warum er daß auch Scharnhorst nicht der Gefahr entgan- dieses Buch geschrieben hat. gen ist, als „Militarist“ denunziert und in die Reihe derjenigen dubiosen Gestalten eingereiht Bernd Rill zu werden, an deren Ende Adolf Hitler und seine materielle und moralische Zugrunderichtung Deutschlands steht. Dagegen wendet der Ver- fasser die üblichen Argumente ein, die zur Ab- wehr der These vom verderblichen „deutschen Sonderweg“ schon länger bekannt sind. Kreativität - Hohe Erwartungen an einen schwachen Begriff. Hartmut von Hentig. Insofern bringt er demnach nichts neues, und es Karl Hanser Verlag München (1998) ISBN 3- will darüber hinaus scheinen, als ob diese Bio- 446-19226-3, 77 Seiten, 20,- DM. graphie überhaupt nichts neues brächte. Sie ver- sagt es sich auch, die einzelnen militärischen Die Auseinandersetzung mit dem „schwachen Aktivitäten Scharnhorsts etwas präziser darzu- Begriff Kreativität“ ist Hans-Jochen Vogel zu- stellen, als man sie anderswo in Übersichtswer- geeignet, der „Kreativität auch aus der Ord- ken zur napoleonischen Zeit zu lesen bekommt. nung gewinnt“. Eine wichtige und offene Frage Immerhin hat Scharnhorst sich doch beim lautet: Worin unterscheiden sich sogenannte Rückzug vom Schlachtfeld von Jena, bis hinauf „schwache“ und „starke“ Begriffe? In den acht nach Lübeck, wo die Preußen unter dem Kom- Abschnitten seines Essays über den „schwa- mando von Blücher vor den Franzosen schließ- chen Begriff Kreativität“ beschäftigt sich der lich kapitulieren mußten, sehr ausgezeichnet. Autor mit den enthusiastischen Erwartungen Eine ausführlichere Darstellung der Schlacht an die Kreativität und an die von ihr freizuset- von Großgörschen (2.Mai 1813), in der Scharn- zenden Kräfte, mit den Forschungsmängeln, horst die Wunde erhielt, die einige Wochen spä- mit der Kontroverse zwischen Kreativität und ter zu seinem Tode führte, wäre sogar ausge- Intelligenz, mit den Praxismängeln bei der sprochen angezeigt gewesen. Denn dort sprach Kreatitivtätsförderung, mit einigen typisch Napoleon, auf die preußischen Truppen bezo- deutschen Problemen von Intelligenz, Kreati- gen, die Worte, die wie eine Bestätigung von vität, Eingebung, Genialität und Phantasie, Scharnhorsts Lebensleistung klangen: „Diese mit der Rolle der Kunst und einem kurzen Aus- Tiere haben etwas gelernt!“ Hier hätte darge- blick auf die Gehirnforschung (Roger Sperry stellt werden müssen, worin die neuen takti- und Gerhard Huhn), mit den falschen Ausle- schen Leistungen der Preußen bestanden, die sie gungen, den falschen Instrumenten und den so sehr von den Kämpfern der Schlachten von falschen Motiven der Kreativitätsförderung Jena und Auerstedt (1806) unterschieden, und und der politischen Vereinnahmung des die auf die Reformtätigkeit von Scharnhorst „schwachen Begriffs Kreativität“. Die Aus- zurückgingen. Man kann nicht die Biographie führungen enden mit dem „Lob des Mangels“. eines Militärs schreiben, ohne seine militäri- Die machtvollsten Verhinderer für die Entfal- schen Leistungen hinreichend präzise heraus- tung der Kreativität sind die unbewußten: Sät- zustellen. Aber natürlich beruht die historische tigung, Gewißheit, die Folgen des Reichtums Bedeutung Scharnhorsts weitaus mehr auf sei- und der guten pädagogischen Absicht. Zuviel nen politischen, historischen und moralischen Ordnung, zu viele fertige Lösungen, zuviel Per- Gedanken und auf seiner Organisationstätig- fektion, zuviel System, zuviel Vorgedachtes keit, die nun einmal nicht im Donner der wirken sich beeinträchtigend auf die Kreati- Schlachten stattfand. Nur entgeht dem Autor, vitätsentfaltung aus. indem er ganz überwiegend bei diesen Elemen- ten der Biographie verweilt, die gute Gelegen- H. von Hentig räumt selbstkritisch ein, daß er heit, diese weniger anschauliche Materie durch „weder die amerikanische noch die deutsche Li- die Darstellung des realen Hintergrundes nicht teratur zu diesem Thema wirklich“ kennt nur aufzulockern, sondern auch noch plausibler (S.32). Auch mit dem wichtigen Thema „Krea- zu machen, als es die gerafften Zusammenfas- tivität und neue Ergebnisse der Gehirnfor- sungen zu den beherrschenden politischen und schung“ (vgl. etwa Ronald Kotulak „Inside the Buchbesprechungen 131

Brain - Revolutionary Discoveries of How the Trias von „Leistung, Kreativität und Eigenver- Mind Works“ 1.Aufl. Mai 1996, 3.Aufl. Nov. antwortung“. Neuerdings wird sogar von einer 1996) hat er sich nur am Rande beschäftigt. politischen Partei die Einrichtung eines „Inno- Der vorliegende Essay geht nicht vom aktuellen vationsministeriums“ gefordert. Nicht zuletzt Stand der Kreativitätsforschung aus. Der Autor wollen auch die Kirchen an dem Kreativitäts- stellt vielmehr „einen Notschrei nach Kreati- trend Anteil nehmen und fordern „ein Klima vität“ fest und in diesem kommt der Zustand der Kreativität, des Wagemuts und der Tat- des Festgefahrenseins, der Ausweglosigkeit, des kraft“. H. v. Hentig kommt zu dem Schluß: In Endes rationaler Arbeits- und Handlungsweise der Diskussion über Kreativität dominiert die zum Ausdruck. Diese „Feststellung hat defäti- Sichtweise der Wirtschaft. Kreativität wird stische Wirkung. Hier muß geprüft werden, was zweckrational vermarktet. Hierin sieht er Kreativität vor allem als Mittel taugt - wie man „geradezu eine Umkehrung des mit „creativity“ es zu verstehen und einzusetzen hat“ (S.12). Gemeinten. Wer das Neue um des Neuen wil- len erstrebt, der ist „unernst“. Man muß zwi- Die Frage lautet also: Kann mit Hilfe der Krea- schen Kreativität und Produktivität unterschei- tivitätsförderung der Zustand des Festgefah- den. Produktivität beruht auf Disziplin, Fleiß, renseins und der Ausweglosigkeit gebessert wer- Berechenbarkeit, Intelligenz, Ordnung und den? Die Antwort auf diese Frage ist keine Lernbereitschaft. Kreativität schafft Probleme, primär pädagogische, sondern insbesondere Schwierigkeiten, Unregelmäßigkeiten. Kreati- eine bildungs- und gesellschaftspolitische! H. ves Denken ist in erster Linie „befreites Den- von Hentig stellt fest: Unkreative Menschen ken“, es ist nicht gehemmt von Furcht oder können durch Kreativitätsförderung nicht krea- Routine oder einem perfekten Vorbild. Die tiv gemacht werden! Dieser Vorwurf richtet sich Kreativen sind die Hochbegabten, die Schöpfe- an jene Berater und Consultants, die sich für rischen. Leider hat sich der Autor nicht mit Experten des Informations-Management, des dem informativen und wichtigen Werk von Change-Management und des „Kreativitäts- Ellen Winner „Hochbegabt - Mythen und Rea- Management“ halten. Mit der Aufstellung von litäten von außergewöhnlichen Kindern“, Themenpaletten, Ideenlandkarten, Eingebungs- Klett-Cotta, Stuttgart) auseinandergesetzt. An fahrplänen kann man jedoch keine Innovatio- einigen Stellen seines kritischen Essays gewinnt nen in den Köpfen der Menschen herbeiführen. man den Eindruck, daß er einem der „neun Mythen über Hochbegabte“ anhängt, die Ellen Wichtig ist die Auseinandersetzung mit den Winner überzeugend kritisiert hat. Aus dieser erklärten Motiven der Politiker, der Wirt- Sicht ist das Erlebnis in der Eisenbahn ebenso schaftler, der Verbandsvertreter, die mit informativ wie bestätigend. H. v. Hentig schil- großem Nachdruck die Förderung der Kreati- dert seinen Dialog mit einem vier- oder fünf- vität einfordern. Hier wird die Kreativität po- jährigen Mädchen im ICE-Großraum. litisch-wirtschaftlich instrumentalisiert. Poli- tiker und Wirtschaftsexperten fordern Mün- Abschließend ist noch zu erwähnen, daß Krea- digkeit, Urteilsfähigkeit, Entscheidungsmut, tivitätsförderung mit Bescheidenheit verbun- Flexibilität und Risikobereitschaft. Deshalb den sein sollte. Es kommt insbesondere auf wird Kreativität als Chance für den Standort wichtige Unterscheidungen an: Regellosigkeit Deutschland propagiert. Wichtig ist eine in- ist noch keine Selbständigkeit im Denken, Un- novative und kreative Führungskultur. Der entschlossenheit ist etwas anderes als Ambiva- Autor hat die Befürchtung, daß die hier be- lenzen aushalten, gemeinsame Interessen be- schworene Kreativität heißt: Wir wollen wie- gründen noch keine Problemgemeinschaft und der technisch und wissenschaftlich vorn sein: Einsamkeit ist nicht dasselbe wie Alleinsein- in Gentechnik, Biotechnik, Ökotechnik, Mole- können. Unbefangenheit und Selbstbewußt- kulartechnik, Mikrosystemtechnik, Welt- sein sind nicht konstitutiv für einen kreativen raumtechnik, Managementtechnik, Compu- Menschen, der Aufgaben und Probleme er- ter- und Kommunikationstechnik! H. von kennt, den Kopf und die Sinne frei hat für mög- Hentig stellt fest: „Diese Kreativität sucht liche, ungewöhnliche, neue Lösungen und den nicht einen Ausweg aus dem Netz der System- Mut zum Risiko aufbringt, das mit neuen zwänge ... sondern einen entschiedenen, brei- Denkwegen verbunden sein kann. ten, selbstverständlichen Zugang zu dem, was da läuft“ (S.63). Daher fordern Politiker die Gottfried Kleinschmidt Autorenverzeichnis

José María Aznar, Gerhard Ott, spanischer Ministerpräsident, Vor- Monsignore, Künstlerseelsorger, Erz- sitzender der Partido Popular Madrid bischöfliches Ordinariat München

Thomas Buchheim, Prof., Dr., Theo Waigel, Dr., MdB, Philosophisches Seminar, Universität Vorsitzender der CSU, Mainz Bundesminister der Finanzen, Bonn

Rüdiger Dambroth, Dipl.-Pol., Norbert Walter, Prof., Dr., 1995-1997 stud. Mitarbeiter im For- Leiter Deutsche Bank Research, Frank- schungsverbund SED-Staat der FU Ber- furt a. M. lin, z.Zt. Doktorand Otto Wenzel, Dr., OStDir. a.D., Gerhard Hirscher, Dr. Lehrbeauftragter für Politik an der Referent für Grundsatzfragen, Politi- Technischen Fachhochschule Berlin sche Bildung, Politische Theorien der Akademie für Politik und Zeitgesche- Manfred Wilke, Prof., Dr., hen der Hanns-Seidel-Stiftung, Mün- Politikwissenschaftler, Universität Ber- chen lin, Forschungsverbund SED, Mitglied der Enquéte-Kommission des Bundes- Edgar Hösch, Prof., Dr., tages „Überwindung der Folgen der Institut für Geschichte Osteuropas und SED-Diktatur“ Südosteuropas, Universität München Olaf Kappelt, Dr., Reinhard C. Meier-Walser, Dr., Geschäftsführer, Rothenburg ob der Leiter der Akademie für Politik und Tauber Zeitgeschehen sowie Chefredakteur der POLITISCHEN STUDIEN der Hanns-Seidel-Stiftung, München