Werbeseite

Werbeseite DAS DEUTSCHE NACHRICHTEN-MAGAZIN

Hausmitteilung 20. Dezember 1999 Betr.: Moral, Hyperaktive, McCartney olitiker verstricken sich in Skandale, Talk- Pshows suchen nach letzten Perversitäten, Schüler schmieden Mordpläne gegen Lehrer, und für viele dreht sich alles nur ums Geld – gibt es denn keine Moral mehr? Oder zeigt sich Moral heute anders als früher, losgelöst von In- stitutionen wie Kirchen, Gewerkschaften, Ver- einen oder Verbänden? Keine einfachen Fra- gen, die sich die SPIEGEL-Redakteure Carolin Emcke, 32, und Ulrich Schwarz, 63, in der Ti- telgeschichte gestellt haben. Zumal die Autoren ganz unterschiedlich ans Thema gingen: Als ka-

T. KLINK / ZEITENSPIEGEL T. tholischer Theologe fühlt sich Schwarz eher Emcke, Schwarz den Gesetzen des Glaubens verpflichtet. Die promovierte Philosophin und Habermas-Schü- lerin Emcke setzt dagegen auf öffentlichen Diskurs als Orientierungshilfe moder- ner Gesellschaften. Dennoch waren sich beide einig: „Ohne Moral geht es nicht“, so Emcke, „und sie lässt sich nicht einfach entsorgen“ (Seite 50).

ei ihren Recherchen über das „Zappelphilipp-Syndrom“ traf SPIEGEL- BRedakteurin Renate Nimtz-Köster, 55, verzweifelte Eltern am Ende ihrer Kräfte. Sie haben hyperaktive Kinder, die nie zur Ruhe finden. Ob in der Schule, im Turn- verein oder zu Hause – alles gerät den Kleinen zum Chaos. Die Eltern leiden oft doppelt, hat Nimtz-Köster erfahren: „Viele wissen nicht, wie sie mit der Krankheit umgehen sollen, und dann werden sie auch noch von ihrer Umwelt beschimpft.“ Erzieherinnen mahnen zu mehr Strenge, Freunde sind genervt, Kinderärzte be- schwichtigen: „Das wächst sich aus.“ Tut es nicht. Als Ursache der Ruhelosigkeit gilt inzwischen ein neurobiologisches Defizit im Hirn-Stoffwechsel. In besonders drastischen Fällen helfen kurzfristig Medikamente. Nachhaltige Besserung bringt eine Verhaltenstherapie: „Das dauert zwar ein paar Monate“, so Nimtz-Köster, „dann aber sieht man erste Erfolge“ (Seite 184).

uch nach fast 40 Jahren erin- Anert sich Paul McCartney noch gut und gern an Hamburg, wo die Karriere der Beatles im Star-Club begonnen hatte: „Das war eine phantastische Zeit“, sag- te er SPIEGEL-Redakteurin Mari- anne Wellershoff, 36, und Mitar- beiter Christoph Dallach, 35, die den Musiker in der Nähe von

Stuttgart trafen.Wo er denn in der G. GERSTER heutigen Zeit bei Gelegenheit mal Wellershoff, McCartney, Dallach in der Hansestadt auftreten könn- te, wollte McCartney wissen. Die SPIEGEL-Leute empfahlen die „Große Freiheit“, einen Saal, der immerhin in derselben Straße liegt wie ehedem der inzwischen ab- gebrannte Star-Club. „Ist das nicht über dem Kaiserkeller?“, fragte McCartney. Ja, es ist. Dort hatten die Beatles 1960 ebenfalls häufig musiziert. Den SPIEGEL-Leu- ten erzählte McCartney bislang unbekannte Geschichten aus der Ruhmeszeit der Beatles, sprach über sein neues Album („Run Devil Run“) und über das Leben ohne seine im vergangenen Jahr gestorbene Frau Linda (Seite 104).

Im Internet: www.spiegel.de 51/1999 3 Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite In diesem Heft

Titel Die Deutschen – Volk ohne Moral?...... 50 Ende der Glaubwürdigkeit Seiten 24, 26, 32 SPIEGEL-Gespräch mit dem Theologen Hans Küng über ein Weltethos Bis Weihnachten wollte CDU-Chef Wolfgang im Zeitalter der Globalisierung...... 70 Schäuble Klarheit – aber die Union wird immer unglaubwürdiger. Jetzt steht fest, dass noch 1998 Deutschland eine Spende des Hamburger Kaufmanns Karl Panorama: Militärs für kürzeren Wehrdienst / Ehlerding über 2,5 Millionen Mark zunächst auf Schilys Spitzenbeamter half Guerrilleros ...... 17 das ominöse Poolkonto Helmut Kohls eingezahlt Affären: Der Leuna-Deal und die Union ...... 24 wurde. Der SPD hilft die Affäre wenig. Bundes- Interview mit Ex-Treuhand-Vorstand präsident Johannes Rau und das NRW-Kabinett Klaus Schucht über sein geheimes Tagebuch... 26 von Wolfgang Clement geraten durch zweifel- Freiflüge für Johannes Rau ...... 32 hafte Freiflüge weiter unter Druck. NS-Opfer: Interview mit Hans-Jochen Vogel über die späte Entschädigung für ehemalige Zwangsarbeiter...... 30 Europa: General a. D. Gerd Schmückle über die Illusion einer unabhängigen Großmacht Europa ...... 38 Hochschulen: Wie sich junge Professorinnen durchsetzen ...... 40 Zeitgeschichte: Die Autobiografie der ehemaligen RAF-Teroristin Margrit Schiller ... 46

Wirtschaft REUTERS Trends: Regierung will Wirtschaftsprüfer ARIS kontrollieren / Neuer Bahnchef Kohl, Schäuble Rau, Clement plant Jubel-PR ...... 75 Geld: Die neuen E-Commerce-Aktien / Riskante Neuemissionen...... 77 Luftfahrt: British Airways in der Krise ...... 78 Rente: Das Volkswagen-Modell – Die Meute und der Kanzler Seite 96 Vorbild für Deutschland?...... 82 Interview mit CDU-Vize Christian Wulff über Die Jagd nach exklusiven Nachrichten und grellen Schlagzeilen ist in aggres- die Rentengespräche mit der Regierung ...... 84 siver als einst in . Die Politiker werfen den Journalisten wüste Zuspitzung vor, Fahnder: Zugriff im hessischen die Journalisten ärgern sich über deren Geheimniskrämerei. Finanzministerium ...... 85 Währung: Mr. Euro und die neue Zentralbank ...... 86 Mobilfunk: Wie junge Leute sich mit getippten Handy-Botschaften verständigen .... 90 Reizvolles VW-Rentenmodell Seite 82 Medien Trends: Kassenschlager „Teletubbies“ / Betriebsräte und Vorstände des VW-Konzerns haben ein neues Modell der Altersvor- Umbau bei Pro Sieben...... 93 sorge entwickelt, das die Rentendiskussion in Deutschland beleben könnte. Über Fernsehen: RTL-Arzt Stefan Frank lockt 100000 VW-Mitarbeiter sparen Steuern, indem sie in einen Rentenfonds investieren. junge Zuschauer / „Tagesschau“-Sprecherin Dagmar Berghoff nimmt Abschied ...... 94 Vorschau...... 95 Hauptstadt: Misstrauen statt vertrauter Nähe – Journalisten und Politiker in Berlin .... 96 Verlage: Wie sich Springer-Vorstand Unter Kids geht die Claus Larass ins Abseits taktierte...... 100 Handy-Post ab Seite 90 Gesellschaft Szene: Warum sind die Deutschen Vor allem junge Leute nutzen Handy Streichel-Muffel? / Berliner Modemacherin und Display immer mehr als Multi- recycelt Telefonkarten und Joghurtdeckel..... 103 Kommunikationsgerät: Knapp und Stars: SPIEGEL-Gespräch mit knackig, durch einen Piepton an- Paul McCartney über Geheimnisse aus Beatles-Tagen, die Trauer um seine PRESS ACTION gekündigt, kommen Liebesschwüre Ehefrau Linda und sein neues Album...... 104 Handy-Nutzerin oder Schummelhinweise per E-Mail. Millennium: Wettstreit um das beste Jahrtausend-Feuerwerk ...... 110 Showgeschäft: Interview mit Popsänger Campino über die Anti-Bayern-München- Hymne seiner Band Die Toten Hosen...... 114 Europa spielt Hasard Seite 38 100 Tage im Herbst Chirac und Blair beschwören ein Großeuropa, unabhängig von den USA. General a. D. Wende und Ende des SED-Staates (13): Gerd Schmückle, der als Pressereferent von Verteidigungsminister Strauß den SPIEGEL „Macht das Tor auf“ – Das Volk feiert Kohl als Befreier...... 119 einst „eine moderne Gartenlaube“ nannte, hält die Ambition für ein Hasardspiel. Analyse: Geldmaschine Knast...... 136

6 der spiegel 51/1999 Ausland Panorama: Entmachtung des sudanesischen Parlamentspräsidenten / Kuba will Tabakexport mit neuer Zigarrenmarke steigern ...... 141 Heiliges Jahr: Spektakel zwischen Glauben und Geschäft...... 144 Kosovo: Anarchie in der Balkan-Provinz...... 148 Interview mit Uno-Missionschef Bernard Kouchner über den fehlenden Versöhnungswillen der Albaner ...... 150 Schweden: Umtriebe der Neonazis und neue Dokumente erzwingen Vergangenheitsdiskussion...... 152 Rumänien: Die letzten Siebenbürger

DPA Sachsen ordnen ihren Nachlass ...... 160 McCartney im Liverpooler Cavern Club Indien: Miss World nach Plan ...... 164 USA: Minnesota-Gouverneur Jesse Ventura über seine Zeit als Catcher und Ein Ex-Beatle im Rock’n’Roll-Fieber Seite 104 seine politischen Pläne ...... 168 Am Dienstag erinnerte Paul McCartney mit einem Konzert im wieder eröffneten Sport Liverpooler Cavern Club an die legendären frühen Tage der Beatles. Im SPIEGEL- Basketball: Die Los Angeles Lakers Gespräch schwärmt er von den Rock’n’Roll-Anfängen mit John Lennon und spricht über sind das neue Dream Team der NBA...... 174 die Trauer nach dem Tod seiner Ehefrau Linda: „Ich glaube, dass Weinen sehr gut ist.“ Skispringen: Weitenjäger im Windkanal ...... 178 Wissenschaft • Technik Prisma: Verbesserte Methode zur Grippe-Vorhersage /Rückkehr des Spieleklassikers „Pac-Man“...... 181 Ablass und Jubel Seite 144 Psychologie: Was hilft gegen Von Weihnachten an feiert die katholische Kirche Hyperaktivität von Kindern?...... 184 Kochen: Forscher-Tipps für das Jubeljahr anno Domini 2000, ein Heiliges Jahr. den Weihnachtsbraten ...... 190 Rom und Jerusalem erwarten ein Millionenheer Theologie: Der Papst plant Abrüstung von Wallfahrern, denen der Papst die Gnade eines im Reich der Engel ...... 192 göttlichen Sünden-Ablasses gewähren will. Bisher AP Pseudowissenschaft: Ölsuche mit aber ist die Resonanz der Gläubigen verhalten. Papst Johannes Paul II. Bibelhilfe...... 195

Kultur Szene: Leander Haußmann plant Horrorfilm / Jean-Michel Jarres Silvester- Nervensägen im Klassenzimmer Seite 184 Spektakel vor Ägyptens Pyramiden ...... 199 Hauptstadt: Peymann und Co. trompeten Sie kaspern herum, rasten grundlos aus und sa- in der Berliner Theaterwelt zum Aufbruch.... 202 botieren den Unterricht: Hyperaktive Kinder Villa Massimo: Krach um schlampige strapazieren ihre Umgebung – und leiden selbst Abrechnungen aus Rom...... 206 unter ihrer zwanghaften Störung. Die Psycho- Film: Deutsche Jungregisseure droge Ritalin kann nur die Symptome dämpfen. räumen bei Studenten-Oscars ab...... 208 Mit Verhaltenstherapie hingegen lernen die Ner- „Schnee in der Neujahrsnacht“, erster Kinofilm des Oscar-Siegers Thorsten Schmidt...... 209 vensägen, sich selbst zu kontrollieren. Kino: SPIEGEL-Gespräch mit Filmemacher Pedro Almodóvar über starke Gefühle

H. SCHWARZBACH / ARGUS H. SCHWARZBACH Tobende Schulkinder und seine Liebe zu wilden Nachtgestalten .... 210 Literatur: Der neue Psycho-Roman des Autors Wally Lamb...... 216 Bestseller...... 218 Seite 202 TV-Film: Der ARD-Weihnachtszweiteiler Berliner Theater: Pöbelnde Chefs „Die Bibel – Jesus“ ...... 220 Auf den Hauptstadtbühnen soll es wieder Sixtinische Kapelle: Die restaurierten rundgehen: Statt Ost gegen West kämpfen Fresken – vorher und nachher...... 222 nun Alt gegen Jung, Tradition gegen Provo- kation. In einem Interview-Krieg bepöbeln sich Thomas Ostermeier, 31, Frank Castorf, Briefe ...... 8 48, und Claus Peymann, 62. Der Altmeister Impressum...... 14, 224 will, etwa mit George Taboris „Brecht- Leserservice ...... 224 Akte“, das Berliner Ensemble neu beleben. Chronik...... 225 Register...... 226

Probe zu „Brecht-Akte“ I. FREESE / DRAMA Personalien...... 228 Hohlspiegel/Rückspiegel...... 230

der spiegel 51/1999 7 Briefe

einmal von nichts wussten, Besserung und rückhaltlose Aufklärung ankündigten „Kohl kann seinem Lebenswerk und Herrn Dr. Kohl, was seine persönliche Integrität betrifft, prophylaktisch in eine weitere historische Schutz nahmen. Schade, dass Herr Geißler Leistung hinzufügen: Noch verhindert war, an dieser Runde teilzu- nehmen. eine Enthüllung, und die Ratingen (Nrdrh.-Westf.) Helmut Litters

SPD muss ihn zu ihrem In der Politik ist sicherlich schon zu allen Zeiten unsaubere Wäsche gewaschen wor- Ehrenvorsitzenden machen.“ den. Doch was sich heute aus Kohls ehe- Wolfgang Willig aus Balingen (Bad.-Württ.) zum Titel maliger Führungszeit offenbart, wandelt „Wie geschmiert: Kohl saniert Schröder“ meine kleinbürgerliche Ohnmacht in Wut. SPIEGEL-Titel 49/1999 Heute schäme ich mich vor mir selber, diesem Mann einst mit meiner Wahlstim- me mein Vertrauen ausgesprochen zu Diktaturen und offenbar auch in Systemen, haben. „Wasser predigen – Wein saufen“ die sich selbst gern als demokratisch be- Stadtallendorf (Hessen) Christof Adler Nr. 49/1999, Titel: zeichnen. Dem omnipotenten Macher an Wie geschmiert: Kohl saniert Schröder der Spitze nun jedoch die alleinige Schuld Der geistig-moralische Wendekanzler a. D., für das Desaster zuweisen zu wollen greift dessen charakterliches und intellektuelles hat uns 1982 die geistig-mo- zu kurz. Ein erhebliches Maß an Mitschuld Defizit schon Franz Josef selig Magen- ralische Wende versprochen. Wir haben tragen diejenigen, die aus mangelnder Zi- sausen verursacht hat und für den auch ich diese Wende bekommen. Wir hatten nur vilcourage oder als Nutznießer vergessen zu fragen, in welche Richtung. des „Systems Kohl“ allzu gern Bühl (Bad.-Württ.) Karl Rittler den Mund zu- und die hohle Hand aufgehalten haben. Eine Unerträglichkeit, wie der Renais- Stuttgart Ulrich Wolfgang sance-Fürst Kohl seine Partei über diesen demokratischen Staat stellte. Wurde nach Hätte der – von mir bis vor dem Motto regiert: „Ich (Kohl) und die kurzem sehr verehrte – Herr Partei haben immer das Recht, die Hand Altbundeskanzler doch bloß aufzuhalten“? Aber auch für Kohl ist jetzt auf meine Urgroßmutter ge- der 9. November, der Tag der Wende, ge- hört. Die wusste es schon da- kommen. Die Demontage des Denkmals mals: „Und ist es noch so fein setzt ein. Es muss jetzt ein Zeichen gesetzt gesponnen, es kommt doch alles werden: Keiner steht über dem Staat.Auch an die Sonnen!“

nicht das Altbundeskanzler-Denkmal Kohl! Kaiserslautern Toni Lauer M. DARCHINGER Stade (Nieders.) Jörg Peters Ex-Kanzler Kohl Mit einer Aufsehen erregenden „Es kommt doch alles an die Sonnen“ Viel schlimmer als die am Finanzamt vor- Schmiergeldaffäre begann die beigeschleusten „Peanuts“ ist der Verlust Regierung Kohl, und mit einer spekta- mich mehr als einmal, vor allem im Aus- an Vertrauen gegenüber der politischen Eli- kulären endet sie. Dazwischen Affären, Be- land, geschämt habe, ist und bleibt, was er te, so denn noch etwas davon vorhanden stechung, Korruption und Selbstbedienung immer war: kaltschnäuzig, überheblich, war: Da scheint wirklich jemand wie ein von Flensburg bis München, von Aachen listig und partiell aggressiv. Er sieht sich König regiert zu haben. Ernst Fraenkel bis Dresden, und kaum eine, die nicht un- ausschließlich der Verantwortung „für das schrieb schon in der Anfangsphase der ter dem C-Logo der Partei ablief. Wohl unseres Volkes“ verpflichtet und Bundesrepublik, dass der Bestand der De- Harxheim (Rhld.-Pfalz) Karl Richter bedauert, mögliche Verstöße gegen das mokratie im Staate von der Pflege der De- Parteiengesetz nicht gewollt zu haben. Ist mokratie in den Parteien abhinge. Hoffen Ganz offensichtlich sind Ihre Journalisten er nun ein Trottel, ein Schlaumeier oder wir, dass er irrt. und Reporter über Details der Spenden- etwa beides? Zum Patriarchen fehlt ihm Freiburg Stefan Schillinger affäre weit besser informiert als hochran- die Würde und Ausstrahlung. Als Pate bie- gige Vertreter der CDU, wie zum Beispiel tet er eher die Karikatur eines Provinz- Gott sei Dank, endlich ist er entlarvt, un- abgewählte Generalsekretäre, die in der fürsten. ser ehemaliger Kanzler. Alle, die geglaubt Talkshow mit Sabine Christiansen wieder Mülheim (Nrdrh.-Westf.) Helmut Fassbender haben, dass er so rechtschaffen und an- ständig war, sind wie ein Blitz aus heiterem Himmel eines Besseren belehrt worden. Vor 50 Jahren der spiegel vom 22. Dezember 1949 Das „System Helmut Kohl“ ist zusam- Aufrüstung an der Ostseeküste DDR-Werften bauen Kriegsschiffe für mengebrochen wie ein Kartenhaus. Wie die Sowjetunion. Angst am Oberrhein Französischer Kanalbau vernichtet muss es nur den treuen Anhängern erge- Lebensraum. Wege zur Entnazifizierung Vorgetäuschte Entführung. hen? Heimwerker entwirft Atombunker Schutz für den kleinen Mann. Falscher Loffenau (Bad.-Württ.) Dieter Koch Bischof in Mannheim Bestattungen für 25 Mark. Neuer Haarwuchs durch elektro-chemische Behandlung Frankfurter Staatsanwaltschaft ermittelt. Erster internationaler Vertrag der Bundesrepublik Adenauer und McCloy Zu Überlebensgröße stilisierte Führerper- unterzeichnen Abkommen über Marshall-Hilfe. sönlichkeiten neigen gern dazu, die ihnen Diese Artikel sind im Internet abzurufen unter http://www.spiegel.de zugewachsene Macht für „höhere Ziele“ Titel: Die Schauspielerin Käthe Dorsch zu missbrauchen. Dies ist seit je üblich in

8 der spiegel 51/1999 Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite Briefe

Bei den nächsten Wahlen hat die SPD wöhnlichen Ausmaßes; seiner Partei nur dann eine Chance, wenn sie sich schanzte er zur gleichen Zeit – ob illegal, schnellstens erst einmal selbst reinigt! wird sich noch herausstellen – hohe Sum- Denn, so unglaublich und unverständlich men zu. Und nur er allein hat das gewusst? es auch ist, nach den neuesten Umfragen Schluss mit den Märchen. Jeder Bürger, liegt die CDU bei den 50- bis 60-Jährigen der teilweise im Vertrauen auf das christ- der noch nicht frustrierten Wählerinnen liche C dieser Partei und Helmut Kohl sein und Wähler bei 47 Prozent. Der sich auf Vertrauen schenkte, stellt nun plötzlich Grund der Skandale immer weiter aus- fest, dass dieses C gar nicht für „christlich“ breitende Standpunkt „Die sind doch alle steht, sondern für „cash“! gleich, die machen ja doch, was sie wollen, Hochdorf (Bad.-Württ.) Rita Lepski Politik ist eben ein schmutziges Geschäft“ ist eine große Gefahr für unsere Demo- kratie. Spezifische Probleme der SPD Korschenbroich (Nrdrh.-Westf.) Nr. 48/1999, SPD: Die Chaos-Fraktion des Peter Struck Werner Ortmann Was in den ach so vorbildlichen Wirt- Mit dem Begriff Ehre haben Christenpoli- schaftsunternehmen selbstverständlich ist, tiker offenbar einige Probleme. Daran mag wird bei den politischen Parteien als Cha- das schwülwarme Klimagemenge aus Im- os diskreditiert. Wenn eine Firma inner- munität und Absolution schuld sein. Das halb eines Jahres alle wichtigen Großauf- Ende eines Ehrenworts in der Badewanne träge verliert, erwarten auch die Medien, und nun ein Ehrenvorsitzender als Mogel- dass es innerhalb der Firma ernsthafte Dis- packung. Wenn man sich an Kohls Forde- kussionen über strategische Alternativen rung nach einer geistig-moralischen Wen- gibt. Genau dies haben die von Ihnen de erinnert, zeigt sich die Berufspolitiker- freundlicherweise als „Struck-Strolche“ Krankheit „Wasser predigen – Wein sau- apostrophierten SPD-Bundestagsabgeord- fen“ in völlig neuer Erscheinungsform. neten systematisch versucht. Bremen Reinhard Fies Berlin Dr. Werner Schuster MdB/SPD Durch schwarze Konten schwarze Zahlen bei der schwarzen Partei. Patriarchalisches Ich bin mir nicht sicher, ob das individuel- System statt innerparteiliche Demokra- le Verhalten von Abgeordneten gegenüber tie. Rechtsverstöße und Verfassungsbruch. dem Fraktionsvorstand und der Regierung Und viele haben etwas (wenn auch nicht wirklich so ein Skandal ist wie im Artikel alles) davon gewusst. Bevor sie ihre eigene beschrieben. Es liegt in der Natur der Sa- Existenz gefährdet, wird die CDU ge- che, und es gibt die spezifischen Probleme wiss von der rückhaltlosen zur rückgrat- losen Aufklärung ihres Finanzgebarens übergehen. Offenburg David Boehringer

Während in Bayern ein Arbeitsloser mit knapp bemessenen Mitteln wegen Ent- wendung einer „geringwertigen Sache“ (10 Mark) in einem Kaufmarkt jetzt über Weih- nachten und Silvester für sieben Wochen die Haft antritt, können gewisse Philister aus Wirtschaft und Politik Millionen un- terschlagen, ungeniert und ungestraft. Da sage noch mal einer, bei der bayerischen

Justiz ginge es nicht (ir)rational, human H. DARCHINGER J. und gerecht zu. Struck, Fraktionsmitglieder München Peter Weisse Ernsthafte Diskussionen in der Firma

Vor nahezu 20 Jahren waren Kohl und die der SPD wieder. Es gibt keinen Zwang für Seinen angetreten mit dem Anspruch auf die SPD, Abgeordnete aufzubieten, die ei- die „moralische Wende“. Der Wähler er- ner globalisierten Welt entsprechen. Das kennt jetzt, was damit gemeint war. Die hat zudem wenig mit der Fraktionsdisziplin viel beklagte „Wahlmüdigkeit“ ist tatsäch- zu tun, von der der Artikel schließlich han- lich ein Gemenge aus Frust, Ekel und Hoff- deln soll. Die Abgeordneten sind ja zum nungslosigkeit. größten Teil Chaoten und Strolche, keine Bruchsal (Bad.-Württ.) Heiko Schlegtendal Aktivisten einer Antiglobalisierungsströ- mung in der SPD. Wenn die Autoren mo- Ein Waffenhändler bringt die Lawine ins nieren, es gebe keine „kernigen Typen“, Rollen. Zuerst glaubt man es nicht. Wäh- um dann eine Aufzählung besonders ge- rend seiner Dienstzeit verpasste Helmut lungener Exemplare dieser Gattung anzu- Kohl der Bevölkerung des von ihm regier- bieten, dann ist dies ein Widerspruch. ten Landes einen Schuldenberg unge- Hamburg André Berthy

12 der spiegel 51/1999 ULLSTEIN BILDERDIENST ULLSTEIN Denkmal der Dichterin Droste-Hülshoff Erfundene Nacktszene

Geschickter PR-Gag Nr. 49/1999, Szene: Eine Liebesaffäre der Dichterin Droste-Hülshoff

Indem der Klett-Verlag die Korschunow- Erfindungen in seinem neuen Schulbuch als Fakten in einem Arbeitskapitel dar- stellt, betreibt er Geschichtsfälschung. Und so wird aus dem Journalisten und Literaten Levin Schücking, der bereits Jahre vor der 48er Revolution für Pressefreiheit, demo- kratische Grundrechte und Fraueneman- zipation in den damaligen Zeitungen und in seinen Büchern eintrat, in einem deut- schen Schulbuch plötzlich ein frauenver- achtender Chauvinist. Sögel (Nieders.) Heinz Thien

Irina Korschunows Droste-Roman „Das Spiegelbild“ fühlt sich weder richtig in die große katholische Dichterin und in ihren Ziehsohn und Förderer Schücking ein noch in deren intensive Arbeitsbezie- hung, noch in deren Biedermeier-Zeit. Der 28-jährige Schücking hat die 45-jährige kränkliche Dichterin als sein „Mütterchen“ bezeichnet und geschrieben, dass sie so- gar noch älter aussah. Die von Frau Kor- schunow entgegen aller Plausibilität er- fundene Nacktszene hat sich als geschick- ter PR-Gag bewährt. Frau Korschunow ist der Erfolg zu gönnen – Empörung verdient nur, dass der renommierte Klett-Verlag in einem Schulbuch das Korschunowsche Phantasiebild als historische Wirklichkeit ausgibt! Kirchzarten (Bad.-Württ.) Wilderich Frhr. Droste zu Hülshoff

der spiegel 51/1999 Briefe

Weihnachtliche Stimmung Nr. 49/1999, Affären: Dieter Baumann – Dopingsünder oder Komplottopfer?

Obwohl ein Dopingfall im Normalfall sehr einfach dargestellt wird, werden im Ausnahmefall Dieter Baumann alle mög- lichen vorhandenen oder auch nicht vor- handenen Register gezogen. Und nun wird dieser als Sonderfall dargestellte und bereits als Kriminalfall deklarierte Fall Baumann als hochnotpeinlich ein-

POP-EYE gestuft und zerredet. Die Dinge nehmen Jung-Literaten Schönburg, Nickel, Kracht, Bessing, Stuckrad-Barre*: Cola koffeinfrei auch in diesem Fall ihren Lauf und wer- den mit hoher Wahrscheinlichkeit in Derartige Events, wie es heutzutage wohl Kürze durch eine noch bessere und hof- Gedankenschrott rückwärts heißt, sind eine echte Verführung, sich nach fentlich etwas glaubhaftere, wenn schon Nr. 49/1999, Spektakel: Wie ein Paragraf 185 StGB (Beleidigung) strafbar nicht humorvollere Doping-Geschichte er- „popkulturelles Quintett“ sich selbst glorifiziert zu machen. Es ist genau diese Sorte von setzt. Und, Familie Baumann, man muss Spacken, selbstwichtigen JungFAZken und das Unmögliche so lange anschauen, bis Dieses gezüchtete Desinteresse, dieses eitlen Me-too-Pfeifen, die einen an dieser es eine leichte Angelegenheit wird. Das scheinbare Egal, diese kultivierte Gelang- Welt verzweifeln lassen. Regelmäßig aufs Wunder ist eine Frage des Trainings, so weiltheit, das sind doch Relikte aus ver- Neue in beharrlicher Edelwäsche und im oder so. gangenen Tagen, als Künstler jedweder zweifellosen Glauben, eine Bedeutung zu Pirna (Sachsen) Heinz Gliniorz Couleur möglichst vergeistigt ihren irren haben. Blick in die Ferne schweifen ließen und Hamburg Olaf Möller zwischen Absinth und LSD versuchten, ihr Werk einer meist irritiert kopfschütteln- Wer wie Schönburg und Co. Langeweile den Bevölkerung nahe zu bringen. Heute mit eigenem Unvermögen, die Welt als her- hingegen schaut der Schreibernachwuchs ausfordernde Einheit aus Wissen und Tun zu zwischen Light-Zigarette und Cola kof- begreifen, verwechselt, verhöhnt sich selbst, feinfrei kurz vom Manuskript auf und und das ist Strafe genug. Bemerkenswert ist, treibt mir die Tränen in die Augen. Dieses wie schauderhaft niedrig die Reflexions- Verhalten unter so genannten Kreativen ebene der fünf zu sein scheint, die ihren ist genauso abgegriffen wie das allseits zi- Ergüssen eine Ernsthaftigkeit überstülpen, tierte Wort Millennium und ebenso über- dass man sich voll ehrlichem Mitleid fragen flüssig wie singende Fußballmannschaften muss: Brauchen die Autoren samt Ullstein- oder Raumdeos mit Parfumölen. Lektorin nicht vielleicht unsere Hilfe? Mainz Michael Bukowski Berlin Marc Kayser

Die angeblichen Vorreiter einer „ominösen Popliteratur“ um Stuckrad-Barre und Kon- Für ein korruptionsfreies Nigeria sorten produzieren nichts, was auch nur Nr. 49/1999, Nigeria: SPIEGEL-Gespräch annähernd geistreich zu nennen wäre. Dar- mit Staatspräsident Olusegun Obasanjo über an ändert sich auch nichts, liest man deren blutige Konflikte im Vielvölkerstaat Gedankenschrott rückwärts. Wenn dies mit „Tristesse Royale“ gemeint ist, dann Obasanjo lässt in Ihrem Interview deutlich

herzlichen Glückwunsch. Von solch reifer erkennen, dass er eigentlich die Erste Welt ULMER Selbstkritik ist bei den „faselnden Fünf“ al- darum bittet, ihren Mund zu halten. Und Langstreckenläufer Baumann lerdings nicht auszugehen. Recht hat er. Die Probleme im Delta lassen Humorvollere Doping-Geschichte? Köln Ingo Petz sich nicht mit unserem Wissen lösen. Es ist geradezu lächerlich, wenn westliche Kre- Es wird wohl an der weihnachtlichen dite davon abhängig gemacht werden, ob Stimmung liegen, dass die Staatsanwalt- zwei Dörfer sich gerade bekämpfen. Ihre schaft nicht von Amts wegen ein Ermitt- VERANTWORTLICHER REDAKTEUR dieser Ausgabe für Panorama, Überschrift „Ich will das Land zusammen- lungsverfahren wegen Beleidigung gegen Affären (S. 22), Titelgeschichte, Fahnder: Clemens Höges; für Affären (S. 24, 26), Trends, Geld, Luftfahrt, Rente (S. 82), Verlage, halten“ zeigt deutlich und richtig die obers- die Verbreiter des Zahncreme-Komplotts Chronik: Gabor Steingart; für NS-Opfer, Europa, Hochschulen, te Priorität für ein Nigeria, welches ur- eingeleitet hat. Rente (S. 84), Hauptstadt (S. 96): Dr. Gerhard Spörl; für Zeitge- sprünglich aus über 300 Stämmen künstlich Berlin Dr. Friederike Schulenburg schichte, Mobilfunk, Fernsehen, Szene, Stars, Showgeschäft, Haupt- stadt (S. 202), Villa Massimo, Film, Kino, Literatur, Bestseller, TV- konstruiert wurde. Der jetzige demokra- Film, Sixtinische Kapelle: Wolfgang Höbel; für Millennium, Prisma, tisch gewählte Präsident hat dies erkannt. Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe – bitte mit Psychologie, Kochen, Theologie, Pseudowissenschaft: Olaf Stampf; Obasanjo hat nichts zu verlieren, muss aber Anschrift und Telefonnummer – gekürzt zu veröffent- für 100 Tage im Herbst: Jochen Bölsche; für Panorama Ausland, lichen. Heiliges Jahr, Kosovo, Schweden, Rumänien, Indien, USA: Dr. Olaf auch nicht unbedingt etwas gewinnen. Dies Ihlau; für Basketball, Skispringen: Alfred Weinzierl; für die übrigen kann sehr hilfreich sein für ein korrup- Beiträge: die Verfasser; für Briefe, Register, Personalien, Hohlspie- tionsfreies Nigeria. Eine Teilauflage dieser SPIEGEL-Ausgabe enthält einen gel, Rückspiegel: Dr. Manfred Weber; für Titelbild: Stefan Kiefer; für Layout: Rainer Sennewald; für Hausmitteilung: Hans-Ulrich Port Harcourt (Nigeria) Andreas Nowak Postkartenbeikleber der Firma Cosmos Leben, Saar- Stoldt; Chef vom Dienst: Thomas Schäfer (sämtlich Brandstwiete brücken, und der Firma SPIEGEL-Verlag / SPIEGELre- 19, 20457 Hamburg) porter, Hamburg. Einer Teilauflage dieser SPIEGEL-Aus- TITELBILD: Illustration Robert Rodriguez für den SPIEGEL; AKG * Bei der Lesung „Tristesse Royale“ in Berlin am 29. No- gabe liegt eine Beilage der Firma AOL Bertelsmann On- vember. line, Hamburg, bei.

14 der spiegel 51/1999 Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite Panorama Deutschland AP Scharping mit Soldaten, deutscher Kfor-Konvoi im Kosovo-Einsatz (u.)

BUNDESWEHR Um „Wehrgerechtigkeit“ zu wah- ren, also alle tauglichen und wehr- willigen Männer einberufen zu Kürzerer können, soll der Grundwehrdienst von zehn auf sechs Monate ver- kürzt werden. Nach dem Modell Wehrdienst? der militärischen Führung dürften Rekruten wie bisher freiwillig – ie Reform kommt voran. Die mi- mit einem Aufgeld – bis zu 23 Mo- Dlitärische Führung hat jetzt ihre nate dienen. Grobskizze einer neuen Struktur der Die Reformkommission unter Alt- Streitkräfte entworfen. Danach soll die bundespräsident Richard von Truppe von rund 340000 auf weniger als Weizsäcker hat diese Woche erst- 300000 Soldaten reduziert werden.Auch mals ausgiebig das Für und Wider künftig, so die Spitzenmilitärs, seien etwa der Wehrpflicht diskutiert. Statt

200000 Zeit- und Berufssoldaten nötig, wie geplant im Mai wird sie wahr- DPA um alle Aufgaben für Nato und Europäi- scheinlich schon vor Ostern erste sche Union zu erfüllen – vom „Gefecht Empfehlungen abgeben. Der Reform- entscheiden, welche Garnisonen aufge- der verbundenen Waffen“ mit Panzern fahrplan von Verteidigungsminister Ru- löst oder zusammengelegt werden. Der und Artillerie bis zur zivilen Aufbauhil- dolf Scharping sieht vor, bis kommen- Umbau der Armee in Einsatzkräfte und fe. Die Zahl der Wehrpflichtigen dagegen den September die Vorschläge der Kom- eine Grundorganisation für Ausbildung soll beträchtlich sinken – von 135000 auf mission und der Militärs in Einklang zu und Nachschub soll dann spätestens im 85000. bringen. Danach will der Minister auch April 2001 beginnen.

BEAMTE bisherigen Ermittlungen soll sich Dusch der enge Kontakte zum ELN unterhält. auf Bitten des umstrittenen Privatdetek- Mauss bestreitet dies. Die beiden ken- Extratour für tivs Werner Mauss hin engagiert haben, nen sich noch aus der Zeit, als Dusch Büroleiter des damaligen Bundesinnen- Guerrilleros ministers Friedrich Zimmermann (CSU) war. m Bundesinnenministerium sind diszi- Weil der jetzige Innenminister Otto Iplinarische Vorermittlungen gegen Schily Dusch Anfang Dezember ohne den Leiter des Bundesamts für die An- Angabe von Gründen von seinem Pos- erkennung ausländischer Flüchtlinge, ten entbunden hatte, war in den ver- Hans Georg Dusch, eingeleitet worden. gangenen Wochen immer wieder über Der Beamte steht im Verdacht, sein mögliche politische Amt missbraucht zu haben. Er soll ge- Differenzen zwi- holfen haben, Mitgliedern der kolum- schen dem sozialde- bianischen Guerrilla-Gruppe ELN einen mokratischen Bun- Aufenthalt in Deutschland zu verschaf- desminister und dem fen. So soll Dusch eine Delegation des konservativen Beam- ELN in seinem Nürnberger Amt emp- ten spekuliert wor- fangen und sich bei den rheinland-pfäl- den. Von einem Streit zischen Behörden dafür eingesetzt ha- um Änderungen im ben, den Kolumbianern eine Sonderge- Ausländerrecht war DPA nehmigung für einen längeren Deutsch- IMO in Zeitungen die land-Aufenthalt zu erteilen. Nach den Ehepaar Mauss (1996 in Kolumbien) Dusch Rede.

der spiegel 51/1999 17 Panorama

ABGEORDNETE Schlechter Service undestagspräsident Wolfgang Thierse (SPD) und Bseine Verwaltung geraten wegen zweifelhafter Arbeitsbedingungen und erheblicher Qualitätsmän-

gel beim privatisierten Fahrdienst des Bundestags & PARTNER / BACH CH. BACH unter Druck. Der für den Sozialdemokraten Thierse Fahrdienst für Mitglieder des Bundestags in Berlin peinlichste Vorwurf: Die beauftragte Berliner Miet- wagen-Firma RocVin Dienste GmbH behandelt ihre knapp 90 genen Donnerstag musste Thierses Verwaltungschef den Äl- Kraftfahrer so, dass es Gewerkschafter graust. Beispielsweise testenrat in einem dreiseitigen „Erfahrungsbericht Fahrdienst“ müssen sich viele Fahrer während der vierwöchigen Weih- über „mehrere hundert Einzelfallbeschwerden“ informieren. nachtspause des Bundestags zwischen dem 17. Dezember 1999 Die Einschätzung der Beamten: RocVins Zeitverträge für die und dem 17. Januar 2000 arbeitslos melden oder für diese Zeit Fahrer seien zwar rechtlich zu halten. Sollte sich allerdings einen anderen Job suchen. Ihre Kosten drückt die Firma ferner, insgesamt „die Dienstleistung nicht deutlich verbessern“, so der indem sie keine Zuschläge für Nacht-, Sonn- oder Feiertags- Bericht, müsse der Vertrag eventuell aufgelöst werden. arbeit zahlt. Schon jetzt aber soll den Abgeordneten auf rund 13000 Beschwerden hatte Bundestagsdirektor Peter Eickenboom Straßen „die Inanspruchnahme von Taxen nach eigener Wahl zunächst mit dem Hinweis abgetan, konkurrierende Taxiun- erleichtert werden“, empfahl Eickenboom – das sei durchaus ternehmen würden RocVin „sehr zusetzen“. Doch am vergan- „wirtschaftlich vertretbar“.

PDS Benjamin: Niemand in der PDS propa- HANDYS giert eine gewaltsame Revolution. „Sozialistisches Ziel“ Wohl aber muss die PDS am sozialisti- Angriff aus Israel schen Ziel festhalten, und zwar nicht Michael Benjamin, 66, Mitglied des nur in einer nebulösen Form. Es geht sraelischen Wissenschaftlern ist es PDS-Parteivorstands und Wortführer nicht zuletzt um die Vergesellschaftung Inach eigenen Angaben gelungen, die der Kommunistischen Plattform, über des großen kapitalistischen Eigentums, Sprachverschlüsselung bei Handys in die PDS-Programmdebatte der großen Banken und Kon- Minutenschnelle zu knacken. Im Inter- zerne. net veröffentlichten sie Mitte des Mo- SPIEGEL: Die Pragmatiker Ihrer SPIEGEL: Fürchten Sie eine nats ihren Angriff auf die A5/1 genannte Partei wollen ein neues Pro- Distanzierung von der DDR? Verschlüsselungsmethode, die in Millio- gramm. Was haben Sie dagegen? Benjamin: Auch wir gehen kri- nen europäischer Handys benutzt wird, Benjamin: Das sind Ihre Worte, tisch mit den Defiziten der auch in deutschen Mobilfunk-Netzen. nicht meine. Mir geht es um die DDR um. Das impliziert aber Die Wissenschaftler machten sich kleine Sache – darum, dass die PDS zugleich das Bekenntnis zu Schwachstellen bei der Verwirbelung ihre grundlegende sozialistische den positiven sozialen Errun- der Sprachdaten zu Nutze. Nach einem Identität nicht verliert. Sollten genschaften der DDR. Wir zweiminütigen Gespräch haben sie

die jetzt von der Programm- S. BONESS / IPON wenden uns entschieden dage- genügend Daten gesammelt, um in we- kommission veröffentlichten Benjamin gen, die DDR zu denunzieren niger als einer Sekunde den Code zu Thesen Grundlage eines neuen und zu „delegitimieren“. brechen – auf einem handelsüblichen Programms werden, so würde die PDS SPIEGEL: Droht der PDS eine Spaltung? PC mit ausreichend großem Speicher. wesentliche sozialistische Grundpositio- Benjamin: Das sehe ich nicht. Aber die Das Live-Mithören von Telefonaten ist nen aufgeben. Gefahr einer unproduktiven Verschär- mit der Methode zwar noch nicht mög- SPIEGEL: Ihr Bundesgeschäftsführer for- fung von Gegensätzen besteht. Übrigens lich, es rückt aber in greifbare Nähe. dert, die Hoffnung auf die sozialistische zeichnet sich ab, dass unser Standpunkt Bei früheren Hackerangriffen auf ver- Revolution zu beerdigen. an der Basis erhebliche Resonanz findet. gleichbare Codes hatte das Entschlüs- seln noch mehrere Stunden gedauert.

VERFASSUNGSSCHUTZ liner Innenverwaltung unter Eckhart Werthebach (CDU), gilt als aussichtsrei- Chef geschützt cher Bewerber. Dabei hatte er vor dem Untersuchungsausschuss zur Aufklä- n der Affäre um das Versagen der rung der tödlichen Schüsse auf kurdi- IBerliner Polizei beim Schutz des sche Demonstranten eingeräumt, einen israelischen Generalkonsulats sorgte er Verfassungsschutzvermerk, angeblich für Schlagzeilen als Aktenvernichter – ohne Wissen seines Chefs, vernichtet zu nun will er Chef des Verfassungs- haben. Damit hatte er Werthebach vor

schutzes in Brandenburg werden: Axel dem Vorwurf geschützt, selbst die Ver- ARGUS Dechamps, Abteilungsleiter in der Ber- nichtung betrieben zu haben. Handy-Benutzer

18 der spiegel 51/1999 Deutschland

KOALITION von Kernkraftwerken in Russland, der Ukraine, Kasachstan und Brasilien wur- Streit um Hermes den zurückgestellt. China wünscht Lie- ferungen für zwei Atommeiler und deut- ie geplante Vergabe von Hermes- sche Hilfe für den umstrittenen Drei- DBürgschaften an deutsche Firmen, Schluchten-Staudamm. Die Risikoabsi- die am Bau von Atomkraftwerken und cherung des Staudamms Maheshwar in Staudämmen in Ländern Osteuropas Indien haben Auswärtiges Amt, Finanz- und der Dritten Welt beteiligt sind, birgt und Entwicklungsministerium laut Liste neuen Streitstoff für die rot-grüne Koali- bereits per „Sperre“ blockiert: „Kern- tion. Das Auswärtige Amt des Grünen problem ist die Umsiedlungsfrage.“ Joschka Fischer hat in einer internen Dem Ilisu-Damm-Projekt in der Türkei Liste insgesamt 16 zweifelhafte Projekte wird das Außenministerium dagegen aufgeführt, bei denen beteiligte deut- voraussichtlich zustimmen. „Wir können sche Firmen auf staatliche Bürgschaften nicht zu allem Nein sagen“, so ein hoher drängen. Die Anträge für die Förderung Fischer-Mitarbeiter. HOERIG / EPD Baustelle des Maheshwar-Damms in Indien

ihre Zustimmung. Ein Gespräch zwi- schen Finanzminister Hans Eichel und seinem amerikanischen Kollegen Lawrence Summers am vergangenen Mittwochabend in Berlin endete ohne Entscheidung. „Der hat sich völlig bedeckt gehalten“, berichtete ein Ei- chel-Mitarbeiter anschließend ent- täuscht. Summers stand dem Personal- vorschlag der Deutschen von Anfang an reserviert gegenüber. Mit ihrem Nein düpieren die Amerikaner auch Bundeskanzler Gerhard Schröder.

M. DARCHINGER Am Rande des Treffens führender west- Koch-Weser licher Staats- und Regierungschefs vor vier Wochen in Florenz hatte der WÄHRUNGSFONDS Bundeskanzler US-Präsident Bill Clinton gebeten, Summers zum Um- Washington blockt denken zu bewegen. Clinton versprach, sich für Koch-Weser stark zu machen. den Deutschen Offensichtlich konnte er die Einwände Summers’ aber nicht ausräumen. Fi- it der Nominierung von Finanz- nanzstaatssekretär Koch-Weser wäre Mstaatssekretär Caio Koch-Weser der erste Deutsche an der Spitze des für den Posten des Chefs des Internatio- IWF. Der Posten wird zwar traditio- nalen Währungsfonds (IWF) stößt die nell mit einem Europäer besetzt, den Bundesregierung auf unerwarteten Wi- Amerikanern steht aber als größtem derstand. Die amerikanische Regierung Anteilseigner des Internationalen verweigert dem deutschen Kandidaten Währungsfonds ein Veto-Recht zu.

der spiegel 51/1999 19 Panorama Deutschland

Am Rande Nehmt Ribbeck!

Good morning, dear friends of the „Sun“ (Guten Morgen, Freunde der Sonne), könnt ihr uns hören? Nein? Im- mer noch besoffen vom bierseligen Fa- bulieren über neue „Blitzkriege“ gegen uns „wursts“ und „krauts“? Oder doch zu erschrocken über die Aus- losungen? England gegen Deutsch-

land also, dreimal gleich, erst bei C. DITSCH / VERSION der Europameisterschaft und dann NPD-Demonstration (am Leipziger Völkerschlacht-Denkmal 1998) bei der WM-Qualifikation. Das ist bitter, „Sun“, das verstehen wir, RECHTSEXTREME Strafverfolgung rechnen müssen. Eine vor allem für eure Hooligans: Wie amtliche Antwort dürfte die NPD in sollen die nach dem ersten Spiel Verstärkung aus Kürze erhalten. Bei einer Razzia in gesund werden bis zum zweiten? Oberösterreich wurden acht Rechtsex- Hier sind drei Gründe, „Sun“, war- Österreich tremisten festgenommen, darunter ein um England seit 1966 immer ver- NPD-Mitglied aus Österreich. liert: 1. „Engländer können kein ie rechtsextremistische Nationalde- Englisch“ (Nick Hornby), Lothar Dmokratische Partei Deutschlands Matthäus ist auch darin besser und (NPD) prahlt damit, eine „ganze Reihe“ kann zum Beispiel schon sagen: „I neuer Mitglieder aus Österreich gewon- hope we have a little bit lucky.“ 2. nen zu haben. Für die NPD eine konse- Nachgefragt Du hast einfach Komplexe, „Sun“, quente Entwick- und sprichst tatsächlich von „ewi- lung, da es „kei- Strafe für Moskau ger Rivalität“. Welche Rivalität? nen Zweifel geben Wir hatten „auch gegen Österreich kann, dass Russland führt in Tschetsche- schon knappe Spiele“ (Stefan Reu- Deutschland we- nien einen grausamen Krieg gegen ter). 3. Du hast zwar richtig ge- der an der Oder die Zivilbevölkerung. Soll die zählt, „Sun“: Ihr habt „zwei Welt- noch am Brenner deutsche Regierung sich deshalb kriege und ein Weltmeisterschafts- endet“, schreibt für wirtschaftliche Sanktionen finale gewonnen“, aber 1966, in der bayerische einsetzen? Wembley, war der Ball ja gar nicht NPD-Funktionär Gesamt West Ost drin. Und Elfmeter zu schießen Sascha Roßmüller. Ja, das Ausland lernt ihr auch nie. Und Jens Jere- Er ermahnt die darf bei solchen 57 59 52 mies ist intelligenter als David neuen Parteimit- Menschenrechts- Beckham oder eure Rinder. Und... glieder jedoch, verletzungen nicht

Doch leider müssen wir zum Ende A. SCHOELZEL dieses Bekenntnis tatenlos zusehen dieser Kolumne auf Scherze ver- Roßmüller nicht öffentlich Nein, das belastet zichten und die Wahrheit schrei- abzulegen. das Verhältnis zu 31 29 38 ben. Die Wahrheit lautet: England „Noch“ drohten dafür „juristische Kon- Russland zu sehr wird gewinnen – und zwar drei- sequenzen“. Weiß nicht mal. Denn ihr habt Kevin Keegan, Parteien oder Organisationen, die sich 12 12 10 und unser Teamchef Erich Ribbeck nicht eindeutig von nationalsozialisti- sagt: „Konzepte sind Kokolores. schem Gedankengut distanzieren, sind Wir spielen mit Libero, zwei Mann in Österreich verboten. davor, dazwischen oder dahinter.“ Dennoch denkt die NPD über eine Par- Keegan hat sich an die schöne Sit- teigründung jenseits der Grenze nach. te erinnert, dass einen Pokal be- Die rechtsextreme Partei will „in letzter halten darf, wer ihn dreimal ge- Konsequenz“ vor dem Europäischen winnt. Nun will er unser Volk ver- Gerichtshof gegen das so genannte Wie- einnahmen und fragt: „Wenn wir derbetätigungsverbot klagen. Der für die Deutschen dreimal schlagen, die neuen Parteimitglieder aus Öster- dürfen wir sie dann behalten?“ Sa- reich zuständige NPD-Landesverband gen wir’s so: Ihr kriegt Ribbeck. Bayern bemüht sich derzeit zu klären, Emnid-Umfrage für den SPIEGEL vom 10. und 11. Dezember; rund 1000 Befragte; Angaben in Prozent ob österreichische Parteimitglieder mit AFP

20 der spiegel 51/1999 Werbeseite

Werbeseite Deutschland

22 der spiegel 51/1999 der spiegel 51/1999 23 Deutschland Zwei Fälle, ein Muster Provisionen, Briefkastenfirmen und dubiose Vermittler: Beim Panzer-Geschäft mit den Saudis und beim Raffineriebau in Leuna gibt es erstaunliche Parallelen, die Ermittler beider Fälle wollen nun kooperieren.

n Genf arbeitet Paul Perraudin, ein Spe- von den Provisionszahlungen beim Bau zialist für internationale Wirtschafts- der Raffinerie Leuna gewusst. Ikriminalität, an einem Fall, der sein Bereits im Frühjahr war Perraudin erst- Können beansprucht: Der Schweizer Un- mals auf einen Hinweis gestoßen, dass es tersuchungsrichter will die finanziellen eine deutsche Spur geben könnte. Rund 50 Hintergründe jenes Milliardengeschäfts Millionen Mark der Elf-Zahlungen ver- klären, das dem französischen Mineralöl- folgte er bis auf ein Luxemburger Konto konzern Elf Aquitaine die Übernahme der der Liechtensteiner Delta International ostdeutschen Raffinerie Leuna samt der Establishment (SPIEGEL 48/1999). Das Un- Tankstellenkette Minol sicherte. Es geht ternehmen wird dem Geschäftsmann Die- um Bestechung, Untreue und dubiose Pro- ter Holzer, einem Mann mit besten Bezie- visionen von mindestens 100 Millionen hungen in die Politik, zugeordnet, der in Mark, die dabei geflossen sein sollen. dem Raffinerie-Deal eine zentrale Ver- Drei Jahre beschäftigt sich Perraudin mittlerrolle spielte. mit dem Fall – und plötzlich sieht er Mittlerweile scheint zudem klar, dass im sich im Mittelpunkt einer Affäre, die die Frühjahr 1993 weitere rund drei Millionen deutsche Innenpolitik nachhaltig erschüt- Mark der Provisionen bei Holzer lande- tern könnte. Plötzlich geht es auch um ten, auf dem Konto einer Stiftung mit dem illegale Parteienfinanzierung, schwarze beziehungsreichen Namen „Reptil Foun- Kassen und um den Kanzler der Einheit, dation“ bei der Schweizerischen Bankge- Helmut Kohl. sellschaft in St. Gallen. Zumindest taucht Gerüchte, ein Teil des Geldes habe sei- der Betrag in Delta-Unterlagen auf. nen Weg nach Deutschland in die Kassen Dass es die schwierige Ermittlungsarbeit der CDU gefunden, gab es schon lange. des Richters Perraudin nun auch hier zu Belegen ließ sich die These bisher nicht. Lande zum Schlagzeilenthema gebracht Und in der vergangenen Woche behaupte- hat, verdankt sie freilich einem anderen, te der korsische Geschäftsmann André ganz deutschen Skandal, der seit Wochen Guelfi nicht zum ersten Mal, Kohl habe die Union quält: Als zu Zeiten des Golf- P. LANGROCK / ZENIT P. Raffinerie Leuna: Millionenschacher im Hintergrund

24 der spiegel 51/1999 Wie geschmiert Zahlungen im Zusammenhang mit der Leuna-Übernahme des Elf-Konzerns Loïk Le Hubert Le Blanc Floch-Prigent Bellevaux stellt dem Elf- Elf-Chef 1989 Als Elf-Berater an den Konzern das Konto bis 1993 Leuna-Verhandlungen seiner Briefkasten- beteiligt firma „Nobleplac“ zur Verfügung überweist am 24.12.1992 256 Mio. Francs André Guelfi auf das Pierre Lethier Dieter Holzer Geschäftsmann und „Nobleplac“-Konto Geschäftsmann, Geschäftsmann, Ex-Geheimdienstler Ex-Geheimdienstler Elf-Berater und Ex-Geheimdienstler Empfänger Empfänger

LIECHTENSTEIN LUXEMBURG

36 Mio. „Showfast 36 Mio. Francs Stiftung Francs Ltd.“-Konto „Internationale Finanzanstalt“ „Delta werden zwischen 1993 International“- und 1997 über Umwege wird am gleichen Tag Konto bei der „Nobleplac“- weitergeleitet DSL-Bank Konto weitergeleitet 152 60 Mio. Francs Mio. Francs 220 „Stand-by wird 1993 weitergeleitet Mio. Francs Establishment“- Konto kriegs die Firma Thyssen Henschel Panzer zahlungen in einem Geflecht von Brief- Bereits am 6. Dezember bat Untersu- nach Saudi-Arabien lieferte, flossen reich- kastenfirmen in der Schweiz, Luxemburg chungsrichter Perraudin seinerseits die lich Schmiergelder. und Liechtenstein. Augsburger um Amtshilfe im Fall Leuna. Immerhin ließ der bayerische Ge- Verblüffend auch, dass zum Teil dassel- Es gehe um „verdächtige Einzahlungen“, schäftsmann Karlheinz Schreiber dem be Personal auftaucht. Kiep und Pfahls je- bestätigte in der vergangenen Woche damaligen CDU-Schatzmeister Walther denfalls waren nicht nur in der Panzer- der Genfer Generalstaatsanwalt Bernhard Leisler Kiep eine Million in bar als Partei- Affäre aktiv, sie sind auch alte Bekannte Bertossa. Die Schweizer Untersuchungen spende zukommen, und auch der damalige Holzers und betätigten sich im Fall Leuna zum Panzer-Deal wiesen darauf hin, „dass Verteidigungsstaatssekretär Holger Pfahls als Vermittler für Elf Aquitaine. manche Firmen und Personen dieselben soll größere Summen erhalten haben. Seit An Zufall allein mögen die Ermittler bei sind, die auch im Leuna-Deal eine Rolle über vier Jahren ermitteln Staatsanwälte derlei auffälligen Verbindungen offenbar spielen“. Das Rechtshilfeersuchen ent- in Augsburg – und lösten damit den größ- nicht glauben. Die Augsburger Staatsan- hielte Informationen, „um in Deutsch- ten Parteispendenskandal seit Flick aus. wälte schickten am 10. August ein Rechts- land ein eigenes Ermittlungsverfahren zu Die beiden Fälle scheinen zunächst we- hilfeersuchen an die Schweizer Kollegen, eröffnen“. nig miteinander zu tun zu haben, und doch um neue Konten und Geldbewegungen in So könnten wohl bald auch deutsche ähneln sie sich auf verblüffende Weise: Vie- der Panzer-Affäre zu ermitteln. Das dicke Staatsanwälte nicht nur in Rechtshilfe für le Details ergeben ein nahezu identisches Konvolut enthält allerdings einen kleinen die Schweiz zu klären versuchen, unter Muster. Auffällig ist, dass im Mittelpunkt Satz mit möglicherweise schwerwiegenden welchen Umständen einst die Raffinerie der Affären jeweils Vermittler stehen, die Folgen: „Es besteht der Anfangsverdacht“, Leuna an den französischen Mineralöl- ihre Nähe zu den Spitzen der einstigen Re- so die Staatsanwälte, dass über die Delta konzern ging – und wer davon profitierte. gierungsparteien genutzt haben, um aller- International Establishment „Bestechungs- Und Ansatzpunkt könnte ein Verfahren lei Geschäfte voranzutreiben. In beiden gelder bzw. aus Subventionsbetrug erlang- wegen des Verdachts der Geldwäsche sein. Fällen verlieren sich horrende Provisions- te Gelder gewaschen wurden“. Den Startschuss für das Leuna-Projekt Ein bemerkenswerter Satz, denn Delta hatte der Kanzler selbst gegeben – mit ei- International war bisher nur im Leuna-Zu- ner Bestandsgarantie für das sachsen-an- sammenhang aufgetaucht, und darauf neh- haltinische Chemiedreieck. Das konnte nur men die Staatsanwälte auch Bezug – ob- eingelöst werden, wenn dort auch eine Raf- wohl die Augsburger in diesem Fall nicht finerie arbeitete. Doch die marode Altan- ermitteln. lage in Leuna wollte damals keiner haben. In den vergangenen Wochen entstand Um einen Investor für die museums- so ein immer engmaschigeres Netz aus reife Technik finden zu können, beschloss gegenseitigen Rechtshilfeersuchen zwi- die Treuhand im September 1991, über schen Deutschland, Frankreich und der die Investmentbanker von Goldman Sachs Schweiz, ein Fluss von Informationen die Altanlage gemeinsam mit dem be- über Fall- und Ländergrenzen hinweg gehrten DDR-Tankstellennetz Minol zu

SIPA PRESS SIPA kommt in Gang. verkaufen. Der erste Interessent ließ nicht lange auf Politiker Mitterrand, Kohl (1994) sich warten. Bereits am 30. September leg- Gerüchte gab es schon lange ten Elf und ihr deutscher Partner Thyssen

der spiegel 51/1999 25 Deutschland ein erstes Angebot vor. Die Konkurrenz nissen: Den Leuna/Minol-Deal hatten ex- brauchte etwas länger: Ein Konsortium un- terne Berater außerhalb der Hierarchien ter Führung der britischen BP war erst verhandelt, zu dem Geschäft fehlten Akten Ende November in der Lage, unverbind- und Unterlagen im Firmenarchiv, die Ver- liche Vorschläge einzureichen. handlungsmethoden seiner Vorgänger Bei der Auswahl des Vertragspartners in empfand er als „chaotisch“, die unter- dieser Zeit, das beteuert der damals zu- schriebenen Verträge als unzureichend. ständige Treuhand-Vorstand Klaus Schucht Das deutsch-französische Prestigepro- heute, habe Kohl keinerlei Einfluss gehabt. jekt stand auf der Kippe, bis im April 1994 Elf habe, so Schucht, das mit „Abstand Thyssen aus dem Konsortium ausstieg und beste Angebot vorgelegt“. Doch gleichzei- sich die Treuhand bereit erklärte, auf tig gibt er zu, dass er danach vielerlei Pres- Wunsch der Franzosen 33 Prozent der Raf- sionen und Einflussnahme ausgesetzt war. finerie-Anteile zu übernehmen. In einem Tagebuch (siehe Interview) hat er In Frankreich begann sich in dieser Zeit alles festgehalten, doch das Werk ist für der Fall Elf zu einer Staatsaffäre zu ent- die Öffentlichkeit gesperrt. wickeln. In ihrem Mittelpunkt steht ein Fest steht: Im Januar 1992 verpflichteten Netzwerk ehemaliger Elf-Manager, die sich Elf und Thyssen in einem Vorvertrag, Anfang der neunziger Jahre den Konzern für 4,8 Milliarden eine neue Raffinerie in beherrschten – mit dessen Ex-Präsident Leuna zu bauen, im Gegenzug erhielten Loïk Le Floch-Prigent, einem Ziehkind des sie das Tankstellennetz Minol. Hinter den verstorbenen Staatspräsidenten François Kulissen entbrannte ein erbitterter Millio- Mitterrand, an der Spitze. Ermittelt wird nenschacher um Preisnachlässe, Sonder- wegen Bestechung, Unterschlagung und konditionen und Staatsbürgschaften. Untreue in all ihren Spielarten. Im August 1993 wechselte die komplet- Am 19. März 1997 machte der ehemali-

te Führung der Elf. Als der neue Konzern- ZDF / AUSLANDSJOURNAL ge Elf-Manager Maurice Mallet bei einer chef Philippe Jaffré Bestandsaufnahme Vermittler Holzer Vernehmung in Paris eine folgenschwere machte, kam er zu überraschenden Ergeb- „Es war eine schlechte Entlohnung“ Aussage: „Im Hinblick auf Mittelsmänner „…wie das Geschäft damals lief“ Ex-Treuhand-Vorstand Klaus Schucht über seine geheimen Tagebuchaufzeichnungen

SPIEGEL: Herr Schucht, Sie waren von ten.Also schrieb ich alles auf, um nichts nichts über die umstrittene Privatisie- 1991 bis 1994 Treuhand-Vorstand und ha- zu vergessen. Und ich habe mir da auch rung Leuna/Minol? ben darüber Tagebuch geführt. Wo be- den Frust von der Seele geschrieben, Schucht: Nein, die Aufzeichnungen finden sich Ihre Aufzeichnungen derzeit? und zwar sehr direkt. Zum Beispiel haben ihre Relevanz und ihre Bri- Schucht: Meine Tagebücher liegen wie- auch meine Ansichten über die dama- sanz. Da steht auch drin, wie ich die- der im Bundesarchiv in Koblenz und lige Haltung meines Parteifreundes se Entscheidungen vorbereitet und sind erst zehn Jahre nach meinem Tod Oskar Lafontaine zur deutschen Ein- durchgeführt habe, welcher Form von zugänglich. Sie könnten mir zwei Mil- heit. Das war nicht für die Öffentlichkeit Druck oder Einflussnahme ich ausge- lionen Mark bieten, und ich würde die bestimmt. setzt war. Ich habe aufgeschrieben, wer da nicht rausholen. SPIEGEL: Alles keine Gründe, die Auf- alles Minol wollte und wie sie es ver- SPIEGEL: Sie waren damals für die Pri- zeichnungen geheim zu halten. suchten, ohne die Raffinerie überneh- vatisierung der Raffinerie Leuna zu- Schucht: Ich wollte immer mich und men zu müssen. Aber eben nicht in ständig. Im Zusammenhang mit Ge- andere in Schutz nehmen und nicht einem kriminellen Sinne, sondern ein- rüchten um Parteispenden im Umfeld zu Lebzeiten blamieren. fach wie das Geschäft dieses Geschäftes erklärten Sie 1997 in Wenn wieder einmal damals lief. einem Zeitungsinterview, in Ihren Auf- Abzocker auf der Matte SPIEGEL: In der ver- zeichnungen stünden Fakten, „die wür- standen, dann habe ich gangenen Legislaturpe- de jeder abstreiten, da gibt es auch kei- mir die mit Namen und riode wurden dem Bun- ne Akten darüber“. Adresse aufgeschrieben destags-Untersuchungs- Schucht: Da habe ich mich damals und mich geärgert über ausschuss Ihre Auf- unglücklich ausgedrückt. Wenn Sie die unfeine Art. Und zeichnungen vorenthal- Hinweise auf Schmiergeldzahlungen manchem habe ich in ten. Werden Sie dem darin erwarten, muss ich Sie leider der konkreten Verärge- neuen Untersuchungs- enttäuschen. rung vielleicht auch Un- ausschuss die Tage- SPIEGEL: Was steht denn in den Tage- recht getan. Das möch- bücher zur Verfügung büchern? te man nicht veröffent- stellen? Schucht: Ich habe damals aus zwei licht sehen. Schucht: Nein, auf kei- Gründen Tagebuch geführt. Zum einen SPIEGEL: Also alles nur nen Fall. Man wird

ging es in dieser Zeit drunter und drü- Versuche einer schrift- DPA mich schon dazu zwin- ber, das konnte man nicht alles behal- lichen Selbsthilfe und Manager Schucht gen müssen.

26 der spiegel 51/1999 sein 50-Millionen-Mark-Honorar, „es war eine schlechte Entlohnung.“ Doch welche Leistungen rechtfertigten die großzügigen Honorare – immerhin rund 30 Millionen Mark für Lethier und 50 Millionen Mark für Holzer? Im Fall Lethier fällt der Nachweis schwer, nicht einmal ein Beratervertrag mit dem französischen Ölkonzern lässt sich heute noch finden. Holzer tauchte im Juli 1992, die Ver- handlungen waren zu diesem Zeitpunkt schwierig, erstmals nachweisbar auf der Bonner Bühne auf. Immer wieder wurde er, bis ins Frühjahr 1994 hinein, in Ministe- rien und im Bundeskanzleramt für die Franzosen aktiv. Der Holzer-Bekannte Kiep bemühte sich

J.-M. ARMANI / RAPHO / AGENTUR FOCUS ARMANI / RAPHO AGENTUR J.-M. ebenfalls, ein Scheitern des Vorhabens zu Geschäftsmann Guelfi: „Das ist mit Kohl und Mitterrand abgestimmt“ vermeiden. Ein anderer Holzer-Freund ist derzeit nicht zu erreichen: und Geldverschwendung könnten wir uns Erkenntnissen der Schweizer Der ehemalige Verteidigungs- über die Raffinerie und über gewaltige Aus- Ermittler, mehrere Millionen staatssekretär und Ex-Verfas- gaben unterhalten.“ Der Auftritt brachte Mark für seinen Dienst erhal- sungsschutzpräsident Holger die Pariser Untersuchungsrichterin Eva ten haben. Pfahls wird im Zusammen- Joly auf die deutsche Spur. Seinen Anfang nahm der hang mit der Panzer-Affäre Die Ermittlungen der französischen und Geldstrom am 24. Dezember per internationalem Haftbe- Schweizer Untersuchungsrichter, aber auch 1992, als der Privatisierungs- fehl gesucht. die Recherchen des parlamentarischen Un- vertrag mit den Franzosen Wie gut der Kontakt zu tersuchungsausschusses „DDR-Vermögen“ bereits geschlossen war. An Pfahls gewesen sein muss, in der vergangenen Legislaturperiode leg- diesem Tag überwies Elf enthüllt der Blick aufs Detail. ten schließlich auch in Deutschland eine 256 Millionen Francs an die Einige Faxe Holzers an das weitere, versteckte Ebene der Leuna-Ver- Nobleplac. Als Grundlage Kanzleramt aus dem Jahr 1993 handlungen offen – mit Geldströmen auf diente ein rückdatierter und weisen als Kennung „Delta anonyme Konten und diskreten Vermitt- fingierter Beratervertrag. International 0228/356622“

lern von zweifelhaftem Ruf. Noch am selben Tag wurde M. DARCHINGER aus. In den internen Telefon- Als Genfer Fahnder im Mai 1997 in das Geld in zwei Tranchen Kassierer Kiep listen des Verteidigungsmi- Rechtshilfe für die Pariser Justiz eine Fir- weitergeleitet: 220 Millionen nisteriums wurde bis zum ma in Lausanne durchsuchten, fanden sie Francs gingen an die Stand-by Establish- Februar 1992 dieser Anschluss als Pfahls’ Dokumente und Hinweise auf Provisions- ment in Liechtenstein, 36 Millionen Francs Privatnummer in Bonn geführt. zahlungen über die Liechtensteiner Firma an die in London gegründete Showfast In Deutschland wurden bisher alle Ver- Nobleplac aus den Jahren 1992 und 1993. Limited. suche, den Fall Leuna aufzuklären, er- Nobleplac gehört dem Geschäftsmann Zwar ist der Inhaber der Stand-by nicht schwert. In der vergangenen Legislaturpe- Guelfi, er wurde damals von Elf-Vertre- bekannt, doch die Treuhänder,Werner und riode mühten sich die Parlamentarier der tern gebeten, eine seiner Firmen für dis- Wolfgang Strub, betreuen auch die Delta damaligen SPD-Opposition, überhaupt Do- krete Überweisungen zur Verfügung zu International Establishment. Und die kumente zu bekommen und Zeugen laden stellen. Der Franzose, der lange Zeit in gehört Dieter Holzer. zu können. Fast alle Unterlagen, die dem Lausanne lebte, wird derzeit von Perraudin Nach den Erkenntnissen Perraudins Ausschuss zur Leuna-Affäre von Treuhand mit Haftbefehl gesucht. sollen Anfang 1993 genau 152 Millionen und Bundesregierung zur Verfügung ge- Guelfi erklärte sich inzwischen bereit, Francs von der Stand-by auf ein Delta- stellt wurden, galten als Verschlusssache. vor dem Bonner Untersuchungsausschuss Konto der DSL-Bank in Luxemburg über- Die geheimen Tagebücher des damals zum Thema Parteispenden auszusagen – wiesen worden sein. zuständigen Treuhand-Vorstands Schucht wenn ihm „freies Geleit“ zugesagt werde. Weitere 60 Millionen Francs der Stand- landeten bei der Bundesregierung statt Seinem Anwalt kündigte er in diesem Fall by, ebenfalls 1993 abgeschickt, landeten bei den Parlamentariern, die das Mate- ein „prächtiges Spektakel“ an. nach etlichen Umwegen 1997 wieder in rial angefordert hatten. Im Kanzleramt Bereits im Sommer 1998 hatte der Mul- Liechtenstein, diesmal auf dem Konto einer wurden die Unterlagen so lange geprüft, timillionär gegenüber dem SPIEGEL er- Stiftung namens „Internationale Finanz- bis der Ausschuss tatsächlich nicht mehr klärt, der Elf-Konzern habe damals eine anstalt“. Dort sammelten sich auch die existierte. Briefkastenfirma benötigt, weil er in Ost- 36 Millionen Francs der Showfast wieder Schucht will seine Tagebücher auch wei- deutschland nicht klarkäme: „Mir wurde an. Hinter der Stiftung steht für die Er- terhin nicht herausrücken, sie enthielten versichert, Sie müssen sich keine Sorgen mittler Pierre Lethier, ein französischer auch viel Privates und seien nicht für die machen, das ist mit Kohl und Mitterrand Geschäftsmann mit Wohnsitz Genf. Öffentlichkeit bestimmt. abgestimmt.“ Vergangene Woche behaup- Bei ihren Befragungen vor dem Genfer Ob der neue Untersuchungsausschuss tete Guelfi, mittlerweile 80, über die Firma Untersuchungsrichter im Frühjahr dieses aus den Akten der alten Regierung, so weit Nobleplac seien rund 85 Millionen Mark an Jahres erklärten beide Geschäftsmänner, sie noch vorhanden sind, neue Erkennt- eine „deutsche Partei als Kommission“ ge- sie hätten keine Schmiergelder gezahlt. Die nisse ziehen kann, ist fraglich. flossen. Das Geld, für wen auch immer ge- Gelder seien einzig Provisionen für die von Mehr Erfolg verspricht da das Geflecht dacht, war nur für Stunden in seinem Ein- ihnen geleistete Arbeit gewesen. „Ohne der Rechtshilfeersuchen über die Grenzen flussbereich. Dennoch soll Guelfi, nach den provozieren zu wollen“, so Holzer über hinweg. Markus Dettmer

der spiegel 51/1999 27 Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite Deutschland

raum während der NS-Herrschaft Schuld auf sich geladen hat. Außerdem ist eine NS-OPFER spezielle Barriere erst langsam überwun- den worden. Sie besteht in der so genann- ten Schlussstrich-Mentalität und lautet „Nicht mehr als eine Geste“ dann: Wir haben doch schon so viel an Wiedergutmachung bezahlt, jetzt muss es Hans-Jochen Vogel über die Entschädigung für ehemalige reichen. SPIEGEL: Eine Haltung, die auch der Politik Zwangsarbeiter und das Verhalten deutscher Unternehmer in dieser Frage nicht fremd ist. Vogel: Einspruch! Es sind Vogel, 73, ist Vorsitzender des Vereins „Ge- bisher immerhin über gen das Vergessen“. Er war SPD-Vorsit- 100 Milliarden Mark an zender von 1987 bis 1991. Entschädigung gezahlt wor- den … SPIEGEL: Herr Vogel, haben Sie sich zu Be- SPIEGEL: … und alle wuss- ginn der Verhandlungen um die noch nicht ten, dass unter anderem entschädigten Sklaven- und Zwangsarbei- Zwangsarbeiter, bis auf we- ter vorgestellt, dass sie so lange dauern nige Ausnahmen, nicht ent- würden? schädigt worden sind. Bis Vogel: Ich habe einen rascheren Ablauf er- 1990 wurden die Klagen der wartet und ihn mir vor allen Dingen auch Zwangsarbeiter mit Hin- gewünscht.Aber wenn ich bedenke, welche weis auf einen fehlenden Summen zu Beginn der Verhandlungen auf Friedensvertrag abgewie-

deutscher Seite im Gespräch waren – näm- H. DARCHINGER J. sen. Mit der deutschen Ein- lich zwei Milliarden bis fünf Milliarden Ex-SPD-Chef Vogel: „Scheitern wäre schlimmer gewesen“ heit hat Helmut Kohl alles Mark –, dann hat die Länge der Verhand- darangesetzt, den Zwei- lungen einen positiven Aspekt gehabt, trotz nicht in Betracht ziehen, ob sich eine Fir- plus-Vier-Vertrag ja nicht Friedensvertrag allem, was bedrückend war. ma zu ihrer Verantwortung bekennt oder zu nennen, weil es keine Reparationskon- SPIEGEL: Es gibt immer noch deutsche sich hinter hanebüchenen Begründungen ferenz geben sollte. In der Tradition steht Unternehmen, die sich nicht am Ent- versteckt und eine mitmenschliche, mate- jetzt auch die Regierung Schröder. schädigungsfonds beteiligen wollen. Wie rielle Geste verweigert? Denn mehr als Vogel: Da sprechen Sie mit der Beurteilung kann auf diese Firmen Druck ausgeübt eine Geste gegenüber den noch lebenden des Vertrags einen ganz sensiblen Punkt werden? Zwangsarbeitern ist es ja nicht! an. Für mich ist ausreichend und entschei- Vogel: Ich schließe nicht aus, dass auch in SPIEGEL: Wie erklären Sie sich die man- dend, dass das Bundesverfassungsgericht Deutschland die Konsumenten ihre Mög- gelnde Bereitschaft vieler Unternehmer, 1996 gesagt hat, das Völkerrecht schließe lichkeiten auf diesem Gebiet erkennen. sich ihrer Firmenvergangenheit zu stellen? individuelle Ansprüche nicht aus. Das Ge- SPIEGEL: Konkret meinen Sie Kaufboy- Vogel: Das liegt zum Teil in der mensch- richt hat sich hingegen zur Reparations- kotte? lichen Natur. Nur wenige erklären gern, frage nicht abschließend geäußert. Inso- Vogel: Warum sollte der denkende Ver- dass ihr Unternehmen an Unrecht beteiligt fern sind die jetzigen Verhandlungen um braucher bei seinen Kaufentscheidungen war und in dem durchaus gegebenen Spiel- die Entschädigung der Zwangsarbeiter nicht automatisch die Wiedereröffnung des Kapitels Reparationen. SPIEGEL: Stimmen Sie zu, dass die Angst vor Reparationszahlungen dazu beigetra- gen hat, diese Frage immer wieder zu ver- tagen? Vogel: Ja. Dennoch muss ich bei allem En- gagement für die Opfer sagen, eine voll- ständige Wiedergutmachung aller Folgen des vom „nationalsozialistischen Deutsch- land ausgegangenen Angriffs- und Ver- nichtungskrieges“ – so hat der Deutsche Bundestag den Zweiten Weltkrieg be- zeichnet – war und ist unmöglich. SPIEGEL: Wer ist aus Ihrer Sicht verant- wortlich für die lange Dauer der letzten Verhandlungen? Vogel: Das ist eine gute Frage. Ich weiß nicht, ob man es nur einzelnen Personen zuordnen kann … SPIEGEL: … aber es gab personelle Fehlbe- setzungen auf Bundesebene. Vogel: Ja, die gab es am Anfang. Ich mache kein Hehl daraus, dass ich die Tätigkeit von Herrn Hombach als Unterhändler mit wachsender Skepsis verfolgt habe. Es wäre STAATSARCHIV BREMEN STAATSARCHIV Zwangsarbeiter (1943)*: „Eine vollständige Wiedergutmachung ist nicht möglich“ * Beim Beseitigen von Trümmern in Bremen.

30 der spiegel 51/1999 besser gewesen, Otto Graf Lambsdorff von Anfang an mit der Verhandlungsführung zu beauftragen. SPIEGEL: Was hat Hombach falsch gemacht? Vogel: Ich will jetzt meinem Spitznamen als Oberlehrer nicht wieder alle Ehre ma- chen. Aber: Um in der Entschädigungsfra- ge voranzukommen, hätte sich Herr Hom- bach gründlich in die Materie einarbeiten müssen. Das ist nicht mit ein paar Anrufen in Redaktionen zu machen. Da muss man Akten genau studieren und sich mit der Sache identifizieren. Das hat Graf Lambs- dorff getan. SPIEGEL: Halten Sie die Zwangsarbeiter für die letzte Gruppe derjenigen, die noch ent- schädigt werden? Vogel: In diesem über unsere Grenzen hin- aus reichenden Maßstab wohl ja. In unse- rem Land aber gibt es noch Gruppen, die bisher außer Acht gelassen worden sind: die Homosexuellen beispielsweise. SPIEGEL: Wer von den Opfern in welcher Höhe entschädigt werden soll, muss das Gesetz für die Stiftung „Erinnerung, Ver- antwortung und Zukunft“ regeln. Der Ge- setzentwurf aus dem Finanzministerium … Vogel: … muss in einigen Punkten ver- bessert werden. Ich bedaure zum Beispiel, dass die in der Landwirtschaft tätigen Zwangsarbeiter im Prinzip ausgeschlos- sen werden. Nur bitte: Die Summe, die jetzt für den Fonds endlich zusammen- gebracht worden ist, kann nicht mehr aufgestockt werden. Wenn der Kreis der Anspruchsberechtigten erweitert wird, müssen folglich die Zahlungen an die im Gesetz bereits genannten Gruppen redu- ziert werden. DPA Verhandlungsführer Eizenstat, Lambsdorff „Mit der Sache identifiziert“

SPIEGEL: Also lieber einen billigen Schluss- strich unter das noch nicht entschädigte NS-Unrecht akzeptieren? Vogel: Das ist keine Frage an das Gesetz. Das ist eine Frage der Gesamtsumme. Wenn sie unter zehn Milliarden Mark geblieben wäre, hätte ich ein schlechtes Gefühl. Das heißt aber nicht, dass ich jetzt ein gutes Gefühl hätte, aber mehr war nach Lage der Dinge nicht durchzu- setzen. Jetzt geht es um ein möglichst ge- rechtes Verteilen dieser Summe. Enttäu- schungen werden bleiben, aber ein Schei- tern der Verhandlungen wäre schlimmer gewesen. Interview: Martin Doerry, Christoph Mestmacher

der spiegel 51/1999 Deutschland

AFFÄREN „Wie eine große private Party“ Immer neue Enthüllungen in der Flieger-Affäre setzen NRW-Sozialdemokraten unter Druck. Finanzminister Heinz Schleußer flog privat im Charter-Jet auf Kosten der WestLB, Staatsanwälte ermitteln gegen die Bank. Zweifelhafte Reisen und eine gesponserte Geburtstagsparty belasten auch Bundespräsident Johannes Rau.

Wichmann-Charter-Jet: Mit „N+4“ DPA L. NEKULA / VIENNAREPORT Opernball-Besucher Vranitzky, Rau*, Buchautor Farthmann, Vielflieger Schleußer: Blutender Bärenkopf auf dem Flugzeugteppich

er alte Düsseldorfer Sozialdemo- Sozi über kritische Anfragen, „dann ha- pertaler Stadthalle, wo 1800 Gäste geladen krat Friedhelm Farthmann, 69, hat ben wir keine lebenswerte Welt mehr.“ waren. Mindestens 150000 Mark für Essen Dschon viel von der Welt gesehen. So sind sie, die fliegenden Genossen aus und Trinken hat der WestLB-Chef zuge- Aber nie so viele Bären auf einmal. Düsseldorf. Sie haben sich nichts Böses da- schossen. „Mehr Bären, als bei mir Rehe im Wald bei gedacht, über Jahre ihre dienstlichen Schon kurz vor Raus Wahl zum Bundes- sind“, erinnert sich der Polit-Veteran, wenn und privaten Flugreisen von der WestLB präsidenten 1999 hatte sich die Staatsan- ihn jemand nach dem Jagdausflug fragt, sponsern zu lassen. Sie alle gehörten ja waltschaft nach einer Strafanzeige für die den er über seinen 60. Geburtstag im No- zum Männerbündnis um den mächtigen Geburtstagssause interessieren müssen. vember 1990 mit dem Banker Friedel Neu- Bankchef, den „Paten“ Friedel Neuber. Strafbare Vorteilsannahme? Im Neuber- ber in Jugoslawien unternahm. Das System Neuber, das Netz aus Land gehört so was zum System: Die Er- Da waren sie, natürlich auf Kosten Freundschaften, Beziehungen, politischen mittlungen wurden erst gar nicht aufge- von Neubers Westdeutscher Landesbank Seilschaften ribbelt sich nun langsam auf. nommen, nachdem der Staatsanwaltschaft (WestLB), im ehemaligen Jagdgebiet von Mit den schicken Düsenfliegern der Fir- deutlich gemacht worden war, dass so ein Tito auf die Pirsch gegangen. Farthmann, ma Privat-Jet-Charter (PJC) hat Neuber Geburtstagsfest schließlich eine offizielle zuvor Sozialminister, war damals Frak- sie gekriegt: den Finanzminister Heinz Pflicht und kein privater Vorteil sei. tionschef der SPD im nordrhein-westfäli- Schleußer, der nun zugeben musste, öfter Wenn es auch nicht so aussah: „Es war schen Landtag. mal privat geflogen zu sein, und sogar den wie bei einer großen privaten Party, nichts Und gereist ist er, natürlich, im Privat- Landesvater und heutigen Bundespräsi- Staatstragendes“, erinnert sich Herbert Charter-Jet aus Düsseldorf: „Wenn man denten Johannes Rau, der sich wiederholt Heck, stellvertretender Geschäftsführer nicht mal so was darf“, ereifert sich der aus kaum erkennbarem dienstlichen Anlass der Stadthalle Wuppertal. von Neubers Piloten fliegen ließ. Nun kommt alles wieder hoch. Die jahr- * Mit Ehefrauen Christina Rau und Christine Vranitzky Neuber zahlte fast alles. So war es auch zehntealte Männerfreundschaft zwischen im Februar 1995 in Wien. zu Raus 65. Geburtstag 1996 in der Wup- Neuber, Rau und Schleußer dürfte zum

32 der spiegel 51/1999 Hauptthema des Ausschusses werden, um Sprung von seinem Ferienhaus auf Spie- haupt mit PJC-Jets flog, ist man mittler- dessen Einrichtung im Düsseldorfer Land- keroog entfernt? „Einen dienstlichen Ter- weile vorsichtiger geworden. „Wir haben in tag nach den SPIEGEL-Enthüllungen zur min“, erklärte NRW-Regierungschef Wolf- der Staatskanzlei keine Listen über Flüge, Flieger-Affäre alle Fraktionen gewetteifert gang Clement, habe sein Vorgänger da ab- die der vormalige Ministerpräsident Jo- haben. Schon ist nicht mehr auszu- solvieren müssen. hannes Rau unternommen hat. Ich würde schließen, dass erstmals in der Geschichte Bruder Johannes strafte den wackeren und dürfte davon auch keinen Gebrauch der Bundesrepublik ein amtierender Bun- Nachfolger Lügen: „Ich war dort bei ei- machen“, erklärt Clement. despräsident vor einem Untersuchungs- nem Treffen der elbischen Kirche.“ Wie Ja, hat denn Freund Neuber keine Liste? ausschuss als Betroffener gehört wird. fromm auch immer der Anlass, dienstlich „Ihre Fragen sind unzumutbar“, ist die Re- Auch die Staatsanwaltschaft hat ihre Re- war das wohl nicht. Rau dann wieder am aktion der Landesregierung. cherche über das System Neuber wieder Mittwoch: „Ich war nie in .“ Dermaßen in die Enge getrieben, setzte aufgenommen. Am Mittwoch begann ein Nicht weniger fromm jedenfalls war der die Staatskanzlei auf einen Strafgefange- Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts Flug des Ministerpräsidenten am 22. Mai nen. Ralph Henry Ermisch, verurteilt zu 1996 nach Dresden: Da reiste Rau zu einer 13 Jahren Haft wegen Kokainschmuggels, Preisverleihung des Vereins „Bibel und hat mal bei PJC als Co-Pilot gearbeitet. Kultur“, dessen Vorsitzender er war. Am Ermisch, das war die letzte Vertei- folgenden Tag flog der Landesvater weiter digungsstrategie in der Staatskanzlei, sei nach Thüringen.Auch dort verlieh er einen an allem schuld. Die Enthüllungen über Preis an junge Christen. die Flugaffäre, empört sich Privatflieger Diffus auch die Erklärung für einen Rau- Schleußer, stützten sich „in wesentlichen Flug am 4. Februar 1996 nach Mannheim. Teilen auf Aufzeichnungen eines inhaftier- Es ging um die Feier zum 125. Geburts- ten Straftäters“. Der Mann sei ein Fälscher, tag des Reichspräsidenten und Genossen ließ die Staatskanzlei verlauten, die Be- Friedrich Ebert. Rau, Vorsitzender des richte, die auf seinem Material beruhten, Ebert-Kuratoriums, sei hingedüst, erklärte seien typischer Schweinejournalismus. die Staatskanzlei, „um die Erinnerung an Tatsächlich war Ermisch drei Jahre lang nach Roskilde diesen großen deutschen Demokraten auf- nebenberuflich Co-Pilot bei Privat-Jet- rechtzuerhalten“. Kosten: 13764,35 Mark. Charter. Hauptberuflich diente er seit 1976 Und was ist mit der Wahlkampfreise beim Tourismus-Unternehmen LTU, zum Raus im Februar 1996 nach Saarbrücken Schluss als Bordingenieur. und Rheinland-Pfalz? Presseberichte, er sei Zwei LTU-Flüge von der venezolani- zu einer Tingeltour über die Dörfer am 14. schen Provinzhauptstadt Porlamar nach Februar mit einem PJC-Jet auf Kosten der Düsseldorf wurden Ermisch zum Verhäng- WestLB losgeflogen, stimmen nicht ganz. nis. Zeugen hatten ausgesagt, er habe in Tatsächlich, so belegen Unterlagen der seinem Gepäck kiloweise Kokain ge- PJC, startete der Jet mit dem Kürzel D- schmuggelt. Ermisch kam in den Knast CLAN am 14. Februar erst abends um 18.55 nach Aachen, vor einigen Wochen wurde er Uhr ohne Passagiere in Düsseldorf. Pilot ins niederrheinische Geldern verlegt. Peter Wichmann landete um 19.22 Uhr in Gleich fünfmal war in letzter Zeit ein Saarbrücken. Dort stieg Rau mit einem Si- Reporter des Münchner Magazins „Focus“ cherheitsbeamten zu und sauste schon um bei ihm. Ermisch händigte dem Journa- 19.46 Uhr zurück nach Düsseldorf. listen Kopien seines Pilotenbuchs aus, in Der Pilot und PJC-Chef Wichmann setz- dem, möglicherweise später nachgetragen,

M. WOLTMANN te wie so häufig die Gesamtflugzeit von 47 zweimal der falsch geschriebene Name Minuten auf 3 Stunden und 26 Minuten der Untreue, eingeleitet „gegen noch un- hoch und schickte schon am nächsten Tag bekannte leitende Mitarbeiter der West- die Rechnung an die WestLB: 15712,45 LB“. Die Ermittler wollen vor allem der Mark. Neubers Reisestelle zahlte prompt. Frage nachgehen, warum WestLB-Bosse Das alles war Routine weit über den anstandslos krass überhöhte Rechnungen Wolken sauberer Reisekostenbürokratie. des Düsseldorfer Flugunternehmens PJC Wenn Rau fliegen wollte, rief seine Vor- beglichen haben. zimmerdame bei ihrer Kollegin im Vor- Der Schaden geht zu Lasten der Steuer- zimmer von Friedel Neuber an und order- bürger, da das Land einige Flüge mit dem te die Flüge. Manchmal kamen auch An- Gewinnanteil bezahlt haben will, der ihm rufe aus Raus Landtagsbüro. aus der Beteiligung an der WestLB zusteht. Wenn’s losging, gab es am Flughafen Und irgendwann werden die Ermittler auch großen Bahnhof. Sabine Wichmann, die den Bundespräsidenten vernehmen wol- Frau des Kapitäns, die prominente Gäste len: War doch auch er Nutznießer der von am Boden und an Bord betreute, erinnert Piloten betrügerisch abgerechneten Flüge. sich: „Der Rau war nicht bereit, zu Fuß Raus zehn Tage altes Generaldementi zum Flugzeug zu gehen.“ „Quatsch, alles Quatsch“ ist jedenfalls nicht Also habe das Sicherheitstor zum Flug- mehr zu halten. Dass einige der Reisen, hafen aufgeschlossen werden müssen, da- die er auf WestLB-Rechnung unternahm, mit Raus Limousine hindurchrollen konn- zumindest erklärungsbedürftig sind, räu- te. Zur Sicherung habe man jedes Mal men nun auch seine Berater ein. ein Polizeiaufgebot am Tor stationieren

Warum musste sich Johannes Rau mit ei- müssen. DPA nem PJC-Lear-Jet nach Wittmund nahe der Bei der Landesregierung, wo lange Zeit WestLB-Zentrale in Düsseldorf Nordseeküste fliegen lassen, nur einen verheimlicht worden war, dass Rau über- Kleine Flüge erhalten die Freundschaft

der spiegel 51/1999 33 etage, kennt den Kitzel, mit einem Privat- jet herumzufliegen. Was Wunder, dass Friedhelm Farthmann sich noch heute genau daran erinnert, wie er mit Friedel Neuber Tisch und Jet teilen durfte. Die Jagdflüge, berichtet Sabine Wichmann, habe es jedes Jahr gegeben – Oberjäger Neuber immer mit ein paar Un- terjägern aus der Politik im Schlepptau. Im November 1996 ging’s mit einem frisch gekauften großen „Hawker“-Jet – die älteren Herren fanden es angenehm, dass an Bord nun auch eine richtig geräu- mige Toilette war – nach Roskilde in Dä- nemark. „N+4“ steht geheimnisvoll in der Rubrik „Pax“ der Flugunterlagen. „N“ ließ dann – Rechnung 96982 – 22092 Mark für den Jagdausflug an Wichmann überweisen. Der Flugzeugführer hatte es ja auch

DPA nicht leicht mit seinen wilden Jägern. Ein- Rau-Geburtstagsfeier in Wuppertal: 150000 Mark vom „Paten“ mal, berichtet ein Teilnehmer, habe einer aus der Jagdrunde einen Bärenkopf mit ins „Schleuser“ auftauchte. Auffällig ist, dass privaten Flügen nach Wien“. Dort hätten Flugzeug gezerrt. Die blutende Trophäe, nur dieser Passagiername im Buch steht. Vranitzky und Neuber „kulturelle Veran- nur notdürftig in einen blauen Müll- Auffällig ist auch, dass die Kopien das Sie- staltungen“ besucht – „gemeinsam mit sack verpackt, habe den Flugzeugteppich gel der Justizvollzugsanstalt und eine Un- Herrn Rau und dessen Ehefrau“. versaut. terschrift tragen. Auch zum Wiener Opernball 1995 traf Noch mehr Geschichten? Mit Hilfe so beglaubigter Kopien wollte sich Rau mit Vranitzky. Da sei er allerdings, Geduld. Ein paar Spitzengenossen be- „Focus“ Schleußer eine weitere WestLB- beharrt der Bundespräsident, „mit der schleicht ein ungutes Gefühl, wenn sie ans finanzierte Urlaubsreise im August 1991 Lufthansa geflogen“. Offizieller Anlass war Düsseldorfer Finanzamt für Steuerstraf- nach Split nachweisen. Schleußer klagt auf ein viertägiger Besuch in Österreich und sachen in der Oberbilker Allee denken. Da Unterlassung.Am 22. Dezember kommt es Tschechien.Auch sein Nachfolger Clement drinnen lagern Asservate, die dem Unter- zur Verhandlung. und Ehefrau Karin kamen, wie Friedel suchungsausschuss im Landtag noch viel Doch mit Verweis auf eine mögliche Fäl- Neuber mit Frau, nach Wien. Die beiden Arbeit machen dürften. Es sind Flugunter- schung ist die Flugaffäre nicht mehr totzu- Paare waren mit PJC eingeflogen. lagen, die im Oktober 1996 bei einer Raz- treten. Aus dem umfangreichen Material, Drei Tage später holte dann derselbe Jet zia in Wichmanns Charter-Büro am Düssel- das dem SPIEGEL zur Verfügung steht und NRW-Regierungschef Rau in Prag ab, um dorfer Flughafen beschlagnahmt wurden. das nichts mit Ermisch zu tun hat, ergeben ihn nach Paderborn zu bringen. Kosten al- Weil Wichmann Schwarzgeld bei der sich immer neue Details über den düsen- lein für den letzten Flug: 22362,50 Mark. WestLB in Luxemburg gebunkert hatte, den Bankdirektor und seine Freunde. Rau habe, so die Staatskanzlei, Dazu gehören auch die Wohltaten, die „im Anschluss daran langfristig der Banker und Rau-Vertraute Neuber vereinbarte Termine in Ostwest- 1989 dem damaligen österreichischen Bun- falen-Lippe wahrzunehmen“ ge- deskanzler und Genossen Franz Vranitzky habt. zukommen ließ.Vranitzkys schwer kranker Jeder hat seinen Platz im Frau Christine hatten Spezialisten in Han- Himmelreich der Sozi-Bank. nover im Sommer eine Spenderniere ein- Und Gottvater aus der Vor- gesetzt. Sechs Tage später bekam sie Be- standsetage verteilt Belohnung such – die Familie aus Österreich. und Strafe aus eigener Macht- Aus Wien hatte PJC-Chef Wichmann die vollkommenheit. Kinder Vranitzkys nach Hannover geflo- Im wirklichen Leben ist es wie gen. Der Lear-Jet parkte über Nacht in der beim WestLB-Adventskonzert in

niedersächsischen Hauptstadt.Am 11. Juni der Düsseldorfer Tonhalle am R. SONDERMANN ging’s zurück, Ziel war Innsbruck. Rheinufer. Wer eingeladen wird Rau-Nachfolger Clement: Mit Ehefrau nach Wien Christine Vranitzky konnte am 22. Juni und wer vorn sitzt und wer in aus der Klinik entlassen werden. Ihr Mann der Mitte, entscheidet Friedel Neuber. Das nahmen die Fahnder unter Verschluss, holte sie ab, als er von einer Sitzung in klärte, vergangenen Samstag war’s wieder was ein Amtsrat unter dem Aktenzeichen Stockholm zurückkam – der Flug des Paa- so weit, für das folgende Jahr die politische AB 183/96 genau notierte: Terminkalen- res war wieder Wichmanns Job. Hackordnung in NRW. der, „1 Fotoalbum rot“, diverse Konto- Die Kosten der Reisen seien der Die Zuhörer ganz vorn erste Reihe Mit- auszüge und einen Ordner „WIC privat“, WestLB in Rechnung gestellt worden, er- te sind die, die gelegentlich in Friedel Neu- dazu Aktenstücke mit der Aufschrift innert sich die PJC-Buchhalterin Sabine bers Jagdhütte bei Prüm in der Eifel ein- „WestLB“ – einschließlich der „Übersicht Wichmann. Vranitzky und Neuber moch- geladen werden. Natürlich gehörte zu der PJC ab 89“. ten sich auf Anfrage nicht zu dem Sach- Runde oft schon Rau – auch Genosse Obschon das Verfahren seit Peter Wich- verhalt äußern. Schleußer, obwohl der Wert drauf legt, dass manns Tod am 1. Oktober 1997 beendet Kleine Flüge erhielten die Freundschaft er kein Jäger ist. ist, bleiben die Asservate weiter unter Ver- auch in den folgenden Jahren. Sabine Wich- Schöner als Adventskonzert und Jagd- schluss – vorerst. Georg Bönisch, mann erinnert sich in einer eidesstattlichen hütte aber sind die Flugzeuge. Jedermann, Thomas Darnstädt, Versicherung an „eine Vielzahl von rein sitzt er nur hoch genug in einer Führungs- Barbara Schmid, Andrea Stuppe

34 der spiegel 51/1999 Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite Deutschland

Nato weltweit operieren soll, aufgebaut EUROPA werden. So wie im Kosovokrieg die Nato die Uno will nun die EU die Nato ausschalten. Mut zum Hasardspiel Natürlich hat Washington erkannt, dass diese Zielsetzung für manche Euro-Politi- Wider das Phantasiegebilde vom unabhängigen Großeuropa. ker nur die Fortsetzung ihres alten Anti- amerikanismus mit anderen Mitteln ist. Von General a. D. Gerd Schmückle War denn Javier Solana, heute „Hoher Ver- treter für die Gemeinsame Außen- und Si- Schmückle, 82, war von EU-Organisation, 3.) Anpassung neuer EU- cherheitspolitik“, nicht einst am schärfsten 1957 bis 1962 Presserefe- Mitglieder, 4.) Aufbau einer unabhängigen gegen eine spanische Nato-Mitgliedschaft rent des Bundesverteidi- europäischen Eingreiftruppe in Stärke von eingetreten? Haben nicht andere ihre Nato- gungsministers Franz Josef rund 60000 Mann, 5.) Lösung einer Viel- Aversion wieder entdeckt und wollen nun Strauß. Von 1978 bis 1980 zahl ungelöster innenpolitischer Probleme den Amerikanern eins auswischen? amtierte er als Stellvertre- in den einzelnen EU-Staaten. Tatsächlich wird die Nato mit der ge- tender Nato-Oberbefehls- Allein die Erweiterung der EU um zwölf planten EU-Streitmacht partiell impotent

T. EINBERGER / ARGUM T. haber Europa. Staaten ähnelt den zwölf Kraftakten des gemacht. Daher treiben ihre Gegner dies- Herkules. So wie sich der antike Held mal mit ihr ein Satyrspiel, bei dem sie die uropäische Politiker schwören Stein durch seine Taten aus der Abhängigkeit Europäer verführen wollen, sich selbst zum und Bein, dieses Mal werde es Ernst: von seinem Herrn Eurystheus befreite, will Narren zu machen. EEuropa müsse endlich erwachsen wer- Europa nun mit seinen Stemmakten die Denn auch Russland grollt. Ihm ist die den.Aus ihrer Sicht steckt Europa in der Pu- US-Dienstbarkeit abschütteln. Das wäre EU-Ost- und Südosterweiterung ein ge- bertät – in Wahrheit steht es im Greisenalter. ein gewaltiger Ablöseprozess und ein Lot- fährlicher Dorn im Auge. Auch ärgert Daher fällt es seinen Staaten so schwer, sich teriespiel mit unbekannten Größen. Moskau noch immer, wie weit die westli- vorbehaltlos zusammenzuschließen. Gewiss ist nur, dass die EU-Erweiterung che Militärgrenze nach Osten gerückt ist. Das Wissen um dieses Handicap gab Bis- Europa auf lange Zeit nicht stärken, Dennoch sieht es dort lieber die Nato mit marck das Bonmot ein: „Qui parle Europe sondern schwächen wird. Ausgerechnet ihrer geografisch weit entfernten Führungs- a tort.“ Heute, hundert Jahre später, ist in dieser Schwächephase soll der Schutz- macht als eine hautnahe EU-Streitmacht noch immer unklar, was Europa ist: ein geo- schild Amerikas für Europa durchlöchert unter multinationalem Kommando. Denn grafischer Begriff, eine Wirtschaftsgemein- und eine eigene Kriegsmaschine, die ohne in dieser muss Russland einen Nato-Zu- schaft, ein Wertebund oder ein feh- satz sehen, der für Moskau neue dengeschlagenes Chaos? Unberechenbarkeiten in sich birgt. Seine Grenzen verschwimmen im Hatte der russische Expansions- Osten im Unbestimmten. Dort hat drang Europa lange Zeit beunruhigt, das sowjetische Stahlnetz mehr als so sollten solche Ängste heute im 50 Jahre lang selbständige Regun- umgekehrten Fall auch Russland zu- gen erdrückt.Anders in Westeuropa. gebilligt werden. Eine EU-Streit- So wie einst dem alten König David macht, von der verkündet wird, sie eine junge Frau beigelegt wurde, hat werde auch ohne Nato außerhalb sich Westeuropa an der Seite Ame- des EU-Raums eingreifen, kann rikas vitalisiert. Nun stehen West- auch dann nicht beruhigen, wenn und Osteuropa komplizierte An- ihr die Fahne der „Menschenrech- passungsprozesse bevor. Sie sind te“ in die Hand gedrückt wird. noch nicht einmal angelaufen. Das kann Boris Jelzin in der Korre- Dennoch beschwören Jacques spondenz des Generals Bonaparte Chirac und Tony Blair – ohne trag- nachlesen, der aus Ägypten schrieb: fähiges politisches Fundament – das „… stürmten wir voran, in der einen Phantasiegebilde eines unabhängi- Hand den Degen, in der anderen die gen Großeuropas. Um ihm Leben Menschenrechte …“ Zeitzeugen er- einzuhauchen, wettert der französi- innerten sich nur noch an die Gräu- sche Premier Lionel Jospin gern ge- el dieser republikanischen Armee. gen „amerikanische Hegemonie“ Ja, die EU beginnt sich zu über- und von „europäischer Autonomie“. nehmen: hier ein besorgtes Ameri- Das klingt wie eine Geistbe- ka, dort ein verbittertes Russland – schwörung General de Gaulles. Was das ist zu viel. Noch freilich ist zu zur Zeit des großen Generals vi- hoffen, dass diese tollkühnen und sionär, wenn auch nicht praktikabel verantwortungslosen EU-Pläne am erschien, wird bei seinen Epigonen Geld, das bekanntlich „scharfe Zäh- zum Hasardspiel, bei dem Gewinn ne“ hat, scheitern. Denn so wie sich und Verlust vom Zufall, nicht von Be- Westeuropa an Amerika wieder be- rechnung und Augenmaß abhängen. lebte, kann auch ein größeres Euro- Europa soll Roulette spielen. Die pa nur an der Seite der USA und im Einsätze lauten: 1.) EU-Ost- und Verbund der Nato revitalisieren. Südosterweiterung, 2.) Reform der Dazu müssten EU-Politiker, die dies bejahen, allerdings die Arbeits- * Beim Gipfeltreffen am 10. Dezember in Hel- regel Talleyrands befolgen: „Surtout sinki: Javier Solana, Tony Blair, Robin Cook,

Chris Patten,Viktor Klima, Jozias van Aartsen, REUTERS pas de zèle“ – vor allen Dingen kei- Gerhard Schröder, Lionel Jospin. EU-Politiker*: Tollkühne Pläne ne Hast. ™

38 der spiegel 51/1999 Werbeseite

Werbeseite demischen Ausnahmeerscheinung gut aus. Im Bundesschnitt sind nur 5,5 Prozent der Professorenstellen von Frauen besetzt. Das ist eine der niedrigsten Quoten in Europa. In Deutschland wirkt unter anderem das langwierige Habilitationsverfahren ab- schreckend auf Frauen. Das Qualifika- tionsmarathon fällt meistens in die Phase der Familienplanung der 30- bis 40-jährigen Akademikerinnen. Das durchschnittliche Berufungsalter liegt bei 41 Jahren, bei Frau- en in der Regel noch höher. Meckel sieht sich noch nicht als Vorbo- tin eines Trends. „Ich war einfach zur rich- tigen Zeit am richtigen Platz, hatte die rich- tigen Qualifikationen und die dazugehöri- ge Portion Glück.“ Nach dem Tod eines Professors erhielt die ehemalige WDR-Mit- arbeiterin 1995 das Angebot einer Vertre- tung. Meckel wurde wegen ihrer ausge- zeichneten Doktorarbeit „Fernsehen ohne Grenzen“ und vor allem wegen ihrer Pra- xiserfahrung ausgewählt. Ihr half, was anderen eher schadet: Die Bürokratie der Universität verschleppte eine Ausschreibung der vakanten Profes- sorenstelle. So hatte Meckel Zeit, sich zu beweisen. Die vierjährige „Probezeit“ brachte aber auch Nachteile: „Man ist

N. ENKER ständig auf dem Präsentierteller.“ Als die Medien-Professorin Meckel: Zur richtigen Zeit am richtigen Platz Stelle dann Anfang dieses Jahres offiziell vergeben werden sollte, bewarb Meckel sich mit ihren diversen Veröffentlichungen HOCHSCHULEN über internationale Kommunikation und Redaktionsmanagement und bekam den Zuschlag. Auch der wenig aufmunternde Kom- „Die Frau hat die Wahl“ mentar eines Kollegen anlässlich ihrer Be- rufung – „Mit Ihrem Aussehen werden Sie Frauen haben bisher kaum Chancen auf Lehrstühle es nicht leicht haben in der Wissenschaft“ an deutschen Universitäten. Einige ungewöhnlich junge – konnte die damalige Moderatorin von „RTL West Live“ nicht abschrecken. Professorinnen haben es dennoch geschafft. Eine Traumkarriere? Meckel hasst das Wort Karriere. Zu geradlinig, engstirnig ie wird man Disco-Queen? Mi- Neben einem Lehrbeispiel, das Pro- und eingeschränkt klingt ihr das. Sie ging riam Meckel, 32, kann es ihren fessorin wie Studenten gleichermaßen einen Weg, den sie „so nie geplant hatte“. WStudenten am eigenen Fall vor- amüsiert, brachte ihr das Presse-Echo auch Ihr Traumjob war Auslandskorrespon- führen. Mit Overheadprojektor und Folien einige spitze Bemerkungen von Kollegen dentin, darauf arbeitete sie hin: Praktika demonstriert die Medien-Professorin, wie ein: „Wenn ich vormittags mal nicht in der bereits als Schülerin, eine Hospitanz beim die Zeitungen aus einer harmlosen Äuße- Uni war, weil ich zum Beispiel irgendwo ZDF, freie Mitarbeit beim WDR, Studium rung die Zeile machten: „Sie tanzt gern einen Vortrag gehalten habe, wurde ich der Kommunikationswissenschaft. An- durch die Discos, am liebsten nächtelang.“ schon mal gefragt, ob ich zu lange in der schließend bekam Meckel mit 27 Jahren ei- Auf die Frage, was denn so im Privatleben Disco war.“ nen Vertrag als Chefin vom Dienst bei RTL. laufe, hatte Meckel einem Reporter nur ge- Doch meistens kommen die männlichen Da war sie bereits Dr. phil. Ihre Dis- antwortet: „Ich gehe auch mal tanzen.“ Lehrstuhlinhaber in Münster mit der aka- sertation schrieb sie nach sechs Jahren Als Meckel im Mai dieses Jahres auf ei- Studium, innerhalb eines Jahres. nen Lehrstuhl für Publizistik und Kom- Schon vor Abschluss wurde ihre munikationswissenschaft an der Wilhelms- Magisterarbeit für so gut befun- Universität Münster berufen wurde, ist die den, dass der betreuende Professor Medien-Wissenschaftlerin selbst zum Me- sie aufforderte, gleich zu promo- dienereignis geworden, als „jüngste Pro- vieren. fessorin Deutschlands“. Das Überspringen des ersten Die Medien reizt das Ungewöhnliche, akademischen Grades ist in man- erklärt sie den Studenten. Frauen auf ei- chen Fakultäten möglich. Miriam nem Lehrstuhl sind selten, junge Professo- Meckel jedoch wurde sogar ohne rinnen noch seltener, tanzende Profs ganz Habilitationsschrift Professorin, ungewöhnlich. Die journalistische Wort- obwohl die Geisteswissenschaftler

verdrehung, so Meckel, ist das Ergebnis M. WITT in der Regel auf dem großen wissen- von „Themenselektion“. Chemikerin Thurow: Besser als die Männer schaftlichen Werk beharren. Doch

40 der spiegel 51/1999 Werbeseite

Werbeseite Deutschland das langwierige Großwerk verliert an tion mit den Kollegen am Institut laufe zember letzten Jahres an die Universität Ansehen. Forscher und Bildungspolitiker großartig. Außerdem habe es auch Vortei- Bielefeld berufene Historikerin, zeigt sich kritisieren die Undurchsichtigkeit der le, Frau zu sein: „Mit einem charmanten bereits in den Sprachregelungen der Uni: Qualitätsmaßstäbe. Die von der Bundes- Lächeln kann man manchmal auch etwas Für Frauen werden „Sonderprogramme“ regierung eingesetzte Kommission zur Re- erreichen.“ und „Sonderförderungen“ aufgelegt, die form des Hochschuldienstrechts hält den Damit ist das Repertoire noch nicht er- „normalen“ Stellen bleiben den Männern Durchschnittsprofessor für zu alt. Ziel der schöpft. Und darin sieht die Kulturwissen- vorbehalten. Kommission ist eine Verjüngung der Pro- schaftlerin Claudia Benthien, 34, einen Die Zentrale Frauenbeauftragte der fessorenschaft. Bis zum Jahr 2006 werden großen Vorteil für Frauen im Berufsleben. Technischen Universität Berlin, Heidemarie voraussichtlich etwa 50 Prozent der deut- Neben dem Spiel mit Äußerlichkeiten Degethoff de Campos, 53, sieht die Ursache schen Hochschullehrer pensioniert, die stünden ihnen auch die so genannten für den Mangel an weiblichem Nachwuchs Jungen haben also echte Chancen. männlichen Verhaltensmuster zur Verfü- aber nicht als „quantitatives Problem“, wie Den Titel „jüngste Professorin Deutsch- gung. Denn Frauen seien wandelbar und gerade in den Naturwissenschaften gern lands“ verlor Meckel inzwischen an Kerstin anpassungsfähig, und das müsse kein behauptet würde, sondern als ein „quali- Thurow, 30. Im Oktober wurde die auf den Nachteil sein. „Rollenzuschreibungen müs- tatives des Uni-Systems“. Alle Personal- sen nicht passiv ‚erlitten‘ werden. Die Frau auswahlkommissionen sind nach wie vor hat die Wahl und sollte sie nutzen“, so überwiegend mit Männern besetzt, und Benthien. dass diese eher ihre Geschlechtsgenossen Entscheidend sind natürlich Leistungen auswählen, sei „ein ganz alter Hut“. und Qualifikationen. Benthien, die für ihre Degethoff macht dafür nicht, wie viele Arbeit über die Kulturgeschichte der Haut andere, die Existenz von Seilschaften ver- den diesjährigen Joachim-Tiburtius-Preis antwortlich, sondern eine sozialpsycholo- des Landes Berlin erhielt, ist überzeugt, gische Disposition: Das Selbstbild des stets dass Publikationen, Lebenslauf und Aus- präsenten, machtbewussten, ehrgeizigen landserfahrungen wichtigere Faktoren für Wissenschaftlers sei für die Männer nicht die Karriere sind als das Geschlecht*. durch eine Frau auszufüllen. „Dass Kar- Intelligenz, Ehrgeiz und Erfolg werden riere für Frauen planbar, durchsetzbar und bei einer Frau oft als irritierend und un- legitim ist“, so Degethoff, „muss auch den weiblich empfunden. Doch nicht nur Äuße- Frauen selbst klar werden.“

M. WITT Damit hat Marion Kiechle, Gynäkologin Kiechle Männliche Lehre 39, kein Problem. Die Leiten- Karriere ist planbar de Oberärztin an der Uni Frauenanteil unter Durchschnittsalter bei Kiel hat bereits vor vier Jah- Lehrstuhl für Laborautomation an die Uni den Habilitierten der ersten Berufung ren habilitiert. „Noch nie“, Rostock berufen. Ihre Habilitation in Inge- 5,1% behauptet die Fachärztin für Rechtswissen- Männer 39,5 nieurswissenschaft hatte die Diplomche- schaften Gynäkologie, „hatte ich das mikerin schon mit 29 Jahren vorgelegt. Frauen 40,5 Gefühl, benachteiligt zu sein, Die Rostockerin arbeitet zwölf Stunden 10,6% 42,6 weil ich eine Frau bin.“ Geschichte täglich, sechs Tage die Woche. Zeit fürs Pri- 42,8 An dieser Meinung ließ sie vatleben bleibt ihr kaum. „Es ist schwierig 3,1% auch nicht zweifeln, dass ihre 41,3 – mit einem Partner, der immer nur jam- Chemie Bewerbung ein klassischer mert, dass man zu wenig Zeit hat, wäre es 43,5 Fall von Benachteilung einer die Hölle.“ In der Habilitationsphase eine 2,1% Frau zu Gunsten eines Man- Physik, 40,6 Familie zu gründen hält Thurow für aus- Astronomie nes zu sein schien. Seit Okto- geschlossen. Danach sei es – wie in ande- 43,6 ber dieses Jahres stand sie auf 17,0% ren Berufen auch – ein lösbares Problem. 39,8 der Vorschlagsliste der Tech- Romanistik Doch für Akademikerinnen, die erst mit 44,5 nischen Universität München über 40 eine Stelle antreten können, stellt 8,3% nur an zweiter Stelle. Human- 42,8 sich die Frage nach Kindern oft gar nicht medizin Der Vorsitzende der Beru- mehr. Der Anteil der Professorinnen, die 46,1 fungskommission, Jörg Rüdi- Quelle: Statistisches allein leben, ist dreimal so hoch wie bei den Bundesamt 1997 30 Jahre 35 40 45 ger Siewert, hatte dafür ge- männlichen Kollegen. kämpft, dass sein persönli- Dass sie „besser sein muss als die Män- cher Favorit Wolf Kreienberg, ner“, ist für Thurow eine Selbstverständ- res und Auftreten sind festen Vorstellungen 53, auf Platz eins kam. Die Abstimmung lichkeit. „Aber wenn man das will, schafft unterworfen. Auch die Inhalte, mit denen endete mit dem ungewöhnlich knappen Er- man das auch.“ Quotenregelungen hält sie Frauen sich wissenschaftlich beschäftigen, gebnis von 26 zu 22 Stimmen – obwohl die für kontraproduktiv. Sie glaubt, dass es zu unterliegen einer unausgesprochenen Kon- Universitätsleitung und auch das Wissen- wenig Frauen gibt, die sich bewusst für eine trolle der männlichen Mehrheit. schaftsministerium für Kiechle waren. wissenschaftliche Laufbahn entscheiden, „Es wird besser toleriert“, so die Ge- Kiechles Stolz und Ausdauer wurden und hofft, dass ihr Beispiel Schule macht. schichtsprofessorin Martina Kessel, 40, belohnt. Seit vergangenem Dienstag ist sie In der Wissenschaftswelt – wie sonst oft „wenn Frauen so genannte frauenspezifi- Deutschlands erste Frau mit einer Profes- auch – mangelt es an weiblichen Vorbil- sche Themen bearbeiten. In diesen Berei- sur für Frauenheilkunde. Bayerns Wissen- dern. Pionierarbeit zu leisten kostet Kraft. chen bekommen sie auch leichter eine Stel- schaftsminister Hans Zehetmair erklärte, Ehrgeizige Frauen werden schnell als Kar- le.“ Die Kluft zwischen männlichen und warum er sich über die Entscheidung rierefrauen abgestempelt. Den entspre- weiblichen Akademikern, meint die im De- der Berufungskommission hinweggesetzt chenden Begriff für Männer im Chefsessel hatte: „Entscheidend war nicht, dass gibt es nicht. es sich um eine Frau handelt, sondern * Claudia Benthien: „Haut. Literaturgeschichte – Kör- „Wenn man dann aber mal drin ist“, sagt perbilder – Grenzdiskurse“. Rowohlt Taschenbuch Ver- um eine glänzend qualifizierte Wissen- Thurow, „wird es leichter.“ Die Koopera- lag, Reinbek 1999; 320 Seiten; 24,90 Mark. schaftlerin.“ Katharina Stegelmann

42 der spiegel 51/1999 Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite Deutschland

Spannend, dramaturgisch dicht, durch- aus selbstkritisch und gut geschrieben er- ZEITGESCHICHTE zählt die heute 51-jährige Margrit Schiller von jenem Jahrzehnt ihrer Jugend, in dem sie von der braven Bürgerstochter zur Un- Niemals wie die Eltern tergrundkämpferin der RAF, zur gesuchten Terroristin wurde. Es ist auch ein typisch Margrit Schiller, in den Siebzigern Mitglied der RAF, hat ihre deutsches Drama von der ewigen Suche nach Wahrheit und Identität, vom schwär- Autobiografie geschrieben. Überraschend merischen Idealismus, der in der Katastro- packend erzählt sie ihre tragische Guerrilla-Geschichte. phe von Lüge und Gewalt endet. Ebenso wie der zeitliche Abstand der rst durch die Begegnung mit An- fern ist. War da was, und was war es ei- Jahre mag die geografische Distanz zum dreas Baader, Gudrun Ensslin und gentlich? Ort des Geschehens geholfen haben, sich EUlrike Meinhof wurde der jungen Margrit Schiller, von 1971 bis 1979 Mit- der Vergangenheit zu nähern: 1985 ging sie Frau glasklar: „Ich war mein Leben lang glied der RAF, weiß es genau. Dennoch nach Kuba, heiratete einen Kubaner und belogen worden.“ Margrit Schiller, da- brauchte sie, von alten Freunden und Ge- lebt heute mit ihren beiden Kindern in mals 22 Jahre alt, Psychologiestudentin nossen immer wieder gebremst und ver- Montevideo, der Hauptstadt Uruguays. und aktives Mitglied des „Sozialistischen unsichert, viele Jahre, um ihren „Lebens- Zudem: Margrit Schiller war, obwohl sie Patientenkollektivs“ (SPK), hatte die bericht aus der RAF“ unter dem Titel „Es von Anfang an mit dem Gründungskern der Gründertruppe der „Roten Armee Frak- war ein harter Kampf um meine Erinne- RAF zusammentraf, eine Randfigur. Das tion“ (RAF) mehrere Wochen lang in ih- rung“ tatsächlich zu veröffentlichen**. Das mag ihr eine vergleichsweise aufrichtige rer Heidelberger Wohnung beherbergt und Buch ist einer der wenigen authentischen Rückschau erleichtert haben. Sie hat nie- in dieser Zeit „Ursachen und Zusammen- Prosatexte aus den Reihen der ersten RAF- manden getötet, niemanden verletzt, nie ge- hänge“ entdeckt – und das Motto des Generation um Baader und Meinhof, die schossen. Zweimal, 1973 und 1976, wurde sie großen antiimperialistischen Aufbruchs: nicht im RAF-Kauderwelsch von revo- wegen Ausweisfälschung, unerlaubten Waf- „Aus dem Leiden die Kraft zum Kampf lutionären Kommandoerklärungen, Kassi- fenbesitzes und Unterstützung beziehungs- entwickeln“. ber-Infos oder pseudotheoretischen Recht- weise Zugehörigkeit zu einer kriminellen Es war zugleich ein ganz persönliches fertigungsschriften abgefasst sind: eine Vereinigung verurteilt und saß dafür insge- Motiv: „Darin konnte ich mich erkennen. kleine Perle, ein zeitgenössisches Fund- samt mehr als sechs Jahre im Gefängnis. Den Stein meiner Einsamkeit und Ver- stück, das man nicht ohne Erschütterung Dennoch: Das individuelle Drama der zweiflung am Leben aufzuheben und ihn zu Ende liest. intelligenten, schönen jungen Psycholo- gegen seine Ursache zu wer- giestudentin – Gegenstand des fen.“ Die Ursache war, na Vordiploms: eine experimentel- klar, „die kapitalistische Gesell- le Arbeit zur Wahrnehmungs- schaftsordnung“. Punktum und psychologie –, die ihre besten fertig. „Aus der Krankheit eine Jahre in bedrückenden, die spä- Waffe machen!“, lautete die dia- tere Isolationshaft gleichsam lektische Konsequenz des SPK. vorwegnehmenden „illegalen“ Am Ende wurde aus der Waf- Wohnungen, in Gefängnissen fe selbst eine Krankheit, Irrtum und auf der Flucht zugebracht und Verhängnis einer Genera- hat, reflektiert sie selber kaum. tion, die – auf dem Weg zur Umso schärfer tritt in der Be- Weltbefreiung – das Private mit schreibung ihres damaligen Le- dem Politischen derart ver- bens die Perspektive des Tra- mählen wollte, dass schließlich gisch-Absurden hervor. beides auf der Strecke blieb. Vor den Augen des aufmerk- Für die „Generation Berlin“, samen Lesers entfaltet sich ein die Dreißigjährigen am Rande kleines Panorama der siebziger des Millenniumswahns, sind das Jahre, die extreme ideologische Märchen aus dem Mittelalter – Durchdringung des „progressi- die RAF allenfalls ein fer- ven Alltags“, Miniatur eines nes Zeitgeist-Label, kulturelles radikal antibürgerlichen „Bil- Markenzeichen wie Velvet Un- dungsromans“: die Biografie ei- derground, Wrangler-Jeans und DDR, abgesunken in die Un- tiefen des historischen Be- wusstseins, das hier und da noch auf vollgesprayten Mau- ern in Kreuzberg zu entzif-

* Links: bei der zwangsweisen Vorführung vor der Presse im Hamburger Polizeiprä- sidium 1971; Mitte: bei der Festnahme in Frankfurt am Main 1972; rechts: bei einer Demonstration in Berlin 1970. ** Margrit Schiller: „Es war ein harter Kampf um meine Erinnerung. Ein Le- bensbericht aus der RAF“. Hrsg. Jens SPIEGEL TV Mecklenburg. Konkret Literatur Verlag, DPA Hamburg; 272 Seiten; 39 Mark. RAF-Mitglieder Schiller, Baader, Meinhof*: Endlich radikal, ganz und gar Opfer sein, die körperliche

46 der spiegel 51/1999 ner jungen Deutschen, die illegalen Wohnung in Ham- dem autoritären Elternhaus burg –, geriet sie bei Freiburg entflieht, um schließlich Sinn zusammen mit einem Ge- und Abenteuer des Lebens nossen in eine Fahrzeug- bei der „Stadtguerrilla“ zu kontrolle der Polizei. Der Be- suchen, einer verschworenen gleiter schoss, beide konnten Gruppe, die dem Staat den flüchten. Kurz darauf wurde bewaffneten Kampf angesagt sie in Hamburg, von Ulrike hatte und nicht zuletzt an Meinhof und Gerhard Mül- ihren dogmatisch-autoritä- ler begleitet, in eine weitere ren, ja spätstalinistischen Schießerei mit der Polizei Strukturen zu Grunde ging. verwickelt. Müller tötete, so Mehr als 50 Tote blieben auf Schillers Darstellung, einen

dem „Schlachtfeld“ liegen. AP Beamten.Wenig später wur- Nie wollte sie leben wie Buchautorin Schiller de Margrit Schiller zum ers- die Eltern, kleinbürgerlich, ten Mal verhaftet. Vom Vor- eng, spießig. Der Vater, der ihr „starke se- wurf des Polizistenmordes wurde Müller xuelle Gefühle“ entgegengebracht habe, 1976 mangels hinreichender Beweise frei- war Major des Militärischen Abschirm- gesprochen. dienstes, die Mutter Grundschullehrerin „Warum hast du nicht geschossen?“, und CDU-Stadtverordnete in Bonn. Mit 15 brüllte Holger Meins sie einmal an. Und trat Margrit Schiller aus der Kirche aus, schon litt sie wieder an ihrer „Unfähigkeit, mit 18 verließ sie das Elternhaus, unter des- selbst Gewalt anwenden zu können“. sen „brachialer Gewalt“ sie gelitten hatte. Ganz ohne Zynismus: Die Lektüre des Unter Freunden diskutierte sie über Sartres Buchs drängt geradezu den Gedanken auf, Existenzialismus und genoss es, „wegzu- dass die Leiden im Gefängnis, dass all die gehen, wann ich wollte“, oft in die Disco, Hungerstreiks gegen die Haftbedingungen, um „wild zu tanzen“. Die Rolling Stones, die brutalen Auseinandersetzungen inner- Animals, Cream und Janis Joplin – das halb der RAF – oft reine Denunziationen – „war meine Musik“. Dennoch fühlte sie und die täglichen Überlebenskämpfe in der sich „sehr einsam“, das „grundlegende Le- Zelle den geheimen Sinn der ganzen Sache bensgefühl, seit ich denken konnte“. ausmachten. Endlich radikal, ganz und gar 1968 dann der weltweite, faszinierende Opfer, „aufgehoben“ sein, die körperlich- Protest: Vietnam, Rudi Dutschke, Ché Gue- seelische Verschmelzung des eigenen vara. Doch für Politik im strengen Sinne in- Elends mit dem der Welt erleben – Iden- teressierte sie sich wenig. Umso mehr sehn- tität! Endlich konnte sie sich als anerkann- te sie sich nach „irgendeinem Sinn für mein ter Teil jenes „Unterdrückungszusammen- Leben“. So ging sie auf die Suche. Erst fand hangs“ fühlen, den es zu zerschlagen galt. sie ein „Release“-Projekt der Heidelberger Doch in diesem ebenso abstrakten wie hy- Drogenhilfe, eine „bis dahin unbekannte permoralischen Betroffenheitssystem hat Welt“. Dann, von der Szene auf Dauer doch Mitleid für einen getöteten Polizeibeamten eher abgestoßen, fand sie zum SPK und keinen Platz – offenbar bis heute nicht. dem Konzept revolutionärer Anti-Psychia- Das von Ulrike Meinhof verfasste „Kon- trie: Hilfe zur Selbsthilfe. Von dort aus war zept Stadtguerrilla“ aber, die Bibel der es nur noch ein kleiner Schritt zur RAF, RAF, durch die sie sich „quälte“, hatte sie der sich fast zufällig ergab. Sie verbrannte überfordert. Sie äußerte keine Meinung: all ihre „Fotos, Erinnerungsstücke und Brie- „Dazu war ich außer Stande.“ Immer wie- fe“ in der Toilette, löste ihre Wohnung auf, der brachen Ratlosigkeit,Verwirrung und ließ dem Vermieter mitteilen, sie habe einen Überforderung durch: „Ich konnte kein schweren Unfall erlitten und tauchte ab. Ziel entdecken, für das unser Handeln ei- Schon wenige Monate nachdem sie im nen Sinn gemacht hätte. Mein Kopf war Frühjahr 1971 in den Kreis der kämpfenden leer, ohne Phantasie. Alles blieb grau.“ Truppe aufgenommen worden war – erste Es ist kein Zufall, dass sie erst in der Bewährungsprobe: die Anmietung einer Haft intensiv die linken Klassiker las und damit eine theoretische Begründung für ihre Entscheidung nachzuholen versuchte, die sie ins Gefängnis gebracht hatte. Nie war Margrit Schiller wirklich Subjekt gewesen, schon gar kein „revolutionäres“ – dafür immer getrieben und fremd- bestimmt, als ob ein endloses Echo aus Kindheit und Jugend sie verfolgte: ei- ne andauernde Tragödie nie errungener Selbstbestimmung. Ihre fragmentarische Autobiografie aber ist ein aufregendes Lehrstück über den unendlich schwierigen Ausgang des Menschen aus seiner selbst-

K. MEHNER verschuldeten Unmündigkeit. Verschmelzung mit dem Elend der Welt erleben Der Kampf geht weiter. Reinhard Mohr

der spiegel 51/1999 47 Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite Titel

Tanz ums goldene Kalb Am Ende des Jahrtausends steckt die Gesellschaft in einer tiefen ethischen Krise. Der Konsens darüber, was gut und was böse ist, schwindet, in der Politik spielt das Gemeinwohl kaum eine Rolle, in der Wirtschaft dominiert der Eigennutz. Sind die Deutschen ein Volk ohne Moral?

er Auftritt war beeindruckend: Rot turen hatte schenken lassen, dementierte Ihnen, allen voran Helmut Kohl, fehlt vor Zorn wies Altkanzler Helmut kategorisch, irgendetwas sei dabei nicht das Unrechtsbewusstsein, dass ihr Umgang DKohl im Bundestag den Vorwurf korrekt gewesen, und sah keinerlei Grund, mit Geld und Macht fundamentalen mora- zurück, er habe zu seiner Zeit als CDU- über seinen Rücktritt auch nur nachzu- lischen Regeln zuwiderläuft. Vorsitzender etwas außerhalb der Lega- denken. Doch nicht nur ihnen. Die derzeit herr- lität mit Spendengeldern und schwarzen Ein paar Tage zuvor hatten deutsche schende politische und ökonomische Klas- Kassen hantiert. Kurz darauf musste die Bankiers die Sanierung der Baufirma Holz- se leidet an einem gefährlichen Syndrom: CDU einräumen, Kohl sei nicht ganz bei mann an 450 Millionen Mark scheitern las- Zum Ende des Jahrtausends sind, so der Wahrheit geblieben. sen, unbekümmert ob der Tatsache, dass sie scheint es, ausgerechnet denen, die die Ge- In Hannover gab zur selben Zeit Mi- damit über 60000 Arbeitnehmer um Brot sellschaft anführen, die ethischen Maßstä- nisterpräsident Gerhard Glogowski wegen und Lohn bringen sowie hunderte kleiner be ihres Handelns abhanden gekommen, allzu ungenierter Vermischung von Priva- Zulieferfirmen in den Ruin treiben wür- ist das Bewusstsein geschwunden, dass tem und Dienstlichem seinen Rücktritt be- den. Erst der Kanzler rettete die Lage – auf demokratische Gesetze für alle gelten, kannt – und beteuerte mit Tremolo, er sei Kosten der Steuerzahler. dass Macht, politische wie wirtschaftliche, sich keiner Schuld bewusst. Eine deutsche Woche im Herbst 1999. auch mit Verantwortung und nicht nur Der bibliophile Bundesverkehrsminister So unterschiedlich die Fälle auch sein mit Selbstverwirklichung oder Profit zu Reinhard Klimmt, just zu diesem Zeitpunkt mögen, gemeinsam ist ihnen zweierlei: Es tun hat. ins Gerede geraten, weil er sich von einem geht um Geld und Moral – und alle Ak- „Moral im modernen Sprachgebrauch“, alten Freund für mehr als 30000 Mark an- teure sind so weiß wie die Unschuld vom definiert der aktuelle Große Brockhaus, tiquarische Bücher und wertvolle Skulp- Lande. „ist die Sammelbezeichnung für die als

50 der spiegel 51/1999 „Der Tanz um das goldene Kalb“, rend“ zu denunzieren ist, zeigt sich sym- Ölgemälde von Nicolas Poussin (um 1635) ptomatisch an dem Aufsatz der Politikwis- senschaftlerin Antonia Grunenberg über „Moral und Politik“ im „Kursbuch“. Da wird fast ausschließlich von „moralisie- ren“, von „moralischem Rigorismus“ und gar allerliebst von „Hypermoralisierung“ und „Hypermoral“ gesprochen. FOTOS: AP Love-Parade in Berlin Das Gründungsverständnis dieser Re- publik, die sich nach Ansicht des Philoso- phen Jürgen Habermas immer auch durch die Reflexion auf den Nationalsozialismus und Auschwitz zivilisiert und liberalisiert hat, wird hier in Frage gestellt. Die Lehre der Nachkriegsgeneration, Politik müsse von moralischen Werten geleitet sein, ist bei Grunenberg im besten Fall ein psy- chologisch verständlicher Fehlschluss, im schlimmsten Fall der Beginn totalitärer Politik. Auch der gesellschaftliche Konsens über

REUTERS die Bundesrepublik als Sozialstaat, der am Flüchtlinge in Tschetschenien Gemeinwohl der Mitglieder orientiert ist, wird brüchig. Selbst Sozialdemokraten schieben den Begriff der sozialen Gerech- tigkeit wie eine heiße Kartoffel vor sich her, obgleich sich doch darin eine der größ- ten Herausforderungen der nächsten Jah- re verbirgt: das Aufrechterhalten einer So- lidargemeinschaft, die ihre innere kultu- relle und soziale Vielfalt aushält, ohne zu zerbrechen. Doch der moralische Kitt, der die Gemeinschaft solidarisch zusammen- hält, beginnt zu bröckeln. Eigentlich ist es immer dieselbe Ge- AKG Todeskämpfer in Amerika schichte, und sie ist uralt. Als Mose vom Berg Sinai hinabstieg, wo er 40 Tage mit Gott zugebracht hatte, stieß er auf eine Horde betrun- kener Israeliten, die um ein gol- denes Kalb tanzten. Kaum war ihr Anführer fort, hatten die Ju- den sich von dem Gott, dem sie die Befreiung aus der ägypti- schen Knechtschaft verdankten, abgewandt, aus dem Schmuck ihrer Frauen das Kalb gegossen und es zu ihrem neuen Gott aus- gerufen. verbindlich akzeptierten ethisch- Als Mose das Treiben seiner sittlichen Normen des Handelns Landsleute sah, zerbrach er voll und der Werturteile, der Tugen- Zorn die beiden steinernen Ta- den und Ideale einer bestimmten Börse in Chicago feln, in die der Gott Jahwe eben Gesellschaft.“ erst eigenhändig die ehernen Doch gibt es in unserer Gesellschaft Gebote menschlicher Moral eingeritzt hat- überhaupt noch einen Konsens darüber, te. „Dann nahm er das Kalb, das sie ge- was gut, was böse ist? Wer heute das Wort macht hatten, verbrannte es und zerrieb es Moral auch nur in den Mund nimmt, läuft zu Staub.“ Und brachte sein Volk wieder Gefahr, als Spießer oder Spaßverderber, auf auf den rechten Weg. als „politisch korrekt“ oder als Ewigges- Das war vor über 3000 Jahren. Die bib- triger verspottet zu werden. lische Erzählung vom Tanz um das golde- Ausgerechnet das „Kursbuch“, ehemals ne Kalb musste durch die Zeiten immer politisch-moralischer Wegweiser unter den wieder als Synonym herhalten für die deutschen Vordenker-Magazinen, fordert moralvergessene menschliche Gemein- in seiner Juni-Ausgabe: „Schluss mit der schaft. Moral“. Dass es heutzutage schon aus- Auf den vom wütenden Mose zerdep- G. PETERSEN /JOKER reicht, eine Erwägung als „moralisch“ zu Bettler in Aachen perten Tafeln standen die unverrückbaren kennzeichnen, um sie zu diffamieren, dass Welt ohne Werte Regeln für den Umgang der Menschen mit- „moralisch“ automatisch als „moralisie- Orientierungslos ins neue Jahrtausend einander: Du sollst Vater und Mutter ehren;

der spiegel 51/1999 51 Titel

Du sollst nicht töten, nicht Unzucht trei- loge Hans Küng, „nach welchen Grund- Aber die Frage bleibt, wie die Bürger ben, nicht stehlen, nicht lügen, nicht be- optionen sie die täglichen kleinen oder gerecht leben sollen, wenn nicht selbst ge- gehren Deines nächsten Frau oder sein Hab großen Entscheidungen ihres Lebens tref- wählte Politiker, sondern unkontrollierter und Gut. fen sollen, welchen Präferenzen sie folgen, Kapitalismus sie regiert. Der Westen, warn- Jahrtausende haben sich die Menschen – welche Prioritäten sie setzen, welche Leit- te Küng schon Anfang der neunziger Jah- jenseits aller Religionen und Konfessionen, bilder sie wählen sollen“. re, „steht vor einem Sinn-,Werte- und Nor- Gläubige wie Ungläubige – darauf ver- Nun besteht eine der Errungenschaften menvakuum, das nicht nur ein Problem ständigt, dass dieser Benimmkodex gilt. der Moderne darin, die Politik von den Fra- von Individuen, sondern ein Politikum von Und in allen Religionen ist die dazu pas- gen des guten Lebens, der Religion und kul- allerhöchstem Rang ist“. sende goldene Regel überliefert, die Jesus turellen Überzeugungen zu entkoppeln und Am greifbarsten ist die Entwicklung zu in der Bergpredigt so formuliert hat: „Al- auf die Fragen des gerechten Zusammen- einer Wert-losen Gesellschaft in der Wirt- les, was ihr wollt, dass euch die Leute tun, lebens zu konzentrieren. Nur so können schaft. In diesem Bereich ist der Konsens, das sollt auch ihr ihnen tun.“ nach Ansicht des amerikanischen Demo- dass der Mensch, seine Würde und sein Immanuel Kant, der Moralphilosoph der kratietheoretikers John Rawls moderne plu- Wohlergehen das Maß aller Dinge sein soll- Aufklärung, hat diesen auf den Glauben ralistische Gesellschaften zu einem über- ten, am nachhaltigsten geschwunden. an einen gerechten Gott gegründeten Satz greifenden Konsens verbunden werden. Noch vor ein paar Jahrzehnten war das in die rein aus der Vernunft des Menschen anders. „Gewinn ist gut, aber nicht alles“, abgeleitete ethische Norm übersetzt: lautete die Devise des Chefs der Deutschen „Handle so, dass die Maxime Deines Wil- Bank, Hermann Josef Abs. Zwar brauche lens jederzeit zugleich als Prinzip einer all- jedes Unternehmen Profit, um zu atmen. gemeinen Gesetzgebung gelten könnte.“ Aber Abs wusste noch: „Wie der Mensch Emnid-Umfrage für den SPIEGEL unter 14- bis 25-Jährigen; Natürlich wimmelt die Historie von per- rund 500 Befragte; 3. bis 11. Dezember; Angaben in Prozent nicht lebt, um zu atmen, so betreibt er auch manenten Verstößen gegen die Zehn Ge- nicht seine wirtschaftliche Tätigkeit, nur bote des Mose und den Kantschen Kate- Mehrfachnennungen um Gewinn zu machen.“ gorischen Imperativ; in Wahrheit ist die möglich Auch den Unternehmer-Zeitgenossen Menschheitsgeschichte sogar vor allem des rheinischen Bankiers war geläufig, dass eine Geschichte des Versagens vor diesem ihre Pflicht nicht nur darin bestand, mög- ethischen Anspruch. Aber einigermaßen lichst viel für sich und die Aktionäre zu klar war stets, dass die Menschen die eher- verdienen, sondern auch darin, dem Ge- nen Gebote zumindest im Prinzip aner- meinwohl zu „dienen“, wie es Hans Merk- kannten, auch wenn sie ihnen nicht ent- le, Chef der Firma Bosch und eine Legen- sprachen. de des deutschen Wirtschaftswunders, aus- Das hat sich – in den westlich zivilisier- drückte. Die Bosse von damals sorgten sich ten Industriegesellschaften zumindest – nicht nur darum, dass es ihnen gut ging, gründlich geändert.Am Ausgang des zwei- sondern auch ihren Arbeitern und Ange- ten Jahrtausends wissen „viele Menschen stellten.Aus diesem Konsens erwuchs nach nicht mehr“, sagt der katholische Theo- 1945 der „Wohlstand für alle“. DPA Demonstration von Holzmann-Mitarbeitern: „Gewinn ist gut, aber nicht alles“

52 der spiegel 51/1999 In dieser heilen Welt spielte das goldene Wirtschaftskalb der neunzi- ger Jahre, die Aktie, nur eine be- scheidene Rolle. „Ich habe keine Zeit, mir den ganzen Tag zu überle- gen, wie ich den Börsenwert der Ak- tie sexier mache“, beschied der da- malige Daimler-Benz-Chef Edzard Reuter auf einer Tagung in New York seine Zuhörer. Seine Nachfolger überlegen heute kaum noch etwas anderes. Geradezu pervers muten die sich inzwischen stereotyp wiederholenden Meldun- gen über die turbokapitalistische Wechselwirkung von Kapital und BECKER & BREDEL Arbeit an. Je mehr Mitarbeiter ein Reinhard Klimmt Unternehmen „freisetzt“, um sich zu „verschlanken“, wie es im Wörter- buch der ökonomischen Amoral heißt, desto besser für den Börsen- kurs der Firma, will heißen: für ein paar Hände voll Großaktionäre, al- len voran die Banken – und für die Einkünfte der verantwortlichen Manager. Was die Sache nicht einfacher macht: Zu den Großaktionären zählen indirekt auch manche, deren IMO DPA Arbeitsplatz durch das Geschäfts- Gerhard Glogowski Helmut Kohl gebaren der Bosse gefährdet ist. Affärenbelastete Politiker: Hybris Einzelner oder gängiges politisches Kalkül? Denn Großaktionäre sind häufig auch jene Pensionsfonds, die das Geld des len, ob wir nicht den sozialen Standard auf die Aktionäre und deren Profit zum kleinen Mannes bündeln. spürbar reduzieren sollten.Warum reichen Vorschein kommt, nennt Altkanzler Hel- Wie moderne Unternehmensführer den- nicht 25 Urlaubstage statt der bisherigen mut Schmidt, linker Neigungen wahrlich ken, hat der Vorstandsvorsitzende des 30 Urlaubstage?… Warum kann das Ar- unverdächtig, „amerikanischen Raubtier- Bayer-Konzerns Manfred Schneider 1997 beitslosengeld nicht abgesenkt werden? kapitalismus“, den er längst nicht mehr auf in einem SPIEGEL-Gespräch mitgeteilt. Wir würden unsere Situation in Deutsch- die Vereinigten Staaten begrenzt sieht. „Es gibt keine Parallelität zwischen land auch dann deutlich verbessern, wenn „Spekulationismus und Größenwahn“, Arbeitsplatzverlust und Börsenboom“, diejenigen, die Arbeit haben, zum Verzicht klagt er, „breiten sich auch unter deut- beteuerte Schneider auf den Vorhalt, seit auf einen Teil der freiwilligen sozialen schen Managern aus. Sie fusionieren, kau- 1992 seien 20 Prozent der inländischen Leistungen der Unternehmen bereit fen und verkaufen große Unternehmen im Arbeitsplätze bei Bayer verschwunden, der wären.“ Handumdrehen, so als handle es sich um Börsenwert des Konzerns zugleich aber Von einer Senkung des Profit-Standards einen Gebrauchtwagen.“ um 200 Prozent, von 18 auf 53 Milliarden der Manager und Aktionäre ist keine Rede. Die Menschen, die mit solchen für sie Mark, gestiegen. Die Frage kontert Schneider vielmehr mit oft existenziellen Veränderungen verbun- Im selben Atemzug verkündete der Ma- der lapidaren Zielvorgabe: „Schauen Sie den sind, kommen in diesem Horizont al- nager, dass Bayer die Personalkosten 1997 sich doch mal die Renditen der Amerika- lenfalls noch als lästige Anhängsel vor – von 35 auf 30 Prozent des Umsatzes ner an oder die von Hoffmann-La Roche. siehe den Fall Holzmann. Die unsozialen drücken wolle, damit „die Anleger sehen, Die verdienen bis zu 20 Prozent, und zwar Folgen des allein auf Gewinnmaximierung dass der Vorstand konsequent handelt“. nach Steuern. Davon sind wir noch ein fixierten Denkens werden auf die Gesell- Und auf die Frage an Schneider, der für ganzes Stück entfernt.“ Aber das ist das schaft umgewälzt: Sie hat für die Kosten das abgelaufene Geschäftsjahr in dem Ge- Ziel. der um des Profits willen erzeugten Ar- spräch ein neues Gewinn-Rekordergebnis Was Schneider von der Verantwortung beitslosigkeit aufzukommen, oder aber mit ankündigte, ob er sich für die Schaffung des Unternehmers für das Gemeinwohl Steuergeldern die bedrohten Arbeitsplät- neuer Arbeitsplätze nicht zuständig fühle, hält, daran lässt er keinen Zweifel auf- ze zu retten. antwortete der Bayer-Chef: „Was Sie da kommen. Den Hinweis, dass die Kirchen Ein anderes, besonders beschämendes von mir erwarten, ist unrealistisch. Unter die zunehmende soziale Kälte in Deutsch- Schauspiel ist das Gefeilsche deutscher den hier in Deutschland herrschenden Um- land anprangern, wischt er mit dem Firmen um die Entschädigung für Zwangs- ständen kann ich das nicht leisten.“ Allen- schlichten Bekenntnis weg: „Die Kirche ist arbeiter während der Nazi-Zeit. Von den falls sei er in der Lage, die bestehenden eine karitative Institution.Wir sind ein Un- mehr als 2000 Unternehmen, die nach US- Arbeitsplätze in seinem Unternehmen ternehmen, das zuerst die Aufgabe hat, Ge- Schätzungen von der erpressten Arbeits- zu sichern. winn zu machen. Man muss diese Realität kraft dieser Menschen profitierten, haben Wer mehr wolle, müsse „eine Menge ganz klar sehen.“ bislang erst rund 70 ihre Bereitschaft er- Tabus brechen“. O-Ton Schneider: „Zum Die Mentalität, die in der ausschließli- klärt, sich an dem Fonds für die Opfer zu Beispiel muss man die Frage ernsthaft stel- chen Orientierung der Wirtschaftsmacher beteiligen. Es fehlen bislang so renom- Der „Raubtierkapitalismus“ breitet sich unter deutschen Managern aus

der spiegel 51/1999 53 Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite Titel mierte Firmen wie Deutsche Bahn AG, Die politische Klasse ist, was die Moral geführten Bundesregierung keine Schmäle- Preussag und Zeiss Jena. angeht, noch schlechter dran als die „Ma- rung ihrer Besitzstände zu fürchten. Die Globalisierung sei schuld, dass nagerklasse“ (Helmut Schmidt). Sie kann Weit schwerer wiegend als die Ver- der Mensch eine immer geringere, das ihr Fehlverhalten nicht auf den angeblich quickung persönlicher Vorteile mit dem Geld eine immer größere Rolle spiele, sa- übermächtigen Druck eines globalen öko- politischen Amt, wie im Fall Glogowski, gen die Verfechter des Systems, gegen nomischen Systems abschieben. ist die Missachtung ethischer Maßstäbe und die Globalisierung könne man nichts Das politische System Bundesrepublik geltender Gesetze im Fall der CDU-Par- machen, sie sei so etwas wie ein neues ist in Ordnung – bloß die Politiker sind es teispendenaffäre. Helmut Kohl hat nicht Naturgesetz. nicht. Das System gründet sich auf eine nur die Unwahrheit gesagt, als er tagelang Wer die gegenwärtige Entwicklung als Verfassung, in der die Rechte des Einzelnen seine Unschuld beteuerte; sein Umgang gegeben hinnimmt, räumt aber zugleich wie seine Verpflichtung auf das Gemein- mit schwarzen Parteikassen und Spenden- ein, dass der Mensch die Kontrolle über wohl festgeschrieben sind. Seine Existenz- geldern als Parteivorsitzender macht viel- seine Welt endgültig abgegeben, dass er berechtigung bezieht der Politiker nur dar- mehr (im Nachhinein) klar, dass sich der sich selbst entmündigt hat. aus, dass er als Mandatsträger sich um die Vorsitzende einer staatstragenden Partei Die Gegenthese lautet: Wenn die Glo- Bedingungen für das Wohlergehen der Bür- an die Spielregeln nicht gebunden fühlte, balisierung dazu führt, dass immer mehr ger kümmert. Doch dem Begriff Gemein- die er selbst mit erlassen hat, um die De- Menschen zu überflüssigen, weil Kosten wohl haftet längst ein ähnlich vorgestriger mokratie sauber zu halten. verursachenden Faktoren eines auf Ge- Geruch an wie dem Wort Moral. Hybris nur eines einzelnen Machtmen- winn- (und Macht-)Maximierung pro- Korrupte, unwahrhaftige, egoistische schen oder gängiges politisches Kalkül? grammierten Systems werden – dann ist oder vorrangig Partei- oder Gruppeninter- Der Argwohn, Kohls Umgang mit der dieses System falsch, da zutiefst inhuman, essen verpflichtete Politiker gab es immer. Wahrheit sei unter seinesgleichen gang und und muss geändert werden. Ebenso solche, die, verführt von der Macht, gäbe, ist es, der immer mehr Bürger dazu FOTOS: AKG FOTOS: Moralapostel Mohammed, Jesus, Konfuzius, Kant: Aushöhlung unserer Standards an Toleranz und Solidarität

Der Präsident des angesehenen World privates und öffentliches Wohl durchein- bringt, sich nicht mehr um Politik zu küm- Economic Forums Davos, der Wirtschafts- ander brachten. Doch die Häufung der mern und den Wahllokalen fernzubleiben. wissenschaftler Klaus Schwab, warnt: „Die Skandale verstärkt die Glaubwürdigkeits- Die Meldung, dass der ehemalige CDU- globalisierte Ökonomie darf nicht synonym lücke, die ohnehin ein zentrales Problem Generalsekretär Peter Hintze, immerhin werden mit einer frei randalierenden unserer Gesellschaft ist. ausgebildeter Theologe und Pfarrer, Sozial- Marktwirtschaft, einem Zug ohne Brem- Was für die Managerklasse das siebte versicherungsbeiträge in Höhe von rund sen, der Verwüstungen anrichtet.“ Gebot, „Du sollst nicht stehlen“, auch kei- 150000 Mark umgangen hat, wird da schon Dabei wird gerade die Globalisierung ne Arbeitsplätze, ist für die Politikerkaste als Normalität im Politikersumpf wahrge- unsere sozialen Kompetenzen in besonde- das achte mit seiner lapidaren Forderung: nommen. rer Weise herausfordern. Durch die Ver- „Du sollst nicht lügen.“ Oder ins Politi- „Das Vertrauen in die politische Klasse flüssigung der nationalen Grenzen wird sche übersetzt: Du sollst den Wählern kei- ist heute geringer als jemals seit 1949, von nicht nur Kapital um den Erdball fließen, ne falschen Versprechungen machen. ihr geht weder politische noch moralische sondern es werden auch Menschen ver- Die Täuschung des Wählers ist nicht ein- Führung aus.“ Das bittere Fazit zieht ein schoben. Die Anforderungen, mit Anders- mal mehr ein Kavaliersdelikt, sie gehört 80-Jähriger, der selbst Jahrzehnte ein denkenden, Fremden und Ärmeren umzu- zum Handwerkszeug des Politikers – von führender Repräsentant dieser Klasse war gehen, werden nicht geringer, sondern Helmut Kohls wahlentscheidendem Ver- – der Sozialdemokrat Helmut Schmidt. größer. Für eine Aushöhlung unserer Stan- sprechen „blühender Landschaften“ im Dabei geht es keineswegs um die Rück- dards an Toleranz und Solidarität ist das Osten anno 1990 bis zu Gerhard Schröders kehr zu einer altertümlichen Moral, die neue Jahrtausend ein denkbar ungünstiger Beteuerung im Wahlkampf 1998, die Rent- den Bürgern oder Politikern vorschreiben Zeitpunkt. ner hätten von einer sozialdemokratisch will, wie sie Fragen ihres privaten Lebens „Von der politischen Klasse geht keine moralische Führung aus“

56 der spiegel 51/1999 SIPA PRESS Nato-Angriff auf Pan‡evo bei Belgrad: Versagen vor dem ethischen Anspruch? zu handhaben hätten. Die geheuchelte Auf- des Individuums, sondern vermutlich schon Gesetze der Homo xerox, der durch Klo- regung über das Sexual- oder Eheleben bald dessen künstliche Züchtung nach dem nierung kopierte Mensch, bald unter uns von Politikern ist hier ebenso wenig The- Schöpferwillen von Wissenschaftlern – und weilen könnte.“ ma wie ihre Konfession, ihre persönlichen damit die totale Manipulation des Men- Wer legt fest, wie weit die Wissen- Interessen oder partnerschaftliche Treue. schen (SPIEGEL-Titel 39/1999). schaftler gehen dürfen, wann die Schwelle Die Politik soll kein Tugendwächter sein Am Ende steht die Horrorvision, die zum Homunkulus überschritten ist? Kriti- und kann es in modernen heterogenen Ge- Forscher und Bioethiker seit Jahren aus- ker der Entwicklung argwöhnen, dass in sellschaften auch gar nicht. brüten: „die Ver- und Entwertung des Men- verschwiegenen Labors irgendwo auf der Vielmehr geht es um den öffentlichen schen als human body shop oder Selek- Welt Nachfahren des Doktor Frankenstein Gebrauch der Vernunft und die transpa- tionspotenzial“, so die Fachjournalistin diese Schwelle längst überschritten haben. rente Anwendung demokratisch legiti- Ursel Fuchs in der „taz“. Noch vor wenigen Jahren galt der Ein- mierter Gesetze. Die Tierärztin und Bio-Ethikerin Karin griff in die Keimbahn, die Manipulation Der wichtigste Prüfstein indes, wie Blumer warnte in der „Welt“: „Angesichts der befruchteten menschlichen Eizelle, als moralfähig die menschliche Gesellschaft solcher Nachrichten müssen wir uns an absolutes Tabu, das die Genforscher nie (nicht nur die deutsche) des nächsten Jahr- den Gedanken gewöhnen, dass in einer antasten würden. Inzwischen basteln in hunderts (noch) sein wird, ist in den kom- Welt ohne globale Ethik und ohne globale Amerika Experten daran,Vorgaben genau menden Jahren ein ganz anderer: Wie geht dafür zu erarbeiten. „Wenn wir bessere diese Gesellschaft mit den Möglichkeiten Menschen herstellen könnten durch das der Gentechnologie um. Heikel ist das Hinzufügen von Genen, warum sollten wir Terrain deshalb, weil für diesen Bereich das nicht tun?“, rechtfertigt der Nobel- ethische Maßstäbe, die einerseits die Wür- preisträger und Entdecker der DNA-Struk- de des Individuums wahren, andererseits tur James Watson den Tabubruch. Und von dem medizinischen Fortschritt nicht im seinem britischen Kollegen, dem Mediziner Wege stehen, erst noch entwickelt werden Robert Edwards, stammt der furchtbare müssen. Satz: „Die Ethik muss sich der Wissen- „Angesichts des technischen Fortschritts, Angaben in Prozent schaft anpassen, nicht umgekehrt.“ der es möglich macht, Gene zu verändern, Von hier bis zum „Menschenpark“ des vielleicht sogar einen neuen Menschen zu Peter Sloterdijk ist es nicht mehr weit. kreieren, müssen wir eine Ethik ent- Zwar haben die makabren Thesen des wickeln, die uns bewusst werden lässt, wie Karlsruher Philosophen über die geneti- groß unsere Verantwortung ist“, forderte sche Züchtung biologisch und intellektuell der Philosoph Hans Jonas schon in den perfekter Individuen einhellig und heftig achtziger Jahren. Widerspruch gefunden; doch alarmierend Seither hat sich viel getan: Machbar sind genug ist, dass er sie – über 50 Jahre nach inzwischen nicht nur entscheidende Ein- dem Euthanasie-Programm der Nazis und griffe in die Erbsubstanz des Menschen, An 100 fehlende Prozent: keine Angabe den Menschenversuchen der SS in den machbar ist nicht nur bereits die Klonung Konzentrationslagern – vor einem inter-

der spiegel 51/1999 57 Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite Titel DPA Greenpeace-Aktivisten: „Horrorvision der Ver- und Entwertung des Menschen“ nationalen Fachpublikum vortragen konn- entierung auf Eigennutz, Selbstverwirkli- erträge aus Millionenanlagen im Ausland, te, ohne dass sofort ein Sturm der Entrüs- chung und hedonistischen Materialismus“. sie verdeutlichen gleichermaßen den Ab- tung unter den Zuhörern losbrach. Schaut man sich die jüngsten Zahlen und bau des Gemeinsinns, auf dem eine Soli- Die Staatengemeinschaft steht erst am Statistiken zu Steuerhinterziehung und Ver- dargemeinschaft aufgebaut ist und von Anfang der Debatte, internationale Stan- sicherungsbetrug in Deutschland an, ist dem sie zehrt. Die moralische Intuition, dards gibt es bislang kaum. Zu erwarten nicht nur Zweifel an der Zahlungsmoral die den Sozialstaat zusammenhält, besagt, steht, dass das Thema schon bald im neu- der Deutschen angebracht, sondern, schlim- dass es allen langfristig nutzt, wenn sie en Jahrhundert die Politik zu ethischen mer noch, an ihrem grundsätzlichen Ver- kurzfristig auf ihren eigenen Vorteil ver- Entscheidungen zwingen wird – angesichts ständnis eines sozialen Gemeinwesens: zichten. Das gebietet nicht nur die Solida- der moralischen Orientierungslosigkeit am Laut der jüngsten Umfrage des Bundes der rität mit den schlechter gestellten Mitglie- Ende des Jahrtausends keine sehr optimis- Steuerzahler kann sich jeder zweite Deut- dern der Gesellschaft, sondern auch die tisch stimmende Vorstellung: sche grundsätzlich vorstellen, Einsicht in die Möglichkeit, selbst einmal Die Möglichkeiten der Gen- Steuern zu hinterziehen; allein zu den Bedürftigeren zu gehören und auf technik faszinieren nicht nur in Sachsen sollten im vergan- die Unterstützung der anderen angewiesen skrupellose Wissenschaftler, genen Jahr ertappte Steuersün- zu sein. damit lassen sich auch Milliar- der über 410 Millionen Mark an Die Erosion herkömmlicher Scham- und den verdienen – eine Wachs- den Fiskus zurückzahlen. Moralvorstellungen lässt sich auch an den tumsbranche ohne Grenzen? Die deutschen Versicherer nachmittäglichen Talkshows ablesen: Von Mit dem Zerfall der öffentli- sehen die Moral der Deutschen „Mein Freund ist eine Hure“ über „Ich bin chen Moral geht – was Wunder in keinem rosigeren Licht: Je- nicht der Vater deiner Kinder, lass mich – eine tiefe Verunsicherung der der vierte Deutsche, so eine endlich in Ruhe“ bis zu „Arabella, bitte Bürger über ihre privaten ethi- Studie der Kölner Gesellschaft mach mich zu einem sexy Vamp“ wird da schen Maßstäbe einher. Auch für wirtschaftspsychologische nichts ausgelassen. Die Banalität der deut-

die sind, wie die Medien Tag 1 SAT Forschung und Beratung Psy- schen Perversionen ist schier unerschöpf- für Tag kundtun, ganz offenbar Philosoph Sloterdijk chonomics, hat seine Versiche- lich. Die Shows leben von dem Wahn, lie- aus den Fugen geraten. rung schon einmal betrogen. ber mit dem eigenen Versagen als mit gar In der Industriegesellschaft, konstatiert Zusammengerechnet machen diese Betrü- nichts berühmt zu werden, lieber eine be- die „Zeit“-Herausgeberin Marion Gräfin gereien jährlich einen Schaden von rund kannte Sau als ein integres Nichts zu sein. Dönhoff in ihrem Buch „Zivilisiert den Ka- fünf Milliarden Mark aus. Die Zeitschrift Es ist eine öffentliche Couch, von der pitalismus“, habe ein grundlegender Wer- „Kriminalistik“ kürte Versicherungsbetrug Freud nicht mal zu träumen gewagt hätte: tewandel stattgefunden: „weg von den zum „Volkssport Nummer eins unter den Tausende outen und öffnen, blamieren und überkommenen Werten wie Pflichterfül- illegalen Geldbeschaffungstechniken“. beschimpfen sich, bettnässen und befum- lung, Verantwortung tragen, Gemeinsinn Ob es Delikte wie der fingierte Auffahr- meln sich vor dem Mitmachpublikum im üben – hin zu einer individualistischen Ori- unfall sind oder die unversteuerten Zins- Studio und den Millionen bügelnder Haus- „Die Ethik muss sich der Wissenschaft anpassen, nicht umgekehrt“

60 der spiegel 51/1999 Werbeseite

Werbeseite Titel

Zeugen. Experimente von Altruismusfor- schern zu Hilfsbereitschaft und Zivilcou- rage haben in den letzten Jahren er- schreckende Ergebnisse gezeitigt. Theologiestudenten, die eine Klausur zum Thema des barmherzigen Samariters schreiben sollten, wurden auf dem Weg zum Seminarraum mit einem Mann kon- frontiert, der am Boden lag und sich vor Schmerzen krümmte – die meisten gingen vorbei, ohne ihn zu beachten. An der Berliner Freien Universität stell- ten Studenten eine Szene in der U-Bahn, bei der eine Frau sexuell belästigt wird: Kaum einer der Mitfahrer griff ein, um der Frau zu Hilfe zu kommen. Die meisten ta- ten, als sei nichts geschehen, und versuch- ten, die Szene zu ignorieren. An der Ruhr-Universität Bochum wurde die Hilfsbereitschaft von Menschen unter- sucht, die Zeugen von Verkehrsunfällen waren: 80 Prozent waren Gaffer, die sich nicht trauten einzugreifen. Die Experten sind sich einig, dass Men- schen bei kleineren Anlässen (jemand ver- liert einen Handschuh) eher einschreiten als bei Situationen, in denen sie selbst auch etwas riskieren müssten. Je größer die Talkshow „Arabella“: Lieber eine bekannte Sau als ein integres Nichts Gruppe ist, die in ihrer Hilfsbereitschaft oder Zivilcourage gefragt ist, desto weniger frauen oder vor sich hin dösender Rentner ein lukratives Ritual, das als öffentlicher geschieht. Jeder schiebt jedem die Verant- am Bildschirm zu Hause. Das freiwillige Beichtstuhl manche „Sünde“ eher produ- wortung zu, und keiner tut was. „Pluralis- Spießrutenlaufen mit verbalen Schildern ziert als korrigiert. So kann jeder daher- tische Ignoranz“ nennen die Wissenschaft- wie „Du bist zu fett“ oder „Aus Liebe plappern, Fehler zugeben oder erfinden, ler elegant, was die Opfer, denen keiner zu deckte ich ein Verbrechen“ symbolisiert Versagen bedauern oder bejammern – än- Hilfe kommt, auch als „Feigheit“ auffassen eine Gesellschaft, die sich an der wieder- dern muss sich keiner. könnten. kehrenden Skandalisierung des Abwei- Hier werden nicht nur täglich die Vor- Kein Wunder, dass in diesen Zeiten ein chenden aufgeilt. Was Anteilnahme ver- stellungen von Scham, gutem Geschmack merkwürdiges Wort demagogische Kon- langt, erntet bloß gespielte Betroffenheit, und Intimität neu erfunden, hier verschie- junktur hat: „Gutmensch“ – ein Schimpf- was persönliche Tragik war, wird so zum ben sich auch die Grenzen zwischen so- wort, mit dem Stimmung gemacht wird. In öffentlichen Gespött. zialer Wirklichkeit, in der man Verantwor- dem Begriff drückt sich die Verachtung all „Die Tyrannei der Intimität“ nennt der tung für das eigene Handeln übernehmen der wertfreien, neoliberalen Realisten der amerikanische Soziologe Richard Sennett muss, und medialem Sekundärleben, in neuen unbefangenen Berliner Republik diese Deformation des öffentlichen Raums, dem man sich auf der öffentlichen Couch aus. Kritische, moralische Einwände wer- in dem über persönliche Angelegenheiten folgenlos schlecht reden darf, solange man den so immer häufiger als altmodisch, „po- psychologisiert wird – anstatt über allge- nur gesehen wird. litisch korrekt“ abgetan. meine Interessen zu debattieren. Als Schüler in Bayern jüngst über den Unter „Gutmenschen“ fallen Sozial- Die gestellte moralische Empörung über Mord an der Lehrerin in Meißen diskutie- arbeiter ebenso wie Aids-Schleifen-Träger, die angeblichen Freaks und Perversen in ren sollten, wurden sie gefragt, wie sie auf Rotkreuzmitarbeiter ebenso wie Pastoren. den Talkshows ist dabei nichts anderes als die Ankündigung des Täters reagiert hät- „Gutmenschen“, wetterte Guido Wester- ten, er werde die Pädagogin umbringen. welle in seinem 1998 erschienenen Buch Eine 16-jährige Berufsschülerin sagte: „Das „Neuland“, seien die, die anderer Leute nimmt doch keiner ernst. Da denkt man, Geld ausgeben. der macht sich nur wichtig.“ Dass Sätze Zur Moral der Deutschen findet sich in auch tatsächliche Absichten ausdrücken einer Allensbach-Umfrage von 1994 eine können und nicht nur erfundene Selbst- bemerkenswerte Doppelaussage. Auf die darstellungen sind, kommt den Talkshow- Frage, ob die Zehn Gebote der Bibel in imprägnierten Jugendlichen schon gar ihrem eigenen Leben eine Rolle spielten, nicht mehr in den Sinn. äußerten sich zwischen 55 und 88 Prozent Auf die Frage, warum sie denn nicht ein- positiv: Du sollst Vater und Mutter ehren gegriffen hätten, als ihr Mitschüler vor (73), nicht töten (88), nicht lügen (67) und An 100 fehlen- de Prozent: ihren Augen 22-mal auf ihre Lehrerin ein- nicht stehlen (83). Selbst sexuelle Treue re- keine Angabe gestochen habe, antworteten einige Schü- klamierten noch mehr als 55 Prozent als ler aus Meißen, sie hätten das Geschehen persönliche sittliche Maxime. gar nicht glauben können: „Das war wie Auf die Frage, „welche der Zehn Gebo- ein Film.“ te gelten heute noch für die meisten Men- Dabei ist nicht unbedingt das Fern-Se- schen?“, fiel die Prognose weit düsterer hen des Täters ein gesellschaftliches Pro- aus: Nur 13 Prozent enthalten sich danach blem, sondern auch das Weg-Sehen der der Lüge, und selbst das Tötungsverbot des

62 der spiegel 51/1999 Werbeseite

Werbeseite Titel

Werte wie Treue,Verlässlichkeit und Wahr- Was kann man dagegen tun, dass Tu- haftigkeit bei hunderttausenden bis zur genden in der Politik keine Rolle mehr Unkenntlichkeit aufgeweicht. „Wir hatten spielen, fragte die „Bild“-Zeitung Marion keine Moral“, bekannte eine Lehrerin, ehe- Gräfin Dönhoff anlässlich ihres 90. Ge- dem Inoffizielle Mitarbeiterin des Erich burtstags vor einigen Wochen. „Nichts“, Mielke, als sie acht Jahre nach der Wende war die lapidare Antwort. „Man kann nur durch Akten der Gauck-Behörde überführt immer wieder die Tugenden anmahnen.“ wurde. Es war eine sachliche Feststellung, Tröstend fügte sie hinzu: „Ich glaube, kein Reuebekenntnis. dass irgendwann die Prinzipienlosigkeit In Ostdeutschland fehlt – weit mehr wieder umschlagen wird zu einer Suche noch als in Westdeutschland – ein allge- nach Tugend und Ehrlichkeit. Das ist mei- mein verbindliches Wertefundament. Das ne Hoffnung.“ Angaben in Prozent hat das SED-Regime zerstört, als es die Für diese Hoffnung gibt es Anlässe. Bindung an Religion und bürgerliche Tu- Was immer Gegner oder Befürworter genden zu Gunsten einer klassenkämpfe- des geplanten Holocaust-Mahnmals be- rischen Parteimoral gekappt hat. zweckt hatten: Ob es als Schlussstrich Zugleich unterband die Staatspartei je- unter eine unbequeme Vergangenheit den öffentlichen Diskurs, in dem sich die gemeint war, die man damit endgültig Gesellschaft darüber verständigt, wie sie zu vergessen gedachte, oder ob es als sich in bestimmten Situationen oder ge- Symbol für einen ewigen Stachel im Be- genüber bestimmten Problemen verhalten wusstsein der Nachgeborenen mahnen An 100 fehlende Prozent: keine Angabe will. Die Norm gab allein die SED vor. sollte an die Verbrechen der Vorväter – Während der Wende zerbrach der auf- die Debatte hat ihre ganz eigene Dynamik gezwungene Kodex, ohne dass die Gesell- entwickelt. Ob es aus ebendiesen Grün- Dekalogs ist nach Ansicht der Befragten schaft aus ihrer Mitte heraus einen neuen den gebaut oder aus ebendiesen Motiven für weniger als die Hälfte der Bürger, 47 Wertekonsens geschaffen hat. Woher soll- verhindert werden sollte – all jene, die das Prozent, verbindlich. te der auch kommen? Erinnern als „Moralkeule“ (so der Dichter Die Botschaft ist klar: Ich bin gut, nur die Symptomatisch für diesen Mangel an Martin Walser) diffamieren wollten, ha- Anderen sind schlecht – ein grandioser ethischem Bewusstsein sind die Entschul- ben auch ohne Bau des Mahnmals schon Selbstbetrug. Stimmte die Selbstauskunft, digungsversuche, die allenthalben für den verloren. wäre in der Bundesrepublik, zumindest Rechtsradikalismus im Osten vorgebracht Die Debatte um das Holocaust-Monu- was die private Moral angeht, alles paletti. werden. Wann immer eine Horde ange- ment für sich ist schon ein eindrucksvolles Im Osten ist die Moral noch speziell be- trunkener Glatzköpfe einen Ausländer ver- moralisches Zeugnis. In der Auseinander- schädigt durch die . Das Ost-Berliner letzt hat, wird um Verständnis für den Frust setzung über Ästhetik und Funktion des Ministerium für Staatssicherheit mit sei- der arbeitslosen Jugend geworben. Entwurfs, in der öffentlichen Debatte über nem ausgeklügelten Spitzelwesen hat in Die Verrohung der Sitten scheint derart Ort und Zweck des Denkmals, über Spra- 40 DDR-Jahren die realsozialistische Ge- fortgeschritten, dass Menschlichkeit zu ei- che und Inhalt einer Inschrift ist nicht nur meinschaft wie ein Maulwurf untergraben. ner Frage des Bruttosozialprodukts ver- über die Darstellbarkeit von Auschwitz Die massenhafte Anstiftung zur systemati- kommen ist – als ob ein Arbeitsloser keine geschrieben worden, sondern auch über schen Denunziation selbst des Ehepartners andere Chance hätte, als nachts Fremde, Auschwitz selbst, über Schuld und Sühne, hat den Sinn für so fundamentale ethische Homosexuelle und Behinderte zu jagen. über das Verhältnis von Tätern zu Opfern, über das Spezifische der natio- Trauer um ermordete Lehrerin in Meißen: „Das war wie ein Film“ nalsozialistischen Verbrechen. Die Diskussion um das Mahn- mal zeigt, dass es nicht gelingt, moralische Fragen und Überle- gungen aus unserer Gesellschaft einfach und für immer zu ent- sorgen. Dazu bedarf es keiner angeblich hypermoralischen Ge- neration. Die Moral als lästiger Kieselstein im Schuh des Zeit- geistes taucht nicht nur im Ge- wissen der angeblichen Gut- menschen auf, sondern immer dort, wo gesellschaftliche Pro- bleme derart anwachsen, dass sie durch bloßen Pragmatismus allein gar nicht in den Griff zu bekommen sind. Das Gleiche gilt für die Kon- troverse um den Einsatz deut- scher Soldaten im Kosovo. Der Konflikt um den Krieg hat auch verdeutlicht, dass es nicht im- mer eindeutig ist, welche Hand- lungen aus einer moralischen Argumentation folgen: Kriegs-

BILD ZEITUNG gegner wie Befürworter berie- Werbeseite

Werbeseite Titel fen sich gleichermaßen auf die verschiedensten Reli- die moralische Verantwor- gionen und Weltanschau- tung, die aus der deutschen ungen sowie Nichtgläubi- Geschichte erwächst: „Nie ge verständigen können. wieder Auschwitz“ und „Ohne einen solchen klei- „Nie wieder Krieg“ stell- nen minimalen Grundkon- ten einen Widerspruch in- sens über Werte, Normen nerhalb eines moralischen und Haltungen“, so der Diskurses dar. 71-jährige Präsident der Trotz aller Divergenzen Stiftung „Weltethos“, „ist aber hat die Debatte über ein menschenwürdiges den Krieg eindrucksvoll Zusammenleben nicht die Gemeinsamkeiten möglich.“ der Streitenden vorge- Küng will derlei Nor- führt: die besondere Ver- men nicht neu erfinden, er antwortung, die aus der greift vielmehr auf Altbe- Geschichte des National- währtes zurück: auf die sozialismus rührt, anzu- Zehn Gebote der Bibel erkennen und Menschen- und auf die bereits vom rechte auch und gerade in Philosophen Konfuzius im einer globalisierten Welt fünften vorchristlichen zu verteidigen. Jahrhundert bezeugte Gol- Der Kosovo-Krieg, so dene Regel – „Was du pervers es klingt, hat dazu selbst nicht wünschst, das beigetragen, das Gespür tue auch nicht anderen dafür neu zu beleben, dass Menschen an.“ Politik sich nicht nur in Was an Kant orientierte Machtbalance und wert- Philosophen eine „univer- neutralem Kosten-Nutzen- salistische Moral“ nennen, Denken erschöpft. also die Überzeugung, Aufbauend wirkt nicht Normen auch gegenüber zuletzt, dass unter den Angehörigen anderer Kul- jungen Leuten die Suche turen mit allgemeinen nach Sinn und die Bereit- Gründen rechtfertigen zu schaft wächst, sich nicht können, entwickelt Küng nur für das eigene Fort- für die Religionen. Sein kommen und den eigenen Credo: Die in diesen Sit- Spaß am Leben zu enga- tenkatalogen formulierten

gieren. Zwar beschäftigt AP Gebote der Menschlichkeit die Jugendlichen, so ein Johannes Paul II. beim Weltjugendtreffen in Paris (1997): Suche nach Vorbildern sind in allen großen Welt- Mitarbeiter der Shell-Ju- religionen überliefert und gendstudie, der Meinungsforscher Arthur „Ihr hattet es gut“, warf die Tochter ei- tragen auch heute noch. Die Gesellschaft Fischer, vor allem das drohende Gespenst nes Hamburger Journalisten ihrem Vater, muss sie nur annehmen und in ihre jewei- der allgegenwärtigen Arbeitslosigkeit. einem Alt-68er, vor, „ihr hattet Ideale, für lige Situation übersetzen. Doch „unsere Untersuchungen“, so Fi- die ihr kämpfen konntet, wir haben Für den Theologen ist klar, dass die scher, „zeigen deutlich auf, dass die heuti- nichts.“ Mit den überkommenen Institu- Weltreligionen zur Durchsetzung eines ge Jugend durchaus hoch motiviert ist“. tionen verbinden immer weniger Jugend- solchen den Erdball umspannenden Auf der Suche nach Vorbildern orien- liche für sie wichtige Werte. Bei einer Ethos Entscheidendes beitragen können, tiert sich der Nachwuchs nicht unbedingt SPIEGEL-Umfrage konnten erschreckende wenn sie nur wollen. Voraussetzung da- an den Urteilen der Altvorderen. Zum 55 Prozent der männlichen Befragten we- für ist allerdings, dass Muslime, Juden, Welttreffen der Jugend, zu dem das Ober- der in Greenpeace oder Amnesty Inter- Christen, Hindus und Buddhisten sich haupt der katholischen Kirche eingeladen national, geschweige denn in Kirchen, weniger untereinander befehden als viel- hatte, kamen 1997 in Paris über eine Mil- Parteien oder Gewerkschaften ein Vorbild mehr die ihnen gemeinsamen morali- lion Jugendliche aus aller Welt – die mit sehen. 77 Prozent der befragten männli- schen Werte erkennen, vorleben und ver- den Vorstellungen von Johannes Paul II. chen und 73 Prozent der weiblichen jungen künden. über Sexualmoral kaum etwas im Sinn ha- Leute zwischen 14 und 25 Jahren erklär- Friede, Freude, Eierkuchen wird es nach ben, wohl aber von einem Glauben faszi- ten, sie würden sich nicht für gemein- Küngs selbstkritischer Überzeugung auch niert sind, der trotz allem Menschen über nützige Zwecke einsetzen. dann nicht geben – vielleicht aber würde die Grenzen hinweg verbindet und auch Der Theologe Hans Küng glaubt ohnehin bei der weltweiten Umsetzung der Men- heute noch für soziale Gerechtigkeit und fest an die moralische Zukunft der Mensch- schenrechte demnächst größerer Konsens die Würde des Individuums steht. Dass es heit. Er betreibt seit zehn Jahren sein „Pro- herrschen, und vielleicht könnten so im dabei mehr um die universalistische Bot- jekt Weltethos“. Zeitalter der Globalisierung die Kräfte schaft als um die rein christliche Lehre Unter Weltethos versteht Küng das zum über die Länder- und Konfessionsgrenzen geht, zeigt die Verehrung, die auch der Da- Zusammenleben der Menschen notwendi- hinweg gebündelt werden. Es wäre im- lai Lama findet, wo immer er im Westen ge Minimum an gemeinsamen sittlichen merhin ein Anfang. auftritt. Werten, Idealen und Zielen, auf die sich Carolin Emcke, Ulrich Schwarz „Ihr hattet Ideale, für die ihr kämpfen konntet, wir haben nichts“

66 der spiegel 51/1999 Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite Titel

SPIEGEL-GESPRÄCH Leitplanken für die Moral Der katholische Theologe Hans Küng über die Renaissance der sozialen Bewegungen und ein Weltethos im Zeitalter der Globalisierung

SPIEGEL: Herr Professor Küng, eine ganze sich angesammelt hat im Laufe von meh- schüler, noch deine Lehrerin, nur weil du Serie von Skandalen erschüttert die Ge- reren Jahrtausenden Menschheitsge- einen Hass auf die hast. sellschaft. Geht es in Deutschland mit der schichte. Es kann doch nicht gleichgültig SPIEGEL: Aber wie weit gelten diese Regeln Moral unaufhaltsam bergab? sein, was sich sozusagen seit der Mensch- noch? Nehmen Sie den Mord des Schülers Küng: Ich bin nicht der Moralprediger der werdung des Menschen, seit seinem Auf- an seiner Lehrerin in Meißen. Republik. Ich meine, die gegenwärtige Ent- stieg aus dem Tierreich, eingeschliffen hat. Küng: Im Zusammenhang mit der im Prin- wicklung sollte man als ambivalent anse- Es haben sich Regeln herausgebildet, wie zip positiven Säkularisierung, der Plurali- hen. Wir sind weit entfernt vom aufkläre- man miteinander umgeht. Dazu gehört, sierung und der Individualisierung der mo- rischen Optimismus, als ob der wissen- sich nicht gegenseitig physisch zu liquidie- dernen Gesellschaft hat leider auch eine schaftlich-technologische Fortschritt den ren, ehrlich zueinander zu sein, einen ge- Enttabuisierung stattgefunden, die ver- moralischen ganz selbstverständlich zur wissen Respekt vor dem zu haben, was mutlich in der Menschheitsgeschichte ein- Folge hätte.Aber wir sollten auch nicht ins Leute besitzen, und auch die sexuellen Be- zigartig ist. Die Medien haben daran ihren Gegenteil verfallen, dass wir jetzt die ganze ziehungen in irgendeiner Form in geord- Anteil. Wenn Kinder sehen, dass im Fern- Gesellschaft für dekadent halten. Man wird nete Bahnen zu bringen. Das sind alles Re- sehen ständig gemordet wird, dann hat das vermutlich neben jedes negative Phäno- geln, die sich bewährt haben, immer wie- auf viele von ihnen sicher einen großen men auch ein positives setzen können. der überprüft wurden in den Kulturen und Einfluss. Nur: Alle Untersuchungen haben SPIEGEL: Was ist denn das posi- auch ergeben, dass Kinder die tive Pendant zum Parteispen- Fernsehbilder anders aufneh- denskandal? men, wenn sie von zu Hause Küng: Dass solche Skandale heu- moralische Grundregeln mitbe- te weniger denn je hingenom- kommen haben. Wer trägt an men werden und auch dem kindlicher Unmoral die Haupt- mächtigsten Politiker gefährlich schuld? Das ist eine Frage an alle werden können. Institutionen, ob es ihnen über- SPIEGEL: Die Institutionen, die haupt noch gelingt, diese Regeln den Menschen moralische Werte bewusst zu machen. Es ist natür- beigebracht haben, verfallen, die lich auch eine Frage an alle Er- Familien brechen auseinander, wachsenen, die ja mitschuldig der Einfluss von Kirchen oder sind, wenn die junge Generation der Schule nimmt rapide ab.Wo- die nun einmal notwendigen her soll der Einzelne seine ethi- Vorbilder nicht mehr hat. schen Standards noch beziehen? SPIEGEL: Sehen Sie einen ein-

Küng: Manche Soziologen sehen KLINK / ZEITENSPIEGEL T. deutigen Trend nach unten, oder die so genannten moralischen handelt es sich um eine Wellen- Polster, die wir noch besessen Küng bewegung? Gibt es Hoffnung, haben, als weithin verschlissen gehört zu den führenden ökumenischen Theologen des Jahr- dass die Menschen irgendwann an. Ihre einzige Antwort ist hunderts. Der 71-jährige Schweizer, dem der Vatikan 1979 mal wieder „moralischer“ mit- dann: Seine Moral muss jetzt je- wegen angeblich ketzerischer Auffassungen die kirchliche einander umgehen? der selbst kreieren. Ein Großteil Lehrerlaubnis entzog, lehrte bis 1996 an der Universität Tü- Küng: Jede große kulturelle Be- der psychologisch-psychothera- bingen und widmet sich seit seiner Emeritierung vor allem wegung löst irgendwann auch peutischen Literatur setzt alles der „Stiftung Weltethos für interkulturelle und interreligiö- wieder einen Backlash aus. Sehr auf Selbstrealisierung, Selbst- se Forschung, Bildung, Begegnung“, deren Präsident er ist. oft folgte auf eine Zeit des Li- entwurf. Das scheint mir eine bertinismus eine Gegenphase bis oberflächliche Antwort zu sein. leider hin zur Prüderie. Ich sehe Das kann im Einzelfall gelingen. Aber vie- Religionen. Da haben sich einfach durch auch jetzt nicht nur die Zeichen der De- le Menschen sind gar nicht fähig, ohne Erfahrung einige elementare Regeln der kadenz.Wenn Sie die Jugend-Umfragen in irgendwelche Leitplanken ihren Weg zu Menschlichkeit durchgesetzt, auf die sich Ost und West anschauen, wird beispiels- finden. Das Ethos wie ein Rad neu zu er- zu besinnen das Allerklügste ist, was wir weise Treue sehr hoch gehandelt, auch Auf- finden ist eine sehr große Überforderung machen können. richtigkeit. In Amerika ist die Mordziffer des Einzelnen. Er muss auf irgendetwas SPIEGEL: Genau über diese Regeln hat es dramatisch zurückgegangen, ich glaube, zurückgreifen können. immer wieder blutigen Streit gegeben. nicht nur, weil die Polizei effizienter ge- SPIEGEL: Und worauf? Küng: Natürlich hat es über die praktische worden ist. Was freilich abgenommen hat, Küng: Das ergibt sich eigentlich von selbst: Anwendung immer einen enormen Dis- ist die Bindung an Großinstitutionen wie auf das ungeheure Kapital an Weisheit, das sens gegeben. Aber es ist ein großer Un- Kirchen, Parteien oder Gewerkschaften. terschied, ob es Regeln gibt oder nicht, ob SPIEGEL: Im Raum der öffentlichen Moral Das Gespräch führten die Redakteure Martin Doerry, also die Kinder beispielsweise noch wissen, scheint der Egoismus keineswegs wie- Carolin Emcke und Ulrich Schwarz. du sollst nicht morden, weder den Mit- der der Nächstenliebe Platz zu machen.

70 der spiegel 51/1999 FOTOS: GREENPEACE ( GREENPEACE FOTOS: li.); KNA ( re.) Greenpeace-Aktion gegen „Brent Spar“ (1995), Eröffnung der Misereor-Fastenaktion (1999): „Mächtige Gegenkräfte sammeln sich“

In der Wirtschaft hat sich das Motto „Ei- SPIEGEL: In Seattle wurde vor allem deut- rungskonzern Nestlé oder wen auch im- gennutz geht vor Gemeinnutz“ voll durch- lich, dass die einzelnen Staaten ver- mer –, dann wird das sehr unangenehm. gesetzt. gleichsweise machtlos vor den Folgen der SPIEGEL: Den Manager, der auf seine Ak- Küng: Die Ökonomisierung des Lebens ist Globalisierung sind. tionäre schielen muss, beeindruckt das we- neben der Säkularisierung, der Pluralisie- Küng: Das hat aber auch seine andere Sei- nig. Der sagt sich: Wunderbar, deine Rendi- rung und der Individualisierung das vierte te.Wenn heute ein Chemiemulti irgendwo te ist wieder um zwei Prozent geklettert, du Charakteristikum unserer Gesellschaft. Da- in Indien oder in Afrika irgendeine bist auf dem richtigen Weg, auch wenn du mit meine ich, dass mitunter alles nur un- „Schweinerei“ macht, dann löst das auto- zehntausend Arbeitsplätze weggestrichen ter dem Gesichtspunkt des ökonomischen matisch riesige Proteste bei der europäi- hast. Und er bekommt dafür noch Beifall. Nutzens betrachtet und von dort her alles schen Zentrale aus. Dass Shell bei der Küng: Ich glaube nicht, dass auf lange Sicht gerechtfertigt wird, was unter Umständen Entsorgung der Ölplattform „Brent Spar“ ein unmoralisch geführtes Unternehmen völlig unmoralisch ist, solange es nur Pro- eingeknickt ist, hat mit diesen globalen Ge- Zukunftschancen hat. Steigende Aktien- fite bringt. Das reicht von der Vernachläs- genbewegungen zu tun. Das hat sich eben kurse sind dafür ja noch keineswegs eine sigung der sozialen Dimension bei der Glo- auch bei der WTO gezeigt. Garantie. Ein Unternehmen braucht bei- balisierung bis hin zu dem Krebsübel der SPIEGEL: Gibt es also eine Renaissance von spielsweise die Motivation der Arbeitneh- Korruption. sozialen Bewegungen, welche die Schwäche mer. In einem Betrieb zu arbeiten, in dem SPIEGEL: Vernachlässigung der sozialen Di- der Nationalstaaten ausgleichen? Sie nie wissen, wo Sie morgen stehen, ob mension – ist das nicht zu harmlos? Im Küng: Ich würde sagen, dass parallel zur noch drinnen oder draußen, das kann ja System der Globalisierung ist das Wort so- ökonomischen Globalisierung auch eine nicht motivierend wirken. Und jede Firma zial doch gar nicht vorgesehen. Globalisierung solcher Bewegungen statt- braucht auf Dauer einen guten Ruf in der Küng: Genau dagegen sammeln sich mäch- gefunden hat, die man zu wenig beachtet. Öffentlichkeit und auch bei den Banken. tige Gegenkräfte. Bei der WTO-Konferenz Die Gewerkschaften spielen dabei keine SPIEGEL: Herr Küng, Sie plädieren für ein vor vier Wochen in Seattle etwa haben so wichtige Rolle, weil sie zu starr sind. allgemein gültiges Weltethos, um den mo- sich zum ersten Mal in den USA Gewerk- Aber die Umweltbewegung etwa kann ralischen Niedergang der Menschheit zu schaften und Grüne verbündet und das über das Internet ungeheure Massen von stoppen. Wie soll das aussehen? Treffen praktisch gesprengt. Solches wird Menschen mobilisieren. Wenn die einen Küng: Weltethos ist keine neue Ideologie zunehmen. Boykottaufruf machen – gegen den Nah- oder ein Religionsersatz. Weltethos will „Weltethos ist keine neue Ideologie oder ein Religionsersatz“

der spiegel 51/1999 71 Titel nicht eine Einheitsreligion heraufführen, will nicht die religiösen Traditionen der Weltreligionen ersetzen. Es wäre lächer- lich zu meinen, man könnte mit einer Zu- sammenfassung des Ethos die Tora der Juden oder die Bergpredigt oder den Koran ersetzen. Weltethos ist im Grunde sehr realistisch, und bescheiden ist dieses Minimum an ethischen Standards, Werten und Haltungen, die es braucht, damit eine kleine oder größere Gemeinschaft men- schenwürdig zusammenleben kann. SPIEGEL: Inwieweit ist das mehr als die all- gemeine Erklärung der Menschenrechte und die Flüchtlingskonventionen? Küng: Die Menschenrechte in sich enthal- ten natürlich schon Ethos, insofern jedem Recht auch eine Pflicht entspricht. Aber genau das hat man zu wenig beachtet, dass sich schon direkt aus der Würde des Men- schen auch Verantwortlichkeiten ergeben. Beispielsweise ist Wahrhaftigkeit kein ir- gendwie einklagbares Recht. Ich bin nicht unbedingt verpflichtet, Ihnen die Wahrheit zu sagen, vor allem dann nicht, wenn es für mich unangenehm ist. Aber Wahrhaftig- keit ist eine moralische Pflicht. Weltethos enthält sowohl die legalen Pflichten, die mit den Rechten gegeben sind, wie auch die im strengen Sinn sittlichen Pflichten Protest gegen WTO-Konferenz (in Seattle): „Die Umweltbewegung kann über Internet Massen wie Humanität, Wahrhaftigkeit, Fairness, also das alles, was sich unter Umständen akzeptiert werden. Es wäre vermessen, rern veranstalten, auf dem die Rolle der rechtlich gar nicht vorschreiben und über- wenn man nicht neben den religiösen auch Religion für den Frieden und das Zusam- prüfen lässt, sondern aus dem Gewissen, die ethischen Traditionen der Menschheit menleben der Völker thematisiert werden aus der eigenen inneren Überzeugung aufgreifen würde, die wir ja alle irgendwo soll. Solches und Ähnliches sind Hoff- kommt. noch mitbekommen haben, die den The- nungsschimmer. SPIEGEL: Sie wollen ein Weltethos, dass für saurus, den Schatz der Menschheit, aus- SPIEGEL: Noch mal das Stichwort Toleranz. Gläubige und Nichtgläubige gilt. Woraus machen. Zu diesem Schatz gehört etwa die Davon scheint derzeit bei den uns nahe legitimiert sich denn ein solches Ethos? goldene Regel: „Was du nicht willst, das stehenden Religionen – Judentum, Chris- man dir tu, das füg auch keinem andern tentum und Islam – wenig zu spüren, we- zu.“ Diese Regel gibt es in allen großen der beim Papst noch bei Katholiken, Or- ethischen Traditionen. thodoxen und Muslimen auf dem Balkan, SPIEGEL: Ein Sesam-öffne-Dich der Moral? noch beim Umgang der Israelis mit den Küng: Jedenfalls eine praktikable Regel für Palästinensern. Ist Ihr „Projekt Weltethos“ jedes Büro, jede Schule …! Ja, es macht nicht eine liberale, westlich geprägte Uto- Sinn, auf die großen Traditionen zurück- pie, die schon in Rom nicht mehr gilt, ge- zugehen. schweige denn in Jerusalem oder Teheran? SPIEGEL: Aber verstoßen nicht gerade die- Küng: Natürlich sind die Vorstellungen von jenigen, die sich zur Religion bekennen, Toleranz jeweils anders eingefärbt, aber gegen diese goldene Regel häufiger als Toleranz gehört in den meisten Religionen jene, die Ihnen eigentlich schon längst von zu den Essentials. Gerade dies ruft die Er- der Fahne gegangen sind? Es gibt in allen klärung zum Weltethos des Parlaments der

C. PILLITZ / NETWORK / AGENTUR FOCUSC. PILLITZ / NETWORK AGENTUR Weltreligionen militante Flügel, extreme Weltreligionen 1993 und jetzt in Kapstadt Buddhistische Mönche in Tibet Strömungen, die das Gebot der Toleranz, 1999 ins Gedächtnis. „Gemeinsamer Schatz der Menschheit“ das in der goldenen Regel inbegriffen ist, SPIEGEL: Nehmen Sie nur Ihr eigenes Kir- fortwährend verletzen. chenoberhaupt, den Papst. Wie überzeuge ich jemanden, dass er nicht Küng: Ich würde dem zustimmen, allerdings Küng: Ich selbst bin nicht gerade ein An- lügen darf, auch wenn die Wahrheit zu sa- nicht, wenn Sie damit meinen, die säkula- schauungsbeispiel für die Toleranz des Paps- gen ihm schadet? re Welt ist ja prima, wären nur die Reli- tes. Das ist richtig. Dass er weithin wieder Küng: Es ist richtig, dass eine religiös fun- gionen besser. Sie sprechen mit Recht von ein autoritäres System aufgerichtet hat, das dierte Ethik es viel leichter hat, Begrün- fanatischen Flügeln. Die Fundamentalisten lässt sich auch nicht bestreiten. Aber man dungen zu liefern. Trotzdem können wir ja sind aber nicht das Ganze einer Religion. kann nicht sagen, Johannes Paul II. wäre nicht das Ethos nur für die beanspruchen, Hunderte Millionen von Gläubigen möch- prinzipiell gegen Toleranz. Toleranz prakti- die gottgläubig sind.Wenn ein Ethos über- ten heute schon, dass Religion friedlich ge- ziert er leider nicht in der eigenen Kirche. haupt einen Zusammenhalt in der Gesell- lebt wird. Die Uno will im Jahr 2000 einen SPIEGEL: Und trotzdem glauben Sie, die schaft geben soll, dann muss es von allen Gipfel von religiösen und geistigen Füh- Kirchen tragen Ihr Weltethos mit? „Ich meine, dass sich Effizienz und Ethik nicht ausschließen“

72 der spiegel 51/1999 Küng: Mir geht es um ei- nen langfristigen Bewusst- seinswandel. Und da bin ich optimistisch. Der Welt- rat der Kirchen hat bei- spielsweise auf seiner Vollversammlung im De- zember 1998 in Harare zum ersten Mal die Be- deutung eines globalen Ethos bekräftigt. Das liegt nicht auf der Linie der christlichen Fundamenta- listen. SPIEGEL: Herr Küng, Sie sind überzeugt, dass nicht der Stärkste überleben wird, sondern der Mora- list? Küng: Ich meine, dass sich Effizienz und Ethik nicht ausschließen. Ich bin der Meinung, dass ein Unter- nehmer, ein Politiker oder ein Religionsführer sich auszeichnen muss durch Effizienz. Aber wenn er nur effizient ist und mo-

REUTERS ralisch in Misskredit mobilisieren“ kommt, geht unter Um- ständen ganz viel Kredit auf einmal verloren. Insofern ist langfristig der, der im Beruf oder im Job gut ist und sich zugleich ethisch verhält, doch wohl der Erfolgreichste. SPIEGEL: Siehe Helmut Kohl. Küng: Skandale haben oft eine reinigende Wirkung. Ich bin überzeugt, dass die CDU aus den gegenwärtigen Turbulenzen geläu- tert hervorgehen wird, wenn sie überleben will. Sonst droht ihr dasselbe Schicksal wie vor sechs Jahren der Democrazia Cristia- na in Italien. SPIEGEL: Sie gehen offenbar von einer funk- tionierenden Öffentlichkeit aus … Küng: … solange es den SPIEGEL gibt, würde ich das doch nicht bestreiten wollen. SPIEGEL: Wir haben aber den Eindruck, als seien die Bürger durch die Häufung der Skandale abgestumpft. Küng: Sie können ja nicht immer dieselbe Betroffenheitsrhetorik entwickeln, die geht den Leuten auf die Nerven. Ich glaube nicht, dass die Sensibilität abgenommen hat. Bei den nächsten Wahlen wird es sich zeigen. Mit Moral allein allerdings kann man keine Wahlen gewinnen. SPIEGEL: Aber sie hilft? Küng: Sie hilft beträchtlich. Doch es langt nicht, wenn einer ein ehrlicher Typ ist, aber sonst ein Dummkopf. SPIEGEL: Dann lieber umgekehrt? Küng: Ja, die große Mystikerin Theresa von Avila hat gesagt: Wenn sie schon vor die Wahl gestellt sei, einen nur klugen oder nur heiligmäßigen Beichtvater zu wählen, würde sie einen klugen wählen. SPIEGEL: Herr Küng, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

der spiegel 51/1999 Werbeseite

Werbeseite Trends Wirtschaft

ABFINDUNGEN Kein Geld für Littmann? ie Chancen auf eine millionen- Dschwere Abfindung stehen schlecht für Peter Littmann, der im Oktober sei- nen Job als Vorstandschef der Wünsche AG verlor. Der Manager hatte 1997 ei- nen Fünf-Jahres-Vertrag abgeschlossen, der mit 3,6 Millionen Mark jährlich do- tiert war; wichtigste Amtshandlung Litt- manns war der Kauf der Marke Joop. Sein Anwalt Klaus Landry klagt zu- nächst auf Weiterzahlung von 300000 Mark Monatsgehalt bis Ende 2000, doch der Wünsche-Aufsichtsrat will offenbar keine Mark herausrücken. In der Buch- M. DARCHINGER haltung wurden Spesenabrechnungen Mehdorn (auf dem Bundespresseball in Berlin) gesucht und gefunden, die Littmann zum Verhängnis werden könnten. So DEUTSCHE BAHN soll er auf Wünsche-Kosten nach Kana- da geflogen sein, wo er sich um die Be- lange einer fremden Firma kümmerte – Aufbruchstimmung nach Plan als Verwaltungsratsmitglied der Schuh- fabrik Bata. Littmann will sich dazu nicht äußern. „Es ist noch zu früh, um ahnchef Hartmut Mehdorn, der am bessern ließe: „Erfolgsstorys“ müssten über diese Dinge zu reden“, er streitet BDonnerstag sein Amt antrat, will her. Dabei wird ihm Dieter Hünerkoch weiter für eine Abfindung und schreibt nach einem „Aktionsplan für die ersten helfen, derzeit noch Ressortleiter beim nebenbei ein Buch über virtuelle Unter- 100 Tage“ arbeiten. Schlagwortartig will „Stern“ und von Mehdorn mit Bezü- nehmen. Geplanter Titel: „Oszillodox“. der Ex-Chef der Heidelberger Druck- gen auf Vorstandsniveau gelockt. Zu den maschinen AG mit „Kernbotschaften“ Erfolgsstorys, die Hünerkoch verkaufen alle Zielgruppen informieren, unter an- muss, gehört vor allem eine „medien- deren Politik, Mitarbeiter und Öffent- aktive Positionierung des Vorstandsvor- lichkeit. Wie seine Vorgänger will Meh- sitzenden“. Schon an seinem ersten Ar- dorn für mehr Pünktlichkeit sorgen und beitstag bat Mehdorn zu einem Foto- die „Pannenmisere“ bekämpfen. Dann termin um 9 Uhr in sein Frankfurter möchte er in dem schwerfälligen Appa- Büro, dann durften ihn die Fotografen rat „Aufbruchstimmung“ verbreiten. auf dem Weg zur S-Bahn und im Haupt- Das ramponierte Image will er aufpo- bahnhof fotografieren. Auch über die lieren „bis hin zum regionalen Stamm- kommenden Jahre hat sich Mehdorn tisch“. Die knapp 250000 Beschäftigten schon Gedanken gemacht. Bis zum Jahr sollen bald verkünden können: „Wir 2003 soll die Bahn „finanziell unabhän- sind stolz auf die Bahn“, heißt es in dem gig sein“, wichtigstes Ziel ist ein „erfolg- internen Plan. Solche Ideen sind nicht reicher Börsengang“. Seine Vision für gerade neu in dem Staatsbetrieb; etwas die Analysten: Die Deutsche Bahn AG origineller sind da Mehdorns Vorschlä- soll als „das führende Bahnunterneh-

DPA ge, wie sich das Image der Bahn ver- men in Europa“ präsentiert werden. Littmann, Joop

DIPLOMATEN gekauft“, sagt Botschaftsrat Charalambos Rousos über die Empfänger seines Werbe- Botschaft briefes – ein unter Diplomaten in Deutschland wohl einmaliger Vorgang. als Weinhandel Die geschäftstüchtigen Zyprioten halten sich denn in der Werbung auch kaum an ass-Angelegenheiten lasten die die diskreten Gepflogenheiten ihres Ge- PDiplomaten der Botschaft von werbes: „Süße, köstliche Weißweine“ Zypern offenbar nicht aus – die Vertreter werden da gepriesen, der Käse Halloumi der Mittelmeerinsel in Deutschland als „Tausendsassa unter den Käsen dieser haben sich jetzt auch auf den Lebensmit- Welt“ gelobt. 500 Bestellungen sind seit telhandel verlegt. Wein und Käse Beginn der Aktion vor einem Monat in können Zypern-Fans direkt bei der Han- der Botschaft eingegangen. delsabteilung der Botschaft in Köln

bestellen. „Die Adressen haben wir uns BILDERBERG Schafe auf Zypern 75 Trends

REGIERUNG UNTERNEHMENSKONTROLLE Frührente light Prüfer überprüfen m Arbeitgeber und Gewerkschaften Uim Streit um die Rente mit 60 doch noch zu einer Einigung zu bewegen, will Qualitätskontrolle unterziehen müssen die Bundesregierung das Altersteilzeit- Umsatzerlöse deutscher – so eine geplante Neufassung der Wirt- gesetz reformieren. Diese Zusage mach- Wirtschaftsprüfer 1998 schaftsprüfer-Ordnung aus Müllers Mi- te Bundeskanzler Gerhard Schröder bei in Milliarden Mark nisterium. Nach amerikanischem Vor- der letzten Sitzung im Bündnis für Ar- bild (Peer-Review-System) will Müller beit. Die Regierung werde entsprechen- PwC DEUTSCHE REVISION 1,8 die Prüfung der Prüfer besonders qua- de „beschäftigungswirksame Verände- KPMG 1,6 lifizierten Vertretern des Fachs über- rungen auf den Gesetzgebungsweg brin- tragen. Sie sollen nicht nur die WP-Ge- gen“, heißt es in einem Kompromisspa- SCHITAG ERNST & YOUNG 0,8 sellschaften als Ganzes durchleuchten, pier, das Schröder der Runde vorlegte. sondern auch einzelnen Aufträgen Mit dem Vorhaben will er die heutigen ARTHUR ANDERSEN GmbH 0,4 nachgehen. Für Fehlverhalten ist ein Möglichkeiten erweitern, vorzeitig in empfindlicher Strafkatalog vorgesehen den Ruhestand zu wechseln. Derzeit WEDIT GmbH 0,4 bis hin zum Widerruf der öffentlichen müssen Arbeitnehmer wenigstens zwei BDO DEUTSCHE WAREN TREUHAND 0,3 Bestellung als Wirtschaftsprüfer oder Jahre in Teilzeit arbeiten, wenn sie da- der Anerkennung als WP-Gesellschaft. nach mit 60 in Rente gehen wollen. Quelle: Institut für Wirtschaftsprüfung Damit die Prüfer der Prüfer nicht zu Während der Teilzeitphase stockt die nachsichtig mit den Kollegen umgehen, Bundesanstalt für Arbeit das halbe Net- ach Bilanzskandalen wie jüngst will der Wirtschaftsminister sein System togehalt auf 70 Prozent und die Renten- Nbeim Baukonzern Philipp Holz- zusätzlich von einer Kontrollinstanz beiträge auf 90 Prozent auf. Nun ist im mann will Bundeswirtschaftsminister überwachen lassen. Diesem Gremium Gespräch, den Förderbeitrag zu erhöhen Werner Müller jetzt die Unterneh- sollen „vom Berufsstand der Wirt- und die Mindestdauer der Teilzeitphase menskontrolle verbessern. Alle Wirt- schaftsprüfer unabhängige, qualifizier- auf ein Jahr zu verkürzen. Das würde schaftsprüfer (WP), die für gesetzliche te, integre und von der Öffentlichkeit den Kreis der Berechtigten erweitern Abschlussprüfungen zugelassen sind, akzeptierte Persönlichkeiten“ (Entwurf sollen sich künftig alle drei Jahre einer der Novelle) angehören.

WEIHNACHTSMÄRKTE die Kölner einen Anstieg der Übernach- tungen aus England auf knapp 18000 – Die Briten kommen ein Plus von rund 45 Prozent; jetzt sol- len es noch mehr werden. An den Ad- eutsche Weihnachtsmärkte erleben ventswochenenden drängen bis zu 900

Deinen Ansturm britischer Touristen – britische Reisebusse in die Stadt. Die M. URBAN die Pfundstärke macht die kurzen Shop- „Times“ lobt die „kerzenbeleuchteten Schulte, Schröder ping-Trips besonders attraktiv. Englische Märkte“ als Alternative zum sonst übli- Busunternehmen bieten etwa Köln (An- chen Weihnachtsrummel und empfiehlt und die Altersteilzeit attraktiver ma- reise und drei Übernachtungen) für rund „Rauschgoldengels“ und „Fruchtebrot“. chen, die bislang nur rund 70 000 Be- 300 Mark. Billigtrips gibt es auch nach Allerdings werben die Kölner auch da- schäftigte nutzen. Mit dieser Reform Nürnberg, und Leipzig. Schon in mit, dass ihr Bier nur halb so teuer ist hoffen Schröder und die Arbeitgeber, der vorigen Weihnachtssaison erlebten wie in England. DGB-Chef Dieter Schulte und seine Ge- werkschaften im Streit um den vorgezo- Christkindlesmarkt in Nürnberg genen Ruhestand zum Einlenken bewe- gen zu können. Tatsächlich führt das nun diskutierte Modell nämlich zu einer Art Rente mit 60 light. Experten wie der Darmstädter Finanzwissenschaftler Bert Rürup, zugleich Rentenberater von Ar- beitsminister Walter Riester, halten eine erweiterte Altersteilzeit allerdings für „den falschen Weg“. Der Plan wäre le- diglich ein neuer Versuch, so Rürup, „Beschäftigungsprobleme durch die Umverteilung von Arbeit zu lösen“. Vor allem aber bringt das Vorhaben neue Lasten für die Sozialkassen und damit steigende Lohnnebenkosten – ein Ef- fekt, der im Widerspruch zur Ankündi-

ACTION PRESS ACTION gung von Rot-Grün steht. Geld

INTERNET-AKTIEN General Motors mit speziellen Computerprogrammen helfen, ihr Geschäft ins Internet zu verlegen. VerticalNet und Free- Neuer Boom mit B2B? market veranstalten Online-Auktionen für so grundsolide Ma- terialien wie Steinsalz oder gedruckte Schaltkreise, Chemdex agemutige Spekulanten an der Wall Street haben in den verkauft oder vermittelt Chemikalien und Laborausrüstungen. Wvergangenen Monaten die Aktien von einigen neuartigen Trotz des starken Wachstums – Umsatzzuwächse von bis zu 50 Software-Firmen entdeckt. Sie heißen Ariba und Commerce- Prozent alle drei Monate sind üblich – warnen viele Wall- One,VerticalNet, Chemdex oder Freemarket und organisieren Street-Analysten derzeit vor dem Kauf dieser Papiere und elektronische Marktplätze für große Industrieunternehmen im empfehlen, den nächsten Kurseinbruch abzuwarten. Com- Internet. Das so genannte Business-to-Business-Geschäft, kurz merceOne etwa hat einen Marktwert von 10 Milliarden Dollar B2B genannt, verheißt Wachstumsraten im Rekordtempo: Von – bei 17 Millionen Dollar Umsatz in den vergangenen neun Mo- knapp 110 Milliarden Dollar in diesem Jahr soll der B2B-Ge- naten. Die Verluste sind mit 35 Millionen Dollar doppelt so samtumsatz nach einer Prognose der Marktforscher von For- groß. Konkurrent Freemarket ging in der vergangenen Woche rester Research auf 1,3 Billionen Dollar im Jahr 2003 ansteigen an die Börse und war auf einen Schlag 9,5 Milliarden Dollar – elfmal mehr, als das private Kundengeschäft von Online- wert – bei einem Umsatz von 7,8 Millionen Dollar. Ähnlich Händlern wie beispielsweise Amazon und CDnow dann aus- sehen die Zahlen bei den anderen Firmen aus. „Die Bewer- machen wird. Ariba und CommerceOne gehören zu ein paar tungen sind absurd“, sagt Bill Schaff, Fondsmanager des Infor- dutzend Firmen, die Weltkonzernen wie MCI Worldcom oder mation Tech 100 Fund in New York.

ANLAGE-STRATEGIE NEUEMISSIONEN Gewinne mit Verlusten Spielhölle Frankfurt ktienbesitzer sollten sich zum Jah- er Erfolg des Neuen Marktes zog den jeweiligen Marktführern in ihrem Aresende ihre Depot-Transaktionen D1999 bereits 141 Unternehmen an Bereich wie der Internet-Agentur Pixel- genau ansehen. Denn möglicherweise die Börse. Manche Werte verdoppelten park oder der Biotechnologiefirma lassen sich durch geschickte Verkäufe und verdreifachten sich innerhalb weni- Qiagen besser aufgehoben. Auch im Steuern sparen. Das gilt vor allem für ger Tage. Aber es gab auch, gerade nächsten Jahr werden mehr als jene Anteilseigner, die Wertpapiere ge- im Internet-Sektor, drastische 100 Neuemissionen erwar- kauft und binnen eines Jahres mit einem Kursstürze. „Eine Spiel- tet. Siemens will für Gewinn von über 1000 Mark verkauft hölle ist dagegen die Halbleitertoch- haben. Denn diese so genannten Spe- noch harmlos“, ur- VCL Film +505,9 ter Infineon etwa kulationsgewinne müssen voll versteuert teilt der Frankfurter MWG Biotech +396,1 zehn Milliarden werden, sie können aber mit Spekula- „Börsenbrief“- Adva +387,2 Mark am Kapital- tionsverlusten gegengerechnet werden. Schreiber Egbert Pixelpark +377,3 markt eintreiben. „Wer vor allem ohnehin überlegt, seine Prior. Thomas Teetz, Parsytec +316,7 Aber auch der Verlustpapiere abzustoßen, sollte das Leiter der Aktien- Luftschiffhersteller möglicherweise noch in diesem Jahr analyse beim Bank- Die besten und schlechtesten Cargolifter oder tun“, sagt der Dresdner Steuerrechtler haus HSBC Trinkaus Neuemissionen 1999 in Deutschland kleine Firmen wie Ingo Heinlin. Voraussetzung dafür ist & Burkhardt, warnt Veränderung gegenüber dem ersten Kurs Comtelco, Visio- in Prozent allerdings, dass der betreffende Wertpa- davor, „auf zurück- nix, Arndt Auto- pierbesitzer in diesem Jahr tatsächlich gebliebene Pferde zu German Brokers – 64,3 vermietung und Spekulationsgewinne eingefahren hat. setzen“. Bald werde Foris Bet. – 64,9 mehrere Biotech- Ist das nicht der Fall, braucht der Anle- eine große Bereini- Wizcom – 68,5 nologiefirmen stre- ger vor einem Verlustverkauf trotzdem gung bei den Neuen- Primacom – 69,3 ben an die Börse. nicht zurückzuschrecken. Denn seit die- Markt-Werten durch Artnet.com – 80,4 „Die Qualität der sem Jahr können Verluste, sofern sie Pleiten oder Über- Neuemissionen nicht gegengerechnet werden, beliebig nahmen einsetzen. Quelle: www.Boersen-Zeitung.de wird eher zuneh- lange fortgeschrieben werden. Aktionäre seien bei Stand: 14. Dezember men“, hofft Teetz.

der spiegel 51/1999 77 British-Airways-Maschinen in Heathrow, BA-Chef Ayling (mit Stewardessen): „Jeder muss sich fragen lassen, ob er für das Unternehmen noch

LUFTFAHRT Böser Absturz Die einstige Vorzeige-Fluggesellschaft British Airways ist abgeschmiert. Das konsequente Kappen der Kosten ging zu Lasten der Qualität: Die Passagiere flüchten. Nun will der British- Airways-Chef den bisherigen Massencarrier zur Luxusairline umbauen – eine Verzweiflungstat.

elbstbewusstsein zeigen, Führungs- en will, gilt den internationalen Investo- willen demonstrieren, nur keine Mü- ren als Gruselidee. Nur einst könnte dem Airline in Turbulenzen Sdigkeit erkennen lassen, gerade wenn Kurs neue Hoffnung verleihen: der zacki- Gewinn, Umsatz, Mitarbeiter es schlecht läuft. Das war die Devise von ge Abgang des Flugkapitäns. bei British Airways British-Airways-Chef Bob Ayling, 53, im Dabei begann alles so schön. Für das Sommer dieses Jahres: „Ich arbeite bis 60, Geschäftsjahr 1996/97, nur ein Jahr nach 395 ich peile nicht den vorgezogenen Ruhe- Aylings Amtsantritt, wies die Bilanz einen Gewinn nach Steuern stand an“, tönte er damals. Gewinn von 550 Millionen Pfund (1,5 Mil- in Millionen £ Mittlerweile klingt der Boss der Flug- liarden Mark) aus. Das war europäische 1£=3,14 Mark linie deutlich gedämpfter. Die Pose des Spitzenleistung. Dez. 1999 Nachdenklichen ist offenbar nun angesagt. Andere orientierten sich an dem Er- „Jeder Einzelne von uns muss sich fragen folgsmenschen, der seine Laufbahn als lassen, ob er für dass Unternehmen noch Rechtsanwalt begonnen hatte und unter Gewinn bringend ist“, sagte er jüngst. Und Margaret Thatcher zum Unterstaatsse- fügte hinzu: „Das gilt auch für mich.“ kretär im Handelsministerium aufstieg. Die Luft ist dünn geworden für jenen Wollte Lufthansa-Chef Jürgen Weber in 178 Mann, der einst als Vorzeigemanager in seinem Unternehmen unpopuläre Spar- der Luftfahrtindustrie galt. Die Branche maßnahmen durchsetzen, hielt er der Be- 95 rechnet fest damit, dass die größte euro- legschaft gern den geschäftstüchtigen 0 päische Fluggesellschaft im aktuellen Ge- Ayling vor. 1990/91 1991/92 1992/93 schäftsjahr fast 250 Millionen Pfund (rund Die BA kontrollierte ihre Kosten fast 750 Millionen Mark) Verlust einfliegt. Der noch penibler als ihre Flugzeuge, das im- Börsenkurs fiel seit dem Höchststand im ponierte Weber ungemein. „Schaut euch Frühjahr 1997 um rund 50 Prozent, das die Briten an“, ermunterte er seine Füh- Kürzel BA steht mittlerweile für „böser rungskräfte immer wieder. Für ihn war Umsatz in Milliarden £ Absturz“. Ayling ein starker Typ. Die Aktie, die Firma, der Boss – nichts Der Brite langte in der Tat kräftig hin: 4,94 5,22 5,57 kann den Kapitalmarkt derzeit überzeu- Über 1000 Jobs fielen weg, hunderte wei- Mitarbeiter gen. Die Zukunftsvision von Ayling, der tere Stellen sollen noch folgen, inklusive 54427 50409 48960 British Airways zum Luxuscarrier umbau- 300 Posten im Management. Zusätzlich zu

78 der spiegel 51/1999 Wirtschaft

Die Kundschaft erwartet neue Flugzeu- malen, um der Airline ein weltoffenes ge auf höchstem Sicherheitsstandard, fröh- Image zu verleihen. Seine britischen liche oder zumindest doch freundliche Ste- Landsleute waren not amused. Die Aktion wardessen sind unverzichtbar, die Unsitte musste gestoppt werden, und die heraus- des planmäßigen Überbuchens graust je- ragenden Flugzeugteile wurden wieder den Geschäftsmann. einheitlich mit einer leicht modernisierten Hinzu kommt: Im internationalen Rei- Nationalflagge versehen. Kostenpunkt: severkehr kann nur bestehen, wer über rund 120 Millionen Pfund. viele Kooperationspartner verfügt. Auf- Fehler 4: British Airways verfügt bis heu- einander abgestimmte Flugpläne und te nicht über eine wirkungsvolle Luftfahrt- Gepäck, das sich zum Zielort durch- allianz. Im Vergleich zu Webers weltweiter checken lässt, sind die heutigen Standards. Star Alliance wirkt Aylings Oneworld im- Der Kunde erwartet ein einziges Ticket für mer noch zweitklassig. In der Asien-Pazi- seine Reise, auch wenn er dreimal die Flug- fik-Region konnte die Lufthansa gleich vier linie wechseln muss. Code-Sharing lautet schwergewichtige Partner binden. BA hat das Zauberwort der Branche. mit Cathay Pacific aus Hongkong und der Bei British Airways wurde diese Erwar- australischen Qantas bisher nur zwei. tungshaltung zu häufig, Kritiker meinen Fehler 5: Die Partnerschaft mit Ameri- fast planmäßig, enttäuscht. „Ayling hat so can Airlines, einst geplant für mehr ziemlich alle Fehler gemacht, die man im Reisekomfort auf der wichtigen Nord- Airline-Business begehen kann“, sagt ein atlantik-Route, ist bis heute blockiert. Der hoher Lufthansa-Manager heute. Zweierbund darf immer noch keine Code-

BULLS PRESS BULLS Fehler 1: Der energische BA-Boss ver- Share-Flüge anbieten. Die US-Kartell- Gewinn bringend ist“ kaufte alle wichtigen Dienstleistungen behörden wollen die Kooperation nur dann rund ums Fliegen, zum Beispiel das Cate- genehmigen, wenn Ayling auf den Londo- einem 1996 begonnenen Sparprogramm, ring. Die Kosten sanken – und die Qualität ner Flughäfen Heathrow und Gatwick rund mit dem die Kosten immerhin schon um gleich mit. 300 Start- und Landerechte (Slots) für die eine Milliarde Pfund gedrückt wurden, Fehler 2: Ayling setzte Lohnkürzungen Konkurrenz freigibt. müssen in diesem Jahr weitere 700 Mil- auch gegen den Widerstand der Beschäf- Doch der BA-Boss weigert sich, die be- lionen Mark weniger ausgegeben werden, tigten durch. Vor zwei Jahren provozierte gehrten Slots abzugeben. 17 Millionen Pas- so das Diktat des Vorstands. er einen dreitägigen Streik des Kabinen- sagiere fliegen jährlich von Heathrow in Nur eines hat der starke Typ übersehen: personals, der das Unternehmen rund 350 die USA, 37 Prozent der Start- und Lan- die Fluggäste und ihre Interessen. Millionen Mark kostete. Die Stimmung in derechte hält BA, und das soll auch so blei- Denn vom Costcutting lässt sich ein der Flugfirma ist bis heute ziemlich ange- ben. „Den Anteil werde ich verteidigen“, Analyst, aber kein Passagier beeindrucken. spannt. schwört Ayling. Billige Tickets sind erwünscht, und gleich- Fehler 3: Die dezenten blau-grau-roten Nur die Passagiere gingen ihm derweil zeitig darf es bei der Bordverpflegung an Leitwerke seiner Maschinen ließ er im glei- von Bord. Die alte Monopolstellung, die nichts fehlen. chen Jahr mit bunten Ethno-Mustern be- Ayling mit seiner sturen Haltung zemen- tieren wollte, ist längst aufgeweicht. Transferpassagiere vom europäischen 550 Festland haben durch die Luftfahrt-Dere- gulierung der EU immer mehr Möglich- TONY STONE TONY 473 keiten, um den Globus zu jetten. Acht Air- 447 lines bieten dem USA-Reisenden, zum Bei- spiel vom italienischen Bologna aus, ihre Dienste an; auf sieben Drehkreuzen – etwa über Paris, Amsterdam oder Frankfurt – 800 lässt sich der Heimatflughafen von British 286 Aktienkurs Airways heute schon leicht umfliegen. 700 in £ 206 Konkurrenz droht auch im eigenen 600 Land: Die zweitgrößte britische Fluglinie 250 500 British Midland, die über 165 Slots in 400 Heathrow verfügt, schließt sich im kom- 300 menden Jahr der Star Alliance an. Die 1995 1997 1999 Lufthansa will sich mit 20 Prozent an dem neuen Bündnispartner direkt beteiligen – und attackiert vielleicht dann erstmals in London. 1993/94 1994/95 1995/96 1996/97 1997/98 1998/99 2000 Anfang Dezember löste die Star Alliance auch noch die Canadian Airlines aus dem Oneworld-Verbund von Ayling. Der einstige Partner der BA ging verloren, weil Canadian Airlines von Air Canada ge- schluckt wurde. Und die wiederum ist Mit- glied im Bündnis der Lufthansa. 6,30 7,18 7,76 8,36 8,64 8,92 Aylings Prognose, dass schon bald Quelle: Geschäftsberichte, Economist, FAZ –250 echte Fusionen die Luftallianzen ablösen 49628 53060 55296 58210 60675 63779 Prognose werden, führt die Konkurrenz auf ihrem nationalen Terrain schon mal vor.Auch

der spiegel 51/1999 79 Wirtschaft mit seiner kostspieligen Expansionsstrate- deln können. Bisher war dieser Komfort gie hatte Ayling keine Fortune. Weil die ein Privileg der First-Class-Kunden. Briten den Ehrgeiz besaßen, Konkurrenten Er sei sich absolut sicher, „dass es in Eu- wie Lufthansa oder Air France auf deren ropa den Markt für ein Premium-Produkt Heimatmärkten anzugreifen, kauften oder gibt“, verkündet Ayling. Stand bisher der gründeten sie dort eigene Firmen, wie den Massenbetrieb mit günstigen Tarifen im französischen Ableger Air Liberté und die Vordergrund (BA-Werbeslogan: „Together Deutsche BA. we cover the world“), soll nun der Vorstoß Beide Firmen fliegen seither nur Ver- ins begrenzte Luxussegment gelingen. luste ein. Besserung ist nicht in Sicht – trotz Doch woher soll eigentlich die neue zah- eines rigiden Kostenmanagements. lungskräftige Kundschaft kommen? Wer- Die Piloten der Deutschen BA verdie- den die Firmen es ihren Angestellten wirk- nen rund ein Viertel weniger als ihre Luft- lich erlauben, den angebotenen Komfort hansa-Kollegen und müssen deutlich länger zu nutzen? Kann British Airways tatsäch- arbeiten. Von Tarifverträgen, wie sie bei lich privat zahlende Reisende von dem ge- allen größeren Liniengesellschaften üblich botenen Mehrwert überzeugen? sind, können die deutschen BA-Angestell- Schon die aktuellen Flugpreise erschei- ten nur träumen. nen den meisten Firmen zu hoch. Ameri- Auch bei den Stewardessen wird ge- can Express veröffentlicht vierteljährlich knapst. Wer es schafft, seinen Zweijahres- einen Corporate Travel Index mit Progno- vertrag verlängert zu bekommen, kann es sen unter anderem über die Flugkosten- bei der Deutschen BA in der Endstufe ge- Entwicklung. Demnach stiegen die Ticket- rade mal auf 3652 Mark im Monat bringen. preise für die Erste und die Business-Klasse Altgediente Stewardessen bei der Luft- in den vergangenen zwei Jahren weltweit hansa verdienen fast doppelt so viel. Und trotzdem fliegt das Un- ternehmen nach wie vor Ver- lust ein.Wie hoch der ausfällt, weiß kaum jemand. Die Ma- nager weigerten sich bisher, ihren Jahresabschluss beim zu- ständigen Amtsgericht zu hin- terlegen, wie es in Deutsch- land vorgeschrieben ist. Auch einen Aufsichtsrat gibt es bei der Deutschen BA nicht. „Wir haben einen Beirat aus hoch qualifizierten Fachleuten“,

meint der neue Deutschland- VARIO-PRESS Chef Adrian Hunt, „das reicht.“ BA-Konkurrent Weber: „Schaut euch die Briten an“ Lange werden sich die Briten ihre Geheimniskrämerei nicht mehr leisten um durchschnittlich neun Prozent – und können. Immer mehr Analysten und Ak- die Preise werden weiter klettern. „Die tionäre fordern detailliertere Informationen, Firmen haben die Grenzen dessen, was sie sie wollen endlich beurteilen, wie es tatsäch- bereit sind zu zahlen, erreicht“, so das Fa- lich um die einstige Spitzen-Airline steht. zit der aktuellen Studie. Der renommierte Londoner „Econo- So sehen es auch die Analysten. „Ein mist“ hat da eine klare Meinung. „Der verzwicktes Vorhaben“, urteilt Richard Kern ist ganz schön morsch“, schrieb das Hannah, Luftfahrtanalyst bei der Deut- Blatt kurz und vernichtend. schen Bank, über die BA-Pläne. Guy Kek- Tatenlos will Ayling dem Niedergang der wick von Goldman Sachs in London fragt Flugfirma natürlich nicht zuschauen. Eine sich, ob das Management die Folgen seiner neue, verwegene Strategie soll nun die Ge- Entscheidungen überhaupt durchdacht hat. sundung bringen. Seine Zweifel kommen fast schon einem Ayling will den bisherigen Massencarrier Todesurteil gleich: „Aylings Devise hieß zu einer Luxuslinie umbauen, die künftig immer nur: machen, machen, machen.“ verstärkt First- und Business-Class-Passa- Nur einer wäre froh, wenn der Boss der giere in die Maschinen locken soll. In den British Airways sich halten könnte: Erz- kommenden Jahren sollen daher die bisher feind Richard Branson von Virgin Atlantic. großzügig ausgelegten Kapazitäten abge- Der Raufbold der Branche, bekannt für baut werden, das heißt neuere Flugzeuge seine „Virgin Cola“, neuerdings auch für wie die Boeing 777 auf der Langstrecke Mobiltelefone und seine tollkühne Ballon- und der Airbus A 319 für kürzere Flüge fahrt über den Pazifik, wünscht dem Kon- kommen zum Einsatz. kurrenten süffisant ein möglichst langes Für rund 600 Millionen Mark will der Manager-Leben. „Von mir aus kann Ayling Firmenchef diese Flieger luxuriös ausstat- für immer und ewig an der Spitze von BA ten. Auch in der Business-Class sollen die bleiben“, sagt er, „ich wäre entzückt.“ Reisenden ihre Sessel in Betten verwan- Dinah Deckstein, Constanze Sanders

80 der spiegel 51/1999 Werbeseite

Werbeseite Wirtschaft

zichten muss. Grundlage für den Vorstoß des Autokonzerns ist das Gesetz zur sozialrechtlichen Absi- cherung flexibler Arbeitszeiten, das im April 1998 in Kraft getreten ist. Ursprünglich wurde dieses so genannte Flexi-Gesetz geschaffen, um Altersteilzeitregelungen zu begünstigen. Es ermöglicht, dass Überstunden, aber auch Bonus- zahlungen oder Teile des Gehalts hoch verzinst in externe Fonds ein- gezahlt werden können. Die Gewinne aus diesen Fonds, in die von VW und der Belegschaft mittlerweile eine knappe Milliar- de Mark geflossen ist, stehen den Mitarbeitern zu. Jeder Einzelne kann entscheiden, ob er mit dem Geld früher in Rente gehen will oder den regulären Ruhestand mit

M. DARCHINGER deutlich höherem Alterseinkom- Manager Ferdinand Piëch, Regierungschef Schröder: Glanz der Wolfsburger Ideen men antritt. „Wir haben das Flexi- Gesetz in ein Pensionsfonds-Ge- setz umgemünzt“, sagt HypoVereinsbank- RENTE Vorstand Josef Wertschulte. Dazu bedurfte es der Rückendeckung durch die Politik. Schließlich drohen der Das VW-Modell Staatskasse erst einmal Steuerausfälle in Milliardenhöhe, wenn sich das VW-Modell Erstmals hat ein deutscher Großkonzern Pensionsfonds aufgelegt durchsetzt. Ein Selbstläufer war der Vor- stoß daher nicht.Als Bundesfinanzminister – mit großem Erfolg. Mehr als 100000 VW-Angestellte Hans Eichel im Herbst die Milliarden für nutzen die neue Form der Altersvorsorge. Ein Vorbild für alle? sein Sparpaket zusammensuchte, drohte dem Flexi-Gesetz das vorzeitige Aus. Die atthias Rosch, 37, denkt heute ten Nettoeinkommen gebildet werden Unterstützung von Arbeitsminister Walter schon an morgen: „Ich stecke ei- müssen. Da bleibt gerade bei Normalver- Riester – eher ein Freund der Zwangsren- Mnen Teil meines Weihnachtsgelds dienern nicht viel übrig, um eine ausrei- te – fiel halbherzig aus. in die Altersvorsorge“, sagt er. chende Altersvorsorge zu bilden. Den Ausschlag gaben schließlich die gu- Dafür muss der VW-Angestellte zu kei- Beim Sparen aus dem Bruttoeinkom- ten Kontakte von VW zum Bundeskanz- ner Bank gehen, denn die Personalabtei- men können die Ansparsummen größer leramt. Gerhard Schröder kennt aus sei- lung des Autokonzerns hat ihm ein attrak- sein. Dank Zins und Zinseszins entwickelt ner Zeit als VW-Aufsichtsrat die flexiblen tives Angebot gemacht. Jeder Beschäftigte sich rasch ein kleines Vermögen (siehe Gra- Modelle des Autokonzerns. Als Politiker bekommt ein so genanntes Zeit-Wertpa- fik), ohne dass der Mitarbeiter auf größe- sorgte er stets dafür, dass der Glanz der pier angeboten. Rund 100000 Mitarbeiter re Anteile seines Nettoeinkommens ver- Wolfsburger Ideen auch auf ihn abstrahlte. von VW haben bereits zugegriffen, jeden Heinrich Tiemann, Schrö- Monat fließen derzeit aus Wolfsburg meh- ders Abteilungsleiter im rere Millionen an die internationalen Ka- Brutto statt netto Bundeskanzleramt, setzte pitalmärkte. Steuerliche Regelungen beim Zeitwertpapier durch, dass das Flexi-Gesetz VW ist mit diesem Pensionsfonds wieder BRUTTOSPAREN für die Altersvorsorge ge- einmal vorneweg. So wie einst die Vier- 500 Mark wurden monatlich unversteuert in einem Pensions- nutzt werden kann. Mitt- Tage-Woche wird auch diese Idee Nach- fonds angelegt. Sozialabgaben und Steuern (abhängig vom lerweile haben auch die ahmer finden. Die HypoVereinsbank will persönlichen Einkommensteuersatz) werden erst bei Steuerexperten der Bund- der Auszahlung fällig. ähnliche Fonds zusammen mit VW bun- Daraus ergibt Länder-Kommission, die desweit vertreiben. Schon haben 12 der 30 nach sich 30 Jahre eine bundeseinheitliche größten deutschen Aktiengesellschaften In- 20 Jahren lang eine monat- Steuerpraxis gewährleis- teresse bekundet. jährliche Rendite 9% 322128 liche Zusatzrente Der besondere Charme des VW-Modells Mark von 1143 Mark Vermögen der Pensionsfonds liegt darin, dass Arbeitnehmer aus ihrem netto*. in Prozent des Bruttoinlandsprodukts Bruttogehalt, also vor Abzug von Steuern NETTOSPAREN und Sozialversicherungsbeiträgen, Geld *Berechnungsbasis Eckrentner; 89,9% 88,5% zurücklegen können. Von 500 Mark wurden rund 310 Mark 6-prozentige Verzinsung 1149 Mrd. 321 Mrd. monatlich 20 Jahre lang nach Abfüh- Dollar Dollar Steuern fallen erst an, wenn im Alter rung aller Abgaben einbezahlt. das angesparte Kapital in Form einer zu- Daraus ergibt sätzlichen Rente (oder bei vorzeitigem Ru- sich 30 Jahre lang hestand als Ausgleich für die niedrigen Al- 199681 eine monatliche tersbezüge) ausgezahlt wird. jährliche Rendite 9% Mark Zusatzrente von Herkömmliche Geldanlagen leiden dar- 765 Mark netto*. unter, dass sie aus dem bereits versteuer- GROSSBRITANNIEN NIEDERLANDE

82 der spiegel 51/1999 ten sollen, dem Modell ihren Segen ge- geben. Die Politiker hoffen, dass viele Mitarbei- ter durch die bessere finanzielle Abfederung früher in den Ruhestand wechseln und so den Arbeitsmarkt entlasten. Die Gewerk- schaft und der VW-Betriebsrat unterstützen das Vorgehen des VW-Managements. Die IG Metall wirbt regelrecht für die kräftige Einzahlung in die Fonds. Die Ar- beitseinkommen in den nächsten Jahren würden schließlich nur um durchschnittlich zwei Prozent steigen. Am Kapitalmarkt sei dagegen eine Verzinsung von acht Prozent oder mehr möglich. Deshalb raten die Ge- werkschafter allen Arbeitnehmern, alle Überstunden in Form von Aktien anzulegen. Bisher warf das Zeit-Wertpapier von VW durchschnittlich neun Prozent Rendi- te ab. Das Geld wird von fünf Fondsge- sellschaften verwaltet, die an den interna- tionalen Kapitalmärkten investieren dürfen und miteinander konkurrieren. Es regiert das Leistungsprinzip: Wer die höchsten Renditen erwirtschaftet, bekommt mehr von den neu zufließenden Geldern. Ein Anlageausschuss, in dem der Be- triebsratsvorsitzende neben dem Perso- naldirektor und dem Vermögensverwalter des Konzerns sitzt, wacht über die Einhal- tung der Anlagegrundsätze. Zurzeit dür- fen maximal 30 Prozent in Aktien inves- tiert werden. „Um Vertrauen zu schaffen, wollten wir erst einmal relativ konservativ anlegen“, sagt Personaldirektor Helmuth Schuster. Mittelfristig werde der Aktien- anteil wie in den angelsächsischen Län- dern in Richtung 70 Prozent angehoben. Der Kauf von Wertpapieren in einigen südamerikanischen und asiatischen Län- dern ist den Anlagestrategen verboten. Auch VW-Aktien sind tabu. Doch ansons- ten haben die Verwalter schon jetzt alle Freiheiten, den Profit zu maximieren. So kommt es, dass knapp 100000 VW-Be- schäftigte und ab 1. Januar gut 30000 Audi- Mitarbeiter auch Aktien von DaimlerChrys- ler kaufen. Wie bei den großen US-Pen- sionsfonds sucht das Kapital der Beschäf- tigten weltweit nach den besten Anlagen. Das Vertrauen in den deutschen Aktien- markt scheint bei den Verwaltern nicht sehr ausgeprägt. Bei einem der Fonds sind zwei Drittel der Aktien im Ausland angelegt. Aus Wolfsburger Fließbandarbeitern werden so nach und nach lauter kleine Ka-

Quelle: DB Research, Stand 1997

69,3% 5,6% 4,5% 5436 Mrd. 118 Mrd. 63 Mrd. Dollar Dollar Dollar

USA DEUTSCHLAND FRANKREICH

der spiegel 51/1999 Wirtschaft

pitalisten, die mit ihren Überstunden an den Weltbörsen spekulieren. Das System soll demnächst auch bei den Angestellten der HypoVereinsbank eingeführt werden. „Ein starkes Ergebnis“ Mittelfristig erwartet Bankmanager Wert- schulte, dass von diesen Flexi-Fonds bun- CDU-Vize Christian Wulff über die Erfolgsaussichten der desweit 100 Milliarden Mark eingesammelt Rentengespräche mit der Regierung werden. Mit dem Kapital ließen sich viele Probleme lösen. „Nur mit Pensionsfonds SPIEGEL: Herr Wulff, möglicherweise ei- Bürokratie bedeuten. Die einzige Ver- können wir die fatale Abhängigkeit von nigen sich Regierung, Arbeitgeber und änderung zum bisherigen System be- ausländischen Kapitalgebern mindern“, Gewerkschaften im Bündnis für Arbeit steht bei Riester darin, dass für einen sagt der Finanzexperte. auf die Rente ab 60.Was würde das für Teil der Rente nur noch der Arbeit- In den USA, wo es seit rund 70 Jahren die Rentengespräche bedeuten? nehmer aufkommt; das ist in seiner nennenswerte Pensionsfonds gibt, ist mitt- Wulff: Das wäre ein echtes Problem Schlichtheit politisch in Deutschland lerweile ein guter Teil der Wirtschaft in für uns. Die Rente ab 60 vernichtet Ar- nicht durchsetzbar. Wir wollen, dass der Hand der kleinen Leute. Die Pen- beitsplätze. Nur rund 20 Prozent der der Versicherte zwischen verschiede- sionsfonds dirigieren ein Vermögen, das durch Frühverrentung frei werdenden nen Anlageformen frei wählen kann. rund 70 Prozent des amerikanischen Brut- Arbeitsplätze können wieder besetzt Es ist sinnvoll, Bausparkassen, Lebens- toinlandsprodukts entspricht – während werden. 600000 Frührentner bedeuten versicherer oder Pensionsfonds einzu- die in Deutschland angelegte Summe ge- demnach den Verlust von 480000 Be- binden, denn dahinter steht auch ein rade mal 5,6 Prozent des Inlandsprodukts schäftigungsverhältnissen auf Dauer. großes Potenzial für neue Arbeitsplät- entspricht. Bei den Problemen, die wir auf der Ein- ze. Alles in staatlicher Hand – das ist Die US-Pensionsfonds sind mehr als eine nahmenseite in unseren sozialen Si- nicht unser Ansatz. Geldmaschine, sie achten auch auf die In- cherungssystemen haben, ist das ein teressen ihrer Einzahler. So hat sich der Anschlag auf die jüngere und mittlere Pensionsfonds der amerikanischen Ge- Generation und das genaue Gegenteil werkschaft AFL/CIO, der Aktien des Düs- von dem, was in Deutschland notwen- seldorfer Konzerns Mannesmann besitzt, dig ist. gegen eine feindliche Übernahme durch SPIEGEL: Muss die Lebensarbeitszeit Vodafone ausgesprochen. steigen? Doch am meisten fasziniert die VW-Mit- Wulff: Ich will keine Vorbedingungen arbeiter die Aussicht auf eine jährliche stellen, aber wenn wir uns darauf eini- Superrendite. Personaldirektor Schuster gen könnten, die Ausbildungszeiten zu schwärmt auf Betriebsversammlungen von verkürzen und damit den Eintritt ins der tollen Performance der amerikanischen Berufsleben vorzuziehen, wäre das ein Pensionsfonds. Trotz Weltwirtschaftskrise starkes Ergebnis. Auch das würde auf und einigen schwierigen Börsenjahren hät- eine längere Arbeitszeit hinauslaufen. ten diese seit 1923 eine durchschnittliche SPIEGEL: Einigkeit herrscht zwischen al- Rendite von zwölf Prozent erwirtschaftet. len Parteien über die Notwendigkeit, Pensionsfonds könnten sich auch in

stärker auf private Vorsorge zu setzen. K.-B. KARWASZ Deutschland zu einer starken zweiten Säu- Kommt die Pflicht zur Zweitversiche- Christdemokrat Wulff le der Altersversorgung entwickeln – vor- rung? „Rente ab 60 vernichtet Arbeitsplätze“ ausgesetzt, die Politik spielt mit. Denn Wulff: Die Logik besagt, dass die ab- noch fehlen den Konstruktionen „made in nehmende Zahl der Beitragszahler ab SPIEGEL: Was spricht dagegen, die So- “ einige jener Merkmale, die das 2010/2020 durch bis dahin angespartes zialversicherungen nach dem Vorbild Sparen in Pensionsfonds in den USA so Kapital jedenfalls zum Teil kompen- der Kfz-Versicherung zu organisieren: beliebt gemacht haben. siert werden muss. Deshalb muss die Jeder wird verpflichtet, ein Grundrisiko Negativpunkt eins: Die Ansprüche sind zweite Säule der Alterssicherung eben- abzusichern, wer mehr will, kann mehr bei einem Wechsel des Arbeitgebers nicht so wie die Vermögensbildung in Ar- zahlen? übertragbar. Das Geld wird auf einen beitnehmerhand gestärkt werden; das Wulff: Grundrisiken wie Alter, Krank- Schlag ausgezahlt und dann versteuert. kann unter anderem durch steuerliche heit oder Invalidität sollten vom Soli- Nur der auf diese Weise verkleinerte Geld- Begünstigung passieren. Wenn die Ge- darsystem abgesichert werden. Der betrag kann beim nächsten Arbeitgeber samtbelastung dabei nicht steigt, die Einzelne sollte dann aber stärker angelegt werden. Die Ansparphase verlän- Anreize stark genug sind und wenn wählen können, falls er sich zusätzlich gert sich also, die Rendite sinkt. man besonders sozial schwächere absichern oder Schwerpunkte seines Zweites Manko: Das Risiko, dass die Po- Schichten durch Zuschüsse unterstützt, Versicherungsschutzes selber legen litik das Gesetz wieder einkassiert, ist groß. kann auf Freiwilligkeit gesetzt werden will. Der eine will sich vielleicht ganz Je mehr Betriebe diese lukrative Form der und allenfalls später über eine Nach- stark fürs Alter, der andere dagegen, betrieblichen Altersvorsorge für ihre Mit- weispflicht entschieden werden. der ein Häuschen, aber keine Angehö- arbeiter nutzen, desto schmerzhafter wer- SPIEGEL: Da waren Sie der von der Re- rigen hat, vielleicht lieber stärker gegen den die Steuerausfälle für den Bund. gierung geplanten Zwangsrente schon Krankheit versichern. Dem Beitrags- Deshalb treten die Anbieter, zu denen mal näher. zahler als Konsumenten wieder mehr neben Banken auch diverse Versicherer Wulff: Für die Riestersche Zwangsrente Rechte und Gestaltungsmöglichkeiten gehören, zurzeit ziemlich leise auf. Sie hof- sind wir auf keinen Fall zu gewinnen. einzuräumen muss ein Ziel einer mo- fen auf die Macht der Fakten. „Wenn Mil- Das würde die Schaffung einer neuen dernen Sozialpolitik sein. lionen Arbeitnehmer das nutzen“, sagt gesetzlichen Kasse mit zusätzlicher Interview: Tina Hildebrandt Bank-Vorstand Wertschulte, „wird es für die Regierung schwer, alles wieder zurück- zudrehen.“ Christoph Pauly

84 der spiegel 51/1999 S. HUSCH / TERZ A. VARNHORN Finanzministerium in Wiesbaden: Vier Stunden lang Akten gefilzt Manager Rehmann

ersatzsteuer ein, die auch schaft fragwürdig.Aufge- FAHNDER für Stiftungen alle 30 Jah- schreckt durch zwei An- re einen Erbfall simuliert. zeigen gegen die Stiftun- Verdunkelung Um den Konzern da- Ex-Staatssekretär Noack gen, hat sie nun die Er- vor zu schützen, ließ mittlungen gegen die Be- Karg-Sohn Hans-Georg bereits 1974 den amten des Ministeriums erweitert, die an im Amt Konzern einer neuen, gemeinnützigen und den Bescheiden für die Steuerfreistellung damit steuerbefreiten Stiftung übertragen. beteiligt waren. Der Vorwurf lautet auf Un- In der Hertie-Steueraffäre wird Er selbst und seine Miterben mussten den- treue zu Lasten des Fiskus. noch nicht darben. Der privaten und daher Dabei hatten die Fahnder wohl Angst, nun gegen Beamte des hessischen steuerpflichtigen Familienstiftung blieben dass die Kollegen Verdunkelung betreiben Finanzministeriums ermittelt. der Immobilienbesitz und zudem die und Akten verschwinden lassen könnten. Auch ehemalige SPD-Minister ge- Stimmrechte der Kaufhausfirma. Für den Deshalb versuchten sie erst gar nicht, wie raten unter Verdacht. gemeinnützigen Zweck, die Förderung von üblich auf dem Wege der Amtshilfe an die Forschung und Bildung, blieb in den fol- Unterlagen zu gelangen, sondern bereiteten ie Steuerfahnder aus dem Finanz- genden zwei Jahrzehnten wenig übrig. die Aktion im Geheimen vor. Sogar ihr neu- amt V in der Frankfurter Gutleut- Nach Bezahlung der Mieten für die Kauf- er Chef Harald Gebbers hatte bis zum Zu- Dstraße haben schon manche noble häuser, die an die private Stiftung gingen, griff keine Ahnung. Er war erst wenige Wo- Adresse heimgesucht. Von der Commerz- machte Hertie kaum noch Gewinn. chen zuvor von der Oberfinanzdirektion bank bis zum Pharmariesen Hoechst reicht Doch 1993 wurde alles anders. Die Kar- (OFD) zu den Fahndern gewechselt und die Liste der Einsatzorte, an denen die ge- stadt AG kaufte der gemeinnützigen Stif- kommt ausgerechnet aus jener Abteilung, fürchteten Aktenfilzer zugriffen. tung für 1,65 Milliarden Mark das Unter- die mit der Hertie-Stiftung befasst war. Doch die Aktion am Donnerstagmorgen nehmen ab. Im Gegenzug, so hatten es die Der Ansatzpunkt der Ermittlungen ist vorvergangener Woche war auch für die Karstadt-Aktionäre Deutsche Bank und ein Papier aus dem Jahr 1995. Damals kam erfahrenen Ermittler eine Premiere: Aus- Commerzbank arrangiert, sollten die Her- der aufmerksame Leiter des Finanzamts gestattet mit einem Durchsuchungsbe- tie-Nachlaßverwalter für die gleiche Sum- III und heutige Finanzpräsident bei der schluss fielen die Fahnder bei ihrer eigenen me den Banken ihr 30-Prozent-Paket von OFD, Christian Adamski, bei der Über- vorgesetzten Behörde ein – im hessischen Karstadt abnehmen. prüfung der Hertie-Stiftungen zu einem Finanzministerium in Wiesbaden. Damit winkten der gemeinnützigen Stif- vernichtenden Ergebnis. In einem zehn- Vier Stunden lang sichteten und be- tung plötzlich riesige Erträge. Allein die seitigen Vermerk, der jetzt gefunden wur- schlagnahmten neun Beamte unter Leitung Karstadt-Dividenden betrugen über 40 Mil- de, hielt er fest, dass das Hertie-Vermögen des Oberstaatsanwalts Heinz Klune Dut- lionen Mark jährlich. Doch so weit kam es niemals von der Steuerpflicht hätte befreit zende von Ordnern der Abteilung II des nicht. Die Stiftungsmanager Guido Sandler werden dürfen. Doch Stiftungschef Reh- Ministeriums. Zur gleichen Zeit griffen sich und Klaus Rehmann tüftelten eine Kon- mann gelang es in mehreren Gesprächen Kollegen Parallel-Unterlagen bei der struktion aus, mit der alle Erträge bei der im Wiesbadener Finanzministerium, die Frankfurter Oberfinanzdirektion. privaten Stiftung anfielen. Drohung abzuwenden. Die Steuerfreistel- Die ungewöhnliche Durchsuchungsak- Die gemeinnützige Stiftung wurde zwar lung blieb erhalten. tion soll helfen, die Hintergründe einer für formal an den Gewinnen beteiligt. Aber Die Frage, ob dies unrechtmäßig war, den Fiskus besonders teuren Affäre aufzu- Rehmann, der beiden Stiftungsvorständen muss nicht nur die Stiftungsmanager und klären: die steuersparenden Milliarden- angehört, investierte alle Einnahmen in ost- die Erben beunruhigen. Unerfreulich wird Transaktionen der Erben des Hertie-Kauf- deutsche Immobilien. Infolge der Sonder- die Antwort womöglich auch für die frühe- hausunternehmers Georg Karg (SPIEGEL abschreibungen ließ sich so der ausgewie- ren SPD-Finanzminister Karl Starzacher 22/1999). Infolge unrechtmäßiger Steuer- sene Gewinn der privaten Stiftung auf null und Annette Fugmann-Heesing. Haus- befreiung soll nach Berechnungen der Er- drücken. Um den Schein zu wahren, flos- intern zuständig war deren Staatssekretär mittler ein Schaden von mehreren hundert sen für den Förderzweck lediglich acht Mil- Harald Noack. Ob die Ministerialbeamten Millionen Mark entstanden sein. lionen Mark pro Jahr. auf eigene Faust oder „auf Weisung von Warenhauskönig Karg hatte sein Unter- An all dem soll jedoch nichts Unrechtes oben handelten“, sei Gegenstand der Er- nehmen schon früh einer Familienstiftung gewesen sein, versichert Rehmann: „Wir mittlungen, bestätigt der Sprecher der überschrieben, um es vor Erbstreitigkeiten haben jeden Schritt mit den zuständigen Frankfurter Staatsanwaltschaft. zu bewahren. Weil bei solchen Stiftungs- Behörden bis hin zum Finanzministerium Ein Fahnder: „Wir haben sehr interes- konstruktionen keine Erbschaftsteuer an- abgestimmt.“ Doch eben diese Genehmi- sante Unterlagen gefunden.“ fiel, führte der Bund seinerzeit die Erb- gungspraxis erscheint der Staatsanwalt- Felix Kurz, Harald Schumann

der spiegel 51/1999 85 Wirtschaft

ropageld gebunden, das sich gegen den amerikanischen Dollar bewähren muss. WÄHRUNG Und seit einem Jahr ist der Außenwert des Euro stetig nach unten gerutscht. Hat es Duisenberg gestört, ist er be- Abenteuer im Eurotower unruhigt? Offensichtlich nicht. Seine Bank aller Banken sieht keinen Anlass, dem Euro Wim Duisenberg, Präsident der Europäischen Zentralbank, zu Hilfe zu kommen. Der sei gar nicht schwach, der Dollar sei nur so stark. schafft das Unfassbare: Er versorgt elf Länder Falsch ist diese sophistisch anmutende mit neuem Geld. Aber wird der Euro eine harte Währung? Erklärung ja nicht, und auf jeden Fall cle- ver formuliert. Ärger hat sich der EZB-Prä- igentlich wollte er nach Daressalam. drinnen abspielt. Da arbeiten 760 Men- sident nur eingehandelt, als er laut darüber Er hatte gerade seinen Doktor in schen aus 15 europäischen Ländern so nachdachte, ob nicht der Kanzler-Einsatz EWirtschaftswissenschaften geschafft, selbstverständlich zusammen, als ob Euro- für eine kaputte Baufirma und die lah- und es zog ihn ins Ausland. Aber warum land schon mehr sei als ein Begriff, der an mende deutsche Wirtschaft für die Euro- Tansania? Sein Professor fand, dass ein Job Legoland erinnert. Schwäche mitverantwortlich seien. beim Internationalen Währungsfonds doch Im Eurotower wird das Begräbnis für Ansonsten ist Duisenberg vorsichtig, er viel interessanter sei. die nationalen Währungen vorbereitet, möchte nicht durch allzu deutliche Worte „Meine Karriere ist eine Summe von auch für die Mark, an der die Deutschen die Bürger verunsichern, die den Euro oh- Zufällen“, sagt Willem (Wim) Frederik so hängen. Das neue Geld, das noch nie- nehin noch nicht wahrhaben wollen. Es ist Duisenberg. Doch es scheinen jene Zufäl- mand in der Hand hat, ist hier bereits fass- ein riskantes Abenteuer, in elf Ländern auf le gewesen zu sein, die einen fast zwangs- bar und Objekt aller Anstrengungen. Dui- einen Schlag eine einheitliche Währung läufig ereilen, weil man sie immer schon als senbergs Leute geben den italienischen einzuführen. Da hilft nur Zuversicht. Möglichkeit im Kalkül hatte. Banken keine Lira mehr, den Spaniern kei- Auch ein Mann wie Duisenberg, der mit Zufällig also ging der Niederländer Dui- ne Peseta und den Deutschen keine Mark dem seltsamen Stoff namens Geld wahr- senberg 1966 nicht nach Daressalam, son- – sie teilen ihnen Euro zu. Und natürlich lich hinreichend Erfahrungen gesammelt dern zum Währungsfonds nach Washing- lässt sich der Präsident auf sein Konto bei hat, fängt diesmal von vorn an. Die EZB ton. Damit begann eine Laufbahn, gibt es seit anderthalb Jahren, den die zwar manch überraschende Euro seit dem 1. Januar 1999. Wendung aufweist, aber letztlich Was zu tun ist, um die Preise in strikt geradeaus führte, oder bes- einem Land stabil zu halten und die ser: nach oben. wirtschaftliche Entwicklung zu Nun sitzt er im 35. Stock des steuern, glauben die Geldpolitiker Frankfurter Eurotowers, blickt auf zu wissen. Die Bundesbank hat es die Türme der Privatbanken, die zu- vorgeführt, und auch Duisenberg meist höher sind, aber keineswegs hatte als Präsident der Niederlän- mehr Macht verkörpern. Wim Dui- dischen Zentralbank das Wissen er- senberg ist Präsident der Europäi- folgreich in die Praxis umgesetzt. schen Zentralbank (EZB), und die Aber diesmal geht es eben nicht soll beweisen, dass auch Unmögli- nur um ein Land. ches in Europa erreicht wird – sie Entscheidend ist vor allem die soll den Euro zu einer stabilen Geldmenge, die über die Banken in Währung machen. den Wirtschaftskreislauf fließen soll. Natürlich gibt es für Männer Und genau das muss dem Bürger, wie Duisenberg nichts Unmög- wenn er denn überhaupt darüber liches. Er war Banker, Finanzmi- nachdenkt, unmöglich erscheinen: nister, Präsident der Niederlän- Wie soll jemand die Menge an Euro dischen Zentralbank, auch Chef berechnen, die von Lappland bis zur der Bank für Internationalen Zah- Algarve gebraucht wird?

lungsausgleich – kurz: ein Mann, DPA Im Prinzip läuft das nach dem der weiß, wie man mit Geld um- Geldhüter Duisenberg*: Keine Zeit für den Golfplatz gleichen Muster ab, wie es bisher in geht. einzelnen Ländern gemacht wur- „Money is my profession“, sagt Duisen- der Commerzbank das Gehalt in Euro de. Die EZB sammelt die Meldungen über berg gern, und es wird nicht ganz klar, ob überweisen. den Geldbedarf in den verschiedenen Re- hier einer nur einfach eine Berufsangabe „Unsere wichtigste Aufgabe ist, Preis- gionen ein und bewilligt den nationalen machen oder andere, weniger Wissende in stabilität im Euro-Raum zu erhalten“, sagt Instituten die Liquidität, die sie für richtig die Defensive drängen will. Wer legt sich Duisenberg. „Wir müssen Vertrauen schaf- hält. Natürlich melden die Banken meis- schon gern mit Professionellen an. fen.“ Derzeit sind die Preise in den meisten tens mehr an, als sie wirklich brauchen, Wenn Geld tatsächlich, wie immer wie- europäischen Ländern stabil.Aber mit dem und natürlich sind alles nur Schätzungen, der behauptet wird, Macht bedeutet, dann Vertrauen hapert es wohl noch. die auf Erfahrung beruhen. ist der Niederländer im Eurotower sicher- Seit einem Jahr ist der Euro in elf eu- „Aber unsere Schätzungen sind besser lich der mächtigste Mann Europas. Er kon- ropäischen Ländern die Währung, mit der als die der Notenbanken“, sagt Duisen- trolliert mit seiner Mannschaft die Ströme, die Banken rechnen. Seit Januar 1999 sind berg. Er lächelt ein bisschen dabei, was die Europas Wirtschaft arbeiten lassen, die die einzelnen Landeswährungen an das Eu- aber mit Sicherheit nicht bedeutet, dass er EZB bestimmt, wie viel Euro in der Wäh- seine Worte nicht ganz ernst meint. rungsgemeinschaft unterwegs sind. Duisenberg ist eine auffällige Erschei- * Am 25. November in Mülheim nach seiner Auszeich- Der Bürger, der achtlos am Eurotower nung zum „Goldenen Schlitzohr“, einem Preis des ge- nung mit seiner weißen Mähne, seiner vorbeiläuft, ahnt gar nicht, was sich da meinnützigen „Internationalen Clubs der Schlitzohren“. stattlichen Größe, die er durch einen leicht

86 der spiegel 51/1999 Werbeseite

Werbeseite Wirtschaft

Sanfte Landung Euroland USA zu arbeiten, die mehr ist als eine Bank und zugleich weniger. Nur fünf oder sechs von Kurs des Euro in US-Dollar Bruttoinlandsprodukt 1998 500 neu Eingestellten haben die EZB wie- 6467 Mrd. Dollar 8231 Mrd. Dollar der verlassen. reales Wachstum 1999 (geschätzt) Der Mann an der Spitze ist 64, und auch 2,1% 3,8% er hat nicht die Absicht, seinen Posten all- zu bald zu räumen. Duisenberg hat den reales Wachstum 1995 bis 1998 Job gewollt und ihn mit großer Selbstver- 7,2 % 14,0 % ständlichkeit übernommen, wohl wissend, dass Frankreichs Staatspräsident ihm dies nicht verzeihen würde. Im Sommer 1996 hatten sich die Gou- verneure der europäischen Zentralbanken geeinigt, einen der ihren, eben den Nie- derländer, als neuen Präsidenten für das EWI vorzuschlagen. Da das EWI in Frank- furt jedoch zwei Jahre später durch die EZB überflüssig werden sollte, akzeptier- te Duisenberg nur unter der Bedingung, gebeugten Gang zu mindern sucht. Es fällt setzt als selbstverständlich voraus, dass der dann auch Präsident der EZB zu werden. auch auf, dass er mehr raucht, als einem Franzose nicht Paris vertritt und die Finnin Es war einer von jenen Zufällen, die viel beschäftigten Menschen gut tun kann. nicht Helsinki. „Die Mitarbeiter der EZB nach Duisenbergs Worten seine Karriere Oft dreht er während eines Gespräches ein müssen ihren nationalen Hintergrund ver- bestimmten, dass offenbar das Informa- Feuerzeug zwischen den Fingern – lohnt gessen“, sagt der Präsident. „Und sie ma- tionssystem in Paris nicht richtig funktio- nicht, es wegzustecken. chen das bemerkenswert gut.“ nierte. Die Gouverneure hatten verabre- Er weiß, dass ihm hin und wieder eine Offenbar herrscht in der Zentralbank ein det, ihren Kandidatenvorschlag mit den Runde Golf gut bekommen würde. In die- anderer Geist als etwa in der Brüsseler EU- Regierungen abzustimmen.Alle Regierun- sem Jahr war er jedoch kaum auf dem Kommission, in der immer noch, 42 Jahre gen schienen einverstanden. Platz. Zum Segeln geht er schon länger nach den Römischen Verträgen, einzelne Doch entweder hat sich der Franzose nicht mehr. Das Leben bekommt auf den Länder für ihre Bauern, ihre Stahlarbeiter Jean-Claude Trichet zu vage ausgedrückt höheren Etagen einen anderen Sinn. oder ihre Schiffbauer streiten. Der Euro- oder sein Premierminister Alain Juppé die Duisenberg liest Zeitungen im Internet. tower ist ein Testlabor, hier gilt die Fiktion, Bedeutung des Vorschlags nicht so recht Unterwegs hat er einen Laptop dabei. Es es gebe den Bundesstaat Europa bereits. erfasst. Präsident Jacques Chirac jedenfalls kommt vor, dass er noch nachts eine E- Schon von der Logik her, fühlte sich übergangen und Mail an einen Mitarbeiter verfasst, weil so Issing, sei es ausgeschlos- war erbost. ihm etwas aufgefallen ist. sen, Einzelinteressen zu ver- Erschwerend kam sicher Jeden Dienstag, fünf vor elf, trifft sich treten oder durchzusetzen. hinzu, dass der deutsche Duisenberg mit den Mitgliedern seines Eine sinnvolle Geldpolitik Kanzler und Bundesbank- Direktoriums, um über die Liquidität zu ist für den riesigen Euro- chef Hans Tietmeyer sich entscheiden, die den Banken des Euro- Raum nicht vorstellbar, sehr engagiert für Duisen- Raumes zugeteilt wird. Es geht um statt- wenn jeder Vertreter der elf berg eingesetzt hatten. Ver- liche Summen, regelmäßig zwischen 60 Länder nur an die Interes- gebens versuchte Chirac, Milliarden und 90 Milliarden Euro. sen der Wirtschaft seiner seinen Zentralbankchef Tri- Dem Direktorium, oder Board, gehören Heimat denkt – oder gar an chet auf den neuen Posten außer dem Präsidenten fünf Mitglieder die Wünsche seiner Regie- zu drücken. an. Für den ersten Jahresbericht der EZB rung. Die Bedingung, die Dui- (1998) haben sich die Führungskräfte für „Wir entwickeln eine neue senberg im Mai 1998 nach ein putziges Familienfoto zusammenge- Denkkultur“, sagt Issing.Al- langem Gerangel schließlich funden. Auf einem schwarzen Ledersofa le Berichte, alle Diskussio- akzeptierte, sieht nicht aus sitzen – das linke Bein über das rechte – nen, alle Beschlüsse sind auf wie eine Bedingung, die zur

Duisenberg, die Finnin Sirkka Hämäläinen den Euro-Raum ausgerich- R. ZENSEN Zufriedenheit aller erfüllt und – das rechte über das linke Bein – der tet. Niemand bringt Weisun- Währungsstratege Tietmeyer werden wird. Der Kandidat Franzose Christian Noyer. Wer will, mag gen einer Regierung mit.Ab- erklärte damals widerwillig, Symbolik hineindeuten. solute Unabhängigkeit ist wesentlicher Be- er werde nicht für die vorgesehenen acht Dahinter stehen der Italiener Tommaso standteil der neuen Kultur. Jahre im Amt bleiben. Auf Französisch Padoa-Schioppa, der ehemalige Bundes- Erfahrenen Zentralbankern fällt das klingt das, als mache der Präsident nach banker Otmar Issing und der Spanier Eu- leicht, und den jungen Leuten, die aus allen vier Jahren für Trichet Platz. Aber Dui- genio Domingo Solans. Jeder ist Ausländer. Ecken Europas dabei sind, erst recht. Issing, senberg denkt gar nicht daran, sich auf den Duisenberg hat offenbar keine Mühe, der in der EZB das Direktorium Volks- Zeitpunkt seines Abgangs festzulegen. mit seiner so bunt besetzten Führungs- wirtschaft und Forschung leitet, beschäftigt Warum auch? In vier Jahren kann viel truppe zurechtzukommen. Seine Mitar- 150 Ökonomen aus 15 Ländern. passieren. Vielleicht fragt dann mancher: beiter haben ihn noch nie laut erlebt. Er hat Viele ihrer Mitarbeiter hat die EZB von Wer war eigentlich Jacques Chirac? Wer einen scharfen Blick für das Wesentliche ihrem Vorläufer, dem Europäischen Wäh- war Trichet? Duisenberg? und kann eine schlichte Frage auch mal rungsinstitut (EWI), übernommen. Andere Wichtiger indes wird die Antwort auf mit einem schlichten Ja oder Nein beant- wurden durch Ausschreibung, auch über das die Frage sein, ob das Unmögliche, das im worten. Manche meinen, das läge daran, Internet, angeworben. Das Durchschnitts- Eurotower versucht wird, vielleicht doch dass er aus Friesland stammt. alter der Belegschaft liegt bei 35 Jahren. möglich ist. Und wenn es ein Friese in vier Er kann zuhören und im richtigen Au- Es muss das Neue, das Abenteuer sein, Jahren nicht schafft, wird es ein Franzose genblick klare Entscheidungen treffen. Er das die jungen Leute reizt, in dieser Bank auch nicht können. Peter Bölke

88 der spiegel 51/1999 Werbeseite

Werbeseite Wirtschaft ACTION PRESS ACTION Nachrichtenversand per Mobiltelefon: Meist geht es um Liebe, Sex, Alkohol oder um Witze

für Vielnutzer sogar oft nur 3 Pfennig. Das macht Kurznachrichten für Schüler und MOBILFUNK Studenten, die chronisch pleite sind, at- traktiv. Das Fummeln an den kleinen Handy- Flirten und mogeln Tasten scheint kompliziert. Langschwätzer haben Pech und wunde Finger: Jede der Digitale Läster- und Liebesbotschaften erobern den Alltag. kleinen Handy-Zifferntasten ist mit min- destens drei Buchstaben belegt, die 5 Über kurze „Handy-Briefe“ und etwa mit „jkl“. Dreimal die 5 gedrückt ist Piktogramme verständigen sich vor allem junge Leute. also „l“. Doch für Grobmotoriker naht Erleichte- in kurzer Doppelpiepser während bil erreichbar. Allein im Monat Juli haben rung. Anfang nächsten Jahres will Ericsson der Vorlesung, und Sonja Meiser, 23, sie 364 Millionen Kurznachrichten, im in Europa das Chatboard auf den Markt Eweiß: Eine Textbotschaft ist da. Fachjargon heißen sie SMS (Short Mes- bringen, eine Anstecktastatur, die das Diesmal von Julia, einer Freundin aus der sage Service), verschickt. Nach Schät- vorletzten Reihe: „Germanistisches Ge- zungen des Debis-Tochterunterneh- schwafel! Selbstdarstellungsforum für den mens Diebold senden die Deutschen Prof und die altkluge Kuh ganz vorn. Nach- allein in diesem Dezember bereits 700 her Kaffee?“, fragt es im Handy-Display Millionen SMS – mehr als doppelt so der Studentin. viel private Post, wie deutsche Brief- Nicht bloß im Universitätsmilieu, auch träger austragen. an den Schulen werden immer seltener Eine SMS ist die E-Mail fürs Handy Zettel heimlich durchgereicht. Es ist un- und hat maximal 160 Zeichen, das ent- komplizierter, sich über Funk zu verstän- spricht etwa vier Zeitungszeilen. Für digen und die Lästerrunden unter dem eine Liebeserklärung scheint’s zu rei- Tisch auszutragen. Da gibt es weniger Mit- chen, denn beide Geschlechter schät- leser und kein schriftliches Beweismate- zen die Textnachrichten: Knapp und rial, das der Lehrer abgreifen kann. Doch knackig lassen sich diskrete Signale das Jungvolk lästert nicht nur über Pauker übermitteln. Ein kurzer Piepton – dann – unter der Schulbank wird geflirtet, was ist Ruhe. Wann und ob er antwortet,

das Zeug hält. entscheidet der Empfänger selbst. M. WITT FOTOS: Textbotschaften boomen wie noch nie: Je nach Anbieter kostet eine Mit- Handy-Kurznachricht 20 Millionen Deutsche sind inzwischen mo- teilung zwischen 15 und 39 Pfennig, „Jungen schreiben romantische Messages“

90 der spiegel 51/1999 Schreiben vereinfacht. Schneller wird das beamen, das Unternehmen lässt die der Pubertät der Kontakt zu Freunden Tippen mit der Software T9, mit der das Karte bedrucken und schickt sie direkt zu in den Vordergrund rückt, wird weni- Nokia-Telefonmodell 3210 ausgestattet ist. Tante Helga. ger telefoniert und mehr getextet. Finni- Das Handy besitzt ein Wörterbuch, und Dass 63 Prozent der Finnen ein „Känny“ sche Lehrer wissen, dass Handys während die integrierte Software erkennt das Wort, (Handy) besitzen, ist bei der Weite und Klassenarbeiten optimale Spicker sind, das gemeint ist: Texteingabe mit Vorah- dem technischen Entwicklungsstand des und sammeln die Telefone vor Klausu- nung. dünn besiedelten Landes kein Wunder. ren ein. Meist sind junge Leute unter 25 Jahren Doch damit ist der Sättigungsgrad noch Textnachrichten sind auch oft im Spiel, die Absender von Textbotschaften, stellt lange nicht erreicht, glaubt Sonera. Das wenn junge Menschen sich verlieben: Zu- Diebold in einer bislang unveröffentlich- Unternehmen prophezeit eine Abdeckung nächst lernen sie sich im Chat-Kanal ken- ten Studie zum Thema „Mobile E-Com- von über 100 Prozent auf dem heimischen nen, danach wird direkt von Handy zu merce“ heraus. Dazu kommen Kunden Markt – also mehr Mobilfunkkarten als Handy getextet. Schüchternen Jugend- kommerzieller Dienste, die sich Horo- Einwohner. lichen erleichtert das zwischengeschalte- skope oder Börsendaten schicken lassen. „Eine Person hat in Zukunft mehre- te Medium, ihre Gefühle und geheimen Diebold prophezeit: Mobilfunk und Inter- re Handys: fürs Geschäft und fürs Priva- Sehnsüchte preiszugeben – tippen ist offen- net, bisher getrennte Welten, werden bald te“, so Sonera-Managerin Tiina Zilliacus. bar viel leichter als sprechen: „Jungen zu einem Netz verschmelzen. Das mobi- Dazu kommen schon jetzt Mobilfunk- schreiben romantische Messages“, bestätigt le Telefon wird zum Multi-Kommunika- karten, die in Maschinen eingepflanzt die 15-jährige Finnin Emma Selenius. „Ei- tionsgerät: ein Web-Winzling zum Mailen sind: Autos melden Unfälle via SMS, Ge- ner hat meiner Freundin eine Message ge- und Surfen, Einkaufen und Übertragen tränkeautomaten geben kund, dass die schickt. So was Sensibles habe ich von dem von Bildern. Flaschen zur Neige gehen. Das finnische Typen noch nie gehört.“ Mit WAP (Wireless Ministerium für Land- Application Protocol), ei- und Forstwirtschaft in- ner Browser-Sprache, die formiert Bauern mit ei- aus Internet-Seiten die ner kurzen Nachricht, datenschweren Grafiken, wenn Schädlinge an- Bilder und Töne heraus- rücken. filtert, ist ein erster In privaten Textmes- Schritt ins Netz getan: sages geht es meist um Auf dem Display er- die Themen Liebe, Sex, scheint nur Text, die La- Alkohol oder um Witze, dezeiten sinken erheb- fand die größte finnische lich. Die ersten WAP- Tageszeitung „Helsingin tauglichen Handys sind Handy-Piktogramm Sanomat“ in einem Wett- auch in Deutschland bewerb heraus. schon auf dem Markt – aber noch lange Fast 6000 Kurznachrichten haben die nicht Standard. Leser eingesandt – die witzigsten wurden In Deutschland herrscht die Vor-WAP- prämiert. Besonders beliebt waren Balz- Generation. Stolz präsentieren die heimi- Botschaften, eingereicht in den verschie- schen Mobilfunkanbieter ihre Innovatio- densten Variationen, etwa: „Süße, ich habe nen: Viag Interkom will endlich ein „Fax nicht so viele Muskeln wie Schwarzeneg- Gateway“ einrichten. E-Plus freut sich über ger, nicht so viele Haare wie Mel Gibson, sein neues Chat-Forum, und Mannesmann sehe nicht aus wie Brad Pitt, aber ich lecke hat für D2-Kunden diverse Informations- wie Lassie.“ kanäle eingerichtet. D1-Kunden, die ihr Auch wissenschaftliche Analysen sind Bankkonto bei T-Online führen, können bereits in Arbeit. Seit Sommer letzten seit September ihren Kontostand via SMS Jahres wird in Finnland untersucht, wie abrufen. Jugendliche und Kinder ab einem Alter Vorreiter auf dem Gebiet der mobilen von vier Jahren ihr Mobiltelefon verwen-

Kommunikation ist nach wie vor Finn- den. Die eifrigsten Nutzer sind junge Leu- PRESS / ACTION REX FEATURES land. Dort bietet die Merita Nordbanken te zwischen 13 und 18 Jahren, zeigt eine Spice-Girl Victoria Adams an, ab Februar 2000 sogar Börsengeschäf- Studie der Universität Tampere in Zu- Das Handy ersetzt die Kreditkarte te via WAP zu erledigen. Und seit Oktober sammenarbeit mit Sonera, Nokia und offeriert der finnische Telekommunika- Tekes, dem finnischen Zentrum für Tech- Auch die Deutschen haben die Welt der tionsanbieter Sonera den Service „Zed“ – nologieförderung. amourösen Textnachrichten entdeckt: Sie Suchhilfe, Telefon- und Wörterbuch plus Textnachrichten sind bei den Jugend- lieben vor allem Piktogramme aus Ziffern Entertainment, die Entsprechung der In- lichen der Renner und gelten als cool. Nur und Zeichen. Schnell der Liebsten ein ternet-Suchmaschine. Anfrage per SMS – bei Form und Inhalt unterscheiden sich Herzchen geschickt, und schon flutscht es die Antwort oder der Cartoon kommen die Geschlechter: Mädchen sind mitteil- wieder in der Beziehung. nach wenigen Sekunden. Vom nächsten samer. Sie benutzen alle 160 Zeichen, Wer noch allein ist, kann über SMS ano- Jahr an soll Zed auch für deutsche Mobil- und wenn nicht alles in eine SMS passt, nym anbandeln: Flirtwillige melden sich funker zugänglich sein. wird eben eine zweite hinterhergeschickt. unter „www.sms-flirt.de“ an und bekom- Bei Sonera können Handy-Besitzer Bei Jungen steht der praktische Austausch men eine Kennnummer. Die Textnachrich- mit SMS sogar Schokolade bestellen – von Informationen im Vordergrund. ten laufen über eine Zentrale und werden und direkt dafür blechen: Das Handy er- Knapp heißt es „OK“, „Klar“ oder ein- dort verschlüsselt: Wenn die SMS beim Flirt- setzt die Kreditkarte, bezahlt wird mit der fach „10:30“. partner ankommt, steht als Absender nur Telefonrechnung. Auf gleiche Weise funk- Die Jüngsten nutzen ihr Handy fami- die Kennnummer auf dem Display. Männer tioniert die Bestellung von traditionellen lienorientiert: Sie melden sich bei Eltern, müssen fürs Balzen bezahlen – Frauen Postkarten: Text an die Sonera-Zentrale Großeltern und Geschwistern. Sobald in nicht. Karen Naundorf, Liisa Niveri

der spiegel 51/1999 91 Werbeseite

Werbeseite Trends Medien

TELEKOMMUNIKATION Poker um Global One elekom-Chef Ron Sommer will die TMehrheit an dem mit der France Télécom und dem US-Konzern Sprint geführten Gemeinschaftsunternehmen Global One übernehmen. Nach langen Diskussionen ist das Trio jetzt überein- gekommen, alle Verhandlungen über die gemeinsame Tochterfirma abzubre- chen und einen Notar entscheiden zu lassen. Dazu wollen Sommer und sein französischer Kollege Michel Bon in der kommenden Woche ein Angebot bei M. TEDESKINO dem Notar hinterlegen. Wer das höhere PRESS GRABKA / ACTION T. Gebot abgibt, erhält das 1996 gegründe- Kogel (mit Freundin Alexandra Kamp), N24-Redakteure te Gemeinschaftsunternehmen, das den Partnern Verluste in Milliardenhöhe be- FERNSEHEN scherte. Die Trennung ist die Folge des gescheiterten Übernahmeversuchs von Telecom Italia, mit dem Sommer die Pro Sieben baut um Franzosen in Rage gebracht hatte. Glo- bal-One-Partner Sprint wurde mittler- ie Fernsehgruppe Pro Sieben Media wie „Mallorca“ oder auch teuren TV- weile geschluckt – von MCI Worldcom. DAG baut um – und will von neuen Movies wie „Die Straßen von Berlin“ Kooperationen zwischen den Firmen hatte der Kanal viel Geld ausgegeben, des Hauptaktionärs KirchMedia profi- künftig soll er vorwiegend als Abspiel- tieren. Jüngst wurden die Verträge der stätte für amerikanische Serien und Fil- Nachrichtenredakteure von Pro Sieben me sowie für Live-Talkshows vor allem auf den im Januar startenden News- Jüngere ansprechen; der Familiensender Sender N24 umgewidmet, der innerhalb Sat 1 bietet verstärkt Fernsehpremie- der großen TV-Familie des Unterneh- ren. Für den geplanten Verbund aus fünf mers Leo Kirch zentrale Dienstleistun- Sendern (Sat 1, Pro Sieben, Kabel 1, gen übernehmen soll. Voraussichtlich N24, DSF) planen Kirch-Manager eine vom 1. Juli 2000 an sind die Münchner Doppelspitze mit dem Sat-1-Chef Fred zudem für die Sendeabwicklung des Kogel (Programm) und dem designier- Schwestersenders Sat 1 zuständig, der so ten Pro-Sieben-Boss Urs Rohner (Ver- Millionen einspart. In Arbeitsgesprä- waltung), sickerte aus den Gesprächen chen erörterten Kirchs TV-Manager des durch. Das könne er „nicht bestätigen“, Weiteren, dass die Zahl von Eigenpro- erklärt ein Pro-Sieben-Sprecher, bisher duktionen bei Pro Sieben aus Kosten- sei es um „Synergiepotenziale primär

ARGUM gründen künftig sinken soll. Bei Serien im technischen Bereich“ gegangen. Sommer

KINDERFERNSEHEN Teletubbies Teletubbies als Kassenschlager it ihrer täglichen Brabbel-Show auf dem Kinderkanal Mhaben die „Teletubbies“ die unter Dreijährigen als neue Zielgruppe fürs TV entdeckt und zudem auch zwei Drittel der Drei- bis Sechsjährigen als Zuschauer gewonnen. Laa Laa, Po, Twinky Winky und Dipsy, so die Namen der Stammelpuppen („Ah-oh“), haben vor allem dem US-Spielekonzern Hasbro ein glänzendes Lizenzgeschäft beschert. Eine Million Lizenz- produkte, 60 Prozent davon im Weihnachtsgeschäft, werde sein Unternehmen 1999 in Deutschland verkauft haben, sagt Hasbro-Manager Roger Balser. Fürs lukrative Geschäft mit den Kleinen haben die Amerikaner 30 Teletubbies-Produkte im Programm, die, je nach Ausführung, schmusen, schwimmen oder sprechen. Der Kassenschlager ist eine Puppe im roten Strampelanzug: „Po hat den positivsten Charakter“, sagt Bal- ser. Auch Ravensburger, Teletubbies-Partner im Buchbereich,

erwartet Verkäufe in Millionenhöhe. KINDERKANAL

der spiegel 51/1999 93 Medien

INTERVIEW Berghoff: All die Nachrichten kann sich kein Sprecher auswendig merken. Da wä- Schwarze Kassen, „Ich kann lachen“ re es unseriös, genau das den Zuschauern vorzugaukeln. Hinzu kommt: Bei schlech- weiße Wäsche Dagmar Berghoff, 56, über ihren Ab- ten Nachrichten kann der Sprecher den schied zum Jahreswechsel nach fast Blick aufs Blatt senken, das macht es ihm olitik und Seifenoper mögen 24 Jahren als „Tagesschau“-Sprecherin leichter, neutral zu bleiben. Psich: Beide bewegen sich auf SPIEGEL: Wann ist es Ihnen denn schwer rutschigem Untergrund, da braucht SPIEGEL: Frau Berghoff, zum Jahreswech- gefallen, neutral zu bleiben? man Stehvermögen und harte sel wird sich die gute alte Tante „Tages- Berghoff: Bei dem Flugzeugunglück von Hintern. schau“ verändern. Berghoff geht, der Ramstein 1988 habe ich die schrecklichen Der heutige Kanzler Gerhard Schrö- Bilder von den brennenden Menschen der hat das früh erkannt: In der RTL- selbst erst gesehen, als sie über den Sen- Soap „Gute Zeiten, schlechte Zei- der gingen. Da musste ich mich zusam- ten“ trat er als Kleindarsteller auf, menreißen. Als Profi gehört das dazu. eine Art Vorübung für höhere mimi- SPIEGEL: Haben Sie in der „Tagesschau“ sche Herausforderungen. auch einmal gelacht? Doch der persönliche Auftritt ist Berghoff: Bei einem Beitrag über ein bri- eine milde Vorform der Indienstnah- tisches Ruderrennen ist es mir einmal me der Seifenopern durch die Poli- schwer gefallen, ernst zu bleiben. Da hat- tik. Aus England kommt jetzt die te das eine Boot ein Leck und lief lang- Kunde, dass die Endlosserie „Coro- sam voll, aber die Ruderer haben weiter- nation Street“ – sie ist das Vorbild gerudert, ohne eine Miene zu verziehen. für Hans Wilhelm Geissendörfers SPIEGEL: Genau wie – normalerweise – deutsches Pendant, die „Linden- auch Sie keine Miene verziehen? straße“ – für das britische Sozialmi- Berghoff: Nur als Sprecherin. Wenn ich nisterium arbeitet. Das Amt entwi- draußen Menschen begegne, sind die oft

ckelte mit den Serienmachern einen PRESS ACTION ganz überrascht und sagen: Aber Sie Handlungsstrang, in dem die unbe- Berghoff können ja lachen. Da bin ich dann über- liebteste Figur der Soap als Schwarz- rascht. Natürlich kann ich das. arbeiter und unberechtigter Sozial- Teleprompter kommt – und das, ob- SPIEGEL: Nach Ihrem Abschied als Spre- hilfeempfänger entlarvt wird. Tau- wohl Sie gegen diese Technik sind? cherin kehren Sie zu Ihren Anfängen als sende, durch die Episode angeregt, Berghoff: Es ist überhaupt noch nicht ent- Schauspielerin zurück, zumindest in Die- denunzierten daraufhin ihre Nach- schieden, ob der Teleprompter kommt. ter Wedels Fünfteiler über die Semme- barn. Vielleicht gibt es eine Mischform, und die lings. Was wäre denn Ihre Traumrolle? Gut vorstellbar, dass auch hier zu Sprecher lesen mal vom Papier, mal vom Berghoff: Ich würde gern einmal eine Lande die Hausmeisterin Else Kling Bildschirm ab. Das Blatt bleibt jedenfalls psychisch kranke Frau, eine mit Persön- ihre Blockwartstätigkeit im Auftrag bestehen – und das ist in meinem Sinne. lichkeitsspaltung, spielen. Das würde Berliner und bayerischer Ministeri- SPIEGEL: Warum? mir großen Spaß machen. en ausweitet: Hat Mutter Beimer vielleicht zu Unrecht ein Arbeits- zimmer abgerechnet? Hat Akro- polis-Wirt Sarikakis seine QUOTEN die Konkurrenz aus Mainz. Selbst der Trinkgelder korrekt ver- große ZDF-Quotenerfolg mit dem His- steuert? Stefan Frank – dem die torien-Melodram „Sturmzeit“ (6,98 Was aber kaum einer Millionen Zuschauer) übertraf mit 16,5 weiß: Die Politiker Jungen vertrauen Prozent Marktanteil bei den Sehern probieren selbst Vorla- zwischen 14 und 49 Jahren nicht den gen für Seifenopern aus. as ZDF kann am Montagabend Frank-Jugendanteil (18,5). Dass am Mon- Es liegen Fragmente einer Soap vor, Dsenden, was es will: Der RTL-Weiß- tag für RTL noch mehr Jüngere einzu- die „Schwarze Kassen, weiße Wä- kittel Stefan Frank (Sigmar Solbach) fangen sind, beweisen „Jeanne d’Arc“ sche“ heißen soll. Hier die erste verarztet mehr jüngere Zuschauer als (24,0) und „Arche Noah (37,0). Szene: Parteimann Räuble, nachdem er den Computer bedient hat, zu sei- ZDF- und RTL-Montagsprogramme um 20.15 Uhr nem Kollegen Kunze: „So, Kunze, deine Sozialbeiträge sind auf dem Marktanteile bei den 14- bis 49-Jährigen in Prozent Anderkonto.“ Kunze: „Danke, Räub- 19,9 RTL Dr. Stefan Frank – der Arzt, dem die Frauen vertrauen 19,0 18,9 le.“ Da nähern sich Schritte. Räuble: 18,3 20,1 18,5 „Vorsicht, Angela kommt.“ Angela 16,6 17,6 19,7 16,5 (tritt ein): „Meine Herren, ich brin- 18,2 16,5 15,0 ge weiße Wäsche, eine Idee der Par- 15,0 17,0 tei-Kreativ-Abteilung …“ Ende des 12,4 12,4 Fragments. Ähnlichkeiten mit le- benden Personen wären rein zufäl- ZDF-Produktionen lig, schließlich handelt es sich um eine Soap. 9,1 27. 9. 4.10. 11.10. 18.10. 8.11. 15.11. 22.11. 6.12. 13.12.

94 der spiegel 51/1999 Fernsehen

ist. „Single Bells“ (Regie: Xaver lungen ist der Film (Regie: Hartmut Schwarzenberger), die TV-Satire von Griesmayr) dank der souveränen 1997, ist wunderbar böse und sollte alle Leistung von Simone Thomalla. Jahre wieder auf den Gabentisch kom- men, kultverdächtig wie die Silvester- Verarschung „Dinner for One“.

Jenseits der Stille Dienstag, 20.15 Uhr, ARD Caroline Links taubstumme Helden sind ziemlich normale Menschen mit kleinen Fehlern; mal ungerechte Egois- ten, mal herzerweichende Tollpatsche, denen allerlei Ulkiges widerfährt. Noch komischer aber sind die Nicht-Behin- derten. Einmal übersetzt die achtjähri- ge hör- und sprechfähige Tochter des Taubstummen-Ehepaars das Kredit-Ge-

BR spräch zwischen ihren Eltern und einem „Single Bells“-Szene Bankbeamten. Am Ende will der leicht verstörte Bankmensch der kleinen Lara die Hand schütteln – doch das Kind herrscht ihn an: „He, meine Eltern sind Vorschau hier die Kunden.“ Mit erstaunlich leich- Thomalla, Weis in „Am Anfang …“ ter Hand inszenierte Link 1996 ihr Einschalten Kino-Debüt. Der Herrgott weiß, was mit uns geschieht Single Bells Am Anfang war der Seitensprung Samstag, 20.15 Uhr, Südwest III Dienstag, 20.15 Uhr, 3Sat Donnerstag, 20.15 Uhr, ARD „In einem kühlen Grunde, da geht ein Der Vater quält mit der Axt den Eros ist ein unordentlicher Gott: Der Mühlenrad“, bedichtete Eichendorff Christbaumstamm, die Schwieger- Vater geht fremd, die Mutter (Heidelin- romantisches Liebesweh und Todes- mutter mit Besserwisserei die Schwie- de Weis) rächt sich mit einem Jüngeren. sehnsucht. Rudolf Werners liebevolle gertochter, und die quält den Fest- Oma entdeckt beim alten Schulfreund und behutsame Beobachtung zweier tagsbraten. Dazu kotzt das Kind. Rich- die Liebe neu, die Tochter beim ersten alter Schwestern, die in einer Mühle tig: Es ist Weihnachten. Single Katha- Mal die Enttäuschung. Wie gut, dass auf der Schwäbischen Alb leben, be- rina (Martina Gedeck) ist zum Fest zu Amelie Fried, von der die Drehbuch- schwört eine verschwunden geglaubte ihrer Schwester geflohen und merkt, vorlage stammt, ordentlich ist und am Welt ohne Strom, Fernsehen, Stress, dass Weihnachten das Fest der Hiebe Ende alles in rechte Bahnen lenkt. Ge- nah an der Natur und am Glauben.

Ausschalten

Richterin Barbara Salesch Chance zu nutzen und sich ausgiebig mäßig originellen Inszenierung von Dienstag, 18.00 Uhr, Sat 1 und ausschließlich mit dem Mythos des Wagners „Götterdämmerung“ zu Justitia ist bekanntlich blind und kann Opernhauses, seiner Geschichte und den dokumentieren. Die hätte der Opern- deshalb leicht darüber hinwegsehen, Menschen, die darin arbeiten, zu be- regisseur Yannis Kokkos auch genauso dass Richterinnen auch nur Menschen schäftigen, verplempert der Autor die auf jeder anderen Bühne der Welt rea- sind. Aber wie hochmütig die Ham- meiste Zeit damit, die Entstehung einer lisiert. Was aber macht das Besondere burger TV-Kadi-Diva Salesch im des Teatro alla Scala di Mila- Schulterschluss mit Stefan Raab auf no tatsächlich aus? Worin Kosten kleiner Leute und deren säch- unterscheidet sich die Bühne sischem Idiom („Maschendrooaht- mit der einmaligen Akustik, zauun“) Scherze macht, geht zu weit. auf der Caruso, die Callas Einspruch, Euer Ehren. und die Tebaldi Triumphe feierten, von der New Yorker La Scala und die Magie Met oder von Londons Co- des Goldes vent Garden Opera? Rischert Mittwoch, 23.00 Uhr, ARD bleibt die Antwort schuldig. Angeblich waren der Münchner Do- Hoffentlich lassen die Mai- kumentarfilmer Christian Rischert länder nach dieser verun- und sein Team die ersten, die je einen glückten Hommage bald Film über die berühmte, mehr als 200 wieder ein Filmteam hinter Jahre alte Mailänder Scala drehen die Kulissen. Die Neugier ist durften. Doch statt die einmalige Scala in Mailand geweckt.

der spiegel 51/1999 95 Medien

HAUPTSTADT „Wie die ersten Menschen“ Schröder, Fischer und Schäuble klagen, dass auch seriöse Journalisten Absprachen nicht einhalten, die Journalisten ärgern sich über den neuen Mangel an Freimut: Die traute Bruderschaft wie einst in Bonn ist zerbrochen, die Distanz wächst – zum Vorteil der Leser. Von Dirk Kurbjuweit

icht dass sich Gerhard Schröder wichtige Politiker maul- rächen will, aber es macht ihm doch faul bei Hintergrundge- Nein bisschen Freude, die Journalis- sprächen oder verplau- ten so zahlreich von blitzblanken Bentleys, dern , bis auch kodas und Polos umstellt zu sehen. Am die hartnäckigsten Fra- Abend vor dem Parteitag der SPD hat er ger aufgeben. die Presse ins Berliner Lindencorso einge- Schuld am gereizten laden, wo der Volkswagen-Konzern luxu- Klima sollen die Journa- riöse Verkaufsräume unterhält. Also glot- listen sein, weil sie sich zen dutzende Autoscheinwerfer auf die nicht an die altherge- Damen und Herren, die so gern den „Au- brachten Regeln der Ver- tomann“ Schröder kritisieren und nun be- traulichkeit hielten, weil klommen dastehen, Staffage einer Werbe- sie jeden kleinen Zwist show, während ihnen der Kanzler übers zum Koalitionsstreit auf- Mikrofon einen schönen Parteitag wünscht. bliesen. Das beklagen Und viel Arbeit wünscht er ihnen auch. auch Journalisten. Hel- „Das haben Sie sich verdient“, sagt er. mut Lölhöffel, 55, Kor- Nach Scherz klingt das nicht, eher ein respondent der „Frank- bisschen zickig: Soll sie sich doch den furter Rundschau“: Buckel krumm rackern, die Bande. Als am „Hier in Berlin ist nächsten Morgen in einem Berliner Hotel ein äußerst rücksichtslo- der Parteitag beginnt, prangen in der Vor- ser Konkurrenzkampf halle zwei Limousinen genau vor der Presse- lounge. Ihre Frontpar- tien sehen aus wie Ge- sichter, die breit grinsen. Triumphiert da einer über seine Widersacher? Einen Herbst des Miss- vergnügens haben Ko- alition und Presse in Berlin miteinander er- lebt. Die Politiker ärger- ten sich über, wie sie fan- den, fiese Schlagzeilen,

die Journalisten über M. URBAN verschlossene Politiker. Kanzler Schröder, Pressevertreter* Nun sind manche belei- Misstrauen statt offenem Umgang digt und viele nach- denklich. Es stimmt etwas nicht mehr im um Exklusivnachrichten Verhältnis von Bundespolitikern und Kor- ausgebrochen. Alle wol- respondenten, einem der wichtigen Schar- len an diesem Ort wahr- niere der Demokratie. In Bonn tat es über genommen werden, zur Jahrzehnte geschmeidig seinen Dienst, in Not mit irgendwelchen Medienobjekt Schäuble: „Alle wollen wahrgenommen werden, zur Berlin quietscht und hakelt es. Schnulli-Meldungen.“ Schröder, heißt es, sei misstrauisch ge- Das Symbol des Kampfs um Nachrich- leben will, muss brüllen, muss schubsen, worden. Joschka Fischer auch. Und SPD- ten ist die Meute. Die Meute ist in Berlin muss boxen. Fraktionschef Peter Struck ganz beson- so groß wie nie, mitunter hundert Köpfe „Wie die ersten Menschen“, sagt Wolf- ders. Misstrauen ist ein neues, böses Wort stark. Sie lauert vor dem Reichstag, vor gang Schäuble. In der Meute trägt man Ka- in einer Szene, die vom offenen Umgang dem Kanzleramt, vor den Parteizentra- meras und macht Bilder. Die Journalisten miteinander lebt. Nun hocken gerade len. Die Stangen der Mikrofone sind des Wortes stehen am Rand und denken gereckt wie Lanzen. Taucht ein Gesicht sich ihren Teil: Das Privatfernsehen hat die * Am Presseabend vor der SPD-Parteitagseröffnung in auf, das eine Nachricht verspricht, stürmt Standards zerstört, es geht nur noch um Berlin am 6. Dezember. die Meute los. Wer in der Meute über- Bilder, um Wortschnipsel … die alte Ge-

96 der spiegel 51/1999 schichte. Sie stimmt noch, aber jetzt gibt es Wer sich in den drei Redaktionen um- che bieten wie die Überregionalen.“ Di eine Fortsetzung. hört, trifft auf einen Sumpf von Vorwürfen Lorenzo vom „Tagesspiegel“ will das auch. Kurt Kister, 42, Ulrich Deupmann, 34, und Missgunst. Die „Süddeutsche“ bau- Delikat wird das Ganze, weil beide von und Giovanni di Lorenzo, 40, sind seriöse sche ein nichtiges Rentenpapier zur Sen- der „Süddeutschen“ kommen. Journalisten und arbeiten für seriöse Zei- sation auf, die „Berliner Zeitung“ spitze Kister antwortet auf die Herausforde- tungen. Kister ist der Bürochef der „Süd- maßlos in ihren Berichten über den Atom- rung mit der denkbar größten Kränkung deutschen Zeitung“ in Berlin, Deupmann streit zu, der „Tagesspiegel“ mache einen für die Herausforderer. Er akzeptiert sie leitet das Bundesbüro der „Berliner Zei- – grünen – Politiker fertig, nur weil der nicht als solche: „Wir konkurrieren nicht tung“, und di Lorenzo ist Chefredakteur eine hohe Stimme habe. Außerdem wirft mit diesen beiden Zeitungen, wir sind in ei- beim Berliner „Tagesspiegel“. Wenn von die „Süddeutsche“ der „Berliner Zeitung“ ner Liga mit der ‚FAZ‘.“ Kister schrieb ei- ihren Blättern die Rede ist, taucht neuer- unseriösen Umgang mit einem vertrauli- nen Leitartikel, in dem er „Exklusiveritis dings ein zweites Adjektiv auf: aggressiv. chen Zitat vor. Von „Heuchlern“ ist die und die Lust am Krakeelen“ kritisierte. „Natürlich sind wir aggressiver geworden“, Rede, von „zirkushaftem Journalismus“. Das lasen die Konkurrenten als Kritik aus dem Glashaus. Di Lorenzo vom „Tages- spiegel“ kontert: „Was auch für Irritationen sorgt, ist die Entdeckung, dass einige kein Monopol mehr haben auf exklusive Nach- richten.“ Es geht um den Markt der exklusiven Nachrichten. Das Angebot ist äußerst be- grenzt, die Nachfrage in Berlin größer denn je. Das führt Journalisten in Versuchung. Deupmann schildert eine: „Wenn ein Po- litiker bei einem Hintergrundgespräch etwas Vertrauliches sagt, sitzen da 20 Kol- legen und haben Angst, dass sich einer nicht an die Abmachung hält. Denn dann war man der Idiot, weil man nicht vorne war.Wir wollen die Standards halten, aber es ist verdammt hart geworden.“ Das Wort des Herbstes ist Streit. Streit in der Koalition, Streit bei den Grünen, Streit in der SPD. Gab es nicht heute wieder Streit im Kabinett, wird die stellvertreten- de Regierungssprecherin Charima Rein- hardt gern gefragt, wenn sie an den Sit- zungen der Regierung teilgenommen hat. Manchmal muss sie Ja sagen.Aber manch- mal sagt sie: „Nein, so leid es mir tut, es gab keinen Streit.“ Wenn sie am nächsten Tag die Berichte sieht, auch in seriösen Blättern, denkt sie immer häufiger, sie sei „in einem anderen Film gewesen“. Liest man in den drei Zeitungen noch einmal die Überschriften des Herbstes nach, finden sich in Sachen Koalition grelle Wor- te (heftiger Streit, Regierung gelähmt), aber so gut wie keine exklusiven Nachrichten von Bedeutung. „Es werden“, sagt Kurt Kister von der „Süddeutschen“, „häufiger aus Nichtigkeiten Nachrichten gemacht. Daran sind auch wir beteiligt, das möchte ich gar nicht bestreiten.“ Ulrich Deupmann von der „Berliner Zeitung“ erzählt, dass bei wachsender Nachfrage nach Exklusivgeschichten die Bereitschaft steige, ein Dementi in Kauf

A. VOELKEL / MELDEPRESS zu nehmen, sprich: etwas Falsches zu mel- Not mit irgendwelchen Schnulli-Meldungen“ den. Es klingt, als rede er über die anderen. Dabei sitzen alle im selben Boot, auch sagt Deupmann über seine Zeitung. Für Eine Meute der Schreibstuben? „Politi- die Korrespondenten vom SPIEGEL. Sie die anderen gilt das Gleiche. scher Journalismus ist mehr und mehr zum haben den Vorteil, nicht täglich um Leser Es gibt viele Gründe für die aufgeheizte Raubtiergeschäft geworden“, sagt der Ab- kämpfen zu müssen, aber den gestiegenen Stimmung: mehr private Sender, ahnungs- geordnete Norbert Blüm. Konkurrenzdruck spüren auch sie. lose Neulinge im Geschäft, das Wühlen des In der Bonner Republik waren „Süd- Nun droht den Printmedien die gleiche Boulevardblatts „B. Z.“ nach privaten Ge- deutsche“ und „Frankfurter Allgemeine“ Entwicklung wie dem Fernsehen: der Tri- schichtchen für die Rubrik „Schröder täg- unangefochten die führenden Tageszeitun- umph des Symbols über den Gedanken, lich“. Aber das eigentlich Neue ist, dass gen. Nun kommt Deupmann von der „Ber- des Moments über den Verlauf. Es war oh- drei seriöse Blätter aggressiver werden. liner Zeitung“ und sagt: „Ich will das Glei- nehin ein rasantes Jahr: Krisen in der Ko-

der spiegel 51/1999 97 Medien alition, Krieg, Schröders Auferstehung, Kohls Fall. Auch das tägliche Geschäft hat sich beschleunigt. Termin jagt Termin, ein Statement reiht sich ans nächste. Wo sind die langen Linien der Politik? Es fehlt Orientierung, und die Balgerei um die schnelle Nachricht sorgt zusätzlich für Ver- wirrung. Deupmann: „Wir brauchen eine Diskussion über journalistische Standards.“ Die Meute nimmt Witterung auf. Der Kanzler betritt das Podium beim Parteitag der SPD. 50 Fernsehkameras, 100 Fotoap- parate schwenken auf Schröder, und der vergisst nie, ihnen das zu geben, was sie brauchen. Begrüßt er Wolfgang Thierse, guckt er kurz Thierse in die Augen, dann lange in die Objektive. Rudolf Scharping. Heidemarie Wieczorek-Zeul. Regine Hil- debrandt, egal, wen Schröder begrüßt, im- mer füttert er die Meute. Der Kanzler ist ihr heimlicher, wahrer Anführer. Die Meu- Auftrieb bei einer Pressekonferenz in Berlin*: te folgt am liebsten ihm, und er hat sie gern bei sich. Erst machten alle so weiter wie gewohnt, Niemand hat sich so auf die Medien ein- „weil wir den Rollenwechsel viel zu wenig gelassen wie Schröder, hat sie benutzt und realisiert haben“, sagt Rezzo Schlauch, Chef sich von ihnen benutzen lassen, um gegen der grünen Bundestagsfraktion. „Wir haben seine Partei Kanzler zu werden. Seither so unbefangen in die Mikros geplaudert wie hat man vor allem Enttäuschungen mit- zu Oppositionszeiten.“ Weil jeder etwas an- einander erlebt. deres sagte, war es leicht für die Journalis- Es geht auch um eine Generation, die ten, Streitstorys zu schreiben. Nun werden der 50- bis 60-Jährigen.Als die Journalisten sie vor Gesprächen mit Politikern häufiger dieser Jahrgänge in Bonn anfingen, waren zur Verschwiegenheit verpflichtet. Das ist R. KLOSTERMEIER / VISION R. KLOSTERMEIER J. RÖTZSCH / OSTKREUZ RÖTZSCH J. Journalisten Kister, di Lorenzo, Deupmann: Wozu Dinge wissen, die der Leser nicht wissen sie begeistert von Willy Brandt, von der vielen ein Ärgernis.Wozu Dinge wissen, die Ostpolitik. Man trank in denselben Knei- der Leser nicht wissen darf? pen wie die jungen Sozialdemokraten, hat- „Kumpelhafte Vertraulichkeit zurück- te dieselben Ideale, dieselben Ziele. Als zudrehen ist verdammt schwer“, sagt ein Joschka Fischer und die Grünen 1983 in Berater des Kanzlers. Man enttäuscht Jour- den Bundestag einzogen, wurde die Bru- nalisten, die ohnehin enttäuscht sind. Denn derschaft erweitert. Nun hatte man auch die Politik der Regierung entspricht nicht denselben Gegner: Helmut Kohl. dem, was die Bruderschaft einst verband: Nähe war ohnehin ein Bonner Problem. Sie ist nicht links. Die Enge, das tägliche Miteinander, mor- Während Schröder und Fischer ihre Idea- gens, mittags, abends, die schnellen le im politischen Alltag abgeschliffen haben Freundschaften, die wohltuende Kamera- und nun einen Krieg führen können oder derie mit der Macht. In der Bruderschaft soziale Gerechtigkeit neu definieren, hal- kam noch die Ideologie dazu. Es war so ten viele Journalisten dieser Generation an richtig nett, miteinander links zu sein. Im Herbst 1998 haben die Politiker die * Mit Helmut Kohl, Wolfgang Schäuble und Angela Mer- Rollen gewechselt, die Journalisten nicht. kel am 30. November.

98 der spiegel 51/1999 schen Zeitung“. „Natürlich habe ich einen politischen Ort, aber der ist nicht Aus- gangspunkt meiner Berichterstattung.“ Auch das stößt auf Misstrauen. Schwen- nicke hat das Gefühl, dass er ältere Politiker irritiert. Denen sei es am Ende lieber, sie hätten mit einem Journalisten aus dem an- deren Lager zu tun als mit einem, den sie nicht einschätzen könnten. Und er meint zu spüren, dass ältere Politiker mit seinem Stil nicht klarkämen. Wie der ist? „Ver- glichen mit der Generation der älteren Jour- nalisten distanzierter“, sagt Schwennicke. Nicht zufällig sind er und Lölhöffel der- zeit über Kreuz. Lölhöffel hat Schwennicke in seiner Preisrede angegriffen, weil der in einem Artikel einen Streit bei den Sozial- demokraten aufgebauscht habe. Schwen- nicke bestreitet das, findet aber selbst die

F. DARCHINGER F. Überschrift zu hart: „Struck wird der Die Meute nimmt die Witterung auf Strick gedreht“. In seiner Rede hat Lölhöffel den Ein- den Idealen fest. „Mein Herz schlägt links“, druck erweckt, als sei vor allem er es, der, sagte Helmut Lölhöffel von der „Frankfur- weil altmodisch, die Standards des Jour- ter Rundschau“ kürzlich in einer Rede, als nalismus wahre. Das hat jüngere Kollegen ihm der Medienpreis des Deutschen Bun- erbost. Es herrscht wirklich keine gute destags verliehen wurde. Stimmung rund um den Reichstag. Man kann zudem den Eindruck haben, Die Meute zürnt. Da ist ein Seil, und das dass die Politiker dieser Generation schnel- hält sie auf. Die Meute schiebt und schubst, ler im neuen Berlin heimisch geworden sind aber da sind auch Männer mit breiten Schul- als die Journalisten. Die eleganten Restau- tern. Diesmal kommt die Meute nicht durch rants am Gendarmenmarkt, wo man jetzt zu Schröder, der am Kanzlertisch Platz nimmt mit seiner Frau. Presseabend vor dem Parteitag der SPD.An Schröders Seite dürfen sich nur Chefredakteure, Herausge- ber und Redaktionsleiter niederlassen. Nun beginnt etwas, das der Reise nach Jerusalem gleicht. Wer bekommt den frei- en Stuhl? Die Chefredakteure, Herausge- ber und Redaktionsleiter lauern in Blick- nähe zu Schröder. Der winkt sie herbei oder auch nicht. Hier vergibt einer seine Gunst wie ein Fürst. Nie war der Medien- kanzler Schröder dem Journalistenveräch- ter Kohl ähnlicher. Berliner Metamorphosen. Der „poli- tisch-publizistische Komplex“ (Schwen- nicke) ist ziemlich durchgeschüttelt. Man- che Veränderungen haben in Bonn begon-

M. FRÖHLING nen, schlagen jetzt voll durch. Das Schar- darf nier quietscht. Aber es hat auch Vorteile, wenn der Betrieb nicht so gut geölt läuft miteinander isst, sie passen gut zu den ele- wie in Bonn. Die Enttäuschungen und ein ganten Anzügen eines Schröder oder Fi- Wechsel der Generationen könnten Dis- scher. Während Lölhöffel beklagt, rund um tanz schaffen zwischen Beobachtern und sein Redaktionsbüro würden schicke Ge- Beobachteten. Die Unabhängigkeit der schäfte – zum Beispiel eine Maßschneiderei Presse würde gestärkt. – die alten Mieter vertreiben, hätte der Dabei hilft die Geografie. Das Berliner Kanzler kaum etwas dagegen, sich dort ein- Regierungsviertel ist viel größer als das mal nach neuen Anzügen umzuschauen. Bonner. Wegen der weiten Wege geht Da läuft eine Menge auseinander. Man- Schwennicke seltener zu Pressekonferen- che der älteren Journalisten sind erst gar zen, schaltet lieber den Sender Phoenix ein, nicht mitgegangen, sondern bei ihren Häus- der die wichtigen Termine live überträgt. chen in Bonn geblieben. Nun rücken die So begegnet er seltener Politikern, was auf 30- bis 40-jährigen Korrespondenten nach die Dauer Distanz schafft. Aber auch da vorn, eine Generation ohne ideologisches gibt es einen Unterschied zwischen den Ge- Bekenntnis. „Ich lasse mich politisch nicht nerationen. Helmut Lölhöffel scheut den so verorten“, sagt Christoph Schwennicke, Zeitverlust durch lange Wege nicht. „Man 33, Berliner Korrespondent der „Süddeut- muss halt schneller schreiben.“ ™

der spiegel 51/1999 99 Medien

Doch am nächsten Morgen, beim offizi- beide Seiten.Während Larass noch für sei- VERLAGE ellen Treffen der Springer-Kontrolleure, ne Sache stritt, ging es den Eigentümern war die Eintracht schnell dahin. In der fünf- ums Grundsätzliche. Der große Larry einhalbstündigen Sitzung des Arbeitsaus- Die Sitzung ging weiter – ohne Larass. schusses kam es zum Eklat – über ein für Längst hatte der Zwist eine für ihn gefähr- Der neue Chef bei Springer ist sich genommen banales Problem. liche Eigendynamik entwickelt. Plötzlich Hingebungsvoll diskutierte die Runde wurde nicht mehr die Aufgabenteilung im der alte: August Fischer. die Frage aller Fragen: Welche Rolle soll künftigen Vorstand diskutiert, sondern sei- Zeitungsvorstand Claus Larass Döpfner künftig bei der „Welt“ spielen? ne Eignung als Vorstandschef. hat sich auf dem Die des journalistisch aktiven Herausge- Ist dieser Mann wirklich der Richtige, Weg nach oben verstolpert. bers, so wie es Larass wollte? Oder auch einen Großkonzern zu führen? Warum die des kaufmännisch Verantwortlichen, kämpft er so verbissen um jede Kleinig- m August war Claus Larass ganz oben wie es die Eigentümer gern gesehen hät- keit? Und woher kamen eigentlich all die angekommen, fast ganz oben. Verlege- ten? Musste der junge Mann, der mit der voreiligen Pressemeldungen über die Top- Irin Friede Springer hatte dem früheren „Wochenpost“ und der „Hamburger Mor- Personalien in einer Ära Larass? Darf sich „Bild“-Chef und heutigen Zeitungsvor- genpost“ nur Verlustblätter geführt hatte, ein künftiger Vorstandschef so energisch stand Larass, 55, signalisiert, er solle künf- in die Ressortverteilung einmi- tig an die Spitze von Europas größtem schen, die laut Satzung dem Zeitungshaus rücken. Auch der zweite Aufsichtsrat vorbehalten ist? Großaktionär, TV-Unternehmer Leo Kirch, Darf er nicht, sagten die Ei- war einverstanden. gentümer – und waren sich bald Dann die überraschende Wendung: Die- einig: Larass müsse noch auf se Woche stand der gelernte Boulevard- der Zielgeraden gestoppt wer- journalist (Spitzname: „Larry“) vor der den, trotz der katastrophalen wohl größten Niederlage seines Lebens. Außenwirkung. Die ihm unterstehende „Bild“-Zeitung Der Rest war schnell geklärt. meldete auf Seite zwei: „Fischer bleibt Döpfner wird zunächst ohne Springer-Chef bis 2001“. Geschäftsbereich in den Vor- Larass, Kumpeltyp und Kulissenschie- stand berufen. Bis zum An- S. SCHRAPS ber, hatte sich verstolpert. Die Verlags- A. FROESE / CARO trittstermin, ohnehin erst für konkurrenz schaute belustigt zu, viele Aufsteiger Döpfner Beinahe-Chef Larass Januar 2001 vorgesehen, sei Springer-Mitarbeiter dagegen reagierten schließlich ausreichend Zeit, fassungslos auf das Treiben in der Chef- über die Frage der Zuständig- etage. Die Haupteigentümer Friede Sprin- keit zu entscheiden. Und auch ger (50 Prozent plus eine Aktie) und Leo Alt-Chef Fischer kam zu neuen Kirch (40 Prozent) hatten – wieder mal – Ehren. Sicherheitshalber hatte gezeigt, wer Koch und wer Kellner ist im man sich vorab seine Zustim- Hause Springer. mung zu einer möglichen Ver- Seit dem Tod des Verlagsgründers Axel tragsverlängerung gesichert. Cäsar Springer im Jahr 1985 gaben sich die Nach dem Paukenschlag im Chefs die Klinke in die Hand. In der kur- Arbeitsausschuss blieb dem Ple- zen Zeit sind 11 Vorstände und 5 Vor- num, das ab 14 Uhr tagte, nicht standsvorsitzende verschlissen worden. mehr viel zu tun. Einstimmig Knapp 100 Millionen Mark waren im „Toll- wurde die Notlösung Fischer haus Springer“ („Manager Magazin“) für verabschiedet. Abfindungen fällig. Am Tag danach herrschte an Diesmal sah alles nach geordneter Über- Schuldzuweisungen kein Man- gabe aus. Noch am Montagabend dieser gel. Larass habe sich um Kopf

Woche, beim Gänseessen in der Villa des PRESS H.-G. GAUL / ACTION und Kragen geredet, so emp- Berliner Unternehmers und Springer-Auf- Verlegerin Springer, Manager Fischer: Später Stopp fanden es die Eigentümer. „Die sichtsrats Klaus Krone, herrschte vorweih- haben nicht erkannt, dass für nachtliche Harmonie. Aufsichtsräte und nicht endlich zeigen, dass er auch das Zeug ihn die Schmerzgrenze erreicht war“, er- Vorstände waren zu dem Festschmaus er- zum Manager hat? klärt dagegen ein Vertrauter von Larass. schienen. Alle wussten: Der Vertrag für Der Neuling, so die Aufsichtsräte, solle Bei Springer wird der Mann wohl kaum den großen „Larry“ war schon geschrie- das hoch defizitäre Blatt (geschätzter Jah- länger arbeiten können, das Vertrauens- ben, und auch die anderen wichtigen Per- resverlust: 70 Millionen Mark) erkennbar klima ist zerstört. An Angeboten anderer sonalien standen weitgehend fest . in Richtung Gewinnzone steuern, quasi als Verlage dürfte es dem Vollprofi in den Mit der Berufung von Larass sollte auch Gesellenstück. Auch Döpfner, vom Ar- nächsten Wochen nicht fehlen. eine Verjüngung der Führung einhergehen beitsausschuss zu seinen Ambitionen be- Bei Gruner + Jahr-Chef Gerd Schulte- – darin waren sich alle einig. Achim Twar- fragt, drängte auf echte Zuständigkeit. Hillen jedenfalls steht Larass hoch im Kurs. dy, 39, Chef der „Bild“-Gruppe, würde Nur Larass stellte sich stur. Er argumen- Der Verlagsmanager hatte ihm erst im den Zeitungsbereich übernehmen, „Welt“- tierte, gab zu bedenken, widersprach – und Sommer einen Vorstandsposten angeboten Chef Mathias Döpfner, 36, sollte sich, er drohte. „Das können Sie mit mir nicht – und auch in der Chefredaktion der Illu- ebenfalls im Range eines Vorstandsmit- machen“, kommentierte er die neu aufge- strierten „Stern“, die trotz neuer Führung glieds, um die neuen elektronischen Ge- brachte Idee, Döpfner möglicherweise ne- an den alten Auflagenproblemen leidet, schäfte im Internet und gleichzeitig auch ben der „Welt“ auch noch die Führung der gibt es womöglich Bedarf. Dann wäre der weiter um die „Welt“ kümmern, die er restlichen „blauen Gruppe“ („Welt am Journalist Larass da, wo er hingehört – doch so erfolgreich belebt hat. So war es Sonntag“, „Euro am Sonntag“) zu über- ganz oben. Konstantin von Hammerstein, geplant. tragen. Das war zu viel der Zumutung – für Hans-Jürgen Jakobs

100 der spiegel 51/1999 Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite Szene Gesellschaft

SACHBUCH Deutsche MODE Streichel-Muffel Ich war ussen, Franzosen und Italiener küs- Rsen sich zur Begrüßung bis zu drei- eine Dose mal auf die Wangen, Deutsche geben sich distanziert die Hand. Sie seien, ur- er Neujahrsmorgen teilte der Anthropologe Ddürfte für sie der lu- Ashley Montagu vor fast krativste Tag des Jahres 30 Jahren, „jeglicher Be- werden: Chusa Lanzuela rührung noch mehr abge- Gracia, 36, alias Miss Lata neigt als die Engländer“. (Fräulein Dose) macht Woher kommt sie bloß, Mode aus allem, das die die deutsche Berührungs- Wegwerfgesellschaft hinter angst, fragt sich der Berli- sich lässt. In ihrem Atelier ner Autor Florian Felix im Berliner Szeneviertel Weyh, 36, in seinem Essay Prenzlauer Berg hämmert „Die ferne Haut“ (Auf- und nietet die Spanierin bau-Verlag). Zufrieden Rüstungen für den Groß- scheinen die untaktilen städter. Für Bewegungsfrei- Deutschen ja nicht zu sein: In den Sieb- heit sorgen Röcke aus ge- zigern zogen sie in Scharen nach Poona färbten Filmstreifen, Tele- zum Berührungsapostel Bhagwan, heu- fonkarten oder gewalzten te kommt auf jeden Vierten ein strei- Kronkorken. Aus welcher chelbares Haustier. Fazit: Es ist der Verpackung Miss Latas be- Wurm drin im deutschen Körpergefühl. wohnbare Gesamtkunst- Nach dem Geschlechtsakt, wunderte werke sind, soll der Be- sich schon Montagu, ziehen sich deut- trachter erst auf den zwei- sche Männer meist in ihre einzelnen ten Blick erkennen. Wer Betten zurück, um den Rest der Nacht weniger auffällig einsteigen in behaglichem Kontaktmangel zu ver- will, schmückt sich mit ei- bringen. Schuld daran, glaubt Weyh, sei ner Kette aus gerollten Jo- die Pille, sie habe die Frau der Mütter- ghurtdeckeln. Ihre Vorliebe lichkeit beraubt und den Mann des Ver- für Müll (den sie lieber antwortungsgefühls. Wie wir Deutschen „Material“ nennt) erklärt aus der Malaise rauskommen, verrät er die Künstlerin mit ihrer nicht. Dafür erfährt der Leser, auch Kindheit im aragonischen Weyh sei gegen „plumpe Vertraulich- Teruel: „Wir bekamen kein keit“ und „kein Autor zum Anfassen“. Spielzeug, also spielten wir

Zustimmung bitte schriftlich. Eigentlich mit Dingen, die wir auf der / OSTKREUZ A. SCHÖNHARTING schade. Oder bloß einfach typisch Straße fanden.“ Miss Lata deutsch?

KONSUM SPIEGEL: Eine moderne Art der Konsum- kann, oder einen Würfel, der einem die kritik? Kaufentscheidung abnimmt, gibt es Shoppen mit Sticker Wilske: Nein. Wir verkaufen unsere Pro- nicht umsonst. Wir wollen zum fröhli- dukte. Den Moneysticker, eine Frage, chen, bewussten Kaufen animieren. Judith Wilske, 30, Hamburger Ökono- die man auf einen Geldschein kleben SPIEGEL: Kurz vor Weihnachten sind die min und Mitinitiatorin des Unter- Menschen eher gestresst. Konnten Sie nehmens „Why Do You Shop?“, über helfen? glückliches Einkaufen Wilske: Wir hatten jedenfalls enormen Zulauf. In unserem Caravan fanden SPIEGEL: Frau Wilske, Sie touren zu siebt lange Gespräche statt. Die Besucher mit einem Caravan durch europäische empfanden es als entspannend, bei uns Städte und verpassen einkaufenden Tee zu trinken und sich über ihre Ent- Menschen Denkanstöße. Wollen Sie das scheidungsschwierigkeiten beim Ein- Einkaufen abschaffen? kaufen zu unterhalten. Letzte Woche Wilske: Keineswegs. Einkaufen ist etwas in Münster sagten uns mehrere Gäste, Schönes. Wir wollen den Leuten bewusst die Atmosphäre bei uns sei richtig machen, was sie tun. Also stellen wir Fra- weihnachtlich – im Gegensatz zur bis

gen wie: Was machen Sie mit Ihren Fehl- H. WITTE an die Schmerzgrenze hektischen In- käufen? Oder: Was bedeutet Ihnen Geld? Wilske, Partner nenstadt.

der spiegel 51/1999 103 ZDF Beatle McCartney beim „Wetten, dass …?“-Auftritt*: „Dem Rock’n’Roll habe ich zu verdanken, dass ich mit John Lieder schrieb“

SPIEGEL-GESPRÄCH „Linda passt auf mich auf“ Der britische Popstar Paul McCartney über nie erzählte Geschichten aus den Tagen der Beatles, seine Ratschläge an Michael Jackson, die Trauer um seine verstorbene Ehefrau Linda und sein neues Rock’n’Roll-Album „Run Devil Run“

SPIEGEL: Mr. McCartney, ein Londoner zität: Es garantierte, dass es tatsächlich SPIEGEL: Bei dem Konzert und bei Ihrem Händler bietet derzeit „fünf dunkle Haa- George Harrison war, der von dieser „Wetten, dass …“-Auftritt präsentieren Sie re“ von Ihnen für knapp 1500 Mark an. Toastscheibe abgebissen hatte. gemeinsam mit dem Deep-Purple-Schlag- Staunen Sie noch manchmal über den Irr- SPIEGEL: War der Toast wenigstens mit Mar- zeuger Ian Paice und dem Pink-Floyd- sinn der „Beatlemania“? melade bestrichen? Gitarristen David Gilmour Stücke Ihres neu- McCartney: Haben Sie vielleicht eine Sche- McCartney: Natürlich nicht, sonst wäre es en Rock’n’Roll-Albums „Run Devil Run“. re dabei, muss ich mich in Acht nehmen? nicht so ein Schnäppchen gewesen. Dass Werden Sie mit dieser Rückkehr in die fünf- Im Ernst: Seit den ersten wilden Beatles- meine Kinder von der Toast-Geschichte ziger Jahre nun noch mal richtig sentimental? Jahren habe ich mich damit abgefunden, gehört hatten, stellte ich kurz darauf McCartney: Ganz und gar nicht. Aber dass die Welt verrückt ist. Trotzdem bin beim Frühstück fest. Sie sagten: „Dad, du eine Platte mit Rock’n’Roll gehörte zu ich immer wieder mal fassungslos. Kennen musst das Brötchen nicht zu Ende den Dingen, die ich in diesem Jahrhundert Sie die Geschichte mit dem Toast? essen“, oder „Willst du das halbe Ei noch erledigen wollte. Das hatte ich ei- SPIEGEL: Nein, noch nicht. wirklich noch? Lass uns doch den Tisch gentlich schon mit den Beatles vor. Dem McCartney: Eine Scheibe Toast, die George abräumen.“ Rock’n’ Roll habe ich viel zu verdanken, Harrison halb gegessen irgendwo zurück- SPIEGEL: Die Verehrung Ihrer Fans hat zum Beispiel, dass ich angefangen habe, gelassen hat, wurde mal für 40000 Dollar kaum nachgelassen: Für eine der raren Ein- mit John Lennon Songs zu schreiben. Als versteigert. Dazu bekam der glückliche trittskarten zu Ihrem Konzert im neu ge- wir damals begannen, traten wir in Läden Käufer ein Dokument über die Authenti- bauten Liverpooler Cavern Club boten wie dem Cavern Club mit bis zu sieben an- amerikanische Milliardäre Hubschrauber- deren Bands pro Abend auf. Das Problem Ausflüge und weibliche Fans Sex. bestand darin, dass alle Bands nur *Am 11. Dezember in Böblingen. Das Gespräch führten die Redakteurin Marianne Wel- McCartney: Das habe ich gehört. Ich weiß Rock’n’Roll nachspielten, Fats Domino, lershoff und Mitarbeiter Christoph Dallach. nicht, ob die Gebote angemessen sind. Little Richard, Chuck Berry und so weiter

104 der spiegel 51/1999 Gesellschaft

tritte hatten. Ein Ort, an den Japaner und Amerikaner in Massen pilgerten. Und was machten die schlauen Beamten? Sie schüt- teten den alten Club in den Siebzigern von einem auf den anderen Tag zu. Da war ich wirklich fassungslos. SPIEGEL: Das Grundstück wurde dann als Parkplatz genutzt. McCartney: Hören Sie bloß auf. Ich mag gar daran nicht erinnert werden. Joni Mit- chell hat zu dem Thema den Song „Big Yellow Taxi“ verfasst: „They paved para- dise and put up a parking lot.“ (Sie haben das Paradies gepflastert und einen Park- platz draus gemacht.) Ich muss jetzt in ei- nem Nachbau auftreten. Aber es ist im- merhin auf derselben Straßenseite. SPIEGEL: Wollen Sie auch im nächsten Jahr- tausend Beatles-Historie aufarbeiten? McCartney: Nein. Und „Run Devil Run“ ist auch nicht die Beatles-Geschichte, sondern meine. Ich und auch John hatten den Rock’n’Roll lange vor den Beatles entdeckt. Er hat später eine Rock’n’Roll-Platte auf- genommen, und nun habe ich nachgezo- gen. Aus. Ich würde demnächst gern mal Lieder aus der Zeit lange vor den Beatles aufnehmen. Cole Porter, George Gershwin, Fred Astaire: „Heaven, I’m in Heaven …“ – oh, ich liebe das.

APPLE CORPS LTD. (o.);APPLE CORPS LTD. AP (u.) SPIEGEL: Die Rechte an vielen dieser Klas- Die Beatles in der Londoner Abbey Road (1969): „Ruhm ist ein Kinderspiel“ siker hält ohnehin Ihr Musikverlag, mit des- sen Katalog Sie viel Geld einnehmen. An – und da wir oft am Schluss drankamen, Lieder auf dem neuen Album sind nicht ir- Ihren eigenen Stücken verdienen jetzt an- waren die besten Lieder meist weg. gendwelche Klassiker für mich, sie sind wie dere: Wie kam es, dass Michael Jackson SPIEGEL: Und was haben Sie dann gespielt? eine Zeitreise. Ich schließe die Augen und die Rechte der Lennon/McCartney-Songs McCartney: Wir haben uns obskure Stücke sehe John vor mir, wie er nach einer langen gekauft hat? gesucht, die keiner kannte, wie die B-Sei- Nacht auf dieser Matratze hockt, sich müde McCartney: Ausgerechnet ich habe ihn erst ten von Hit-Singles. Und wir fingen an, ei- die Augen reibt und eine Platte umdreht. auf diese Idee gebracht. gene Songs zu schreiben. Beides hören Sie SPIEGEL: Haben Sie der guten alten Zeit SPIEGEL: Wie das? auf „Run Devil Run“. wegen das Album auch wieder in den le- McCartney: Damals, als der kleine Michael SPIEGEL: Durch den Rock’n’Roll haben Sie gendären Londoner Abbey-Road-Studios mit seinem Album „Off the Wall“ zum ers- auch John Lennon kennen gelernt? eingespielt? ten Mal vom großen Erfolg überrollt wur- McCartney: John hatte diese Wohnung ge- McCartney: Ich arbeite da gern, weil sich de, kam er ganz verschüchtert an und bat mietet, die er sich mit Stuart Sutcliffe teilte. seit den Beatles-Tagen so gut wie nichts um Beistand: „Paul, was muss ich nun tun?“ Gambier Terrace, zweiter Stock. Ein großer verändert hat, und ich bin für alles dank- Okay, sagte ich, drei Dinge sind wichtig: Raum mit Blick auf Liverpools Kathedrale. bar, was von damals erhalten ist. Einer mei- Erstens, du machst nun sehr viel Geld, sorg Die Einrichtung war simpel: eine Matratze, ner Freunde beschwert sich immer, dass es dafür, dass es von Profis verwaltet wird – ein Plattenspieler und ein Aschenbecher. in den Studios so muffig riecht. Das finde also feuerte Michael seine Finanzberater. SPIEGEL: Klingt nach dem perfekten Jungs- ich nicht. Für mich riecht es nach zu Hau- Zweitens, mach gute Videos, die sind in der Club. Hatten Mädchen Zutritt? se. Aber alle Besucher meinen, einen spe- Zukunft für den Erfolg sehr wichtig – also McCartney: Es war phantastisch. Da hin- ziellen Geruch wahrzunehmen. drehte er den Film zu „Thriller“. Und drit- gen wir ab, redeten endlos und träumten SPIEGEL: Sie sind Traditionalist. tens, wahre nicht nur die Rechte an deinen vom Rock’n’Roll. Mädchen waren uns im- McCartney: Die Neigung, wertvolle Origi- Kompositionen, investiere auch in andere. mer willkommen, sehr sogar. Aber keine nale ohne nachzudenken zu vernichten, ist Damit lässt sich angenehm Geld verdienen. wollte, obwohl wir uns weit verbreitet. Meister Also, sagte er, kaufe ich am besten deine wirklich nach allen Kräften darin sind zum Beispiel die Songs. Ich hielt das für einen guten Witz. bemüht haben. Gentlemen von der Liver- Und das nächste, was ich von ihm höre, ist, SPIEGEL: Kaum vorstellbar, pooler Stadtverwaltung. dass er meine Beatles-Lieder gekauft hat. später waren Sie immerhin Die hatten in ihrer Stadt SPIEGEL: Sie sind immer noch empört? zwei der größten Mädchen- nur eine einzige Attraktion, McCartney: Ich habe ihn damals leider nicht schwärme des Rock’n’Roll. die an die Beatles erinner- ernst genug genommen. Er hätte mit mir Was war das Problem? te – abgesehen von unseren darüber wirklich noch mal sprechen sollen. McCartney: Wir waren zu Elternhäusern: den Cavern Aber meine Lieder haben Michael Jackson jung, zu albern und zu oft Club, also den Ort, an dem kein Glück gebracht. Er hat sich da finan- betrunken. Und wenn ich die Beatles ihre ersten Auf- ziell ein wenig übernommen und musste daran denke, werde ich bald die Hälfte der Rechte an seine Plat- natürlich doch ein wenig Paul, Linda McCartney (1993) tenfirma Sony abtreten. Tja, dumm gelau- sentimental. Die meisten „Verrückt und liebevoll“ fen. Mit mir müssen Sie aber kein Mitleid

der spiegel 51/1999 105 Dann mag man den nämlich nicht mehr. Man denkt: „Was für ein Bastard! Gräss- licher Typ.“ Das passiert auch anderen, es spricht sich rum, und dann will auch keiner mehr die Platten haben. Ich wollte lieber gemocht werden, und es ist einfach pro- fessionell, den Fans Autogramme zu ge- ben. Ich war so etwas wie der PR-Mann der Beatles, was für mich auch in Ordnung war. John hat aber auch ziemlich oft Auto- gramme gegeben. SPIEGEL: Deshalb galten Sie als der Nette bei den Beatles. John dagegen hatte den Ruf, unfreundlich, arrogant und unbere- chenbar zu sein. Stimmen die Vorurteile? McCartney: Nach außen hin war John rup- pig, hart, bösartig.Aber wenn man ihn ken- nen lernte, stellte man fest, dass er auch gute Seiten hatte. Er konnte zum Beispiel ausgesprochen lustig sein. Das Problem

CAMERA PRESS CAMERA war, dass er so viele Tragödien erlebt hat- Liverpooler Cavern Club (1962): „Ein Ort, an den Japaner in Massen pilgerten“ te, als er ein Kind war. Deshalb war er im- mer sehr wachsam und vorsichtig. Ich da- haben, ich verdiene über die Urheberrech- SPIEGEL: Ist das alles ein Spiel für Sie? gegen hatte eine ziemlich leichte, glückli- te noch genug mit meinen Platten. Obwohl McCartney: Musik ist so ein Spiel wie Ruhm. che Kindheit. Ich hatte eine große Familie, ich einige dieser Lieder wirklich gern zu- Ein Kinderspiel, ganz simple Regeln. Verwandte kamen zu Besuch, Babys wur- rück hätte. SPIEGEL: Und die Regeln des Ruhms ver- den geboren. Es war alles ganz normal – bis SPIEGEL: Sie hängen sehr an der Vergangen- stehen Sie komplett? meine Mutter starb. Da war ich 14 Jahre alt. heit – dabei könnte man annehmen, dass es McCartney: Wenn nicht ich, wer sonst? Ich SPIEGEL: Welche psychischen Folgen hatte ein harter Job ist, der ewige Beatle Paul wusste schon als Kind, wie das funktio- die unglückliche Kindheit für John? McCartney zu sein. niert, denn vor den Beatles war ich auch McCartney: Als er drei Jahre alt war, hat McCartney: Das ist schon in Ordnung. Die mal Fan. Ich bin damals nach allen Kon- sein Vater die Familie verlassen. Das hat Last ist ja auf zwei McCartneys verteilt, den zerten zum Bühneneingang gerast und ihn tief verletzt. Seine Mutter zog mit ei- Privatmann und die Medien-Erscheinung. habe die Musiker um Autogramme gebeten. nem anderen Mann zusammen, und John SPIEGEL: Wer sitzt vor uns? SPIEGEL: Wen zum Beispiel? musste bei seiner Tante leben. Dann starb McCartney: Ein Zwitter. Ich bin hier, weil McCartney: Eine Gruppe namens The Crew sein Onkel. John hatte damit zweimal er- ich das Album veröffentlicht habe, aber ich Cuts, die heute kein Mensch mehr kennt. lebt, wie die wichtigsten Männer in seinem rede wie bei einer privaten Unterhaltung. Sie hatte einen Hit mit dem Titel „Earth Leben ihn verließen. Sein kindliches Ge- Wirklich im Rampenlicht, bei Fernsehauf- Angel“. Das war zwar nur müt zog den Schluss dar- tritten, Fototerminen, steht immer der An- eine Cover-Version, aber aus, dass sie ihn beide nicht dere. Der Profi. Der Popstar. Das Idol. Und für ein Jahr war die Band liebten. Später schlug seine wenn ich nach Hause komme und mir eine ziemlich groß in England. erste Ehe fehl. Ich denke, Tasse Tee zubereite, sitzt da immer Paul, Die Musiker waren Ameri- er war innerlich tief ver- der Junge aus Liverpool, der immer noch kaner, sie hatten großartige letzt, und das hat auf seine staunt, was eigentlich los ist. Anzüge, und ich war sehr Persönlichkeit abgefärbt. SPIEGEL: Wie haben Sie Ihren Kindern die beeindruckt. Frankie Laine Wenn wir aber zusammen- zwei McCartneys erklärt? habe ich bewundert, oder saßen und er ein paar McCartney: Zu Hause heiße ich Dad. Das ist es gab den Trompeter Ed- Drinks genommen hatte, bei uns nicht anders als bei anderen Fami- die Calvert, den ich sehr zeigte er seine warmherzi- lien. Und später haben die Kinder gelernt, mochte. Ich habe also da- gen Seiten. dass wir McCartney heißen. Den anderen mals erlebt, wie das ist, je- SPIEGEL: Nur außerhalb der Paul haben sie zuerst im Fernsehen kennen manden zu bewundern. Beatles hatte niemand eine gelernt. Meine Tochter Stella, die heute Mo- Und als ich dann dieser Je- Ahnung von dieser Seite de-Chefdesignerin von Chloé ist, kam als mand wurde, verstand ich, seines Charakters. kleines Mädchen eines Tages an und wollte was die Fans fühlten. Des- McCartney: Doch, er war

wissen, was ich mit diesem Paul McCartney halb bleibe ich fast immer INTER-TOPICS immer gut für eine Überra- zu tun hätte: Daddy, bist du das? Das ist stehen und gebe Auto- Jackson-Video „Thriller“ (1982) schung. Ich erinnere mich, dann der Zeitpunkt, die Sache zu erklären. gramme. dass sein Chauffeur einmal SPIEGEL: Waren Sie in diesem Moment stolz SPIEGEL: Zählten Sie damals zu den harten zu ihm sagte: „Vielen, vielen Dank dafür, auf Paul, den Beatle? Fans, die stundenlang vor dem Hinterein- John, er gefällt uns sehr gut.“ Ich dachte: McCartney: Natürlich. Sehr stolz sogar. gang ausharren? „Was ist das? John hat eine gute Tat ge- SPIEGEL: Entwickeln sich Ihre beiden Per- McCartney: Nein, aber manchmal habe ich tan?“ Es stellte sich heraus, dass er seinem sönlichkeiten harmonisch parallel zuein- eine Gruppe von Wartenden gesehen, Chauffeur einen Kühlschrank geschenkt ander oder mit den Jahren eher voneinan- dachte: „Was machen die denn hier?“, und hatte, ohne davon je Aufhebens zu machen. der weg? habe mich dazugestellt. Ich fand es nett, an- Heute erinnere ich mich an solche Kleinig- McCartney: Es ist ein schizophrener Job, deren später die Autogramme zu zeigen, keiten besser als an die großen, bedeu- die beiden im Einklang zu halten.Aber ich auch wenn es mir nicht wirklich wichtig tungsvollen Ereignisse. beherrsche das Spiel ziemlich gut, glauben war. Aber ich habe gesehen, was passiert, SPIEGEL: Welche anderen Kleinigkeiten Sie mir. wenn jemand keine Autogramme gibt. meinen Sie?

106 der spiegel 51/1999 Werbeseite

Werbeseite Gesellschaft

McCartney: Ich erinnere mich, wie wir uns sondere, sehr starke Frau. Eine verrückte, be nicht daran, dass Männer nicht weinen einmal stritten, und John bemerkte, dass er großartige, liebevolle Frau. Linda war wie dürfen. Ich bin, im Gegenteil, davon über- zu weit gegangen war und mich mit etwas, ein Diamant mit vielen Facetten. Und egal, zeugt, dass Weinen sehr gut ist, weil man was er gesagt hatte, verletzt hatte. Darauf- auf welche man schaute – Linda war immer seine Trauer herauslässt. Fast das ganze hin schob er seine Brille von der Nase, sah groß darin. vergangene Jahr habe ich damit verbracht. mich an und sagte: „Das bin nur ich.“ SPIEGEL: Zum Beispiel? Dann habe ich allmählich angefangen, Dann setzte er sie wieder auf. Ich finde es McCartney: Als Mutter. Die Kinder sagen, mich besser zu fühlen. sehr symbolisch, wie er diesen Schutzschild wenn man nach Hause kam, war sie einfach SPIEGEL: Und wie geht es Ihnen jetzt? herunternahm und sich wirklich zeigte. da. Man musste gar nichts sagen, sie war McCartney: Auf eine magische Weise spü- SPIEGEL: Die britische Zeitschrift „Q“ wirbt präsent und wusste, was los war. Die Kin- re ich, dass Linda auf mich aufpasst. Ich für ihre Beatles-Sonderausgabe mit „un- der sind noch immer am Boden zerstört. habe sonst nie an so etwas geglaubt; ich erzählten Geschichten“ über die denke erst so, seit sie gestorben ist. Band. Wie viel gibt es überhaupt Kleine, seltsame Dinge sind passiert, noch über die Band zu berichten? bei denen meine Kinder und ich uns McCartney: Sehr viel. Aber das soll nur verwundert ansehen konnten. alles unerzählt bleiben. SPIEGEL: Welche Dinge? SPIEGEL: Sex and Drugs? McCartney: Es begann so: Linda woll- McCartney: Sex in erster Linie. Gera- te, dass ihre Asche an drei besonde- de darüber gibt es viele falsche Ge- ren Orten, die sie liebte, verstreut schichten. Es wird zum Beispiel im- würde – auf unsere Anwesen in Ari- mer spekuliert, dass John schwul ge- zona, England und Schottland. Wir wesen sei, weil er einmal mit unserem hielten also die erste kleine Feier in Manager Brian Epstein in Urlaub ge- Amerika, wir waren draußen, der fahren ist. Brian war schwul. Aber die Himmel war wunderschön. Wir hat- Sache war ein Machtspiel von John. ten Kerzen aufgestellt, wir hielten Seine Idee war, darüber habe ich oft uns an den Händen, beteten und ver- mit ihm gesprochen: „Ich bin der streuten die Asche, was uns sehr Bandleader, wer mit der Gruppe reden schwer fiel. Gerade als ich die Zere- will, muss mit mir reden.“ Deshalb monie beenden wollte, um dann nach wusste er, wie wichtig es ist, Brian auf England zu fahren, schrie eine Eule seiner Seite zu haben, und ist mit ihm dreimal. Das wiederholte sich dann weggefahren. Es war für ihn eine in England: Als wir gerade fertig wa- politische Entscheidung. Einige der ren, schrie wieder eine Eule dreimal. unerzählten Geschichten über die Wir sahen uns an, was denkt ihr, ist Beatles drehen sich um Sex, aber das nicht sehr seltsam? Ich glaube, wenn es schwuler Sex gewesen wäre, wie man diese Vorfälle interpretiert, dann hätte John sich gewaltig geän- hängt davon ab, wie sehr man an Spi- dert haben müssen – ohne dass ich das rituelles glaubt. aber je gesehen hätte. Und ich habe SPIEGEL: Was glauben Sie? von den anderen Sachen eine Menge McCartney: Ich denke, auf eine ge- gesehen. Mehr sage ich dazu nicht. wisse Weise ist Linda noch hier. Bei SPIEGEL: Sie sind also immer noch der bestimmten Entscheidungen frage

Nette. INTER-TOPICS ich sie in Gedanken: „Denkst du, das McCartney: Das sagen Sie. Ich würde Familie McCartney (1981)*: „Immer zusammen“ ist okay?“ Wenn ich ein gutes Ge- mich nie so bezeichnen. fühl bekomme, dann ist es vielleicht SPIEGEL: Jedenfalls haben Sie nicht, wie Als Geliebte war sie großartig für mich, okay, wenn ich ein schlechtes Gefühl John oder Ringo, ein wildes Rock’n’Roll- und ich habe einige Frauen gehabt. Linda bekomme, dann ist es vielleicht nicht okay. Leben geführt, sondern waren 29 Jahre mit war phantastisch, angenehm, nichts Ver- So reime ich mir das alles zusammen, ob- Linda verheiratet, die 1998 an Brustkrebs rücktes, sondern nur sehr, sehr gut. Ich wohl ich keine strengen religiösen Über- gestorben ist. Haben Sie sich ganz bewusst kann nur das Beste darüber sagen. Sie war zeugungen habe, und sie hatte auch keine. gegen ein Leben voller Exzesse und für auch eine unglaubliche Fotografin, eine en- Aber wir waren sehr spirituell. Ich glaube, das ruhige Familienleben entschieden? gagierte Tierschützerin. Alles, was sie tat, sie hat mir durch die schwierige Zeit ge- McCartney: Linda kam aus einer reichen machte sie sehr gut. Ich habe sie immer holfen. Familie, und sie lehnte deren Werte ab. sehr bewundert. SPIEGEL: Viele Leute glauben, Lindas Stim- Ich stamme aus einer ziemlich armen Fa- SPIEGEL: Wie richten Sie nach Lindas Tod me im Refrain von „Run Devil Run“ zu milie, aber wir hatten sehr gute Werte. Das den Blick in die Zukunft? hören. Sie auch? war etwas, was sie an mir sehr schätzte. Als McCartney: Einfach, indem ich mich auf die McCartney: Ich hatte zunächst nichts be- wir eine Familie gründeten, war es uns Dinge einlasse, die geschehen. Zuerst wuss- merkt – bis mich jemand darauf aufmerk- beiden sehr wichtig, viel Zeit mit den Kin- te ich überhaupt nicht, was ich machen sam gemacht hat. Es ist ein Klang in der dern zu verbringen. In Wahrheit ging sollte. Dann habe ich mich entschieden, al- Stimme, der sich so anhört, als singe sie da. es weit darüber hinaus: Wir waren immer les auf mich zukommen zu lassen. Viele Linda wollte unbedingt, dass ich dieses Al- zusammen, und die Kinder waren immer Freunde hatten mir geraten: „Wirf dich bum mache. Und wenn sie bei der Auf- bei uns. ganz in die Arbeit.“ Ich dachte, das ist, als nahme noch gelebt hätte, hätte sie mit SPIEGEL: Diese ständige Nähe nutzte die ob ich ihren Tod verleugnen würde. Ich Sicherheit eine Background-Stimme ge- Beziehung offenbar nicht ab. habe dann viel Zeit mit meinen Kindern sungen. Also, wer weiß: Vielleicht hat sie McCartney: Nein, denn Linda war für mich verbracht, mit meiner Familie. Und ich es trotzdem geschafft, aufs Album zu immer eher meine Freundin als meine Ehe- habe viel getrauert, viel geweint. Ich glau- kommen. frau. Wir haben Glück gehabt: Wir haben SPIEGEL: Mr. McCartney, wir danken Ihnen uns einfach geliebt. Sie war eine ganz be- * Mit Sohn James und Tochter Stella (2. v. r.). für dieses Gespräch.

108 der spiegel 51/1999 Werbeseite

Werbeseite Gesellschaft

MILLENNIUM Lichterkette um die Erde Zum Jahrtausendwechsel wetteifern die Großstädte um das ein- drucksvollste Feuerwerk der Welt. Privatleute können mit neuen Hightech-Raketen ihre eigene Himmels-Show inszenieren.

uf den Fidschi-Inseln soll der Zin- nie zuvor gesehene Leuchteffekte am Him- nober losgehen. Am 31. Dezember mel spuken. Eine Minute vor Mitternacht Aum 12 Uhr Mittag, einen halben Tag verglüht die Jahreszahl 1999 über der Han- vor dem Jahreswechsel in Europa, werden sestadt. Punkt zwölf erscheint eine riesige Feuerwerker des deutschen Pyrotechnik- „2000“.Von Mitternacht bis 0.35 Uhr wer- herstellers Nico den 180. Längengrad auf den dann die Nico-Feuerwerker mit 9,2 einer Länge von einem Kilometer mit 1000 Tonnen pyrotechnischem Material das Blinkfackeln in eine leuchtende Landebahn „größte Feuerwerk Europas“ abbrennen. verwandeln. Stunden zuvor wird ein Gotthilf-Fischer- Die Feuerschnur in der Südsee ist die Chor mit 1999 Sängern auf dem Rathaus- Initialzündung. Zusammen mit den Pyro- markt für die letzte Gänsehaut im alten technikfirmen Glorious Fireworks in Jahrtausend sorgen. Hongkong und Pyrospectacular in Kalifor- Auch in der Hauptstadt soll einzigartiges nien wollen die deutschen Blendwerks- Blendwerk gezündet werden. Vom Hum- ingenieure eine riesige Feuerwalze rund boldthafen und vom Checkpoint Charlie um den Globus rollen lassen. Mit Spekta- aus werden pyrotechnische Lichterketten keln in allen 24 Zeitzonen soll die „Pyro- auf das Brandenburger Tor zurasen und wave 2000“ über Hongkong, Beihai in Chi- sich dort mit einem weiteren Feuerwerk na und Bangkok bis nach Berlin und Ham- vereinigen. burg schwappen. Schon seit Jahren herrscht unter den Sechs Stunden nach dem Jahreswechsel professionellen Ballermännern in Deutsch- in den deutschen Städten wird die globale land Goldgräberstimmung. Die Auftrags- Lichterkette die amerikanische Ostküste Feuerwerk am Brandenburger Tor (Neujahr 1998): erhellen. Weitere fünf Stunden später soll dann das alte Jahrtausend in Honolulu auf ren. Das zurückliegende Silvester galt un- Hawaii mit einem Endzeit-Spektakel am ter den Händlern und Pyrotechnikherstel- Himmel verzucken – zu diesem Zeitpunkt lern als Testlauf für das Jahrtausend-Spek- sind die Müllkolonnen in Europa längst da- takel. 15000 Tonnen Feuerwerkskörper und bei, die ausgebrannten Papp-Raketen zu bodennahe Sprengsätze haben die Deut- beseitigen. schen gezündet – mehr als jemals zuvor. Bunt, laut und gewaltig wird das neue Hunde und Katzen waren nach der letz- Jahrtausend kommen. In fast allen Kapita- ten Bombennacht reif für den Herzschritt- len der westlichen Hemisphäre planen die macher. Das verballerte Pulver hätte aus- Organisatoren Feuerwerke der Megaklas- gereicht, „um eine größere Stadt in die se. Jeder hat das größte. Luft zu jagen“, schätzt Klaus Menke, Spe- 2,5 Millionen Besucher sollen allein in zialist für Raketenfesttreibstoffe am Fraun- London Zeuge sein, wenn mit dem ersten hofer-Institut für Chemische Technologie in

Glockenschlag von Big Ben der Big Bang A. KULL / VISION PHOTOS Pfinztal bei Karlsruhe. über der Briten-Metropole ausbricht. 2000 Sprengstoffexperte Eckhardt* Die Jahrtausendwende wird nach Er- hintereinander geschaltete, sechs Meter Warnung vor Riesenböllern aus dem Osten wartung der Hersteller für neue Superlati- hohe Flammenzungen verwandeln die ve sorgen. Die pyrotechnischen Fabriken Themse bei der Tower Bridge in eine Feu- bücher von Firmen, die auf Großfeuer- fahren seit Monaten Sonderschichten. Op- erstraße. Angeknipst wird der Lichtwurm werke spezialisiert sind, sind randvoll. timisten in der Branche rechnen mit einem auf beiden Ufern des Flusses entsprechend „Eine Stadt, die jetzt noch keinen Pyro- Rekordumsatz von 210 Millionen Mark der Erdrotationsgeschwindigkeit. In 10,8 techniker hat, wird Schwierigkeiten be- (Silvester 1998: 160 Millionen). Sekunden soll er sein Ziel bei der Vauxhall kommen“, prahlte Nico-Chef Hanns-Jür- Einige der Knallkörperproduzenten ha- Bridge erreicht haben. gen Diederichs schon im Juli. Die Preise für ben das offenbar bitter nötig, denn das Ge- Von dem dann einsetzenden 15-minü- den Neujahrs-Zauber sind happig: „Unter schäft mit der richtigen Rüstung läuft tigen Feuerwerk wird laut „Independent“ 100 000 Mark macht mein Unternehmen schlecht. Die Nürnberger Wehrtechnikfir- „jeder, der dabei gewesen ist, noch seinen an dem Abend kein Feuerwerk“, so der ma Diehl, Mutter des Silvesterraketen-Lie- Enkeln berichten“. Das Irrlichtern der Bri- Geschäftsführer einer Firma für professio- feranten Comet in Bremerhaven, musste ten soll bis in den Weltraum zu sehen sein. nellen Himmelsfirlefanz. im vergangenen Geschäftsjahr schmerzli- Ähnlich gigantomanisch geht es in einer Mehr Feuerkraft als alle Spezialisten zu- che Umsatzeinbußen in der Sparte Muni- anderen Hafenstadt zu: Eine Million Men- sammen haben die Amateure in ihren Roh- tion hinnehmen, weil im Kosovo-Krieg schen werden nach Schätzungen der Ver- hauptsächlich Produkte der besser posi- anstalter an der Hamburger Binnen- und * Beim Testen von Feuerwerkskörpern in der Bundes- tionierten US-Konkurrenz verschossen Außenalster versammelt sein, wenn dort anstalt für Materialforschung und -prüfung. wurden.

110 der spiegel 51/1999 mit maximal sechs Gramm Schwarzpul- ver (Reaktionsgeschwindigkeit: 600 Meter pro Sekunde) waren die unterarmlangen Sprengminen mit bis zu 50 Gramm einer hochexplosiven Chemikalienmischung (über 1000 Meter pro Sekunde) vollge- stopft. Mit den „Blitzsätzen“ aus den östlichen Bombenmanufakturen wurden in Berlin ganze Telefonzellen in die Luft gejagt. Tei- le der demolierten Häuschen flogen bis zu zehn Meter weit. Bei einigen sichergestell- ten Riesenböllern hätte die Sprengkraft ausgereicht, um Wände umzupusten. Zum Teil explodierten die Schwarzmarkt- Böller viel zu schnell nach dem Anzün- den: „Man muss schon selbstmörderisch veranlagt sein“, urteilt Dietrich Eckhardt, Sprengstoffexperte bei der Berliner Bun- desanstalt für Materialforschung und -prü- fung, „wenn man solche Dinger in die Hand nimmt.“ Auch zur Jahrtausendwende dürfte an den Grenzen zum Osten Hochbetrieb herr- schen. Der Zoll liegt seit Wochen auf der Lauer, denn der Zugang zum deutschen Markt ist bei den illegalen Schwarz- künstlern heiß begehrt. Bei einer interna- tionalen Aktion hat die Polizei in Berlin und Antwerpen im November 100 Tonnen pyrotechnischen Sprengstoff sichergestellt. Die in Deutschland verbotenen Feuer- werkskörper stammten aus China und soll-

AP ten auf Umwegen nach Holland geschleust Wird das Irrlichtern bis in den Weltraum zu sehen sein? werden. Wie brisant explosive Ausschussware sein Auch die Trittauer Firma Nico setzte zu- Drei Viertel ihres Umsatzes machen die kann, zeigte vor kurzem ein Zwischenfall in letzt weniger Nebeltöpfe und Übungsmu- Firmen mit dem farbigen Effekt-Zauber. Thailand: Ein mit billiger Pyrotechnik be- nition an die unter chronischer Finanz- Neben dem knalligen Bunten gehen Böller ladener Laster explodierte beim Transport. schwäche leidende Bundeswehr ab. Den- seit Jahren gut, doch um ihre Qualität steht Fahrer und Beifahrer des Trucks kamen bei noch blicken die Firmen-Verantwortlichen es zum Leidwesen der Sprengstoffprüfer dem frühzeitigen Millenniums-Kracher ums optimistisch aufs Jahr 2000: „Der Feuer- nicht immer zum Besten. Leben. Der Motorblock des Lkw war nach werksabsatz“, hofft Nico-Chef Diederichs, Illegale Riesenböller mit aufgedrucktem dem Unfall verschwunden – er lag 50 Me- „wird die ausgebliebenen Rüstungsaufträ- Totenkopf aus Polen haben im vergange- ter entfernt auf der Straße. Leichtere Teile ge mehr als aufwiegen.“ nen Jahr die grenznahen Gebiete zum hatten sich bis zu 250 Meter weit davonge- Technisch sind die Hersteller für die Osten in Kriegszonen verwandelt. Statt macht. Günther Stockinger Jahrtausend-Sause bestens gerüstet. Der Trend geht zur Kombinationsbatterie, bei der nur einmal angezündet werden muss. Das „Grand Spectacle“ etwa ent- lässt mit Getöse und gewaltigen Lichtblit- zen insgesamt 60 Raketen in den Nacht- himmel. Die „Top Gun“ taucht Vorgärten und Straßen mit 210 Leuchtsternen 45 Se- kunden lang in frontabschnittsmäßige Dauer-Beleuchtung. „Final Countdown 2000“ bietet eine Batterie aus fünf Pappmörsern, die in 40 Meter Höhe die Ziffer zwei sowie drei Nullen zeichnet und anschließend aus dem fünften Rohr einen „Crackling“-Salut aus Geknatter und Geglitzer verschießt – „Ab- brennskizzen“ und „Verleitungsanordnun- gen“ für die schwere Silvester-Artillerie liefern die Firmen mit. Mit Wunderkerzen, Knallbonbons und Glockengeläut lässt sich an der Schwelle zum neuen Jahrtausend

nur noch in Seniorenheimen Eindruck M. SCHRÖDER / ARGUS schinden. Feuerwerkskörper im Angebot: Ersatzgeschäft für Rüstungsfirmen

der spiegel 51/1999 111 Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite Gesellschaft

muss man sich auch ein bisschen ans Bein pieseln lassen können. SHOWGESCHÄFT SPIEGEL: Punk-Rock bedeutete mal, immer mit Absicht in die Abseitsfalle zu laufen. Rennen die Toten Hosen mit ihrem Anti- „Locker aus dem Bauch raus“ Bayern-Lied jetzt nicht offene Türen ein? Campino: Nein, Bayern München kommt Popstar Campino über die Anti-FC-Bayern-Hymne seiner in der Gunst des Volkes eher noch viel zu gut weg. Ich glaube, wenn wir den Islam an- Band Die Toten Hosen, Gemeinsamkeiten mit Bayern-Manager gegriffen hätten, hätten wir weniger Ärger Uli Hoeneß und die neue Tote-Hosen-CD „Unsterblich“ bekommen.

Campino, 37, ist seit 1982 Sänger der Toten Hosen und noch länger Fan der Düssel- dorfer Fortuna.

SPIEGEL: Campino, wie hat letztes Wochen- ende Ihr Lieblingsverein Fortuna Düssel- dorf gespielt? Campino: Keine Ahnung, ich war seit drei Wochen nicht mehr zu Hause. Und in der Zeitung taucht Fortuna nicht mehr auf, seit sie in der Regionalliga West/Südwest kickt. SPIEGEL: Ist es dann nicht besonders dreist, wie die Toten Hosen auf ihrer neuen CD über den Deutschen Meister und Tabel- lenführer Bayern München herziehen: „Was für Eltern muss man haben, um so verdorben zu sein, einen Vertrag zu unter- schreiben bei diesem Scheißverein“? Campino: Wir werden fußballmäßig sowie- M. WITT so nicht mehr für voll genommen, seitdem BONGARTS wir Repräsentanten eines Drittliga-Clubs Fußballfan Campino, Bayern-München-Stars*: „Typen, die nicht verlieren können“ sind.Aber bei der Fortuna handelt sich we- nigstens nicht um eine arrogante Truppe, Campino: Was heißt denn hier „die armen SPIEGEL: Die Erregung der Bayern-Chefs die besser spielen könnte, wenn sie nur Bayern“? Denen schließen sich doch nur hat doch sicher mitgeholfen, dass die neue wollte. Typen an, die nicht verlieren können und Tote-Hosen-CD gerade ganz oben in der SPIEGEL: Gegen die Mächtigen in der Poli- für die es an Majestätsbeleidigung grenzt, Hitparade eingestiegen ist. Uli Hoeneß tik loszuzetern haben viele Künstler of- etwas gegen die Bayern zu sagen. Wenn schimpfte sogar: „Das ist der Dreck, an fenbar aufgegeben, weil sie es für sinnlos man, wie der FC Bayern, alles hat, dann dem unsere Gesellschaft irgendwann er- halten. Stattdessen schimpfen alle – von sticken wird.“ Harald Schmidt über Stefan Raab bis zu Campino: Uns war nicht klar, dass das Lied * Carsten Jancker, Uli Hoeneß nach der Niederlage den Toten Hosen – auf die armen Bayern. gegen Manchester United im Champions-League-Fina- bereits zwei Tage nach der Veröffentlichung Warum eigentlich? le in Barcelona am 26. Mai. in der Bayern-Kabine diskutiert werden würde. Hoeneß wollte wohl zuerst sogar ben wir einen Roadie zum Drummer be- rechtliche Schritte einleiten. Aber dann fördert. Wir sind eben erdverbunden. muss ihm irgendjemand, der eine etwas SPIEGEL: Aber die Gehälter der Toten Ho- kürzere Leitung hat als er, gesagt haben: sen ähneln inzwischen denen der Bayern? Du legst dich mit Leuten an, die das regel- Campino: Nein, überhaupt nicht. Selbst mäßig machen. Dabei haben Hoeneß und wenn wir von der Platte zwei Millionen ich viele Dinge gemeinsam. Die Nacht von Exemplare verkaufen würden, könnten wir Belgrad 1976 etwa, in der er den Elfmeter uns keinen Bayern-Spieler leisten. Noch verschossen hat, als es um die Europa- nicht einmal einen halben. meisterschaft ging – das werde ich nie SPIEGEL: Allein 1996 haben die Toten Hosen vergessen. Und er auch nicht. rund zwei Millionen Platten verkauft – und H. RAUCHENSTEINER FC-Bayern-Helden (1998)*: „König zu sein ist auch ein Scheißleben“

SPIEGEL: Immerhin hat Bayern-Trainer Ott- trotzdem sollen nicht mal 2,5 Millionen mar Hitzfeld verkündet: Uns interessiert Mark zusammengekommen sein, wie sie nicht, was die Toten Hosen machen. Sind der FC Bayern für Michael Wiesinger be- manche Bayern doch cool? zahlt hat? Sondern nur so viel, dass Sie Campino: Vermutlich haben sie auch noch den Liedermacher Funny van Dannen be- bei Sat 1 angerufen und gesagt: Wenn ihr zahlen konnten, der mit Ihnen den Text zu ein Wort über die Toten Hosen bringt bei „Bayern“ geschrieben hat? „ran“, bekommt ihr keine Interviews mehr. Campino: Auch die Leute, die uns noch so So jedenfalls stelle ich mir das vor. sehr hassen, müssen sich damit abfinden, SPIEGEL: Ist es nicht vielleicht doch der dass wir einen gewissen Geschmack haben Neid, der Sie treibt? Der Bayern-Spieler und Humor. Ein Lied wie „Bayern“ ist Thorsten Fink glaubt, als Fußballer wären locker aus dem Bauch herausgeschüttelt. Sie in Wahrheit auch froh, wenn Sie beim Ich kann zur Zeit aber besser ernstere Sa- FC Bayern spielen dürften. chen schreiben. Bei den lustigen Stücken Campino: Niemand von uns hat jemals hat mir Funny sehr geholfen. gut Fußball gespielt. Selbst zu unseren bes- SPIEGEL: Also doch wie beim FC Bayern, ten Zeiten nicht, als wir noch jung waren. wo man die besten Leute einfach zusam- Wir haben das Lied eher aus der Perspek- menkauft? tive eines Bauern im Mittelalter geschrie- Campino: Nein, aber wenn ein Ronaldo in ben, der einem anderen Bauern erzählt: der Dritten Liga kickt, und ich hole ihn ins Also, König zu sein ist auch ein Scheiß- Rheinstadion, ist das in Ordnung. leben. SPIEGEL: 1989 haben die Toten Hosen SPIEGEL: Spielen die Toten Hosen nicht rund 150000 Mark gesammelt – Geld, mit längst in der Pop-Liga dieselbe Rolle wie dem Fortuna Düsseldorf den Verteidiger der FC Bayern beim Fußball? Anthony Baffoe verpflichten konnte. Campino: Im Gegensatz zu denen rekru- Warum fehlt auf der neuen CD ein Bene- tieren wir unsere Spieler nur aus dem ei- fiz-Aufkleber wie „Von jeder verkauften genen Nachwuchs. Das kann man jetzt bei Platte gehen drei Mark an Fortuna Düs- unserem Schlagzeuger-Wechsel sehen: Weil seldorf“? unser alter Schlagzeuger es mit der Band- Campino: Weil das nicht reichen würde. scheibe hat, brauchten wir einen neuen. Außerdem wollen wir uns nicht wieder- Statt irgendwo einen Star einzukaufen, ha- holen. Aber ich gehe nach wie vor zu je- dem Kabinenfest, wenn der Zeugwart ’ne * Franz Beckenbauer, Mario Basler, Lothar Matthäus, Runde schmeißt. Ruggiero Rizzitelli auf dem Münchner Oktoberfest. Interview: Wolfgang Höbel, Martin Wolf

der spiegel 51/1999 115 Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite SPIEGEL-Serie über Wende und Ende des SED-Staates (13 und Schluss) Die Woche vom 18. 12. 1989 bis zum 22. 12. 1989 »Macht das Tor auf« Während der Einfluss der Regierung Modrow schwindet, wird der DDR-Besucher Helmut Kohl gefeiert wie ein Befreier. BND-Agenten erbeuten Stasi-Dateien. Die Öffnung des Brandenburger Tors kurz vor Heiligabend gerät zum Volksfest. REUTERS DDR-Besucher Kohl am 19. Dezember 1989 in Dresden

der spiegel 51/1999 119 100 TAGE IM HERBST: »MACHT DAS TOR AUF«

CHRONIK »Nun freue dich, Berlin« nun abermals um den Stadtfrieden ver- ten ziehen 150 000 Menschen über den Montag, 18. Dezember 1989 dient. Ring. Mit flackernden Lichtern in Lam- Gemeinsam mit Gewandhaus-Kapell- pions und Joghurtbechern schiebt sich die Leipzig meister Kurt Masur hat Magirius dazu auf- Menge von der Magiriusschen Nikolai- Friedrich Magirius, 59, Superintendent und gerufen, die letzte Montagsdemonstration kirche, wo im September die friedliche Pfarrer der Leipziger Nikolaikirche, war der in diesem Jahr als Schweigemarsch zu ge- Revolution begonnen hat, bis zur „Run- Stasi so verdächtig, dass sie seinen Namen stalten.Auf Transparente und Sprechchöre den Ecke“, dem berüchtigten Gebäude- auf eine schwarze Liste zu „isolierender“ soll verzichtet werden. komplex der Stasi. Oppositioneller setzte – Überschrift: „Im Superintendent und Dirigent fürchten, Der stille Umzug im Kerzenschein bie- Rahmen des Vorbeugungskomplexes zuzu- dass sich sechs Tage vor Heiligabend ereig- tet deutsch-nationalen Sprücheklopfern führende Personen, die dem politischen Un- nen könnte, was sich eine Woche zuvor an- kaum Gelegenheit zur Selbstdarstellung – tergrund zuzuordnen sind“. gebahnt hat: ein Zusammenstoß zwischen obwohl deren Auftritte republikweit zu- So wie der Geistliche dazu beigetragen zunehmend militanten Einheitsverfechtern nehmen. Westdeutsche Rechtsextremisten hat, dass es bei der historischen Montags- und Gegnern einer „BRDigung der DDR“. hätten Gesinnungsgenossen in der DDR demonstration am 9. Oktober nicht zu ei- Der Appell wird erhört. Mit Symbolen gezielt zu Gewaltaktionen aufgestachelt, nem Blutbad gekommen ist, macht er sich statt Sprüchen, Kerzen statt Transparen- hat der Stasi-Nachfolgedienst aus mit-

T. HÄRTRICH / TRANSIT Schweigemarsch in Leipzig: Symbole statt Sprüche, Kerzen statt Transparente

120 der spiegel 51/1999 Wahlen gestellt hat; dort Abgesandte der 45, im Frühjahr wegen eines im Wes- Opposition, demokratisch ebenfalls nicht ten veröffentlichten Buches („Der vor- legitimiert. mundschaftliche Staat“) aus der SED Beide Fraktionen – und das macht den ausgeschlossen und mit Berufsverbot be- Frontverlauf unübersichtlich – sind durch- legt, verlangt für die Opposition nicht setzt von Agenten der Staatssicherheit. Die bloß Mitsprache, sondern Regierungsteil- Spitzel wiederum wissen in aller Regel habe. nicht, welche Tischgenossen außer ihnen Das Modrow-Kabinett, argumentiert er, selbst sonst noch der Geheimpolizei ver- sei nicht aus freien und geheimen Wahlen pflichtet sind. hervorgegangen, sondern vom alten SED- Absurde Szenen spielen sich ab. SDP-Ver- Politbüro bestimmt worden. Deshalb müs- treter Martin Gutzeit fordert, der Runde se es, so Henrich in einem vorbereiteten Tisch möge die von der Stasi „eingeschleus- Positionspapier, „zur Übergangsregierung ten Personen“ aufdecken. In merkwürdiger erklärt“ werden und dem Runden Tisch Eintracht wenden sich Stasi-Agenten wie ein umfassendes Kontroll- und Vetorecht Stasi-Opfer gegen die Aufforderung zum einräumen. Kurzum: Die Opposition soll „Stasi-Spitzel-Jagen“, wie sich Reinhard künftig an den Sitzungen des Ministerrats Schult vom Neuen Forum (NF) empört. teilnehmen dürfen. Als der Gutzeit-Antrag schließlich zur Der überraschende Vorstoß verblüfft Abstimmung gestellt wird, enthalten sich nicht nur den neuen SED/PDS-Vorsitzen- zwei Drittel der Anwesenden, zehn stim- den Gregor Gysi und dessen Stellvertreter men mit Nein, nur zwei votieren für die Wolfgang Berghofer, die ihre Durchhalte- Forderung: Antragsteller Gutzeit und, aus- strategie zur Bewahrung der Macht in Ge- gerechnet, dessen SDP-Genosse Ibrahim fahr sehen. Auch die neuen Polit-Gruppie- Böhme alias IM „Maximilian“. rungen, die, anders als bislang üblich, dies- Wenig später wird der vermeintliche ra- mal nicht vorab informiert worden sind,

DPA dikale Stasi-Gegner Böhme von der Runde fühlen sich überrumpelt. Leipziger Pfarrer Magirius (1990) mit einem wichtigen Amt betraut.Als „Ein- Trotzig erwidert SED-Mann Berghofer, „Dem Untergrund zuzuordnen“ berufer“ soll der Spitzenagent eine „Ar- die Regierung sei „bis zum 6. Mai“, dem beitsgruppe ,Sicherheit‘“ aufbauen, der die Tag der geplanten demokratischen Volks- geschnittenen Ferngesprächen heraus- Kontrolle der Stasi-Auflösung obliegt. kammerwahl, „im Amt“. Drohend fügt er gehört. Immerhin kommt ein Beschluss zu Stan- hinzu: „Wenn wir sie heute stürzen, dann Die braunen Brüder im Osten sollen die de, mit dem der Runde Tisch klar auf Ge- sehe ich am 6. Mai keine Wahlen.“ Sicherheitskräfte zu harten Reaktionen genkurs zum Kabinett Modrow geht: Die Schützenhilfe erhält der SED-Vertreter provozieren, um so Gewalttätigkeiten auf Regierung möge den Aufbau eines Verfas- vom Ost-CDU-Vorsitzenden Lothar de der Straße auszulösen. „In Besorgnis erre- sungsschutzes bis nach den ersten freien Maizière, 49, der seit langem mit der Fähig- gendem Umfang“ hätten sich „Erschei- Wahlen im Frühjahr „aussetzen“. (Einen keit begabt ist, mehreren Herren zu Diens- nungen rechtsextremistischen, insbeson- Monat später wird Modrow diese Forde- ten zu sein: Als IM „Czerni“ hat sich der dere neofaschistischen, antisemitischen rung erfüllen, um ein Auseinanderbrechen Kirchenanwalt von der Stasi abschöpfen und ausländerfeindlichen Inhalts und seiner Regierung zu vermeiden.) lassen; als Minister für Kirchenfragen ist er Charakters“ verstärkt, heißt es in einer Ein zweiter Vorstoß, der die Macht der Stellvertreter des Wiedervereinigungsgeg- „Orientierung“ der Nachrichtendienstler. Modrow-Regierung begrenzen soll, schei- ners Modrow; als Partner der Bonner CDU Bei der Leipziger Montagsdemo vertei- tert an der Uneinigkeit und Unterwande- bringt er seine einstige Blockpartei derzeit len jedoch nur ein paar kahlnackige Neo- rung der Opposition. auf Kohlschen Einheitskurs. nazis aus dem Westen importierte NPD- Der Eisenhüttenstädter Anwalt und Keine hundert Tage, bevor der Mann mit Flugblätter und -Aufkleber. Einige „Repu- Neue-Forum-Mitbegründer Rolf Henrich, dem kleinen Wendekreis zum ersten (und blikaner“ grölen großdeutsche Parolen. Neonazis in Leipzig: „Besorgnis erregender Umfang“ Empörte Marschierer sprechen Polizis- ten an, die den Zug begleiten, sie sollten et- was gegen die Rechten unternehmen. Doch die Vopos halten sich zurück. „Nee“, antwortet ein Offizier, „wir ha- ben keinen Polizeistaat mehr.“

Ost-Berlin Weihnachtsmänner mit Wattebart beleben wie in jedem Jahr zur Adventszeit die Straßen Berlins. Ein Weihnachtsstern aus Glanzpapier leuchtet gülden im tannen- geschmückten Dietrich-Bonhoeffer-Haus. Darunter fetzt sich das sonderbarste Gre- mium, das je in Deutschland politische Macht besaß. Adventsstimmung will nicht aufkommen in der zweiten Sitzung des Zentralen Run- den Tisches. Zu unterschiedlich sind die Interessen der Kontrahenten: Hier Vertre-

ter der alten Macht, die sich nie freien PIEL / GAMMA STUDIO X P. 100 TAGE IM HERBST: »MACHT DAS TOR AUF«

Einen allerletzten deutsch-deutschen Agentenaustausch bespricht Priesnitz in Vogels Anwaltskanzlei im Stadtteil Friedrichsfelde. Die Abmachung betrifft einerseits 25 Mitarbeiter des Bundesnach- richtendienstes, des westdeutschen Verfas- sungsschutzes und der amerikanischen CIA, die in der DDR noch inhaftiert sind, andererseits 4 Westdeutsche, die für das sowjetische KGB spioniert haben und in bundesrepublikanischer Haft ein- sitzen. Zu den KGB-Agenten zählt Margret Höke, eine ehemalige Sekretärin im Bun- despräsidialamt, die im August 1987 zu acht Jahren Haft verurteilt worden ist. Sie war einem Stasi-Romeo in die Falle ge- gangen und hatte 14 Jahre lang geheime Nato-Dokumente nach Moskau geliefert. Nun hat ihr früherer Chef, Bundesprä- sident Richard von Weizsäcker, die Be- gnadigungsurkunde unterschieben – recht- liche Bedingung für den humanitären Menschenhandel. Im Gegenzug gibt die DDR zudem hun- dert Gefangene frei, die aus politischen

H. P. STIEBING H. P. Gründen inhaftiert worden waren. Dar- Passkontrolle in Berlin im Dezember 1989*: Absurde Szenen unter dem Weihnachtsstern unter sind Menschen wie Bodo Strehlow, 32, ehemaliger Obermaat bei der Grenz- letzten) frei gewählten Ministerpräsiden- Auf der Tagesordnung steht der Aus- brigade „Küste“, der 1979 versucht hat, ten der untergehenden DDR aufsteigt, tausch und Freikauf von Gefangenen – ein über die Ostsee in die Bundesrepublik lehnt er brüsk den Henrich-Vorstoß ab, die Gegengeschäft nach der Formel Freiheit zu fliehen. Auf einer Patrouillenfahrt Opposition an der Regierungsmacht zu be- gegen Bananen. zwang er mit der Waffe seine Kamera- teiligen. Maizière: „Das wäre dann das Südfrüchte im Wert von 15 Millionen den unter Deck, wo er sie einsperrte. Ende.“ Mark will Bonn in die DDR liefern lassen Während er gen Westen schipperte, Natürlich wolle die Opposition die Re- – eine seit 1963 gebräuchliche Gegenleis- konnten sich die Marinesoldaten jedoch gierung nicht stürzen, besänftigt, freundlich tung für die Freilassung von Häftlingen befreien. Sie überwältigten Strehlow, der lächelnd, der Kirchenhistoriker Wolfgang (siehe Analyse Seite 130). Diskret vermit- bei dem Kampf schwere Verletzungen Ullmann, Vertreter von Demokratie Jetzt, telt worden ist der Deal auch diesmal von davontrug. die Machthaber. Die Regierung müsse al- den Kirchen, unterzeichnet wird der Nahezu taub und auf einem Auge er- lerdings ihre Kooperationszusage einhal- Vertrag in der Kanzlei von CDU-Chef de blindet, wurde Strehlow ins Gefängnis ten und die wirtschaftliche Situation offen Maizière am Treptower Park. Bautzen II gesperrt; dort haben ihn die Ge- legen. Berghofer schlägt einen scheinheiligen Kompromiss vor, dem sich das Neue Forum nicht entziehen kann, wenn Henrichs Ini- tiative nicht völlig folgenlos verpuffen soll. In einer kleineren „Arbeitsgruppe“, meint Berghofer, könne mit Modrow durchaus über Zusammenarbeit und Reformen ge- sprochen werden. So bleibt fürs Erste in der Schwebe, ob der Runde Tisch machtbewusste Gegenre- gierung oder unverbindliche Palaverrunde sein will. Seine Arbeit gleicht weiterhin, wie DDR-Bürger spotten, der „Quadratur des Kreises“. TEUTOPRESS (li.);TEUTOPRESS M. WESSEL (re.) Ost-Berlin Ausgetauschte Häftlinge Höke (um 1985), Strehlow (1992): Freiheit gegen Bananen Walter Priesnitz, 57, Staatssekretär im Bun- Dabei kann die untergehende DDR kei- fangenen während der Streiktage Anfang desministerium für Innerdeutsche Bezie- nen Anspruch mehr darauf erheben, dass des Monats zu ihrem Sprecher gewählt. hungen, führt in der Hauptstadt der DDR ihr die Bundesregierung Gefangene abkauft. In ihrem goldfarbenen Privat-Mercedes Verhandlungen, die ebenso bizarr wie ana- Denn Ende November hat DDR-Anwalt bringen Vogel und seine Ehefrau Helga chronistisch anmuten. in einem Vermerk für Egon noch vor Weihnachten Strehlow und die Krenz festgehalten: „Seit dem 9. 11. 1989 ist anderen Haftentlassenen nach und nach der Freikauf nicht mehr erforderlich, weil ins West-Berliner Bundeshaus. * Trotz Wegfall der Visumpflicht für Westdeutsche finden an den Grenzübergängen weiterhin Pass- und Zollkon- es Freizügigkeit und keine Strafurteile aus Anschließend meldet der Advokat in ei- trollen statt. politischen Gründen mehr gibt.“ nem Telex nach Bonn Vollzug: „Ab dem

122 der spiegel 51/1999 Werbeseite

Werbeseite 100 TAGE IM HERBST: »MACHT DAS TOR AUF«

24.12.89 gibt es in den Gefängnissen der DDR den Untersuchungshäftling tot in der Zel- zende von Armbanduhren, dazu „59 Teile keinen einzigen politischen Häftling mehr.“ le 107 des Polizeipräsidiums an der Ost- Anzug“ und „30 Herrenoberhemden (ein- Berliner Keibelstraße: Der Oberst hatte geschweißt)“. sich mit seinem Gürtel am Fenstergitter Kein Fahnder kommt auf die Idee, auch Dienstag, 19. Dezember 1989 erhängt. den kleinen Lada zu durchsuchen, den Fahnder durchsuchten Wenzels Dienst- Wenzel vor seiner Festnahme in einem Ost-Berlin stelle, wo sie auf Reste von vernichteten Hinterhof nahe seiner Dienststelle geparkt Zehntausende Stasi-Männer sehen einer Akten stießen, und seine Privatwohnung. hat. Das holt nach Wenzels Verhaftung des- ungewissen Zukunft entgegen. Vergebens Dort lagerten teure Stereoanlagen, dut- sen Stellvertreter nach. sind ihre Bemühungen gewesen, Im Kofferraum findet Koch die Wende aufzuhalten, linkisch das Paket mit den Disketten, das ihre Versuche, im letzten Augen- er sofort an sich nimmt und spä- blick selbst noch die Kurve zu ter einem Agenten des Bundes- kriegen. nachrichtendienstes (BND) über- Nun – auch die Stasi-Nach- gibt. „Wer die Disketten liest“, folgeorganisation Nasi wird be- preist Koch seinen Schatz an, reits aufgelöst – sondieren die „weiß alles, was wir wussten.“ Gerissensten unter den Tsche- „Bis zu einer Million Mark“ kisten von einst, ob sie nicht habe der BND plauderwilligen von der demokratischen Revo- Stasi-Leuten offeriert, erzählt lution profitieren können. Denn im Nachhinein Werner Groß- sie verfügen über geheimes Wis- mann, Chef der Hauptverwal- sen, das westliche Dienste in tung Aufklärung (HVA) – eine West-Mark und Dollar aufwie- Angabe, die übertrieben sein gen könnten – so etwa ein dürfte. Schlitzohr namens Willy Koch. Alles in allem, rechnet später Als Vize in der Hauptabtei- BND-Präsident Hansjörg Gei- lung XVIII/8 ist Koch einge- ger einem geheimen Bonner weiht in die illegalen Ost-West- Gremium vor, habe sein Dienst Geschäfte der Stasi: Entgegen „Befragungen“ von etwa 200 den strengen westlichen Em- MfS-Bediensteten vorgenom- bargobestimmungen hat die men. Dafür seien aus „operati- DDR im Westen für drei Mil- ven Mitteln“ der Pullacher liarden Mark Hightechprodukte Behörde lediglich 480000 Mark gekauft; behilflich waren den geflossen, für „Reisekosten und Geheimdienstlern korrupte, er- Aufwendungen“. presste oder einfach profitgie- Mindestens ein halbes Dut- rige Spitzenmanager bundes- zend hochrangiger Offiziere deutscher Firmen. wechseln ab Dezember die Seit 14 Tagen ist Koch im Be- Front. Für einige spielt Geld kei- sitz von 92 Computerdisketten, ne oder nur eine untergeordne- auf denen, wie er weiß, „das ge- te Rolle. Karl-Christoph Groß- samte operative Wissen der mann etwa – zwecks Unter- Hauptabteilung XVIII/8“ ge- scheidung vom „großen Groß- speichert ist: eine Datensamm- mann“, dem HVA-Chef, amts- lung mit den Namen von 13000 intern der „kleine Großmann“ Personen, die ausgedruckt 80 genannt – muss nicht mit Ba- Leitz-Ordner mit jeweils 500 rem geködert werden. Mit der Seiten füllen würde. „Firma“ hat er längst innerlich Die Disketten sind Koch auf gebrochen. höchst abenteuerliche Weise in Wenzel-Haftzelle: Der Stasi-Oberst erhängte sich am Fenstergitter Ende 1987 wurde der Vize- die Hände gefallen. Als Kochs chef der Abteilung IX (Gegen- Vorgesetzter Artur Wenzel am Abend des spionage) nach 32 Dienstjahren vorzeitig in 4. Dezember seine Dienststelle am Alex- den Ruhestand geschickt. Die Mielke-Trup- anderplatz mit zwei verdächtig aussehen- pe, die ihren eigenen Mann zuvor über ein den Koffern verlassen wollte, lief er Bür- Jahr lang „unter operativer Kontrolle ge- gerrechtlern in die Arme, die Aktenver- halten“ hatte, erklärte ihn wegen „Über- nichtungen vorbeugen wollten und das heblichkeit, Schwatzhaftigkeit und Prahl- Gepäck kontrollierten. sucht sowie … unmoralischem Lebens- In Wenzels Aktenkoffern fanden sich wandel“ zum „Sicherheitsrisiko“. neben 150000 Ost-Mark zwei Goldbarren Defätistisch äußerte sich Großmann vor und dicke Umschläge, voll gestopft mit alten Kameraden am 8. November, als er Devisen: Insgesamt 730 000 Mark West im Café Moskau an der Ost-Berliner Karl- zählten die verblüfften Volkspolizisten, Marx-Allee, einem beliebten Agententreff, die den sich heftig wehrenden Geheim- seinen 60. Geburtstag feiert: „Das Rad der dienstler schließlich aufs Revier verfrach- DDR-Geschichte ist abgelaufen.“ teten. Bei Vernehmungen schwieg Wenzel Großmann trifft sich im Grand-Hotel an eisern. Zwei Tage später, am Morgen des Wenzel-Aktenkoffer der Friedrichstraße mit John O. Koehler, 6. Dezember, entdeckte ein Wachmann Goldbarren und Devisen einst Ronald Reagans Pressechef, von dem

124 der spiegel 51/1999 er weiß, dass er für die CIA gearbeitet hat. Beide kennen sich aus gemeinsamen Dresdner Schultagen. Großmann, so Koehler, erzählt „von zahlreichen Amerikanern, die hoch sensi- ble US-Militärgeheimnisse an die Stasi ver- raten hatten“. Ein westdeutscher Journalist führt Großmann schließlich in einem ita- lienischen Ristorante an der U-Bahn- Station in Moabit dem West-Berliner Ver- fassungsschutz zu. Der lässt den Informanten wiederholt unauffällig zu Hause abholen und im Audi zu einer konspirativen Schöneberger Woh- nung oder in die Dependance Potsdamer Straße chauffieren. Großmann erhält den Kodenamen „Kardinal“ und reist nach ei- genen Angaben „vielleicht zehn Mal“ zum Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) nach Köln, das ihm rund 18000 Mark Spe- sen erstattet. „Kardinal“ gibt, neben kleineren Lich- tern, zwei westdeutsche Spitzenspione preis: Klaus Kuron,Abwehrspezialist beim

Ost-Berliner Spitzenagenten Gast, Kuron Verraten für 18000 Mark

BfV, und Gabriele Gast, promovierte Poli- tologin beim BND; die beiden werden spä- ter zu zwölf beziehungsweise sechsdrei- viertel Jahren Haft verurteilt. Unter Stasi-Veteranen kursiert das Gerücht, Großmann habe sein West-Ho- norar in ein Café investiert, das sein Sohn am Müggelsee eröffnet. Wenig später wird das Etablissement abgefackelt. Ähnlich gesprächig wie Großmann ist der ehemalige Stasi-Oberst Eberhard Leh- mann, der den Tarnnamen „Glasschüssel“ bekommt. Lehmann wirkte bis 1986 in der Hauptabteilung II (Spionageabwehr), anschließend war er Resident des KGB in Karlshorst. Auch Lehmanns Amtsnachfol- ger bei der Stasi, Rainer Wiegand, dient sich dem BND an. Das Insider-Wissen sollte sich für die westdeutschen Geheimdienste spätestens am 15. Januar 1990 auszahlen – jenem Tag, an dem Aktivisten der Bürgerbewegung das weitläufige Areal des Ministeriums für Staatssicherheit an der Normannenstraße erobern. Die Masse der Demonstranten stürzt durch das Tor geradewegs auf ein Gebäu- de zu, in dem die Kantine untergebracht

der spiegel 51/1999 100 TAGE IM HERBST: »MACHT DAS TOR AUF« war, und auf eine Kaufhalle, in Die Straßen zur Innenstadt, der auch knappe Artikel ange- die BRD-Kanzler und DDR-Pre- boten wurden, die im Politbüro- mier im Volvo zurücklegen, sind Reservat Wandlitz keine Abneh- gesäumt von zehntausenden – mer gefunden haben. Die Wut Arbeitern, die blaumachen, und über das Luxusleben der Mäch- Schülern, die schwänzen. Vor tigen verstellt den Blick auf dem Kulturpalast am Altmarkt, wichtigere Objekte. einem Klotz aus Glas und Be- Ein kleinerer Trupp weiß bes- ton, wird dem Besucher ein tri- ser Bescheid, wo was zu finden umphaler Empfang zuteil. ist. Zielsicher dringt er in das Nur vereinzelte Einheitsgeg- Gebäude der Spionageabwehr ner stören die ergreifende Stim- ein und bricht dort die Stahl- mung. „Grüß Dich, Helmut“ – schränke auf. mit grünen Buchstaben auf ei- Den Tipp soll Wiegand gege- nem weißen Bettlaken heißen

ben haben. Der kommt 1996 bei AP junge Leute den Gast scheinbar einem Verkehrsunfall in Portugal Modrow, Kohl in Dresden: „Sache gelaufen“ willkommen. Doch als das an ums Leben. Ballons hängende Tuch auf- Angetrunken prallt er bei einem leicht- Ährenkranz kreisrund herausgeschnitten steigt, kann Kohl die höhnische Botschaft sinnigen Überholmanöver mit einem ent- haben. lesen: „Nimm es nicht so schwer, wir blei- gegenkommenden Lkw zusammen. Trotz- „Schlagartig“ wird dem Christdemo- ben DDR.“ dem hält sich in Ost-Berlin lange Zeit das kraten beim Anblick der jubelnden Mas- Die Mehrheit ist erkennbar anderer Mei- Gerücht, der „Verräter“ sei einem Rache- sen bewusst, dass die Tage der DDR ge- nung. „Deutschland“, brüllt die Menge, akt zum Opfer gefallen. zählt sind: „Dieses Regime ist am Ende, „einig Vaterland“, echot es von den die Einheit kommt“, schildert er seine Ge- Spruchbändern. Im Chor reimt das Volk: danken später einem seiner Memoiren- „SED – das tut weh. Helmut Kohl – das tut Dresden schreiber. wohl.“ Kurz nach 9 Uhr landet Helmut Kohl Als der Staatsgast auf der untersten Stu- Hans Modrow, der gute Mensch von mit einem zweistrahligen Jet der Bun- fe der Gangway steht, zehn Meter von dem Dresden, ist Luft für seine Landsleute. desluftwaffe auf dem Flughafen Dresden. aschfahlen Modrow entfernt, der zu seiner Neben dem kolossalen Kohl duckt sich Das Gelände ist voller Menschen, die Begrüßung angetreten ist, dreht sich Kohl der schmächtige Premier, als wolle er sich schwarzrotgoldene Fahnen schwenken – zu seinem Amtschef Rudolf Seiters um und selbst unsichtbar machen. Mit zusammen- teils DDR-Flaggen, aus denen sie das raunt ihm zu: „Rudi, die Sache ist ge- gekniffenen Lippen trottet er hinter sei- Spalteremblem Hammer und Zirkel im laufen.“ nem Gast her, der sich mit ausladenden G. LINZENMEIER / PLUS 49 VISUM Kohl-Empfang in Dresden: „Dieses Regime ist am Ende, die Einheit kommt“

126 der spiegel 51/1999 Werbeseite

Werbeseite 100 TAGE IM HERBST: »MACHT DAS TOR AUF«

Armbewegungen durch die jubelnde ly, dass ich das noch erlebe“, strahlt Masse schiebt. eine Frau um die 50. Blumensträuße Kohl hat eigentlich gar nicht vor, fliegen, Fahnen flattern. eine Rede zu halten. Doch nach die- Der Sozialdemokrat Willy Brandt, sem Empfang steht für ihn fest, dass neuer Superstar auf beiden Seiten der er zu den Menschen sprechen muss. bröckelnden Mauer, begeistert einen Aber wo? Dresdens Oberbürger- Tag nach seinem 76. Geburtstag die meister Berghofer hat die Idee, der Magdeburger. Die Menge singt „Hap- Kanzler solle vor der Ruine der am py Birthday“ und fordert den Jubilar 13. Februar 1945 von britischen Bom- auf: „Willy, sag, wo’s langgeht.“ bern zerstörten Frauenkirche reden. Seit dem Mauerfall steht der Se- Während die Vorbereitungen für nior, der im Hader mit seinen Ge- den Auftritt anlaufen, konferiert nossen vor zwei Jahren den Partei- Kohl im Hotel Bellevue unter vier vorsitz abgegeben hat, wieder im Augen mit Modrow. Danach, im Rampenlicht. Über die Parteigren- größeren Kreis, liest der Ostdeut- zen hinweg gilt er als Autorität und

sche im Salon „Ludwig Richter“ G. LINZENMEIER / PLUS 49 VISUM Berufungsinstanz. verkrampft vom Blatt ab, was ihm Pro-Kohl-Parolen in Dresden: „Das tut wohl“ Der Altkanzler gibt die von ihm seine Leute aufgeschrieben haben: erwarteten Empfehlungen. „An den Er sei besorgt über die Lage; die Diskus- geschichtliche Stunde es zulässt, die Einheit Hammelbeinen vor den Kadi ziehen“ sol- sion über die Wiedervereinigung nehme unserer Nation.“ len die Ostdeutschen die Verantwortlichen exzessive Dimensionen an; die Grenze zur Aber er verkündet auch als „Ziel, dass für staatliches Unrecht, doch „einbinden“ Gewalt drohe überschritten zu werden. die Lebensverhältnisse hier in der DDR so die Mitläufer und Verführten. Brandt: Das Land brauche jetzt innere Stabilität. schnell wie möglich verbessert werden“: „Kein Hass!“ Dann erläutert Modrow die wirtschaft- „Wir wollen, dass die Menschen sich hier Am Tag zuvor hat der Patriarch den liche Situation der DDR und fordert einen wohl fühlen, wir wollen, dass sie in ihrer SPD-Delegierten beim Parteitag in West- „Lastenausgleich“ in Höhe von 15 Milliar- Heimat bleiben und hier ihr Glück finden Berlin die Seelen gewärmt. Die Entwick- den West-Mark für 1990/91 – denselben Be- können.“ lung im Osten hat die westdeutschen Lin- trag hatte auch schon Schalck für Krenz er- Als Kohl seine Rede mit dem Satz ken, nicht nur in der SPD, konfus gemacht beten. Kühl lässt Kohl ihn abblitzen: Dafür „Gott segne unser deutsches Vaterland“ – ein geeintes Deutschland liegt noch im- müsse die DDR erst mal „die Rahmenbe- beendet, steigt eine ältere Frau zu ihm aufs mer weit außerhalb ihrer Vorstellungswelt. dingungen schaffen“. Podium, umarmt den Kanzler und sagt mit Der anerkannte Internationalist Brandt Der versammelten Weltpresse verkün- tränenerstickter Stimme: „Wir alle danken hingegen, sonst als Meister des Sowohl-als- det Modrow, Kohl neben sich, gleichwohl Ihnen.“ auch verschrien, stellt sich ohne Wenn und tapfer, er sehe „in der DDR die Chance Die Mikrofone sind noch offen, das Pu- Aber an die Spitze der Rufer nach deut- und die Möglichkeit, dass wir unseren Weg blikum kann mithören. scher Einheit: Es könne „nun auch als si- weitergehen“. Aber zur Rede an das Volk, cher gelten“, erklärt er den hingerissenen das sich in der Dämmerung vor der Rui- Genossen in West-Berlin, dass Deutschland nenkulisse zusammendrängt, lässt er sei- Magdeburg der Einheit näher sei, „als dies noch bis vor nen Gast lieber allein gehen. Während Kohl noch in Dresden spricht, kurzem erwartet werden durfte“. Der weiß: Die Stimmung ist gefährlich. wird sein Vorvorgänger in Magdeburg wie Brandt widerspricht vehement jenen Alles, „was als Ausbruch nationalistischen ein Revolutionsheld gefeiert. „Mensch,Wil- Linken, namentlich Günter Grass, die mei- Überschwangs“ gedeutet werden könnte, würde „der Sache der Deutschen gewiss schweren, wenn nicht verheerenden Schaden“ zu- fügen. Kohl ist „klar, dass es eine der schwierigsten, wenn nicht die schwierigste Rede über- haupt“ in seinem Leben werden würde. Was tun, wenn die Menschen plötzlich im nationalen Taumel die erste Strophe des Deutschlandlieds singen? Vorsorglich lässt der Kanz- ler nach einem Kirchenkantor su- chen, der im Ernstfall „Nun danket alle Gott“ anstimmen soll – was sich dann aber als nicht nötig erweist, Gott sei Dank. Kohl spricht 17 Minuten. Er hält die Balance zwischen Mahnung und Versprechen. So fördert er die Hoff- nung der Menschen, dass die Wie- dervereinigung eines Tages kommen werde: „Mein Ziel bleibt, wenn die

* Mit Parteifreunden Rudolf Scharping, Ger- DPA hard Glogowski und Gerhard Schröder. Brandt in Magdeburg*: „Willy, sag, wo’s langgeht“

128 der spiegel 51/1999 Werbeseite

Werbeseite 100 TAGE IM HERBST: »MACHT DAS TOR AUF« nen, Auschwitz schließe einen mehrheitsfähig gilt, präferiert der deutschen Einheitsstaat für im- SDP-Bezirk Berlin den eleganten mer aus: „Noch so große Schuld Kirchenjuristen Manfred Stolpe; einer Nation kann nicht durch der, so heißt es, beherrsche eine zeitlos verordnete Spaltung „mediengerechtes Auftreten“ und getilgt werden.“ verfüge über einen „hohen Be- Nicht wenige wünschen sich, kanntheitsgrad“; außerdem sei er dass Brandt bei der Bundes- eine „integre Person“. tagswahl 1990 noch einmal als Das bezweifeln andere. Zwar Kanzlerkandidat antreten könnte. weiß noch keiner von Meckels „Wär der Willy doch nur“, sagt Parteifreunden, dass der Konsis- einer wehmütig, „zehn Jahre jün- torialpräsident mit dem Deckna- ger – das wär’s.“ men „IM Sekretär“ ohne Wissen Unter dem Dach des Interna- seiner kirchlichen Vorgesetzten tionalen Congress Centrums klat- vielfach mit Stasi-Führungsof- schen ergriffen auch junge So- fizieren zusammengetroffen ist. zialdemokraten aus der DDR: Manch einer aber wirft Stolpe vor, „Ja“, versichert in ihrem Namen dass er noch im Oktober das un- Pfarrer Markus Meckel, SDP-Mit- ruhige DDR-Volk öffentlich dazu begründer und nachmaliger aufgerufen hat, „jetzt von nicht Außenminister der DDR, „wir genehmigten Demonstrationen werden für den deutschen Eini- auf den Straßen abzusehen“. gungsprozess eintreten.“ So wird 1990 schließlich je- Doch der Rauschebart offen- mand Spitzenkandidat der Ost- bart auch seinen Zorn darüber, SPD, der, anders als Stolpe, nicht dass die Partei allzu lange auf durch SED-Nähe korrumpiert ihren Exklusivpartner SED fixiert scheint: Ibrahim Böhme, der Dun- gewesen ist: Die West-SPD habe kelmann, der als „IM Maximi- zu zögerlich „das Gespräch mit lian“ die SDP bereits verraten den oppositionellen Gruppen ge- hat, bevor sie überhaupt gegrün- sucht“. det war. Tatsächlich hat etwa West-Ber- lins Bürgermeister Walter Mom- per noch im August gespottet: Mittwoch, 20. Dezember

„Mit Parteigründungen durch DPA kleine Gruppen kann in der DDR Sozialdemokraten Meckel, Momper: Zorn über Zögerlichkeit Ost-Berlin jetzt gar nichts bewegt werden.“ Kaum hat Kohl die DDR verlas- Momper oberschlau: „Die SED sen, rückt der nächste Staatsgast hat in der DDR tatsächlich die an. Doch anders als der Bonner Macht, und sie wird sie in abseh- Kanzler, der aufs Einheitstempo barer Zeit behalten.“ drückt, will François Mitterrand, Und SPD-Chef Hans-Jochen der französische Staatspräsident, Vogel hat im Herbst dem Mos- möglichst lange eine eigenstän- kauer KP-Führer Michail Gorba- dige DDR erhalten. tschow sogar schriftlich versi- Die Visite ist ein Affront ge- chert, dass seine Partei die DDR- gen Mitterrands Männerfreund Opposition „weder organisieren Kohl, der 1984 über den Grä- noch finanzieren“ werde. Und bern von Verdun so symbol- natürlich war es der SDP auch trächtig seine Hand ergriffen versagt, den Namen SPD zu hatte. Als erster und einziger führen. Staatschef der westlichen Sie- Ein Kurswechsel bahnte sich germächte stattet der Franzose

erst an, als in Bonn das Gerücht K.-B. KARWASZ der dahinsiechenden DDR einen aufkam, die SED werde sich um- SPD-Parteitagsredner Vogel in Berlin: Kurs drastisch korrigiert Staatsbesuch ab – so wie er, benennen in „Sozialistische Par- ebenfalls exklusiv, zwei Jahre zu- tei Deutschlands“, abgekürzt SPD. Um das rupte stalinistische Partei, die SED ist vor in Frankreich emp- zu verhindern, erklärte Bundesgeschäfts- kaputt … Das ist für uns erledigt.“ fangen hatte. führerin Anke Fuchs am 8. Dezember Klar, dass die SPD die armen Brüder im Schon die Art, wie der Élyséepalast am eilig, die SPD würde es nunmehr „sehr Osten von nun an mit allem versorgt, was 21. November Mitterrands Besuch in Ost- begrüßen“, wenn die DDR-SDP „unseren sie braucht – seien es kampagnenerfahre- Berlin angekündigt hat, vergrätzte Bonn: Namen übernehmen“ würde. ne Wahlkampfmanager und Sekretärinnen Der Termin war, wie Kohl-Berater Horst Zugleich korrigiert die SPD drastisch ihr oder auch nur Klarsichthüllen für die Tür- Teltschik schmollt, nicht mit der Bundes- Verhältnis zur SED. Anke Fuchs geht mit schilder im Berliner Parteibüro. regierung abgesprochen worden. der reformgeneigten Modrow-Partei, Kon- Ihren Spitzenkandidaten allerdings müs- Um eine Retourkutsche für den Zehn- kurrentin bei der bevorstehenden Wahl, so sen die Ost-Genossen demnächst ganz al- Punkte-Plan, den Kohl ebenfalls ohne Kon- hart ins Gericht, wie es kaum je ein So- lein aufstellen. Und dabei können sie nach sultation verkündet hat, kann es sich nicht zialdemokrat gegenüber der autoritären Lage der Dinge nur Fehler machen. handeln – auch wenn Mitterrand, wie des- Greisengarde der Honecker-Ära gewagt Weil der rustikale Pfarrer Meckel – Voll- sen Vertrauter Jacques Attali notiert, da- hat. Fuchs plötzlich: „Die SED ist eine kor- bart über Sakko ohne Schlips – nicht als mals tobte: „Er hat mir nichts gesagt!

130 der spiegel 51/1999 Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite Überhaupt nichts! Das werde ich ihm nie vergessen!“ Aber das war am 28. Novem- Freitag, 22. Dezember 1989 ber, nach seiner Reiseankündigung. Mitterrand, kein Zweifel, findet zwei Ost-Berlin deutsche Staaten kommoder als einen. Seit gut einem Monat haben sich vor dem Deshalb ist er am 6. Dezember zu Mi- Brandenburger Tor Hundertschaften von chail Gorbatschow nach Kiew gefahren, Reportern auf hydraulischen Hebebühnen um sich zu vergewissern, dass er in dem und Kränen mit Übertragungswagen und Kremlherrn einen Verbündeten gegen die Satellitenantennen postiert – den nächsten Wiedervereinigung hat. Deshalb auch bie- historischen Augenblick wollen sie auf kei- tet er Modrow einen 300-Millionen-Francs- nen Fall verpassen. Kredit an, um die DDR zu stützen. Der klassizistische Bau mit den zwölf Hinter verschlossenen Türen tröstet Mit- dorischen Säulen hat hohen Symbolwert. terrand die niedergeschlagenen SED-Ka- 1933 zogen nach Adolf Hitlers Machter- der, „alle Länder“ hätten „zu bestimmten greifung die Braunen mit lodernden Zeiten ihre Krisen zu bewältigen“. Dem Fackeln durch den Triumphbogen. Im Mai amtierenden Staatsratsvorsitzenden Man- 1945 hissten Soldaten der siegreichen So- fred Gerlach versichert er, „dass die DDR, wjetarmee die rote Fahne, am 17. Juni 1953 wenn sie ihr politisches Gleichgewicht wie- holten aufständische Ost-Berliner Arbei- derfindet, in der Zukunft große Chancen ter die Flagge herunter. haben“ werde, „einen gewichtigen Platz Das Kuratorium Unteilbares Deutsch- in Europa einzunehmen“. Quel erreur! land startete 1959, nach Nikita Chru- schtschows Berlin-Ultimatum, die Aktion „Macht das Tor auf“: Mit Sammelbüchsen Donnerstag, 21. Dezember 1989 gingen Politiker und Prominente auf die Straße und verkauften 14 Millionen An- Leipzig stecknadeln mit dem Bauwerk. Auch der DDR-Jugend trichtert Mitterrand Tage- und nächtelang wartete nach dem seine These von der deutschen Zweistaat- 9. November der Journalistenpulk darauf, lichkeit ein. dass auch an dieser Stätte ein Durchlass Im überfüllten Hörsaal 19 der Karl- geschaffen werde. Doch , da- Marx-Universität in Leipzig spricht der So- mals noch SED-Generalsekretär, zeigte sich scheinbar wendehals- starrig: Das sei, sagte er sechs Tage nach der Mau- eröffnung, „eine Symbol- handlung, an der ich im Augenblick nicht interes- siert bin“. Dabei war es, wie sich später herausstellen wird, Kohls Wunsch, dem sich Krenz gebeugt hat. Über die Hintergründe hat der in den Westen ge- flüchtete Devisenbeschaf- fer Alexander Schalck- Golodkowski gegenüber dem Bundesnachrichten-

P. PIEL / GAMMA STUDIO X P. dienst ausgepackt. In ei- DDR-Besucher Mitterrand: Affront gegen den Männerfreund nem Vernehmungsproto- koll („Geheim / amtlich zialist vor rund tausend Studenten. Zwar geheim gehalten“) heißt es über die Aus- gehe die Einheit „zunächst die Deutschen“ sagen des Überläufers mit dem BND-Deck- an, räumt er ein.Aber zwei deutsche Staa- namen „Schneewittchen“: ten hätten ihre „souveräne Existenz“, und Als „Schneewittchen“ bei Minister SEI- „auch ihre Nachbarn“ müssten über deren TERS war, bat SEITERS „Schneewitt- „Stabilität wachen“. chen“, KRENZ anzurufen und sicherzu- Am nächsten Tag reist Mitterrand wie- stellen, dass eine Öffnung nicht ohne der ab – kurz bevor Kohl nach Berlin Bundeskanzler erfolgen dürfte. „Schnee- kommt, um einen neuen Grenzübergang wittchen“ rief aus dem Büro von SEITERS am Brandenburger Tor zu eröffnen. KRENZ an und richtete dies aus. Barsch weist der Franzose den Vorschlag zurück, mit dem Kanzler gemeinsam durch In privaten Notizen hatte Schalck schon das symbolträchtige Stadtportal zu gehen: am 15. November festgehalten, der Kanz- „Selbst wenn ich eingeladen worden wäre, leramtsminister habe ihm erklärt, es wür- würde ich es nicht machen.“ Er wolle sich, de „die offiziellen Verhandlungen mit der giftet Mitterrand, nicht beteiligen an der „In- Bundesregierung außerordentlich er- besitznahme der DDR“ durch den Kanzler. schweren, wenn eine etwaige Öffnung des

der spiegel 51/1999 133 100 TAGE IM HERBST: »MACHT DAS TOR AUF«

Brandenburger Tores als neuer Grenz- blutige Straßenschlachten auf. Armee und übergang ohne vorherige Kenntnis der Geheimpolizei richten ein Massaker an. Es Bundesregierung mit anderen Parteien und gibt über tausend Tote. Politikern erfolgt“. In Ost-Berlin geben alle am Runden Eifersüchtig wachte der CDU-Kanzler Tisch versammelten Parteien und Grup- darüber, dass nicht ein anderer im Allein- pen eine gemeinsame Erklärung ab: „Wir gang mit den neuen DDR-Regenten das solidarisieren uns mit dem rumänischen Brandenburger Tor aufmacht: der Sozial- Volk und seinem Befreiungskampf.“ demokrat Walter Momper, der populäre Die Grußadresse unterschreibt selbst die West-Berliner Bürgermeister mit dem ro- SED. Noch im Juni hat sie das Gemet-

ten Schal, dem Kohl das Pfeifkonzert am PRESS / SIPA L. DELAHAYE zel der chinesischen Militärs auf dem Platz 10. November vor dem Schöneberger Rat- Hingerichteter Ceau≠escu 1989 des Himmlischen Friedens in Peking gut- haus persönlich verübelt. „Herrschaft des Bösen“ geheißen – als einzige europäische kom- Nun also ist es so weit, der Termin munistische Partei neben der rumäni- dem Kanzler genehm. Schweres Gerät hat die nach der Machtergreifung 1933 mit schen. rechts und links von dem 20 Meter hohen Fackeln und Stiefeln durch das Tor gezogen Nun fällt die letzte Bastion des Stalinis- Säulenportal zwei fünf Meter breite Bre- waren – doch die nachdenklichen histori- mus in Europa. Per Hubschrauber fliehen schen in den bis zu drei Meter dicken und schen Reminiszenzen des DDR-Minister- Ceau≠escu, 71, und Ehefrau Elena, 70, aus drei Meter hohen Schutzwall geschlagen, präsidenten will keiner hören. dem Bukarester Präsidentenpalast; wenig der an dieser Stelle für die Ewigkeit gebaut Während Krack spricht, gähnt Kohl. Bei- später werden sie festgenommen, zum zu sein schien. fall brandet indes auf, als Momper die Tode verurteilt und unverzüglich hinge- Die ersten Schaulustigen kommen schon Nachricht vom Sturz des rumänischen Dik- richtet. morgens um neun, sechs Stunden vor dem tators Nicolae Ceau≠escu überbringt. „Die Rumänen“, rühmt die polnische angekündigten Staatsakt. Kurz nach zwei Noch Ende November hat der rote Des- Solidarnos´c´, hätten bewiesen, „dass es in drängeln sich tausende von Berlinern an pot, der sein Volk 24 Jahre lang drangsa- Europa keine Völker gibt, die sich mit der den Absperrgittern, Volksfeststimmung lierte, in einer sechsstündigen Parteitags- Herrschaft des Bösen und der Dummheit kommt auf. Dann hält King Kohl Einzug. rede die Veränderungen in den sozialisti- abfinden“. Neben dem großen Kanzler trippelt wieder schen Staaten ringsum als „Verirrungen“ Vor dem Brandenburger Tor detonieren der kleine Modrow, beide flankiert von den abgetan. Das rumänische Volk hingegen verfrühte Silvesterknaller, Leuchtkugeln Berliner Stadtoberhäuptern Walter Mom- bleibe „auf ewig dem Kommunismus schießen empor, und Momper hebt die per (West) und Erhard Krack (Ost). treu“. Stimme: „Nun freue dich, Berlin.“ In strömendem Regen schreitet das Doch die Ewigkeit währt nur drei Wo- Die Menge reagiert mit „Deutschland, Quartett unter der Quadriga hindurch. chen lang. Dann ereignet sich in Transsyl- Deutschland“-Rufen. Nur ein paar Linke, Kohl winkt, Modrow nicht. Die Redner be- vanien, was den Kerzen-Revolutionären kaum zu verstehen, schreien: „Scheiße, steigen ein kleines Holzpodest. der DDR erspart geblieben ist. Scheiße.“ Der DDR-Premier hält die Begrüßungs- Nach einer friedlichen Demonstration Jochen Bölsche; ansprache. Modrow erinnert an die Nazis, für einen regimekritischen Pastor flammen Markus Dettmer, Norbert F. Pötzl DPA Festredner Kohl, Krack, Modrow, Momper am Brandenburger Tor: „Öffnung darf nicht ohne Bundeskanzler erfolgen“

134 der spiegel 51/1999 Werbeseite

Werbeseite 100 TAGE IM HERBST: »MACHT DAS TOR AUF«

ANALYSE Vom Tigerkäfig in den Wunderbus Geldmaschine Knast: Die DDR verdiente Milliarden durch Zwangsarbeit und Häftlingsverkauf or dem Haupteingang der Haftan- bis auf einen kleinen Luftschlitz zuge- Schreiben. Die Zeit in der totalen Isolati- stalt Bautzen II stand eine große mauert. In dem unbeheizten, feuchten on überstanden Häftlinge wie der Schrift- VPropaganda-Tafel: „Das Wort der Raum gibt es weder Hocker noch Tisch steller Siegmar Faust, der insgesamt 401 Partei wird eingelöst. Für jeden lohnt es oder Pritsche. Eine 40-Watt-Birne an der Tage im Bunker der Haftanstalt Cottbus sich, sein Bestes zu geben!“ – realsozialis- Decke leuchtet nur jede halbe Stunde – verbrachte, mit eigenartigen Gedanken: tischer Zynismus. zum Kontrollgang der Aufseher. „Ich stellte mir ein Menü zusammen, das Der mächtige neoklassizistische Bau an Zweimal am Tag wird ein Notdurft-Kübel ich in einem Lokal essen würde, wenn ich der seinerzeitigen Siegfried-Rädel-Straße, in den Raum gestellt, zum Waschen morgens frei bin.“ mitten in einem Wohnge- Ihre umgrenzte Freiheit konnten die biet, war die meistgefürchte- DDR-Bürger schnell verlieren. Zwar ver- te Haftanstalt der DDR; stand sich der Unrechtsstaat seit seiner sie stand unter besonderer Gründung als „sozialistischer Rechtsstaat“ Obhut des Ministeriums (SED-Parteiideologe Kurt Hager). Artikel für Staatssicherheit (MfS). 126 regelte, dass die ordentliche Gerichts- Nachts angelieferten Re- barkeit „durch den Obersten Gerichtshof gimegegnern wurde zur Be- der Republik und durch die Gerichte der grüßung mitgeteilt: „Von Länder“ auszuüben sei. jetzt an sind Sie von der Bild- Per Rundverfügung Nr. 125/51 aber such- fläche verschwunden.“ te das Justizministerium bereits im Jahre „Mielkes Privatgefängnis“ 1951 den Begriff „politischer Gefangener“, („FAZ“) war auf dem Klin- wie ihn später die DDR-Betreuungsgrup- gelschild als „Volkspolizei- pen von Amnesty International verwende- kreisamt“ und „Staatsan- ten, schlicht zu verbieten: waltschaft“ ausgewiesen. Im Wer unsere antifaschistisch-demokratische Innern teilte eine meterdicke Ordnung angreift, wer den Aufbau unserer Mauer, über fünf Stockwer- Friedenswirtschaft stört, begeht eine straf- ke hoch, die Trakte für Ver- bare Handlung und wird seiner verbre- nehmung und Vollzug. Nur cherischen Taten wegen bestraft. Die Straf- eine mächtige Stahltür führ- gefangenen dieser Art sind deshalb auch te „ins Vergessen“ – zu den keine „politischen Gefangenen“, sondern Vernehmungsräumen der kriminelle Verbrecher. Die Bezeichnung Staatssicherheit und ins Ge- dieser Strafgefangenen als politische Häft- fängnis. „Schweigelager“, linge wird daher hiermit untersagt. sagten die Insassen. Bautzen II war deutsche Ein Jahr später, 1952, trat ein Staatsan- Perfektion in Sachen Unter- waltschafts- und ein Gerichtsverfassungs- drückung. In der Provinz- gesetz in Kraft, das es dem Obersten stadt, 50 Kilometer nordöst- Gerichtshof erlaubte, Strafsachen von lich von Dresden, zeigte das „überragender Bedeutung“ im Sinne der MfS, wie sich die Persön- Einheitspartei zu korrigieren. lichkeit von Regimegegnern Vor allem die ehemalige Vizepräsidentin brechen lässt – ganz ohne des Obersten Gerichts und spätere Justiz- Folter oder brutale Schläge. ministerin Hilde Benjamin sowie der „Tigerkäfige“ oder „Bun- Generalstaatsanwalt Ernst Melsheimer

ker“ nannten die Gefange- BILDERDIENST ULLSTEIN sorgten in den fünfziger Jahren für die Sta- nen die 2,50 mal 1,50 Meter Einzelzelle (in Hohenschönhausen): Singen verboten linisierung der DDR-Justiz. „Seitdem ver- großen Zellen. In der „ver- fügte die Führung der SED über einen mit schärften Haft“ landeten Gefangene wegen eine Schüssel Wasser. Unter Aufsicht darf weithin zuverlässigen und beliebig mani- unerlaubter Verbindungsaufnahme, schwe- der Arrestant sich einmal die Woche rasie- pulierbaren Kadern besetzten Justizappa- rer Verstöße gegen das Anstaltsregiment, ren, Nagelfeile und Kamm sind verboten. rat“, urteilt der DDR-Ex- Arbeitsverweigerung oder Tätlichkeiten ge- Zum Schlafen wird eine Holzpritsche perte Karl Wilhelm Fricke. genüber anderen Mitgefangenen. mit einer dünnen Decke in die Arrestzelle Laut Fachautor Fricke Nach DDR-Recht durfte die Isolation im geschoben. Die Tagesverpflegung besteht („Strafjustiz im Parteiauf- Kerker nur 21 Tage dauern. In Bautzen aus fünf dünnen Brotscheiben ohne Auf- trag“) kam es in 40 Jahren beugten die Aufseher das Recht, indem sie strich und einem Topf Malzkaffee. Eine DDR zu rund 200000 po- die Gefangenen für einen Tag heraushol- warme, wässerige Suppe gibt es nur alle litischen Strafverfahren

ten, um sie dann wieder wegzusperren. 72 Stunden. mit Verurteilungen. Jedes DPA Einstigen Häftlingen ist das Grauen noch Im Tigerkäfig sind Sprechen, Singen immer gegenwärtig: Die Zellenfenster sind oder Pfeifen verboten, ebenso Lesen und Justizministerin Benjamin

136 der spiegel 51/1999 gefängnis Berlin-Köpenick wurde Wäsche für die Volksarmee und die sowjetischen Streitkräfte gewaschen. Die inhaftierte Re- gimegegnerin Bärbel Grübel erfuhr, dass auch die Wäsche von Erich Honecker dar- unter war. Die Fuhre zum „Haus an der Spree“ wurde in der Waschabteilung des Knasts immer besonders geheimnisvoll be- handelt. Anfang der sechziger Jahre begann das Geschäft mit dem Freikauf von politischen Gefangenen durch die Bonner Regierung. Im Hintergrund wirkte der Verleger Axel Springer an einer ersten Entlassungsakti- on zu Gunsten von 800 DDR-Häftlingen mit. Mit 100 000 Mark im Aktenkoffer reiste 1963 schließlich Ludwig Rehlinger, Büroleiter des Gesamtdeutschen Ministers Rainer Barzel, hochkonspirativ nach Ost- Berlin. Ein Jahr später, im August 1964, kamen die ersten Häftlinge in drei Bussen aus der

M. BELEITES Haftanstalt Berlin-Rummelsburg über den Röntgengerät in Gera (1989)*: Strahlenquelle hinter dem Vorhang Grenzübergang Herleshausen in den Wes- ten. Das deutsch-deutsche Geheimkom- Jahr seien „einige tausend Menschen“ in schen wurden aus politischen Gründen mando lief unter der Bezeichnung „Kir- die Strafvollzugs- und Untersuchungshaft- zum Tode verurteilt. 94 dieser Urteile er- chengeschäft B“; als Vermittler waren das anstalten zwischen Prora und Plauen ge- gingen wegen NS-Gewaltverbrechen, 66 evangelische Diakonische Werk und die wandert. wegen so genannter Staatsverbrechen wie katholische Kirche tätig. Das DDR-Strafgesetzbuch gab dazu ei- Spionage, Sabotage,Verrat oder Teilnahme Insgesamt 34 000 Häftlinge sind zwi- niges her: am Aufstand vom 17. Juni 1953. schen 1964 und 1989 aus der DDR freige- π „Staatsfeindliche Hetze“, Gefängnis von Von 1972 bis 1981 wurden in der DDR kauft worden, nach offiziellen Angaben für zwei bis zehn Jahren, konnte jede ab- noch mindestens 12 Menschen durch „un- rund 3,4 Milliarden Mark. Nach Auswer- weichende Meinungsäußerung sein, die erwarteten Nahschuss in den Hinterkopf“ tung von Geheimprotokollen und Aussagen als „Diskriminierung der gesellschaftli- hingerichtet. Die Toten erhielten kein Grab. des ehemaligen Devisenbeschaffers Alex- chen Verhältnisse“ galt. Die Verteilung Die meisten wurden im Leipziger Süd- ander Schalck-Golodkowski sind in Wahr- eines Flugblattes gegen den Wehrkun- friedhof verbrannt. Ihre Asche wurde mit heit „ca. acht Milliarden DM“ geflossen. deunterricht etwa trug einem 21-Jähri- Bausand gemischt und vermauert. Das Kopfgeld lag anfangs bei 40 000 gen zwei Jahre und zwei Monate ein. Der Blutkrebs-Tod dreier einstiger Sta- Mark, zuletzt betrug es 95847 Mark. Die π „Landesverräterische Nachrichtenüber- si-Häftlinge – der Dissidenten Jürgen Gelder landeten auf MfS-Konten, später mittlung“, Mindeststrafe ein Jahr, traf Fuchs, Rudolf Bahro und Gerulf Pannach flossen sie in Schalck-Golodkowskis Devi- sogar Wissenschaftler, die ihre Texte im – und die Entdeckung eines getarnten senreserve oder auf Honeckers „General- Westen drucken ließen. Der Philosoph Röntgengeräts im Fotoraum des Stasi-Ker- sekretärskonto“ Nummer 0628 bei der Rudolf Bahro („Die Alternative“) etwa kers von Gera weckten nach der Wende ei- Deutschen Handelsbank in Ost-Berlin. bekam acht Jahre Haft. nen „dringenden Verdacht“: dass gegen Der Kauf von Apfelsinen oder Süd- π „Beeinträchtigung staatlicher oder ge- „politische Häftlinge gezielt Röntgen- früchten aus dem vorgeblich humanitären sellschaftlicher Tätigkeit“ bildete die strahlung eingesetzt wurde“, wie 200 eins- Handel blieb die Ausnahme. „Wir hießen Grundlage für verschärften Zugriff. So tige DDR-Bürgerrechtler in einem Aufruf damals die Apfelsinenjungs“, erinnert sich verhängte ein Gericht gegen einen 40- formulierten (SPIEGEL 20/1999). der Ost-Berliner Anwalt Wolfgang Vogel, jährigen Ingenieur aus Karl-Marx-Stadt Offiziell diente die Haft der „Erziehung der zusammen mit seinem West-Berliner ein Jahr und vier Monate Haft, Führer- durch gesellschaftlich nützliche Arbeit“, Kollegen Jürgen Stange die meisten Frei- scheinentzug und Einziehung des Autos. wie es im DDR-Strafvollzugsgesetz hieß. käufe betreute. Er hatte auf die Scheibe und den Kof- Fast jede Haftanstalt beherbergte Zweig- Der hessische Busunternehmer Arthur ferraumdeckel seines Trabant Texte werke der großen Volkseigenen Betriebe Reichert holte im Auftrag Bonns die je- montiert: „Anspruch und Wirklichkeit oder entsandte Gefangene in Landwirt- weils freigekauften Gefangenen im Entlas- – 40 Jahre Uno-Menschenrechte“. schaftliche Produktionsgenossenschaften. sungsknast Karl-Marx-Stadt ab. Reichert Im Schnitt haben die 1200 Richter des In Cottbus zum Beispiel wurden vor al- hatte seine Reisebusse eigens für das Ge- Landes alljährlich etwa 220000 Urteile je- lem Pentacon-Kameras montiert, die ge- heimkommando präpariert: Über einen der Art gesprochen. Mindestens 160 Men- gen harte Devisen in den Westen gingen. Knopf am Armaturenbrett konnte er die Für die knifflige Arbeit setzte die Gefäng- Nummernschilder drehen. Aus dem Ost- Die Tagesverpflegung nisleitung besonders gern Ärzte ein, die Berliner Kennzeichen IA-48-32 wurde die gut mit der Pinzette umgehen können. Westnummer HU-X 3. Nicht einmal der besteht aus fünf dünnen In Bautzen fertigten die politischen Ge- TÜV in Hanau wusste von den Umbauten. fangenen Elektroschaltgeräte für den VEB Bei den DDR-Häftlingen hatten die Brotscheiben ohne Aufstrich. Oppach. In Berlin-Rummelsburg mussten blau-weiß gestrichenen Fahrzeuge einen ausgerechnet DDR-Kritiker SED-Medail- besonderen Namen: „Wunderbusse“. Eine warme Suppe len und Staatsorden pressen. Im Frauen- Sebastian Knauer gibt es nur alle 72 Stunden. * Mit dem Bürgerrechtler Jörn Mothes. ENDE

der spiegel 51/1999 137 Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite Panorama Ausland

TÜRKEI Kehrtwende in Ankaras Kurdenpolitik ereits wenige Ta- Bge nach der Er- nennung der Türkei zum EU-Kandidaten wächst in Ankara der politische Druck auf Konservative und Rechtsnationalisten. Die Entscheidung von Helsinki stützt nicht nur den Plan AFP / DPA REUTERS von Ministerpräsi- Verhandlungspartner Cem, Solana dent Bülent Ecevit, Militärparade vor dem Atatürk-Mausoleum die Todesstrafe abzu- schaffen und so den Fall Öcalan friedlich zu lösen. Mit dem der Nationalistischen Bewegung: „Man sollte nicht versuchen, Hinweis auf europäische Standards wagte auch Außenminister es auf äußeren Druck hin zu lösen.“ Und was Öcalan betref- Ismail Cem erstmals, öffentlich über die Zulassung eines kur- fe, so Öksüz’ Parteikollege Mehmet Gül, könne er nur warnen: dischsprachigen Fernsehprogramms zu spekulieren. „Ich selbst Jeden Abgeordneten, der gegen die Hinrichtung des Kurden- rede hier in meiner Muttersprache“, sagte Cem im Fernseh- führers stimme, „wird man auf der Toilette zusammenschla- sender CNN-Türk, „dieses Recht sollte jedem Bürger der Tür- gen“. Die Redaktion der Tageszeitung „Cumhuriyet“, Sprach- kei zustehen.“ Die spektakuläre Ankündigung kommt einer rohr des kemalistischen Establishments, distanzierte sich in 180-Grad-Wende in Ankaras Kurdenpolitik gleich; Genera- einer Erklärung von den Umständen, unter denen die Regie- tionen von Menschenrechtlern waren mit der Forderung nach rung Ecevit in Helsinki den Kandidatenstatus annahm: Die kurdischem Rundfunk am nationalistischen Konsens geschei- moderne Türkei stehe auch ohne Europa kurz vor der Lösung tert. Nun finden sich die Traditionalisten selbst in der Defen- ihrer wichtigsten Probleme – dem Sieg über die PKK und den sive. Das Sprachenproblem sei eine „Familienangelegenheit“, religiösen Fundamentalismus: „Und es ist offensichtlich, dass so Transportminister Enis Öksüz von der ultrarechten Partei wir diese Erfolge der Armee verdanken.“

SUDAN ÄGYPTEN Armee gegen LIBYEN Islamisten Port Sudan

er Machtkampf zwischen dem D SUDAN A Staats- und Regierungschef, Gene- H D C ERITREA S Khartum ral Umar al-Baschir, 55, und dem Par- T lamentspräsidenten, Hassan al-Turabi, Öl-Pipeline 69, erschüttert Afrikas größten Flächenstaat in einer hoffnungsvollen Heglig Phase: Seit wenigen Monaten fließt Erdöl aus dem Süden durch eine 1500 ZENTRAL- AFRIKAN. ÄTHIOPIEN Kilometer lange Pipeline exportfähig REP. nach Port Sudan am Roten Meer. DEMOKR. Chinas staatliche Petroleum Company REUTERS 200km KENIA und Firmen aus Kanada und Malaysia Baschir, Turabi (1995) REP.KONGO UGANDA realisierten das Projekt, das den von 16 Jahren Bürgerkrieg heimgesuchten tung des Islam-Ideologen Turabi, der nicht mehr gleichzeitig Chef der Streit- Sudan mittelfristig aus der Armut seit dem Putsch Baschirs 1989 die Fä- kräfte sein. Mit seinem „Coup d’Etat“ führen sollte. Anschläge von Regime- den zog. Turabi wollte seinen einstigen (Turabi) kam Baschir der eigenen Ent- gegnern auf die Öl-Leitung nahm Ba- Verbündeten mit Hilfe des von ihm machtung zuvor. Seine Regierung ver- schir vorigen Sonntag zum Anlass, den kontrollierten Parlaments kaltstellen: höhnte den in seiner Villa festsitzenden Ausnahmezustand zu erklären und das So sollte dem Präsidenten das Recht Turabi: Er könne ja vor Gericht gehen Parlament aufzulösen. Hauptziel der genommen werden, Provinzgouver- und gegen die Ausrufung des Aus- Maßnahme war freilich die Ausschal- neure zu ernennen; zudem dürfe er nahmezustands klagen.

der spiegel 51/1999 141 Panorama

SINGAPUR Lockruf der Fremde KUBA bwohl der Stadtstaat am Zipfel der Millennium-Rauch Omalaysischen Halbinsel für viele Metropolen in Asien Vorbildfunktion hat, macht sich Premierminister Goh m neuen Jahr will der staatliche kubanische Zigarren- Chok Tong, 58, Sorgen: Singapurs Be- Iexporteur Habanos sein Marktimperium weltweit ent- völkerung vermehrt sich nicht mehr wie scheidend vergrößern. Deshalb führt der revolutionseigene gewünscht. Um die Einwohnerzahl von Betrieb eine neue Puro-Marke ein, genannt San Cristóbal derzeit 3,5 Millionen stabil zu halten, de La Habana. Die Offensive begann am 480. Jahrestag der wären 50000 Geburten pro Jahr nötig, Gründung der Hauptstadt. Da durften die zum Iberoame- doch 1998 konnten nur 43664 Babys re- rikanischen Gipfeltreffen nach Havanna geladenen Staats- gistriert werden. Der Trend zeigt weiter chefs, vom aus Gesundheitsgründen dem Nikotin abtrün- abwärts – Folge der offiziellen Zwei- nigen Gastgeber Fidel Castro Kind-Politik und des mit wachsendem ermuntert, erstmals die hand- Wohlstand verbundenen Wertewandels. gerollten Premiums testen. Jede fünfte Frau mit höherer Schulbil- Die neue Staatszigarre, die dung zieht es inzwischen vor, auf die fünfte Markenschöpfung seit Gründung einer eigenen Familie zu ver- der Erfindung der Cohiba zichten; mindestens 150000 Bürger den- 1968, soll im Jahr 2000 in vier ken kosmopolitisch und halten sich verschiedenen Formaten ex- langfristig im Ausland auf, darunter portiert werden, die Namen zahlreiche qualifizierte Arbeitskräfte. der vier Festungen aus der Allein beim Verteidigungsministerium spanischen Kolonialzeit tra- gen: El Príncipe (Minuto), La Punta (Campana), La Fuerza (Gordita) und El Morro (Paco). Mit den Prestige hei- schenden Vitolas (Bauchbin- den) sollen die Lizenzstreitig-

keiten umgangen werden, die / ZEITENSPIEGEL SALAS Castros Regime mit den Eig- Revolutionäre Castro, Ché Guevara (1959)

RUMÄNIEN Vasiles die Wahl eines Nachfolgers blockieren. Während Constantinescu für Iliescus Chance das Amt des Regierungschefs den Boss der Treuhandanstalt, Radu Sirbu, favori- on der innenpolitischen Krise im siert, liebäugeln die zerstrittenen VLand des frisch ernannten EU-Bei- Christdemokraten mit einem neuen trittskandidaten Rumänien versucht vor Mann aus den eigenen Reihen: Innen- allem die Partei der Ex-Kommunisten minister Dudu Ionescu. Er hatte sich zu profitieren. Nach der von einigen durch seine Amnestieforderung für Sol- Verfassungsrechtlern als „Staatsstreich“ daten, die während der Revolution an kritisierten Ablösung des christdemo- den Kämpfen gegen Zivilisten beteiligt kratischen Premiers Radu Vasile durch waren, einen Namen gemacht. Präsident Emil Constantinescu drängt die linke PDSR, angeführt vom ehemaligen Staatspräsidenten Ion Iliescu, verstärkt auf vorgezo- gene Parlamentswahlen. Constan- tinescu hatte gehofft, durch die

M. BETH / MATRIX / AGENTUR FOCUS / AGENTUR M. BETH / MATRIX Entlassung des Sündenbocks Vasi- Schülerinnen in Singapur le sein Lager zu stärken. Denn in Meinungsumfragen führt die Par- gehen im Jahr 6000 Anträge von Reser- tei von Iliescu. Der setzt inzwi- visten ein, die sich für mindestens ein schen darauf, dass die regierende halbes Jahr aus Singapur abmelden Vier-Parteien-Koalition keine par- möchten. Premier Goh will zur Scha- lamentarische Mehrheit zur Ein- densbegrenzung deshalb an patriotische setzung eines neuen Premiers Gefühle appellieren: „Wir müssen die findet – bis zu 40 Abgeordnete REUTERS Herzen der Singapurer gegen den Lock- der Christdemokraten wollen AP ruf der Fremde gewinnen.“ aus Protest gegen die Entlassung Präsident Constantinescu, Entlassener Vasile

142 der spiegel 51/1999 Ausland

GROSSBRITANNIEN geißelte zwar den skandalösen „Vertrauensbruch“, erklärte aber Freund hörte mit gleichzeitig, dass Sinn Fein nicht aus dem Friedensprozess aussteigen ertrauen ist gut, Kontrolle ist werde. Er und seine in 25 Jahren Vbesser. Nach dieser Devise Le- bewaffneten Kampfes erfahrenen nins verfuhr offenbar die britische Genossen hätten mit Lauschern ge- Regierung während der Friedens- rechnet und ohnehin im Auto Dis- verhandlungen in Nordirland mit kussionen über brisante und ver- dem ehemaligen Staatsfeind Num- trauliche Fragen vermieden. mer eins, Gerry Adams. Der eng mit der katholischen IRA verbun- dene Sinn-Fein-Politiker entdeckte jedenfalls in einem von ihm auch

S. CREUTZMANN / ZEITENSPIEGEL privat genutzten Wagen eine Ab- San-Cristóbal-Zigarre in vier Formaten höranlage. Während die ehemalige Nordirland-Ministerin Mo Mowlam nern alter Tabakmanufakturen führt. Diese sind nach einigen Tagen peinlichen nach der Revolution ins Exil gegangen und ha- Schweigens einräumte, dass sie den ben Pflanzungen in der Dominikanischen Re- Einbau des elektronischen Spions publik, Nicaragua und Honduras aufgezogen. gebilligt hatte, äußerte sich Pre- Sie liefern Traditionsmarken wie Montecristo mierminister Tony Blair zunächst und Partagás in die USA, wo kubanisches nicht dazu, wer den Lauschangriff Rauchwerk wegen des Embargos ausgesperrt anordnete und ausführte. bleibt. In den vergangenen drei Jahren gelang es Ein ehemaliger Mitarbeiter des bri- indes Havanna, die Produktion des welt- tischen Geheimdienstes MI5 ver- berühmten Tabaks zu steigern und ihn zum dächtigt auf Grund technischer De- drittgrößten Dollar-Exportgut hinter Zucker und tails der entdeckten Anlage seine Nickel zu befördern. Doch selbst wenn der für Ex-Kollegen. Der einstige IRA- dieses Jahr angestrebte Export von 200 Millio- Kommandeur Martin McGuinness, nen Zigarren erreicht werden sollte, verkauft gerade zum Bildungsminister der die Konkurrenz in der Dominikanischen Repu- Mehrparteienregierung in Nord- blik, wo seit einem Jahrzehnt auch Zino Davi- irland ernannt, macht den militäri-

doff rollen lässt, noch das Doppelte. schen Geheimdienst für die Ver- PACEMAKER wanzung verantwortlich. Adams Lauschangriffsopfer Adams

KROATIEN SPIEGEL: Und wenn nun doch eine Oppositionspartei mit der HDZ eine Regierungskoalition eingeht? „Frei für den Aufbruch“ Gotovac: Das wird nicht geschehen. Das Volk wird solche Tricks nicht zulassen. Wir wollen auch dafür sorgen, dass die Vlado Gotovac, 69, Chef der oppositionellen Verfassung geändert wird, um die Macht des Präsidenten ein- Liberalen Partei (LS), gehörte wie der vor zuschränken. zwei Wochen verstorbene Staatschef Franjo SPIEGEL: Kroatien ist in Europa politisch isoliert und ins wirt- Tudjman zu den bekanntesten Dissidenten schaftliche Abseits geraten. im titoistischen Jugoslawien. 1990 kam es Gotovac: Wir müssen unsere Beziehungen zu den europäischen

zwischen den beiden Vorkämpfern für ein AP Institutionen ändern, auch zum Uno-Kriegsverbrechertribunal unabhängiges Kroatien zum Bruch. Gotovac in Den Haag, und mutmaßliche Massenmörder bedingungslos ausliefern. Europa erwartet von uns ebenso, dass wir die Sou- SPIEGEL: Tudjman herrschte mit einer Machtfülle wie kaum ein veränität Bosniens unmissverständlich anerkennen. anderes Staatsoberhaupt seit dem Kollaps der Sozialisten Ost- SPIEGEL: Keinerlei Gebietsansprüche mehr auf die kroatisch europas. Versinkt Kroatien nun im politischen Chaos? besiedelten Landesteile? Gotovac: Aber nein, endlich ist durch Tudjmans Ableben der Gotovac: Erst dann können wir auf Handelsabkommen mit der Weg frei für den demokratischen Aufbruch Richtung Europa. EU rechnen. Nach den Parlamentswahlen am 3. Januar wird Kroatien ein SPIEGEL: Ungarn und Slowenien, die direkten Nachbarn Kroa- anderes Land sein, denn Tudjmans Kroatische Demokratische tiens, sind schon bei der ersten Runde der EU-Osterweiterung Gemeinschaft (HDZ) ist am Ende. dabei. Wann wird es für Ihr SPIEGEL: Sie glauben also an den Sieg des konfusen Opposi- Land so weit sein? tionsbündnisses aus Sozialdemokraten, Liberalen und anderen Gotovac: Das kann noch kleinen Parteien über die bislang allein regierende HDZ? dauern. Für mich ist wich- Gotovac: Natürlich. Alle Oppositionspolitiker wissen: Die Lage tig, dass Kroatien seine ist so ernst, dass wir uns interne Streitigkeiten nicht leisten Rolle als Außenseiter ab- können. Tudjman und seine Gefolgsleute regierten absolu- streift und als ein moder- tistisch, die HDZ-Funktionäre verteilten unter sich einen nes, mediterranes Land in

Großteil des Staatsvermögens, die Erlöse bei der Privatisie- DPA Mitteleuropa wahrgenom- rung der Staatsbetriebe flossen direkt auf HDZ-Konten. Begräbnis von Staatschef Tudjman men wird.

der spiegel 51/1999 143 Ausland

HEILIGES JAHR Saubere Weste für jedermann Mit Pomp und Gepränge, Massenwallfahrten und dem Ablass von Sünden will der Papst das Heilige Jahr 2000 feiern – ein Mammutspektakel zwischen Glauben und Geschäft.

n Rom und Jerusalem, den heiligen Or- in der Geburtsgrotte Jesu ebenfalls das ten der Christenheit, kommen ausge- Heilige Jahr einläuten. Irechnet kurz vor Weihnachten apoka- Denn jedes Vierteljahrhundert begeht lyptische Ängste auf – allerdings aus denk- die katholische Kirche feierlich mit Pomp bar unterschiedlichen Beweggründen. und Ablässen ein solches Jubeljahr. Anno Die Behörden in Jerusalem befürchten Domini 2000, in der Ära der Globalisie- Anschläge und Selbstmordaktionen fanati- rung, soll es nach dem Willen des Papstes scher Heilssucher. Denn an den Feiertagen weltweit gefeiert werden. Für Johannes und zum Jahreswechsel werden die Fern- Paul II. hat dieses Datum hohe Symbol- sehkameras der Welt auf die „Stadt des Frie- kraft: Er verbindet damit den Aufbruch sei- dens“ gerichtet sein. Einige der religiösen ner Kirche in das neue Jahrtausend. Ziel- Riegen gingen der Polizei bereits ins Netz, strebig hat er dafür gearbeitet. die bisher über 50 verdächtige Sektierer Der Papst will in dem Jubiläumsjahr, in aufgespürt und aus dem Land gewiesen hat. Italien „Giubileo“ genannt, seinen eigenen Am Tiber dagegen sorgen sich die Rö- Rekord an Selig- und Heiligsprechungen mer um ein Geschäft mit der Religion, das noch einmal deutlich übertreffen. am Heiligen Abend mit der Ausrufung ei- Das Oberhaupt der katholischen Kirche nes lange währenden Spektakels durch hat dafür sogar die Zeitrechnung außer Papst Johannes Paul II. seinen Anfang Kraft gesetzt. Das Heilige Jahr, so verfüg- nimmt: das „Heilige Jahr“, letzter Lebens- te er in der päpstlichen Bulle „Incarnatio- traum des gebrechlichen Oberhirten. nis mysterium“ (Geheimnis der Mensch- Feuerwerk anlässlich der Restaurierung des In der Weihnachtsnacht wird der Pon- werdung), wird stolze 380 statt 366 Tage im tifex maximus ein sonst geschlossenes Por- herannahenden Schaltjahr haben, es endet kopat ernannte eigens einen „Heilig-Jahr- tal im Petersdom durchschreiten, die Hei- erst am 6. Januar 2001. Beauftragten“, den Hamburger Weihbi- lige Pforte. Dazu ertönt auf Latein der Seit langem bereiten sich auf Weisung schof Hans-Joachim Jaschke. Psalmvers „Aperite mihi portas iustitiae“ des Vatikans die Gläubigen auf den Ter- Doch das Echo bei den Gläubigen blieb – Öffnet mir die Tore zur Gerechtigkeit. min vor. In Deutschland sollen der Katho- bislang bescheiden. Trotz der intensiven Fast zeitgleich mit dem Wojtyla-Papst likentag (im Juni in Hamburg), ein inter- Vorbereitung tröpfeln die Buchungen von wird der Patriarch Michel Sabbah, Ober- nationales Jugendcamp zur Expo in Han- Rom-Touristen nur, keimt bei der Stadt- haupt der Katholiken Israels, die Mitter- nover sowie Pilgerfahrten nach Rom und verwaltung Roms und dem Fußvolk der nachtsmette in Betlehem zelebrieren und Israel die Kirche voranbringen. Der Epis- Pretiosenverkäufer, Pizzabäcker und Park- FOTOS: SINTESI FOTOS: Papst Johannes Paul II., Andenken zum Jubiläumsjahr: Lebenstraum des guten Hirten

144 der spiegel 51/1999 AP Petersdoms*: Das Oberhaupt der katholischen Kirche hat sogar die Zeitrechnung außer Kraft gesetzt

platzwächter die Sorge auf: Wird das Glau- Auch die Konsumbedürfnisse der Rom- hen. In seiner Bulle verkündete der Papst, bens-Marathon am Ende ein Flop? Fahrer müssen nicht leiden. Es werden Giu- die Katholiken könnten zum Millennium Schon bekümmert Religionskitsch-Pro- bileo-Käse und Giubileo-Wein, Giubileo- einen „vollkommenen Ablass“ aller an- duzenten und T-Shirt-Verkäufer, dass sie Pizzen und Giubileo-Kaffeetassen feilge- sonsten im Fegefeuer abzubüßenden Sün- auf ihrer Ware vielleicht sitzen bleiben. boten; der Pilger kann Giubileo-Brot und denstrafen erlangen. In den „reichlichen Und im Vatikan wird leise erörtert, ob die Giubileo-Grappa als Souvenir erwerben Genuss des Ablass-Geschenkes“, so heißt Pilgerfahrt zum guten Hirten nach Rom samt Giubileo-Jeans, -Hemden und -Schals. es in dem Lehrschreiben, kommen alle Pil- nun doch nicht mehr der Lebenstraum ei- Rund um den Vatikan wird das „Pilger-Pa- ger, die in Rom oder Israel traditionsreiche nes jeden katholischen Schäfchens ist. ket“ angeboten: ein Allerlei vom Giubi- Gotteshäuser wie den Petersdom oder Jesu Dabei sollten nach den Hoffnungen der leo-Hütchen bis zur Videokassette mit Geburtskirche in Betlehem aufsuchen. Kirchenmanager 20 bis 30 Millionen Pil- Johannes Paul II. auf der Vorderseite. Wahlweise können sie himmlische An- ger aus dem Rest der Welt die Ewige Stadt Für den reibungslosen Ablauf der Wall- rechte auch durch zeitweises Fasten, sexu- aufsuchen. Zu 40 Großveranstaltungen er- fahrten entwickelten die Strategen der Ku- elle Enthaltsamkeit sowie den Verzicht auf warten sie jeweils bis zu 300000 Besucher. rie eine spezielle „Pilgerkarte“ mit einge- Nikotin und Alkohol erwerben – oder in- Allein zwischen dem 15. und 20. August, bautem Mikrochip. Auf ihr ist gespeichert, dem sie „mit einem ansehnlichen Beitrag dem „Weltjugendtag“, rechnet der Vatikan welche Gottesdienste der Gläubige zu be- Werke religiösen oder sozialen Charakters mit zwei Millionen Teilnehmern. suchen und wo er zu essen hat. Die Karte unterstützen“. Keiner soll vergessen werden, für fast dient auch zum Telefonieren, als Bus-Billett Die göttliche Ablass-Gnade ist indes jede Gruppe kündigt der Vatikan einen be- und Rabattmarke bei Einkäufen. nicht allein dem Pilger vorbehalten: Jeder sonderen Jubeltag an: Einen Giubileo gibt Vorsorglich hat die Stadt Rom hunderte reuige Sünder, so er den Vorschriften der es für Kinder, einen für Künstler, je einen neuer Polizeibeamter eingekleidet, die „Päpstlichen Behörde für Ablassfragen“ für Arbeiter und Wissenschaftler, Journa- Handtaschenräuber und Trickdiebe stellen nachkommt, kann eine seelisch saubere listen und Einwanderer; ein Fest ist für die sollen. Die Fassaden der Kirchen sind ge- Weste bekommen – ob in Köln oder im Politiker und ein anderes für die Straftäter liftet, der Petersdom ist mit Millionenauf- ruandischen Kigali. Doch so richtig, insi- in den Gefängnissen geplant. wand restauriert und frisch bemalt worden. nuieren die vatikanischen Schriftgelehrten, Im Mittelpunkt des Heiligen Jahres soll wirke der Handel nur im Dreierpack: dank * Am 30. September. aber eine Art endzeitliche Lebenshilfe ste- der Pilgerfahrt nach Rom, dem Durch-

der spiegel 51/1999 145 schreiten einer „Heiligen Pforte“ und Nicht nur in ökumenischer, sondern schließlich dem Ablass selbst. auch in ökonomischer Hinsicht zehrt die Das muss auch so sein. Denn um den Wirklichkeit an den Erwartungen der Ku- Glanz und die Herrlichkeit der Ewigen rie. Bei der zentralen Erfassungsstelle lie- Stadt zu zelebrieren und en passant die gen bisher gerade mal 800000 Anmeldun- Macht der Päpste zu festigen, ist das Hei- gen von Ablass-Reisenden nach Rom vor. lige Jahr früh erfunden worden. Der für Organisationsfragen zuständige Das erste, von Bonifatius VIII. im Jahr Signore Francesco Silvano schiebt die 1300 eingerichtet, „rettete das Papsttum Schuld an der zögerlichen Nachfrage dem vor dem Bankrott“, weiß der Nestor des Ausland zu: Dort verliefen die Vorberei- italienischen Journalismus, Indro Monta- tungen noch immer zu schleppend. nelli, 90. Jeweils im Abstand von 100 Jah- Man hofft deshalb an Weihnachten auf ren sollte der irdische Jubel ausbrechen, eine Wende. Ein „Friedenslicht aus Betle- wünschte es sich damals Bonifatius. hem“ soll zum Beispiel in Deutschland die Aber schon Clemens VI. halbierte die Gefühle der Gläubigen erwärmen. Die Kir- Zeitfolge. Er saß in Avignon im Exil und chenführer ließen die Flamme mit der Luft- hoffte, im Glanz des Heiligen Jahres 1350 hansa in einer Grubenlampe nach Frank- leichter ins feindlich gesinnte Rom zurück- furt einfliegen und bundesweit an alle kehren zu können. Gemeinden expedieren. Die Sache ging schief, aber trotzdem Eine weitere Erkenntnis schreckte die wurde gefeiert, bald jedes Vierteljahrhun- Organisatoren des religiösen Mega-Fests dert. Und weil zu dem regelmäßigen Ablass auf, kaum dass sie sich ihre Zielgruppe ein- später auch außerordentliche Jubelfeiern mal näher angesehen hatten: Der typische

kamen, summieren sich die Heiligen Jahre KNA Pilger ist jung und arm, „kommt mit Ma- bis heute offiziell auf die Gesamtzahl 111. Johannes Paul II. an der Heiligen Pforte* tratze und Schlafsack nach Rom“, so Kar- Die protestantischen Christen, klar Zögerliche Nachfrage im Ausland dinal Camillo Ruini. Und auch Luigi Zan- doch, halten sich auch diesmal fern. Ihnen da von der „Agenzia romana per il Giubi- passt die Verbindung von Geld und dem lionen evangelische Christen angehören, leo“ bereitet seine Mitbürger auf eine Ent- Erlass von Sündenstrafen heute so wenig zog sich aus Protest vom ökumenischen täuschung vor: „Erwartet keine Millionä- wie schon zur Zeit des Reformators Mar- Jubiläumskomitee zurück. re, die in Fünf-Sterne-Hotels absteigen.“ tin Luther. Der hatte den Ablasshandel ge- Auch in Israel ist die euphorische Er- geißelt und dadurch die Kirche gespalten. * Im Petersdom bei deren Öffnung im außerordentlichen wartung verflogen, mehr als zehn Millio- Der Reformierte Weltbund, dem 70 Mil- Heiligen Jahr 1983. nen Pilger würden des Heiligen Jahres we- Ausland gen ins Land strömen. Inzwi- Auch die Israelis wollen mit dem Heili- schen wären die Tourismus- gen Jahr ein Geschäft machen. Sie haben manager auch mit drei Mil- regelrechte Erlebnisparks angelegt, in lionen zufrieden. denen Pilgern die „Wunder und Taten Mit gemischten Gefühlen Jesu“ nahe gebracht werden. Etwa an den sehen die Israelis dem für Hängen des Golan, wo auf einem bislang März geplanten Besuch des unbedeutenden Schutthügel der angebli- Papstes entgegen. Johannes che Ort der wunderbaren Brotvermehrung Paul II. will außer Betlehem ausgebuddelt wurde. Oder im Dorf Kana, und Jerusalem auch Nazaret wo Jesus bei einer Hochzeit Wasser in Wein besuchen, wo Jesus aufge- umgewandelt haben soll. wachsen ist – und wo Musli- Am Jordan, an dem Jesus sich laut Bibel me neben der Verkündigungs- taufen ließ, können Busladungen von Wall- Basilika gegen alle Proteste fahrern künftig ein Bad nehmen. Die Isra-

eine Moschee bauen wollen. KNA elis haben Parkplätze, Restaurants und Israel war nicht das einzige Wallfahrer in Rom: Marathon des Glaubens Umkleidekabinen errichtet. Nach dem heikle Ziel des Heiligen Va- Schwimmen im Jordan müssen die Touris- ters.Vor zwei Wochen zerbrach vorerst ein Washington und London hätten den ten einen Supermarkt passieren, der Mit- alter Traum des Papstes: Der von seinen Papst-Flug genehmigen müssen. Doch die bringsel von der Dornenkrone bis zur Reise-Marschällen schon im Detail vorbe- USA und Israel signalisierten dem Vatikan, Fußcreme verkauft. reitete Besuch in den Irak wurde storniert. dass sie von einer Aufwertung Saddam Für Pilger gibt es ein großes Fischerfest Johannes Paul II. wollte von Bagdad aus Husseins durch den Papst-Besuch nichts am See Genezareth und – eher nach ame- mit dem Hubschrauber ins alte Ur in halten. Sie sähen es gern, wenn der Vatikan rikanischem Geschmack – Massenspei- Chaldäa fliegen, der biblischen Heimat des ganz auf die Reise verzichten würde. sungen mit musikalischer Kulisse. Das im Stammvaters Abraham. Der chaldäische Der Papst möchte mit dem Trip nach See entdeckte „Boot Jesu“, ein angeb- Patriarch Raphael I. Bidawid gab Sicher- Nahost um Versöhnung zwischen den Re- lich 2000 Jahre alter Holzkahn, wird der heitsgründe als Grund der Verschiebung ligionen werben. Das Ringen um Pro- Öffentlichkeit in einem Schauhaus prä- an. Amerikaner und Briten hätten den gramm und Reiseroute soll nach Weih- sentiert. Luftraum unter Kontrolle. Vor kurzem sei nachten weitergehen. Seine Planer müs- Rechtzeitig zum dritten Jahrtausend die Umgebung von Ur bombardiert wor- sen allerdings auch noch in Israel ver- nach Christus schließt sich damit eine den. „Was würde geschehen, wenn sie auch handeln, wo der Streit um die Moschee in Marktlücke – das Heilige Land wird zum während des Papst-Besuchs angreifen?“, Nazaret alle gut gemeinten Pläne durch- religiösen Disneyland. fragte der Patriarch. einander bringen könnte. Hans-Jürgen Schlamp, Peter Wensierski FOTOS: DPA Feiernde Kosovaren am albanischen Unabhängigkeitstag*: „Wir treten das Gottesgeschenk der Nato mit Füßen“

der von den USA bislang protegierte Ha- KOSOVO shim Thaçi und der von Kosovo-Führer Ibrahim Rugova favorisierte Bujar Bukoshi – beschimpfen sich gegenseitig als „Ban- Heillose Anarchie den“ und „Wilde“. Nach mehreren Anläufen installierte der Sechs Monate nach dem Nato-Sieg herrscht in der Uno-Sonderbeauftragte für das Kosovo, Bernard Kouchner, vergangenen Mittwoch Balkanprovinz Chaos. Die Albaner jagen die Serben und eine Übergangsregierung, die alle politi- feilschen um die Macht. Hilflos sieht die Uno zu. schen Kräfte repräsentieren soll. Im Exe- kutivausschuss sitzen Albaner-Präsident enig hat sich verändert im „Casa- provinz durch die westliche Allianz regiert Rugova, der ehemalige UÇK-Kommandeur blanca“, wie der Volksmund seit im Kosovo heillose Anarchie. und jetzige Premier Thaçi und Reqep Co- Wder „Befreiung“ das Grand Hotel Weder der Uno-Verwaltungsapparat sija vom Oppositionsbündnis. Ein weiterer im Zentrum Pri∆tinas nennt. Wo einst die Unmik funktioniert, noch lassen sich die Platz wird für die Serben offen gehalten, Serben jeden Gast observierten, wird dies einstigen UÇK-Guerrillas mit ihrer neuen die sich bisher in ihrem Nationalrat ein- nun von Albanern in schwarzen Leder- Rolle als Katastrophen-Korps zur Behe- igeln und die Kantonisierung des Kovoso jacken und mit finsteren Gesichtern ge- bung von Brand- und Unwetterschäden ab- fordern. tan. Nicht minder gründlich, nicht minder speisen. Während das Auswahlverfahren „Ein möglicherweise historischer Tag“, rabiat. für die 3000 Korps-Mitglieder noch läuft, feierte Kouchner vorsichtig das zusam- Das Hotel steht seit Kriegsende unter spazieren bereits 15000 UÇK-„Befreier“ mengeschmiedete Bündnis unter seiner Kontrolle der einstigen Kosovo-Befrei- in neuen Tarnuniformen durchs Land, ein Führung, Co-Präsidenten sind sein Stell- ungsarmee UÇK. Die lässt keinen Zweifel dem früheren UÇK-Emblem nachempfun- vertreter Jock Covey und Thaçi. Dessen aufkommen, wer die neuen Herren im Lan- denes Abzeichen am Arm. Die Waffen- selbst ernannte Albaner-Regierung soll de sind. arsenale sind dank der offenen Grenzen gemäß einer Unmik-Forderung aufgelöst Die Opfer haben von ihren Peinigern ge- zu Albanien wieder aufgefüllt. werden.Auch Rugova muss auf seinen Prä- lernt, beschreibt der nach Pri∆tina zurück- Die politischen Parteien aber feilschen sidentenstatus verzichten, bis zu den Wah- gekehrte Bujar Bukoshi, einst Exil-Premier erbittert um die Macht, auf ein gemeinsa- len zumindest. des Kosovo, die neue Realität seiner Hei- mes Konzept mochten sie sich bisher nicht Doch das größte Problem im Kosovo mat. Bitter fügt er an: „Wir treten das Got- einigen. Zwei albanische Premierminister – bleibt die Verfolgung der zurückgebliebe- tesgeschenk der Nato mit Füßen.“ Sechs nen serbischen Minderheit. Beteuerungen Monate nach der Befreiung der Albaner- * Am 28. November in Skenderaj, westlich von Pri∆tina. albanischer Politiker, ihrem „friedfertigen

148 der spiegel 51/1999 Ausland

Volk“ sei Rache fremd, er- in jedem Serben einen poten- wiesen sich als irreführend. ziellen Feind. Der Exodus der Serben ins Veton Suroi aber, Heraus- Mutterland, nach Montenegro geber der Tageszeitung „Ko- oder in monoethnische En- ha Ditore“, hat das größte klaven innerhalb des Kosovo Übel in der seit Sommer re- halte unvermindert an, be- gierenden Uno-Verwaltung richtet die OSZE in ihrem ausgemacht: Sie sei schlicht- neuesten Report. Immer häu- weg unfähig. figer würden sie Opfer der Zwar sind die Ladenregale durch jahrelange serbische mit Lebensmitteln, Fleisch und Schikanen traumatisierten Importwaren gefüllt. Doch Albaner. wenn im Land die Lichter aus- Am 28. November stürzte gehen, die Wohnungen unge- sich eine Horde wütender Ju- heizt bleiben und die Wasser- gendlicher mitten im Zen- hähne versiegen, gibt es in der trum Pri∆tinas auf das Auto Bevölkerung nur ein geflügel- eines serbischen Professors. tes Wort: „Daran ist Kouchner Der Mann wurde auf die Überfallene Serben in Pri∆tina: „Daran ist Kouchner schuld“ schuld!“ Der Uno-Sonderbe- Straße gezerrt und erschos- auftragte für das Kosovo, das sen, das Fahrzeug von den Albanern in zum Bäcker an der nächsten Straßenecke ist ein gängiges Urteil, verstehe von Ver- Brand gesetzt. einem Spiel mit dem Tod. Auch Zigeuner waltung so wenig wie eine Kuh vom Fliegen. Am Kfor-Checkpoint nahe der monte- werden erbarmungslos verfolgt. Erst jetzt wurde mit der Registrierung negrinischen Grenze warnen italienische Premier Hashim Thaçi streitet eine Be- von Fahrzeugen begonnen. Ein Großteil der Soldaten jeden anreisenden Serben, bereits teiligung seiner einstigen UÇK-Kämpfer Autofahrer besitzt keinen Führerschein. Seit 200 Meter weiter könnten sie für seine Si- an den Racheakten ab. Insider vermuten, Juni wurden dank der monatelang offenen cherheit nicht mehr garantieren. Vor allem dass er die Extremisten in der eigenen Par- Grenzen zu Mazedonien und Albanien über nachts würden Albaner nach Gutdünken tei nicht mehr zu kontrollieren vermag. 250000 Autos zollfrei eingeführt – viele da- Polizei, Richter und Henker spielen. Schuld träfe auch die Serben selbst, glaubt von zu Billigstpreisen, weil gestohlen. In Mitrovica, der zwischen Serben und Hydayet Hyseni von der „Bewegung für Niemand stellt die für Albaner vorge- Albanern geteilten Stadt, ist eine friedliche demokratische Einheit“: Solange die ju- sehenen neuen Unmik-Personalausweise Lösung ebenfalls nicht in Sicht. Für die goslawische Armee die Rückeroberung aus. Bei ihrer Vertreibung hatten rund Serben in Pri∆tina gleicht selbst der Gang des Kosovo ankündige, sähen die Albaner 800 000 Flüchtlinge ihre Pässe abgeben Ausland

müssen. Fast alle sind wieder zurückge- kehrt, doch bislang nirgends registriert. Kriminelle werden nach wenigen Tagen aus dem Gefängnis entlassen, weil es kei- „Ich gebe nicht auf“ ne neuen Gesetze gibt. Kouchner aber hat nicht genügend Polizisten, um Ordnung im Uno-Missionschef Bernard Kouchner über den Land zu schaffen. fehlenden Versöhnungswillen Im Uno-Hauptquartier in New York der Albaner und ausbleibende westliche Hilfe wollte man den Kosovo-Statthalter bereits durch den Bosnien-Experten Carl Bildt er- Der Franzose Kouchner, 60, ist seit Juli dafür, wo bleiben die versprochenen setzen. Doch Washington sträubte sich. 1999 für Wiederaufbau und Verwaltung 15 Millionen Mark? Eigenmächtig, ohne Rücksprache mit der jugoslawischen Kriegsprovinz Ko- SPIEGEL: Wer blockiert denn die Fi- den Rechtsexperten in New York, habe der sovo verantwortlich. nanzhilfen? „Kosovo-Napoleon“ (ein Kouchner-Mit- Kouchner: Alle. Die Europäische Union arbeiter) die Einführung der D-Mark als SPIEGEL: Sie sind eine Art Zivilgouver- will nur konkrete Objekte finanzie- Hauptwährung beschlossen. Der Uno-Gou- neur des Kosovo – zum ersten Mal ren, aber kein Budget. Doch wir müs- verneur dagegen sieht sich vom Westen im führen die Vereinten Nationen ein sen Lehrer und Arbeiter entlohnen, bis- Stich gelassen, moralisch und finanziell. Land. Was ist Ihr größtes Problem? her können wir ihnen nur Trinkgel- Gewinner im Duell der Parteien ist vor- Kouchner: Dass die Men- der zahlen. 400 Millionen erst Albaner-Führer Rugova, der die UÇK schen nicht miteinander Mark will Brüssel nächstes nie als politischen Faktor akzeptieren woll- reden können, weder die Jahr bereitstellen – zu we- te. Trotz mangelnder Volksnähe und seiner Albaner mit den Serben nig, um eine funktionie- verwirrenden Treffen mit Serben-Präsident noch die Albaner unter- rende Staatsstruktur auf- Slobodan Milo∆eviƒ während des Krieges einander. Sie verweisen zubauen. sieht die Mehrheit der Bevölkerung den auf eine jahrhunderte- SPIEGEL: Albanische Poli- 55-jährigen Intellektuellen als stabilsten lange Vergangenheit, sind tiker wollen die alleinige Garanten für eine demokratische Zukunft. aber nicht bereit, auch Regierungsgewalt nach Um die Parteien wirklich zu politischer nur sechs Monate in die den Wahlen. Fürchten Sie Zusammenarbeit zu bewegen, sind Wahlen Zukunft zu planen. Jeder nicht, dass es dann erneut unabdingbar. Doch bei westlichen Politi- denkt nur an seine eigene zu Unruhen kommt? kern überwiegen inzwischen die Zweifel, nationale Gemeinschaft. Kouchner: Die Kfor wird ob die Reintegration der Albanerprovinz SPIEGEL: Weshalb gelang nach den Wahlen sicher ins jugoslawische Staatsgebiet gelingen

es der Unmik-Mission AP nicht abziehen, bisher nicht, die Über- Uno-Verwalter Kouchner und die Unmik griffe zu stoppen und wird weiter als einen funktionierenden Verwaltungs- Berater tätig sein. Aber ich apparat aufzubauen? glaube, dass die Demokratie Kouchner: Man erwartet von uns Wun- im Kosovo trotz aller Pro- der. Fünf Monate lang habe ich den bleme schneller Fuß fassen Albanern eine gemischte Verwaltung wird als in jedem anderen angeboten, die bis zu den Wahlen funk- Balkanland. Entscheidend tioniert. Aber sie konnten sich über ist, dass die Wahlen frei sind nahezu nichts einigen. Was die Serben und von der OSZE gut über- betrifft: Individuelle Sicherheit ist eine wacht werden. Illusion.Wir haben zu wenig Polizisten, SPIEGEL: Welchen Einfluss 6000 wurden versprochen, aber nur hat Belgrad noch auf das 1000 stehen derzeit bereit. Trotzdem: Kosovo? Es war ein gewaltiger Fortschritt, dass Kouchner: Zu den Kosovo- der Westen mit den Albanern eine Serben bestehen sicher noch

bedrohte Minderheit innerhalb eines Verbindungen. Wenn Bel- K. MÜLLER souveränen Staats retten konnte. grad auch mit uns Kontakt Vertriebene Zigeuner in Kosovo Polje SPIEGEL: Jetzt sind die Serben die Ver- aufnehmen will – wir sind bereit. Aber Opfer traumatisierter Albaner folgten und fordern eigene nationale unsere Mission beschränkt sich auf das Schutztruppen. Kosovo. Das ist kein Teil Serbiens mehr, wird. Im Gegensatz zur Uno sehen die Al- Kouchner: Das ist lächerlich und un- sondern ein Territorium innerhalb baner ihre Zukunft nur in einem unab- möglich. Es wäre der erste Schritt zu ei- Jugoslawiens. Für uns ist eine Autono- hängigen Kosovo. ner neuen ethnischen Teilung. Die Ser- mie wie unter Tito das anzustrebende Nichts scheint so unsicher wie die bis- ben können im Kosovo-Polizeikorps Modell. herigen Grenzen in der Region. Schert zum mitmachen. SPIEGEL: Das Uno-Hauptquartier in Beispiel Montenegro aus der Föderation SPIEGEL: Wahlen waren eigentlich für New York ist mit Ihren Entscheidun- aus, gibt es kein Jugoslawien mehr – wohin das Frühjahr 2000 vorgesehen. Warum gen nicht immer einverstanden. Wann dann mit dem Kosovo? werden sie ständig verschoben? werfen Sie das Handtuch? Für Bujar Bukoshi gibt es trotzdem Kouchner: Wir müssen erst mit der Re- Kouchner: Mein Mandat ist nicht be- Trost: Keines der Szenarien könne so grau- gistrierung der Bevölkerung beginnen. schränkt, ich gebe nicht auf. Aber sam werden wie der Krieg im Kosovo. Das hätte bis Ende Dezember gesche- manchmal fühle ich mich hier sehr ein- Denn endlich sei die Nato auf dem Balkan hen müssen. Aber wo ist das Geld sam. präsent. Und dort werde sie auch bleiben, glaubt er – solange das westliche Verteidi- gungsbündnis existiert. Renate Flottau

150 der spiegel 51/1999 Werbeseite

Werbeseite Ausland

SCHWEDEN Blond mit braunen Wurzeln Nach den Umtrieben der Neonazis zwingen neue Dokumente über die zwielichtige Rolle während des Nationalsozialismus dem Land eine Vergangenheitsdiskussion auf: Allein hunderte schwedische Freiwillige kämpften für die Elitetruppen der Waffen-SS.

m Ladentisch beim hei- unserem Rücken geschah, in den mischen Dorfkrämer in Gaskammern und Lagern, wuss- AJunsele, mitten im ver- ten wir ja nicht.“ träumten schwedischen Norr- Der Schwede ist Hauptdar- land, holt Ingemar Somberg, 75, steller einer bis heute „uner- die Geschichte ein. Wie an je- zählten Geschichte“. Sie han- dem Dienstag hat sich der rüsti- delt von hunderten solcher jun- ge Teilzeitrentner aufgemacht, gen Männer aus dem Land der seinen Wochenbedarf an Sauer- Wikinger, „blond, blauäugig und milch und Brot einzukaufen. Da mit braunen Wurzeln“, wie es zeigt ein kleiner Junge in der der Autor Bosse Schön nennt. Schlange vor der Kasse plötz- Sie opferten ihr Leben für den lich mit dem Finger auf ihn. Rassenwahn des Dritten Reiches „Mama, ist das der alte Mann, und tauchten später in keinem der die Juden vergast hat?“, fragt Geschichtsbuch auf. Denn ihre der Steppke laut seine Mutter. Vergangenheit trübt einmal Die Antwort ist Schweigen. Die mehr das sorgsam polierte Bild anderen Kunden blicken wie von Schwedens vorgeblich strik- teilnahmslos aus dem Fenster. ter Neutralität.

Die Mutter murmelt schnell eine AP Die Geschichte der „Schwe- knappe Entschuldigung. Som- Protest gegen Neonazis (in Stockholm): Unerzählte Geschichten den, die für Hitler kämpften“ berg sagt nichts. zeichnet der Stockholmer Jour- „Ich muss das akzeptieren, das ist mei- Somberg war Freiwilliger in der Waffen- nalist Schön, 48, jetzt erstmals in einem ne Geschichte“, erklärt der Schwede den SS. Drei Jahre lang diente und kämpfte der Buch nach, das Anfang Januar erscheint. Vorfall aus dem vorvergangenen Sommer, Schwede für die Elitetruppe Hitlers. In der Parallel dazu startet am 3. Januar im schwe- „seit 55 Jahren muss ich die Belastung tra- Uniform mit den SS-Runen am Kragen- dischen Fernsehsender TV4 eine dreiteilige gen.“ Nicht etwa seine Beteiligung am Ho- spiegel hat er sich immer „sehr wohl ge- Dokumentation, die Schön gemeinsam mit locaust meint er, wohl aber seinen Einsatz fühlt“, sagt Somberg noch heute: „Ich war dem Filmemacher Rolf Wrangnert, 41, und für Nazi-Deutschland und die immer wie- so überzeugt, dass Stalin und seine Mörder dem Hobby-Historiker Tobias Hübinette, derkehrende Konfrontation damit. bekämpft werden mussten. Und was hinter 28, produziert. Sie soll demnächst auch in Deutschland zu sehen sein. Buch und Drei-Stunden-Film bergen reichlich Zündstoff. Sie bringen bislang un- bekannte Details über ein Stück schwedi- scher Geschichte zu Tage, das so gar nicht in die heile Pippi-Langstrumpf-Welt passt und deshalb über 50 Jahre lang sorgsam „unter dem Teppich gehalten wurde“ (Wrangnert). Nicht einmal die Hauptak- teure trauten sich, offen über ihre Kriegs- geschichte zu sprechen. Sie verpflichteten sich untereinander zur Verschwiegenheit und nannten sich „die schweigende Bru- derschaft“. Mindestens 400 bis 500 schwedische Freiwillige, so fanden die Autoren heraus, schworen zwischen 1940 und 1944 den Eid auf Hitler und folgten dem SS-Motto: „Un- sere Ehre heißt Treue.“ Die jungen Nord- länder, groß, blond und zumeist geradezu idealtypisches Ebenbild der Nazi-Doktrin vom reinrassigen „Arier“, dienten sogar in Wachmannschaften von Arbeits- und Konzentrationslagern oder als Kriegsbe- richterstatter. Sie waren Mitglieder der Schwedischer NS-Propaganda-Artikel (1943): „Hoffentlich kommen noch mehr“ „Leibstandarte Adolf Hitler“ und gehörten

152 der spiegel 51/1999 Werbeseite

Werbeseite Ausland

Vorbild und ein gerechter Führer sein.“ Eine „Kassenanweisung“ der SS-Besoldungsstelle Dachau dokumentiert pe- nibel die Auszahlung einer „Notstandsbeihilfe“ von 356 Reichsmark an den SS- Oberscharführer Thorkell Tillmann zur Geburt einer Tochter. Die meisten der jungen Schweden schlugen sich bald nach Kriegsbeginn un- erlaubt über die grüne Grenze in die von Hitler besetzten Nachbarländer Dänemark und Norwegen durch und meldeten sich dort stolz den SS-Dienst- stellen. „Jeder dachte, dass wir Nationalhelden wür- den“, sagt Somberg. Viele ließen sich auch in ille- galen Rekrutierungsbü- „Nordland“-Panzerwagen, toter Schwede (r.) in Berlin (1945): „Ich dachte, wir würden Nationalhelden“ ros nationalsozialistischer Freundesorganisationen in zu den wenigen, die noch den Führerbun- gewisser Stolz mit, wenn er den Autoren Stockholm oder anderen Heimatstädten ker in Berlin verteidigten. von seiner Begegnung mit Heinrich Himm- einschreiben. Einer der Letzten, die am Morgen des ler erzählt. „Viel Glück“ habe ihm der Von Ingemar Somberg hieß es, er habe 1. Mai 1945, nach Hitlers Selbstmord tags Reichsführer-SS damals gewünscht und auf von seinem Vater Syphilis vererbt bekom- zuvor, den Ausbruch aus dem sowjetischen die blaugelbe Schweden-Flagge an seiner men. Deshalb schoben ihn die Eltern qua- Kessel über die Berliner Friedrichstraße SS-Uniform gezeigt: „Hoffentlich kommen si nach Deutschland zu Verwandten ab – versuchten, ist auf einem inzwischen fast noch mehr.“ Danach schenkte Himmler „zum Sterben“, wie der Schwede heute legendären Fotodokument zu sehen: Ne- ihm eine Kiste Zigarren. sagt. Doch die Vererbung war eingebildet, ben einem zerschossenen Schützenpan- Sundin gehörte, bis Frühjahr 1943, meh- und Somberg ließ sich von der SS zum zerwagen, deutlich als Fahrzeug der SS- rere Monate zur Wachtruppe eines SS-Ar- Waffenmeister und später auch zum Fun- Division „Nordland“ erkennbar, liegt kurz beitslagers im elsässischen Sennheim. Dort ker ausbilden. „Ich fühlte mich viel besser vor der Weidendammer Brücke ein toter waren Kriegsgefangene und jüdische Frau- mit diesen jungen Leuten als zu Hause“, SS-Mann. Überlebende identifizierten ihn en unter unwürdigen Bedingungen einge- rechtfertigt sich der Schwede, und stolz: als den Schweden Ragnar Johansson. sperrt, hunderte kamen zu Tode. Über 30 „SS, das war die Elite.“ Die schwedischen Freiwilligen waren mit Mal wurde Sundin in Exekutionskomman- Seit einiger Zeit redet er als einer der Gleichgesinnten aus Dänemark, Norwe- dos eingesetzt. „Es war eine interessante ganz wenigen Schweden-Veteranen über gen und Holland zunächst vor allem in und aufregende Zeit“, sagt Sundin in die seinen Kriegsdienst an der Ostfront. An die Ende 1940 aufgestellte SS-Division Filmkamera. Massakern und Vernichtungsaktionen will „Wiking“ abkommandiert. Im Frühjahr Seine Vorgesetzten waren offenbar zu- er nicht beteiligt gewesen sein. Eine Mit- 1943 bildete deren Panzergrenadier-Regi- frieden mit ihm. Im Frühsommer desselben verantwortung am Holocaust, als Hand- ment „Nordland“ dann Jahres, kurz vor Auflö- langer des Nazi-Systems, will er nicht den Kern einer neuen Di- sung des Vernichtungs- wahrhaben: „Wir haben das doch nicht ein- vision gleichen Namens. lagers Treblinka, wurde mal gewusst.“ Ranghöchster schwedi- Sundin noch für einen So ganz ahnungslos freilich können sie scher Offizier war der SS- Monat in die Wachmann- kaum gewesen sein. Neben Antikommu- Hauptsturmführer Gösta schaft abkommandiert. nismus war auch Antisemitismus in Schwe- Pehrsson, der die „schwe- Gut 300 schwedische den seit den zwanziger Jahren weit ver- dische Kompanie“ dieser SS-Männer konnten die breitet und für viele der SS-Freiwilligen Division befehligte. Autoren eindeutig iden- auch ein Hauptmotiv. Viele fanden aber auch tifizieren, ihr Leben und Selbst Schwedens weltberühmter Re- anderweitig Verwendung. ihre Geschichte mit Hilfe gisseur Ingmar Bergman beichtete diesen Martin Sundin, 79, war von Dokumenten zum Sommer, dass er der Faszination Hitlers einer von ihnen. Früh Teil akribisch nach- erlegen war. Als 18-Jähriger war Bergman schon schloss sich der in erzählen. Dem Zugführer 1936 zum Schüleraustausch in Deutsch- Mittelschweden lebende Gösta Borg zum Beispiel land und erlebte den Führer in Weimar: Mann der „Nordischen stellte die SS-Junker- „Ich schrie wie alle anderen“, erzählte Jugend“ an – das schwe- schule Tölz nach einem Bergman in einem Interview jetzt erst- dische Äquivalent zur Hit- „Lehrgang für germani- mals der schwedischen Autorin Maria-Pia lerjugend. Am 16. Mai sche Offiziere“ 1944 ein Boëthius, „reckte den Arm wie alle 1942 meldete er sich stattliches Führungszeug- anderen.“

freiwillig zur Waffen-SS. / ARGUS H. SCHWARZBACH nis aus: „Seinen Män- Bergmans Vater gehörte zur extremen Noch heute schwingt ein SS-Veteran Somberg nern wird er stets ein Rechten, der ältere Bruder war National-

154 der spiegel 51/1999 Werbeseite

Werbeseite Ausland sozialist und viele Nachbarn oder Lehrer Die deutsche Marine kreuzte unbelästigt auch. „Der Idealismus der Deutschen im- in schwedischen Hoheitsgewässern. Stock- ponierte mir, der Nationalsozialismus, den holm ließ die Deutschen im Kattegat, auf ich gesehen hatte, wirkte interessant und schwedischem Gebiet, sogar Netzsperren jugendlich“, gestand der Regisseur. zur Abwehr britischer U-Boote stellen. Sein Altersgefährte Thorolf Hillblad, 82, Deutsche Flugzeuge passierten schwedi- ging noch weiter. Er war bis Oktober 1941 schen Luftraum. „Nichts sollte getan wer- zwei Jahre SS-Mann in der Leibstandarte den, was die Deutschen hätte irritieren Adolf Hitler. Danach managte er in Berlin können“, umschreibt das vorsichtig der das Büro einer schwedischen NS-Organi- Historiker Alf W. Johansson. sation, in deren Ortsgruppe auch schwedi- Und auch vom Nazi-Raubgold profitier- sche Diplomaten Mitglieder waren. te das Land der Elche: Mindestens 20 Ton- Für Schöns Buch und Film äußern moch- nen, erbeutet in besetzten Ländern wie te sich Hillblad („Bist du Jude?“) nicht Belgien, Holland oder Frankreich, aber mehr. In einem ausführlichen Brief macht „nachweislich“ auch von Juden aus den der inzwischen im US-Bundesstaat Idaho Vernichtungslagern, landeten damals als lebende Reisekaufmann aber kaum einen Bezahlung in den Tresoren der schwedi- Hehl aus seiner Haltung: „Ich denke, der schen Reichsbank. Judenstern war human für beide – Juden „Wir waren nicht neutral, sondern pas- und Deutsche.“ siv und auf Seiten der Nazis“, kritisiert die Bei ihren Recherchen waren die Autoren Autorin Maria-Pia Boëthius, die viele vorwiegend auf das Ausland angewiesen. Verflechtungen enthüllte. Die Regierung Schwedische Archive blieben ihnen fast in Stockholm habe bis 1942 gedacht, Hit- ausnahmslos verschlossen, die eigenen His- ler würde den Krieg gewinnen: „Schwe- toriker waren kaum hilfreich. „Entweder den wollte einen Platz an der Sonne in sie wussten nichts, oder sie wollten nichts Europa.“ wissen“, klagt Rechercheur Hübinette. Nach dem Krieg hielten sich Politik und Wissenschaft nicht lange mit der Vergan- genheit auf. Fast überall in Europa wur- den Nazi-Kollaborateure streng verfolgt. In Schweden dagegen zogen sich antifa- schistische Kritiker schnell den Vorwurf der Illoyalität zu. Eine Kommission, die im Mai 1946 die „demokratische Zuverlässigkeit“ zum Bei- spiel von Offizieren und Polizisten unter- suchen sollte, gab schon nach einem halben Jahr auf. Überlebende SS-Kämpfer wie Somberg kehrten unbeschadet in den Dienst der schwedischen Armee zurück.

H. SCHWARZBACH / ARGUS H. SCHWARZBACH Alle Bemühungen waren nur noch auf Autoren Hübinette, Schön, Wrangnert die Zukunft gerichtet. „Schweden sollte „Die Schweden schlafen noch immer“ die modernste Nation der Welt werden“, sagt Geschichtsprofessor Johansson, von Verärgert sind die Autoren über die ei- diesem Projekt war das Land „komplett gene sozialdemokratische Regierung. Ob- in Anspruch genommen“. wohl Ministerpräsident Göran Persson als Mit Wucht und Begeisterung stürz- Reaktion auf zunehmende Aktivitäten und ten sich die regierenden Sozialdemokra- die jüngsten Mordanschläge von Neonazis ten zudem auf ihr neues moralisches (SPIEGEL 45/1999) ein groß angelegtes Ziel, Schweden als „Weltgewissen“ zu staatliches Aufklärungsprojekt über den etablieren. Dankbares Objekt dafür war Holocaust („Lebendige Geschichte“) star- die Dritte Welt der Blockfreien. Hier konn- tete, blieben ihre Anfragen ohne Resonanz. te Schweden internationale Solidari- „Die Schweden schlafen noch immer“, sagt tät demonstrieren „ohne einen Hauch Bosse Schön, „sie sind nur interessiert an von Schuld oder schlechtem Gewissen“ der deutschen Geschichte, nicht an der (Johansson). eigenen.“ Erst seit Mitte der neunziger Jahre Denn vor allem das Image als gänzlich kommt der Kotau der Regierung vor den unbeteiligter, neutraler Staat nimmt Scha- Nazis Stück für Stück ans Licht. Geschockt den. Um einen Überfall Hitlers wie auf reagierte die Öffentlichkeit auf Nazi-Raub- Dänemark und Norwegen zu verhindern, goldenthüllungen oder die Bergman-Beich- lieferte Schweden jahrelang überlebens- te. Nahezu gelähmt verfolgte das Land lan- wichtige Rohstoffe für die deutsche Kriegs- ge das Treiben der Neonazis. industrie. Zwei Millionen deutsche Sol- Auch Bosse Schön und seine Autoren- daten konnten höchst offiziell aus dem Crew fürchten nun, zunächst als Nestbe- besetzten Norwegen über schwedisches schmutzer herhalten zu müssen. Wer die Territorium nach Finnland an die Front Geschichte liest, sagt Wrangnert, „wird verlegt oder über Häfen des Landes zum unser Land wieder in ganz neuem Licht Heimaturlaub verschifft werden. sehen“. Manfred Ertel

156 der spiegel 51/1999 Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite Ausland FOTOS: R. BEZJAK / AGENTUR FOCUS / AGENTUR R. BEZJAK FOTOS: Schafhirte in Rothberg, Rumänen in der Volkstanzgruppe, Hermannstädter Altstadt: „Mit jedem sächsischen Dickschädel, der stirbt, gehen

RUMÄNIEN Luthers Geist in den Kulissen Die letzten Siebenbürger Sachsen ordnen ihren Nachlass. Fenster werden vergittert, Kultgegenstände in Sicherheit gebracht, ganze Gemeinden aufgegeben. Die deutsche Siedlungsgeschichte im Karpatenbogen endet so, wie sie vor 850 Jahren begann: im Schutz und Schatten der Kirche. Von Walter Mayr

ie ein Glühwürmchen bei totaler de vorbei.Vor dem Block, wo die Kolchos- chen trifft es einen der 44 noch in Sieben- Sonnenfinsternis wirkt der deut- arbeiter von einst hinter zerschlagenen bürgen verbliebenen Pfarrer. Wsche Pfarrer von Rothberg, am Fensterscheiben wohnen, wird ab dem 38 von insgesamt 260 Gemeinden der Nordrand der rumänischen Karpaten, frühen Morgen Pflaumenschnaps in Was- Evangelischen Kirche Augsburger Be- wenn er schalumschlungen vors Haus tritt. sergläsern unter freiem Himmel serviert. kenntnisses in Siebenbürgen sind seit Während in der Dorfschenke schräg ge- „Zehn Sachsen, hundert Rumänen, tau- der Wende beraubt worden. Es verschwand genüber unter Wodkaflaschen mit dem send Zigeuner“, das sei der Stand der Din- unter anderem das Taufbecken in Schaas – Abbild Ceau≠escus derb gezecht wird, ge in Rothberg. „Mit je- geschätzter Wert: eine durchquert Eginald Schlattner gemessenen dem sächsischen Dick- Million Mark – und die Schritts seinen siebenbürgischen Kirchhof schädel, der stirbt, gehen Eisentruhe mit dem – Haarschopf zerzaust, Stirn zerfurcht, zwei weitere fort, die nur Abendmahlsgeschirr in Aphorismen streuend. „Symmetrie ist die seinetwegen noch geblie- Agnetheln. Einiges fand Ästhetik des Kleinbürgers“, befindet er, ben sind“, sagt Schlattner: sich wieder, anderes um dann exakt im Fluchtpunkt seiner Kir- „Ich bin der 50. Pfarrer nicht. che Aufstellung zu nehmen. hier seit der Reformation. „Wir wissen von der „Die Urform des abendländischen Got- Nach mir wird es keinen Polizei, dass auf Listen teshauses“ sei hier zu besichtigen, doziert mehr geben.“ komplette Altäre angebo- der Pfarrer. Die dreischiffige Basilika, Die Fenster der Basili- ten werden, die man be- turmlos, aus Bruchsteinen gefügt, stamme ka und des Pfarrhauses stellen kann“, sagt Chris- aus dem Jahr 1225 – „älter als Berlin“. von 1762 sind seit kurzem toph Klein, der Bischof. Schlattner ist das Gedächtnis des Dorfes. mit schwarzen Eisengit- Gefährdet seien vor allem Mehr als ein Dreivierteljahrtausend lang tern verbarrikadiert. Das aussterbende „Gemein- haben die Sachsen, Nachfahren der ersten Bischofsamt im nahen den hinter Gottes Ange- deutschen Siedler, den Flecken Rothberg Hermannstadt (Sibiu) ha- sicht“. Der prächtige Ma- im Siebenbürger Altland geprägt. Auf be Geld gegeben, sagt der rienaltar in Braller, einem Rumänisch heißt er Ro≠ia. In den letzten Pfarrer, nach dem Ein- Dorf mit zehn betagten 20 Jahren sind 97 Prozent der Deutsch- bruch hier im Herbst. Gläubigen, ist bereits ab- sprachigen im Dorf in die Bundesrepublik Schlattner hatte ge- gebaut und ins größe- übersiedelt. ahnt, dass es so kommen re Heltau verfrachtet Auf der Schlammpiste vor Schlattners würde, oder: „auf die worden. Unumgängliche Kirchhof zieht ein wettergegerbter Hirte Räuber gerechnet“, wie Schritte, die den Betrof- im bodenlangen Pelz mit seiner Schafher- er es nennt.Alle paar Wo- Pfarrer Schlattner (r.) fenen nicht leicht zu ver-

160 der spiegel 51/1999 UKRAINE 100 km zwei weitere fort, die nur seinetwegen noch geblieben sind“ UNGARN MOLDAWIEN mitteln seien: „Kulturgut ist hier nicht nur zur Erforschung des jüdischen Ein- eine Sache der Kunst. Wir müssen wissen, flusses auf das deutsche kirchliche Rothberg (Ro≠ia) dass wir den alten Leuten das Letzte weg- Leben“ gegründet. Hermannstadt (Sibiu) nehmen, wenn wir den Altar entführen.“ Eginald Schlattner, dem Pfarrer t e n 156 Gemeinden haben ihren komplet- von Rothberg, lässt die Erinnerung K a r p a N R I E ten Archivbestand bereits am Bischofssitz an die Zeit keine Ruhe, als zwischen Donau U M Ä N in Hermannstadt eingelagert. Die Matri- Hermannstadt, Kronstadt und Klau- BUKAREST keln und Urkunden, Protokolle einer fast senburg noch die Hakenkreuzfahnen tausendjährigen Siedlungsgeschichte der wehten und die Rumäniendeutschen SERBIEN Deutschen im Karpatenbogen, sollen nun die 1. Kompanie der SS-Division BULGARIEN schleunigst verfilmt werden. Es ist, als stün- „Leibstandarte Adolf Hitler“ stell- de ein neuer Mongolensturm bevor. ten – geadelt zum „Kulturdünger der an- lebecken zurückkehrten, war ihr Besitz Hinter einer massiven Doppeltür lagern, deren Völker“ und „Stoßtrupp des christ- verstaatlicht und ihr Ruf ruiniert. Die wohl behütet und auf engem Raum ge- lichen Abendlandes“. Rumänen, Hitlers Handlanger bis 1944, hat- drängt, die Schätze der Sachsen: ein hand- Er hat niedergeschrieben, woran er sich ten am Ende auf der richtigen Seite ge- geschnitzter Johannes der Täufer von Veit erinnert. Sein Roman „Der geköpfte standen. „Wir sind damals aus der Beletage Stoß dem Jüngeren, begonnen 1521; eine Hahn“, vergangenes Jahr im Zsolnay-Ver- gekippt worden“, sagt Schlattner. beinahe 600 Jahre alte Muttergottes aus lag erschienen, taucht eine Siebenbürger Sein Roman über die Kriegsjahre hat, Meschen; dazu Zimborien, Abendmahls- Jugend in episches Licht und zeichnet als außergewöhnlicher Erstling eines Au- kelche und Urkunden aus der Zeit vor Er- nach, was der Rassenhass im Völkerge- tors von 65 Jahren,Aufsehen erregt. „Möge findung des Buchdrucks. misch Siebenbürgens angerichtet hat. er ein zweiter Fontane werden“, wünsch- Von etwa 1180 an haben die Deutsch- „Wir haben uns in den dreißiger Jahren te die „FAZ“ dem Pfarrer und gab ihren stämmigen in Siebenbürgen Kirchen ge- von unseren Wurzeln getrennt“, sagt der Segen. In Hermannstadt und Umgebung baut, Befestigungen drumrum gezogen Pfarrer: „Plötzlich hat es nicht mehr kennt das Buch praktisch keiner. Ein ein- und sich sternförmig übers Land ausge- genügt, Siebenbürger Sachse zu sein. Man zelnes Exemplar kursiert in besseren Krei- breitet. Jetzt vollzieht sich die Bewegung musste Großdeutscher sein.“ Schlattner sen, wie zu Samisdat-Zeiten. in umgekehrter Richtung. Stück für Stück glaubt, dass schon damals, durch den Ver- Als „derzeit berühmtester Sachse“ wird wandert das Geschaffene wieder zurück rat an den angestammten Nachbarn – Schlattner dennoch bezeichnet, anerken- in die Städte, in den Bauch der Kirche vor Rumänen, Ungarn, Juden und Zigeunern – nend von den einen, spöttisch von der allem. der Grundstock gelegt worden sei für den Mehrheit. „Der Pfarrer ist katholisch ge- „Kirche wandert nicht aus“, hat Bischof Exodus der Sachsen ein halbes Jahrhundert worden“, sagt das Volk, was im protestan- Albert Klein verkündet, als Rumäniens später. tischen Siebenbürgen synonym ist für Despot Nicolae Ceau≠escu gestürzt und Im Wintergarten zeigt er eine Bauern- „verrückt“. Ohnehin kümmere er sich als Deutschland plötzlich für alle hier greifbar kommode, die er erstanden hat. Im Ge- Seelsorger mehr um die Zigeuner als um war. Christoph Klein, der jetzige Bischof, heimfach verborgen – zwei kreisrunde Ha- die Sachsen, heißt es; und nun auch noch sieht das genauso. Stolz zeigt er im An- kenkreuzaufnäher. „Kurzerhand abge- als Schriftsteller mehr um Nazi-Ver- dachtssaal die Ahnengalerie seiner Vor- trennt“, sagt der Pfarrer, „schon war die strickung als um Unterdrückung im Kom- gänger. Beinahe lückenlos reicht sie zurück rote Fahne zur Begrüßung der Sowjets fer- munismus. bis zu Lukas Unglarus ins Jahr 1572. Nur tig“ – eine vergebliche Finte. Noch in der Durch das von Helmut Schmidt mit dem vier Jahre fehlen und ein einziges Bild: das russischen Verbannung, erzählt man sich, Diktator Ceau≠escu ausgehandelte Ab- von Wilhelm Staedel, dem lutherischen Bi- seien die Sachsen dadurch aufgefallen, dass kommen zum Freikauf Deutschstämmiger schof ab 1941. sie in den Lagern Bäumchen gepflanzt und war der Damm 1978 gebrochen. 800 000 Staedel hat, als die Sachsen in Gestalt blitzsaubere Straßen angelegt hätten. Deutsche lebten zu Beginn des Zweiten der deutschen „Volksgruppe“ im Reich auf- Als sie nach dem Zweiten Weltkrieg von Weltkriegs in Rumänien, Ende 1989 etwa gegangen waren, das NS-hörige „Institut der Zwangsarbeit in den sowjetischen Koh- 250000, gut 50000 sind es heute noch. Das

der spiegel 51/1999 161 Ausland

Durchschnittsalter der im Land Verbliebe- Kandidaten für das Deutschdiplom nen liegt um die 60 Jahre. angetreten. Im stuckverzierten Die Bundesregierung hat Konsequenzen Prunksaal sitzen sie unter der In- gezogen und verkündet, bei den Rumä- schrift „Timor Domini Sapientiae niendeutschen gelte es nun, „Teelichter Initium“ – die Furcht vor dem Herrn statt Leuchttürme“ anzuzünden. Das Ge- ist der Anfang der Einsicht – über eine neralkonsulat in Temeschwar soll ge- Inhaltsangabe der „Geschichte vom schlossen werden, die gesamte Unterstüt- jungen Krebs“ gebeugt. zung aus dem Innenministerium für das Zum jungen spricht, laut Textvor- ablaufende Jahr ist auf 5,2 Millionen Mark lage, der Vater Krebs: „Wenn du bei reduziert – pro Kopf gerechnet ein Hun- uns bleiben willst, gehe wie alle dertstel dessen, was vor 20 Jahren ein Krebse. Rückwärts! Wenn du aber Deutschstämmiger beim Freikauf wert war. nach deinem eigenen Kopf leben Trotzdem: Das städtische und aufge- willst – der Bach ist groß –, geh fort klärte Sachsentum gibt es noch. Von Roth- und komm nie mehr zu uns zurück!“ berg aus geht’s talwärts über Waschbrett- Ob der junge Krebs Recht habe, pisten, an qualmenden Müllhalden und Zie- „wenn er seinen eigenen Weg weiter- gel brennenden Zigeunern vorbei. Unten geht“, lautet die Fragestellung, und liegt Hermannstadt, eingebettet in die Ku- an welche „Menschen in Ihrem Um- lisse der schneebedeckten Fogarascher und feld“ er erinnere? der sanfteren Kuppen des Zibin-Gebirges. Die Probanden werden das mühe- Krähenschwärme kreisen im Abendlicht los beantwortet haben. Das Bruken- über dem Huet-Platz, wo Kirche, Lyzeum thal-Lyzeum hat als einzige Institu- und Kapitel seit jeher das geistlich-kultu- tion weltweit eine hundertprozentige relle Zentrum sächsischen Lebens bilden. Erfolgsquote beim Deutschdiplom, Laternenlicht bescheint schwach die Nar- und: Das Thema Abschied ist hier al- ben der in mittelalterlicher Geschlossen- len vertraut. Auf eine Klasse von 30 heit zusammengeduckten Häuser. Schülern kommen im Schnitt noch Besenbinderhaus in Rothberg Auf Gassen und Plätzen, unter Biber- 2 Sachsen, Tendenz fallend. Ein großer „Dritte Welt vor der Tür“ schwanzdächern und Fledermausgauben Teil davon sind Pfarrerskinder. fällt kaum mehr ein deutsches Wort, schon Die Schule, ausweislich einer Urkunde schottung, nun die Öffnung betrieben. In gar kein Hermannstädter Kuchel-Deutsch, im Jahr 1380 erstmals erwähnt, ist in den sächsischen Pfarrhäusern finden rumäni- Unterschicht-Sächsisch. Der Siegeszug der rumänischen Kreisen Hermannstadts „in“, sche Alkoholikerinnen oder Touristen Zu- Astrachan-Mütze – Ceau≠escus bevorzug- wie Gerold Hermann, der Direktor, sagt. flucht, Kirchen werden an griechisch- ter Kopfbedeckung – im Straßenbild fin- Die jungen Rumänen stellen die komplet- katholisch Gläubige vermietet, überkon- det seine Entsprechung in der uneinge- te „sächsische“ Volkstanzgruppe, und fessionelle Akademien betrieben. schränkten Verkehrssprache Rumänisch. adaptieren auch sonst eine traditionelle Luthers Geist hat überlebt in den Kulis- Aus der Stadtpfarrloge aber, einem Sei- Linie: „Der ,Faust‘ wird bei uns obligato- sen. Noch stehen Sachsen drin, die be- tenturm der Hauptkirche, tönt’s anders: risch besprochen, nicht so wie in Deutsch- haupten, nicht anders zu können. Bald aber „Lasset das Zagen, verbannet die Klage“ – land, wo man drum rumkommt“, sagt der wird wahr sein, was Schlattner, der Pfarrer mächtig, mehrstimmig, immer wieder ab- Direktor. von Rothberg, früh als „Siebenbürgische brechend erschallt die Botschaft. Der Bach- Wenn aber am Fuß der Karpaten Gret- Elegie“ aufzusagen gelernt hat: „Wohlver- chen nur noch gedruckt vorkommt und die mauert in Grüften modert der Väter Ge- Kirchenburg als Kulisse, sind dann vom bein, zögernd nur schlagen die Uhren, Zö- sächsischen Leben nur „Formen übrig ge- gernd bröckelt der Stein.“ blieben ohne Inhalte“, wie der Bezirks- Schlattner muss sich beeilen, wenn er dechant Heinz-Dietrich Galter befürchtet? vorher noch was bewegen will. Er sieht Ist die Frage nur noch, „ob ich später ins „virtuelle Gemeinden“ entstehen, Kir- Museum komme oder in den Zoo“, wie chenburgen ohne Gläubige. Das eigene die Schauspielerin Renate Müller-Nica Grab hat er schon ausgesucht, am Roth- spottet, die mit drei Kollegen die Tradition berger Friedhof, „bei der Rotunde aus sie- von mehr als einem halben Jahrtausend ben Föhren“. Weil die verbliebenen Sach- deutschen Theaters in Hermannstadt durch sen ihn seelsorgerisch nicht auslasten, küm- Simultanübersetzungsanlagen für rumäni- mert er sich um andere, um „die braunen sche Besucher wahren will? Brüder am Bach“ beispielsweise. Das sächsische Erbe soll übergeben wer- Mit Wanderstab und Pelzmütze verse- Bischof Christoph Klein den, sagen Pragmatiker. Sie wollen Spu- hen, halb guter Hirte, halb Gouverneur, „Komplette Altäre angeboten“ renelemente hinterlassen im rumänischen steigt er vom Kirchhof abwärts in die Zi- Leben. „Kirche für andere“ heißt die neue geunersiedlung. Ehrfürchtig wird er ge- chor von 1931, der Faschismus und Kom- Devise der Lutherischen, „Brücken bau- grüßt, er kennt jedes Haus. „Hier hing vor munismus überlebt hat, probt das Weih- en“ nennen es die Weltlichen. „Wir haben kurzem noch Jesus Christus an der Wand“, nachtsoratorium. in der evangelischen Kirche ja schon im sagt er, und betritt eine bescheidene Be- Mit Eifer dabei sind die jungen Damen 16. Jahrhundert Demokratie gelebt“, sagt hausung, in der ihn zwei Kinder um Brot in der letzten Reihe, hohe Wangenkno- der Bezirksdechant, „das sind Formen, die anbetteln. An der Stirnseite prangt jetzt chen, höchste Tonlage: „Sopran, das sind diese Gesellschaft hier nicht kennt.“ Si- wieder Ceau≠escu. Rumäninnen“, gesteht der Dirigent, „wir cher, man sei jetzt „quantité négligeable“, Der Pfarrer geht weiter, mustert Töpfe müssen sehen, wo wir bleiben.“ aber: „Man kann uns vorzeigen.“ mit Maisbrei auf dem Herd, schimpft lun- Vis-à-vis der Kirche, im Brukenthal- Und also wird, mit derselben protestan- gernde Halbwüchsige aus, weil sie sich kei- Lyzeum, sind am nächsten Morgen die tischen Ernsthaftigkeit wie früher die Ab- ne Arbeit suchen, und schaut vorbei bei

162 der spiegel 51/1999 den Besenbindern, die, um einen Stoß Bir- kenreiser versammelt, zu acht in einem Verschlag leben, der halb so groß ist wie die Küche im Pfarrhaus. Zwei weitere Kin- der sind von der Mutter totgeschlagen worden. Die Staatsanwaltschaft hat nach einem Ortstermin auf Strafverfolgung verzichtet. „Es ist die Dritte Welt vor meiner Tür“, sagt Schlattner. Aber, soll er jammern? Einem erschütterten Niederländer, der päckchenweise die Pille spenden wollte, damit das Kinderelend hier nicht überhand nehme, hat er abgeraten. „Spenden Sie lie- ber für elektrisches Licht. Ab fünf ist es da drin im Winter dunkel. Wenn Sie mit Ihrer Frau da lägen, was würden Sie tun?“ Die Zigeuner schützt er, die Rumänen versteht er, aus Schlattner wird kein Bun- desdeutscher mehr. An dem Land, in dem seine Verwandten leben, fällt ihm bei Be- suchen auf, dass dort sogar „die Schaffner duften wie ungarische Grafen“. Und dass er sich da praktisch vom Boden zu essen traue. Er sagt das so: „Ich war hocherfreut, als ich irgendwann eine Pfütze entdeckte. Ich bin natürlich durchgelaufen.“ Dann doch lieber Rothberg. Bohnen- suppe, rohe Zwiebeln, Straßenschlamm und Kinderelend. Schlattner hat noch eine Geschichte abzumachen mit Rumänien. Er war Hitlerjunge hier, aber auch Jung- kommunist; er war Securitate-Häftling, aber auch Zeuge der Anklage gegen Op- positionelle. Im Frühjahr soll sein neuer Roman er- scheinen, Arbeitstitel: „Die Eisenbrille“. Da wird es um seine Rolle während der fünfziger Jahre in Rumänien gehen, um die Zeit nach dem Ungarn-Aufstand. Und um die Frage, ob er, der vom Geheimdienst verhört wurde, dass ihm „die Grausbirnen aufgestiegen sind“, im Kronstädter Schau- prozess 1959 gegen sächsische Schriftstel- lerfreunde zu viel gesagt hat. Die fünf An- geklagten wurden zu insgesamt 95 Jahren Haft verurteilt. „Eine Entscheidung an der Grenze, ge- gen mich, gegen meine Herkunft“, habe er damals getroffen, sagt Schlattner, und dass er seither „wieder gutmachen“ wolle. Also hält er weiter Gottesdienst, zwi- schen Kanonenofen und Holzaltar von 1781. Seine Frau tritt oben die Orgel. „Un- sere Rettung“, sagt der Pfarrer, „ohne Or- gel erst gibst du dir Rechnung, welcher Jammer über uns gekommen ist – fünf Alte in der Kirche mit gebrochenen Stimmen und Herzen.“ „Auf dich hoffen wir allein, lass uns nicht verloren sein“, singen die letzten Kirchgänger von Rothberg.Am Ende, beim Auszug aus dem Gotteshaus, nehmen sie das Abendmahlsgeschirr mit, die Hostien- schale und den 600 Jahre alten Kelch. „Sta- tistisch gesehen ist unsere Geschichte hier zu Ende“, sagt Schlattner: „Aber wir haben es mit einem Gott der Überraschungen zu tun.“ ™

der spiegel 51/1999 Ausland

worden. Schon für Sechsjährige organi- Mookhey ist religiös und vertraut dem INDIEN sieren übereifrige Eltern Schönheitswett- Familien-Guru, einem spirituellen Lehrer. bewerbe. Auch das Studienleben der Zoologie-Ab- Perfektes Internationale Kosmetik-Giganten wie solventin war orthodox, weiß ihre Mutter: L’Oreal und Avon, denen Mookheys PR- „Keine Discos, keine langen Nächte.“ Einsatz hilft, Haarpflegemittel und Duft- „Perfektes Miss-World-Material“ nennt Material stoffe zu verkaufen, haben längst den Markt der indische Designer Rohit Gandhi das Indien entdeckt. Hautärzte verzeichnen Ergebnis. Und Kollege Ashish Soni kann Bereits zum vierten Mal plötzlich immensen Patientenzuwachs. „Je- Mookheys Sieg kaum fassen: „Das ist groß- der Pickel“, so Dermatologe Rekha Sheth, artig für Indiens Modeindustrie.“ Die er- gewann eine Inderin den Miss- „muss nun behandelt werden.“ lebt seit Jahren einen Aufschwung. Sogar World-Titel – und die Auch Mookhey überließ nichts dem Zu- die Reichen im fernen Moskau lassen sich Nation feiert kräftig mit. fall, obwohl ihr Vater bezweifelte, dass sie von indischen Schneidern einkleiden. in einer Männergesellschaft Karriere ma- An dieser Glitzerwelt von Mode, Schön- ie Freude im staubigen Vorort Mu- chen könnte. Sie wurde unter die Fittiche heit und Illusionen möchte nun auch lund der indischen Millionenstadt eines Fitnesstrainers genommen, dessen Mookhey teilhaben. Die in London ge- DMumbai – in Atlanten bislang meist Name allein schon auf eine Synthese von wonnenen 60000 Pfund, das 225fache des unter dem britischen Namen Bombay aus- alter und neuer Show-Welt hindeutet: indischen Pro-Kopf-Einkommens, sollen gewiesen – kannte keine Grenzen. Wild- Mickey Mehta. Sie lernte vor Publikum zu als komfortables Startkapital dienen. Wie fremde Menschen lagen sich in den Ar- sprechen, ließ ihre Kleidung bei promi- fast alle ihre indischen Vorgängerinnen men, gerieten völlig außer sich. nentesten Designern schneidern und ihre lockt auch sie das Werbe- und Filmge- Hatte Indien dem Erzfeind Pakistan im Zähne auf Hochglanz polieren. Für die Un- schäft: Ihr Vorbild ist Audrey Hepburn, umstrittenen Kaschmirgebiet eine Nieder- kosten kam „Femina“ auf, Indiens ältestes nicht Indira Gandhi. lage zugefügt? Oder das Nachbarland im Frauenmagazin, das zuvor bereits den Gleichwohl ist die südasiatische Nation Kricket geschlagen? Nichts dergleichen, die Miss-India-Wettbewerb gesponsert hatte. mächtig stolz auf ihre neue Miss World. Ausgelassenheit hatte einen weit weniger Für den Rest sorgte Mutter Aruna, die Der Vorsitzende Subodh Bhargava des rie- weltbewegenden Grund: Eine Einheimi- zunächst die Essgewohnheiten ihrer Toch- sigen Fahrzeugherstellers Eicher verkün- sche, die gerade 21-jährige Yukta Mook- ter ändern musste: „Ihre Figur war ein dete: „Miss World Yukta wird Indien als hey, war am vorvergangenen Samstag zur wenig zu wabbelig.“ Die Inhaberin eines Marke fördern“, Premierminister Atal schönsten Frau der Welt gekürt worden. Schönheitssalons feilte an der perfek- Behari Vajpayee schwärmte: „Indien be- Ihre Eltern, 4000 Gäste und etwa 2,5 Mil- ten Präsentation ihrer Tochter auf der sitzt das Beste an Schönheit und Geist.“ liarden Fernsehzuschauer erlebten, wie Bühne, beruhigte sie bei aufsteigen- Solche Anteilnahme ist der selbstbe- Miss India, 177,5 Zentimeter groß und in der Nervosität und spendete moralische wusste Ausdruck eines neuen Indien, das hellblaues Tuch gekleidet, im Londoner Unterstützung bei mangelndem Selbst- sich nach Jahrzehnten der Nabelschau nun Olympia-Theater so erfahrene Juroren wie bewusstsein. über die Landesgrenzen hinweg öffnet. Formel-1-Fahrer Eddie Irvine Stolz ist das Land darauf, seine und Boxschwergewichtswelt- Bevölkerung aus eigener Kraft meister Lennox Lewis von ihrer zu ernähren. Einzelne Indu- Schönheit überzeugte und 93 striezweige, etwa die Software- Mitbewerberinnen ausstach. Produktion, sind international Souverän bewältigte sie den sehr erfolgreich. klassischen Miss-World-Drei- In solchem Klima sind Erfol- satz: perfekte Präsentation von ge auf jedem Gebiet willkom- Bademode und Abendgarde- men. Vergessen ist die har- robe sowie das stotterfreie sche Kritik am angeblich frau- Überstehen eines Interviews. enfeindlichen Charakter von Doch auch ohne die Rituale ei- Schönheitskonkurrenzen. Noch nes solchen Wettbewerbs war vor drei Jahren forderten Mit- klar: Mookhey gehört zu einer glieder der nationalistischen neuen Klasse indischer Frauen, Hindu-Partei BJP, zu der auch die trotz gesellschaftlicher Be- Vajpayee gehört, den Subkonti- nachteiligung Karriere machen. nent vor dem aggressiven west- Pilotinnen in der zivilen und mi- lichen Kulturimperialismus zu litärischen Luftfahrt, Geschäfts- schützen.Aus Protest gegen eine führerinnen großer Unterneh- Miss-World-Wahl im südindi- men, aber auch Taxifahrerinnen schen Bangalore verbrannte sich und Schlachterinnen sind keine ein 24-jähriger Schneider. Seltenheit mehr. Heute dagegen blieb es Bür- Seit Einführung des Miss- gern der alten Kolonialmacht World-Wettbewerbs 1951 ge- Großbritannien vorbehalten, die wannen Inderinnen drei Titel al- politisch korrekten Einwän- lein in den neunziger Jahren. de gegen die Weltparade der Seitdem sich das aufstrebende Schönheit vorzubringen. Etwa Indien westlichen Einflüssen 20 Londoner Demonstranten und Trends nicht mehr ver- versammelten sich während des schließt, hat der Schönheits- Wettbewerbs vor dem Olympia wahn Weltstandard erreicht, und skandierten: „Stoppt den

sind auch Outfit und Body- REUTERS sexistischen Viehmarkt.“ styling zu Modebegriffen ge- Miss World 1999 Yukta Mookhey: Neue Klasse indischer Frauen Reinhard Krumm, Padma Rao

164 der spiegel 51/1999 Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite Ausland

USA „Der amerikanische Traum lebt“ Minnesota-Gouverneur Jesse Ventura über seine Vergangenheit als Kampfschwimmer und Catcher, über Prostitution, freien Schusswaffenbesitz und seine politische Zukunft

Ventura, 48, hat erfolgreich versucht, mit wie viel jemand im Ring verdient. Ich habe Hilfe der kleinen Reformpartei das Zwei- damals gelernt, mit Menschen und Medien parteiensystem der USA aufzubrechen. umzugehen, ich weiß mich vor Mikrofo- Seine ungewöhnliche Karriere ließ ihn in nen und Kameras darzustellen. den Kreis möglicher Präsidentschaftsbe- SPIEGEL: Das haben Sie ja auch als Schau- werber aufrücken. spieler an der Seite von Hollywood-Stars wie Arnold Schwarzenegger gemacht. SPIEGEL: Wie wird ein gestandener Profi- Ventura: Eine phantastische Art, seinen Le- Catcher zum Berufspolitiker? bensunterhalt zu verdienen. Sicher, es gibt Ventura: Unser Land hat immer bürger- Stress, aber am Ende kommt ein Ergebnis nahe Regierungen gewählt. Es bedarf nur heraus, das künstlerisch und vor allem fi- weniger formaler Voraussetzungen, um nanziell messbar ist. Die Verdienstmög-

ein öffentliches Amt zu bekleiden. Der lichkeiten sind hervorragend. T US-Präsident muss in den USA gebo- SPIEGEL: Was hat Sie veranlasst, in die Gouverneur Ventura ren sein und das 35. Lebensjahr erreicht Politik zu gehen? „Regieren ist kein Sport“ haben; der Gouverneur von Minnesota Ventura: Ich wurde herausgefordert. Meine muss ein Jahr im Bundesstaat gelebt Familie wohnte damals in Brooklyn Park, Ventura. Also zog ich in den Wahlkampf haben und mindestens 25 Jahre alt sein. außerhalb von Minneapolis, und es gab und wurde Bürgermeister. Unsere Vorväter waren der Meinung, Probleme mit der örtlichen Verwaltung. SPIEGEL: Aufgehört zu lachen haben Ihre dass alle Bürger für Staatsämter qualifi- Die Bürger wurden nicht gehört. Soll ich politischen Rivalen erst, als Sie vor gut ei- ziert sind – egal ob sie Metzger, Friseur, mich zur Wahl stellen, habe ich den Stadt- nem Jahr für die Reformpartei das Ren- Landwirt, Rechtsanwalt oder Doktor rat gefragt. Doch die haben mich bloß aus- nen um den Gouverneursposten gewan- sind. gelacht. Das macht man nicht mit einem nen. War das Ihr vorerst letzter Erfolg? SPIEGEL: Sie waren Kampf- Ventura: Nein, ich habe aller schwimmer bei den Navy- Catcher „The Body“ Ventura (1986): „Ich weiß mich darzustellen“ Welt zeigen können, dass Seals, einer der härtesten Eli- auch der Kandidat einer drit- te-Einheiten. Was hat Ihnen ten Partei in den USA regie- diese Ausbildung gebracht? ren kann, und sogar gut re- Ventura: Wie in der Marine gieren kann. Die Wähler wis- muss man auch in der Politik sen jetzt, dass es nicht das schnell reagieren.Außerdem Ende der Welt bedeutet, habe ich mir bei den Navy- wenn weder ein Republika- Seals den eisernen Willen an- ner noch ein Demokrat ein geeignet, erfolgreich zu sein. Amt bekleidet. Das brennt heute noch in SPIEGEL: Mit Ihrer Forderung mir. Ich nehme es einfach nach einer Legalisierung der nicht hin, wenn Leute zu mir Prostitution vertreten Sie sagen: Das kannst du nicht. aber nicht gerade Amerikas So etwas habe ich natür- bürgerliche Mitte. lich häufig gehört, als man Ventura: Ich bin ja nicht für mir weismachen wollte, ich die Prostitution. Dennoch könnte weder Bürgermeister sollte man Leute wegen sol- noch Gouverneur werden. cher Fehltritte nicht sofort SPIEGEL: Nach Ihrer Karriere hinter Gitter sperren. Es gibt in der Marine waren Sie als schlimmere Verstöße gegen Jesse „The Body“ professio- Recht und Gesetz, beispiels- neller Catcher. Nützt Ihnen weise Gewaltkriminalität. das Wissen, wie man Gegner SPIEGEL: Auch der Kampf ge- aufs Kreuz legen kann, im gen Drogenbesitz wird in an- politischen Alltag? deren Teilen Amerikas weit Ventura: Physisch nicht. Und erbarmungsloser geführt als das Regieren ist selbstver- in Minnesota. Warum sind ständlich kein Sport.Aber es Sie so zurückhaltend? geht beim Catchen nicht nur Ventura: Regierungen brau- um das Ringen, sondern auch chen einen Feind. Lange Jah- darum, bei den Zuschauern re war der Kommunismus anzukommen – davon ist so- unser natürlicher Gegner.

gar weitgehend abhängig, AP FOTOS: Jetzt ist diese Gefahr vor- 168 Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite Ausland

über, abgesehen von möglichen Unterschiede. Das Grundsatz- Bedrohungen aus Nordkorea, programm meiner Partei ist iso- China oder Kuba. Deswegen lationistisch und verfolgt eine sucht die Regierung einen neuen protektionistische Richtung. Ich Feind – da bot sich der Kampf glaube an freien Handel und den gegen Drogen als geeignetes Wettbewerb konkurrierender Thema an. Doch in Wahrheit Wirtschaftsräume. können Tabak und Alkohol ge- SPIEGEL: Der Parteigründer und nau so gefährlich, ja sogar töd- Milliardär Ross Perot sieht das lich sein. aber anders. Wessen Fraktion SPIEGEL: Plädieren Sie dafür, die wird sich letztlich durchsetzen? Drogengesetze zu entschärfen? Ventura: Unsere Partei ist noch Wollen Sie Marihuana freige- ein Säugling und unsere poli- ben? tische Selbstfindung noch Ventura: Kriminalisierung ist kei- nicht abgeschlossen.Außerdem – ne Lösung. Vor allem mache ich Streit gibt es doch bei den ande- mich für die industrielle An- ren Parteien auch. Ich will eine wendung von Hanf stark. Hanf Partei der Mitte: in sozialen Be- ist eine Pflanze, die überall langen liberal, in finanziellen wächst und deren Produkte sich Fragen konservativ. wieder verwerten lassen – aber SPIEGEL: Was hält die Reform- wir vernichten diesen Rohstoff. partei dann zusammen? Gleichzeitig darf Kanada Hanf Ventura: Ein paar in Stein ge- anbauen und unsere Märkte mit meißelte politische Grundüber- diesen Produkten überschwem- zeugungen – beispielsweise die men – alles eine Folge unse- kategorische Ablehnung von res verfehlten Feldzugs gegen Baulöwe Trump, Freundin: „Interessante Figur“ Spendengeldern der mächtigen Drogen. Interessenverbände. SPIEGEL: Noch einmal, fordern Sie die Le- Ist der Erwerb von Schusswaffen nicht zu SPIEGEL: Ihre Partei hört auch nicht auf galisierung von Marihuana? einfach? Sie, wenn es gilt, einen Präsidentschafts- Ventura: Prohibition kann in einer freien Ventura: Wir haben jetzt schon genügend kandidaten zu küren. Pat Buchanan, vor Gesellschaft nicht funktionieren. Der Vorschriften und Bestimmungen, um die Monaten noch ein ultrarechter republi- Kampf gegen Drogen und andere Rausch- Probleme mit dem Waffenbesitz in den kanischer Dogmatiker, bewirbt sich jetzt mittel ist nur durch ein Absenken der Griff zu bekommen. Warum sollen geset- um die Kandidatur Ihrer politischen Nachfrage zu gewinnen, nicht durch die zestreue Bürger für die Handlungen Kri- Freunde. Unterbindung des Angebots. Wo es Ab- mineller mitbestraft werden? Schließlich Ventura: Das war doch ein Frühstart, aus- satzmärkte gibt, fließt Nachschub – gleich- ist das Tragen von Waffen durch unsere gelöst von euch Journalisten, weil ihr Stoff gültig ob legal oder illegal. Helfen kann Verfassung geschützt. für eure Geschichten braucht. Ich habe, hier nur Erziehung. Meine Devise lautet: SPIEGEL: Wird Ihre Karriere die politische offen gesagt,Wichtigeres zu tun. Die Wah- Dummheit lässt sich nicht per Gesetz aus Kultur der USA verändern? len finden meines Wissens erst im nächs- der Welt schaffen. Ventura: Ist schon passiert. Hier in Minne- ten Jahr statt, und solange halte ich mich SPIEGEL: Gilt das auch für den Schusswaf- sota haben wir mehr Bürger denn je, die an da raus. fengebrauch in diesem Land? Wie ist Ihre der Basis Verantwortung übernehmen – in SPIEGEL: Sie haben aber bereits durch- Haltung zur Kontrolle von Handfeuer- kommunalen Verwaltungen, in Vereinen, blicken lassen, dass Ihr Freund, der New waffen? in Schulen. Mein Beispiel zeigt, dass der Yorker Baulöwe Donald Trump, Ihr Favo- Ventura: Ganz simpel: Wer aus 25 Metern amerikanische Traum lebt. rit ist. Entfernung zwei Magazine ins Schwarze SPIEGEL: Ihre finanzielle Unabhängigkeit Ventura: Er wäre eine interessante Figur. feuert, der kontrolliert seine Waffe. und Ihre Offenheit waren Ihr größter Aber bis dato hat er doch nicht einmal sei- SPIEGEL: Das können aber nur die wenigs- Trumpf bei der Wahl im vergangenen Jahr. ne Bewerbung erklärt. Wir haben nur ten der mindestens 70 Millionen US-Ame- Wie wird das beim nächsten Mal? Dann zusammen zu Abend gegessen, und die rikaner, die im Besitz von Schießzeug sind. sind Sie der etablierte Amtsträger und Medien haben daraus ihre Schlussfolge- nicht mehr der Paradiesvogel. rungen gezogen. Ventura: Dennoch bin keine Marionette. SPIEGEL: Kommen Sie selber als Präsident- Klar, ich werde Entscheidungen fällen, die schaftskandidat in Frage? anderen Leuten nicht gefallen – aber die Ventura: Nein. Den Job will ich nicht. Öffentlichkeit wird immer wissen, dass es SPIEGEL: Wirklich nicht? ganz allein meine Entschlüsse sind, weil Ventura: Eines ist richtig: Gemessen an ich nicht das ausführende Organ irgend- traditionellen politischen Gewohnheiten welcher versteckter Interessen oder Lob- müsste ich der Kandidat meiner Partei sein byisten bin, bei denen ich mich für finan- – als gewählter Vertreter mit dem wichtigs- zielle Hilfe revanchieren muss. Ich bin ten politischen Mandat. Und ich habe be- nicht mal meiner eigenen Partei Rechen- wiesen, dass ich gewinnen kann. Aber ich schaft schuldig. will diese Aufgabe nicht, schon meiner SPIEGEL: Immerhin sind Sie Mitglied der Familie wegen würde ich nicht antre- vor vier Jahren gegründeten Reformpartei. ten. Zwar hat mich die Erfahrung gelehrt, Hat das keinen Einfluss auf Ihren politi- niemals nie zu sagen, aber zum gegen- schen Kurs? wärtigen Zeitpunkt hege ich gewiss nicht Präsidentschaftsbewerber Buchanan Ventura: Kaum. In der Wirtschafts- und den Wunsch, Präsident der USA zu „Das war ein Frühstart“ Handelspolitik haben wir sogar erhebliche werden. Interview: Stefan Simons

172 der spiegel 51/1999 Werbeseite

Werbeseite Sport

BASKETBALL Korbball mit Buddha Amerikas Profiliga feiert ein neues Dream Team: Die Los Angeles Lakers haben dem Publikum das Spektakel zurückgebracht. Dem neuen Trainer Phil Jackson, Ziehvater von Michael Jordan, gelang die Zähmung exzentrischer Stars wie Shaquille O’Neal oder Kobe Bryant.

s ist zehn Jahre her, dass Phil Jackson einen Job suchte. Er war ein altern- Eder Hippie, der am liebsten die „Grateful Dead“ hörte, er hatte jede Men- ge Joints geraucht und auch LSD probiert. Er war ein hoffnungsloser Fall. Ein Per- sönlichkeitstest bescheinigte ihm, dass er als Gleiswächter oder Hausmeister noch die besten Chancen hätte. Phil Jackson wurde Basketball-Trainer. In Chicago staffierte er sein Büro mit Totems der Sioux-Indianer aus und ver- trieb mit Weihrauch die Dämonen, von denen das Team seiner Meinung nach be- sessen war. Der Sohn eines Pastors be- herrschte aber auch das irdische Hand- werk: Er förderte das Talent von Michael Jordan, dem später genialsten Basketball- ACTION PRESS ACTION Lakers-Fans Hoffman, Russo Sehnsucht nach Glamour bedient

Spieler aller Zeiten. Und er formte die Chicago Bulls, eine vormals lausige Ball- sportvereinigung, zur Top-Adresse des amerikanischen Basketballs: sechs Meis- terschaften in neun Jahren. Jackson hatte ausgesorgt und ging in den Ruhestand. Dann kam der Tag, der Kalifornien ver- störte. Kaum war die Nachricht öffentlich, dass der Hohepriester des Trainerfachs neuer Coach bei den Los Angeles Lakers werden würde, waren innerhalb von 48

Stunden 144 Logen im gerade fertig ge- DUOMO 174 stellten Staples Center, der Heimstatt der Deutschland zum Beispiel, wo die Drib- Die Botschaft war eindeutig: Der Star ist Lakers, für die neue Saison ausverkauft. belkünstler aus den USA einen Basketball- der Trainer. Bevor Jackson kam, war ein Kostenpunkt für einen Luxusplatz in der Boom auslösten, sank die Fernsehquote egomanischer Typ wie O’Neal zwar immer Basketball-Arena: bis zu 570000 Mark.Als bei den Finals um 50 Prozent. gut für eine Menge Punkte. Gleichzeitig „herausragenden Trainer Amerikas“ prä- Doch jetzt ist Phil Jackson zurück, und aber zersetzte er auch gern den Mann- sentierte dann auch Lakers-Vizepräsident Amerika hat Aussicht auf ein neues Dream schaftsgeist, sprengte das taktische Spiel Jerry West den 54-Jährigen, den er mit Team: Seit November verbreiten die La- und zerstörte am Ende immer die Autorität einem Jahresgehalt von sechs Millionen kers den lange vermissten Zauber unterm des Trainers. Dollar aus dem Retiro lockte. Korb, sie gewannen 17 von 22 Spielen und O’Neal, 27, ist Fleisch gewordener Gi- Es war eine Investition gegen das Siech- stehen an der Spitze der Pazifik-Division. gantismus. Er ist 2,16 Meter groß, wiegt tum der gesamten amerikanischen Bas- Wie die Chicago Bulls die neunziger Jahre 154 Kilo und hat Schuhgröße 61. In den ketball-Liga NBA: Das Unternehmen, das geprägt haben, so können die Lakers die nächsten sieben Jahren kassiert er von den jährlich über vier Milliarden Dollar er- dominierende Mannschaft zu Beginn des Lakers 151 Millionen Dollar, und dass er wirtschaftet, brauchte neue Impulse. Die neuen Jahrtausends werden. Die Mann- diese Summe für durchaus gerechtfertigt Zeit der alten Helden ist abgelaufen. schaft ist auf gutem Wege, den Titel zum hält, kann man an seinem linken Oberarm Michael Jordan spielt nicht mehr, Charles ersten Mal seit zwölf Jahren wieder nach ablesen. Hier hat er sich den Buchstaben Barkley ist vorvergangenen Mittwoch Los Angeles zu holen und die einstige Vor- „S“ tätowieren lassen – das Markenzei- zurückgetreten, und der Deutsche Detlef herrschaft zurückzugewinnen. chen des Kinohelden „Superman“. Schrempf will im nächsten Jahr aufhören. Schließlich waren die Lakers in den acht- Der kahl rasierte Koloss gibt schon mal Selbst die Chicago Bulls, ehedem vom Ruf ziger Jahren mit Magic Johnson und Ka- nackt in der Kabine Interviews, wenn ihm der Unbesiegbarkeit umflort, sind inzwi- reem Abdul-Jabbar fast unbesiegbar. Der danach ist. Er hat zwei Rap-CDs aufge- schen zur Lachnummer verkommen; von Club hat nach wie vor die höchste Er- nommen und ein Buch geschrieben mit Interesse ist derzeit nur die Höhe ihrer folgsquote aller 29 NBA-Mannschaften dem Titel „Shaq Attaq“. Niederlage. und bedient zudem die Sehnsucht des Pu- Der Center, der über sich sagt, er sei Vorige Saison litt die NBA unter einer blikums nach Glamour: Seine Spieler tra- „im Team die Atombombe“, hat in der paradoxen Situation: Die Meisterschaft gen goldene Trikots, und bei ihren Heim- Saison 1998/99 im Schnitt 26,3 Punk- war umkämpft wie lange nicht mehr, aber spielen versammeln sich Heerscharen von te pro Spiel erzielt und 10,7 Rebounds das Publikum langweilte sich, weil das Hollywoodgrößen auf der Tribüne, darun- geholt. Aber sein Stil lässt die Fach- „Dream Team“ fehlte. Mit dem Spiel- ter Jack Nicholson, Dustin Hoffman und welt eher kühl. Er bewegt sich mit der Ele- niveau sank auch die Zahl der Zuschauer Rene Russo. ganz eines Schaufelbaggers übers Par- in den Hallen. Bei Football- und Eis- Zudem sind in Los Angeles jene beiden kett, und wenn er sich hochwuchtet und hockeyspielen hielten Besucher Transpa- Basketball-Profis unter Vertrag, die sich den Ball von oben durch das Netz häm- AP NBA PHOTOS NBA Lakers-Star Bryant, Trainer Jackson, neue Spielstätte Staples Center: „Zerstört eure Gegner nicht“ rente in die Höhe: „Ich bin ein ehemaliger auch schon zu Zeiten von Michael Jordan mert, zerfetzt er gelegentlich die Korbauf- NBA-Fan.“ in den Kultstatus vorgespielt hatten: Sha- hängung. Die Fernsehquoten bei den Endspielen quille O’Neal und Kobe Bryant gelten Dem Mann fürs Grobe steht auf dem waren desaströs: Sahen im Juni 1998 noch als genial, verlieren aber gelegentlich Platz ein vergleichsweise schmächtiger 29 Millionen Amerikaner den letzten die Haftung zum Boden – ein Handicap, Kompagnon zur Seite: Kobe Bryant, der Titelgewinn der Bulls, schauten diesen das den Erfolg der Lakers bislang immer Mann mit der Nummer 8 auf dem Trikot, Sommer nur 16 Millionen zu, als die San bremste. spielt, als wäre er unter den Klängen des Antonio Spurs, eine Truppe, für die über- Doch der neue Coach kennt das Pro- Musiksenders MTV zur Welt gekommen. wiegend biedere Handwerker tätig sind, blem und redet elegant darüber hinweg. Bryant, 21, ein Jüngling mit zartem Kinn- die Meisterschaft gewannen. „Los Angeles ist der richtige Ort für mich“, bart, ist der Held des weiblichen Pu- Selbst auf die – für das wirtschaftliche sagte Phil Jackson beim Amtsantritt, „mein blikums. Mit 19 war er der jüngste NBA- Wachstum der NBA wichtigen – Auslands- Arbeitsstil und die vorhandenen Spieler Profi, der jemals an einem All-Star-Game märkte schlug die Baisse durch. In werden sich gut ergänzen.“ teilnahm. Er war da zwar nur neun Minu-

der spiegel 51/1999 175 Sport AP Chicago-Bulls-Stars Rodman, Pippen, Jackson, Jordan (1996): „Das Tao des Basketballs“ ten auf dem Feld – erzielte aber 18 Punk- gesorgt. Er gab Bryant sein Buch „Heilige te. Seine Künste sind den Lakers mehr als Körbe – spirituelle Lektionen eines Hart- zehn Millionen Dollar pro Jahr wert. holzkriegers“ zu lesen. Der verschlang Bryant wohnt in einem Haus mit sechs nach eigener Auskunft „jede Seite, jedes Bädern, Whirlpool und Blick auf den Pa- Wort, jeden Buchstaben“ und war bekehrt. zifik. Zu seinen Nachbarn gehört Arnold „Ein Finger kann keinen Kieselstein hoch- Schwarzenegger, und eine Zeit lang pous- heben“, doziert er nun, „das ist das Tao des sierte er mit der Soul-Sängerin Brandy. Für Basketballs.“ durchschnittliche Groupies hat er nichts Der Geläuterte will versuchen, sich mit übrig: „Die stechen mit Nadeln Löcher in O’Neal zu arrangieren. Für den Erfolg und Kondome und ziehen später vor Gericht.“ den Ruhm. Denn Bryant fehlen noch die Lakers-Vize Jerry West hält ihn für den ganz großen Triumphe. Und in dieser Sai- „mit Abstand talentiertesten Mann, mit son hält er die Lakers für „titelfähig“. dem wir je gearbeitet haben“. Trainer Auch Shaquille O’Neal stellt sich inzwi- Jackson zeigt sich nicht weniger beein- schen in den Dienst der großen Sache. Der druckt und bescheinigt ihm „eine Menge Center besuchte Jackson in dessen Ferien- von Michael Jordans Qualitäten“. haus in den Bergen von Montana, und dort Überdies hat Bryant das Zeug zum glo- bewunderte er die Duplikate der Trophäen, balen Helden: Er ist ein Star in Amerika, die der Trainer mit den Chicago Bulls ge- aufgewachsen in Europa, und spricht fünf wonnen hatte. „Sie standen genau in der Sprachen. Der deutsche Sportartikel- Sonne“, erinnert sich O’Neal, „sie haben hersteller Adidas hat ihn für einen Haufen geglitzert, und man konnte durch das Kris- Geld unter Vertrag genommen, weil sich tall schauen.“ die Marketing-Strategen aus Herzogen- Bei diesem offenbar transzendenten An- aurach mit ihm den Durchbruch auf dem blick wuchs der Wunsch des Aufbauspielers US-Markt versprechen. Seither sitzen Son- ins Unermessliche, irgendwann auch ein- nenbrillen des Ausrüsters auf seiner Nase, mal solche schönen Sachen im Wohnzim- und Schuhe aus fränkischer Herstellung mer zu haben. Er beschloss, von Jackson tragen seinen Namen. „alle Geschenke seines Wissens“ anzu- Der junge Mann könnte zum kongenia- nehmen. len Partner des Trainers Jackson werden, Und so verteilt der Coach an seine denn zumindest öffentlich trägt er edlen Schützlinge nun wechselweise Comic-Hef- Sportsgeist zur Schau. Der Rummel um te mit „Beavis and Butthead“ und Bücher seine Person lässt ihn scheinbar kalt. „Ich über Zen-Buddhismus. Er lässt sie in der wäre doch verrückt, mich hinzusetzen und Gruppe meditieren und neuerdings vor je- darüber nachzudenken, welches Theater dem Spiel ein Nickerchen halten. Er ver- veranstaltet wird“, sagt er. „Lieber arbei- sammelt sie während des Trainings im Mit- te ich an meiner Wurftechnik.“ telkreis, redet über das „Chi des Basket- Im Wege steht ihm nur, dass er sich für balls“ und predigt, dass man eine Vision genauso unentbehrlich hält wie der Kolle- brauche, „den ausgedehnten Traumzu- ge O’Neal. Pirouetten fürs Ego sind ihm im stand, mit dem alles beginnt und mit dem Zweifel immer wichtiger gewesen als der alles möglich wird“. zielgenaue Pass zum besser postierten Mit- Die Realität ist nüchterner. Schon jetzt spieler. Diese Eigenschaft teilt er mit Sha- sind die Los Angeles Lakers der Konkur- quille O’Neal, weswegen ein angespanntes renz so weit enteilt, dass Phil Jackson sei- Verhältnis der beiden Künstler bisher als ne Leute auf christliche Tugenden einzu- unvermeidlich galt. Aktenkundig ist, dass schwören beginnt. sie sich im vergangenen Jahr während des Es geht um Demut. „Zerstört eure Geg- Trainings gegenseitig an den Hals gingen. ner nicht“, trichtert Jackson seinen Män- Doch auch im Zwischenmenschlichen nern ein, „dankt ihnen lieber, dass ihr gegen hat Phil Jackson schon für Entspannung sie glänzen dürft.“ Maik Großekathöfer

176 der spiegel 51/1999 Werbeseite

Werbeseite SVEN SIMON SVEN Weltmeister Schmitt (in Predazzo): Der Körper als Tragfläche

SKISPRINGEN Hase und Igel Selbst auf normalen Schanzen wird inzwischen mehr geflogen als gesprungen. Der aerodynamische Feinschliff birgt jedoch Risiken: Die Sportler sind windanfälliger denn je.

m Kreis der Weltcup-Teilnehmer hat Ja- und die Reifen Profilrillen bekamen, um kub Janda den Ruf gemäßigter Durch- das Unfallrisiko zu verringern, so fliegen Ischnittlichkeit. Anfang Dezember je- die Wintersportler inzwischen mit abgerüs- doch, beim Wettkampf im italienischen teten Ski und in entschärften Anzügen zu Predazzo, segelte der Tscheche 127 Meter Tal. Der Erfolg ist eher bescheiden: Dank weit – sechs Meter über den kritischen neuer Techniken werden die alten Flug- Punkt der Schanze hinaus. Die Kollegen, weiten schon nach kurzer Zeit wieder er- die für gewöhnlich die Siege unter sich reicht, und der Faktor Wind spielt eine ausmachen, gerieten in Aufruhr. „Wenn größere Rolle als zuvor. Windkanaltest in Dresden: Wie ein Mobile schon Janda die Schanze so gefährlich aus- Denn während noch in den Achtzigern springt“, meinte einer, „wo landen dann die Athleten wie Kanonenkugeln vom Schon Millimeter in der Fußstellung be- die, die es wirklich können.“ Schanzentisch in die Tiefe katapultiert einflussen die Weite. Kippt der Springer Die Debatte im Sprungturm endete mit wurden und der Schwerkraft folgend als- zum Beispiel den rechten Ski von 15 auf 5 einem Eklat. Angeführt von Weltmeister bald auf dem abschüssigen Hang landeten, Grad nach innen, mindert er seine aero- Martin Schmitt, traten die 15 Weltcup-Bes- so ziehen sie ihre Vorstellung heutzutage dynamische Effizienz und Flugweite um ten in einen Streik – und setzten in selte- mit allerlei Tricks in die Länge: Aus dem knapp zehn Prozent. „Skispringen ist eine ner Einmütigkeit die Verkürzung des An- Skispringen ist Skifliegen geworden. hochsensible Angelegenheit geworden, wo laufs durch. Denn in der Springerzunft gilt: Rolf-Dieter Mahnke vom Institut für An- Kleinigkeiten große Wirkungen haben kön- Wer zu spät landet, der riskiert sein Leben. gewandte Trainingswissenschaft (IAT) in nen“, weiß Bundestrainer Reinhard Heß. Die jüngste Episode aus dem Trentiner Leipzig gehört zum Stab der Helfer, die Als die Springer ihre Ski noch parallel Fleimstal ist die Folge eines Wettrennens, Jahr für Jahr neue Finessen ausprobieren. durch die Luft jonglierten, war das anders. das stark an das Märchen vom Hasen und Der Sportwissenschaftler tut das vorrangig Auf den Absprung kam es an, der wieder- vom Igel erinnert. Der Ski-Weltverband in einem Windkanal in Dresden-Klotzsche. um vom Anfahrtstempo, dem Krafteinsatz versucht über das Regelwerk kürzere Dort werden die Springer in einer Art Mo- und dem Timing am Schanzentisch be- Sprünge durchzusetzen. Die Sportler sind bile von Gurten und Seilen dem Luftstrom stimmt wurde; der Körper lag im Wind- indes mit ihren Hilfstruppen von Biome- ausgesetzt. Hansjörg Jäkle, der in Lille- schatten der Bretter. Seit die Athleten ihre chanikern,Windkanalingenieuren und Ski- hammer 1994 mit dem deutschen Team Ski seitlich zu einem V stellen, hat die konstrukteuren stets einen Schritt voraus. Olympia-Gold gewann, lernte hier, beim Aerodynamik an Bedeutung gewonnen. Der Weltcup-Zirkus der Skispringer Flug die Knie bis zum Anschlag durchzu- Der Fahrtwind erzeugt unter Körper und wirbt bei Vermarktern nicht nur damit, sich drücken; vorigen Mai testeten einige seiner Ski einen Überdruck, auf dem Rücken des zur „Formel 1 des Winters“ entwickelt zu Kollegen Varianten in der Körperhaltung. Springers und der Oberfläche der Bretter haben – die Branche hat auch dieselben „Wir wollten wissen“, so Mahnke, „wel- entsteht Unterdruck. Der Rumpf des Ath- Nöte. So wie bei den Grand-Prix-Autos che individuellen Freiräume existieren, leten dient als Tragfläche, wird nach oben zuletzt die Flügel immer kleiner wurden ohne dass die Flugleistung leidet.“ gesogen – und schwebt.

178 der spiegel 51/1999 Sport

Je stärker die Springer ihre Ski nach außen drücken können, ohne sie über- mäßig zu verkanten, umso größer wird ihre Spannweite – nicht anders als bei Segel- flugzeugen verbessert das die Gleitfähig- keit. Laut Computersimulationen des IAT könnte die jüngste Generation der V-Sprin- ger bis zu 40 Meter weiter fliegen als die Parallel-Springer von ehedem.Auf Anlagen wie denen der Vierschanzentournee wür- den die Athleten, so der IAT-Forscher Horst Mroß, „ungespitzt in den Boden des flachen Auslaufs rammen“. Dass dem in der Praxis nicht so ist, liegt an der kontinuierlichen Abrüstung der Re- gelhüter. Seit dem vorigen Jahr darf der Overall statt acht nur noch fünf Millimeter dick sein, um dessen Eigenschaft als Trag- fläche zu mindern; außerdem wanderte die Bindung auf dem Ski nach vorn, was eine etwas aufrechtere Fluglage erzwingt. Auf vielen Schanzen wird inzwischen, um die Anfahrgeschwindigkeit zu senken, aus der niedrigsten Luke gestartet. Ein Stundenkilometer weniger Tempo bedeutet auf einer gro- ßen Anlage zehn Meter weni- ger Weite; insgesamt nahm die Fluggeschwindigkeit in den letzten Jahren um rund zehn Prozent ab. Um die Lufthoheit der su- perleichten, kleinwüchsigen Springer zu brechen, wurden kürzere Ski vorgeschrieben. Galt bis 1998 die Formel: Kör- pergröße plus 80 Zentimeter, so dürfen die Ski jetzt 146 Pro- zent der Körpergröße nicht überschreiten. Schmitt, 181 Zentimeter groß, darf folglich 2,64 Meter lange Bretter be- nutzen. Die Reglementsänderung bewährte sich nur zum Teil. Zwar sind die zierlichen Athleten nicht mehr im Vorteil. Doch dafür wächst die Zahl der Großen, die wie der Deutsche Sven Hannawald oder der Österreicher Andreas Goldberger sichtbar ausgemergelt an den Start gehen. Ein Kilogramm Min- dergewicht soll einen Meter Weite bringen. Ludwig Geiger, der die deutschen Adler medizinisch betreut, kennt jugendliche Springer, „die ständig Glaubersalz zum Ab- führen“ bei sich haben. Weil Anorexia in kaum einem anderen Männersport so ver- breitet ist, rät Geiger dem Weltverband, nur noch jene Springer zuzulassen, deren Body mass index (Körpergewicht geteilt durch Körpergröße im Quadrat) mindestens 18 betrage – bei 17,5 beginnt Magersucht. Dass viele Springer sich bei ihren aero- dynamisch verlängerten Flügen mehr als früher vor Wind fürchten, ist leicht nach- zuvollziehen. „Auch einen Fiat Panda“, weiß Sportwissenschaftler Mahnke, „pus- tet es leichter von der Autobahn als einen S-Klasse-Mercedes.“ Ansgar Mertin

der spiegel 51/1999 Werbeseite

Werbeseite Prisma Wissenschaft•Technik

ASTRONOMIE Teleskope im Sechserpack as Observatorium auf dem Mount DWilson im Nordosten von Los An- geles, eines der ältesten Zentren der astronomischen Forschung in den USA, wird derzeit mit einem neuartigen Tele-

SIPA PRESS SIPA skopverbund ausgerüstet. Astronomen Herstellung von Influenza-Vakzin der Georgia State University wollen auf dem Berg mit sechs in Form eines IMPFWESEN Mercedes-Sterns aufgestellten 1-Meter- Teleskopen den weltweit neu errichteten Vorhersage für die Riesenspiegeln von acht und mehr Me- tern Durchmesser Konkurrenz machen. Grippe Denn durch eine zeitgleiche Kombina- tion der Aufnahmen aus allen sechs Te- ine verbesserte Methode zur Vor- leskopen und entsprechende Compu- Ehersage von Grippeepidemien ha- teranalysen soll der Sechserpack ein ben amerikanische Biologen ersonnen. Auflösungsvermögen erreichen, das ei- Die genauere Prognose könnte den nem Teleskop mit einem 400-Meter- Herstellern von Impfstoffen helfen, Spiegel gleichkommt. Ende November frühzeitig Vorräte des passenden Vak- erprobten die Himmelsforscher die zins anzulegen. Dessen Produktion dau- Kombination aus den ersten beiden be- ert bis zu sechs Monate. Bisher beob- triebsbereiten Spiegeln. Nach Installa- achten die WHO und die Hersteller tion der restlichen vier Teleskope wol- Grippeausbrüche in aller Welt und le- len die US-Astronomen sich vor allem gen bereits im Spätwinter den Impfstoff der Erforschung von weit entfernten für die nächste Virensaison fest. Doch Planetensystemen und deren Entste-

nicht immer trifft die Prognose zu: hung widmen. C. GINO Überraschend taucht ein neuer Influen- za-Stamm auf, gegen den das vorhande- Teleskopanlage auf dem Mount Wilson ne Vakzin nicht schützt. Dass Influenza- Viren in immer neuen Stämmen daher geplante 1-m-Teleskope kommen und so das menschliche Im- munsystem narren, ist Grundlage der neuen Vorhersage. Die Gruppe um Ro- bin Bush von der Universität von Kali- 2,5-m-Spiegelteleskop fornien in Irvine ermittelte durch gene- Inbetriebnahme 1917 tische Analysen jene Virenstämme, die besonders häufig ihr Gewand ändern. 1,5-m-Spiegelteleskop Dass diese mutationsfreudigen Erreger Inbetriebnahme 1908 meist auch in der kommenden Saison einsatzbereite auftauchen, hat die Auswertung frühe- 1-m-Teleskope rer Grippezüge bestätigt: In neun von Teleskop-Transport elf Fällen traf die neue Prognose zu.

GENETIK mal Genome Project“ war das im menschlichen Genitaltrakt siedelnde Bakterium Mycoplasma genitalium mit seinen 517 Rezept fürs Leben Genen. Indem sie jeweils einzelne Gene im Erbgut dieses Bak- teriums ausschalteten, ermittelten die Forscher, welche Gene merikanische Molekularbiolo- für das Überleben des Einzellers unentbehrlich sind. Das Pro- Agen am Institute for Genomic jekt eröffnet nach Ansicht von Craig Venter, dem Leiter der Research in Rockville (Maryland) Forschergruppe, erstmals die Möglichkeit, aus toten chemi- haben eine Antwort auf die Philo- schen Bausteinen Leben im Labor zu entwickeln. Angesichts sophenfrage „Was ist Leben?“ ge- möglicher Konsequenzen – Schaffung neuer Bakterien mit bis-

C. USHER funden: etwa 300 Gene. Das ist lang unerreichter Wirksamkeit zur Umweltreinigung einer- US-Genetiker Venter nach den Erkenntnissen der US- seits, aber auch schrecklichster neuer biologischer Waffen – Forscher das Minimum an moleku- wollen Venter und seine Kollegen mit der Wiederholung der laren Bauanleitungen für die Entstehung eines Lebewesens, Genesis noch warten, bis die Diskussion über die ethische Di- das heißt, von einem Organismus, der auf seine Umwelt rea- mension des Projekts und seine eventuelle Weiterführung gieren und sich fortpflanzen kann. Ausgangsobjekt im „Mini- durch eine umfassende Debatte entschieden ist.

der spiegel 51/1999 181 Prisma Wissenschaft•Technik

ASTROPHYSIK planeten geführt haben, die durch Karambolagen weit hinaus in den Raum Wirbelnde geschleudert wurden. Aus diesen rasenden Bruch- stücken bildeten sich Scheibe wahrscheinlich Uranus und Neptun. Nach An- wei kanadische Forschergruppen ha- sicht der Astrophysiker Zben mit Computerhilfe die Entste- irrten die beiden „Eis- hung von Planeten in Sonnensystemen giganten“ zunächst auf simuliert. Die Ergebnisse unterstützen „chaotischen Umlaufbah- jüngste Vermutungen, dass die Planeten nen“ durchs All, ehe sie unseres Sonnensystems einst auf anderen im Verlauf der Jahrhun- Umlaufbahnen als den derzeitigen die derttausende ihre jetzi- Sonne umkreisten. So hat Jupiter als gen, nahezu kreisförmigen massereichster Planet des Sonnen- Orbits erreichten. Das Er-

systems möglicherweise eine Schlüssel- gebnis der Computersi- AP rolle für die Entwicklung der äußeren mulation liefert zumindest Planet Jupiter Planeten Uranus und Neptun gespielt: einen Hinweis darauf, Als Jupiter vor Jahrmilliarden aus einer weshalb die eisgepanzerten Planeten sich hätten Uranus und Neptun älter als das wirbelnden Scheibe aus Gas und Staub in Positionen befinden, die Astrophysi- Planetensystem sein müssen, um sich auf entstand, könnten Verdichtungen in der kern bislang weitgehend rätselhaft wa- ihren weit von der Sonne entfernten Um- Materiescheibe zur Bildung von Proto- ren: Denn unter normalen Umständen laufbahnen formieren zu können.

MEDIZIN Heilsame Folter ogar noch Jahre nach einem Schlaganfall, der zur Lähmung Seines Arms, eines Beins oder auch einer Körperhälfte führte, kann durch ein spezielles Bewegungstraining „wieder Leben in die matten Gliedmaßen zurückkehren“. Das versprechen Psy- chologen der Friedrich-Schiller-Universität Jena, die seit 1995 mehr als 50 Patienten, die „nach allen Regeln der ärztlichen Kunst als austherapiert“ galten, mit Hilfe des Taubschen Bewe- gungstrainings erfolgreich behandelt haben. Die von dem Ameri- kaner Edward Taub entwickelte Methode, so Teamchef Wolfgang Miltner, soll nach der Jenaer Pilotstudie jetzt bundesweit an zahlreichen Kliniken erprobt werden. Die Jenaer Wissenschaftler hoffen, damit rund einer viertel Million Patienten helfen zu kön- Szenen aus „Pac-Man“ in Ursprungsfassung, neuer Version nen. Bei dem Reha-Programm muss beispielsweise ein Patient mit Armlähmung den gesunden Arm fest in einer Schlinge tragen SPIELE und mit dem kranken Arm eine Woche lang täglich von morgens bis abends ein grob- und feinmotoriges Übungsprogramm absol- Verjüngter Methusalem vieren, bis er große und kleine Schrauben in Gewinde drehen oder winzige Pins in ein Lochbrett stecken kann. Die Jenaer eit 20 Jahren wuselt die kleine quietschgelbe Kugel nun Wissenschaftler wiesen nach, dass sich bei diesem massiven Trai- Sschon über den Bildschirm: „Pac-Man“, der Urahn aller ning um das durch den Videospiele, feiert Jubiläum. Aus diesem Anlass wurde das Schlaganfall abgestor- Knubbelwesen, das traditionell durch ein simples, grob bene Gehirnareal neue gepixeltes Labyrinth irrte, Kirschen und Bananen fraß und Nervenverschaltungen bösen Geistern ausweichen musste, in eine moderne dreidi- bilden, die zwar die ge- mensionale Bildschirmwelt verfrachtet. Der Parcours ist störte Funktion nicht reich an Zitaten anderer Spieleklassiker: Pac-Man kugelt völlig übernehmen, wie „Sonic the Hegdehog“, wetzt wie „Super Mario“ und aber weitgehend erset- zerschmettert Feinde nach Art von „Donkey Kong“. Es gilt, zen. „Unser Training ist Schatztruhen zu knacken und verborgene Türschlüssel zu für manchen Patienten finden, um Pac-Mans entführte Freunde aus den Händen sicher eine Art Folter“, des Bösen zu befreien. Das Playstation-Spiel (Preis: 70 räumt Miltner ein, Mark) ist nicht übermäßig knifflig, erreicht aber womöglich „aber die Ergebnisse

gerade wegen seiner Gradlinigkeit einen ähnlichen Sucht- rechtfertigen alle An- / TRANSIT HIRTH P. faktor wie das Original. strengungen.“ Therapeut Miltner, Reha-Patient

182 der spiegel 51/1999 Werbeseite

Werbeseite Wissenschaft

PSYCHOLOGIE Familienkrieg um Zappelphilipp Sie sind leicht erregbar, unkonzentriert und können einfach nicht still sitzen – hyperaktive Kinder nerven Eltern und Lehrer. Ist die tägliche Reizüberflutung schuld? Oder ein Defekt im Hirnstoffwechsel? Mit Verhaltenstherapie kann das weit verbreitete Psycholeiden gelindert werden.

em gehört eigentlich dieses schreckliche Kind?“ Widerwillen, WÄrger und Empörung schlugen Sebastians Mutter entgegen, wo immer sie mit ihrem Sohn unterwegs war: Ob im Su- permarkt, auf Spielplätzen oder bei Schul- festen – der hübsche Junge mit den „Bär- chenaugen“, so die Mutter, zog überall böse Blicke auf sich: Ruhelos umher- schweifend, rempelte er die Kleinen an, platzte mit lautstarkem, unablässigem Ge- rede in die Gespräche der Großen, riss um und demolierte, was im Weg war. „Hau’n Sie dem doch mal eine runter“: Solch wohlfeilen Rat bekam die Hambur- gerin reichlich. Dafür blieben Einladungen aus, manch einer grüßte nicht einmal mehr. Durch ihre ausgeflippten, ständig über- drehten und unkonzentrierten Kinder ge- raten auch andere Mütter und Väter sozial ins Abseits. Doch die vermeintlich unge- zogene Brut leidet an sich selbst, und die Eltern brauchen keine Schuldzuweisungen, sondern Hilfe: Sie müssen mit einem „ADHD-Kind“ zurechtkommen. Das Kürzel steht für „Attention Deficit Hyperactivity Disorder“ – eine Verhal- tensstörung, die im Deutschen, nach ihrem auffälligsten Merkmal, vereinfachend auch als „Hyperaktivität“ oder „hyperkineti- sches Syndrom“ bezeichnet wird. Fünf bis zwölf Prozent aller Kinder, in Deutschland also mindestens 500 000, zählen nach Schätzungen von Medizinern und Psycho- logen zu den „Hypies“. Bei ihnen haben die ureigenen Charak- teristika kindlichen Wesens – ungebremste Impulsivität und überschäumende Energien – krankhafte Formen angenommen: ADHD-Kinder sind für ihre Umwelt oft kaum erträglich.Weil sie – in den allermeis- ten Fällen sind aus noch nicht geklärten Gründen Jungen betroffen – auch die Ge- duld der einfühlsamsten Eltern, Lehrer und Spielkameraden erschöpfen, droht ihnen Ablehnung und Isolation. Ihre Familien kämpfen täglich darum, nicht im Chaos un- terzugehen: „Von morgens bis abends gab es nur Action, Hektik und das Wort ,nein‘“, erinnert sich Sebastians Mutter. „Abschal- ten konnte man nur, wenn er schlief.“ Die typischen Merkmale des Syndroms hat 1844 schon Heinrich Hoffmann, Ner- FOTOS: N. ENKER * An der Hebo-Schule in Bonn. Hyperaktives Kind im Unterricht*: „Sie wissen nicht, wie sie es besser machen sollen“

184 der spiegel 51/1999 venarzt und Verfasser des biedermeierli- sene, das haben Langzeitstudien gezeigt, „kaum eine andere Störung“, so Döpfner, chen „Struwwelpeter“, beschrieben. Zu leiden viele Zappelkinder unter ihren An- „ist so schwer zu behandeln“. den bekanntesten Protagonisten des Kin- passungsschwierigkeiten, manche von ih- Hunderte von Einzelsymptomen, ob der derbuchs (Motto: „Liebe Kinder gebt gut nen sind überdurchschnittlich anfällig für typische „Sprechdurchfall“, mit dem Se- acht, dass ihr’s nicht wie diese macht“) Drogen und Alkohol. bastian seine Umgebung entnervte, ob gehört der „Zappelphilipp“, der nicht still Jetzt, kurz vor der Jahrtausendwende, ständige Zerstreutheit und Vergesslichkeit sitzen kann: „Er gaukelt / Und schaukelt / „scheinen Überaktivität und Aufmerksam- ebenso wie Zerstörungswut, plötzliches Er trappelt / Und zappelt / Auf dem Stuh- keitsstörungen zu einer Zeitkrankheit ge- Verschwinden, Launenhaftigkeit, aber auch le hin und her“ – bis Philipp mitsamt dem worden zu sein“, meint Peter Schlottke, Abtauchen in Tagträume, machen die Dia- Tischtuch und der Mahlzeit zu Boden geht. Psychologe an den Universitäten Stuttgart gnose von ADHD aufwendig und schwie- Als historisches Beispiel für „unruhig- und Tübingen und Mitautor eines Ratgebers rig. Oft verbaut dann der Streit über die impulsive“ und obendrein für „Rastlose Kinder, ratlose El- Ursachen den Weg zum sinnvollen Ein- „dissoziale Verhaltensauf- tern“, der in diesem Jahr gleich greifen.Als Schuldige werden Fehler in der zweimal aufgelegt wurde*. Erziehung, die Unwilligkeit des Kindes, Das von Schlottke und stetige Reizüberflutung, Medienkonsum seinem Kölner Kol- oder auch falsche Ernährung ausgemacht. legen Gerhard Mit der Einschulung spitzen sich die Pro- Lauth ent- bleme noch zu. Die als untragbar etiket- tierten Störenfriede werden oft in andere Klassen oder (trotz normaler Intelligenz) in Sonderschulen abgeschoben: „Die Rastlo- sigkeit der ADHD-Kinder wird vor allem von jungen Lehrern als Sabotage emp- funden“, sagt Hans Biegert, Leiter der einzigen spezialisierten Privatschu- le, die ADHD-Kinder zu Mittle- rer Reife und führt. Abseits der gängigen pädago- gischen Normen wie ständiges Er- mahnen,Auffordern und Nacharbeiten hat Biegert sein Konzept entwickelt. In kleinen Klassen mit etwa 13 Schülern unterrichten die Lehrer „nicht lahm und hölzern, son- dern expressiv“: Sie bewegen sich durch

AKG die Reihen, halten den Blickkontakt. „Es Kinderbuchfigur Zappelphilipp: „Er gaukelt / Und schaukelt / Er trappelt / Und zappelt“ darf keine grauen Mäuse geben“, sagt Bie- gert, „die nicht angesprochen werden“; wickelte „Training mit aufmerksamkeits- andererseits wird niemand vor der Klasse gestörten Kindern“ soll demnächst in fünf- bloßgestellt. ter Auflage erscheinen. Insgesamt haben sich Zu Beginn des Unterrichts muss absolu- mit dem altbekannten Übel bereits mehr te Ruhe einkehren, dann geht es in kleinen als 6000 wissenschaftliche Publikationen Schritten, mit häufiger schriftlicher Wie- und Forschungsprojekte beschäftigt, rund derholung und viel Abwechslung voran. 20 Handbücher sind 1999 allein auf dem „Wir haben wenig Abbrecher und könnten deutschen Markt erschienen. zehn solcher Schulen aufmachen“, so Bie- „Die Familien leiden enorm,“ sagt Bar- gert. Die Übernahme des Schulgelds kön- bara Högl vom „Arbeitskreis Überaktives nen Eltern beim Jugendamt beantragen. Kind“ in Hannover. „Immer noch werden Mit „holzschnittartigen Mustern“ allein viele Eltern von Ärzten mit der Bemer- sei das laute, lästige Leiden nicht zu er- kung abgeschmettert, doch selber erst mal klären, sagt Kerstin Naumann, Psychologin ruhiger zu werden.“ Um die Früherken- und ADHD-Therapeutin an der Univer- nung voranzubringen und die Hilfen bes- sität Köln. Zu viel Fernsehen und schlap- ser zu vernetzen, wollen sich nun fünf El- pe Erziehung könnten die komplexe terninitiativen in der „Interessengemein- Störung zwar verstärken. Als Ursache gilt Psychologin Naumann, ADHD-Kind schaft ADHD“ zusammenschließen. unter Wissenschaftlern jedoch ein neuro- „Erst nachdenken!“ Nach Überzeugung von Manfred Döpf- biologisches Defizit im Hirn-Stoffwechsel, ner, Stephanie Schürmann und Gerd das erst in jüngster Zeit untersucht worden fälligkeiten“ sieht Joest Martinius, Münch- Lehmkuhl, ADHD-Therapeuten an der ist. Zahlreiche Zwillingsstudien haben ner Jugendpsychiater und ADHD-Spezia- Universitätsklinik Köln und Herausgeber überdies gezeigt, dass ADHD in einem list, auch „Max und Moritz“: In den sieben eines „Elternbuches“ unter dem Titel Großteil der Fälle erblich ist. Streichen der Lausbubengeschichte zeigte „Wackelpeter und Trotzkopf“, ist „keine Die Steuerung und Kontrolle des Ver- Wilhelm Busch, was „böse Kinder“ trei- andere psychische Auffälligkeit in diesem haltens, so lassen Untersuchungen mit neu- ben, die vor lauter Tatendrang nicht zur Alter so häufig“: „In zunehmendem Maße en bildgebenden Verfahren wie der Po- Ruhe kommen. sind Ärzte mit Kindern konfrontiert, die sitronen-Emissions-Tomografie vermuten, Im satirisch-schrecklichen Ende in der solche Verhaltensprobleme zeigen.“ Doch ist bei den Zappelkindern chemisch aus Kornmühle, das Busch den beiden be- der Balance geraten. Der Einblick in die schert, vermutet Martinius bereits „ein Feinstrukturen des Vorderhirns legt nahe, * Gerhard W. Lauth, Peter F. Schlottke, Kerstin Nau- Wissen um das Risiko des Fortbestehens“ mann: „Rastlose Kinder, ratlose Eltern“. Deutscher dass der Grund fürs ewige Hampeln, Schar- der Verhaltensstörung: Noch als Erwach- Taschenbuch Verlag, München; 208 Seiten; 16,90 Mark. ren, Aufspringen und Abgelenktsein ein

der spiegel 51/1999 185 Wissenschaft

Mangel an Dopamin ist – jenem körperei- New Yorker“: „Unsere Zeit hat ADHD auf- wollte, oder ging zu Hause mit den Fäusten genen Botenstoff, der Nervenimpulse wei- gedeckt.“ auf seinen kleinen Bruder los. terleitet und auf diese Weise die Informa- In Deutschland fällt Ritalin, das in die „Es gab einen regelrechten Familien- tionsverarbeitung mitsamt der Fähigkeit Gruppe der aufputschenden Amphetamine krieg“, berichtet die Mutter. „Immer zur Aufmerksamkeit reguliert. gehört, unter das Betäubungsmittelgesetz. musste sich Fabian in den Mittelpunkt set- In dieses gestörte Zusammenspiel greift Das vom Pharmahersteller Novartis pro- zen.“ In sein Zimmer geschickt, „warf er ausgleichend eine Substanz ein, auf duzierte Medikament muss, wie etwa Mor- den Schreibtischstuhl durch die Gegend die Ärzte bei der Behandlung von phium, mit dreifach ausgestelltem Rezept und zerstörte unheimlich viele Dinge“. ADHD-Kindern zunehmend setzen: Me- verschrieben werden; die Verordnung ist thylphenidat, unter dem Markennamen zehn Jahre lang aufzubewahren. „Ritalin“ bekannt, verbessert offenbar die Das rasch wirkende Ritalin (dessen Ver- Signalübermittlung und gilt deshalb als brauch im vergangenen Jahrzehnt weltweit Mittel der Wahl, die Aufgeregtheit der um 700 Prozent angestiegen ist, 90 Pro- ADHD-Kinder zu dämpfen und ihre zent des Konsums entfallen auf die USA) Konzentrationsfähigkeit zu steigern. Ob- könne in schweren Fällen „eine verhäng- wohl die genaue Wirkung noch ungeklärt nisvolle Kaskade unterbrechen“, so Psy- ist, bekommen amerikanische Kinder chiater Martinius: „Die hyperaktiven Kin- schon reihenweise und millionenfach der fliegen überall raus, darauf muss die Fa-

an Schulen ihr allmorgendliches Ritalin- milie reagieren“, sagt Martinius, „und auf R. FROMMANN Dragee zugeteilt – ein Ritual, das heftige diesen erhöhten Druck seiner Familie rea- Psychopille Ritalin Debatten über den Wert und die Risiken giert wiederum das Kind.“ Paradoxerwei- Psychose durch Hochdosierung? der medikamentösen ADHD-Behandlung se steigert das „Psychostimulantium“ die in Gang gesetzt hat. Fähigkeit zur Konzentration – allerdings Da halfen weder Hopfenpräparate noch Das Psychomittel sei geradezu eine Me- „auch bei gesunden Kindern und Erwach- die teuren Essenzen der Bachblüten, die tapher für die gegenwärtige amerikanische senen“, wie Psychiater Martinius betont. Heilpraktiker hyperaktiven Kindern gern Gesellschaft, wenden Kritiker wie der Psy- Tatsächlich scheinen die Pillen in drasti- verordnen. Fruchtlos blieben auch die chologe Richard DeGrandpre ein: In seinem schen ADHD-Fällen der rettende Ausweg: Einzelspieltherapie, Bewegungsübungen, unlängst erschienenen Buch „Ritalin Na- „Ich pack das nimmer, entweder geht der zucker- und phosphatfreie Diäten oder die tion“ deutet DeGrandpre das Medikament Fabian, oder ich geh“, hatte eine Münchner Bemühungen der Eltern, die Ausbrüche ih- und ADHD selbst als Produkte einer allzu Mutter schon beschlossen – obwohl sie res Jungen mit Ausflügen und viel Spielen lauten, rastlos getriebenen Lebensform: Die ihren Neunjährigen liebt, der wie viele im Freien zu mildern. Hochgeschwindigkeitsgesellschaft mit ihren ADHD-Kinder auch besonders feinfühlig „Was machen wir falsch?“ Erst die Handys und elektronischen Bilderfluten und geradezu charmant sein kann. ADHD-Diagnose in der Münchner Uni- mache Kinder süchtig nach immer neuen Schon als Baby, „wenn ihm das Wickeln versitätsklinik entlastete die Eltern vom Sinnesreizen, meint DeGrandpre. nicht passte“, hatte Fabian „gebrüllt, bis er quälerischen Selbstzweifel. Fabian nimmt „Die Moderne hat ADHD nicht geschaf- halb ohnmächtig war“. Als Fünfjähriger nun jeden Morgen sein Ritalin und hat fen“, konterte hingegen, nach Abwägung schrie er hemmungslos fremde Leute an, auch einen Platz in einer heilpädagogi- von Gesellschaftskritik und wissenschaft- wälzte sich bei Eiseskälte auf der Straße, schen Tagesstätte bekommen, wo er sich lichen Erkenntnissen, die Zeitschrift „The wenn der Vater ihm die Mütze aufsetzen wohl fühlt. In der Schule erkannte die Lehrerin ihr Problemkind kaum wieder: Der Junge, der vorher keine Freunde hatte, kommt nun mit seinen Klassenkameraden zurecht.Von den Hausaufgaben schafft er zwar immer noch nur ein Drittel, und auch das „un- wahrscheinlich langsam“, wie die Mutter sagt. Doch nach einem langen Alptraum ist die Familie „so ganz zufrieden“ – und nimmt auch die üblichen Nebenwirkungen von Ritalin, geringen Appetit und schlech- ten Schlaf, hin. „Manche brauchen viel, manche wenig“: Für die Kölner Kinderärztin Rosemarie Berthold ist Ritalin „die passende chemi- sche Brille“ für das in seiner Wahrneh- mung gestörte ADHD-Kind. Die Ärztin, deren Kind selber hyperaktiv ist, macht „nur noch ADHD-Sprechstunde“ und be- treut 200 Patienten, ihre Warteliste ist lang. Wie beim Diabetiker das Insulin, seien die Kinder auf ihre maßgeschneiderte Ritalin- Dosis angewiesen, meint sie, und die kön- ne auch die empfohlene Dosis von 0,5 bis 1 Milligramm pro Kilogramm Körper- gewicht überschreiten. Hielten sich deutsche Ärzte, verglichen mit dem freizügigen amerikanischen Um-

H. SCHWARZBACH / ARGUS H. SCHWARZBACH gang, bei der Verschreibung von Ritalin bis- Schulkinder in der Pause: „Von morgens bis abends gibt es nur Action“ lang eher zurück, wird nun in deutschen

186 der spiegel 51/1999 Werbeseite

Werbeseite Wissenschaft

Arztpraxen „viel und locker rezeptiert“. ADHD-Kinder noch mehr beeinträchtigt. war ich mit den Nerven am Ende“, berich- Martinius kritisiert, dass nicht nur die Aber, so resümiert Schlottke: „Sie wissen tet die Historikerin – obwohl sie von ihrer Schwerbeeinträchtigten, sondern „eine zu- nicht, wie sie es besser machen sollen.“ Tochter begeistert ist: Bettina zeigt wie vie- nehmend große Zahl rein aufmerksam- Das Problem versuchen die Wissen- le Zappelkinder beim Spielen und Basteln keitsgestörter Kinder Ritalin kriegen“. schaftler vor allem dadurch zu lösen, dass große Kreativität, setzt ihre Ideen gleich Statt sich mit der Psychopille „vorsich- sie den Kindern helfen, ihr eigenes Ver- um, hat eine rasche Auffassungsgabe. tig reinzuschleichen“, wie Ulrike Lehm- halten besser zu steuern, innezuhalten, zu Ihre übermäßige Impulsivität, die Un- kuhl sagt, Jugendpsychiaterin am Berliner überlegen und erst dann zu handeln. Um fähigkeit,Wünsche und Vorhaben auch nur Virchow-Krankenhaus, und „so wenig Me- dieses Ziel zu erreichen, entwerfen die Ver- ein paar Minuten zurückzustellen, sind dikament wie möglich“ zu geben, versu- haltenstherapeuten für jedes Kind einen möglicherweise ererbt: Auch die umtriebi- chen es Kinderärzte zunehmend mit der so speziellen Plan mit verschiedenen „The- gen Großeltern zeigen noch heute diese genannten Hochdosierung. Anstelle einer rapiebausteinen“ – von der „Behandlung Verhaltensweisen. Die Mutter selbst erin- „Effektverbesserung“ (Lehmkuhl) können der Grundstörung“ und „Verbesserung des nert sich, dass andere sie wegen ihrer ste- sie damit aber das Gegenteil, den Ausbruch Sozialverhaltens“ über „effektiveres Ar- ten Unruhe als Zumutung empfanden. einer Psychose, bewirken: Immer wieder beiten in der Schule“ bis zu „Entspan- „Halt! Stopp! Erst nachdenken!“ Das müssen am Virchow-Klinikum überbehan- nungsübungen“. von der Comicfigur Obelix präsentierte delte ADHD-Kinder als Notfälle aufge- Im Lauf der Therapie sollen auch die El- Signalschild ist das wichtigste Instrument, nommen werden, so Lehmkuhl: „In großer tern lernen, ihr Kind besser zu lenken – mit dem die Psychologin Naumann Betti- Aufgeregtheit und von Angst ge- na beibrachte, nicht sofort das zu plagt, sehen und hören sie Dinge, tun, was ihr in den Kopf schießt. die nicht da sind.“ Gestörte Signale Zuvor hatten beide einen Vertrag Weil die in Mode gekommene Dopamin-Mangel im Gehirn von hyperaktiven Kindern geschlossen, der die Ziele, aber Hochdosierung körperliche und auch das regelmäßige Spiel am psychische Nebenwirkungen mit Das Frontalhirn Schluss der Sitzung festlegt – sich bringen kann und wissen- regelt die Fähigkeit zur „weil die Kinder sich damit ernst schaftlich nicht fundiert ist, haben Selbstkontrolle und genommen fühlen, finden sie das die drei Fachverbände für Kinder- Aufmerksamkeit. gut“, sagt Naumann. und Jugendpsychiatrie und Psy- Genaues Hinschauen, genaues Bei ADHD-Kindern ist chotherapie eine gemeinsame offenbar die Weiter- Zuhören sind die Grundfertig- Stellungnahme zur „leichtfertigen leitung der Kontroll- keiten, die beispielsweise mit Verordnungspraxis“ herausgege- signale gestört. Bildbeschreibungen oder Laby- ben. „Die bloße Beschränkung auf rinthaufgaben eingeübt werden. die Pharmakotherapie“, so heißt Ursache ist vermutlich ein Mangel an Dopamin, Laut macht die Psychologin das es darin, „missachtet die Bedürf- einem Botenstoff, der Nervenimpulse weiter- innere Sprechen vor, das für die nisse der Kinder.“ leitet und so die Verarbeitung von Information Anweisungen an sich selbst („Ich „Im Regelfall ohne Medika- steuert. Das Medikament Ritalin soll das will anfangen“, „Was ist meine ment“ kommen Psychologen wie Dopamin-Dezifit ausgleichen. Aufgabe?“) entscheidend ist. Mit Schlottke, Lauth und Naumann Nervenzelle Blickkontakt, Hand auf die aus, die den Kindern mit Verhal- Schulter legen und Anlächeln tenstraining helfen wollen. Ritalin Nervenende müssen die Kinder, so Naumann, mache zwar offenbar nicht süch- Impuls „immer wieder eingefangen wer- tig. Doch „die Problembewälti- Dopamin den“. Als „klare Rückmeldung“ gung wird schief geleitet“, warnt gibt es Wertmarken, die später Schlottke, wenn Kinder und Eltern gegen kleine Belohnungen ein- die Lösung ihrer Schwierigkeiten getauscht, aber auch wieder ab- mit dem Einnehmen der Pille ver- gezogen werden können. knüpfen: „Da werden nur Symptome re- durch mehr Rückmeldungen, Bestätigung Mit der Zeit werden die Aufgaben dann duziert, das Kind ist hinterher sozial nicht und konsequentes Einhalten von Regeln. anspruchsvoller, die erlernten Strategien klüger.“ Eine „Schicksalsbegegnung“ war für die für verzögertes und überlegteres Vorgehen Kontrollierte Studien mit über 500 Be- Mutter der heute zehnjährigen Bettina das werden auf den Schulalltag übertragen. troffenen haben die Experten darin be- Gespräch mit Psychologin Kerstin Nau- Den Eltern rät die Psychologin, zu Hause stätigt, dass ADHD-Kinder vor allem Mög- mann, die im Rahmen des Therapie- und mit wenigen, einfachen Regeln Klarheit zu lichkeiten brauchen, ihre Selbstkontrolle Forschungsprogramms an der Kölner Uni- schaffen, nicht auf alles zu reagieren, was zu entwickeln. Sie können ihre „Wachheit versität mit hyperaktiven Kindern übt, schief läuft, und ihrem Zappelkind in einer nur schlecht an die jeweilige Situation an- spielt und arbeitet. täglichen Spielzeit ungeteilte Aufmerk- passen“, meint Schlottke: Entweder seien „Ziehen Sie der doch mal den Stecker samkeit zu schenken. sie überdreht oder „untererregt“. Nicht raus“, hatte es zuvor geheißen, wenn Bet- Die meisten ADHD-Kinder müssen, nur ihr kognitives, auch ihr soziales Ver- tina überall dazwischenfuhr und ausraste- nach dauerndem Kampf mit den Miss- halten ist gestört: Die Kinder kaspern und te, sich auf ihrem Platz hin- und herwand, erfolgen, erst wieder lernen, auf kleine schlagen auch zu, ohne die möglichen Fol- quengelte, schmatzte und den Clown spiel- Erfolge stolz sein. Oft in erstaunlich kur- gen zu bedenken. te. Manches Mal, so erinnert sich die Mut- zer Zeit „fassen dann die Kinder Mut Ständige Misserfolge, ob zu Hause, in ter, sei ihr die Hand ausgerutscht. Trotz der und die Umgebung sieht, es bewegt sich der Schule oder im Umgang mit den Rückendeckung durch ihren Mann habe sie was“. Gleichaltrigen, drücken das Selbstwertge- es nicht durchgehalten, „20-mal hinterein- Das Wichtigste sei, so weiß Naumann aus fühl. Noch großspurigeres Auftreten und ander ,Nein‘ zu sagen“. dem Rückblick erwachsener Hyperaktiver, mehr Aggression sollen dann Selbstzweifel Dass ihr Wildfang „aus Erfahrung nicht dass die Eltern an ihr Kind glauben: „Alles und Versagensängste kompensieren – ein gut lernt“, war den Eltern klar geworden, läuft“, sagt die Therapeutin, „wenn sie Verhalten, das den Zorn der Umwelt wei- als Bettina wieder und wieder gegen eine ihrem Kind das Gefühl geben: Du wirst es ter anheizt und die Entwicklung der Glasscheibe rannte. „Über Jahre hinweg schaffen.“ Renate Nimtz-Köster

188 der spiegel 51/1999 Werbeseite

Werbeseite Wissenschaft

Öfen, heiße Pfannen und Wasserdampf schen Effekte von Wärme auf Fleisch eine KOCHEN wirken auf das Gargut von außen nach praktische Bedeutung haben“, beenden sie innen. Doch unabhängig von der Hitze- ihre Abhandlung mit einem Leitfaden für Rätsel in der leistung herrschen innerhalb der Tier- Köche: Die Fleischklumpen sollten, so fasern nie mehr als 100 Grad Celsius: empfehlen sie im Ratgebertonfall, nicht zu Fleisch besteht zu etwa 75 Prozent aus dick und vorher auf Körpertemperatur an- Pfanne Wasser, das bis zum vollständigen Ver- gewärmt sein – dadurch vermindert sich dampfen keine höhere Temperatur zu- die Zeit, in der die äußeren Bereiche zu Den Weihnachtsbraten zu garen, lässt. Bei starker Hitzeeinstrahlung wird hoch temperiert sind. Beim Braten verrin- so der äußere Teil eines Bratenstücks im- gert häufiges Wenden den Wärmeverlust ist eine Wissenschaft für sich. mer heißer, während die angemessene der pfannenabgewandten Seite und ver- Gute Tipps stehen jetzt in dem Temperatur im Innern auf sich warten kürzt so die Garzeit. Auch sollte der Koch Fachblatt „Physics Today“. lässt. Frustrierende Folge: Das Fleisch ist beim Grillen und Braten die Oberflächen- außen verkohlt und trocken, innen aber temperatur knapp unter dem Siedepunkt roblemzonen des Truthahns sind glibbrig und roh. Das Verhalten von halten, indem er nach anfänglich starker Brust und Beine. Zumindest für die Fleisch im Ofen ist zudem unberechenbar: Hitze die Kochflamme reduziert oder das Pamerikanische Hausfrau, die zu Zum Teil brauchen schwere Truthähne ge- Fleisch an eine weniger heiße Stelle legt. Thanksgiving traditionell einen ganzen Vo- nauso lange wie leichte Tiere. Auch bei der Zubereitung des geflügelten gel in den Ofen schiebt. Das mächtige Fe- Für ihre Untersuchung gingen Küchen- Weihnachtsbratens kann das Wissen um dervieh brüstet sich mangels Flugtraining forscher McGee und seine Kollegen von Wärmefluss in tierischem Gewebe nützlich mit besonders zartem, hellem Fleisch; die gleich großen Fleischklöpsen aus. Die ver- sein. Denn das Problem von Brust und Bei- muskulösen Beine dagegen, von viel Bin- schiedenen Garmethoden sollten jeweils zu nen beim Truthahn, das sich auch auf andere degewebe durchsetzt, müssen den schweren einer Kerntemperatur von 60 Grad Celsius Hühnervögel übertragen lässt, löste McGee Körper tragen und sind daher stärker ent- führen. Mit Hilfe des Computerprogramms über die Veränderung der Ausgangstempe- wickelt als die Brust. Genau dieser Unter- FlexPDE berechneten die Wissenschaftler ratur: Während sein Versuchstruthahn auf schied schafft ein kulinarisches Dilemma. Diagramme, die zeigen, wie lange die ver- der Arbeitsplatte ruhend langsam Raum- Bis sich beim Braten das Bindegewebe im schiedenen Bereiche der Fleischbrocken ei- temperatur annahm, bedeckte McGee die Schenkel in Gelatine verwandelt, haben die ner Temperatur ausgesetzt waren, bei der Brust mit Eis. Durch diese Teilkühlung Brustfasern längst jede Flüssigkeit verloren. sich die Proteine entfalten. brauchte der Ofen länger als sonst, um das Harold McGee aus Kalifornien experi- Auch wenn McGee und seine Kollegen helle Brustfleisch zu garen – und zwar etwa mentiert seit Jahren am Truthahnbraten nicht so recht wissen, „ob die theoreti- genauso lange wie die Keulen. und anderen Kochrätseln – vor Für Hobbyköche können das wissenschaftlichem Hintergrund. wertvolle Tipps sein. Küchen- Der 48-jährige Doktor für engli- profis indes sind von den For- sche Literatur wurde durch sein schungen des kalifornischen Buch „On Food and Cooking“ Wissenschaftlers wenig beein- als Kochforscher bekannt*. Bis- druckt. Der Stuttgarter Gour- her näherte er sich küchenspe- met-Koch Vincent Klink folgt zifischen Fragen empirisch, briet schon lange der Faustregel: Alles einen Vogel nach dem anderen, wird zu heiß gebraten. „Jeder wahlweise mit Füllung unter der gute Koch macht sich Gedanken Haut, klein geschnitten oder mit über Physik“, sagt Klink, „selbst Fett begossen. wenn er sie nicht in Formeln Nun hat er gemeinsam mit ausdrücken kann.“ Der rein zwei Physikern die Temperatur- physikochemischen Erforschung entwicklung in gebratenem, ge- von Essen steht er skeptisch ge- kochtem und gegrilltem Fleisch genüber. Seine Erfahrung lehrt: untersucht und die Ergebnisse in „Wenn einer mit Hirn, aber ohne der Zeitschrift „Physics Today“ Sinnlichkeit kocht, schmeckt’s veröffentlicht: Die Experimente nicht.“ verliefen diesmal als Simulation Wie Recht er damit hat, weiß per Differenzialgleichung am auch McGee – der will sein Mo- Computer. dell vom idealen Hitzegradien- Dass Harold McGee sich vor ten demnächst verfeinern und einigen Jahren der Physik in die geschmacksbildenden Pro- der Küche zuwandte, lag nicht zesse an der Braten-Oberfläche an einer besonderen Begeiste- berücksichtigen. Knusprige brau- rung für das Kochen. Vielmehr ne Kruste entsteht nämlich erst sah der Kalifornier, der eigent- durch die Reaktion von Zuckern lich Astronaut werden wollte, und Aminosäuren bei hohen die Küche als nahe Verwandte Temperaturen. des Laboratoriums an: „Im Kon- „Nach unseren jetzigen Maß- text der Essenszubereitung stäben“, meint der kochende schlucken die Leute Chemie- Thermodynamiker, „erhält man stunden besser.“ ein perfekt gegartes Stück Fleisch, wenn man es in lauwar- * Harold McGee: „On Food and Cooking: mes Wasser legt.“ Und das, ge- The Science and Lore of the Kitchen“.

Charles Scribner’s Sons, New York; 684 Sei- R. LEWINE steht er, klingt nicht besonders ten; 50 Dollar. Kochforscher McGee: Häufiges Wenden verkürzt die Garzeit lecker. Verena von Keitz

190 der spiegel 51/1999 Werbeseite

Werbeseite Andere sind eher fürs Grobe zu- ständig, sie sind Straf-, Folter-, Kriegs- und Würgeengel. Laut Bibel gießen sie in Gottes Auftrag die „Schalen des Zorns“ aus; führen als „grimmi- ge Engel“ Krieg gegen den Satan; brüllen,wenn nötig, „wie ein Löwe“. Die gewöhnlich unsichtbaren Geister können nämlich, sagt der Papst, „auf Grund ihrer Sendung zu Gunsten der Menschen“ bei Bedarf auch mal „in sichtbarer Gestalt erscheinen“. Dann ist der Schreck groß, beson- ders, wenn der Erzengel Michael auf- tritt. Das ist ein rabiater Haudegen. Bewaffnet mit Flammenschwert und Speer hat er vor Zeiten im Himmel einen Putsch niedergeschlagen. Da- bei erledigte er den „großen Dra- chen, die alte Schlange, die da heißt Teufel und Satan, der die ganze Welt verführt“, wie Johannes in seiner Of- fenbarung berichtet.Alle Putschisten wurden auf die Erde geworfen. Rund ein Drittel der himmlischen Heer- scharen fiel so schon am zweiten Schöpfungstag aus Gottes Gnade. Nach dem Biss in den Apfel expe- dierte der tatkräftige Michael auch Adam und Eva aus dem Paradies.Auf Erden leitete der „Fürst der himmli- schen Heerscharen“ später Jeanne d’Arc, die streitbare Jungfrau von Or- léans, in den Kampf. Vor dem Flam- mentod auf dem Scheiterhaufen der Inquisition konnte oder wollte er die kleinwüchsige Heldin jedoch nicht bewahren. Sein Bildnis zierte auch die Flagge des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation – daher das Wort vom „deutschen Michel“. 1950 erhob der Papst Pius XII. den

AKG Himmelsgendarm zum Patron aller Erzengel Michael*: In einer finsteren Nacht ganz allein 185000 Assyrer hingemetzelt christlichen Polizisten der Welt. Für die Soldaten ist der Erzengel Micha- el ohnehin zuständig, hat er doch ganz al- THEOLOGIE lein in einer finsteren Nacht 185000 Assy- rer hingemetzelt. Und siehe, so steht es im Zweiten Buch der Könige, morgens frühe Geister aus Gottes Garten lagen da „alles eitel tote Leichname“. Wie alle Engel ist auch Michael unsterb- Der Papst will die himmlischen Heerscharen abrüsten. lich, wirft keinen Schatten, braucht keinen Schlaf und hinterlässt niemals Fußspuren. Im „Heiligen Jahr 2000“ sollen die Engel nur noch An Gewalttätigkeiten der himmlischen friedlich sein – Würge-, Kriegs- und Todesengel sind passé. Heerscharen will der polnische Papst die Gläubigen zur Jahrtausendwende jedoch eden Sonntagmittag spricht der Heili- Hölle fährt oder ins Fegefeuer, auch der hat nicht erinnern. Das von ihm ausgerufene ge Vater in Rom das Gebet: „Der En- mindestens einen von ihnen an seiner Sei- „Große Jubiläum des Jahres 2000“ soll viel- Jgel des Herrn“. Die himmlischen Heer- te, einen Racheengel. Nach der Ankunft mehr der „Reinigung des Gedächtnisses“ scharen, ihr Wohl und Wehe, liegen Karol im „Ofen, in dem das ewige Feuer brennt“ dienen. Die Gruselgeschichten aus alter Wojtyla besonders am Herzen. Der alte (Jesus) beteiligt er sich als „Engel des Zeit, wenngleich in der Bibel verbürgt, sol- Mann, geplagt von vielerlei Gebrechen, er- Zorns“ an der Bestrafung des Sünders. len verblassen. Deshalb müht sich der wartet die Engel. Sie werden ihn auf seiner Zwar haben die Gottesboten, wie Papst Nachfolger Christi auf Erden, das Image allerletzten Reise begleiten. Johannes Paul II. verkündet hat, „keinen der himmlischen Heerscharen aufzuhüb- Engel, lehrt die Bibel, sind Boten Gottes. Leib“. Das hindert sie jedoch nicht an der schen. „Sie tragen Dich auf ihren Händen, Wenn die Seele zum Himmel aufsteigt, flie- Ausübung sehr unterschiedlicher Tätigkei- damit Dein Fuß nicht an einen Stein stößt“, gen sie mit, als Geleitschutz. Wer aber zur ten: Sie blasen Posaune und spielen im Pa- zitiert der Heilige Vater den 91. Psalm. radies die Harfe; als göttlicher Hofstaat Auch über Michael, zwei Jahrtausende * Ölgemälde von Luca Giordano (um 1680). widmen sie sich der Anbetung. lang Verbreiter des „heiligen Schreckens“,

192 der spiegel 51/1999 Wissenschaft weiß Johannes Paul nur Nettes zu be- und Hirten neben sich, der ihn zum Leben richten – kein Wort vom Flammen- führen soll.“ schwert, dem Speer und blutiger Sühne- Karol Wojtyla beschreibt diese Hirten arbeit. als „geistige, körperlose Wesen“, mit „Ver- Den Gläubigen gefällt das. Sie wollten nunft und freiem Willen begabt wie der ohnehin nie viel von den martialischen Mensch, aber in höherem Grad als er“. Et- Geistern aus Gottes Reich wissen, sondern lichen hat das aber nicht geholfen. Sie ha- fühlten sich stets zu den sanften, trösten- ben sich, so bedauernd der Nachfolger den, reinen Engeln hingezogen. Da trifft Christi im Vatikan, „Herrscherrechte an- es sich gut, dass auch der Papst – das bringt gemaßt“ und die „Ordnung alles Geschaf- das Alter so mit sich – seine Vorliebe für die fenen umzukehren“ versucht. Das konnte nicht gut gehen und wird von Gott auch nicht verziehen: Gefallene Engel verstieß er in die „finsteren Höhlen der Unterwelt“ und hält sie dort, wie Petrus weiß, „eingeschlossen bis zum Ge- richt“, dem Jüngsten. Wie aus braven Engeln böse Teufel wurden, warum der Satan Fürst der Finsternis, Me- phisto, Leibhaftiger und Beel- zebub genannt wird, das be- schäftigt eine eigene Wissen- schaft, die Angelologie (von griech. „angelos“ = Bote). Die- se Subspezies der Kleriker hat sich von jeher besonders für die gefallenen Engel interes- siert, die gehörnten Aktivisten der Hölle. Denn mit der Furcht vor den Höllenstrafen lässt sich jede Christen-Gemeinde ent- schieden leichter lenken als durch die Hoffnung auf Güte. Im vierten Jahrhundert – der Engelskult hatte gerade Hochkonjunktur – verbot die Synode von Loadicea, dass Christen „die Engel verehren und einen Engelskult ein-

BPK führen“. Weil sich der Volks- Schutzengel*: Jeder Zehnte hat schon einen gesehen glaube jedoch immer wieder den spirituellen Wesen zu- licht strahlenden Favoriten der Volksfröm- wandte, warf die Synode von 745 den migkeit bekennt. Erzengel Uriel kurzerhand aus dem Him- Jeder zweite Deutsche, meldet die Ka- mel; er stand unter Verdacht, ein Dämon tholische Nachrichten-Agentur, ist fest da- zu sein. von überzeugt, dass er einen persönlichen Uriel ist bis heute nicht richtig rehabili- Schutzengel hat. Nach einer Forsa-Um- tiert – dabei wird über diesen braven frage ist jeder zehnte Erwachsene ganz Gottessohn schon in den ganz alten Schrif- sicher, dass er schon einen gesehen oder ten („Apokryphen“) nur Gutes berichtet. sogar angefasst hat: weiß gekleidet, in Er hat das Tor zum Garten Eden mit sei- strahlendem Licht, unbewaffnet, eher nem Flammenschwert bewacht und galt weiblich als männlich. Gottes Straf- und außerdem als Herrscher über Erdbeben, Racheengel haben sich offenbar lange nicht Stürme und Vulkane, die Kunst und die blicken lassen. Wissenschaft. Nur ob er vier oder sechs Im kommenden „Jubeljahr“, das der Va- Flügel hat, ist nach wie vor ungewiss. tikan mit einer dicken Zeitschrift namens Eigentlich stehen Uriel sechs Flügel zu, „Tertium Millennium“ (Drittes Jahrtausend) denn er gehört den beiden ranghöchsten begrüßt, sind die Schutzgeister besonders Engel-Kasten an, den Seraphim und den wichtig. Der Papst empfiehlt, sich ihnen Cherubim. Die himmlische Gesellschaft ist „häufig im Gebet anzuvertrauen“, denn so nämlich keineswegs klassenlos. Sie kennt würden „die schönen Worte des heiligen eine althergebrachte Hierarchie mit neun Basilius“ (330 bis 379) wahr: „Jeder Gläu- Rangklassen. Karol Wojtyla erläutert den bige hat einen Engel als Beschützer Sachverhalt milde: Die heiligen Texte ver- rieten, „dass diese Personenwesen, fast * Lithografie (um 1875). wie in Gesellschaften gruppiert, sich nach

der spiegel 51/1999 193 Wissenschaft

Ordnungen und Abstufungen chenlehrer war sicher, dass auch jedes Tier unterteilen, entsprechend dem himmlischen Schutz genießt. Maß ihrer Vollkommenheit und Andere Gottesmänner ließen die Popu- den ihnen anvertrauten Auf- lationsdichte im Himmel weiter anwach- gaben“. sen. Sie schrieben auch Pflanzen, selbst Der Prophet Jesaja hat über- Tautropfen eigene Engel zu. Ihre Gesamt- liefert, wie die Seraphim die ae- zahl mag deshalb mit „unendlich“ recht rodynamischen Probleme ihrer zutreffend beschrieben sein. Sechsflügligkeit lösen: „Mit zwei- Wie diese „Myriaden“ geschaffen wur- en deckten sie ihr Antlitz, mit den – auf einen Schlag oder nach und nach, zweien deckten sie ihre Füße und bedarfsgerecht? –, ist göttliches Geheimnis. mit zweien flogen sie.“ Eine geschlechtliche Vermehrung kommt Zu dem Problem, warum spi- jedenfalls nicht in Betracht. Engel haben rituelle Wesen, eigentlich ja un- keinen Sex, das gilt als gesichert. abhängig von Raum und Zeit, Wer im Himmel wohnt, ob als Engel von überhaupt Flügel brauchen, ge- Anbeginn oder als Mensch, dessen Seele in ben weder der Papst noch seine die Ewigkeit aufgestiegen ist, der wird und Angelologen Auskunft. Gesichert bleibt ledig. Niemand, so hat Jesus seinem ist nur, dass der jüdische Pro- Apostel Matthäus verraten, wird nach der phet Hesekiel die Flügel der Che- Auferstehung „freien noch sich freien las- rubim laut hat rauschen hören sen“. Schon deshalb, weil alle Engel ge- „bis in den äußersten Vorhof wie die Stimme des allmächtigen Auch Hussein und Milo∆eviƒ Gottes, wenn er redet“. profitieren vom Begleitschutz der Er und etliche andere Zeit- zeugen zählten jeweils vier Flü- himmlischen Heerscharen gel pro Cherubim sowie vier Hände. Das erweist sich vor al- schlechtslos sind, jedenfalls nach Karol lem dann als praktisch, wenn sie Wojtylas Erkenntnissen. mit Gottvater unterwegs sind. Den ersten Päpsten galten die Engel ge- Denn die Cherubim, wie ihr wöhnlich als männlich. Manche Darstel- Schöpfer wohnhaft im siebten lung aus alter Zeit zeigt sie mit Rausche- Himmel, sind Gottes Transport- bärten. Im sinnenfrohen Mittelalter ging geschwader. Sie halten den Herrn der Trend dann eher in Richtung Frau oder mit ihren vielen Händen beim Kind, beide meist ziemlich leicht bekleidet, Start gut fest, und ab geht die wenn überhaupt. Reise, „schwebend auf den Fitti- Vor einigen hundert Jahren häuften sich chen des Windes“, wie es im Al- in der Literatur auch die Berichte, dass ten Testament heißt. fromme Männer bei ihrer Ankunft im Him-

Wie viele Köpfe, alles in allem, AKG mel von attraktiven Engelinnen begrüßt die himmlischen Heerscharen Engelsdarstellung*: Geschlechtslose Wesen ohne Sex wurden, mit einer herzlichen Umarmung zählen, ist strittig. Auf alle Fälle und so weiter. sind es sehr viele. Weil nach katholischer sein und Slobodan Milo∆eviƒ profitieren, Vor diesem Irrglauben kann der jetzige Lehre jeder Mensch auf Erden einen wie sich zeigt, vom himmlischen Begleit- Papst nur eindringlich warnen. Es handelt Schutzengel hat – und nicht etwa nur jeder service. sich dabei um Traum-Illusionen des Satans. Katholik – sind derzeit mindestens sechs Wenn Thomas von Aquin (1226 bis 1274), Der Fürst der Finsternis störe die Him- Milliarden unterwegs. Auch Saddam Hus- den man wegen seiner Liebe zu den Engeln melfahrt gläubiger Seelen bis zuletzt. Des- auch „Doctor Angelicus“ nennen darf, mit halb ist ein vertrauensvolles Verhältnis zum * Gemälde „Auf Engelsflügeln“ von Wilhelm List (1864 seiner Lehre Recht hat, erhöht sich der En- Schutzengel so wichtig, gerade im Heili- bis 1918). gel Schar gewaltig. Dieser bedeutende Kir- gen Jubeljahr 2000. Hans Halter Puzzleteile zu einem gigantischen PSEUDOWISSENSCHAFT Ölpanorama zusammen. Der aufstrebende Ölmagnat ist Durchbrochener ein Anhänger des kreationistischen Weltbilds, jener hochgetunten Ver- sion der Schöpfungsgeschichte, die Stöpsel den Bibeltext mit ausgesuchten wis- senschaftlichen Fragmenten aus- Nach eifrigem Bibelstudium schmückt und häretisches Gedan- kengut wie Evolutionslehre und glaubt ein texanischer Industrieller Kosmologie standhaft ignoriert. zu wissen, wo die größten Nach kreationistischem Verständ- Erdölvorkommen der Welt liegen: nis ist die Erde erst 6000 Jahre alt. unter dem Toten Meer. Auf ihrem heißen Kern wabert eine Ölschicht sowie eine Wasserschicht, ch gebe dir verborgene Schätze und und darauf treiben die Kontinental- Reichtümer, die im Dunkel versteckt platten, die praktischerweise am Isind“, verkündete Gott der Herr im Toten Meer zusammentreffen. Buche Jesaja. Bis vor kurzem ahnte nie- In dieser Simpelwelt aus dem Bi- mand, welche Güter er da verspricht. Doch belkindergarten erklärt sich für Ste- der bibelfeste texanische Unternehmer phens auch das Schicksal des Sün- Hayseed Stephens, Mehrheitsaktionär der denpfuhls von Sodom und Go- Ölfirma Ness Energy International Inc., morrha: Der Herrgott war ziemlich glaubt nun zu wissen: Der Allmächtige sauer und ließ die Erde beben. Das meinte schwarzes Gold. Petroleum entzündete sich, es reg- Die Heilige Schrift, geologische Daten nete „Schwefel und Feuer“ auf die und ein göttlicher Wink mit dem Zaunpfahl Verderbten.

deuten für ihn darauf hin, dass unter der R. ROSEN / SABA Im Südwesten der Salzlache südwestlichen Ecke des Toten Meeres das Ölsucher Stephens am Toten Meer schmolz die Hitze das Felsgestein „größte Ölfeld der Erde“ vorborgen liegt. Schwefel und Feuer auf die Verderbten prompt zu einem gewaltigen Salz- Religiös motivierte Phantasten gibt es pfropfen – ein alchemistisches Wun- viele, doch Stephens hat vor wenigen Wo- göttlicher Fügung: Als der Texaner mit an- der, das der Schulchemie verschlossen chen in Österreich bereits eine über 16000 deren Geschäftsleuten 1982 Israel besuch- bleibt. Der gigantische Salzklumpen ver- Quadratmeter große Ölbohrinsel gekauft, te, unterhielt er sich mit dem damaligen schloss fortan die Ölquellen, und das einst die bis zu neun Kilometer tiefe Löcher Ministerpräsident Menachem Begin über für Israel bestimmte Erdöl sprudelt seither bohrt. Im April 2000 soll der biblische die Möglichkeit der Erdölexploration. aus den Bohrlöchern der arabischen Nach- Reichtum angezapft werden. Geschätzte Doch der Politiker hatte – wie auch die barstaaten. Projektkosten: 30 Millionen Dollar. meisten studierten Geologen – von Ölvor- Doch ist der Stöpsel erst einmal mit te- Es gleicht einem Wunder, findet der Te- kommen in seinem Hoheitsgebiet noch nie xanischer Hilfe durchbrochen, wird das xaner, dass noch niemand nach dem Schatz etwas vernommen. schwarze Manna wieder fließen, glaubt im Salzsee gesucht hat. Denn im Buch Ge- Da reichte Stephens ihm seinen breit- Stephens. nesis steht über die Gegend von Sodom krempigen Stetson und – oh, Wunder! – Aber auch den Zoff mit den Nachbarn und Gomorrha – dem heutigen Südteil des der Cowboyhut saß wie angegossen. sieht er schon voraus: Das Tote Meer mar- Toten Meeres – zu lesen: Sie war „voller Begin, so kolportiert Stephens, habe er- kiert den tiefsten Punkt der Erde – rund Erdpechgruben“, so groß, dass selbst Kö- staunt gemeint: „Vielleicht sind Sie ja der 800 Meter unter dem Meeresspiegel an der nige „dort hineinfielen“. Mann, der für uns Öl finden soll.“ niedrigsten Stelle. Wird dort erst einmal Die Lizenz, im Heiligen Land den Mee- Zwei Stunden später habe Gottvater das Öl abgepumpt, fließt der kostbare Stoff, resgrund zu durchlöchern, hat Stephens dem Texaner die Lage des Ölfelds offen- der simplen Logik und dem Gefälle fol- längst in der Tasche; und auch dieses glück- bart. Seit jenem Tage fügen sich vor Ste- gend, unweigerlich ins Gelobte Land liche Geschick verdankt er, wie er meint, phens Augen die entlegensten Fakten wie zurück. Hubertus Breuer Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite Szene Kultur

LITERATUR Schöne Bescherung rei Tage nach Weihnachten, so pro- Dphezeit die aus dem Koma erwach- te Karen, wird die Welt untergehen. Klar, dass ihr niemand glaubt. Auch klar, dass ein Exzentriker wie der kanadische Schriftsteller Douglas Coupland, 38, die Menschen tatsächlich einschlafen lässt. Nur Karen und ihre alte Vorort-Clique bleiben wach. Nicht, dass es sie oder ei- nen ihrer Freunde stört, wie ihr Planet verrottet. Sie alle sind Mitte dreißig und waren von ihrem früheren erfolglosen Dasein ohnehin frustiert; nun können sie wenigstens in aller Muße banale Videos gucken. Bis der Geist eines alten Schulfreundes auftaucht: der hübsche Footballspieler Jared, der schon mit 16 Jahren starb. Nun kommt er als eine Mischung aus Luke Skywalker und Jesus

zu ihnen zurück, um / OSTKREUZ RÖTZSCH J. sie zu bekehren. Sie Kleinaktionäre im Berliner Hotel Adlon seien, rügt er, schon vor der Apokalypse in FOTOGRAFIE Lethargie, Selbstmit- leid und Zynismus ver- fallen. Und bevor er Losgelöst in Hellersdorf die Menschheit wieder auferstehen lässt, müs- o sonst schwingt die Sandale derart losgelöst von der Erdenschwere sozialis- sen sie versprechen, Wtischer Einheitsparaden wie auf der Berliner Love-Parade, wenn die Ossis los- künftig kritischer mit raven. Auch Flamenco-Grazien in Berlin-Hellersdorf, weizenblass und flachsblond sich und der Gesell- wie überall in deutschen Landen, trauen sich hinreißend unbefangen, mit Haut und schaft umzugehen – Haar südamerikanisches Temperament zu demonstrieren. Mal ist es ein ironischer, und sich auch bei Langeweile kein Hero- mal ein melancholischer Blick, mit dem 14 Fotografen im Auftrag der Münchner in mehr zu spritzen. Volkshochschule zehn Jahre nach dem Mauerfall unter dem Titel „Aus eigener Sicht Coupland meint es gut, er will seiner II“ die Eigentümlichkeiten ihrer Landsleute in den Blick genommen haben. Mit Ter- Generation – mal wieder – den Spiegel rier und Kanapee wird selbst eine Kleinaktionärsversammlung im Hotel Adlon zum vorhalten. In „Generation X“ hat er vor optischen Ereignis (bis 6. Februar in der Aspekte Galerie im Münchner Gasteig). neun Jahren das Lebensgefühl der Twens beschrieben. In „Girlfriend in a Coma“ sind seine Protagonisten älter, aber nicht erwachsener geworden. Nur übertreibt der Autor, wenn er am kol- BIOGRAFIEN eine Restaurantkette starten: „Aretha’s lektiven Gewissen nagt. Gemeint ist we- Chicken and Waffle“. Das verkün- niger das nicht ganz so finale, aber dra- Arethas Restaurant det die 57-jährige Sängerin in ihrer matische Weltende. Auch nicht, dass Ka- Autobiografie, die kürzlich in den ren während des Komas eine Tochter ie mit 15 Grammy-Auszeichnun- USA herauskam. Die Sängerin schreibt bekommt, die sie erst nach 18 Jahren Dgen gekrönte Königin des sich, wie in offiziellen Biografien kennen lernt. Es geht um die holly- Soul, Aretha Franklin, will in Detroit üblich, ihr Leben schön. Dass sie mit woodmäßige Tränendrüsen-Taktik, um 14 als Pfarrerstochter ihr erstes Baby die sentimentale Euphorie, mit der die bekam, nennt sie „einen Segen“. Offe- gemeinschaftliche Läuterung vollzogen ner berichtet Aretha Franklin über wird und alle schwören, sich selbst ihre Affären, so mit Temptations- und dazu die ganze Welt zu retten. Sänger Dennis Edwards: „Er war so Trotzdem: Das Buch, in dem sich zwei sexxxxxy“. Ihr wohl bekanntester Song Erzähler geschickt abwechseln, um „Respect“, von Otis Redding, wurde 19 – mal exzessive, meistens aber 1967 zu einer der Hymnen der düstere – Jahre zu schildern, ist auch schwarzen Bürgerrechtsbewegung – einfach unterhaltsam: eben wie ein ge- über Politik schreibt sie dennoch schickt inszenierter Hollywood-Film. fast nichts. Wichtiger ist der sinnen- frohen Diva das Essen, eine besondere Vorliebe hat sie für Schweinefüße Douglas Coupland: „Girlfriend in a Coma“. Aus dem

Amerikanischen von Tina Hohl. Hoffmann und Cam- CORBIS / INTER-TOPICS und „fettige Hamburger“. Demnächst pe, Hamburg; 352 Seiten; 39,90 Mark. Aretha Franklin 1968, 1998 bei „Aretha’s“.

der spiegel 51/1999 199 Szene

REGISSEURE „Ein bisschen Wirbel“ Leander Haußmann, 40, über den Er- folg seines Kinodebüts „Sonnenallee“

SPIEGEL: Ihr Film steuert auf die Zwei- Millionen-Zuschauer-Marke zu. Wollen Sie nun in „Sonnenallee II – IV“ das Le- ben Ihres Helden Micha weitererzählen? Haußmann: So wie es Truffaut mit An- toine Doinel gemacht hat? Nee, das wäre langweilig. Außerdem verbitte ich mir, auf Ost-Themen abonniert zu werden. SPIEGEL: Selbst die SPD hat ihren jüngsten Parteitag an Berlins Sonnenallee gelegt. Haußmann: Echt? Das ist aber peinlich. Jarre-Video „Die zwölf Träume der Sonne“ SPIEGEL: Welche Filmpläne haben Sie? Haußmann: Ich werde mit dem Produzen- SPEKTAKEL punkt war da- ten Claus Boje eine Firma gründen und her, dass sie Filme machen, die ich schon immer ma- zwölf Träume chen wollte, darunter einen Horrorfilm. Träume vor den hat, die ich auf MÜLLER T. SPIEGEL: Bei dem surreale Weise Jean-Michel Jarre sich Menschen im präsentiere.“ Wald verirren? Pyramiden Das Konzert, bei dem auch der Kairoer Haußmann: Nicht im Opernchor auftritt, beginnt mit dem Wald. Ich habe „Blair ine Computer-Animation gibt es letzten Gebet des alten Millenniums: Witch Project“ noch Eschon: Laserkanonen werfen gigan- „Musiker und Publikum begleiten dann nicht mal gesehen. tische Bilder auf die Pyramiden von Gi- die Sonne in ihren ersten Tag im neuen SPIEGEL: Träumen zeh, bunt-flackernde Scheinwerfer ver- Jahrtausend.“ Mit seinen Live-Spekta- Sie von Hollywood? färben die Steine. Auf Einladung der keln hat Jarre es schon früher ins Guin-

ACTION PRESS ACTION Haußmann: Nein. ägyptischen Regierung hat der französi- ness-Buch der Rekorde geschafft – zu Haußmann Wie wär’s denn, sche Synthesizer-Künstler Jean-Michel seinem Moskauer Konzert 1997 kamen wenn wir in Europa Jarre, 51, für die Silvesternacht ein gi- 3,5 Millionen Menschen. Das Millen- ein bisschen Wirbel machen würden? gantisches zwölfstündiges Konzert mit niumskonzert hat Chancen auf mehr Außerdem wissen Sie doch: Ich bin ein dem Titel „Die zwölf Träume der Son- Zuhörer: Es wird im Fernsehen und im Ossi. Und die können nun mal kein Eng- ne“ konzipiert. „Die Legende sagt, dass Internet übertragen. Einige der Jarre- lisch. Ich möchte nicht, dass man mich die Sonne jede Nacht durch zwölf Tore Kompositionen erscheinen außerdem wie einst Ernst Lubitsch am Set auslacht. fährt“, erklärt Jarre, „mein Ausgangs- im Januar auf CD.

Kino in Kürze

„Himalaya“. Mit diesem Film be- war zu einem amourösen Kurz- wirbt sich erstmals das Königreich trip. Auf dieser absurden Prämis- Nepal um einen Hollywood- se jedenfalls beruht das zähe, von Oscar: Das technische Team seiner eigenen Tragik äußerst er- stammt aus Frankreich, wie der griffene Melodram, in dem sich Regisseur Eric Valli, der als Witwer (Harrison Ford) und Wit- Dokumentarfilmer reichlich Er- we (Kristin Scott Thomas) der da- fahrung mit Land und Leuten hingerafften Abenteurer zusam- gesammelt hat, doch die Laien- men auf die Suche nach Spuren darsteller sprechen (im Original) des sexuellen Doppellebens ihrer Tibetisch. Vallis Film spielt in der Gatten machen. Dass die Witwe abgeschiedenen, von Tibet ge- eine blasierte Upperclass-Politi- prägten Hochgebirgsregion Dol- kerin ist, er hingegen ein raubau-

po, deren Einwohner noch immer ARTHAUS ziger Polizist mit Stoppelhaaren mit Yak-Karawanen Salz in ferne Szene aus „Himalaya“ und Ohrstecker, macht die Lie- Täler transportieren. Die Hand- besgeschichte nicht glaubhafter, lung ist schlicht, das Ambiente pittoresk, die Dramatik von die sich zwischen den Trauernden entwickeln soll. Filmemacher Landschaft, Wetter und Urnatur aber überwältigend. Sydney Pollack („Jenseits von Afrika“) hatte offenbar eine tief schürfende Studie über die Unwägbarkeiten des menschlichen „Begegnung des Schicksals“. Was kann schlimmer sein, als Herzens im Sinn – zu sehen aber sind nur zwei ratlose Dar- einen geliebten Ehepartner bei einem Unfall zu verlieren? Fest- steller, die vergebens ihren Weg durch ein Gestrüpp von Pathos zustellen, dass er starb, als er mit seiner Geliebten unterwegs und Pseudoweisheiten suchen.

200 der spiegel 51/1999 Kultur

POP lich geben die Damen inzwischen den Ton an: 1997 sind in den USA, dem größ- Am Rande Emanzipation am Mikro ten Musikmarkt der Welt, erstmals mehr Platten von Frauen als von Männern ge- u Anfang des Jahrhunderts, als die kauft worden. Dass sich seit Beginn des Noch Hummer, ZMusikindustrie langsam in Bewe- Jahrhunderts einiges geändert hat, bele- gung kam, wurden Frauen benachteiligt, gen wissenschaftliche Untersuchungen: Hauser? weil einige Tontechniker behaupteten, Danach sind Frauenstimmen im globalen dass die hohen weiblichen Stimmen Durchschnitt tiefer geworden – vielleicht Seit Jahren kennen schlecht aufzunehmen seien. Obwohl auch deswegen, weil Piepsstimmen nicht wir das „Literari- sich das als Märchen herausstellte, haben zum Bild der starken Frau passen. sche Quartett“; vor es Frauen in der Musik immer kurzem stellte sich schwer gehabt. Die amerikani- ein „popkulturel- sche Spezialisten-Firma „Rhino les Quintett“ ausge- Records“ hat nun die aufwendi- suchter Nachwuchs- ge CD-Box „Respect: A Century of Women in Music“ (Edel Con- schnösel vor, und traire) zusammengestellt. Der nun melden sich die unvermeid- Versuch einer geschlechtsspezifi- lichen Kronkorken-Clowns der schen Musikgeschichte ist durch- Berliner Republik zu Wort, einge- aus geglückt: Die Auswahl reicht rahmt von einem „Kulinarischen von Aunt Molly Jacksons Blues Quintett“. Hauser & Kienzle le- über Billie Holidays Jazz und gen ihr neuestes Werk vor: „Kü- den souligen Pop von Dusty chenkabinett. Essen und Trinken

Springfield bis zum Rock von INTER-TOPICS bei Rechten und Linken“. Liz Phair. Und auch wirtschaft- Dusty Springfield (um 1964) Während sich das popkulturelle Quintett noch ganze drei Tage im Berliner Hotel Adlon einschloss, KUNST um Fridericianum ausgestellt (bis 27. um zu keinem Ergebnis zu kom- Februar). Eine verwegene Synthese aus men, versammelten Hauser & Dänemark nach Anachronismus und Modernität: Nør- Kienzle ihre drei Mitesser Rezzo gaard, 52, früher mehr als Bildhauer Schlauch, Otto Graf Lambsdorff Strich und Faden und Performance-Akteur bekannt, schlägt einen Bogen von der Weltesche und Hanjo Seißler lediglich für ationalgeschichte ist nicht gerade Yggdrasil, an deren Wurzel die Nornen einen Abend an der Tafel im Nder letzte Hit, und Bildteppiche hocken, bis zur Formelwelt moderner Brandenburger Hof – um zu be- sind auch leicht aus der Mode. Sei’s Wissenschaft. Er drängt historische Ge- weisen, wie leicht es ist, kosten- drum: Der dänische Künstler Bjørn stalten und Begebenheiten in einer Art los verwöhnt zu werden. Wir ha- Nørgaard hat einen Gobelinzyklus ent- Comic-Stil zu wimmelnden Simultan- ben verstanden: Die Berliner worfen, der die Historie seines Landes szenen zusammen, zitiert gern aus der Republik ist ein Käsegratin auf nach Strich und Faden in 17 bunten Bil- Kunstgeschichte und lässt auch einfluss- Kresseschaum, eine luxurierend dern spiegelt. Als Geschenk patrioti- reiche Ausländer wie Bismarck oder herumlümmelnde, Atlantikaus- scher Sponsoren für Schloss Christians- Beuys auftreten. Über alle Epochen borg in Kopenhagen soll die Frucht verlässlich mit dabei, als könnte es nie tern und Riesenhummer-Suppe zehnjähriger Arbeit zum 60. Geburtstag anders sein: die dänischen Monarchen. schlürfende Selbsthilfegruppe, von Königin Margrethe II. im Frühjahr die den Anschluss ans Welt- übergeben werden; zuvor ist das „Jahr- niveau sucht – eitel wie eine kan- hundertwerk“ noch im Kasseler Muse- dierte Marone und aufgeblasen wie ein bretonisches Hochzeits- baiser: Deutschland einig Schlab- berland. Der Aufstieg von Lebensart & Schnöseltum verläuft proportio- nal zur Vermehrung feinsinniger Quintette, die stolz darauf sind, dass sie Löffel und Gabel halten, Champagner trinken und neben- her auch noch eine Zigarre eigenhändig anzünden können. Jetzt, rechtzeitig zum Jahrtau- sendwechsel, erfährt die Welt: Wir sind wieder da – im Dialog mit

FOTOS: MUSEUM FRIDERICIANUM KASSEL FOTOS: getrüffelter Salbeimousse. Nørgaard-Teppiche

der spiegel 51/1999 201 Kultur

HAUPTSTADT Grölen in der Sandkiste Berlins Theater erwachen aus langer Lähmung. Im Januar zeigen die neuen Intendanten Thomas Ostermeier an der Schaubühne und Claus Peymann am Berliner Ensemble endlich ihre ersten Premieren. Doch schon jetzt ist ein erbitterter Verdrängungswettbewerb um die Zuschauer entbrannt. Die Theaterchefs bepöbeln sich öffentlich.

amen über Namen, dass es nur so Nun muss sich das Großmaul, das es in Ende Januar wird sich erweisen müssen, schallt und raucht; alte Hasen, jun- Wien gewohnt war, als skandalträchtiger ob das Theater-Märchen auch real funk- Nge Hüpfer, abgekämpfte Recken; Alleinunterhalter in der Medienmanege tioniert. Dann fackeln Ostermeier und sei- neues Personal, alte Probleme und jede aufzutreten, im Berliner Chor der alten ne fürs Tanztheater zuständige Co-Chefin Menge Pöbeleien aus dem Hinterhalt: Theater-Knaben erst noch in die erste Rei- Sasha Waltz, 36, ein Feuerwerk von Ur- Theater macht wieder Spaß in Berlin, weil he grölen. und Erstaufführungen ab. Am 22. steht es endlich wieder rund geht im lange Zeit Ostermeier stemmte in der „Baracke“, „Körper“, ein bodyzentriertes Tanzwerk verschnarchten Bühnenbetrieb. der ärmlichen Experimentierbühne des an- von Waltz, auf dem Plan. Zwei Tage später Zu Beginn des magischen Jahrs 2000 sonsten behäbigen Ost-Berliner Deutschen folgt Thomas Ostermeier (Schaubühnen- werden die Billetts neu gemischt. Die Theaters (DT), mit jungen, unbekannten Jargon: Omas Tostermeier) mit einem dia- Platzhirsche bangen um ihren Status, die Schauspielern krudes, angelsächsisches Ge- logarmen Stück des Schweden Lars Norén: neuen Intendanten blasen zur Jagd und genwartstheater in die umfunktionierten „Personenkreis 3.1“. sich mächtig auf, und in der Versenkung Baucontainer. Er zeigte Provozierendes An die vier Stunden werden 15 Schau- präpariert sich schon der allerneueste wie die Inzest-Farce „Fette Männer im spieler in über hundert Kostümen in ei- Nachwuchs für den ersten Auftritt. Noch ist Rock“ und bescherte mit der Uraufführung nem Ambiente agieren, das das Theater als beim Hauptstadt-Spektakel der Vorhang des Stricherstücks „Shoppen und Ficken“ „vielleicht ein Parkhaus, das in der City ab- zu und viele Fragen offen, aber eines ist si- Bildungsbürgern einen Vorwand, Unaus- gerissen werden soll“, beschreibt. Das dra- cher: Nach Silvester 1999 hören Berlins sprechliches in bester Gesellschaft in den matische Personal des Abends stellt „Fi- Bühnenuhren auf, im unterschiedlichen Mund zu nehmen. xer, Nutten, Obdachlose, Penner und Aus- Takt von Ost und West zu ticken. Für Ostermeiers Karriere war die Arbeit steiger“ dar sowie „psychisch Kranke, Zwei der traditionsreichsten Häuser Ber- an Mark Ravenhills „Shoppen und Ficken“ Langzeitarbeitslose, Alkoholiker, Mäd- lins – beide wie Dornröschens Schloss von der Durchbruch und fürs deutsche Theater chenhändler und ihre Kunden“. einer dichten, öden Dornenhecke aus Lan- eine Zeitenwende. Ostermeier wurde – mit Ein Stück so weit weg von der alten geweile umrankt – haben vom Senat kuss- drei Mitstreitern – in die künstlerische Lei- Schaubühne, mit ihren minutiösen Seelen- freudige Märchenprinzen verordnet be- tung der Schaubühne berufen. Ein Job- erkundungen, mit ihren weihevollen Mari- kommen. Blutjung und mutig der eine, in wunder, ganz so, als sei ein schmuddeliger vaux- und Handke-Exerzitien, mit Botho vielen Kämpfen alt geworden, aber immer Fahrradkurier zum Vorstandsvorsitzenden Strauß und Tschechow-Exkursionen, wie noch draufgängerisch der andere. eines Konzerns avanciert. ein Trödelmarkt an der Straße des 17. Juni In der Schaubühne am Lehniner Platz, da, wo der Ku’damm nicht mehr so auf- dringlich westlich glitzert, herrscht nun Thomas Ostermeier, 31. Ein Jüngling mit ernsten Augen und blondem Kurzhaar. Ob- wohl in der Heide geboren und in Bayern aufgewachsen, hat er doch sein ganzes bis- heriges Theaterleben im Berliner Osten ver- bracht und in nur zwei Jahren den Sprung von einem der vielen, verheißungsvollen Regie-Talente zu einem der wichtigsten Theaterchefs der Republik geschafft. Im Osten, im anderen Dornröschen- schloss der Stadt, bereitet sich Claus Pey- mann, 62, auf seinen Einstand als Chef des Berliner Ensembles (BE) vor. Shooting-Star kann Peymann beim besten Willen nicht mehr werden. 13 Jahre lang hauste er zu- letzt in Wien als Burg-Herr, gebot über eine große Klappe, einen satten Etat, und wenn er hustete, reichten ihm die öster- reichischen Feuilletons ehrfurchtsvoll die vergifteten Schnupftücher. Vorbei.

Schaubühnen-Probe „Personenkreis 3.1“ Nutten und Fixer statt Handke-Exerzitien 202 von einer funkelnden Cartier-Boutique. In der großen Zeit dominierten an der Schau- bühne die Stars am Regiepult und auf der Bühne. Peter Stein, Luc Bondy oder Klaus Mi- chael Grüber inszenierten. Corinna Kirch- hoff, Jutta Lampe oder Edith Clever waren die Göttinnen des getunten Verfeinerungs- theaters. Die Diven haben abgedankt, und Ostermeier beschäftigt nun ein 21- köpfiges Schauspiel-Ensemble mit einem Durchschnittsalter von 29,4 Jahren. Gäste engagiert er nur, „wenn wir alte Leute brauchen“. In Peymanns Berliner Ensemble dür- fen die Alten noch ran. Das BE, einst Weihestätte Brechts und Ost-Berlins in- tellektuelles Theater-Mekka, lag ähnlich darnieder wie die Schaubühne. Ein Fünfer- Direktorium mit so unterschiedlichen Tem- peramenten wie Peter Zadek, Heiner Mül- ler und Peter Palitzsch hatte sich heillos zerstritten, eine Interims-Intendanz des Schauspielers Martin Wuttke verschleppte die Misere nur unwesentlich. Das BE war am Ende, der Spielplan leer gespielt. Peymanns Frischzellenkur für die eins- tige DDR-Bühne heißt nun „Feier des Geis- tes“. Wo die Konkurrenz das Bunte, Grel- le, Obszöne veranstaltet, wo Randexisten- zen die Bühne beherrschen, da kommt Claus der Große rotzfrech mit einem Re- make: Übernahmen aus Wien, Bewährtes in der Tradition des aufklärerisch-kritischen Theaters wie die Stücke von Thomas Bern- hard – in der ersten Spielzeit gleich viermal vertreten – und altgediente Haus-Regisseu- re und -Autoren wie Thomas Brasch, 54, Klaus Pohl, 47, und der 85-jährige George Tabori. Dessen Projekt „Brecht-Akte“, ein Stück über Bert Brecht im amerikanischen

P. RIGAUD / AGENTUR ANZENBERGER RIGAUD / AGENTUR P. Exil während der McCarthy-Ära, eröffnet BE-Intendant Peymann: „Wenn es nicht brummt, gehe ich in den Ruhestand“ am 8. Januar die Peymannsche BE-Ära. Konkurrent Ostermeier gießt über so viel Altherren-Aktivität nur einen Kübel Hohn und Spott aus. Er könne nicht ver- stehen, „was diese alten Männer für einen Kampf kämpfen“, klagt er im Interview. „Was wollen sie denn?“, fragt er, „bevor sie ins Grab springen, noch mal auf ihrem ei- genen Grabstein tanzen?“ Peymann tanzt im Ballhaus Rixdorf. Dort in Neukölln, unweit vom kleinbür- gerlichen Hermannplatz, hat er seine Probebühne aufgeschlagen. Mit Therese Affolter und Traugott Buhre, zwei be- währten Peymann-Größen, probiert er ein Stück von Franz Xaver Kroetz: „Das Ende der Paarung“. Es geht im weitesten Sinne um den letz- ten Tag im Leben von Petra Kelly und Gert Bastian, die zuletzt auch von der eigenen, grünen Partei vergessenen Grünen-Politi- ker, die im Oktober 1992 erschossen in ihrem Bonner Haus gefunden wurden.Am 5. Februar kommt das Stück im BE heraus. Peymann ist melancholisch an diesem

A. DECLAIR SÖRGEL J. kalten Dezembertag. Sein Ziel ist be- Schaubühnen-Chef Ostermeier: „Was wollen die alten Männer?“ scheiden: „Wenn es in zwei Jahren im BE

der spiegel 51/1999 203 Kultur nicht brummt, gehe ich in den wohlver- stolz, werde es auch noch ein „konstrukti- ler Unterfütterung und wohldosiertem dienten Ruhestand.“ Das erinnert nicht ves Misstrauensvotum“ geben. Wenn die Chaos. ganz zufällig an den Schlachtruf des neu- Schauspieler mit der Wahl eines Regisseurs In seiner Volksbühne am Rosa-Luxem- en Peymann-Rivalen Frank Castorf aus je- unzufrieden sind, können sie ihn stürzen, burg-Platz, wenige Trambahnstationen nen Tagen, als dieser Anfang der Neun- allerdings nur, wenn sie mit „einer Mehr- vom BE entfernt, mischte er die Berliner ziger die Volksbühne übernahm und tön- heit von zwei Dritteln“ einen Gegenvor- Szene auf, fand schrille Theater-Typen wie te: „In zwei Jahren sind wir entweder schlag machen. Christoph Schlingensief und Johann Kres- berühmt oder tot.“ Für Peymann, den abgeklärten Macht- nik, die ihm zuverlässig die Skandale in- Peymann jedenfalls fühlt sich derzeit strategen, der die 68er und alle Folgen mit- szenierten, wenn er selbst auswärts Regie „frisch“ und wie „befreit von Wien“. Er und durchgemacht hat, ist das alles Kin- führte (zum Beispiel als Gastregisseur an wettert gegen die Konkurrenz – und wirkt derkram. Sein künstlerischer Gegner resi- Peymanns Wiener Burg) – egal: Castorf dabei, als müsse er sich die Attitüde des diert für ihn ohnehin nicht am Ku’damm, war in der Hauptstadt „sieben Jahre lang Maulhelden erst wieder antrainieren. Er sei sondern in der Ost-Berliner Nachbar- die Nummer eins“ (Peymannn). einer der dienstältesten und meistausge- schaft. Nun ist Peymann da, und die beiden Ar- zeichneten Intendanten Deutschlands, sagt beitskollegen von einst liefern sich per In- er, und dann läuft er langsam zu gewohn- terview giftige Wortgefechte. Castorf wirft ter Form auf, „sagen wir’s doch, wie es ist: dem Neuzugang aus Wien dessen hohes Ich bin der erfolgreichste überhaupt“. Alter vor, Peymann schlägt zurück („de- Schaubühne? Hat er hinter sich. Da hat pressiver Mann, der einem nur noch leid er schon in den Anfangstagen 1971 Hand- tun kann“) und vermutet, eigentlich hätte kes „Ritt über den Bodensee“ uraufge- Castorf gern das BE übernommen. führt. Das war noch am Halleschen Ufer, Frank Castorf, 48, sitzt derweil in seinem als vieles fast noch neu und das meiste gut holzvertäfelten Volksbühnen-Büro und grü- war. Und das Mitbestimmungsmodell, das belt darüber nach, wie er ohne den er- die Schaubühnen-Youngsters da nun wie- krankten Haus-Star Henry Hübchen den der einführen? Kalter Kaffee. Spielplan der nächsten Wochen retten kann. Bei Ostermeier bezieht jeder Darsteller Zu Peymann fällt ihm nur noch ein: „Der einen Einheitslohn von 6000 Mark, für je- hat einen Knall. Der Knall passt aber in die des Kind gibt’s ein paar hundert Mark ex- Stadt. Wenn er ihn künstlerisch verlängern tra. Und bevor ein Stück auf die Bühne kann, dann ist es gut.“ Das allerdings, lässt kommt, wird es durch die Mühlen kollek- Castorf ahnen, hält er für eher unwahr- tiver Begutachtung gedreht. Jeder Schau- scheinlich. Schließlich stelle er bei Peymann spieler darf, nein, muss sagen, wie er das einen „großen Grad an Verwöhntheit fest, Werk bewertet. Und auf langen Listen ent- die sich ausbreiten darf“.Außerdem gebe es steht so ein „Ranking“. Die Sieger werden da diesen „psychopathogenen Randbereich, inszeniert. in dem der sich aufhält“. Einmal im Monat wird zur Vollver- Im Ballhaus Rixdorf, wo Peymann sich sammlung getrommelt. Jeden Montag tref- zur Probe aufhält, äußert sich der Meister

fen sich alle Schauspieler, dienstags tagt das D. BALTZER zu den Anwürfen altersmilde. Das Gekab- Direktorium, donnerstags reden die Schau- Volksbühnen-Intendant Castorf bel zwischen den Kollegen, es sei doch nur spieler mit den Dramaturgen und Regis- Sieben Jahre lang die Nummer eins aus „Bewunderung, Eifersucht und Angst“ seuren, freitags erledigen Arbeitsgruppen entstanden, sagt der BE-Chef generös. den Rest, und samstags berät die Künstleri- Kaum war nämlich Peymanns Bestallung Da passt es gut, dass sich die beiden sche Leitung. Schon sollen erste Ermü- zum BE-Erben bekannt gegeben, da ent- stärksten Jungs in der Sandkiste gern ge- dungserscheinungen aufgetreten sein. Ba- wickelte sich schon ein schaurig-schöner gen jeden neuen Störenfried verbünden. sisdemokratie zehrt an Nerven und Kräften. Interview-Krieg mit Frank Castorf, dem Castorf und Peymann sind sich zum Bei- Nur zwei Entscheidungen sind fürs En- bislang unangefochtenen Vertreter des ver- spiel in einem Punkt einig: Die Sache mit semble tabu: die Besetzung eines Stücks wegenen aufmüpfigen DDR-Theaters nach dem Wilms ist verheerend. und die Verlängerung der Verträge. Dem- der Wende. Er mischte kühn und höchst Der Wilms heißt Bernd, ist seit fünf Jah- nächst, verkündet Thomas Ostermeier erfolgreich Unterhaltung mit intellektuel- ren erfolgreich Intendant des kleinen Ber- liner Maxim Gorki Theaters Erst nachdem die Erst- (441 Plätze), hat dort Harald ligisten-Intendanten Dieter Juhnke den Hauptmann von Dorn aus München, Frank Köpenick spielen lassen und Baumbauer aus Hamburg Ben Becker den Franz Biber- und auch Peymann beim DT kopf in „Berlin Alexander- abgewinkt hatten, kam Ra- platz“ und wird im Herbst dunski mit Wilms ins Ge- 2001 der letzten Bastion Ber- schäft. liner Repräsentationsschau- Als erstes hat er für sein spielerei vorstehen: dem neues Haus Konstanze Lau- traditionsreichen Deutschen terbach, 45, engagiert, eine in Theater in der Ost-Berliner Leipzig und Bremen erfolg- Schumannstraße mit seinen reiche Regisseurin; auch Hans 606 Plätzen. Neuenfels, 58, ein Regie-Stern Wilms, 59, so hatte es der des deutschen Theaters in ehemalige Berliner Kulturse- den siebziger und achtziger nator Peter Radunski gegen Jahren, soll bei ihm insze- den Widerstand fast aller nieren. Nicht ohne Genug- durchgesetzt, wird dort Tho- tuung verkündet Wilms, dass mas Langhoff, 61, ablösen, der Ostermeier zwar sein Schau- dem Haus mit dem benei- bühnen-Debüt mit einem denswert großen Ensemble Stück von Norén gibt, der kaum noch überregionalen Schwede aber für ihn und sein Glanz beschert hatte. DT ein Werk schreiben und auch höchstpersönlich insze- nieren werde. Und nicht ohne ange- strengte Freude und mit noch größerer Verwunderung registriert Wilms, dass sein Haus-Star Ben Becker in der nächsten Spielzeit an Pey- manns BE Molière spielen werde. Auch das Regie-Duo Ro- bert Schuster und Tom Küh- nel bekam in Wilms’ Maxim Gorki Theater seine erste J. SÖRGEL J. I. FREESE / DRAMA Chance. Mittlerweile insze- Intendant Wilms, Erfolgsproduktion „Berlin Alexanderplatz“ am Maxim Gorki Theater*: „Vierte Wahl“ nierten die beiden den „Faust“ in Frankfurt, leiten „Trostlos“ nennt Castorf die Persona- Der Gescholtene, der auch schon vor das dortige Theater im Turm (TAT) und lie, Peymann hält sie für „eine typische seiner Bestallung als DT-Chef immer et- gehören zum festen Gast-Stamm an der Berliner Provinzlösung“. Wilms, an ers- was besorgt aussah, hält sich bei Retour- Schaubühne. ten Häusern in Hamburg und München kutschen tapfer zurück, spinnt stattdessen Vielleicht, und das wäre dann die schöns- Dramaturg und später an zweiten Büh- in aller Ruhe seine Fäden und übt sich in te Pointe der Berliner Bühnen-Bataille, nen Chef (in Ulm und am Maxim Gorki masochistischem Understatement: „Rein zeigt ja ausgerechnet Wilms, der „gute, Theater), werde das DT schon noch statistisch gesehen bin ich vierte Wahl.“ mittlere Mann“ (Peymann) den jungen und zum „Stadttheater von Berlin-Mitte“ ma- alten Kollegen, wie man richtiges Metro- chen. * Mit Ben Becker und Regine Zimmermann. polen-Theater macht. Joachim Kronsbein Kultur

Mit Dichterlesungen, Kunstausstellun- gen und Konzerten machte er den Palazzo VILLA MASSIMO im 40 000 Quadratmeter großen Park zu einem Prunkstück des deutschen Auslands- Kulturbetriebs. Die Feuilletonisten liebten „Nach italienischer Art“ und lobten ihn dafür, die Deutsche Bot- schaft schickte begeisterte Depeschen. Jürgen Schilling, Chef der deutschen „Villa Massimo“ in Rom, Daheim freilich lösten die Aktivitäten liegt im Clinch mit Bundesbürokraten. Nun schickte ihn Minister des umtriebigen Institutsleiters Verstörun- gen aus. Denn Schilling ignorierte die Wei- Naumann in Zwangsurlaub – wegen schlampiger Abrechnungen. sung seiner Fachreferentin, sein neues „Nutzungs-Konzept“ endlich schriftlich zu formulieren. Wer nach Rom komme, kön- ne sehen, was für ein Konzept das sei. Ebenso freimütig wie leichtfertig setzte er sich über die Bestimmungen des deutschen Haushaltsrechts hinweg. Den Etat habe er „im Griff“, verkünde- te er schon 1994. Schließlich laufe „das hier nach italienischer Art: mit Tauschgeschäf- ten.Wenn wir kein Geld mehr haben, Räu- me zu streichen für eine Ausstellung, frage ich das Festival ,Romaeuropa‘, ob die noch jemanden schicken können. Im Gegenzug kann dann zum Beispiel ein Komponist, der hier wohnt, dort ein Konzert geben“. Schon 1997 sollte deswegen sein Vertrag nicht verlängert werden.Auf Betreiben der Ministerialen wurde seine Stelle neu aus- geschrieben. Doch durch direkte Interven- tion bei Innenminister Kanther schaffte es Schilling, die drohende Entlassung abzu- wenden. Die BMI-Beamten aber blieben hart- näckig. In ihrem Auftrag haben die Rech- nungshof-Prüfer nun unter dem Aktenzei- chen II 2-1998-1320 ein 47 Seiten langes Sün-

ARBITRAGGIO denregister erstellt. Neben Schilling wird Institutsleiter Schilling in Rom: Wut gegen die „Beamtenärsche“ auch dessen früherer Dienstherr Kanther kritisiert. „Auf Weisung der Hausleitung“ ls Gerhard Schröder im Herbst 1998 Jetzt haben die BMI-Beamten, wie es sei der Arbeitsvertrag verlängert und der Di- die Wahl gewann, freute sich Jürgen scheint, ihr Ziel erreicht: Auf Weisung Nau- rektor zudem besoldungsmäßig höher grup- ASchilling. Von Schröders Kulturbe- manns wurde Schilling vorläufig vom piert worden. Man habe ihm eine Nebentä- auftragten Michael Naumann erhoffte sich Dienst suspendiert. Begründung: Unregel- tigkeit erlaubt und nie geprüft, „inwieweit der Kunsthistoriker, seit 1993 Direktor der mäßigkeiten der Geschäftsführung, Ver- eine Vermischung von öffentlichem Amt „Deutschen Akademie Villa Massimo“ in stöße gegen die Verdingungsordnung, lie- und Nebentätigkeit vorliegen könnte“. Rom, mehr Verständnis und Unterstützung derlich begründete Taxirechnungen und Weiter lasten die Prüfer Schilling an, er als von den konservativen Federfuchsern Reisespesen sowie Illoyalität. habe 1998 „ohne dokumentierte Begrün- des CDU-geführten Innenministeriums Die Vorwürfe stammen aus einem Be- dung“, aber „mit Zustimmung der Leitung (BMI). richt des Bundesrechnungshofs, den die des Bundesministeriums“ eine private Doch Sozialdemokrat Schilling, 50, freu- Kulturbehörde eigens bestellt hatte. Am Wohnung in Rom angemietet, obwohl ihm te sich zu früh. Der neue Staatsminister vorletzten Dienstag übermittelten die eine Dienstwohnung auf dem Villa-Massi- erbte das alte Personal aus der BMI-Kul- Frankfurter Prüfer den Report nach Berlin. mo-Gelände zugewiesen worden war. Hier- turabteilung. Für Schilling zuständig blieb Zwei Tage später teilte Naumanns Justi- durch sei dem Bund „eine Belastung“ von dessen alte Feindin, die Kultur-Referentin ziar Göser dem Direktor der „Villa“ seine 80000 bis 100000 Mark entstanden. Gerti Peters. Und die hielt den ebenso vorläufige Beurlaubung mit. „Binnen zwei Penibel hält man Schilling, der aus seiner kreativen wie chaotischen Querkopf seit Stunden“ habe der sein Büro zu räumen, Abneigung gegen Buchhalter nie ein Hehl je für ungeeignet, das Institut in Rom zu danach dürfe er die Villa Massimo nicht machte, nun vor, er habe 18000 Mark, die leiten, in dem jährlich ein gutes Dutzend mehr betreten.Außerdem habe er über die im Haushalt für die Sanierung einer Mau- junger deutscher Künstler als Stipendiaten Sache Stillschweigen zu wahren. er vorgesehen waren, zweckentfremdet auf Staatskosten leben und arbeiten. Schilling, früher Direktor des Kunstver- ausgegeben, ohne die Anlässe im Einzelnen Für Schilling wiederum sind die Minis- eins Braunschweig und durch zahlreiche belegen zu können; auch habe er den Sti- terialen nur „Beamtenärsche“, über die er Publikationen als Fachmann für klassische pendiaten (mit der Bemerkung, er führe oft und lauthals schimpft. Seine Widersa- Moderne und Gegenwartskunst ausgewie- „keine Kaserne“) keine Quittungen über cherin Peters und deren Referenten We- sen, war vom damaligen Innenminister Ru- das ihnen überlassene Wohnungsinventar ber hatte er, so ist in einem amtsinternen dolf Seiters (CDU) ausgesucht worden. abverlangt. Vermerk festgehalten, schon einmal als Gleich nach seiner Berufung, Ende 1992, Mal habe der Direktor für 158 Mark ta- „Typen“ beleidigt, die in der Nazi-Zeit hatte er mit unbürokratischen Methoden gelang sein Auto am römischen Flughafen „Juden nach Auschwitz geschickt“ hätten. für frischen Wind gesorgt. Fiumicino stehen lassen, statt preiswerter

206 der spiegel 51/1999 Werbeseite

Werbeseite Kultur mit der Flughafen-Metro oder einem Taxi 1998 Schmidts Verwechslungsgeschichte zu fahren; mal habe er in Bonn ein Taxi be- „Rochade“ (36 Minuten, 31 000 Mark) nutzt, obwohl er auch mit dem Bus hätte FILM und 1999 Marc-Andreas Bocherts Sozial- fahren können. fabel „Kleingeld“ (15 Minuten, 45 000 Dass Schilling schwer behindert ist und Klare Ziele Mark). wegen seines geschwächten Immunsystems Rund 30 Studentenfilme aus aller Welt nicht in vollbesetzten Bahnen fahren darf, Jungregisseur Thorsten Schmidt werden jährlich in Los Angeles von einem interessierte die Prüfer nicht. Die Zusage Komitee gesichtet, das eine Vorauswahl des Innenministeriums, dass der Direktor, präsentiert seinen ersten trifft. Die fünf nominierten Werke laufen weil er auf einen Dienstwagen verzichtete, Kinofilm – bekannt wurde er anschließend in Vorführungen, zu denen jederzeit Taxi fahren und abrechnen dürfe, einst als Sieger bei alle Mitglieder der „Academy of Motion geißelten sie als „Verstoß gegen geltendes den Nachwuchs-Oscars. Picture Arts and Sciences“ (Ampas) gela- Reisekostenrecht“. den werden. Immerhin rund 300 Ampas- Wenn Schilling Druckaufträge erteilte, ei Thorsten Schmidt, 29, ging der Angehörige schauen sich die Filme an und habe er diese nicht ordnungsgemäß ausge- Rummel los, ehe er überhaupt nach stimmen ab. schrieben: Der Direktor ging immer zum BAmerika geflogen war. „Plötzlich „Die Studentenfilme“, glaubt Sieger selben Drucker, nur „weil der mir das qua- kam ein Anruf von irgendeinem aufge- Raymond Boy, 33, „brechen am stärksten litativ gut und pünktlich macht“. Musiker regten Manager“, erzählt der Regisseur, die Vorstellungen, die man in Amerika bezahlte er in bar (dazu der Rechnungshof: dessen erster abendfüllender Spielfilm vom deutschen Film hat.“ Für den „rich- „Dies lässt die Vermutung zu, das die Zah- „Schnee in der Neujahrsnacht“ diese tigen“ Auslands-Oscar wurde in den letz- lungen ‚schwarz‘ erfolgten“) und meint, so Woche in Deutschland gestartet ist, „und ten sechs Jahren nur ein einziger deut- würden „überall Musiker entlohnt“. der hat mich am Telefon gleich vollge- scher Film („Jenseits der Stille“ im Jahr Und für die Eingangstür stellte er Pfört- quatscht. Ich wusste überhaupt nicht, was 1998) nominiert. ner ein, die kein Deutsch sprachen, was im los war.“ Zwar besteht die Auszeichnung nur aus Urteil der Kontrollbeamten „für die Au- Los war folgendes: Schmidt hatte mit einer Reise nach Los Angeles samt Ver- ßendarstellung abträglich“ sei. seinem Kurzfilm „Rochade“, gedreht als leihung, Empfängen, Meetings, Besuchs- Schilling versteht die „Idioten“ nicht, und Abschlussarbeit an der Filmakademie programm und dem Treffen von Bran- die können mit seiner Arbeit nichts anfan- chengrößen – und doch gen. Über das Skizzenbuch eines Stipendia- hilft der Oscar enorm ten – provokativ leere Seiten –, von der Vil- bei der weiteren Lauf- la Massimo tausendmal gedruckt, mokierten bahn. „Mit dem Prädikat sich die Prüfer: „Ein solches Produkt ist in je- ,Studenten-Oscar‘ wird dem Schreibwarengeschäft in den unter- man eher gefördert“, sagt schiedlichsten Ausführungen zu erhalten.“ Ewa Karlström, die Pro- „Nach welchen Kriterien“ dort in Rom duzentin von „Abge- mit Kunst umgegangen wird, ist für die schminkt!“ (1994). Fast Oberbeamten aus Deutschland schlicht immer melden sich inter- „nicht nachvollziehbar“. Und so empfeh- essierte Agenten, und mit len sie, in sich schlüssig, den Kunstkrempel Sponsoren und Produ- auf ein Minimum zu reduzieren und ihn zenten lässt es sich für dafür ordentlich zu verbuchen. Die künst- die Preisträger ebenfalls lerische Arbeit könne doch zum Beispiel leichter verhandeln. dem Kulturreferenten der deutschen Bot- Schmidt traf in Los schaft „im Nebenamt“ übertragen, „die Angeles jenen Manager, Aufgaben der Verwaltung“ hingegen „ei- der ihn schon am Telefon nem angemessen eingestuften Verwal- einwickeln wollte – und tungsleiter übertragen werden“. der vermittelte ihn an Fein raus ist einstweilen die Beamtin eine Agentur. „Ein ganz

Gerti Peters. Sie habe, lobten die Prüfer, R. SIMONEIT netter Kontakt“, sagt er, „seit vielen Jahren immer wieder auf Ver- Nachwuchs-Oscar-Gewinner Schmidt (r.)*: Netter Kontakt „die rufen wöchentlich stöße des Direktors gegen Vorschriften des an, fragen, wie es mir Haushalts, gegen arbeitsrechtliche Ver- Ludwigsburg, den „Honorary Foreign geht, woran ich arbeite, und schicken mir pflichtungen und auf Fälle von Illoyalität Student Award“ gewonnen, einen Ehren- auch Drehbücher.“ Würde ein reizvolles gegenüber dem Arbeitgeber hingewiesen“. Oscar, mit dem seit 1981 die besten aus- Angebot aus Hollywood vorliegen, „wäre Trotzdem „wurden keine Konsequenzen ländischen Nachwuchsfilme prämiert ich dumm, es nicht zu machen“, sagt gezogen“. werden. Schmidt. Schilling will nicht kampflos das Feld Diese Trophäe zocken die jungen Deut- Wer ohnehin Lust auf Hollywood hat, räumen. „Noch in dieser Woche“, so sein schen in der letzten Zeit fast regelmäßig dem hilft der Oscar am meisten. Die „Ab- Berliner Anwalt Lothar C. Poll am Mitt- ab: Fünfmal wurden Arbeiten von Studen- geschminkt!“-Regisseurin Katja von Gar- woch zum SPIEGEL, „ziehen wir vors Ar- ten deutscher Filmhochschulen ausge- nier, 33, etwa verfügte schon vor ihrer Aus- beitsgericht.“ Die Chancen, dass er ge- zeichnet – damit sind die Nachwuchsfil- zeichnung über gute Drähte in die USA – winnt, stehen nicht schlecht. Ein fristloser mer aus Köln, Berlin, Potsdam, Ludwigs- ihr Kurzfilm „Lautlos“ hatte das Interes- Rausschmiss, so Poll, sei nur zur Abwen- burg oder München weltweit erfolgreicher se der Columbia TriStar geweckt und trug dung einer drohenden Gefahr für die Bun- als alle anderen. ihr den Auftrag ein, das „Making Of“ zu desrepublik Deutschlands rechtens oder In den vergangenen drei Jahren ka- Wolfgang Petersens Thriller „In the Line wenn der Direktor „silberne Löffel ge- men die Gewinner sogar jedes Mal klaut“ hätte. Das aber behaupten nicht ein- aus Deutschland: 1997 siegte Raymond * Im Juni 1998 bei der Preisverleihung in Los Angeles; mal die Frankfurter Prüfer. Boys Feenmärchen „Ein einfacher Auf- links: der Deutsche Matthias Visser, der mit einem US- Hartmut Palmer, Hans-Jürgen Schlamp trag“ (11 Minuten, 18000 Mark Budget), Partner in der Kategorie Drama ausgezeichnet wurde.

208 der spiegel 51/1999 of Fire – Die zweite Chance“ zu drehen. Inzwischen bereitet Garnier, deren Road- movie „Bandits“ vor kurzem in den USA gestartet ist, ihren ersten Hollywood- Film vor. Bei eher sozial engagierten Filmern wie Wolfgang Becker (der 1988 mit „Schmet- terlinge“ gewann) und Marc-Andreas Bochert, 28, dagegen folgt auf den Oscar nicht unbedingt Interesse aus Hollywood. „Die Agentenkontakte haben sich schnell wieder verlaufen“, sagt Becker, 45. „Die gucken halt, was für ihr System ausbeut- bar ist, haben aber kein Interesse an Leuten, die Independent-Filme machen wollen.“

Bochert, dem Sieger dieses Jahres, wur- BUENA VISTA den zwar inzwischen einige Fernsehdreh- Simunovic, Tarrach in „Schnee in der Neujahrsnacht“: Eine einzige, ganz besondere Nacht bücher angeboten, aber bei ihm hatte erst gar kein Agent nachgehakt. Der Absolvent Discjockey (Hannes Jaenicke) zusammen, der Hochschule für Film und Fernsehen in in dessen Sendung die versprengten Ge- Potsdam wunderte sich ohnehin, dass sein stalten anrufen – unter anderem ein irre- Film den Amerikanern so gut gefiel, „wo er Da kokst der Bär geleiteter Tierschützer, der im Zoo einen doch ganz ohne ein Happy Ending aus- Das Berlin-Märchen „Schnee Braunbären befreien will. Der tapst auch kommt“: Gewitzt und atmosphärisch bril- bald alkoholisiert durch die Handlung lant erzählt „Kleingeld“ von einem Ge- in der Neujahrsnacht“ stimmt und sorgt beim Showdown dafür, dass schäftsmann, der sein Gewissen beruhigt, mit Charme und Schmalz das weiße Pulver der Drogendealer als indem er einem Obdachlosen täglich ein auf den Jahreswechsel ein. „Schnee“ in der Neujahrsnacht auf die paar Münzen zuwirft – bis ihm eines Tages Erde niederrieselt. das nötige Kleingeld fehlt. er Countdown läuft – es ist der In seiner Struktur ähnelt „Schnee in So recht erklären kann die Vorliebe der 31. Dezember 1999, und der Jahr- der Neujahrsnacht“ den „Nachtgestalten“ Oscar-Jury für den deutschen Nachwuchs Dtausendwechsel steht in wenigen von Andreas Dresen: Wieder Berlin, niemand. „Vielleicht liegt es daran, dass Stunden bevor. Eine gute Gelegenheit, wieder eine einzige, ganz besondere wieder mehr Geschichten erzählt wer- endlich ein neues Leben zu beginnen. Toto Nacht, wieder ein Haufen vom Leben den“, mutmaßt Schmidt, „die Amerikaner (Jürgen Tarrach) etwa, dicklich, schüch- angeschlagener Typen, die ihren Sehnsüch- lieben ja das Geschichtenerzählen. Etwas tern und unbeholfen, ist gerade aus dem ten hinterher rennen, aber ihrer Vergan- anderes wollen sie eigentlich gar nicht Knast entlassen worden und will seine genheit nicht entkommen. Doch wo Dre- sehen.“ Freiheit nutzen, um der beste Busfahrer sen seine Träumertruppe immer wieder Außerdem schaut auch der Nachwuchs Berlins zu werden. Aber die Nacht ist auf den rauen Asphalt der Tatsachen an den Filmhochschulen heute auf den Zu- noch lang. zurückholt, gönnt ihnen Schmidt eine schauererfolg. „Die haben ihre Ziele klar Es gibt derzeit wenige deutsche Fil- Kintopp-Aura der staunenden Unver- definiert“, sagt Albrecht Ade, künstleri- memacher, die den Mumm haben, ihre wundbarkeit. scher Leiter der Filmakademie Ludwigs- Geschichten so richtig mit Gefühl zu er- Die kleinen Katastrophen, in die Toto burg, „der Markt ist ihnen immer vor Au- zählen – denn nichts wird schlimmer und die anderen hineinschlittern, kostet gen.“ Es herrscht ein anderer Geist an den bestraft als der Absturz in den klebri- „Schnee in der Neujahrsnacht“ mit er- Filmhochschulen der neunziger Jahre: Die gen Mustopf der Gefühligkeit. Der De- heblichem Vergnügen an krachenden Gags Ausbildungsstruktur hat sich verändert, es bütant Thorsten Schmidt aber nennt aus: Manche Figuren, gerade der über- wird mehr Wert auf Handwerkliches, Tech- „Schnee in der Neujahrsnacht“ mutig ein forderte Kleingangster Frank und sei- nisches und auf Teamarbeit gelegt. „Genia- Märchen, und daran hält er sich. Er will ne Gang, sorgen als Chargen im Hinter- lität ist schön und gut“, sagt Ade, „aber seine Zuschauer entführen in ein Reich, grund nur für gelegentliche atmosphäri- sehr selten.“ in dem alles erheblich dicker aufgetra- sche Entladungen und den befreiten Zur Erfolgsquote der Studenten trägt gen wird als in der Wirklichkeit, in dem Lacher zwischendurch. Der Charme des bei, dass die Bundesrepublik als einziges alle Träume in Erfüllung und alle Ge- Films aber erwächst aus der Zärtlichkeit, Land sechs Filmhochschulen hat. Da jede schichten gut ausgehen. mit der er in versponnenen kleinen Szenen Ausbildungsstätte nur ein Werk einreichen Drei Paare stromern in „Schnee in der schwelgt. darf, sind die Chancen für ein deutsches Neujahrsnacht“ durch die Kälte. Toto ga- Wie alles ausgehen wird, weiß der Zu- Projekt ungleich höher. belt mit seinem Bus die hochschwangere schauer so ziemlich von Anfang an, aber Zudem sind die Hochschulen finanziell Russin Natalia (Tamara Simunovic) auf; unterwegs kurvt „Schnee in der Neujahrs- recht gut ausgestattet, was den Regie- sein Knastgefährte Frank (Dieter Landu- nacht“ auf zahlreichen unberechenba- talenten professionelles Arbeiten erleich- ris) will einen letzten großen Drogendeal ren Umwegen durch die Nacht (ohne je tert, und Firmen verleihen ihre Ausrüs- erledigen, ehe er mit seiner ungeduldig auf dem Holzweg zu landen), ein Kurs, tung häufig zu günstigen Konditionen. wartenden Verlobten Nora (Nadja Uhl) bei dem die Gesetze der Wahrscheinlich- Boy musste beispielsweise für sein Equip- feiert, und der verzweifelte Ire Rory (Eric keit bald auf der Strecke bleiben.Vielmehr ment schlappe zehn Kästen Bier sprin- Burdon) hat sich einen komplizierten gilt die Logik der Hoffnung. Und wenn gen lassen. Garnier bekam modernste Plan ausgedacht, um seine fremdgehende dann die Kamera über die glitzernde Kamera- und Schnitttechnik sogar um- Ehefrau Carola (Barbara Rudnik) zu er- nächtliche Stadt fliegt, verzaubert der Film sonst – dafür wurde der Sponsor Arri zum schießen. Berlin für ein paar Augenblicke zu einem Co-Produzenten. Die Strippen der ineinander verwickel- Ort, in dem das Träumen wirklich noch Christina Berr, Bernd Sobolla ten Geschichten laufen bei einem Radio- helfen kann. Susanne Weingarten

der spiegel 51/1999 209 Kultur

SPIEGEL-GESPRÄCH „Das Leben ist ganz schön heftig“ Der spanische Filmemacher Pedro Almodóvar über das europäische Kino, seine Entwicklung vom Außenseiter zum Publikumsliebling und Zukunftspläne jenseits des Atlantiks

Europas Einheit konkret bedeutet. „Alles über meine Mutter“ ist eine französisch-spanische Co- Produktion. Der Film ist wegen seiner Sprache, seiner Kultur, seiner Ge- fühlslage absolut spa- nisch. Er kam in den letz- ten Monaten in ganz Eu- ropa heraus, und er läuft nahezu überall gleich gut. Das ist möglich, ohne dass ich irgendeine mei- ner Eigenarten aufgebe. SPIEGEL: Wie beurteilen Sie die Chancen des eu- ropäischen Films, sich ge- gen die Übermacht Ame- rikas zu behaupten? Almodóvar: Europäisches Kino ist das Gegenteil von Globalisierung, es ist das Gegenkonzept zum Einheitsdenken Holly- woods. Unsere Chance

SIPA PRESS SIPA liegt darin, die Vielfalt un- Regisseur Almodóvar (3. v. l.), „Alles über meine Mutter“-Darsteller*: „Ein fast körperlicher Zwang“ ter Nachbarn zu respek- tieren. Wir wollen keinen SPIEGEL: Herr Almodóvar, Sie haben gera- darauf, welchen Film ich als nächsten dre- Europudding. Es gab eine Zeit, da hat zum de in Berlin triumphiert. Ihr neuestes Werk hen werde. Und ich glaube, dass das gut so Beispiel Volker Schlöndorff „Eine Liebe „Alles über meine Mutter“ wurde zum ist. Auszeichnungen sollten den Weg eines von Swann“ gedreht mit einem italieni- europäischen Film des Jahres gekürt, Ihre Filmemachers nicht bestimmen, auch wenn schen Superstar wie Ornella Muti und dem Hauptdarstellerin Cecilia Roth zur besten sie seine Laufbahn ebnen können. Meine phantastischen Franzosen Alain Delon. europäischen Schauspielerin gewählt. Was Filme entstehen, weil ich sie machen muss. Und doch war das Resultat nichts sagend, bedeutet der Preis für Sie und Ihre Arbeit? Ich will immer genau diesen Film drehen. weil es keine eigene kulturelle Prägung hat- Almodóvar: Natürlich freue ich mich wie Das klingt verrückt, aber ich spüre immer te.Wir sollten den Autorenfilm verteidigen. wild über die Auszeichnung. Aber meine einen fast schon körperlichen Zwang zu SPIEGEL: Gibt es überhaupt eine Gemein- Art, Kino zu machen, wird der Preis nicht einer Geschichte. Ich werde weiterhin samkeit unter den europäischen Filme- berühren. Er hat noch nicht mal Einfluss Herr meiner Entscheidungen bleiben, machern? selbst wenn noch andere Almodóvar: Ich habe mich zum ersten Mal Preise kommen. als Europäer gefühlt, als ich meinen Fuß SPIEGEL: Sie sind auch im nach New York setzte. Ohne es bewusst zu Rennen um die Oscars. überlegen, sagte mir schon ein Blick um die Almodóvar: Caramba, ja. Ich Straßenecken, dass ich aus einer sehr viel hoffe immer, dass mir etwas älteren Kultur stamme. Es war mir, als trü- Gutes gelingt. ge ich die Erinnerung an dieses Erbe in SPIEGEL: Fühlen Sie sich als mir. Allein die Idee der Demokratie, die europäischer Regisseur? uns seit den alten Griechen in Fleisch und Almodóvar: An meinem Bei- Blut übergegangen ist, ist in den USA noch spiel lässt sich perfekt zeigen, ganz jung und unterscheidet sich stark von was die abstrakte Idee von unserer Vorstellung. Ich musste einmal im Namen der europäischen Filmemacher in * Antonia San Juan, Cecilia Roth, den USA unser Recht verteidigen, nach Penélope Cruz, Marisa Paredes, Eloy unseren eigenen Kriterien zu arbeiten. Die Azorín.

ARTHAUS Das Gespräch führte die Redakteurin Amerikaner verstanden unseren Anspruch Roth in „Alles über meine Mutter“: „Irre und chaotisch“ Helene Zuber. auf freie Meinungsäußerung als kommer-

210 der spiegel 51/1999 Werbeseite

Werbeseite Kultur zielle Argumentation, nicht als moralisches kommen die Kinobesucher langsam genug trägt sich auf die Betrachter. Sie nehmen Prinzip. Ich galt bis Mitte der neunziger vom klinischen Sex und vom Gewaltkult diesem Vater mit künstlichen Titten ab, dass Jahre dort als das Paradebeispiel eines vieler amerikanischer Filme? er Kinder zeugen muss. politisch nicht korrekten Filmemachers. Almodóvar: Hoffentlich ist das so. Jeden- SPIEGEL: Glauben Sie wirklich? SPIEGEL: Wie erklären Sie sich, dass Sie falls zeigt die Reaktion auf „Alles über Almodóvar: Ja, denn solche Fälle gibt es. plötzlich die Säle füllen in Madrid, Paris meine Mutter“ auch in den Vereinigten Die extremsten Situationen des Films und und Berlin, aber auch in New York? Ha- Staaten, dass meine Filmfiguren inzwi- die Details, die am übertriebensten schei- ben Sie sich vom schrillen Außenseiter schen in den Mainstream aufgenommen nen, basieren auf Realität. Man hat mir zum universellen Liebling geläutert, oder worden sind. Ich glaube, das ist eine ge- von solch einem verheirateten Transvesti- ist das Publikum auf den Geschmack ge- sunde Haltung. Ich thematisiere Solidarität ten in Barcelona erzählt, der hat mich zu kommen? und Toleranz gegenüber der menschlichen der Geschichte inspiriert. Almodóvar: Beides stimmt. Auch „Alles Natur. Die Natürlichkeit, mit der die SPIEGEL: Dann geht es Ihnen so wie dem la- über meine Mutter“ ist an vielen Details Schauspieler die Charaktere darstellen, teinamerikanischen Schriftsteller Gabriel sofort als typischer Almodóvar zu erken- und auch die Selbstverständlichkeit, mit García Márquez. Ist auch Ihr Realismus nen. Aber natürlich habe ich mich als Re- der die Filmfiguren die jeweilige sexuelle weniger magisch, als Ausländer glauben gisseur weiterentwickelt. Die achtziger Jah- Identität der anderen aufnehmen, über- mögen? re habe ich ganz intensiv gelebt, nicht nur in meinen Gefühlen. Ich habe die Ästhetik, die Kultur der Epoche aufgesogen. In den Neunzigern bemühe ich mich, Abstand zu dem zu finden, was ich vorher gemacht habe. Einfach weil ich genug davon hatte. Ich bleibe ich selbst, aber in mir stecken verschiedene Persönlichkeiten. Meine Fil- me heute sind viel nüchterner, schlichter als früher. Und, auch wenn es nicht beson- ders gut klingt, ich bin reifer heute. Ich bin älter geworden, das konnte ich leider nicht verhindern. SPIEGEL: Die Zuschauer haben die neue Einfachheit offenbar geschätzt, denn die haben Sie in Berlin zum besten europäi- schen Regisseur gewählt. Almodóvar: Das Publikum akzeptiert heu- te viel selbstverständlicher die Art von Charakteren, die ich in meinen Filmen vor- stelle, es ist weniger schockiert. Auch die Zuschauer sind erwachsen geworden. In England und in Amerika hatte ich immer Probleme, weil ich die Sexualität meiner Filmfiguren offen zeige. Auch machte den Angelsachsen die Stilmischung zu schaf- fen, dieser Cocktail aus Komödie und Tragödie. Mein letzter Film ist wieder ein Beispiel für Wechsel von einer Stim- mungslage in die andere.Aber diesmal ha- ben die Leute das angenommen, sie haben das Melodramatische sogar gemocht. SPIEGEL: Hat die Vermischung von Komik und Tragik nicht Tradition in Spanien? Almodóvar: Ich beziehe mich mit meinen Drehbüchern zurück auf eine Schreibwei- se, die der Theater-Autor Ramón del Valle- Inclán zu Beginn des Jahrhunderts ent- wickelte, „Esperpento“ genannt. In diesen grotesken Satiren zeigte er die Gegenwart auf sehr kritische Weise, durchdrungen von sozialem Bewusstsein. Da liegen meine Wurzeln. Valle-Inclán machte sich auf fast makabre Weise über die gesellschaftlichen Zustände lustig, auch über Gefühle. Diese Komponente von schwarzem Humor ist, glaube ich, etwas ureigen Spanisches. Zu unserer Kultur gehört eben die Verbindung zum Tod, über den wir scherzen, um ihn abzuwehren. Denken Sie nur an die Grafi- ken von Francisco Goya. SPIEGEL: In Ihren Filmen regieren Leiden- schaften wie sonst nur in der Oper. Be-

212 der spiegel 51/1999 Almodóvar: Die Drehbücher, die ich schrei- mit seiner radikalen Ablehnung alles schreiben muss. Jedenfalls bemühe ich be, entspringen meiner inneren Welt, mei- Künstlichen scheint mir lächerlich. Kino ist mich, dass die Personen starke Herausfor- nen Gefühlen.Aber gleichzeitig spiegeln sie ein Kunsthandwerk.Wenn man nur die Ka- derungen erleben, weil das immer span- auch die Welt wider, die ich sehe. Es ist al- mera hinstellt, entsteht zum Beispiel auf nender für die Handlung ist. Das wirkliche les nicht so zufällig und spaßig, wie das der Leinwand nicht das Licht, das wir in Leben ist doch auch ganz schön heftig. Ich manchmal scheinen mag. Jetzt gelingt es der Natur sehen, das müssen wir erst her- sorge immer dafür, dass meine Charakte- mir besser als früher, mit Argumenten zu stellen. re am Ende des Films besser dran sind als belegen, dass ich es ernst meine. Das Publi- SPIEGEL: Sie nehmen viele Zutaten aus der zu Beginn. kum merkt jetzt, dass es mir nicht darum spanischen Realität. Typisch Almodóvar ist SPIEGEL: Was inspiriert Sie, wenn Sie an ei- geht, mit schrillen Effekten Aufmerksam- dann die Häufung der außergewöhnlichs- nem Drehbuch arbeiten? keit zu erregen. ten Schicksalsfügungen. Almodóvar: Wenn ich schreibe, bin ich SPIEGEL: Dennoch drehen Sie nicht gerade Almodóvar: Drehbuchschreiben ist viel- besonders empfänglich. Mit dieser Sen- Dokumentarfilme. leicht die Arbeit, die dem göttlichen Schöp- sibilität filtere ich alles, was ich sehe. Almodóvar: Selbst eine naturalistische Er- fungsakt am nächsten kommt. Mir passiert Und ich nehme die Dinge so auf, dass zählweise enthält Elemente von Kunst. Das es häufig, dass ich eine Figur retten will, sie zu dem passen, was ich gerade schrei- „Dogma“ der Gruppe um Lars von Trier darum überlege ich, wie ich dann weiter- be. Ich höre zum Beispiel ein Lied, das ich schon tausendmal gehört habe, aber plötzlich hat es eine tiefe Bedeutung für mein Drehbuch. Am meisten aber in- spiriert mich gutes Kino. Die Gefühle, die ich zeige, beziehe ich aus Literatur, Filmen und aus Hörerlebnissen, Musik oder Gesprächen. Ich muss einfach mein normales Leben führen, mich unter Verwandten und Freunden bewegen. Wenn ich an einer Geschichte arbeite, höre ich ihnen auf besondere Weise zu und verstehe sie besser. Die Stoffe fal- len mir ganz von selbst ein, da muss ich mich nur aufs Sofa legen. Es muss still sein, dann beginnt das Gehörte in mir zu rumoren. SPIEGEL: Wie Woody Allen für New York oder Fellini für Rom sind Sie Chronist der menschlichen Fauna Madrids, neuerdings auch Barcelonas. Immer wieder zeigen Sie Transvestiten und Huren. Was interessiert Sie so stark an den Nachtvögeln? Almodóvar: Ich analysiere nicht ständig, warum einige Figuren auftauchen, ande- re nicht. Sie gehören einfach zu meiner Welt. Aber wenn ich sie in meinen Filmen erscheinen lasse, wirken sie deshalb so ungewöhnlich und besonders komisch, weil ich sie agieren lasse, als wären sie die Normalsten. Ich versetze sie in alltäg- liche häusliche Situationen und Bezie- hungen. SPIEGEL: Wollten Sie nicht auch ankämpfen gegen eine sehr enge, erzkatholische Mo- ral, die unter der Diktatur bis zu Francos Tod 1975 hochgehalten wurde? Almodóvar: Als ich anfing zu drehen, lebten wir schon in Freiheit, in einer Demokratie und in einem konfessionslosen Staat. Zwar sind die meisten Spanier noch katholisch getauft, aber wenn man sie fragt, sagen sie, dass sie an nichts glauben. Ich verspürte in mir gar nicht den Druck, Tabus zu brechen. Ich wollte einfach meine Weltsicht durch- setzen. Aber meine Arbeiten haben den- noch auf den Betrachter subversiv gewirkt. Und zu Recht. SPIEGEL: Sagen Sie nicht, dass eine schwan- gere Nonne, die quasi wie die Jungfrau zum Kind eines drogensüchtigen Transves- titen kommt und sich obendrein noch Aids holt, kein ironischer Angriff auf die katho- lische Kirche ist …

der spiegel 51/1999 213 ORION FILM Almodóvar-Film „Frauen am Rande des Nervenzusammenbruchs“ (1988)*: „Ich bin älter geworden, das konnte ich nicht verhindern“

Almodóvar: Ich hatte keinen Angriff be- Almodóvar: Ja, schrecklich, „almodo- für einen Boom von Jungfilmern gesorgt, absichtigt. Ich wurde von Mönchen erzo- variano“ bedeutet so was wie absolut weil es am billigsten ist, Erstlingswerke zu gen und bin eigentlich gegen fast alles, irre und chaotisch. Na ja, zumindest mit unterstützen. was sie mir beibrachten. Aber trotzdem diesem letzten Film und all seinen SPIEGEL: Stimmt es, dass Sie Ihren nächs- will ich mich nicht an der Kirche rä- Frauengestalten fühle ich mich besser ten Film in den Vereinigten Staaten chen. Meine Charaktere sind nicht an- verstanden. drehen? tiklerikal, sondern sehr sympathisch.Wenn SPIEGEL: Die gegenwärtige Regierung der Almodóvar: Ich habe gerade den Roman ich schreibe, denke ich nur an die Per- neuen Rechten unter José María Aznar „The Paperboy“ von Pete Dexter in ein son und daran, was ihr zustoßen könnte. kürzte die Subventionen für Kinoproduk- Drehbuch umgearbeitet. Das ganz auf Es handelt sich ja auch um eine untypische tionen und machte Zahlungen vom Kas- meine Weise tun zu dürfen war eine Nonne, jung und schön, mit tiefer Glau- senerfolg abhängig. Hat sich das kulturel- Grundbedingung, mich dem Projekt zu benskrise, die sich um Heroinsüchtige le Klima verschlechtert? nähern. kümmert. Sie ist spontan und will Gutes Almodóvar: Glücklicherweise sind meine SPIEGEL: Werden die Figuren amerikani- tun. Wenn also ihre einzige Chance, den Filme seit über zehn Jahren erfolgreich, sche Mentalität haben? Junkie davon abzuhalten, neuen Stoff ich brauche staatliche Beihilfen nicht mehr. Almodóvar: Die Handlung spielt in Florida zu kaufen, Sex ist, nützt sie ihren Kör- Es ist wahr, dass Kultur die Volkspartei we- Ende der sechziger Jahre. Aber die Cha- per. So habe ich auch der Schauspielerin nig interessiert. Kurioserweise haben sie raktere gehören in mein Universum, auch Penélope Cruz ihre Rolle er- wenn sie Englisch sprechen. Es klärt. sind absolut meine Geschöpfe. SPIEGEL: Die Zuschauer neh- SPIEGEL: Wann fangen Sie an? men ihr das ab. Almodóvar: Ich habe mich noch Almodóvar: Eine Figur wahr- nicht entschieden, ob ich den scheinlich wirken zu lassen ist Sprung über den Atlantik die Herausforderung für mich wirklich wagen soll, obwohl als Erzähler. Ich hatte den mich das zum ersten Mal Schauspielern verboten, vor- wirklich reizen würde. Vor ab bei Interviews den Inhalt dem Jahresende muss ich es von „Alles über meine Mut- wissen. Aber noch macht mir ter“ zu erzählen. Dann hätten das Projekt Angst. die Kritiker sicher geschrie- SPIEGEL: Gibt es eine spanische ben, das sei absoluter Quatsch. Alternative? SPIEGEL: Fühlen Sie sich ge- Almodóvar: Ich schreibe gerade schätzt in Ihrer Heimat? Der an einer sehr komplizierten König hat Sie mit einer Me- Geschichte. Da spielen Berufe daille ausgezeichnet. Ihr Na- eine Rolle, die mir völlig me ist zum Adjektiv geworden. fremd sind. Da muss ich noch viel nachforschen, deshalb bin * Oben: mit Carmen Maura, Loles León, ich langsamer als üblich. María Barranco, Rossy de Palma, Ju- SPIEGEL: Herr Almodóvar, wir lieta Serrano; unten: bei der Verleihung des Europäischen Filmpreises am 4. De- PRESS SIPA danken Ihnen für dieses Ge- zember. Preisträger Almodóvar, Roth in Berlin*: „Caramba, ich freue mich“ spräch.

214 der spiegel 51/1999 Werbeseite

Werbeseite Kultur

LITERATUR Die Angst vor dem Wahnsinn Mit seinem Debüt „Die Musik der Wale“ gelang dem US-Autor Wally Lamb ein Weltbestseller. Sein neuer Roman „Früh am Morgen beginnt die Nacht“ ist bereits auf dem Sprung in die deutschen Hitlisten. Von Angela Gatterburg G. ZUCKER / REGAN BOOKS Autor Lamb: „Ich bin so eine Art Cafeteria-Katholik“

as eigentlich ist an den Zwil- den amerikanischen Schriftsteller Wally lingsbrüdern Dominick und Tho- Lamb zu seinem zweiten Roman inspi- Wmas Birdsey so interessant? rierte. Der Verlag erwartete dessen Fer- Thomas ist knallverrückt und hackt sich tigstellung innerhalb von zwei Jahren, aus Protest gegen den Golfkrieg in einer Lamb brauchte länger, um die kompli- Bücherei eine Hand ab. Die Selbstver- zierte Familiengeschichte seines Helden stümmelung war als Opfer für Gott ge- zu entwickeln. Er beendete den Roman dacht, auf dass die himmlische Aufsichts- vier Jahre nach der vom Verlag gesetzten behörde in den Gang der Geschichte ein- Deadline. greifen möge. Stattdessen führt sie lediglich Macht nichts. Denn schließlich gelang zu Thomas’ Einweisung in die forensische Lamb in diesen sechs Jahren Arbeit etwas Psychiatrie, und zwar in einen besonders außerordentlich Schönes: „Früh am Mor- üblen Schuppen. gen beginnt die Nacht“ ist ein fesselndes, Der gesunde Bruder Dominick kommt bewegendes und weises Buch, eine ge- mit seinem Leben nicht ganz so glatt fühlvolle Familiensaga über mehrere Ge- über die Runden, wie er sich und andere nerationen, eine Odyssee zweier Männer glauben machen möchte. Er ist mittler- im Amerika der sechziger und siebziger weile über 40 und fährt nachts voller Jahre, eine universale Geschichte über die Zorn im Wagen herum, jagt den Motor Liebe und die Mühen des Erwachsenwer- auf 90 Meilen pro Stunde hoch, als könne dens, gleichzeitig die Geschichte einer Er- er den Schmerz aus seinem Leben ver- lösung durch die Kraft der Vergebung*. treiben, wenn er nur das Gaspedal durch- Das alles wird drastisch und feinfühlig, tritt. Dabei kommt nicht viel heraus, sinnlich und ohne Pathos erzählt – alle nur dass er seine Wut noch schmerzhaf- Achtung. ter empfindet; er ist ein Irrender, Getrie- Wally Lamb, 48, ist ein Bestsellerstar bener, auf der Flucht vor der Vergan- ohne Allüren, ein sanfter, liebenswürdiger genheit, auf der Suche nach einer Zu- Mann, der seinen Schriftstellerruhm ein kunft, er ist einer, der Versöhnung mit sich selbst sucht. * Wally Lamb: „Früh am Morgen beginnt die Nacht“. Es war dieses Bild eines zornigen Man- Aus dem Amerikanischen von Franca Fritz und Heinrich nes, der ziellos durch die Nacht saust, das Koop. List Verlag, München; 1008 Seiten; 42,80 Mark.

216 der spiegel 51/1999 Werbeseite

Werbeseite Kultur wenig erstaunt zur Kenntnis nimmt. „Ich schließlich mit der Diagnose „Schizophre- hatte Glück“, sagt er bescheiden. nie“ in die Psychiatrie eingeliefert. Domi- Tatsächlich beleuchtet Lambs Erfolgs- nick, ständig in der Angst lebend, ebenfalls geschichte einmal mehr die Mechanismen verrückt zu werden, betreut seinen Bruder des Marktes. Als sein erstes Buch „She’s und vernachlässigt darüber sein eigenes Da- Come Undone“ (deutscher Titel „Die sein. Seine kleine Tochter stirbt, Dessa, die Musik der Wale“) in den USA im Hardco- Frau, die er liebt, verlässt ihn, seine neue ver erschien – es ist die liebevoll gezeich- nete Entwicklungsgeschichte eines Mäd- chens (SPIEGEL 1/1999) –, waren die Kri- Bestseller tiken gut und der Absatz mäßig. Gerade 10000-mal verkaufte sich die Geschichte Belletristik der rebellischen Dolores Price. Dann kam das Taschenbuch heraus, und 1 (1) Isabel Allende Fortunas Tochter Lamb fand in Oprah Winfrey eine Kom- Suhrkamp; 49,80 Mark plizin. Nachdem sie es in ihrer Buchshow empfohlen hatte, wurde eine Million Bü- 2 (2) Noah Gordon Der Medicus cher plus Filmrechte in den USA verkauft, von Saragossa Blessing; 48 Mark 400 000 Bücher sind es in Deutschland. Lambs neuesten Roman empfahl Winfrey 3 (3) Thomas Harris Hannibal bald nach Erscheinen, was die Auflage bis- Hoffmann und Campe; 49,90 Mark lang auf 2,5 Millionen hob. In Deutschland, wo der zweite Roman zunächst im Ber- 4 (4) Günter Grass telsmann Buchclub erschien, wurde er be- reits 300000-mal verkauft, bevor er jetzt in Mein Jahrhundert einem Publikumsverlag erschienen ist. Steidl; 48 Mark „Früh am Morgen beginnt die Nacht“, diese virtuos komponierte Parabel von Lie- be, Hass, Schuld und Vergebung, erzählt Die bunte, leicht mit viel Sachkunde auch von der Geistes- egomanische Chronik krankheit Schizophrenie und der kompli- des Literatur- zierten Beziehung zwischen Zwillingen. Nobelpreisträgers „Wenn man der gesunde Zwillingsbruder eines Schizophrenen ist und sich selbst 5 (5) Elizabeth George Undank ist der retten will, hat man ein Problem … die Väter Lohn Blanvalet; 49,90 Mark kleine Unannehmlichkeit, einen toten Doppelgänger zu seinen Füßen liegen zu haben. Und wenn man sowohl an das 6 (7) Ken Follett Die Kinder von Eden Überleben des Stärkeren glaubt als auch Lübbe; 46 Mark überzeugt ist, man müsse seines Bruders Hüter sein, dann leb wohl Schlaf und will- 7 (6) Frank McCourt Ein rundherum kommen Mitternacht“, lässt Lamb seinen tolles Land Luchterhand; 48 Mark Ich-Erzähler Dominick sagen. Er habe nicht vorgehabt, über Zwillinge 8 (8) Marianne Fredriksson Maria zu schreiben, sagt der Autor, der ohne Magdalena W. Krüger; 39,80 Mark ausgereiftes Plot-Konzept auskommt. Er schreibe eher intuitiv und ändere dann so 9 (10) Henning Mankell Die falsche lange, bis er ein Gefühl von Stimmigkeit habe. Lamb lebt mit seiner Frau und drei Fährte Zsolnay; 45 Mark Söhnen in Mansfield in Connecticut, wo er lange Jahre als High-School-Lehrer un- 10 (9) Donna Leon Nobiltà terrichtete und Creative-Writing-Kurse Diogenes; 39,90 Mark gab. Seine Romane ähneln sich: In beiden ist das Leben ein unübersehbarer Schla- 11 (11) Nicholas Sparks Zeit im Wind massel, nicht nur deswegen erinnern sie an Heyne; 32 Mark die Werke von John Irving. Geboren sind die Brüder Thomas und 12 (13) Sándor Márai Die Glut Dominick im Abstand von sechs Minuten und damit in zwei Jahrzehnten: Dominick Piper; 36 Mark kommt am 31. Dezember 1949 um 23.57 13 (–) Siegfried Lenz Arnes Nachlaß Uhr zur Welt, Thomas am 1. Januar 1950 um drei Minuten nach Mitternacht. Der Hoffmann und Campe; 29,90 Mark robustere Dominick will sich abgrenzen von Thomas, fühlt sich jedoch von Kindheit 14 (12) Henning Mankell an als Beschützer seines Bruders und Die fünfte Frau Zsolnay; 39,80 Mark nimmt ihn gegen Ray, den verständnislosen Stiefvater, in Schutz. 15 (14) John Irving Witwe für ein Jahr Thomas zeigt als Teenager erste Anzei- Diogenes; 49,90 Mark chen von Geistesverwirrung und wird

218 der spiegel 51/1999 Freundin entpuppt sich als notorische Lüg- ben, lautete meine Theorie. Das war der nerin, seine Mutter ist krank, verschweigt Witz an der Sache.Verstanden? Man konn- ihm weiterhin den Namen des leiblichen te einen Bruder haben, der sich Metall- Vaters und hinterlässt ihm die wenig er- klemmen in die Haare steckte, um feindli- baulichen Memoiren seines Großvaters. che Signale aus Kuba abzulenken, einen Dominick fühlt sich betrogen: „Das Le- leiblichen Vater, der in 33 Jahren noch nie ben musste nicht unbedingt einen Sinn ha- aufgetaucht war, und ein Baby, das tot in seiner Wiege lag … und nichts davon muss- Im Auftrag des SPIEGEL wöchentlich te irgendetwas bedeuten.“ ermittelt vom Fachmagazin „Buchreport“ Es dauert eine Weile, bis Dominick be- greift, dass alles, was er erlebt, durchaus Sachbücher etwas bedeutet, dass sich die Blessuren 1 (1) Marcel Reich-Ranicki Mein Leben und Deformationen, die man sich inner- halb der eigenen Familie holt, wie ein Mus- DVA; 49,80 Mark ter in der nächsten Generation fortsetzen, 2 (2) Oskar Lafontaine dass die meisten Menschen darum kämp- fen, mehr zu verstehen vom Leben, und Das Herz schlägt links Econ; 39,90 Mark dass das Bekenntnis des eigenen Scheiterns ein Vermächtnis für die Nachgeborenen 3 (3) Sigrid Damm sein kann. Christiane und Goethe Insel; 49,80 Mark All dies lernt Dominick mühsam von Dr. Patel, einer indischen Ärztin. Ihre Art 4 (4) Hans J. Massaquoi Neger, Neger, von Therapie, die Dominick schließlich Schornsteinfeger! Fretz & Wasmuth; 39,90 Mark zurück ins Leben bringt, hat auch einen spirituellen Hintergrund. Ja, aber unbeab- 5 (5) Corinne Hofmann sichtigt, schiebt Lamb schnell hinterher. Die weiße Massai „Ich bin eigentlich unreligiös, eher so eine A1; 39,80 Mark Art Cafeteria-Katholik.“ Doch je älter er werde, desto mehr entdecke er, dass es mehr gebe, als sich mit dem menschlichen Das Abenteuer einer Verstand erfassen lasse. Inzwischen hat er unmöglichen Liebe im kenianischen Busch aufgehört, an Zufälle zu glauben, und er sagt, er sei nachsichtiger mit den Unzu- länglichkeiten der Menschen. „Halten Sie mich aber bitte nicht für Mutter Teresa“, 6 (8) Joschka Fischer Mein langer Lauf fügt er lachend hinzu. zu mir selbst Kiepenheuer & Witsch; 29,90 Mark Er hat auch keineswegs zufällig so spät angefangen zu schreiben. Im Alter von 25 7 (7) Dale Carnegie Sorge dich nicht, Jahren, davon ist er überzeugt, wäre er zu lebe! Scherz; 46 Mark jung gewesen, zu zynisch. Zyniker hält er für enttäuschte Idealisten, die sich mit ei- 8 (6) Dietrich Schwanitz Bildung ner Art Panzer das Leben vom Leib halten. Eichborn; 49,80 Mark Kein Wunder, dass eines seiner Lieblings- bücher Harper Lees „Wer die Nachtigall 9 (9) Ulrich Wickert stört …“ ist und dass zu den von ihm ver- Vom Glück, Franzose zu sein ehrten Kollegen Saul Bellow, Margaret At- Hoffmann und Campe; 36 Mark wood und Toni Morrison gehören. Der materielle Erfolg sei angenehm, sagt 10 (14) Bodo Schäfer Der Weg zur er, habe aber sein Leben kaum verändert. finanziellen Freiheit Campus; 39,80 Mark Kreatives Schreiben unterrichtet er nun nicht mehr an der Universität, sondern in 11 (13) Malika Oufkir/Michèle Fitoussi einem Frauengefängnis. Nötig hätte er Die Gefangene das natürlich nicht, aber da ist eben diese Mischung aus Demut und Dankbarkeit, die Marion von Schröder; 39,90 Mark ihn treibt. „Ach, wissen Sie“, sagt Lamb, „ich habe gelernt, je mehr ich gebe, desto 12 (11) Tahar Ben Jelloun Papa, was ist mehr bekomme ich zurück.“ ein Fremder? Rowohlt Berlin; 29,80 Mark So verteilt er einiges von seinem Geld für gute Zwecke und schenkt seinen Helden – 13 (10) Waris Dirie Wüstenblume den meisten jedenfalls – ein hoffnungsvol- Schneekluth; 39,80 Mark les Ende. Glaubt er doch selbst fest daran, dass in tiefster Verzweiflung ein neues 14 (–) Daniel Goeudevert Glück, wenn nicht die Freiheit zu finden ist. Mit Träumen beginnt die Realität Manche Bücher helfen dem Leser, sich Rowohlt Berlin; 39,80 Mark selbst und das Leben besser zu verste- hen, andere verschaffen ihm einfach eine 15 (12) Ruth Picardie Es wird mir kleine Verschnaufpause, während er sich fehlen, das Leben Wunderlich; 29,80 Mark gut unterhält. Lambs Romanen gelingt beides. ™

der spiegel 51/1999 219 Kultur

geradewegs auf Kreuzestod und Auferste- Den Geschichtenerzählern der vier TV-FILM hung zu. Evangelien verdankt der Film allerdings Wo es den Drehbuchautoren Suzette auch seine Schwächen: Sie fügten not- Flirtender Jesus Couture und Roger Young hilfreich er- dürftig in Zusammenhang gebrachte Ein- schien, erfanden die beiden kräftig hinzu. zelstücke aneinander, meist auf die Lehren ARD und Fernsehkanäle rund um So veralbert ein Kabarett-Abend im Haus und Wunder Jesu fixiert.Youngs Jesus-Film des römischen Statthalters Pontius Pilatus fehlt daher nicht nur ein spannender Hand- die Welt senden zu Weihnachten Reden und Taten des bekannten Messias lungsbogen, der eine Lebensgeschichte einen Jesus-Film, der prima aus Nazaret. Jesus zieht in dem Film mit Jesu erzählt, wie sie hätte sein können; die zum bunten Christbaum passt. seinem Stiefvater Joseph, gespielt von dem meisten Personen um Jesus, die Jünger bei- sich ganz diesseitig gebenden Armin Muel- spielsweise, kommen über die Rolle von as Gute zuerst: Dem soften Ame- ler-Stahl, auf Arbeitssuche durchs Land, Statisten nur wenig hinaus. rikaner Jeremy Sisto, 25, die Rolle tanzt auf Festen und flirtet mit der in ihn Die Materialfülle der Evangelien und die Ddes Jesus zu geben, war ein Treffer. verliebten Maria von Bethanien; die etwas Geschichtslast von 2000 Jahren, die den Wenn der historische Jesus so ein unkom- blutleere Italienerin Stefania Rocca aber Regisseur offenbar mehr verwirrte als an- plizierter, lebensbejahender Typ wie Je- müht sich vergebens. In jeder Hinsicht rei- regte, bekam er jedenfalls nicht in den remy gewesen wäre, was leider unbekannt fer wirkt Jacqueline Bisset als Erlöser-Mut- Griff.Vielmehr hetzt er seine Figuren rast- ist, wäre die Begeisterung seiner Anhänger ter Maria, trotz gottgefälliger katholischer los von Ereignis zu Ereignis und von Zeit- von damals besser zu verstehen. Beimischung von Heiliger Jungfrau nicht reisen zurück in die Vergangenheit zu Zeit- Auch die Filmbotschaft dieses Jeremy-Je- ganz ohne Erotik. Und selbst ein so ver- reisen nach vorn durchs Mittelalter, bis hin sus – Finger weg von Gewalt; absoluter Vor- borgenes Detail wie die Wickel-Unterhose zu den Weltkriegen des 20. Jahrhunderts. rang für die Liebe, fürs Helfen und Verzei- des 30-jährigen Jesus bekommt der Zu- Per Computersimulation werden Himmel hen – erwärmt mehr als hochgestochenes schauer nach 2000 Jahren Christentum und Hölle in Bewegung gesetzt; Jeroen Theologengewäsch. Und bei einigen Film- endlich mal zu Gesicht. Krabbé als Satan taucht wie aus den Ar- szenen, etwa beim reichen Fischfang oder Solche Zugaben tun dem Film eher chiven alter James-Bond-Filme auf. beim Urteil über die Ehebrecherin, lässt sich gut, und ein schlechtes Gewissen müssen Dem Höhepunkt der Leidensgeschichte erahnen, warum damals, zur Zeit der frühen die Filmautoren dabei nicht haben: Denn Jesu, seinen Todesqualen samt Annagelung Christen, Leute beim Erzählen solcher Ge- die Evangelien selbst sind, das ist bei der und Abnahme vom Kreuz gönnt der eilige schichten an Jesus zu glauben begannen, Mehrzahl moderner evangelischer und Young nicht einmal vier Minuten. Den To- obgleich sie ihn nie persönlich erlebt hatten. katholischer Bibelwissenschaftler nach- deskampf am Kreuz, laut Bibel ein Drama Die aufwendige, in Marokko gedrehte, zulesen, weithin eine Erfindung ihrer über sechs Stunden und Grundlage der ge- 40 Millionen Mark teure internationa- Autoren. samten christlichen Theologie, spult Young le Co-Produktion lief in Ita- in einer Minute, 18 Sekunden lien schon zur Adventszeit ab – ein bisschen wenig Ge- mit gigantisch hohen Ein- spür für die heilige Passion. schaltquoten. Etliche Fern- Womöglich scheute er die sehsender in Europa und üblichen Sündenfälle, denen Amerika strahlen den drei- die meisten Jesus-Filmer der stündigen, in 34 Länder ver- vergangenen 100 Jahre er- kauften Zweiteiler „Die legen sind: dem Oberam- Bibel – Jesus“ des amerika- mergau-Syndrom mit Drang nischen Regisseurs Roger zum frommen Klischee Young zwischen Heiligabend oder dem Hollywood-Hang und Neujahr aus. Leo Kirch, zum breitwandigen Kolossal- katholisch, Initiator und Co- Schinken. Produzent des Projekts, will Dennoch, auch Young ist der ARD-Fernsehgemeinde da wieder schwach gewor- zu Weihnachten wieder ein- den: Die Frauen stets non- mal Gutes tun*. nenhaft verhüllt, mit bleicher Der Film erzählt mehr Haut und züchtigem Blick; oder minder frei die knackigs- die Männer im biblischen ten Jesus-Geschichten aus Rembrandt-Look, der Abend- den vier Evangelien, insbe- mahlssaal im Leonardo-da- sondere dem des Johannes. Vinci-Design, das Ganze un- In Teil 1 gibt sich Jesus dabei termalt von Geigenromantik seiner Umgebung als Sohn im Orchesterklang – wohlge- Gottes zu erkennen. Er be- merkt: zu Ereignissen um das weist dies durch Wunder, wie Jahr 30 nach Christus. das Verwandeln von Wasser Und: Volksmassen, so viel in Wein oder die Heilung und wo immer es geht. „Mehr eines Gelähmten. In Teil 2 als 400 Crew-Mitglieder und steuert der Prediger und bis zu 1100 Statisten pro Wundertäter, der mit zuneh- Drehtag“, rühmt die Pro- mender Popularität der Jeru- grammdirektion des Ersten salemer Tempelaristokratie Deutschen Fernsehens das immer gefährlicher erscheint, Mammut-Unterfangen.Weni- ger wäre auch hier wieder

* Erster Teil: 25. Dezember, 18. 20 Uhr; / ARD DEGETO mal mehr gewesen. zweiter Teil: 26. Dezember, 18 Uhr. Jeremy Sisto als Jesus: Eine Minute, 18 Sekunden am Kreuz Manfred Müller

220 der spiegel 51/1999 Werbeseite

Werbeseite Kultur

SIXTINISCHE KAPELLE Über den Rand geschnuppert Nach den Michelangelo-Fresken sind in fünfjähriger Arbeit auch die Wandbilder früherer Maler strahlend restauriert worden – die Ausmalung des Sakralraums zeigt sich endlich wieder als eine sinnvolle Einheit.

ie wollten die Bilder so recht zu- sammenpassen. Immer wirkten Nmanche zu flau und grau und an- dere entsprechend unglaubwürdig grell. Nun endlich, erstmals seit Jahrhunderten, offenbaren die Malereien der Sixtinischen Kapelle im Vatikan sich als einheitliches, schlüssiges Ganzes. Man sieht die Theolo- gie viel besser – die Heilsgeschichte nimmt zwingend ihren Lauf. So ungefähr hat es Johannes Paul II. ge- deutet, als er jetzt aus seinen Gemächern an den Ort der Papstwahlen und zum Pil- gerziel unabsehbarer Touristenscharen her- unterkam. Ohne dem Kirchenoberhaupt zu widersprechen, erklären Kunsthistoriker wie Arnold Nesselrath, Direktor in den va- tikanischen Museen, die neu gewonnene Harmonie auch ganz trocken: Der große Michelangelo habe sich eben „auf die Far- bigkeit des 15. Jahrhunderts bezogen“, als er in der folgenden Epoche die Weltschöp- fung an die Decke des Raumes malte und das Jüngste Gericht an eine Stirnwand. Unvergessen ist die Aufregung, die sich erhob, als seit 1980 die Visionen dieses un- gebärdigen Genies Stück für Stück vom Staub und Ruß der Jahrhunderte gesäubert wurden und als statt des gewohnt um- wölkten ein ekstatisch leuchtender Michel- angelo zum Vorschein kam – nur scheinbar eine Verfälschung. Bizarre Nebenwirkung der Prozedur: Ältere Wandgemälde, deren Kolorit vorher fast schrill anmutete, wirk- ten danach eher dumpf; eine Restaurierung um 1970 war zu zaghaft und ungleichmäßig ausgefallen.Während der vergangenen fünf Jahre kamen dieselben Bilder also mit gu- tem Grund noch einmal in die Reinigung. Der Zyklus, von dessen ursprünglich 16 Szenen noch 12 in halber Höhe des steilen Kapellenraumes erhalten sind, stellt Moses und Jesus als Zeugen des „Alten“ und des „Neuen Bundes“ gegenüber. Er war ein Auftrag des Kapellen-Bauherrn Papst Six- tus IV. an vier umbrische und toskanische Maler der Frührenaissance: Pietro Peru- gino, Sandro Botticelli, Domenico Ghir- landaio und Cosimo Rosselli. Gleichberechtigt erscheinen sie in einem Vertrag vom 27. Oktober 1481, der sie ge- mäß je einem schon fertigen Probebild ver- pflichtet, mit ihren Gehilfen bis zum fol-

DPA * Bei der Einweihung der restaurierten Kapelle am 11. Papst Johannes Paul II. in der Sixtinischen Kapelle*: Frischer Blick auf die Heilsgeschichte Dezember.

222 der spiegel 51/1999 FOTOS: VATIKAN MUSEUM VATIKAN FOTOS: „Jüngstes Gericht“ von Michelangelo vor, nach der Restaurierung: Ekstatisch leuchtend statt umwölkt genden März zehn weitere (teils angefan- gene?) Darstellungen zu vollenden. Dass sie, angesichts hoher Konventionalstra- fen, den Termin offenbar einhielten, fin- det Forscher Nesselrath „phänomenal“, dank neuer Einsichten bei der Restaurie- rung aber nachvollziehbar. Die vier Werk- stätten müssen in enger Absprache gear- beitet haben, sie waren sich über charak- teristische Motive einig und tauschten fä- hige Spezialisten aus. Zu Stande kam ein übergreifender Gemeinschaftsstil, aus dem kein Einzelkünstler störend ausbricht. Die liebevoll-realistisch ausgemalten Botticelli-Fresko (Ausschnitt) vor, nach Restaurierung: Gemeinschaftsstil nach Absprache Fresken sehen, von Ablagerungen befreit, nun wesentlich lichter, bunter und klarer aus. Eine Sensation wie den neuen Mi- chelangelo gibt es diesmal nicht, wohl aber viele Einzel-Entdeckungen. Hier ist der Rest einer Perugino-Signatur aufge- taucht, dort hat sich eine seltsam sche- menhafte Gestalt als abgeschabt und nicht etwa übermalt herausgestellt. Auf der Sängertribüne der Kapelle kamen un- ter einem Anstrich aus dem 18. Jahrhun- dert Malereien des Quattrocento und dar- in rund 250 eingeritzte Namen im Lauf der Zeit dort tätiger Musiker zu Tage. Vielfach haben die Fachleute auch „Jüngstes Gericht“ (Ausschnitt) vor, nach Restaurierung: Die festlich-schöne Welt gesprengt einfach dank Nahsicht vom Gerüst aus Motive aufgespürt, die früher übersehen Ghirlandaio einen Jüngling schmückt und vollenden. Sein wandgroßes „Jüngstes Ge- worden waren – ein weißes Hündchen bei- so auf seinen eigenen (Künstler-)Namen richt“, für das die Perugino-Fresken mit spielsweise, das auf vier verschiedenen anspielt. der Auffindung des Moses und der Geburt Szenen sein Wesen treibt und auch einmal Michelangelo hat diese festlich-schöne Jesu zerstört wurden, bricht die Einheit über den Bildrand hinausschnuppert. Oder Kunstwelt rund 50 Jahre später provokant des Raums auf und lässt das Überwirkliche einen girlandenartigen Kranz, mit dem gesprengt, um sie, religiös gesehen, zu herein. Jürgen Hohmeyer

der spiegel 51/1999 223 SERVICE

Leserbriefe SPIEGEL-Verlag, Brandstwiete 19, 20457 Hamburg Fax: (040) 3007-2966 E-Mail: [email protected] Brandstwiete 19, 20457 Hamburg, Telefon (040) 3007-0 · Fax-2246 (Verlag), -2247 (Redaktion) Fragen zu SPIEGEL-Artikeln E-Mail [email protected] ·SPIEGEL ONLINE www.spiegel.de ·T-Online *SPIEGEL# Telefon: (040) 3007-2687 Fax: (040) 3007-2966 E-Mail: [email protected] HERAUSGEBER Rudolf Augstein SCHWERIN Florian Gless, Spieltordamm 9, 19055 Schwerin, Tel. (0385) 5574442, Fax 569919 Nachbestellung von SPIEGEL-Ausgaben CHEFREDAKTEUR Stefan Aust Telefon: (040) 3007-2948 Fax: (040) 3007-2966 STUTTGART Jürgen Dahlkamp, Katharinenstraße 63a, 73728 E-Mail: [email protected] STELLV. CHEFREDAKTEURE Dr. Martin Doerry, Joachim Preuß Esslingen, Tel. (0711) 3509343, Fax 3509341 Nachdruckgenehmigungen DEUTSCHE POLITIK Leitung: Dr. Gerhard Spörl, Michael Schmidt- REDAKTIONSVERTRETUNGEN AUSLAND für Texte und Grafiken: Klingenberg (stellv.). Redaktion: Karen Andresen, Dietmar Hipp, BASEL Jürg Bürgi, Spalenring 69, 4055 Basel, Tel. (004161) 2830474, Deutschland, Österreich, Schweiz: Dr. Hans Michael Kloth, Julia Koch, Bernd Kühnl, Joachim Mohr, Fax 2830475 Telefon: (040) 3007-2869 Fax: (040) 3007-2966 Hans-Ulrich Stoldt, Klaus Wiegrefe. Autoren, Reporter: Wolfram BELGRAD Renate Flottau, Teodora Drajzera 36, 11000 Belgrad, E-Mail: [email protected] Bickerich, Dr. Thomas Darnstädt, Hans-Joachim Noack, Hartmut Tel. (0038111) 669987, Fax 3670356 Palmer; Berliner Büro Leitung: Jürgen Leinemann, Hajo Schumacher BRÜSSEL Dirk Koch; Winfried Didzoleit, Sylvia Schreiber, übriges Ausland: (stellv.). Redaktion: Petra Bornhöft, Susanne Fischer, Martina Hil- Bd. Charlemagne 45, 1000 Brüssel, Tel. (00322) 2306108, Fax 2311436 New York Times Syndication Sales, Paris debrandt, Jürgen Hogrefe, Horand Knaup, Dr. Paul Lersch, Chris- ISTANBUL Bernhard Zand, Be≠aret Sokak No. 19/4, Ayazpa≠a, Telefon: (00331) 47421711 Fax: (00331) 47428044 toph Mestmacher, Alexander Neubacher, Dr. Gerd Rosenkranz, 80040 Istanbul, Tel. (0090212) 2455185, Fax 2455211 Harald Schumann, Alexander Szandar JERUSALEM Annette Großbongardt, 16 Mevo Hamatmid, Jerusa- für Fotos: Telefon: (040) 3007-2869 lem Heights, Apt. 8, Jerusalem 94593, Tel. (009722) 6224538-9, Fax: (040) 3007-2966 E-Mail: [email protected] DEUTSCHLAND Leitung: Clemens Höges, Ulrich Schwarz. Redaktion: Klaus Brinkbäumer, Annette Bruhns, Christian Fax 6224540 DER SPIEGEL auf CD-Rom / SPIEGEL TV-Videos Habbe, Doja Hacker, Carsten Holm, Ulrich Jaeger, Sebastian JOHANNESBURG Birgit Schwarz, P. O. Box 2585, Parklands, Telefon: (040) 3007-2485 Fax: (040) 3007-2826 Knauer, Ansbert Kneip, Udo Ludwig, Cordula Meyer, Thilo Thiel- SA-Johannesburg 2121, Tel. (002711) 8806429, Fax 8806484 E-Mail: [email protected] ke,Andreas Ulrich. Autoren, Reporter: Jochen Bölsche, Henryk M. KAIRO Volkhard Windfuhr, 18, Shari’ Al Fawakih, Muhandisin, Broder, Gisela Friedrichsen, Gerhard Mauz, Norbert F. Pötzl, Kairo, Tel. (00202) 3604944, Fax 3607655 Abonnenten-Service LONDON Michael Sontheimer, 6 Henrietta Street, London WC2E SPIEGEL-Verlag, Postfach 10 58 40, 20039 Hamburg Bruno Schrep; Berliner Büro Leitung: Heiner Schimmöller, Georg Mascolo (stellv.). Redaktion: Wolfgang Bayer, Stefan Berg, Dr. 8PS, Tel. (0044207) 3798550, Fax 3798599 Reise/Umzug/Ersatzheft Carolin Emcke, Susanne Koelbl, Irina Repke, Peter Wensierski, MOSKAU Jörg R. Mettke, Uwe Klußmann, 3. Choroschewskij Telefon: (040) 411488 Steffen Winter Projesd 3 W, Haus 1, 123007 Moskau, Tel. (007095) 9400502-04, Fax 9400506 Auskunft zum Abonnement WIRTSCHAFT Leitung: Armin Mahler, Gabor Steingart. Redaktion: NEW DELHI Padma Rao, 91, Golf Links (I & II Floor), New Delhi Dr. Hermann Bott, Konstantin von Hammerstein, Dietmar Telefon: (040) 3007-2700 110003, Tel. (009111) 4652118, Fax 4652739 Hawranek, Frank Hornig, Hans-Jürgen Jakobs, Alexander Jung, Fax: (040) 3007-2898 NEW YORK Thomas Hüetlin, Mathias Müller von Blumencron, Klaus-Peter Kerbusk, Thomas Tuma. Autor: Peter Bölke; Berliner E-Mail: [email protected] Alexander Osang, 516 Fifth Avenue, Penthouse, New York, N Y Büro Leitung: Jan Fleischhauer (stellv.). Redaktion: Markus 10036, Tel. (001212) 2217583, Fax 3026258 Abonnenten-Service Schweiz: DER SPIEGEL, Dettmer, Oliver Gehrs, Christian Reiermann, Ulrich Schäfer PARIS Dr. Romain Leick, Helmut Sorge, 1, rue de Berri, 75008 Postfach, 6002 Luzern, AUSLAND Leitung: Dr. Olaf Ihlau, Fritjof Meyer, Hans Hoyng Paris, Tel. (00331) 42561211, Fax 42561972 Telefon: (041) 3173399 Fax: (041) 3173389 (stellv.). Redaktion: Dieter Bednarz, Adel S. Elias, Manfred Ertel, PEKING Andreas Lorenz, Ta Yuan Wai Jiao Ren Yuan Gong Yu E-Mail: [email protected] Rüdiger Falksohn, Hans Hielscher, Joachim Hoelzgen, Siegesmund 2-2-92, Peking 100600, Tel. (008610) 65323541, Fax 65325453 von Ilsemann, Reinhard Krumm, Claus Christian Malzahn, Abonnement für Blinde PRAG Jilská 8, 11000 Prag, Tel. (004202) 24220138, Fax 24220138 Dr. Christian Neef, Roland Schleicher, Helene Zuber. Autoren, Deutsche Blindenstudienanstalt e. V. RIO DE JANEIRO Matthias Matussek, Jens Glüsing, Avenida São Reporter: Dr. Erich Follath, Carlos Widmann, Erich Wiedemann Telefon: (06421) 606267 Fax: (06421) 606269 Sebastião 157, Urca, 22291-070 Rio de Janeiro (RJ), Tel. (005521) WISSENSCHAFT UND TECHNIK Leitung: Johann Grolle, Olaf Abonnementspreise 2751204, Fax 5426583 Stampf (stellv.); Jürgen Petermann. Redaktion: Dr. Harro Albrecht, ROM Hans-Jürgen Schlamp, Largo Chigi 9, 00187 Rom, Tel. (003906) Inland: Zwölf Monate DM 260,– Philip Bethge, Jörg Blech, Marco Evers, Dr. Renate Nimtz-Köster, 6797522, Fax 6797768 Studenten Inland: Zwölf Monate DM 182,– Rainer Paul, Matthias Schulz, Dr. Jürgen Scriba, Christian Wüst. Au- SAN FRANCISCO Rafaela von Bredow, 3782 Cesar Chavez Street, Schweiz: Zwölf Monate sfr 260,– toren, Reporter: Henry Glass, Dr. Hans Halter, Werner Harenberg San Francisco, CA 94110, Tel. (001415) 6437550, Fax 6437530 Europa: Zwölf Monate DM 369,20 KULTUR UND GESELLSCHAFT Leitung: Wolfgang Höbel, SINGAPUR Jürgen Kremb, 15, Fifth Avenue, Singapur 268779, Tel. Außerhalb Europas: Zwölf Monate DM 520,– Dr. Mathias Schreiber. Redaktion: Susanne Beyer, Anke Dürr, (0065) 4677120, Fax 4675012 Halbjahresaufträge und befristete Abonnements Nikolaus von Festenberg, Angela Gatterburg, Hauke Goos, Lothar TOKIO Dr. Wieland Wagner, Chigasaki-Minami 1-3-5, Tsuzuki-ku, werden anteilig berechnet. Gorris, Dr. Volker Hage, Dr. Jürgen Hohmeyer, Ulrike Knöfel, Yokohama 224, Tel. (008145) 941-7200, Fax 941-8957 Dr. Joachim Kronsbein, Reinhard Mohr, Anuschka Roshani, WARSCHAU Andrzej Rybak, Krzywickiego 4/1, 02-078 Warschau, Abonnementsaufträge können innerhalb einer Woche Dr. Johannes Saltzwedel, Peter Stolle, Dr. Rainer Traub, Klaus Um- Tel. (004822) 8251045, Fax 8258474 ab Bestellung mit einer schriftlichen Mitteilung an bach, Claudia Voigt, Susanne Weingarten, Marianne Wellershoff, WASHINGTON Dr. Stefan Simons, Michaela Schießl, 1202 National den SPIEGEL-Verlag, Abonnenten-Service, Postfach Martin Wolf. Autoren, Reporter: Ariane Barth, Uwe Buse, Urs Press Building, Washington, D.C. 20 045, Tel. (001202) 3475222, 10 58 40, 20039 Hamburg, widerrufen werden. Jenny, Dirk Kurbjuweit, Dr. Jürgen Neffe, Rainer Schmidt, Cordt Fax 3473194 Zur Fristwahrung genügt die rechtzeitige Absendung. Schnibben, Alexander Smoltczyk, Barbara Supp WIEN Walter Mayr, Herrengasse 6-8/81, 1010 Wien, Tel. (00431) SPORT Leitung: Alfred Weinzierl. Redaktion: Matthias Geyer, Maik 5331732, Fax 5331732-10 ✂ Großekathöfer, Jörg Kramer, Gerhard Pfeil, Michael Wulzinger Abonnementsbestellung SONDERTHEMEN Dr. Rolf Rietzler; Heinz Höfl, Dr. Walter Knips DOKUMENTATION Dr. Dieter Gessner, Dr. Hauke Janssen; Jörg-Hin- bitte ausschneiden und im Briefumschlag senden an SONDERTHEMEN GESTALTUNG Manfred Schniedenharn rich Ahrens, Sigrid Behrend, Dr. Helmut Bott, Dr. Britta Bugiel, Lisa SPIEGEL-Verlag, Abonnenten-Service, PERSONALIEN Dr. Manfred Weber; Petra Kleinau, Katharina Busch, Heiko Buschke, Heinz Egleder, Dr. Herbert Enger, Postfach 10 58 40, 20039 Hamburg. Stegelmann Johannes Erasmus, Cordelia Freiwald, Silke Geister, Dr. Sabine Oder per Fax: (040) 3007-2898. CHEF VOM DIENST Horst Beckmann, Thomas Schäfer, Karl-Heinz Giehle, Thorsten Hapke, Hartmut Heidler, Carsten Hellberg, Gesa Körner (stellv.), Holger Wolters (stellv.) Höppner, Stephanie Hoffmann, Christa von Holtzapfel, Bertolt Ich bestelle den SPIEGEL frei Haus für DM 5,– pro SCHLUSSREDAKTION Rudolf Austenfeld, Reinhold Bussmann, Hunger, Joachim Immisch, Michael Jürgens, Ulrich Klötzer, Angela Ausgabe mit dem Recht, jederzeit zu kündigen. Dieter Gellrich, Hermann Harms, Bianca Hunekuhl, Rolf Jochum, Köllisch, Anna Kovac, Sonny Krauspe, Peter Kühn, Peter Lakemei- Zusätzlich erhalte ich den kulturSPIEGEL, das Katharina Lüken, Reimer Nagel, Dr. Karen Ortiz, Gero Richter- er, Hannes Lamp, Marie-Odile Jonot-Langheim, Michael Lindner, Dr. monatliche Programm-Magazin. Rethwisch, Hans-Eckhard Segner, Tapio Sirkka Petra Ludwig-Sidow, Rainer Lübbert, Sigrid Lüttich, Rainer Mehl, Das Geld für bezahlte, aber noch nicht gelieferte BILDREDAKTION Michael Rabanus (verantwortlich für Innere Heft- Ulrich Meier, Gerhard Minich, Wolfhart Müller, Bernd Musa, Wer- Hefte bekomme ich zurück. gestaltung), Josef Csallos, Christiane Gehner; Werner Bartels, ner Nielsen, Margret Nitsche, Thorsten Oltmer, Anna Petersen, Pe- Bitte liefern Sie den SPIEGEL ab ______an: Manuela Cramer, Rüdiger Heinrich, Peter Hendricks, Antje Klein, ter Philipp, Katja Ploch, Axel Pult, Ulrich Rambow,Thomas Riedel, Matthias Krug, Claudia Menzel, Peer Peters, Dilia Regnier, Monika Constanze Sanders, Petra Santos, Maximilian Schäfer, Rolf G. Schier- Rick, Karin Weinberg, Anke Wellnitz. E-Mail: [email protected] horn, Ekkehard Schmidt, Thomas Schmidt, Andrea Schumann- GRAFIK Martin Brinker, Ludger Bollen; Cornelia Baumermann, Eckert, Margret Spohn, Rainer Staudhammer, Anja Stehmann, Dr. Name, Vorname des neuen Abonnenten Renata Biendarra, Tiina Hurme, Cornelia Pfauter, Julia Saur, Claudia Stodte, Stefan Storz, Rainer Szimm, Dr.Wilhelm Tappe, Dr. Michael Walter Eckart Teichert, Dr. Iris Timpke-Hamel, Heiner Ulrich, Hans-Jürgen LAYOUT Rainer Sennewald, Wolfgang Busching, Sebastian Raulf; Vogt, Carsten Voigt, Peter Wahle, Ursula Wamser, Peter Wetter, Christel Basilon-Pooch, Katrin Bollmann, Regine Braun, Volker Andrea Wilkens, Holger Wilkop, Karl-Henning Windelbandt Straße, Hausnummer Fensky, Ralf Geilhufe, Petra Gronau, Ria Henning, Barbara Rödi- ger, Doris Wilhelm, Reinhilde Wurst PRODUKTION Wolfgang Küster, Sabine Bodenhagen, Frank BÜRO DES HERAUSGEBERS Irma Nelles Schumann, Christiane Stauder, Petra Thormann, Michael Weiland PLZ, Ort INFORMATION Heinz P. Lohfeldt; Andreas M. Peets, Kirsten TITELBILD Thomas Bonnie; Maria Hoffmann, Stefan Kiefer, Oliver Wiedner, Peter Zobel Peschke, Monika Zucht Ich möchte wie folgt bezahlen: KOORDINATION Katrin Klocke REDAKTIONSVERTRETUNGEN DEUTSCHLAND LESER-SERVICE Catherine Stockinger ^ Zahlung nach Erhalt der Jahresrechnung BERLIN Friedrichstraße 79, 10117 Berlin; Deutsche Politik, SPIEGEL ONLINE (im Auftrag des SPIEGEL: a + i art and infor- Wirtschaft Tel. (030) 203875-00, Fax 203875-23; Deutschland, mation GmbH & Co.) ^ Ermächtigung zum Bankeinzug Kultur und Gesellschaft Tel. (030)203874-00, Fax 203874-12 Redaktion: Hans-Dieter Degler, Ulrich Booms von 1/4jährlich DM 65,– BONN Fritz-Erler-Str. 11, 53113 Bonn, Tel. (0228) 26703-0, Fax NACHRICHTENDIENSTE AP,dpa, Los Angeles Times / Washington 26703-20 Post, New York Times, Reuters, sid, Time DRESDEN Andreas Wassermann, Königsbrücker Straße 17, 01099 Dresden, Tel. (0351) 8020271, Fax 8020275 Nachdruck und Angebot in Lesezirkeln nur mit schriftlicher Bankleitzahl Konto-Nr. DÜSSELDORF Georg Bönisch, Frank Dohmen, Barbara Schmid- Genehmigung des Verlages. Das gilt auch für die Aufnahme in Schalenbach, Andrea Stuppe, Karlplatz 14/15, 40213 Düsseldorf, elektronische Datenbanken und Mailboxes sowie für Vervielfäl- Tel. (0211) 86679-01, Fax 86679-11 tigungen auf CD-Rom. ERFURT Almut Hielscher, Löberwallgraben 8, 99096 Erfurt, SPIEGEL-VERLAG RUDOLF AUGSTEIN GMBH & CO. KG Geldinstitut Tel. (0361) 37470-0, Fax 37470-20 Verantwortlich für Vertrieb: Ove Saffe FRANKFURT AM MAIN Dietmar Pieper; Wolfgang Bittner, Felix Kurz, Christoph Pauly, Wolfgang Johannes Reuter, Wilfried Verantwortlich für Anzeigen: Christian Schlottau Voigt, Oberlindau 80, 60323 Frankfurt am Main, Tel.(069) 9712680, Gültige Anzeigenpreisliste Nr. 53 vom 1. Januar 1999 Datum, Unterschrift des neuen Abonnenten Fax 97126820 Postbank AG Hamburg Nr. 7137-200 BLZ 200 100 20 HANNOVER Hans-Jörg Vehlewald, Rathenaustraße 12, 30159 Druck: Gruner Druck, Itzehoe Widerrufsrecht Hannover, Tel. (0511) 36726-0, Fax 3672620 Diesen Auftrag kann ich innerhalb einer Woche KARLSRUHE Postfach 5669, 76038 Karlsruhe, Tel. (0721) 22737 VERLAGSLEITUNG Fried von Bismarck MÜNCHEN Dinah Deckstein, Wolfgang Krach, Heiko Martens, MÄRKTE UND ERLÖSE Werner E. Klatten ab Bestellung schriftlich beim SPIEGEL-Verlag, Bettina Musall, Stuntzstraße 16, 81677 München, Tel. (089) 4180040, Abonnenten-Service, Postfach 10 58 40, 20039 Fax 41800425 GESCHÄFTSFÜHRUNG Rudolf Augstein, Karl Dietrich Seikel Hamburg, widerrufen. Zur Fristwahrung genügt die rechtzeitige Absendung. DER SPIEGEL (USPS No. 0154-520) is published weekly. The subscription price for the USA is $310 per annum. K.O.P.: German Language Publications, Inc., 153 South Dean Street, Englewood, NJ 07631. Telephone: 1-800-457-4443. e-mail: [email protected]. Periodicals postage is paid at Englewood, NJ 07631, and at additional mailing offices. Postmaster: Send address changes to: DER SPIEGEL, German Language Publications, Inc., 153 South Dean Street, Englewood, NJ 07631. 2. Unterschrift des neuen Abonnenten SP99-003

224 der spiegel 51/1999 Chronik 11. Dezember bis 16. Dezember SPIEGEL TV

SAMSTAG, 11. 12. DIENSTAG, 14. 12. MONTAG 23.00 – 23.30 UHR SAT 1 POLEN Die 1980 gegründete Solidarno´sƒ, FAMILIE Auf ihrem kleinen Parteitag in die erste unabhängige Gewerkschaft im Berlin überarbeitet die CDU ihre fami- SPIEGEL TV REPORTAGE kommunistischen Machtbereich, verkün- lienpolitischen Grundsätze; die Christ- „Traumstraße der Welt“ – det ihren Rückzug aus der Politik. demokraten wollen homosexuelle Le- Unterwegs auf der Panamericana bensgemeinschaften künftig respektieren, KUNST Papst Johannes Paul II. weiht die aber nicht mit der Ehe rechtlich gleich- Sixtinische Kapelle im Vatikan ein: Nach stellen. 20-jähriger Arbeit ist die fast 22 Millionen Mark teure Restaurierung beendet – ATOMSTROM Die Bundestagsfraktion von nach Expertenansicht die spektakulärste Bündnis 90/Die Grünen einigt sich auf Restaurierung der Kunstgeschichte. die Forderung, die deutschen Kernkraft- werke bis spätestens zum Jahr 2018 ab- SONNTAG, 12. 12. zuschalten. FOTOS: SPIEGEL TV FOTOS: CHILE Bei den Präsidentschaftswahlen er- ZWANGSARBEITER Durchbruch bei den Panamericana ringt der Pinochet-Anhänger Joaquín La- langwierigen Auseinandersetzungen über vín fast so viele Stimmen wie der Kandi- die Entschädigungen für Zwangsarbeiter: Autor Thomas Schaefer und sein Team dat der christdemokratisch-sozialisti- Die Bundesregierung stockt den Fonds, über die Welt entlang des Panamerican schen Koalition. Die Entscheidung fällt wie von den US-Anwälten gefordert, um Highway. Zum Abschluss: Südamerika. bei den Stichwahlen im Januar. zwei Milliarden auf zehn Milliarden Die zweite von drei Folgen führt nach Ecuador und Peru (letzte Folge: 27. De- RENTE Die Verhandlungen um die Rente Mark auf. mit 60 scheitern; die Tarifpartner wollen zember). am 23. Dezember weiterverhandeln. MITTWOCH, 15. 12. DONNERSTAG KRIEG Russische Truppen dringen in die MONTAG, 13. 12. 22.05 – 23.00 UHR VOX seit Tagen umzingelte tschetschenische CDU In der Partei wächst der Druck auf Hauptstadt Grosny ein. Der russische Mi- SPIEGEL TV EXTRA Helmut Kohl, noch vor Weihnachten nisterpräsident Putin lehnt ein Vermitt- Weihnachtsmarkt der Eitelkeiten – sämtliche Informationen über seine lungsangebot der Organisation für Sicher- Merry Christmas in New York schwarzen Kassen vorzulegen. Die von heit und Zusammenarbeit in Europa ab. 299 Mark kostet zurzeit ein Flug von der Union eingesetzten Wirtschaftsprü- NIEDERSACHSEN Der Landtag in Hannover Frankfurt nach New York. So jetten vie- fer erhalten die Bankbelege über CDU- wählt Sigmar Gabriel (SPD) zum neuen Konten. Ministerpräsidenten. Der 40-jährige EUROPÄISCHE UNION Die Aufwertung der Nachfolger des zurückgetretenen Ger- Türkei als EU-Beitrittskandidat stößt auf hard Glogowski ist damit jüngster Mi- heftige Ablehnung bei CSU und FDP. nisterpräsident Deutschlands. MEDIEN Zeitungskrieg in Köln: Axel DONNERSTAG, 16. 12. Springer („Bild“) und DuMont Schau- berg („Express“) antworten auf das Gra- KRIMINALITÄT Die Europäische Union und tisblatt „20 Minuten“ des norwegischen Russland beraten in Helsinki über eine Verlags Schibsted mit eigenen kosten- wirksamere Zusammenarbeit im Bereich losen Ausgaben. der Polizei. Weihnachtsshopping in New York

Vor der Bretagne le Leute zum weihnachtlichen Einkaufs- brach der unter bummel in die Metropole am Hudson maltesischer River. Dort werden sie böse überrascht – Flagge fahrende die Preise für Konsum- und Luxusgüter Tanker „Erika“ explodieren. im Sturm ausein- ander. Der Öltep- SAMSTAG pich trieb zu- 22.30 – 0.25 UHR VOX nächst an der SPIEGEL TV Küste entlang. SPECIAL People’s Century – Das Jahrhundert der Guerrillakriege Ob in Vietnam, El Salvador, Kolumbien oder Tschetschenien – bewaffnete Rebel- len fordern mit ihrer Guerrillataktik Großmächte und Regierungen heraus.

SONNTAG RTL SPIEGEL TV MAGAZIN entfällt. REUTERS

der spiegel 51/1999 225 Register

Gestorben Das tatsächlich bald legendäre Rock-Quin- Joseph Heller, 76. Er hat sich Zeit gelas- tett, in dem Danko sen. Erst Jahre nach dem Zweiten Welt- den Bass spielte und krieg, mit Anfang 30, begann der ehemali- auch häufig sang, ge Bomberschütze, inzwischen Werbetex- nahm mit Bob Dylan ter und Familienvater, seinen Debütroman in dessen Haus in zu schreiben. Und er war 38, als „Catch- Woodstock die so 22“ 1961 in den USA erschien, zunächst genannten Basement fast unbemerkt. Es dauerte dann noch ein- Tapes auf, veröffent-

mal 13 Jahre, bis der zweite, ebenso großar- AP lichte höchst erfolgrei- tige Roman folgte: „Was geschah mit Slo- che eigene Platten und cum?“, immerhin auf Anhieb ein Erfolg. wurde 1976 von Hollywood-Regisseur Mar- Denn mittlerweile war „Catch-22“ von tin Scorsese im Musikfilm „The Last Mike Nichols verfilmt und so etwas wie Waltz“ verewigt. Seit dem Abschied von die Bibel der amerikanischen Soldaten in „Band“-Chef Robbie Robertson in den Vietnam geworden – und der Autor eine Siebzigern beteiligte sich Danko an diver- Berühmtheit. Mit keinem seiner späteren sen „The Band“-Wiederbelebungsversu- Bücher, weder dem glanzvollen Roman chen; in die Schlagzeilen brachte ihn auch „Gut wie Gold“ (1979), dem munteren Kö- seine angebliche Drogensucht. Rick Danko nig-David-Buch „Weiß Gott“ (1984), noch starb am 10. Dezember in seinem Haus in dem etwas bemühten Alterswerk „End- Marbletown im US-Bundesstaat New York. zeit“ (1994), konnte Heller an die ersten beiden Werke heranreichen: „Catch-22“ Kenny Baker, 78. Mit wurde als Antikriegsbuch schlechthin zum seiner Mainstream internationalen Millionenerfolg, die Ro- Band Bakers Dozen manfigur Bob Slocum zum Inbegriff des gehörte er zum alt- Antihelden. Der Autor, der 1981 von einer bekannten britischen Jazz-Export. Baker war ein technisch brillanter Trompeter, der sich immer an Satchmo orientierte.

Ende der sechziger D. SINCLAIR Jahre machte Baker einige Aufnahmen mit Benny Goodmans Band. Dass der Saxofonist John Dank- worth ihn einen Künstler von Weltklasse nannte, war ihm wahrscheinlich wichtiger als der Verdienstorden, den ihm die briti- sche Königin verlieh. Kenny Baker starb am 7. Dezember an einer Virusinfektion.

Berufliches

Winfried Schorre, 58. Der langjährige Vor- sitzende der Kassenärztlichen Bundesver-

GAMMA / STUDIO X einigung hat Anfang Dezember überra- schend seinen Rücktritt von diesem und al- lebensbedrohenden Muskellähmung be- len anderen Ämtern bekannt gegeben. Der fallen worden war und der Krankheit tap- Standespolitiker weigerte sich, den ärztli- fer widerstand, konnte seine Memoiren chen Kollegen die Motive seiner Demis- („Einst und Jetzt“) noch fertig stellen, in sion zu nennen – es handele sich um „aus- denen er hinreißend von seiner Kindheit schließlich persönliche Gründe“. Schorre auf Coney Island erzählt. Joseph Heller hat zwar, wie die „Medical Tribune“ mel- starb am 12. Dezember in seinem Haus auf det, eine „neue Partnerin gefunden“ und Long Island, US-Bundesstaat New York, wünsche sich für sein Privatleben nunmehr an einer Herzattacke. „eine solide Basis“. Zugleich wird der obers- te Kassenarzt von der Staatsanwaltschaft Rick Danko, 57. Schon mit 17 Jahren tin- Wuppertal verfolgt, wie die Ärztezeitung gelte der Sohn eines kanadischen Holzfäl- meldet. In Nordrhein-Westfalen geht es um lers im Gefolge eines Rockabilly-Sängers den Vorwurf von Betrug und Untreue im über die Konzertbühnen Nordamerikas. Amt, den Schorre zurückweist. Der ausge- Mitte der sechziger Jahre machte er sich bildete Psychiater verabschiedete sich von dann mit einer Gruppe selbständig, bei der den Kassenarztvertretern mit einem Ge- schon der Name Musikantenstolz und dicht, das vom Abtransport Unschuldiger Größenwahn demonstrierte: „The Band“. nach Auschwitz handelt.

226 der spiegel 51/1999 Werbeseite

Werbeseite Personalien

Salma Hayek, 32, Holly- wood-Star aus Mexiko („Wild Wild West“), erhielt Beistand von einem amerikanischen Ex-General. Anlass ist der Besuch amerikanischer Trup- pen im Kosovo, den die schö- ne Mexikanerin mit weiteren Unterhaltungskünstlern Ende November begleitete. Politi- ker des traditionell neutralen Mexiko verurteilten Salmas

R. GALELLA / CORBIS SYGMA Truppenbetreuung. „Es ist Hayek unpassend für eine mexika- nische Künstlerin, ausländi- sche Truppen in einer Kampfzone zu besuchen“, kritisierte der Vorsitzende des Senatsausschusses für ausländische Bezie- hungen, Jorge Calderón. Andere Politiker fragten, ob solche Auftritte vor Truppen einer fremden Macht nicht verfassungs- widrig seien. Er wolle die Position der mexikanischen Regie- rung nicht in Frage stellen, meldete sich vergangene Woche Ge- neral a. D. Carl E. Mundy, Chef der privaten Betreuergesell- schaft United Service Organizations, per Leserbrief in der Zei- tung „USA Today“ zu Wort. Salma Hayek sei von ihm einge- laden worden, und sie habe die Soldaten „im harten Balkan- winter“ glücklich gemacht „mit der Warmherzigkeit, Auf- richtigkeit und Charakterstärke des mexikanischen Volkes“. Die Bürger Mexikos könnten stolz sein auf diese „wunderba- re Repräsentantin ihres großen Landes“. Die 1,57 Meter große Mexikanerin sieht indes ihren Kosovo-Ausflug sehr viel pro- saischer und damit politischer gemäß ihrem Motto: „Auch die Latinos sind bereit, die USA zu verteidigen – weil auch wir lei-

denschaftlich an dieses Land glauben.“ FRANK / CORBIS SYGMA T.

Karl Lagerfeld, 61, deutscher Modedesi- sich die Geschichte. Genauso sprachen naren. Wie eng die Welten der Kicker und gner, wechselte mit seinem Outfit auch auch die minderjährigen Mädchen, die Manager verbandelt sind, will der „passio- gleich die Sprache. Seit neuestem trägt der während der Zarenzeit von der Großher- nierte Humanist“ in einem Harvard-Kurs Modefürst zum schlohweißen Pferde- zogin Elisabeth aus Moskauer Kinderbor- begriffen haben. Der Ex-Meistertrainer von schwanz statt schwarzer Yamamoto-Jacken dellen befreit wurden“. Im Übrigen gilt Real Madrid, Essayist und TV-Kommenta- alpenländische Lodenjanker aus Salzburg. dem Genussmenschen Lagerfeld: „Erlaubt tor genießt in Spanien einen Ruf wie hier So ähnlich klingt es nun auch aus Lager- ist, was gefällt.“ zu Lande Günter Netzer, denn er urteilt felds Mund. Zum ruchbar gewordenen ähnlich schneidend – und spricht genauso „Elite“-Skandal – Sexspiele mit jungen Jorge Valdano, 44, argentinischer Fuss- barock. „Im Sport wie im Geschäftsleben Models (SPIEGEL 48/1999) – wusste La- ball-Philosoph und Torschütze im siegrei- bildet man keine Teams mehr, sondern Her- gerfeld in der vergangenen Woche in ei- chen WM-Finale gegen Deutschland 1986, den“, tadelt Valdano seine Kunden aus den nem „Bunte“-Interview zu berichten: Vie- impft neuerdings spanischen Spitzenmana- Chefetagen, weil „man Angst hat vor her- le dieser Mädchen seien „B-Klasse“. Sie gern Mannschaftsgeist ein. „Eine Firmen- ausragenden Talenten. Dabei kann man nur kämen aus Russland, „wo schon zu Za- belegschaft ist wie ein Spielerkader: die mit solchen Leuten Außergewöhnliches er- renzeiten Kinderbordelle üblich waren. Menschheit im Miniaturformat“, predigt reichen“. Exzentriker wie Diego Maradona, Scheinbar mögen die Russen ganz gern der Unternehmensberater in seinen Semi- an dessen Seite er einst stürmte, seien „mit sehr unreife Jugend- Anstand in das Gesamtgefüge einzubin- liche. Die kommen Valdano (M.) beim Torschuss im WM-Finale 1986 den“. Vergangene Woche erhielt Valdano nun nach Italien, sind einen Hilferuf. Der krisengeschüttelte Ver- 12 oder 13, träumen ein Real Madrid möchte seinen Meister- von der großen Kar- trainer wiederhaben. riere und viel Geld und sagen sich, wenn Jassir Arafat, 70, Präsident der Palästi- sie sexuell benutzt nenser, reagiert nicht nur dünnhäutig auf werden: ,Papa tat das Kritik – er zeigt auch einen Hang zur Thea- auch. Aber der gab tralik. Nachdem der PLO-Chef mehrere mir kein Geld und Oppositionelle wegen eines kritischen Auf- keine schönen Klei- rufs hatte verhaften lassen, gab er sich auf der dafür.‘ Da“, so einer öffentlichen Preisverleihung betont weiß Historiker La- lässig. Einer der Preisträger, der palästi-

gerfeld, „wiederholt DPA nensische Dichter Samih Kassim, be- 228 dankte sich freundlich. Doch dann fügte te noch eins drauf. Jerry Hall sei überaus er hinzu, wenn es sein müsse, werde er sei- intelligent und urteilsfähig, Mr. Goff aber ne Feder „auch für Kritik einsetzen“. In ein „Preis-Arschloch“. diesem Moment riss Arafat einem seiner Leibwächter eine Pistole aus dem Halfter Norbert Blüm, 64, von 1982 bis 1998 deut- und drückte sie dem überraschten Dichter scher Sozialminister, wirbt weiter um Ver- mit den Worten in die Hand: „Die kannst trauen in die klassische Altersvorsorge. Fast du auch benutzen, wenn du mich korrigie- eine Stunde lang referierte Blüm („Die ren willst!“ Kassim, der sich als alter Rente ist sicher“) vor Kunden der Kölner Freund des PLO-Chefs bezeichnet und den Vermögensberatungsgesellschaft für inter- nationale Kapitalanlagen über die Probleme des Generatio- nenvertrages. Motto: „Das Ri- siko des nächsten Jahrtausends – Ihre Rente“. Die Zuhörer, die vor allem Tipps für ihre priva- te Vorsorge erwartet hatten, zeigten sich denn auch ent- täuscht: „Das hat der doch

J. ARORI J. schon immer erzählt“, maulte Kassim (l.), Arafat ein Rentner. Inwieweit der CDU-Politiker das Honorar für Aufruf der Oppositionellen ablehnt, nann- den Vortrag zur Aufbesserung der eigenen te den Zwischenfall hinterher „eine großar- Altersvorsorge verwendet, ließ Referent tige Lektion für Führer und Dichter“.Ara- Blüm auf Nachfrage lieber offen. fat habe nur einen Scherz gemacht. Kenner der arabischen Geschichte wüssten, dass Tony Blair, 46, britischer Premierminister, der PLO-Chef auf einen weisen Kalifen hat für die diesjährige Weihnachtskarte aus angespielt habe, der einst mit einer ähnli- Downing Street aufs offenbar Wesentliche chen Geste sein Volk verblüffte. gesetzt. Im vergangenen Jahr posierte der Regierungschef, tief in einen Sessel gesun- Jerry Hall, 43, Model und Ex-Ehefrau des ken, die Tochter auf dem Schoß, die beiden Alt-Rockers Mick Jagger, hat die britische Söhne und Ehefrau Cherie, 45, drum her- Literaturszene in Aufruhr versetzt. Die Te- um gruppiert, in einem weihnachtlich ge- xanerin war in die Jury des angesehenen schmückten Zimmer. In diesem Jahr fehlt Whitbread-Preises berufen worden. Das das bürgerlich Familiäre, verschwunden verleitete die Organisatoren des anderen sind die Kinder, mit ihnen das Blendax- nicht weniger bedeutenden britischen Li- lächeln des Vorjahres, die Familienfotos teraturpreises Booker zu Hohn und Spott. auf den Bücherregalen, der verrutschte Die Berufung der Blondine sei ein schwe- Krawattenknoten.Auf der Weihnachtskar- rer Fall von „Verblö- te 1999 zeigt sich das Ehepaar Blair, eng dung“. „Wo soll das hin- beieinander stehend, streng und förmlich, führen?“, ätzte Booker- in dunkler Kleidung und staatsmännischer Vorstand Martyn Goff, Pose, und der Ort der Aufnahme sind die „berufen die demnächst offiziellen Räume im 1. Stock von Downing ein Spice-Girl?“ Jerry Street 10. Das Foto sei schon vor Monaten Hall schlug, auf Bitten angefertigt worden, so die „Times“, „lan- der Whitbread-Organisa- ge bevor die Schwangerschaft Cherie Blairs toren, zurück und veröf- bekannt oder körperlich sichtbar war“. fentlichte eine Liste ihrer Lieblingsbücher, die ihre literarische Respektabi- lität bestätigen sollten. Genannt hat sie unter an-

BULLS PRESS BULLS derem „Gentlemen Pre- Hall fer Blondes“ von Anita Loos und Hemingways „Der alte Mann und das Meer“. Puschkin steht ebenso auf der Liste und auch Wil- liam Blake. Ob die Liste echt sei oder nicht, fragte sich der „Daily Telegraph“. Das ist egal, konterte der „poet laureate“ und Pro- fessor für kreatives Schreiben, Andrew Motion: „Das ist eine gute Liste. Es wäre töricht von uns, über Jerry Hall die Nase

zu rümpfen.“ Und das Whitbread-Jury- DPA mitglied Robert Harris („Fatherland“) leg- Blair-Weihnachtsgruß

der spiegel 51/1999 229 Hohlspiegel Rückspiegel

Aus der „Bild“: „1970 zerfielen die Zitate Beatles. Lennon wurde von einem Geistes- gestörten ermordet, McCartney zum Sir Die „Saarbrücker Zeitung“ über geadelt.“ den früheren SPIEGEL- Korrespondenten und heutigen Krimi- autor Eberhard Hungerbühler:

Viele fingen als Journalisten an wie Eber- hard Hungerbühler, der den „Tatort“- Kommissar „Bienzle“ auf Ganovenjagd schickt. Als er seinen ersten Roman schrieb, war er Stuttgarter SPIEGEL-Kor- Aus dem „Schweinfurter Tagblatt“ respondent. Und SPIEGEL-Chef Rudolf Augstein persönlich verpasste ihm ein Pseudonym, weil er nicht wollte, dass ein Aus der „Taunus Zeitung“: „Auf alle Fäl- SPIEGEL-Autor unter seinem eigenen Na- le werde ich versuchen, noch ein bisschen men einen Krimi veröffentlicht. Fortan hieß den Taunus zu erkunden“, erzählt Jung, Hungerbühler Felix Huby und ist heute ei- der in Straßburg das Feinschmeckerres- ner der gefragtesten deutschen Drehbuch- taurant ‚Au Crocodile – Zum Krokodil‘ be- autoren. treibt. Seit 1970 kocht und bewirtet er dort seine Gäste.“ Arnaud Leparmentier, Deutschland- Korrespondent von „Le Monde“ in „Message – Internationale Fachzeit- schrift für Journalismus“:

Für einen französischen Journalisten ist Aus dem „Birnbacher Kur Spatz“ die Rechercheleistung der deutschen Zeitungen beeindruckend. Exklusive und sehr genaue Reportagen wie im Nach- Aus der „Hessischen Allgemeinen“: „In richtenmagazin DER SPIEGEL gibt es Nordrhein-Westfalen starb bereits am in Frankreich nur selten in den Wochen- Nachmittag ein 64 Jahre alter Waldarbeiter, zeitungen. Das könnte daran liegen, dass als ein umgestürzter Baum auf ihn fiel.“ die Zeitungen nicht die Mittel haben, um einen ganzen Trupp von Journalisten gleichzeitig auf dasselbe Thema anzu- setzen.

Roger Cohen, Deutschland- Korrespondent der „New York Times“, in derselben Zeitschrift: Aus der „Rhein-Lahn-Zeitung“ Investigativer Journalismus bleibt im All- gemeinen in Deutschland unbedeutend, da nur wenige Medien umfassende Res- sourcen mobilisieren, um Informationen aufzudecken, die Regierungen oder Un- ternehmen lieber geheim halten würden. Ich vermute, dass Respekt vor Autorität, Aus dem „Jenaer Allgemeinen Anzeiger“ ein manchmal allzu trautes Verhältnis zwi- schen Journalisten und ihren Informanten und der Unwille, Monate mit einer ein- Aus der „Frankfurter Allgemeinen“: zigen Recherche zu verbringen, hinter „Nach Meinung von Babette Bürger von dieser Schwäche stecken. Sicher verdien- der Universität Köln lässt sich das Risiko, ten deutsche Geschäftspraktiken – be- an Krebs zu erkranken, am besten mit ei- sonders auf der Jagd nach Verträgen in ner vollwertigen, ausgewogenen und be- Übersee – eine Beachtung, die ihnen darfsgerechten Mischkost decken.“ die Presse selten zukommen lässt … Am ehesten, finde ich, liefert der SPIEGEL solide investigative Beiträge. Die Auf- deckung eines breit angelegten Be- trugs im Zusammenhang mit Pensionen, Aus den „Stuttgarter Nachrichten“ die an Personen in Israel gezahlt wurden, und eine gute Recherche der Shoah Foundation sind Beispiele aus der letzten Aus „auf einen Blick“: „30 Prozent der Zeit für eine beachtliche Entschlossenheit, Besucher des Oktoberfestes kommen aus komplexen Themen auf den Grund zu Europa und anderen Kontinenten.“ gehen.

230 der spiegel 51/1999