Konrad Theiss Verlag Darmstadt Nachrichten aus Niedersachsens Urgeschichte 83, 2014, 185–192 185

Die Kranenburg – zur Interpretation einer Urkunde von 1320 Michael Koch

Zusammenfassung Angeregt durch Dr. Timm Weski wurde eine erneute Untersuchung einer im Niedersächsischen Haupt- und Staatsarchiv Hannover aufbewahrten Urkunde aus dem Jahr 1320 durchgeführt. Auf dieser Grundlage kann die Identität der erwähnten „Kranenburg“ und der „Burg“ bei Steinhude (Stadt , Region Hannover, Niedersachsen) nicht bewiesen werden. Allerdings lassen sich unter Berücksichtigung der um 1300 und im frühen 14. Jahrhundert bestehenden regionalen Herrschaftsverhältnisse Indizien für eine Gleichsetzung anführen.

Schlüsselwörter Grafschaft Wunstorf, Grafschaft , Herzogtum Braunschweig, Hochstift Minden, Spät- mittelalter, Territorienbildung

The “Kranenburg” – interpretation of a document dated 1320

Abstract At the suggestion of Dr. Timm Weski, a document from the year 1320, kept in the Niedersächsische Haupt- und Staatsarchiv (main state archives) in Hanover, was re-examined. On this basis the “Kranenburg” castle mentioned in this document and the “Burg” of Steinhude (Wunstorf county, , Lower Saxony) cannot be proved to be one and the same castle. However, considering the pattern of sovereign states existing around 1300 and in the early 14thcentury, it is possible to find clues suggesting that the two names are synonymous.

Keywords Wunstorf county, Schaumburg county, duchy of Braunschweig, prince-bishopric of Minden, late Middle Ages, territory creation

Im Zuge ihrer Untersuchungen der „Burg“ bei Stein- ohne Paginierung). Ochwadt spricht ungeschickter- hude übernahmen Hans-Wilhelm Heine und andere weise unter Bezugnahme auf die Urkunde von 1320 Forscher (HEINE 1984; HEINE u. a. 2010) den Sprach- von einer Annahme und zugleich, indirekt, von gebrauch G. v. Ulmensteins. Dieser nahm 1960 an, einem „Beweis“: „... hält man es für möglich, daß dass es sich bei dieser Anlage um die in einer Urkun- diese Burg die ,Kranenburg‘ gewesen sein könnte. de vom 17. März 1320 (Abb. 1)1 erwähnte Kranen- Das bleibt freilich unsicher, solange weitere Beweise borgh handelt: „Der Name ,Kranenburg‘ wird sonst fehlen“ (OCHWADT 1967, 20). In der archäologischen nirgends erwähnt. Es kann sich nur um die Burg bei Literatur wird zwar betont, dass es sich um eine Ver- Steinhude gehandelt haben, dem ganzen Sinn nach“ mutung handelt, doch der auf nicht ausreichend ge- (ULMENSTEIN 1960, ohne Paginierung). Sieben Jah- sicherter Quellengrundlage eingeführte Namensge- re später äußerte sich derselbe als Reaktion auf die brauch für die „Burg“ bei Steinhude begann sich zu Publikation einer Quellensammlung zur Geschichte verselbstständigen. Die Anregung für eine Revision des Steinhuder Meeres durch den Schriftsteller und der Schriftüberlieferung kam von Dr. Timm Weski Verleger Curd Ochwadt noch bestimmter, allerdings bei seiner kritischen Sichtung der vorliegenden Er- ohne weitere Belege vorzubringen (ULMENSTEIN 1967, kenntnisse (siehe Beitrag Weski). Von einer gesicherten oder zwingenden Be- weislage für die Zuweisung des Quellenbeleges zur 1 Niedersächsisches Haupt- und Staatsarchiv Hannover, Celle Or. 8, Nr. 51 (= SUDENDORF 1859, Nr. 334). „Burg“ kann nicht die Rede sein. Aufgrund der mit 186 Die Kranenburg – Interpretation einer Urkunde

dem späten Mittelalter allmählich zunehmenden Inhalt der Urkunde von 1320 Schriftüberlieferung in Norddeutschland erscheint es unwahrscheinlich, dass eine im frühen 14. Jahrhun- Grundsätzlich beinhaltet die Urkunde von 1320 eine dert existente Burg heute dem Namen nach unbe- Reihe von Absichtserklärungen und liefert insofern kannt ist. Allerdings liegt eine solche Überlieferung nur eine Momentaufnahme des politischen Gesche- heute nicht unbedingt vollständig oder in unverän- hens. Formal handelt es sich um einen offenen Brief, derter Form vor. Die heute im Niedersächsischen der sich an alle Lesekundigen wendet. Darin wird Landesmuseum Hannover aufbewahrten Funde von zuerst eine Sühne zwischen Graf Adolf VII. von Carl Schuchhardt aus dem späten 19. Jahrhundert Schaumburg (1315–53) und Herzog Otto II. dem beinhalten Keramik, die, wenn sie der „Burg“ denn Strengen von Braunschweig-Lüneburg (1277–1330) zugehört, nur grob dem 13. / 14. Jahrhundert zuge- vereinbart, weil in der jüngeren Vergangenheit Unei- wiesen werden kann (HEINE u. a. 2010, 10). Nach wie nigkeiten Anlass zu Streit und Fehde gegeben hatten. vor sind also die Fragen nach dem ursprünglichen Weiterhin ist in dem offenen Brief ein Beistandspakt Namen, dem Gründer und der zeitlichen Einord- beider Landesherren gegenüber dem Hochstift Min- nung der „Burg“ bei Steinhude offen. den enthalten. Graf Adolf verspricht, dem Herzog In der angesprochenen Urkunde von 1320 wer- dienstbar zu sein und gegenüber allen zu helfen, den sechs Burgen unter den verschiedenen Bezeich- mit Ausnahme des Edelherren von der Lippe, des nungen borgh, hus und slot im Umfeld des Steinhu- Bischofs von Hildesheim und des Grafen Hermann der Meeres erwähnt, die in den Kämpfen um die von Everstein. Demgegenüber will Herzog Otto Landesherrschaft zwischen dem Hochstift Minden, den Grafen Adolf in seinen Frieden gegenüber dem den Herzögen von Braunschweig-Lüneburg, den Hochstift Minden aufnehmen und ihn gegenüber al- Grafen von Schaumburg und anderen regionalen len, mit Ausnahme dreier nicht näher bezeichneter Grafengeschlechtern eine Rolle spielten (SUDENDORF Personen, beschirmen. 1859, Nr. 334). In lateinischen Urkunden ist auch Für das gemeinsame militärische Vorgehen wer- cas trum geläufig. Keiner der in den Quellen genann- den konkrete Bestimmungen getroffen. Wenn Her- ten Begriffe erlaubt einen Rückschluss auf den enge- zog Otto die Burgen Ricklingen, Wunstorf, Bokeloh ren Gründungszeitraum oder auf die Größe der oder Blumenau, „das neue Haus des [Wunstorfer] Burg anlage. Von den in der Urkunde von 1320 ge- Grafen“, belagern will, dann verspricht ihm Graf nannten Burgen können durch ihre Nachfolgebau- Adolf, auf seine Kosten zwei Wochen lang 100 be- ten im Stadtgebiet von Garbsen Schloss Ricklingen, rittene Krieger zuzuführen. Die Entscheidung zur heute Burgstraße 18 / 20 (KRUMM 2005, 106; 209; Belagerung muss einen Monat im Voraus angekün- 214), im Stadtgebiet von Wunstorf Schloss Blume- digt werden. Gefangene, Beute oder anderes Nutzba- nau, heute Leinechaussee 1 (KRUMM 2005, 549), und res soll nach der Anzahl der am Kampf Beteiligten Schloss Bokeloh, heute Schlossstraße 22 (KRUMM aufgeteilt werden. Sind die zwei Wochen erfolglos 2005, 134; 551) sicher lokalisiert werden (siehe Abb. vergangen, so will der Graf weiterhin 60 berittene 1 in Beitrag Weski). Von der Burg in Wunstorf hat Krieger stellen, bis der Herzog sein Ziel erreicht hat. sich nichts erhalten, jedoch dürften sich die ehema- Im Hinblick auf die gemeinsamen Kriegsziele ligen Burgmannhöfe, von denen heute noch An der werden zwei Varianten skizziert: Zum Ersten wird Wassermühle 2 und Mittelstraße 3 existieren, ur- angenommen, dass die Schaumburger Vasallen und sprünglich wie ein Ring um die Burg gelegt haben. Dienstleute eine Burg einnehmen, womit offen- Demnach wird der Umriss der Burg durch den ova- bar Ricklingen, Wunstorf, Blumenau und Bokeloh len Straßenverlauf Schlobbenriede, Neue Straße und gemeint sind. In diesem Fall darf Herzog Otto mit Nordwall wiedergegeben (KRUMM 2005, 134; 527; Ricklingen, Wunstorf und Blumenau verfahren, 529). Die Rehburg ist in Teilen noch im heutigen Rat- wie er will, Bokeloh aber soll nach dem Willen des haus von Rehburg-Loccum, Heidtorstraße 2, erhal- Grafen Adolf zerstört werden. Herzog Otto soll den ten (HEINE 2010, 76). Lediglich die Kranenburg kann Kriegszug nicht eher beenden, bevor Bokeloh und bisher nicht sicher lokalisiert werden. Was die Be- Rehburg zerstört bzw. den Schaumburger Vasallen deutung des vorderen Wortbestandteils betrifft, so und Dienstleuten übergeben sind. Im Anschluss da- kann das mittelniederdeutsche Wort „Kran“ für Kra- ran will Graf Adolf die Kranenburg zerstören. Zum nich, Kran oder auch Zapfhahn stehen. Zweiten wird angenommen, dass es gelingt, Herzog Otto ohne Krieg und Belagerung zu seinen Zielen Michael Koch 187

Abb. 1 Urkunde von 1320 mit der einzigen Nennung der „Kranenburg“ (Foto: Niedersächsisches Haupt- und Staatsarchiv Hannover). 188 Die Kranenburg – Interpretation einer Urkunde

gegenüber dem Hochstift Minden und hinsichtlich Wunstorf, die sich zunächst noch behaupten konn- der vorbenannten Burgen zu verhelfen. In diesem ten. Nördlich vom schloss sich der Fall will Graf Adolf ihm 300 Mark bremisches Sil- Herrschaftsbereich der Grafen von Wölpe an. ber in der Stadt Hannover zur Verfügung stellen. Im Laufe des späten Mittelalters konnten sich Außerdem wollen „ohne jeglichen Verzug“ Herzog die Welfen östlich und im nördlichen Bogen um das Otto die Rehburg und Graf Adolf die Kranenburg Steinhuder Meer bis zur Weser als Landesherren zerstören. Zukünftig soll es keinem der beiden Ver- durchsetzen. Die Grundlage dafür schufen sie aus- tragspartner erlaubt sein, eine Burg zwischen dem gangs des 13. Jahrhunderts. 1294 mussten sich Graf Steinhuder Meer und dem langen damme zu erbau- Adolf VI. von Schaumburg und 1302 / 03 Graf Jo- en. Will dennoch einer der Vasallen oder Dienstleute hann von Wunstorf nach gescheiterten Fehden gegen des Herzogs oder des Grafen dort eine Burg erbauen, Herzog Otto zu einem lebenslangen Dienstverhält- so wollen beide dies mit aller Macht verhindern. Bei nis verpflichten (SCHUBERT 1997, 728, 738; BIERMANN Uneinigkeit oder Feindschaft zwischen dem Grafen 2007, 512). 1320 wurde erneut ein begrenztes Dienst- und dem Herzog entfallen die Bestimmungen über verhältnis Graf Adolfs VII. gegenüber Herzog Otto den Burgenbau. Weiterhin will Graf Adolf versuchen, begründet (SUDENDORF 1859, Nr. 334). Hinsichtlich den Edelherren zur Lippe in den Beistandspakt ein- der Herrschaft Wölpe hatten die Welfen das Glück, zubeziehen. Gelingt ihm das nicht, so will er den dass die Grafen keinen männlichen Erben hatten Edelherren und den Herzog zumindest dazu bringen, und bereits 1301 ihre Herrschaft an den Grafen sich während des Kriegszuges gegen das Hochstift von Oldenburg-Delmenhorst veräußerten, von dem Minden gegeneinander neutral zu verhalten. sie 1302 an den Welfenherzog Otto II. den Stren- gen gelangte (SCHUBERT 1997, 730). Die Wunstorfer Grafen wurden 1300 nach verlorener Fehde gegen Herrschaftsverhältnisse im nördlichen den Bischof von Minden in die Gefangenschaft nach Schaumburger Land Minden geführt und mussten bedeutende Pfandgü- ter aufgeben. Der Bischof hatte sich hierbei auf ein Im Umfeld des zwischen Weser und Leine gelege- Bündnis mit Herzog Otto von 1299 gestützt (WUB nen Steinhuder Meeres, das zur Mindener Diözese VI, Nr. 1632). Burg, Stadt und Stift Wunstorf sollten gehörte, waren im 13. und 14. Jahrhundert die Gra- ganz an den Bischof fallen, die restliche Grafschaft fengeschlechter von Schaumburg, von Wölpe, von gleichmäßig aufgeteilt werden. Nach dem Beschluss Wunstorf (auch: von Roden), die herzoglichen Häu- von 1299 sollten die beiden gräflichen Burgen Rick- ser von Sachsen-Lauenburg (Askanier) und Braun- lingen und Bordenau an der Leine erobert und eine schweig-Lüneburg (Welfen) und die Bischöfe von davon aufgegeben werden. Der Teilungsplan schei- Minden aktiv. Wichtigste territorialpolitische Inst- terte am Widerstand der umliegenden gräflichen Dy- rumente waren die Landgewinnung mittels Rodung nasten (KUCK 2000, 94). Für die Wiedereinsetzung in und die Gründung bzw. der Besitz von Burgen und seine Grafschaft übertrug Graf Johann 1303 die Burg Städten. Die territorialen Ansprüche des Mindener Ricklingen dem Mindener Bischof und erhielt sie als Bischofs konnten zunächst seit dem frühen 13. Jahr- Lehen zurück. Sie befand sich noch 1319 in Minde- hundert gegenüber den Grafengeschlechtern merk- ner Pfandbesitz und wurde 1333 von den Wunstor- lich ausgebaut werden. In der Mitte des 13. Jahrhun- fern an die Welfen übereignet (KUCK 2000, 89, 123). derts war der Bischof Oberlehnsherr zwischen Weser Seit dem ausgehenden 13. Jahrhundert gelang es und Leine und auf dem Zenit seiner Macht. In der auch den Schaumburger Grafen, zwischen Steinhu- zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts musste der Bi- der Meer und Bückeburg ihre Landesherrschaft zu schof aber erkennen, dass der Aufbau einer geschlos- etablieren. Als Mindener Lehen besaßen sie seit 1297 senen Landesherrschaft im Osten unmöglich war. Zu Sachsenhagen, eine Burggründung der Askanier um groß waren der Widerstand der Grafengeschlechter 1250, und seit seiner Burg- und Stadtgründung um und die Konkurrenz der nach Westen ausgreifenden 1230 (südwestlich von Sachsenhagen). Welfen. Vor dem Hintergrund finanzieller Nöte wur- Um 1300 standen beide dem Hochstift Minden den fast sämtliche Mindener Besitzungen südwest- nicht mehr zur Verfügung (KUCK 2000, 89). HUSMEIER lich vom Steinhuder Meer den Grafen von Schaum- (2008, 204) geht davon aus, dass die Schaumburger burg überlassen. Im Südosten des Steinhuder Meeres Grafen in der Mitte des 14. Jahrhunderts in Altenha- befand sich das Herrschaftsgebiet der Grafen von gen Fuß fassten und hier die 1369 erstmals genannte Michael Koch 189

Hagenburg errichteten, über die sie auf jeden Fall 1324 wurde Ludwig aus dem welfischen Her- 1378 verfügten. Abweichend meint BIERMANN (2007, zogshaus Bischof von Minden, was den Zielen der 220), dass die Wunstorfer Rodungskolonien um Al- Welfen gegenüber dem Hochstift Minden und den tenhagen, Steinhude und Bokeloh bereits vor 1297 Wunstorfer Grafen entgegenkam. Bischof Ludwig an die Schaumburger verloren gingen. traf 1336 / 39 die Entscheidung, seinen Brüdern Otto Nach Auseinandersetzungen über das Stadtregi- III. und Wilhelm von Lüneburg die Vormundschafts- ment in Wunstorf und der erneuten Gefangennahme regierung über das Hochstift Minden anzutragen, die der Grafen durch den Bischof in den Jahren 1314 / 15 daraufhin die beiden Burgen Bokeloh und Petersha- kam es am 2. November 1317 zu einer grundlegen- gen zur Verteidigung der Stiftsinteressen übernah- den Einigung zwischen dem Bischof von Minden men (KUCK 2000, 101 f.). Alle Mindener Burgen, de- und den Wunstorfer Grafen (WUB X, Nr. 557; KUCK ren Einlösung den Herzögen gelänge, sollten gegen 2000, 94; BIERMANN 2007, 507). Unter anderem war Kostenerstattung, unbelastete Festungen hingegen vorgesehen, dass die Burg in Wunstorf zerstört wer- gleich nach Ablauf der Vormundschaft an das Hoch- den sollte. Allerdings wurde eine Rücktrittsklausel stift zurückgegeben werden. Burg Bokeloh konnte hinzugefügt, falls sich beide Seiten anderweitig eini- letztlich erst 1352 aus welfischer Hand wieder einge- gen konnten. Die Burg Bokeloh – nach dem Chro- löst werden. nisten Hermann von Lerbeck bereits unter Bischof Ludolf (1295–1304) nach 1299 errichtet (KUCK 2000, 94) – wurde mit allem Zubehör dem Hochstift Min- Zur Gründung und Verortung der Kranenburg den überlassen. Weiterhin durften die Grafen erneut eine Burg an einem Ort namens Borstelde errichten, Zunächst wenden wir uns der Frage nach den Besit- dessen Name auf eine ältere Haus- oder Burgstelle zern der in der Urkunde von 1320 genannten Burgen hindeutet. Diese Burg erscheint drei Jahre später als zu. Die Burgen Wunstorf und Ricklingen waren im „neues Haus“ und nachfolgend als Burg Blumenau. Frühjahr 1320 Mindener Lehen im Besitz der Gra- Wohl vor allem die 1317 vorgesehene Übernahme fen von Wunstorf. Bokeloh gehörte dem Hochstift und der Ausbau der Burg Bokeloh durch das Hoch- mutmaßlich seit 1317 uneingeschränkt, Blumenau stift Minden veranlassten Herzog Otto drei Jahre war hingegen gräflicher Erbbesitz. Ungeklärt ist, später, einen Ausgleich mit dem Grafen Adolf von wem die Rehburg und die Kranenburg gehörten. Schaumburg zu suchen und ihn für ein gegen das SPILCKER (1827, 111 f.) erwägt eine Gründung der Hochstift Minden gerichtetes Bündnis zu gewinnen. Rehburg durch die Grafen von Wölpe, während SU- SUDENDORF (1859, LXI) vermutet, dass die Fehde DENDORF (1859, LX) die Braunschweiger Herzöge in Herzog Ottos gegen das Hochstift Minden keinen Betracht zieht. Neuerdings wird angenommen, dass Erfolg hatte, da Ereignisse im Osten des welfischen sie vom Kloster Loccum errichtet und 1331 / 44 von Herrschaftsbereiches seine Aufmerksamkeit in An- den Welfenherzögen erworben wurde (KUCK 2000, spruch nahmen. 1333 erhielten die Herzöge im Streit 108 Anm. 981; 121 mit Anm. 1085). Offenbar waren mit dem Grafen von Wunstorf ein erneutes Hilfever- die Welfen aber bereits vor 1331 im Pfandbesitz der sprechen des Grafen von Schaumburg, woraufhin Rehburg (SUDENDORF 1859, Nr. 522–523, 529; 1860, der Wunstorfer die Burg Ricklingen mit weiteren Be- Nr. 84). Der Fund eines Topfhelmes der Zeit um 1300 sitzungen den Welfen überlassen musste (SUDENDORF von hier könnte auf ein Bestehen der Burg zu dieser 1859, Nr. 557–558; BIERMANN 2007, 507). Noch 1334 Zeit hindeuten, während ein Dolch mit Scheidenbe- sagten die Grafen von Wunstorf dem Bischof von schlägen aus der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts, Minden ein Vorkaufsrecht beim Verkauf ihrer Graf- die die Wappen der Schaumburger und der Welfen schaft zu (SUDENDORF 1859, Nr. 573). Eine Anleh- zeigen, in Verbindung mit dem Bündnis von 1320 nung an die Welfen wird 1356, 1359 und 1364 deut- gebracht wird (HEINE 2010, 78). lich, als die Wunstorfer mit ihren Burgen Wunstorf Angesichts der Frage nach dem möglichen und Blumenau in den Dienst Herzog Wilhelms traten Gründer der Kranenburg wurden der Bischof von und ihm zugleich ein Näherrecht beim Verkauf ihrer Minden, der Graf von Schaumburg und der Graf von Herrschaft einräumten (KUCK 2000, 108, Anm. 984; Wunstorf herangezogen. SUDENDORF (1859, LX) ver- SCHUBERT 1997, 738). In der Mitte des 15. Jahrhun- mutete, dass die Gründung der Kranenburg vom derts erfolgte schließlich der endgültige Verkauf der Schaumburger Grafen als unmittelbare Gegenreak- Herrschaft Wunstorf an die Welfen. tion auf die Errichtung der Rehburg durch die Welfen 190 Die Kranenburg – Interpretation einer Urkunde

anzusehen sei, womit er die beiden Burgen, ohne die (SUDENDORF 1860, Nr. 21 von 1342). Für die Burg in Kranenburg genau zu lokalisieren, in einen räumli- Wunstorf wurde im Vertrag von 1317 die Zerstörung chen Bezug zueinander gestellt hat. Weder zum zugunsten der beiden Burgen Bokeloh und Blume- Gründer noch zur weiteren Einordnung liegen aber nau beschlossen, doch offenbar rückte man von die- gesicherte Erkenntnisse vor. Die Grafen von Schaum- ser Entscheidung wieder ab. burg gelangten mit HUSMEIER (2008, 204) wohl erst Kommen wir nun zu der 1320 zwischen Her- um die Mitte des 14. Jahrhunderts an Besitzungen in zog Otto und Graf Adolf vereinbarten „burgenfreien unmittelbarer Nähe des Steinhuder Meeres. Nach Zone“ zwischen Steinhuder Meer und dem langen BIERMANN (2007, 220) erscheinen sie hier hingegen damme, deren Lage nicht abschließend geklärt wer- schon vor 1297. Sie verfolgten offensichtlich im frü- den kann. Bezüglich des langen dammes wurde hen 14. Jahrhundert im Umfeld der Rehburg eigen- von SUDENDORF (1859, 189) eine westlich des Stein- ständige Interessen, wofür allein schon die Berück- huder Meeres gelegene urgeschichtliche Wallanlage sichtigung dieser Burg im Bündnis von 1320 spricht. bei Leese (latus agger) herangezogen. Orts- bzw. Nach dem Wortlaut der Urkunde von 1320 war der Straßennamen „Langendamm“, „Damm“ gibt es Graf von Schaumburg offenbar imstande, die Kra- aber auch andernorts, so etwa der nördlicher gele- nenburg unverzüglich zu brechen, was voraussetzt, gene Langendamm, heute namengebend für einen dass er bereits über sie verfügte. Auch Herzog Otto Ortsteil von Nienburg an der Weser, und die Stra- wollte die Rehburg umgehend zerstören, war also ße Langendamm in Rahden westlich der Weser. Als ebenfalls schon im Besitz der Rehburg. Hiermit im Landmarke für eine „burgenfreie Zone“ erscheinen Einklang steht jene Vereinbarung zum militärischen die genannten Örtlichkeiten entweder zu marginal Vorgehen, die eine Übergabe der Rehburg an die oder zu weit entfernt. Eine andere Lösung bietet Schaumburger Partei vorsah. Offen bleibt die Frage, sich eventuell mit dem Verlauf des Hellwegarmes zu welchem Zeitpunkt der Schaumburger Graf in von Minden in Richtung Hannover an (frdl. Hinweis den Besitz der Kranenburg gelangt ist. Dr. Gerhard Streich, vorm. Institut für Historische Selbst wenn die geplante Fehde gegen das Hoch- Landesgeschichte, Universität Göttingen). Nach stift Minden tatsächlich stattgefunden hat, kam es dem Wortlaut der Urkunde von 1320 sollten nur in ihrer Folge offenbar zu keiner lange anhaltenden die Burgen Bokeloh südlich des Steinhuder Meeres, oder kompletten Zerstörung der Burgen Bokeloh die Rehburg östlich desselben (alternativ: Übergabe und Rehburg, die wenige Jahre später in Funktion an die Schaumburger) und die Kranenburg zerstört belegt sind. Möglicherweise wurde die Kranenburg werden. Während sich die Braunschweiger Herzöge, durch den Schaumburger zerstört, allerdings lässt wie schon 1299 vereinbart, 1320 einen Teil der Graf- sich dies nur aus dem Schweigen der Quellen schlie- schaft Wunstorf ihrer Landesherrschaft einverleiben ßen. Unter dem Brechen bzw. Zerstören einer Burg wollten, verfolgte der Schaumburger Graf im Raum wurde sicherlich nicht nur ein symbolischer Akt, südwestlich und westlich des Steinhuder Meeres sei- sondern ein nachhaltiges Ausschalten einer zu- ne eigenen Interessen. Aufgrund dieser politischen künftigen Nutzung verstanden. Ob es tatsächlich Konstellation ist es wahrscheinlich, dass sich die zum Vollzug kam, kann auf der Grundlage jüngerer „burgenfreie Zone“ südlich des Steinhuder Meeres Quellen entschieden werden. Beispielsweise sollte erstreckte, wohin die Welfen und die Schaumburger die mit welfischer Beteiligung zwischen Bückeburg beabsichtigten, in Konkurrenz zum Hochstift Min- und Minden erbaute Burg Arnheim (Hus Aren) nach den ihre Landesherrschaft auszudehnen. einem Minden-Schaumburger Beschluss von 1302 Angesichts ihrer Erwähnung 1320 im Kreis si- abgebrochen werden. Für den Vollzug spricht die cher zu verortender Burgen darf für die Kranenburg von Bischof Gerhard II. (1361–1366) überlieferte wohl zu Recht von einer Lage im näheren Umfeld Absicht, die Anlage neu zu befestigen (KUCK 2000, von Wunstorf bzw. in der Grafschaft Wunstorf aus- 28; 81; 84). Die Wunstorfer Burgen Bordenau und gegangen werden. In diesem Zusammenhang fällt Ricklingen sollten im Zuge der Abmachungen zwi- die Nennung einer „neuen Burg an einem Ort na- schen Bischof Ludolf und Herzog Otto von 1299 er- mens Carnewinckel“ auf, deren Erbauung 1236 / 42 obert und eine der beiden zerstört werden (WUB VI, von Bischof Wilhelm von Minden und Graf Konrad Nr. 1632). Beide sind aber später noch in Funktion verabredet wurde. Der Flurname wird nur zweimal belegt: Ricklingen bis 1333 als Burg der Wunstorfer, genannt. Bisher wurde eine Identität mit Burg Bo- danach der Welfen, und Bordenau als welfische Burg keloh, Burg Bordenau oder eine Ortslage bei Liebe- Michael Koch 191

nau erwogen (SUDENDORF 1859, XVI; HOMEYER 1984; Grundsätzlich lassen sich mehrere Indizien, die KUCK 2000, 70 mit Anm. 675, 72–74). Die beiden anzunehmende Lage der „neuen Burg an einem Ort ersten Annahmen sind rein hypothetisch und kön- namens Carnewinckel“ bei Wunstorf, die Vorherr- nen nicht schlüssig belegt werden. Die zuletzt ge- schaft der Grafen von Wunstorf südlich des Steinhu- nannte Möglichkeit fällt aus, weil als Aufgabe der der Meeres um 1300 und vielleicht auch die lautliche „neuen Burg an einem Ort namens Carnewinckel“ Nähe der Worte „Kranenburg“ und „Carnewinckel“ ausdrücklich die Verteidigung der Mindener Be- für eine Identität der Kranenburg mit der „neuen sitzungen um Wunstorf, der advocatia des Grafen Burg an einem Ort namens Carnewinckel“ und der Konrad extra civitatem Wunnestorp, bezeichnet „Burg“ bei Steinhude anführen. Eine gesicherte Be- wird (WUB VI, Nr. 306, 379). Das wiederum macht weislage besteht aber nicht. So bleibt es zukünftigen eine Lage inmitten oder am Rand des Schutzobjek- Forschungen überlassen, bislang nicht beachtete Lo- tes erforderlich. KUCK (2000, 74) hält das Problem kalitäten und Zusammenhänge in die Betrachtung der Lokalisierung der „neuen Burg an einem Ort einzubeziehen. namens Carnewinckel“ für nicht abgeschlossen, verneint aber aus nicht nachvollziehbaren Gründen eine Verortung bei Wunstorf. 1247 ist in einem Min- den-Wunstorfer Vertrag ohne nähere Einzelheiten QUELLENEDITIONEN von einer bestehenden „neuen Burg“ im Besitz des Grafen Ludolf die Rede (WUB VI, Nr. 475). Diese Landesarchiv NRW [Nordrhein-Westfalen], Abt. Westfalen, Fürstentum Urkunde ist als Transsumpt im Zuge der Erneuerung und Domkapitel Minden, Urkunden, Nr. 68a. des Vertrags durch Graf Johann 1290 überliefert, was SUDENDORF 1859 auf ein Weiterbestehen des Vertragsobjektes hindeu- H. SUDENDORF, Urkundenbuch zur Geschichte der Herzöge von tet. Ebenfalls auffällig erscheint die lautliche Nähe Braunschweig und Lüneburg und ihrer Lande. I : Bis zum Jahre von „Carne- / Karne-“ zu „Kranen-“, die auf einem 1341. II : 1342–1356 (Hannover 1859 / 1860). bloßen Lautstellungswechsel beruhen könnte. Mög- WUB VI licherweise liegt eine sprachliche Entwicklung von H. HOOGEWEG (Bearb.), Westfälisches Urkundenbuch VI: Die Ur- „Burg am Carnewinckel“ zu „Kranenburg“ vor. kunden des Bistums Minden von 1200–1300 (Münster 1898). Abschließend soll die Aufmerksamkeit von der WUB X Kranenburg auf die „Burg“ bei Steinhude gelenkt J. PRINZ (Bearb.), Westfälisches Urkundenbuch X: Die Urkunden werden. Zunächst soll versucht werden, den Kreis des Bistums Minden von 1301–1325² (Münster 1977). der potentiellen Gründer der „Burg“ zu benennen. Dabei soll noch einmal in Erinnerung gerufen wer- den, dass die Grafen von Wunstorf (von Roden) im hohen Mittelalter südlich des Steinhuder Meeres LITERATURVERZEICHNIS Rodungssiedlungen angelegt haben. Auch der alte Fischerort Steinhude war im Besitz dieser Grafen BIERMANN 2007 (HUSMEIER 2008, 562; vgl. BIERMANN 2007, 220 mit F. B IERMANN‚ Die Adelsherrschaften an Ober- und Mittelweser des Anm. 649). Zugleich gelten sie als Gründer der Bur- 13. und 14. Jahrhunderts im Kräftespiel zwischen einer neu for- gen Wunstorf (vor 1206), Ricklingen (vor 1208) und mierten welfischen Hausmacht und expandierenden geistlichen Bordenau (vor 1299) (KUCK 2000, 64, Anm. 633, 88, Territorien. Veröffentl. Inst. Hist. Landesforsch. Univ. Göttingen Anm. 820; WUB VI, Nr. 1632). Als der Graf von 49 (Bielefeld 2007). Wunstorf dem Mindener Bischof 1300 das Recht zu- HEINE 1984 gestand, auf dem Steinhuder Meer zwölf Schiffe zu W. H EINE, Eine Burgstelle, vermutlich die Kranenburg im Steinhu- unterhalten, waren sich beide Seiten darüber einig, der Meer. Nachr. Nieders. Urgesch. 53, 1984, 235–241. dass der Graf hier Landesherr war (Landesarchiv HEINE 2010 NRW, Abt. Westfalen, Fürstentum und Domkapitel H.-W. HEINE, Schaumburger Land – Burgenland. Die mittelalter- Minden, Urkunden, Nr. 68a). Wenn also die „Burg“ lichen Burgen der alten Grafschaft Schaumburg. Wegweiser zur bei Steinhude tatsächlich um bzw. vor 1300 errichtet Vor- und Frühgeschichte Niedersachsens 29 (Oldenburg 2010). wurde, kann man aufgrund der allgemeinen Macht- HEINE u. a. 2010 und Rechtsverhältnisse die Grafen von Wunstorf als H.-W. HEINE / R. KNIESS / B. ULRICH / H. ZÖLLNER, Die „Kranen- ihre Gründer postulieren. burg“– eine Spurensuche im Steinhuder Meer. Ber. Denkmalpfl. 192 Die Kranenburg – Interpretation einer Urkunde

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