Plenarprotokoll 13/96

Deutscher

Stenographischer Bericht

96. Sitzung

Bonn, Freitag, den 15. März 1996

Inhalt:

Zur Geschäftsordnung 8539 A Dr. BÜNDNIS 90/DIE GRÜ NEN 8549 C Dr. PDS 8539 A SPD 8550 B Simone Probst BÜNDNIS 90/DIE GRÜ Jörg Tauss SPD 8551 A NEN 8539 D Dr. PDS 8551 A Joachim Hörster CDU/CSU 8539 D Christa Nickels BÜNDNIS 90/DIE GRÜ Dr. Peter Struck SPD 8540 B NEN 8551 C Jörg van Essen F.D.P. 8540 C Dr. Rainer Ortleb F.D.P. 8553 D, 8556 D Tagesordnungspunkt 8: (Köln) BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 8556 A Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P.: Verfassungsgebotene Ein-- Antje Hermenau BÜNDNIS 90/DIE GRÜ führung des Religionsunterrichts als NEN 8557 B ordentliches Lehrfach in Brandenburg Maritta Böttcher PDS 8557 D (Drucksache 13/4073) 8540 D CDU/CSU . . 8558 D, 8561 D, in Verbindung mit 8562 C Gerald Häfner BÜNDNIS 90/DIE GRÜ Zusatztagesordnungspunkt 11: NEN 8561 A Antrag der Abgeordneten Christa Peter Conradi SPD 8562 B Nickels, Volker Beck (Köln), Gerald SPD 8562 D, 8565 C Häfner und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Das Reformpro- Dr. F D P. 8565 A jekt ,,Lebensgestaltung-Ethik-Religi- onskunde" an Brandenburger Schulen Namentliche Abstimmung 8565 D als Beitrag zur Vermittlung von Wert- Ergebnis orientierung (Drucksache 13/4090) . 8541 A 8569 C Dr. Wolfgang Schäuble CDU/CSU . . . 8541 A, Tagesordnungspunkt 9: 8549 D, 8550 C a) Antrag der Dr. Hans Otto Bräutigam, Minister (Bran Fraktion der SPD: Forde- rungen an die Konferenz zur Überprü- denburg) 8545 A, 8549 B, 8565 D fung des Maastricht-Vertrages zur Dr. Wolfgang Schäuble CDU/CSU . . 8547 C Schaffung eines europäischen Be- Dr. Reinhard Göhner CDU/CSU . . . 8548 A schäftigungspaktes und einer europäi- schen Sozialunion (Drucksache 13/ Jürgen Türk F.D.P. 8549 A 4002) 8566 B II Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 96. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. März 1996 b) Große Anfrage des Abgeordneten Tagesordnungspunkt 10: Christian Sterzing und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Vorberei- a) Zweite und dritte Beratung des von tung der Regierungskonferenz '96 den Fraktionen der CDU/CSU und („Maastricht II") (Drucksachen 13/ F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines 1471, 13/3198) 8566 B Ersten Gesetzes zur Änderung des Elften Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze (Pflegefachkräfte) in Verbindung mit (Drucksache 13/3696) 8593 C

Zusatztagesordnungspunkt 12: b) Zweite und dritte Beratung des von der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Antrag der Abgeordneten Manfred eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes Müller (), Hanns-Peter Hart- zur Ergänzung des Pflege-Versiche- mann, Dr. Willibald Jacob und der rungsgesetzes (Drucksachen 13/99, Gruppe der PDS: Eine gemeinsame Be- 13/1845, 13/4091) 8593 C schäftigungs- und Sozialpolitik für Birgit Schnieber-Jastram CDU/CSU . . 8593 D die Europäische Union (Drucksache 13/4072) 8566 C SPD 8595 A (Bremen) BÜNDNIS 90/ in Verbindung mit DIE GRÜNEN 8597 A

Zusatztagesordnungspunkt 13: Dr. F.D.P 8598 C Petra Bläss PDS 8600 B Antrag des Abgeordneten Christian Sterzing und der Fraktion BÜNDNIS Karl-Josef Laumann CDU/CSU 8601 B 90/DIE GRÜNEN: Die Regierungs- konferenz '96 als Wegbereiterin für Ulrike Mascher SPD 8602 B eine soziale und ökologische Reform der Europäischen Union (Drucksache Dr. Norbert Blüm, Bundesminister BMA 8604 B 13/4074) 8566 C Namentliche Abstimmung 8606 C Heidemarie Wieczorek-Zeul SPD . 8566 D, 8577 C

Hans-Peter Repnik CDU/CSU 8571 D Ergebnis 8607 A Christian Sterzing BÜNDNIS 90/DIE GRÜ NEN 8573 C Tagesordnungspunkt 11: Dr. F.D.P. 8575 C Große Anfrage der Abgeordneten - Andrea Lederer, Hein rich Graf von Manfred Müller (Berlin) PDS 8577 D Einsiedel, Dr. Willibald Jacob und der weiteren Abgeordneten der PDS: Dr. , Staatsminister AA . 8580 D Kriege und bewaffnete Konflikte in SPD 8581 D Europa und in der Welt (Drucksachen 13/636, 13/2982) 8606 D Hartmut Schauerte CDU/CSU . . . 8583 A Dr. Susanne Tiemann CDU/CSU . . . 8584 B Nächste Sitzung 8609 C Petra Bläss PDS 8585 B Anlage 1 Leyla Onur SPD 8585 C Liste der entschuldigten Abgeordneten . 8611* A Dr. CDU/CSU . 8586 D

Heidemarie Wieczorek-Zeul SPD . . 8587 B Anlage 2 Dr. Norbert Wieczorek SPD 8588 C Erklärungen nach § 31 GO zur Abstim- Rudolf Kraus, Parl. Staatssekretär BMA 8589 A mung über den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P.: Verfassungsgebo- Peter Dreßen SPD 8590 C tene Einführung des Religionsunterrichts als ordentliches Lehrfach in Brandenburg Norbert Schindler CDU/CSU 8591 A (Tagesordnungspunkt 8) Dr. Gerd Müller CDU/CSU 8592 B Robert Antretter SPD 8611* C Leyla Onur SPD 8593 A Hans Büttner (Ingolstadt) SPD 8611* D Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 96. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. März 1996 III

Anlage 3 Günther Friedrich Nolting F.D.P. . . . 8614* A

Zu Protokoll gegebene Reden zu Tages- Steffen Tippach PDS 8614* D ordnungspunkt 11 (Große Anfrage: Kriege und bewaffnete Konflikte in Europa und in Dr. Werner Hoyer, Staatsminister AA . 8616* C der Welt) Christian Schmidt (Fürth) CDU/CSU . . 8611* D Anlage 4 BÜNDNIS 90/DIE GRÜ NEN 8613' B Amtliche Mitteilungen 8617* C

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Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 96. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. März 1996 8539

96. Sitzung

Bonn, Freitag, den 15. März 1996

Beginn: 9.00 Uhr

Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Liebe Kolleginnen Abgesehen von dem konkreten Problem wird ein ge- und Kollegen, die Sitzung ist eröffnet. fährlicher Präzedenzfall des Überschreitens bundes- politischer Kompetenz geschaffen. Das erinnert ver- Die Gruppe der PDS hat beantragt, den Tagesord- dammt an Weimarer Verhältnisse. nungspunkt 8, Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und der F.D.P. zur verfassungsgebote- (Widerspruch bei der CDU/CSU und der nen Einführung des Religionsunterrichts als ordent- F.D.P.) liches Lehrfach in Brandenburg, von der Tagesord- Überlassen Sie die Diskussion den Brandenburge- nung abzusetzen. rinnen und den Brandenburgern, insbesondere den Wird zu diesem Geschäftsordnungsantrag das Landtagsabgeordneten. Sollten Sie dann immer noch Bauchschmerzen haben, dann können Sie sich vom Wort gewünscht? - Frau Enkelmann. Bundesverfassungsgericht kurieren lassen. (Beifall bei der PDS sowie bei Abgeordne Dr. Dagmar Enkelmann (PDS): Frau Präsidentin! ten der SPD) Meine Damen und Herren! Wir haben diesen Antrag nicht aus Angst vor der Debatte gestellt. Wir meinen schon, daß es gute Gründe gibt, sachlich, realitätsbe- Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Frau Probst. zogen und nüchtern über Themen wie Lebensgestal- tung, Ethik und Religionskunde im Bundestag zu sprechen. In diesem Fall geht es aber um etwas ganz Simone Probst (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frau anderes; es geht um Wahlkampfgetöse zu- Lasten der Präsidentin! Meine Damen und Herren! Auch wir ha- SPD. ben hinsichtlich des Föderalismus arge Bedenken, ob es angemessen ist, über diesen Antrag zu debattie- Wir lehnen diese Debatte wegen des Verfahrens ren und unterstützen deshalb den Antrag der PDS. ab. Wenn dieser allerdings wider Erwarten abgelehnt würde, dann freuen wir uns auf die Debatte und ha- (Widerspruch bei der CDU/CSU und der ben großes Interesse, ordentlich über das Thema zu SPD) debattieren. Was hier passiert, ist verfassungswidrig. Das föde- ralistische System wird von Ihnen sonst immer als Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Hörster. unantastbares Heiligtum begriffen. Jetzt wird es mit Füßen vom Sockel gestoßen. Eine Mehrheit in die- sem Bundestag maßt sich an, den Abgeordneten im Joachim Hörster (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Brandenburger Landtag Belehrungen zu erteilen und Meine Damen und Herren! Ich bedauere, daß durch Vorschriften zu machen. Ich kann Ihnen aus eigener den Antrag der PDS ein Ton in die Diskussion, die Kenntnis sagen: In Brandenburg ist sehr gründlich bevorsteht, hineingebracht werden soll, der der Sa- geprüft worden, ob das, was jetzt als Projekt vorge- che weder dem Grunde noch dem Inhalt nach ange- schlagen wird, tatsächlich verfassungsgemäß ist oder messen ist. nicht. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. - Widerspruch bei der SPD - Dr. Dagmar Sie greifen in laufende Gesetzgebungsverfahren Enkelmann [PDS]: Besserwisserei!) ein. Das ist Einmischung in die inneren Angelegen- heiten eines Landes. Ich habe Verständnis dafür, daß eine Partei, die auf dem dialektischen Materialismus fußt, (Beifall bei der PDS - Lachen bei der CDU/ CSU und der F.D.P.) (Lachen bei der SPD und der PDS) 8540 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 96. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. März 1996 Joachim Hörster mit Religionsunterricht gewisse Probleme hat. Es Trotzdem wird meine Fraktion dem Antrag der geht aber ganz einfach um folgendes: Im Grundge- PDS, diesen Tagesordnungspunkt abzusetzen, nicht setz steht in Art. 7, daß Religionsunterricht in den zustimmen. Vielmehr sind wir der Auffassung, daß öffentlichen Schulen als ordentliches Lehrfach zu er- wir jetzt die Gelegenheit nehmen sollten, diesen An- teilen ist. trag und die Situation in Brandenburg zu diskutie- ren. Die Inhalte Ihres Antrages werden insbesondere (Zuruf von der SPD: Nein, das stimmt nicht! durch die Äußerung des Vertreters der brandenbur- Da steht: Der Religionsunterricht ist ordent gischen Landesregierung zurückgewiesen, widerlegt liches Lehrfach! - Dr. Dagmar Enkelmann werden. [PDS]: Es gibt den Art. 141!) Ich möchte etwas zum Abstimmungsverhalten mei- Gemäß Art. 93 des Grundgesetzes hat ein Drittel der ner Fraktion im Anschluß an diese Debatte sagen. Mitglieder dieses Hauses das Recht, das Bundesver- Meine Fraktion wird, das ist die Empfehlung, in gro- fassungsgericht anzurufen, wenn es der Auffassung ßen Teilen den Antrag der Koalition genauso wie den ist, daß das Verhältnis zwischen Bund und Ländern Antrag der Grünen ablehnen; und zwar nicht etwa oder das Bundesrecht bzw. das Verfassungsrecht deshalb, weil wir der Meinung wären, daß das, was durch eine Entscheidung eines Landes tangiert ist. im Landtag Brandenburg diskutiert und vielleicht verabschiedet wird, richtig oder falsch ist, sondern Wir haben jetzt die letzte Sitzungswoche, bevor im nur deshalb, weil wir der Meinung sind: Es ist nicht Landtag Brandenburg eine Entscheidung getroffen Sache des Deutschen Bundestages, über ein bran- werden soll, von der wir der Auffassung sind, daß sie denburgisches Landesgesetz zu entscheiden. verfassungswidrig wäre. Deswegen möchten wir in aller Ruhe und in aller Sachlichkeit dieses Thema (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE diskutieren. Das hat nichts mit Wahlkampf zu tun, GRÜNEN und der PDS - Zuruf von der denn in Brandenburg ist kein Wahlkampf. Uns geht CDU/CSU: Feigheit!) es um das Sachproblem. Deswegen lehnen wir den Antrag der PDS ab. Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr van Essen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge ordneten der F.D.P.) Jörg van Essen (F.D.P.): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die F.D.P.-Bundestagsfraktion wird den Antrag der PDS nicht unterstützen, weil wir Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Struck. der Auffassung sind, daß der Bundestag sehr wohl über die Frage diskutieren kann, inwieweit die Ver- fassung in diesem Lande geachtet wird oder nicht. Dr. Peter Struck (SPD): Frau Präsidentin! Meine Wir sind auch der Auffassung, daß das Thema Tole- Damen und Herren! Der Antrag der Koalition und ranz - wie mit Minderheiten umgegangen wird - das die beantragte Debatte bedeuten: Der Deutsche Bun- Gesamtparlament dieses Staates interessieren muß. destag soll sich mit einer Frage beschäftigen, die ein- zig und allein den Landtag in Potsdam angeht, nie- (Dr. Ingomar Hauchler [SPD]: Das ist Sache mand anderen. des Bundesverfassungsgerichts!) - (Dr. [F.D.P.]: Grundge Das ist unsere Position. setz!) Wir werden uns an der Debatte mit einem sachli- Wir gehen mit diesem Antrag zum erstenmal einen chen Beitrag beteiligen. Weg, der bedeutet, daß sich das Gesetzgebungsor- (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne gan Deutscher Bundestag unmittelbar in ein Gesetz- ten der CDU/CSU) gebungsvorhaben eines Landes einmischt. Ich warne ganz entschieden davor, einen solchen Weg einzu- schlagen. Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Wir kommen zur Abstimmung. Wer stimmt für den Absetzungsantrag (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE der PDS? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Damit GRÜNEN und der PDS) ist der Absetzungsantrag mit den Stimmen der CDU/ CSU, der F.D.P. und Stimmen aus der SPD bei Zu- Wer wird, wenn das passiert, was Sie mit Ihrer Ge- stimmung von PDS, Bündnis 90/Die Grünen und schäftsordnungsmehrheit durchsetzen werden, den Stimmen aus der SPD abgelehnt. Deutschen Bundestag daran hindern, sich über Ge- setzgebungsvorhaben im Bayerischen Landtag, im Ich rufe Tagesordnungspunkt 8 und Zusatzpunkt 11 Sächsischen Landtag oder im Landtag Nordrhein auf: Westfalen zu unterhalten und ein Landesparlament aufzufordern, sich so oder so zu verhalten? Das ist ein 8. Beratung des Antrags der Fraktionen der gefährlicher Weg; damit wird ein Anschlag auf den CDU/CSU und F.D.P. Föderalismus geplant. Verfassungsgebotene Einführung des Reli- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ gionsunterrichts als ordentliches Lehrfach in DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der Brandenburg PDS - Lachen bei der CDU/CSU) - Drucksache 13/4073 - Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 96. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. März 1996 8541

Präsidentin Dr. Rita Süssmuth ZP11 Beratung des Antrags der Abgeordneten ordentliches Lehrfach an öffentlichen Schulen einzu- Christa Nickels, Volker Beck (Köln), Gerald richten. Nach Art. 7 Abs. 2 des Grundgesetzes be- Häfner und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE stimmen die Schüler bzw. die Erziehungsberechtig- GRÜNEN ten selbst über die Teilnahme am Religionsunterricht. Das Reformprojekt „Lebensgestaltung-Ethik- (Dr. Gregor Gysi [PDS]: Art. 141!) Religionskunde" an Brandenburger Schulen als Beitrag zur Vermittlung von Wertorien- Das Grundgesetz gilt seit dem 3. Oktober 1990 tierung auch in den neuen Ländern, also auch im Land Bran- - Drucksache 13/4090 — denburg. Art. 141 des Grundgesetzes, die soge- Überweisungsvorschlag: nannte Bremer Klausel, auf die sich die brandenbur- Ausschuß für Bildung, Wissenschaft, Forschung, gische Regierung und die Mehrheit im brandenbur- Technologie und Technikfolgenabschätzung (federführend) gischen Landtag bei ihrer Weigerung, Religionsun- Rechtsausschuß terricht als ordentliches Lehrfach einzuführen, beru- Ich weise darauf hin, daß wir im Anschluß an die fen, kann auf die nach der Wiedervereinigung neu Aussprache über den Antrag der Fraktionen der gebildeten Bundesländer nicht angewandt werden. CDU/CSU und F.D.P. namentlich abstimmen werden. (Zuruf der Abg. Dr. Dagmar Enkelmann Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind [PDS]) für die gemeinsame Aussprache eineinhalb Stunden Also ist Brandenburg verpflichtet, Religionsunter- vorgesehen. - Dazu sehe ich keinen Widerspruch. richt als ordentliches Lehrfach an öffentlichen Schu- Wir verfahren so. len einzurichten, und zwar gleichrangig mit allen an- Die Debatte beginnt der Fraktionsvorsitzende der deren Pflichtfächern, im Rahmen der üblichen Unter- CDU/CSU, Herr Dr. Schäuble. richtszeiten und selbst dann, wenn das Fach nur von einer Minderheit in Anspruch genommen wird. Dr. Wolfgang Schäuble (CDU/CSU): Frau Präsi- (Beifall bei der CDU/CSU) dentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Es mag ungewöhnlich erscheinen, daß der Deutsche Alle anderen ostdeutschen Länder sind dieser Ver- Bundestag über die Schulgesetzgebung eines Bun- pflichtung auch nachgekommen. Über die Einhal- deslandes debattiert. tung dieser Verpflichtung müßte das Bundesverfas- sungsgericht im Streitfalle entscheiden. Aber es wird (Zurufe von der SPD: Sehr wahr!) immer gesagt, man solle nicht so viele Auseinander- Aber Gegenstand der heutigen Debatte ist nicht die setzungen nach Karlsruhe tragen. Tatsache, daß eines der neuen Länder ein Schulge- setz erarbeitet und dabei eigene Vorstellungen ent- (Zurufe von der SPD und der PDS) wickelt. Es geht auch nicht um Fragen von Ost und Noch kann ein Verfassungsstreit vermieden werden. West. Es geht um das Schicksal (Zurufe von der SPD: Oh!) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) des Religionsunterrichts an unseren öffentlichen- Heute ist die letzte Bundestagssitzung vor der ab- Schulen insgesamt. schließenden Beratung im brandenburgischen Land- tag. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge ordneten der F.D.P.) (Wolf-Michael Catenhusen [SPD]: Reden Sie doch mit den Ministe rn !) Das Bestreben, das Fach zur Disposition zu stellen, findet sich auch in alten Bundesländern. Es geht Verehrte Kolleginnen und Kollegen, Sie haben in nicht nur um verfassungsrechtlich verbürgte Ansprü- der Geschäftsordnungsdebatte gesagt, Sie möchten che von Schülern und Eltern sowie der Kirchen. Es die Probleme sachlich erörtern. Ich würde raten, daß geht um Grundvoraussetzungen staatlich geregelten Sie Ihre Zwischenrufe einmal an Ihrem eigenen An- Zusammenlebens in unserer freiheitlich-pluralisti- spruch messen. schen Demokratie. (Beifall bei der CDU/CSU - Zurufe von der (Zurufe von der SPD) SPD und der PDS) Es geht um die Menschen, um ihre Orientierungsfä- Heute ist also die letzte Bundestagssitzung vor der gerade in higkeit Existenzfragen abschließenden Beratung im brandenburgischen ( [SPD]: Ja, das wollen Sie vor Landtag. Deshalb unser Antrag, daß der Bundestag schreiben!) an den brandenburgischen Landesgesetzgeber ap- pellieren möge, auf eine gegen A rt. 7 des Grundge- und vor allem um die jungen Menschen. setzes verstoßende Gesetzgebung zu verzichten. (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Jörg van Essen [F.D.P.]) Verehrte Kolleginnen und Kollegen, denken Sie bei Ihrem Verhalten in dieser Debatte im übrigen ei- Es geht auch nicht nur um Rechtsfragen. Die nen Moment über folgendes nach: Das Thema Rechtslage ist eindeutig. Art. 7 Abs. 3 des Grundge- zwingt uns, uns über Grundwerte und über ihre Ver- setzes verpflichtet den Staat, Religionsunterricht als mittlung im freiheitlichen Verfassungsstaat zu verge- 8542 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 96. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. März 1996 Dr. Wolfgang Schäuble wissern. Über diese Frage kann, ja, muß auch der Es herrscht Unsicherheit bei vielen Menschen über Deutsche Bundestag debattieren. Ziele und Prioritäten, die wir verfolgen, über Maß- stäbe und Kriterien, an denen wir unser Handeln (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge ausrichten sollten. Viele sind besorgt, daß die Men- ordneten der F.D.P.) schen im Westen wie im Osten, nicht nur die junge Ich denke, man kann gut nachvollziehen, was es Generation, in einer tiefempfundenen Orientierungs- heißt, Religionsunterricht in einem Bundesland wie- krise stecken und oft eher ziellos umherirren, statt der einzuführen, in dem zu DDR-Zeiten die Kirchen ihr Leben bewußt zu führen, sich innerlich leer füh- unterdrückt, die Gläubigen diskriminiert wurden len, sich allzu bereitwillig oberflächlichen Ersatzan- und religiöse Unterweisung ein Nischendasein in geboten hingeben. den Gemeinden führte. Man kann sicher auch nach- Wenn ich richtig informiert bin, hat die SPD-Frak- vollziehen, was es heißt, Religionsunterricht einer tion gestern den Antrag auf Einrichtung einer En- jungen Generation anzubieten, in der überhaupt nur quete-Kommission zur Untersuchung der Sekten ein- jeder fünfte Mitglied in einer Kirche ist. gebracht. Das ist doch wohl dasselbe Thema. Also Aber die Antwort auf diese Schwierigkeiten sollte schreien Sie hier nicht dazwischen! Lassen Sie uns gerade nicht lauten, auf das Angebot der religiösen ernsthaft und sachlich über die Probleme reden. Unterweisung im Rahmen des regulären Unterrichts (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge an öffentlichen Schulen zu verzichten. Wohlverstan- ordneten der F.D.P.) den: Niemandem soll etwas aufgezwungen werden. Die freiheitlich-pluralistische Gesellschaft - das ist Im Beschluß der Würzburger Synode der deut- meine Überzeugung - bleibt auf die Bindekraft, auf schen Bistümer zum Thema Religionsunterricht in den inneren Zusammenhalt, den der Wertekonsens der Schule von 1974 heißt es: und den eine stabile Wertgrundlage liefert, geradezu Die christliche Botschaft ist Angebot und Einla- existentiell angewiesen. Ich frage, ob nicht die Reli- dung, von deren freier Annahme und Ablehnung gion, die gemeinsame religiöse Tradition und Über- gemäß dem Evangelium das Heil oder das Unheil lieferung über die Jahrhunderte und über das Kom- des Menschen abhängt. men und Gehen staatlicher Ordnungen und Regime hinweg die wichtigste Quelle von Wertorientierun- (Dr. Gregor Gysi [PDS]: Richtig!) gen und Grundüberzeugungen gewesen ist und ob nicht die Gefahr besteht, daß gemeinsame Werte- Zur freien Annahme gehört, daß der Mensch grundlagen schwächer werden, ja, verdorren, wenn diese Einladung auch ablehnen kann. die religiösen Quellen zu versiegen drohen! Aber Religionsunterricht wird nach unserer Verfas- Im übrigen denke ich, daß vielleicht doch das In- sung in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der teresse und die Aufgeschlossenheit unterschätzt Religionsgemeinschaften erteilt. Die Kirchen verdie- wird, die der Religion und dem Deutungsangebot der nen diese herausgehobene Position; denn sie leisten, Kirchen noch immer und gerade von jungen Men- was niemand sonst zu leisten vermag. Die Kirche ver- schen entgegengebracht wird. Äußerliche Zeichen mag - in den Worten des Bonner Staatsrechtslehrers von Kirchenferne, von der rückläufigen Zahl der Got- Isensee - - tesdienstbesucher bis zu den Kirchenaustritten, soll- den Staat zu ergänzen, der als Rechtsstaat nur Le- ten nicht hinwegtäuschen über ein weitverbreitetes galität fordern kann, obwohl er auch der Morali- Bedürfnis nach Vergewisserung über die letzten tät bedarf, und der, beengt durch Toleranz- und Dinge, über Sinn und Zweck des Daseins, über all Neutralitätspflichten, nur eine schmale Erzie- das, was menschlichem Einfluß letztlich entzogen ist. hungskompetenz wahrnehmen kann ... Erzie- (Beifall der Abg. Hannelore Rönsch [Wies hung ... geht ... immer auf den ganzen Men- baden] [CDU/CSU]) schen aus ... Die Kirche ... vermag ganzheitli- che Erziehung zu leisten und, indem sie diese lei- Die Zunahme von Sekten und sektenartigen Bewe- stet, die ethischen Grundlagen des Gemeinwe- gungen ist nur ein Ausdruck dessen. sens, den Grundkonsens der Gesellschaft, zu be- Bei einer Umfrage im Westen hat fast jeder zweite leben. Die Kirche vermag Sinn anzubieten, wo Jugendliche auf die Frage nach seinen Vorbildern der Rechtsstaat nur den Freiheitsrahmen bietet, und Idolen unter anderem immer noch Jesus Chri- innerhalb dessen der einzelne seinen Sinn selber stus genannt. Noch immer sagt mehr als die Hälfte suchen muß. der Jugendlichen, ja, sie glaubten an einen Gott. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Deshalb ist es weniger die Frage, ob religiöses Be- dürfnis vorhanden ist, sondern eher, ob alles Notwen- Viele in unserem Land, im Westen wie im Osten, dige getan wird, damit dieses Bedürfnis richtig be- spüren doch Anzeichen einer tiefempfundenen Wer- friedigt wird, jedenfalls nicht sich selbst überlassen tekrise. bleibt. (Zurufe von der SPD und der PDS) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge - Das Thema ist zu ernst, als daß man in der Art, wie ordneten der F.D.P.) Sie hier rumblödeln, darüber reden sollte. Wenn ich es richtig verstehe, sträubt man sich in (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge Brandenburg gegen die Einführung des Religionsun- ordneten der F.D.P.) terrichts als ordentlichen Lehrfaches insbesondere Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 96. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. März 1996 8543

Dr. Wolfgang Schäuble mit dem Argument, konfessioneller Religionsunter- anschauungsgemeinschaften". Aber das Ziel, jungen richt in der Verantwortung der Kirchen indoktriniere Menschen Hilfen zu bewußter Lebensgestaltung an- die Schüler, gefährde den Zusammenhalt der Klas- zubieten, muß verfehlt werden, wenn in einem sol- sen und fördere religiöse Intoleranz. Dem liegt mei- chen Unterricht die Religionen und Weltanschauun- nes Erachtens ein hartnäckiges Mißverständnis vom gen lediglich als buntes Kaleidoskop von Angeboten Wesen des kirchlich verantworteten Religionsunter- präsentiert werden. richts zugrunde. (Beifall bei der CDU/CSU) Religionsunterricht dient nicht der Zwangsmissio- Richard Schröder, SPD-Fraktionsvorsitzender der nierung der Schüler. Die vor zwei Jahren verabschie- einzigen frei gewählten Volkskammer in der ehema- dete Denkschrift der Evangelischen Kirche in ligen DDR, hat dazu in der Anhörung vor dem bran- Deutschland zu „Religionsunterricht in der Plurali- denburgischen Landtag ausgeführt: tät" spricht zu Recht davon, daß sich Religionsunter- richt schulisch begreifen müsse und keine kirchliche Die Idee, den Kindern ein breites Menü verschie- Sozialisation im engeren Sinne leisten könne. dener Religionen anzubieten, damit sie wählen können - soll das heißen: Moslems, Buddhisten Schulischer Religionsunterricht ist der spezifische oder Christen werden können? oder soll sich je- Beitrag der Kirchen zum Bildungsauftrag der Schu- der seine eigene Religion basteln? -, das ist die len. Es geht auch im Religionsunterricht primär um Idee einer weltanschaulichen Konsumentener- Bildung, nicht primär um Glauben. Es geht um Be- ziehung, nicht aber Werteerziehung. lehrung, nicht um Bekehrung. Wie sollte es anders sein! In dem Fach gibt es Noten wie in anderen Fä- (Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU) chern auch. Benotet wird der Bildungserfolg und Sie führt zur Beliebigkeit und Wertlosigkeit, nicht der Glaubenserfolg; wie sollte der auch benotet Weltanschauung als Modeartikel. Das gibt es werden! längst, wie die Esoterikläden beweisen. Es ist Aber richtig ist auch: Religionsunterricht soll den aber nicht wünschenswert. Jugendlichen helfen, eine eigene religiöse oder auch So Richard Schröder. weltanschauliche Identität und Persönlichkeit auszu- bilden. Das Verhältnis von eigener Identität zur Iden- Verehrte Kolleginnen und Kollegen, ein solches tität des anderen, die Frage der Verständigung mit Konsumangebot hilft jungen Menschen nicht zu Andersgläubigen ist immer notwendig prekär. Hier Orientierungsfähigkeit und autonomer Lebensge- hilft nur die Bereitschaft zum offenen Dialog, gepaart staltung. Im Gegenteil: Es verwirrt und entmutigt. mit der Bereitschaft zur Toleranz. Überzeugungen bilden sich nun einmal nicht „im Niemandsland der Gleich-Gültigkeit", wie der Tü- Zwischen eigener religiös-weltanschaulicher Iden- binger Religionspädagoge Karl Ernst Nipkow tref- tität und Überzeugung und Toleranz gegenüber den fend formuliert hat. Beliebigkeit, das ist das Gegen- anderen besteht kein Widerspruch, ganz im Gegen- teil von bewußter Lebensgestaltung. Gegen Beliebig- teil. Der Münchener Philosoph Robert Spaemann hat keit hilft nur Verbindlichkeit. einmal formuliert: Urteilsvermögen, eigene begründete Überzeugun- Eine Überzeugung als solche macht nicht intole- - gen, Persönlichkeit, das entwickelt sich nur in der rant. Im Gegenteil: Toleranz steht auf schwachen Begegnung und Auseinandersetzung mit einem klar Füßen, wenn ihr nicht auch eine Überzeugung erkennbaren Standpunkt. Der evangelische Bischof zugrunde liegt. von Berlin-Brandenburg Wolfgang Huber hat darauf (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. zu Recht hingewiesen. Man könnte auch grundsätzli- Dr. Guido Westerwelle [F.D.P.]) cher sagen: Erziehung kann es überhaupt nur geben mittels Vorbilder, mittels Autorität, mittels überra- Ignatz Bubis, der Vorsitzende des Zentralrats der genden Beispiels. Juden in Deutschland, hat das gut verstanden, wenn er davon spricht, daß er nicht verstehen könne, wenn Den Vätern und Müttern des Grundgesetzes war Bestrebungen wie in Brandenburg im Gange sind, dies noch bewußt, gerade auch in dem heute von uns den Religionsunterricht abzuschaffen und statt des- zu diskutierenden Zusammenhang. Theodor Heuss sen einen allgemeinen Ethikunterricht einzuführen. machte anläßlich der Beratung von A rt . 7 des Grund- gesetzes - das ist das Thema des Religionsunterrichts Ein Unterricht nach Art von „Lebensgestaltung - in öffentlichen Schulen - im Hauptausschuß des Par- Ethik - Religionskunde" ist nicht geeignet, jungen lamentarischen Rates darauf aufmerksam, daß ein Menschen moralische Urteilskraft, die Fähigkeit zu Lehrer, der ohne eigene Verbindung mit der Religion eigenständiger Orientierung in der Welt zu vermit- Religionsunterricht erteile, den Schülern das Beste teln. Dazu reicht eine unverbindliche Weltanschau- schuldig bleiben müsse, was Religionsunterricht zu ungs- und Religionskunde nicht aus. geben vermöge, eben das Beispiel der inneren Bin- dung an Glauben und Religion. (Dr. Helmut Lippelt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wieso ist das unverbindlich?) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge ordneten der F.D.P.) Sie vermittelt bestenfalls eine Art religiöse Allge- meinbildung - in der Formulierung des Gesetzent- Ich fürchte, die Verantwortlichen in der Regierung wurfs: „Wissen über die Grundsätze der philosophi- und in der Landtagsmehrheit in Brandenburg haben schen Ethik sowie über Kirchen, Religions- und Welt dieses unaufhebbare Defizit einer weltanschaulich 8544 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 96. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. März 1996

Dr. Wolfgang Schäuble neutralen allgemeinbildenden Ethik- und Religions- ordneten „Was Werte sind in diesem Land, bestim- kunde durchaus gesehen. Weder von der Zielsetzung men wir" durchaus charakteristisch zu sein scheint. noch von der Umsetzung in einem mittlerweile mehr als drei Jahre währenden Schulversuch her hat man (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Das war schon es ja bei diesem Defizit bewenden lassen. LER soll mal so! - Weitere Zurufe von der CDU/ offenbar doch mehr sein als bloße Wissensvermitt- CSU) lung. Dies wird deutlich, wenn man die Aufgabenbe- schreibung des Faches näher betrachtet. Das ist kein vereinzelter Ausrutscher. Diese A rt ris prägt zu erheblichen Teilen den gesamten Hyb Während im Gesetzentwurf der Landesregierung Schulversuch mit LER. In dem offiziellen Begleitgut- vom Oktober 1995 zu lesen steht, LER diene „der achten zu dem Schulversuch heißt es - ich zitiere -: Vermittlung von Grundlagen für eine wertorientierte Lebensgestaltung", heißt es in den Leitlinien zum Es herrscht zumindest unterschwellig die Vorstel- Landesschulgesetz vom Januar desselben Jahres lung vor, man könne und müsse letztlich immer noch unverblümter, das Fach „schaffe" solche doch vermitteln, was „richtig" ist, und dafür sor- Grundlagen. gen, daß sich entsprechende Orientierungen auch bei den Kindern und Jugendlichen prak- Das, verehrte Kolleginnen und Kollegen, be- tisch durchsetzen. schreibt die Gefahr. Wenn es richtig ist, daß es Werte vermittlung ohne Wertungen und Bekenntnis zu Und es fällt das Wort „indoktrinierende Momente". Werten nicht geben kann, dann wird der Rubikon schnell überschritten und der vermeintlich weltan- Das alles ist nicht Zufall und nicht bloßes Unver- schaulich neutrale Charakter des Faches durchbro- mögen, sondern das alles kommt davon, wenn sich chen. Wenn es noch eines Beweises bedürfte, dann der Staat an die Stelle der Kirchen setzen will. Dann liefert ihn die Potsdamer Landesregierung selbst, in- liegt die Versuchung nicht mehr fern, Zuflucht zu ei- ner A dem sie die Möglichkeit der individuellen Befreiung rt staatlichem Religionsersatz zu nehmen, so vom Religionsunterricht in ihren Gesetzentwurf mit wie das einst schon Rousseau mit seiner Idee einer aufgenommen hat. „bürgerlichen Religion" vorgedacht hat und wie das im Gefolge der Französischen Revolution in quasi-re- Wenn der LER-Unterricht tatsächlich weltanschau- ligiöser Verehrung von Vernunft und Tugend einen lich neutral vonstatten gehen soll wie der Geschichts- makabren Höhepunkt erlebte. unterricht oder der Physikunterricht, wozu dann diese Möglichkeit der Befreiung? Was besonders gefährlich ist: Diese Vorstellung ei- nes staatlichen Religionsersatzes ist am Ende ge- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge radezu eine Einladung an totalitäre Versuchung und ordneten der F.D.P.) Verführung. Wenn Ministerpräsident Stolpe erklärt, niemand (Beifall bei der CDU/CSU - Unruhe bei der dürfe gegen sein Gewissen zur Teilnahme an LER SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) gezwungen werden, dann bedeutet dies doch nichts anderes, als daß dieser Unterricht eben doch von ei- Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, müßten wir ner Art ist, daß er das Gewissen des einzelnen sehr nach den Erfahrungen dieses Jahrhunderts eigent- - wohl verletzen kann. lich wissen. Daher dürfen wir uns nicht auf diesen Weg begeben, auch nicht in Ansätzen. Deswegen Wenn es in der Begründung zu dem Gesetzentwurf gilt es, den Anfängen zu wehren. der Landesregierung heißt, man wolle mit der Befrei- ungsmöglichkeit die Empfindung derer respektieren, (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) „die eine religiös geprägte Wertorientierung wün- schen", dann frage ich: Welche Wertorientierung ver- Von daher unser Appell an den brandenburgi- mittelt denn dann LER? Eine weltanschaulich neu- schen Landesgesetzgeber: Überheben Sie sich nicht, trale? Nein, eine staatlich geprägte. überheben Sie nicht den staatlichen Anspruch! Las- sen Sie den Kirchen, was Sache der Religionsge- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge meinschaften ist! Verzichten Sie auf staatliche Werte ordneten der F.D.P.) vermittlung an Stelle des von den Kirchen zu verant- wortenden Religionsunterrichts! Wenn der Staat aber versucht, die Wertevermitt- lung in eigener Regie zu übernehmen, dann über- (Zuruf von der CDU/CSU: Sehr wahr!) schreitet er seine Kompetenz und sein Vermögen. Wertungen im Bereich von Religion und Weltan- Toleranz und Freiheit sichert die Ordnung unseres schauung stehen dem Staat nicht zu, und sie überfor- Grundgesetzes durch das Subsidiaritätsprinzip und dern den Staat an entscheidender Stelle. die Autonomie der Religionsgemeinschaften und ge- rade nicht durch die Allzuständigkeit des Staates. Ernst-Wolfgang Böckenförde hat davon gespro- chen, der freiheitliche, säkularisierte Staat lebe von Diesen Appell, verehrte Kolleginnen und Kollegen, Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren könnten wir im Deutschen Bundestag vielleicht doch könne. Ich füge hinzu: Er sollte es auch nicht versu- gemeinsam oder mit einer großen Mehrheit an un- chen! Denn dieser Versuch müßte in einer gefährli- sere Kollegen in Brandenburg richten: im Interesse chen Form von Hybris enden, für die mir der ver- des Schulfriedens und des Rechtsfriedens, im Inter- bürgte Ausspruch eines brandenburgischen Abge- esse von Schülern und Eltern, im Interesse der Schu- Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 96. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. März 1996 8545 Dr. Wolfgang Schäuble len wie der Religionsgemeinschaften und vor allem Auch das Land Berlin beruft sich seit langem auf die im Interesse der Freiheit und der Toleranz. „Bremer Klausel". Auch do rt gibt es keinen Religi- onsunterricht als ordentliches Lehrfach, obwohl die (Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU - Kirchen das seit langem fordern. Beifall bei der F.D.P.) (Dr. Dagmar Enkelmann [PDS]: Wer regiert denn da?) Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Jetzt spricht der Minister der Justiz und für Bundes- und Europaange- Das Berliner Modell scheint für den Deutschen Bun- legenheiten des Landes Brandenburg, Herr destag in Ordnung zu sein. Wenn aber das Land Dr. Bräutigam. Brandenburg das gleiche Recht für sich in Anspruch nimmt, dann ist das für Sie, meine Damen und Her- ren von der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, bundes- Minister Dr. Hans Otto Bräutigam (Brandenburg): Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und unfreundliches Verhalten. Herren Abgeordneten! Wir haben eben eine außeror- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) dentlich engagierte Rede gehört, Das finde ich dann nicht mehr so sachlich. (Zuruf von der CDU/CSU: Beeindruckend!) aber das kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß Nun mag die Rechtslage in Berlin und Branden- wir es mit einem ungewöhnlichen Vorgang im Deut- burg nicht ganz die gleiche sein. Aber in der Öffent- schen Bundestag zu tun haben. lichkeit besteht jedenfalls der Eindruck, daß hier un- terschiedliche Maßstäbe angelegt werden. (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS) (Beifall bei der SPD und der PDS) Der von der CDU/CSU-Fraktion vorgelegte Antrag Wenn man an die Schwierigkeiten vieler Ostdeut- enthält schwere - auch unsachliche - Angriffe gegen scher mit dem Einigungsprozeß denkt - wir haben ein Land der Bundesrepublik Deutschland. Er ent- dazu jeden Tag Veranlassung -, ist ein solches Vor- hält die Forderung, einen dort vorliegenden Gesetz- gehen, meine sehr geehrten Damen und Herren, entwurf, ein Stück ausschließlicher Landesgesetzge- sehr unsensibel, und es ist auch politisch sehr un- bung, nicht zu verabschieden. Weil es in einer verfas- klug. sungsrechtlichen Frage Meinungsverschiedenheiten (Beifall bei der SPD und der PDS sowie bei gibt, soll der Bundestag zu politischen Pressionen gegen das Land Brandenburg veranlaßt werden. Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS) Ich will einmal dahingestellt sein lassen, ob das, was hier versucht wird, nach der föderalistischen Grund- Ich weise diesen Versuch mit aller Entschiedenheit ordnung der Bundesrepublik Deutschland überhaupt zurück. zulässig ist. Für Brandenburg ist ein solches Verfah- - ren jedenfalls unakzeptabel. (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS) (Beifall bei der SPD und der PDS)

Das Grundgesetz sieht für einen solchen Fall ein Damit könnte ich meine Rede im Grunde beenden. Verfahren zur Klärung der Verfassungsmäßigkeit vor, nämlich die Anrufung des Bundesverfassungsge- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) richts in einem Normenkontrollverfahren nach Art. 93 des Grundgesetzes. Ich rate Ihnen, meine Da- Da aber offenbar große Informationsdefizite und Un- men und Herren, sich im Interesse der guten rechts- klarheiten in der Frage des Religionsunterrichts in staatlichen Sitten auch in diesem Fall daran zu hal- Brandenburg bestehen - die Rede des Fraktionsvor- ten. Gerade wenn es sich um eine ernste Angelegen- sitzenden der CDU/CSU heit handelt - das ist auch unsere Auffassung -, ist die strikte Einhaltung der vorgesehenen Verfahren in (Karl-Josef Laumann [CDU/CSU]: Eine sehr einem Rechtsstaat von besonderer Bedeutung. gute Rede von unserem Fraktionsvorsitzen den!) (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS) hat mich noch einmal darin bestärkt, daß das so ist -, sehe ich mich doch veranlaßt, noch einige Ausfüh- Als ein sogenanntes neues Land ist Brandenburg rungen zur Rechtslage und zum Stand unserer Be- in einer solchen Frage besonders empfindlich. Wir mühungen zu machen. können uns des Eindrucks nicht erwehren, daß hier auf ein neues Land in einer Weise eingewirkt werden Nach Art. 141 des Grundgesetzes besteht keine soll, wie es der Deutsche Bundestag gegenüber den Pflicht zur Durchführung des Religionsunterrichts als alten Ländern nicht tun würde. ordentliches Lehrfach in einem Land, in dem am 1. Januar 1949 eine andere landesrechtliche Rege- (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE lung bestand. Das war in Brandenburg der Fall. Die GRÜNEN und der PDS) vom Landtag der Mark Brandenburg beschlossene 8546 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 96. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. März 1996

Minister Dr. Hans Otto Bräutigam (Brandenburg) Verfassung vom 6. Februar 1947 bestimmte in Art. 6 - etwa undemokratisch oder unmoralisch. Es gibt sol- ich zitiere mit Genehmigung der Frau Präsidentin -: che Regelungen auch in den alten, westlichen Demo- kratien. (1) Das Recht der Religionsgemeinschaften auf Erteilung von Religionsunterricht in den Räumen Sowohl bei der Ausarbeitung unserer Landesver- der Schule ist gewährleistet. Der Religionsunter- fassung wie auch bei den Beratungen zum Schulge- richt wird von den durch die Kirchen ausgewähl- setz haben wir die Frage der Anwendung von Art. 7 ten Kräften erteilt. Niemand darf gezwungen Abs. 3 des Grundgesetzes eingehend und gewissen- oder gehindert werden, Religionsunterricht zu er- haft geprüft. Wir haben Gutachten namhafter Staats- teilen. rechtler eingeholt. Wir sind dann zu dem Ergebnis gekommen, daß sich Brandenburg ebenso wie Berlin Abs. 2 lautet: und Bremen auf Art. 141 des Grundgesetzes berufen Über die Teilnahme am Religionsunterricht be- kann. Darin liegt unser verfassungsrechtlicher Streit. stimmen die Erziehungsberechtigten. Die Anwendbarkeit von Art. 141 hat zur Folge, daß Die Voraussetzungen für die Anwendbarkeit von damit die Einführung des Religionsunterrichtes als Art. 141 des Grundgesetzes in Brandenburg sind also ordentliches Lehrfach für uns nicht verpflichtend ist. nach dem Wortlaut dieser Bestimmung eindeutig ge- Das ist - nebenbei bemerkt - exakt die gleiche geben. Rechtslage, wie sie heute nicht nur im westlichen Berlin, sondern auch in Ost-Berlin besteht, dem aber Aus den Beratungen des Parlamentarischen Rates bisher meines Wissens die Anwendung von A rt. 141 ergeben sich auch keine Anhaltspunkte dafür, daß des Grundgesetzes nicht bestritten wird. die Bestimmung entgegen ihrem Wortlaut etwa nur für die alten Länder, insbesondere für Bremen und Daß die Fraktionen von CDU/CSU und F.D.P. des Berlin, gelten sollte. Im Gegenteil: Im Parlamentari- Deutschen Bundestages eine andere Rechtsauffas- schen Rat ist ausdrücklich darauf hingewiesen wor- sung vertreten, haben wir zu respektieren. Wenn Sie den, daß diese Bestimmung eines Tages auch für die die Angelegenheit auf korrekte Weise einer Klärung „Ostzone" - die es damals ja noch war - Bedeutung zuführen wollen, müssen Sie sich an das Bundesver- haben könnte. fassungsgericht wenden. Für die Anwendbarkeit von Art. 141 kann es auch (Beifall bei der SPD und der PDS sowie bei nicht darauf ankommen, daß die Mark Brandenburg Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE bereits 1952 in dem Einheitsstaat DDR aufgegangen GRÜNEN) ist. Denn die Bestimmung bezieht sich - das ist na- Wir bestreiten Ihnen dieses Recht nicht. hezu unbestritten - nicht auf ein Rechtssubjekt, son- dern auf ein Gebiet. - Wenn sich zum Beispiel das (Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Das Land Bremen in den 60er Jahren mit dem Land Nie- wäre ja noch schöner!) dersachsen zusammengeschlossen hätte, könnte sich Bremen gleichwohl auch heute noch für sein Gebiet Im Gegenteil: Als Landesjustizminister erscheint es auf die „Bremer Klausel" berufen. - mir durchaus sinnvoll und letztlich auch im allgemei- nen Interesse liegend - diese Debatte bestätigt das -, (Beifall bei der SPD und der PDS sowie- bei wenn wir auf diesem Weg zu einer Klärung kommen. Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Das bestä tigt Ihre geistige Haltung!) Entscheidend ist allein, daß in Brandenburg an dem fraglichen Stichtag, dem 1. Januar 1949, die Voraus- Vielleicht ist der eigentliche Grund der Auseinan- setzungen des Art. 141 des Grundgesetzes gegeben dersetzung - diesen Eindruck habe ich seit einiger waren. Zeit - nicht so sehr der Status des Religionsunter- richts - das ist eine Rechtsfrage -, Nicht einfach abzutun ist der Einwand, meine sehr geehrten Damen und Herren, daß die Verfassung der (Beifall bei der SPD und der PDS) Mark Brandenburg aus dem Jahre 1947 den Men- sondern die Einführung des neuen Fachs „Lebens- schen gegen ihren Willen durch das SED-Regime gestaltung-Ethik-Religionskunde", abgekürzt: LER. aufgezwungen worden sei. Das trifft bis zu einem Dieses Fach - das ist mir wirklich ganz besonders großen Maße sicher zu. Was aber die Regelung des wichtig - soll keineswegs den Religionsunterricht er- Religionsunterrichts angeht, kann das nicht ohne setzen oder verdrängen. Alle Behauptungen, die in weiteres unterstellt werden. Gerade unter den da- diese Richtung gehen, sind schlicht falsch. mals herrschenden politischen Verhältnissen gab es in der Kirche wie auch in der Bevölkerung zahlreiche (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE Befürworter - Herr Kollege Eppelmann, ich denke, GRÜNEN und der PDS) Sie werden mich verstehen - einer strikten Trennung von Staat und Kirche. Das hat sich im Laufe des Be- Religionsunterricht wird es in Brandenburg auch in stehens der DDR dann noch verstärkt. Zukunft geben. Derzeit besuchen bei uns etwa 7 000 Kinder in 150 Schulen den evangelischen Religions- Im übrigen ist ja Religionsunterricht in der unterricht. In den kommenden Jahren werden es alleinigen Verantwortung der Kirchen - also kirchli- eher mehr als weniger sein. - Übrigens: Auch nicht- cher Religionsunterricht, im Unterschied zu staatli- christliche Kinder besuchen den evangelischen Reli- chem Religionsunterricht nach Art. 7 Abs. 3 - nicht gionsunterricht. - Das Land Brandenburg leistet für Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 96. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. März 1996 8547

Minister Dr. Hans Otto Bräutigam (Brandenburg) diesen Unterricht finanzielle Zuschüsse in erhebli- Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Minister, ge- chem Umfang. Wie man uns angesichts dieser Tatsa- statten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten chen eine kirchenfeindliche Haltung unterstellen Schäuble? kann, ist mir wirklich unbegreiflich.

(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE Minister Dr. Hans Otto Bräutigam (Brandenburg): GRÜNEN und der PDS) Ja, bitte.

Das meine sehr geehrten Damen und Fach LER, (CDU/CSU): Herr Minister Herren, ist als ein wertorientierter Unterricht konzi- Dr. Wolfgang Schäuble Bräutigam, sollte Ihnen bei meiner Rede wirklich ent- piert, also als ein Unterricht, in dem die Jugendlichen gangen sein, daß es uns nicht in erster Linie um das unabhängig von ihrer jeweiligen Religionszugehö- Angebot eines Ethikunterrichtes außerhalb der Ver- rigkeit oder Weltanschauung zu Achtung und Tole- antwortung der Religionsgemeinschaften geht, son- ranz gegenüber anderen Weltanschauungen und dern darum, daß Sie den Religionsunterricht, der Glaubensbekenntnissen erzogen werden sollen. Das nach den Grundsätzen der Religionsgemeinschaften Konzept von LER entspricht dem Toleranzgebot, dem zu erteilen ist, in Ihrem Schulangebot nicht vorsehen wir uns verpflichtet fühlen. - und daß damit das Angebot an Kinder, die nicht in den Religionsunterricht gehen wollen, eine völlig an- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne dere Qualität bekommt, als wenn entsprechend Art. 7 ten der PDS und des Abg. Gerald Häfner Abs. 3 GG [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Religionsunterricht an öffentlichen Schu- len ein ordentliches Pflichtfach ist, das abgewählt Übrigens geht dieses Konzept auf Diskussionen am werden kann? Runden Tisch zurück. Es trägt der weit fortgeschritte- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) nen Säkularisierung in Brandenburg Rechnung, wo sich nur noch knapp 30 Prozent der Bevölkerung zum Christentum bekennen. - LER ist in einem län- Minister Dr. Hans Otto Bräutigam (Brandenburg): geren Schulversuch erprobt und von der großen Aber Herr Schäuble, das ist doch nicht richtig. Wir Mehrheit der Eltern und Kinder angenommen wor- bieten doch Religionsunterricht an, und zwar in den. Gut 50 Prozent der Lehrkräfte sind kirchlich ge- kirchlicher Verantwortung. bunden. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Vorbehaltlich einer Bestätigung durch den Land- DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der tag, von der ich ausgehe, können Kinder von der PDS - Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Teilnahme am Fach LER befreit werden, wenn sie Nein, nein, nicht in der Schule!) oder ihre Eltern dies aus wichtigem Grund verlan- Der entscheidende Unterschied ist doch, daß wir Re- gen. Das, Herr Kollege Schäuble, ist ein verfassungs- ligionsunterricht anbieten, den kirchliche Lehrer er- rechtliches Gebot - so sehen wir das -, und zwar des- teilen, halb, weil wir es zu respektieren haben, wenn Eltern nicht wünschen, daß ihre Kinder den LER-Unterricht (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Wo bieten besuchen. Das ist ein verfassungsrechtliches- Gebot Sie das an?) für Sie wie für uns. Darum halten wir das für notwen- dig. während Sie dafür plädieren, so zu verfahren, wie es 40 Jahre lang geschehen ist, nämlich daß der Reli- (Beifall bei der SPD und der PDS) gionsunterricht nach Art. 7 Abs. 3 GG von staatlichen Lehrern durchgeführt wird. Herr Schäuble, ich habe mich während Ihrer gan- zen Rede gefragt: Was wollen Sie eigentlich den Ich füge hinzu, auch wenn das ein emotionales nicht mehr christlich gebundenen Kindern in den Argument ist: Es gibt eine „Allergie" gegen staat- Ostländern anbieten? Dazu habe ich von Ihnen so lichen Religionsunterricht in den neuen Ländern. gut wie gar nichts gehört. (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE (Beifall bei der SPD und der PDS sowie bei GRÜNEN und der PDS) Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Es ist ein Ergebnis einer leidvollen Geschichte von 40 Jahren, daß viele Menschen in Ostdeutschland sa- Wollen Sie denn, daß diese Kinder schließlich doch in gen: Religionsunterricht soll von der Kirche in ihrer den Religionsunterricht gehen, weil es keine Alterna- eigenen Verantwortung erteilt werden. - tive gibt? Zu einer Alternative haben Sie kein Wort (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Wo? - gesagt. Sie haben die Alternative in Brandenburg Karl-Josef Laumann [CDU/CSU]: Außerhalb kritisch diskutiert; das haben wir selbstverständlich des Stundenplans! Abends um halb sechs, zu akzeptieren. Auch andere sehen das kritisch. Sie oder was?) müssen sich aber doch Gedanken darüber machen, was diesen nicht mehr christlich erzogenen Kindern Wir wünschen, daß das in den Schulen geschieht. anzubieten ist. Warum sagen wir das? Weil wir diesen Religionsun- terricht wünschen. Wir finanzieren den Religionsun- (Beifall bei der SPD und der PDS) terricht. Sie können uns doch nicht unterstellen - das 8548 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 96. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. März 1996

Minister Dr. Hans Otto Bräutigam (Brandenburg) ist doch schlicht nicht wahr -, wir wollten den Religi- Daneben gibt es einige, die das Fach Ethik oder - onsunterricht aus den Schulen verdrängen. was eine Fortentwicklung ist - das Fach Lebens- gestaltung-Ethik-Religionskunde besuchen. (Beifall bei der SPD - Dr. Wolfgang Schäu ble [CDU/CSU]: Sie verdrängen ihn nicht, ( [CDU/CSU]: Das ist die Bran sondern Sie vertreiben ihn!) denburg-Religion!) Wir legen Wert darauf, daß diese Trennung vermie- Ich sage Ihnen noch etwas: In Brandenburg gibt es den wird und daß der wesentliche Teil der Kinder in in den staatlichen Schulen nicht weniger Religions- bezug auf die Wertevermittlung gemeinsam unter- unterricht als in den Ländern, die Art. 7 Abs. 3 GG richtet wird. Darauf legen wir sehr großen Wert. akzeptiert haben. Warum gibt es do rt nicht mehr Re- ligionsunterricht als zum Beispiel in Brandenburg? (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne Weil es nicht genügend Beteiligung gibt und weil es ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN auch einen Mangel an staatlichen Religionslehrern und der PDS) gibt. Das ist aufzuarbeiten und wird sich hoffentlich ändern. Wir legen auch Wert darauf, daß dieser Unterricht in der Mitverantwortung der Kirchen gestaltet wird. Ich sage hier noch einmal: Wir wünschen und wir (Reiner Krziskewitz [CDU/CSU]: Staatsbür erwarten, daß im Laufe der nächsten Jahre mehr Kin- gerschaftskunde!) der den kirchlichen Religionsunterricht in unseren Schulen besuchen. - Nein, das ist keine Staatsbürgerschaftskunde. Al- lerdings muß ich Ihnen auch sagen, worauf Ihr Kon- zept hinausläuft. Ihr Konzept läuft darauf hinaus, daß Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Gestatten Sie eine die nicht mehr christlich geprägten Kinder in den weitere Zwischenfrage, diesmal des Abgeordneten Schulen nichts mehr von christlicher Religion erfah- Dr. Göhner? ren. Das ist für uns absolut unakzeptabel. (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS) Minister Dr. Hans Otto Bräutigam (Brandenburg): Bitte schön. Wir fühlen uns verpflichtet, daß auch diejenigen Kin- der, die überhaupt nicht mehr wissen, was Ch risten- tum ist, in der Schule erfahren, was es ist, und dafür Dr. Reinhard Göhner (CDU/CSU): Herr Bräutigam, brauchen wir auch die Mitwirkung der Kirchen. Das ich möchte Sie nach dem, was Sie jetzt ausgeführt sage ich hier in aller Deutlichkeit. haben, gern fragen: Warum wehren Sie sich eigent- (Beifall bei der SPD) lich gegen den Vorschlag der Kirchen in Branden- burg, einen Wahlpflichtbereich mit Religionsunter- Meine sehr geehrten Damen und Herren, aus die- richt und LER einzuführen? Wenn es Ihnen mit dem, sen Gründen hat die Landesregierung den dringen- was Sie gesagt haben, ernst ist, nämlich daß mehr den Wunsch, mit den Kirchen langfristige Vereinba- Kinder den Religionsunterricht - wir sagen- in Über- rungen über die Modalitäten des Religionsunter- einstimmung mit den Kirchen: als ordentliches Schul- richts abzuschließen und auch über die Gestaltung fach - besuchen sollen: Warum greifen Sie den Vor- des Faches LER mit ihnen zu reden. Es wird im übri- schlag der Kirchen, der in Brandenburg durch die gen schon lange mit ihnen darüber geredet. Dies ist CDU-Landtagsfraktion auch zur Abstimmung ge- ein schwieriger, aber deswegen auch außerordent- stellt wird, nicht auf, warum bieten Sie einen Wahl- lich wichtiger Dialog. pflichtbereich mit LER und Religionsunterricht, bei- des als ordentliche Lehrfächer, nicht an? Wir haben den Wunsch, mit den Kirchen Vereinba- rungen abzuschließen. Es steht für uns außer Frage, (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge daß der Religionsunterricht wie bisher in den Schul- ordneten der F.D.P) räumen erteilt werden kann, und zwar, soweit das möglich ist, in der normalen Unterrichtszeit. Wie bis- her sollen die Kirchen dafür eine umfassende finan- zielle Unterstützung erhalten. Minister Dr. Hans Otto Bräutigam (Brandenburg): Warten Sie doch erst einmal ab, bis ich die Frage be- Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich hoffe, antwortet habe, Herr Kollege Göhner, wir lehnen die- daß es uns in dieser Debatte gelingt, zu einer sachli- ses Konzept deshalb ab, weil es bedeutet: Die einen chen und nachdenklichen Prüfung dieser Fragen bei- Kinder gehen zum katholischen Religionsunterricht, zutragen. Ich weiß mich mit Ihnen darin einig - und die anderen zum evangelischen Religionsunterricht. ich weiß mich vor allem auch mit Ihnen, Herr In Zukunft wird es einige, vor allem in den großen Dr. Schäuble, darin einig -, daß die Fragen der Wer- Städten, geben, die in den moslemischen Religions- tevermittlung einer äußerst gewissenhaften und ge- unterricht gehen. nauen Prüfung bedürfen. (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ Brandenburg bemüht sich mit großem Ernst DIE GRÜNEN]: Es gibt auch welche, die darum, in einer Zeit fortschreitender Säkularisierung gehen nirgendwo hin!) der Gesellschaft und zunehmender Orientierungslo- Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 96. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. März 1996 8549 Minister Dr. Hans Otto Bräutigam (Brandenburg) sigkeit, die mich so beunruhigt, wie sie viele von Ih- die in diese Richtung gehen: Reden Sie nicht einen nen beunruhigt, Kulturkampf oder einen Kirchenkampf herbei! (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Branden (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE burg ist die Spitze!) GRÜNEN und der PDS)

ein auf Wissen und Gewissen gegründetes Wertebe- Den wird es in Brandenburg nicht geben. wußtsein zu vermitteln. Das ist unsere Aufgabe in (Anhaltender Beifall bei der SPD, dem den Schulen, und das ist in Wahrheit eine Verantwor- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS) tung der Gesellschaft insgesamt.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Das Wort zu einer ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Kurzintervention hat die Kollegin Dr. Antje Vollmer. und der PDS)

Dabei - ich sage es noch einmal - ist die Mitwirkung Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): der Kirchen nicht nur selbstverständlich, sie ist für Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! uns unverzichtbar. Wir bemühen uns, darüber mit Ich beziehe mich auf die Rede des Fraktionsvorsit- den Kirchen zu einer Verständigung zu kommen. zenden Schäuble, der ich sehr genau zugehört habe und in ihrem ersten Teil auch weitestgehend zu- Ich bitte Sie eindringlich, uns auf diesem schwieri- stimme. Mit dem zweiten Teil habe ich ganz große gen Weg nicht mit Anfeindungen und Unterstellun- Probleme; aber das lasse ich einmal außen vor. gen unter Druck zu setzen. Sie werden damit ohne- hin keinen Erfolg haben. Aber ich denke, wir haben Gerade weil ich die Sorge teile, wie eigentlich un- einen Anspruch darauf, daß Sie uns - bei aller kriti- sere Kinder noch vermittelt bekommen, daß dieses schen Begleitung - dabei unterstützen und helfen. Land auch kulturelle Wurzeln hat, die außerhalb des Christentums nicht denkbar sind, und weil ich auch finde, daß man Toleranz nur üben kann, wenn man Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Minister, ge- selbst eine Überzeugung, einen Standpunkt hat, statten Sie noch eine Zwischenfrage des Abgeordne- frage ich Sie: Kennen Sie denn nicht auch die tiefe ten Türk? Krankheit des heute angebotenen Religionsunter- richtes? Wir sollten einmal von der Ideologie wegge- hen und uns wirklich einmal die Praxis angucken. Jürgen Türk (F.D.P.): Herr Minister, was halten Sie von dem Vorschlag, in Brandenburg und vielleicht (Beifall bei Abgeordneten der SPD) auch anderswo zwischen LER-Unterricht und Reli- gionsunterricht wählen zu lassen, damit da kein Va- Ich habe ein Kind, das sehr lange am Religionsun- kuum entsteht? terricht teilgenommen hat, teilweise ganz alleine. Nach sechs Jahren hat es jetzt gesagt, es reiche ihm (Dr. Dagmar Enkelmann [PDS]: Das ist doch nun: immer die Themen Sekten, Drogen, Bezie- längst beantwortet worden! - Zurufe von hungsprobleme. Das Kind hat einen Hunger nach an- der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE- GRÜ deren Wahrheiten. Haben Sie den Eindruck, daß der NEN) staatliche Religionsunterricht diese wirk lich noch vermittelt? Ich habe den Eindruck, daß da genau das passiert, was man in der Praxis den Brandenburgern Minister Dr. Hans Otto Bräutigam (Brandenburg): vorwirft, nämlich LER: Lebensgestaltung-Ethik-Reli- Ich habe Sie ja, wofür ich eben schon kritisiert wor- gionskunde. den bin, darauf hingewiesen, daß Kinder aus wichti- gem Grund (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der PDS) (Zuruf von der CDU/CSU: Was für ein wich tiger Grund?) Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Ihre Antwort, Herr von der Teilnahme am LER-Unterricht befreit werden Schäuble. können. Es ist dabei unsere Vorstellung gewesen, daß viele derjenigen, die davon Gebrauch machen Dr. Wolfgang Schäuble (CDU/CSU): Frau Präsi- wollen, am Religionsunterricht teilnehmen. Die Mög- dentin! Frau Kollegin Vollmer, wir diskutieren heute lichkeit, die Sie gerade erwähnten, besteht also. Al- nicht über die Qualität des Religionsunterrichts. lerdings würden wir Wert darauf legen - das will ich noch einmal sagen -, daß möglichst viele Kinder, (Lachen bei der SPD - Zuruf von der SPD: wenn nicht alle, an dem Fach LER teilnehmen, damit Ja, ihr macht Wahlkampf!) wir nicht den verschiedenen Teilen der Gesellschaft sozusagen eine verschiedene A rt von Wertevermitt- Sie mag wie auch beim Unterricht in anderen Fä- lung anbieten. Letzteres kann, denke ich, nicht in un- chern oder beim politischen Engagement unter- serem gemeinsamen Interesse sein. schiedlich sein. Ich könnte Ihnen vom Religionsun- terricht eines meiner Kinder erzählen, in dem der Re- Erlauben Sie mir ein letztes Wort, nachdem ich hier ligionslehrer gesagt hat, die Mitglieder der Regie- schon einige Akzente in dieser Debatte gehört habe, rung, der ich damals angehört habe, seien alle Ver- 8550 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 96. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. März 1996

Dr. Wolfgang Schäuble brecher. Mein Kind hat dann auch nicht mehr am Re- gesellschaftlichen Wirklichkeit, die genau diesem ligionsunterricht teilgenommen. Bemühen in vielen Fällen häufig ins Gesicht schlägt.

(Beifall des Abg. Jörg Tauss [SPD] - Zurufe (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) von der CDU/CSU: Unmöglich!) Ich frage mich, ob es angesichts der sozialen und - Der Kollege der SPD klatscht dazu. Ich muß geste- der gesellschaftlichen Wirk lichkeit, die ja gerade von hen: Die Verkommenheit in den Reihen der sozialde- den Kirchen mit sehr deutlichen Worten kritisiert mokratischen Fraktion findet immer neue Grenzen. wird, am Ende ein doppelbödiges Spiel wird, Ich glaube jedenfalls nicht, Frau Kollegin Vollmer, (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS daß uns die Kritik am Religionsunterricht, so berech- SES 90/DIE GRÜNEN) tigt sie im einzelnen sein mag, dazu veranlassen am Beispiel des Landes Brandenburg etwas zu for- sollte, ihn abzuschaffen. Meine Meinung ist, daß wir dern und einzuklagen, was man in seiner eigenen ihn verbessern sollten. Politik - übrigens mit entsprechend deutlichen Wor- ten der Kirchen kritisiert - nicht einzulösen vermag. (Beifall bei der CDU/CSU) Das ist das, was mich an dieser Debatte stört. Ich meine ferner - das ist der Gegenstand der De- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne batte, Frau Kollegin Vollmer -, daß an Stelle des Reli- ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN gionsunterrichts nach Art. 7 Abs. 3 GG ein staatlich und der PDS) verordnetes Fach LER, das nicht als Alternative zum Religionsunterricht, sondern, wie Herr Minister Bräu- Dr. Wolfgang Schäuble (CDU/CSU): Frau Präsi- tigam eben auf die Zwischenfrage geantwortet hat, dentin! Herr Kollege Scharping, ich bin nicht ganz mit dem Ziel angeboten wird, daß alle daran teilneh- sicher, ob wir Sie so verstehen sollten, man möge nun men sollen, die Situation ganz sicher nicht verbes- wegen der Schwierigkeiten auf dem Gebiet der Wi rt sern, sondern eher noch verschlechtern wird. -schaft und des Arbeitsmarkts den Religionsunterricht abschaffen. Den Zusammenhang der Debatte kann Deswegen werbe ich dafür, Frau Kollegin Vollmer, ich nicht ganz erkennen. Herr Minister Bräutigam, in allem Ernst und in aller Eindringlichkeit, die wir uns gegenseitig nicht ab- (Widerspruch bei der SPD) sprechen wollen: Überlegen Sie noch einmal gut, ob Sie haben in Ihrer Kurzintervention einen Kunst- es nicht besser wäre, Religionsunterricht nach Art. 7 griff gemacht. Abs. 3 GG anzubieten und denjenigen, die daran nicht teilnehmen wollen, ein Fach Ethik, oder wie im- (Otto Schily [SPD]: Das war wieder ein Tritt mer es heißt - das haben wir ja schon in vielen ande- gegen das Schienbein!) ren Bundesländern -, anzubieten. Dann nehmen Sie Sie haben gefragt, ob wir von den Kirchen verlangen nicht in Anspruch, daß der Staat leisten solle, was in könnten, was wir angesichts der wirtschaftlichen und Zusammenarbeit und nach den Grundsätzen der Re- sozialen Lage selbst so schwer erfüllen können. Wir ligionsgemeinschaften gelegentlich, wie Frau Voll- verlangen in dieser Debatte von den Kirchen, auch in mer gesagt hat, auch nur unvollkommen gelingt. - Brandenburg, gar nichts, sondern es ist in Wahrheit so: Die Kirchen - beide, die Evangelische Kirche Ber- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) lin-Brandenburg, die Katholische und die Evangeli- sche Kirche in Deutschland, die Deutsche Bischofs- konferenz, auch die Jüdische Gemeinde zu Berlin Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Das Wort zu einer und in Brandenburg - verlangen vom Staat, daß er Kurzintervention hat der Fraktionsvorsitzende der Religionsunterricht als ordentliches Fach an den SPD, Herr Scharping. Schulen gemäß Art. 7 Abs. 3 einrichtet. Wir verlan- gen also von den Kirchen nichts, sondern die Kirchen verlangen vom Staat, daß dies gemäß Art. 7 Abs. 3 Rudolf Scharping (SPD): Frau Präsidentin! Meine eingerichtet werde. Damen und Herren! Herr Kollege Schäuble, unab- hängig von der Frage, in der wir offenkundig über- Ich habe begründet, warum ich diese Forderung einstimmen, daß die Kirchen für den Wertekonsens, der Kirchen nicht nur für berechtigt halte, Herr Mi- die Wertebildung und Wertebindung - übrigens auch nister Bräutigam, sondern warum ich glaube, daß es für die Glaubwürdigkeit der Wertebindung und Wer- in unser aller Interesse ist, wenn ihr in Brandenburg tebildung - von entscheidender Bedeutung sind, und und überall in Deutschland entsprochen wird. unabhängig davon, daß man darüber streiten kann, (Beifall bei der CDU/CSU) in welcher Form im einzelnen dieser, wie ich finde, unverzichtbare Beitrag der Kirchen erbracht wird, stellt sich mir im Zusammenhang mit dieser Debatte Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Ich habe noch zwei eine zweite Frage - die haben Sie aufgeworfen -, Wünsche auf eine Kurzintervention vorliegen. Ich nämlich, ob wir nicht von den Kirchen im Sinne von sage noch einmal: Die Kurzintervention bezieht sich Wertebindung und Wertebildung zuviel verlangen auf die Redebeiträge, das heißt auf die Redebeiträge angesichts von Haltungen, die Respekt und Toleranz, von Herrn Dr. Schäuble oder Herrn Dr. Bräutigam. Es Gemeinsinn und Zusammenhalt, Solidarität und an- gibt keine Kurzintervention zur Kurzintervention. deres erfordern, angesichts einer Politik und einer Herr Tauss. Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 96. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. März 1996 8551

Jörg Tauss (SPD): Frau Präsidentin! Aus meinen Bundesländern und auch in Brandenburg. Das ist die Äußerungen und aus meinem Beifall zu einer Rede, entscheidende Auseinandersetzung. die hier gehalten worden ist, ist der Eindruck ent- standen, als habe ich die Aussage, in der Regierung (Beifall bei der PDS sowie bei Abgeordne seien Verbrecher, geteilt. Ich will deutlich machen, ten der SPD) daß ich bei aller Schärfe in der politischen Auseinan- Mein letzter Satz in dem Zusammenhang. Ich dersetzung, für die ich bin, exakt diese Auffassung stimme voll dem zu, was der Landesjustizminister ge- nicht teile und sie auch nicht äußern würde. Viel- sagt hat. Ich behaupte, bei der gleichen Auseinan- mehr war dies für mich ein Beweis dafür, daß es not- dersetzung zur Schulgesetzgebung in Baden-Würt- wendig ist - wie Frau Vollmer hier dargestellt hat -, temberg, in Rheinland-Pfalz oder in einem anderen über Inhalte zu reden. Genau das, was Herr Schäu- alten Bundesland hätten Sie diese Debatte nie ge- ble gesagt hat, ist vorgekommen, und deswegen ist wagt. Sie führen sie nur bei einem neuen Bundes- es notwendig, über Inhalte zu reden. Das Wo rt Ver- land, weil Sie das Gefühl haben, dort noch belehren brecher wende ich auf diese Regierung und auf Mit- zu müssen und weil Sie dort eine ganz andere, phari- glieder Ihrer Partei ausdrücklich nicht an. säerhafte Haltung an den Tag legen. Genau das leh- nen wir ab. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (Beifall bei der PDS sowie bei Abgeordne ten der SPD) Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Dr. Gysi.

Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Als nächste hat das Dr. Gregor Gysi (PDS): Frau Präsidentin! Der Frak- Wort in der Debatte die Abgeordnete Christa Nik- tionsvorsitzende der CDU/CSU hat in seiner Rede kels. zum Verhältnis von Staat und Kirchen und auch zur Behandlung von Kirchen und Religionsgemeinschaf- ten zur Zeit der DDR Stellung genommen. Dem, was Christa Nickels (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): er gesagt hat, kann man im Prinzip zustimmen. Das Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! will ich ausdrücklich betonen. Ich stimme Ihnen zu, Herr Gysi. Ich bin der festen Überzeugung: Wenn wir heute nicht die letzte Ple- Ich will hinzufügen: Es war ein ganz großer Man- narsitzung des Deutschen Bundestages vor drei gel, daß in den Schulen der DDR nicht einmal Reli- Wahlen in den alten Bundesländern hätten, gäbe es gionsgeschichte unterrichtet wurde, was unter ande- diese Debatte nicht. rem, von Wertfragen abgesehen, zu einem Bildungs- verlust geführt hat, so daß viele Jugendliche in der (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, DDR zum Beispiel mit bestimmten alten Kunstwer- bei der SPD und der PDS - Karl-Josef Lau ken überhaupt nichts anfangen konnten, weil sie sie mann [CDU/CSU]: Aber ganz sicher würde nicht verstanden haben, weil sie die Geschichte des es die geben! - Siegfried Ho rnung [CDU/ Christentums, die Heilige Schrift, nicht kannten. CSU]: Sie können das Wesentliche nicht vom Unwesentlichen unterscheiden!) (Zurufe von der CDU/CSU) Ich muß sagen, daß ich es unangemessen und ein - Ich finde, gegen das, was ich im Augenblick- sage, Stück weit auch niederträchtig finde, zum Nutzen können Sie doch nicht im Ernst etwas einwenden. und Frommen von Wahlkämpfern in den alten Bun- Das müßte doch eigentlich Ihre Zustimmung finden. desländern und auf Kosten der verfassungsmäßig ga- rantierten Rechte des Landes Brandenburg sowie zu (Beifall bei der PDS) Lasten der Würde der Bürgerinnen und Bürger in ei- Weil das so ist, sind wir sehr dafür, daß im Unter- nem der neuen Bundesländer eine solche Debatte zu richt genau dieses Wissen vermittelt wird; denn da- veranstalten. mit hängt immer auch eine gewisse Orientierung zu- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, sammen. Das ist ganz klar. bei der SPD und der PDS) Aber Sie wollen in gewisser Hinsicht die Indoktri- Worum geht es? Ich beziehe mich ausdrücklich auf nation, und davor kann ich nur warnen. Das hat, den Antrag, den Sie, meine Damen und Herren von wenn auch mit anderen Inhalten, die DDR immer der CDU/CSU-Fraktion, schriftlich vorgelegt haben. versucht. Daran ist sie, wenn Sie so wollen, in dieser Herr Kollege Schäuble, verschanzen Sie sich nicht Hinsicht glücklicherweise gescheitert. Das ist keine hinter dem Willen der Kirchen. Sie sind hier die An- Lösung. Ich werde Ihnen das beweisen. tragstellenden, und Sie behaupten in dem Antrag, daß das Vorhaben des Landes Brandenburg verfas- Herr Schäuble hat hier von der Freiwilligkeit ge- sungswidrig sei. Das muß nachdrücklich zurückge- sprochen. Als das Bundesverfassungsgericht im Kru- wiesen werden. zifix-Urteil genau nichts anderes gefordert hat als die Freiwilligkeit, da waren es CDU und CSU, die darauf Es ist so, daß sich auf die Bremer Klausel selbstver- bestanden, daß religiöse Symbole staatlich angeord- ständlich auch alte Bundesländer bezogen haben. In net werden, und sich nicht damit abfinden konnten, Berlin haben wir eine vergleichbare Regelung, die daß sie freiwillig angebracht werden. Sie wollen gar schlechter ist als die Regelung, die Brandenburg jetzt nicht Überzeugung. Sie wollen die staatliche Anord- will. Ich will Ihnen einmal den entsprechenden Para- nung. Genau dagegen wehren wir uns in den neuen graphen des Schulgesetzes von Berlin, § 23, zitieren. 8552 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 96. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. März 1996

Christa Nickels Danach erhalten in Berlin nur „diejenigen Schülerin- läuft das in der Bundesrepublik. Es ist unerträglich, nen und Schüler Religionsunterricht, deren Erzie- wenn ein Entgegenkommen im Interesse eines Kon- hungsberechtigte eine dahin gehende schriftliche sens gleich wieder dazu genutzt wird, das Projekt an Erklärung abgeben". Die Schule hat dafür Sorge zu sich auszuhebeln. Das ist doch Fakt. tragen, daß für die Kinder, die angemeldet sind, wö- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, chentlich zwei Schulstunden für Religionsunterricht im Stundenplan freigehalten werden. Wer sich nicht bei der SPD und der PDS) anmeldet, ist nicht verpflichtet, an einem Werteun- Das Fach Lebensgestaltung-Ethik-Religionskunde terricht neutraler Art teilzunehmen. ist kein Ersatzfach für Religionsunterricht. Es ist ein eigenständiges Unterrichtsfach. Das heißt, wenn Kinder nicht angemeldet werden, gibt es erstens keinen Religionsunterricht. Zweitens Herr Kollege Schäuble, ich verstehe überhaupt gibt es keinen staatlich garantierten weltanschau- nicht, warum Sie als Fraktionschef der CDU/CSU, lichen neutralen Unterricht, wo Kindern die Grund- der größten Fraktion im Deutschen Bundestag, als je- werte und Auffassungen in der Gesellschaft vermit- mand, der in einem Land lebt, wo wir einen Werte- telt werden. Herr Schäuble, ich stimme Ihnen ja zu, konsens haben, der alle eint, ganz gleich ob konfes- daß eine große Unsicherheit vorhanden ist, wo Kin- sionell gebunden oder nicht, an den sich alle in der gemeinsam diskutieren könnten. Deutschland lebenden Menschen halten können und der in unserem Grundgesetz niedergelegt ist, be- Die Berliner Regelung ist also weit schlechter als haupten, daß allein die Kirchen einen Werteboden das, was Brandenburg will. Ich wundere mich aller- schaffen können. Das ist unerträglich. Damit stellen ings nicht, daß Sie auf Brandenburg einknüppeln Sie die Leute, die nicht religiös gebunden sind, in und über Berlin, wo es seit Jahrzehnten praktiziert eine Ecke, als wären es Banausen, die keine Werte wird, kein Wort verlieren. haben und die nichts dazu beitragen, Menschen- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, rechte und Grundrechte hochzuhalten. bei der SPD und der PDS) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Sie behaupten, Herr Kollege Schäuble, daß mit sowie bei Abgeordneten der SPD und der dem Brandenburger Vorschlag der Religionsunter- PDS) richt abgeschafft werden soll. In den neuen Bundes- Zusätzlich zu den Bemühungen, ein Fach Lebens- ländern gibt es nichts abzuschaffen. Da gab es kei- gestaltung-Ethik-Religionskunde einzurichten, ist in nen Religionsunterricht, wie wir ihn kennen. Da gab Brandenburg alles getan worden, um die Möglich- es in 40 Jahren SED-Diktatur nur von oben verord- keit zu schaffen, auf freiwilliger Basis Religionsunter- nete Indoktrination im Sinne der herrschenden Ideo- richt zu erteilen. Herr Bräutigam hat das Wesentliche logie. Man muß erst einmal feststellen, daß sich die schon gesagt. Sie haben gesagt, daß Sie im großen Menschen endlich davon befreit haben. Ich erinnere Maßstab - es waren meines Wissens im letzten Jahr daran, daß sie sich selber auf Grund einer sanften Re- 65 Millionen DM - Mittel für den Religionsunterricht volution davon befreit haben. Dies ist eine unglaubli- zur Verfügung gestellt haben. Räume werden zur che Errungenschaft, die hier mit Füßen getreten Verfügung gestellt, jegliche Hilfestellung wird gege- wird. ben. In den Auswertungskommissionen zum Modell- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, versuch hat man sogar der katholischen Kirche ange- und bei der SPD sowie bei Abgeordneten boten, mitzuarbeiten, obwohl diese von Anfang an der PDS) eine strikte Gegnerin war und mit unqualifizie rten Argumenten - das sage ich als katholisch-konfessio- Es geht darum, diesen Freiraum zu nutzen, den nell gebundene Christin - Ihnen laufend Knüppel Kindern, Schülerinnen und Schülern endlich einmal zwischen die Beine geworfen hat. Großzügiger geht einen Ort im Unterricht anzubieten, wo sie sich alle es meines Erachtens nicht. zusammen auf der Grundlage ihrer verschiedenen Vorstellungen in einem weltanschaulich neutralen (Beifall bei Abgeordneten der PDS) Fach, aber auch einem wertorientierten Fach, ausein- Ich möchte noch einmal auf das hinweisen, was in andersetzen können. der Debatte zu kurz kommt. Für mich ist es nicht hin- nehmbar, daß die Frage, was die Kinder und Jugend- Brandenburg hat zusätzlich alles, aber auch alles lichen in einer zunehmend säkularen und pluralisti- in den letzten fünf Jahren getan, den großen Kirchen schen Gesellschaft wirklich brauchen, überhaupt goldene Brücken zu bauen; Vorschläge gemacht, sie keine Rolle spielt. In Brandenburg sind 80 Prozent einzubeziehen. der Erwachsenen nicht konfessionell gebunden. Zu diesem Zweck hat man auch faule Kompro- 93 Prozent der Kinder sind nicht getauft. Und dann misse geschlossen. Ich sage an die Adresse der Kolle- hinzugehen und zu sagen: Jawohl, diese Konse- gen der SPD im Land Brandenburg: Sie haben ge- quenz einer SED-Diktatur verewigen Sie, wenn sie stern von seiten der SPD-Fraktion im Land Branden- den Menschen keinen Religionsunterricht aufs burg die Abmeldemöglichkeit beschlossen, weil der Haupt drücken, finde ich unerträglich. Druck von den Kirchen so groß war. Sie können (Karl-Josef Laumann [CDU/CSU]: Dann heute sehen, daß der Kollege Schäuble das sofort muß man das ändern!) ausnützt, um das nicht als honorige Geste zu sehen, sondern um Ihnen zu unterstellen, der neue Unter- Die Menschen in den neuen Bundesländern konnten richt sei tatsächlich weltanschaulich nicht neutral. So sich nur deshalb in einer friedlichen Revolution von Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 96. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. März 1996 8553

Christa Nickels ihrem System befreien, weil sie Grundwerten ver- dem man Brandenburg deckelt, ihm das alte System pflichtet waren. Sie müssen die Möglichkeit haben, aufzwingt und so hofft, daß dieses in Berlin dem- freie Luft zu atmen und sich darüber zu verständi- nächst auch eingeführt wird. Flurbereinigung in Ber- gen, was wichtig ist in der Gesellschaft. Gerade dazu lin über Brandenburg - das ist schon unverschämt. ist es nötig, daß man einen Ort anbietet, an dem Kin- Wenn Sie das wollen, sollten Sie das auch offen aus- der mit ihrer ganzen Breite von verschiedensten Er- sprechen. fahrungen zusammentreffen, reden und lernen kön- nen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der PDS) Unsere Gesellschaft ist, auch im Westen - da hat Antje Vollmer völlig recht -, einer zunehmenden Zum Schluß. Herr Kollege Schäuble hat gesagt, Werteerosion unterworfen. Die großen Konfessionen daß es wichtig sei, Menschen zu haben, die den ge- haben dies nicht verhindern können. Zu erwarten, lebten Glauben ausstrahlen würden und damit anzie- Herr Schäuble, daß der Religionsunterricht als staat- hend wirkten. In den alten Ländern haben wir eine lich verordnetes Fach - in Brandenburg als aufok- tiefgreifende Krise der christlichen Kirchen. Nach troyiertes Fach - alles, was an Angsten, an Zukunfts- Umfragen ist bei 70 Prozent der Gläubigen ein still- not und an Sinnfragen in der Gesellschaft aufbricht, schweigendes Ruhen des Bekenntnisses festzustel- aufheben kann, halte ich bestenfalls für naiv. len. Zwei Drittel sind in einer starken inneren Emi- gration zu ihrer Kirche befangen. Viele tragen sich (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN mit Austrittsgedanken. Zunehmend melden sich Kin- und bei der PDS sowie bei Abgeordneten der aus dem Religionsunterricht ab. Die Kirchen soll- der SPD) ten, anstatt eine falsche und unsachliche Verfas- Die Kinder und Jugendlichen haben mit dem Fach sungsdebatte vom Zaun zu brechen, vor Ihrer eige- Lebensgestaltung-Ethik-Religionskunde die Mög- nen Haustür kehren und dafür sorgen, daß Sie sich lichkeit, Fachwissen über Religion und Glauben zu selber bekehren und den Glauben wieder leben. erlangen. Damit lernen sie erstmals - was sie vorher Ich möchte noch einmal auf den Gründungsimpuls nicht konnten - wirklich etwas auch über diese Wur- des Christentums eingehen. Damals gab es eine zeln des europäischen Abendlandes. Daneben ist es kleine Gruppe, die keine institutionellen Rechte ureigenste Aufgabe der Kirchen, durch einen leben- hatte. Die hat ihre Strahlkraft nicht dadurch entwik- dig gelebten Glauben und durch eine Ausstrahlung, kelt, weil irgendwann von oben her der Religionsun- die die Menschen wirklich von dem, was die Sub- terricht verordnet worden ist, sondern weil die Mit- stanz des Glaubens ist, fasziniert, die Menschen für glieder dieser Gruppe an der Seite der Bedrängten ein christlich gelebtes Leben zu interessieren. Das und der Beladenen standen und mit ihrem eigenen kann die Kirche, wenn sie in eigener Verantwortung Leben für deren Rechte und für deren Würde ein- an den Schulen einen Religionsunterricht auf freiwil- standen. Es wäre beispielhaft, sich zu mühen, das liger Basis erteilt und wenn sie den Platz, der ihr jetzt hier einmal vorzuleben. Das wäre im Sinne der Wer- in den neuen Ländern endlich gegeben wird, mit die- tedebatte wirklich wichtig. ser Strahlkraft wirklich ausfüllt. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS Für meine Begriffe wird in dieser Debatte genau SES 90/DIE GRÜNEN und der PDS) das Gegenteil gemacht. Viele von den Christen,- die in der früheren SED-Diktatur brutal unterdrückt wor- Im Osten, in Brandenburg, wächst etwas Neues. den sind und die mit dazu beigetragen haben, daß Wenn wir da doch erst einmal zuhören würden, und das System weggefegt worden ist, waren bei ihren das nicht gleich mit unseren - ich sage das einmal Mitbürgern anerkannt. Viele nichtchristlich gebun- so - großen Wessi-Stiefeln platttrampelten, könnten dene Menschen hatten unglaubliche Bewunderung wir in den alten Bundesländern selber ungeheuer da- für den Mut und die Ausstrahlung, die diese Christen von profitieren. Ich kann Sie nur ermutigen, diesen hatten. Jetzt - kaum sechs Jahre nach der Vereini- Weg weiterzugehen. gung - wird dieser Gründungsimpuls beiseite gefegt, verleugnet und totgetreten. Statt dessen wird ein Danke schön. Fach staatlich verordnet, das die alleinseligma- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN chende, wertestiftende Institution sein soll, die wir in und bei der PDS sowie bei Abgeordneten der Bundesrepublik brauchen. der SPD) (Beifall bei Abgeordneten der PDS) Meiner Meinung nach geht es nicht, daß hier auf Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Als nächster Kosten der Rechte der neuen Länder, auf Kosten der spricht der Kollege Professor Dr. Ortleb. Lebenswirklichkeit der Bürgerinnen und Bürger dort, auf Kosten der Bedürfnisse der Kinder, Wahl- kampf getrieben wird und zusätzlich Probleme der Dr. Rainer Ortleb (F.D.P.): Frau Präsidentin! Meine alten Bundesländer gelöst werden sollen. Damen und Herren! Ich bin kein Rechtsexperte und will mich nicht unnütz durch Leugnen meines laien- Ich bin der festen Überzeugung, daß diese Debatte haften Umgangs mit dem für mich ungeläufigen auch im Hinblick auf die Fusion von Brandenburg Werkzeug Verfassungsrecht unglaubwürdig machen und Berlin angezettelt wurde. Man möchte das Berli- und mir damit etwa Überzeugungskraft nehmen. So ner Modell, das in Ihrem Sinne schlechter ist, als das, mag ich denn ganz und gar nicht die Sache zuvor- was Brandenburg jetzt einführen will, überrollen, in- derst von der rechtlichen Seite anfassen. 8554 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 96. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. März 1996

Dr. Rainer Ortleb Lassen Sie mich daher in persönlichem Empfinden gleich strategisch geschickterem Verhalten nicht die und von persönlicher Erfahrung her ableiten: Es gibt Entchristianisierung aufhalten können? Oder - so Bürger der Bundesrepublik, die seit knapp fünfzig frage ich Sie - wie sollte man ohne Konfirmation Jahren nach wie vor in immer ungestörten Wertever- Glied der Kirche sein? Insofern war das erwähnte hältnissen leben. Sie lebten und leben vorwiegend in Kind meines Jahrgangs wohl ein doppelter Exot. den alten Bundesländern. Und es gibt Bürger der Bundesrepublik, die seit knapp fünfzig Jahren mit Schließlich wurden den Jugendgeweihten und gestörten und sich so, dann so und wieder so verän- Nichtkonfirmierten der Jahre 1958 und später - etwa dernden Werten lebten. Sie leben und lebten vorwie- in den Jahren 1978 und später - Kinder geboren, die gend in den neuen Bundesländern. die inzwischen konfessionslosen Eltern natürlich nicht taufen ließen und die auch 1992 und später Ich bin jetzt der erste Redner in dieser Debatte, der kaum Bindung zu Religion und Kirche haben konn- aus diesen neuen Ländern kommt. Ich kann Ihnen ten. sagen: Die empfindlichste Befindlichkeit des Ost- deutschen ist, über ihn befinden zu wollen. Ist es so nicht durchaus verständlich, Bildung in Lebensgestaltung, Ethik und Religionskunde einer- (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne ten der CDU/CSU, der SPD und der PDS) seits erfahren und andererseits vermitteln zu wollen, auch wenn religiöse Bindungen als vertraute Umge- Im Jahre 1950 kam ich im heutigen wie damaligen bung von Lebensgestaltung und Ethik fehlen? Thüringen - ich empfinde es als heutiges und dama- liges Thüringen - in die Schule. Der Religionsunter- Es ist hier nicht mein Anliegen, die Ursachen des richt wurde in den Räumen der Schule durchgeführt. drastischen Rückgangs religiöser und kirchlicher Dazu kam dann jemand von der Evangelischen Kir- Bindungen im Laufe der Existenz der DDR in rekon- che. Ich weiß nicht mehr, ob es Pflicht war, aber ich struierten Zusammenhängen darzustellen. Das wird glaube, daß alle oder fast alle Schüler teilnahmen. Aufgabe von Historikern sein. Es genügt die Feststel- Die Unsicherheit meiner Erinnerung, ob „fast alle" lung, daß Empfindsamkeiten berührt werden, wenn oder „alle" ist dadurch erklärt, daß wir auch Speziali- jetzt dringend erwünscht ist, was früher unförderlich sten für das Schwänzen anderer Fächer außer Reli- oder gar unerwünscht war. Zu oft hat die von einsei- gion hatten. tiger Gesellschaftswissenschaft gestützte Staatsdok- trin der DDR einerseits eiserne Linie vorgegeben wie Etwa zwei Jahre später stand Religion immer noch auch andererseits Wechselbäder abrupter Richtungs- auf dem offiziellen Stundenplan, aber am Zeitrand, schwankungen verordnet, ohne dabei den Trend zu weil wir nun dazu ins Gemeindehaus gehen mußten. ändern. Mit den Eltern nach umgezogen, war 1955 dort mein Religionsunterricht am schulfernen Spät- Vor Jahren hat mir ein Doktorand des Gebietes nachmittag auch planfern geworden. Religion als Marxistisch-Leninistische Philosophie gesteckt, daß Schulfach war also verdrängt oder abgewandert. er seine Dissertation zu ungünstigster Zeit begonnen habe, weil, noch ehe er fertig sein werde, ein regulä- Die Konfirmation 1958 im wieder neuen, jetzt rer Parteitag der SED stattfinde, und da könne man ländlichen Wohnort Moritzburg bei Dresden war nie wissen, ob alles, was er jetzt aufgeschrieben noch konfrontationslos mit dem Staat und eigentlich selbstverständlich - noch. - habe, dann noch richtig sei. Da gab es wohl doch in der einzig wahren Grundlagenwissenschaft Marxis- (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE mus-Leninismus Elemente von Beschwörung und GRÜNEN]: Zum Thema!) Aberglaube.

Wie das damals andernorts war, kann ich nicht beur- Im Katalog dessen, was den ehemaligen DDR-Bür- teilen. Ich bitte Sie um Verständnis, daß ich nur ei- ger an seinem Staat störte, ist sicher mangelnde Tole- gene Beobachtungen verwende, weil ich glaube, daß ranz und die damit verbundene Unfreiheit des An- auch diese ausreichen, um zur Darstellung von ver- dersdenkenden in der Skala von vielleicht noch ver allgemeinerungsfähigen Schlußfolgerungen zum Ge- schmerzbarer Bedrängnis bis psychischer oder physi- genstand der heutigen Debatte zu kommen. scher Zersetzung des Unbequemen, bis zur Mißach- Ein Kind meiner Klasse erhielt 1958 die Jugend- tung und Bruch der Menschenrechte an vorderer weihe und wurde zugleich konfirmiert. Es war also Stelle. Die neue, gemeinsame Bundesrepublik wird der Anfang der Zeit des Verdrängungswettbewerbes daher mit hohen Erwartungen angenommen. Dazu unter ungleichen Bedingungen, der mit der staatlich gehört auch eine behutsame Rückführung in eine ge- beförderten und gestützten Jugendweihe begonnen meinsame Wertevorstellung. wurde. So wie das eine Kind aus meiner Zeit der Exot Eben habe ich die sozialistische Jugendweihe als war, wurden schließlich, Jahre später, die Konfirmier- ein Instrument der staatlichen Einflußnahme auf ten zu Exoten, die den bekannten, nicht rechtfertig baren Nachteilen ausgesetzt waren. Werte charakterisiert. Auch heute gibt es eine Ju- gendweihe e. V. in den neuen Bundesländern, die für Nicht recht verstanden habe ich damals - und sich in Anspruch nimmt, einerseits weltanschaulich verstehe es auch heute noch nicht -, warum die Kir- offene Jugendarbeit zu leisten, und andererseits, da- che im staatlichen Ringen um Jugendweihe gegen von losgelöst, unabhängig und nicht zwingend in Konfirmation - so konnte ich es jedenfalls beobach- Einheit, so jedenfalls sagt es die Satzung, auch eine ten - Jugendweihlingen eine zusätzliche Konfirma- neue Jugendweihe anbietet. Ich gehe unvoreinge- tion verweigerte. Hätte man mit toleranterem, zu- nommen davon aus, daß das auch so ist. Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 96. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. März 1996 8555

Dr. Rainer Ortleb Es sind eben immer noch Zigtausende von Jugend- Arbeit abnehmen müssen, damit man sich hinterher lichen und Eltern, die das Angebot annehmen. Ich um so mehr in Lamenti vertiefen kann, was das Ver- greife das noch einmal auf, weil ich hier selbst Gele- fassungsgericht wohl ange richtet habe. genheit haben werde, Toleranz üben zu können. Ich scheue mich nicht, eine Rede zur Jugendweihe in (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne meiner Heimatstadt zu halten, weil die ten der PDS) durch kommunistische Benutzung in den zwanziger In der Sache witte rt der Verfassungsjurist den Jahren und durch staatsdoktrinären Mißbrauch in Streit darüber, ob Art. 141 GG für das Land Branden- der DDR trotzdem noch unverfälschten Wurzeln der burg gilt oder nicht. Gewiß kann man hier trefflich Jugendweihe im Liberalismus des vorigen Jahrhun- streiten. Nur würde ich gern - ich gebe es zu - aus derts zu finden sind. Es wäre ja wohl schlimm, wenn Emotionen heraus damit mit aller Vorsicht umgehen. unsere freiheitliche Grundordnung eine Diskussion über und vor allem mit der neuen Jugendweihe nicht De jure mag das Land Brandenburg vom 1. Januar aushalten würde. 1949 nicht das Brandenburg von heute sein. Aber kränkt man nicht de facto das Selbstbewußtsein der (Beifall der Abg. Rosel Neuhäuser [PDS]) Brandenburger, die sich in langer Tradition sehen? Ich bin übrigens auch deswegen noch einmal auf Nicht jeder schläft mit dem Grundgesetz unter dem die Jugendweihe und insbesondere auf die - so sehe Kopfkissen, bewegt sich aber dennoch in natürlicher ich es jedenfalls - erneuerte zurückgekommen, weil Weise auf dessen Gleisen, weil ihn konforme Wer- mir Ähnlichkeiten zu Motivation und Anliegen des teempfindungen leiten. zur Sache der Debatte gehörigen Brandenburger (Beifall bei der F.D.P.) Lehrfachs Lebensgestaltung-Ethik-Religionskunde zu bestehen scheinen. Ich glaube, daß man sich an- Die Mütter und Väter des Grundgesetzes haben es dererseits um das Leben christlicher Anschauung in für die Menschen geschaffen und in ihm die aner- Deutschland keine Sorgen zu machen braucht. Stadt- kannten und gültigen Wertevorstellungen widerge- mauern und Grenzmauern fielen, aber jahrhunderte- spiegelt. Es wurde im Laufe der Jahre immer wieder alte und neue Kirchen künden davon. Begriffe wie auf Spiegeltreue geprüft, weil Wertvorstellungen wie „Neujahrsmann", „Väterchen Frost". oder „Jahres- der Mensch und seine Ideale leben. So ist das Grund- endflügelpuppen" haben nur in den mehr als dop- gesetz für den Menschen da, nicht umgekehrt. pelbödig erzählten Witzen der DDR-Zeit das Ch rist- kind, die Engel und den Weihnachtsmann verdrängt. Der brandenburgische Entwurf bietet Religionsun- terricht nicht als ordentliches Lehrfach an, sondern Ganz will ich mich jedoch nicht vor dem Verfas- fakultativ. Eine Art konfessionsloses neues Ersatz- sungsaspekt drücken: Der vorliegende Antrag bringt fach ist Pflicht für alle. Wieder will ich das bewußt Sorge um die Verfassungskonformität des von der nicht verfassungsrechtlich betrachten, sondern dar- Landesregierung von Brandenburg in den dortigen auf hinweisen, daß damit Konfessionslosigkeit als Re- Landtag eingebrachten Gesetzentwurfs zum Aus- gel behandelt wird. Gleich welcher Umschwung, es druck und rät zu anderer Berücksichtigung des Reli- werden immer wieder verordnete Minderheiten defi- gionsunterrichts. Das Wort Sorge im Antrag darf man niert. Das stößt den Liberalen bös auf. sicher immer dann formulieren, wenn man glaubhaft machen kann, daß man nicht mit dem erhobenen- (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne Zeigefinger zu hantieren beabsichtigt. ten der CDU/CSU) (Beifall bei der F.D.P.) Ich klage hier nicht in erster Linie A rt . 7 Abs. 3 GG ein, sondern Toleranz. Es würde ein Schuh daraus, Bitte nehmen Sie mir zunächst ab, daß auch ich das wenn der Gesetzentwurf sowohl das neue Branden- weder tun will noch tun werde. burger Lehrfach Lebensgestaltung-Ethik-Religions- Nun sehen sich die Einbringer des heute debattier- kunde als auch den Religionsunterricht als gleichbe- ten Bundestagsantrags mit dem möglichen Vorwurf rechtigtes, alternativ wählbares und ordentliches konfrontiert, Bildungs- und Kulturhoheit des Landes Lehrfach behandeln würde. Brandenburg zu mißachten und unzulässig in lau- (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne fende Gesetzgebung einzugreifen. Wenn man aber ten der CDU/CSU) das im Antrag verwendet Wo rt „bundesunfreund- lich" in „für die Bundesrepublik Deutschland un- Wird so der Gedanke des hier zu behandelnden freundlich" umdenkt, was sicher nicht unzulässig Antrags interpretie rt, dann kann sich auch der Libe- weit entfernt ist, dann kann der Sinn der Empfehlung rale dem vorgelegten Bundestagsantrag anschließen. an Brandenburg auch so verstanden werden, daß in In diesem Sinne kann ich mich öffnen, dem Antrag Anbetracht bereits angekündigter Verfassungskla- zuzustimmen. Ich bitte auch Sie, das zu tun. gen für das Erscheinungsbild der Bundesrepublik in Danke. der Welt eine solche Auseinandersetzung um Band- breiten von Toleranz nicht um Vertrauen wirbt, zu- (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne mal Deutschland in solchen Fragen in der Schrei- ten der CDU/CSU - Zurufe von der PDS) bung der Geschichte unseres Jahrhunderts nicht ge- rade die Rolle eines Musterknaben spielt. Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Das Wort zu einer Rufen wir das Verfassungsgericht an, dann würde Kurzintervention zur Rede von Professor Ortleb hat wieder das Bundesverfassungsgericht der Politik die Volker Beck. 8556 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 96. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. März 1996

Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Land Brandenburg haben als die frühere Mark Bran- Frau Präsidentin! Werter Kollege Ortleb, Ihre Rede denburg, weil man damals bewußt nicht auf die Län- konnte nicht darüber hinwegtäuschen, daß die dergrenzen, die man für provisorisch hielt, ange- F.D.P.-Bundestagsfraktion, der Sie angehören und für knüpft hat, sondern an das jeweilige Gebiet. Man hat die Sie sogar gesprochen haben, diesen Antrag nicht damals sogar laut von Brentano vorgesehen, daß, nur unterstützt, sondern auch mit geschrieben hat wenn ein Land sich mit anderen Ländern zusammen- und mit als Antragsteller genannt wird. schließt, die Bremer Klausel des Art. 141 für das neue Land insgesamt gilt. (Dr. [F.D.P.]: Natürlich! Wer lesen kann, der sieht es!) (Dr. Hermann Otto Solms [F.D.P.]: Das ist keine Kurzintervention! Das ist eine vorbe Dieser Antrag ist wirklich ein Anschlag auf den Fö- reitete Rede!) deralismus und die kulturelle Eigenständigkeit der neuen Länder. Diese Debatte gehörte eigentlich Was Sie hier wollen, finde ich aus verfassungspoli- nicht in den Bundestag. Mit dieser Auffassung be- tischen Gründen sogar noch schlimmer als aus ver- finde ich mich in sehr guter Gesellschaft. Ich hoffe fassungsrechtlichen. Wenn Bundesländer im Westen zumindest, daß Ihr Kollege Caesar in Rheinland ihre kulturelle Eigenständigkeit - Pfalz noch Ihre Wertschätzung genießt. Er hat heute morgen im Deutschlandfunk erklärt, die Länder müßten ihre Spielräume behalten. Die Kompetenzen Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Beck, die Re- Bonns seien nach dem Grundgesetz ohnehin schon dezeit der Inte rvention ist beendet. sehr ausgeprägt. In Bereichen wie der Schulpolitik, die reine Ländersache seien, solle sich Bonn die not- wendige Zurückhaltung auferlegen. Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): - diesen Satz würde ich gerne noch beenden - in der (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Bremer Klausel sichern konnten, - und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der PDS) Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Sie ist beendet. Er hat deshalb abgelehnt, daß wir heute in dieser Form darüber diskutieren. Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sie können sich auch nicht damit herausreden, daß - so sie in dieser Frage abgewichen sind, - Sie sich im Verfassungsrecht nicht so auskennten. In dem Antrag, den Sie gestellt haben, behaupten Sie wahrheitswidrig, Art. 141 des Grundgesetzes sei auf Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Schluß! Brandenburg nicht anzuwenden. Dies ist falsch. Der Landesjustizminister von Brandenburg hat darauf hingewiesen, welches Gesetz in der Mark Branden- Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): burg galt. - dann muß doch angesichts von 40 Jahren getrenn- ter Entwicklung und der demokratischen Revolution Wenn Sie einmal die Protokolle des Parlamentari- in der DDR - schen Rates nachlesen, die ich Ihnen gerne- zitieren will, dann müssen Sie feststellen, daß daraus eindeu- tig hervorgeht, daß Art. 141 dort gilt. Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Beck, ich wie- derhole: Es ist Schluß mit der Kurzintervention. Damals hat Herr von Brentano für das Plenum des Parlamentarischen Rates dargestellt, daß Herr Kaiser sich nicht mit einer „Klarstellung dahin, daß der Arti- Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): kel sich nur auf die verfassungsrechtliche Bestim- - dies für die neuen Länder erst recht gelten. mung von Bremen und auf kein anderes Land be- ziehe", durchsetzen konnte. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS SES 90/DIE GRÜNEN, der SPD und der Damit aber nicht genug: PDS) Bei Art. 141 GG wurde nicht nur an die Länder der Westzonen, sondern auch an Berlin und die Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Kollege Ort- Ostzone gedacht. Am Ende der Beschäftigung leb. mit Art. 141 GG im Hauptausschuß des Parlamen- tarischen Rats fiel ein Hinweis von Kaiser auf "die Bedeutung der Angelegenheit für die Stadt Ber- Dr. Rainer Ortleb (F.D.P.): Herr Kollege, ich möchte lin und . die Besorgnis, die wir um die Ostzone Ihnen in zwei Teilen antworten. haben". Kaiser wollte warnen, daß die Folgen des allgemeinen Verständnisses von A rt . 141 GG In meiner Zeit als Bundesminister für Bildung und nicht auf Bremen und vielleicht noch Hamburg Wissenschaft habe ich viele Erfahrungen im behutsa- und Hessen beschränkt blieben, sondern Berlin men Umgang mit der Verteilung von Kompetenzen und die Länder der Ostzone beträfen. zwischen Bund und Ländern gewinnen können. Da- mals hat mich immer ein wenig gestört, daß man mir, Der Bericht von Brentanos weist auch darauf hin, obwohl ich sicherlich - das kann man nachweisen - daß es nicht durchgreift, daß wir heute ein anderes niemals den Versuch unternommen habe, als Bun- Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 96. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. März 1996 8557

Dr. Rainer Ortleb desbildungsminister in die Kompetenz der Länder hier unterbreitet haben, indem Sie davon sprachen, einzugreifen, daß der Religionsunterricht nach und nach aus den Schulen verdrängt worden sei. (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber bei diesem Antrag tun Sie Es gibt inzwischen, in den sechs Jahren nach der es!) Wende, neue historische Erfahrungen, um die ich un- ter Bezugnahme auf Ihre Ausführungen die Debatte - jetzt rede ich - häufig vorgeworfen hat, bereits in jetzt bereichern möchte, indem ich Ihnen schildere, Kompetenzen eingegriffen zu haben, wenn ich nur daß inzwischen, das heißt, in der Zeit, als ich im laut über ein bildungspolitisches Problem nachge- Sächsischen Landtag unter anderem für Bildungspo- dacht hatte. litik zuständig war, erste Pfarrer an mich herangetre- Ich will Ihnen ein Beispiel nennen: Ich habe mich ten sind und gesagt haben, daß ihnen ihre Arbeit mit öffentlich und mehrfach zur Frage von 12 oder den jungen Gemeinden zusammenbreche, weil es 13 Jahren bis zum Abitur geäußert. Bereits da kamen die Schüler, die in der Schule zwei bis drei Stunden die drohenden Zeigefinger derer, die das nicht hören pro Woche Religionsunterricht hätten, ablehnten, wollten. Was hier heute stattfindet, ist nichts anderes, weiterhin an den Gemeindeversammlungen teilzu- als daß der Deutsche Bundestag laut über die Stel- nehmen, die für die jungen Gemeinden do rt angebo- lung des Religionsunterrichts in den Schulen nach- ten würden. Derartiges kann ich zum Beispiel aus denkt. Leipzig berichten. (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Ich muß in diesem Zusammenhang erläutern, daß Sachsen wahlweise Religionsunterricht, wie Sie ihn Wir haben hier nicht die - - im alten Bundesgebiet kennen, und Ethikunterricht (Zuruf des Abg. Volker Beck [Köln] anbietet, wobei das Problem darin besteht, daß es [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) jetzt eine Verdrängung des wahrhaft tiefempfunde- nen Glaubens gibt, und zwar dadurch, daß dieser - Ich sagte Ihnen schon einmal, daß ich jetzt rede. Es durch ein öffentliches Bekenntnis an Schulen ersetzt ist auch eine Frage der Toleranz, ob man den ande- wird. ren ausreden läßt. Ich habe Ihnen nicht dazwischen- gefunkt, obwohl mir danach war. Diese Erfahrung wollte ich zu der Debatte hier bei- steuern. (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Schließlich sind wir ja nicht angetreten, um einen und der PDS) Gesetzentwurf des Landes Brandenburg zu verab- schieden. Auch das muß einmal deutlich gesagt wer- den. Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Das Wort hat jetzt (Beifall bei der F.D.P.) die Abgeordnete Maritta Böttcher. Ein zweiter Punkt. Sie werfen der F.D.P. vor, daß sie hier mitzeichnet. In der parlamentarischen Praxis Maritta Böttcher (PDS): Sehr geehrte Frau Präsi- dürfte Ihnen aber kaum ein von den Koalitionsfrak- dentin! Meine Damen und Herren! Ich möchte wie- tionen gemeinsam gestellter Antrag bekannt sein, in derholen: Das ist nicht nur ungewöhnlich und be- dem es heißt: Erstens. Der eine Partner erklärt das. denklich, sondern das ist vor allem auch ein untaug- Zweitens. Der andere Partner erklärt dieses. - Das ist licher Versuch, den Deutschen Bundestag zu einem wohl schlechterdings unmöglich. Eingriff in die Bildungs- und Kulturhoheit eines Bun- deslandes und in ein laufendes Gesetzgebungsver- (Zurufe von der SPD) fahren zu bewegen. Wenn Sie meiner Rede gut zugehört haben - hören (Beifall bei der PDS und bei Abgeordneten Sie jetzt bitte auch zu! - , dann werden Sie bemerkt der SPD) haben, daß sich die F.D.P. nicht nur in einem Punkt und schon gar nicht allein in den berühmten drei Insoweit findet der Antrag von Bündnis 90/Die Grü- Pünktchen von der CDU unterscheidet. nen unsere volle Unterstützung. Ich danke Ihnen. Die Aushöhlung des Grundgesetzes schreitet im- mer mehr und immer schneller voran; denn in dem (Beifall bei der F.D.P. und bei Abgeordneten Antrag der Koalitionsfraktionen wird nicht etwa die der CDU/CSU - Zurufe vom BÜNDNIS 90/ Regierung, sondern der Landtag aufgefordert, einem DIE GRÜNEN) Gesetzentwurf seine Zustimmung zu verweigern, wenn der Gesetzentwurf nicht in einer bestimmten Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Zu einer zweiten Weise verändert wird. Kurzintervention erteile ich der Kollegin Antje Her- Mit dem neuen Fach „Lebensgestaltung - Ethik - menau das Wort. Religion" versucht Brandenburg, eine umfassende Antwort zu geben auf die in allen Bundesländern Antje Hermenau (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): und zum Teil auch im Ausland festgestellte Notwen- Herr Kollege Ortleb, Sie haben diese Debatte, dieses digkeit einer verstärkten Wertevermittlung in den gemeinsame Nachdenken hier im Bundestag, durch Schulen und auf die dringende Reformbedürftigkeit eine persönliche Erfahrung bereichert, die Sie uns des Religions- und Ethikunterrichts. 8558 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 96. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. März 1996

Maritta Böttcher Mit LER soll in Brandenburg ein Unterricht einge- Für blanke Demagogie halte ich es übrigens, wenn führt werden, in dem sich Kinder und Jugendliche gesagt wird: Wer für LER ist, ist gegen Gott. - Es ist unterschiedlicher Herkunft, unterschiedlicher reli- eine alte Erfahrung, daß Religionsunterricht keine giöser und weltanschaulicher Erziehung mit Fragen Christen schafft. Wer meint, daß Gott mit einem Un- ihres Lebens, Werten und Normen sowie unter- terrichtsfach steht oder fällt, hat einen schwachen schiedlichen Lebensanschauungen und Weltdeutun- Glauben. gen gemeinsam beschäftigen und auseinandersetzen können. „Lebensgestaltung-Ethik-Religion" als inno- (Beifall bei der PDS und beim BÜNDNIS 90/ vatives und sehr nützliches Schulfach für Kinder und DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der Jugendliche muß aus dem tagespolitischen Streit SPD) und erst recht aus dem Wahlkampf herausgehalten Ich habe Verständnis dafür, daß die Kirchen die werden. Vermittlung ihrer Botschaft in eigener Aufsicht, so- wohl fachlich als auch personell, haben wollen. Dieses Hohe Haus sollte das Prinzip des Föderalis- mus nicht nur achten, sondern es sollte vor allem Ich weiß auch, daß viele Religionslehrer meinen, auch gültiges Recht bewahren. Die bereits seit 1991 daß ihr Religionsunterricht sehr dem ähnelt, was LER deutlichen Meinungsunterschiede zwischen den ver- will, dies also vielerorts schon praktizieren. Nur - das schiedensten Kräften haben aus der Sicht von Au- möchte ich hier noch einmal deutlich machen -: Wo ßenstehenden seit Anfang 1995, wie es jemand for- Religionsunterricht so verstanden wird, ist er nicht mulierte, kulturkampfähnliche Formen angenom- verfassungsgerecht; denn nach der Verfassung ist men. Gegenstand des Religionsunterrichts der Bekennt- nisinhalt, nämlich die Glaubenssätze der jeweiligen Die politische und verfassungsrechtliche Diskus- Religionsgemeinschaft. Diese als bestehende Wahr- sion überlagerte in zunehmendem Maße - das ist heiten zu vermitteln ist seine Aufgabe. LER dagegen auch in der Debatte heute hier deutlich geworden - ist kein Weltanschauungsfach und ist offen für alle die pädagogisch-didaktischen Sachfragen. Kinder. Die Vehemenz, mit der LER nicht nur durch die Zurück zur Verfassungsmäßigkeit. - Der Bundes- Kirchen in Brandenburg und Berlin, sondern auch tag - das wurde hier heute schon mehrmals betont - überregional durch Vertreter der evangelischen Kir- ist nicht das Bundesverfassungsgericht. Er sollte bei che Deutschlands und der Konferenz der katholi- seiner ursprünglichen Aufgabe bleiben und Bedin- schen Bistümer Deutschlands bekämpft wird, ist aus gungen für eine allseitige Bildung schaffen, die an seiner bundespolitischen Bedeutung heraus zu erklä- den Schulen und Hochschulen in Hoheit der Länder ren. entsprechend ausgestaltet werden können.

LER - zu dieser Erkenntnis kommt eine Gruppe Wenn die Regierungsparteien wirklich meinen, namhafter Wissenschaftler - ist die am weitesten aus- ihre Behauptungen reichten aus, um verfassungs- gearbeitete Alternative zum herkömmlichen nach rechtlich zu überzeugen, so sollen sie nach Karlsruhe Kirchenkonfessionen getrennt erteilten bekenntnis- gehen. Nach dem Lesen der Gutachten der Verfas- gebundenen Religionsunterricht. sungsrechtler Schink, Wieland und Franke, die sich im Auftrag des Brandenburger Landtags und des In- - Deshalb gilt dem Modellversuch und seinem nen- und Justizministeriums gutachterlich zur Gel- Schicksal das Interesse der gesamtdeutschen Religi- tung des Art . 141 Grundgesetz in Brandenburg geäu- onspädagogik und ebenso - das wurde heute noch ßert haben und sämtlich zu dem Ergebnis gekommen gar nicht angesprochen - das einiger europäischer sind, Art . 141 gelte in Brandenburg, mache ich Ihnen Nachbarn. Die Intentionen des Modellversuchs und allerdings keine Hoffnung. die gewonnenen Erfahrungen sind - über die Situa- tion in Brandenburg hinaus auch vor dem Hinter- So oder so - zumindest sollte nicht erneut eine grund vielfältiger und jahrelanger Überlegungen knappe Mehrheit im Bundestag entgegen unserer und Bemühungen zur Reform von Religionsunter- Verfassungsordnung versuchen, das Grundgesetz - richt und Schule insgesamt zu sehen. diesmal hinsichtlich der föderalistischen Strukturen der Bundesrepublik - zu negieren und sich über das Der geplante Zusammenschluß von Brandenburg Bundesverfassungsgericht zu stellen. und Berlin verleiht dem Thema zusätzliche politische Ich hoffe, daß ich heute nach Brandenburg fahren Brisanz. Ein bundesweites Signal wird es wohl wer- kann, ohne erklären zu müssen, daß sich der Bundes- den, das heute ausgesandt wird, aber, so glaube ich, tag in Länderkompetenzen eingemischt hat. ein gefährliches. (Beifall bei der PDS sowie bei Abgeordne Brandenburg ist nicht Bayern. Das bayerische Mo- -ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) dell den Brandenburgern aufdrängen zu wollen, finde ich nicht nur arrogant, sondern halte ich auch für völlig falsch. Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Als nächster spricht der Kollege Rainer Eppelmann. (Beifall bei der PDS)

Wir müssen die gewachsenen Erfahrungen der ge- Rainer Eppelmann (CDU/CSU): Verehrte Frau Prä- sellschaftlichen Situation in Brandenburg berück- sidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Weil wir sichtigen und vor allem achten. immer wieder aufgefordert worden sind, die Gegen- Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 96. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. März 1996 8559

Rainer Eppelmann wart ganz ernst zu nehmen, möchte ich Sie zunächst Ich darf in diesem Zusammenhang einen Aus- in ein paar Brandenburger Wohnstuben zur Zeit der schnitt aus einer 1980 in Greifswald gehaltenen Rede Deutschen Demokratischen Republik mitnehmen. In zitieren. Da heißt es in einem Abschnitt über die so mancher saßen zum Beispiel Vater und Mutter Hauptaufgabe der Kirchen: abends zusammen und überlegten, ob sie ihren Zwölfjährigen zum Konfirmandenunterricht schik- Der Glauben muß erlebt werden können. Seine ken sollten. Die Frau sagte zu ihrem Mann: Du hast Wirkung muß am Handeln der Kirche und der mir doch gerade gestern erzählt, dein Chef habe Christen deutlich werden, und wir müssen in der dich letzte Woche so komisch angeguckt und ge- Lage sein, den Menschen von heute verständlich fragt, warum du immer noch nicht parteipolitisch zu machen, was uns aufgetragen wurde, damit gebunden seist. Wenn wir unseren Jungen jetzt auch das Unverwechselbare des kirchlichen Handelns noch zum Konfirmandenunterricht schicken, wird es verstehbar und wirksam wird. Im Verkündigen für dich in deinem Betrieb ein bißchen schlecht wer- und Lernen, aber auch im Helfen und Heilen, im den. Frieden stiften und Gerechtigkeit fordern. Nebenan im Haus saß eine katholische Familie, die In einem Bonner Vortrag führte der gleiche Redner sich mit der Frage beschäftigte, ob sie ihr Kind zur aus: Firmung schicken. Die Mutter erinnerte den Vater daran, daß das Zeugnis der Tochter doch eine ganze Der Mensch in einer entkirchlichten Gesellschaft, Reihe von Dreien und Vieren enthalte und daß, wenn die gezielt auf Rationalität und Berechenbarkeit sie jetzt noch zur Firmung gehe, die Chancen, das setzt, braucht irrationale, übersinnliche Ansatz- Abitur machen zu können, gleich Null seien. punkte ... Gerade in der säkularisierten Gesell- schaft mit einem hohen Anteil gebildeter, wissen- Der Sohn wurde nicht zur Konfirmation geschickt, schaftlich denkender Menschen stoßen viele, die die Tochter nicht zur Firmung. Wie mögen sich diese ernsthaft über ein verantwortungsbewußtes Le- beiden christlichen Elternpaare wohl gefühlt haben, ben und die Notwendigkeit eines f riedlichen und frühmorgens, wenn sie in den Spiegel schauten, in gerechten Zusammenlebens der Menschen nach- dem Bewußtsein, daß sie eigentlich dem lieben Gott denken, auf das Angebot des christlichen Glau- etwas weggenommen haben? Wie mögen sich die bens. Die Botschaft der Bibel vermittelt Auf- Religionslehrer gefühlt haben, die in den ersten Jah- schlüsse, Zugänge zu den Grundfragen und ren der DDR für immer der Schule verwiesen wur- Grundbedürfnissen der Menschen, die alterna- den? Was werden die 6- bis 14jährigen gedacht ha- tive Möglichkeiten für die Verwirklichung des ben, die für einen Teil ihres bisherigen Unterrichts Menschseins darstellen. aus den Schulen geworfen wurden? Wie mögen sich die kirchlichen Jugendlichen gefühlt haben, deren Ich frage den brandenburgischen Ministerpräsi- Rüstzeiten und Freizeiten in den 50er Jahren mit denten, den ich soeben zweimal zitierte, und die Kol- Gewalt aufgelöst worden sind? Wie mag es auf Her- leginnen und Kollegen der SPD-Landtagsfraktion: anwachsende gewirkt haben, daß sie wußten: Wenn Aus welchem Grund wollen Sie heute im Wider- du dich konfirmieren oder firmen läßt, hast du spruch zum Grundgesetz der Bundesrepublik schlechtere Chancen auf schulische, berufliche oder Deutschland den Kirchen und Jugendlichen in Ihrem akademische Bildung? Wie mögen sich -die jungen Bundesland diese Aufschlüsse, Zugänge zu Grund- Männer gefühlt haben, die ein geltendes Recht in der fragen und Grundbedürfnissen des Menschen ver- DDR, nämlich das über die Aufstellung der Bauein- weigern oder zumindest erheblich erschweren? heiten innerhalb der NVA, in Anspruch nahmen und gesagt bekamen, daß sie deshalb an keiner staat- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge lichen Universität studieren könnten? Was mag den -ordneten der F.D.P.) jungen Eltern, die mit jeder Mark rechnen mußten, so durch den Kopf gegangen sein, wenn sie angebo- Was kann die von Ihnen projektierte Religionskunde, ten bekamen, daß der Betrieb die sozialistische in der über Religion ganz allgemein und weltan- Namensgebung bezahlt, wenn keine kirchliche schaulich neutral und nur theoretisch informiert wer- Taufe erfolgt? den soll, denn noch leisten? Der Streit um das in Brandenburg konzipierte Läuft das nicht darauf hinaus, daß aus dem religiö- staatliche Pflichtfach Lebenskunde-Ethik-Religion sen Bereich lediglich noch unverbindlich die Ethik- ist nicht nur eine Angelegenheit der Brandenbur- anteile abgeschöpft werden, die gerade als staatsbür- ger. Der evangelische Bischof von Berlin-Branden- gerlich wünschenswert betrachtet werden? Wird da- burg mißt ihm „grundsätzliche Bedeutung" zu und mit die Religion nicht zu einem Steinbruch ethischer erklärt: Lehrsätze verengt, deren Begründungszusammen- hang und innovative Kraft nicht mehr erkennbar ge- Sie betrifft nicht nur das Land Brandenburg; und macht werden können? sie beschränkt sich nicht auf ein einzelnes schuli- sches Fach. Zur Debatte steht das Verhältnis der In der DDR haben die SED-Machthaber planmäßig öffentlichen Schule, die Stellung der Kirchen im auf die Entchristianisierung der Gesellschaft hinge- Staat und das Verständnis der Religionsfreiheit in arbeitet. Die Kommunisten wußten, daß sie das nur gleicher Weise. Alle Beteiligten müssen wissen, erreichen können, wenn es ihnen gelingt, die Kir- daß es um Weichenstellung von erheblicher Trag- chen aus der Schule zu verjagen und von der Jugend weite geht. fernzuhalten. Dieses Planziel wurde bereits am 8560 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 96. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. März 1996

Rainer Eppelmann 4. Juni 1945 in einer Besprechung zwischen Pieck, kann zusammenwachsen, was zusammenwachsen Ulbricht und Stalin schriftlich fixiert - ich zitiere -: möchte und was zusammengehört.

Kein Religionsunterricht in der Schule, Jugend (Beifall bei der CDU/CSU - Abg. Thomas nicht durch Popen verwässern lassen, Religions- Krüger [SPD] meldet sich zu einer Zwi unterricht nur außerhalb der Schule. schenfrage)

Die Trennung von Schule und Kirche, das Zurück- drängen der kirchlichen Jugendarbeit und die Ein- Vizepräsident : Herr Kollege Eppel- führung der Jugendweihe wurden zu markanten Sta- mann, gestatten Sie eine Zwischenfrage? tionen der Entchristianisierungspolitik der SED.

(Widerspruch bei der PDS) Rainer Eppelmann (CDU/CSU): Nein, ich möchte gerne zu Ende reden. Die Meinungsforscher stellen heute fest, daß in den neuen Bundesländern nur noch 8 Prozent der Ein Staatsverständnis mit einer radikalen Tren- Menschen unter 30 Jahren in einem bewußt religiö- nung von Staat und Kirche entspricht nicht dem Ver- sen Elternhaus aufwachsen. 69 Prozent hingegen be- ständnis des Grundgesetzes der Bundesrepublik schreiben ihr Elternhaus als völlig religionsfern. So Deutschland. sehen die Ergebnisse der planmäßig angestrebten und sehr bewußten SED-Entchristianisierungspolitik Wir haben in der DDR lernen müssen, wie durch aus. Es geht hier nicht um Entkirchlichung oder Sä- die Zerstörung von Institutionen ein radikaler Kultur- kularisierung, wie sie auch in den alten Bundeslän- bruch eintreten kann, der auch die Aussichten und dern zu beobachten sind. Hier geht es um etwas völ- die Möglichkeiten der persönlichen Glaubensweiter- lig anderes. Es geht dabei um einen gewollten und gabe dramatisch verringert. Das Grundgesetz der brutal durchgesetzten radikalen Kulturbruch. Bundesrepublik Deutschland will nicht die entchri- stianisierte Gesellschaft der Deutschen Demokrati- (Beifall bei der CDU/CSU) schen Republik. Es ist auf die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und auf die Freiheit des religiösen Es ging der SED um eine Gesellschaft, in der die und weltanschaulichen Bekenntnisses ausgerichtet. christlichen Traditionen und das Wissen um die von der christlichen Verkündigung angebotenen alterna- Das LER-Konzept in Brandenburg entspricht die- tiven Möglichkeiten für die Verwirklichung des sen bewährten Verfassungsnormen meiner Meinung Menschseins einfach nicht mehr vorkommen. Was nach nicht. Ich appelliere deshalb an die Mitglieder man aber nicht mehr kennt, kann man auch nicht des Brandenburger Landtages: Überlegen Sie, ob Sie vermissen. wirklich einen Verfassungskonflikt auslösen wollen. Sprechen Sie mit den Kirchen, damit sie ja sagen Unser Grundgesetz aber bekennt sich zur positi- können, Herr Minister Bräutigam. ven Religionsfreiheit als der Möglichkeit, eine reli- giöse Identität zu entwickeln und sich zu einem - sei- (Abg. Maritta Böttcher [PDS] meldet sich zu - nem - Glauben zu bekennen. Ebenso eindeutig be- einer Zwischenfrage) kennt sich unser Grundgesetz zu der negativen Reli- gionsfreiheit, also der Freiheit von jedem Zwang, sich zu einer religiösen Auffassung zu bekennen. Un- Vizepräsident Hans Klein: Es wird eine weitere ser Grundgesetz will das Gleichgewicht von positiver Zwischenfrage begehrt. und negativer Religionsfreiheit.

Wer aber unter Religionsfreiheit nun auch die Frei- Rainer Eppelmann (CDU/CSU): Ich möchte sie heit von Religion überhaupt verstehen will, vergeht nicht zulassen. sich an Geist und Buchstaben des Grundgesetzes und will eine andere Bundesrepublik gestalten. Sehen Sie dabei nicht nur auf die Institutionen, sondern vor allem auf die Menschen, durch die die (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge Kirche nur Gestalt gewinnen kann. Prüfen Sie ge- ordneten der F.D.P. - Widerspruch bei der nau, welche Möglichkeiten ein Religionsunterricht in PDS) ökumenischer und interreligiöser Zusammenarbeit und in gemeinsamen Projekten mit dem Ethikunter- Wir fordern darum in Übereinstimmung mit dem richt für die Entwicklung von Toleranz, die Einübung Grundgesetz, daß der Religionsunterricht ein ordent- in eine plurale Kultur und die Hilfe bei der Werte- liches Wahlpflichtfach ist und als solches seinen und Sinnorientierung eröffnet. Verweigern Sie den Platz in der Schule erhält. Dieser Religionsunterricht heranwachsenden und lernenden jungen Bürgern in ist offen für alle interessierten Schülerinnen und Brandenburg diese Möglichkeiten nicht. Schüler. (Beifall bei der CDU/CSU) Ich habe gehört, daß im Freistaat Sachsen der Reli- gionsunterricht fast zur Hälfte von nichtgetauften Herr Stolpe, werte Kolleginnen und Kollegen der Schülerinnen und Schülern besucht wird. In Sachsen SPD in Brandenburg, legalisieren Sie bitte nicht Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 96. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. März 1996 8561

Rainer Eppelmann nachträglich mit Ihrer parlamentarischen Praxis die Herr Eppelmann, es geht hierbei auch um Würde, von der SED gewollte Entchristianisierung. um einen aufrechten Gang für die neuen Bundeslän- der. Und es geht auch um die Souveränität dieser (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Länder, Ulrich Heinrich [F.D.P.] - Hans Büttner [Ingolstadt] [SPD]: Unerhört! - Weitere (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Zurufe von der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS)) um die Art und Weise, wie wir die deutsche Einheit verstehen. Die Bremer Klausel - Herr Kollege Beck Leisten Sie bitte einen Beitrag zum Zusammenwach- hat das dargestellt - ist mitnichten nur für Bremen sen der Deutschen in Ost und West, und stabilisieren geschaffen worden, ebenso wie das Godesberger und verfestigen Sie nicht die durch die Spaltung be- Programm nicht nur für Godesberg g ilt. dingten Unterschiede. (Heiterkeit und Beifall beim BÜNDNIS 90/ Soll Brandenburg wirklich ein kulturelles und anti- DIE GRÜNEN und bei der SPD) religiöses Restteilchen der DDR im vereinten Deutschland sein? Die Bremer Klausel besagt, daß alle die Länder, die 1949 eine von Art. 7 Abs. 3 des Grundgesetzes ab- (Widerspruch bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/ weichende Regelung hatten, auch heute eine abwei- DIE GRÜNEN und der PDS) chende Regelung haben können. Wir meinen: Nein! Führen Sie darum den Religions- Wenn wir Brandenburg dieses verfassungsmäßige unterricht als ordentliches Wahlpflichtfach ein. Recht abstreiten und in einen Antrag des Deutschen Bundestages sogar „ein bundesunfreundliches Ver- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge halten des Landes Brandenburg" hineingeschrieben ordneten der F.D.P.) wird, wie es die CDU/CSU-Fraktion tut, dann muß ich sagen: Das ist ein länderunfreundliches, ein föde- Vizepräsident Hans Klein: Zu einer Kurzinterven- ralismusunfreundliches Verhalten des Bundestages. tion erteile ich dem Kollegen Häfner das Wort. Hier soll ein Verstoß gegen das Grundgesetz erfol- gen, das die Entscheidung über diese Frage aus- drücklich dem Land überläßt. Führen wir sie doch Gerald Häfner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Lie- ber Herr Kollege Eppelmann, ich bin kein Pfarrer - da. ich glaube, das müssen wir auch nicht alle sein -, Wir können in dieser Frage selbstverständlich ver- habe aber, auch wenn es darauf hier ebenfalls nicht schiedener Auffassung sein. Aber den Ländern auch ankommt, einige Semester katholische Theologie noch den letzten Spielraum zu beschneiden und et- studiert. Vielleicht kann das eine Brücke für das Ver- was, was in vielen westlichen Ländern praktiziert ständnis zwischen uns bauen. wird, den östlichen Ländern einfach autoritär überzu- Ihre Behauptung, daß es um einen Beitrag zur Ent- stülpen, das ist nicht im Sinne der neuen Länder und christianisierung des Landes gehe, halte ich für ziem- auch nicht im Sinne eines guten Religionsunterrich- lich kühn und, offengestanden, für ziemlich dane- tes. Denn Sie, Herr Eppelmann, wissen, daß der heu- ben. tige Religionsunterricht genausowenig zwingend re- - ligiöse Menschen hervorbringt, wie seinerzeit die (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Staatsbürgerkunde lauter Kommunisten hervorge- bei der SPD und der PDS) bracht hätte Das Christentum unterscheidet bewußt sehr deut- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, lich zwischen dem, was des Kaisers ist, und dem, bei der SPD und der PDS) was des Christus ist, und damit folgerichtig auch zwi- schen dem, was des Staates ist, und dem, was der oder wie die Mitgliedschaft in der Christlich Demo- Kirche ist. Ich möchte nicht, daß wir diese Unter- kratischen Union Deutschlands dazu führen würde, scheidung in einer solchen Weise verwischen, wie daß man eine christliche Politik macht. Wir haben er- Sie das gerade getan haben. lebt, daß das nicht zwingend so ist. Ich möchte eine Frage stellen, die sich mir nach Ih- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, rem Beitrag wirklich aufdrängt. Sie haben davon ge- bei der SPD und der PDS) sprochen, was Ihres Erachtens vom Grundgesetz her verlangt werde und dem Verständnis des Grundge- Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Eppel- setzes entspreche. Nach meinem Verständnis des mann, wollen Sie replizieren? Grundgesetzes aber ist alleine schon diese Debatte ein Skandal; (Zurufe von der SPD: Nein! Nein! - Soll er nicht!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der PDS) Rainer Eppelmann (CDU/CSU): Ich möchte es denn wenn den Ländern eine letzte Kompetenz ver- noch einmal versuchen, Herr Kollege Häfner. Ich blieben ist, dann ist das die Kompetenz für die Politik habe mit Einblicken in Brandenburger Wohnstuben im Bereich von Unterricht und Kultus. Ich halte es versucht, deutlich zu machen, daß es sich in der wirklich für unzulässig, diese Zuständigkeit in einer Deutschen Demokratischen Republik nicht um eine solchen Weise zu mißachten. ganz normale Säkularisierung gehandelt hat, wie es 8562 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 96. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. März 1996

Rainer Eppelmann sie auch in anderen Ländern Mitteleuropas gegeben Ich finde diese Art der Diskussion verwerflich. hat. Vielmehr hat es ein massives staatliches Inter- esse daran gegeben, genau das zu erreichen, was in (Beifall bei Abgeordneten der SPD, des der DDR nachher passierte. Das geschah mit massi- BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der vem Druck. Das müssen wir wenigstens zur Kenntnis PDS) nehmen. Im übrigen haben Sie, Herr Abgeordneter Eppel- mann, mit dieser Gleichsetzung in krasser Weise ge- (Dr. Dagmar Enkelmann [PDS]: Das machen gen das Gebot verstoßen: Du sollst kein falsch Zeug- Sie doch hier auch! Das gibt es heute wie nis ablegen über deinen Nächsten. der! - Zuruf von der SPD: Was hat denn das mit Brandenburg zu tun?) (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS - Zuruf von der Heute sagen in den neuen Bundesländern mögli- CDU/CSU: Sie waren schon mal besser! - cherweise noch 30 von 100 Menschen, daß sie einmal Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ in der Kirche gewesen sind, etwas von Jesus gehört DIE GRÜNEN]: Herr Präsident, jetzt brau oder die Zehn Gebote einmal gelesen haben. Wenn chen wir einen Beichtstuhl!) man diese weite Formulierung zugrunde legt, sind das in den alten Bundesländern wenigstens noch 70 Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Eppel- Menschen. Von diesen 30 Personen in den neuen mann, wollen Sie antworten? Bundesländern sind schätzungsweise 25 auch noch über 60 Jahre. Man kann also - damit sage ich etwas, (Zurufe von der CDU/CSU: Nein! - Dr. Dag was auch die Enquete-Kommission festgestellt hat - mar Enkelmann [PDS]: Kann er nicht!) von einer bewußten Entchristianisierung der Deut- - Entschuldigung; ich habe bis jetzt keine weitere schen Demokratischen Republik als politisches Ziel Kurzintervention zugelassen. Wir sollten uns überle- der SED sprechen. gen, ob wir jetzt die Debatte durch Kurzinterventio- nen ausdehnen wollen. Ich bin allerdings der Meinung, daß ich das nicht nur einfach zur Kenntnis zu nehmen habe, sondern (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) daß ich den Menschen in Deutschland die Chance geben möchte, daß diese 30 : 70-Relation geändert Rainer Eppelmann (CDU/CSU): Herr Kollege Con- wird. Zumindest kann ich kein Interesse daran ha- radi, ich möchte diesen Stil auch weiterhin pflegen. ben, daß diese Relation noch verfestigt und zemen- Mit dem, was ich getan habe, ist, glaube ich, der Vor- tiert wird. wurf, den Sie mir jetzt gemacht haben, nicht zu bele- (Beifall bei der CDU/CSU) gen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Ich darf Sie vielleicht noch einmal an das erinnern, Vizepräsident Hans Klein: Zu einer weiteren Kurz- was ich tatsächlich gesagt habe - das ließe sich ja intervention gebe ich dem Kollegen Conradi das auch nachlesen -, nämlich daß die Politik der SED in Wort. der Zeit ihrer Diktatur in der DDR ein bestimmtes Er- - gebnis gezeitigt hat und daß ich den Ministerpräsi- denten und die Landtagsfraktion der SPD in Bran- Peter Conradi (SPD): Herr Abgeordneter Eppel- denburg gebeten und aufgefordert habe, dieses Un- mann, in diesem Hause gab es bisher eine Überein- heil nicht auch noch festzuschreiben. kunft, daß wir, die Vertreter demokratischer Parteien, uns gegenseitig nicht mit totalitären Parteien, mit (Beifall bei der CDU/CSU - Abg. Thomas Unrechtsregimen und Diktaturen vergleichen, daß Krüger [SPD] meldet sich zu einer Kurzin wir demokratisch gewählte Parlamente und demo- tervention) kratisch gewählte Regierungen nicht mit Diktaturen gleichsetzen. Das hat früher das Präsidium eisern Vizepräsident Hans Klein: Meine Damen und Her- durchgesetzt. ren, ich bitte um Verständnis. Wir haben eine Red- nerliste. Ich habe auf die Rede des Kollegen Eppel- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) mann zwei Kurzinterventionen aus den Reihen der Opposition zugelassen; ich lasse keine dritte zu. Wir Gegen diese Übereinkunft haben Sie in böser müssen auch an die mehreren Stunden Debattenzeit Weise verstoßen, und an die beiden namentlichen Abstimmungen denken, die wir noch vor uns haben. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der (Beifall bei der CDU/CSU - Widerspruch PDS) bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) indem Sie die Politik des demokratisch gewählten Landtags und der demokratisch gewählten Regie- Ich erteile dem Kollegen Markus Meckel das Wort. rung von Brandenburg mit der Politik der SED-Dikta- tur gleichgesetzt haben. Markus Meckel (SPD): Herr Präsident! Meine Da- men und Herren! Es ist schon bemerkenswert, was (Widerspruch bei der CDU/CSU) hier heute geschieht. Ich kann verstehen, daß Sie auf Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 96. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. März 1996 8563

Markus Meckel der rechten Seite dieses Hauses kurz vor den Land- Denkschrift zur sozialen Lage - darauf ist heute tagswahlen unruhig werden. Weniger akzeptieren schon hingewiesen worden -, kann ich, daß Sie das Verhältnis von Staat und Kir- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne zum Spielball Ihrer Wahlkampftaktik machen. che ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ und der PDS) DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der oder wenn es um den Umgang mit Ausländern und PDS) Asylbewerbern geht. Lieber Rainer Ortleb, ein öffentliches Nachdenken (Zuruf von der CDU/CSU: Und mit Aussied des Bundestages mit namentlicher Abstimmung ist lern!) doch etwas absurd. Hier scheint mir heute eine ganze Menge Heuchelei am Werke zu sein. (Beifall bei der SPD) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne Es muß doch ein für allemal klar sein - ich denke, ten der PDS) das läßt sich für die großen Fraktionen mit aller Deut- lichkeit sagen; von der F.D.P. weiß ich es nicht so Es scheint Sie offensichtlich auch nicht zu stören, recht, weil sie manchmal an dieser Stelle dieses und daß das, was wir hier veranstalten, nicht nur zutiefst an jener Stelle jenes sagt -, daß auch die SPD ohne ungewöhnlich ist, weil es der föderativen Ordnung jeden Zweifel zu dem im Grundgesetz festgelegten unseres Landes widerspricht. Von dem liberalen Mi- Verhältnis von Staat und Kirche steht, das sich in vie- nister Caesar, der dies ebenso für falsch hält, ist hier len Jahren in der alten Bundesrepublik bewährt hat, schon gesprochen worden. Es ist doch ein Unding, und zwar einschließlich der Regelung des Art. 7 des daß wir als Bundestag in eine noch laufende Debatte Grundgesetzes. Wenn sich jemand durch Debatten in einem Landtag eingreifen und daß wir glauben, anderswo darin verunsichert sieht, so sei ihm dies hier dazu Stellung beziehen zu müssen. von dieser Stelle im Namen meiner Fraktion in aller Weil dies in beiden Anträgen faktisch der Fall ist, Klarheit gesagt. können wir beiden Anträgen heute nicht zustimmen. Hier wird heute versucht, Kulturkampfstimmung Dazu kommt die Anmaßung, der Bundestag könne zu mobilisieren, die SPD absurderweise in eine kir- einfach feststellen, daß die Bremer Klausel für Bran- chenfeindliche Ecke zu stellen und sich selbst als denburg nicht gelte. Daß es gute Argumente für die Retter der christlichen Werte und der Kirchen darzu- gegenteilige Auffassung gibt, haben Sie vorhin von stellen. Herrn Minister Bräutigam gehört. Gewiß kann es sein, daß Sie dadurch nicht überzeugt worden sind - Lieber Rainer Eppelmann, Falsches wird auch es gibt offensichtlich verschiedene Auffassungen -, nicht dadurch wahrer, daß man es wiederholt. doch dann hilft auch eine Mehrheit dieses Hauses nicht, dann hilft nur, daß man klagt. Dann wird das (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne Ganze vor Gericht entschieden. Es ist jedenfalls ein ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Unding, zu glauben, daß wir diese Frage hier ent- und der PDS) - scheiden könnten. Eine Sache des Bundestages ist es nicht. Die Kontinuität von SED-Staat und Brandenburg, die du hier hergestellt hast, ist eine böse und, wie ich Ich will hier nicht auf die Details der Brandenbur- finde, infame Unterstellung. ger Regelung und der Brandenburger Debatte einge- hen. Die konkreten Fragen - das ist Landessache - (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne müssen in Brandenburg geklärt werden. Herr Bräu- ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN tigam hat Ihnen das Anliegen der dortigen Regelung und der PDS) deutlich dargestellt. Wie auch immer die Auseinandersetzung in Bran- denburg ausgeht, so muß aber auch hier klar gesagt Vizepräsident Hans Klein: Kollege Meckel, ich darf werden, daß dies keine Grundsatzentscheidung der Sie für einen Moment unterbrechen. SPD ist. Ob Art. 7 oder A rt. 141 des Grundgesetzes in Brandenburg gelten, ist keine Entscheidung einer Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen, wir Partei, weder der SPD noch der CDU/CSU. Doch daß führen eine sehr ernste Debatte über ein wichtiges die Regelungen des Art. 7 des Grundgesetzes in Thema. Kollege Meckel ist der letzte Redner vor der Deutschland bundesweit von niemandem in Frage namentlichen Abstimmung. Ich bitte Sie herzlich, gestellt werden - von der SPD schon gar nicht -, ist wenn Sie noch Gespräche führen wollen, sie vor dem hier deutlich zu sagen. Übrigens habe ich auch in Saal zu führen und hier im Saal dem Redner Ihre Brandenburg nirgendwo gehört, daß man den Art. 7 Aufmerksamkeit zu schenken. des Grundgesetzes abschaffen wollte. Zugleich ist nun aber ebenfalls klar, daß ange- Markus Meckel (SPD): Meine Damen und Herren, sichts neuer Herausforderungen auch neue Lösun- ich hätte mir schon gewünscht, daß Sie das Wort der gen im Rahmen des Grundgesetzes gefunden wer- Kirchen auch dann ernst nähmen, wenn sie sich zu den müssen. 1990 wurde im Zusammenhang der gesellschaftlichen Themen äußern, etwa in der deutschen Vereinigung manchmal behauptet, die 8564 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 96. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. März 1996 Markus Meckel Bundesrepublik würde protestantischer. Ich habe gang mit ihnen von ihnen etwas zu wissen. Denken schon damals widersprochen und gesagt: Nein, sie wir nur an den Islam: Wir merken doch bis in unser wird säkularer. - Wir hatten im Osten Deutschlands Haus hinein, daß es hier einen Nachholbedarf gibt. eben nicht nur zwölf Jahre NS-Zeit. Danach folgte Ich halte es jedenfalls für unerträglich, wenn beim noch eine zwei Generationen währende atheistische Wort „Islam" sofort das Wort „fundamentalistisch" Propaganda der SED, die natürlich auch nicht ohne hinzugefügt wird. Wir Ch risten wollen doch auch Wirkungen geblieben ist. nicht mit dem Bombenterror in Nordirland oder mit dem Massenmorden in Srebrenica identifiziert wer- Gezielte Desinformation, Volksverdummung und den, auch wenn diese Verbrechen von Ch risten be- Denunziation der christlichen Tradition haben dazu gangen werden. geführt, daß weite Teile der Bevölkerung, übrigens einschließlich vieler Lehrer, kaum Kenntnisse bibli- Die Absicht von LER, für das Leben wichtige scher Inhalte und christlicher Tradition haben. Heute Kenntnisse auch über Religion zu vermitteln und da- sind es oft nur noch 20 bis 30 Prozent der Bevölke- bei im Gespräch im Klassenverband zusammenzu- rung, die zu einer christlichen Kirche gehören. Dies bleiben, selbst wenn nur wenige Christen sind, sollte hat doch zur Folge, daß man darüber nachdenken als legitim und wichtig anerkannt werden. Hierbei muß, wie man damit umgeht und wie Werteorientie- von einem Angriff auf die Kirchen zu reden ist ein- rung zu vermitteln ist. fach unangemessen. In Brandenburg hat man gleich nach 1990 ver- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne sucht, sich dieser Herausforderung zu stellen. Dem ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Antrag von Bündnis 90/Die Grünen ist zuzustimmen, und der PDS) wenn dort herausgestellt wird, daß es gerade Chri- sten waren, die hier die Initiative ergriffen. Das ge- Gewiß kann man unterschiedlicher Meinung dar- schah durch Ma rianne Birthler und andere, die sich über sein, ob die gefundene Lösung so umsetzbar ist. auch zu DDR-Zeiten nicht nur klar zu ihrem christli- Ich selbst bin da übrigens anderer Meinung. Sie wis- chen Glauben bekannten, sondern gegen alle Unter- sen vielleicht, daß auch ich dazu aufgerufen habe, drückungsmechanismen der SED auch die gesell- dieses Unterrichtsfach nicht einfach gegen den Wil- schaftspolitische Dimension des Glaubens zur Spra- len der Kirchen einzuführen. Doch muß man sich der che brachten. Herausforderung durch die neue Situation im Osten Deutschlands stellen. Wichtig ist mir dabei, daß man (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ beieinander bleibt, das Gespräch weiterführt und DIE GRÜNEN - Joseph Fischer [Frankfurt] nach einer Lösung sucht, die auch die christlichen [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Davon hätte Kirchen nicht draußen läßt. man gerne einmal etwas von der CDU/CSU gehört!) Gegenüber der Situation im Westen Deutschlands hat es ja auch von seiten der Kirche Schritte gege- Bei vielen von uns waren christlicher Glaube und ben, sich aufeinander zuzubewegen. Diese Fächer- der Widerstand gegen das SED-Regime eng verbun- gruppe mit Integrationsphasen ist schon angespro- den. Nun ganz und gar nicht nur, aber eben auch chen worden. Dies ist ein Schritt aufeinander zu, der dies, mit ansehen zu müssen, wie konsequent und auch gemeinsames Lehren möglich macht. Manch- mit welch infamen Mitteln von den Herrschenden- mal scheint mir ein kleiner gemeinsamer Schritt in versucht wurde, die Menschen von den christlichen die richtige Richtung besser zu sein als ein Sprung, Kirchen und dem Glauben zu entfremden, führte in bei dem man nicht weiß, wo man landet. Opposition gegen dieses Regime. Vielleicht waren es bezeichnenderweise zwei Pfarrer, die die Sozialde- Wichtig ist, daß das Gespräch darüber nicht ab- mokratische Partei in der DDR initiiert haben. reißt, wie jungen Menschen Orientierung gegeben werden kann, wie sie ihr Leben solidarisch erfüllen (Beifall bei der SPD) und gestalten können. Die Kirchen werden auch Die Absicht des neuen Faches ist doch, daß Ju- künftig für ein solches Gespräch wichtig sein. Der gendliche, deren Eltern oft von Bibel und christlicher Staat bleibt auf die Kirchen angewiesen, wenn es um Tradition nichts mehr wissen, in die Grundlagen un- Wertorientierungen und die sittlichen Grundlagen serer Kultur eingeführt werden, zu denen eben auch des Lebens in der Gemeinschaft geht, und er muß ih- Religion gehört. Man kann hier in Europa ja nicht nen den nötigen Raum dazu gewährleisten. Ebenso einmal in ein Museum gehen, ohne festzustellen, daß heißt es aber in einem frühen brandenburgischen man dieses Wissen braucht; von den tiefergehenden Grundsatzpapier zur LER von 1991, daß darüber zu Prägungen unserer Kultur will ich gar nicht einmal reden ist, wie die Kirche in einer weitgehend säkula- sprechen. Ich zitiere ein Papier des Bildungsministe- risierten Gesellschaft Mitverantwortung für die schu- riums: lische Bildung übernehmen kann. Gegenstand des Lernbereichs LER ist die Lebens- Ich hoffe sehr, daß manche Verhärtung aus den gestaltung von Menschen unter besonderer Be- Auseinandersetzungen der letzten Zeit sich lösen rücksichtigung der ethischen Dimension und der läßt und daß vermieden werden kann, daß Sozialde- Sicht unterschiedlicher Weltanschauungen und mokraten und Kirchen vor dem Verfassungsgericht Religionen. gegeneinander stehen. Die zentrale Aufgabe bleibt für uns, daß es uns auch im weitgehend entchristlich- So sollen auch Kenntnisse von anderen Religionen ten Osten Deutschlands gelingt, über alle Grenzen vermittelt werden, weil es Voraussetzung ist, im Um von Weltanschauungen und Glaubensrichtungen Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 96. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. März 1996 8565 Markus Meckel hinweg junge Menschen zu erziehen, die ihr Leben gen und Emotionen, die hier zum Ausdruck gekom- in Achtung voreinander, solidarisch und verantwort- men sind, Rechnung getragen werden könnte. lich gestalten und die großen Herausforderungen, vor denen wir stehen, mit Zuversicht in Angriff neh- (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne men. Diese Aufgabe wird uns nur dann gelingen, ten der CDU/CSU) wenn wir in den wesentlichen Fragen und Grundla- gen unserer Gesellschaft beieinander bleiben. Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Meckel. Ich danke Ihnen. Markus Meckel (SPD): Verehrter Herr Kollege (Beifall bei der SPD) Hirsch, ich danke Ihnen für die deutliche Klarstel- lung der Haltung der F.D.P. in diesem Hause.

Vizepräsident Hans Klein: Auf die Rede des Kolle- Zum zweiten Punkt möchte ich mich dahin gehend gen Meckel hat sich Kollege Hirsch zu einer Kurzin- äußern, daß ich persönlich der Haltung, wie Sie sie tervention gemeldet. vorgetragen haben, sehr nahestehe und daß auch die evangelischen Kirchen den Vorschlag eines Fächer- verbundes gemacht haben, der außer dem und über Dr. Burkhard Hirsch (F.D.P.): Herr Kollege Meckel, das hinaus, was Sie gesagt haben, ermöglicht, daß Sie haben in einer kleinen, aber für uns wichtigen der gesamte Klassenverband in bestimmten Phasen Nebenbemerkung gesagt, daß Ihnen das Verhältnis über Fragen von Ethik und Lebensgestaltung redet, der Liberalen zu Kirche und Staat nicht klar sei. was ich sehr begrüße. Ich möchte Sie darauf verweisen, daß in Art. 140 Von daher gibt es durchaus Schritte aufeinander des Grundgesetzes auf eine Reihe von Bestimmun- zu. Wir müssen im Osten Deutschlands und insbe- gen der Weimarer Verfassung verwiesen wird, und sondere in Brandenburg das Gespräch weiterführen, wir haben uns in der Enquete-Kommission „Verfas- und ich hoffe sehr, daß dies möglich ist. sungsreform" darum bemüht, diese heute geltenden Ich danke Ihnen. wichtigen Artikel der Weimarer Verfassung als Klar- text - nicht nur als Verweisung - in das Grundgesetz (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) aufzunehmen. Ihre Frage beantwortet sich von da- her. Ich habe es außerordentlich bedauert, daß weder die Vertreter Ihrer Fraktion noch die Vertreter unse- Vizepräsident Hans Klein: Herr Minister Bräu- res Koalitionspartners bereit waren, auf diese Weise tigam. die Verweisung ehrlich zu machen. Minister Dr. Hans Otto Bräutigam (Brandenburg): Nun haben wir in dieser Debatte vom Vertreter des Herr Abgeordneter, Sie haben in der Tat eine sehr Landes Brandenburg zwei wichtige Argumente ge- wichtige Frage gestellt. Sie können nicht wissen, daß hört. Das erste war die Frage - ich will die Verfas- die Landesregierung von Brandenburg einen solchen sungsseite einmal weglassen -: Was ist eigentlich mit Vorschlag unterbreitet und im Landtag zur Diskus- den Kindern, deren Eltern keiner Religion- naheste- sion gestellt hat. hen? Das zweite war die Frage: Warum soll eigent- lich der Religionsunterricht, der durch staatliche Leh- (Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Hände rer erteilt wird, einem Religionsunterricht überlegen aus der Tasche! Entweder gilt das für alle sein, der durch die Vertreter der Kirchen selbst gege- oder für keinen! - Weitere Zurufe von der ben wird? CDU/CSU: Hände! - Wo sind wir denn hier?) In der Tat bedaure ich, daß in diesem Zusammen- hang die Frage meines Kollegen Ortleb von keinem Dieser Vorschlag ist inzwischen abgeändert wor- der folgenden Redner - Herr Minister Bräutigam, den. Es heißt jetzt, daß eine Befreiungsmöglichkeit auch von Ihnen nicht - überzeugend beantwortet aus wichtigem Grund gegeben wird. Der wichtigste worden ist, warum es nämlich dann nicht möglich Grund ist, wenn Schüler - beziehungsweise ihre El- sein soll, eine Alternative einzuführen und den El- tern - sagen, daß sie am Religionsunterricht und nur tern und Kindern im Land Brandenburg zu sagen: Ei- an diesem Religionsunterricht teilnehmen wollen. nes von beiden müßt ihr machen, eines von beiden. Das ist einer der wichtigen Gründe. Wenn er vorge- bracht wird, wird das so geschehen. (Beifall bei der F.D.P.) (Otto Schily [SPD]: Wo ist da der Streit?) Denn auch diese Frage muß sich doch stellen, wenn Sie den LER-Unterricht und gleichzeitig einen kir- Vizepräsident Hans Klein: Ich schließe die Aus- chenbezogenen Religionsunterricht machen: Auch sprache. darin können ja Differenzen auftreten, die für die Kinder schwer zu bewältigen sind. Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und der F.D.P. zur verfas- Ich meine, daß dann, wenn das Land Brandenburg, sungsgebotenen Einführung des Religionsunterrichts dessen Souveränität in dieser Sache ich selbst über- als ordentliches Lehrfach in Brandenburg auf Druck- haupt nicht in Frage stelle, sich zu einer solchen Al- sache 13/4073. Die Fraktion der CDU/CSU verlangt ternative entscheiden könnte, vielen Bedenken, Sor- namentliche Abstimmung. 8566 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 96. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. März 1996

Vizepräsident Hans Klein Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen, ich ZP12 Beratung des Antrags der Abgeordneten Man- glaube, heute haben wir die alphabetische Ordnung fred Müller (Berlin), Hanns-Peter Ha rtmann, noch nicht, aber die Schlitze sind bereits verschmä- Dr. Willibald Jacob und der Gruppe der PDS lert. Eine gemeinsame Beschäftigungs- und Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, Sozialpolitik für die Europäische Union die vorgesehenen Plätze einzunehmen. Sind alle Ur- - Drucksache 13/4072 - nen besetzt? - Das ist der Fall. Überweisungsvorschlag: Ich eröffne die Abstimmung. - Ausschuß für die Angelegenheiten der Europäischen Union Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das (federführend) seine Stimme nicht abgegeben hat? - Offenbar noch Ausschuß für Wirtschaft mehrere. - Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Sind alle Stimmen abgegeben? - Das ist offenbar ZP13 Beratung des Antrags des Abgeordneten Ch ri der Fall. -stian Sterzing und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Ich schließe die Abstimmung. Ich bitte die Schrift- führer, mit der Auszählung zu beginnen. Das Ergeb- Die Regierungskonferenz '96 als Wegbereite- nis der Abstimmung wird Ihnen später bekanntgege- rin für eine soziale und ökologische Reform ben.*) Wir setzen die Beratungen fort. der Europäischen Union

Die zweite namentliche Abstimmung wird nach - Drucksache 13/4074 - dem gegenwärtigen Stand der Beratungen schät- Überweisungsvorschlag: zungsweise um 14.30 Uhr stattfinden. Ausschuß für die Angelegenheiten der Europäischen Union Ich habe noch bekanntzugeben, daß die Kollegen (federführend) Büttner und Antretter schriftliche Erklärungen zur Ausschuß für Wirtschaft Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Abstimmung abgegeben haben. **) Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ich darf Sie bitten, Platz zu nehmen. - Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der für die gemeinsame Aussprache eineinhalb Stunden Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zum Reformprojekt vorgesehen. - Dagegen erhebt sich kein Wider- ,,Lebensgestaltung-Ethik-Religionskunde" an Bran- spruch. Dann ist es so beschlossen. denburger Schulen als Beitrag zur Vermittlung von Wertorientierung auf Drucksache 13/4090. Wer Ich eröffne die Aussprache und erteile der Kollegin stimmt für diesen Antrag? - Gegenprobe! - Enthal- Heidemarie Wieczorek-Zeul das Wort. tungen? - Der Antrag ist abgelehnt.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 9 a und 9 b so- Heidemarie Wieczorek-Zeul (SPD): Liebe Kollegin- wie die Zusatzpunkte 12 und 13 auf: nen und Kollegen! Es wird wie immer sein, wenn sich die europäischen Staats- und Regierungschefs 9. a) Beratung des Antrags der Fraktion- der SPD am 29. März 1996 in Turin zu Beginn ihrer Regie- Forderungen an die Konferenz zur Über- rungskonferenz zur Überprüfung des Maast richt prüfung des Maastricht-Vertrages zur Vertrages versammeln werden: Sie werden den ver- Schaffung eines europäischen Beschäf- sammelten Fotografen gute Mienen, gekonntes Lä- tigungspaktes und einer europäischen cheln und demonstrativen Optimismus zeigen. Doch Sozialunion während dieser Inszenierung bricht in Europa der Arbeitsmarkt zusammen. - Drucksache 13/4002 - Überweisungsvorschlag: (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Ausschuß für die Angelegenheiten der Europäischen Union (federführend) Die Zahlen sind alarmierend. In Deutschland, Finanzausschuß Frankreich, Italien, Schweden und Finnland hat die Ausschuß für Wirtschaft Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Arbeitslosigkeit überproportional zugenommen. In Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Deutschland haben wir die neue, traurige Rekord- marke von 4,3 Millionen Arbeitslosen erreicht; in b) Beratung der Großen Anfrage des Abgeord- Frankreich sind es nach der offiziellen Statistik neten Christian Sterzing und der Fraktion 3,2 Millionen, in Spanien 3,5 Millionen und in Ita- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN lien 2,8 Millionen. In der Europäischen Union sind Vorbereitung der Regierungskonferenz 96 fast 20 Millionen Menschen ohne Arbeit, im Durch- (,,Maastricht II") schnitt rund 21 Prozent der jungen Menschen unter 25 Jahren. - Drucksache 13/1471, 13/3198 - Angesichts dieses Sachverhalts und angesichts der Tatsache, daß fast jede wichtige EU-Regierung im Vorfeld der Regierungskonferenz in einem eigenen *) Seite 8569 C Papier - Weißbuch - eine Orientierung ausgegeben **) Anlage 2 hat, halte ich es für einen absoluten Skandal, daß Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 96. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. März 1996 8567

Heidemarie Wieczorek-Zeul heute kein Regierungschef der Bundesrepublik auf Denn eines ist doch wahr: Bei jedem Gipfel haben der Regierungsbank sitzt, der klar sagt, welches in die Regierungen zu der eben angesprochenen Frage diesen Fragen die Orientierung seiner Regierung für große Erklärungen losgelassen. Es hat sich nichts ge- die anstehende Regierungskonferenz ist. ändert, im Gegenteil, die Probleme haben sich ver- schärft. (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS) Wenn es Regelungen gibt zum Aufbau der Euro- Die Massenarbeitslosigkeit unterminiert die Grund- päischen Wirtschafts- und Währungsunion - die stel- festen unserer Gesellschaft. Sie unterminiert die len wir nicht in Frage -, warum gibt es dann keine Grundfesten aller unserer Länder, auch unseres parellelen Schritte zum Aufbau des europäischen eigenen. Schließlich unterminiert sie die Grund- Sozialstaates? festen der Europäischen Union. Wenn in Tu rin - dort beginnt diese Konferenz am 29. März - ein neues (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne europäisches Kapitel aufgeschlagen werden soll und ten der PDS und des Abg. Christian Ster wenn die Konferenz zur Überprüfung des Maas- zing [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) tricht-Vertrages erfolgreich sein will, müssen die zen- tralen Fragen auf die Tagesordnung. Das ist die Sogar die eher vorsichtige EU-Kommission hat in ih- Frage der Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit in ren Vorschlägen für die Regierungskonferenz gefor- allen Ländern der Europäischen Union. dert, Bestimmungen über die Beschäftigung in den (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE Vertrag aufzunehmen, desgleichen das Europäische GRÜNEN und der PDS) Parlament.

Wir haben uns deshalb in unserem Antrag auf die- Was tut dagegen die Bundesregierung? - Sie hielt ses Thema konzentriert, nachdem wir bereits im De- noch nicht einmal diese Debatte im Deutschen Bun- zember einen umfassenden Antrag zu generellen destag für notwendig. Wir mußten sie mit unserem Forderungen eingebracht haben. Die Regierungen Antrag erzwingen. Sie legt kein Weißbuch, keine müssen von der Irrlehre wegkommen, daß Schnitte Orientierung darüber vor, wie sie sich verhalten will. in den Sozialabgaben, niedrige Löhne und hohe Sie ist rat- und tatenlos. Da wird nicht regiert, da Unternehmensgewinne die Arbeitslosenzahlen quasi herrscht Schlafmützigkeit vor. von selbst reduzieren. Wie es nicht geht, hat uns die Kohl-Regierung in den letzten Jahren demonst riert: Zum gesamten Komplex einer aktiven Beschäfti- (Dr. Helmut Haussmann [F.D.P.]: Keinen gungspolitik und einer europäischen Sozialunion Wahlkampf bitte! Es geht um Europa!) gibt es keinen einzigen Vorschlag der Bundesregie- rung. Mein Verdacht ist, daß sich die F.D.P. mit ihrer Neoliberale, marktliberale Politik - die Arbeitslosig- neoliberalen Position - über das Auswärtige Amt und keit hat ständig zugenommen. Die Belastung der das Wirtschaftsministe rium - durchgesetzt hat, sehr Normalbürger und -bürgerinnen durch Steuern und zu Lasten des Zusammenhaltes in Europa. Abgaben hat ständig zugenommen. Grundwerte und Frauenrechte geraten dabei unter die Mühlsteine- ei- Jetzt spreche ich insbesondere die Kolleginnen ner angeblich unausweichlichen Globalisierung. und Kollegen an, die bei den Christdemokraten in diesen Fragen auch selbst engagiert sind: Die Schaf- Schon früh hat der EU-Kommissionspräsident fung des Sozialstaates war im letzten Jahrhundert Jacques Delors die Regierungen aufgefordert, auf und zu Beginn dieses Jahrhunderts die Antwort auf diese Art von neoliberaler Politik zu verzichten und die Entfesselung wirtschaftlicher Kräfte. endlich aktive Maßnahmen zur wirklichen Bekämp- fung der Massenarbeitslosigkeit zu unternehmen. (Dr. Renate Hellwig [CDU/CSU]: Aber jetzt (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE haben wir ihn überzogen!) GRÜNEN und der PDS) Heute verlaufen diese wi rtschaftlichen Entwicklun- sollte sich ein Beispiel an dem Neu- gen global und sind nicht mehr auf den Rahmen des mitglied Schweden nehmen. Der schwedische Mini- Nationalstaats beschränkt: Unternehmensstrategien sterpräsident Ingvar Carlsson hat in seinem Weiß- sind global, Waren- und Informationsströme sind glo- buch die Massenarbeitslosigkeit als „Gefahr für die bal, Kapitaltransfers und Steuerflucht erfolgen glo- demokratische Regierungsform" bezeichnet. Er hat bal. darin vorgeschlagen, bestimmte Kapitel und Bestim- mungen in den Vertrag von Maastricht aufzuneh- men, die ein hohes und stabiles Beschäftigungs- Wer heute - das ist meine feste Überzeugung - ein niveau als Ziel der Europäischen Union vorsehen. Gegengewicht zu diesen wirtschaftlichen Entwick- Alle Mitgliedstaaten sollen verpflichtet werden, in lungen im Sinne sozialer Marktwirtschaft erhalten diesem Bereich Programme zu entwickeln, die bei will, der muß die soziale Marktwirtschaft europäisch der Frage der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit ähn- aufbauen. liche Kontrollen vorsehen, wie sie zur Überprüfung der Stabilität bei der Währungsunion vorhanden (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Man sind. fred Müller [Berlin] [PDS]) 8568 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 96. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. März 1996

Heidemarie Wieczorek-Zeul Wir werden den Sozialstaat in unserem eigenen Der Grundfehler des Vertrages, den Helmut Kohl Land, in allen Mitgliedsländern der Europäischen selbst ausgehandelt hat, der nur die Wirtschafts- und Union nur erhalten und ihn vor Zerstörung sichern, Währungsunion vorsah, muß endlich ausgeräumt wenn wir ihn europäisch aufbauen, werden.

(Beifall der Abg. Lilo Blunck [SPD] - Ulrich An die Adresse der Bundesregierung sage ich: Wer Heinrich [F.D.P.]: In Straßburg müssen Sie mit substanzlosen Ergebnissen nach einem oder ein- das erzählen!) einhalb Jahren Verhandlungen zurückkommt und falsche oder auch inhaltslose Vorschläge dem Deut- wenn wir Schritte in Richtung auf internationale In- schen Bundestag zur Ratifizierung vorlegt, der muß itiativen unternehmen. Deshalb verlangt die SPD- wissen: Noch einmal wird das Spiel wie beim Maas- Bundestagsfraktion, in dem EU-Vertrag verbindliche tricht-Vertrag nicht funktionieren. Sie müssen mit Regelungen zur Beschäftigungs- und Sozialpolitik substantiellen Vorschlägen zu Wirtschafts-, Beschäf- aufzunehmen. tigungs- und Sozialpolitik zurückkommen, sonst ha- ben Sie mit den entsprechenden Vorschlägen bei der (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Ratifizierung in diesem Hause Schwierigkeiten. (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Ch ri Das Sozialprotokoll, das sich im Anhang des stian Sterzing [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ Maastricht-Vertrages befindet, weil ihm eine Regie- NEN]) rung nicht zugestimmt hat, enthält wichtige Ele- mente des Sozialstaatsgedankens. Es muß endlich Es ist ersichtlich, daß ein Gesetz, das wir im Deut- Teil des Vertrages werden. Wir hoffen darauf, daß die schen Bundestag vor einigen Wochen behandelt ha- britische Regierung unter Tony Blair, also eine La- ben, eine europäische Dimension braucht. Ich meine bour-Regierung, endlich dafür sorgen wird, daß die- damit die Verankerung der Prinzipien zu sozialer Re- riert wird. ses Sozialabkommen in den Vertrag integ gulierung, das sogenannte Entsendegesetz, das heißt, das Prinzip gleicher Lohn für gleiche Arbeit am (Beifall bei der SPD) gleichen Ort.

Wir hoffen, daß sie Erfolg haben werden. Das nutzt Ich möchte für meine Fraktion - ich bin sicher, für auch uns. fast alle in diesem Hause - den Bauarbeitern, die au- genblicklich in einer harten Auseinandersetzung um Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir verlangen, die Festlegung eines Mindestlohnes für diejenigen daß die Überprüfungskonferenz einen Auftrag zur stehen, die als ausländische Arbeitskräfte nach Erarbeitung einer europäischen Charta der Grund- Deutschland kommen, sagen: Wir stehen an Ihrer rechte enthält. In dieser Charta muß auch die Gleich- Seite, weil es bei der Durchsetzung dieser Regelung berechtigung von Frauen und die aktive Förderung darum geht, zu verhindern, daß billige ausländische von Frauen entsprechend unserem Grundgesetzauf- Kräfte die Arbeitskräfte hier, die Tarifbedingungen trag garantiert sein. Das ist der beste Schutz dafür, und Sozialbedingungen der hier beschäftigten hei- daß EU- und deutsche Gerichte zukünftig nicht mischen Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen ka- mehr europäisches und deutsches Recht- zu Lasten puttkonkurrieren. Das dürfen wir nicht zulassen. der Frauengleichstellung gegeneinander ausspielen Daran kann niemand interessiert sein. können. (Beifall bei der SPD und der PDS) (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Man fred Müller [Berlin] [PDS] und des Abg. Christian Sterzing [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ Ich weiß nicht, ob Sie sich erinnern - viele von Ih- NEN]) nen werden das tun -: Eine der wenigen Mütter un- seres Grundgesetzes, Elisabeth Selbert, hat sich im Wir brauchen also in diesem Bereich eine EU-weite Parlamentarischen Rat 1949 für den Grundgesetz- Regelung. artikel 3 engagiert. Als sie sich bei den Männern nicht durchsetzen konnte, hat sie die Frauen in Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist ein schreck- Deutschland mobilisiert. Waschkörbeweise erhielten liches Versagen unserer Gesellschaft und unseres die damaligen Väter des Grundgesetzes die Forde- Wirtschaftssystems, daß in dieser EU 20 Prozent aller rung, den Gleichberechtigungsartikel 3 ins Grund- jungen Menschen unter 25 Jahren von Arbeitslosig- gesetz aufzunehmen. So wurde er schließlich veran- keit betroffen sind. Wie lange muß es noch dauern, kert. bis sich die EU-Mitgliedsregierungen endlich ent- sprechend den Vorschlägen von Jacques Delors da- Ich plädiere für eine solche große Aktion auch für engagieren, daß jeder Jugendliche eine berufli- heute. Alle Bürger und Bürgerinnen sollten dem che Erstausbildung und eine Chance der Weiterbil- Bundeskanzler schreiben: Im Maastricht-Vertrag dung und Weiterausbildung erhält? müssen endlich aktive Beschäftigungspolitik und aktive Frauenförderung verankert werden. (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Man fred Müller [Berlin] [PDS]) (Beifall bei der SPD und der PDS sowie des Abg. Christian Sterzing [BÜNDNIS 90/DIE Wie lange dauert es noch, bis Investitionen in die GRÜNEN]) Infrastruktur finanziert werden, bis Reformen und Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 96. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. März 1996 8569 Heidemarie Wieczorek-Zeul Verbindungen zwischen West- und Osteuropa finan- Endgültiges Ergebnis Peter Götz ziert werden? Wir brauchen öffentliche Verkehrssy- Dr. Wolfgang Götzer steme, Bahnsysteme, die Ost und West verbinden, Abgegebene Stimmen: 608; Joachim Gres die ökologisch sinnvoll sind. Die Finanzminister der ja: 320 Kurt-Dieter Grill Wolfgang Gröbl EU haben am Montag entsprechende Finanzierungs- nein: 274 Hermann Gröhe pläne wieder abgeblockt. Wie lange wollen die euro- enthalten: 14 Claus-Peter Grotz päischen Staats- und Regierungschefs noch warten, bis im Verkehrssystem, bei Umwelttechnologien, Horst Günther (Duisburg) beim Energiesparen neue Impulse gegeben werden? Ja Carl-Detlev Freiherr von Hammerstein (Beifall der Abg. Dr. Liesel Hartenstein [SPD]) CDU/CSU (Großhennersdorf) Otto Hauser (Esslingen) Wie lange dauert es noch, bis Staats- und Regie- Hansgeorg Hamer rungschefs, bis auch Helmut Kohl verstanden hat, (Rednitzhembach) daß die Rücksicht auf die Natur zu einem positiven Klaus-Jürgen Hedrich Wettbewerbsfaktor gemacht werden kann? Jürgen Augustinowitz Manfred Heise (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne Heinz-Günter Bargfrede Dr. Renate Hellwig ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Ernst Hinsken Dr. und des Abg. Manfred Müller [Berlin] Josef Hollerith [PDS]) Dr. Sabine Bergmann-Pohl Dr. Karl-Heinz Hornhues Wann wird es die gemeinsame europäische Rege- Hans-Dirk Bierling Siegfried Hornung Dr. Joseph-Theodor Blank Joachim Hörster lung zu einer ökologischen Steuerreform mit einer Hubert Hüppe Senkung von Lohnnebenkosten, wie sie Jaques De- Dr. Peter Jacoby lors damals gefordert hat, geben? Susanne Jaffke Dr. Norbert Blüm Georg Janovsky Wie lange dauert es noch, bis die zuständigen EU- Helmut Jawurek Minister ein System entwickeln, um zukünftig ex- Dr. Maria Böhmer Dr. Dionys Jobst treme Währungsschwankungen zu verhindern? In Dr.-Ing. Rainer Jork Deutschland sind durch dera rtige Schwankungen al- Wolfgang Börnsen (Bönstrup) Michael Jung (Limburg) lein rund 250 000 Arbeitsplätze verlorengegangen. Dr. Wolfgang Bötsch Dr. Egon Jüttner (Dr. Helmut Haussmann [F.D.P.]: Machen Klaus Brähmig Dr. Harald Kahl Sie die Währungsunion! Dann haben Sie Rudolf Braun (Auerbach) Bartholomäus Kalb die Schwankungen weg!) Steffen Kampeter Dr.-Ing. Dietmar Kansy Wie lange dauert es noch, bis die Staats- und Regie- rungschefs im Sinne abgestimmter Zinssenkungen Klaus Bühler (Bruchsal) Irmgard Karwatzki tätig werden, um den konjunkturellen Abwärtsent- (Emstek) wicklungen entgegenzusteuern? Peter Keller (Nordstrand) Liebe Kolleginnen und Kollegen, das Gruppenfoto- Dr. Bernd Klaußner der Staats- und Regierungschefs steht wie immer am Hans Klein (München) Ulrich Klinkert Anfang. Es signalisiert den Beginn der Verhandlun- Albert Deß Hans-Ulrich Köhler gen, die für die Zukunft Europas von großer Bedeu- (Hainspitz) tung sein werden und können. Hoffen wir alle, daß Manfred Kolbe dem routinierten Lächeln für die Fotografen kon- Werner Dörflinger Norbert Königshofen krete Taten für die Menschen in unserem Land und Hansjürgen Doss Eva-Maria Kors in Europa folgen werden. Dr. Hartmut Koschyk Maria Eichhorn Manfred Koslowski Ich danke Ihnen. Thomas Kossendey Rainer Eppelmann Rudolf Kraus (Beifall bei der SPD und der PDS sowie des Heinz Dieter Eßmann Wolfgang Krause (Dessau) Abg. Christian Sterzing [BÜNDNIS 90/DIE Andreas Krautscheid GRÜNEN]) Arnulf Kriedner Heinz-Jürgen Kronberg Dr. Karl H. Fell Dr.-Ing. Paul Krüger Vizepräsident Hans Klein: Meine Kolleginnen und Reiner Krziskewitz Kollegen, ich darf Ihnen zwischendurch das von den Dirk Fischer (Hamburg) Dr. Hermann Kues Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte Er- (Unna) gebnis der namentlichen Abstimmung über den An- (Hamburg) Dr. Karl A. Lamers trag der Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. zur (Heidelberg) Dr. Gerhard Friedrich Dr. verfassungsgebotenen Einführung des Religions- Erich G. Fritz unterrichts als ordentliches Lehrfach in Branden- Hans-Joachim Fuchtel burg auf Drucksache 13/4073 bekanntgeben. Abge- Michaela Geiger Herbert Lattmann gebene Stimmen: 608; mit Ja haben 320, mit Nein Dr. Paul Laufs 274 Abgeordnete gestimmt; enthalten haben sich Dr. Heiner Geißler Karl-Josef Laumann 14 Kolleginnen und Kollegen. Der Antrag ist damit Michael Glos Werner Lensing Wilma Glücklich angenommen. Dr. Reinhard Göhner Peter Letzgus 8570 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 96. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. März 1996

Vizepräsident Hans Klein Editha Limbach Dr. Klaus Rose Simon Wittmann Hans Martin Bury Walter Link (Diepholz) Kurt J. Rossmanith (Tännesberg) Hans Büttner (Ingolstadt) Eduard Lintner Adolf Roth (Gießen) Dagmar Wöhrl Wolf-Michael Catenhusen Dr. Klaus W. Lippold Norbert Röttgen Michael Wonneberger Peter Conradi (Offenbach) Dr. Christian Ruck Elke Wülfing Dr. Herta Däubler-Gmelin Dr. Manfred Lischewski Volker Rühe Peter Kurt Würzbach Christel Deichmann Wolfgang Lohmann Dr. Jürgen Rüttgers (Lüdenscheid) Roland Sauer (Stuttga rt) Wolfgang Zeitlmann Dr. Marliese Dobberthien Julius Louven Ortrun Schätzle Benno Zierer Peter Dreßen Sigrun Löwisch Dr. Wolfgang Schäuble Wolfgang Zöller Rudolf Dreßler Hartmut Schauerte Dr. Michael Luther Heinz Schemken Ludwig Eich Erich Maaß (Wilhelmshaven) Karl-Heinz Scherhag F.D.P. Peter Enders Dr. Dietrich Mahlo Gerhard Scheu Norbert Schindler Petra Ernstberger Günter Marten Dietmar Schlee Dr. Gisela Babel Annette Faße Dr. Martin Mayer Ulrich Schmalz Hildebrecht Braun Elke Ferner (Siegertsbrunn) (Augsburg) Lothar Fischer (Homburg) Wolfgang Meckelburg Christian Schmidt (Fürth) Günther Bredehorn Rudolf Meinl Dr.-Ing. Joachim Schmidt Jörg van Essen Iris Follak Dr. (Halsbrücke) Dr. Norbert Formanski Dr. Andreas Schmidt (Mülheim) Gisela Frick Hans-Otto Schmiedeberg Paul K. Friedhoff Katrin Fuchs (Verl) Rudolf Meyer (Winsen) Hans Peter Schmitz Arne Fuhrmann (Baesweiler) Hans-Dietrich Genscher Monika Ganseforth Meinolf Michels Birgit Schnieber-Jastram Joachim Günther (Plauen) Norbert Gansel Dr. Gerd Müller Dr. Andreas Schockenhoff Dr. Konrad Gilges Elmar Müller (Kirchheim) Dr. Dr. Helmut Haussmann Iris Gleicke Engelbert Nelle Reinhard Freiherr von Ulrich Heinrich Günter Gloser (Bremen) Schorlemer Walter Hirche Dr. Johannes Nitsch Dr. Erika Schuchardt Birgit Homburger Uwe Göllner Dr. Werner Hoyer Angelika Graf (Rosenheim) Dr. Rolf Olderog Dr. Ulrich Irmer Dieter Grasedieck Friedhelm Ost (Schwäbisch Gmünd) Dr. Achim Großmann Gerhard Schulz (Leipzig) Detlef Kleinert (Hannover) Hans-Joachim Hacker Norbert Otto (Erfurt) Frederick Schulze Dr. Heinrich L. Kolb Klaus Hagemann Dr. Gerhard Päselt Diethard Schütze (Berlin) Dr.-Ing. Karl-Hans Laermann Manfred Hampel Dr. Peter Paziorek Clemens Schwalbe Uwe Lühr Alfred Hartenbach Hans-Wilhelm Pesch Wilhelm Josef Sebastian Günther Friedrich Nolting Klaus Hasenfratz Ulrich Petzold Dr. Rainer Ortleb Dr. Ingomar Hauchler Wilfried Seibel Lisa Peters Dieter Heistermann Angelika Pfeiffer Heinz-Georg Seiffert Dr. Günter Rexrodt Reinhold Hemker Dr. Gero Pfennig Dr. Klaus Röhl Rolf Hempelmann Dr. Friedbert Pflüger Dr. Edzard Schmidt-Jortzig Dr. Barbara Hendricks Bernd Siebert Dr. Monika Heubaum Dr. Winfried Pinger Jürgen Sikora Dr. Hermann Otto Solms Reinhold Hiller (Lübeck) Dr. Stephan Hilsberg Dr. Hermann Pohler Bärbel Sothmann Carl-Ludwig Thiele Gerd Höfer Margarete Späte Dr. Dieter Thomae Jelena Hoffmann (Chemnitz) Marlies Pretzlaff Carl-Dieter Spranger Jürgen Türk Frank Hofmann (Volkach) Dr. Wolfgang Steiger Dr. Wolfgang Weng Ingrid Holzhüter Dr. Bernd Protzner (Gerlingen) Erwin Horn Dieter Pützhofen Dr. Wolfgang Freiherr von Dr. Guido Westerwelle Eike Hovermann Stetten Lothar Ibrügger Hans Raidel Andreas Storm Barbara Imhof Dr. Nein Gabriele Iwersen Rolf Rau Matthäus Strebl Renate Jäger Helmut Rauber Michael Stübgen Dr. Uwe Jens Peter Harald Rauen Egon Susset SPD Volker Jung (Düsseldorf) Otto Regenspurger Dr. Rita Süssmuth Sabine Kaspereit Christa Reichard (Dresden) Michael Teiser Gerd Andres Ernst Kastning Klaus Dieter Reichardt Dr. Susanne Tiemann Robert Antretter Hans-Peter Kemper (Mannheim) Dr. Klaus Töpfer Hermann Bachmaier Klaus Kirschner Dr. Bertold Reinartz Gottfried Tröger Marianne Klappert Erika Reinhardt Dr. Klaus-Dieter Uelhoff Siegrun Klemmer Hans-Peter Repnik Dr. Hans-Hinrich Knaape Roland Richter Dr. Horst Waffenschmidt Ingrid Becker-Inglau Roland Richwien Dr. Theodor Waigel Wolfgang Behrendt Nicolette Kressl Dr. Norbert Rieder Alois Graf von Waldburg-Zeil Hans Berger Volker Kröning Dr. (München) Dr. Jürgen Warnke Hans-Werner Bertl Thomas Krüger Klaus Riegert Kersten Wetzel Friedhelm Julius Beucher Horst Kubatschka Dr. Hans-Otto Wilhelm (Mainz) Eckart Kuhlwein Franz Romer Lilo Blunck Konrad Kunick Hannelore Rönsch Bernd Wilz Arne Börnsen (Ritterhude) Christine Kurzhals (Wiesbaden) Willy Wimmer (Neuss) Anni Brandt-Elsweier Werner Labsch Heinrich-Wilhelm Ronsöhr Tilo Braune Detlev von Larcher Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 96. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. März 1996 8571

Vizepräsident Hans Klein Robert Leidinger Dr. Angelica Schwall-Düren Dr. Helmut Lippelt Manfred Müller (Berlin) Klaus Lennartz Ernst Schwanhold Oswald Metzger Rosel Neuhäuser Dr. Elke Leonhard Bodo Seidenthal Christa Nickels Christina Schenk Klaus Lohmann (Witten) Lisa Seuster Cern Özdemir Steffen Tippach Christa Lörcher Horst Sielaff Gerd Poppe Klaus-Jürgen Warnick Erika Lotz Erika Simm Simone Probst Dr. Winfried Wolf Dr. Johannes Singer Dr. Jürgen Rochlitz Dieter Maaß (Herne) Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast Halo Saibold Dorle Marx Irmingard Schewe-Gerigk Wieland Sorge Ulrike Mascher Albert Schmidt (Hitzhofen) Wolfgang Spanier Enthalten Wolfgang Schmitt ch Sperling Ingrid Matthäus-Maier Dr. Dietri (Langenfeld) Jörg-Otto Spiller Heide Mattischeck Ursula Schönberger SPD Markus Meckel Antje-Marie Steen Rainder Steenblock Dr. Peter Struck Ulrike Mehl Christian Sterzing Dr. Liesel Hartenstein Joachim Tappe Herbert Meißner Manfred Such Jann-Peter Janssen Jörg Tauss Ludger Volmer Susanne Kastner Dr. Jürgen Meyer (Ulm) Dr. Bodo Teichmann Helmut Wilhelm (Amberg) Verena Wohlleben Ursula Mogg Margitta Terborg Siegmar Mosdorf Jella Teuchner Michael Müller (Düsseldorf) PDS Dr. Gerald Thalheim BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN Jutta Müller (Völklingen) Franz Thönnes Christian Müller (Zittau) Petra Bläss Uta Titze-Stecher Elisabeth Altmann Volker Neumann (Bramsche) Maritta Böttcher Adelheid Tröscher (Pommelsbrunn) Gerhard Neumann (Gotha) Hans-Eberhard Urbaniak Eva Bulling-Schröter Heinrich Graf von Einsiedel Ulrike Höfken Dr. Edith Niehuis Siegfried Vergin Dr. Rolf Niese Dr. Dagmar Enkelmann Christine Scheel Günter Verheugen Doris Odendahl Dr. Dr. Antje Vollmer (Pforzheim) Günter Oesinghaus Dr. Gregor Gysi Leyla Onur Josef Vosen Hanns-Peter Hartmann Manfred Opel Hans Georg Wagner Dr. Uwe-Jens Heuer F.D.P. Adolf Ostertag Hans Wallow Dr. Barbara Höll Kurt Palis Dr. Konstanze Wegner Dr. Willibald Jacob Dr. Burkhard Hirsch Albrecht Papenroth Wolfgang Weiermann Jürgen Koppelin Dr. Willfried Penner Reinhard Weis (Stendal) Gerhard Jüttemann Sabine Leutheusser Georg Pfannenstein Matthias Weisheit Dr. Heidi Knake-Werner Schnarrenberger Dr. Eckhart Pick Gunter Weißgerber Rolf Köhne Jürgen W. Möllemann Joachim Poß (Wiesloch) Heidemarie Lüth Helmut Schäfer (Mainz) Rudolf Purps Jochen Welt Dr. Günther Maleuda Cornelia Schmalz-Jacobsen Karin Rehbock-Zureich Hildegard Wester Margot von Renesse Lydia Westrich Renate Rennebach Dr. Norbert Wieczorek Ich erteile jetzt als nächstem dem Kollegen Hans Otto Reschke Helmut Wieczorek (Duisburg) Peter Repnik das Wo rt. Bernd Reuter Heidemarie Wieczorek-Zeul Günter Rixe Dieter Wiefelspütz Reinhold Robbe Berthold Wittich Hans-Peter Repnik (CDU/CSU): Herr Präsident! Gerhard Rübenkönig - Dr. Meine sehr verehrten Damen und Herren! Gemein- Dr. Hansjörg Schäfer sam treibt uns die Sorge um, die Arbeitslosigkeit in Gudrun Schaich-Walch Hanna Wolf (München) Dieter Schanz Heidi Wright Deutschland und in anderen europäischen Ländern - Rudolf Scharping in denen die Arbeitslosigkeit noch dramatischere Bernd Scheelen Dr. Christoph Zöpel Zahlen aufweist als in Deutschland - zu bekämpfen. Siegfried Scheffler Peter Zumkley Gemeinsam treibt uns die Sorge um, Frau Kollegin Horst Schild Wieczorek-Zeul, insbesondere die Arbeitslosigkeit Otto Schily der Jugendlichen zu bekämpfen. Dieter Schloten BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN Günter Schluckebier Wenn Sie die Jugendarbeitslosigkeit in Europa Horst Schmidbauer Gila Altmann (Aurich) analysieren, werden Sie feststellen, daß die Bundes- (Nürnberg) Marieluise Beck (Bremen) republik Deutschland im Vergleich zu anderen Indu- (Aachen) Volker Beck (Köln) strieländern durch ihre Politik mit Abstand die nied- (Meschede) Angelika Beer rigste Arbeitslosigkeit bei Jugendlichen aufweist. Wilhelm Schmidt (Salzgitter) Regina Schmidt-Zadel Annelie Buntenbach (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU - Heinz Schmitt (Berg) Amke Dietert-Scheuer Heidemarie Wieczorek-Zeul [SPD]: Das Dr. Emil Schnell Franziska Eichstädt-Bohlig Walter Schöler stimmt überhaupt nicht!) Dr. Uschi Eid Ottmar Schreiner Joseph Fischer (Frankfurt) Gisela Schröter Wahr ist auch, daß die Hälfte der Mitgliedstaaten der Dr. Mathias Schube rt Rita Grießhaber EU sozialistisch regiert sind und daß dort die Jugend- Schuhmann Richard Gerald Häfner arbeitslosigkeit am größten ist. Ich glaube, auch das (Delitzsch) Antje Hermenau darf man nicht übersehen. Reinhard Schultz Kristin Heyne (Everswinkel) Michaele Hustedt (Carl-Ludwig Thiele [F.D.P.]: Sehr richtig!) Volkmar Schultz (Köln) Dr. Manuel Kiper Ilse Schumann Dr. Angelika Köster-Loßack SPD und Bündnis 90/Die Grünen versuchen, dar- Dr. R. Werner Schuster auf mit ihren Anträgen eine Antwort zu geben. Ich 8572 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 96. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. März 1996

Hans-Peter Repnik glaube, gerade hier trifft der Satz zu: Das Gegenteil batte einmal angesprochen werden -, gegenüberzu- von gut ist gut gemeint. Das Problem der Arbeitslo- stellen, was Frau Wieczorek-Zeul und der im Wahl- sigkeit ist europaweit - das wissen wir -, und auch kampf befindliche baden-württembergische Kandi- Europa muß einen entsprechenden Beitrag leisten. dat Spöri zu diesem Thema sagen, und damit heraus- zuarbeiten, wie es die SPD tatsächlich mit Europa Eine europäische Sozialverordnung, wie sie gefor- hält. dert ist, kann diese Probleme nicht lösen. Ein euro- päisches Dekret schafft keine Arbeitsplätze. Indu- (Zustimmung bei der CDU/CSU und der striepolitik und Reglementierungen, wie sie die SPD F.D.P.) will, sind zum Abbau von Arbeitslosigkeit ungeeig- Wie machen wir, Frau Kollegin Wieczorek-Zeul, net. der Bevölkerung klar, daß wir Europa voranbringen (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) müssen, ohne falsche Hoffnungen zu wecken? Meine Damen und Herren, ich habe die Sorge, daß (Günter Verheugen [SPD]: Wenn die Bun mit Ihrem Antrag und auch mit Ihrem Plädoyer, Frau desregierung schweigt, nie! Sie macht ja Wieczorek-Zeul, Europa möglicherweise einmal nichts!) mehr überfordert wird und daß falsche Erwartungen bei der Bevölkerung geweckt werden. Wie schaffen wir die nötige Akzeptanz für die Wi rt -schafts- und Währungsunion? Das ist ein ganz ern- Der Antrag von Bündnis 90/Die Grünen will eine ster Vorgang. grundlegende Revision der vertraglichen Vereinba- rungen. Beide Anträge verlangen den zweiten (Günter Verheugen [SPD]: Sehr ernst! Sehr Schritt vor dem ersten. Sie wollen das Kind mit dem wahr!) Bade ausschütten. Denn Sie können nicht hier für Europa werben, für Denn vorher gilt es, eine Reihe anderer Vorausset- die Abschaffung der Arbeitslosigkeit in Europa plä- zungen zu erfüllen: Effizienz, Handlungsfähigkeit, dieren und gleichzeitig zulassen, daß der Spitzen- Legitimität der Institutionen sind zu stärken; Priorität kandidat der SPD in Baden-Württemberg die Maß- hat vor allen Dingen die Wirtschafts- und Währungs- nahme, die am ehesten geeignet ist, Arbeitslosigkeit union. zu bekämpfen, nämlich die Wirtschafts- und Wäh- rungsunion einzuführen, verschieben wi ll. Es ist allenthalben bekannt, daß gerade mit der Wirtschafts- und Währungsunion der notwendige (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Push für die Wirtschaft stattfindet. Damit und nicht mit neuen Sozialverordnungen werden wir neue Ar- Ich möchte zu einem Konsens auffordern. Nahezu beitsplätze schaffen. alle Mitglieder des Deutschen Bundestages haben seinerzeit die Maastrichter Verträge ratifiziert. Sie (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) haben darin die Zukunftshoffnung für unser Land und für die alte Welt insgesamt gesehen. Das war gut Die Oppositionsanträge versuchen, den Anschein so. zu erwecken, als sei die deutsche Politik in Brüssel an der sozialen Dimension des Binnenmarktes vor- Fast scheinheilig im vorliegenden Antrag das beigegangen. Das ist falsch. Darauf wird nachher die Hohelied der europäischen Chancen zu singen und Regierung noch eingehen. Deutschland- ist neben woanders, wie Ihr Fraktionsvorsitzender Scharping, den Niederlanden und neuerdings den nordischen von irgendeiner Idee Europa zu sprechen Ländern die Kraft, die soziale Standards auf europäi- scher Ebene voranbringt. (Dr. Helmut Haussmann [F.D.P.]: Das war unglaublich!) Es wird zu leicht übersehen, daß der Maastrichter Vertrag eine große Zahl an sozialen Vereinbarungen und in Baden-Württemberg in diesen Wochen zu pla- enthält: Abstimmung der Sozialordnungen, Zusam- katieren menarbeit in sozialen Fragen, Mindestvorschriften Stabilität und Arbeitsplätze gehen jetzt vor. Des- zur Verbesserung der Arbeitsumwelt und das Proto- halb die Währungsunion verschieben! koll über die Sozialpolitik. (Dr. Helmut Haussmann [F.D.P.]: Vertrags Natürlich wissen wir - darüber sind wir uns auch widrig!) einig -, daß Europa nicht auf die wirtschaftliche Di- mension reduziert werden darf. Wir wissen aber Baden-Württemberg SPD, auch, daß wir die richtige Reihenfolge einhalten müs- ist unlauter. Das führt in die Sackgasse. Es ist der sen, wenn wir das gemeinsame Ziel, Bekämpfung sicherste Weg, Arbeitsplätze zu vernichten und die der Arbeitslosigkeit, erreichen wollen: die Maastrich- Chancen zur Schaffung neuer Arbeitsplätze, zum ter Vereinbarungen einhalten und zum Erfolg füh- Abbau von Jugendarbeitslosigkeit zu verhindern. ren, gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik schaffen und die Reform der europäischen Institutio- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. nen als Fundament für eine stabile handlungsfähige, sowie bei Abgeordneten des BÜNDNIS wirtschaftlich starke und zur sozialen Politik fähige SES 90/DIE GRÜNEN) Gemeinschaft durchsetzen. Meine sehr verehrten Damen und Herren, Stabili- Meine sehr verehrten Damen und Herren, es ist tät, die zur Schaffung neuer Arbeitsplätze notwendig vielleicht interessant - das muß in einer solchen De- ist, entsteht nur, wenn eine möglichst breite ökono- Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 96. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. März 1996 8573 Hans-Peter Repnik mische Basis existiert. Arbeitsplätze geraten weiter rechtlichen Verträgen würde generell unerfüllbare in Gefahr, wenn sich die Europäische Union zu einer Erwartungen wecken, seien diese auch noch so wün- Freihandelszone zurückentwickelt. Ich frage mich: schenswert. Wie kann man nur aus purem Populismus die Men- schen in unserem Land so irreführen, wie es gerade Ein letzer Satz, ein letzter Appell, meine sehr ver- in diesen Tagen geschieht? Wer jetzt platte Sprüche ehrten Damen und Herren von der SPD: Werden Sie über das Verschieben der Wirtschafts- und Wäh- nicht nur hier am Redepult, Frau Kollegin Wieczo- rungsunion macht, ist mit schuld an den bösen Fol- rek-Zeul, sich Ihrer Verantwortung bewußt, sondern gen für Währung, Wirtschaft und nicht zuletzt die Ar- auch dort, wo wir zur Zeit tagtäglich mit dem Bürger beitsplätze. im Gespräch stehen. Sagen Sie es Ihren Kolleginnen und Kollegen in Baden-Württemberg, in Rheinland (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Pfalz und in Schleswig-Holstein, daß die Europäische Wirtschafts- und Währungsunion der sicherste Weg Im Gegensatz zu Spöri in Baden-Württemberg hat ist für europäisches Wachstum, für die Schaffung von der Deutsche Gewerkschaftsbund dies erkannt. Arbeitsplätzen. Wir laden Sie dazu ein. Noch haben Auch zur Sicherung der Arbeitsplätze tritt der DGB Sie die Gelegenheit dazu. Nehmen Sie die Verant- für den Einstieg in die Währungsunion ein. Wir wortung wahr! freuen uns über diese Mitverantwortung, die die Ar- beitnehmerseite hier ganz eindeutig trägt. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) (Dr. Renate Hellwig [CDU/CSU]: DGB - besser als SPD!) Vizepräsident Hans Klein: Das Wort hat der Kol- lege Christian Sterzing. Warum schüren Sie eigentlich diese Skepsis ge- genüber Europa? Was soll dieser Kleinmut? Europa ist eine Vision, die wir realisieren müssen. Haben all Christian Sterzing (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): die wankelmütigen Skeptiker und Pessimisten schon Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und vergessen, wo wir vor 40 Jahren standen? Wäre das Herren! Man mag Herrn Kollegen Repnik nur nach- Wirtschaftswunder, wäre die wiedererlangte Einheit rufen, daß dieser Appell doch auch nach Baye rn ge- ohne Europa möglich gewesen? Auf diese Frage gibt richtet werden möge; denn von do rt hört man ja ähn- es eine klare Antwort. Sie heißt nein. liche Töne. Ihr Ziel können wir, glaube ich, auf anderem Weg (Zuruf von der CDU/CSU: I wo!) erreichen. Die Wirtschafts- und Währungsunion si- - Nein? Gut, das ist eine Form von selektiver Wahr- chert Arbeitsplätze. Europa wird im internationalen nehmung, der ich mich nicht anschließen kann. Wettbewerb abgehängt werden, wenn es keine Wi rt -schafts- und Währungsunion gibt. Dann würden wir Meine Damen und Herren, in wenigen Tagen be- nicht mehr, sondern weniger Arbeitsplätze haben. ginnt in Turin die Regierungskonferenz. So wie es aussieht, wird das zentrale Problem, das die Men- Lassen Sie mich einen letzten Gedanken in diesen schen in Europa beschäftigt, nämlich die Massenar- Zusammenhang einbringen. Für uns ist die Subsidia- beitslosigkeit, dort nicht Thema sein. 15 Regierungs- rität in Europa wichtig. Ich glaube, wenn wir diesen und Staatschefs machen sich auf den Weg und wol- Gedanken ernst nehmen, zeigt sich der Widerspruch- len eine grundlegende Reform der Europäischen in den Anträgen der Opposition. Man will die Ver- Union in Angriff nehmen. Aber nach Ansicht der antwortung an die europäische Ebene abgeben, de- Bundesregierung gehört die Frage, ob die EU nicht legieren. Gerade dies ist in der Sozialpolitik falsch. ein verbessertes Instrumenta rium für die Bewälti- Die unterschiedliche wirtschaftliche Leistungskraft gung der Arbeitslosigkeit erhalten muß, von der Ta- der Mitgliedstaaten spiegelt sich auch in einem un- gesordnung ausgeschlossen. Da besteht erheblicher Erklärungsbedarf. terschiedlichen Wohlfahrts- und Sozialleistungsni- veau wider. Warum darf die EU über den Fruchtgehalt in To- matensaft Regulierungen treffen, warum darf sie zu (Ulrich Heinrich [F.D.P.]: Das ist auch ein der Größe des Überrollbügels bei schmalspurigen Stück Subsidiarität!) Schleppfahrzeugen Festlegungen treffen, während Der Zusammenhang zwischen eigener Wirtschafts- sie in Sachen Beschäftigungspolitik keinerlei neue kraft und daraus resultierender sozialer Leistungsfä- Kompetenzen erhalten soll? higkeit jedes einzelnen Mitgliedstaates muß erhalten (Dr. Helmut Haussmann [F.D.P.]: Was heißt bleiben. Deshalb darf kein Mitgliedstaat zu Sozial- „neue Kompetenzen"?) standards gezwungen werden, die ihn wi rtschaftlich überfordern, dürfen die Sozialleistungen der Mit- Arbeitslosigkeit ist ein europäisches Problem. Ich gliedstaaten nicht zu Umverteilungsinstrumenten in- denke, dieses Problem bedarf auch europäischer nerhalb der Gemeinschaft werden und darf kein Mit- Antworten. gliedstaat veranlaßt werden, ein hohes soziales Schutzniveau, wenn er es jetzt schon hat und es sei- 20 Millionen Arbeitslose in der Europäischen ner Wirtschaftskraft entspricht, abzusenken. Union, das birgt sozialen Sprengstoff in sich. Wach- sende Armut und soziale Ausgrenzung drohen den Auf europäischer Ebene können Sozialstandards Integrationsprozeß insgesamt zu gefährden. Wenn nur Ergebnis praktischer Politik sein. Die Festschrei- sich Europa der Herausforderung der Massenarbeits- bung sozialer Rechte in Verfassungen oder in völker- losigkeit nicht erfolgreich stellt, dann werden die in- 8574 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 96. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. März 1996

Christian Sterzing tegrationsfeindlichen und die nationalistischen Ten- Ökonomie und Ökologie - das sind nicht zwei Paar denzen zunehmen. Es gilt, dieser Gefahr rechtzeitig Schuhe, sondern das ist ein Paar Schuhe, das gehört entgegenzutreten. zusammen. Das sind nicht etwa irgendwelche exoti- schen grünen Vorstellungen. Wir befinden uns mit (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN unseren Vorschlägen, die wir im Antrag niedergelegt und der PDS) haben, durchaus in guter Gesellschaft. Die Kommis- Das vielgepriesene europäische Gesellschaftsmo- sion, das Europäische Parlament, eine Reihe anderer dell befindet sich in einem tiefgreifenden strukturel- Mitgliedstaaten haben sich in dieser Richtung geäu- len Wandel, ja in einer tiefgreifenden Krise. Alle Ver- ßert, haben im Vorfeld der Regierungskonferenz um- sprechungen von mehr Arbeitsplätzen bei der Ein- fangreiche Dokumente vorgelegt und sich für eine führung des europäischen Binnenmarkts haben sich gemeinsame Beschäftigungspolitik und für eine öko- in Luft aufgelöst. Der europäische Binnenmarkt hat logisch orientierte Wirtschaftspolitik in Europa aus- zum Teil eine ganz andere als die erwartete Dynamik gesprochen. Sie haben nämlich längst erkannt, daß entwickelt. Er hat zu sozialer Desintegration, zu öko- es darum geht, eine schrittweise Entwicklung einzu- logischer Zerstörung geführt. Es ist auch deutlich ge- leiten, um die Möglichkeiten einer koordinierten worden, daß dieses Binnenmarktmodell erhebliche Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik in Europa Mängel aufweist. zur Bekämpfung von Arbeitslosigkeit und Umwelt- zerstörung zu verbessern. Sie haben längst erkannt, Der Binnenmarkt bewahrt uns nicht vor Arbeits- daß gerade von der Ausrichtung der europäischen losigkeit, der Binnenmarkt bewah rt uns nicht vor Wirtschafts-, Sozial- und Umweltpolitik auf ein nach- Umweltzerstörung und Ressourcenverschwendung. haltiges Wirtschaften entscheidende Impulse für die Wachstum allein reicht offensichtlich nicht aus, um dauerhafte Verbesserung auf dem Beschäftigungs- Beschäftigung in Europa, um soziale Integration auf markt ausgehen werden. Dauer zu sichern und einen Klima- und Ressourcen- schutz zu gewährleisten. Nur die Bundesregierung verschließt sich leider immer wieder dieser Erkenntnis. Immer noch wird Wir zahlen für dieses Wirtschaftswachstum einen der Umweltschutz als Jobkiller bezeichnet. hohen, einen zu hohen beschäftigungspolitischen und auch ökologischen Preis. Wir müssen uns darum (Dr. Helmut Haussmann [F.D.P.]: So ein kümmern, daß die sozialen und die ökologischen Fol- Märchen! Hören Sie doch auf!) gen dieser Entwicklung bewältigt werden. Wir müs- - Daß der Umweltschutz ein Jobkiller ist, ist ein Mär- sen uns Gedanken darüber machen, welche neuen chen, aber leider bringen Sie dieses Argument im- Ziele wir setzen müssen und welche neuen politi- mer wieder vor. schen Instrumente wir zur Bewältigung dieser Krise benötigen. (Zuruf von der CDU/CSU: Ist gar nicht wahr! - Dr. Helmut Haussmann [F.D.P.]: Ist Wir brauchen eine Neudefinition des Ziels des Bin- doch nichts Neues!) nenmarkts. Wir brauchen eine Ausrichtung des Bin- nenmarkts auf ein umweltverträgliches Wachstum, Wenn von der Bundesregierung jetzt auch immer auf ein nachhaltiges Wi rtschaften; denn ohne sozial- wieder behauptet wird, daß die Verlagerung von verträgliche beschäftigungspolitische Elemente in Kompetenzen auf die europäische Ebene deshalb einer gemeinsamen und koordinierten europäischen nicht zu wünschen ist, weil auf der nationalen Ebene Politik sowie ohne eine viel stärker koordinierte öko- die Probleme der Arbeitslosigkeit viel besser und er- logische Politik werden wir diese Krise nicht über- folgreicher in Angriff genommen werden können, winden können. Wir müssen die Wirtschafts- und dann muß dem entgegengehalten werden, daß sie Währungsunion - das zeigt sich doch in dieser Zeit den Beweis dafür nun wirklich schuldig bleibt; denn sehr deutlich - endlich auch zu einer Sozial- und Um- 13 Jahre Kohl-Politik, 13 Jahre nationale Politik be- weltunion fortentwickeln. weisen doch nun wirklich das Gegenteil. Wir werden Sie - da können Sie sicherlich ganz beruhigt sein -, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, was die soziale und ökologische Politik angeht, ge- bei der SPD und der PDS) wiß nicht aus der Verantwortung entlassen. Aber das schließt doch nicht aus, daß man gemeinsame Ver- Die Regierungskonferenz bietet die Chance, die- suche auf nationaler und europäischer Ebene unter- sen sozialen und ökologischen Umbau in Europa in nimmt. Angriff zu nehmen. Dort können nämlich die vertrag- lichen Grundlagen für eine solche Politik geschaffen Die soziale und die ökologische Krise sind doch werden. Dazu bedarf es, wie wir meinen, eines nur das sichtbarste Zeichen einer wirklichen Integra- neuen, umfänglichen Beschäftigungskapitels im EU- tionskrise in der Europäischen Union. In Tu rin und in Vertrag, und es bedarf einer konsequenten Ausrich- den Verhandlungen der Regierungskonferenz wird tung aller Politikbereiche auf ökologische Zielsetzun- sich zeigen, ob der Integrationsprozeß weiter voran- gen. getrieben werden kann oder ob wir in eine Phase der Renationalisierung zurückfallen. Wir brauchen neue vertragliche Grundlagen für so- ziale, für ökologische Mindeststandards auf mög- Wir haben schon im letzten Jahr in einem umfang- lichst hohem Niveau, damit Öko- und Sozialdumping reichen Antrag unsere grundlegenden Ziele für die in Europa und ein grenzenloser Deregulierungswett- Regierungskonferenz dargestellt. Diese sind erstens bewerb zwischen den Mitgliedstaaten verhindert die Demokratisierung der Institutionen und Verfah- werden. ren, zweitens die Ökologisierung des Vertrages, drit- Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 96. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. März 1996 8575

Christian Sterzing tens die Fortentwicklung einer zivilen Gemeinsamen dende Union der Völker Europas und nicht um eine Außen- und Sicherheitspolitik, viertens die Erweite- Union der Regierungen. rungsfähigkeit der Europäischen Union in Richtung Osten und Süden und fünftens nicht zuletzt die Vielen Dank. Schaffung von Kompetenzen und Instrumenten für (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN die Europäische Union zur Bewältigung der Beschäf- und bei der PDS sowie bei Abgeordneten tigungskrise. der SPD) In Ihrer Reaktion auf die Große Anfrage ist die Bundesregierung in weiten Teilen die Antwort schul- Vizepräsident Hans Klein: Ich erteile das Wo rt dem dig geblieben. Durch die Antwort zieht sich die Per- Kollegen Helmut Haussmann. spektive eines „Weiter so" ohne neue Visionen, ohne neue konkrete Alternativen. Die schon erwähnte Ab- lehnung eines neuen Beschäftigungskapitels im Ver- Dr. Helmut Haussmann (F.D.P.): Sehr geehrter Herr trag ist eigentlich nur symptomatisch für den Unwil- Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Jede len oder die Unfähigkeit der Bundesregierung, den Europadebatte im wiedervereinigten Deutschland Herausforderungen konkret zu begegnen. In der wird in unseren europäischen Nachbarstaaten mit Umweltpolitik soll sich nichts Konkretes ändern. größtem Interesse verfolgt. Es war bisher so, daß vor Auch die Energiepolitik soll nicht zum Gegenstand wichtigen Regierungskonferenzen zu Europa zu- des Vertrages gemacht werden. Ich glaube, in ihren nächst einmal das im Vordergrund gestanden hat, Antworten zeigt die Bundesregierung, daß sich die was die klassischen Parteien in der Europapolitik für Revisionskonferenz auf eine technokratische Reform eine gemeinsame Linie halten, und nicht die Abwei- reduzieren soll. In einzelnen Punkten festlegen will chung. Wir reden nicht über ein seelenloses Europa, sie sich schon gar nicht: Auf fast jeder Seite finden das sich nicht um Arbeitsplätze kümmert. Vielmehr wir die Beteuerung, man werde dieses oder jenes ist er das Ziel jeder Europapolitik letztlich, den Be- noch „prüfen". schäftigungsstand in Europa zu erhöhen. Bezeichnend für diese Haltung der Bundesregie- (Beifall bei der F.D.P.) rung ist eigentlich auch die Geschichte dieser An- frage. Denn ein halbes Jahr wurde benötigt, um zu Trotz der europafeindlichen Haltung von Herrn diesen ausweichenden und vielfach substanzlosen Spöri, von Herrn Schröder, von Herrn Lafontaine und Antworten zu kommen. zum Teil leider auch von Herrn Stoiber gibt es nach wie vor Gemeinsamkeiten im Deutschen Bundestag. Was wir brauchen, ist aber eine öffentliche Ausein- Erstens. Alle klassischen Parteien - bei den Grünen andersetzung in der Bundesrepublik. Ich glaube, ge- bin ich mir nicht so sicher - wollen weitere Fo rt rade der Bundesregierung obliegt hier die Verant- Integration. Man ist dafür, daß die--schritte bei der wortung, durch deutliche Worte und durch Darle- jenigen voranschreiten, die es können, und man gung ihrer Positionen im Vorfeld der Regierungskon- möchte dabei andere nicht ausschließen. Sozialde- ferenz eine breite Debatte zu initiieren. Da nützen mokraten, zumindest hier im Parlament, Christdemo- auch die Hinweise der Regierung auf ihre Bereit- kraten und Liberale sind für eine Erweiterung um schaft, in den Ausschüssen - hinter verschlossenen- Osteuropa. Wieso spielt das keine Rolle? Das ist doch Türen - ihre Vorstellungen zu diskutieren, nichts, ganz entscheidend. Bei jeder Europadebatte wird denn das dringt nicht an die Öffentlichkeit. Wir müs- doch in Prag, Warschau und Budapest verfolgt, ob sen uns fragen: Haben Sie denn wirklich nichts aus Deutschland nach wie vor dazu steht, daß diese Re- Maastricht gelernt? Maastricht ist doch gerade des- formstaaten die Chance haben, möglichst schnell in halb so kritisiert worden, weil es hinter verschlosse- die Europäische Union zu kommen. nen Türen ausgehandelt wurde. (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne Wir müssen im Zusammenhang mit der Reform ten der CDU/CSU) eine breite öffentliche Debatte in Gang setzen. Wir müssen die Probleme offen ansprechen, die die Men- Europapolitik heißt natürlich auch Beschäftigungs- schen beschäftigen. Das sind ganz aktuell natürlich politik. Die Zuständigkeiten für die Beschäftigung die Probleme der Massenarbeitslosigkeit in Europa. sind klar. Das Allerwichtigste ist, die Wirtschafts- Erst wenn es gelingt, dies zum Thema zu machen, und Währungsunion gemäß dem Zeitplan und unter werden wir auch Fortschritte im Integrationsprozeß strikter Einhaltung der vertraglichen Konvergenz- erzielen. Die europapolitische Geheimniskrämerei kriterien herzustellen. Es ist unverständlich, daß der der Bundesregierung untergräbt, wie wir fürchten, Wirtschaftsminister des exportstärksten Bundeslan die demokratische Legitimation des Einigungspro- des, nämlich Baden-Württembergs, vertragswidrig zesses. für eine Verschiebung plädiert. Was soll denn ein mittelständischer Unternehmer in Baden-Württem- Lassen Sie mich das zum Schluß sagen: berg, der überwiegend nach Frankreich und in die Beneluxstaaten exportiert, dazu sagen, daß der ei- Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege, Sie sind gene Wirtschaftsminister für eine Verschiebung plä- schon ein großes Stück über Ihre Redezeit hinaus. diert? Es ist auch einmalig, daß von der SPD in einem Christian Sterzing (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wahlkampf Plakate aufgehängt werden, die bisher Es geht laut EU-Vertrag um eine immer enger wer- nur extremistische Parteien benützt haben. „Nein zur 8576 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 96. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. März 1996 Dr. Helmut Haussmann Währungsunion" hieß es auf dem ursprünglichen das vom Bundesrat, von Sozialdemokraten blockiert Plakat. wird. (Ulrich Heinrich [F.D.P.]: Ein Skandal ist (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne das!) ten der CDU/CSU - Günter Verheugen Nur auf Druck der Bundes-SPD wurde dieses Plakat [SPD]: Wer regiert hier eigentlich in aus dem Verkehr gezogen. Dieser Vorgang ist einma- Deutschland!) lig und sollte heute hier in Bonn bei unseren Überle- Schieben Sie die Verantwortung doch nicht auf die gungen eine entscheidende Rolle spielen. europäische Ebene! Machen Sie doch zunächst ein- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) mal Ihre Hausaufgaben hier in der Bundesrepublik. Was wir nicht zulassen, ist, daß Sie Ihre nationalen Es ist doch interessant, daß sich der Deutsche Ge- Pflichten zur Beschäftigungssicherung vernachlässi- werkschaftsbund von diesem Kurs des Herrn Spöri gen und Europa auf die Anklagebank setzen, nach strikt distanziert. Alle Achtung vor dem DGB! Er dem Motto: Nur noch do rt wird über Beschäftigung sieht es richtig und langfristig. entschieden. (Carl-Ludwig Thiele [F.D.P.]: Und für die (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. und der Arbeitnehmer!) CDU/CSU - Widerspruch bei der SPD) Es sollte auch interessant sein, daß der Chef des Sie lenken von der wirklichen Beschäftigungsverant- größten Unternehmens in Baden-Württemberg, Herr wortung ab. Werner - immerhin der Vorstandsvorsitzende von Mercedes Benz, des Unternehmens mit den meisten Es ist doch interessant, daß Herr Schröder gesagt Arbeitsplätzen -, ganz klar gesagt hat: Ohne pünktli- hat, er habe sich bisher mit dem Vertrag von Maas- che Realisierung der Wirtschaftsunion ist jedes natio- tricht nicht genügend beschäftigt, sonst hätte er ihm nale Bündnis für Arbeit wertlos. A lles, was wir hier nicht zugestimmt. Es ist ihm jetzt klargeworden, daß tun können, wird uns im Abwertungswettlauf weg- die Realisierung der Wirtschafts- und Währungs- genommen. union zu einschneidenden Sparbemühungen in den nationalen Haushalten führen muß. Das will die So- Wenn die Bundesbank heute morgen klargemacht zialdemokratie in Wirklichkeit nicht. hat, daß die D-Mark im Vergleich zu den 18 wichtig- sten Währungen in der Welt allein im letzten Jahr um (Ottmar Schreiner [SPD]: Und damit nach 5,5 Prozent aufgewertet wurde, dann gibt es doch Ihrer Interpretation zu einer Erhöhung der aus Beschäftigungsgründen nur die Antwort, pünkt- Arbeitslosigkeit! Natürlich verschärft das lich die Wirtschafts- und Währungsunion einzufüh- die rezessiven Tendenzen!) ren, um dafür zu sorgen, daß die D-Mark zu einem realistischen Kurs in einer Währungsunion mit den - Nein, Herr Schreiner. Wenn wir über schuldenfi- wichtigsten Exportländern definitiv verankert wird. nanzierte Beschäftigungsprogramme mehr Beschäf- Das ist die erste beschäftigungspolitische Antwort. tigung erreichen könnten, dann hätten Sie im Saar- land längst Vollbeschäftigung. (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne ten der CDU/CSU) - (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne ten der CDU/CSU) Der zweite Punkt lautet: Wir sollten die vorhande- nen Beschäftigungsinitiativen, die immerhin auf den Immer neue schuldenfinanzierte Beschäftigungspro- großartigen ehemaligen Präsidenten Delors zurück- gramme führen in die Irre. gehen, auch umsetzen. Wir sollten nicht immer wie- der neue Anträge im Bundestag stellen, sondern das Frau Wieczorek-Zeul und Herr Sterzing, Sie müs- realisieren, was Delors gesagt hat. sen einmal sagen, was Sie in Europa wollen. Wollen Sie die Einführung eines neuen A rtikels? Wollen Sie (Günter Verheugen [SPD]: Es ist Ihre Regie eine Vertragsänderung? Wollen Sie neue Beschäfti- rung, die das verhindert! - Heidemarie gungsprogramme, die auf der europäischen Ebene fi- Wieczorek-Zeul [SPD]: Mit der Ökosteuer nanziert werden müssen? Was wollen Sie wirklich? zusammen!) (Heidemarie Wieczorek-Zeul [SPD]: Das Erstens: Senkung der Lohnzusatzkosten. Stimmen haben wir doch in unserem Antrag stehen! Sie zu, daß die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall re- Lesen Sie es doch!) formiert wird! Stimmen Sie zu, daß die Frühverren- tung reformiert wird! Das sind doch die Antworten Frau Wieczorek-Zeul, was wollen Sie mit Ihrer Dro- auf die Frage, wie man die Lohnzusatzkosten redu- hung sagen, Sie würden der Wirtschafts- und Wäh- zieren kann. rungsunion im Bundestag nicht zustimmen, wenn ganz bestimmte Voraussetzungen nicht erfüllt wer- (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne den? ten der CDU/CSU) (Günter Verheugen [SPD]: Das hat Herr Zweitens: Reform der Unternehmensbesteuerung. Schäuble als erster gesagt!) Warum ist denn die Gewerbesteuer in Deutschland noch nicht abgeschafft, die für kleine und mittlere - Seien Sie ganz beruhigt. Herr Schäuble und die Betriebe absolut beschäftigungsfeindlich ist? - Weil Bundesregierung haben eine ganz klare Linie. Durch Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 96. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. März 1996 8577 Dr. Helmut Haussmann eine Reform der Sozialsysteme und eine sparsame Heidemarie Wieczorek-Zeul (SPD): Herr Kollege Haushaltspolitik Haussmann ist unter anderem einem gravierenden Mißverständnis aufgesessen. Deshalb wollte ich ihm (Carl-Ludwig Thiele [F.D.P.]: Sehr richtig!) noch einmal genau sagen, was ich zur Frage der Rati- wird und muß die Bundesrepublik als Vorreiter fizierung gesagt habe. pünktlich beginnen, die Kriterien für die Europäische Zunächst einmal, Herr Haussmann, wissen Sie Wirtschaftsunion zu erfüllen. Dazu bedarf es eines sehr gut, daß der Vertrag von Maastricht ohne un- nationalen Beschäftigungs- und Stabilitätspakts; sere Initiativen zur Formulierung des Art. 23 des (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P.) Grundgesetzes überhaupt keine Chance gehabt hätte, vor dem Bundesverfassungsgericht zu be- denn die Arbeitslosigkeit kann nicht mit einem omi- stehen und ratifizierungsfähig zu werden. nösen Artikel auf europäischer Ebene bekämpft wer- den. Sie muß vielmehr do rt bekämpft werden, wo sie In Erinnerung daran habe ich gesagt - ich zitiere verursacht wird. das hier noch einmal; das sollten sich die Regierung und die sie tragenden Fraktionen sehr genau mer- (Christian Sterzing [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ ken -: NEN]: Im Bundeskabinett wird sie verur sacht!) Wer mit substanzlosen Ergebnissen nach einem oder eineinhalb Jahren Verhandlungen Das geschieht durch zuviel Staat, durch zu viele Schulden und durch inflexible Arbeitsmärkte. Meine - also nach dem 29. März in Turin - Damen und Herren, das ist der entscheidende Punkt. zurückkommt und falsche oder auch inhaltslose In Wirklichkeit ist es doch so, daß, sobald europäi- Vorschläge dem Deutschen Bundestag zur Ratifi- sche Vereinbarungen für den Nationalstaat nicht mit zierung vorlegt, der muß wissen: Noch einmal Ihrem nationalen Parteidenken übereinstimmen, Sie wird das Spiel wie beim Maastricht-Vertrag nicht für eine Verschiebung sind und versuchen, die Ver- funktionieren. antwortung für die Beschäftigungspolitik auf die Europäische Union abzuwälzen. Sie wissen ganz genau, daß jede Ratifizierung, die in irgendeiner Form Kompetenzen berührt, der Zwei- (Ulrich Heinrich [F.D.P.]: So ist es!) drittelmehrheit im Deutschen Bundestag bedarf. Wir können auf europäischer Ebene nicht neue Ohne daß im Bereich der Beschäftigung und der So- ausgabenwirksame Beschäftigungsprogramme be- zialpolitik Fortschritte erreicht werden, haben Sie schließen. Das würde faktisch eine Vergemeinschaf- keine Chance, mit irgendeiner Ihrer Initiativen in tung der Arbeitsmarktpolitik bedeuten. Wir benötig- diesem Hause durchzukommen. ten dann zusätzliche Finanzmittel in Europa. Das (Dr. Helmut Haussmann [F.D.P.]: Sagen Sie würde bedeuten, daß die Nationalstaaten verstärkt doch einmal ja zur Währungsunion! Das ist Mittel an Europa abführen müßten. Das würde wie- die entscheidende Frage!) derum bedeuten, daß wir überhaupt keine Chance mehr hätten, die Konvergenzkriterien zu erfüllen. Herr Kollege Hauss- - Vizepräsident Hans Klein: (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) mann, wollen Sie replizieren? - Nein. Meine Damen und Herren, kümmern Sie sich also Dann erteile ich dem Kollegen Manfred Müller das bitte bei Ihren nationalen und bundesbezogenen Wort. Verpflichtungen, auch bei den Haushalten in Ihren Länderparlamenten darum, daß wir die Konvergenz- kriterien erfüllen. Die Aufgabenverteilung kann Manfred Müller (Berlin) (PDS): Herr Präsident! nämlich nicht so sein: Der Bund spa rt, und die Län- Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sowohl Kollege der fahren ihre Politik weiter und machen damit die Repnik als auch Kollege Haussmann haben sich vol- Wirtschafts- und Währungsunion unmöglich. ler Stolz auf den DGB und seine Haltung zur Wäh- rungsunion berufen. Sie beide haben dabei aller- Auch die Bundesländer - darauf werden wir ver- dings vergessen, daß der DGB von Anfang an seine stärkt drängen - müssen ihre Haushaltspflichten im Zustimmung zur Währungsunion eng daran ge- Blick auf die Wirtschafts- und Währungsunion erfül- knüpft hat, daß diese Währungsunion mit einer So- len. Mehr Beschäftigung im globalen Wettbewerb zialunion verbunden ist. gibt es nur dann, wenn sich die europäischen Natio- nalstaaten auf eine Wirtschafts- und Währungsunion (Beifall bei der PDS) zur Schaffung von wettbewerbsfähigen Arbeitsplät- Insofern bin ich sehr froh darüber, daß die Position zen verständigen und nicht wieder neue schuldenfi- der PDS sich von der des DGB kaum unterscheidet. nanzierte Staatsprogramme auf europäischer Ebene beschließen. Ich möchte das hier einmal ganz offen sagen: Wir möchten mit unserem Nein zum Maastricht-Vertrag (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) nicht recht haben. Wir möchten, daß unser Nein zum Maastricht-Vertrag durch aktives Tun der Bundesre- Vizepräsident Hans Klein: Ich erteile jetzt das Wort gierung zu einem Ja umgewandelt werden kann. zu einer Kurzintervention der Kollegin Wieczorek Daran würde ich gern mitarbeiten. Ich würde Sie Zeul. gern davon überzeugen, daß es die Möglichkeit gibt, 8578 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 96. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. März 1996

Manfred Müller (Berlin) einen breiten Konsens in unserer Bevölkerung und Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, daß Gesellschaft für ein Ja zu Europa zu erreichen. genau dies billigend in Kauf genommen wird - zu- mindestens von denen, die ein ganz anderes Europa Denn Anfang Februar wußten erst 14 Prozent der im Kopf haben -; denn ein Europa, das alle sozialen deutschen Bevölkerung, daß Ende März die Konfe- Rücksichtnahmen fallen läßt, ist für einige wenige renz zur Revision des Maastricht-Vertrages beginnt. immer noch ein erfolgreiches Europa: ein erfolgrei- Daran, so vermute ich, wird sich bis heute kaum et- cher Finanzmarkt, ein Magnet für weltweit nach An- was geändert haben; denn die Menschen haben et- lagen suchendes Kapital und ein Produktionsstand- was anderes im Kopf als die gemeinsame Außen- ort für den Kampf um Weltmarktanteile, an dem die und Sicherheitspolitik, als die Innen- und Rechtspoli- Arbeitskosten dann endlich auch mit Südkorea oder tik oder die Subsidiarität. Wenn sie von Massenar- Malaysia konkurrieren können. beitslosigkeit betroffen sind, interessie rt dies die Menschen hauptsächlich. Dieses Thema wird auf der (Friedrich Merz [CDU/CSU]: Da können Sie Regierungskonferenz überhaupt nicht behandelt. das PDS-Vermögen besser anlegen!) Deshalb hätte ich von der Bundesregierung eigent- - Also das ist ja nun schon langsam eine Gebets- lich erwartet, daß sie durch den Schock der jüngsten mühle; sagen Sie uns doch, wo die angeblichen Mil- Arbeitslosenzahl doch noch bewegt wird, das größte lionen liegen. Problem Europas zum Gegenstand der Vertragsrevi- sion zu machen, nämlich die Massenarbeitslosigkeit. (Dr. Andreas Schockenhoff [CDU/CSU]: Ich habe mit Freude gehört, daß andere europäi- Also rückt sie heraus, die Kohle! - Gegenruf sche Regierungen das Ihre tun werden, damit das des Abg. Günter Verheugen [SPD]: Ihr mit doch Thema auf der Regierungskonferenz werden euren Parteispendenpraktiken sollt einmal wird und unsere Regierung doch noch gezwungen ganz ruhig sein! Ganz ruhig!) werden wird, sich mit konkreten Schritten und nicht Da ist ja schon Finderlohn ausgelobt worden. Wenn nur mit vagen Absichtserklärungen diesem die Men- ich jetzt einen 100-DM-Schein hätte, dann würde ich schen wirklich interessierenden Thema zuzuwenden. dieses Thema endlich einmal erledigen. Ein unvorstellbarer Skandal ist, daß über Europa Dieses Europa soll eine zweite Phase der Deregu- so geredet wird, als ginge es um eine Wechselstube lierung, des Sozialabbaus und der Umverteilung oder einen Börsensaal und nicht um einen sozialen von unten nach oben einleiten. Es wird die Fähigkei- Lebensraum. Die Leidenschaften kochen hoch, wenn ten der Gewerkschaften zum nationalen Widerstand die Deutschen ihre liebgewordene Mark demnächst ebenso abbauen, wie der Kampf gegen den Sozialab- „Euro" nennen müssen, und bei der Staatsverschul- bau seine nationale Basis einbüßt, die Politik ihre de- dung wird um zehntel Prozente gestritten, als ginge mokratische Bodenhaftung verliert und die blinde es um das höchste Glück der Europäischen Union. Ist Hand des Marktes endlich zum geheiligten Sach- es ein Wunder, daß diese Union die Menschen kalt zwang gesalbt wird. äßt? (Dr. Friedbert Pflüger [CDU/CSU]: Sind Sie Aber die Kehrseite besteht nicht nur da rin, daß denn für oder gegen Euro? - Dr. Helmut diese Politik mit massivem Sozialabbau und Verar- Haussmann [F.D.P.]: Gegen! Gegen!)-l mung einhergeht, nein, viel schlimmer wird sein, daß das Gespenst des Nationalismus nach Europa zu- - Ich habe eben gesagt: Wir wünschen uns, daß un- rückkehrt. Ich will nicht so weit gehen wie der Herr ser Nein zu Maastricht durch das Handeln der Regie- Bundeskanzler, der im Falle eines Scheiterns der rung, und zwar nicht nur durch verbale Absichtser- europäischen Integration schon die Kriegsgefahr an klärungen, sondern durch konkrete Schritte, in ein die Wand malt, aber eines ist sicher: Die sozialen Ja zu Maastricht II umgewandelt werden kann. Verwerfungen und die Einbrüche des Mittelstandes werden einerseits einen neuen Protektionismus her- (Friedrich Merz [CDU/CSU]: Sind Sie dafür aufbeschwören und andererseits die nationalen Lei- oder dagegen? Sie haben die Frage nicht denschaften gegeneinander aufwiegeln. beantwortet!) Wir wenden uns auch gar nicht gegen Kriterien. Insofern ist der Aktionstag der Kolleginnen und Volkswirtschaften, die sich sozial und ökonomisch Kollegen vom Bau, und zwar der deutschen wie der zusammenschließen wollen, brauchen Kriterien und ausländischen Kolleginnen und Kollegen, der heute vergleichbare Bedingungen, unter denen sie zukünf- stattfindet, ein aktiver Beitrag zur Verhinderung des tig zusammenarbeiten wollen. Insofern sagen wir Nationalismus, der zu befürchten ist, wenn die einen nicht nein zu Konvergenzkriterien. Wir fordern, daß Volkswirtschaften gegen die anderen ausgespielt soziale Kriterien genauso wie die Währungskriterien werden sollen. in den Katalog aufgenommen werden. Denn aus- (Beifall bei der PDS) schließlich moneta ristische Vorgaben reichen eben nicht, um die Bevölkerung von der Sinnfälligkeit ei- Die Grundlagen dafür sind bereits gelegt. ner europäischen Integration zu überzeugen. 54 Prozent der deutschen Bevölkerung lehnen die Währungsunion ab. In anderen Ländern sind es nicht Mir drängt sich bei der bisherigen Diskussion der weniger, eher mehr. Das werden all die beobachten Gedanke auf - und zwar frei nach Goethes Bild aus können, die sich innerhalb Europas in Diskussionen dem „Erlkönig" -: Er erreicht das Haus mit Müh und über dieses Thema befinden. Hinter dem allgemei- Not, das Kind in seinen Armen war tot. nen Desinteresse an Europa baut sich ein Unbeha- Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 96. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. März 1996 8579

Manfred Müller (Berlin) gen auf, das schnell in nationale Eigenbrötelei und ten, um technokratische Details, es geht um nicht Schlimmeres umschlagen kann. weniger und um nicht mehr als um die ökonomische, technologische, kulturelle und nicht zuletzt politische Gerade wir in Deutschland sollten nicht vergessen Selbstbehauptung der Europäer am Ende dieses haben, was in einem Land droht, das seinen sozialen Jahrhunderts. Wir müssen endlich die globale Di- Frieden verliert, was geschehen kann, wenn die mension der Herausforderung begreifen, vor der un- Menschen das Gefühl bekommen, sie würden zum ser kleiner Kontinent steht. Spielball internationaler Marktkräfte. Es ist manchmal ganz hilfreich, aus der Perspek- Dieses Gefühl wird um so stärker werden, je mehr tive der sich entwickelnden großen Wirtschaftszen- sich die Politiker hinter die scheinbaren Sachzwänge tren dieser Welt auf Europa zu blicken, und da lacht des Marktgeschehens zurückziehen und Massenar- man sich, glaube ich, etwas in die Tasche, wenn man beitslosigkeit wie ein Naturgesetz hinnehmen. Das nicht merkt, wie kleinkariert manche Debatten bis- ist auch ein Demokratieproblem; denn die parlamen- weilen sind, die wir auch im Hinblick auf die Regie- tarische Demokratie verliert ihre Legitimation vor rungskonferenz führen. den Menschen, wenn sie sich hinter den Zwängen des Marktes oder demnächst hinter den europäi- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU - schen Institutionen versteckt. Wenn diese Regierung Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das nicht in der Lage ist, die den Menschen unter den muß ausgerechnet heute ein Regierungsver Nägeln brennenden Probleme auf die europäische treter behaupten!) Tagesordnung zu setzen, dann beschädigt sie nicht Denn die Europäer haben doch längst in vielerlei nur ihr eigenes Ansehen, sondern setzt auch die Inte- Hinsicht Vorsprünge verloren. Wir werden deshalb gration und letztlich die europäische Demokratie alles daran setzen müssen, Europa für die Zukunft fit aufs Spiel. zu machen, wenn wir Frieden, Stabilität und Wohl- Die Wirtschafts- und Währungsunion muß der stand auf unserem Kontinent dauerhaft sichern wol- europäischen Bevölkerung einen Zugewinn an sozia- len. ler Sicherheit, an demokratischer Mitwirkung und (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Wieder Aussicht auf einen sicheren Arbeitsplatz bringen. nur Sprechblasen!) Sonst wird sie keine Zukunft haben. Da können Sie noch so sehr Ihre Marktideologie bemühen und den Deshalb, liebe Kollegen, müssen wir den Binnen- Menschen versprechen, daß das von Ihnen entwor- markt bewahren, stärken und vollenden, nicht zu- fene Europa diese Hoffnungen erfüllen wird - es letzt dadurch, daß wir unter strikter Wahrung der nimmt Ihnen inzwischen keiner mehr ab. Konvergenzkriterien und des Zeitplans die Wäh- rungsunion realisieren. (Beifall bei der PDS) Übrigens, Herr Sterzing, hat der Binnenmarkt in Wenn der gegenwärtige Integrationsprozeß nicht erheblichem Maße in den letzten Jahrzehnten Ar- durch ein europäisches Sozialmodell ergänzt wird, beitsplätze geschaffen und gesichert und unseren dann wird er keine Mehrheit in der Bevölkerung fin- Wohlstand ermöglicht. Sein Verlust wäre eine Kata- den. strophe für Arbeitsplätze und Wohlstand, und zwar - auf lange Sicht. Vizepräsident Hans Klein: Die Redezeit! (Dr. Helmut Haussmann [F.D.P.]: Natürlich!)

Manfred Müller (Berlin) (PDS): Und wenn der haus Deshalb müssen wir die Handlungsfähigkeit Europas halts- und finanzpolitische Stabilitätspakt nicht stärken und die gemeinsame Außen- und Sicher- durch soziale Mindeststandards erweitert wird, dann heitspolitik effizienter, effektiver und sichtbarer ma- bleibt nichts mehr, was dieses Europa für die Mehr- chen. Es darf nicht sein, daß bei Krisen und Kon- heit der Menschen erstrebenswert macht. Deshalb flikten auf unserem Kontinent immer wieder in noch einmal: Die PDS sagt ja zu Europa, sie sagt Washington angerufen werden muß, nur weil Europa auch ja zu Kriterien, aber zu den Kriterien gehören nicht in der Lage ist, mit einer Stimme zu sprechen, auch soziale Kriterien. geschweige denn, gemeinsam zu handeln Danke schön. (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) (Beifall bei der PDS) Deshalb müssen wir auch die große Herausforde- rung bei der Bekämpfung der organisierten interna- Vizepräsident Hans Klein: Ich erteile das Wort dem tionalen Kriminalität ebenso wie bei der Bewälti- Staatsminister im Auswärtigen Amt Dr. Werner gung der Migrationsprobleme in Europa endlich ge- Hoyer. meinsam und solidarisch annehmen. Und deshalb müssen wir die Union, die ursprünglich für eine ziemlich gemütliche Gemeinschaft von sechs Mit- Dr. Werner Hoyer, Staatsminister im Auswärtigen gliedern konzipiert wurde, institutionell auf die Ö ff- Amt: Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und nung für die süd- und mittelosteuropäischen Bei- Kollegen! Worum geht es eigentlich bei dieser Regie- trittskandidaten vorbereiten und die demokratische rungskonferenz, worum geht es bei der Währungs- Legitimität europäischen Handelns stärken. union und bei den anderen großen Weichenstellun- gen, die am Ende dieses Jahrhunderts fällig sind? Vor allem aber - insofern stimme ich manchen Vor- Doch sicherlich nicht um institutionelle Nichtigkei- rednern zu - dürfen wir den Fehler des Prozesses im 8580 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 96. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. März 1996 Staatsminister Dr. Werner Hoyer Vorfeld von Maastricht diesmal nicht wiederholen. Voraussetzung bleiben wird. Aber auch im Bereich Ich bedaure ja, daß dieser hervorragende Vertrag der Verteidigung brauchen wir Fortschritte hin zu von Maastricht dadurch belastet wird, daß sich die unserem Ziel, die Integration der WEU in die EU zu Kritik zwar nicht an der Substanz, aber doch am Ver- erreichen. fahren orientiert. (Dr. Jürgen Meyer [Ulm] [SPD]: Wann kom (Dr. Helmut Haussmann [F.D.P.]: Deshalb men Sie zum Thema? - Heidemarie Wieczo hat die SPD auch zugestimmt!) rek-Zeul [SPD]: Das Thema Beschäftigung Wir müssen die Bürger von Anfang an in den Prozeß haben wir jetzt!) einbeziehen und uns den Problemen zuwenden, bei denen die Bürger europäisches Handeln verlangen, - Sie haben mir konkrete Fragen gestellt, welche aber auch das zurückdrängen und von der europäi- Schwerpunkte wir für die Regierungskonferenz set- schen Ebene zurückholen, was auf nationaler, regio- zen. Genau diese Frage beantworte ich Ihnen ge- naler oder lokaler Ebene geregelt werden kann. rade. Deshalb sage ich Ihnen das, was wir wollen. Dann werde ich Ihnen allerdings auch das sagen, um Von europapolitischer Geheimniskrämerei kann Sie auch in dieser Angelegenheit zu befriedigen, was hier nun überhaupt keine Rede sein. Wir stellen uns wir nicht wollen; denn das ist ein sehr wichtiges nicht nur jederzeit dieser Diskussion, wir stoßen sie Thema. auch an. Im Vergleich zum Maast richter Prozeß ha- ben wir hier bereits einen ganz gewaltigen Fo rt Drittens. In der Justiz- und Innenpolitik müssen -schritt gemacht. Das Interesse der Bürgerschaft, das wir unsere Kräfte bündeln. Nur dann können wir der Interesse der Verbände, der Unternehmen, der Ar- Kriminalitätsbekämpfung den notwendigen Nach- beitnehmerorganisationen, der Kirchen ist ja da. Wir druck verschaffen und die Migrationsprobleme lö- können es kaum noch zeitlich schaffen, den vielen sen. Dazu gehört dann allerdings auch neben der Anfragen gerecht zu werden. Vergemeinschaftung der Visapolitik und des Asyl- rechts sowie der Zollzusammenarbeit, daß wir die Die Bundesregierung hat sich fünf Hauptziele für Kommission, das Europäische Parlament und vor al- die Regierungskonferenz gesetzt: len Dingen den Europäischen Gerichtshof deutlich Erstens. Die Union muß bürgernäher und transpa- stärker beteiligen. renter, die demokratischen Strukturen müssen ver- bessert werden. Wir streben unter anderem ein Zu- Viertens. Wir müssen die Institutionen so reformie- satzprotokoll an, das auf der Basis der Beschlüsse des ren, daß wir die Integrationsaufgabe bewältigen. Europäischen Rates von Edinburgh eine konse- Fünftens. In einer zunehmend heterogenen Union quente Durchsetzung des Subsidiaritätsprinzips ge- müssen wir Mitgliedstaaten, die dazu in der Lage währleisten soll. Außerdem müssen wir eine deutli- sind und die dies wünschen, die Möglichkeit einer che Stärkung des Europäischen Parlaments vor allem verstärkten Zusammenarbeit eröffnen. Dazu haben durch Ausweitung des Bereichs der Mitentscheidung Bundeskanzler Kohl und Staatspräsident Chirac ge- erreichen. meinsam die Einführung einer allgemeinen Flexibili- (Heidemarie Wieczorek-Zeul [SPD]: Das sierungsklausel in den Vertrag vorgeschlagen. sagten Sie schon im Dezember! Was gibt- es Neues?) Dabei muß der einheitliche institutionelle Rahmen gewahrt bleiben; zunächst zögernde Mitglieder müs- Ich kann im übrigen, Frau Kollegin, den Streit um sen sich anschließen können. Damit stellen wir die die Abwägung zwischen den Interessen des Europäi- Fähigkeit der erweiterten Union, auch künftig auf schen Parlaments und der nationalen Parlamente dem Weg der Integration fortzuschreiten, sicher. nicht ganz nachvollziehen, weil es in der Logik der europäischen Strukturen steckt, daß in den verschie- (Abg. Petra Bläss [PDS] meldet sich zu einer denen Säulen des europäischen Einigungswerkes Zwischenfrage) unterschiedliche parlamentarische Absicherungen erforderlich sind, wenn wir demokratische Legitimi- tät stärken wollen. Vizepräsident Hans Klein: Herr Staatsminister, ge- statten Sie eine Zwischenfrage? (Heidemarie Wieczorek-Zeul [SPD]: Das ist Ihre Rede vom Dezember!) Zweitens. Im Bereich der Außen- und Sicherheits- Dr. Werner Hoyer, Staatsminister im Auswärtigen politik müssen Effizienz, Kohärenz, Sichtbarkeit, Amt: Nein, ich möchte jetzt keine Zwischenfrage zu- Kontinuität und Solidarität deutlich erhöht werden. lassen. Normalerweise immer, aber jetzt haben Sie mir Fragen gestellt, und die beantworte ich im Zu- Hierzu gehört unter anderem der Übergang zu Mehr- sammenhang. heitsentscheidungen. Wir müssen uns aus der Zwangsjacke des Einstimmigkeitserfordernisses be- (Dr. Helmut Haussmann [F.D.P.]: Richtig!) freien. (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Die beste Medizin gegen das Übel der Arbeitslo- sigkeit, meine sehr verehrten Damen und Herren - Das ändert nichts daran, daß für die Entsendung von um endlich zu dem Thema zu kommen, das Ihnen Truppen und ähnliche Fragen weiterhin die Zustim ebenso wie uns am Herzen liegt -, ist die Stärkung mung der entsendenden Staaten selbstverständlich der Wettbewerbsfähigkeit durch Anpassung der Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 96. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. März 1996 8581

Staatsminister Dr. Werner Hoyer Strukturen als Vorbedingung für ein nachhaltiges fessor Meyer, gewissermaßen „Keynes durch die Wachstum. Hintertür" zu betreiben, indem wir in Brüssel milliar- denschwere Beschäftigungsprogramme auflegen, die (Dr. Helmut Haussmann [F.D.P.]: Ja! Natür die der Arbeitslosigkeit zugrunde liegenden Struk- lich!) turprobleme in den einzelnen Mitgliedsländern nicht Auf europäischer Ebene stellen hierfür die Vollen- lösen können, andererseits aber die strukturellen dung des Binnenmarktes und der fristgerechte Ein- Schwächen unserer Volkswirtschaften und unsere tritt in die dritte Stufe der WWU bei strikter Einhal- Budgetprobleme verschärfen. tung der Konvergenzkriterien wichtige Rahmenbe- dingungen dar. (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. und der CDU/CSU) (Dr. Helmut Haussmann [F.D.P.]: Das ist das Entscheidende! Natürlich!) Meine Damen und Herren, wir müssen uns darauf konzentrieren, die Binnenmarktfähigkeit unserer na- Ich bin nicht der Auffassung, daß wir ein eigenes Ka- tionalen Volkswirtschaften zu erhöhen, müssen für pitel zur Beschäftigungspolitik in den Maastrichter die Unternehmen bürokratische und finanzielle Hin- Vertrag einarbeiten sollten, und das aus drei Grün- dernisse reduzieren und die Belastungen reduzieren, den: Erstens ist es nicht wahr, daß die Europäische die in Deutschland wie in Europa viele Unternehmer Union heute ohne ein solches Extrakapitel im EU- eher zu Unterlassern machen. Hier könnten wichtige Vertrag im Bereich Beschäftigung nichts leistet. Das Beiträge zur Gewährleistung der globalen Wettbe- Gegenteil trifft zu. werbsfähigkeit Europas - um die geht es - geleistet (Heidemarie Wieczorek-Zeul [SPD]: Die werden. So und nicht durch die Formulierung voll- Zahlen sprechen wirklich anderes!) mundiger neuer Zielvorgaben, die auch unter dem Gesichtspunkt der Kompetenzverteilung in Europa Praktisch alle Mittel, Frau Kollegin, die in den großen nicht auf die Brüsseler Schiene gehören, können wir Gemeinschaftsbudgets zur Struktur-, Regional- und in Europa und in Deutschland die Beschäftigungssi- Agrarpolitik eingesetzt werden, sind in höchstem tuation, die uns allen am Herzen liegt, verbessern. Maße beschäftigungswirksam. Herzlichen Dank. (Dr. Helmut Haussmann [F.D.P.] zur Abg. Heidemarie Wieczorek-Zeul [SPD]: Natür (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU - lich, das wissen Sie auch! - Heidemarie Dr. Helmut Haussmann [F.D.P.]: Eine sehr Wieczorek-Zeul [SPD]: Die Zahlen sprechen gute Rede! - Heidemarie Wieczorek-Zeul eine andere Sprache! Dann ist etwas mit [SPD]: So was von substanzlos!) der Politik falsch!)

Zweitens. Die Einfügung eines Beschäftigungska- Vizepräsident Hans Klein: Das Wort hat Kollege pitels in den Maastrichter Vertrag würde die Verant- Ottmar Schreiner. wortung der Mitgliedstaaten für die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit auf Brüssel abschieben. Wir wür- den riskieren, erst die Erwartung zu wecken, Brüssel (SPD): Herr Präsident! Nach - Ottmar Schreiner werde es schon richten, dann mit Blick auf Brüssel in dieser lustlos heruntergeleierten Rede des Staats- den jeweiligen nationalen Anstrengungen um eine ministers Hoyer wird es jetzt ein bißchen munterer. Verbesserung der Beschäftigungslage nachzulassen und schließlich die Verantwortung für nicht erfüllte (Beifall bei der SPD und der PDS - Wider Erwartungen wieder auf Brüssel schieben zu kön- spruch bei der CDU/CSU und der F.D.P.) nen. Von seiten der Koalitionsfraktionen habe ich bis- (Dr. Helmut Haussmann [F.D.P.]: Wenn man lang zum eigentlichen Thema so gut wie nichts ge- seine Hausaufgaben nicht machen wi ll! - hört, Dr. Jürgen Meyer [Ulm] [SPD]: Wir erwar ten 20 Prozent Jugendarbeitslosigkeit!) (Leni Fischer [Unna] [CDU/CSU]: Nichts verstanden!) Der PDS-Kollege hat es klar gesagt. Das Stichwort lautet: Verstecken hinter europäischen Institutionen. auch nicht von Ihnen, Herr Haussmann. Sie haben Die einzelnen Mitgliedstaaten können ihre Beschäfti- sich darin erschöpft, die SPD zu beschimpfen, und gungsprobleme nicht dadurch lösen, daß sie sich Ali- der SPD Skepsis gegen Europa vorgehalten. bis verschaffen und sich selbst aus der Verantwor- tung stehlen. (Dr. Helmut Haussmann [F.D.P.]: Spöri!) (Heidemarie Wieczorek-Zeul [SPD]: Aber Es ist eine Unverschämtheit, Sie machen ja beides! Sie machen euro päisch nichts und zu Hause auch nichts! (Dr. Helmut Haussmann [F.D.P.]: Spöri!) Das ist das Problem!) einer Partei, die schon 1924, als Sie noch in Abra- Drittens. Die Koalitionsfraktionen sind sich einig hams Schoß lagen, die Vereinigten Staaten von Eu- mit der Bundesregierung, daß wir Beschäftigung ropa gefordert hat, Skepsis gegen Europa vorzuhal- nicht mit keynesianischen Methoden schaffen kön- ten. nen. Wir dürfen jetzt nicht dazu übergehen, Herr Pro- (Dr. Helmut Haussmann [F.D.P.]: Spöri!) 8582 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 96. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. März 1996

Ottmar Schreiner Es ist eine Unverschämtheit, wenn ausgerechnet Sie Ich sage noch einmal: auf knapp 200 Seiten eine jetzt kommen und der SPD Skepsis gegen Europa Fülle von Anregungen und Vorschlägen zur Verbes- vorhalten! serung der europäischen Infrastruktur, zur Verbesse- rung der Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmun- (Beifall bei der SPD und der PDS - gen, zur ökologischen Steuerreform bei gleichzeiti- Dr. Helmut Haussmann [F.D.P.]: Spöri!) ger Absenkung der Lohnnebenkosten - das ist ja das Daß es in der SPD kritische Diskussionen gibt, ist Lieblingsprojekt von Herrn Repnik, den ich im Mo- überhaupt nicht zu bestreiten, aber es gibt genauso ment nicht sehe. kritische Diskussionen etwa innerhalb der CDU/ CSU, wie es sie innerhalb der SPD gibt, und bei (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Er kommt schwierigen Problemen können kritische Diskussio- gleich wieder! - Günter Verheugen [SPD]: nen sogar förderlich sein. Er sichert gerade die Lohnnebenkosten!) (Dr. Helmut Haussmann [F.D.P.]: Spöri!) Ich will ihn aber gern zitieren, weil gesagt worden ist, wir täten nichts gegen die Absenkung der Lohn- Dritter Punkt. Es ist bemerkenswe rt, daß während nebenkosten. der gesamten Debatte hier kein einziger Bundesmi- nister anwesend ist, Herr Haussmann, die SPD-Fraktion ist die einzige (Zurufe von der CDU/CSU: Da oben!) Fraktion in diesem Hause, die eine Reihe von Vor- schlägen aus dem Weißbuch aufgegriffen und hier außer daß Herr Blüm sporadisch hier herumschleicht. im Parlament zur Diskussion gestellt hat. Aber während der gesamten Dauer anwesend ist hier kein Bundesminister gewesen. (Dr. Helmut Haussmann [F.D.P.]: Eine neue Steuer wollen Sie einführen!) (Beifall bei der SPD und der PDS - Zuruf von der CDU/CSU: Er schleicht doch nicht! - Peter Harald Rauen [CDU/CSU]: Er sitzt Ich will aus dem Konzept der Europäischen Kommis- zitieren, das Sie doch da!) sion zur ökologischen Steuerreform sogar unterschreiben könnten; aber es ist nicht mehr- heitsfähig in der Koalition. Es gibt einzelne, die ein- Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Schreiner, zelne Punkte durchaus für gut halten, aber die Koali- Sie haben den notwendigen Munterkeitsgrad herge- tion insgesamt blockiert sich gegenseitig und ist stellt, aber ich darf Sie auf folgendes hinweisen: Der nicht handlungsfähig. Kollege Blüm sitzt in der Tat auf der Regierungs- bank. In dem Weißbuch heißt es:

Wir haben heute in der Gemeinschaft ein Ent- (SPD): Das kann erst in jüngster Ottmar Schreiner wicklungsmodell, das Arbeit und Natur, zwei un- Zeit erfolgt sein, denn überwiegend ist er - - serer Hauptressourcen, suboptimal kombiniert. (Lachen bei der CDU/CSU und der F.D.P.: Das Modell ist gekennzeichnet durch eine unge- Nein! - Günter Verheugen [SPD]: Vorhin nügende Nutzung der Arbeitsressourcen und geisterte er durch die Reihen!) eine übermäßige Nutzung natürlicher Ressour- cen und führt zu einer Verschlechterung der Le- - Regen Sie sich ab! bensqualität.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bin sehr Das genau ist der analytische Hintergrund für das dankbar für die Debatte. Diese Debatte war längst Konzept einer ökologischen Steuerreform: den Fak- überfällig. Es ist ein schweres parlamentarisches Ver- tor Arbeit von Kosten entlasten, die Lohnnebenko- säumnis - ich meine das durchaus auch selbstkri- sten absenken und gleichzeitig den übermäßig ge- vom tisch -, daß das Weißbuch der EG-Kommission nutzten Faktor Energie verteuern. Dezember 1993 „Wachstum, Wettbewerbsfähigkeit und Beschäftigung" in diesem Parlament so gut wie (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Aber doch nicht diskutiert worden ist. Das Weißbuch der Euro- nicht im Alleingang, sondern europaweit!) päischen Kommission enthält auf knapp 200 Seiten eine Fülle von Anregungen und Vorschlägen, wie in- nerhalb der Europäischen Union angesichts von jetzt - Wo ist denn die Initiative der Bundesregierung, knapp 20 Millionen arbeitslosen Menschen die Mas- dies europaweit zu machen? senarbeitslosigkeit bis zum Jahr 2000 halbiert wer- den könnte. Das war die Zielvorgabe der Europäi- Es gibt inzwischen eine ganze Reihe von Mit- schen Union. Der eigentliche Skandal besteht da rin, gliedsländern, etwa Dänemark, die das Konzept ei- daß die Bundesregierung, wiewohl sie das Weißbuch ner ökologischen Steuerreform auf nationaler Ebene mit unterschrieben hat, nicht einen einzigen Vor- umgesetzt haben, ohne daß dort ein einziger Arbeits- schlag aus diesem Weißbuch aufgegriffen und in platz verlorengegangen ist. Die Ergebnisse sind um- eine nationale oder europäische Initiative umgesetzt gekehrt. Nach allem, was uns bescheinigt wird, hat hat. Nicht einen einzigen Vorschlag! die Umsetzung des Konzepts zu Beschäftigungszu- wächsen geführt. Niemand würde Sie daran hindern, (Beifall bei der SPD) auf der nationalen Ebene tätig zu werden und auf Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 96. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. März 1996 8583 Ottmar Schreiner der europäischen Ebene Initiativen zu ergreifen. Deutschland, den erreichten europäischen Fo rt Nichts dergleichen ist bislang geschehen. -schritt, Binnenmarkt 1992 - damit verbunden sind Freizügigkeit für Kapital, für Dienstleistungen und (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne für Arbeitnehmer -, für Ziele zu mißbrauchen, die auf ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN - der nationalen Ebene nicht durchsetzbar oder längst Friedrich Merz [CDU/CSU]: Was hält denn überwunden waren. sol- Herr Schröder davon?) Lohn- und Sozialdumping len nämlich den fairen Interessenausgleich zwischen Meine Damen und Herren, wenn es angesichts von Kapital und Arbeit aushebeln, die Tarifautonomie soll 20 Millionen Arbeitslosen nicht gelingt, neben der auf Perspektive abgeschafft werden und die Arbeit- Währungsunion gleichberechtigt eine europäische nehmer in die hilflosen Abhängigkeiten des vorigen Beschäftigungs- und Sozialunion zu initiieren, dann Jahrhunderts zurückgeführt werden. Das läßt sich an wird der europäische Integrationsgedanke an Strahl Originalzitaten von Graf Lambsdorff und anderen kraft verlieren, und nationalistische Bestrebungen führenden Koalitionspolitikern belegen. und Neigungen werden Auftrieb erhalten. Das ist die eigentliche Gefahr, der eigentliche Sprengstoff, der Meine Damen und Herren, der klassische Bei- sich hinter diesen Problemen verbirgt. Je mehr Sie spielsfall für diese Entwicklung ist das Trauerspiel die Beschäftigungspolitik an den Rand drängen, um um eine Entsenderichtlinie, um Lohn- und Sozial- so stärker befördern Sie Renationalisierungstenden- dumpingprozesse in Deutschland zurückzuführen. zen in Europa. Ich sage Ihnen: Eine Politik dieser Art fördert antieu- ropäische Ressentiments, legt die Axt an die Wurzeln Dritter Punkt. Wer das europäische Integrations- des europäischen Integrationsgedankens und beför- projekt will - wir wollen es -, der muß dafür sorgen, dert letztlich nationalistische Nostalgien. daß die Vorteile der Integration allen Bürgerinnen und Bürgern stärker als bisher zugute kommen. (Beifall bei der SPD und der PDS) Kaum eine Regierung in Europa tut sich schwerer bei Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Schreiner, der Umsetzung der wenigen sozialpolitisch motivier- gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen ten Richtlinien der EU-Kommission als die deutsche Schauerte? Regierung. (Heidemarie Wieczorek-Zeul [SPD]: So ist Ottmar Schreiner (SPD): Ja, wenn sie sinnvoll ist. es!)

Hartmut Schauerte (CDU/CSU): Ich will mir Mühe Es gibt im wesentlichen zwei Wege, den europäi- geben, Herr Kollege. schen Integrationsgedanken fortzusetzen. Der eine Weg ist die von großen Teilen der Koalition favori- Gerhard Schröder als Ministerpräsident von Nie- sierte marktradikale Va riante, ein hemmungsloser dersachsen ist Ihr wirtschaftspolitischer Sprecher. Er Konkurrenzkampf der europäischen Volkswirt- erklärt genau das, was Sie hier vorschlagen, nämlich schaften, der zu Lasten der erreichten sozialen und diese Art von ökologischer Steuerreform, sei zur Zeit ökologischen Standards geht. Ich sage Ihnen: Wenn nicht geboten; im Gegenteil, man müsse sie ver- dies der Weg ist, werden alle verlieren, und die Ak- tagen, weil sie arbeitsplatzvernichtende- Wirkung zeptanz der Bürgerinnen und Bürger für den euro- habe. päischen Integrationsgedanken wird atemberaubend zurückgehen. (Ulrich Schmalz [CDU/CSU]: Auch Herr Beck sagt das!) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Ist das nun der wirtschaftspolitische Sprecher der Den anderen Weg hat Jacques Delors beschrie- SPD, und wofür sprechen Sie? ben. Ich zitiere ihn: (Dr. Helmut Haussmann [F.D.P.]: Gute Ein sozialer Fortschritt ohne wi rtschaftlichen Er- Frage!) folg ist nicht möglich. Aber es gibt auch keinen wirtschaftlichen Reichtum ohne sozialen Zusam- Ottmar Schreiner (SPD): Die Frage war nicht son- menhalt. derlich sinnvoll. Ich will Ihnen die Antwort aber gern geben. Das heißt: ohne hinreichende soziale und ökologi- sche Standards in Europa. Wir brauchen vernünftige Ihr Fraktionsvorsitzender Schäuble ist nach dem, Rahmenbedingungen im sozialen und im ökologi- was ich weiß, gemeinsam mit dem stellvertretenden schen Bereich. Die Bundesregierung hat bislang Fraktionsvorsitzenden Repnik für eine ökologische nicht eine einzig brauchbare Initiative auf europäi- Steuerreform, Ihr Bundeskanzler Kohl ist dagegen. scher Ebene ergriffen. Ist Herr Kohl Ihr Bundeskanzler und Herr Schäuble Ihr Fraktionsvorsitzender? - Setzen! (Beifall bei der SPD) (Beifall bei der SPD und der PDS) Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zum Schluß noch einige Bemerkungen zur Währungs- Meine Damen und Herren, die Beschäftigungs- union machen. und Sozialpolitik war bislang ein Stiefkind der euro- päischen Integration. Schlimmer noch: Verantwor- (Zuruf des Abg. Dr. Helmut Haussmann tungslose konservative Politiker versuchen in [F.D.P.]) 8584 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 96. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. März 1996

Ottmar Schreiner - In der Debatte geht es um die Beschäftigungspoli- mich kennt, weiß, daß ich ein großer Verfechter der tik. Die Währungsunion hat aber mit Beschäftigungs- sozialen Dimension des Binnenmarktes bin. politik zu tun. Ich weiß, daß ich hier auf gefährlichem (Zuruf von der SPD: Davon spürt man aber Eis bin. Es sind in den letzten Monaten Besorgnisse laut geworden, daß die Konvergenzkriterien von nichts!) Maastricht rezessive Tendenzen befördern und zu ei- Ich befinde mich damit in sehr guter Gesellschaft, nem weiteren Anstieg der Arbeitslosigkeit führen. denn es war gerade der Herr Bundeskanzler, der im- Wenn der Preis der Währungsunion oder der Kon- mer diese Philosophie vertreten hat und während der struktion der Währungsunion ein weiterer Anstieg deutschen Ratspräsidentschaft 1987 die Initiative für der Arbeitslosigkeit wäre, dann wären immer weni- eine engagierte europäische Sozialpolitik ergriffen ger Bürgerinnen und Bürger bereit, diesen Preis zu hat. Die Entschließung des Rates vom Dezember zahlen. Genau aus diesem Grunde ist eine europäi- 1994 zu den Perspektiven der europäischen Sozialpo- sche Beschäftigungspolitik, gerade wenn man die litik geht auf deutsche Initiative zurück. Insofern ist Währungsunion halten will, völlig unverzichtbar. die soziale Dimension des Binnenmarktes Europa keineswegs von der SPD gepachtet, sondern geht (Beifall bei der SPD) maßgeblich auf die Initiative dieser Bundesregierung Wenn Sie diese Zusammenhänge nicht begreifen zurück. wollen, dann tun Sie mir leid, dann gehen Sie nach Nun betrifft europäische Sozialpolitik äußerst sen- Baden-Württemberg, Herr Haussmann, und füllen sible Bereiche. Wenn wir uns einmal die Beschäfti- dort die Säle mit drei Leuten und halten haltlose gungspolitik ansehen, so stellen wir fest, daß das Be- Kampfreden gegen die SPD. reiche sind, die in ganz besonderem Maße vom natio- (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE nalen Umfeld und von der nationalen Gestaltung ab- GRÜNEN und der PDS) hängen. Welche Maßnahmen jeweils tatsächlich wirksam zur Schaffung von Arbeitsplätzen führen, Sie haben offenkundig von der Sache und den not- hängt eben von den nationalen Wi rtschaftsstrukturen wendigen Sachzusammenhängen nichts beg riffen. ab, aber auch von der traditionellen Ausrichtung der nationalen Arbeitsmarktpolitik und der jewei ligen Die Frage ist, ob die Bundesregierung die Initiative Innovationskraft der Wirtschaftsstrukturen in den der schwedischen Regierung unterstützt, ein eigenes einzelnen Mitgliedstaaten. Beschäftigungskapitel in den Maastrichter Vertrag aufzunehmen. Die Frage ist, ob die Koalitionsfraktio- (Vorsitz : Vizepräsidentin Dr. Antje Voll nen den Vorschlag des Europäischen Parlamentes mer) unterstützen, Dabei wissen gerade wir, daß Sozialpolitik natür- (Heidemarie Wieczorek-Zeul [SPD]: Mit den lich in ganz besonderer Weise mit europäischen, zum Stimmen der CDU/CSU!) Teil auch weltweiten Zusammenhängen verflochten ist. Keiner kann heute isoliert Arbeitsmarktpolitik be- der da lautet, ähnlich wie bei der Fiskal- und Geldpo- treiben. Die Frage ist aber, wie wir das ins Werk set- litik, die in einem Währungsausschuß der EU koordi- zen. Eine Kontrolle der europäischen Beschäfti- niert wird, soll es einen Beschäftigungsausschuß ge- gungspolitik und des Verhaltens der Mitgliedstaaten ben, der die nationalen Beschäftigungspolitiken- ko- durch die Europäische Kommission wäre keineswegs ordiniert und miteinander abstimmt. Stimmt die Bun- das richtige Koordinierungsinstrumentarium, wie die desregierung diesen pragmatischen Vorschlägen zu? SPD das meint. Vielmehr sind eine Kohärenz der na- Ja oder nein? Wie stehen die Koalitionsfraktionen tionalen Beschäftigungspolitiken auf der einen Seite dazu? Wir werden Sie in den kommenden Monaten und eine Kohärenz der Wirtschafts- und Arbeits- mit diesen Fragen taktieren. Dann wird es nicht aus- marktpolitiken auf der anderen Seite notwendig. reichen, wenn ein Staatsminister oder ein Staatsse- kretär höchst langweilige Reden hält, um vom Aus gutem Grund steht das Weißbuch auf europäi- Thema abzulenken. scher Ebene nicht nur für das Thema Beschäfti- gungspolitik, sondern heißt „Weißbuch für Wachs- Meine Damen und Herren, angesichts der dramati- tum, Wettbewerbsfähigkeit und Beschäftigung". In schen Beschäftigungskrise brauchen wir eine Neu- der Wirtschaftspolitik haben wir doch gezeigt, daß orientierung der europäischen Integra tionspolitik. wir den richtigen Weg gehen können. Wir haben Die Neuorientierung - das haben die Reden der Koa- eine Abstimmung der nationalen Wirtschaftspoliti- lition heute gezeigt - ist nur mit einer neuen Bundes- ken zur Vorbedingung der Wirtschafts- und Wäh- regierung möglich. rungsunion gemacht. Genauso müssen wir es in der Arbeitsmarkt- und der Beschäftigungspolitik tun. Schönen Dank. Das aktive Zusammenwirken der einzelnen Mitglied- (Beifall bei der SPD und der PDS) staaten ist maßgeblich. Meine Damen und Herren, die europäischen Bür- ger haben mehr als genug an juristischen Texten. Vizepräsident Hans Klein: Frau Kollegin Dr. Susanne Tiemann, Sie haben das Wo rt. Weder Bestimmungen zur Beschäftigungspolitik im Vertrag über die Europäische Union noch neue Weiß- bücher, noch sogenannte soziale Grundrechte, noch Dr. Susanne Tiemann (CDU/CSU): Herr Präsident! weitere Chartas werden einen einzigen Arbeitsplatz Meine sehr geehrten Damen und Herren! Jeder, der schaffen. Wir brauchen keine Programmsätze, die Er- Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 96. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. März 1996 8585 Dr. Susanne Tiemann wartungen erwecken, welche dann nicht erfüllt wer- macht, daß die Bundesregierung nicht gewillt ist, sol- den können, sondern das gemeinsame tatsächliche cherart Sonntagsreden Taten folgen zu lassen. Bemühen der Mitgliedstaaten um Beschäftigung in Europa. (Beifall bei der PDS sowie bei Abgeordne ten der SPD - Heidemarie Wieczorek-Zeul Der Rat von Essen hat doch gerade auf Grund maß- [SPD]: Was gilt denn jetzt, Herr Hoyer? geblich deutscher Initiative entsprechende konkrete Kann man das einmal wissen? Können Sie Aufträge erteilt. Es ist angesichts dieses konstrukti- sagen, ob Sie das mit aufnehmen oder ven Maßnahmenpakets zum Ausbau der Berufsbil- nicht? - Weiterer Zuruf von der SPD: In der dung, zur Einführung flexibler Arbeitsformen, stabili- Bundesregierung spricht man nicht mitein tätsbezogener Lohnpolitik und Förderung lokaler ander!) Beschäftigungsinitiativen vollkommen uneinsichtig, wie die SPD zur Annahme des Fehlens gemeinsamer Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat europäischer Anstrengungen in der Beschäftigungs- jetzt die Abgeordnete Leyla Onur. politik kommen kann. Leyla Onur (SPD): Frau Präsidentin! Meine lieben Wir wollen keine weiteren Regelungen und Regle- Kolleginnen und Kollegen! Sie werden sich wun- mentierungen, die zur Lähmung nationaler Kompe- dern: Ich gebe dem Kollegen Haussmann - er ist lei- tenzen sowie nationaler Aktivitäten führen würden. der nicht mehr da - zu Beginn meiner Rede in zwei Wir wollen mehr Initiative und mehr Solidarität der Punkten recht. Mitgliedstaaten. Wir wollen, daß sich die Mitglied- staaten auf Grund dieser Initiative einbringen - (Ottmar Schreiner [SPD]: Er ist Suppe nicht, weil es der Vertrag so vorschreibt oder weil es essen!) eine neue Bestimmung so vorsieht, sondern weil sie selbst eingesehen haben, daß gewaltige eigene An- Zum einen hat er gefordert, daß endlich die Emp- strengungen erforderlich sind. fehlungen des Delors-Weifibuches umgesetzt wer- den mögen. Recht hat Herr Haussmann. Er hat diese Eine solche konzertierte Aktion ist in Europa, Forderung allerdings nicht an die Opposition gerich- auch wenn Sie das nicht wahrgenommen haben soll- tet, sondern - hoffentlich richtigerweise - an Herrn ten, meine Damen und Herren, in vollem Gange. Wir Waigel, an die Regierungsbank. Nur, zu diesem Zeit- punkt war dort alle sollten die Bundesregierung auf diesem richtigen niemand anwesend, der diese wich- Weg, den sie eingeschlagen hat, weiterhin tatkräftig tige Forderung einmal hätte zur Kenntnis nehmen unterstützen. können. Ich gebe ihm in noch einem Punkt recht: Europa- Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. debatten im Deutschen Bundestag werden von den Nachbarn aufmerksam verfolgt. - In der Tat, meine (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. - lieben Kolleginnen und Kollegen, Sie werden sehr Zuruf von der SPD: Das muß eine geheime aufmerksam verfolgt. Deshalb ist es ein falsches, ge- Aktion sein! Die kennt keiner!) fährliches Signal, wenn in den Europadebatten, die - im November und im Dezember stattgefunden haben und auch heute stattfinden, das Thema Beschäfti- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Zu einer Kurz- gungs- und Sozialpolitik konsequent von der Regie- intervention jetzt die Kollegin Petra Bläss. rungsmehrheit ausgegrenzt wird. (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS - Friedrich Merz Petra Bläss (PDS): Frau Kollegin Dr. Tiemann, am [CDU/CSU]: Das ist doch Quatsch!) 11. März dieses Jahres hat die Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Frau Nolte, - Ich kann Ihnen das nachweisen. Sie brauchen nur vor dem Plenum der Nationalen Nachbereitungskon- die Protokolle der Bundestagsdebatten vom 8. No- ferenz der Vierten Weltfrauenkonferenz in Peking er- vember und vom 7. Dezember nachzulesen. In die- klärt - ich zitiere wörtlich -: sen Debatten hat sich der deutsche Bundeskanzler zu den europäischen Themen geäußert. Er hat die Bei der anstehenden Überarbeitung des bisheri- vier Punkte genannt, die Herr Hoyer eben noch ein- gen Vertragswerks der Europäischen Union ist es mal wiederholt, weil er meinte, die Wiederholung für mich von daher wichtig, die Förderung der mache es eindringlicher. Bei der ersten Rede des Chancengleichheit als ein Ziel für die Union im Bundeskanzlers im November war ich noch in dem EG-Vertrag zu verankern. Glauben, er habe die Beschäftigungs- und die Sozial- politik vergessen. So etwas kann auch einem Bun- deskanzler passieren. (Heidemarie Wieczorek-Zeul [SPD]: Aha!) Am 7. Dezember ist dann wohl jedem Mitglied in Ich denke, das von Herrn Staatsminister Hoyer vor- diesem Haus klargeworden, daß der Bundeskanzler getragene Fünf-Punkte-Schwerpunktprogramm für - er trägt ja die Verantwortung in dieser Revisions- die kommenden Verhandlungen, aber auch die De- konferenz - einen Fortschritt in der Beschäftigungs- battenbeiträge der Vertreterinnen und Vertreter der und Sozialpolitik gar nicht will. Sonst hätte er es ein- Koalitionsfraktionen haben einmal mehr deutlich ge mal ausdrücklich gesagt. Die heutige Debatte bestä- 8586 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 96. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. März 1996 Leyla Onur tigt nur noch einmal das, was ich nach der Debatte uns allen die soziale Dimension als höchste Priorität vom 7. Dezember vermutet habe. bei der europäischen Integration verkauft. Viel dar- aus geworden ist bis heute nicht; auch das müssen Meine Damen und Herren, in der Tat, unsere wir leider feststellen. Er hätte nun wieder Gelegen- Nachbarn beobachten sehr wohl, wie wir hier debat- heit, das fortzusetzen, was er vor Jahren angekün- tieren und was wir fordern. Wenn dann Herr Hoyer digt hat. Er hat sich damals als Lokomotive verstan- hier sagt, wir müssen die Bürger - er meint hoffent- den. Wahrscheinlich meinte er, er sei der Lokomotiv- lich auch die Bürgerinnen - einbeziehen, wir müssen führer gewesen. Inzwischen ist er zum Bremser ge- genau zuhören, was sie wollen, dann frage ich mich: worden, Mit welchen Bürgern und Bürgerinnen haben Sie ei- gentlich Kontakt? Mit wem haben Sie in den letzten (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Ch ri Jahren und Monaten eigentlich gesprochen? Sie neh- stian Sterzing [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] men doch wohl nicht an, daß das, was Sie für die Re- und Manfred Müller [Berlin] [PDS] - Zurufe visionskonferenz noch einmal vorgeschlagen haben, von der CDU/CSU: Was?) die Bürgerinnen und Bürger zufriedenstellt. In den was die soziale Dimension bet rifft. Darüber reden wir Diskussionen, die ich mit Gewerkschaftsvertretern, heute. Wir reden nicht über die anderen Forderun- mit Betriebsräten, mit Arbeitnehmern und Arbeit- gen zur Revisionskonferenz. nehmerinnen führe, fordern die Bürger und Bürge- rinnen in unserem Lande etwas ganz anderes, weit Wir reden heute ausdrücklich darüber, wie es in über das hinausgehend, was Sie bisher vorgeschla- der Europäischen Union mit einer gemeinsamen Be- gen haben. schäftigungspolitik, mit einer gemeinsamen Sozial- politik weitergehen soll. Die anderen Themen haben Sie können Ihren Vorschlagskatalog jederzeit noch wir besprochen und werden sie auch weiter diskutie- erweitern. Gehen Sie dann auf unsere Vorschläge ren. Die Zeit ist schon fast überschritten, um auch ein ein, denn das sind genau die Forderungen der Ar- deutliches Signal zu geben, wie es die Bundesrepu- beitnehmerinnen und Arbeitnehmer und Bürgerin- blik Deutschland, wie es diese verantwortliche Bun- nen und Bürger. Wir haben ihnen doch schon einmal desregierung mit der sozialpolitischen Integration erzählt: Erst vollenden wir den Binnenmarkt, und hält. Schweigen im Walde. dann kommt die soziale Flankierung von selbst. Die Bürger und Bürgerinnen fühlen sich betrogen, weil (Gerd Andres [SPD]: Leider wahr!) dieses Versprechen bis heute nicht eingelöst worden ist. Im Gegenteil - der Kollege Schreiner hat es eben nicht ohne Grund angesprochen -: Bei dem wenigen, (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ was in Europa erreicht worden ist, handelt es sich im- DIE GRÜNEN sowie des Abg. Manfred mer um soziale Mindeststandards, und die richten Müller [Berlin] [PDS]) sich an dem schwächsten Partner in der Gemein- Ich bestreite nicht, daß der Binnenmarkt zusätz- schaft aus und müssen dies auch. liche Arbeitsplätze gebracht hat. Das kann man in den Statistiken nachlesen. Aber, Herr Hoyer, Sie soll- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Frau Kollegin, ten sich auch einmal die Mühe machen, genau hin- darf ich auf Ihre Zeit hinweisen. zuschauen, was für Arbeitsplätze zusätzlich geschaf- fen worden sind. In Europa nennen wir diese- „atypi- sche Arbeitsplätze", nämlich unterbezahlte Arbeits- Leyla Onur (SPD): Vielen Dank; ich höre gleich plätze ohne Sozialversicherungsschutz. Das ist nicht auf. - Sie werden mißbraucht, um soziale Standards unser Ziel in der Beschäftigungspolitik. in der Bundesrepublik Deutschland herunterzudrük- ken. Da machen wir nicht mit, meine Damen und Wir haben heute gehört, daß zuerst die Wirt Herren. Sie können für die Menschen in diesem schafts- und Währungsunion vollendet werden Lande noch ein gutes Werk tun. Sie können unserem müsse. Ich erinnere mich noch genau daran, wie Sie Antrag zustimmen. gesagt haben: Zuerst der Binnenmarkt und dann die soziale Flankierung. Jetzt soll die Wirtschafts- und Ich danke Ihnen. Währungsunion ohne die sozialpolitische Flankie- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ rung vollendet werden. DIE GRÜNEN - Dr. Friedbert Pflüger [CDU/ CSU]: Die Währungsunion ist die beste Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, es wurde Sozialversicherung! - Heidemarie Wieczo heute insbesondere von der lieben Kollegin rek-Zeul [SPD]: Was ist jetzt mit Herrn Dr. Tiemann Blüm? Was ist jetzt mit dem Vorschlag der (Zurufe von der CDU/CSU: Oh! - Ottmar Bundesregierung?) Schreiner [SPD]: Wo ist die denn lieb?) der Kanzler gelobt. Das ist auch ihre Aufgabe, selbst- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat verständlich. In der Tat: Es gab einmal eine Zeit, da jetzt der Kollege Dr. Andreas Schockenhoff. hat dieser Bundeskanzler, der bedauerlicherweise (Ottmar Schreiner [SPD]: Doch der Blüm sit immer noch der Bundeskanzler ist, zet stumm um den ganzen Tisch herum!) (Zurufe von der CDU/CSU: Unser aller Bun deskanzler! - Ottmar Schreiner [SPD]: Der Dr. Andreas Schockenhoff (CDU/CSU): Frau Präsi- Dicke muß weg!) dentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In den An- Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 96. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. März 1996 8587 Dr. Andreas Schockenhoff trägen der SPD und der Grünen wird das alte Spiel und daß es im Interesse der Sache sinnvoll ist, eine gespielt: Da fordern die gleichen Sozialdemokraten, solche Diskussion zu führen. die vorgestern die angeblich so unsolide Haushalts- politik von Finanzminister Waigel kritisiert haben, (Hans-Peter Repnik [CDU/CSU]: Das Bemü von demselben Finanzminister zusätzliche Ausga- hen darf nicht nachlassen!) ben. Er soll ein europäisches Beschäftigungspro- Ich möchte gern wissen, welche Position Sie dazu gramm sponsern, einnehmen. Was vertritt die CDU/CSU-Fraktion, und (Heidemarie Wieczorek-Zeul [SPD]: Wo was sollen die Pa rtner in Europa von den Standpunk- steht das denn im Antrag? - Gerd Andres ten, die sehr unterschiedlich sind, halten? [SPD]: Das ist zynisch! - Ottmar Schreiner [SPD]: Lesen Sie mal die Finanzierungsvor Dr. Andreas Schockenhoff (CDU/CSU): Frau schläge von Delors durch! - Gegenruf der Kollegin, unser Fraktionsvorsitzender Wolfgang Abg. Heidemarie Wieczorek-Zeul [SPD]: Er Schäuble hat gesagt, daß wir Anfang 1998 auf der kann nicht lesen!) Basis der gesicherten Zahlen für das Jahr 1997 fest- stellen, wer die Kriterien und die Eintrittsvorausset- konsequent sozialdemokratisch im Rahmen der Ak- zungen für die Wirtschafts- und Währungsunion er- tion: Wir schreiben an den Weihnachtsmann. füllt. Er hat gesagt, daß die Einhaltung der Zeitpläne Da steht bei den Grünen, der europäische Binnen- und die Einhaltung der Kriterien Voraussetzungen markt entfalte ohne sozial- und beschäftigungspoliti- sind, um wirtschaftliche Gesundung und Beschäfti- sche Initiativen eine destablisierende Wirkung. Herr gung in Europa zu sichern. Sterzing, Sie sagen sogar, wir zahlen einen zu hohen Außerdem habe ich keine Verbalinjurien ver- beschäftigungspolitischen Preis für Europa. wandt, Wer Augen hat zu sehen, der weiß: Erst durch den (Beifall bei der CDU/CSU) europäischen Binnenmarkt ist eine Menge zusätzli- sondern die Plakate zitiert, die Sie in Baden-Würt- cher Arbeitsplätze entstanden. Gegen Destabilisie- temberg kleben. Wenn das Injurien sind, dann schä- rung durch zusätzliche Arbeitsplätze habe ich wirk- men Sie sich für Ihre Genossen! lich nichts. (Beifall bei der CDU/CSU - Gerd Andres Die Verwirklichung der Wirtschafts- und Wäh- [SPD]: Jetzt bekommen Sie ein Fleißkärt rungsunion wird für die Beschäftigung weitere Im- chen, weil Sie Schäuble zitiert haben!) pulse bringen. Die SPD geht in ihrem Antrag wie selbstverständlich davon aus, daß die Wirtschafts- Was ist eigentlich der Grundgedanke, der hinter und Währungsunion kommen wird. Ich finde das er- der Wirtschafts- und Währungsunion steht? Ziel ist, freulich, nachdem wir in Baden-Württemberg einen für Europa langfristig Wachstum, hohe Beschäfti- SPD-Spitzenkandidaten haben, gung und eine entscheidende Rolle in der Weltwirt- schaft zu sichern. Für die Währungsunion gibt es nur (Heidemarie Wieczorek-Zeul [SPD]: Zur einen Schuß; später wird die Sache nie wieder erfolg- Sache!) reich in Gang gesetzt werden können. - Sie lachen, der genau das permanent bestreitet, weil er hofft, so Frau Kollegin. Eigentlich sollten Sie klatschen; denn billig ein paar Wählerstimmen fangen zu können.- dieser Satz stammt von Helmut Schmidt, dem letzten Sozialdemokraten, dem auch in der Öffentlichkeit Kollege Repnik hat auf die sozialdemokratische Ar- abgenommen wurde, daß er etwas von der Wi rtschaft beitsteilung hingewiesen: plumper D-Mark-Nationa- versteht. lismus im Ländle, internationalistische Traditionen in Bonn. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P.) Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Herr Kollege, Ich habe Ihren Antrag gelesen. Wenn es darum gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin geht, das Sozialprotokoll zum Bestandteil des Uni- Wieczorek-Zeul? onsvertrags zu machen, dann stimme ich Ihnen zu, und dann stimmt Ihnen auch die Bundesregierung Dr. Andreas Schockenhoff (CDU/CSU): Ja. zu, nur die Briten nicht. Die Briten kann nicht einmal die deutsche Sozialdemokratie zur Zustimmung zwingen. Heidemarie Wieczorek-Zeul (SPD): Herr Kollege Schockenhoff, in den unterschiedlichen Agentur- Was dann weiter in Ihrem Papier steht, ist bemer- meldungen, die seit heute morgen auf dem Tisch kenswert. Sie erwarten Impulse für die Beschäfti- liegen, war immer die gleiche Tendenz zu finden: gung, indem Sie ein Kapitel Beschäftigungspolitik „Schäuble: EWU-Verschiebung nicht unwahrschein- in den Unionsvertrag aufnehmen. Ihren Glauben lich", „Schäuble zweifelt am pünktlichen Sta rt der möchte ich haben. Währungsunion". Ich lese von Richtlinien und Leitlinien, und, Frau Ich frage Sie, ob Sie das mit den gleichen Verbalin- Wieczorek-Zeul, Sie haben wieder einmal ein euro- jurien, die Sie hier gegenüber der Sozialdemokratie päisches Programm gefordert, um mehr Arbeits- angeführt haben, bewe rten oder ob Sie nicht dem zu- plätze zu schaffen. Anscheinend haben Sie es immer stimmen, was Ottmar Schreiner vorhin gesagt hat, noch nicht verstanden: Arbeitsplätze entstehen nicht, daß es in beiden Parteien eine solche Diskussion gibt weil Politiker sie beschließen. Arbeitsplätze entste- 8588 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 96. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. März 1996

Dr. Andreas Schockenhoff hen, weil irgend jemand glaubt, er kann mit Aussicht Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Bitte, Herr auf Gewinn Leistungen und Produkte anbieten. Wieczorek. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Ich habe beim Lesen dieses Antrages den Ein- Dr. Norbert Wieczorek (SPD): Herr Kollege Schok- druck, die Sozialdemokraten nehmen Europa nur kenhoff, mir ist aufgefallen, daß Sie sich für beides noch als Mäntelchen, um innenpolitische Themen ausgesprochen haben, für den Zeitraum und die Kri- wiederzukäuen. Da kommt die Forderung nach Ver- terien. Da möchte ich gerne einmal nachfragen. Der kürzung der Arbeitszeit, von den deutschen Gewerk- Kollege Schäuble hat, wenn ich ihn richtig verstan- schaften längst ad acta gelegt. den habe, sehr klar erkannt, daß möglicherweise nur eines von beiden möglich ist, nicht zuletzt wegen der (Zuruf von der SPD: Irrtum!) Haushaltssituation, die uns Herr Waigel beschert hat. Da kommt die Sozialversicherungspflicht bei gering- (Widerspruch bei der CDU/CSU) fügigen Arbeitsverhältnissen. Dann kommt, lieber Kollege Schreiner, natürlich auch wieder die ökologi- Die zweite Frage: Wenn es Ihnen um den Maschi- sche Steuerreform, von der die führenden Spitzenge- nenbau in Baden-Württemberg geht, warum nehmen nossen schon lange nichts mehr wissen wollen. Sie dann nicht zur Kenntnis, daß wir in unserem An- Lassen Sie es sich gesagt sein: Ladenhüter bleiben trag ausdrücklich gefordert haben, daß so schnell Ladenhüter, auch wenn man das Europafähnchen wie nur irgend möglich ein neues Stabilisierungs- dranhängt. system für die europäischen Währungen geschaffen (Beifall bei der CDU/CSU) wird? Genau wegen der Unsicherheit um die Wäh- rungsunion muß das so schnell wie möglich auf den Wenn Sie wirklich etwas für Beschäftigung tun wol- Tisch. Wenn es Ihre Meinung ist, daß das notwendig len, dann bremsen Sie die nationalistischen Schwät- ist, warum stimmen Sie dann an dieser Stelle dem zer, die inzwischen in der Sozialdemokratischen Par- Antrag nicht zu? tei Deutschlands versuchen, die Währungsunion ka- puttzureden! (Heidemarie Wieczorek-Zeul [SPD]: Also ist Dr. Andreas Schockenhoff (CDU/CSU): Im Gegen- nach Ihrer Meinung Schäuble ein nationali satz zu Ihnen spricht der Kollege Schäuble nicht von stischer Schwätzer?) „möglicherweise", „vielleicht" und „man muß". Er sagt vielmehr: Es ist die Unzeit, darüber zu spekulie- Fragen Sie doch einmal die Milchbauern in Süd- ren, ob die Kriterien oder der Zeitplan eingehalten deutschland! Sie haben durch die Abwertung der werden können. Lira in den letzten beiden Jahren 8 Pfennig pro Liter Milch verloren. Das gefährdet Existenzen. (Heidemarie Wieczorek-Zeul [SPD]: „Ich halte das für nicht ganz unwahrscheinlich"! (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. - Weiterer Zuruf von der SPD: Das war der Uwe Lühr [F.D.P.]) Schäuble im vergangenen Jahr!) Fragen Sie einmal die Arbeitnehmer in der Auto- mobilindustrie, in der Zulieferindustrie,- in der Ma- Wir tun das auf der Basis verläßlicher Zahlen des schinenbauindustrie, was aus ihren Arbeitsplätzen Jahres 1997. Woher wollen Sie überhaupt wissen, wird, wenn in ganz Europa ein Abwertungswettlauf wer Ende 1997 die Kriterien erfüllt und wer nicht? einsetzt! Woher wollen Sie überhaupt wissen, ob wir dann den Zeitplan einhalten können oder nicht? Lassen Sie uns (Zuruf von der CDU/CSU: Sehr gut!) das in dem vorgesehenen Zeitrahmen tun, nicht auf Die Europäische Währungsunion ist ein langfristi- der Basis irgendwelcher Spekulationen, sondern har- ges Projekt zur Verbesserung der Wachstumsgrund- ter Fakten. lagen und damit zur Schaffung und Sicherung von Zu Ihrem zweiten Punkt, zur Stabilisierung der Arbeitsplätzen. Beschäftigung in den angesprochenen Branchen, (Abg. Dr. Norbert Wieczorek [SPD] meldet kann ich Ihnen nur sagen: Wer die Europäische Wäh- sich zu einer Zwischenfrage) rungsunion stoppen will, der gefährdet die europäi- sche Integration, der braucht kein neues Stabilisie- rungsmodell für die verschiedenen Währungen Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Herr Kollege - - mehr, der riskiert die wichtigste Quelle unseres Wohlstandes. Dr. Andreas Schockenhoff (CDU/CSU): Wir in Deutschland sind besonders darauf angewiesen, weil Wenn Sie also wirklich etwas Wirkungsvolles für 60 Prozent unserer Exporte in die Länder der Euro- Arbeitsplätze tun wollen, dann hören Sie auf, hier päischen Union gehen. Scheingefechte auszutragen! (Abg. Dr. Norbert Wieczorek [SPD] meldet Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Herr Kollege, sich zu einer weiteren Zwischenfrage) gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Dr. Andreas Schockenhoff (CDU/CSU): Bitte. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Herr Kollege - - Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 96. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. März 1996 8589

Dr. Andreas Schockenhoff (CDU/CSU): Sorgen Sie unter sportlichen Gesichtspunkten würdigen -, aber lieber dafür, daß das unverantwortliche Geschwätz forsches Auftreten ersetzt nicht konkrete Antworten. von Spöri und Konsorten aufhört! Die Frage des Kollegen von der CDU, wer eigent- Vielen Dank. lich verantwortlich für Sie spreche, ist überhaupt nicht beantwortet worden. Sie haben auf diese Frage (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. mit einer Gegenfrage geantwortet. Wissen Sie keine Uwe Lühr [F.D.P.]) Antwort auf die Frage, oder wollen Sie uns die Ant- wort verheimlichen? Können wir damit rechnen, das Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat noch in absehbarer Zeit zu erfahren? jetzt für die Bundesregierung der Parlamentarische (Ottmar Schreiner [SPD]: Gegenfragen sind Staatssekretär Rudolf Kraus. häufig die besten Antworten!) - Ich habe Sie nicht verstanden. Rudolf Kraus, Parl. Staatssekretär beim Bundesmi- nister für Arbeit und Sozialordnung: Frau Präsiden- (Ottmar Schreiner [SPD]: Gegenfragen sind tin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der häufig die besten Antworten!) Kollege Schreiner hat vorhin darauf hingewiesen, daß die Sozialdemokratische Partei bereits im Jahre - Häufig aber auch nicht; denn bei uns bleibt diese 1924 die Vereinigten Staaten von Europa gefordert Unklarheit, die wir gern beseitigt wüßten. habe. Ich finde diesen Hinweis sehr interessant, be- (Ottmar Schreiner [SPD]: Die Verwirrung weist er doch, daß man so lange Zeit zurückgreifen bei Ihnen ist schon groß genug; dazu wollen muß, um seine europäische Gesinnung hervorzukeh- wir nicht noch zusätzlich beitragen!) ren. - Sie tragen zu dieser Verwirrung bei, indem Sie die (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Das war Frage nicht beantworten, wer in der SPD Verantwor- das letzte Mal, wo ihr vernünftig wart!) tung trägt. Das kann auf Dauer nicht so bleiben. Besser wäre es natürlich, wenn man sich heute, in (Zuruf des Abg. Ottmar Schreiner [SPD]) der konkreten Situation, entsprechend verhielte. Ich kann Ihnen wirklich nur empfehlen, mit dieser Von derselben Seite des Hauses wurde vorhin mit Methode aufzuhören. Sie täten damit nicht nur uns, einer gewissen Geringschätzigkeit zur Kenntnis ge- sondern auch Ihrer eigenen Partei einen großen Ge- nommen, daß es in der Bundesrepublik immerhin die fallen. geringste Rate der Jugendarbeitslosigkeit gibt. Meine sehr verehrten Damen und Herren, natür- (Ottmar Schreiner [SPD]: Das hängt mit der lich sind wir alle der Meinung, daß Arbeitslosigkeit Frühverrentungspraxis zusammen!) der Punkt ist, in dem die Politik am meisten gefragt - Herr Schreiner, Sie sollten sich vielleicht einmal ist. Es ist überhaupt keine Frage, daß alle Kräfte in ganz kurz in eine Situation hineinträumen, in der die diesem Hause dafür eintreten, gegen dieses Übel SPD Regierungspartei ist. Dann stellen Sie sich vor, möglichst effizient anzukämpfen. - in dieser Zeit gäbe es innerhalb Europas in der Bun- Wir sind auch der Meinung, daß natürlich auf euro- desrepublik die niedrigste Arbeitslosenquote bei Ju- päischer Ebene alles getan werden muß, um sich gendlichen: Sie würden sich dann hier hinstellen und hierbei gegenseitig zu helfen bzw. dieses Problem zu in einer forschen Weise und mit viel Emotion vortra- beseitigen bzw. dieses Problem zu vermindern. Des- gen, wie großartig die Bundesregierung sei. wegen sind wir auch froh darüber, (Heidemarie Wieczorek-Zeul [SPD]: 10 Pro (Ottmar Schreiner [SPD]: Vor allem seid ihr zent Jugendarbeitslosigkeit sind für uns ein froh; das stimmt! Ihr seid Frohnaturen!) Skandal!) daß alle Mitgliedstaaten ihre mittelfristige Beschäfti- Ganz selbstverständlich würden Sie das tun. gungspolitik auf die einzelnen beschlossenen be- Frau Wieczorek-Zeul, woran sollen wir denn die schäftigungspolitischen Schwerpunkte ausgerichtet Erfolge einer Regierung messen? Das können wir haben. doch nur an dem messen, was früher war, und an Wir haben einen in diesem Umfang nie dagewese- dem, was in vergleichbaren Staaten ist. Dabei kom- nen europäischen Meinungs- und Erfahrungsaus- men wir nun einmal sehr gut weg. Wenn Sie das tausch - das kann man doch nicht leugnen -, und es nicht gern sehen, dann können wir da nicht helfen. wird immer selbstverständlicher, wie ich schon sagte, Aber wir dürfen das sagen, und wir werden das na- türlich auch in Zukunft sagen. (Heidemarie Wieczorek-Zeul [SPD]: Wovon reden Sie hier eigentlich?) (Ottmar Schreiner [SPD]: Frau Präsidentin, kann man vielleicht einen Dolmetscher daß man über die Grenzen hinwegblickt, um zu se- bekommen? Wir verstehen das nicht! Ich hen, was man beim Nachbarn im Kampf gegen die gebe mir große Mühe!) Arbeitslosigkeit macht, - Herr Schreiner, forsches Auftreten, Aufstacheln (Heidemarie Wieczorek-Zeul [SPD]: Reden usw. sind ja recht unterhaltsam - man kann das auch Sie für die Regierung?) 8590 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 96. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. März 1996

Parl. Staatssekretär Rudolf Kraus wie man mögliche Wege zu mehr Wachstum und Be- Wir denken jedenfalls, daß dieses Problem hier lös- schäftigung findet und was man über den Stellen- bar ist. wert sozialer Sicherheit denkt. Ich bedanke mich. Im übrigen darf ich darauf hinweisen, daß auch die in immer stärkerem europäischen Strukturfonds Staatsse- Umfang beschäftigungswirksam eingesetzt werden. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Herr kretär, gestatten Sie eine Zwischenfrage? Dazu eine interessante Zahl: Standen für den Zeit- raum 1989 bis 1993 zirka 130 Milliarden DM zur Ver- fügung, so sind es für den folgenden Fünfjahreszeit- Rudolf Kraus, Parl. Staatssekretär beim Bundesmi- raum immerhin 310 Milliarden DM. Das ist mehr als nister für Arbeit und Sozialordnung: Aber gern. doppelt so viel. In diesem Zusammenhang möchte ich allerdings feststellen, daß wir nicht eine Verge- (SPD): Herr Staatssekretär, gestehen meinschaftung der Beschäftigungspolitik wollen. Peter Dreßen Sie zu, daß der SPD-Entwurf zu dem Entsendegesetz Deswegen soll hier auch nicht weiter aufgestockt genau dieses Hickhack, das wir jetzt haben, über- werden. haupt nicht mit sich gebracht hätte, weil wir nämlich Ein letztes Wort noch zum Entsendegesetz. Sie sa- genau diese Allgemeinverbindlichkeitserklärung, gen, das sei ein Trauerspiel. Herr Schreiner, wir se- die Sie hineingedrückt haben und die genau zu die- hen das nicht so. Wir sind der Meinung, daß wir von sem Streit in der Bauindustrie führt, den wir jetzt ha- seiten der Bundesregierung zu einem sehr frühen ben, nicht haben, daß das bei uns eben nur auf einen Zeitpunkt versucht haben, mit diesem zweifelsohne Teil begrenzt war und daß unser Entwurf auch vorge- sehr gravierenden Problem, nämlich dem Problem sehen hat, daß das für alle gilt, also auch für die Ga- der Dumpinglöhne auf den Baustellen, fertig zu wer- stronomie und was es sonst noch alles gibt, daß also den. eigentlich erst Ihr Entwurf zu dem geführt hat, was (Peter Dreßen [SPD]: Aber ohne Erfolg!) wir jetzt haben, nämlich zu diesem Streit in der Indu- strie, und daß es ja darum geht, daß die Arbeitgeber Wir haben uns bemüht, dafür ein Gesetz zustande zu nicht haben wollen, daß das Entsendegesetz für alle bringen. Dieses Gesetz ist jetzt verabschiedet, dies Aufträge, die jetzt schon vergeben sind, gilt und daß übrigens letztendlich mit Ihrer Zustimmung. damit eben praktisch nicht 100 000 zusätzliche deut- (Zurufe von der SPD) sche Bauarbeiter die Chance haben, wieder zurück- zukehren? - Letztendlich auch mit Ihrer Zustimmung!

(Ottmar Schreiner [SPD]: Bis zur Stunde Rudolf Kraus, Parl. Staatssekretär beim Bundesmi- kein Ergebnis!) nister für Arbeit und Sozialordnung: Selbst wenn das - Das ist richtig. Aber Sie sind doch auch ein Anhän- so wäre, wäre das Aufgabe der Arbeitgeber, wenn ger der Tarifhoheit. Hier gibt es also Elemente, die sie die Übergangszeit wollen, was in der Tat auch un- sich unserer Regelung entziehen. serer Ansicht nach zu größten Schwierigkeiten führte. Das wäre nicht im Verantwortungsbereich der (Ottmar Schreiner [SPD]: Dann hätten Sie Bundesregierung, sondern wäre eine Sache, die von unseren Gesetzentwurf übernehmen- kön den Tarifvertragsparteien zu verantworten ist. Ich nen!) glaube übrigens nicht, daß das der Hauptgrund ist. Da dürfen wir also gar nicht eingreifen. Wir werden erleben, daß sich dieses Problem lösen läßt. - Punkt eins. Sie müssen sich also entscheiden, was Sie wollen, und zwar nicht nur im personellen Bereich, nämlich Punkt zwei: Wir sind der Meinung gewesen, daß es in der Frage, wer für die SPD spricht, sondern auch jetzt insbesondere darauf ankommt, im Bereich des in der Frage, wer hier für die Tarifvertragspartner die Bauens und des weiteren Umfelds eine Regelung Verträge abschließen kann. entsprechend unseren Vorschlägen zu schaffen. Ich sehe also nicht, daß hier irgend etwas falsch ist und Wir warten darauf. Wir sind der Meinung, daß die daß eine andere Regelung etwa zweckmäßiger ge- Tarifvertragsparteien jetzt handeln müssen. wesen wäre und schneller zum Erfolg geführt hätte. Jede Regelung, die die Tarifvertragsparteien berührt, (Heidemarie Wieczorek-Zeul [SPD]: Das ist hätte selbstverständlich die entsprechenden Konse- alles, was ihr könnt!) quenzen gehabt, also auch die Zustimmung der Ta- Als Trauerspiel lassen wir das jedenfalls nicht be- rifvertragsparteien erforderlich gemacht. zeichnen. Danke schön. (Dr. Jürgen Meyer [Ulm] [SPD]: Wir können auch Schwarzer Peter spielen!) (Beifall bei der CDU/CSU - Zuruf von der SPD: Die Bundesregierung wäscht ihre Wir haben unsere Aufgabe erfüllt. Nun muß man Hände in Unschuld! - Weiterer Zuruf von auch ein bißchen Vertrauen in die Tarifvertragspar- der SPD: Das war aber ein schwacher teien haben. Das haben Sie offenbar nicht. Wir ha- Abgang jetzt!) ben dieses Vertrauen. (Heidemarie Wieczorek-Zeul [SPD]: Sagen Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Der Herr Kol- Sie das mal den Bauarbeitern!) lege Schreiner hatte mich eben aufgefordert - im Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 96. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. März 1996 8591

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer Scherz natürlich -, für eine Übersetzung zu sorgen. Nehmen wir als Bundesrepublik Deutschland doch Dazu möchte ich noch kurz ein Wo rt sagen. unsere Verantwortung wahr, nehmen wir die Sen- kung der Kapitalertragsteuer, der Gewerbekapital- Ich persönlich finde, es gehört zu den Vorteilen des steuer selbst in die Hand! Parlaments, daß sich hier die unterschiedlichsten Leute treffen, die sich im normalen Leben so einfach Nebenbei etwas zum Thema der sozialen Absiche- nicht begegnen würden. Wenn sie sich dann auch rung: Frau Kollegin Wieczorek-Zeul, denken wir ein- noch durch unterschiedliche Dialekte auszeichnen, mal an das Entsendegesetz, die Arbeitslosigkeit, die ist das, finde ich, ein Vorteil für das Parlament. Zuzugsregelung. Was die Zuzugsregelung angeht, so denken Sie doch einmal an das, was Ihr Parteivor- (Beifall im ganzen Hause) sitzender und was Sie vor zwei, drei Jahren, 1992, al- Ihre Reaktion hat ja auch gezeigt: Man hört sich mit les losließen, als wir in der Union dafür kämpften, der Zeit schon ein. das Kontingent von 200 000 Zuzügen - Asylkompro- miß läßt grüßen! - auf die Reihe zu bringen. Jetzt (Heiterkeit bei der SPD - Dr. Wolfgang nimmt man dieses Thema vor den Landtagswahlen Schäuble [CDU/CSU]: Sehr viel angeneh auf, transportiert es an die Stammtische. Verantwor- mer zu hören als manche andere!) tungsloser - das muß man doch einmal festhalten - Als nächster hat der Abgeordnete Norbert Schind- kann man Neidpolitik in diesem Staat nicht mehr be- ler das Wort. treiben. (Zuruf von der CDU/CSU: Also, Norbe rt, im (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Dialekt bitte!) Weil wir gerade von sozialer Gerechtigkeit reden und weil - jetzt in allem Ernst - dieser Witz, Herr Kol- Norbert Schindler (CDU/CSU): Frau Präsidentin! lege Schreiner, gebracht wurde: Ich würde Ihrem Also, Herr Kollesche Schreiner, isch hoff', daß Se Parteivorsitzenden von Herzen Pälzisch versteh'n. wünschen - vielleicht bringen Sie das, Frau Kollegin, mit ihm auf die Reihe -, daß er bei der Scheidung von (Ottmar Schreiner [SPD]: Uff de Been, de seiner ersten, zweiten oder dritten Frau keine 700 DM Pälzer kumme! - Weitere Zurufe von der SPD) in den Vergleich setzt. - Gestatten Sie mir das so? - Aber ein Spruch ist (Zurufe von der SPD) nicht umzudrehen: „Alle Pfälzer in die Pfalz" kann - So Frau Schneuer im „Ste rn ". man nicht umdrehen; denn sonst hieße das: Alle Saarländer in die Saar! (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Bloß weiter so! Das ist Ihr Niveau! - Weitere (Heiterkeit) Zurufe von der SPD) Meine Damen und Herren, zu dem Konzept, das - Bringen Sie das einmal in Ihrer eigenen Partei auf hier vorgelegt wurde: Die SPD forde rt eine europäi- die Reihe! Dann reden wir für die Allgemeinheit wie- sche Sozialunion. - Die Währungsunion ist der erste der richtig weiter. Schritt, den wir gehen. Sie wollen den -dritten vor dem ersten machen. Man hat den Eindruck: Man (Beifall bei der CDU/CSU - Ottmar Schrei hält sich in der Sachfrage, wenn es darauf ankommt, ner [SPD]: Das ist nicht einmal Stammtisch! mit Volldampf zurück. Das ist noch unter Stammtischniveau! - Was für Bedenkenträger haben Sie denn in der Op- Weitere Zurufe von der SPD) position, wenn es um die Weiterentwicklung der - Es wurde bis jetzt nicht dementiert. Europäischen Gemeinschaft geht? Wie brennend hier die Sorgen sind, wissen wir doch. Es ist darauf Wir reden über die europäische Sozialunion. Da hingewiesen worden, was wir im Agrarbereich im haben wir offenbar noch Aufgaben innerhalb der letzten Jahr erlebt haben, was aber auch Dasa und Bundesländer auf die Reihe zu bringen. andere Firmen, die europäisch und international im Konkurrenzverhältnis stehen, bei den Währungs- (Anhaltende Zurufe von der SPD) schwankungen erlebt haben. - Könnt ihr auch ruhig sein? - Frau Präsidentin! Herr Kollege Sterzing, von den Grünen wird dar- (Ottmar Schreiner [SPD]: Sie sind ein richti auf hingewiesen, was nach dem Subsidiaritätsprin- ger Stammtischheini! Das ist unglaublich!) zip eigentlich in der Verantwortung der Tarifpartner in diesem Staat zu regeln ist. Nun will man die Ver- - Weil Ihr Parteivorsitzender dieses Thema mit der antwortung nach Europa geben. Zuzugsregelung so hochgespielt hat, muß man ihm Was haben wir denn erlebt, als es um EG-Verord- manchmal auch deutlich Bescheid sagen. Das ist das nungen in der letzten Zeit gegangen ist? - Auch Frau Niveau, das Sie vorgegeben haben. Martini schimpft bei der Fleischverordnung munter (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU - gegen Brüssel, um von der eigenen Verantwortung Zurufe von der SPD) abzulenken oder das publizistische Darstellen per- fekt zu üben. Dafür brauchen wir Europa: um uns ab- - Uns schmerzt überhaupt nichts. Wir haben die rich- zureiben oder Verantwortung abzugeben. tigen Beschlüsse gefaßt. 8592 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 96. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. März 1996

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Gestatten Sie der Hauptkritikpunkte - und die große Harmonisie- eine Zwischenfrage des Kollegen Schreiner? rungswut. Ein weiterer Punkt: Über die Entschei- dungsverfahren bei der Gesetzgebung in der Euro- Norbert Schindler (CDU/CSU): Nein, der schreit päischen Union weiß die Öffentlichkeit so gut wie so. Tut mir leid. nicht Bescheid. Umfassende Kontrolle und demokra- tische Legitimation des Gesetzgebers sind derzeit auf (Heiterkeit bei der CDU/CSU und der F.D.P. europäischer Ebene nicht ausreichend verwirklicht. - Ottmar Schreiner [SPD]: Darf ich die Zwi Sie haben darauf hingewiesen. schenfrage ohne Mikrofon stellen?) Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Letzter Punkt. Bundeskanzler Dr. Kohl hat gerade Crux ist im Augenblick doch, daß die Europäische gestern in München die Feststellung getroffen, daß Union viel zu große Kompetenzen do rt hat, wo es wir den Standort Deutschland nicht weiterhin so heute vielleicht nicht mehr sinnvoll ist, und dort, herunterreden sollten. Deutschland hat 1995 wo der Bürger es erwartet - ich nenne die Bereiche 760 Milliarden DM im eigenen Land und 37 Mil- Verbrechensbekämpfung, gemeinsames Asylrecht, liarden DM im Ausland investiert. Wenn wir so wei- wirksame Außen- und Sicherheitspolitik -, noch termachen, dann gnade uns Gott. Was Dr. Kohl ge- nicht die Kompetenzen hat, die notwendig sind. stern wieder bekräftigt hat, sollten wir in Gesetzes- form umsetzen. Die Erwartungen an die Regierungskonferenz sind groß. Sie haben einige Leitlinien aufgezeigt. Ich (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Was möchte Ihnen einige Kernaussagen nach Turin mit- macht die CDU eigentlich seit 14 Jahren? geben. Was wollen Sie eigentlich? - Ottmar Schrei ner [SPD]: Sie reden den Stammtisch Die Europäische Union ist kein Überstaat, sondern Deutschland herunter, wenn Sie so weiter ein Staatenverbund. Wir brauchen in der Europäi- machen!) schen Union eine klarere Kompetenzabgrenzung zwischen der europäischen Ebene, den Mitgliedstaa- Bei der Verantwortung für diese Fragen haben Sie ten sowie den Regionen und Ländern. Die Europäi- schon immer deutlich versagt. Bei der deutschen Ein- sche Union muß sich dabei viel stärker als bisher auf heit seid ihr fünf Jahre hinterher gekommen. Wie ihre Kernzuständigkeiten beschränken. Das Subsi- war das 1956? Soll man dies alles aufzählen? Meine diaritätsprinzip muß klarer als bisher im Vertrag for- Redezeit ist um. muliert werden und einklagbar sein. Ein Tätigwer- (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das ist den der Europäischen Union darf nur auf der Grund- auch besser so!) lage von eindeutigen Kompetenzen, nicht, wie jetzt, auf der Grundlage von Zielsetzungen erfolgen. Das Ich hätte gern einmal eine Dreiviertelstunde lang mit würde eigentlich eine europäische Funktionalreform Ihnen abgerechnet. notwendig machen. - Ich habe nicht die Zeit, darzu- Vielen Dank, meine Damen und Herren. stellen, wie diese aussehen könnte. Wir sollten dieses Thema aufgreifen. (Beifall bei der CDU/CSU) Ein weiterer Punkt: die Frage der Legitimation der - europäischen Rechtsetzung. Herr Staatsminister, die Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat Legitimation der europäischen Gesetzgebung ergibt jetzt der Abgeordnete Dr. Gerd Müller. sich zuerst aus der nationalen Ebene, über die natio- nalen Parlamente in den Ministerrat hinein, und, wie Dr. Gerd Müller (CDU/CSU): Frau Präsidentin! das Bundesverfassungsgericht sagt, auf europäischer Meine Damen und Herren! Ich begrüße diese De- Ebene - begleitend - über das Europäische Parla- batte, ist es doch die letzte Möglichkeit des Parla- ment. So sollte es sein. Wie sieht die Wirklichkeit ments, der Bundesregierung vor Beginn der Regie- aus? rungskonferenz vielleicht auch einige Positionen mit- zugeben, die aus der Sicht des Parlaments Konsens Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, der Deut- finden. sche Bundestag hat zur Verwirklichung des Binnen- marktes 280 europäische Gesetzgebungsrichtlinien, Herr Hoyer, Sie haben eine interessante Rede ge- die in jeden Haushalt unserer Bürger hineinwirken, halten. Der Zentralpunkt der Regierungskonferenz zur Kenntnis genommen, vielfach zwei bis drei Jahre ist doch: Wie können wir das Europa der 15 für ein nach deren Einführung. Wir haben keine effektiven Europa der 20, 25 oder 30 Mitgliedstaaten richtig fit Kontroll- und Mitwirkungsrechte. machen? Das Fundament der heutigen Gemeinschaft ist das Fundament der Sechsergemeinschaft und Ich nenne einen weiteren Punkt: die Kontrolle des kann nicht das Fundament einer Gemeinschaft mit europäischen Haushalts. Die Kontrolle des europäi- 20 oder mehr Staaten sein. Wir brauchen deshalb schen Haushalts - Deutschland überweist jährlich qualitativ neue Ansätze bei der europäischen Recht- 40 Milliarden DM - ist bis heute sowohl dem Euro- setzung, bei den Schwerpunktsetzungen und bei der päischen Parlament als auch dem Deutschen Bun- Kompetenzabgrenzung. destag weitestgehend vorenthalten. Wer hat sich denn mit dem Bericht des Europäischen Rechnungs- Die Europäische Union befindet sich derzeit in ei- hofes ernsthaft auseinandergesetzt? - Keine zuver- ner Akzeptanzkrise. Was sind die Gründe? Uns allen lässigen Klärungen durch den Europäischen Rech- sind sie bekannt: die hohe Regelungsdichte - einer nungshof hinsichtlich der Rechnungsführung der Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 96. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. März 1996 8593

Dr. Gerd Müller Europäischen Union. Wir streiten hier im Haushalts- Danke schön. ausschuß zu Recht über Millionenbeträge auf der (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) europäischen Ebene - -

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Ich schließe die Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Herr Kollege, Aussprache. gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Onur? Interfraktionell wird die Überweisung der Vorla- gen auf den Drucksachen 13/4002, 13/4072 und 13/ Dr. Gerd Müller (CDU/CSU): Gerne. 4074 an die in der Tagesordnung aufgeführten Aus- schüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstan- den? - Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Leyla Onur (SPD): Vielen Dank. - Herr Kollege Müller, ist es richtig, daß sich der Deutsche Bundes- Ich rufe die Tagesordnungspunkte 10a und 10 b tag in der letzten Legislaturpe riode das sicherlich auf: noch nicht ausreichende, aber immerhin doch be- merkenswerte Recht erkämpft hat, vor Entscheidun- a) Zweite und dritte Beratung des von den gen in den Ministerräten entsprechende Weisungen Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. ein- für die Fachminister bzw. die Bundesregierung zu gebrachten Entwurfs eines Ersten Geset- erarbeiten? Ist es nicht richtig, diese Möglichkeit zu zes zur Änderung des Elften Buches Sozial- nutzen? Sind Sie mit mir einer Meinung, daß es un- gesetzbuch und anderer Gesetze (Erstes verantwortlich ist, wenn man dieses Recht mit dem SGB XI-Änderungsgesetz -1. SGB XI-ÄndG) Hinweis auf Beratungsbedarf nicht nutzt, obwohl (Pflegefachkräfte) man weiß, daß die Entsenderichtlinie am 29. März auf der Tagesordnung des Ministerrates steht? - Drucksache 13/3696 - (Erste Beratung 86. Sitzung)

Dr. Gerd Müller CDU/CSU): Frau Kollegin, über die b) Zweite und dritte Beratung des von der Notwendigkeit der Kontrolle und Mitwirkung an der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ein- europäischen Gesetzgebung, die den Ke rn der Staat- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur lichkeit in Zukunft noch stärker betreffen wird, als es Ergänzung des Pflege-Versicherungsgesetzes bisher schon der Fall war, sollte unter allen Abgeord- (PflegeVErG) neten des Deutschen Bundestages Konsens bestehen - Drucksache 13/99 - sowie darüber, daß wir hier stärker mitreden und mit- entscheiden wollen. Ich gehe mit Ihnen konform, (Erste Beratung 21. Sitzung) darauf zu drängen, daß die Europapolitik nicht mehr zu a) Beschlußempfehlung und Be richt des Teil der Außenpolitik ist und diplomatisch nicht mehr Ausschusses für Arbeit und Sozialord- so behandelt werden kann, wie dies bisher gesche- nung (11. Ausschuß) hen ist. zu b) Zweite Beschlußempfehlung und zwei- Der Deutsche Bundestag hat sich im Zuge der Ver- ter Bericht des Ausschusses für Arbeit fassungsänderung Rechte erstritten. Ich begrüße, und Sozialordnung (11. Ausschuß) daß die Bundesregierung diesem Beratungs- und - Drucksachen 13/1845, 13/4091 - Mitwirkungsrecht im Europaausschuß in den letzten Monaten zunehmend entgegengekommen ist. Ich Berichterstattung: gebe Ihnen aber recht: Da kann sich und muß sich Abgeordneter Karl-Josef Laumann noch Vieles verbessern. Ich weise darauf hin, daß wir im Anschluß an die Ich möchte auf einen weiteren Punkt hinweisen, Aussprache über den Gesetzentwurf der Koalitions- der in der Debatte noch nicht angesprochen wurde. fraktionen namentlich abstimmen werden. Unsere Personalpolitik bezüglich der Europäischen Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für Union muß verbessert werden. Dies ist ein wichtiger, die gemeinsame Aussprache eine Stunde vorgese- zentraler Punkt. Ein Viertel der Einwohner der EU hen. - Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist das so kommen aus Deutschland, ein Drittel des Haushalts beschlossen. kommt aus deutschen Kassen; wir stellen aber nur 14 Prozent der europäischen Beamten. Meine sehr Ich eröffne die Aussprache. Als erste hat die Abge- verehrten Damen und Herren, dies ist ein wichtiges, ordnete Schnieber-Jastram das Wort. zentrales Thema, um Einfluß und Mitwirkung auch auf europäischer Ebene sicherzustellen. Birgit Schnieber-Jastram (CDU/CSU): Frau Präsi- Ich möchte zum Schluß sagen: Wir brauchen die dentin! Meine Damen und Herren! Liebe Kollegin- Konzentration auf die wesentlichen Aufgabenf elder. nen und Kollegen! Wir haben viel und heftig in den Fraktionen gestritten, in unserer eigenen, aber auch Ich erspare mir, jetzt noch etwas zu den Beiträgen über die Fraktionsgrenzen hinweg. Wir haben aber der Opposition zu sagen. Sie sind im wesentlichen an auch konstruktiv über dieses Änderungsgesetz bera- dem vorbeigegangen, was Gegenstand der Beratun- ten. Ich hoffe, daß wir heute versuchen, in einer so gen der Regierungskonferenz ist. Das war eigentlich wichtigen Frage eine sachliche Diskussion hinzube- etwas schade. kommen. 8594 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 96. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. März 1996

Birgit Schnieber-Jastram Es ist uns nicht leichtgefallen, das Gesetz so zu ver- es unverändert überhaupt keinen Spielraum für eine abschieden. Bei dieser Gelegenheit möchte ich auch Erhöhung des Beitragssatzes von 1,7 Prozentpunkten. einmal sagen: Der Staatssekretär im Ministe rium hat uns das auch nicht leicht gemacht. Lieber Herr Jung, (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. - ich weiß nicht, ob Sie wissen, daß Ihr Spitzname all- Gerd Andres [SPD]: Wer will denn das?) gemein „Jungbulle Karl" lautet. Ich habe gelernt, Der Beitragssatz ist festgeschrieben und muß auf was das heißt. Ich habe mich nicht nur über Sie geär- lange Zeit festgeschrieben bleiben. Die Pflegeversi- gert, sondern mich sehr häufig auch gefreut. Ich cherung muß solide finanziert sein, und die Leistun- denke, daß Ihre Standfestigkeit und Ihre Diskussi- gen - das ist der Punkt - müssen kalkulierbar blei- onsfreude uns allen sehr gutgetan haben. ben. Eine Erhöhung der Beiträge kommt schon allein (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. wegen der von allen Fraktionen geforderten Sen- sowie bei Abgeordneten der SPD und des kung der Lohnnebenkosten überhaupt nicht in BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Frage. Selbst bei dem von den Verbänden vorge- schlagenen Modell einer 20 : 80-Aufteilung zwischen Wir haben Pläne und Berechnungen aufgestellt Pflegeversicherung und Eingliederungshilfe sind die und auch wieder verworfen. Kosten natürlich beträchtlich. Gerade über diesen (Gerd Andres [SPD]: Das ist wahr!) Vorschlag haben auch wir in der Fraktion mit erheb- lichen Pros und Kontras ungeheuer gestritten. Die entscheidenden Knackpunkte, die uns alle be- schäftigt haben, waren: Wie regeln wir die Kosten Ihr Vorschlag, meine Damen und Herren von der der Behandlungspflege und die Grundpflege für die SPD, den Sie leider übrigens sehr kurzfristig einge- schwerbehinderten Mitbürger in den stationären bracht haben und der vorsieht, die Herausnahme der Einrichtungen? Hotelkosten und der Investitionskosten zu veranlas- sen und dadurch die Beteiligung geringer zu halten, Vor diesem Hintergrund spielen natürlich Art. 3 nützt dem einzelnen überhaupt nichts. des Grundgesetzes und auch die rechtliche Stellung- nahme des Bundesministeriums der Justiz in dieser (Gerd Andres [SPD]: Das ist ein sehr plau Diskussion eine große Rolle. Relevant sind sicher sibler Vorschlag!) auch finanzielle Probleme. In einer Zeit, in der Lei- Er sieht noch nicht einmal, Herr Andres, daß Sie stungsgesetze nicht sonderlich populär sind, in der Geld aus der Pflegeversicherung kriegen. Das ist ein die Diskussion um Leistungskürzungen uns Sozial- Verschiebebahnhof zwischen Sozialhilfe und Pflege- politiker besonders drückt - da sind auch Sie gefor- versicherung. dert, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD -, sind finanzielle Argumente natürlich besonders (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) wichtig. Es ist oft gesagt worden, daß es sehr schwierig ist, Vor diesem Hintergrund - das sage ich hier ganz hier eine Abgrenzung vorzunehmen: Wo hört Pflege deutlich - sind wir froh, daß dieses Gesetz jetzt auf auf, und wo fängt Eingliederung an? Wer sagt uns den Weg gebracht ist. heute, daß die Sozialhilfeträger, nachdem sie sich an- fangs beteiligt haben, nicht morgen hier stehen und (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU sagen: Moment mal, der Anteil ist doch viel größer. und der F.D.P.) - Wir brauchen 30 oder 40 Prozent? - Wir haben dieses Es garantiert den Behinderten in vollem Umfang die Problem nicht schlüssig klären können. Wir haben bisherigen Leistungen und Ansprüche. Ich möchte lange nach einer Regelung für diesen Bereich ge- Ihnen nur einmal zur Erinnerung sagen: Die Behin- sucht; wir haben bis heute keine schlüssige Rege- dertenverbände selbst haben in der Anhörung Ende lung gefunden. Auch Ihre ist es nicht. Februar bestätigt, daß einen behinderten Menschen, Es wäre eine eklatante Ungerechtigkeit, wenn Be- der in einem Behindertenwohnheim wohnt, der Ren- hinderte in Einrichtungen Pflegeversicherungsbei- tenzuzahler ist oder dessen Wohnplatz voll über die träge zu zahlen hätten und von Leistungen ausge- Sozialhilfe finanziert wird, durch den Änderungsvor- schlossen blieben. Wir haben im Gesetz geregelt: schlag keinerlei Nachteile entstehen. Wenn einer in einer Einrichtung ist und keine Lei- (Marieluise Beck [Bremen] [BÜNDNIS 90/ stungen bekommt, muß er auch nicht zahlen. Das ist DIE GRÜNEN]: Da sind Sie nicht so sicher, die richtige Konsequenz. Ich bin sehr sicher, daß sich Frau Schnieber-Jastram! Seien Sie mal ehr für die behinderten Mitmenschen in den Einrichtun- lich!) gen keine Änderungen ergeben werden. Die Eingliederungshilfe wird für diesen Personen- (Marieluise Beck [Bremen] [BÜNDNIS 90/ kreis, dem die allermeisten Menschen in stationären DIE GRÜNEN]: Da waren Sie sich in den Einrichtungen angehören, weiterhin die anfallenden Ausschußberatungen aber nicht so sicher! Kosten übernehmen. Dazu verpflichtet nicht nur die- Seien Sie doch bitte ehrlich!) ses Gesetz, Herr Andres. Von einer Einbeziehung in die Pflegeversicherung - das wissen auch Sie - wür- - Ich bestreite nicht eine Sekunde, daß ich und viele den nur die Selbstzahler, 1 Prozent der Behinderten in unserer Fraktion große Probleme mit dieser Rege- in stationären Einrichtungen, etwas haben. lung gehabt haben. Ich habe das zu Beginn meiner Ausführungen gesagt. Man muß sich allerdings hin- Eines ist klar: Auch wenn die Kassenlage der Pfle- terher den schlüssigen Argumenten der Justiz und geversicherung momentan erfreulich gut ist, so gibt anderer Einrichtungen öffnen und fragen: Wollen wir Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 96. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. März 1996 8595

Birgit Schnieber-Jastram eine Versicherung, die übermorgen gescheitert ist, ziale Pflegeversicherung nicht gefährdet wird und oder wollen wir eine Versicherungsform, die langfri- der Beitragssatz stabil bleibt. stig tragfähig ist? Nicht umsonst haben Sie dieses Gesetz binnen drei Ich will diese Pflegeversicherung. Ich bin froh, daß Sitzungswochen durch den Bundestag gejagt, wissen wir diesen Gesetzentwurf heute so einbringen konn- Sie doch nur zu genau, daß es wegen der Ablehnung ten. Ich hoffe, daß er über lange Zeit tragfähig ist und der Länder im Vermittlungsausschuß landen wird. daß wir damit in der 2. Stufe der Pflegeversicherung Deshalb ist die Beschlußfassung heute durch den einen guten Schritt weiter sind. Deutschen Bundestag auch nur die erste Etappe - nicht nur für dieses Gesetz, sondern auch für die Um- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) setzung der zweiten Pflegestufe insgesamt. Für uns ist dieses Gesetz aus mehreren Gründen Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat jetzt der Kollege Gerd Andres. nicht zustimmungsfähig. Erstens. Systemwidrig wird die sogenannte Be- Gerd Andres (SPD): Frau Präsidentin! Meine sehr handlungspflege nach wochenlangem Gezerre zwi- verehrten Damen und Herren! Die SPD-Bundestags- schen Arbeitsminister Blüm und Gesundheitsmini- fraktion wird in zweiter und dritter Lesung das Ge- ster Seehofer nun der Pflegeversicherung unterge- setz zur Änderung der Pflegeversicherung ablehnen. schoben. Ein Leistungsumfang von 800 Millionen bis 1 Milliarde DM wird damit den gedeckelten Pflege- Frau Schnieber-Jastram, ich finde es schon beein- leistungen im stationären Bereich zugerechnet und druckend, wenn Sie darstellen, wie Sie mit sich ge- schlägt mittelbar auf die Sozialhilfe durch. rungen haben, wie Ihre Fraktion gerungen hat, wel- che Bedenken und Schwierigkeiten Sie gehabt ha- Zweitens. Mit dem neuen § 71 Abs. 4 grenzen Sie ben. Es gibt ein kleines Problem: Sie handeln, Sie ha- rund 140 000 Behinderte, die in stationären Einrich- ben hier eine Mehrheit. Aber Sie legen hier einen tungen untergebracht sind, aus den Leistungen der Vorschlag vor, der auf den einhelligen Widerstand al- Pflegeversicherung völlig aus. Dabei nehmen Sie bil- ler Behindertenverbände und aller Wohlfahrtsver- ligend in Kauf, daß über Jahre entwickelte Struktu- bände gestoßen ist. ren der Behindertenbetreuung und -versorgung nach einer solchen gesetzlichen Regelung faktisch zer- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne schlagen werden. Wir wollen das nicht. Deswegen ten der PDS) lehnen wir diese Ausgrenzung entschieden ab. Nach dem Willen der Koalition sollen mit diesem (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Gesetz erreicht werden: erstens die Sicherstellung DIE GRÜNEN) einer reibungslosen Umsetzung der zweiten Pflege- stufe, zweitens Verbesserungen von Leistungen und Schon unsere Erfahrung mit der Umsetzung des Korrekturen von Regelungen im Gesetz im Lichte der Art. 51 hat uns gelehrt, daß die schwierigen Abgren- Erfahrungen mit der ersten Pflegestufe, und drittens zungsprobleme zwischen der Pflegeversicherung, soll durch Klarstellung einzelner Vorschriften er- dem Bundessozialhilfegesetz und der Krankenversi- reicht werden, die Pflegeversicherung vor finanziel- cherung nicht auf dem Rücken der Pflegebedürftigen len Mehrbelastungen zu schützen, die mit- dem vor- und ihrer Angehörigen ausgetragen werden dürfen. gegebenen Finanzrahmen unvereinbar sind. Auch für die SPD ist klar: Leistungen der Eingliede- rungshilfe dürfen nicht an die Pflegeversicherung Um es gleich vorweg zu sagen: Ihre selbst formu- abgeschoben werden. Aber genauso klar ist, daß Lei- lierte Zielsetzung wird nur in wenigen Punkten er- stungen, die bisher im Bundessozialhilfegesetz unter reicht. In Wahrheit beschränken Sie die Rechte von dem Kapitel „Hilfe zur Pflege" gewährt wurden und Versicherten und Leistungsberechtigten; in Wahrheit nun im Pflegeversicherungsgesetz geregelt werden, bürden Sie der Pflegeversicherung zusätzliche Ko- eben auch über das Pflegeversicherungsgesetz abge- sten auf, die mittelbar auf die Sozialhilfe durchschla- wickelt werden müssen. Deshalb dürfen Behinderte gen werden; in Wahrheit produzieren Sie neue Ko- von diesen Leistungen nicht ausgeschlossen werden. sten für die Pflegeversicherung durch unsachgemäße Abgrenzung zur Sozialhilfe und durch Ausgrenzung (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ stationär versorgter Behinderter. DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der PDS) Sicherlich werden die Redner der Koalition - wir haben das ja gerade schon erlebt - die Leistungs- Drittens. Die Ausgrenzung stationärer Behinder- grenzen der Pflegeversicherung beschwören und auf teneinrichtungen ist auch der wahre Grund für Ihre die unbestreitbar notwendige Beitragssatzstabilität Weigerung, den Beg riff der Pflegefachkraft ver- verweisen. Deshalb erkläre ich für die SPD-Bundes- nünftig zu definieren. Ihn nur zu begrenzen auf die tagsfraktion: Keine ernstzunehmende politische Kraft Alten-, Kranken- und Kinderkrankenpflege - dies in diesem Hause hat die Absicht, die vorgegebene sind die Berufsgruppen, die Sie als Pflegefachkräfte Beitragshöhe von 1,7 Prozentpunkten bei Umsetzung zulassen wollen - grenzt große Berufsgruppen, die der 2. Stufe der Pflegeversicherung zu verändern. seit Jahrzehnten die gesellschaftlich wichtige Pflege- Auch die SPD hat das Interesse, im Umfang des vor- arbeit leisten, aus. Sie nehmen damit billigend in gegebenen Beitragsvolumens von 31,4 Milliarden Kauf, daß Träger durch den Druck der Verhältnisse DM für 1997 die Leistungen der Pflegeversicherung gezwungen werden, ihr Personal umzustrukturieren, so zu strukturieren und auszugestalten, daß die so- um damit den Bedingungen des Gesetzes gerecht zu 8596 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 96. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. März 1996 Gerd Andres werden. Mit dieser Konstruktion lösen Sie kein Pro- Würde man einen individualisierten Anspruch mit blem, sondern Sie schaffen für die Einrichtungen und der folgenden Einstufung der Betroffenen durch die für die Pflegebedürftigen viele neue Probleme. medizinischen Dienste in Pflegestufen zugrunde le- gen, wären die realen Kosten wahrscheinlich noch Viertens. Seit Monaten verhindern Sie eine Rege- geringer. lung, mit der die selbstorganisierte Pflege Behinder- ter als Assistenzpflege oder nach dem Arbeitgeber- Wir wollen das Arbeitgebermodell vernünftig und modell abgesichert werden könnte. Schon nach dem kalkulierbar absichern. Deshalb haben wir den Än- geltenden Gesetz wäre dies mit gutem Willen ohne derungsvorschlag zu § 77 der Spitzenvertretungen jede Gesetzesänderung möglich. Nach eigener An- der Behinderten- und Wohlfahrtsorganisationen gabe geht der Bundesarbeitsminister - ich zitiere aus übernommen. einer schriftlichen Vorlage - „von bundesweit 500 angenommenen Arbeitgebermodellen und maximal Ich will nicht verschweigen, daß es auch gute Re- jährlichen Kosten in Höhe von 7,8 Millionen DM gelungen im vorliegenden Gesetzentwurf gibt. Es aus". Selbst bei Gewährung von Pflegesachleistun- wäre ja gelogen, wenn man nicht auch das sagte. gen entstünden nur geringe Mehrkosten. Dazu gehört, daß der Auslandsaufenthalt von Pflege- bedürftigen bis zu sechs Wochen Dauer vernünftig Ich weiß sehr wohl, meine sehr verehrten Damen geregelt ist. Dazu gehört, daß die Pflegegeldleistun- und Herren, daß sich mit diesem Modell prinzipielle gen bei kurzzeitigem Krankenhausaufenthalt oder Fragen der Abgrenzung für die Pflegeversicherung kurzzeitiger Rehabilitation nicht unterbrochen wer- ergeben können. Allerdings wäre bei gutem Willen den. Dazu gehören nach meiner Auffassung bei- und bei unverändertem Gesetzestext jetzt schon eine spielsweise die Übergangsbestimmungen für die Lösung möglich. Sie wollten aber mit aller Gewalt Heimentgelte, die für die nächsten eineinhalb Jahre die Arbeitgebermodelle unterbinden. Darauf weist gelten sollen und die für die Pflegestufe I mit 2 000 auch die parallele Änderung in § 3 a des Bundes- DM, für die Pflegestufe II mit 2 500 DM und für die sozialhilfegesetzes hin. Pflegestufe III mit 2 800 DM festgelegt sind. Eine Reihe anderer Einzelregelungen findet ebenfalls un- Meine sehr verehrten Damen und Herren, jeder sere Zustimmung. einzelne dieser Punkte reicht aus, Ihren Gesetzent- wurf abzulehnen. Wir haben im Beratungsverfahren Nach einer Meldung des Landkreistages vom zu diesen Punkten Änderungsanträge eingebracht, 11. März 1996 geht die Zahl der Einweisungen in die abgelehnt wurden. Pflegeheime seit Inkrafttreten der ersten Stufe der Pflegeversicherung zurück. Wir wollen durch eine sachgerechte Änderung des § 37 des Krankenversicherungsgesetzes die Behand- (Dr. Gisela Babel [F.D.P.]: Bravo!) lungspflege systemgerecht der Krankenversiche- Ich sage: Das ist gut so. Nach der selben Meldung rung zuordnen. Da gehört sie hin. Schon seit 1988 steigt der Bedarf an Einrichtungen für Kurzzeit- und werden die Kosten für die Behandlungspflege sy- Tagespflege. Das ist ein Hinweis darauf, wo wir noch stemwidrig stillschweigend in die Pflegesätze einge- etwas zu leisten haben. Von besonderem Interesse ist rechnet und damit zum Teil auch an die Sozialhilfe die Feststellung des Landkreistages, daß sich nach weitergereicht oder, bei Selbstzahlern, als zusätzli- dem derzeitigen Stand der Begutachtungen durch che Belastung neben dem Krankenversicherungsbei- den medizinischen Dienst der Pflegekassen heraus- trag abgefordert. - stellt, daß möglicherweise 20 bis 30 Prozent der rund Wir wollen den Begriff der Pflegefachkraft nicht 450 000 Heimbewohner nicht pflegebedürftig im nur auf Kranken-, Kinderkranken- und Altenpfleger Sinne der Pflegeversicherung seien. begrenzen, sondern Heilerzieher und Heilerzie- Bei der Verabschiedung des Pflege-Versicherungs- hungspfleger ausdrücklich einbeziehen. gesetzes im Frühjahr 1995 war der Bundesarbeitsmi- Wir lehnen die Ausgrenzung Behinderter, die in nister davon ausgegangen, daß man bei rund 410 000 stationären Einrichtungen leben, aus der Pflegeversi- Pflegebedürftigen - also 90 Prozent der insgesamt cherung entschieden ab. Unser Änderungsvorschlag 450 000 Pflegebedürftigen - und den durchschnitt- im Gesetzgebungsverfahren ist praktikabel und weit lich zugrunde gelegten Jahresleistungen in Höhe von den geschätzten Horrorkosten des Bundesar- von 30 000 DM mit einem Finanzvolumen von beitsministers entfernt. Uns geht es darum, den Men- 13 Milliarden DM rechnen müsse. So ist kalkuliert schen in diesen Einrichtungen systemkonform die worden. Wenn man nun aber sieht, daß die Durch- Pflegeleistungen zu ermöglichen, die nicht in der So- schnittszahlen wahrscheinlich darunter liegen wer- zialhilfe verbleiben dürfen, die im Gegenteil zum den, und wenn man feststellen kann, daß auf die so- Leistungspaket der Pflegeversicherung gehören. genannte Pflegestufe 0 nach den Begutachtungen ein wesentlich höherer Prozentsatz entfallen wird, Der Bundesarbeitsminister hat die Kosten über- kann man davon ausgehen, daß für die zweite Stufe, schlägig mit 1,5 Milliarden DM beziffert. Nimmt man die Umsetzung der stationären Versorgung, die sogenannten Hotelkosten und die Investitionsko- 13 Milliarden DM kaum verbraucht werden. sten heraus und beziffert man den Kostenanteil für Pflegeleistungen pauschal mit 20 Prozent, sind es in Deswegen sage ich Ihnen, meine sehr verehrten Wahrheit rund 600 Millionen DM. Damen und Herren: Wer es bei einem Betrag von rund 700 Millionen DM hinnimmt, daß faktisch (Dr. Gisela Babel [F.D.P.]: Ob das die Wahr 140 000 Behinderte in diesem Land aus der Pflege- heit ist, weiß man nicht!) versicherung ausgegrenzt werden, der darf sich nicht Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 96. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. März 1996 8597 Gerd Andres wundern, wenn ihm der versammelte Protest sämtli- oder nicht - zu einem Programm zur Rettung von cher einschlägiger Organisationen um die Ohren Erbschaften und Vermögen wird und daß bei der Lei- fliegt. stungszumessung das finanzielle Hemd immer zu (Beifall bei der SPD und bei der PDS) kurz ist. Zentrale Regelungen dieses Gesetzentwurfes wer- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) den von den Ländern nicht mitgetragen. Der Gesetz- entwurf wird jetzt sozusagen in der ersten Etappe be- Sie haben bei allen Einzelfragen der Ausgestal- raten. Herr Bundesarbeitsminister, ich sage Ihnen tung des Gesetzes an diesem Systemfehler zu knak- jetzt schon: Wir sprechen uns in dieser Angelegen- ken gehabt. Das Gebäude ist ins Wanken gekom- heit wieder. men; denn beides - die Realisierung der Versiche- rungsansprüche aller und die ausreichende Hilfe für Die SPD lehnt diesen Gesetzentwurf ganz ent- die wirklich Hilfsbedürftigen - gleichzeitig ist mit ei- schieden ab. nem stabilen Beitragssatz - und das ist der dritte Eck- stein - nicht vereinbar. Herzlichen Dank. Insofern hat sich die Bundesregierung jetzt so ent- (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE schieden, wie wir es in den vergangenen 13 Jahren GRÜNEN und der PDS) oft erlebt haben: Sie hat sich auch auf die Seite derje- nigen geschlagen, die materiell abgesichert sind, und hat dafür die anderen im Regen stehenlassen Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat jetzt die Kollegin Marieluise Beck. müssen. Für eine Konzentration der Leistungen auf die wirklich Hilfsbedürftigen gab es deswegen keine Möglichkeit mehr. Marieluise Beck (Bremen) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das findet sich in dem vorliegenden Gesetzentwurf Die Bundesregierung hat 1982 ihr Amt übernommen immer und immer wieder; es zieht sich wie ein roter und eine sozialpolitische Maxime ausgegeben, daß Faden durch. Der Leistungskatalog der Pflegeversi- nämlich die sozialen Leistungen auf die wirklich cherung wird um die Kosten der sozialen Betreuung Hilfsbedürftigen konzentriert werden müßten und und der Behandlungspflege ausgeweitet. Das ist aus- daß das Gießkannenprinzip nicht weiter die Ultima gesprochen systemwidrig; denn bei der Behand- ratio der Sozialpolitik sein könne. Seitdem haben wir lungspflege handelt es sich eindeutig um Kosten für viele Gesetzesänderungen erlebt, deren Adressaten die Krankenversicherung. Das weiß Minister Blüm ja sozial Bedürftige in dieser Gesellschaft waren, Ar- auch, aber er hat im Kampf zwischen Seehofer und beitslose, Asylbewerber, Sozialhilfeempfänger. Sie ihm leider nicht gesiegt. haben immer auf der Seite der Verlierer gestanden. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Das Prinzip, Sozialpolitik auf die wirklich Hilfsbe- und der SPD - Gerd Andres [SPD]: Norbert, dürftigen auszurichten, konnte diese Regierung nicht wir sind an deiner Seite!) durchhalten. Das hat sicher viel mit der F.D.P. zu tun - das wissen Sozialpolitiker untereinander; Nun ist das Leistungsvolumen auf 2 500 DM mo- natlich festgelegt. Damit muß der Anteil der pflege- (Gerd Andres [SPD]: Das ist wahr!) bedürftigen Heimbewohner, die trotz der Pflegeversi- cherung weiterhin in der Sozialhilfe bleiben, nach manchmal kann man fast etwas Erbarmen mit den wie vor groß sein. Es ist zu erwarten, daß dieser An- Sozialpolitikern in der CDU haben -, weil immer teil sogar größer wird. auch die Maxime der Subventionierung der Besser- verdienenden mit auf der Tagesordnung gestanden Die dunkelste Seite dieses Gesetzentwurfes ist hat. aber die Art und Weise, wie mit behinderten Men- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) schen umgesprungen wird; darauf ist Kollege Andres eben schon eingegangen. Pflegebedürftige, die in Es geht um die Frage, ob man der Situation der Behinderteneinrichtungen leben, werden von den wirklich Hilfsbedürftigen, der Pflegebedürftigen mit Leistungen der Pflegeversicherung vollständig abge- einem Gesetz Rechnung tragen kann. Wir Grünen schnitten, selbst dann, wenn sie vorher im Berufs- haben über Jahre hinweg ein steuerfinanziertes Pfle- leben gestanden und Beiträge gezahlt haben. Meine gegesetz gefordert, und wir fühlen uns jetzt bestä- Damen und Herren, man muß sich diese unterschied- tigt. Steuerfinanzierung bedeutet nämlich nicht nur liche Behandlung von unterschiedlichen Gruppen eine gerechtere Beitragserhebung, sondern auch die von Menschen in dieser Gesellschaft wirklich einmal Möglichkeit, wirklich bedarfsorientiert Geld- und klarmachen. Das bedeutet nämlich in der Konse- Sachleistungen zu verteilen. quenz, daß Behinderte anders als andere Mitglieder der Pflegeversicherung behandelt werden. Sie haben sich nun für den Weg der Versiche- rungslösung entschieden und können damit nicht Es hat sehr differenzierte und realitätsbezogene nach dem Bedarfsprinzip handeln, sondern müssen Vorschläge von den Wohlfahrtsverbänden und den alle Leistungen unabhängig von der Einkommenssi- Behindertenorganisationen gegeben; sie haben ei- tuation der Betroffenen ausschütten. Das führt dazu, nen eigenen Gesetzentwurf vorgelegt. Sie haben daß das jetzt vorliegende Modell - ob Sie es wollen diese Vorschläge aber als lästige Störung abgetan, 8598 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 96. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. März 1996

Marieluise Beck (Bremen) weil das fragile Gebäude zwischen der F.D.P. und der Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat CDU/CSU durch nichts gestört werden durfte. Frau jetzt die Abgeordnete Gisela Babel. Birgit Schnieber-Jastram, Sie wissen - Sie haben es auch zugegeben -, daß do rt die Achillesferse des Ge- (Gerd Andres [SPD]: Sagen Sie mal was zu setzes ist. Aber das Gebäude war so fragil, daß kein Lambsdorff, damit wir gleich über die rich Buchstabe an diesem Gesetz geändert werden tige Sache reden! Der hat heute schon die durfte, weil Sie sonst Angst haben mußten, es nicht zweite Stufe in Frage gestellt!) mehr über die Runden zu kriegen. Dr. Gisela Babel (F.D.P.): Frau Präsidentin! Meine (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Damen und Herren! Der Deutsche Bundestag berät sowie bei Abgeordneten der SPD) heute in zweiter und in dritter Lesung das Erste SGB- Änderungsgesetz, leicht zu verwechseln mit dem Ge- Diese Entscheidung dokumentiert eine wegwer- setz zur zweiten Stufe der Pflegeversicherung; fende Stimmung gegenüber dem Selbstbestim- darum geht es nicht. Es geht um die ersten Reparatu- mungsrecht behinderter Menschen. ren an dem Gesetz, das wir gemeinsam beschlossen haben. (Dr. Gisela Babel [F.D.P.]: Das ist nicht wahr!) Wenn hier moniert wird, daß es ein Gesetz ist, das von der Kostenseite her bestimmt ist, dann muß ich Das zeigt sich in dem zweiten wichtigen Punkt: Sie Ihnen sagen: Das ist in der Tat die Aufgabe, unter der waren nicht bereit, dem Arbeitgebermodell zuzu- wir heute Politik machen müssen. Das ist keine be- stimmen. Es gibt eine zwar kleine, aber immerhin queme Politik. Es ist vielleicht auch eine Politik, der eine Gruppe von Behinderten, die sich nicht länger sich die Grünen als letzte stellen können. Aber wer den Dienstplänen professioneller Dienste und Heime die Dinge ernsthaft bedenkt, weiß, daß es uns darum unterordnen wollte und ihre Pflege selbst organisiert gehen muß, die Pflegeversicherung in der Dimension hat. Mit ein bißchen gutem Willen wäre es möglich zu halten, in der wir sie einvernehmlich geplant ha- gewesen, dieses Modell in das vorliegende Pflegege- ben, nämlich mit einem Geldvolumen von 1,7 Prozent setz einzufügen. Die Vorschläge lagen vor. Auch dem Beitrag. Darüber waren wir uns einig. Ich bin froh, haben Sie sich verwehrt. daß auch die SPD sagt, daß das der Rahmen bleiben soll, in dem sich alle unsere Änderungsbemühungen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN abspielen müssen. und der PDS) (Beifall bei der F.D.P.) Drittens haben Sie angefangen, Pflegestandards auf breiter Front abzusenken, und zwar nicht nur im Im Hinblick auf die 1,7 Prozent Beitrag stehen wir Pflegegesetz, sondern durch die vermeintlich nur vor Konflikten bei der Abgrenzung. Wir müssen ent- rechtssystematische Angleichung im BSHG. Sie ha- scheiden, was mit den Kosten geschehen soll, die für ben den weiten Pflegebegriff im BSHG verengt und die medizinische Darreichung entstehen. Wir müssen parallelisiert zum Pflegegesetz und damit kommuni- entscheiden, wie die Behandlungspflege finanziert kative und psychosoziale Hilfen, die im BSHG als werden soll. Wie ist die Behandlungspflege vorher fi- Teil von Pflege genannt wurden, gestrichen.- Damit nanziert worden? Sie ist vorher nicht als Leistung der ist der enge Pflegebegriff, der nur die Grundpflege Krankenversicherung finanziert worden. Weder von und die hauswirtschaftliche Betreuung umfaßt, jetzt den Grünen noch von der SPD ist jemals beantragt auch ins BSHG eingeführt und damit die Tendenz worden, die medizinischen Kosten in den Pflegehei- nach unten vorprogrammiert. men der Krankenversicherung aufzuerlegen. Noch niemals haben Sie einen solchen Antrag gestellt. Dies alles haben Sie gemacht und machen müssen, (Gerd Andres [SPD]: Selbstverständlich gibt weil Sie diesem Gesetz vom Systemansatz her nicht die Idee „Hilfe für die wirklich Hilfsbedürftigen" zu- es das! Mehrere Änderungsanträge zu § 37!) grunde gelegt haben, sondern von der Kostenseite Bei der Pflegeversicherung kommen Sie jetzt auf her Politik machen und dem alle Notwendigkeiten einmal auf die Idee, zu sagen: Das geht doch nur, unterordnen mußten. wenn es die Krankenversicherung übernimmt. Die Krankenversicherung müßte Mehrkosten von 1 Mil- Das Schlimme dabei ist, daß Sie sich tatsächlich liarde DM zahlen. Herr Andres, es gab in Ihrer Frak- dazu durchgerungen haben, Behinderte nicht gleich- tion über diese Frage unterschiedliche Meinungen. berechtigt mit anderen Pflegebedürftigen zu behan- Die Fraktion hat sich mehrheitlich zugunsten Ihrer deln. Diese Entscheidung ist ein Baustein in der viel- Meinung entschieden. Aber die Tatsache, daß man fältigen Diskriminierung, mit der Behinderte in unse- einer anderen Sozialversicherung plötzlich neue Ko- rer Gesellschaft überall zu kämpfen haben. Das darf sten in der Größenordnung von 1 Milliarde DM auf- eine solidarische Gesellschaft, das darf auch ein soli- bürdet, ohne sich Gedanken darüber zu machen, wie darisch denkendes Parlament nicht zulassen. Ich es dort mit den Beitragssätzen aussieht, halte ich für hoffe, daß besonders dieser Passus im Vermittlungs- leichtfertig. ausschuß nicht standhält.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Frau Kollegin, und bei der PDS sowie bei Abgeordneten gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen An- der SPD) dres? Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 96. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. März 1996 8599

Dr. Gisela Babel (F.D.P.): Nein, ich möchte das gern derte würden in ihrer Pflege, in ihrer Behandlung in zu Ende führen. irgendeiner Weise herabgestuft. Das ist nicht der Fall. Es ist die Frage, ob es sinnvoll ist, das in die Pflege- (Gerd Andres [SPD]: Lassen Sie sich das versicherung hineinzunehmen und nicht von vorn- noch einmal ganz ruhig von Karl Jung herein zu sagen, dieser Bereich bleibt so geregelt wie erklären!) vorher: Der einzelne zahlt selber, oder es wird Sozial- hilfe gezahlt, wenn Sozialhilfebedürftigkeit vorliegt. Meine Damen und Herren, jetzt geht es um das Aber daß wir sagen, wir machen das in der Kranken- Thema, ob die Pflegeversicherung hier leisten soll. versicherung, ohne sich darüber Gedanken zu ma- Man kann eine Pflegeversicherung natürlich so aus- chen, wie es dort zu finanzieren ist, halte ich für eine gestalten, daß sie das leistet. Das wollen wir nicht Politik der Verschiebung. Die können wir nicht mehr leugnen. Die Frage ist, ob die Eingliederungshilfe in machen. Das ist der eine Punkt. diesen finanziellen Rahmen hineinpaßt. Es ergibt sich, daß wir den Spielraum für das do rt erforderliche (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne Geld nicht haben. ten der CDU/CSU - Gerd Andres [SPD]: Genau die Politik machen Sie doch!) Ich finde es sehr interessant, wenn auf den Ver- mittlungsausschuß hingewiesen und gesagt wird, Der zweite Punkt ist die Abgrenzung in Richtung dann werden wir das dort durchsetzen. Der Vermitt- Sozialhilfe für die Behinderten. Dies ist ein heikler lungsausschuß kann vieles. Er macht auch viel Un- Punkt. Ich weiß, daß es sich Behindertenverbände sinniges. Eines kann er aber nicht: Er kann kein Geld zur Aufgabe machen, sich in allen Fragen, die die Be- drucken. Er hat keine Möglichkeiten, Finanzmittel hinderten betreffen, auch zum Anwalt zu machen, herbeizuschaffen, sondern er muß sich einfügen in um deren Situation, soweit es geht, zu verbessern. den einvernehmlichen Rahmen von Pflegegeld in der Ich will diese Aufgabe auch nicht in Abrede stellen. Größenordnung von 1,7 Prozent Beitrag. Deswegen Aber zu sagen, Frau Beck, daß das, was wir hier ma- warne ich an dieser Stelle davor; im Vermittlungs- chen, eine bewußte Diskriminierung von Behinder- ausschuß werden wir den Rahmen schon ausdehnen. ten darstellt, finde ich unerhört. Ich finde das wirk- lich infam. Sie kennen auch die Präzedenzwirkung, die die Einbeziehung von Behinderten in stationären Ein- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU - richtungen, in Werkstätten und anderen Bereichen Walter Hirche [F.D.P.]: Infam! - Gerd für die Pflegekasse mit sich bringt. Insofern finde ich Andres [SPD]: Wie würden Sie es denn nen die Einigung auf die Regelung, die nicht leicht zu nen? Sagen Sie, wie Sie es nennen, Frau vertreten ist, gut. Babel!) Frau Schnieber-Jastram, es spricht für Sie, daß Sie Vom Behinderten aus gesehen ist es richtig - das sich sehr tapfer zu dieser Mehrheitsmeinung be- haben wir mit Blick auf das Sozialsystem meiner An- kannt und zugegeben haben, daß es Ihnen Schwie- sicht nach zu Recht gesagt -, daß der erste Ansatz rigkeiten bereitet hat. Es ist aber eben schwierig, Eingliederungshilfen für Behinderte sein müssen. und wir werden immer Schwierigkeiten bekommen, Behinderte sollen Fähigkeiten erwerben oder wieder die Abgrenzungen so vorzunehmen, daß wir uns in erwerben, die ihnen die Teilnahme am Leben ermög- dem finanziellen Rahmen bewegen können. Wir lichten. Wir sollten nicht in erster Linie -sagen: Sie müssen uns auf Fachleute verlassen können, die uns sollen gepflegt werden. Natürlich müssen sie ge- sagen, daß das nicht mehr getragen werden kann. Es pflegt werden. Natürlich werden sie in Deutschland ist doch klar: Wenn wir es könnten, würden wir auch auch gepflegt. Es gibt keinen Fall, wo ein Behinder- andere Entscheidungen treffen. ter keine Pflege erhält. Es ist aber für uns moderne Sozialpolitik, daß Behinderte in erster Linie Leistun- Ein weiterer Punkt. Wir haben bei der Pflegeversi- gen der Eingliederungshilfe bekommen. cherung die Kosten auf die Grundpflege und konse- quent auch auf die Pflegefachkraft zu beschränken, Jetzt kommt das schwierige Thema, ob es die Mög- auf diejenigen, die sich nur mit Pflege befassen und lichkeit einer Abgrenzung gibt, eine einheitliche Be- nicht mit Heilpädagogik, nicht mit Heilerziehung. handlung sozusagen zu zerreißen und zu sagen, dies Wir haben diese Abgrenzung sehr klar gezogen. Wir ist eine Maßnahme, die wir der Eingliederungshilfe wollen auch keinen Verschiebebahnhof mit Blick auf zuordnen, und dies ist eine Maßnahme, die wir der die Zielbestimmungen einer Einrichtung, der sich da- Pflege zuordnen. Natürlich brächte das sehr un- nach bestimmt, wo sie Geld bekommt. Das kann menschliche Erwägungen und schwierige Auseinan- nicht der Sinn unserer Pflegeversicherung sein. dersetzungen mit sich. Die Frage ist also, wie das in einer Einrichtung mit zwei Finanzträgern abgerech- Im Zusammenhang mit Bürokratieabbau ist ein net wird. weiterer Punkt - das hat sogar Kollege Andres ge- lobt -, daß wir für die Übergangszeit sehr klare Pau- Wenn Sie heute einmal die Leiter solcher Einrich- schalsätze festgelegt haben. Ich möchte davor war- tungen fragen, dann werden sie Ihnen bestätigen, daß nen, daß man nun glaubt, mit diesen Pauschalsätzen es goldrichtig war, was wir hier gemacht haben, daß auch die Zukunft zu bestehen. Wir wollen damit in wir eine klare Regelung getroffen haben, die es er- der Übergangszeit Erfahrungen sammeln, wie die möglicht zu sagen: Es bleibt bei der Eingliederungs- Pflegeverträge aussehen. Das kann in einem Fall et- hilfe, und es bleibt bei der Finanzierung der Einglie- was mehr, im anderen Fall etwas weniger sein. Aber derungshilfe. Insofern - ich sage es noch einmal - wir wollen die Flexibilität erhalten und nicht von kann es nicht angehen, daß man behauptet, Behin- vornherein für alle Zukunft für alle Pflegeversiche- 8600 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 96. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. März 1996

Dr. Gisela Babel rungen in ganz Deutschland dieselben Sätze vor- Regelungen des Koalitionsentwurfes wieder rück- schreiben. Ich halte das für eine vernünftige Lösung. gängig gemacht. Statt die klare und eindeutige Re- gelung in § 13 zur Aufhebung des Nachrangs der Ich komme zum Schluß. Wir haben mit diesem Än- Eingliederungshilfe und anderer Regelungen zur derungsgesetz im wesentlichen Vorsorge dafür ge- Pflegeversicherung konsequent auszubauen, korri- troffen, daß die Pflegekasse mit 1,7 Prozent als Bei- gierte die Koalition ihre Meinung. Der bisher unbe- trag ihre Leistungen im ambulanten und stationären friedigende Zustand wurde bewußt wiederherge- Bereich bezahlen kann. Wer mehr will, muß sagen, stellt. Eine Klage- und Eingabenflut ist damit bereits wie es zu bezahlen ist. Die Sozialdemokraten möch- vorprogrammiert. ten zum Beispiel die Behandlungspflege den Kran- kenkassen aufbürden, deren Beitragssätze dann stei- Daneben - scheinbar unbeabsichtigt - wird mit gen werden. Wichtig ist, daß die Politik in der jetzi- diesem Gesetz ein verstärkter Impuls zur Umstruktu- gen Lage die richtigen Signale aussendet. rierung und Umbenennung der Einrichtungen der Behindertenhilfe gegeben. Veränderungen und Ver- Es ist ein schwieriges Geschäft. Es wird allein der schlechterungen gab es bereits reichlich. Die Vertre- Koalition und der Bundesregierung überlassen. Die terinnen und Vertreter der Verbände bezogen sich in Opposition entzieht sich der Verantwortung - der Anhörung am 28. Februar 1996 auf diese Ten- denzen und machten auf die massiv drohenden Ge- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Frau Kollegin, fahren aufmerksam. Der Bundesverband für Körper- Sie müssen jetzt wirklich zum Schluß kommen. und Mehrfachbehinderte warnt, daß wegen des uneingeschränkt geltenden Nach Dr. Gisela Babel (F.D.P.): - und gaukelt der Öffent- rangs der Zweck der sozialen Rehabilitation nicht lichkeit bei allen Gelegenheiten vor, Geld sei genü- einmal im Vordergrund der Einrichtung zu stehen gend vorhanden. braucht, (Gerd Andres [SPD]: So ein hochgradiger Quatsch!) um dem Sozialhilfeträger einen Druck auf die Einrichtung zu ermöglichen, sich Mit dieser Politik werden Sie nie Regierungsverant- wortung übernehmen. teilweise (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne in eine Pflegeeinrichtung umzustrukturieren. ten der CDU/CSU) Das Ganze geschieht dann natürlich mit einem sich schleichend verändernden Konzept: weg von Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Jetzt hat die der pädagogisch geprägten Hilfe hin zur medizinisch Kollegin Petra Bläss das Wort. dominierten Pflege. Da die Koalitionsparteien alle Hinweise und Informationen zu den in Gang gesetz- Petra Bläss (PDS): Frau Präsidentin! Liebe Kolle- ten Umstrukturierungen wegreden, bleibt nur eine ginnen und Kollegen! Die parlamentarische Debatte Schlußfolgerung: Diese Umstrukturierung ist beab- um die heute zu beschließende Novellierung des sichtigt. Pflege-Versicherungsgesetzes war an Hektik,- Zeit- (Beifall bei der PDS) knappheit und Konfusion wohl kaum noch zu über- Schon vor einem Jahr hat die PDS in diesem Hause bieten. Es war der besonnenen Art der Leitung des darauf hingewiesen, daß die Koalition die Pflegever- Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung durch die sicherung nutzt, um historisch gewachsene und be- Kollegin Ulrike Mascher zu verdanken, daß die Ab- währte Strukturen und Hilfeformen in der Alten- und geordneten der Koalition zeitweise überhaupt noch Behindertenhilfe zu zerschlagen. Leider bestätigen wußten, welche Änderungsanträge gerade gültig sich unsere Befürchtungen. Die von Minister Blüm und zur Beratung aufgerufen waren. beschworene neue Kultur des Helfens und der Pflege (Beifall bei der PDS und der SPD) erweist sich in der Realität als eine „Satt-sauber- still" -Pflege. Sowohl die Pflegeversicherung als auch Zur Beschlußfassung steht heute die Änderung der dieses Änderungsgesetz schreiben die Verabschie- Änderungsanträge zum Ersten Änderungsgesetz zur dung vom Bedarfsdeckungsprinzip fest. Änderung des Elften Buches Sozialgesetzbuch. Ich denke, das wirft ein bezeichnendes Licht auf dieses Die von den Oppositionsfraktionen vorgelegten Gesetzgebungsverfahren. Auch die von Wut und Änderungsanträge sind fast wörtlich dem Alternativ- Aufregung gekennzeichneten Reaktionen einiger entwurf der Behindertenverbände entnommen. Bei Koalitionsabgeordneter zu den Voten der mitberaten- der Anhörung am 28. Februar 1996 haben die Ver- den Ausschüsse sprechen nicht gerade für gesetzge- bände angemahnt, einfach einmal zur Kenntnis zu berische Seriosität und schon gar nicht für ein über- nehmen, daß sein Zustandekommen zeugendes Demokratieverständnis. Nichts wurde eine einmalige Solidaritätskampagne aller hier ausgelassen, um eine fundierte Berücksichtigung der am Tisch Sitzenden war, der Versuch, einen ver- Hinweise des Rechtsausschusses zu verhindern. nünftigen Kompromiß, aus dem Dilemma zu fin- Einmal mehr wurden die Stellungnahmen der Be- den. Wir erwarten eigentlich von der Politik, daß hindertenverbände ignoriert und damit ihre Mitwir- sie die nötige Sensibilität besitzt, um hier dieses kung am Gesetzgebungsprozeß verhindert. Schon einhellige Votum der Betroffenen- und Behinder- fast symbolisch wurde eine der wenigen gangbaren tenverbände umzusetzen. Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 96. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. März 1996 8601 Petra Bläss Wenn die Koalitionsparteien die Änderungsan- tungen unumstritten waren: Wir wollen für eine be- träge von SPD und Bündnis 90/Die Grünen ableh- stimmte Zeit in den drei Pflegestufen pauschale nen, entscheiden sie sich also zugleich auch gegen Sätze an die stationären Einrichtungen zahlen. Das den Kompromißvorschlag der Verbände, der sich muß allerdings auch bedeuten, daß sich die Beteilig- noch dazu im vorgegebenen Finanzvolumen bewegt. ten, insbesondere die Pflegekassen, um die Kosten- strukturen in den Pflegeheimen kümmern. Ich habe (Beifall bei der PDS) den Eindruck, daß in vielen Pflegeheimen die anfal- Was hindert Sie eigentlich, Impulse von Betroffenen, lenden Kosten bislang einfach aufsummiert wurden die nachweislich über die größte Sachkunde verfü- und man daraus die Pflegesätze errechnete. Ich gen, aufzunehmen? möchte schon, daß in diesem Bereich ein starker Druck in Richtung eines wirtschaftlichen, verant- Bezeichnend ist, daß die Bundesregierung immer wortbaren Handelns entsteht. mehr zu dirigistischen Instrumenten und Methoden greift, um ihre Politik zu Lasten behinderter, alter (Zustimmung bei der CDU/CSU) und sozial schwacher Menschen durchzuziehen. Die PDS lehnt deshalb die Ermächtigung des BMA zur Wir konnten aus diesem Pflege-Versicherungsän- uneingeschränkten Weisungsbefugnis in bezug auf derungsgesetz natürlich - ich sage es einmal ganz die Richtlinien für die Pflegeversicherung ab. deutlich - keine Wundertüte machen, weil für uns klar war, daß wir mit einem Beitrag von 1,7 Prozent Wir wenden uns auch gegen die vorgesehenen auskommen müssen. Ich glaube, man muß sich, Veränderungen in § 68 BSHG. In Verbindung mit der wenn das funktionieren soll, über notwendige Ab- bereits vom Bundestag beschlossenen Novellierung grenzungen zwischen Pflegeversicherung und BSHG des Sozialhilferechts werden die für die Alten- und unterhalten. Behindertenhilfe ohnehin verheerenden Entwick- lungen noch verschärft. Statt die ohnehin nicht ein- Wahr ist auch, daß das BSHG drei Säulen hat. Die mal die Grundversorgung sichernde Pflegeversiche- eine Säule sind die Leistungen zum laufenden Le- rung weiter nach unten hin zu novellieren, sollte sie bensunterhalt, eine weitere Säule ist die Eingliede- ausgebaut werden in Richtung einer wirklichen Be- rungshilfe, und die dritte Säule ist die Pflege. Das ha- darfsgerechtheit für die Betroffenen. ben wir bislang alles über die Sozialhilfe finanziert. Für die dritte Säule haben wir mit der Pflegeversiche- Die PDS lehnt daher das zur Abstimmung ste- rung eine Versicherungslösung geschaffen. Da über- hende Änderungsgesetz ab. nehmen wir auch überall die Kosten. (Beifall bei der PDS) Aber genauso wichtig ist es dann doch, daß wir in dem Bereich der Eingliederungshilfe, dort, wo vor al- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Es spricht jetzt len Dingen Eingliederungshilfe geleistet wird, klar der Abgeordnete Karl-Josef Laumann. trennen. Nur aus diesem Grund halte ich, was die Be- hindertenwohnheime angeht, die zweifelsohne zu (Gerd Andres [SPD]: Sag mal was zu Blüm 80/90 Prozent ihrer Arbeit Eingliederungshilfe ma- und Seehofer! Zwischen ihnen ist eine rich chen, es auch für verantwortbar, sie aus der Pflege- tige Eiswand!) versicherung herauszunehmen, um ein Kompetenz- - wirrwarr zweier verschiedener Sicherungssysteme zu Karl-Josef Laumann (CDU/CSU): Frau Präsiden- verhindern. tin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Frau (Beifall der Abg. Dr. Gisela Babel [F.D.P.]) Kollegin Bläss, zu jemandem, der bei den Ausschuß- beratungen über dieses Pflege-Versicherungsände- Wenn man es so sieht, ist auch ein wenig mehr Ak- rungsgesetz nicht mehr durchgeblickt hat, kann ich zeptanz für unsere Überlegungen zu erreichen, denn nur sagen: Wenn man sich die Behinderteneinrich- der einzelne Behinderte wird durch diese Lösung tungen in den neuen Bundesländern anschaut, weiß nicht schlechtergestellt, als wenn wir ihn mit in diese man, wieviel Sympathien Ihre politische Mutter, die Leistungen genommen hätten. SED, für behinderte Menschen hatte. Das müssen Sie sich bei dieser Frage schon anhören. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge Ich sehe nicht ein, einfach ohne Bedenken hier wie- ordneten der F.D.P. - Zurufe von der PDS: der 600, 700, 800 Millionen DM an die Sozialhilfe bei- Oh!) tragsfinanziert hinüberzuschaufeln. Mit dem Gesetz, das wir heute debattieren, schafft Ein weiterer Punkt ist - das wird jetzt im Vermitt- der Deutsche Bundestag die Voraussetzungen dafür lungsausschuß mit diesem Gesetz sicherlich eine - davon bin ich fest überzeugt -, daß die zweite Stufe Rolle spielen -, daß man sich auch über etwas unter- der Pflegeversicherung ohne große Probleme einen halten muß, was in diesem Gesetz gar nicht steht und reibungslosen Übergang für die Betroffenen ermög- dort gar nicht stehen konnte. Das sind die Investiti- licht, sowohl für die Menschen, die in den stationä- onskosten. An der Front sollte auch die Opposition ren Einrichtungen gepflegt werden müssen, wie für nicht anfangen - ich sage es einmal ganz deutlich - diejenigen, die dort arbeiten. „herumzueiern". Dafür sorgen alleine die zeitlich bef risteten Über- (Beifall der Abg. Eva-Maria Kors [CDU/ gangsvorschriften, die ja auch in den Ausschußbera- CSU] - Gerd Andres [SPD]: § 9!) 8602 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 96. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. März 1996

Karl-Josef Laumann Hier ist nämlich der entscheidende Punkt, ob es uns Da geht es um die selbstbestimmte Lebensform von gelingt, den Eckrentner aus der Sozialhilfe herauszu- schwerstbehinderten Menschen. holen oder nicht. Wenn wir in der schwierigsten Pfle- gestufe 2 800 DM zahlen und etwa 2 000 DM Rente Ich kritisiere nicht, daß die heutige Beratung der zur Verfügung stehen, hat der Betreffende 4 800 DM Pflegeversicherung nicht unter die Dampfwalze der in der Hand. Wer 4 800 DM in der Hand hat, für den wahltaktisch geprägten Debatten der letzten Wochen ist es entscheidend, ob der Investitionskostensatz, geraten ist, aber ich bin besorgt, daß Themen, die un- der im Pflegesatz enthalten ist, bei 900 DM oder bei mittelbar die Lebenssituation von Menschen in einer 200 DM liegt. Es ist die ganz entscheidende Frage, schwierigen Lebenslage betreffen, so am Rand unser ob es uns gelingt, die Leute, die als Handwerker, als parlamentarischen Arbeit plaziert werden. tüchtige Arbeitnehmer 40, 45 Jahre in diesem Land (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne gearbeitet haben - das ist nämlich in Wahrheit der ten der PDS und der Abg. Marieluise Beck Eckrentner -, im Alter aus der Sozialhilfe herauszu- [Bremen] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) holen oder nicht. Das ist für mich die entscheidend- ste Frage von alledem, was ansteht. Hier geht es nicht nur um ein hochspezialisiertes Thema einiger Fachpolitikerinnen und Fachpolitiker, (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge nein, es geht um die immer neu zu beantwortende ordneten der F.D.P.) Frage: Wie geht die Politik, wie geht das Parlament mit kleinen Gruppen in unserer Gesellschaft um, die Hier kann ich nur - ich sage das zum Abschluß den besonderen Schutz, die besondere Beachtung in sehr deutlich - den Bundesrat bitten, daß er sich be- ihrer schwierigen Lebenssituation brauchen und für wegt. Denn eines sage ich Ihnen: Für eine Pflegever- die wir alle die große Anstrengung der Neugestal- sicherung, die nicht den Eckrentner aus der Sozial- tung einer sozialen Absicherung ihres Pflegebedarfs hilfe holt, wird es am Ende - ich kann das zunächst gemacht haben. nur für mich sagen - meine Zustimmung in diesem Bundestag nicht geben. Ein Plündern der Arbeitneh- Jeder und jede Abgeordnete weiß aus Gesprächen merrenten, um im Alter eine Erbschaftssicherungs- oder aus Briefen von Pflebedürftigen und ihren Fami- versicherung für den Mittelstand zu haben, war nicht lienangehörigen, wie notwendig die Korrektur und das Ziel, das wir gemeinsam hatten, als wir die Pfle- die Ergänzung der Pflegeversicherung ist. Alle Dis- geversicherung geschaffen haben. Deswegen müs- kussionen mit Wohlfahrtsverbänden und Betroffe- sen die Länder in den Fragen der Investitionskosten nenorganisationen zeigen, es gibt Nachbesserungs springen. bedarf, zum Beispiel bei der Arbeit der medizini- schen Dienste, bei der Verzahnung und Abgrenzung (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge der Pflegeversicherung und Eingliederungshilfe von ordneten der F.D.P.) Behinderten, die im Bundessozialhilfegesetz angesie- Ich bedauere es sehr, daß Sie, Herr Kollege An- delt ist. dres, der ich Sie sonst aus der Arbeiterbewegung Wir müssen erreichen, daß bei der Einführung der sehr schätze, nicht mehr den Mut haben, in dieser zweiten Stufe der Pflegeversicherung das Verspre- Frage in Ihrer Fraktion und hier im Parlament Tache- chen, niemand soll durch die Pflegeversicherung les zu reden, damit wir den Eckrentner aus der So- - schlechtergestellt werden als bisher, realisie rt wer- zialhilfe holen. den kann. Noch etwas sollten wir aus der Einführung Danke schön. der ersten Stufe gelernt haben: Die Pflegeversiche- rung darf nicht zum Arbeitsbeschaffungsprogramm (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge an der falschen Stelle, nämlich bei den Sozialgerich- ordneten der F.D.P.) ten, werden. Ich bedaure es deshalb als Ausschußvorsitzende, Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat daß das Votum des Rechtsausschusses von der CDU/ jetzt die Vorsitzende des Ausschusses für Arbeit und CSU-F.D.P.-Mehrheit nicht weiter beraten wurde. Sozialordnung, die Kollegin Ulrike Mascher. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Ulrike Mascher (SPD): Frau Präsidentin! Liebe Kol- und der PDS) legen! Liebe Kolleginnen! Die heutige Tagesordnung zeigt für mich erneut, wie stark die taktischen Über- Ich halte es nicht für klug, den Hinweis des Rechts- legungen der Regierungskoalition unsere parlamen- ausschusses auf mögliche Prozeßrisiken nach der tarische Arbeit bestimmen. Um 9 Uhr diskutieren wir Maxime Mehrheit ist Mehrheit vom Tisch zu wischen über drei Stunden den Religionsunterricht in Bran- und das Angebot des Staatssekretärs, eine präzisere denburg, und jetzt, am frühen Nachmittag, vor einem Formulierung zu versuchen, einfach zu überhören. immerhin mittelmäßig besetzten Haus Wieder einmal führt erheblicher Zeitdruck dazu, daß ein Gesetz mit heißer Nadel genäht wird. (Widerspruch von der CDU/CSU) Auch der sachliche Gehalt des ersten Änderungs- und als Abgesang nach drei harten Arbeitswochen gesetzes ist von befürchteten Finanzengpässen und im Parlament wird die Pflegeversicherung beraten. Kostendeckeln bestimmt ebenso wie von der Angst Da geht es ja nur um die Lebenssituation von 410 000 vor Mißbrauch und einer unterschwelligen Frontstel- behinderten Menschen in stationären Einrichtungen. lung zu den Betroffenenverbänden und einem Ver- Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 96. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. März 1996 8603 Ulrike Mascher schiebebahnhof der Kosten zwischen Kranken- und die medizinisch notwendige Spritze zu Lasten der Pflegeversicherung. Pflegeversicherung. Die Betroffenen und ihre Familien mit ihren Äng- (Bundesminister Horst Seehofer: So ist es! sten und Sorgen, die Träger von Einrichtungen und So ist es schon seit hundert Jahren!) die dort Beschäftigten mit ihren Erfahrungen und Vorschlägen verschwinden aus der Debatte. Die gro- Abends, wieder zu Hause, also wieder im ambulan- ßen Wohlfahrtsverbände und die Betroffenenver- ten Bereich, wird die letzte Spritze als medizinische bände haben sich alle gegen die Ausgrenzung von Behandlungspflege eine Leistung der Krankenversi- behinderten Menschen aus den Leistungen der Pfle- cherung. Vielleicht können Sie von der Regierung geversicherung im stationären Bereich ausgespro- das den Betroffenen erklären. chen. Das ist nicht nur eine materielle Frage, sondern (Beifall bei der SPD) es hat einen hohen symbolischen We rt. Vielen Abgeordneten sind die großen Einrichtun- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne gen für Behinderte, zum Beispiel Bethel, Neudet- ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN telsau in Bayern oder die Alsterdorfer Anstalten in und der PDS) Hamburg, ein Begriff. Viele von Ihnen kennen die Einrichtungen der Lebenshilfe oder sind Mitglied Die SPD hat deshalb, wie mein Kollege Andres dieses Verbandes. Dort sind über Jahre hinweg ganz- dargestellt hat, einen Änderungsantrag, der sich an heitliche Angebote besonders für geistig und psy- dem Alternativentwurf der Wohlfahrtsverbände chisch behinderte Menschen entwickelt worden. orientiert, eingebracht. Auch wenn keine verfas- Dort haben sich qualifizierte Berufe wie Heilerziehe- sungsrechtlichen Bedenken von seiten des Justizmi- rin oder Heilerziehungspfleger herausgebildet. nisteriums, wenn keine Bedenken der Einzelsachver- Diese qualifizierten Berufe sind durch die Festlegung ständigen und auch keine Bedenken im Rechtsaus- der Pflegeversicherung gefährdet. Die SPD wi ll die schuß formuliert wurden, halte ich es für falsch, hier Ausgrenzung von Berufsgruppen und damit die Ge- Ausgrenzung statt Integration zu praktizieren. fährdung von Qualitätsstandards, die über Jahre hin- weg im Interesse der Betroffenen entwickelt wurden, Bei der jetzigen Regelung entscheidet sich für Be- verhindern. hinderte die Frage, ob die Pflegeversicherung für pflegerische Leistungen aufkommt, nicht nach der (Unruhe) Pflegebedürftigkeit, sondern danach, in welcher Ein- Für uns darf ganzheitliche Pflege nicht allein richtung er sich befindet. Das ist weder sachgerecht an medizinisch-krankenpflegerischen Verrichtungen noch sozial gerechtfertigt. und Standards orientiert werden. Wir lehnen deshalb (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne auch nach den Ergebnissen der beiden Anhörungen ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN die enge Definition der Pflegefachkraft im Gesetzent- und der PDS) wurf der Koalition ab. (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Petra Das Ergebnis des Verschiebebahnhofs zwischen Bläss [PDS]) Kranken- und Pflegeversicherung ist ein- weiteres Beispiel für Flickschusterei. Ich kann nur ganz deut- lich sagen: Eine ganz große Mehrheit in der SPD- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Frau Kollegin, Fraktion hat sich für den Änderungsantrag, die medi- einen kleinen Moment. - Ich bitte um ein bißchen zinische Behandlungspflege der Krankenversiche- mehr Ruhe für die Rednerin. rung zuzuordnen, ausgesprochen.

(Gerd Andres [SPD]: Sehr richtig!) Ulrike Mascher (SPD): Mein Kollege Andres hat bereits deutlich gemacht, daß die SPD durch die Er- Im ambulanten Bereich werden Kosten der medizi- gänzung des vorliegenden Gesetzentwurfes das Ar- nischen Behandlungspflege von der gesetzlichen beitgeber- oder Assistenzmodell für eine selbstorga- Krankenversicherung übernommen. Im stationären nisierte Pflege besser absichern wi ll. Das ist auch we- Bereich sollen diese Leistungen für krankenversi- gen der bereits erfolgten sehr restriktiven Regelung cherte Pflegebedürftige von der Pflegeversicherung im Bundessozialhilfegesetz notwendig. übernommen werden. Das bedeutet angesichts der auf maximal 2 800 DM begrenzten Pflegeleistungen Alle Erklärungen und alle Bemühungen der Regie- häufig eine Verlagerung der Kosten auf den Pflege- rungsfraktionen können die Tatsache nicht vom bedürftigen oder den Sozialhilfeträger, oder es Tisch wischen, daß die Realisierung dieser selbstbe- schränkt - das finde ich besonders bedenklich - die stimmten Lebensform schwerstbehinderter Men- Leistungen der sozialen Betreuung ein. schen durch die Pflegeversicherung nicht erleichtert, sondern erschwert und möglicherweise gefährdet Für Pflegebedürftige in teilstationären Einrich- wird. Das belegen die Ergebnisse der letzten Anhö- tungen, zum Beispiel in Tagesheimen, wird es ganz rung. Warum sich die Abgeordneten aus den Koaliti- abenteuerlich. Der Pflegebedürftige braucht mor- onsfraktionen mit Begriffen wie Rechtssicherheit gens, noch zu Hause, eine Spritze; er erhält sie als oder Klarstellung gegen eine Regelung wenden, die Leistung der Krankenversicherung. Mittags, in der für die kleine Zahl der Betroffenen existenzwichtig Tagesheimeinrichtung, gibt es, weil sie stationär ist, ist, kann ich nicht nachvollziehen. 8604 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 96. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. März 1996

Ulrike Mascher Ich hätte mir gewünscht, daß die Abgeordneten Ich sage Ihnen: Die zweite Stufe der Pflegeversi- der Regierungsfraktionen, die sicher nicht von dem cherung wird so erfolgreich sein wie die erste. Engagement dieser schwerstbehinderten Menschen bei der Verteidigung ihrer Lebensform unberüh rt ge- Meine Damen und Herren, Sie erinnern sich si- blieben sind, auch bei genauer Abwägung der Ko- cherlich noch an die Begleitmusik bei der Einfüh- sten - nach Aussage des Bundesarbeitsministers rung der ersten Stufe der Pflegeversicherung: Die 7,8 Millionen DM - die Regelung entsprechend dem Anträge würden nicht abgearbeitet. - Die Anträge Alternativentwurf der Wohlfahrtsverbände wenig- sind abgearbeitet. In diesem Zusammenhang möchte stens in diesem Punkt unterstützt hätten. ich auch dem medizinischen Dienst meinen Dank sa- gen. (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Annelie (Gerd Andres [SPD]: Die erste Stufe steht, Buntenbach [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Norbert, alles klar!) Vielleicht wäre Ihnen das leichter gefallen, wenn Pro Monat gibt es bei der Rentenversicherung Sie die Entscheidung des Bundessozialgerichts vom 180 000 Antragseingänge. Um diese Anträge zu be- Mittwoch gekannt hätten. In einer Zeitung heißt es: arbeiten, braucht die Rentenversicherung 18 Wochen. Behinderte dürfen ihre Pflege selbst organisieren Die Pflegeversicherung hat für 150 000 Anträge sechs Wochen gebraucht - dreimal kürzer als bei Sozialgericht hebt Beschränkung auf ambulante der bewährten Rentenversicherung. Meine Anerken- Dienste auf/Auch Privatverträge mit Kassen nung! Genau diese Punkte haben wir diskutiert; genau (Gerd Andres [SPD]: Bravo! Die erste Stufe diese Punkte wollen wir in unserem Änderungsvor- steht!) schlag regeln; genau diese Punkte haben Sie leider abgelehnt. Das Bundessozialgericht hat Sie schon ei- - Ja, was anerkannt werden muß, das sollten auch nes Besseren belehrt. Sie mit anerkennen. Zum Schluß: Die SPD gefährdet mit ihren Ände- (Beifall bei der CDU/CSU) rungsanträgen nicht den Finanzrahmen der Pflege- 1,2 Millionen Mitbürger erhalten jetzt zum ersten- versicherung. Wir wollen den Beitragssatz von mal Hilfe oder erhalten jetzt mehr Hilfe als vorher. 1,7 Prozent stabil halten. Aber wir sehen angesichts der Inanspruchnahme der Pflegeversicherung inner- Das ganze Protestieren und Debattieren wird ja halb des Kostenrahmens Raum für unsere Ände- überwunden durch diejenigen, die wissen, daß die rungsanträge, die sich auf die Erfahrungen der Be- Pflegeversicherung den Pflegebedürftigen und deren troffenen und der Wohlfahrtsverbände stützen. Angehörigen geholfen hat. Das wollen wir doch ge- meinsam feststellen. Auch wenn Sie heute leider unsere Änderungsan- träge ablehnen: Wir sind noch nicht am Ende der Be- (Beifall des Abg. Gerd Andres [SPD] und ratungen angelangt. Denn die Länder haben jetzt die der Abg. Ulrike Mascher [SPD]) Möglichkeit, die notwendigen Korrekturen vorzu- Die Finanzen der Pflegeversicherung sind gesi- nehmen. Ich kann Ihnen versichern, daß die Mitglie- chert. Wir haben eine Rücklage, nämlich solide der der Bundestagsfraktion auch darauf achten wer- 5,6 Milliarden DM, und dies trotz aller Ankündigun- den, daß die Investitionskosten in angemessener gen, in denen von einem Defizit die Rede gewesen Weise von den Ländern übernommen werden. ist. Danke. Die Zahl der Anträge auf stationäre Unterbrin- (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE gung geht zurück. Dies halte ich nicht nur für einen GRÜNEN und der PDS) finanziellen Erfolg, (Zuruf des Abg. Gerd Andres [SPD]) Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat sondern vor allem auch für einen humanitären Er- jetzt für die Bundesregierung der Herr Bundesmi- folg, nister für Arbeit und Sozialordnung, Norbe rt Blüm. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) weil die Menschen so lange, wie es möglich ist, in ih- Dr. Norbert Blüm, Bundesminister für Arbeit und ren vertrauten vier Wänden bleiben können, solange Sozialordnung: Frau Präsidentin! Meine Damen und sie wollen. Herren! Die zweite Stufe der Pflegeversicherung kommt, so wie die erste gekommen ist. Auch die Ein- Die Pflegeversicherung ist ein Beschäftigungspro- führung der zweiten Stufe der Pflegeversicherung gramm. 3 000 neue Pflegedienste haben mit der er- wird mit Schwierigkeiten verbunden sein. Das ist sten Stufe der Pflegeversicherung ihre Arbeit aufge- nichts Neues in der Sozialgesetzgebung. Für das nommen. Neue fehlen die Erfahrungen. Deshalb muß man ge- Meine Damen und Herren, auch die zweite Stufe rade bei der Einführung nachhelfen. Das ist bei je- der Pflegeversicherung wird den Menschen helfen. dem Einzug in ein neues Haus so. Warum soll das in der Sozialversicherung anders sein? Mit dem vorlie- Frau Beck, hier wurde gesagt, das sei eine Erb- genden Gesetz versuchen wir, die Schwierigkeiten schaftsentlastung. Dazu möchte ich Ihnen mit Hin- bei der Einführung zu mindern. weis auf die bisherigen Erfahrungen folgendes sa- Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 96. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. März 1996 8605

Bundesminister Dr. Norbert Blüm gen: In den Pflegeheimen scheinen die Millionäre und zwar nicht auf Grund einer Prognose, sondern nicht zu liegen; denn anderenfalls hätte die Sozial- auf Grund der tatsächlichen Kassenlage, vorhanden hilfe das Geld bei den Angehörigen zurückholen sein. können. Keine Mark, die wir hier sparen, geht den Pflege- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) bedürftigen verloren. Ihr Antrag sorgt nur dafür, daß Die Millionäre, von denen Sie hier sprechen, sehe ich 600 Millionen DM den Behinderteneinrichtungen zu- da also nicht. Gleichwohl gibt es Gott sei dank auch gute kommen. Ich wünsche diesen Einrichtungen al- in der älteren Generation Eigentum. Die Hälfte der les Geld. Nur muß man die Pflegeversicherung von Seniorenhaushalte hat kein Grundvermögen; die der Arbeit der Behinderteneinrichtungen unterschei- Hälfte der Seniorenhaushalte hat durchschnittlich le- den. diglich 10 000 DM Geldvermögen; die Hälfte der al- In diesem Zusammenhang noch etwas, damit kein leinlebenden Senioren hat nur 10 000 DM Gesamt- falscher Ton in die Anerkennung der verdienstvollen vermögen. Arbeit für die Behinderten hineinkommt. Im Vorder- (Zuruf von der SPD) grund dieser Arbeit steht die Integration. Das ist eine Es war also wichtig, eine soziale Frage mit einer So- andere Aufgabe als die Pflege. Die Pflege ist eine zialversicherung zu beantworten. Ich bin allerdings Unterstützung bei den Verrichtungen des Alltags, dagegen, daß im Zusammenhang mit allen sozialen eine Unterstützung. Im Vordergrund der Behinder- Angelegenheiten die Frage der Bedürftigkeit gestellt tenarbeit steht Integration, pädagogisch, sozial und wird. Wir bekommen den Schnüffelstaat, wenn wir medizinisch. überall fragen: Bedürftig oder nicht? - Wir fragen: (Zuruf des Abg. Gerd Andres [SPD]) Hast du Beiträge gezahlt? Dann hast du auch einen Anspruch. Meine Damen und Herren, wenn Sie das Arbeitge- (Zurufe von der SPD) bermodell Ihrem Antrag entsprechend zulassen, Das ist unser Verständnis von einer selbständigen dann gibt es in der Pflegeversicherung keine Geldlei- Sozialpolitik. stungen mehr; dann stellt jeder mit seinem Pfleger ein Arbeitsverhältnis her und hat damit Anspruch auf (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. - Sachleistungen. Zurufe von der SPD) Meine Damen und Herren, ein alter Grundsatz be- - Auch denen helfen wir mit einer Pflegeversiche- sagt: Der Weg zur Hölle ist mit guten Vorsätzen ge- rung; wir helfen allen. pflastert. (Zurufe von der SPD) (Zuruf von der F.D.P.: Ja, das stimmt!) Damit komme ich zu der Frage, was das Gesetz re- Mit dem Spruch will ich Sie aber gar nicht konfron- geln soll. Dabei geht es um folgendes: Kein Heimbe- tieren, sondern mit dem Spruch: Nicht jeder gute wohner muß fürchten, daß er mit Einführung der zweiten Stufe der Pflegeversicherung seinen Platz Vorsatz hilft demjenigen, dem er helfen soll. verliert, weil er den Anforderungen der Pflegestufen - (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) nicht entspricht. Es genügt nicht, ein gutes Herz zu haben. Es ist auch Ein weiterer Punkt. Die Behinderten stehen ja wichtig, daß wir eine solide Finanzpolitik, eine solide heutzutage ganz besonders im Vordergrund. Da Sozialpolitik machen. stelle ich einmal die Frage: Wie wird den Behinder- ten in den Behinderteneinrichtungen geholfen, wenn (Zurufe von der SPD) Ihr Antrag beschlossen wird? - Gar nicht wird ihnen geholfen. Deshalb können wir keine Mark mehr ausgeben, als in der Kasse ist. 1,7 Prozent Beitrag ist für uns die ab- (Zuruf von der SPD: Aber den Angehöri solute Grenze. Insofern müssen wir eine Pflegeversi- gen!) cherung schaffen, die nicht in die Verlegenheit Sie reichen lediglich 600 Millionen DM von der Pfle- kommt, schon ein Jahr nach Einführung der zweiten geversicherung an die Behinderteneinrichtungen Stufe Geld nachfordern zu müssen. Das darf uns weiter, und Sie entlasten die Sozialhilfe, aber keinem nicht passieren. Behinderten wird geholfen. Die 600 Millionen DM fehlen uns aber in der Pflegeversicherung. Ich habe etwas sehr vermißt. Bei Ihnen, Frau Ma- scher, hätte das noch ein bißchen kräftiger ausfallen Dieses Geld brauchen wir erstens für die Sicher- können; bei Herrn Andres kam es nicht vor. Such- stellung der Finanzen. Zweitens ist es ja so, daß das meldung: Wo war Ihr Appell an die Länder, das, was Geld, welches wir in der Kasse haben, nicht ver- sie zugesagt haben, auch einzuhalten? schwindet. Dieses Geld gibt uns den Spielraum, der es uns ermöglicht, Leistungsanpassungen vorzuneh- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) men. Die Länder drücken sich vor den Investitionskosten, Ich kündige solche Leistungsanpassungen nicht und sie drücken sich auf dem Rücken der Pflegebe- an. Dazu muß zunächst die nötige Sicherheit gewähr- dürftigen. Meine Damen und Herren, das muß doch leistet sein, muß zunächst das sichere Fundament, hier im Bundestag einmütige Meinung sein. Wir sind 8606 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 96. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. März 1996 Bundesminister Dr. Norbert Blüm um so glaubwürdiger, wenn hier keine taktischen der auf die Plätze gehen. - Ich habe versucht, darauf Spiele gemacht werden, hinzuweisen. (Zurufe von der SPD) Ich bitte also diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschußfassung zustimmen wollen, um das wenn das, was durch die Länder für den Fall zuge- Handzeichen! - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der sagt war, daß wir auf duale Finanzierung umsteigen, Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den auch eingehalten wird und die Länder ihren Anteil Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stim- übernehmen. men der Oppositionsfraktionen angenommen wor- (Zuruf von der SPD: Es wird langweilig!) den. Wir haben die Pflegeversicherung nicht eingerichtet, Dritte Beratung um die Länderkassen zu entlasten. Das war nicht der und Schlußabstimmung. Sinn der Pflegeversicherung. Die Fraktion der CDU/CSU verlangt namentliche (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Abstimmung. Ich bitte die Schriftführerinnen und Dr. Guido Westerwelle [F.D.P.]) Schriftführer, die vorgesehenen Plätze einzunehmen. Das ist im übrigen nicht langweilig. Ich wünsche mir Sind alle Urnen besetzt? - Das ist der Fall. von Ihnen ein klares Bekenntnis dazu, daß die Län- der ihre Verpflichtungen einhalten, Ich eröffne die Abstimmung. *) (Unruhe) Ich möchte die Geschäftsführer darauf hinweisen, daß wir noch zwei Abstimmungen haben. auch aus dem Grund, weil wir in diesem Fall mehr Pflegebedürftige aus der Sozialhilfe herausholen, als Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das wenn die Länder Fahnenflucht begehen. seine Stimme nicht abgegeben hat? - Das ist der Fall. - Meine Damen und Herren, ich bitte Sie, dem Ge- setzentwurf zuzustimmen. Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine Stimme nicht abgegeben hat? - Das ist nicht Ich bedanke mich beim Ausschuß, auch bei Ihnen, der Fall. Frau Vorsitzende, für die Beratung dieses nicht einfa- chen Gesetzentwurfs. Das Gesetz dient der Einfüh- Ich schließe die Abstimmung und bitte die Schrift- rung der zweiten Stufe. Die zweite Stufe muß kom- führer, mit der Auszählung zu beginnen. Das Ergeb- men, damit wir auch nicht den Streit darüber bekom- nis der Abstimmung wird Ihnen später bekanntgege- men: Wer ist für die ambulante Pflege zuständig, und ben. Über den noch anstehenden Antrag der Grünen wer ist für die stationäre Pflege zuständig? - In jenem können wir erst abstimmen, wenn wir das Ergebnis Zwischenbereich zwischen ambulanter und stationä- der namentlichen Abstimmung haben. Das ist das rer Pflege gibt es vieles. Wenn dann nicht geklärt ist, Problem. Wir setzen darum die Beratungen fo rt. daß das aus einer Hand zu bezahlen ist, wird an die- sen Übergängen ein ständiger Zuständigkeitskrieg Ich rufe, ohne Tagesordnungspunkt 10 abzuschlie- stattfinden. Das dürfen wir den Pflegebedürftigen ßen, Tagesordnungspunkt 11 auf: nicht zumuten. Ich glaube, daß gerade die -Infrastruk- Beratung der Großen Anfrage der Abgeord- tur nachbarschaftlicher Hilfen - Kurzzeitpflege-, Ta- neten Andrea Lederer, Hein rich Graf von Ein- gespflegeplätze - die große Aufgabe der Zukunft ist. siedel, Dr. Willibald Jacob und der weiteren Deshalb: Pflegeversicherung aus einer Hand. Abgeordneten der PDS Deshalb mein Dank für die Unterstützung. Die Kriege und bewaffnete Konflikte in Europa zweite Stufe muß kommen. und in der Welt (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) - Drucksachen 13/636, 13/2982 - Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat war für Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Ich schließe da- die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wo- mit die Aussprache. bei die Gruppe der PDS fünf Minuten erhalten sollte. Wir kommen zur Abstimmung über den von den Inzwischen ist interfraktionell vereinbart worden, die Fraktionen der CDU/CSU und der F.D.P. eingebrach- Reden zu diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll ten Entwurf zu geben. **) Sind Sie damit einverstanden? - Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. (Zahlreiche Abgeordnete begeben sich zu Wir können Tagesordnungspunkt 11 damit abschlie- den Urnen) ßen. - Moment! - zur Änderung des Elften Buches Sozial- Wir kehren zu Tagesordnungspunkt 10 zurück. Da gesetzbuch und anderer Gesetze; Drucksachen 13/ wir jetzt auf das Ergebnis der namentlichen Abstim- 3696 und 13/4091 Nr. 1. mung warten müssen, unterbreche ich die Sitzung. (Zahlreiche Abgeordnete begeben sich zu (Unterbrechung von 14.59 bis 15.06 Uhr) den Urnen)

- Moment! Wir müssen erst per Handzeichen abstim *) Ergebnis Seite 8607 A men. Damit ich eine Übersicht habe, müssen Sie wie **) Anlage 3 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 96. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. März 1996 8607

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Die Sitzung ist Hartmut Koschyk Helmut Rauber wieder eröffnet. Manfred Koslowski Peter Harald Rauen Thomas Kossendey Otto Regenspurger Wir kommen zurück zu Tagesordnungspunkt 10. Rudolf Kraus Christa Reichard (Dresden) Ich gebe das von den Schriftführern und Schrift- Wolfgang Krause (Dessau) Klaus Dieter Reichardt führerinnen ermittelte Ergebnis der namentlichen Andreas Krautscheid (Mannheim) Arnulf Kriedner Dr. Bertold Reinartz Schlußabstimmung über den Gesetzentwurf der Heinz-Jürgen Kronberg Erika Reinhardt Fraktionen der CDU/CSU und der F.D.P. zur Ände- Dr.-Ing. Paul Krüger Hans-Peter Repnik rung des Elften Buches Sozialgesetzbuch und ande- Reiner Krziskewitz Roland Richter rer Gesetze - Pflegefachkräfte - auf den Drucksa- Dr. Hermann Kues Roland Richwien chen 13/3696 und 13/4091 Nr. 1 bekannt. Abgege- Werner Kuhn Dr. Norbert Rieder bene Stimmen: 518. Mit Ja haben gestimmt: 300. Mit Dr. Karl A. Lamers Klaus Riegert Nein haben gestimmt: 216. Enthaltungen: 2. (Heidelberg) Dr. Heinz Riesenhuber Dr. Norbert Lammert Franz Romer Helmut Lamp Hannelore Rönsch Endgültiges Ergebnis Klaus Francke (Hamburg) Armin Laschet (Wiesbaden) Herbert Frankenhauser Dr. Paul Laufs Heinrich-Wilhelm Ronsöhr Abgegebene Stimmen: 518; Dr. Gerhard F riedrich Karl-Josef Laumann Dr. Klaus Rose ja: 300 Erich G. Fritz Werner Lensing Kurt J. Rossmanith nein: 216 Hans-Joachim Fuchtel Christian Lenzer Adolf Roth (Gießen) Michaela Geiger Peter Letzgus Norbert Röttgen enthalten: 2 Norbert Geis Editha Limbach Dr. Christian Ruck Dr. Heiner Geißler Walter Link (Diepholz) Volker Rühe Michael Glos Eduard Lintner Dr. Jürgen Rüttgers Ja Wilma Glücklich Dr. Klaus W. Lippold Roland Sauer (Stuttgart) Dr. Reinhard Göhner (Offenbach) Ortrun Schätzle Peter Götz Dr. Manfred Lischewski Dr. Wolfgang Schäuble CDU/CSU Dr. Wolfgang Götzer Wolfgang Lohmann Hartmut Schauerte Joachim Gres (Lüdenscheid) Heinz Schemken Ulrich Adam Kurt-Dieter G rill Julius Louven Karl-Heinz Scherhag Peter Altmaier Wolfgang Gröbl Sigrun Löwisch Gerhard Scheu Anneliese Augustin Hermann Gröhe Heinrich Lummer Norbert Schindler Jürgen Augustinowitz Claus-Peter Grotz Dr. Michael Luther Dietmar Schlee Dietrich Austermann Manfred Grund Erich Maaß (Wilhelmshaven) Ulrich Schmalz Heinz-Günter Bargfrede Horst Günther (Duisburg) Dr. Dietrich Mahlo Bernd Schmidbauer Basten Franz Peter Carl-Detlev Freiherr von Erwin Marschewski Christian Schmidt (Fürth) Dr. Wolf Bauer Hammerstein Günter Marten Dr.-Ing. Joachim Schmidt Brigitte Baumeister Gottfried Haschke Dr. Martin Mayer (Halsbrücke) Dr. Sabine Bergmann-Pohl (Großhennersdorf) (Siegertsbrunn) Andreas Schmidt (Mülheim) Hans-Dirk Bierling Otto Hauser (Esslingen) Wolfgang Meckelburg Hans-Otto Schmiedeberg Renate Blank Hansgeorg Hauser Rudolf Meinl Hans Peter Schmitz Dr. Heribert Blens (Rednitzhembach) Friedrich Merz (Baesweiler) Peter Bleser Klaus-Jürgen Hedrich Rudolf Meyer (Winsen) Birgit Schnieber-Jastram Dr. Norbert Blüm Helmut Heiderich Hans Michelbach Dr. Andreas Schockenhoff Friedrich Bohl Manfred Heise Meinolf Michels Dr. Rupert Scholz Dr. Maria Böhmer Dr. Renate Hellwig Dr. Gerd Müller Reinhard Freiherr von Jochen Borchert Ernst Hinsken Elmar Müller (Kirchheim) Schorlemer Wolfgang Börnsen (Bönstrup) Peter Hintze Engelbert Nelle Dr. Erika Schuchardt Wolfgang Bosbach Josef Hollerith Bernd Neumann (Bremen) Wolfgang Schulhoff Dr. Wolfgang Bötsch Dr. Karl-Heinz Hornhues Johannes Nitsch Dr. Dieter Schulte Klaus Brähmig Siegfried Hornung Claudia Nolte (Schwäbisch Gmünd) Rudolf Braun (Auerbach) Joachim Hörster Dr. Rolf Olderog Gerhard Schulz (Leipzig) Paul Breuer Hubert Hüppe Friedhelm Ost Frederick Schulze Georg Brunnhuber Peter Jacoby Eduard Oswald Diethard Schütze (Berlin) Klaus Bühler (Bruchsal) Susanne Jaffke Norbert Otto (Erfurt) Clemens Schwalbe Manfred Carstens (Emstek) Georg Janovsky Dr. Gerhard Päselt Wilhelm-Josef Sebastian Wolfgang Dehnel Helmut Jawurek Dr. Peter Paziorek Horst Seehofer Hubert Deittert Dr.-Ing. Rainer Jork Hans-Wilhelm Pesch Heinz-Georg Seiffert Albert Deß Michael Jung (Limburg) Ulrich Petzold Rudolf Seiters Renate Diemers Ulrich Junghanns Anton Pfeifer Johannes Selle Wilhelm Dietzel Dr. Harald Kahl Angelika Pfeiffer Bernd Siebert Werner Dörflinger Bartholomäus Kalb Dr. Gero Pfennig Jürgen Sikora Hansjürgen Doss Steffen Kampeter Dr. Friedbert Pflüger Johannes Singhammer Dr. Alfred Dregger Dr.-Ing. Dietmar Kansy Beatrix Philipp Bärbel Sothmann Maria Eichhorn Irmgard Karwatzki Ronald Pofalla Margarete Späte Wolfgang Engelmann Volker Kauder Dr. Hermann Pohler Carl-Dieter Spranger Rainer Eppelmann Peter Keller Ruprecht Polenz Wolfgang Steiger Heinz Dieter Eßmann Eckart von Klaeden Marlies Pretzlaff Erika Steinbach Anke Eymer Dr. Bernd Klaußner Dr. Albert Probst Andreas Storm Ilse Falk Hans Klein (München) Dr. Bernd Protzner Max Straubinger Jochen Feilcke Ulrich Klinkert Dieter Pützhofen Matthäus Strebl Dr. Karl H. Fell Hans-Ulrich Köhler Thomas Rachel Michael Stübgen Ulf Fink (Hainspitz) Hans Raidel Egon Susset Dirk Fischer (Hamburg) Norbert Königshofen Dr. Peter Ramsauer Dr. Rita Süssmuth Leni Fischer (Unna) Eva-Maria Kors Rolf Rau Michael Teiser 8608 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 96. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. März 1996

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer Dr. Susanne Tiemann Wolfgang Behrendt Christian Müller (Zittau) Dr. Norbert Wieczorek Dr. Klaus Töpfer Hans-Werner Bertl Volker Neumann (Bramsche) Helmut Wieczorek (Duisburg) Gottfried Tröger Friedhelm Julius Beucher Gerhard Neumann (Gotha) Heidemarie Wieczorek-Zeul Dr. Klaus-Dieter Uelhoff Rudolf Bindig Dr. Rolf Niese Dieter Wiefelspütz Gunnar Uldall Arne Börnsen (Ritterhude) Günter Oesinghaus Berthold Wittich Dr. Horst Waffenschmidt Anni Brandt-Elsweier Leyla Onur Dr. Wolfgang Wodarg Dr. Theodor Waigel Hans Martin Bury Manfred Opel Verena Wohlleben Alois Graf von Waldburg-Zeil Wolf-Michael Catenhusen Kurt Palis Heidi Wright Kersten Wetzel Peter Conradi Albrecht Papenroth Uta Zapf Hans-Otto Wilhelm (Mainz) Christel Deichmann Dr. Wilfried Penner Dr. Christoph Zöpel Gert Willner Karl Diller Georg Pfannenstein Peter Zumkley Bernd Wilz Peter Dreßen Dr. Eckhart Pick Willy Wimmer (Neuss) Rudolf Dreßler Rudolf Purps BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN Matthias Wissmann Ludwig Eich Karin Rehbock-Zureich Dagmar Wöhrl Petra Ernstberger Margot von Renesse Gila Altmann (Aurich) Michael Wonneberger Elke Ferner Renate Rennebach Marieluise Beck (Bremen) Elke Wülfing Lothar Fischer (Homburg) Otto Reschke Volker Beck (Köln) Peter Kurt Würzbach Gabriele Fograscher Bernd Reuter Angelika Beer Cornelia Yzer Iris Follak Reinhold Robbe Matthias Berninger Wolfgang Zeitlmann Norbert Formanski Gerhard Rübenkönig Annelie Buntenbach Wolfgang Zöller Dagmar Freitag Dr. Hansjörg Schäfer Amke Dietert-Scheuer Katrin Fuchs (Verl) Dieter Schanz Franziska Eichstädt-Bohlig F.D.P. Arne Fuhrmann Bernd Scheelen Dr. Uschi Eid Ina Albowitz Monika Ganseforth Siegfried Scheffler Joseph Fischer (Frankfurt) Dr. Gisela Babel Norbert Gansel Horst Schild Gerald Häfner Hildebrecht Braun Konrad Gilges Otto Schily Antje Hermenau (Augsburg) Dr. Peter Glotz Dieter Schloten Kristin Heyne Jörg van Essen Uwe Göllner Günter Schluckebier Ulrike Höfken Dr. Olaf Feldmann Angelika Graf (Rosenheim) Horst Schmidbauer Michaele Hustedt Gisela Frick Dieter Grasedieck (Nürnberg) Dr. Manuel Kiper Rainer Funke Hans-Joachim Hacker Ulla Schmidt (Aachen) Dr. Angelika Köster-Loßack Hans-Dietrich Genscher Klaus Hagemann Dagmar Schmidt (Meschede) Dr. Karlheinz Guttmacher Manfred Hampel Wilhelm Schmidt (Salzgitter) Christa Nickels Ulrich Heinrich Dr. Liesel Hartenstein Regina Schmidt-Zadel Cern Özdemir Walter Hirche Klaus Hasenfratz Heinz Schmitt (Berg) Gerd Poppe Dr. Burkhard Hirsch Reinhold Hemker Dr. Emil Schnell Simone Probst Birgit Homburger Rolf Hempelmann Walter Schöler Christine Scheel Dr. Werner Hoyer Monika Heubaum Ottmar Schreiner Irmingard Schewe-Gerigk Ulrich Irmer Reinhold Hiller (Lübeck) Dr. Mathias Schube rt Albert Schmidt (Hitzhofen) Dr. Klaus Kinkel Gerd Höfer Schuhmann Richard Wolfgang Schmitt Detlef Kleinert (Hannover) Jelena Hoffmann (Chemnitz) (Delitzsch) (Langenfeld) Dr. Heinrich L. Kolb Ingrid Holzhüter Reinhard Schultz Christian Sterzing Sabine Leutheusser Erwin Horn (Everswinkel) Dr. Antje Vollmer Schnarrenberger Eike Hovermann Volkmar Schultz (Köln) Ludger Volmer Gabriele Iwersen Ilse Schumann Uwe Lühr Helmut Wilhelm (Amberg) Dr. R. Werner Schuster Günther Friedrich Nolting Renate Jäger - Dr. Rainer Ortleb Jann-Peter Janssen Dr. Angelica Schwall-Düren PDS Lisa Peters Volker Jung (Düsseldorf) Bodo Seidenthal Dr. Günter Rexrodt Ernst Kastning Lisa Seuster Petra Bläss Dr. Klaus Röhl Marianne Klappert Erika Simm Eva Bulling-Schröter Helmut Schäfer (Mainz) Siegrun Klemmer Johannes Singer Heinrich Graf von Einsiedel Cornelia Schmalz-Jacobsen Dr. Hans-Hinrich Knaape Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast Dr. Ruth Fuchs Dr. Edzard Schmidt-Jortzig Nicolette Kressl Wieland Sorge Dr. Gregor Gysi Dr. Hermann Otto Solms Volker Kröning Wolfgang Spanier Hanns-Peter Ha rtmann Dr. Max Stadler Thomas Krüger Dr. Dietrich Sperling Dr. Uwe-Jens Heuer Carl-Ludwig Thiele Horst Kubatschka Jörg-Otto Spiller Dr. Barbara Höll Dr. Dieter Thomae Konrad Kunick Antje-Marie Steen Dr. Willibald Jacob Jürgen Türk Christine Kurzhals Dr. Peter Struck Gerhard Jüttemann Dr. Wolfgang Weng Werner Labsch Joachim Tappe Dr. Heidi Knake-Werner (Gerlingen) Detlev von Larcher Jörg Tauss Heidemarie Lüth Dr. Guido Westerwelle Klaus Lennartz Jella Teuchner Manfred Müller (Berlin) Dr. Elke Leonhard Dr. Gerald Thalheim Rosel Neuhäuser Franz Thönnes Nein Christa Lörcher Christina Schenk Erika Lotz Adelheid Tröscher Steffen Tippach CDU/CSU Dr. Christine Lucyga Hans-Eberhard Urbaniak Klaus-Jürgen Warnick Dieter Maaß (Herne) Siegfried Vergin Dr. Winfried Wolf Dr. Winfried Pinger Dorle Marx Ute Vogt (Pforzheim) Ulrike Mascher Hans Georg Wagner SPD Christoph Matschie Hans Wallow Enthalten Gerd Andres Ingrid Matthäus-Maier Dr. Konstanze Wegner Robert Antretter Heide Mattischeck Wolfgang Weiermann CDU/CSU Hermann Bachmaier Markus Meckel Reinhard Weis (Stendal) Ernst Bahr Angelika Mertens Matthias Weisheit Dr. Egon Jüttner Doris Barnett Dr. Jürgen Meyer (Ulm) Gunter Weißgerber Klaus Barthel Ursula Mogg Jochen Welt F.D.P. Ingrid Becker-Inglau Jutta Müller (Völklingen) Lydia Westrich Dr. Irmgard Schwaetzer Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 96. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. März 1996 8609

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer Der Gesetzentwurf ist damit angenommen worden. SPD gegen die Stimmen von Bündnis 90/Die Grünen und PDS angenommen worden. Damit kommen wir zur Abstimmung über die zweite Beschlußempfehlung des Ausschusses für Ar- Wir sind damit am Schluß unserer Tagesordnung. beit und Sozialordnung zu dem Entwurf der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen zur Ergänzung des Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Pflege-Versicherungsgesetzes auf Drucksache 13/ Bundestages auf Mittwoch, 17. April 1996, 13.00 Uhr 4091 Nr. 2. Der Ausschuß empfiehlt, den Gesetzent- ein, aber nicht, ohne den Kollegen frohe Ostern wurf auf Drucksache 13/99 für erledigt zu erklären. gewünscht zu haben. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegen- Die Sitzung ist geschlossen. probe! - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der (Schluß der Sitzung: 15.07 Uhr)

Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 96. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. März 1996 8611*

Anlagen zum Stenographischen Bericht

Anlage 1 Anlage 2

Liste der entschuldigten Abgeordneten Erklärungen nach § 31 GO zur Abstimmung über den Antrag entschuldigt bis der Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P.: Abgeordnete(r) einschließlich Verfassungsgebotene Einführung des Religionsunterrichts Belle, Meinrad CDU/CSU 15.3. 96 als ordentliches Lehrfach in Brandenburg Bierstedt, Wolfgang PDS 15.3. 96 (Tagesordnungspunkt 8) Büttner (Schönebeck), CDU/CSU 15.3. 96 Hartmut Robert Antretter (SPD): Ich hege an der von der Dempwolf, Gertrud CDU/CSU 15.3. 96 Landesregierung Brandenburg geplanten Schul- Eylmann, Horst CDU/CSU 15.3. 96 gesetzgebung verfassungsrechtliche Zweifel. Fischer (Berlin), Andrea BÜNDNIS 15.3. 96 90/DIE Doch dem Antrag der CDU/CSU und F.D.P. gebe GRÜNEN ich aus folgenden Gründen meine Zustimmung nicht: Friedrich, Horst F.D.P. 15.3. 96 Dr. Gerhardt, Wolfgang F.D.P. 15.3. 96 1. Inhalt und Sprache seitens der Koalitionsfrak- Graf (Friesoythe), Günter SPD 15.3. 96 tionen in der heutigen Debatte ließen auf pein- liche Weise erkennen, daß es der Regierungskoali- Hanewinckel, Christel SPD 15. 3. 96 Hasselfeldt, Gerda CDU/CSU 15.3. 96 tion an einem denkbar ungeeigneten Thema um Hiksch, Uwe SPD 15.3. 96 Wahlkampf und nicht um die Sache geht. Ilte, Wolfgang SPD 15. 3. 96 2. Der Antrag stellt eine unzulässige Einmischung Irber, Brunhilde SPD 15.3. 96 eines Bundesorgans in die Zuständigkeit eines Kohn, Roland F.D.P. 15.3. 96 Landesorgans dar. Dr. Küster, Uwe SPD 15.3. 96 Nach Verabschiedung des Landesschulgesetzes Kutzmutz, Rolf PDS 15.3. 96 für Brandenburg werde ich die Entscheidung treffen Lamers, Karl CDU/CSU 15.3. 96 bzw. mittragen, die Bundestagsabgeordneten zu Lange, Brigitte SPD 15.3. 96 Gebote stehen, wenn meine Zweifel an der fehlen- Lederer, Andrea PDS 15.3. 96 den Verfassungsmäßigkeit nicht ausgeräumt sind. Lehn, Waltraud SPD 15.3. 96 Lengsfeld, Vera BÜNDNIS 15. 3. 96 Hans Büttner (Ingolstadt) (SPD): Der von den Frak 90/DIE tionen von CDU/CSU und F.D.P. dem Plenum vor- GRÜNEN gelegte Antrag zum Religionsunterricht im Bundes- Dr. Luft, Christa PDS 15.3. 96 land Brandenburg ist eine dem Bundestag nicht Mante, Winfried SPD 15.3.- 96 zustehende Einmischung des Bundestages in die ureigenste Entscheidungskompetenz der Länder. Als Dr. Pfaff, Martin SPD 15. 3. 96 Dr. Rappe (Hildesheim), SPD 15.3. 96 überzeugter Vertreter der demokratischen Grund- Hermann ordnung unseres Landes bin ich nicht bereit, mich an der Beschädigung der in unserem Grundgesetz 15.3. 96 Schoppe, Waltraud BÜNDNIS eindeutig formulierten förderalistischen Struktur des 90/DIE Staates zu beteiligen. Als überzeugter Christ lehne GRÜNEN ich den Antrag der Koalitionsfraktionen als Verstoß Schulte (Hameln), B rigitte SPD 15.3. 96 gegen das 8. Gebot ab, weil er aus durchsichtigen Schulz (Berlin), Werner BÜNDNIS 15.3. 96 Wahlkampfgründen nur dazu dienen soll, falsch 90/DIE Zeugnis wider den Nächsten abzulegen. GRÜNEN Schwanitz, Roll SPD 15.3. 96 Sebastian, Wilhelm Josef CDU/CSU 15.3. 96 Dr. Skarpelis-Sperk, SPD 15.3. 96 Anlage 3 Sigrid Stiegler, Ludwig SPD 15.3. 96 Zu Protokoll gegebene Reden, Dr. Stoltenberg, Gerhard CDU/CSU 15.3. 96 die bis Redaktionsschluß vorlagen, Thierse, Wolfgang SPD 15.3. 96 zu Tagesordnungspunkt 11 Thieser, Dietmar SPD 15.3. 96 (Große Anfrage: Kriege und bewaffnete Konflikte Vogt (Düren), Wolfgang CDU/CSU 15. 3. 96 in Europa und in der Welt) Voigt (Frankfurt), SPD 15.3. 96 Karsten D. Christian Schmidt (Fürth) (CDU/CSU): „Was küm Wolf (Frankfurt), BÜNDNIS 15.3. 96 mert's uns, wenn weit hinten in der Türkei die Völker Margareta 90/DIE aufeinanderschlagen! ,,Solches Denken, das Goethe GRÜNEN sagen läßt, ist im globalen Dorf Erde, in dem wir 8612* Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 96. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. März 1996 leben, noch fragwürdiger als es in den vergangenen der präventiven Inte rvention das Register der zur Jahrhunderten gewesen sein mag. Dennoch lohnt es Verfügung stehenden Mittel beschränkt: Wirtschafts- sich, den Satz auf die zugrundeliegende Denkhal- förderung, Konsultation, Krisenmanagement im tung zu untersuchen. Neben der erkennbaren Be- Sinne eines „trouble shooters" - Herr Präsident, ich schränktheit des Interesses auf den Bereich vor der bitte Sie, mir die Verwendung dieses amerikanischen eigenen Haustür, ist sie aber auch aus der Erkenntnis Terminus zu gestatten; er ist in die deutsche Sprache geboren, daß die Mittel beschränkt sind, von außen schwer zu übersetzen, und wie wir an Richard Hol- Kriege zu verhindern und Konflikte zu befrieden. brook kürzlich feststellen konnten, leider auch in der europäischen Außenpolitik realiter noch nicht vor- Die Beschränktheit des Interesses ist in keiner handen. Weise mehr Stand der Erkenntnis. Nicht nur das all- gemeine humanitäre Interesse an Frieden und Wohl- Ich halte fest: Konfliktverhütung und Krisenprä- ergehen für alle Menschen führte solches Denken ad vention sind dringend notwendig. Es ist dummes absurdum. Heute wissen wir auch, daß wir potentiell Geschwätz der Kommunisten, daß Bundesregierung in nahezu jeden Konflikt auf dieser Erde verwickelt oder Europa hier zu wenig tun würden. Die Bundes- werden können oder die Auswirkungen des Kon- regierung nutzt ihre Mittel aus und ist gerade im flikts zu spüren bekommen. Hinblick auf die notwendigen Verbesserungen ins- besondere der europäischen Handlungsmöglichkei- Flüchtlingsbewegungen, Störungen der Ökonomie ten mit einem guten Konzept ausgerüstet, um die und der Ökologie - ich erinnere hier nur an die gran- gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der Euro- diosen Umweltverschmutzungen durch brennende päischen Union zu verbessern. Es gehören hierzu die Ölfelder und künstlich erzeugte Ölseen des Kriegs- gemeinsame Planungs- und Analysekapazität, treibers Saddam Hussein vor gerade fünf Jahren - er- schnellere Abstimmungs- und Entscheidungsver- hebliche notwendige Finanztransfers, um nicht die fahren einschließlich des Prinzips der Mehrheits- Gefahren terroristischer Aktivitäten zu vergessen, entscheidung bei außenpolitischen Sachverhalten gebieten uns, uns besser mit nahezu jedem Konflikt und eine mittelfristige Integration der Westeuro- in der Welt zu befassen als ihn treiben zu lassen. päischen Union in die Europäische Union, um den Daraus resultiert die Bereitschaft zum Handeln auf Wirrwarr der Zuständigkeiten und der Personen zu internationaler und multilateraler Ebene. Darauf be- stoppen. ziehen sich die Vorschläge der Agenda für den Frie- Das große Mißverständnis der „Krisenromantiker" den des VN-Generalsekretärs, darauf beziehen sich oder - wie man im Blick auf die Kommunisten besser auch die OSZE, die WEU in ihrer Petersberger Erklä- sagen sollte - „Krisenideologen" ist allerdings die rung, und auch die NATO. Vorstellung, daß auf die militärische Inte rvention, auf Gleichzeitig müssen wir erkennen, daß die Be- den unmittelbaren Zwang verzichtet werden kann. schränktheit der Mittel - im Gegensatz zur Be- Aber der Kommunismus hatte auch den Frieden zu schränktheit des Interesses - nach wie vor eine Tat- einer Friedensideologie erhöht, um dann um so bru- sache ist. Die internationale Medienszene - das Para- taler diese Ideologie zu mißbrauchen. Ganz im Ge- debeispiel hierfür ist CNN - führt dazu, daß Konflikte genteil müssen die Konflikte, die mangels Willen und unmittelbar ins Wohnzimmer jedes einzelnen Bür- mangels geeigneter Mittel nicht frühzeitig entschärft gers jedes Landes übertragen werden, fast so wie ein werden können, dann mit dem sehr viel teureren und Fußballspiel, gaukelt vor, daß die Weltgemeinschaft gefährlicheren Mittel militärischer Inte rvention ge- ohne weiteres in der Lage wäre, diesen oder jenen löst werden. Im Jahr 1996, zu einem Zeitpunkt, zu Konflikt sofort zu befrieden. Der Bürger schwankt dem die NATO und andere versuchen, den Konflikt dann zwischen dem Ruf „Da muß man etwas tun!" in Bosnien mit Soldaten zu befrieden, brauche ich und der Forderung, andere sollten das lösen. Aller- hier nicht weiter ausholen. dings trägt diese Medienöffentlichkeit auch dazu bei, daß es sich mancher Aggressor überlegt, vor diesen Ich kann es nicht verstehen, wenn in der Anfrage laufenden Kameras loszuschlagen. der PDS wieder der alte Sermon von der Militarisie- rung der deutschen Außenpolitik heruntergebetet Eine weitverbreitete Geisteshaltung, lassen Sie wird, so wie jahrzehntelang auf Parteitagen der kom- mich sie so nennen, die „Schule der Krisenromanti- munistischen Parteien der SED in unerträglicher For- ker", glaubt, daß jeder Konflikt bei rechtzeitiger Prä- melhaftigkeit unerträgliche Agitprop heruntergere- vention und internationaler Aktion vermeidbar ist. det worden war. Dieses Gerede von der Militarisie- Die Anfrage der PDS atmet genau diesen Geist. Ich rung der deutschen Außenpolitik ist jedenfalls dum- will den theoretischen Ansatz dieser Überlegung hier mes Geschwätz. Die Zurückhaltung der Bundesre- außer acht lassen. Jedenfalls hält dieser Ansatz der gierung und auch die Zurückhaltung der Europäer Realitätsprüfung nicht stand. Wer theoretisch wissen und unserer Bündnispartner insgesamt im Einsatz will, warum dies nicht klappt, dem empfehle ich die militärischer Mittel ist ein Zeichen, daß wir im Ge- Lektüre von Kants „Schrift zum ewigen Frieden". genteil wissen, daß militärische Interventionen die Die Weltregierung existiert nicht. Ultima ratio der Konfliktbeendigung sind. Natürlich ist es richtig und notwendig, durch aus- Die Entwicklungspolitik der Bundesrepublik ist gedehnte Krisenprävention und Konfliktverhütung ebenso wie die Außenpolitik auf Konfliktverhütung, möglichst wenig an „heißen" Auseinandersetzungen Einflußnahme zur Sicherung der Menschenrechte, entstehen zu lassen. Dennoch ist auch hier im Be- Beteiligung der Bevölkerung am politischen Prozeß reich der nicht-militärischen Inte rvention, im Bereich Rechtssicherheit, Tendenz zu einer marktwirtschaftli- Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 96. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. März 1996 8613* chen und sozialen Wirtschaftsordnung und Entwick- Wirtschaft floriert, wurden und werden Rüstungsgü- lungsorientierung des staatlichen Handelns geprägt. ter in Krisenregionen sowie an undemokratische Re- Die Bundesrepublik Deutschland war zu jedem Zeit- gime geliefert, für die das Wort Menschenrechte al- punkt ihres Bestehens auch bedacht, der Herrschaft lenfalls auf dem Papier existiert. des Rechts zum Durchbruch zu verhelfen. Es besteht überhaupt kein Grund, hiervon abzuweichen. Die in dieser Drucksache dokumentierte Politik der Wahrung der eigenen Interessen wird besonders an Nach der Auflösung des Ost-West-Konflikts sind den Krisen- und Kriegsbeispielen wie Ruanda, Nige- allerdings neue Herausforderungen an die Weltge- ria, Somalia, Sudan, Indonesien, Ex-Jugoslawien, meinschaft herangetreten. Da wird es nicht möglich dem Irak und der Türkei deutlich. In all diese Länder sein, daß sich Deutschland als größtes Land in der hat man Rüstungsgüter geliefert und diese Koopera- Europäischen Union von allen Händeln fernhält. tion erst beendet, wenn es zu offenen Kriegshandlun- gen gekommen ist und/oder die UN Rüstungsembar- Das Grundmißverständnis der Kommunisten ist, gos beschlossen haben. Und selbst von der interna- daß der Zweck zwar einerseits nicht die Mittel hei- tionalen Gemeinschaft beschlossene Embargos wur- ligt, andererseits aber einen völkerrechtlich abgesi- den - entgegen den Beteuerungen der Regierung - cherten Einsatz im Rahmen der kollektiven Selbst- teilweise versucht zu unterlaufen. Ich erinnere nur verteidigung oder der Friedensschaffung durchaus an den U-Boot-Blaupausen-Deal mit Südafrika vor zuläßt, ja, solch eine Inte rvention im Sinne der einigen Jahren. Humanität zwingend notwendig werden kann. Die Auswirkungen dieser Politik lassen sich exem- Als vor drei Jahren bei der Eröffnung des Holo- plarisch an den Beispielen Irak und Türkei aufzeigen: caust-Museums in Washington Eli Wiesel den ameri- Obwohl international seit Jahren bekannt war, daß kanischen Präsidenten Clinton aufforderte, in Bos- das Regime Saddam Husseins über Leichen geht, nien zu intervenieren, tat er dies mit dem Hinweis wurden Rüstungsgüter an den Irak geliefert. Nur mit auf die bitteren Erfahrungen der Vergangenheit. der Unterstützung deutscher Firmen war Saddam in Auch wir dürfen nicht in die Geschichte flüchten zu der Lage, das Giftgas zu produzieren, mit dem er das einem blanken „Ohne-mich", sondern müssen Ver- kurdische Halabjah angriff. Morgen jährt sich der antwortung vor der Geschichte zeigen durch die Be- Tag, an dem über 5 000 Kurdinnen grausam ermor- reitschaft, sich an Missionen des Rechts und der Ge- det wurden, zum achten Mal (16. März 1988). Aber rechtigkeit zu beteiligen, wenn es unabdingbar ist. erst als es buchstäblich knallte, weil Kuwait von ira- Und darüber hinaus werden wir nach wie vor im kischen Truppen besetzt wurde, beendete man die Rahmen der Konfliktverhütung den großen Beitrag Aufrüstung Iraks. weiter leisten, der bisher von Deutschland erbracht worden ist. Kein Land übertrifft uns in der Sensibili- Dann die zweite Phase: Massenflucht der Kurdin- tät gegen Schüren von Konflikten. Die Politik der nen. Ein Zeitpunkt, zu dem die humanitäre Hilfe ein- Bundesregierung fügt sich gut ein in die gewachsene setzt, derer sich die Bundesregierung so besonders Verantwortung und in das Verständnis von Friedfer- rühmt. Real aber ist diese humanitäre Hilfe oft nur tigkeit, das auf der Welt herrschen sollte. der Feuerlöscher für Konflikte, die man selbst mit verursacht hat. Dieses Paradox hält die Innenpoliti- ker allerdings nicht davon ab, die deutschen Gren- - Angelika Baer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das zen immer weiter abzuschotten und Flüchtlinge aus Ende des Ost-West-Konfliktes hat nicht zum Ende den Krisen- und Kriegsregionen wieder abzuschie- von Kriegen geführt. Im Gegenteil, die Zahl der ben. Diese Politik ist nicht präventiv, sondern men- Kriege hat zugenommen. Die neuen Kriege sind vor schenverachtend und kriegsfördernd. Dieser nicht allem innergesellschaftliche Kriege, in denen Klein- endende Kreislauf der falschen Schritte führt zu der waffen, unter anderem auch Landminen, zum Ein- Konsequenz, daß aktuell die Bundeswehr umgerü- satz kommen. Die Folgen sind für die Menschen und stet wird und Krisenreaktionskräfte sich zukünftig an für die Gesellschaften verheerend. der militärischen Eindämmung von Krisen und Kon- flikten beteiligen. Als eines der reichsten Länder der Erde, das seit Jahren zu den größten Waffenexporteuren gehört, Ich komme zur Türkei: Da liefert die Bundesregie- steht die Bundesrepublik Deutschland in einer be- rung, die für sich in Anspruch nimmt, eine men- sonderen Verantwortung für eine globale f riedliche schenrechtsorientierte Außenpolitik zu betreiben, Entwicklung. Als Land, das in diesem Jahrhundert üalte Waffen, die aufgrund des KSE-Vertrages abger die Welt zweimal mit Kriegen überzogen hat, ist sie stet werden sollten, an eine Diktatur, in der Folter besonders zur Entwicklung von zivilen Konfliktlö- zum Alltag gehört. Diese Waffen werden gegen die sungsstrategien verpflichtet. kurdische Bevölkerung eingesetzt, in einem Krieg, in dem ganze Dörfer vernichtet und Millionen von Men- Die Bundesregierung spricht gern von „stiller Di- schen in die Flucht get rieben wurden. Und dann plomatie", die in der Realität nichts anderes ist als wird mit Unschuldsmiene und scheinjuristischer die Augen vor den Auswirkungen einer fehlgeleite- Wortklauberei abgestritten, daß die Waffen aus deut- ten Außenpolitik zu verschließen. Die Antwort der schen Lieferungen stammen. Bundesregierung auf die Große Anfrage gleicht einem Offenbarungseid. Die Politik der präventiven Diese Politik erfordert klare Alternativen. Ein ge- Krisenfrüherkennung findet in der Praxis nicht statt, nerelles Rüstungsexportverbot schützt nicht nur vor sondern es geht ihr in erster Linie um die „Stabilität" der Anheizung bestehender Konflikte, sondern spa rt der Bundesrepublik. Solange der Rubel rollt und die auch bei uns Millionen, die für eine zivile Außenpoli- 8614* Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 96. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. März 1996 tik sowie für Konversionsprogramme und neue Ar- ein fester Bestandteil von auf Frieden und Ausgleich beitsplätze benötigt werden. Der Verteidigungshaus- gerichteter Außen- und Sicherheitspolitik geworden halt muß drastisch nach unten gefahren, die finan- ist. Nach Jahren der erfolglosen Verhandlungen, Be- zielle Unterstützung für die Vereinten Nationen und schwichtigungen und Beschwörungen hat der ent- die OSZE erhöht werden. schlossene Wille der Staatengemeinschaft die Kon- fliktparteien in Ex-Jugoslawien an einen runden Eine Wende in der deutschen Außen- und Ent- Tisch gebracht, der schließlich zum Friedensabkom- wicklungspolitik wäre auch die Rote Karte für die men von Dayton führte. Dieses Abkommen muß sich Politik von Verteidigungsminister Volker Rühe. Er allerdings im zivilen Bereich noch bewähren. könnte sich dann nicht mehr der Verstetigung des Verteidigungshaushalts auf knapp 50 Milliarden DM Heute ist klar: Friedensbrecher müssen in letzter rühmen. Die OSZE würde nicht weiter an den Rand Konsequenz auch mit harter Hand angefaßt und zum gedrückt, um der NATO-Osterweiterung und damit Frieden gezwungen werden, Völkerrecht muß ge- einer sicherheitspolitischen Spaltung Europas das schützt und Völkermord verhindert werden. Erst Wort zu reden. wenn das geschehen ist, müssen und können die staatlichen und p rivaten Organisationen ihre soziale Friedensarbeit aufnehmen. Beides muß aber im Zu- (F.D.P.): Die Bundesre Günther Friedrich Nolting sammenhang gesehen werden. gierung hat ein beeindruckendes Dokument über die von ihr in den letzten Jahrzehnten durchgeführte Von daher sind die stereotypen Forderungen der Friedens- und Sicherheitspolitik vorgelegt. Man PDS, die Bundeswehr abzuschaffen, völlig sinnwid- kann sich im Detail über die verschiedenen humani- rig. tären Maßnahmen unseres Landes in anderen Teilen der Welt informieren. Der PDS kann man eigentlich Es wäre sicher interessant zu wissen, wie die PDS - nur dafür danken, daß sie diese wirklich außerge- auch gerade einem Teil ihrer Wähler - erklären will, wöhnliche Zusammenstellung der deutschen welt- wie man ohne Streitkräfte in manchen Teilen der politischen Bemühungen angestoßen hat. Aus der Welt für Frieden und dann für sozialen Ausgleich sor- Antwort auf die Anfrage der PDS wird die gesamte gen könne. Spannbreite der erfolgreichen deutschen Außen- So wie der Herr Bundespräsident die Bundeswehr und Friedenspolitik sichtbar. eine Armee des Friedens genannt hat, so konnte Interessant ist allerdings, nach welchen Ländern durch die auf Ausgewogenheit und Ausgleich ge- die PDS nicht gefragt hat. Ist es Zufall, daß Länder, in richtete Politik der Bundesregierung in vielen Teilen denen die PDS-Vorgängerpartei, die SED, massive der Welt helfend und unterstützend gehandelt wer- Militärhilfe geleistet hat, wie z. B. Äthiopien und den. Mosambik, in dem PDS-Fragenkatalog nicht auftau- Die Unterstellungen der PDS, daß die Bundes- chen? Wie immer man dieses bewe rten mag, die regierung den nichtmilitärischen Lösungen viel zu Bundesregierung hat ihre weltweiten Aktivitäten zur wenig Aufmerksamkeit zukommen lasse, sind in friedlichen und sozialen Einflußnahme auf politische jeder Hinsicht gegenstandslos und werden von uns Ereignisse dargestellt. Die Bundesregierung kann energisch zurückgewiesen. mit beeindruckenden Zahlen deutscher Hilfsbereit- schaft und humanitärer Aktivität offenlegen,- daß der Die ständigen Bemühungen unserer Regierung auf Hauptgrund für die Konflikte in der Welt im Sozial- allen Kanälen ihres diplomatischen Dienstes, im Be- bereich liegt. Besonders hervorzuheben sind die viel- reich der Regierung selbst, in anderen mit der Regie- fältigen Leistungen, um nur ein Beispiel zu nennen, rung zusammenarbeitenden Organisationen und die der friedlichen Entwicklung und dem Ausgleich letztendlich die Kontakte der deutschen Wi rtschaft in Ex-Jugoslawien zugewiesen wurden. Hier ver- und Kultur im Ausland werden von der PDS einfach weist die Regierung auch auf ihren Be richt über negiert. deutsche humanitäre Hilfe im Ausland, der der inter- Dieser Beitrag für Frieden und Ausgleich kann je- essierten Öffentlichkeit weitere Hinweise auf die doch gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Ich humanitären und sozialen Aktivitäten Deutschlands möchte an dieser Stelle für die F.D.P.-Bundestags- bietet. fraktion den ungezählten Diplomaten, staatlichen Ich begrüße besonders, daß der Be richt offenlegt, Vertretern, Wirtschaftsvertretern, Künstlern und Sol- was seit Jahren ein Bestandteil liberaler Außenpolitik daten und vielen anderen mehr ausdrücklich danken geworden ist: die immer enger werdende gute Zu- für die ausgezeichnete Arbeit, die von ihnen in allen sammenarbeit zwischen militärischen und zivilen Or- Teilen der Welt im Sinne unserer Werteordnung ge- ganisationen. Die Bundesregierung kann mit Recht leistet wird. auf eine Vielzahl von Hilfsmaßnahmen der deut- Die F.D.P.-Fraktion unterstützt die Außen- und Si- schen Streitkräfte verweisen, wie Kurdenhilfe, Hun- cherheitspolitik der Bundesrepublik mit vollem gerhilfe Mombasa, humanitäre Hilfe Bosnien, Unter- Nachdruck und wird ihr ohne Einschränkung wei- stützung des UN-Einsatzes in Georgien, Hilfsopera- tere Unterstützung gewähren. tionen zur Rettung ruandischer Flüchtlinge und viele andere mehr. Steffen Tippach (PDS): Lassen Sie mich zu Beginn Die aktuellen Ereignisse in Jugoslawien haben uns den zahlreichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern auch verdeutlicht, daß die Bedeutung der militäri- des Auswärtigen Amtes danken, die mit der Antwort schen Abschreckung gestiegen ist, daß sie wieder auf unsere Große Anfrage eine enorme Fleißarbeit Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 96. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. März 1996 8615*

vorgelegt haben. Daß dieses allerdings auch ein gu- wältigung. Der Einsatz für eine zivil orientierte Au- tes Stück Zeit gedauert hat, dokumentiert die bei- ßen- und Sicherheitspolitik wird vielfach auf das Ver- nahe prähistorisch zu nennende Drucksachennum- bale und Alibihandlungen beschränkt. Es ist doch mer 13/636. bezeichnend, wenn z. B. eine zusammenhängende Forschung auf dem Gebiet der Konfliktprävention Wir haben diese recht umfangreiche Anfrage aus und -lösung überhaupt nicht bet rieben wird, von den mehreren grundsätzlichen Erwägungen gestellt. In für Konfliktforschung überhaupt zur Verfügung ste- der Folge globaler Veränderungen nach 1989 ist es henden Mitteln ganz zu schweigen. Hier zeigt sich, zu einer starken Zunahme regionaler Konflikte und was wir an der heutigen deutschen Außenpolitik Kriege gekommen. Ursache sind zumeist aufbre- ständig monieren: Krisen und Konflikte in der Welt chende Nationalismen, vor allem jedoch eine Ver- werden genutzt, um horrende Militärausgaben zu schärfung ökonomischer Verteilungskämpfe auf rechtfertigen. Für übergeordnete wi rtschaftliche In- Grund nachlassender Unterstützungsleistungen für teressen, den Kampf um Märkte, die Richtung der die Staaten des Trikont und der durch die Industrie- Geld- und Warenströme, den Zugang zu Energie- länder vorangetriebenen globalen Deregulierungs- und Rohstoffquellen und für die strategische und konzepte, die soziale Spannungen verschärft haben. geopolitische Absicherung dieser Interessen werden Folge ist zudem ein erhebliches Anschwellen von Konflikte instrumentalisiert und werden - wie im Flüchtlingsbewegungen, die zumeist regional auf ge- Falle Jugoslawiens - sogar militärische Risiken be- fangen werden müssen und somit ganze Regionen wußt in Kauf genommen. Die eigentlichen Gefahren weiter destabi lisieren. für Frieden und Sicherheit gehen von den nicht Wir haben mit der Thematisierung wenngleich rechtzeitig beseitigten Ursachen bzw. von den durch nicht aller, so jedoch einer großen Zahl bestehender die offizielle Politik selbst erzeugten Möglichkeiten Kriege und bewaffneter Konflikte versucht, diese oft- aus, Konflikte zu militarisieren. mals „vergessenen Kriege" auf die Ebene politischer Zweitens. Die Bundesregierung gibt in solchen Diskussion zurückzuholen. Vorab gesagt: Natürlich wäre es unredlich, von der Bundesregierung zu ver- Fällen wie Jugoslawien und Tschetschenien auch langen, alle Konflikte dieser Welt zu beseitigen oder schon einmal schlichtweg falsche Antworten, indem auch nur jeweils eine Lösung aus der Tasche ziehen sie nichtleugbare Tatsachen verschweigt. In Jugosla- zu können. wien hat sie einseitig die Auflösung des Vielvölker- staates unterstützt, ohne Gewaltverzicht und einen Daß die Bundesregierung jedoch, auf die Bewer- zivilisierten, staats- und völkerrechtlich geregelten, tung eines Großteils dieser Konflikte angesprochen, verfassungskonformen Prozeß der Lostrennung zur nur zu der Formulierung „die Bundesregierung be- Bedingung zu machen. Sie hat damit zu Handlungen dauert diesen Konflikt" fähig ist - nebenbei gesagt ermutigt, die militärische Konflikte provozieren muß- setze ich es eigentlich voraus, daß die Existenz eines ten. Sie agierte mit einer Organisation, der EU, die Konfliktes nicht auch noch begrüßt wird -, diese Hilf- weder eine Sicherheitsorganisation ist noch gegen- losigkeit spricht für das generelle Problem dieser über Jugoslawien oder seinen Nachfolgestaaten ir- Regierung, nämlich die Nichtexistenz von auch nur gendeine Kompetenz besitzt und sich obendrein in- Ansätzen einer außenpolitischen Perspektive jenseits folge gegensätzlicher Interessen ihrer einflußreichen von Krisenreaktionskräften. Die stets zu knappen Länder lähmte. Mittel für humanitäre Hilfe und Armutsbekämpfung werden eingesetzt, zudem noch in aberwitziger Kon- Ein anderes Beispiel: Tschetschenien. Mit dem Ar- kurrenz verschiedener Ministe rien, um ausgebro- gument innere Angelegenheit überläßt sie Rußland chene Konflikte entweder einzudämmen oder im die Austragung des Konflikts in der allen bekannten schlimmsten Fall sogar um Konflikte in die ge- Grausamkeit und nutzt nicht ihre intensiven Bezie- wünschte Richtung zu manipulieren. hungen zu dieser Großmacht, die geradezu brüderli- chen Beziehungen des Bundeskanzlers zum russi- Gleichzeitig jedoch weisen selbst die offiziellen schen Präsidenten, um zu erreichen, daß militärische Angaben der Bundesregierung zu Ausfuhrgenehmi- Lösungsversuche endlich eingestellt werden. Das gungen von Rüstungsgütern den erschreckenden Gegenteil ist der Fall: Alles, was der Bundeskanzler, Tatbestand aus, daß ein Großteil der genannten Kri- was der Außenminister in diesem Falle getan haben, senregionen in den letzten 10 Jahren mit Rüstungs- kann und wird von russischer Seite nur als still- gütern und Ausstattungshilfe versorgt wurden. Der schweigendes „Weiter so!" aufgefaßt. Damit hat Ansatz, eine Region hochzurüsten, um später die Fol- diese Regierung eindeutig eine Mitverantwortung gen des Waffeneinsatzes wiederum eindämmen zu dafür, daß dieser Krieg noch immer andauert! müssen, ist entweder Planlosigkeit oder aber Vorsatz, der mit ziviler Außenpolitik nicht viel gemein hat. Drittens. Das Beispiel Tschetschenien zeugt davon, Die 2 Milliarden DM, die allein für die Bundeswehr wie doppelzüngig von dieser Regierung die Beru- im Zusammenhang mit den Auslandseinsätzen der fung auf die Wahrung der Menschenrechte einge- letzten Jahre ausgegeben wurden, unterstreichen setzt wird. Ist sie z. B. im Falle Somalia Argument für dies. die Beteiligung an einem sinnlosen Blauhelmeinsatz, wird sie bei Tschetschenien, da offensichtlich andere Erstens. Aus der Gesamtantwort wird zunächst ein- Interessen im Spiel sind, völlig vernachlässigt. Die mal sichtbar, daß sicherheitspolitisches Handeln der Bundesregierung versteckt sich hinter ohnmächtigen Bundesrepublik zumeist erst dann beginnt, wenn ein Erklärungen der UN-Menschenrechtskommission. Konflikt ausgebrochen ist und militärisch ausgefoch- Nicht einmal auf einen einzigen eindeutigen Protest ten wird. Das ist eine verfehlte Politik der Konfliktbe- gegenüber der russischen Regierung kann sie ver- 8616* Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 96. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. März 1996 weisen, geschweige denn erklären, was sie in euro- zum militärischen Arm der EU werden in einem Jahr päischen oder internationalen Organisationen dazu problemlos 10 Millionen DM hingeblättert. Dabei be- getan hat. darf es keines Beweises, daß in jedem Falle nichtmili- tärische Konfliktlösung weniger Mittel verschlingt Viertens. Bezeichnend, ja geradezu entlarvend ist, als militärische. daß die Bundesregierung für die Entwicklungszu- sammenarbeit die Beachtung der Menschenrechte Sechstens. Fazit also ist: Es reicht nicht, der Ge- zum ersten Kriterium erhebt (wogegen nichts einzu- waltvorbeugung das Wo rt zu reden, sich aber gleich- wenden ist), während für den Expo rt von Waffen und zeitig auf Gewaltanwendung - wo auch immer in der Rüstungsgütern die innenpolitische Lage des Landes Welt - vorzubereiten und in der Außen- und Sicher- insgesamt und „unter anderem auch seine Men- heitspolitik immer mehr militärischen Kategorien den schenrechtssituation berücksichtigt" werden. Die Vorzug zu geben. Anfänge können und dürfen hier beiden Behauptungen wurden durch die gegebenen auch vor dem Hintergrund der schlimmen Erfahrung Antworten selbst widerlegt. Die Zahlen über die Ent- deutscher Geschichte nicht hingenommen werden. wicklungszusammenarbeit mit Ländern, in denen Was wir brauchen, ist die Debatte über eine präven- massiv die Menschenrechte verletzt werden wie in tive, zivile Außenpolitik, über die Durchsetzung poli- Indonesien, Ruanda, Guatemala, sind vergleichs- tischer und sozialer MR, über eine gerechte Wi rt weise keineswegs gering. Die Zahlen für Rüstungs- -schafts- und Sozialordnung. lieferungen, bei denen man sich ohnehin pauschal hinter der Behauptung einer angeblich restriktiven Dr. Werner Hoyer, Staatsminister im Auswärtigen Rüstungsexportpolitik und sogenannten Endver- Amt: Die Bundesregierung hat in ihrer Antwort auf bleibserklärungen zu verstecken sucht, sprechen oh- die Große Anfrage der PDS „Kriege und bewaffnete nehin eine andere Sprache. Hier greift die Bundesre- Konflikte in Europa und der Welt" ausführlich ihre gierung zu verschiedenen Tricks. So werden in be- internationalen Friedensbemühungen in einer Viel- zug auf Ex-Jugoslawien die eigentlich interessieren- zahl von Ländern Europas, Afrikas, Asiens und La- den Angaben, wer wann welche Waffen bekommen teinamerikas dargestellt. hat, hinter der Pauschalangabe „1985 bis 1995" ver- steckt. Völlig offen bleiben auch Angaben über die Wir Deutsche haben wegen der geographischen Art der gelieferten Waffen und sonstigen Rüstungs- Lage unseres Landes, aber auch wegen unserer Ge- güter; die bloße wertmäßige Angabe verschleiert vor schichte, in. der wir so oft im Gegensatz zu unseren allem Gefährlichkeit und Verwendungszweck. Land- Nachbarn standen, ein vitales Interesse und eine be- minen, Handgranaten und Schützenmunition sind sondere Verantwortung für die Erhaltung des Frie- bekanntlich relativ billig. Auch findet sich keine An- dens. Dabei sind unsere Mitgliedschaft in der Euro- gabe darüber, wer in welchem Umfang Waffen, Aus- päischen Union und im Nordatlantischen Bündnis rüstungen und Munition z. B. aus NVA-Beständen Grundentscheidungen für Freiheit, Frieden, Men- kostenlos überlassen bekam. Das kann aber nicht all- schenrechte und Selbstbestimmung, aber gerade bekannte Tatsachen aus der Welt schaffen: Einschlä- auch für eine dauerhaft friedliche und gerechte Ord- gige Statistiken - SIPRI bis zum UN-Waffenregister - nung in Europa. Unser besonderes Augenmerk ist und selbst Untersuchungen des amerikanischen dabei auf die Stärkung der internationalen Ordnung Kongreß weisen aus, daß die Bundesrepublik auf und ihrer Institutionen, auf die Einbeziehung auch Platz zwei der Liste der „Todeshändler" steht. Allein Mittel- und Osteuropas in ihre stabilisierende, frie- 1994 hat sie ihren Verkaufserlös aus Waffen und Mili- denstiftende Wirkung, auf die Verbesserung der tärgerät verdoppelt. Der Einsatz deutscher Waffen in weltweiten Wirtschaftsbeziehungen und auf kon- der Türkei gegen die kurdische Bevölkerung spricht krete Beiträge zur Sicherung eines dauerhaften Frie- für sich! Im Klartext: 893 Millionen DM für Indone- dens gerichtet. sien, 285 Millionen DM für Iran, 5,32 Milliarden DM Vor allem bedarf es auch der praktischen Durchset- für die Türkei an Rüstungslieferungen, hier von Pri- zung der Menschenrechte, um den äußeren Maßnah- mat der MR zu sprechen, ist der blanke Hohn. men zur Friedenswahrung auch innere Festigkeit und Überzeugungskraft zu verleihen. Hier geht es Fünftens. Die Bundesregierung vermag kaum ei- um elementare Rechte, die überall in der Welt gelten gene kreative Ideen, Initiativen oder Aktionen anzu- müssen, in Europa nicht weniger als auf anderen führen, die auf eine Stärkung der Konfliktprävention Kontinenten. Auch für unsere Politik gegenüber der und Konfliktlösungen mit zivilen Mitteln hinweisen Dritten Welt gilt, daß Friedenspolitik ohne umfas- würden. Sie beteiligt sich lediglich an einigen Maß- sende Gewährleistung der Menschenrechte für uns nahmen der OSZE und der UNO, die aber so lange undenkbar ist. Mit erheblicher Sorge registrieren wir unzureichend bleiben müssen, wie sie bestimmte die große Zahl der Krisen und Konflikte, der Men- Mitgliedstaaten, darunter die Bundesrepublik, ge- schenrechtsverletzungen, der Fälle von Folter und genüber der NATO vernachlässigen und nicht mit Diskriminierung. den erforderlichen Mitteln und Kompetenzen aus- statten. Der sichere Indikator dafür, ob die Bundesre- In ihrer Antwort auf die Große Anfrage hat die gierung der zivilen oder der militärgestützten Kon- Bundesregierung deutlich gemacht, daß sich fliktbearbeitung Priorität einräumt, ist letztlich der Deutschland aktiv bemüht, zu politischen Konfliktlö- Haushalt. Der Rüstungshaushalt wurde für 1996/97 sungen in allen Teilen der Welt beizutragen und bei über 48 Milliarden DM „stabilisiert", danach soll diese mit umzusetzen. So war und ist die Bundesre- er weiter steigen, für die OSZE hat man gerade ein- publik Deutschland an den Bemühungen zur Lösung mal 5 Millionen DM übrig. Für den Ausbau der WEU der großen, von den Vereinten Nationen behandel- Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 96. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. März 1996 8617* ten Konflikte, wie beispielsweise in Namibia, Anlage 4 Ruanda, Kambodscha sowie im ehemaligen Jugosla- wien, wesentlich beteiligt. Unser Engagement Amtliche Mitteilungen umfaßt hierbei nicht nur politische, sondern auch menschenrechtliche und entwicklungspolitische Die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN hat mit Aspekte. Dies ist deshalb geboten, weil Konflikte in Schreiben vom 13. März 1996 ihren Antrag „Alter- aller Regel nur in einem differenzie rten Ansatz bei- nativen zur geplanten ICE-Neubaustrecke Mün- gelegt werden können. Dabei muß auf alle zur Verfü- chen-Ingolstadt-Nürnberg" - Drucksache 13/1934 - gung stehenden Instrumente zurückgegriffen wer- zurückgezogen. den. Die Schwerpunkte der vorgelegten Antwort lie- gen daher in der Darstellung der Maßnahmen prä- Die Gruppe der PDS hat mit Schreiben vom ventiver Diplomatie, aber auch der erbrachten huma- 14. März 1996 ihren Antrag „Sofortige politische nitären, entwicklungspolitischen sowie Flüchtlings- Konsequenzen aus dem Umgang mit Subventions- hilfe. Dabei möchte ich darauf hinweisen, daß mitteln beim Bremer Vulkan Verbund" - Druck- Deutschland über seine bilaterale Hilfe hinaus in er- sache 13/3976 - zurückgezogen. heblichem Umfang auch durch die Europäische Der Vorsitzende des Ausschusses für Familie, Se- Union und durch die Vereinten Nationen Hilfslei- nioren, Frauen und Jugend hat mitgeteilt, daß der stungen erbringt. Ausschuß gemäß § 80 Abs. 3 Satz 2 der Geschäftsord- nung von einer Berichterstattung zu den nachstehen- Die Antwort geht auch auf die Ausfuhr von Rü- den Vorlagen absieht: stungsgütern ein. Ich möchte deshalb in diesem Zu- - Drucksachen 12/7537, 13/325 Nr. 142 - sammenhang erneut die grundsätzlich restriktive Rü- stungsexportpolitik der Bundesregierung unterstrei- Die Vorsitzenden der folgenden Ausschüsse haben chen. Ausfuhrgenehmigungen werden auf der mitgeteilt, daß der Ausschuß die nachstehenden EU- Grundlage des KWKG und AWG sowie nach Maß- Vorlagen bzw. Unterrichtungen durch das Europäi- gabe der „Politischen Grundsätze der Bundesregie- sche Parlament zur Kenntnis genommen oder von ei- rung für den Export von Kriegswaffen und sonstigen ner Beratung abgesehen hat: Rüstungsgütern" vom 28. April 1982 erteilt. Danach Auswärtiger Ausschuß wird bei der Ausfuhr von Rüstungsgütern auch die Drucksache 13/3668 Nr. 1.13 innenpolitische Lage des betreffenden Landes, dar- Drucksache 13/3668 Nr. 1.24 unter auch seine Menschenrechtssituation, berück- Drucksache 13/3668 Nr. 1.25 sichtigt. Insbesondere darf die Lieferung von Rü- Innenausschuß stungsgütern nicht zu einer Erhöhung bestehender Drucksache 13/725 Nr. 25 Spannungen beitragen. Lieferungen an Länder, bei Drucksache 13/2804 Nr. 2.1 denen die Gefahr des Ausbruchs einer bewaffneten Drucksache 13/2804 Nr. 2.2 Auseinandersetzung besteht, scheiden daher grund- Drucksache 13/2804 Nr. 2.5 sätzlich aus. So werden Embargos des VN-Sicher- Drucksache 13/2804 Nr. 2.6 Drucksache 13/3117 Nr. 2.2 heitsrates und der EU strikt respektiert. Drucksache 13/3117 Nr. 2.4 Drucksache 13/3117 Nr. 2.9 Ohne Entwicklung der Dritten Welt gibt es keinen Drucksache 13/3117 Nr. 2.12 Drucksache 13/3117 Nr. 2.13 dauerhaften sicheren Frieden. Eine Welt, in der die Drucksache 13/3668 Nr. 2.3 Kluft zwischen reichen und armen Ländern zunimmt, Drucksache 13/3668 Nr. 2.24 in der Hunger und Elend in den Entwicklungslän- Drucksache 13/3668 Nr. 2.63 dern sich ausbreiten, in der Regionen immer wieder Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend von Krisen betroffen sind, kann den Frieden nicht be- Drucksache 13/2674 Nr. 1.2 wahren. Wir brauchen eine Beschleunigung der wirt- Drucksache 13/2674 Nr. 2.3 schaftlichen Entwicklung in der Dritten Welt und sta- biles Wachstum in den Industrieländern. Die pa rtner- Ausschuß für Gesundheit schaftliche Zusammenarbeit mit den Staaten der Völ- Drucksache 13/269 Nr. 2.4 Drucksache 13/2988 Nr. 1.5 kergemeinschaft ist die Grundlage für eine dauer- Drucksache 13/2988 Nr. 1.26 hafte friedliche Ordnung unserer Welt. Drucksache 13/3286 Nr. 2.17