APuZ Aus Politik und Zeitgeschichte 43/2008 ´ 20. Oktober 2008

Auûen- und Sicherheitspolitik

Peter Bender Deutsche Auûenpolitik: Vernunft und Schwåche

Dieter Weiss Deutschland am Hindukusch

Stefan Fræhlich Deutsche Auûen- und Sicherheitspolitik im Rahmen der EU

Carlo Masala Neuorientierung deutscher Auûen- und Sicherheitspolitik

Jærg Faust ´ Dirk Messner ¹Ankerlånderª als auûenpolitische Herausforderung

Michael Hennes Das pazifische Jahrhundert

Harald Mçller Der ¹demokratische Friedenª und seine Konsequenzen

Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament Editorial

Seit dem Zerfall der Sowjetunion hat sich die internationale Ordnung grundlegend veråndert. Von zwei ehemals dominieren- den Blæcken sind allein die Vereinigten Staaten als fçhrender weltpolitischer Akteur verblieben. Doch inzwischen haben sich weitere Machtzentren entwickelt, sodass sich ein neues multipo- lares System internationaler Beziehungen bereits abzeichnet. Mit China, Indien, Brasilien sowie weiteren ehemaligen Entwick- lungs- bzw. Schwellenlåndern beanspruchen regionale Fçh- rungsmåchte zunehmend Mitsprache auf der weltpolitischen Bçhne. Drångende Zukunftsfragen, wie die des Klimawandels oder der knapper werdenden Ressourcen, sind nur gemeinsam mit diesen Staaten zu beantworten, die ganz eigene (teilweise ge- gensåtzliche) Interessen verfolgen.

Deutschland hat auûenpolitisch zwar an Gewicht gewonnen, scheint aber knapp 20 Jahre nach der Wiedervereinigung noch auf der Suche nach seiner Rolle in dieser unçbersichtlicheren Weltordnung zu sein. Eine gemeinsame Auûenpolitikder Euro- påischen Union ist bisher nur in Ansåtzen vorhanden. Gleichzei- tig setzen die USA verstårkt auf Allianzen auûerhalb der NATO oder der UNO, um ihre Interessen durchzusetzen. Dennoch werden die EU und die USA auch in Zukunft Deutschlands wichtigste auûen- und sicherheitspolitische Partner bleiben.

Dass der auûenpolitische Bedeutungszuwachs der Bundesre- publikauch mit gesteigerten Erwartungen an sie verbunden ist, zeigt der Bundeswehreinsatz in Afghanistan, wo die Alliierten auf ein græûeres Engagement der Deutschen drången. Doch schon jetzt ist die Mission zunehmend gefåhrlich ± manche Ex- perten warnen bereits vor einer schleichenden ¹Vietnamisie- rungª. Eine çbergeordnete Strategie, um eine solche Entwick- lung zu verhindern, sei bislang kaum erkennbar.

Johannes Piepenbrink Peter Bender Verteidigungsministers Peter Struck, unsere Sicherheit werde auch am Hindukusch vertei- digt.Zu offenkundig ist das Gegenteil: Je Deutsche Auûen- stårker das militårische Engagement in Af- ghanistan, desto græûer ist die Gefahr, Ziel politik: Vernunft des islamistischen Terrors zu werden. 2 Si- cherheit davor ist nicht allein, aber vor allem und Schwåche Aufgabe des Innenministers. Die jçngste Geschichte seit dem Ende des Kalten Krieges hat Deutschland in eine Lage Essay gebracht, in der es noch nie war: Es hat keinen Krieg zu befçrchten, und ihm droht, soweit man vorausdenken kann, auch kçnftig keine uûen- und Sicherheitspolitik haben fçr militårische Gefahr.Jedenfalls ist dies allge- A Deutschland heute nur noch zweitran- meine Ûberzeugung, sonst wçrde die Bundes- gige Bedeutung.In den fçnfziger Jahren des wehr nicht von einer Verteidigungsarmee zur vergangenen Jahrhunderts wurde erbittert um Interventionstruppe umgebaut.Auûen- und Konrad Adenauers Westpolitik gekåmpft: Sicherheitspolitik werden daher von keiner Was ist unser Hauptziel, Sicherheit oder Wie- Notwendigkeit im strengen Wortsinn diktiert, dervereinigung? Beim sind also weniger dringlich als frçher und kæn- Peter Bender einen ging es um die nen sich auch Aufgaben zuwenden, die weni- Dr. phil., geb. 1923; Alt- und Existenz der Bundes- ger dringlich sind.Konfliktvermittlung auf an- Zeithistoriker, Journalist. republik, beim ande- deren Kontinenten, Rechtsstaat-Beratung, De- Heydenstraûe 15, ren um die Kernfrage mokratie-Empfehlung, Aufbauhilfe in 14199 Berlin. der Nation.In den zerfallenden Staaten und immer wieder An- sechziger und siebzi- mahnung der Menschenrechte ± um all das ger Jahren wurde ebenso erbittert um Willy kann sich nur sorgen, wer keine eigenen Sor- Brandts Ostpolitik gekåmpft: Wie halten wir gen hat oder Weltmacht ist wie die Vereinigten es mit dem Osten? Gehen wir auf Konfronta- Staaten.Eine Auûenpolitik ohne Notwendig- tion, um ihn niederzuzwingen, oder suchen keit verfållt leicht in Beliebigkeit.Sie bedarf, so wir die Kooperation, um das Mægliche mæg- scheint es, keiner strategischen Planung und lich werden zu lassen.Beide Auffassungen wird von Fall zu Fall entschieden.Dafçr er- lebten von der Ûberzeugung, nur so kænne laubt sie der Regierung, innenpolitische die Einheit Deutschlands gerettet werden. Schwåchen durch auûenpolitische Erfolge aus- Danach gab es keinen grundsåtzlichen Streit zugleichen, die den Wåhlern gefallen. mehr, aber die Sorge um Frieden und Sicher- heit hielt an, bis der Ost-West-Konflikt ein Ende fand. Die Last der Geschichte

Die Auûen- und Sicherheitspolitik der Ber- Immer noch weiterwirkend ist die historische liner Republik kennt keinen existenziellen Last des Nationalsozialismus.Nach Hitler und keinen grundsåtzlichen Streit mehr, denn war erstes Gebot fçr alle Deutschen, jeder Deutschland ist vereint und sicher.Es ist von Gewalt- und Machtpolitik abzuschwæren Freunden ¹umzingeltª, auch unsere Nach- und sich in çbernationale Gemeinschaften barn im Osten gehæren der NATO an, und einzufçgen.Nur mit Vorsicht und Rçcksicht das Øuûerste, was von Russland befçrchtet konnte die junge Bundesrepublik Gleichbe- wird, ist ein erpresserisches Zudrehen des rechtigung und, noch wichtiger, gleiche Ach- Gashahns.Was immer sich im Kaukasus ent- tung erwerben.Das ist lange erreicht.Geblie- wickelt, die Sicherheit Deutschlands berçhrt ben aber ist dreierlei.Einmal die Pflicht fçr es nicht.Der Raketenabwehrschirm, den die jeden Politiker und Diplomaten, sich bewuût Amerikaner in Polen und Tschechien auf- spannen wollen, soll Gefahr aus Iran oder gar 1 Vgl.Peter Bender, Was uns wirklich droht, in Inter- nationale Politik (IP), (2008) 2, S.91±93. Nordkorea suggerieren, aber das nimmt kein 2 Vgl.ders.,Afghanistan: Mitgegangen, mitgefangen?, denkender Mensch ernst. 1 Das Gleiche gilt in: Blåtter fçr deutsche und internationale Politik, fçr den viel zitierten Spruch des ehemaligen (2008), 6, S.32±34.

APuZ 43/2008 3 zu halten, dass er oder sie ein Land vertritt, immer nur bei den Guten sein und, wenn ir- das einmal der Schrecken der Welt war.Der gend mæglich, nur Gutes tun.Auûenpolitik franzæsische Satz ¹Wir kænnen vergessen, erscheint vielen, bis in den Bundestag, als wenn ihr nicht vergesstª, gilt immer noch. eine karitative Veranstaltung.Es hat lange ge- Zum anderen blieb die konsequente Be- dauert, bis man wagte, æffentlich von Interes- schrånkung auf friedliche Ziele und Metho- sen zu reden; Politiker, meist auch Journalis- den.Schlieûlich erhielt sich ein Treueverhålt- ten und Wissenschaftler, meiden den Schlçs- nis zur Vor- und Schutzmacht Amerika, das selbegriff aller Politik, die Macht. im Kalten Krieg stårker begrçndet war und deshalb dauerhafter ist als die Loyalitåt ande- Hier rçckt ein weiteres, historisch verur- rer europåischer Staaten.Vierzig Jahre Ge- sachtes, Element in den Blick: ein durch und wohnheit, dass da einer ist, der schçtzt und durch pazifistisches Volk.In den ersten Jahr- daher Dankbarkeit und Folgsamkeit erwartet, zehnten nach 1945 dominierten die Genera- verlieren sich nicht so schnell. tionen, die den Zweiten Weltkrieg erlebt hat- ten und deshalb alles scheuten, was auf Mili- All das tat seine Wirkung.Noch nie in der tår und Krieg auch nur hindeutete.Seit dem Geschichte ist deutsche Auûenpolitik mit so Beginn des neuen Jahrhunderts bestimmen viel Maû, Vernunft und gutem Willen gefçhrt die Generationen Denken und Maûståbe, die worden.Der ¹Zivilgesellschaftª im Inneren nichts erlebt haben auûer scheinbar ewigem entspricht eine zivile, mæglichst zivilisierte Frieden und sich kaum vorstellen kænnen, Auûenpolitik.Sie wahrt die eigenen Interes- dass kçnftig einmal nicht mehr Frieden sein sen, besonders die wirtschaftlichen, engagiert soll.Vom Schicksal gebeutelte und vom sich çberzeugend in und fçr Europa, be- Schicksal verwæhnte Jahrgånge ± fçr die schrånkt sich in der çbrigen Welt auf Dialog, Nachkriegs-Deutschen blieb alles, was nach Verhandlung, Vermittlung und erlaubt als åu- Militår, Waffen und Gewalt aussah, gefåhr- ûerstes Mittel Sanktionen.Bei alledem bleibt lich, unmoralisch und veråchtlich.Nur als sie sich ihrer Grenzen als Mittelmacht bewusst Verteidigungsarmeen waren und und weiû, was nur die Groûmacht Amerika Nationale Volksarmee seinerzeit durchzuset- schafft, und dass nicht Deutschland, sondern zen.Die DDR fçhrte die allgemeine Wehr- nur Europa Gewicht in die Weltpolitik bringen pflicht erst ein, als die Mauer gebaut war und kann.Ihr Ehrgeiz richtet sich, wie bei den mei- keiner mehr weglaufen konnte.Im Westen sten Europåern, nicht mehr auf Macht, son- hieû die stårkste Parole damals ¹Ohne michª dern auf Einfluss, sie will nicht bestimmen, ± etwas gemildert gilt sie fçr die groûe Mehr- aber mitbestimmen.Das unterscheidet sie von heit noch heute, wenn deutsche Soldaten den Vereinigten Staaten wie auch von Russland kåmpfen sollen. und den aufstrebenden Staaten Asiens. Auch die politische Klasse gehært jetzt den Weder deutsche noch europåische Auûen- Jahrgången an, die den Zweiten Weltkrieg politik kænnen daher Vorbild fçr die neuen nur noch aus Erzåhlungen und Bçchern ken- Måchte sein, denn die wollen Macht, weit nen; selbst die entbehrungsreichen Aufbau- mehr als sie zugeben. 3 Natçrlich wåre es herr- zeiten haben die meisten nur als Kinder oder lich, wenn sich alle Lånder ebenso verhielten gar nicht erlebt.Ihre Vertreter stehen unter wie die Alte Welt, aber sie ist die buchståblich dem politischen Druck der NATO und dem alte Welt, von zwei selbstzerstærerischen Krie- moralischen der Vereinten Nationen, mçssen gen gebrochen im Willen zur Macht.Auch die çber Militåreinsåtze entscheiden, aber kæn- deutsche Vernunft ist weniger moralische Leis- nen keine Vorstellung davon haben, was tung als Ergebnis der Geschichte.Vor der Ein- Krieg ist, was sie den Soldaten zumuten kæn- sicht war die Schwåche, vor der Moral die De- nen und was sie ihnen ersparen mçssen.Vor mçtigung der Nation, die Europa vergewal- allem sehen sie sich einer Nation gegençber, tigte und Auschwitz auf dem Gewissen hat. die bei der nåchsten Wahl zu bestrafen droht, wenn Sæhne, Brçder und Familienvåter in So sind die Deutschen heute braver als an- græûerer Zahl nicht mehr lebend von ihren dere und trauen sich weniger.Sie wollen Hilfe- und Friedensdiensten heimkehren.

3 Eindrucksvoll dargelegt von Robert Kagan, Die De- Zwei Zitate zeigen die Zwangslage der mokratie und ihre Feinde, Mçnchen 2008. deutschen Auûenpolitik.Ein amerikanischer

4 APuZ 43/2008 Offizier in Afghanistan sagte, ¹Die Deut- Widerstånde im Inneren durchfechten; beide schen mçssen lernen zu tætenª ± erst dann lagen zwar jeweils im Trend der internationa- wçrden sie vollwertige Verbçndete.Ein Tali- len Entwicklung, hatten aber keine Gewiss- banfçhrer gab die Weisung: ¹Es ist wichtig, heit, ob sie auûenpolitisch ihr Ziel erreichen Deutsche zu tætenª ± die knicken am wçrden.Auch Helmut Kohl wusste nicht si- schnellsten ein und gehen nach Hause.Schon cher, ob er, trotz amerikanischer Hilfe, Mos- die Selbstachtung håtte Klarheit und Konse- kau, London und Paris mit der deutschen quenz von Berlin verlangt: Wenn man Solda- Einheit wçrde versæhnen kænnen. ten zu internationalen Einsåtzen schickt, muss man sie Soldaten sein lassen wie alle an- Berlin fçhrt heute eine Auûenpolitik, die deren; wenn man das nicht will, darf man sie erfolgreicher scheint, als sie ist, was nicht nicht schicken.Doch Bundesregierung und heiût, sie sei erfolglos.Integration Europas, Bundestag taten weder das eine noch das an- Welthandel, Klima sind hochwichtige The- dere.Sie lavierten zwischen politischer men, aber ziemlich gefahrlos: Auch wenn Pflicht und historischer Last, genauer: zwi- man scheitert, sind vor allem die anderen schen der Furcht vor Isolierung im Bçndnis oder die Umstånde Schuld.In aller Welt eine und der Angst vor dem Volke.Ihnen fehlte gute Figur machen, hebt das Ansehen, aber der Mut zum Kampf und die Zivilcourage gençgt nicht fçr den græûten Staat der Euro- zum Nein.So entsandten sie die Bundeswehr påischen Union. nur zu Hilfe- und Heildiensten und hæchs- tens zu Schutz- und Kontrollaufgaben; çber Christian Hacke fragte schon vor zwælf die Frage, ob Luftaufklårung schon Kampf Jahren, ob Deutschland eine Weltmacht sei, weil danach andere besser bomben kænn- wider Willen sei. 4 Offenkundig leidet es an ten, entbrannte mehrfach heftiger Streit.Erst einem Missverhåltnis zwischen seiner Stårke in diesem Jahr çbernahmen 200 Mann einen und der Fåhigkeit, sie zu gebrauchen.Gott Auftrag, bei dem mit Kampf zu rechnen ist. sei Dank, sagt jeder, der noch die Zeit vor 1945 im Gedåchtnis hat.Aber man kann sich nicht schwåcher machen, als man ist; um Fehlende Souverånitåt Schweiz zu spielen, ist Deutschland zu groû. Wie bei den Militåreinsåtzen kann es sich auf Die deutsche Politik geråt in Gefahr, sich lå- die Dauer den Erwartungen nicht entziehen, cherlich zu machen.Sie wird gedrångt und die an ein Land seiner Græûe, Lage und Be- låsst sich drången, sie zægert und windet sich, deutung gerichtet werden. aber gibt dann von Mal zu Mal weiter nach, bis sie tun muss, was sie nie tun wollte.Allein Die anderen wollen wissen, wo Berlin Gerhard Schræder verweigerte sich George steht, wenn Entscheidungen nætig werden, Bushs Irak-Abenteuer.Was immer ihn und noch wichtiger, Berlin muss selbst wis- bewog, er folgte der hæchsten Autoritåt, dem sen, was es meint und will.Meint der Vertei- Grundgesetz, das schon die Vorbereitung von digungsminister wirklich, Bundeswehr und Angriffskriegen verbietet.Damit war die Aufbauhelfer noch fçnfzehn Jahre in Afgha- Linie gezogen, die keine Bundesregierung nistan halten zu kænnen? Wird die Kanzlerin çberschreiten darf, die ihr aber den Spielraum bei ihrem strikten Nein bleiben, wenn Barack låsst, die Bundeswehr in Marsch zu setzen, Obama als Pråsident oder John McCain er- wenn die Aufgabe politisch oder moralisch heblich mehr Engagement in Afghanistan for- çberzeugt. dert? Glauben Regierung und Parlament çberhaupt an einen erfolgreichen Abschluss Die Militåreinsåtze sind das heikelste Feld dort? Wenn nicht, welche Konsequenz ziehen deutscher Auûenpolitik und lassen deren ver- sie? borgenes Problem am deutlichsten erkennen: Der åuûeren Souverånitåt, die das vereinte Durch Demokratie ist Deutschland ein Teil Land 1990 erhielt, ist innere Souverånitåt des Westens, durch Geographie ein Land noch nicht ausreichend nachgewachsen.So zwischen West und Ost.Die Bundesregie- erklårt sich auch die Scheu, græûere politische Risiken einzugehen.Die bedeutenden Vor- 4 Vgl.Christian Hacke, Die Auûenpolitik der Bun- gånger hatten den Mut dazu.Adenauer wie desrepublik Deutschland.Weltmacht wider Willen?, Brandt mussten ihre Politik gegen massive Frankfurt/M.±Berlin 1993.

APuZ 43/2008 5 rung bemçht sich pragmatisch, der Schwie- Dieter Weiss rigkeit Herr zu bleiben, aber eine feste Positi- on zwischen Wertekult und Notwendigkeit ist nicht gefunden.Ist der konvertitenhafte Deutschland am Belehrungseifer anderer Kulturen ein bestim- mendes Motiv der Auûenpolitik oder doch meist nur der Innenpolitik geschuldet? Ent- Hindukusch scheiden, wenn es drauf ankommt, Vorteil und Interesse?

Wieweit folgt Berlin einem neuen Kreuz- er Krieg in Afghanistan geht ins siebte zug Washingtons, auch wenn er nur mit soft D Jahr.Ende 2001 waren die Taliban ver- power gefçhrt wird? Wieweit nimmt es hin, trieben, nachdem sie sich der Forderung des dass die NATO immer mehr zur Hilfstruppe UN-Sicherheitsrats nach den Anschlågen US-amerikanischer Weltpolitik wird? Was vom 11.September 2001 verweigert hatten, bestimmt das Verhåltnis zu Russland? Gas Osama bin Laden auszuliefern.Die Bundes- und Úl? Eine Abneigung gegen ein autoritå- wehr beteiligt sich an der International Secu- rer werdendes Regime, oder die Einsicht in rity Assistance Force (ISAF) unter Fçhrung die Notwendigkeit, ein stabiles, auf bleibende der NATO; das vom Parlament erteilte Man- politische Interessen gegrçndetes Verhåltnis dat wird jåhrlich erneuert. 1 Aufgabe der zu schaffen? Wo steht Berlin beim amerika- ISAF ist die Schaffung eines sicheren Umfel- nisch-russischen Machtkampf in Osteuropa des fçr die Stabilisie- und Zentralasien? Mit dem einen ist man ver- rung und den Wieder- Dieter Weiss bçndet, dem anderen gebçhrt Verståndnis, aufbau Afghanistans Dr. rer. pol. habil., geb. 1935; wenn er keine fremde Groûmacht an seinen nach drei Jahrzehnten Prof. em. für Volkswirtschaft Grenzen dulden will.Wie steht Berlin zur des Chaos.Der so- des Vorderen Orients an der Ausdehnung der NATO bis zum Kaukasus? wjetischen Besetzung Freien Universität Berlin, Bleibt es beim Nein, falls der neue US-Pråsi- in den Jahren 1979 bis Goethestr. 80, 10623 Berlin. dent drångt? Die Antworten mçssen nicht 1989 folgte ein er- [email protected] hinausposaunt werden, aber erkennbar muss bitterter Bçrgerkrieg, schon werden, was die Deutschen wollen. der 1996 mit der Machtçbernahme durch die Taliban beendet wurde. Vernunft und Schwåche sind die auûenpo- litische Hinterlassenschaft der Kriegs- und Rund fçnf Millionen Afghanen einschlieû- Nachkriegsgeschichte.Deutschland bedroht lich des græûten Teils der Bildungsschicht flo- niemanden mehr und ist ein gutes, fast vor- hen in der Folgezeit ins Ausland; zwei Gene- bildliches Mitglied der Staatengemeinschaft rationen ± insbesondere Frauen und Mådchen geworden.Die Schwåche hat es noch nicht ± wuchsen ohne ein funktionierendes Bil- ganz çberwunden, doch es nåhert sich dem dungs- und Ausbildungssystem auf.Die In- Ende des Prozesses, der vor fast sechzig Jah- stitutionen moderner Staatlichkeit zerfielen. ren mit einem demoralisierten Land unter Be- Die Taliban errichteten eine islamistische satzungsstatut begann und den man Normali- Schreckensherrschaft. sierung nennen kann.Das gebrochene Kreuz heilt, die politische Vernunft muss darunter Auf der Grundlage der Resolution 1386 aber nicht leiden und hat gute Aussicht zu des UN-Sicherheitsrates vom 20.Dezember bleiben.Die Niederlage 1945 war fçr die 2001 bekråftigte die internationale Staatenge- Deutschen, was der Untergang der Armada meinschaft nach der Vertreibung der Taliban, fçr die Spanier und das Ende Napoleons fçr dass Afghanistan nicht erneut Rçckzugs- und die Franzosen war: Sie kænnen nicht mehr Regenerationsraum des internationalen Ter- Herr sein in Europa und wollen es auch nicht rorismus werden dçrfe.Gefordert sind inter- mehr. nationale Unterstçtzung beim Wiederaufbau staatlicher Strukturen und bei der sozioæko- nomischen Entwicklung.

1 Dieses Jahr findet die Bundestagsabstimmung vor- aussichtlich am 16.Oktober statt (Stand: 8.Oktober).

6 APuZ 43/2008 Die Bundesrepublik Deutschland verfolgt sungsrechtlicher Kontrolle unterliegt, werden dabei einen ganzheitlichen Ansatz in enger daher vor Ort mit der Realitåt fortwirkender Verknçpfung von sicherheits- und entwick- traditioneller gesellschaftlicher Ordnungsvor- lungspolitischen Elementen, von militåri- stellungen konfrontiert.Warlords, Stammes- schen und zivilen Komponenten unter Einbe- fçhrer und Clanchefs, die wåhrend des Wi- ziehung und Mitsprache der lokalen afghani- derstands gegen die sowjetische Besatzung als schen Zielgruppen.Seine Umsetzung erfolgt islamische Guerillas (Mudschaheddin) mit im Rahmen der Provincial Reconstruction Hunderten von Millionen US-Dollar von Teams (PRT) unter einer militårisch-entwick- Saudi Arabien und den USA sowie mit Waf- lungspolitischen Doppelspitze, welche die fen aus den USA und Pakistan unterstçtzt Beteiligten und Betroffenen zusammen- wurden, besetzen inzwischen Minister-, Gou- fçhrt. 2 Im Bereich von Wiederaufbau und verneurs- und leitende Polizeiposten oder Stabilisierung sind Teilerfolge zu verzeichnen. sind Mitglieder des Parlaments.Eines der er- Auf der Grundlage von Wahlen sind Verfas- sten dort verabschiedeten Gesetze bestand in sungsorgane entstanden, die partiell an Funk- der generellen Amnestie fçr die Gewaltex- tionsfåhigkeit gewinnen.Dies geschieht ange- zesse der Vergangenheit.Pråsident Karsai hat sichts erbitterter bewaffneter Konfrontatio- bereits zwei Mordanschlåge çberstanden, den nen çber Jahrzehnte nicht in einem vorerst letzten im April 2008. 5 machtfreien Raum, sondern in håufig wech- selnden Koalitionen.Warlords, Clanchefs und lokale Machthaber mit ihrer Klientel und Finanzhilfen und ihren immer noch bewaffneten Milizen unter- sozioækonomische Entwicklung laufen die personalpolitischen Ansåtze zur Schaffung neuer staatlicher Institutionen, und Die internationale Gemeinschaft hat fçr den nutzen letztere fçr den Zugriff auf Ressour- Zeitraum 2002 bis 2020 mehr als 30 Milliar- cen ± von der Opiumækonomie bis zur Ab- den US-Dollar fçr den zivilen Wiederaufbau schæpfung internationaler Finanzhilfe. 3 Un- zugesagt.Die Kosten der militårischen Ein- geachtet der nach amerikanischem Vorbild såtze betragen ein Vielfaches.Allein fçr den konzipierten Pråsidialverfassung reicht die Zeitraum 2004 bis 2006 erhielt die Regierung Macht des Pråsidenten Hamid Karsai kaum in Kabul Finanzzusagen in Hæhe von 8,2 çber die Hauptstadt Kabul hinaus.Die ver- Milliarden US-Dollar.Angesichts einer weit- schiedenen Ethnien (Paschtunen, Turkmenen, hin fehlenden oder unzureichend funktionie- Usbeken, Tadschiken, Hazaras, Beludschen) 4 renden institutionellen Infrastruktur und der verfolgen jeweils eigene Interessen. mangelnden Durchgriffsmæglichkeit der Re- gierungsstellen auf lokaler Ebene ist an eine An eine durchgreifende Entwaffnung ist zçgige Umsetzung finanzieller Zusagen in nicht zu denken, zumal manche Warlords wie konkrete Projekte und Programme vor Ort der Usbekengeneral Raschid Dostum mit den nicht zu denken. Bodentruppen der Nordallianz in Koalition mit den US-Streitkråften die Taliban nieder- Deutschland unterstçtzt den Wiederaufbau kåmpften, so dass sich die USA auf den Ein- seit 2002 jåhrlich mit çber 80 Millionen Euro. satz ihrer Luftwaffe ohne amerikanische In- Fçr 2008 ist eine Steigerung auf 125 Millionen fanterie beschrånken konnten.Solche Koope- Euro vorgesehen.Die Kosten des bisherigen rationen schaffen ein Netz gegenseitiger Bundeswehreinsatzes betragen laut Aussage Rçcksichtnahmen.Naive westliche Vorstel- des Vorsitzenden des Verteidigungsausschus- lungen vom Aufbau eines demokratischen, ses des Deutschen Bundestages, Reinhold pluralistischen Rechtsstaats mit einem Ge- Robbe, 2,6 Milliarden Euro; auf das Jahr 2008 waltmonopol, welches seinerseits verfas- entfallen davon 487 Millionen Euro.

2 Vgl.Deutscher Bundestag ± 16. Wahlperiode, Im Rahmen der deutschen Entwicklungs- Drucksache 16/6460 vom 19.8.2007. zusammenarbeit konnte u.a. der Bau von 3 Vgl.Conrad Schetter/Rainer Glassner/Masood Ka- rokhail, Beyond Warlordism.The Local Security Ar- 3500 Schulen realisiert werden.Die Schçler- chitecture in Afghanistan, in: Internationale Politik zahlen verfçnffachten sich auf çber sechs und Gesellschaft Online, (2007) 2, S.140 f. 4 Es werden 57 Sprachen gesprochen, Staatssprachen 5 Vgl.Der Tagesspiegel vom 29.4.2008; Der Spiegel sind Dari und Paschto. vom 26.5.2008, S.129.

APuZ 43/2008 7 Millionen; ein Drittel davon sind Mådchen. im vergangenen Jahr erneut verschlechtert Gefærdert wurde der Wiederaufbau einer me- habe und die Aggressivitåt der im Sçden des dizinischen Grundversorgung und der Infra- Landes aktiven aufståndischen Kråfte græûer struktur.Diese Maûnahmen haben ¹eine geworden sei. 10 beachtliche Entwicklung angestoûen, wenn- gleich vor allem aufgrund der unterschiedli- Der Sçden und Osten Afghanistans sind chen Sicherheitslage nicht fçr alle Regionen militårisch heftig umkåmpft.Entsprechend im selben Maûe.ª 6 hoch sind die Zahlen der Gefallenen auf Sei- ten der Koalitionstruppen. 11 Zwei Drittel der Fçr die Gesamtheit der internationalen deutschen Wåhlerschaft lehnen den Einsatz Hilfebemçhungen 7 muss kritisch festgehal- am Hindukusch ab.Innerhalb der Groûen ten werden, dass rasche, flåchendeckende und Koalition besteht Einigkeit darçber, dass das auch in den entlegeneren Provinzen fçr die deutsche militårische Engagement auf die lokale Bevælkerung deutlich sichtbare Wie- Nordregion begrenzt bleiben sollte. Forde- deraufbauprojekte und -programme mit spçr- rungen, insbesondere seitens der USA und baren Beschåftigungs- und Einkommensef- Kanadas, nach einer verånderten Lastenver- fekten nicht verwirklicht worden sind.Die teilung sind von der Bundesregierung zu- anfånglichen Erwartungen nach der Befrei- rçckgewiesen worden. 12 ung vom Taliban-Regime wurden enttåuscht. NATO-Generalsekretår Jaap de Hoop Scheffer und US-Verteidigungsminister Ro- Sicherheitspolitische Defizite bert Gates beharren auf einer Ausweitung des Bundeswehreinsatzes auf den Sçden und Sçd- Das Hauptproblem bleibt die Sicherheitslage. osten.Anlåsslich einer Anhærung vor dem Insbesondere im Sçden und in Teilen des US-Kongress erklårte Gates, er wolle keine Sçdostens eskaliert die Situation.Die Wider- NATO, ¹in der manche Partner bereit sind, standsgruppen rekrutieren sich aus Taliban- fçr den Schutz der Menschen zu kåmpfen und Al Qaida-Kåmpfern, lokalen Milizen der und zu sterben, und andere nicht.ª 13 Der ka- Warlords und Drogenbaronen der Opium- nadische Verteidigungsminister Peter Mac- Úkonomie, aus Freiwilligen aus dem musli- Kay drohte mit Hinweis auf die hohe Zahl mischen Ausland sowie aus kriminellen Ban- getæteter und verwundeter kanadischer Sol- den.Nach Angaben der NATO stieg die Ge- daten, das kanadische Kontingent bis Februar samtzahl der Sprengstoffanschlåge in Afgha- 2009 abzuziehen, wenn die Verbçndeten nistan von 50 in 2003 auf 185 in 2004, 384 in ihnen im umkåmpften Sçden nicht zu Hilfe 2005, 883 in 2006 und 1256 in 2007. 8 Die kåmen. 14 Von kanadischer Seite hæren wir: Zahl der Selbstmordattentate, Straûenbom- ¹Kanadas Úffentlichkeit kænne es nicht ver- ben und direkten Angriffe auf die Interven- stehen, wieso die Bundesrepublik, mit der tionstruppen stieg zwischen 2005 und 2006 man in Zeiten des Kalten Krieges eine von 2400 auf 6400 Vorfålle.2007 haben sie ,Schicksalsgemeinschaft` empfunden habe, sich nach Schåtzungen von Militår, UN-Mit- sich nun weigere, ihren NATO-Alliierten im arbeitern und Nichtregierungsorganisationen umkåmpften Sçden Afghanistans militårische 9 nochmals verdoppelt. Bundesauûenminister Hilfe zu leisten.ª 15 Diese Forderung wurde Frank-Walter Steinmeier åuûerte sich wåh- auf der Mçnchener Sicherheitskonferenz im rend seiner Afghanistan-Reise im Juli 2008 besorgt darçber, dass sich die Sicherheitslage 10 Vgl.Der Tagesspiegel vom 27.7.2008. 11 Zahl der Gefallenen auf Seiten der Koalitions- 6 Presse- und Informationsamt der Bundesregierung, truppen: USA 141, Kanada 56, Groûbritannien 55, Das Afghanistan-Konzept der Bundsregierung, Berlin, Deutschland 28, Niederlande 9, Frankreich 4, Austra- August 2007, S.10; vgl.auch Hannelore Bærgel, Kleine lien 3, Polen 1.Truppenkontingente: USA 15 000, Erfolge, in: Entwicklung und Zusammenarbeit, (2007) Groûbritannien 7800, Kanada 2500, Deutschland 3500, 11, S.424±425. Italien 2900, Niederlande 1700, Frankreich 1500, Au- 7 Vgl.NATO, Progress in Afghanistan, Bucharest stralien 1100, Polen 1100.Nicht systematisch erfasst Summit, NATO Public Diplomacy Division, werden die Opfer unter der afghanischen Zivilbe- April 2008, S.2±4. vælkerung. 8 Vgl.ebd.,S.4. 12 Vgl.Der Spiegel Nr.7, 2008, S.23. 9 Vgl.Christoph R.Hærstel, Sprengsatz Afghanistan. 13 Ebd., S. 22. Die Bundeswehr in tædlicher Mission, Mçnchen 2007, 14 Vgl.ebd.,S.25. S.10. 15 Der Tagesspiegel vom 3.3.2008.

8 APuZ 43/2008 Mårz 2008 wiederholt.Deutliche deutsche zunimmt.ª 18 Und es wiederholen sich die kri- Vorbehalte gibt es auch bezçglich der fatalen tischen Berichte çber das ¹robusteª Vorgehen ¹Kollateralschådenª, das heiût der zivilen der alliierten Streitkråfte im Sçden und Osten, Opfer, die bei den militårischen Operationen bei dem Kollateralschåden in Kauf genommen der auf den ¹Krieg gegen den Terrorª fokus- werden, wenn sich Bodentruppen in Gefechte sierten amerikanischen Operation Enduring mit Widerståndlern verwickelt sehen, die sich Freedom (OEF) und der NATO-gefçhrten, in bewohnten Siedlungen verschanzt haben auf Stabilisierung und Wiederaufbau ausge- und das Feuer bewusst auf unbeteiligte Zivilis- richteten ISAF entstehen.So haben Freuden- ten lenken.Denn hohe zivile Verluste treiben schçsse traditioneller Hochzeitsgesellschaften den Taliban neue Kåmpfer zu. 19 Pråsident wiederholt zu interkulturellen Missverstånd- Karsai hat das Vorgehen der NATO wieder- nissen gefçhrt.Sie wurden von alliierten Pilo- holt als ¹rçcksichtslosª beklagt. ten mehrfach als feindlicher Angriff missver- standen und mit Pråzisionsbomben beant- Der ehemalige Bundesminister Jçrgen Trit- wortet.Auf diese Weise starben im Juli 2008 tin hat diese Form der Kampffçhrung am in Nangahar, sçdlich von Kabul, 47 Mitglie- 16.Juni 2007 im Deutschen Bundestag zur der eines Hochzeitsfestzuges, darunter 39 Sprache gebracht: In der Provinz Shindand Frauen und Kinder. 16 geriet eine OEF-Einheit in einen Hinterhalt und forderte Luftunterstçtzung an.ISAF Der Vorsitzende des Bundeswehr-Verban- schickte einen Hubschrauber und ein Kampf- des, Bernhard Gertz, scheute keine flugzeug F 16.Die von den OEF-Soldaten klaren Worte: ¹Es gibt eine offene Grenze zu markierten Håuser wurden bombardiert. Pakistan, die nicht kontrollierbar ist, nicht ¹Damit war der Kampf vorçber.Es gab 136 zuletzt deshalb, weil die schwache pakistani- zivile Todesopfer, darunter 50 Frauen und sche Regierung nicht in der Lage ist, das Ihri- Kinder, zum Teil ertrunken auf der Flucht ge dazu zu tun.Die geographischen Bedin- vor den Bomben in einem Fluss, der in diesen gungen tun ein Ûbriges.Auûerdem haben Tagen Hochwasser fçhrte.Meine Damen und unsere Verbçndeten ± Amerikaner, Kanadier, Herren, dass wir uns nicht missverstehen: Briten ± mit der Art und Weise ihres militåri- Dies ist nicht die Darstellung der afghani- schen Vorgehens nicht gerade die Kæpfe und schen Seite oder der anderen Kriegsteilneh- Herzen der Menschen gewonnen.Durch die mer, sondern die Darstellung, die der Kollege håufige Benutzung von Luftschlågen gegen Nachtwei, die Kollegin Kçnast und ich vom die Taliban, die sich zwischen der Zivilbevæl- ISAF-Hauptquartier von diesem Vorfall be- kerung verborgen hielten, hat es sehr viele kommen haben.ª 20 Tote unter den Zivilisten gegeben.Das hat im Ergebnis dazu gefçhrt, dass wir im Sçden ± Die Reaktionen der betroffenen afghani- anders als im Norden ± gegen die verbçnde- schen Familien werden wie folgt beschrieben: ten Truppen eine feindselige Stimmung ¹Zunåchst æffnen sich die Tçren fçr durch- haben.In einer feindseligen Atmosphåre mit ziehende Widerståndler, und im Schutz der einer offenen Grenze militårisch den Kampf Dunkelheit wird Unterschlupf gewåhrt.Spå- gegen den Terror gewinnen zu wollen ist na- testens daraufhin schlagen die US-Streitkråfte hezu aussichtslos.ª 17 und die im Sçden operierenden Verbçndeten (das sind vor allem Briten, Kanadier, Franzo- Kritische Stimmen wurden ± ungeachtet sen, Niederlånder, Italiener) zu.Dann entsen- disziplinarrechtlicher Rçcksichtnahmen ± den die Familienvåter und Clanchefs ihre auch in der Truppe laut: ¹Sieben Jahre dauert Sæhne in den Kampf.Die westliche Presse der Krieg am Hindukusch nun schon, långer als der gesamte zweite Weltkrieg.Die Chan- 18 Oberstleutnant Jçrgen Rose in: Der Tagsspiegel cen der NATO auf einen Sieg in Afghanistan vom 5.6.2008. aber schwinden von Monat zu Monat, wåh- 19 Vgl.Susanne Koelbl/Olaf Ihlau, Geliebtes, dunkles rend die Intensitåt des Widerstandes beståndig Land.Menschen und Måchte in Afghanistan, Mçnchen 2007, S.13, 283±284. 20 Vgl. www.gruene-bundestag.de/cms/bundestags- 16 Vgl.Der Spiegel vom 14.7.2008, S.103. reden/doc/186/186847.htm (20. 6. 2007); Bçndnis 90/ 17 Bernhard Gertz am 23.2.2008 im Deutschland- Die Grçnen, Mit diesem Krieg ist kein Frieden mehr radio, in: www.dradio.de/dkultur/sendungen/tacheles/ zu machen.Erklårung und Positionspapier zu Afgha- 743107/drucken/ (30.7.2008). nistan, Berlin, Sommer 2007, S.3.

APuZ 43/2008 9 weiû auûerdem von zahlreichen Fållen spon- reitet.Dies beginnt bei der Diktion der offi- tanen Widerstands zu berichten, der von den ziellen Verlautbarungen.Der Vorsitzende des Taliban zunåchst unabhångig ist, sich jedoch Bundeswehr-Verbandes fordert daher: ¹Wir spåter oftmals in deren Strukturen einglie- mçssen in unserer Sprache zu mehr Klarheit dert.ª 21 Man muss sich vergegenwårtigen, finden.Wir haben beispielsweise das Solda- dass seit 2001 sieben neue Jahrgånge von je tenversorgungsgesetz novelliert und dabei 450 000 frustrierten jungen Månnern heran- Regelungen fçr den Einsatz deutlich verbes- gewachsen sind, 22 insgesamt also rund 3,1 sert, die verwundete Soldaten und Witwen Millionen.Viele sehen fçr sich keine Lebens- gefallener Soldaten besserstellen.Aber wenn perspektive und kænnten bereit sein, sich den Sie in dieses Gesetz hineinschauen und su- Aufståndischen anzuschlieûen. 23 chen, ob es den Begriff ,Krieg` gibt, den Be- griff ,Kampf` oder ,Angriff`, den Begriff ,ge- Sprachlosigkeit der Politik fallen` oder den Begriff ,verwundet` ± den werden Sie dort nicht finden.Auch da sind wir nicht ehrlich in der Sprache.Und wenn Generell sollten wir auf eine Intensivierung jemand von einem Selbstmordattentåter in der Kampfhandlungen nicht nur im Sçden Afghanistan in die Luft gejagt und dabei ge- und Sçdosten, sondern auch in dem bislang tætet wird, dann wçrden wir in der Sprache ruhigeren, im deutschen Befehlsbereich lie- des Gesetzes seiner Witwe mitteilen, ihr genden Norden vorbereitet sein.Doch findet Mann ,sei bei einem Einsatzunfall seinen Ver- in der Bundesrepublik bislang keine fundierte letzungen erlegen`.Wenn jemand von einem Debatte um Ziele, Zeithorizonte, verfçgbare Sprengstoffattentat ereilt wird, dann ist er Truppen, gelåndeadåquate Ausrçstung und nicht bei einem Einsatzunfall getætet worden, innenpolitisch akzeptable Kosten in Geld sondern er ist gefallen fçr die Bundesrepublik und menschlichen Opfern statt.In der deut- Deutschland, denn es ist unser Parlament, das schen Úffentlichkeit herrschte, befærdert ihn dorthin geschickt hat, um seinen militåri- durch die zurçckhaltende Úffentlichkeitsar- schen Auftrag zu erfçllen.ª 24 beit der Bundesressorts, lange Zeit der Ein- druck vor, dass es sich bei dem Afghanistan- Einsatz um eine Art ¹Entwicklungshilfe in Ziele, Zeithorizonte Uniformª handele.Eine solche Ausblendung der Realitåt wird spåtestens dann nicht mehr und politische Akzeptanz durchhaltbar sein, wenn die von den Verbçn- deten eingeforderte Beteiligung Deutschlands Die politischen Parteien sind sich dessen be- am ¹Kåmpfen und Sterbenª zu deutlich stei- wusst, dass zwei Drittel der Wåhlerinnen und genden Opferzahlen deutscher Soldatinnen Wåhler den Afghanistan-Einsatz ablehnen. und Soldaten fçhrt, welche denjenigen einer Im Juni 2008 kçndigte Bundesverteidigungs- Reihe von Verbçndeten nahe kommt.Die minister Franz Josef Jung fçr den Herbst USA haben inzwischen eine dreistellige Græ- 2008 eine vom Bundestag zu beschlieûende ûenordnung erreicht; die Zahl der Opfer in Aufstockung des deutschen Truppenkontin- Afghanistan liegt bereits çber jener der mo- gents von 3500 auf 4500 Mann an.Eine um- natlich im Irak Gefallenen und Verwundeten. fassende explizite Begrçndung erfolgte nicht. Welche kurz-, mittel- und langfristigen Ziele Die deutsche Politik weicht solchen Fragen sollen damit innerhalb welcher Zeithorizonte bislang weitgehend aus.Sie ist auf massive erreicht werden? Auf welche weiteren Auf- Kampfhandlungen und den zu befçrchtenden stockungen sollten wir vorbereitet sein? Wel- Anstieg der Opferzahlen mental nicht vorbe- che Ziele erscheinen realistischerweise er- reichbar? Anhand welcher Indikatoren çber- 21 The New York Times vom 13.5.2007. prçfen wir die Zielerreichung? Låuft die 22 Afghanische Frauen haben im Durchschnitt sieben Mission mittelfristig auf eine Art von UN- Kinder.Bei einer Bevælkerungszuwachsrate von drei Dauerprotektorat hinaus? Wird die afghani- Prozent und einer Bevælkerung von rund 30 Millionen sche Seite eine fremde Truppenpråsenz von ergibt sich ein jåhrlicher Bevælkerungszuwachs von ein bis zwei Jahrzehnten, wie sie im Gespråch 900 000 Kindern, davon etwa die Hålfte Knaben, die ab etwa 15 Jahren das Kampfalter erreichen.Herfried sind, akzeptieren? Wie sehen unsere Exit- Mçnkler spricht von einem ¹youth bulgeª. Strategien aus fçr den Fall, dass sich die Ziel- 23 Vgl.Gunnar Heinsohn, Sæhne und Weltmacht. Terror im Aufstieg und Fall der Nationen, Zçrich 2003. 24 B.Gertz (Anm.17).

10 APuZ 43/2008 vorstellungen als unrealisierbar erweisen? Auslandseinsåtze verfçgbaren Truppen von Riskieren wir eine schrittweise ¹Vietnamisie- bisher 50 000 auf 30 000.Zusåtzlich sollen rungª? Inwieweit ist unser Afghanistan-En- 3000 Mann fçr punktuelle Eingriffe im Aus- gagement strategisch eingebettet in die regio- land in Bereitschaft gehalten werden. 27 nalpolitische Dimension, insbesondere mit Blick auf die Fragilitåt Pakistans und die nu- Die Bundeswehr umfasst rund 250 000 Sol- klearen Ambitionen des Iran? datinnen und Soldaten.Davon entfallen aber nur 35 000 auf so genannte Eingreifkråfte, die Die Strukturierung solcher komplexen vorrangig fçr multinationale friedenserzwin- Problemlagen geht sinnvollerweise von den gende Maûnahmen hoher Intensitåt vorgese- realistischen Beschrånkungen aus. 25 Was er- hen sind.Weitere 70 000 Mann sind Stabilisie- scheint machbar und sollte gemacht werden? rungskråfte fçr Operationen niedriger und Was erscheint nicht realisierbar und sollte mittlerer Intensitåt fçr ein weites Spektrum deshalb auch nicht explizit oder implizit, friedensstabilisierender Maûnahmen.147 500 offen oder verdeckt angestrebt werden? Als Mann entfallen auf so genannte Unter- zentrale Beschrånkung erweist sich die Fåhig- stçtzungskråfte fçr Einsatzplanungen und keit und Bereitschaft der Verbçndeten, eine -durchfçhrungen und die Aufrechterhaltung ausreichende Zahl von Truppen zu stellen. des Grundbetriebes der Bundeswehr. 28 Dies beinhaltet die Gefahr, sich in einer Mis- sion zu verstricken, fçr welche die dafçr er- Offiziere mit Balkan-Erfahrung plådieren forderlichen Ressourcen nicht zur Verfçgung fçr eine durchhaltefåhige Militårpråsenz in stehen.Dabei geht es zentral um die Zahl der Afghanistan, wie sie erfolgreich fçr das Koso- Soldaten und die den geografischen Einsatz- vo mobilisiert wurde.Dort wurde eine phy- bedingungen (Hitze, Staub, schwieriges Ge- sisch jederzeit und çberall sichtbare und ein- lånde) angepasste Ausrçstung.NATO-Gene- setzbare KFOR-Truppe von 16 000 Soldaten ralsekretår Jaap de Hoop Scheffer beklagt stationiert, bezogen auf eine Bevælkerung immer wieder, dass die Allianz nicht genug von 2,1 Millionen und ein Territorium von Truppen bereitstelle.US-Verteidigungsminis- rund 10 900 Quadratkilometern.Die çber- ter Gates forderte die Alliierten im Juni 2008 wåltigende Pråsenz machte die Entschlossen- erneut auf ¹to live up to our pledges, in both heit glaubhaft.Widerstånde waren erkennbar civilian and military spheres, necessary for aussichtslos. success in Afghanistan.ª 26 Die Afghanistan-Mission hingegen wurde mit unzureichenden Mitteln begonnen und Kapazitåtsgrenzen wird mit unzureichenden Mitteln weiterge- fçhrt.48 000 Soldaten (41 000 ISAF plus 7000 Die amerikanischen Kapazitåten sind zu er- OEF) stehen auf einem Territorium (652 000 heblichen Teilen im Irak gebunden.Reserven qkm), das 60 mal græûer ist als das Kosovo mçssen fçr den Fall einer eskalierenden Kon- (10 900 qkm) und eine vierzehn Mal græûere frontation mit dem Iran sowie einer eventuel- Bevælkerung hat (29,8 gegençber 2,1 Millio- len Destabilisierung Pakistans gehalten wer- nen).Um in Afghanistan eine vergleichbare den.Die US-Regierung plant, das amerikani- militårische Pråsenz pro Kopf der Bevælke- sche Kontingent 2009 um 7000 auf çber rung wie im Kosovo herzustellen, wåre eine 40 000 aufzustocken.Sie reagiert damit auf Truppenstårke von 230 000 Mann erforder- die Weigerung anderer NATO-Staaten, mehr lich.Egon Bahr sprach in einem Interview Soldaten zu schicken. von einer Græûenordnung von 200 000.Bei einer Relation wie im Kosovo pro Quadratki- Das kçrzlich erschienene Weiûbuch zur lometer ergåbe sich eine Truppenstårke von Umstrukturierung der franzæsischen Streit- 960 000 Soldaten.In vertraulichen Gesprå- kråfte empfiehlt eine Reduzierung der fçr chen wird eine Zahl von 800 000 genannt.

25 Vgl.zur Strukturierungsmethodik fçr solche kom- 27 Vgl.Le Monde vom 17.6.2008; Ronja Kempin, plexen Problemlagen: Dieter Weiss, Infrastruktur- Frankreichs neue Sicherheitspolitik, Berlin 2008. planung.Ziele, Kriterien und Bewertung von Alter- 28 Vgl.Bundesministerium der Verteidigung, Weiû- nativen, Berlin 1971, S.8 f. buch 2006 zur Sicherheitspolitik Deutschlands und zur 26 http://nato.usmission.gov (30. 6. 2008). Zukunft der Bundeswehr, Berlin 2006, S.110 f.

APuZ 43/2008 11 Die Research And Development (RAND) ¹Die Personalstårke aller in Afghanistan Corporation kommt in einer Evaluierung der zur Verfçgung stehenden Kråfte ist somit bisherigen internationalen Militåreinsåtze zur zweifellos zu gering, um Aussicht auf sicheren Stabilisierung und Staatenbildung zu dem Er- Erfolg zu bieten.(...)Mit der Zahl der gegen- gebnis, dass fçr einen Erfolg 11,5 bis 20 Si- wårtig bereitgestellten Kråfte ist ISAF nicht cherheitskråfte (Militår plus Polizei) pro 1000 imstande, die æffentliche Ordnung flåchen- Einwohner benætigt werden.Bei Zugrundele- deckend sicherzustellen.ª 32 Somit ¹droht mit- gung der niedrigeren Relation von 11,5 ergå- telfristig ein Scheitern des ganzen Ansatzes be sich fçr Afghanistan eine erforderliche der Staatenbildung.(...) Die bisher zægerli- Græûenordnung von 365 000 Sicherheitskråf- chen Truppenaufstockungen sowie der sich ten.Es sind dort aber nur 48 000 Soldaten der abzeichnende Abzug der Soldaten einzelner internationalen Koalition plus etwa 16 000 Verbçndeter lassen vermuten, dass die Her- Soldaten der Afghanischen Nationalen ausforderungen sich noch verstårken wer- Armee (ANA) pråsent. den.ª 33 Und weiter: ¹Da sich die Sicherheits- situation aber insgesamt weiter verschlechtert, muss die Wirkungskraft der ISAF substantiell Bei den Angehærigen der Afghanischen gesteigert werden, soll der Gesamteinsatz Nationalen Polizei (ANP) kann ¹erstens nicht dem Risiko des Scheiterns ausgeliefert nicht von verlåsslicher Verfçgungsgewalt der werden.ª 34 staatlichen Autoritåt ausgegangen werden, da die Polizeikråfte unter erheblichem Einfluss Fçr die Gesamtlage kommt der Autor der der Beziehungsgeflechte lokaler Machthaber zitierten Studie zu dem Ergebnis: ¹Die Si- stehen.Zweitens durchliefen bislang nicht cherheitssituation in Afghanistan spitzt sich mehr als 50 000 Polizisten Schulungen unter- zu.Dabei sind die in Afghanistan eingesetz- schiedlicher Intensitåt und wurden lediglich ten Kråfte zu schwach, um ein staatliches Ge- bis auf ein Grundniveau ausgerçstet.Dass waltmonopol zu errichten und dauerhaft zu drittens die afghanischen Polizeikråfte fçr gewåhrleisten.ª 35 Der Vorsitzende des Bun- massive Korruption berçchtigt sind, nåhrt deswehr-Verbandes, Oberst Gertz, beståtigt: Zweifel, dass die Polizei einen substantiellen ¹Wir haben zu wenig Mittel und zu wenig Beitrag zur Sicherung des staatlichen Gewalt- Personal investiert.ª 36 monopols leistet.ª 29

Sascha Lange, der Autor einer Studie der Ausrçstungsdefizite Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik, warnt vor dem ¹Risiko, dass man Personen Auch im Norden haben Selbstmordattentate, zu Polizisten ausbildet, die sich gegençber Hinterhalte auf Patrouillen, Sprengfallen, Ra- kriminellen Strukturen loyal verhalten und keten- und Mærserbeschuss von Feldlagern unter Umstånden zu Gegnern werden kæn- zugenommen.Im Juni 2003 hatte ein Selbst- nen.ª 30 Entsprechend urteilt auch Brigadege- mordattentåter in Kabul einen ungepanzerten neral Dieter Dammjacob, der bis Juli 2008 Bus der Bundeswehr in die Luft gesprengt. der Chef des ISAF-Regionalkommandos Vier Soldaten starben, 29 wurden zum Teil Nord war: ¹Bei der Polizei geht es sehr, sehr schwer verletzt. 37 Aus solchen Vorfållen hat langsam.Solange Polizisten dort eingesetzt die Bundeswehr gelernt.Die brisante Ein- werden, wo ihre Familien leben, kænnen sie satzrealitåt macht indessen weiterhin Defizite sich den lokalen Machtstrukturen nicht ent- der Ausrçstung sichtbar.Diese sind auch ziehen.Wir mçssen einen Weg finden, um die Folge einer Beschaffungspolitik, die jahr- Polizei landesweit zu verteilen.Sonst sehe ich zehntelang an den Bedrohungspotentialen keine Læsung, die rasch greifen kann.ª 31 groûer gepanzerter Kampfverbånde des War- schauer Pakts orientiert war.Nun geht es im Rahmen von peace keeping und peace enfor-

29 Sascha Lange, Die Bundeswehr in Afghanistan. 32 S.Lange (Anm.29), S.11±12. Personal und technische Ausstattung in der Einsatz- 33 Ebd., S. 12. realitåt, Stiftung Wissenschaft und Politik, Berlin, 34 Ebd., S. 32. Mårz 2008, S.10. 35 Ebd. 30 Ebd., S. 31. 36 B.Gertz (Anm.17). 31 Interview in: Der Tagesspiegel vom 30.6.2008. 37 Der Spiegel vom 16.6.2008, S.102.

12 APuZ 43/2008 cing missions um kleinråumige Aufklårung als ¹...es wird noch lange dauernª Teil einer asymmetrischen Kriegfçhrung, um Beweglichkeit kleinerer, leichterer, aber ge- Weithin unreflektiert sind auch die mutmaûli- panzerter Fahrzeuge, um Gelåndegångigkeit, chen Zeithorizonte der Militårpråsenz.Aus um Funktionsfåhigkeit bei Staub und hohen der Sicht des Afghanistan-Konzepts der Bun- Temperaturen sowie um die logistische Be- desregierung kann die Intervention ¹dann be- herrschbarkeit von Wartung und Reparatu- endet werden, wenn der Aufbau afghanischer ren.Auch der ehemalige Generalinspekteur Polizei und Armee soweit fortgeschritten ist, der Bundeswehr, Harald Kujat, verweist auf dass die afghanische Regierung selbst fçr ein ¹gravierende Ausrçstungsdefizite.ª 38 sicheres Umfeld sorgen kann, das Wiederauf- bau und nachhaltige Entwicklung erlaubt.ª 43 Dazu gehæren etwa Flugtransportkapa- Oberst Kjell Inge Bakken, der Kommandeur zitåten, unbemannte Aufklårungsflugzeuge der norwegischen Quick Reaction Force, die (Drohnen), vernetzte Elektronik oder ein ver- im Juli 2008 von einem deutschen Kontingent besserter Schutz der Feldlager in Kunduz, abgelæst wurde, meinte: ¹Es wird vielleicht Mazar-e Sharif und Faizabad gegen Raketen-, noch zehn, 15 Jahre dauern.ª 44 Der ehemali- Artillerie- und Mærserbeschuss.¹Bisher ge Verteidigungsminister Peter Struck erklårt waren in den Bundeswehrlagern nur deshalb in einem Interview: ¹Ich sage: Wir mçssen keine Opfer zu beklagen, weil sich in den ge- drin bleiben.Es wird noch lange dauern, bis troffenen Bereichen gerade niemand aufhielt wir das Land verlassen kænnen.In zehn Jah- oder die Sprengkæpfe der Waffen nicht explo- ren werden wir wissen, wo wir stehen.ª 45 In dierten.(...)Sollte der Lagerschutz weiterhin der von Bundesauûenminister Steinmeier vor so unzureichend sein, ist kçnftig mit Opfern dem Deutschen Bundestag abgegebenen Re- zu rechnen.ª 39 gierungserklårung zu Afghanistan vom 25. Juni 2008 ist noch undeutlicher die Rede von einer militårischen Pråsenz, ¹die zum Ziel Engpåsse bestehen sowohl bei Hubschrau- hat, sich eines Tages selbst çberflçssig zu ma- bern und gepanzerten Transportfahrzeugen chen.ª 46 Verlautbarungen anderer stakehol- als auch bei deren Schutz vor Panzerabwehr- ders sprechen von einem Verbleib bis 2013, granaten und Raketen. 40 Zusammenfassend oder von ein bis zwei Jahrzehnten wie auf heiût es schlieûlich: ¹Auf die drohende Lage- dem Balkan.Schwer vorstellbar erscheint, verschlechterung in Afghanistan ist die Bun- dass die afghanische Seite ein allmåhliches, deswehr im Einsatzgebiet materiell nicht vor- ungeplantes Hineindriften in eine protekto- bereitet.Fåhigkeitslçcken werden zwar er- ratsåhnliche Dauerdominanz akzeptiert, etwa kannt, wurden bislang aber nicht geschlossen. unter dem Schirm der UN und bei de facto Unter den Voraussetzungen der derzeitigen eingeschrånkter Souverånitåt. Rçstungsplanung (Bundeswehrplan 2008) wåren die meisten derzeitigen Mångel, wenn çberhaupt, nicht ohne græûere Verzægerung (erst im Verlauf des nåchsten Jahrzehnts) zu Eine notwendige æffentliche Debatte beheben.ª 41 Øhnlich kritisierte der Wehrbe- auftragte des Bundestages, Reinhold Robbe, Von immer græûeren Teilen der Bevælkerung im Januar 2008 ¹vor allem die schlechte Aus- werden die Interventionstruppen heute schon rçstung der im Norden des Landes eingesetz- als unwillkommene Besatzung wahrgenom- ten Bundeswehrsoldaten.So fehle es an ge- men, und Pråsident Karsai fordert im Rah- panzerten Fahrzeugen, die mehr Sicherheit men seines Wahlkampfes um die Pråsident- bringen kænnten.Zudem gebe es Probleme schaft im Jahre 2009 eine græûere Afghan ow- bei der Lieferung von Ersatzteilen.ª 42 nership ein.Die Geschichte Afghanistans hålt Erfahrungen bereit, welche die Akteure nach- denklich machen sollten.Karsai hat wieder-

38 www.spiegel.de/politik/ausland/0,151,531943,00. 43 Presse- und Informationsdienst (Anm.6), S.13. html (28.7.2008). 44 Der Tagesspiegel vom 1.7.2008. 39 S.Lange (Anm.29), S.24. 45 Der Tagesspiegel vom 6.7.2008. 40 Ebd., S. 27. 46 Auswårtiges Amt, Bundesauûenminister Steinmeier 41 Ebd., S. 6. vor dem Deutschen Bundestag, Regierungserklårung 42 Der Tagesspiegel vom 1.2.2008. zu Afghanistan, Berlin, 25.6.2008, S.3.

APuZ 43/2008 13 holt mehr Respekt und mehr Mitsprache, be- kohårenten Strategie und Einsatzphilosophie, ginnend bei der Durchfçhrung militårischer drittens bei der Durchfçhrung der militåri- Operationen, angemahnt und gegen die hohe schen und zivilen entwicklungspolitischen Zahl ziviler Opfer protestiert. Maûnahmen in enger Kooperation mit ANA und ANP sowie unter weitestgehender Ver- In der Bundesrepublik bedarf es einer um- meidung ziviler Opfer, und viertens bei der fassenden offenen Diskussion çber Zeithori- Formulierung einer Exit-Strategie. zonte, realistische Mæglichkeiten der Zieler- reichung, çber Mitteleinsatz, Kosten, denk- Vællig inadåquat, wiewohl im politischen bare regionalpolitische Weiterungen (Iran, Prozess wahrscheinlich, wåre eine Abfolge Pakistan, arabische Welt) und Risiken.Geht stufenweiser Aufstockungen von Bundes- es ± wie auf dem Balkan ± um einen Einsatz wehrkontingenten und Ausrçstungslieferun- von ein bis zwei Jahrzehnten oder um eine gen (Tornados, AWACS, Hubschrauber etc.) Dauerpråsenz, deren Ende nicht absehbar ist? primår unter dem wachsenden Druck der Noch sensitiver erscheint die Frage zu sein, Bçndnispartner.Erforderlich ist vielmehr welche Zahl von Gefallenen und Verwunde- eine transparente Debatte çber zwischenzeit- ten die deutsche Úffentlichkeit hinzunehmen liche Erfolge und Misserfolge und deren je- bereit ist, bis sie mæglicherweise einen Rçck- weilige Ursachen, çber das Erreichte, das zug der eigenen Soldatinnen und Soldaten er- nicht Erreichte und das innerhalb çbersehba- zwingt. rer Zeithorizonte voraussichtlich auch nicht Erreichbare.Notwendig erscheint eine Ad- Als bisheriges Ergebnis darf festgehalten justierung von Zielen und Mitteln.Eine kon- werden: Ungeachtet substantieller Erfolge tinuierliche Beobachtung der Wirkungen der deutscher und internationaler Entwicklungs- sicherheitspolitischen Maûnahmen sollte Ent- organisationen und eines beeindruckenden scheidungsgrundlage der jeweiligen Bundes- Einsatzes auslåndischer Helfer und ihrer af- tagsmandate werden.Besondere Berçcksich- ghanischen Counterparts unter riskanten Be- tigung verdienen dabei auch die spezifischen dingungen ist Afghanistan weit davon ent- deutschen Interessen im Nahen und Mittleren fernt, flåchendeckende sicherheitspolitische Osten sowie der groûe politische Goodwill Voraussetzungen fçr eine umfassende, sich der Bundesrepublik in der Region, der von selbst tragende sozioækonomische Entwick- Fall zu Fall auch fçr regionale Kooperations- lung zu bieten.Aber auch dort, wo die Si- initiativen der EU aktivierbar ist. cherheitslage relativ stabil ist, fehlt es an insti- tutionellen Kapazitåten.Erhebliche Mittel Ohne eine vorausschauende strategische werden durch Korruption abgeschæpft.Ent- Linie kænnte sich das Engagement der Bun- sprechend verhalten fållt eine Zwischenevalu- desrepublik in Afghanistan in einer Lage wie- ierung der Bundesregierung aus, welche die derfinden, die ex ante definitiv nicht gewollt Schwachstellen nçchtern benennt. 47 war, sich aber ex post als Abfolge von kurz- fristig orientierten und teilweise inkonsisten- Gleichzeitig sinkt die Akzeptanz des Af- ten Partialentscheidungen ergab, von Ent- ghanistan-Engagements in der deutschen scheidungen also, von denen jede fçr sich ge- Wåhlerschaft.Nimmt man die Aussage wært- nommen unterhalb der innenpolitischen lich, dass Deutschlands Sicherheit am Hindu- Sensitivitåts- bzw.æffentlichen Protest- kusch verteidigt werde, so wçrde dies eine schwelle blieb.Bei unachtsamer Handhabung substantielle Erhæhung unseres bçndnispoli- kænnte sich ein ¹Vietnamisierungseffektª er- tischen Engagements erfordern.Dann ginge geben. es nicht mehr primår um generelle Hinweise auf Bçndnisverpflichtungen und diplomati- sche Konfliktminimierung.Erforderlich wåre eine entschiedene Mitsprache erstens bei der Festlegung realistischer Ziele und Zeithori- zonte der Allianz in Verknçpfung mit mess- baren Indikatoren der Zielerreichung (bench- marks), zweitens bei der Formulierung einer

47 Vgl.Presse- und Informationsamt (Anm.6), S.25.

14 APuZ 43/2008 Stefan Fræhlich lands in Europa eingelåutet. Auch wenn die anfångliche Furcht vor der dominanten Zen- tralmacht schon bald der Sorge um den kri- Deutsche Auûen- selnden Patienten Europas wich, wurde von der Bundesrepublik nunmehr eben auf und Sicherheits- Grund ihrer geographischen Lage, Græûe und Wirtschaftskraft umso mehr die Ûber- nahme einer entsprechenden Fçhrungsrolle politik im als europåische Mittelmacht auch in globalen Fragen erwartet. Rahmen der EU Nationale Interessen als globale Interessen uch wenn viele Beobachter es anders A einschåtzten:Das eigentliche Problem Wird Deutschland diesem Anspruch bislang des Kurswechsels in der Auûen- und Europa- gerecht? Und wenn ja, heiût dies, dass deut- politik unter der rot-grçnen Koalition lag sche Auûenpolitik damit zwangslåufig ziel- keinesfalls ausschlieûlich im politischen Stil und interessenorientierter wird? Zu den ver- und der Antikriegshaltung der Bundesregie- meintlichen Paradoxien deutscher Auûenpo- rung wåhrend des litik gehært es zunåchst, trotz vællig verånder- Irak-Krieges. Gewiss, ter Rahmenbedingungen an den Leitlinien Stefan Fræhlich die Methode, mit der der erfolgreichen bundesdeutschen Auûenpo- Dr. phil. habil, geb. 1958; Pro- Bundeskanzler Ger- litik festhalten zu wollen. 2 Zu diesen Leit- fessor für Internationale Politik hard Schræder diesen linien im Sinne der normativen Vorgaben des an der Universität Erlangen, Kurswechsel wåhrend Grundgesetzes zåhlen erstens das Ziel und Kochstraûe 4, 91054 Erlangen. dieser Krise einleitete Bemçhen, zur Wahrung des internationalen [email protected] und das transatlanti- Friedens beizutragen (was sich im verfas- sche Verhåltnis auf sungsmåûigen Verbot von Angriffskriegen eine neue, gleichberechtigte Basis zu stellen niederschlågt); zweitens das Eintreten fçr suchte, entsprach kaum den gewohnten di- einen offenen, kooperativen Multilateralis- plomatischen Usancen in den bilateralen Be- mus (verbunden mit der Bereitschaft, Ho- ziehungen. Doch sein am 13. September 2002 heitsrechte auf zwischenstaatliche Einrich- vor dem Parlament formulierter Anspruch, tungen zu çbertragen); sowie drittens das Be- çber die ¹existentiellen Fragen der deutschen kenntnis zur Wahrung und Verwirklichung Nationª ± also auch und gerade çber die der Menschenrechte, zu aktiver Entwick- Frage von Krieg und Frieden ± in Berlin zu lungshilfe und dem Aufbau von Demokratie entscheiden, signalisierte das gewandelte und Rechtsstaatlichkeit in der Welt. Bei ge- Selbstverståndnis der Republik und stellte es nauer Betrachtung ist die Orientierung an zugleich als logische und çberfållige Konse- diesen Grundlinien durchaus auch fçr die quenz aus der fundamental geånderten welt- Zeit nach 1989/90 plausibel. Aus ihnen leitete politischen Lage Deutschlands und Europas die Bundesregierung im 1994 vorgelegten seit dem Ende des Kalten Krieges und dem Weiûbuch zur Sicherheitspolitik daher fçnf Zusammenbruch der alten Weltordnung dar. 1 zentrale, faktisch identische Interessen ab:die Bewahrung von Freiheit, Sicherheit und Seit den Tagen Konrad Adenauers war Wohlfahrt der Bçrgerinnen und Bçrger; die zwar im europåischen Einigungsprogramm weitere Integration im Rahmen der Europåi- stets auch eine latente bis offene Ambivalenz schen Union (EU); die Bewahrung der trans- gegençber den USA angelegt. Immer waren atlantischen Interessen- und Wertegemein- die Regierungen aber gleichsam um einen an- schaft; der Ausgleich und die Heranfçhrung nåhernden Gleichklang zwischen Europa- der æstlichen Nachbarn und die weltweite und Amerikapolitik bemçht. Mit dem Zu- sammenbruch der alten Ordnung wurden je- 1 Vgl. Hanns Maull (ed.), 's uncertain Power. Foreign Policy of the Berlin Republic, Houndsmills doch zwangslåufig auch das Ende des transat- 2006. lantischen Zeitalters und der Beginn einer 2 Vgl. ders., Nationale Interessen! Aber was sind sie?, neuen ordnungspolitischen Rolle Deutsch- in:Internationale Politik (IP), (2006) 10, S. 62±76.

APuZ 43/2008 15 Achtung des Vælkerrechts und der Men- Interessen tatsåchlich plausibel und angemes- schenrechte bzw. eine auf marktwirtschaftli- sen im Sinne einer fçr Deutschland unmittel- chen Regeln basierende gerechte Weltwirt- baren Betroffenheit? Oder ist die deutsche schaftsordnung. 3 Auûenpolitik mit der sukzessiven Auswei- tung ihres geostrategischen Aktionsradius zur Allenfalls das transatlantische Verhåltnis Unterstçtzung von internationalen Friedens- als Mittel zur Bestimmung des ¹deutschen missionen dazu çbergegangen, deutsche In- Interessesª hat sich zwar nicht çberholt, aber teressen stillschweigend mit globalen Interes- doch zumindest insofern relativiert, als sich sen gleichzusetzen? Die heutige Beteiligung die Grundlagen fçr die Beziehungen seit der Bundeswehr an dem so genannten Hy- 1989/90 tatsåchlich fundamental veråndert brideinsatz von Vereinten Nationen (UN) haben. Die sonstige Bilanz der Regierungen und Afrikanischer Union in Darfur, an den Helmut Kohl und Gerhard Schræder sieht so UN-Militårbeobachtermissionen in Sçdsudan aus, dass Deutschland nicht nur plausible In- (Unmis), Georgien (Unomig) und Øthiopien teressen formuliert, sondern durchaus auch (Unmee) sowie an der UN-Truppe im Liba- (mit) durchgesetzt hat; dies gilt insbesondere non (Unifil), schlieûlich das deutsche Engage- fçr die Prozesse der Vertiefung und Erweite- ment in den NATO-gefçhrten Missionen rung der EU, es gilt aber auch ± bedingt ± fçr unter UN-Mandat im Kosovo (Kfor, 2230 die Beitråge auf dem Balkan, nachdem das Soldaten) und in Afghanistan (Isaf, derzeit Bundesverfassungsgericht 1994 den Weg frei 3825 Soldaten), unterstreichen zwar den Wil- gemacht hatte fçr ¹out-of-areaª-Einsåtze der len zur Ûbernahme von globaler Verantwor- Bundeswehr bei Zustimmung des Bundesta- tung, zeugen aber von diesem Dilemma. In ges, sowie spåter zur Bekåmpfung des inter- einer Welt, in der sich plausibel Szenarien nationalen Terrorismus und im Rahmen der konstruieren lassen, in denen asymmetrische Konsolidierung der Nachkriegsgesellschaft in (vor allem terroristische) Bedrohungen, damit Afghanistan. 4 Warum bedingt? Leitlinien verbundene Prozesse des Staatszerfalls und mçssen nicht unbedingt deckungsgleich sein der Auflæsung von Macht auch die deutsche mit Zielen und Interessen; sie kænnen aus Sicherheit bedrohen (kænnen), wird es zuneh- dem jeweiligen Kontext heraus als Richts- mend schwieriger, auûenpolitische Prioritåten chnur dienen fçr eine durchaus flexible und zu definieren und die internationale Ordnung anpassungsfåhige Auûenpolitik, die sich ent- im Sinne eigener Interessen zu beeinflussen. weder ihrer eigenen Grenzen aufgrund des Dies gilt gleichermaûen fçr andere Staaten, Machtpotenzials bewusst ist oder eben diese deren Interessen in der Regel identisch oder Selbstbeschrånkung aus normativen Grçnden kompatibel mit denen Deutschlands sind und zur Staatsraison erklårt. Interessen hingegen die, selbst im Falle der USA, ebenso wenig in sind das, was auûenpolitischen Entschei- der Lage sind, diese autonom durchzusetzen. dungsprozessen als mehr oder weniger ab- strakte Motivation der handelnden politi- Das Ergebnis ist, dass sich auf diese Weise schen Akteure zugrunde liegt. Im Idealfall die deutschen Interessen an sicherheitspoliti- sind sie nicht nur der institutionellen Macht- schen Zielen orientieren, anstatt umgekehrt. kontrolle im Sinne des checks and balances Eben dies verråt der Hinweis des neuen Ver- unterworfen, sondern werden auch im Dis- teidigungsweiûbuchs aus dem Jahr 2006, wo- kurs organisierter Interessen und gesellschaft- nach die Bundeswehr als Armee im Einsatz licher Akteure entwickelt. In jedem Fall aber definiert und fçr die Wahrnehmung deutscher beinhalten sie ein aktives Eintreten zur Um- Interessen die permanente Berçcksichtigung setzung der mit ihnen verbundenen Ziele. der Entwicklung in ¹Gemeinschaften und Bçndnissenª, also des globalen ¹Gemein- Die Frage ist nur:Inwieweit sind die aus wohlsª gefordert wird. 5 Mit anderen Worten: den globalen Herausforderungen und Bedro- Auch in Låndern, in denen Deutschland hungszusammenhången heraus formulierten keine vertraglich verankerten Beistandsver- pflichtungen hat, gilt es, Gefåhrdungen der Staatengemeinschaft mit deutscher Unterstçt- 3 Vgl. Bundesministerium der Verteidigung, Weiû- buch 1994, 1994, S. 42. 4 Vgl. August Pradetto, Ganz und gar nicht ohne In- 5 Vgl. Bundesministerium der Verteidigung, Weiû- teressen. Deutschland formuliert nicht nur klare Ziele. buch 2006 zur Sicherheitspolitik Deutschlands und zur Es setzt sie auch durch, in:IP, (2006) 1, S. 114±121. Zukunft der Bundeswehr, Berlin 2006, S. 14.

16 APuZ 43/2008 zung abzuwenden. Deutsche Interessen sind begrçndete Intention der Bundesregierung, demnach identisch mit dem Schutz der Staa- nicht nur an weltpolitischen Entscheidungen tengemeinschaft; daran åndert auch die Ein- mitwirken zu kænnen, sondern auch çber die schrånkung nichts, wonach bei jedem Militår- Form und die Mittel des Einsatzes mitzube- einsatz zuvor zu klåren ist, inwieweit deut- stimmen. 9 Hinter diesen Anspruch konnte sche Interessen den Einsatz erforderlich auch die Groûe Koalition und wird wohl machen. Legitimiert wird diese Interpretation auch jede kçnftige Regierung nicht mehr zu- von dem neuen vælkerrechtlichen Konzept rçcktreten. der Schutzverantwortung (¹responsibility to protectª), welches weder ein Konzept des Rçckwirkungen auf die Europapolitik Westens oder des Nordens ist noch im Wider- spruch zur nationalen Souverånitåt steht. Dies gilt auch auf europåischer Ebene:Ger- hard Schræder hatte sich bereits vor dem EU- Unabhångig davon zwingen die Rechtferti- Gipfel in Nizza im Jahr 2000 das franzæsische gungsnæte, die aus dieser Unsicherheit im in- Konzept von der ¹Macht Europaª (¹Europe ternationalen System heraus entstehen, die puissanceª) zu eigen gemacht und fçr eine ge- deutsche Auûenpolitik zunehmend zu einem meinsame europåische Antwort auf die glo- stårkeren Kosten-Nutzen-Denken. Bedingt balen Herausforderungen in Form verstårkter durch eine mehrheitlich kritische Úffentlich- deutsch-franzæsischer (und nach Mæglichkeit keit in Bezug auf die deutsche Beteiligung an eben auch erweiterter intergouvernementaler) Militåreinsåtzen hat Deutschland sein finan- Anstrengungen bei der sicherheits- und ver- zielles Engagement in Krisengebieten mittler- teidigungspolitischen Kooperation plådiert. weile erheblich reduziert. 6 Anders als in den Eine Entsprechung fand dieser verstårkte, er- 1990er Jahren, in denen zweistellige Milliar- weiterbare Bilateralismus auf gesamteuropåi- denbetråge an die Bçndnispartner zum Aus- scher Ebene durch Berlins starke Personali- gleich fçr militårisches Fernbleiben vom sierung vor allem der Russland-Politik in die- Golfkrieg gezahlt wurden, leistet die Bundes- ser Phase. Mit dieser doppelten Fixierung auf republik heute fçr die Stabilitåt insbesondere die ¹Groûenª, welche im Falle Frankreichs im ¹Græûeren Mittleren Ostenª finanziell be- durch die Beschådigung der deutsch-amerika- deutend weniger. 7 Trotz der Proliferation nischen Beziehung geradezu zwangslåufig von Krisenherden und der Zunahme der verstårkt wurde, weckte die Regierung nicht deutschen Beteiligung an UN-Friedensmis- nur unter ¹Altmitgliedernª wie Italien, Spa- sionen sind die finanziellen Grundlagen der nien oder Groûbritannien, sondern auch und Bundeswehr seither real um etwa ein Drittel vor allem bei den ¹Neumitgliedernª græûtes geschrumpft. 8 Unter dem Druck internatio- Unbehagen und historisch belastete Assozia- naler Forderungen, sich bei Auslandseinsåt- tionen. Die Angst vor einem deutsch-franzæ- zen stårker zu engagieren, auch militårische sischen Direktorium, das in Europa die Rich- Risiken in Kauf zu nehmen, ist somit von der tung vorgeben wolle, und einer mæglichen Mentalitåt eines ¹Klientelstaatesª in der offi- Verlångerung der Achse nach Moskau, wie ziellen Auûenpolitik nicht mehr viel çbrig ge- sie sich im Irak-Konflikt abzeichnete, læste blieben. Und hinter aller Idealisierung der unter den mittel- und osteuropåischen Lån- UN wåhrend des Irak-Krieges verbarg sich dern antihegemoniale Reflexe aus ± erst recht, zumindest unterschwellig die machtpolitisch als das exklusive deutsch-russische Vorhaben einer gemeinsamen Gasleitung durch die Ost- 6 Zur kritischen Haltung der Bevælkerung und zum Problem der fehlenden Kommunikation durch die po- see bekannt wurde. Auch in Washington gab litischen Eliten vgl. Thomas Bauer/Sarah Seeger, Poli- es den Verdacht, Paris und Berlin arbeiteten tische Kommunikation zwischen politischen Eliten und Bevælkerung ± Leitfaden fçr eine sicherheits- 9 Zu diesem Befund, so bilanziert Hellmann, kommt politische Debatte in Deutschland, CAP Analyse, im Groûen und Ganzen das ganze Spektrum ¹vom (2008) 1. rechts-konservativen Lager bis zur Linkenª. Vgl. 7 Vgl. Jochen Thies, Dabei ohne Debatte. Plådoyer fçr Gunther Hellmann, ¹. . .um diesen deutschen Weg zu einen auûen- und sicherheitspolitischen Diskurs in Ende gehen zu kænnen.ª Die Renaissance macht- Deutschland, in:IP, (2007) 2, S. 111. politischer Selbstbehauptung in der zweiten Amtszeit 8 Vgl. Franz-Josef Meiers, Zu neuen Ufern? Die der Regierung Schræder-Fischer, in:Christoph Egle/ deutsche Sicherheits- und Verteidigungspolitik in einer Remut Zohlnhæfer (Hrsg.), Ende des rot-grçnen Pro- Welt des Wandels 1990±2000, Paderborn 2006, jektes. Eine Bilanz der Regierung Schræder 2002±2005, S. 329 ff. Wiesbaden 2007, S. 453±479.

APuZ 43/2008 17 an einer Gegenpolbildung zur amerikani- gençber den kleinen und mittleren Staaten schen Macht. Befærdert wurden solche Be- und muss auch Frankreich diplomatisch be- denken durch das Bestreben der Bundesregie- weglicher werden. Die Bundesregierung aner- rung, in den Verhandlungen zum Vertrag kennt damit zumindest wieder zwei wesent- çber eine Verfassung fçr Europa die Rolle liche Grundprinzipien fçr den Erfolg des Deutschlands in der EU zu stårken. Mit der europåischen Einigungsprozesses. Erstens: Idee der Aufwertung des Europåischen Rates deutsche auûenpolitische Interessen lieûen und des Prinzips der ¹doppelten Mehrheitª sich immer dann ¹verkaufenª, wenn sie als fçr Mehrheitsvoten im Ministerrat entstand europåische definiert wurden. 12 Zweitens: der Eindruck, dass Deutschland gemeinsam der deutsch-franzæsische Motor war immer mit Frankreich und Groûbritannien versuche, dann erfolgreich, wenn beide Seiten zu einem die Kommission faktisch als verlångerten Kompromiss finden mussten und nicht der Arm des Europåischen Rates zu instrumenta- eine bedingungslos dem anderen folgte. Die lisieren. Die Bundesregierung knçpfte damit behutsam vorgetragene Kritik an Jacques an ihre Grundhaltung wåhrend der ersten Chiracs neuer Nukleardoktrin, die Distanzie- deutschen Ratspråsidentschaft an, als sie ihre rung von der auch von der Wåhlerschaft in Amtszeit mit Forderungen nach einer Redu- Frankreich ganz offensichtlich verworfenen zierung des deutschen EU-Haushaltsbeitra- EU-Vollmitgliedschaft der Tçrkei, die weni- ges begann, die Altautorichtlinie ein halbes ger vorbehaltlose Unterstçtzung der långst Jahr lang blockierte und deutsche Europapar- çberholten Agrarpolitik Frankreichs (trotz lamentarier unter Druck setzte, die seit elf der im Koalitionsvertrag geåuûerten Versi- Jahren vorbereitete Ûbernahmerichtlinie ab- cherung, die Zusagen aus dem Agrarkompro- zulehnen. 10 miss vom Oktober 2002 nicht in Frage stellen zu wollen) sowie die ersten deutlichen Anzei- Die Groûe Koalition versuchte nun dieses chen fçr den Einsatz in Richtung einer Bild von einer zu sehr an den nationalen In- NATO-kompatiblen gemeinsamen Sicher- teressen ausgerichteten Auûen- und Europa- heitspolitik der EU signalisierten die Absage politik, welche Deutschland bisweilen in den an einen gaullistischen Kurs und den Willen Rang eines gleichberechtigten Akteurs im zur Rçckkehr zu einer insgesamt flexibleren Konzert der Groûmåchte erhoben hatte, zu Europapolitik. Gleichzeitig gelang es der korrigieren. Zu den vordringlichsten Aufga- Groûen Koalition, die sonstigen Differenzen ben gehærte zunåchst die Verbesserung der in ein insgesamt milderes Licht zu tauchen ± transatlantischen Beziehungen. Bundeskanz- beginnend bei der Frage der Læsung der Ver- lerin Angela Merkel bekundete bei ihrem An- fassungskrise çber die Dienstleistungsrichtli- trittsbesuch in Washington die Bereitschaft nie bis hin zum franzæsischen Wunsch nach zu einem Neuanfang, aber auch den Willen, steuerlichen Sonderregelungen fçr einzelne nicht in eine Position der bedingungslosen Berufsgruppen. Vorstellungen von Europa als Gefolgschaft zurçckzufallen. Ebenso læste eigenståndiger Macht, die versucht, die Ûber- sich die Groûe Koalition aus der nahezu vor- macht der USA auszugleichen, trat die Regie- behaltlosen Frankreich-Fixiertheit und dem rung damit deutlich entgegen. Bilateralismus mit Moskau. 11 Das Ergebnis dieses vorsichtigen Kurswechsels ist ambiva- Auf der anderen Seite aber hatte der vor- lent:In dem Maûe, wie Frankreich sich nicht çbergehende Einsatz der Bundesregierung fçr (mehr) auf die bedingungslose Unterstçtzung den Verfassungsvertrag und eine Fortfçhrung Berlins verlassen kann, wåchst der Hand- des Ratifizierungsprozesses çber das Jahr lungsspielraum fçr die Bundesregierung ge- 2006 hinaus wohl eher Symbolcharakter und diente vor allem als Signal, dass wieder står-

10 Vgl. Gerald Schneider/Stefanie Bailer, Måchtig, aber ker mit einem deutschen Engagement fçr Eu- wenig einflussreich:Ursachen und Konsequenzen des ropa und fçr die Vertiefung der Integration deutschen Integrationsdilemmas, in:Integration, 25 zu rechnen sei. Der Vertrag von Lissabon (2002) 1, S. 49±60. wçrde die Union aus der Sicht Berlins zwar 11 Vgl. Stefan Fræhlich, Auûenpolitik:Mehr als nur ein insgesamt effizienter machen, da in vielen Stilwechsel?, in:Roland Sturm/Heinrich Pehle (Hrsg.), Fållen der Zwang zur Einstimmigkeit weg- Wege aus der Krise? Die Agenda der zweiten Groûen Koalition, Opladen 2006, S. 221±238; Hartmut Mar- hold, Deutsche Europapolitik nach dem Regierungs- 12 Vgl. Gunther Hellmann, Deutschland, Europa und wechsel 2005, in:Integration, 29 (2006) 1, S. 3±22. der Osten, in:IP, (2007) 3, S. 21±28.

18 APuZ 43/2008 fiele und Kommission und Parlament verklei- globalen Gestaltungswillen. Voraussetzung nert wçrden. Zudem erhielte die EU einen fçr diese Entwicklung war auch aus Sicht auf zweieinhalb Jahre ernannten Ratspråsi- Berlins die Flexibilisierung der GASP durch denten sowie einen Hohen Repråsentanten die deutsch-franzæsische Kooperation. Diese fçr die Auûenpolitik. Aber das Prinzip der war zwar nicht mit einer Aufgabe der tradi- ¹doppelten Mehrheitª, das allerdings erst in tionellen deutschen Vermittlerrolle gegençber den Jahren 2014 bis 2017 wirksam sein soll, Washington zwischen franzæsischem Unab- wçrde den Machtzuwachs der Vertreter der hångigkeitsanspruch und britischem NATO- drei Groûen (Frankreich, Deutschland und Primat verbunden, wohl aber mit der er- Groûbritannien) bei der Herstellung von wåhnten Aufhebung einer Politik der Øqui- qualifizierten Mehrheitsbeschlçssen weiter distanz zugunsten einer ¹europåischenª Læ- verstårken und den Ministerrat als intergou- sung in der Frage nach der Gestaltung der vernementales Organ der Union als eigentli- GASP/ESVP. Mit anderen Worten:Die euro- che Machtzentrale der Gemeinschaft belas- påische Integration war und ist keine Alter- sen. Bei allem Bekenntnis zu europåischem native, sondern die Voraussetzung fçr eine Engagement hålt somit auch die Bundesrepu- Partnerschaft Europas mit den USA. Mit die- blik heute eine nçchterne Perspektive fçr den ser Sichtweise von einem hinreichend unab- weiteren Vertiefungsprozess parat:Da weite- hångigen und eigenståndigen europåischen re groûe Integrationssprçnge derzeit nicht ge- Pfeiler hatten sich die deutsche und franzæsi- wçnscht werden, betreibt sie eine pragmati- sche Position in dieser Frage erheblich ange- sche Politik der kleinen Schritte und notwen- nåhert ± und zwar von Berlin in Richtung diger Korrekturen. Dies gilt im Ûbrigen auch Paris. fçr die EU-Erweiterung. Deutschland hat auf diesem Weg unter Deutschlands Beitrag im Rahmen allen Regierungen seit der Wiedervereinigung entsprechend deutlichere Akzente bezçglich der GASP und ESVP der Ausgestaltung der GASP/ESVP gesetzt. Es folgte damit zum einen der Erkenntnis, Wåhrend das Projekt eines bundesstaatlichen, dass die GASP und ESVP echte Alternativen fæderalen Europas zumindest vorlåufig aufge- zu einzelstaatlichen Initiativen darstellen, geben scheint, vertraut die Bundesregierung zum anderen der Einsicht, dass die EU ± be- in dem zentralen Politikbereich der Gemein- dingt dadurch, dass Europa seinen Status als samen Auûen- und Sicherheitspolitik (GASP) herausragendes Handlungsfeld der USA ver- und der Europåischen Sicherheits- und Ver- loren hat ± mehr denn je gezwungen ist, sich teidigungspolitik (ESVP) offensichtlich auf eigenståndig zu positionieren. Bereits unter ein Mehr an Integration und Zusammenarbeit Helmut Kohl folgte die deutsch-franzæsische ± ohne am Anspruch auf nationale Souveråni- Grçndung des Eurokorps (1992) der Idee der tåt in diesem sensiblen Politikfeld zu rçtteln. differenzierten Integration. Vier Jahre spåter Jedenfalls plådieren die beiden groûen Volks- unterbreiteten die damals zuståndigen Au- parteien explizit fçr eine Pråzisierung und ûenminister Klaus Kinkel und Herv de Cha- Einbettung des militårischen Instrumentari- rette im Vorfeld der Amsterdamer Regie- ums der deutschen Sicherheitspolitik in den rungskonferenz den Vorschlag einer ¹ver- 13 Gesamtzusammenhang der GASP. In dem stårkten Zusammenarbeitª auf dem Gebiet Maûe, wie sich nach 1989/90 die Parameter der GASP und die Idee, dass der Europåische fçr die deutsche Auûenpolitik veråndert hat- Rat vorrangige Bereiche der GASP (¹Ge- ten, wandelte sich auch das Leitbild fçr euro- meinsame Strategienª) definieren kænne, die påisches Handeln auf der internationalen schlieûlich im Ministerrat mit qualifizierter Bçhne. Die bis dato gçltige Idee von der Zi- Mehrheit umgesetzt wçrden. Dieser Vor- vilmacht Europa, die eher kurzfristig reagiert, schlag ging gleichsam auf eine Initiative ist zwar heute nicht çberholt, wird aber zuse- Kohls und Chiracs vom Dezember 1996 zu- hends ergånzt durch den Anspruch einer (zu- rçck; weder Frankreich noch Groûbritannien mindest) regionalen Groûmacht mit aktivem waren bereit, in åhnlicher Weise zu einer Står- kung der GASP beizutragen. Darçber hinaus 13 Vgl. Bernhard Rinke, Die beiden groûen deutschen Volksparteien und das ¹Friedensprojekt Europaª: akzeptierte die Bundesrepublik in dieser Weltmacht, Zivilmacht, Friedensmacht?, Baden-Baden Phase Frankreichs Vorschlag der Einsetzung 2006. eines Hohen Repråsentanten fçr die Auûen-

APuZ 43/2008 19 politik, der wiederum den intergouvernemen- loren. 16 Und mit der gewåhlten Losung von tal organisierten Rat stårken wçrde. der ¹humanitåren Interventionª lieû sich am Ende sogar der grçne Koalitionspartner, der Mit ihrer Politik signalisierte die Bundesre- ursprçnglich ein UN-Mandat gefordert hatte, publik die Hinwendung zu einem pragmati- von dem Einsatz çberzeugen. Von da an ver- schen Ansatz, der dem integrationspoliti- stårkten sich die deutschen Anstrengungen ± schen Ideal einer vertieften auûen- und si- wiederum im Verbund mit Frankreich ±, die cherheitspolitischen Zusammenarbeit aller sicherheits- und verteidigungspolitische Zu- Mitgliedstaaten zwar weiter verpflichtet sammenarbeit in Europa voranzutreiben. blieb, bei dem es aber zunåchst um eine Står- Nach der maûgeblich von Paris und Berlin kung der Handlungsfåhigkeit der EU als in- betriebenen Ûbernahme der so genannten ternationalem Akteur ging. Da diese auf- Petersberg-Aufgaben der Westeuropåischen grund der unterschiedlichen Interessen der Union (WEU) hat die EU seit 1999, getragen Mitgliedstaaten nicht in einem græûeren Rah- von steigenden Zustimmungswerten zu einer men mæglich war bzw. ist, orientierten sich aktiven gemeinsamen Auûenpolitik, zahlrei- alle Bundesregierungen bis zum Gipfel von che sicherheitspolitische Beschlçsse gefasst Nizza und darçber hinaus an den Ideen einer und schrittweise verwirklicht ± auch, was den flexiblen Integration ± allerdings nach Mæg- Aufbau eigenståndiger Krisenreaktionskråfte lichkeit im Rahmen der bestehenden Vertråge betrifft. und nicht im Sinne unkoordinierter Initiati- ven verschiedener Gruppen von Mitgliedstaa- Nachdem das ursprçngliche Ziel des Auf- ten. Auch wåhrend der Verhandlungen zum baus Europåischer Streitkråfte von 60 000 Verfassungsvertrag blieb diese Linie eines Mann bis 2003 im Grunde gescheitert war, ¹rationalisierten Intergouvernementalismusª war es vor allem der Initiative Berlins zu ver- ein zentrales Anliegen Berlins ± und zwar danken, dass die Forderungen nach einer star- auch und besonders im Bereich der Sicher- ken sicherheits- und verteidigungspolitischen heits- und Verteidigungspolitik. 14 Dieser im Rolle der EU bei dem umstrittenen Treffen Rahmen der Konventsverhandlungen formu- der Staats- und Regierungschefs Belgiens, lierte Anspruch war selbstverståndlich Aus- Deutschlands, Frankreichs und Luxemburgs fluss des erwåhnten generellen Richtungs- am 29. April 2003 in Brçssel (¹Pralinengip- wechsels in der deutschen Auûenpolitik seit felª) wieder aufgegriffen wurden. Im Kern Mitte der 1990er Jahre. Von diesem Zeitpunkt ging es um die Einrichtung einer Zelle (oder an legten die Ereignisse auf dem westlichen wie Kritiker meinten, eines EU-Hauptquar- Balkan geradezu zwangslåufig auch in der tiers) im belgischen Tervuren zur kollektiven Bundesrepublik eine stårkere Berçcksichti- Planung und Fçhrung autonomer Einsåtze gung des militårischen Instrumentariums na- der Union. Mit einer solchen verband sich he. 15 Mit der Einigung der Mitgliedstaaten nicht nur die Idee einer Avantgardegruppe auf die ESVP 1998/99 und mit der deutschen fçr die ESVP, sondern auch die Vorstellung Beteiligung am militårischen Einsatz der von einer græûeren Unabhångigkeit von den NATO im Kosovo als Konsequenz der lang USA. Entsprechend spaltete der Vorschlag anhaltenden Debatte çber ¹out-of-areaª-Ein- die EU-Mitgliedstaaten und drohte auch die såtze der Bundeswehr hatte die Bundesrepu- NATO zu schwåchen. Dass Berlin daraufhin blik endgçltig ihre ¹zivile Unschuldª ver- wieder zugunsten von Planungs- und Kom- mandostrukturen innerhalb des Bçndnisses einlenkte, zeigte, wie sehr die Ûberlegungen 14 Zum Begriff des ¹rationalisierten Intergouver- zunåchst von den erheblichen Irritationen im nementalismusª vgl. Wolfgang Wessels, Europapolitik transatlantischen Verhåltnis und innerhalb in der wissenschaftlichen Debatte, in:Werner Weiden- feld/Wolfgang Wessels (Hrsg.), Jahrbuch der Europåi- der Gemeinschaft im Zusammenhang mit der schen Integration 2003/04, Baden-Baden 2004, S. 27± Irak-Krise geprågt waren. 38; Janis Emmanouilidis, Der Weg zu einer neuen In- tegrationslogik:Elemente flexibler Integration in der Europåischen Verfassung, in:Werner Weidenfeld, Die Europåische Verfassung in der Analyse, Gçtersloh 16 Vgl. Franco Algieri, Deutsche Auûen- und Sicher- 2005, S. 149±172. heitspolitik im europåischen Kontext, in:Thomas Jå- 15 Vgl. John Hulsman/Jan Techau, Zu hohe Erwar- ger/Alexander Hæse/Kai Oppermann (Hrsg.), Deut- tungen? EU-Vorsitz und G-8-Vorsitz 2007, in:IP, sche Auûenpolitik, Wiesbaden 2007, S. 106±122, hier (2007) 1, S. 16±25. S. 115.

20 APuZ 43/2008 Am Ende einigte sich die EU auf dem Brçs- Rahmen der Balkan-Kontaktgruppe, der So- seler Gipfel im Dezember 2003 auf einen von malia-Kontaktgruppe, oder im Rahmen des Deutschland und Frankreich gemeinsam mit Nahost-Quartetts. Entsprechend wachsen die Groûbritannien pråsentierten Vorschlag zur Sorgen in Washington, dass durch Deutsch- Einsetzung einer kleinen Zelle mit zivilen und lands Abkehr von der traditionellen Mittler- militårischen Komponenten innerhalb des be- rolle die transatlantischen Spannungen weiter reits bestehenden EU-Militårstabs. Damit si- zunehmen kænnten ± gleichwohl jede Bundes- gnalisierte die Union den Willen, zumindest regierung eine solche Abkehr selbstverstånd- auf dem Weg zu einer græûeren Eigenståndig- lich lautstark dementieren wçrde. Wie immer keit auf militårischem Gebiet fortzufahren ± man diesen Spagat bewerten mag, fest steht, vorçbergehend auch auf Kosten der Geschlos- dass gerade die Entwicklung der GASP und senheit der EU insgesamt. Dieser Prozess ESVP (von der Zivilmacht zur Zivilmacht mit kænnte vor allem durch die zunehmende Ko- militårischen Mitteln) ganz untrennbar mit operation der drei Groûen beschleunigt wer- der Entwicklung der deutschen Auûen- und den, wie sie sich auch bei der Initiative Frank- Sicherheitspolitik verbunden ist. Fçr beide reichs und Groûbritanniens Anfang 2004 zur gilt, dass sie heute ihre Interessen wesentlich Aufstellung so genannter ¹battle groupsª ab- deutlicher benennen, als sie dies noch vor zeichnete. Mittlerweile beteiligen sich daran einem Jahrzehnt getan haben, und ganz unbe- 18 von 27 Mitgliedstaaten, was zeigt, dass die stritten liegt die Zukunft der deutschen Au- im neuen Reformvertrag vorgesehene ¹struk- ûenpolitik in Europa. turierte Zusammenarbeitª auch in der Sicher- heits- und Verteidigungspolitik bereits prakti- Ausblick ziert wird. Berlin schloss sich diesem Konzept umgehend an und plådierte in diesem Zusam- Nach wie vor gilt, dass deutsche Auûenpolitik menhang fçr eine Umschichtung der europåi- ihren internationalen Einfluss primår çber die schen Rçstungsausgaben zugunsten kleinerer EU und das NATO-Bçndnis vermittelt. Auch und mobilerer Eingreiftruppen in den Mit- kçnftig låsst sich das Problem der ¹kritischen gliedstaaten. Damit beståtigte die Bundesre- Græûeª Deutschlands am besten çber das gierung lediglich den seit Anfang des Jahrhun- Schicksal der Union læsen. Allerdings ist Ber- derts erkennbaren Trend zu einer weltweiten lin auch zusehends bemçht, die Grenzen eige- Pråsenz der Bundeswehr. ner oder deutsch-franzæsischer Initiativen ± der Irak-Krieg hat dies deutlich gemacht ± aus- Begleitet wird diese zunehmende europå- zuloten. Europåisches Engagement wird nun ische Selbstbehauptung und ¹Balancepolitikª einmal im Wettstreit nationaler Interessen in- (Werner Link) von einer långst praktizierten nerhalb der Union bestimmt. Bei den daraus Eigenståndigkeit der Union im politisch-di- abgeleiteten Kompromissen wird der Einfluss plomatischen Bereich, deren konzeptioneller deutscher Akzente gemåû des græûer gewor- Rahmen sich in der Europåischen Sicherheits- denen diplomatischen Gewichts der Bundesre- strategie vom Dezember 2003 ablesen låsst. publik ± åhnlich wie im Falle der Wirtschafts- Dies geschieht in weitgehender Kongruenz und Wåhrungsunion ± auch im Rahmen der zur Nationalen Sicherheitsstrategie Washing- GASP/ESVP geradezu zwangslåufig zuneh- tons bezçglich der Benennung der (geo)strate- men. Insofern wird es fçr die Bundesrepublik gischen Interessen bzw. Herausforderungen, darauf ankommen, der wachsenden Skepsis aber doch mit deutlich unterschiedlichen Ak- hinsichtlich weiterer Vertiefungsschritte der zenten hinsichtlich der ordnungspolitischen EU in der Gesellschaft zumindest vorlåufig Vorstellungen und Instrumente. 17 Auch hier durch eine verstårkte strategische und proble- gilt, dass diese Eigenståndigkeit in nahezu morientierte Zusammenarbeit im kleineren allen Bereichen von Berlin unterstçtzt wird ± Kreis zu begegnen, bei der sich durchaus auch ob im Dauerkonflikt mit Iran, wo Deutsch- die eigenen Interessen widerspiegeln. land gemeinsam mit Frankreich und Groûbri- tannien mit Unterstçtzung des Hohen Vertre- ters der GASP im Namen der Gesamt-EU di- plomatisch handelt und verhandelt, ob im

17 Vgl. Stefan Fræhlich, Die Europåische Union als globaler Akteur, Wiesbaden 2008.

APuZ 43/2008 21 Carlo Masala eine besondere, jedoch nicht die herausragen- de Stellung einnehmen. Diese Grundstruktur des internationalen Systems hat auf die deut- Mæglichkeiten einer sche Auûen- und Sicherheitspolitik insbeson- dere drei Auswirkungen, die im Folgenden Neuorientierung skizziert werden sollen. deutscher Auûen- und Konsequenzen

Sicherheitspolitik 1. Der Aufstieg von Groûmåchten: Nicht erst seit dem bewaffneten russisch-georgischen Konflikt vom Sommer 2008 ist die Tendenz eutsche Auûen- und Sicherheitspolitik zu beobachten, dass regionale Måchte mit zu- D vollzieht sich nach wie vor in einem de- nehmendem Selbstbewusstsein und ord- zentralisierten anarchischen Selbsthilfesys- nungspolitischem Anspruch auf die Bçhne tem, in dem Staaten unter den Bedingungen der internationalen Politik getreten sind. Ins- eines Macht- und Sicherheitsdilemmas agie- besondere Russland und China machen aus ren und interagieren. 1 Existenzerhaltung und ihren Ansprçchen keinen Hehl. Teils offen, gegebenenfalls Exi- teils verdeckt verfolgen sie eine ¹strategy of Carlo Masala stenzentfaltung stellen denialª, die darauf abzielt, den militårischen, Dr. phil., geb. 1968; Professor fçr Staaten daher ein politischen und ækonomischen Einfluss der für Internationale Politik an der Problem ersten Ran- USA in ihren jeweiligen Regionen zurçckzu- Universität der Bundeswehr ges dar. In ihren Be- drången. 4 Aber auch Brasilien und Indien München, 85577 Neubiberg. ziehungen unterei- entwickeln sich zu regionalen Groûmåchten, [email protected] nander sind Staaten die zunehmend die institutionellen Struktu- stets mit dem Pro- ren der in Zeiten des Ost-West-Konfliktes blem der Macht konfrontiert bzw. ihr ausge- aufgebauten Weltordnung in Frage stellen. 5 setzt, sodass zwischenstaatliche Zusammenar- beit zwar nicht unmæglich, aber schwierig ist: All diesen aufsteigenden Måchten ist ge- Es fehlt eine çbergeordnete Instanz, die den mein, dass sie (noch?) keine offen revisionisti- an der Kooperation beteiligten Staaten hin- sche Politik betreiben, die auf eine revolutio- sichtlich der voraussichtlichen Kosten und nåre Umgestaltung der gegenwårtigen interna- des Nutzens Sicherheit bieten bzw. einen tionalen Ordnung zielt. Jedoch gibt es bereits Ausgleich zwischen Vor- und Nachteilen ge- Anzeichen dafçr, dass einige dieser Staaten wåhren kann. Aus dieser Perspektive ist neben der machtpolitischen Konkurrenz zu Auûen- und Sicherheitspolitik immer auch den USA auch einen ordnungspolitischen Dis- Machtpolitik. 1 Vgl. John H. Herz, Weltpolitik im Atomzeitalter, Wåhrend es im Hinblick auf die Grund- Stuttgart 1961, S. 130 f. struktur des internationalen Systems seit dem 2 Vgl. William Wohlforth/Stephen G. Books, Inter- national Relations Theoryand the Case Against Uni- Westfålischen Frieden von 1648 keine Verån- lateralism, in: Perspectives on Politics, 3 (2005) 3, derung gab, so hat das Ende des Ost-West- S. 509±524. Konflikts, was die Machtverteilung zwischen 3 Vgl. Carlo Masala, Den Blick nach Sçden. Die den Groûmåchten angeht, einen entscheiden- NATO im Mittelmeerraum (1990±2003), Baden-Ba- den Wandel eingeleitet. Das Resultat wird den 2005, Kap. II. 4 Vgl. zu Russland: Monica DuffyToft, Russia's Re- von einigen Wissenschaftlern 2 fålschlicher- cipe for Empire, in: www.foreignpolicy.com/story/ weise als Unipolaritåt charakterisiert, was cms.php?story_id=4462 (22. 9. 2008); zu China: Tho- sich vielfach auch in der æffentlichen Mei- mas Christensen, Fostering Stabilityor Creating a nung widerspiegelt. Ein genauer Blick auf die Monster? The Rise of China and U.S. Policytoward aktuelle Machtkonstellation zwischen den East Asia, in: International Security, 31 (2006) 1, S. 81± Groûmåchten offenbart aber, dass es sich bei 126. dem gegenwårtigen internationalen System 5 Vgl. Sarah Sewall, A Strategyof Conservation: American Power and the International System, Har- um ein multipolares System mit unipolarem vard KennedySchool, FacultyResearch Papers, Mai sicherheitspolitischem Kern handelt, 3 in dem 2008, S. 8. Siehe dazu auch den Beitrag von Jærg Faust die USA auf Grund ihrer militårischen Stårke und Dirk Messner in diesem Heft.

22 APuZ 43/2008 sens im Bereich der Interpretation staatlicher lich basierte und damit handlungseinschrån- Souverånitåt zu westlichen Staaten suchen. kend wirkende multilaterale Institutionen Die von den westlichen Industrielåndern im setzen die USA zunehmend auf informelle vergangenen Jahrzehnt betriebene Aufwei- Gremien (wie z. B. die Proliferation Security chung der Souverånitåtsnorm durch eine ver- Initiative), die aus ihrer Sicht flexibler und ef- meintliche Schutzpflicht (¹duty to protectª), 6 fektiver sind und die reale Machtverteilung welche besagt, dass interne Angelegenheiten zwischen den USA und den anderen an sol- eines Staates unter gewissen Umstånden (Væl- chen Initiativen beteiligten Staaten besser wi- kermord, ethnische Vertreibungen) andere derspiegeln. Aufgrund der gemeinsamen Mit- Staaten zum Eingreifen verpflichte, wird von gliedschaft in der NATO wirkt die zuneh- diesen Låndern abgelehnt. Insbesondere Russ- mende Abkehr der USA von tradierten land und China wenden sich gegen eine Ein- Institutionen (insbesondere im sicherheitspo- schrånkung der Souverånitåtsnorm und beto- litischen Bereich) auch unmittelbar auf die nen die fortdauerende Relevanz des Nichtein- Bundesrepublik Deutschland. Aus amerikani- mischungs-Prinzips. 7 Wie sich der Aufstieg scher Sicht ist die transatlantische Allianz ein neuer Groûmåchte in Zukunft konkret voll- zu vernachlåssigendes Instrument ihrer poli- ziehen wird ± ob kooperativ oder konfrontativ tischen und militårischen Machtprojektion ± ist eine Frage, die aus heutiger Sicht nicht be- geworden, da sie kaum mehr zur Durchset- antwortet werden kann. Dennoch ist bereits zung ihrer Interessen genutzt werden kann. jetzt absehbar, dass das zukçnftige internatio- Da nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes nale System, in dem Deutschland agieren und Interessendivergenzen zwischen den USA interagieren wird, ein multipolares sein wird. und insbesondere den ¹alten europåischenª Ob diese Multipolaritåt stabil oder instabil 8 NATO-Mitgliedern in nahezu allen polti- sein wird, hångt maûgeblich davon ab, ob die schen und militårischen Fragen vorherr- aufsteigenden Måchte die neue Ordnung als schen, 10 ist seitens der amerikanischen Admi- eine legitime, ihren Interessen dienliche, oder nistration, aber auch der auûenpolitischen illegitime wahrnehmen werden. Sollte Letzte- Eliten am Potomac ein zunehmendes Desin- res der Fall sein, so ist eine Rçckkehr zu einer teresse an der Allianz zu konstatieren. 11 An globalen Politik der Konfrontation nicht aus- die Stelle von Politik in Institutionen tritt zu- zuschlieûen. nehmend Politik auûerhalb von Institutionen, in Direktoraten oder sogenannten ¹Koalitio- 2. Die Schwåchung multilateraler Institu- nen der Willigenª oder ¹Fåhigenª. tionen: Die bisherige multilaterale Ordnung geråt auch seitens der Staaten, die maûgeblich Die Schwåchung multilateraler Institutio- an ihrem Aufbau beteiligt waren (vor allem nen ist jedoch nicht nur auf der globalen der USA) zunehmend unter Druck. Denn seit Ebene zu beobachten und nicht nur durch die dem Ende des Ost-West-Konflikts lehnen die USA verursacht. Sie vollzieht sich auch regio- Vereinigten Staaten zwar nicht den Multilate- nal: Durch die Ost-Erweiterung der Europåi- ralismus als System der zwischenstaatlichen schen Union (EU) bei gleichzeitig ausblei- Beziehungen ab, torpedieren jedoch einen bender Vertiefung hat sich auch der Hand- vertragsbasierten Multilateralismus, der ihre lungsrahmen Deutschlands in Europa stark eigene Handlungsfreiheit (aus ihrer Perspek- geåndert ± und zwar nicht nur, was die insti- tive) unnætig einschrånkt. 9 Statt auf vertrag- tutionelle Weiterentwicklung der EU anbe- trifft, sondern auch was ihre Auûen-, Sicher- 6 Vgl. Allen Buchanan/Robert O. Keohane, The Le- heits- und Verteidigungspolitik anbelangt. gitimacyof Global Governance Institutions, in: Ethics Insbesondere die Frage, wie die Beziehungen and International Affairs, 20 (2006) 4, S. 405±437. zu den USA und zu Russland zukçnftig ge- 7 Vgl. China, Russia issue joint statement on a new world order, Pressemitteilung der chinesischen Bot- staltet werden sollen, spaltet die Unionsmit- schaft in Australien, 4. 7. 2005, in: http://au.china-em- glieder. Die meisten osteuropåischen Staaten bassy.org/eng/xw/t202227.htm (22. 9. 2008). 8 Zu der Unterscheidung zwischen stabiler und in- stabiler Multipolaritåt vgl. John J. Mearsheimer, The 10 Vgl. Helga Haftendorn, Das Ende der alten NATO, Tragedyof Great Power Politics, New York 2001, in: Internationale Politik (IP), 57 (2002) 4, S. 49±54. Chap. 8. 11 So haben sich beide Kandidaten im aktuellen Pråsi- 9 Vgl. G. John Ikenberry, Is American Multilateralism dentschaftswahlkampf bislang kaum zur Allianz und in Decline?, in: Perspectives on Politics, 1 (2003) 3, ihrer Bedeutung fçr die Auûen- und Sicherheitspolitik S. 533±550. der USA geåuûert.

APuZ 43/2008 23 wçrden eine Konzeption befçrworten, in der Institutionen teilweise bedienen, jedoch Europa unter amerikanischer Hegemonie auch auûerhalb dieser handeln, wenn eine Zu- eine konfrontative Politik gegençber der rus- sammenarbeit in Institutionen nicht mæglich sischen Fæderation betreibt, was von den sein sollte. meisten Grçndungsmitgliedern der EU abge- lehnt wird. Dieser konzeptionelle Dissens Deutsche Auûen- und Sicherheitspolitik låhmt die konsequente Weiterentwicklung der Gemeinsamen Auûen- und Sicherheitspo- seit der Wiedervereinigung litik (GASP) und vor allem der Europåischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP) Die Auûen- und Sicherheitspolitik der Bun- zu Instrumenten politischer und militårischer derepublik Deutschland ist nach der Wieder- Machtprojektion der EU. 12 vereinigung den neuen sicherheitspolitischen Rahmenbedingungen nur bedingt angepasst 3. Das Ende des politischen Westens: Die worden. Dort wo dies geschah, erfolgte die skizzierte Schwåchung von NATO und EU Anpassung spontan und nicht als Teil einer ± der beiden fçr die deutsche Auûen- und Si- grundlegenden auûen- und sicherheitspoliti- cherheitspolitik zentralen multilateralen In- schen Strategie, die das Ziel verfolgt, die au- stitutionen ± færdert eine Einsicht zu Tage, ûenpolitische Staatsråson des wiedervereinten der sich die meisten fçhrenden Politiker der Deutschlands neu zu bestimmen. 14 Statt eine Bundesrepublik bis heute verstellen: nåmlich grundlegende Debatte zu fçhren, 15 wurde die Tatsache, dass ¹der Westenª als politische ¹piecemeal engineeringª betrieben ± Stçck- Handlungseinheit nicht mehr existiert. Zwar werk, das nur darauf ausgerichtet ist, die werden die europåischen Staaten und die kurzfristigen auûen- und sicherheitspoliti- USA auch weiterhin durch ihre gemeinsame schen Herausforderungen zu bewåltigen. Geschichte und Kultur aufs Engste miteinan- der verbunden bleiben. Aber daraus zu fol- Die noch 1990 angestrebte gesamteuropåi- gern, dass sie auch zukçnftig eine stabile po- sche Friedensordnung, in welche die deutsche litische Handlungseinheit bilden, wåre ver- Einheit eingebettet werden sollte, kam nicht fehlt. 13 zustande und ihre Herstellung wurde auch in den darauffolgenden Jahren weder von der Nach dem Wegfall des gemeinsamen Fein- Bundesrepublik noch von anderen europå- des werden die USA und Europa nur noch ischen Staaten aktiv vorangetrieben. Dies auf einer Ad-hoc-Basis, wenn Interessen- fçhrte dazu, dass bei der politischen Elite aber identitåt vorherrschend ist, gemeinsam han- auch bei der Bevælkerung der russischen Fæ- deln. Wenn jedoch zwischen den USA und deration ein Versailles-Komplex entstanden den Europåern, wie auch unter den Europå- ist: Russland betrachtet sich nicht nur als Ver- ern selbst, Interessendivergenzen çberwie- lierer des Ost-West-Konfliktes, sondern auch gen sollten, wird die Auûen- und als einen Staat, der beim Aufbau einer europåi- Sicherheitspolitik im transatlantischen und schen Nachkriegsordnung ausgegrenzt wird. europåischem Rahmen durch ¹Koalitionen Der sich ausgeschlossen fçhlende Kriegsver- der Willigenª und ¹Fåhigenª dominiert lierer erkennt die neue Ordnung nicht als legi- sein. Diese werden sich der vorhandenen tim an: Historisch betrachtet kann eine solche Konstellation durchaus zu Revanchismus fçh- 12 Vgl. Daniela Kietz/Volker Perthes (Hrsg.), Hand- lungsspielråume einer EU-Pråsidentschaft. Eine 14 Vgl. Werner Link, Grundlinien der auûenpoliti- Funktionsanalyse des deutschen Vorsitzes im ersten schen Orientierung Deutschlands, in: APuZ, (2004) 11, Halbjahr 2007, Berlin 2007. S. 3±8. 13 Anders als Angelo Bolaffi und auch Werner Link 15 Um Missverståndnissen vorzubeugen rede ich sehe ich auch nicht die Aufteilung in den amerikani- nicht, wie so viele, einer Debatte um die Definition schen und den europåischen Westen, da die Inte- nationaler Interessen das Wort. Alle Regierungen der ressendivergenzen unter den Mitgliedstaaten der EU Bundesrepublik Deutschland haben stets intern wie ebenso groû sind, wie die zwischen der EU und den æffentlich ihre nationalen Interessen sehr deutlich for- USA. Vgl. Angelo Bolaffi in der Frankfurter All- muliert. Worum es hier geht, ist die Debatte um eine gemeinen Zeitung (FAZ) vom 19. 5. 2003. Allerdings ¹grand strategyª, die Ziele und Instrumente deutscher wçrde ich in Anknçpfung an beide Autoren auch ar- Auûenpolitik miteinander verbinden soll. Vgl. Joachim gumentieren, dass die Rekonstruktion des europå- Krause, Auf der Suche nach einer Grand Strategy. Die ischen Westens wahrscheinlicher ist, als die des trans- deutsche Sicherheitspolitik seit der Wiedervereinigung, atlantischen Westens. in: IP, 60 (2005) 8, S. 16±25.

24 APuZ 43/2008 ren. Aus dieser Perspektive wird die russische påische Dimension in den Vordergrund deut- Politik der vergangenen Jahre gegençber Eu- scher Auûen- und Sicherheitspolitik. Dieser ropa und den USA erklårbar. Politik war jedoch nur ein kurzer Frçhling beschieden. Die Groûe Koalition fiel zu- An die Stelle des Aufbaus einer gesamteu- nåchst, was die Grundlinien ihrer Auûenpoli- ropåischen Nachkriegsordnung trat die An- tik anbelangte, in gewohnte Bahnen zurçck. passung der EU und der NATO. Beide soll- In ihrer Regierungserklårung vom 30. No- ten erweitert und vertieft (bzw. im Falle der vember 2005 betonte Bundeskanzlerin Ange- NATO transformiert) werden. Doch die viel- la Merkel unmissverståndlich das Primat der beschworene Parallelitåt von Erweiterung NATO als ¹stårkste(n) Anker unserer ge- und Vertiefung vollzog sich lediglich als Er- meinsamen Sicherheitª 19 und wies dem Auf- weiterung, denn wichtige Fragen, wie etwa bau europåischer Verteidigungskapazitåten die nach der inhaltlichen Råson von Vertie- eine komplementåre Rolle zu. Damit ging sie fung (respektive Transformation) und ihrer ± wie viele Regierungsoberhåupter vor ihr ± institutionellen Ausgestaltung, wurden ausge- von der Vereinbarkeit beider Entwicklungen spart. 16 Sicherheitspolitisch vollzog Deutsch- aus. Zugleich bekannte sie sich auch als eine land den Balanceakt, die deutsche Bevælke- Befçrworterin einer pragmatischen Politik, rung an Auslandseinsåtze zu gewæhnen. Auf- jedoch nicht im Sinne des Machbaren, son- grund einer von der politischen Elite in Bonn dern im Sinne einer Methode der kleinen bzw. Berlin dem deutschen Wahlvolk implizit Schritte und des bewussten Verzichts auf stra- unterstellten pazifistischen Tendenz wurden tegische Visionen. Auslandseinsåtze deutscher Streitkråfte zu- meist als Teil humanitårer Interventionen Welches sind nun die alternativen Hand- ¹verkauftª: Die Rolle der Bundeswehrsolda- lungsmæglichkeiten deutscher Auûen- und ten sei hauptsåchlich die von bewaffneten Sicherheitspolitik, wenn man den hier darge- Entwicklungshelfern. Diese Strategie, die legten Annahmen folgt, dass sich erstens das Mitte der 1990er Jahre sicherlich richtig internationale System gewandelt hat und war, 17 schlågt mittlerweile auf die deutsche zweitens eine Politik der kleinen Schritte Politik zurçck: Wåhrend sich die Aufgaben keine adåquate Antwort auf die Wandlungen deutscher Soldaten in Afghanistan gewandelt im internationalen System ist? Idealtypisch haben und sich ihre ursprçngliche Mission gibt es drei denkbare, mægliche und wahr- zusehends zu einem Kampfeinsatz entwi- scheinliche Idealtypen, 20 die im Folgenden ckelt, scheut die Politik davor zurçck, dies kurz skizziert und hinsichtlich ihrer Vor- und den Bçrgerinnen und Bçrgern zu erklåren Nachteile fçr deutsche Auûen- und Sicher- und um Zustimmung zu der verånderten heitspolitik diskutiert werden sollen. Rolle der Bundeswehr zu werben.

Nach dem 11. September 2001 ± vor dem Deutschland als Juniorpartner der USA Irak-Krieg ± gab es zum ersten Mal seit der Wiedervereinigung so etwas wie eine Debatte Grundlage der ersten Alternative ist die An- um eine ¹grand strategyª der Bundesrepublik nahme, dass die USA weiterhin die dominie- Deutschland, in der sich die regierende rot- rende Macht im internationalen System blei- grçne Koalition auf den Aufbau eines euro- ben werden. Europa wird aufgrund seiner påischen Gegengewichtes gegençber (und internen Differenzen nicht zu einem eigen- nicht gegen, wie oftmals behauptet wird) den ståndigen Akteur in der internationalen Poli- USA verståndigte. 18 Damit rçckte die euro- setzung çber die machtpolitische Realisierung deut- scher Auûenpolitik, in: WeltTrends, 13 (2005) 47, 16 Vgl. Simon Serfaty, The year of Europe?, EUISS S. 117±125. Opinion, February2008, in: www.iss.europa.eu/ 19 Angela Merkel, Regierungserklårung vom 30. 11. uploads/media/europe_ss.pdf (22. 9. 2008). 2005, in: www.bunderegierung.de (22. 9. 2008). 17 Vgl. Timo Noetzel/Benjamin Schreer, Ende einer 20 Jegliche Reflexion çber mægliche Neuorientie- Illusion. Die sicherheitspolitische Debatte in Deutsch- rungen deutscher Auûen- und Sicherheitspolitik sollte land macht einen groûen Bogen um die Wirklichkeit, prinzipiell diese drei Dimensionen unterscheiden: a) in: IP, 63 (2008) 1, S. 96±101. das Denkbare, b) das Mægliche und c) das Wahr- 18 Vgl. Gunther Hellmann, Der Zwang zur groûen scheinliche. Damit folge ich Gunther Hellmann, Politik und die Wiederentdeckung besserer Welten. Deutsche Auûenpolitik. Eine Einfçhrung, Wiesbaden Eine Einladung zur Transformation der Auseinander- 2006, S. 222 f.

APuZ 43/2008 25 tik, wodurch sich fçr Deutschland die Frage Auûen- und Sicherheitspolitik wenig sinn- stellt, wie es seine eigenen Interessen am be- voll. Sie ist darçber hinaus auch nicht wçn- sten durchsetzen kann. In dieser Situation schenswert, da sie Deutschland und Europa schlagen einige Autoren vor, dass sich auf Dauer zu Hilfstruppen der USA degra- Deutschland im Rahmen der EU zu einem dieren wçrde. Befçrworter einer Anlehnungsstrategie an die USA machen sollte (Arnulf Baring), mit dem Ziel Juniorpartner der Amerikaner zu wer- Deutschland als Groûmacht den. Europa wçrde den USA Legitimitåt ver- leihen und im Gegenzug die Mæglichkeit des Angesichts der Schwåche bestehender multi- Einflusses auf amerikanische Auûen- und Si- lateraler Institutionen im transatlantischen cherheitspolitik erlangen. Diese Juniorpart- und europåischen Raum wåre eine weitere nerschaft, so Stephan Bierling, sei der einzige denkbare Alternative, dass Deutschland ver- Weg fçr Europa, um globalen Einfluss zu er- stårkte Anstrengungen dahingehend unter- nimmt, seine eigene Machtposition in dem langen. 21 Der unzweifelhafte Vorteil einer solchen Strategie låge darin, dass Deutschland sich abzeichnenden multipolaren System der wie auch Europa im Bereich der Sicherheits- internationalen Politik auszubauen. Im Kon- politik eine ¹free-riderª-Rolle einnehmen zert der Måchte kænnte die Bundesrepublik kænnten. Da die USA mit ihren Streitkråften dann, je nach eigener Interessenlage, wech- ohnehin nur politische und keine militåri- selnde Koalitionen mit den anderen Groû- schen Partner brauchen, bestçnde in einem måchten eingehen. Sie wçrde damit zur Mit- solchen Szenario fçr Deutschland oder ande- gestalterin einer internationalen Ordnung re europåische Staaten keinerlei Veranlassung, werden, wçrde aber auch Gefahr laufen, zum mehr Geld in die Modernisierung ihrer Streit- ¹swing stateª konkurrierender Groûmåchte kråfte zu investieren. zu werden.

Dem Vorteil einer solchen Neuausrichtung Eine solche Option, wçrde sie denn ernst- deutscher Auûen- und Sicherheitspolitik ste- haft verfolgt werden, håtte zunåchst zwei hen jedoch massive Nachteile gegençber, die Konsequenzen. Zum einen mçsste die Bun- ein solches Szenario als wenig wçnschens- desrepublik erhebliche finanzielle Ressourcen wert erscheinen lassen. Zunåchst einmal geht aufwenden, um ihre Streitkråfte zu einer re- dieses Szenario davon aus, dass die Vereinig- gionalen (und ggf. auch globalen) Machtpro- ten Staaten im Kern ihres auûen- und sicher- jektion zu befåhigen. Denn auch in der inter- heitspolitischen Handelns stets nur zum Vor- nationalen Politik des 21. Jahrhunderts wird teil des ¹Westensª im allgemeinen handeln. nur derjenige ein mitbestimmender Teil eines Dies erscheint jedoch im Hinblick auf die Po- multipolaren Systems sein, der çber entspre- 23 litik der US-Administration unter George chende militårische Fåhigkeiten verfçgt. Bush jun. mehr als fragwçrdig. Darçber hin- Zum anderen sollte eine solche Politik von aus wçrde eine solche Anlehnungsstrategie einer Mehrheit der Bevælkerung mitgetragen, Deutschland und Europa in Konflikte hinein- ja sogar aktiv befçrwortet werden. Um dies ziehen, die mæglicherweise nicht im deut- zu erreichen, mçsste sich die Rhetorik der schen oder europåischen Interesse liegen politischen Elite in Berlin jedoch gewaltig (z. B. Taiwan). Ferner verkennen Befçrworter veråndern. Die verschleiernde Sprache mçsste eines solchen Szenarios, dass Legitimitåt eine durch einen offenen Diskurs ersetzt werden, welcher der Bevælkerung die Vorteile einer soziale Kategorie ist. 22 Das heiût, Legitimitåt von Handeln wird nicht dadurch erzielt, dass solchen Politik nahebringt und um ihre Zu- der Kreis derjenigen groû ist, die handeln, stimmung ringt. Aber auch dann wåre es eher sondern, dass diejenigen, die an einer Hand- unwahrscheinlich, dass die Mehrheit der lung nicht teilnehmen, diese als legitim erach- Deutschen, angesichts der inzwischen tief ten. Aus den dargelegten Grçnden erscheint verwurzelten Aversion gegen den Einsatz mi- eine solche Alternative fçr die deutsche litårischer Macht, einen solchen Politikwech- sel begrçûen wçrde.

21 Vgl. Stephan Bierling, Die Huckepack-Strategie. 23 Vgl. J. J. Mearsheimer, (Anm. 8). In allerletzter Europa muss die USA einspannen, 2007. Konsequenz wçrde eine solche Politik auch bedeuten, 22 Vgl. Ian Hurd, Legitimacyand Power in the United dass sich Deutschland langfristig çber eine eigene nu- Nations SecurityCouncil, Princeton 2007. kleare Abschreckung Gedanken machen mçsste.

26 APuZ 43/2008 Auf europåischer Ebene håtte eine unilate- Zugleich wçrde damit auch die Vorausset- rale Groûmachtpolitik Deutschlands erheb- zung geschaffen, an welcher der Bundeskanz- lich negative Konsequenzen. Sie wçrde un- lerin so viel liegt: eine ¹Stårkung [der] trans- weigerlich zu einer europåischen Gegen- atlantischen Sicherheitspartnerschaft.ª 25 Die machtbildung gegen die Bundesrepublik Stårkung der EU çber die differenzierte Inte- fçhren, da sie bei fast allen Mitgliedstaaten gration wçrde es Deutschland erlauben, als der EU die Befçrchtung einer deutschen He- Mitgestalter der zukçnftigen multipolaren gemonie çber Europa nach sich ziehen Ordnung auf der internationalen Bçhne auf- wçrde. Da Deutschland aber auch heute noch zutreten, ohne dass bei den europåischen zu klein ist, um eine Hegemonie auf dem (Mit-)Fçhrungsmåchten Øngste hinsichtlich europåischen Kontinent zu erringen, und zu einer deutschen Dominanz çber den europå- groû, um ausbalanciert zu werden (Otto von ischen Kontinent geweckt wçrden, da diese Bismarck) wçrde eine solche Politik die Bun- qua ihrer integrativen Verflechtung mit desrepublik nicht nur in ihrer Handlungsent- Deutschland Mitspracherechte 26 çber faltung hemmen, sondern auch den europå- Deutschlands Politik håtten. ischen Kontinent auf Dauer paralysieren. Somit kann ein solches Szenario fçr die Zu- Ein solches Szenario bedeutet jedoch nicht, kunft deutscher Auûen- und Sicherheitspoli- dass die deutsche Auûenpolitik gånzlich eu- tik auch nicht wçnschenswert sein. ropåisiert wçrde. Deutschland håtte weiter- hin die Mæglichkeit, dort, wo seine Interessen Deutschland als (mit)fçhrende nicht mit denen der anderen Staaten çberein- stimmen, çber sein Netz bilateraler Bezie- europåische Macht hungen nationale Politik zu betreiben. Wich- tig ist jedoch festzuhalten, dass im Fall der Das letzte Szenario, das eine Alternative fçr Interessenkonvergenz zwischen Deutschland deutsche Auûen- und Sicherheitspolitik dar- und den anderen Kern-Staaten in der EU stellen kænnte, knçpft an die Weiterentwick- Machtressourcen gebçndelt werden kænnten, lung der EU an. Angesichts der Blockade, in um sie mit Gewicht in die internationale Poli- der sich die Union seit geraumer Zeit befin- tik einzubringen. Geht man davon aus, dass det, kænnte eine Pioniergruppe von Staaten es im deutschen Interesse liegt, eine Mitge- (im Idealfall die Unterzeichnerstaaten der staltungsrolle bei der Ausgestaltung der inter- Ræmischen Vertråge) vorangehen und dem nationalen Beziehungen im 21. Jahrhundert Konzept der differenzierten Integration end- zu erwirken, erweist sich letztlich diese dritte lich konkrete Gestalt verleihen. Staaten, die Alternative als die einzig realistische, die zu- politisch willens und fåhig sind, sollten in gleich wçnschenswert ist. einzelnen Politikbereichen ihre Verbindun- gen stårken, ohne dass sie von integrationsun- willigen Staaten daran gehindert werden kæn- nen. Ûber ein solches Europa der variablen Geometrie wçrde sich dann (im besten Falle) ein Kern europåischer Staaten herausschålen, der in allen Politikbereichen der EU eine Ver- tiefung ihrer Beziehungen anstrebt. 24

Dieser Kern, der fçr andere Staaten poten- tiell offen sein muss, wçrde insbesondere im 25 Angela Merkel, Rede anlåsslich der Eræffnung Bereich der Auûen-, Sicherheits- und Vertei- der neuen US-Botschaft, Berlin, 4. 7. 2008, in: digungspolitik die EU nach auûen (das heiût www.bundeskanzlerin.de/Content/DE/Rede/2008/07/ in der internationalen Politik) repråsentieren. 2008-07-04-eroeffnung-amerikanische-botschaft.html Er wçrde die EU global handlungsfåhig und (22. 9. 2008). zu einem verlåsslichen Partner fçr andere 26 Vgl. Joseph M. Grieco, State Interests and In- stitutional Rule Trajectories: a Neorealist Interpreta- Groûmåchte (und auch fçr die USA) machen. tion of the Maastricht Treatyand European Economic and MonetaryUnion, in: Benjamin Frankel (ed.), Rea- 24 Aus der Fçlle der Literatur, die zu diesem Konzept lism. Restatements and Renewal, London 1996, existiert, sei nur die eine neuere Studie genannt: Janis S. 261±306. Emmanouilidis, Conceptualizing a Differentiated Eu- rope, Athen 2008 ( i. E.).

APuZ 43/2008 27 Jærg Faust ´ Dirk Messner (OECD). Heute jedoch nimmt die eigenstån- dige auûenpolitische Gestaltungskraft einer Reihe von bedeutenden Låndern in Afrika, Arm, aber Asien und Lateinamerika zu. Dies sind die sogenannten ¹Ankerlånderª, teilweise auch regionale Fçhrungsmåchte oder aufstrebende einflussreich: Staaten des Sçdens genannt. Durch ihre wachsende ækonomische wie sicherheitspoli- ¹Ankerlånderª tische Bedeutung sowie die Fåhigkeit, ihren Interessen Gehær zu verschaffen, ist die Ge- staltung von Prozessen globalen Regierens als auûenpoliti- nicht mehr ein nahezu exklusives Unterfan- gen der alten OECD-Demokratien. Vielmehr mçssen deren bi- wie multilaterale Auûenbe- sche Heraus- ziehungen neu austariert werden, um auf die global immer relevanter werdenden Anker- forderung lånder angemessen reagieren zu kænnen. Diese strategische Herausforderung gilt ins- besondere auch fçr Deutschland, das seine Au- u Beginn des 21. Jahrhunderts zeichnen ûenpolitik in der Vergangenheit maûgeblich Z sich gravierende Verånderungen im in- auf die Europåische Union (EU), die transat- ternationalen System ab. Angesichts der kon- lantischen Beziehungen sowie auf Mittel- und tinuierlichen Zunahme von grenzçberschrei- Osteuropa ausgerichtet hat. Die Beziehungen tenden Transaktionen und Verflechtungen zu den einflussreichen Staaten Afrikas, Asiens lassen sich immer mehr internationale Her- und Lateinamerikas waren dabei auf der bilate- ausforderungen kaum ralen Ebene ¹nurª operativ auûenwirtschaft- Jærg Faust mehr nur unilateral lich oder entwicklungspolitisch geprågt. Eine Dr. rer. pol., geb. 1967; Leiter oder im Kontext re- çbergeordnete strategische Verortung dieser der Abteilung Governance, gionaler Kooperation Staaten in das internationale System wurde Staatlichkeit & Sicherheit am læsen. Der Klimawan- Frankreich, Groûbritannien oder den USA, Deutschen Institut für Entwick- del, die Begrenzung teilweise auch der EU çberlassen. Da sich poli- lungspolitik (DIE), Tulpenfeld 6, international organi- tisch-institutionelle Arrangements auf globaler 53113 Bonn. sierter Kriminalitåt, Ebene in nahezu allen Themenfeldern zu ver- [email protected] die ordnungspoliti- åndern beginnen und auch die bilateralen Be- sche Einhegung von ziehungen zu einer Reihe von Ankerlåndern Dirk Messner Handels- und Investi- ein anderes strategisches Potential erlangen, ist Dr. rer. pol., geb. 1962; Profes- tionsstræmen oder die eine solche auûenpolitische Orientierung aller- sor für Politikwissenschaft an Bekåmpfung des in- dings nicht zielfçhrend. Vor diesem Hinter- der Universität Duisburg-Essen ternationalen Terro- grund werden wir in dem vorliegenden Beitrag und Direktor des DIE (s. o.). rismus zåhlen dabei auf das Phånomen der ¹Ankerlånderª einge- [email protected] zu den wichtigsten hen: Hierzu gehært sowohl, ihre definitori- Problemen. Diesen schen Gemeinsamkeiten herauszuarbeiten, als kann nur durch gut miteinander abgestimmte auch die signifikanten Unterschiede zu identi- globale, regionale und nationale Anstrengun- fizieren, die zwischen ihnen bestehen. Darçber gen effektiv begegnet werden. Auûenpolitik hinaus werden wir uns konkret mit den Her- muss insofern strategisch als ein Mehrebe- ausforderungen fçr die deutsche Auûenpolitik nenansatz konzipiert und umgesetzt werden. beschåftigen.

Aus (nicht nur) deutscher Perspektive gibt Ankerlånder es eine weitere Herausforderung: Wåhrend der vergangenen Jahrzehnte wurden Prozesse in der internationalen Politik globalen Regierens maûgeblich von den eta- blierten westlichen Demokratien gestaltet, In den vergangenen Jahren hat die Diskussion den Låndern der Organisation fçr wirtschaft- um den wachsenden internationalen Einfluss liche Zusammenarbeit und Entwicklung einiger Entwicklungslånder deutlich zuge-

28 APuZ 43/2008 nommen. Vor allem China und Indien, doch ækonomischen Verwerfungen wie Armut und auch Staaten wie Brasilien, Indonesien, Mexi- mangelnder Grundbedçrfnissicherung groûer ko und Sçdafrika kommt inzwischen eine Bevælkerungsteile konfrontiert sind, anderer- græûere Bedeutung zu, wenn es um die Be- seits aber aufgrund ihrer dyamischen Wirt- wåltigung regionaler aber auch globaler Her- schaft und ihres Bedeutungszuwachses selbst- ausforderungen in den Bereichen Sicherheit, bewusster gegençber den Maûnahmen der Handel, Klimaschutz oder die Regulierung traditionellen Entwicklungszusammenarbeit internationaler Finanzmårkte geht. 1 geworden sind. Hinzu kommt, dass der Ein- fluss dieser Staaten zumindest auf ihr regio- Einige Beispiele: Ohne eine aktive und ko- nales Umfeld meist derart ausgeprågt ist, dass operativ geprågte Beteiligung Chinas und In- ihre Auûenpolitiken die Bemçhungen der diens wird es kaum mæglich sein, ein effekti- OECD-Entwicklungszusammenarbeit in ihren ves globales Regime zur weltweiten Redukti- Nachbarstaaten unterlaufen kann. So wird on von Treibhausgasen zu etablieren. zum Beispiel die Wirkung westlicher Demo- Gleichzeitig hatte die brasilianische Regie- kratiefærderung von der russischen Auûenpo- rung maûgeblichen Anteil daran, dass eine litik offenkundig konterkariert, wenn diese Reihe von Entwicklungslåndern in den Ver- wenig Interesse am Aufbau demokratischer handlungen çber globalen Freihandel eine re- Strukturen, sondern eher an autokratischen lativ einheitliche Position gegençber den In- Vasallenstaaten in der Region zeigt. Den po- teressen der OECD-Demokratien einnahm. tentiell auch çberregionalen Einfluss auf die Ein Abschluss einer neuen Welthandelsrunde Entwicklungszusammenarbeit der OECD- ohne die explizite Berçcksichtigung der Inter- Staaten illustrieren am drastischsten die essen dieser Entwicklungslånder ist, im Un- wachsenden ækonomischen und politischen terschied zu frçher, gegenwårtig sehr unwahr- Beziehungen zwischen Subsahara-Afrika und scheinlich. Ebenso unrealistisch ist die Vor- China. Das in den vergangenen Jahren sub- stellung, dass ohne die Kooperation von stantiell angestiegene Engagement der Volks- Indien, Indonesien und Sçdafrika eine stabile republik in der weltweit årmsten Region be- Sicherheitsstruktur in Sçdasien bzw. Sçd- deutet nåmlich, dass die Bindung westlicher ostasien bzw. Subsahara-Afrika entstehen Entwicklungspolitik an politische und æko- kænnte, die wiederum Voraussetzung fçr eine nomische Reformen insofern untergraben langfristig effektive Bekåmpfung von Staats- wird, als seitens der chinesischen Regierung zerfall und Terrorismus ist. Diese Liste lieûe keine derartigen Bedingungen gestellt wer- sich leicht weiterfçhren und es kænnte er- den. 3 gånzt werden, dass die genannten Staaten auch in den bilateralen Beziehungen mit den Im deutschen Kontext wurde der strategi- groûen OECD-Låndern an Bedeutung ge- sche Bedeutungsaufschwung solcher Anker- winnen. lånder in der Entwicklungspolitik teilweise le- diglich als ein Mittel zur besseren Positionie- Der Begriff ¹Ankerlandª, der fçr diese zu- rung dieses Politikfeldes begriffen. Doch reift nehmend einflussreichen Lånder benutzt allmåhlich die Erkenntnis, dass dieses ur- wird, stammt aus der neueren entwicklungs- sprçnglich spezifische Problem der Entwick- politischen Diskussion. 2 Auch hier geht es lungspolitik als eine weit allgemeinere Heraus- um die Frage, wie mit Entwicklungslåndern forderung fçr die Auûenpolitiken Deutsch- umzugehen ist, die einerseits noch mit sozio- lands bzw. der OECD-Staaten begriffen werden kann. Die Formel ¹arm aber einfluss- reichª bringt diese auf den Punkt. 1 Vgl. Tilman Altenburg/Julia Leininger, Global Shifts Caused by the Rise of Anchor Countries, in: Zeit- schrift fçr Wirtschaftsgeographie, 52(2008), S. 4±19. Zwar mag China, gemessen in absoluten Siehe auch Raphael Kaplinsky/Dirk Messner (eds.), Zahlen, mittlerweile der weltweit græûte Ex- The Impact of Asian Drivers on the Developing World, porteur von Industriegçtern sein und eine im- in: World Development, Special Issue, 36 (2008) 2, S. 197±209. 2 Vgl. Andreas Stamm, Schwellen- und Ankerlånder 3 Vgl. Harry G. Broadman, China and India Go to als Akteure einer globalen Partnerschaft ± Ûber- Africa. New Deals in the Developing World, in: For- legungen zu einer Positionsbestimmung aus deutscher eign Affairs, (2008) March/April; Robert Kappel/Tina entwicklungspolitischer Sicht, DIE Discussion Papers, Schneidenbach, China in Afrika: Herausforderungen (2004) 1. fçr den Westen, GIGA Focus, (2006) 12.

APuZ 43/2008 29 posante Anzahl von Ingenieuren und Natur- homogene Gruppe zu begreifen. Insbesonde- wissenschaftlern beherbergen. Der Anteil der re ihre innenpolitischen Strukturen unter- Industriegçterexporte am Pro-Kopf-Einkom- scheiden sich teilweise erheblich. Dies bedeu- men betrågt jedoch nur ein Zehntel im Ver- tet, dass die variierende Bereitschaft von An- gleich zu Deutschland. Auf der Skala des kerlåndern zu kooperativem Auûenverhalten Human Development Index, der sozioæko- erst durch die Berçcksichtigung innenpoliti- nomische Entwicklung anhand von Einkom- scher Strukturen und Dynamiken erfasst wer- men, Bildungsniveau und Lebenserwartung den kann. 4 Der Varianz innenpolitischer misst, lag China 2007 lediglich auf Platz 81. Transformationsprozesse ± zumal zwischen Auch Indien ist trotz des beeindruckenden so unterschiedlichen Herrschaftsstrukturen Wirtschaftswachstums und der internationa- wie Demokratie und Autokratie ± kommt len Wettbewerbsfåhigkeit in einigen Schlçs- dabei besondere Bedeutung zu. 5 seltechnologien des 21. Jahrhunderts ein Land, in dem etwa eine halbe Milliarde Men- Regierungen von Ankerlåndern, die beson- schen unterhalb der Armutsgrenze lebt. Auch ders ausgeprågten und innenpolitisch potenti- Brasilien zåhlt, trotz seines exzellenten Di- ell destabilisierenden Transformationsprozes- plomatenkorps, das die Interessen seiner Re- sen ausgesetzt sind, verfçgen auûenpolitisch gierung auf regionaler und globaler Ebene çber weniger Spielraum fçr langfristig ange- effektiv zu vertreten versteht, zu den Gesell- legte Kompromisse. Ihre Auûenpolitik wird schaften mit der ungerechtesten Einkom- daher græûere Rçcksicht nehmen mçssen auf mensverteilung. eine eher labile und durch politische und ækonomische Wandlungsprozesse konflikt- Dieser Gegensatz zwischen internationa- tråchtigere Akteurskonstellation im Inneren. lem Einfluss und drångenden sozioækonomi- Stårker autokratisch geprågte Staaten, mit schen Problemen im Inneren rçckt die maû- einem nach innen unkontrollierten und um- geblich von der Entwicklungspolitik bearbei- fassenden Herrschaftsanspruch zeichnet ge- teten Themenfelder in den Vordergrund, soll meinhin aus, dass sie weniger bereit sind, ihre doch das auûenpolitische Handeln und das Souverånitåt nach auûen durch internatio- Kooperationspotential von Ankerlåndern in nale Regelwerke zu beschneiden. 6 Zudem regionalen und globalen Arenen erklårt bzw. ist tendenziell die Erfahrung solcher Re- strategisch darauf reagiert werden. Denn ge- gime mit internationaler Einbindung und rade in groûen und einflussreichen Staaten der Preisgabe nationaler Souverånitåt ge- werden sich die drångenden innenpolitischen ringer. 7 Fçr die OECD-Staaten bedeutet Themen in der Gestaltung der Auûenbezie- dies, dass sie mit sehr unterschiedlicher hungen deutlich widerspiegeln. Das Interesse Kooperationsbereitschaft seitens der Anker- an einer ausreichenden Rohstoffversorgung und an Technologietransfer fçr wirtschaftli- 4 Vgl. etwa Julia Bader, Innenpolitischer Wandel und ches Wachstum, die Skepsis gegençber einem seine Auswirkungen auf die Auûenpolitik Chinas, DIE Klimaschutzregime, das die eigenen Wachs- Discussion Papers, (2008) 4; Antje Kåstner, From cha- tumschancen mæglicherweise schmålern os to pragmatism? The domestic dimension of Russian kænnte, der als notwendig erachtete Schutz foreign policy 1991±2008, DIE Discussion Papers, (2008) 19. von Industriesektoren vor auslåndischer 5 Vgl. Thomas Conzelmann/Jærg Faust, Globales Konkurrenz oder die Bedenken, heimische Regieren zwischen ¹Nordª und ¹Sçdª, 2008 (Manu- Kleinbauern dem internationalen Wettbe- skript). werb auszusetzen ± all dies sind auûenpoliti- 6 Dies belegen etwa Untersuchungen zu Handels- sche Positionen, die auf die vielfach immer kooperation und Technologietransfer. Vgl. Edward noch prekåren sozioækonomischen Verhålt- Mansfield/Helen Milner/Peter Rosendorff, Why De- mocracies Cooperate More. Electoral Control and In- nisse in diesen Staaten zurçckzufçhren sind ternational Trade Agreements, in: International Orga- bzw. mit denen versucht wird, die im Entste- nization, 56 (2002), S. 477±513; Helen Milner/Keiko hen begriffenen dynamischen Wirtschaftssek- Kubota, Why the Move to Free Trade? Democracy and toren sowie die internationalen Wettbewerbs- Trade Policy in the Developing Countries, in: Inter- und Standortvorteile zu stårken. national Organization, 59 (2005), S. 107±144. 7 Vgl. Dirk Messner/Franz Nuscheler, Das Konzept Global Governance. Stand und Perspektiven, in: Stif- Verdeutlicht die Formel ¹arm aber einfluss- tung Entwicklung und Frieden (Hrsg.), Global Go- reichª die Gemeinsamkeiten von Ankerlån- vernance fçr Entwicklung und Frieden: Perspektiven dern, so wåre es dennoch falsch, diese als eine nach einem Jahrzehnt, Bonn 2006, S. 18±79.

30 APuZ 43/2008 lånder fçr die Læsung internationaler Pro- 1. auf die Stabilisierung der Lånder des ehe- bleme rechnen und ihre Strategien entspre- maligen Einflussbereiches der Sowjetunion; chend differenziert ausrichten mçssen. 2. auf die Parallelitåt von Vertiefung und Er- weiterung der EU; Herausforderungen 3. auf ein sich verkomplizierendes Verhåltnis fçr die deutsche Auûenpolitik zu den USA; 4. schlieûlich auf die sicherheitspolitischen Die deutsche Auûenpolitik muss sich auf die Implikationen des 11. September 2001. skizzierten Verånderungen im internationalen System einstellen, was eine Verånderung der Grundkoordinaten deutscher Auûenpolitik Die Ankerlånder gewannen im Verlauf der notwendig macht. Denn letztere war in der 1990er Jahre zwar stetig an Bedeutung, spiel- Vergangenheit ± aus durchaus guten Grçnden ten demgegençber aber nur eine Nebenrolle. ± vor allem europåisch, transatlantisch und Sie waren Partner der deutschen Entwick- von der Vorstellung geprågt, dass die OECD- lungszusammenarbeit und standen selbst dort Welt den dynamischen Kern der Weltwirt- eher am Rand. Denn die Aufmerksamkeit schaft und -politik darstellte. Dieses Grund- dieses Politikfeldes gehærte vor allem den verståndnis verstårkte sich wåhrend der årmsten Låndern Afrikas und Sçdasiens und 1990er Jahre zunåchst noch, da das Ende der erst in zweiter Linie den wirtschaftlich dyna- Bipolaritåt vor allem als Ausdruck der Ûber- mischen Staaten. Mithin entstand eine Art legenheit westlicher Gesellschaften interpre- Kooperationsvakuum mit Blick auf die in tiert wurde. diesem Beitrag behandelte Låndergruppe; diese landete zunåchst im Niemandsland der Dass nach dem Fall der Mauer 1989 und im deutschen Auûenpolitik. Prozess sich beschleunigender Globalisierung eine wachsende Gruppe von Entwicklungs- Erst in den vergangenen Jahren hat sich bei låndern nach und nach zu Motoren globalen einem Teil der Ministerialbçrokratie und der Wandels wurde, ist in jener Zeit ¹çbersehenª politischen Entscheidungstråger die Erkennt- worden. Vielmehr galt die von Charles Kup- nis breit gemacht, dass es eines Leitbildes chan formulierte Formel ¹globalization is deutscher Auûenbeziehungen bedarf, das den 8 westernizationª als Common Sense. Auch neuen Machtkonstellationen Rechnung trågt. diejenigen Beobachter, die sich im Kontext Vieles spricht dafçr, dass die Beziehungen zu der Enquete-Kommission des Deutschen China oder auch Indien in Zukunft åhnliche Bundestages zur ¹Globalisierung der Welt- Relevanz haben werden wie jene zu den wirtschaftª zwischen 1998 und 2002 intensiv USA. Zudem liegt nahe, dass die europåi- und innovativ mit den Folgen globalen Wan- schen Lånder wohl nur dann eine signifikante dels fçr Deutschland und Europa auseinan- Chance haben, ihre globalen Interessen und dersetzten, argumentierten aus einer solchen Leitbilder geltend zu machen, wenn es ihnen Perspektive. Im Abschlussbericht der Kom- gelingt, eine wirksame und damit in ihren mission wurden viele Globalisierungsdyna- Kompetenzen erweiterte gemeinsame euro- miken klug herausgearbeitet ± doch wurde påische Auûenpolitik zu entwickeln. Beide die heute nicht mehr zu çbersehende Macht- Aspekte machen deutlich, dass hier funda- verschiebung in Richtung China, Indien und mentale Weichenstellungen diskutiert und 9 anderer Ankerlånder ignoriert. entschieden werden mçssen, die nicht einfach ein zusåtzliches Element in der Liste auûen- Vielmehr war die deutsche Auûenpolitik orientierter Aufgabenstellungen darstellen, nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes vor- sondern das gesamte Koordinatensystem au- nehmlich auf vier Phånomene fixiert: ûenpolitischen Handelns Deutschlands und Europas betreffen. 8 Charles Kupchan, The end of the West, in: The At- lantic Monthly, 290 (2002) 4, S. 42±47. 9 Vgl. Deutscher Bundestag, Schlussbericht der En- Dabei gilt es auch, der Heterogenitåt der quete-Kommission Globalisierung der Weltwirtschaft ± Herausforderungen und Antworten, Berlin 2002, in: Ankerlånder gerecht zu werden. China und www.bundestag.de/gremien/welt/glob_end/index.html Indien sind bereits heute in nahezu jeder Glo- (16. 9. 2008). bal Governance-Arena unverzichtbare Ak-

APuZ 43/2008 31 teure. 10 Doch auch die Ankerlånder aus ¹der ¹arm aber einflussreichª gerecht werden. zweiten Reiheª sind keineswegs weniger Denn die etablierten und erprobten Koopera- wichtig fçr Prozesse globalen Wandels als tionskonzepte zwischen den OECD-Låndern China und Indien, denn sie beeinflussen zum kænnen nicht einfach auf die Ankerlånder einen zumindest ihr regionales Umfeld in çbertragen werden. Zugleich lassen sich die einem breiten Spektrum an Politikfeldern Beziehungen zu dieser Låndergruppe nicht und damit die Positionierung ganzer Regio- auf klassische Konzepte der Entwicklungspo- nen im internationalen System. Zum anderen litik reduzieren. Die Verbindungen zu China, sind diese Lånder in ausgewåhlten Feldern Indien, Brasilien, Sçdafrika und anderen auf- wichtige Mitspieler (z. B. Brasilien in der Kli- strebenden Staaten eint, dass sie sich in einem mapolitik, Sçdafrika in der Welthandelsorga- System zunehmender Multipolaritåt erstmals nisation WTO). auf eine Gruppe von Staaten beziehen, die zu wesentlichen Mitgestaltern globalen Wandels In Bezug auf die Differenzierung ergeben gehæren, nicht aber zu den am weitesten ent- sich zumindest zwei normative Fragestellun- wickelten Úkonomien. Zum anderen wird gen, zu denen die deutsche Auûenpolitik in angesichts der Heterogenitåt der Ankerlånder Zukunft immer wieder Position beziehen auch ein Management von Diversitåt Teil des mçssen wird. Erstens stellt sich die Frage strategischen Aufgabenspektrums deutscher nach dem Umgang mit autokratischen Anker- Auûenpolitik sein. Dabei geht es nicht zuletzt låndern, deren kooperatives Mitwirken auf- auch um Investitionen in ein besseres Ver- grund ihrer Bedeutung bei Prozessen glo- ståndnis der ækonomischen und politischen balen Regierens vonnæten ist, deren auûen- Prozesse in den Ankerlåndern sowie den politische Interessen eben nicht auf Aufbau mæglichst vielfåltiger Beziehungsnet- demokratische Verfahren im Inneren abge- zwerke. Jedoch ist in Deutschland das Wissen stçtzt sind. Auch ist diesbezçglich offen, wie zu internen Entwicklungsdynamiken sowie einem drohenden Effektivitåtsverlust deut- auûenpolitischen Leitbildern unterschiedli- scher bzw. europåischer Strategien der De- cher Ankerlånder vergleichsweise gering und mokratiefærderung zu begegnen ist, wenn die ækonomischen, politischen, wissenschaft- solche Ankerlånder einen demokratiehem- lichen und zivilgesellschaftlichen Netzwerke menden Einfluss in ihrem regionalen Umfeld sind deutlich lockerer als jene zwischen den ausçben. Zweitens stellt sich die Frage, wie OECD-Låndern. die Kooperation mit demokratischen Anker- låndern gestaltet werden soll, wenn deren Der Regierungsapparat reagiert auf diese durch Wahlen legitimierte Regierungen auf- Herausforderungen weniger mit einem strate- grund kurzfristiger binnenpolitischer Forde- gischen Suchprozess, als aus einer Bottom- rungen nach Wachstum, Grundbedçrfnissi- up-Perspektive. Auûenministerium, Entwick- cherung und Armutsbekåmpfung langfristig lungsministerium, Wirtschaftsministerium, orientierten Læsungsstrategien auf globaler Umweltministerium, Forschungsministerium Ebene skeptisch gegençber stehen. 11 In den und Kanzleramt verstårken zwar seit kurzem deutschen und den europåischen Auûenbe- ihre jeweiligen Beziehungen zu einigen An- ziehungen mçssen daher sowohl konfliktive kerlåndern ± China ist stets dabei, aber ande- Szenarien als auch denkbare Kooperations- re aufsteigende Lånder werden eher selektiv korridore gegençber diesen Låndern identifi- wahrgenommen. Dies geschieht jedoch weit- ziert und in lånderspezifische Strategien çber- gehend, ohne dass gemeinsame Ausgangs- setzt werden. punkte geklårt, die Vielfalt der Initiativen ge- bçndelt oder strategische Interessen und Dabei wird in zweierlei Hinsicht Neuland Ziele identifiziert werden. Ein solch dezen- betreten. Zum einen gilt es, auûenpolitische tralisierter und pragmatischer Ansatz wåre Ansåtze zu entwickeln, die dem Merkmal angemessen, wenn es sich um kleine oder mittelgroûe Schwellenlånder mit allenfalls be- grenzter Bedeutung handelte. Da die Anker- 10 Vgl. L. Alan Winters/Shahid Yusuf (eds.), Dancing lånder jedoch auf dem Wege sind, die inter- with Giants: China, India and the Global Economy, nationalen Beziehungen tief greifend zu Washington 2007. 11 Vgl. zu dieser Problematik und den aus dieser Dif- veråndern, sind dezidiertere politische An- ferenzierung entstehenden unterschiedlichen Typen strengungen notwendig, um die Auûenbezie- globalen Regierens T. Conzelmann/J. Faust, (Anm. 5). hungen Deutschlands an den Bedingungen

32APuZ 43/2008 des 21. Jahrhunderts auszurichten. Kanzler- vollkommen abwegig ist. Klassische Machtpolitik zur amt oder Auûenministerium mçssten die Sicherung von Einflusssphåren und Zugången zu Aufgabe çbernehmen, tragfåhige Ankerlån- knappen Ressourcen gewinnt derzeit an Bedeutung. derstrategien der Bundesregierung im Zusam- Die Rolle Chinas und Indiens in Afrika wird vom menspiel mit anderen relevanten Ressorts zu Westen misstrauisch beåugt. Im Kaukasus ringen Eu- bçndeln. Øhnliche Anstrengungen wåren na- ropa, die USA und Russland um ¹ihreª Anteile an den tçrlich auch auf der europåischen Ebene not- Energieressourcen einer instabilen Region. In Asien wendig. Solange diese Koordinationsleistung geht es um die Machtbalance zwischen China, Indien zur Stårkung auûenpolitischer Kohårenz und Japan, und in der europåischen Diskussion wird nicht gelingt, werden die deutsche und die die Kritik an der vermeintlich zu kooperationsorien- europåische Politik wertvolle Zeit der Anpas- tierten Auûenpolitik der EU und ihrer Mit- sung an sich rasch wandelnde, internationale gliedsstaaten lauter. 13 Wenn jedoch die Tendenzen Realitåten verlieren. Denn die Transformati- eines harten und eher merkantilistischen Wettbewerbs onsprozesse, teilweise sicherlich auch kon- der Staaten zunehmen, dçrfte die Bearbeitung globaler fliktiver Natur, werden in den Ankerlåndern Probleme mittels kooperativer, auf Interessenausgleich weiter voranschreiten und deren Gewicht in ausgerichteter Verfahren unwahrscheinlicher werden. internationalen Arenen tendenziell weiter er- hæhen. Blockiert dann in Berlin und Brçssel Ob ein solches Szenario vermieden werden kann, die Frage nach Zuståndigkeiten von Ressorts hångt davon ab, inwieweit sich eine weiter zuneh- und Generaldirektionen die Neuorientierung mende, ohne fundamentale Brçche vollziehende Ein- der Zusammenarbeit mit Ankerlåndern, wer- bettung von Ankerlåndern in das Weltwirtschaftssy- den neue strategische Allianzen und Netz- stem mit einer Zunahme demokratischer Partizipati- werke von hoher bilateraler oder globaler onsverfahren in diesen Staaten kombinieren låsst. Eine Bedeutung eben ohne oder allenfalls mit solche Entwicklung dçrfte aufgrund innergesellschaft- begrenzter europåischer Beteiligung voran- licher Dynamiken das Interesse der Regierungen an schreiten. der Etablierung kooperativer Auûenbeziehungen be- færdern. Allerdings werden diese Regierungen auch Zusammenfassung und Ausblick eine ihrem internationalen Einfluss entsprechende Ver- teilung der Kosten und Nutzen globaler æffentlicher Erst allmåhlich wird politischen Entschei- Gçter einfordern, zum Beispiel, wenn es um Klima- dungstrågern, aber auch einer breiteren Úf- schutz, Sicherheit vor transnationaler Kriminalitåt fentlichkeit bewusst, dass die gegenwårtigen oder funktionierende Finanzmårkte geht. Es gilt also, Verånderungen im internationalen System die proaktive ¹Strategien friedlicher Machttransformati- Erosion der Dominanz nordamerikanischer onª zu entwickeln. 14 Ein zentrales Element einer sol- und europåischer Staaten nach sich ziehen chen Strategie ist sicher die Bereitschaft zur Arbeitstei- kænnten. Fçr die deutsche und europåische lung auf Augenhæhe zwischen den OECD- und den Auûenpolitik bedeutet dies, dass sie sich Ankerlåndern, die jedoch eine Korrektur des Selbst- grundsåtzlich mit den Folgen gleichsam tek- verståndnisses westlicher Auûenpolitik voraussetzt. tonischer Machtverschiebungen und der Der in Indien geborene US-amerikanische Politikwis- neuen unçbersichtlichen Multipolaritåt aus- senschaftler Parag Khanna bringt diesen notwendigen einandersetzen muss. Perspektivwechsel çberzeugend auf den Punkt: Der Westen kænne ¹keine Loyalitåt mit einer westlichen In der Geschichte gingen groûe Machtver- Ordnung erwarten, die sich unter dem Deckmåntel- schiebungen meist mit weitreichenden Kon- chen oktroyierter, vermeintlicher universeller Werte flikten einher. Autoren wie John Mearshei- versteckt, ohne dass es zu einem echten globalen Mei- mer halten aufgrund der vermeintlichen Ei- nungsbildungsprozess gekommen wåre. Die USA gendynamik internationaler Politik einen haben China aufgefordert, sich als ,verantwortungsvol- friedlichen Aufstieg Chinas und Indiens zu ler Treuhånder` des globalen Systems zu verhalten, zentralen Machtpolen fçr ausgeschlossen. Die USA und Europa kænnten eine solche Macht- 13 Vgl. Peter Robejsek, Weltpolitische Dimension der Energie- verschiebung nicht akzeptieren, Konfronta- preise. Von der unsichtbaren Hand der Autokraten, in: Neue Zçrcher Zeitung vom 14. 8. 2008, S. 5. 12 tionen seien daher unvermeidlich. Einiges 14 Charles Kupchan et al., Power in Transition, Tokio±New spricht dafçr, dass diese Perspektive nicht York±Paris 2003; vgl. Dirk Messner, Global Governance im Schatten des Aufstiegs von China und Indien, in: Tobias Debiel/ 12 Vgl. John Mearsheimer, China's Unpeaceful Rise, Dirk Messner/Franz Nuscheler (Hrsg.), Globale Trends 2007, in: Current History, 105 (2006) 690, S. 160±162. Frankfurt/M. 2006, S. 45±60.

APuZ 43/2008 33 aber da es sich unausgesprochen um eine Michael Hennes amerikanische Ordnung handelt, widersetzt sich China verståndlicherweise. China wird sein gewaltiges ækonomisches Gewicht nicht Das pazifische im Interesse antiquierter und nicht repråsen- tativer Klubs wie der G-8 einsetzen, die China nicht aufnehmen.ª 15 Jahrhundert Dies bedeutet, dass auch Deutschland und Europa zukçnftig lernen mçssen, andere, an internationalem Einfluss gewinnende Ak- eit dem Ende des Kalten Krieges hat sich teure von ihren Leitbildern einer globalen S das Gravitationszentrum der Weltpolitik Ordnung mit guten Argumenten und ernst- von Europa nach Asien verlagert. Das haften Beteiligungsangeboten zu çberzeugen 21. Jahrhundert wird zunehmend bestimmt ± und genau zuzuhæren, wie ¹neueª hand- sein von der wirtschaftlichen Dynamik, den lungsmåchtige Akteure ihre Ordnungsvor- zwischenstaatlichen Konflikten und den kul- stellungen formulieren. turellen Einflçssen des asiatischen Konti- nents. Die Vereinigten Staaten als Hegemon In solchen Dialogen wird sich auch die der Weltpolitik haben sich seit 1990 immer komplexe Multipolaritåt und Unçbersicht- stårker nach Asien hin orientiert. In dieser lichkeit des internationalen Systems wider- grundlegenden Verschiebung des Mittelpunk- spiegeln. Es ist eben nicht nur China zu tes der Weltpolitik einem weiteren Machtpol neben den USA, stimmen der Altmeis- Michael Hennes Europa und Japan aufgestiegen. Auch Indien ter der amerikani- Dr. phil., geb. 1965; Habilitand kann diesen Status bald erreichen. Zugleich schen Diplomatie, und Lehrbeauftragter amInsti- 1 wirken ein knappes Dutzend weiterer Staaten Henry A. Kissinger, tut für Politikwissenschaft der an der Verånderung tradierter globaler Ord- der amtierende Direk- Universität Duisburg-Essen. nungsmuster. Viele dieser Lånder kooperieren tor des US-Auslands- [email protected] flexibel und pragmatisch zugleich mit Wa- geheimdienstes CIA, 2 shington, Brçssel, Beijing, Moskau, Berlin General Michael V. Hayden, und zum Bei- oder auch London. Sie kombinieren den mili- spiel auch der republikanische Pråsident- 3 tårischen Schutz der USA mit auflagenfreien schaftskandidat John McCain çberein. Die Krediten aus China und Technologiekoopera- deutsche Auûen- und Sicherheitspolitik wird tionen mit Europa. Zugleich verdichten sie sich an dem fundamentalen Wandel der welt- ihre Beziehungen untereinander. Heraus politischen Rahmenbedingungen auszurich- kommt ein multipolares, spannungsreiches ten haben. Muster, charakterisiert durch wechselnde Al- lianzen, unklare Loyalitåten und sich çber- Der Ausgangspunkt der Verånderungen lappende Einflusszonen, das mit den çber- war das Ende des Kalten Krieges. Zwischen sichtlichen Verhåltnissen bi- oder unipolarer den Jahren 1989 (Zerfall des Kommunismus Weltordnungen der vergangenen Jahrzehnte in Osteuropa) und 1991 (Auflæsung der Sow- wenig gemein hat. Die Debatte darçber, wie jetunion) wurden die zentralen Sicherheits- Deutschland seine Beziehungen zu Ankerlån- probleme des Westens in Europa gelæst. Die dern und seine Global Governance-Initiati- Vereinigten Staaten verblieben dabei als einzi- ven im Schatten dieser turbulenten Multipo- ge Weltmacht. Wirtschaftlich rçckte Asien laritåt und vor dem Hintergrund seiner Ein- unmittelbar in das Zentrum der amerikani- bettung in Europa ausrichten soll, hat in 1 Vgl. Henry A. Kissinger, The Three Revolutions, in: Politik und Wissenschaft gerade erst begon- Washington Post, vom 7. 4. 2008, S. A17. nen. 2 Vgl. Michael V. Hayden, Remarks at the Landon Lecture Series, Kansas State University, 30. 4. 2008, in: www.cia.gov/news-information/speeches-testimony/ landon-lecture-series.html (11. 8. 2008). 15 Parag Khanna, Der Kampf um die zweite Welt: 3 Vgl. John McCain, U.S. Foreign Policy: Where We Imperien und Einfluss in der neuen Weltordnung, Go From Here. Address to the World Affairs Council, Berlin 2008, S. 500. Los Angeles, 26. 3. 2008, S. 3, in: www.lawac.org/ speech2007±08McCain,%20John%202008.pdf (17. 8. 2008).

34 APuZ 43/2008 schen Interessen. Der pazifische Raum hatte des Friedens und Wohlstandes gerçckt. Wir schon 1990 eine græûere wirtschaftliche Be- sind von Freunden ¹umzingeltª. deutung fçr die USA als die alte transatlanti- sche Gemeinschaft: Mit einem beiderseitigen Handelsvolumen von rund 300 Milliarden Die deutsche Versuchung Dollar çberstieg der US-Handel mit Asien den transatlantischen Handel um fast ein Fçr die deutsche Auûen- und Sicherheitspoli- Drittel. 4 Zum wichtigsten Verbçndeten der tik beginnen die Krisenregionen weit æstlich USA war Japan geworden. Die Vereinigten an den Grenzen zwischen Russland und Staaten und Japan erwirtschafteten zusam- Asien. Die Kåmpfe in Georgien im August men fast 40 Prozent des weltweiten Bruttoin- 2008 haben das dokumentiert. Das transatlan- landsproduktes. 5 Der Trend hat sich seither tische Bçndnis hat seine traditionelle Da- verstårkt und spiegelt sich auch in der Demo- seinsberechtigung verloren. Dennoch ist die grafie wider: Heute leben çber 60 Prozent NATO von bleibendem Wert fçr Europa. Sie der Weltbevælkerung in Asien, alleine in ist ein Stabilitåtsfaktor, der bei Krisen in Eu- China 1,3 Milliarden und in Indien 1,1 Mil- ropa den Frieden sichert. Auûerdem bestim- liarden Menschen. Nach Schåtzung der Ver- men die europåischen Bçndnispartner weit- einten Nationen werden im Jahr 2050 in aus selbstbewusster als in den Jahrzehnten Asien immer noch fast 60 Prozent der Welt- des Kalten Krieges den Kurs der atlantischen bevælkerung leben, in Europa statt elf (2008) Gemeinschaft mit. Washingtons Pråferenz nur noch sieben Prozent der Menschheit. 6 In seit dem ersten Golfkrieg 1991 liegt zwar auf den Vereinigten Staaten wird die sinkende einer Ad-hoc-Bildung von Kriegsbçndnissen Bedeutung Europas wahrgenommen. Schon (¹coalition of the willingª), aber aus europåi- das zægerliche Eingreifen des US-Pråsidenten scher Sicht hat die Herabstufung des Atlanti- George Bush sen. angesichts der serbischen schen Bçndnisses in regionalen Kriegen einen Aggression auf dem Balkan war 1991/92auf groûen Vorteil: Nationale Vorbehalte gegen- die Neugewichtung der geopolitischen Inter- çber dem Einsatz der Streitkråfte kænnen essen der USA zurçckzufçhren. 7 ohne Verlust der Bçndnistreue reklamiert werden. West- und Mitteleuropa sind eine Insel des Friedens. Daran åndern auch Konflikte am Deutschland hat sich im Jahr 2003 demons- Rande zu Asien nichts, wie aktuell der rus- trativ dem Irak-Krieg verweigert. Ebenso hålt sisch-georgische Konflikt um die Provinzen unser Land seit 2002 die Beschrånkungen des Sçdossetien und Abchasien. Mit der Auswei- Bundeswehr-Einsatzes in Afghanistan auf- tung von NATO und Europåischer Union recht. Dennoch hat das atlantische Bçndnis (EU) nach Osten und der glçcklich verlaufe- keinen substantiellen Schaden genommen. nen Demokratisierung in Osteuropa sind die Washington ist viel zu sehr auf Lastenteilung zentralen Sicherheitsprobleme in Mitteleuro- und Stationierungsrechte angewiesen, als dass pa auf långere Sicht gelæst. Als im Februar die USA das ¹alte Europaª abstrafen kænn- 2008 der Kosovo seine Unabhångigkeit er- ten. Die berçhmt gewordene Unterscheidung klårte, fçhrte dies auf dem Balkan zu keinen des vormaligen US-Verteidigungsministers Erschçtterungen wie noch die Unabhångig- Donald Rumsfeld zwischen ¹altemª und keitserklårungen von Kroatien und Slowe- ¹neuem Europaª war nie mehr als eine vor- nien im Jahre 1991. Deutschland ist damit dergrçndige Rçge. 8 Verbale Provokationen vom vital bedrohten Frontstaat des Kalten åndern nichts an der von Machtressourcen Krieges in die Mitte dieser europåischen Insel bestimmten Kleiderordnung der internatio- nalen Politik. Den USA ist långst klar gewor- den, dass die amerikanische Weltmacht ohne 4 Vgl. James A. Baker, America in Asia: Emerging Deutschland und Frankreich auf wertvolle di- Architecture for a Pacific Community, in: Foreign Af- fairs, 70 (1991) 5, S. 4. 8 Vgl. Donald Rumsfeld, Briefing at the Foreign 5 Vgl. ebd., S. 11. Press Center, Washington DC, 22. 1. 2003, in: 6 Vgl. United Nations Database, World Population www.defenselink.mil/transcripts/transcript.aspx?trans Prospects, 2006, in: http://esa.un.org/unpp (21. 8. criptid=1330 (18. 8. 2008); ders., The Marshall 2008). Center 10th Anniversary, Garmisch, 11. 6. 2003, in: 7 Vgl. James A. Baker, Drei Jahre, die die Welt verån- www.defenselink.mil/speeches/speech.aspx?speechid= derten. Erinnerungen, Berlin 1996, S. 637. 451 (18. 8. 2008).

APuZ 43/2008 35 plomatische, finanzielle und militårische Un- Die Bush-Administration hat das neue euro- terstçtzung verzichten mçsste. ¹Amerika hat påische Selbstbewusstsein beim NATO-Gip- keinen besseren Partner als Europaª, schmei- fel im April 2008 in Bukarest zåhneknir- chelte der demokratische Pråsidentschafts- schend akzeptieren mçssen. Nicht einmal die kandidat Barack Obama bei seiner Rede am Nuklearstrategie, çber Jahrzehnte hinweg das Berliner Tiergarten. 9 zentrale Konfliktfeld in den transatlantischen Beziehungen, ist heute noch ein Streitthema. Das ¹alte Europaª genieût durch die Bei- Mittlerweile verfçgen die US-Streitkråfte auf standsklausel des NATO-Vertrages und die dem europåischen Kontinent nur noch çber fortgesetzte Stationierung amerikanischer ein Abschreckungspotential von 200 bis 350 Truppen auf deutschem Boden eine unschåtz- Freifallbomben fçr ihre Kampfflugzeuge F- bar wertvolle Stabilitåt. Das russische Vorge- 15 und F-16, davon lediglich 20 Kernwaffen hen in Georgien hat den strategischen Wert auf deutschem Boden (US-Luftwaffenstçtz- der amerikanischen Schutzgarantie drama- punkt Bçchel in der Eifel). 12 Das Risiko tisch in Erinnerung gerufen. Auf Grund der eines atomaren Krieges ist minimiert. Beide stabilen Entwicklung von Demokratie und amerikanischen Pråsidentschaftskandidaten Marktwirtschaft sichert die transatlantische haben sich zudem fçr eine vællige nukleare Verbindung unseren Kontinent auf Dauer in Abrçstung ausgesprochen. 13 Die Gefahr einer Øra des Friedens. Noch nie haben ent- eines Atomkrieges, die çber Jahrzehnte wickelte Demokratien gegeneinander Krieg hinweg der Spaltpilz des Atlantischen Bçnd- gefçhrt. 10 Eine schrittweise Integration der nisses war, ist heute gebannt. Fçr die euro- neuen Demokratien Osteuropas in die EU påische Sicherheit bietet das Atlantische und die NATO kænnte fçr Europa ein Jahr- Bçndnis in Europa nur Vorteile. Die Kon- hundert des ¹demokratischen Friedensª ein- fliktfelder liegen auûerhalb unseres Konti- leiten. 11 Das Atlantische Bçndnis stellt nur nents, vor allem in Asien. Das pazifische Jahr- noch die Versicherung vor plætzlichen Bedro- hundert wird aus deutscher Sicht von der Ver- hungen durch das Auftauchen neuer Tyran- suchung geprågt sein, aus unserem Land eine nen dar. So haben die Luftangriffe der NATO groûe Schweiz zu machen: Geschåfte ja, Ver- 1995 und 1999 die serbische Fçhrung unter antwortung nein! Pråsident Slobodan MiloÉevic entscheidend zum Rçckzug aus Bosnien und aus dem Ko- sovo gezwungen. Die Zukunft der NATO

Berlin befindet sich mit der heutigen Die Atlantische Allianz wurde 1949 als ein Machtverteilung innerhalb der atlantischen Verteidigungsbçndnis zum Schutze Europas Gemeinschaft in einer komfortablen Situati- gegrçndet. Mit dem Ende des Ost-West-Kon- on. Ohne die Zustimmung der Europåer kæn- fliktes ist die territoriale Beschrånkung obso- nen die USA keine Erweiterung des Bçndnis- let geworden. In Europa kann sich keine Mi- ses an den Grenzen Russlands vornehmen. litårmacht der Erde einen Angriff auf ein Bçndnismitglied der NATO leisten. Die Ûbermacht der Atlantischen Allianz ist auf 9 Barack Obama, A World That Stands As One. Re- Grund der amerikanischen Schutzgarantie marks at Berlin, 24. 7. 2008, in: www.barackobama. com/2008/07/24/remarks_ of_senator_ barack_ obam_ çberwåltigend. Aus diesem Grunde drången 97. php (18. 8. 2008). die ehemals kommunistischen Staaten an der 10 Es existieren allerdings Beispiele fçr junge Demo- kratien in den ersten Jahren ihrer Staatsgrçndung bzw. 12 Nach Hans Kristensen, USAF Report: ,Most` Nu- fçr konstitutionelle Monarchien, die miteinander clear Weapon Sites in Europe Do Not Meet U.S. Secu- Krieg gefçhrt haben: USA/Frankreich 1796±98; USA/ rity Requirements, in: www.fas.org/blog/ssp/2008/06/ Groûbritannien 1812±14; Peru/Ecuador 1941; Groû- usaf-report-% e2%80%9cmost% e2%80%9d-nuclear - britannien/Finnland 1941; vgl. Michael W. Doyle, weapon-sites-in-europe-do-not-meet-us-security-requi Kant, Liberal Legacies, and Foreign Affairs, in: Philo- rements.php (17. 8. 2008). sophy & Public Affairs, 12(1983) 3, S. 213,Fn. 7; John 13 Vgl. Barack Obama, Statement on Call for World M. Owen, How Liberalism produces Democratic Pea- Without Nuclear Weapons, 17. 1. 2008, in: www. ce, in: International Security, 19 (1994) 2, S. 104, 110; barackobama.com/2008/01/17/statement_on_call_for_ Werner Link, Die Neuordnung der Weltpolitik, Mçn- world_wi.php (20. 8. 2008); John McCain, Remarks chen 20013,S.25. on Nuclear Security, Denver, 27. 5. 2008, in: 11 Zum ¹demokratischen Friedenª vgl. auch den Bei- www.johnmccain.com/Informing/News/Speeches/e9c trag von Harald Mçller in diesem Heft. 72a28-c05c-4928-ae29±51f54de08df3.htm (20. 8. 2008).

36 APuZ 43/2008 Peripherie Russlands in die NATO. Långst Aufgaben ergeben, denen sich Washington sucht sich das Bçndnis unter amerikanischem nicht verweigern kann. Fçr die Vereinigten Druck seine neuen Aufgaben jenseits des tra- Staaten kommt es entscheidend darauf an, ditionellen Verteidigungsbereiches. Das wich- Europa weiter in der weltpolitischen Verant- tigste Konfliktgebiet im 21. Jahrhundert ist wortung zu halten und damit in die Konflikte Asien. des asiatischen Kontinents zu verstricken. Vor diesem Hintergrund fordert der republi- Die amerikanische Weltmacht ist auch im kanische Pråsidentschaftskandidat John pazifischen Jahrhundert die gestaltende Kraft McCain den Aufbau einer ¹League of Demo- der internationalen Politik. Die USA werden craciesª (in Anlehnung an den Vælkerbund, mindestens bis zum Jahr 2050 die græûte die ¹League of Nationsª). 16 Im pazifischen Volkswirtschaft der Erde bleiben. Wahr- Jahrhundert strebt die amerikanische Politik scheinlich werden die hohen Wachstumsraten nach einer neuen Lastenteilung in einer Welt- Chinas dem Gesetz vom abnehmenden gemeinschaft der Demokratien unter ameri- Grenzertrag folgen und sich den durch- kanischer Fçhrung. Die NATO ist der Mi- schnittlichen Wachstumsraten der restlichen krokosmos dieser amerikanischen Vision. Welt annåhern. Dann wçrde die weltwirt- schaftliche Fçhrungsposition der Vereinigten Staaten, die heute knapp ein Drittel des welt- Die zentrale Front weiten Bruttoinlandsproduktes erwirtschaf- ten, 14 bis weit in die zweite Hålfte des Jahr- Das Konfliktpotential entfaltet sich gegen- hunderts hinein erhalten bleiben. Deutlich wårtig in seiner ganzen Brisanz in Afghanis- långer dçrfte sich die militårische Ûberlegen- tan. Im Grenzgebiet zu Pakistan sind die heit der USA gegençber allen anderen Staaten Feinde der westlichen Demokratie auf dem auf der Welt fortsetzen. Die Vereinigten Staa- Vormarsch. Ihr Widerstand wird genåhrt ten bestreiten alleine rund 45 Prozent der durch einen stockenden Wiederaufbau, durch weltweiten Militårausgaben. 15 Ihre dritte be- den sich Armut und Korruption in Afghani- deutende Machtressource liegt allerdings in stan kaum bekåmpfen lassen. Ohne die Euro- der Bçndnisbildung, an erster Stelle mit den påer geht es nicht. Die NATO-Partner unter- europåischen Demokratien im Rahmen der stçtzen seit den Terroranschlågen vom 11. NATO. Die militårische Dominanz der US- September 2001 die Operation ¹Enduring Streitkråfte hångt auch von der Lastenteilung, Freedomª mit dem Ziel einer weltweiten Zer- den Stationierungsrechten und den militåri- schlagung von al Qaida und der Taliban am schen Beitrågen der europåischen Verbçnde- Hindukusch. Nach dem Rçcktritt des paki- ten ab. Deshalb spielt das Atlantische Bçnd- stanischen Pråsidenten Pervez Musharraf und nis eine zentrale Rolle fçr die amerikanische dem bevorstehenden Amtswechsel im Wei- Weltpolitik bis in den asiatischen Kontinent ûen Haus werden sich die amerikanisch-briti- hinein. Eine ¹Verschweizerungª der Europå- schen Operationen zunehmend auf das paki- er wçrde fçr die amerikanische Auûenpolitik stanische Gebiet ausdehnen. Der Pråsident- zu gravierenden Problemen fçhren. schaftsbewerber Barack Obama hat deutlich dafçr plådiert: ¹Die zentrale Front im Krieg Deutschland kann sich aus Konflikten in gegen den Terror ist nicht der Irak und er ist Asien heraushalten. Das ist das Glçck der es nie gewesen. Was konnten sich Amerikas europåischen Insellage. Fçr die Weltmacht Feinde mehr wçnschen als einen endlosen USA ist die eigene Hegemonie insofern ein Krieg, in dem sie neue Anhånger rekrutieren Fluch, als sich aus der Verlagerung des Gravi- und neue Einsatztaktiken auf dem Schlacht- tationszentrums der Weltpolitik nach Asien feld so weit weg von ihrer Operationsbasis erproben? Das ist es, warum meine Pråsident- 14 Im Jahr 2006 betrug das BIP der USA 13,2 Billionen schaft den Fokus verschieben wird. Statt US-Dollar und das kumulierte BIP der Welt 48,2Bil- einen Krieg zu kåmpfen, der nicht gekåmpft lionen US-Dollar; vgl. IMF Database, in: http:// imf.org/external/pubs/ft/weo/2007/02/weodata/down 16 Vgl. John McCain, An Enduring Peace Built On load.aspx (18. 8. 2008). Freedom, in: Foreign Affairs, 86 (2007) 6, S. 25 f.; ders., 15 Vgl. die Military Expenditure Database des U.S. Foreign Policy: Where We Go From Here. Ad- Stockholmer Friedensforschungsinstitutes sipri, in: dress to the World Affairs Council, Los Angeles, www.sipri.org/contents/milap/milex/mex_database1.html 26. 3. 2008, S. 2, in: www.lawac.org/speech2007± (18. 8. 2008). 08McCain,%20John%202008.pdf (18. 8. 2008).

APuZ 43/2008 37 werden muss, mçssen wir damit beginnen, den Wunsch nach einem stårkeren Engage- die Schlachten zu kåmpfen, die an der zentra- ment der Europåer, insbesondere Deutsch- len Front im Krieg gegen al Qaida in Afgha- lands, im afghanischen Konfliktgebiet geåu- nistan und Pakistan gewonnen werden mçs- ûert. 18 Seine Berliner Schmeichelei, Amerika sen. (. . .) Wir kænnen kein Rçckzugsgebiet habe keinen besseren Partner als Europa, låsst fçr Terroristen, die das amerikanische Hei- sich auch als Aufforderung zu einer neuen matland und Pakistans Stabilitåt bedrohen, Lastenteilung verstehen. Die Vereinigten tolerieren. Wenn wir ausreichende Aufklå- Staaten fçhren seit den Terroranschlågen vom rungsergebnisse çber hochrangige Ziele von 11. September 2001 einen Krieg gegen den al Qaida in der pakistanischen Grenzregion Terror, dessen Frontverlauf quer durch den haben, sollten wir handeln, falls Pakistan es asiatischen Kontinent bis hinein nach Nord- nicht will oder nicht kann.ª 17 afrika fçhrt. Der Krisengçrtel von Marokko çber den Nahen und Mittleren Osten bis Die technologische Ûberlegenheit der US- nach Pakistan und Afghanistan hat sich zur Streitkråfte und die weltweite Unterstçtzung weltpolitischen Bedrohungsfront entwickelt. durch die europåischen Bçndnispartner er- Die europåischen Regierungen sollten inner- mæglichen schnelle militårische Siege rund halb des Atlantischen Bçndnisses genau dar- um den Globus. Der politische Wiederaufbau auf achten, in welche Konflikte sie sich bege- nach dem Krieg gleicht hingegen einer Chro- ben und mit welchen politischen Strategien nik des Scheiterns, die 1991 nach dem ersten sie Konflikte læsen wollen. Die Solidaritåt im Golfkrieg begann und sich bis heute fortsetzt. Bçndnis sollte stets an klare Bedingungen ge- Die militårische Hegemonie der USA findet knçpft werden. im notwendigen Aufbau politischer Struktu- ren ihre Grenze, an der sie ein ums andere Die Perspektive Washingtons ist eine Mal scheitert. Mittlerweile gehen die Bemç- grundlegend andere als unsere: ¹Die Verei- hungen der internationalen Staatengemein- nigten Staaten glauben, dass sie eine Nation schaft um die Zerschlagung der islamistischen im Krieg sindª, fçhrte der amtierende CIA- Kampfverbånde in Afghanistan in das achte Direktor Michael V. Hayden aus. ¹Ein Krieg, Jahr. Die Angriffsaktionen der amerikani- der in seiner Reichweite global ist und als schen und britischen Kampftruppen im Voraussetzung fçr den Sieg erfordert, dass Grenzgebiet zu Pakistan entziehen sich der wir den Kampf zu unserem Feind tragen, wo Einflussnahme durch die NATO-Partner. immer er auch sein mag. Solche Såtze werden Die seit dem Januar 2002 eingesetzte ISAF- von unseren europåischen Verbçndeten kaum Truppe wird zunehmend in Kriegshandlun- geteilt.ª 19 gen verwickelt. Mit der Ûbernahme des ISAF-Oberkommandos durch die NATO im Die deutsche Auûen- und Sicherheitspoli- August 2003 sowie der Ausweitung des Ein- tik hat folglich die Wahl: Sie kann sich ¹ver- satzgebietes auf das ganze Land haben sich schweizernª und damit auf Dauer das Ende die Verbçndeten tief in den Konflikt ver- der NATO riskieren oder rçckwårtsgewandt strickt. Je stårker sich die amerikanisch-briti- Bçndnistreue mit Kadavergehorsam ver- schen Operationen auf die Basis der Feinde wechseln. Eine aufgeklårte Bçndnispolitik im im pakistanischen Grenzgebiet konzentrie- pazifischen Jahrhundert wåre jedoch ein Kurs ren, desto mehr çbernehmen die 53 000 Sol- der kritischen Solidaritåt mit Amerika. Die daten der ISAF-Truppe selbst die Verantwor- Bundesregierung wçrde sich in deutschem tung fçr die Sicherheit in den umkåmpften Interesse einer Ausdehnung des Bundeswehr- Gebieten Afghanistans. Einsatzes in Afghanistan entziehen. Ein offe- ner Kampf am Hindukusch kænnte schnell Die Bundeswehr-Einheiten werden immer Signalwirkung fçr einen Zusammenprall der wieder in offene Kåmpfe mit Taliban, al Zivilisationen entfalten. Daran kann Qaida und Einheiten des Warlords Gulbud- Deutschland in seiner ruhigen Insellage kein din Hekmatjar geraten. Der demokratische Pråsidentschaftskandidat Barack Obama hat 18 Vgl. Jeff Mason, Obama says Europe must do more in Afghanistan, Reuters, 29. 2. 2008, in: 17 Barack Obama, Speech on Iraq in Fayetteville, 19. 3. www.reuters.com/article/asiaCrisis/idUSN28640893? 2008, in: www.cfr.org/publication/15761/obamas_ rpc=28 (20. 8. 2008). speech_ on_iraq_march_2008.html (20. 8. 2008). 19 M.V. Hayden (Anm. 2).

38 APuZ 43/2008 Interesse haben. Ein politischer Wiederauf- Tabelle: Handelsbilanzdefizite der USA im Jahr 2007 bau mit Rçckzugstermin bis 2011 ist in Af- (in Mrd. US-Dollar) ghanistan ebenso notwendig wie im Irak. Handelspartner Defizit China 256 Der Aufstieg Chinas Japan 83 Mexico 74 Kanada 65 Dennoch wåre es ein fataler Fehler, wenn die Deutschland 45 Europåer auf einen isolationistischen Kurs Venezuela 30 verfielen. Gute Geschåfte werden auf Dauer Nigeria 30 nur bei Ûbernahme politischer Verantwor- Saudi-Arabien 25 tung zu machen sein. Seit dem Zeitalter des Malaysia 21 Imperialismus folgt der Handel der Fahne. Italien 21 Zwar ist die politische Machtausdehnung Quelle: U.S. Department of Commerce, Census Bureau, Top Ten heute nicht mehr mit der Eroberung und Be- Countries with which the U.S. has a Trade Deficit, Washington setzung fremder Territorien verbunden, aber DC, December 2007, in: www.census.gov/foreign-trade/top/dst/ politische Einflussnahme geht nach wie vor 2007/12/deficit.html (20. 8. 2008). der wirtschaftlichen Kooperation voraus. Die Entwicklungshilfe hat deshalb eine strategi- Grafik: US-Handelsbilanzdefizit mit China, sche Bedeutung fçr die deutsche Auûenpoli- 1998±2007 (in Mrd. US-Dollar) tik und den deutschen Handel. Fçr die Verei- nigten Staaten sind Japan, China und auf lån- 300 gere Sicht auch Indien die zentralen Partner. China ist bei einem Handelsvolumen von 387 250 Milliarden Dollar im Jahr 2007 bereits der 200 zweitgræûte Handelspartner der USA, çber- 150 troffen nur noch vom Nachbarn Kanada. 20 Gleichzeitig çberragt das bilaterale Defizit 100 der Vereinigten Staaten mit China mit weitem 50 Abstand das Minus der USA mit jedem ande- ren Land (Tabelle). Das zweite groûe Han- 0 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 delsproblem der USA liegt ebenfalls im pazi- fischen Raum ± in Gestalt des Bçndnispart- Quelle: U.S. Department of Commerce, Census Bureau, Top Ten ners Japan. Das bilaterale Defizit mit China Countries with which the U.S. has a Trade Deficit, Washington ist infolge der zunehmenden Senkung der DC, December 1998 ff., in: www.census.gov (18. 8. 2008); eigene Zollsåtze und der Globalisierung der Wirt- Darstellung. schaftsbeziehungen seit dem WTO-Beitritt Chinas im Jahr 2001 kontinuierlich angestie- gegen Produktpiraterie. Fçr die EU wird es gen (Grafik). Nach den Pråsidentschaftswah- in Zukunft entscheidend darum gehen, mit len werden die amerikanisch-chinesischen der amerikanischen Einflussnahme in Asien Wirtschaftsbeziehungen oberste Prioritåt fçr Schritt zu halten. Die US-Auûenpolitik er- die neue Administration genieûen. kennt in China heute weit mehr den dynami- schen Wachstumsmarkt als eine mægliche mi- Sowohl China als auch Japan bedienen sich litårische Bedrohung. Der Koordinator der aus amerikanischer Sicht unfairer Handels- amerikanischen Geheimdienste, J. Michael praktiken. Seit dem Japan-Besuch von Pråsi- McConnell, hat in einer Stellungnahme vor dent George Bush sen. im Januar 1992, bei dem US-Kongress eine militårische Bedro- dem eine Delegation amerikanischer Auto- hung durch China verneint: Das Reich der mobilmanager zum Gefolge gehærte, mahnt Mitte strebe nicht nach territorialer Expansi- Washington immer wieder eine stårkere Úff- on, sondern nach wirtschaftlichem Erfolg nung des japanischen Marktes fçr amerikani- und weltweitem Marktzugang. 21 sche Produkte an. Im Falle Chinas konzen- trieren sich die Forderungen auf Maûnahmen 21 Vgl. J. Michael McConnell, Annual Threat Assess- 20 Vgl. Top Ten Countries with which the U.S. Trades, ment of the Director of National Intelligence for the December 2007, in: www.census.gov/foreign-trade/ Senate Armed Services Committee, Washington DC, top/dst/2007/12/balance.html (20. 8. 2008). 27. 2. 2008, S. 31, in: www.armed-services.senate.gov/

APuZ 43/2008 39 Eine Bedrohung entsteht langfristig nur, wirtschaft. Seither streben die USA nach wenn die Kooperation mit dem Westen schei- einer engeren Kooperation mit den asiati- tert. Die Verschiebung des weltpolitischen schen Wirtschaftsmåchten und einer zuneh- Gravitationszentrums nach Asien bedeutet menden Marktæffnung im pazifischen Raum. auch aus Sicht von Henry Kissinger, dass die Im November 1993 versammelte US-Pråsi- Vereinigten Staaten entweder mit Peking auf dent Bill Clinton erstmals 15 asiatische Dauer kooperieren oder in einen neuen Kon- Staatschefs in Seattle zur Tagung der Staats- flikt im Stile des Kalten Krieges geraten wer- und Regierungschefs der APEC. Im Jahr dar- den. 22 Washington setzt auf die Zusammen- auf verabschiedete die Gemeinschaft im indo- arbeit. Die Kooperationsbereitschaft wird nesischen Bogor feierlich das Ziel, bis zum von der Erfahrung getragen, dass durch wirt- Jahr 2010 eine Freihandelszone innerhalb der schaftliche Zusammenarbeit und kulturelle industrialisierten APEC-Staaten zu bilden Úffnung autoritåre Regime langsam von und bis zum Jahr 2020 die Entwicklungslån- innen heraus aufweichen. Tatsåchlich doku- der in der APEC an die Freihandelszone an- mentieren die innenpolitischen Verånderun- zuschlieûen. 23 Allerdings kam die APEC im gen Chinas seit den 1979 begonnenen Wirt- Gegensatz zur EU çber den Aufbau inter- schaftsreformen unter Deng Xiao Ping den gouvernementaler Strukturen nie hinaus. Erfolg des Wandels durch Annåherung. Fazit Die pazifische Wirtschaftsgemeinschaft In Asien hat mit dem Ende des Kalten Krieges Das atlantische Zeitalter wurde getragen von das neue Konzert der Måchte begonnen. An- einer staatençbergreifenden Kooperation, die gesichts der enormen wirtschaftlichen Dyna- zum Teil supranationale Zçge annahm und mik im pazifischen Raum haben auch die EU- im Falle der europåischen Integration ihren Staaten ein vitales Interesse daran, nicht nur Endpunkt an Vergemeinschaftung noch nicht auf den Rången Platz zu nehmen. Ihre ækono- erreicht haben dçrfte. In Asien hingegen ist mische Teilhabe wird letzten Endes nur bei ein strukturelles Problem der amerikanischen einer sicherheitspolitischen Lastenteilung mit Auûenpolitik das weitgehende Fehlen einer den USA in Asien gelingen. Zugleich sichert kontinentçbergreifenden Integration der Na- sich Westeuropa als Insel des Friedens und des tionalstaaten. Fçr Washington bedeutet der relativen Wohlstands mit dem Atlantischen Mangel an internationalen Organisationen im Bçndnis als bewåhrtem Instrument der Frie- pazifischen Raum die zeitaufwåndige Pflege denssicherung gegen Unwågbarkeiten ab. Ge- zahlreicher bilateraler Beziehungen. Gemein- gençber den Jahrzehnten des Ost-West-Kon- same Institutionen wçrden mehr Stabilitåt fliktes kænnen die Europåer heute innerhalb auf dem asiatischen Kontinent und direkten der NATO weit stårker ihre Interessen vertre- Einfluss der Weltmacht USA bedeuten. Seit ten. Eine Ausdehnung des europåischen Enga- dem Ende des Ost-West-Konfliktes verfolgen gements innerhalb der ISAF in Afghanistan die USA das Ziel einer wirtschaftlichen Inte- zum Beispiel sollte mit einer klaren Forderung gration des pazifischen Raumes. In einer nach programmatischem Wandel einhergehen. Wirtschaftsgemeinschaft mit Asien kænnten Das Land am Hindukusch benætigt Entwick- die USA ihren hegemonialen Einfluss står- lungshilfe und einen zçgigen Ûbergang in die ken. Die Groûmåchte China und Japan ste- Eigenståndigkeit. Auf Dauer stationierte Be- hen kontinentçbergreifenden Institutionen satzungstruppen fçhren in ein Fiasko. Die skeptisch gegençber, da sie ihren auûenpoliti- amerikanische Auûenpolitik hat die Lektion schen Einfluss gerade in bilateralen Bezie- bereits in Vietnam gelernt. Der Irak-Krieg hat hungen stårker zur Geltung bringen kænnen. einmal mehr gezeigt, dass Erfahrung noch lange nicht klug macht. Aus amerikanischer Sicht war das Ziel der im November 1989 in Canberra gegrçndeten Asian Pacific Economic Cooperation 23 Vgl. APEC Common Leaders' Declaration of (APEC) die Integration Chinas in die Welt- Common Resolve, Bogor, 15. 11. 1994, in: www.apec.org/apec/leaders__declarations/1994.html statemnt/2008/February/McConnell%2002-27-08.pdf (14. 8. 2008). (11. 8. 2008). 22 Vgl. H. Kissinger (Anm. 1), S. A14.

40 APuZ 43/2008 Harald Mçller chen Ûberlegenheitsgefçhls bedeutete.(Jede Ideologie beinhaltet ihren eigenen Superiori- tåtskomplex, und die westlich-liberale stellt Der ¹demokrati- dabei keine Ausnahme dar, wenngleich auch aus Sicht des Autors mit besseren Grçnden als andere.) Ûberlegenheitsgefçhle sind aber nicht sche Friedenª unbedingt ein guter Ratgeber fçr Politik ge- gençber Akteuren auûerhalb der vermeintlich und seine auûen- çberlegenen Gemeinschaft.Sie kænnen hæchst unangenehme Auswirkungen zeitigen, stoûen sie auf ein materielles Unterlegenheitsgefçhl politischen auf der anderen Seite.Angesichts der wirt- schaftlichen und insbesondere der militåri- schen Superioritåt des Westens, der zusammen Konsequenzen drei Viertel der weltweiten Militårausgaben bestreitet, kænnte diese Wirkung weltpolitisch fatal sein.Darum und um mægliche Korrektu- emokratien fçhren keine Kriege gegen- ren geht es in diesem Aufsatz. D einander, oder jedenfalls ¹fastª keine. Dieser statistische Befund ist ziemlich robust Auûenpolitische Zielsetzungen gegençber Verånderungen in den Definitio- nen von ¹Demokratieª und von ¹Kriegª. 1 Wenn Demokratien keine Kriege fçhren und Demokratien erfreuen sich çberdies im Hungersnæte vermeiden wçrden, dann wåre Durchschnitt græûe- eine ausschlieûlich demokratisch verfasste Harald Mçller ren Wohlstands, ver- Welt eine nahezu paradiesische Veranstaltung. Dr. phil, geb. 1949; geschäfts- meiden erfolgreich Der Wunsch, die Demokratie weltweit auszu- führendes Vorstandsmitglied Hungersnæte, 2 bieten breiten, ist daher verståndlich ± er ist, wenn der Hessischen Stiftung Frie- ihren Bçrgerinnen man so will, eine Neubelebung des jahrhun- dens- und Konfliktforschung und Bçrgern mehr dertealten westlichen Missionarstums.So ist (HSFK) und Professor für Inter- Freiheit und lassen nationale Beziehungen an der sich eher auf interna- Der Autor dankt Jonas Wolff fçr die hilfreichen Kom- Goethe-Universität Frankfurt; tionale Organisatio- mentare. HSFK, Leimenrode 29, nen und auf die 1 Vgl.Bruce Russett/John R. Oneal, Triangulating 60322 Frankfurt am Main. Rechtsbindung in in- Peace.Democracy, Interdependence, and International [email protected] ternationalen Vertrå- Organization, New York±London 2001; Paul Huth/ Todd L.Allee, The Democratic Peace and Territorial gen ein als Staaten mit Conflict in the Twentieth Century, Cambridge 2002. anderen Regierungsformen; 3 dies sind natçr- 2 Vgl.Amartya Sen, Democracy as a Universal Value, lich Durchschnittswerte, von denen es Ab- in: Journal of Democracy, 10 (1999) 3, S.3±17. weichungen gibt.Aber die Nachricht ist 3 Vgl.Charles Lipson, Reliable Partners. How De- ziemlich klar: Demokratien bieten eine ver- mocracies Have Made a Separate Peace, Princeton gleichsweise bessere Form von ¹Good Gover- 2003. 4 Vgl.Anna Geis, Diagnose Doppelbefund ± Ursache nanceª als andere Systeme. ungeklårt? Die Kontroverse um den ¹demokratischen Friedenª in: Politische Vierteljahresschrift, 42 (2001) 2, Im Folgenden mæchte ich mich nicht mit 142±169; Anna Geis/Wolfgang Wagner, Vom ¹demo- der wissenschaftlichen Debatte çber die Grçn- kratischen Friedenª zur demokratiezentrierten Frie- de auseinandersetzen. 4 Mir geht es vielmehr dens- und Gewaltforschung, in: Politische Viertel- um die politischen Folgerungen, die aus den jahresschrift, 47 (2006) 2, 276±309; Harald Mçller/ Jonas Wolff, Democratic Peace: Many Data, Little Ex- genannten Befunden zu ziehen sind.Diese planation?, in: Anna Geis/Lothar Brock/Harald Mçl- eher praktische Frage ist sehr wichtig.Denn ler (eds.), Democratic Wars. Looking at the Dark Side wie kaum ein anderes Ergebnis politikwissen- of Democratic Peace, Houndmills 2006, S.41±73. schaftlicher Forschung ist die relative Ûberle- 5 Vgl.Piki Ish-Shalom, Theory as a Hermeneutical genheit der demokratischen Regierungsform Mechanism: The Democratic-Peace Thesis and the zu einer der Grundlagen westlicher Politik ge- Politics of Democratization, in: European Journal of International Relations, 12 (2006) 4, S.565±598; Tony 5 worden. Dabei spielt sicher eine Rolle, dass Smith, A Pact with the Devil.Washington's Bid for der akademische Befund Wasser auf die Mçh- World Supremacy and the Betrayal of the American len eines çberdies schon ausgedehnten westli- Promise, New York±London 2007.

APuZ 43/2008 41 Demokratiefærderung als ein erstrangiges Demokratiefærderung steht also stets in Ziel in die westliche Auûen- und Entwick- Konkurrenz mit anderen auûen- und sicher- lungspolitik eingegangen.In nichtdemokrati- heitspolitischen Belangen.Das wirkt zum schen Låndern eine demokratiefreundliche Teil sehr scheinheilig und zynisch, zum Teil Zivilgesellschaft zu færdern, Menschenrechts- reflektiert es einfach ein unlæsbares politi- verletzungen gegebenenfalls auch mit Sank- sches Dilemma.Dennoch kann konstatiert tionen einzudåmmen, çber die Konditionie- werden, dass diese Politik heute in hæherem rung von Entwicklungshilfe Demokratisie- Maûe als je zuvor einen unbestrittenen Platz rungsprozesse mehr oder weniger sanft zu auf der auûenpolitischen Agenda praktisch erzwingen, friedenserhaltende Missionen aller westlicher Demokratien behauptet. 7 nach Bçrgerkriegen (oder Kriegen) mit dem Aufbau demokratischer Strukturen zu kom- binieren ± all das ist heute gångige Praxis Wir und ¹die Anderenª westlicher Politik.Diese Verfahren sind als Leitlinien auch in internationalen Organisa- Die Teilung der Welt in ¹Demokratienª und tionen durchgesetzt worden, und sie genieûen ¹Nichtdemokratienª ist ± wie alle Polarisie- hierzulande breite, çberparteiliche und gesell- rungen zwischen ¹unsª und ¹denenª ± poli- schaftliche Unterstçtzung. tisch hæchst problematisch.Erinnert sei daran, dass die Praxis der Zweiteilung, des Freilich wåre es çbertrieben, in ihr das do- Ein- und des Ausschlusses, eine lange Ge- minierende Politikziel zu sehen.Dazu ist die schichte hat (und natçrlich nicht nur im Palette auûenpolitischer Interessen dann doch westlichen Lager, sondern auch anderswo zu vielfåltig.Manche Nichtdemokratien wer- intensiv stattfindet): Die Christenheit und den als ¹Partner im Krieg gegen den Terrorª die Heiden, der ¹weiûe Mannª und die ¹un- gebraucht, weshalb die Stabilitåt dieser Regime zivilisierten Wildenª, die ¹freie Weltª und erwçnscht ist und durch Demokratisierungs- der Totalitarismus ± und heute eben ¹the prozesse oder gar eine demokratische Revolu- westª und ¹the restª: In all diesen Entge- tion nicht riskiert werden soll.Auch hat die gensetzungen diente bzw.dient der ¹Ande- Erfahrung ernçchtert, dass von der Autokratie reª als Feindbild, der das eigene Lager zu- befreite Vælker oft genug die Neigung haben, sammenschweiûen soll.Håufig stellte er die die ¹Falschenª in Regierungsåmter zu wåhlen; Gefahr dar, gegen die man das ¹Pulver tro- man denke an die westliche Entrçstung çber cken halten mussteª.Im heutigen westli- die Wahlsiege der ¹Islamischen Heilsfrontª chen, namentlich im amerikanischen Diskurs FIS in Algerien, der Hamas in Palåstina, Mah- zeichnet sich diese Zweiteilung einmal mehr mud Ahmadinedjads im Iran oder auch von ab. Hugo Chavez in Venezuela.In anderen Fållen fçhren wirschaftliche Interessen dazu, dass Samuel Huntington hat im ¹Kampf der çber undemokratische Regierungsformen und Kulturenª 8 den Startschuss gegeben, und die Menschenrechtsverletzungen hinweggesehen immer stårkere Thematisierung des Gegen- wird.Rohstoffreiche Lånder sind çberwiegend satzes von Demokratie und Nichtdemokratie nicht demokratisch.Gleichwohl kommt der drångt zur Auflæsung von Differenzierungen, Westen nicht umhin, mit ihnen Handel zu trei- die weltpolitisch bitter nætig sind.Schon wird ben und wçnscht sich nichts so sehr wie stabile auf die Kollaboration zwischen den ¹Schur- Verhåltnisse dort.Anderswo ± beispielsweise kenstaatenª Iran, Sudan, Birma einerseits und in Lateinamerika ± hat die Mobilisierung China und Russland andererseits hingewie- zuvor marginalisierter Bevælkerungsgruppen sen.Kein Geringerer als Henry Kissinger hat Regierungen an die Macht gebracht, die Glau-

benssåtze westlicher Wirtschaftspolitik in den 7 Vgl.Hans-Joachim Spanger/Jonas Wolff, Univer- Wind schlagen und stattdessen linkssozialde- sales Ziel ± partikulare Wege? Externe Demo- mokratische Wohlfahrtsprogramme verfolgen, kratiefærderung zwischen einheitlicher Rhetorik und gelegentlich auch zum Nachteil westlicher vielfåltiger Praxis, in: Anna Geis/Harald Mçller/ Unternehmen und des ¹Investitionsklimasª. 6 Wolfgang Wagner (Hrsg), Schattenseiten des demo- kratischen Friedens.Zur Kritik einer Theorie liberaler Auûen- und Sicherheitspolitik, Frankfurt/M.2007, 6 Vgl.Jonas Wolff, Turbulente Stabilitåt. Die Demo- S.261±286. kratie in Sçdamerika diesseits ferner Ideale, Baden- 8 Samuel P.Huntington, Der Kampf der Kulturen. Baden 2008. The Clash of Civilisations, Mçnchen 1996.

42 APuZ 43/2008 jçngst vor einer Dåmonisierung der Russi- auûen transportieren, wird Nichtdemokratien schen Fæderation im Politikdiskurs seines derselbe Mechanismus unterstellt ± nur dass Landes gewarnt. 9 der ¹Transportvorgangª dort Gewaltsamkeit ins internationale Umfeld einbringt.Sie wer- In der Wissenschaft von den Internationa- den als dementsprechend bedrohlich wahrge- len Beziehungen hat es eine intensive Debatte nommen, und diese Wahrnehmung schaukelt darçber gegeben, warum der ¹demokratische die Beziehungen hoch, die im Extremfall Friedeª statistisch nicht eine deutlich græûere eben kriegerisch eskalieren kænnen. 11 Friedfertigkeit der Demokratien insgesamt, sondern nur ihren auûergewæhnlichen Pazi- Diese Beobachtung ist im Einzelfall zwar fismus gegençber ihresgleichen beinhaltet. zutreffend, jedoch nicht zwingend.Demo- Denn im Ganzen sind sie ebenso kriegerisch kratien beobachten die selektive Aggressivitåt oder nur kaum messbar friedlicher als alle an- anderer Demokratien; sie nehmen sie also deren Staaten der Welt: Sie fçhren gegençber nicht durchgehend als friedlich wahr.Zu- Nichtdemokratien (fast) ebenso håufig Krieg gleich mçssen sie feststellen, dass unter den wie diese untereinander und gegen Demokra- Autokratien nur eine Minderheit jenseits der tien.Auf den ersten Blick erscheint das råtsel- Selbstverteidigung gewaltsam wird.Einen haft.Denn gemåû der in den Theoriedebatten Automatismus der Wahrnehmung ¹Demo- zum ¹demokratischen Friedenª am håufigs- kratie = friedlichª, ¹Nichtdemokratie = ge- ten genannten Argumente mçssten sich de- waltsamª wird demnach nicht durch das reale mokratische Staaten im Allgemeinen um Geschehen in den internationalen Beziehun- friedliche Beziehungen zu allen Partnern be- gen gestçtzt. mçhen, ungeachtet von deren Staatsform: Die Vælker der Demokratien, die ihre Auûenpoli- Auch verarbeiten Demokratien ihre Begeg- tik durch æffentliche Meinung und Wahlen nungen mit Nichtdemokratien im internatio- beeinflussen kænnen, scheuen die Risiken des nalen Raum ganz unterschiedlich.Manche Krieges ± so lautet eine wichtige Begrçndung. kommen sehr gut mit den ¹Anderenª aus, Sie ± wie auch ihre Politiker ± sind den libera- wåhrend einige Demokratien gegençber len Werten verpflichtet, unter denen die Nichtdemokratien eine ausgesprochen kon- Schonung von Menschenleben an oberster frontative Politik verfolgen.Damit erweisen Stelle steht.Auch das spricht gegen den Krieg sich die intersystemaren Beziehungen als ge- im Allgemeinen (auûer man wird zur Selbst- staltungsfåhig; die besondere Ausprågung des verteidigung gezwungen).Das dritte Argu- aufeinandertreffenden Staatenpaares (Demo- ment beinhaltet die Vermutung, dass die kratie/Demokratie; Demokratie/Nichtdemo- çberwiegend gewaltfreien Konfliktlæsungs- kratie; Nichtdemokratie/Nichtdemokratie) methoden innerhalb der Demokratie auf ist nur im ersten Falle weitgehend festgelegt, deren internationales Umfeld çbertragen wer- erfreulicherweise in Richtung Frieden.Fçr den: Wer zu Hause Interessenkonflikte lieber die beiden anderen Paartypen ist der friedli- durch Verhandlungen læst oder allenfalls vor che Pfad genauso mæglich wie der Weg in den Gericht geht oder Machtfragen in Wahlen Krieg.Daher variiert die Kriegsbeteiligung entscheidet, zieht das auch im Verkehr mit zwischen Demokratien auch enorm.Ausge- anderen Staaten vor. 10 sprochen ¹kriegsfreudigenª demokratischen Staaten stehen friedfertige gegençber; gleich- Eine zunåchst plausible Deutung des merk- falls finden sich in der Demokratiefærderung wçrdigen Widerspruchs zwischen demokrati- sowohl Ansåtze, die eher auf Pression und scher Kriegszustimmung und wechselseitiger Sanktion abstellen, als auch solche, die mehr demokratischer Friedfertigkeit låuft darauf auf Kooperation und sanfte Unterstçtzung hinaus, dass Nichtdemokratien als intern un- der Zivilgesellschaft bauen. 12 friedlich verstanden werden und daraus eine latente Bedrohung der Demokratien abgelei- 11 Vgl.Thomas Risse-Kappen, Wie weiter mit dem tet wird: Eben weil die Demokratien ihre ei- ¹demokratischen Friedenª?, in: Zeitschrift fçr Inter- gene gewaltfreie interne Konfliktlæsung nach nationale Beziehungen, 2 (1994) 2, S.367±379. 12 Vgl.Harald Mçller, The Antinomy of Democratic Peace, in: International Politics, 41 (2004) 4, S.494± 9 Vgl.Henry A. Kissinger, Unconventional Wisdom, 520; Sven Choinacki, Democratic Wars and Military in: International Herald Tribune vom 2.7.2008. Interventions, in: A.Geis/L.Brock/H.Mçller 10 Vgl.die Diskussion in H.Mçller/J.Wolff (Anm.4). (Anm.4), S.13±39; H.-J.Spanger/J.Wolff (Anm.7).

APuZ 43/2008 43 Die Pråsenz nichtdemokratischer Staaten Der Charme der ¹kosmopolitischen De- im internationalen Raum, allgemeiner: das mokratieª liegt in ihrer konsequenten An- Phånomen kultureller und politischer Hete- wendung des liberalen Politikprogramms. rogenitåt, 13 stellt die Demokratien vor ein Kompromisse mit dem Status Quo, welche strategisches Dilemma.Einerseits mçssen sie die Prinzipien dieses Programms verwåssern an einer Ordnung dieses Raums interessiert wçrden, gibt es nicht.Aus den Veræffentli- sein, andererseits kommen sie aufgrund des in chungen dieser Denkschule geht auch hervor, ihrer Weltanschauung verankerten Universa- dass es sich nicht um eine ferne Utopie, son- lismus nicht umhin, sich die weltweite Aus- dern um ein politisches Projekt handelt, das breitung ihrer liberalen Ideen, also die univer- auch unter heutigen Verhåltnissen zçgig und sale Demokratisierung zu wçnschen.Aus zielstrebig vorangetrieben werden soll. 15 Wer diesem Dilemma heraus sind mehrere Ord- indes die kosmopolitische Demokratie von nungsentwçrfe entstanden. einem liberalen Leitbild zu einem pragmati- schen politischen Projekt zu transferieren versucht, begibt sich unversehens in die di- ¹Kosmopolitische Demokratieª rekte Konfrontation mit all denen, die einem solchen Leitbild nichts abgewinnen kænnen. Die Idee der ¹kosmopolitischen Demokratieª ist in erster Linie eine Angelegenheit der poli- Darunter fallen nicht nur die so genannten tischen Philosophie und politischen Theorie: ¹Schurkenstaatenª Nordkorea, Iran oder Sy- Nicht der Staat, sondern das Individuum wird rien, die sich ausrechnen kænnen, dass sie als das Subjekt von Weltrecht und Weltpolitik noch mehr als schon heute die Parias einer betrachtet.Folgerichtig soll internationale solchen Ordnung wåren.Es fallen auch Staa- Ordnung als globale Demokratie gestaltet ten darunter, die als Nichtdemokratien oder werden.Gemåû der liberal-demokratischen auch als ¹defekte Demokratienª fçr die Her- Idee der Selbstgesetzgebung soll dabei jeder stellung und Erhaltung einer friedlichen Einzelne çber gewåhlte Repråsentanten an der Weltordnung ungeachtet ihrer Verfasstheit Gestaltung der Weltordnung, insbesondere an unverzichtbar sind, wie China, Russland, der Produktion internationalen und transna- Øgypten oder Malaysia.Die politischen Eli- tionalen Rechts beteiligt sein.Die ¹Weltrepu- ten dieser Lånder wåren kaum bereit, sich blikª enthålt also neben einer Staatenkammer Ordnungsprinzipien zu unterwerfen, deren (im Sinne der Vollversammlung der Vereinten Geltung sie im eigenen Lande nicht anerken- Nationen) als zweite Entscheidungsinstanz nen, und die Kontrolle çber das Schicksal ein ¹Weltparlamentª.In Einzelfragen ± zum ihrer Nation aus der Hand zu geben. Beispiel zu Krieg und Frieden oder Men- schenrechtsverletzungen ± kann die Republik Tatsåchlich trifft der gleiche Einwand auch in die Einzelstaaten eingreifen.Nach dem fçr Demokratien wie Sçdafrika, Brasilien Subsidiaritåtsprinzip behalten diese jene oder Indien zu; fçr sie gilt, dass die Souverå- Kompetenzen, die nicht ausdrçcklich auf die nitåt als Schutz der eigenen, autonom be- globale Ebene verlagert wurden.Freilich ist stimmten Entwicklung nicht gerade in dem dort ± etwa nach Otfried Hæffe ± auch die Augenblick geopfert werden wird, in dem ¹Kompetenz-Kompetenzª verortet, das heiût, eben diese Souverånitåt durch den wirtschaft- die Entscheidungsmacht darçber, welche Zu- lichen Erfolg erstmals reale politische Bedeu- ståndigkeiten bei den Staaten verbleiben sollen tung gewinnt.Dass derartige Ideen aus dem und welche gegebenenfalls die Weltrepublik intellektuellen und politischen Milieu der noch an sich ziehen kann.Damit wåre die ehemaligen Kolonialmåchte stammen, macht Souverånitåt als Regelungsprinzip internatio- sie dort nicht attraktiver.(Doch ist auch naler Beziehungen letztlich verabschiedet, der Territorialstaat kænnte im Extremfall eine for International Relations, 10 (2004) 3, S.437±475; zu bloûe Verwaltungseinheit mit beschrånktem verschiedenen Versionen und Begrçndungen kosmo- Gestaltungsspielraum werden. 14 politischer Politikgestaltung vgl.David Held, Demo- cracy and the Global Order.From the Modern State to 13 Vgl.Harald Mçller, Wie kann eine neue Welt- Cosmopolitan Governance, Cambridge 1998; Otfried ordnung aussehen? Wege in eine nachhaltige Politik, Hæffe, Demokratie im Zeitalter der Globalisierung, Frankfurt/M., 2008, Kap. 3. Mçnchen 1999; Ulrich Beck, Der kosmopolitische 14 Vgl.zur Ûbersicht Daniele Archibugi, Cosmopoli- Blick oder: Krieg ist Frieden, Frankfurt/M.2004. tan Democracy and its Critics, in: European Journal 15 Vgl.D.Held 1998 (Anm.14).

44 APuZ 43/2008 kaum damit zu rechnen, dass souverånitåts- Ersten Weltkrieg oder wåhrend des Kalten bewusste Demokratien wie Groûbritannien Krieges hinaus.Sie desavouiert die Vereinten oder die Vereinigten Staaten dem Modell zu- Nationen als Weltorgansiation, denen die stimmen wçrden). ¹Ligaª ihr Entscheidungsvorrecht entwinden soll.Ûberdies tritt sie in der NATO-Uniform Der Weg zur Hælle ist mit guten Vorsåtzen auf, die in groûen Teilen der Nichtmitglied- gepflastert.Die ¹kosmopolitische Demokra- schaft Unsicherheit, Misstrauen und Furcht tieª nimmt sich auf den ersten Blick als ein erweckt. 19 Die Nerven sind in manchen Lån- Projekt aus, gegen das man schlechterdings dern ohnehin angespannt, seit die NATO nicht sein kann.Auf den zweiten Blick er- (1999 im Kosovo) und eine ¹Koalition der kennt man, in welch hohem Maûe es kon- Willigenª, die çberwiegend aus NATO-Mit- frontativ gegen all jene angelegt ist, die aus gliedern bestand (2003 im Irak), im Allein- guten und weniger guten Grçnden, aber je- gang ohne Mandat des Sicherheitsrats der denfalls mit Nachdruck, auf der eigenen Sou- Vereinten Nationen in relativ kurzer Zeit zu verånitåt bestehen. den Waffen gegriffen haben.Wie immer man die Verdienste dieser beiden Interventionen bewerten mag ± fçr den Rest der Welt ist ¹Liga der Demokratienª damit eine Erfahrungsgrundlage geschaffen worden, wonach der Westen zum Angriff Der konfrontative Ausschluss nichtdemokra- çbergeht, wenn er es fçr richtig hålt.Fçgt tischer Staaten von weltpolitischen Entschei- man der Erfahrung gewissermaûen die Kon- dungen, der im Kosmopolitismus erst im stitutionalisierung des Anspruchs auf ein Ent- zweiten Schritt zum Vorschein kommt, ist in scheidungs- und Handlungsoligopol hinzu, einem anderen Ordnungsentwurf Programm: dçrften in zahlreichen Hauptstådten die Gemeint ist das auch beim amerikanischen Alarmglocken låuten. Pråsidentschaftskandidaten John McCain po- pulåre Konzept der ¹Liga der Demokra- Versuche der Gegenmachtbildung bzw.des tienª, 16 die schlagwortartig auch als ¹globale Auf- und Ausbaus wirksamer Abschre- NATOª 17 bezeichnet wird.Die Grundçber- ckungsmittel wåren die wahrscheinlichste Re- legung setzt an dem ± wiederum von liberal- aktion.Fçr die Bemçhungen, die Verbreitung demokratischen Ûberzeugungen getragenen ± von Massenvernichtungswaffen einzudåm- Legitimitåtsbegriff an: Demokratischen Re- men, wåre das eine denkbar schlechte Ent- gierungen ist eine hæhere Legitimitåt zuzu- wicklung.Wåhrend nichts dagegen spricht, schreiben als ihren nichtdemokratischen Part- dass die Demokratien untereinander beson- nern.Deshalb besitzen sie einen privilegierten ders enge und freundschaftliche Beziehungen Anspruch, die internationale Ordnung zu ge- pflegen und sich in wichtigen Fragen abspre- stalten, Weltrecht zu setzen, anzuwenden und chen, geht der Anspruch, eine selbsternannte durchzusetzen.Dies betrifft insbesondere die Staatenelite dçrfe fçr und çber alle anderen Frage von Krieg und Frieden und die Anwen- entscheiden, einen Schritt zu weit.Der ¹de- dung von Gewalt zur Durchsetzung westli- mokratische Friedenª wåre dann tatsåchlich cher Grundsåtze çber das ¹gute Regierenª.In nur noch die Kehrseite des ¹demokratischen den Worten von Senator McCain: Eine Orga- Kriegesª. nisation der Demokratien kænnte Tyrannen unter Druck setzen ¹mit oder ohne die Zu- Demokratisierung mit Gewalt stimmung Moskaus und Beijingsª. 18 Im Zuge eines vom Sicherheitsrat der Verein- Die ¹Liga der Demokratienª låuft auf eine ten Nationen erteilten Mandats gegen einen riskante Polarisierung der Staatengemein- schaft nach dem Muster der Phase vor dem Aggressor vorzugehen oder einen Vælker- mord zu verhindern und anschlieûend den 16 Vgl.Liz Sidoti, McCain favours a ¹league of demo- Versuch zu unternehmen, in dem besetzten craciesª, in: www.boston.com/news/nation/articles/ Land demokratische Strukturen aufzubauen, 2007/04/30/mccain_favors_ a_league_ of_democracies (31.7.2008). 19 Vgl.exemplarisch die Ausfçhrungen des russischen 17 Vgl.Ivo Daalder/James Goldgeier, Global NATO, NATO-Botschafters Dmity Rogozin, NATO pro- in: Foreign Affairs, 85 (2006) 5, S.105±113. paganda, in: International Herald Tribune vom 2.6. 18 Zit.in: L.Sidoti (Anm.16). 2008.

APuZ 43/2008 45 ist eine Sache.Eine ganz andere ± konflikt- Autokratie der dortigen Entwicklung von und kriegstreibende ± ist es dagegen, aus eige- Freiheit am meisten entgegen.Gerade nicht ner Machtvollkommenheit anderswo Re- Pression oder gar Gewalt, sondern Entspan- gimewechsel mit Gewalt herbeifçhren zu nung und Kooperation, gutes Beispiel (¹ge- wollen.Dies ist nicht nur vælkerrechtswidrig, winnfreie Werbungª in der Czempiel'schen auch die Erfolgsaussichten sind dçrftig.Die Diktion) und die sanfte Unterstçtzung zivil- positiven Beispiele Japans und Deutschlands gesellschaftlicher Aktivitåten bieten die gçns- nach dem Zweiten Weltkrieg kænnen dies tigsten Mæglichkeiten fçr einen autonomen nicht verschleiern.Der Widerstandswille war Demokratisierungsprozess. 20 durch die totale Kriegfçhrung beider Seiten in einem Maûe gebrochen, wie es bei heutigen Am Ende dieser Ûberlegungen steht damit Interventionen undenkbar ist, weil die demo- die vielleicht çberraschende Folgerung, dass kratischen Úffentlichkeiten die Brutalitåt der ¹demokratische Friedenª als Muster ge- jener Kriegfçhrung nicht mehr dulden wçr- waltfreier innerdemokratischer Beziehungen den.Zudem hatten in beiden Låndern politi- seine besten Chancen zur Universalisierung sche Strukturen aus den liberalen Zwischen- hat, wenn das friedliche Verhalten der Demo- phasen in der inneren Emigration oder im kratien sich nicht auf ihresgleichen be- Exil çberlebt, auf die beim Versuch der schrånkt, sondern wenn diese sich so weit Demokratisierung zurçckgegriffen werden wie mæglich kooperativ und entspannungs- konnte.Ansonsten hat Demokratisierung mit freudig zeigen ± unter gebçhrender Berçck- militårischen Mitteln ± mit und ohne Mandat sichtigung der eigenen Sicherheit.Deutsch- ± sehr durchwachsene Ergebnisse gezeitigt, land, das trotz der Beteiligung am Kosovo- von Kambodscha bis Afghanistan, von Bos- Einsatz zu den eher ¹pazifistischenª Demo- nien-Herzegowina bis zum Irak.Eine leben- kratien zåhlt und in seiner Demokratiefærde- dige Volksherrschaft mit hoher Legitimitåt rung einen eher kooperativen Stil pflegt, 21 wåchst im Allgemeinen von innen, entwickelt wird hart zu arbeiten haben, um seine eher ihre Institutionen im Einklang mit den ge- ¹militantenª demokratischen Partner von schichtlichen und kulturellen Traditionen des dieser politischen Linie zu çberzeugen.Wer- betreffenden Landes.Der Import von Demo- den Bundesregierungen den dazu erforderli- kratie mit Hilfe einer fremden Sozialtechno- chen ¹Mut vor dem Freundª haben? logie hingegen stæût zwangslåufig auf Gren- zen und wird nur gelegentlich erfolgreich sein kænnen.Ist er das gewaltsame Werk 20 Vgl.Ernst-Otto Czempiel, Kluge Macht.Auûen- einer fremden Macht, so ist es ziemlich politik fçr das 21.Jahrhundert, Mçnchen 1999. 21 Vgl.H.-J.Spanger/J.Wolff (Anm.7). wahrscheinlich, dass der vom Interventen provozierte Widerstand einen gehærigen Teil der Demokratisierungsanstrengungen neutra- lisiert.

Damit soll kein Verdikt çber die Demokra- tiefærderung ausgesprochen sein: Demokratie ist und bleibt eine gute Sache.Was indes die Methoden angeht, lassen sich schon Schluss- folgerungen ziehen.Die Anwendung von Ge- ?@

46 APuZ 43/2008 Herausgegebenvon der Bundeszentrale fçr politische Bildung Adenauerallee 86 53113 Bonn.

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Sicherheitspolitik APuZ 43/2008

Peter Bender 3-6 Deutsche Auûenpolitik: Vernunft und Schwåche Deutsche Auûen- und Sicherheitspolitik sind weniger wichtig geworden, weil Deutschland vereint ist und kein Krieg mehr droht. Der åuûeren Souverånitåt ist innere Souverånitåt noch nicht ausreichend nachgewachsen.

Dieter Weiss 6-14 Deutschland am Hindukusch Die kritische Sicherheitslage in Afghanistan behindert den Wiederaufbau. Der Einsatz der Bundeswehr bedarf einer grundlegenden æffentlichen Debatte çber realistische Ziele,Mæglichkeiten,Beschrånkungen und Zeithorizonte.

Stefan Fræhlich 15-21 Deutsche Auûen- und Sicherheitspolitik im Rahmen der EU Von der Bundesrepublik wird zunehmend auch in globalen Fragen die Ûbernah- me einer Fçhrungsrolle erwartet. Ihren Einfluss macht sie nach wie vor primår çber die EU und die NATO geltend.

Carlo Masala 22-27 Neuorientierung deutscher Auûen- und Sicherheitspolitik Soll Deutschland in der neuen Ordnung des internationalen Systems Juniorpart- ner der USA werden, oder allein Groûmachtstatus anstreben? Letztlich ist die vertiefte europåische Integration die einzig wçnschenswerte Alternative.

Jærg Faust ´ Dirk Messner 28-34 ¹Ankerlånderª als auûenpolitische Herausforderung Einige (ehemalige) Entwicklungslånder haben politisch an Gewicht gewonnen und stellen die bisherige Weltordnung in Frage. Die ¹westlicheª Auûenpolitik wird sich mit der neuen Multipolaritåt auseinandersetzen mçssen.

Michael Hennes 34-40 Das pazifische Jahrhundert In Asien hat mit dem Ende des Kalten Krieges ein neues Konzert der Måchte be- gonnen. Die Vereinigten Staaten orientieren sich im pazifischen Jahrhundert zu- nehmend von Europa weg und nach Asien hin.

Harald Mçller 41-46 Der ¹demokratische Friedenª und seine Konsequenzen Der Befund, dass Demokratien keine Kriege gegeneinander fçhren, dient als Rechtfertigung fçr einseitige Weltordnungsentwçrfe. Ein globaler ¹demokrati- scher Friedenª setzt Kooperation auch mit nichtdemokratischen Staaten voraus.