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„Lob des Schattens“

Azusa TAKATA

„LOB DES SCHATTENS“

CHRISTIAN KRACHTS „JAPANISCHE“ ÄSTHETIK IN DIE TOTEN1

1. KRACHT UND JAPAN

In den Texten von kommt Japan oftmals vor. Das ist schon in seinem Debütroman, (1995), festzustellen: Im Schlusskapitel, in dem der namenlose Ich-Erzähler nach seiner durch zahlreiche Partys, Drogenkon- sum und Kommerz geprägten Deutschlandsreise der 1990er Jahre schließlich seinen Endpunkt in Zürich findet, wird Japan kurz erwähnt: „sie [die Frauen] tragen alle Kleidung, die japanisch aussieht“.2 In 1979 (2001) werden die euro- päisch aussehenden Räume der prächtigen Villa in Teheran als „das Gegenteil Japans“3 geschildert, und in Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten (2008) wird der aus dem Buddismus stammende japanische Begriff „Satori“ oftmals aufgegriffen.4 Kracht wählte daran anschließend in seinem vierten Roman (2012) als Schauplatz die damalige deutsche Kolonie in Pa- pua-Neuginea, wo das japanische Militär im Zweiten Weltkrieg eine blutige Schlacht erlebte. Bemerkenswert ist, dass Japan in diesem Werk nur einmal explizit vorkommt, und zwar ganz am Ende des Romans, als Andeutung auf seinen fünften Roman,5 Die Toten (2016), der die japanische Filmindustrie in

1 Dem vorliegenden Beitrag liegt mein Vortrag auf der internationalen Tagung „Christian Krachts Ästhetik“ zugrunde, die mit der Frankfurter Poetikvorlesung von Christian Kracht 2018 verbundenen war. Der Vortragstext wird unter dem gleichen Titel in den Sam- melband der Tagung, der im Herbst 2019 erscheinen wird, aufgenommen. Die vorliegende Fassung geht als Aufsatz in den Kapiteln 2 bis 4 über die Vortragsfassung weit hinaus. 2 Christian Kracht: Faserland. Ein Roman. Köln (Kiepenheuer & Witsch) 1995, S. 156. 3 Christian Kracht: 1979. Ein Roman. Köln (Kiepenheuer & Witsch) 2001, S. 33. 4 Christian Kracht: Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten. Ein Roman. Köln (Kiepenheuer & Witsch) 2008, S. 36. 5 Japan kommt in Imperium erst im Schlusskapitel vor, in dem die Hauptperson, , nach dem Zweiten Weltkrieg von der amerikanischen Armee gefunden wurde. „Der bärtige, langhaarige Greis wird auf eine unübersichtlich große Militärbasis auf der den Japanern abgerungenen Insel Guadalcanal verbracht und herumgeführt“. Christian Kracht: Imperium. Roman. Köln (Kiepenheuer & Witsch) 2012, S. 239–240. Im Roman wird erzählt, dass sein Leben nach dem Krieg durch Hollywood verfilmt wird. Dies kann als vieldeutige Anspielung auf Krachts nächsten Roman Die Toten verstanden werden, der vor dem Hintergrund des aufkommenden Zweiten Weltkriegs die deutsch-

139 Azusa Takata den 1930er Jahren behandelt.6 Diese Japan-Rezeption von Kracht lässt sich einerseits auf seine radikale Kritik der westlichen Kultur zurückführen, wobei Deutschland hier besonders im Zentrum steht. Krachts Interesse orientiert sich daher sowohl auf der sprachlichen als auch auf der inhaltlichen Ebene an einer nicht-europäischen Kultur der asiatischen Welt.7 Wie Moritz Baßler und Heinz Drügh aufzeigten, wird „[der] kalkulierte Exotismus“ in Krachts Texten u. a. in seiner hybriden Vielstimmigkeit dargestellt, die bereits seit dem De- bütroman Faserland durchdringend ist.8 Andererseits hängt Krachts Japan-Re- zeption auch damit zusammen, dass er eine Verwandtschaft zwischen Japan und der Schweiz sieht. In der oben genannten Stelle des Schlusskapitels in Faserland wird die Kleidung der Züricher Frauen, die der Ich-Erzähler als Ge- gensatz zur Gewandung deutscher Frauen beschreibt, mit Japan verglichen. In seinem asiatischen Reisebericht Der gelbe Bleistift beschreibt Kracht, als er am Flughafen Tokio-Narita ankommt: Es „war alles eigentlich sehr schweize- risch“.9 Japan ist für den Schweizer Kracht ein besonders sympathisches Land, in dem er den Gegensatz zu „Deutschland“ sieht.10

6 japanische Filmindustrie behandelt. Zu den Themen Medien, Macht und Krieg im Roman Imperium vgl. Yuji Nawata: Christian Krachts Südsee-Roman „Imperium“. In: ders.: Kul- turwissenschaftliche Komparatistik. Fallstudien. Berlin (Kulturverlag) 2016, S. 166–179. 6 Außer den oben genannten Romanen erwähnt Kracht auch in seinen anderen Texten oft- mals Japan. Im nepalesischen Reisebericht, Gebrauchsanweisung für und , wird der geistige Schock über die Absetzung des nepalesischen Königs Birendra 2001 mit der Kapitulation der Japaner im Zweiten Weltkrieg, die durch eine Radioansage des Ten- nos bekannt gegeben wurde, verglichen. Vgl. Christian Kracht und Eckhard Nickel: Ge- brauchsanweisung für Kathmandu und Nepal. München; Berlin (Piper) 2009, hier S. 16– 17. In Der Gesang des Zauberers in Mesopotamia nimmt Kracht den Sarin-Anschlag in der Tokioter U-Bahn im Jahr 1995 von Sektenführer Shōkō Asahara als Leitmotiv dieser klei- nen Erzählung auf. Vgl. Christian Kracht: Der Gesang des Zauberers. In: ders. (Hrsg.): Mesopotamia. Ernste Geschichten am Ende des Jahrtausends. Stuttgart (Deutsche Verlags- Anstalt) 1999, S. 287–305. 7 Kracht setzt sich nicht nur mit der asiatischen, sondern auch der afrikanischen Welt aus- einander. Diese findet sich besonders in seinem dritten Roman, Ich werde hier sein im Son- nenschein und im Schatten, der einen Schweizer Söldner afrikanischer Herkunft beschreibt. 8 Moritz Baßler und Heinz Drügh: Eine Frage des Modus. Zu Christian Krachts gegenwär- tiger Ästhetik. In: Text und Kritik. Zeitschrift für Literatur 9 (2017) S. 8–19, hier S. 13. Dort erläutert Baßler „den kalkulierten Exotismus“ in Faserland „mit dem binnenexotischen Reiz von bisher nicht literarisierten Vokabeln und Texturen unserer eigenen Kultur“ wie Markennamen. Vgl. Moritz Baßler: Der deutsche Pop-Roman. Die neuen Archivisten. München (C. H. Beck) 2002, S. 95. In diesem Beitrag wird auch aufgezeigt, dass die Viel- stimmigkeit in Krachts Heteroglossie durch die Verwendung von kursiven Schriftsätzen, Helvetismen sowie auch Comicsprache geprägt wird (a. a. O., S. 12–14). 9 Christian Kracht: Der gelbe Bleistift. Ungekürzte Ausgabe. München (dtv) 2002, S. 163. Von hier ab als GB im Text lediglich durch die in Klammern hinter dem Zitat stehende Seitenzahl gekennzeichnet. 10 Christian Kracht kam bisher 2010 und 2014 nach Japan und hielt dort Lesungen im Goe- the-Institut Tokyo. Über seinen ersten Aufenthalt in Japan 1999 schrieb er in seinem Rei- sebericht Der gelbe Bleistift (2000).

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Diese Themen, nämlich die Auseinandersetzung mit der nicht-westlichen Kultur sowie die Verwandtschaft zwischen Japan und der Schweiz, spielen in seinem neuesten Roman Die Toten eine zentrale Rolle. Der Roman, der vor dem Hintergrund der japanischen Filmindustrie der 1930er Jahre das deutsch- japanische Bündnis gegen den amerikanischen „Kulturimperialismus“ durch Hollywood behandelt, kontrastiert die westliche Kultur mit der fremden japa- nischen Welt. Die Hauptperson, der Schweizer Emil Nägeli, ist eine Figur, die zwischen diesen zwei Welten vermittelt. Der Roman als alternative Ge- schichte, der sich historischer Figuren wie Charles Chaplin, Masahiko Ama- kasu, Lotte Eisner und Siegfried Kracauer bedient, ist, wie Moritz Baßler in einer Rezension feststellt, „[eine] vielschichtige Anspielung […] auf Ge- schichte des 20. Jahrhunderts“ und weist auf „eine zelluloidene Achse zwi- schen Berlin und Tokyo“.11 Außerdem nutzt Kracht in Die Toten vielschichtige intertextuelle Bezüge auf die japanische Literatur. Unter anderem deutet die erste Romanszene, in der die Filmaufnahme des japanischen rituellen Selbstmords Harakiri darge- stellt wird, auf den Film von Yukio Mishimas Yūkoku (Erzählung 1961, Verfil- mung 1966) hin.12 Diese Anspielung auf Mishimas Yūkoku manifestiert sich auch im ersten Kapitel des Romans. Dies geschieht z. B. in Krachts ausführli- cher Beschreibung des Harakiris in literarischer Form sowie im Motiv des Nō- Theaters, dessen Nō-Bühne Mishima bei der Verfilmung Yūkoku verwendete. Darüber hinaus stellt Kracht seinem Roman Die Toten ein Zitat aus Junichiro Tanizaki (1886–1965) als Paratext voran: „Ich habe nur ein Herz, niemand kann es kennen außer ich selbst“,13 welches aus Tanizakis Essaysammlung Setsugoan yawa (Abendgeschichten in der Hütte Setsugoan) stammt.14 Krachts vielschichtige Bezüge zu Tanizaki finden sich auch in anderen Texten: Man findet bereits z. B. in Imperium eine Szene, und zwar die Tätowierung des klei- nen Mädchens auf den Rücken, die auf die frühere Erzählung von Tanizaki,

11 Moritz Baßler: Zwischen Setzung und Zersetzung. In: die Tageszeitung, 14.9.2016 (zuletzt aufgerufen am 03.07.2018). 12 Zu Krachts Anspielung auf Mishimas Yūkoku in Die Toten, vgl. Christine Riniker: „Die Iro- nie verdampft ungehört“. Implizite Poetik in Christian Krachts Die Toten (2016). In: Mat- thias N. Lorenz und Christine Riniker (Hrsg.): Christian Kracht revisited. Irritation und Rezeption. Berlin (Frank & Timme) 2018, S. 71–119. 13 Christian Kracht: Die Toten. Ein Roman. Köln (Kiepenheuer & Witsch) 2016. Von hier ab als TT im Text lediglich durch die in Klammern hinter dem Zitat stehende Seitenzahl ge- kennzeichnet. 14 Das Gedicht lautet im Original in der japanischen traditionellen Waka-Gedichtsform wie folgt: „Ware to iu hito no kokoro wa tada hitori ware yori hoka ni shiru hito wa nashi“. Setsugoan nannte Tanizaki sein kleines Haus, in dem er in Atami seinen Le- bensabend verbrachte. Junichiro Tanizaki: Setsugoan yawa. In: Tanizaki Junichiro Zenshū (JP.) (Sämtliche Werke von Junichirō Tanizaki) Bd. 24. Tokyo (Chuō kouron shinsha) 2016, S. 323–397.

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Shisei (Tätowierung), Bezug nimmt.15 Vor allem dient „Lob des Schattens“ als Titel des Kapitels über Krachts Aufenthalt in Japan aus seinem Reisebericht Der gelbe Bleistift, der auf dem Titel des Ästhetik-Essays von Tanizaki beruht. Anhand dieser Tanizaki-Rezeption von Kracht wird im vorliegenden Beitrag versucht, die Bedeutung der „japanischen“ Ästhetik, die Kracht vor allem aus Tanizakis Essay Lob des Schattens bekannt ist, für die Poetik des Romans Die Toten herauszuarbeiten. Dies ermöglicht es, Krachts implizite Poetik mit der Ästhetik Tanizakis zu assoziieren und Krachts Ästhetik der Schweigsamkeit herauszukristallisieren.

2. KRACHTS „ORIENTALISMUS“

Junichiro Tanizakis langer Essay Lob des Schattens, der außerhalb Japans als ein „Standardwerk zum Verständnis [der] japanische[n] Ästhetik“ (GB, S. 162) verstanden wird, faszinierte allein deshalb schon bisher hauptsächlich die westlichen Philosophen.16 Die traditionelle japanische Ästhetik, die Tanizaki dort vor dem Hintergrund des westlichen Modernisierungsprozesses in den 1930er Jahren durch seine exotische Darstellung z. B. „das Mysterium des Os- tens“ thematisiert, ruft vor allem in der westlichen Welt ein exotisches Japan- Bild sowie orientalistische Darstellungsmuster über Japan hervor. Aber Chris-

15 Intertextuelle Bezüge zur sogenannten „Weltliteratur“ sind eine literarische Technik, die Kracht in seinen Texten oft als Pastiche verwendet. Zu dieser literarischen Technik von Kracht vgl. Miyuki Soejima: (Postkoloniales und Posthumanes in Christian Krachts Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten) (JP.) In: Otaru shōka jinbun kenkyū 129 (2015), S. 65–90, hier S. 70. 16 Dadurch dass Tanizakis Lob des Schattens 1955 in der amerikanischen Zeitschrift The Atlan- tic Monthly in der gekürzten englischen Version veröffentlicht wurde und auch sein Buch Tade kuu mushi (der englische Titel: Some Prefer Nettles) 1955 in den USA erschien, wurde Tanizaki neben Yasunari Kawabata und Yukio Mishima bereits in den 1950er Jahren in der amerikanischen Literaturszene bekannt. Laut Gregory Khezmejat fällt der aus Tanizakis Text Lob des Schattens stammende Exotismus Japans mit dem Japanbild, das in den 1950er Jahren der Nachkriegszeit von amerikanischen Lesern vorgestellt wurde, zusammen. Das orientalistisch geneigte Bild lässt sich vielmehr auf den Japonismus im 19. Jahrhundert zurückführen, als Gegenreaktion auf das mordernisierte Japan im Zweiten Weltkrieg. Vgl. Gregory Khezmejat: The introduction of In’ei raisan and Tade kuu mushi in America: Eng- lish translations of Tanizaki Jun’ichiro and the criteria of „Japanese literature“ (JP.) In: Dōshisha Kokubungaku 82 (2015), S. 104–116. In der französischen Übersetzung wurde der Text Lob des Schattens 1977 in die Reihe der Bibliothèque de la Pléiade in der Übersetzung von Rene Sieffert aufgenommen. Dadurch zog der Text die Aufmerksamkeit der französi- schen Philosophen auf sich, und Michel Foucaut erwähnte Tanizakis Lob des Schattens im Brief an Jean-Daniel Pollet. Vgl. Atsushi Nishino: Tanizaki Junichirō Kenkyūshi. (JP.) (For- schungsgeschichte von Junichirō Tanizaki) In: Tanizaki Junichirō. Botsugo gojūnen, bung- aku no kiseki. (JP.) (Junichirō Tanizaki. Seine literarischen Spuren zum 50. Jahrestag seines Todes.) Tokyo (Kawade shobō shinsha) 2015, S. 228–244, hier S. 239.

142 „Lob des Schattens“ tian Krachts Reisebericht über seinen Aufenthalt in Japan mit dem Titel „Lob des Schattens. Japan, 1999“ aus Der gelbe Bleistift unterscheidet sich von dieser üblichen Rezeption von Tanizakis Lob des Schattens. Krachts Text versucht viel- mehr, mittels der folgenden witzigen Episoden eine Satire auf dieses stereoty- pische Verständnis japanischer Kultur zu geben. Die ganze Episode, in der im Kapitel über seine Japanreise erzählt wird, muss man als eine von Kracht gut arrangierte Geschichte der tatsächlichen Begebenheiten betrachten. Kracht verfremdet hier die orientalistischen Denkmuster über Japan dadurch, dass er viele Dinge über Japan absichtlich in seinen Text einsetzt und dadurch das codierte Japan-Bild des Westens verdeutlicht. Beispielsweise gibt Krachts Begleiterin ihm den Rat, nach Ja- pan zu reisen: „Sie brauchen Zeremonie, Ritual, ganz ähnlich wie es Meis- ter Sen no Ryuku [sic] sich erdacht hat, im Jahre 1580. Tee-Zeremonien, Wabi-Sabi, Za-Zen, Miniaturgärten, diese Dinge. Also kommen Sie, wir flie- gen zusammen für ein paar Tage nach Japan.“ (GB, S. 161). Die Begleiterin ist schon bei ihrem Auftritt von japanischen Gegenständen wie „de[m] Kopfhörer eines Sony-Walkmanns“ (GB, S. 160) und „ein[em] Buch von Yukio Mishima“ (GB, S. 160) umgeben, und dies kann als Anspielung auf Krachts Japanreise verstanden werden. Dieser Eindruck verstärkt sich, als sie Kracht den Rat gibt, in Japan Junichiro Tanizakis Lob des Schattens zu kaufen: „Egal, wir werden es in Japan kaufen. Dort gibt es das Buch über- all.“ (GB, S. 162). Im Text wird aber erzählt, dass trotz dieser Annahme kein Japaner den Namen dieses Buchs kannte und Kracht erst ein paar Tage nach seiner Japanreise per Amazon das Buch erhielt. Diese ironische Epi- sode von Kracht lässt sich einerseits als realistisch verstehen, da Tanizakis Text Lob des Schattens 1999 in Japan nicht mehr weitgehend bekannt ist. Aber andererseits weist Kracht hier in der ganzen Episode darauf hin, dass es nicht sinnvoll sei, Tanizakis Lob des Schattens als „Standardwerk zum Verständnis japanischer Ästhetik“ zu betrachten. Der Exotismus bzw. die orientalistischen Darstellungsmuster, die in Tanizakis Text hervorgerufen werden, finden sich nirgendwo in Japan. Solch eine Warnung vor stereoty- per Rezeption ist ein bestimmendes Thema des Kapitels mit dem Titel „Lob des Schattens. Japan, 1999“, und dies wird an der folgenden Stelle, dem Zusammentreffen mit dem japanischen Germanistik-Professor Ochi, am stärksten dargestellt: „Beim Abschied fragten wir ihn [Professor Ochi] noch, ob er uns sagen könne, wo wir Junichirō Tanizakis Buch ‚Lob des Schattens‘ kaufen könnten, und er sagte uns, listig blinzelnd, er habe noch nie davon gehört“ (GB, S. 181). Die Ironie, die hier abgelesen werden muss, besteht darin, dass der japanische Literaturwissenschaftler in jedem Fall diesen Text von Tanizaki gut kennen müsste. Baßler und Drügh erläutern im Bezug auf Krachts Modus diese Ironie mit dem speziellen Adjektiv

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„krachtianisch“,17 das von dem norwegischen Schriftsteller Karl-Ove- Knausgård im Klappentext für Die Toten zum ersten Mal benutzt wurde.18 Ihrem Aufsatz zufolge hängt diese „krachtianische“ Ironie mit der Bedeu- tung von Susan Sontags ästhetischer Theorie des „“ eng zusammen, „die unter den Bedingungen kapitalistischer Überflussgesellschaften gebil- det und erprobt werden, um die Frage: ›how to be a dandy in the age of mass culture‹“ zu beantworten.19 In diesem modernen Dandyismus in „Camp“ handelt es sich um „die Liebe zum Unnatürlichen: zum Trick und zur Übertreibung“20, und der Trick ist folgendermaßen zu lösen: „sees eve- rything in quotation marks. It’s not a lamp, but a ›lamp‹; not a woman, but a ›woman‹“.21 Das Zusammentreffen mit Prof. Ochi, das hier zitiert wird, ist also sicherlich auch mit Anführungszeichen zu lesen, und vor allem kann der von Kracht ausgewählte Ausdruck „listig blinzelnd“ als Kennzei- chen für eine Mahnung von Prof. Ochi, sich nicht zu der stereotypischen Rezeption verleiten zu lassen, angesehen werden. Im Hinblick auf Susan Sonntags „Camp“-Theorie sind die Dinge aus Japan, die ins Kapitel seines Reisetextes eingesetzt werden, von „Tanizaki“ bis „Sony-Walkmann“, her- vorzuheben, um die kapitalistische Überflussgesellschaft im Zeitalter der Massenkultur aufzuzeigen. Baßler und Drügh zufolge camoufliert Kracht durch diesen Modus den Globalisierungsdiskurs der Gegenwart, um „die historisch-realistischen Wahrheiten […] aus ihrer Lethargie treten [zu las- sen]“.22 Joachim Bessing, Ko-Autor von Krachts popkulturellem Dialog Tristesse Royale, vergleicht im Vorwort zu Der gelbe Bleistift diese Episode im Kapitel „Lob des Schattens“ mit dem Bauplan der alten japanischen Kaiser- stadt Kyoto, deren Stadtzentrum immer unberührt bleibt. „[…] aber was auffällt, ist die komplett spiralig sich zusammenziehende Form der Geschichte. Als läge ihr der Bauplan der alten Kaiserstadt Kyoto zugrunde, drehen sich die einzelnen Episoden zu einer Locke ein, kreisen sie gemeinsam um das erwähnte leere Zentrum, das nicht angefaßt, nicht angedacht und deshalb auch nicht ausgesprochen wird.“ (GB, S. 12)

17 Baßler/Drügh, Eine Frage des Modus (Anm. 8), S. 11. 18 Karl-Ove-Knausgårds Klappentext, der auf dem Buchumschlag von Die Toten steht, lautet wie folgt: „›Die Toten‹ ist eine großartige Mephisto-Faust-Fabel, ein brillantes literarisches Unterfangen, das wir wohl von jetzt an als krachtianisch bezeichnen dürfen.“ 19 Baßler/Drügh, a. a. O., S. 11; der Satz von Susan Sontag wird aus dem folgenden Buch zitiert: Susan Sontag: Notes on Camp. In: Against Interpretation and other Essays. (Farrar) 1966, S. 275–292, hier S. 288. 20 Susan Sontag: Anmerkungen zu ›camp‹. In: Kunst und Antikunst. Essays. Aus dem Eng- lischen von Mark W. Rien. München (Hanser) 1980, S. 269–284, hier S. 269. 21 Sontag, Notes on Camp, a. a. O., S. 280. 22 Baßler und Drügh erwähnen diese literarische Technik besonders im Bezug auf Krachts Roman Die Toten. Vgl. Baßler/Drügh, a. a. O., S. 17f.

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Dieser Vergleich von Bessing beruht auf Roland Barthes Japan-Bild, das er in L’Empire des signes als Kontrast zu den westlichen Stadtplänen herausgearbei- tet hat.23 Im Kapitel „Stadtzentrum, leeres Zentrum“ beschrieb Barthes den besonderen Stadtplan von „Tokyo“, deren Zentrum wegen des Wohnsitzes des Kaisers immer „hinter Grün verborgen“ und „von Wassergräben ge- schützt“ wird und gewissermaßen unsichtbar ist. Barthes stellt die „westliche Metaphysik, für die das Zentrum der Ort der Wahrheit ist“ (Das Reich der Zei- chen, S. 47), dem tokioter Bauplan mit kreisförmigen Straße um den Kaiserpa- last gegenüber. Der Verkehr in Tokio, der im Kreis das leere und heilige Zen- trum – „das heilige »Nichts«“ (Das Reich der Zeichen, S. 50) umfährt, vergleicht Bessing mit den einzelnen Episoden in Krachts Texten, die auch um „das er- wähnte leere Zentrum“ (GB, S. 12) kreisen. Die japanische Kaiserstadt, deren Zentrum unberührt bleibt, ist verwandt mit Krachts impliziten Poetik im Ka- pitel „Lob des Schattens“, deren Kernbedeutung in den verschiedenen Episo- den verborgen bleibt.24 Das wesentliche Thema, das von Kracht in dieses Ka- pitel eingesetzt wird, nämlich Mahnung auf die streotypische Japan-Rezep- tion muss aus den Episoden herausgefunden werden. Aber andererseits lässt sich aus Krachts Reisebericht Der gelbe Bleistift auch Krachts eigenes Japan-Bild bzw. seine orientalistischen Darstellungsmuster über Japan ablesen. Dies befindet sich in seinem filmischen Blick auf den ja- pantypischen Ausschnitt, der im Folgenden von Kracht selber erzählt wird. Es schien, als ob dieser erste Ausblick auf Japan wirklich im wahrsten Sinne des Wortes ein Ausblick war, ein zurechtgeschnittenes Rechteck, ein auf eine Leinwand geworfener Kinofilm, ein vom Hotel Okura projeziertes Bild, hergestellt allein zur ästhetischen Erbauung. Später sollte ich erfah- ren, daß ein großes Teil Japans tatsächlich so ist wie ein Bild, ein Blick durch einen rechteckigen Rahmen – von den Mangacomics zu den frühen Filmen von Ozu und Mizoguchi bis zu den inszenierten kleinen japani- schen Gärten, die man am besten, still sitzend, durch das freie Rechteck in einer Reispapierwand betrachtet. (GB, S. 167) Dieser filmisch wirkende Ausblick auf Japan inspirierte ihn zweifelsohne zu seinem späteren Roman Die Toten, der die japanische Filmindustrie behandelt.

23 Vgl. Roland Barthes: Das Reich der Zeichen. Aus dem Französischen von Michael Bi- schoff. Frankfurt a. M. (Suhrkamp) 1981, hier S. 47–50. 24 Vgl. Sven Glawion / Immanuel Nover: Das leere Zentrum. Christian Krachts Litertur des Verschwindens. In: Alexandra Tacke / Björn Weyand (Hrsg.): Depressive Dandys. Spielfor- men der Dekadenz in der Pop-Moderne. Köln (Böhlau) 2009, S. 101–120, hier S. 103. Krachts implizite Poetik wurde bereits in einigen Studien aufgezeigt, vgl. Glawion / Nover, a.a.O.; Riniker, „Die Ironie verdampft ungehört“ (Anm. 12); Baßler / Drügh, Eine Frage des Modus (Anm. 8).

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Die folgende Szene aus Die Toten, in der der Schweizer Filmregisseur Emil Nägeli einen ersten Blick auf Japan wirft, spiegelt Krachts eigenen filmischen Ausblick auf Japan, der in seinem Reisetext beschrieben wird, wider. Ab und an hält Nägeli während der Fahrt diese prächtigen Szenerien durch die zum Rechteck geformten, vor den Augen als Körperkamera er- hobenen Hände fest: Das Sonnenlicht zur Mittagsstunde ist weich und die Straßen belebt; modisch gekleidete Jünglinge […] umlungern die Eisdielen […] (TT, S. 150) Dieses Japan-Bild als filmischer Ausblick lässt sich auf ein verstecktes Film- motiv in Krachts Reisebericht über Japan zurückführen. Wie im Folgenden beschrieben, ist dieses Kapitel von Anfang bis Ende vom Motiv des Films durchdrungen: Kevin Costner, Waterworld, The Postman, Ozu, Mizoguchi, Toshiro Mifune, Takeshi Kitano, Martin Scorsese, Wim Wenders, Doris Dörrie, Woody Allen, Kenneth Branagh, Celebrity. Der Höhepunkt dieses Filmmotivs befindet sich aber im Gespräch mit Prof. Ochi über die Filme von Takeshi Ki- tano.25 Über den Orientalismus, den Kracht aus Takeshi Kitanos Filmen ent- nimmt, z. B. „die klassischen japanischen Themen – Gewalt und Schönheit –“ (GB, S. 180), äußert Prof. Ochi sich wie folgt: Das Phänomen Takeshi Kitano, das heißt, die Attraktivität dieses Men- schen auf Gaijin-san, auf Ausländer wie Sie, läßt sich ungefähr damit ver- gleichen, als sähe ein Japaner in Japan alle Wim-Wenders-Filme und denke nun, er habe die moderne deutsche Kultur verstanden. Takeshi Kitano ist eher der japanische Doris Dörrie. (GB, S. 180) Auffällig ist hier, dass sowohl Tanizakis Lob des Schattens als auch Takeshi Ki- tanos Filme in diesem Kapitel als Sujet und Setting für das codierte Japan-Bild des Europäers gelten. Der Exotismus, der durch diese Filme hervorgerufen wird, fasziniert die ausländischen Zuschauer, und dazu gehört auch Kracht. Krachts eigenes Japan-Bild, das von seiner Orientierung an japanischen Fil- men von Ozu und Mizoguchi bis zu Takeshi Kitano geprägt wird, kristallisiert sich vollends in seinem Roman Die Toten, der die japanische Filmindustrie der 1930er Jahre thematisiert, heraus. Dabei setzt Kracht die orientalistisch so be- zeichnete „japanische“ Ästhetik beabsichtigt in den Roman ein und inszeniert den orientalistischen Blick auf Japan.

25 Krachts Interesse für die japanischen Filme lässt sich auf den Fokus seines Studiums der Filmwissenschaft am in den USA zurückführen. Dabei besuchte er Veranstaltungen zum japanischen Film, speziell von Yasujiro Ozu und Kenji Mizoguchi. Vgl. Johannes Birgfeld / Claude D. Conter (Hrsg.): Christian Kracht. Zu Leben und Werk. Köln (Kiepenheuer & Witsch) 2009, S. 272.

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3. ZWISCHEN TONFILM UND STUMMFILM

Der von Kracht inszenierte „Orientalismus“ in Die Toten manifestiert sich bereits im ersten Kapitel, in dem Kracht „die klassischen japanischen The- men wie Gewalt und Schönheit“ durch die Beschreibung der „Filmauf- nahme“ des Harakiris als Sujet aufnimmt und gleichzeitig künstlerisch ver- fremdet. An diesem orientalistisch inszenierten „japanischen“ Filmmotiv anschließend, setzt Kracht auch die japanische Ästhetik, die auch aus Tani- zakis Lob des Schattens herausgearbeitet wird, in den Roman ein. Dies findet sich im Roman auch in den Kleinigkeiten des japanischen Alltagslebens in den 1930er Jahren wie Spülklosetts, Ohaguro oder elektrisches Licht, die Tanizaki auch in seinen Essay aufnahm.26 Die Ästhetik, z. B. die Dunkelheit des japanischen Raums, die Tanizaki als „Mysterium des Ostens“ schil- derte, wird in Krachts Roman am Beispiel der Filmästhetik von Yasujirō Ozu aufgegriffen.27 […] schließlich sehen wir in Ozus seitwärts beschienene Zimmer hinein, die Kamera steht in der japanischen Position jeweils einen guten Meter niedriger als im Westen üblich, der shoji ist stets aufgeschoben, aber immer im Rahmen anwesend; es geht diesen Regisseuren in all ihrem Streben nicht nur um die Unmöglichkeit, die Farbe Schwarz darzustellen, sondern auch um das Aufzeigen der Anwesenheit Gottes. (TT, S. 38f.) Diese „japanische“ Ästhetik als Zeichen von Krachts Tanizaki-Rezeption ma- nifestiert sich nicht nur in dieser Wahl von Sujet und dem Setting Japan, son- dern auch auf der wesentlichen Ebene des Romans in der Auseinanderset- zung zwischen Ost und West. Die Auseinandersetzung zwischen der japani- schen und der westlichen Kultur zieht sich im Roman gleichsam leitmotivisch durch den ganzen Text.

26 Motive von Tanizakis Lob des Schattens in Die Toten, vor allem die Auseinandersetzung zwischen der japanischen traditionellen Ästhetik und dem westlich modernisierten All- tagsleben in den 1930er Jahren, finden sich z. B. in den folgenden Zitaten: „Er […] knüllte das Papier zusammen und warf es in die Schüssel der modernen westlichen Toilette, betä- tigte die Spülung und beobachtete, wie der Maelstrom des Wassers wirbelnd und unan- ständig gurgelnd das Ganze zu den letzten Takten der Bach-Sonate hinabsaugte.“ (TT, S. 27); „[…] wie prächtig ihm die Einfachheit dieser Menschen erschienen war, die in Ab- geschiedenheit arbeiteten und lebten, fern aller modernen Annehmlichkeiten wie elektri- schem Licht, Spülklosetts und dergleichen“ (TT, S. 60). 27 Zu Ozu vgl. David Bordwell: Ozu and the poetics of cinema. Princeton (N. J. University Press) 1988; Henrik Schlottmann: Die „leeren“ Bilder in den Filmen von Yasujirō Ozu. (Diplomica) 2001; Jörg Kruth: Anthologie des Alltags. Themen in Leben und Werk von Ozu Yasujiro. Aachen (Shaker) 2016; Kiju Yoshida: Han Eiga (JP.) Tokyo (Iwa- nami Shoten) 2011.

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Christian Krachts Roman Die Toten behandelt einerseits die abergläubische Welt des fremden Japan28 und andererseits das westlich modernisierte Japan der 1930er Jahre, einer Zeit, in der Japan und Deutschland sich bereits auf den Zweiten Weltkrieg zubewegen. Der Roman kontrastiert besonders zwei Hauptpersonen: Emil Nägeli, den Schweizer Filmregisseur, dessen Filmkunst an die Filme der bekannten japanischen Regisseure wie Ozu und Mizoguchi erinnert, und Masahiko Amakasu, den japanischen Militär, der sich europä- isch orientiert, erheblich am Aufbau Mandschukuos beteiligt war und dort eine Filmgesellschaft begründete.29 Außerdem stellt der Roman die westliche „rationale“ Kultur der der „nicht-sprachlichen“ Welt der fremden japanischen gegenüber. Die Besonderheit der japanischen Kultur, die im Roman besonders als Kontrast zu der auf Sprache beruhenden westlichen Kultur dargestellt wird, findet sich am stärksten in der Schweigsamkeit der Japaner. Im Roman wird diese Schweigsamkeit als Auseinandersetzung zwischen Amakasu und den Europäern dargestellt. Die eisernen Geheimnisse seines Landes, jene Schweigsamkeit, die alles meint und nichts sagt, war ihm zuwider, aber gleichermaßen waren ihm, wie jedem Japaner, die Ausländer aufgrund ihrer Seelenlosigkeit zutiefst suspekt – wenn man sie und ihre aufdringliche Irrelevanz jedoch für die eherne Pflicht dem Kaiser und der Nation gegenüber benutzen konnte, nun, dann mußte man das wohl tun. (TT, S. 26) Der Kontrast zwischen der fremden japanischen Kultur und der westlichen modernen Kultur spiegelt sich im Roman in der Auseinandersetzung des alt- modischen Stummfilms mit dem aufkommenden Tonfilm. In den 1930er Jah- ren, in denen der amerikanische Tonfilm schon als neue Möglichkeit des filmi- schen Ausdrucks weltweit verbreitet wird, gab es auch einige Regisseure, die diese neue Filmtechnik ablehnten. Yasujirō Ozu, dessen Filme im Roman oft erwähnt werden, gehörte ebenfalls zu dieser Gruppe,30 und in der nächsten

28 Der Aberglaube im japanischen Alltagsleben, der im Roman erwähnt wird, besteht z. B. im Vermeiden des Doppelspiegels, Pfeifen in der Nacht oder mit dem Fingernagel an der Tür klopfen: „Zwei achatgerahmte, bodentiefe Spiegel, die mit Gazetüchern achtsam ver- hüllt sind, da unter bestimmten, eher altmodischen Japanern der etwas delikate Aber- glaube besteht, es gäbe eine direkte Verbindung zwischen dem Abbild und der menschli- chen Seele, hängen sich exakt gegenüber.“ (TT, S. 156); „[…] in den magischen Doppelspie- gel […]“ (TT, S. 158); „[…] vor allem und unter keinen Umständen solle er jedoch bitte nachts pfeifen“ (TT, S. 62). 29 Zu Amakasu und seiner Tätigkeit mit der mandschurischen Filmgesellschaft vgl. Takeshi Yamaguchi: Maboroshi no kinema man’ei. Amaksu Masahiko to Katsdōya gunzō. (JP.) (Die legendäre mandschurische Filmgesellschaft. Masahiko Amaksu und Gruppenbilder der Filmen.) Tokyo (Heibonsha) 1989. 30 Ozu fing aber schon in der zweiten Hälfte der 1930er Jahre mit dem neu aufkommenden Tonfilm an und wandte sich in der Nachkriegszeit völlig dem Tonfilm zu. Sein erster Ton-

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Aussage von Amakasu wurde genau diese Verweigerung gegenüber dem Tonfilm im Bezug auf die Verweigerung des Dialogs in der japanischen Ge- sellschaft aufgegriffen. […] daß sich Ozu zum Glück hartnäckig geweigert habe, den Tonfilm anzunehmen, jene imperialistisch-westlich verlogene Idee, und im übri- gen sei die Verweigerung des Dialogs durchaus übertragbar auf die japanische Gesellschaft; man diskutiere nicht, das sei doch barbarisch. (TT, S. 169) Diese Kultur der Schweigsamkeit, bzw. die Verweigerung des Dialogs, die auch auf die japanische Gesellschaft übertragbar sei, prägt Krachts Japan-Bild stark. Die Gegensätzlichkeit der Schweigsamkeit der japanischen Kultur und der westlichen Kultur, in der der Dialog als essentiell gilt, um etwas ans Licht zu bringen, ist auch ein Thema, mit dem Tanizaki sich in Lob des Schattens be- schäftigte. Tanizaki, der sich auch in den 1920er Jahren eifrig mit der Filmpro- duktion auseinandersetzte und sich ebenfalls der neuen Technik des Tonfilms verweigerte,31 beschreibt in Lob des Schattens in Hinblick auf den jeweiligen Volkscharakter, der sich im Film darstellt,32 die Japan eigene Erzählkunst und das Pausieren, die hinter dem westlichen Modernisierungsprozess der Tech- nologie würden zurücktreten müssen. Auch bei unseren Erzähl- und Redekünsten ist unsere Stimme weniger laut, wir brauchen weniger Worte, und wichtiger als alles andere ist das richtige Pausieren; bei der mechanischen Reproduktion aber wird dieses Pausieren vollständig zunichte. Und so verzerren wir gar unsere Künste selbst, um ja der Maschine entgegenzukommen. Ursprünglich haben die Abendländer diese Apparate aus ihrer Mitte heraus entwickelt und daher

31 film ist ein ca. 20-minütiger Dokumentarfilm aus dem Jahr 1936, Kikugorō no Kagami-jishi, der die Kabuki-Aufführung mit dem traditionellen „Löwen-Tanz“ von Kikugorō Onoe der 6. Generation aufnimmt. 31 Tanizakis Ablehnung des Tonfilms wird in seinem Aufsatz Katsudō shashin no genzai to shōrai (Gegenwart und Zukunft des Films) (1917) erwähnt. Junichirō Tanizaki: Katsudō shashin no genzai to shōrai. In: Tanizaki Junichirō Zenshū. Bd. 6. Tokyo (Chuō kouron shinsha) 2015, S. 387–394. Tanizakis Interesse an Filmen manifestiert sich z. B. in seiner kleinen Erzählung Jinmenso (Ein Tier in Menschengestalt). Diese Erzählung und Taniza- kis Interesse an Filmen wurden in dem folgenden Aufsatz genau analysiert: Kan No- zaki: Jinmenso. Eiga teki gengo no jikken. (JP.) (Ein Tier in Menschengestalt. Das Expe- riment der filmischen Sprache). In: Kan Nozaki: Tanizaki Junichirō to ikoku no gengo (JP.) (Junichirō Tanizaki und die ausländischen Sprachen) Tokyo (Chuō kouron shin- sha) 2015, S. 129–170. 32 Hier erwähnt Tanizaki den Unterschied im Volkscharakter zwischen den USA, Frankreich und Deutschland, der sich besonders in der Schattierung der Bilder von Filmen nieder- schlägt. Über den deutschen Film schrieb Tanizaki im Essay Karigari hakase wo miru (Ich sehe Das Kabinett des Dr. Caligari an) (1921).

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selbstverständlich nach den Befürfnissen ihrer Künste gestaltet. In diesem Sinne müssen wir die verschiedensten Nachteile in Kauf nehmen.33

Einige Studien haben aufgezeigt, dass Tanizakis Lob des Schattens auch als Filmtheorie gelesen werden kann.34 Tanizaki weist dabei auf die Nachteile für die japanische Musik und Erzählkunst hin, die durch die westlichen Maschi- nen wie z. B. „Grammophon“, „Radio“ und „Lautsprecher“ entstehen könn- ten, indem er den Unterschied zwischen der japanischen und der westlichen Erzählkunst aufzeigt: „Unsere Musik ist ihrem Wesen nach zurückhaltend und von Stimmungen geprägt; deshalb geht der größte Teil ihres Reizes ver- loren, wenn sie auf Platten aufgenommen oder durch Lautsprecher verstärkt wird.“35 Diese Idee wird in Die Toten z. B. als Auseinandersetzung des alter- tümlichen Stummfilms mit dem aufkommenden Tonfilm aufgegriffen. Emil Nägeli, dessen „langatmige Erzählweise an [die japanischen Filmregisseure] Ozu und Mizoguchi erinnerte“ (TT, S. 26), ist die Figur, die zwischen zwei Welten – und zwar zwischen der westlichen und der japanischen sowie der neuen und älteren Kultur – vermittelt. In der Hauptperson Nägeli spiegeln sich Aspekte des Autors Christian Kracht, dessen implizite Schreibart dem gleichen Stil folgt wie Emil Nägelis handlungsarme Stummfilmkunst.

4. DAS TRANSZENDENTALE IM FILM

Wie der Romantitel Die Toten bereits zeigt, ist das Motiv des Todes oder des Totenreichs ein wesentliches Thema im Roman. Dies lässt sich schon im ersten Kapitel, das von der Filmaufnahme des rituellen Selbstmords Harakiri han- delt, sowie im letzten Kapitel, in dem Nägelis Verlobte Ida in Hollywood töd- lich verunglückt, feststellen. Im Roman wird zudem noch vom Tod Amaka- sus, des Lehrers Kikuchi, des Kindermädchens Amakasus, der Großtante und der Eltern Nägelis sowie seines albinotischen Hasen Sebastian erzählt. Der Tod von Nägelis Vater jedoch bildet ein durchgehendes Thema des Romans. Über das Totenreich, das Emil Nägeli um seinen verstorbenen Vater und auch um die schmerzhafte Kindheitserinnerung an den getöteten Hasen errichtet, wird im Roman wiederholt fragmentarisch erzählt. Darüber hinaus bestimmt das japanische Nō-Theater als Grundmotiv des Romans nicht nur die Struktur

33 Junichirō Tanizaki: Lob des Schattens. Aus dem Japanischen übertragen von Eduard Klop- fenstein. Zürich (Manesse) 1987, S. 19. 34 Inuhiko Yomota: Modanist Junichirō. Tanizaki Junichirō no eiga taiken (JP.) (Modernist Junichirō. Junichirō Tanizakis Film-Erfahrung) In: Tanizaki Junichirō. Botsugo gojūnen, bungaku no kiseki. (JP.) (Junichirō Tanizaki. Seine literarischen Spuren zum 50. Jahrestag seines Todes.) Tokyo (Kawade shobō shinsha) 2015, S. 215–227. 35 Junichirō Tanizaki: Lob des Schattens. a. a. O., S. 19.

150 „Lob des Schattens“ des Textes, die aus den drei Teilen Jo-Ha-Kyu besteht, sondern auch wesentli- che Aspekte des Inhalts, so dass eine japanische Geisterwelt ans Licht ge- bracht wird. Die einzelnen Episoden im Roman, z. B. Nägelis Übernachtung in einem ländlichen Bauernhaus in Japan erzählt (in Kapitel 13) oder Amaka- sus Begegnung mit einer Frau bei den Klippen von Tōjinbo (in Kapitel 17),36 assoziieren die japanische Geisterwelt, die das Nō-Theater als Schnittstelle zu den Toten oftmals thematisiert. Das Motiv des Todes oder des Totenreichs findet sich auch in der Hand- lung, da der Schweizer Filmregisseur nach Japan geschickt wird, um dort einen Schauerfilm zu drehen. Emil Nägeli wird im Roman von Alfred Hugen- berg, dem damaligen Präsidenten der deutschen Filmgesellschaft UFA, nach Japan geschickt,37 um dort einen Gruselfilm zu drehen: „eine Allegorie […] des kommenden Grauens“ (TT, S. 120), in dem „die arische Unschuld“ durch „die asiatische Bestie“ (TT, S. 131) verdorben wird.38 Aber Hugenbergs scha-

36 Christine Riniker weist in Hinblick auf das intertextuelle Spiel von Kracht in Die Toten darauf hin, dass die Episode in Kapitel 17 (Amakasus Begegnung mit einer Frau in der Höhle) an Kōbo Abes Suna no onna (Die Frau in den Dünen) erinnert. Vgl. Riniker, „Die Ironie verdampft ungehört“ (Anm. 12), S. 92. 37 Angesichts dieses historischen Hintergrunds des Films als Nationalprojekt zwischen Deutschland und Japan sollte der Film Atarashiki tsuchi (dt. Tochter des Samurai; 1937; Arnold Fanck Version) genannt werden. Das Projekt dieses Films begann bereits 1932 als Zusam- menarbeit zwischen der UFA und der Tōwa-Filmgesellschaft. Der geplante Regisseur war Georg Wilhelm Papst, aber aufgrund seines Exils nach Paris wurde er durch Arnold Fanck ersetzt. Vgl. Takashi Ebizaka: Über den deutsch-japanischen Film Atarashiki tsuchi 1. In: Teikyo daigaku gaikokugo gaikoku bungaku ronshu 9 (2003), S. 129–153. Im Roman schreibt Amakasu einen Brief an die UFA, einen deutschen Regisseur wie Arnold Fanck, Fritz Lang, Friedrich Murnau oder Karl Freund nach Japan zu schicken, aber entgegen dem Wunsch Amakasus wird der Schweizer Filmregisseur Emil Nägeli nach Japan geschickt. Fanck, der sich oft mit Schweizer Bergfilmen beschäftigte und im Jahr 1936 auf dem Schiff im Hafen von Kōbe in Japan ankam, wird im Roman als Verwandter der Hauptperson Nägeli vorgestellt. Eine Analogie der beiden besteht auch in Nägelis Film, der besonders die geographischen Landschaften des fremden Japans zeigt, z. B. „Fujiyama […] still bebender, stummender Gottberg“ (TT, S. 147), „die Kurilen, jene Inselkette auf dem Weg nach Sibirien“ (TT, S. 196) sowie „das ärmliche, fast menschenleere Städtchen Asahikawa […], das von lange erlosche- nen Vulkanen überragt und beschützt wird“ (TT, S. 199). 38 Alfred Hugenberg wurde 1933 Reichsminister für Wirtschaft, Landwirtschaft und Ernäh- rung. Wie bereits in den folgenden Aufsätzen festgestellt wurde, behandelt Kracht in die- sem Roman das Problem des Nationalsozialismus am intensivsten. Vgl. Baßler/Drügh, Eine Frage des Modus (Anm. 8), S. 17; Susanne Komfort-Hein: Harakiri, Hitler und Holly- wood: „Die Toten“. In: Text und Kritik. Zeitschrift für Literatur 9 (2017), S. 67–74. Darüber hinaus zeigt Immanuel Nover, dass dieser Roman die Themen der in bisherigen Texten Krachts angelegten Diskurse wie Reinheit, Ekel und Totalitäres erneut behandelt. Nover erläutert, dass diese provokative Themenauswahl eine spezifische des Autors Kracht sei, und die dadurch entstehende Diskussion sei „bewusst inszenierte Skandalisierung“, um Aufmerksamkeit zu erzeugen. Laut Nover hätte eine genaue Lektüre der Texte von Kracht deutlich gemacht, „dass Erzähler wie auch die Figur sich von einer totalitären und antise- mitischen Welt explizit distanzieren“. Vgl. Immanuel Nover: Autorschaft als Skandal. In: Text und Kritik. Zeitschrift für Literatur 9 (2017), S. 24–33.

151 Azusa Takata blonenhafte Filmidee wird im Roman von Nägeli abgelehnt, denn Japan ins- piriert ihn dazu, „etwas [zu] erschaffen, das sowohl in höchstem Maße künst- lich ist, als sich auch auf sich selbst bezieht“ (TT, S. 153), um mittels seines Films „eine Metaphysik der Gegenwart zu gestalten“ (TT, S. 154). Die Wen- dung von Nägelis Filmidee wird in Kapitel 31 aufgegriffen, in dem er zum ersten Mal einen Ausblick auf Japan hat. Der filmische Blick auf Japan von Nägeli lässt sich auf Krachts eigenes Japan-Bild als japantypischer Ausschnitt zurückführen, das in seinem Reisebericht Der gelbe Bleistift erzählt wird. Im Roman gehen Chaplin, Amakasu, Ida, Kono (Sekretär von Chaplin) und Takeru Inukai (Sohn des Premierministers) am Tag des Anschlags auf den damaligen Premierminister, Tsuyoshi Inukai (15. Mai 1932), in das Nō-Theater und schauen dort die Darbietung Kanawa an, die Geschichte von dem eisernen Ring der Eifersucht. Das Theaterstück Kanawa, in dem die Wut einer eifersüch- tigen Frau behandelt wird, deutet das Schicksal von Emil Nägeli an, dessen Verlobte Ida ihn nach dem No-Theater mit dem Japaner Amakasu betrügt.39 Emil entdeckt das Verhältnis der beiden erst durch die Kamera, als ob „wirk- liche Empfindungen sich eher um eine Fotografie oder einen Film kristallisie- ren als etwa um eine verbale Äußerung oder gar um einen Slogan“ (TT, S. 27), während der Dreharbeiten für den Film.

Er schwenkt die Kamera zwischen den beiden hin und her, entdeckt im Su- cher (als könne er es im richtigen Leben nicht sehen) den Schatten der Innig- keit zwischen seiner Verlobten und dem Japaner. […] Das kann doch alles nicht wahr sein, denkt Nägeli, läßt sich nach Schweizer Art nichts anmerken und die Kamera sinken, lächelt, nickt, winkt, beißt an einem Daumennagel, dessen Sichelrand verflucht noch mal nicht losreißen will. (TT, S. 174f.)

Hier findet sich die Schweigsamkeit von Nägeli, die als „Schweizer Art“ be- zeichnet wird. Statt etwas zu dem Entdeckten zu sagen, nimmt Nägeli die bei- den in den Film auf. Der Höhepunkt dieses Verhältnisses zwischen Nägelis Se- hen und Schweigsamkeit wird schlussendlich in der Villa erreicht, wo er zufäl- lig durch ein Loch aus dem Schrank heraus die sexuelle Begegnung von Ida und Amakasu beobachtet. Die Szene nimmt er wie eine Filmszene, die von einem Projektor abgespielt wird, wahr. Seine Filmkamera wird hier wieder mit seinen eigenen Augen identifiziert, ebenso wie Amakasu Nägelis Filmkunst auch schon am Anfang des Romans ironisch wahrnimmt, „als sei Nägelis Kamera immateriell, und als sei die Kamera ein schwebender Geist“ (TT, S. 25).

39 Das Theaterstück Kanawa behandelt die Wut und Traurigkeit einer Frau, die von ihrem Ehe- mann verlassen wurde. Sie will ihren ehemaligen Mann und die neue Frau verfluchen, so dass beide dadurch sterben, doch durch die magische Kraft des Exorzisten namens Abe no Seimei werden beide gerettet. Eileen Kato (translated): The Iron Crown (Kanawa). In: Twenty Plays of the No Theatre. Ed. Donald Keene. New York (Columbia UP) 1970, S. 193–205.

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Die hellblaue Iris seines Auges am Loch, beleuchtet durch die Szenerie im Zimmer, fast so, als sei sein Blick selbst der Projektor dieser Abscheulich- keit. Nägeli schluckt dreimal, als habe er Melasse im Mund, als schmelze ihm sein Zwerchfell. (TT, S. 177)

Diese Filmaufnahme der sexuellen Szene von Ida und Amakasu deutet auf eine Szene im Stummfilm von Mishimas Yūkoku, in der der letzte Geschlechts- verkehr vor dem Tod dargestellt wird.40 Ida und Amakasu, die in Hollywood oder im Falle von Amakasu auf dem Schiff dorthin sterben, werden unabsicht- lich filmend aufgenommen. Obwohl der Film in Nägelis Heimat, in der Schweiz, gut aufgenommen wird, wird der Höhepunkt seines Films, die Sex-Szene von Ida und Amakasu, nicht positiv eingeschätzt. Die Stelle erweise sich als „ein gutes Beispiel für jene skandalösen und vor allem berechnenden Tendenzen in der Kunst, die sich leider inzwischen allerorten breitmachen würden“ (TT, S. 207). Trotz der negativen Einschätzung dieser Stelle freut Nägeli sich über seinen Film und die „bürgerlichen, fast sogar freundschaftlichen Zuwendungen seiner Hei- mat“, wie die Einladung zu einer Vortragsreihe. Den Hintergrund für die Szene kennt nur Nägeli, und seine Verschwiegenheit darüber lässt sich eben auf dieses Zitat aus Tanizaki zurückführen: „Ich habe nur ein Herz, niemand kann es kennen außer ich selbst“ (Junichirō Tanizaki).

5. SCHWEIGSAMKEIT ALS KRACHTS ÄSTHETIK

Einige Rezensionen haben den Autor Christian Kracht nicht zu unrecht mit der Figur des Emil Nägeli assoziiert.41 Die Verwandtschaft der beiden besteht aber – so meine These – nicht nur in den Analogien vor dem wirklichen Hin- tergrund wie z. B. ein Schweizer, der sich an der asiatischen Welt orientiert bzw. von ihr fasziniert ist, in der Erinnerung an den verstorbenen Vater und in der Einladung zur Vortragsreihe, sondern auch in Nägelis Filmästhetik, die als Spiegel von Krachts Poetik verstanden werden kann. Das Ideal der Schweigsamkeit entspricht außerdem nicht nur dem japanischem, sondern auch dem schweizerischen ‚Nationalcharakter‘: „[…] denkt Nägeli, läßt [er] sich nach Schweizer Art nichts anmerken […] lächelt, nickt, winkt, beißt an einem Daumennagel“ (TT, S. 175). Andererseits findet sich die Schweigsam- keit in seiner literarischen Ästhetik, in der er nicht viel erzählen, sondern hin- ter dem Text bleiben will. Hier soll wieder ein Zitat von Joachim Bessing im

40 Riniker, a. a. O., S. 98. 41 Baßler, Zwischen Setzung und Zersetzung (Anm. 11); Felix Beyer: Ein Schweizer im Grauen. In: Spiegel Online, 09.09.2016. (zuletzt aufgerufen am 03.07.2018).

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Vorwort von Der gelbe Bleistift herangezogen werden. An das oben genannte Zitat anschließend, erläutert Bessing dieses ästhetische Prinzip von Kracht: Wenn Kracht also Japan beschreibt, sieht es dort eigentlich nicht anders aus als in Bielefeld, nur hübscher. […] Von allein und ohne einen Kom- mentar des Autors, durch die bloße Beschreibung des Vorgefundenen, stellt sich beim Leser Wehmut ein. […] In jedem der Texte gibt es solche Lücken im Strom der Beschreibungen, es setzt immer dann aus, wenn es zu konkret werden würde. Das zieht den Leser zehnmal eleganter in den Text hinein, als die ganzen „saftigen“ und „süffigen“ Bilder, die schlauen Gedanken anderer Reporter es sollen. (GB, S. 12) Krachts Ästhetik stellt das Prinzip der Schweigsamkeit ins Zentrum, was mit der schweigsamen Kultur Japans verwandt ist, auf welche schon Barthes in Das Reich der Zeichen hinwies. Diese Ästhetik der Schweigsamkeit stellt sich in Die Toten in Nägelis Stummfilmkunst dar, dessen langatmige Erzählweise an Ozu und Mizoguchi erinnere und „innerhalb der Ereignislosigkeit das Hei- lige, das Unaussprechbare auf[zeigt]“ (TT, S. 25). Hierin verbirgt sich die Ver- weigerung gegenüber dem westlichen, rationalen Dialog („das sei doch bar- barisch“) (TT, S. 169), der im Roman als Auseinandersetzung mit dem auf- kommenden Tonfilm thematisiert wird. Die in Tanizakis Lob des Schattens artikulierte „japanische“ Ästhetik, an der Kracht sich orientiert, besteht in der japanischen eigenen Erzählweise, die durch den westlichen Modernisierungsprozess zurücktreten müsse. Diese schweigsame Kultur Japans, die Tanizaki in seinem Text als „Schatten“ be- zeichnete, steht analog zu der Schweigsamkeit und der impliziten Poetik in Krachts literarischer Ästhetik. Die Ästhetik von Kracht lässt sich auf die fol- gende Aussage von Tanizaki, mit der er seinen Essay Lob des Schattens beendet, zurückführen. Ich jedenfalls möchte versuchen, unsere schon halbverlorene Welt der Schatten wenigstens im Bereich des literarischen Werks wieder aufleben zu lassen. Ich möchte am Gebäude, das sich Literatur nennt, das Vordach tief herabziehen, die Wände beschatten, was zu deutlich sichtbar wird, ins Dunkel zurückstoßen und überflüssige Innenverzierungen wegreißen. Ich sage nicht, daß ich mir das für alle Häuser wünsche; aber wenigstens eines von dieser Art darf doch wohl bestehen bleiben. Und um zu sehen, was dabei herauskommt, lösche ich probeweise einmal das elektrische Licht.42

42 Junichirō Tanizaki: Lob des Schattens (Anm. 33), S. 74.

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