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Moritz Baßler Neu-, CobyCounty,Herbertshöhe

Paralogische Orte der Gegenwartsliteratur

1Fiktion in der entzaubertenWelt

„Paradise /isexactlylike/whereweare right now /onlymuch much /better“, singt Laurie Anderson.¹ Es mag Zeiten gegeben haben, in denen man den Para- diesgarten irgendwoauf dieserErde vermutet hat,sowie es ja auch bekannte Eingängeindie Unterweltund die Hölle gab. Acheron, Styx und Olymp sind auch reale Orte in Griechenland.² Durch Zufall, indem man sich im Wald verlief, durch einen Sturm, aber auch durch geeigneteRiten konnteman an Orte gelangen, die genauso aussahen wie die alltäglichen, aber völlig anderen Gesetzen unterworfen waren. Diesemagische Topographie der Songlines und Quellnymphen ist der neuzeitlichen Vermessung der Welt gewichen. Wenn um 1900 die letzten weißen Flecken ausden Atlanten verschwunden sind, dann setzt das ja längst eine vor- gängigeHomogenisierung der Erdoberfläche voraus. Im Raster des globalen neuzeitlichen Koordinatensystems sind die Orte, Positionenund Wege eindeutig bestimmbar.Inden Grids amerikanischer Städteund Suburbs ist das Modell Realitätgeworden, mit GoogleMaps ist auch vorunserem Heim-Computer jeder Ort aufdieser Welt gleich. Götter und Elementargeister aller Art mussten also ins Exil, und das ge- währten ihnen Kunst und Literatur gern. Fiktionale Literatur kann ein solchesExil anbieten, weil sie strukturell paralogisch ist.Ihre erzählteWelt (Diegese) ist ,inder wirleben, nur ganz, ganz anders.Sie gleicht zwangsläufig der un- seren, weil Literatur ihre Diegesenur vermittels der kulturellen Enzyklopädie si- mulieren kann, die wir alle im Kopf haben: „[A]lles, was im Text nicht aus- drücklich als verschieden vonder wirklichen Welt erwähnt oder beschrieben wird, muß als übereinstimmend mit den Gesetzen und Bedingungender wirklichen Welt verstanden werden.“³ Und sie gleicht ihr,selbstinrealistischer Literatur,

 Laurie Anderson: LanguageIsaVirus.Auf: Home of the Brave.Soundtrack.Warner Bros.1986.  In der deutschenGegenwartsliteratur schlägt Frank Schulz mit seinem Roman Das Ouzo-Orakel (Frankfurt am Main 2006:Eichborn Verlag) daraus einigen Gewinn, der in einem Ferienort am Acheron spielt.  Umberto Eco: Im Wald der Fiktionen. Sechs Streifzüge durch die Literatur.München ³2004: DeutscherTaschenbuch Verlag,S.112. https://doi.org/10.1515/9783110532159-008 144 Moritz Baßler zugleich nicht insofern, als es 1928 in Berlin zwar einen Ort namens Alexander- platz gegebenhat,aberniemals einen Transportarbeiter namens Franz Biberkopf, der aufihm Krawattenhalter verkauft hätte, und weil Aramis vonden Drei Mus- ketieren in der RueServandoni wohnt,einer Straße, benannt nach einem Archi- tekten, der zur Zeitder Romanhandlungnochnicht einmalgeboren war. Dazu bemerkt UmbertoEco: „[D]er Text liegt voruns, wir gehorsamenLeser müssen seine Instruktionen befolgen, und wir befinden uns in einem ganz realenParis, das genaudem von1625gleicht,nur gibt es darin eine Straße, die damals je- denfalls unter diesem Namen noch nicht existiert haben konnte.“⁴ Selbstredend würde sich die fiktionale Literatur aufVerhandlungenmit dem Mythos nicht einlassen,wenn sie nicht auch davonprofitierte. Mag die Natur auch längst kein Haunted House mehr sein, der zweiteTeil des bekannten Diktums von EmilyDickinson gilt weiterhin: „– but Art – aHouse that tries to be haunted“.⁵ Wenn, mit anderen Worten, die Literatur sich die Mühe macht,die Welt im Modus der Fiktion noch einmalzuschaffen, dann gern mit dem Versprechen, damit eine irgendwie sinn-vollere, stärker aufein Wesentlicheshin getrimmte, mit Bedeu- tung durchtränkte Version der Welt zu liefern. Bereits mit Homer,schreibt Curtius, „beginnt die abendländische Verklärung der Welt,der Erde, des Menschen.Alles ist vongöttlichenKräften durchwaltet“,⁶ jetzt aber eben nur nochimLiterari- schen. Die Diegese ist nicht einfach da, sondern muss, als Zeichen zweiter Ord- nung,selbst lesbar sein – und das heißt,Bedeutung tragen über das hinaus, was Common Sense, Journalismus und Wissenschaft vonder Welt wissen. In einem „House that tries to be haunted“ sind Götter, Geister und Avatarealsobesonders willkommen. Selbst der Poetische Realismus des neunzehnten Jahrhunderts kommtnicht ohne zumindest die Anmutung vonGespensterwesen aus, die stets ortsgebunden sind (der Chinese in Effi Briest,das Schimmelgerippe aufder Jevershallig im Schimmelreiter), und noch in der emphatischen Moderne stattet Bretons Nadja das Gegenwarts-Paris mit einem ganzen Netz unheimlicherund bedeutender Orte aus. Solche Stellen sind sozusagenineinem emphatischeren Sinne ‚Orte‘ als ihre Umgebung,ganz wie in vormoderner ZeitheiligeOrte, Spukorte oder auch Stellen, an denen ein Verbrechen stattgefunden hat.

 Eco: Im Wald der Fiktionen, S. 138.  „NatureisaHauntedHouse – but Art – aHouse that tries to be haunted.“ EmilyDickinson: Brief an T. W. Higginson (1876). In: The Letters of EmilyDickinson.Bd. 2. Hrsg. vonThomas H. Johnson. Cambridge (Massachussetts) 1958:HarvardUniversity Press, S. 554 (Nr. 459A).  Ernst Robert Curtius: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter.Tübingenund Basel 111993: Francke, S. 192. Neu-Bern, CobyCounty,Herbertshöhe 145

Dem Bedürfnis der Literatur nach sinntragenden Stellen korrespondiert in der entzaubertenModerne das Bedürfnis der Leser nach literarischerSinnstiftung für ihre alltägliche Umgebung.Dies mag immer schon ein Antrieb für die lokale Verehrungvon Autoren und Autorinnen gewesen sein. So wurde, um dies anek- dotisch zu illlustrieren, voreinigen Jahren im Wilhelm-Raabe-Museum Eschers- hausender lokale Führer überausemphatisch, als seine Rede aufdas nahegele- gene Odfeld kam. In Raabes gleichnamigem Roman Das Odfeld (1888) ist diese Ebene Ort einer Schlacht im Siebenjährigen Krieg,die allerdings so und vorallem dort nie stattgefunden hat;schließlich handelt es sich um Fiktion. Gleichwohl erschien der reale Ort dem lokalen Raabe-Verehrer aufGrund des Romans als ein geschichtsträchtiger,jamagischer Ort,andem ihm sogar die Verbindungvon der fiktiv-magischen Rabenschlacht,die im Roman als Vorzeichender richtigen Schlacht dient,zuden alliiertenBombern im Zweiten Weltkrieg legitim erschien. Manifester und wenigeridiosynkratisch ist das touristische Phänomen, das Dan Browns Roman TheDaVinci Code (2003) und seine Verfilmung(USA2006,Regie: Ron Howard) hervorgerufen haben. Vorher ungeahnteMassen wollen seither die Kirchen Saint-Sulpice in Paris und Rosslyn Chapel beiEdinburgh besichtigen, die im Roman wesentliche Rollen in einer magisch-realistischen Fiktion um heutige Nachkommen Jesu und ihre Verfolgung durch die Kirche spielen; teilweise werden vorOrt schon entsprechende Führungen angeboten. Indem Fiktion reale Orte mit Bedeutung auflädt,nährt sie die These,auch unsere postreligiöse Welt sei „a House that tries to be haunted“ und brauche daher Kunst.

2Magischer Realismus alsInternational Style: Kehlmanns Die Vermessung der Welt

Auch der bekannte Umschlagvon Daniel Kehlmanns Bestseller DieVermessung der Welt (2005) flaggt ein Koordinatensystem aus. Der Roman über zweiproto- typische deutsche Wissenschaftler ist Musterbeispiel eines neueren populären Realismus, der,wie jeder literarische Realismus seit der Romantik, natürlich nicht einfach nur Realismus sein darf, sondern immer schon „[g]ebrochener“,indie- sem Fall ausdrücklich „magischer Realismus“ in der lateinamerikanischen Tra- dition seinwill.⁷ Das „Manko“ der Aufklärer Gauß und Humboldt sei es gewesen, so Kehlmann in seinen Göttinger Poetikvorlesungen, „daß sie in einer Welt leben, in der Kunst keine Rolle spielt. Das ist das eigentlich Inhumane an ihnen. Und

: Diese sehr ernsten Scherze. Poetikvorlesungen. Göttingen2007: Wallstein, S. 20 und 22. 146 Moritz Baßler dem setze ich, auch formal, Südamerika entgegen“.⁸ Im Roman geschieht das allerdings wenigerformal, sondern inhaltlich, und zwar dadurch, dass ausge- rechnet dem supernüchternen Alexander vonHumboldt aufseiner Südamerika- reise magische Dingewiderfahren, die der Erzähler in gleicher Maniernotiert wie alles andere, während die Figursie einfach ignoriert: „Unweit der Mission, in der Höhle der Nachtvögel, lebten die Toten. Der alten Legende wegen weigerten sich die Eingeborenen, sie dorthin zu begleiten.“⁹ Es handeltsich also um einen magischen Ort der Eingeborenen im vormo- dernen Sinne, den Humboldt und sein Begleiter aber ausrein naturwissen- schaftlichem Interesse erforschen wollen:

Die Fackeln, zu schwach, um das Gewölbe auszuleuchten, warfen ihreSchatten übergroß an die Wände. Humboldtsah aufdas Thermometer: Es werde immer wärmer,erbezweifle, daß Professor Werner daran Freude hätte! Dann sah er die Gestalt seiner Mutter neben sich. Er blinzelte,doch sie blieb längersichtbar,als es sich für eine Sinnestäuschunggehörte. Den Umhang unter dem Hals festgeknotet,den Kopf schief gelegt,geistesabwesend lächelnd, Kinn und Nase so dünn wie an ihremletzten Tag, in den Händen einen verbogenen Re- genschirm. Er schloß die Augen und zählte langsam bis zehn.

Wiebitte,fragteBonpland?

Nichts, sagteHumboldtund hämmertekonzentriert einen Splitter ausdem Stein.¹⁰

Die auktoriale Allegorie dieses Höhlengleichnisses ist klar:Das Licht der Auf- klärung reicht nicht hin, alles zu erfassen. Dann lässt der Erzähler naturwissen- schaftliches Nerdtum und Geistererscheinungdirekt aufeinander prallen, mit ironisierendemEffekt.Das ist nett zu lesen, aber man bedenke den ungeheuren Anspruch: Das ‚Inhumane‘ des neuzeitlich-wissenschaftlichen Weltbildes zeige sich in der Negation des Magisch-Mütterlichen,erst indem Kunst das Bewusstsein für das Magische in der Welt restituiert,entstehe folglich eine wahre,humane Literatur.Nun mag im realismo magico die GeisterweltTeil einer volksreligiösen Wahrheit sein; in der deutschen Gegenwartsliteratur bleibt das Magische ein bloßer Erzähltrick. „Ichfand Literatur immer am faszinierendsten, wenn sie nicht die Regeln der Syntaxbricht,sondern die der Wirklichkeit“,erklärt Kehlmann.¹¹ Tatsächlich geschieht dies aber hier ja nicht,oder vielmehr: Es geschieht nur in der Fiktion und wird, wie auch die übersinnlichen Kontakte zwischenGaußund Humboldt während des letzteren Russlandreise, überden Rahmendes Textes

 Kehlmann: Diese sehr ernstenScherze, S. 40.  Daniel Kehlmann:Die Vermessungder Welt.Roman.Reinbek 102009 (2005): Rowohlt, S. 72.  Kehlmann: Die Vermessungder Welt,S.73f.  Kehlmann: Diese sehr ernstenScherze, S. 15. Neu-Bern, CobyCounty, Herbertshöhe 147 hinaus nicht als historische Wahrheit behauptet.Wir akzeptierendie Mutter im Rahmender üblichen suspension of disbelief,unsere außerliterarischen Frames bleiben davonunberührt. Insofern bleibt diese Spielart vonMagischem Realismus letztlich tautolo- gisch: Eine Realität ohne Übersinnlichessei inhuman und kunstfern, also erzählt man eine Realität mit Übersinnlichem und schwupp: hat man qua Kunst das Transzendenzproblem gelöst – einfach mehr Wunder wirken! Diese Art vonMa- gischem Realismusfindet man ähnlich auch bei Harry Mulisch, Haruki Muraka- mi, HelmutKrausser,abereben auch bei Dan Brown und vielen anderen. Sie gehört,neben dem historischen, dem Fantasy-und dem Kriminalroman, zu den erfolgreichsten Varianten des International Style gegenwärtiger Erzählliteratur. Wassie freilich nicht einlösen kann, ist das Versprechen des Magischen selbst¹² – es einfach auktorial als Dimension der erzählten Welt zu behaupten, verleiht der Literatur selbst eben noch langekein höheres Wesen. DieHeteronomie des his- torischen Romans, der Die Vermessung der Welt ja auch ist,bleibt bestehen: Die historische Wahrheit bleibt die historische Wahrheit,und das komplementäre Über-Realistische verbleibt vollständig im Rahmen der Diegese und damitletzt- lich vonGenrekunst.

3Parahistorische Parodie: Krachts

Christian Krachts Roman Imperium (2012)liest sich über weite Strecken wie eine Kehlmann-Parodie. Als Engelhardt,der Protagonist,auf einer Australienreiseein Hotelzimmerneben dem zukünftigenVegemite-Erfinder Halsey bezieht,heißt es:

Möglich ist es, daß beide Vegetarier sich erfühlten, ohne dass sie voneinander wußten, so, als sei die dünne Spanplatte zwischen ihrenKöpfen eine Art elektrischerKonduktor.Halsey war natürlich ein Genie und Engelhardt ebenfalls.¹³

Kracht überträgthier die magische Sympathie, die DieVermessungder Welt zwischenGaußund Humboldt inszeniert, aufdie beiden Reformkost-Spinner. Das (natürlich ironische) ‚natürlich‘ könnteman durchaus als Kritik an Kehlmanns Hypostasierung der beiden National-Genies lesen. Deren Genialität gehört ja zu den unbefragten Übereinstimmungen mit unserer Enzyklopädie, den kulturellen

 Oder auch des Genialen,das an seine Stelle treten kann bzw. in übersinnlichen aisthetischen Fähigkeitenmit ihm zusammenfällt (z.B. Riechen in Patrick Süskinds Das Parfüm,Hören in Robert Schneiders Schlafes Bruder).  Christian Kracht: Imperium. Roman. Köln 2012: Kiepenheuer &Witsch, S. 105. 148 Moritz Baßler

Bildungs-Codes, zu jener Vulgata einesnaturalisierten Wissens, das realistische Literatur nicht noch einmalneu erzählen kann und will, sondern immer schon als Wahrheit voraussetzt.¹⁴ Gerade diese Naturalisierungals Zeichen zweiter Ord- nung fasst Roland Barthes bekanntlich als Mythos,definiertals „sekundäres se- miologisches System“;¹⁵ und Kehlmanns magische Supplemente tastendiesen eigentlichen Mythos seiner Literatur wie gesagt nicht an. Sein Romaneröffnet dadurch die Möglichkeit einer identifikatorischen Lesart nach dem Erfolgsrezept: ‚WirDeutschen und unsere Genies!‘ Im persönlichen Gespräch im März 2012 freutesich Kracht,man habe ihm nachgewiesen, dass kein einziges der historischen Ereignisse und Zusammen- treffen in seinem Roman stimme. Unddies, obwohl die Figurdes Kokosnuss- Apostels ja durchaus eine historische ist.Seine Begegnungen z. B. mit , oder Sigmund Freud – für ein bildungsbür- gerliches Lesepublikum leicht entschlüsselbar – parodieren die entsprechende Geniedichte bei Kehlmann. Ansonsten wird der bewusst paralogische Charakter des Buches geradezu überdeutlich festgemacht an einem Ort: Herbertshöhe, die Hauptstadt der kleinendeutschen Kolonie an der Blanchebucht,wird im Verlauf des Romans einfach mal verlegt.Bei der Rückkehr ausFidji bemerkt Engelhardt plötzlich,

daß er sich garnicht im ihm vertrauten Herbertshöhe befand, sondern die Häuser,Palmen und Alleen aufhöchst irritierende Weise verschoben zu sein schienen.[…][D]ie Gesichtszüge entglitten ihm, da war doch die Kirche, meine Güte,nun stand sie verkehrt herum, er riß mit beiden Händen an seinem Bart,dort drüben lag das Kaiserliche Postamt,aber gegenüber fehltedie Forsaythsche Faktorei, die sich vorwenigenWochen noch dort befundenhatte, während sie nun, da er wie planlos durch Rabaulstolperte, nächst dem Hotel Fürst Bismarck stand.¹⁶

Die Spontanverlegung vonHerbertshöhe ist ein parahistorisches Ereignis, das eben nichtals Magie innerhalb der Diegese behauptet,sondern als Willkür aufder Zeichenebene vollzogen wird. Der Umbauder Kulisse verweist aufden Ursprung des Diegese-Begriffs ausder Filmtheorie bei Souriau,¹⁷ er ent-naturalisiertdie

 Vgl. Roland Barthes: S/Z.Frankfurt am Main ³1988:Suhrkamp, S. 101.  Roland Barthes:Mythen des Alltags. Berlin 2010:Suhrkamp, S. 258.  Kracht: Imperium, S. 145f.  „Diegetisch ist alles,was man als vomFilmdargestellt betrachtet und was zur Wirklichkeit, die er in seiner Bedeutung voraussetzt, gehört.Man könnte versucht sein, hier vonder Wirk- lichkeit der Tatsachen zu reden;der Ausdruck wärenicht falsch, wenn man sich dabei vorAugen hält, daß es hier um eine fiktionaleWirklichkeit geht.Jeder wirdverstehen, was gemeint ist,wenn man sagt,daß zweiKulissen (sagen wir:ein Schloß und eine Hütte) im Studio nebeneinander Neu-Bern, CobyCounty, Herbertshöhe 149 dargestellte Welt.¹⁸ Und es kommtalles daraufan, den Unterschied zum Magi- schen Realismus Kehlmanns zu sehen: Krachts realistisches Erzählen verdoppelt nicht die bekannte Welt und Historie,umihr eine zusätzliche magisch-bedeut- same Dimension anzudichten, die dann auch seine Literatur mit tieferem Sinn ausstatten soll. Er verdoppeltdie bekannte Welt und Historie in einer paralogisch verschobenen Version. Dadurch bestätigt er nicht einfach unser kulturelles Wis- sen, sondern etabliert zu dessen bekannten kulturellen Frames und Skripten neben- und gleichgeordneteÄquivalenzstrukturen. Literarische Bedeutung ent- steht hier folglich erst im Vergleich zwischender erzählten und der immer schon bekannten Version der Welt.

4Parahistorischer Roman: Krachts Ichwerde hier seinimSonnenschein und im Schatten

Dies ist ein komplexer,man könntesagen, ein tricky Modus,indem sich das paralogische Potential, dasfiktionaler Literatur insgesamt eigen ist,offenkundig anders aktualisiert als etwa im Realismus des neunzehnten Jahrhunderts. Statt wahrscheinliche, wenn auch nichtwahre Geschichten in der bekanntenWeltzu erfinden,entstehen hier äquivalente Diegesen, paralogische Wirklichkeitsent- würfe,die dennoch nicht einfach allegorisch gelesen werden wollen. Allegorien übersetzenverstandene Wirklichkeit in einenMetaphernkomplex, Paralogien erfinden ähnliche Wirklichkeiten und setzen durch die Differenz einenVerste- hensprozess erst in Gang,der sich aufbeide Ebenen gleichermaßen bezieht.Am deutlichstenist das im parahistorischen Roman verwirklicht:

Ichwar Parteikommissär in Neu-Bern, an meiner Mütze steckte das weiss-rote Abzeichen. Unsere 5. Armee hattedie Stadt voreiner Woche wieder eingenommen. […]Man erinnerte sich nicht mehr.Eswaren nun fast einhundert JahreKrieg.Eswar niemand mehr am Leben, der im Frieden geboren war.¹⁹

stehen, daß die Orte aber in Wirklichkeit (in der Geschichte) fünfhundertMeter voneinander entfernt sind; daß der Streit und das Rendez-vous der Liebenden am selben Taginder Hütte gedrehtwurden, in Wirklichkeit (in der Geschichte) aber ein Jahr zwischen beiden Szenen liegt. Gleiches gilt für Orte: Diegetisch liegt Blaubarts BurginFrankreich, der geographisch tatsächliche (profilmische)Standort des Schlosses aber ist in Bayern. Ein diegetisches Tahiti kann profilmisch vonden Iles d’Hyèresdargestelltwerden.“ (ÉtienneSouriau: Die Struktur des filmischenUni- versums und das Vokabular der Filmologie. In: montage/av6.2 (1997), S. 140 – 157,hier S. 151f.).  Entsprechend ist die gesamteRomanhandlung von Imperium im Rahmen als Film entworfen.  Christian Kracht: Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten. Köln 2008:Ki- epenheuer&Witsch, S. 12. 150 Moritz Baßler

Ichwerde hier sein im Sonnenschein und im Schatten (2008) entwirft ein Europa, in dem Lenin, statt nach Russland zu fahren, direkt in der Schweiz (bei den Eid- Genossen!) seine Sowjetrepublik ausgerufen hat und das seither im Kriegszustand ist.Der Roman etabliert starkeintertextuelleBezüge unter anderem zu Texten von Friedrich Dürrenmatt,Ernst Jünger,Philipp K. Dick und Thomas Pynchon.²⁰ Das Bern in dieser Welt heißt Neu-Bern, weil es zerstört und wiederaufgebaut wurde. Das ‚echte‘ Bern ist dagegen eine geradezu notorisch alte, unzerstörteStadt²¹ – und gerade indem Krachts Roman diese Wirklichkeit durch die parahistorische Äquivalenz ent-naturalisiert,entfaltet er seine paralogische Semiose.²² Das Fak- tische – hundertJahre Krieg oder hundertJahre Frieden – führt stets dazu, dass man sich an Alternativennicht mehr erinnern kann. Ohneparadigmatische Achse aber verliert der Ort,wie jede Stelle der Wirklichkeit,anBedeutung;Naturali- sierung und Automatisierung setzen ein. „So wahrgenommen“,heißt es in Viktor Šklovskijs klassischem Aufsatz Kunst als Verfahren, „vertrocknen die Dinge, zu- erst in der Wahrnehmung,späterdannauch in der Wiedergabe“;²³ sie verlierenan Wirklichkeit wie das Sofa, vondem Tolstoi nicht mehr weiß, ob er es bei seinem Putz-Durchgangdurch die Wohnung schon abgestaubt hat oder nicht: „So kommt das bedeutungslos gewordene Leben abhanden. Die Automatisierung verschlingt die Dinge, die Kleider,die Möbel, die Frauund den Schrecken des Krieges.“²⁴ Insofern ließe sich etwas zugespitzt sagen, dass auch das wirkliche Bern im Zuge der Kracht-LektürezueinemNeu-Bern entautomatisiert wird, indem es in neuen paradigmatischen Bezügenlesbar wird. Wenn Šklovskij sich mit seinem Begriff vonKunst gegeneine sogenannte „algebraische Denkweise“ richtet,dannerscheint KehlmannsKritikeiner rein

 Siehe dazu ausführlicher Moritz Baßler: „Have aniceapocalypse!“ Parahistorisches Erzählen bei Christian Kracht.InReto Sorg/Stefan Bodo Würffel(Hrsg.):Utopie und Apokalypse in der Moderne.München 2010:Fink, S. 257–272.  Es steht damit in Opposition zu dem „im Roman erwähnte[n] und tatsächlich nach 1794 nach einem Großbrand komplett am Reißbrett entworfene[n] und neu aufgebaute[n]Ort La Chaux-de- Fonds“ (vgl. Claude D. Conter: Christian Krachts posthistorische Ästhetik. In: Ders./Johannes Birgfeld (Hrsg.): Christian Kracht.ZuLeben und Werk. Köln 2009:Kiepenheuer &Witsch, S. 24–43,hier S. 37f.).  Krachts Textezeigenalso keineswegs „das diffuse Subjekt im beliebigenRaum“,wie Bronner (mit Joseph Vogl)argumentiert (vgl. Stefan Bronner:Vom taumelnden Ich zum wahren Über- menschen. Das abgründigeSubjekt in Christian Krachts Romanen , 1979 und Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten. Tübingen2012: Francke, S. 129). Die fiktivenPara- Räume verdankensich nicht der Statistik,sondern immer schon der Semantik und sind alles andereals beliebig.  Viktor Šklovskij:Kunst als Verfahren. In: Fritz Mierau(Hrsg.): Die Erweckungdes Wortes. Essays der russischenFormalen Schule.Leipzig 1991:Reclam, S. 11–32, hier S. 17.  Šklovskij:Kunst als Verfahren, S. 17. Neu-Bern, CobyCounty,Herbertshöhe 151 wissenschaftlichen Weltwahrnehmung davongar nicht weit entfernt.Was jedoch die Kritiker vonChristian Kracht und verwandten Gegenwartserzählern oft nur unzureichend realisieren, ist der spezifische Modus,indem hier erzählt wird: Die (wie Herbertshöhe) leicht verschobene Realität ihrer Diegese behauptet nicht,wie wir das vonGünter-Grass-artiger Literatur gewohnt sind, ‚die‘ Wirklichkeit besser und aufihre wesentlichen Aspektehin transparent zu machen. Werhingeht und die Welt von Imperium²⁵ mitHilfe einer Hermeneutik des Misstrauens daraufhin auslegt,was für geheime – ob nun politisch rechteoder doch eher emanzipato- rische – Botschaften in ihr codiert seinmögen, hat diesen Modus bereits verfehlt.

5Poetologie des Parahistorischen: Krachts Faserland

Der Titel vonKrachts Debütroman Faserland (1995) bezeichnet nicht nur einen Ort,sondern markiertper Alveolarisierung des th in diesem Ortsnamen bereits die leichte Verschiebung von Fatherland (1992),dem Titel eines parahistorischen Thrillers vonRobert Harris. Rückblickend kann man tatsächlichbereits diesem frühen Text Krachts, der als Initialzündungder neueren Popliteratur in die Lite- raturgeschichtsbücher eingegangenist,eine Poetologie paralogischen Erzählens entnehmen. Der Ich-Erzähler imaginiert eine entrückte Existenz mit Isabella Rosselliniinden Schweizer Bergen:

[U]nd dann würde ich mit den Kindern Ausflügemachen bis an die Baumgrenze,durch die dunklen Wälder streifen, und wir würden uns Ameisenhaufen ansehen, und ich könnte so tun, als würde ich alles wissen. Ichkönnte ihnen alles erklären, und die Kinder könnten niemandenfragen, ob es denn wirklich so sei, weil sonst niemand da oben wäre. Ich hätte immer Recht.Alles, was ich erzählen würde, wärewahr.²⁶

Die konstitutive Heteronomie historisch-realistischen Erzählens ist in diesem Modus überwunden zugunsten einer wie auch immer prekären Autonomie, lo- kalisiert an der Baumgrenze des ‚Natürlichen‘.Die Wahrheit dieser Prosa ent- scheidet sich nicht referentiell(daran, ‚ob es denn wirklich so sei‘), sondern immanent.Bereits im Jahre 1986 befindetder kommende Popautor Joachim Lottmann angesichts der frühen Prosa vonThomas Meinecke in Spex: „Voneiner

 Oder,umeinige andereskandalisierteTitel zu nennen, von Endstufe vonThor Kunkel (Berlin 2004:Eichborn) oder Deutscher Sohn vonIngoNiermann und Alexander Wallasch (Berlin 2010: Blumenbar).  Christian Kracht: Faserland. München 1997: Goldmann, S. 148. 152 Moritz Baßler bestimmtenSchreibqualität an ist Literatur Wahrheit,was immer sie transpor- tiert.“²⁷ Kracht transponiert alsoden parahistorischen Modus vonHarris’ Thriller in einen schwieriger zu decodierenden paralogischen, und zwar mit offenkundiger Affinität zu Pop. Der große Unterschied zu Kehlmann, Grass oder einemPoeti- schen Realisten wie Otto Ludwigbesteht darin, dass sich der Wahrheitsanspruch dieser Prosa voneiner Referenzlogik autonomisiert.Traditioneller Realismus, ob poetisch oder magisch, setzt eine immer schon ausanderen Quellen bekannte Wirklichkeit voraus und behauptet,über einigeihrer Aspekteoder gar überderen Wesen besser Bescheid zu wissen. Der Modus,auf den ich hier abziele, aktiviert dagegen das paralogische Potential fiktionalerLiteratur aufandere Weise. So schreibt schon UmbertoEco:

Abgesehen vonvielen ästhetischenGründen, die zweifellos sehr wichtigsind, glaube ich, daß wir Romanelesen, weil sie uns das angenehme Gefühl geben, in Welten zu leben, in denen der Begriff der Wahrheit nicht in Fragegestelltwerden kann, während uns die wirkliche Welt sehr viel tückischervorkommt.²⁸

Andersals vielleicht in manchenFantasy-und Computerspielwelten geht in dieser Literatur der Bezugzur wirklichen Welt jedoch nicht verloren, er hat nur nicht mehr den Charaktereinesrealistischen Zeichens mit dem Signifikat ‚Die- gese‘ und dem Signifikanten ‚wirkliche Welt‘.Esverhält sich etwas komplexer, denn „die Art,wie wir die Darstellung der realen Welt akzeptieren, unterscheidet sich wenig vonder Art,wie wir die Darstellung der möglichen Welt einer fiktiven Geschichte akzeptieren“.²⁹ Mit anderen Worten: Die Welt der Kinder an der Baumgrenze ist eine ebenso ‚natürlich‘ in sich geschlossene wie unsere. Erst im Nebeneinander beider Versionen wird durch die fiktionale Autonomie der ersten auch die Bedingtheit der zweiten erkennbar.³⁰

 Joachim Lottmann: Realitätsgehalt: Ausreichend. In: Spex 11 (1986), S. 65.  Eco: Im Wald der Fiktionen, S. 121f.  Eco: Im Wald der Fiktionen, S. 120.  In einem verwandtenModus stehendie ‚Solutions‘ IngoNiermanns,der etwa vorschlägt, Dubai und Düsseldorfzusammenzulegen,wobei der resultierende Ort eine adäquateneue Heimat für das WorldTrade Center wäre: „The New is aTwin.“ (IngoNiermann: Solution 186– 195.Dubai Democracy. Berlin und New York 2010:SternbergPress, S. 79.) Neu-Bern, CobyCounty,Herbertshöhe 153

6FiktiverOrt alsMarke: Randts Schimmernder Dunstüber CobyCounty

„Ichwürde ihnen [den Kindern] vonDeutschland erzählen“,heißt es in Faserland weiter,

vondem großen Land im Norden,vonder großen Maschine, die sich selbst baut,dauntenim Flachland. Undvon den Menschen würde ich erzählen,vonden Auserwählten, die im Innern der Maschine leben, die gute Autos fahren müssen und gute Drogen nehmen und guten Alkohol trinken und gute Musik hörenmüssen,während um sie herum alle dasselbe tun, nur eben ein ganz klein bißchenschlechter.³¹

Es ist dann die Rede noch vonanderen Bevölkerungsgruppen, vonSPD-und anderen Nazis, Gewerkschaftlern, Rentnern usw., ehe das Ich am Ende der Suada innehält:

Vielleicht bräuchteich das alles nicht zu erzählen, weil es die große Maschinejanicht mehr geben würde. Sie wäreunwichtig, und da ich sie nicht mehr beachte,würde es sie nicht mehr geben, und die Kinder würden nie wissen,daß es Deutschlandjemals gegeben hat,und sie wären frei, aufihreArt.³²

Hier zeigen sich zweiMöglichkeiten paralogischer Differenzästhetik: Sie führt entweder in eine Kultur der feinen Unterschiede,inder ‚alle dasselbe tun‘, manche besser,manche schlechter, oder sie führt in eine absolute, in sich ge- schlossene Para-Realität, die keinen referentiellen Bezugmehr aufandere Zu- stände nimmt – mit anderen Worten: Popoder Utopie. CobyCounty, der ewigeOrt entspannter Freizeit und Kreativität ausLeif Randts Roman Schimmernder Dunst über Coby County (2011), realisiert nun sozusagendiese beiden Möglichkeiten gleichzeitigoder hält sie ununterscheidbar. „‚Alswir die Kinder von CobyCounty waren, wussten wir noch nicht, dass wir an einem der besten Orte der Welt lebten. Heute ahnen wir es,aber das machtesnicht leichter.‘“ Diese Aussageder Hauptfigur „*Wim Endersson, 26,Literaturagent“,ist dem Text als Motto vorangestellt.³³ Wieüberall im Buch (außer im Titel der ge- bundenen Ausgabe) ist der Name des fiktivenOrtes ohne Spatium geschrieben, und nicht umsonst erinnert er mitseinen zwei Initial-Cs an die Weltmarke Coca Cola – die paralogische Diegese präsentiert sich als Marke. Mit einem Literatur-

 Kracht: Faserland, S. 148f.  Kracht: Faserland, S. 149f.  Leif Randt: Schimmernder Dunst über Coby County.Berlin ²2011:Berlin Verlag,S.[5]. 154 Moritz Baßler agenten als Ich-Erzähler entsteht auch hier ein Meta-Roman: „In der internatio- nalen Presse“,heißt es im Text, „kursiert seit Jahren die Ansicht,dass die Texte ausCobyCountystilistisch zwar perfekt seien, dass ihnen jedoch der Bezugzu existenzieller Not fehle.“³⁴ Indem der popliterarische Text diese Standardkritik an neuerer Popliteratur als idée reçue in die eigene Diegese integriert,unterläuft er antizipierend die Haltungderjenigen Rezensenten, die ihn als „Satireauf die ‚westliche Wohlstandsgesellschaft‘“ (FAZ)und „herrliche Parodie aufunsere Sehnsucht nach störungsfreiem Leben“ (NZZ) gelesen haben; der Roman zeige, „wie Kreativität sich unter den Verhältnissen der absoluten Saturiertheit in Ab- stumpfung verwandelt“ (taz) und man ahne „die nahende Apokalypse […]auf jeder Seite“ (so die FR selig).³⁵ Solche Lesarten bleiben unterkomplex, weil sie den paralogischen Status des Textes und seiner Diegeseverfehlen. Randts Roman parodiert nichtunsere Ge- sellschaft,sondern simuliert einen anderen Zustand.Wenn PeterLicht aufseinem Album Lieder vom Ende des Kapitalismus (2006) so tun kann, als sei der Kapi- talismus „endlich vorbei“,³⁶ dann führt Schimmernder Dunst über Coby County eine Welt vor, in der sich der Kapitalismus friedlich vollendet hat.Wenn der Ro- man alsodie Fragestellt ‚What’swrong with westliche Wohlstandsgesellschaft?‘, dann zumindest gutPauldeMan’sch in unentscheidbar doppelter Weise, als echte Frage(die für die Kritikerfreilich immer schon beantwortet ist³⁷), aber eben auch als rhetorische Frage. Auch Wimmacht sich selbstredend Gedanken überdie wahre Qualität seiner Welt,muss dannaberimmer wiedereinsehen:

Die Wahrheit: Ichesse eine phänomenal gute Pizza und bekomme fantastische Spielzüge vonden bestenVereinsmannschaften der Welt präsentiert.Das Bild aufmeinem TV-Schirm ist hochauflösend, und durch die geöffneteBalkontür weht ein milder Wind.³⁸

Dies ist die Wahrheit des Buches: „wenn einem nicht übel ist,dann ist einem eben nicht übel“,³⁹ und die vermeintliche Apokalypse,auf die die FR-Rezensentin wartet,erweist sich am Ende als harmloses Unwetter.Hier wie öfters in guter

 Randt: Schimmernder Dunst über Coby County,S.30.  Alle Pressestimmenzitiert nach: www.perlentaucher.de/buch/leif-randt/schimmernder- dunst-ueber-cobycounty.html (16.Mai 2017).  PeterLicht: Lied vomEnde des Kapitalismus.Auf: Lieder vomEnde des Kapitalismus.Motor Music 2006.  Mit der Kehrseite, dass sie Romane bevorzugen, die von ‚existenzieller Not‘ handeln; deren inhaltliche Darstellung freilich, wie die vonmagischer Bedeutungoder Genie, noch nichts über die literarische Qualität des Textes aussagt,indem sie vorkommt.  Randt: Schimmernder Dunst über Coby County,S.68.  Randt: Schimmernder Dunst über Coby County,S.124. Neu-Bern, CobyCounty,Herbertshöhe 155

Literatur gilt, „daß die buchstäbliche Lektüre nicht unbedingt einfacherist als die figurative“.⁴⁰ Die paralogische Welt der Marke CobyCounty ist aufihre Weise perfekt. Wassie, recht besehen, ent-naturalisiert,ist aber nicht unsere Wohl- stands- und Konsumgesellschaft,wie sie die Popliteratur vermeintlich kritiklos propagiert,sondern eine gängigeKritik an dieser,die immer schon zu wissen meint,hier fehle das Wesentliche,und der ihre Auffassung,Konsum sei ober- flächlich und schlimm, längst zur zweiten Natur geworden ist.Dagegen ist die CobyCounty-Haltung die reflektiertere, gerade weil sie sich selbststets wahr- nimmtund in Anführungszeichensetzt:

Das erste Treffenzwischen Carla und mir fand in einem Eiscafé statt.Wir hielten das beide für etwas lachhaft,deshalb fühlten wir uns wohl. Wirbestellten jeweils einen Becher mit zwei Kugeln unter Sahne und Schokoladensplittern. Extrem simple Eissorten: Vanille und Him- beere. […]Wir sprachen darüber,dass wir beide Phasen hinter uns hatten, in denen wir Eissorten wie ‚AfterEight‘ oder ‚Maracuja Sunrise‘ bestellten, dass wir jetzt aber zu den Basics zurückgekehrt seien. Wirsprachen ernst darüber,das war uns wichtig. Harmlose Konsumentscheidungen dominierten schließlich große Teile des Alltagsund noch größere Teile des Nicht-Alltags, also der Ferien, dessen waren wir uns beide bewusst, also führtenwir solche Gespräche seriös.⁴¹

Leif Randts Buch ist selbststilistisch perfekte Popliteratur.Sie stelltaus, was Kehlmanns populär-magischer Realismus verschleiert – dass sie nämlich eine fiktionale Welt unter den Bedingungen der Markt- und Mediengesellschaft an- bietet und also warenförmigist.Paralogien sindinder TatMarkenprodukte, so wie umgekehrt,folgt man WolfgangUllrich, viele Markenproduktewie etwa Coca Cola Träger vonFiktionen, vonalternativen Lebensentwürfen sind: „Warenäs- thetik und Marken-Images“ eröffnen „den Traumvon zusätzlichen Möglichkei- ten“⁴² und werden damit zu Konkurrenzprodukten vonLiteratur und anderen fiktionalen Formaten. WasUllrich über Markenartikel schreibt,gilt demnach mutatismutandis auch für Literatur:

Der Wunsch nach Überhöhungund Fiktionalisierungen ist […]nie endgültig erfüllbar.Die standardmäßigvorgebrachteKritik, daß nur Enttäuschungenansammle,wer sich dem Konsum hingibt,ist daher ebenso trivial wie an der Sache vorbei, bleibt doch ein Fiktions- wertversprechen anders als ein Gebrauchswertversprechen, das sich vollständigeinlösen oder das klar gebrochen werdenkann,generell unerfüllbar.⁴³

 Paul de Man: Allegorien des Lesens. Frankfurt am Main 1988:Suhrkamp, S. 41.  Randt: Schimmernder Dunst über Coby County,S.94.  Wolfgang Ullrich: Habenwollen.Wiefunktioniert die Konsumkultur?Frankfurt am Main 2008: Wagenbach, S. 51.  Ullrich: Habenwollen, S. 47. 156 Moritz Baßler

Interessanterweise spricht der Konsumtheoretiker in diesem Zusammenhang von ‚Möglichkeitssinn‘ und zitiert dabei die Poptheoretiker Holert und Terkessidis.⁴⁴ WirLiteraturwissenschaftlerdenken hier vermutlich eher an Robert Musils Der Mann ohne Eigenschaften. Indem paralogisches Erzählen heute literarische Orte schafft,fiktionale Diegesen, die der unserennebengeordnet sind,aktiviert es ein uraltes magisches Potential vonLiteratur, um unserenMöglichkeitssinn zu we- cken. Ichsehe hier eine intelligente Form realistischen Erzählens am Werk,die nicht behauptet,die Welt wesentlicher zu verstehen und richtiger darzustellen als andere – es war ja immer schon unklar,inwiefern ausgerechnet Schriftsteller dazu in der Lagesein sollten – und die uns dennoch hilft,sie neu und anders zu ver- stehen, wie Ulrich im Mann ohne Eigenschaften: „Und plötzlich sagte er halblaut: ‚Man hat eine zweiteHeimat,inder alles, wasman tut,unschuldig ist.‘“⁴⁵ Ob wir diese zweiteHeimat nun heute Kunst nennen wollen oder Pop – nur im para- digmatischen Vergleich zu ihr kann, jenseits der Vulgata unseres naturalisierten Wissens, auch das Wesen unsererersten aufscheinen: „Paradise /isexactlylike/ whereweare right now /onlymuch much /better.“

 Ullrich: Habenwollen, S. 45.  : Der Mann ohne Eigenschaften. Bd.I.Hrsg. vonAdolf Frisé. Reinbek 1987: Ro- wohlt, S. 119.