2 Kritik der Transformation – Erziehungswissenschaft im vereinigten Deutschland Jahrbuch für Pädagogik 2002 Kritik der Transformation- Erziehungswissenschaft im vereinigten Deutschland .. .. JAHRBUCH FUR PADAGOGIK

Begründet von:

Kurt Beutler, Ulla Bracht, Hans-Jochen Gamm, Klaus Himmelstein, Wolfgang Keim, Gernot Koneffke, Karl Christoph Lingelbach, Gerd Radde, Ulrich Wiegmann, Hasko Zimmer

Herausgeberinnen: Kurt Beutler(Hannover), Hans-Jochen Gamm (Darmstadt), Thomas Gatzemann (Chemnitz), Wolfgang Keim (Paderborn), Dieter Kirchhöfer(), Gerd Steffens (Kassel), Christa Uhlig (Berlin), Edgar Weiß (Siegen)

� PETER LANG Frankfurt am Main· Berlin· Bern· Bruxelles ·New York· Oxford· Wien .. .. JAHRBUCH FUR PADAGOGIK 2002

Kritik der Transformation - Erziehungswissenschaft im vereinigten Deutschland

Redaktion: Wolfgang Keim, Dieter Kirchhöfer und Christa Uhlig

� PETER LANG Europäischer Verlag der Wissenschaften BibliografischeInformation Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;detaillierte bibliografische Daten sind im Internetüber abrufbar.

E-ISBN 978-3-653-05154-4 (E-Book) DOI 10.3726/978-3-653-05154-4 ISSN2199-7888 ISBN 3-631-50913-8 ©Peter Lang GmbH Europäischer Verlag der Wissenschaften Frankfurtam Main 2003 Alle Rechte vorbehalten. Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen,Übersetzungen, Mikroverfilmungenund die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

www.peterlang.de Inhalt

Editorial ... „...... 11

Rahmenbedingungen und Konturen der Transformation

Fritz Vilmar Wiedervereinigung oder Anschluss? - eine kritische Analyse der Verei- nigungspolitik ...... 19

Jörg Roesler Transformationsprozesse nach Vereinigungen. Ein historischer Vergleich 41

Christoph Butterwegge Neonazismus, Rechtsextremismus und Rassismus unter Jugendlichen - ein ostdeutsches Phänomen? ...... 57

Transformationsprozesse in der Erziehungswissenschaft - kritisch hinterfragt

WolfgangNitsch „Vom Machbaren zum Wünschbaren" - wie die Deutsche Gesellschaft für Erziehungswissenschaft die Abwicklung der DDR-Pädagogik mit be­ werkstelligte und dann beklagen ließ. Verspäteter Nachruf auf einen Nachruf...... 73

Karl-Friedrich Wessel Der 9. November 1989 und der Bildungsnotstand oder Über die Erschaf- fung derGeschic hte als Vollendung des Vergessens ...... 87

Dieter Kirchhöfe r

Transformationsforschung als Fortschritts- oder Verfallsgeschichte ...... 105

Klaus Boehnke/Ralph Günther Transformationsstudien: Ein großes deutsch-deutsches Missverständnis?.... 129

5 Christa Händle „Vom Funktionär zum Pädagogen?" - Lehrerinnen und Lehrer im Trans-

formationsprozess .. „„„„„„„„„„„...... „„„„„„„.. „. „„„„„„„„„„.„„„„„„„„„„„„„„„„„„„„„„... „„. 145

Theorieentwicklung - Erweiterungen und Begrenzungen

Woifgang Eich/er Diskurs in der Allgemeinen Pädagogik - unter Beteiligung von Ost und

West? „. „„„„„„„„„„„.. „ ... „„„„„„„„„„„„.„„„„„„... „„„„„„„„.„„„„„„„„„„„„.„.„„„.„„„„„.„„„„„„„„ 181

Thomas Gatzemann Vom Umgang mit Indoktrination. Kritische Vergewisserung einer be- denklichen Aufarbeitung .„.„„„„„„...... „„„.„„„„„„„„„„„„„„.„„„„„„„.. „„„ .... „„„„„„„.. „„„ . 199

Johannes Weinberg Von der DDR in die neuen Bundesländer. Bericht und Anmerkungen zu einem Forschungs- und Entwicklungsprojekt mit Erwachsenen (l 99 l-

2000) .„„„„„„.„„„„„„„„„„„„„„„„„„„„„„„„„.„„„„„.. „ ... „„„„.„„„„„„„„„„„„„„„„„„„„„.„.„„„„„„„. 215

Marina Kreisel Zur Entwicklung der Deutschdidaktik nach dem Beitritt der DDR zur

Bundesrepublik Deutschland - Betrachtungen einer Außenseiterin „„.„„„„„„ 245

Praxiserfahrungen und Lernprozesse in der Transformation

Christa Uhlig Die Herausbildung nichtinstitutionalisierter, informeller Wissenschafts­ kulturen in Ostdeutschland am Beispiel der Erziehungswissenschaften„„„„ 271

Rosemarie Boldt Aus meiner Zeit als freiberufliche Honorardozentin, wie es dazu kam und einiges von dem, was ich erlebte .„„„„„„„„„„„„„„„„„.„„„„„„„„„„.„„„„„„„„„„„.„„.„„„. 289

Hans Maur Gedenken im Spannungsfeldvon Politik und basisdemokratischem Enga- gement .„„„„„„.„„„„„„„„„„„„„„.„„„„„„„„„„„„„„.„„„„„„„„„„„„„„.„„.. „„„„„„„„„„„„. 301

Christei Berger

Die Friedrich-Wolf-Gedenkstätte in Lehnitz - ein Exempel „„„.„„„„„„„„„„„„„ 313

6 Brigitte Rothert Über Tucholsky-Schulen in Deutschland oder wie mit Tucholsky Brük- ken zwischen Ost und West entstehen .„„„„.„„.... „ .... „ .. „... „„„„„„„.„„„„„ ..„„„.„„.„„... 321

Gisela und Horst Weiß Warum in die Feme schweifen? Anmerkungen zur Gesamtschule in

Brandenburg „„„„.„„„„„„„„„„„„„„.„„„„„„„„„„„„„.„ ..„„„„„ ...... „ .....„ ...... „...... „„ ..„ ...„„ 323

Gerhart Neuner

Forum Bildung im Rückblick.„ .. „... „„„„„„.„„„„„„„„„„„ ... „„„„„„„„„„„„„„„ ..„ ..„„„„„.„.. 333

Hans-Jochen Gamm

Subjektbestimmung im Prozeß der Transformation„„„„„„„„„„„„„„„„„„„„„„... 341

Jahresrückblick

Gerd Steffens

Rechtsextremismus: Zwischen Skandalisierung und Normalisierung „„„„„„. 361

Edgar Weiß Verordneter Antipazifismus - die bundesrepublikanische Antwort auf die

Terroranschläge vom 11. September? ...... „„„„„„„.„„ .. „„„„„„„„„.„„„„ .... „„„„„„„.„„„. 371

Rezensionen

Bollinger, Stefan/Vilmar, Fritz (Hrsg.): Die DDR war anders. Eine kriti­ sche Würdigung ihrer sozialkulturellen Einrichtungen.

(Christa Uhlig) „„.. „„„„„„„„„„„„„„„ ... „„ ...... „„„„„„„„.„.„.„„„„ ..„„„„„„ .. „„„„„„ .. „„„„„„„„„ 383

Freis, Britta/Jopp, Marion: Spuren der deutschen Einheit - Wanderung zwischen Theorien und Schauplätzen der Transformation.

(lrmgard Steiner) .„„„„„„„„„„„„„„„„„„„.„ .. „„„„„.„„„„„„„„„„„„„„„„„„„„„„„„„„„„„„„„„„. 386

Mittenzwei, Werner: Die Intellektuellen. Literatur und Politik in Ost­ deutschland von 1945 bis 2000.

(Wolfgang Eich/er) .„ ..... „... „„„„„ .. „„„„„.. „.„„„„„„„„„„„„„.„„„„„„„„„„„„„„„ .. „„„„„„„„.„„. 389

7 Zoll, Rainer (Hrsg.): Ostdeutsche Biographien; Günther, Janne (Hrsg.): WendeZeit: „Kein Klischee stimmt". Ostdeutsche Lebensläufe in Selbst­ entwürfen; Spurensicherung. Bd. IV. Unabhängige Autorengemeinschaft.

(D ieter Kirchhöfe r) .„„„.. „„.„.. „„„„„„„„„ „.„„„„„.„.. „„„„„„„„„.„„„„„„„„„„„„„„„„„„„„„„„. 392

Merkens, Hans/Schmidt, Folker (Hrsg.): Lebenslagen Schuljugendlicher und sozialer Wandel im internationalen Vergleich; Merkens, Hans: Schuljugendliche in beiden Teilen seit der Wende. Reaktionen auf den sozialen Wandel

(Anne Wessel) .... „„.„„„.„.... „.„„ .„„„„„„„„„„.„„„„„„„„„„.„„„„.„„„„„„„„„„„„„„„„„„„„„„...... 396

Eichler, Wolfgang: Der Stein des Sisyphos. Studien zur Allgemeinen Pädagogik in der DDR.

(Thomas Gatzemann) .„„„„„.„.. „„„„„„„„„„„ .„„„„„„„„„„... „.„„.. „„„„„.. „„„„„„„„„„„ .. „.„„„ 399

Geißler, Gert: Geschichte des Schulwesens in der SBZ und in der DDR 1945-1962.

(Karl Heinz Jahnke) „ .. „„„„„„„... „ .... „„„„..... „„ .. „„„.„„„„„„„„„„„„.„.. „„„„„„„„.. „.„„.. „„„„. 402

Gruner, Petra: Die Neulehrer - ein Schlüsselsymbol der DDR­ Gesellschaft.

(Ursula Mader) „„„„„„„„„„„„„...... •. „„...... „. „„„„„„„.„.„„.„„„„„„„„.. „„„ .. „„„ .. „ .. „„„„„„„ .. 406

Butterwegge, Christoph (Hrsg.): Kinderarmut in Deutschland - Ursachen, Erscheinungsformen und Gegenmaßnahmen; Butterwegge, Christoph/ Klundt, (Hrsg.): Kinderarmut und Generationsgerechtigkeit - Familien- und Sozialpolitik im demographischen Wandel.

(B enjamin Benz) „„„„„„„„„„„„„„„„„„„.„.. „.. „„„.„ .. „ ...... „.„... „.„„•. „„„„„„„„„„„„„„„... „.. „„„. 409

Grebing, Helga (Hrsg.): Geschichte der sozialen Ideen in Deutschland. Sozialismus - Katholische Soziallehre - Protestantische Sozialethik. Ein Handbuch; Saage, Richard: Politische Utopien der Neuzeit.

(Christa Uhlig) „.„.„„„„„.„.„.„„„„„.. „„„„„„„„„„..... „„„„„.„.. „„„„„„„„ .. „„„„„„„„„„„...... 415

Retter, Hein: Oswald Kroh und der Nationalsozialismus.

(Edgar Weiß)„„„„„„„„ .„.„„.„„„„„„„„„„„„„„„.„„„„„„.„„„„„„„„„„„„.„.„„„„.„„.„„„„„„„„„„„. 419

Leenders, Helene: Der Fall Montessori. Die Geschichte einer reformpäda­ gogischen Erziehungskonzeption im italienischen Faschismus.

(Edgar Weiß) „„„„... „„„„„„„„„„„„„„„„„„.„„„„„„„„„„„„„„„.„.. „„.„ .„„„„„„„„„„„„„.. „.„„ .. „„„ 421

8 Hansen, Georg: Die Deutschmachung. Ethnizität und Ethnisierung im Prozess von Ein- und Ausgrenzungen.

(Sigrid Blömeke) „„„„„„„„„„„„„.. „.„.. „„„.. „.„„„„„.„„•... „„„„ .„.„„.... „ .. „ ..... „ ..„ .„.. „ .. „...... 423

Roth-Zimmermann, Marie-Louise: Denk' ich an Schelklingen ... Erinne­ rungen einer Elsässerin an die Zeit im SS-Umsiedlungslager (1942-1945).

(Kurt Beutler) .„„„„„.„.„.. „„„„„„„„„„„„.„„„„„„„„.„„„„„„„„„.„„„„„„„„„„„„.„„„„.. „. „„„„„..... 426

Jahnke, Karl Heinz: Vergessenes? Der europäische Widerstand 1939 bis 1945 in deutschen Geschichtslehrbüchern; Jahnke, Karl Heinz: Marie ter Morsche kann ihren Vater nicht vergessen. Widerstand gegen Hitlers V­ Waffen in Zinnowitz und Peenemünde 1942/43; Jahnke, Karl Heinz/Ros­ , Alexander: Hauptangeklagter im Berliner Katholikenprozeß 193 7: Kaplan Dr. Cornelius Rossaint.

(Wolfgang Keim) „„„.„.„„„„„„„„„„„„„... „„„„„ .. „„.. „„„„.„.„.„„„„„„„„„„.. „„„„„„„„„„„„„„„. 428

Autorenspiegel „„„„„„„„„„„„„„„.„„„„„„„.... „.„„„.„„„„„„„„„„„„„„„.„„„„„„„. „„„„„.. „„„„ . 435

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Rezensionen

Stefa n Bollinger!Fritz Vilmar (Hrsg.) : Die DDR war anders. Eine kritische Würdigung ihrer sozialkulturellen Einrichtungen. Berlin: edition ost im Verlag Ne ues Berlin 2002 (2 51 S. , 12, 90 Euro)

„DIE DDR WA R ANDERS. Das heisst zweierlei: Erstens war sie anders als die BRD, Und zweitens war sie anders, als sie in den meisten Reden und Büchern beschrieben wird " Unter diese These stellen Herausgeber und Autoren des Sammelbandes Bei­ träge über sozialkulturelle Einrichtungen der DDR, die sie für werthalten , erin­ nert zu werden. In der nachwendischen Geschichtsschreibung über die DDR ist eine solche Sichtweise unüblich, überliefernswert scheint eher das abschrecken­ de Beispiel und die Botschaft„Nie wieder Sozialismus". Auch den Herausgebern des vorliegenden Bandes, Fritz Vilmar (Emeritus des Instituts für Politikwissenschaft an der Freien Universität Berlin) und Stefan Bollinger (abgewickelter und heute als Dozent in der Erwachsenenbildung täti­ ger Wissenschaftler mit Ost-Biographie), geht es „nicht um eine Rechtfertigung des Realsozialismus Marke DDR", sondern um „etwas ganz anderes". Denn „obwohl die sowjetisch geprägte SED-Diktatur in der DDR das Entstehen eines sozialistischen Gesellschaftssystemsvereitelt" habe, sei die DDR mit dem Etikett „SED-Diktatur" nicht ausreichend beschrieben. „Trotz der Diktatur" habe es „ei­ ne beachtliche Anzahl humaner sozial-kultureller Einrichtungen und Leistungen" gegeben, in die „Millionen aktiver Bürger der DDR ihre Lebenskraft investiert" hätten (S. 8). In der Ignoranz dieser Aspekte des Lebens in der DDR sehen sie „wesentliche Ursachen der nach wie vor bestehenden Distanz und Entfremdung zwischen Ost- und Westdeutschen" (S. 8 f.). Um der Tendenz einer Negativgeschichtsschreibung entgegenzuwirken, gründeten die Herausgeber 1997 ein Forschungsprojekt „Kritische Analyse so­ ziokultureller Einrichtungen der DDR", das zur Sprache zu bringen versucht, „was bisher im Einigungsprozess infolge einer den ,Osten' nur mehr ,abwik­ kelnden' Vereinigungspolitik und der dominierenden ,Unrechtsstaats'-Darstel­ lungen weithin versäumt wurde" (S. 9). Die vorliegende Publikation präsentiert erste Resultate. Ihr erster Te il gilt grundlegenden Klärungen zum Thema. In ei­ ner Einleitung erläutern Stefan Bollinger und Fritz Vilmar theoretische und me­ thodische Vorüberlegungen (S. 8 - 24). Am Beispiel der vom Deutschen Bun­ destag eingesetzten Enquete-Kommissionen analysiert Annelie Kuttner Ge­ schichtsp olitische Ausgrenzungen in der Vereinigungspolitik (S. 25 - 57). Ihr Fa­ zit: Die Vergangenheitsbearbeitung der Enquete-Kommissionen kommt einer „Enteignung ostdeutscher Geschichte" gleich (S. 48). Ein Literaturbericht zur bisherigen DDR-Forschung (Stefan Bollinger, S. 60 - 76) bekräftigt dieses Ur­ teil, führt „Fehlstellen" und tabuisierte Themen, aber auch Ansätze differenzier-

383 ter Geschichtsbetrachtung vor. Der zweite Te il des Bandes berichtet über signifi­ kante Beispiele - Lebensbereiche und Einrichtungen der DDR, denen die Auto­ ren humane soziale Potentiale und antizipatorische Bedeutung beimessen. Dazu gehören das polytechnische Prinzip im Bildungswesen (Elviera Thiedemann, S. 78 - 106), Bildende Kunst (Fritz Vilmar, S. 108 - 120, Peter Arlt/Rudolf Kober, S. 121 - 139), Reformelemente im Zivilgesetzbuch (Karl-Heinz Arnold, S. 140 - 158), massenwirksame Recycling-Konzepte (S. 159 - 181), die Arbeitswelt als Lebenszentrum (Petra Junghans, S. 182 - 203 ), Agrargenossenschaften (Hans Luft, S. 204 - 223), das gesundheitspolitische Mo dell der Polikliniken (Linde Wagner, S. 224 - 245). Ein als Typoskript lieferbarerErgänzung sband erschließt weitere Bereiche, u.a. Vorschulerziehung, soziale Einrichtungen fü r Jugendliche, größere Selbstständigkeit der Frauen, Mitbestimmung in Un iversitätsinstituten, berujsp ädagogische Erwachsenenbildung, Erfahrungen mit Plan und Markt, DDR-Soziokultur, kritische Literatur, Rock- und Singebewegung, und setzt sich mit DDR-Darstellungen in aktuellen Schulbüchern auseinander. Die Auseinandersetzung mit all diesen Themen wird von zwei erkenntnislei­ tenden Fragen bestimmt: Erstens „nach der ,political correctness' eines positiven Rückbezugs auf sozial-kulturelle Modelle, die in einer autoritären Gesellschaft mit teilweise totalitären Zügen entwickelt worden sind", und zweitens, „ob und unter welchen Bedingungen die wiederzuentdeckenden soziokulturellen Errun­ genschaften der DDR zukunftsträchtig sind" (S. 19). „Auf der normativen Ebene" - so die Herausgeber - ließe sich in der DDR kein Zusammenhang „zwischen repressiven Herrschaftsmethoden und humanen sozialistischen Zielsetzungen (im Gegensatz zu den rassistischen und Volksge­ meinschaftsideologien der Nazi, die Elemente der totalitären NS-Herrschafts­ methoden waren)" nachweisen. Humanistische Ziele seien „auf der Grundlage humanistischer und sozialistischer Traditionen formuliert und intendiert" gewe­ sen, „allerdings in ihrer Realisierung dann durch die Methoden autoritärer Herr­ schaftssicherung und Erziehungsdiktatur teilweise verfälscht. Es ist daher mög­ lich, viele der soziokulturellen Einrichtungen der DDR von ihren repressiven Rahmenbedingungen zu lösen und positiv-kritisch ,aufzuheben"' (S. 19). Dies bedeute auch, „die Wertschätzung vieler Ostdeutscher ernstzu nehmen" (S. 20), die sie der sozialen Seite der DDR gegenüber entwickelt hätten. Allerdings stün­ de dem entgegen, daß der Zusammenbruch des Staatssozialismus zu einer Zeit gekommen sei, in der sich in der Bundesrepublik „der marktradikale Ansatz als Ausweg aus den neuen Anforderungen der Technologierevolution" durchzuset­ zen begann. Das erschwere „das Verständnis vieler sozial-kultureller Konzepte der DDR, weil dabei eine doppelte Barriere zu überwinden ist: nicht nur die des pauschalen DDR-Bildes als eines ,total' undemokratischen Systems, sondern

384 auch die einer weithin akzeptierten kapitalistischen Ellbogengesellschaft, die sich weit entfernt hatvom Konzept der Sozialen Marktwirtschaft" (S. 20). Das Dilemma dieser Entwicklung zeigt sich nicht zuletzt in den jüngsten Diskussionen um die PISA-Studie. Spätestens hier erwies sich die Überlegenheit von Bildungsmodellen, denen das Bildungswesen der DDR weit mehr entsprach als das altbundesdeutsche. Zu den Absurditäten und Verkrampfungen des Eini­ gungsprozesses gehört, das dies gewußt, aber nicht zu sagen gewagt wird - ver­ mutlich, weil dann politisch gewollte Geschichtskonstrukte korrigiert werden müßten und Selbstkorrektur ohnehin nicht zu den Stärken der politischen Klasse in Deutschland gehört. Insofernist die vorliegende Publikation - neben anderen - vielleicht ein Neuansatz, der nicht nur einen Beitrag zur „inneren Einheit" zu lei­ sten imstande wäre, sondern auch perspektivische Bedeutung hätte. So zumin­ dest wünschen es die Autoren, wenn sie an Regine Hildebrandts Kritik „an der bisherigen, rein westdeutsch geprägten Vereinigungspolitik" erinnern: „Mir will einfachnic ht einleuchten, warum man nicht die Vorteile zweier Systeme mitein­ ander verbinden kann, sondern stattdessen einem einzigen System den Vorzug gibt, das neben vielen erfreulichen Vorteilen erhebliche Mängel aufweist" (S. 21).

Christa Uhlig

385 Freis, Britta/Marlon Jopp : Sp uren der deutschen Einheit - Wanderung zwischen Theorien und Schauplätzen der Transformation. Frankfu rt am Ma in: Peter Lang 2001 (5 32 S.)

Mit dem vorliegenden Band haben die Autoren eine umfangreiche Studie zu Problemen des Transformationsprozesses aus sozialgeographischer Sicht vorge­ legt. Sie stellten sich erstens das Ziel, „die Unabgeschlossenheit der sozialwissen­ schaftlichen Transformationsforschung zu begründen", „zukünftige bedarfsori­ entierte Entwicklungslinien und die daraus abgeleiteten Ausgangspunkte" ihrer Arbeit sowie den „Beitrag zur Ergänzung und Weiterentwicklung der sozialwis­ senschaftlichen Transformationsforschung über Ostdeutschland genauer zu defi­ nieren" (S. 20). Das zweite Ziel sahen die Autoren darin, „einen grundlegenden Überblick über zentrale Elemente der Strukturationstheorie von Anthony Gid­ dens und der Sozialgeographie von Benno Werlen zu erarbeiten" (S. 21). Die dritte Zielstellung umfasste die Aufgabe, eine „Auswahl öffentlicher Diskurse zur Situation und zu den Perspektiven der Einheit Deutschlands" (S. 21) zu ana­ lysieren und systematisieren. Dabei sollte besonders berücksichtigt werden, „ob soziale Spannungen zwischen Ost- und Westdeutschen in konkreten Kontexten der alltäglichen Lebensführung handlungsleitende Einflüsse besitzen" (S. 21). Viertens stellten sich die Verfasser das Ziel „zu untersuchen, ob und wie sich das alltägliche dörfliche Leben verändert und wie sich die Situation der Dorfgemein­ schaftnach dem Ende der DDR entwickelt hat" (S. 21). Von besonderem Inter­ esse sind hier die Fallbeispiele aus Dörfern des Weimarer Landes, in denen er­ fasst werden sollte, welche Bedeutung und Bewertung die dort lebenden Men­ schen ihren Lebensbedingungen zuschreiben. Insbesondere in den Kapiteln zwei und drei stellen Freis und Jopp ihre theo­ retischen Annahmen und begrifflichen Konzepte vor. In verdienstvoller Weise thematisieren sie hier in angemessener Breite die Strukturationstheorie von A. Giddens und die Sozialgeographie der alltäglichen Regionalisierungen von B. Werlen, die bisher noch nicht zu den theoretischen etablierten Ansätzen in den deutschsprachigen Sozialwissenschaften gehören und für empirische Untersu­ chungen verwendet werden (S. 467). Mit diesen Ansätzen wollen sie gewisser­ maßen einen dritten Weg zwischen den Modellen zur Beschreibung und Analyse der gesellschaftlichen Prozesse auf der Makroebene sowie der Lebenswelt- und Biographieforschung auf der Mikroebene finden und ihn empirisch erproben. Sie benutzen dabei Giddens' Ansatz, die handlungs- und strukturtheoretische Per­ spektive miteinander zu vereinen und den unauflösbaren Zusammenhang von Strukturen und Handlungen in der sozialen Praxis greifbar zu machen, ohne sich dabei kritischen Hinweisen zu diesen Theorien zu verschließen. Von Werlen, der

386 für die Ausarbeitung seiner Sozialgeographie bereits auf Giddens zurückgriff, wird das Verhältnis von Gesellschaft und Raum bzw. von Handeln und Raum, die er als menschliche Konstitutionsleistung begriff, übernommen. Im empirischen Teil der vorliegenden Untersuchung versuchen die Autoren, die „Strategien von Menschen zur Wiederverankerung des Selbst und zur Auf­ rechterhaltung ihrer Seinsgewißheiten zu erfassen, welche diese unter den entan­ kerten und entankernden Lebensbedingungen im Kontext der Transformations­ prozesse entwickeln" (S. 179). Sie suchen nach Auswirkungen von sozial herge­ stellten Gegensätzen - wie Ost/West und Stadt/Land - im Denken und Handeln von Menschen. Das empirische Material - Zeitungsartikel, Aussagen von Politi­ kern und Wissenschaftlern, selbst durchgeführte Interviews - wird dabei nach den hier kurz angedeuteten theoretischen Konzepten analysiert. Es wird auch das Bemühen deutlich, adäquate Forschungsstrategien zu fin­ den, um alltägliche Phänomene zu erfassen. Die Autoren gehen davon aus, dass es zahlreiche Fragestellungen gibt, bei denen sich qualitative und quantitative Verfahren komplementär ergänzen können. Dies träfe besonders auf Untersu­ chungen zu, die sich der Dualität von Handeln und Struktur widmen (S. 189 ff.). Da die quantitativ messbaren Aspekte, Phänomene und Prozesse der gesell­ schaftlichen Transformation in Ostdeutschland weitreichend erforscht seien, le­ gen sie ihren Schwerpunkt auf qualitative Methoden, verbunden mit einem weit­ gehend induktiven, eher an Einzelfällen orientierten Vorgehen. „Die Untersu­ chungspersonen werden unter Beachtung ihres sozial-kulturellen Kontextes und ihrer Historizität durchgängig als Subjekte des Forschungsprozesses zu betrach­ ten versucht. ... Eine solche methodische Vorgehensweise erfordert einen mit­ unter literarischen Stil, ein Verständnis von Sozialwissenschaft als Kommunika­ tion zwischen den Beteiligten sowie eine möglichst dichte Beschreibung von Phänomenen und Ereignissen" (S. 190/191 ). Die Autoren reformulierten und modifizierten deshalb auch im Verlauf ihrer Forschungen ihre wissenschaftli­ chen Fragestellungen und haben auch vielfältige Ergänzungen und Korrekturen ihres ursprünglichen Forschungsdesigns zugelassen. Es ist als Feldforschung an­ gelegt und beinhaltet verschiedene Methoden: qualitative Interviews (als teil­ strukturierte leitfadenorientierte Interviews), Beobachtungen (offene, teilneh­ mende), die Analyse der Lokalberichterstattung in Tageszeitungen zur Datener­ hebung sowie Gedächtnisprotokolle und das Führen eines Feldtagebuchs zur Datendokumentation. Zu ihrer methodischen Vorgehensweise gehört auch, dass zur Überprüfung der Ergebnisse die Gütekriterien der qualitativen Sozialfor­ schung strikt eingehalten wurden. Mit ihren Ergebnissen - dargestellt u.a. auch an Interviewausschnitten - kön­ nen die beiden Forscher belegen, dass vielen Ostdeutschen die Westdeutschen fremd sind und umgekehrt. Die oft formulierte Erwartung, dass sich alle einer

387 Nation zugehörig fühlen sollen, habe dazu geführt, dass die Existenz unter­ schiedlicher Vergangenheiten und Biographien negiert wurde. Jeder legte die jeweils eigenen Maßstäbe als Richtlinien des Handelns im Umgang miteinander an, was zu Unverständnis, Irritationen und Fremdsein führte. Diese Fremdbezie­ hungen wurden und werden vor allem von Massenmedien, Politikern und Wis­ senschaftlern thematisiert (S. 213 ff.). „zusammengefasst bedeutet dies, dass sich die Ostdeutschen jenseits der eigenen persönlichen Erfahrungen hauptsäch­ lich Informationen aus westdeutsch dominierten Informationskanälen aneignen können. Dabei werden gleichzeitig partikuläre westdeutsche Interessen als uni­ verselle gesamtdeutsche Interessen dargestellt sowie vorhandene Widersprüche zwischen westdeutschen und ostdeutschen Ansprüchen und Bewertungen (und somit gesellschaftliche Wirklichkeiten) ignoriert und umformuliert, was auf den ideologischen Charakter des medialen Diskurses über Ostdeutschland verweist" (S. 218). Auch die Rolle der gemeinsamen Sprache zwischen Ost- und Westdeutschen wird thematisiert (S. 240 ff.) und in folgender Weise auf den Punkt gebracht: „Unsere gemeinsame Sprache erschwert unserer Erfahrung nach eine Kommuni­ kation miteinander eher, als dass sie sie erleichtert. In einer anderen Sprache wä­ ren wir uns der gegenseitigen Fremdheit bewusst und würden vermutlich behut­ samer mit der Geschichte und den Geschichten des Gegenübers umgehen" (S. 478). Das Resümee: Ost- und Westdeutsche müssen sich mehr begegnen; sie müssen im alltäglichen Miteinander den anderen kennen lernen, Ideen austau­ schen, Neugier aufeinanderbehalten . Das Spannungsfeld Stadt/Land wird besonders am Wandel von drei Dorfge­ meinschaften im Weimarer Land untersucht, in denen nach der Wende Neubau­ gebiete entstanden. Die Dorfgemeinschaften wurden gewählt, weil Prozesse hier auf engem Raum und somit sichtbarer ablaufen. Obwohl die Dörfer viel von ih­ rer ursprünglichen Gestalt bewahrt haben, verläuft eine klare Grenze zwischen den alten Dorfkernen und den Neubaugebieten. Gespräche mit den Dorfbewoh­ nernzeigen, dass diese Grenze symbolischen Charakter hat. „Die Bewohner ost­ deutscher Dörfer schilderten neu gewonnene Chancen und subjektiv empfunde­ ne Verbesserungen ihrer Lebenssituation ebenso wie die Wahrnehmungen bis­ lang unbekannter Risiken und Verlusterfahrungen" (S. 328). Insgesamt zeigt die Arbeit, dass die theoretischen Fundamente von Giddens und Werlen Begriffe und Kategorien liefern, mit denen die hier erforschten Aus­ schnitte der gesellschaftlichen Transformationsprozesse in ihrer Komplexität und Kontextualität erfassbarwurden.

Irmgard Steiner

388 Mittenzwei, Werner: Die Intellektuellen. Literatur und Politik in Ostdeutschland von 1945 bis 2000. Leipzig: Faber & Faber 2001 (590 S.)

Der Titel des Buches und auch noch das Einführungskapitel lassen eine soziolo­ gische Studie erwarten. In der Tat wird dann so etwas wie eine Definition dessen offeriert, wovon das Buch handelt: „Man könnte den literarischen Intellektuellen als einen Signalisten der Gefühls- und Gedankenwelt von Menschen, des Men­ talitätspotentials einer Nation, Klasse oder sozialen Gruppe bezeichnen" (S. 18 f.). Aber der Autor nimmt diese mir recht plausibel erscheinende Bestimmung in gewisser Weise zurück. Es wäre verfehlt, diesen Typus auf eine bestimmte Defi­ nition festzulegen (S. 19). Vielfältige Nuancen müßten wohl akzeptiert werden. Doch an einem Merkmal scheint der Autor festzuhalten: dem Brechtschen „ein­ greifenden Denken". Aber sich in die Geschäfte der Welt einzumischen, sei ein Abenteuer. Wer es auf sich nimmt, „muß sich erst einmal als ein Einzelner in der Öffentlichkeit bemerkbar machen. Er ist auf sich gestellt, auf seine Kompetenz, seine Begabung, sein Werk. Was er als Einzelner gedacht hat, muß er in der Öf­ fentlichkeitau sfechten. Das ist das Feld, auf dem er bestehen muß" (ebd.). Auf den ersten Blick scheint es nicht zwingend geboten, Mittenzweis Buch in einem erziehungswissenschaftlichen Journal anzuzeigen, ist doch die pädagogi­ sche Intelligenz nur entferntmi t dem eben charakterisierten Typus vergleichbar. Aber dieses Einführungskapitel ist lediglich die Vorbereitung (des Lesers) auf ein ziemlich anderes Unternehmen. Der Autor muß zwar sagen, wovon er spricht, wessen Geschichte er erzählt. Gewiss, es ist die Geschichte der literari­ schen Intellektuellen in der DDR, zu denen vor allem die Schriftsteller, Dichter, Publizisten, Philosophen und Literaturwissenschaftler (wie eben auch Mitten­ zwei selbst) zu zählen seien. Aber deren Geschichte vermag der Autor nur zu er­ zählen, wenn er auch die Geschichte der DDR erzählt, und als solche verdient sie das Interesse aller derjenigen, die etwas über die DDR wissen wollen, darunter dürften eben auch Pädagogen sein. Mittenzwei war Zeitgenosse des Geschehens, von dem er jetzt als Zeitzeuge berichtet. Mehr noch: Er war Akteur auf dem gleichen Terrain, auf dem die Ge­ schichte spielte. Sein historischer und persönlicher Abstand dazu ist zwangsläu­ fig gering. Eine solche Situation stellt einen Autor vor das schwierige Problem, Objektives und Subjektives in ein (den Leser) befriedigendes Verhältnis zu brin­ gen. Der Leser will ja zweierlei wissen: Was hat hat sich tatsächlich zugetragen und wie denkt der Berichterstatter darüber. Die ganz und gar subjektiv gemeinte Selbstdarstellung genügt ihm nicht, aber auch die sich völlig objektiv gebende Darstellung reicht ihm nicht aus, denn er möchte sich nicht allein der Sicht und dem Urteil des Autors ausliefern, und er weiß, dass eine noch so sehr betonte

389 Objektivität nur eine relative ist, nämlich die eines Subjekts. Mittenzwei findet fürsei ne Darstellung ein wohltuendes Maß, ohne dem Mittelmaß zu verfallen. Er nimmt sich selbst als Gegenstand der Darstellung weit zurück, spricht von sich in der dritten Person, erfüllt die wissenschaftlicheAnforderung, je de wesentliche Aussage zu belegen, hält aber mit seiner Stellungnahme nicht zurück, hat viel­ fach den Mut zu provozierenden Urteilen. So heißt es zum Beispiel, man könne Walter Ulbricht „am Ende seines Wirkens mit Recht als den begabtesten Arbei­ terführer seit Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg bezeichnen" (S. 174). Dass Mittenzwei der vielleicht bedeutendste Brecht-Kenner der DDR ist, dem wir eine ausgezeichnete Biographie Brechts schon seit 1986 verdanken, ist dem Buch deutlich anzumerken, und zwar nicht nur, weil Brecht besonders häu­ fig als Zeuge aufgerufen wird, sondern weil die an Brecht geschulte Denkweise das ganze Buch durchdringt. Gewiß fasziniertdas Buch auch durch die Fülle der historischen Fakten, der vielen internen Details, aber der tiefe Eindruck, den es bei mir hinterlassen hat, geht darauf zurück, dass Mittenzwei, obwohl er konse­ quent bei seinem Thema bleibt, doch vermag, das einzelne Geschehnis als Mo­ ment einer Totalität zu fassen. Die oft schmerzlichen Konflikte der Individuen sind verwoben mit den gesellschaftlichen Widersprüchen, die sich aus dem Wagnis ergaben, zu diesem Zeitpunkt und an diesem Ort eine Alternative zu ver­ suchen zu jener Gesellschaft, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts Krie­ ge, Krisen und Faschismus hervorbrachte. „Die Wahrheit ist konkret." Dieses Brechtsche Leitmotiv vermag Mittenzwei überzeugend zu realisieren, und zwar in seiner doppelten Bedeutung, nämlich bezüglich der Mannigfaltigkeit der De­ tails und hinsichtlich der inneren, der das Ganze durchdringenden Triebkräfte. Ausgangspunkt ist die „Katastrophe und die Hoffnung 1945-1 949". Dann folgt, gegliedert anhand nachvollziehbarer Zäsuren, die Darstellung des spannungsrei­ chen Wechselspiels zwischen Geist und Macht mit seinen charakteristischen Hö­ hen und Tiefen - Formalismus-Diskussion, Faustus-Debatte, die Opposition Wolfgang Harichs, der Bitterfelder Weg, die Kafkakonferenz, das 11. Plenum, die Biermann-Affäre usw. Aber nicht die Begierde nach dem Spektakulärem wird vorrangig bedient. Es entsteht eine Geschichte der DDR ganz eigener Art, die unter einem spezifischen Aspekt, nämlich des Verhältnisses der literarischen Intellektuellen zu ihrer Gesellschaft, das Ganze der Gesellschaft erfaßt und dies wiederum auf das Handeln und Verhalten der Individuen bezieht. Dabei wird nichts beschönigt und nichts nachträglich eingeschwärzt. Die Überzeugung fe­ stigte sich bei mir als Leser, dass die DDR historisch viel zu bedeutend war, als dass sie schöngeredet werden müßte. Bezogen auf den besonderen Gegenstand der Darstellung Mittenzweis wird die Gewißheit gestärkt, dass das Beste der DDR-Literatur Bestand haben wird, dass diese Literatur unverzichtbar ist, wenn

390 man wissen will, was und wie die DDR, ihre Menschen, ihre Intellektuellen wa­ ren. Dies allein wäre schon eine äußerst verdienstvolle Leistung des Buches, aber die Geschichte endet für Mittenzwei nicht am 3. Oktober 1990. Der Autor ver­ folgt sie weiter bis zum Jahrhundertende, auch hierbei seine Methode fortfüh­ rend. Die Ereignisse dieses Jahrzehnts bedürfen nicht weniger der kritischen Sicht als die 45 Jahre davor, denn sie bestätigen am konkreten Fall die einst von Deutscher (Die unvollende Revolution. Frankfurt am Main/Hamburg 1970, S. 94) getroffene Feststellung, dass die Restauration die Revolution oder zumin­ dest ihre wesentlichen und vernünftigenLei stungen rehabilitiert.

Wolfgang Eichler

391 Zoll, Rainer (Hrsg.) : Ostdeutsche Biographien. Frankfurt: edition suhrkamp 1999 (4 13 S„ 17,40 DM)

Günter, Janne (Hrsg.) : WendeZeit: „Kein Klischee stimmt". Ostdeutsche Lebensläufe in Selbstentwürfe n. Essen: Klartext 2001 (43 7 S., 27,80 DM)

Sp urensicherung. Ed.IV Unabhängige Autorengemeinschaft. Schkeuditz: GNN- Verlag 2002 (2 44 S.)

Mit der Transformation begannen nicht nur umfangreiche quantitativ orientierte Forschungen, kulturvergleichende Querschnittsstudien und transformationsbe­ gleitende Längsschnittstudien oder Reanalysen vorhandener DDR-Forschungen des ZIJ und der APW, sondern es setzte auch eine Flut von biographischen Stu­ dien ein, die an die in beiden Staaten vorhandene biographische Erzähltradition anknüpften. Offensichtlich suchte Wissenschaft in den Biographien einen au­ thentischen Zugang zu Geschichte, wobei die Biographieforschung von der An­ nahme ausging, dass die Gesellschaftsgeschichte in biographischen Prozessen gefaßt ist. Lebensgeschichten - so die Hoffnung - könnten differenzierter als quantitative Studien zeigen, wie eine Gesellschaft ist und geworden ist. Die Shellstudie ,jugend 92' verglich Lebenswege Ost- und Westdeutscher in Paar­ studien, alle bekannten Nachrichtenmagazine folgten mit ähnlichen vergleichen­ den Darstellungen. Noch war es die Neugier aufeinander, die motivierte und fra­ gen ließ, wie wohl der „andere sei". Man erzählte einander Geschichten, ohne Geschichte schreiben zu wollen. Erste Autobiographien boten neue Zugänge, Kongresse, und Tagungen wie der Kongreß im Mai 1991 „Biographien in Deutschland" eröffneten das Feld der systematischen biographischen Forschung, die sich als wissenschaftlicheDisz iplin legitimierte. Nach kurzer Zeit erlosch das gegenseitige Interesse, eine ethnographisch gefärbte einseitige Neugier am Fremden, am Ungewohnten, Überraschenden machte sich breit, die Deutung der Geschichte war vollzogen und bedurfte nur noch des biographischen Belegs. Es blieb der schale Beigeschmack, dass die ostdeutsche Bevölkerung durch ihre „Kolonisatoren" biographisch erforscht werden sollte, und tatsächlich existieren nur wenige Versuche, die westdeutsche Wirklichkeit biographisch zu identifizie­ ren und schon gar nicht solche, die von ostdeutschen Wissenschaftlern geleistet worden wären. Ein solcher Vorspann erscheint notwendig, um den Standort von Sammlun­ gen von Lebensgeschichten und biographische Analysen deuten zu können. Rainer Zoll geht mit einer Gruppe westdeutscher Sozialwissenschaftler in seiner Sammlung „Ostdeutsche Biographien" in einem gewerkschaftlichen Kon-

392 text der Frage nach, welche Ressourcen, „psychosoziale Ausrüstungen" (S. 12) Ostdeutsche in ihrer Sozialisation erworben haben und welche Hindernisseihnen die Bearbeitung der neuen Anforderungen erschweren. Im Gegensatz zu vielen anderen Untersuchungen richtet sich das Forschungsinteresse auf lebensweltli­ che, sog. „weiche" Faktoren, die es den Individuen ermöglichen, die unvorher­ gesehene und radikal veränderte soziale Situation zu bewältigen. Auch hier do­ miniert das emphatische Interesse an der Bewältigung - die Wertung der Wende als krisenhaftes biographisches Ereignis war vorgezeichnet. Schwerpunkt des Textes sind 13 aus einer kleinen Stichprobe von 30 Interviewten ausgewählte Soziobiographien von Individuen aus Ostberlin und Mecklenburg-Vorpommern, die in besonderer Weise von dem Umbruch der gesellschaftlichen Verhältnisse und der Lebenswelt in Ostdeutschland betroffen sind, die Mehrzahl davon sind Frauen. Auf methodologisch hohem Niveau wird von drei Ebenen ausgegangen: der Ebene der Erscheinungen, der Ebene der Lebenswelt und der Ebene der Identität. Die Forschergruppe bedient sich eines tiefenhermeneutischen Verfah­ rens einer kollektiven diskursiven Hermeneutik - wobei dem Leser Interpretati­ onsmuster Ulrich Oevermanns erspart bleiben. Im Sinne einer biographischen Analyse ist die Aufmerksamkeit auf die spezifischen Muster, Orientierungen, Bilder gerichtet, mit denen die Interviewten ihre Biographie erzählend konstruie­ ren. Wer die biographische Arbeit an erzählten Lebensgeschichten lernen will, ist mit diesem Buch gut beraten. Besonders interessiert die aus den Erzählungen erkennbare spezifische Verschränkung und Vermittlung von Individuellem und Gesellschaftlichem. Die dabei geleisteten Interpretationen sollen aus der wieder­ um subjektiven Sicht des Rezensenten ermöglichen, heutige Haltungen von Ost­ deutschen zu verstehen. Die wohltuende Seriösität wird auch nicht dadurch be­ einträchtigt, dass Texte entstanden sind, die sich der wenigen biographischen Er­ zähltexte nur noch als belegender Dokumentation bedienen und bei denen der Leser die vielen Interpretationen nur noch bedingt nachvollziehen kann. Janne Günther, gleichfalls eine westdeutsche Interviewerin, stellt biographi­ sche Interviews von 41 Personen aus Regionen Sachsen-Anhalts zusammen, die sie in verschiedenen Gruppen zusammengefaßt: Kirche und Widerstand - Kultur - Frauen - Jugend - Wirtschaft - Aussteiger - Originale. Die Zeitzeugen reichen vom Ministerpräsidenten bis zum Obdachlosen. Für alle Interviewten stellt die Wende ein biographisches Ereignis dar, das den Lebensweg neu strukturierte. Die wichtigste Botschaftder Sammlung: kein Klischee stimmt. Ihre eigene Zielstellung, heute nach acht Jahren durch das subjektive Emp­ finden von Menschen „ein Mosaik des Geschehens um 1989 zusammenzuset­ zen", muß allerdings angezweifelt werden. Ein Mosaik zusammenzusetzen, hie­ ße eine eigene Struktur, ein ganzheitliches Bild von einem historischen Prozeß zu haben, über das die Autorin nicht verfügen kann. Zudem ist Erinnern und

393 biographisches Erzählen der eigenen Geschichte ein endloser, sich stets erneu­ ernder Prozeß. Das Bild eines sich wandelnden, neu strukturierenden Kaleido­ skop wäre sicher treffender gewesen. So bleibt ein allerdings faszinierendes Bild der Vielschichtigkeit ostdeutscher Lebensentwürfe und Selbstwahrnehmungen, das jede Vorstellung eines Typus „ostdeutsch" obsolet werden läßt. Der Sammlung haftet eine methodische Unkorrektheitan, indem oftnic ht er­ kennbar wird, ob der Interviewte oder Frau Günther spricht, der Text enthält in­ sofern zwei Sicht- und Mitteilungsweisen, ohne dass deren Vermittlungen nach­ vollziehbar ist. Diese Mehrdimensionalität findet sich in vielen Passagen der Sammlung: So geben Fettdrucke dem Leser einerseits Lesehilfe, lenken ihn aber zugleich in seiner Interpretation. In der Einführung versucht die Herausgeberin entgegen ihrer erklärten Absicht, keine „genau fixierbaren Wahrheiten" zu ver­ mitteln, thematisch geordnete Zusammenfassungen zu geben, die trotz aller Re­ lativierungen dem Leser ihre interpretativen Sichtweisen aufdrängen. Der Ge­ nuß, den biographische Erzählungen bieten können, wird so gestört. In Band IV der Reihe „Spurensicherung" schildern 38 Autoren, die sich als „nichtgewendete" Zeitzeugen artikulieren, die Wende in der DDR. Der Untertitel „Ehrlich gekämpft undverloren" deutet auf den politischen Standort der Autoren und wohl auch der Herausgeber hin, eine menschliche Alternative zum Kapita­ lismus angestrebt zu haben. Es sind Akteure der sozialistischen Gesellschaft, die auf verschiedenen Ebenen Entscheidungsträger waren: Journalisten, Arbeiter, Wissenschaftler, Mitarbeiter des MfS, Redakteure. Zumindest von der Zusam­ mensetzung her soll die Vielschichtigkeit der Wahrnehmungen und Urteile ge­ fasstwerd en. Die Beiträge sind nicht unkritisch gegenüber den Verhältnissen der DDR, bejahen diese aber grundsätzlich in ihrer alternativen Substanz, die Ab­ sicht lebensgeschichtliche Differenziertheit wiederzugeben, wird so beschränkt. Zugleich könnte darin der Wert der Sammlung bestehen, indem sichtbar wird, dass es neben den Geschichten der tatsächlichen und vermeintlichen Wider­ ständler auch Geschichten von Akteuren gab, die ihre Lebenswege bewußt in ei­ ner neuen Gesellschaft verwirklichen wollten und dabei diese Gesellschaft mit verändern wollten. Interessanter als die Lebensgeschichten könnte vielleicht sein, wie Entscheidungsträger heute ihre Geschichte erzählen. In den biographi­ schen Texten konstruieren sich die Autoren noch einmal nach einem neuen Bild. Immer wieder wird aus der Gegenwart heraus die damalige kritische Sicht auf die sich anbahnenden Krisenerscheinungen, der persönliche Kampf gegen die administrativen und ideologischen Ärgernisse, die engagierte List, mit der Fort­ schritte erreicht wurden, die „regelrecht konspirative Umtriebigkeit" betont, mit der - wie die Chefredakteurin der „Wochenpost" hervorhebt - Ergebnisse und Fortschritte erreicht wurden. Es ist eine verständliche Konstruktion eigener Identität als Eigen- vielleicht auch Widerständigkeit, als ehrliches und (be-

394 schränkt) autonomes Individuum. Es ist ein neuer Mythos, der geschrieben wird, für eine humane „Sache" gekämpft zu haben. Die Reflexionen lassen die Frage aus, wer denn nun diejenigen waren, die Entscheidungen getroffen haben, wer denn „die da oben" waren und wie Herrschaftsverhältnisse entstanden, von de­ nen man glaubte, sie überlisten zu können und denen man um der eigenen Inte­ grität willen widerstehen wollte. Das Fazit der verschiedenen Bände: Kaum eines der vielen Klischees über die Ostdeutschen läßt sich aufrechterhalten, alle Reduktionen auf einfache Mu­ ster verbieten sich. Die Individuen traten in die Wende mit unterschiedlichen Er­ fahrungen, Hoffnungen und Wünschen ein, sie hatten sich unter anderen Ver­ hältnissen eine Biographie erworben, von der sie sich mit der Wende nicht ent­ eignet wissen wollten, und sie schrieben für sich unter veränderten Bedingungen neue wiederum verschiedene Biographien. So entstand eine Geschichte von un­ ten. Und hierin liegt auch der Wert dieser biographischen Arbeiten. Sie klagen das Recht auf Differenzierung ein und bestehen auf der Korrektur von Vorurtei­ len. Es geht wie Rainer Zoll formuliert, um ein „differenzierendes Verstehen und verstehendes Differenzieren, das neue entstehende Barrieren abbauen helfen soll" und daran gewöhnen soll, dass die Einheit in der Differenz besteht. Ich bin leider skeptisch darin geworden, als könnten biographische Erzäh­ lungen - selbst wenn man sie lesen würde - helfen, einander in Deutschland bes­ ser zu verstehen, die Vorurteile haben sich vertieft, es sind - trotz des vielfachen biographischen Erzählens - Urteile vor dem Versuch des Verstehens.

Dieter Kirchhöfer

395 Me rkens, Hans/Schmidt, Folker (Hrsg.) : Lebenslagen Schuljugendlicher und sozialer Wandel im internationalen Vergleich. (R eihe Jugendforschung aktuell, Band 1). Hohengehren: Schneider Verlag GmbH, Baltmannsweiler 1995 (181 S. , 15,30 Euro)

Merkens, Hans: Schuljugendliche in beiden Te ilen Berlins seit der Wende. Reaktionen auf den sozialen Wandel. (R eihe Jugendforschung aktuell, Band 5) . Hohengehren: Schneider Verlag GmbH, Baltmannsweiler 1999 (2 97 S., 20, 50 Euro)

Transformationsprozesse und sozialer Wandel sind seit Beginn der neunziger Jahre zahlreich und kaum noch überschaubar untersucht worden; das trifft auch auf eine Vielzahl von Jugendstudien zu, in denen z.T. widersprüchliche Befunde hinsichtlich der politischen und gesellschaftlichen Orientierungen, der Werte und Lebensgrundsätze Jugendlicher in Ost- und Westdeutschland nach der Wende präsentiert wurden. Anhand der beiden ausgewählten Bände einer seit 1995 von Kirchhöfer, Merkens und Schmidt herausgegebenen Reihe „Jugendforschung aktuell", in der bisher bereits 7 Bände erschienen sind, wird ein Einblick in fun­ dierte Forschungsergebnisse des Bereichs Empirische Erziehungswissenschaft an der Freien Universität Berlin ermöglicht, die nach der Wende sowohl in natio­ nalen (seit 1990) als auch internationalen (seit 1991) Jugendstudien mit jährli­ chen Wiederholungen der Datenerhebungen gewonnen worden sind. Durch die beiden letztgenannten Aspekte „langjährig" und „international" heben sich die Untersuchungsergebnisse von der Mehrzahl anderer Jugendstudien ab und erlau­ ben eine neuartige Sichtweise auf soziale Prozesse in ihrer Bedeutung auf Ju­ gendliebe. Hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang das Verdienst von Merkens, dem es bereits 1990 gelungen war, Wissenschaftler aus Ost (ehemalige Akade­ mie der Pädagogischen Wissenschaften der DDR) und West (Freie Universität Berlin) - entgegen dem Trend, internationale Netze der DDR-Forschung zu zer­ schlagen - zu Untersuchungen des sozialen Wandels zusammenzuführen und auch die Beziehungen zu Partnern der vormals sozialistischen Staaten zu nutzen. Damit ist es gelungen, Ansätze von Kontinuität in die Untersuchungen des Wan­ dels einzubeziehen. Die ersten Daten der internationalen Jugendstudie konnten dadurch bereits 1991 in zunächst fünfbeteil igten Ländern aus dem ost- und zen­ traleuropäischen Raum (Deutschland, Polen, Tschechien, Russland, Griechen­ land) erhoben werden. Zum zweiten Messzeitpunkt 1992 wurden 3 weitere Län­ der (UngarnSlo wakei, Bulgarien) in die Untersuchungen einbezogen.

396 Im Band 1 sind erste Ergebnisse des genannten Untersuchungszeitraums von Beteiligten an dieser Studie aus allen genannten Länderndargestellt worden. Der Schwerpunkt liegt auf den Reaktionen Jugendlicher zwischen 12 und 17 Jahren auf den sich vollziehenden sozialen Wandel in den einzelnen Ländern. Bei dieser Studie ist es einerseits gelungen, die Daten mit einem einheitlichen Erhebungsin­ strument (standardisierter Fragebogen mit überwiegend geschlossenen Fragen, darunter auch Skalen, die in der Ostberliner APW entwickelt wurden) zu gewin­ nen und vergleichbar zu machen, andererseits aber auch auf eine vordergründige Vereinheitlichung zu verzichten. Die empirischen Daten sind durch Beschrei­ bungen von sowohl wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Veränderungen so­ wie solchen des sozialen Lebens als auch Veränderungen im Schulsystem, im sozialen Nahraum, im Freizeitbereich u.a. ergänzt worden. So konnte die Vielfalt der wissenschaftlichen Tradition in den verschiedenen Ländern sowie deren kulturelle Besonderheiten berücksichtigt werden. Diese Vorgehensweise bietet den Vorteil einer mehrperspektivischen Be­ trachtung des Phänomens sozialer Wandel: einerseits die Sicht der Jugendlichen, die Einschätzung ihrer eigenen Situation in diesem Prozess, andererseits die un­ terschiedlichen Sichten der Untersuchenden aus Ost und West, die Darstellung von Prozessen des Wandels, denen die Jugendlichen ausgesetzt sind. Beide Sichtweisen wurden in Band 1 vereinigt. Dabei erfolgte die vergleichende Datenauswertung aller teilnehmenden Län­ der zu diesem relativ frühen Zeitpunkt vorwiegend durch Querschnittsanalysen (z.B. Merkens/Claßen zu Interessen und Zukunftserwartungen Jugendlicher; Kirchhöfer/Wenzke zu Gewalt als nationales oder internationales Jugendpro­ blem?). Längsschnittliche Betrachtungen sind zu diesem Auswertungszeitpunkt noch selten (z.B. Steiner zu Familienstruktur und sozialer Befindlichkeit - Pa­ nelvergleich; Stompe zu Wirkung schulischer Einflussgrößen auf abweichendes Verhalten Jugendlicher). In anderen Beiträgen werden die Daten des eigenen Landes ausgewertet und diskutiert (z.B. Narkiewicz-Niedbalec/Orzelek-Bujak zu Veränderungen des Wertesystems polnischer Jugendlicher; Taulowa/Popowa zu Wertorientierungen bulgarischer Jugendlicher unter den Bedingungen des so­ zialen Wandels; Gotowos zu Zukunftsvorstellungen und Selbstkonzept griechi­ scher Jugendlicher). Hintergrundberichte über Veränderungen des sozialen Le­ bens in einzelnen Ländernvervollständigen die vielseitige Betrachtungsweise. Für Forscher und Forscherinnen, die sich mit kultur- und systemvergleichen­ den Studien befassen, dürfte der den Band abschließende Beitrag von Mer­ kens/Steiner/Schmidt zu theoretischen Ansätzen und praktischen Problemen sol­ cher Studien von höchstem Interesse sein. Im Band 5 werden von Merkens Reaktionen Jugendlicher auf den sozialen Wandel in beiden Teilen Berlins untersucht. Dabei geht es insbesondere um die

397 Frage, wie der soziale Wandel, der mit der Wende selbst verbunden war, sich aber auch in den Folgejahren vollzogen hat, Jugendliche in den neuen, aber auch in den alten Bundesländern beeinflusst hat. Gefragt wird danach, ob es eine Re­ aktion im Verhalten und in den Einstellungen Jugendlicher in Bezug auf Prozes­ se des sozialen Wandels im Zeitraum zwischen 1990 und 1995 gegeben hat. Die Daten, auf die sich die Analysen stützen, sind dem von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Projekt „Jugend in Berlin" entnommen. Einzelne Ergebnisse dieses Projekts wurden zahlreich dokumentiert - allein in 11 Arbeitsberichten im Zeitraum von 1991 bis 1997. Da die Berliner Jugendstudie so angelegt ist (Kohorten-Sequenz-Plan), dass sowohl Querschnitts- als auch Längsschnittsvergleiche durchgeführt werden können, hat der Autor diesen Vorteil konsequent genutzt, um verschiedene Möglichkeiten von Veränderungen zu überprüfen, beispielsweise mögliche Alterseffekte von solchen des sozialen Wandels zu unterscheiden. Obwohl der Untersuchungszeitraum von 6 Jahren (1990 bis 1995) für Untersuchungen zum sozialen Wandel relativ kurz ist, sind dennoch Einblicke in Veränderungen möglich, die über einen längeren Zeitraum stabil sind und im Sinne von Trends und Tendenzen gewertet werden können. Das überraschende Ergebnis vieler Jugendstudien nach der Wende, dass die Unterschiede zwischen den Jugendlichen aus Ost und West viel geringer ausge­ fallen sind, als ursprünglich erwartet worden ist, wird durch die Untersuchungen von Merkens durch weitere interessante Fakten ergänzt. Einige Veränderungen im Sinne sozialen Wandels konnten durch empirisch gut gestützte Kernaussagen als Trends belegt werden. Am Beispiel von Ost- und Westberlin werden in dieser Publikation Pädagogen, Jugendforschern und Politikern interessante Hinweise zur Situation der Jugendlichen in der Nachwendezeit angeboten.

Anne Wessel

398 Wolfgang Eich/er: Der Stein des Sisyphos. Studien zur Allgemeinen Pädagogik in der DDR (R eihe Texte zur Theorie und Geschichte der Bildung; Bd. 13). Mü nster LIT 2000 (532 S.)

Wer ein sich bildungstheoretisch und historisch-analytisch artikulierendes Inter­ esse an Allgemeiner Pädagogik hat, dem steht mit dem „Stein des Sisyphos" ein fundamentales Werk zur Verfügung. Auf mehr als fünfhundert Seiten erschließt Wolfgang Eichler dem Leser in dieser profunden Arbeit einen kenntnisreichen und sowohl sorgfältig wie aufwendig recherchierten Zugang zur Allgemeinen Pädagogik in der DDR. Der Titel ist bezeichnend. Mit dem „Stein des Sisyphos" ist unfertige und nicht abschließbare Theorieproduktion gemeint. Genauer: Es geht um verschiedene, miteinander konkurrierende theoretische Konzepte, die Allgemeine Pädagogik konstituiert und ihre Entwicklung ermöglicht haben. Für einen über mehr als vier Jahrzehnte abgesteckten Untersuchungsbereich verhan­ delt W. Eichler Problemstellen der erziehungswissenschaftlichen Theoriereflexi­ on vor dem von den einzelnen Pädagogen zu verschiedenen Zeiten durchaus unterschiedlich interpretierten systematischen Fragehorizont der Allgemeinen Pädagogik. Aufgerollt werden die Ansätze zu einer neuen Grundlegung der Erziehungs­ wissenschaft noch in der SBZ im Zeitraum zwischen 1945 und 1949; insbeson­ dere jene, die in die Kontroversen um die Beziehungen zwischen Politik, Erzie­ hung und Erziehungswissenschaft verwoben sind. Der Autor ist dabei vornehm­ lich den Bemühungen und Diskussionen im Umfeldum Max Gustav Lange und Hans Siebert gefolgt, fördert aber zugleich ein ausgedehntes Geflecht von zu­ sammenhängen und Akteuren (z.B. AlfredPetzelt, Robert Alt, Heinrich Deiters, Theodor Litt) zu Tage. Es folgen die Systematisierungsversuche in den 50er Jah­ ren. Das Material ist durch umfangreiche Rechercheaktivitäten zusammenge­ stellt: neben den repräsentativen Primärtexten und der einschlägigen For­ schungsliteratur wird auf einen beachtlichen Fundus von sinnreich ausgedeuteten Archivbeständen zurückgegriffen. Abermals dienen W. Eichler mit Werner Dorst und Hans Herbert Becker zwei sehr ungleiche Protagonisten, um über de­ ren Ansatzpunkte einer umfänglichen, streitbaren Suchbewegung nachzufor­ schen, welche für die Pädagogik der DDR eine eigene Identität zu finden und zu begründen hofft. Im Anschluss daran lokalisiert und beschreibt der Verfasserfür die 60er Jahre die bisweilen ehrgeizigen Versuche zur Herausbildung wissen­ schaftlicher Schulen um Herbert Schaller, WernerNaumann, Wolfram Knöchel, Franz Hofmann und anderen, die er fernerhin bildungshistorisch bedachtsam (zumeist in den weiterführenden Fußnoten) und theoretisch versiert analysiert. Damit gelingt es W. Eichler - vermutlich sogar besser als die Autoren es selbst

399 vermocht haben - die Konzepte aufzuklären, und außer deren Schwächen und zuweilen den Gründen des Scheiterns, die vorhandenen Stärken zu benennen und weiterzudenken. Bevor am Schluss des Buches die Jahre 1989/1990 be­ trachtet werden, in denen die Wissenschaftler, überschattet von der Sorge um die eigene berufliche Perspektive nach Versäumnissen, Irrtümern, Fehlern fragen und die W. Eichler nach einem würdigenden aber zugleich kritischen und selbst­ kritischen Rückblick zum Anlass nimmt, sich - gleichsam eingedenk des Sisy­ phos-Titels - wieder neu den Aufgaben Allgemeiner Pädagogik zuzuwenden, behandelt er die 70er und 80er Jahre. Sie stellen im vorliegenden Band einen gewissen Höhepunkt dar. Während dieses Zeitraumes sind theoretisch unver­ mutet herausfordernde und provozierende Konzepte entstanden. Obwohl kaum eine der dort zur Sprache kommenden Theoriekonzeptionen den Status einer re­ gulären Buchveröffentlichung erlangt hat, trifft dies in mehrfacher Hinsicht zu: So besteht der besondere Charakter dieses Kapitels darin, dass W. Eichler als Wissenschaftlernun selbst in die Bemühungen um die Allgemeine Pädagogik in dieser Zeit einbezogen ist. Obwohl ihm damit manche der Allgemeinen Pädago­ gik zuzurechnenden Beiträge stärker, andere weniger ausführlich ins Blickfeld geraten - wo eine Beschränkung in der Darstellung stattfindet, erfolgt jedoch immer der Verweis auf Möglichkeiten, dennoch an weiterführende Informatio­ nen zu gelangen - behandelt W. Eichler mit der Arbeit des Erziehungswissen­ schaftlers Gerhard Stierand hier vor allem das für ihn tragfähigste Konzept All­ gemeiner Pädagogik in der DDR. Der Sache nach handelt es sich um einen An­ satz, der nicht nur in den aufgearbeiteten wie weitergeführten Denkzusammen­ hängen gut begründet wird, sondern um einen Zugang zur Allgemeinen Pädago­ gik, der wohl über den unmittelbar reflektierten und jetzt vergangenen Gegen­ stand hinaus Geltung beanspruchen könnte. Hierfür ist auf eine Fülle interner Materialien zurückgegriffen worden. Diese Zeitdokumente dürften - neben der persönlichen Vertrautheitmi t den Forschungszusammenhängen und den anderen Theoriebegründern - entscheidend zur stichhaltigen hermeneutischen Rekon­ struktion der Theoriefragmente beigetragen haben. Sie sind die Grundlage dafür, dass mit der für das Buch ohnehin beeindruckenden Belesenheit und Exaktheit die betrachteten Theoriemodelle und ihre gesellschaftspolitischen sowie erzie­ hungspraktischen Rahmenbedingungen so präzise ausgeleuchtet und auch die Handlungsweisen der persönlich Betroffenen selbst erklärbar werden. In der Darstellung des Untersuchungsmaterials folgt W. Eichler der übergrei­ fenden Fragestellung, inwiefern die Konzepte Allgemeiner Pädagogik den Er­ fordernissen der DDR-Gesellschaft entsprachen, und ob das ihnen zugrunde ge­ legte Wissenschafts- und Gesellschaftsverständnis als marxistisch angesehen werden konnte. Eingedenk des Einwandes, der sich alsbald abweisen lässt, dass man damit über den damaligen Erkenntnishorizont nicht hinauskäme, bewährt

400 sich dieses Prinzip nicht nur darstellungsorganisatorisch, sondern auch untersu­ chungsmethodisch in der Problemanalyse, der es so gelingt, die zeitgebundenen konfrontativen Theoriepositionen in ihrem Selbstbehauptungswillen diskursiv aufzustören und in einen legitimen problemorientierten Kommunikationszu­ sammenhang zu manövrieren. Die historisch gelungene Rekonstruktion und bil­ dungstheoretisch scharfsinnige Analyse stehen dabei auf der einen Seite in ei­ nem komplementären und dialogischen, ja bisweilen in einem sich identifizie­ renden Verhältnis zu den untersuchten Arbeiten. Sie untersagen es sich jedoch, sich im Sinne einer Hofberichterstattung auf die eine oder andere Weise verein­ nahmen zu lassen oder aber sich als Gegner einzelner Konzepte zu profilieren und eine neue Dogmengeschichte zu entwerfen. Beide Wege scheinen angesichts der facettenreichen theoretischen Gemengelage gleichermaßen nahe zu liegen; beide Varianten wusste W. Eichler ausgewogen zu vermeiden. Dabei demon­ striert er entlang der Selbstaussage des geprüften Textmaterials jenes kritisch­ distanzierte, sichere Gedachthaben und Wissen, das nicht danach strebt, andere zu überreden oder vor dem Hintergrund einer Weltanschauung wünscht recht zu behalten.

Thomas Gatzemann

401 Gert Geißler: Geschichte des Schulwesens in der Sowjetischen Besatzungszone und in der Deutschen Demokratischen Republik I 945 bis I 962. Frankfu rt a. M: Peter Lang GmbH Europäischer Verlag der Wissenschaften 2000 (5 90 S. , I 28 DM)

Die Entwicklung des Schulwesens in der DDR war im letzten Jahrzehnt Gegen­ stand zahlreicher Untersuchungen und Publikationen. Meistens ging es dabei um zeitlich und sachlich begrenzte Teilgebiete. Das Ziel von Gert Geißler ist es, eine Geschichte des Schulwesens von 1945 bis 1962 vorzulegen. Dies geschieht vor allem auf der Grundlage eines intensiven Quellenstudiums im Bundesarchiv Berlin und Potsdam. Die 2.474 Anmerkungen belegen eindrucksvoll das Ergeb­ nis dieser Recherchen. In sechs Teilen wird versucht, die Geschichte des Schulwesens bis 1949 und in den ersten 12 Jahren der Existenz der DDR zu skizzieren. Nicht zu übersehen sind dabei gewisse Disproportionen. Die Teile zur Zeit von 1945 bis 1949 neh­ men knapp die Hälfte des Umfangs ein (S. 9 - 250). Das Buch bietet viele interessante Details, manchmal mutet es fastwie ein Nachschlagewerk an. Zu mehreren Hundert Personen werden detaillierte biogra­ phische Angaben gemacht, viele Informationen zur materiellen Ausstattung des Schulwesens erfolgen. Gleiches gilt für statistische Übersichten, Gesetze und Verordnungen. Andere Details sind Berichten von Schulüberprüfungen und In­ spektionen entnommen. Es entspricht dem Charakter der ausgewerteten Quellen, dass sie nur be­ grenzt das wirkliche Leben an den Schulen und Lehrerbildungsstätten wider­ spiegeln. Dadurch kann kein geschlossenes, differenziertes Bild der Schulge­ schichte in Ostdeutschland geboten werden. Die Relationen zwischen dem Er­ reichten und den Mißerfolgen stimmen wiederholt nicht. Vieles ist zu negativ aus der Sicht der späteren Niederlage der DDR beurteilt. Andererseits bietet das Buch vielfältige Anregungen, die Untersuchungen weiterzuführen und zu vertie­ fen. Die ersten drei Hauptabschnitte (Anfänge der neuen Administration, Schulre­ formpolitik in den Ländern, Innere Gestaltung der Schule) enthalten zahlreiche Angaben darüber, dass in der Sowjetischen Besatzungszone Gegner des NS­ Regimes entscheidenden Anteil an der 1945 begonnenen Schulreform hatten. Vergleichbares ist aus den anderen Besatzungszonen nicht bekannt. Die Mehr­ zahl der maßgeblichen Positionen in Ostdeutschland wurde von Frauen und Männern eingenommen, die am Widerstand beteiligt waren und deshalb verfolgt wurden. Viele waren 1933 aus dem Schuldienst entlassen worden. Unter ihnen befanden sich eine Reihe Schulreformer, die in der Weimarer Republik neue Zeichen zu setzen versucht hatten. Andere kamen aus der Bewegung „Freies

402 Deutschland". Unmittelbar nach Ende des Krieges hatten sich die meisten der SPD bzw. der KPD angeschlossen. Gemeinsam traten sie für einen demokrati­ schen Neubeginn im Schulwesen ein. Hierfür stehen u.a. die Namen: RobertAl t, Heinrich Deiters, Ernst Hadermann, Wilhelm Reise, Max Kreuzinger, Erwin Marquardt, Paul Oesterreich, Erich Paterna, Fritz Rücker, Maria Torhorst und Ernst Wildangel. Wichtig wäre es, das Wirken dieser Menschen näher zu unter­ suchen, Leistungen und Grenzen ihrer Tätigkeit zu erfassen. Dies berührt gene­ rell das Problem nach der Rolle des Antifaschismus bei der ostdeutschen Schul­ entwicklung. In dem Buch wird viel zur Überwindung der materiellen Not im Schulwesen gesagt, die geistige Entnazifizierungkommt jedoch zu kurz. Aufschlußreiche Angaben enthält das Werk über die Rolle der Abteilung Volksbildung bei der Sowjetischen Militäradministration in Berlin bei der Wie­ dereröffnung der Schulen im Oktober 1945 und zu den Anfängen der Schulre­ form (S. 65 ff.).Unter Leitung des ehemaligen Rektors der Leningrader Univer­ sität, Prof. Dr. P. W. Solotuchin, arbeiteten in der Abteilung der SMAD 55 quali­ fizierte Fachkräfte, vorrangig ehemalige Lehrer und Wissenschaftler. Mit Sach­ verstand und Realismus nahmen sie Einflußauf die demokratische Umgestaltung des Schulwesens. Künftige Untersuchungen, die auch Unterlagen der SMAD aus russischen Archiven einbeziehen sollten, können hier anknüpfen. Wünschens­ wert wäre eine größere Ausgewogenheit bezüglich der Wertung fördernderund hemmender Einflüsse der sowjetischen Militärverwaltung auf das Schul- und Bildungswesen in Ostdeutschland. Zu den herausragenden Ergebnissen im Untersuchungszeitraum zählt die Überwindung großer Rückständigkeit der Schulen in zahlreichen Dörfern vor allem in Mecklenburg-Vorpommern und Brandenburg. 1945 waren fast 40 Pro­ zent der Schulen auf dem Lande einklassig. Bereits bis 1949 gelang es, an den meisten Schulen einen vierklassigen Unterricht zu sichern. Zentralschulen, die voll ausgebauten Grundschulen gleichkamen, entstanden in 676 Dörfern (S. 93 f. ). Im Sommer 1960 konnten die letzten einklassigen Schulen geschlos­ sen werden (S. 522). Darüber, wie dies Ergebnis trotz der enormen Schwierig­ keiten erreicht wurde, erfährt der Leser wenig. Maßgeblichen Anteil an den Umwälzungen dieser Zeit hatten die Lehrer. Am 1. April 1949 arbeiteten in der Sowjetischen Besatzungszone 64.415 Lehrer. 45.244 von ihnen waren Neulehrer, die größtenteils in achtmonatigen Kursen durch Antifaschisten ausgebildet worden waren (S. 124). Dies ist eine heute kaum zu ermessende Leistung. Groß waren damals die Anforderungen an jeden einzelnen Neulehrer. Die Angaben darüber bleiben äußerst spärlich. Detailliert dargestellt wird die Entwicklung des Schulwesens in den ersten fünfJahren der Existenz der DDR (S. 25 1 - 409). Breiten Raum nehmen die Er­ gebnisse der Überprüfungen im Frühjahr 1950 und im Frühjahr 1953 an den

403 Oberschulen und an den Pädagogischen Fakultäten der Universitäten ein. Sie ge­ ben einen umfassenden Einblick in gegen die DDR gerichtete Aktivitäten von Oberschülern und Lehrern. Besondere Beachtung findet das Vorgehen des Staa­ tes gegen Angehörige der Jungen Gemeinde. Der Autor versucht auch die Frage zu beantworten, wo die Schulen der DDR im Juni 1953 standen und kommt zu dem Ergebnis: „Insgesamt und im Vergleich zu den streikenden Betriebsbeleg­ schaften ging der Aufstand an den etwa 9.909 Grund- und 616 Oberschulen der DDR eher vorüber. Weit stärker einbezogen dürften allerdings die betrieblichen Berufsschulen gewesen sein" (S. 385 f.). Es bleibt bei dieser Vermutung. Offen gelassen wird auch, warum die Mehrzahl der ca. 77.000 Lehrer an den allge­ meinbildenden Schulen und die ca. 5.900 Oberschullehrer damals nicht gegen die DDR eingestellt waren. Dies hängt mit den Erfolgen, die oft unter schwieri­ gen Bedingungen erbracht wurden, zusammen: Kinder aus der werktätigen Be­ völkerung fanden verstärkt Zugang zu Oberschulen und zum Studium. Die Rückständigkeit des Landschulwesens wurde mehr und mehr überwunden, das Berufsschulwesen neu gestaltet und das Sonderschulwesen aufgebaut. Anfang der 50er Jahre begann der Übergang zur Gründung von Zehnklassenschulen. Am 1.9.1951 bestanden an 80 Standorten die ersten 100 Schulen (S. 266). Das staat­ liche Erziehungswesen erfuhr eine wesentliche Erweiterung im außerschulischen Bereich. Von großer Bedeutung für viele Kinder war die Möglichkeit, in den Sommerferien fürwenig Geld in ein Ferienlager fahrenzu können. Die Ausbildung der Lehrer erhielt durch die Gründung der Institute für Lehrerbildung und die weitere Profilierung der Pädagogischen Fakultäten eine höhere Qualität. An verschiedenen Stellen des Buches wird Einblick in den Be­ ginn systematischer pädagogischer Forschung, vor allem im Zusammenhang mit der Tätigkeit des Deutschen Pädagogischen Zentralinstituts (DPZI) gegeben. Am unvollkommensten ist der Teil des Buches, der die Jahre 1954 bis 1962 zum Gegenstand hat (S. 410 - 556). Für acht Jahre steht weniger als ein Drittel des Textes zur Verfügung. In dieser Zeit werden die Zehnklassenschulen zur Hauptform der allgemeinbildenden Schulen in der DDR. Die Einführung des polytechnischen Unterrichts mit dem Unterrichtstag in der Produktion erfolgt. Das staatliche Bestreben, das Schulwesen sozialistisch umzugestalten, führt zu vielfältigen neuen Konflikten und Spannungen, die in der Darstellung oft nur anklingen. Eine Folge der sozialistischen Umgestaltungen sind 1958 „Personal­ politische Säuberungen" (S. 484 f.). Durchgängig sind Angaben über die Lehrer und Schüler enthalten, die seit 1953 die DDR verlassen haben (S. 503 ff.). Der Text ist stark mit Strukturfragen und statistischen Angaben belastet. Ver­ änderungen der Verwaltung findenbreiten Raum. Der Stabilisierung des Schulwesens dienten 1959 soziale Verbesserungen für Lehrer und Schüler: Lehrer erhielten mehr Gehalt und längeren Urlaub. 1957

404 waren bereits Schulgeldfreiheitund eine Aufhebung der Studiengebühren für Di­ rektstudenten wirksam geworden. 1959/60 kam es zur Erweiterung der Unter­ haltsbeihilfen für Schüler und Lehrlinge sowie zu einer Erhöhung der Stipendi­ en. Im letzten Abschnitt „Machtpolitische Konsolidierung" des VI. Hauptteils „Realsozialistische Schule" wird auf erste Maßnahmen nach der Schließung der Grenzen der DDR zu Westberlin und Westdeutschland im August 1961 einge­ gangen (S. 534 ff.). Insgesamt bietet das Buch eine Fülle von bisher nicht oder schwer zugängli­ chen Informationen. Für die weitere Erforschung des Schulwesens in Ost­ deutschland wird es künftigunentbehrlich sein. All dies kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass es sich bei der Publikation nicht um die „Geschichte des Schulwesens in der Sowjetischen Besatzungszone und in der Deutschen Demo­ kratischen Republik 1945 bis 1962" handelt. Diese muß noch geschrieben wer­ den.

Karl Heinz Jahnke

405 Petra Gruner: Die Neulehrer - ein Schlüsselsymbol der DDR-Gesellschaft. Biographische Konstruktionen von Lehrern zwischen Erfahrungen und gesellschaftlichen Erwartungen. We inheim: Deutscher Studien Verlag 2000 (3 68 Seiten)

Diese materialreiche Abhandlung basiert nicht nur auf einer aussagekräftigen Quellenvielfalt, sondernwird auch von eigenwilligen, zum Nachdenken wie zum Widerspruch anregenden Intentionen der Autorin im Hinblick auf den Lehrerbe­ ruf und dessen gesellschaftspolitische Anbindungen geprägt Die umfangreiche Arbeit ist aus einem vom Ministerium für Bildung, Jugend und Sport des Landes Brandenburg 1992 - 1995 geförderten Projektprogramm zur „Geschichte der DDR-Volksbildung" hervorgegangen und dann kollegial als ein „Teilprojekt über Neulehrer in der SBZ/DDR" am Fachbereich Erziehungswissenschaften der Philipps-Universität Marburg 1993/94 bearbeitet worden. Darin liegt der ur­ sprüngliche Ansatz. Verschiedene Aufsätze der Autorin (vgl. S. 357) weisen auf den ideellen Werdegang der Arbeit, die im Januar 1998 abgeschlossen, von der Philosophi­ schen Fakultät l der Humboldt-Universität zu Berlin als Dissertation angenom­ men und dort verteidigt worden ist. G. zollt ihren Dank der wissenschaft lichen Beratung in Berlin, in deren Ergebnis sich ihr „Blick auf den Gegenstand ge­ weitet" hat, so dass „bei der Bearbeitung des Themas eine Zusammenführung kulturgeschichtlich-ethnologischer und bildungshistorischer Perspektiven mög­ lich war" (Vorw., S. 9/10). Im Ergebnis weist die nun vorliegende Schrift eine eigene, über mehrere Stationen führende Entwicklungsgeschichte auf. Das wird im Umgang wie in der Auseinandersetzung der Autorin mit der gewählten The­ matik deutlich. „Ein Anliegen dieser Arbeit ist es, über die Untersuchung der Berufsbiogra­ phien von Lehrern Bedingungen ihres schulischen Handelns zu erschließen", er­ klärt die Autorin und umreißt im Fazit, „dass auch die Neulehrer in der histori­ schen Kontinuität des Lehrerberufs zu sehen sind, mit der die Bildungspolitik in der SBZ/DDR angeblich gebrochen hatte" (ebd.). Im „Resumee und Ausblick" am Schluss ihres Buches trifft G. schließlich die Aussage: „Um auszumachen, was an den Neulehrern das eigentlich ,Neue' war, wäre es notwendig, stärker Kriterien des Lehrerberufs selbst heranzuziehen ... Die Neulehrer wären bei sol­ cher Betrachtung nicht zuerst als politisches Instrument gesellschaftlicherUmge­ staltung, sondern als Teil der Sozialgeschichte des Lehrerberufs zu untersuchen" (S. 348). Offensichtlich hatte das Vorurteil einer negativ zu wertenden politi­ schen Funktion der Neulehrer im Gebiet der Sowjetischen Militäradministration in Deutschland zunächst die Ausgangspositionen und Fragestellungen der Auto-

406 rin bestimmt, die pädagogischen Aspekte waren in den Hintergrund gedrängt. Der Mangel dieses Ansatzes zieht sich durch das ganze Buch. Es wäre schließlich zu bedenken, dass es sich beim komplexen Einsatz von Neulehrern in der sowjetischen Besatzungszone Deutschlands um einen histo­ risch einmaligen, nicht wiederholbaren Vorgang der Jahre 1945 bis 1949 han­ delte. Diese zeitlich begrenzte Entwicklung eigener Prägung verband sich nicht nur mit der vom Alliierten Kontrollrat als dem obersten Machtorgan in Deutschland angeordneten „Entnazifizierung", die von der Autorin hervorgeho­ ben wird. Sie betraf nach der militärischen Zerschlagung des deutschen Fa­ schismus durch die Alliierten auch das Wiederaufleben von demokratischen Traditionen deutscher Schul- und Bildungsreformer. So fand G. die Bezeichnung „Neulehrer" in einer Gesprächsnotiz vom 9. Oktober 1945 in den Akten der Deutschen Zentralverwaltung für Volksbildung. Der Reformpädagoge und Schulreformer Paul Oestreich bat darum, in der Ausbildung von „Schulhelfern" und „Ersatzlehrkräften" diese Ausdrücke durch „Neulehrer" zu ersetzen. (S. 66) G. kommt im weiteren zu der Feststellung: „Die Bezeichnung ,Neulehrer' war nicht eine Berufs- und Laufbahnbezeichnung, sondern zunächst ein absichtsvoll gewählter politischer Begriff. Politische und soziale Umwälzung in Richtung auf eine ,neue' Schule in einer ,neuen' gesellschaftlichen Ordnung ließen sich darin symbolisch verdeutlichen" (S. 70). Da seit der Mitte des 19. Jahrhunderts und in der Weimarer Republik demo­ kratische politische Aspekte mit reformpädagogischen wie mit schulreformeri­ schen Bestrebungen in Deutschland verbunden waren, lebte diese Tradition nach der Zerschlagung des deutschen Faschismus wieder auf. Auch aus den Darstel­ lungen der Autorin lässt sich schließen, dass reformpädagogische erzieherische Methoden nicht nur durch Alterfahrene vermittelt, sondern aus dem Bestreben heraus, eine andere, eine „neue Schule" durchzusetzen, gerade unter den noch nicht „professionellen" Neulehrern eine spontane Erneuerung erfuhren. Die end­ gültige Verbannung des schulmeisterlichen Rohrstockes aus der Schule, die ab­ solute Ächtung der Prügelstrafe wie jeglicher Züchtigung von Schülern be­ stimmten den optimistischen Schulanfang im Oktober 1945 und brachten der Lehrerschaft zugleich neue Anforderungen für die Erziehungstätigkeit in der Schule. Anlehnungen an Verfahren der reformistischen Arbeitsschule wurden allerdings schon mit dem Pädagogischen Kongress 1949 (vgl. S. 94) seitens der Schulaufsichtverpönt. So ergibt auch hier das Jahr 1949 eine Zäsur. Als Jahr der Gründung der DDR (wie zuvor der Bundesrepublik Deutsch­ land) brachte 1949 für die meisten Neulehrer den Abschluss ihrer Berufsausbil­ dung als Grundschullehrer. Neben der Unterrichtstätigkeit in meist überfüllten Schulklassen hatten sie Vorlesungen und andere Bildungsveranstaltungen be­ sucht, selber Lektionen gehalten und pädagogische Abhandlungen verfasst, hat-

407 ten eine erste und eine zweite Lehrerprüfung bestanden, oft durch spezielle Fachkurse vorbereitet. Eine neue Lehrergeneration hatte sich bei Anleitung durch erfahrene Lehrerbildner und im Zusammenwirken mit „Altlehrern" unter großen Anstrengungen und persönlichen Belastungen herangebildet. Folgerich­ tig fragt die Autorin nach deren Schicksalen und Erfahrungen (den „Berufsbio­ graphien") und den sich daraus ergebenden Trends in der DDR. Sie gebraucht für die vormaligen „Neulehrer" den Begriff „Schlüsselsymbol". Damit geht es ihr um „die Vermutung, dass die Wirkungskraft eines Symbols, dem Erfahrun­ gen und Handeln von Menschen zugrunde liegen, über die Wirkungsmöglich­ keiten der politischen Symbolik weit hinaus reicht und damit prägend für eine Kultur sein kann" (S. 99). Der Einblick in Literatur und Filmproduktionen der sechziger Jahre führt aber die Autorin nicht etwa zur Annahme einer kulturellen Prägung durch die Neulehrergeneration. Sie bewertet vielmehr die „Neulehrer als Bestandteil des DDR-Gründungsmythos" (S. 107 ff. ). Mit dieser Auffassung bringt sie ihre Überlegungen zum Lehrerberuf auf die vorrangig staatlich­ administrative politische Ebene. Das wird dort deutlich, wo sie schließlich dieje­ nigen ins Spiel bringt, die einstmals als Neulehrer angefangenhatten. Das abschließende große fünfte Kapitel „Biographische Konstruktionen in Interviews mit ehemaligen Neulehrern (S. 143 - 345) bietet mit den Auskünften der Befragten eine verwirrende Vielfalt individueller Aussagen an. Die Rezen­ sentin (geb. 1924), selbst Neulehrerin der Jahre 1945 bis 1949, zudem Ab­ kömmling einer alten preußischen Lehrerfamilie, hatte große Mühe, in den ab­ gedruckten Auszügen das Wesen der selbst durchlebten historischen pädagogi­ schen Realität wiederzufinden. Gleichwohl ergaben sich mit den auszugsweise und wortgetreu wiedergegebenen Auskünften von 52 ehemaligen Neulehrern, vorwiegend der Jahrgänge 1920 bis 1926 (20 Frauen und 32 Männer), treffende Schlaglichter auf konkrete Vorgänge und individuelle Schicksale. Auffällig ist, daß die während der Interviews im siebenten bis achten Lebensjahrzehnt stehen­ den Befragten zumeist in eine - mitunter banale - Alltagssprache abglitten. Für mich ein Zeichen der Unsicherheit im sprachlichen Umgang mit einer unge­ wohnten Betrachtungsweise. Ich vermute, dass auch die Art der Befragung, über deren Inhalt und Aufbau nichts ausgesagt wird, diese Unsicherheiten bewirkt hat. Dennoch liegt im Ergebnis ganz offenbar ein umfangreiches Material vor, das unter den spezifischen Aspekten des Lehrerberufs zu betrachten wäre.

Ursula Mader

408 Butterwegge, Christoph (Hrsg.) : Kinderarmut in Deutschland - Ursachen, Erscheinungsformen und Gegenmaßnahmen. Frankfu rt/M : Campus 2000 (3 13 S., 21,50 Euro)

Butterwegge, Christoph/Michael Klundt (Hrsg.) : Kinderarmut und Generationengerechtigkeit - Familien- und Sozialpolitik im demographischen Wandel. Op laden: Leske + Budrich 2002 (2 44 S. , 18,50 Euro)

Christoph Butterwegge, im jüngeren Band zusammen mit Michael Klundt, greift in beiden Bänden ein thematisches Feld auf, das in letzter Zeit wissenschaftlich wie politisch zunehmend Beachtung findet. Im Zuge dieser „Konjunktur" tritt neben eine fundiertere Ursachen-, Folgen- und Handlungsforschung und eine diese teilweise aufgreifende Politik, eine z.T. populistische Instrumentalisierung des Themenkomplexes in dessen Rahmen wissenschaftlich wie politisch kein Mangel an zu Sachzwängen stilisierten Teilwahrheiten und Ideologemen besteht. „Kinderarmut in Deutschland" und „Kinderarmut und Generationengerechtig­ keit" bieten für diese intensiven armuts- und sozialpolitischen, bildungs- und familienwissenschaftlichen Fachdiskurse empirisches, analytisches und argu­ mentatives Rüstzeug und unaufgeregte Reflexion. Schon der erste Band beschränkt sich im Untertitel nicht nur auf die Ankün­ digung, Ursachen, Erscheinungsformen und Folgen behandeln zu wollen, son­ dern auch Gegenmaßnahmen zu benennen, und steigt in das Thema mit einem Beitrag Birgit Fischers ein, mit der als Jugend- und Familienministerin von NRW die Seite der politischer Entscheidungsträger zu Wort kommt. Fischer sieht als eine zentrale Herausforderung, dass der brüchiger werdende sozialstaat­

liche Schutz gegen die großen Lebenskrisen, „Herkunft „. wieder zum über Er­ folg oder Misserfolg in der Gesellschaft mit entscheidenden Kriterium macht" (S. 17). Bei der Formulierung von Gegenmaßnahmen verbleibt sie freilich in dem Spagat, die Sicherungssysteme ohne zusätzlichen Geldfluss„wieder füralle wirksam" machen zu wollen, obschon die Gefahr bestehe, dass „bei den ohnehin geschwächten sozialen Sicherungssystemen weitere Einschnitte vorgenommen werden müssen" (S. 18). Selbstkritisch verweist sie darauf, dass auch die durch Landespolitik zu verantwortende Betreuung von Klein- und Schulkindern deut­ lich verbessert werden müsse (S. 18). Butterwegge geht von der Darstellung der wissenschaftlichenBes chäftigung mit Armut und Ungleichheit in der Geschichte der Bundesrepublik über zu einer auf Globalisierungs- und Entsolidarisierung­ prozesse fokussierten Problemanalyse. Er wendet sich in überzeugender Weise gegen eine Instrumentalisierung von Kinderarmut für eine Renaissance pa­ triachaler Familienbilder und Singles als neuem Feindbild sowie gegen ein

409 „Schleifen" solidarischer Alterssicherungssysteme mit „biologistischen" (S. 53) Argumenten. Am Ende seines Aufsatzes steht ein Plädoyer füreine Verbesse­ rung der sozialen Infrastruktur sowie für die gezielte materielle Besserstellung einkommensarmer Kinder (S. 57). Gunter E. Zimmermann greift unterschiedli­ che Operationalisierungen des Armutsbegriffes auf und diskutiert ihre Prämissen und Implikationen während Beisenherz auf die Diskrepanzen zwischen „Kinder­ rechtsrethorik" (S. 80) und sozialer Not von Kindern in der 3. Welt und die der Skandalisierung der Kinderarmut in Deutschland mit Bildern aus diesen Regio­ nen aufmerksam macht. Zunehmend zeigten sich jedoch auch in westlichen In­ dustriestaaten Tendenzen der Rücknahme umfassender inklusorischer Poli­ tikstrategien zugunsten einer Politik „fairer Startchancen" in polarisierten Ge­ sellschaften, die mit einer forcierten Privatisierung von Armut und Bildung die Perspektiven armerKinder auf Teilhabe in doppelter Weise in Frage stelle. Vol­ ker Offermann - für Brandenburg - und Magdalena Jo os - mit einem ost­ /westdeutschen Vergleich - schließen sich dieser Betrachtung ökonomischer, po­ litischer und sozialer Räume jenseits des Nationalstaates an und zeichnen signi­ fikanteDiff erenzen zwischen beiden Teilräumen wie auch die Annäherung ihrer Armutsmuster nach. Auch Doris Rentzsch' s Anliegen besteht darin, speziell Em­ pirie zur „Kinderarmut-Ost" (S. 135) zu präsentieren, indem sie mittels Daten der dynamischen Armutsforschung exemplarisch die Städte Halle/Saale und Bremen vergleicht, während Ursula Boos-Nünning auf die dramatisch höheren Armutsraten und „verdeckte Armut" von (Kindern aus) Zuwanderungsfamilien eingeht, auf die differenziert zu bewertende ethnische Konzentration von Mi­ grantenfamilien sowie die folgenreiche Kumulation von sozialen Problemlagen in benachteiligten Wohnquartieren. Sie zeigt die restriktiven Rahmenbedingun­ gen auf, denen Familien ausländischer Herkunftunterliegen und schließt mit der Feststellung, Abbau und Vermeidung Armut begründender Defizite könne allein mit einer sozialpädagogischen Versorgung „sozialer Brennpunkte" nicht erreicht werden. Doch „selbst in diesem Bereich werden derzeit Arbeitskräfte und Sach­ mittel abgebaut" (S. 173). Ronald Lutz befasst sich mit dem Straßenkinder­ Phänomen und legt dabei einen Schwerpunkt auf die Frage, ob dieser Begrifffür deutsche Verhältnisse überhaupt anwendbar sei. Sein Vorschlag, stattdessen von „Kindern und Jugendlichen in besonderen Lebenslagen" zu sprechen, scheint mir das Problem jedoch eher zu verschleiern denn zu benennen, auch wenn ihm zuzustimmen ist, dass Ausmaß, Ursachen und Folgen hierzulande von südameri­ kanischen Verhältnissen zu differenzieren seien. Werner Schönig's Beitrag befasst sich mit dem Verhältnis von Langzeitar­ beitslosigkeit und Kinderarmut, mit Ursachen, Folgen und unterschiedlichen (interessegeleiteten) Handlungsempfehlungen innerhalb und jenseits der Schnittmenge beider Problemlagen und wird damit für die Auseinandersetzung

410 um die Chancen und Grenzen des „aktivierenden" Sozialstaates relevant. Im Zentrum des Beitrags von Walter Hanesch steht die Diskussion zweier kontro­ verser Erklärungsansätze für die Existenz von Armut im Wohlstand: über Fehlanreize der Lohn- und sozialen Sicherungssysteme und Motivationsdefizite bei den Betroffenen einerseits und über Folgen des beschleunigten ökonomi­ schen und sozialen Strukturwandels, Folgen von strukturellen Mängeln des so­ zialen Sicherungssystems sowie einer Fehlorientierung der gegenwärtigen Wirt­ schafts- und Sozialpolitik andererseits. Gegen den erstgenannten von der neo­ klassischen Mikroökonomie postulierten Kausalzusammenhang und die daraus resultierenden Reformvorschläge führt Hanesch gewichtige Einwände an, wäh­ rend die vor allem durch die sozialwissenschaftliche Armutsforschung herausge­ stellten Ursachenanalysen überzeugender seien, deren Reformvorschläge Ha­ nesch ebenfalls benennt. Auch Gerhard Bäcker wendet sich Defiziten bzw. Fehlorientierungen in der Familien-, Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik als Ursache der mangelhaften Verhinderung von Kinderarmut zu. Dabei sei jedoch der „na­ heliegende Vorwurf, dass in Deutschland hier nichts oder zu wenig getan werde, . .. schnell erhoben, aber falsch" (S. 25 1). Vielmehr konkurriere der armutswirk­ same an „Bedarfsgerechtigkeit" orientierte Familienlastenausgleich mit einem auf „Steuergerechtigkeit" zwischen kinderlosen Paaren und Familien innerhalb gleicher Einkommensschichten zielenden. Bäcker plädiert für eine Umorientie­ rung von der Ehe- zur Kinderförderung sowie für Maßnahmen zur besseren Ver­ einbarkeit von Familie und Berufstätigkeit anstelle einer stärkeren Förderung des phasenweisen Ausstiegs von Frauen aus dem Erwerbsleben. Helgard Andrä öff­ net schließlich den Blick auf psychosoziale Folgen von Kinderarmut, stellt die Bedeutung der Vermittlung eines Gefühls der Zuversicht und Geborgenheit, ei­ nes geregelten Tagesablaufes und von Handlungskontrolle durch die Eltern her­ aus - allesamt Bedingungen, gegen die Armutserfahrungen der Eltern als Stress­ faktoren wirkten. Am Ende stehe oftmals das Kind als ,identifizierter Patient'. „Die eigentliche Hilfebe nötigen in aller Regel die Eltern selbst" (S. 276). Dabei seien die Verarbeitungsmuster armer Kinder und ihrer Familien durchaus unter­ schiedlich und reichten von Apathie bis zu aggressivem oder süchtigem Verhal­ ten. Abschließend fordert MargheritaZander ein stärkeres Wiederaufgreifen des Armutsthemas durch die Soziale Arbeit, geht auf Grundsatzkontroversen um die Funktionen der Sozialen Arbeit ein und lotet die Chancen und Grenzen der Dis­ ziplin aus. Während der erste Band stärkere Züge eines einführenden Werkes hat, stellt der zweite das Thema Armut bei Kindern in die weiteren Kontexte des Genera­ tionenverhältnisses, der Verteilungsdiskussion sowie globaler und europäischer Perspektiven einerseits und versucht andererseits, weitere Erscheinungsformen und Folgen von Kinderarmut sowie praktische Handlungsfelder näher zu be-

411 leuchten. In den Kontext der „Generationengerechtigkeit" führt Friedhelm Hengsbach mit einer Reflexion zu Gerechtigkeitsdiskursen (Leistungsgerechtig­ keit, Bedarfsgerechtigkeit) ein und geht auf die wachsende Bedeutung der inter­ nationalen Finanzmärkte als quasi „fünfter Gewalt" ein, bevor er ein Plädoyer für die „Beteiligungsgerechtigkeit" ablegt, die „die vorrangige, nämlich demo­ kratische Ausdrucksform der Gerechtigkeit" (S. 22) sei. Irene Becker und Ri­ chard Hauser setzen sich empirisch mit den Thesen der „Überversorgung" der Seniorengeneration zulasten von Kindern sowie der wachsenden Einkom­ mensungleichheit auseinander und kommen zu dem Ergebnis, dass sich die Ein­ kommen (erst) in der letzten Dekade merklich ungleicher verteilt haben und, bei bis Anfang der 1990er Jahre wachsender Kinderarmut, die insgesamt erfolgreich bekämpfte Altersarmut nicht zu einer generellen Versetzung der über 65- jährigen in höhere Einkommensschichten geführt habe. Im Gegenteil zeige sich ein Wiederanstieg der Altersarmut, der sich fortsetzen dürfte. Ernst-Ulrich Hu­ ster nimmt die Einkommen aus Vermögen stärker in den Blick und ordnet die sich insbesondere hierin zeigende wachsende Polarisierung europäischen und globalen Veränderungen zu, deren neue Wachstumsimpulse von sich zuspitzen­ der Segregation in und zwischen Staaten, Regionen, Städten und Bevölkerungs­ schichten begleitet werde. Diese „Konflikte und Konkurrenzen um Lebenschan­ cen gewinnen im Regelfall ihre Brisanz zwischen den unterschiedlichen Grup­ pen „ . am unteren Ende der Sozialpyramide und nicht zwischen allen Teilen der Gesellschaft" (S. 47). Schließlich thematisiert Huster Reichtum als Leit- und Leidbild. Soziale Hierarchisierung erfüllewic htige soziale Funktionen. „Sie wird allerdings nur dann sozial akzeptiert werden können, wenn sie auf einer Absi­ cherung von Mindestrechten für alle beruht" (S. 55). „Mittels der Forderung nach (mehr) Generationengerechtigkeit werden soziale Ungerechtigkeiten inner­ halb aller Generationen in einen 'Kampf von Alt gegen Jung' umgedeutet" (S. 7). So lautet der Tenor des Beitrags von Butterwegge und Klundt. Zudem zeige die mit den Vokabeln „Nachhaltigkeit" und „Generationengerechtigkeit" legiti­ mierte Haushaltskonsolidierung gerade für Kinder und Jugendliebe verheeren­ den Folgen, da sie nicht zuletzt zulasten der sie betreffenden Bereiche (Bsp. Bil­ dung) gehe. Norbert Reuter befasst sich eingehend und kritisch mit der Legiti­ mierung und den Risiken einer Privatisierung der Alterssicherung und restrikti­ ven Haushaltspolitik. Mit der „Familienausbeutungstheorie" setzt sich Thomas Ebert auseinander, die eine Ausbeutung der Familien insbesondere durch die al­ leinstehenden Mitglieder der gesetzlichen Renten- und Pflegeversicherung be­ haupte. Sie argumentiere mit einem falschen Besitzanspruch der Eltern auf die an ihre Reproduktionsleistung gebundene zukünftige Wertschöpfung und ziele auf eine Art Elternrente statt auf eine „moderne"Fa milienpolitik als Gleichstel­ lungs- und „Sozialpolitik für Kinder" (S. 106).

412 Jürgen Mansel identifiziert und vergleicht die von Armut betroffenen Kinder und Jugendlieben anhand dreier Kriterienkomplexe: Merkmale ihres Elternhau­ ses, ihren Schulerfolg und ihre subjektiven Einschätzungen, und stellt die Be­ deutung der subjektiven Verarbeitung gegenüber der obj ektiven Situation her­ aus. Diese Verarbeitungsmuster nimmt sich auch Roland Merten zum Gegen­ stand und plädiert angesichts kommunizierender Risiko- und Schutzfaktoren für einen „Perspektivwechsel in der kindheitsbezogenen Armutsforschung hin zu ei­ ner Sichtweise, die betroffene Kinder als Akteure in ihren prekären Lebensver­ hältnissen wahrnimmt und (be)achtet, dennoch aber ihre Entwicklungsrisiken nicht kleinschreibt" (S. 137). Den von Merten thematisierten Zusammenhang von sozioökonomischem Status und durchschnittlicher (!) intellektueller Ent­ wicklung kaum aufgreifend, schreiben Andreas Lange, Wolfgang Lauterbach und Rolf Becker die Wahl des Schultypus für Kinder armer Haushalte hingegen weitgehend freier Elternentscheidung zu. Zudem irritieren sie etwas mit Aussa­ gen, wie: „Arme Kinder können wahrscheinlich keine oder nur niedrige schuli­ sche Bildungszertifikate erwerben" (S. 160) oder: aus „qualitativen Studien [re­ sultierten, Anm. B.B.] immer wieder Evidenzen dafür, dass z.B. Kinder von Al­ leinerziehenden einen qualifizierten Berufs- oder Universitätsabschluss errei­ chen" (S. 164). In realistischer Weise zeigt Detlef Baum 's Beitrag zur Rolle kommunaler Sozialpolitik die Quartiersgebundenheit kindlicher Armutserfah­ rung und die zentralen Möglichkeiten der kommunalen Ebene auf, das ihrige im Rahmen einer auf Inklusion zielenden Politik zu leisten. Gerd Jben betrachtet die Förderung benachteiligter Kinder und Jugendlicher durch zahlreiche lokale Pro­ jekte „kompensatorischer Erziehung" (Spiel- und Lernstuben, Sanierungswerk­ stätten, Schulsozialarbeit, etc.) seit den l 960er Jahren. Ellen Essen befasst sich in ihrem knappen Beitrag mit pädagogisch-didaktischem Material zur (Kinder-) Armut und schlägt Schritte für die Behandlung des Themas vor. Birgit Stolz­ Willig wendet sich gegen konservative Vorschläge zur Aufwertung der Fami­ lienarbeit mittels Geldleistungen im Sinne eines in der Tradition des „deutschen Sonderweges" (S. 217) liegenden Phasenmodells auf Kosten nicht zuletzt der öf­ fentlichen Infrastruktur und plädiert statt dessen für diese Sachleistungen mit dem Ziel der Verbesserung der Vereinbarkeit von Familie und Beruf und für ei­ ne familien- und arbeitsmarktgerechte Arbeitszeit- und stärker auf personenbe­ zogene Dienstleitungen ausgerichtete Arbeitsmarktpolitik. Butterwegge rundet den zweiten Band schließlich u.a. mit der Feststellung ab, Familie und Familien­ politik stehe derzeit bei Regierung wie Opposition, von Links- bis Rechtsaußen, hoch im Kurs, und dies in einem Klima, in dem sich die Sozialpolitik seit der Strukturkrise 197 4/7 6 permanent in der Defensive befinde, „die Ausgaben für Familien noch immer steigen, obwohl sich [auch, Anm. B.B.] SPD und Bündnis 90/Die Grünen das Sparen auf ihre Fahnen geschrieben haben" (S. 225).

413 Wachsamkeit, Orientierung, fundierte Analysen und Reflexionen sowie die Formulierung alternativer Perspektiven sind angesichts des Ist-Standes von Kin­ derarmut und Gerechtigkeit (nicht nur) in Deutschland nötig. Beide Bände lie­ fernhierzu sehr empfehlenswerte Beiträge.

Benjamin Benz

414 Helga Grebing (Hrsg.): Geschichte der sozialen Ideen in Deutschland. Sozialismus - Katholische Soziallehre - Protestantische Sozialethik. Ein Handbuch. Veröffentlichungen des Instituts fü r soziale Bewegungen (v ormals: Institut zur Erforschung der europäischen Arbeiterbewegung), SchriftenreiheA: Darstellungen, Bd. 13. Essen: Klartext Verlag 2000 (1 160 S., 76, - Euro)

Richard Saage: Politische Utopien der Neuzeit. Mit einem Vorwort zur zweiten Auflage: Utopisches Denken und kein Ende? Erschienen in der Reihe: Herausforderungen. Historisch-politische Analysen. Hrsg. von Wolfgang Schmale. Bd. 11. Bochum: Verlag Dr. Dieter Wink/er 2000 (483 S.)

Wenn die beiden nicht dem erziehungswissenschaftlichen Kontext zurechenba­ ren Publikationen im Themenzusammenhang des vorliegenden Jahrbuches be­ sprochen werden, so geschieht dies durchaus absichtsvoll. Denn beide Bücher haben eines gemeinsam. Sie wenden sich Gegenständen zu, die seit dem Zu­ sammenbruch der staatssozialistischen Systeme in Osteuropa und in der DDR und der neoliberalen Formierung des Kapitalismus als obsolet gelten. Das be­ trifft die soziale Frage ebenso wie die Utopieproblematik. Nur selten greift die sogenannte „Transformationsliteratur" Themen dieser Art auf. Und speziell in der Erziehungswissenschaft spielen sie so gut wie keine Rolle mehr. Ideen von sozialer Gerechtigkeit, von Solidarität, von Mitmenschlichkeit weichen auch hier zunehmend „Rette-sich-wer-kann"-Mentalitäten, neoliberaler Selbstüberlassung des Einzelnen und globaler Betonierung sozialer und politischer Hierarchien. Als „ewig gestrig" und nicht auf der Höhe der Zeit wird nicht selten belächelt, wer ungeachtet der Spielregeln dieser neuen Weltsichten Soziales wie Utopisches im wissenschaftlichen und politischen Diskurs des 21. Jahrhunderts behalten möchte. - Letzteres wollen beide Publikationen. Dem von Helga Grebing herausgegebenen mehr als 1 OOOseitigen Handbuch „Geschichte der sozialen Ideen in Deutschland' gebührt in der jüngeren sozial­ wissenschaftlichen Literatur besondere Beachtung. In drei großen Teilen präsen­ tiert es die Ideengeschichte des Sozialismus in Deutschland (Walter Euchner und Helga Grebing), die Geschichte der sozialen Ideen im deutschen Katholizismus (Franz Josef Stegmann und Peter Langhorst) und schließlich die Geschichte der sozialen Ideen im deutschen Protestantismus (Traugott Jähnichen und Norbert Friedrich). Der zeitliche Untersuchungsrahmen reicht vom frühen 19. bis zum Ende des 20. Jahrhunderts. Ein Nachwort reflektiert den Diskurs um die soziale Frage und das soziale Konfliktpotential am Beginn des 21. Jahrhunderts. Aus­ führliche Quellenangaben und Literaturhinweise sowie ein Personen- und Sach-

415 register machen das Handbuch zu einer wissenschaftlichen Fundgrube. Es ist in den Grenzen einer Rezension unmöglich, der hier vorfindbaren Breite und Viel­ falt an Inhalt und Reflexion auch nur annähernd nachgehenden zu können. Das Handbuch erweist sich als Nachschlagewerk genauso ergiebig wie als Problem­ und Überblicksdarstellung. Nicht nur deswegen, sondern mehr noch wegen sei­ ner intentionalen Bedeutung wünschte man es vorrätig auch in jeder erzie­ hungswissenschaftlichen Bibliothek und vor allem in den Literaturlisten erzie­ hungswissenschaftlicher Lehre. Die Herausgeberin macht - in Übereinstimmung mit ihren Mitautoren - aus der Absicht kein Hehl, dem 21. Jahrhundert „die Bot­ schaften früherer Zeiten mit auf den Weg zu geben oder zumindest es zu versu­ chen." Dazu gehören u.a. auch die Überzeugung vom „zumindest tendenziellen Praxisbezug" sozialer Ideen, die Einsicht, „dass soziale Realität nicht per se existiert, sondern stets nur in der Wahrnehmung der in sie eingeschlossenen und von ihr beeinflussten Menschen und den reflektorischen Formen dieser Wahrnehmung", die Überlegung, „dass soziale Ideen in einem grundsätzlichen Sinn nicht libe­ rale sein können, da sie sich gegen die Unterstellung einer durch Markt und Wettbewerb gekennzeichneten natürlichen Ordnung wenden müssen" (S. 9f.). Herausgeberin und Autoren erhoffen von einer „generalisierenden Informa­ tion über die Entwicklung der sozialen Ideen in den verschiedenen gesellschaft ­ lichen und politischen Milieus" „einigen Nutzen" sowohl für die wissenschaftli­ che Diskussion als auch für die politische Auseinandersetzung - „auch gegen den weitgehend geschichtslosen aktuellen Trend" (S. 10). Ihre Sorge und Beun­ ruhigung gilt dem zunehmenden Verlust sozialer Verantwortung und sozialer Perspektiven am Beginn des 21. Jahrhunderts. Es mache „sich die Hoffnung breit, die Flucht in das virtuelle Nichts werde von der sozialmoralischen Anfor­ derung befreien, auch für hier und jetzt die Aufgabe anzunehmen, ein men­ schenwürdiges Leben, wenn schon nicht für alle, so doch für möglichst viele Menschen zu gestalten" (S. 9, vgl. auch S. l 104ff.). Diesem Zeittrend tritt die vorliegende Publikation konsequent und mutig entgegen. Einer ihrer hervorhe­ benswerten Vorzüge ist die Zusammenfügung verschiedener gesellschafts- und kulturgeschichtlicher Bereiche und Zusammenhänge, in und aus denen Ideen von sozialer Gerechtigkeit, Solidarität und Menschenwürde entstanden sind. Da­ durch wird einmal mehr vor Augen geführt, dass soziale Ideen nicht diesen oder jenen Interessenrichtungen zuschreibbar sind, sondern zum Grundbestand menschlicher Werte und einer menschenwürdigen Gesellschaftgehören . Diesen Überlegungen entspricht auch Richard Saages in zweiter Auflage er­ schienene Überblicksdarstellung über „Politische Utopien der Neuzeit ". Das Buch traf bei seiner Erstveröffentlichung im Jahre 1991 in eine weltgeschichtli-

416 ehe Situation, die Utopie-Kontroversen kurzzeitig neu entfacht hatte und dem Thema eine unerwartet hohe Aufmerksamkeit einbrachte. 29 Rezensionen - von Zustimmung bis zu „schroffer Ablehnung" - veranlaßten den Autor, der zweiten Auflage eine Art kritischer Rezeptionsgeschichte voranzustellen und daran den Utopiediskurs im Deutschland der 90er Jahre - zugleich als Spiegel für den Zu­ stand geistiger Kultur - zu reflektieren. „Auf der einen Seite standen diejenigen, die von der fortbestehendenRelevanz des utopischen Denkens als unverzichtba­ res Orientierungspotential auch der westlichen Länder überzeugt waren. Für sie hatte sich der Realsozialismus schon lange vor seinem Untergang vom utopi­ schen Denken verabschiedet und damit eine verhängnisvolle Fehlentwicklung eingeleitet, deren schließliches Resultat im Herbst 1989 von jedermann zu be­ sichtigen war. Auf der anderen Seite sahen sich diejenigen bestätigt, die das Scheitern der realsozialistischen Länder monokausal auf die ihnen zugrundelie­ gende Utopie zurückführten" (S. 13). Nicht nur vom „Ende der Utopien" und dem „Ende der Geschichte" sei die Rede gewesen. Den „diskreditierten Utopien" wurde vielmehr das „,liberale Projekt' eines sozialstaatlich gebändigten Kapita­ lismus, dessen demokratisch-rechtsstaatliche Verfassung die subjektiven Indivi­ dualrechte schützt, als die historisch siegreiche Alternative" gegenübergestellt (S. 403). Dabei allerdings würde, so Saage, zweierlei übersehen. Einerseits die Tatsache, dass eben dieses politische System „auch der Kritik zu verdanken ist, die die Utopisten seit Morus an den Ausbeutungs- und Verelendungstendenzen des Kapitalismus übten. Sie formulierten Argumente und eröffneten Visionen, die es der Arbeiterbewegung ermöglichten, durch demokratische Gegenmacht der Kapitalverwertung Rahmenbedingungen aufzuzwingen, unter denen große Teile der Lohnabhängigen eine menschenwürdige Existenz führen können." An­ dererseits bliebe „allzu häufig unbeachtet, daß die soziale Marktwirtschaft trotz aller ihrer Errungenschaften zentrale Menschheitsfragen nicht zu lösen ver­ mochte" (S. 403). Gerade vor dem Hintergrund existenzieller Überlebensinteressen und realer Bedrohungsszenarien der Menschheit gewinnt die Utopieproblematik an Be­ deutung, und zwar als zukunftsgerichtetes Denken ebenso wie als historisch­ kritische Vergewisserung. Hierzu leistet die vorliegende Publikationen einen be­ achtenswerten Beitrag. Unaufgeregt hält sie eine Möglichkeit zu systematischer Information über utopische Entwürfe seit dem 16./17. bis in das 20. Jahrhundert, ihre sozialgeschichtlichen Hintergründe, ihre konstruktiven wie destruktiven und widersprüchlichen Wirkungen offen. Deutlich wird, „woran die klassische Tra­ dition krankte und warum sie schließlich scheiternmuß te: ihr war seit Platon und Morus die totalitäre Tendenz immanent, die Vernunft des ,Ganzen' stets der des Individuums überzuordnen." Es bleibe aber auch die Frage, „ob damit das Urteil über die kollektive Vernunft, die von Anfang an Dreh- und Angelpunkt des uto-

417 pischen Denkens war, unwiderruflich gesprochen ist." Die Antwort scheine na­ heliegend und doch „prekär, solange nicht Klarheit über jenen antiutopistischen Realismus" bestünde, „der nur ein Zentrum kennt: das aus allen Bindungen einer gesamtgesellschaftlichen Solidarität gelöste Individuum und sein schrankenloses Recht, sich selbst zu behaupten" (S. 401 ). Saages Buch kann letztendlich als ein Plädoyer fürdie Utopie gelesen wer­ den. Er hält utopisches Denken für durchaus geeignet, als „kritisches Korrektiv" und „regulatives Prinzip" auf die Probleme der heutigen Welt zu reagieren - vor­ ausgesetzt, es sucht einen „Ausgleich zwischen den unverzichtbaren Rechten der Einzelnen und den unabweisbaren Ansprüchen eines solidarischen ,Ganzen' im

Medium der sekularisierten Vernunft „. ohne den Spannungsbezug zwischen diesen Polen aufzuheben" (S. 407f.). Es bleibt zu wünschen, dass beide Bücher Eingang in erziehungswissen­ schaftliche Diskurse und bildungspolitische Auseinandersetzungen finden. An­ regungspotentiale enthalten sie zur Genüge, obgleich in beiden Publikationen Bildungsfragen, die ja keineswegs unwesentliche Momente sozialer und utopi­ scher Ideen darstellten, nur selten explizit vorkommen. Das soll nicht als Kritik an den hier vorgestellten Arbeiten verstanden werden, sondern eher als Kritik an der Erziehungswissenschaft, die offensichtlich zu den hier verhandelten Fragen wenig über die Disziplin hinaus wahrnehmbaren Denkvorlauf anzubieten hat.

Christa Uhlig

418 Retter, Hein: Oswald Kroh und der Nationalsozialismus. Rekonstruktion und Dokumentation einer verdrängten Beziehung. We inheim: Deutscher Studien Verlag 2001 (2 66 S„ 29,- Euro)

Die von Retter vorgelegte „Rekonstruktion und Dokumentation einer verdräng­ ten Beziehung" schließt die Rekonstruktion des Verdrängungsprozesses ein. Mit ihr wird der Band eröffnet. Freimütig räumt der Autor ein, die Beziehung des Pädagogen und Psychologen Oswald Kroh zum Nationalsozialismus sei von ihm in früheren Beiträgen - insbesondere in seiner Krohs Pädagogik gewidmeten Dissertation von 1969 - verdrängt worden. Bedingt gewesen sei dies vornehm­ lich durch eine vormalige Unsicherheit hinsichtlich des wissenschaftlichen Wertes der Krohschen Arbeiten und durch Stellungnahmen von „Personen, die Kroh noch persönlich gekannt hatten und ihn schätzten" (S. 14). Insbesondere ErnstBo rnemann hatte immer wieder Krohs persönliche Untadeligkeit beschwo­ ren, aber auch andere - Schülerinnen und Schüler sowie Kollegen und Kollegin­ nen mit durchaus sehr unterschiedlicher politischer Vergangenheit und Gesin­ nung -, hatten Kroh nach dem Krieg zu entlasten versucht, unter ihnen Josef E. Zimmermann, Heinz Remplein, Elfriede Höhn, Hildegard Hetzer, Heinrich Dü­ ker, Helmut von Bracken, Robert Alt, Wilhelm Reise und Heinrich Deiters. Demgegnüber lässt Retter jetzt keinen Zweifel mehr an der tiefen Verstrickung Krohs in den Nationalsozialismus. Diese ist der pädagogischen Faschismusforschung freilich nicht prinzipiell neu. Neu indes ist, dass sie - im Kontext einer bemerkenswerten retrospektiven Selbstkritik und unter Beibringung bislang unbekannter Belegmaterialien - von Retter detailliert kenntlich gemacht wird, wobei die Beurteilung mit gebotener Deutlichkeit ausfällt: Kroh erweist sich nun „durchaus als rassistisch agierender Nationalsozialist"; was er seit 1933 schrieb, „war auf Grund der ständigen Wie­ derholung und Variation völkischer Phrasen mit wenigen Ausnahmen ideologi­ scher Schwachsinn „ . " (S. 18, 28). Retter zeichnet Krohs Karriere während der NS-Zeit nach und behandelt aus­ führlich Krohs 1945 aus politischen Gründen erfolgte Entlassung und dessen Schwierigkeiten bei der Bemühung um Wiedereinstellung an der Ostberliner Universität sowie an der FU Berlin, die ihn 1950 schließlich wieder zum Ordina­ rius ernannte. Ungeschminkt gelangt dabei ein bekanntes Muster zum Vor­ schein: Wie manch anderer ehemaliger NS-Aktivist versuchte auch Kroh nach dem Krieg, seine Parteimitgliedschaft und seine NS-Bekenntnisse herunterzu­ spielen, Zeuginnen und Zeugen seiner vermeintlichen Untadeligkeit namhaft zu machen, persönlich bedingte Konflikte mit anderen Nationalsozialisten zur Sy­ stemgegnerschaft zu stilisieren, sich als Helfer bedrängter Juden und Sozialisten aufzuspielen und sich gar selbst als Opfer darzustellen. Retter lässt keinen Zwei-

419 fel daran, dass diese Versuche nahezu durchgängig jeder wirklichen Grundlage entbehrten und auch eine zunehmende Distanzierung vom Nationalsozialismus während der NS-Zeit, an die Retter selbst lange geglaubt hat, bei Kroh nicht konstatiert werden kann. Der verdienstvolle, 121 Seiten umfassende Dokumen­ tationsteil enthält politisch aufschlussreiche Texte Krohs, Briefe von Zeitzeugin­ nen und Zeitzeugen mit Urteilen über Kroh, Materialien zu der von wechselsei­ tigen Gehässigkeiten und Denunziationen geprägten, persönlich bedingten Kon­ troverse zwischen Kroh und Erich Jaensch, eine Zusammenstellung der Kroh­ schen Lehrveranstaltungen sowie Presseberichte über die Kontroverse im Zu­ sammenhang mit der zum 100. Geburtstag Krohs 1987 in dessen Geburtsort Bad Berleburg geplanten und auf Initiative der Grünen schließlich gescheiterten Eh­ rung. Für die Krohbiografik wie für die pädagogische Faschismusforschung stellt der Band zweifellos eine Bereicherung dar, wenngleich er Kontinuitätslinien zwischen Krohs Schriftenaus der Zeit vor und jenen aus der Zeit nach 1933 un­ terbelichtet sowie die etwaige Beteiligung weltanschaulich-politischer Motive bei der Entwicklung der maturationistischen Theorie schon des frühen Kroh un­ diskutiert lässt. Mithin ist er von ungerechtfertigten Seitenhieben nicht frei. Ihr Adressat ist vor allem Wolfgang Keim, Retters ehemaliger Kontrahent hinsicht­ lich der politischen Kroh-Beurteilung. Er wird bezichtigt, zu einer Differenzie­ rung „guter" („sozialistischer") und „schlechter" (faschistischer) Diktaturen zu neigen und den nicht-sozialistischen Opfern des Nationalsozialismus mit „relati­ ver Gleichgültigkeit" gegenüberzustehen (S. 21 ff.), - ein Blick in Keims zwei­ bändige „Erziehung unter der Nazi-Diktatur", die bei Retter bezeichnenderweise unerwähnt bleibt, hätte ausgereicht, um die Absurdität solcher Unterstellungen zu erkennen.

Edgar Weiß

420 Leenders, Helene: Der Fall Mo ntessori. Die Geschichte einer reformpädagogischen Erziehungskonzeption im italienischen Faschismus. Bad Heilbrunn (Obb.): Verlag Ju lius Klinkardt 2001 (2 76 S„ J 8, 41 Euro)

Maria Montessori setzte auf die Protektion durch die italienischen Faschisten, die von einer Unterstützung der international renommierten Pädagogin ihrerseits eine Verbesserung ihres Images im Ausland erwarteten. Mussolini war - infolge eines Angebots Montessoris - Ehrenvorsitzender der „Opera Montessori", der italienischen Montessori-Gesellschaft, der über Jahre Mussolinis Unterrichtsmi­ nister Gentile und sein Amtsnachfolgervorstanden, - das war bekannt; aber die Kooperation Maria Montessoris mit dem italienischen Faschismus war weitaus intensiver als bislang gemeinhin angenommen wird. Dies zeigt Leenders - ge­ stützt auf die Auswertung einschlägiger Archivalien - in ihrem Buch, das die übersetzte Fassung ihrer Utrechter Dissertation von 1999 darstellt. Leenders rekonstruiert die wichtigsten Aspekte der Montessori-Pädagogik, wobei sie deutlich macht, dass deren Entwicklungstheorie dem Kind letztlich dogmatisch übergestülpt wird und der strenge Wissenschaftsanspruch der Päd­ agogin erschlichen ist. Sodann werden die „politisch-pragmatischen Aktivitäten" Montessoris in den zwanziger Jahren sowie die Rezeption und Verbreitung der Montessori-Pädagogik im Kontext der politischen Entwicklungen Italiens bis in die dreißiger Jahre behandelt. Dabei werden die Maßnahmen der Faschisten im bildungspolitischen Bereich ebenso zum Thema wie die Beziehung des Faschis­ mus zum italienischen Idealismus, die auf die Montessori-Pädagogik gerichteten Erwartungen des Regimes, der von ministeriellen Finanzproblemen bestimmte zeitweilige Rückgang der Bereitschaft zur Förderung der Montessori-Pädagogik und das Verhältnis Montessoris zu Ministern und Bildungspolitikern wie Genti­ le, Fedele und Radice. Die Selbstverherrlichungstendenzen, dogmatischen und autoritären Züge sowie kommerziellen Interessen Montessoris werden ebenso klar herausgearbeitet wie ihr politischer Pragmatismus, vermittelst dessen Montessori ihre Formulierungen politisch beliebig anpasste, wann immer es der Verbreitung ihrer Konzeption dienlich zu sein schien. Ihrer nach eigenem An­ spruch einzig zur Rettung des Kindes geeigneten „Methode", deren Reinheit Montessori autoritär überwachte, sollte gerade dadurch zur Wirksamkeit verhol­ fen werden, ohne dass an ihr selbst Veränderungen akzeptiert wurden. Für den Faschismus war diese Methode, die „in unveränderter Form " mit ihm vereinbar war (S. 155), interessant, weil sie die Entwicklungsgesetze des Kindes zu kennen und eine - freilich an fest vorgegebeneAusdrucksformen und Materialien gebundene - „Selbsterziehung" zu fördern vorgab, die mit regime­ apologetischen Inhalten gefüllt werden konnte und somit die Möglichkeit der „Selbst-Faschisierung" aufscheinen ließ (S. 183). Montessori wollte ihre Metho-

421 de „rein" halten, war aber zugleich bereit, sie politischer Instrumentalisierung verfügbarzu machen; in den dreißiger Jahren versuchten sie und ihre Mitarbeiter gezielt, die Vereinbarkeit des Konzepts mit den faschistischen Ambitionen her­ auszustellen. Gegen politische Kontrolle wehrte sich die Pädagogin nie prinzipi­ ell, sondern nur dann, wenn sie die Reinheit ihrer Methode bedroht wähnte. Auch ihr Rückzug aus den italienischen Montessori-Einrichtungen und ihre Übersiedlung nach Barcelona Anfang der dreißiger Jahre bedeuteten keineswegs einen Bruch mit dem Faschismus, sondern lediglich eine Reaktion auf ihre Un­ stimmigkeiten mit Emilio Bodrero, dem vom Regime 1931 eingesetzten Vorsit­ zenden der „Opera", dessen Bestrebungen eben die „Reinheit" der Montessori­ Methode zu gefährden schienen; Montessoris Kontakte zu Mussolini wurden unterdessen auch danach fortgesetzt. Leenders' Buch bietet einen wichtigen Beitrag zur Entmythologisierung ei­ nes überaus problematischen reformpädagogischen Konzepts. Dass die Autorin abschließend meint, das zuvor stark kritisierte Kindheitsbild Montessoris doch noch als „großes Verdienst" würdigen zu müssen, erscheint allerdings als eine Beschwichtigungsgeste, die zum Argumentationsgang der Studie kaum passen will.

Edgar Weiß

422 Hansen, Georg: Die Deutschmachung. Ethnizität und Ethnisierung im Prozess von Ein- und Ausgrenzungen. Münster u. a. : Waxmann 2001 (= Lernen fü r Europa; 7)

Die Arbeitsmarktsituation mit mehr als 4,5 Millionen Arbeitslosen und einem gleichzeitigen Mangel an qualifizierten Arbeitskräften hat die Diskussion um ei­ ne Zuwanderung von Ausländern nach Deutschland wieder verschärft: Soll sie möglichst eng begrenzt werden oder sollen einzelne Gruppen gezielt angewor­ ben werden? Und was ist mit Flüchtlingen und Asylbewerbern? Eine zweite Diskussionslinie zielt auf die - zum Teil bereits seit mehr als 30 Jahren - in Deutschland lebenden Arbeitsmigranten aus süd- und südosteuropäischen Län­ dern: Müssen sie sich die deutsche Staatsangehörigkeit „verdienen" oder kann sie ihnen als Zeichen der Anerkennung legitimer Anwesenheit und legitimen Bleiberechts unbürokratisch verliehen werden? Und welche Form an Integration stellen wir uns eigentlich vor - Anpassung von Minderheiten an Gewohnheiten der Mehrheit oder Toleranz von weiterer Vielfalt in einer Gesellschaft, die so­ wieso pluraler ist, als viele wahrhaben wollen? Dieses breite Feld aktueller Diskussionen ist geprägt durch vielschichtige normative Orientierungen, historische Entwicklungen und tief sitzende Mentali­ täten. Georg Hansen versucht daher, mit seiner Analyse grundsätzlicher Begriffe und Entwicklungslinien eine Übersicht zu verschaffen. Seinen Ausgangspunkt nimmt er bei dem Begriffder „Ethnie", bevor er sich den Funktionen von Ethni­ zität und den Formen der Ethnisierung zuwendet. Abschließend ordnet er das Staatsbürgerrechts-Verständnis der Bundesrepublik Deutschland in diesen Zu­ sammenhang ein. Im Unterschied zum Begriffder „Nation" ist der Begriffder Ethnie nicht an ein Staatengebilde gebunden, sondern es handelt sich bei Ethnien um Gruppen, die durch einen Glauben an gemeinsame Merkmale verbunden sind. Bereits Max Weber betonte, dass dabei kein empirischer Beleg für diese Gemeinsamkeit (z.B. in Form von Sprache, Kultur oder Abstammung) notwendig ist, sondern dass allein der Glaube an diese Gemeinsamkeit für die Konstituierung einer Ethnie ausschlaggebend ist. Deren exakte Bestimmung ist daher auch immer schwierig, müssen doch individuelle Selbstdefinition der Gruppenmitglieder, kollektive Selbstdefinition der Gruppe und Fremddefinition von Nicht-Mitgliedern der Gruppe in Einklang gebracht werden. Am Beispiel der aus Russland zugewanderten Aussiedler lässt sich diese Schwierigkeit aufzeigen: In der kollektiven Selbstdefinition nehmen sie sich als Deutsche wahr. Als Deutsche werden sie auch seitens des Gesetzgebers behan­ delt. Die individuelle Selbstdefinition stimmt damit aber ebenso wenig immer überein wie die gesellschaftliche Wahrnehmung. So grenzt sich ein Teil der in

423 den 90er Jahren zugewanderten Jugendlichen (um einer besseren Zukunft willen von den Eltern oft unfreiwillig mit nach Deutschland genommen) von seinen Eltern, Mitschülern etc. bewusst als „Russen" ab - und so werden sie von der Mehrheit der Bevölkerung auch etikettiert. Damit wird das Konstrukt einer Eth­ nie allerdings keineswegs in Frage gestellt - im Gegenteil, findet die neue Selbstdefinition der Jugendlichen doch wieder auf der Ebene ethnischer Katego­ rien statt. Hansen gelingt es, entsprechende Formen der Ethnisierung auf erschreckend vielen Ebenen des alltäglichen und politischen Handelns nachzuweisen und mit zahllosen Beispielen zu belegen. Exemplarisch sei ein Polizeibericht über eine Schlägerei zwischen einem Jugendlichen türkischer Herkunft und einem deut­ schen Jugendlichen bei einem Straßenfest in Bremen herausgegriffen. Im Poli­ zeibericht erscheint der Konflikt von Beginn an unter ethnischen Gesichtspunk­ ten, und zwar zeigen dies die Aussagen aller Beteiligten: der Beamten, des Tä­ ters und des Opfers. Es bleibt kein Raum für andere Interpretationsmöglichkei­ ten, die eine sorgfältige Lektüre aber ebenso nahe legt: Stecken nicht viel stärker soziale Konflikte hinter der Schlägerei (zwischen gleichermaßen marginalisier­ ten Jugendlichen)? Oder ging es nicht eher um politische Auseinandersetzungen (zwischen einem Neonazi und einem Linken)? Oder handelt es sich nicht einfach nur um eine Auseinandersetzung zwischen alkoholisierten Personen, wie sie auf Festen regelmäßig vorkommen? Es braucht aber gar keiner Konfliktsituation, damit es zu einer ethnisch geprägten Wahrnehmung kommt. Regelmäßig werden im Alltag Schülerinnen, Autofahrer, Busfahrerinnen, Verkäufer, Käuferinnen in erster Linie als Tamilinnen, Türken, Albanerinnen, Polen oder Afrikanerinnen wahrgenommen - und nicht als Mädchen aus der 5c, Mercedesfahrer, Fleisch­ käuferin etc. Hansen beantwortet auch die Frage, warum es überhaupt zu solchen Formen der Ethnisierung kommt. In diesem Prozess greifen offensichtlich zwei Mecha­ nismen ineinander: Auf der einen Seite dient dem Individuum die Zuordnung seiner Mitmenschen zu einer Ethnie der leichteren Orientierung in komplexen Gesellschaften sowie der Identitätsfindung durch Abgrenzung. Auf der anderen Seite steht das staatliche Interesse an der Legitimierung von Herrschaft, indem durch die ethnische Ordnung soziale, religiöse und andere Differenzen überdeckt werden und eine vermeintliche Homogenität geschafft wird, die das gerade exi­ stierende Staatengebilde rechtfertigen soll. Resümmierend lässt sich festhalten, dass der Band ein wichtiges Thema auf­ greift, indem der Begriff der Ethnie und Entwicklungslinien der Ethnisierung geklärt werden. Hansen gelingt es zudem, zahlreiche konkrete Beispiele für sei­ ne Thesen aufzuzeigen. Allerdings hätte man sich insgesamt eine bessere didak­ tische Aufbereitung der Inhalte gewünscht, um sie leichter nachvollziehen zu

424 können und die Lektüre des schmalen Bandes nicht zu einer wahren Strapaze werden zu lassen. Dies gilt insbesondere, da es sich offensichtlich um Studien­ briefe der FemUniversität Hagen handelt, anhand derer sich Studierende die Thematik erarbeiten sollen. Kapitelweise Einleitungen mit Darlegungen des Zu­ sammenhangs von Vorhergehendem und Folgendem sowie der jeweiligen kon­ kreten Fragestellung und regelmäßige Zusammenfassungen des Geleisteten mit Bezug auf eben jene Fragestellung würden dazu beitragen.

Sigrid Blömeke

425 Roth-Zimmermann, Marie-Louise: Denk' ich an Schelklingen ... Erinnerungen einer Elsässerin an die Zeit im SS- Umsiedlungslager (1942-1945). Aus dem Französischen von Lieselotte Kittenberger. 2. Aufl. St. Ingbert: Röhrig Un iversitätsverlag 2001 (173 S„ 16, 5 0 €)

Zu den weniger bekannten Verbrechen des Nationalsozialismus gehört die Depor­ tation elsässischer Familien ins Deutsche Reich. Das NS-Regime versuchte durch Zwangsumsiedlung eine „Wiedereindeutschung" von solchen elsässischen Bürge­ rinnen zu erreichen, welche aus der Sicht des Nazismus als „deutschstämmig" (S. 28) galten, wie dies auf einem abgedruckten „Entlassungsschein" nachzulesen ist. Der völkischen Einordnung wenig aufgeschlossen zeigten sich verständlicherweise diejenigen, die sich nach ihrem Selbstverständnis Frankreich zugehörig fühlten. Roth-Zimmermann beschreibt in Form einer Autobiographie den zweieinhalb Jahre dauernden Zwangsaufenthalt ihrer Familie in Schelklingen, einem kleinen württembergischen Ort in der Nähe von Ulm. Sie stellt die persönlichen Erleb­ nisse erlittener Unterdrückung im Kontext zeitgeschichtlicher Vorgänge dar, wodurch es ihr gelingt, die subjektive Sichtweise auch in einen objektiven Zu­ sammenhang zu stellen. Schelklingen war kein Vernichtungslager, aber ein strikt autoritär geführtes, von der SS bewachtes Umerziehungslager fürwiderständige Elsässerinnen, die von den deutschen Faschisten als „rassisch wertvolle Elemente" (S. 51) zur Inte­ gration in Deutschland angesehen wurden. Zwangsarbeit innerhalb und außer­ halb des Lagers bestimmte den Alltag der „abgesiedelten Familien" (S. 48). Mit Maschinenpistolen und deutschen Schäferhunden ausgestattete SS-Männer sowie die Praktizierung wiederkehrender Rituale wie Morgenappell oder Hitler-Gruß bewirkten gegenüber den Lagerinsassen eine auf Befehlsgewalt beruhende Un­ terdrückung. Zum äußeren Rahmen gehörten Schlafsäle mit Stockwerksbetten. In ihnen mußten jeweils mehrere Familien zusammengepfercht die Nächte ver­ bringen. Die hygienischen Bedingungen erwiesen sich als katastrophal, denn die Menschen mußten auf Strohsäcken schlafen, in denen sich Ungeziefer ausge­ breitet hatte. Zum physischen kam das psychische Leiden hinzu, da die äußeren Lebensbedingungen zugleich als ein Zustand der Entwürdigung wahrgenommen wurden. Dies alles schildert die Verfasserin fast übermäßig sachlich, was die Leserin­ nen vor der Gefahr der Sentimentalität schützt, aber vielleicht gerade dadurch eine emotionale Wahrnehmung in produktiver Weise ermöglicht. Zwischen den Beschreibungen finden sich neben Behördenmitteilungen, Zeitungsausschnitten und weiteren Belegen auch Fotos, welche sowohl die Welt der einst unbelasteten Kindheit als auch die spätere Lagerfron widerspiegeln. Im „Anhang" (S. 113 - 143) finden sich Erlebnisberichte anderer elsässischer Familien, die ein gleichar-

426 tiges Schicksal erfahren hatten. Darstellungen über Dienstverpflichtungenju nger Elsässerinnen zu „Reichsarbeitsdienst (RAD)" und „Kriegshilfsdienst (KHD)" konkretisieren an Beispielen die erschreckende Realität faschistischer Herr­ schaftsausübung. Zum „Anhang" gehört auch beispielsweise jene Episode über eine lebensgefährliche Solidarität mit polnischen Kriegsgefangenen. Der Abschnitt „Dokumente" (S. 145 - 167), der sich dem Anhang anschließt, gibt Einblick in nationalsozialistische Amtsschreiben und Bekanntmachungen. Die Dokumente versinnbildlichen den rigorosen Charakter des NS-Regimes ge­ rade auch dort, wo es scheinbar nur um sachbezogene Verwaltungsanweisungen geht. So lautet etwa ein Schreiben Robert Wagners, des Chefs der Zivilverwal­ tung im Elsaß, an Heinrich Himmler vom 19. März 1942, dass zu einem später festzulegenden Zeitpunkt „alles Unbrauchbare und rassisch Minderwertige aus

dem Lande verschwinden (soll), wobei „. noch vom Führer bestimmt werden muß, ob solche Elemente nach Frankreich abgeschoben oder in den weiten Räumen des Ostens angesiedelt werden sollen" (S. 151). Es lassen sich gewiss sehr verschiedene Reaktionen auf die Erlebnisse der jungen Elsässerin im SS-Umsiedlungslager vorstellen, aber kaum als wahr­ scheinlich annehmen, dass diese Frau nach ihrer Befreiung sich entschloss, Germanistik zu studieren und an der Aussöhnung zwischen Franzosen und Deut­ schen mitzuarbeiten. Sicher war dafür das Kennenlernen von „anderen" Deut­ schen maßgeblich, bei denen sie im Anschluss an ihren mehr als einjährigen La­ geraufenthaltei nquartiert wurde und einen humanen Umgang erfahren durfte. Das vorliegende Buch der pensionierten Germanistik-Professorin offeriert sich als ein politisch-pädagogisches Zeugnis von seltener Eindringlichkeit. Es ist zu­ gleich ein Mahnmal gegen Ausgrenzung und Verfolgung von Menschen, deren einziges Vergehen darin besteht, eine autonome Gestaltung für ihr eigenes Leben zu beanspruchen. In diesem Sinne lässt sich der Band auch als ein richtungswei­ sendes Exempel für eine politische Bildung auffassen, die sich der Geschichte schonungslos stellt und eine integre Haltung von Individuen zur Schaffung und Si­ cherung demokratischer Lebensverhältnisseanstrebt.

Kurt Beutler

427 Jahnke, Karl He inz: Vergessenes? Der europäische Widerstand 1939 bis 1945 in deutschen Geschichtslehrbüchern. Frankfurt!M: VA S Verlagfür Akademische Schriften 2001 (1 06 S„ 9, -Euro)

Jahnke, Karl Heinz: Marie ter Morsche kann ihren Vater nicht vergessen. Widerstand gegen Hitlers V- Waffe n in Zinnowitz und Peenemünde 1942143. Rostock: Koch Verlag 2001 (182 S., 15. 30 Euro)

Jahnke, Karl Heinz/Rossaint, Alexander: Hauptangeklagter im Berliner Katholikenprozeß 193 7: Kaplan Dr. Joseph Cornelius Rossaint. Frankfurt!M: Verlagfür Akademische Schriften20 02 (186 S„ 14,80 Euro)

Der Widerstand gegen die Nazi-Diktatur ist bekanntlich in beiden deutschen Staaten jahrzehntelang, zumal in Zeiten des Kalten Krieges, nur sehr verengt und mit Legitimationsinteressen verbunden wahrgenommen worden. Dies belegen nicht zuletzt die Schulgeschichtsbücher beider deutscher Staaten, in denen Wi­ derstand im Westen lange Zeit fast ausschließlich auf 20. Juli und Weiße Rose, im Osten auf kommunistischen Widerstand reduziert wurde. Seit etwa den 80er, vor allem den 90er Jahren hat sich dies im Bereich der Forschung grundlegend geändert. Inzwischen liegen zahlreiche spezielle, um Differenzierung bemühte Veröffentlichungen zu den verschiedensten Richtungen und Formen des Wider­ standes wie auch mehrere, um Breite und Ausgewogenheit bemühte Sammel­ und Nachschlagewerke zum Thema vor, so dass man eigentlich annehmen könnte, dass sich auch die Schulgeschichtsbücher des vereinigten Deutschland entsprechend verändert hätten. Der Rostocker Historiker und Widerstandsfor­ scher Karl Heinz Jahnke hat diese Annahme auf der Grundlage sämtlicher an bundesdeutschen Schulen zugelassenen Geschichtslehrbücher überprüft und da­ bei neben der Darstellung des deutschen auch die Berücksichtigung des europäi­ schen Widerstandes gegen die Nazis untersucht. Was zunächst den deutschen Widerstand anbelangt, konstatiert Jahnke für die Schulgeschichtsbücher insgesamt zwar einen Zugewinn an Breite und Tiefe, ebenso aber nach wie vor blinde Flecken sowie - aus der alt-bundesdeutschen Tradition herrührende - Einseitigkeiten, ideologische Befangenheiten, proble­ matische Bewertungen, Ungenauigkeiten und regelrechte Sachfehler. Das von den Schulbuchautoren berücksichtigte Spektrum des Widerstandes ist um den Arbeiterwiderstand sowie um Widerstand und Opposition aus den Reihen der Jugend „erweitert" worden, nach wie vor findet jedoch „vorrangige Aufmerk­ samkeit ... der Widerstand aus den Kirchen, die studentische Gruppe , Weiße Rose' und der militärische Widerstand mit dem 20. Juli 1944 als Höhepunkt"; es fehlenwe itgehend oder ganz „der Widerstand in den Konzentrationslagern, der

428 jüdische Widerstand in Deutschland, der Widerstand am Kriegsende April/Mai

1945 ..„ das Schicksal der Deserteure, der Wehrdienstverweigerer" oder der „Widerstand gegen Hitlerdeutschland aus den Ländern des Exils" (S. 4lf.). Die der altbundesdeutschen Tradition folgende Orientierung am Widerstand von Adel, Bürgertum und Kirche lässt sich schon an der Häufigkeit der erwähnten - fastausschließlich männlichen (!) - Repräsentanten erkennen, die - nach wie vor - von Claus Schenk Graf von Stauffenberg (25 x), Hans Scholl (23 x), Sophie Scholl (23 x), Dietrich Bonhoeffer (2 1 x), Ludwig Beck (20 x), Bischof August Graf von Galen (18 x), Carl Goerdeler (17 x) und Helmuth James Graf von Moltke (13 x) angeführt werden (S. 42). Dem gegenüber bleibt der Widerstand von „unten", einschließlich dem der Arbeiterbewegung, oder der von jüdischer Seite zumeist ohne Gesicht, so dass den Heranwachsenden eine Identifizierung erschwert wird. Dazu passt, dass der Widerstand aus der Arbeiterbewegung, also von Sozialdemokraten und Kommunisten, fälschlicherweise auf die Anfangs­ phase des NS-Regimes eingegrenzt, in mehreren Schulbüchern insbesondere der kommunistische Widerstand „als illusionär und erfolglos" eingeschätzt wird (S. 49). Im Unterschied zum deutschen ist der europäische Widerstand gegen die Na­ zis unter den Bedingungen der Okkupation in vielen Geschichtslehrbüchernnach wie vor nicht oder kaum existent. Am ehestens wird noch der Widerstand durch Partisanen erwähnt, wobei teilweise der Eindruck entsteht, als seien sie „für die Grausamkeiten im Krieg mit verantwortlich" gewesen. Letztendlich suggeriert die Auswahl der Bilder, die Deutschen seien „Sieger" geblieben und wird damit der Erfolg der Partisanenbewegung abgewertet. Ebenfalls häufig behandelt wird der Warschauer Ghetto-Aufstand 1943 und der nicht-jüdische Warschauer Auf­ stand im Sommer 1944, wobei die Bedeutung der Londoner Exilregierung und der von ihr gelenkten Heimatarmee überbewertet erscheint gegenüber dem aus der Arbeiterbewegung und Teilen der polnischen Intelligenz kommenden Wider­ stand wie überhaupt „der Anteil der Kommunisten am europäischen (wie schon am deutschen) Widerstand verzerrt und entgegen ihrer wirklichen Rolle darge­ stellt" wird (S. 36). Fazit Jahnkes: „Insgesamt ist die Darstellung des europäi­ schen antifaschistischen Widerstandes in den Geschichtslehrbüchern unzurei­ chend. Eine Korrektur ist dringend geboten" (S. 37). Dafür hat Jahnke selber mit einer Reihe beeindruckender Untersuchungen über zu Unrecht vergessene deutsche und nicht-deutsche Widerstandskämpfe­ rinnen Grundlagen geschaffen wie z.B. über den in keinem deutschen Ge­ schichtslehrbuch erwähnten Kaplan Dr. Joseph Cornelius Rossaint, der als Hauptangeklagter im Berliner Katholikenprozess 1937 zu 11 Jahren Zuchtshaus verurteilt, 7 Jahre im Zuchthaus Remscheid-Lüttringhausen gefangen gehalten und erst durch amerikanische Truppen im April 1945 befreit wurde. Nachdem

429 Jahnke schon vor vielen Jahren Forschungen zu Joseph Rossaint vorgelegt hatte, erarbeitet er in seiner jüngsten Studie gemeinsam mit dem Neffen Rossaints, Alexander Rossaint, auf der Grundlage eines breiten Quellenfundamentes die Umstände der Verhaftung, des Prozesses, der Haft und des Lebens Rossaints nach seiner Freilassung, vor allem aber verdeutlicht er, worin der Widerstand Rossaints gegen das NS-Regime gelegen hat. Entgegen dem weit verbreiteten Vorurteil, insbesondere auf Seiten der katholischen Kirche, Rossaint habe eine Einheitsfrontmit den Kommunisten gesucht, deshalb auch gegen Richtlinien der katholischen Kirche verstoßen, so dass er von dieser Seite keinerlei Unterstüt­ zung, sondern nur Ausgrenzung erfuhr, und zwar weit über das Jahr 1945 hin­ aus, zeigen die beiden Autoren, dass Rossaint in der Endphase Weimars durch seine, als sozialpädagogisch zu qualifizierenden Bemühungen um Linderung der sozialen Not im Ruhrgebiet hervorgetreten ist, mit dem Ziel, „Untätigkeit und der Gefahrder Verwahrlosung entgegenzutreten" (S. 46) und den von Arbeitslo­ sigkeit betroffenen Menschen neuen Mut zu vermitteln. Bereits vor Machtantritt Hitlers, vor allem aber nach dem 30. Januar 1933 leistete er mit einer konsequent pazifistischen und antifaschistischen Haltung Widerstand gegen die Nazis und versuchte in diesem Sinne auch auf die katholischen Organisationen, insbeson­ dere den katholischen Jungmännerverband einzuwirken, in dem er zeitweise Leitungsfunktionen inne hatte. Im Rahmen seiner Hilfe und Unterstützung für vom NS-Staat verfolgte Gegner des Regimes, die er unabhängig von deren welt­ anschaulichen und politischen Einstellungen geleistet habe, sei er auch mit Kommunisten in Kotakt gekommen und habe sie mit ihren Familien aus Näch­ stenliebe unterstützt, dabei das gemeinsame Ziel der Bekämpfung des NS­ Regimes über weltanschauliche Gegensätze gestellt. Die Tatsache, dass Rossaint, wie der Berliner Katholikenprozess zeigt, kein Einzelkämpferwar, sondern zumindest Verbündete innerhalb seines kirchlichen Umfeldes hatte, wirft ein neues Licht auf den katholischen Widerstand, die Tat­ sache, dass die Amtskirche ihm nach seiner Entlassung aus der Haft nur um den Preis des Verzichts auf jegliche politische Betätigung und des Abbruchs der Be­ ziehungen zu überlebenden aus dem Zuchthaus Lüttringhausen die Weiterarbeit als Geistlicher ermöglichen wollte, zeigt, wie notwendig es ist, den Umgang mit dem Widerstand über das Jahr 1945 hinaus auch in Schulgeschichtsbüchern zu dokumentieren, beispielsweise in Form von Rossaints Tagebuch-Eintragung vom 13.4.1958: „Man darf in der Bundesrepublik alles gewesen sein, erst recht aktiver Nationalsozialist, Richter, Staatsanwalt in typischem Sinn des Hitlersy­ stems, man erhält eine besondere Stellung, man kann Minister werden, wie es fastdutzendfach der Fall ist, aber man darf kein Gegner des Nationalsozialismus gewesen sein, dann sind alle Stellen verschlossen" (S. 173).

430 Hier hat sich inzwischen zweifellos einiges geändert. Dass gleichwohl die in Schulgeschichtsbüchern nachgewiesenen Vorbehalte insbesondere gegenüber dem „linken" Widerstand auch in der Bevölkerung immer noch groß sind, zumal wenn er vor der „Wende" in der DDR gewürdigt worden ist, zeigt der Umgang nach der „Wende" mit dem von Jahnke untersuchten Widerstand vorwiegend von Holländern, Polen und einem Österreicher auf der Ferieninsel Usedom, in dessen Nordteil im Gebiet des einstigen Fischerdorfes Peenemünde während des Zweiten Weltkrieges in riesigen Anlagen mit Hilfevon Zehntausenden von Wis­ senschaftlern, Ingenieuren, Arbeitern, Zwangsarbeitern und Häftlingen Hitlers Wunderwaffe, die V 1 und V 2, entwickelt und erprobt wurde. In dem am Rande des Versuchsgeländes gelegenen Ferienort Zinnowitz fand sich zwischen Som­ mer 1942 und Winter 1943 um den Holländer Johannes ter Morsche, der hier nach der Okkupation Hollands Zwangsarbeit verrichten musste, und um den österreichischen Prälaten Carl Lampert eine Gruppe, die das Nazi-Regime und dessen Krieg ablehnte, sich regelmäßig in der Wohnung der Familie ter Morsche traf, gemeinschaftlich ausländische Sender abhörte, die Kriegslage aus der Per­ spektive der Nazigegner diskutierte, entsprechende Aufklärung betrieb und über Sabotage bzw. Verzögerung der Rüstungsproduktion in Peenemünde nachdach­ te, wobei das tatsächliche Ausmaß gelungener Sabotageakte nicht endgültig ge­ klärt werden konnte. In jedem Falle wurden die Mitglieder der Gruppe durch ei­ nen Spitzel an die Gestapo verraten, verhaftet, ihre führenden Köpfe wie Johan­ nes ter Morsche wegen „Hoch- und landesverräterischer Tätigkeit" zum Tode verurteilt und hingerichtet. Aufgrund des beharrlichen Engagements von ter Morsches - z.Zt. seiner Hin­ richtung gerade erst 14 Jahre alten - Tochter Marie, aber auch aufgrund von sy­ stematischen Forschungen an der Universität Greifswald zur Geschichte des an­ tifaschistischen Widerstandes bereits in den 60er Jahren, an denen Jahnke we­ sentlichen Anteil hatte, gelang es damals, dem Widerstand von ter Morsche und seinen Freunden ein Denkmal zu setzen, u.a. in Form einer 1968 nach ihm be­ nannten Straße in Zinnowitz. Ebenso wurde seiner in Holland gedacht und wur­ den seine Kinder für ihr Engagement dort ausgezeichnet. Um so beschämender, dass nach der Wende die nach ter Morsche benannte Straße - wie viele andere in der ehemaligen DDR - umbenannt, eine geplante Gedenkstätte, in deren Rahmen auch ter Morsches gedacht werden sollte, nicht zustande kam, wobei schließlich ohnehin nur noch ein Mahnmal zur Erinnerung an die Opferjeder Gewaltherr­ schaftohne Namennennung im Gespräch gewesen war. Dass im November 1999 wenigstens eine Gedenktafel mit den Namen der Widerstandsgruppe am damali­ gen Wohnhaus der Familie ter Morsche angebracht wurde, geht wiederum auf das Engagement von Marie ter Morsche zurück, die mehrfach beim Deutschen

43 1 Botschafter in Holland, beim Zinnowitzer Bürgermeister wie bei anderen Stellen gegen den Umgang mit der Erinnerung an ihren Vater protestiert hatte.

Wolfgang Keim

432 Autorenspiegel

Autorenspiegel

Benz, Benjamin, Dipl.-Soz.Arb . (FH), Doktorand an der Justus-Liebig-Universi­ tät Gießen, Rektoratsreferent an der Evangelischen Fachhochschule Rhein­ land-Westfalen-Lippe. Anschrift: Bachstraße 7a, 45770 Marl Berger, Christel, Prof. Dr„ arbeitslos. Anschrift: Hermann-Löns-Str. 34, D- 16540 Hohen Neuendorf Beutler, Kurt, Prof. Dr. phil., Institut für Erziehungswissenschaft an der Univer­ sität Hannover. Anschrift: Haeckelstr. 3, D-30173 Hannover Blömeke, Sigrid, Dr. phil., Professorin für Systematische Didaktik und empiri­ sche Unterrichtsforschung an der Humboldt-Universität zu Berlin. Anschrift: Philosophische Fakultät IV, Unter den Linden 6, D-1 0099 Berlin Boehnke, Klaus, Dr. phil„ Professor of Social Science Methodology, Interna­ tional University Bremen. Anschrift: Campus Ring 1, D-28759 Bremen Boldt, Rosemarie, Dr. paed. habil., Erziehungswissenschaftlerin, Anschrift: Templiner Str. 3, 17033 Neubrandenburg Butterwegge, Christoph, Dr. rer. pol. habil„ Professor für Politikwissenschaft und Leiter der Abteilung für Politikwissenschaft an der Erziehungswissen­ schaftlichen Fakultät der Universität zu Köln. Anschrift: Gronewaldstr. 2, D- 50931 Köln Eichler, Wolfgang, Dr. paed„ Privatdozent für Allgemeine Pädagogik an der Humboldt-Universität Berlin. Anschrift: Fuchsbergring 24, D-1 5345 Rehfel­ de Gamm, Hans-Jochen, Prof. Dr. phil. em„ Institut für Pädagogik der Technischen Universität Darmstadt. Anschrift: Heidelberger Landstr. 224a, D-64297 Darmstadt Gatzemann, Thomas, PD Dr. paed„ Erziehungswissenschaftler, Technische Universität Chemnitz. Anschrift:Reichenhainer Str. 41, 09107 Chemnitz Günther, Ralph, Dipl.-Soz„ wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für So­ ziologie der Technischen Universität Chemnitz. Anschrift: Reichenhainer Str. 41, D-09107 Chemnitz Händle, Christa, PD Dr„ Bildungsforscherin und Lehrerin. Anschrift: Am Fuch­ spaß 41, 14169 Berlin Jahnke, Karl Heinz, Dr. phil. habil., bis 1991 Professorfür deutsche Geschichte der neuesten Zeit an der Universität Rostock. Anschrift: Burgwall 5, D- 18055 Rostock

435 Keim, Wolfgang, Prof. Dr. phil., Institut für Erziehungswissenschaft der Univer­ sität Paderborn.Ansc hrift: Personstr. 54, D-33102 Paderborn Kirchhöfer, Dieter, Dr. phil. habil. Anschrift: Friedrich-Wolf-Str. 5, D-16761 Berlin Kreisel, Marina, Dr. paed. habil., Deutschdidaktikerin. Anschrift: Eschenweg 7a, 15711 Zeesen Mader, Ursula, Dr. phil., Historikerin (freiberuflich). Anschrift: Berolinastr. 4, D-10178 Berlin Maur, Hans, Dr. phil., Vorsitzender des Gedenkstättenverbandes e.V. Anschrift: Straße 43/Nr. 14, D-13125 Berlin Neuner, Gerhart, Prof. Dr. sc. paed., Leibniz-Sozietät e.V., Mitglied des Vor­ standes, Berlin Nitsch, Wolfgang, Dr. phil., Professor für Wissenschaftstheorie der Erziehungs­ und Sozialwissenschaften, Carl-von-Ossietzky-Universität Oldenburg Roesler, Jörg, Dr. sc. oec., Wirtschaftshistoriker, Mitglied der Leibniz-Sozietät Berlin. Anschrift: Mellenseestr. 5, D-103 19 Berlin Rothert Brigitte, Dipl.-Pädagogin, Großcousine von Kurt Tucholsky, Mitglied der Kurt Tucholsky Gesellschaft.Anschrift: Sültstr. 33, D-1 0409 Berlin Steffens, Gerd, Prof. Dr. phil., Didaktik der Sozialkunde an der Universität Kas­ sel. Anschrift: Fachbereich Gesellschaftswissenschaften der Universität Kas­ sel, Nora-Platiel-Str. 1, D-34127 Kassel Steiner, Irmgard,Dr. oec. habil. paed., Soziologin, Berlin Uhlig, Christa, Prof. Dr. paed., z.Zt. Mitarbeiterin in einem DFG-Proj ekt an der Universität Paderborn. Anschrift: Bleckmannweg 2, D-10367 Berlin Vilmar, Fritz, Dr. phil., Professor für Politikwissenschaft an der Freien Univer­ sität Berlin. Anschrift: Winterfeldtstr. 90, D-1 0777 Berlin Weinberg, Johannes, Dr. phil., Professor em. für Erwachsenenbildung/Außer­ schulische Jugendbildung an der Westfälischen Wilhelms-Universität Mün­ ster. Anschrift: Barlachstr. 17, D-48165 Münster Weiß, Edgar, Dr. phil. habil., Erziehungswissenschaftler und Publizist. An­ schrift:Frankfurter Str . 58, D-57074 Siegen Weiß, Gisela, Doz. Dr. habil., Erziehungswissenschaftlerin. Anschrift: Linden­ promenade 32, D-1 5344 Strausberg Weiß, Horst, Dr. paed., Professor für Didaktik. Anschrift: Lindenpromenade 32, D-1 5344 Strausberg Wessel, Anne, Dr. paed. habil., Erziehungswissenschaftlerin, Anschrift: D­ Leipziger Str. 54, 10117 Berlin Wessel, Karl-Friedrich, Prof. Dr., Philosoph, Anschrift: Leipziger Str. 54, D- 10117 Berlin

436 Jahrbuch für Pädagogik

Bisher in dieser Reihe erschienen:

Erziehungswissenschaft im deutsch-deutschen Vereinigungsprozeß. 1992. Redaktion: Klaus Himmelstein und Wolfgang Keim

Öffentliche Pädagogik vor der Jahrhundertwende: Herausforderungen, Widersprüche, Perspektiven. 1993. Redaktion: Karl-Christoph Lingelbach und Hasko Zimmer

Geschlechterverhältnisse und die Pädagogik. 1994. Redaktion: Ulla Bracht und Dieter Keiner

Auschwitz und die Pädagogik. 1995. Redaktion: Kurt Beutler und Ulrich Wiegmann

Pädagogik in multikulturellen Gesellschaften. 1996. Redaktion: Georg Auernheimer und Peter Gstettner

Mündigkeit. Zur Neufassung materialistischer Pädagogik. 1997. Redaktion: Hans-Jochen Gamm und Gernot Koneffke

Bildung nach dem Zeitalter der großen Industrie. 1998. Redaktion: Josef Rützel und Werner Sesink

Das Jahrhundert des Kindes? 1999. Redaktion: Karl-Christoph Lingelbach und Hasko Zimmer

Gleichheit und Ungleichheit in der Pädagogik. 2000. Redaktion: Klaus Himmelstein und Wolfgang Keim

Zukunft. 2001 . Redaktion: Ulla Bracht und Dieter Keiner.

Kritik der Transformation - Erziehungswissenschaft im vereinigten Deutschland. 2002. Redaktion: Wolfgang Keim, Dieter Kirchhöfer und Christa Uhlig.

c:: Cl) Wolfgang Keim (Hrsg.) � ca .c Vom Erinnern zum Verstehen u "' Pädagog ische Perspektiven deutsch-polnischer c:: Cl) Verständig ung "' "' Frankfurt/M„ Berlin, Bern, Bruxelles, New Yo rk, Oxford, Wien, 2003. 540 S„ ·- 6 Abb„ 2 Ta b. s Studien zur Bildungsreform. Herausgegeben von Wolfgang Keim. Bd. 42 ISBN 3-63 1-51262-7 · br. € 79.-*

Die Publikation stellt das Erinnern an die belastete Geschichte zwischen Polen und Deutschen in den Mittelpunkt und fragt nach pädagogischen Perspektiven deutsch-polnischer Zusammenarbeit. Erfahrungsberichte über gelungene deutsch-polnische Proj ekte geben vielfältige Anregungen für Jugendarbeit und Erwachsenenbildung.

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pädagogische Aufgabe · Vom Erinnern zum Verstehen - deutsch-polnische :ca pädagogische Projekte c. 0 J... :::J w

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