Die CDU/CSU Und Die Deutsch-Polnischen Vereinbarungen Vom Oktober 1975 Humanität Oder Konfrontation?

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Die CDU/CSU Und Die Deutsch-Polnischen Vereinbarungen Vom Oktober 1975 Humanität Oder Konfrontation? 53 Die neue Ostpolitik der sozialliberalen Koalition gilt gemeinhin als Erfolgs- geschichte, so dass der Widerstand, auf den sie einst stieß, leicht in Vergessenheit gerät. Den gab es damals durchaus, vor allem von Seiten der CDU/CSU. Die meisten Unionspolitiker lehnten auch die deutsch-polnischen Vereinbarungen vom Oktober 1975 ab. In Kraft gesetzt aber wurden diese Vereinbarungen erst durch die Zustim- mung des Bundesrat, in dem die CDU/CSU die Mehrheit besaß. Wie war das mög- lich? Warum votierten die beiden Parteien für eine Politik, die doch die meisten ihrer führenden Köpfe ablehnten? nnnn Tim Szatkowski Die CDU/CSU und die deutsch-polnischen Vereinbarungen vom Oktober 1975 Humanität oder Konfrontation? I. Die Lücke im Warschauer Vertrag „Ich habe so etwas noch nicht in diesem Saale erlebt.“1 Das waren die Worte von Hans Katzer in der Sitzung der CDU/CSU-Bundestagsfraktion am 17. Februar 1976. Der CDU-Abgeordnete äußerte sich „etwas erregt“ und betonte, ihm sei daran gelegen, „hier die Linie dieser Fraktion zugunsten der Christlichen zu bestreiten“. Was war geschehen? Zuvor hatte der Abgeordnete Günther Müller den stellvertretenden Vorsitzenden der Fraktion, Richard von Weizsäcker, ganz unmissverständlich aufgefordert, „ins zweite, von mir aus auch ins dritte Glied“ zurückzutreten. Es diene der Glaubwürdigkeit in der Politik, wenn man bereit sei, aus einer bestimmten Haltung persönliche Konsequenzen zu ziehen, so Müller. Vor ihm hatte sich Hansjörg Häfele ähnlich geäußert: Weizsäckers Gewissensent- scheidung, die dem Votum der „Führungsmannschaft“ des Kanzlerkandidaten Helmut Kohl widerspreche, werde glaubwürdiger, wenn er seine Funktion in die Hand des Gremiums zurückgebe, das ihn gewählt habe. Der Streitpunkt in den ziemlich massiven unionsinternen Auseinanderset- zungen waren die Vereinbarungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Volksrepublik Polen vom 9. Oktober 1975, die mehrere Teile umfassten: ein Abkommen über Renten- und Unfallversicherung; eine Vereinbarung über die pauschale Abgeltung von Rentenansprüchen; ein Abkommen über die Ge- währung eines Finanzkredits der Bundesrepublik an Polen; ein Protokoll betref- fend die Ausreise Deutschstämmiger aus Polen; ein Langfristiges Programm für die Entwicklung der wirtschaftlichen, industriellen und technischen Zusammen- 1 Protokoll der Fraktionssitzung am 17. 2. 1976, in: Bundesarchiv Koblenz (künftig: BA), Nach- lass Karl Carstens (NL Carstens), Bd. 31, S. 17; das Folgende in: Ebenda, S. 10 (Häfele) u. S. 17 (Müller). VfZ 1/2011 © Oldenbourg 2011 DOI 10.1524/vfzg.2011.0003 54 Aufsätze arbeit2. Bei der Schlussberatung im Bundestag am 19. Februar 1976 votierten 15 Unionsabgeordnete für die zustimmungspflichtigen Teile, das Abkommen über Renten- und Unfallversicherung sowie die Vereinbarung über die pauschale Ab- geltung. 14 von ihnen kamen aus den Reihen der CDU: Rainer Barzel, Curt Be- cker, Norbert Blüm, Erik Blumenfeld, Ferdinand Breidbach, Hans Katzer, Walther Leisler Kiep, Josef Klein, Georg Kliesing, Josef Mick, Paul Mikat, Adolf Müller, Wolfgang Vogt und Richard von Weizsäcker. Ferner stimmte Max Schulze-Vorberg (CSU) für die Abmachungen. Entschuldigt fehlte der ehemalige Außenminister Gerhard Schröder, der sich zuvor ebenfalls für die bilateralen Vereinbarungen ausgesprochen hatte. 191 Unionsabgeordnete lehnten sie ab3. Es war nicht das erste Mal, dass die Union in einer außenpolitischen Grund- satzfrage nicht einheitlich votierte. Am 17. Mai 1972, bei der Ratifikation des Moskauer Vertrags vom 12. August 1970 und des Warschauer Vertrags vom 7. De- zember 1970 im Bundestag, kaschierte sie ihre internen Spannungen allerdings durch Stimmenthaltung. Nur wenige Abgeordnete schlossen sich dieser Linie nicht an; sie stimmten aber gegen die Verträge. Bei der Abstimmung über den Grundlagenvertrag im Bundestag am 11. Mai 1973 wichen vier Abgeordnete von der Mehrheit ab. Norbert Blüm, Karlheinz Hornhues, Walther Leisler Kiep und Josef Klein stimmten ihm zu. Noch spektakulärer fiel an diesem Tag die Abstim- mung über den Beitritt der Bundesrepublik (und der DDR) zur UNO aus: Die CDU/CSU-Fraktion spaltete sich in 99 Befürworter und 121 Gegner. Die Ent- scheidung der Mehrheit der Fraktion, den UNO-Beitritt abzulehnen, führte zu einem personellen Revirement. Rainer Barzel trat, auch aus anderen Gründen, vom Amt des Fraktionsvorsitzenden zurück und kandidierte auch nicht mehr für den CDU-Vorsitz. Ihm folgten Karl Carstens als Fraktions- und Helmut Kohl als Parteivorsitzender. Geschlossen trat die Union am 20. Juni 1974 auf, als sie dem Prager Vertrag vom 11. Dezember 1973 im Bundestag ihre Zustimmung ver- sagte. Jene Spaltung der CDU/CSU-Fraktion im Februar 1976 war, ähnlich wie im Mai 1973, durchaus spektakulär. Schließlich befanden sich die Unionsparteien zu dieser Zeit bereits im Wahlkampf. Am 3. Oktober 1976 standen Wahlen zum Bundestag an. Ein geschlossenes Auftreten hätte also erwartet werden können. Auch waren es immerhin 15 Abgeordnete, die sich der Mehrheit nicht anschlos- sen, unter ihnen prominente Persönlichkeiten wie Barzel, Katzer und Weizsäcker – mit den ersten beiden auch zwei ehemalige Bundesminister. Welche Gründe hatten sie? Überraschend war außerdem, dass alle Bundesländer dem Gesetz zum Abkommen über Renten- und Unfallversicherung sowie zur Vereinbarung über die pauschale Abgeltung am 12. März 1976 im Bundesrat ihre Zustimmung erteilten. Mochte das Verhalten der Gruppe, die sich für die bilateralen Abma- chungen einsetzte, auffällig sein, letztlich wandte sich ja doch eine breite Mehr- 2 Für den Wortlaut der Vereinbarungen vom 9. 10. 1975 vgl. Bulletin des Presse- und Informati- onsamts der Bundesregierung, 10. 10. 1975, S. 1193–1203. 3 Verhandlungen des Deutschen Bundestages, Stenographische Berichte, Bd. 97, 224. Sitzung, S. 15632 f. VfZ 1/2011 Tim Szatkowski: Die CDU/CSU und die deutsch-polnischen Vereinbarungen vom Oktober 1975 55 heit gegen die Vereinbarungen. Zwischen dem 19. Februar und dem 12. März 1976 ergaben sich auf Betreiben der Union aber erhebliche Verbesserungen, die eine veränderte Lage schufen. Dies kann als großer außenpolitischer Erfolg der CDU/CSU angesehen werden, dessen Durchsetzung ebenfalls nachzuzeichnen sein wird. Ausgangspunkt für den Abschluss der bilateralen Vereinbarungen vom Okto- ber 1975 war der Vertrag zwischen der Bundesrepublik und der Volksrepublik Po- len „über die Grundlagen der Normalisierung ihrer gegenseitigen Beziehungen“ vom 7. Dezember 1970 (Warschauer Vertrag)4. Die Kernstücke des Vertrags bil- deten Artikel I und II: In Artikel I wurde die Oder-Neiße-Linie als „westliche Staatsgrenze der Volksrepublik Polen“ beschrieben. Die beiden Vertragspartner bekräftigten die Unverletzlichkeit ihrer Grenzen „jetzt und in der Zukunft“ und verpflichteten sich gegenseitig zur uneingeschränkten Achtung der territorialen Integrität. Sie erklärten, dass sie gegeneinander keine Gebietsansprüche haben und solche auch in Zukunft nicht geltend machen werden. Artikel II brachte die Erklärung des gegenseitigen Gewaltverzichts. Im Gegensatz zum Moskauer Vertrag entfiel im Warschauer Vertrag die An- bindung der Grenzfeststellung an den Gewaltverzicht. Die Festlegung der Grenze erhielt damit ein noch stärkeres Gewicht. Sie wurde durch die Bundesrepublik in einer Art und Weise präzisiert, „die es nahe legte, sie in Richtung auf eine endgültige völkerrechtliche Anerkennung zu interpretieren“5. Es mindert nicht den politischen und moralischen Wert des Warschauer Vertrags, wenn dargelegt wird, dass die deutsche Seite den polnischen Forderungen ohne vertragliche Ge- genleistungen weit entgegenkam. Der Bundesrepublik war in erster Linie daran gelegen, die Möglichkeit der Ausreise von Deutschstämmigen aus Polen sicherzu- stellen. Doch in dieser Frage erreichte sie in Gestalt einer einseitigen Erklärung, der „Information“, lediglich ein „minimales polnisches Zugeständnis“6. Der War- schauer Vertrag hinterließ hier eine Lücke, die erst 1975/76 geschlossen werden konnte. Häfele sprach daher, mit Bezug auf die bilateralen Vereinbarungen vom Oktober 1975, von einem „Nachleistungsvertrag“7. In der „Information“ stellte die polnische Regierung fest, dass sie sich von hu- manitären Gründen leiten lasse, einer „Emigration zu Erwerbszwecken“ aber nicht zustimme. Sie ging davon aus, dass „einige Zehntausende Personen“ betroffen seien, vor allem Personen „mit unbestreitbarer deutscher Volkszugehörigkeit“8. Außerdem sollten „die Lage von gemischten Familien und getrennten Familien sowie solche Fälle polnischer Staatsangehöriger berücksichtigt werden, die ent- 4 Für den Wortlaut des Warschauer Vertrags vom 7. 12. 1970 vgl. Bulletin des Presse- und Infor- mationsamts der Bundesregierung, 21. 11. 1970, S. 1694 f. 5 Werner Link, Außen- und Deutschlandpolitik in der Ära Brandt 1969–1974, in: Karl Dietrich Bracher/Wolfgang Jäger/Werner Link, Republik im Wandel 1969–1974. Die Ära Brandt, Stuttgart/Mannheim 1986, S. 193. 6 Ebenda, S. 194. 7 Protokoll der Fraktionssitzung am 4. 11. 1975, in: BA, NL Carstens, Bd. 30, S. 40. 8 Für den Wortlaut der „Information“ vgl. Bulletin des Presse- und Informationsamts der Bun- desregierung, 21. 11. 1970, S. 1696 f. VfZ 1/2011 56 Aufsätze weder infolge ihrer veränderten Familienverhältnisse oder infolge der Änderung ihrer früher getroffenen Entscheidung den Wunsch äußern werden, sich mit ih- ren in der BRD oder in der DDR lebenden nahen Verwandten zu vereinigen“. Ferner war eine Zusammenarbeit des Polnischen Roten Kreuzes mit dem Deut- schen Roten Kreuz in diesen Fragen vorgesehen. Familienbesuche sollten
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