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Werbeseite DAS DEUTSCHE NACHRICHTEN-MAGAZIN

Hausmitteilung 15. November 1999 Betr.: Korrespondenten, Scharping, Belgrad

er SPIEGEL als auf- Dlagenstärkstes Nach- richten-Magazin Europas hat auch eine stattliche Zahl von Berichterstat- tern in aller Welt: Zu ei- nem Korrespondenten- treffen reisten vergangene Woche 26 Kollegen aus 22 Auslandsbüros nach Ham- burg. Einige waren etwas länger unterwegs – sie ka- men aus Peking, Rio de Ja- neiro, Johannesburg und

Tokio. Die Korresponden- M. ZUCHT / ten kennen sich aus in SPIEGEL-Auslandskorrespondenten Kulturen, Eigenarten und Dialekten ihrer Gastländer. Neben den gängigen Weltsprachen parlieren sie auf Chi- nesisch, Japanisch, Persisch oder Türkisch, auf Hindi, Tamil und in vielen slawischen Sprachen. Sie recherchieren im indischen Andra Pradesch, wo die Menschen Telu- gu sprechen, und führen Interviews auf Hocharabisch – bei Bedarf auch im ägyp- tischen Nildialekt.

er Mann, mit dem SPIEGEL-Redakteur DHajo Schumacher, 35, vor vier Jahren im Saal des Mannheimer Kongresszentrums sprach, hatte gerade seine bitterste Niederla- ge erlitten: Eben war Rudolf Scharping noch SPD-Vorsitzender gewesen, nun hatte der Parteitag überraschend ge- wählt. Ein Debakel. „Über meine Gefühlsla- ge bin ich mir im Unklaren“, vertraute Schar- ping dem SPIEGEL-Mann an. Sieger Lafon- M. DARCHINGER taine hat sich inzwischen geräuschvoll von Schumacher, Scharping (1995) der politischen Bühne verabschiedet, Verlie- rer Scharping aber sieht sich stärker denn je. „In Umfragen bin ich als einziger kaum gefallen“, sagte der Verteidigungsminister vergangene Woche, als Schumacher ihn im Reichstag traf, und: „Mannheim habe ich verarbeitet.“ Tatsächlich? Schumacher hegt Zweifel: „Die Verletzung ging damals viel zu tief“ (Seite 26).

elgrad liegt nur eine Flugstunde von entfernt, aber die Reise dorthin Bdauert fast einen Tag. Da Jugoslawien wegen der Politik des serbischen Dikta- tors Slobodan Milo∆eviƒ von allen westlichen Ländern boykottiert wird, ging der Weg von SPIEGEL-Autor Erich Follath, 50, über Budapest, dann sechs Stunden wei- ter mit dem Bus. An der Grenze filzten die Zöllner sein Gepäck besonders gründ- lich – Journalisten erhalten nur selten ein Visum und geben immer Anlass zu Miss- trauen. In Belgrad erlebte Follath eine merkwürdige Stimmung: „Die Menschen sind verzweifelt, aber auch trotzig, und bei den jungen Leuten herrscht unbändige Le- benslust.“ Follath traf in Kriegsruinen posierende Models, Schwarzhändler mit gleich mehreren Porsches und Alte, die ihre letzte Habe verkauften: „Keiner hat- te ein gutes Wort für Milo∆eviƒ“, sagt Follath, „aber ebenso wenig für die Bomben des Westens“ (Seite 218).

Im Internet: www.spiegel.de der spiegel 46/1999 3 Werbeseite

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Werbeseite In diesem Heft

Titel Der Parteispendenskandal – eine Koalitionskrach ohne Ende Seiten 22, 24 neue CDU-Affäre?...... 32 Wie Thyssen die Operation Fuchs Auch Schröders Treueschwur einfädelte...... 40 „Nur mit euch“ beruhigt die Deutschland Grünen nicht. Die Basis erregt Panorama: Expertenkommission will sich über rot-grüne Konflikt- Arztbesuche verteuern / Korruption themen wie Rüstungsexporte bei der Autobahnpolizei...... 17 oder Ökosteuer. Grüne Minis- Koalition: Fliehen oder standhalten?...... 22 ter versuchen, die Koalition Grüne: Der Exodus der frustrierten Basis...... 24 zusammenzuhalten. Doch die SPD: Der heimliche Fraktion hat die Lust an der Kanzlerkandidat Scharping...... 26 Partnerschaft verloren. Die : Der Abstieg des ..... 28 Hauptstadt: Die geteilte Regierung ...... 62 zerstrittenen Koalitionäre wol- Debatte um die Reste des „Führerbunkers“ ... 80 M. S. UNGER len sich nun wenigstens auf ein Sozialdemokraten: SPIEGEL-Gespräch Fischer, Schröder Atomausstiegsgesetz einigen. mit Ministerpräsident Reinhard Höppner über die Wahlniederlagen seiner Partei...... 68 Innere Sicherheit: Städte überwachen ihre City per Video ...... 76 Kriminalität: Erstmals steht ein Richter wegen diverser Delikte vor Gericht ...... 78 Die Konkurrenz jagt Mannesmann Seite 118 Justiz: Menschenrecht für Egon Krenz? ...... 84 Markenschutz: Konzerne prozessieren Mannesmann ist eines der um ihre Namen...... 90 erfolgreichsten deutschen Stasi: Drei IM bei „Bild“ enttarnt ...... 92 Unternehmen – doch mit Bundeshaushalt: Die Risiken der dem Erfolg wuchs die Be- Exportförderung ...... 98 gierde der Konkurrenz. Jetzt Strafjustiz: Hartes Urteil im Essener plant der Mobilfunkgigant Hooligan-Prozess ...... 104 Vodafone sogar eine feind- Ausländer: SPIEGEL-Gespräch mit Innenminister Otto Schily über die Kritik liche Übernahme des Kon- an seiner Asylpolitik ...... 107 zerns. Die Fusionen in Gewalt: Nach dem Tod einer Lehrerin der Telekommunikations- in Meißen warnen Experten vor Panik ...... 112 industrie werden immer ge- Erziehungswissenschaftler Wolfgang Melzer waltiger, keiner scheint si- über Ursachen und Folgen der Bluttat...... 113 cher: Wer gestern noch Jäger H. KAISER / TRANSPARENT Wirtschaft war, wird heute selbst gejagt. Mannesmann-Mobilfunk-Zentrale in Düsseldorf Trends: HypoVereinsbank plant Übernahme der Dresdner Bank / Telekom trickst beim Kabel-Verkauf...... 115 Geld: Rallye an den Weltbörsen? / Lebensversicherungen wenig attraktiv...... 117 Telekommunikation: Angriff Der Tod im Klassenzimmer Seite 112 auf Mannesmann ...... 118 Lehrer fordern den Einsatz von Polizei und Videokameras auf dem Schulhof, nach- Währungsfonds: Ein deutscher Staatssekretär soll an die Spitze des IWF ...... 121 dem ein 15-jähriger Gymnasiast in Meißen seine Lehrerin erstach. Experten warnen Software: Bill Gates bleibt hart...... 122 davor, der wachsenden Aggression allein mit Härte nach US-Vorbild zu begegnen. Unterhaltungselektronik: SPIEGEL-Gespräch mit Philips-Chef Cor Boonstra über die Probleme beim Umbau des Traditionskonzerns 124 Steuern: Brüssel gegen Dumping ...... 128 Marketing: Kalter Kaffee als Kultgetränk..... 130 Fatale Folgen des Ruhms Seite 168 Medien Trends: Larass wird Springer-Chef / Der Ruhm, von dem so Eine Frau für die Sportschau...... 133 viele Künstler und Film- Fernsehen: Der RTL-Erfolg mit stars träumen – er ge- stürzenden Dominosteinen ...... 134 rät leicht zum Fluch. Vorschau ...... 135 Wer seiner Rolle untreu Journalisten: Das Imperium wird, muss mit Misser- des Guido Knopp ...... 136 folg rechnen. US-Auto- Regisseure: Dieter Wedel und die Steuerfahnder...... 142 rin Erica Jong berichtet Karrieren: TV-Moderatoren aus eigener Erfahrung: als Trainer für Manager und Politiker...... 148 Nach ihrem Bestseller Fotografen: Bilder-Archiv zum Balkan-Krieg .. 154 von 1973 „Angst vorm Fliegen“ leide sie noch Gesellschaft heute am Image einer Szene: Erfolgreiches Strick-Design / Ost-West- REUTERS vom Sex besessenen Begegnungen im Strahlenschutzbunker ...... 157 Körperkult: Marathonmann Filmstars Emma Thompson, John Travolta, Ehefrau Kelly (M.) Frau. Joschka Fischer in New York ...... 158

6 der spiegel 46/1999 Justiz: Immer mehr Länder lassen Gefängnisse von Privatfirmen bewachen...... 164 Stars: Erica Jong über die Falle des Ruhms.... 168 100 Tage im Herbst Wende und Ende des SED-Staates (8) „Ich liebe doch alle“ – Die Stasi unterwandert das Reformkabinett...... 177 Porträt: Hans Modrow ...... 194 Analyse: Wie die DDR-Wirtschaft zusammenbrach...... 198 Ausland Panorama: Atomausstieg in Schweden / Neue Löcher bei der BSE-Kontrolle...... 203 Türkei: Europas ungeliebter Partner ...... 206 Unruhe vor dem OSZE-Treffen...... 208 Interview mit Verteidigungsminister Çakmakoglu über Ankaras Aufrüstung ...... 210 AP Russland: Machtkampf der Generäle ...... 214 Menschenmenge vor der Kocatepe-Moschee in Ankara Jugoslawien: Das süße Leben der Kriegsgewinnler ...... 218 Indonesien: Zerbricht das Riesenreich? ...... 224 Seiten 206, 210 Südtirol: Unheimlicher Nachbar Haider...... 228 Die Türkei trumpft auf Kuba: Castro sichert seine Macht...... 232 Der OSZE-Gipfel am Bosporus soll den türkischen Anspruch auf einen Platz in Eu- Brasilien: Interview mit Staatspräsident ropa untermauern, sogar Oppositionelle fordern die Aufnahme in die EU. Umgeben Cardoso zum Gipfeltreffen in Havanna...... 235 von Feinden, muss Ankara aufrüsten, behauptet Verteidigungsminister Çakmakoglu. Polen: Rückkehr auf schlesische Güter...... 238 Zeitgeschichte: Rolf Hochhuth über die jüngsten Enthüllungen zu Pius XII...... 246 Israel: Angst vor Millenniums-Anschlägen ... 250 Sport Skispringen: Die großen Pläne von RTL Lust auf mit Weltmeister Martin Schmitt ...... 254 Fußball: Torhüter Jens Lehmann über alte Zeiten Seite 299 Fanproteste und seine angebliche Arroganz ... 260 Wissenschaft • Technik Kein Abschied vom Gestern: Histori- Prisma: Spätschäden durch Leistenbruch- sche Romane und Biografien sowie Operationen / Roboter als Schnecken-Killer ... 265 Medizin: Tod durch Gentherapie ...... 268 geschichtssatte TV-Movies überfluten Lebensmitteltechnik: Ein Berliner zur Jahrtausendwende das Publikum. Forscher löst das Altbrot-Problem...... 274 Im Rückspiegel viel alte Prominenz: Automobile: Sind Ölwechsel überflüssig?..... 276 Kleopatra und Jeanne d’Arc, Pontius Atomenergie: Der Abriss in Greifswald...... 280 Pilatus und sein Opfer Jesus Christus. Psychiatrie: Neue Studie über das Das Geschäft mit der Geschichte unterschätzte Volksleiden Depressionen ...... 288 dient freilich mehr der Unterhaltung Tiere: Warum hat die Riesenschildkröte George keine Lust auf Sex?...... 290 und Erbauung als dem Verstehen der AKG Vergangenheit. Historien-Heldin Kleopatra Kultur Szene: Streit um Stockhausens „Licht“-Klänge / Konsaliks Nachlass ...... 293 Ausstellungen: Wolfsburger Schau „German Open“ feiert junge deutsche Kunst ...... 296 Buchmarkt: Boom für historische Romane ... 299 Die Risiken der Gentherapie Seite 268 Bestseller...... 302 Fernsehspiele: TV-Spektakel um Jeanne In den USA starb ein junger Freiwilliger bei einem Versuch mit gentechnisch verän- d’Arc und andere Helden der Geschichte...... 306 derten Viren. Das Medizin-Experiment mit Todesfolge beschäftigt weltweit die Intendanten: Der Münchner Staats- Bioforscher: Ist es für einen Einsatz der Gentherapie am Menschen noch zu früh? theaterchef Eberhard Witt gibt auf...... 310 Musik: SPIEGEL-Gespräch mit dem Komponisten Pierre Boulez über die Zukunft der Neutöner...... 312 Kunst: Die „Perfekte Welt“ des Objekt- machers Jason Rhoades in ...... 320 Ski-Adler für RTL Seite 254 Pop: Gitarren-Legende Eric Clapton ...... 324 Film: David Cronenbergs „eXistenZ“...... 330 Mit Martin Schmitt flog vorigen Winter ein neuer Held in die deutschen Herzen. RTL kauf- Briefe ...... 8 te daraufhin die Übertragungsrechte fürs Ski- Impressum...... 14, 332 Leserservice ...... 332 H. RAUCHENSTEINER springen. Der Weltmeister soll Quote machen. Chronik...... 333 Register ...... 334 Schmitt Personalien...... 336 Hohlspiegel/Rückspiegel...... 338

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novationen zulassen, medizinische Netz- werke und Managementprozesse stärker „Statt ,Der ausgeplünderte fördern und sich auch selbst medizinisch und technisch weiterbilden würden. Viele Patient‘ hätte man auch ,Der ent- medizinische Innovationen und Therapiean- mündigte Patient‘ titeln können, sätze wie die Endoskopie kommen gerade aus Deutschland. Schulmedizin und Natur- der es lernen muss, sich gegen heilkunde, Hightech- und Umweltmedizin, Gesundheitsförderung und medikamentöse den Diagnose- und Therapiewahn Therapie oder Telemedizin sind kein Wi- zur Wehr zu setzen.“ derspruch, sondern ergänzen sich hervor- ragend in einer zukünftigen Medizin. Da- Jürgen Schumacher aus Pulheim (Nordrhein-Westfalen) zum Titel her: keine Gesundheitsreform jetzt, son- „Der ausgeplünderte Patient“ dern Konsensdiskussion aller Beteiligten. SPIEGEL-Titel 44/1999 Bochum Prof. Dr. Dietrich Grönemeyer Inst. für MikroTherapie, Uni Witten/Herdecke

Die rasante Entwicklung der Hightech-Me- Gesundheit ist für viele sehr wichtig. Ist es Zauberwort Selbstbeteiligung dizin sowie der damit verbundenen Kos- also falsch, wenn das Gesundheitswesen bei Nr. 44/1999, Titel: Der ausgeplünderte Patient tenexplosion wurde von uns Ärzten gar uns mit etwa zehn Prozent einen großen nicht so recht wahrgenommen und kosten- Anteil am Bruttosozialprodukt hat? Was Es ist wahr, dass unser verkrustetes, inno- mäßig entsprechend gegengesteuert. Jetzt, spricht also dagegen, das Gesundheitswesen vationsfeindliches und von Standesinter- wo es zu spät ist, will man auf Kosten der positiv als eine der wenigen arbeitsplatzin- essen dominiertes Gesundheitssystem Grundversorgung die Hightech-Medizin fi- tensiven Wachstumsbranchen zu betrachten? grundlegend reformiert werden muss. nanzieren, und das klappt nicht. Mit einer Weinheim (Bad.-Württ.) Dr. W. Wetzel Dafür gibt es bei vielen Ärzten weit mehr einzigen Organtransplantation Bereitschaft, als dies das Feldgeschrei der einschließlich Nebenkosten, die um ihre Privilegien fürchtenden Ver- es vor 20 Jahren so gut wie nicht bandsfunktionäre vermuten lässt. Das Ge- gab, könnte man hunderte an- sundheitswesen muss vor allem die Ge- derer Operationen finanzieren. sundheit erhalten und fördern, statt fast Hamburg Dr. med. Udo Fuchs ausschließlich am Kranksein zu verdienen. Immer häufiger treten chronische Vor- Mit reißerischer Diffamierung schädigungen auf, der Sachverständigen- der Ärzteschaft wird der not- rat nennt 40 Millionen Menschen, die in un- wendige Umschwung nicht ge- serem Land davon betroffen sind, so dass lingen; es sind doch auch die die Stufendiagnostik mit ihrer Rundum- Supermärkte nicht die Ursache Überweisung nicht nur immer teurer wird, für die Fettsucht der Deutschen.

sondern auch immer häufiger wirkungslos Hamburg Dr. med. Dierk Abele FOCUSH. MORGAN / SPL AGENTUR bleibt, weil sie viel zu spät ansetzt. Patient im Positron-Emissions-Tomografen Berlin Michael Müller Schulmedizin und unkonventio- Finanzierung auf Kosten der Grundversorgung MdB/SPD nelle oder psychosoziale Thera- pieansätze müssen nicht im Widerspruch Grundsätzlich belebt Konkurrenzdruck das Niemand beklagt sich über eine Zweiklas- stehen, wie sich auch innovative Hightech- Geschäft, doch was die Krankenkassen dar- sengesellschaft beim Auto und fordert einen Verfahren in Diagnose und Therapie inte- aus gemacht haben, kostet uns Millionen. Mercedes für jeden Bürger. Auch hier ster- grieren lassen. Die Rolle des Hausarztes als Neu errichtete BKKs schnappen den übri- ben vermutlich viele früher, da sie bei ei- Familienarzt und „Freund des Patienten“ gen Kassenarten auf Grund ihres niedrigen nem Unfall in einem Kleinwagen und nicht muss ebenso wieder entdeckt werden, wie Beitrages die Kundschaft weg. Diese Bei- in einer großen Limousine saßen. Erst wenn die Optimierungsreserven des bestehenden tragssätze sind nur zu erreichen, wenn man solche Denkweise im Gesundheitswesen Systems ausgeschöpft werden müssen. Zwar sich die gesunden Risiken (junge, gut ver- selbstverständlich wird, wird man nicht verdoppelt sich das medizinische Wissen dienende Arbeitnehmer) herauspickt. Äl- mehr den diskriminierenden Begriff Zwei- alle fünf Jahre, neue Erkenntnisse werden tere Menschen bleiben lieber beim Altge- klassengesellschaft verwenden. Sondern es aber viel zu langsam in der Praxis wirk- wohnten – wie AOK, BEK oder DAK. Die wird Menschen geben, die sich hohe Aus- sam. Eine Kostenexplosion würde nicht statt- Versichertenstruktur dieser Kassen überal- gaben für die Erhaltung der Gesundheit leis- finden, wenn Politik und Krankenkassen tert, die Folge sind noch höhere Beiträge. ten können, und solche, die es nicht können einschließlich der Verbandsfunktionäre In- Niederelbert (Rheinl.-Pf.) Jürgen Mettler oder wollen. Es kann nicht Aufgabe der Ge- sellschaft sein, jedem einen „Gesundheits- Mercedes“ zur Verfügung zu stellen. Vor 50 Jahren der spiegel vom 17. November 1949 Wegberg (Nordrh.-Westf.) Prof. Jürgen Bruns Gründung der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ Skeptisches Missver- gnügen des Herausgeberteams. Bei der New Yorker Bürgermeisterwahl Selbstbeteiligung ist das Zauberwort. Run- siegt der Demokrat William O’Dwyer Das hundertste Oberhaupt in der ter mit den Kassenbeiträgen und 20-pro- Geschichte der Weltstadt. Uno debattiert über die Zukunft Jerusalems zentige Selbstbeteiligung des Patienten an Für drei Religionen eine heilige Stadt. Publizistische Hitlerverehrung in Südafrika Der Regierung ist die Pressefreiheit heilig. Der britische Dich- jeder Arztrechnung. Effizienter geht’s nicht. ter Somerset Maugham veröffentlicht sein „Notebook“ Großer Erfolg in Der Patient erkennt die Kostenstruktur. Er England. Entdeckung des Cortisons Nach einer Woche beschwerdefrei. kontrolliert die Rechnung des Arztes und Diese Artikel sind im Internet abzurufen unter http://www.spiegel.de schaut der Pharmaindustrie auf die Finger. Titel: Die Schauspielerin Elisabeth Flickenschildt Konstanz Claus E. Dürke

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Werbeseite Warum nehmen wir nicht die Leistungs- pflicht für alle mit Urlaubsreisen verbun- denen Unfälle aus dem System? Private Reiseunfallversicherungen sind preiswert abzuschließen! Es ist doch nicht einzuse- hen, dass jemand, der teure Skiausrüstung kaufen kann und fürs Skifahren 2500 Mark

ausgibt, die Behandlung seines Knochen- / OSTKREUZ M. TRIPPEL bruchs von der Solidargemeinschaft be- Westfamilie Tzschentke in Brieselang zahlt bekommt. Hoffnungen, Wünsche, Träume Mühlenbeck (Brandenburg) Heinz-Gerd Reese Ich kann ein hämisches Grinsen leider Es liegt doch nahe, die Kosten durch sys- nicht unterdrücken: Es ist seit fast zehn tematische Prophylaxe zu senken, was sich Jahren ein Herzenswunsch von mir, dass es vermutlich auch finanziell positiv auswir- den Wessis eines Tages so gehen wird wie ken würde.Andere Länder haben in dieser zehntausenden Ossis, die seit dem Fall der Hinsicht schon große Erfolge erzielt, zum Mauer mit großen Hoffnungen, Wünschen Beispiel Schweden bei Zahnerkrankungen und Träumen ihre Heimat verlassen haben, oder Japan bei Darmkrebs. um im Westen neu anzufangen. Karlsruhe Dr. Norbert Wingender Nürnberg Lutz Hädrich

Da waren uns die alten Chinesen einige Wir haben stark kontrastierende Gemein- Jahrtausende vor Christus weit voraus: Ärz- den im brandenburgischen Umland von te wurden fürstlich entlohnt, wenn ihr Pa- Berlin untersucht: einmal Gemeinden, in tient während eines Zeitabschnitts gesund denen eine streitende lokale Öffentlichkeit blieb. Mit jedem Kranksein sank ihr Ein- mit den Ost-West-Kalamitäten auf produk- kommen bis hin zum Kopfverlust mit dem tive und „lernende“ Weise umgeht; dann in Tod des Patienten. Das Letzte sollten wir der Tat Gemeinden, in denen sich tenden- nicht wieder einführen, aber das andere ziell kulturelle Schließungen und Abschot- selbstregelnde Werk ist eine echte Reform. tungen durchsetzen, mit der Gefahr einer Stuttgart Dieter Pillath selbstzerstörerischen und kumulativen Ver- stärkung von Entwicklungshemmnissen. In Ihrem ehrenwerten Eifer, Missstände des Wenn man nur, wie Sie es tun, den zweiten kranken Gesundheitssystems aufzuzeigen, Gemeindetypus erwähnt und ihn unter schießen Sie an einigen Stellen über das „Umschreibung“ von Tendenz- zu Wesens- Ziel hinaus. So sind wir Psychologischen aussagen zur Grundstruktur von branden- Psychotherapeuten, die seit 1999 gleichbe- burgischen Verhältnissen und Mentalitäten rechtigt mit den Ärzten mit den Kassen insgesamt verallgemeinert, ergibt sich er- abrechnen, keineswegs „von der weißen sichtlich ein schiefes Bild. Das aber kann Armee rekrutiert und an die Geldtöpfe ge- nur vorhandene Tendenzen zur Bildung lassen“ worden. Vielmehr wurde eine seit von Gegenmythen auf den Plan rufen. Jahrzehnten bestehende Situation berufs- Erkner (Brandenburg) Dr. Ulf Matthiesen rechtlich umgesetzt. Da die Zahl der bis- Institut für Regionalentw. u. Strukturplanung herigen Vertragsbehandler, der ärztlichen Psychotherapeuten, niemals ausgereicht Dumme Mitbürger gibt es überall, und ich hat, wurden seit vielen Jahren je nach Re- würde gern einmal wissen, wie die Kinder gion 50 bis 80 Prozent der Psychotherapi- eines rechtschaffenen Türken in München en von qualifizierten „freischaffenden Psy- von deutschen Kindern behandelt werden. chologen“ durchgeführt, die jedoch jeden Die Realität im Osten sieht erheblich an- einzelnen Fall unter teilweise für die Pati- ders aus als die von Ihnen als allgemein enten entwürdigenden Umständen durch- gültig geschilderten Einzelfälle. setzen mussten. Durch die nun eingeführte Günding (Bayern) Horst H. Goldner Regelung entstehen dem Öffentlichen Ge- sundheitssystem also keinerlei Mehrkosten. Was Frau Tzschentke erzählt, zeigt nur, dass Hamburg Dipl.-Psych. Mathias Kohrs es viele Facetten gibt und Toleranz und Wil- len zur Nachbarschaft von beiden Seiten ge- fragt ist. Mehr als die Hälfte der Einwohner Dumme Mitbürger gibt es überall von Brieselang kommen inzwischen aus dem Nr. 43/1999, Einheit: Westen, kein Eingesessener glaubt, dass Frustrierte Westler verlassen den Osten man gegen diese und ihre mitgebrachte Kul- tur regieren kann. Wegzüge gibt es kaum. Es scheint reizvoller zu sein, über West- Brieselang (Brandenburg) Walter Rosenberg bürger zu berichten, die in den neuen Län- dern gescheitert sind, als darüber, wie sich Wenn man in ein anderes Bundesland Westdeutsche – ohne Ossis zu werden – zieht, weiß man, dass man sich erst mit dort eingebracht haben. Es ist schon viel zu- dem Umfeld vertraut machen muss. Ich sammengewachsen, was zusammengehört. habe es bisher immer so gehalten, dass Quedlinburg (Sachs.-Anh.) Karsten Knolle man offen aufeinander zugeht. CDU-Kreisvorsitzender Schönwalde (Brandenburg) Christel Paul

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Doppelbödige Moral Nr. 44/1999, Zwangsarbeiter: Druck auf zahlungsunwillige Firmen

Wer in der Zwangsarbeiter-Frage etwas zu seiner Verteidigung unternimmt, hat seinen Stempel weg: Getroffene Hunde bellen eben. Schließlich ist die moralische Di- mension dieses von den Nazi-Schergen ver- anlassten Unrechts so schrecklich, dass je- der Versuch einer Rechtfertigung von vorn- herein zum Scheitern verurteilt ist. Was also kann man tun? Zahlen, ob zu Recht oder Unrecht, damit man Ruhe hat? Das wäre in unserem Fall nicht nur die einfach- ste, sondern – wegen der theoretisch nur geringen Anzahl von möglichen Zwangsar- beitern – auch die billigste Lösung. Die Doppelbödigkeit dieser Moral ist aber zu durchsichtig. Auch auf die Gefahr also hin, als „Drückeberger“ dazustehen, versuchen wir dennoch, unseren Erkenntnisstand nicht völlig in den Hintergrund zu drän- gen: Ob das Konstruktionsbüro Dr. Ing. h. c. F. Porsche KG während der Nazi-Dikta- tur Zwangsarbeiter beschäftigte, lässt sich heute nicht mehr zweifelsfrei feststellen. Dies überrascht insofern nicht, da in Konstruktionsbüros kein Bedarf am indu- striemäßigen Einsatz von Zwangsarbeitern DPA Zwangsarbeiter im Automobilwerk (1942) Zahlen, damit man Ruhe hat? bestanden haben kann. Der 74-jährige Pole, der nach eigenen Angaben von März 1942 bis April 1945 zur „Zwangsarbeit“ bei der damaligen Porsche KG eingesetzt war, be- legt seinen Anspruch auf Lohnnachzahlung und Schmerzensgeld mit einer AOK-Versi- cherungskarte.Am 24. November 1999 will das Landgericht in der Klage des Polen ge- gen die Dr. Ing. h. c. Porsche AG entschei- den. Wir werden das Urteil prüfen und dann überlegen, wie wir weiter verfahren. Stuttgart Anton Hunger Porsche AG

Wer entschädigt die verschleppten und zwangsrekrutierten Deutschen, die nach dem 8. Mai 1945 in der Sowjetunion, der Tschechoslowakei, in Polen und Jugoslawien zur Arbeit gezwungen wurden? Für unsere Politiker scheint es auch ein halbes Jahr- hundert nach Kriegsende nicht opportun zu sein, diese Frage zu stellen. In Washing- ton haben diese Deutschen keine Lobby. Erkrath (Nordrh.-Westf.) Dr. Walter Roth

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Schlüsseltechnologien. Insofern ist der hierbei Fortschrittlicher Trend? vergleichsweise geringe Nr. 44/1999, Sprache: Interview mit dem (!) Einsatz von Steuer- Schimpfwort-Experten Hans-Martin Gauger geldern durchaus ge- über die Kunst des Fluchens in Europa rechtfertigt. Nürnberg Dr. F. Kleefeld Ich wage zu behaupten, dass unsere roma- Universität Erlangen nischen Nachbarn das unserer deutschen „Scheiße“ entsprechende Wort öfter als wir Als ehemaliger Physik- verwenden. Und dass im Deutschen im Ge- student an der Uni gensatz zu den romanischen Sprachen as- Hamburg habe ich am exuell geschimpft würde, sehe ich auch Desy-Fortgeschrittenen- nicht so. In Baden-Württemberg etwa gibt Praktikum teilnehmen es so schöne Kraftausdrücke wie „Seggl“, müssen. Dabei blieben was das männliche Geschlechtsorgan be- mir zwei Vorkommnisse zeichnet, oder „Heilandssack“ (sexuell und im Gedächtnis haften: religiös!) oder „Hundsfott“.Auch im Hoch- Der erste Praktikums- deutschen kennt man „Wichser“, „Fotze“,

P. GINTER / BILDERBERG P. assistent hat uns voller „Ficker“, „Dummficker“. Die Aufforderung Wissenschaftler im Desy: Bis zu den Grundfragen der Existenz Stolz und Begeisterung „Fick dich ins Knie“ ist bei Kids nicht be- von seiner Doktorarbeit liebt, der Trend geht zu Geringschätzun- erzählt, in der er jahrelang einem unbe- gen wie „Behinderter“, „Krüppel“, „Spa- Beneidenswerter Rekord kannten Teilchen auf der Spur war, bis sich stiker“, nicht, wie Professor Gauger be- Nr. 44/1999, Debatte: Teilchenforscher Hans Graßmann dieses als systematischer Messfehler mit hauptet, vom Exkrementellen zum Sexuel- über den Ausverkauf der modernen Physik Teilchencharakter entpuppt hat; auf die len. Das haben die Kids schon hinter sich. Frage, wann denn die Forschungsergebnis- Berlin Dipl.-Psych. Charlotte Schneller Desy ist eines der leitenden Forschungs- se des Desy in die Praxis umgesetzt wer- zentren der Welt, sowohl für die Syn- den, hat uns ein anderer Praktikumsassi- Dass die Deutschen zum Schimpfen vor chrotronstrahlung als auch für die Teilchen- stent geantwortet, dies dauere noch vor- allem die Sphäre des Exkrementellen ver- physik. Weit davon entfernt, den „Laien aussichtlich circa 60 bis 100 Jahre. wenden, wird tendenziell als zurückge- für dumm zu verkaufen“, hat Desy ein her- Bremen Carsten Wochnowski blieben charakterisiert.Aber ist der „nicht vorragendes und erfolgreiches Programm, zurückgebliebene“ Trend wirklich so fort- um die Forschung dem Publikum näher zu In verständlichem Zorn über das Chaos- schrittlich? Vielleicht hat ja die Sexualität bringen. Ganz im Gegensatz zur Behaup- Geschwafel lässt sich Graßmann leider ge- in Deutschland noch einen höheren Stel- tung, „Desy liefert nur irrelevante und hen: Trotz Rumlesen in über einem Dutzend langweilige Ergebnisse“, stellen die Ergeb- Büchern wisse er „bis heute nicht, was das nisse von Hera die Basis für unsere heuti- eigentlich sein soll: die Chaostheorie. Ich ge Kenntnis der starken Wechselwirkung glaube, es gibt sie gar nicht“. Die Chaos- dar, einer der vier grundlegenden Kräfte theorie, die in den Köpfen vieler Intellek- der Welt. tueller spukt, gibt es wohl tatsächlich nicht. Bristol/Hamburg Prof. Brian Foster Aber Physiker sollten den Spuk dingfest University of Bristol/Desy machen, statt mit Unwissen zu kokettieren. Nürnberg Dr. Werner Schneider In der Welt der Elementarteilchen geht es

nicht so einfach zu, wie Herr Graßmann Das Desy hält einen beneidenswerten For- K. SCHÖNE / ZEITENSPIEGEL dem Laien vorgaukelt. Sie wird beherrscht schungsrekord. Da sind zum Beispiel die Sprachforscher Gauger von den Gesetzen der Quantenphysik und Entdeckung des Gluons zu nennen und sei- Das haben die Kids schon hinter sich Relativitätstheorie. Begriffe und Vorstel- ne wichtige Arbeit im Bereich der Syn- lungen aus der gewohnten makroskopi- chrotronstrahlung. Aber nichts davon hat lenwert und wird deshalb nicht so häufig schen Welt kann man auf sie deshalb nicht Hans Graßmann erwähnt. zum Schimpfen verwendet. so ohne weiteres übertragen. Eine daraus Genf (Schweiz) Jonathan R. Ellis Erkrath (Nordrh.-Westf.) Georg Schanz resultierende Unanschaulichkeit der Ge- Cern schehnisse im subatomaren Bereich haben Die Aussage, dass im Deutschen das Wort die Physiker nicht erfunden, sondern ge- für das weibliche Geschlechtsorgan kein funden und als Naturgesetz erkannt. Un- (gängiges) Schimpfwort war, stimmt nicht. VERANTWORTLICHER REDAKTEUR dieser Ausgabe für Panorama, geachtet dieser Schwierigkeiten ist die Ele- Grüne, Berlin, Titel (S. 32), Sozialdemokraten, Innere Sicherheit, Seit dem 15. Jahrhundert wird das vulgäre mentarteilchenphysik aber auf dem Weg, Kriminalität, Hauptstadt (S. 80), Markenschutz, Stasi, Gewalt, Justiz „Fotze“ als Schimpfwort benutzt. „Arsch- (S. 164): Ulrich Schwarz; für Koalition, SPD, Hauptstadt (S. 62), zu den Grundfragen der Existenz von Justiz (S. 84), Bundeshaushalt, Ausländer: Michael Schmidt-Klingen- ficker“, „Knieficker“ und „Katzenficker“ Raum, Zeit und Materie vorzudringen. berg; für Titel (S. 40), Trends, Geld, Telekommunikation, Währungs- sind mir seit den dreißiger Jahren bekannt. fonds, Software, Unterhaltungselektronik, Steuern, Marketing, Jour- München Prof. Gerd W. Buschhorn nalisten, Regisseure, Karrieren: Armin Mahler; für Fernsehen, Hamburg Friedrich W. Usbeck Max-Planck-Institut für Physik Fotografen, Szene, Stars, Zeitgeschichte, Ausstellungen, Buch- markt, Bestseller, Fernsehspiele, Intendanten, Musik, Kunst, Pop: Dr. Mathias Schreiber; für Körperkult: Cordt Schnibben; für 100 Tage Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe – bitte mit An- im Herbst: Jochen Bölsche; für Panorama Ausland, Türkei, schrift und Telefonnummer – gekürzt zu veröffentlichen. Neben der Suche nach neuen Erkenntnis- Russland, Jugoslawien, Indonesien, Südtirol, Kuba, Brasilien, Israel: sen besteht eine, wenn nicht die Haupt- Hans Hoyng; für Skispringen, Fußball: Alfred Weinzierl; für Pris- ma, Medizin, Lebensmitteltechnik, Automobile, Atomenergie, aufgabe von Großforschungsanlagen wie Psychiatrie, Tiere, Chronik: Olaf Stampf; für die übrigen Beiträge: die Einer Teilauflage dieser Ausgabe ist eine Postkarte der dem Cern und dem Desy in der interna- Verfasser; für Briefe, Register, Personalien, Hohlspiegel, Rückspiegel: Firma Toshiba, Neuss, und eine Postkarte der Deutschen tionalen Zusammenarbeit, Aus- und Wei- Dr. Manfred Weber; für Titelbild: Stefan Kiefer; für Layout: Telekom, Bonn, beigeklebt. Einer Teilauflage liegen Bei- Rainer Sennewald; für Hausmitteilung: Hans-Ulrich Stoldt; Chef vom lagen der Firmen Giordano, D’Alba, Handelsblatt Wi/Wo, terbildung von Wissenschaftlern und der Dienst: Thomas Schäfer (sämtlich Brandstwiete 19, 20457 Hamburg) TITELBILD: Foto AFP Düsseldorf, Universal Music, Hamburg, und Hoffmann Weiterentwicklung und Erforschung von & Campe/SPIEGEL Almanach, Hamburg, bei.

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GESUNDHEIT Patienten sollen mehr draufzahlen ährend Bundesgesundheitsministerin Andrea

WFischer (Bündnis 90/Die Grünen) ihr Ge- / JOKER WINANDY P. sundheitsgesetz zerstückelt, um eine Blockade der Herzkatheter-Untersuchung (in Aachen) von der Union regierten Länder im Bundesrat zu umgehen, legen Experten neue Vorschläge auf den Tisch. Am Das Papier steht im krassen Widerspruch zu den Vorstellungen Dienstag dieser Woche will die „Reformkommission Soziale der Gesundheitsministerin. So fordert die Kommission, getra- Marktwirtschaft“ in Berlin ein 31 Seiten starkes Papier vor- gen von mehreren Stiftungen, eine stärkere Kostenbeteiligung stellen, in dem sie eine grundlegende Änderung der gesetzli- der Patienten, wenn sie zum Arzt gehen oder sich Medika- chen Krankenversicherung fordert. mente verschreiben lassen. Dabei bringt schon die Liste der Autoren die Ministerin in Be- Die Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung seien drängnis. Zu den Mitgliedern der Reformkommission zählen auf eine Basisversorgung zu beschränken.Weiterhin schlägt die nicht nur Wirtschaftswissenschaftler, sondern auch eine unge- Kommission vor, die Versicherungsbeiträge von Löhnen und wöhnliche Bundestagskoalition: CDU-Finanzexperte Friedrich Gehältern abzukoppeln. Stattdessen solle künftig das gesamte Merz, SPD-Wirtschaftsstaatssekretär Siegmar Mosdorf und steuerpflichtige Einkommen eines Familienhaushaltes als Be- Grünen-Haushaltsexperte Oswald Metzger. messungsgrundlage dienen.

AFFÄREN rium daraufhin die EIM an, von Böck BERLIN/TEHERAN Schadensersatz zu verlangen. Vergange- Bahnmillionen ne Woche reichte das Unternehmen Angst vor beim Landgericht im thüringischen verschlampt? Mühlhausen eine Klage in Höhe von 3,8 Agenten-Prozess Millionen Mark gegen den Unionspoliti- hüringens Ex-Innenminister Willi- ker ein. Böck soll unter anderem Zah- ie Bundesanwaltschaft hat Anklage Tbald Böck (CDU) soll als Geschäfts- lungen an Firmen oder Personen veran- Derhoben gegen Hamid Chorsand, führer bei einem Tochterunternehmen lasst haben, die nicht nachvollziehbar einen mutmaßlichen Agenten des irani- der Bahn einen Millionenschaden ver- gewesen seien. Zudem soll er Unterneh- schen Geheimdienstes. Er soll in ursacht haben und muss mit juristischen men zu überhöhten Preisen beschäftigt Deutschland die Exil-Gruppe „Nationa- Konsequenzen rechnen. Böck, der erst und für sich unrechtmäßig Übernach- ler Widerstandsrat Iran“ ausspioniert vor zwei Wochen wieder Vorsitzender tungspauschalen kassiert haben. Böck haben. In diesem Monat soll der Pro- des Innenausschusses im Thüringer weist die Vorwürfe zurück: „Das ist zess vor dem 1. Strafsenat des Berliner Landtag wurde, war von April 1993 bis wirklich eine Luftnummer.“ Kammergerichts beginnen. Dezember 1996 Geschäftsführer der Die Richter gelten als ausgewiesene Ex- Projekt-Entwicklung-Kirchmöser perten. Sie verhandelten den Fall My- GmbH (PEK) in Brandenburg. Die Auf- konos und bezichtigten die Teheraner gabe der Gesellschaft war die Vermark- Staatsspitze dabei, die Ermordung von tung der flächenmäßig größten Liegen- vier Oppositionellen in Berlin in Auf- schaft der Deutschen Bahn (rund 6,5 trag gegeben zu haben. Millionen Quadratmeter) in Kirchmö- Die Bundesregierung fürchtet nun, dass ser. Nachdem die Eisenbahnimmobili- der Prozess in Berlin die Aussichten auf en-Management GmbH (EIM) die PEK eine baldige Freilassung des im Iran in- Ende 1996 übernommen hatte, wurden haftierten deutschen Geschäftsmanns dort zahlreiche Ungereimtheiten festge- Helmut Hofer verschlechtern könnte. stellt. Angesichts der „erheblichen Ver- Deshalb hatte das Justizministerium die

fehlungen der Geschäftsführung der SOMMARIVA F. Verhaftung von Chorsand monatelang PEK“ wies das Bundesverkehrsministe- Böck verzögert.

der spiegel 46/1999 17 Panorama

TANKSTELLEN Defekte Rüssel ie Umweltminister von Bund und Ländern wol- Dlen die Mineralölkonzerne notfalls dazu zwin- gen, bis Ende 2002 alle Zapfsäulen in Deutschland mit kostspieligen Störmeldern aufzurüsten, die so- fort jeden Defekt an den so genannten Saugrüsseln

anzeigen. Die Rüssel sollen beim Tanken vor gifti- DPA gen Dämpfen schützen. Nach Erkenntnissen des Zapfhahn mit Absaugvorrichtung Staatlichen Amtes für Umweltschutz in Duisburg sind sie aber bei jeder dritten Zapfsäule defekt. Die Umwelt- ralölwirtschaftsverband die Nachrüstkosten. Die Unternehmen Ressortleiter haben der Industrie das Ultimatum gestellt, sich wollen die Störmelder deshalb nur bei neuen Tankanlagen ein- spätestens im März verbindlich zur Modernisierung bis Ende bauen. Das sei vertretbar, schließlich würden die rund 90000 2002 zu verpflichten. Schon vom kommenden Juli an sollen die Zapfsäulen an den 15000 deutschen Tankstellen alle fünf bis Tankwarte einmal im Monat alle Saugrüssel manuell prüfen. zehn Jahre ausgetauscht. Bis dahin reiche die Handkontrolle Sollten sich die Konzerne weigern, wollen die Minister ihre For- durch das Personal aus. derungen mit einer Änderung der Bundesimmissionsschutz- Dagegen sagt der baden-württembergische Umweltminister verordnung durchsetzen. Ulrich Müller (CDU), seine Geduld mit der Mineralölwirtschaft Noch allerdings mag die Industrie nicht klein beigeben: Auf sei „am Ende“: „Ich erwarte, dass sie endlich technische Lö- etwa 100 Millionen Mark taxiert Gerhard Sasse vom Mine- sungen präsentiert, die auch funktionieren.“

NS-UNRECHT weiter in die Pflicht nehmen. Sein Vor- ALTERSSICHERUNG schlag: Die deutschen Arbeitgeberver- Entschädigung aus bände sollten ihre für Arbeitskämpfe ge- Westerwelle für bildeten Reserven auflösen und damit der Streikkasse? ihren bislang zugesagten Entschädi- Zwangsrente gungsanteil von vier Milliarden Mark er- or der neuen Verhandlungsrunde höhen. Müller:„Das Geld wird doch für arteiübergreifend gewinnt die Idee Vzur Entschädigung ehemaliger NS- Streiks gar nicht mehr gebraucht.“ In Pvon Sozialminister Walter Riester Zwangsarbeiter will Bundeswirtschafts- der Stiftungsinitiative der deutschen (SPD), die Arbeitnehmer neben der ge- minister Werner Müller die Industrie Wirtschaft indes wachsen Zweifel, ob es setzlichen Rentenversicherung noch zu bei der Verhandlung zu einer Einigung privater Vorsorge zu verpflichten, neue kommt. Nachdem deren Sprecher Wolf- Anhänger. Jetzt befürwortet auch FDP- gang Gibowski in der vergangenen Wo- Generalsekretär Guido Westerwelle die che ein höheres Angebot abgelehnt hat- Zwangsrente. Eine Lösung auf freiwilli- te, denken die beteiligten Kreditinstitute ger Basis, bei der die Arbeitnehmer mit nach Angaben eines Frankfurter Ban- Steuererleichterungen zum Abschluss kers nun für den Fall des Scheiterns beispielsweise von Lebensversicherun- über Alternativen nach. Um weitere gen bewegt werden sollen, hält der Li- Imageschäden abzuwenden, wollten sie berale „nicht für fair“. Der Grund: notfalls einen eigenen Fonds gründen. „Diejenigen, die vorgesorgt haben, müs- „Sonst“, so der Bankenvertreter, „schie- sen dann hinterher doch wieder die an- ben uns die Amerikaner jeden Tag vor deren, die ihr Geld lieber ausgegeben

E. ANDRES laufenden Kameras einen halb toten haben, mit ihren Steuerzahlungen Zwangsarbeiterin, Offiziere (1944) Zwangsarbeiter in den Gerichtssaal.“ durchziehen.“ Sein liberales Credo und ein Plädoyer für eine Zwangsrente schlössen sich deshalb keineswegs aus.

VERFASSUNGSSCHUTZ Geheimen geoutet. V-Mann „Martin“ war Kreisvorsitzender der NPD in Amtshilfe für Schwerin Wismar. Er soll während seiner Tätig- keit für die Ermittler in mehrere ecklenburg-Vorpommerns Innen- Straftaten, darunter einen versuchten Mministerium hat in Niedersachsen Totschlag, verwickelt gewesen sein. Um um Amtshilfe gebeten, weil der eigene die Vorgänge aufzuklären, hat Innen- Verfassungsschutz aus dem Ruder zu minister Gottfried Timm (SPD) nun aus laufen scheint. In einem Prozess vor Niedersachsen den Geheimdienstkon- dem Amtsgericht Wismar wegen eines trolleur Neidhard Fuchs angefordert,

Brandanschlags hat sich einer der An- einen Referatsleiter im hannoverschen REUTERS geklagten als V-Mann der Schweriner Innenministerium. Westerwelle

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LÄNDERFINANZAUSGLEICH Frage gestellt. Damit könnten Berlin, Hamburg und Bremen bald einige Mil- „Heilsamer Druck“ liarden fehlen. Gefährdet das Urteil die Existenz der Stadtstaaten? Der Magdeburger Professor für Poli- Renzsch: Karlsruhe hat das Stadtstaaten- tikwissenschaft Wolfgang Renzsch, 49, privileg nicht für verfassungswidrig er- über das Urteil des Bundesverfassungs- klärt. Das Gericht fordert lediglich, die gerichts Regelung zu überprüfen. Was sich am Ende für die Stadtstaaten ändert, muss SPIEGEL: Herr Professor Renzsch, nach sich noch zeigen. Von einer Neugliede- dem Urteil aus Karlsruhe fühlen sich rung der Länder ist im Urteil keine Rede. alle Ministerpräsidenten als Sieger. Wer Die Richter haben viele solcher Prü- hat sich denn nun wirklich durch- fungsaufträge vergeben. Bund und Län- gesetzt? der müssen unbestimmte Rechtsbegriffe Renzsch: Es gibt keine unmit- konkretisieren und darlegen, telbaren Sieger. Die Kla- welche ihrer Ausgaben not- geländer Bayern, Baden- wendig sind und welche Württemberg und Hessen nicht. An der Aufgabe haben hatten mit ihren zentralen sich in der Vergangenheit Anliegen keinen Erfolg. Etwa schon einige Kommissionen mit der Forderung, künftig die Zähne ausgebissen. von ihren überdurchschnittli- SPIEGEL: Nun soll das Vorha- chen Steuereinnahmen nicht ben in drei Jahren abge- mehr als die Hälfte an die är- schlossen sein. Geht das? meren Länder abgeben zu Renzsch: Ich halte das für müssen. Davon findet sich in schaffbar. Finanzausgleichs-

dem Urteil nichts. KRANZ / APIX fragen sind immer schwierig, SPIEGEL: Vor allem die neu- Renzsch weil es ums Eingemachte, en Länder befürchteten, im ums Geld geht. Aber die Streit um die Steuermilliarden die Ver- Frist, die das Verfassungsgericht nun lierer zu sein. Sind sie das? setzt, kann einen heilsamen Druck aus- Renzsch: Nein, im Gegenteil, das Ge- üben. Die Argumente sind alle ausge- richt hat die Förderung der neuen Län- tauscht. Bund und Länder müssen sich der für verfassungskonform erklärt. nun einigen, wenn sie verhindern wol- SPIEGEL: Die Karlsruher Richter haben len, dass Karlsruhe ihnen nach Ablauf das so genannte Stadtstaatenprivileg in der Frist die Regularien diktiert.

POLIZEI Training gegen Rechnung ie Innenminister der Länder und die DDeutsche Lufthansa AG streiten, ob Spezialeinheiten der Polizei weiterhin kos- tenlos an Flugzeugen des Konzerns üben dürfen. Die Sondereinsatzkommandos trainieren an Lufthansa-Maschinen seit Jahren vor allem den Kampf gegen Flug- zeugentführer. „Nur eine ständige Übungs- möglichkeit“, argumentieren die Ministeri- en, „gewährleistet die hohe Professiona- lität der Polizeikräfte bei diesen besonders schwierigen Einsatzlagen.“ Anders als in der Vergangenheit will die Lufthansa Tech- nik AG dafür jetzt jeweils Mietgebühren in Rechnung stellen. Trotz einer Intervention des sächsischen Innenministers Klaus Hardraht bei Lufthansa-Chef Jürgen We- ber will das Unternehmen nicht nachge- ben. Weber argumentiert, die Airline habe den Polizeien „zuletzt ein Entgelt vorge- schlagen, das unter dem Selbstkostenpreis liegt“. Die Innenminister fürchten, dass

MOTORBUCH VERLAG MOTORBUCH die Übungen aus Kostengründen erheblich Polizei-Übung zur Geiselbefreiung reduziert werden müssen.

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künftig „wirksam Am Rande unterbinden“, heißt es in einem NRW- Papier, das auf der Absatz-Kick nächsten Innenmini- sterkonferenz am Hat die Türkei ei- Donnerstag in Gör- gentlich schon die litz beraten werden Lizenz zum Nachbau soll. von deutschen Sprin- Mit seiner Initiative gerstiefeln? Hat sie will Behrens verhin- dern, dass solche nicht? Na dann wird Schaukämpfe nach es aber Zeit: Im Be- regionalen Veranstal- wusstsein seiner Ver- tungsverboten ein- antwortung vor Gott fach in andere Bun- und den Menschen, von dem Willen desländer verlegt beseelt, dem Frieden zu dienen, kann werden. Danach sollen sich der Bundessicherheitsrat jetzt getrost

AP die Innenminister die Probe-Lieferung eines Springer- Ultimate Fighting (in der Ukraine) unter anderem früh- stiefels an den Bosporus abnicken. zeitig über geplante Nach Jahrzehnten, in denen jeder als SHOW-KÄMPFE Extremkämpfe unterrichten, um sie – Schuft galt, der in seinem Schaft zum Beispiel unter Androhung von steckte, hat das Verwaltungsgericht Bis zum Tod Zwangsgeld – untersagen zu lassen. Bei den Kämpfen würden schwerwiegende Leipzig am vergangenen Mittwoch er nordrhein-westfälische Innenmi- Verletzungen bis hin zum Tod „letzt- den Nationalisten-Stiefel vorerst re- Dnister Fritz Behrens (SPD) will sei- lich in Kauf genommen“. Bei einem habilitiert. Das Tragen von Springer- ne Länder-Amtskollegen dazu bringen, Turnier im niederrheinischen Kleve tra- stiefeln ist demnach primär ein Men- gemeinsam gegen Extremkämpfe – das ten im Januar drei Berliner gegeneinan- schenrecht – und nur sekundär dazu so genannte Ultimate Fighting – vorzu- der an, die unter anderem mit einer bestimmt, Menschenrechte mit Füßen gehen. Schaukämpfe, bei denen außer Eisenkette und einem stacheldrahtum- Beißen, Kratzen und Augenstechen wickelten Baseballschläger bewaffnet zu treten, befanden die Richter. alles erlaubt ist, müssten Behörden waren. Geklagt hatte der freiheitlich-natio- nal gesinnte Marcel H., nachdem ihm städtische Bedienstete außer seinen Stiefeln auch noch die modischen Ac- POLIZEI Oberstaatsanwalt Alexander Stahlecker, cessoires Baseball-Schläger, Eisen- „werden gegen acht bis zehn Beamte Korrupte Abschlepper sowie vier oder fünf Unternehmer An- kette und Messer abgenommen hat- klagen oder Strafbefehle folgen.“ ten. Nach Auffassung der Richter hat- essische Ermittler sind einem weit te die Stadt damit in unzulässiger Hverzweigten Korruptionsgeflecht Nachgefragt Weise in das Selbstdarstellungsrecht bei der Autobahnpolizei auf der Spur. des Neonazis eingegriffen.Außerdem Die Beamten sollen Vorteile von Ab- lag seine letzte räuberische Erpres- schleppunternehmern angenommen ha- Erbschleicher Staat ben – die Palette reicht von Zuwendun- sung inklusive Körperverletzung gen an die Gemeinschaftskassen der Die Bundesregierung will Erben schon mehr als ein Jahr zurück, Mes- Polizeistationen bis zu großzügigen Ra- stärker belasten. Besonders Im- ser und Baseball-Schläger waren da- batten bei Wartung und Reparatur von mobilien sollen höher besteuert mals gar nicht zum Einsatz gekom- Privatwagen. Als Gegenleistung sollen werden. Was meinen Sie? men. Mithin sei die Wiederholungs- die Polizisten die Unternehmen bei Unfällen und Pannen bevorzugt mit gefahr gering. Diese Leitsätze eröff- Aufträgen versorgt haben. Eine Sonder- nen anderen umstrittenen Exportgü- kommission des Hessischen Landeskri- tern neue Chancen: Warum nicht mal minalamts (LKA) ist bei verdeckten mit einem Leo-Panzer durch die Ermittlungen und Razzien nahezu flä- Einkommen Fußgängerzonen von Köln oder chendeckend fündig geworden. Nach Erbschaften Einkommen über 5000 GESAMT unter 2000 Mark*Mark* Hamburg fahren? Einfach die Muni- LKA-Angaben stehen in Hessen derzeit sollten stärker dutzende Beamte und Unternehmer im tion nicht verballern, außerdem dar- besteuert 14 22 Verdacht, an den krummen Geschäften werden 15 auf hinweisen, dass schon seit 54 Jah- beteiligt zu sein. Schwerpunkt ist der Erben zahlen ren kein Panzer mehr in deutschen Raum Frankfurt. Die für die dortige Au- heute schon 72 73 73 Städten herumgeschossen hat. Vor tobahnpolizei zuständige Staatsanwalt- genug Steuern Leipziger Richtern müsste man damit schaft Offenbach hat in einem Fall be- *monatliches Haushaltsnettoeinkommen durchkommen. reits Anklage erhoben. „Bis Anfang Emnid-Umfrage für den SPIEGEL vom 9. und 10. Oktober; nächsten Jahres“, sagt der Offenbacher rund 1000 Befragte; an 100 fehlende Prozent: weiß nicht

20 der spiegel 46/1999 Werbeseite

Werbeseite T. GRABKA / ACTION PRESS GRABKA / ACTION T. Koalitionspartner Fischer, Schröder: „Angenehme und sympathische Zusammenarbeit“ Grüne Trittin, Müller*: Misstrauen in

KOALITION Die Lust verloren Rot und Grün haben sich auseinander gelebt, doch auseinander gehen können sie nicht. Die Grünen müssen ihren Untergang fürchten, die Sozialdemokraten den Machtverlust. Immerhin einigte sich die Regierung nun auf ein Atomausstiegsgesetz.

inster und entschlossen kamen Ger- Und während Schröder und die grüne Sozialdemokraten einfach nur das hard Schröder und Jürgen Trittin aus Bundestags-Vizepräsidentin Antje Vollmer Chaos? Fdem Beratungszimmer. Gemeinsam vorvergangene Woche in China – am Bei- Vom Kanzler hatten alle Treueschwüre schienen SPD-Kanzler und grüner Um- spiel der Menschenrechte – vorführten, wie im Ohr. Dem grünen Fraktionschef Rezzo weltminister dem feindlichen Rest der Welt gut und reibungslos das rot-grüne Bündnis Schlauch hatte er unlängst versichert, „wie trotzen zu wollen. In unauffälligem Ab- auch funktionieren kann, stolperten die angenehm und sympathisch“ er die Zu- stand folgten Außenminister Joschka Fi- Fraktionen in Berlin von einer Krise in die sammenarbeit empfinde. „Nur mit euch“, scher und Kanzleramtschef Frank Stein- andere – Gesundheitsreform, Ökosteuer, beruhigte er auch die grüne Wehrexpertin meier, nicht minder ernst und entschieden. Asyl, Waffenlieferungen. Angelika Beer, die ihn heftig wegen des Wieder einmal hatten sich am Donners- Als sich die Spitzen der tag vergangener Woche die Oberen der rot- Grünen-Fraktion mit Fi- grünen Regierungskoalition im Berliner scher und Trittin am Im roten Bereich Verluste/Gewinne der Regierungsparteien Reichstag zu einem improvisierten Kri- Montag voriger Woche zu 7. Februar 6. Juni 5. September 5. September sengespräch getroffen.Alle Beteiligten ver- einer Krisenrunde trafen, Hessen Bremen Saarland Brandenburg ließen es mit der Überzeugung, dass sich brachte jeder andere Fra- niemand mehr Illusionen über die Situa- gen ein. Aber keiner hatte tion mache. verlässliche Antworten. „Zusammenstehen oder untergehen“ Will der Kanzler die Koa- 1,4%+ 9,2%+ – –14,8% heißt die Devise bei den Grünen. SPD-Chef lition an die Wand fah- 5,0% Schröder versichert: „Joschka und ich ha- ren, um die Unionschris- ben die Verantwortung für eine ganze Ge- ten für ein Reformbünd- neration. Und das ziehen wir jetzt durch.“ nis zu gewinnen? Spielt Ru- Die Zweifel an der Entschlossenheit der dolf Scharping, der selbst / Sozialdemokraten, das Bündnis mit den ins Kanzleramt drängt, ein Grünen bis zum Ende der Legislaturpe- unberechenbares Spiel? – – – – riode durchzuhalten, hatten sich bei den Oder regiert bei den 4,0% 4,1% 2,3% 1,0% Grünen in den vergangenen zwei Wochen bis zur Panik verdichtet. Gerüchte über * Am vergangenen Donnerstag bei eine Große Koalition der SPD mit der der Abstimmung über die Ökosteu- Union machten die Runde. er in Berlin.

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Als Provokation ließ es sich nur be- der öffentlich an der Steuerreform herum- greifen, dass Innenminister Otto genörgelt hatte. Schily plötzlich das Asyl-Grund- Zu einer Standpauke mussten auch zwei recht in Frage stellte (siehe SPIE- weitere Übeltäter antreten: Die Steuer- GEL-Gespräch Seite 107). fachfrau Christine Scheel hatte über die Von Woche zu Woche empfan- Erbschaftsteuerpläne gemäkelt, Angelika den die grünen Koalitionäre die Beer über die Rüstungsexporte. Es sei Zumutungen des großen Partners schließlich unmöglich, von der SPD Koali- als unerträglicher. Ständig erleben tionstreue einzufordern, wurden beide ab- die Abgeordneten in den Aus- gemahnt, wenn in den eigenen Reihen Dis- schüssen den Kleinkrieg mit den ziplinlosigkeit herrsche. Genossen. Die Partner sind müde Um ein „Riesen-Halliho“ (Kerstin Mül- und erschöpft. „Wir haben uns aus- ler) zu vermeiden, hat auch kaum ein Grü- einander gelebt“, glaubt der grüne ner die Asyl-Fehde mit dem Innenminister Parteigeschäftsführer Reinhard so richtig aufgegriffen. „Man kennt Schi- Bütikofer, „das ist nicht mehr ly“, so Müller kühl, „und uns auch.“ sexy.“ Schlauch gab die stolze Parole aus: „Wir Nach dem Kosovo-Krieg schien sind die Preußen der Koalition.“ die Beziehung der Spitzenleute so Doch es zerrt an den Nerven der regie- gefestigt, dass in beiden Fraktionen renden Grünen, dass sie sich zwischen zwei die Hoffnung wuchs, die Anfangs- Fronten sehen. Kaum haben sie die Oppo- probleme dieses schwierigen Bünd- sition im eigenen Lager zum Schweigen

M. URBAN nisses seien überwunden. Aber das gebracht, geistern Irrläufer bei den Sozis die Treueschwüre Gegenteil war der Fall – nach ei- über die Berliner Bühne – keiner so wild nem Jahr ist von Aufbruch in eine wie Scharping. Der „marodiert“ zur Zeit Rüstungsgeschäfts mit der Türkei ange- neue Ära nur wenig zu spüren. Mit ihren gänzlich außer Kontrolle, sorgen sich die griffen hatte. Reformideen ist die einstige Anti-Partei, Grünen. Offenbar habe Scharping nur Und doch mochte der kleine Partner all seit sie selbst die Macht übernommen hat, noch das Ziel im Auge, Chef einer Großen den Freundschaftsbekundungen nicht so nicht nur im Regierungsgetriebe stecken Koalition zu werden (siehe Seite 26). recht trauen. Nur zu gut erinnerten sich Fi- geblieben. Sie droht daran zu zerbrechen. Kanzler Schröder hatte auf seine kum- scher und Trittin an den Niedergang der Kleinlaut erklärten die Fraktionsführer pelige Art bei vielen Grünen durchaus rot-grünen Koalitionen in Niedersachsen Kerstin Müller und Schlauch in ihrer Bilanz und Hessen. nach einem Jahr, die notwendigen Refor- Ausstiegsszenarien werden durchge- men seien immerhin „begonnen“.Aber Mut spielt: Noch vor den Wahlen in Schles- macht das nicht. Während Joschka Fischer wig-Holstein? Oder erst im Mai nach letzte Woche im Fernsehen noch den Vorrat einem Wahldebakel in Nordrhein-West- an Gemeinsamkeiten mit der SPD pries, falen? („eindeutig ja“), reden seine Freunde in der All diese Planspiele überschatten Zweifel, Fraktion längst von einer „Sinnkrise“. ob die Grünen solche Eskapaden als Partei Man müsse „professioneller zu Werke ge- überhaupt überleben können. Zumal nach hen“, fordert der Außenminister, der selbst den Wahlniederlagen der vergangenen Mo- fast aus dem Stand den Wechsel ins neue nate der Unmut an der eigenen Basis immer Amt schaffte. Für ihn ist „das vielstimmige größer wird (siehe Seite 24). Hin und Her das eigentliche Problem“. Der Panzerexport versetzte die Partei- In der vorvergangenen Woche zeigte sich

versammlungen in Aufruhr. Enervierend dieses Problem mal wieder besonders deut- ELWENSPOEK H.-J. wirkte der Streit um die steuerliche Förde- lich. Erst nach zahlreichen internen Krisen- Atomkraftwerk (in Stade) rung umweltfreundlicher Gaskraftwerke. gesprächen und einem Telefonat mit Schrö- Einstieg in den Ausstieg? der in China konnten sich Grüne und Ge- nossen über die endgültige Fassung der Sympathie gewonnen.Aber nach der knall- bei Landtagswahlen 1999 in Prozentpunkten Kabinettsvorlage zu den Gaskraftwerken ei- harten Entscheidung für den Panzer-Ex- nigen, obwohl die zuvor in der Koalitions- port („Ich nehme das auf meine Kappe“) 12. September 19. Sept. 10. Oktober Thüringen Sachsen Berlin runde, vom Kabinett und mit dem Kanzler ist der Blick nüchterner geworden. Ihm persönlich abgestimmt gewesen war. „Wollt fehle das strategische Denken, heißt es ihr das killen?“, fragte Schlauch entgeistert jetzt: „Er fährt im Nebel auf kurze Sicht.“ die widerspenstigen SPD-Unterhändler. Die Hoffnung, dass Schröder und seine – – – SPD-Fraktionschef Peter Struck habe sei- SPD auf dem bevorstehenden Parteitag 9,2% 5,9% 1,2% ne 297 Abgeordneten nicht im Griff, klagt eine neue Balance finden könnten, ist bei Schlauch. Absprachen seien oft nicht ver- den Grünen nicht sehr ausgeprägt. bindlich. „Du hast eine leichte Fraktion“, Die Zweifel sind groß, dass der Regie- entschuldigte sich Struck dann immer, „ich rungschef einen eigenen dritten Weg zwi- krieg das nicht durch.“ Letztendlich schaff- schen Tony Blair und Lionel Jospin finden te es das Ökosteuer-Gesetz dann doch ver- könnte. Ihm fehle ein eigenes Wertesystem, gangene Woche durch den . fürchten sie, und daher auch die Überzeu- – – – 4,0% 1,5% 3,3% Durchaus selbstkritisch räumen die Grü- gungskraft und Autorität, den tiefen sozial- nen ein, dass auch sie zum Wirrwarr bei- demokratischen Grundkonflikt zu lösen. tragen. Am vergangenen Montag zitierten Immerhin glauben jene Grüne, die direkt Schlauch und Müller nicht nur den eigenen mit Schröder zu tun haben, der Kanzler Finanzexperten Oswald Metzger zu sich, habe inzwischen eingesehen, dass der Wech-

der spiegel 46/1999 23 Deutschland sel zur Großen Koalition die SPD zerreißen gemeinsamen Haltung. Der Kanzler, würde. Deshalb lasse er sich nun endlich Außenminister Fischer und Umweltminis- GRÜNE emotional auf das rot-grüne Bündnis ein. ter Jürgen Trittin verständigten sich über Verstanden habe er auch, dass er mit dem die Eckpunkte eines Ausstiegsgesetzes. Für Gegen die Wand Türkei-Geschäft die Grünen in ihrer tiefen den Fall, dass mit der Industrie bis zum Zerrissenheit wegen des Kosovo-Krieges Jahresende kein Konsens gefunden wird, Die Basis der Ökopartei ist überfordere, meint Außenminister Fischer. will die Koalition dann in eigener Regie Dennoch rückt Schröder von seiner das Abschalten regeln. verunsichert: Sie weiß nicht mehr, grundsätzlich exportfreudigen Position nicht Fischer hatte unmissverständlich klar ge- wofür ihre Vorleute ab. Die Grünen bereiteten ihm große macht, dass ohne Einigung beim Atom die im Bundestag noch stehen. Schwierigkeiten, klagte er intern, „weil sie Koalition am Ende sei. Unter diesem Druck jeden Industrie-Export verhindern wollen“. wies der Kanzler die zerstrittenen Abtei- wanzig Kilogramm hat Joschka ver- Neue Konflikte sind also absehbar. Sie lungsleiter von Wirtschafts-, Umwelt-, Justiz- loren, ist alt geworden, uralt. Aus können, fürchten die Grünen, schon des- und Innenministerium an, in der kommen- Ztieftraurigen Augen starrt ein im- halb nicht ausbleiben, weil es dem Kanzler den Woche ein Papier mit den Grundzügen mermüder Blick. Doch am schlimmsten ist, bisweilen auch an außenpolitischer Sensi- eines Ausstiegsgesetzes zu formulieren. Kern dass der schwarze Neufundländer ein Frau- bilität fehle. So sei der Wunsch der Saudis soll die nachträgliche Befristung der Be- chen hat, das den Namen Joschka nicht nach dem Panzer Leo 2 und nach einem triebserlaubnis von Atomkraftwerken sein. mehr ausstehen kann. „Erd-Erkundungssatelliten“, der auch für Noch in diesem Monat soll eine Staatsse- „Als ich vor 14 Jahren den Welpen be- Spionagezwecke geeignet ist, schon aus kretärsrunde das Papier absegnen – dann kommen habe, fand ich Joschka Fischer Rücksicht auf die Israelis unerfüllbar. wird noch einmal zur Konsensrunde im toll“, erinnert sich Sonja Rothweiler. Also Widerstand formiert sich in der Berli- Kanzleramt mit den Atombossen gebeten. nannte sie das Tier Joschka, obwohl es ein ner Öko-Fraktion auch gegen ein Bündel Die Absprache hat bei Rot-Grün inzwi- Weibchen war. „Heute würde der Hund von Hermes-Krediten, die zur Finanzie- schen Seltenheitswert: Sie entspricht ge- anders heißen.“ rung von Kernkraftwerken und umwelt- nau dem Koalitionsvertrag. Paul Lersch Rothweiler ist bekennende Grüne, unten zerstörenden Staudämmen in China und an der Basis, in Pfinztal in Nordbaden. anderen Ländern der Dritten Welt gedacht Türkei Ende der achtziger Jahre trat die Hausfrau sind (siehe Seite 98). der Partei bei, die „damals noch so un- Derzeit werden die Kredit-Anfragen im Die Entscheidung über den Verkauf von 1000 konventionell war“. Im Golfkrieg stand sie Umweltministerium aufgezählt. Fest steht Kampfpanzern „Leopard 2A5“ steht 2001 an. noch selbst mit den „Stoppt den Krieg“- schon jetzt, dass von den Deutschen kei- Großes Interesse besteht zudem an 150 „Leo- Plakaten an der Kreuzung. Dass der nesfalls eine Exportgarantie für einen pard 1“-Panzern aus Beständen der Bundes- Kosovo-Einsatz ohne Uno-Beschluss, Atommeiler in der Türkei zu erwarten ist. wehr, am Flak-Panzer „Gepard“, Transport- aber mit grüner Unterstützung stattfand, „Aber wir können nicht alles verhindern“, panzer „Fuchs“ und an einer Fertigungsanlage hat ihr Grundvertrauen in die Partei er- sagt einer der Fraktionsexperten voraus, für 5,6 mm Munition. Bei diesen möglichen Ex- schüttert: „Vom ,Streitbar, Ehrlich, Unent- portgeschäften ist der Status im Bundes- „wir müssen die Maßstäbe klären.“ sicherheitsrat (BSR) unklar. behrlich‘ stimmt heute höchstens noch Vergangenen Donnerstag fanden die rot- das letzte Wort.“ grünen Spitzen wenigstens bei ihrem Dau- Bis zu 145 Kampfhubschrauber „Tiger“ Auch wenn Joschka der Hund nichts für er-Konfliktthema Atomausstieg zu einer stehen auf der türkischen Einkaufsliste; für ein Joschka den Politiker kann, verstärkt jeder Aufklärungsflugzeug aus deutsch-spanischer Gemeinschaftsproduktion wird ein Angebot Risiko Rüstungsexport gewünscht. Einer Lieferung von sechs bis zehn Minenjagdbooten hat der BSR im Oktober Umstrittene Waffenwünsche bereits zugestimmt. an die rot-grüne Regierung Auf dem türkischen Wunschzettel stehen weiter: die Lieferung von 500 000 Gewehren sowie 1500 Granatwerfern. Hierüber hat der BSR allerdings noch keine Entscheidung getroffen.

Kampfhubschrauber „Tiger“ Rumänien soll 110 Gefechtsköpfe Georgien für die Panzerabwehr- bekam kostenlos rakete „Milan“ erhalten. ein Minenräumboot. Der BSR soll die Lieferung genehmigt haben. Südkorea Griechenland kann zwölf Hubschrauber würde gern den „Leopard 2“ Vereinigte Arabische Emirate von Eurocopter kaufen. kaufen und verhandelt bereits erhalten 30 veraltete Jagdbomber Der BSR soll sich mit dem mit dem deutschen Hersteller. „Alpha-Jet“ und zwei gebrauchte Geschäft befasst haben. U-Boote der „Klasse 206“.

Chile Thailand bekommt 4000 Schuss hat im August 1999 25 Munition für den Kampf- Südafrika Jagdbomber „Alpha-Jet“ Malaysia panzer „Leopard“ geliefert. möchte gern drei U-Boote der erworben und erhält „Klasse 209“ kaufen. Die hat Waffenelektronik für darüber hinaus bis zu Lieferung soll 2003 beginnen. sechs Patrouillenschiffe fünf Bordkanonen. Das Kabinett hat zugestimmt. gekauft. Die Lieferung 24 beginnt 2003. gegen Truppenübungsplät- ze, Atomkraftwerke oder die Abschiebung von kur- dischen Flüchtlingen aus- trugen, sind die Zweifel ge- wachsen. Seit Jahren ficht Bene- dikt Schirge mit der Bürger- initiative „Freie Heide“ dafür, dass ein von den So- wjets errichteter Bomben- abwurfplatz in Branden- burg nicht von der Bundes- wehr genutzt werden darf. Wahlkämpfer Rudolf Schar- ping versprach in der Rup- piner Heide 1994 als SPD- Kanzlerkandidat die Auflö- sung des „Bombodroms“, Joschka Fischer bestärkte 1998 die Hoffnungen der

A. VARNHORN Friedensfreunde. Grüne Parteiversammlung (in Hattersheim): Protest gegen „Verbonzung“ Die Grünen brachten diese Forderung in die Ko- Ruf nach ihm Frauchens Leiden an der scharenweise davon: In alitionsverhandlungen ein Partei. Schleswig-Holstein flüchte- – „unser größter politischer Einem der prominentesten Grünen des ten fast zehn, in Hessen fünf Erfolg“(Schirge). Sie schei- Ostens, Hans-Jochen Tschiche, ergeht es Prozent der Gefolgschaft. terten am gewendeten mit den Bündnisgrünen ähnlich wie der Die „Generation der Grü- Scharping. Frau von der Basis West. Gerade hat der nen-Gründer und Linken“, Noch immer erscheinen sachsen-anhaltinische Landtag in Magde- so der grüne Pressesprecher ein bis zwei grüne Bundes- burg seine „besonderen Verdienste um den in Nordrhein-Westfalen, tagsabgeordnete, wenn die Aufbau der parlamentarischen Demokra- Michael Ortmanns, 23, „ver- Bürgerinitiative zum Pro- tie“ gewürdigt: DDR-Oppositioneller, Mit- lässt offenbar die Partei“. testmarsch ruft. Doch Schir- begründer des Neuen Forums, grüner Frak- Mehr als 1700 Austritte ha- ge fragt sich längst: „Kann tionschef in Sachsen-Anhalt. Doch an sei- ben die NRW-Grünen in ei- man als Partei noch für nem 70. Geburtstag ist der Theologe mit nem Jahr zu verzeichnen. Kampfeinsätze und gegen den kurzen weißen Haaren und der leisen, Doch im Unterschied zu Übungsplätze sein?“ Ähn- eindringlichen Stimme wieder da, wo er den meisten anderen Lan- lich empfindet Dirk Treber,

vor Jahrzehnten begann – in der politi- desverbänden kann Ort- / ZEITENSPIEGEL BARTH T. 48, der seit 20 Jahren gegen schen Diaspora. manns auf über 2000 Neu- Grüne Rothweiler, Joschka den Ausbau des Frankfurter Im Pfarrhaus von Samswegen, vor des- zugänge verweisen, zumeist Flughafens Widerstand leis- sen Eingang ein Trabi und in dessen Gar- Leute, die wie Ortmanns mit den friedens- tet. 38 Bürgerinitiativen engagieren sich der- ten ein Esel steht, nennt er die Grünen „bis bewegten Alten wenig anfangen können. zeit, um den Bau einer weiteren Betonpiste zur Gesichtslosigkeit unkenntlich“. Koso- Höchstens fünfmal, so der Jung-Grüne, sei nach der Startbahn West zu verhindern. vo-Krieg, Panzer-Exporte und demnächst er auf einer Demonstration gewesen. Nur auf die Partei, die im Kampf gegen Castor-Transporte – „das verschreckt un- Die Flucht der erfahrenen Aktivisten hat den Flughafen in Hessen groß und stark seren innersten Kern, so fahren wir voll auf die Arbeit vor Ort fatale Auswirkun- wurde, können sich die Ausbau-Gegner gegen die Wand“. gen. Bei den Europawahlen im Juni wei- nicht mehr verlassen. „Die Grünen zeigen Die ostdeutsche Parteisprecherin Gunda gerte sich die Pfinztaler Basis, Plakate der sich als Wackelpudding“, schimpft Aktivist Röstel, die in jede Kamera die Worte „Mit- Partei zu kleben. „Aus Protest“, so Roth- Treber. Die Niederlage bei der Landtags- telstand, Mittelstand“ plappere, ärgere ihn weiler, „wählten bei uns viele die Tier- wahl im Februar, bei der die Truppe ihres ebenso wie jene West-Grünen, die aus der schutzpartei.“ Bei den Kommunalwahlen einstigen Vormanns Fischer von 11,2 Pro- Partei eine Volkspartei machen wollten. im Oktober profitierten andere: Eine Un- zent auf 7,2 absackte, sei die Quittung für „Wir schämen uns unseres eigenen The- abhängige Liste, von Ex-Grünen mitge- den Schlingerkurs: „Die Leute wussten mas – der Ökologie.“ gründet, errang 5,2 Prozent, die Grünen einfach nicht mehr, wofür die Partei steht.“ Im Jahr eins der Regierung Schröder/Fi- stürzten von 20,5 auf 12,5 Prozent. Nur in Anwohnergemeinden beziehen die scher ist der Doppelname Bündnis 90/Die Einer der übergelaufenen Pfinztaler ist Grünen noch eindeutig Anti-Position wie Grünen zur Farce geworden. Im Osten be- der erklärte Pazifist Hans Bönisch, 51. Er etwa am vergangenen Dienstag bei einer ginnt sich die Partei aufzulösen. Jeweils sieht die Grünen „in den nächsten Jahren Kreisversammlung in Hattersheim. rund 500 Mitglieder haben die Bündnis- existenziell bedroht“. Einige seiner ehe- Treber ist enttäuscht, weil ein Jahr nach grünen nur noch in drei Ost-Landesver- maligen Parteikollegen warnten schon den der Abwahl Helmut Kohls nichts von Auf- bänden; in Mecklenburg-Vorpommern so- Landesvorstand: „Setzt sich die Erosion bruch zu spüren sei, und spricht von einer gar nur noch knapp 400. grüner Identität weiter fort, dann heißt es „schleichenden Erosion“ an der demoti- Vor allem in ihren West-Hochburgen ha- auch für uns alte Grüne: Macht euren vierten Parteibasis. Zu den Versammlungen ben die Ökopaxe seit dem Kosovo-Krieg Scheiß allein!“ kämen regelmäßig nur noch halb so viele reichlich Kollateralschäden zu registrieren. Auch in den Bürgerinitiativen, die Seite Leute wie früher, „die Partei verbonzt“. Nicht nur die Wähler blieben aus, fast allen an Seite mit der Sonnenblumen-Partei die Ohne die Biergläser auf dem Fußboden Landesverbänden laufen die Mitglieder für die Grünen symbolträchtigen Kämpfe würde die Kreisversammlung im nord-

der spiegel 46/1999 25 Deutschland rhein-westfälischen Düren als Zeugnis- konferenz im Lehrerzimmer eines Pro- vinzgymnasiums durchgehen. Im Halbkreis SPD aufgestellte Bürostühle, zähe Debatten, an- gegraute Gestalten: ein Oberlehrertyp mit Lesebrille, ein Alt-Sponti mit Wallehaar Lohn der Leiden und Oberkopfglatze. Nur eine junge Frau, die Pizza aus der Pappschachtel isst, Seine Treueschwüre klingen wie Kriegserklärungen – stöhnt: „Mein Gott, muss man das alles so lange diskutieren?“ Verteidigungsminister Scharping übt sich in tückischer Loyalität Die Themen bringen wenig Lustgewinn: zu Kanzler Schröder. Von Hajo Schumacher Ausbleiben von Spendengeldern nach dem miserablen Ergebnis der NRW-Kom- m Berliner Reichstag herrscht der täg- men.“ Wer tut das? Scharping! Und wer munalwahl im September (von über ei- liche Ernstfall. Weil er seine Abgeord- nicht? Bedeutungsvolle Pause. Dann: ner Million Wählerstimmen 1994 blieben Ineten wie üblich nicht im Griff hat, „Regieren, das ist eine gewaltige Chance, nur noch knapp 543 000), Probleme bei lässt SPD-Fraktionschef Peter Struck bei eine wunderschöne Aufgabe. Aber immer der Finanzierung von Büroräumen, Kün- der PDS um Stimmen für die Ökosteuer diese Kleinmütigkeit …“ digung der Kreisgeschäftsführerin, für de- ersuchen. Klar, dass er sich den Job zutraut. Das ren 15-Stunden-Stelle nun das Geld nicht In der Parlamentskantine kaut Finanz- muss man machen wie . Wer mehr reicht. minister missmutig am Tages- es morgen gut haben will, muss heute Re- Über „frustrierende Wahlergebnisse“ gericht – serbisches Reisfleisch zu 3 Mark formen machen, hat das SPD-Idol ge- wird lamentiert, über Wut und „Ohnmacht, 50. Abends zuvor hat NRW-Ministerpräsi- knarzt, und dass die Deutschen stolz sein die sich ausbreitet“, über die Bundespoli- dent und Kanzler-Freund Wolfgang Cle- sollen auf ihr Land. tik, von der nichts Gutes rüberkomme. Der ment verkündet, er trage die Ökosteuer „Ich bin stolz auf dieses faszinierende aus Düsseldorf angereiste Landtagsabge- nicht mit. Land“, bekräftigt Scharping sicherheits- ordnete Jens Petring hat nur schwachen Zugleich fahndet Gerhard Schröder mit halber, obwohl er Deutschland eigentlich Trost parat: „Das ist in anderen Kreisver- den grünen Ministern Jürgen Trittin und noch ein bisschen böse sein müsste. Denn bänden auch so.“ Joschka Fischer fieberhaft nach rot-grünen es hat ihn 1994 nicht zum Kanzler gewählt. Nicht überall sehen grüne Aktivisten nur Projekten, die dem Wähler bis Weihnach- Aber Scharping kann verzeihen. zu, wie ihre Partei langsam zum Funk- ten wie Erfolge erscheinen könnten. Schließlich sind ja auch ihm Fehler unter- tionärsclub verkommt. In der grünen Nur einer sitzt bestens gelaunt im hin- laufen: „Ich dachte, dass mein Verhalten Hochburg Berlin-Kreuzberg planen ent- teren Eck der Reichstags-Cafeteria. Krise? aus sich selbst heraus spricht.“ Das aber täuschte Linke, ihre Hauptstadtorganisa- Welche Krise? „Als ob wir in Deutschland haben die Deutschen missverstanden da- tion zur Keimzelle einer parteiinternen Re- tief im Jammertal leben würden.“ Ach wo. mals, als sie „Gründlichkeit mit Langsam- volution zu machen. Wie eine Drohung Was dem Land fehlt, ist Führung. keit verwechselt haben und Ernsthaftig- klingt es, wenn Vorkämpfer Kurt-Dietmar Mit jedem Satz dem Wehrressort ent- keit mit Humorlosigkeit“. Lingemann erklärt, er werde nicht aus der wachsend, sprudelt aus Rudolf Scharping Inzwischen hat das Volk gelernt. Dass ei- Partei austreten: „Wir wollen den Landes- zwei Cola und sechs Marlboro lang heraus, ner mit der doppelten Bürde von „Vertei- verband als Gegengewicht zur Bundespo- wie Deutschland zu retten ist. Mit „Ste- digungsminister und Sozialdemokrat in litik aufbauen.“ tigkeit und Konzepten“, mit aufrechten den Meinungsumfragen vorn liegt“, das Druck üben auch die Kernkraftgegner Kerlen und ewigen Lebensweisheiten: beweist doch, „was möglich ist“ für Politi- auf die alten Weggefährten aus. Demon- „Ich mache Politik nicht für ’ne Schlag- ker, die sich wirklich reinhängen. strationen und Blockaden sollen Atom- zeile. Mein Handeln gilt Menschen.“ „Anmut sparet nicht noch Mühe, Lei- transporte verhindern, die Jürgen Trittin Das ist natürlich keine Kritik am Kanzler, denschaft nicht noch Verstand, dass ein einst bekämpfte und heute als Umwelt- den stützt er nach Kräften. Andererseits gutes Deutschland blühe wie ein andres minister befürwortet. „Mit den Nonsens- führt er selbst ja auch nicht schlecht, zum gutes Land.“ Gesprächen muss auf der Stelle Schluss Beispiel die Bundeswehr, „wo ich Verant- Brechts Kinderhymne zitiert er gern auf sein“, fordert die Bürgerinitiative Um- wortung für 450000 Menschen trage. Man Parteitagen, aber als Versatzstück einer Re- weltschutz Lüchow-Dannenberg aus Nie- muss die Leute motivieren, sie ernst neh- gierungserklärung taugte sie auch. Viel- dersachsen. „Es herrscht Verzweiflung“, klagt ihr Sprecher Wolfgang Ehmke, „und Verteidigungsminister Scharping: „Anmut sparet nicht noch Mühe“ ich fürchte, dass sich der ganze Frust beim nächsten Castor-Transport entladen wird.“ Sollten die Grünen in Berlin so weiter- machen wie bisher, will der stellvertreten- de Landrat Kurt Herzog eine „größere Aus- trittsaktion“ initiieren. Noch hofft er auf die Wirkung von Protestmärschen nach altem Muster. Mit Treckern, Bussen und Sonderzügen rückten am vergangenen Sonnabend hun- derte Kernkraftgegner aus Niedersachsen den Regierenden in Berlin auf den Pelz. Doch im Unterschied zu früheren Jahren sind es die eigenen Leute, gegen die sie demonstrierten. Stefan Berg, Jürgen Dahlkamp, Dietmar Pieper, Andrea Stuppe BMVG

26 einer, „ist er zu wie eine Auster (Hände ruhen) und „Zielbewusstsein“ – oder er weiß es selbst nicht“. (Doppelschlag, zweistufig vertikal ausge- Auf jeden Fall glaubt er an führt) – kurz: Scharping. seine moralische Legitimation Die Geste kommt gut, vor allem im für höchste Jobs. Er war immer Fernsehen. Deswegen hat er auch kurz zu- Opfer, nie Täter. Immer ging es vor im Plenum eine Hand auf Schröders um die Sache, nie um ihn selbst. Rücken gelegt und mit der anderen ein Aufs Kanzleramt hat er also ei- paar Karateschläge vollführt. Solche Mätz- nen natürlichen Anspruch.Aber chen macht er natürlich nicht, damit es im der Amtsinhaber muss keine Fernsehen so aussieht, als zeige er dem Angst haben: Kanzler, wo’s langgeht. Obwohl er es weiß. „Gerhard Schröder und ich, „Die Deutschen wollen Stetigkeit und wir reden offen und vertrauens- Zuverlässigkeit.“ voll miteinander.“ Meint er Schröder? Oder den Herrn- Und es hilft. „Meine Hinwei- Kaiser-von-der-Hamburg-Mannheimer-Typ,

C. SHIRLEY / SIGNUM se beginnen zu tragen“, sagt der der vertraute Kohlsche Harmlosigkeit si- Abgewählter Parteichef Scharping (1995)* Könnte-Kanzler knapp. Manch- gnalisiert? Wie der biederplumpe Lud- „Mannheim ist verarbeitet“ mal regiert er sogar mit. Wie wigshafener war Scharping stets das be- neulich in der Koalitionsrunde, vorzugte Opfer von Lästerern. Sein höl- leicht braucht man die bald, schließlich als ihm Schröder einen Text rüberschob, er zerner Gang, sein emotionsloser Ton, die „wird es jede Woche schwerer, die Ver- ein paar Anmerkungen machte und der stieren, zuweilen quälend langen Blicke trauenskrise zu reparieren“. Kanzler anerkennend nickte. Mal ganz nebenbei: „In den Umfragen Wie offen und vertrauensvoll reden bin ich als Einziger nach dem Kosovo- Männer miteinander, die sich seit Jahren in Krieg kaum gefallen“; Schröder dagegen die Beine treten? Das Problem der zum rapide, und Fischer ist gerade dabei. War- Duett geschrumpften einstigen Troika war um? „Fehler über Fehler“. Wessen? Gern stets ihre Ähnlichkeit mit einem Wind- würde er klarer, aber das geht nicht, weil hundrennen: Jeder der drei wollte bewei- er loyal ist, „auch wenn es mich innerlich sen, dass er siegen kann.Wichtig war Kanz- manchmal zerreißt“. ler-Werden, nicht Kanzler-Sein. Scharping hat die Kunstform der unan- Das Spiel ist noch immer nicht aus. Frie- greifbaren Niedermache, eine Mischung den in der SPD ist wohl erst, wenn nur aus hohem Ton und Tücke, perfektioniert. noch einer übrig ist. Der Beginn dieses jah- Spricht der SPD-Vize von „fehlenden relangen Showdowns hieß Mannheim.

Grundlinien“, meint er Schröder, fordert er Doch davon will Scharping nichts wissen: DPA „ein klares Konzept“, erzählt er von sich. „Wer sich von schlechten Erfahrungen Rivalen Scharping, Schröder „Nach 33 Jahren Politik“ weiß er natür- beherrschen lässt anstatt von Hoffnungen „Wir reden offen und vertrauensvoll“ lich, dass die besorgten Appelle an Partei- leiten, der sollte mit der Politik aufhören.“ volk und Vaterland jene Krise perpetu- Ein Scharping lässt sich nicht unterkrie- ins Nichts, der ganze Habitus des grenz- ieren, die er so gern beendet sähe. Was gen. Nicht mal im Sommer 1995, als Schrö- gängerischen Wunderlings, aber auch die- dem Stichler Scharping Doppeldeutiges der praktisch täglich seine Verachtung be- se urdeutsche Zähigkeit. entfährt, kann der Formalist Scharping als kundete, bis Oskar Lafontaine den Waid- Der Radrennfahrer weiß um den Lothar- „allgemeine Kritik“ deklarieren, der Ge- wunden auf dem dramatischen Parteitag Matthäus-Effekt, der schon Kohl zu Gute nosse Scharping als „Sorge um die SPD“. von Mannheim nur noch umpusten musste. kam: Wer lange genug gegen alle Gemein- Die Motive sind edel, ganz ehrlich: Dass der Gedemütigte sich mit dem Vize- heiten anrackert, den gewinnen die Deut- „Wer bei Rudolf Scharping die ‚second Vorsitz beschied und sich fortan als vor- schen doch noch lieb. Leiden lohnt sich – thoughts‘ vermutet, der tut mir Unrecht.“ bildlicher Parteisoldat gab, hat ihm bei den wenn man die Partei nicht vergisst. Scharping hat doch keine Hintergedan- Genossen unendlichen Kredit verschafft. „Einmal fragte : ‚Wie ken. Auf einer „Reißzwecke im Hintern „Mannheim ist verarbeitet“, behauptet kann man das hohe Ansehen des Kanzlers noch herumrutschen“ – nicht sein Stil. Scharping, „und wenn es hochkommt, auf die SPD übertragen?‘ Sagt Willy Aber Fakt ist dennoch, „dass die alte Re- dann auf ermutigende Weise.“ Im kollek- Brandt: ‚Ganz einfach: Die SPD muss gut gierung bei diesem wirtschaftlichen Auf- tiven Gedächtnis der SPD ist ihm die Rol- über dich reden. Das tut sie. Aber du müss- schwung, dem größten nach der Einheit, le des Märtyrers sicher. Seit Lafontaines test auch gut über die SPD reden …‘“ Tag und Nacht Erfolgsmeldungen verbrei- Abgang quält die SPD das schlechte Ge- Klare Analogie: Schröder ist Schmidt, tet hätte. Aber wir gönnen der Opposition wissen wegen der Meuchelei noch mehr. Scharping ist Brandt. Einer wurde sozial- ihre opportunistische Haltung“. Und er schürt es oft und listig: „Die SPD demokratischer Weltstar, der andere gibt Seine Kritik am Erscheinungsbild der Re- ist eine wunderbare Partei – die hat das die „Zeit“ heraus. Kanzler waren beide. gierung und der verwirrten Partei habe aber Herz ihrer führenden Leute verdient.“ Was Und was plant Scharping für den SPD- mit dem Regierungs- und Parteichef rein auch umgekehrt gilt – für ihn zumindest. Parteitag in gut drei Wochen? „Schröder gar nichts zu tun. Das haben diese Medien Aber keine Sentimentalitäten jetzt, es geht muss gestärkt da raus gehen. Es darf auf wieder mal völlig falsch verstehen wollen. um die Zukunft: keinen Fall der Eindruck entstehen, dass Was sich tatsächlich hinter dem Gestus „Niklas Luhmann hat geschrieben: Ver- ich als Chef der Antragskommission den von Ehrlichkeit und Loyalität verbirgt, ist trauen ist ein Mechanismus zur Reduktion Parteivorsitzenden korrigiere.“ Natürlich selbst langjährigen Vertrauten ein Rätsel. sozialer Komplexität. In dieser Regierung nicht. Was Scharping wohin treibt, verrät er nicht muss es doch Leute geben, die diese Kom- Scharping lacht seltsam. Da naht ein mal im engsten Kreis. Entweder, mutmaßt plexität sehen und umsetzen.“ Mitarbeiter. „So, Rudolf, jetzt müssen wir Und das tut vor allem einer. „Klarheit“ wieder ein bisschen regieren.“ Scharping * Auf dem Mannheimer Parteitag mit Herta Däubler- (vertikale Handkante), „Souveränität“, strahlt und strebt ins Plenum: „Dann ma- Gmelin (l.) und Johannes Rau (r.). (horizontale Handkante), „Konzentration“ chen wir das jetzt mal.“ ™

der spiegel 46/1999 27 Deutschland

Ob Diepgen wohl „ein Problem mit der neuen Rolle im wieder vereinigten Deutschland“ habe, fragte der Berliner „Tagesspiegel“. Die „taz“ hat erkannt: „Diepgens Auftreten leidet unter der schwindenden Souverä- nität seines Amtes“, und verlieh ihm den Titel „Re- gierende Leberwurst“. Auch dem Kanzleramt bereitet der Berliner Re- gierungschef zunehmend Probleme. Als „ärgerlich und lästig“ kamen dort Diepgens unablässige Ver- suche an, bei der Deka- denfeier zum 9. Novem- ber stets im rechten Licht zu strahlen. Der Bürgermeister hatte

DPA seinen Stab in den Tagen Jubiläumsgäste Kohl, Bush, Gorbatschow, Gastgeber Diepgen (2. v. r.): Letztes Gefecht vor dem Festakt „fast in den Wahnsinn“ getrieben, Kosten übernahm offenbar auch der wie ein gequälter Mitarbeiter berichtet. BERLIN Getränkekonzern Coca-Cola, der mit Bush Obgleich eine gemeinsame Arbeitsgruppe als besonderem Ehrengast aus Anlass aus Bundes- und Staatsbediensteten seit Hase und Igel des Mauerfall-Jubiläums im Hotel Adlon nahezu einem Jahr das Großereignis vor- feierte. bereitet hatte, warf Diepgen die Planungen Der Regierende Bürgermeister, Seitdem Deutschland von Berlin aus re- mit seinen Sonderwünschen immer wie- giert wird, reduziert sich Diepgens Rolle der um. zum Fest des Mauerfalls unaufhaltsam auf das Normalmaß eines Aufgeregt hätten Senatsmitarbeiter im- noch in Jubelpose, gerät auf der Schultheiss. Amtsvorgänger Walter Mom- mer neue Programmabläufe erstellt, „bis Bühne Berlin immer per durfte im Oval Office des Weißen Hau- nichts mehr passte“. Am Wichtigsten, er- mehr zur zweiten Besetzung. ses noch mit einem amtierenden US-Prä- zählt ein Betroffener, „war die Frage, ob und sidenten über die Perspektiven der einsti- wie es der Regierende Bürgermeister schafft, er „Junge aus dem “ wirkt gen Frontstadt diskutieren. Nachfolger gemeinsam mit dem Bundeskanzler anzu- an diesem Tag, als sei er einer der Diepgen dagegen tanzt mit zehnjährigen kommen und auf das Podium zu steigen“. DGlücklichsten der Welt. „Mauerfallkindern“ im Rathaus um eine Zur Verleihung der Berliner Ehrenbür- Eberhard Diepgen darf sich für einige Riesentorte oder macht die Honneurs bei gerwürde an George Bush im Roten Rat- Minuten vom Mantel der Geschichte um- der Verleihung des „Goldenen Lenkrads“. haus vergaß das Stadtoberhaupt, Schröder wehen lassen. Vom Balkon des Roten Rat- Beim Wettlauf um Macht und Aufmerk- eine Einladung zukommen zu lassen. Ob- hauses winken die einst mächtigsten Män- samkeit in der neuen Metropole geht es wohl den Kanzler die Tagespolitik ohnehin ner ihrer Zeit, George Bush und Michail dem Regierenden dabei immer häufiger am Kommen gehindert hätte – er traf sich Gorbatschow – und Berlins Regierender wie Meister Lampe in der Parabel vom Ha- in Paris mit den Kollegen Jospin und Bürgermeister steht auf gleicher Augen- sen und dem Igel: Kanzler Gerhard Schrö- Blair –, bewertete das Kanzleramt die Nicht- höhe. der ist stets früher da. Ob bei der Eröffnung einladung als „ziemlich unangemessen“. Am Tag nach den offiziellen Feiern zum des neuen BMW-Konzernbüros, dem Als geradezu „kleinkariert“ wurde zehnten Jahrestag des Mauerfalls sonnen Richtfest der Alten Nationalgalerie oder Diepgens Fehlen bei der Feierstunde zum sich die ehemaligen Staatsgrößen aus den einem öffentlichen Bundeswehrgelöbnis – Fall der Mauer am 9. November im Bun- USA und der UdSSR, flankiert von Ex- der Bürgermeister musste ins zweite Glied destag wahrgenommen. Er hatte seine Kanzler – vom Protokoll ent- zurück. Stellvertreterin, Finanzsenatorin Annette sprechend ihrer Namensinitialen kurz Der inzwischen neben Fugmann-Heesing (SPD), geschickt. Der in „KGB“ getauft –, erfreut im spärlichen Ap- (Thüringen) dienstälteste deutsche Regie- Regierungskreisen vermutete Grund: Der plaus. Und im Kreis der Politrentner führt rungschef wehrt sich auf subtile Art gegen Regierende Bürgermeister durfte im der Mann, der nach insgesamt 14 Jahren die Machterosion: War er bisher stolz farb- Reichstag nicht reden. Amtszeit so tut, als gehöre ihm die Stadt al- los („Blässe ist mein Markenzeichen“), ver- Bei der Jubelparty am Brandenburger lein, sein letztes Gefecht gegen das Ab- legt Eberhard Diepgen sich neuerdings aufs Tor am gleichen Abend dürfte sich Diepgen gleiten in die Bedeutungslosigkeit. Scherzen. wohl ein letztes Mal gleichberechtigt mit Den staatsmännischen Überbau durch Im sensiblen Streit mit den sich immer Schröder im Scheinwerferlicht der Weltöf- die Altvorderen Gorbatschow und Bush noch als Besatzer gerierenden Amerika- fentlichkeit präsentiert haben. Der Rock- bekamen die Veranstalter der Wende-Fei- nern um die Sonderwünsche beim Bot- Barde Udo Lindenberg sprach dem Politi- er praktisch kostenlos. Der Amerikaner schaftsbau am Brandenburger Tor witzel- ker Mut zu: „… schreib die Gesetze und der Russe waren wegen der Dezen- te der Christdemokrat, vielleicht könne neu/und bleibe nur dir selber treu/der Cra- niumsfeier seit langem als Gäste des Axel- man ja neben der Diplomatenburg noch zyman geht mit lockerem Gang/untern Springer-Verlags nach Berlin gebeten wor- eine McDonald’s-Filiale am Pariser Platz grünen Linden lang“. den, zusammen mit Helmut Kohl.Anteilige bauen. Der US-Botschafter schäumte. Wolfgang Bayer, Steffen Winter

28 der spiegel 46/1999 Werbeseite

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Thyssen-Panzer „Fuchs“ bei der Verladung: Kollektive Gedächtnislücken bei den Christdemokraten Goldgräber in Kriegszeiten Der Skandal um die Millionenspende des Waffenhändlers Schreiber an die Union könnte sich zu einer Staatsaffäre auswachsen. Der Verdacht erhärtet sich: Das Geld beförderte offenbar den Verkauf von Panzern an Saudi-Arabien. Ist Politik in Deutschland käuflich?

er eine ließ sich feiern. Er genoss chenriesen Siemens in Sacramento besich- Hofmann, ein ehemaliger Zielfahnder aus vergangene Woche die Huldigun- tigt, erwog Kiep ernsthaft, die Reise abzu- dem Bundeskriminalamt, zu Protokoll. Dgen als Kanzler der Einheit. Im brechen. Die Nachrichten aus der Heimat Und der Grüne Christian Ströbele, von Be- Bundestag sprach er am zehnten Jahrestag klangen ziemlich ernst. ruf Anwalt, machte „eine neue Dimension des Mauerfalls, abends dinierte Helmut Während der Mann, der als CDU-Schatz- der Parteienkorruptheit“ aus. Kohl, 69, mit den früheren Präsidenten der meister unter dem Parteivorsitzenden Kohl Der CDU-Ehrenvorsitzende Kohl war Supermächte, George Bush und Michail 21 Jahre für die Geldbeschaffung zuständig im Parlament erst gar nicht erschienen. Für Gorbatschow. war, schon mal die schnellsten Rückflug- die Union musste der Justiziar Andreas Der andere war schon wieder auf Ak- möglichkeiten sondierte, versammelten sich Schmidt ran. Zur Aufklärung konnte er quisitionstour., 73, be- im Berliner Reichstag die Bundestagsabge- nichts beitragen, der rot-grünen Regierung ackerte die amerikanische Westküste. Ge- ordneten. Es galt, ein finsteres Kapitel aus warf er vor, „durch Gerüchte und Unter- meinsam mit Beamten aus dem Außen- der gemeinsamen Vergangenheit des Partei- stellungen von ihrer desaströsen Politik ab- und dem Wirtschaftsministerium sollte der Patriarchen und seines Kassenwarts zu de- zulenken“. Boden für neue Investitionen deutscher battieren: die Frage, ob im System Kohl po- Noch immer kann oder will die CDU Firmen bereitet werden. Am vergangenen litische Entscheidungen käuflich waren. nicht erklären, warum der bayerische Waf- Mittwoch, der rastlose Lobbyist und seine Er fühle sich „wie in einem schlechten fenhändler 1991 Kiep Helfer hatten gerade die Filiale des Bran- Krimi“, gab der SPD-Abgeordnete Frank und dem Kohl-Vertrauten Horst Weyrauch

32 der spiegel 46/1999 einen Koffer mit einer Million Mark Der neue Parteichef Wolfgang zukommen ließ. Schäuble und seine Generalse- Der Verdacht, es sei Schmiergeld kretärin gaben sich für das Zustandekommen eines um- zwar weniger patzig und gelobten strittenen Panzer-Deals mit Saudi- „rückhaltlose Aufklärung“ – aber Arabien gewesen, verstärkte sich in sie wirkten, als würden sie die der vergangenen Woche noch ein- Affäre am liebsten nach alter Kohl- mal. Und die CDU geriet schwer Manier einfach aussitzen wollen. unter Druck. Ihre Version, von der Die misstrauische Merkel („Alles anrüchigen Spende nie gehört zu was ich bisher gehört habe, erstaunt haben, ist kaum glaubwürdig. mich auf das Äußerste“) begann Das zunächst auf einem CDU- schon mal vorsichtig mit einer Anderkonto geparkte Geld wurde Absetzbewegung: „Die heutige von Kiep ganz offiziell in seiner Ei- Parteiführung war damals nicht die genschaft als Schatzmeister der Par- amtierende Parteiführung.“ tei an verdiente CDU-Männer ver- Aber auch jene, die mit Kohl da- teilt. Die Sonderzahlungen wurden mals schon dabei waren, erinnern dann über das Gehaltskonto eines sich an nichts. Volker Rühe, zur CDU-Angestellten und das Ge- Spendenzeit Generalsekretär, ver- schäftskonto eines CDU-Beraters weist darauf, dass ihm „die Schatz- abgewickelt. meisterei nie unterstanden“ habe. Und sicher ist auch, dass Schrei- Kieps direkte Nachfolgerin Brigitte ber, der sich als Lobbyist um Baumeister, Schatzmeisterin vom die Ausfuhrgenehmigung für 36 26. Oktober 1992 bis Herbst ver-

„Fuchs“-Panzer aus der Waffen- H. DARCHINGER J. gangenen Jahres, beteuert: „Ich schmiede Thyssen bemüht hatte, CDU-Schatzmeister Kiep (1980) habe von dieser Million nichts ge- Kiep einspannte. Der sollte auf die Treffen „13 Uhr 3 Ländereck“ wusst.“ Und der heutige Schatz- unionsgeführte Bundesregierung meister beklagt, Einfluss ausüben. Die Million floss nur Journalisten, die den Altkanzler ver- „aus den entscheidenden Jahren“ gebe es sechs Monate nach Erteilung der Ausfuhr- gangene Woche nach der Panzer-Million „keine Unterlagen mehr“.Vielleicht sind es genehmigung. fragten, wurden brüsk abgefertigt: „Sie weder kollektive Gedächtnislücken noch So viel steht fest: Die Operation „Fuchs“ können noch so ein Spurensicherungs- fehlende Akten, vielleicht mangelt es nur stinkt gewaltig. Bis zum vergangenen Frei- gesicht machen, es ändert nichts an der am Aufklärungswillen. tag schien es so, als litten alle Christdemo- Tatsache: Wir haben von dieser Sache Jedenfalls existiert in den Unterlagen kraten kollektiv an jenem Virus, das ihren nichts gewusst.“ Und einen zweiten fuhr er ein Brief Kieps an einen seiner verdienten Übervater Kohl vor Jahren schon bei den an: „Sie wollen eine Verleumdung starten, Mitarbeiter, dem er einen Teil der Million Anhörungen zum Flick-Parteispenden- das sehe ich Ihrem Gesicht an. Verschwin- letztlich ausgezahlt haben will. Auf Papier Skandal befallen hatte. Seitdem der Kanz- den Sie jetzt.“ Auch im Parteipräsidium mit offiziellem Briefkopf („Der Bundes- ler dort Gedächtnislücken für sich rekla- fasste sich Kohl kurz: Die Lieferung sei mit schatzmeister der CDU“) kündigte Kiep mierte, ist der „Black-Out“ zum Synonym der Nato abgestimmt gewesen. Alles in am 16. Oktober 1992 seinem langjährigen für politische Amnesie geworden. Ordnung. Niemand fragte nach. Generalbevollmächtigten Uwe Lüthje den Geldsegen an. Lüthje, einst ein mächtiger Mann im Konrad-Ade- nauer-Haus, der Zentrale der Union, hatte zusammen mit Kiep in der Flick-Affäre wegen Beihilfe zur Steuerhinterziehung auf der Ankla- gebank des Düsseldorfer Landge- richts gesessen. Beide kamen am Ende ohne Verurteilung davon. Der Brief spricht dafür, dass es sich bei der Zahlung kaum um ei- nen Alleingang Kieps, wie die CDU vergangene Woche gebetsmühlen- artig wiederholte, gehandelt hat, schon gar nicht um eine Geheim- Operation. In dem Schreiben heißt es in schönster Offenheit:

Lieber Herr Dr. Lüthje, mit dem Düsseldorfer Parteitag der CDU vom 25. bis 28.10.1992 geht un- sere 21-jährige Zusammenarbeit zu Ende. Ich möchte Ihnen an dieser Wendemarke sehr, sehr herzlich für Ihren engagierten Einsatz, Ihren Ideenreichtum und die souveräne M. DARCHINGER Altkanzler Kohl*: „Sie wollen eine Verleumdung starten, verschwinden Sie“ * Am Montag vergangener Woche in Berlin.

der spiegel 46/1999 33 Titel

Geschäftsführung innerhalb der Bundes- die in den achtziger Jahren die Republik Gegenüber dem SPIEGEL zeigte sich schatzmeisterei danken. Ich werde darauf erschütterte. Der Konzern hatte, wie Ma- Empfänger Lüthje vergangene Woche ver- bei anderer Gelegenheit und in anderem nager Eberhard von Brauchitsch sich aus- wundert über die Dementis aus Berlin: Rahmen noch ausführlich zurückkommen. drückte, Bares zur Pflege der politischen „Ich bin fest überzeugt, dass Kiep seine Vor der offiziellen Beendigung meines Am- Landschaft ausgeschüttet, um sich die Obe- Nachfolgerin Baumeister damals informiert tes möchte ich Ihnen aber noch mitteilen, ren gewogen zu machen. Union und FDP hat. Ich war zwar nicht dabei, aber so et- dass ich es nicht nur bei einem Wort des hatten die Herkunft von Millionenzahlun- was machte Herr Kiep nie allein.“ Dankes belassen möchte, sondern mich gen aus der deutschen Industrie, darunter Auf seinen Ex-Chef ist Lüthje ebenfalls auch entschlossen habe, Ihnen eine Son- aus dem Flick-Konzern, systematisch ver- nicht gut zu sprechen: „Ich bin außer mir der- und Schlussvergütung, wie immer Sie schleiert – bis das System der illegalen Par- vor Empörung, dass Kiep jetzt fröhlich es nennen und sehen mögen, in Höhe von teienfinanzierung durch die Sisyphusarbeit durch die USA reist und seine Partei zu DM 370 000 zukommen zu lassen. einiger Steuerfahnder und Staatsanwälte Hause im Dreck sitzen lässt.“ Ich möchte Ihnen damit zum Ende unse- aufflog. Auch die Staatsanwaltschaft , rer Zusammenarbeit eine besondere Freu- Auch jetzt mehren sich die Zweifel an die durch ihre Ermittlungen gegen Schrei- de bereiten, die gewiss nicht alle Unbill in der Version der Union. Ströbele erinnerte ber die Spendenzahlung aufdeckte, moch- den zurückliegenden Jahren abgelten oder das Schweigen der „Partei der Wiederho- te nicht länger auf die zunächst für ver- gar vergessen machen kann, die Ihnen lungstäter“ an Mafia-Usancen: „In Italien gangenen Freitag angekündigte und dann aber doch den beginnenden und hoffent- nennt man das wohl ,omertà‘.“ Für den auf kommenden Mittwoch verschobene lich lange andauernden neuen Lebensab- SPD-Mann Hofmann ist der Vorgang, freiwillige Aufklärung des Vorgangs durch schnitt erleichtern und verschönern möge. „wenn er so ist, wie wir es uns jetzt vor- Weyrauch und die CDU warten. Vergan- stellen können, Organisierte Kriminalität – genen Donnerstag erschienen Augsburger Nicht der geringste Hinweis, über die nicht unbedingt in ihrer strafrechtlich, wohl Staatsanwälte in Weyrauchs Kanzlei in der Tantiemen zu schweigen, findet sich in dem aber in ihrer politisch und gesellschaftlich Friedensstraße im Frankfurter Banken- Dokument. Stattdessen steht unter dem schlimmsten Form.“ viertel und in seiner Privatwohnung. Beim Brief der Vermerk, dass eine Ko- Bankhaus Hauck & Aufhäuser forderten pie des Schreibens „die Wey- sie ebenfalls Einlass. rauch und Kapp GmbH erhält, Fast zeitgleich fuhr auch vor Lüthjes die ich bitten werde, die ord- Haus in St. Augustin bei Bonn ein Pkw mit nungsgemäße finanzielle und 36,9 Augsburger Kennzeichen vor. Darin saßen steuerliche Abwicklung der Zah- eine Staatsanwältin und zwei Steuerfahn- lung zu übernehmen“. 24,9 26,1 der aus Bayern. Lüthjes Ehefrau wollte ge- In der Steuer- und Wirt- 17,6 rade zum Einkaufen, doch die Fahnder ba- schaftsprüfer-Kanzlei Weyrauchs 14,7 ten sie zurück ins Haus. Sie kochte erst werden bis heute die Gehalts- 11,2 mal eine Tasse Kaffee für die von weither abrechnungen und Personal- 4,2 angereisten Besucher. akten der leitenden CDU-Mitar- Als die Fahnder ihren Durchsuchungs- beiter bis hin zur Generalse- 1988 8990 91 92 93 94 95 96 97 beschluss vorlegten, ging Lüthje zu seinem kretärin abgewickelt. Weyrauch –7,7 Tresor im Keller und holte Unterlagen: sei- verwaltet die Gehaltsakten nur Aufpolierte ne eigenen Steuererklärungen, den Brief treuhänderisch, die CDU ist der von Kiep und weitere Schriftstücke aus sei- Treugeber. Ihr gehören sie, sie Union ner Zeit als Generalbevollmächtigter der hat jederzeit Zugriff darauf. Sie –31,9 Das Parteivermögen Bundesschatzmeisterei. Einen Teil der Pa- muss nur wollen. der CDU in Millionen piere nahmen die Beamten gar nicht mit, In der Personalakte Lüthjes Mark die hatten sie schon beim für den einstigen muss sich der Vorgang nach des- –42,5 CDU-Funktionär zuständigen Finanzamt sen Angaben ebenfalls finden abgeholt, wo die Sonderzahlungen laut lassen – genauso in den Akten Lüthje versteuert worden waren. der Schatzmeisterei. Schließlich Dafür beschlagnahmten sie sei der Bonus von 370000 Mark, eine Mappe mit Unterlagen so Lüthje, ordnungsgemäß auf über das Treuhandkonto seiner Gehaltsabrechnung ver- „TAK CDU BSM“ (Treu- merkt und beim für die CDU zu- hand-Anderkonto CDU-Bun- ständigen Finanzamt Bonn ver- desschatzmeisterei). Wey- steuert worden. rauch hatte diese Mappe Der Brief belegt, wie dünn in- schon zusammengestellt, aber zwischen das Eis für die CDU – warum auch immer – nicht geworden ist. Fassungslos disku- wie versprochen der Staats- tieren die Abgeordneten aller anwaltschaft übergeben, son- Couleur in kleinen Zirkeln auf dern beim alten Kumpel den Fluren des Reichstags die Lüthje einen Satz Kopien de- Frage: Gibt es so etwas in poniert.Weyrauch und Lüthje Deutschland schon wieder – ge- hatten sich tags zuvor getrof- kaufte Politik? fen, um über das Krisenma- In Berlin ist dieser Tage viel nagement zu beraten. „Wir von der Flick-Affäre die Rede, hatten den Eindruck, dass man uns gegenüber auf Zeit spielt“, erklärte der Augsbur- * Während einer Sitzungspause beim Par- teispendenprozess vor dem Düsseldorfer / TRANSPARENT H. HAGEMEYER ger Behördenleiter Reinhard Landgericht 1998. CDU-Helfer Weyrauch, Lüthje*: „So etwas macht Herr Kiep nie allein“ Nemetz den Zugriff.

34 der spiegel 46/1999 Der Panzer-Deal

2. August 1990 Invasion Iraks in Kuweit Alle Papiere legen nahe, dass die Alle Versuche des SPIEGEL, die Million zumindest größtenteils wohl 7. September 1990 Vertreter Saudi-Arabiens und der Firma Union mit den hier geschilderten De- Thyssen treffen sich bei dem Waffenhändler und Vermittler tatsächlich jenen Weg genommen Schreiber zu einem ersten Gespräch über die Lieferung von tails des Spendenvorgangs zu kon- hat, den Kiep und Weyrauch am vor- 36 Fuchs-Panzern frontieren, wurden von der Partei- vergangenen Freitag vor der Unter- spitze abgeblockt. Motto: Weil man suchungsrichterin des Amtsge- September 1990 Wirtschaftsministerium und Auswärtiges ja nichts wisse, könne man auch richts Königstein geschildert hatten Amt lehnen die Lieferung ab nichts sagen. Parteichef Schäuble hat- (SPIEGEL 45/1999). Danach war 4. Oktober 1990 Verteidigungsstaatssekretär Pfahls macht te angeordnet: „Nur nicht in einen Weyrauch auf Weisung Kieps am 26. Druck beim Kanzleramt und bittet, „in geeigneter vielstimmigen Chor verfallen.“ August 1991 ins schweizerische St. Weise auf die Haltung des Auswärtigen Amtes Einfluss“ Die Zurückhaltung ist verständlich. Margrethen im Dreiländereck am zu nehmen Wenn es ums Geld geht, war die Par- Bodensee gefahren. Kiep kam aus 17. Januar 1991 Die Saudis schließen mit Thyssen einen tei nie zimperlich. Welche Methoden seinem Ferienhaus im schweizeri- Vertrag über die Lieferung von 36 Fuchs-Panzern. Die Alliier- im Keller der Union herrschten, war schen Lenzerheide dazu. Die beiden ten greifen unter Führung der USA den Irak an stets nur einem kleinen Kreis be- trafen sich mit Schreiber, der um kannt. Zwischen Kiep und Kohl war 13.06 Uhr in der Filiale St. Mar- 20. Februar 1991 Schreiber bittet CDU-Schatzmeister Kiep, das Verhältnis nicht das Beste, aber bei Kohl zu Gunsten der Panzer-Ausfuhr zu intervenieren grethen des Schweizerischen Bank- der Rekord-Kanzler hatte, wenn er vereins zunächst eine größere Abhe- 27. Februar 1991 Der Bundessicherheitsrat stimmt der wollte, stets über seinen Vertrauten bung vornahm. Schreiber hatte in Ausfuhr aller 36 Panzer zu Weyrauch Einblick in die Geschäfte seinem Kalender für diesen Tag „13 2. August 1991 Thyssen überweist der Firma ATG der schwarzen Geldbeschaffer. Uhr LK EK Zentrum“ eingetragen. eine erste Rate von 11 Millionen Mark für Provisionen Die Dreiteilung klappte lange per- EK steht für das Einkaufszentrum und Schmiergelder fekt. Der feine Hanseat Kiep akqui- Rheinpark, wo die drei Herren sich rierte in den Vorstandsetagen, Lüthje trafen. Kiep notierte: „13 Uhr 3 Län- 26. August 1991 Schreiber übergibt dem Kohl-Vertrauten besorgte die Abwicklung. Weyrauch Weyrauch in der Schweiz im Beisein Kieps eine Million Mark dereck“. in bar war stets kreativ, wenn es darum ging, Weyrauch trug der Richterin vor, Gelder so zu verbuchen, dass es dem Schreiber habe ihm „einen Betrag 27. August 1991 Weyrauch deponiert das Geld auf einem Steuerrecht und dem verschärften von einer Million Mark in einem ver- Treuhandkonto zu Gunsten der CDU bei der Hauck-Bank in Parteiengesetz noch entsprach. schlossenen Behältnis übergeben. Es Frankfurt/Main Aus Sondertöpfen entnahm Kohl handelte sich um eine so genannte Oktober 1992 Kiep verteilt die Schreiber-Spende an seinen bei Bedarf Geld, um Aktionen zu be- Parteispende“. Nach seiner Rückkehr Generalbevollmächtigten Lüthje (370000 Mark) und die Fir- zahlen, die im Grenzbereich von Re- von St. Margrethen nach Frankfurt ma des Kohl-Vertrauten Weyrauch (421800 Mark); der Rest gierung und Partei spielten. Jene am Main habe er sie „auftragsgemäß“ (etwas über 300000 Mark) geht offenbar an Kiep selbst 700000 Mark Porto etwa kamen aus beim Bankhaus Georg Hauck & Sohn dieser Kasse, als Kohl 1987 allen eingezahlt. CDU-Mitgliedern in einem persönli- Das feine Institut in der Kaiserstraße, ma sowie an Lüthje verteilt. Von einem chen Brief seine Haltung zur Steuerreform das mittlerweile Hauck & Aufhäuser heißt, weiteren Empfänger sagten sie der Ermitt- gegen Angriffe aus den eigenen Reihen ver- ist die Hausbank der Christdemokraten. lungsrichterin nichts. „Sondervergütungen teidigte. Auch Hubschrauberflüge des Hier landen auch die offiziellen Partei- für die lange Zeit der Zusammenarbeit und Kanzlers und CDU-Chefs wurden so fi- spenden der Union auf den Sammelkonten für besondere Erschwernisse“, nannte nanziert. „Bundesschatzmeisterei (BSM) 1“ und Weyrauch in der Vernehmung die Freige- Als Kiep und Lüthje gehen mussten, „Bundesschatzmeisterei (BSM) 2“. bigkeit des Gentleman Kiep. durfte Weyrauch bleiben – bis heute. Der Auf diesen Konten aber kam die Schrei- Doch vermutlich war der Herr des Gel- Mann hat schließlich große Verdienste. Mit ber-Million nie an. Stattdessen tauchte sie, des keineswegs ganz so uneigennützig, wie seiner Hilfe gelang es Kohl, seine 1989 noch wie aus den bei Lüthje und Weyrauch von ihm und Weyrauch dargestellt. Denn mit 42,5 Millionen Mark verschuldete sichergestellten Unterlagen hervorgeht, auf neben den 370000 Mark für Lüthje und Partei zu sanieren. 1997 standen längst dem Konto Nr. 4115602403 mit der Be- 421800 Mark an Weyrauchs Firma gab es schwarze Zahlen in der Bilanz. Zum 31. zeichnung „CBN/891“ auf. Das Kürzel offenkundig einen Dritten, der von der Dezember vorvergangenen Jahres wies die steht für „CDU Bonn“, eröffnet im August Schreiber-Million profitierte: Kiep selbst. Partei ein Reinvermögen von 36,9 Millio- 1991.Weyrauch legte es einen Tag nach der Nach Aktenlage leitete der Schatzmeis- nen Mark aus. Allein aus der Kasse der Geldübergabe in der Schweiz, am 27. Au- ter den Rest, rund 300000 Mark, mögli- Ost-CDU und der Demokratischen Bau- gust 1991, als eben jenes „Treuhandkonto cherweise über Umwege, offenbar in die ernpartei flossen Anfang der neunziger zugunsten der CDU“ an. eigene Tasche, um damit Jahre 13 Millionen Mark an die Union. Darauf lagerte die Million, seine Verteidigerkosten im Um die Partei zu sanieren, schreckte als Festgeld zu einem Zins Parteispendenverfahren zu Weyrauch nicht einmal davor zurück, von über neun Prozent finanzieren. Das war im Drückerkolonnen einzusetzen, die von je- günstig angelegt. Fast 14 Oktober 1992 gerade zu der Spendenmark bis zu 45 Pfennig als Monate lang passierte Ende gegangen. Während Provision kassierten. Die Mäzene hatten nichts. bei Lüthje und Weyrauch hiervon keine Ahnung. Erst als sich Kieps Ende als sicher gilt, dass sie ihre Aber eine Million Bares im Koffer ist als Schatzmeister abzeich- Sonderzahlungen versteu- von ganz anderem Kaliber. Kiep wollte aus nete, wurde über das Treu- erten, bleibt bei Kiep noch den USA zur Aufklärung nichts weiter bei- handkonto, das durch die die Frage: Hat er das Geld tragen. Nur so viel: So etwas sei gemeinhin Zinsen auf rund 1,1 Millio- beim Fiskus angegeben? selbst in der CDU „nicht üblich“ gewesen. nen angewachsen war, ver- Als das Treuhandkonto Mehr will er erst diese Woche vor den fügt. Nach Kieps und Wey- „CBN/891“ am 22. Okto- Augsburger Ermittlern aussagen. rauchs Version wurde das ber 1992 „restabgewickelt“ Nach deren Feststellungen stammt die Geld kurz vor Kieps Aus- wird, sind gerade noch ma- Million im Koffer von einem Schweizer scheiden an Weyrauchs Fir- SPIEGEL-Titel 44/1984 gere 449 Mark übrig. Konto der Firma ATG Investment Ltd. Inc.

der spiegel 46/1999 35 Titel

Max Josef Strauß, Sohn des einsti- ABC-Spürfahrzeuge, 8 Ambulanzen, 14 gen CSU-Chefs und bayerischen Mannschaftstransporter sowie 4 Komman- Ministerpräsidenten Franz Josef dofahrzeuge. Nur die 18 Spür- und Ambu- Strauß, habe 500000 Mark kassiert. lanztanks galten angesichts des Golfkriegs Beide bestreiten dies. als relativ unproblematisch. Die andere Half das Geld tatsächlich, den Hälfte, urteilte selbst das in Exportfragen Weg zur Ausfuhrgenehmigung Nr. stets liberale Wirtschaftsministerium noch 0715987 vom 12. März 1991 zu eb- am 22. Februar 1991, seien „zum gegen- nen? Die Staatsanwälte können die wärtigen Zeitpunkt kaum als genehmi- Entscheidung der Kohl-Regierung gungsfähig anzusehen“. Deshalb empfahl nicht ganz rekonstruieren. Nur es am selben Tag in der vertraulichen Vor- bruchstückhafte Unterlagen aus lage für die Sitzung des Bundessicher- den Ministerien liegen bei den Er- heitsrats am 27. Februar, die Ausfuhr der mittlungsakten – etwa Vorlagen für 18 Spür- und Ambulanzfahrzeuge zu ge- den Bundessicherheitsrat, in dem nehmigen „und die Anträge für 14 Mann- der damalige Kanzler Kohl nebst schaftstransporter Fuchs sowie 4 Kom- seinem Außenminister Hans-Diet- mandofahrzeuge Fuchs zum gegenwärti- rich Genscher (FDP), Wirtschafts- gen Zeitpunkt abzulehnen“. minister Jürgen Möllemann und In den kommenden Tagen kippte in Möl- Verteidigungsminister Gerhard lemanns Amt jedoch diese Sichtweise, der Stoltenberg (CDU) über das Ge- Entscheidungsvorschlag wurde – von wem schäft entschied. auch immer – handschriftlich geändert. Das Protokoll der Sitzung vom Am Tag der Abstimmung lag Kohl und 27. Februar 1991 – an diesem Tag seinen Ministern der Entscheidungsvor- stimmte Kohls Kabinett dem Pan- schlag mit dem Aktenzeichen 10 17 83/20 zer-Geschäft zu – gilt noch immer aus dem damals für Kriegswaffen zustän-

J. H. DARCHINGER J. als geheim. Die Bitte der Fahnder, digen Referat IV C 6 des Wirtschaftsmi- CDU-Zentrale in Bonn: „Nichts gewusst“ es für die Ermittlungen zur Verfü- nisteriums vor. Unter der Rubrik „Res- sortvoten“ ist der anhal- mit Sitz in Panama. tende Widerstand aus „Wirtschaftlich Berech- Genschers Amt do- tigter“ des Kontos beim kumentiert: „Das AA Schweizerischen Bank- stimmt einer Ausfuhr- verein – das halten die genehmigung für die Staatsanwälte für „be- ABC-Spürfahrzeuge und wiesen“ – war der Waf- die Ambulanzfahrzeuge fenhändler Schreiber. zu, im übrigen lehnt es Der Kauferinger Ge- die Genehmigungsertei- schäftsmann war den Er- lung ab.“ mittlungen zufolge einer Genscher reklamiert derjenigen, der die selbst bis heute für sich, im für diese Branche über- Bundessicherheitsrat nie aus üppigen 219,7 Millio- überstimmt worden zu nen Mark Schmiergeld sein. Das kann nur be- verteilte, die der Thyssen- Korrigierter „Entscheidungsvorschlag“: Wer änderte den Text? deuten, dass jemand noch Konzern auf den Panzer- im Vorfeld der Entschei- Preis von 226,7 Millionen Mark aufschlug, gung zu stellen, lehnte das Kanzleramt am dung auf den sich sperrenden Außenminis- um sie den segensreichen Helfern des 28. Oktober 1997 ab. Um sich nicht mit al- ter eingewirkt haben muss – aber wer? Deals zukommen zu lassen. „Kriegszeiten ler Welt anzulegen, ließen die Augsburger Bewiesen ist, dass Pfahls das Kanzler- sind eben Goldgräberzeiten“, weiß der die Idee fallen, sich das Geheimpapier per amt ersuchte, „in geeigneter Weise auf die ehemalige Wirtschaftsminister Jürgen Möl- Durchsuchungsbeschluss aus der Regie- Haltung des Auswärtigen Amtes Einfluss“ lemann (FDP). rungszentrale zu holen. zu nehmen, und dass er – selbst gegen den Dabei folgte auch der Panzer-Deal der Auch Nachforschungen der damals Be- zeitweiligen Widerstand seines eigenen Faustregel der Korruption: Besteller und teiligten blieben ohne konkretes Ergebnis. Ministers – auf das komplette Geschäft Lieferant einigen sich, den Kaufpreis auf- Möllemann, der in seinem ehemaligen Mi- drängte. Und auch Schreiber nutzte seine zublähen und das zusätzliche Geld auf nisterium noch einmal um Prüfung der Ak- Kontakte. Eine Woche vor der entschei- dunklen Kanälen wieder an die Mächtigen ten bat, erinnert sich an keine besonderen denden Sitzung bat er Kiep schriftlich, das zu verteilen, die den Auftrag möglich Schwierigkeiten: „Da mussten nicht viele gute Geschäft, das sich zu halbieren droh- machten. 24,4 Millionen Mark soll allein überzeugt werden.“ te, durch eine eilige Intervention bei Kohl Schreiber für solche Zwecke erhalten und Genscher bat vergangenen Donnerstag zu retten. dann größtenteils weitergereicht haben. gleichfalls im Auswärtigen Amt (AA) um Schreiber machte Genschers Politik ma- Nach Überzeugung der Staatsanwalt- erneute Durchsicht. Aber dort waren die dig; sie habe „dem hohen Ansehen des schaft Augsburg schmierte der Waffen- Dokumente wegen des immer noch lau- Bundeskanzlers eher geschadet als händler mit den Thyssen-Geldern aber fenden Umzugs von Bonn nach Berlin so genützt“. Gleichzeitig warnte er, Riad sei auch eine ganze Reihe Politiker hierzulan- schnell nicht zu finden. verärgert: „Die Verstimmung steht im Zu- de. 3,8 Millionen Mark soll der ehemalige Aus bisher bekannten Aktenstücken sammenhang mit dem Wunsch der saudi- Staatssekretär im Bundesverteidigungsmi- lässt sich folgender Ablauf rekonstruieren: arabischen Regierung, von der Bundesre- nisterium, Ludwig-Holger Pfahls, inzwi- Thyssen wollte 36 Fuchs-Panzer in vier ver- gierung unverzüglich gepanzerte Schutz- schen auf der Flucht, erhalten haben.Auch schiedenen Ausführungen verkaufen – 10 fahrzeuge vom Typ Fuchs zu erhalten.“

36 der spiegel 46/1999 Untersuchungsausschus- fern kann sich die Partei gar nicht leisten. ses unter Verdacht stellt. Die drei kämen dann womöglich ins Plau- Aber gleichzeitig fürchtet dern. das Kanzleramt, die Be- Als Alternative zum Untersuchungsaus- schäftigung mit ausge- schuss gilt ein Auftrag, einen Regierungs- rechnet jenem Thema, das bericht zu erstellen, nachdem der gesamte die Regierung zuletzt so Vorgang noch einmal anhand der Akten in Bedrängnis brachte, überprüft wurde. könne die unablässig Erst seitdem der mit internationalem streitenden Koalitionäre Haftbefehl gesuchte Pfahls im Juli die noch weiter belasten. Und Flucht ergriff und Kiep sein Schweigen Schröder würde erklären brach, erkennt auch die Politik, dass müssen, warum er ausge- womöglich eine Staatsaffäre erheblichen rechnet Kiep, gegen den Ausmaßes droht. bereits ermittelt wurde, Noch sind entscheidende Fragen unbe- noch in diesem Jahr mit antwortet: Wurde die Schmiergeldspur heiklen Sonderaufträgen ausschließlich gelegt, damit die Panzer versah. störungsfrei von Deutschland nach Saudi- Der Machtmensch Kiep Arabien rollen konnten? Oder hat Schrei- jedenfalls machte, von ber mit dem Thyssen-Geld – wie früher

W. SCHUERING / LASA W. Haft bedroht, ziemlich Flick – einfach großflächig die politische CDU-Obere Schäuble, Merkel*: Die Affäre einfach aussitzen schamlos von der Freund- Landschaft gepflegt? Wurde die schmut- schaft Gebrauch: „Ich zige Million vielleicht aus Dankbarkeit Schreiber bat, seine Bedenken „dem habe noch heute im Auftrag des Bundes- für Hilfe bei dem letzten schmutzigen Herrn Bundeskanzler möglichst umge- kanzlers eine Reise nach Schweden anzu- Geschäft in den Koffer gesteckt – und hend zur Kenntnis zu bringen“. treten und am Samstag um 10.40 Uhr nach womöglich schon als Vorschuss für das Bei einer Durchsuchung der Thyssen- Amerika zu fahren, wo ich einer Dele- nächste? Zentrale fiel den Fahndern zudem ein Pa- gation des Bundestages, Vertretern des Schreiber müht sich, so ziemlich jeden pier in die Hände, das den Zweifel an der Auswärtigen Amtes und des Wirtschafts- nahe liegenden Verdacht zu zerstreuen. In ordnungsgemäßen Prüfung des Geschäftes ministeriums vorstehe“, erklärte er vor- Kanada, wo er gegen seine Auslieferung nährt. Bereits am 25. Oktober 1990 hatten vergangenen Freitag der Haftrichterin im nach Deutschland kämpft, beteuerte er Konzern-Obere notiert, dass „inoffiziell, heimischen Königstein. Wenn der Haftbe- vergangene Woche, er habe niemanden be- jedoch verbindlich“, bereits eine Geneh- fehl weiter bestehen bleibe, käme dies, so stochen: „Das war eine ganz normale Par- migung versprochen sei. Von wem, wissen Kiep, für einen Mann mit seinen Missionen teispende.“ Die Million stamme weder von die Ermittler allerdings bislang nicht. „einem Berufsverbot gleich“. ihm noch von Thyssen, sondern von „Drit- Noch sind die politischen Folgen des du- Auch die großspurig angekündigte Auf- biosen Waffendeals nicht geklärt. Die SPD klärung durch die Union steht noch aus. hält sich mal wieder mit ihrer liebsten Be- Wenn Kiep tatsächlich auf eigene Faust das schäftigung auf – sie zweifelt, welches Vor- Geld verteilte, könnte er sich einer Unter- gehen wohl richtig ist. schlagung oder Untreue schuldig gemacht Wie die Grünen wittert die Schröder- haben. Strafrechtlich wären beide Vorwür- Partei zwar die Chance, den Steigflug der fe wohl verjährt. Aber die CDU könnte ei- Union abzubremsen, indem sie das System nen Anspruch auf Rückerstattung geltend Kohl und damit die Partei mit Hilfe eines machen. Doch die Wahrscheinlichkeit, dass nicht einmal der Versuch gemacht wird, an * Oben: vergangenen Donnerstag im Bundestag; unten: die Million zu kommen, ist groß: Einen vergangenen Donnerstag im amerikanischen Palo Alto. Krieg mit ihren ehemaligen Geldbeschaf- CP Waffenhändler Schreiber (in Toronto) „Das war eine normale Parteispende“

ten, deren Identität ich nicht preisgeben kann“. Aber die Aussichten für den bayerischen Amigo und seine Kumpane im Regie- rungsapparat und dessen Umfeld sind ziemlich düster. Denn an einem besteht kein Zweifel mehr: Die mühsame Entschlüsselung von kodierten Eintragungen in Schreibers Ka- lendern, das Werk eines einfachen Augs- burger Steuerfahnders und eines Staatsan- walts, hat ein geschickt getarntes System transparent gemacht. Egal, ob der Geld- koffer für den CDU-Schatzmeister per- sönlich oder für seine Partei bestimmt war: Jetzt sind die Augsburger erst recht da-

P. JUELICH / RIRO PRESS P. von überzeugt, auf der richtigen Spur zu Ex-Schatzmeister Kiep*: „Das käme einem Berufsverbot gleich“ sein. Wolfgang Krach, Georg Mascolo

der spiegel 46/1999 37 Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite Titel C. MORRIS / DAS FOTOARCHIV C. MORRIS / DAS US-Soldaten im Golfkrieg (1991): Die Waffenschmieden der Welt hofften auf neue Aufträge 220 Millionen für die Berater Verschwiegene Vermittler, dunkle Kanäle und gigantische Schmiergelder sollen der Rüstungsfirma Thyssen Henschel geholfen haben, den Verkauf von Panzern an Saudi-Arabien ein- zufädeln – und den Widerstand deutscher Politiker gegen das Geschäft zu überwinden.

uch schlechte Nachrichten können und chemischer Kampfstoffe dient. Natür- wissen, „würden wir Ihnen gerne weitere gut für das Geschäft sein. Als der lich vergaß der Manager nicht, „Ihre Kö- Informationen zusammenstellen“. AIrak Anfang August 1990 in Kuweit nigliche Hoheit“ darauf hinzuweisen, dass Tatsächlich verkaufte Thyssen Henschel einmarschierte und am 17. Januar 1991 Thyssen bereits Fuchs-Panzer an die U. S. im Frühjahr 1991 36 Fuchs-Panzerfahrzeu- schließlich der Golfkrieg ausbrach, war Army verkauft habe: „Die beiliegende ge an Saudi-Arabien. Doch das blendende klar, dass den Waffenschmieden die- Fuchs-Broschüre“ beschreibe das erfolg- Geschäft von damals ist heute auf dem bes- ser Welt wieder neue Aufträge ins Haus reiche Modell ausführlich. Bei Interesse, ten Weg, sich zu einer Staatsaffäre auszu- standen. ließ Maßmann den Verteidigungsminister weiten: Unter dem Aktenzeichen 502 Js Das deutsche Rüstungsunternehmen 127135/95 ermittelt seit viereinhalb Jah- Thyssen Henschel wollte sich diese Ge- ren die Staatsanwaltschaft Augsburg die legenheit nicht entgehen lassen. Sein Hintergründe des Waffen-Deals. Es geht Vorstandsmitglied Jürgen Maßmann um den Verdacht der Untreue, Steuer- schickte deshalb am 22. August 1990 ei- hinterziehung und Bestechung bis in nen Brief an den saudi-arabischen Ver- die Reihen der damaligen Bundesminis- teidigungsminister Prinz Sultan Ibn terien. Abd al-Asis, um ihm „Thyssen Hen- Die Augsburger Ermittler glauben, schel vorzustellen“. Das damalige Kas- dass ein Netzwerk aus diskreten Ver- seler Tochterunternehmen der Thyssen mittlern, gierigen Managern und emp- Industrie AG gehörte zu den führen- fänglichen Politikern – und Geld, viel den Rüstungsbetrieben des Landes. Geld – das Geschäft beförderten. Ober- Das passende Produkt hatte Maß-

mann auch im Angebot – ein Panzer- M. DARCHINGER * Der saudische General Abdullah al-Scheich bei fahrzeug namens „Fuchs“, das auch Panzer-Verkäufer Maßmann (l.), Geschäftspartner* einer Panzer-Präsentation in Hangelar am 30. April zum Aufspüren atomarer, biologischer Passendes Produkt im Angebot 1986.

40 der spiegel 46/1999 staatsanwalt Reinhard Nemetz hatte des- potenzieller Kunde. Fortan sollte Maß- er sich erstmals mit dem Fuchs-Projekt be- halb sogar einen Haftbefehl gegen den mann, im Vorstand zuständig für Wehr- fasst, so der Manager, „der Kanal, das heißt früheren CDU-Schatzmeister Walther Leis- technik, mit seinem Vertriebsmanager Jörg die Verbindung zu Herrn Kaschoggi, kam ler Kiep ausgestellt, der jedoch – gegen Bühler, der nicht von dem Ermittlungsver- jedoch nicht zum Tragen“. Zahlung einer Kaution von 500000 Mark – fahren betroffen ist, die Kontakte zu di- Bühlers Verbindung zu dem bekannten außer Kraft gesetzt wurde. versen Vermittlern koordinieren. Waffenhändler blieb zwar fruchtlos, da- Das Geschäft, das Thyssen Henschel An- Dass im Mittel- für waren die Be- fang der neunziger Jahre abwickelte, war punkt von solchen mühungen seines jedenfalls bemerkenswert: Von den 446 „Marketing-An- Dem angestrebten Kollegen Maßmann Millionen Mark, die Thyssen für den Pan- strengungen“ bei Geschäft stand ein deut- umso erfolgreicher. zer-Deal von den Saudis kassierte, flossen Rüstungsgeschäften sches Gesetz entgegen Bereits am 26. und insgesamt rund 220 Millionen Mark als Pro- nicht unbedingt das 27. Juni 1990 traf der visionen oder „nützliche Aufwendungen“, Verschicken von Manager in Paris wie Schmiergelder jahrzehntelang im Steu- Prospektmaterial an „Königliche Hohei- den Geschäftsmann Mansour Ojjeh, um er-Deutsch genannt wurden, vor allem auf ten“ steht, sondern tragfähige Verbindun- die Möglichkeiten von Fuchs-Exporten die Konten ausländischer Briefkastenfir- gen zu einschlägigen Waffenhändlern und nach Saudi-Arabien auszuloten. men. Ein Teil, so der Verdacht, wurde mög- Vermittlern, wird deutlich aus Bühlers Zeu- Der saudische Staatsbürger ist einer der licherweise zurück nach Deutschland ge- genaussage gegenüber der Augsburger reichsten Männer der Welt. Die Ojjeh-Fa- schleust. Staatsanwaltschaft. Im August 1990 habe milie kontrolliert die internationale TAG- Mittlerweile lässt sich die Gruppe, Geschäftsmann Mansour „Operation Fuchs“ nachzeichnen. Ojjeh selbst ist Miteigentümer des Wichtige Rollen in dem Stück Formel-1-Stalls Mercedes-McLa- spielen: der Thyssen-Manager ren und verfügt über alle Status- Jürgen Maßmann, der mit Bera- symbole des Jet-Set wie Luxus- tern horrende Provisionen ausge- jacht, private Düsenjets, Woh- handelt und dabei selbst mehr als nungen und Häuser in Paris oder vier Millionen Mark dafür kas- Marbella. siert haben soll; der ehemalige Zugleich steht die Familie in Staatssekretär Holger Pfahls, der dem Ruf, bei der Anbahnung von für 3,8 Millionen Mark im Vertei- Geschäften mit Saudi-Arabien digungsministerium die Wider- über beste Beziehungen zu ver- stände gegen das Panzer-Geschäft fügen. Sein 1991 verstorbener Va- aus dem Weg geräumt haben soll; ter Akram Ojjeh, ein gebürtiger und der bayerische Geschäfts- Syrer, knüpfte seit Anfang der mann Karlheinz Schreiber, der siebziger Jahre Wirtschaftskon- die Millionen an deutsche Politi- takte für die saudische Regierung, ker und zwei Thyssen-Manager sie führten auf dem Höhepunkt verteilt haben soll. der Ölkrise zu einem Vertrag mit Alle Beschuldigten in dem Ver- Frankreich über den Verkauf pe- fahren bestreiten die Vorwürfe trochemischer Produkte und Waf- der Augsburger Staatsanwalt- fen. Später vertrat Vater Ojjeh schaft vehement. französische Rüstungsfirmen ex- Ihren Anfang nahm die Affäre klusiv in dem Königreich. Zum im Frühjahr 1990. Zuvor hatte Dank für seine Verdienste bür- Thyssen Henschel Fuchs-Panzer gerten die Saudis ihn ein. an die U. S. Army verkauft, gegen Der Manager muss das Ge- das Gebot und die Lobby ame- spräch mit Ojjeh in Paris als viel

rikanischer Rüstungshersteller. E. GRAMES / BILDERBERG versprechend angesehen haben. Nun sollte das Panzerfahrzeug mit Thyssen-Zentrale in Düsseldorf: Erfolgreiche Waffen-Tochter Und von Beginn an wird deutlich, Hinweis auf den Verkaufserfolg in wie filigran, undurchsichtig und den USA auch in anderen Län- komplex das Beziehungsgeflecht dern vermarktet werden, insbe- angelegt wurde, über das später sondere in der Golfregion. dreistellige Millionenbeträge Dem angestrebten Geschäfts- Der Thyssen-Konzern im Geschäftsjahr 1990/91 fließen sollten. erfolg im arabischen Raum stand Als die Augsburger Ermittler das deutsche Kriegswaffenkon- Investitionsgüter Handel und Edelstahl Stahl Maßmanns Büro durchsuchten, trollgesetz entgegen, das Rüs- und Verarbeitung Dienstleistungen fanden sie heraus, dass der offizi- tungsexporte in Krisengebiete 11,3 15,3 3,3 10,4 elle Thyssen-Brief an den saudi- wie den arabischen Golf unter- Umsätze* in Mrd. Mark schen Verteidigungsminister vom sagt. Doch mit dem Überfall des 22. August 1990 auch direkt an Irak auf Kuweit im Sommer 1990 eine französische Nummer und und dem Eingreifen einer Allianz an eine Firma in München gefaxt Thyssen Industrie Budd (USA) Wülfrather Gruppe unter Führung der Amerikaner wurde. sahen die Henschel-Manager ihre 8,3 2,1 0,9 Geschäftsführer dieses Unter- Chance, dennoch mit den Ölstaa- darunter nehmens war Hermann P.*; sei- ten ins Geschäft zu kommen. Thyssen Henschel Vor allem Saudi-Arabien, da- 0,65 * Die abgekürzten Namen sind der Redak- mals neben Israel am stärksten *inkl. Binnenumsätze tion bekannt, werden aus juristischen Grün- durch den Irak bedroht, galt als den derzeit aber nicht genannt.

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niemand bei Thyssen einen Vertrag.Als am 9. Oktober eine Rechnung der BBC über 1,35 Millionen Mark einging, reichte weni- ge Tage später ein weiterer Maßmann-Ver- merk, um die Zahlung auszulösen: Man habe zwischenzeitlich eine Einladung er- halten und sei bereits zu ersten Ge- sprächen in Saudi-Arabien gewesen. Damit seien die „Bedingungen für die Zahlung der Provision erfüllt“. Dieser Rechnungs- betrag, notierte der Manager, „sollte um- gehend angewiesen werden“. Tatsächlich war das Geschäft mittler- weile ins Rollen gekommen – und dennoch haftet dem Vermerk ein Schönheitsfehler an: Alle Kontakte liefen augenscheinlich über die Ojjeh-Verbindung, eine Beneli- sen-Gruppe taucht einzig in dem Maß- mann-Vermerk auf. Als Thyssen 1996, aufgeschreckt durch die staatsanwaltlichen Ermittlungen, inter- ne Nachforschungen anstellte, bot Maß-

AP mann intern eine eigenwillige Erklärung Saudischer Verteidigungsminister Abd al-Asis an: Er habe nicht ausschließen kön- „Bei Interesse weitere Informationen“ nen, dass zwischen den bei- den Gruppen Verbindungen nem Unternehmen gehörten früher Antei- bestanden hätten. Daher seien le an einem Zuliefererwerk für den Fuchs- die 1,35 Millionen Mark ge- Panzer. Zum damaligen Zeitpunkt stand P. zahlt worden, um das Projekt zudem in Geschäftsverbindung mit der nicht zu gefährden. Ojjeh-Gruppe. Fortan sollte sich Maßmann Doch zu diesem Zeitpunkt immer wieder mit ihm treffen, wenn Be- war das Geschäft über die Ojjeh- lange der Ojjeh-Familie berührt waren. Gruppe längst eingefädelt. Über Umso erstaunlicher ist, dass Maßmann A., angeblich ein Ojjeh-Verbin- in jenen Wochen angeblich daran arbeite- dungsmann, erhielt Thyssen Hen- te, eine weitere Verbindung nach Saudi- schel am 26. September 1990 ein Arabien aufzubauen. Am 7. September be- Schreiben des saudischen Verteidi- suchte der umtriebige Manager das Unter- gungsministeriums. Darin lud Bri- nehmen Bayerische Bitumen-Chemie gadegeneral Abd al-Asis Al Hussein (BBC) im oberbayerischen Kaufering. Des- ein technisches Team nach Riad ein sen Inhaber kannte er bereits seit Mitte und bat um ein Angebot über zehn der achtziger Jahre – sein Name: Karlheinz Spürpanzer Fuchs nebst Ersatzteilen, Schreiber. Logistik und Ausbildung der Mann- Damals, 1985, bemühte sich Thyssen schaften. Henschel um den Bau einer Rüstungsfa- Noch am selben Tag erstellte die brik in Kanada, Schreiber vermittelte. Als Kalkulationsabteilung eine erste über- das so genannte Bearhead-Projekt schei- schlägige Rechnung: Danach kostet die terte, kassierte Schreiber dennoch Millio- Thyssen-Zahlungen Umrüstung von zehn Fuchs-Panzern aus nen. Noch heute ermitteln Staatsanwälte in Viel, viel Geld Bundeswehrbeständen inklusive des Augsburg und Kanada unter anderem we- Baus von Ersatzfahrzeugen und einiger gen Bestechungsvorwürfen auch gegen ka- Bekannten von ihm, „reichen, einflussrei- Sonderkosten 29,5 Millionen Mark – ein nadische Politiker in diesem und in ande- chen Arabern“, beisammen gesessen, um Schnäppchenpreis. ren Geschäften. die Möglichkeiten eines solchen Geschäfts In den letzten Tagen des September 1990 Und nun sollte Schreiber bei dem ge- zu besprechen. war somit die Bühne für den ersten Akt der planten Panzer-Deal wieder seine Kontak- Man habe ihm versichert, so Maßmann „Operation Fuchs“ gerichtet: Mit dem te spielen lassen. In den Räumen der BBC weiter, die Saudis seien in der Lage, eine Brief des saudischen Verteidigungsminis- will Maßmann damals neben Schreiber schriftliche Einladu ng für eine Präsenta- teriums konnte Thyssen Henschel nun of- auch „Repräsentan- tion in Riad und die fizielle Verhandlungen über den Verkauf ten aus Saudi-Arabi- Aufforderung der von Fuchs-Panzern anbahnen. Und Maß- en“ getroffen haben, Ein Vertrag war nicht Abgabe eines Ange- mann hatte seine Kontakte aktiviert, die wie er am 11. Sep- nötig, ein Vermerk genügte botes zu erreichen. echte oder vermeintliche Hilfe zum Gelin- tember 1990 in ei- – und die Millionen flossen „Für diese Dienste gen des Auftrags leisten konnten. nem internen Ver- … wurde eine Pro- Am Ende zahlten die Saudis für 36 merk notierte. Wer vision von 1,35 Mil- Fuchs-Fahrzeuge in unterschiedlichen Ver- diese Vertreter einer so genannten Beneli- lionen Mark Netto gefordert.“ Er hielt fest: sionen 446 Millionen Mark – allein 220 Mil- sen-Gruppe gewesen sein sollen, ist bis „Eine schriftliche Vereinbarung hierzu lionen Mark für Beraterhonorare und Pro- heute nicht bekannt. wurde nicht erstellt.“ visionen. Für Thyssen schien es selbstver- Der Geschäftsmann Schreiber bestätigt Maßmanns Wort genügte. Trotz der er- ständlich, dass solche Großaufträge ohne das Treffen. In Kaufering hätte man mit heblichen Summe forderte anscheinend verdeckte Zahlungen nicht möglich sind. Es

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In der Zwischenzeit tüftelten die Mana- ger an offiziellen Papieren, um die saudi- sche Klausel zu umgehen, und verfielen dabei auf das „Konzept Marketing-Ver- trag“ (Pigorsch). Oberstes Ziel war es, alle Hinweise auf einen Zusammenhang mit dem Panzer-Geschäft zu tilgen: Statt mit Thyssen Henschel bereiteten sie PR-Ver- träge mit der Muttergesellschaft Thyssen Industrie AG (TI) in Essen vor. Danach soll- ten sich die Berater nicht mehr um Auf- träge mit dem saudischen Verteidigungs- ministerium bemühen, sondern in der Golfregion ganz allgemein; und zwar für die gesamte Palette der TI-Produkte. Auch der zeitliche Zusammenhang wurde ge- tilgt. Unterschrieben werden sollten die Verträge offiziell erst nach Abschluss des Liefervertrages für die Fuchs-Panzerfahr- zeuge. Als die Marketing-Verträge endlich auf- gesetzt werden konnten, sollten sich die

GROMIK / SIPA PRESS GROMIK / SIPA Vertreter von Thyssen und den Beraterfir- Vermittler Ojjeh*: Beste Beziehungen in Saudi-Arabien men nach Zürich aufmachen, um gemein- sam die justiziablen Consulting-Verträge sei doch allgemein bekannt, erklärte der ting-Verträge, die den wahren Geschäfts- aus dem Schließfach zu nehmen und zu Thyssen-Justiziar Wolfgang Pigorsch den grund benannten. Die heiklen Dokumen- vernichten. Doch die Aktion lief anschei- Staatsanwälten, „dass bei Geschäften die- te wurden allerdings „nicht im Hause breit nend nicht reibungslos: Ein Exemplar blieb ser Art Vermittlungsprovisionen gezahlt verteilt“, so Pigorsch. übrig, es liegt heute in den Akten der werden“. Provisionen dieser Größenord- Im Gegenteil: Die Geheimverträge wur- Staatsanwaltschaft. nung aber dürften selbst im Waffengeschäft den in einem Schließfach des Schweizeri- Zumindest Maßmann hatte das Papier ungewöhnlich sein. schen Bankvereins am Paradeplatz in unterschrieben, kurz bevor er am 28. Sep- In jenen Tagen trieb die Thyssen-Mana- Zürich hinterlegt, zu dem nur beide Par- tember 1990 mit einer kleinen Delegation ger weniger die Frage um, wer noch teien gemeinsam Zugang hatten. nach Riad aufbrach, um dem saudischen alles an dem Geschäft verdiente. Ihr Verteidigungsministerium den Interesse galt offenbar allein dem Ver- Fuchs-Panzer zu präsentieren. schleiern solcher Zahlungen. Denn nach Vertragspartner ist eine Oves- saudischem Recht sind Vermittlungs- sim Corporation. Die 1989 leistungen im Zusammenhang mit Waf- gegründete Briefkastenfirma fenlieferungen bei Strafe verboten. Ge- hatte ihren Sitz in Panama zahlte Provisionen können vom Auftrags- City und Direktoren mit wert abgezogen werden. Werden gar sau- Wohnsitz Schweiz. Als alle dische Regierungsangestellte oder Offi- Zahlungen 1994 geleistet wa- zielle bestochen, wird der Vertrag ge- ren, hauchte sie ihr Leben kündigt und das Unternehmen von der aus. Übereinstimmend ver- Lieferantenliste gestrichen. muteten intern Thyssen-Mit- Letztlich habe man vor der Frage ge- arbeiter später die Firma in standen, erklärte Pigorsch den Ermittlern, der Einflusssphäre der Ojjeh- auf den Auftrag zu verzichten oder zu Gruppe. Für ein Jahr sollte nun das Unternehmen Ovessim – laut Als das Geld eingegangen dem Vertrag – Berater von war, hauchte die Thyssen Henschel beim ge- Firma ihr Leben aus planten Verkauf der Fuchs- Panzerfahrzeuge an das sau- dische Verteidigungsministe- riskieren, vom saudischen Staat in An- rium sein. Als Honorar wur- spruch genommen zu werden. Damals den 27 Prozent des gesamten habe man dringend Aufträge benötigt und Auftragswertes vereinbart. sei deshalb das Risiko eingegangen, habe Streitigkeiten sollten nach aber gleichzeitig versucht, es „zu mini- englischem Recht entschieden mieren“. werden, der Vertrag selbst Das Verfahren, das am Ende der Über- war strengstens geheim zu legungen stand, war konspirativ und halten. trickreich. Zuerst schloss Thyssen Henschel Wie wichtig bei solchen Ge- mit ihren Beratern so genannte Consul- schäften die Verbindung von

REUTERS richtigen Kontakten und * Mit Sarah Ferguson beim Großen Preis von Monaco im Waffenhändler Kaschoggi, Ehefrau großem Geld sein kann, be- Mai. „Der Kanal kam nicht zum Tragen“ wies schon der erste Besuch in

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Werbeseite Titel TORONTO SUN TORONTO Vermittler Schreiber: Wurden die Millionen zurück nach Deutschland geschleust?

Riad: Denn die saudischen Generäle for- Die kurze Notiz war ein erster Vertei- derten von Maßmann und seinen Kollegen lungsschlüssel der späteren Provisionszah- eine Vorführung des Panzerfahrzeugs. Und lungen, die sich anteilig nach der Auf- so soll Maßmann am 4. Oktober 1990 in ei- tragssumme bemaßen. Sie legt den Ver- nem Brief einen ehemaligen amerikani- dacht nahe, dass Zahlungen bereits früh- schen General gebeten haben zu prüfen, ob zeitig geplant waren, für die später nur nicht die US-Streitkräfte eine solche De- noch ein Grund gefunden werden musste. monstration für Thyssen durchführen Die „27“, die Bühler notierte, deckt sich könnten. Eine saudische Delegation nach mit dem Honorar der Ovessim im Consul- Deutschland einladen wollte man wohl lie- ting-Vertrag. Das Kürzel „VOLN“ wurde ber nicht. mit notwendigen Zahlungen an den Ex- Der Vorstoß des Managers hatte schnel- General erklärt. len Erfolg. Bereits am 19. Oktober konnten Was „POL“ bedeutet,konnte Bühler bei sich die saudischen Generäle auf dem ame- einer Thyssen-internen Befragung nicht rikanischen Militärstütz- mehr entschlüsseln. Dafür punkt in Dhahran einen ei- erklärte Maßmann gegen- genen Eindruck von der über Thyssen 1996, POL ste- Leistungsfähigkeit des deut- he für Politik. Allerdings be- schen Rüstungsgutes in Ak- deute dies keinesfalls Politik tion machen. Zwischen Ende im Sinne öffentlicher Stellen, 1992 und Anfang 1995 über- vielmehr sei damit der Haus- wies Thyssen rund eine Mil- brauch gemeint, eine Kalku- lion Mark an den ehemali- lationsreserve für ungeplan- gen General. te Kosten einzubauen. In der Zwischenzeit stie- An „WE“ hingegen konn- gen die Kosten für die te Bühler sich wiederum er- Fuchs-Panzer kräftig. Am innern, das Kürzel stehe für 8. Oktober belief sich die Rolf Wegener. Der deutsche Kalkulation für die Neufer- Geschäftsmann mit Wohnsitz tigung und Umrüstung von in Monaco gehört zum Ty-

zehn Panzern plus Logistik R. SUBBIAH pus diskreter Vermittler bei bereits auf über 115 Millio- Pfahls internationalen Geschäften nen Mark. Und noch immer wie sein Kollege Schreiber. fehlten die Provisionen in dieser Berech- Zu seinem Bekanntenkreis zählt auch der nung. damalige FDP-Wirtschaftsminister Jürgen Dass üppige Zahlungen von Anbeginn Möllemann (SPIEGEL 49/1998). geplant waren, belegt eine handschriftliche Doch was soll der Name des Düsseldor- Notiz von Thyssen-Mann Bühler auf der fer Geschäftsmanns bereits in einer Notiz Kalkulation: vom 8. Oktober 1990? Das Problem – ein Steuerdetail –, das zu lösen Wegener an- in Prozent: geblich helfen sollte, taucht frühestens 27 sechs Wochen später erstmals in den Thys- 26 POL sen-Unterlagen auf, der erste nachweisba- 1 VOLN re Kontakt zu Maßmann gar erst acht Wo- 2 WE chen danach. Und seine Spuren in den Do-

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Werbeseite kumenten enden auch nicht, als die Steu- erfrage gelöst war. Zu jenem Zeitpunkt verlagerte sich die Operation Fuchs auch auf eine andere Büh- ne: Nachdem die Verhandlungen mit den Saudis eingefädelt waren, galt es nun, die deutsche Politik von der Notwendigkeit – und Rechtmäßigkeit – des Deals zu über- zeugen. In diesen Oktobertagen des Jahres 1990 wandte sich Thyssen wegen der Pan- zer zum ersten Mal an das Wirtschaftsmi- nisterium. Während Schreiber schon Geld erhalten hatte und Wegener in der Kalkulation an- scheinend zumindest berücksichtigt war, beide aber im Vorfeld der Verhandlungen augenscheinlich keine besondere Rolle spielten, liefen die Verbindungen über die Ojjeh-Schiene wie geschmiert.

Maßmann reiste zu Treffen nach Köln H. DARCHINGER J. und London. Dann wieder informierte er Minister Stoltenberg, Staatssekretär Riedl (1987): Letzte Barriere den Ojjeh-Verbindungsmann S. über die Panzer-Vorführung in Dhahran. Maßmann an diesem Tag wieder nach tiefen Eindruck hinterlassen haben. Be- Mittlerweile berücksichtigte Thyssens Riad. Während der Manager bereits zwei reits am 22. November erarbeitete Thys- Kalkulationsabteilung bei ihren Berech- Tage später wieder nach Deutschland auf- sen Henschel einen Lieferplan über 36 nungen für den Auftrag auch so genannte brach, feilschte Finanzexperte Bühler bis in Fuchs-Panzerfahrzeuge in verschiedenen Sonderkosten. Am 24. Oktober ermittelte den Dezember in der saudischen Haupt- Ausführungen, der dem tatsächlichen die Abteilung einen Gesamtwert von rund stadt um den Vertrag. Schon der erste Ver- Vertragsvolumen entsprechen sollte: 10 220 Millionen Mark für den angestrebten tragsrahmen aus diesen Tagen richtete sich Spürpanzer, 14 Mannschaftstransporter, 8 Auftrag. nach saudischem Recht und enthielt das Ambulanzfahrzeuge und 4 Kommandofa- Spätestens am 16. November 1990 traten Provisionsverbot. hrzeuge. die Verhandlungen mit den Saudis in die Eine weitere Präsentation vor dem sau- Dieser Donnerstag im November ver- heiße Phase. Gemeinsam mit Bühler reiste dischen Generalstabschef muss dort einen lief in Deutschland eher hektisch. Die Steu- Titel erabteilung von Thyssen wies darauf hin, Direktor der ATG Investment Limited nisch mit dem ATG-Vertreter behandelt dass einige Liefer- und Leistungsteile des Inc., die laut Maßmann über Verbindun- haben. Vertrages, wie Service und Ausbildung, der gen in saudi-arabische Finanzkreise ver- Schreiber selber sagt, er habe lediglich saudischen Steuer unterliegen könnten, fügt. Den Kontakt zur ATG habe sein al- mitgeholfen, die Finanzierung des Deals wenn sie dort erbracht würden. Dies be- ter Geschäftsfreund Schreiber vermittelt. abzusichern und „die Akkreditive für die deute eine mögliche Belastung von 6,75 Die Augsburger Ermittler glauben, dass Saudis zu besorgen“. Dafür hätte letzt- Prozent des Vertragspreises. die im Jahr 1984 in Kanada gegründete endlich das Unternehmen ATG gesorgt, Noch am selben Tag traf Maßmann We- Briefkastenfirma Schreiber selber gehört, und zwar mit Hilfe seiner „arabischen gener in Bonn. Der Manager will den Ver- was dieser allerdings bestreitet. Freunde“. mittler, den er aus Zumindest aber Welcherart die angeblichen Beziehun- anderen Geschäften gibt es enge Ge- gen in die saudischen Finanzkreise gewe- bereits kennt, einge- Die Beziehungen mussten schäftsbeziehungen sen sein könnten, liegt bis heute im Nebel. schaltet haben, um wundertätigen Charakter zwischen Wullschlä- Aber sie mussten einen wundertätigen dieses Steuerrisiko besessen haben ger und der Schrei- Charakter besessen haben. zu vermeiden. We- ber-Familie. So sitzt Denn bereits drei Tage nach dem Treffen gener habe dafür in einer Schweizer faxte Verhandlungsführer Bühler aus Sau- sorgen sollen, dass die kritischen Leis- Gesellschaft, neben Wullschläger auch der di-Arabien den aktuellen Stand in die Zen- tungen nicht Vertragsbestandteil werden. Sohn des bayerischen Geschäftsmanns im trale nach Kassel. Danach verpflichtete sich Dafür habe er im Erfolgsfall zwei Prozent Verwaltungsrat. die saudische Seite, einen „von einer deut- der gesamten Auftragssumme als Honorar Für die Dienste in Saudi-Arabien jeden- schen Bank bestätigten Letter of Credit ... zugesagt. falls versprach Maßmann der ATG ein Ho- zu eröffnen“. Zwei Tage später, an einem Samstag, will norar von sechs Prozent der Gesamtauf- Größere Schwierigkeiten hat es an- Maßmann wieder unterwegs gewesen sein, tragssumme. 2,4 Millionen Mark davon scheinend in Saudi-Arabien nicht gegeben. um Hilfe bei der Lösung eines weiteren sollte das Unternehmen an Schreibers Fir- Thyssen-intern erklärte Bühler, der Verhandlungsproblems einzukaufen: Die ma BBC für die Vermittlung des Kontakts während der gesamten Zeit in Riad die Saudis sperrten sich gegen das Thyssen- überweisen. Verhandlungen führte, er habe die Ver- Begehren, die Zahlungen für die Panzer- Für das Treffen mit Wullschläger gibt es tragsinhalte ständig mit Vertretern der Lieferungen durch einen „Letter of Cre- – außer der Aussage Maßmanns – anschei- Ojjeh-Gruppe abgestimmt – mit Wegener dit“, der von einer deutschen Bank be- nend keinerlei Beleg; weder in den Spe- und Wullschläger hingegen habe er zu kei- stätigt war, abzusichern. senabrechnungen noch in seinen Reiseun- nem Zeitpunkt Kontakt gehabt. Aus diesem Grund habe er, Maßmann, terlagen. Diese These stützt auch, dass Hinweise sich am 24. November 1990 mit Lorenzo Überhaupt will der Thyssen-Manager auf die streng geheimen Consulting- Wullschläger getroffen. Der Schweizer war die diffizile Materie hauptsächlich telefo- Verträge nur noch im Zusammenhang mit Titel

Firmen zu finden sind, die dem Ein- Mark waren in der Aufstellung anonym zum Preis von 446 Millionen Mark nach flussbereich des Ojjeh-Clans zugeordnet aufgeführt. Riad reiste, hatte er am Vortag noch schnell werden. In Riad war das Geschäft zu diesem Zeit- eine stressige Tour absolviert: Auf seiner In Riad liefen derweil die Verhandlungen punkt bereits so gut wie in trockenen Reiseroute lagen Zürich und Kaufering. weiter, der Kontrakt nahm seine endgülti- Tüchern. Doch am 29. Dezember schickte Worum es dabei ging, bleibt im Verborge- ge Gestalt an. Ende November war die ein Ojjeh-Verbindungsmann aus Saudi- nen, aus den Reisebelegen geht es nicht Steuerproblematik gelöst, der Letter of Arabien eine Alarmmeldung, die vor al- hervor. Credit abgenickt. lem eins deutlich macht – offizielle Kon- In den ersten Tagen des Januars 1991 war Als Bühler am takte waren beim damit das lukrative Panzer-Geschäft für 6. Dezember mit Panzer-Deal uner- Thyssen Henschel perfekt. Maßmanns Ver- dem nahezu fertigen Offizielle Kontakte wünscht und eher bindung zum Ojjeh-Clan hatte sich für das Vertragswerk nach waren beim Panzer-Deal kontraproduktiv. Unternehmen ausgezahlt; doch um wel- Deutschland zurück- unerwünscht Er habe gehört, chen Preis? Insgesamt überwies Thyssen kehrte, nahm Kolle- faxte der Ojjeh-Be- in den folgenden Jahren 184 Millionen ge Maßmann erneut auftragte an einen Mark an die Briefkastenfirmen Ovessim seine Reisetätigkeit auf: In den folgenden Thyssen-Mann, der offizielle Firmenver- und Linsur in Panama. Tagen traf er wieder eine ganze Reihe sei- treter in Riad spreche mit einer Reihe von Doch das Stück „Operation Fuchs“ war ner Vermittler aus dem In- und Ausland – Leuten über das Projekt und versuche, jede mit dem Vertragsabschluss noch längst mal in Köln, mal in Düsseldorf oder auch mögliche Hilfe zu gewinnen. Das Projekt nicht zu Ende. in Paris. laufe wunderbar und benötige von nie- In Deutschland standen die Thyssen-Ma- Am 13. Dezember 1990 tauchte auch der mandem Unterstützung: „Bitte haltet eu- nager Anfang Januar vor ernsthaften Pro- Beschuldigte Winfried Haastert in den Un- ren Mann in Riadda raus.“ blemen, bei ihrem Projekt hakte es von terlagen auf. An diesem Tag faxte Maß- Als Maßmann am 5. Januar 1991 end- Anbeginn an allen Ecken und Enden: mann dem Vorstandsmitglied von Thyssen lich zur Vertragsunterzeichnung für die π Der Fuchs-Panzer galt als Kriegswaffe Industrie ein Projektpapier des Panzer- Lieferung von 36 Fuchs-Panzerfahrzeugen im Sinne des Kriegswaffenkontrollge- Deals zu, angeblich ausschließlich zur In- setzes und konnte deshalb nicht in Kri- formation. sengebiete geliefert werden; Doch ausgerechnet dieses Dokument π gegen Waffenlieferungen nach belegt erstmals, welch gigantische Sum- Saudi-Arabien gab es ressortüber- men als Provisionen fließen sollten. Und greifend in den verschiedenen Minis- selbst diese Zahlen waren noch zu tief ge- terien größte Bedenken; griffen, da der damals angenommene Auf- π selbst bei der Erteilung einer tragswert von 415 Millionen Mark noch Exporterlaubnis war Thyssen Henschel steigen sollte. Die Zahlen waren nicht mit gar nicht in der Lage, auf die Schnelle Adressaten verknüpft, später lieferte die bestellten 36 Panzer aus eigenen Maßmann intern Erläuterungen: 73 Mil- Beständen zu liefern. lionen Mark seien ein so genannter Monatelang hatte Thyssen Henschel Flexibility Fund, der auf den Auftrags- parallel zu den Verhandlungen in Saudi- wert aufgeschlagen worden sei und zu Arabien immer wieder versucht, die Hür- Zahlungen an die Ojjeh-Gruppe ge- den in Deutschland aus dem Weg zu räu- führt haben soll. Weitere 95,3 Millio- men. Bereits am 25. September 1990 frag- nen Mark standen der Gruppe aus te der Konzern im Außenministerium nach, dem Consulting-Vertrag mit Ovessim ob er mit der Liefererlaubnis für zehn zu. Zusätzliche Provisionen von 25,6 Fuchs-Panzer nach Saudi-Arabien rechnen Millionen Mark und 8,5 Millionen könne – ohne Erfolg. Im Wirtschaftsministerium stell- ten die Manager am 29. Oktober 1990 den Antrag, den Fuchs-Panzer gleich ganz von der Kriegswaffenlis- te zu streichen und künftig ledig- lich noch als „sonstiges Rüstungs- gut“, das geringeren Exportbe- schränkungen unterliegt, zu dekla- rieren. Zwei Tage später wandte sich Maßmann direkt an den damals zu- ständigen Staatssekretär , gegen den auch die Augsbur- ger Staatsanwaltschaft ebenfalls seit Jahren ermittelt, sich der Sache im Sinne des Unternehmens anzuneh- men. Doch der Vorstoß blieb vorerst noch ohne Wirkung. Nur im Verteidigungsministerium musste die Kasseler Rüstungsfirma zu diesem Zeitpunkt anscheinend nicht selbst aktiv werden. Dort machte der inzwischen in Asien un-

CORBIS SYGMA tergetauchte ehemalige Staatsse- Schließfächer des Schweizerischen Bankvereins: Geheimverträge hinterlegt kretär Pfahls Druck für das Projekt

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– auf eine Art und Weise, die seherische erforderlich“: Man benötige die „Geneh- dend eine Kopie an den Staatssekretär Fähigkeiten voraussetzt. migung der Ausfuhr dieser Fahrzeuge“ und Riedl. Im September 1990 ließ der CSU-Mann, die „Zurverfügungstellung von Transport- In den folgenden Wochen löste sich der der 3,8 Millionen Mark aus dem Panzer- panzern aus Bundeswehrbeständen“. Widerstand gegen das Geschäft in den Geschäft kassiert haben soll, die Hauptab- Prägnanter ließen sich die Probleme des Bonner Ministerien langsam auf: im Wirt- teilung Rüstung prüfen, ob unter anderem Unternehmens nicht umreißen. schaftsministerium, im Außenministerium, zehn Fuchs-Panzer aus Bundeswehrbe- Schreiber bestreitet, auf der politischen im Verteidigungsministerium und im Bun- ständen an Saudi-Arabien geliefert wer- Bühne im Hintergrund irgendeine Rolle deskanzleramt. Am 27. Februar 1991 ge- den könnten – gut zwei Wochen bevor gespielt zu haben. Er habe an nieman- nehmigte der Bundessicherheitsrat die Lie- Thyssen Henschel überhaupt von dem Kö- den Schmiergeldzahlungen geleistet, auch ferung der Panzerfahrzeuge nach Saudi- nigreich erstmals offiziell aufgefordert wur- nicht an Staatssekretär Pfahls. So etwas Arabien. de, ein Angebot über exakt diese Zahl von sei überhaupt nicht nötig gewesen, da Einen Tag nach dem Beschluss des ge- Spürpanzern abzugeben. der „Deal ein Bombengeschäft für die heimen Gremiums war Desert Storm, die Aktion zur Rückeroberung Kuweits durch die alliier- ten Truppen, beendet, der Golfkrieg war vorüber. Zwei Wochen später lag auch die Ausfuhrerlaubnis des Bundesamts für Wirt- schaft vor. Noch immer galt es für Maßmann, eine letzte, grundsätzliche Barriere aus dem Weg zu räumen – der Rüstungskonzern war überhaupt nicht in der Lage, fristgerecht 36 Spür- panzer für die Saudis her- zustellen. Also wandte sich der Manager wieder ein- mal an die hilfreichen Geister – dieses Mal an den Verteidigungsstaatsse- kretär Pfahls. Man müsse der saudi- schen Regierung, ließ Maß- mann den CSU-Mann in einem Schreiben vom 12. März 1991 wissen, binnen „Fuchs“-Produktion bei Thyssen-Henschel: Zu wenig Panzer auf Lager kürzester Zeit 36 Fuchs- Fahrzeuge liefern. Um In den folgenden Tagen und Wochen Bundeswehr war“. Den Widerstand habe dem Ansinnen folgen zu können, „bitten setzte sich Pfahls immer wieder in den er nie verstanden: „Da waren Bürokraten wir darum, uns aus Bundeswehrbeständen verschiedenen beteiligten Ministerien und am Werk, die das Geschäft gar nicht be- Fahrzeuge zur Verfügung zu stellen“. Im im Bundeskanzleramt dafür ein, endlich griffen haben.“ Gegenzug erhalte die Bundeswehr später die Waffen an Saudi-Arabien zu liefern. Und wieder wurde Maßmann umtriebig neue Panzerfahrzeuge als Ersatz. Dass sich sein Vorgesetzter, der damalige und reisefreudig. Doch nun pflegte er vor Der Staatssekretär bemühte sich um CDU-Verteidigungsminister Gerhard Stol- allem die Kontakte zu den deutschen Mit- prompte Erledigung, machte er doch schon tenberg, zu jener Zeit vehement für die telsmännern. Am 16. Januar reiste er nach seit Monaten Lobby für das Thyssen-Pro- Beibehaltung der restriktiven Export- Kaufering, dem Wohnort von Schreiber. jekt im Ministerium: Noch am gleichen Tag richtlinien einsetzte, Am folgenden Tag genehmigte Pfahls die Thyssen-Bitte und focht ihn offenbar traf er in Bonn bat die Hauptabteilung Rüstung und den nicht an. Der Widerstand in den Wegener, den deut- Chef des Heeresstabes im Ministerium, Pfahls’ Engage- Bonner Ministerien löste schen Geschäfts- „unverzüglich einen Bericht über die ein- ment war ganz im sich langsam auf mann mit Wohnsitz geleiteten Maßnahmen“ zu liefern. Sinne Thyssen Hen- in Monaco. Weite- Der Wunsch von Thyssen Henschel stieß schels. Zwar hatte re Zusammenkünfte jedoch bei den Militärs der Hardthöhe auf das Unternehmen nun einen Liefervertrag folgten in den nächsten Wochen – obwohl wenig Zustimmung. Im Gegenteil. Bereits mit Saudi-Arabien, aber keine Exportge- doch der Vertrag mit den Saudis unter zwei Tage später gab die Heeresleitung in nehmigung in Deutschland und zu wenig Dach und Fach und damit der vorgebliche einem internen Vermerk ihre Linie aus: Panzer auf Lager. Damit jedoch fehlte dem Arbeitsauftrag von Schreiber und Wege- „Dieser Vorgehensweise bzgl. Spürpanzer lukrativen Geschäft die Basis. ner eigentlich erledigt war. nicht zustimmen.“ Doch wozu hat man Freunde und Ver- Zur gleichen Zeit wurde Maßmann im Die ablehnende Haltung der militäri- mittler? Am 11. Januar 1991 verfasste Maß- Bonner Regierungsviertel aktiv.Am 28. Ja- schen Führung hatte gute Gründe: mann eine vertrauliche Notiz. Um mög- nuar stellte Thyssen Henschel im Wirt- Während des Golfkriegs hatte die Bundes- lichst schnell die 36 Panzer nach Saudi- schaftsministerium den Antrag, die Fuchs- wehr bereits 79 Spürpanzer an andere Arabien liefern zu können, notierte der Panzer nach Saudi-Arabien liefern zu dür- Nato-Partner abgetreten. Damit war der Manager, sei „im Wesentlichen Folgendes fen. Wieder übergab Maßmann postwen- eigene Bestand auf 58 Fahrzeuge abge-

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Werbeseite Titel schmolzen. Schon auf diesem Stand sah Verträge mit den Firmen Ovessim und in Genf wurde die erste Rate von insgesamt die Heeresleitung die „ABC-Abwehr- Linsur, die innerhalb des Konzerns der 35 Millionen Mark überwiesen. Unter der fähigkeit des Heeres“ und die „Ausbil- Umgebung der Vermittler-Gruppe um Schecknummer 231651594 verbuchte Thys- dungsfähigkeit der ABC-Abwehrtruppe er- Mansour Ojjeh zugerechnet wurden. Das sen 55 Millionen Mark zu Gunsten der Lin- heblich beeinträchtigt“. Und nun sollten Vertragsformular war in allen Fällen das sur, ebenfalls bei der CCF in Genf. weitere 36 Panzerfahrzeuge nach Saudi- gleiche. Doch wie stand es um die Entlohnung Arabien geliefert werden. Mit den Vereinbarungen ernannte der der deutschen Vermittler? Ebenfalls am 18. Doch Pfahls wischte alle Bedenken vom Konzern die panamaische Briefkastenfir- Juni unterschrieben TI-Vorstandsvorsit- Tisch. In einer gemeinsamen Sitzung auf ma Ovessim zu seinem „Berater für Mar- zender Eckhard Rohkamm und sein Fi- der Hardthöhe am 20. März 1991, an der keting-Zwecke in der Golf-Region“. In den nanzvorstand Ernst Höffken einen weite- auch Maßmann teilnahm, entschied der Bereichen Verteidigungs-, Verkehrs- und ren Marketing-Vertrag, diesmal mit der Staatssekretär, dass Umwelttechnologie Great Aziz Corp. Über das Briefkastenun- dem Kasseler Unter- sollte sie Marktana- ternehmen ist so gut wie nichts bekannt; nehmen im Rahmen Die „Operation Fuchs“ lysen erstellen oder außer dass es am 12. Mai 1994, drei Mona- eines Sachdarlehens strebte ihrem Höhepunkt auch einfach die te nachdem Thyssen die letzte Rate über- innerhalb von 14 Ta- zu – dem Zahltag Beschreibung von wiesen hatte, in Liquidation ging. gen insgesamt 36 Trends. Nur eines Bei einer internen Thyssen-Befragung Fahrzeuge der Bun- sollte sie nicht: Zur 1996 erklärte Maßmann, dass er das Un- deswehr zur Verfügung gestellt werden Aufgabe der Firma gehöre nicht „der ternehmen damals Rolf Wegener zuord- sollten. Zugleich erklärte er sich namens Abschluss und die Vermittlung von Ver- nete. Tatsächlich trägt der Marketing-Ver- des Ministeriums bereit, später saudische trägen“. trag für das Unternehmen die Unterschrift Soldaten auf dem Gerät in der ABC-Schu- Ganz ließ sich der Zusammenhang zum Wegeners. Die Vereinbarung garantierte le Sonthofen ausbilden zu lassen. heiklen Panzer-Geschäft dennoch nicht für drei Jahre ein Gesamthonorar von Pfahls’ einführende Erläuterung, dass verdecken. Unter Paragraf 8 waren die Ho- 8,93 Millionen Mark – ebenjene zwei Pro- dieses Vorgehen der „Wunsch des Kanz- norarausschüttungen an die Vermittler an zent des Auftragsvolumens, die bereits An- leramtes und maßgeblicher Kräfte im deut- Zahlungen des saudischen Verteidigungs- fang Oktober des Vorjahres unter dem schen Bundestag“ sei, wurde nachträglich ministeriums gekoppelt. Kürzel „WE“, das für Wegener stehen soll- aus dem Ergebnisprotokoll gestrichen. In den so genannten Due Dates of pay- te, in der ersten Provisionsübersicht no- Am Mittwoch, dem 20. März 1991, waren ments, den Zahlungsplänen, die am 18. Juni tiert waren. damit Maßmanns Marketing-Anstrengun- gen von Erfolg gekrönt. Zwar musste noch der Sachdarlehensvertrag mit der Bundes- wehr verhandelt, mussten einige Details mit der saudischen Regierung geregelt wer- den. Doch von diesem Zeitpunkt an war das Panzer-Geschäft mit Saudi-Arabien endgültig unter Dach und Fach. So sahen es die Thyssen-Manager. Be- reits am 21. März – einen Tag nachdem Staatssekretär Pfahls die Entscheidung auf der Hardthöhe durchgeknüppelt hatte – saßen Maßmann und ein Mitarbeiter der Finanzabteilung der Thyssen Industrie AG im Flugzeug, um drei der Ojjeh-Verbin- dungsmänner zu treffen – dieses Mal in London. Mit einem Scheck im Aktenkoffer nahm Maßmanns Kollege die nächste Maschine zurück nach Deutschland. Noch am selben Tag wurde bei der Commerzbank, Essen, der Scheck als erste Rate für das Panzer- Geschäft auf einem Thyssen-Konto gutge- schrieben. Wert: 89275896 Mark, 20 Pro- zent der Auftragssumme.

Von nun an strebte das Finale der „Ope- DPA ration Fuchs“ seinem eigentlichen Höhe- Oberstaatsanwalt Nemetz: Verdacht auf Untreue, Steuerhinterziehung und Bestechung punkt zu – dem Zahltag. Zu verteilen wa- ren immerhin 220 Millionen Mark. unterschrieben wurden, waren die genau- Bereits drei Tage nach Unterschrift stell- Zuvor aber galt es, das Konstrukt aus en Fälligkeitsdaten für die Einzelraten der te Great Aziz – „entsprechend unseres Ver- Scheinverträgen mit den Vermittlern zu Beraterhonorare festgehalten. Und die trages“ – die erste fällige Rate über fünf vollenden, um die Spuren zu verwischen. nahmen sich üppig aus: Insgesamt erhielt Millionen Mark in Rechnung. Und ebenso Noch immer lagerten die Consulting-Ver- Ovessim zwischen Juni 1991 und Dezember prompt wurde die Summe überwiesen. träge mit den Vermittlern, die wegen des 1993 67,5 Millionen Mark, auf das Linsur- Die „Operation Fuchs“ lief planmäßig Provisionsverbots im Liefervertrag eigent- Konto wurden sogar 116,5 Millionen Mark ihrem Ende entgegen – sieht man davon ab, lich gar nicht existieren durften, sicher gezahlt. dass noch immer die Kleinigkeit von 24,4 verwahrt im Zürcher Bankschließfach.Am Noch am Tag der Unterschrift unter die Millionen Mark Beraterhonorar bei Thys- 8. Mai 1991 unterschrieben die zuständigen Zahlungspläne floss das erste Geld: Auf sen bereitstanden, aber anscheinend noch Manager der Thyssen Industrie AG die die Ovessim-Konten 269915 und 269914 bei kein Empfänger für das Geld ausgemacht ersten beiden unverdächtigen Marketing- der Crédit Commercial des France (CCF) war. Als Thyssen am 3. Juli 1991 eine Fäl-

58 der spiegel 46/1999 „Fuchs“-Panzer in Saudi-Arabien: Mehrfach überhöhte Preise für deutsche Qualitätsgüter ligkeitsliste aus den Zahlungen der Mar- mann und Schreiber vor dem Problem, des Auftragsvolumens erwogen und wieder keting-Verträge erstellte, wird der Betrag, nicht nur den wahren Adressaten des Gel- verworfen. der später über die Beratungsfirma ATG des nach außen verschleiern zu müssen, Am 24. Juli 1991 war schließlich der letz- an Schreiber ging, unter „NN“ als Glo- auch innerhalb des Konzerns durfte er te noch fehlende Vertragspartner gefun- balsumme aufgeführt – fällig seit dem nicht bekannt werden. den. An diesem Tag trafen sich der Thys- 10. Juni 1991. Bei dieser Aktion geriet wohl einiges sen-Justiziar Pigorsch und Maßmann mit Das Verwirrspiel um die Schreiber-Mil- durcheinander. Am 7. Mai 1991 hatte dem Treuhänder Wullschläger, um den lionen macht Sinn, wenn man der Ansicht Schreibers Unternehmen BBC bereits Marketing-Vertrag mit ATG zu unter- der Augsburger Staatsanwälte folgt. Diese Thyssen Henschel 2,4 Millionen Mark in schrieben.Am 2.August überwies der Kon- gehen davon aus, dass ein Teil des Geldes Rechnung gestellt; das zugesagte Honorar zern die ersten 11 Millionen von insgesamt zurück nach Deutschland ging; zum Bei- für die angebliche Kontaktanbahnung mit 24,4 Millionen Mark auf das Konto Num- spiel an die CDU. Schreiber hatte den da- ATG, die jedoch bis zu diesem Zeitpunkt mer 47252 der Swiss Bank Corp. in Zürich. maligen Schatzmeister der Partei, Walther noch keinen Marketing-Vertrag unter- Am Ende konnten alle zufrieden sein: Leisler Kiep, in einem Schreiben vom 20. schrieben hatte. Allerdings fanden sich Zwischen Juli und Dezember 1991 ver- Februar 1991 um Hilfe bei der politischen gleich zwei BBC-Rechnungen über den- schiffte die United Arab Shipping Com- Durchsetzung des selben Betrag, aber pany die 36 Fuchs-Panzerfahrzeuge nach Panzer-Geschäfts ge- mit unterschiedli- Saudi-Arabien. Damit hatte der arabische beten. Der Panzer-Deal war chen Begründungen: Staat – allerdings zu einem mehrfach über- Mögen die ande- für alle Beteiligten ein Mal ging es um höhten Preis – endlich lang ersehnte deut- ren Zahlungen auch gutes Geschäft Beraterleistungen im sche Qualitäts-Rüstungsgüter, deren Liefe- moralisch verwerf- Zusammenhang mit rung vorher undenkbar schien. lich sein, aus Sicht dem Nahen Osten, Durch den Sachdarlehensvertrag zwi- des Konzerns waren sie rechtmäßig, mal in „fernöstlichen Ländern“. Abge- schen dem Verteidigungsministerium und schließlich gingen die Gelder an so ge- bucht wurde das Geld bei Thyssen Hen- Thyssen Henschel vom 26. Juli 1991 erhielt nannte Steuerausländer. Und auch bei den schel schließlich am 11. Juni mit dem Ver- die Bundeswehr 10 neue Spürpanzer und Schreiber-Millionen ging man in den Chef- merk: „Für Thailand“. Die Zahlung stand 26 Transportpanzer. etagen von Thyssen davon aus, dass diese aber offensichtlich im Zusammenhang mit Trotz der horrenden Provisionszahlun- Gelder ins Ausland flossen, um das Panzer- der Vermittlung von Kontakten im saudi- gen machte Thyssen Henschel bei dem Geschäft zu befördern – weder die Staats- schen Geschäft. Panzer-Deal noch ein gutes Geschäft, mit anwälte noch interne Thyssen-Prüfer fan- Schreiber erhielt nach eigenen Angaben einer Umsatzrendite von über 15 Prozent. den für das Gegenteil einen Beleg. Ge- im Zusammenhang mit dem Panzer-Ge- Am 8. Februar 1994 gingen 430000 Mark genüber den Thyssen-Managern und dem schäft ausschließlich diese 2,4 Millionen auf das Konto der Gesellschaft Great Aziz zuständigen Finanzamt Düsseldorf erklär- Mark plus die zuvor gezahlten 1,35 Millio- ein. Mit dieser allerletzten Provisionsrate te der Geschäftsmann standfest, dass alle nen Mark, die er ordnungsgemäß versteu- waren insgesamt rund 217 Millionen Mark Gelder letztendlich an Steuerausländer ge- ert habe. an die vier Briefkastenfirmen gelaufen. gangen seien. Nur so konnte Thyssen die In diesen Tagen hatte Maßmann bei all Wären 1995 nicht die hartnäckigen Provisionszahlungen als „nützliche Ausga- der Geschäftigkeit anscheinend den Ermittler der Provinzstaatsanwaltschaft ben“ absetzen. Überblick verloren. Allem Anschein nach Augsburg auf den Plan getreten, die „Ope- Wenn die Ermittlungsergebnisse der wurden mehrere Adressaten für das noch ration Fuchs“ wäre für alle Akteure ein Staatsanwälte also zutreffen, standen Maß- ausstehende Honorar über sechs Prozent voller Erfolg geworden. Markus Dettmer

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Werbeseite Deutschland F. DARCHINGER F. P. LANGROCK / ZENIT P. Bonner Verteidigungsministerium, Zweitsitz Bendler-Block in Berlin: Systematisch geplante Arbeitserschwerung

gert. Prompt zeigt sich: Die Arbeit der HAUPTSTADT zersplitterten Bürokratie wird noch schwerfälliger, noch teurer und kostet mehr Nerven. „Hallo, wo seid ihr?“ Auch Minister mit offiziellem Hauptsitz am Rhein führen am liebsten in Berlin ihre Bonn und Berlin sollten sich die Regierungsarbeit teilen. Doch Geschäfte. Sie mühen sich zwar redlich, die strengen Personalräte nicht wegen sel- nun erledigen die Minister alles Wichtige an der Spree. tener Anwesenheit zu verärgern. Trotzdem Den getrennten Apparaten hilft auch Hightech nicht weiter. kreuzt etwa Gesundheitsministerin Fischer höchstens alle zwei Wochen in ihrem Bon- ür die Debatte der Gesundheitsre- transferieren. Wütend brachen die Abge- ner Hauptsitz auf. form wollte der zuständige Bundes- ordneten daraufhin am nächsten Tag ihre Bei Abwesenheit des Chefs aber leidet Ftagsausschuss sich gerade mal 45 Mi- Sitzung ab: Erst nachmittags waren zehn die Arbeitsmoral der Truppe, fürchtet nuten Zeit nehmen. Da müsse es doch rei- Bonner zur Stelle. zum Beispiel Verteidigungsminister Ru- chen, wenn fünf Bonner Beamte zwecks Regieren im Herbst 1999. Das ist der Ver- dolf Scharping. Deshalb streift der SPD- Beratung eingeflogen würden. Das jeden- such, eine systematisch geplante Er- Politiker in sitzungsfreien Wochen in- falls meinte Werner Sipp, Leiter des Parla- schwernis zu ignorieren: die Spaltung des zwischen häufiger über die Flure der ments- und Kabinettsreferates von Ge- Regierungsapparates. Hardthöhe.Wenn allerdings das Parlament sundheitsministerin Andrea Fischer. Zwei Drittel der insgesamt rund 18000 tagt, reicht die Zeit noch nicht einmal zur Doch am Nachmittag vor der Sitzung Arbeitsplätze sowie 6 von 14 Ministerien Stippvisite. verabredeten die Politiker für den folgen- sollen mit ihrem „1. Dienstsitz“ dauerhaft In den Sitzungswochen hingegen hasten den Tag eine mehrstündige Debatte. Sie am Rhein bleiben. Nur mit diesem Zuge- viele Bonner durch den Reichstag und das verlangten nun gleich die Präsenz von ständnis war den Umzugsgegnern einst umliegende Regierungsviertel. Abtei- zwölf Ministerialen in Berlin. ihre Zustimmung abzuringen. lungsleiter Hermann Schulte-Sasse aus Und bescherten damit dem Referatslei- Doch nur zwei Monate nach dem Einzug dem Gesundheitsressort, zum Beispiel, lebt ter Sipp eine kaum lösbare Aufgabe: So von Parlament und Regierungsspitzen in dann oft tagelang aus dem Koffer, fliegt schnell lassen sich so viele Beamte offen- Berlin hat sich das politische Geschäft bei- mehrfach zwischen Köln und Berlin hin bar nicht aus Bonn in die neue Hauptstadt nahe vollständig in die Hauptstadt verla- und her und absolviert von 8 Uhr bis 23 Uhr pausenlos Termine. Wie sehr die kleine Stadt am Rhein für das politische Kerngeschäft abgemeldet ist, illustrieren die Treffen zwecks Absprachen zwischen den Ressorts: Sie finden fast nur noch in Berlin statt. „Sogar die Bonner Mi- nisterien müssen nach Berlin einladen“, berichtet Jürgen Trittins Abteilungsleiter Rainer Hinrichs-Rahlwes, „die Berliner kommen sonst nicht.“ Und der Sog gen Osten wird noch stär- ker. Freie Stellen vor allem im gehobenen und höheren Bonner Dienst sind nicht mehr leicht zu besetzen. Seit längerem fin- det zum Beispiel Finanzminister Hans Ei- BACH & PARTNER BACH Videokonferenz im Berliner Arbeitsministerium*: Sog gen Osten * Mit Staatssekretär Werner Tegtmeier (M.).

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Viele Fragen, glaubt Haushalts- ausschuss-Vorsitzender Adolf Roth (CDU), ließen sich mit den Berliner Kopfstellen klären. Wenn er sich da mal nicht täuscht. Auf Hochtouren kann die Regierungsmaschine an der Spree nur dienstags bis don- nerstags arbeiten. Freitags ab 14 Uhr und montags vor Mittag geht so gut wie nichts, weil die Pendler unterwegs sind. Sie müssen, wie bei einer Pau- schalreise nach Katmandu, „am Flughafen bis 90 Minuten vor Abflug“ ankommen, hat das Kölner Bundesamt für Güter- verkehr verfügt, um die Beam- ten-Bomber der beauftragten Fluglinien zu besteigen. Mit An- und Abreise wird

P. LANGROCK / ZENIT P. auch aus einem halbstündigen Pendelnde Ministerialbeamte (in Berlin): Regierungsmaschine auf Hochtouren Palaver eines hochdotierten Regierungsnomaden flugs ein chel keine geeigneten Kandidaten für drei können nichts sehen, und die Berliner voller Arbeitstag, zum Ärger der ohnehin Spitzenjobs in Bonn. haben ihre Fernbedienung für die Kame- gestressten Berliner Bürokraten. Dabei schien Deutschlands politischer ra unter irgendeine Aktenmappe rutschen „Dieses Durcheinander kann kein Dau- Doppelkopf optimal organisiert.Was Men- lassen. erzustand bleiben“, ärgert sich Verteidi- schen und Orte trennt, soll die Technik zu- Auf der Tagesordnung stehen Abspra- gungsstaatssekretär Walter Stützle. Insge- sammenführen. Der Einsatz von E-Mail, chen über Filme und Broschüren des Res- heim hat seine Truppe bereits ausgemes- Videokonferenzen und elektronischer sorts. Ein Deckblatt, das der Bonner Be- sen, dass in dem riesigen Bendler-Block Akte, versprachen die Leute des regie- amte in die Kamera hält, lässt Fitting her- am Landwehrkanal, wo nach dem Umbau rungsamtlichen „Informationsverbundes anzoomen – auf der Mattscheibe erscheint Scharping mit 350 Ministerialen residieren Berlin-Bonn“ (IVBB), werde die 600 Kilo- auch die Hand des Bonners immer größer. soll, sogar 2000 Personen Platz fänden. meter Distanz praktisch vergessen machen. „Du hast wohl gestern im Garten gegra- Raum genug also für ein verkleinertes, aber Leider aber funktioniert die interne ben“, lästert ein Berliner. ungeteiltes Ministerium. Kommunikation schlecht, besonders in den Für Heiterkeit sorgt der Umgang mit Auch im Kanzleramt verspüren Schrö- Bonn-Ressorts. Auf den zwei Kreuzberger dem ungewohnten Medium allerorten. ders Mitstreiter teilweise einen „hohen Etagen des Entwicklungshilfe-Ministeriums Bild- und Tonqualität sind teilweise noch so Druck, das bestehende Modell zu verän- – erster Dienstort Bonn – liegen die Räu- schlecht, dass Gesundheitsstaatssekretär dern“, sagt ein Spitzenkader. me von Ministerin, Staatssekretären und Erwin Jordan zu Beginn der virtuellen Schon laufen Wetten, wie lange das Ex- Pressesprechern eng beieinander. Doch Konferenzen die Beamten ermahnt: „Mei- periment mit der Doppelkopf-Regierung selbst einfache telefonische Anfragen lan- ne Herren, bitte sprechen Sie langsam und noch geht. Der Haushaltsausschuss-Vorsit- den im Nichts, „seit das Berlin-Ding läuft“, bewegen sich nicht so schnell.“ zende Roth ist da ziemlich skeptisch: „Die wie eine Sprecherin einräumt. Selbst in Häusern, wo die vom IVBB zu- Illusion, der momentane Zustand sei ewig Ministeriale in allen Ressorts tun sich gesagte Leitungskapazität inzwischen in- haltbar, schwindet rasch.“ schwer, Informationen per E-Mail auszu- stalliert ist, die Technik funktioniert und Doch die rot-grüne Koalition fürchtet, tauschen. Scharpings Staatssekretäre im gar probeweise Akten am Bildschirm be- wie ihre Vorgänger, das einflussreiche Berliner Bendler-Block etwa, von den Stä- arbeitet werden, hat sich die Zahl der Nordrhein-Westfalen. Vor den Landtags- ben der Hardthöhe auf diesem Wege mit Dienstreisen zwischen den Städten dras- wahlen im kommenden Frühjahr soll eine Vorlagen versorgt, mögen die Texte nicht tisch erhöht. In der neuen Hauptstadt er- Debatte möglichst nicht hochkommen. selber ausdrucken. Sie erwarten, dass Un- warten die Abgeordneten den gleichen Vorsorglich hat Innenminister Otto Schily tergebene, wie es in Bonn Brauch war, die Bürokraten-Service wie früher. (SPD) im Entwurf einer umfangreichen Ka- Papiere in die dafür vorgesehenen Map- Der Aufwand mutet schon mal grotesk binettsvorlage „Moderner Staat, moderne pen einsortieren. Dafür freilich fehlt in Ber- an. So mussten unlängst 70 hohe Militärs Verwaltung“ darauf verzichtet, das Thema lin das Personal. und Zivilisten des Verteidigungsministeri- überhaupt zu erwähnen. Besprechungen per Videokonferenz sind ums mitsamt Aktenbergen in einer „Trans- Die Bonner haben sich allerdings schon auch nicht sehr verbreitet und beschränken all“ an die Spree fliegen, um dort vier Par- längst auf den Verlust eingestellt und fin- sich auf unkomplizierte Themen. lamentariern Rede und Antwort zu stehen. den durchaus Ersatz für die fehlende Im Berliner Arbeitsministerium, dessen Dass bei der Einbringung des Etats im Hauptstadtfunktion. Personal zu 80 Prozent in der Bonner Plenum hinter der Regierung kein hoher An Silvester können bei Beethovens Außenstelle zurückblieb, bittet Walter General gesessen habe, bedauert der CDU- Neunter Sinfonie 800 Gäste, so haben es Riesters Sprecherin, Franziska Fitting, ei- Wehrexperte heftig. Doch was die Stadtoberen beschlossen, unter dem nige Öffentlichkeitsarbeiter zum virtuel- „früher immer üblich“ war, erscheint heu- Bundesadler im ehemaligen Plenarsaal fei- len Treffen unter dem Porträt des Bun- te als schierer Reiseluxus. ern. Gegen Mitternacht will der vor Ort despräsidenten. Kaum hat sie die auf dem Wenigstens die sparsamen Haushälter prominente Kabarettist Konrad Beikircher Bildschirm unscharf erkennbaren Kollegen wollen sich von einigen Gewohnheiten ans Rednerpult treten, zur „Neujahrsan- begrüßt, scheppert es aus dem Lautspre- trennen und nicht mehr zu jedem Tages- sprache 2000“. Petra Bornhöft, cher: „Hallo, wo seid ihr?“ Die Bonner ordnungspunkt Bonner Beamte bestellen. Alexander Szandar

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SPIEGEL-GESPRÄCH „Abschied von der alten BRD“ Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Reinhard Höppner (SPD) über die Wahlniederlagen seiner Partei, das Verhältnis zur PDS und die Identitätsprobleme der Westdeutschen nach neun Jahren Einheit M. URBAN

SPIEGEL: Herr Ministerpräsident, Gerhard Reinhard Höppner leren Einkommen entlastet worden. Aber Schröder hat versprochen, den Aufbau Ost regiert seit 1994 mit einem Minder- die SPD hat zugelassen, dass im Land der zur Chefsache zu machen.Haben Sie davon heitskabinett in Sachsen-Anhalt – tole- Eindruck entstand, die Gerechtigkeit wäre schon etwas bemerkt? riert von der PDS. In der DDR war der uns nicht mehr so wichtig. Und da ist der Höppner: Der Kanzler nimmt sich der Sache studierte Mathematiker in der evan- Osten nun besonders empfindlich. inzwischen deutlich an. Trotz der Spar- gelischen Kirche engagiert und Vize- SPIEGEL: Wodurch entstand dieser Ein- maßnahmen sind 2,3 Milliarden Mark mehr präsident der letzten, frei gewählten druck? für den Aufbau Ost im Haushaltsplan 2000 Volkskammer. Seit den Wahlniederla- Höppner: Durch falsche Symbole. Oskar La- eingestellt als bei der letzten Regierung gen der SPD im September sind er und fontaines Rückzug war eines davon … Kohl. Die Koalition lässt keinen Zweifel der niedersächsische Ministerpräsident SPIEGEL: … die Zigarre des Kanzlers ein daran, dass der Solidarpakt auch nach 2004 Gerhard Glogowski die einzigen So- weiteres. fortgesetzt wird. zialdemokraten, die ohne Koalitions- Höppner: Schwerer wog Lafontaines Ab- SPIEGEL: Sind die Ost-Wähler zu dumm, partner ein Bundesland regieren. Nach gang. dies als Wohltat zu begreifen? dem Auseinanderbrechen des SPD- SPIEGEL: Vor einem Jahr errang die SPD ei- Höppner: Unser dramatischer Einbruch bei Spitzenduos Regine Hildebrandt und nen furiosen Wahlsieg. Inzwischen sind den Landtagswahlen im Osten lag daran, in Brandenburg gilt Kanzler, Regierung und SPD beim Wahl- dass wir uns um die Fragen der Gerechtig- nun der wesentlich jüngere Höppner, volk unten durch. Wie konnte das passie- keit nicht genug gekümmert haben. Das ist 50, zunehmend als Vormann der ost- ren? zwar sachlich nicht ganz berechtigt. Denn deutschen Sozialdemokraten. Höppner: Wir haben uns ein paar Fehler zu unter dem Strich sind die kleinen und mitt- viel geleistet.

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Werbeseite Deutschland ARIS Kanzler Schröder*: „Ein paar Fehler zu viel“

SPIEGEL: Zum Beispiel? endlich anpacken, das hohen Symbolwert Höppner: Als Norbert Blüm eine neue Ren- hat: die Angleichung der Löhne im Öf- tenformel vorlegte, haben wir von Ren- fentlichen Dienst. tenkürzung gesprochen, obwohl das Mo- SPIEGEL: Berlins Regierender Bürgermeister dell nur die Steigerungsraten verringern Eberhard Diepgen – ein CDU-Mann – hat sollte. Wir haben an dieser Stelle absichts- das hinbekommen. voll ungenau gesprochen, und das fällt uns Höppner: Er ist aus der Tarifgemeinschaft jetzt auf die Füße. Daraus kann man nur der Länder ausgestiegen. Das ist starker eine Lehre ziehen: Wir müssen auch in Tobak für einen, der stets nach Bundeshil- Wahlkämpfen so genau reden, dass die Din- fen ruft. Ich habe jetzt einen Plan unter- ge bis ins Letzte stimmen. Aber es gab eine breitet, den ich als das Minimum ansehe. In Reihe von konkreten Zusagen, die wir ein- den nächsten neun Jahren müssen wir die gehalten haben. Das darf nicht vergessen Angleichung schaffen: Zwei Jahre lang soll- werden. Doch wir haben im Wahlkampf ten wir die Arbeitszeiten angleichen, die im nicht genug über die Größe der Herausfor- Westen immer noch niedriger sind als im derungen geredet, die vor uns stehen. Osten; sieben Jahre lang die Gehälter. SPIEGEL: Warum endeten manche Gesetzes- Dann gibt es endlich gleichen Lohn für projekte so kläglich wie die Reform der gleiche Arbeit. 630-Mark-Jobs? SPIEGEL: Wird sich der Kanzler dafür er- Höppner: Wir haben manchmal Lösungen wärmen? für Probleme angeboten, die die Leute Höppner: Ich bin darüber im Gespräch mit noch gar nicht als Probleme erkannt hat- dem Bundesfinanzminister. Und ich setze ten. Man kann sagen: Die Problemlösun- darauf, dass der Bundesregierung das gen wurden zum Problem. Beispiel: Problem jetzt noch bewusster wird, wo Scheinselbständigkeit oder 630-Mark-Jobs. sie in Berlin sitzt und den Tarif-Wirrwarr Da gab es wirklich Handlungsbedarf, weil zwischen Ost und West erlebt. Der Um- die 630-Mark-Jobs so ausuferten, dass im zug nach Berlin kann dazu beitragen, dass Grunde genommen eine breite Grauzone ein Bewusstsein für gemeinsame Heraus- entstanden ist zur Steuervermeidung. forderungen, für eine gemeinsame Iden- SPIEGEL: Das haben die Finanzminister be- tität von Ost- und Westdeutschen ent- griffen, nicht aber die Wähler. steht. Höppner: Richtig. Wir hätte den Leuten sa- SPIEGEL: Identität entsteht in der Regel eher gen müssen, was wirklich dahinter steckt. durch Abgrenzung. Wenn die Menschen das Pro- blem erkannt und wir dann eine Lösung vorgelegt hätten, hätten die Leute gesagt: Gott sei Dank, jetzt haben die So- zialdemokraten diese Frage geklärt. SPIEGEL: Kann die SPD diese Schnitzer ausgleichen? Höppner: Was den Osten be- trifft, müssen wir ein Thema

* Oben: beim Besuch des Eko-Stahl- werks am 1. September in Branden- burg; unten: Horand Knaup, Hans-Jörg

Vehlewald und Stefan Berg im Willy- M. URBAN Brandt-Haus in Berlin. Höppner, SPIEGEL-Redakteure*: „Saubere Partei“

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Höppner: Wir können im vereinten kommen will, muss sie sich von diesem in Mecklenburg-Vorpommern ähnlich. Deutschland unsere Identität nicht mehr Ost-Gejammer verabschieden. Auch Ministerpräsident Harald Ringstorff dadurch gewinnen, dass wir Schuld ande- SPIEGEL: Damit gewinnt sie aber derzeit im hat die PDS dazu gebracht, die Haushalts- ren zuschieben. Identität durch Abgren- Osten Wahlen. konsolidierung mitzutragen. zung zu finden ist eine gefährliche Ge- Höppner: Wir in Sachsen-Anhalt haben an- SPIEGEL: Sie sind also nicht generell der Mei- schichte. Das ist durchaus im Moment im dere Erfahrungen mit der PDS gemacht. nung, dass die PDS im Osten koalitionsfähig Gange, aber überhaupt kein reines Ost- Wir mussten etwa Gelder für Kinderbe- ist, sondern nur da, wo die SPD über Problem. Auch die Westdeutschen haben treuung kürzen. Die PDS hat diese Ent- Pädagogen wie Sie und Ringstorff verfügt? ein Identitätsproblem. scheidung zwar erst torpediert, dann aber Höppner: Generell ist festzustellen, dass die SPIEGEL: Das dürfte dem Westen bislang mitgetragen. Da hat die PDS eine harte DDR-Vergangenheit der Parteien bei der entgangen sein. Lernstrecke hinter sich gebracht. Wahlentscheidung der Menschen keine Höppner: Die Westdeutschen haben lange SPIEGEL: Nachdem Sie mit dem Ende des entscheidende Rolle mehr spielt. Weder in der Illusion gelebt, sie bräuchten sich Magdeburger Modells, der Tolerierung, ge- PDS noch CDU wird angelastet, dass SED nicht zu verändern in diesem gemeinsa- droht hatten. und Ost-CDU mitverantwortlich waren für men Deutschland. Man redet immer von Höppner: Ich glaube, dass diese Erfahrung Mauer, Stacheldraht und Schießbefehl. der „ehemaligen DDR“, was Unsinn ist. bei der PDS nachhaltig gewesen ist. Das ist Und es hilft uns auch nicht, dass die SPD Es gibt nämlich keine neue DDR. Aber man könnte mit gutem Grund von der „ehemaligen Bundesrepublik“ sprechen, denn es gibt ja eine neue seit 1990. Das nehmen die Westdeutschen noch nicht wahr, aber vielleicht dämmert es ihnen langsam. SPIEGEL: Den Schuldenberg hat die neue Bundesrepublik aber vor allem der alten DDR zu verdanken. Höppner: Den Reformstau jedoch der alten Bundesrepublik. Die Schwierigkeiten, heu- te Reformen durchzuführen, werden oft mit der Einheit erklärt. Also ist wieder der Osten schuld. Das ist eine schöne west- deutsche Legende, mit der man dem Osten die Schuld am nötigen Konsolidierungs- programm zuschieben kann. SPIEGEL: Schadenfreude, wenn’s jetzt auch im Westen ans Eingemachte geht? Höppner: Nein, ich bin überhaupt nicht schadenfroh. Ich halte es bloß für nötig, dass die Westdeutschen diesen Lernpro- zess im Zuge der deutschen Einheit nun tatsächlich auch vollziehen.Aber auch un- sere Lernprozesse sind ja nicht abge- schlossen. SPIEGEL: Was kommt noch auf den Osten zu? Höppner: Bei der Bekämpfung der Arbeits- losigkeit muss die Sonderbehandlung Ost aufhören. Strukturschwachen Regionen im Westen muss genauso geholfen werden wie strukturschwachen Gebieten im Osten.Vie- le Ostdeutsche müssen endlich zur Kennt- nis nehmen, dass auch im Westen Arbeits- lose und Sozialhilfempfänger leben. Nur wenn wir diese Ost-West-Denkbarrieren überwinden, werden wir die Einheit erfolg- reich gestalten. SPIEGEL: Haben Sie sich für dieses Projekt nicht einen etwas seltsamen Partner aus- gesucht? Die PDS lebt von der Abgren- zung vom Westen. Höppner: Jede Partei muss sich die Frage ge- fallen lassen: Was tragt ihr denn zum Zu- sammenwachsen bei? Diese Frage ist zwei- fellos für die PDS eine besonders dringen- de. Es geht nicht an, dass eine Partei ihre Hauptzustimmung aus den Unterschieden zwischen Ost und West saugt. Das darf man der PDS nicht durchgehen lassen. Wenn sie jetzt in ganz Deutschland an-

72 der spiegel 46/1999 im Osten eine neu gegründete, schöne, sau- Höppner: Darüber will ich mit den ande- SPIEGEL: Befürworten Sie eine Amnestie bere Partei ohne diese Vergangenheit ist. ren Ministerpräsidenten im Osten reden. für Egon Krenz? Wir kriegen keinen Bonus mehr. Wir brauchen vergleichbare Spielregeln Höppner: Nein. Der Rechtsstaat hat aufs SPIEGEL: Die PDS lebt im Osten vom The- in allen neuen Bundesländern. Wenn Ganze gesehen seine Möglichkeiten sinn- ma DDR-Biographien. Wie will die SPD die Bildung einer terroristischen Vereini- voll genutzt. Eine Amnestie kommt für ihr dieses Thema nehmen? gung nach zehn Jahren verjährt, darf mich nicht in Frage. Höppner: Die Frage, wie die Ostdeutschen auch das Ausspionieren nach zehn Jah- SPIEGEL: Ist die PDS im Osten eine Volks- als akzeptierte Partner im gemeinsamen ren keine Nachteile für jemanden mehr partei? Deutschland ankommen können, sollten haben. Wir brauchen da schnell eine Lö- Höppner: Volksparteien gibt es im Osten Sozialdemokraten offensiver angehen. Da- sung. nicht, wenn man darunter Parteien vor haben sich manche gescheut, was mit SPIEGEL: Die einfachste wäre die mit großen Mitgliederzahlen versteht. unserer Geschichte zu tun hat. Diese Scheu Schließung der Gauck-Behörde, oder? Wenn man sich fragt, wie tief die müssen wir überwinden, weil wir das Feld Höppner: Nein, ich will keinen Schluss- Parteien in der Bevölkerung verwurzelt nicht der PDS überlassen dürfen. strich. Ich halte es übrigens auch für völlig sind, so würde ich schon sagen: Es gibt SPIEGEL: Also Stasi-Überprüfungen ab- abwegig, die Gauck-Behörde dem Bun- inzwischen drei Volksparteien – SPD, schaffen? desarchiv zuzuordnen. PDS und CDU. SPIEGEL: Können Sie sich vorstellen, dass einmal die SED-Nachfolger eine PDS-SPD- Koalition anführen? Höppner: Sie meinen, dass Sozialdemo- kraten einen PDS-Ministerpräsidenten wählen? SPIEGEL: Die PDS ist schon jetzt in Ost- Berlin, Sachsen und Thüringen stärker als die SPD. Höppner: Glücklicherweise ist Ost-Berlin kein eigenes Bundesland. Dass Sozialde- mokraten einen PDS-Mann zum Minister- präsidenten wählen, halte ich für ausge- schlossen. SPIEGEL: Warum? Höppner: Ich jedenfalls könnte das nicht befürworten – auf lange Zeit nicht. Lan- desregierungen müssen so gebildet wer- den, dass sie im gesamtdeutschen Konzert des Föderalismus durchsetzungsfähig sind. Und genau das wäre eine solche Regierung nicht. SPIEGEL: Wenn die PDS in einem Landtag die Mehrzahl der Abgeordneten stellt, geht der Regierungsauftrag an sie – ob föderal akzeptiert oder nicht. Höppner: Die Situation, in der die PDS ein- mal stärkste Partei ist, wird hoffentlich nie eintreten. SPIEGEL: Halten Sie die PDS im Bund für koalitionsfähig? Höppner: Nein, weil sie bundesweit nicht akzeptiert ist. Man braucht für Koalitio- nen nicht nur im Parlament eine Mehrheit, sondern auch in der Gesellschaft. Und im Westen ist diese Partei bis heute eben nicht akzeptiert. SPIEGEL: Aber auch dort gewinnt sie an Pro- zenten hinzu. Höppner: Die PDS träumt davon, eine Linkspartei zu werden, vergleichbar mit den Kommunisten in Frankreich oder Ita- lien. Richtig ist: In fast allen europäischen Ländern gibt es solche Parteien links von der Sozialdemokratie, in mehreren Län- dern regieren sie sogar mit. Die PDS ist da- von noch weit entfernt. Solange noch der Block von alten Funktionären diese Partei wesentlich mitbestimmt, sind die Chancen, eine moderne Linkspartei zu werden, nicht sehr groß. SPIEGEL: Herr Höppner, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

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Werbeseite INNERE SICHERHEIT Guck und Greif In Dresden und Leipzig überwacht die Polizei Teile der Innenstadt per Video. Andere Städte wollen folgen. Ob Kameras Krimi- nelle abschrecken, ist umstritten. er neue Job von Polizeihauptmeis- ter Lothar Arndt ist in der Regel Dziemlich langweilig: Nach einem vom Computer festgelegten Kurs schwen- ken zwei Videokameras über die Dresdner Fußgängerzone hinter dem Hauptbahnhof. Arndt verfolgt das Treiben in der Ein- kaufsstraße auf zwei Monitoren in der Ein- satzzentrale. Bemerkt der Beamte etwas Auffälliges, dirigiert Arndt mit einem Joystick das elek- tronische Auge dorthin, wo Sicherheit und Ordnung auf der Dresdner Flaniermeile Überwachungskamera an der Prager Straße in Prager Straße in Gefahr sind. Per Funk wird ein Streifenpolizist zum Tatort gelotst. Passiert ist das, seit die Dresdner Fußgängerzone elektronisch überwacht wird, noch nie. „Verbrechen haben wir kei- ne aufgeklärt“, sagt Arndt. Er und zwölf Kollegen sind seit dem 5. Oktober abkom- mandiert zum Videogucken – von zehn Uhr morgens bis zwei Uhr nachts. Nach zwei Stunden werden die Teams, immer zwei Personen, abgelöst. Vor ihrem Einsatz mussten die Beamten Datenschutzbestimmungen pauken: keine

Aufzeichnungen, ohne dass ein konkreter FOTOS: S. DÖRING / VISUM PLUS 49 Tatverdacht vorliegt. Bestätigt sich der Ver- Kontrollmonitore in Dresden dacht nicht, muss sofort gelöscht werden. „Bei Schnee alles grisselig“ Polizeisprecher Karsten Schlinzig hört das Wort Videoüberwachung gar nicht gern: nur auf die Fernseh-Dauerüberwachung „Das klingt so nach Stasi, Horch und zurückzuführen ist, weiß Polizeisprecher Guck.“ Er spricht lieber von „Bildüber- Günter Pusch nicht: „Eine richtige Unter- tragung mit präventivem Charakter“. suchung über die Wirksamkeit der Technik Die Landeshauptstadt ist nicht der ein- gibt es nicht.“ Kritiker argwöhnen, die zige Ort im Sächsischen, wo Hightech das Kameras führten bloß dazu, dass die Die- „subjektive Sicherheitsgefühl der Bürger be woanders in der Stadt zuschlagen. erhöhen soll“ (Schlinzig). Seit drei Jahren In Dresden sind dem amtlichen Voyeu- wird das Areal rund um den Leipziger rismus zudem technische Grenzen gesetzt. Hauptbahnhof elektronisch observiert. Bei Platzregen liefert die Kamera Bilder in Das SPD-regierte Niedersachsen schuf derart bescheidener Qualität, dass der Be- vor fünf Jahren in seinem Gefahrenab- amte am Monitor nur noch erahnen kann, wehrgesetz erstmals die juristischen Vor- was auf der Prager Straße vorgeht. „Bei aussetzungen für Guck und Greif. In Schneetreiben“, schwant einem Schutz- Braunschweig, Osnabrück, Melle und Lehr- mann, „wird das wohl die Qualität vom te wurden Überwachungsanlagen in dunk- Westfernsehen zu DDR-Zeiten haben: al- len Unterführungen und Tunneln – meist in les grisselig.“ Bahnhofsnähe – installiert. Ein Jahr später Bei der ostdeutschen Bevölkerung indes folgten die Sachsen. Erwogen wird der Ein- findet der Einsatz von Kameras auf Plätzen satz der Videotechnik in Berlin, Halle und und in Fußgängerzonen vorbehaltlose Zu- in der Hessen-Metropole Frankfurt. stimmung – als hätte es die einst allge- Polizei-Praktiker sind skeptisch, ob genwärtige Stasi nie gegeben. Bei einer Überwachungskameras tatsächlich die Telefonumfrage des Mitteldeutschen Rund- Straßenkriminalität eindämmen können. funks sprachen sich 86 Prozent der Anru- Zwar sind etwa in Leipzig die Auto- fer für die Videoüberwachung aus. diebstähle rund um den Hauptbahnhof um Die Polizei im sachsen-anhaltinischen die Hälfte zurückgegangen. Doch ob das Halle möchte denn auch möglichst bald

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Dresden: „Wer kann garantieren, dass die Technik nicht missbraucht wird?“

den Marktplatz mit Videokameras über- schirm bekämpfen zu wollen. Auf ihrer wachen lassen. Doch noch lässt das Si- Jahrestagung Anfang Oktober in Rostock cherheits- und Ordnungsgesetz des Landes forderten sie den Gesetzgeber auf, Vor- die elektronische Observation öffentlicher kehrungen zu treffen, „damit der schmale Areale nicht zu. Das will nicht nur die op- Grat zum Missbrauch“ nicht überschrit- positionelle CDU im Magdeburger Land- ten wird. tag ändern, auch Innenminister Manfred In vielen Städten sind öffentliche Plätze Püchel (SPD) gewinnt dem Kameraein- und Privatwohnungen mittlerweile die ein- satz positive Seiten ab. An Kriminalitäts- zigen Orte, die nicht elektronisch über- schwerpunkten, so der Minister Anfang wacht werden. In Kaufhäusern, Tankstel-

Oktober vor dem Magdeburger Landtag, len, Tiefgaragen, Banken, Bahnhöfen und / PUNCTUM B. KOBER sei „der gezielte Einsatz von Videoüber- Flughäfen haben elektronische Augen den Polizeiwarnung am Leipziger Hauptbahnhof wachungstechnik ein sinnvolles, notwen- Passanten längst im Dauervisier. 100 Ka- Sponsoren aus der Wirtschaft? diges polizeiliches Mittel“. meras sind allein auf dem Frankfurter Die PDS, der Tolerierungspartner der Hauptbahnhof installiert. „Wer kann denn 900 Millionen Mark pro Jahr für immer SPD-Minderheitsregierung, hält von einer wirklich noch garantieren“, klagt ein Da- ausgefeiltere Videotechnik aus. Gesetzesänderung indes nichts. „Da wird tenschützer, „dass die Technik nicht miss- Mehr als das Lamento der Datenschüt- es zum Showdown zwischen Püchel und braucht wird.“ zer lassen die Kosten viele Kommunen in uns kommen“, droht ein führender PDS- Andernorts sind die Behörden nicht so Deutschland vor einer Totalüberwachung Genosse. pingelig. Im Londoner Stadtteil Newham ihrer Innenstädte zurückschrecken. Abhil- Mit Unbehagen beobachten auch die etwa kontrollieren 250 Kameras nahezu je- fe könnte von der Wirtschaft kommen: Die Datenschutzbeauftragten des Bundes und den Winkel (SPIEGEL 27/1999). Nach Be- 100000 Mark teure Dresdner Videoanlage der Länder den wachsenden Drang der rechnungen von britischen Bürgerrechts- sponserte ein örtliches Kaufhaus. Politiker, Straßenkriminalität per Bild- organisationen geben staatliche Stellen fast Hans-Jörg Vehlewald, Andreas Wassermann Deutschland

teraner Ex-Notar Andreas Preuß erinnert. Strohmänner, die mit ein paar tausend KRIMINALITÄT In Justizkreisen der holsteinischen Provinz Mark abgefunden werden sollten – be- habe man sich, so Preuß, „immer schon“ kommen haben sie nichts. Unter anderem Nur Taschengeld gewundert, wie Jöcks Jahr für Jahr den soll Jöcks eine Protokollführerin des Amts- neuen Mercedes finanziert habe. gerichts Neumünster benutzt haben, die Ein Richter steht in Kiel vor Nach Ansicht der Staatsanwaltschaft mit aufgrund „ihres grenzenlosen Vertrauens“ unsauberen Geschäften. Neben seiner (Anklageschrift) zum Amtsrichter mehre- Gericht: Er soll mehrere Banken Richtertätigkeit war Jöcks Alleingesell- re Kaufverträge unterschrieb. Die Frau um Millionen gebracht haben. schafter und, so die Anklage, auch Ge- steht nun bei der Bank mit einer sechs- schäftsführer einer Immobilien-Gesell- stelligen Summe in der Kreide. ls der Beschuldigte im März ver- schaft, der Kieler VIM Möller GmbH. Eine Mit gefälschten Papieren und dem haftet wurde, sackte ihm vor solche Nebentätigkeit ist Richtern gesetz- guten Namen des Amtsrichters sollen die ASchreck der Kreislauf weg. Zwar lich untersagt. Banken von der Seriosität des Geschäfts hatten drei Staatsanwälte und bis zu Laut Anklage geriet die VIM Möller überzeugt und zur Gewährung von Kredi- zwölf LKA-Beamte ein Dreivierteljahr lang GmbH Ende 1995 in finanzielle Schwierig- ten in sechsstelliger Höhe bewogen worden gegen ihn ermittelt, doch Klaus-Dieter keiten. Beim Kauf einer Millionen-Immo- sein.Als von den Strohmännern kein Geld Jöcks, 55, wähnte sich stets sicher. Kein bilie in bester Lage am Kieler Lorentzen- kam, wurden die Objekte zwangsverstei- Wunder – der Mann ist Richter. damm hatte sich die Gesellschaft über- gert, die VIM Möller GmbH konnte sie bil- Am Donnerstag dieser Woche beginnt nommen. Daher habe Jöcks mit einigen lig zurückkaufen. „Kick-back-Geschäfte“ vor der 6. Großen Strafkammer am Land- Bekannten den Entschluss gefasst, Immo- nennen das die Ermittler. Mit einigen Dut- gericht Kiel der Prozess gegen den bilien der Firma zu weit überhöhten Prei- zend solcher Deals sollen Jöcks und seine ehemaligen Richter am Amtsgericht im sen zu verkaufen. Truppe einen Schaden von mehreren Mil- schleswig-holsteinischen Neumünster. Die Nach Zeugenaussagen bildeten die Be- lionen Mark verursacht haben, Schätzun- Staatsanwaltschaft wirft ihm in ihrer 420 teiligten eine Gruppe, in der die Aufgaben gen gehen bis zwölf Millionen. Genauere Seiten umfassenden Anklageschrift (Ak- klar verteilt waren: Jöcks soll der Chef ge- Zahlen gibt es bislang nicht. tenzeichen 590 Js 27508/98) unter anderem wesen sein. Zwei Geschäftsleute seien für Anfang 1997 geriet die VIM Möller gefährliche Körperverletzung, Bedrohung, die Finanzierungen und die Kontakte zu GmbH weiter ins Schleudern: Die Spar- Veruntreuung, Betrug, Urkundenfälschung, den Banken verantwortlich gewesen. Der kasse Kiel forderte Kredite über sieben Mil- Rechtsbeugung und Bestechlichkeit vor. Mitangeklagte Farzin S., ein in der Kieler lionen Mark zurück. In ihrer Not erschie- Damit wird erstmals in der neueren deut- Halbwelt bekannter Schläger, sollte als Ge- nen einige Komplizen Jöcks’ beim Notar schen Justizgeschichte einem Richter we- schäftsführer auftreten. Zudem wurde, so Preuß: Die VIM Möller GmbH wollte das gen einer ganzen Reihe schwerer Strafta- berichtet ein Zeuge, ein ehemaliger Kri- Stadthaus am Kieler Lorentzendamm und ten der Prozess gemacht. Jöcks drohen bis minalbeamter aus Neumünster ein Mehrfamilienhaus auf Sylt zu zehn Jahre Haft. Jöcks und sein Anwalt hinzugezogen, der Jöcks und an den „gut betuchten Ree- mochten sich gegenüber dem SPIEGEL zu seine Komplizen über mögli- derssohn“ (Preuß) Gernot Fi- der Anklage vergangene Woche nicht che Ermittlungen der Justiz auf scher aus Hamburg verkaufen. äußern. dem Laufenden halten sollte. Der Kaufpreis sollte rund 9,4 Als Amtsrichter bekam der Angeklagte Die Deals liefen, so die An- Millionen Mark betragen – der nach Besoldungsgruppe R 1 9076 Mark klage, immer nach dem glei- tatsächliche Wert lag laut An- Grundgehalt im Monat. Vor Juristenkolle- chen Muster: Die VIM Möller klage bei etwa 6 Millionen. gen brüstete er sich, das sei für ihn „ja nur GmbH veräußerte Immobilien Nach Einschätzung der Er- ein Taschengeld“, wie sich der Neumüns- stark überteuert an mittellose mittler wurde Reederssohn Fi- scher vom weiteren Mitange- Beschuldigter Jöcks klagten Günter S. gespielt, der sich mit einem gefälschten Rei- sepass legitimierte. Mit den Kaufverträgen sollte der Gläubigerbank Liquidität vor- getäuscht werden – was tatsächlich gelang. Die Sparkasse Kiel verzichtete darauf, ihre Millionenforderung sofort geltend zu ma- chen. Nach vier Wochen wurden die Ver- träge bei Preuß wieder aufgehoben. Wenn Kaufinteressenten Probleme machten, sollen Jöcks’ Leute auch schon mal brutal geworden sein. Als man sich mit einem Interessenten nicht über den Ver- kauf der Sylt-Immobilie einig wurde, hät- ten Jöcks und Farzin S. laut Anklageschrift einen türkischen Mitarbeiter beauftragt, den Mann zusammenschlagen zu lassen. Der wurde kurz darauf von zwei Unbe- kannten mit Baseballschlägern verprügelt. Die Pflichten seines Amtes scheint Rich- ter Jöcks immer weiter aus den Augen ver- loren zu haben: Im Sommer 1995 meldete er sich für drei Wochen krank – und mach- te Urlaub auf Sylt. Seine Zeitschriften-

C. AUGUSTIN Abos hatte er zuvor auf die Sylter Fe- Stadthaus am Kieler Lorentzendamm: Verkauf an falschen Reederssohn? rienadresse umgemeldet. Florian Gless

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HAUPTSTADT Unesco-Schutz für Hitlers Bunker? Bauarbeiter stießen im Berliner Regierungsviertel auf Teile des „Führerbunkers“ – und belebten die Diskussion über den Umgang mit der Vergangenheit neu. Historiker fordern die Freilegung und Einrichtung einer Gedenkstätte, Nazi-Forscher Daniel Goldhagen möchte die Betonruine gar unter internationale Protektion stellen.

ie Genossen wollten gründlich auf- räumen. Mit Bohrgerät aus Schwe- Dden und reichlich Gelamon-22-405- Dynamitstäben aus dem VEB Sprengstoff- werk Schönebeck rückte die DDR im Mai 1988 dem geheimnisumwitterten Bollwerk im Todesstreifen zwischen Ost- und West- Berlin zu Leibe. Die Detonation ließ Fensterscheiben in der Umgebung bersten. Doch die 3,50 Me- ter starke Stahlbetondecke des „Führer- bunkers“, erinnert sich der Ost-Berliner Augenzeuge Erhard Schreier, habe dem staatlich verordneten Anschlag weitgehend standgehalten. In mühseliger Kleinarbeit wurde schließlich das Dach zertrümmert. Doch dann, Ende 1988, kapitulierte der Bautrupp ebenso vor dem Trumm wie einst die ruhmreiche Sowjetarmee. Bodenplatte und Außenwände – an die 400 Zentimeter stark – blieben weitgehend heil. Über der mit Kies verfüllten Ruine entstand ganz unverfänglich ein Parkplatz. Das Staatsbegräbnis brachte dem My- thos um den letzten Zufluchtsort Adolf Hitlers nicht die erhoffte ewige Ruhe.Aus- gerechnet der Bauboom im wieder verei- Hitler (r.) in der verwüsteten Reichskanzlei (im April 1945): Ort der Schande nigten Berlin belebt die Angst vor der Ver- gangenheit neu: Bei Ausschachtarbeiten stehen. „Sand drüber und zuschütten“, riet schen und politischen Ziele das Schicksal für eine Straße in den früheren Minister- der Chef der obersten Denkmalbehörde dieses Bunkers bestimmen“. gärten nahe des Brandenburger Tores von Berlin Helmut Engel. Weil Hitler ein Mann von globalem Zer- stießen Arbeiter Mitte Oktober in vier Me- Der zuständige Senator für Stadtent- störungsgeist gewesen sei, solle der Führer- ter Tiefe erneut auf Fundamente und Stahl- wicklung, Peter Strieder (SPD), diagnosti- bunker „nicht allein als deutsche Stätte, armierungen des Bunkers, in dem Hitler zierte umgehend, dass „keine Veranlas- vielleicht nicht einmal als nur europäische und Goebbels mit ihren Frauen, Kindern sung“ bestehe, „die Bunkeranlage zu öff- Stätte behandelt werden“. Stattdessen regt und Hunden Ende April, Anfang Mai 1945 nen“. Die Bauarbeiten an den Minister- der amerikanische Politologe an, die Be- ihr Ende fanden. gärten, wo die Vertretungen der Länder Nie- tonruine freizulegen und der Schirmherr- Um die „Reichs-Betondecke“ („Frank- dersachsen, Schleswig-Holstein, Rheinland- schaft der Unesco zu unterstellen. Denn: furter Allgemeine“) entstand binnen we- Pfalz, Saarland, Hessen, niger Tage ein Streit, der symbolisch ist für Brandenburg und Mecklenburg- die Ratlosigkeit des neuen Berlin im Um- Vorpommern entstehen, würden gang mit den im einstigen Niemandsland „wie vorgesehen durchgeführt“. immer wieder auftauchenden Spuren aus Über Teilen des Führerbunkers der Zeit des Dritten Reiches. Während in wird eine Straße gebaut, die auf Bayern auf dem Obersalzberg, der als Hit- den Bauplänen ganz schlicht lers zweiter Regierungssitz galt, inzwischen „Kleine Querallee“ heißt. ein Dokumentationszentrum eröffnet wur- Die Vergangenheitsbewälti- de, zu dem auch Bunkeranlagen gehören, gung mit der Dampfwalze stößt wollen die Berliner das dunkle Kapitel der bei Historikern im In- und Aus- deutschen Geschichte im Sand verstecken. land auf Kritik. So spricht Da- „Sprengen“, forderte Lea Rosh, Chefin niel J. Goldhagen („Hitlers wil- des Fördervereins zur Errichtung des Ho- lige Vollstrecker“) den Deut- locaust-Mahnmals, nach der Wiederent- schen das Recht ab, allein zu deckung des Hitler-Bunkers. Das Mahnmal entscheiden, „welche Symbole, soll in Sichtweite der Betonklotzreste ent- welche Werte, welche prakti- NS-Bunker im Regierungsviertel: „Chaotische Zustände“

80 der spiegel 46/1999 Bei verantwortungsvollem Um- Wandmalereien, denen Experten gang könne der Ort der Schande Historisch kontaminiert Bunkerreste in Berlins Mitte eine Mischung aus Herrenideolo- als „Schule der Abschreckung, des gie und Kitsch bescheinigten. Nachdenkens und des Lernens Branden- Pariser Platz Am nördlichen Ende der ehe- dienen“. burger Tor maligen Gärten, wo jetzt das Ho- In der Frage des angemessenen locaust-Denkmal entstehen soll, Umgangs mit den Überresten des wurde 1992 der gut erhaltene Hitler-Verstecks zeichnet sich in- Goebbels-Bunker freigelegt. Ein zwischen eine Allianz der ehe- wenig südlich fand sich unter maligen Sieger ab. Für den Mos- dem Sand das Marmorbad des kauer Historiker Lew Besymenski, ehemaligen Reichspräsidentenpa- Goebbels- der für die Sowjetführung nach Bunker Behrenstraße lais. Archäologen entdeckten zu- Kriegsende in einer Geheimaktion dem Teile des Innenhofs der Neu- das Bauwerk erforschte, wäre es „Allee auf den Ministergärten“ en Reichskanzlei – verkleidet mit „unverzeihlich, die Bunkerreste Kellerreste geschliffenen und zweifach profi- einfach zu bebauen“. Die Anlage des ehemaligen lierten Muschelkalksteinplatten. Geplantes Reichspräsidenten- müsse „als lebendige Erinnerung Ebertstraße Holocaust- Für den Wissenschaftler Alfred palais Wilhelmstraße an die Schrecken des Krieges“ Mahnmal Kernd’l, inzwischen pensionierter freigelegt werden, auch wenn sie Direktor des Archäologischen nur in Fragmenten erhalten sei. Mann- Landesamtes Berlin, liefert gerade Auch der Kölner Historiker Jost schafts- Tiefgarage dieses belastete Areal eine beson- Dülffer warnt davor, die Kata- quartiere dere Verpflichtung zur Unter- komben im Umfeld der früheren Länder- schutzstellung: „Eine geschichts- NS-Kommandozentrale einfach zu vertretungen entsorgte Brache als Platz ausge- negieren. An den Originalschau- „Führer-- rechnet für das Holocaust-Denk- plätzen sollten die Spuren der „Kleine Querallee“ Bunker“ mal wäre eine peinliche Flucht vor Nazi-Zeit sichtbar gemacht wer- der Vergangenheit.“ den. Für ihn ist der Bunker ein Ge- „Fahrer- Doch im Umgang mit dem Kul- schichtsort, der Bestandteil eines turschutt der NS-Diktatur blieben Bunker“ Bunker Neue Geschichtspfades durch die Berli- die Berliner so konsequent wie da- Garage Reichskanzlei ner Mitte werden könne. Bunker vor schon bei dem steingeworde- Als Musterbeispiel für den Um- an der nen Zeugnis des SED-Regimes. So gang mit architektonischen Resten Terrasse Voßstraße Kartengrundlage: wie der Senat der eiligen Zer- des Nazi-Regimes in Berlin gilt die GrafikBüro Adler & Schmidt trümmerung der Mauer nichts ent- „Topographie des Terrors“. Dort, gegensetzte, wurde der Bunker an der ehemaligen Prinz-Albrecht-Straße, die Senatsverwaltung noch im Januar 1996 der Neuen Reichskanzlei, von dem 29 Räu- werden Reste der Berliner Gestapo-Zen- gegenüber den Abgeordneten abgab. Da me erhalten blieben, versiegelt und mit trale für Besucher zugänglich gemacht. räumte die Behörde ein, dass „über Zu- Erdreich bedeckt. Auch die übrigen NS- Der Berliner Senat hingegen will sich stand und Beschaffenheit“ der Reste des Katakomben, wie der Goebbels- und der des Themas möglichst schnell entledigen. Führerbunkers „keine gesicherten Er- Fahrerbunker, sind nicht mehr zugänglich. Ihn treibt ganz offensichtlich die Angst, kenntnisse“ vorlägen. Es könne daher zum Die Überbleibsel des Marmorbades wur- dass der schon 1992 nur halbherzig ausge- jetzigen Zeitpunkt keine Bewertung vor- den entsorgt, die jetzt entdeckten Reste tragene Streit zwischen Politikern, Ar- genommen werden, ob der Bunker unter des Führerbunkers verschwanden umge- chäologen und Denkmalschützern über Denkmalschutz-Aspekten zu erhalten hend wieder unter dem Sand. den Umgang mit den unseligen Überresten wäre. Zugleich wurde den Abgeordneten Dabei hat der Bunker in der Mitte Ber- im Boden wieder neu entfacht wird. aber versichert: „Die Reste des Führer- lins, in dem sich Hitler mit seinem Gefol- Vorbeugend erklärte Senator Strieder bunkers werden nicht überbaut, überdies ge kurz vor Kriegsende vor den anrücken- jetzt, der Führerbunker sei „seit 1990 kar- befinden sie sich in großer Tiefe.“ den Alliierten verkroch, von jeher eine tografisch erfasst und wurde 1993 detailliert Dabei geht es nicht nur um Hitlers Bun- eigentümliche Faszination ausgeübt. So dokumentiert“. Neue Untersuchungen sei- ker allein. Die Mauerbrache, auf der vor wurde Lew Besymenski im Juni 1945 vom en damit unnötig. Diese Behauptung steht zehn Jahren nur Kaninchen hoppelten, ist späteren sowjetischen Innenminister Sergej im Widerspruch zu einer Erklärung, welche seit der Wiedervereinigung für die Politik Kruglow in den Bunker geschickt, um das zum minenverseuchten Gelände Bauwerk genauestens zu dokumentieren. geworden. Denn das mehr als Der Russe, der für den Armee-Geheim- 40000 Quadratmeter große Areal dienst arbeitete, entdeckte eine „leicht an- in Berlins bester Lage ist hoch- gebrannte weiße Uniformjacke mit einer gradig historisch kontaminiert. roten Binde am rechten Ärmel“: Hitlers Im Einheitstaumel 1990 wur- Parteiuniform. In großen Mahagoni- den beim Aufbau des Pink- schränken fand sich Hitlers Sammlung von Floyd-Spektakels „The Wall“ Architekturliteratur. „Alle Räume erstau- der Zugang zu einer erhaltenen nen durch ihre geringe Größe, in ihnen Bunkeranlage der ehemaligen kann man sich buchstäblich kaum umdre- Neuen Reichskanzlei und ein hen“, hielt Besymenski fest. Das Arbeits- Bunker der Fahrbereitschaft zimmer Hitlers wurde mit 10,7 Quadrat- Hitlers im Sand freigelegt. metern vermessen – Zellenformat. Im so genannten Fahrerbun- Auch die Stasi interessierte sich für den ker, den seit Kriegsende nie- Bau, der nach 1961 im Todesstreifen zwi-

E. SCHREIER mand mehr betreten hatte, schen Ost- und West-Berlin lag. Weil die „Führerbunker“ (1988): „Die Geschichte wurde ausgelöscht“ fanden sich acht naive SS- Mielke-Truppe im halb zerstörten Bun-

der spiegel 46/1999 81 Deutschland kersystem unterirdische Fluchtwege in den mit mehr als 400 Zeichnungen die Phasen Westen vermutete, wurden die Räume, die der Geschichtsentsorgung und hielt seine bis auf einen halben Meter unter die Decke Erlebnisse im Führerbunker in einem Ta- geflutet waren, von 1973 an erkundet. Ein gebuch fest: „In 9,50 Meter Sohlentiefe Unterleutnant Nickel berichtete der Ver- stand das Wasser hüfthoch, klebrig-bräun- waltung für Staatssicherheit Groß-Berlin, liche Färbungen waren an Wand und dass mehrere Räume des unterirdischen Decke erkennbar. Teile der Zwischendecke Bauwerkes „mit einer schlammartigen lagen zerborsten im Wasser. Stahlarmie- Masse ehemaligen Bunkerinventars rungen ragten in alle Himmelsrichtungen, knöcheltief bedeckt“ seien. Von dem die Temperatur lag bei 13 Grad.“ Schlamm gehe ein unangenehmer Petro- „Die Geschichte wurde zu DDR-Zeiten leumgeruch aus, im Bunker herrschten mit der teilweisen Sprengung des Bunkers „chaotische Zustände“. ausgelöscht“, sagt Hans Stimmann, Staats- Die Suche der Stasi-Leute lohnte sich sekretär für Stadtentwicklung in Berlin. dennoch: Zwar wurde kein Fluchtweg ent- Ohnehin sei die heikle Bunkerruine in be- deckt, doch fanden sich im Papierschlamm stehende Gedenkorte der Stadt „nicht in- 13500 Blätter. Diese wurden einer Grob- tegrierbar“, auch nicht in einen Ge- und Feinwäsche unterzogen, dann „zwi- schichtspfad. schen Fließpapier“ getrocknet. Die Be- In der ablehnenden Haltung der Politik deutung des Fundes erfuhr die Welt erst schwingt auch die Angst mit, der ausge- K. MEHNER Freigelegte Fundamente in den Ministergärten: Angst vor Wallfahrten von Neonazis nach dem Fall der Mauer. Die Genossen grabene Bunker in der Nachbarschaft des hatten Teile des Tagebuchs von Propagan- geplanten Holocaust-Denkmals könnte daminister Joseph Goebbels gefunden. Neonazis aus aller Welt als Wallfahrtsstät- Nach der Erkundung verschwand der te dienen. „Eine selbstbewusste Republik Bunker wieder unter der Erde, bis die DDR wie die unsere sollte dem gelassen entge- Ende der achtziger Jahre Luxus-Platten- gensehen“, meint hingegen der Kölner bauten für verdiente Genossen an der da- Historiker Dülffer. Falls Neonazis an den maligen Otto-Grotewohl-Straße, der heu- Bunker strömen, sagt sein amerikanischer tigen Wilhelmstraße, errichten wollte. Für Kollege Goldhagen, „dann lasst die Men- die Fundamente mussten auf dem schen in Deutschland und Europa das geschichtsträchtigen Gelände alte Mauer- heutige Übel sehen, lasst sie darüber er- reste tiefenenttrümmert werden. Dafür schrecken, es bekämpfen und mit unbeirr- brauchte selbst die Stasi eine Genehmi- barem Sinn, den es vor 60 Jahren nicht gung, weil das Baugebiet unmittelbar an gab, besiegen“. die Grenzsicherungsanlagen anschloss. Hitler- und Speer-Biograf Joachim Fest Schließlich rückten Bautrupps dem weit- jedoch hält die Bunkerruine nicht für „ei- gehend erhaltenen Führerbunker zu Leibe, nen Ort der Erinnerung“. Sie zu sprengen, ein Teich sollte über Hitlers letztem Un- findet der Feingeist zwar albern, doch mit terschlupf entstehen. der Idee, den Bunker unter Schutz zu stel- Was sich damals im Sperrgebiet abspiel- len, kann Fest auch nichts anfangen: „Um te, kann der Berliner Erhard Schreier be- Gottes Willen. Wir ersticken fast an Ge- schreiben. Der Maler dokumentierte, mit denk-Orten.“ Wolfgang Bayer, Erlaubnis der Ost-Berliner Baudirektion, Steffen Winter

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JUSTIZ „Einladung zum Strafantritt“ Der wegen der Mauermorde verurteilte Ex-DDR- Regierungschef Egon Krenz hofft auf Hilfe vom Verfassungsgericht und vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte – wohl vergebens.

Das Straßburger Gericht, für die Ein- haltung der Menschenrechte in 41 eu- ropäischen Staaten zuständig, betrachtet sich selbst als europäischen Verfassungs- gerichtshof, der auch schon mal anders ent- scheidet als das Bundesverfassungsgericht. Auf ihn setzten ebenfalls der DDR-Vertei- digungsminister Heinz Keßler und sein Vize, Generaloberst Fritz Streletz, nach- dem sie 1996 rechtskräftig zu siebenein- halb und fünfeinhalb Jahren Haft verur- teilt worden waren. Erste Signale aus Straßburg stimmen die Krenz-Verteidiger zuversichtlich. Denn die Richter haben vor kurzem vorgeschlagen, vor der Großen Kammer über die Polit- büro-Fälle zu verhandeln. „Es kommt äu- ßerst selten vor, dass ein Fall so wichtig und schwerwiegend erscheint, dass er nur vom Plenum entschieden werden kann“, sagt der Londoner Anwalt Piers Gardner, der Krenz und Kollegen in Straßburg verteidigt. Die Frage, ob sich die Taten eines deut-

ACTION PRESS ACTION schen Unrechtsregimes mit den Mitteln ei- Verurteilter Krenz*: „Kalter Krieg im Gerichtssaal“ nes deutschen Rechtsstaats aufarbeiten las- sen, wird damit auf europäischer Ebene aum war in Leipzig das Urteil geschickt. Dann folgt, frühestens Ende des behandelt. gegen die Politbüro-Mitglieder Jahres, die „Einladung zum Strafantritt“. Mord und Totschlag waren auch in der KGünter Schabowski, Günther Klei- Doch der letzte Staatsratsvorsitzende DDR strafbar – doch die politische Führung ber und Egon Krenz verlesen, griff der der DDR hofft, diese Einladung nicht an- der DDR schuf sich passend zum Mauerbau Berliner Oberstaatsanwalt Bernhard nehmen zu müssen, und baut auf die Rechtfertigungsvorschriften, um Todes- Jahntz hektisch zum Handy. Die Anwälte Rechtsmittel seiner Anwälte. Die bereiten schüsse an der deutsch-deutschen Grenze von Krenz, der wegen Totschlags für nach Angaben von Krenz-Anwalt Robert von der Strafverfolgung auszuschließen. Die sechseinhalb Jahre ins Gefängnis muss, Unger eine Verfassungsbeschwerde gegen Grenz- und Polizeigesetze erlaubten den waren aufgeschreckt. „Wir dachten, der das Urteil des Bundesgerichtshofs vor. Schusswaffengebrauch, zahlreiche Befehle bestellt jetzt die Aufhebung der Haft- Schon im Juni 1998 hatte Krenz zudem und Dienstvorschriften sollten den Grenz- verschonung für Krenz“, so Dieter Klage beim Europäischen Gerichtshof für soldaten verdeutlichen, dass „Grenzverlet- Wissgott, „und wenn wir zurückfahren, Menschenrechte erhoben, weil er sich zer in jedem Fall als Gegner gestellt, wenn wartet in Pankow schon ein Kommando durch die Verurteilung in seinen Men- notwendig, vernichtet werden müssen“, wie mit Handschellen auf ihn.“ schenrechten verletzt sieht. es in einem Beschluss des Nationalen Ver- So schnell arbeitet die teidigungsrats vom September 1962 hieß. deutsche Justiz auch wie- Mehrere hundert Tote forderte dieses der nicht. Nachdem der 5. blutige Grenzregime. Sie wurden zerfetzt Strafsenat des Bundesge- von Minen, erschossen von Grenzern und richtshofs (BGH) am ver- Selbstschuss-Automaten. Die vier Mauer- gangenen Montag den Opfer Michael-Horst Schmidt, Michael Spruch der Vorinstanz ge- Bittner, Lutz Schmidt und Chris Gueffroy gen die Verantwortlichen für kamen um, als die Politbüro-Mitglieder den Schießbefehl an der Krenz, Schabowski und Kleiber „neben deutsch-deutschen Grenze der politischen Verantwortung auch die bestätigt hat, werden erst strafrechtliche Verantwortung“ trugen, wie mal die Akten nach Berlin die Vorsitzende Richterin Monika Harms in Leipzig das BGH-Urteil begründete. In den Prozessen nach der Wende er- * Mit seinem Anwalt Robert Unger am vergangenen Montag im Bundes- RONDHOLZ P. klärten die Gerichte die Rechtfertigungs- gerichtshof in Leipzig. Grab eines Mauertoten: Wenn notwendig, vernichten gesetze regelmäßig für unwirksam. Das

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worden“: Schließlich hat das Bun- desverfassungsgericht in seiner Mauerschützen-Rechtsprechung die internationale Nürnberg-Klau- sel nachgebildet. Die einzige Chance für Krenz und seine SED-Kollegen liegt so- mit in der „Ironie“ (Simma), dass ausgerechnet der europäische Menschenrechtsgerichtshof das DDR-Grenzrecht für legitim er- klären könnte. Das aber halten deutsche Völkerrechtler für sehr J. GIRIBAS J. AP REUTERS unwahrscheinlich. „Der Sinn der Schabowski Kleiber Streletz Menschenrechte liegt doch dar- Schießbefehl-Verantwortliche: Hintermänner der Grenzer in“, so auch Simmas Kollege Ulrich Fastenrath, „dass man die Grenzregime, stellte der BGH 1993 in einer Strafrecht Ausnahmeregeln aufstelle, die Staatsführung an sie binden will und nicht, Grundsatzentscheidung zur Strafverfol- gegen die Menschenrechte verstießen. dass die Staatsführung ihr rechtswidriges gung von Mauerschützen fest, habe gegen Den Polit-Größen des SED-Regimes wur- Verhalten selbst legitimieren kann.“ den „Kernbereich des Menschlichen ver- de dabei auch zum Verhängnis, dass sich Auf eine generelle Amnestie in Deutsch- stoßen“. Auch im Fall der vom Landge- die DDR in internationalen Abmachungen land dürfen Mauertäter wie Krenz nicht richt Berlin im August 1997 verurteilten zur Einhaltung der Menschenrechte ver- hoffen. Kanzler Gerhard Schröder will Krenz, Schabowski und Kleiber hat der pflichtet hatte: „Jedermann steht es frei, je- „keinen Schlussstrich unter die geschicht- BGH entschieden, dass das DDR-Grenz- des Land einschließlich seines eigenen zu liche und gerichtliche Aufarbeitung“ zie- regime nicht zu rechtfertigen sei. Den Mit- verlassen“, heißt es im Internationalen Pakt hen. Auch im Justizministerium gilt die gliedern des Politbüros komme deshalb als über bürgerliche und politische Rechte, dem Amnestie-Debatte als „megatot“ – Res- „Hintermännern“ hinter den Grenzern auch die DDR beigetreten war. sortchefin Herta Däubler-Gmelin (SPD) eine „mittelbare Täterschaft“ zu. Ausgerechnet die Menschenrechte sollen meint: „Nach dem Rechtsverständnis der Wie gewohnt schimpfte Krenz nach der nun auch Krenz vor dem Gefängnis retten. Bundesrepublik steht die Einzelfallprüfung Leipziger Verkündung über die „Sieger- Sein Anwalt Gardner will vor dem Men- im Vordergrund und nicht die Amnestie.“ justiz“: Das sei „Kalter Krieg im Gerichts- schenrechtsgerichtshof vorbringen, dass Viele Mauertäter würden ohnehin nicht saal“. Weil die BGH-Richter das einschlä- „das innerstaatliche deutsche Recht nicht von einem staatlichen Straferlass profi- gige DDR-Recht nicht anerkennen, seien in Übereinstimmung mit der Europäischen tieren. Nur in wenigen Fällen wurden ihre Strafurteile rechtswidrig, so Krenz: Menschenrechtskonvention ist“. Denn das Haftstrafen verhängt – die meisten Mau- „Sie widersprechen dem Grundgesetz, in Rückwirkungsverbot ist in der Konvention erschützen kamen mit Bewährung davon. dem das Rückwirkungsverbot klar defi- in Artikel 7 verankert und zählt damit selbst Dass Krenz nicht aus seiner Verantwor- niert ist.“ wiederum zu den Menschenrechten. tung kommt, befriedigt die DDR-Bürger- Nach diesem Verfassungsartikel kann Allerdings steht dort auch die so ge- rechtler, die den Fall der Mauer mit be- man nur wegen einer Tat verurteilt werden, nannte Nürnberg-Klausel, eine Lehre aus wirkt haben. „Die Mauerschützen zu be- „wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt den Nazi-Verbrechen, die sich gegen Krenz strafen und die Herren des Schießbefehls war, bevor die Tat begangen wurde“. Doch und Konsorten richten ließe. Dieser Zusatz ungestraft hinter ihren Nebelwänden aus das Bundesverfassungsgericht, das Krenz besagt, dass trotz fehlender geschriebener Ausflüchten verschwinden zu lassen“, sagt jetzt anrufen will, hat schon 1996 in den Strafregeln eine Tat bestraft werden kann, der Ex-Dissident Wolfgang Templin, „hät- Fällen Keßler und Streletz erkannt, das „die zur Zeit ihrer Begehung nach den von te die Opfer noch einmal gedemütigt.“ Rückwirkungsgebot gelte „nicht mehr un- den zivilisierten Völkern anerkannten all- Doch vielen Bürgerrechtlern reicht das gemeinen Rechtsgrundsätzen strafbar war“. Urteil gegen die Politbüro-Mitglieder als Doch für die Bundesrepublik gilt zu die- Anerkennung des DDR-Unrechts schon ser Klausel der so genannte Adenauer-Vor- aus – ob die alten Männer wirklich hinter behalt: Kanzler hatte er- Gitter müssen, ist vielen nicht so wichtig. klären lassen, dass die Nürnberg-Klausel Die Klagen in Straßburg werden das vor- nur greifen soll, soweit die deutsche Ver- erst nicht verhindern – sie haben keine auf- fassung das zulässt. Die Krenz-Anwälte schiebende Wirkung. Und auch das Ver- rechnen sich deshalb beim Menschen- fassungsgericht wird Krenz den Haftantritt rechtsgerichtshof in Straßburg „höhere kaum ersparen. Dennoch wird der Verur- Chancen“ aus als in Karlsruhe. teilte es vergleichsweise bequem haben. Doch da könnten sie sich täuschen. Denn Der Ex-Staatschef kommt in den offenen der Adenauer-Vorbehalt bedeutet nur, dass Vollzug, vermutlich in die Justizvollzugs-

DPA die Bundesrepublik nicht verpflichtet wer- anstalt Hakenfelde in Berlin-Spandau, wie Europäischer Menschenrechtsgerichtshof den kann, Strafen auszusprechen, die über früher auch Keßler und Streletz. Rettung vor dem Gefängnis? ein strenges Rückwirkungsverbot hinaus- Tagsüber könnte Krenz wie andere De- gehen. „Das heißt nicht“, so der Münchner linquenten das Gefängnis verlassen und eingeschränkt“ bei Taten wie den Mauer- Völkerrechts-Professor Bruno Simma, „dass einer Arbeit nachgehen – solange keine schüssen, gerade weil dafür nach dem Ei- sie es nicht darf.“ Mittlerweile hat die Bun- Fluchtgefahr besteht oder ein Rückfall des nigungsvertrag DDR-Recht anzuwenden desrepublik zudem im internationalen Bür- Täters befürchtet werden muss. „Ange- sei. Nur im Rechtsstaat dürfe man auf gerrechtspakt eine identische Klausel aner- sichts des Falls des Mauer“, so Krenz-An- Straflosigkeit vertrauen, so die Argumen- kannt – ohne einen solchen Vorbehalt. Und walt Wissgott ironisch, „ist eine Wieder- tation der Verfassungsrichter, nicht aber, auch der Adenauer-Vorbehalt selbst, so Sim- holungstat nicht zu befürchten.“ wenn ein Staat wie die DDR zum eigenen ma, sei mittlerweile „gegenstandslos ge- Carolin Emcke, Dietmar Hipp

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der Robert Apon, der 1995 das Wörtchen „Euro“ eintragen ließ, war der Pionier der Bran- che, wurde berühmt und ver- mutlich richtig reich; die Be- teiligten, Apon und das Fi- nanzministerium in Den Haag, schweigen über den Handel.

B. BOSTELMANN / ARGUM Seither ist ein gewaltiger Markt entstanden. Makler zocken mit, die beispielsweise den Namen der früheren DDR-Fluggesellschaft Interflug für 20 000 Mark anbieten. „Nietzsche“, „Winnetou“ und das „Oktoberfest“ sind inzwi- schen vergriffen, „Lady Di“ ging noch am Todestag der Prinzessin weg. Und ein Berli- ner Geschäftsmann hat sich im Sport umgeschaut und ent- deckt, dass „Werder Bremen“ oder „GWD Minden“ noch LAUE J. H. DARCHINGER J. frei waren; vor allem im Fuß- Umstrittene Markennamen: Zu fetten Gewinnen kommen nur wenige ball sind beim Geschäft mit Fanartikeln Millionen im Spiel. sen Namen nicht selbst schützen zu las- Ohne Streit geht es selten ab. Bäcker aus MARKENSCHUTZ sen.“ Die Telefongesellschaft sieht den Vor- Dresden kämpfen seit Jahren um das Mo- gang anders, nämlich als Abzockerei; deren nopol auf „Dresdner Christstollen“. Auch Ötzi und Lady Di Advokat Klaus-Jürgen Michaeli spricht von Konditoren in München und Hamburg ver- „Markengrabbing“ und meint ein bizarres wenden den Namen für ihre Waren. Ein Clevere Geschäftsleute Phänomen: Überall im Lande und – seit freier Journalist hatte sich die „Chemnitzer es das Internet mit seinen Abermillionen Morgenpost“ sichern lassen, wurde einge- sichern sich die lukrativen Rechte Adressen gibt – zunehmend auch weltweit stellt, trat den Namen ab und flog nach der an ungeschützten Namen. lassen sich clevere Zeitgenossen die Na- Probezeit wieder raus. Jüngstes Opfer ist die Telekom. men von Firmen oder toten Berühmtheiten Zu fetten Gewinnen kommen beim patentieren, weil sie hoffen, sie gewinn- Rechtehandel aber nur wenige, denn die, ie Firma hat ihren Sitz im liechten- bringend wieder veräußern zu können. die sich geprellt fühlen, verstehen zuneh- steinischen Vaduz, Postanschrift Ein Gelsenkirchener Geschäftsmann hat mend weniger Spaß. Die Telekom führt mo- DStädtle 20. In dem Unternehmen sich beispielsweise „Johann Sebastian mentan auch Prozesse gegen eine TouchNet arbeiten keine Menschen, es gibt nicht Bach“ schützen lassen. Leipzig will im GmbH, die in ihrer Internet-Adresse den einmal ein Telefon. Die Polarius Handels- nächsten Jahr den 250. Todestag des Kom- Namen „T-Net“ verwendet – so heißt der Anstalt hat nur einen Daseinszweck: Sie ponisten vermarkten. Das Kalkül des Anrufbeantworter-Dienst der Telekom. besitzt den Namen „Deutsche Telekom T“. Händlers aus dem Kohlenpott: Die Stadt Auf die Liechtensteiner Polarius ging der Seit drei Jahren liegt Polarius im Clinch müsse ihm erst mal den Namen abkaufen. Konzern mit geballter juristischer Kraft los: mit der deutschen Telefongesellschaft. Es Andere Firmen haben sich den Begriff Da wurde der Streitwert auf drei Millionen geht in diesem juristischen Scharmützel „Ötzi“ eintragen lassen und produzieren Mark festgelegt; allein für Prozesskosten um die Namensrechte an der beim Deut- nun Hygieneartikel oder Babynahrung im musste Polarius 250000 Mark zahlen. „So schen Patentamt in München eingetra- Namen des Mannes aus dem ewigen Eis. In etwas können Privatleute kaum durchhal- genen Marke Nr. 39603139. Bozen, wo Ötzi ausgestellt ist, streiten sich ten“, sagt Advokatin Hartmann. Zuerst sicherte sich im Januar 1996 Hel- inzwischen die Stadtväter darüber, wer das Darum ist der Rechtsstreit wohl bald gard Janson die Rechte, die Ehefrau des Geschäft verschlafen und vergessen hat, vorbei. „Polarius hat sich verpflichtet, die Schauspielers Horst Janson („Der Bas- den Namen zu schützen. Einwilligung in die Löschung des Namens tian“). Sie habe, erinnern sich Eingeweih- Historische Namen, darauf bauen Ge- ,Deutsche Telekom T‘ zu geben“, sagt te, nicht wirklich die Gründung einer Te- schäftemacher, verleihen jedem Produkt Telekom-Anwalt Michaeli. „Noch ist nichts lefonfirma geplant; sie habe viel mehr auf Seriosität. Franz-Martin Heder aus Bran- gelöscht, aber der Fall ist wohl bald erle- ein Geschäft mit der Telekom gehofft – den denburg besitzt „Theodor Fontane“ und digt“, gibt Polarius-Anwältin Hartmann zu. Namen gegen Bargeld. „Martin Luther“; Werner Weßeler aus Is- Doch die Polarius-Leute wollen so Doch der Konzern, der sich im Februar sum (bei Duisburg) setzt auf „Frank Sina- schnell nicht aufgeben. Sie suchen sich ei- 1996 den Namen „Deutsche Telekom“ – tra“. Und Schnapsbrennereien verkaufen nen potenten Partner, der die Gerichts- ohne „T“ – schützen ließ, berief sich auf Hochprozenter mit den geschützten Mar- kosten übernimmt und einen Anwalt mit- seine „Benutzerrechte“ und konterte mit kennamen „Friedrich von Schiller“ oder bringt – „dann können wir die Sache noch Klagen. Entnervt reichte Helgard Janson „Ludwig van Beethoven“. mal richtig aufziehen“. Mit einem Kom- im August 1996 die Rechte an die Firma Po- Seit 1995 gilt das neue Markenrecht, und pagnon in Amerika haben sie bereits larius weiter, mit deren Vollmacht nun zwei nun „kann jeder die Eintragung eines Na- einen Vorvertrag erarbeitet. Der könnte Münchner Brüder agieren. menspatents beantragen“, sagt Norbert es mit der Telekom aufnehmen und An diesem Vorgang sei nichts verwerf- Haugg, Präsident des Deutschen Patent- versteht etwas vom Pokern – Telekom- lich, sagt die Polarius-Anwältin Birgit Hart- amts; je nach Umfang des Schutzes kostet Insidern zufolge ist es der Boxmanager mann: „Die Telekom war dumm, sich die- das mindestens 500 Mark. Der Niederlän- Don King. Klaus Brinkbäumer

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STASI „Die Quelle ist zuverlässig“ Erich Mielkes Ministerium benutzte zum Spitzeln bevorzugt Journalisten. Jetzt erschüttern Enthüllungen über Stasi-Zuträger in den eigenen Reihen die „Bild“-Zeitung. Drei Redakteure sind gegangen. FOTO RECHTS: SVEN SIMON RECHTS: SVEN FOTO Stasi-Chef Mielke (1982), Einmarsch der DDR-Olympiamannschaft in Montreal 1976: Subversive Aktivitäten abgewehrt

ahrelang hatte sie nur eine Ahnung, Dann stieß sie auf den Tarnnamen gilt das rechtsstaatliche Prinzip der Ein- mehr nicht. Irgendjemand musste der „Klaus“ eines Inoffiziellen Mitarbeiters zelfallprüfung.“ Drei Tage später war Re- JStaatssicherheit verraten haben, dass (IM) der Staatssicherheit. Sie beantragte porter Thiemann in den Ruhestand verab- Ellen Thiemann 1972 aus der DDR fliehen die Offenlegung des Klarnamens. Die Ant- schiedet. „Das war planmäßig vorgese- wollte; am Schlagbaum warteten damals wort: „Name: Thiemann,Vorname: Klaus, hen“, so Röbel; Thiemann ist 64 Jahre alt. die Sicherheitsbeamten. Zweieinhalb Jah- geb. am: 19.02.1935, Geburtsort: Dippol- Der IM-Fall Thiemann ist der dritte re lang saß sie deshalb im Frauengefängnis diswalde.“ in einer Kette. Ende Oktober hatte der von Hoheneck, gequält mit Schlafentzug, Es war ihr Mann, die Personalien stimm- Deutschlandfunk den „Bild“-Reporter Zwangsarbeit und von einem Verdacht: ten; nur der Tarnname Klaus war veraltet: Manfred Hönel (IM „Harro“) und den Hatte ihr Ehemann Klaus der Stasi den Der Sportjournalist Klaus Thiemann wirk- stellvertretenden Chefredakteur Klaus- Fluchtplan verraten? te in Wahrheit fast zwei Jahrzehnte lang als Dieter Kimmel (IM „Fuchs“ und IM „Man- Fast 20 Jahre später fand Ellen Thiemann IM „Mathias“ – und danach als Fußball- fred Meinel“) als Stasi-Zuträger enttarnt. in Akten der Gauck-Behörde einen Brief reporter für „Bild“ und „Bild am Sonntag“ Beide schieden vorvergangenen Mittwoch an eine Tante in Westdeutschland, den sie mit dem Spezialgebiet Hansa Rostock. „auf eigenen Wunsch“, so der Springer- dem Ehemann einst mitgegeben hatte, um Als der SPIEGEL „Bild“-Chefredakteur Verlag, aus den Diensten des Blattes. ihn in der ostdeutschen Provinz in einen Udo Röbel mit den Informationen über Führende Springer-Leute sagen, dass In- Briefkasten zu werfen.Wie kam das Schrei- den IM Mathias konfrontierte, war der formationen über die Spitzel im Haus seit ben in die Ordner der Stasi? überrascht: „Das ist uns neu, aber bei uns etwa fünf Jahren vorlägen. Verlagsspre-

92 der spiegel 46/1999 cherin Edda Fels dementiert: „Darüber ist gestellt wurde, bekam ne- Teile der Hönel-Akte sind uns nichts bekannt.“ ben „Sportecho“-Redakteur verschwunden. „Ich kann Zumindest vom Spitzel Thiemann hätte Kimmel auch der „Junge nichts erklären“, so Hönel, die Haus-Spitze schon länger wissen kön- Welt“-Reporter Hönel, heute „ich habe mich gegenüber nen: Im November 1998 hatte Ellen Thie- 62, einen Vertrag bei „Bild“. Springer verpflichtet, darü- mann nach eigener Aussage das Schreiben Selbstverständlich, sagt der ber nicht mehr zu reden.“ der Gauck-Behörde über ihren früheren damalige Sportchef Hans Auch die Stasi-Karriere Ehemann Klaus an den Axel-Springer-Ver- Reski, der „die Genossen ein- von Kimmel, heute 52, hat lag weitergeleitet. „Das haben wir nie ge- gekauft“ hat, „wäre die eine ihre Besonderheiten. Der sehen“, sagen Röbel und Michael Spreng, oder andere Stasi-Geschichte Sportredakteur der Berliner Chefredakteur der „Bild am Sonntag“, uni- zu erwarten gewesen, aber da „Jungen Welt“ hatte sich 1974 sono. Also schrieb Klaus Thiemann weiter hat sich kein Mensch drum der Stasi verpflichtet und sich über den FC Hansa Rostock. gekümmert“. den IM-Namen „Fuchs“ ge- Die Affäre um die Stasi-Zuträger begann Dass zuerst ausgerechnet geben. Anfänglich war er ein zwar im Sportressort, beschäftigte aber der gutmütige Kollege Hönel so guter Informant, dass sich rasch die gesamte Redaktion. Kein Mitar- als langjähriger IM überführt das MfS die Mitarbeit einiges beiter, hieß es zunächst, dürfe öffentlich wurde, bedauerten nicht nur kosten ließ. Er bekam zwi- Kommentare abgeben; viele Ost-Kollegen die Journalisten der eigenen schen 1974 und 1976, so steht waren auf einmal wieder verdächtig. Redaktion – der „Manne“, es in der Akte, Honorare von Gerade Sportreporter waren schließlich der für Radprofi Jan Ull- insgesamt 2350 Ost- und 300 eine ideale Klientel für das Ministerium rich dessen „Bild“-Kolumnen West-Mark, eine ganze Men- für Staatssicherheit: Sie begleiteten die er- schrieb, war immer lieb und ge für die knauserige Stasi. lesene Clique der DDR-Sportler auf Aus- nett, wenn ein Neuling nicht Redakteur Kimmel (1990) Ausdrückliches Lob gab es landsreisen, eigneten sich daher bestens weiterwusste. auch: „Die Informationen als Aufpasser der eigenen Leute und als Seine Nähe zu alten SED-Größen war waren wertvoll“, heißt es etwa über Kim- Kontaktpersonen zu den für die Stasi in- allerdings bekannt. Als er 1997 zusammen mel-Berichte aus den Jahren 1975/76. teressanten Sportlern und Funktionären mit dem „Bild“-Kolumnisten Rudolf Schar- Über einen Kollegen hatte IM Fuchs im des Westens. ping von der Tour de France berichtete, Oktober 1976 beispielsweise gemeldet, der Was die SED-Oberen von ihren Repor- sagte Hönel, die enge Zusammenarbeit pla- junge Mann habe als Student für „Bild“ ei- tern erwarteten, stand in der „Kleinen En- ge ihn wenig – schließlich habe er bereits nen Artikel über die ostdeutsche Fußball- zyklopädie – Körperkultur und Sport“. Sie „mit dem Krenz Liegestütz jemacht. Ick nationalmannschaft verfasst – und dafür sollten „den Aufbau der sozialistischen musste immer verlieren“. vom Klassenfeind „300 bis 400 West-Mark“ Körperkultur in der DDR vollenden. Der Hönel geriet nach Aktenlage schon früh bekommen. Solche Petzereien konnten das verantwortungsbewusste Sportjournalist in die Hände der Staatssicherheit. Im Sep- Opfer die Karriere kosten und Gefängnis stellt reaktionäre Auffassungen an den tember 1969 machte sich das MfS daran, einbringen.„Die Quelle ist zuverlässig“, Pranger“. den damals 31-Jährigen anzuwerben. Erich notierte ein Major Heiner von der Stasi-Be- Die Stasi formulierte es prosaischer: Auf- Mielkes Leute waren sehr zufrieden mit zirksverwaltung Groß-Berlin. gabe der Sportjournalisten sei die „poli- ihrem IM „Harro“. 1984 sollte der Sport- Aber dann verlor Kimmel sein Interesse tisch-operative Absicherung“ der Sportler reporter laut Protokoll als „Dank für sei- am Spitzeln, und er bekam 1977 von seinem bei Olympischen Spielen und internatio- ne langjährige Zusammenarbeit mit dem Führungsoffizier die „Entpflichtung“. 1988, nalen Massenveranstaltungen. Zu deutsch: MfS“ die „Medaille für Treue Dienste der als Kimmel für eine internationale Hand- Die Genossen Redakteure sollten mithel- NVA in Gold“ erhalten. ballzeitung arbeiten wollte, erklärte er sich fen, Kontakte zwischen den Aktiven und Denn Hönel arbeitete gut. Er lieferte de- „im Interesse der Sicherheit unserer Repu- dem Klassenfeind zu unterbinden. taillierte Berichte über die Republikflucht blik“ erneut zur Kooperation bereit. Aller- Das funktionierte während des Kalten des DDR-Eiskunstläufers Günther Zöller. dings, so erklärt „Bild“-Chefredakteur Krieges so: Die Ost-Reporter drängten Kol- Er erzählte, wie eine Erfurterin im Urlaub Röbel den Vorgang, habe Kimmel eine „Eh- legen aus dem Westen in den Wassergra- am Plattensee mit Westdeutschen anban- renerklärung“ geleistet, „nie Informatio- ben, wenn diese im Stadion DDR-Asse wie delte, und vor allem betätigte er sich als nen über Personen abgegeben zu haben, die Sprinterin Renate Stecher befragen Aufpasser für DDR-Athleten im Ausland. die diesen Schaden zugefügt haben“. wollten. Bei Gesprächen unter Journalisten Was IM Harro sonst noch getrieben hat, Das stützen weniger die frühen, eher die aus Ost und West ging Klaus Huhn dazwi- bleibt weitgehend im Verborgenen – große späten Akten. „Bei den zuletzt genannten schen, Sportchef des „Neuen Deutsch- Aufgaben konnten keine wesentlichen Er- lands“ und oberster Aufpasser im Trupp gebnisse erlangt werden“, steht da, „insge- der Aufpasser – „und wenn Huhn nieste, samt weigert sich der IM, Informationen waren alle Ossis krank“, so erinnert sich und Angaben zu DDR-Bürgern zu geben.“ der Westdeutsche Franz-Hellmut Urban, Am engsten kooperierte offenbar der damals Reporter und heute Sportchef der Kollege Thiemann mit den Regimeschüt- Münchner „Abendzeitung“. zern. IM Mathias unterzeichnete am Männer wie Huhn und Hönel waren 10. Oktober 1973 eine Verpflichtungser- auch nach der Wende gefragt, da Ost-Stars klärung, wonach die Zusammenarbeit mit wie Katrin Krabbe, Ulf Kirsten oder Kata- der Stasi „alle Bereiche meines Wirkens, rina Witt lieber mit denen redeten, die sie einschließlich des Freizeitbereichs, und alle kannten. „Bild“ wollte besonders flink Möglichkeiten meinerseits auf Grund der neue Märkte erschließen.Als 1990 die Ost- journalistischen Fähigkeit“ umfasste. Zeitung „Deutsches Sportecho“ von Sprin- So war es dann auch. Thiemann ger gekauft und neun Monate später ein- belauschte die Nationaltrainer Georg Buschner (Ost) und Helmut Schön (West), Hochzeitspaar Thiemann (1960) und er schrieb Berichte über geflohene Die Flucht der Ehefrau verraten? Fußballer wie Norbert Nachtweih und 93 Deutschland

Lutz Eigendorf. „Der IMS wurde nochmals werfen, „eine Haltung, die einem Genossen Der Stasi meldete er Sportler, bei denen orientiert, Möglichkeiten für eine Verbin- nicht zukommt“; „ihm mangelt es an Ver- „nach wie vor Verdacht auf Republik- dung in das Operationsgebiet aufzuklären antwortungsbewusstsein, an Leitungsqua- flucht“ bestehe. Manchmal trug er auch und zu schaffen, um an die Verräter direkt litäten, an Organisationsvermögen, Diszi- Banalitäten weiter: 1973 habe sich der heranzukommen“, notierte Thiemanns plin, aber auch schlichtweg an Kollegia- CSU-Politiker Peter Gauweiler bei ihm ge- Führungsoffizier. lität“. Für so viel Offenheit spendierte die meldet und nach Eintrittskarten für die Der Stasi gelang es, den geflüchteten Stasi schon mal eine Flasche Whisky. Weltfestspiele der Jugend gefragt. Huhn Lutz Eigendorf zu finden – der kam im Am Ende wollte Thiemann mit all dem kann sich nicht erinnern, „jemals etwas überhaupt nicht mehr aufhören. Noch am unterschrieben zu haben“. 15. Dezember 1989, die DDR war längst Und der Sportchef der FDJ-Postille verloren, empfing er seinen Führungsoffi- „Junge Welt“, Volker Kluge, der nach der zier Radeke und bekam 200 Mark Prämie, Wende als Persönliches Mitglied ins Na- wofür er sich laut Protokoll „herzlich be- tionale Olympische Komitee (NOK) geholt dankte“. Gegenüber dem SPIEGEL moch- wurde, hat nach Aktenlage als IM „Frank“ te Thiemann seine Vergangenheit nicht im MfS-Auftrag unter anderem die Eis- kommentieren. kunstläuferin Witt bespitzelt. Noch kurz Spitzel wie Thiemann gab es unter den vor dem Mauerfall erhielt er eine Ge- DDR-Reportern offenbar eine ganze Men- burtstagsprämie von 95 DDR-Mark. 1995 ge. Ob Sportjournalisten in der Provinz ar- kam Kluges Vergangenheit heraus, er de- beiteten oder mit Stars auf Reisen gingen: mentierte, aber das NOK untersagte ihm, Irgendwann bekamen alle Kontakt mit der weiter im Verbandsorgan zu schreiben. Stasi, auch die Großen der Zunft – das hat Jährlich legte das MfS in Berlin detail-

BONGARTS Giselher Spitzer nachgewiesen, der an der liert fest, welche „massenwirksamen Sport- „Bild“-Reporter Hönel, Radstar Ullrich Universität Potsdam die Zusammenhänge wettkämpfe“ besonderer Aufmerksamkeit „Mit dem Krenz Liegestütz jemacht“ von Stasi und Sport erforscht. bedurften. Dann entwickelten die Spezia- Das MfS führte beispielsweise den Fern- listen des Ministeriums konkrete Maßnah- März 1983 unter mysteriösen Umständen sehreporter Heinz-Florian Oertel, heute men, um „gegnerische Störversuche und bei einem Verkehrsunfall zu Tode. Die 71, als Gesellschaftlichen Mitarbeiter Si- Provokationen“ zu verhindern. Gerüchte über ein Stasi-Attentat ver- cherheit (GMS), Deckname: „Heinz“. Die Zu den Olympischen Spielen 1976 in stummten nie; die Berliner Staatsanwalt- Stasi notierte, dass Oertel ein „gutes Ver- Montreal entsandte die DDR 585 Sportler, schaft ermittelt noch immer. trauensverhältnis zum MfS“ hatte. Doch Funktionäre und Reporter. 77 Reisekader, IM Mathias stand, so sein Führungs- der „Harry Valérien des Ostens“ erwies also jeder achte DDR-Abgesandte, berich- offizier, „auch in schwieriger Situation voll sich wohl als zu berühmt, um im Verbor- teten nach Aktenlage als IM an die Stasi, zu seiner Verpflichtung“. Solch schwierige genen zu wirken. „Auf Grund der expo- dazu gesellten sich drei hauptamtliche Of- Situationen traten ein, wenn er Kollegen nierten Stellung“, schrieb ein Stasi-Mann fiziere Erich Mielkes. vom West-Fachblatt „Kicker“ aushorchte, im Dezember 1989 in die Akte, „besteht Immerhin acht Spitzel kamen aus dem die Büros seiner Chefs durchsuchte – oder seit 15 Jahren kein Kontakt mehr zu dem Kreis der Journalisten – und die leisteten wenn Thiemann den Chefredakteur der GMS.“ Nur noch 31 Seiten über Oertel be- gute Arbeit. Trotz „subversiver Aktivitä- ostdeutschen „Fußballwoche“, Günter Si- finden sich in der Gauck-Behörde. „Das ten“ des Feindes, heißt es im Abschluss- mon, zu Gesicht bekam. ist die dünnste IM-Akte, die ich je gesehen bericht, sei es „kaum zu nennenswerten Den mochte er nicht, und das schrieb er habe“, so Wissenschaftler Spitzer. Kontakten“ zwischen Ost-Sportlern und auch: Simon sei „Großsprecherei“ vorzu- Klaus Huhn, der mächtige Sportchef des der bösen Welt des Westens gekommen. „Neuen Deutschland“, unterschrieb am 6. Die Sportjournalisten kundschafteten * Bei der Erstürmung der Stasi-Zentrale in der Berliner Januar 1960 eine Verpflichtungserklärung nicht nur Athleten und Funktionäre aus, Ruschestraße am 15. Januar 1990. als Inoffizieller Mitarbeiter „Heinz Mohr“. sie mussten sich auch untereinander kon- trollieren. So berichtete Roland Sänger DDR-Reporter Hönel (Kreis)*: Medaille für treue Dienste (IM „August“), Sportredakteur beim „Freien Wort“ in Suhl, dem MfS, welcher Kollege sich im Ausland mit „so genannten Sex- und Pornografieheften“ eindeckte. Und einmal schwärzte IM August eine Fri- seurin an; die hatte beim WM-Siegtor von Gerd Müller 1974 vor Freude „zweimal den Teppich geküsst“. Als Sängers Be- richte 1995 bekannt wurden, war er seinen Job los. Ellen Thiemann, inzwischen längst von IM Mathias geschieden, kam 1975 aus Ho- heneck, dem berüchtigten Frauenknast im Erzgebirge, frei. Ihr Ehemann Klaus habe zwei Geliebte gehabt, erzählt sie, und ihr kühl zur Ausreise geraten. Er komme nicht mit, weil er beim „Sportecho“ inzwischen Karriere gemacht habe, die könne er drü- ben nicht machen. Nach der Wende ging es dann doch: 1991 heuerte Klaus Thiemann bei „Bild“ an. Klaus Brinkbäumer, Udo Ludwig, Georg Mascolo, Thomas Purschke H.-J. HORN / BACH & PARTNER HORN / BACH H.-J. Werbeseite

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Werbeseite Deutschland CORBIS SYGMA BILDERBERG Umstrittene Bauprojekte*: Widerstand einer großen Volksbewegung

ßenwirtschaftlichen Gewährleistungen“ (so BUNDESHAUSHALT der Budget-Titel) übernimmt der Bund das Risiko für den Fall, dass die Auftraggeber von Exportgeschäften nicht zahlen können. Heimliches Risiko Das beschert der Regierung aber indi- rekt auch die Verantwortung für die Folgen Ohne Kontrolle des Parlaments bürgt der Bund für oft der geförderten Projekte. Weil das Vorha- ben die Spannungen in der Krisenregion zweifelhafte Exportgeschäfte. Die von Rot-Grün anheize, „sollten wir bei dem Ilisu-Damm geplante Reform des Vergabesystems droht zu scheitern. nicht mitmachen“, meint darum Entwick- lungshilfeministerin Heidemarie Wieczo- er Ort verführt zum Schwärmen. Berlin. Die Minister müssen demnächst ent- rek-Zeul (SPD) und weiß sich darin einig Hoch über dem Tal des Tigris scheiden, ob sie einem der mit dem Bau des mit mehreren Abgeordneten beider Koali- Dthront eine Burg auf einem Felsen, Wasserkraftwerks beauftragten Unterneh- tionsfraktionen. um den sich hunderte uralter Häuser men, einer Tochterfirma des Elektrotech- Sowohl der parteilose Wirtschaftsminis- und mehrere Moscheen drängen. In Ha- nik-Konzerns ABB, eine so genannte Her- ter Werner Müller als auch Außenamtschef sankeyf, der einzigen noch vollständig mes-Bürgschaft gewähren. Mit solchen „au- Joschka Fischer (Grüne) signalisierten da- erhaltenen mittelalterlichen Siedlung im gegen bereits ihre Zustimmung. „Das wird türkischen Kurdistan, vermischten sich noch eine harte Auseinandersetzung“, schon vor 2000 Jahren die Kulturen Me- Meistens Miese schwant einem der beteiligten Beamten. sopotamiens, Innerasiens und des alten Jährliches Defizit bei Bundesbürg- Mit dem Streit um den Tigris-Damm Rom – für Archäologen eine einzigartige schaften (Hermesgarantien)* kommt ein weiterer Konflikt um ein rot- Fundstätte. in Millionen Mark grünes Reformprojekt zum Vorschein: Die Doch bald könnte Hasankeyf in den Flu- 846 585 Außenwirtschaftsförderung sollte laut Ko- ten versinken. Flussabwärts in der Region 17 alitionsvertrag „unter ökologischen, so- Ilisu plant die türkische Regierung die zialen und entwicklungsverträglichen Ge- Errichtung eines 130 Meter hohen –82 sichtspunkten“ umgebaut werden – dar- Staudamms. Im künstlichen See dahinter aus wird wohl nichts. würden neben dem antiken Handels- –973 Es geht um jährlich über 30000 Bürg- zentrum über 100 Dörfer und Kleinstädte schaften, die das Hamburger Versiche- untergehen. –1300 rungsunternehmen Hermes AG, eine Toch- An die 30000 Menschen drohe die Ver- –1578 ter des Allianz-Konzerns, gegen die Zah- treibung, protestieren kurdische Men- –1586 lung von Gebühren im Auftrag des Bundes schenrechtler. Das Ilisu-Projekt verschärfe für Exporte in wirtschaftlich instabile Län- den schwelenden Bürgerkrieg in der Re- der der Dritten Welt oder Osteuropas über- gion. Zudem beschwert sich die syrische –2623 nimmt. Regierung, die Türkei wolle mit dem Eine solche Risiko-Absicherung zu Las- Damm dem feindlichen Nachbarn die ten des Steuerzahlers ist in allen westlichen wichtigste Wasserquelle abdrehen. –3943 Industriestaaten eine gängige Methode der Der Damm sorgt nicht nur im Nahen * inkl. binnenwirt- Exportförderung.Vielfach werden aber auf Osten für Konflikte, sondern auch am Ka- schaftlicher Gewähr- diesem Weg Projekte ermöglicht, die in den binettstisch der rot-grünen Koalition in leistungen, Quelle: Importstaaten erhebliche ökologische und Finanzministerium –4944 Prognose soziale Probleme verursachen. * Links: Sardar-Sarovar-Damm im Narmada-Fluss in In- Die bettelarme Slowakei etwa ließ mit dien; rechts: Atomkraftwerk „Rowno“ in der Ukraine. 198082 84 86 88 90 92 94 96 98 2000 Hermes-Deckung für 130 Millionen Mark

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Werbeseite Deutschland ein Atomkraftwerk sowjeti- Gouvernanzinstrument ma- scher Bauart durch den Sie- chen“, meint nun auch mens-Konzern fertig stellen, SPD-Fraktionsvize Ernst obwohl die Anlage wichtige Schwanhold. Darum seien westliche Sicherheitsstan- die alten Reformvorschlä- dards nicht erfüllt. In China ge nicht zu verwirklichen. bürgt der Bund für einen „Die Entscheidungen der großen Teil der Bauleistun- Importländer“ seien zu „re- gen am so genannten Drei- spektieren“. Schluchten-Damm. Dessen Den Vorschlag des grünen Errichtung erzwingt die Um- Haushälters Metzger, mit siedlung von mehr als einer dem neuen Haushaltsgesetz Million Menschen, ist tech- dem Budget-Ausschuss des nisch hoch riskant und för- Bundestags ein Mitentschei- dert die Ausbreitung tödli- dungsrecht bei Bürgschaften cher Parasitenkrankheiten. von über 50 Millionen Mark Britische Wissenschaftler be- einzuräumen, schmetterte zeichneten das Vorhaben als die SPD in der koalitionsin- das „Tschernobyl der Was- ternen Arbeitsgruppe Haus- serkraft“. halt vergangene Woche

Zugleich verführt die be- / ARGUS K.-B. KARWASZ rundheraus ab. queme Staatsgarantie zu un- Hermes-Zentrale*: Jährlich 100 Millionen Mark für die Allianz Doch die bisherige Lässig- soliden Kalkulationen in den keit bei der Vergabe von Käuferstaaten. Knapp ein Drittel der Schul- Bürgschaften wird die Koalition genau wie den von Entwicklungsländern gegenüber bei Rüstungsexporten in immer neue Kon- Deutschland sind Forderungen aus fällig flikte stürzen. Neben dem Ilisu-Damm ste- gewordenen Handelsbürgschaften. hen in der nächsten Zeit zwei weitere kniff- Die Rechnung wird mit Steuergeldern lige Entscheidungen an: beglichen. Die Versicherungsgebühren und π Die Ukraine will zwei Atomkraftwerke die ausgezahlten Schadenserstattungen sowjetischer Bauart mit westlichen laufen direkt durch den Bundeshaushalt. Krediten durch ein Konsortium aus Sie- An die 100 Millionen Mark im Jahr kassiert mens und dem französischen Staats- dabei die Allianz für die Verwaltung. konzern Framatome fertig stellen las-

Das System macht meistens Miese. Je M. URBAN sen. Ohne Hermes-Deckung würde die nach Krisenlage der Weltwirtschaft und Grüner Haushälter Metzger Finanzierung platzen, die ukrainische politischen Umbrüchen in den Importlän- Von der SPD abgeschmettert Betreibergesellschaft gilt als zahlungs- dern muss der Steuerzahler für Schäden unfähig. Bundeskanzler Gerhard Schrö- von bis zu fünf Milliarden Mark im Jahr ge- Verbands World Economy, Ecology and der hat allerdings gegenüber dem radestehen (siehe Grafik Seite 98). Seit Development (WEED) fordert daher seit Hauptfinanzier, der Londoner Osteu- 1983 lief ein Defizit von über 26 Milliarden langem die Öffnung des Verfahrens und ropabank, Deutschlands Zustimmung Mark auf. ein Anhörungsrecht für kritische Wissen- schon avisiert. Ob und wann die Gelder von den schaftler sowie Vertreter der betroffenen π In Indien will ein privater Konzern das Schuldnerländern wieder eingetrieben Bevölkerung aus den Importländern. Wasserkraftwerk Maheschwar bauen. werden können, vermag niemand zu sa- Dafür haben die Aktivisten ein überra- Das Projekt, zu dem auch ein riesiger gen. „Auch für die kommenden Jahre ist schendes Vorbild – die US-Regierung. Staudamm im Narmada-Fluss gehört, mit relativ hohen Ausgaben für politische Deren Exportgarantie-Behörde hat sich stößt auf den Widerstand einer großen Schäden zu rechnen“, kündigte das Fi- die strengen ökologischen und sozialen Volksbewegung (SPIEGEL 30/1999). Ob- nanzministerium vergangenen Mai in ei- Standards der Weltbank zu Eigen ge- wohl die staatliche Elektrizitätsgesell- nem als „Verschlusssache“ deklarierten macht und fordert Kritiker bei strittigen schaft die Stromabnahme voraussicht- Bericht zu den Hermes-Finanzen an. Vorhaben öffentlich per Internet zu Stel- lich gar nicht bezahlen kann und der Den Milliardenposten im Etat kann der lungnahmen auf. Münchner Viag-Konzern sich aus dem Bundestag praktisch nicht kontrollieren. Bis zum Regierungsantritt konnten sich Projekt zurückzog, wollen die zuständi- Die Bürgschaften im Zeichen des Götter- die Anti-Hermes-Streiter denn auch der gen Beamten des Wirtschaftsministeri- boten Hermes vergibt ein Ausschuss von Unterstützung von Grünen und Sozialde- ums den Bund für die Bezahlung der bei Beamten aus Wirtschafts-, Finanz-,Außen- mokraten sicher sein, die mehrfach ent- Siemens bestellten Elektrotechnik bür- und Entwicklungshilfe-Ministerium, im sprechende Anträge im Bundestag ein- gen lassen. Streitfall entscheidet das Kabinett. „Der brachten. Damit steht vor allem für die Grünen Bund zahlt Milliardensummen aus, und wir Seit dem Machtwechsel befiel die rot- viel auf dem Spiel. Insbesondere die Haushaltspolitiker sind dabei völlig ohn- grünen Reformer aber Furcht vor der ei- Untätigkeit von Außenminister Joschka Fi- mächtig“, beklagt der grüne Abgeordnete genen Courage. „Das Hermes-System ist scher sorgt für Irritation bei der grünen Oswald Metzger. kein Instrument der Entwicklungshilfe, Klientel. In Sachen Ilisu-Damm böte die Zudem sind alle Vorhaben grundsätzlich sondern soll die deutsche Industrie im Konfliktlage in Kurdistan eigentlich aus- geheim. Zweifelhafte Projekte kamen bis- internationalen Wettbewerb effizient un- reichend Grund für ein Veto des Auswärti- lang stets nur an die Öffentlichkeit, wenn terstützen“, argumentiert Michael Kruse, gen Amts. Umwelt- und Solidaritätsgruppen Proteste der für Hermes zuständige Referatsleiter Hinter der Reformkampagne, mahnt und Kritik aus den Importstaaten publik von Wirtschaftsminister Müller. Man kön- WEED-Sprecherin Barbara Unmüssig, machten. ne die Bürgschaftsvergabe „nicht zu einem „stehen Organisationen mit über einer Mil- Ein Bündnis von 120 solcher Nichtregie- lion Mitgliedern, darunter sicher viele Grü- rungsorganisationen unter Führung des * In Hamburg. nen-Wähler“. Harald Schumann

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zösischen Lens, wo am 21. Juni 1998 anläss- lich der Fußball-WM Deutschland gegen Jugoslawien spielte. Das Foto des in seinem Blut liegenden Nivel kennt jeder. Auch ein paar Haftjahre mehr „hätten an der Sache nichts geändert“, sagte Lo- rette Nivel, die mit ihrem Ehemann und ei- nem der Söhne zur Urteilsverkündung ge- kommen war, weil sich die Medien, so der die Nebenklage vertretende Anwalt, an ih- rer Anwesenheit und Reaktion interessiert zeigten. Nivel, er ist 44, wird für sein Leben schwerst behindert bleiben, ein Mensch, der nicht mehr aufnimmt, was ge- schieht, und mit dem man sich nicht mehr austauschen kann. Ein Journalist fragte den Sohn, ob er den Tätern verzeihen könne. Er kann es nicht, welch eine Frage. Eine unerträgliche Frage wegen ihrer kalkulier- DPA Angriff auf den Gendarmen Nivel 1998: Wie Monster verhalten

STRAFJUSTIZ Was fasziniert so an Gewalt? Im Hooligan-Prozess hat das Landgericht Essen AFP / DPA hohe Strafen verhängt – eine abschreckende Wirkung werden Angeklagte Renger, Zawacki sie kaum erzielen. Von Gisela Friedrichsen Missachtung von Tabus

er Generalsekretär des Deutschen ten Publikumswirksamkeit. Drei der An- Fußball-Bundes (DFB) Horst geklagten haben bereut, einer hat die DSchmidt hofft, das Essener Urteil schrecklichen Folgen bedauert. „Was ha- werde in der Hooligan-Szene als „eindeu- ben Sie von den Angeklagten erwartet?“ tige Botschaft“ begriffen. Und der beim „Ich glaube nicht, dass ich etwas von ihnen DFB für die Medien zuständige Wolfgang erwarte“, sagt Frau Nivel leise. „Hatten Niersbach setzt auf die „abschreckende Sie schon Zeit, mit Ihrem Mann über das Wirkung“ des Richterspruchs. Die Gerich- Urteil zu sprechen? Wie ist seine Reak- te, so sehen es die Funktionäre der Welt- tion?“ Jeder weiß, dass er nicht mehr rea- macht Fußball, richten es schon. gieren kann. „Ich habe ihn gefragt, ob es Die Auffassung, hohe Strafen schreck- ihm gut geht“, antwortet sie. ten ab, hat ein zähes Leben. Nicht einmal Die Angeklagten sind nicht Monster,

von der Todesstrafe haben sich Mörder AP sondern Menschen, auch wenn sie sich an oder Totschläger aufhalten lassen. Dass die Angeklagte Rauch, Reifschläger jenem unseligen Tag wie Monster verhal- Essener Angeklagten des versuchten Mor- Das Gericht hat kein Exempel statuiert ten haben, sagt der Vorsitzende Richter des an dem französischen Gendarmen Da- Rudolf Esders, 59, in der Urteilsbegrün- niel Nivel beschuldigt wurden, dass zu- versuchten Mordes und wie alle Mitange- dung. mindest ein Lebenslang und hohe Haftstra- klagten wegen gefährlicher Körperverlet- Wie soll ein Gericht solche Menschen fen drohten – die Krawallmacher trieben zung verurteilt. bestrafen? , der Jurist und bis heute unbeeindruckt ihr Unwesen. Und Das Gericht hat kein Exempel statuiert, SPD-Rechtspolitiker, hat das Unheil be- sie treiben es weiter. weil dies die Achtung vor der Würde auch schrieben, das, angerichtet von Men- Die 2. Große Strafkammer des Landge- des Menschen verbiete, der sich schuldig schenhand, sich durch Menschenhand nicht richts Essen ist mit ihrem Urteil zwar un- gemacht hat. Die Angeklagten wurden da- wieder gutmachen lässt: „Die Frage des ter den Strafanträgen der Anklage geblie- her auch nicht für die „Schande“ bestraft, Strafens erhebt sich dort vor uns, wo Ge- ben. Doch milde gestraft hat sie nicht: für die sie angeblich über die Fußballnation rechtigkeit unerreichbar wurde.“ André Zawacki, 28, zehn Jahre Freiheits- Deutschland gebracht haben, was die Öf- „Man kann sie nur nach ihrem Handeln strafe statt der beantragten 14 Jahre; für To- fentlichkeit, von den Medien in beispiello- verurteilen“, sagt Esders. Und bedrückt, bias Reifschläger, 25, sechs Jahre, beantragt ser Weise munitioniert, gern gesehen hät- nicht ohne Resignation fährt er fort: „Sie waren acht Jahre; für Frank Renger, 31, te. Die Anklageschrift war schon weit vor werden ein paar Jahre weggesperrt. Das fünf statt sieben Jahre; für Christopher Prozessbeginn in einer Zeitung ausgebrei- kann ein Strafgericht erledigen. Wir kön- Rauch, 24, drei Jahre und sechs Monate tet worden. Es gab Filme und Fotos ohne nen dann mit dem Finger auf sie zeigen statt sechs Jahre. Zawacki wurde wegen Ende von den Schreckensszenen im fran- und ihr Tun und ihren Charakter be-

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Werbeseite Deutschland schimpfen und zur Tagesordnung überge- Michael Eder hat in der „Frankfurter All- hen im Gefühl, besser zu sein als sie.“ Un- gemeinen“ beschrieben, wie Spieltag für überhörbar die Ratlosigkeit, die schmerz- Spieltag „hoch bezahlte Bundesligaprofis lichen Erfahrungen im Sinne Arndts, die ihre Aggressivität zu Markte“ tragen. „Die auch ein erfahrenes Gericht und einen Tendenz zur Gewalt auf dem Platz wird Richter auf dem Höhepunkt seines An- verharmlost statt verurteilt.“ Es ist kein sehens nicht loslassen. Kavaliersdelikt, wenn ein Spieler dem an- Was fasziniert so an Gewalt? Warum er- deren ins Gesicht tritt und wenn dieser liegen ihr gerade junge Menschen? Warum Ausschnitt dann in Großaufnahme auf dem suchen sie Geborgenheit ausgerechnet un- Bildschirm zu konsumieren ist. ter Gewalttätern? Welche Instinkte wer- Man wolle nicht dem Druck einer „ver- den dabei angesprochen? Müssen wir uns schwindend kleinen Gruppe“ von Tätern abfinden damit, dass Gewalt Spaß macht? Dass es eine Lust gibt am Abbau von Hemmun- gen, an der Missachtung von Tabus und Normen? Manche Fragen, die Esders ausspricht, sind schon die Antwort. Die Strafgerichte befinden sich heute in einer prekären Situation. Eine populistische Politik, die sich den von Medien allzu oft geschürten Ängsten vor dem Verbrechen zu empfehlen sucht, indem sie Strafmaße erhöht, überfüllt die Strafanstalten. In denen geschieht nichts, was der Ein-

sicht und Reue der Verurteil- AP ten, und damit dem Leid der Ehepaar Nivel: Den Tätern verzeihen? Opfer, dient. Die Gerichte werden bedrängt von Erwartungen, sie nachgeben, heißt es von den Funktionären werden dazu angehalten vom Gesetzge- des Millionengeschäfts Fußball. Doch die ber, immer höhere Strafen zu verhängen Lust an der Gewalt fährt nicht wie die bib- – doch dem Hooliganismus und anderen lischen bösen Geister in eine Herde ver- Fehlentwicklungen stehen nur dürftige abscheuungswürdiger Säue. Die Gefahr, Bemühungen entgegen. In Essen etwa ka- dass es im Zusammenhang mit dem robus- men erhebliche Zweifel am Nutzen von ten Kampfsport Fußball zu Katastrophen Fanprojekten, Szenebeobachtern und Be- kommt, wird auch genährt von dem, was treuern auf. immer wieder ungerügt im Spiel und da- Das Fußballspiel ist schon längst nicht nach geschieht. Der Nationalstürmer Enri- mehr die schönste Nebensache der Welt co Chiesa vom AC Parma jubelte im Mai und auch keine bloß sportliche, friedliche nach dem Sieg über Olympique Marseille: Veranstaltung. Die Geschichte der Kra- „Marseille wurde massakriert!“ Zu sich walle rund um den Fußball und ihrer Op- endlos wiederholenden Untaten – der Ton, fer wird verdrängt: 1964 in Lima – mehr als der dazu passt. 300 Tote nach einem Länderspiel zwischen Das Essener Urteil wird voraussichtlich Peru und Argentinien. 1971 in Glasgow – 66 die Revision zu bestehen haben. Die Ver- Tote anlässlich eines Spiels zwischen den teidiger Peter Kruse (für Zawacki) und Ortsrivalen Rangers und Celtic. Mai 1985, Henning Plähn (für Rauch) haben rechtli- Brüssel, Heyselstadion – 39 Tote bei einem che Argumente für ihre Mandanten vorge- Spiel zwischen einer britischen und einer bracht, die sie, zunächst, für nicht ausrei- italienischen Mannschaft. Die Liste lässt chend berücksichtigt halten. Man mag sich vorwärts wie rückwärts verlängern. kritisieren, dass in der mündlichen Be- Die Niederlande und Belgien, Gastge- gründung nicht auf die schwierige Beweis- ber der EM im Jahr 2000, werden immer lage eingegangen wurde, nicht auf die ver- wieder von schwersten Krawallen mit To- wirrende Wirkung der Fotos, nicht auf die ten und Schwerverletzten heimgesucht, die vielen schweigenden Zeugen, die an dem Polizei greift zu Schusswaffen. Während Unglück von Lens auch ihren Anteil ha- des Essener Prozesses wusste sich Borussia ben, nicht auf den aus unserer Sicht un- Dortmund vor einem Spiel in Rotterdam gewöhnlichen Umgang mit Asservaten in nicht mehr anders zu helfen, als die dem Frankreich. Verein zustehenden Karten zurückzu- Doch dies mindert, so oder so, nicht schicken, nachdem vor einem Großangriff den Appell des Gerichts, nachzudenken, auf die Fans gewarnt wurde. wieso Menschen sich so schwer schuldig Die Gewalt ist mittlerweile bis in den machen. Und ob es genügt, sich damit ab- Jugendfußball vorgedrungen, wo sich El- zufinden – dass gestraft wird, wenn es zu tern auf den Zuschauerplätzen prügeln. spät ist. ™

106 der spiegel 46/1999 SPIEGEL-GESPRÄCH „Ich habe lernen müssen“ Bundesinnenminister Otto Schily (SPD) über die Kritik an seiner Asylpolitik und eine neue Regelung der Zuwanderung

SPIEGEL: Warum aber dieses Verfolgte bei uns Zuflucht finden sollen, Thema in dieser Tonlage wird dadurch nicht in Frage gestellt. zu einem Zeitpunkt, da SPIEGEL: Und nun ist der Artikel mit der es im rot-grünen Bündnis Wirklichkeit nicht mehr in Übereinstim- ohnehin an allen Ecken mung zu bringen? brennt? Schily: Die gegenwärtige Rechtslage führt Schily: Ich halte eine zu einer jährlichen Zuwanderung von rund freundliche und sachliche 100000 Menschen, verbunden mit äußerst Tonlage ein. Europa hat sich kostspieligen und aufwendigen Verwal- ein gemeinsames Regelwerk tungs- und Gerichtsverfahren, von den So- für Asyl-, Bürgerkriegs- zialhilfekosten ganz abgesehen. Und nur flüchtlings- und Migrations- zwischen drei und vier Prozent werden als fragen zur Aufgabe ge- Asylberechtigte anerkannt. Ein weiterer macht. Deutschland kann geringer Prozentsatz erreicht die Aner- sich aus dieser Debatte kennung auf dem Klagewege. nicht heraushalten. SPIEGEL: Wollen Sie allen Ernstes dabei SPIEGEL: Und doch ist es bleiben, dass 97 Prozent der Asylsuchen- eine gründliche Abkehr von den in Deutschland „Wirtschaftsflüchtlin- der Haltung, die bisher als ge“ sind, wie Sie sie genannt haben?

M. DARCHINGER politisch korrekt in Sachen Schily: Der Ausdruck „Wirtschaftsflücht- Minister Schily: „Debatte auf europäischer Ebene“ Asylrecht galt. linge“ war unglücklich gewählt. Wir spre-

SPIEGEL: Herr Minister Schily, Ihr Koali- tionspartner wirft Ihnen nach Ihrem Vor- stoß, das Asylrecht zu überdenken, einen „Frontalangriff auf Flüchtlinge“ vor. Wird der Innenminister zur Belastung für die rot-grüne Koalition? Schily: Die Aufregung ist völlig überflüssig. Die nervösen Reaktionen sind mir unver- ständlich, ich habe keinen Gesetzentwurf oder gar ein verfassungsänderndes Gesetz auf den Tisch gelegt. Ich habe über eine Perspektive gesprochen. Es sollte wenigs- tens ausnahmsweise einmal erlaubt sein, in langen Linien zu denken. SPIEGEL: Sie tasten nicht nur ein Kernthe- ma der Bündnisgrünen an; immerhin stel- len Sie auch einen Artikel des Grundge- setzes in Frage. Schily: Sich auf Symbolpolitik zu reduzie- ren, mag der eigenen Befindlichkeit die- nen. Davon haben aber die Menschen herz- lich wenig. Im Übrigen: Wer meint, er habe die besseren Argumente, der soll sie gel- tend machen.Wir müssen doch in der Lage

sein, ohne Unruhe einen gesellschaftlichen DPA Diskurs zu führen. Abschiebung von Kosovo-Albanern (1998)*: „Straftäter zuerst“ SPIEGEL: Nicht ganz einfach, wenn der In- nenminister eine grundsätzlich neue Posi- Schily: Ich war früher selbst ein vehemen- chen besser von „Armutsflüchtlingen“. tion einnimmt und nebenbei an einem ter Befürworter der alten Fassung von Dass Menschen aus Gründen, die mit po- Tabu rührt. Artikel 16 des Grundgesetzes, aber ich litischer Verfolgung nichts zu tun haben, Schily: Sie ist gar nicht so nagelneu. habe lernen müssen, dass die Norm in der versuchen, nach Deutschland zu gelangen, Schon bei der Debatte um den sogenann- Wirklichkeit anders ankommt, als sie ge- ist moralisch nicht zu verurteilen. Ich fra- ten Asylkompromiss 1993 hat der Ab- meint war. Der Grundsatz, dass politisch ge nur, macht es Sinn, diese Zuwanderung geordnete Otto Schily diese Position ver- de facto über das Asylverfahren zu er- treten. * Auf dem Münchner Flughafen. möglichen? Sollten wir nicht besser frei

der spiegel 46/1999 107 Deutschland entscheiden, wen wir unter bestimm- ten Voraussetzungen bei uns aufneh- men wollen und wen nicht? SPIEGEL: Also ein Zuwanderungsge- setz? Schily: Möglicherweise. Vielleicht reicht aber eine Überarbeitung des Ausländergesetzes aus. Wichtig ist, dass wir auf europäischer Ebene zu einer Angleichung des formellen und materiellen Rechts kommen. Sicher- lich ist auch der Hinweis richtig, dass unter denen, die Asyl beantragen, ei- nige sind, denen zwar kein Asyl, aber Abschiebeschutz zuerkannt wird. Gleichwohl steht fest, dass die weit- aus überwiegende Zahl der Asylbe- werber Menschen sind, die keinen Asylschutz genießen. SPIEGEL: Müssen Sie deswegen gleich einen Verfassungsartikel über Bord werfen? Schily: Es geht um die schlichte Fra- ge, wie wir mit weniger Verwaltungs-

438 191 Abschied von VERSION Deutschland Kirchenschutz für Flüchtlinge*: „Zielgenaue Entscheidungen“ Anträge und Schily: Eine Entschei- Schily: Das könnte ein unabhängiger Asyl- Abschiebungen dung, die aus freien beauftragter sein mit einem Beirat, in dem von Asylbewerbern Stücken getroffen wird die Kirchen und Gewerkschaften vertre- Anträge in Deutschland und nicht über ein Ge- ten sind. 256 112 Quelle: Bundesinnenministerium richt erzwungen werden SPIEGEL: Was wären die konkreten Vor- kann, ist deshalb kein teile? Gnadenerweis. Das gilt Schily: Dieses Verfahren hätte den Vorteil auch für das Asyl. Die der größeren Flexibilität, zum Beispiel bei Vorstellung, durch ein der umstrittenen Frage der Abgrenzung Klagerecht sei die Rich- von staatlicher und nichtstaatlicher Verfol- tigkeit und Zielgenauig- gung als Asylgrund. Das von uns bisher 104 353 keit der Entscheidung praktizierte starre Verfahren bietet diese 98 644 eher garantiert, beruht Flexibilität nicht. 80 620 auf einem Irrtum. SPIEGEL: Die Väter des Grundgesetzes ha- Jan. bis SPIEGEL: Gibt die Genfer ben sich doch etwas dabei gedacht, als sie Abschiebungen 38 205 Okt. 1999 Flüchtlingskonvention das Asylrecht in die Verfassung geschrieben 10 798 21 000 Erstes nicht ein unmittelbar haben. Haben die sich geirrt? 8232 Halbj. 1998 einklagbares Recht auf Schily: Nein. Der Grundgedanke war im 1991 1992 1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999 Asyl? Rückblick auf die Vergangenheit, nicht zu- Schily: Die Genfer Flücht- letzt auf das Schicksal jüdischer Emigran- lingskonvention regelt ten aus Deutschland, richtig. Der Grund- aufwand zu zielgenauen Entscheidungen das „Recht im Asyl“, sie begründet aber gedanke, politisch Verfolgten Schutz zu ge- gelangen, Beschwörungen von Tabus sind kein Recht „auf Asyl“. Aus der Genfer währen, bleibt auch heute richtig. Es ist dabei wenig hilfreich. Flüchtlingskonvention ergeben sich ledig- nur die Frage, wie man ihn am besten ver- SPIEGEL: Ihr Koalitionspartner sieht das lich bestimmte Rechte auf Abschiebe- wirklicht. Ich glaube nicht, dass die Mütter anders. schutz, die allerdings auch gerichtlich gel- und Väter des Grundgesetzes mit dem Schily: Wir sollten die Diskussion nicht tend gemacht werden können. Asylartikel ein Zuwanderungsrecht schaf- auf den nationalen Rahmen verengen. SPIEGEL: Sollten wir einfach selbst ent- fen wollten. Für mich gilt nach wie vor, Die Debatte gehört auf die europäische scheiden, wem wir helfen? was mir vor langer Zeit ein Vertreter des Ebene. In diesem Zusammenhang stellt Schily: Meiner Meinung nach sollten wir Uno-Flüchtlingskommissars in Zirndorf ge- sich die Frage, ob die Richtigkeitsgewähr mehr der moralischen Integrität der zur sagt hat: „Ihr Deutschen habt das liberals- einer Entscheidung positiv oder negativ Entscheidung Berufenen vertrauen als um- te Zugangsrecht in Europa und zugleich dadurch beeinflusst wird, ob sie mit ei- ständlichen Verwaltungs- und Gerichtsver- die illiberalste Anerkennungspraxis.“ nem subjektiven Klagerecht verbunden fahren. Jedoch muss verfassungsrechtlich SPIEGEL: Ohne Verfassungsrang bleibt das ist. Es fordert beispielsweise ja niemand abgesichert werden, dass eine unabhängi- Asylrecht der Willkür und politischen Be- ein einklagbares Recht auf Zuwanderung ge Institution geschaffen wird, der die ent- liebigkeit überlassen. oder auf Gewährung von Entwicklungs- sprechenden Entscheidungen zu übertra- Schily: Die Gefahr ist nicht zu bestreiten. hilfe. gen sind. Aber wodurch begegne ich ihr? Durch SPIEGEL: Dann wird Asyl zum Gnaden- SPIEGEL: Welcher Institution wollen Sie recht. eine solche Entscheidung anvertrauen? * Kurden in der Bonner Kreuzkirche 1998.

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Eindruck erwecken, als ob die Ausreise- pflicht nur auf dem Papier besteht. SPIEGEL: Ist das humanitäres Handeln? Schily: Um die Bereitschaft der Bevölke- rung zur Aufnahme aufrechtzuerhalten, muss garantiert sein, dass der Aufenthalt für Flüchtlinge vorübergehend ist. SPIEGEL: Den Ländern haben Sie mitgeteilt, dass der Bund vom kommenden April an die Kosten für die Kriegsflüchtlinge nicht mehr trägt. Das heißt, spätestens dann wird zurückgeschoben. Schily: Richtig. SPIEGEL: Auch der UNHCR hat Schwierig- keiten mit Ihrer Flüchtlingspolitik. Schily: Mit dem UNHCR gibt es da und dort Meinungsverschiedenheiten. Aber in der Regel arbeiten wir sehr gut zusammen. SPIEGEL: Mehr noch: Ihr Haus hat die Län- derministerien aufgefordert zu prüfen, ob auch bei anerkannten Asylbewerbern die Aufenthaltserlaubnis widerrufen werden kann.

A. PACZENSKY / IMAGES.DE A. PACZENSKY Schily: Das gilt nur für straffällig gewordene Asylbewerber in Abschiebehaft: „Besser von Armutsflüchtlingen sprechen“ Kosovo-Albaner, und das auch nur, soweit es sich nicht um Bagatelldelikte handelt. Verwaltungsvorschriften und Gerichtsent- Schily: Ich befolge den Grundsatz, dass SPIEGEL: Die Innenminister von Bund und scheidungen oder durch die moralische Au- Minderjährigkeit nicht gleichbedeutend Ländern denken darüber nach, Kosovo- torität einer solchen unabhängigen Insti- mit einem Einreiserecht ist. Albaner, bei denen der Verdacht krummer tution? Das ist doch die Frage. SPIEGEL: Aber ein bestimmtes Lebensalter Geschäfte nahe liegt, zuerst nach Hause SPIEGEL: Und wer garantiert eine solche verpflichtet auch zu einer besonderen Be- zu schicken. Institution? handlung. Schily: Das könnte eine Überlegung sein, Schily: Institutionelle Garantie kann nicht Schily: Das ist gewiss richtig.Aber das heißt aber dafür sind die Länder zuständig. In heißen, dass man nur einen Programmsatz nicht, dass Minderjährige, die auf dem der ersten Phase werden sicherlich Ab- in die Verfassung schreibt. Die Institution Luftweg bei uns ankommen, grundsätzlich schiebungen vorgezogen, denen ein Aus- muss in der Verfassung verankert sein und einreisen dürfen. weisungstatbestand aufgrund strafbaren dadurch die Garantie dafür werden, dass SPIEGEL: Das wollen die dem Schutzbedürfnis für politische Flücht- Kritiker dieses Verfahrens linge auch entsprochen wird. auch nicht unbedingt. SPIEGEL: Würden dann mehr oder weniger Schily: Wer von Kinder- Fälle positiv beschieden werden als heute? knast mit Teddybär redet, Schily: Es könnte sein, dass im begrenzten will eine bestimmte emo- Umfang mehr Menschen Asyl gewährt tionale Reaktion in der wird, weil das Verfahren flexibler und nicht Öffentlichkeit hervor- mit einer Präjudizwirkung verbunden rufen. Das muss ich aus- wäre. halten. SPIEGEL: Fakt bleibt aber: Die Abschaffung SPIEGEL: Sie wollen sämt- des Asylartikels, für die Sie eigentlich plä- liche bisher hier gedulde- dieren, ist ein Tabubruch für das gesamte ten Kosovo-Albaner in rot-grüne Lager. Deutschland nach Hause

Schily: Ich respektiere ja, dass viele Leute abschieben.Wann werden M. DARCHINGER Schwierigkeiten mit dem Thema haben. alle das Land verlassen ha- Schily beim SPIEGEL-Gespräch*: „Denken in langen Linien“ Allen, die am subjektiven Recht auf ben? Asylgewährung festhalten wollen, ist Schily: Wir gehen die Sache sehr behutsam Verhaltens zugrunde liegt. Es wird schon in gewiss eine idealistische und ehrenwerte und sehr pragmatisch an. Es geht doch in den nächsten Wochen zu einigen Abschie- Haltung zu attestieren. Ich hoffe, dass es erster Linie um die Förderung der freiwil- bungen kommen. Außerdem werden wir gelingt, die Debatte wieder zu versach- ligen Rückkehr. Man muss aber auch dar- im Einverständnis mit dem UNHCR dieje- lichen. auf bestehen, dass die, die ausreisepflichtig nigen zurückschicken, die nach Beendi- SPIEGEL: Ihr Koalitionspartner kann sich sind, auch wirklich ausreisen. gung der Militäraktionen zu uns kommen. nach wie vor mit dem Flughafenverfahren SPIEGEL: Also keine Ausreisepflicht in den SPIEGEL: Und bei Leuten, bei denen zwar nicht anfreunden, also dem Abfangen von kommenden zwölf Monaten? kein Urteil, aber ein entsprechender Ver- Asylsuchenden, bevor sie deutsches Schily: Vielleicht war es eine etwas zu op- dacht vorliegt? Rechtsgebiet betreten können. timistische Erwartung, dass die Verfahren Schily: Wir müssen leider sagen, wir haben Schily: Um das klar zu sagen: Das Flugha- im kommenden Jahr abgeschlossen sind. unter den Kosovo-Albanern einige uner- fenverfahren bleibt bestehen. Wir werden Aber es muss so schnell wie möglich gehen. freuliche Gestalten. Die sind der deutschen jedoch die Unterbringungsmöglichkeiten Wir dürfen in der Öffentlichkeit nicht den Bevölkerung nicht zuzumuten. Da darf auf dem Frankfurter Flughafen verbessern. man die Toleranz nicht überbeanspruchen. SPIEGEL: Für Kinder ist das Verfahren aber * Mit Redakteuren Stefan Aust, Georg Mascolo und SPIEGEL: Herr Schily, wir danken Ihnen für auch dann nicht geeignet. Horand Knaup in Berlin. dieses Gespräch.

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einem offenen Brief an den sächsischen Kultusminister Matthias Rößler fragt der GEWALT Religionslehrer Matthias Werner: „Müssen denn noch mehr Lehrerinnen und Lehrer sterben, bis man im Ministerium konkrete „Wie im falschen Film“ Schritte unternimmt, um dem Phänomen Aggression auf den Leib zu rücken?“ Nachdem in Meißen ein Schüler seine Lehrerin erstochen hat, Der Erziehungswissenschaftler Wolfgang Melzer warnt vor Panik (siehe Interview). fordern Berufsverbände mehr In einer Langzeitstudie hat er mit Kollegen Sicherheit in den Schulen, Experten warnen vor Panik. aus Westdeutschland jeweils über 3000 Schüler zwischen 12 und 16 Jahren in Hes- ie Vorlesung wird zur Gedenkver- gen“ Familie. Die Eltern haben sich vor sen und Sachsen mehrfach zum Thema Ge- anstaltung. Gebannt lauschen et- dem Medienrummel versteckt, die Mutter walt befragt. Dwa 100 angehende Lehrerinnen und ist in der Neuapostolischen Gemeinde, ei- Die Studie stuft immerhin 175 000 Lehrer den Worten ihres Professors. Wolf- ner Sekte, aktiv. Gerüchte, der Junge ge- Schüler der Sekundarstufe I als gewalttätig gang Melzer hat „aus gegebenem Anlass“ höre zur Grufti-Szene, erwiesen sich als ein, das sind von fünf Millionen Schülern das im Semesterprogramm angekündigte Unsinn. in Deutschland 3 bis 4 Prozent. An der Thema „Sozialisation und Schule“ gegen Die Meißner Tragödie scheint das Spitze stehen verbale Aggression, Prüge- „Gewalt in der Schule“ ausgewechselt. Alarmsignal für eine gefährliche Entwick- leien und sexuelle Belästigung. Zur Waffe Die beklemmende Aktualität – zwei lung: Die Gewalt an Sachsens Schulen hat wie in Meißen greifen Deutschlands Tage zuvor hatte an einem Gymnasium im nach Angaben des Landeskriminalamtes Schüler bisher nur höchst selten. nahen Meißen ein Schüler seine Lehrerin in den vergangenen zwei Jahren zuge- Im ersten Stock des Franziskaneums, ei- getötet – war auch im Hörsaal 136 der Er- nommen. Die Polizei registrierte in diesem nes Baus aus der Jahrhundertwende, wel- ziehungswissenschaftlichen Fakultät an der Zeitraum 1440 leichte und schwere Kör- ken an der Stelle, an der die Lehrerin ver- TU Dresden zu spüren. „Als ich von dem perverletzungen. In Thüringen wurden blutete, Lilien, Rosen und Asternsträuße. Attentat hörte“, sagt nachdenklich eine 1998 an den Schulen 2676 Straftaten ge- Kerzen, Briefe, Zettel stehen und liegen Studentin, „da hab ich schon gegrübelt, zählt, darunter 429 Fälle von Körperver- auf dem Boden. Hier konnten die Schüler ob ich auch den richtigen Beruf gewählt letzung. „Die Hemmschwelle zur Gewalt mit Psychologen über das traumatische Er- habe.“ ist in den vergangenen Jahren mehr und lebnis sprechen. Doch die meisten haben Am vergangenen Dienstagmorgen war mehr gesunken“, glaubt Cornelia Franke sich von dem Schock noch nicht erholt. der Schüler Andreas S., 15, maskiert vom Regionalschulamt Riesa. „Es war, als ob wir im falschen Film waren, während des Unterrichts in seine neunte Schon fordern Lehrer aus Sachsen und als ob wir neben uns stehen“, das äußern Klasse des Meißner Gymnasiums Franzis- Thüringen professionelle Sicherheitskräfte sie immer wieder. kaneum gestürmt und hatte mit zwei Mes- nach US-Vorbild an den Schulen, ver- „Wir sitzen mit den Schülern mit unse- sern 22-mal auf die Geschichtslehrerin schärfte Strafen, Metalldetektoren und rer gemeinsamen Trauer gewissermaßen in Sigrun Leuteritz, 44, eingestochen. Die Videoüberwachung auf den Schulhöfen. In einem Boot“, sagt Dietmar Liesch, Direk- Lehrerin, die ihre Schüler als „streng“ empfanden, starb nur wenige Sekunden später in den Armen einer Kollegin. Bei seiner Festnahme kurz nach der Tat sagte Andreas S., der gefasst und ruhig wirkte: „Ich habe sie gehasst.“ Die in der deutschen Kriminalgeschich- te einmalige Bluttat war seit langem vor- bereitet. Und, kaum fassbar: Andreas S. hatte Mitschüler in die Mordpläne gegen seine Lehrerin eingeweiht. „Er hat immer wieder gesagt, ich bring sie um“, erzählt ein Freund, „aber wir haben ihm nicht ge- glaubt.“ Staatsanwalt Michael Respondek

ermittelt nun nicht nur gegen Andreas S. FOTOS: DRESDNER MORGENPOST „wegen heimtückischen Mordes“, sondern Täter Andreas S. auch gegen Mitschüler „wegen Nicht- anzeige geplanter Straftaten“. Lehrer, Schüler, Eltern und Kultusbüro- kraten fragen sich entsetzt, wie es zu der kaltblütigen Tat kommen konnte. Sie ste- hen vor einem Rätsel. Die Tat von Meißen passt in kein Kli- schee: Die Schule soll – bis auf ein paar Rangeleien auf dem Pausenhof – bisher keine Gewalttaten erlebt haben. In Meißen gibt es kaum soziale Brennpunkte. Der Tä- ter war bisher noch nicht auffällig gewor- den. „Er musste uns nichts beweisen“, er- zählt ein Mitschüler, „er war ein guter Kumpel, und wir mochten ihn.“ Andreas stammt aus einer so genannten „anständi- Opfer Sigrun Leuteritz Abtransport der toten Lehrerin vor dem Franziskaneum in

112 der spiegel 46/1999 tor des Franziskaneums, auf einer Veran- staltung vergangene Woche im Meißner Theater. Makabres Zusammentreffen von Fiktion und Wirklichkeit: Zwei Tage nach dem „Aggressionen nehmen zu“ Mord von Meißen lief in über 200 Kinos der Bundesrepublik ein Spielfilm an, der Der Dresdner Erziehungswissenschaftler Wolfgang Melzer, 51, scheinbar dem wahren Leben gleicht: Drei über Ursachen und Folgen der Bluttat von Meißen sympathische Teenager schwingen sich in der Hollywood-Komödie zu Rächern ihrer SPIEGEL: Sollen die Leh- autoritärer als West- High School auf. „Tötet Mrs. Tingle!“ (frei- rer an Deutschlands Lehrer, üben sie nach gegeben ab zwölf) heißt der Streifen. Schulen jetzt kugel- Ihren Beobachtungen Der Geschichtslehrerin Mrs. Tingle, ein sichere Westen tragen? einen größeren Leis- fieses Scheusal, das Schülern, Lehrerkolle- Melzer: Der Meißner tungsdruck aus? gen und selbst dem Direktor gleicherma- Fall darf, so tragisch Melzer: Im Osten ßen verhasst ist, wird eine Lektion erteilt. er ist, nicht bewirken, Deutschlands wurde Der Film läuft auch im 25 Kilometer von dass sich Lehrer bloß nach der Wende die Meißen entfernten Dresden. Das vorwie- noch als Opfer sehen. bürokratische Staats- gend jugendliche Publikum amüsiert sich Untersuchungen zei- schule fortgesetzt, die königlich im Kinosaal 6 des riesigen Cine- gen, dass mehr als 40 Lehrer-Schüler-Rollen ma-Centers im Elbepark. Prozent der Schüler werden immer noch „Geradezu pervers“ nennt Josef Kraus, unter Schulangst lei- viel traditioneller ge- Präsident des Deutschen Lehrerverbandes, den. Lehrer, von denen sehen als im Westen. den Start des Films gerade jetzt. Es sei doch ja der Leistungsdruck Die Erfahrungen der nur eine „Komödie mit schwarzem Hu- meist ausgeht, werden Jugendlichen von Frei- mor“, verteidigt sich der Filmverleih, hat als mächtig empfun- heit und Autonomie allerdings vielerorts die Plakate „Tötet den, zum Teil auch als außerhalb der Schule

Mrs. Tingle!“ durch eine positive Variante ungerecht. Die grausa- S. DÖRING / VISUM PLUS 49 spiegeln sich in der ersetzt: „Rettet Mrs. Tingle!“ me Tat darf Lehrer Gewalt-Experte Melzer Schule kaum wider, das Im Film wird Mrs. Tingle von ihren nicht davon abhalten, erzeugt Konflikte. Schülern tagelang im eigenen Haus ans auch nach ihrem Anteil an der Eskala- SPIEGEL: Lehrerverbände fordern schär- Bett gefesselt. Es fließt zwar Blut, Pfei- tion der Gewalt zu fragen. fere Maßnahmen an den Schulen, Sach- le fliegen aus einer Armbrust, doch die SPIEGEL: Wie kam es zum Mord von sens Kultusminister propagiert seit dem verhasste Lehrerin wird – immerhin – nicht Meißen? vergangenen Sommer die „Sicherheits- umgebracht, wie es der Titel verspricht. Melzer: Noch fehlen uns detaillierte In- partnerschaft“ mit der Polizei und führ- Ganz anders als im wirklichen Le- formationen über die Hintergründe. Ty- te gerade die so genannten Kopfnoten, ben. Almut Hielscher pisch ist, dass ein männlicher Jugend- etwa für Betragen, wieder ein. Halten licher die Tat beging, dass Sie solche Vorstöße für probate Mittel, Gleichaltrige ihn vielleicht be- der wachsenden Gewalt an Schulen zu stärkten und dass die Umge- begegnen? bung seine Drohungen wohl Melzer: Mit Sanktionen und Ab- nicht ernst nahm. Untypisch schreckung kann man Gewalt nicht ab- ist, dass die Bluttat an einem bauen. Von Ranzenkontrollen und Vi- Gymnasium geschah.Absolut deoüberwachung auf dem Schulhof las- untypisch ist das Ausmaß: sen sich potenzielle Gewalttäter nicht Mordfälle kommen in der Ge- abhalten. Und die Kopfnoten, die ich waltstatistik der Schulen bis- für fragwürdig halte, wurden kurz vor lang nicht vor, und das werden der Landtagswahl eingeführt, weil sie sie auch künftig wohl nicht. hier in Sachsen bei der Bevölkerung SPIEGEL: Die Meißner Tat hät- gut ankommen. te wohl auch im Westen pas- SPIEGEL: Was aber soll geschehen, um sieren können. Ihre jahrelan- die Aggressionen bei Schülern zu zü- gen Untersuchungen über geln? Gewalt an den Schulen in Melzer: Wenn die Schülerinnen und Sachsen und Hessen belegen, Schüler das Gefühl haben, die Lehrer dass das Ausmaß der Aggres- gehen auf sie ein, das Lerntempo ist sionen im Osten nicht höher ausgerichtet auf ihre Bedürfnisse, wenn ist als im Westen. sie gefragt und auch ernst genommen Melzer: Es gibt eine Aus- werden, wenn nicht mehr so viel von nahme: Aggressionen ge- Fordern, sondern mehr von Fördern die gen die eigenen Lehrer sind Rede ist, dann wird sich nicht nur die in den neuen Ländern ganz Fachleistung steigern, sondern dann klar größer, und sie neh- werden auch Aggressionen einge- men zu. dämmt. Nur die Schule selbst, Eltern, SPIEGEL: Sind die Ost-Lehrer Lehrer, Schüler, können langfristig auf Grund ihrer Ausbildung präventiv wirken. Das ist der einzige und Praxis zu DDR-Zeiten Schutz vor Gewalt. ACTION PRESS ACTION Meißen: „Ich habe sie gehasst“

der spiegel 46/1999 113 Werbeseite

Werbeseite Trends Wirtschaft

STAATSFINANZEN DRESDNER BANK Bundesländer steigern Bayern planen Neuverschuldung rotz des Sparpakets werden die öf- Übernahme Tfentlichen Haushalte in Deutschland im nächsten Jahr mehr Schulden ma- ntensiv beschäftigt sich der Vorstand chen als noch 1999. Statt bisher 64 Mil- Ider HypoVereinsbank mit einer liarden Mark werden Bund, Länder und Übernahme der Dresdner Bank. Hoch- Gemeinden rund 75 Milliarden Mark an rangigen Managern des bayerischen In- Krediten aufnehmen. Dafür sind, so stituts zufolge hat Markus Fell, Leiter weist es die interne Vorlage des Bundes- der Abteilung Konzernstrategie, mögli- finanzministeriums für den „Arbeits- che Varianten des Deals ausgearbeitet. kreis Finanzplanungsrat“ aus, vor allem Fell buche seit Wochen seine Flüge die alten Bundesländer verantwortlich, selbst, auch seine Sekretärin wisse oft deren Neuverschuldung drastisch stei- nicht, wo er sich aufhalte, so Insider aus gen wird. Demnach wird das Minus in der Bank. Nach ihren Informationen den Kassen der Westländer von 15 auf trifft sich Fell regelmäßig mit Vorstands- 21,5 Milliarden Mark wachsen – ein An- chef Albrecht Schmidt. Auch die Al- stieg von über 40 lianz, die an beiden Häusern beteiligt Prozent. Bundes- ist, habe grünes Licht gegeben, berich- finanzminister Hans ten die Banker. Das neue Institut wer- Eichel dagegen redu- de weder von Schmidt noch von Dresd- ziert das Defizit des ner-Bank-Chef Bernhard Walter gelei- Bundes um vier Mil- tet. Stattdessen werde ein Banker aus liarden Mark. Den- einer deutschen Bank antreten, even- noch rechnen die tuell für einige Monate zusammen mit Berliner Haushalts- Schmidt. Die Banker halten es für mög- experten damit, dass lich, dass die Übernahme noch in die- Deutschland im

sem Jahr verkündet wird. Wahrschein- nächsten Jahr ge- M. DARCHINGER licher sei aber eine Bekanntgabe An- mäß der Maas- Eichel fang nächsten Jahres. tricht-Kriterien bes- ser dastehen wird als noch 1999. Dies liegt nicht zuletzt daran, dass die Wirtschaft im Jahr 2000 mit nominal 3,5 Prozent kräftig – und damit noch schneller als die Schulden – wachsen soll. So sinkt, laut Vorlage für den

M. VOLLMER „Arbeitskreis Finanzplanungsrat“, die Dresdner-Bank-Zentrale in Frankfurt, deutsche Neuverschuldung gemäß Schmidt Maastricht demnach von 1,5 auf 1,25

DPA Prozent des Bruttoinlandsprodukts.

DEUTSCHE BAHN herzig. Denn von Hamburg nach Hannover und von dort nach Berlin gibt es bereits schnelle Trassen. Durch einen Ausbau Schneller nach Berlin? der Abkürzung von Uelzen nach Stendal könnten ICE-Züge auf einer reinen Hochgeschwindigkeitsstrecke in weniger als ie Deutsche Bahn könnte die Fahrtzeiten zwischen Ham- 90 Minuten von Hamburg bis zum Bahnhof Zoo fahren. Dburg und Berlin unter zwei Stunden drücken, wenn die Züge von derzeit 160 bis auf 200 Kilometer pro Stunde be- schleunigt würden, so das Fazit eines bahninternen Alternativ- Szenarios für den Fall, dass der Transrapid nicht gebaut wird. Bei einem Spitzentempo 230 wären sogar Rekordfahrten von rund 90 Minuten möglich. Doch dagegen steht das „Eisen- bahnkreuzungsgesetz“. Geschwindigkeiten über 160 Kilome- ter pro Stunde genehmigt das Eisenbahnbundesamt aus Si- cherheitsgründen nur für kreuzungsfreie Trassen. Auf der Strecke gibt es jedoch fast 70 Bahnübergänge. Deshalb hoffen die Eisenbahner auf eine Ausnahmegenehmigung. Für rund 700 Millionen Mark sollten die Übergänge durch Vollschran-

ken verstärkt und die Fernsteuerungstechnik LZB (Linienzug- & PARTNER BACH beeinflussung) ausgebaut werden. Der Kompromiss ist halb- ICE-Zug in Berlin

der spiegel 46/1999 115 Trends

VERBRAUCHER Krieg um Cola rankreich streitet mit Großbritan- Fnien nicht nur über BSE-Fleisch, es verbietet auch den Verkauf von Cola- Getränken mit englischer Aufschrift: Weil die französische Supermarktkette Casino aus Großbritannien eingeführte Coca-Cola-Flaschen mit englischen Eti- ketten verkauft hat, wurde ein Casino- Geschäftsführer vor ein französisches Strafgericht gestellt. Dort wurde er zu einer Geldbuße von 50 Francs (etwa 15 Mark) je Flasche verurteilt. Nach An-

FOTOS: FOCUS WISCHMANN / AGENTUR ( J. ob.); / NETZHAUT ( DIETRICH J. u.) sicht der französischen Richter verstieß Lufthansa-Maschine (in Frankfurt) der Supermarkt gegen Vorschriften, wo- nach Lebensmittel ausschließlich in der TOURISTIK Landessprache beschriftet sein dürfen. Ein normal informierter Franzose müsse den Aufdruck „soft drink with vege- Lufthansa verprellt table extracts“ nicht verstehen können. Die Supermarktkette, die inzwischen er Einstieg bei der Bahn-Touris- neue Bahnchef Hartmut Mehdorn, um ein französisches Appellationsgericht Dtik-Tochter Deutsches Reisebüro Möglichkeiten einer Zusammenarbeit anrief, meint dagegen, der von den (DER) könnte Rewe-Chef Hans Reischl auszuloten. Weber wollte für DER zwar Behörden geforderte Vermerk „koh- noch ungeahnte Probleme bereiten. deutlich weniger bieten als Rewe. Dafür lensäurehaltiges Getränk mit Pflan- Als neuem Eigentümer drohen dem sollte die Bahn aber Zugang zu den zenextrakten“ sei auf französisch auch demnächst drittgrößten Ur- Call-Centern, den Ticket- nicht verständlicher laubskonzern (ITS, Airconti, automaten und zum Miles& als im englischen Ori- Atlas-Reisebüros, DER) zwei- More-System der Lufthansa ginal. Inzwischen be- stellige Millioneneinbußen erhalten. Gemeinsame Ar- fasst sich der Euro- beim Verkauf von Lufthansa- beitsgruppen tüftelten noch päische Gerichtshof Tickets in seinen Reisebüros. bis zuletzt an den Details der (EuGH) mit dem Mit den geplanten Provi- Kooperation, die Anfang De- Cola-Streit; er prüft, sionskürzungen könnte die zember verkündet werden ob die von Frankreich Lufthansa, deren Touristik- sollte. Stattdessen musste vorgeschriebene tochter C&N beim Poker um Weber aus der Zeitung vom Sprachtümelei über- DER unterlag, den Konkur- Deal mit Rewe erfahren. Die haupt mit dem EU- renten empfindlich schwä- Reischl Lufthansa überlegt nun, DER Grundsatz des freien chen. Lufthansa hatte noch freiwillige Zusatzprovisionen Warenverkehrs ver- bis vergangene Woche gehofft, den Zu- zu kürzen – für Reischl ein schwerer einbar ist. Am schlag für den Bahnableger zu bekom- Schlag: Seine Reisebüros setzen mit dem 25. November will men. Bereits im Oktober trafen sich Verkauf von Lufthansa-Tickets fast 800 der EuGH-Generalan-

Lufthansa-Chef Jürgen Weber und der Millionen Mark um. walt seinen Schluss- GAMMA / STUDIO X antrag vorlegen. Coca-Cola-Flaschen

KABELNETZ unkündbaren Zehn-Jahres-Vertrag der dass die Regionalgesellschaften hunder- Telekom-Tochter MSG zugeschanzt te von Telekom-Mitarbeitern überneh- Fallstricke der Telekom worden. In so genannten Konzernleis- men und Miete für das Glasfasernetz tungsvereinbarungen ist vorgesehen, der Telekom zahlen sollen. Auch sonst is Ende November erwartet die will die Telekom die Kontrolle über ihr BDeutsche Telekom für ihr TV-Kabel- Kabelnetz (geschätzter Wert: bis zu 35 netz in Hessen und Nordrhein-Westfa- Milliarden Mark) möglichst behalten. In len definitive Kaufangebote. Doch die der vergangenen Woche hatte sie ver- potenziellen Bieter Microsoft, Deutsche kündet, dass sie nur 35 statt 75 Prozent Bank, Murdoch und die Kabelnetzbe- ihrer Anteile an strategische Investoren treiber NTL und UPC entdeckten bei abgeben, 40 Prozent später an die Börse der Durchsicht der Telekom-Verträge bringen und die restlichen 25 Prozent einige Fallstricke, die die künftige Nut- selbst behalten will. „Damit sind wir zung des Kabelnetzes stark behindern immer auf das Wohlwollen der Telekom können. So ist die Einspeisung der bis- angewiesen“, sagt einer der potenziel-

her über das Kabel verfügbaren digita- BITTNER / JOKER J. len Käufer. Das werde die Kaufgebote len Fernsehkanäle durch einen neuen, Telekom-Zentrale in Bonn deutlich drücken.

116 der spiegel 46/1999 Geld

Aktienindizes in Europa Quelle: Datastream

Frankreich 5800 Deutschland 4100 Europa 7400 Schweiz 6700 Großbritannien 5000 CAC 40 Dax DJ Euro Stoxx 50 SMI FTSE 100 4000 5600 7200 6500 4800 3900 5400 6300 3800 7000 4600 5200 3700 6100 4400 6800 3600 5000 5900 4200 Juni Nov. Juni Nov. Juni Nov. Juni Nov. Juni Nov.

AKTIENMÄRKTE resende noch Kurskorrekturen geben. Hinzu kommen Gewinnsteigerungen Die aber sollten Anleger zum Einstieg der Unternehmen im zweistelligen Be- Beginn einer Rallye? nutzen, raten beispielsweise Experten reich.“ Für den Analysten ist der mo- der WestLB Panmure in ihrer jüngsten mentane Aufschwung an den Börsen ie europäischen Börsen im Höhen- Studie über eine „Pan-Europäische Ak- bereits der Beginn einer Jahr-2000-Ral- Dflug: Seit Ende Oktober legte der tienstrategie“. Auch für Harald Schmid- lye – die aber von einigen Risiken be- Dax um zehn Prozent zu, aber auch der lin von der Commerzbank zeigen die gleitet werde. Nach wie vor bleibt etwa französische Index CAC 40, der engli- Indikatoren nach oben. „Der überzoge- das Risiko dramatischer Computer-Ab- sche FTSE sowie der schweizerische ne Anstieg der Rentenmarktzinsen stürze zur Jahrtausendwende. Aber SMI und der Dow Jones Euro-Stoxx scheint gestoppt“, so Schmidlin, „und auch eine veränderte Politik des IWF stiegen um rund neun Prozent. Deut- im kommenden Jahr werden sich die gegenüber Russland könnte das ehema- sche Analysten halten den Trend für weltwirtschaftlichen Wachstumsraten lige Weltreich in eine Krise stürzen und nachhaltig. Zwar könne es bis zum Jah- synchronisieren und beschleunigen. damit den Finanzmärkten schaden.

LEBENSVERSICHERUNGEN WERBE-AKTIEN Schlechte Anlage Gewinn mit Reklame-Papieren ei Versicherungsvertretern laufen die Geschäfte so u einem Aktien von Werbeagenturen in Euro Bgut wie selten zuvor: Von nächstem Jahr an sollen ZRenner an die Erträge von Lebensversicherungen steuerpflichtig der Börse ent- 320 Havas Saatchi & 800 WPP werden, wer aber zuvor einen Vertrag (Mindestlaufzeit wickeln sich die 300 Saatchi zwölf Jahre) abschließt, braucht später die Zinsen nicht internationalen 280 700 zu versteuern. Doch auch eine Lebensversicherung mit Werbeagentu- 260 steuerfreien Erträgen bleibt zumeist eine schlechte Kapi- ren. Kreativhäu- talanlage. Zur Absicherung von Familienangehörigen ser wie WPP, 240 600 empfehlen Experten eine preisgünstigere Risiko-Lebens- Havas oder 220 versicherung, die nur im Todesfall zahlt. Zur Altersvor- Saatchi & Saat- 200 500 sorge sollte der chi stiegen seit 180 3500 Quelle: Allianz-Aktie eingesparte Be- Jahresbeginn Datastream trag besser in ei- mit dreistelligen 160 140 400 3000 Veränderung nen Aktienfonds Zuwachsraten. 1999 1999 1999 seit 1980 gesteckt werden: Auch Omnicom Jan. Nov. Jan. Nov. Jan. Nov. in Prozent 2500 Wer vor 20 Jah- (mit den Toch- ren für 10000 teragenturen BBDO und DDB) in New York zog kräftig an. Die Mark Allianz-Ak- Großagenturen profitieren von der guten Konjunktur insbesondere 2000 tien gekauft hät- in den USA, auf die allein fast 40 Prozent des internationalen Wer- te, käme heute bebudgets entfallen. Die Aussichten bleiben günstig: In diesem Jahr 1500 auf ein Vermögen sollen die weltweiten Werbeausgaben um rund vier Prozent und im von fast 300000 Jahr 2000, so eine optimistische Prognose der Agentur McCann- 1000 Mark; der gleiche Erickson, um fast sieben Prozent steigen. Zudem bringt auch die Quelle: Betrag, als Ein- Globalisierung mit zahlreichen Fusionen und Firmenübernahmen Datastream malprämie in eine den Werbern Vorteile. Davon profitieren in erster Linie die interna- 500 Versicherung ein- tionalen Agenturen. In Deutschland hingegen halten sich die Kreativ- 100 bezahlt, würde schmieden noch von der Börse zurück. Preisgekrönte und hoch 30000 bis 40000 profitable Agenturen wie Jung von Matt oder Springer & Jacoby 19801990 1999 Mark einbringen. kassieren ihre Gewinne lieber allein.

der spiegel 46/1999 117 Wirtschaft

TELEKOMMUNIKATION Vom Jäger zum Gejagten Der Mobilfunkkonzern Vodafone plant eine feindliche Übernahme von Mannesmann, und selbst die Deutsche Telekom kann vor Aufkäufern nicht sicher sein: In der Welt der globalen Telefonkonzerne werden die Fusionen immer gigantischer – und die Methoden immer brutaler.

Gent nach dem Sieg einige Mannesmann- Töchter wie die deutsche Festnetzgesell- schaft Arcor oder das britische Mobil- funkunternehmen Orange abnehmen, da die in den Plänen von Vodafone keine Rol- le spielen. Sollte der Deal tatsächlich klappen, wür- de erstmals in der Geschichte der deut- schen Wirtschaft ein Großkonzern durch eine feindliche Übernahme in ausländische Hände fallen. Und das Opfer wäre ausge- rechnet das Unternehmen, das sich in den vergangenen Jahren zu einem der weni- gen deutschen Vorzeigekonzerne und zum Börsenliebling gemausert hatte. Die Übernahme- und Fusionswelle im internationalen Telekommunikationsmarkt nimmt immer groteskere Formen an: Kein Unternehmen, und sei es noch so gesund, ist vor den Attacken der Konkurrenten si- cher. Wer heute noch Jäger ist, wird mor- gen zum Gejagten. Am Ende wird wohl

B. CORR / FINANCIAL TIMES nur eine Hand voll so genannter Global Vodafone-Chef Gent: „Dann schnappen wir zu“ Player übrig bleiben. Längst sind die Preise für Übernahme- on Sommer setzte sein breitestes nager vergangene Woche bei einem Essen kandidaten in astronomische Höhen ge- Lächeln auf, dann stichelte er los: mit europäischen Telekommunikations- stiegen, die mit rationalen betriebswirt- R„Wenn ich der Chef von Vodafone managern keinen Zweifel aufkommen. schaftlichen Kriterien nicht mehr zu wäre“, ließ der Telekom-Chef seinen Erz- Wenn die Gelegenheit halbwegs günstig rechtfertigen sind: Es geht um die Macht konkurrenten Klaus Esser im noblen Ber- ist, so der Vodafone-Chef im vertrauten in der Schlüsselbranche des Informations- liner Hotel Adlon vor rund 200 geladenen Kreis, „dann schnappen wir zu“. zeitalters. Gästen wissen, „würde ich Ihnen in den Hatten Esser und seine Kollegen solche Weltweit fallen Preise und Telefonge- nächsten Tagen einen Besuch abstatten und Äußerungen noch vor zwei Wochen als bühren und damit auch die Gewinnmargen neben einem Strauß Blumen auch ein „taktisches Geplänkel“ abgetan, so ist die der Konzerne. Gleichzeitig aber steigen die dickes Scheckbuch mitbringen.“ Ernsthaftigkeit der Übernahmepläne in- Möglichkeiten, jedem Kunden neue, profi- Der nicht ganz ernst gemeinte Seiten- zwischen auch bei ihnen zur Gewissheit table Leistungen zu verkaufen – über das hieb, den Sommer vor knapp vier Wochen geworden. Die Stimmung in der über hun- Internet und über das Handy. Dann, so hof- auf der Geburtstagsparty der Mannes- dert Jahre alten Mannesmann-Zentrale fen die Telefonkonzerne, werden sich auch mann-Handy-Tochter D2 austeilte, ist in- nahe der Düsseldorfer Altstadt ist gespannt die strategischen Preise für die Übernah- zwischen fast Realität geworden. Fieber- wie nie zuvor. men von heute rechnen. haft bereitet sich Mannesmann-Chef Esser Fast täglich gehen dort neue Hiobsbot- Von dieser Entwicklung konnte der mit wenigen Vertrauten in der Zentrale des schaften aus London ein, enthüllen deut- Mannesmann-Konzern nichts ahnen, als er Düsseldorfer Traditionskonzerns auf eine sche und englische Wirtschaftszeitungen vor zehn Jahren als erstes Privatunterneh- Attacke des englisch-amerikanischen Mo- Details des geplanten Vodafone-Coups. In men in Deutschland die Lizenz für ein Mo- bilfunkgiganten Vodafone Airtouch vor. London und Frankfurt, so heißt es, seien bilfunknetz-Netz bekam. Mit einem klei- Zwar liegt den Mannesmann-Aktionären große Anwaltskanzleien bereits damit nen Team versuchte er, dem vormaligen bisher noch kein offizielles Angebot zum beschäftigt, die Übernahmeverträge aus- Monopolisten Telekom Konkurrenz zu ma- Tausch ihrer Papiere vor. Und auch Chris zuarbeiten. Danach ist Gent bereit, die chen. Mit Erfolg: Das Mannesmann-D2 Gent, Chef des aggressiven angloamerika- Rekordsumme von 140 Milliarden bis hängte die Konkurrenz von D1 ab. nischen Handy-Riesen, hat noch keinen 190 Milliarden Mark für die Übernahme Seither wurde der ehemalige Röhren- persönlichen Besuchstermin vereinbart, von Mannesmann zu bezahlen. konzern mit Milliardeneinsatz zum florie- um dem Vorstand Blumen und Scheck zu Gent kommt wahrscheinlich nicht allein, renden Telefonkonzern umgebaut. Erst in überreichen. Dass seine Truppen aber be- sondern hat sich France Télécom als Part- der vergangenen Woche konnte Esser neue reitstehen, den ehemaligen Verbündeten ner für die bevorstehende Übernahme- Rekordzahlen melden. Der Umsatz in der zu schlucken, daran ließ der englische Ma- schlacht gesichert. Die Franzosen wollen Telefonsparte, so der Vorstand, sei von Ja-

118 der spiegel 46/1999 die Begehrlichkeiten der wirklich großen Alte und neue Sparten +15% Kursentwicklung Player auf dem internationalen Telekom- seit dem 12. Oktober Unternehmensbereiche bei Mannesmann 1998 +10% munikationsmarkt. Besonders Vodafone- Chef Gent hat seit langem ein Auge auf MASCHINENBAU +5% Mannesmann die Handy-Aktivitäten von Mannesmann Umsatz in geworfen. Milliarden 0 Der Engländer hat großen Ehrgeiz und Mark Veränderung gegen- über dem Vorjahr –5% strebt eine weltweit dominierende Stel- 12,9 AUTOMOBILTECHNIK TELEKOM- lung im Mobilfunk an. Seinen bisher größ- –20% MUNIKATION –10% ten Erfolg landete er im Januar dieses Jah- 10,7 Vodafone res. Da nämlich schluckte der Firmenchef, +29% 9,1 +34% der Vodafone durch geschickte Zukäufe Okt. Nov. zahlreicher Beteiligungen an jungen Mo- RÖHREN bilfunkfirmen bereits zum bedeutendsten europäischen Handy-Konzern ausgebaut 4,6 hatte, auch noch das US-Unternehmen –32% Airtouch. Erzielte 1998 rund 80% des Konzern- Damit hatte Gent nicht nur die globa- gewinns von 1,23 le Spitzenposition der Mobilfunkbranche Milliarden Mark erreicht (rund 29 Millionen Kunden). Gleichzeitig bekam er einen Fuß in die 14 100 12 200 Tür von Mannesmann. Denn die US-Firma Beschäftigte Beschäftigte Airtouch war von Anfang an als Partner 45 500 42 850 Beschäftigte von Mannesmann beim Aufbau der wich- tigsten Mobilfunktöchter D2 und Omnitel nuar bis September auf 11,3 Milliarden an dem boomenden italienischen Handy- beteiligt. Mark gestiegen – ein Sprung um mehr als Unternehmen Omnitel und der Festnetz- Die Rolle des Junior-Partners (35 Pro- 70 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. gesellschaft Infostrada. Wenige Wochen zent an D2) bei Mannesmann reicht Gent Der Mannesmann-Chef setzt voll auf die später übernahm er von den im Kommu- aber nicht. Schon früh machte er den Deut- Wachstumsbranche Telekommunikation. nikationsgeschäft glücklosen Energiekon- schen durch dezente Andeutungen klar, Nicht nur in Deutschland, sondern „in zernen RWE und Veba deren Telefontoch- dass Vodafone Airtouch gewillt sei, seine ganz Europa“, so Essers Ziel, solle Man- ter Otelo für gut 2,25 Milliarden Mark. Anteile langfristig aufzustocken – notfalls nesmann zu einem „führenden Anbieter Die Einkaufspolitik wurde von Analys- von Telekommunikationsdienstleistungen“ ten und Anlegern belohnt. Der Kurs der werden. Mannesmann-Aktie stieg – genauso wie Entsprechend legte der frühere Finanz- vorstand los: Im Februar sicherte er sich für Düsseldorfer Mannesmann-Zentrale, Chef Esser rund 15 Milliarden Mark eine Beteiligung Hektische Abwehrreaktionen FOTOS: S. WIELAND / LAIF (gr.); VARIO-PRESS ( kl.) VARIO-PRESS S. WIELAND / LAIF (gr.); FOTOS: Wirtschaft auch über den Weg einer Übernahme des internationales Geschäft zu ver- gesamten Mannesmann-Konzerns. stärken. Doch auf die Offerten des mächtigen Da die Claims auf dem ame- Engländers ging Esser nicht ein. Er ent- rikanischen Markt durch Mega- schloss sich zum Gegenschlag.Vor gut drei Deals wie den Zusammenschluss Wochen verkündete er, dass Mannesmann von AT&T und Media One den drittgrößten britischen Mobilfunkbe- oder der Fusion von Sprint und treiber Orange für den Rekordpreis von Worldcom bereits weitgehend über 60 Milliarden Mark erwerben wolle abgesteckt sind, konzentrieren (SPIEGEL 43/1999). sich die Telefongiganten zu- Die „vergiftete Pille“, wie Analysten nehmend auf den europäischen solche Abwehrmaßnahmen nennen, mit Markt, in dem Deutschland ei- denen der Preis für einen Angreifer hoch- ne wichtige Schlüsselposition getrieben wird, könnte für Esser nun selbst einnimmt. zu einer Gefahr werden. Der Vodafone- Fast im Monatsrhythmus wer- Chef empfindet den Mannesmann-Vorstoß den neue Fusions- und Übernah- auf die britische Insel als Angriff auf mepläne geschmiedet, wechseln seinen Heimatmarkt und sinnt seitdem junge Telefonunternehmen wie auf Rache. die deutsche Mobilfunk-Firma Noch ist völlig offen, ob Gent dabei so E-Plus zu Fabelpreisen ihre Be- weit geht, in den nächsten Tagen tatsächlich sitzer. Erst in der vergangenen ein Übernahmeangebot zu unterbreiten, Woche bot beispielsweise BT den wie es die meisten Experten erwarten. Es Managern der geplanten Strom- habe, hieß es vergangenen Freitag in Lon- allianz Veba/Viag an, deren An- don, noch keine Entscheidung für irgend- teil am dritten deutschen Mobil- eine Option gegeben. Und das hat gute funkbetreiber Viag Interkom zu Gründe: Denn selbst für das teuerste Mo- übernehmen. Für die restlichen bilfunkunternehmen der Welt (Börsenwert: 55 Prozent des Unternehmens, an

rund 285 Milliarden Mark) wäre Mannes- BRAUCHITSCH v. W. dem die Briten seit 1995 bereits mann ein schwerer Brocken. Telekom-Chef Sommer mit 45 Prozent beteiligt sind, So stieg der Kurs der Mannesmann-Ak- „Blumen und ein dickes Scheckbuch“ würden sie rund fünf Milliarden tie in den vergangenen Tagen durch die Pfund zahlen. Übernahmegerüchte um mehr als 28 Pro- Ärmel zaubert, ein Unternehmen also, das Selbst Ron Sommer, der noch in Berlin zent auf über 360 Mark an. Um den ver- mit dem Düsseldorfer Konzern fusioniert, über seinen Konkurrenten Esser spöttelte, wöhnten Aktionären einen Verkauf ihrer um eine feindliche Übernahme durch könnte mit seiner immerhin größten Te- Papiere schmackhaft zu machen, müsste Vodafone Airtouch zu verhindern. lefongesellschaft Europas schon bald ein Gent damit schon einen Preis von deutlich Aber selbst wenn es Mannesmann ge- Opfer der globalen Übernahmeschlach- über 180 Milliarden Mark bieten. Außer- lingen sollte, die Attacken vorerst abzu- ten werden. dem müsste er viele technische und ge- wehren, ist die Gefahr damit nicht gebannt. Bisher brauchte sich der ehemalige Sony-Manager über feindliche Übernah- meversuche keine Sorgen zu machen, weil Globale Talkshow der Bund den Großteil seiner Aktien hält. Die großen Konzerne in der Telekommunikation...... und im Bereich Mobilfunk Doch im Mai nächsten Jahres wird sich Umsatz 1998 in Mobilfunk-Teilnehmer diese Situation schlagartig ändern. Dann Milliarden Dollar in Millionen kann Finanzminister Hans Eichel ein rund 22 Prozent großes Aktienpaket mit einem NTT 81,6 Vodafone AirTouch weltweit 29,0 Wert von derzeit über 60 Milliarden Mark Bell Atlantic/GTE* 57,0 NTT DoCoMo 26,3 an die Börse bringen, das bei der Kredit- AT&T 53,2 China Telecom 23,6 anstalt für Wiederaufbau geparkt ist. MCI-Worldcom/Sprint 47,6 Telecom Italia Mobile 15,1 Schon haben sich erste ausländische In- * teressenten gemeldet, die bereit sind, dem SBC/Ameritech 45,9 BellSouth 10,3 Finanzminister das Aktienpaket mit einem Deutsche Telekom 41,8 SBC/Ameritech* 10,1 kräftigen Aufschlag abzukaufen. Eichel British Telecom 29,4 AT&T 10,1 könnte das Geld gut gebrauchen. Für Som- France Télécom 28,8 Bell Atlantic 9,9 mer wäre der Verkauf an einen auslän- Telecom Italia 27,5 Mannesmann Mobilfunk 8,1 dischen Konkurrenten dagegen ein harter Schlag. „Für die Telekom“, sagte er vor China Telecom 24,1 T-Mobil Deutsche Telekom 7,7 wenigen Tagen im kleinen Kreis, könnte *Zusammenschluss geplant es dann „richtig eng werden“. Eine Hoffnung bleibt dem Telekom-Chef setzliche Hürden wie die Mitbestimmung Denn nicht nur Gent wird dann auf jeden jedoch noch, den Ausverkauf abzuwenden. der Arbeitnehmerseite im Aufsichtsrat und Ausrutscher Essers lauern, um zu einem Die Privatisierer der Bundesregierung ar- eine Beschränkung des Stimmrechts für deutlich niedrigeren Kurs doch noch bei beiten auch an einer Alternative, bei der Einzelaktionäre von fünf Prozent über- Mannesmann einzusteigen. das Paket an ein deutsches Konsortium winden. Auch zahlreiche US-Telefongiganten wie geht, das sich im Gegenzug verpflichtet, Ausgeschlossen ist in dem Milliarden- MCI-Worldcom, AT&T, SBC oder euro- die Aktien über mehrere Jahre zu halten. Poker nichts. Auch nicht, dass sich Esser in päische Ex-Monopolisten wie die spani- Als heißeste Kandidaten gelten die Allianz letzter Minute mit dem Angreifer einigt sche Telefónica und die englische BT ste- und die . oder sogar einen „weißen Ritter“ aus dem hen bereit, um durch gezielte Zukäufe ihr Frank Dohmen, Klaus-Peter Kerbusk

120 der spiegel 46/1999 kretär. Die Italiener haben Unterstützung plantage auf. Koch-Wesers Großvater Erich WÄHRUNGSFONDS zugesagt. Sie versprachen, auf einen eige- war einer der führenden liberalen Politiker nen Kandidaten zu verzichten, wenn die in der Weimarer Republik, vor den Nazis Echter Deutschen den wichtigen Posten wollten. floh er 1933 mit der ganzen Familie nach Auch Sautters Vorgänger Dominique Brasilien. Strauss-Kahn hatte der deutsche Finanz- Abitur und Studium der Volkswirtschaft Weltbürger minister schon auf seine Seite gezogen. absolvierte Caio Koch-Weser, der einen Vom Neuling erwarten Eichels Gehilfen deutschen und einen brasilianischen Pass Seit Wochen wirbt Bundesfinanz- nun ebenfalls keinen ernsten Widerstand. besitzt, in Deutschland. Karriere machte Die in Personalfragen traditionell zum Ego- er in Washington bei der Weltbank. Dort minister Eichel bei seinen ismus neigenden Franzosen haben erkannt, fing er 1973 als Trainee an und stieg bis Kollegen für die Wahl eines dass sie den IWF-Chefposten nach jahr- zum Mitglied des Vorstands auf. Im Früh- Deutschen an die Spitze zehntelanger Vorherrschaft nicht noch ein- jahr berief ihn Eichel zu seinem Staatsse- des IWF – mit Aussicht auf Erfolg. mal für sich beanspruchen können. kretär für Internationales. Seine in 25 Jahren bei m Montag dieser Woche führt einer internationalen Insti- Bundesfinanzminister Hans Eichel tution erworbene diplo- A(SPD) im hessischen Städtchen matische Unverbindlichkeit Hattersheim ein Bewerbungsgespräch in wurde Koch-Weser im Fi- fremder Sache. Beim 25. Deutsch-Franzö- nanzministerium zuweilen sischen Finanz- und Wirtschaftsrat will Ei- als Entscheidungsschwäche chel seinen neuen französischen Amtskol- ausgelegt. „Deutschland be- legen Christian Sautter davon überzeugen, zieht in vielen Fragen nicht dass es für den Chefsessel des Interna- mehr eindeutige Positio- tionalen Währungsfonds (IWF) nur einen nen“, klagten Ministeriale überzeugenden Kandidaten gibt: Eichels mehrmals. Immerhin gelang Staatssekretär Caio Koch-Weser. es Koch-Weser aber un- Die angeschlagene Berliner Koalition, spektakulär, das durch das der zu Hause nichts so recht gelingen will, Wirken seines Vorgängers braucht einen Erfolg auf internationalem Heiner Flassbeck ange- Parkett. Unterstützung erhält sie dabei von schlagene Image Deutsch- der Bundesbank: „Koch-Weser hat eine lands in der internationa- hervorragende internationale Reputation, len Finanzwelt wieder her- hat hervorragende internationale Erfah- zustellen. rung“, macht Bundesbank-Vize Jürgen Koch-Wesers Vergangen- Stark Reklame für den Spitzenbeamten. heit als Entwicklungspoliti- Nach dem keineswegs überraschenden ker dürfte dem angestreb- Rücktritt des bisherigen IWF-Direktors Mi- ten Job nicht im Wege chel Camdessus stehen die Chancen tat- stehen, im Gegenteil. Frü- sächlich so gut wie nie, dass zum ersten her galt eine klare Rollen- Mal ein Deutscher an die Spitze der wich- verteilung zwischen Welt- tigsten internationalen Finanzinstitution bank und IWF. Die Welt- rückt. Traditionsgemäß steht der Chefpos- bank war für die Wohltaten ten einem Europäer zu. Bislang kamen zuständig, sie verteilte Ent- schon Belgier, Schweden, Niederländer wicklungshilfe in den ar- und dreimal die Franzosen zum Zuge, die men Ländern. Der IWF da- Deutschen gingen immer leer aus. gegen gab Geld nur gegen Das soll nicht wieder passieren. Seit Wo- Wirtschaftsreformen, und chen antichambriert Eichel bei den eu- die fielen meist schmerz- ropäischen Kollegen für seinen Staatsse- haft aus.

M. SIMON / SABA Seit dem Sommer gilt IWF-Zentrale in Washington: Korrektur am Image diese Linie nicht mehr. Der ungeliebte IWF will sich, Zudem wollen die Franzosen Koch- vor allem auf Betreiben des britischen Weser unterstützen, um den Engländer Schatzkanzlers Gordon Brown, eine Image- Andrew Crockett, Chef der Bank für In- korrektur verpassen und sich künftig auch ternationalen Zahlungsausgleich, zu ver- stärker auf die Entwicklungshilfe konzen- hindern. Der erfahrene Technokrat gilt den trieren. Diesen Politikwechsel könnte Koch- Franzosen als zu amerikafreundlich. „Wir Weser gut verkörpern. wollen einen Europäer an der Spitze des Deshalb dürfte seine Nominierung, so IWF“, signalisierten sie Eichels Beamten. hofft Eichel, auch nicht an den Briten Dabei lässt sich die Biografie Koch-We- scheitern. Die Amerikaner, denen als sers nicht auf einen einzigen Erdteil be- größter Anteilseigner des IWF eine Art grenzen. Der Staatssekretär ist ein echter Veto-Recht zusteht, haben ebenfalls nichts Weltbürger, in sechs Sprachen, darunter gegen den Deutschen einzuwenden. Die Chinesisch, kann er sich verständlich ma- Beamten im amerikanischen Finanzmi-

F. OSSENBRINK F. chen. Geboren wurde der Spross einer nisterium kennen den Finanzfachmann Kandidat Koch-Weser deutschen Emigrantenfamilie 1944 in Bra- seit 25 Jahren – und halten ihn für einen Sechs Sprachen und zwei Pässe silien und wuchs dort auf einer Kaffee- Brasilianer. Christian Reiermann

der spiegel 46/1999 121 Wirtschaft

Unternehmen, beim E-Commerce ähnlich rabiat vorzugehen wie in der Vergangen- SOFTWARE heit etwa gegen den Newcomer Netscape. Unter den strengen Augen des Gerichts löste Microsoft viele der so genannten Ex- Das Ende eines Monopols? klusiv-Verträge mit PC-Herstellern. Die Idee eines freien E-Mail-Zugangs starb still Nach dem Richterspruch gegen Microsoft schien eine Einigung und leise, Zugang zu Audiosoftware wur- de nicht mehr an Bedingungen geknüpft. im Kartellverfahren gegen den Konzern greifbar nahe. Der überraschend scharfe Richterspruch Doch Bill Gates setzt auf Zeit, er hofft auf die Hilfe der Politik. erschütterte Gates allerdings nur kurz. Zwar bekundete er in einer ersten Stel- it dem Verlieren tat sich Bill Gates Leute veränderten eigenmächtig die vom lungnahme hastig den Willen zur schnellen als Kind schon schwer. Wenn die Konkurrenten Sun entwickelte Internet- Einigung. Doch als in den Tagen darauf der MFamilie ein Spiel spielte, kämpfte Programmiersprache Java. Kurs der Microsoft-Aktie gegen alle Er- er immer am verbissensten. „Er nahm das Wird Gates nun gezwungen, den gehei- wartungen nicht abstürzte, war Gates sehr ernst“, erinnert sich sein Vater. „Ge- men „Windows“-Code offen zu legen? schnell wieder der Alte. winnen war ihm wichtig.“ Wenn es ums Oder wird der Software-Monopolist gar – Hartleibig wie eh und je präsentierte Siegen ging, kannte Bill keine Verwandten. wie in der Vergangenheit Standard Oil und sich der Software-Zar am Mittwoch auf Dieser Charakterzug hat aus Bill Gates AT&T – zerschlagen? Alles ist möglich, der Microsoft-Hauptversammlung. Zwar den erfolgreichsten Unternehmer des Jahr- wenn Richter Jackson wahrscheinlich im betonte er seine Bereitschaft, der Regie- hunderts gemacht, den reichsten Mann der März sein endgültiges Urteil verkündet. rung ein Stück entgegenzukommen – doch Welt. Und, wie nun richterlich festgestellt Der Rechtsstreit hat die Macht von nur, wenn er die Richtung bestimmen darf. wurde, einen rücksichtslosen und erpres- Microsoft bereits gehörig eingeschränkt. So lehnte er praktisch alle möglichen For- serischen Monopolisten. Die ständige Beobachtung verbot es dem derungen der Regierung ab: Weder würde Microsoft eine Einschrän- kung in der Gestaltung Computerbranche fest im Griff der Software hinnehmen Microsoft-Produkte noch ein Verbot, Internet- mit dominanter Ausstattungen einzufügen. Marktstellung Markt- Umsatz „Wenn wir die Präsentation anteil in Millionen von ‚Windows‘ auf dem Dollar Schirm nicht definieren PC-Betriebssysteme können, wenn nicht alle Windows 90% 3605 ‚Windows‘-Maschinen gleich 95/98 19747 funktionieren, dann wird die Marke ‚Windows‘ abso- lut bedeutungslos.“ Server-Betriebssysteme Gates spielt offenbar auf

FOTOS: AP FOTOS: Zeit. Jahre können verge- Microsoft-Chef Gates Windows NT 55% 2080 hen, bis die Klage in letz- Öffentliche Meinung unterschätzt ter Instanz beim Obersten Gerichtshof entschieden Gates’ Firma Microsoft, so befand der Büro-Software wird. Bis dahin ist längst Washingtoner Richter Thomas Penfield Microsoft- ein Nachfolger zum inkri- Jackson, besitze über ihr Betriebssystem Office-Paket minierten „Windows 98“ „Windows“ ein Monopol, das sie nutze, beinhaltet u. a. 93% 4785 auf dem Markt. Textverarbeitung, Zudem hofft Gates auf um Konkurrenten zu verdrängen und de- Tabellenkalkulation ren Innovationen zu stoppen. 90 Prozent einen Regierungswechsel. aller PC laufen weltweit auf „Windows“. Internet-Browser Jahrzehntelang hatte der Jackson schloss sich damit der Meinung brillante Stratege den Ein- an, die vom US-Justizministerium und von Internet 64% fluss Washingtons und auch 19 Staaten vertreten wird, die im Mai 1998 Explorer der öffentlichen Meinung den Konzern wegen wettbewerbswidrigen für Windows- unterschätzt. Mehr Com- Verhaltens verklagt hatten – bislang die Käufer kostenlos 7785 puterfreak als Konzernchef, schwerste Niederlage in Gates’ beispiel- 6075 glaubte er, ein gutes Pro- loser Karriere. Umsatz dukt und Kontrolle über Microsoft hat laut Jackson den selbst die Mitspieler würden rei- entwickelten Internet-Browser „Explorer“ und chen, um das große Wirt- einzig aus dem Grund an das Betriebs- Gewinn schaftsspiel zu gewinnen. system „Windows“ gekoppelt, um den ab 1990 Erst als das Justizmi- in Konkurrenten Netscape – erfolgreich – aus Millionen nisterium seine Firma at- dem Markt zu drängen. PC-Hersteller wie Dollar tackierte und niemand ihm IBM,Apple und Compaq wurden genötigt, 1453 zu Hilfe eilte, wurde Gates Microsoft-Programme als Startseite auf 1186 aktiv. Hastig korrigierte ihre Computer zu laden. Der Prozessor- der publikumsscheue Mann Hersteller Intel sah sich von der Firma aus 279 sein Image, lachte vor TV- Redmond drangsaliert, sich aus dem Soft- 19911993 1995 1997 1999 Kameras und spendete ware-Markt rauszuhalten. Und Microsoft- kurz vor Weihnachten ver-

122 der spiegel 46/1999 gangenen Jahres 100 Millionen Mark für ein Kinderimpfprojekt. Und er organisierte den Widerstand. So schaltete etwa das konservative Indepen- dent Institute Anzeigen, in denen sich aka- demische Experten für Microsofts Auffas- sung im Kartellverfahren aussprachen. Kürzlich enthüllte die „New York Times“, dass Microsoft der größte Sponsor des an- geblich unabhängigen Instituts war. Schon 1998 hatte Gates die Ausgaben für Lobbyarbeit auf 3,7 Millionen Dollar ver- doppelt. In den ersten neun Monaten 1999 flossen weitere 800000 Dollar aus der Soft- ware-Firma in die Politik – fast sechsmal so viel wie im gleichen Zeitraum vor der letz- ten Wahl, meldet das unabhängige Center for Responsive Politics. Allein 331 000 Dollar gingen an die Parteien, vorwiegend an die Republikaner. Schließlich sandte der 44-jährige Soft- ware-Magnat ein Heer von Lobbyisten nach Washington, um Stimmen zu sam- meln für eine Kürzung des Kartellamts- Etats. Ein großer Fauxpas: Racheakte

Richter Jackson (r.) Überraschend scharfes Urteil während eines laufenden Verfahrens sind verpönt. Gates’ Vorstoß wurde als Attacke auf die Unabhängigkeit der Justiz gewertet. Jack Krumholtz, verantwortlicher Micro- soft-Mann für Regierungsangelegenheiten, hält es dennoch für schlau, wie seine Fir- ma „mit diesem Washington“ umspringt. Sein Indiz: Kaum hatte Richter Jackson seine Beurteilung abgegeben, meldeten sich etwa 30 wütende Abgeordnete zu Wort und traten für Microsoft ein. Solcher Gegenwind soll die Regierungsanwälte ent- mutigen, allzu aggressive Sanktionen gegen das Software-Haus zu verlangen. Die Staatsanwälte reagierten empfind- lich auf Gates’ Lobbyaktivitäten. „Wenn Microsoft denkt, dass sie im Kongress ge- winnen, was sie vor Gericht nicht gewin- nen können, liegen sie bemitleidenswert falsch“, sagt der Justizminister von Iowa, Tom Miller. Selbst wenn eine neue Regie- rung den Fall begraben wollte, würden die Staaten weiter klagen. „Wir werden nicht aufgeben“, kündigte Miller an. Noch ist offen, wer das Spiel am Ende gewinnt. Michaela Schießl

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SPIEGEL-GESPRÄCH „Wir sind mitten in einem Sturm“ Philips-Chef Cor Boonstra über die Probleme beim Umbau des niederländischen Traditionskonzerns und die Zukunft der Unterhaltungselektronik

Boonstra, 61, leitet seit Oktober 1996 als SPIEGEL: Vielleicht liegt es ja auch am ma, sondern als ein Konglomerat angese- erster branchenfremder Vorstandschef den Image. Insbesondere unter jüngeren Leu- hen werden. Weltweit gibt es außer dem niederländischen Philips-Konzern. ten gilt Philips, im Gegensatz etwa zu Sony, US-Konzern General Electric keine Firma als ziemlich langweilige Firma. Empfinden mit diesem Zuschnitt, bei der die Börse SPIEGEL: Herr Boonstra, mehr als 100 Jah- Sie das als ein Handicap? dafür keinen Abschlag berechnet. Und im re residierte Philips in Eindhoven. Nun ha- Boonstra: Ja, aber dieses Handicap schwin- Vergleich mit unseren direkten Konkur- ben Sie kurzerhand die Konzernzentrale det. In Amerika zum Beispiel machen wir renten aus Japan ist unsere Kursentwick- nach Amsterdam verlegt. Ist es so schwie- gewaltige Fortschritte durch eine sehr ag- lung der letzten fünf Jahre meist sogar rig geworden, gute Manager in die ver- gressive Werbestrategie, durch bessere Pro- deutlich besser. schlafene Provinzstadt zu locken? dukte und moderneres Design. Ein Image- SPIEGEL: Der Hinweis auf das Konglomerat Boonstra: Alles, was ich sage, bringt min- wandel ist jedoch eine langfristige Aufga- reicht wohl kaum aus als Erklärung für die destens 20 000 Menschen in Eindhoven, be. Deshalb sage ich: Wir marschieren in relativ mäßige Kursentwicklung. darunter unsere besten Forscher und Ent- die richtige Richtung, aber unser Ziel wer- Boonstra: Sicher haben wir in der Vergan- wickler, gegen mich auf. Also muss ich mit den wir wohl erst in fünf Jahren erreichen. genheit die Anleger auch verwirrt durch meiner Antwort sehr vorsichtig sein. Aber SPIEGEL: Viele Investoren haben offen- sehr unterschiedliche Finanzergebnisse es ist kein Geheimnis, dass vor allem gute sichtlich ebenfalls Vorbehalte. Obwohl und einen Mangel an Transparenz über un- Marketingexperten lieber in Amsterdam zahlreiche Analysten die Philips-Aktie zum sere Zukunftsstrategie. Aber das ist jetzt arbeiten als in Eindhoven. Außerdem ha- Kauf empfehlen, ist die Kursentwicklung vorbei. Unser Börsenwert hat sich in den ben wir über 200000 Mitarbeiter außer- längst nicht so gut wie bei anderen High- vergangenen drei Jahren verdreifacht. Wir halb Hollands, und für die ist es nun mal tech-Firmen. Was ist der Grund dafür? haben den früheren Gemischtwarenladen einfacher, nach Amsterdam zu reisen. Boonstra: Das liegt daran, dass wir von den gründlich aufgeräumt und unsere Kernbe- SPIEGEL: An der Philips-Spitze ist von die- Börsianern nicht als reine Hightech-Fir- reiche von zwölf auf sieben reduziert, bei ser globalen Ausrichtung nichts zu sehen. Unter den 13 Mitgliedern der beiden obers- ten Philips-Gremien befindet sich nur ein Ausländer. Boonstra: Das ist kein spezifisches Philips- Problem, Siemens oder Veba stehen auch nicht besser da. Selbst US-Firmen haben große Schwierigkeiten, ihre Vorstände in- ternational zu besetzen. Ich bedauere es aber sehr, dass nicht mehr Ausländer im Philips-Vorstand sind. Nicht weil Aus- länder unbedingt kompetenter sind, son- dern weil sie den kulturellen Horizont erweitern.

Das Gespräch führten die Redakteure Frank Doh-

men und Klaus-Peter Kerbusk. FOCUSWOWE / AGENTUR G. DUBBELMAN / HOLLANDSE HOOGTE Philips-Turm in Amsterdam, Chef Boonstra „Gemischtwarenladen aufgeräumt“ 124 schneller geschafft und wurden Lieblinge gend.Wir brauchen uns damit nicht einmal Geknickte Bilanz der Börsianer. Warum nicht Philips? hinter den Firmen aus der Computerbran- Boonstra: Der Vergleich hinkt. Diese Fir- che, die bis gestern als die Helden der In- 68,0 men haben sicher eine großartige Leistung dustrie angesehen wurden, zu verstecken. vollbracht. Aber ihre Schwierigkeiten wa- SPIEGEL: Mit dem Verkauf des Film- und 61,6 ren auch viel kleiner als unsere. Nehmen Schallplattenkonzerns Polygram haben Sie UMSATZ 59,7* Sie nur die internationale Produktionsba- für großes Aufsehen gesorgt.Viele Analys- inin MilliardenMilliarden MarkMark 57,4 54,3 sis, die bei diesen Firmen viel geringer aus- ten halten nach dieser überraschenden 52,1 52,4 50,7 geprägt war als bei uns.Aber vielleicht war Entscheidung sogar eine Aufteilung des 49,6 bei diesen Firmen auch der Zwang zur Ver- Konzerns in drei oder vier selbständige änderung stärker als bei uns. Unternehmen für möglich.Was ist dran an *Verkauf der Tochtergesellschaft SPIEGEL: Polygram im Sommer 1998 Der aktuelle Philips-Slogan lau- diesen Gerüchten? tet: „Let’s make things better“. Was ha- Boonstra: Solche Überlegungen muss ein GEWINN inin MilliardenMilliarden MarkMark 4,4 ben Sie denn besser gemacht als Ihre Konzern mit einem so breiten Produkt- 3,3 3,6 Vorgänger? spektrum natürlich immer wieder an- 2,7 2,3 Boonstra: Zunächst einmal haben sich die stellen. Aber konkrete Pläne gibt es im 1,6 1,1 1,3 finanzielle Situation und die Kostenstruk- Moment nicht, und ich persönlich bin ein tur extrem verbessert. Die Zeit zwischen Gegner von solchen Ideen. –2,1 Forschung und einem marktfähigen Pro- SPIEGEL: Durch den Verkauf von Polygram dukt ist kürzer geworden. Wir haben eine verfügt Philips nun sogar über eine Kriegs- MITARBEITER inin TausendTausend Reihe erfolgreicher Produkte herausge- kasse von einigen Milliarden Mark. Was 277 244 257 244 253 265 263 268 234 bracht, und wir haben unsere Marktantei- werden Sie mit dem Geld machen? le im Gegensatz zu unseren japanischen Boonstra: Völlig neue Märkte wollen wir Konkurrenten ausgeweitet. nicht erschließen.Wir versuchen allerdings, 1990 91 92 93 94 95 96 97 98 noch einige Firmen dazu- zukaufen, um unser Port- 600 Firmenwert denen wir weltweit zu den führenden Her- (Panasonic, Technics) folio, etwa in der Unter- stellern gehören. verdreifacht haltungselektronik, abzu- SPIEGEL: Es hat mehr als zehn Jahre ge- 500 Aktienkurse der Unterhaltungselektronik; runden. Gleichzeitig den- dauert, bis Philips die heutige Form gefun- Veränderungen seit ken wir aber auch daran, den hat. Warum war es so schwierig, alte 400 1. Januar 1995 weitere Firmen zu verkau- Traditionen über Bord zu werfen und einen in Prozent fen, denn wir wollen in neuen klaren Kurs zu finden? keinem Bereich tätig sein, Boonstra: Jede Firma mit einer mehr als 300 in dem wir nur eine Ne- hundertjährigen Geschichte hat dieses benrolle spielen. Problem. Denn ihre Infrastruktur basiert 200 SPIEGEL: Gehört dazu auch auf dem ökonomischen System der fünfzi- der Mobilfunkbereich? ger und sechziger Jahre. Philips zum Bei- Boonstra: Nein. In dieser 100 spiel hatte Fabriken in 80 Ländern. Die Branche zählen wir zwar Voraussetzungen, unter denen einst die noch nicht zu den führen- Standorte für diese Fabriken gewählt wur- 0 den Anbietern. Aber wir den, haben sich aber in den letzten 20 oder werden diesen Wachstums- 30 Jahren dramatisch verändert. –100 Quelle: Datastream markt, anders etwa als SPIEGEL: Zum Beispiel? Bosch in Deutschland, nicht Boonstra: Österreich, wo wir unter ande- 1995 1996 1997 1998 1999 aufgeben – mit oder ohne rem Videorecorder produzieren, war bis Partner. vor wenigen Jahren ein Land mit niedrigen SPIEGEL: Als eines der Hauptprobleme von SPIEGEL: Im Mobilfunk ist Philips zwar als Lohnkosten. Heute ist es teuer, und der Philips galt die Beamtenmentalität vieler Chiphersteller und einer der Hauptliefe- Vergleich mit einem Werk im Nachbarland Mitarbeiter. ranten von Nokia und Ericsson erfolgreich. Ungarn ist wie der Unterschied zwischen Boonstra: Philips ist heute ein anderes Un- Der Versuch, mit eigenen Handys im boo- Tag und Nacht. Und solche Beispiele gibt ternehmen als vor zehn Jahren. Die meis- menden Mobilfunkmarkt Fuß zu fassen, es dutzende. Wir waren deshalb gezwun- ten Manager haben erkannt, wie drama- hat Ihnen aber bislang nur herbe Verluste gen, den Konzern von Grund auf umzu- tisch sich die Welt verändert hat. Sie wis- eingebracht. Wie ist diese Diskrepanz zu bauen, und das hat uns eine Menge Zeit sen nun: Draußen tobt ein Sturm, und wir erklären? und viele Milliarden Mark an Investitio- stehen genau in dessen Mittelpunkt. Boonstra: Wir hatten einen ganz schlechten nen gekostet. SPIEGEL: Eine große Umfrage unter den Be- Start, weil wir uns zu sehr auf die Allianz SPIEGEL: Ist der Umbau nun beendet? schäftigten, die Sie jetzt zum dritten Mal mit der amerikanischen Firma Lucent kon- Boonstra: Keineswegs. Die ökonomische durchgeführt haben, zeigt ein anderes Bild. zentriert haben. Diese Gemeinschaftsakti- Weltordnung ist ja weiterhin in Bewegung. In vielen Bereichen sehen die Philips-Mit- vität war ein Fiasko, und deshalb haben Wir werden auf die Herausforderungen dy- arbeiter nur wenig Fortschritte, und bei wir sie im vergangenen Jahr beendet. Seit- namisch reagieren und zum Beispiel ein- Aspekten wie „Kundenorientierung“ oder dem geht es bergauf, unser Marktanteil bei fache Arbeiten aus Belgien, Deutschland, „unternehmerisches Verhalten“ gab es GSM-Handys in Europa hat sich 1999 fast Frankreich und Holland weiter abziehen. überhaupt keine Verbesserung seit 1996. verdoppelt. Dort sind nur Produktionen mit hohen Boonstra: Es kommt immer auf den Maß- SPIEGEL: Wann wird die Handysparte end- technischen Anforderungen und gut aus- stab an. Bei einem Vergleich mit neuen Fir- lich Gewinne einbringen? gebildeten Mitarbeitern sinnvoll. men aus der Internet-Szene stehen wir Boonstra: Ich bin optimistisch, denn die SPIEGEL: Andere europäische Unterneh- schlechter da. Gemessen an Konzernen wie Fortschritte sind klar zu sehen. In die- men mit starken Traditionen wie Nokia Sony und Matsushita, sind die Ergebnisse sem Jahr haben wir den Verlust schon oder Mannesmann haben den Wandel viel unserer Mitarbeiterbefragung hervorra- um mehr als 300 Millionen Gulden verrin-

der spiegel 46/1999 125 Wirtschaft A. TEICHMANN / PHILIPS Bildröhrenproduktion bei Philips (in Aachen): „Renaissance der Unterhaltungselektronik“ gert. Nächstes Jahr werden wir mit Si- wird sich jetzt mit den wachsenden Stück- cherheit schwarze Zahlen schreiben. zahlen schnell ändern. SPIEGEL: Vor zehn Jahren sah es so aus, SPIEGEL: Die jüngste Herausforderung für als würden die Riesen der japanischen Sie ist das Internet.Welche Rolle wird Phi- Unterhaltungselektronik die europäische lips im elektronischen Handel spielen? Konkurrenz überrollen. Inzwischen ist es Boonstra: Das Internet hat für uns vor allem wieder ziemlich still geworden. Ist die im Verkehr mit Geschäftspartnern und Lie- japanische Gefahr vorbei? feranten große Bedeutung.An Endkunden Boonstra: Unterschätze niemals deine Kon- werden wir vorerst nicht verkaufen, denn kurrenten, wenn sie still sind. Das gilt ganz dann würden wir unsere traditionellen besonders für die Japaner, die immer noch Handelspartner gegen uns aufbringen. sehr wettbewerbsfähig sind.Viele europäi- SPIEGEL: In den vergangenen drei Jahren sche Konzerne sind vor ihnen in die Knie hat eine beachtliche Anzahl von Führungs- gegangen, und nur die besten haben den kräften das Haus verlassen, darunter auch ersten Angriff überstanden. Wir haben Ihr so genannter Kronprinz Roel Pieper. überlebt und werden weiterhin in diesem Sind Sie ein so unbequemer Chef, oder ist hart umkämpften Markt mitmischen. der Exodus ein Zeichen dafür, dass der in- SPIEGEL: Was ist für Sie so attraktiv an die- terne Streit um die richtige Zukunftsstra- sem Markt, in dem die Firmen seit Jahren tegie noch immer nicht entschieden ist? erfolglos nach einem Megaseller suchen, Boonstra: Gehen Sie mal davon aus, dass wie es in den achtziger Jahren die CD war? ich ein unausstehlicher Chef bin. Doch im Boonstra: Es gab sicher einige harte Jahre, Ernst: Der so genannte Kronprinz war nie und die Branche hat auch Irrwege gemacht. ein Kronprinz. Ich finde es zwar schade, Aber durch die Digitalisierung bekommt dass er uns verlassen hat, aber ich denke, die Unterhaltungselektronik in den kom- wir können den Verlust verschmerzen. menden Jahren enormen Schub. Dieser SPIEGEL: Wenn Sie sich selbst ein Arbeits- Branche steht eine Renaissance bevor. zeugnis ausstellen müssten, wie würden SPIEGEL: Auf welche Geräte setzen Sie Ihre Sie Ihre Leistung der vergangenen drei Hoffnungen? Jahre bewerten? Boonstra: Die DVD zum Beispiel ist ein un- Boonstra: Diese Frage trifft mich nicht ganz glaublicher Erfolg. Zwei Jahre nach ihrem so überraschend, wie Sie vielleicht vermu- Start liegen die Verkaufszahlen schon fünf- ten, denn ich habe so etwas schon mal bei mal höher als die Zahlen im zweiten Jahr einem Manager-Treffen im Juli gemacht. der CD-Geschichte. Auch unsere CD-Re- SPIEGEL: Wie lautete das Ergebnis? corder, mit denen man eigene CDs be- Boonstra: Ich hatte damals meine Leistung spielen kann, laufen blendend. Wir sind in vier Kategorien auf einer Skala von total ausverkauft. Und dann steht das Di- eins bis zehn eingeschätzt. In der Rubrik gitalfernsehen vor dem Durchbruch. Da- Shareholder-Value habe ich mir eine Acht durch wird zunächst das Geschäft mit Set- plus gegeben, für die Kundenorientierung top-Boxen angekurbelt. Schließlich kommt etwas weniger. Für die Verbesserung der der Übergang von der traditionellen Bild- firmeninternen Abläufe stehen mir wohl röhre zum Matrix-Bildschirm, wie Sie ihn nur sechs Punkte zu. Und für die Führungs- vom Laptop her kennen. Auf diesem Ge- qualität habe ich aus meiner Sicht die Be- biet sind wir durch unsere Beteiligung an wertung Sechs plus verdient. Das ist ganz der koreanischen LG-Electronics weltweit gut, aber es könnte noch besser sein. führend.Viele dieser neuen Produkte wer- SPIEGEL: Herr Boonstra, wir danken Ihnen fen noch nicht genug Profit ab, aber das für dieses Gespräch.

126 der spiegel 46/1999 Werbeseite

Werbeseite Wirtschaft

STEUERN Montis neue Waffen In unfairem Steuerdumping von EU-Mitgliedern sieht der Brüsseler Kommissar Mario Monti eine Wettbewerbsverzerrung – nun will er es bekämpfen.

ahrelang verfolgte Mario Monti nur EU-Zinssteuer werde internationale In- ein Ziel: Spätestens auf dem De- vestoren auf die Bahamas treiben, ließ Jzember-Gipfel in Helsinki sollten die Brown seine Kollegen lakonisch wissen. Staats- und Regierungschefs der EU eu- Solange die EU den britischen Bankern ropäische Mindeststeuern auf Zinsen be- diese Sorge nicht nehmen könne, werde

schließen und unfaires Steuerdumping die Regierung Ihrer Majestät sich quer le- REUTERS ächten. gen. Die Londoner Regierung sehe zudem Subventionsgegner Monti Inzwischen hat der vormalige Steuer- keine Möglichkeit, die beiden Kanalinseln Das Übel an der Wurzel packen kommissar den Job gewechselt, er ist in Jersey und Guernsey, bei Steuerflüchtlin- Brüssel jetzt für Wettbewerbsfragen zu- gen begehrte Anlaufplätze, zur Einhaltung machen. Belgische Steuerkonstruktionen, ständig. Sein Ziel aber ist dasselbe ge- von noch zu beschließenden EU-Steuer- Leimruten für steuerscheues Kapital, blieben. regeln zu zwingen. Jersey und Guernsey tauchten auf dem von der Expertengruppe Montis ursprüngliches Konzept hat al- sind politisch und in ihrer Währung Groß- erstellten Pranger unerwünschter Verhal- lerdings kaum eine Chance mehr, auch britannien verbunden, gehören aber nicht tensweisen besonders häufig auf. wenn noch einige Beratungen bevorstehen. der EU an. Nachdem das Königreich Belgien die Die zahlreichen Sünder in der Runde, kei- Das war dem luxemburgischen Zwerg- schmutzige Arbeit getan hatte, brauchten neswegs Briten und Luxemburger allein, staaten-Premier Jean-Claude Juncker ge- die anderen Sünder – vor allem Nieder- sind nicht bereit, nationalen Profit einem rade recht. Er könne es nicht verantworten, länder und Iren, in deren Hauptstadt Dub- weit weniger handfesten Gemeinschafts- sagte er, seinen Wählern Schaden zuzufü- lin viele EU-Konzerne ihren steuerlichen nutzen zu opfern. gen, indem er einer EU-Zinssteuer zu- Sitz genommen haben – sich gar nicht Dabei hatten sich die Staats- und Regie- stimme und die Anleger damit geradezu mehr als Gegner des viel gepriesenen Ver- rungschefs beim Gipfel in Luxemburg vor auf die Kanalinseln dränge. Seine Zusage haltenskodex zu outen. knapp zwei Jahren grundsätzlich ver- stünde nur für den Fall, dass sämtliche Aber Monti gibt nicht auf. Er will die schworen, mit unfairen Steuerpraktiken Schlupflöcher in Europa gestopft würden. neuen Waffen, die ihm als Wettbewerbs- THE SLIDE FILE DPA Finanzparadiese Jersey, Dublin, Luxemburg: Die Sünder sind nicht bereit, nationalen Profit dem Gemeinschaftsnutzen zu opfern zum Nutzen aller endlich Schluss zu ma- Junckers Intervention gab dem nächsten kommissar zur Verfügung stehen, nutzen, chen. Eine allgemeine Mindest-Quellen- Dominostein den Kick. Wenn eine eu- um die Staats- und Regierungschefs doch steuer auf Zinseinkommen solle den Drang ropäische Zinssteuer in weite Fernen rückt, noch zu Wohlverhalten zu zwingen. wohlhabender, privater Anleger in Steuer- wollen Spanier und Portugiesen den infor- Montis Trick: Die EU-Kommission soll paradiese mit fiskusfestem Bankgeheimnis mell bereits abgehakten steuerfreien Fluss Steuervergünstigungen als staatliche Bei- stoppen. Auch der grenzüberschreitende von Zinsen und Lizenzaufwendungen zwi- hilfen einstufen, die nach EU-Regeln Fluss von Zinsen und Lizenzgebühren in- schen europaweit operierenden Mutter- nicht erlaubt sind – sei es, weil sie wett- nerhalb eines Konzerns sollte nicht länger und Tochterunternehmen wieder zurück- bewerbsverzerrend wirken, sei es, weil sie durch nationalstaatliche Abschöpfungen nehmen. in Brüssel nicht angemeldet wurden. Dann behindert werden. Und schließlich ließ auch noch der bel- kann, ja muss der Kommissar diese Prak- Doch Großbritanniens Schatzkanzler gische Finanzminister Didier Reynders tiken von Gesetzes wegen unterbinden. Gordon Brown scherte bereits vor Wochen die Brüsseler Experten wissen, sein Land Den Regierungschefs bliebe dann nichts aus – und setzte damit eine Kettenreaktion werde bei dem bis dahin am wenigsten anderes, als zum Europäischen Gerichts- in Gang. Die Londoner City fürchte, eine umstrittenen Reformwerk nicht mehr mit- hof zu laufen.

128 der spiegel 46/1999 Doch dort sind ihre Chancen gering, mand in der Kommission genau wusste, denn Montis Vorgänger Karel Van Miert was in dem nationalen Paragrafengeflecht hat bereits Fakten geschaffen: Der Flame so alles an Beihilfen verborgen war. hinterließ seinem Nachfolger eine von der Auf diese Sumpfblüten hat die so ge- Kommission gebilligte amtliche „Mittei- nannte Primarolo-Gruppe nun die Schein- lung“ über die Anwendung der geltenden werfer gerichtet – Monti braucht sich nur Beihilfe-Vorschriften „im Bereich der di- zu bedienen. rekten Unternehmensbesteuerung“. Darin In zweijähriger Arbeit haben Experten definieren die EU-Funktionäre, in welchen aus allen Hauptstädten der Union unter Fällen Steuervorschriften zu unerlaubten Vorsitz der britischen Staatssekretärin Beihilfen werden, ohne die Steuerhoheit Dawn Primarolo, immer wieder angetrie- der Mitgliedstaaten zu berühren. Das ist ben von dem damaligen Steuerkommissar etwa dann der Fall, wenn eine Steuervor- Monti, untersucht, auf welch phantasie- schrift „bestimmte Unternehmen oder Pro- volle Weise die EU-Mitglieder versuchen, duktionszweige selektiv“ begünstigt. steuerscheues Kapital anzulocken. Van Miert hat bereits für – noch nicht In vielen Ländern fanden sich zum Bei- rechtskräftige – Präzedenzfälle gesorgt. Im spiel raffiniert geschnittene Gesetze, die Februar dieses Jahres untersagte die Kom- alle eines gemeinsam haben: Sie erlauben mission der Stadt Vitoria im Baskenland, dem koreanischen Multi Daewoo den Bau Deutschland würde vom neuen einer Kühlschrankfabrik mit kräftigen Monti-Kurs profitieren, Steuervorteilen zu erleichtern. Wesentli- che Begründung Brüssels: Die Steuerpa- andere müssten mehr opfern ragrafen könnten zum Teil nur von neu ge- gründeten, zum Teil nur von besonders es ausländischen Firmen, ihre Finanzge- großen Unternehmen genutzt werden. Sie schäfte zu verlagern und dabei Steuern zu seien damit „selektiv“, verzerrten den sparen, ohne ihre tatsächlichen Aktivitäten Wettbewerb und dürften ab sofort nicht kostspielig vom eigentlichen Produktions- mehr angewendet werden. standort verlagern zu müssen. Ende März eröffnete Van Miert das Ver- Auf der Basis der Primarolo-Erkennt- fahren in einem zweiten baskischen Fall. nisse hat die Wettbewerbsbehörde inzwi- Die Regierung der Provinz Alava hatte die schen Fragebögen an die Mitgliedstaaten Firma Ramondín S. A. – Weltmarktführer verschickt. Die Prozedur soll schon bald in bei Zinnkapseln, zum Beispiel für Bierfla- Verbotsverfahren einmünden, wo immer schen – mit Niedrigsteuerangeboten dazu es die Beihilfevorschriften hergeben. verlockt, ihren Sitz um fünf Kilometer zu Ganz unbemerkt blieb das Manöver verlagern, von der Provinz Rioja in nicht. In Großbritannien, wo Ex-Finanz- die Nachbarregion Alava. Die Zah- minister Oskar Lafontaine wegen seiner lung der in ein steuerliches Gewand Steuerharmonisierungsideen gleich als „ge- gekleideten Beihilfen setzte Van fährlichster Mann Europas“ zu Ruhm kam, Miert bis zur Entscheidung über de- beschäftigte sich bereits im Sommer ein ren Rechtmäßigkeit aus. Unterkomitee des Oberhauses mit dem Warum, fragt sich nun Monti, soll- Treiben der Primarolo-Gruppe. Den Lords te im Verhältnis etwa zwischen Bel- kam bereits im Juli der Gedanke, die Ar- gien und Deutschland das steuerli- beit könne in einem den Staats- und Re- che Abwerben von Firmen erlaubt gierungschefs nicht genehmen Sinne bleiben, wenn es spanischen Provin- schließlich doch noch Früchte tragen. zen untereinander untersagt ist? Misstrauisch fragten die Briten deshalb Die Beneluxstaaten hoffen, dass in ihrem Bericht, ob die „Verhaltens-Ko- ihre vielen Finanz- und Koordina- dex-Gruppe“ am Ende unfaire Steuer- tionszentren, die mit Niedrigsteuern praktiken nur zu dem Zweck identifiziere, ausländische Firmen anlocken sol- „damit die Kommission diese unter Nut-

VARIO-PRESS len, auch dem neuen Angriff des zung der Beihilfevorschriften angreifen“ Kommissars standhalten werden. könne. Schließlich haben die EU-Wettbewerbshü- Im Bonner Finanzministerium erkun- ter vor Jahren bereits einmal diese Kon- digte sich Minister Hans Eichel bereits bei struktion akzeptiert. Montis Leute be- seinen Fachleuten, ob der neue Monti-Kurs trachten ihre Entscheidung von damals Gefahren für die Berliner Steuerpolitik heute als „unrühmlichen Sündenfall“. Für berge. Frohgemut versicherten die Beam- den möchten sie in einer neuen Entschei- ten, selbst wenn auch in Deutschland eini- dung nur zu gern Buße tun. ge Spezialvorschriften fallen müssten, sei Van Mierts Nachfolger Monti muss dem das Land unterm Strich Profiteur, weil an- Steuerdumping nicht mühevoll durch Prü- dere viel mehr opfern müssten. fen jedes Einzelfalls zu Leibe zu rücken. Die Zuversicht ist vielleicht voreilig. Die Beihilferegeln der Gemeinschaft ge- Monti hat bereits angekündigt, in engem ben es auch her, das Übel an der Wurzel zu Kontext mit seinem Kampf gegen das Steu- packen, den Mitgliedstaaten beihilfever- erdumping auch die Steuerhilfen für den dächtige Steuerparagrafen zu verbieten. Osten der Berliner Republik noch einmal Das war bislang nicht geschehen, weil nie- streng zu prüfen. Winfried Didzoleit

der spiegel 46/1999 129 Wirtschaft

erobern. Und mit dem Slogan „Kipp die Tradition“ räumt Nestlé auch in der Wer- bung mit dem Tante-Frieda-Image auf. In diesem Jahr rechnet der Konzern mit Verkaufszahlen im zweistelligen Millio- nenbereich. „Im Oktober haben wir be- reits dreimal so viel verkauft wie zur gleichen Zeit im Vorjahr“, sagt Kajetan Gressler, Xpress-Manager. Frieder Rotzoll, Hauptgeschäftsführer des Deutschen Kaf- fee-Verbands, pflichtet bei: „Die Dosen- invasion ist längst überfällig.“ Der coole Fertig-Kaffee ist eigentlich eine Erfindung aus Japan. Schon seit 1972 verkauft die Firma Pokka dort kalten Kaf- fee in Dosen. Alle paar Meter wartet in ja- panischen Metropolen ein Automat und spuckt auf Anforderung Produkte wie „Wonda Coffee“ oder „Santa Maria“ aus. Bei einer zweijährigen Weltumseglung haben auch der Investmentbanker Richard Radtke, 34, und der Unternehmensberater Hubertus Sprungala, 35, den kalten Kaffee lieb gewonnen und daraus eine Geschäfts- idee entwickelt. Unter dem Namen „K-

G. SCHLÄGER fee“ begannen sie im August, Kaltkaffee Kaffee-Bar (in Hamburg): Hauch der großen, weiten Welt der Firma Pokka nach Deutschland zu im- portieren. K-fee sei „frisch“ gebrüht und „das Original“, protzt das K-fee-Etikett. MARKETING Daran störte sich Nestlé und funkte da- zwischen. Mit einer einstweiligen Verfü- Schwarz, gung ist der Vertrieb der Newcomer ab Ende Januar 2000 lahm gelegt: Das Ver- sprechen, K-fee sei „frisch“ gebrüht, füh- kalt und kultig re den Verbraucher in die Irre. Außerdem sei K-fee nicht „das Original“, sagt Nestlé. Die Kaffeeindustrie im Wie der Kaffee-Kosmos für junge Men- schen im Idealfall aussehen soll, hat eine Jugendwahn: Schrill verpackt und Studie von IconKids & Youth definiert: Für eiskalt serviert, soll aus dem einen Bohnen-Boom bei Jugendlichen soll- Traditions- ein Kultgetränk werden. te „eine eigene, junge Kaffeewelt mit jun- gen Produkten geschaffen werden“. bgestanden, übrig geblieben, Bo- Die Kaffeeindustrie gibt ihr Bestes: Tchi- densatz: Lange Zeit war kalter Kaf- bo veranstaltet für das Produkt „Gran Afee das Synonym für Langeweile C. SCHROTH Cafe“ Kino-Partys mit Filmstar Hugh und Lustlosigkeit. K-fee-Importeure Radtke, Sprungala Grant in neun deutschen Großstädten. Nun soll alles anders werden. Kalter Kaf- Den kalten Kaffee lieb gewonnen Nescafé lässt das „Café Mobil“ touren: Mit fee ist cool, glaubt die Industrie, der die dreirädrigen Kaffee-Bars, auf Basis einer jungen Konsumenten abhanden kamen. „Spießertum, Konventionalität, Konfor- italienischen Piaggio Vespa konstruiert, Produkte wie „K-fee“, „Mr. Brown“ oder mismus und Langeweile“. kommt Kaffee zu Partys und Konzerten. „Nescafé Xpress“ werden als trendy ver- So viel Konsumverweigerung ist für die Auch stationär soll Kaffee vermehrt marktet, aus Omas Kaffee soll ein Lifestyle- erfolgsgewohnte Kaffeeindustrie natürlich unters Jungvolk gebracht werden. Coffee- produkt werden: schwarz, kalt, kultig. unakzeptabel. Sie hält dagegen – mit neu- Shops gelten als urban, schnell und welt- Denn in Deutschland hat der gute alte en Produkten, Sponsoring-Aktionen und offen. Sie bringen einen Hauch der gro- Filterkaffee ein Generationsproblem: Zwar Coffee-Bars. Mit Millionenaufwand soll das ßen, weiten Welt – auch nach Münster und trinken die Deutschen im Schnitt 160 Liter Image des braunen Koffeingetränks auf- Bad Oldesloe. Tchibo hat sein „Aroma pro Jahr – mehr als Cola oder Bier. Doch poliert werden. House“, Nestlé das „Café Nescafé“, hinzu Jugendliche lassen sich kaum noch zu ei- Bei Nestlé heißt das Ergebnis jahrelan- kommen Ketten wie die „World Coffee- nem Kaffeekränzchen locken. ger Feldforschung „Nescafé Xpress“: Kal- Shops“, von denen es in Deutschland be- Bereits vor fünf Jahren gab schon fast ein ter Kaffee trinkfertig in Dosen, black wie reits 16 Filialen gibt. Wenn es nach dem Viertel der Befragten in der Altersgruppe schwarz und white mit Milch. Eine Dose Gründer Roman Koidl geht, sind es in vier von 16 bis 24 Jahren an, „nie“ oder „selte- mache so wach wie zwei Tassen starker Jahren 235 Läden. ner als einmal im Monat“ Bohnenkaffee zu Kaffee, sagt der Hersteller. Die Coffee-Shops werden der deutschen trinken. Inzwischen, so das Münchner Für die Markteinführung drang Nestlé Kaffeekultur nicht helfen, meint dagegen Marktforschungsinstitut IconKids & Youth, tief in die Diaspora vor und pirschte sich an der Frankfurter Doktorand Peter de Vries, ist diese Zahl um über 27 Prozent auf Rudel jugendlicher Kaffeeverweigerer her- 24, ein gebürtiger Niederländer – zu viel 2,42 Millionen Abstinenzler gestiegen. Der an. Spezielle Kühlschränke sollten zu- Milch, zu wenig Kaffee: „Deutsche sind Grund: Jungen Leuten ist Kaffee schlicht nächst in Clubs, Kinos und Plattenläden Weicheier. Sie tun alles, um den Kaffee- zu bitter. Schlimmer noch: Er steht für und dann in Tankstellen die junge Szene geschmack loszuwerden.“ Karen Naundorf

130 der spiegel 46/1999 Werbeseite

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SPRINGER pätestens zum 1. Januar 2001 soll Ex-„Bild“-Chef Claus SLarass, 55, die Führung beim Springer-Verlag überneh- men. Der bisherige Zeitungsvorstand wird den Schweizer Larass kommt August („Gus“) Fischer, 60, ablösen, dessen Vertrag Ende nächsten Jahres ausläuft und nicht verlängert wird. Nach- dem sich die beiden Großaktionäre Friede Springer (50 Pro- zent plus eine Aktie) und der Münchner Filmhändler Leo Kirch (40 Prozent) bereits im Sommer in aller Stille auf den Wechsel verständigt hatten (SPIEGEL 38/1999), hat sich jetzt auch der Arbeitsausschuss des Springer-Aufsichtsrates entsprechend geeinigt. An der entscheidenden Sitzung am 28. Oktober in Berlin nahmen die drei ständigen Mitglieder des Gremiums teil: Springer-Aufsichtsratschef Bernhard Servatius, Friede Springer und der Kirch-Vertraute Joachim Theye. Als Gast war außerdem Kirch selbst anwesend. An- schließend informierte Servatius die übrigen Mitglieder des Aufsichtsrates über die Einigung, die das Kontrollgremium auf seiner nächsten Sitzung am 14. Dezember offiziell be- schließen wird. Vorstandschef Fischer, der noch vor kurzem signalisiert hatte, an einer Vertragsverlängerung interessiert zu sein, hatte auf einen entsprechenden Antrag dann doch ver- zichtet. Im Konzern rechnet man nun damit, dass er bereits vorzeitig seinen Stuhl räumen wird. „Wir haben ihm kein Abfindungsangebot unterbreitet“, heißt es dazu im Eigentü-

J. DIETRICH / NETZHAUT DIETRICH J. merkreis, aber: „Traditionell war das Haus bei Abfindungen Fischer, Larass immer sehr großzügig.“

MODERATOREN Will: Trotz des Fehlens der Erstverwer- GAMESHOWS tungsrechte für die Bundesliga hat sie „Hallo und willkommen“ nach wie vor starke Beiträge. Wenn Die Kandidaten zahlen man als Reporter aufgefordert ist, für TV-Journalistin Anne Will, 33, über die „Sportschau“ einen Beitrag zu ma- m nächsten Jahr sollen in Deutsch- ihren Job als erste Moderatorin der chen, gibt man sich besonders viel Iland erstmals Fernsehproduktionen ARD-„Sportschau“ Mühe. Das sieht man der Sendung an. über Telefongebühren der Zuschauer SPIEGEL: Die Journalistin Carmen Tho- finanziert werden. Dieses Konzept SPIEGEL: Sie schleifen die letzte Män- mas ging in die Fernseh-Geschichte ein, („Call TV“) fährt der Unterhaltungs- nerbastion im deutschen Fernsehen – weil sie als Moderatorin des „Aktuellen konzern Endemol bereits mit „Veronica Glückwunsch. Sportstudios“ Schalke o5 sagte. live“ im niederländischen Fernsehen; Will: Mir schwant erst allmählich, dass Will: Dafür moderiere ich schon zu lange nun soll der grö- das womöglich etwas Besonderes den „Sportpalast“ beim SFB. Da musste ßere deutsche ist. Jedenfalls fühle ich mich sehr ge- ich schon sehr oft Schalke o4 sagen. Markt dem Ende- ehrt. SPIEGEL: Wie wollen Sie denn Faßben- mol-Chef John SPIEGEL: Warum entdeckt die ARD erst ders „Gutenabendallerseits“ vergessen de Mol rasch jetzt die Frauenquote? machen? steigende Umsät- Will: Weil es zu oft hieß, das hat der Will: Ich sag meistens: „Hallo und will- ze bringen. Ge- Kollege XY schon seit hundert Jahren kommen.“ plant ist eine

gemacht. Da werden nun alte tägliche Game- PRESS KRUG / ACTION F. Pfründen aufgebrochen. Show am Vor- Linda und John de Mol SPIEGEL: Sportchef Heribert Faß- mittag, bei der bender sagte, Sie seien begabt, TV-Zuschauer per Anruf über eine hübsch und intelligent. Hätte be- 0190er-Nummer Spielkandidaten wer- gabt und intelligent nicht gereicht? den können. Die Telefoneinnahmen, Will: Wahrscheinlich nicht. Da die pro Teilnehmer bei maximal einer habe ich aber kein Problem mit – Mark liegen sollen, fließen bis zur solange es nicht wie bei den Pri- Deckung aller Kosten an die Produk- vaten zugeht, bei denen jedem, tionsfirma Hurricane, an der Endemol der gut aussieht, ein prima Text und die Deutsche Telekom (mittelbar auf den Teleprompter geschrie- über den neuen Konzernableger Di- ben wird. Wir arbeiten ohne – game) beteiligt sind. Nach Finanzierung und deswegen ist es gut, wenn der Grundkosten teilt Hurricane die man nicht nur hübsch ist. Telefongelder mit dem ausstrahlenden

SPIEGEL: Was reizt Sie an der T & Sender – hierfür sind RTL oder RTL 2 „Sportschau“? Will vorgesehen.

der spiegel 46/1999 133 Medien

JOURNALISMUS Ehrmann: Ich war sehr verärgert über die SED-Mitglieder, weil sie versucht haben, Domino vobiscum „Kurze Frage, mit Bürokratie Reisen zu verhindern. SPIEGEL: War Ihnen damals bewusst, wie on diesem Sturz träumt die TV- enorme Wirkung“ folgenreich Ihre Frage sein konnte? VBranche. Vorvergangenen Frei- Ehrmann: Für die Frage war mir das nicht tag purzelten auf RTL 2472480 Do- Riccardo Ehrmann, 69, italienischer klar, aber für die Antwort. Schabowski minosteine um, und 14,02 Millionen Journalist der Nachrichtenagentur sprach von Reisefreiheit – und die Mau- Zuschauer, mehr als die Hälfte aller Ansa, über seine Rolle auf der Presse- er war weg. Nach der Konferenz traf ich 14- bis 49-Jährigen, waren dabei. Das konferenz vom 9. November 1989, Willy Brandt. Er gratulierte mir und schafft kein gewöhnliches Cham- die den Anstoß zum Mauerfall gab sagte: kurze Frage, enorme Wirkung. pions-League-Spiel, das bringt kein SPIEGEL: Ein Italiener, der die deutsche Krimi zu Wege, da muss selbst die SPIEGEL: Sie haben mit Ihrer Frage Geschichte vorangetrieben hat – haben Volksmusi passen. Domino vobis- an Günter Schabowski zum Reisege- Ihre deutschen Kollegen geschlafen? cum, der Quotengott war mit euch, setzentwurf den Mauerfall ausgelöst? Ehrmann: Vielleicht. Ein deutscher Kol- ihr Planer in Köln. Ehrmann: So scheint es, ja. lege von der dpa sagte mir, dass er im Was 70 Helfer in sieben Wochen auf SPIEGEL: Sind Sie darauf nicht stolz? Konferenzraum geblieben war, um das einer Fläche von 4000 Quadratme- Chinesisch der Kommunisten bes- tern in einer Halle aufgebaut hatten, ser zu verstehen. stürzte um, weil Newtons Gravitati- Ķ SPIEGEL: Wie hat die Ansa-Zentrale onsgesetz es so will. Und die 27 500 in Rom auf Ihre Meldung, die Mau- Steine, die stehen blieben, ändern er sei gefallen, reagiert? an den Grundfesten der Physik Ehrmann: Für ein oder zwei Minu- nichts, da hatte der Mensch ten haben die geglaubt, ich sei ver- versagt. rückt geworden. Irgendwie ver- Die Natur beim Vollzug ihrer ständlich. Es gab ja keine Ankündi- Gesetze zu beobachten ist ja gung vorher. Aber der Chefredak- längst Gegenstand des Me- teur ließ es drucken. diums Fernsehen, und nach SPIEGEL: Und danach?

dem Riesenerfolg des „Do- DPA Ehrmann: Habe ich die ganze Nacht mino Day“ wird die Phanta- Journalist Ehrmann, Schabowski (r., 1989) gearbeitet. Ich bin später an den sie der Macher in dieser Rich- Bahnhof Friedrichstraße gegangen, tung weitergehen: Reality zu Ehrmann: Doch. Oscar Wilde sagte wurde dort erkannt und gefeiert. Ich zeigen, einfach so. einmal: Das Leben ist eine schlechte wusste nicht, dass die Pressekonferenz im In der Kultsendung des Bay- Viertelstunde mit ein paar guten Mo- Fernsehen live übertragen worden war. erischen Rundfunks, der menten. Diese Pressekonferenz war SPIEGEL: Hätten Sie die Frage trotzdem „Space-Night“, sind Welt- einer der besten Momente meines gestellt? raum und Erde vom Satelli- Lebens. Ehrmann: Selbstverständlich, das ist mei- ten aus bereits in ihrer schlichten Er- SPIEGEL: Hatten Sie sich auf diese Frage ne Arbeit. Herr Schabowski sagte mir habenheit zu bewundern. Kriege vorbereitet? vor wenigen Tagen, ich hätte ihm das kommen, Sensationen gehen, aber Ehrmann: Ich hatte keine Ahnung vor- Stichwort gegeben. Allerdings hoffe ich das Tote Meer bleibt aus großer Höhe her. Ich wollte an einer Pressekonferenz sehr, dass die Menschen, die mich da- immer ein großer Anblick. So was teilnehmen – wie an vielen anderen – mals gefeiert haben, jetzt nicht zuschla- schätzt der TV-Zuschauer wie die und Fragen stellen. Aber so eine Wir- gen werden. täglichen Schwenks auf 3Sat über die kung war nicht beabsichtigt. SPIEGEL: Hat man Sie zur Feier des Gipfel der Alpen. SPIEGEL: Ihre berühmte Frage an Scha- Mauerfalls nach Berlin eingeladen? Die TV-Vermarktung der physikali- bowski enthielt den Satz, das geplante Ehrmann: Leider nein. Ich war schon schen Gesetze und der Naturschau- Reisegesetz sei „ein großer Fehler“. etwas enttäuscht. Ich liebe Berlin, ich spiele findet nicht nur Freunde. Der Das war ziemlich meinungsstark. wäre gern hingefahren. Osnabrücker Baumforscher Hans- Dieter Warda verurteilte letzte Wo- che TV-Pläne, ein Waldstück mit Ka- meras zu überziehen und das Wach- QUOTEN 7,4 sen der Pflanzen über die Jahreszei- 7,3 7,3 ten hinweg zu übertragen. Dadurch, Kerner vorn Johannes 6,9 schimpfte der Professor, ginge bald B. Kerner 6,2 gar kein Mensch mehr in die Natur. in Monat ist es her, da muss- Maybrit Illners Das wäre zwar schade, aber ein schö- Ete Johannes B. Kerner mit „Berlin Mitte“ 5,6 ner Sonntagsspaziergang, bei dem seiner Prominenten-Show man im Bett bleiben kann, was „JBK“ zu Gunsten von Maybrit 5,1 spricht dagegen? Und wenn ein Titel Illners neuer Polit-Talkrunde 4,6 „Das Schweigen der Lämmer“ ver- „Berlin Mitte“ auf einen 23-Uhr- 4,4 spricht, könnte es sich demnächst Termin weichen. Der Umzug in Marktanteile um eine Live-Außenübertragung die Nacht hat Kerner nicht ge- in Prozent bei den 14- 3,4 handeln. Die würde die Nerven schadet – er erreicht einen höhe- bis 49-Jährigen schonen. ren Marktanteil als die Ex-Früh- 14. Okt.21. Okt. 28. Okt. 4. Nov. 11. Nov. stücks-TV-Frau Illner. SIMON/TEUTOSVEN

134 der spiegel 46/1999 Fernsehen Vorschau Einschalten

Urlaub im Orient – Und niemand hört dein Schreien Mittwoch, 20.15 Uhr, RTL Sicherlich setzt dieser Film (Buch: Oliver Simon, Regie: Michael Wen- ning) keine neuen Maßstäbe im Gen- re Abenteuerfilm. Aber die Geschich- te von dem geheimnisvollen Hotel in Marokko, wo nichts ahnenden deut- schen Touristinnen die Embryos aus dem Leib operiert werden, um Tod- kranken zu helfen, liefert soliden Gründgens, Flickenschildt im Film „Faust“ Nervenkitzel. Besonders gelungen ist die Einbeziehung der marokkani- Faust (Buch) und Ulrich Stark (Regie) ha- schen Umgebung: Ein deutscher Arzt Dienstag, 21.40 Uhr, Arte ben eine spannende Geschichte zu- (Felix Eitner) hetzt mit Hilfe seines Aus den guten alten Tagen, da die Ber- sammengebracht über den Irrsinn von einheimischen Freundes (Said serker des Regietheaters ihr Hinrich- Trainingsprogrammen für Manager. Taghmaoui) durch enge Stadtquartie- tungswerk an den Klassikern noch nicht Im Psychospiel werden ständig Sein re auf der Suche nach seiner ver- begonnen hatten: Arte zeigt in deut- und Schein verwechselt, für ein armes schwundenen Freundin (Floriane Da- scher und französischer Erstausstrah- Würstchen mit tödlichem Ausgang. niel), die derweil durch die Wüste irrt lung die Verfilmung einer „Faust“-Auf- Den einarmigen Kommissar (Edgar und in einem Nomadenzelt maleri- führung des Deutschen Schauspielhau- Selge) bei der Arbeit zu sehen ist sche Zuflucht findet. ses von 1960 mit Gustaf Gründgens in eine Lust. Er mischt die schlamperte der Rolle des Mephisto, mit Will Bayernpolizei mit preußischer Frech- Quadflieg als Faust, Ella Büchi als heit auf. Und muss sich im Gegenzug Gretchen und Elisabeth Flicken- Behindertenwitze anhören: „Wie soll schildt als Marthe Schwerdtlein. man mit dem Arm des Gesetzes re- Im Anschluss um 23.50 Uhr gibt den, wenn keiner dran ist?“ Nur einer es ein Gründgens-Porträt von Pe- dieser unkorrekten Kalauer hat ein tra Haffter. Richtungsproblem: „Gehen Sie nach rechts, wo der Daumen links war“, Polizeiruf 110: Kopfgeldjäger wird dem Polizisten ohne linken Arm Sonntag, 20.15 Uhr, ARD der Weg zur Toilette gewiesen. Wer Der Wortwitz funkelt, und der geschmunzelt hat, sollte mal nachden- Verstand hat Arbeit. Was will ken: Der Witz klingt schön, leidet Daniel (l.) in „Urlaub im Orient“ man mehr? Wolfgang Limmer aber an Links-Rechts-Verwechslung.

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Ricky! Sender große Zerknirschung zeigen und hatte ein ungezogenes Kind, das gern Montag, 14.00 Uhr, Sat 1 beide können hoffen, dass Auflage und mit Bellen die Umgebung nervte. Der Sanften Talk und manierliches Auftre- Quote steigen. Rapstar liebte auf Zeit den Neffen ten versprach der Moderator Ricky und kehrte, ein Kind unterm Herzen, Harris. Doch das war, wie in der … die man liebt in die Glitzerwelt zurück, derweil On- Branche üblich, die Lüge zum Beginn Samstag, 20.15 Uhr, Südwest III kel am Infarkt hinschied und dem der Sendung. Denn wenn einer die Es war einmal eine berühmte HipHop- Neffen Geld und Lokal vermachte. deutsche Sprache so perfekt wie Sängerin, die in den Streik trat, als ihre Solche Märchen gibt man an der Ricky misshandelt, warum sollte der böse Managerin sie vor den grölenden Filmakademie Baden-Württemberg sich dem Grundgesetz des Genres Massen in einem Fußballstadion singen offenbar als Geschichten aus, die das verweigern, die Schamgrenzen immer lassen wollte. Die Sängerin stieg aus Leben schreibt. Warum die renom- neu zu überschreiten? Mit der Selbst- dem Tourneebus aus und landete in ei- mierte Redaktion der renommierten verstümmlung, im Flottsprech „Bran- ner kleinen Pizzeria voll schrulliger Reihe „Debüt im Dritten“ dieses ding“ geheißen, einer Kandidatin, die Menschen. Der „Cheffe“, strenger Ver- obendrein noch vollkommen humor- während einer Aufzeichnung vor treter italienischer Lebensart, glaubte lose Drehbuch für den Abschlussfilm Schmerz zusammenbrach, hat die auf Grund fingierter Postkarten an die nicht zur Überarbeitung zurückge- quotenschwache Sendung endlich Zuwendung seines verlorenen Sohnes. reicht hat, bleibt schleierhaft. Schade auch ein heißes Eisen in der Talkhöl- Der Neffe träumte von der Gründung um die Schauspieler, schade um die le: „Bild“ kann sich entrüsten, der eines Schnellimbisses, und die Kellnerin teilweise wunderschönen Bilder.

der spiegel 46/1999 135 Medien

JOURNALISTEN Die Clip-Schule vom Lerchenberg Mit Geschichtsfernsehen für ein Massenpublikum stieg Guido Knopp zum TV-Quotenstar und Bestsellerautor auf – trotz harscher Kritik von Historikern. Nun plant der ZDF-Journalist weitere Produktionen rund um sein Hauptthema .

rominenz schüchtert ein. Erst nach einigem Zögern fasst der Rentner aus Pder ZDF-Besuchergruppe den Mut, geht vor dem Studio des Mainzer Senders entschlossen auf den Hünen im schwarzen Anzug zu, den er seit vielen Jahren vom Bildschirm kennt. „Sie sind ja noch schöner als in der Glotze“, umschmeichelt der Mann sein Idol und hakt nach: „Warum sieht man Sie in letzter Zeit so selten?“ Der promovierte Historiker lächelt, als seien ihm gerade geheime Tagebücher aus der Nazi-Zeit anvertraut worden. „Ach, wissen Sie“, sagt er, „Dokumentationen erfordern viel Zeit, da komme ich kaum noch vor die Kamera.“ Der Bewunderer nickt und trottet zurück zu seiner Kaffee- fahrt-Runde. Guido Knopp, 51, ist mit heiklen Themen rund um die braune deutsche Vergangen- heit zum TV-Star geworden. Er steht heu- te im Zentrum eines quoten- und umsatz- trächtigen Imperiums, das den Deutschen jene Vergangenheit näher bringt, die nicht vergehen will. Hauptsächlich der Faszination des Bösen verdankt der Redaktionsleiter Zeitge- schichte des öffentlich-rechtlichen Sen- ders Zuschauerzahlen zwischen fünf und sieben Millionen zur besten Sendezeit. Mittlerweile laufen Knopps TV-Spiele in 50 Ländern, allein sein Video „Hitler – Eine Bilanz“ verkaufte sich knapp 160000-mal. Er sei „ein Flaggschiff für ein bestimm- tes Genre“ geworden, „jeder weiß, was Knopp ist“, sagt Alexander Coridaß, Chef der Sendertochter ZDF Enterprises, über den Exportknüller. In TV-Schlüsselmärk- ten wie den USA, Großbritannien, Frank- reich oder Australien habe sich der Histo- riker „großes Renommee“ erworben. So stiegen Knopp und sein Heer von Helfern zum Markenzeichen auf. Im Ge- denkjahr 1999 stehen seiner Redaktion so viele Sendeplätze wie noch nie zur Verfü- gung, etwa zu Jahrhundertereignissen wie den Weltkriegen sowie dem Bau und Fall der Mauer. Parallel zu seinen TV-Serien publizierte der Historiker Jahr für Jahr Buch-Bestseller am Fließband, im vergan- genen Jahr gleich drei. Damit war der ZDF- Angestellte (Gesamtverkauf aller Druck-

werke: über eine Million Exemplare) der WEGNER / LAIF T. erfolgreichste deutsche Sachbuchautor. Medienstar Knopp: „Wir arbeiten auch für den Arbeiter von der Werkbank“

136 der spiegel 46/1999 Keiner hat beim Massenpublikum mehr Kanzler 1999 Deutungsmacht in Sachen Drittes Reich. 3,2 10,6% Serien im ZDF* Der Ex-Wissenschaftler, der seine Dok- Top-Spione 1994 torarbeit über Debatten zwischen SPD und 2,2 12,3% ■ Quoten-Hit Hitler USPD nach dem Ersten Weltkrieg abgelie- Zuschauer Unser Jahrhundert 1999 in Millionen Knopps Zeitgeschichte fert hatte, stieg über Kurzgastspiele bei 2,2 12,9% ■ „Bunte“, „Welt am Sonntag“ und „Frank- Marktanteil im Fernsehen und in Büchern furter Allgemeine“ in den Journalismus Vatikan 1997 4,2 13,5% ein. Doch es drängte ihn zum Fernsehen. Verkaufte Bücher in Deutschland 1978 landete er beim ZDF und überzeug- Der dritte Weltkrieg 1998; *Einzelsendung te sechs Jahre später Senderchef Dieter 4,4 13,7% Der verdammte Krieg 50000 Stolte, eine eigene Redaktion Zeitge- Hitlers Helfer II 1998 Unser Jahrhundert 75000 schichte zu gründen. 4,4 15,0% Kanzler 80000 Nun sitzt Knopp bei Presseterminen im Hitlers Krieger 1999 Top-Spione 90000 lichtdurchfluteten Clubraum des Inten- 5,2 16,2% danten, streckt vor einem Kolossalgemäl- Hitlers Krieger 110000 Der verdammte Krieg 1995 de über die Vertreibung der Juden aus 3,8 18,3% Hitler – Eine Bilanz 160000 Ägypten pathetisch die Arme aus und do- Vatikan 180000 ziert über die Aufgabe, „ein großes Publi- Hitlers Helfer I 1997 kum für Geschichte zu gewinnen“. In der 6,9 21,1% Hitlers Helfer 200000 Vergangenheit habe die britische BBC eine Hitler – Eine Bilanz 1995 Vorrangstellung bei historischen Produk- 5,0 22,1% Quellen: ZDF; Bertelsmann tionen gehabt, „jetzt aber spielen wir mit, haben vielfach sogar Standortvorteile – am Kriegsende sowie, zum Finale, eine Ge- gen bestehen zu können. Dagegen setzt er durch größere Nähe zum Material und zu samtschau über die Verstrickung der Deut- ein Potpourri aus kurz geschnittenen den Zeitzeugen“. schen („Hitlers Volk“). Schwarzweißsequenzen alter Filme, nach- Dem egostarken Geschichte-Erzähler Wer sich derart intensiv mit der deut- gestellten Szenen in Farbe (das Prinzip vom Mainzer Lerchenberg schwebt eine schen Düsternis zwischen 1933 und 1945 übernahm Knopp von der BBC) und Kurz- regelrechte „Pyramide“ zur NS-Deutung befasst, braucht sich um Kritik nicht zu befragungen von grell ausgeleuchteten vor: Erst versendete er 1995 in einem sorgen. So viel Aufmerksamkeit für die Zeitzeugen vor dunklem Hintergrund. Als Sechsteiler den Diktator selbst („Hitler – Nazi-Zeit empfindet „FAZ“-Herausgeber Untermalung dienen dramatische Musik eine Bilanz“), dann den inneren Führer- Frank Schirrmacher längst als Exzess. Er und eine raue Kommentarstimme, bevor- Kreis („Hitlers Helfer“), schließlich die Ge- entdeckte bei Knopps NS-Arbeiten „einen zugt vom Synchronsprecher des Mafioso- neräle und Soldaten („Hitlers Krieger“). fast rauschhaften Steigerungs- und Über- Darstellers Robert De Niro. Als Nächstes sind im Frühjahr 2000 die bietungswillen“, der einen „Zug ins Irr- Das schöne Styling und die meist in ost- Jugendlichen der NS-Zeit („Hitlers Kin- witzige“ bekommen habe. europäischen Archiven akquirierten teu- der“) dran und im Herbst die Opfer: In der Der Grund der ausführlichen und schein- ren Senderechte für Alt-Filme treiben die Serie, auf dem Weltmarkt verkaufsträchtig bar nie enden wollenden TV-Aufarbeitung Kosten gewaltig nach oben. Während die als „Hitlers Holocaust“ annonciert, sollen ist dabei simpel: Hitler sorgt für Quote. ARD im Frühjahr für eine Folge von „20 neue Archivfunde zur Judenverfolgung Zwar hat sich Knopp an vielen Stoffen ver- Tage im 20. Jahrhundert“ zwischen 90000 präsentiert werden, etwa Bilder von Po- sucht, etwa über die Kanzler der Republik und 140 000 Mark ausgab, kostet einmal gromen im Baltikum. Diesmal will Knopp und die Päpste des Vatikan, doch jedes Mal Knopp bis zu einer Million Mark. Davon streng chronologisch erzählen und Bilder lagen die Zuschauerzahlen deutlich unter trägt das ZDF knapp die Hälfte, den Rest penibel den Ereignissen zuordnen. Das den NS-Stücken. Auch sein bizarres Was- steuern internationale Koproduzenten bei, Werk werfe, wirbt das ZDF, „ein neues wäre-wenn-Dokumentarspiel „Der Dritte etwa Arte aus Straßburg, RAI aus Italien Licht auf die dunkelste Seite des 20. Jahr- Weltkrieg“ fiel spürbar ab. und History Channel aus den USA. hunderts“. Für 2001 plant Knopp dann eine Nur wenn das Hakenkreuz auftaucht, „Bewegte Bilder und bewegende Zeit- Serie über Magda Goebbels, Eva Braun, ist Knopp seinem Ziel ganz nah, um 20.15 zeugen sind die Pfunde, mit denen wir wu- Zarah Leander und andere Frauen aus der Uhr gegen Hollywood-Filme, Arztschnul- chern können“, sagt Knopp über seine Po- NS-Zeit, eine Reihe über die Vertreibung zen,Actionreihen und Fußballübertragun- pulärfilme: „Wir arbeiten nicht nur für den FOTOS: CH. POPKES (M.);FOTOS: ZDF ( re.) ZDF Knopp-Produkte: „Bewegte Bilder und bewegende Zeitzeugen sind die Pfunde, mit denen wir wuchern können“

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Universitätsprofessor, sondern auch für Unentwegt sammeln Knopps Mitarbeiter den Arbeiter von der Werkbank, der Erinnerungen älterer Deutscher. So inter- abends müde nach Hause kommt und sich viewten sie in einem „Jahrhundert-Bus“ unterhalten will.“ überall in Deutschland 6000 Leute zur Volksfernsehen statt Volkshochschule – Nazi- und Nachkriegszeit – eine „Kathar- unter Historikern und Dokumentarfilmern sis-Box“ (Knopp), die an Steven Spielbergs ist dieser Quotenjournalismus höchst um- Shoah-Stiftung erinnern und künftig in ei- stritten. Knopp erkläre wenig, verzichte nem „Jahrhundertstudio“ auf dem Main- auf Zusammenhänge und setze vor allem zer ZDF-Gelände zur Dauereinrichtung „auf Tempo sowie die Suggestivkraft von werden soll. Bildern und Musik“, kritisiert Wissen- Auch für die Bücher zu den Fernsehhits schaftler Hans Woller vom Münchner Insti- sind die vielen fleißigen Mainzelmännchen tut für Zeitgeschichte, alles zerfließe „in ei- im ZDF-Trakt FR Ost 2 stark eingespannt. nem großen Brei“. Das Niveau für Ge- Ein großer Teil der Werke stammt von je ei- schichts-TV werde so systematisch gesenkt. nem halben Dutzend von Koautoren. Für Der ZDF-Mann gelte „unter Historikern die Forschung hatten die Bände keinen Ef- so viel wie Jürgen Fliege unter Bibelfor- fekt – wohl aber für die Bilanzen von Ver- schern“, spottet das Satireblatt „Titanic“. lagen, Buchhändlern und für Knopp selbst. Besonders umstritten ist das Inszenie- So brachte allein der Spitzentitel „Hit- ren, im Fachjargon „Nachdreh“ genannt, lers Helfer“ (Verkaufsauflage: 200000) dem von historischen Szenen, für die es kei- Autorenteam schätzungsweise eine Drei- ne Bilder gibt, etwa vom erzwungenen viertel Million Mark Erlöse. Das Geld wer- Selbstmord des Generalfeldmarschalls Er- de, so Knopp, „nach einem festen Schlüs- win Rommel oder von frühen Treffen sel“ zwischen ZDF, ZDF Enterprises und Winston Churchills mit NS-Größen. Zu der Redaktion aufgeteilt. Der Löwenanteil sehen sind schwarze Li- dürfte bei Knopp bleiben, mousinen, blank geputzte Koautoren werden schon Schaftstiefel, Häuserfron- mal pauschal mit 5000 ten mit dunklen Figuren Mark abgegolten. Er sei oder eine Hand, die mit „teils als Autor aktiv, teils der Schreibmaschine et- als Herausgeber“, sagt die was tippt („gez. Adolf Hit- Hauptfigur über seine Rol- ler“). le, „dann machen meine Bei vielen Wissenschaft- Mitarbeiter Vorlagen, die lern ist auch die Art der ich redigiere, umschreibe Präsentation von Zeitzeu- oder auch nicht“. gen verpönt, die Knopps Sein Stammverlag Ber- Filmen Authentizität ver- telsmann hat mit dem um- leihen sollen. „Da werden triebigen TV-Promi bereits laufend irgendwelche Leu- acht Bücher publiziert. Nur te aus der Nähe Hitlers in- für das aktuelle Werk „100

terviewt, die relativ wenig REUTERS Jahre – Die Bilder des Jahr- Einblick hatten und lauter ZDF-Chef Stolte hunderts“ ließ das Medien- Belanglosigkeiten erzäh- haus seinen Top-Autor zur len“, wettert Historiker Woller: „Ein apo- Konkurrenz ziehen, es erschien den Buch- logetisches Geraune.“ managern zu verwechselbar mit dem zuvor Über die Masche wird selbst im Knopp- veröffentlichten „Unser Jahrhundert“. Kreis gelästert. „Bei uns gilt das Prinzip: Nun erscheint das Bilderbuch zur tägli- Kein Zeitzeuge über 20 Sekunden, nur der chen ZDF-Abendsendung bei Econ und Heilige Vater bekommt 30“, erzählt ein hat reichlich redaktionelle Schützenhilfe Mitarbeiter. „Ein Satz und dann die vom Boulevardblatt „Bild“, das ebenso wie Schwarzblende“, kommentiert WDR-Chef- der Econ Verlag zum Axel-Springer-Kon- historiker Klaus Liebe die Arbeit der Clip- zern gehört. Zu Silvester soll die Reihe so- Schule vom Lerchenberg. gar nonstop 16 Stunden auf dem Sparten- Die Kritik perlt an dem Chefhistoriker kanal Phoenix laufen – der totale Knopp. des ZDF freilich ab. „Da schwingt auch Längst ist der Mann aus Aschaffenburg manchmal Neid mit“, sagt Knopp. „Wir re- ein Star geworden, so sieht er sich, und so cherchieren sehr penibel und lassen uns sollen ihn andere sehen. Seinen 50. Ge- umfassend wissenschaftlich beraten.“ burtstag feierte der Historiker 1998 denn Dann schiebt er nach, dass er im Übrigen auch standesgemäß mit einer Riesenparty „Journalist für Zeitgeschichte“ sei und kein auf einem alten Studiogelände in Wiesba- Dokumentarfilmer. den, unter den vielen prominenten Gästen Seinen Erfolg verdankt der „Experte für war auch der israelische Botschafter. Geschichte und Gefühl“ („Stuttgarter Zei- ZDF-Chefredakteur Klaus Bresser hielt tung“), der derzeit über einen ZDF-Kanal vor über 200 Leuten eine launige Rede, in für Historisches im Internet nachdenkt, ei- der er beziehungsreich über die Allüren ner 30-Personen-Truppe aus fest angestell- seines Mitarbeiters scherzte: „Als kleiner ten Redakteuren, Zuträgern, Rechercheu- Angestellter kann ich mir eine solche Fei- ren, Dokumentaristen und Praktikanten. er nicht leisten.“ Hans-Jürgen Jakobs

138 der spiegel 46/1999 Werbeseite

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nicht“, könnte er noch sagen. Sagt er aber nicht. REGISSEURE Lieber erzählt der nette Doktor, wie es draußen zugeht in der Welt, die bald in sei- nem neuen Film zu sehen sein wird. Krieg Bald wieder Gott herrscht da, ein erbarmungsloser Stel- lungskrieg zwischen hoch bezahlten Wirt- Nach dem Sat-1-Film „Der König von St. Pauli“ arbeitet schaftsprüfern und erbarmungslosen Fi- nanzbeamten. Die einen verdienen eine Dieter Wedel jetzt fürs ZDF – an einem Mehrteiler halbe Million, die anderen vielleicht 80000 über unbarmherzige Steuerfahnder und getriebene Politiker. im Jahr. Aber man hat Respekt voreinan- der. „Oooh“, sagt die blonde Jungschau- o, das war’s für heute. Das Finanzamt Talkshow-Sessel, und jetzt ist er für den spielerin, die gerade beim Detmolder Stadt- sieht keinen Pfennig mehr. Nicht von Rest der Woche in München, um die letz- theater abgelehnt worden ist. „Oooh!“ Sihm. Sechseinhalb Stunden hat er bis ten Rollen für das neue Projekt zu beset- Wedel lehnt sich zurück. Wippt mit sei- jetzt gearbeitet – nur für die Steuer. Es ist zen. Viel Zeit bleibt nicht mehr. Im Febru- nen schwarzen Stiefeletten. Nein, im Fi- nachmittags um halb drei, und erst von ar soll es schon losgehen: 165 Drehtage für nanzamt gebe es noch nicht den „Beam- jetzt an verdient er Geld, das er in die ei- die fünf bis sechs Teile, die das ZDF Ende tenschlaf“, da herrsche Korpsgeist, obwohl gene Tasche stecken kann. Seit etlichen Le- 2001 zeigen will. Und wie immer ist es sein die Beamten im Durchschnitt jeden Tag gislaturperioden versprechen die Regie- teuerster Film: Bis zu 25 Millionen Mark ein neues Gesetz auf den Tisch bekämen – renden eine Steuerreform. Und was pas- zahlt der Mainzer Sender. also 360 neue Steuerregeln pro Jahr. siert? Eine Erhöhung nach der anderen! Den Mädchen im Besetzungsstudio wird Er war beim Leiter einer großen Steu- Dieter Wedel löffelt Kokosmilchsuppe er erst einmal erzählen müssen, worum es erfahndungsabteilung. „Die sind schwer mit Shrimps und frischem Koriander. Sei- überhaupt geht. Das macht sie lockerer. gesichert“, sagt der Regisseur und lässt die ne Lieblingssuppe. So viel Zeit muss sein. Alle wollen sie zu ihm, aber alle haben sie Bedeutung seiner Worte sacken. „Ooh“, Manchmal lässt er sich eine ganze Terrine Angst. Vor ihm, dem großen Wedel, der seufzt die blonde Jungschaupielerin. In auf seine Suite im Münchner Hotel Vier sich gern mit seinem Doktortitel anreden Wilhelmshaven hat sie es auch schon ver- Jahreszeiten bringen. Doch jetzt drängt der lässt. „Doc“, hat ihm sein Kameramann sucht. „Der oberste Steuerfahnder sieht Fahrer – wenn auch sanft. Im Studio war- gesagt, „bald sind Sie wieder Gott.“ runter auf die Straße und sagt: ‚Alle sind ten sie und heulen. Irgendjemand hat die Da sitzen die Kandidatinnen mit weit schuldig: 98 Prozent, zu 100 tendierend.‘“ Termine durcheinander gebracht. Wedel aufgerissenen Augen und frösteln. Sind Bei Beckmann hat er die Geschichte am kichert. Die Armen. Aber wo bleibt nur blass, obwohl die Maskenbildnerin sie ge- Abend vorher auch erzählt. Das Publikum das Carpaccio? rade frisch geschminkt hat. war beeindruckt. Was für eine Woche! Gerade noch hat er „Sicher haben Sie gelesen, dass ich ein Er wird die Semmelings in seinem neu- in Mallorca am Drehbuch geschrieben, Feuer speiendes Monster bin“, säuselt We- en Film auferstehen lassen. Anfang der dann am vergangenen Montagabend Auf- del, dessen Tobsuchtsattacken bei Drehar- siebziger Jahre hatte er die Geschichte von tritt in Hamburg bei „Beckmann“ auf dem beiten legendär sind. „Glauben Sie es bloß Bruno und Trude Semmeling erzählt, de- ren Eigenheimbau im Kampf gegen die Hand- werker zum Alptraum wurde. „Manche Thea- terregisseure waren da- mals stolz, wenn sie ihr Publikum so verärgert hatten, dass der Zu- schauerraum am Ende leer war“, sagt er, „und ich hatte Einschaltquo- ten von 63 Prozent.“ Der Dreiteiler machte Wedel zum Shootingstar des NDR. Schnell gehör- te er zu den erfolgreichs- ten TV-Regisseuren der Nation. Er wechselte zum ZDF, drehte für Sat 1. Seine Mehrteiler „Der große Bellheim“, „Der Schattenmann“ und „Der König von St. Pau- li“ wurden von Millio- nen gesehen – und kos- teten viele Millionen. „Aber erst mit dem Bellheim bin ich aus

* Mit Julia Stemberger bei den

SAT 1 SAT Dreharbeiten für „Der König Regisseur Wedel*: „Sicher haben Sie gelesen, dass ich ein Feuer speiendes Monster bin“ von St. Pauli“.

142 der spiegel 46/1999 Werbeseite

Werbeseite Medien dem Schatten der Semmelings herausge- Machtfülle, diese Steuerfahnder. „Manch- Politikern, Steuerfahndern, Unternehmern, treten“, sagt er, „jetzt bin ich so weit, sie mal eine Schnüffelinquisitionsbehörde, fast Anwälten. „Versuchen Sie nie, mit gewag- wieder auftreten zu lassen.“ Mit Fritz Lich- so wie die Stasi. Ein Großteil ihrer Hin- ten Firmenkonstruktionen Ihr Geld ins tenhahn und Antje Hagen hat er die Schau- weise stammt von Denunzianten.“ Ausland zu bringen“, hat ihm ein bekann- spieler von damals engagiert. Die Steuerfahnder können einen fertig ter Steueranwalt geraten, „der Steuer- Sie werden das alternde Ehepaar spie- machen. Da ist er sich sicher. Einmal hät- fahnder darf am Freitagnachmittag, kurz len, das von einem Onkel, der während ten sie beinahe gegen den eigenen Finanz- vor Dienstschluss, keinen Gedanken mehr der Steuerprüfung vor Aufregung gestor- minister ermittelt. Nur wegen eines Kontos auf Sie verschwenden.“ Sonst erwacht der ben ist, ein Haus geerbt hat. Bald darauf in Luxemburg. Doch dann sei ihnen noch Jagdinstinkt. haben die Semmelings selbst Ärger mit den in letzter Minute aufgegangen, dass der Selbst Helmut Kohl hat er auf die „bei- Finanzbehörden. Systematisch werden sie Minister seine Einkünfte ordnungsgemäß spiellose“ Machtfülle der Steuerfahnder in den Ruin getrieben. Die Steuerfahnder versteuert habe. angesprochen. Da könne er nichts machen, kompensieren mit dieser habe ihm der damalige Re- Aktion ihren Frust, weil sie gierungschef geantwortet. Er im Falle einer dubiosen Fir- sei schließlich nur Kanzler. menfusion nicht tätig wer- Manchmal hat er Mitleid mit den dürfen. Es gibt kein po- den Politikern, die „im An- litisches Interesse daran. sehen nur kurz vor den Kin- Sohn Sigi, den es als Re- derschändern rangieren“. ferent ins Vorzimmer des Sein Hauptinformant für Hamburger Bürgermeisters den „Schattenmann“, der verschlagen hat, hilft den bei der Frankfurter Kripo Eltern – muss dafür aber gegen das organisierte Ver- den Beistand eines reichen brechen ermittelte, ist in- Unternehmers in Anspruch zwischen Landrat in Hessen. nehmen. Das wird ihm und Der habe auf einmal ge- der ganzen Regierung spä- merkt, wie schwer es sei, ter zum Verhängnis, als er es auch nur den Anschein von schließlich bis zum Wirt- Korruption zu vermeiden. schaftssenator gebracht hat. Er, der früher immer der Un- „Haben Sie die Western bestechliche gewesen sei.

über Doc Holliday und CORONA Gut, dass er nur Regisseur Wyatt Earp gesehen?“ Die Mario Adorf und Stefan Kurt in „Der Schattenmann“ ist. Mit vielen Millionen blonde Jungschauspielerin kann er seine Visionen ver- sieht betreten auf den blauen wirklichen. „Keiner quatscht Teppichboden. Muss man ge- mir rein, wenn ich meine sehen haben. Western sind elektrische Eisenbahn auf- wie Shakespeares Königs- baue.“ Und keiner nimmt dramen. Doch inzwischen ihm übel, wenn Mercedes spielen sich die Western nicht ihm während der Drehar- mehr in Dodge City, sondern beiten einen Wagen kosten- in den Vorstandsetagen der los zur Verfügung stellt. Großkonzerne ab. Neulich hat er auf Anraten Wenn in Bayern die Ban- seines Freundes Mario Adorf ken fusionieren, dann hat bei Armani angerufen und das Shakespeare-Qualität. gefragt, ob man vielleicht ins Oder wenn der Münchner Geschäft kommen könne. Filmhändler Leo Kirch steu- Wo doch allgemein bekannt ersparende Milliarden-Deals ist, dass er nur Armani-An- mit dem Schweizer Metro- züge trägt. Leider ist er mit

Gründer Otto Beisheim ab- D. SCHMIDT / BILDERBERG seinem Vorschlag ins Leere schließt. Das ist der Stoff, Heinz Hoenig und Julia Stemberger in „Der König von St. Pauli“ gelaufen. Kein Interesse. aus dem seine Geschichten Wedel-Filme: „Keiner quatscht mir rein“ Wäre auch zu schön ge- sind. wesen. „Manchmal ist es besser, gar nichts zu le- Oder der Fall in einer Großstadt, wo die Aber auch er hat seinen Ärger. Das ZDF sen als immer nur den Kultur-Teil der Zei- Steuerfahndung einen Unternehmer auf will ihn auf 90 Minuten pro Folge festna- tung“, ermahnt Wedel seine Kandidatin- Grund eines falschen Verdachts fast in den geln. Will, dass er lieber eine Folge mehr nen.Wirtschaft ist spannender. „Viel span- Ruin getrieben habe. Alle hätten sich nach dreht, als das Sendeschema zu sprengen. nender als das Feuilleton.“ Da lernt man einer unberechtigten Durchsuchung von Sendeschema. mehr über die Menschen. Die Geschichte ihm abgewandt: die Bank, die Kunden, die Er muss das Wort nur hören, um schon mit Walther Leisler Kieps Steuer-Million. Lieferanten. Und? Hat man sich entschul- die Wut zu bekommen. „Ich mache doch „Haben Sie das gelesen?“ Verlegenes Kopf- digt? „Man hat nur gedroht, die Ermitt- keine Würstchen“, hat er den Leuten vom schütteln. lungen auszuweiten, sollte sich der Unter- ZDF gesagt. Ein Gärtner, der einen Baum Na ja, dann erzählt er den Mädchen lie- nehmer an die Öffentlichkeit wenden.“ pflanzt, weiß doch auch nicht, wie groß ber etwas von der Steuerfahndung. Als er Sein Film wird diese Fälle schildern. der wird. Er hat getobt wie sonst nur bei in Frankfurt für den „Schattenmann“ re- Monatelang hat er recherchiert. Er hat seinen Dreharbeiten. Wedel denkt nach. cherchiert hat, ist er auf das Thema ge- bei Ministerpräsidenten gesessen, oft über „Na ja“, sagt er dann, „es kann natürlich stoßen. Die Kripo-Leute haben ihn darauf Stunden. Allein drei Stunden hat er mit auch sein, dass ich mich irre.“ aufmerksam gemacht. Unvorstellbare Doris Schröder-Köpf geredet, er war bei Konstantin von Hammerstein

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Werbeseite Medien FOTEX Mertes ACTION PRESS ACTION Bethge FOTEX CH. KURZ Medientrainerin Amado, Kursteilnehmer: „Immer die Hand aus der Tasche nehmen“ Nowottny

hen. Christoph Teuner, 36, kurzfristig KARRIEREN bekannt aus dem Info-Magazin „News- maker“ (Sat 1), brachte Beamten des Umweltministeriums von Nordrhein-West- Kleine Tricks und Strategien falen „kleine Atemtricks und Nervositäts- vermeidungsstrategien“ bei. Unternehmer, Manager und Lokalpolitiker lassen sich in Teuner: „Da mussten Fortbildungsgel- der verbraten werden.“ Seine Künste, mit Schnellkursen für Medienauftritte schulen – eine 10000 Mark honoriert, waren auch Teil ei- Goldgrube für ausgediente und aktive TV-Moderatoren. nes Gesamtpakets, das der Siemens AG zusammen mit neuen Bildtelefonen von rovokant solle er sein, hat Marijke Travestie „Mini Playback Show“, um vor PictureTel verkauft wurde. Amado gesagt. Also faltet Christian zwei Jahren gemeinsam mit der Lokal- Die Reihe lässt sich fortsetzen: Eva Mass- PTurck, promovierter Philologe aus politikerin und Fernsehredakteurin Marlis mann, 39, deren Fernsehlaufbahn sich auf Bonn, folgsam seinen schlaksigen Körper in Robels-Fröhlich in Köln-Hürth eine Mode- „Kinderkram“ (Vox) und „Gut schmeckt’s“ ein rotes Plüschsofa, setzt eine ernste rationsschule zu gründen. (RTL) stützt, lehrt heute für 1500 Mark pro Miene auf und guckt entschlossen in die „Step To Future“, so der Firmenname, Tag telegene Rede. Ebenso ihre Kollegin Kamera. beschäftigt immerhin renommierte Trainer Manina Ferreira-Erlenbach, 34, zuletzt in Nach Entrichtung einer Kursgebühr von wie den ehemaligen „Zak“-Interviewer einem Casting für eine Nachfolge-Talk- 2500 Mark durfte der 31-Jährige fünf Tage Wolfgang Korruhn. Der überfällt anrei- show von „Bärbel Schäfer“. Sie coacht lang lernen, wie man flüssig Statements sende Seminarteilnehmer schon beim Aus- demnächst die Direktoren der Berliner abgibt und telegen schaut – eine Investition steigen aus dem Taxi mit einem Kamera- Landesfeuerwehr. für den Einstieg als Werbemanager bei ei- team und der Frage: „Was hat zu Ihrem Werner Schulze-Erdel, bekannt als Prä- ner Düsseldorfer Agentur, für die er mul- Misserfolg geführt?“ sentator des langjährigen Hausfrauen-Hits timediale Produkte vermarkten will. Den Chefin Amado, laut Lebenslauf früher „Familienduell“ bei RTL, durfte zuletzt Abschluss bildet ein Tag im Fernsehstudio Reiseleiterin bei Neckermann, berät vor- die Chefredakteure eines Großverlags an mit gestellter Talkshow und echter Fern- wiegend in Stil-Fragen und begleitete den Umgang mit der Studiokamera ge- sehprominenz. Die hat so kostbare Kar- eine ostdeutsche Elevin jüngst sogar zum wöhnen – mit anfänglichen Autoritätspro- rieretipps auf Lager wie: „Immer die Hand Friseur. Ihr unternehmerisches Geschick blemen: „Aber spätestens wenn der erste aus der Tasche nehmen, das wirkt besser!“ beweist die Niederländerin nicht nur in meinem Kurs drangenommen wird, legt Was beim Zuschauer gut ankommt, mit der Vermarktung eines esoterischen sich das Vorurteil, ich sei nur ein Unter- scheinen ausgerechnet die zu wissen, die Brettspiels für das Jahr 2000. Mitte Okto- haltungsfuzzi.“ ihre besten Zeiten vor der Kamera längst ber verlangte sie 18000 Mark pro Kopf und So viel unerschütterliches Selbstver- hinter sich oder nie erlebt haben. Eine Woche als Gastgeberin eines Seminars am trauen ärgert die Konkurrenz. „Eine wachsende Schar mehr oder minder be- Comer See, das ein europäischer Elektro- schnelle, kurze Popularität reicht nicht aus, gabter Moderatoren arbeitet als „Medien- konzern dort für sieben seiner Mitarbeiter um solche Seminare zu machen“, behaup- trainer“, „Persönlichkeitsberater“ oder spendierte. tet Claus Hinrich Casdorff, 74, der auf „TV-Coach“ für jene Klientel, der sie einst Die Geschäfte der selbst ernannten Ex- „über 1000 Live-Sendungen“ („Monitor“, journalistisch zu Leibe rückte. perten gehen gut. Schon ein bescheide- „Ich stelle mich“) verweist. Als er 1988, Wenn überhaupt: Amado, 45, reichte die nes Zwischenspiel beim Fernsehen reicht, noch zu WDR-Zeiten, mit dem Teletrai- Qualifikation als Einheizerin der Kinder- um möglichen Medienopfern beizuste- ning begann, habe er sich „im eigenen La-

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Werbeseite Medien den nicht nur Freunde gemacht“. „Es hieß: ‚Du machst den Gegner stark.‘“ Heute gehört der Kölner mit zwei Kursen pro Mo- nat zu den meistbeschäftigten ARD-Pen- sionären und erfreut sich prominenter Kundschaft: Zuletzt machte er Beate Uhse für den Börsengang fit. Für Carmen Thomas, bis 1994 Galions- figur von „Hallo Ü-Wagen“ beim WDR, begann die Medientrainer-Karriere als Medienopfer. Die für ihren legendären Versprecher („Schalke 05“) verspottete Ex- „Sportstudio“-Moderatorin geriet auf die falsche Seite und fand es „schrecklich, in-

TV-Trainer Korruhn: Überfall-Taktik vor der terviewt zu werden“. Die Konsequenz: Sie bildete sich zur Kommunikationsfachfrau weiter und entdeckte das Coaching. Jetzt plant die 53-jährige Buchautorin („Ein ganz besonderer Saft – Urin“) eine eigene Moderationsakademie. Gescheiterte Sat-1-Größen wie Armin Halle, 62, oder Heinz Klaus Mertes, 57, fühlen sich ebenfalls zum Medientrainer berufen. Halle durfte bereits einen frühe- ren Ministerpräsidenten von der Strumpf- farbe bis zur Rhetorik beraten. Mertes, bis 1995 Sat-1-Programmdirek- tor, widmet sich in „Medienklausuren“ oder an einem „intensiven Nachmittag“ Wirt- schaftsleuten aus der Energiebranche oder der Life-Science-Industrie. Sein Ziel: „Un- ternehmensziele mit Kommunikationszielen in Zusammenhang bringen, wenn sich neue Unternehmensidentitäten erstellen“. „Mit dem Sprachschatz von vor 20 Jah- ren“ agierten die einstigen Bildschirmfül- ler, kritisiert Medientrainer Wolf-Henning Kriebel, 56, von „Image Consult“ in Düs- seldorf. Seiner Meinung nach eignen sich gerade Fernsehleute am wenigsten dazu, Menschen ihr Medium zu erklären: „Mo- deratoren verbringen das Leben auf der anderen Seite der Kamera als die Manager. Zwischen den eineinhalb Metern liegen Welten.“

der spiegel 46/1999 TV-Moderatoren als Trainer bean- spruchten zu viel Platz für sich, „manche sind aufgeblasen und neurotisch“, meint Sabina Bolender-Wachtel, deren Agen- tur „Expert“ sprechwissenschaftlich aus- gebildete Lehrer vermittelt. Auch fach- lich hinken die vermeintlichen Praktiker nach Meinung der Fachfrau hinterher: „Denen gehen häufig Methodik und Didaktik ab.“ Die Kritisierten setzen auf andere Qualitäten. Vier Führungskräfte der Bun- desbahn erlernten bei NDR-Plauderer Reinhard Münchenhagen, 58 („DAS!“), im Drei-Tage-Kurs mit Rol- lenspiel verbale Ausweich- manöver als Rüstzeug für die Live-Schaltung oder den Talk- show-Auftritt bei „Sabine Christiansen“ – für den ge- standenen Journalisten kein Widerspruch. „Letztendlich profitieren beide Seiten davon, wenn Leute nicht in gestanzten Blocksätzen reden und Wort- nebel verbreiten“, argumen- tiert der ehemalige Moderator der Talkrunde „Je später der Abend“. Ideologische Probleme hat- ten selbst die Großen seiner Zunft nicht. Friedrich Nowott- ny führte vor über 20 Jahren nicht nur die Vogelfutterfirma Vitakraft an die Tücken des

CH. KURZ TV-Geschäfts heran, sondern Kamera nahm sich auch den gesamten Vorstand der Deutschen Bank zur Brust. „Alfred Herrhausen war ein Talent vor der Kamera“, schwärmt der ehemalige WDR-Intendant. Auch Hanns Joachim Friedrichs stellte sich jahrelang über die Unternehmensberatung Kien- baum der Industrie zur Verfügung. Von 1991 bis 1996 trat Ulrich Wickert in dessen Fußstapfen, bis die Kritik an seiner Werbetätigkeit für die Versiche- rung Deutscher Herold auch unter diesen Nebenverdienst einen Schluss- strich zog. 5500 Mark mussten Seminar- teilnehmer laut Kienbaum für die An- wesenheit des vorwiegend Anekdoten darbietenden „Tagesthemen“-Moderators berappen. Von solchen Preisen träumt Désirée Bethge, 49, bislang noch. Die kühle Ex- Frontfrau von „Zak“, „Stern TV“ und „Fo- cus TV“, die im Herbst vergangenen Jah- res vom Bildschirm verschwand, investier- te 100000 Mark Startkapital für Beta-Ka- mera, Büro, edlen Designer-Prospekt und 500 Anschreiben, „immer an den Vor- stand“. Zehn Prozent der Unternehmen von Audi bis Bertelsmann reagierten und werden wochenendweise in Tagungshotels trainiert. Jetzt hat die ehemalige TV-Moderatorin nur noch ein Ziel: „reich werden“. Anke Richter

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Werbeseite Medien FOTOS: P. M. SCHÄFER P. FOTOS: Schäfer-Bilder aus Bosnien (1992)*: „Vielleicht ist Zivilisation nur eine dünne Lackschicht über latenter Zerstörungsbereitschaft“

ren den Schrecken des Balkan-Krieges seit seinem Kollegen Wolfgang Bellwinkel. Bei- FOTOGRAFEN 1991. Es sind aufrüttelnde, eindringliche de waren damals noch Studenten der Fo- und auch ganz stille Bilder, sie erzählen tografie, und ihr Anliegen war, andere Auf- Angriffswut von Demütigung, Vernichtung und Hoff- nahmen des Krieges zu machen als die pro- nungslosigkeit, von Hunger, Not und ver- fessionellen Berichterstatter. zweifelten Überlebensversuchen, aber auch „Wir wollten den Alltag des Krieges do- und Mordlust von Momenten der Würde und des Stolzes kumentieren und hatten dabei keinerlei – ein ungewöhnliches Kompendium, trau- kommerzielles Interesse“, sagt Schäfer. Die Ein Student der Fotografie reiste rig, bewegend, ganz ohne Pathos. beiden Studenten besorgten sich schuss- Die Hälfte der Aufnahmen ist bereits in sichere Westen und einen alten Jeep, in auf den Balkan, um den Alltag eine CD-Rom-Fotodatenbank aufgenom- den sie sich eine Panzerglasscheibe ein- des Krieges zu dokumentieren. men, dazu kommen Filmdokumente, In- setzen ließen. Dann fuhren sie los. Sie lan- Das Ergebnis: ein monumentales terviews, Texte über einzelne Menschen, deten zusammen mit Journalisten aus Archiv des Schreckens. deren Schicksale Schäfer über einen län- aller Welt auch vor Mostar, als die Stadt geren Zeitraum verfolgte. gerade eingekesselt war – die angespann- er Mitarbeiter der internationalen Eine Auswahl der Bilder ist übers Inter- te, ja explosive Stimmung machte die Si- Bilderagentur Corbis kündigte höf- net abrufbar (www.ifkm.de), die vollstän- tuation für unerfahrene Fotografen ge- Dlich seinen Besuch an. „Ich habe dige Sammlung übergäbe Schäfer gern ei- fährlich. von Ihnen gehört“, sagte er, „vielleicht nem Museum, „nicht um zu schockieren „Wir haben uns vollkommen naiv in die- kommen wir ins Geschäft.“ und anzuklagen, eher um aufzuklären und se Situation begeben und sehr viel Schwein Der Essener Fotograf und Kommunika- zu informieren“ – ein Multimediaprojekt, gehabt“, sagt Schäfer leise, noch im Nach- tionsdesigner Peter Maria Schäfer, 38, emp- zur Ansicht für Schulklassen etwa und an- hinein sichtlich erschrocken. Bellwinkel fing den Agenten in einem Hinterhof, wo dere Interessentengruppen. und er kamen unverletzt von ihren ersten er sein Institut für Kultur und Medien hat. „In den letzten Jahren ist dieser Krieg zu Reisen zurück, und von da an fuhr Schäfer Hier befinden sich auf zwei Etagen Foto- meinem Lebensthema geworden“, sagt immer wieder ins Kriegsgebiet. studio, Labor und ein Computer- sowie ein Schäfer. Er geriet Anfang der neunziger Er fotografierte Soldaten an der Front Archivraum. Der Corbis-Mann zeigte sich Jahre in den Balkan-Krieg, zusammen mit und Heckenschützen in beiden Lagern, ser- beeindruckt von dem, was Schäfer ihm prä- bische Gefangene im Knast von Sarajevo, sentierte, machte deutlich, dass Corbis zum Frauen, die mit starrem Blick unter dem Imperium des Bill Gates gehöre, und frag- Weihnachtsbaum sitzen, Kinder, die, von te schließlich, ob Schäfer verkaufen wolle. Granatsplittern getroffen, mit zerfetzten „Ich glaube, die Gates-Leute gehen auf Leibern im Krankenhaus liegen, zerstörte Reisen und kaufen sämtliche Archive, die Häuser und Moscheen. „Mich interessiert, sie kriegen können“, sagt Schäfer. Er ent- was während eines Krieges auf den ver- schied sich, vorläufig nichts wegzugeben, schiedenen Ebenen passiert“, sagt Schä- „denn mein Herz hängt doch sehr an die- fer. Folgerichtig fuhr er auch nach Genf, sem Projekt“. machte Bilder der Jugoslawien-Verhand- Das begehrte Projekt, an dem Schäfer lungen und fotografierte den damaligen hängt, besteht aus einer eindrucksvollen Uno-Generalsekretär Butros Butros Ghali Fotodatenbank: 5000 Bilder dokumentie- in Bonn. Was, so fragte Schäfer sich und andere,

W. BELLWINKEL W. treibt Männer, die vor nicht langer Zeit * Kroatischer Soldat in Grude; Brotausgabe in einem zentralbosnischen Flüchtlingslager; bosnischer Soldat Fotograf Schäfer friedlich und zivilisiert lebten, ein Dorf zu mit Sohn in Mostar. „Sehr viel Schwein gehabt“ stürmen, die Männer dort zu erschlagen,

154 der spiegel 46/1999 die Frauen zu vergewaltigen, die Häuser zu plündern und schließ- lich abzubrennen? Woher kommt diese immense Angriffswut, die ra- sende Tötungsbereitschaft? Häufigste Antworten: Achsel- zucken, verdrossenes Schweigen, hämisches Grinsen. Ein deutscher Söldner, der für 350 Mark im Mo- nat mordete, erklärte, dass ihm die Kinder des Krieges Leid täten – ge- schossen hat er dennoch unter- schiedslos auf alles, was sich be- wegte, Frauen und Kinder waren auch dabei. „Ich hatte den Befehl, zu verge- waltigen und zu töten, wie die anderen auch. Wenn ich es nicht getan hätte, wäre ich selbst dran gewesen“, erklärte ein junger Ser- be. „Mein Vorgesetzter hätte mich kaltgemacht.“ Morden und Ver- nichten auf Befehl, morden schließlich im Kollektiv, weil es alle machen, weil man sich daran gewöhnt hat, weil es schließlich sogar Spaß macht? Schä- fers Menschenbild änderte sich dramatisch. „Vielleicht laufen wir in Wirklichkeit alle als Tiere durch die Welt, und die Zivili- sation ist nichts weiter als eine dünne Lackschicht über latenter Zerstörungsbe- reitschaft.“ Rund 30-mal war Schäfer im Krieg. Spä- ter verkaufte er etliche seiner Bilder und machte auch Filmbeiträge, unter anderem für das Fernsehmagazin „Zak“. Mit Hilfe und Geldern verschiedener Einrichtungen organisierte er eine Ausstellung von 40 Fo- tos, die sehr erfolgreich in Sarajevo, Tuzla und Oberhausen gezeigt wurde. Dann, nach sechs Jahren, war plötz- lich Schluss, Schäfer brauchte Abstand vom Krieg, Zeit, sich psychisch zu erholen. Es fiel ihm zunächst schwer, an sein frü- heres Leben anzuknüpfen, dafür hatte er zu viel Grauen erlebt und zu viele Men- schen sterben sehen und auch zu oft den eigenen Tod vor Augen gehabt. Schäfer spricht von einem „Bruch in sei- ner Psyche“, einer Art Traumatisierung. Wer soll das nachvollziehen von denen da- heim? Ist es nicht zwecklos, darüber zu re- den? Er erzählt trotzdem von seinen Er- lebnissen und erfährt mehr Anteilnahme als erwartet. Er beginnt mit der Arbeit an seiner Fotodatenbank, plant weitere Aus- stellungen, sucht nach einem kompeten- ten Friedensmuseum. Irgendwann, da ist er sicher, wird er ins befriedete Sarajevo fahren, um Freunde zu besuchen. Aber bis jetzt ist er noch nicht so weit. Immerhin: Seine Bilder werden inzwi- schen vom Den Haager Kriegsverbrecher- tribunal zur Identifizierung von Tätern an- gefordert. Die Verurteilung von Verbrechern kann, denkt er, zwar nichts ungeschehen machen, mindert aber vielleicht die kollek- tive moralische Verstörung, die Krieg immer verursacht. Angela Gatterburg

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Werbeseite Szene Gesellschaft

MODE Berliner Maschen as Rasseln der großmütterli- Dchen Strickmaschine wurde für Frieda von Wild, 37, zu einem traumatischen Erlebnis: „Immer wenn Musik schön wurde oder ein Gespräch spannend, fuhr dieses Ritschratsch mitten hinein.“ Spä- ter wurde aus der Hassliebe zur

M. WITT „Knittax“ Freundschaft: „Stoff Zitti-Hopper Schenkel selbst herzustellen macht beses- sen“, erzählt die Berliner Mode- VERKEHR macherin. Wilds Pullover, Kleider und Hosenanzüge werden in Form Chauffeur mit Mokick gestrickt, und was man tun muss, dass sie ihre Form auch bewahren, er die Wahl hat, hat die Qual, be- lernte sie von der Strick-Designerin Wsonders wenn es darum geht, ob Claudia Skoda. „Extrem geeignet man nach der Party mit dem eigenen für die schnelllebige Großstadt“, Auto nach Haus fährt – und dabei ris- lobte eine Stammkundin die (an kiert, ohne Führerschein aufzuwachen – einer leisen, modernen Strickma- oder ob man ein Taxi bestellt und dann schine angefertigten) Kreationen: allerdings ohne sein Auto aufwacht. Das „Man muss bloß die Schuhe wech- eine ist fatal, das andere lästig. In Ham- seln und ist nicht mehr bloß gut, burg müssen sich Feiernde mit diesem sondern elegant gekleidet.“ Seit Gewissenskonflikt nicht mehr herum- Friedas Mutter, die Ost-Berliner Fo- schlagen: Die Zitti-Hoppers bringen tografin Sibylle Bergemann, die Auto und haltlosen Halter heim. Faltba- Mode der Tochter fotografiert, hält re motorisierte Zweiräder – genannt die Produktion mit der Nachfrage Mokick –, die sich bequem im Koffer- nicht mehr Schritt. Für Sibylle Ber- raum verstauen lassen, machen den Ser- gemann völlig logisch: „Was sonst,

vice möglich. Am Ende der Dienstfahrt bitte, soll man denn anziehen?“ S. BERGEMANN / OSTKREUZ brettert der Hopper auf seinem Spezial- gefährt zum nächsten angetrunkenen Kunden. Mit acht Mokicks können die fünf Hamburger Chauffeure den Bedarf noch nicht decken, die nächste Liefe- rung der italienischen Fahrzeuge wird dringend erwartet. Hopper Randolf Schenkel, 35, setzt auf die Zukunft des Kundendiensts: „Die Leute haben eines begriffen: Es tut dem dicken Kopf gut“, Model mit gestricktem Hosenanzug am nächsten Morgen „nicht auch noch Modeschöpferin Wild

sein Auto suchen zu müssen“. A. HAUSCHILD / OSTKREUZ

HAUPTSTADT einen Wilmersdorfer Strahlenschutzbunker geladen, um dort bei klammer Kälte und wässriger Suppe 25 Stunden in drei- Annäherung im Schummerlicht stöckigen Eisenbetten auszuharren. Ausgedacht haben sich die Aktion die Ausstellungsmacher der Multimediaschau „Story of u ungewöhnlichen Maßnahmen treibt die Hauptstädter die Berlin“. Der dafür verantwortliche Hans Maierski, 50, hält die Zimmer noch zögerliche Verständigung zwischen Ost und „Extremsituation im Bunker absolut ideal für eine Begegnung West: Am vergangenen Samstag wurden rund 250 Berliner in zwischen Ost und West“. Sollte die kühne Behauptung sich bewahrheiten, haben Ossis und Wessis auch an den kommen- den Wochenenden Gelegenheit, im blauen Schummer der Not- lampen zueinander zu finden. Organisator Maierski ist guten Mutes: „Das ist die richtige Methode, endlich die Mauer in den Köpfen einzureißen, dabei können lebenslange Beziehun-

OSTKREUZ gen entstehen.“

Bunkerraum mit Gasmasken 157 Gesellschaft

A. HASSENSTEIN / BONGARTS Marathonläufer Fischer in New York: „Bleib locker, Alter, du hast dich doch optimal vorbereitet“

KÖRPERKULT Wer läuft, schwitzt

Joschka Fischer hat den New-York-Marathon hinter sich gebracht und in einem Buch beschrieben, wie er sich darauf vorbereitete und wie es sich lebt als schreibender Läufer und laufender Außenminister und dünner Mensch. Von Alexander Osang

weiundvierzig Kilometer sind zwei- Häuser, die vielen Zuschauer, er wisse Es ist der Abend vor dem New-York- undvierzig Kilometer. Auch so eine schon. Seine Antwort lautet: „Zweiund- Marathon. Der zweite Marathon seiner ZWahrheit. Sie segelt sanft wie ein vierzig Kilometer sind zweiundvierzig Ki- Karriere. chinesischer Papierdrachen durch die Lob- lometer.“ Vor einer Stunde ist er durch den Cen- by des UN Plaza Hotels in Manhattan, wo Das stimmt natürlich. tral Park gelaufen. Eine Art Abschlusstrai- ein paar Sessel und Sofas zwischen moos- Es ist wohl nicht spöttisch gemeint, auch ning.Wie es war? „Ganz locker“, murmelt grünem Marmor und verwirrenden Spie- nicht bockig oder ärgerlich, nein, Joschka Fischer, der jetzt beinahe waagerecht liegt, gelflächen verteilt sind. In einem Sessel Fischer lächelt. Er lächelt, als stecke in die- sein Blick ist weit weg. Vielleicht auf der sitzt der deutsche Außenminister. Er liegt ser Auskunft alle Weisheit der Erde. Er Strecke. „Locker. Keine Anstrengung mehr mehr, als er sitzt. So sehr liegt er, dass er lächelt gelassen, entrückt irgendwie, aber jetzt. Locker.“ Die letzten Worte sind sich jetzt in einem der Deckenspiegel be- souverän. Ein Moment lang herrscht Ruhe. kaum noch zu verstehen. Man muss be- obachten könnte. Er würde dort einen Gelegenheit, den Zweiundvierzigkilome- fürchten, dass der deutsche Außenminister schlanken, irgendwie biegsamen Mann mit tersatz nach seinem tieferen Sinn zu durch- gleich in seinem flauschigen, grauen Drei- grauen Haaren und großen Ohren sehen, forsten. teiler verschwinden wird, so entspannt der zu meditieren scheint. Die Frage war, Es muss doch einen Sinn geben. Der wirkt er. Der Sprecher des Auswärtigen ob der New-York-Marathon für ihn etwas Mann ist Außenminister, und das hier ist Amts hatte angekündigt, dass sich sein Besonderes sei. Der Mythos, die hohen das UN Plaza Hotel im Herzen der Welt. Chef bereits in der mentalen Vorbereitung

158 der spiegel 46/1999 Joschka Fischer wird munterer. Sein Blick klärt sich. Er erzählt, wie er Sicher- heitsbeamte in aller Welt abgehängt hat. Sein Sprecher lächelt. „Die haben das alle unterschätzt“, sagt Fischer. „Das war für einige sehr bitter.“ „Aber sie lernen dazu“, sagt sein Spre- cher. „Die Franzosen lernen. Sie haben jetzt einen Läufer geschickt.“ „Die Österreicher auch“, sagt Fischer und schaut zu den bulligen Security-Leu- ten am anderen Ende der Lobby. „Die Amis sind nicht dafür gebaut. Das sind keine Läufertypen. Die können viel- leicht ’ne Kneipe leer räumen. Ist ja auch nicht schlecht“, sagt er. Konfuzius ist jetzt John Wayne. „In der Halle ist niemand, der nicht meinetwegen hier ist.“ Der deutsche Außenminister gibt an. Er dreht auf wie ein Junge. Nicht zufällig ist er auf dem Schutzumschlag seines Buches mit kurzen Hosen zu sehen. Er spreizt die

AP Beine und lacht. Er ist stolz, dass er so viel Außenminister Fischer, Albright in Washington: „Die Amis sind keine Läufertypen“ abgenommen hat, so schnell und so lange laufen kann. Er weiß, dass die anderen nei- befinde. Womöglich kann man nur noch disch sind, die Kollegen, die saufen, wäh- schwer zu ihm vordringen. Fischer gähnt. rend er läuft. Es ist gut, einen gesunden Was denkt er gerade? Außenminister zu haben, man kann stolz Joschka Fischer hat ein Buch geschrie- auf ihn sein. Und er hat eine Position, in ben, in dem steht, was er bei gewissen An- der ihn niemand mehr warnt. Seine Leute lässen denkt. Es heißt „Mein langer Lauf zu wagen nicht, ihn zu überholen. So hält er mir selbst“ (erschienen bei Kiepenheuer vieles von dem, was ihm so durch den Kopf & Witsch), und man kann dort nachlesen, fährt, für mitteilungswürdig. „Beim Laufen was ihm eine Woche vor seinem ersten Ma- passieren im Kopf bisweilen die erstaun- rathonlauf in Hamburg durch den Kopf lichsten Dinge“, sagt Joschka Fischer. ging. Fischer als schreibender Läufer ist ein „,Au weia‘, dachte ich mir, ,wenn das Glücksfall. Er zeigt, wie banal es da oben bloß gut geht.‘“ Oder: „Auf was hast du zugeht. Wie eitel. Und wie unspektakulär. dich da nur eingelassen, Fischer?“ Aber „Wer läuft, schwitzt und wird ergo auch: „Bleib locker, Alter, du hast dich nass“, schreibt Fischer. Besser kann man doch optimal vorbereitet.“ es nicht sagen. Sein Buch hätte in einen Denkt er das? „Bleib locker, Alter?“ Glückskeks gepasst. Aber Fischer ist kein Am anderen Ende der Halle klumpen Chinese, er ist deutscher Außenminister. sich acht gedrungene, kahlköpfige Männer Also macht er weiter. Man erinnert sich an um eine Sitzgruppe. Fischer schenkt sei- die ziegelsteindicken Memoiren von Hans- nem Sprecher einen lässigen Buddy-Blick. Dietrich Genscher. Lächeln, Schweigen, Wissen. Die beiden „Der Gewichtsverlust hielt weiter an, sind zusammen durch die Welt gelaufen. und ich achtete jeden Morgen sehr akku- Sie sind in Dakar gerannt, in Jerusalem, in rat auf die neuesten Ergebnisse des Wie- Paris, am Polarkreis. In Finnland begleite- gens“, schreibt er. te sie ein Marathonläufer durch die Tundra. „Fleisch, Wurst und Wein verloren an Fischer hat sich einen Pulk von Jüngern Attraktivität“, schreibt er. herangezogen, der ihn auf seinen Läufen „Nicht das Körperfett ist unser Problem, begleitet. Sie folgen ihm, sie umspülen ihn, sondern vielmehr dessen Überfluss“, sie tragen ihn voran. Auf den Fotos in sei- schreibt er. nem Buch läuft Joschka Fischer meist in „Und meine Laune war, bedingt durch der Mitte der Gruppe, kaum sichtbar vor die Anstrengungen und Entsagungen, ihr. Aber vor ihr. The Leader of the Pack. ebenfalls nicht immer von frühlingsduf- „Manche sind richtig süchtig geworden“, tender Heiterkeit“, schreibt er. sagt er stolz. Beim New-York-Marathon „Ich habe seit längerer Zeit viel zu knobelten die Sicherheitsleute darum, wer wenig Schlaf, denn der Tag hat für den ihn die ganze Strecke lang begleiten darf. deutschen Außenminister einfach nicht Darf. So sieht er das. genügend Stunden, ich fühle mich heute „Er ist eben eine starke Persönlichkeit“, bereits seit Stunden erschöpft, den Kopf sagt sein Sprecher. „Er entwickelt einen ausgelaugt, körperlich schlapp und wie

REUTERS Sog.“ durch eine Pfütze gezogen, müde und zerschlagen.“ Läufer auf der Verrazano-Narrows-Bridge Er will loyal sein, diplomatisch, und er ist „Wurst und Wein verloren an Attraktivität“ so stolz wie ein Kind. So ist ein Buch ent-

der spiegel 46/1999 159 Gesellschaft

mal wirkt seine Lesebrille eitel, manchmal wirkt sie, als schütze er sich damit vor den Intellektuellen. Wenn er seinen Erfolg be- schreibt, steht das Wort Erfolg manchmal zwischen Anführungszeichen, manchmal verzichtet er darauf. Oft redet er von sich in der dritten Person, nennt sich Fischer, aber auch Außenminister, wenig später empfiehlt er: „Brustwarzen mit Pflaster abkleben, Achseln, Schritt und Füße mit Vaseline eincremen.“ Fischer pendelt zwischen Nähe und Di- stanz, zwischen früher und heute, zwischen dem Hammer bei Kilometer 30 und der Krise in Tschetschenien. Er sitzt im UN Plaza, bewacht von acht amerikanischen Sicherheitsleuten, und beschreibt Alters- plattfuß und den „starken Flüssigkeitsver- lust im Schritt“. Er betrachte Jörg Haider, der auch läuft, nicht als Konkurrenten, sagt Fischer. „Ein Österreicher ist ein Österrei- cher“, sagt er.Was immer das heißen mag. Das Laufen sei nicht so wichtig, sagt er, und bauscht es drei Minuten später wieder auf. Und manchmal verknüpft er es mit der Politik. „Der Fischer-Plan ist mir an einem Frei- tag beim Laufen am Rhein eingefallen“,

A. HASSENSTEIN / BONGARTS A. HASSENSTEIN sagt er. „Ich hatte schwere Beine. Als ich Läufer Fischer, Ehefrau Nicola*: „Der Tag hat nicht genügend Stunden“ zurückkam, habe ich sofort meine Leute zusammengetrommelt.“ standen, das sich liest, als hätten es der Politiker, und er hat kürzlich von einem „Den Lafontaine-Rücktritt habe ich Nichtraucherprediger Allen Carr, Genscher Berliner Orthopäden erfahren, dass die auch beim Laufen erfahren. Kurz vor der und Konrad Kujau gemeinsam geschrie- Füße nach einem Marathonlauf eine Num- Wendemarke war der Kanzler am Appa- ben. Der Inhalt ist schnell erzählt. Erst war mer größer sind. rat.“ Er erzählt es wie ein Paparazzo, der ich dick, dann war ich dünn. Dünn ist bes- Gehört das nicht alles zusammen? sich im Spiegel erwischt. Fischer ist von ser. Wer Marius Müller-Westernhagens Er isst kein Fleisch mehr. Nur noch Fisch, seinem Leben beeindruckt. Song „Dicke“ kennt, braucht das Buch zweimal in der Woche. „Das wirkliche Geheimnis meines Er- nicht mehr. „Als wir in Tampere waren, haben mich folges war das Auswechseln und völlige „Ich habe es von der ersten bis zur letz- die Finnen nach dem französisch-britischen Neuschreiben meiner persönlichen Pro- ten Seite selbst geschrieben“, sagt Fischer Beefkrieg gefragt“, sagt Fischer. „Aber das grammdiskette“, schreibt Fischer. tapfer. „Ich denke, es wird gut gehen.“ geht mich nichts mehr an.“ Er lächelt. Aber Am Morgen des 7. November steht Das wird so sein, aber er weiß, dass es nicht so, als habe er gerade einen Witz der deutsche Außenminister unter 30000 nichts bedeutet. Ratgeberbücher gehen gut, erzählt. Läufern am Fuß der Verrazano-Narrows- Ratgeberbücher mit Prominenten vorne Die Welt ist eine Laufstrecke geworden. Bridge auf Staten Island. Es ist kalt und drauf gehen noch besser. Und Ratgeber- Sie scheint umrundbar. Der Central Park ist windig. Bürgermeister Rudolph Giuliani bücher mit Prominenten in kurzen Hosen anspruchsvoller, als man denkt, Bonn war begrüßt die Läufer zum aufregendsten Ma- gehen am besten. nicht schlecht, im Kosovo-Krieg ist er oft rathon der Welt. Sie applaudieren halb- „Ich weiß noch, wie wir nachts von nachts gelaufen, über den Berliner Tiergar- herzig, die meisten sind bei sich. Jemand deutsch-russischen Konsultationen aus ten kann er nur lachen. Da kriegt er „nicht ruft über ihre Köpfe: „Trinken Sie viel. Moskau zurückflogen“, sagt der genug Kilometer unter die Trinken Sie, sonst trocknen Sie aus.“ Es Sprecher des Auswärtigen Amts. Hufe“, und im Kreis rennen ist hätte aus Fischers Buch stammen können. „Es war halb zwei. Wir waren „Den langweilig. Er muss wohl auf die Vielleicht kann man nicht mehr übers alle hundemüde. Aber Joschka Lafontaine- Straße ausweichen. Im Augen- Laufen sagen. Fischer hat seinen Laptop raus- Rücktritt blick lebt er ja noch am Stadt- Am Abend rollt eine Limousine zwi- geholt und an dem Buch ge- habe ich kurz rand, da geht es, aber bald zieht schen zwei Autos in die Garage am Hin- schrieben.“ vor der er nach Mitte. „Sie müssen bloß tereingang des Waldorf-Astoria. Von allen Muss ein Buch, das unter sol- noch die Wohnung sicher ma- Seiten springen Sicherheitsleute heran. chen Umständen entsteht, nicht Wendemarke chen“, sagt Fischer lässig. Auch Stiernackige Burschen, keine Läufertypen. bedeutend sein? Auf dem Rück- erfahren“ so ein neuer, ungewohnter Satz Sie eskortieren einen schlanken Mann in flug von Moskau? Sind da nicht auf seinem langen Lauf zu sich einem grauen Anzug. Er ist 3:56:13 gelau- auch die fast 40 Kilo, die er verlor, irgend- selbst. Die Wohnung sicher machen. Er fen. Gerade hat sein Sprecher mit der wie von außenpolitischer Relevanz? Ges- kostet ihn aus, er probiert ihn wie seine Rennleitung telefoniert, jetzt reden sie mit tern war er bei Madeleine Albright in Wa- Anzüge und seine Gesten. Fischer läuft und Holbrooke über den Balkan. Er sieht glück- shington, morgen läuft er Marathon, und läuft zu sich selbst, aber wo ist das? lich aus. danach gibt’s ein Essen mit Richard Hol- Natürlich gibt er an, aber mitunter sieht Es ist ein langer Lauf, und Joschka Fi- brooke. Er ist der beliebteste deutsche es auch so aus, als suche er Rat. scher liegt noch im Rennen. Darum geht es. Manchmal schaut er wie Mütterchen Fi- Für einen Moment scheint er bei sich selbst * Am Ziel des Marathonlaufs in New York. scher, manchmal wie ein Feldherr, manch- zu sein. ™

160 der spiegel 46/1999 Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

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getrennten Anstalten, Volkmar Lischka im konstruktionen verleihen etwa TÜV-Prü- JUSTIZ Vollzug und Bernd Hahndorf in der Klinik, fern oder Schornsteinfegern staatliche würden fortan quasi unter einem Dach Macht, wenn sie die Bürger kontrollieren. Langer Arm Kranke und kranke Straftäter therapieren. Beim Maßregelvollzug hingegen sei die- Sachsen-Anhalt folgt mit der Ausgliede- ses Konstrukt „verfassungsrechtlich nicht rung des Psychoknastes einem „bundes- hinnehmbar“, kritisiert Verfassungsjurist des Staates weiten Trend zur Privatisierung hoheitli- Bernd Volckart, ehemaliger Richter am cher Aufgaben“, moniert Verfassungs- Oberlandesgericht Celle – auch wenn das Immer mehr Bundesländer rechtler Hans Peter Bull, ehemals Innen- Land alleiniger Besitzer der Salus-Gesell- minister in Schleswig-Holstein. Es herrsche schaft sei. Schließlich, mahnt Volckart, sei lassen ihre Gefängnisse allenthalben „das Gefühl: Privat geht alles die Zwangsbehandlung psychisch Kranker von Privatfirmen bewachen – besser und billiger“. Bei der Justiz jedoch, ein Eingriff in die Grundrechte, „der zu ein Verstoß gegen die glauben viele Fachjuristen, verstoße die den einschneidendsten gehört, die in un- Verfassung, sagen Juristen. Privatisierung gegen das Grundgesetz. serer Rechtsordnung vorkommen“. er Aushang im „NP“-Supermarkt von Uchtspringe verheißt den Be- Dwohnern des kleinen Ortes nörd- lich von Magdeburg einen etwas seltsamen Start ins Jahr 2000. Mit der Salus Service GmbH dürfen sie im Gesellschaftsraum ei- ner Einrichtung „ins neue Jahr tanzen“, die vor 105 Jahren als „Heilanstalt für Epi- leptiker und Blöde“ gegründet wurde. Der Eintritt für den Millennium-Ball: „28 Mark, inklusive Büfett“. Das Ausrichten von Silvesterpartys und Hochzeiten ist für die Salus GmbH frei- lich nur ein Nebenjob. Die landeseigene Gesellschaft betreibt vor allem Fachhos- pitäler und Heime für psychisch Kranke in Uchtspringe und Bernburg. Das Geschäft läuft gut, die Patientenzahlen steigen. Der- zeit betreuen etwa 520 Mitarbeiter rund 800 psychotische Patienten, Suchtkranke oder Epileptiker.

Nach Silvester wird die Firma neue FOTOS: B. BEHNKE Kundschaft hinzubekommen. Denn in Gefängnis in Uchtspringe (bei Magdeburg): Besser und billiger? Bernburg und Uchtspringe sitzen, bislang streng getrennt von den anderen Patienten, Dem Reiz, Bürokratie und Kosten zu Auch die Aufsichtsfunktion des Ministe- auch Sexualstraftäter. Die Bewachung ob- sparen, indem staatliche Aufgaben in pri- riums hält Volckart im Fall der Salus GmbH liegt dem Land Sachsen-Anhalt – noch. vate Hände gegeben werden, erliegt nicht für unzureichend. Denn der Aufsichtsrats- Ab dem 1. Januar, so will es die Landes- nur die hochverschuldete Landesregierung vorsitzende der GmbH, Dieter Schimanke, regierung unter Reinhard Höppner (SPD), in Magdeburg. In Mecklenburg-Vorpom- ist zugleich Staatssekretär im Sozialminis- soll der so genannte Maßregelvollzug pri- mern etwa werden zwei forensische Klini- terium. Er müsse sich also bei Abwesenheit vatisiert werden. Zuständig für die rund ken (Stralsund und Ueckermünde) von pri- seiner Ministerin – und in der Praxis – 280 Straftäter wird dann die gemeinnützi- vaten Gesellschaften unterhalten. selbst beaufsichtigen. ge Salus GmbH sein, das Land fungiert Selbst in normalen Gefängnissen enga- Salus-Geschäftsführer Volker Thesing fortan nur noch als Gesellschafter und Auf- gieren die Bundesländer immer mehr Pri- sieht in der Doppelfunktion des Staatsse- sichtsbehörde des Unternehmens, das auch vate. So werden in Hamburg und Büren kretärs dagegen die im Landesgesetz er- die 282 Beschäftigten des Vollzugs über- Abschiebeknäste von Spezialfirmen be- wünschte „enge Anbindung“ seiner Firma nimmt. Die Uchtspringer Chefs der noch wacht. Die CDU-FDP-Koalition in Hessen an das Ministerium garantiert. Nur damit will mit einer privat betriebenen Anstalt sei die umstrittene Privatisierung öffent- gar den „härtesten Strafvollzug in Deutsch- lich zu vertreten gewesen. land“ praktizieren. Der Dreh hat funktioniert. Zwar protes- Unter Juristen stößt der Trend jedoch tierten Mitarbeiter der Forensik in Ucht- zunehmend auf Widerstand. Laut Grund- springe und Bernburg zusammen mit PDS- gesetz dürfen normalerweise nur „An- Politikern wiederholt gegen die Pläne der gehörige des Öffentlichen Dienstes“ ho- Landesregierung, aus Angst um ihre Ar- heitliche Aufgaben vollziehen. Wer Men- beitsplätze. Bei der Abstimmung im Land- schen einschließt oder fesselt, muss also tag Anfang Oktober blieb aber zumindest Beamter oder staatlich Angestellter sein. auf Seiten der Sozialisten vom Protest we- Das Sozialministerium in Magdeburg nig übrig: Die meisten PDS-Abgeordneten glaubt jedoch, sich mit einem juristischen verließen mit Rücksicht auf den Tolerie- Kniff aus der Affäre gezogen zu haben. So rungspartner Höppner schlicht den Saal. tritt die Salus GmbH beim Maßregelvoll- Salus-Chef Thesing hofft, die Debatte zug offiziell als eine mit Staatsaufgaben sei damit vorerst erledigt – zumindest so Vollzugschef Lischka, Klinikchef Hahndorf „beliehene“ Gesellschaft auf, die als langer lange, „bis uns hier einer über den Zaun Kranke und Sexualtäter unter einem Dach Arm des Staates fungiert. Ähnliche Rechts- hüpft“. Hans-Jörg Vehlewald

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Gedichte, das war eine Sache; aber ein Ro- man könnte vielleicht sogar gelesen wer- den. Ich hatte schreckliche Angst, mich auf diese Weise zu entblößen. Natürlich war genau dies der Grund für den Erfolg des Buches. Es sagte offen her- aus, was viele Frauen leise vor sich hin dachten, und das führte dazu, dass es an- gestrichen wurde und von Hand zu Hand weitergereicht wurde, mehr wie ein Amu- lett als ein Buch behandelt wurde. Es wur- de geliebt, gehasst und von vielen Reak- tionären für den Verfall der westlichen Kul- tur verantwortlich gemacht. Als das Buch anfing, „ziemliches Auf- sehen“ zu erregen, wie die Fernsehjour- nalisten immer zu sagen pflegen („Sie er- innern sich bestimmt an Erica Jong – ihr erster Roman ,Angst vorm Fliegen‘ erreg- te ziemliches Aufsehen in den Siebzi- gern“), war mein erster Gedanke, dass ich lieber mit der Arbeit an meinem zweiten Roman beginnen sollte, bevor ich von dem „Aufsehen“ abgelenkt wurde. Aber die sackweise anfallende Post, die Einladun- gen zu Interviews, die Fotografen, die im Gebüsch lauerten – sie haben es buch- stäblich getan –, all das machte es mir un- möglich, irgendetwas anderes zu tun, als mich auf dieses erste Buch zu konzentrie- ren. Ich hatte diese kuriose, altmodische Vorstellung, ein Debütroman wäre genau das, ein Debüt, nicht eine ganze Karriere.

M. LAVINE / OUTLINE M. LAVINE Aber wohin ich auch ging, „Angst vorm Autorin Jong: „Sein Image zu verändern ist sehr viel schwieriger, als sich ihm zu fügen“ Fliegen“ verfolgte mich. Und das tut es heute noch. Das hat eine gewisse Ironie, denn mein STARS Ideal vom Leben einer Schriftstellerin ist das von Colette: alle Lebensabschnitte ei- ner Frau aufzeichnen; Risiken eingehen, Fatale Berühmtheit unterschiedliche Ausdrucksformen aus- probieren – vom Roman über Bühnen- Wie künstlerischer Erfolg zum Fluch werden kann. stücke bis hin zum Journalismus – und sich standhaft weigern, sich in einer einzelnen Von Erica Jong Persona einfangen zu lassen. Ich habe bislang 19 Bücher geschrieben Ihr Roman „Angst vorm Fliegen“ (1973, gerade einen ersten Gedichtband an ei- – Gedichte, Sachbücher und Belletristik –, deutsche Ausgabe 1976) machte sie welt- nen klugen Verlagslektor bei Holt, Rinehart aber wohin ich auch gehe, ich werde un- bekannt: Erica Jong, 57, lebt in New York and Winston verkauft, und er hatte darum weigerlich als die Autorin von „Angst vorm und veröffentlichte zuletzt die biografische gebeten, meinen ersten Roman zu sehen, Fliegen“ vorgestellt. Auch Menschen, die Studie „Der Teufel in Person. Henry Miller an dem ich gerade arbeitete. Er las ihn das Buch nicht gelesen haben, wissen da- und ich“ (Hoffmann und Campe Verlag). schnell, und sein Urteil lautete so: „Das von und identifizieren mich als die Erfin- ließe sich veröffentlichen, aber ich werde es derin (und Verfechterin) eines gewissen er Schriftsteller Vladimir Nabokov nicht veröffentlichen, und eines Tages wer- „Spontanficks“ – einer Phantasie von hem- soll einmal gesagt haben: „Lolita den Sie mir dafür danken.“ Stattdessen mungslosem Sex, die Isadora auf den Dist berühmt, nicht ich.“ In meinem schlug er vor: „Warum gehen Sie nicht ersten Seiten des Romans beschreibt. Die- Fall ist die Heldin, die mich fast völlig in nach Hause und schreiben einen Roman ser Ausdruck wird auf meinem Grabstein den Schatten gestellt hat, Isadora Wing, die mit der furchtlosen Frauenstimme Ihrer stehen. 1973 den „Spontanfick“ definierte. Irgend- Gedichte?“ Sicher, ich bin für die Liebe und die wann in grauer Vorzeit, ich glaube, es war Bis dahin hatte ich mich nicht einmal Wertschätzung, die meinem ersten Roman 1971, habe ich einen halbfertigen Roman gefragt, warum ich Belletristik mit der entgegengebracht werden, dankbar. Es mit dem Titel „Der Mann, der Dichter er- Stimme eines männlichen Verrückten berührt mich immer noch, wenn sich Men- mordete“ (der Nabokov viel zu viel zu ver- schrieb, eines literarischen Wahnsinnigen, schen genau daran erinnern können, wo danken hatte) aufgegeben und den Roman der loszieht, um seinen Doppelgänger um- sie waren, als sie ihn gelesen haben, und begonnen, der für mein Mündigwerden zubringen. Aber auf einmal wusste ich die wenn sie sagen, „er hat mein Leben ver- steht und der später einmal als „Angst Antwort. Ich hatte Angst, die forsche weib- ändert“, und mich bitten, Neuauflagen für vorm Fliegen“ bekannt werden sollte. liche Stimme, die ich in meinen Gedichten ihre Töchter und sogar ihre Enkeltöchter Dem Öffnen der einen Tür ging das Zu- entdeckt hatte, könnte unannehmbar sein. zu signieren. Aber wir leben im Zeitalter knallen einer anderen voraus. Ich hatte Ich hatte Angst, sie laut erklingen zu lassen. der 30-Sekunden-Soundclips; so wie ihre

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Erkennungsmelodie anfängt, so bleiben In einer Kultur, in der jeder danach giert, sie auch. berühmt zu sein, ist es seltsam, dass Ich habe überlegt, meinen Namen zu än- berühmte Menschen ihrem Status als Star dern, Romane unter einem Pseudonym zu keine dauerhafte Sicherheit abgewinnen veröffentlichen. Ich habe überlegt, den Be- können. Die Menge mag toben, aber die in- ruf zu wechseln.Aber die Wahrheit ist: Der nere Leere kann sie nicht füllen. Fluch, ich selber zu sein, ist gleichzeitig Jetzt muss ich aber aufhören, aus Angst auch der Segen, ich selber zu sein. Mein davor, den schlimmsten Fehler zu bege- Name ist berühmt, und ein berühmter hen, der den Berühmten widerfahren kann Name ist wertvoll, auch wenn er aus den – über den Ruhm zu klagen. Lieber miss- falschen Gründen berühmt ist. Man hat verstanden werden als missachtet werden. mir verlockende Geldbeträge dafür ange- Ruhm hat natürlich auch etwas Gutes, boten, für Computer, Vaginalsprays, Vita- nämlich die Türen, die er einem öffnet. mine und Atemerfrischer zu werben. Ich Berühmte Menschen haben es leicht, an- habe sie, ohne zu zögern, abgelehnt. (Da dere berühmte Menschen kennen zu ler- Schriftsteller die einzigen Menschen auf nen – und wenn sie es tun, stellen sie fest, der Welt sind, deren Hauptaufgabe es ist, dass sie zumindest eines gemeinsam ha- die Wahrheit zu sagen, finde ich, dass ben: dass sie berühmt sind. Diese Kolle- Schriftsteller niemals für irgendein Pro- gialität ist für einen Romanschriftsteller dukt werben sollten, außer für ihre eigenen von unschätzbarem Wert. Worte. Schriftstellerei ist eine Berufung Wenn ich über die Studioaufnahmen ei- und kein Gewerbe, und alles, was daraus nes Rockstars schreiben möchte, dann rufe

ein Geschäft macht, sollte streng gemie- TIME LIFE PICTURE ich den Rockstar an, der mich am meisten den werden.) Autoren Jong, Miller (1976) interessiert, und bitte darum, einer Session Sein Image zu verändern ist unendlich Ruhm öffnet die Tür zur Prominenz beiwohnen zu können. Anstatt zurückge- viel schwieriger, als sich ihm zu ergeben. wiesen zu werden, werde ich als Mitglied Diese Art von Verrücktheit, die mit Be- unsere Prominenten immer nur für so kur- des Berühmtheitsclubs willkommen ge- kanntheit dieser Größenordnung einher- ze Zeit sehen, dass allenfalls Karikaturen heißen. Und auch zu anderen berühmten geht, ist wie das Einschlagen eines Blitzes. bei uns hängen bleiben.Alles, was das Bild Schriftstellern habe ich leichteren Zugang. Es ist unwahrscheinlich, dass er zweimal komplizierter macht, verwirrt uns unwei- Wenn ich mich mit Gore Vidal über den dieselbe Person trifft. Diane von Fürsten- gerlich. Deshalb ist Greta Garbo „I want to Krieg in Jugoslawien unterhalten möchte, berg könnte für das Wickelkleid gleich be alone“, Marie Antoinette ist „Lasst sie rufe ich ihn an. Wenn ich die Cinecittà in zweimal berühmt werden, aber die von ihr Kuchen essen“. Und ich bin Erica „Spon- Rom besuchen möchte, kann ich Roberto entworfenen Halstücher und Gepäckstücke tanfick“ Jong. Benigni anrufen und weiß, dass sein ita- haben sich nie so richtig durchgesetzt. Sind Menschen, die vor ihrem Bild in lienischer Prominentenclub mich willkom- Ruhm ist äußerst vorsichtig. Er ist der Öffentlichkeit kapitulieren, glückli- men heißen wird, weil meine Bücher in zwanghaft besessen von Wiederholungen. cher als diejenigen, die dagegen ankämp- Italien beliebt sind. Schauen Sie nur, was passiert, wenn sich fen? Tom Wolfe scheint seinen weißen Ein Ergebnis meiner langen Bekannt- Schauspieler weigern, sich auf eine be- Anzug mit Gelassenheit zu tragen – und schaft mit dem Ruhm ist, dass ich inzwi- stimmte Rolle festlegen zu lassen. Oft be- vergisst dabei immer zu erwähnen, dass schen diejenigen bewundere, die es vorzie- kommen sie keine Arbeit. Es ist schwie- ihn Mark Twain schon vor ihm getragen hen, anonym zu bleiben. Während meiner rig für den Bösewicht, ein romantischer hat. Sowohl Wolfe als auch Twain waren Amtszeit als Vorsitzende des Schriftsteller- Held zu werden. Tom Berenger wird schlau genug zu wissen, dass Kleider zwar verbands Author’s Guild hat ein sehr be- niemals mit Tom Cruise die Plätze tau- keine Leute machen, aber sie machen es rühmter Schriftsteller Millionen gespendet. schen. Goldie Hawn wird man niemals die einem leichter, jemanden wiederzuerken- Für ihn hatte Wohltätigkeit nur dann Rollen anbieten, die Meryl Streep be- nen. Wolfe lässt zu, dass man ihm ein eine Bedeutung, wenn sie anonym statt- kommt. Markenzeichen verpasst. Er scheint sich fand. Er würde nie wollen, dass sein Name Dieser tiefsitzende Konservatismus des sogar darüber zu amüsieren. Ich bewun- ein Krankenhaus oder eine Schule ziert. Es zeitgenössischen Ruhms kommt aus unse- dere die Art, wie er sich mit seinem Ruhm reichte ihm, dass er und Gott wussten, dass ren visuell orientierten Medien.Wir dürfen abgefunden hat. er großzügig war. Die Selbstachtung, die eine sol- nennen wir ihn einmal Humbert che Einstellung erkennen lässt, ist – hatte mir wiederholt geschrie- bedauerlicherweise rar. In einer ben und mich gebeten, bei einer beständigen Welt, in der sich die Versammlung seines Vereins für Werte nicht von einem Jahrzehnt „gut ausgestattete“ Männer als zum nächsten drastisch verän- Herrin der Messlatte anzutreten. derten, wäre es möglich, Einzelne Ich habe ihm nie geantwortet. zu finden, die selbstbewusst ge- Aber eines Tages bat mich Regis nug sind, um anonym zu schen- Philbin in seiner Morgenshow in ken und sich dadurch selber ge- Los Angeles, von meiner witzigs- stärkt zu fühlen. Die Welt des ten Fanpost zu erzählen. Ich er- Ruhms, in der wir heute leben, wähnte die wiederholten Einla- ist eine Welt der Flüchtigkeit, in dungen der „Latten-Jury“. Die der sich jeder fragt, wer „in“ ist Leute fanden es amüsant, aber und wer nicht, und keiner weiß, ich vermute, viele dachten, ich wann sich die Regeln vielleicht hätte das Ganze nur erfunden. plötzlich ändern werden. Die Als ich das Studio verließ, Jagd hat alle anderen Metaphern stand ich plötzlich Humbert per- für das Leben ersetzt. Erschöpft sönlich gegenüber, der in der von dieser Hatz, wenden wir uns Nähe meiner Limousine lauerte. nach innen und suchen unsere Er kam auf mich zugestürzt und Seelen. Und wir stellen fest, dass dankte mir dafür, dass ich seinen

wir sie verschenkt haben, an die FOCUSG. COHEN / NETWORK AGENTUR „Verein“ bekannt gemacht hat- flimmernden Bilder auf unseren Erica Jong, Tochter Molly: „Wir suchen unsere Seelen“ te. Und dann verfolgte er mich Mattscheiben und Leinwänden. für den Rest des Tages, von einer Woody Allens Film „Celebrity“ (Ruhm) Anfangs protestierte ich. Dann, als ich Veranstaltung zur nächsten – und lunger- handelt von der Verzweiflung, die un- erkannte, dass es sinnlos war, versuchte te in meinem Schatten herum. Er glaubte sere Anbetung des Berühmten erzeugt. ich, selber meine Heldin zu werden. Die anscheinend, jede Reklame sei gute Re- Der glücklose, Woody-ähnliche Journalist Maske passte mir nicht. Jeder Bildredak- klame. Ich glaube das nicht mehr. Kenneth Branagh verbringt den ganzen teur, der vor der Wahl stand, ein Bild zu Ich habe gelernt, dass Sex für so viele Film damit, nach verschiedenen Arten nehmen, auf dem ich mir den Reißver- Menschen ein solch vertracktes und sie von Ruhm zu streben, und am Ende sei- schluss der Jeans zuzog, oder eines, auf verkrampfendes Thema ist, dass jeder, der ner Abenteuer findet er sich noch ver- dem ich an meinem Schreibtisch saß und mit diesem Thema identifiziert wird, damit wirrter und verängstigter denn je wie- schrieb, entschied sich für den Reißver- rechnen muss, ihre seltsamsten Phantasien der. Er blickt hinauf, als suchte er Gott, schluss. Und das Bild triumphierte über zu schüren. Ich bin so weit, dass ich mich und entdeckt in den Fetzen der Him- die Wahrheit; eine Romanfigur ist lan- anderen Dingen zuwenden möchte. melsschrift das Wort „Help“. Das Bild ge nicht so vielschichtig wie ein echter Ich gebe meine Fackel gern an Nicole ist so doppeldeutig wie gehaltvoll: Der Mensch. Ich bereute es, an meinem eige- Kidman in ihrem „Blue Room“ weiter (und Mensch blickt Hilfe suchend zum Him- nen Verrat selber mitgewirkt zu haben. nun wieder hüllenlos in „Eyes Wide Shut“) mel und findet Gott, der ebenfalls um Erlebnisse wie dieses machten mich vor- oder an Natasha Richardson in „Closer“. Hilfe ruft. sichtig. Ich hörte auf, Briefe zu beantworten. Die Leinwand sein, auf die die Phantasien Als ich in meinen Zwanzigern die Idee Ich ließ mir eine geheime Telefonnummer der Welt projiziert werden, ist eine harte zu Isadora Wing hatte, war sie nicht ein geben. Aber wie hartnäckig Menschen sein Aufgabe. Unschuldige Nacktheit ist den Ich, sondern ein Gegen-Ich. Sie war eben- können, die darauf hoffen, durch den Kon- übel riechenden Hirngespinsten dieser so dreist und unverschämt, wie ich selbst takt zu einem selbst bekannt zu werden, Welt nicht gewachsen. Lolita hat dieselbe Angst hatte zu sein. Sie tat all die Dinge, lernte ich erst, als ich einem meiner geris- Lektion gelernt. Vielleicht ist das der von denen ich meist nur träumte. Als die- sensten Fans persönlich in die Falle ging – Grund, weshalb sie nie erwachsen wurde. ses Gegen-Ich zum ersten Mal mit mir sel- einem Mann, der behauptete, der Vor- ber verwechselt wurde, war niemand so standsvorsitzende eines „Vereins“ namens © Erica Mann Jong 1999. Aus dem Amerikanischen von überrascht wie ich selber. „Die Latten-Jury“ zu sein. Dieser Herr – Daniel Bullinger. Werbeseite

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Werbeseite SPIEGEL-Serie über Wende und Ende des SED-Staates (8) Die Woche vom 12. 11. 1989 bis zum 18. 11. 1989 »Ich liebe doch alle« „Die Mauer hat ein Loch, aber weg muss sie doch!“, ruft das Volk. Unterdessen versucht Hans Modrow, den SED-Staat zu retten – mit einer Koalitionsregierung, die zur Hälfte aus alten Stasi-Mitarbeitern besteht. P. GLASER P. Erich Mielke am 13. November 1989 vor der Volkskammer in Ost-Berlin

der spiegel 46/1999 177 100 TAGE IM HERBST: »ICH LIEBE DOCH ALLE«

CHRONIK »Stasi in die Produktion« Schürer, werde schon bald der Internatio- wegs verzichten; die bis 1999 zu er- Sonntag, 12. November 1989 nale Währungsfonds bestimmen, „was in wartenden Transit-Einnahmen gedachten sie der DDR zu geschehen hat“; dann drohe dem Kreditgeber als Sicherheit anzubieten. Wandlitz der Zwang zur „Reprivatisierung von Un- Schürer drängte die Politbüro-Genossen Gerhard Schürer, 68, ist ratlos. 24 Jahre ternehmen“ und der „Verzicht des Staates, noch unmittelbar vor der unfreiwilligen lang hat der gelernte Maschinenschlosser in die Wirtschaft einzugreifen“. Maueröffnung zur Eile. „Jetzt vielleicht“ aus Zwickau als Chefplaner der DDR die Schürers Fazit: „Es ist notwendig, alles könne die DDR „für solche Ideen noch öko- Wirtschaft der Republik gesteuert, und sel- zu tun, damit dieser Weg vermieden wird.“ nomisches Entgegenkommen der BRD er- ten hat ihn der Glaube an die Überlebens- Von Moskau ist kaum Hilfe zu erwarten. reichen“. Doch „wenn die Forderungen erst fähigkeit des Sozialismus verlassen. Der Planungschef und seine Mitautoren, von der Straße oder gar aus Betrieben ge- Doch seit zwei Tagen ist dem Vorsitzen- darunter Devisenbeschaffer Alexander stellt werden, wäre uns die Möglichkeit einer den der Staatlichen Plankommission klar, Schalck-Golodkowski, schlugen daher vor, Initiative wieder aus der Hand genommen“. Der Mauerfall jedoch hat die letzte Chance zur Sanierung der DDR-Wirtschaft zerschlagen. Schürer muss erkennen, dass sein Plan nur noch Makulatur ist: „Die po- litischen Ergebnisse haben die Aussagen der ökonomischen Analyse und ihre Schluss- folgerungen in wenigen Tagen überholt.“

Montag, 13. November 1989 West-Berlin Die Aids-Hilfe rückt zum Sondereinsatz vor West-Berliner Schwulenkneipen aus. Ehrenamtliche verteilen rosa Flugblätter,

P. GLASER P. um die DDR-Bürger in Bleichjeans und DDR-Chefplaner Schürer, Entwurf für Hightech-„Mauer 2000“: Über Nacht Makulatur Billigturnschuhen über die Gefahren un- geregelten Grenzverkehrs zu informieren: dass seine Republik unweigerlich am Ende der Bundesrepublik zu offerieren, „noch in „Ihr werdet hier viel Positives erleben, aber ist. Unter strengster Geheimhaltung hatte diesem Jahrhundert ... die heute existie- auch vielen Positiven begegnen.“ Schürer in den letzten Wochen einen Plan rende Form der Grenze zwischen beiden Überall in West-Berlin – wie auch in entwickelt, der vorsah, die Berliner Mau- deutschen Staaten überflüssig zu machen“. Hamburg und Hof, in Kassel und Bayreuth er gleichsam an Bonn zu verkaufen, für Durch das bisherige Grenzregime, das – belegen Trabis Parkplätze und Gehwege, teures Geld; das sollte dazu dienen, die seit 1949 weit über 900 Todesopfer gefor- drängen Tagesbesucher in Kaufhäuser und marode DDR-Wirtschaft zu sanieren und dert hat, ist die DDR seit langem interna- Supermärkte. Für Ostdeutsche gibt’s Frei- die Auslandsverschuldung abzubauen. tional in Verruf geraten. Daher hatte Ost- bier; Wurst-Maxe und Kebab-Schnitzler ge- Nun ist die Mauer, durch Schabowskis Berlin in aller Stille Pläne für eine Art währen Nachlass. Und mancher großzügi- Ungeschick, über Nacht gefallen – und die Hightech-„Mauer 2000“ entwickelt – mit ge Geschäftsmann nimmt die Aluminium- Verhandlungsmasse perdu. Klar wie kaum Infrarotmeldern und Schallsensoren statt Mark der DDR zum Kurs 1:1 herein. jemand sieht Schürer die Konsequenzen: Minen und Stacheldraht; Blaupausen la- Die alte Hauptstadt hat sich, wenige Tage gen bereits in der Schublade. nach der Maueröffnung, mit atemrauben- Die Maueröffnung, so, wie sie vorgenom- Als Gegenleistung für eine Entschärfung dem Tempo auf die neue Ära eingestellt. men worden ist, ohne jede Gegenleistung, der Grenze erhofften sich die Planer Bon- Stadtplaner projektieren neue Verkehrs- hat es der DDR unmöglich gemacht, als ner Milliardenkredite. Bei der Bemessung wege, BVG-Busse steuern Ziele jenseits der Staat weiter zu existieren. der Höhe müsse die Bundesregierung Grenze an. West- und Ost-Uniformierte berücksichtigen, „dass unserem Land in schirmen Arm in Arm neu geöffnete Grenz- Ende Oktober hatte der Planungschef der Zeit der offenen Staatsgrenze laut Ein- übergänge gegen die herandrängenden das Politbüro in einer 24-seitigen Vorlage schätzung eines Wirtschaftsinstitutes der Massen feierwütiger Menschen ab. auf die „unmittelbar bevorstehende Zah- BRD ein Schaden von ca. 100 Milliarden Nach 41 Jahren nehmen die Polizeichefs lungsunfähigkeit“ der DDR hingewiesen – Mark entstanden ist“. der beiden Stadthälften wieder Kontakt und ein abscheuliches Schreckgespenst be- An einen völligen Verzicht auf die Gren- miteinander auf – über zwei schwarze schworen: Erzkapitalistische Kontrolleure ze oder gar an eine Wiedervereinigung ha- Bakelit-Feldtelefone aus der Zeit des Zwei- könnten das Kommando über die kommu- ben Schürer und seine Mitautoren freilich ten Weltkrieges. Westpräsident Georg nistische Wirtschaft übernehmen.Wenn es nicht gedacht. Auch auf die von Bonn ge- Schertz frohlockt, jetzt gebe es „polizeilich nicht gelinge, die Pleite abzuwenden, so zahlte Transitpauschale wollten sie keines- wieder ein Berlin, eine gesamte Stadt“.

178 der spiegel 46/1999 ORBAN / CORBIS SYGMA ORBAN Montagsdemonstranten in Leipzig „Die Berliner haben’s gut“

Die Wut der Leipziger auf die privile- gierten Hauptstädter ist durch die Mau- eröffnung noch angefacht worden. An ei- nen Baum hat jemand Handgeschriebenes gepinnt: „Die Berliner haben’s gut – die haben erreicht, was sie wollten.Aber unser Leipzig ist immer noch kaputt!“ Die Heldenstadt wird so schnell keine Ruhe geben. Ost-Berlin Erich Mielke, 81, ist ein kranker Mann. Der Geheimdienstchef leidet – wie in den kom- menden Monaten diverse ärztliche Gut- achten bestätigen werden – unter „Ver- wirrtheitszuständen“, „allgemeiner Ge- fäßverkalkung“ und „seniler Demenz (Al- tersschwachsinn)“. Dennoch drängt es ihn an diesem Tag, vor der Volkskammer die erste Rede seiner 31-jährigen Parlamentskarriere zu halten. Als er die Abgeordneten „liebe Genossen“ tituliert, protestieren Mitglieder der Block- parteien: „Wir sind keine Genossen.“ Weil die Debatte live übertragen wird, verfolgen Millionen von Fernsehzuschau- ern, wie der einst gefürchtete Stasi-Chef ein

A. NOGUES / CORBIS SYGMA sonderbares Geständnis in die Mikrofone Mauerabriss für neuen Grenzübergang: „Ihr werdet hier viel Positives erleben“ stottert: „Ich liebe, ich liebe doch alle. Ich liebe doch, ich setze mich doch dafür ein...“ Hier und da macht sich aber auch schon Grotesk auch die Abschiedsrede des Par- Unmut breit. Wessis rümpfen die Nase Leipzig lamentspräsidenten Horst Sindermann, 74, über stinkende Trabis. Viele schimpfen Der schwarze Sarg, den vier Männer über der wochenlang eine Sondersitzung der über Besucher aus dem Osten, die sich den Leipziger Ring schleppen, trägt die Volkskammer hinausgezögert hat, um sei- doppeltes Begrüßungsgeld erschleichen, Aufschrift „Machtanspruch der SED“. nen Kopf zu retten. Nun stammelt er, ihm indem sie – erst der Vater, dann die Mut- Trotz bitterer Kälte und beißendem sei zumute, „als rutschten 40 Jahre Sozia- ter – ihre Kinder in den Auszahlungsstellen Smog sind eine viertel Million Menschen lismus plötzlich unter unseren Füßen weg“. gleich zweimal präsentieren. zur Montagsdemonstration gekommen, um Peinlich schließlich der Rücktritt von Während sich der erste Jubel über die zu zeigen: Sie erwarten von den Regie- Willi Stoph, 75, der 22 Jahre lang Minis- Maueröffnung allmählich legt, bekommt renden mehr als nur offene Grenzen und terpräsident war. Jetzt leugnet er jede Mit- West-Berlins Bürgermeister Walter Mom- öffentliche Selbstkritik. verantwortung für die ökonomische Mise- per einen Vorgeschmack von den „sozialen „Deutschland, einig Vaterland“ – die re: „Bekanntlich“ seien seine Kompeten- Spannungen“, die über Deutschland her- Zeile, derentwegen die DDR-Hymne seit zen „wesentlich eingeschränkt“ gewesen. aufziehen werden. 1974 nicht mehr gesungen werden darf, und dessen Wirtschafts- Die „gängige“ Reaktion im Westen zum prangt nun in schwarz-rot-goldenen Let- lenker Günter Mittag, verteidigt sich Thema Ost-Hilfe, sagt der Sozialdemo- tern auf einem weißen Transparent.Auf ei- Stoph, hätten nicht nur Volkskammer und krat, sei die Frage: „Wer gibt mir denn nem anderen Tuch ist zu lesen: „Die Mau- Ministerrat regelmäßig hintergangen, son- was?“ er hat ein Loch, aber weg muss sie doch!“ dern auch alle Parteigremien. Eigenmäch-

der spiegel 46/1999 179 100 TAGE IM HERBST: »ICH LIEBE DOCH ALLE« tig habe das Duo Investitionen beschlos- bensgefährlicher Stoß, hoffentlich nicht der sen, „die wir nachträglich erfahren haben Todesstoß, versetzt!“ und nachträglich in den Plan hineinbrin- Die Herren der Finsternis, deren mäch- gen mussten“. tigste Waffe die Furcht ist, die sie ihren Un- Im Plenum kommt Unruhe auf. Auf Lug tertanen einflößen, sehen sich durch das und Trug aufgebaut, so erfahren die Ab- „makabre Schauspiel“ gleichsam entwaff- geordneten, waren auch die angeblich stets net – „der Lächerlichkeit preisgegeben“, ausgeglichenen Etats: Finanzminister Ernst wie sich auch die Erfurter Bezirksstelle Höfner bekennt, er habe „nicht deut- schriftlich bei Modrow beschwert. lich gemacht, dass dieser Ausgleich zum Teil Die Geheimen sind schon seit Wochen auf der Aufnahme von Krediten beruht“. demoralisiert. In einem Papier („Persön- Die Inlandsverschuldung belaufe sich, lich!“) vom 13. November über die Bewa- erklärt Höfner, mittlerweile auf 130 Milli- chung der Bonzensiedlung in Wandlitz und arden Mark (siehe Analyse Seite 198). Die diverser Regierungsgebäude beklagt der Lei- Höhe der horrenden Auslandsschulden be- ter der Stasi-Hauptabteilung Personen- handelt die Regierung noch immer als Ge- schutz, „dass die Einsatzbereitschaft der ein- heimsache. gesetzten Sicherungskräfte in psychologi- In den Betrieben und Produktionsge- scher Hinsicht eingeschränkt ist“: Die Tsche-

nossenschaften der DDR verfolgen ganze PHOTO JÜRGENS OST + EUROPA kisten zeigten „Anzeichen von Angst“. Belegschaften die Übertragung der Debat- Neuer Regierungschef Modrow Zunehmend aggressiv sind die Be- te. Mit jeder Minute wachsen „Bestürzung Dreifache Quadratur des Kreises schimpfungen, denen sich Stasi-Leute etwa und Fassungslosigkeit über das Ausmaß der in Leipzig Tag für Tag ausgesetzt sehen: „Pa- Lügen und des Volksbetruges“, wie die ZK- Und vor allem: Modrow soll das staatli- rasiten, faules Pack, Volksverräter, ihr seid Abteilung „Parteiorgane“ in einem inter- che Bespitzeln beenden – obwohl sein Ka- das Letzte.“ Doch auch in Kleinstädten nen Bericht über die „Stimmung in der binett, wie Historiker in den neunziger Jah- schallen ihnen, wie die Berliner Auswerter Bevölkerung“ festhält: „In den Parteikol- ren herausfinden werden, mit MfS-Agen- penibel auflisten, Drohungen entgegen: lektiven herrschen maßlose Enttäuschung ten durchsetzt und damit in hohem Maße „Stasi in die Produktion“ (Zeulenroda), und Verbitterung.“ durch die Stasi erpressbar ist. „Wir verdienen euer Geld“ (Schmalkalden), Der Zorn überlagert die wichtigste „Eure Tage sind gezählt“ (Bad Salzungen). Nachricht des Tages: Gegen Ende der Sit- Die Desorientierung der Elitetruppe zung beauftragt die Volkskammer, bei ei- Dienstag, 14. November 1989 reicht bis in die Parteikontrollkommission ner einzigen Gegenstimme, den Dresdner hinein, die über die Linientreue im MfS SED-Bezirkschef Hans Modrow, 61, mit der Ost-Berlin wachen soll. Die Genossen beklagen „ei- Bildung einer neuen Regierung (siehe Por- Nach Mielkes jämmerlichem Auftritt vor nen echten Vertrauensschwund nach hin- trät Seite 194). der Volkskammer setzt auf den Fluren der ten und auch nach vorn“. Der Mann mit dem Reformer-Image und Stasi-Zentrale das große Jammern ein. Einer, der auf katholische Pfarrer ange- dem guten Draht nach Moskau ist das letz- Mitarbeiter der Hauptabteilung IX (Un- setzt war, verliert die Contenance. Proto- te Aufgebot der Einheitspartei. Doch der tersuchung) formulieren einen Protestbrief, kollauszug: promovierte Wirtschaftswissenschaftler in dem sie ihrer „Bestürzung, inneren Ver- und gelernte Maschinenschlosser steht vor zweiflung und Betroffenheit“ über Mielkes Wir werden angeschwindelt und schwin- einer dreifachen Quadratur des Kreises: Rede Ausdruck geben. deln selber ... Die Regierung und Er soll freie Wahlen zulassen – jedoch Die SED-Grundorganisation der Haupt- Parteiführung hat über viele Jahre das die in weiten Teilen des Volks verhasste abteilung III (Funkaufklärung) setzt einen Volk und uns als Genossen angeschwin- SED an der Macht halten. „Offenen Brief“ auf, in dem die Genossen delt ... Wir haben die jungen Genossen Er soll die marode Wirtschaft ankurbeln über das „Trauerspiel“ in der Volkskam- schizophren erzogen... Das neue Parla- – aber gleichzeitig die Parteiherrschaft mer Klage führen: „Unserem Ministerium ment wird kein MfS mehr haben wollen. über die Produktionsmittel bewahren. wurde durch den eigenen Minister ein le- Mielke lässt sich zwar wenig später während einer Dienstbesprechung bei sei- nem Stellvertreter Rudi Mittig für „das Ge- schehen“ in der Volkskammer entschuldi- gen. Doch das trägt kaum dazu bei, im MfS Zorn und Zukunftsängste abzubauen. Ein Major notiert, was über das Gespräch nach außen dringt:

Minister gesprochen / bedauert / konnte sich nicht mehr steuern / psych. / physisch am Ende.

Zum 18. November soll Mielke in den Altersruhestand versetzt werden. Ein von seinem Vize Schwanitz unterzeichneter „Vermerk“ legt fest, dass Mielke alle „Dienstwaffen sowie Jagdwaffen, die Ei- gentum des MfS sind“, zurückzugeben hat. Eine Anlage zählt das persönliche Waf- DER SPIEGEL Jagdfreund Mielke (r.)*: Im Waffenschrank 32 Büchsen, Flinten und Maschinenpistolen * Mit Erich Honecker (2. v. r.).

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Werbeseite 100 TAGE IM HERBST: »ICH LIEBE DOCH ALLE« fenarsenal des Jagdnarren auf: insgesamt 32 treff, Diplomaten-Residenz und Agenten- ihrer größten Coups. DDR-Außenhändler Posten, darunter 23 „Repetierbüchsen“ und Residentur. Siegfried Schürer verständigte sich mit „Bockbüchsflinten“, „Bockdoppelflinten“ Inkognito sind in der Edelherberge schon zwei Vertretern des Hanauer Technologie- und „Bockdoppelbüchsen“, dazu, für alle Berühmtheiten wie der venezolanische Top- Unternehmens Leybold heimlich über ein Fälle, 7 Pistolen und 2 „Mpi 61“. Terrorist Carlos oder der Kieler CDU-Mi- illegales Embargogeschäft: Für drei Millio- Behalten darf der Armeegeneral a. D. nisterpräsident Uwe Barschel abgestiegen. nen Mark offerierten die Westler Kon- laut Protokoll lediglich seine „Dienstpis- Und immer wieder gastieren auch westliche struktionspläne für den „Plasma-Ätzer tole Sauer und Sohn, Nr. 14382, Kal 635“ Geschäftsleute in dem 540-Zimmer-Etablis- MBE 3002/3003“, ein Gerät zur Mikrochip- und eine letzte „Ehrengabe“ seines Staa- sement – nicht zuletzt wegen der Damen Fertigung; die Unterlagen hatten sie in ih- tes – einen „Generalsdolch mit Gravur“. am „Sinus“-Tresen im Tiefgeschoss, über rer Firma „zur Seite gebracht“ (Schürer- deren besondere Qualität ein Barkeeper Notiz). sagt: „Hier haben die Huren keine Uhren.“ Der größte aller denkbaren deutsch- Mittwoch, 15. November 1989 Dafür haben hier die Wände Ohren und deutschen Deals steht knapp zehn Mona- die Spiegel Augen. Mit elektronischen te später im Palasthotel an: Am 15. No- Bonn Wanzen und versteckten Kameras ist die vember ist der CDU-Politiker Walther Leis- Hinter verschlossenen Türen übt die größ- ler Kiep zu Gast – als persönlicher Send- te Bonner Regierungspartei Kritik an bote von Bundeskanzler Helmut Kohl. ihrem Kanzler, den die Maueröffnung vor Kieps Auftrag: die DDR für westliches sechs Tagen kalt erwischt hat. Kapital zu öffnen. Die CDU, warnt Bremens Landesvorsit- Diskrete Kontakte mit der SED-Spitze zender Bernd Neumann im Parteivorstand, pflegt Kohls Mann fürs Spezielle bereits dürfe „die historischen Stunden nicht vor- seit mehr als zehn Jahren. Schon 1975, lan- beigehen lassen“.Wirtschaftsexperte Mat- ge bevor der Pfälzer Kanzler wurde, reiste thias Wissmann rügt: „Wir haben die Si- der CDU-Bundesschatzmeister heimlich tuation nicht genügend mit einem politi- nach Ost-Berlin, um im Gespräch mit dem schen Konzept in den Griff bekommen.“ SED-Funktionär Herbert Häber den DDR- Die Vorstandsherren fürchten, die CDU Regenten die Sorgen vor einer möglichen könnte nach dem Fall der Mauer in den Au- Abwahl der sozialliberalen Koalition und gen der Wähler als unfähig dastehen – eben- einem Ende der von Willy Brandt einge- so wie einst, 1961, nach dem Bau der Mauer. leiteten zu nehmen. Im Bundestag reibt Sozialdemokrat Wil- Häber, Leiter der Westabteilung des ly Brandt anderntags Salz in die Wunde: Zentralkomitees, meldete seinem Gene- „Es ist unvergessen“, sagt der Ex-Kanzler ralsekretär Honecker damals, im Vorfeld und ehemalige West-Berliner Bürgermeis- von Kohls erster Kanzlerkandidatur: „Kiep ter, „wie es einen bedeutenden, auf seine sagt, die DDR würde angenehm überrascht Weise großen Bundeskanzler dieser Repu- sein, wie vernünftig eine CDU-Regierung blik, nämlich Konrad Adenauer, die Mehr- Politik machen würde.“ heit gekostet hat, dass er nicht zur ange- Wohlwollen lässt Kohl durch seinen messenen Reaktion auf die Vorgänge in bewährten Abgesandten jetzt auch der der DDR fand.“ neuen SED-Führung signalisieren. Bei

Erkennbar in Richtung Kohl lässt Außen- D. KONNERTH einem konspirativen Hotel-Treff mit Gun- minister Hans-Dietrich Genscher, der heim- Stasi-Tapetenkamera ter Rettner, dem Leiter der ZK-Abtei- liche FDP-Vorsitzende, den Satz los: „Die lung Internationale Politik und Wirtschaft, gewaltlose Revolution der Freiheit lässt kei- soll der Christdemokrat das Terrain eb- nen Raum mehr für Überheblichkeit, für nen für den am folgenden Montag an- Selbstgerechtigkeit und Trägheit derjeni- stehenden Besuch des Kanzleramtsminis- gen, die politische Verantwortung tragen.“ ters bei DDR-Premier Die geballte Kritik aus Union, Koalition Modrow. und Opposition trifft auf einen Kanzler, Die Begegnung zwischen Kiep, dem der im Sommer „in nahezu aussichtsloser smarten Bilderbuchkapitalisten, und Rett- Position und auf dem persönlichen Tief- ner, dem doktrinären Leninisten, verläuft punkt seiner Karriere angelangt“ war, wie außerordentlich harmonisch. Kiep, so das der Politikwissenschaftler Karl-Rudolf Kor- DDR-Protokoll, schwärmt über die „Re- te später die politische Szene beschreiben volution von oben und unten“ und rühmt

wird.Attackiert von innerparteilichen Geg- AUS DEM BUCH: VEB BORDELL; BERLIN VERLAG, LINKS den „radikalen Reformwillen in der politi- nern wie Heiner Geißler, Ernst Albrecht Stasi-Observationsfoto* schen Führung“ unter Krenz. und Lothar Späth, spielte Kohl, so Korte, Hotel-Überwachung in der DDR An einer Wiedervereinigung, versichert zeitweise gar „ernsthaft mit dem Gedan- „Hier haben die Huren keine Uhren“ Kiep, sei der Kohl-Regierung nicht ge- ken, seine Kanzlerschaft zu beenden“. legen – im Gegenteil. Der Protokollant Weder für Kohl-Freunde noch für Kohl- Stasi immer dabei – ob der Ständige Ver- notiert: Feinde ist absehbar, dass die Wende in der treter Bonns in einer Suite im achten Stock DDR binnen weniger Wochen auch die Gäste empfängt oder ob libysche Diplo- Die Wiedervereinigung der beiden deut- Karriere des bislang glücklosen Kanzlers maten in ihrem Zimmer Bombenattentate schen Staaten hält Leisler Kiep für unrea- wenden wird. im Westen planen. listisch; diese würde weder von der Mehr- In Appartement 8126 gelang Ost-Berlins heit der BRD-Bürger und schon gar nicht Ost-Berlin Dunkelmännern Ende Januar 1989 einer in der DDR gewünscht. Das Palasthotel gegenüber dem Berliner Dom ist alles andere als ein normales Ho- * Aus dem Bestand des Bundesbeauftragten für die Un- Vier Stunden dauert das Gespräch im tel. Es ist zugleich Bordell und Schieber- terlagen des Staatssicherheitsdienstes (BStU). Palasthotel. Im vertraulichen Plausch son-

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stalt zur Privatisierung der Volks- eigenen Betriebe – von einem In- sider umfassend über die ökono- mische Lage der DDR aufklären. Westdeutsche Unternehmer ha- ben bislang keinen Schimmer, wie desolat die ostdeutsche Wirtschaft wirklich ist. „Sie wissen nicht, wor- auf sie sich da einlassen“, resü- miert der Autor Michael Jürgs, der in seinem Buch „Die Treuhändler“ die Schlüsselszene zwischen Roh- wedder und Jugel schildert. Der Professor ist im Auftrag des Dresdner Oberbürgermeisters Wolfgang Berghofer und des Minis- terpräsidenten Modrow nach Dort- mund gereist. In der Hoesch-Zen- trale verspricht der Stahlboss dem Wissenschaftler, beim Aufbau eines Technologieparks in Dresden zu helfen. Nach weiteren Gesprächen in westdeutschen Staatskanzleien fertigt Jugel für Modrow ein Proto- koll seiner Westreise: B. KOBER / PUNCTUM B. KOBER Marode DDR-Industrieanlagen in Espenhain: „Für die Dreher Gage statt Lohn“ Es wurden erörtert Möglichkeiten der Lohnarbeit von DDR-Betrie- dieren Kiep und Rettner di- könnten mit den antiquierten ben für Hoesch sowie der Kapitalbeteili- verse neue Formen ökonomi- Apparaturen noch produzieren. gung von Hoesch in der DDR. Dr. Roh- scher Kooperation – ein gera- Nun soll West-Geld alles wedder sagte hier jede erdenkliche Unter- dezu revolutionärer Wandel in wenden. Kiep und Rettner stützung zu, falls der demokratische Pro- der deutsch-deutschen Zu- sprechen über „Joint Ventu- zess in der DDR in Richtung einer plura- sammenarbeit. res“, Gemeinschaftsunterneh- listischen, demokratischen Gesellschaft Denn bisher hat sich Ost- men, wie sie in Ungarn und in läuft ... Hoesch bietet an: Die Produktion Berlin strikt gewehrt, profit- der Sowjetunion schon mög- von 100 000 t Stahlrohrmaterial pro Jahr in gierige Kapitalisten ins Land lich sind, und über „Wirt- der DDR für Hoesch als Ausgang für die zu lassen. Die DDR, fürchtet schaftssonderzonen“. Das sind Produktion von Blattfedern und Schrau-

die SED, würde anderenfalls K. MEHNER Gebiete mit speziellen Be- benfedern für die BRD-Autoindustrie... von der westdeutschen Wirt- SED-Mann Rettner günstigungen für „ausländi- schaft verschlungen – und das sche“ Firmen. Eine „Verlagerung in die DDR“, refe- Ende der Zweistaatlichkeit wäre abzuse- Dazu zählen für Rettner, natürlich, auch riert Jugel, sei für die westdeutsche Indu- hen. die Unternehmen aus dem Westen strie „einfacher und billiger als Aufbau von Nun lockt Kiep mit Vorschlägen, wie das Deutschlands. Kapazitäten in Portugal“. längst moribunde System zu stabilisieren sei. Helmut Kohl, notiert die DDR-Seite, Ost-Berlin wolle „den politischen Rahmen für die Un- Donnerstag, 16. November 1989 Seit Tagen bereitet sich Generalleutnant ternehmen und Institutionen der BRD ab- Wolfgang Schwanitz, 59, auf ein neues Amt sichern und ihnen die Sorge für ein politi- Dortmund vor: Modrow hat dem Mielke-Stellvertre- sches Risiko abnehmen“. Detlev Karsten Rohwedder, 57, der Chef ter – und nicht dem bis dahin favorisierten, In einem Punkt sind sich Ost- und West- des Stahlkonzerns Hoesch, lässt den Besu- fünf Jahre älteren Rudi Mittig – die Aufga- Vertreter ohnehin einig: Von der Idee, cher aus Dresden anderthalb Stunden lang be angetragen, die Staatssicherheit in neu- DDR-Firmen in Formen der „Selbstorga- warten. em Gewande zu reorganisieren. nisation“ zu überführen, wie es neuerdings Um 16 Uhr ist der ostdeutsche Professor Schwanitz, seit 1951 bei der Stasi und in der Bürgerbewegung gefordert wird, hal- Albert Jugel, 40, mit dem West-Manager selbst mitverantwortlich für die Übergrif- ten beide nichts. Die Übergabe an die Be- verabredet.Als Rohwedder ihn schließlich fe am 40. Jahrestag der DDR, hat die Of- legschaften würde westdeutsche Unter- um 17.30 Uhr empfängt, sagt er gleich, er ferte akzeptiert – obwohl er „die An- nehmen abschrecken, jenes Kapital zu in- habe nur zehn Minuten Zeit. Worum es gehörigen unseres Organs in der schwie- vestieren, das gebraucht wird, um die ver- denn eigentlich gehe? rigsten Situation“ weiß, „die jemals vor ih- alteten Anlagen zu modernisieren. Unter diesen Umständen brauche er gar nen stand“. Viele Maschinen sind mindestens 40 Jah- nicht erst anzufangen, erwidert Jugel: So Die Strategie der Spitzenkader in SED re alt und praktisch schrottreif. Neue aber zwischen Tür und Angel lasse sich das Pro- und Stasi ist klar: Aus taktischen Gründen können sich die Betriebe nicht leisten, weil blem nicht erörtern. Da grinst Rohwedder sind sie bereit, das Etikett des Amtes zu er- es an Devisen fehlt. verschmitzt und bittet Jugel zu einem run- neuern. Ansonsten soll sich an der Arbeit Seine Dreher müssten eigentlich Gage den Tisch in seinem Büro. so viel wie nötig und so wenig wie möglich statt Lohn bekommen, lästerte schon der Vier Stunden lang reden der Ossi und ändern. Meister Hans-Jürgen Mielke vom VEB der Wessi miteinander. Zum ersten Mal Nicht in der Volkskammer, sondern in Schwermaschinenbau „Georgij Dimitroff“ lässt sich Rohwedder – später Präsident der der Zentralen Auswertungs- und Informa- im „Neuen Deutschland“: Nur „Künstler“ im Februar 1990 gegründeten Treuhandan- tionsgruppe des MfS wird ein vermeint-

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Werbeseite 100 TAGE IM HERBST: »ICH LIEBE DOCH ALLE« lich unverfänglicher Name für die Nach- folgebehörde erdacht: „Amt für nationale Sicherheit“, ein Titel, den der Volksmund freilich bald schon zu „Nasi“ verkürzt.Auf Stasi reimt sich auch der erste Geheimbe- fehl, den Schwanitz entwirft:

Die dienstlichen Bestimmungen und Wei- sungen des bisherigen Ministeriums für Staatssicherheit behalten im Sinne einer Übergangsregelung vorerst ihre Gültigkeit. T. SANDBERG / OSTKREUZ T. Von der neuen Regierung glauben die Mielke-Nachfolger Schwanitz Geheimen noch nicht allzu viel befürchten Nasi reimt sich auf Stasi zu müssen. Denn die Hälfte der Minister, die Modrow morgen vorstellen wird, ist in Möbis selbst wird sich zehn Jahre später den Stasi-Akten als IM erfasst. unwissend geben: „Auch heute noch bin Außerdem ist der künftige Regierungs- ich nicht in der Lage, die Triebfedern zu er- apparat von einem dichten Netz von klären, die den Wettlauf um personellen „Offizieren im besonderen Einsatz“ (OibE) Einfluss in der Modrow-Regierung aus- durchwoben: Geheimdienstler mit einer gelöst hatten.“ zweiten, zivilen Identität, die dem MfS unterstellt sind (und die, ohne es zu wissen, ihrerseits mit IM-Hilfe überwacht Freitag, 17. November 1989 werden). In der Schaltzentrale der alten wie der Ost-Berlin neuen Regierung sitzt, einer Spinne gleich, Es ist einer jener Tage in diesem Herbst, an der Chef eines geheimen Netzwerkes: denen in Betrieben und Haushalten der Staatssekretär Dr. Harry Möbis, 59, Öko- DDR von morgens bis abends die Rund- nom aus Hackpfüffel am Kyffhäuser und funkgeräte laufen. Mit Spannung erwartet Leiter des Sekretariats des Ministerrates. die Republik die Vorstellung der Regierung Der einstige MfS-Mann dirigiert seit 20 Modrow. Jahren eine republikweite „Arbeitsgruppe „Es ist eine Koalitionsregierung, die in Organisation und Inspektion“, die der gemeinsamer Diskussion entstanden ist“, Wirtschaftskontrolle dient; als OibE ist er erklärt der neue Premier vor der Volks- der Stasi-Hauptabteilung XVIII (Wirt- kammer. Modrow plädiert für eine Ver- schaft) unterstellt. Der Dresdner Modrow, tragsgemeinschaft der beiden deutschen Neuling im Berliner Regierungsgeschäft, Staaten und bittet um „einen Vertrauens- ist angewiesen auf guten Rat vorschuss“ für sein Kabinett – und guten Draht zu Kennern obwohl er, ungerührt von der des Apparates. Da bietet ein Stimmung im Lande, weiterhin Mann wie Möbis sich geradezu für seine SED die „führende an, der sich noch zehn Jahre Rolle“ beansprucht. später wundert: „Modrow Zwar stellt die Einheitspartei selbst kümmerte sich kaum um im neuen, verkleinerten Kabi- Personen.“ nett nur noch 16 von 27 Mit- Als Staatssekretär für die Re- gliedern (vorher 40 von 44). gierungszentrale ist bereits in Aber alle wichtigen Ressorts der ersten Novemberhälfte der sind unter kommunistischer Ku- vielseitige „Genosse Dr. Möbis ratel: die Ministerien für Inneres vorgesehen“ – so ein vertrauli- Stasi-Offizier Möbis und Äußeres, für Verteidigung, ches Stasi-Dossier mit dem sper- Kultur, Finanzen und Jugend, rigen Titel „Information über Vorstellun- die Plankommission und die Stasi-Nach- gen zur Struktur und ersten personellen folgebehörde, deren Chef Schwanitz Minis- Besetzungen der durch die Volkskammer terrang bekleidet. der DDR zu berufenden Regierung der Insgesamt elf der neuen Kabinettsmit- DDR“. glieder entstammen den so genannten Hat die Stasi ihren OibE Möbis genutzt, Blockparteien (vier der LDPD, drei der um das Modrow-Kabinett mit Einfluss- CDU, zwei der NDPD und der Bauern- agenten zu durchsetzen? partei). Doch das besagt nicht viel: Sieben „Über Möbis wurde die Kommunikation dieser „Blockflöten“ sind dem SED-Staat zwischen dem Ministerratsvorsitzenden ungleich enger verbunden, als es den An- und den Ministern organisiert“, schreibt schein hat – sie sind oder waren Inoffiziel- der Historiker Walter Süß in seinem Stan- le Mitarbeiter der Stasi. dardwerk „Staatssicherheit am Ende“. Süß Diese Häufung mache es „sehr unwahr- ist sicher: Möbis war „auf der richtigen Po- scheinlich“, so Süß, „dass es sich um einen sition, um die Regierungsbildung zu beein- zufälligen Begleitumstand handelte“. Die flussen und Auswahlkriterien der Staats- Berufung bewährter Agenten habe der Sta- sicherheit einfließen zu lassen“. si ein „Mittel zur Diskreditierung und Er-

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Werbeseite 100 TAGE IM HERBST: »ICH LIEBE DOCH ALLE« AFP / DPA Staatsratsvorsitzender Krenz (r.) bei der Vereidigung des Modrow-Kabinetts: „Mittel zur Diskreditierung und Erpressung“ pressung“ in die Hand gegeben. Damit halten sollten“, und beschließt, Wolf zur sprächen geführt, bei denen „Herr Wolf habe sie insbesondere solche Minister im Rede zu stellen. die Schlüsselfigur war“: Griff gehabt, „die nicht der SED-Partei- Der pensionierte Spionagechef, der jetzt disziplin unterworfen waren“. als Schriftsteller firmiert, aber weiterhin Herr Wolf kam und ging regelmäßig, Herr Zu denen zählt Agrarminister Hans Wat- mit seinen alten KGB-Kontaktleuten kon- Krenz wurde einmal gerufen, und Herr zek (Bauernpartei), der als IM „Klaus Som- spiriert, verfügt noch immer über einen Modrow wurde mehrmals gerufen... Falin mer“ der Bezirksverwaltung Neubranden- Regierungsanschluss. Krenz wählt die Ge- handelte ganz offensichtlich in Gorba- burg zuarbeitete, oder Justizminister Hans- heimnummer 2816 und lässt Wolf wissen, tschows Auftrag, als er darauf hinwirkte, Joachim Heusinger (LDPD), der als „Ge- was er einen Tag später auch Honecker dass Krenz aus der Schusslinie ging. Die so- heimer Informator“ mit dem Decknamen mitteilen wird: „Man kann altes Unrecht wjetische Führung hatte begriffen, dass die „Knebel“ wirkte. nicht mit neuem beantworten.“ Da geht Trumpfkarte Krenz nicht zieht, dass man Als Inoffizielle Mitarbeiter registriert Wolf in die Offensive. Er hat die „neu-alte jetzt voll auf die Trumpfkarte Modrow set- sind auch beide Modrow-Stellvertreter: der Führung“ um Krenz bereits öf- zen musste und darauf, dass die CDU-Kirchenpolitiker Lothar de Maiziere fentlich als „provisorisch“ be- reformierte SED überlebt ... In (IM „Czerny“) und die SED-Wirtschafts- zeichnet, nun legt er nach: Das jedem Fall hat Herr Falin im Sti- expertin Christa Luft (IM „Gisela“). Poli- Verhalten der SED-Spitze sei le der früheren sowjetischen tische Schwergewichte wie die Minister für „ein einziges Jammerspiel“, ein Einflusspolitik auf die DDR dort Verteidigung und Inneres blicken ebenso „ständiges Zurückweichen un- entscheidende Weichen für den auf IM-Karrieren zurück wie diverse ter Druck“. Überfällig sei eine Abgang von Krenz gestellt und Leichtgewichte, die im Kabinett für Um- „vollständige Erneuerung“ des für den Versuch, nun mit weltschutz, Gesundheitswesen oder Tou- ZK, der Basis dürften „jetzt Modrow... so viel von der DDR rismus zuständig sind. endgültig keine alten Gesichter zu retten, dass die Sowjets für

Seine Regierung, verkündet die mehr präsentiert werden“. PRESS ACTION ihre Deutschlandpolitik die Kar- weißhaarige Galionsfigur gleichwohl un- Im Laufe des Telefonates wird Kreml-Bote Falin ten in der Hand hatten. verdrossen, werde dafür kämpfen, dass die Krenz’ „Stimme immer beleg- „eben begonnene demokratische Erneue- ter“, wie Wolf registriert: Der Mann, der Eine Woche nach dem abendlichen Te- rung des gesamten öffentlichen Lebens tie- vor kurzem erst Honecker stürzte, beginnt lefonat über Honeckers Zukunft wird es, fe Wurzeln bekommt und behält“. offenbar zu ahnen, dass seine eigene Amts- am 22. November, zu einem Vieraugenge- zeit bald abgelaufen sein wird – und dass spräch zwischen Krenz und Wolf kommen, Ost-Berlin der KGB-Meisterschüler Wolf „mit bei dem der Exekutor dem Staatsratsvor- Kaum ist Egon Krenz am Abend aus der Rückendeckung Moskaus“ und im Zusam- sitzenden „die Abschaffung des Staatsrates Volkskammersitzung in sein Büro zurück- menspiel mit Modrow einen „,Aufruhr‘ in- und damit auch des Vorsitzenden“ vor- gekehrt, da ruft, hochgradig erregt, sein nerhalb der SED gegen Krenz inszeniert“, schlagen wird. Vorgänger Erich Honecker an: „Welches wie Mitstreiter Schabowski später schrei- Am 4. Dezember schließlich wird Krenz Spiel treibst du eigentlich mit mir?“ ben wird. („Ich habe keine Chance mehr“) dem von Krenz, der gegen Honecker putschte, Wolf mitorganisierten Druck weichen und Krenz: „Ich verstehe nicht, was du Wolf, der gegen Krenz intrigierte – all die- sein Rücktrittsgesuch einreichen. meinst.“ se Figuren sind, so Schabowski im Rück- Dass der in Stasi-Kreisen noch immer Honecker: „Ihr wollt mich vor Gericht blick, nur „Würstchen in einem größeren populäre Ex-Spionagechef Wolf die Par- stellen.“ Spiel“. teireform unterstützt, hat nach Ansicht von Krenz: „Wer sagt das?“ Was sich in diesen Tagen hinter den Ku- Zeitgeschichtlern 1989/90 dazu beigetra- Honecker: „Markus Wolf.“ lissen der offiziellen Politik abspielt, sprach gen, die Gefahr eines Geheimdienst-Put- 1992 ein hoher MfS-Offizier dem Historiker sches zu verringern. Revolutionsforscher Der SED-Chef lässt sich die Agentur- und ZDF-Redakteur Ekkehard Kuhn auf haben für Leute wie Wolf einen speziellen meldungen des Tages reichen. Eine ist Band. Terminus parat: „Swingman“. tatsächlich überschrieben: „Wolf fordert: Der Zeitzeuge, zuständig für die Absi- Deren Funktion definieren sie so: „In Honecker vor Gericht!“ cherung der Sowjetbotschaft, berichtet, der demokratischen Umbrüchen, bei denen Honeckers Ziehsohn ist empört: „Was ist Gorbatschow-Vertraute Valentin Falin sei viel davon abhängt, dass Militär und Poli- in Wolf gefahren?“ Er findet, wie er später Mitte November unter konspirativen Um- zei ruhig bleiben, tauchen manchmal hohe in seinen Memoiren („Herbst ’89“) schrei- ständen nach Ost-Berlin geflogen und habe Offiziere auf, die scheinbar oder tatsäch- ben wird, dass „Weggefährten zusammen- im Botschaftsgebäude eine Serie von Ge- lich, vor allem aber öffentlich sichtbar auf

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Seiten der Reformer wechseln... Ihre Be- deutung besteht vor allem darin, dass ihr Auftreten unbelehrbaren Hardlinern ein erhöhtes Risiko für den Versuch eines re- pressiven Rollback signalisiert.“

Sonnabend, 18. November 1989 Ost-Berlin Wochenlang hat die SED versucht, hoch- gradig brisantes Material zu unterdrücken: Partei-Promi Schabowski persönlich in- tervenierte im Oktober bei der evangeli- schen Kirchenleitung, um eine Pressekon- ferenz zu verhindern, bei der „Gedächt- nisprotokolle“ der Stasi-Übergriffe am 40. DDR-Jahrestag veröffentlicht werden sollen. Nun, am zweiten Sitzungstag der Volks-

kammer, lässt sich nicht mehr vermeiden, GAMMA / STUDIO X dass die Prügelnacht landesweit zum The- Widersacher Kohl, Thatcher (r.) beim EG-Gipfel in Paris: „Seht ihr! Seht ihr!“ ma wird. Denn Generalstaatsanwalt Gün- ter Wendland, 58, Parteisoldat seit 1951, ist Schwanitz gehört schließlich als Nasi-Chef Weg zu einem Golfspiel vertraute François vom Parlament beauftragt worden, über dem neuen Kabinett an. Mitterrand ihm Anfang Oktober an: „Wer die Misshandlungen zu berichten. Anderntags formuliert Schwanitz eine von der Wiedervereinigung Deutschlands Zunächst übt der SED-Jurist Selbstkri- „persönliche Erklärung“, die in allen spricht, versteht nichts von der Sache. tik: Er habe „nicht rechtzeitig genug er- Amtsstuben „am 20. 11. 1989 mit Dienst- Die Sowjetunion wird sie niemals akzep- kannt“, dass „politische Konflikte nicht mit beginn zu verlesen“ ist. In dem Appell tieren. Das wäre das Ende des Warschauer dem Strafrecht gelöst werden können“. fordert Mielkes Nachfolger, den Spitzel- Pakts.“ Dann schildert er die Schikanen, denen apparat sorgfältig abzuschotten („Die Si- Und weil auch die Amerikaner nach Mit- in jener Nacht viele der 3456 Festgenom- cherheit unserer Patrioten ist ohne Ein- terrands Meinung „niemals zulassen, dass menen ausgesetzt waren. Wendland: schränkungen zu wahren“) und dafür zu die Bundesrepublik die Nato verlässt“, sorgen, dass „unsere Partei wieder in die könne Frankreich ganz „beruhigt sein“. Im Gewahrsam befindlich, wurden Perso- Offensive kommt“: „Alle Kommunisten“, Auch Mitterrands Bonner Freunde, nen geschlagen, über lange Zeit zum Ste- so Schwanitz, „müssen im Erneuerungs- die Sozialdemokraten, lehnen jedes hen, zum Teil in körperlich schmerzhaften prozess eine kämpferische Position ein- „Wiedervereinigungsgeschrei“ ab. SPD- Stellungen, gezwungen, auch beleidigt und nehmen.“ Wahlkämpfer Günter Grass findet in ei- auf andere Weise erniedrigend behandelt. Für den starken Mann im Kabinett nem SPIEGEL-Gespräch (47/1989) eine Modrow scheint – Koalitionsregierung hin, Erklärung für die Sprachlosigkeit der Die Regierung übergeht den Bericht mit Koalitionsregierung her – die Nasi nichts Genossen: „Ich glaube, dass sich die So- Schweigen: Der damalige Einsatzleiter anderes als zuvor die Stasi: Schild und zialdemokraten von ihrer erfolgreichen Schwert einer, seiner Partei. ,Politik der kleinen Schritte‘ den Blick haben verstellen lassen auf Entwicklun- Paris gen, die sprunghafter sind und schneller Margaret Thatcher kriegt einen Wutanfall. gehen.“ Beim Bankett im Elysée-Palast sind die Grass selbst zählt zu jenen, die auf die EG-Staats- und Regierungschefs beim Des- Fortexistenz eines reformierten Arbeiter- sert angelangt, als eine Bemerkung des und-Bauern-Staates setzen: Er mache sich Bonner Kanzlers die britische Premiermi- „Sorgen“, bekennt der Schriftsteller, „ob nisterin aus der Fassung bringt. dieser kleinere deutsche Staat in dem Zu- Kohl zitiert eine Deklaration aus dem stand, in dem er sich befindet, die offene Jahre 1970, mit der sich ein Nato-Gipfel Grenze aushalten wird“. für die Einheit ausgesprochen hat. That- Damit liegt Grass im Mainstream der cher wirft ein: „Aber diese Deklaration ost- wie der westdeutschen Linken. In Ost- datiert aus einer Zeit, als wir glaubten, sie Berlin demonstrieren am späten Nachmit- würde niemals stattfinden!“ Kohl: „Aber tag 10000 ostdeutsche Studenten für „Tie- wir haben die Deklaration damals be- fenreinigung statt Wiedervereinigung“. schlossen, und sie gilt noch immer. Sie kön- Jenseits der Mauer, auf dem Ku’damm, nen das deutsche Volk nicht daran hindern, warnen Autonome seit Tagen einkaufende seine Bestimmung zu finden.“ Da zetert Ostler: „Die Freiheit, die Sie meinen, ist die die Lady: „Seht ihr! Seht ihr!“ Freiheit der Deutschen Bank.“ Aversionen hat der französische Präsi- „Geht doch rüber“, schallt es den West- dentenberater Jacques Attali – der diesen Linken aus berufenem Munde entgegen: Auftritt in seinen Memoiren schildert – „Ihr wisst ja gar nicht, wie schön der Ka-

P. GLASER P. auch bei seinem Chef registriert. Auf dem pitalismus ist.“ Jochen Bölsche; Pro-DDR-Demonstration in Ost-Berlin Christian Habbe, Georg Mascolo, „Tiefenreinigung statt Wiedervereinigung“ Norbert F. Pötzl

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merwahlen am 18. März 199o endet seine gerade mal vier Monate währende Amts- zeit, deren Erfolglosigkeit ihn noch heute PORTRÄT erkennbar bitter macht. Die Parole vom „einig Vaterland“ – eine »Der Kram nahm aus der Frühphase der DDR stammende Zeile der Hymne des Dichters und Kul- turministers Johannes R. Becher – sei ein seinen Lauf« Fehler gewesen, hadert Modrow in der Re- trospektive heftig mit sich selbst. „Das war Hans Modrow: Der 150-Tage-Premier wurde von dem nicht meine Bitte an Helmut Kohl, uns sei- nen Bonner Staat überzustülpen“; er habe Einheitswillen der Ostdeutschen überrollt nur einen längeren Prozess des Zusam- menwachsens der beiden Republiken zu n den letzten Tagen des Jahres 1989 gibt valen vier Tage nach dem Fall der Mauer initiieren versucht. es bei ihm diesen Augenblick eines die Regierungsgeschäfte überlassen. Dank Der letzte von der SED getragene Minis- Ijähen Bewusstseinsschubs. „Reales Be- Modrow nimmt die so genannte Partei der terpräsident verschätzt sich in den ent- greifen“ nennt der zur Bedächtigkeit nei- Arbeiterklasse schließlich von ihrem in der scheidenden Wochen in vielfacher Hin- gende ehemalige DDR-Premier Hans Verfassung verankerten absoluten Macht- sicht. Mit den Einheitsbekundungen geht Modrow im Nachhinein jene Klarheit, mit anspruch Abstand. auch sein Renommee dahin. Als der Ost- der er das Ende seiner Träume in einen Um den Zerfall seines Landes zu stop- Berliner Regierungschef in Bonn um eine knappen Satz zusammenfasst: „Du kannst pen, stellt der Duzfreund Gorbatschows Soforthilfe von 15 Milliarden Mark nach- einen Staat nicht gegen den Willen seiner den Ostdeutschen eine allmähliche Kon- sucht, zeigt ihm der Bundeskanzler die kal- Bürger aufrechterhalten.“ föderation mit dem Bonner Staat in Aus- te Schulter. Und er weiß, dass nun auch für ihn der sicht – doch dann kommt der Tag in Dres- Der Bittsteller fühlt sich gedemütigt, und Abschied naht. Erst wenige Wochen steht den. Der überforderte Krisenmanager, der je stärker in seinem entfesselten Land die der Schlosser und promovierte Wirt- seine politische Sozialisation in russischer Informationen sprudeln, desto mehr gerät schaftswissenschaftler im Zentrum der Kriegsgefangenschaft erfuhr, beugt sich er selbst ins Zwielicht. Der vermeintliche schwindenden Macht – eine Blitzkarriere zähneknirschend dem „Zwang der Ver- Retter sieht sich als Wahlfälscher ange- in den Wirren der Wende, die der einzig hältnisse“. klagt. Noch immer nicht restlos geklärt ist verbliebene Hoffnungsträger unter den re- gierenden Einheitssozialisten von Stund an als Episode betrachtet. Die Erkenntnis, dass sich sein Arbeiter- und-Bauern-Staat nicht mehr retten lässt, sondern die Mehrheit der in ihm lebenden Menschen die „großdeutsche Kurve“ zu nehmen beabsichtigt, gewinnt er auf einer Kundgebung in Dresden. Das Fahnenmeer in Schwarzrotgold, von dem sich sein Ge- sprächspartner – der aus Bonn hierher ge- kommene Kanzler Helmut Kohl – umspült sieht, raubt ihm alle Illusionen. Was ihm da vorgeführt wird, muss den ehrgeizigen Hans Modrow schmerzen. Die sächsische Metropole ist der Ort seines langjährigen Wirkens, wo er als 1. Bezirks- sekretär der SED seit 1973 eine in Maßen eigenständige und nach dem Aufstieg von Michail Gorbatschow an Glasnost und Pe- restroika orientierte Politik verfolgt hat. Dass die Betonriege in Ost-Berlin sei- nem Treiben in dieser Zeit misstraut und

ihm konsequent den Einzug in den „roten GAMMA / STUDIO X Olymp“ verweigert, bestimmt sein Image Regierungschefs Modrow, Kohl in Bonn (1990)*: „Bonner Staat übergestülpt“ im Westen. Fast schon mit leiser Bewun- derung wird der 1928 im vorpommerschen Statt weiter auf Autarkie zu beharren, die Rolle, die er anlässlich einer von der Dorf Jasenitz geborene Sohn eines See- kreiert er nun seltsam feierlich die mit Stasi niedergeknüppelten Demonstration fahrers, der in Dresden in einer schlichten einem Vierstufenplan verbundene Losung auf dem Dresdner Hauptbahnhof spielte. Mietwohnung lebt, von den Medien der „Deutschland, einig Vaterland“. Für Modrow Sich als mächtiger Bezirkssekretär an Bundesrepublik zum bemerkenswerten Er- ist das ein erstaunlicher, freilich vergebli- Gewaltakten beteiligt zu haben weist neuerer hoch gelobt. cher Schritt, die unvermeidlich gewordene Modrow zurück – und was die Gesamtheit Unter Führung des konzilianten, aber Wiedervereinigung wenigstens halbwegs im seiner politischen Tätigkeit anbelangt, darf zähen Asketen hält Bonn eine peu à peu Sinne eigener Vorstellungen zu gestalten. er sich wohl zu Recht auf eine vergleichs- sich wandelnde DDR offenbar für möglich, Mit Ausnahme seines Einsatzes zu Gun- weise saubere Vergangenheit berufen. Un- und zunächst scheinen sich solche Erwar- sten der anhaltend umstrittenen Bodenre- ter den Großkopferten der SED ist er die tungen ja auch zu bestätigen. Egon Krenz, form, welche die Enteignungen zwischen am wenigsten problematische Figur. der schlingernde Erbfolger des gestürzten 1945 und 1949 festschreibt, bleibt ihm nicht Erich Honecker, muss dem heimlichen Ri- viel. Nach den ersten freien Volkskam- * Links: DDR-Minister Walter Romberg (SPD).

194 der spiegel 46/1999 Der letzte von der SED getragene Ministerpräsident verschätzt sich in den entscheidenden Wochen in vielfacher Hinsicht.

Doch der weißhaarige Mann mit den an- genehmen Umgangsformen entpuppt sich zugleich auch als „pommerscher Dick- schädel“. Dass er in öffentlichen Bekun- dungen „Unfähigkeit im Erkennen“ und vor allem gegenüber den Spitzengenossen mangelnden Mut einräumt, ändert nichts an seinen grundsätzlichen Sichtweisen. Seit den Jahren, da Modrow in sowjeti- schen Umerziehungslagern zum zuverläs- sigen antifaschistischen Widerstandskämp- fer mutierte, gehört sein Herz einer sozia- listisch geführten deutschen Nation. Nach dem Desaster der DDR stellt sich allen- falls eine gewisse Ernüchterung ein. Er habe „ein neues Deutschland“ ge- wollt, aber keineswegs jenen „Kram, der dann seinen Lauf nahm“, schreibt der Eh- renvorsitzende der SED-Erbfolge-Partei PDS in seiner weitschweifigen Biografie. Neben klar formulierten Selbstbezichti- gungen schlägt da in vielen Kapiteln der Frust über die von Kohl angeblich betrie- bene Unterwerfung des Ostens durch. Den abgewählten Bonner Kanzler mag er ebenso wenig wie die von ihm im Wes- ten auf Schritt und Tritt beobachtete „be- leidigende Überheblichkeit“. Für den drah- tigen Langstreckenläufer Modrow ist das Grund genug, auch noch im 72. Lebens- jahr Flagge zu zeigen. Er möchte das ehe- malige „Volk der DDR“ vor dem „voll- ständigen Identitätsverlust“ bewahren. In seiner PDS sieht er sich deshalb als „Scharnier“ zwischen den Generationen – nach Auffassung innerparteilicher Gegner eine ziemlich geschönte Rolle. Der ge- kränkte DDR-Nostalgiker, heißt es in die- sen Kreisen, setze sich in Wahrheit mehr für die notorischen Altkommunisten ein. Dass der „Bundesbürger Modrow“ (wie er sich mit leicht pikiertem Gesichtsaus- druck selbst nennt) noch den Sprung in das Europaparlament schaffte, kommt den flotten Youngstern in der Parteizentrale im Berliner Karl-Liebknecht-Haus gelegen: Der Gang nach Straßburg schwäche sei- nen hinhaltenden Widerstand gegen die notwendige Modernisierung der PDS. Denn immer noch steht er im Verdacht, sich zu lange an untaugliche Strukturen zu klammern – wie seinerzeit, als er zunächst die Stasi-Auflösung vor sich herschob. Hans Modrow kennt diese Kritik und scheint sie nicht rundweg für ungerecht- fertigt zu halten. Im Falle des MfS aber, ei- ner bewaffneten Organisation, fühlt er sich leichtfertig attackiert: „Ich hatte Angst vor Kurzschlüssen.“ Hans-Joachim Noack

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ANALYSE »Wir hatten eine blühende Wirtschaft« Selbstbetrug und Konkursverschleppung: Warum die DDR-Ökonomie nach dem Wendeherbst 1989 plötzlich zusammenbrach ines war den Herrschenden in Bonn platziert. Weil jedoch alle Statistiken von 1989 seinen Antrittsbesuch im Kreml mach- und Ost-Berlin in den achtziger Jah- Amts wegen gefälscht wurden, konnte die- te, notierte der Protokollführer: Eren gemeinsam: Auf geradezu gro- ser Agent auch nur die geschönten offi- teske Weise verkannten Helmut Kohl und ziellen Zahlen übermitteln. „Es war sehr Genosse Gorbatschow sagte, er habe ein- Erich Honecker noch wenige Monate vor schwer“, erinnert sich Kohl, „zu realisti- mal versucht, mit Genosse Honecker über dem DDR-Kollaps die Schwächen der ost- schen Daten zu kommen.“ die Verschuldung der DDR zu sprechen. deutschen Wirtschaft. Täuschen ließ sich von dem Blendwerk Dies sei von ihm schroff zurückgewiesen „Die DDR ist von uns ökonomisch über- aus dem SED-Apparat auch der alters- worden, da es solche Probleme nicht gebe. schätzt worden“, räumte fünf Jahre nach starrsinnig gewordene Honecker. Er blieb der Wiedervereinigung der einstige Bun- bis zu seinem Tod dabei, dass der Unter- Weder zunehmende Krisensignale noch desbank-Präsident Karl-Otto Pöhl ein. Die gang der DDR auf den Verrat Gorbatschows düstere Prognosen von Wirtschaftsexper- Schuld für die Fehleinschätzung schoben und nicht auf ökonomische Ursachen ten wie dem Planungschef Gerhard Schü- Bonner Insider bald nach der Wende auf zurückzuführen sei. „Wir hatten schließlich rer konnten Erich Honecker von seinem den Bundesnachrichtendienst. eine aufblühende Volkswirtschaft“, be- unfinanzierbaren Kurs der „Einheit von Der BND hatte, wie er sich rühmte, ei- hauptete er noch 1991, „das ist auch von den Wirtschafts- und Sozialpolitik“ abbringen. nen Spitzeninformanten in der zentralen größten Miesepetern nicht zu bestreiten.“ Um sich beim Volk beliebt zu machen, Staatlichen Plankommission in Ost-Berlin Nur allzu gern, so scheint es, fiel verteilte er Wohltaten auf Pump – finan- Honecker auf die frisierten Zahlen herein. ziert zum großen Teil mit Hilfe von west- Als er 1988 vor TV-Kameras einem ver- lichen Krediten, deren Umfang Staatsge- * Erich Honecker (3. v. l.), Günter Schabowski (5. v. l.), Ost-Berlins Oberbürgermeister (6. v.l.) und dienten Werktätigen die angeblich dreimil- heimnis war. Günter Mittag (r.) mit Mieterfamilie 1988 in Ost-Berlin. lionste Neubauwohnung seit Kriegsende Aus Angst vor politischen Unruhen wag- übergab, waren in Wahrheit noch nicht ein- te die DDR-Führung nicht, die subventio- mal zwei Millionen fertig gestellt worden. nierten Preise für Mieten und Grundnah- Dass die DDR hoch verschuldet war, hat rungsmittel, Dienstleistungen und Ver- Honecker stets in Abrede gestellt – selbst kehrsmittel anzuheben – was verheerende gegenüber Gorbatschow. Als Honecker- Folgen hatte: Weil die Billigmieten nur ein Nachfolger Egon Krenz Anfang November Drittel der Kosten deckten, waren in Pri- FOTOS: JÜRGENS OST + EUROPA PHOTO JÜRGENS OST + EUROPA FOTOS: Gedenktafel, Politikerbesuch in der angeblich dreimillionsten DDR-Neubauwohnung*: Auf frisierte Zahlen hereingefallen

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Werbeseite 100 TAGE IM HERBST: »ICH LIEBE DOCH ALLE« vateigentum stehende Häuser dem Verfall Die Sowjetunion – laut DDR-Wirt- Für Valuta-Mark verkaufte die SED preisgegeben. Und weil das subventionier- schaftslenker Günter Mittag „bereits 1980 (teils zu diesem Zweck eigens verhaftete) te Brot billiger war als Weizen, wurden bankrott“ – reduzierte 1981 ihre Erdöllie- politische Gefangene, geraubte Antiquitä- Hühner in der DDR mit Brot statt mit Ge- ferungen an den Bruderstaat von jährlich ten, historisches Kopfsteinpflaster und die treide gefüttert. 19 auf 17 Millionen Tonnen; Moskau woll- Erlaubnis, auf ihrem Staatsgebiet bundes- Für die Absurditäten der Kommando- te den Rohstoff lieber gegen Devisen an deutschen Müll zu deponieren. Westgeld- wirtschaft nennt Schürer heute das folgen- den Westen verkaufen, als ihn gegen Na- pflichtig war jede Genehmigung, die DDR de Beispiel: „Lieferte ein Züchter ein Ka- turalien der DDR zu überlassen. zu betreten, dort Auto zu fahren oder auch ninchen an den Staat, erhielt er dafür 60 Vergebens bat Honecker den damaligen nur einen Hund mitzuführen. Mark. Kaufte er es danach geschlachtet und Kremlherrn Leonid Iljitsch Breschnew, Es half nichts: Am Ende hätte die DDR, ausgenommen bei der Staatlichen Handels- den Beschluss zu revidieren, doch der blieb wie Schürer dem Politbüro eröffnete, jährlich organisation HO zurück, kostete es trotz hart. Breschnew an Honecker: „Ich habe der aufgewendeten Arbeit nur 15 Mark.“ geweint, als ich unterschrieb.“ Honecker, Am Ende ging mehr als ein Viertel des fassungslos, fragte zurück, „ob es zwei Mil- Weil das subventionierte Staatshaushalts für Preissubventionen lionen Tonnen Erdöl wert sind, die DDR zu drauf – die DDR lebte über ihre Verhält- destabilisieren“. Ein Jahr später stand die Brot billiger war als nisse. Schürer: „Wir haben zu viel impor- DDR vor der Zahlungsunfähigkeit; nur ein tiert fürs Essen, für die Ernährung, für die Milliardenkredit westdeutscher Banken, Weizen, wurden Hühner in sozialen Maßnahmen.“ eingefädelt vom CSU-Chef Franz Josef Als Hauptursache des Niedergangs er- Strauß, sorgte 1983 für Aufschub. der DDR mit Brot statt mit wies sich Artikel 9 der Verfassung: „Die Damals schon war dem DDR-Wirt- Getreide gefüttert. Volkswirtschaft der Deutschen Demokra- schaftspapst Günter Mittag klar, dass das tischen Republik ist sozialistische Plan- System in den Ruin steuerte. „Der ökono- wirtschaft.“ Nicht der Markt, sondern der mische Kollaps der DDR deutete sich 1981 Kredite in Höhe von „8 bis 10 Milliarden Plan bestimmte die Preise. Die Produktion an und wurde 1983 offensichtlich“, offen- Valutamark“ gebraucht. „Das ist“, so Schü- wurde nicht von der Nachfrage gesteuert, barte Mittag zwei Jahre nach der Wende in rer in einem Geheimpapier, „für ein Land sondern durch Willkür und Wunschdenken einem SPIEGEL-Gespräch. wie die DDR eine außerordentlich hohe der Regierenden. Kontinuierlich nahm in den achtziger Summe, die bei zirka 400 Banken jeweils Wenn Volkskammer-Präsident Horst Sin- Jahren die Produktivität der Wirtschaft mobilisiert werden muss… Im Interesse der dermanns Enkel echte Levis-Jeans verlang- weiter ab, zugleich sank die Qualität der Notwendigkeit der Erhaltung der Kredit- ten, kam das Thema auf die Tagesordnung Waren, die in den verrottenden, umwelt- würdigkeit ist eine absolute Geheimhaltung des Politbüros. Wenn verseuchenden Betrie- dieser Fakten erforderlich.“ Honecker mit einem 256- ben erzeugt wurden. Spätestens 1988, sagt Schürer, habe er Kilobit-Mikrochip made „Die DDR-Industrie“, so erkannt, „dass wir mit den Schulden nicht in GDR renommieren Mittag im Nachhinein, mehr zurechtkommen“: Bonn werde sich wollte, musste der gebaut „wäre niemals aus eige- zu weiteren Finanzspritzen auf Dauer nur werden – koste es, was es ner Kraft wieder auf die bereit finden, wenn die Ost-Berliner Re- wolle. „Die Selbstkosten Beine gekommen.“ gierenden „einen Teil unserer Souveränität, für einen Chip“, so Schü- Aus Angst vor Arbei- ich will es mal brutal sagen, verkaufen“. rer, „betrugen 536 Mark. teraufständen zeigte sich Wirtschaftlich wäre die DDR am Ende Der Verkaufspreis war in die SED in den folgen- allenfalls durch einen radikalen Sparkurs der DDR auf 16 Mark den Jahren nicht nur zu retten gewesen. „Wenn wir aus dieser festgelegt.“ außer Stande, die enor- Situation herauskommen wollen, müssen Unter planungsbeding- men Ausgaben für Mi- wir mindestens 15 Jahre hart arbeiten und ten Versorgungsengpäs- litär, Polizei und Ge- weniger verbrauchen, als wir produzie- sen – vom Dosenöffner heimpolizei zu reduzie- ren“, eröffnete ZK-Planungsexperte Gün- bis zur Badekappe, vom JÜRGENS OST + EUROPA PH. ren; allein der Sold für ter Ehrensperger am 9. November 1989 den Dübel bis zum Fertig- DDR-Mikrochip die fast 100 000 Stasi- verblüfften Spitzengenossen. mörtel – litten Privat- Hauptamtlichen belief Politisch war die Ehrensperger-Empfeh- haushalte wie Betriebe. Gedrückt wurde sich alljährlich auf 1,7 Milliarden Ost-Mark. lung zu diesem Zeitpunkt schon nicht mehr die Produktivität der DDR-Wirtschaft aber Auch das „idiotisch entwickelte Subven- durchsetzbar: Am Abend desselben Tages auch durch die Gleichmacherei bei den Löh- tionssystem“ (Schürer) durfte nicht ange- öffnete sich die Mauer. nen und durch die Schwäche der Ost-Mark: tastet werden. Im Zentralkomitee wurden Woran ist die DDR gescheitert? Am Al- Die Werktätigen verdienten während der die wachsenden Schwierigkeiten ver- tersstarrsinn Honeckers und an der Feig- Ära Honecker zwar mehr Geld als zuvor, drängt. „Je größer die Probleme wurden, heit seiner Paladine, die ihm nicht zu wi- konnten damit aber nur wenig anfangen. umso weniger wurde über sie diskutiert“, dersprechen wagten? Auf eine Wohnung mussten DDR-Fami- erinnert sich Wolfgang Rauchfuß, einst Mi- Auf die Frage nach den Hauptfehlern lien 5 Jahre lang warten, auf ein Telefon 10 nister für Materialwirtschaft. der DDR-Wirtschaftspolitik gab Wirt- Jahre, auf einen Wartburg 15 Jahre. Genuss- Bis zuletzt glaubten die Greise an der schaftsexperte Mittag schon 1991 eine bün- mittel wie Schokolade oder Südfrüchte wa- Spitze, sich irgendwie durchwurschteln zu dige Antwort: „Das sozialistische System ren entweder überteuert oder gar nicht zu können. „Die haben alle gedacht, für uns insgesamt war falsch.“ haben. Höherwertige Konsumgüter wie individuell reicht es noch, biologisch“, ver- Jochen Bölsche, Norbert F. Pötzl MZ-Motorräder oder „Praktika“-Spiegel- mutet der ehemalige Zeiss-Manager Wolf- reflexkameras gingen gleich in den Westen. gang Biermann. Bereits Anfang der achtziger Jahre hat- Ende der achtziger Jahre kam die DDR Im nächsten Heft ten die Auslandsschulden der DDR 24 Mil- nur noch dank übler Machenschaften und liarden West-Mark erreicht. In dieser Si- Manipulationen halbwegs über die Run- DDR-Bürger A 000 000 1 wird gefeuert – „Wir tuation traf die DDR ein Schlag, von dem den – durch Konkursverschleppung und sind ein Volk“ – Schalck bangt um sein Leben sie sich nie mehr erholen sollte. Devisenschinderei in großem Stil. – Kurswechsel in Moskau

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EUROPA Mit gefälschten belgischen Veterinärzeugnissen verwandelten die Händler dabei das Beef in unverdächtiges „Fleisch aus Bel- gien“ und schleusten es mühelos durch den Zoll. Britische Bau- Ermittlungen gegen ern und Viehhändler sollen überdies versucht haben, illegal Rindfleisch in den Handel zu bringen, das von Tieren stammt, die älter als 30 Monate sind. Wegen erhöhter BSE-Gefahr dür- Fleisch-Mafia fen diese britischen Alt-Rinder nirgendwo in die menschliche Nahrungskette gelangen. EU-Inspekteure und Kontrolleure aus n der EU greifen die Fleischkontrollen nicht: Belgische Fahn- dem Vereinigten Königreich stellten jedoch fest, dass etliche Ider sind einem groß angelegten Schmuggel auf der Spur, bei Händler die Tiere auf dem Papier verjüngen wollten, um die dem britisches Rindfleisch, das bis zum 1. August wegen der höheren Preise für konsumierbares Rindfleisch zu kassieren. BSE-Seuche unter weltweitem Exportbann stand, über ein Netz- werk britischer und belgischer Firmen auf den Kontinent ge- schleust worden sein soll. Zwei britische Unternehmen aus dem Küstenort Eastbourne und eine belgische Firma aus Izegem wer- den verdächtigt, das Fleisch mit gefälschten Gesundheitszeugnis- sen illegal exportiert zu haben. Nach ersten Untersuchungser- gebnissen der Staatsanwaltschaft von Kortrijk gelangte zunächst mit Hormonen behandeltes Fleisch, das in Belgien aus dem Verkehr gezogen worden war, nach Großbritannien. Von dort wurde es in Länder der Dritten Welt weiterverkauft, die entla- denen Lkw wurden daraufhin mit

britischem Fleisch beladen und PRESS ACTION nach Belgien zurückverschifft. Verbrennung von BSE-verseuchten Rindern in Wales

USA SPIEGEL: Beeinträchtigt eine größere eu- Roth: Ein Konflikt steht wohl nicht un- ropäische Eigenständigkeit in Außenpoli- mittelbar bevor. Doch wenn das Verhält- „Erhebliche Mängel“ tik und Verteidigung das Bündnis zwi- nis zwischen den Partnern nicht besser schen den USA und ihren europäischen abgestimmt und koordiniert wird, könn- William Roth, 78, republikanischer Se- Alliierten? te unsere transatlantische Allianz ausein- nator, ist Vorsitzender des Kongress- Roth: Es geht uns zunächst einmal um ander driften. Beirats für Nato-Fragen. Seine Resolu- grundlegende Regeln: Die Vorreiterrolle SPIEGEL: Sind die Europäer überhaupt zu tion zur Sicherheitspolitik, vorige der Nato in transatlantischen Sicher- einem eigenständigen militärischen Ein- Woche vom Senat einstimmig ange- heitsfragen darf nicht mit der neuen Rol- satz in der Lage? nommen, warnt vor einer Konfronta- le der EU kollidieren. Roth: Der Krieg im Kosovo hat erhebliche tion zwischen Europa und den USA. SPIEGEL: Wird es eine Kraftprobe geben? Mängel bei den europäischen Alliierten aufgezeigt. Statt überwältigende Macht zu demonstrieren, geriet die Operation „Allied Force“ vielmehr zum Symbol für das militärische Ungleichgewicht zwi- schen den Vereinigten Staaten und unse- ren Verbündeten. Für ein reibungsloses Vorgehen im Ernstfall müssen die Eu- ropäer in Zukunft noch eine Menge nach- bessern. SPIEGEL: Also – keine Alleingänge der Eu- ropäer? Roth: Die Nato muss das erste und wich- tigste Mittel jeder kollektiven militäri- schen Antwort bleiben. Die EU sollte autonome Einsätze nur dann überneh-

FOTOS: AP men, wenn die Nato diese Aufgaben zu- Nato-Kampfflugzeug CF-18 während des Kosovo-Krieges Senator Roth vor delegiert hat.

der spiegel 46/1999 203 Panorama

e Hauptsied- SRI LANKA INDIEN ß Halbinsel a lungsgebiete tr Jaffna s der Tamilen lk Jaffna Vormarsch der Tiger a P Mullaittivu uf Sri Lanka ist der 1983 ausgebrochene bluti- Mankulam Age Bürgerkrieg erneut entflammt, in dem radi- Oddusuddan kale Tamilen für einen unabhängigen Staat im Nor- Vavuniya den und Nordosten der Insel kämpfen. Wie „Un- Trincomalee aufhaltsame Wellen“, so auch der Name ihrer Golf von Anuradhapura jüngsten militärischen Offensive, greifen die „Be- Mannar

freiungstiger von Tamil Eelam“ seit Anfang REUTERS November Stellungen der Regierungstruppen an. Ermordeter Tamile in Colombo China Batticaloa Sie eroberten zehn Garnisonsstädte und eine 30 Kilometer lange Straßenverbindung, die den singhalesi- wies sich als politischer Kandy schen Süden mit der Tamilen-Stadt Jaffna im Norden verbin- Fehler, und ein Erfolg Indien det. Allein auf Regierungsseite soll es hunderte von Toten ge- ihrer bisher populären Colombo geben haben. In der Hauptstadt Colombo hat die Regierung Volksallianz bei den auf SRI LANKA inzwischen Armeeverluste und eine Massenflucht von Zivilis- den 21. Dezember vor- Sri ten zugegeben, ein Militärsprecher bezeichnete die Lage so- gezogenen Präsident- Lanka gar als „sehr ernst“. Jetzt wollen die Tamilenrebellen die stra- schaftswahlen scheint 50 km tegisch wichtige Stadt Vavuniya einnehmen. Gelingt das, hätte ungewiss. Damit sinken Kampfgebiet die Armee fast alle Gebietsgewinne der letzten 19-monatigen auch die Chancen, den Offensive wieder eingebüßt. Die Niederlagen ihrer Militärs Bürgerkrieg im gebeutelten Tourismusparadies, der bisher sind für Präsidentin Chandrika Kumaratunga, 54, ein schwerer 58000 Menschenleben forderte, in absehbarer Zeit zu been- Rückschlag. Ihre umstrittene Taktik, Verhandlungen mit den den. Die Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen warnt bereits, Rebellen erst nach einem militärischen Sieg zu beginnen, er- dass im Kampfgebiet die Medikamente zur Neige gehen.

NIGERIA Rebellen kapern SYRIEN Helikopter Gesellenstück für den Nachfolger achdem sie in der Vergangenheit er kranke syrische Nwiederholt Versorgungsschiffe auf- DStaatschef Hafis al- gebracht hatten, kapern rebellierende Assad, 69, will offenbar Gruppen im Ölfördergebiet von Nigeria schneller als erwartet sei- jetzt mit Vorliebe Hubschrauber. Die nen Sohn Baschar, 34, zum Firma Bristow Helicopters, die unter an- Nachfolger aufbauen. Ver- derem Bohranlagen und Camps von gangene Woche schickte Shell anfliegt, war in diesem Jahr schon er ihn zum ersten Mal neunmal Ziel von Kidnappern. Die letz- auf diplomatische Mission te Entführung endete vorigen Mittwoch nach Frankreich. In seinem mit der Freilassung des deutschen Pilo- Auftrag sprach al-Assad ten Günter Burmeister. Dessen Bell-212- junior mit Frankreichs Hubschrauber war am 28. Oktober beim Präsident Jacques Chirac, Landepunkt Opuama im Gebiet des der die seit 1996 abgebro- Ijaw-Stammes attackiert und am Weiter- chenen Friedensgespräche flug gehindert worden. Schwer bewaff- zwischen Syrien und Israel nete Jugendliche entführten zwei Besat- wieder beleben möchte. zungsmitglieder und vier Passagiere. Noch fordert Syrien von Nach Verhandlungen mit den Arbeit- Israel den Truppenabzug gebern der Gekidnappten entließen sie von den 1967 besetzten ihre Geiseln, zuletzt den aus dem Rhein- Golanhöhen, den Israel als land stammenden Piloten. Die Freilas- Vorbedingung für Frie- sungen werden üblicherweise durch Lö- densgespräche jedoch ab- segeldzahlungen erkauft. Sie gelten den lehnt.Vor seinem Paris-Be- Rebellen als Entschädigung für Umwelt- such hatte Baschar Assad zerstörungen und die mangelnde Betei- zudem mehrere Reisen ligung der Region an Nigerias Öleinnah- nach Saudi-Arabien und men. Doch auch gewöhnliche Kriminelle Jordanien unternommen. mischen beim Entführungsgeschäft mit. Seitdem duzt er sich mit

Wegen der Anarchie im Fördergebiet ist dem fast gleichaltrigen jun- REUTERS Nigerias Erdölproduktion auf einen gen jordanischen König Präsident Assad in Damaskus Tiefststand gefallen.

204 der spiegel 46/1999 Ausland

FRANKREICH Linke, steigen automatisch seine eige- SCHWEDEN nen Chancen, bei den Präsidentschafts- Zweite Chance wahlen ein Jahr später den Amtsin- Schwieriger Ausstieg haber Jacques Chirac zu schlagen. Aber ach dem Rücktritt seines Freundes die Sozialisten plagen Zweifel, ob der tockholms Regierung will den vor 19 NDominique Strauss-Kahn will Pre- durchaus populäre Lang den eher kon- SJahren per Volksabstimmung be- mierminister Lionel Jospin jetzt Ex- servativen Parisern nicht zu radikal ist. schlossenen Atomausstieg nun zum Kulturminister Jack Lang in den Kampf Langs Verantwortung für die Baupro- 1. Dezember mit der Schließung des um das Bürgermeisteramt von Paris ent- jekte des damaligen Präsidenten Reaktors Barsebäck I in Südschweden senden. Die Eroberung des Rathauses, François Mitterrand bietet viele An- umsetzen. Dagegen wehrt sich mit allen in dem die Gaullisten seit 1977 regieren, griffsflächen: Der bröckelnde Neubau Mitteln der Energiekonzern Sydkraft, aber durch viele Skandale angeschlagen der Bastille-Oper und die pannenge- dessen größter Einzelaktionär die sind, ist für den Sozialisten Jospin Chef- plagte Mitterrand-Bibliothek schaffen PreussenElektra ist. Das oberste Ver- sache: Fällt die Pariser „Mairie“ an die Ärger und Spott. waltungsgericht Schwedens hatte be- reits im Juni die Rechtmäßigkeit des Re- gierungsbeschlusses bestätigt. Doch noch steht eine Entscheidung der EU- Kommission aus, ob Sydkraft durch die Schließung Wettbewerbsnachteile erlei- det. Gleichwohl will die Regierung nicht länger warten. „Was die EU-Kom- mission entscheidet, hat keine direkte

Atomkraftwerksblock 100 km H. IVES / AGENTUR FOCUSH. IVES / AGENTUR

Pariser Rathaus, Lang PRESS / SIPA FACELLY Oslo Forsmark

NORWEGEN SCHWEDEN Stockholm

KOSOVO Abdullah, der seit dem Tod seines Göteborg Vaters im Februar im Amt ist. Im eige- Nato manipulierte Ringhals nen Land genießt der in Großbritan- DÄNEMARK Oskarshamn nien ausgebildete Augenarzt Assad ver- Todeszahlen Barsebäck breitetes Ansehen, nachdem er sich in Kopenhagen Anteil der Kernenergie einem Korruptionsskandal gegen die arla Del Ponte, die Chefanklägerin Malmö an der gesamten mächtige Armee und den Geheim- Cdes Uno-Kriegsverbrechertribunals Stromerzeugung 1998 dienst durchsetzen konnte. Doch dem in Den Haag, legte dem Weltsicherheits- Frankreich 76% jungen Kronprinzen fehlen einstweilen rat in New York einen Bericht mit neu- Schweden 46% Deutschland 30% noch die institutionellen Voraussetzun- en Opferzahlen über den serbischen DEUTSCHLAND gen zur Machtübernahme: Weder be- Terror gegen die albanische Bevölke- Großbritannien 29% kleidet er ein hohes Amt in der Ein- rung im Kosovo vor. Experten des Tri- heitspartei Baath, noch ist er 40 Jahre bunals haben 529 Massengräber ent- Folge für unseren Schließungsbe- alt, das Mindestalter, um nach der Ver- deckt und aus 195 Gräbern 2108 Tote schluss“, erklärt der im Wirtschafts- fassung den Präsidentensessel einzu- exhumiert. Del Ponte erklärte dem Rat, ministerium für Energiefragen zuständi- nehmen. Dennoch trat er in Paris mit nach Ansicht von Kosovo-Albanern sei- ge Ministerialdirigent Håkan Karlström. forschem Selbstbewusstsein auf: Er er- en mehr als 11000 Menschen ums Leben Doch Sydkraft gibt nicht auf: Zwar ver- munterte die Europäer, sich end- gekommen, sie könne die Angaben al- handelt der Konzern bereits mit der Re- lich gleichberechtigt neben den USA lerdings nicht bestätigen. Diese Zahlen gierung über eine angemessene staat- im nahöstlichen Friedensprozess zu liegen bedeutend niedriger als jene, die liche Entschädigung, dennoch versucht engagieren. Nato-Vertreter während des Luftkriegs er weiterhin, eine einstweilige Verfü- verbreitet hatten. Zeitweilig sprachen gung gegen die Schließung zu erwirken. sie von bis zu 44000 Toten und 100000 Rechtsexperten vermuten nun, dass das Vermissten, um das militärische Eingrei- Verfahren vor den Europäischen Ge- fen vor der internationalen Öffentlich- richtshof gelangen wird – mit ungewis- keit zu rechtfertigen. Westliche Medizi- sem Ausgang. ner vor Ort, die im Auftrag des Uno- Tribunals in den vergangenen drei Mo- naten Obduktionen vornahmen, stießen auf zahlreiche Ungereimtheiten in der Nato-Darstellung. So habe sich das schlimmste Massaker des Kosovo- Konflikts im Bergwerk Trep‡a ereignet, bei dem über 700 Albaner getötet wor-

AP den seien. Ermittler fanden jedoch vor

Assad-Sohn Baschar, Chirac Ort keinen Ermordeten und keinerlei AP Anzeichen eines vertuschten Blutbads. Atomkraftwerk Barsebäck

der spiegel 46/1999 205 Distanz bedachten Europäer sollen dienochimmerauf sodasKalkül Ankaras, gion, schütterten Bosporus-Re- der von neuenErdbeben er- reden. über denZypern-Konflikt zu umgemeinsam mensetzen, gen Kostas Simitiszusam- seinem griechischenKolle- mit Freund Clintonbegleitet, wiederumvon anschließend, chefs der54OSZE-Staaten eilenundsich Treffen mitdenStaats- undRegierungs- sident BülentEcevit wird von Treffen zu Ministerprä- und Georgienunterzeichnen. Aserbaidschan gieverträge mitdenUSA, man Demirel milliardenschwere Ener- willStaatspräsident Süley- lenniums reden, Sicherheitsarchitektur desnächstenMil- Menschenrechte unddie tungskontrolle, (OSZE) zupräsentieren. heit undZusammenarbeitinEuropa buler Gipfel derOrganisation fürSicher- würdig als„globalplayer“ aufdemIstan- an derSeiteUSAeinigermaßenglaub- sichdiese Wocheder Regierungin Ankara, Ritterschlag aus Washington ermöglichtes können sichdie Der Türken stetsverlassen. begegnen können“. islamische Welt inFrieden undHarmonie „indersichEuropa unddie gion werden, Nahost undZentralasien müssezurRe- DasLandamScheideweg nach honorieren. modernen Türkei zuerkennen –undzu dieBedeutungder benen Supermacht, mahntederChefeinzigverblie- raten, und morgen definiert.“ wiedie Türkei ihre Rolleheute werden, wird zueinemguten Teil dadurch bestimmt schrieben: „Daskommende Jahrhundert werde amBosporus Weltgeschichte ge- UndauchinZukunft nischen Reiches. politischen Hinterlassenschaft desOsma- seigeprägt von der sität Georgetown, politischen Grundsatzrede anderUniver- vergangene Woche ineineraußen- schmeichelte US-Präsident BillClinton 206 D Auf demGroß-Treffen in Während dieDelegationen überRüs- Auf dengroßen Verbündeten Amerika Die europäischen Partner seiengutbe- Musterknabe undMachtstaat ebteussi eosree.UtrtttvndnUA of naa das Treffen hofft könne Ankara, Unterstütztvon denUSA, Selbstbewusstsein demonstrieren. schichte desganzen Jahrhunderts, DieGe- süß wietürkischer Honig. ie Worteaus Washingtonwaren den Weg füreine Aufnahme indenKreis derBeitrittskandidaten zurEUfrei machen. Auf demOSZE-Gipfel von Istanbulwilldietürkische Regierungneues Besetzung Nordzyperns 1974 Türkische Soldaten nach odrkshnLfrus DieMilliarden- nordirakischen Luftraums. schen Kampfjets zurÜberwachung des tionierung von amerikanischenundbriti- guys“ ausÜbersee. steht siefast immeraufderSeite„good len Konflikten von Sarajevo bisGrosny Auch indenaktuel- Krieges gesichert hat. sen Südostflanke siewährend desKalten des- Nordatlantischen Bündnisverankert, Nahost. Kaukasus und sendreieck zwischenBalkan, teten Partner gar nichtsimeurasischen Kri- Für Washington läuftohnedenhochgerüs- sche Selbstwertgefühl durchausberechtigt: genommen werden. engsten Kreis derBeitrittskandidaten auf- Und diesmalwilldie Türkei endlichinden te Erweiterungsrunde abgestimmt wird. wo imDezember überdienächs- Helsinki, Gipfel fest imBlick–dasEU-Treffen in bei hat dieRegierungbereits dennächsten Da- stärktem Selbstbewusstsein erleben. die Türkei alsvollwertigen Partner mitge- HERZEGOWINA BOSNIEN- Im NahenOstenduldet Ankara dieSta- Seit 1952 istdie Türkei nichtnurim Aus amerikanischerSichtistdastürki- KROATIEN ALBANIEN Ausland TÜRKEI SLAWIEN JUGO- Belgrad Kosovo DONIEN MAZE-

CAMERA PRESS RUMÄNIEN LAND GRIECHEN- BULGARIEN Athen punkt im türkischen Incirlik punkt imtürkischen F-16 aufdemUS-Luftwaffenstütz- Kampfflugzeuge yin rkudIa.Seit1996 verbinden Irak undIran. Syrien, eindruckende Listegemeinsamer Gegner: gleichwohl mitdemNato-Land einebe- Türkei teilt stetseinwenig skeptisch blieb, steck inDamaskuszuvertreiben. dullah Öcalanausseinemdamaligen Ver- umKurdenführer Ab- tervention gedroht, Ankara hatte miteiner militärischenIn- nen EinmarschinSyrien zuverzichten. aufei- ließ ersichvon Mubarak überreden, Vor einemJahr Demirel gutbefreundet. Mubarak istdertürkische Staatspräsident doch sieträgt sie. trägt die Türkeisein erwachsen, murrend – bargo gegen denNachbarnSaddamHus- dieihrausdem Wirtschaftsem- verluste, sal dasgegenüber AtatürksIsrael, moderner Mit seinemägyptischenKollegen Husni Mittelmeer Istanbul Schwarzes Meer Ankara TÜRKEI Zypern Incirlik

AP teil, türkische Militärs ließen durchblicken, sie würden notfalls auch für einen Bo- deneinsatz Truppen stellen. Als es dazu nicht kam, nahm die Türkei 16000 Flücht- linge auf und schickte ein umjubeltes Kfor-Kontingent in die ehemalige Osma- nenprovinz Kosovo. Selbst am Kaspischen Meer ziehen Ame- rikaner und Türken am selben Strang. Seit Jahren arbeiten sie gemeinsam auf eine Pipeline-Verbindung zwischen der aserbai- dschanischen Hauptstadt Baku und dem türkischen Mittelmeer-Hafen Ceyhan hin. Das Projekt ist teurer als alle anderen Va- rianten, kaspisches Öl in den Westen zu bringen, doch es umginge sowohl die re- bellischen Kaukasusrepubliken im Norden als auch den USA-Feind und Türkei-Geg- ner Iran im Süden. Ankara also ein außenpolitischer Mus- terknabe? Ein ruhender, hochgerüsteter Pol in einer rauen Nachbarschaft und eine „stabile, demokratische, säkulare, islami- sche Nation“, die, so US-Präsident Clinton, schnellstmöglich „volles Mitglied Europas“ werden soll? Das wird dauern, denn während sich die Türkei im Wohlwollen der Nato-Vormacht sonnen kann, ist das Verhältnis zu den eu- ropäischen Partnern schwierig. Noch immer weigert sich die EU, den Türken ernsthaft entgegenzukommen. Das liegt – trotz Ankaras sturer Unter- stützung für einen eigenständigen türki- schen Teilstaat auf Zypern – nicht so sehr an der Außenpolitik, sondern an der anhaltenden Unterdrückung im Innern. Der türkische Machtstaat regiert bis heu-

S. McCURRY / MAGNUM / AGENTUR FOCUS / AGENTUR / MAGNUM S. McCURRY te so unangefochten in den Alltag seiner OSZE-Tagungsort Istanbul: Europas Hinhaltetaktik als maßlose Kränkung empfunden zivilen Untertanen hinein, wie es sich seit Ende des Zweiten Weltkriegs keine RUSSLAND überdies mehrere Militärabkommen Jeru- europäische Demokratie mehr leisten Tsche- Kaspisches salem und Ankara: Die Türkei lässt israe- kann. tschenien Meer lische Kampfpiloten im anatolischen Luft- Einen türkischen Polizisten um Namen raum trainieren, Israel sagte Hilfe bei der oder Dienstnummer fragen? Sinnlos. Von GEORGIEN Terrorismusbekämpfung zu und berät die einem Gendarmen erwarten, wie von Türkei bei der Sicherung ihrer Grenze zu Staatsbürger zu Staatsbürger behandelt zu ASERBAIDSCHAN Syrien. werden? Vergebens. Wer am Glaubens- Zwar protestieren die nahöstlichen bekenntnis der modernen Türkei – „eine ARMENIEN Nachbarn regelmäßig gegen die türkisch- Nation, eine Heimat, eine Sprache und eine israelische Kooperation, doch die USA Fahne“ – Zweifel äußert, dem drohen unterstützen das Bündnis. Im Dezember, Festnahme, Haft und nicht selten Folter in IRAN so gab das türkische Außenministerium vo- einem Obrigkeitsstaat, dessen Organe Hauptsiedlungs- rige Woche bekannt, werden sich Soldaten rechtlich fast überhaupt nicht belangt wer- gebiete der der U. S. Navy mit türkischen und israe- den können. Kurden lischen Marineeinheiten vor der südtürki- Dass bei den Menschenrechten „Ver- schen Küste zu einem besserungen“ notwendig seien, räumen in- weiteren gemeinsamen zwischen selbst Ultranationalisten wie der Manöver treffen. Der türkische Verteidigungsminister Sabahat- Name des Unterneh- tin Çakmakoglu ein (siehe Seite 210). Doch mens: „Hoffnungsfrohe die bisher vorgenommenen Korrekturen SYRIEN IRAK Meerjungfrau II“. sind – wie die Entfernung des Militär- Auch während des Ko- richters aus den berüchtigten Staatssicher- sovo-Krieges war auf den heitstribunalen während des Öcalan- Bündnisgenossen Verlass. Prozesses – entweder kosmetisch, oder sie Aus Ankara kam kein kri- stehen auf dem Papier, das vor allem in tisches Wort über die um- Menschenrechts- und Minderheitsfragen Türkische Sicherheitkräfte mit ge- strittene Luftkriegsstrate- sehr geduldig ist. Die Forderung, Kurdisch tötetentöteten kurdischenkurdischen Rebellen;Rebellen; 19951995 DPA gie der Nato – im Gegen- als Unterrichtsfach einzuführen oder

der spiegel 46/1999 207 Ausland

kurdischsprachige Radio- und Fernsehsen- der zuzulassen, gilt immer noch als völlig indiskutabel. Während Westeuropäer und Kritiker ei- Farce am Bosporus? nes schnellen EU-Beitritts wegen Ankaras Unbeweglichkeit auf eine möglichst jahr- Kosovo-Konflikt und Tschetschenien-Krieg erschweren konkrete zehntelange Wartezeit der Türkei im Kan- Ergebnisse auf dem Gipfel von Istanbul. didatenstand hoffen, haben es Oppositio- nelle und ehemalige Staatsfeinde ass sich in dieser Woche die inzwischen eilig. Staats- und Regierungschefs der Die Türkei müsse schleunigst in D54 Mitgliedsstaaten der Organi- die EU aufgenommen werden, for- sation für Sicherheit und Zusammen- derte kürzlich der PKK-Komman- arbeit in Europa (OSZE) ausgerechnet deur Osman Öcalan, Bruder des in der Türkei treffen werden, ist der zum Tode verurteilten Kurdenfüh- deutschen Delegation eher unange- rers. Nur über eine Angleichung an nehm: Seit dem Berliner Hauskrach um europäische Rechtsstandards sei die Lieferung von Leopard-Panzern eine nachhaltige Demokratisierung und Kampfhubschraubern gilt „Türkei“ der Türkei zu erreichen. für die rot-grüne Koalition als Unwort Auch Hasip Kaplan, Sprecher schlechthin. des gemäßigteren „Vereins zur De- In Istanbul werden der Kanzler und mokratischen Einigung und Lösung sein grüner Außenminister wohl den des Kurdenproblems“, zählt auf Zorn der Türken zu spüren bekommen. Europa. Kaplans kurdischem Intel- Die zweifeln allmählich an den Be- lektuellen-Club gelang es vergan- teuerungen von Joschka Fischer, die gene Woche, als Teilnehmer des Türkei gehöre zu Europa und sei ein „kleinen“ OSZE-Gipfels der regie- verlässlicher Nato-Partner. Sie verste- rungsunabhängigen Organisationen

hen den rot-grünen Panzer-Streit nicht. AP zugelassen zu werden. Er ist über- Selbst die Bundesregierung versi- Premier Ecevit, Außenminister Fischer zeugt, dass nur die Aussicht auf chert, es gebe keine Belege dafür, Mit Schelte zurückgehalten einen baldigen EU-Beitritt in der Türkei dass die türkischen Militärs deutsches einen „schnellen und schmerzhaften Än- Kriegsgerät vertragswidrig zum Kampf rung an Russland“ nach dem Kosovo- derungsprozess“ bewirken und das Land gegen die Kurden missbrauchten. Und Krieg der Nato. Denn die westliche zwingen werde, „sich neu zu gestalten“. außerdem stehen türkische Truppen Allianz unter Führung der USA hat Zum ersten Mal treffen sich die Inter- neben Kameraden der Bundeswehr im ebenfalls massiv gegen OSZE-Regeln essen der jahrzehntelang Verfolgten mit deutschen Sektor des Kosovo. zur Vertrauensbildung verstoßen. denen der westlich orientierten Elite des Ein anderer Konflikt, eine halbe Flug- Auch die mit viel Getöse ange- Landes, welche die Hinhaltetaktik Euro- stunde von der türkischen Schwarz- kündigte „Sicherheitscharta“ für das pas gegenüber der Türkei spätestens seit meerküste entfernt, könnte den seit drei OSZE-Gebiet zwischen Vancouver und dem EU-Gipfel von Luxemburg als maß- Jahren geplanten Bosporus-Gipfel leicht Wladiwostock bleibt ein rechtlich un- lose Kränkung empfindet. zur Farce machen. Russland verstößt verbindliches Papier – und enthält Aber auch der Helsinki-Gipfel im nächs- bei seinem Feldzug in Tschetschenien kaum mehr als eine Zusammenstellung ten Monat hält voraussichtlich neue gegen sämtliche Grundsätze der OSZE: der Grundsätze, die seit dem Helsinki- Schmach bereit: Aus Sorge um die künfti- Gewaltverzicht, Schutz von Minderhei- Gipfel von 1975 immer wieder bekräf- ge Funktionsfähigkeit der Union soll die ten,Verhältnismäßigkeit der eingesetz- tigt wurden. Eine Einigung auf neue Türkei vom neuen Kommissionspräsiden- ten Mittel. vertrauensbildende Maßnahmen – etwa ten Romano Prodi ebenfalls mit hehren Trotzdem beschwor Fischer vorletz- häufigere Inspektionen und detaillier- Versprechungen abgespeist werden. Euro- te Woche die kämpferische US-Kollegin tere Auskünfte zu Truppenbewegungen pa behandle sein Land wie ein Meister den Madeleine Albright, den Gipfel nur ja – konnten die nach Istanbul vorausge- Lehrling, beschwerte sich beim Istanbuler nicht platzen zu lassen. Sonst seien alle eilten Unterhändler nicht erzielen. „Deutsch-Türkischen Dialog“ Anfang No- Chancen dahin, den „Grundkonsens“ „Seit Kosovo und Tschetschenien ist da vember ein türkischer Diskutant. (Fischer) zwischen Atlantik und Ural nichts mehr zu machen“, klagt ein Wolfgang Ischinger, der aus Berlin an- festzuschreiben. Nur so könne die seit deutsches Delegationsmitglied. gereiste Staatssekretär des deutschen 1997 so mühsam ausgehandelte Anpas- Gleichwohl werden die Russen nicht Außenministeriums, antwortete auf den sung des Vertrages über konventionel- fürchten müssen, dass die Kritik am Vorwurf mit diplomatischer Raffinesse: Die le Abrüstung (KSE) besiegelt werden. Kaukasuskrieg in der „Istanbuler Er- Türkei unterschätze womöglich ihre eige- Nach dem Zerfall des Warschauer klärung“, dem Abschlussdokument der ne Bedeutung. „Nichts gegen die Balten, Paktes und nach Beitritt von Ungarn, Tagung, allzu harsch ausfällt. Die deut- doch der Beitritt Estlands wird an der Tschechien und Polen zur Nato, sollen sche Regierung, allen voran der vor- Grundarchitektur der Europäischen Union für jeden der 30 KSE-Staaten Ober- sichtige Fischer, hatte sich aus Furcht nichts verändern.“ grenzen für schweres Kriegsgerät wie um den Gipfel ohnehin mit öffentlicher Die Türkei hingegen, die Brücke nach Panzer und Kampfflugzeuge vereinbart Schelte zurückgehalten. Überdies kann Asien und ein Land mit bald 70 Millio- werden. die feierliche Erklärung der 54 Staa- nen Einwohnern, sei ein „Brocken“, der Ziel des Gipfels am Bosporus sei dar- tenlenker gemäß eherner OSZE-Regel bis zu seinem Beitritt unter Umständen über hinaus, so Fischer-Mitarbeiter ver- nur einstimmig verabschiedet werden. selbst Deutschlands Gewicht übertreffen gangene Woche, die „Wiederannähe- Jürgen Hogrefe, Alexander Szandar könnte. Da sei Geduld nicht nur eine Tugend, sondern – leider, leider – uner- lässlich. Bernhard Zand

208 der spiegel 46/1999 Werbeseite

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Çakmakoglu: Das ist uns ganz wichtig, denn Kampfpanzer sind das Herzstück moder- ner Landstreitkräfte. Schauen Sie sich ein- mal die geostrategische Lage der Türkei „Wir brauchen starke an, eingekeilt zwischen dem Balkan, dem Nahen Osten und der kaukasischen Kri- senregion. Wenn Sie sich die Geschichte dieser Unruhezonen vergegenwärtigen, Streitkräfte“ werden Sie unsere Forderung nach starken Streitkräften verstehen. SPIEGEL: Was uns viel mehr beunruhigt, ist Verteidigungsminister Sabahattin Çakmakoglu über das die Möglichkeit, dass Sie diese Panzer gar Panzergeschäft mit Deutschland, Ankaras nicht gegen mögliche äußere, sondern ge- Aufrüstung und den Konflikt mit Nato-Partner Griechenland gen Gegner im Inneren Ihres Landes, etwa gegen Kurden, einsetzen könnten. Haben Sie angesichts der anhaltenden Menschen- Çakmakoglu: Wir haben eine ganz norma- rechtsverletzungen in der Türkei Ver- le Ausschreibung organisiert. Wer immer ständnis dafür, dass viele Deutsche das sich daran beteiligen will, muss sein Pro- Panzergeschäft ablehnen? dukt zunächst vorführen. Çakmakoglu: Bei den Menschenrechten SPIEGEL: Ist es Ihnen vielleicht sogar gleich- streben wir Verbesserungen an. Doch die- gültig, ob die Deutschen ihren „Leopard“ jenigen, die uns diese Frage immer stellen, vorzeigen oder nicht, weil Sie genügend sollten nicht vergessen, dass sie in Men- weitere Mitbewerber um den lukrativen schenrechtsfragen auch nicht immer eine Auftrag haben? strahlend weiße Weste haben. Çakmakoglu: Richtig. Wer unsere Aus- SPIEGEL: Trotzdem: warum diese riesigen schreibungsbedingungen nicht erfüllt, gerät Investitionen in eine eigene Rüstungsin- ins Hintertreffen. Sie würden doch auch dustrie?

M. GÜLBIZ / AGENTUR FOCUSM. GÜLBIZ / AGENTUR kein Mädchen heiraten, das Sie noch nie Çakmakoglu: Gerade wegen der Schwie- gesehen haben. rigkeiten, die wir bei Waffengeschäften Çakmakoglu, 69, amtiert seit Juni als Ver- SPIEGEL: Wollen Sie denn, um im Bild zu wiederholt mit der deutschen Regierung teidigungsminister. Der Jurist und lang- bleiben, das martialische Mädchen im Leo- hatten, ist es doch einleuchtend, dass wir jährige Staatsbeamte gehört der rechts- pardenfell gern heiraten? autark werden wollen. konservativen Partei der Nationalistischen Çakmakoglu: Das kann ich noch nicht sa- SPIEGEL: Vielleicht möchten Sie aber auch Bewegung an, deren Anhänger in Deutsch- gen. Ich habe die Dame nie gesehen. Mei- den deutschen Herstellern mit Ihren land auch unter dem Namen Graue Wölfe ne Militärs berichten mir allerdings, dass eigenen Lizenzprodukten Konkurrenz aktiv geworden sind. sie ganz proper sein soll. machen? SPIEGEL: Sie wollen ja nicht bloß kaufen, Çakmakoglu: Warum nicht? Zu unseren SPIEGEL: Herr Minister, warum wollen Sie sondern die 1000 Panzer im eigenen Land Ausschreibungsbedingungen gehört der unbedingt den deutschen Kampfpanzer in Lizenz produzieren. Warum wollen Sie Technologietransfer – und zwar ohne jede „Leopard 2“ testen, den die Berliner Re- nach dem Ende des Kalten Krieges solch Einschränkung. gierung womöglich gar nicht zum Export in gewaltige Anstrengungen im Rüstungssek- SPIEGEL: Wo und gegen wen wollen Sie tau- die Türkei freigeben wird? tor unternehmen? sende Panzerfahrzeuge ins Feld führen? Çakmakoglu: Seit 76 Jah- ren hat die türkische Re- publik ihre Friedensliebe bewiesen. Wie die Bei- spiele des Golfkriegs und des Kosovo-Konflikts zei- gen, kann ein Land allein gar keinen Krieg mehr er- folgreich führen. Gleich- wohl braucht ein Staat starke Streitkräfte, um Frieden und Sicherheit zu bewahren. Im Übrigen scheinen Sie zu viel Ge- wicht auf die Landstreit- kräfte zu legen. Für echte Abschreckung muss eine Armee nicht nur am Bo- den, sondern auch in der Luft und zu Wasser stark sein. SPIEGEL: Da haben Sie sich ja auch schon kräftig be- dient: Ihre Fregatten aus

AP deutschen Werften sind Panzerparade mit „Leopard 1“ in Ankara: „Technologietransfer ohne jede Einschränkung“ moderner als die der Bun-

210 der spiegel 46/1999 Werbeseite

Werbeseite Ausland desmarine. Sie besitzen U-Boote aus SPIEGEL: Gerade erst hat der deutsche Deutschland und bald auch Minenjagd- Außenminister Joschka Fischer die Türkei schiffe. Sie wollen Kampfhubschrauber aufgefordert, Geld in die zivile Infrastruk- kaufen und mit Bundeswehrhilfe ein tur des Landes statt in die Aufrüstung C-Waffen-Labor einrichten. Warum kau- zu stecken. Werden Sie seiner Anregung fen Sie eigentlich nicht woanders ein? folgen? Çakmakoglu: Wir stellen in allen Bereichen Çakmakoglu: Bei unserem Rüstungspro- höchste technologische Ansprüche. gramm handelt es sich in Wahrheit um SPIEGEL: Wenn Sie die alle befriedigen, mehr als 50 einzelne Projekte, die – je nach droht ein Wettrüsten in einer der un- Kassenlage – eins nach dem anderen über sichersten Weltregionen. einen langen Zeitraum verwirklicht werden Çakmakoglu: Nicht not- wendigerweise. Wir rea- gieren nur auf die be- trächtlichen Rüstungs- anstrengungen unserer Nachbarn. SPIEGEL: Im schwierigen Verhältnis zu Griechen- land hat es gerade erste Entspannungssignale ge- geben. Bedroht Ankaras Aufrüstung nicht diesen Fortschritt? Çakmakoglu: Vor allem seit dem schweren Erd-

beben im August und der REUTERS anschließenden Hilfe aus Türkische Patrouille in der Ägäis (1996) Athen sehen wir in der „Anzeichen für eine gewisse Entspannung“ Tat Anzeichen für eine gewisse Entspannung. Doch für eine wirk- sollen. Dafür wird kein Pfennig von zivilen liche politische Aussöhnung ist es wohl Aufgaben abgezweigt. Die werden immer noch zu früh. Fortschritte in der Zusam- Priorität haben.Wenn für unsere Vorhaben menarbeit beim Tourismus, bei den Wirt- kein Geld da ist, werden wir sie aufschie- schaftsbeziehungen und Umweltfragen ben müssen. können nicht verdecken, dass es bei den SPIEGEL: Ist der Militäretat auch nur um politischen Streitpunkten bislang keine eine Lira gekürzt worden, um die gewalti- Annäherung gibt. Gerade erst hat das grie- gen Schäden des Erdbebens schneller zu chische Militär auf Zypern Manöver ab- beheben? gehalten. Çakmakoglu: Nein. Aber wir haben gele- SPIEGEL: Zehn Jahre nach Ende des Kalten gentlich von uns aus Abstriche an unseren Krieges hat Ankara seinen Wehretat mehr Plänen gemacht. als verdoppelt. In den nächsten 25 Jahren SPIEGEL: In dieser Woche treffen sich in wollen Sie für mindestens 150 Milliarden Istanbul die Staats- und Regierungs- chefs der Organisation für Sicherheit und „Von Nachbarn eingekreist, die Zusammenarbeit in Europa. Ihr promi- früher Kolonien des nentester Gipfelgast, der amerikanische Präsident Bill Clinton, hat vorab die wich- Osmanischen Reichs waren“ tige Aufgabe der Türkei herausgestellt, zu- gleich aber auch Fortschritte in der Aus- Dollar aufrüsten. Wie kann die nicht eben einandersetzung um Zypern angemahnt. wohlhabende Türkei das finanzieren? Werden Sie dem Wunsch des großen Bru- Çakmakoglu: Unsere Rüstungsausgaben lie- ders folgen? gen noch immer unter dem Nato-Durch- Çakmakoglu: Es ist ermutigend, dass die schnitt … Führungsmacht im Bündnis die Schlüssel- SPIEGEL: Wieso? Die Türkei zweigt mehr rolle anerkennt, die wir in diesem Teil als vier Prozent ihres Bruttoinlandspro- der Welt, an der Schnittstelle von Europa, dukts für das Militär ab, mehr als jedes an- Asien und Afrika, zu übernehmen haben. dere Nato-Land außer Griechenland. In der Zypern-Frage können wir voran- Çakmakoglu: Wir sind von zehn Nachbarn kommen, wenn endlich die Existenz zwei- eingekreist, die früher fast alle Kolonien er souveräner Staaten auf Zypern aner- des Osmanischen Reichs waren. Daraus kannt wird. Es kann nicht angehen, dass entstehen noch immer Animositäten. Die- der Südteil der Insel … ser Feindseligkeit müssen wir mit Stär- SPIEGEL: … also der griechische … ke begegnen. Kein anderes Nato-Land hat Çakmakoglu: … noch immer als der Re- so bedrohliche Nachbarn. Deutschland präsentant der ganzen Insel angesehen gibt ohne jeden Gegner an seinen Gren- wird. zen dreimal so viel für das Militär aus Interview: Siegesmund von Ilsemann, wie wir. Bernhard Zand

212 der spiegel 46/1999 Werbeseite

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RUSSLAND „In einer Woche platt“ Jelzins Militärs wollen sich in Tschetschenien bis zum DPA siegreichen Ende schlagen – ohne Militärminister Sergejew, Chef Jelzin Rücksicht auf Verluste für Moskaus internationales Ansehen. Auf Durchmarsch programmiert

chnee deckt Panzer, Trümmer, Lei- schung in Russlands innere Angelegenhei- Frankreichs Botschafter am vorigen Don- chen und die Zelte zu, Kälte bis zu 30 ten. Eine „menschliche Katastrophe“? Das nerstag in den Stalin-Wolkenkratzer am SGrad minus lähmt die blutjungen rus- sei ein „Trugbild“, welches der Westen Smolensker Platz in Moskau: Die Franzo- sischen Rekruten und tötet die Hilflosesten künstlich erzeuge, lautete Iwanows Salto in sen hätten einen „unfreundlichen Akt“ be- der 200 000 geflüchteten Tschetschenen: den Sowjet-Stil. Sein Vize Jewgenij Gussa- gangen, wurde er verwarnt, und Russlands Jetzt führt im Nordkaukasus General Win- row beschied die OSZE-Kollegen, welche territoriale Integrität verletzt. ter das Kommando – eigentlich die Gele- ihren Bericht auf dem Gipfel der Europa- Jelzins Vize-Kanzleichef Igor Schabdu- genheit zu einer Feuerpause. Organisation am Donnerstag in Istanbul rassulow räumte rasch „einige“ Ziviltote Am Kontrollposten Kawkas 1 an der vorlegen wollen, Russland werde „mit der ein, infolge von „Fehlern, für die wir die Grenze zwischen Inguschien und Tsche- Situation allein fertig“. moralische Verantwortung tragen“. Den- tschenien, wo noch immer Geschützdonner Moskauer EU-Botschaften wurden über noch sei der „Kurs richtig“ und „die hallt, prüfte vorige Woche ein Inspek- die Schlussfolgerungen der Inspektoren Führung sich einig“. tionstrupp der Organisation für Sicherheit vorab informiert, wobei sich die Überzeu- Intern klang es ganz anders. Der Ein- und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) gung festigte, dass Russlands Wüten in bruch an der Propagandafront ließ einen die Kriegsfolgen: Sieben Experten unter Tschetschenien durchaus nicht mehr allein hohen Kreml-Beamten bei seinem aber- Leitung des norwegischen Diplomaten Kim dessen innere Angelegenheit sei. Erzürnt mals urlaubenden Präsidenten Alarm Traavik besuchten notdürftig eingerichte- warnte der Sprecher des Moskauer Außen- schlagen, per Kurierpost: „Die Gefahr te Flüchtlingslager in Schulen und Schup- ministeriums die anderen 53 OSZE-Mit- wächst, dass unsere gerechte Position in pen, Erdhütten und eiskalten Eisenbahn- gliedstaaten davor, den Kaukasuskrieg ausländischen Medien nicht mehr durch- waggons. beim Treffen in der Türkei etwa zum dringt und Russland den Informationskrieg Weiter, ins eigentliche Kampfgebiet, Hauptthema zu machen. um Tschetschenien wieder verliert.“ ließen russische Befehlshaber die fremde Französische Diplomaten hatten gewagt, Trotz Gleichschaltung der Medien und Kommission nicht vor. Doch der reich- mit Tschetscheniens Außenminister Iljas der Abriegelung des Tatorts wagten west- ten bereits die Eindrücke aus der Elends- Achmadow zu reden.Anders als im ersten liche Journalisten und Diplomaten zu zwei- etappe, um „schwere humanitäre Proble- Feldzug 1994/96, so bestätigte Achmadow feln, ob für die angebliche Banditenjagd me“ zu protokollieren. in Paris, hätten die Russen bereits 200 Bo- eine fast 100000-köpfige Armee ein Land Russlands feinsinnigem Außenminister den-Boden-Raketen gezündet, 4000 Zivilis- planieren muss. Dabei ist der Beweis, dass Igor Iwanow gelten solche vorsichtigen ten seien ums Leben gekommen. Empört die blutige Bombenserie in Russland (293 Mahnungen längst als verbotene Einmi- bestellte das russische Außenministerium Tote) tschetschenische Urheber hatte, bis heute nicht geführt. Der Ge- heimdienst FSB benannte nun den Ägypter Saïd al- Maban als Finanzier des Terrors – der Geschäfts- mann hatte vor einem Jahr auf einem Kongress 200000 Dollar für hungernde Mus- lime gestiftet. Russlands Präsident muss jetzt auf dem letzten großen Gipfel seiner Amtszeit in Istanbul mit Vorwürfen rechnen. Doch seine Ge- neräle sind auf Durch- marsch programmiert. Sie werben dafür mit dem simplen Argument, nur der- jenige werde im nächsten Sommer die Präsidenten- wahlen gewinnen, der die Kaukasus-Kampagne sieg- reich beende. Volkes Stimme scheint diese Kalkulation zu stüt- zen: Jeder dritte Moskowiter

A. SEL / SIPA PRESS A. SEL / SIPA ist mit dem Vormarsch der Raketentrümmer in Grosny: 4000 getötete Zivilisten Armee in Tschetschenien

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Werbeseite Ausland zufrieden, ein weiteres Drittel plädiert so- aber wirbt allein Verteidigungsminister Igor gar für noch härteres Draufschlagen: Auch Sergejew noch für eine rasche Beendigung eine Bürgermehrheit fällt zurück in den des Krieges, spätestens bis zum Ende die- Sowjet-Stil. ses Jahres. Doch er donnerte auch, der Premier Wladimir Putin, dem eine Mos- Westen trachte nur danach, Russland aus kauer Tageszeitung die Ausstrahlung eines der Kaspi-Region, dem Kaukasus und Mit- „getrockneten Haifischs“ attestierte, setzt telasien herauszudrängen. Zunehmend ge- längst ungeniert auf diesen Kriegspopulis- rät er unter Druck seines Generalstabs- mus – und auf die alten Kameraden. chefs Anatolij Kwaschnin, der sich von der Publikumswirksam überreichte er Tatjana Schmach des verlorenen ersten Tsche- Teperik den postum verliehenen Orden tschenien-Krieges reinwaschen und außer- „Held Russlands“ für ihren gefallenen Ehe- mann, einen Polizeioffizer. Ein ehemaliger Putin-Gehilfe behauptet, der Geheim- dienst-Oberst a. D. habe den Wechsel vom willigen Jelzin-Instrument zum potenziel- len Soldatenkaiser längst vollzogen. Das Risiko kennt er: „Irgendwann wer- den wir alle gefeuert“, meditierte der Pre- mier. Der Moskauer Politologe Andrej Piontkowski befürchtet dagegen einen „schleichenden Militärputsch“: Putin sei „der zivile Sprecher des Militärs“, Boris Jelzin könne ihn nun „nicht mehr entlassen und umgekehrt Putin nicht die Generäle“. Darauf stellen sich die Kader ein, die in ihrer Karriereplanung auf Putin setzen. Anatolij Tschubais beispielsweise, ehemals Privatisierer der Staatswirtschaft und Dar- ling aller Neoliberalen, ist heute Chef des staatlichen Stromkonzerns und „mit allen Handlungen der Regierung in Tsche-

tschenien vollständig einverstanden“. AP Mehr noch: Russland sei in der glücklichen Kriegerwitwe Teperik, Premier Putin Lage, dass „Putin die Armee kontrolliert Orden für den toten Helden und die Armee ihm vertraut“. Einzelne Generäle gebärden sich schon, dem auf den Sessel des Ministers setzen als habe ihr oberster Kriegsherr Jelzin, der möchte. Putin zu seinem Nachfolger erkoren hatte, Dem Sog zu einer Gesellschaft, die sich bereits abgedankt. General Wladimir Scha- von der Außenwelt isoliert und auf einen manow, Kommandeur der Armeegruppe Sonderweg zwischen Kaserne, Kirche und West in Tschetschenien, droht öffentlich Kapitalismus begibt, kann sich kaum noch mit seinem Abschied, falls eine Feuerpau- eine politische Kraft in Russland entzie- se befohlen wird: „Ich werde meine Schul- hen. Tschetschenien wirkt als Stimulanz. terstücke sofort abreißen und gehen.“ Selbst die jüngste Friedensinitiative des Sein Vorgesetzter Wiktor Kasanzew liberalen Jabloko-Parteiführers Grigorij prahlt, er könne die Region „in einer Wo- Jawlinski bedeutet eine verdeckte Kapitu- che mit Bomben platt machen“, wenn Jel- lation vor der neuen Sehnsucht nach einer zin die Rebellen-Republik unter Kriegs- starken Hand: Liefert Grosny nicht alle von recht stelle.Wenn nicht, solle sich das Volk Russland gesuchten Leute und alle Waffen auf weitere drei Jahre Krieg einrichten. aus, sollen 30 Tage für die Flucht bleiben, Oder noch länger: Trotz aller Siegesfan- danach hat die Armee freie Hand. faren der Militärpropaganda ist seit Beginn Nur Menschenrechtler Sergej Kowaljow der so genannten Anti-Terror-Aktion vor klagt noch, dass Moskau „die Mittel der sieben Wochen nicht einer der 157 Tsche- Nato nutzt, um Milo∆eviƒs Ziele zu er- tschenen-Anführer gefangen, getötet oder reichen“. Der Wehretat des kommenden verwundet worden. Jetzt lässt der Winter Jahres steigt um 800 Millionen auf 5,4 Mil- für Monate die Angriffslust gefrieren. liarden Dollar. Eine Delegation des Welt- Doch auch Generaloberst Walerij Mani- währungsfonds verhandelt in Moskau über low, Vize-Chef des Generalstabs, bestärkt die nächste Tranche des im Juli zugesagten Zweifel, ob die Militärführung sich noch Kredits von 4,5 Milliarden Dollar. Schon im einem Politiker-Befehl zu Friedensver- Dezember sollen zunächst weitere 640 Mil- handlungen fügen werde. Befürchtungen, in lionen fließen. diesem Fall komme es zu „Unzufrieden- Für die Flüchtlinge aus Tschetschenien heit, Unruhen oder Ultimaten“, nannte er wendet die russische Regierung je Kopf „hypothetisch“ – jedoch nicht grundlos. kaum 20 Rubel am Tag auf, vier Millionen Außenminister Iwanow rät vorsichtig zu Dollar im Monat – ein 160stel der nächsten einer „politischen Regelung“ des Tsche- Subvention aus dem Westen. tschenien-Problems. Unter den Militärs Jörg R. Mettke

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JUGOSLAWIEN Die Belgrad Party Die Menschen in Belgrad richten sich auf einen langen Winter mit Diktator Milo∆eviƒ ein. Der Lebensstandard sinkt dramatisch. Doch eine mit Schwarzmarkt-Geschäften reich gewordene neue Elite probt den Tanz auf dem Vulkan. Von Erich Follath

urch die alten türkischen Folter- Jelena Djukiƒ, 26, hat Archäologie stu- verliese auf der Festung Kalemeg- diert, bevor sie sich professionell der Mode Ddan über Belgrad dröhnt der Beat verschrieb. „Die jüngsten Ereignisse“ um- – Musik aus dem Arsenal der Nato-Sieger, schreibt sie die Nato-Angriffe. Diese jüngs- mit provozierenden Namen. ten Ereignisse hätten die Belgrader dazu „B-52’s“ und „Rammstein“ heißen die verdammt, „geduckt und primitiv wie Vor- bevorzugten Bands bei dem Treff der neu- zeitmenschen zu leben“. Deshalb hat sie en jugoslawischen Elite. Wenn die Ironie Kleider mit Motiven von Höhlenmalern beabsichtigt sein sollte, so hat sie für die versehen. Ihre Kollegin Verica Rako‡eviƒ Veranstalter der Belgrader Modewoche verordnet den Models Nonnenkluft und doch keine Bedeutung. Natürlich kennen lässt sie gegen das Dunkel der Nächte mit sie die Namen der amerikanischen Bomber Kerzen über den Laufsteg schreiten. und ihrer US-Basen, aber hier geht es nicht Nata∆a Krstiƒ reduziert die Kleider auf Fet- um Politik. „Die Musik ist gut, sie passt zu zen – die Jugoslawin als in den Urwald unseren Kleidern, sie macht Spaß. Und das zurückgeworfene Tarzan-Jane. vor allem zählt nach diesen Wochen der Der Beifall ist riesig. Modewochen-Or- Leiden“, sagt Nenad Radujeviƒ. ganisator Radujeviƒ, 33, ein Beau mit sanf- Er streicht die Falten seines Fracks zu- tem Blick,verneigt sich glücklich. Er kennt recht und macht vor geladenem Publikum tout Belgrad. Durch seinen Vater, den Di- die Honneurs. „Voilà, unsere erste Nach- rektor der größten Kaufhauskette des Lan- kriegskollektion, ausschließlich entwor- des, verfügt er über beste Beziehungen zur fen von einheimischen Designern.“ Dann Führungsclique um Präsident Slobodan tänzeln zum hämmernden Rap serbi- Milo∆eviƒ. Das gilt auch für weite Kreise sche Schönheiten über den Laufsteg – in des Publikums: Auf dem Parkplatz vor der abenteuerlichen Kreationen, die oft Be- Festung stehen dutzende Porsche, BMW- zug nehmen auf das, worüber man in Sportwagen und Mercedes der S-Klasse. Belgrad wenig spricht, aber woran man Die bevorzugten Couturiers der Belgrader immer denkt: die Bomben, die Angst, die Modenschau-Gäste stammen nicht vom Zerstörung. Balkan: Versace rauscht, Armani raschelt, als man sich anschließend zum Krimsekt trifft. Die meist sehr jungen Da- men aus dem Publikum wer- den von ihren Begleitern wie Trophäen präsentiert. Sie tra- gen Schmuck von italieni- schen Goldschmieden; die Herren tragen eher Gold-Be- rettas vom italienischen Waf- fenhersteller. Hier auf der Burg dürfen sie Macho spie- len. Im traditionellen Bel- grader Elite-Treff, dem Ho- tel Hyatt auf der anderen Seite der Save, warnt ein Schild die „verehrte Kund- schaft“: „Es ist Politik des Hauses, dass alle Pistolen am Eingang abgegeben werden müssen.“ Mit Belgrad geht es rapide

REUTERS abwärts. Die Inflation hat 15 Präsident Milo∆eviƒ, Anhänger Prozent monatlich erreicht, Jede Nacht in einem anderen Bunker der Dinar ist auf ein Drittel Modeaufnahmen im von Nato-Bomben zerstörten

218 der spiegel 46/1999 seines offiziellen Kurswerts gegenüber der D-Mark gesunken. Weite Teile der Indu- strieproduktion sind lahm gelegt, europäi- schen und US-Firmen ist der Handel mit Jugoslawien verboten, Direktflüge in den Westen gibt es nicht mehr. Serbien, das ein- zige Land der Welt, das von einem inter- national angeklagten Kriegsverbrecher re- giert wird, ist isoliert.Wie kommen die neu- en Reichen von Belgrad zu ihrem Geld? Dejan Zdravkoviƒ, Besitzer des vorneh- men Tennisclubs „Max“ im Nobelviertel Dedinje und Nachbar der Milo∆eviƒs, hat keine Scheu, es zu erklären – das Prinzip, nicht die Details. „Die internationalen Sanktio- nen sind für Geschäfts- „Milo∆eviƒ leute paradiesisch. Wer handelt wie ein die richtigen Leute kennt, Wahnsinniger, zahlt heutzutage keine und die ande- Zölle und keine Steuern. ren wollen aus Die Gewinnspannen sind Selbstsucht enorm, und sie zementie- ren Milo∆eviƒs Macht.“ an die Macht“ Zdravkoviƒ, 49, macht den Präsidenten für vier verlorene Kriege verantwortlich, wird aber keinen Finger rühren zu seinem Sturz. Der Mann, der lange Zeit in Italien gelebt und an Regie- rungen in alle Welt zur Waffenherstellung taugliche Werkzeugmaschinen verkauft hat, ist zuallererst Pragmatiker. Er gehört zum inneren Kreis der Kleptokratie, der die Serbien GmbH beherrscht. „Wer gibt schon freiwillig seine Macht auf, seine Geldquellen?“ Der Spezialist für Im- und Export fährt einen Porsche und hat ihn „selbstver- ständlich“ legal erworben. Einen Monat lang durften sich auf Milo∆eviƒs Anwei- sung jetzt alle Autobesitzer in Belgrad of- fizielle Nummernschilder für ihre Wagen abholen, ohne deren Herkunft nachweisen zu müssen – ein Freifahrschein für Schie- ber und Schwarzhändler. Wenn Interpol kommt, wird sie anhand von Serien- nummern am Motorblock leicht fest- stellen können, dass praktisch alle Luxus- autos in der jugoslawischen Hauptstadt Diebesgut sind. Doch Interpol kommt erst, wenn Milo∆eviƒ gestürzt, das Land nicht mehr international geächtet, die Sanktio- nen aufgehoben sind. Die Belgrader Nomenkleptura schmerzt zwar, dass sie keine Visa mehr für den Wes- ten erhält, aber sie tröstet sich damit, die billigsten Porsches der Welt zu fahren. Viele junge Leute mit Uni-Abschluss und Hang zur ehrlichen Arbeit sind längst ab- gehauen: mehr als 300000 Republikflücht- linge, ein ungeheurer intellektueller Ader- lass. Die meisten der Zurückgebliebenen zwischen 18 und 30 Jahren sehen wenig Sinn darin, einem geregelten Job nachzu- gehen oder ihn auch nur anzustreben. Ein Universitätsassistent verdient 200 Mark monatlich, eine Lehrerin 250 Mark. Das

AP reicht kaum für mehr als eine Packung Belgrader Außenministerium: „Was nach diesen Wochen der Leiden zählt, ist Spaß“ Müller-Milchreis oder ein Heineken-Bier

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rastudentin, die ihr Studium aufgegeben deren Gründen. Er hat Angst vor einem hat und die Frage nach dem Warum nicht überraschenden Nato-Schlag. Doch tags- versteht: „Sollte ich Rechtsanwältin wer- über ist er sehr präsent: Milo∆eviƒ, so sagen den in einem Land, in dem das Recht nichts Belgrader Insider, weiß alles. Er ist ein zählt?“ Wie so viele in der Szene legt auch merkwürdiger Diktator in einer merkwür- sie keinen Wert mehr auf ihren Familien- digen Diktatur. Zwar kontrolliert Milo∆eviƒ namen, hat den Kontakt zum Elternhaus die elektronischen Medien fast zu hundert abgebrochen. „Meine alte Identität ist ab- Prozent, und er lässt dort Lügen über die gelegt, es existiert kein Relikt mehr aus Zustände in seinem Land verbreiten, dass meinem letzten Leben.“ sich der Balkan biegt. Zwar ordnet er in Mit 17 hat sie an Demonstrationen teil- unregelmäßigen Abständen brutale Poli- genommen, 1996 noch an einen demokra- zeieinsätze gegen Demonstranten an. Aber tischen Machtwechsel geglaubt. Doch da- er lässt auch Kritik zu – und öffnet so ge- mit ist es für Milena vorbei: „Politik ist bei schickt Ventile. uns eine Krankheit. Milo∆eviƒ handelt wie Die größte Belgrader Boulevardzeitung ein Wahnsinniger. Der Westen bombardiert „Bliƒ“ erscheint mit einem Bild einer die Menschen, die ihn stürzen wollen und Wandmauer auf Seite eins, deren Auf- nimmt uns die Lebensgrundlagen. Und schrift lautet: „Sloba ne hvala – Slobo nein Belgrads so genannte Oppositionelle has- danke“. Und im Theater kann der Komiker sen einander mehr als Milo∆eviƒ, wollen Mi‡ko den Präsidenten, der ihm verblüf- nur aus Selbstsucht an die Macht.“ fend ähnlich sieht, öffentlich nachäffen und Also steht Milena jeden Tag erst am spä- der Lächerlichkeit preisgeben. Zu der Me- ten Nachmittag auf. Guckt dann Musik- lodie von Frank Sinatras „Strangers in the Videos. Schlingt irgendwelches Fast Food Night“ singt ein Chor: „Und jetzt auch

E. FOLLATH / DER SPIEGEL E. FOLLATH hinunter. Macht sich schön für die Nacht – noch das Kosovo, nehmt Abschied vom Flohmarkt im Armenviertel von Belgrad und die Männer, von denen sie sich aus- verlorenen Kosovo.“ „Gesetz und Ordnung, was heißt das“ halten lässt. Politik ist „uncool“, aber Lu- Dragoljub Ljubi‡iƒ, wie Mi‡kos richtiger xus ist „cool, egal aus welchen Quellen er Name lautet, glaubt, dass man in diesen pro Tag (beides am Kiosk oder im Super- stammt“. Die Konkurrenz williger junger Tagen in Belgrad ziemlich alles sagen und markt vorhanden). Entbehrung und Bom- Partygängerinnen ist groß, mit ihren 20, tun kann, was man will. Milo∆eviƒ erlaube bentrauma machen die jungen Leute meint sie, zähle sie bald schon zum alten das so lange, wie er sich durch die Kritik selbstsüchtig – und zynisch. Eisen. ungefährdet fühle, meint der Satiriker. Die- Viele haben ihre Ausbildung abgebro- Sie liest ihre Verehrer in Bars auf, deren ser Zustand könne noch lange sein. Nach chen, sie denken nicht an Familiengrün- Namen von der Sehnsucht nach der großen Ansicht des Theatermanns sind die Bel- dung, sie verabscheuen jede Form der weiten Welt zeugen: im „Ipanema“, im grader schizophren: „An manchen Tagen Verantwortung. Eine ganze Generation, so „Acapulco“, im „Passport“. Milenas Näch- halten wir uns für die Juden dieser Welt, an scheint es, will das Erwachsenwerden ein- te enden dann meist im „Nana“ oder im manchen für die Nazis. Unsere Situation ist stellen. Die Welt hat sich von ihnen verab- „Rose“, den beiden sündhaft teuren Nacht- so verrückt, dass die Menschen nicht wis- schiedet, also nehmen sie von der Welt eine clubs in Dedinje, wo es erst weit nach Mit- sen, ob sie lachen oder weinen sollen.“ Auszeit: Was zählt, ist der Augenblick, ist ternacht richtig losgeht. Wo es im Hinter- Von Belgrads Intellektuellen war lange Fun, Fun, Fun. Belgrads Jugend inhaliert zimmer für alle, die die Nase voll haben, nicht mehr viel zu hören, und wenn, dann das Leben, Glück im Hier und Jetzt – ob eine Nase voll gibt: Kokain macht die Mu- wenig Rühmliches. Der Serbische Schrift- am Rande oder gar jenseits der Legalität in- sik heißer, die Männer sympathischer, die stellerverband UKS verurteilte die De- teressiert da kaum mehr. Zukunft unwichtiger, den Sex erträglicher. monstranten gegen Milo∆eviƒ. Der regime- „Gesetz und Ordnung, was heißt das Auch Präsident Milo∆eviƒ, 58, schläft treue Verein lud kürzlich den russischen schon in Belgrad“, sagt Milena, die Ex-Ju- jede Nacht in einem anderen Bett – aus an- Philosophen Alexander Sinowjew ein, der seinen Gastgebern prompt versicherte, sie gehörten zu einem Heldenvolk, „von der Nato unbesiegt“. Ein Großteil der bekannten Autoren wie Mirko Kova‡, Bora ±osiƒ und Bogdan Bog- danoviƒ hat sich ins Ausland abgesetzt.Von denen, die bleiben, kuschen die meisten. Immerhin verließen jetzt einige Dichter um die junge Dramatikerin Biljana Srblja- noviƒ den offiziellen Club und gründeten einen „Unabhängigen Schriftstellerver- band“. Milo∆eviƒ lässt sie gewähren. Die Autoren finden mit ihren Aufrufen gegen serbische Fremdenfeindlichkeit wenig Gehör. Die meisten Menschen in der jugoslawi- schen Hauptstadt haben andere Sorgen als Literatur oder Theater oder Discos. Die Herbststürme haben eingesetzt, der Winter kommt. In den nächsten Monaten geht es für alle diejenigen, die sich nicht an den

AP Sanktionen reich gestoßen haben, nur ums Discothek in Belgrad: „Luxus ist cool, egal aus welchen Quellen er stammt“ Überleben. Heizöl ist knapp, und dass die

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Europäische Union jetzt einigen von Op- cher aus dem Westen entdeckt, kann sie nicht alle unsere Soldaten wie Engel be- positionellen regierten Städten Brennstoff ihren Zorn nicht beherrschen: „Ihr solltet nahmen, das haben wir aber auch nie be- liefern will, hilft in Belgrad (dessen Bür- euch schämen! Ihr wollt uns vernichten, hauptet“, meint Vladimir Iliƒ, der Staats- germeister nicht der Regierungspartei an- ihr Unmenschen!“ sekretär im Informationsministerium. So gehört) keinem. Die Menschen müssen sich Ein Student namens Janko, der Comics schwer es ist, in der Serben-Hauptstadt eine auf dem teuren Schwarzmarkt versorgen. verkauft, mischt sich ein und drängt die positive Stimme über Milo∆eviƒ zu finden, Um an die dafür nötigen Devisen heran- Aufgebrachte ab. Der Renner in seinem so schwer ist es auch, eine Stimme der zukommen, verkaufen sie ihr Angebot sind alte Asterix-Hefte, Sympathie für die Albaner zu vernehmen. letztes Hab und Gut. deren erste Seiten er mit einem Belgrad, im November 1999, Szenen Der ärmliche Flohmarkt vor „An manchen eigenen Text überklebt hat. Aus vom Tanz auf dem Vulkan: den Mietskasernen von Neu- Tagen halten den tapferen Galliern, die den Gegen 18 Uhr sammeln sich wie jeden Belgrad ist nichts für Milena und wir uns für die übermächtigen Römern trotzen, Abend Demonstranten auf dem Platz vor ihre Partyfreundinnen. Er be- Juden dieser macht er neue Helden, aus dem Nationalmuseum, lärmen mit ihren ginnt schon in den frühen Mor- Welt, an Milo∆eviƒ Miraculix: „Ganz Eu- Trillerpfeifen, rufen: „Milo muss weg!“ Es genstunden und endet um vier ropa ist von den Amerikanern ist ein Ritual mit wechselnder Teilnehmer- Uhr nachmittags: Schlafenszeit manchen für unterjocht. Ganz Europa? Ein zahl. Katz-und-Maus-Spiel mit der Polizei, für die Spaßgeneration. Am die Nazis“ kleines Volk auf dem Balkan hält die am vergangenen Dienstag wieder dut- Jurij-Gagarin-Boulevard stehen stand: die Serben …“ zende Protestierer blutig prügelte. hauptsächlich ältere Frauen und Män- Den Studenten Janko, die Partygängerin Gegen 20 Uhr posieren Tanja, Irena, Ma- ner, mit Lampenschirmen, mit Marmela- Milena, den Modemacher Nenad, den Ge- rija und Andjelika leicht geschürzt in den dengläsern, mit Autoersatzteilen. Einige schäftsmann Dejan verbindet nichts, nur Trümmern des von Nato-Raketen bis auf bieten alte Kalender an, andere neue Post- das: Sie alle glauben, dass die Nato-Länder ein Stahlpfeiler-Skelett zerstörten Außen- karten. Sie zeigen von Nato-Raketen in sich gegen Belgrad verschworen und einen ministeriums – Mode morbid für „Refle- Brand geschossene Ministerien. Aufge- ungerechtfertigten Angriffskrieg geführt xionen unserer Zeit“, den Katalog der druckter Kommentar: „Ein Triumph für haben. Aber war da nicht noch was – „new yugoslav fashion designers“. die Belgrader Feuerwehr“. Oder einen schlimmste Menschenrechtsverletzungen, Gegen 23 Uhr macht sich Milena zur schon in Trümmern liegenden Gebäude- begangen vom serbischen Militär, ethni- Party auf. Die Discothek „Madona“ des komplex, auf dem kleine Jungs herumtur- sche Säuberungen, angeordnet von Ser- Milo∆eviƒ-Sohns Marko im eine Autostun- nen: „Kinderspielplatz, Designed by biens Regierung? Sicher, irgendwie hätten de entfernten Po≈arevac soll wieder eröff- Nato“. sich bei dem Konflikt im Kosovo alle Sei- net sein; „Bambipark“ hat der Diktatoren- Die Stimmung ist eher apathisch als ag- ten schuldig gemacht, aber bestraft wür- Spross sein angrenzendes Freizeitzentrum gressiv.Am Vortag hat die Stadtverwaltung den wie immer in der Geschichte nur die getauft. Vorher noch schnell eine Portion die Elektrizität für zwei Stunden abge- Serben, sagt Student Janko. Partygirl Mile- Müller-Milchreis verschlungen, das Rouge dreht: Hinweis auf schlimmere Dinge, die na denkt, dass die Kosovaren sowieso alles abgetupft. Und bloß nicht an die Zukunft in den nächsten Monaten kommen könn- Drogendealer seien und mit dem Morden denken. ten. Doch als eine Verkäuferin die Besu- angefangen hätten. „Kann ja sein, dass sich Alles Milo. Oder was? ™ REUTERS Studentendemonstration durch die Innenstadt von Belgrad: „Präsident Milo∆eviƒ muss weg“

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Werbeseite DPA Autonomie-Kundgebung in Banda Aceh*: „Die Leute haben zu viel Terror erlebt, ihre Geduld ist am Ende“

Acehs führt.“ Akbars Einspruch wiegt INDONESIEN schwer. Als Führer der früheren Re- gierungspartei Golkar hatte der Diploma- tensohn seine Anhänger dazu gedrängt, Alptraum einer Anarchie dem damaligen Präsidenten B. J. Habibie die Gefolgschaft zu entziehen, weil die- Nach Osttimor will auch die Krisenprovinz Aceh unabhängig ser die Abspaltung Osttimors eingeleitet hatte. werden. Präsident Wahid steht vor einer Flugs korrigierte Wahids neuer Außen- schweren Bewährungsprobe. Zerfällt sein Riesenreich? minister Alwi Shihab seinen für wider- sprüchliche Aussagen bekannten Chef: „In eine Anhänger johlten nach der Rede, strömten in der Provinzhauptstadt Banda Fragen der nationalen Einheit muss zuerst Beobachter werteten sie als bedeu- Aceh am vorigen Montag die Bewohner die Beratende Volksversammlung konsul- Stende Richtschnur für die Zukunft des zusammen. In einer der bisher größten De- tiert werden.“ Auch Wahid schränkte sein Landes. Unmittelbar nach seiner Wahl vor monstrationen Indonesiens forderten etwa Zugeständnis rasch wieder ein: „Mit ei- knapp vier Wochen war Indonesiens neu- eine Million Acehnesen „Freiheit“ und ei- nem Referendum wollen wir uns auf kei- er Präsident Abdurrahman Wahid, 59, zu nen unabhängigen „islamischen Staat“. nen Fall drängeln lassen.“ einer spontanen Ansprache vor das Parla- Kaum im Amt, droht dem ersten demo- Der nach zwei Schlaganfällen fast er- ment in Jakarta getreten. kratisch gewählten Präsidenten eine schwe- blindete Wahid, ein geschickter Taktiker, Mit dem Erbe der Ära Suharto müsse re Regierungskrise. Reformpolitiker, die hofft auf die Überzeugungskraft seines „friedlich“ aufgeräumt werden, forderte geholfen hatten, eine Mehrheit für ihn zu Kompromissmodells für Aceh. Die Region, das Staatsoberhaupt. Um den wirtschaft- schmieden, revoltieren. „Wenn Aceh sich so hatte er angekündigt, dürfe fortan 75 lichen Niedergang der mit 210 Millionen abspaltet“, protestierte Amien Rais, Spre- Prozent der Erlöse aus ihren reichen Öl-, Bewohnern viertgrößten Nation der Erde cher der Beratenden Volksversammlung, Gas- und Edelmetallvorkommen behal- zu stoppen, wolle er vor allem die „Ein- „dann bricht alles auseinander.“ ten. Nahe der Stadt Lhokseumawe befin- heit des Landes sichern“. Doch schon Auch Parlamentssprecher Akbar Tan- den sich Indonesiens gigantische Erdgas- vergangene Woche schien das Versprechen jung machte seinen Widerstand deutlich: vorkommen und die wichtigste Produk- des sanften Muslimführers nur noch „Kein Abgeordneter würde ein Referen- tionsstätte von Flüssiggas. Hier werden gut Makulatur. dum unterstützen, das zur Abspaltung zehn Prozent der Deviseneinnahmen des Nachdem Wahid auf einer Archipels der 17 500 Inseln Pressekonferenz versichert Banda INDONESIEN erwirtschaftet. In der Ver- hatte, auch den 4,3 Millio- Aceh MALAYSIA gangenheit war davon so gut nen Bewohnern der rebelli- Molukken wie nichts in der Provinz ge- schen Nordprovinz Aceh Aceh blieben. Riau Irian stehe ein Unabhängigkeits- Kalimantan Wahid ordnete zudem an, Sumatra Jaya referendum wie in Osttimor Sulawesi dass die Armee sich aus dem Jakarta zu („Das ist Gerechtigkeit“), Java 55392 Quadratkilometer gro- ßen Gebiet an der strategisch 0 750 Timor * Vor der Baiturrahman-Moschee am AFP / DPA wichtigen Straße von Malak- 8. November. Präsident Wahid Kilometer AUSTRALIEN ka möglichst schnell zurück-

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Werbeseite Ausland zieht und die Polizei Demonstrationen gebildet worden“, behauptet der gedrun- nicht mehr unterbindet. Den Sicherheits- gene Mann. kräften wurden in der Vergangenheit Schon heute herrschen in Aceh die strik- schwere Menschenrechtsverletzungen vor- ten Regeln des Islam. Der Verkauf von geworfen. Alkohol oder Frauenfotos auf Werbepla- Seit die „Nationale Befreiungsfront katen sind streng verboten. „Wir wollen Aceh-Sumatra“ 1976 einen islamischen zu unseren historischen Wurzeln zurück- Staat unter Leitung des ins schwedische kehren“, sagt Sahputra. Exil geflüchteten Prinzen Hasan di Tiro Aceh, traditionell Schnittstelle zwischen ausgerufen hatte, herrscht Aufruhr. 1989 arabischer und asiatischer Welt, galt über erklärte der damalige Diktator Suharto Jahrhunderte als Tor des Islam zu den in- Aceh zum „militärischen Operationsge- donesischen Inseln.Weil die Aceh-Muslime biet“. Jakartas Truppen durften morden, sich nicht den holländischen Kolonialherren foltern und vergewaltigen, sofern sie nur ergaben, errichteten die Pfeffersäcke im den geringsten Verdacht hegten, es mit einstigen Sultanat eine Gewaltherrschaft, Sympathisanten der radikalen Muslim- die bis Anfang des Jahrhunderts zehntau- Guerrilla zu tun zu haben. sende Opfer forderte. Erst die Zusicherung Der Hochschullehrer Abdul Moham- einer weitgehenden Autonomie im jungen med, 52, geriet 1990 in die Fänge der Indonesien überzeugte die Acehnesen, sich gefürchteten Eliteeinheit Kopassus. Um dem Staatsgründer Sukarno anzuschließen. das Geständnis zu erpressen, er habe die Doch von ihm und seinem Nachfolger Su- Guerrilla unterstützt, rissen seine Peini- harto fühlten sie sich betrogen. ger ihm die Fußnägel aus und schlugen „Es hat gar keinen Sinn, mit Jakarta über ihn mit Tischbeinen. „Nach drei Mona- etwas anderes als Unabhängigkeit zu ver- ten Haft“, sagt der schmächtige Mann, handeln“, meldete sich vorige Woche Prinz „hat meine Familie mich nicht wieder- Hasan di Tiro, Thronfolger der letzten erkannt.“ acehnesischen Sultan-Dynastie, aus Stock- Menschenrechtsgruppen schätzen die zi- holm zu Wort. „In wenigen Jahren wird vilen Opfer der letzten zehn Jahre vor- Indonesien in mindestens fünf Länder zer- sichtig auf etwa 3000. Die Aufständischen fallen sein.“ sprechen von mehr als 30000 Toten. Stän- Auch die südlich von Aceh gelegene Pro- dig werden neue Massengräber entdeckt. vinz Riau, in der rund 50 Prozent des in- „Auch wenn Wahid jetzt einen noch so donesischen Erdöls gefördert werden, will weit reichenden Autonomiestatus ver- unabhängig werden. Gleiches gilt für Su- spricht“, sagt der Menschenrechtsaktivist lawesi und die unruhigen Molukken. Wiratmadinata, „kommt das zu spät. Die In Irian Jayas Hauptstadt Jayapura, gut Leute haben zu viel Terror erlebt, ihre Ge- 4000 Kilometer von Aceh entfernt, gingen duld ist am Ende.“ Obwohl vergangene am Freitag mehrere tausend Menschen für Woche der Kommandeur der Streitkräfte die Unabhängigkeit auf die Straße. Die in Aceh durch einen Einheimischen ersetzt Westhälfte Neuguineas, Heimat von knapp wurde, schlägt den Soldaten Jakartas nur zwei Millionen Menschen, die einen der noch Hass entgegen. größten Urwälder der Erde bewohnen, war Als sich Truppen in der Gegend von erst 1969 mit falschen Versprechungen dem Lhokseumawe weigerten, die rot-wei- indonesischen Staat einverleibt worden. ße indonesische Fahne einzuholen, brann- Wahid weiß, welches schwierige Erbe er ten Demonstranten kurzerhand die Ka- antritt. Im September hatte ihn eine seiner serne und das Provinzparlament nieder. letzten Wahlkampfreisen nach Aceh ge- In einem Vorort wurde ein Soldat splitter- führt. Wenn er gekommen sei, um einem nackt durch die Straße getrieben. In Ban- Referendum zuzustimmen, sei er willkom- da Aceh stürmte der Mob das Gefängnis men, empfingen lokale Politiker den Gast und befreite mehr als 100 Insassen. Die am Flughafen. „Wenn nicht, können Sie Ordnungskräfte waren machtlos. Sie dür- gleich wieder umkehren.“ Jürgen Kremb fen, damit die Ausschreitungen nicht eskalieren, ihre Schuss- waffen nicht mehr benutzen. Die aufziehende Anarchie könnte für Jakarta zum Alp- traum werden. „Wenn Wahid uns nicht bald ein Referen- dum gewährt“, droht Ismail Sahputra, 34, Kommandeur der Guerrilla im Distrikt Pase, „er- klären wir ihm den Dschihad, den heiligen Krieg.“ Die Guerrilla habe derzeit mehr als 1000 Mann unter Waf- fen und könne schnell aufge-

stockt werden. „Mehr als 5000 AP Acehnesen sind in Libyen aus- Rebellen in Aceh: Nur noch Hass auf Jakarta

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er hätte sogar Kanzler werden können“. Deswegen sei es „schlimm“, wenn Haider SÜDTIROL „Unruhe und Unsicherheit in unsere Be- völkerung trägt“. Voreilig hat die UfS schon Pläne für eine Properer Populist Volksabstimmung geschmiedet. Ein erstes Referendum könne über die Loslösung von Italien entscheiden, ein zweites über die Jörg Haiders FPÖ bringt die Rückkehr der Dolomiten-Provinz Rückkehr nach Österreich – mit der Alter- nach Österreich ins Gespräch – zum Verdruss der native einer souveränen Republik Südtirol. Bozener Landesregierung. Auch die Bürger sind bisher dagegen. Für die Idee einer eigenständigen Alpen- republik, fürchtet auch der in Meran und München lebende Bergsteiger und Grü- nen-Europaabgeordnete Reinhold Mess- ner, sei „mit viel Propaganda eine Mehr- heit zu schaffen“. Der propere Populist Haider und seine Südtiroler Gefolgsleute setzen offenbar auf das leise Grummeln, das zwischen den Bergriesen Ortler und Marmolada zu hören ist, wenn Deutschsprachige über die Italiener urteilen. Das Verhältnis der Volks- gruppen untereinander ist gestört; auch 80 Jahre nachdem der einst österreichische Landstrich am Ende des Ersten Weltkriegs Italien zugeschlagen wurde, sind die Wun- den der Annexion nicht verheilt. Deutschsprachige (65,3 Prozent der 460000 Südtiroler) und die Minderheit der Ladiner (4,2 Prozent) eint der Wille, mit Italienern möglichst wenig zu tun zu ha- ben. In 112 von 116 Kommunen haben die Deutschen das Sagen. Vor allem die Elterngeneration nährt weiterhin Vorurteile gegenüber Italienern. Immer noch gehen Mädchen und junge Frauen Freundschaften mit „richtigen Ita-

P. GRÜNER / IFA P. lienern“ (so die gängige Bozener Sprachre- Brauchtumspflege (in Meran): Spürbare Abneigung gegen „richtige Italiener“ gelung) aus dem Weg, weil sie zu Hause Sanktionen fürchten. uf seinen österreichischen Kollegen ze im Landtag halten, fordern traditionell Kein Wunder, dass sich laut einer Ju- Jörg Haider ist Luis Durnwalder, ein „Los von Rom“. gendstudie des Landesinstituts für Statistik ARegierungschef der autonomen ita- Nach seinem spektakulären Wahlerfolg 41 Prozent der deutschsprachigen, aber nur lienischen Provinz Südtirol, derzeit nicht in Wien allerdings wird der Chef der FPÖ 18 Prozent der italienischen Jugendlichen gut zu sprechen.Wann immer der Kärntner in Bozen ernster genommen.Argwöhnisch mit ihrer Heimat Südtirol identifizieren; Landeshauptmann die Selbstbestimmung verfolgten die SVP-Oberen, dass die Hai- jeder zweite Italiener fühlt sich am meisten der Südtiroler über ihren Verbleib in Italien der-Partei schon in ihrem Parteiprogramm mit „Italia“ verbunden. propagiere, sei das „unvernünftig bis ge- dafür plädierte, Südtirol „die Möglichkeit Das getrenntsprachige Schulsystem und fährlich“, sagt Durnwalder. des Beitritts zur Republik Österreich in die alle zehn Jahre einzureichende „Sprach- Der Ärger des prominentesten Politi- freier Ausübung des Selbstbestimmungs- gruppenzugehörigkeitserklärung“ helfen kers der Südtiroler Volkspartei (SVP), rechts offen zu halten“. mit, die Barriere zwischen den Volksgrup- die im Bozener Landtag als Sammelpar- Nun, sorgt sich Landeshauptmann Durn- tei der Deutschsprachigen über 60 Pro- walder, sei Haider „ein bedeutender Poli- zent der Sitze verfügt, kommt nicht von tiker unserer Schutzmacht Österreich, und ungefähr. Immer wieder hat FPÖ-Chef Haider die Frage einer Volksabstimmung in Südtirol ins Gespräch gebracht – als leb- ÖSTERREICH ten südlich der Grenze am Brennerpass SCHWEIZ bedrängte Entrechtete, die unter dem Bozen Joch der Regierung in Rom zu leiden hätten. Im Land der Berge, des Weins und des SÜDTIROL Specks, das jährlich von mehr als drei Mil- Mailand Venedig lionen deutschen Touristen besucht wird, fanden Haiders Parolen bisher nur am ITALIEN rechten Rand Gehör. Allein der politisch bedeutungslose FPÖ-Ableger „Die Frei- 50 km AP heitlichen“ und die patriotische Union für Ligurisches FPÖ-Vorsitzender Haider Pisa Südtirol (UfS), die zusammen 3 der 35 Sit- Meer „Unvernünftig bis gefährlich“

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Werbeseite Ausland pen aufrechtzuerhalten. Der Kulturkampf um die Sprache nimmt bisweilen bizarre Züge an. Am Bozener Bahnhof kam es vor, dass ein italienischer Beamter nur dem eine Fahrkarte verkaufte, der den Südtiroler Zielbahnhof auf Italienisch nennen konn- te. Ein deutschsprachiger Landesbediens- teter wurde wegen Amtsmissbrauchs zu umgerechnet 700 Mark Buße verurteilt, weil er einem Italiener Auskünfte nur auf Deutsch erteilen wollte. Ethnische Vorbehalte, analysierte das Landesamt für Statistik, scheinen „bei Deutschen und Ladinern stärker verwur- zelt zu sein als bei Italienern“. Ganz Südtirol müsse schuften, damit Ita- liens unterentwickelter Süden ernährt wer- den könne, lautet ein verbreitetes Vorur- teil. Landeshauptmann Durnwalder weiß es besser: Der römische Staatsapparat überweist, einmalig in Italien, 90 Prozent der Steuereinnahmen aus Südtirol wieder in die Provinz zurück. Ihre allerorts spürbare Abneigung gegen die Italiener erklären die Südtiroler gern mit der „Geschichte“. Tatsächlich haben die „Deitschn“ unter den Italienern sehr gelitten. Die Mussolini-Faschisten verbo- ten den Deutschunterricht, sie entließen deutschsprachige Lehrer und Verwaltungs- beamte. Erst tauften sie die Berge um und dann die Menschen: Ein Josef Grüner musste Giuseppe Verdi heißen, aus dem Dolomitenberg Schlern, dem Wahrzeichen Südtirols, wurde der Sciliar. Gleich zwei Diktatoren, Mussolini und Hitler, stürzten die Südtiroler 1939 in Ver- zweiflung. Die Bevölkerung wurde vor die Wahl gestellt, nach Großdeutschland um- zusiedeln oder italienisch zu werden. Hun- derttausende optierten für die Ausreise nach Hitler-Deutschland, viele kehrten Jah- re später enttäuscht zurück. Auch das demokratische Italien ließ die Tradition jahrzehntelanger Okkupations- politik zunächst noch fortleben. Erst das 1972 eingeführte Autonomiestatut brachte deutliche Besserung, inzwischen sind eher die Deutschsprachigen privilegiert. Die Italiener wiederum registrierten missmutig, wie ihre einstigen Privilegien bei der Umsetzung der Autonomie dahin- schwanden. Früher schanzten sie sich 90 Prozent der Stellen im Öffentlichen Dienst zu, heute stehen ihnen nach dem Proporz von 10 Arbeitsplätzen in der Verwaltung statistisch nur noch 2,7 zu. Das Zusammenleben der beiden Bevöl- kerungsgruppen, tröstet sich Landes- hauptmann Durnwalder, „funktioniert wie in einer Vernunftehe“. Soll heißen: Man liebt sich nicht gerade, man löst die All- tagsprobleme – und geht sich ansonsten, bitte sehr, aus dem Weg. Dabei ist Südtirol, so Alpinist Messner, „für alle Sprachgruppen ein Schlaraffen- land“. Die Arbeitslosenquote liegt bei zwei Prozent. Das Bruttoinlandsprodukt

der spiegel 46/1999 wächst beharrlich um fast drei Prozent, und in der italienischen Rangliste der Er- sparnisse pro Familie liegt die Provinz Süd- tirol mit durchschnittlich rund 32000 Mark auf Platz eins. Zwischen Brenner und Salurner Klause hat sich ein Wohlfahrtsstaat nach skandi- navischem Muster längst vergangener Zei- ten breit gemacht. Die Landeskasse ist so gut gefüllt, dass neue Ämter, Schulen, Mu- seen, Krankenhäuser und Straßen gebaut werden können. Als einzige Provinz ga- rantiert der „Alto Adige“ bedürftigen Ein- heimischen und auch Ausländern ein Le- bensminimum von umgerechnet 860 Mark; überdies gibt es eine von der Landesre- gierung finanzierte staatliche Zusatzren- te und eine im Sü- den unübliche Extra- Rente für Invaliden. Lehrer verdienen fast doppelt so viel wie Pädagogen im übrigen Italien. Eigentlich gebe es, so Durnwalder, „kei- nen Grund, den Sta- tus quo zu verän- dern“, solange in Rom nicht die rechte Alleanza Nazionale regiere und die Süd- tiroler Autonomie in Frage stelle. Der Abenteurer

SCHNEIDER PRESS Messner, der nahe Südtiroler Messner Meran die Burg Ju- val besitzt, sieht gleichwohl Gefahren aus Wien auf sein Land zukommen.Wenn Haider eines Tages Kanzler werde und „seine Propaganda- maschine anwirft, ist nicht abzusehen, wie das alles endet“. Sieben von zehn Südtirolern votierten nach Einschätzung ihres Landeshaupt- manns für den Verbleib in Italien, wenn ein Referendum „von einem Tag auf den anderen“ durchgeführt würde. Hätten die Befürworter des Anschlusses aber ein hal- bes Jahr Zeit, für ihre Idee zu werben, gäbe es „eine Mehrheit für Österreich“. Was aber dann? Die SVP-Eliten sind sich sicher, dass „Österreich uns nehmen, Ita- lien uns aber nicht gehen lassen würde“ (Durnwalder). Dass die Vereinten Natio- nen sich nach einer Volksabstimmung für die Verschiebung der österreichischen Grenze nach Süden aussprechen würden, hält er für „undenkbar“. Die Möglichkeit, den Wunsch nach einem Anschluss an Österreich wie früher mit Anschlägen zu untermauern, wäre seiner Meinung nach „das Schlimmste, was uns passieren könnte“. Deswegen, warnt Durnwalder, trete die Landesregierung „jedem entschieden entgegen, der von außen versucht, das Klima hier zu ver- giften“. Carsten Holm 231 Ausland

Erstmals nannte Castro, 73, auch seine Gegner beim Namen. Besonders hart griff KUBA er den Erzbischof von Santiago, Pedro Meurice, an. Priester seiner Diözese hatten in einem Arbeitspapier die Regierung als Scharmützel im Park „totalitär“ bezeichnet. Überdies missfällt den Gastgebern, dass einige Regierungs- Die Zuckerernte fiel besser aus als im Vorjahr, Touristen bringen chefs, etwa Spaniens José María Aznar, Regimegegner und Verwandte politischer begehrte Dollar: Fidel Castros Regime gibt sich Häftlinge während ihres Aufenthalts in selbstbewusster denn je – und geht hart gegen Dissidenten vor. Havanna empfangen möchten. Unmittelbar vor Eintreffen der auslän- dischen Gäste wollten sich erstmals Ver- treter von etwa 60 Dissidentengruppen versammeln. Eine Erklärung sollte ihren Wunsch nach einem „friedlichen Weg zur Demokratie“ dokumentieren. Doch sintflutartige Regenfälle machten die Straßen schwer passierbar, und Castros Polizei hatte in der Nacht etwa 30 Aktivis- ten verhaftet oder in ihrer Wohnung fest- gehalten. So fanden sich am Freitagmorgen an die 20 Dissidenten in einem Haus am Rande der Hauptstadt ein. Für den wohl prominentesten Oppositionellen der Insel, Elizardo Sánchez, war das Treffen dennoch ein Erfolg: „Jetzt erfahren die Menschen hier, dass es uns wirklich gibt.“ Sein Mitstreiter, der katholische Re- gimegegner Osvaldo Payá, glaubt gar, die Zeit sei reif für größere Straßendemon- strationen. Doch da täuscht er sich wohl. Denn 40 Jahre nachdem „los barbudos“ (die Bärtigen) den Diktator Batista stürz- ten und die Macht ergriffen, gibt sich das Revolutionsregime selbstsicher wie lange nicht mehr. „Heute ist ein Trauertag für

M. PEUCKERT / AGENTUR FOCUS / AGENTUR M. PEUCKERT alle, die glaubten, wir würden fallen wie Altbauten an Havannas Prachtstraße Malecón: Blockwartsystem für die Bewohner die Mauer von Berlin vor zehn Jahren“, spottete Außenminister rwartungsvoll betraten die zwei Re- Felipe Pérez Roque. gimegegner am Mittwochmorgen Der untersetzte Mann Eden Parque Dolores in Lawton, ei- mit den tiefen Schatten nem Stadtteil von Havanna. Verabredet unter den Augen war sie- war ein Treffen mit Gesinnungsgenossen. ben Jahre lang Castros Stattdessen empfing sie eine große Men- Privatsekretär. Im Mai schenmenge. Es gab Musik; hunderte An- setzte der Comandante wohner, darunter auffallend viele kräftige ihn überraschend an die Männer und uniformierte Oberschüler, Stelle von Roberto Ro- tanzten in der Grünanlage. baina. „Robertico“, 43, Die „spontane“ Party war gründlich ge- lange der potenzielle plant. In der Nacht zuvor waren die wich- Kronprinz, hatte mit sei- tigsten Mitglieder der Lawton-Gruppe, die nen Gesprächspartnern für die Freilassung politischer Gefangener in den USA und Europa demonstrieren wollte, verhaftet worden. offenbar zu nachgiebig Dann hatten Beamte der Staatssicherheit verhandelt.

Posten bezogen. Als die Dissidenten den- AP Den Verdacht, ein noch sprechen wollten, hagelte es Schläge Staatschef Castro: „Fürs Vaterland sterben heißt leben“ Schwächling zu sein, lässt – Kubas berüchtigte Brigaden zum schnel- der neue Star in der len Eingreifen verhinderten, ähnlich wie zur Iberoamerikanischen Gipfelkonferenz. Staatsführung gar nicht erst aufkommen. Mielkes Schlägertrupps in der Unter- Und da war der Comandante en Jefe kei- Pérez Roque, 34, liebt markige Worte. „Je- gangsphase der DDR, den aufkeimenden neswegs bereit, sich von „Mikrogrüpp- den Tag geht es uns besser“, sagt der eins- Protest. Die Demonstranten wurden in chen“ die Show stehlen zu lassen. tige Elektroingenieur, „Wandel wird’s hier Autos gezerrt und weggefahren. Bei seinem jüngsten Fernsehauftritt rich- nicht geben.“ Das Vorstadt-Scharmützel offenbarte die tete der Máximo Líder heftige Attacken Tatsächlich zeigt die Wirtschaftsent- angespannte Stimmung in Havanna. An- gegen die Interessenvertretung der USA wicklung nach den Jahren der Krise, die fang dieser Woche empfängt Kubas Fidel in Havanna. Deren Diplomaten hätten ei- dem Zusammenbruch des großen Protek- Castro Staats- und Regierungschefs aus nige ihrer „Söldner“ angestachelt, einen tors Sowjetunion folgten, leichte Besse- Lateinamerika, Spanien und Portugal Gegengipfel zu organisieren. rung. Im ersten Halbjahr 1999 lag die Zu-

232 der spiegel 46/1999 Werbeseite

Werbeseite wachsquote bei 6,1 Prozent. schuf in Castros sozialisti- In ihrer Freizeit arbeitet die junge Mut- Aber selbst bei einem jähr- scher Mustergesellschaft ein ter noch gratis in einem Informationszen- lichen Wachstum von 7 Zweiklassensystem. trum über Sexualkrankheiten. Für sie ist Prozent wäre dann erst Nahezu jeden Abend sind der unentgeltliche Zugang zu Schulen und 2005 wieder der Stand von die Tische des Paladar „La Gesundheitsversorgung die größte Errun- 1989 erreicht. Guarida“ im verfallenden genschaft der Revolution. Dafür ist sie be- Immerhin: Die Zucker- Zentrum von Havanna be- reit, Opfer zu bringen. ernte stieg im Vergleich setzt. Ausländische Diplo- Doch solches Engagement teilen nur noch zum vorigen Jahr um Außenminister Pérez Roque maten reißen sich ebenso wenige der nach 1959 Geborenen, die schon 500000 Tonnen. Und vor al- um die wenigen Plätze wie 63 Prozent der Bevölkerung ausmachen. lem: 1,7 Millionen Touris- kubanische Yuppies mit Viele fragen sich, wozu sie studieren sollen, ten, darunter 220000 Deut- Dollarquellen. Zu Musik der wenn sie dann zu einem Mangelleben ver- sche, bringen in diesem Jahr in Europa gefeierten Opas urteilt sind. Ein Taxifahrer verdient an hunderte Millionen der be- vom Buena Vista Social einem Tag mehr als ein Akademiker im gehrten Dollar ins Land. Club kann man hier gegen Monat. Die monatlichen Marken der Libre- Carlos Lage, 48, Vizeprä- Dollar nahezu alles speisen ta für die subventionierten Grundnah- sident des Staatsrats und – außer Hummer, der nur rungsmittel reichen gerade mal zehn Tage. Castros rechte Hand, lässt bei der staatlichen Gastro- Wer zu jener Hälfte der Kubaner gehört,

jedoch keinen Zweifel dar- FOTOS: AP nomie im Angebot ist. die keine Verwandten in den USA hat, wer an, dass Hoffnungen auf Vizepräsident Lage Enrique Núñez, 31, eröff- nicht selbständig ist oder bei einem aus- eine weitere wirtschaftliche nete das Restaurant in der ländischen Unternehmen arbeitet, dem oder gar politische Öffnung Utopie blei- Wohnung seiner Eltern, die in einem ver- fehlt es an Alltagsgütern wie Seife oder ben: „In 15 Jahren werden wir ein noch kommenen Stadtpalais aus dem 18. Jahr- Milch, und er muss weitgehend auf Fleisch stärkeres sozialistisches System haben“, hundert liegt. Den prächtigen Marmor- verzichten. ob nun die Amerikaner das Embargo auf- aufgang schmückt ein Gedicht des Máximo Deshalb suchen viele junge Kubaner ihr heben oder nicht. In der spanischen Zei- Líder: „Fürs Vaterland sterben heißt Glück in der Visa-Abteilung der US-Ver- tung „El País“ warnte der Spitzenfunk- leben.“ tretung, die jährlich 20000 Inselbewohnern tionär: „Wir fördern nicht den Privatbe- Hier drehte der Regisseur Tomás Gu- die Einreise in das gelobte Land des Kapi- sitz, sondern das staatliche Eigentum.“ tierrez Alea 1993 den Film „Erdbeer und talismus erlaubt. Verliert Castros Revolu- Doch der Socialismo Tropical überlebte Schokolade“. Touristen, die den Schauplatz tion ihre Erben? vor allem dank einiger kapitalistischer Re- des Kultstreifens sehen wollten, brachten So weit ist es noch nicht. Schon 1960 formen, die Castro unter dem Druck der Núñez auf die Idee, am Drehort Essen zu wurden auf Kuba die Komitees zur Vertei- Krise zuließ.Ausländische Investoren wur- servieren. Jetzt ist er einer der erfolg- digung der Revolution (CDR) gegründet. den angelockt. Sie gründeten inzwischen reichsten Selbständigen in Castros Reich. Wie in einem Blockwartsystem überwa- 345 Joint Ventures mit staatlichen Firmen, Die Ärztin Alina Pérez Martínez, 28, war chen sie die Bewohner ganzer Straßenzü- vor allem im Tourismussektor. noch nie bei Núñez zu Gast. Sie kann sich ge. Mit diesen Komitees gelingt es Castro, Die einschneidendsten Veränderungen in der Mittagspause nur selten ein Erfri- auch heute noch Menschen für die Ideale für die an gleiche Löhne und Staatsver- schungsgetränk leisten. Die allein erzie- der Revolution zu begeistern. sorgung gewöhnten elf Millionen Kubaner hende Mutter eines zweijährigen Jungen Yadisney Vidal, 16, ist Kubas jüngste brachte 1993 die Legalisierung des Dollar- arbeitet in einer Familienarztpraxis im ehe- CDR-Präsidentin. Sie lebt in der Gemein- besitzes sowie die Zulassung „selbständi- mals großbürgerlichen Viertel Vedado und de Las Lajas, eine Autostunde vom Zen- ger Arbeit“. Diese ideologische Abirrung betreut dort die 761 ihr zugeteilten Be- trum Havannas entfernt. Die Studentin, wohner der Umgebung. Dafür verdient sie die Anwältin werden will, ist ihrem Idol * In Havanna am vergangenen Mittwoch. 400 Pesos im Monat, 20 Dollar. Fidel Castro bereits persönlich begegnet. Das war auf dem letzten CDR-Kongress, als Yadisney in einer Rede gefordert hatte, die Jugend müsse mehr Verantwortung übernehmen. „Fidel ließ mich rufen und umarmte mich“, sagt Yadisney Vidal. „Ich musste weinen.“ Ohne auch nur einen Millimeter von der Parteilinie abzuweichen, hält es Yadisney für selbstverständlich, den Revo- lutionshelden nachzueifern. Denn schließ- lich wolle man sie eines Tages „ersetzen können“. Doch das dürfte noch eine Weile dauern. In Castros Reich zeigt niemand den Wunsch zurückzutreten, schon gar nicht der Revolutionsführer selbst. Und auch Kränkeln gibt es nicht. Gleich nach dem Gipfel möchte er das noch einmal unter Beweis stellen. Der venezolanische Präsident Hugo Chávez plant, mit seinen Baseball-Nationalspielern gegen Castros Auswahl anzutreten. Da will auch der Comandante mit zumindest

AFP / DPA einem großen Wurf seine Fitness demon- Festnahme eines Regimegegners*: „Wandel wird’s hier nicht geben“ strieren. Helene Zuber

234 der spiegel 46/1999 Ausland

Politik? Sie haben in Brasilien vie- le Staatsunternehmen privatisiert und den Einfluss des Staats zurück- geschraubt. Cardoso: Wir haben privatisiert, um die Finanzkrise zu lösen. Eine sta- bile Währung und ein gesun- der Staatshaushalt dienen dem In- teresse der ganzen Gesellschaft. Wenn die Regierung darauf keine Rücksicht nimmt, zahlt das Volk den Preis in Form von Inflation. Das haben einige rückwärts ge- wandte Linke nicht begriffen. An- dererseits war ich nie Anhänger ei- nes Minimal-Staats. In einem Land wie Brasilien hat der Staat wichti- ge Funktionen; er muss auch für Umverteilung bei den Einkommen sorgen. Wir müssen den Staat überdies zugänglicher machen für alle gesellschaftlichen Gruppen. SPIEGEL: Der Öffentliche Dienst, die Parteien und die Abgeordneten missbrauchen ihre Macht, um sich

AP ihre traditionellen Privilegien zu Staatschef Cardoso: „Wir sind gegen Kubas Isolierung“ sichern. Woher soll der Druck zu solchen Veränderungen kommen? Cardoso: Bei uns hat sich eine Zivilgesell- BRASILIEN schaft organisiert, die ganz neu ist. Den meisten Wirbel hat die linksradikale Land- losen-Bewegung MST verursacht. Früher „Relikt des Kalten Krieges“ hätte die keinen Zugang zum Staat ge- habt, heute finanzieren wir sie sogar. Der Präsident Fernando Henrique Cardoso über Minister für Landreform sitzt den ganzen Tag mit ihren Vertretern zusammen, wenn den Pinochet-Prozess, Castros Reform-Unfähigkeit es sein muss. und den Kampf gegen die Korruption SPIEGEL: Sollen regierungsunabhängige Or- ganisationen an der Macht teilhaben? Sozialdemokrat Cardoso, 68, amtiert seit Castro. Die Kubaner liefern uns Impfstof- Cardoso: Nicht nur sie, sondern die Gesell- dem 1. Januar 1995 als Staatspräsident. fe und Medikamente, auch in der Gesund- schaft insgesamt. Im Gesundheitswesen heitsvorsorge haben wir von ihnen gelernt. hängt die Aufteilung des Haushalts zum SPIEGEL: Herr Präsident, wegen des spani- Mit den politischen Widersprüchen im Ver- Beispiel von Gemeinderäten ab, die nichts schen Justizverfahrens gegen Ex-Diktator hältnis zu Kuba können wir leben. mit der Regierung zu tun haben. Oder Pinochet bleiben die Staatschefs von Ar- SPIEGEL: Sehen Sie Anzeichen für einen nehmen Sie die Bekämpfung der Dürre im gentinien und Chile dem Iberoamerika- Wandel in der starren Haltung Washing- Nordosten: Die Region war immer ein Gipfel von Havanna fern. Warum haben tons gegenüber Castro? Hort der Oligarchien. Heute wirken Stadt- Sie sich dem Boykott nicht angeschlossen? Cardoso: US-Präsident Clinton sieht Kuba räte der Opposition mit, Padres, evange- Cardoso: Solch ein spezifisches Problem nicht mehr als Gefahr. Der Kalte Krieg ist lische Kirchen, das Militär und der Öffent- sollte das Gipfeltreffen nicht beeinträchti- vorbei, das sollte sich auch auf Relikte wie liche Dienst. Natürlich ist noch nicht gen, bei dem wir über eine Gesamtpolitik die noch immer bestehende Wirtschafts- alles perfekt, aber es ist viel offener. für die Region reden. Allerdings bin ich blockade auswirken. SPIEGEL: Privatisieren Sie nicht klassische durchaus für die Einführung eines inter- SPIEGEL: Von Havanna fahren Sie nach Flo- Staatsfunktionen? nationalen Strafgerichts, um universelle renz, wo Sie mit Clinton und sozialdemo- Cardoso: Es gibt eine Neuverteilung der Verbrechen wie etwa Menschenrechtsver- kratischen Regierungschefs Europas über Aufgaben. Der brasilianische Staat war er- letzungen und Umweltvergehen zu ahn- den so genannten dritten Weg beraten. starrt, wir haben ihn zu Gunsten der den. Das ist ein Bruch mit unserer Tradition Könnte Castro da etwas lernen? ganzen Gesellschaft zurückgeschnitten. der Nichteinmischung in die Angelegen- Cardoso: Wenn er darüber reden will, bin SPIEGEL: Viele Brasilianer haben viel- heiten souveräner Staaten.Allerdings, bis- ich jederzeit bereit dazu. Bislang sehe ich mehr den Eindruck, dass korrupte Volks- lang gibt es noch keine legitime überstaat- allerdings keine Anzeichen für eine Öff- vertreter sich nach wie vor hemmungslos liche Institution für diese Verfahren. nung seines Systems. Außerdem geht es in bereichern. SPIEGEL: Wie ist Ihr Verhältnis zu Fidel Florenz um etwas anderes: Historisch ge- Cardoso: Gerade deshalb ist es so wichtig, Castro? sehen war die Sozialdemokratie der dritte dass auch Gruppen, die bislang ausge- Cardoso: Brasilien hatte immer eine klare Weg zwischen Kapitalismus und Kommu- schlossen waren, Einfluss erhalten. In der Position: Wir sind gegen die Isolierung Ku- nismus. Bei unserem Treffen steht die Mo- modernen Demokratie ist die direkte Re- bas. Wir wünschen uns, dass sich das Land dernisierung sozialdemokratischen Den- präsentation durch Abgeordnete nicht die weiterhin Lateinamerika annähert, aber kens zur Debatte. einzige Art, Druck auszuüben. Für die bis- wir wollen keine Vorschriften machen. Per- SPIEGEL: Geht es dabei im Kern nicht nur lang Ausgeschlossenen muss es andere For- sönlich habe ich eine gute Beziehung zu um eine neue Verpackung für neoliberale men geben. Interview: Jens Glüsing

der spiegel 46/1999 235 Werbeseite

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Werbeseite Ausland M. WEISS / OSTKREUZ Hotelier Küster, Ehefrau Elisabeth, Partner Dzida vor dem Schlosshotel Lomnitz: „Unsere Chance war unsere Harmlosigkeit“

POLEN „Getanzt, getrunken und geweint“ Nachkommen von vertriebenen Deutschen wollen wieder auf den alten pommerschen und schlesischen Familiengütern leben. Die meisten sind den Anforderungen des Wiederaufbaus nicht gewachsen. Es gibt aber auch Lichtblicke.

ais aus schlesischer Erde, da fließt In einem der alten Ställe hat sich ein Sarg- die Augen des Herrn, die das Vieh fett ma- dem Freiherrn Wolfram von tischler eine kleine Werkstatt eingerichtet. chen“, sagt er großspurig.Aber der Umbau MStrachwitz das Herz über vor „Damit Leben auf den Hof kommt“, sagt kommt nur langsam vorwärts. Rührung. Er schiebt genießerisch die Un- Strachwitz. Gut Bruschewitz, wie es früher hieß, war terlippe über die Oberlippe, führt eine Der Gutsherr führt sein Anwesen den fast 200 Jahre im Familienbesitz, bevor die Hand voll Körner an die Nase und inhaliert größten Teil des Jahres per Telefon von Familie Strachwitz im Januar 1945 vor der den Duft bis tief in die Lunge. „Wissen Sie, Berlin aus, wo er nebenberuflich einem anrückenden Roten Armee flüchtete. Die was ich hier will, ich will hier meine Pflicht Bundestagsabgeordneten als Assistent ersten russischen Panzer standen am Dorf- tun. Dies herrliche Land ist vernachlässigt dient. Er ist gerade dabei, sich in einem rand, als sie die letzten Pferde aus dem worden, ich werde etwas Gutes daraus ma- Nebengebäude des Herrenhauses eine klei- Stall holten. chen.“ Er winkt seinen polnischen Tage- ne Wohnung herzurichten, damit er nicht Strachwitz ist nicht eben ein Vorreiter löhner heran. Der darf auch mal riechen. mehr im Hotel übernachten muss. „Es sind der deutsch-polnischen Aussöhnung. 1972 Gut Pruszowice bei Breslau (Wroclaw) ist ein schönes Stück Polen. 300 Hektar Liegnitz Bruschewitz Acker und Weideland, 200 Hektar prächti- Deutsche Ostgrenze vor Görlitz (Legnica) (Pruszowice) dem Zweiten Weltkrieg ger Hochwald, nur die Gebäude sind ziem- Breslau (Wroclaw) lich heruntergekommen. Das Herrenhaus SCHLESIEN Hamburg Oppeln aus dem 18. Jahrhundert ist von maleri- POLEN Grunau Striegau (Opole) scher Dekadenz: die Fassaden von mäan- Berlin (Jezów Sudecki) (Strzegom) drischen Rissen zermasert, die Fenster zum Schlesien Lomnitz POLEN Teil zugemauert, das Dach in Fetzen – ein DEUTSCHLAND (Lomnica) Haus, dem das halbe Jahrhundert Repara- TSCHECHIEN Oder Breslau turstau anzusehen ist. 50 km Die Maschinen sind Schrott, Scheunen Prag und Schuppen sind reif für die Abrissbirne. TSCHECHIEN 238 Werbeseite

Werbeseite Ausland FOTOS: M. WEISS / OSTKREUZ FOTOS: Boberstein Wlen Barcinek Verfallene Schlösser in Niederschlesien: Dem Ausverkauf an die Deutschen zuvorkommen setzte er seine Karriere als Berufsoffizier ganze Unternehmen ist katastrophal un- Schreibstubenoffiziere sich selten zur Lei- bei der Bundeswehr auf Grund, als er Wil- terkapitalisiert. Sogar den Trecker muss tung landwirtschaftlicher Großbetriebe ly Brandt wegen dessen Kniefall in War- sich Strachwitz bei seinem polnischen eignen. Vor allem dann nicht, wenn sie schau in einem Leserbrief als „vaterlands- Nachbarn leihen, weil er sich selbst kei- nicht einmal mit ihren Mitarbeitern reden losen Gesellen“ beschimpfte. Bereut hat nen leisten kann. Und den rostigen alten können, weil sie deren Sprache nicht spre- er das nie. Heute vertritt er die „Vereini- Wartburg wird er auch nicht mehr lange chen. gung Katholischer Edelleute Schlesiens“ haben, wenn er ihn weiter so gnadenlos Neulich hat ihn der Verpächter aufge- und den „Verein Schlesischer Malteserrit- über die Feldwege prügelt. fordert, endlich die kaputten Dächer repa- ter“, die auch nicht unbedingt die Völker- Als er herkam, sei das hier „ein toller rieren zu lassen, weil sonst die Verlänge- verständigung im Wappen führen. Sauhaufen“ gewesen, sagt Strachwitz. Pol- rung des Pachtvertrags in Frage gestellt sei. Der Gutsherr versteht sich als eine Art nische Wirtschaft, wohin man blickte. Nun Ja, wovon denn? Puntila von Bruschewitz. Er sagt, er fühle führt er hier schon über zwei Jahre die Ge- Letztes Jahr hat der Hof eine halbe Mil- Verantwortung für die Menschen, die rings schäfte. Aber dem Hof geht’s deswegen lion Zloty (250000 Mark) Verlust gemacht. um sein Gut leben. 1985, als er zum ersten nicht besser. Er hat ein paar griffige Er- Mais und Weizen verrotteten auf den Fel- Mal seit Kriegsende wieder hier war, brach- klärungen für das Elend: die Schlamperei dern, weil es Pannen bei der Ernte gab. te er eine Lkw-Ladung Lebensmittel für der Bediensteten, die notorische Klepto- Und wenn der Bürgermeister dem Gut die darbenden Dorfbewohner mit. „Die manie. „Hier wird Ihnen das Schwarze un- die Gewerbesteuer nicht gestundet hätte, Leute im Dorf haben ein gutes Gespür ter dem Fingernagel weggestohlen.“ dann wäre alles schon vorbei gewesen. dafür, wer ihr Freund ist und wer nicht“, Die Misere mag allerdings vor allem da- Aber mit ein wenig Glück wird Strachwitz sagt er. Dass dies hier nicht mehr Deutsch- mit zu tun haben, dass pensionierte nächstes Jahr mit plus minus null ab- land sei, das sei für ihn bedeu- schließen – wenn er so lange tungslos. Er sei stolz darauf, Gutsherr Strachwitz*: „Gutes Gespür für Freunde“ durchhält. dass seine Familie im preußi- Die Frage, ob er das Gut kau- schen und auch im polnischen fen will, stellt sich vorerst nicht Adelsmatrikel eingetragen war. mehr. Bis auf weiteres können Strachwitz hat das Gut von Immobilien nur von polnischen der Landwirtschaftlichen Fa- Staatsangehörigen oder von Be- kultät der Universität Breslau teiligungsgesellschaften erwor- gepachtet. Doch er hatte zu- ben werden, die in polnischem nächst eine Menge Pech. Einer Mehrheitsbesitz sind. Dennoch von zwei Partnern, die mit haben die Behörden in den letz- größeren Beträgen einsteigen ten Jahren öfter Ausnahmege- wollten, starb bei einem Ver- nehmigungen erteilt – Folge der kehrsunfall, der andere stieg im guten deutsch-polnischen Be- Streit wieder aus, bevor es rich- ziehungen. tig losgegangen war. Strachwitz Nachdem sogar Herbert wollte den Erlös aus dem Ver- Hupka, der Vorsitzende und kauf seines Privathauses in frühere Chefjakobiner der Bonn in das Projekt einbringen. Landsmannschaft Schlesien, Aber dann wurde das Haus zum „verdienten Bürger“ sei- beschlagnahmt, nachdem es um ner Heimatstadt Ratibor (Ra- die Besitzverhältnisse Streit mit cibórz) ernannt worden war, der Jewish Claims Conference sah es so aus, als könnte nichts gegeben hatte. mehr diese Beziehung gefähr- Nach der Übernahme ent- den. Nur, seit die Frankfur- warf der neue Chef ein pompö- ter CDU-Bundestagsabgeord- ses Wirtschaftlichkeitskonzept. nete Erika Steinbach an der Spit- Der Betrieb wurde dadurch ze des Bundes der Vertriebenen aber nicht wirtschaftlicher. Das steht, sind die Umgangsformen wieder ruppiger geworden. Die neue Chefin will den für * Mit seinen Mitarbeitern Aloysios Ko- zemba und Aneta Klonowska vor dem 2003 vorgesehenen Beitritt von

Herrenhaus in Pruszowice. E. WIEDEMANN / DER SPIEGEL Polen und Tschechien zur 240 Werbeseite

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Europäischen Union blockieren, wenn die men einmal im Jahr im klimatisierten „Hierher kommt man nur zurück aus beiden Länder nicht „das an den Vertrie- Autobus zu Besuch und fahren mit vollen Liebe zu dem Land und den Menschen“, benen begangene Unrecht heilen, sich ent- Herzen, aber ohne Bitternis wieder sagt die Rentnerin Melitta Schalei. Sie hat schuldigen und ihnen ein Recht auf Rück- heim. zusammen mit ihrer Schwester Therese kehr in Würde einräumen“. Nun verlan- Waltraut Becker aus Grunau (Jezów Su- von Werner Gut Muhrau (Morawa) in gen tausende von Vertriebenen oder deren decki), die heute in Bendestorf bei Ham- Striegau (Strzegom) in Niederschlesien ge- Erben die Immobilien zurück, die ihnen burg wohnt, hat im September anlässlich pachtet. Bei Kriegsende war ihre Familie die Kommunisten abgenommen haben der 700-Jahr-Feier von Grunau bei Jelenia von hier vertrieben worden. (SPIEGEL 2/1999). Góra ihr Geburtshaus besucht. Sie sagt: 1992, nachdem das Eis zwischen Ost und Bundesaußenminister Joschka Fischer „Wir haben mit den Polen gefeiert, wir ha- West gebrochen war, trat der Familienrat hält diese Ansprüche für „anachronistisch ben ihnen Geschenke mitgebracht, wir ha- zusammen und entschied nach kurzer Be- und absurd“. Aber so eindeutig, wie er ben getanzt, getrunken und geweint, und ratung: Einer von uns muss da wieder hin. meint, ist die Rechtslage nicht. Das Aus- dann sind wir glücklich wieder nach Hau- Die Wahl fiel auf Melitta, weil sie gerade wärtige Amt hat bis zum Regierungswech- se gefahren.“ Zum Abschied standen die pensioniert worden war und eine neue Le- sel im vergangenen Herbst die Enteignung polnischen Schulkinder am Straßenrand bensaufgabe brauchte. Sie sollte in Muhrau und Vertreibung als rechtswidrig angese- und sangen deutsche Volkslieder. einen Kindergarten für Jungen und Mäd- hen. Und die neuen Herren in Berlin kön- nen natürlich nicht im Namen der Regier- ten auf deren Ansprüche verzichten. Die polnische Regierung ist bereit, in Einzelfällen Abfindungen zu zahlen, aber nur an polnische Staatsbürger. Dieser Standpunkt wird sich kaum in der EU durchsetzen, weil er nicht im Einklang mit den Gleichheitsprinzipien der Union steht. Sollte Brüssel sich überdies dem polni- schen Wunsch nach einer zehnjährigen Übergangsregelung für Grundstücksver- käufe verweigern, dann werden Ausländer in drei bis vier Jahren ohne Einschränkun- gen polnische Immobilien kaufen können – selbstverständlich auch Deutsche. Um dem befürchteten Ausverkauf an die Deutschen zuvorzukommen, sind die Treu- handgesellschaften der einzelnen Woi- wodschaften jetzt dabei, hunderte von Schlössern und Landgütern zu eher sym- bolischen Preisen an polnische Staatsbür- ger und Beteiligungsgesellschaften zu ver- äußern. „Man muss das verstehen“, sagt Zdislaw Kurzeja, der Konservator von Liegnitz (Legnica). „Es gibt immer noch eine Men- ge Polen, die Angst vor den Deutschen ha- ben“ – vor allem in Pommern und Schle- sien. Dort sind die meisten Einwohner selbst Vertriebene. Sie wurden 1945/46 von den Sowjets aus der Ukraine, aus Beloruss- land und Litauen ausgesiedelt und in die entleerten deutschen Ostgebiete gebracht. Seitdem leben sie in der Furcht, sie könn- ten noch einmal ihre Heimat verlieren. Von den ehemaligen ostelbischen Groß- grundbesitzern hat noch niemand Besitz- ansprüche angemeldet. Ihre pommerschen und schlesischen Güter sind von der kom- munistischen Kolchoswirtschaft so gründ- lich ruiniert worden, dass das Investment für den Wiederaufbau mittelfristig durch keine realistische Renditeerwartung ge- deckt wäre. Das gilt natürlich auch für pol- nische Erwerber. Es gibt eine Menge Schlösser, die niemand geschenkt haben will. Viele kleine Leute haben meist vorsorg- lich Anträge gestellt, um eventuelle Rechts- ansprüche kapitalisieren zu können. Aber sie wollen natürlich nicht wirklich zurück, wie Erika Steinbach behauptet. Sie kom-

242 der spiegel 46/1999 chen aus bedürftigen Familien einrichten. den Jahren der einzige unangenehme Deutschen angetan haben, darüber reden Die Neu-Muhrauer waren erst furchtbar Zwischenfall. wir nicht. Das ist besser so.“ Sie kann nur misstrauisch. Die Kommunisten hatten 1995 zu Allerseelen haben polnische schwer erklären, warum sie hier ist. Sie ihnen jahrzehntelang eingetrichtert, dass Nachbarsfrauen sogar die deutschen Grä- meint, dass sie einfach hierher gehört. die westdeutschen Revanchisten nur auf ber auf dem Friedhof von Striegau mit Ker- Zur Finanzierung des Kindergartens und eine Gelegenheit warteten, um über Polen zen geschmückt. Für Melitta Schalei der zur Erhaltung der Gebäude haben die zwei herzufallen und sich ihre Rittergüter entscheidende Beweis dafür, dass das rührigen Schwestern eine Stiftung gegrün- zurückzuholen. Dann wurde die deutsche deutsch-polnische Verhältnis in Striegau det. Aber es reicht hinten und vorn nicht. Gefahr von heute auf morgen abgeschafft. wieder in Ordnung ist. Die Seminare, welche die Universität Bres- Wie sollten sie das so schnell nachvoll- Melitta Schalei hat Polnisch gelernt und lau hier gelegentlich ausrichtet, bringen ziehen? jetzt sogar die polnische Staatsbürgerschaft auch nicht viel ein. Es ist „Erst nachdem wir Kinderklos einge- beantragt. Die Leute hier sollen sehen, dass nicht mal genug Geld vor- baut hatten, glaubten sie, dass wir keine ihre Heimatverbundenheit nicht an die Na- handen, um im Winter die „Erst nachdem bösen Absichten hegten“, sagt Therese tionalität gebunden ist. Der Rest ist Ver- Zimmer mit den fünf Me- wir Kinderklos von Werner. Ein Knirps hat ihr mal „Heil gessen. Oder Verdrängung. „Was die Deut- ter hohen Decken richtig eingebaut Hitler“ nachgerufen. Aber das war in all schen den Polen und was die Polen den durchzuheizen. hatten, glaub- Sie würden gern ein ten sie an paar alte Eichen und Bu- chen vermarkten. Ge- unsere guten schnittene Eiche bringt Absichten“ 1200 Mark pro Kubikme- ter. Aber das Holz ist unverkäuflich, weil es noch immer voll Granatsplitter und Stahlmantelgeschossen von den schweren Kämpfen im Januar 1945 steckt. Das Metall macht die Sägen kaputt. Wie man mit dem Erbe der Väter acht- baren Mehrwert erwirtschaftet, das haben Elisabeth und Ulrich von Küster aus Ber- lin auf Schloss Lomnitz (Lomnica) am Fuße der Schneekoppe vorgemacht.Vom Schloss und von dem benachbarten „Witwenhaus“ standen nur noch die Grundmauern, als die GmbH, die sie 1995 gemeinsam mit ihrem polnischen Partner Waclaw Dzida gegründet hatten, das Anwesen kaufte. Sie hatten kein Wasser und keinen Strom.Aber so viel konnte man schon sehen: „Das aus- gebrannte Schloss war die schönste Ruine im ganzen Riesengebirgsvorland.“ Heute ist Schloss Lomnitz das nobelste und gemütlichste kleine Landhotel von Niederschlesien. Nicht weit von hier liegt auch ein altes Hohenzollernschloss. Herr- schaften vom Berliner Hochadel ver- brachten schon im letzten Jahrhundert die Sommerferien in der Gegend. Als Elisabeth und Ulrich von Küster mit dem Wiederaufbau begannen, waren sie noch Studenten. Sie konnten sich keine re- gulären Handwerker leisten. Aber das ju- ristische Seminar der Freien Universität half mit. Die jungen Leute arbeiteten vom Morgengrauen bis Sonnenuntergang, über- nachteten auf Brettergestellen im Freien und fuhren sonntagabends wieder todmü- de zurück nach Berlin. Die Lomnitzer sahen staunend und nicht ohne Sympathie zu. Die Nachbarschafts- kontakte waren zunächst eher kärglich. Dann brachte mal einer einen kleinen Im- biss vorbei und ein anderer was Gutes zu trinken. Das sollte so viel heißen wie: Hal- lo, Nachbarn, seid willkommen! „Unsere Chance war unsere Harmlosigkeit“, sagt Elisabeth von Küster. „Wir waren anfass- bar.“ Endlich Deutsche, vor denen nie- mand Angst zu haben brauchte. Erich Wiedemann

der spiegel 46/1999 243 Werbeseite

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ZEITGESCHICHTE Hitlers Papst Die Enthüllungen des englischen Historikers John Cornwell über Pius XII. Von Rolf Hochhuth

Hochhuth, 68, lös- ralisches mehr überraschen, was dann im setzen des Frühjahrs 1933 ausgenommen te 1963 mit dem Krieg noch kam. würden. Er begnügte sich mit der Überga- Drama „Der Stell- Aufschlussreich für Pacellis später gera- be einer Note zu Gunsten jener deutschen vertreter“, das dezu komplizenhaftes Wegsehen von Hit- Katholiken, „die selbst vom Judentum zur Papst Pius XII. lers Endlösung – ebenso energisch wie ver- christlichen Religion übergetreten sind als schweigenden geblich versuchte beispielsweise Englands oder von solchen … Juden abstammen“. Komplizen des Ho- Vatikan-Botschafter Francis D’Arcy Os- Diese bescheidene Anregung, ein Vier- locaust attackierte, borne immer wieder, den Heiligen Vater zu teljahr nach Hitlers Machtantritt wenigs- einen Skandal und einem Protest zu bewegen – ist die detail- tens „Viertel- und Achteljuden“ zu ver- eine anhaltende lierte Schilderung seiner zwölfjährigen schonen, ist tatsächlich der einzige Satz

ULLSTEIN BILDERDIENST ULLSTEIN Diskussion aus. Tätigkeit als Nuntius in Deutschland, be- überhaupt, mit dem Pius XII. gegenüber ginnend 1917 in München. Schon damals seinem Konkordats- und Glaubensbruder arum hat der deutsche Verle- schrieb der Mann antisemitische Briefe Hitler bis zu dessen Ableben jemals das ger den so sachlichen wie radi- nach Rom. Thema erwähnt hat. In der Auschwitz-Ära, Wkalen Titel der englischen Aus- Pacelli schlug die Bitten zweier Bischö- die nun begann, nahm der Heilige Vater gabe „Hitler’s Pope“ in „Pius XII.“ fe aus, darauf zu bestehen, dass im Kon- das Wort Jude nicht mehr öffentlich in den verharmlost? Zwar heißt der Untertitel kordat wenigstens die Kinder und Enkel Mund; fortan schwieg er auch schriftlich. der C.-H.-Beck-Ausgabe „Der Papst, der von Juden, die sich längst katholisch hatten Biograf Cornwell berichtet, er habe sei- geschwiegen hat“, während der englische taufen lassen, von den antisemitischen Ge- ne Recherchen im vollen Vertrauen darauf lautet: „The Secret History of begonnen, am Ende werde Papst Pius XII.“ Pius XII. in vollem Umfang von al- Doch widmet ja der Katholik len Vorwürfen entlastet sein. Umso John Cornwell, Dozent am Jesus niederschmetternder habe ihn die College zu Cambridge, mehr als die Erkenntnis des Gegenteils getroffen. Hälfte seiner gründlichen Untersu- Dabei ist das beschämendste aller chung nicht nur dem Schweigen des Pius-Dokumente dem britischen Papstes zum Holocaust, sondern der Forscher sogar entgangen. Auch ich Vorgeschichte seines schlimmen kannte es noch nicht, als ich den Schweigens, also dem Diplomaten „Stellvertreter“ schrieb; erst Rudolf Eugenio Pacelli überhaupt. Schon Krämer-Badoni, Katholik wie Corn- „von den ersten Schritten seiner well, hat es entdeckt und publiziert Karriere an“ habe der spätere Pius in dem Buch „Judenmord, Frauen- XII. „eine Abneigung gegen die mord, Heilige Kirche“ (Knesebeck- Juden gehegt“. Seine Wirkung als Verlag, München). Nuntius in Deutschland war es, Ein halbes Jahr, nachdem im Fe- die zum Abschluss des Konkordats bruar 1942 die Vergasungen begon- führte – zu diesem größten Ge- nen hatten, die nun anstelle der schenk, das Reichskanzler Hitler Massen-Erschießungen praktiziert 1933 von „seinem“ Pacelli empfan- wurden, sagte Pius XII. vor dem gen konnte. Kardinalskollegium über die Juden: Pacelli, so Cornwell, traf mit Hit- „Jerusalem hat seine Einladung und ler die Vereinbarung, die dem „Füh- seine Gnade mit jener starren Ver- rer“ dabei half, legal zum Diktator blendung und jenem hartnäckigen zu werden, während sie gleichzeitig Undank beantwortet, die es auf den das politische Potenzial für Protest Weg der Schuld bis hin zum Gottes- und Widerstand von 22 Millionen mord geführt hat!“ Die Geschichte (vor dem Anschluss Österreichs) der Zivilisation kennt keine nieder- deutscher Katholiken neutralisierte. trächtigere Verleumdung unschuldig Wenn sogar der Papst mit ihm zum Tode Verurteilter als diesen paktierte, musste der Hitler doch ein Satz des verächtlichsten aller Päpste anständiger Mann sein, mochten über die bedauernswertesten aller dessen Untertanen fortan glauben. Menschen. Wer so alt ist, dass er noch Zeitzeu- So wenig sich Pius je für Juden gen kannte, die wie Hannah Arendt, verwendete – obgleich auch Roose- wie Erwin Piscator vor Hitler hatten velts Sondergesandter Myron Taylor fliehen müssen, erinnert sich an de- ihn immer wieder darum ersuchte –, ren fortdauernde Erbitterung über so wenig kümmerte er sich um „sei-

das Konkordat. Nach diesem Pakt PRESS / SIPA OLYMPIA ne Söhne“: 3000 katholische Pries- konnte sie im Grunde nichts Amo- Pius XII.: Komplizenhaftes Wegsehen ter ließ Hitler – meist in Konzentra-

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Werbeseite Ausland BILDSTELLE HANAU SCHIRNER Diktator Hitler (1938), Hanauer Juden vor der Deportation (1942): Im Vatikan waren die Pläne zum Massenmord wohl bekannt tionslagern – ermorden. Für keinen Einzi- nie ausgesetzt waren, keinen Vorwurf ab- die Offenheit, mit der Hitler in der Reichs- gen von ihnen hat Pacelli je bei seinem leiten. Was Pacelli aber zum ethisch bo- tagsrede vom 30. Januar 1939 der ganzen Konkordatskomplizen in Deutschland ein denlosesten Versager auf dem Stuhl Petri Welt den Massenmord ankündigte: „Wenn Wort eingelegt. Allerdings hat er unserem macht, ist sein Schweigen zu Auschwitz. es dem internationalen Finanzjudentum Führer auch nie wie dem General Franco Auch aus Rom wurden die Juden nach inner- und außerhalb Europas gelingen soll- (1942) den höchsten Orden des Heiligen Auschwitz „abgefahren“, wie Heinrich te, die Völker noch einmal in einen Welt- Stuhls – das Christuskreuz – verliehen. Himmler vergnügt notierte. Der päpstliche krieg zu stürzen, dann wird das Ergebnis Mit zahlreichen Belegen verdeutlicht Anspruch, der Stellvertreter Gottes zu nicht die Bolschewisierung der Erde und Cornwell, wie eingewurzelt Pacellis Ab- sein, definiert das Ausmaß des moralischen damit der Sieg des Judentums sein, son- neigung gegen Parlamentarismus und De- Abgrunds. Und mit diesem Anspruch mei- dern die Vernichtung der jüdischen Rasse mokratie war: In diesen Einrichtungen sah nen sie es in Rom noch immer ernst. in Europa.“ er nichts als Tarnformen des Sozialismus. Offenbar hat das auch den Katholiken Völlig eindeutig war auch Hitlers Zwi- Der Biograf zeigt auch, dass Pacelli schon Cornwell besonders betroffen gemacht; er schenbericht drei Jahre später im Sportpa- zu einer Zeit, als die Bischöfe im Reich schließt sein Vorwort damit, dass noch 1998 last, „ … dass das Ergebnis des Krieges die noch eindeutig Anti-Nazis waren, den ka- der jetzige Papst in einer „Reflexion über Vernichtung des Judentums sein wird … tholischen Kanzler Brüning veranlassen die Schoah“ in Bezug auf die so genannte Und es wird die Stunde kommen, da der wollte, „sich um ein Einvernehmen mit der Endlösung „von Christus als dem ,Herrn böseste Weltfeind aller Zeiten auf ein Jahr- NSDAP zu bemühen“ – ja um eine Koali- der Geschichte‘“ sprechen konnte! Wie soll tausend seine Rolle ausgespielt haben tion mit Hitler. jemand, der so denkt, sich vorstellen kön- wird“. Der römische „Messaggero“ druck- Brüning dagegen warnte – in Rom, Au- nen, wie einer italienischen Familie in ei- te die Rede ab, Englands Vatikan-Bot- gust 1931 – Pacelli vergebens: Er sehe „in nem Waggon nach Auschwitz zu Mute ge- schafter Osborne las sie, ebenso Kardinal- einer weiteren starken Identifizierung der wesen sein muss, die im Vertrauen, der staatssekretär Luigi Maglione, dem Os- vatikanischen politischen Auffassungen mit Papst lasse nicht zu, dass man sie deportie- borne seine Meinung über „Hitlers neuen dem faschistischen System eine große Ge- re, nicht untertauchte und nicht davor ge- Ausbruch gegen die Juden“ kundtat. fahr für die Kirche in einer ferneren Zu- warnt worden ist, was sie im Osbornes Versuche, aus dem kunft“. Nachdem Kanzler Brüning am 30. Osten erwartete, obgleich der Innern des Vatikans Pacelli zu Mai 1932 entlassen worden war, erfüllte Vatikan ab 1942 detailliert in- einer Stellungnahme zu ver- dessen Nachfolger Franz von Papen den formiert war? Cornwell zitiert, anlassen, lassen Rückschlüsse Wunsch des Heiligen Stuhls. Und dies, wie offensichtlich angeekelt, dass auf Pacellis Kenntnis der Vor- Cornwell ergänzt, „zu dem Zeitpunkt, als ein Erzbischof schon 1870 die gänge und seine Reaktionen Entscheidungen im Vatikan über das künf- soeben erlassene Lehre von der auf sie zu. tige Schicksal der katholischen Kirche in päpstlichen Unfehlbarkeit und Schrecklicher zu lesen als al- Deutschland ausschließlich in den Händen dem Primat des Papstes als les Vorangegangene ist Corn- Pacellis lagen. Nur ein Diktator konnte Pa- „Triumph des Dogmas über die wells Bericht über die Depor- celli die Art von Konkordat gewähren, die Geschichte“ gefeiert habe. tation von 437000 Juden aus

er anstrebte. Nur ein Diktator von Hitlers Nach dieser ungeheuerlichen BAUER J. Ungarn nach Auschwitz – meist Verschlagenheit konnte das Konkordat als Logik muss Jesus in einer für Historiker Cornwell zu Fuß – noch zwischen dem Mittel betrachten, die katholische Kirche in uns unmündige Menschen un- 15. Mai und dem 7. Juli 1944: Deutschland zu schwächen“. Triumphie- fassbaren „Sinngebung“ auch Auschwitz Denn Rom war bereits seit dem 4. Juni rend schrieb Hitler am 22. Juli 1933: „Durch oder Nagasaki gewollt haben.Warum soll- von Amerikanern besetzt, Pius XII. also ab- diesen Vertrag wird vor der ganzen Welt te da der Papst versuchen, einem Hitler in solut frei zu sagen, was er sagen wollte. klar und unzweideutig bewiesen, dass die den Arm zu fallen? Ich kenne die Gepflogenheiten nicht, Behauptung, der Nationalsozialismus sei Nicht nach katholischer Lehre, wohl die es dem Vatikan zur Pflicht machen, religionsfeindlich, eine Lüge ist.“ aber nach dem gemeinen Menschenver- hin und wieder Heilige zu kreieren. Nun Freilich, nicht nur Pacelli, sondern mehr stand muss das päpstliche Schweigen zur soll Pius XII. in die engere Wahl gelangt als die halbe Welt fiel auf Hitler herein; Endlösung nicht „nur“ am Anspruch, der sein. Könnte man nicht einen anständigen daraus allein sollten deshalb spätere Ge- Stellvertreter Gottes zu sein, gemessen Menschen wie Johannes XXIII. heilig spre- nerationen, die ähnlichen Zerreißproben werden. Ein ebenso deutlicher Maßstab ist chen? ™

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Jerusalem, so glauben die Washingtoner Ermittler, sei besonders gefährdet. Die Hei- lige Stadt besitze ein außergewöhnliches „Potenzial für Gewaltakte“. Ausdrück- lich warnt das FBI, das eng mit den israe- lischen Sicherheitsdiensten zusammen- arbeitet, vor dem Endzeitkult der „Con- cerned Christians“ aus Denver. Schon im Januar hatte Israel ein Dut- zend Anhänger dieser Sekte abgeschoben, die sich in Erwartung des letzten Gefechts in Jerusalem niedergelassen hatten. Der Polizei zufolge plante die Gruppe eine „ex- treme, gewalttätige Aktion“, womöglich sogar einen kollektiven Selbstmord in den Straßen der Heiligen Stadt. Ihr Anführer Monte Kim Miller, 45, hält sich für einen jener beiden Zeugen, die nach der Johannes-Offenbarung kurz vor der Wiederkunft Christi bei einem großen Blutbad auf den Straßen Jerusalems ster- ben und drei Tage später wieder aufer- stehen. Seinen Tod, so fürchten Sicher- heitskräfte, könnte Miller durch eine gewaltsame Konfrontation mit der Polizei provozieren. „Jesus Christus starb am Kreuz für un- sere Sünden, nun haben wir die Pflicht zu sterben“, lehrt der ehemalige Marketing- Manager seine Jünger. Er werde „nach Je- rusalem gehen, um Zeuge zu sein“, kün- digte er an und nannte auch einen Termin:

AP Dezember 1999. Christliche Prozession, Sicherheitskräfte in Jerusalem*: „Potenzial für Gewaltakte“ Obwohl Miller bisher noch nicht in Isra- el gesehen wurde, sind sich US-Ermittler si- Die nächtliche Razzia gegen den bislang cher, „dass er nichts unversucht lässt, dort- ISRAEL als harmlos geltenden Jesus-Freak zeigt die hin zu gelangen“, so Sektenspezialist Mark wachsende Nervosität der israelischen Si- Roggeman von der Denver-Polizei. Seine Saat des Bösen cherheitskräfte angesichts des nahenden Kollegen warnen, dass Millers Anhänger Millenniums. In sechs Wochen bricht das bereits ihre Häuser verkauft, ihre Berufe Angespornt vom amerikanischen neue Jahrtausend an, ein Datum, das vie- aufgegeben haben und wohl in Griechen- le fundamentalistische Christen mit der land auf eine Gelegenheit warten, erneut FBI, greift Israel gegen Rückkehr des Messias verbinden. nach Israel zu gelangen. religiöse Extremisten durch – Dann beginnt, so steht es in der Johannes- Der Millenniums-Trubel dürfte ihnen der Judenstaat fürchtet Offenbarung des Neuen Testaments, die die Einreise erleichtern. Gefälschte auslän- Anschläge zum Jahrtausendwechsel. letzte große Schlacht zwischen den Mäch- dische Pässe, musste die israelische Poli- ten Gottes und der Saat des Bösen, und die zei gerade einräumen, werden bei den enn das Ende der Welt naht und Endzeitjünger haben keinen Zweifel daran, der Messias zurückkehrt, so glau- dass jeder Buchstabe davon wahr wird. Wben christliche Apokalyptiker, Besonders Radikale glauben sogar, sie steigt er vom Himmel auf den Ölberg her- könnten die Ankunft des Herrn durch ab. Von dort, wo er einst seinen letzten einen Gewaltakt noch beschleunigen. Nie- Gang antrat, werde er durchs Goldene Tor mand weiß, wie viele solcher Extremisten in die Jerusalemer Altstadt einziehen. im nächsten Jahr unter den rund vier Mil- Für diesen glorreichen Moment hielt sich lionen erwarteten Pilgern ins Heilige Land Bruder David, 58, seit Jahren bereit. Gleich strömen werden – oder bereits angekom- hinter dem Ölberg, im palästinensischen men sind. Vorort Bethania, hatte sich der US-Bürger In einem Bericht des amerikanischen und frühere Campingplatz-Betreiber aus FBI finden die Israelis nun ihre schlimms- Syracuse, New York, ein Haus gemietet. ten Befürchtungen bestätigt. „Etliche reli- Dort wartete er auf den Anbruch des tau- giöse Extremisten bereiten sich darauf vor, sendjährigen Gottesreiches – „in der ersten im prophezeiten Waffengang zwischen Reihe“, wie er stets sagte. Gott und Satan als Märtyrer zu enden“, Auf den guten Platz beim Weltuntergang heißt es in dem Millenniums-Report zu den muss Bruder David wohl verzichten. Ende rund tausend religiösen und rassistischen Oktober erschien die israelische Polizei in US-Kulten.

seinem Refugium, nahm den frommen D. HILL / IPOL Christen samt 20 seiner Anhänger fest und * Am Karfreitag 1998 auf der Via Dolorosa mit Gläubi- Anhänger von Bruder David schob ihn wenige Tage später ab. gen in den Rollen von Jesus und römischen Legionären. Warten auf die Ankunft des Herrn

250 der spiegel 46/1999 Routinekontrollen am Flughafen nicht ent- Straßenbild. Psychisch labile Menschen „Wir dürfen die Fehler von Waco zum deckt. Die Sicherheitsdienste fürchten, werden hier häufig von einem Wahn er- Millennium nicht wiederholen“, warnt des- dass bereits etliche Fundamentalisten fasst, der als „Jerusalem-Syndrom“ be- halb Richard Landes vom Bostoner „Zen- mit Hilfe falscher Dokumente eingereist kannt ist. Die Menschen sehen sich plötz- trum für Millennium-Studien“ die Israelis. sind. lich als biblische Gestalten, setzen sich als Der Historiker plädiert dafür, „viel mehr Der soeben abgeschobene Bruder David König David mit der Harfe auf den Zions- Krisenmanagement und psychologisch- hatte seinen Pass sogar verbrannt. Nur berg oder laufen mit einem Hotel-Betttuch religiöse Beratung einzusetzen als Polizei- mit Mühe gelang es den Israelis, die ame- umhüllt als Johannes der Täufer durch die kräfte“. rikanischen Behörden von der wahren Altstadt. Wann genau der Tag des Herrn anbre- Identität des Festgenommenen zu über- Reagiert die Polizei zu scharf, besteht chen soll, darüber sind sich allerdings auch zeugen. „Warum sollte ich einen Pass ha- die Gefahr, dass sie die Apokalypse-Jünger die Endzeitfanatiker nicht einig. Manche ben“, fragte Bruder David, „ich bin von in dem Glauben bestärkt, die Endschlacht setzen auf den letzten Tag des Jahres 1999, Gott berufen und nicht von Israels habe bereits begonnen – wie in Waco. Auf andere auf den 20. April, Hitlers Geburts- Innenministerium.“ einer Farm in der Nähe der texanischen tag, der nächstes Jahr mit dem jüdischen Die israelische Polizei tut sich auch des- Stadt starb Sektenführer David Koresh, Pessach-Fest zusammenfällt. wegen schwer mit den apokalyptischen Bi- der schon Ende der achtziger Jahre am Die Bewährungsprobe für die israeli- bel-Anhängern, weil sie sich besser bei Jerusalemer Ölberg vergebens den Welt- schen Sicherheitskräfte kann aber womög- palästinensischen Gewalttätern auskennt untergang erwartet hatte, nach wochen- lich noch später kommen, glaubt Landes – als im Christentum. langer Belagerung und einem Angriff des dann nämlich, wenn die Endzeitchristen Religiöse Spinner gehören allerdings in FBI zusammen mit etwa 80 seiner Jünger „sehen, dass der Messias überhaupt nicht der Heiligen Stadt seit eh und je zum beim Brand ihrer Unterkunft. kommt“. Annette Großbongardt Werbeseite

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SKISPRINGEN „Boygroup im Schnee“ Vorigen Winter sprang Martin Schmitt in die Herzen deutscher Sportfans. Der untadelige Schwarzwälder wurde Weltmeister. Künftig reicht das nicht mehr: RTL hat die Übertragungsrechte gekauft, Skispringen soll zur „Formel 1 des Winters“ werden.

s gibt junge Menschen, die wissen nicht, was sich gehört. Schreiben Eeinen Brief, bitten darin um eine Autogrammkarte und legen kein Rückpor- to bei. Der prominente Mann, dem das schon so oft passiert ist, schlägt sich empört mit der flachen Hand vor die Stirn: „Wie finde ich denn das?“ Martin Schmitt, 21, sitzt, die Hände or- dentlich auf den Oberschenkeln abgelegt, auf der grünen Wohnzimmercouch, als er sich über seine zumeist halbwüchsigen Fans mokiert. Mutter Waltraud richtet die Kaffeetafel und entschuldigt sich, dass es heute keinen Würfelzucker gibt. Da setzt Schmitt junior seine Rede fort, wonach es in letzter Zeit zunehmend auch Erwachse- ne seien, die sich ihm gegenüber seltsam benehmen. So, zum Beispiel, habe sich im vergan-

genen März eine Agentur bei ihm mit der / BONGARTS A. HASSENSTEIN Anfrage gemeldet, ob er, der Skispringer Teenie-Schwarm Schmitt: Gummibärchen-Torte und Auftritte mit Miss Internet vom SC Furtwangen, mit Monica Lewin- sky, der weltberühmten ehemaligen Prak- zwar herzerwärmend freundlich, aber lei- jüngsten Sprosses vom Studenten der tikantin des Weißen Hauses, auftreten wol- der nahezu anhaltend von Verletzungen Volkswirtschaft zum umtosten TV-Ereig- le. Er. Der stille Martin aus dem Schwarz- ausgeschaltet. nis zu verarbeiten. Mal liefen Kamerateams wald. Natürlich hat er abgelehnt: „Denn Beinahe konkurrenzlos preschte der durch die Wohnung und filmten Vater Hu- die ist ja höchstens negativ bekannt.“ untadelige Spund von der Schanze in die bert beim Wurfpfeilspiel. Dann wiederum Der Martin hingegen ist durchweg posi- Vorbild-Lücke und mischte ganz neben- hatte Mutter Waltraud weibliche Bewun- tiv, ein badischer Musterknabe: wohnt bei auch noch die Verhältnisse im Winter- derer abzuwimmeln, die dem feschen Filius noch bei den Eltern, zieht in der guten Stu- sport auf. Gummibärchen-Torten schickten oder bis be immer brav seine Gesundheitslatschen Galt der Skisprung einst als Leibes- tief in die Nacht telefonisch nachstellten: an und plagt sich fleißig für die nächste übung, die allenfalls während der kurzen „Es war ungeheuer.“ Woche im finnischen Kuopio beginnende Tage um die Jahreswende ins öffentliche Zwar haben die Schmitts inzwischen Saison. Interesse gelangte, fiebert die Nation den eine Geheimnummer, aber ansonsten ver- Wie ein Geschenk des Himmels war die- Luftfahrten der mutigen Männer neuer- sucht die Familie dem Rummel möglichst ser Prachtkerl den Adlern des Deutschen dings mehr entgegen als den Abfahrten der locker zu begegnen. Als unlängst wieder Skiverbandes (DSV) vorigen Winter ins alpinen Skifahrer. Die ARD tauschte, auf mal ein Tourist an der Pforte klingelte, Nest gefallen. Zehn Weltcup-Springen dem Höhepunkt der Schmitt-Show, an staunte der Mann nicht schlecht, weil ihm gewann „Air Martin“ („Bunte“), wurde einem Donnerstag kurzfristig die „Expe- das Zielobjekt höchstselbst die Tür öffne- Doppel-Weltmeister und Weltcupsieger, ditionen ins Tierreich“ gegen ein Nacht- te: „Hallo, ich bin der Martin.“ und hinterher schrieb eine Zeitung: „Gäbe springen im kalten Schweden ein. So sind sie eben, die Schmitts: erdver- es ihn nicht schon, man müsste ihn er- Der Boom sprach sich bis ins Rheinland bunden und volksnah. Die enge Bindung finden.“ herum, wo der zuletzt auf Boxen und For- zu den Lieben daheim – der Vater war Denn endlich ist dem deutschen Sport mel 1 fixierte Privatsender RTL zu Hause selbst Ski-Langläufer, der ältere Bruder mal wieder ein Siegertyp erwachsen, für ist.Ähnlich wie die Kölner 1989 Tennis aus Thorsten tut es ihm gleich – half Martin den man sich nicht schämen muss. Eine Wimbledon kauften, weil ein rotblonder Schmitt bislang, das Bohei um seine Person Zeit schien es so, als ob nach Steffi Graf Leimener das Land verzückte, sicherte sich schadlos zu überstehen. Auftritte bei Talk- und Boris Becker nichts Gescheites mehr RTL nun die Übertragungsrechte fürs Ski- shows oder Fototermine an der Seite der nachkommen würde. Der Tennisprofi Ni- springen, weil Schanzenkönig Schmitt Miss , Miss Bayern und Miss In- colas Kiefer ist als arrogant verschrien, die Quote verspricht. ternet absolvierte er mit der Routine eines Schwimmerin Franziska van Almsick for- Daheim im idyllischen Tannheim, einem gereiften Stars: „Ich sehe das alles als Be- ciert ihre Interessen außerhalb des Bassins Ortsteil von Villingen-Schwenningen, hat- gleiterscheinung.“ und hat nun auch das Rauchen entdeckt, te dessen Familie zuletzt vor allem damit Wenn mit dem Neujahrsspringen in Gar- der Zehnkämpfer Frank Busemann ist zu tun, den unverhofften Aufstieg des misch-Partenkirchen RTL die Regie über-

254 der spiegel 46/1999 P. SCHATZ / BONGARTS SCHATZ P. Skispringer Schmitt (bei der Vierschanzentournee 1998 in Oberstdorf): Luftfahrten in die Vorbild-Lücke nimmt, wird Schmitts Charakterstärke je- sie verstehen sich weniger als Nutznießer Winters“ ein mediales Spektakel zu ma- doch verschärft auf die Probe gestellt. Für des Sports, sondern vor allem als des- chen, das der Vorlage aus der Vollgas-Bran- 48,5 Millionen Mark, verteilt auf drei Jah- sen Macher. Welchen Stellenwert hatte che in nichts nachsteht. re, hat der Kommerzkanal dem DSV die Deutschland in der Formel 1, bevor RTL Beim Festakt „Skispringen 2000“ im Ski- Rechte am telegenen Wintervergnügen ab- den Rennsport entdeckte, fragt Chefre- stadion von Garmisch-Partenkirchen bekam gekauft. Die alpinen Skirennen reichte RTL dakteur Hans Mahr, rein rhetorisch? „Da Frontmann Schmitt Ende Oktober einen ers- gleich an ARD und ZDF weiter – auf Ver- gab es nur deutsche Zündkerzen.“ Und ten Eindruck, was das heißt: Bei der großen lierer und Platzierte sind die Privatfunker jetzt? Schumi, Frentzen und Mercedes. RTL-Party sind alle versammelt, die künftig nicht scharf. Alle Konzentration gilt der Mahr: „Das liegt auch an uns.“ im Skispringen eine Rolle spielen werden. „Boygroup im Schnee“, als die das DSV- Mit solchen Behauptungen nährt der Hartmut Engler von der Pop-Combo „Pur“ Springer-Team nun vermarktet wird. Österreicher zwar den Verdacht, in sport- stellt eine „Skispringerhymne“ vor: „Adler Einen „Schritt in die moderne Zeit“ lichen Belangen der Hybris anheim gefal- müssen fliegen.“ Moderator Günther Jauch, sieht der Verband in dem Geschäft. Im len zu sein. Andererseits dokumentieren seit dem Verlust der Champions-League- Kern heißt das: Die Kasse stimmt.Wurden sie den festen Willen, aus der „Formel 1 des Übertragungsrechte bei RTL latent un- deutsche Skisprung-Sieger vor terbeschäftigt, schwebt standes- wenigen Jahren noch mit einem gemäß im Hubschrauber ein. Präsentkorb entlohnt, treibt nun Statt mit Franz Beckenbauer ein – dank RTL – mit drei Millio- über Manchester und Madrid zu nen Mark gefüllter Prämientopf tratschen, will er demnächst har- den Ehrgeiz der Sportler an. te Infoware zu Themen wie Ab- Kritiker indes befürchten in der sprungimpuls und V-Stil liefern: Liaison nichts als das Erlöschen „Wir werden keine zuckersüße des Alpenglühens. Wird aus dem Soße drüberschütten“, verspricht klassischen Männersport jetzt Tut- Jauch. tifrutti in Weiß? Dass es die Fern- Garant dafür soll Dieter Tho- sehleute nicht dabei belassen, ma sein. Bei den ersten Sprech- künftig nach zehn Springern den proben des im Sommer zurück- Wettkampf für eine Werbepause getretenen Olympiasiegers klaf- zu unterbrechen, gilt als sicher. Die Manager von RTL sehen * Bei der Präsentation des Senders am sich irgendwo zwischen Entwick- M. HANGEN 21. Oktober im Skistadion in Garmisch-Par- lungshelfer und Kolonialherren; RTL-Team Bartels, Thoma, Jauch*: Tuttifrutti am Schanzentisch tenkirchen.

der spiegel 46/1999 255 Sport fen Vorsatz und Syntax jedoch noch Die Kollegen sind das besserwisse- eine Skibreite auseinander: „Ich bin rische Gebaren mittlerweile leid. keiner, der wo Probleme macht.“ Während eines Mannschaftsessens Der Auslöser der RTL-Wintersport- kam es kürzlich zum Disput. Er solle offensive steht etwas abseits und tut, nicht so tun, als habe er die „Wahrheit was er immer tut, wenn er nicht recht gepachtet“, wurde Schmitt vorge- weiß, was er von einer Sache halten halten: „Du trägst keinen Heiligen- soll: Martin Schmitt lächelt. Denn schein.“ lächeln hilft. Wirkt sympathisch und Auseinandersetzungen dieser Art sagt nichts darüber aus, was man registriert Coach Heß mit wachsen- wirklich denkt. der Sorge. Längst sieht er das Mann- Kaum je zuvor stand ein einzelner schaftsgefüge in Gefahr, weil die Athlet derart im Zentrum eines Mil- Schere zwischen dem „Super-Adler“ lionengeschäfts zwischen TV und („Bild“) und dem Rest „immer weiter Sport. Acht Millionen Zuseher, so die auseinanderklafft“. RTL-Rechnung, soll die Schmitt- So hat eine Schokoladenmarke Schau bringen. Damit sich der Haupt- Schmitt zum neuen Werbestar erko- darsteller in die Pflicht genommen ren. Wie der Alpine Hermann Maier sieht, wurde er vom Sender auch mit in Österreich, lächelt er künftig hier einem persönlichen Sponsorenvertrag zu Lande 50millionenfach von den ausgestattet. Also tritt er für RTL bei Produkten mit der lila Kuh. Logisch, der Telemesse auf oder bedient den dass der künftige Skisprung-Millionär

Partner mit Szenen aus seinem Alltag PEOPLE PICTURE zu Wettkämpfen jetzt in der Business- – die der Privatkanal als Appetit- Schwimm-Idol van Almsick Klasse fliegt, während sich die Kolle- häppchen in seine Nachrichtensen- Neue Interessen abseits des Bassins gen mit einem Touristen-Ticket be- dungen streut. gnügen müssen. Im Sommer hat Schmitt deshalb nicht Derartiges Jetsettertum „hat es früher nur 300 Übungssprünge auf Mattenschan- nicht gegeben“, grollt Heß und kündigt an: zen absolviert, sondern sich auch auf sei- „Ich werde dafür sorgen, dass das nicht ne Rolle als Medienstar gewissenhaft vor- noch weitere Blüten treibt.“ Zuversicht- bereitet. Er analysierte Fernsehauftritte lich stimmt ihn bei seiner pädagogischen und Interviews von Sportlerkollegen und Mission, dass sich der Kandidat im Kern Politikern. Es galt, einen Weg zu finden, nicht als entrückter Promi versteht. sich den Druck, der auf ihm lastet, nicht an- Von dem Manager, der ihn bereits in ei- merken zu lassen. Jetzt pendelt er zwi- nem Atemzug mit Boris Becker nannte und schen zwei Rollen. ihn als „James Dean 2000“ verkaufen woll- Mal gibt er den Charming-Schmitt, der te, hat sich Schmitt getrennt: „Der hat zu unlängst als „Sportler mit Herz“ ausge- sehr auf den Putz gehauen.“ zeichnet wurde, weil er einem verunglück- Dafür begab er sich in die Obhut einer ten Kollegen spontan 10000 Mark zukom- Agentur, die von zwei ehemaligen alpinen men ließ. Dann wieder geriert er sich als Ski-Weltmeistern, Hanni Wenzel und Harti Neutrum – etwa wenn er sich bei einem of- Weirather, geleitet wird – von denen er- fiziellen Auftritt der DSV-Equipe in die hin- wartet er, dass sie wissen, wie man einen tere Reihe setzt, obschon die Fernsehschaf- Wintersportler vermarktet. fenden das gern anders gehabt hätten. Die Öffentlichkeit hat den Management- Schmitt operiert nach dem Prinzip, sich Wechsel zunächst kritisch kommentiert: kleiner zu machen, als er eigentlich ist. So „Herr Schmitt, sind Sie wirklich so raff- wälzt er die sportlichen Erwartungen auf gierig“, titelte „Sport Bild“, den Anschein Sven Hannawald ab, den zweiten Sieg- erweckend, der Martin wolle nur mehr Springer im DSV-Team. Mit dem ist er be- Kohle machen. freundet, auf Reisen teilen sie sich das Zim- Auf dieses Echo war er nicht gefasst. mer. „Wenn Sven auch mal gewinnt“, er- „Am besten, man macht sich keine Ge- klärt Schmitt mit entwaffnender Logik, danken darüber“, sagt er leise – und lächelt. „dann wird es auch für mich leichter.“ Doch dann merkt Schmitt, dass die Welt Im Gegensatz zur kleinlauten Außen- so einfach nicht funktioniert. Er guckt in darstellung geht Schmitt im Mannschafts- den mit Regenwolken verhangenen Him-

kreis gern mal auf Konfrontation. Endlose GES mel über Tannheim, als er durchspielt, was Diskussionen vermag der junge Beau zu Zehnkampf-Held Busemann auf ihn zukommt, wenn es nicht so läuft führen, wenn er glaubt, dass Kritik Von Verletzungen ausgeschaltet wie erhofft. „Das konnte ja nicht gut ge- an seinem Flugstil nicht gerechtfertigt ist: hen“, würden die Zeitungen schreiben. Der „Da geht es dann auch schon mal zur blikum drohe ja allmählich „wie im Fuß- Ärger mit dem Manager, die vielen öffent- Sache.“ ball die Übersättigung“. lichen Auftritte, die ihn vom Training ab- „Er trägt sein Herz eben auf der Zunge“, Im März brachte Schmitt sogar das gehalten hätten. Fehle nur noch, unkt er, sagt Bundestrainer Reinhard Heß. Den- ganze Team in Verruf. Da nörgelte er über wenn er nach 22 Uhr an der Seite irgend- noch würde er sich von dem meinungs- die veraltete Absprunganlage im tradi- einer Frau erwischt würde. starken Primus doch gelegentlich mehr di- tionsreichen Holmenkollenstadion in Oslo. Der begehrte Single formuliert die plomatisches Geschick wünschen. Zuletzt Das Echo war verheerend: Als die DSV- Schlagzeile schon mal selbst: „Martin forderte Schmitt, den überfrachteten Wett- Männer tags darauf in die Spur sprangen, Schmitt – er hat leider nicht nur Sport im kampfkalender einzudampfen. Dem Pu- pfiffen 40000 Zuschauer. Kopf.“ Gerhard Pfeil

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dem Verein natürlich mehr Geld bringen, ist erstens die Atmosphäre nicht mehr ganz so gigantisch wie früher. Und zweitens sind mehr kritische Leute da – die wollen unter- halten werden. Die brüllen nicht, aber sie maulen. Das ist meistens schlimmer. SPIEGEL: Sie haben besondere Erfahrungen mit Schmähun- gen der Fans. Vor sechs Jah- ren, im Trikot von Schalke 04, fuhren Sie deswegen nach Ihrer Auswechslung noch während des Spiels mit der S-Bahn nach Hause. Steigern solche Gesänge Ihre Aggres- sivität? Lehmann: Ich bin ja inzwi- schen auch in die Gruppe derer gerutscht, die auswärts ausgepfiffen werden. Ich merke, dass mich das an- spornt. Man muss sich aber fragen, ob Zuschauer prinzi- piell das Recht haben, Spieler auszupfeifen.

FIRO SPIEGEL: Wie bitte? Torwart Lehmann*: „Ich merke ja selbst, dass ich angespannter bin“ Lehmann: Es ist doch so, dass ich als Spieler zu Saisonbe- ginn von einem Verein angeheuert werde. FUSSBALL Ich bin auf dessen Wunsch gekommen; eigentlich müssten die Leute also die Club- funktionäre auspfeifen, wenn es nicht läuft. „Schluss, Sendepause“ Auch wenn jetzt einige sagen: Der Leh- mann spinnt. Sicher muss ich auch re- Der Dortmunder Torhüter Jens Lehmann über die gistrieren, wenn applaudiert wird. Aber die Mitglieder bestimmen den Vorstand, Schmähgesänge der eigenen Fans, den Vorwurf der Arroganz der Vorstand bestimmt den Trainer, der und seine Ambitionen als Nationalspieler Trainer die Mannschaft. Manchmal muss man also den Ursprung der Fehlerkette Lehmann, 30, verlor das Duell mit dem unzufrieden sind. Zuletzt haben wir ja woanders suchen. Letztlich sollte das Pu- Münchner Oliver Kahn um den Stamm- wirklich nicht gut gespielt. blikum honorieren, dass jeder Spieler sein platz im Tor der deutschen National- SPIEGEL: Ist das Dortmunder Publikum be- Bestes gibt. mannschaft. 1997 gewann er mit dem FC sonders schwierig? SPIEGEL: Ihr Wechsel nach Dortmund ist es Schalke 04 den Uefa-Pokal; im Jahr darauf Lehmann: Man muss da zwischen den ver- wohl nicht allein. In den vergangenen wechselte er als erster deutscher Torhüter schiedenen Tribünen unterscheiden. In der Wochen machten Sie den Eindruck, sämt- nach Italien. Beim AC Mailand saß er Südkurve stehen die Treuesten, aber auch liche Sympathien systematisch aufs Spiel jedoch häufig auf der Reservebank und Fanatischsten. Und durch die Logen, die setzen zu wollen. Der Chef des HSV hat kehrte nach Westfalen Sie einen „arroganten Schnösel“ genannt. zurück – zu Borussia Lehmann: Es ist einfach so, dass ich ein Dortmund. Spielball einiger Medien bin. Da hat man nur zwei Möglichkeiten. Entweder man SPIEGEL: Herr Leh- spielt mit, oder man sagt in gewissen Si- mann, wie fühlen Sie tuationen: Schluss, Sendepause. So habe sich, wenn Sie im Dort- ich reagiert, nachdem die „Bild“-Zeitung munder Stadion hinter Beleidigendes gegen meine Frau gedruckt Ihrem Tor die eigenen hat. Ich rede nicht mehr mit denen und be- Fans „Scheiß-Millionä- komme im Gegenzug Breitseiten. re“ rufen hören? SPIEGEL: Sie waren es doch, der die Profis Lehmann: Ach, da habe des HSV als „Weicheier“ bespöttelt hat ich schon Schlimmeres und der nach dem peinlichen Ausscheiden erlebt. Natürlich ist es aus der Champions League maulte, auf schade, wenn die Fans den Uefa-Cup habe er „keinen Bock“, weil da meistens donnerstags gekickt * Mit Schiedsrichter Wolfgang werde? Stark beim Spiel Hamburger

SV gegen Borussia Dortmund WEREK Lehmann: Manches war nur im Spaß ge- (1:1) am 30. Oktober. Fans im Westfalenstadion: „Recht, die Spieler auszupfeifen?“ sagt, es waren auch ernst gemeinte Äuße-

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Werbeseite Sport rungen dabei, anderes war total aus dem Zusammen- hang gerissen. Zum Beispiel habe ich wirklich in dem Moment, da ich aus der Champions League aus- scheide, keine Lust, ersatz- weise im Uefa-Cup zu spie- len. Obwohl ich inzwischen gesehen habe, dass da gute Mannschaften mitspielen und der Wettbewerb vom Modus sogar attraktiver ist. Ich habe aber keine Lust mehr, über diese hochge- spielten Zitate zu reden. Manche versuchen, ein be- stimmtes Image von mir zu

produzieren. Dass ich etwa / BONGARTS SCHATZ P. nach dem Spiel in Hamburg Konkurrent Kahn: „Der Teamchef ist auch kein Hellseher“ als Einziger eine Mütze trug, wird mir als arrogant ausgelegt. Ich war SPIEGEL: Fällt es dann schwer, außerhalb erkältet. des Platzes nicht mehr genauso selbstge- SPIEGEL: Im September galten Sie noch als wiss und arrogant zu wirken wie im Spiel? Cleverle, das mit guter Leistung und sub- Lehmann: Natürlich. Ich halte es sowieso tilen Nadelstichen seinen Nationalelf- nicht für richtig, dass man eine Minute Konkurrenten Oliver Kahn unter Druck nach dem Abpfiff ernst zu nehmende In- setzt. Jetzt empfiehlt sogar Ihr Dortmun- terviews verlangt. Man ist in einer speziel- der Trainer Michael Skibbe, es könne von len Situation. Kurz vorher hat man noch Vorteil sein, weniger Angriffsfläche zu dagestanden und einen Ball erwartet, der bieten. einem aus fünf Metern aufs Gesicht zu- Lehmann: Bei mir gibt es nun mal viele An- fliegt. Oder einen Spieler, der mit ge- griffsflächen. Ich versuche, die Nummer strecktem Bein angesaust kommt. Und eins im Tor der Nationalelf zu werden. Und dann soll man innerhalb von einer Minute ich habe eine Frau geheiratet, die vorher umschalten können? Das ist sehr schwer. mit jemand anderem zusammen war, der SPIEGEL: DFB-Teamchef Erich Ribbeck fiel bekannt ist … auf, Sie kämen „manchmal zu verbissen SPIEGEL: … dem früheren Dortmunder Pro- und sogar etwas weltfremd rüber“. Sind fi Knut Reinhardt. Sie mit der Degradierung zum Ersatz- Lehmann: Solange ich noch zum Erfolg mei- torwart der Nation nicht klargekommen? ner Mannschaft beitrage, sollten manche Lehmann: Nein, ich bin gern bei der Natio- froh sein, dass nicht sie die Angriffsfläche nalmannschaft und werde weiter versu- bieten. chen, nach vorne zu kommen. SPIEGEL: Wächst Ihnen die Öffentlichkeits- SPIEGEL: Halten Sie die Frage, wer im Juni arbeit über den Kopf? bei der Europameisterschaft im Tor steht, Lehmann: Die Spiele selbst sind keine so schon für entschieden? große Belastung. Nur das Drumherum, die Lehmann: Der Teamchef hat sich entschie- Reisen, die Interviews, das ist schon heftig. den. Nur, der Teamchef ist auch kein Hell- Ich habe bereits 26 Pflichtspiele in dieser seher. Die Verhältnisse können sich schnell Saison absolviert. Dass ich da zuletzt nicht ändern. Vielleicht spielt ein ganz ande- mehr so frisch war, so super relaxed rü- rer im Tor, mit dem jetzt noch niemand berkam – Entschuldigung, aber das muss rechnet. Ich hoffe nach wie vor, dass sich man auch verstehen. noch etwas verschieben kann. Niemand SPIEGEL: Putschen Sie sich vor Spielbeginn kann mir verübeln, dass es mein sport- bewusst auf, damit Sie auf die nötige Be- liches Ziel ist, die Nummer eins zu triebstemperatur kommen? werden. Lehmann: Nein, eine Aggressivität brauche SPIEGEL: Ihr Rivale Kahn hat sich augen- ich nicht im Spiel. Wichtig sind nur Ruhe scheinlich in jüngster Zeit eine gelassene- und Körperspannung. Die baue ich mir re Berufsauffassung antrainiert. Wollen durch Konzentration auf und auch durch auch Sie sich ändern? die Atmosphäre im Stadion. Lehmann: Natürlich, jeden Tag. Ich merke SPIEGEL: Müssen Torhüter ganz besondere ja selbst, dass ich durch die Begleit- psychologische Qualitäten haben? erscheinungen dieser vielen Spiele ange- Lehmann: Natürlich muss man sich auf dem spannter bin. Durch die Reisen, diese un- Platz Respekt verschaffen. Dazu gehören zähligen Besprechungen. Aber wenn ich auch schauspielerische Fähigkeiten. Wenn wie vergangene Woche mal drei Tage frei ich weiß, dass ein Stürmer, der auf mich habe und mit der Familie zusammen bin, zuläuft, Angst vor mir hat, dann habe ich werde ich gleich anders. schon gewonnen. Interview: Jörg Kramer

262 der spiegel 46/1999 Werbeseite

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Kairo Gizeh M. EL DAKHAKHNY / SIPA PRESS M. EL DAKHAKHNY / SIPA Vergoldete Mumie aus Baharija, Grabungsstätte Nil Oase Baharija ARCHÄOLOGIE zierte Tote enthält“. Nun soll die Karnak Oase mit ihren wertvollen archäo- ÄGYPTEN logischen Schätzen zügig zu einer 300 km Mekka der Mumien Touristenattraktion ausgebaut wer- den. In der letzten Woche öffneten m Himmel der ägyptischen Altertümer ist ein neuer Stern die Behörden den angrenzenden Aaufgetaucht – die Oase Baharija. Im letzten Juni hatten „Alexander-Tempel“, 332 vor Christus dem großen Feldherrn Forscher an dem abgelegenen Wüstenort 105 vergoldete Mu- geweiht, sowie weitere Prunkgräber. Auch die Mumienfans mien entdeckt – ein Sensationsfund. Chefarchäologe Zahi Ha- kommen auf ihre Kosten: Fünf der schönsten Exemplare wer- wass schätzt, dass der gesamte Friedhof „rund 10 000 reich ver- den erstmals der Öffentlichkeit präsentiert.

MEDIZIN Tod durch Kuscheln anche Eltern halten gern auch nachts engsten Körperkon- Mtakt zu ihrem Baby. Das beruhigt, endet mitunter aber tödlich. Eine Analyse von 515 Todesfälle von Kindern unter zwei Jahren, die im elterlichen Bett verstorben waren, hat nun die staatliche amerikanische „US Consumer Product Safety Schnecken-Roboter Commission“ vorgelegt. 121-mal waren die schwergewichtigen Erwachsenen nächtens ROBOTER über ihren Nachwuchs ge- rollt, 394-mal hatten sich Schrecken der Schnecken die Säuglinge in „ver- schiedenen Strukturen ritische Wissenschaftler haben einen Roboter gebaut, der des Bettes“ verheddert – BNacktschnecken vertilgt und seine Antriebsenergie aus den mit letalem Ausgang. Am kompostierten Opfern bezieht. Das Vehikel, mit einem GPS- häufigsten waren Babys Empfänger bestückt, gleicht einem Spielzeugauto und spürt die unter zwölf Monaten von Mollusken mit Hilfe eines optischen Sensors auf. Ein 1,8 Meter den Unfällen betroffen. In langer Greifarm kann pro Minute zehn Tiere packen und in ei- der trockenen Sprache nen Fülltrichter heben. „Ernsthafte Forschung im Experimen- der Pathologen wiesen die talstadium“, nennt Ingenieur Chris Melhuish den Prototyp. Im Ärzte auf eine besonders Feldversuch, der nächstes Frühjahr anläuft, soll der Robocop verletzliche Stelle der von einer Basisstation aus operieren, wo die Beutetiere in einer Kinder hin: Schon zwei Fermentationskammer in Biogas und elektrische Energie zur Kilogramm Druck am Ladung seiner Batterien umgewandelt werden. Praktische An- Nacken würden reichen, wendung könnte das autonome System in großen Salatbeeten

TONY STONE TONY um lebenswichtige Blut- und Feldern für Winterweizen finden, die von bis zu 200 Mutter mit Säugling gefäße abzudrücken. Schnecken pro Quadratmeter befallen sind.

der spiegel 46/1999 265 Prisma Wissenschaft•Technik

MEDIZIN Gesamtleistung der Windturbinen in Deutschland 4100 Schrumpfende in Megawatt Prognose Zum Vergleich Die beiden Meiler des Atomkraftwerks Biblis 2875 Netze Von Januar leisten zusammen 2407 Megawatt. bis September ie Behandlung von Leisten- dieses Jahres 2082 Dbrüchen, mit rund 250000 Ein- wurden 1056 griffen pro Jahr häufigster Opera- neue Windkraft- tionstyp in deutschen Kliniken, kann 1547 anlagen errichtet. schwere Spätfolgen nach sich ziehen. 1094 Seit etwa fünf Jahren arbeiten viele Ärzte mit einer neuen minimalinvasi- 605 ven Technik: Winzige kamerabestück- te Instrumente werden unter Vollnar- Quelle: Bundesverband WindEnergie e.V. 1994 1995 1996 1997 1998 1999 kose in die Bauchhöhle eingeführt; die- IMO se stopfen den Leistenriss von innen mit einem etwa 12 mal 15 Zentimeter WINDKRAFT großen Gitternetz aus Polypropylen. Doch die vermeintlich elegante Me- Warmer Wind thode wirkt nach Beobachtung des osige Zukunft für Deutschlands Rotor-Zunft: Referenten des Berliner Wirtschafts- Rministeriums wollen den Betreibern von Windkraftanlagen künftig Festpreise ga- rantieren. Bislang sind deren Erlöse an den aktuellen Strompreis gekoppelt, der seit Monaten rapide sinkt. Im nächsten Jahr erhalten die Windmüller deshalb nur noch 16,1 Pfennig pro Kilowattstunde, 0,4 Pfennig weniger als in diesem Jahr. Zudem brau- chen die Netzbetreiber, gemessen an ihrem Gesamtabsatz, lediglich fünf Prozent an Windenergie der lästigen Öko-Konkurrenz abzukaufen. Der neue Entwurf sieht nun eine radikale Änderung des Stromeinspeisungsgesetzes vor: Die Fünfprozentdeckelung wird gekippt, und ein Festpreis zwischen 12 und 17 Pfennig pro Kilowattstunde soll ga- rantiert werden. „Über die genaue Höhe“, so ein Sprecher, „wird noch gestritten“.

TIERE xus-Halstüchern abschlachten. Aus-

M. LINKE / LAIF schließlich die Bauch- und Kinnhaare Chirurg Schumpelick Massenwilderei für der Antilopen dienen als Material für die so genannten Shahtoosh-Schals, Chirurgen Volker Schumpelick (Klini- Luxus-Schals mit denen sich schon Napoleons José- kum Aachen) wie eine Zeitbombe. Die phine schmückte. Obwohl Handel und implantierten Netze – im Koreakrieg hr ultrafeines, seidenweiches Haar ist Besitz der leichtesten und wärmsten für Bauchschuss-Wunden entwickelt – Ider Tibetantilope zum Verhängnis ge- Wolle nach dem Washingtoner Arten- würden im Laufe der Zeit zu „harten worden: Die Population (einst 1 Million schutzabkommen bereits verboten Knollen“ verschrumpeln. Narben, Tiere) ist auf nur noch rund 60000 ge- waren, sind die Schals, die sich durch chronische Entzündungen und Ner- sunken, weil Wilderer die Antilopen einen Fingerring ziehen lassen, seit venschmerzen sind nach seiner Erfah- massenhaft für die Herstellung von Lu- den achtziger Jahren zum Status-Stück rung die Folge. „Unsere Klinik hat be- der Schickeria in London, Paris, reits 120 Gitter wieder ausgebaut“, sagt Rom und New York geworden: Schumpelick, „bei einigen Patienten Mit dem Edeltuch zeigten sich fanden sich entartete Zellen – mögli- die Models Cindy Crawford che Vorstufen von Krebs.“ Auf dem und Christie Brinkley. Modema- europäischen Hernienkongress vor- cher Valentino besitzt etwa letzte Woche in Madrid meldeten an- 200 Shahtoosh-Schals. Um die dere Chirurgen vollständig abgerisse- Massenwilderei auf den tibeti- ne Wundpflaster, die in Harnblase und schen Hochebenen einzudäm- Dickdarm gewandert waren. Schum- men, bei der auch mutterlos ge- pelick fordert jetzt eine „drastische wordene Jungtiere zu tausenden Reduzierung“ der Pflastertechnik, um umkommen, hat der Internatio- nicht in ein „Humanexperiment un- nale Tierschutz-Fonds die chine- vertretbaren Ausmaßes“ zu geraten. sischen Wildhüter mit Nacht- Allein im letzten Jahr erhielten etwa sichtgeräten und elektronischer 50000 Patienten, darunter viele Ju- Kommunikation ausgerüstet;

gendliche, das Plastikpflaster. / IFAW PATROL WILD YAK zwei Wildhüter wurden schon Tibetantilopen von Wilderern getötet.

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MEDIZIN Ende einer Irrfahrt Ein junger Amerikaner starb, als Forscher ihn von seinem Stoffwechselleiden heilen wollten. Nach dem Menschenversuch mit tödlichem Ausgang sind ähnliche Experimente vorerst gestoppt worden. Kritiker halten die Gentherapie einstweilen für wirkungslos und zu riskant.

n seinem alten Leben war Jesse ein Fieber stieg. Leber, Nieren, Lunge versag- alle vergleichbaren klinischen Studien.Wil- Teenager, der im Supermarkt als Tü- ten und Gehirnzellen starben ab. Er fiel son versprach, den Tod des Jungen inten- Iteneinpacker jobbte und seine Schwes- ins Koma.Vier Tage später stellten die Ärz- siv zu untersuchen.Anfang Dezember sol- tern ärgerte. Jemand, der Hot Dogs, Pom- te die Apparate ab. len die Obduktionsergebnisse bekannt ge- mes und sein neues Motorrad liebte und Trotz seiner Krankheit hätte der Junge geben werden. „fuck!“ brüllte, wenn er wütend war. alt werden können. Zwar ist der Gen-De- Unterdessen berichteten Reporter der Sein neues Leben begann, kurz bevor fekt nicht heilbar, aber mit einer eiweiß- „Washington Post“ über acht weitere Pa- er starb. Es machte ihn zum Märtyrer in armen Diät und Medikamenten leben vie- tienten, die bei Gentherapie-Studien ums den Augen seines Vaters und zu einem in- le der Betroffenen einen weitgehend be- Leben kamen; ihr Tod war von den jewei- teressanten Studienobjekt für viele For- schwerdefreien Alltag. Auch deswegen ist ligen Versuchsleitern unter Verschluss ge- scher. Für den Rest der Welt ist er das der tödliche Ausgang im Fall Gelsinger so halten worden. Und vorletzte Woche kam erste Opfer der Gentherapie-Forschung. katastrophal: Zum ersten Mal in der Ge- heraus, dass drei Leberkrebs-Patienten, die Der Junge aus Tucson, Arizona, starb schichte der Gentherapie-Forschung hatten in ähnlicher Weise behandelt worden wa- am 17. September im Alter von 18 Jahren Wissenschaftler eine neue Methode an ei- ren wie Jesse, schwere Nebenwirkungen an den Folgen eines medizinischen Expe- nem relativ gesunden Probanden getestet. erlitten haben. riments. Er hatte sich freiwillig gemeldet. Schockiert durch den Todesfall, stoppte In Deutschland trat als Reaktion auf das „Obwohl ihm klar war, dass für ihn nichts die US-Arzneimittelbehörde FDA zunächst Drama in Philadelphia ein Expertengre- dabei rumkommen würde“, mium zusammen. Doch die Gelehrten ent- sagt Paul Gelsinger, der Vater. schieden – ohne die Details des tödlichen „Er hat es für all die Babys ge- US-Experiments zu kennen –, dass die der- tan, denen in Zukunft vielleicht zeit in der Bundesrepublik laufenden Ex- mit dieser Therapie das Leben perimente zur Gentherapie mit Adenovi- gerettet werden kann.“ ren nicht unterbrochen werden müssen. Darauf, dass Jesse an der Stu- „Mit der US-Studie sind die Versuche in die der University of Pennsyl- Deutschland nicht direkt zu vergleichen“, vania in Philadelphia teilneh- befand Klaus Cichutek, leitender Biotech- men durfte, ist sein Vater noch Spezialist beim Paul-Ehrlich-Institut, das immer stolz. Seine Leberwerte für die Zulassung von Sera und Impfstof- qualifizierten den Jungen für fen zuständig ist. das Experiment: Ein bestimm- Auch in den USA nimmt kaum ein Wis- tes Gen funktionierte in seinen senschaftler Jesses Tod zum Anlass, die Zellen nicht so, wie es sollte. Gentherapie grundsätzlich in Frage zu stel- Ihm mangelte es an einem Le- len. Stattdessen bewerten die Spezialisten berenzym, das bei Gesunden das Sterben des 18-Jährigen eher als dum- zur Entsorgung von giftigen men Zufall, der sich mit einem Schulter- Stoffwechselprodukten sorgt. zucken abhaken lässt. Kein Geringerer als James Dabei gäbe es über diesen Todesfall hin- Wilson, Gentherapie-Papst in aus genügend Gründe, die Gentherapie kri- den USA, hatte gemeinsam mit tischer zu sehen. Schon eine oberflächliche einem Leberspezialisten gegen Betrachtung enthüllt Wahrheiten, in deren diese seltene, aber für manche Licht der Tod des Jungen aus Arizona nicht Menschen, vor allem Neuge- mehr als Einzelereignis, als Unfall am borene, tödliche Stoffwechsel- Wegesrand erscheint, sondern eher wie der krankheit eine Behandlung er- Crash am Ende einer Irrfahrt – mit Patien- sonnen: Mit Adenoviren, die ten als Dummies. Atemwegserkrankungen auslö- Fast auf den Tag genau zehn Jahre vor sen können, sollte die korrekte Jesses Tod hatten US-amerikanische Krebs- Version des Enzymgens, das bei forscher ihren ersten geglückten Gen- Jesse defekt war, in die Leber transfer in die Zellen eines Menschen ver- des Jungen gespritzt werden. kündet; es handelte sich um einen Vorver- Jesses Sterben begann weni- such noch ohne therapeutischen Wert, der ge Stunden nach der Injektion nur beweisen sollte, dass das Prinzip funk- der neuen Gene. Giftiges Am- tioniert.

monium überflutete seinen STAR DAILY / ARIZONA FAMILY GELSINGER Seit Anfang der sechziger Jahre hatten Körper. Sein Blut klumpte, das Gentherapie-Patient Jesse Gelsinger: Tod im Koma die Mediziner, entzückt von den Ent-

268 der spiegel 46/1999 Fähren ins Erbgut deckungen in der sich gerade erschließen- den Welt der Molekularbiologie, von der Wichtige Methoden, Gene in den Zellkern einzuschleusen Möglichkeit geträumt, mit Hilfe einge- schleuster Gene Menschen zu heilen. Das Konzept schien verlockend einfach: Die Krankheit sollte an ihrer Wurzel gepackt Patienten* ADENOVIREN 437 werden, indem man das defekte Erbgut Die Gene der DNS-haltigen repariert oder ersetzt wie eine rostige Adenoviren gelangen als Vorteile frei schwimmende DNS- •keine Störung der normalen Schraube im Motor. Stränge in den Zellkern. Zellfunktion, da es keine Integra- Der amerikanische Forscher Stanfield tion in die Chromosomen gibt Rogers erlag der Verführungskraft dieser •effektive Einschleusung Idee schon Anfang der siebziger Jahre – er Zellkern ist der inoffizielle Pionier der genthera- Nachteile peutischen Experimente am Menschen. •Gene sind nur vorübergehend Ebenso erfolglos wie heimlich versuchte aktiv, so dass oft nachgespritzt er, zwei deutsche Schwestern von ihrer werden muß erblich bedingten fortschreitenden De- •starke Immunreaktion möglich menz zu befreien. Mitte der achtziger Jahre hatten die For- scher sich schon näher an ein konkretes Virus mit DNS Konzept für die Gentherapie herangetas- tet. Sie fanden einen scheinbar genialen Weg, Gene in die Zellen zu schleusen: RETROVIREN gleichsam als Huckepack-Ladung vermit- Ein RNS-haltiges Virus dockt an die Zelle an. Die RNS tels Viren. wird in DNS umgeschrieben und dann in das Erbgut Perfekt beherrschen diese Mikroben die der Zelle eingebaut. Kunst der Infektion. Sie verfügen über die Fähigkeit, in Zellen einzudringen und die- Patienten* 1217 se sodann dazu zu bringen, auch das Vi- Vorteile renerbgut zu vermehren. Fortan kopiert •stabiler Einbau in die Zelle beim routinemäßigen Ablesen ih- die Chromosomen Virus •Virusgene fehlen mit RNS •effektive Einschleusung Nachteile •zuvor intakte Gene können ausgeschaltet werden – Gefahr von Tumorbildung

AAV Die winzigen Adeno-assoziierten Viren gelan- gen in ähnlicher Weise in die Zelle wie Adeno- viren, sie können jedoch keine ernsthaften Krankheiten verursachen. Patienten* 36 Adeno- NACKTE DNS assoziierte DNS-Ringe, die in ein Gewebe B. CRAMER Vorteile Viren injiziert werden, dringen in die Gentherapeut Wilson •keine Immunreaktion Zelle ein – vermutlich durch feine Verlockend einfaches Konzept Nachteile Risse in der Zellmembran. •jeweils nur geringe Mengen rer eigenen Erbinformationen nicht mehr DNS können mit einem Patienten* 69 nur die eigenen Gene, sondern auch die Virus eingeschleust werden Vorteile der Mikroben. Auf diese Weise vermehren •schwer herzustellen •keine viralen Gene, daher sich die Eindringlinge und befallen weite- keine Infektion möglich re Zellen. •besonders stabil im Muskel- Den Bioforschern gelang es, die gefähr- Gewebe lichen, für die Vermehrung zuständigen Nachteile Gene aus den Viren herauszuoperieren und stattdessen neues Erbmaterial einzufügen. •wenig effektiver Gentransfer Die amputierten Erreger vermögen immer noch Zellen zu befallen, aber statt des ei- genen Viren-Erbguts schleusen sie nun eine funktionierende Version des beim Patien- ten defekten Gens in den Organismus – eine Methode, die bis heute bei fast jedem *weltweit bis 1. September 1999; Gentransfer-Versuch angewendet wird (sie- Quelle: he Grafik). Journal of Gene Medicine Im September 1990 begannen US-ame- rikanische Wissenschaftler mit der Be-

der spiegel 46/1999 269 Wissenschaft handlung der vierjährigen Ashanthi De- Silva aus Cleveland; es war das erste zu- gelassene Gentherapie-Experiment am Menschen. Das Kind litt – und leidet heu- te noch – an einer seltenen Stoffwechsel- schwäche, der ADA-Defizienz, die das Im- munsystem zum Erliegen bringt. Mit der anrührenden Kombination – kleines Mädchen leidet an grausamer Krankheit – konnte sich Experimentator French Anderson der geballten Publi- kumssympathie sicher sein. Besonders, weil damals die Erinnerung der Amerika- ner an den „Bubble Boy“ noch relativ frisch war, einen kleinen Leidensgenossen Ashanthis, der zum Schutz seines fragilen Immunsystems vor Bakterien- und Viren- attacken in einer Plastikhaube hatte leben müssen. Mit dem Versuch an Ashanthi DeSilva begann der Triumphzug der Gentherapie durch Presse, Funk und Fernsehen. Nach Art von Straßenpredigern beschworen Ärzte eine neue Ära, ein Leben ohne Leid. „Seit tausend Jahren wartet die Medizin auf eine solche Therapie“, verkündete Gerard McGarrity, der damals dem „Re- combinant DNA Advisory Committee“ (RAC) vorsaß, dem für Genbehandlungen zuständigen Zulassungsgremium der US- Gesundheitsbehörde. Die Liste der in Zukunft per Gentrans- fer heilbaren Plagen der Menschheit wur- de täglich länger: von Bluthochdruck zu Erbkrankheiten wie der zystischen Fibro- se, von Aids über Alzheimer und Parkinson bis zu Krebs. Die eifrigsten Propheten sag- ten voraus, dass spätestens 1996 die erste Gentherapie auf dem medizinischen Markt verfügbar sein würde. Angesteckt von der Euphorie, pumpten Pharmakonzerne Mil- liardenbeträge in entsprechende klinische Forschungsprogramme. In Deutschland begann die erste klini- sche Studie 1994, bis heute verzeichnet das offizielle Register 67 Patienten. Weltweit gibt es rund 400 klinische Studien, die meisten davon laufen in den USA. US-Mediziner French Anderson, einer der Gentherapie-Pioniere, drückte schon vor Jahren den Ehrgeiz der Forscher aus: „Wir wollen diese Technologie an die Kran- kenbetten bringen, so schnell wir können.“ Im selben Atemzug tat er die Auffassung „einiger Grundlagenforscher“ ab, die „nicht an den Menschen gehen wollen, be- vor wir nicht alles Mögliche in Tieren und Gewebekulturen getan haben“. Viel gebracht haben die experimentellen Behandlungen jedoch nicht: Bis auf den heutigen Tag ist nicht ein einziger der welt- weit rund 3300 Probanden der Genärzte von seiner Krankheit geheilt worden. Noch immer kämpfen die Genthera- peuten mit den gleichen technischen Schwierigkeiten wie vor zehn Jahren – nur, dass eigener Ehrgeiz und oft auch der Ver- marktungsdruck von Pharmafirmen die Mediziner inzwischen dazu treibt, neue

der spiegel 46/1999 Methoden möglichst rasch am Menschen auszuprobieren. Die Patienten gehen ihnen bei diesem Parforceritt nicht aus. Welcher Schwerst- kranke würde sich nicht im Angesicht des Todes für einen Hoffnungsschimmer in die Hände der optimistischen Hightech-Medi- ziner begeben? Und in den öffentlichen Kontrollgremien, die über Ethik und sau- bere Wissenschaft wachen, haben sich of- fensichtlich die Grenzen des Erlaubbaren zugunsten des Machbaren verschoben. In Deutschland findet die Zulassung kli- nischer Gentransfer-Studien in einem ver- zweigten Behörden-, Gremien- und Richt- linienwirrwarr statt. Selbst Klaus Cichutek vom Paul-Ehrlich-Institut, durchaus orien- tierungsfähig in diesem Labyrinth, findet es „unglücklich“, dass die in den Experi- menten eingesetzten Gentherapeutika „nicht einmal als eigene Arzneimittel- klasse gelten“. Je nachdem, ob man sie als

„Impfstoff“, „Blutzubereitung“ oder in SIMON P. der Definitionsnot als „andere Arzneimit- Nervenzelle mit eingeschleustem Gen: Risiko durch Überreaktion der Immunabwehr tel“ einstuft, fallen sie jeweils unter die Zuständigkeit einer anderen Bundes- sität Tübingen. Die beiden Jungforscher die Forscher ihre Viren nicht in den Griff. behörde. durchforsteten und analysierten mehr als So elegant es erscheint, sie als Transport- Im gelobten Gentech-Land USA wer- 400 Seiten. mittel für die neuen Gene in die Zellen den klinische Studien zwar immer noch Was sie in den Protokollen entdeckten, des Patienten zu nutzen – viele von ihnen öffentlich vom RAC geprüft, immerhin ei- erschütterte Dettweiler und Simon. Plötz- bleiben gefährliche Infektionserreger, de- nem Gremium aus hochrangigen Wissen- lich weitete sich ihre Nachforschung, eine ren plötzliche Anwesenheit im Körper eine schaftlern, Patientenvertretern und Ethi- anfangs kleinliche Suche nach wissen- heftige Abwehrreaktion provozieren kann. kern. Doch die eingereichten Anträge um- schaftlichen Patzern in der Versuchsan- Möglicherweise starb Jesse an einer sol- fassen hunderte von Seiten, vollgepackt ordnung: Aus dem Mikrokosmos der Gel- chen Überreaktion des gereizten Immun- mit Tabellen, Versuchsanordnungen, Vor- singer-Studie schälte sich für sie das Versa- systems. Die Ärzte hatten ihm 38 Billionen gen der Gentherapie im Ganzen heraus. der genbeladenen Schnupfenviren in jene „Das muss man sich mal vorstellen“, Arterie gespritzt, die direkt zur Leber wundert sich Dettweiler, „diese Studie führt. Zeitweise müssen mehr Viruspartikel wird vorgeschlagen von James Wilson, dem als rote Blutkörperchen in seinen Adern mit über 490 Veröffentlichungen wohl er- gekreist haben. folgreichsten Gentherapeuten der Welt, sei- Tötete ihn die hohe Dosis? Dies leiten ne Arbeit wird beurteilt von dem erfah- Wissenschaftler ab aus Tierexperimenten. rensten Gremium, das man sich vorstellen „Aber welchen Aussagewert hat es, ein Vi- kann.“ Und trotzdem hätten die Gelehrten rus, das extrem spezifisch Menschenzellen eine schwerwiegende Fehlentscheidung ge- befällt, in Mäusen oder Affen zu testen?“ troffen: „Das liegt an der totalen Fehl- fragt Perikles Simon. kommunikation“, kritisiert der Ethiker. Mediziner Erickson gibt ihm recht: Ge- „Die hörten einander nicht richtig zu.“ rade die Maus reagiere eigentlich über-

T. BARTH / ZEITENSPIEGEL BARTH T. Vor allem zwei Bioforscher, Stephen haupt nicht auf Erkältungsviren. „Und be- Mediziner Simon Straus und Robert Erickson, hatten sonders erschwert wird die Sache dadurch, Muss die Gentherapie scheitern? während der Sitzung des RAC Anfang De- dass jeder Mensch für sich noch mal ein zember 1995 heftige Besorgnis geäußert. einzigartiges Abwehrsystem besitzt.“ Viel- studien. So komplex sind die Techniken, so Beide warnten ausdrücklich davor, relativ leicht, spekuliert Erickson, habe Jesse ein- umfangreich ist das Arbeitspensum, dass gesunde Patienten wie den jungen Gelsin- fach nur besonders viele natürliche Killer- die wenigen Ethiker im Gremium naivere, ger mit einer Gentherapie zu behandeln. Zellen gehabt, eine spezielle Kampftruppe unwissenschaftliche Fragen kaum zu stel- Doch niemand, am allerwenigsten James im Immunsystem, die vom Virus aktiviert len wagen. In der Expertenkommission dis- Wilson selber, ging auf ihre Bedenken ein. worden sei und dann durchdrehte. kutieren vor allem Gentherapeuten über Am Ende der schier endlosen Debatte Jesses Vater wusste noch weniger als die die Gentherapie – ein wissenschaftlicher ließ Erickson sich durch zwei lahme Zuge- Forscher von einer drohenden Attacke ir- Inzest. ständnisse der Versuchsleiter dennoch zu gendwelcher Killerzellen. Er hatte keine Mit fatalen Folgen: „Die Studie, bei der einer Zustimmung zum Experiment hin- Ahnung, wie gefährlich die Mission seines Jesse Gelsinger umkam, hätte das RAC nie reißen. „Ich wünschte“, bedauert der Me- Sohnes wirklich war. zulassen dürfen“, urteilt Ulrich Dettweiler diziner heute, „sie hätten mich nicht über- „Sonst hätte ich ihn doch nach Philadel- vom Kennedy Institute of Ethics in Wa- zeugt.“ phia begleitet“, sagt Paul Gelsinger. Hatte shington D. C. Alarmiert von dem Todes- Gerade die brisanten Einzelheiten in sich denn Jesse nicht gefürchtet vor dem fall, besorgte sich der Bioethiker sämtliche Wilsons Studie lesen sich wie ein Kom- Experiment? Papiere zu James Wilsons klinischer Studie pendium der seit zehn Jahren ungelösten „Nein“, sagt Gelsinger. „Sie wissen und tat sich zusammen mit Perikles Si- Probleme der Gentherapie, entdeckten Si- doch, wie Teenager sind – die denken, sie mon, einem Mediziner von der Univer- mon und Dettweiler.Vor allem bekommen leben ewig.“ Rafaela von Bredow

der spiegel 46/1999 271 Werbeseite

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Werbeseite W. M. WEBER W. THEMA Brotherstellung, Fermenter für das Brotrecycling: Eine halbe Million Tonnen Backwaren jährlich an das liebe Vieh verfüttert

Brot. Nur knackige Brötchen, frische die Techniker in großen Fermentern le- LEBENSMITTELTECHNIK Schusterjungs und duftende Landbrote ge- bende Hefezellen zu, denen der süße Sud hen weg wie warme Semmeln – für das zu explosivem Wachstum verhilft.Wird die Schusterjungs brotschaffende Gewerbe ein Riesenpro- Würze vergoren, entsteht Alkohol, der ab- blem. Denn kaum liegt das Gebäck im Su- destilliert und etwa als Brennstoff für die permarkt, ist es auch schon wieder alt. Backöfen genutzt werden kann. Zugleich aus zweiter Hand Jedes zehnte Brot müssen die Bäcker entstehendes Kohlendioxid soll als Kühl- vor Ablauf der Mindesthaltbarkeit aus den mittel dienen. Übrig bleibt schließlich so Ist das Rückbrot-Problem Regalen nehmen. Bundesweit gehen jähr- genannter Flüssigsauer, mit dem neuer Teig lich rund 500000 Tonnen Backwerk zurück angesäuert werden kann. Auch Eiweiße endlich gelöst? Ein Großbäcker in an die Bäckereien – und von dort aus an und Ballaststoffe aus dem Altbrot wandern Bayern will Brot recyceln, um das liebe Vieh. Der Bedarf an Tierfutter je- in neues Backgut. daraus neue Teigwaren zu backen. doch sinkt. Zudem müsse das teuer herge- Qualitätsverlust sei bei alledem ausge- stellte Brot mit billigem Futtergetreide kon- schlossen, versichert Meuser. Weil das do Martens steht auf harte Bröt- kurrieren, klagt Ingenieur Martens: „Wir Rückbrot allenfalls drei Tage alt ist, hält chen. Auch für ledrige Scheiben geben unser Rückbrot quasi umsonst ab.“ der Experte Schimmelbefall für unwahr- Ualten Bauernbrotes, gummiartige Die Neufahrner Bäcker wollen aus der scheinlich. Zudem töte der Prozess etwai- Brezeln und staubtrockenen Baumkuchen Not jetzt eine Tugend machen. Nicht nur ge Schimmelpilze oder Bakterien ohnehin begeistert sich der Ingenieur der Groß- Geld soll die neue Recycling-Methode spa- ab. „Das Recycling-Brot hat die selben Be- bäckerei Müller-Brot im bayerischen Neu- ren. Das Verfahren gilt auch als umwelt- standteile wie herkömmliches Brot“, sagt fahrn. schonend und energiesparend, weil das ge- der Wissenschaftler. „Es sieht genauso aus Nicht kulinarischer Natur ist Martens’ samte Altbrot in einem fast geschlossenen und schmeckt auch nicht anders.“ Vorliebe für schwer Zerkauliches. Techni- Stoffkreislauf wieder verwer- Auch Ingenieur Martens aus scher Pioniergeist verbindet den Lebens- tet werden kann. „Wir machen dem bayerischen Neufahrn mittelchemiker mit den alten Backpretio- aus unverkauftem Brot wert- beschwichtigt etwaige Igitt- sen, auch Rückbrot genannt. Rund 30 Ton- volle Backhefe und Alkohol“, Reflexe. Von Seiten der nen davon finden täglich ihren Weg aus preist Friedrich Meuser vom Kundschaft sei das Echo den Supermärkten zurück auf den Be- Institut für Lebensmitteltech- „nur positiv“. Entsprechende triebshof vor Martens’ Büro und wandern nologie der TU Berlin die neue Kennzeichnung des Recycling- von dort fein pulverisiert in die Futtertrö- Methode. Brotes im Laden (Motto: „Ich ge von Schweinen und Rindern. Meuser ist Chefentwickler war ein Brot“) hält der Fach- „Eine riesige Verschwendung“, findet des Brot-Recycling-Verfahrens. mann für überflüssig. Martens. Zusammen mit seinem Bröt- Auf einer Russland-Reise kam Schon läuft bei Müller-Brot chengeber hat er deshalb ökologisch An- der Forscher auf die Idee ein rund 3000 Liter fassender mutendes im Sinn: Als erste Großbäckerei zum Brot aus zweiter Hand. Fermenter im Testbetrieb, der

Deutschlands will Müller-Brot seine Back- Während deutsche Bäcker die C. SCHROTH etwa 250 Kilogramm Hefe pro waren recyceln – ein Schicksal, das bislang Hefe meist einkaufen, stellen Brotforscher Meuser Tag produziert. Eine zehnmal vorwiegend Dosen, Plastik und Papier zu- russische Brotfabriken sie tra- größere Anlage soll in Kürze teil wird. ditionell selbst her – allerdings „völlig un- entstehen und endgültig die neue Brot-Zeit Mit Hilfe eines an der Technischen Uni- wirtschaftlich“, wie Meuser berichtet. Drei einläuten. versität Berlin entwickelten Verfahrens Jahre seines Forscherlebens widmete der Für Brotforscher Martens kann das alles plant Müller-Brot, altes Backwerk künftig Experte vertrockneter Brotrinde und nicht schnell genug gehen. Täglich muss er in neue Hefe zu verwandeln. Vor allem Toastresten. Seit kurzem ist sein Verfah- mit ansehen, wie kaum gealterte Semmeln wirtschaftliche Gründe bewegen die Bä- ren reif für den Einsatz in Großbäckereien. und Brezeln tonnenweise in einen Con- cker zum Umdenken. „Altes Brot als Tier- Das Prinzip ähnelt der Bierherstellung. tainer gekippt und zwecks Mästung do- futter zu verwenden entspricht in keiner In Wasser eingeweicht, werden die Brot- mestizierter Paarhufer abtransportiert Weise seinem Wert“, umreißt Martens die reste mit Enzymen versetzt, die dann die werden. derzeitige Zwangslage. Stärke in Zucker umwandeln. Der auf die- „Sehr schade“, knurrt der Backwerk- Das backstubenspezifische Dilemma: se Weise produzierte Zuckersaft wird zur Fan. „Das Brot ist doch noch super in Der Deutsche liebt sein täglich frisches so genannten Würze angesäuert. Ihr geben Schuss.“ Philip Bethge

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tertechnik einhellig. Durch- AUTOMOBILE weg legten ihre Fahrzeuge mehrere hunderttausend Ki- Wunder im lometer ohne Ölwechsel und ohne Motorschaden zurück. „Und zwar ohne Schmiersumpf negative Begleiterscheinun- gen“, bestätigt PVG-Abtei- Werden Millionen Tonnen Motoröl lungsleiter Peter Krüger. Doch auch für die wun- unnötig gewechselt? Erstaunliche dersame Ausdauer im Erfolgsmeldungen eines Filterher- Schmiersumpf der Aggrega- stellers setzen Auto- und te bieten die Experten der Mineralölindustrie unter Druck. Öl- und Autoindustrie Er- klärungen an.Viele Trabold- m vergangenen Jahr verkaufte der Kunden sind Berufsfahrer, Fuhrunternehmer Ronald Herrmann im die enorm lange Strecken Iunterfränkischen Waldbüttelbrunn ein mit nur wenigen Kaltstarts treues Arbeitsgerät. Der Fernlastwagen zurücklegen. Und genau das vom Typ Scania 143 hatte in seinem sie- seien „ideale Bedingungen benjährigen Einsatz eine Million Kilometer für das Öl“, sagt Rüdiger zurückgelegt. Szengel, Leiter der Benzin- Dass der Wagen diese Strecke mit nur motorenentwicklung bei einem Motor absolvierte, ist in der Nutz- VW.Castrol-Chefentwickler fahrzeugtechnik nicht ungewöhnlich.Welt- Meyer sieht auch in dem re- rekordverdächtig erscheint dagegen ein gelmäßigen Nachfüllen von anderer Aspekt des Dauerlaufs: Der schwe- Frischöl beim Wechsel des dische Schwerlaster fuhr die gesamte Filterelements einen Grund Distanz ohne einen einzigen Ölwechsel. für die Konstanz der Als der Wagen neu war, hatte Herrmann Schmierwirkung. Zudem einen Spezial-Ölfilter der Wertheimer Fir- stelle sich mit zunehmen- ma Trabold installiert, dessen Papierein- dem Alter der Motoren ein satz weitaus feinere Schmutzpartikel aus natürlicher Verbrauch ein, dem Öl entfernt als die serienmäßigen Mo- worauf ständig wachsende torfilter. Hermann Trabold, der das Zu- Mengen neuen Öls nachge-

behör für etwa 750 Mark einschließlich Ein- PRESSE MOTOR kippt werden müssen, die bau in Pkw und Lkw anbietet, verspricht Ölwechsel beim Auto: Feinstfilter als Jungbrunnen? das Schmiermittel wieder den Kunden auf lange Sicht einen erhebli- auffrischen. chen Kostenvorteil: Statt des vom Herstel- ausfall durch Kolbenfresser“. Die Um- Der Feinstfilter selbst, da sind sich fast ler vorgeschriebenen Ölwechsels für rund weltbehörde verweigerte daraufhin die alle Fachleute einig, habe auf den Erhalt 200 Mark soll im selben Rhythmus (meist Empfehlung für das Trabold-System. der Gleitfähigkeit allenfalls einen margi- alle 15000 Kilometer) nur noch das Filter- Aus Sicht von Fachleuten der Industrie nalen Einfluss. element (Stückpreis: 16 Mark) ausgetauscht war das niederschmetternde Ergebnis kei- Eines zeigen die Praxis-Resultate der und die Differenzmenge des im alten Filter ne Überraschung. Feinstölfilter werden Trabold-Kunden aber zweifellos: Die noch gebundenen Öls (etwa ein halber Liter) zwar seit Jahrzehnten etwa bei Baustellen- immer bei vielen Autoherstellern üblichen nachgeschüttet werden. und Militärfahrzeugen in staubigen Ge- Ölwechselintervalle von 15000 Kilometern Auch das ökologische Potenzial der genden eingesetzt, gelten aber nicht als sind viel zu kurz. Diese Öl-Vergeudung Erfindung ist beachtlich.Wenn die Wechsel Jungbrunnen für Motoröle. „Die chemische zeugt mehr von wirtschaftlichen Interessen des Schmierstoffs bei allen Autos entfielen, Alterung des Motoröls kann kein Filter auf- als von technischen Zwängen. müssten weltweit Millionen Tonnen Altöl halten“, erklärt Torsten Meyer, Cheftech- In diesem Jahr ging Volkswagen einen pro Jahr nicht mehr entsorgt werden. niker der Deutschen Castrol GmbH. Und großen Schritt nach vorn und verdoppelte Das Umweltbundesamt ließ das System gerade die chemischen Eigenschaften des die Ölwechselabstände für Benzinmoto- aus diesem Grund auf dem Prüfstand un- Schmierstoffs seien „entscheidend für die ren auf 30000 und für Dieselmotoren so- tersuchen. Das beauftragte Testlabor APL Lebensdauer des Motors“, stimmt VW-Be- gar auf 50 000 Kilometer – nach langen in Landau (Pfalz) unterzog drei Motoren, triebsstoffexperte Manfred Bort zu. Grabenkämpfen mit den Schmiermittel- einen davon mit Trabold-Fil- Das Thema wäre längst er- produzenten, die vor einem klassischen ter, einem 700-Stunden Dau- ledigt, widerspräche nicht die Qualitätsdilemma stehen: Die steigenden erlauf, entsprechend einer positive Praxiserfahrung der Anforderungen der Hersteller an das Öl Fahrstrecke von 63500 Kilo- Trabold-Kunden aller Exper- treiben den Entwicklungsaufwand hoch metern. Das Ergebnis war al- tentheorie. Über 25000 Filter und schaden letztlich dem eigenen Ge- lerdings ernüchternd. Nach wurden nach Angaben des schäft, da die besseren Öle länger halten. dem Marathon ohne Öl- Herstellers bisher in Perso- Doch auch im Interesse ihrer eigenen wechsel monierten die Prü- nen- und Lastwagen einge- Händler zögern die meisten Autohersteller, fer eine eindeutige Ermat- baut. Dutzende von Refe- die Ölwechselintervalle drastisch zu ver- tung der Schmierkraft und renzkunden, unter ihnen längern. Das Reparaturgeschäft geht seit die Bildung von Rückstän- Flottenbetreiber wie die Jahren erheblich zurück. Etwa 40 Prozent den. Festgeklemmte Kolben- Deutsche Telekom und die ihrer Service-Einnahmen beziehen die ringe werteten sie als „letzte Pinneberger Verkehrsgesell- Autowerkstätten inzwischen aus dem Ver- Vorstufe … zum Motortotal- Filterproduzent Trabold schaft (PVG), loben die Fil- kauf von Schmierstoffen. Christian Wüst

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ATOMENERGIE Strahlende Kathedrale Sechs Milliarden Mark kostet die Demontage des stillgelegten Atomkraftwerks Greifswald. Jetzt nähert sich das aufwendigste Abriss-Unternehmen der Republik seiner heikelsten Phase: der Zerlegung der hochverstrahlten Reaktorkessel.

ie Stimme klingt, als dulde sie kei- schlimmstenfalls zum Arzt, der dann nach als Dauerzustand am Greifswalder Bod- nen Widerspruch. „Füße positio- einer möglichen radioaktiven Verseuchung den. Im ehemaligen volkseigenen Kombinat Dnieren“, knarzt es aus dem Laut- fahnden muss. „Bruno Leuschner“ läuft das aufwendigs- sprecher über der Personenschleuse. Doch so etwas, beteuert EWN-Chef Die- te Abriss-Unternehmen der Republik. Nir- „Näher kommen!“ „Anlehnen!“ Optisch ter Rittscher, komme praktisch nicht mehr gendwo sonst auf der Erde unternimmt die unterstreichen Leuchtfelder mit kyrillischen vor. Die Strahlenbelastung seiner Leute lie- Atomindustrie eine Reaktor-Demontage Schriftzeichen die rüden Anweisungen. ge regelmäßig weit unterhalb der Grenz- vergleichbarer Dimension. „Grün“ entlässt die Werktätigen der werte. Am Mittwoch letzter Woche schwebte Energiewerke Nord (EWN) in den Feier- Atome werden in den düsteren Beton- per Hubschrauber Reaktorminister Jürgen abend. „Rot“ schickt sie in die Strafrunde bunkern an der Ostsee schon seit 1990 nicht Trittin ein, um sich über den Fortgang der – bestenfalls zum zweiten Duschen, mehr gespalten. Seither herrscht Endzeit AKW-Abwicklung unterrichten zu lassen, die sich derzeit ihrer heikelsten Phase nähert. Für den Grünen ist das Milliarden- Projekt der erste ernsthafte Probelauf für das Ende des atomaren Abenteuers. Einst stand bei Greifswald der Vorzei- gereaktor der realsozialistischen Nuklear- wirtschaft. Vier Druckwasserreaktoren vom sowjetischen Typ WWER 440 mit ei- ner elektrischen Gesamtleistung von 1760 Megawatt versorgten den Norden der DDR mit Elektrizität. Ein fünfter Block mit mo- dernisierter Technik ging noch im Wende- jahr 1989 in den Probebetrieb. Doch die Sowjetmeiler genügten nicht den Sicher- heitsansprüchen der alten Bundesrepublik, nach der Wiedervereinigung erfolgte die Abschaltung. Für Dieter Rittscher wurde die Stillle- gung zur Herausforderung seines Berufs- lebens.Vor vier Jahren kam der Diplom-In- genieur vom Essener Castorhersteller GNS nach Vorpommern. Mit seinen Männern ist er bei der Beerdigung des Atommolochs weit vorangeschritten. Das verwirrende Labyrinth aus Rohrlei- tungen, Kesseln und Armaturen, das das Herz des fünften Reaktorblocks einhüllte, wurde bereits ausgeweidet. Nur das

FOTOS: N. MICHALKE FOTOS: stählerne Reaktordruckgefäß ruht noch im-

Robotersäge zum Zerlegen von verstrahlten Reaktorteilen, Schrottplatz am AKW Greifswald: Füllstoff für den Autobahnbau

280 der spiegel 46/1999 Werbeseite

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weil die Radioaktivität während des jahr- Verpackte Ungetüme zehntelangen Intermezzos erheblich nach- Auch neun Jahre nach der Stilllegung des Kernkraftwerks Greifs- lässt, muss auch nur noch ein Bruchteil der wald sind die stählernen Reaktorkessel hoch radioaktiv. Sie müs- strahlenden Komponenten in einem End- sen deshalb ferngesteuert aus einer externen Warte zerlegt und lager versenkt werden. Trotzdem entschied strahlensicher verpackt werden. man sich in Greifswald für den schnellen Abriss. Das fehlende Containment hätte die versiegelte Ruine verletzlich gemacht für Flugzeugabstürze. Erste Konsequenz der Strategie der „so- fortigen Beseitigung“ war paradoxerweise ein gigantischer Neubau. Um die anfallen- den Müllhalden unterzubringen, zogen die Energiewerke im Nordosten des Kraft- werksgeländes das europaweit größte Zwi- schenlager für Atomschrott hoch – eine einzige, nur innen unterteilte Betonhalle, 1. Vorzerlegen Eine Band- 2. Nachzerlegen Die Ringe 3. Verpacken Der Manipulator hebt 200 Meter lang, 140 Meter breit und 18 Me- säge zerschneidet den aus Spezialstahl werden in die Segmente in abgeschirmte Trans- ter hoch. Die Kosten für den Koloss stiegen Druckbehälter in ringförmi- kompakte Segmente ge- port- und Lagerbehälter. Diese wer- von geplanten 340 Millionen Mark auf fast ge Abschnitte. Der Kessel sägt. Greifarme überführen den verschlossen, auf Lkw verladen eine halbe Milliarde. dreht sich dabei um seine die Teile zur Verpackungs- und innerhalb des Reaktorgeländes Für EWN-Chef Rittscher, den Mitarbei- Längsachse. station. in ein Zwischenlager transportiert. ter einen „Glücksfall für den Standort“ nennen, ist das Demontageprojekt nicht nur eine technische Herausforderung. Der mer, 230 Tonnen schwer und von allen Le- Deutschlands berappen müssen. Gegen- West-Ingenieur muss hochspezialisierte bensadern abgetrennt, am angestammten wärtig überweist die Bundesregierung jähr- Mitarbeiter für den Abriss-Job begeistern, Platz. Der kolossale Zylinder ist, einem lich rund 500 Millionen Mark. die das Kraftwerk des Kombinats „Bruno brutal gestutzten Baumriesen nicht unähn- Kaum verwunderlich, dass das kosten- Leuschner“ einst mit aufgebaut haben. lich, übersät von verschlossenen Rohrlei- trächtige Abbruchunternehmen anfangs Nun erzeugen sie Megaschrott statt Mega- tungsstümpfen. heftig umstritten war. Kernenergiegegner, watt und empfinden das mehrheitlich noch In den letzten Monaten wurden die aus- aber auch Fachleute aus der Atomwirt- immer als Schmach. Und so wird Rittscher geräumten Hallen nach und nach wieder schaft plädierten nachdrücklich gegen die nicht müde, die Kreativität zu loben, die vollgestopft – zur Vorbereitung des spek- das Abbruchunternehmen takulärsten Akts: der Zerlegung der zwölf allen Beteiligten abver- Meter hohen Reaktorkessel. Wo früher langt. tanklastzuggroße Dampferzeuger die Hit- Zwar droht in einem ab- ze der Kernspaltung ableiteten, haben Ab- geschalteten leergeräum- riss-Spezialisten in den letzten Monaten ten Meiler kein Supergau. Sonderausstattungen vom Feinsten instal- Strahlenunfälle mit dra- liert: Kräne, Greifarme, Drehbühnen, be- matischen Folgen sind den- wegliche Abschirmwände und Bandsägen noch nicht ausgeschlossen: von enormer Spannweite. Feuer gilt als der kritischs- 1,8 Millionen Tonnen Stahl, Beton und te Störfall, auch der Ab- sonstige Abfälle werden am Atomstandort sturz schwerer Lasten an der Ostsee anfallen. Zwei Drittel des kann zur Freisetzung von Abriss-Materials gelten als gewöhnlicher Radioaktivität führen. Müll, der nie mit Strahlung in Berührung Die „Annäherung an gekommen ist. Beton beispielsweise wird ein heißes Eisen“ („Berli- zerkleinert und anschließend wiederver- ner Zeitung“) begann in wendet – etwa als Fundament-Füllstoff Greifswald mit dem Ein- beim Autobahnbau. reißen und Abtragen von Rund 580000 Tonnen sind entweder ra- Nebengebäuden. Einige dioaktiv belastet oder müssen auf Strah- Personenschleuse: Bei „Rot“ zum zweiten Duschen Flächen des 345 Hektar lung untersucht werden („Verdachtsmate- großen Geländes wurden rial“). Auch von diesen immer noch gigan- Sofort-Demontage und stattdessen für den bereits für die Neuansiedlung von Hand- tischen Massen hoffen die EWN-Manager „sicheren Einschluss“ der Strahlenruine. werks- oder Industriebetrieben geräumt. am Ende den Löwenanteil (470 000 Ton- Bei dieser Entsorgungsvariante werden Im nächsten Schritt nahmen die De- nen) „freimessen“ und in den normalen die Meiler für eine Frist von 30, 60 oder gar monteure, ausgestattet mit Schutzanzügen Stoffkreislauf zurückführen zu können. 100 Jahren versiegelt, bevor schließlich die und Atemschutzgeräten, die Beseitigung Im Atomendlager, so haben Rittscher Abriss-Trupps anrücken. Nach diesem kontaminierter Bauteile in Angriff, auf de- und seine Leute errechnet, sollen schließ- Prinzip wurde etwa der 1988 abgeschalte- ren Oberflächen sich während des Reak- lich nur 16500 Tonnen Strahlenmüll ihre te Hochtemperaturreaktor Hamm-Uentrop torbetriebs radioaktive Stoffe abgelagert letzte Ruhestätte finden – kaum ein Pro- eingemottet. haben. Dazu gehören alle Komponenten zent der Gesamttonnage. Gegenüber dem raschen Abriss bietet des primären Kühlkreislaufs, dessen Rohr- Mindestens 6,2 Milliarden Mark wird der „sichere Einschluss“ in der Tat eine leitungssystem im Betrieb von radioaktiv Bundesfinanzminister Hans Eichel nach Reihe von Vorteilen: Die radioaktive Belas- verseuchtem Wasser durchströmt wird. bisherigen Schätzungen zur Abwick- tung der Demonteure ist umso geringer, je Gegen Kontamination hilft vor allem lung der heikelsten radioaktiven Altlast später sie mit dem Abbau beginnen. Und eins: putzen, putzen und nochmals put-

282 der spiegel 46/1999 Werbeseite

Werbeseite Technik zen. Denn je mehr Bauteile die Reini- Werkstoffe entstehen unter gungsbrigaden unter die radioaktiven Frei- der Neutronendusche insta- grenzen drücken, umso weniger muss zwi- bile radioaktive Elemente – schen- und später endgelagert werden – je länger ein Meiler unter das hilft, beträchtliche Kosten zu sparen. Dampf steht, desto mehr. Die Also wienern Wischtrupps, mit Lappen von den Aktivierungspro- und Eimer bewaffnet, belastete Ober- dukten (vorrangig instabile flächen blank. Rohrleitungen, Pumpen und Isotope der Elemente Kobalt, andere Bauteile des Kühlkreislaufs werden Nickel, Eisen oder Techneti- mit chemischen Reinigungscocktails ab- um) ausgehende Strahlung ist gelaugt, mit Hochdruckdüsen abgespritzt, auch nach Jahrzehnten noch in Säurebädern gebeizt oder elektrolytisch so stark, dass der Reaktor- poliert. Was dann noch die Grenzwerte druckbehälter und seine Ein- überschreitet, wandert in die Abklinglage- bauten in einem Endlager rung oder wird, zerlegt in handliche Por- versenkt werden müssen. tionen, zur späteren Endlagerung in die Zerlegung und Verpackung gelben Fässer mit dem Radioaktivitätszei- der Großkomponenten kön- chen gepackt. nen deshalb nur ferngesteu- Die Dekontaminationsphase, die im ert und kameraüberwacht kaum verstrahlten Kontrollbereich des nur aus externen Schaltwarten Demontage-Leiter Rittscher: Megaschrott statt Megawatt wenige Wochen benutzten Blocks 5 inzwi- erfolgen.Vielgelenkige Greif- schen abgeschlossen und in den Blöcken 1 arme, so genannte Manipulatoren, müssen ter des nie vollendeten achten Blocks in und 2 weit fortgeschritten ist, dient der konstruiert, die leergeräumten Hallen des den umgerüsteten Kontrollbereich des vor- Vorbereitung der ganz großen Herausfor- vormaligen Sicherheitsbereichs für die maligen Blocks 5. Dort wird das Monstrum derung: der kontrollierten Zerlegung der Neuinstallationen umgerüstet werden. jetzt übungshalber zerlegt. hochverstrahlten Reaktordruckbehälter Selbst ohne Strahlung wäre die Zerle- Zwei separate Demontage- und Ver- und ihrer Eingeweide. gung eines 230 Tonnen schweren Stahlkes- packungsbereiche stehen für die Prozedur Die massiven Stahlbauteile, die während sels ein Kunststück. Fernbedient wird die zur Verfügung: Die Reaktorkessel selbst des Reaktorbetriebs dem Dauerbombar- Aktion zu einer der größten Herausforde- werden in einem abgeschlossenen Raum dement der Neutronen ausgesetzt waren, rungen der modernen Technikgeschichte. in Ringe zersägt und anschließend in ver- sind nicht nur oberflächlich kontaminiert, Die Generalprobe im Maßstab 1:1 be- packungsfähige Zehn-Zentner-Segmente sondern durch und durch verstrahlt. Aus gann vor wenigen Wochen. Dazu bugsier- geschnitten (siehe Grafik Seite 282). Ihre stabilen Bestandteilen der metallischen ten die Techniker den Reaktordruckbehäl- weit stärker verstrahlten Innereien sollen, um Staubbildung zu vermeiden, unter Wasser in einem 270-Kubikmeter-Becken zerlegt werden. Verläuft die kalte Übung planmäßig, werden die Demontage-Maschinen im kommenden Jahr aus Block 5 in die Dop- pelblöcke 1/2 und später 3/4 verpflanzt. Im Herbst 2000 soll der heiße Abriss beginnen. Die Greifswalder Abriss-Unternehmer verstehen sich als Vorreiter einer weltwei- ten Entwicklung. Ganz bei Null anfangen müssen sie gleichwohl nicht. Erfahrungen mit dem Abbau von Atomanlagen gibt es besonders hierzulande. Das Bundesfor- schungsministerium pumpt jährlich drei- stellige Millionenbeträge in die Demonta- ge meist staatlicher Versuchs- oder De- monstrationsreaktoren aus der Frühzeit der Kerntechnik. Bis 1995 zerlegten Abriss-Pioniere sie- ben Jahre lang den 100-Megawatt-Meiler Niederaichbach, der bis 1972 für 232 Mil- lionen Mark errichtet worden war und dann nach nur 18 Tagen im Volllastbetrieb wegen schwerer technischer Mängel still- gelegt werden musste. Anschließend fei- erte die Atomwirtschaft das Ende der 280 Millionen Mark teuren Abriss-Arbeiten als Nachweis dafür, „dass die friedliche Nut- zung der Kernenergie kein irreversibler Prozess ist“. Noch vor wenigen Jahren galten die deutschen Anstrengungen beim Abbau der nuklearen Hardware als Zukunftsgeschäft mit glänzenden Aussichten. Weltweit, so verkündete die Wiener Atomenergieorga- nisation IAEO, müssten bis zum Jahre 2010 rund 250 Reaktoren vom Netz genommen und abgebaut werden. Doch aus den erhofften Geschäften in dreistelliger Milliardenhöhe ist bislang nichts geworden.Viele Altmeiler sollen län- ger am Netz bleiben als geplant. Zudem glaubt inzwischen kaum noch ein Experte, dass etwa die klammen Betreiber osteu- ropäischer Meiler der Greifswald-Linie Milliarden für den Abbau aufwenden können. Viel wahrscheinlicher ist, dass die meisten Reaktorruinen, notdürftig versie- gelt, als mahnende Menetekel des Atom- zeitalters stehen bleiben. Aber auch am Greifswalder Bodden, wo die Demontagetechnik in neue Dimensio- nen vorstoßen soll, wird keine grüne Wie- se mehr wachsen. Wenn das Gelände ir- gendwann nach dem Jahr 2008 aus dem „Geltungsbereich des Atomgesetzes“ ent- schwindet, werden in der Lubminer Heide immer noch vier Betonquader und das Skelett einer Maschinenhalle an das real- sozialistische Atomzeitalter erinnern. Für die End-Demontage der „hohlen Zähne“ (Rittscher) fühlt sich weder der Bund noch das Land, geschweige denn die Atomindu- strie zuständig. Das ist verständlich: Der Abriss der ent- kernten Betonkathedralen würde noch ein- mal 400 bis 500 Millionen Mark verschlin- gen. Gerd Rosenkranz der spiegel 46/1999 285 Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite Vergangenheit: 75 Prozent der eindeutig schweren Depressionen wurden als solche diagnostiziert. Ein Drittel der Betroffenen wurde zu einem Spezialisten überwiesen. Zwei Drittel wurden ausführlich beraten, jedem Dritten von ihnen wurde ein Anti- depressivum verordnet, dessen Wirksam- keit hinlänglich bewiesen und das weit- gehend frei von schweren Nebenwirkun- gen ist. So sicher die Hausärzte inzwischen schwere Depressionsformen erkennen (vor zehn Jahren lag die Trefferquote bei 50

R. FROMMANN / LAIF Prozent), so unsicher sind sie noch immer Depressionspatientin bei Mal-Therapie: Potenziell tödliches Volksleiden bei der Diagnose der leichteren Form von Schwermut: Bei 41 Prozent wurden die Symptome „nicht als eindeutig erkannt“. PSYCHIATRIE Dieses Ergebnis überraschte Wittchen, da doch „die Studie auf die Ärzte maßge- schneidert ausgelegt war“. Die Mediziner Aufs Beste hoffen waren zum Stichtag durch einen Fragebo- gen sensibilisiert worden und konnten auf Münchner Forscher legen die weltweit größte Depressionsstudie Mithilfe ihrer Klientel bauen, wie sie in dieser Form im Praxisalltag sonst nicht vor- vor: Die Schwermut ist weiter verbreitet als bislang vermutet. kommt. Insgesamt 20421 Patienten wurden am m 15. April 1999 gab es in 616 aus- Depression. Die neue Studie kommt zu Sisi-Tag statistisch erfasst. Bevor sie die gesuchten deutschen Arztpraxen weit höheren Zahlen. „Jeder zehnte Pa- Sprechzimmer betraten, hatten sie jeweils Azwischen Flensburg und Fried- tient, der an einem beliebigen Tag im Jahr einen zweiseitigen Fragebogen ausgefüllt. richshafen, zwischen Saarbrücken und seinen Hausarzt aufsucht“, erläutert Witt- Ihre Angaben umfassten die üblichen Sta- Rostock Blumen, Wein und nette Worte. chen, „weist mindestens vier jener Symp- tistik-Daten wie Alter, Familienstand oder Mit derlei Aufmerksamkeiten belohnte tome auf, die nach weltweit eine Pharmafirma die Bereitschaft von All- anerkannten Maßstäben gemeinmedizinern, Praktischen Ärzten eine Depression kennzeich- Haben Sie eine Depression? und Internisten, am „Sisi-Tag“ gezielt auf nen.“ Dieser Fragebogen wurde vom Max-Planck-Institut für Psychiatrie in das Gemüt ihrer Kundschaft zu achten. Unbehandelt ist eine München für die Weltgesundheitsbehörde entwickelt. Kreuzen Sie bei Der Kosename der schwermütigen Kai- schwere Depression lebens- jeder der folgenden Aussagen an, wie Sie sich in den letzten serin Elisabeth von Österreich (1837 bis gefährlich.Als „bemerkens- Wochen überwiegend gefühlt haben. 1898) war für den Test-Tag mit Bedacht ge- wert hoch“ stuft Wittchen wählt worden. Es galt, in den Warte- und den Befund der Studie ein, Fühlen Sie sich fast durchgängig traurig, niedergeschlagen Sprechzimmern der Arztpraxen zu erkun- wonach fast jeder siebte de- oder hoffnungslos? den, wie häufig und wie schwer in Deutsch- pressive Mann und jede Haben Sie so gut wie jedes Interesse an fast allen Dingen land eine der weltweit häufigsten Krank- fünfte depressive Frau in verloren, empfinden Sie keine Freude mehr, zum Beispiel heiten in Erscheinung tritt, ob sie von den den beiden Aprilwochen vor auch an Dingen, die Ihnen gewöhnlich Freude bereiten? Doktoren erkannt und wie sie behandelt dem Sisi-Tag nach eigenen Haben Sie keinen Appetit mehr oder erheblich an Gewicht wird: das potenziell tödliche Volksleiden Angaben beständig an Sui- verloren? Schmeckt es Ihnen nicht mehr so wie früher? Depression. zid gedacht habe. Schätzun- Leiden Sie fast täglich unter Schlafstörungen (Einschlaf- Mitte dieser Woche werden die ersten gen zufolge bringen sich 10 störungen, Durchschlafstörungen oder frühem Ergebnisse der Studie veröffentlicht. Ihre bis 15 Prozent der schwer Erwachen am Morgen)? Idee und Methodik stammt vom Münch- Depressiven tatsächlich um. ner Max-Planck-Institut für Psychiatrie Aber erkennt der Haus- Sprechen und bewegen Sie sich langsamer als sonst? Oder leiden Sie im Gegenteil unter einer inneren Unruhe, (MPI-P), das die Studie durchführte und arzt überhaupt Depressio- so dass Sie nicht still sitzen können, sondern auf und dabei organisatorisch von den 200 Außen- nen und die Gefährlichkeit ab gehen müssen? dienstmitarbeitern der britischen Phar- dieser Krankheit? Auch die mafirma SmithKline Beecham (SB) unter- Frage, ob und wie der Me- Hat sich Ihr sexuelles Verlangen vermindert, oder ist es stützt wurde. diziner einen als depressiv gar nicht mehr vorhanden? Der SB-Konzern, der sein Geld auch mit eingestuften Patienten be- Haben Sie kein Selbstvertrauen mehr? Fühlen Sie sich Antidepressiva verdient, kann sich über handelt, ihn etwa zum Spe- wertlos, oder machen Sie sich viele Selbstvorwürfe? das Untersuchungsergebnis freuen. „Die zialisten überweist oder „ta- Haben Sie Schwierigkeiten, sich zu konzentrieren und Lehrbuchmeinung, an der sich der deut- tenlos aufs Beste hofft“ sich Dinge zu merken, oder fallen Ihnen sogar ganz sche Gesundheitsbetrieb ausrichtet, muss (Wittchen), war Bestandteil alltägliche Entscheidungen schwer? umgeschrieben werden“, resümiert der Kli- der Umfrage. Denken Sie häufig über den Tod nach oder sogar daran, nische Psychologe und Epidemiologe Der „ersten groben Er- sich das Leben zu nehmen? Hans-Ulrich Wittchen vom MPI-P: „De- gebnisübersicht“ ließe sich, pressionen sind weiter verbreitet als bisher wie Wittchen befindet, eine AUSWERTUNG angenommen.“ „gute Nachricht“ entneh- Haben Sie mehr als vier Aussagen angekreuzt, leiden Sie wahrscheinlich Nach der gängigen Schätzung leiden men: Allgemeinärzte er- unter einer typischen Depression. Bitte bedenken Sie jedoch, dass die höchstens vier Prozent aller über 14-jähri- kennen offensichtlich De- Auswertung des Fragebogens noch keine eindeutige Diagnose darstellt. gen Deutschen einmal im Leben an einer pressionen besser als in der

288 der spiegel 46/1999 Wissenschaft

Beschäftigungsverhältnis sowie die Frage über den „Anlass des heutigen Arztbe- suchs“. Für das eigentliche Forschungsziel wa- ren neun spezielle Fragen für die Diagnose von Depressionen reserviert. Anhand ei- nes international bewährten Fragen- katalogs wurden die für die Krankheit typischen Beschwerden ermittelt (siehe Kasten). Den ausgefüllten Fragebogen händigten die Test-Patienten ihrem behandelnden Arzt aus. Zwei Drittel der Mediziner hat- ten zu Beginn der Studie ihre Kompetenz hinsichtlich der Diagnose von Depressio- nen als „gut“ bezeichnet, 33 Prozent hiel- ten sich für „mittelmäßig“ und ein Pro- zent für „schlecht“. Aktuelle Untersuchungen der MPI-For- scher zu diesen Ärzte-Aussagen lassen je- doch erkennen, dass „die Mittelmäßigen in Wahrheit richtig schlecht“ sind. 74 Pro- zent der „mittelmäßig Kompetenten“ ge- lingt es nicht einmal, innerhalb von 15 Mi- nuten die vier Hauptmerkmale einer Depression zusammenzustoppeln. Sie ver- lassen sich vorzugsweise auf ihren „klini- schen Eindruck und ärztliche Intuition“. Ihren Katalog der Depressionssympto- me haben die Psycho-Forscher in den ver- gangenen zwei Jahrzehnten immer weiter verfeinert. Mit ihm lassen sich die Merk- male einer akuten oder sich abzeichnenden Depression trennscharf erfragen. Einem Drittel der befragten Mediziner war dies verlässliche Werkzeug jedoch fremd. „Für die müssen wir“, so Wittchen, „wohl neue Wege der Aufklärung finden.“ Überraschend gut im Bewusstsein der Allgemeinmediziner verankert zu sein scheinen indes die Merkmale einer spezi- ellen Form von Depression, die letztes Jahr als „Sisi-Syndrom“ bekannt wurde. Betroffene dieser „oft verkannten Spiel- art der Depression“ („Münchener Medizi- nische Wochenschrift“) sind nicht erkenn- bar schwermütig und antriebslos, sondern oft charmant und attraktiv. Die Sisi-De- pressiven neigen – wie weiland Österreichs Kaiserin – dazu, ihre Ängste, Selbstzweifel und Nichtigkeitsgefühle mit gesteigertem Aktionismus zu bekämpfen: Sie stürzen sich mit Volldampf ins Berufsleben, trei- ben Extremsport oder unternehmen rast- lose Reisen. Verbreitet wurde die Sisi-typische De- pression durch Laien- und Fachpresse, Talkshows und ärztliche, meist von Phar- maunternehmen, wie etwa SmithKline Beecham gesponsorten Fortbildungsver- anstaltungen. Kein Wunder, dass auch in den Allge- meinarztpraxen das Sisi-Syndrom inzwi- schen bekannt ist – durchaus nicht zum Schaden der Patienten, wie zumindest die MPI-Forscher glauben. Die Beschäftigung mit dem Modeleiden, so Wittchen, habe ein- deutig dazu beigetragen, mehr Depressio- nen als früher zu erkennen. Rainer Paul

der spiegel 46/1999 GALAPAGOS CONSERVATION TRUST CONSERVATION GALAPAGOS Riesenschildkröte „Lonesome George“ auf Galapagos: Impotent? Schwul?

senschildkröten-Unterart „Geochelone ni- den Rücken, um ihnen Blut abzunehmen. TIERE gra abingdoni“. Das Ergebnis, veröffentlicht im Fachblatt Wenn das Reptil stirbt – womöglich erst „Proceedings of the National Academy of Hoffen auf den in 100 Jahren –, dann endet ein Seitenarm Science“: George bekam bislang ganz der Evolution im Nichts. Von den einst 15 falsche Weibchen vorgesetzt. Arten von Galapagos-Riesenschildkröten Das Angebot, Weibchen von der Insel Koitus gäbe es nur noch 10. Deshalb – genauer: Isabela zu begatten, immerhin der Nach- Um seine kostbaren Gene vor dem Unter- barinsel seiner Heimat Pinta, muss auf Muss eine Riesenschildkröten- gang zu bewahren, soll George seine Ver- George etwa so gewirkt haben, als würde wandten von der Insel Isabela begatten. einem Menschen ein Schimpanse zur Unterart auf Galapagos aussterben, Doch „das einsamste Tier der Welt“ (Guin- Familiengründung dargeboten. George weil das letzte Exemplar kein ness-Buch der Rekorde) lebt wie im Zölibat. steht nicht auf Isabela-Weibchen, so ver- Weibchen findet? Forscher meinen: Was ist los mit „solitario Jorge“, wie die- muten die Forscher, weil sie ihm trotz Eine Chance gibt es noch. ser Anti-Casanova auf Galapagos heißt? Ist mancher Ähnlichkeiten genetisch zu fremd ausgerechnet der letzte Vertreter seiner Art sind. ls Liebhaber ist „Lonesome George“ impotent? Oder schwul? Oder hat er einfach Für die Paarung geeignete Weibchen sind ein Totalversager. Seine Beschützer die Richtige nicht gefunden, trotz der im- ausgerechnet jene, die physisch am weites- Ahaben ihm in seinem Gehege im merhin knapp 19 Jahre, die er nun schon als ten von seiner Insel entfernt leben.Auf den Galapagosarchipel einen regelrechten Sex-Hoffnungsträger bei den Wissenschaft- Inseln San Cristóbal und Española sind die Harem eingerichtet. Immerzu stehen min- lern in der Darwin-Forschungsstation auf engsten Verwandten von George zu Hause destens zwei Weibchen zu seiner Verfügung, der Galapagosinsel Santa Cruz zubringt? – mit ihnen, so sagen die Forscher, wird regelmäßig werden sie gegen frischere Lonesome George sich am ehesten auf ausgetauscht. Pinta den Koitus einlassen. Aber trotz seines jugendlichen Alters Heimat von Ecuador Es wäre geradezu ein Wendepunkt in von 70 bis höchstens 150 Jahren gerät Lonesome George der Geschichte einer bedauernswerten George nicht in Wallung: Hartnäckig ver- Art, die evolutionär besehen schon lan- weigert er den Weibchen die Kopulation – Galápagos- SÜDAMERIKA ge in ausweglosem Elend gefangen ist. auf den Panzern der Verschmähten wu- Vor Millionen von Jahren gab es fast chern bereits die Flechten. auf allen Kontinenten Riesenschild- Alles haben die Forscher versucht, um kröten, die größten wogen eine Tonne. die Libido des fetten George anzustacheln. Kreuzungsversuch Mit dem Aufstieg der Säugetiere aber auf Santa Cruz San Cristóbal Er wurde zusammengesperrt mit sexuell Isabela mit Weibchen der fielen sie der Verdammnis anheim. aktiven Schildkröten-Pärchen, doch weder Nachbarinseln Vor wenigen Schildkröten-Genera- der Anblick sich übereinander schieben- tionen – etwa vor 500 Jahren – weide- der Panzer noch das heisere Blöken des Inseln ten die Riesenschildkröten auf Galapa- begattenden Männchens haben in ihm eine 100 km Espa˜nola gos noch zu hunderttausenden an Kak- triebhafte Regung ausgelöst. 10000 Dollar teen und Sträuchern. Dann aber kam haben die Forscher auf denjenigen ausge- der Mensch, und mit ihm hielt eine Ar- lobt, der für Lonesome George ein pas- Nun scheint das Rätsel um George ge- mada der Zerstörung Einzug: Ratten, Kat- sendes Weibchen ranschafft – niemand hat knackt. Italienische und amerikanische zen, Hunde, Schweine, Ziegen und Esel. je eines gefunden. Wissenschaftler, angeführt von Adalgisa Seeräuber und Walfänger schätzten die Georges Rühr-mich-nicht-an-Mentalität Caccone von der Yale University, haben Riesenschildkröten als lebende Frisch- bringt Naturschützer zum Verzweifeln. Sie für das lustlose Reptil so etwas wie eine ge- fleischkonserve. Zu hunderten sperrten sie würden aus dem Koloss gern einen allzeit netische Partnervermittlung ausgeheckt. die Tiere unter Deck. Für die Seefahrer bereiten Zuchtbullen machen, denn Unter allen noch existenten Schildkröten- waren die Reptilien ein idealer Reisepro- George ist mehr als nur ein Schildkröten- arten auf dem gesamten Galapagosarchipel viant: Ein Jahr können die Tiere ohne Was- Männchen von über hundert Kilogramm, haben sie Genstudien betrieben zur ser und ohne Nahrung im Schiffsbauch er ist unter seinesgleichen die vollversam- Klärung der Verwandtschaftsverhältnisse. überleben. Kapitäne lobten den delikaten melte No-Future-Generation: George ist Hunderte Riesenschildkröten von bis zu Geschmack und das feine Fleisch der Ur- der letzte noch lebende Vertreter der Rie- 300 Kilogramm Gewicht drehten sie auf zeit-Riesen. Allein zwischen 1830 und 1900

290 der spiegel 46/1999 Wissenschaft sollen die Crews der amerikanischen Wal- fängerflotte über 100000 Riesenschildkrö- ten aus Galapagos vertilgt haben. Nach den Jägern wilderten die Forscher. Einer, der in Georges Leben womöglich entscheidend eingriff, war der kalifornische Biologe Rollo Beck – ein Fiesling, der sich in seinen Aufzeichnungen rühmte, Riesen- schildkröten im Mondlicht zerlegt zu ha- ben. Drei der sanften Monstren fand er auf Pinta, der Heimat von Lonesome George. Er fing sie ein, vermaß sie nach Länge und Gewicht, tötete sie und studierte ihren Ma- geninhalt. Dann kam er zu dem Schluss, dass die untersuchten Tiere „wahrschein- lich äußerst selten“ seien. Unter Becks Op- fern befanden sich mit einiger Wahrschein- lichkeit auch Geschwister oder Eltern von George. Bis zu dessen Entdeckung auf Pin- ta blieb der Bericht des Kaliforniers der einzige Hinweis auf die Existenz der Sub- spezies „Geochelone nigra abingdoni“. Für George wurde es bald eng auf seiner Insel. Ende der fünfziger Jahre setzten Fi- scher einen Ziegenbock und zwei Ziegen auf Pinta aus, die Georges sexuelle Ent- haltsamkeit keineswegs teilten. Nach 20 Jahren Fruchtbarkeit hinterließen sie eine 40 000-köpfige Herde, die über die Insel trampelte und den Riesenschildkröten die Nahrung wegfraß. Zum größten Fluch für die Reptilien aber wurden die Ratten und anderes Ge- tier: Verwilderte Schweine gruben die bil- lardkugelgroßen Eier der Schildkröten aus, die Ratten fraßen die Jungtiere. Jene, die den Nagern entkamen, wurden von Katzen und Hunden gerissen. Auf einigen Galapa- gosinseln, so nehmen die Forscher an, hat es im gesamten Jahrhundert nicht eine einzige Schildkröte mehr geschafft, ge- schlechtsreif zu werden, also ein Alter von 20 bis 30 Jahren zu erreichen. Als George 1972 auf Pinta gefunden wurde, war es noch nicht lange her, dass er zum Letzten seiner Art geworden war: For- scher fanden damals auch den Panzer eines Weibchens, das wenige Jahre zuvor den Tod gefunden hatte.Auf welch schreckliche Weise, war noch deutlich sichtbar: Mit Ma- chetenhieben war der Bauchpanzer aufge- schlagen worden. Einheimische Fischer hat- ten Georges letztes Weibchen aufgegessen. Wegen seines tragischen Schicksals ist George eine internationale Berühmtheit ge- worden: Als Symbol der Artenvernichtung durch den Menschen steht er, in Bronze ge- gossen, im Zoo von San Diego. Doch der Ruhm bedeutete für die träge Riesen- schildkröte auch Gefahr – 1995 fiel George beinahe einem Attentat zum Opfer. „Wir werden Lonesome George töten“, drohten Seegurken-Fischer auf Galapagos, als die Regierung ihnen das Abschlachten der in Ostasien als Aphrodisiaka beliebten Seegurken verbieten wollte. Eine Hundertschaft Marine-Infanteristen war nötig, um George zu schützen. Marco Evers

der spiegel 46/1999 Werbeseite

Werbeseite Szene Kultur DPA Szene aus der Stockhausen-Oper „Freitag aus Licht“ (Leipzig 1996)

MUSIK organisatorischen und finanziellen Möglichkeiten“ des Hauses; die Absage tue ihm „unheimlich leid“. Genau das bezweifelt der Komponist Stockhausen. Beilharz, so schoss der metaphy- „Licht“ aus in Bonn sische Neutöner zurück, habe „seine Schwierigkeiten selbst hervorgerufen“, weil er den Opernchor gleichzeitig andere m Rhein tobt seit Wochen ein Notenkrieg. Im Opernhaus Werke einstudieren ließ, für den abgesprungenen Regisseur Ader linksrheinischen Bundesstadt Bonn ließ General- Paul Esterhazy keinen Ersatzmann engagiert und auch mit sie- intendant Manfred Beilharz die für Mai 2000 angesetzte Mu- ben der vorgesehenen Solisten keine Verträge abgeschlossen siktheaterpremiere von Karlheinz Stockhausens „Mittwoch habe. Stockhausen, verteidigte sich daraufhin der Bonner Prin- aus Licht“ platzen. Bei den Vorbereitungen hätten „sich immer zipal, stelle „die Chronologie auf den Kopf“, Esterhazy bei- größere Umsetzungsschwierigkeiten herausgestellt“. Dabei spielsweise sei „nie konkret als Regisseur vorgesehen“ gewe- habe man schon „Möglichkeiten geschaffen“, die den Aufwand sen. Nun liegt „Licht“, Stockhausens siebenteiliges, nach den für Wagners „Götterdämmerung“ um ein „Vielfaches“ über- Tagen der Woche benanntes Spektakel fürs erste im Dunkel: träfen. Doch inzwischen hätten sich die kalkulierten Auf- Eine Verschiebung der Bonner Premiere hat der empfindsame führungskosten bereits verdoppelt, das Stück übersteige „die Schöpfer abgelehnt, eine Ersatzbühne noch nicht gefunden.

LITERATUR habe zufällig dessen altes Tagebuch Auftrag Stalins präzise vorzubereiten. In entdeckt. den Grundzügen und vielen Einzelhei- Herz der Finsternis Das erfundene Werk fesselt nicht zuletzt ten stimmen dieses Komplott und der dank seiner dramaturgisch famosen historische Hintergrund des Machtkamp- enerationen von Biografen haben Grundidee: Stalin verfasst die „gehei- fes um Lenins Erbe mit den verbürgten Gdie fürchterliche Figur des georgi- men Aufzeichnungen“ zur Entkräftung Tatsachen überein. Aus dem Geschichts- schen Schustersohns umkreist, der sich der realen Stalin-Biografie seines Erz- stoff und seiner psychologischen Phanta- Stalin nannte. Sein Aufstieg zur Macht rivalen Leo Trotzki. Immer wieder zitiert sie lässt Lourie eine suggestive Wahnwelt ist ein düsteres Drama voll Verschlagen- der Roman-Diktator, zwecks Widerle- entstehen. „Leo Trotzki will mich um- heit und kaltblütigem Verrat. Die Idee, gung, dieses Werk, das mit kühler Sach- bringen“, hebt das fiktive Tagebuch an, sich subjektiv in das rätselhafte Cha- lichkeit Stalins Aufstieg vom Priesterzög- und als im August 1940 der Eispickel des raktermonster Stalin hineinzuversetzen ling und kleinkriminellen Provinzler gedungenen Mörders Ramón Mercader und dessen Wesen gleichsam von innen zum Kreml-Tyrannen nachzeich- den Schädel des Widersachers zu erfassen, schien sich eigentlich von net. Die einzelnen Kapitel lie- Trotzki gespalten hat, gipfelt selbst zu verbieten. Nun aber hat Ri- fern Geheimdienstleute für Sta- der finstere Monolog im Schluss- chard Lourie, 59, ein intimer Kenner lin frisch vom Schreibtisch des wort: „Endlich habe ich Gott der russischen Sprache und Geschichte, Todfeindes im mexikanischen an Einsamkeit übertroffen.“ eine Roman-Expedition ins Herz der Exil: Als Dienstboten einge- Finsternis riskiert. Ein früherer Ge- schleust, bespitzeln sie den in Richard Lourie: „Stalin“. Aus dem Ame- rikanischen von Hans J. Becker. Luchter- heimdienstmann und Hausmeister Ungnade gefallenen Revolutio- hand Literaturverlag, München; 352 Sei- Stalins – so Louries Rahmen-Fiktion – när, um seine Beseitigung im ten; 44 Mark.

der spiegel 46/1999 293 Szene CORBIS SYGMA Latin-Star Lopez

POP Singende Ente usgerechnet in Los Angeles, wo Hispanics dabei sind, zur Azweitgrößten Bevölkerungsgruppe zu werden, weigerte sich der musikalische Direktor des führenden Pop-Radiosen- ders KIIS-FM, Marc Anthonys Single „I Need to Know“ zu spielen. „Wir wollen nicht zu viel von diesem Latino-Sound“, sagte er, obwohl das Lied „großartig“ sei. Die Presse reagierte empört, Anthony selbst dagegen war vor allem verwirrt. Denn Latin-Star Anthony „I Need to Know“ ist weniger ein Salsa-Stück als vielmehr ein Popsong – wenn auch mit lateinamerikanisch anmutenden war immer das hässliche Entlein“, sagt Anthony. Dann aber Klängen. Aber vermutlich weil der New Yorker Anthony zuvor profilierte er sich als Salsa-Künstler, protegiert vom Altstar in Nord- und Südamerika mit drei Salsa-CDs große Erfolge ge- Rubén Blades, sang in Paul Simons Musical „The Capeman“ feiert hatte, wurden die Single und das gerade auch in Deutsch- die Hauptrolle, nahm ein Duett mit Jennifer Lopez auf land erschienene, erste englischsprachige Album unter „Latin“ und spielt in Martin Scorseses neuem Film „Bringing out the eingeordnet. Anthony, 31, hatte seine Karriere im Studio be- Dead“ mit. Doch geht es nach der Zeitschrift „Entertainment gonnen: Er sang gegen Schweigegeld für Jungs, die gut genug Weekly“, ist das erst der Anfang: Sie vergleicht den zwei- fürs Showgeschäft aussahen, aber keine Stimme hatten. „Ich sprachig aufgewachsenen Sänger sogar mit Frank Sinatra.

Kino in Kürze

„Kikujiros Sommer“. Schwarzen und die Wer hätte gedacht, Frauen den Aufstand dass Takeshi Kitano wagten. „Verrückt in sein Kino-Image als Alabama“ erzählt von wortkarges Raubein einer Frau, die 1965 ganz locker ins Komi- aus der Provinz des sche wenden könnte? Südens auf den Weg Einen krummen Hund nach Hollywood über spielt er auch diesmal, die Leiche ihres Ehe- SENATOR einen Kleinganoven COLUMBIA TRI-STAR manns geht, und von und Zocker, und das Kitano-Film „Kikujiros Sommer“ Szene aus „Verrückt in Alabama“ den Rassenunruhen, Unglück will, dass er die zur gleichen Zeit sich als Ferienbetreuer eines kleinen Jun- kopf Kitano (Buch, Regie, Schnitt, Haupt- in Alabama ausbrechen. Der Kinostar gen durchs Land schlagen soll. Daraus rolle) als weiser Narr zu erkennen. Antonio Banderas zeigt in seinem Re- entspringt eine mirakulöse, märchen- giedebüt die komischen Qualitäten seiner bunte Männerfreundschaft zwischen „Verrückt in Alabama“. Die Filmversion Ehefrau Melanie Griffith; vor allem aber Groß und Klein: Mit diesem leichtfüßig eines genialisch-turbulenten Romans von schafft er es, Childress’ Mixtur aus Gro- improvisierten Sommerabenteuer gibt Mark Childress; ein wildes, wahres Mär- teske und Tragödie schön grotesk und sich der sonst eher ungemütliche Quer- chen aus der Zeit, als in Amerika die schön tragisch auf die Leinwand zu retten.

294 der spiegel 46/1999 Kultur

AUTOREN cher. Tatsächlich gebe es „nur zwei fast fertige Romane“, der Rest seien ledig- Am Rande Einsatz an der lich stichwortartige Ideen-Sammlungen. Wer am Ende davon profitieren wird, Schreibfront steht noch nicht fest: Konsaliks Testa- Spiel und friss! ment wird Ende November eröffnet. n einigen Verlagen fing man vermut- enn wieder Ilich bereits an zu rechnen, seine Fans Weinmal ein waren erfreut, literarische Feingeister Hollywood-Star von der entsetzt: „45 Romane vom toten Konsa- „künstlerischen Herausforde- lik“, meldete die „Hamburger Morgen- rung“ schwärmt, die es für post“ vergangene Woche, seien im ihn bedeutet habe, zum vier- Nachlass des Anfang Oktober verstor- ten Mal nacheinander den benen Bestsellerautors und Vielschrei- gleichen depperten Krach- bers Heinz G. Konsalik gefunden wor- bummhelden in irgendeiner den. Der Nachschub mit Landser-Prosa Blockbusterreihe zu mimen à la „Der Arzt von Stalingrad“ und an- (ein Job, der ihm ganz zufäl- deren Trivialitäten schien bis weit ins lig eine Gage von 20 Millionen Dollar nächste Jahrtausend gesichert. Indes plus Gewinnbeteiligung einträgt), auch Konsaliks unermüdlicher Einsatz dann sieht sich der durchschnittlich an der Schreibfront – bisher ging man korrumpierbare Hollywood-Fan in von 155 Romanen in 43 Jahren aus – seinem Glauben bestätigt: Geld kannte offenbar Grenzen: „Wenn es verhagelt den Menschen offenbar

doch nur 50 Manuskripte wären“, PRESS ACTION zwangsläufig das Hirn. barmt Konsaliks Agent Reinhold Ste- Konsalik (1995) Letzte Woche wurde dieser Glaube plötzlich erschüttert. Die Schauspie- lerin Jodie Foster hatte der amerika- nischen Zeitschrift „W“ mitgeteilt, KUNST malend weltberühmt geworden. Der sie weigere sich, in der Fortsetzung andere, damals Konrad Lueg geheißen, des Psycho-Thrillers „Das Schweigen Gemusterte Tante sattelte vier Jahre später um und wurde der Lämmer“ ein zweites Mal die Rol- unter seinem bürgerlichen Namen Fi- le der FBI-Agentin Clarice Starling uf und Ab des Lebens: Im Fernse- scher ein hoch geschätzter Avantgarde- zu übernehmen, obwohl ihr dafür die Aher lief eine Sendung zum Rück- Galerist. Schon vor seinem Tod 1996 „höchste Gage ihrer Laufbahn“ an- tritt des Kanzlers Adenauer, daneben plante die Kunsthalle Bielefeld, den geboten worden sei. Sie könne es, so erklommen, am 11. Oktober 1963 in kaum mehr bekannten Künstler Lueg gab Foster pietätvoll bekannt, mit ih- Düsseldorf, zwei junge Künstler einen durch eine Rückschau zu ehren. Nun rem Gewissen nicht vereinbaren, dass Sockel. Um dem Publikum „Leben mit ist es so weit: Mit etwa 50 Werken, ei- die tapfere Clarice in „Hannibal“ nem Drittel seiner Produk- kannibalische Neigungen entwickeln tion zwischen 1963 und sollte.Wer hätte das gedacht: Skrupel 1968, demonstriert die Aus- in Hollywood! Jodie, der charakterfes- stellung den verspielt-ver- te Fels in der Kommerzbrandung! trackten Bildwitz des Pop- Schon träumte der Hollywood-Fan Artisten (bis 16. Januar). In davon, was wohl geschähe, wenn die- heftigem kollegialen Wett- ses Exempel Schule machte. Nie wie- streit mit seinem Studien- der Bruce Willis in „Stirb langsam“. kollegen Richter, doch Nie wieder Arnold Schwarzenegger auch mit dem Zitat-Virtuo- in irgendetwas. In spätestens vier Jah- sen und Farb-Alchimisten ren wäre ganz Hollywood pleite, die Sigmar Polke legte er Tape- Stars würden Fernsehwerbung für tenmuster über die Silhou- „Stirb langsam“-Fitnessgeräte dre- etten von Tante und Onkel hen, als Terminatoren in die Politik oder ließ sich eine Phos- gehen oder, schlimmer noch, an- phorfarben-Malerei paten- spruchsvolle Rollen in verwackelten tieren, die ihr Aussehen än- „Dogma“-Filmen spielen. Daran müs- dert, sobald der Schatten sen sie gehindert werden – und sei es eines Betrachters darauf für eine Gage von 20 Millionen. fällt. Dass der Erfindungs- Zum Glück hat auch Jodie Foster das reiche dann doch das Me- eingesehen. Kurz nach dem Erschei- Lueg-Gemälde „Kuss“ (1963) tier wechselte, hält Kunst- nen des Interviews ließ sie bekannt hallendirektor Thomas Kel- geben, sie habe noch gar nicht ent- Pop“ vorzuspielen, posierten sie auf lein geradezu für „zwangsläufig“; Luegs schieden, ob sie auch eine menschen- erhöhten Polstermöbeln mitten im Ein- Technik sei doch allzu „miserabel“ ge- fressende Clarice spielen würde. Ein richtungshaus Berges; Bilder von Hir- wesen: Dicke Plaka-Farbe und geschlu- paar Millionen Kannibalenzuschlag schen und Bockwürsten hatten sie in derte Keilrahmen machen den Biele- werden ihr die Entscheidung sicher die Verkaufsetagen gehängt. Einer von felder Restauratoren jetzt schwer zu erleichtern. den beiden, Gerhard Richter, ist dann schaffen.

der spiegel 46/1999 295 Ackermann-Gemälde „Evasion XVII“: Wie von der LSD-betäubten Hippiezeit inspiriert Majerus-Objekt „It’s cool man!“: Mit verspielten

AUSSTELLUNGEN „Gefühl der Stärke“ Die Wolfsburger Schau „German Open“ feiert eine neue, höchst lebendige deutsche Kunstszene. Der Nachwuchs träumt nicht mehr vom Umsturz: Er inszeniert frech und bunt die eigene Größe.

iki Lauda 1971, mit Poloshirt und Der Titel der Schau lautet „German verarbeiten lässt. Die Jungstars kommen flottem Seitenscheitel. Eine sympa- Open“ – und ist geschickt geklaut. In die- indes ganz gut mit dem aus, was sie in Nthische Erscheinung. Nur sein Grin- sem Fall bei einem Tennisturnier. „German Fernsehen und Zeitung aufschnappen. sen hat etwas leicht Diabolisches. Kein Open“, das klingt so schön nach Spiel, So zeigt eines der Wohnseifer-Bilder den Wunder. Der Helm, den er vor sich herträgt, Spaß und vor allem nach Stars. RAF-Terroristen Andreas Baader. Aus ei- könnte einen Skandal auslösen. Unter dem Dabei klotzt Wolfsburg eben nicht nem Pressefoto wurde 27 Jahre später ein Visier prangt der Schriftzug der Jeansmar- mit bekannten Heroen, sondern mit einer verschwommenes Szenario in Neonfarben ke Levi’s – oberhalb aber ein Hakenkreuz. geballten Premiere, einem knalligen Auf- – ein Gemälde, so bestechend irreal wie Jedenfalls meint der Kölner Künstler galopp der künstlerischen Entdeckungen: eine Traumsequenz. Bahnbrechend ist die- Johannes Wohnseifer, 32, das verbotene Auf 1600 Quadratmetern stellt sich bis zum se Idee aber nicht: Gerhard Richter schuf Symbol auf einem alten Lauda-Foto er- 26. März Deutschlands neue Künstlerge- 1988 eine graue Serie verwischter Bilder kennen zu können – er hat das Bild sofort neration vor. von der Baader-Meinhof-Truppe. zum Kunstwerk erkoren und es sogar groß- Oder zumindest ein beachtlicher Teil da- Wohnseifer begründet seine fluoreszie- formatig nachgemalt. Grau in grau, nur der von. 39 Künstler mit einem Durchschnitts- rende Interpretation so: Die Horroraktio- Helm leuchtet – geschickt in Szene gesetzt alter von 33 Jahren. Im Tenniszirkus sind nen der RAF waren das erste politische Er- – in einem satten Signalrot. da bereits viele Spieler im Ruhestand, für eignis, das er als Kind wahrgenommen hat. Lauda, so hat Wohnseifer nachgeforscht, Künstler fängt, wenn alles gut geht, die Er konnte in jedem Postamt die Fahn- habe sich damals mit ein paar Klebestrei- Karriere gerade erst an. dungsfotos bestaunen, die Schreckens- fen einen dummen Scherz erlaubt. Um po- Schließlich, so wird ihnen gern abver- taten auf der Mattscheibe verfolgen. litische Inhalte sei es ihm nicht gegangen. langt, sollen sie schon etwas erlebt haben. Möglich, dass seine comicfarbene Ver- Der Rennfahrer habe Symbol und Inhalt Etwas, das sich zu einem komplexen Werk sion des düsteren Themas vielen Besuchern getrennt. Damit, das ist Wohnseifers ei- genwillige Interpretation, sei Lauda so et- was wie „ein Vorbote der Punkbewegung“. Mit dem bizarren Porträt will der bislang wenig bekannte Jungmaler nun ein großes Publikum irritieren: in einer Ausstellung, die vergangenen Samstag im Kunstmuseum

Wolfsburg eröffnet wurde – und die eben- G. SCHÖNHARTING / OSTKREUZ falls für Aufsehen sorgen dürfte. Wohnseifer-Entwurf „This night“: Für Olympia 1972 nachentworfen

296 der spiegel 46/1999 Kultur G. SCHÖNHARTING / OSTKREUZ Werken vor den Kopf stoßen Meese-Installation „Erz Bankhaus Richard Wahnkind“: Abgedrehte Hommage an Richard Wagner

geschraubt. Blass wirkt daneben das pas- Braun hat sogar den Konferenztisch für die tellige Relief im Peace- und Blümchen- Politprominenz des diesjährigen G8-Gip- Look von Michel Majerus. Fast immer fels entworfen. handelt es sich aber um Mammut-Objekte, Egal-Mentalität als Programm, um ge- ungeniert für museale Großhallen konzi- gen die politisch hyperaktive Elterngene- piert. Merke: Wer nicht auftrumpft, geht ration der 68er zu revoltieren? Verzicht auf unter. Protest als besonders heimtückische Pro- Die Jung-Künstler trauen sich verblüf- testform? Das dürfte für einige dieser fend viel zu. Sie experimentieren hem- Künstler schon zu viel der Reflexion sein. mungslos herum und bedienen sich dazu Die Generation, die Techno-Musik und gelassen bei Vorbildern der Vergangenheit, Love-Parade erfand, will nicht mit langen von der Pop-Art bis zu den kargen Objek- Worten die Ratio bedienen. Sie stößt lieber

G. SCHÖNHARTING / OSTKREUZ ten aus Sperrholz und Alufolie von Thomas durch verspielte Überraschungswerke vor Künstler Wohnseifer, Bild „Lauda“ Hirschhorn. Dieser Vorgänger der Nach- den intellektuellen Kopf, durch dreis- Hemmungslos herumexperimentieren geborenen ist selbst erst 42 Jahre alt. ten Kommerz-Gestus, der an literarische Wohnseifer zum Beispiel malt nicht nur. Selbstvermarkter wie Benjamin von Stuck- zu unpolitisch erscheint. Ihm aber geht es Er hat einen Fassbinder-Film – den er zu- rad-Barre erinnert, und durch hektischen um die Erinnerung an erste, TV-verzerrte vor nie gesehen hatte – nach- Stilwandel: heute so und Eindrücke von Terror – fast schon mythi- gedreht und einen Turnschuh morgen schon ganz anders. sche Eindrücke, die er wahrscheinlich mit für die Olympischen Spiele Der Unmut der altehr- vielen seiner Altersklasse teilt. von 1972 nachentworfen. würdigen Kunstkritik ist die- Er ist nicht der einzige Künstler in Wolfs- John Bock hat Theater-Kurz- sen Kreativen gewiss. Aber burg, der so unbekümmert autobiografisch stücke geschrieben und dazu das stört keinen. Einer der um sich selbst kreist und damit doch den die Bühne gebaut – ein chao- Newcomer ahnt zwar die einen oder anderen Nerv seiner Genera- tisch verschachtelter Guck- „nervende Frage des Publi- tion treffen wird. Stefan Hoderlein stellt kasten, inklusive Hühner- kums, ob das alles noch 15000 Dias aus, von Partys oder von seinen stall. „Wir beherrschen nicht Kunst sei“. Aber er wird Lehrern an der Kunstakademie, allesamt alles perfekt“, sagt er. Aber nicht antworten. aber Dokumente seines bisherigen Lebens. heraus kommt immer ein So viel Trotz muss dann Retro-Ästhetik oder Trash-Look: Alles, schräges Gesamtkunstwerk. doch sein. Kurator Veit Gör-

was in der Mode nach oben geschwappt ist, Besonders radikal ist das G. SCHÖNHARTING / OSTKREUZ ner hat darauf nur gewartet. findet sich in der Ausstellung wieder. Nur nicht. Auch nicht der hölzer- Künstler Meese Vor drei Jahren stellte Gör- viel offensiver. Drückt sich künstlerisches ne Wehrturm von Jonathan ner, 46, schon einmal eine Selbstbewusstsein in der Größe der For- Meese, in dem er eine dämonische Hom- neue Künstlergarde vor, allerdings reiste mate aus, dann laufen im Wolfsburger mage an Richard Wagner untergebracht die aus Großbritannien an: Intimbekennt- Kunstmuseum etliche Egomanen herum. hat, in einer assoziativen Verbindung von nisse von Tracey Emin oder kindliche Miss- Es gibt zwölf Meter hohe Wandmalerei- Familiengruft und archaischem Altar. Naiv gestalten der Brüder Chapman. Der Spe- en; ein Riesenschinken von Franz Acker- abgedreht mutet auch der Titel an: „Erz kulationssammler und Werbeguru Charles mann – mit einer Farben- und Formenex- Bankhaus Richard Wahnkind“. Auf dem Saatchi machte sie bald zu rekordbezahl- plosion, die von einem Plattencover der Dach seines Turms will Meese stinknor- ten Promi-Künstlern. LSD-betäubten Hippiezeit inspiriert sein malen bayerischen Leberkäse kredenzen. Görner nahm sich vor, nach der bri- könnte und die des Künstlers Reiseerinne- Vorbei ist offenbar mal wieder die Zeit tischen auch die deutsche Gegenwarts- rungen verewigt – wurde auf einen Lkw sozialpathetischer Umsturzkunst. Matti kunst auszustellen. „Nur“, sagt er, „da war

der spiegel 46/1999 297 Kultur nichts, was man hätte zeigen können.“ Erst in den vergangenen zwei Jahren habe sich in Deutschland eine „vitale“ Kunstszene entwickelt, angeregt eben vom Erfolg der frechen Briten und getragen vom kreativ sprudelnden Berlin. Endlich sei ein „Gefühl von Präsenz und Stärke“ vorhanden, eine „überall spürbare Energie“, neuartige Ideen würden nun „forsch vorgetragen“. Hoppla, so plötzlich? Tatsächlich sind auch auf den Kunst- messen, von der ohnehin betont jugendli- chen „Art Forum“ in Berlin bis zur eta- blierten „Art “, neue Künstler aus Deutschland vertreten. Womöglich ist der Generationswechsel aber bloß kollektiv herbeihalluziniert. Der Verdacht liegt nahe, weil Sammler, Galeris- ten und auch so manche Museumsdirekto- ren schon wieder nach frischer Ware lech- zen. Einige Künstler, die Wolfsburg als brandneu hervorzaubert, haben bereits Anfang dieses Jahrzehnts ausgestellt. Man- che gelten gar schon als etablierte Stars der Branche, wie Psychedelic-Künstler Ackermann oder Ost-Maler Neo Rauch. Das großzügige Forum, das ihnen Gör- ner nun bietet, sei ihnen gegönnt. Immer- hin hat der Ausstellungsmacher ein Jahr lang sinniert, wen genau er einladen soll. Eine überlegte Auswahl also, wenn sie auch nicht in jeder Hinsicht glückte. Erklärungsbedürftig ist vor allem die pe- netrante Männerdominanz. Die interna- tionale Kunstszene mag, analog zu einem aktuellen Slogan der Literaturszene, das „Fräuleinwunder“ („Die Woche“) feiern, in Wolfsburg sind dennoch unter 39 Künst- lern gerade einmal 5 Frauen. Darunter auch Silke Wagner, die ihre Plakate zum Männer-Thema Fußball und Fanverhalten immerhin im Foyer aufhängen darf. Viele Künstlerinnen, sagt Görner, seien „qualitativ nicht so weit wie ihre männli- chen Kollegen“. Widersprüche und Alter- nativvorschläge von Mitarbeitern ließ er angeblich nicht gelten. Auch Internet- Kunst, die einzig wirkliche neue Kunst- gattung der vergangenen Jahre, lehnte er ab. Lapidares Urteil: „Zu langweilig.“ So mag Wolfsburg noch so stolz eine Be- standsaufnahme deutscher Gegenwarts- kunst ankündigen. Repräsentativ für das Land oder für eine ganze Generation die- ses Landes ist die Schau nicht. Es hätte ihr gut getan, ihre Spielwiese nicht nahezu ausschließlich für große Jungen zu reser- vieren, die gern große Sachen bauen. So gewitzt sie das auch tun. Sie wissen längst, wie das Kunstgeschäft läuft. Michel Majerus hat es auf – über- große – Tafeln geschrieben: „Was heute gut aussieht, muss morgen nicht mehr gut aus- sehen. Jetzt ist die Zeit.“ Bekennen sich so desillusionierte Augenblicksmenschen oder geschichtslose Eintagsfliegen? Dass sie sol- che Fragen provoziert, macht die Wolfs- burger Kunst-Schau auch reizvoll – und diskutabel. Ulrike Knöfel

der spiegel 46/1999 Roman-Thema historisches Ägypten*: Neue Heimat fürs Leservolk

BUCHMARKT Fluchthelfer Vergangenheit Der historische Roman, die Zeitreise in einen entlegenen Winkel der Geschichte, ist erfolgreich wie nie zuvor. Kurz vor der Jahrtausendwende suchen immer mehr verstörte Leserseelen Trost und Halt in den überschaubaren Strukturen versunkener Welten.

ietzsche war verstimmt. Der Blick wird im „Labor des Alchemisten“ (List) in die Welt verhieß ihm Schreckli- herumgepfuscht, auf halbfiktionale Weise Nches. Die Menschheit laufe Gefahr, Stalins (Luchterhand Literaturverlag) ge- „an der Überschwemmung durch das dacht oder das „Geheimnis des Hierony- Fremde und Vergangene, an der ,Historie‘ mus Bosch“ (Eichborn) ergründet. zugrunde zu gehen“. Mit solch grimmigen „Historische Romane laufen glänzend“, Sätzen schrieb der Philosoph gegen seine sagt Kirsten Laabs, Geschäftsführerin einer Zeit an. Einer Zeit, die nur von einem zu großen Hamburger Buchhandlung, „be- berücken war: vom Entrückten. sonders bei unserer Hauptkäuferschicht, Das 19. Jahrhundert hat, angeführt von den Frauen über 30.“ Der Marketingchef Groß-Denker Hegel, die Geschichtsphilo- des Deutschen Taschenbuch Verlags (dtv), sophie etabliert, die Romantiker ergötzten Rudolf Frankl, bestätigt: „Alle diese sich am Ideal einer großen nationalen Ver- Bücher haben einen festen Markt und ver-

gangenheit, und die Romanciers begannen, MAGREAN J. kaufen sich durchweg gut. Ich kann mich sich an einer neuen Literaturgattung zu Ramses-Autor Jacq nicht erinnern, dass ein historischer Ro- versuchen: dem modernen historischen Auslöser der Ägyptomanie man in letzter Zeit ein Misserfolg war.“ Roman. Als Erfinder gilt der Schotte Wal- Eine honorige Gruppe zeigt sich jedoch ter Scott, der mit „Waverly“ (1814), einer Heutzutage aber ist sie so präsent wie nie zu- durch den Historien-Boom peinlich berührt turbulenten Story um den erfolglosen vor – Nietzsche müsste sich wieder sorgen. bis blamiert: die Literaturwissenschaftler. Staatsstreich der Stuarts 1745, eine Ur- Ein Rückschau-Rausch sucht die deut- Den professionellen Besserwissern ist der Geschichts-Geschichte schrieb. sche Buchbranche heim, das gilt für Sach- historische Roman verhasst. Die Gattung Ganz Europa tat es ihm nach: in Frank- bücher ebenso wie für Romane. Aus nahe- gilt, so die typische Beschreibung eines reich Victor Hugo mit „Der Glöckner von zu jedem Verlagsprogramm springen sie ei- Germanisten (Michael Limlei), „als illegiti- Notre-Dame“, in Russland Leo Tolstoi mit nen an, oftmals prominent dargeboten als mer Spross einer anrüchigen Verbindung“: „Krieg und Frieden“, in Polen Henryk Sien- Spitzentitel: die opulenten Geschichten aus der Verbindung zwischen der an Fakten kiewicz mit „Quo vadis“. Eine Gattung war dem Irgendwann der Menschheit. gebundenen Historiografie und der freien geboren, im folgenden Jahrhundert sollte Der Wolfgang Krüger Verlag beginnt dichterischen Fiktion, die ihre Geschichten sie mal mehr, mal weniger begehrt sein. eine Trilogie über die französische Kaise- nach eigenen Baugesetzen erzählt und auf rin Joséphine. Der Karl Blessing Verlag ver- den tatsächlichen, oft zufälligen Hergang sucht es mit einer weiteren mittelalterli- wenig Rücksicht nimmt. * Buchcover (Ausschnitt) für „Der ägyptische Heinrich“ (unter Verwendung von Auguste Raynauds „La belle chen „Medicus“-Schwarte vom amerika- Können andere Mode-Genres wie Fan- Egyptienne“, um 1855). nischen Bestseller-Autor Noah Gordon. Da tasy, Sciencefiction oder auch die putz-

der spiegel 46/1999 299 Kultur munteren Frauenromane getrost Graehl. Ihre Analyse: Wenn ins Unterhaltungsfach eingeord- Kitschgeschichten in früheren net und danach bewertet wer- Zeiten spielen, wirken sie glaub- den, gelingt dies beim histori- hafter – Burgfräulein wird hor- schen Roman nicht so leicht. Ein monell so manches zugetraut. und dieselbe Gattung hat wüste Graehl: „Es ist wie bei Schla- Räuberromanzen, neunmalklu- gern: Englisch gesungen, also ge Oberstudienratsprosa – und verfremdet, werden sie besser ein hübsches Sümmchen Welt- angenommen.“ literatur hervorgebracht: Flau- Das bestätigt auch der Wis- berts „Salammbô“ (jetzt in neu- senschaftler und Romanautor er Übersetzung erschienen), Stif- Umberto Eco („Der Name der ters „Witiko“, Süskinds „Das Rose“, „Die Insel des vorigen Parfum“ und Nadolnys „Die Tages“). Eco lästert in einem Entdeckung der Langsamkeit“: Aufsatz zur historisch über- allesamt historische Romane, al- tünchten Romanze: Geschichte lerdings zuweilen – wie im Fall sei hier lediglich „Vorwand und Süskind – mit Funden aus der phantastische Konstruktion, um Historie wuchernd, die fast kom- der Einbildung freien Lauf zu plett erfunden sind. lassen“. Die Romanze brauche In der verstörenden Qua- gar nicht in der Vergangenheit litätsspanne zwischen Hoch- angesiedelt zu sein, „es genügt, und Trivialliteratur liegt der dass sie nicht vom Hier und Fluch, aber auch der Reiz der Jetzt redet, nicht einmal allego- Gattung. Mit ihren unendlich risch. Die Romanze ist die Ge- vielen Spielarten offenbart sie, schichte eines Woanders“. His- dass hinter dem aktuellen Ver- torie als Wohlfühlort, weit weg gangenheitstaumel sehr viel vom Alltag. mehr steckt als lediglich ein In diesem Herbst fällt aber kurioses oder nostalgisches Be- vor allem ein anderer Typus his- dürfnis nach den lexikalisch torischer Romane auf, eine li- zugänglichen Fakten der Ge- terarisch bemühtere Form, die schichte. durchaus einen Ort in der Ge- Die Historie, so zeigt die Gat- schichte aufzuweisen hat: Es tung, kann für alles Mögliche ge- sind Romanbiografien echter nutzt werden: als Fluchthelferin Erdenbürger. Romanbiografien aus dem Heute ins Irgendwann, sollen durch fiktive Anteile als Lehrmeisterin fürs Hier und ebenfalls an Flucht- und Schmö- Jetzt, als Trösterin, als Bildungs- kerlust appellieren, zugleich

stütze. Der historische Roman AKG aber genügend Fakten liefern, taugt zum Spiegelbild der Be- Roman-Heldin Joséphine*: „Liebes Tagebuch“ damit Leser im gelehrten Small dürfnislage einer Lesernation. Talk bestehen können. Die berüchtigtsten Fluchthelfer die- rikanischen Taschenbuchangebots, das er- Dieses Jahr gibt es auffällig viele Le- ses Herbstes sind jene Bücher, die in der gab eine Untersuchung deutscher Verlags- bensgeschichten von Frauen über Frauen. Branche halb belustigt, halb despektier- experten, besteht bereits aus diesen so ge- „Genuss am Lesen“, begründet dtv-Lek- lich „Nackenbeißer“ genannt werden nannten Romances; die allermeisten von torin Bianca Dombrowa, „läuft über Iden- und die sich auf unheimliche Weise ver- ihnen spielen in historischen Fernen, am tifikation.“ Und wer liest? Frauen natür- mehren. liebsten bei Raubrittern (weiches Herz un- lich. Da die Historie, was faktische Macht Der Nager-Name geht auf die Cover- ter harter Rüstung) oder testosterongesät- anbetrifft, notorisch männerlastig ist, gestaltung zurück: Der Betrachter sieht tigten Piraten. versuchen die Autorinnen, die indirekte eine junge Frau, wehendes Haar, umarmt Weil auch deutsche Verlage wie Heyne, Macht der Gattinnen, Töchter, Schwäge- von einem Mann – hinab senkt er sein Bastei-Lübbe und Ullstein mit derlei Pu- rinnen herauszuheben – der Geschichte Haupt gen Schulter der Begehrten. Und blikationen schon länger erfolgreich sind, soll Gerechtigkeit eingeschrieben werden. dann bleibt tatsächlich nur noch eine Fra- zogen Konkurrenten wie List und Knaur Ein ehrbares Anliegen, das den geehrten ge offen: Küsst er, oder beißt er zu? Alles vor knapp zwei Jahren nach. „Mit Erfolg“, Damen aber nicht immer zur Ehre ge- andere ist gesichert: dass sich zwischen den sagt Droemer/Knaur-Lektorin Carolin reicht. Buchdeckeln zwei lieben und gegen Ende Denn die Romanbiografie, das zeigen zueinander kommen. 50 Prozent des ame- * Porträt von Henri François Riesener (1806). die meisten Neuerscheinungen, ist tatsäch-

Renate Feyl Noah Gordon Anne Bernet Sandra Gulland „Das sanfte „Der Medicus „Ich, Pontius „Joséphine“ Joch der Vor- von Saragossa“ Pilatus“ Deutsch von Si- trefflichkeit“ Deutsch von Deutsch von grid Gent. Wolf- Verlag Kiepen- Klaus Berr. Karl G. Krüger-Wirrer. gang Krüger Ver- heuer & Witsch, Blessing Verlag, Knaur, München; lag, Frankfurt/M.; Köln; 320 Seiten; München; 512 384 Seiten; 576 Seiten; 38 Mark. Seiten; 48 Mark. 29,90 Mark. 39,80 Mark.

300 der spiegel 46/1999 Werbeseite

Werbeseite Kultur lich eine fragwürdige Gattung. Mal machen se Vertrautheit assoziieren: Mit jedem die Autorinnen aus den Objekten ihrer neuen Buch kehren sie an einen wohlbe- Buch-Begierde auf Grund historiogra- kannten Ort zurück. Also noch eine neue fischer Bedenken zu wenig, mal aus Fabu- Funktion von Geschichte: Diesmal ist sie lierlust zu viel. Heimat. Die Erfolgsautorin Renate Feyl etwa Längst versunkene Orte, verblichene geht in ihrem Buch über Schillers Schwä- Menschen, die bloße Idee von Vergangen- gerin Caroline von Wolzogen zu zaghaft vor („Das sanfte Joch der Vortrefflich- keit“). Feyl gilt als anspruchsvolle, quel- Bestseller lentreue Verfasserin von Roman-Biogra- fien und wird hier Opfer dieser Tugenden: Belletristik Sie klebt geradezu an dem, was Weimarer Überlieferungen über Frau von Wolzogen 1 (1) Isabel Allende Fortunas Tochter wissen, hält sich bei Ausschmückungen und Suhrkamp; 49,80 Mark Dialogszenen stark zurück. Dadurch wirkt das Buch hölzern – ziemlich leblos, diese 2 (2) Günter Grass Mein Jahrhundert Lebensbeschreibung. Steidl; 48 Mark Für einen Roman reicht es nicht, sich einen spektakulären Ort der Geschich- 3 (4) Elizabeth George Undank ist der te auszusuchen und sich darauf zu verlas- Väter Lohn Blanvalet; 49,90 Mark sen, dass die anwesenden Großkopferten (in diesem Fall Goethe, Charlotte von Stein und andere) die Story schon wuppen. In- 4 (3) Noah Gordon Der Medicus szenierlust muss schon sein, auch wenn die von Saragossa Blessing; 48 Mark Gefahr groß ist, es zu bunt zu treiben. Die in Kanada lebende Sandra Gul- 5 (–) Thomas Harris land,Verfasserin der vielbeworbenen José- Hannibal phine-Trilogie, treibt es zu bunt. Sie wählt Hoffmann und Campe; wie Feyl die Ich-Form, verfährt aber im 49,90 Mark Ganzen gegenteilig. Sie schildert frohge- mut lauter Vorgänge, von denen sie nichts Schlaflose Nächte wissen kann: Joséphines erste Monatsblu- garantiert: FBI-Jagd tung etwa. auf Serienmörder Die Autorin beginnt neue Passagen ihres Lecter geht weiter als Diarium abgefassten Werks hochnaiv mit „Liebes Tagebuch, es ist etwas Schreck- 6 (5) Donna Leon Nobiltà liches geschehen“ und lässt ihre Hauptfi- Diogenes; 39,90 Mark gur wenig hellsichtig auf die Nachricht rea- gieren, dass ein Vertrauter versucht hat, 7 (9) Ken Follett Die Kinder von Eden den gefangenen französischen König zu befreien: „,Mon Dieu.‘ Ich sank auf einen Lübbe; 46 Mark Stuhl. ,Den König zu befreien? Aus dem Temple?‘ Ich formte die Worte mit den 8 (7) John Irving Witwe für ein Jahr Lippen.“ Womit sonst?, fragt sich der ver- Diogenes; 49,90 Mark wirrte Leser. Es muss wohl der schier unglaubliche 9 (8) Marianne Fredriksson Erfolg des französischen Autors Christian Maria Magdalena W. Krüger; 39,80 Mark Jacq sein, der Kollegen dazu ermutigt, un- erschrocken in den Topf der Vergangenheit 10 (6) Henning Mankell hineinzugreifen, jemanden herauszuziehen und drauflos zu phantasieren. Die falsche Fährte Zsolnay; 45 Mark Immer wieder schafft es Jacq mit den einzelnen Folgen seiner Romanbiografie 11 (12) Nicholas Sparks Zeit im Wind über den ägyptischen Pharao Ramses II. Heyne; 32 Mark auf die Bestsellerlisten. Egal, ob er etwa den antiken Dichter Homer unvermittelt 12 (11) Frank McCourt Ein rundherum im ägyptischen Memphis aufkreuzen lässt, tolles Land Luchterhand; 48 Mark ein Vorfall, der jeder Logik wie Quelle ent- behrt – das Zeug geht weg. 13 (10) Henning Mankell Und nicht nur das: Mit Jacq wetteifern Die fünfte Frau Zsolnay; 39,80 Mark inzwischen etliche Trittbrettfahrer, die sich ähnlich ägyptomanisch gebärden, ob in Guy Rachets „Traum aus Stein“ (Heyne) 14 (13) Siegfried Lenz Arnes Nachlass Cheops’ Kampf um die Doppelkrone be- Hoffmann und Campe; 29,90 Mark schrieben wird oder Kleopatra als „Die Königin vom Nil“ (Heyne) aufersteht. 15 (–) Martha Grimes Die Frau im Ägypten scheint zu einem Schlagwort Pelzmantel Goldmann; 44 Mark geworden zu sein, mit dem Leser diffu-

302 der spiegel 46/1999 heit, all das weckt unendli- che Wünsche. Bleibt die Fra- ge: Warum? Mit einem anderen Boom historischer Romane in die-

AKG sem Jahrhundert lässt sich Roman-Held Hannibal*: Lust auf Opulenz die heutige Situation kaum vergleichen. Es war in der Im Auftrag des SPIEGEL wöchentlich finsteren Zeit vor und während des Natio- ermittelt vom Fachmagazin „Buchreport“ nalsozialismus: Den einen Autoren ging es darum, dem Germanentum durch allerlei Sachbücher Heldengetue Bedeutung einzupusten, den 1 (1) Marcel Reich-Ranicki Mein Leben anderen – Exilliteraten wie etwa Lion Feuchtwanger – ums Gegenteil: Sie wollten DVA; 49,80 Mark durch allegorische Geschichten aus der 2 (–) Oskar Lafontaine Vergangenheit auf die Abgründe des Fa- schismus hinweisen. Das Herz schlägt links Econ; 39,90 Mark Mit dem Ende des Nationalsozialismus hatte der Großteil der Autoren erst mal 3 (2) Sigrid Damm Christiane genug vom historischen Erzählen. Hel- und Goethe Insel; 49,80 Mark dentümelei war verdächtig geworden, Fi- guren der Geschichte als „bedeutend“, gar 4 (4) Corinne Hofmann „groß“ darzustellen – Schlagworte, die Die weiße Massai A1; 39,80 Mark heute durchaus wieder gängig sind –, damit war man vorsichtig. 5 (5) Dale Carnegie Sorge dich nicht, Über Jahrzehnte konzentrierten sich lebe! Scherz; 46 Mark Autoren aufs Hier und Jetzt, und als An- fang der achtziger Jahre ein gewisser Um- 6 (3) Waris Dirie Wüstenblume berto Eco aus Italien seinen intellektuellen Schneekluth; 39,80 Mark Mittelalter-Roman „Der Name der Rose“ veröffentlichte, sagten ihm die Auguren 7 (9) Ulrich Wickert keine große Zukunft voraus. Eco-Über- setzer Burkhart Kroeber erinnert sich Vom Glück, Franzose zu sein noch, wie er an einer Sitzung des Münch- Hoffmann und Campe; 36 Mark ner Hanser Verlags teilnahm, auf der über die erste Auflage verhandelt wurde: 10 000 8 (6) Tahar Ben Jelloun Papa, was ist Stück, so lautete der Beschluss. Alle An- ein Fremder? Rowohlt Berlin; 29,80 Mark regungen Kroebers, es mit einer größeren Menge zu versuchen, trafen auf Unver- 9 (7) Bodo Schäfer Der Weg zur ständnis. finanziellen Freiheit Campus; 39,80 Mark Dass das Buch dereinst in der ganzen Welt 15 Millionen Mal verkauft werden 10 (–) Hans J. würde, damit hat niemand gerechnet. Da- Massaquoi mals, so Kroeber, schien das Vergangene Neger, Neger, verdächtig, die noch kreglen 68er führ- ten den Vorwurf des Eskapismus auf ihren Schornsteinfeger! Lippen. Fretz & Wasmuth; 39,90 Mark Auch Gisbert Haefs, Verfasser verschie- dener Historienromane („Troja“, „Ale- Eine beispiellose Jugend: Ein schwarzer Deutscher er- xander“, „Hannibal“), denkt noch mit lebt die Nazis in Hamburg Groll an das Kunstverständnis der Achtzi- ger: Eines Tages, so erzählt Haefs, sei Wim 11 (11) Klaus Bednarz Wenders, Mitbegründer des deutschen Au- torenfilms, vor die Kameras getreten und Ballade vom Baikalsee Europa; 39,80 Mark habe verkündet, dass man keine opulenten 12 (10) Daniel Goeudevert Geschichten mehr erzählen könne. „Und das“, echauffiert sich Haefs noch im Nach- Mit Träumen beginnt die Realität hinein, „wo gerade vor den Augen der Öf- Rowohlt Berlin; 39,80 Mark fentlichkeit eine opulente Geschichte pas- sierte, die Barschel-Affäre.“ Haefs: „Aber 13 (12) Dietrich Schwanitz Bildung so war das, Kunst stand für Kargheit.“ Das Eichborn; 49,80 Mark Ergebnis: spröde Texte, genussfreie Lek- türe mit viel, viel Botschaft. 14 (8) Ruth Picardie Es wird mir fehlen, Spätestens nach dem Fall der Mauer das Leben Wunderlich; 29,80 Mark kündigte sich eine Kehrtwende an. Der So- zialismus, die letzte Ideologie, die noch da- 15 (13) Peter Kelder Die Fünf „Tibeter“ mit rechnete, dass sich das Menschen- Integral; 22 Mark * Fresko von Jacopo Ripanda (Anfang 16. Jahrhundert).

der spiegel 46/1999 303 Kultur

Roman-Held Pilatus*: Antike Selbsthilfegruppe geschlecht in Richtung Brauchbarkeit ent- wickele, war am Ende und damit – so betonen Zeitgeist-Exegeten immer wieder – auch jene rigorose Freude an der Zu- kunft, die 68er samt Autorenfilmer beflü- gelt hatte. Der Münchner Arnulf Rank, EDV-Fach- mann und als unermüdlicher Leser von Historienschinken eine Art Prototyp, erin- nert sich auch noch an politisch motivier- te Straßenschlachten, doch, so analysiert er, „die Zeiten sind zu kompliziert gewor- den, man zieht sich zurück“. Als EDV- Fachmann wisse er, wozu er einen Com- puterchip einsetzen könne, doch wie der sich genau zusammensetze – „keine Ah- nung“. Da lobt er sich die Überschaubarkeit, die in historischen Romanen suggeriert wird. In einem seiner Lieblingsbücher, Ken Folletts „Die Säulen der Erde“, geht es um einen Kathedralenbau im 12. Jahrhundert. „Nach der Lektüre hatte ich den Eindruck, ich verstehe mehr von Kirchenarchitektur als vom Computerchip.“ Hier könnte also der Urgrund für die heutige Lust an der Rückschau liegen: Die vielbeschworene Unübersichtlichkeit stresst, die Zukunft lockt nicht mehr: also geschlossener Abmarsch ins Gestern. Rank: „Wenn ich Jacqs Ramses-Romane lese, bin ich nah dran an einem Pharao. Mit historischen Romanen ist man immer

* Gemälde von Albrecht Altdorfer (um 1510).

der spiegel 46/1999 dort, wo es groß und bedeu- tend wird.“ Weltereignisse frei Haus. Auf diese Erfolgsrezepte setzt auch die französische Autorin Anne Bernet. Sie unternimmt in einer Neu- erscheinung den Versuch, sich und ihre Leser ins Zentrum christlichen Heilsgeschehens zu versetzen. Bernet nutzt die Modegattung der Roman- Biografie, um das Leben des rö- mischen Statthalters zu be- schreiben, der für die Hinrich- tung Jesu mitverantwortlich war: Pontius Pilatus („Ich, Pon- tius Pilatus. Die Memoiren ei- nes Unschuldigen“). Die Auto- rin imaginiert die Verhandlung vor dem Kreuzestod, lässt Pi- latus – so will es auch die Bibel – zaudern. Die Zerrissenheit des Pilatus bietet tatsächlich Stoff für ganz große Literatur, allein man muss der Gewalt dieses Stoffs gewachsen sein. Bei Bernet scheitert es an Sprache und Charakterzeichnung: Der rö- mische Prokurator, auch er ein

AKG Ich-Erzähler, reflektiert im Jar- gon der Selbsthilfegruppe die schlimme Tat: „Armer Messias, armer Christos, armer König Israels … Mich ergriff überströmendes Mitleid, und den- noch fühlte ich mich völlig ohnmächtig.“ Mit Sätzen wie diesen wird Pilatus zum unfreiwilligen Komiker. Kein Segen also auf dieser vorösterlichen Story. Die Charakterzeichnung ist auch das größte Problem im „Medicus von Saragos- sa“ von Noah Gordon, dem historischen Roman, der nach Meinung der Händler der größte Verkaufshit dieser Buchsaison wird. Gordon vermag es tatsächlich, einer Story Saft und Kraft zu geben. Die Ge- schichte seines heimlichen Juden Jona, der vor der Inquisition durch das Spanien des Spätmittelalters flieht, ist eine Himmel- und-Hölle-Fahrt: Zarte Liebesszenen wechseln mit brünstigen Schilderungen von Folter und Scheiterhaufen. Doch der Medicus ist ein arger Gut- mensch, heilt und hilft, wo er nur kann. Dass sich Verfolgung verheerend auf eine Persönlichkeit auswirken kann, diese Mög- lichkeit schließt Gordon offenbar aus. Ein Jude als Personifikation eines besseren Prinzips – auch eine Variante des Rassis- mus. Erkenntniswert: marginal. Der historische Roman hat also tatsäch- lich etliche Tücken. Die Gattung verspricht einiges, löst aber nicht allzu viel davon ein. Die Nackenbeißer erweisen sich noch als ehrlichste Ware – lustvoller Schwelgestoff, der auch gar nicht mehr sein will als dies. Die Gattung, so die Theorie, nimmt durch ihre fiktionalen Elemente der His- 305 Kultur Kampf der Schinken Historien-Boom im Fernsehen: Amerika und Europa wetteifern mit unterschiedlichem Inszenierungsstil um die Gunst des Publikums.

Je oller die Stoffe, desto voller sind die sisch geprägten Verfilmung der Biografie Sofas vor dem Gerät: Deutsche Schuld des großen französischen Erzählers Ho- beschwörende Geschichtserkundungen noré de Balzac mit Gérard Depardieu, wie die Filme nach Victor Klemperers Ta- Jeanne Moreau und Katja Riemann. gebüchern erreichen mit schlappen acht Die französische Bauerntochter und Prozent Marktanteil gerade mal die Stu- später als Heilige verehrte fromme Jung- dienratsklientel, während gut abgehan- frau von Orléans (1412 bis 1431) errettete gene Bibelschinken wie RTLs „Arche im Hundertjährigen Krieg Frankreich Noah“ die Massen fesseln. vom englischen Joch, führte durch ihre re- Kulturkritiker bellen, die Karawane ligiöse Begeisterung französische Trup- sucht ihre Sehnsucht im Gestern, in den pen zum Sieg, brachte Karl VII. auf den Zeiten, da es – so die Hoffnung – noch Königsthron, ehe sie, politisch lästig wer- das Wünschen gab, da der Lebenssinn dend, ins Abseits geriet und als Ketzerin noch die Welt bewohnte, da richtige Män- verbrannt wurde. ner richtige Frauen liebten, da die Guten Voltaire sah in ihr eine naive Bauern- siegten und Gott sich zeigte. magd, Schiller eine innerlich Zerrissene

SAT 1 SAT An zwei Produktionen*, die demnächst zwischen dem Gehorsam gegenüber Depardieu, Riemann in „Balzac“ zu sehen sind, lassen sich die unter- ihrer Sendung und der verbotenen Liebe Kraft der Dialoge schiedlichen Macharten studieren, mit zum Feind. Für Shaw war sie keine denen Amerika und Europa das TV- Heilige, sondern eine Vertreterin des as Millennium geht, die Ge- Wachstums-Genre historische Fiction zu gesunden Menschenverstands wider die schichte kommt, Gegenwart und beherrschen suchen: an der in Amerika Anmaßungen der katholischen Kirche, DZukunft, bitte zurücktreten von entwickelten Fernsehverfilmung des Brecht schließlich interpretierte „Die der Bildschirmkante! Keine Übertrei- Jeanne-d’Arc-Stoffs und an der franzö- heilige Johanna der Schlachthöfe“ als bung: So viel Historie war nie in der Glotze. An Weihnachten ist nicht nur das Christkind geboren – zum diesjährigen Fest, dem letzten vor der Jahrtausend- wende, wird Jesus Christus auch Movie- star: Das Erste sendet zwei mal 90 Minu- ten lang eine Leo-Kirch-Koproduktion, die den Weg des Heilands von Bethle- hem nach Golgatha zeigt. Später werden die Apostel dran sein, dann hat Kirch sei- nen Bibelzyklus zu Ende gebracht. Aber, Gott verzeiht vieles, gut möglich, dass das Fernsehen dann wieder bei Adam und Eva beginnt. Mantel- und Segenstücke haben näm- lich TV-Konjunktur. Ob „Arche Noah“, ob „Tristan und Isolde“, ob zum x-ten Mal neu verfilmt „Der Kurier des Zaren“, ob „Les Misérables“ oder „Der Glöckner von Notre-Dame“, ob „Merlin“, ob Antiken- Fantasy wie „Hercules“ oder „Xena“ – es trappelt in der Flimmerkiste: Pferdehufe, kühne Reiter, schimmernde Rüstung, Lan- ze und Speer, Kostüm und Phrase schicken sich an, neben Allotria, Sport und Talk ein weiteres Schwungrad der Mythos-Ma- schine Fernsehen zu werden.

* „Jeanne d’Arc – die Frau des Jahrtausends“: 28. und

29. November, 20.15 Uhr auf RTL; „Balzac – ein Leben RTL voller Leidenschaft“: 2. und 3. Januar 2000 auf Sat 1. „Jeanne d’Arc“-Darstellerin Sobieski: Geschichte ohne Geheimnis

306 der spiegel 46/1999 realitätsblinde Wohltäterin, die die Raf- finessen des Kapitalismus nicht durch- schaute. Und das moderne Fernsehen amerika- nischer Machart? Es legt sich nicht fest. Es hat keine Meinung zur Person der heili- gen Jungfrau. Ihm sind Interpretationen der Figur unwichtig, denn es hat ganz an- deres im Kopf: lauter schöne Bilder. Die TV-Verfilmung des Frankokana- diers Christian Duguay zerlegt den Stoff in Gemälde, Zeitlupenaufnahmen von tobenden Schlachten, in süßliche Heiligenbilder von der Jungfrau mit strah- lender Rüstung auf ihrem sich bäumen- den Ross. Bei dieser hemmungslosen Schwelgerei im schönen Bilderschein wird der Film hemmungslos fromm. Johannas Stimmen von oben werden ungeniert optisch in- szeniert: als strahlender Schein oder – höchste Stufe der Erbaulichkeit – als Ant- litz Gottes, als hätte der gefordert: Du Historischer Banal-Roman sollst dir ein Bildnis von mir machen. Hormonell begabte Burgfräulein Der historische Stoff dient als Übungs- platz für Special Effects, er wird rhyth- toriografie die Trockenheit und Sperrig- misiert durch den raschen Wechsel von keit. In Wahrheit aber verführt die Angst Gefühlserregung und schneller Befriedi- vor zu viel Gelehrsamkeit nicht weni- gung. Dieser TV-Jeanne-d’Arc ist die flot- ge Autoren dazu, ihre Stoffe völlig weich zu te Träne lieber als eine lange durchzu- spülen. Geschichte aber ist richtiges Le- haltende innere Spannung. Die meisten ben und damit immer ein Wagnis, eine Figuren sind zu festen Klischees geformt. Zumutung. So wandelt die New Yorker Jungschau- Markus Werner, hoch anerkannter spielerin Leelee Sobieski legosteinhaft Schweizer Autor, findet in seinem neuen mit Strahleblick eines aufrechten Ameri- Roman „Der ägyptische Heinrich“ (Resi- can Girl durch das Natterngezücht eu- denz-Verlag) eine Form, sich dem Gegen- ropäisch-dekadenter Gestalten. Derlei be- stand Geschichte literarisch angemessen arbeitete Geschichte hat kein Geheimnis zu nähern. Sein Ich-Erzähler aus der Jetzt- mehr und erschüttert die selbstgefällige Zeit rekonstruiert das Leben seines Ur- Gegenwart kaum. Ur-Großvaters, eines Schweizer Pfarrer- Aber zugegeben: Wenn die amerika- sohns, der vor 150 Jahren nach Ägypten nische Jungfrau Peter O’Toole, der den auswanderte. zunächst verschlagenen, aber später reue- Der Protagonist der heutigen Welt fähigen Bischof gibt, an dessen gefrorenes taucht ein in die damalige, taucht wieder Herz rührt, wechselt dieser Film für einen auf, reflektiert und kommt zu dem Ergeb- Moment von kalter Bilderpracht in die nis, dass beide Zeitschichten, die Gegen- Dimension echter Wärme. wart wie die Vergangenheit, kritisch gese- „Balzac – ein Leben voller Leiden- hen werden müssen. schaft“ riskiert optisch weniger, ohne je Zum einen entlarvt er seinen Großva- unansehnlich zu sein. In diesem europäi- ter, der bislang in seiner Familie der Held schen Angriff auf die alte Zeit regieren unter den Ahnen war, als Taugenichts, das Vertrauen auf große Schauspieler und zum anderen nervt ihn auch das Hier und die Kraft der Dialoge. Wie Obelix erwat- Jetzt. „Ein einziger Tag der Versenkung schelt sich Depardieu den Balzac-Part, schien bewirken zu können, dass ich schelmisch, täppisch, aber voller Ehr- mich beim Wiederauftauchen als Relikt je- furcht für den großen Poeten. Und er ner Zeit fühlte, in der ich mich aufge- wird konterkariert von seiner kalten Mut- halten hatte, und die Rückkehr in meine ter, die die Moreau souverän hinlegt. Sie Welt war keine ins Vertraute. Von einem spielt, als schaute das alte Europa voller anderen Epochenrhythmus wie infiziert, Skepsis, aber auch mit liebender Weis- empfand ich den normalen Verkehrs- heit auf seine großen Dichter. fluss als Niedertracht und die norma- Die Quote dürfte den Kampf um die len Bewegungen der Menschen als Veits- Machart der Historienschinken entschei- tanz.“ den. Die Kultur hat viel zu verlieren. In diesem halb-historischen Roman Nikolaus von Festenberg verstört Geschichte. Besseres kann sie, in erzählter Form, kaum bewirken. Susanne Beyer

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mehr so frei und unabhängig arbeiten kann Zehetmairs Amtsstube am Münchner Sal- INTENDANTEN wie bisher“. Die Schurkenrolle fiel, na klar, vatorplatz eingegangen, von wo man sie mal wieder den üblichen Verdächtigen zu – unverzüglich (und unterzeichnet) ins kaum Wunderbarer den Beton- und Bierköpfen von der CSU. 500 Meter entfernte Staatstheater zurück- Nur: Diesmal hatte es weder auf einer expediert habe. Als sie dort ankamen, hat- der drei Staatsschauspielbühnen – Resi- te Witt bereits seine Demission eingereicht, Minister denztheater, Cuvilliéstheater und Marstall nicht zum ersten Mal, wie Zehetmairs Spre- – einen Eklat gegeben noch auf irgendwel- cher Toni Schmid spöttisch anmerkt: „Weil Der Münchner Staatstheaterchef chen Rednertribünen. Und, noch verwir- es der Minister ein bisserl leid war, bald im render: Witts Dienstherr, Bayerns CSU- wöchentlichen Rhythmus Rücktrittsbriefe Eberhard Witt wirft sein Kunstminister Hans Zehetmair, 63, beteu- vom Intendanten zu bekommen, hat er das Amt vorzeitig hin – neuer Eklat im erte fast verzweifelt, dass er Witt „in seine Gesuch diesmal angenommen.“ Traditionskonflikt zwischen künstlerische Freiheit nie reingeredet“ In Wahrheit hat der Zwist wohl mit un- Bayerns CSU und Theaterkünstlern. habe. Der nun im Sommer 2001 (statt, wie terschiedlichen Vorstellungen von Theater- ursprünglich vereinbart, zwei Jahre später) kunst zu tun. Witt berichtet von „jahrelan- in ordentlicher bayerischer Theater- scheidende Intendant bescheinigte seinem ger Piesackerei“ durch Ministeriumsbeam- krach geht so: Ein Dramatiker Noch-Chef, er habe Zehetmair in sechsein- te. In seiner bisherigen Amtszeit hatte der Eschreibt ein Stück, in dem sich poe- halb Jahren nur dreimal im Theater ge- Intendant geschickt den Spagat zwischen tisch-klare Sätze finden wie „Der letzte sehen, prinzipiell aber sei der CSU-Mann gefällig-konservativen Inszenierungen und Terrorist ist mir noch lieber als der erste „ein ganz wunderbarer Kultusminister“. ein paar radikaleren Ausflügen geübt. von der CSU“. Ein Schauspieler spricht Im Vergleich zum anderen gro- diese Sätze auf der Bühne nach. Im Pre- ßen Münchner Sprechtheater, den mierenpublikum gibt es Tumult. CSU-Po- städtischen Kammerspielen, wo der litiker schlagen Krawall, dass man sich der- penible Textbefrager Dieter Dorn lei nicht bieten lasse. Der Theaterinten- das Regiment führt, erschien Witt dant aber verteidigt die Freiheit der Kunst schon damit vielen bayerischen Kul- – und dann ist es bloß eine Frage von Mo- turwächtern als waghalsiger Neue- naten, bis man den Theaterchef mit rer. Seit Anfang des Jahres aber Schimpf und Bierzeltdonner aus dem schö- steht fest, dass Dorn in den Kam- nen Bayernland gejagt hat. merspielen 2001 abtreten muss; sein So geschah es beispielsweise 1985/86. Nachfolger ist der einst von der

Der Dramatiker hieß damals Herbert Ach- FOTOS: RABANUS W. CSU aus dem Staatstheater verjag- ternbusch, der Schauspieler Josef Bier- Theatermacher Schweeger, Witt te Frank Baumbauer, 54, derzeit bichler und der Staatsschauspielintendant Genervt von „jahrelanger Piesackerei“ noch Leiter des Hamburger Schau- Frank Baumbauer. Von allen dreien lässt spielhauses. Er gilt als Förderer eines sich sagen, dass sie nach dem Skandal um Ja, was nun? War die „Bombe am Bayeri- ungestümen, wenig textgläubigen Gegen- das Achternbusch-Stück „Gust“ zumindest schen Staatsschauspiel“ (Münchner „Abend- wartstheaters – und dem wollte Witt nun im nichtbayerischen Rest der Republik als zeitung“) irrtümlich gezündet worden? Der noch wildere Theaterkunst entgegensetzen. tapfere Kämpfer und moralische Sieger da- Anlass für Witts Rücktrittsgesuch, das Ze- Die Neubesetzungen, die Witt erst spät standen. hetmair bereits akzeptiert hat, erscheint durchbringen konnte, sind die Position der In der vergangenen Woche sah es ganz so tatsächlich mickrig. Der Intendant wurde, Chefdramaturgin Elisabeth Schweeger und aus, als sei in München eine Neuauflage des sagt er, bei zwei wichtigen Einstellungen des künstlerischen Direktors Ulrich Wessel. bewährten Schauspiels zu bestaunen: Eber- monatelang hingehalten. „Wenn man nicht Die Österreicherin Schweeger, 45, hat bisher hard Witt, 54 und seit gut sechs Jahren auf mal mehr einen Dienstvertrag fristgerecht unter Witts Obhut die Staatsbühne im Mar- dem einst von Baumbauer belegten Inten- hinkriegt, kann man kein Theater leiten.“ stall mit Avantgarde-Spektakeln bespielt. dantenposten, schmiss entnervt den Kram In Zehetmairs Ministerium bestreitet Dass sie nun auch in den beiden großen Häu- hin: Er sei sich sicher, „dass ich künftig nicht man die Verschleppungsschikane. Die von sern das Sagen hat, lässt das „Welt“-Feuille- Witt vergangenen Dezember angekündig- ton erschauern, bei ihr erhielten „Schein-In- * Residenztheater, Nationaltheater. ten Vertragsentwürfe seien erst im Juli in novationen nur durch den Kommentar ihre Wichtigkeit“, und in diesem Kommentar sei viel zu oft „von Politik die Rede“. Schweeger hält sich zwar für „keine be- queme Person“, trotzdem sei sie keine Re- voluzzerin, „die gegen das System kämpft – ich arbeite aus dem System heraus“. Auch das klingt immer noch gefährlich nach Systemveränderung, weshalb viele in München nun aufatmen, dass die Schwee- ger mit Witt 2001 ihren Platz räumt. Als Wunschkandidat für den Intendantenjob im Staatsschauspiel wurde vergangene Woche schon mal Dieter Dorn, 63, ge- nannt. Den aber kann sich nicht mal Zehetmair-Sprecher Schmid auf diesem Posten vorstellen: „Der Minister schätzt Dorn“, sagt er, „aber von den Kammer- spielen ins Staatstheater – das ist, als wür- de einer mitten im Dreißigjährigen Krieg Münchner Staatsbühnen*: Seltener Besuch vom Dienstherrn die Religion wechseln.“ Wolfgang Höbel

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Werbeseite Kultur K. RUGE Neutöner Boulez: „Die Avantgarde-Müdigkeit ist vor allem Schuld der Interpreten, die im Gewerbe den Ton angeben“

SPIEGEL-GESPRÄCH „Man spielt gern den wilden Hund“ Der Avantgardist Pierre Boulez über Bayreuth, die Berliner Philharmoniker und die Chancen der Neuen Musik im nächsten Jahrhundert

Der französische Komponist und Dirigent mals sagen wollte und bis heute für richtig das Orchester nimmt das Wagnis auf sich, Pierre Boulez, 74, gehört zu den interna- halte: Wenn man an den Institutionen et- und ich hoffe, dass das Publikum es auch tional erfolg- und einflussreichsten Vertre- was ändern will, muss man in sie hinein- annehmen wird. tern der modernen Tonkunst. gehen und von innen wirken. SPIEGEL: Nun eignet sich Boulez als Heili- SPIEGEL: Aber Ihr damaliger Überdruss an ger der Avantgarde aber auch als ideale SPIEGEL: Herr Boulez, vor 32 Jahren haben den puffigen Musiktheatern und ihren muf- Galionsfigur für so ein Unternehmen. Sie im SPIEGEL gefordert, alle Opernhäu- figen Spielplänen war doch ernst und böse. Boulez: Abgesehen von der Heiligspre- ser in die Luft zu sprengen. Ihr Spreng- Boulez: Natürlich.Aber wenn man jung ist, chung mögen Sie Recht haben. Jedenfalls Satz erschütterte damals die gesamte Sze- spielt man gern den wilden Hund und sehe ich für mich als Dirigent darin eine ne. Seitdem waren Sie in Bayreuth tätig, kläfft draußen wüst herum.Wenn man rei- Mission. Ich muss nicht unbedingt „Tosca“ haben die herrschaftlichen Wiener Phil- fer wird, sollte man nicht mehr draußen oder Tschaikowski dirigieren, das machen harmoniker dirigiert, auf Schallplatte Mu- bellen, sondern drinnen handeln. andere oft genug. Doch Webern, Schön- sik von Richard Strauss aufgenommen und SPIEGEL: Sind denn nach Ihrer Beobach- berg, Strawinski aufzuführen empfinde ich ganz offenbar Ihren Frieden mit dem Be- tung die Opernhäuser inzwischen offener, immer noch als notwendig und nützlich. trieb gemacht. War Ihre Bombe von 1967 die Orchester beweglicher und die Zuhörer SPIEGEL: Aber Richard Strauss unter dem ein Blindgänger oder Ihr Pulver nass? aufgeweckter geworden? Dirigenten Boulez scheint uns weder not- Boulez: Genau gesehen habe ich damals ge- Boulez: Ja, keine Frage.Wenn ich zum Bei- wendig noch nützlich. sagt, die Sprengung der Opernhäuser sei spiel nächstes Jahr mit dem London Sym- Boulez: Neugier ist eine der wichtigsten die eleganteste Lösung, um die Routine phony Orchestra auf Tournee gehe und nur Triebfedern meiner Arbeit. Und von loszuwerden. Natürlich war das eher hu- Programme mit Musik des 20. Jahrhun- Strauss hat mich „Also sprach Zarathu- morvoll gemeint, wurde aber komischer- derts dirigiere, dann ist das, kommerziell stra“, vor allem der Anfang, schon immer weise oft wörtlich genommen. Was ich da- gesehen, natürlich ein großes Risiko. Aber sehr interessiert.Also habe ich das Werk di-

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Werbeseite rigiert – auch wenn manche die Nase rümpften. SPIEGEL: Ihr Kollege Karlheinz Stockhausen hat jüngst mal wieder gegen die „totale Popularisierung“ des Musikbetriebs ge- wettert. Gehen Sie d’accord mit ihm? Boulez: Stockhausen lebt hauptsächlich in seiner Welt. Die komplexen Probleme des täglichen Musiklebens sieht er mit einem gewissen Abstand. Die „Popularisierung“ ist vielleicht eine falsche Antwort auf eine richtige Frage. SPIEGEL: Aber hat Stockhausen nicht doch Recht, wenn er die Passivität des Betriebs gegenüber den Zeitgenossen anprangert? Boulez: Sicher hat er Recht. Nur ist die „Ring des Nibelungen“ in Bayreuth (1976): „Ich hatte zeitweise den Eindruck, vor und hinter mir Avantgarde-Müdigkeit des Betriebs in Wahr- heit vor allem Schuld der Interpreten, die im SPIEGEL: Jetzt, kurz vor der Jahrhundert- SPIEGEL: Wird Beethoven in Berlin künftig Gewerbe den Ton angeben und sich nur wende, bricht der etablierte, tradierte Mu- rockig klingen? glänzend vermarkten wollen. Die haben sikbetrieb immer öfter auf. Die Berliner Boulez: Vielleicht wird er ein wenig anders einfach Angst, weil sie im zeitgenössischen Philharmoniker beispielsweise gerieten und aufregender sein. Ich finde es jedenfalls Repertoire nicht kultiviert genug sind. Sie jüngst unter Beschuss, weil sie im nächsten nicht gut, wenn wir uns zu ernst nehmen und gehen auf Nummer Sicher, und das bedeu- Sommer erstmals live mit der Rockband arrogant über andere Bereiche herfallen. Ich tet: lieber einen Beethoven- als einen Schön- Scorpions auftreten wollen. Ist so was ein habe ja auch mit Frank Zappa gemeinsam berg-Abend. In Paris sehe ich Massen von Zeichen von Kulturverfall? gearbeitet.Viele fanden das schrecklich, ich Plakaten mit Klavier-Recitals.Und was spie- Boulez: Mon Dieu, lasst sie doch machen, fand es gut und amüsant und interessant. len die Pianisten? Chopin, Chopin, Chopin. wenn sie Spaß daran haben! Die Rockmu- Ich wollte und will nie hochnäsig sein. Es SPIEGEL: Mögen Sie Chopin nicht? sik mit ihrer rhythmischen Kraft und ihrer muss nicht jeden Abend so genannte große Boulez: Doch, doch. Er ist ein großer Kom- musikalischen Energie kann äußerst be- Kunst entstehen. Rock und Pop sind im- ponist und konnte glänzend für Klavier lebend wirken, und ich möchte nicht aus- merhin reale und vitale Ausdrucksformen schreiben. Aber das ist 150 Jahre her, und schließen, dass die Philharmoniker von die- unserer Zeit, sie sind Musik der Aktualität. seitdem ist viel große Literatur für Klavier sem Abenteuer letztlich auch für ihre nor- SPIEGEL: Ein Hauptproblem der zeitgenös- entstanden. Man muss nur zugreifen. male Arbeit profitieren. sischen E-Musik besteht darin, dass sie fast Kultur

immer gegen das große entweder völlig rückwärts orientiert oder jekt einfach doppeltes Pech gehabt. Erst Publikum durchgesetzt überhaupt nicht mehr vorhanden ist. war ich mit Jean Genet … werden muss. Mozart SPIEGEL: Und wie soll sich diese Musikkul- SPIEGEL: … dem schillernden französischen dagegen schrieb, wenn tur wieder bilden? Poeten … auch auf höchstem Ni- Boulez: Man muss dafür arbeiten, schon Boulez: … auf ein gemeinsames Projekt veau, stets auch für den früh, in den Schulen. Ich gebe Ihnen ein verabredet, und mitten in der Vorarbeit Massengeschmack. Was Beispiel. Ich habe neulich in der Pariser starb Genet; dann wollte ich mit Heiner konnte er, was die heuti- Cité de la Musique vor Abiturienten ein- Müller etwas machen, und drei Monate, gen Neutöner à la Bou- einhalb Stunden lang eine Analyse von bevor wir uns zur Detailbesprechung tref- lez nicht können? Weberns „Fünf Stücken für Orchester“ fen konnten, starb auch er. Boulez: Das gegenwärti- vorgetragen, alles mit Beispielen. Sie hät- SPIEGEL: Ist das Ganze damit begraben? ge Publikum ist ungleich ten eine Stecknadel fallen hören können, Boulez: Sicher nicht. Andererseits habe ich größer und soziologisch so konzentriert haben die Schüler das ver- auch keine besondere Lust, eine Oper zu vielfältiger geschichtet folgt. Ich glaube, die fanden das regelrecht komponieren mit der üblichen Raumtei-

S. LAUTERWASSER / BAYREUTHER FESTSPIELE / BAYREUTHER S. LAUTERWASSER als das des Rokoko. Hät- spannend. sei der Mob los“ te Mozart seine „Così SPIEGEL: Also muss man Neue Musik doch fan tutte“ zum Beispiel lernen und darf nicht einfach genießen? auf einem Bauernhof dargeboten, hätten, Boulez: Bedenken Sie: Man kann nur ge- so nehme ich an, die Zuhörer völlig rat- nießen, wenn man gelernt hat und versteht. los reagiert. Wenn er, wie Sie sagen, den SPIEGEL: Darf ein Komponist mit den Er- Massengeschmack traf, dann war diese wartungen des Publikums kokettieren? Masse ein erlesener Zirkel von hohem Boulez: Ich glaube nicht. Als Komponist Kunstverstand. müssen Sie sich treu bleiben, und jede Ko- SPIEGEL: Wollen Sie bestreiten, dass vie- ketterie mit dem Geschmack anderer ge- le zeitgenössische Kompositionen vom fährdet Ihre persönliche Integrität. Zuhörer eine intellektuelle Arbeit und SPIEGEL: Herr Boulez, an neuen Opern ist gedankliche Aufgeschlossenheit verlan- kein Mangel. Auch Sie haben seit Jahr- gen, die dieser offenbar nicht leisten will zehnten ein Stück fürs Musiktheater an- oder kann? gekündigt, aber bis heute nicht geliefert. Boulez: Ich kenne dieses Argument, die Weil sich die Gattung überlebt hat?

Stücke seien „zu hoch“. Falsch. Das Pro- Boulez: Dass immer wieder neue Opern M. GÄBLER / PUNCTUM blem liegt nicht bei den Komponisten, son- entstehen, beweist, dass sie sich nicht über- Komponist Stockhausen dern in der allgemeinen Musikkultur, die lebt hat. Ich habe mit meinem Opernpro- „Falsche Antwort auf richtige Frage“ Kultur lung Bühne, Orchestergraben, Publikum. Boulez: Ja, aber ich habe es aus demselben Die Schauspielregisseure haben manchmal Grunde nicht getan. schon ganz andere Lösungen gefunden. SPIEGEL: Vor Jahren haben Sie einmal SPIEGEL: 1976 haben Sie, zusammen mit gerügt, dass Deutschland – das Land der dem Regisseur Patrice Chéreau, in Bay- Dichter und Denker, wie Sie süffisant sag- reuth den so genannten Jahrhundert- ten – keinen Kulturminister habe. Nun ha- „Ring“ herausgebracht – erst ein Skan- ben wir Michael Naumann. Welchen Rat dal, dann ein Triumph. Wie beurteilen würden Sie – der Franzose mit deutschem Sie den Eklat nach 23 Jahren? Zweitwohnsitz – ihm geben? Boulez: Es war eines der Boulez: Ich kenne Herrn furchtbarsten Erlebnisse Naumann nicht. Ich den- meines Lebens. Dieser Ter- ke, er sollte sich auf ror des Publikums und des die wirklich großen, na- Orchesters! Ich hatte im tionalen Institutionen und Orchestergraben zeitweise Ereignisse beschränken und den Eindruck, vor und hin- um Gottes willen nicht ter mir sei der Mob los. die Souveränität der ein- SPIEGEL: Stimmt es eigent- zelnen Länder antasten lich, dass das Orchester da- oder beschneiden. Was in mals vorsätzlich falsch ge- den verschiedenen Län- spielt hat? dern geleistet und ermög- Boulez: Mehrere Musiker licht wird, ist das größ- wollten beweisen, dass ich te Kapital des deutschen den „Ring“ nicht dirigieren Kulturlebens. Da sage ich

könnte. Deswegen spielten / STUDIO X / STILLS CAMHI als Kenner des französi- sie, wenn nicht buchstäblich Boulez-Kollege Zappa schen Zentralismus bloß: falsch, so doch dem entge- Hände weg! gen, was ich verlangt hatte. Schon die Pro- SPIEGEL: Wenige Wochen vor der großen ben waren eine Qual; und als dann bei der Kalenderwende stellt sich die Frage nach Premiere, am Anfang des dritten Akts den Chancen der Neuen Musik im nächs- „Götterdämmerung“, im Zuschauerraum ten Jahrhundert.Wird sie sich durchsetzen auch noch der Chor der Trillerpfeifen ein- und klassisch werden? setzte, wollte ich endgültig hinschmeißen. Boulez: Ach, ich bin kein Prophet. Aber SPIEGEL: Und warum haben Sie gezögert? ich wette, dass sie unentbehrlicher und da- Boulez: Weil das genau die Reaktion gewe- mit selbstverständlicher Teil des Reper- sen wäre, die meine reaktionären Gegner toires wird, weil Interpreten und Publi- erhofften. Den Gefallen wollte ich ihnen kum an Kenntnis gewinnen und damit nicht tun. So habe ich durchgehalten. Scheu, Vorbehalte und Vorurteile verlie- SPIEGEL: Hatten Sie im Festspielleiter Wolf- ren werden. gang Wagner eine Stütze bei der Randale? SPIEGEL: Welche Neutöner schaffen den Boulez: Unbedingt. In meiner damaligen Sprung ins nächste Millennium? Situation hat er sich mustergültig verhalten Boulez: Ganz sicher Strawinski, Schönberg, und sogar alle Störenfriede im Orchester Webern, Berg und Bartók. ersetzt. Ein Jahr später waren da viele neue SPIEGEL: Und von den Lebenden? Gesichter, und es wurde dadurch ein ganz Boulez: Ich denke an die so genannte anderes Arbeiten. Darmstädter Gruppe, an Stockhausen, Li- SPIEGEL: Sitzen Ihnen der Schreck und der geti, Kurtág, Berio, Kagel; vermutlich auch Schock noch immer in den Knochen? Ist noch ein paar andere. Bayreuth deshalb für Sie endgültig passé? SPIEGEL: Und Boulez? Boulez: Die schreckliche Erfahrung von ’76 Boulez: Der wahrscheinlich auch; wer weiß? kann ich nicht einfach abschütteln, sie SPIEGEL: Herr Boulez, wir danken Ihnen gehört für mich unweigerlich zu Bayreuth. für dieses Gespräch. Aber dass ich dort wohl nie mehr dirigieren wer- de, hängt mit meinem Al- ter und meiner knapper werdenden Zeit zusam- men. Ich kann es mir nicht mehr leisten, drei Monate eines Sommers der Ar- beit an einer Oper zu wid- men. SPIEGEL: Hätten Sie spä- ter gern Chéreaus Salz- burger „Don Giovanni“ dirigiert?

* Mit Redakteur Klaus Umbach in K. RUGE der Kölner Philharmonie. Boulez beim SPIEGEL-Gespräch*: „Nie hochnäsig sein“

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Werbeseite FOTOS: J. RÖTTGER / VISUM RÖTTGER J. FOTOS: Großskulptur „Perfect World“, Künstler Rhoades: Huldigung an den Strippenzieher der Avantgarde

Glück den Künstler selbst. Aber nur zwei ner Rück-Schau in der Nürnberger Kunst- KUNST ruckelnde Fahrstuhlkörbe für je eine Per- halle sieben ältere Installationen aus sieben son stehen zu einer Vogelschau auf das be- Schaffensjahren in den „sieben Mägen“ Ein Paradies reit, was Rhoades da eigentlich treibt. alias Räumen des Hauses neu verdaut Er verpflanzt den biblischen Mythos von und ineinander verwurstet – als „Teil des Sechstagewerk und Paradies ungeniert in Schöpfungsmythos“. mit Abgründen die eigene Kindheit zurück. Genauer: Er Auf den greift er in Hamburg nun aus- schafft, als Foto-Faksimile, den Garten sei- drücklich zurück, nur weniger kraus, als In den Hamburger Deichtorhallen nes Vaters in Kalifornien nach. Stück für er gewöhnlich vorgeht. Unter der lampen- Stück hat er im Sommer Gurken, Bohnen, bestückten Hallenkuppel, die ein Sternen- baut Jason Rhoades, Star Mais und reichlich sprießendes Unkraut zelt darstellen könnte (oder, so Rhoades, der internationalen Szene, an einer aus Augenhöhe abgelichtet. Nun druckt der eine „große Titte“), scheint die „Perfekte „Perfekten Welt“ nach dem Vor- Computer die Naturmotive im Lebens- Welt“ an den Garten Eden anzudocken, bild des väterlichen Gemüsegartens. maßstab aus, und Rhoades klebt sie, wie zu aber auch an die Hängenden Gärten der einem Satellitenbild, zur artifiziellen „Per- Semiramis und an fliegende Teppiche auf ine ganze Welt-Schöpfung hat sich fect World“ zusammen. großer Fahrt. Diskreter spielt sie mit er- der Künstler ausgedacht, und gern Solche Großbastelei sieht ihm ähnlich. lauchten Beispielen der Kunstgeschichte. Espricht er darüber im Tempus der Manisch verkoppelt er seit Jahren Wider- So erinnert Rhoades mit seinem Stan- Vergangenheit: „Ich machte sie in sechs sprüche: Privates und Öffentliches, Kon- gen-Labyrinth an jene „Meile Bindfaden“, Teilen, und den siebten Teil ließ ich einfach sum und Mythen, Pornografie und Kunst- die Avantgarden-Heros Marcel Duchamp weg.“ Also: Wohlgefallen, Feiertagsruhe? geschichte, Autorennen und Esoterik. Aus 1942 kreuz und quer durch eine New Yor- Von wegen. Geschäftig läuft der Ameri- Warenhäusern und von Heimwerkermärk- ker Surrealistenausstellung spannte. Der kaner Jason Rhoades, 34, auch nach der Aus- ten schleppt er rastlos Einkäufe heran und aufwendig herauspolierte Silberglanz hul- stellungseröffnung noch mit ausholenden ordnet sie genialisch zu wuchernden, far- digt obendrein dem Bildhauer-Perfektio- Schritten durch die südliche Hamburger bigen Assemblagen, in denen es gern auch nisten Constantin Brancusi. Deichtorhalle. Hier hat er einen großen flimmern, tuten und qualmen darf. Vorsicht: Stolpergefahr! Während Du- Druckcomputer zu überwachen, dort eine Und während Kritiker noch streiten, ob champ Kinderspiele in der Galerie anreg- Maschine zu bedienen, die lange Metallstan- sie ihm „künstlich aufgeblasene Ober- te (und der Eröffnung fernblieb), müssen gen kreischend auf Hochglanz poliert. Dann flächlichkeit“ attestieren sollen oder „er- Rhoades und seine Helfer selbst auf der schwingt er sich auf eine höhere Ebene em- staunlichen Sinnreichtum“, eilt der Künst- Hut sein. Denn ihr aus Dreiecksplatten zu- por und puzzelt da an einem Klebebild. ler bereits weiter, etwa von Biennale zu sammengesetzter Garten Eden hat kein Fertig, mit einem letzten Handschlag ab- Biennale (New York, Lyon, Venedig). Auf Geländer, doch bedrohliche Klüfte. Wer geschlossen, wird diese von Rhoades so ge- der internationalen Szene der neunziger hinunterfällt, erlebt einen wahren Sünden- nannte Perfect World noch lange nicht, Jahre ist er mit gutem Grund ein Topstar. Fall und bricht sich leicht den Hals. Plastik- möglicherweise nie. Jedenfalls soll das Pu- Seine dicken Autos – daheim ein Ferra- schlangen winden sich halbhoch durchs blikum sie als Millennium-Work in Pro- ri, in Europa ein Chevrolet Impala – stän- Gerüst; unten liegen schlaffe Puppen her- gress buchstäblich ins Jahr 2000 hinein- den ihm also schon als Statussymbole zu, um wie Abgestürzte. Wohlweislich wird wachsen sehen (bis 5. März). doch für ihn sind sie mehr: Skulpturen un- dringend empfohlen, sich anzuseilen. Schließlich wird daraus laut Deichtorhal- terwegs, Verkörperungen rastlosen Orts- Dabei denkt Rhoades sogar schon wie- len-Mitteilung die „wohl größte Innen- und Perspektivenwechsels. Er liebt den ra- der an Demontage. Gern würde er nach skulptur, die jemals gebaut wurde“. Der schen Blick des Autofahrers aus den Augen- dem Prinzip, dass alles weiter- und inein- Dschungel silbriger Pfosten, durch den Be- winkeln, für den die Dinge verschwimmen. ander wächst, für eine Ausstellung der sucher sich vorankämpfen müssen, soll auf Recht so: Der Sog der Akkumulation ist Kunsthalle Bremen im Dezember ein 1500 Quadratmeter anwachsen. 5,20 Meter Rhoades’ Stärke, nicht die Feinjustierung paar Stücke „Perfect World“ abzweigen. hoch liegt die Plattform, durch deren plastischer Werte. Die ändern sich sowieso Nur schwant ihm, Deichtorhallen-Chef Löcher und Spalten man sporadisch Leute von einer Schau-Station zur nächsten. Fol- Zdenek Felix würde „wohl die Tür ver- bei der Arbeit erblickt – mit ein bisschen gerichtig hat Rhoades voriges Jahr zu sei- rammeln“. Jürgen Hohmeyer

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Werbeseite Kultur

dings sind kein Blues, sondern Rock und Balladen.Aber schließlich hat ja die Plat- tenfirma die Auswahl getroffen. „Meine besten Stücke aus 20 Jahren? “, sagt Clapton, 54, „Unsinn!“ Was heißt „Best of“ auch schon, wenn man so viele Songs geschrieben hat, dass man sich selbst nicht mehr an alle erinnern kann? Clapton jedenfalls hat längst neue Lieder im Kopf, Anfang nächsten Jahres will er mit dem Bluesgitarristen B. B. King ins Studio ge- hen und ein paar Duette aufnehmen. An- schließend plant er, eine Soloplatte zu ma- chen – und zwar so solo, dass er alle In- strumente selbst spielen wird. Das hat Clapton nämlich noch nie gemacht, und es ist schwer, nach vier Jahrzehnten Musik ir- gendetwas zum ersten Mal zu tun. Vor 40 Jahren hielt Clapton seine erste Gitarre in den Händen und wusste sofort: Das ist es. Es bleibt eine offene Frage, ob es ein angeborenes musikalisches Talent gibt oder nur antrainiertes musikalisches Können. Claptons Geschichte allerdings spricht für die Vererbungstheorie. Der Va- ter, den Clapton nie kennen gelernt hat,

K. MAZUR / CORBIS SYGMA war Pianist. Gitarren-Wunder Clapton: Niemand konnte so über die Saiten rasen Blues und Rock’n’Roll faszinierten den 14-jährigen Clapton. Er hörte die Platten von Männern des amerikanischen Blues POP wie Robert Johnson, Big Bill Broonzy oder Muddy Waters, aber auch von Rock’n’Rollern wie Buddy Holly.Weil er Abschied von der Sucht auch so spielen wollte, übte Clapton wie ein Besessener. Er war ein schüchterner In den sechziger Jahren wurde der englische Gitarrist Teenager, aber eben hochmusikalisch. Nach kurzem konnte er deshalb mit Eric Clapton zum Superstar. Nach harten Abstürzen präsentiert Londoner Rhythm-and-Blues-Truppen in er jetzt eine Best-of-CD und bekennt sich zum Blues. kleinen Lokalen auftreten. Mit den Yard- birds bestritt Clapton 1963 seine erste enn Gott ein Restaurant betritt, Er spielt selber am liebsten Blues, Plattenaufnahme: „Honey in Your Hips“. fällt er auf: unrasiert, schwarze selbstverständlich: Der Brite Eric Patrick Und schon da war zu hören, was ihn von WJeans, Sweatshirt, Turnschuhe, Clapp, bekannt als Eric Clapton, ist einer anderen Gitarristen unterschied: Nie- auf dem Rücken ein Rucksack – wie ein der letzten überlebenden Gitarren- mand konnte bei den Soli so über die Sai- falscher Ton zwischen den auf Dunkel- Heroen der sechziger Jahre. Und um sei- ten rasen wie er. „Slowhand“ – so wurde blau eingestimmten Anzugmännern, die nen Nimbus als Herr der Saiten zu wah- er dafür schon bald, ironisch, gefeiert. sich im Londoner „Bluebird“ zum Bu- ren, hat seine Plattenfirma nun wieder Clapton spielte eine Zeit lang mit John siness-Lunch treffen. Aber Gott – so einmal eine „Best of“-CD herausge- Mayall, dem Mentor des jungen und wei- nennt die Pop-Szene die lebende Gitar- bracht. „Clapton Chronicles – The Best of ßen britischen Blues. Der große Karriere- ren-Legende Eric Clapton – merkt kaum, Eric Clapton“ heißt sie und enthält neben sprung kam 1966. Damals gründete er mit dass seine Tischnachbarn über nichts an- zwei neuen Songs, die als Single ausge- Jack Bruce und Ginger Baker eine Band, deres als über das Thema Geld sprechen. koppelt werden, seine Hits aus den acht- die weltweit Furore machte: Cream. Jedes Clapton hört und sieht weg: Er redet über ziger und neunziger Jahren. Die aller- Lied ein Solo, mächtiger Gitarren-Sound, Musik und nichts anderes. technische Brillanz – das sind seitdem die „Pop hat keine Substanz“, schimpft er, Zielvorgaben für Rockgitarristen. „Clap- „das ist Musik für Kinder, egal wie alt ton ist Gott“, sprühten Fans damals auf diese Kinder sind.“ Blues dagegen, ja, Londoner Häuserwände. Blues sei etwas ganz anderes. Aus ihm Clapton hatte nur einen einzigen Ri- klinge Alter und Lebensweisheit, von Ge- valen: Jimi Hendrix. Der war nicht so neration zu Generation gesammelt, ver- schnell, aber er hatte geniale Einfälle. Bei- tieft und respektvoll weitergegeben. Mud- de zusammen definierten mit ihrem Spiel dy Waters klang schon alt, als er noch ein die Rolle des Gitarristen neu, der bis da- junger Mann war. Er hatte den Blues von hin meist im Hintergrund vor sich hin ge- alten Männern gelernt. „Blues ist die Mu- schrummelt hatte. Auf einmal stand der sik für Erwachsene“, sagt Clapton. Dann Mann mit der Gitarre neben dem Sänger muss es wohl so sein. in der ersten Reihe und durfte mit end- losen Soli das enthusiasmierte Publikum Legenden Hendrix, Clapton (1967) traktieren. Bis heute sind Gitarrensoli

Die Rolle des Gitarristen neu definiert SCHMITZ / REX FEATURES fester Bestandteil des Rock.Vielleicht war 324 Werbeseite

Werbeseite Cream zu genialisch-chaotisch- Clapton verabschiedete sich von den kreativ, um lange halten zu kön- Rauschgiften in drei Phasen. Die ersten nen. Nach zweieinhalb Jahren vier, fünf Jahre hat er dem wilden, freien brach die Band auseinander. Drogenleben nachgetrauert. In den nächs- Clapton gründete Blind Faith und ten fünf Jahren schuf er sich einen be- schließlich Derek and the Domi- ständigen Alltag, an dem er sich festhal- nos. Deren im Jahr 1970 erschie- ten konnte, sich aber oft leer und depri- nenes Album „Layla and Other miert fühlte. Heute hat er einen neuen Assorted Love Songs“ ist ihm bis Zugang zur Welt gefunden: „Mein Leben heute eigentlich die liebste unter ist so intensiv und aufregend.“ all den Platten, die er gemacht Von seinen Kollegen, die er seit den hat. „Das Album hat eine un- sechziger Jahren kennt, sieht Clapton nur glaubliche Atmosphäre, die aus noch Paul McCartney und George Harri- der Euphorie dieser Zeit her- son gelegentlich, ansonsten hat er sich ei- rührt“, sagt Clapton. „Wir waren nen Bekanntenkreis fernab vom Musik- verrückt drauf und begannen geschäft zugelegt. Sein bester Freund ver- auch heftig mit Drinks und Dro- legt Bücher. Selbst die Libido lässt dem gen herumzuspielen.“ früher zwanghaften Womanizer mehr Clapton, damals 25, war mit Ruhe. Über tausend Frauen habe er ge- wilder Haarpracht und rosa Stie- habt, protzte er einst in seinen wilden Ta-

feln eine illustre Ikone des Swin- / REX FEATURES R. YOUNG gen. Zu seinen Freundinnen und Gelieb- ging London – und der begehr- Clapton, Sohn Conor (1990) ten zählten Michelle Pfeiffer, Naomi teste Gitarrist des Rock-Kosmos. Von der Trauer zum Hit inspiriert Campbell, Sharon Stone und Sheryl Nach dem Tod von Brian Jones Crow. Derzeit hat er keine feste Bezie- hatte ihn Mick Jagger gefragt, ob er bei vor sechs Jahren mit den Zigaretten auf- hung und hält es durchaus mal ein halbes den Rolling Stones einsteigen wollte. hörte“, erzählt er, „fing ich an, zwanghaft Jahr ohne Sex aus. Clapton sagte ab, er wollte lieber seine ei- Süßigkeiten in mich reinzustopfen.“ Es wäre falsch, sich Eric Clapton als genen Projekte verfolgen. Er spielte mit Die Psychotherapie wäre nicht voll- glücklichen, in sich ruhenden Menschen Aretha Franklin, Bob Dylan, John Len- ständig gewesen, hätte Clapton nicht vorzustellen. Vor über acht Jahren stürz- non oder George Harrison. Er profilierte Nachforschungen in den Abgründen sei- te sein vierjähriger Sohn Conor in New sich als Sänger, was Mick Jagger nie zu- ner Seele angestellt. Die Ursachen für sei- York aus dem 53. Stock des Hauses, in gelassen hätte. Und er schrieb immer ne Flucht in die Sucht sieht er daher heu- dem dieser mit seiner Mutter lebte – ein mehr Songs. te in „mangelndem Selbstbewusstsein und zutiefst traumatisierender Verlust für den Die Zahl der Konzerte, die er seit den einer Familie, die nicht funktionierte“. Vater. Als wollte er das romantische Bild frühen sechziger Jahren gegeben hat, kann Clapton erfuhr erst mit zwölf Jahren, des Künstlers bestätigen, der durch ein- Clapton auf „tausende“ schätzen. Ein dass seine vermeintlichen Eltern in Wahr- sames Leiden Geniales schafft, inspirier- paar wenige Auftritte sind ihm dennoch heit seine Großeltern waren und dass te ihn seine Trauer zu dem höchst erfolg- besonders in Erinnerung geblieben: ein sich seine Mutter als seine angebliche reichen Song „Tears in Heaven“. Cream-Konzert in Philadelphia 1968; das ältere Schwester ausgegeben hatte. Erst Im letzten Jahr hat Clapton auf der Ka- von George Harrison initiierte „Concert vor anderthalb Jahren fand ein kanadi- ribikinsel Antigua, auf der er auch ein for Bangla Desh“ in New York 1971, ob- scher Journalist heraus, dass Claptons in- Haus besitzt, das „Crossroads Centre“ wohl er sehr stoned auf der Bühne stand. zwischen verstorbener kanadischer Vater eröffnet. In der Drogentherapie-Klinik Sex and Drugs and Rock’n’Roll – nicht – wie in der Familie kolportiert wur- müssen zwei Drittel der Patienten bezah- Clapton hat diese seit den sechziger Jah- de – ein konservativer Banker gewesen len, ein Drittel – vorzugsweise Einheimi- ren mystifizierte Dreifaltigkeit tatsächlich war, sondern ein herumvagabundieren- sche – werden umsonst behandelt. Um das gelebt: zahllose Tourneen, zahllose Grou- der Pianist, der mit mindestens vier Ehe- gemeinnützige Projekt zu finanzieren, ließ pies, zahllose Partys. Und, vor allem, frauen zusammengelebt und drei Kinder er bei Christie’s in New York hundert Gi- zahllose Drogen. Als Teenager schluckte hinterlassen hatte. tarren aus seiner exklusiven Sammlung Clapton zum ersten Mal Speed, später versteigern und nahm mehr als nahm er LSD, Kokain und Heroin, und fünf Millionen Dollar ein. An- wenn er nicht über die Gitarrensaiten deren zu helfen sei Teil der ei- wirbelte, hatte er einen Joint in der Hand. genen Therapie, sagt Clapton. Er schaffte es 1973, von den illegalen Er verbringt seine Zeit lie- Drogen wieder loszukommen – aber nur, ber auf der Urlaubsinsel als in weil er sie durch legale ersetzte. Clapton London, wo die Leute von ei- schüttete mehr und mehr Alkohol in sich nem Trend zum nächsten ja- hinein, vorzugsweise Wodka. Mitte der gen, wo er allerdings auch ein achtziger Jahre musste er sich endgültig Haus besitzt – in einer Seiten- eingestehen, dass er physisch und psy- straße der King’s Road, des mit chisch am Ende war. Gitarre spielen konn- edlen Läden und Cafés ge- te er trotzdem noch. säumten Boulevards von Chel- Der Star schloss sich einer anonymen sea. „Es ist dreckig, irrsinnig Selbsthilfegruppe an und begann eine teuer“, klagt er und blickt in Psychotherapie. Mittlerweile kann er den gräulichen Himmel: „Das beim Mittagessen erklären, warum er Carl Wetter ist noch miserabler als Gustav Jung interessanter findet als des- sein Ruf.“

sen Lehrmeister Sigmund Freud. Er sei S. CLARKE / REX FEATURES Und für den Blues ist es in ein Suchtcharakter, sagt Clapton, der eine Clapton vor dem „Crossroads Centre“ London viel zu laut. Droge durch die nächste ersetze. „Als ich Hundert Gitarren bei Christie’s versteigert Michael Sontheimer

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Werbeseite Fleischliche, für seidige Haut wie für schlei- miges, blubberndes Gekröse oder die zar- ten Pastellfarben der Verwesung. Hier in „eXistenZ“ schwelgt er, ja aast er in sei- nem Element: Er entwirft eine Zukunfts- technologie, die nicht mit Stahl, Glas oder Kunststoffen arbeitet, sondern mit Häuten, Sehnen, Knochen und Gewebe. Von sei- nen Werkbänken trieft Blut. Doch diesmal ist Cronenberg als Spiel- erfinder mit solch erschöpfendem Überei- fer bei der Sache, dass dieses „eXistenZ“- Spiel in seiner ausgetüftelten und zele- brierten Morbidität letztlich nur sich selbst zur Schau stellt und darüber hinaus kein Auge öffnet und nichts zu erzählen hat. Die so genannte Story nämlich, mag sie auch mit kühnen Saltos wie auf Trampoli- nen auf Realitätsebenen herumhüpfen, ist

FOTOS: KINOWELT FOTOS: ein enttäuschend schlichtes Flucht-und- „eXistenZ“-Stars Law, Leigh: Auf der Flucht vor aller Welt Verfolgungsjagd-Abenteuer. Gleich zu Be- ginn nämlich wird auf Allegra ein Mordan- melte Erfinderin von Simulationsspie- schlag verübt – angeblich von einer Guerri- FILM len, die man nicht mehr altmodisch Vi- llabewegung „Realistischer Untergrund“, deospiele nennen kann, weil sie direkt im die aber vielleicht nur eine Simulation ei- Igittigitt Hirn des Spielers stattfinden: Er selbst ist ner Konkurrenzfirma ist, deren Spiel sich die Spielfigur und kann sich per Knopf- „transCendenZ“ nennt –, und fortan ist David Cronenberg, der druck in imaginäre Wirklichkeiten kata- die schöne kühle Allegra zusammen mit pultieren. ihrem schönen kühlen Bodyguard Ted kanadische Kunst-Gruselfilmer, Das Spiel heißt angemessen anspruchs- (Jude Law) vor aller Welt auf der Flucht. präsentiert ein neues voll „eXistenZ“, und wer dabei mitmachen Zu ihren Fluchtstationen gehört eine Rätselspiel: „eXistenZ“. will, muss sich mit einer Art Bolzenschuss- einsame, heruntergekommene Tankstelle, gerät eine Buchse in den Zentralnerven- deren sinistrem Betreiber man leicht zu- ald werden es die Spatzen, falls es strang der Wirbelsäule jagen lassen, wo traut, dass er in einem Hinterzimmer dann noch welche gibt, von allen man dann das Kabel zum Spielsteuergerät schwarzen Schnaps brennt oder schwarze BDächern pfeifen: Unsere so genann- einstöpselt.Allerdings wollen Begriffe wie Messen liest; sodann eine abgelegene Berg- te Realität sei eine sehr löchrige, ja illu- „Kabel“ oder „Gerät“ für dieses Zubehör hütte, wo ein postmoderner Doktor Fran- sionäre Angelegenheit; woanders sei kaum passen, denn sein Material ist offen- kenstein als Vivisekteur und Transplanteur womöglich alles besser, praller, bunter – bar tierischer Herkunft: Das Kabel in sei- Blut oder Hirn spritzen lässt; schließlich die schärferen Autorennen, die köstliche- ner fleischig-glitschigen Konsistenz gleicht ein Etablissement, das als Forellenfarm ren Appetithappen, die exorbitanteren Or- einer Nabelschnur, das Steuerteil einer nie- und Brutstätte für doppelköpfige Sala- gasmen, also fast wie im Kino. renartig weichen Innerei mit Knorpeln mander fungiert. Dem Film, der ja selbst eine Simulation oder Nippeln, die man durch Kneten er- Die Tiere werden zum Ausschlachten ist, gefällt derzeit zunehmend der fliegen- regt. Igittigitt. für Bauteile neuer Simulationsspiele ge- de Welt-Wechsel, das Spiel mit der Simu- Kenner sind abgebrüht; sie wissen David braucht, und was übrig bleibt, kommt in lation virtueller Abenteuer in alternativen Cronenbergs den Ekelreflex reizende Alp- der Firmenkantine als Spezialität des Hau- Realitäten. Ihn kostet es ja auch buchstäb- träume zu goutieren; sie schätzen als Be- ses auf den Tisch.Wer Bescheid weiß, kann lich nichts, nämlich nur ein Fingerschnip- sonderheit und Stärke dieses Filmemachers sich aus den abgefieselten Resten dieser pen, nur einen Schnitt, um vom Hölzchen gerade sein obsessives Interesse für das Meeresfrüchte-und-Kleinechsen-Platte – aufs Stöckchen zu kommen oder von der also aus Schalen und Gräten, Knorpeln und einen Galaxie ins andere Paralleluniver- Filmemacher Cronenberg Knöchelchen – eine erstklassige Pistole sum, frei und schwerelos nach der Maxime Faszination des Fleischlichen basteln, der ein menschlicher Backenzahn „Das Leben ist ein Videospiel“. als Geschoss dient. Der Esser, der den Bau Die Ansprüche sind gestiegen. Früher dieser hundertprozentig kompostierbaren konnten kleine Mädchen einfach in einen Bio-Knarre vorführt, erschießt dann damit Kaninchenbau kriechen oder in einen gleich den Kantinenkoch – wer weiß, ob Brunnenschacht springen, um sich in der der nicht ein Doppelagent des „Realisti- virtuellen Realität von Frau Holle oder der schen Untergrunds“ war, aber wer weiß Spielkartenwelt-Simulation der Herzköni- auch, zu diesem Zeitpunkt, ob er das wirk- gin wieder zu finden. Von einem heutigen lich noch wissen will. Seltsam, seltsam; (nun auch nicht mehr so kleinen) Mädchen Cronenbergs prätentiöse Kunst-Trash- wird, damit ein solches Abenteuer in Gang Kunstwelten, gefangen in Selbstbespiege- kommt, mehr Einsatz verlangt. lung, sind nicht so großzügig, dass in ihnen Allegra zum Beispiel – der man das Erlösung winkte. kaum ansähe, da sie auf der wunderbar Zusammenfassend ließe sich sagen: somnambulen Unergründlichkeit der „eXistenZ“ ist entschieden kein Film für Schauspielerin Jennifer Jason Leigh wie Vegetarier, doch auch für Kannibalen ein auf einer Wolke schwebt – ist eine genia- rechter Murks oder, weil das mehr her- le, umworbene, wie ein Star angehim- macht, ein rechter mUrkS. URS JENNY 330 Werbeseite

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Redaktion: Fax 9400506 Auskunft zum Abonnement Dr. Hermann Bott, Konstantin von Hammerstein, Dietmar NEW DELHI Padma Rao, 91, Golf Links (I & II Floor), New Delhi Telefon: (040) 3007-2700 Hawranek, Frank Hornig, Hans-Jürgen Jakobs, Alexander Jung, 110003, Tel. (009111) 4652118, Fax 4652739 Fax: (040) 3007-2898 Klaus-Peter Kerbusk, Thomas Tuma. Autor: Peter Bölke; Berliner NEW YORK Thomas Hüetlin, Mathias Müller von Blumencron, E-Mail: [email protected] Büro Leitung: Jan Fleischhauer (stellv.). Redaktion: Markus Dettmer, Oliver Gehrs, Christian Reiermann, Ulrich Schäfer 516 Fifth Avenue, Penthouse, New York, N Y 10036, Tel. (001212) Abonnenten-Service Schweiz: DER SPIEGEL, 2217583, Fax 3026258 AUSLAND Leitung: Dr. Olaf Ihlau, Fritjof Meyer, Hans Hoyng Postfach, 6002 Luzern, PARIS Dr. Romain Leick, Helmut Sorge, 1, rue de Berri, 75008 Telefon: (041) 3173399 Fax: (041) 3173389 (stellv.). Redaktion: Dieter Bednarz, Adel S. Elias, Manfred Ertel, Paris, Tel. 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(003906) Philip Bethge, Marco Evers, Dr. Renate Nimtz-Köster, Rainer Paul, 6797522, Fax 6797768 Inland: Zwölf Monate DM 260,– Matthias Schulz, Dr. Jürgen Scriba, Christian Wüst. Autoren, SAN FRANCISCO Rafaela von Bredow, 3782 Cesar Chavez Street, Studenten Inland: Zwölf Monate DM 182,– Reporter: Henry Glass, Dr. Hans Halter, Werner Harenberg Schweiz: Zwölf Monate sfr 260,– San Francisco, CA 94110, Tel. (001415) 6437550, Fax 6437530 KULTUR UND GESELLSCHAFT Leitung: Wolfgang Höbel, SINGAPUR Jürgen Kremb, 15, Fifth Avenue, Singapur 268779, Tel. Europa: Zwölf Monate DM 369,20 Dr. Mathias Schreiber. Redaktion: Susanne Beyer, Anke Dürr, Außerhalb Europas: Zwölf Monate DM 520,– (0065) 4677120, Fax 4675012 Nikolaus von Festenberg, Angela Gatterburg, Lothar Gorris, TOKIO Dr. Wieland Wagner, Chigasaki-Minami 1-3-5, Tsuzuki-ku, Halbjahresaufträge und befristete Abonnements Dr.Volker Hage, Dr. Jürgen Hohmeyer, Ulrike Knöfel, Dr. Joachim Yokohama 224, Tel. 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(00431) Großekathöfer, Jörg Kramer, Gerhard Pfeil, Michael Wulzinger 5331732, Fax 5331732-10 ✂ SONDERTHEMEN Dr. Rolf Rietzler; Heinz Höfl, Dr. Walter Knips SONDERTHEMEN GESTALTUNG Manfred Schniedenharn DOKUMENTATION Dr. Dieter Gessner, Dr. Hauke Janssen; Jörg- Abonnementsbestellung Hinrich Ahrens, Sigrid Behrend, Dr. Helmut Bott, Lisa Busch, PERSONALIEN Dr. Manfred Weber; Petra Kleinau bitte ausschneiden und im Briefumschlag senden an Heiko Buschke, Heinz Egleder, Dr. Herbert Enger, Johannes SPIEGEL-Verlag, Abonnenten-Service, CHEF VOM DIENST Horst Beckmann, Thomas Schäfer, Karl-Heinz Körner (stellv.), Holger Wolters (stellv.) Erasmus, Cordelia Freiwald, Silke Geister, Dr. Sabine Giehle, Postfach 10 58 40, 20039 Hamburg. Thorsten Hapke, Hartmut Heidler, Gesa Höppner, Stephanie Oder per Fax: (040) 3007-2898. SCHLUSSREDAKTION Rudolf Austenfeld, Reinhold Bussmann, Dieter Gellrich, Hermann Harms, Bianca Hunekuhl, Rolf Jochum, Hoffmann, Christa von Holtzapfel, Bertolt Hunger, Joachim Ich bestelle den SPIEGEL frei Haus für DM 5,– pro Katharina Lüken, Reimer Nagel, Dr. Karen Ortiz, Gero Richter- Immisch, Michael Jürgens, Ulrich Klötzer, Angela Köllisch, Anna Ausgabe mit dem Recht, jederzeit zu kündigen. Rethwisch, Hans-Eckhard Segner, Tapio Sirkka Kovac, Sonny Krauspe, Peter Kühn, Peter Lakemeier, Hannes Lamp, Zusätzlich erhalte ich den kulturSPIEGEL, das Marie-Odile Jonot-Langheim, Michael Lindner, Dr. Petra Ludwig- monatliche Programm-Magazin. BILDREDAKTION Michael Rabanus (verantwortlich für Innere Heft- Sidow, Rainer Lübbert, Sigrid Lüttich, Rainer Mehl, Ulrich Meier, gestaltung), Josef Csallos, Christiane Gehner; Werner Bartels, Gerhard Minich, Wolfhart Müller, Bernd Musa, Werner Nielsen, Das Geld für bezahlte, aber noch nicht gelieferte Manuela Cramer, Rüdiger Heinrich, Peter Hendricks, Maria Margret Nitsche, Thorsten Oltmer, Anna Petersen, Peter Philipp, Hoffmann, Antje Klein, Matthias Krug, Claudia Menzel, Peer Hefte bekomme ich zurück. Katja Ploch, Axel Pult, Ulrich Rambow, Thomas Riedel, Constanze Peters, Dilia Regnier, Monika Rick, Karin Weinberg,Anke Wellnitz. Bitte liefern Sie den SPIEGEL ab ______an: Sanders, Petra Santos, Maximilian Schäfer, Rolf G. Schierhorn, E-Mail: [email protected] Ekkehard Schmidt, Thomas Schmidt, Andrea Schumann-Eckert, GRAFIK Martin Brinker, Ludger Bollen; Cornelia Baumermann, Margret Spohn, Rainer Staudhammer,Anja Stehmann, Dr. Claudia Renata Biendarra, Tiina Hurme, Cornelia Pfauter, Julia Saur, Stodte, Stefan Storz, Rainer Szimm, Dr. Wilhelm Tappe, Dr. Name, Vorname des neuen Abonnenten Michael Walter, Stefan Wolff Eckart Teichert, Dr. Iris Timpke-Hamel, Heiner Ulrich, Hans-Jürgen LAYOUT Rainer Sennewald, Wolfgang Busching, Sebastian Raulf; Christel Basilon-Pooch, Katrin Bollmann, Regine Braun, Volker Vogt, Carsten Voigt, Peter Wahle, Ursula Wamser, Peter Wetter, Fensky, Ralf Geilhufe, Petra Gronau, Ria Henning, Barbara Rödi- Andrea Wilkens, Holger Wilkop, Karl-Henning Windelbandt Straße, Hausnummer ger, Doris Wilhelm, Reinhilde Wurst PRODUKTION Wolfgang Küster, Sabine Bodenhagen, Frank BÜRO DES HERAUSGEBERS Irma Nelles Schumann, Christiane Stauder, Petra Thormann, Michael Weiland INFORMATION Heinz P. Lohfeldt; Andreas M. Peets, Kirsten PLZ, Ort TITELBILD Thomas Bonnie; Maria Hoffmann, Stefan Kiefer, Oliver Peschke, Monika Zucht Wiedner, Peter Zobel KOORDINATION Katrin Klocke Ich möchte wie folgt bezahlen: REDAKTIONSVERTRETUNGEN DEUTSCHLAND LESER-SERVICE Catherine Stockinger BERLIN Friedrichstraße 79, 10117 Berlin; Deutsche Politik, SPIEGEL ONLINE (im Auftrag des SPIEGEL: a + i art and infor- ^ Zahlung nach Erhalt der Jahresrechnung Wirtschaft Tel. (030) 203875-00, Fax 203875-23; Deutschland, mation GmbH & Co.) ^ Ermächtigung zum Bankeinzug Kultur und Gesellschaft Tel. (030)203874-00, Fax 203874-12 Redaktion: Hans-Dieter Degler, Ulrich Booms von 1/4jährlich DM 65,– BONN Fritz-Erler-Str. 11, 53113 Bonn, Tel. (0228) 26703-0, Fax NACHRICHTENDIENSTE AP,dpa, Los Angeles Times / Washington 26703-20 Post, New York Times, Reuters, sid, Time DRESDEN Andreas Wassermann, Königsbrücker Straße 17, 01099 Dresden, Tel. (0351) 8020271, Fax 8020275 Nachdruck und Angebot in Lesezirkeln nur mit schriftlicher Bankleitzahl Konto-Nr. DÜSSELDORF Georg Bönisch, Frank Dohmen, Barbara Schmid- Genehmigung des Verlages. Das gilt auch für die Aufnahme in Schalenbach, Andrea Stuppe, Karlplatz 14/15, 40213 Düsseldorf, elektronische Datenbanken und Mailboxes sowie für Vervielfäl- Tel. (0211) 86679-01, Fax 86679-11 tigungen auf CD-Rom. ERFURT Almut Hielscher, Löberwallgraben 8, 99096 Erfurt, SPIEGEL-VERLAG RUDOLF AUGSTEIN GMBH & CO. KG Geldinstitut Tel. (0361) 37470-0, Fax 37470-20 FRANKFURT AM MAIN Dietmar Pieper; Wolfgang Bittner, Felix Verantwortlich für Vertrieb: Ove Saffe Kurz, Christoph Pauly, Wolfgang Johannes Reuter, Wilfried Verantwortlich für Anzeigen: Christian Schlottau Voigt, Oberlindau 80, 60323 Frankfurt am Main, Tel.(069) 9712680, Gültige Anzeigenpreisliste Nr. 53 vom 1. Januar 1999 Datum, Unterschrift des neuen Abonnenten Fax 97126820 Postbank AG Hamburg Nr. 7137-200 BLZ 200 100 20 HANNOVER Hans-Jörg Vehlewald, Rathenaustraße 12, 30159 Druck: Gruner Druck, Itzehoe Widerrufsrecht Hannover, Tel. (0511) 36726-0, Fax 3672620 KARLSRUHE Postfach 5669, 76038 Karlsruhe, Tel. (0721) 22737 VERLAGSLEITUNG Fried von Bismarck Diesen Auftrag kann ich innerhalb einer Woche MÜNCHEN Dinah Deckstein, Wolfgang Krach, Heiko Martens, MÄRKTE UND ERLÖSE Werner E. Klatten ab Bestellung schriftlich beim SPIEGEL-Verlag, Bettina Musall, Stuntzstraße 16, 81677 München, Tel. (089) 4180040, Abonnenten-Service, Postfach 10 58 40, 20039 Fax 41800425 GESCHÄFTSFÜHRUNG Rudolf Augstein, Karl Dietrich Seikel Hamburg, widerrufen. Zur Fristwahrung genügt die rechtzeitige Absendung. DER SPIEGEL (USPS No. 0154-520) is published weekly. The subscription price for the USA is $310 per annum. K.O.P.: German Language Publications, Inc., 153 South Dean Street, Englewood, NJ 07631. 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332 der spiegel 46/1999 Chronik 6. bis 12. November SPIEGEL TV

SAMSTAG, 6. 11. URTEIL Die Hooligans von Lens, die 1998 MONTAG den französischen Polizisten Daniel Nivel 23.00 – 23.30 UHR SAT 1 MONARCHIE In einem Referendum spre- halb tot schlugen, werden wegen schwe- SPIEGEL TV REPORTAGE chen sich 55 Prozent der Australier dafür rer Körperverletzung zu Haftstrafen bis aus, die britische Königin Elizabeth II. als zu zehn Jahren verurteilt. „Greif zur Kamera, Genosse“ – Staatsoberhaupt zu behalten. Die DDR im Amateurfilm EGYPTAIR Ein Untersee-Roboter birgt den KIRCHE Während seiner Indienreise for- Flugdatenschreiber der abgestürzten dert Papst Johannes Paul II. die Christia- Boeing 767. nisierung des Hindu-Staates ein. AMOK I Ein 15-jähriger Schüler in Meißen SONNTAG, 7. 11. tötet mit 22 Messerstichen seine Ge- schichtslehrerin. Tatmotiv: „Hass“. SPORT Außenminister Joschka Fischer und der österreichische Rechtspopulist AMOK II Aus verschmähter Liebe tötet ein Jörg Haider nehmen am Marathonlauf in türkischer Amokschütze in Bielefeld sie- New York teil. Fischer belegt Platz 8928. ben Personen und sich selbst.

MONTAG, 8. 11. MITTWOCH, 10. 11. SPIEGEL TV Amateurfilmer (1952) URTEILE Der Bundesgerichtshof bestätigt PALÄSTINA Israels Ministerpräsident Ehud die Verurteilung der ehemaligen DDR- Barak lässt einen Siedlungsaußenposten Wie fast alles in der DDR war auch das Funktionäre Krenz, Schabowski und im besetzten Westjordanland räumen. Schmalfilmhobby kollektiv organisiert. Kleiber zu mehrjährigen Haftstrafen. 300 extremistische Siedler leisten erbit- Einzelamateure hatten es schwer. Film- terten Widerstand. GESUNDHEIT Die CDU/CSU präsentiert kameras und Material waren teuer und ihren Gegenentwurf zur geplanten Ge- WIEDERGUTMACHUNG Die deutsche Indu- nur selten zu haben. Ob Einblicke in so- sundheitsreform der Regierungskoalition. strie weigert sich, ihr Vier-Milliarden- zialistische Tanz- und Nacktkörperkul- Kernpunkt: mehr Eigenbeteiligung der Mark-Angebot zur Entschädigung von tur,Weihnachten bei Familie Sindermann Patienten. NS-Zwangsarbeitern zu erhöhen. oder heimlich gedrehte Aufnahmen vom Abriss historischer Bauwerke: Die Pro- US-JUSTIZ Ein Gericht in Colorado stellt dukte aus fast 50 Jahren nichtoffizieller DIENSTAG, 9. 11. wegen eines Formfehlers das Verfahren Filmerei sind nicht frei von Propaganda BERLIN In Anwesenheit von George Bush gegen den elfjährigen Raoul Wüthrich und unfreiwilliger Komik, und doch ge- und Michail Gorbatschow begeht der ein, der des Inzests bezichtigt wurde. lang es hin und wieder, auch Missstände Bundestag den zehnten Jahrestag des zu dokumentieren. Mauerfalls. DONNERSTAG, 11. 11. STEUERN Die Regie- DONNERSTAG rungskoalition be- 22.05 – 23.00 UHR VOX schließt weitere Stufen SPIEGEL TV EXTRA der Ökosteuerreform. Mehr als 50 SPD-Ab- Zwischen Öchslegrad und Schunkelwahn geordnete stimmen – Weinlese in Deutschland nur aus Fraktionsdiszi- Eine Reportage über die Wahl zur Wein- plin zu. königin, die Arbeit der Winzer und die deutsche Gemütlichkeit bei Stimmungs- KARLSRUHE Das Bun- musik und Rebsaftschorle. desverfassungsgericht verfügt, bis 2005 den SAMSTAG Länderfinanzausgleich 22.10 – 23.15 UHR VOX von Grund auf neu zu regeln. SPIEGEL TV SPECIAL People’s Century – Das Jahrhundert FREITAG, 12. 11. Schöne neue Welt Der Kalte Krieg spaltet die Welt: Völker KATASTROPHE Ein neu- es, verheerendes Erd- werden auseinander gerissen, deportiert beben mit einer Stärke oder gezwungen, auf der „falschen“ Sei- von 7,2 auf der Rich- te des Eisernen Vorhangs zu leben. terskala zerstört die westtürkische Stadt SONNTAG Duzce. 22.40 – 23.30 UHR RTL RÜSTUNG Der Daimler- SPIEGEL TV MAGAZIN Chrysler-Konzern Die Panzer-Affäre – Neues vom Spen- kündigt – als Folge des denskandal der CDU; Tagebuch eines gekürzten Verteidi- frühen Todes – der Selbstmord des Dro- Flankiert von zwei Karnevals-Hostessen, lässt gungshaushalts – den genmädchens Julia; Die Autobahn der Al- Bayerns Ministerpräsident Edmund Stoiber Wegfall von 850 Ar- baner-Mafia – wie gestohlene deutsche seine Ernennung zum „Ritter des Ordens wi- beitsplätzen in Limousinen in Tirana landen. der den tierischen Ernst“ über sich ergehen. AP Deutschland an.

der spiegel 46/1999 333 Register

Gestorben schichte maßgeblich das Verhältnis von Kir- Primo Nebiolo, 76. Bis zuletzt war seine Ei- che und Staat mitge- telkeit gleichermaßen grotesk und unter- staltet. Prädestiniert haltsam. Mit maskenhaft starren Gesichts- durch seine Tätigkeit zügen verfolgte der Präsident des Interna- als Militärpfarrer in Po- tionalen Leichtathletik-Verbandes in der len und Frankreich Sommerhitze Sevillas die WM, und als er während des Zweiten zur Siegerehrung der US-Sprinterin Ma- Weltkriegs, führte er

rion Jones von der Ehrentribüne hinab ins EPD Mitte der fünfziger Stadioninnere stieg, waren sein Gang und Jahre, als er schon von seine Gestik längst von schleppender der EKD entsandter Bevollmächtigter bei Hilflosigkeit. Dennoch der Bundesregierung (1949 bis 1977) war, brüstete sich der Bau- die Verhandlungen über den Militärseel- unternehmer aus Turin: sorgevertrag. Von 1956 bis 1972 war Kunst Noch dreimal täglich der erste evangelische Militärbischof der könne er Sex machen. Bundeswehr. Sein Verhandlungsgeschick Mit seinem Sinn für setzte er auch gekonnt bei der Lösung hu- Show und Geschäft hat manitärer Probleme wie dem Häftlings- der Machtmensch, der freikauf und der Familienzusammenfüh- ganz verrückt darauf rung im geteilten Deutschland ein. Her- war, mit Orden behängt mann Kunst starb am 6. November.

G. BERNING / BONGARTS zu werden, die interna- tionale Leichtathletik in Theodore Hall, 74. Fast 40 Jahre lang leug- den 18 Jahren seiner Regentschaft in die to- nete er den Spionagevorwurf gegen ihn. Ge- tale Kommerzialisierung getrieben. Selbst rade 19-jährig, hatte der brillante Physiker IOC-Präsident Juan Antonio Samaranch und Harvard-Absolvent, der als jüngster kam nicht an dem „Genius des Bösen und Wissenschaftler in das unter oberster Ge- korrupten Verkäufer von Idealen“ („La Re- heimhaltungsstufe ste- pubblica“) vorbei – wegen „persönlicher hende Manhattan-Pro- Verdienste“ berief er ihn 1992 eigenmächtig jekt in Los Alamos in das IOC-Exekutiv-Komitee. Kritiker, berufen wurde, für die die dem Despoten Desinteresse an der Sowjetunion unter dem Bekämpfung des Dopingproblems anlaste- Codenamen „Mlad“ ten, kanzelte der Macho ab: „Ich bin kein spioniert. Der Idealist Pipi-Experte, ich bin Verbandspräsident.“ hielt ein US-Atomwaf- Primo Nebiolo erlag am 7. November in fen-Monopol für ge- Rom einem Herzinfarkt. fährlich und hat alles

getan, um es zu ver- AP Lester Bowie, 58. Er wirkte wie ein meiden. Obwohl das schwarzer Doktor Seltsam, wenn er im FBI ihn in den fünfziger Jahren wiederholt weißen Arztkittel die Bühne betrat – das vernommen hatte, war er nie angeklagt wor- Labor für seine Experimente: Spirituals, den. Erst als Mitte der Neunziger Botschaf- Märsche, Blues, Bebop, Soul, Reggae und ten sowjetischer Spione entschlüsselt wur- Rap wollte Bowie zu „great black music“ den, gab er nach und nach zu, daran betei- verschmelzen, in freier ligt gewesen zu sein.Theodore Hall, der seit Improvisation mit sei- Anfang der Sechziger an der Universität nen Freunden vom Art Cambridge als führender Wissenschaftler in Ensemble of Chicago der biologischen Forschung arbeitete, starb faszinierte und scho- am 1. November in Cambridge an Krebs. ckierte der Trompeter das Publikum mit Urteil schrillen Klängen und irrwitzigen Happe- Gerd Lüdemann, 53, evangelischer Theo- nings. Bowie hatte sein loge, muss weiter in dem von der Universität

Handwerk in Rhythm- ARCHIV JAZZ Göttingen eingerichteten Fach „Geschichte and-Blues-Bands ge- und Literatur des frühen Christentums“ leh- lernt, ehe er in den sechziger Jahren zu ei- ren. Das Göttinger Verwaltungsgericht hat ner Schlüsselfigur der afroamerikanischen seine beiden von ihm beantragten Anord- Jazz-Avantgarde aufstieg. Ironischerweise nungen gegen seine Versetzung abgelehnt. fand seine schwarze Musik in Europa mehr Lüdemann, der in einem „offenen Brief an Anerkennung als in den Vereinigten Staa- Jesus“ (SPIEGEL 11/1998) sämtliche protes- ten. Lester Bowie starb am vergangenen tantischen Grundüberzeugungen anzwei- Montag in New York an Krebs. felte, wollte erreichen, dass er seinen seit 1983 bestehenden Lehrstuhl für „Neues Hermann Kunst, 93. Der Kirchendiplo- Testament“ an der Theologischen Fakultät mat hat in der deutschen Nachkriegsge- Göttingen behalten darf.

334 der spiegel 46/1999 Werbeseite

Werbeseite Personalien

Joachim Kardinal Meisner, 65, Erz- bischof von Köln, und seine nordrhein- westfälischen Bischofskollegen fühlen sich durch einen Passus zur Frauenförde- rung in einem Hoch- schul-Gesetzentwurf der NRW-Landes- regierung diskrimi- niert. In einem Brief an Ministerpräsident Wolfgang Clement beschwerten sich die katholischen Wür- denträger darüber, dass bei der Vertei- lung von Haushalts- mitteln durch die Hochschul-Rektora- te auch Fortschritte bei der Gleichstel- lung von Männern

DPA und Frauen belohnt Meisner werden sollen. Bei der Priesterausbil- dung an den katholisch-theologischen Fa- kultäten, klagten die Kirchenmänner, sei

die „Einführung von Frauenquoten“ aber JEREMY / CORBIS SYGMA „nicht umsetzbar“. Frauenquoten verbö- Banderas, Griffith ten sich schon deshalb, erläuterten sie dem Ministerpräsidenten ihr Dilemma, weil Melanie Griffith, 42, amerikanische Schauspielerin („Celebrity“, „Crazy in Alaba- „die Priesteramtskandidaten in der Regel ma“), hat ihr Altersproblem auf Kosten ihres derzeitigen Ehemanns, des spanischen von Priestern ausgebildet werden sollen“. Regisseurs Antonio Banderas, 39, gelöst. Die paar Falten, die ihr das Alter ins Ge- sicht geschlagen hat, machten ihr rein gar nichts aus, sagt sie, „denn ich fühle mich Wolfgang Clement, 59, SPD-Minister- wie 18“. So lange sie das glauben könne, werde es ihr wahrscheinlich auch immer präsident von Nordrhein-Westfalen, steht gut gehen. „In derselben Minute, in der ich realisiere, dass ich 42 bin, werde ich zu- fest – und überzeugend – zu seinem Land. sammenbrechen“, gesteht die Aktrice, die sich im Lauf ihrer über 20-jährigen Hol- Am Vorabend des 9. November trifft Cle- lywood-Karriere von der Lolita zum Vamp entwickelte. Ihren Ehemann interessie- ment in der Berliner Bonn-Nostalgie-Knei- ren ihre Altersgeschichten „herzlich wenig“. Banderas, drei Jahre jünger als Griffith, pe „Ständige Vertretung“ auf den Inten- bekümmere mehr sein eigenes Aussehen, denn er glaube, er sei in den vergangenen danten des Westdeutschen Rundfunks drei Jahren übermäßig gealtert: „Seine Mutter“, so berichtet Griffith, „hat ihm ge- Köln, Fritz Pleitgen, 61. „Mensch, ’ne sagt, in Spanien heiße es, dass ich jetzt jünger aussehe als er. Da war er total fertig.“ tolle Stimmung hier in Berlin“, begrüßt der Rundfunkmann den Landesherrn. „Diese Gigantomanie hier und nur heiße diese ganzen Schaumschläger.“ Pleitgen Günter Schabowski, 70, früheres Polit- Luft“, widerspricht Clement. Wo denn in zögert, dann: „Nun ja, wissen Sie, wir neh- büromitglied und wegen der Todesschüsse Berlin die Arbeitsplätze seien, die Unter- men uns auch keine Wohnung in Berlin. an der Mauer rechtskräftig verurteilt, söhnt nehmen, die hier investieren? Selbst die Das stimmt schon mit NRW.“ sich mit dem westlichen wie östlichen Klas- Bauwirtschaft gehe bald senfeind von einst aus. Der wieder nach Hause. Pleit- ehemalige SED-Mann, der gen: „Na ja, hier in Mitte mit einem Halbsatz am 9. mit , da November 1989 den ersten sind schon Arbeitsplätze.“ Anstoß zur Maueröffnung „Ach Quatsch, Herr Pleit- gab, wirbt nicht nur für die gen“, hält der nordrhein- „Frankfurter Allgemeine“ westfälische Ministerpräsi- per Anzeige, auch mit här- dent dagegen, „nun mal testen Gegnern des SED- wirklich, Sie und der WDR Regimes kommt er inzwi- stecken die hier doch nun schen klar. „Stellen Sie mal alle in die Tasche. Bei sich mal vor“, entfuhr es uns in NRW ist so viel dem Ex-Bonzen, als er am Arbeitskräfte-Potenzial in 9. November auf einem den neuen Medienberei- Empfang dem Ex-Dissi- chen, da ist das hier in Ba- denten Ralf Hirsch begeg- belsberg und so doch gar nete, „der Herr Bundes- nix. Schauen Sie mal auf kanzler hat mir die Hand

die Zahlen, die sprechen OSSENBRINK F. geschüttelt – so kurz, be- nur für NRW und nicht für Pleitgen, Clement vor ick in’ Knast muss“.

336 der spiegel 46/1999 Darauf Hirsch, ohne vorherigen Hände- „Man darf nicht einmal eine Wasserspritz- druck des damaligen DDR-Staatschefs pistole mit in die Schule bringen“, so der Honecker über zwei Jahre in DDR-Haft, Direktor, „warum sollten wir dann ein Bild gnädig: „Mir reicht das Urteil. Meinet- mit einem Artilleriegeschütz zeigen?“ wegen bräuchten Sie nicht hinter Gitter.“ Elizabeth II., 73, Königin von Großbri- Charles Pasqua, 72, französischer Ex- tannien, beeindruckt ihre Untertanen mit Innenminister und erbitterter EU-Feind, Sparsamkeit. Die Herrscherin, nach Mei- schockte die Millionengemeinde der blau- nung der britischen Modedesignerin Vi- weiß-roten Radsportfans mit einem unge- vienne Westwood stets „phantastisch ge- heuerlichen Ansinnen. Der urgaullistische kleidet“, hatte bei ihrem Staatsbesuch in Senator, der seinen einstigen Spezi Jacques Ghana vergangene Woche einen trium- Chirac seit dessen Einzug in den Elysée-Palast für einen euro-infi- zierten Verräter an der nationa- len Größe hält, will der nächsten „Tour de France“ den Titel ab- erkennen. Sie soll, um den „Ver- lust der nationalen Identität im gesamteuropäischen Brei“ zu ver- deutlichen, zur „Tour d’Europe“ herabgestuft werden. Grund: die Veranstalter hätten sich ihrer Pflicht entledigt, durch „diesen großen Wettbewerb die Franzo- sen – ich als Erster – ihre Pro-

vinzen wieder entdecken zu las- DPA sen“. Stattdessen verscheuerten Elizabeth II. in Ghana sie Etappen wie „Exportartikel“ ins Ausland – nach England, Belgien und phalen Empfang. Rund 1,5 Millionen Irland wird die nächste Tour auch in Ghanaer säumten die Straßen. Doch Deutschland und der Schweiz rollen. während ihres Besuchs zeigte sich die Queen in einem Kleid, das sie, eine der Samantha Jones, 17, Absolventin der reichsten Frauen der Welt, bei wenigstens High School in Nevis, US-Staat Minneso- drei offiziellen Terminen schon mal getra- ta, ist Opfer rigider Sicherheitsmaßnah- gen hat: einen geblümten Hänger mit lan- men nach den tödlichen Schüssen an ame- gen Ärmeln. Man könne der Königin indes rikanischen Schulen. Für das Jahrbuch der „keineswegs Phantasielosigkeit“ unter- Schule hatte die künftige Soldatin ein Foto stellen, urteilte das Boulevardblatt „Mir- eingereicht, das die Schulabgängerin auf ror“. Mit immer wechselnden Accessoires einer Haubitze sitzend zeigt. Die Schullei- verstehe sie es, ihr altes Kleid überzeu- tung lehnte den Abdruck des Fotos ab. gend zu verändern. Ein königlicher Mitar- beiter zur Kleiderordnung der Queen: „Da gibt es eine gewisse Wiederholung. Sie glaubt, dass man nichts vergeuden solle, auch nicht Kleidungsstücke.“

Sergej Awdejew, 43, russischer Kosmo- naut, hat während seines 748 Tage dauern- den Aufenthalts in der Raumstation „Mir“ seine Schachkenntnisse verbessert. Nach endlosen Wochen der Langeweile bestell- te Awdejew Anfang des Jahres in der Bo- denstation ein Schachprogramm, das mit einem Transportflug angeliefert wurde. Das Programm „Fritz“ aus der Hamburger Software-Schmiede Chessbase vertrieb, wie erst jetzt bekannt wurde, auf einem gleichfalls mitgelieferten Fujitsu-Notebook installiert, den Männern im Orbit die Zeit. Als Awdejew und seine Kollegen die schrottreife „Mir“ am 27.August verließen, nahmen sie das Notebook mit. „Fritz“ blieb an Bord der Station, die demnächst

AP zum Absturz gebracht wird.

Jones 337 Hohlspiegel Rückspiegel

Aus der „Hannoverschen Allgemeinen Zei- Zitate tung“: „Rund die Hälfte der Bundesbürger sterben jährlich an Herz-Kreislauf-Versa- Das Branchenblatt „Werben & gen, knapp eine Million im Jahr an akutem Verkaufen“ über die erste Ausgabe von Herzinfarkt, immerhin fünfzig Prozent in „SPIEGEL-Reporter – Monatsmagazin den ersten dreißig Tagen nach dem Infarkt.“ für Reportage, Essay, Interview“:

Beim Inhalt sind sich unsere Titeltester so einig wie selten zuvor: Es macht Spaß, das Heft zu lesen. PR-Profi Moritz Hunzinger spricht von „Leseschmaus“, (Blattmache- rin Gabriele –d. Red.) Fischer meint: „Die Edelfedertexte sind zum überwiegenden Aus der „Computerwoche“ Teil wunderbar.“ RWE-Öffentlichkeitschef Dieter Schweer hat „endlich einmal neue journalistische Ansätze“ entdeckt: „SPIE- GEL-Reporter erfüllt alle Ansprüche, die der Titel verspricht.“ Was Werber Holger Jung unterstreicht. Er findet, die „span- nende Themenmischung“ und ihre Aufbe- reitung passe „perfekt auf den Marken- anspruch der Marke SPIEGEL“. Medien- Aus dem „Südkurier“ berater Hans Lauber lobt: „Ein großer Wurf“. Und Alexander Demuth schwärmt: „Endlich mal etwas für Gourmets, endlich Aus der Fernsehzeitschrift „Hörzu“: „Erst- ein innovatives Konzept nach langem mals stellen Frauen mehr als die Hälfte der Herumbasteln. Das Heft bietet Lesestoff Abiturientinnen …“ und Bildmaterial, das einen vergessen macht, dass es Fernsehen gibt.“ HMS/Ca- rat-Geschäftsführer Heinrich Kernebeck spricht von „hoffnungsfrohem Ansatz“ und „hervorragender stilistischer Qua- lität“.

Das „Liechtensteiner Volksblatt“ zum SPIEGEL-Bericht „Liechtenstein – Aus der „Westdeutschen Allgemeinen “ Einladung zur Geldwäsche“, wie der Zwergstaat das Geld von Mafia, Drogenkartellen und Aus der Zeitung „Reformiert“ zu einer Le- russischen Großkriminellen anzieht seraktion: „Und: Bitte legen Sie ein Foto (Nr. 45/1999): von sich bei – möglichst kein Passfoto, son- dern ein Foto, auf dem das Gesicht gut zu Langsam, aber sicher nimmt die SPIEGEL- erkennen ist.“ Affaire komische Konturen an. Knapp eine Woche nach Bekanntwerden des Berichtes über unser Land im SPIEGEL weiß die Re- gierung angeblich immer noch nicht, ob es dieses Dossier gibt oder nicht. Sowohl der Regierungschef als auch die Außenministe- rin windeten sich an der Pressekonferenz, damit sie auf konkrete Fragen keine kon- kreten Antworten geben mussten.Auch der Aus der „Nordwest Zeitung“ deutsche Botschafter in Bern konnte sich nur so aus der Affaire ziehen, indem er immer wieder auf die gute Zusammenar- beit zwischen den beiden Staaten bezüg- lich Geldwäsche verwies. Die Schuld an der Affaire wird von allen Seiten dem SPIE- GEL zugeschoben. Nur ein Ablenkungsma- növer? Weiß die Regierung mehr, als sie sagt? Es stellt sich die Frage, weshalb so- Aus „Bild der Frau“ wohl vom Botschafter als auch von der Re- gierung keine klaren Antworten zum Dos- sier abgegeben werden … Weshalb spricht Deutschland nicht Klartext in Sachen Dos- sier? Tatsache ist: Falls es das Dossier nicht gäbe, hätte Deutschland schon lange de- Aus „Die Zeit“ mentiert.

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