AUGUST H. LEUGERS-SCHERZBERG

HERBERT WEHNER UND DER RÜCKTRITT WILLY BRANDTS AM 7. MAI 19741

Am 24. April 1974 wurde der persönliche Referent von Bundeskanzler , Günter Guillaume, unter Spionageverdacht verhaftet. Bei seiner Festnahme gab er sich als Offizier der Nationalen Volksarmee und damit als Mitarbeiter des Ministeri­ ums für Staatssicherheit (MfS) zu erkennen. Damit konnte es keinen Zweifel mehr darüber geben, dass Guillaume für die DDR spioniert hatte. Am 7. Mai trat Willy Brandt vom Amt des Bundeskanzlers zurück. Wie es in den Tagen zwischen dem 24. April und dem 7. Mai zum Rücktritt Brandts kam, gehört zu den umstrittensten Fragen der deutschen Nachkriegsgeschichte2. Nicht zuletzt Brandt selbst gab dem Verdacht Nahrung, dass im Umfeld seines Rücktritts nicht alles mit rechten Dingen zugegangen sei. Hatte er unmittelbar nach seinem Rücktritt kategorisch bestritten, dass Wehner ihn aus dem Amt gedrängt habe, so revidierte er diese Behauptung in seinen 1989 erschienenen „Erinnerungen". In diesem Zusam­ menhang hielt er insbesondere fest: „Auch Briefe und Nachrichten, die in den Tagen um meinen Rücktritt aus Ostberlin eingingen, wurden mir vorenthalten."3 Seine „Notizen zum Fall G."- in den Monaten nach seinem Rücktritt 1974 niedergeschrie­ ben, aber erst anderthalb Jahre nach seinem Tode im Frühjahr 1994 veröffentlicht - verstärkten den Verdacht gegen Wehner. Darin erklärte Brandt, dass die Rolle Weh­ ners bei seinem Rücktritt „[v]on zentraler Bedeutung" gewesen sei, und merkte dazu an: „Gibt es Zus[ammen]hang mit Hon[ecker]-Kontakten? Jedenfalls gibt es Briefe, die mir vorenthalten wurden. Von H[elmut] S[chmidt] bestätigt. Hat ,die andere Seite' mit vergiftenden Berichten gespielt?"4 Mitte der neunziger Jahre sind erbitterte öffentliche Auseinandersetzungen da­ rüber geführt worden, ob und inwieweit Wehner Brandts Sturz systematisch - ja

1 Schriftliche Fassung meiner Antrittsvorlesung an der Universität Essen vom 23. 5. 2001. 2 Vgl. dazu immer noch grundlegend Arnulf Baring, Machtwechsel. Die Ära Brandt-Scheel, Stutt­ gart 1982, S. 722-762; ferner Wolfgang Jäger, Die Innenpolitik der sozial-liberalen Koalition 1969-1974, in: Karl Dietrich Bracher/Wolfgang Jäger/Werner Link, Die Ära Brandt 1969-1974, Stuttgart 1986, S. 117-126; Heinrich August Winkler, Der lange Weg nach Westen, Bd. 2: Deutsche Geschichte vom „Dritten Reich" bis zur Wiedervereinigung, München 2000, S. 315-324. Eine knappe, im wesentlichen sich an Barings „Machtwechsel" anschließende Darstellung jetzt auch bei Gregor Schöllgen, Willy Brandt. Die Biographie, Berlin 2001, S. 201-215. 3 Willy Brandt, Erinnerungen, 4., erw. Aufl., Frankfurt a.M./Berlin 1992, S. 315-329, Zitat S. 329. 4 Willy Brandt, Notizen zum Fall G., abgedruckt in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 26.1. 1994.

VfZ 50 (2002) ® Oldenbourg 2002 304 August H. Leugers-Scherzberg sogar mit Hilfe östlicher Geheimdienste - betrieben habe5. Klarheit brachten diese Debatten nicht. Gewissermaßen als Nebeneffekt wurde allerdings eine Reihe neuer Quellen entweder vollständig oder zumindest in wesentlichen Teilen in der Presse veröffentlicht6. Darunter befanden sich auch Dokumente, die bis heute der amtli­ chen Geheimhaltungspflicht unterliegen und die der historischen Wissenschaft sonst nicht zugänglich wären. So wurden im Februar 1994 in der Münchner Wochenzei­ tung „Focus" Teile der streng geheim gehaltenen Ermittlungsakten des Bundeskrimi­ nalamtes zum Fall Guillaume veröffentlicht7, die für den Rücktritt Brandts von zen­ traler Bedeutung waren. Diese Quellentexte ermöglichen, zusammen mit anderen Aktenüberlieferungen, den Entscheidungsprozess in der Regierungskrise vom Mai 1974 deutlicher als bisher nachzuzeichnen. So dienten letztlich auch die Auseinan­ dersetzungen über Wehner, wie Timothy Garton Ash im Frühjahr 1994 treffend bemerkte, dazu, „mehr wirklich neue Dokumente und Tatsachen ans Licht" zu brin­ gen. „Diese Dokumente können wir dann einer ruhigen, sorgfältigen und differen­ zierten Analyse unterziehen."8 Um die umstrittene Rolle Wehners beim Rücktritt Brandts näher bestimmen zu können9, muss zunächst der Entscheidungsprozess während der Regierungskrise im

5 Die zu Beginn des Bundestagswahljahres 1994 wochenlang geführte „Wehner-Debatte" entzün­ dete sich an der Behauptung von Brigitte Seebacher-Brandt, dass Willy Brandt über die Äußerung eines „politischen Weggefährten" nicht überrascht gewesen sei, dass Wehner „bis zu seinem Aus­ scheiden aus der Politik auch die Sache ,der anderen Seite'" betrieben habe. Vgl. Ralf Georg Reuth, Brandt war von Wehners Kontakten nicht überrascht, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 17.1. 1994, und Béla Anda, Willy Brandts Geheim-Notizen: Wehner ein Spion?, in: Bild vom 17. 1. 1994. Der Streit um Wehner lebte anlässlich der Veröffentlichung der Memoiren des ehema­ ligen DDR-Geheimdienst-Chefs Markus Wolf, Spionagechef im geheimen Krieg. Erinnerungen, München 1997, wieder auf und gipfelte in dem Vorwurf, Wehner sei ein „Hochverräter" gewesen, vgl. Bild vom 21. 5. 1997. 6 Neben Willy Brandts „Notizen zum Fall G.", die am 26. 1. 1994 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vollständig abgedruckt wurden, handelt es sich dabei insbesondere um das Schreiben Weh­ ners an Honecker vom 2. 12. 1973, z. T. abgedruckt in der Frankfurter Rundschau vom 22. 1. 1994 und im General-Anzeiger vom 24. 1. 1994; um das Schreiben Wehners an vom 15. 6. 1974, abgedruckt in der Frankfurter Rundschau und der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 22. 1. 1994 und im General-Anzeiger vom 24. 1. 1994; den Lagebericht des MfS vom 13. 5. 1974 über die Reaktion der DDR-Bevölkerung auf den Rücktritt Willy Brandts, abgedruckt in der Frankfurter Rundschau vom 25. 2. 1994; sowie die Analyse von Boris Ponomarjow über sein Gespräch mit Wehner in Moskau im Oktober 1973, auszugsweise zit. bei Ulrich Völklein, Neue Dokumente zum Fall Wehner, in: Stern Nr. 6. vom 3. 2. 1994. 7 Herold an Genscher vom 30.4. 1974, auszugsweise abgedruckt in: Focus Nr. 7 vom 14.2. 1994, S.24, und Herold an Buback vom 14.5. 1974 mit anliegendem Aktenvermerk vom 2.5. 1974, auszugsweise veröffentlicht in: Ebenda, S. 24 f. Die Namen der in den Dokumenten genann­ ten Privatpersonen wurden dabei geändert. 8 Timothy Garton Ash, Was bedeuten die Willy-Brandt-Papiere?, in: Frankfurter Allgemeine Zei­ tung vom 26. 1. 1994. 9 Erste Versuche, aus dem Dickicht der Legendenbildung zu einer differenzierteren Einschätzung der Rolle Wehners zu kommen, wurden in Alfred Freudenhammer/Karlheinz Vater, Herbert Weh­ ner. Ein Leben mit der deutschen Frage, München 1978, S. 261-264, und Wayne C.Thompson, The Political Odyssey of Herbert Wehner, Boulder u.a. 1993, S. 347-365, unternommen; ferner in dem Teil „Die Nacht von Münstereifel" des zweiteiligen Doku-Dramas von Heinrich Breloer Herbert Wehner und der Rücktritt Willy Brandts am 7. 5. 1974 305 Mai 1974 rekonstruiert werden. Dabei muss auch auf die in den vergangenen Jahren in der Presse veröffentlichten Quellen zurückgegriffen werden. Darüber hinaus konnten hier auch Archivalien aus dem Nachlass Herbert Wehners10 ausgewertet werden, die seine Position in der Regierungskrise vom Mai 1974 erkennen lassen.

I.

Die Ermittlungen, die nach der Verhaftung Guillaumes einsetzten, offenbarten ekla­ tante Pannen des Verfassungsschutzes und des Innenministeriums. Der dringende Verdacht gegen Guillaume hatte schon seit über einem Jahr bestanden. Ende Mai 1973 war auch Willy Brandt von Innenminister Hans-Dietrich Genscher darüber informiert worden. Dennoch riet man Brandt, Guillaume in seiner Stellung zu belas­ sen, um weiteres Belastungsmaterial gegen ihn sammeln zu können. Insbesondere wurde Brandt auch gebeten, Guillaume - wie vorgesehen - im Sommer 1973 mit in seinen Urlaub nach Norwegen zu nehmen, ohne allerdings dafür zu sorgen, dass er observiert wurde. Dabei gehörte es auch zu den Aufgaben Guillaumes, vertrauliche und geheime Telegramme des Kanzlers zu übermitteln, so dass in Norwegen NATO-Dokumente von höchster Geheimhaltungsstufe unkontrolliert durch seine Hände gingen. Dem Kanzler waren die Versäumnisse im „Fall Guillaume" nicht anzulasten. Ver­ fassungsschutz und Innenministerium hatten versagt. Hatte Brandt zunächst die politische Dimension des Agentenfalls unterschätzt11, hegte er schon bald erste Gedanken an einen Rücktritt. Bereits am Nachmittag des 29. April, als die Ermitt­ lungen noch ganz am Anfang standen, fragte er Wehner, ob er nach dessen Einschät­ zung die Affäre durchstehen werde, und am Abend erklärte er gegenüber und Kanzleramtsminister Horst Grabert, dass er seine eigene Verantwortung im Fall Guillaume zu übernehmen habe12. Auch im Kreis der engeren Koalitions-

„Wehner. Die unerzählte Geschichte", das am 31.3. 1993 in der ARD erstmalig ausgestrahlt wurde. 10 Bevor der Nachlass Wehner im Sommer 1996 zur archivarischen Aufbereitung vollständig an das Archiv der sozialen Demokratie (künftig: AdsD) in abgeliefert wurde, konnten von mir in den Jahren 1993 - 1996 große Teile des Nachlasses Wehner zur Vorbereitung meiner Habilitations­ schrift (Die Wandlungen des Herbert Wehner. Von der Volksfront zur Großen Koalition, Berlin 2002) in Wehners Wohnhaus in Bonn-Bad Godesberg eingesehen werden. Der archivarische Fun­ dort von Dokumenten, die im Zuge dieser Recherchen ausgewertet wurden, wird im folgenden mit Privatarchiv (künftig: PA) Wehner angeben. Dokumente, die im AdsD aus dem inzwischen archivarisch aufgearbeiteten Teil des Nachlasses Wehner eingesehen wurden, werden nach dem Archivfundort AdsD, Nachlass (NL) Wehner zitiert. 11 Vgl. Brandt, Notizen zum Fall G.; vgl. auch Horst Ehmke, Mittendrin. Von der Großen Koalition zur Deutschen Einheit, Berlin 1994, S.240. 12 Vgl. Brandt, Notizen zum Fall G. Vgl. zum Gespräch am 29.4. 1974 auch Ehmke, Mittendrin, S. 240 f.: „Erst in diesem Gespräch wurde Brandt sich der Schwere des Vorgangs und seiner möglichen Folgen bewußt. [...] Brandt dachte zum ersten Mal an Rücktritt. Für diesen Fall müsse Helmut Schmidt übernehmen. Noch wolle er aber kämpfen." 306 August H. Leugers-Scherzberg spitze äußerte Brandt am darauffolgenden Tag, dass er seine eigene Verantwortung zu prüfen habe, sowohl hinsichtlich der Einstellung Guillaumes als auch seiner Wei­ terverwendung seit dem Frühsommer 197313. Wahrend Brandts Gedanken noch um diese Fragen kreisten, wurde er mit einer Seite des Agentenfalls konfrontiert, die nicht seine politische Verantwortung betraf, sondern seine persönliche Lebensführung. Auf der Suche nach politisch brisanten Informationen, die der Spion an Ostberlin weitergegeben haben könnte, stieß das Bundeskriminalamt darauf, in welchem Ausmaß Guillaume Einblick in das Privatle­ ben Brandts gehabt hatte. Der Leiter der Leibwächtergarde Brandts hatte den Ermittlern beiläufig mitgeteilt, dass er selbst früher die Aufgabe gehabt habe, „dem Kanzler ,Frauen zuzuführen'"14. Diese Aufgabe habe seit einiger Zeit Guillaume übernommen. Da Guillaume sich weigerte, dazu auszusagen, wurden die Leibwäch­ ter Brandts vernommen. Unter dem Zwang, umfassend aussagen zu müssen, bestä­ tigten die Sicherheitsbeamten, dass zunächst der Leiter der Sicherungsgruppe Bonn und schließlich Guillaume die Aufgabe wahrnahmen, „dem Kanzler Frauen zu ver­ schaffen"15. Das seien Journalistinnen, aber auch Zufallsbekanntschaften, ja sogar Prostituierte gewesen. Die Ermittlungsergebnisse fasste der Präsident des Bundeskri­ minalamtes, Horst Herold, am 30. April 1974 in einem Schreiben an Genscher dahingehend zusammen, „daß Guillaume u. U. erpresserisches Wissen über den Kanzler besitzen könne"16. Die Brisanz dieser Mitteilungen war den Ermittlern bewusst. Justizminister Ger­ hard Jahn, der ebenfalls in Kenntnis gesetzt wurde, informierte am 30. April Brandt, der dazu später in seinen „Notizen zum Fall G." schrieb: „Bevor ich 15.45 nach Saarbrücken flog, kam Jahn besorgt zu einem kurzen Gespräch: Er habe aus der B[undes]anwaltschaft andeutungsweise gehört, G[uillaume] könne mir ,Mädchen zugeführt' haben. Ich sagte Jahn, dies sei lächerlich. Er könne dem betr. Bundesan­ walt sagen, wegen dieser ,Vermutung' ließe ich mir zusätzlich keine grauen Haare wachsen."17 Herolds Schreiben vom 30. April wurde und wird bis heute wie ein Staatsgeheim­ nis ersten Ranges behandelt18. Klaus Kinkel, damals persönlicher Referent Gen­ schers, überbrachte Brandt am 1. Mai das Schreiben in einem verschlossenen Umschlag. Brandt, der ja von Jahn schon vorinformiert war, nahm den Inhalt in Anwesenheit von Kanzleramtsminister Grabert zur Kenntnis. Daraufhin wurde das

13 Vgl. Brandt, Notizen zum Fall G. 14 Focus Nr. 7 vom 14. 2. 1994, S. 18. 15 Herold an Buback vom 14. 5. 1974 mit anliegendem Aktenvermerk vom 2. 5. 1974 (wie Anm. 7). 16 Herold an Genscher vom 30. 4. 1974 (wie Anm. 7). 17 Brandt, Notizen zum Fall G. 18 Das Schreiben Herolds an Genscher vom 30. 4. 1974, das nur aufgrund von Indiskretion auszugs­ weise veröffentlicht wurde, gehört noch heute zu den Verschlusssachen. Brandt, Erinnerungen S. 324, erwähnt, dass einige Jahre nach seinem Rücktritt „einem Fernsehjournalisten, der einen Film über den Fall Guillaume plante, ein Schriftstück in die Hände gespielt [wurde], das längst hätte dem Reißwolf überantwortet sein müssen." Möglicherweise handelt es sich dabei um diesel­ ben Dokumente, die der Focus 1994 veröffentlichte. Herbert Wehner und der Rücktritt Willy Brandts am 7. 5. 1974 307 Schreiben wieder verschlossen und an Genscher zurückbefördert. In einem anschlie­ ßenden Telefonat riet Genscher Brandt dringend, sich mit Generalbundesanwalt Siegfried Buback in Verbindung zu setzen und die in Herolds Bericht erwähnten Details gegebenenfalls zu korrigieren. Brandt ging darauf nicht ein und zog es statt­ dessen vor, Justizminister Jahn anzurufen und mit ihm und Buback einen Termin für den 6. Mai, also erst fünf Tage später, auszumachen19. Am 2. Mai wurde Brandts Leibwächter Bauhaus nach Bonn zurückgerufen und nochmals eingehend vernommen20. Am selben Tag erstellte Herold einen umfassen­ den Aktenvermerk21. Während Herold in seinem Schreiben an Genscher nur allge­ mein und zurückhaltend die „Frauengeschichten" des Kanzlers beschrieben hatte, listete er in seinem Aktenvermerk vom 2. Mai detailliert die Aussagen der Sicher­ heitsbeamten zum Thema „Frauengeschichten des Kanzlers" auf. Hier wurden zahl­ reiche Namen genannt und die festgestellten Sachverhalte ausführlich beschrieben, darunter auch eine Geschichte von einem „liegen gebliebenen Collier", das später noch eine wichtige Rolle spielen sollte. Am 3. Mai unterrichtete Herold den Verfassungsschutzpräsidenten Günther Nol- lau über die Aussagen der Leibwächter. Beide kamen überein, dass Wehner als Sicherheitsbeauftragter und Kontaktmann der SPD zu den Nachrichtendiensten über den Stand der Ermittlungen informiert werden müsse, damit er Brandt den Ernst der Lage vor Augen führe, und ihn gegebenenfalls zum Rücktritt auffordern könne. Nollau rief bei Wehners an, erhielt unverzüglich einen Termin und war bin­ nen einer dreiviertel Stunde auf dem Bonner Heiderhof. Nachdem Nollau Wehner umfassend Bericht erstattet und auch kein Hehl daraus gemacht hatte, dass er den Rücktritt des Kanzlers für notwendig hielt, bestellte Wehner den damaligen Bundes­ geschäftsführer der SPD, Holger Börner, zu sich und setzte ihn ins Bild. Er kündigte Börner gegenüber an, dass er am kommenden Tag eine Tagung in Bad Münstereifel nutzen werde, um mit Brandt über den Bericht Herolds zu sprechen22. Aus dieser Darstellung wird deutlich, dass alle unmittelbar Beteiligten - bis auf Brandt selbst - den Aussagen der Sicherheitsbeamten ein hohes politisches Gewicht beimaßen und unverzüglich tätig wurden, um die zu erwartende Regierungskrise in den Griff zu bekommen. Nur Brandt schob die Angelegenheit auf die lange Bank. Zudem wird ein Sachverhalt deutlich, der bisher immer übersehen wurde. Als Weh­ ner und Brandt am 4. Mai in Bad Münstereifel ihre später berühmt gewordene Unterredung führten, verfügten beide über einen unterschiedlichen Wissensstand. Brandt hatte am 1. Mai Herolds Brief an Genscher zur Kenntnis genommen, besaß davon aber nicht einmal eine Kopie. Dem Rat Genschers, sich umfassender zu infor­ mieren, war er nicht nachgekommen. Wehner dagegen wurde am 3. Mai offenbar weitaus detaillierter über die Leibwächteraussagen informiert, wie sie dem Aktenver-

19 Vgl. Brandt, Notizen zum Fall G. 20 Vgl. ebenda. 21 Herold an Buback vom 14. 5. 1974 mit anliegendem Aktenvermerk vom 2. 5. 1974 (wie Anm. 7). 22 Vgl. Baring, Machtwechsel, S. 748 f.; Freudenhammer/Vater, Wehner, S. 262 f.; Thompson, Wehner, S. 349 f. 308 August H. Leugers-Scherzberg merk Herolds vom 2. Mai entsprachen. So kam es in der Unterredung zwischen Brandt und Wehner am 4. Mai zu eklatanten Missverständnissen. Die Zusammenkunft der SPD-Spitze am 4./5. Mai in der Tagungsstätte der Fried- rich-Ebert-Stiftung in Bad Münstereifel war seit langer Zeit geplant. Der Anlass war ein Treffen mit Gewerkschaftsführern, bei dem angesichts der Konjunkturkrise des Jahres 1974 intern ein offener Meinungsaustausch geführt werden sollte23. Noch vor seiner Abreise nach Bad Münstereifel wurde Brandt von Börner darüber informiert, dass Wehner vorhabe, den Kanzler in Bad Münstereifel persönlich auf „Nollaus Bericht" anzusprechen24. So kam es gegen 19.30 Uhr zu einem etwa einstündigen Vieraugengespräch zwischen Wehner und Brandt. Zunächst ging Brandt dabei auf seine Pläne zur Regierungsumbildung ein, die er am Abend zuvor mit und Günter Gaus auf dem Venusberg besprochen hatte. Brandt dachte daran, die für die Guillaume-Affäre Verantwortlichen - For­ schungsminister Horst Ehmke, der seinerzeit als Kanzleramtsminister für die Ein­ stellung Guillaumes zuständig war, Innenminister Genscher, der Brandt nur unzurei­ chend über die Verdachtsmomente gegen den Spion informiert hatte, und Günther Nollau, der als Verfassungsschutzpräsident die permanente Beschattung des Ver­ dächtigen vernachlässigt hatte - zu entlassen. Egon Bahr sollte den glücklosen Kanz­ leramtsminister Grabert ablösen und Günter Gaus zum neuen Regierungssprecher ernannt werden25. Brandt legte Wehner auch die im Fall Guillaume von ihm „zu übernehmenden Verantwortlichkeiten dar, einschließl[ich] der durch Jahn bzw. Gen­ scher (Herold) angedeuteten Vorgänge"26. Hier hakte Wehner, wie Brandt sich erin­ nerte, ein und „sprach von einer 'besonders schmerzlichen Nachricht', die er mir zu überbringen gehabt haben würde, wäre ich nicht selbst auf die diversen Aspekte ein­ gegangen". Wehner erwähnte einen „ca. 10-seitigen Bericht und ,Damenbekannt- schaften', der mindestens 11 Personen bekannt sei, einschl[ießlich] Gui[llaume]". Dazu bezog er selbst keine Stellung, erwähnte aber, dass Nollau den Rücktritt Brandts empfehle, da „die Möglichkeit von Erpressung auch nach einem späteren Austausch Gui[llaumes] gegeben" sei27. Wehner selbst erklärte später, dass er Brandt jede nur denkbare Unterstützung zugesagt habe, wenn er bereit sei, die Krise durch­ zustehen. „Du mußt wissen und entscheiden, was jetzt zu tun ist. [...] Ich stehe zu Dir, das weißt Du - aber es wird hart werden." Innerhalb von 24 Stunden müsse er sich entscheiden. Dies war ein „Ultimatum" und von Wehner auch als ein Ultima­ tum gedacht28.

23 Hartmut Soell gewährte mir dankenswerterweise Einsicht in die Aufzeichnungen Helmut Schmidts über die Besprechung Brandts mit Gewerkschaftsvertretern am 4./5. 5. 1974 in Bad Münstereifel, die angesichts der Kritik der Gewerkschafter an der Regierungspolitik für Brandt äußerst deprimierend war. 24 Vgl. Baring, Machtwechsel, S. 749. 25 Vgl. Nr. 37 vom 9. 9. 1974, S. 22 f. 26 Brandt, Notizen zum Fall G. 27 Ebenda. 28 Baring, Machtwechsel, S. 750. Herbert Wehner und der Rücktritt Willy Brandts am 7. 5. 1974 309 Der neuralgische Punkt in der Unterredung waren die Sachverhalte, die Brandts Leibwächter in den Verhören beim BKA zu Protokoll gegeben hatten. Da Brandt selbst auf diese Dinge einging, musste Wehner annehmen, dass Brandt bereits umfas­ send unterrichtet sei. Wehner machte daher im Verlauf des Gesprächs eine Anspie­ lung auf das „liegen gebliebene Collier", die Brandt jedoch falsch verstand. Denn seit dem Herbst 1973 gab es in Bonn ein Gerücht, das besagte, nach einem Treffen von Brandt und der Journalistin Wibke Bruhns sei in einem Hotel ein Halsband lie­ gen geblieben, das vom Hotelpersonal gefunden wurde und von einem Sicherheits­ beamten an Wibke Bruhns zurückgebracht werden musste. Dies war offenbar falsch und von Wibke Bruhns bereits dementiert worden29. Als Wehner das Collier erwähnte, dachte Brandt sofort an das Gerücht um Wibke Bruhns. Tatsächlich aber hatte ein Sicherheitsbeamter, auf die Angelegenheit mit dem Col­ lier angesprochen, etwas anderes ausgesagt, nämlich „daß dies sich schon vor länge­ rer Zeit und sicherlich vor dem Auftreten Guillaumes zugetragen habe. Er habe morgens im Bett des Kanzlers ein Collier gefunden und dies dem Kanzler gemeldet. Dieser habe sodann aus der Brusttasche eine Visitenkarte gezogen und gesagt: ,Erle- digen Sie das.' Auf der Visitenkarte sei der Name einer 19jährigen Stewardeß der Luftfahrtgesellschaft Condor verzeichnet gewesen. Diese habe den Kanzler am Abend zuvor in der Bar angehimmelt. Der Kanzler habe mit ihr getanzt und sie anschließend mit auf das Zimmer genommen."30 Auch andere Anspielungen Wehners ordnete Brandt offenbar falsch ein. Brandt behauptete später, Wehner habe in der Unterredung die Namen von zwei Frauen genannt. Dies bestritt Wehner im „Spiegel" und bemerkte dazu, „das sei auch nicht nötig gewesen, Brandt habe über die Vernehmungsprotokolle ja Bescheid gewußt"31. Aber genau das war das Problem. Wehner kannte den Inhalt der Vernehmungsproto­ kolle, Brandt jedoch nur Umrisse davon. Wehner konnte die Brisanz der Informatio­ nen abschätzen, Brandt hingegen weigerte sich, sich mit dem auseinander zu setzen, was in den Vernehmungen über seine angeblichen Liebesbeziehungen zu Protokoll gegeben worden war. Brandt scheint nicht einmal wahrgenommen zu haben, dass Wehner sich auf die Vernehmungsprotokolle der Sicherheitsbeamten bezog. Denn am Morgen des 6. Mai stellte Brandt es gegenüber Klaus Harpprecht so dar, dass Wehner sich auf ein „Dossier von Nollau", also auf Erkenntnisse des Verfassungs­ schutzes, gestützt habe. Nollau habe dieses Material sammeln lassen und Wehner übergeben. Brandt wähnte sich daher als Opfer einer Intrige des Verfassungsschut­ zes. Die Quintessenz, die Harpprecht aus dem Gespräch mit Brandt zog, lautete daher mit Blick auf das Bundesamt für Verfassungsschutz: „unter der Decke des Rechtsstaates und unter der Decke der Demokratie herrschen Dienste, beeinflussen Politik, bestimmen das Schicksal von Menschen mit, die jeder öffentlichen Kontrolle

29 Brandt, Notizen zum Fall G.; vgl. dazu Brandt, Erinnerungen, S. 320. 30 Herold an Buback vom 14. 5. 1974 mit anliegendem Aktenvermerk vom 2. 5. 1974 (wie Anm. 7). 31 Der Spiegel Nr. 37 vom 9. 9. 1974, S. 24. 310 August H. Leugers-Scherzberg entzogen sind"32. Dies war eine geradezu abenteuerliche Fehleinschätzung der tat­ sächlichen Situation. Es ist klar, wo der eigentliche Fehler zu suchen ist. Brandt hätte sich, wie ihm Genscher schon am 1. Mai geraten hatte, umfassend über den Stand der Ermittlun­ gen informieren müssen, um Dichtung und Wahrheit in den Aussagen seiner Leib­ wächter sofort auseinander zu halten. So bezeichnete Brandt zwar stets den Inhalt der Ermittlungsakten als „Produkt blühendster Phantasie"33, klärte aber die Zusam­ menhänge nie auf. Stattdessen verbreiteten sich, von den Vernehmungen der Leib­ wächter ausgehend, Gerüchte, die schon bald nicht mehr unter Kontrolle zu bringen waren. Informationen, deren Ursprung Brandt nicht kannte, gelangten an die Öffentlichkeit, so etwa die Formulierung, Guillaume habe dem Kanzler „Mädchen zugeführt". Wie seine „Notizen zum Fall G." belegen, war Brandt nicht bewusst, dass dies eine Formulierung war, die sein Leibwächter im Verhör zu Protokoll gege­ ben hatte. Stattdessen wunderte sich Brandt, dass diese Formulierung „nach dem 6.5. in Zeitungen auftauchte, z. B. im Stern" und mutmaßte ein Komplott: „Wer hat dies lanciert bzw. gesteuert."34

II.

Dass Brandt nicht richtig zuhörte und dazu neigte, politisch heikle Entscheidungen vor sich herzuschieben, war für Wehner nichts Neues. In den Briefen, die Wehner seiner Ehefrau Lotte schrieb, beklagte er sich immer wieder darüber. Beispielhaft dafür ist ein Bericht, den Wehner seiner Frau über eine mündlich übermittelte Bot­ schaft Erich Honeckers gab, die er Brandt am 18. September 1973 vorgetragen hatte: „Brandt habe ich heute in einer halben Stunde vorgelesen, was ich gestern von mei­ nem Besucher gehört und mitgeschrieben hatte: jeder Satz ein Grund zu gründlichen Überlegungen, aber es ist, als schriebe man in Wasser. [...] Über alles wird wegge­ glitten, Hauptsache, man hat Unangenehmes oder Forderndes für den ,Moment' vom Halse. Irgendeine ,Prozedur' findet sich immer, mit der sich solches auf- oder abschieben läßt."35 Aber nicht der Eindruck der geistigen Abwesenheit, den Brandt vermittelte, war für Wehner der Kernpunkt seiner Kritik am Kanzler, sondern die Ostpolitik der Regierung nach dem Wahlsieg vom November 1972 und dem Abschluss des Grund­ lagenvertrags mit der DDR im Dezember 1972. Nachdem Wehner im Frühjahr 1973 zunächst intern Kritik an der Untätigkeit der Regierung geäußert hatte, ergriff er die Initiative und reiste Ende Mai 1973 zu einem Treffen mit nach Ost­ berlin. Das Zusammentreffen mit dem SED-Chef sollte ostpolitischen Signalcharak-

32 Klaus Harpprecht, Im Kanzleramt. Tagebuch der Jahre mit Willy Brandt, Berlin 2000, S. 546. 33 Brandt, Erinnerungen, S. 320. 34 Brandt, Notizen zum Fall G. 35 Wehner an Lotte vom 18. 9. 1973 (Kopie), in: PA Wehner. Herbert Wehner und der Rücktritt Willy Brandts am 7. 5. 1974 311 ter haben und die Deutschlandpolitik aus der Stagnation herausführen36. Der Erfolg Wehners war jedoch begrenzt. Auch nach seinem Treffen mit Honecker fand er an der Ostpolitik der Regierung viel Tadelnswertes. Teile der Regierungskoalition gefährdeten nach seiner Einschätzung fahrlässig, wenn nicht sogar mutwillig die Fortsetzung der Entspannungspolitik. Dazu zählte für Wehner die Frage nach der konsularischen Vertretung juristischer Personen aus Westberlin, insbesondere der konsularischen Betreuung Westberliner Gerichte durch die Bundesrepublik. Nachdem der Gewaltverzichts- und Grenzvertrag mit der CSSR am 20. Juni 1973 paraphiert worden war, versuchte das Auswärtige Amt, die Zuständigkeit der konsularischen Dienste der Bundesrepublik Deutschland bei Rechtshilfeersuchen juristischer Personen mit Sitz in West-Berlin noch nachträg­ lich im Vertrag mit Prag festzuschreiben und damit ein Präjudiz zu schaffen. Die Volksrepublik Polen hatte sich in der Vergangenheit geweigert, solche Rechtshilfeersu­ chen, die über die konsularischen Dienste der Bundesrepublik geleitet wurden, entge­ genzunehmen. Im Viermächte-Abkommen über Berlin war lediglich die konsularische Vertretung von Personen aus West-Berlin durch die Bundesrepublik vereinbart wor­ den, ohne die juristischen Personen ausdrücklich mit einzubeziehen. Das Auswärtige Amt berief sich nun auf die Wiener Konsularkonvention, nach der die Einbeziehung juristischer Personen gedeckt war. Die UdSSR als Signatarmacht des Berlin-Abkom­ mens hatte aber die Wiener Konvention nicht unterzeichnet. Am Streitpunkt der kon­ sularischen Vertretung juristischer Personen aus West-Berlin scheiterte schließlich die für Anfang September 1973 geplante Unterzeichnung des Prager Vertrags37. Wehner hielt den Kurs des Auswärtigen Amtes für verfehlt. Er lehnte es ab, die Vertragsver­ handlungen mit Prag dazu zu benutzen, die Rechtsauffassung des Auswärtigen Amtes im Verkehr mit den Staaten des Ostblocks durchzusetzen, zumal die Westmächte als Signatarmächte des Berlin-Abkommens sich weigerten, zur Frage der Vertretung juristischer Personen aus West-Berlin Stellung zu nehmen38. Auch Egon Bahrs Vorschlag, den Sitz des Bundesumweltamtes nach Berlin zu legen, hielt Wehner für einen sinnlosen Akt der Provokation39. Bahr musste aus sei­ nen Verhandlungen mit der DDR doch wissen, dass es Ost-Berlin darauf ankam, die Bundespräsenz in West-Berlin weitgehend abzubauen40. Trotzdem wandte sich Bahr

36 Vgl. Baring, Machtwechsel, S. 608 ff.; Klaus Wiegrefe/Carsten Tessmer, Deutschlandpolitik in der Krise. Herbert Wehners Besuch in der DDR 1973, in: Deutschland Archiv 27 (1994), S. 600-627. 37 Vgl. dazu Archiv der Gegenwart XLIII (1973), 14. 8. 1973, S. 18107; 23. 8. 1973, S. 18125; 11. 9. 1973, S. 18171. Vgl. dazu auch Werner Link, Außen- und Deutschlandpolitik in der Ära Brandt 1969-1974, in: Bracher/Jäger/Link, Die Ära Brandt 1969-1974, S. 193-282, bes. S. 229 ff. Eine Kompromissformel über die Gewährung von Rechtshilfe für Westberliner Gerichte wurde schließ­ lich Anfang November 1973 in den Verhandlungen zwischen Bundesaußenminister Scheel und dem sowjetischen Außenminister Gromyko gefunden; vgl. Archiv der Gegenwart, 5.11. 1973, S. 18296. 38 Aufzeichnung von Eugen Selbmann über „Gespräch Herbert Wehner mit Herrn Poljanow", 30.9. 1973, Hotel Sowjetskaja, 17 Uhr, in: PA Wehner. 35 Aufzeichnung von Eugen Selbmann über „Gespräch Herbert Wehner mit Ponomarjow", 1.10. 1973 im Haus des Obersten Sowjet, 11.30 Uhr, in: PA Wehner. 40 Vgl. Link, Außen- und Deutschlandpolitik, S.219. 312 August H. Leugers-Scherzberg Mitte Juni 1973 mit dem Vorschlag an Innenminister Genscher: „Wie ich höre, wird zurzeit überlegt, in welcher Stadt das neu zu schaffende Umweltamt aufgebaut wer­ den soll. Ich möchte dafür Berlin vorschlagen. [...] Die Materie ist schließlich nicht geeignet, von der DDR etwa als Provokation hochstilisiert zu werden."41 Unter dem Eindruck der Kritik der Opposition an den Ostverträgen - so Wehners Einschätzung - wurden einzelne untergeordnete Fragen hochgespielt und künstliche Konfrontationen mit den osteuropäischen Ländern geschaffen. Wehner sah darin eine Gefahr. Durch eine schleichende außenpolitische Eskalation würde die entspan­ nungspolitische Position der SPD im Innern geschwächt, während nationalistische Kräfte in der Bundesrepublik sich ermutigt fühlen konnten. Zugleich fürchtete er, dass eine von der Bundesrepublik ausgehende Konfrontationspolitik die Gegner der Entspannungspolitik in Ost und West stärken und so den KSZE-Prozess in Gefahr bringen könne42. Solch weitreichende politisch-strategische Überlegungen bildeten die Grundlage für Wehners Agieren in den Jahren 1973 und 1974. Sein Zusammentreffen mit Erich Honecker am 30./31.Mai 1973 hatte neben der innenpolitischen Signalwirkung auch den Zweck, zu Honecker einen direkten Verhandlungskontakt aufzubauen, über den sensible Fragen zunächst unverbindlich vorsondiert werden konnten. Die regelmäßi­ gen Treffen Wehners mit dem Ostberliner Rechtsanwalt Wolfgang Vogel, die offiziell dem Gefangenenfreikauf und der Familienzusammenführung dienten, wurden auch zu einem umfassenden Informationskanal zwischen Bonn und Ostberlin ausgebaut. Als Erich Honecker über diesen Kanal in den Monaten bis September 1973 seine Vorstellungen einer künftigen Entspannungspolitik zwischen den beiden deutschen Staaten übermittelte, fand dies, wie erwähnt, zum Entsetzen Wehners bei Willy Brandt kaum ein Echo. Im September 1973 begann Wehner deshalb, die Ostpolitik der Regierung öffent­ lich zu kritisieren. In der ARD-Sendung „Bericht aus Bonn" äußerte er am 14. Sep­ tember, dass in den Verhandlungen mit der CSSR das Berlin-Abkommen „überstra­ paziert" worden sei und es dabei an dem nötigen „Fingerspitzengefühl" gemangelt habe43. Wehner ging davon aus, dass bereits diese zurückhaltende Kritik ein starkes Echo in der Presse auslösen werde. Seiner Frau Lotte schrieb er noch vor Ausstrah­ lung der Sendung: „Die ,Springers' werden sich daran scheuern wie die Wild­ schweine am Eichbaum."44 Als die gewünschte Resonanz jedoch ausblieb, wurde Wehner am 21. September in einem Interview für den Norddeutschen und Westdeut­ schen Rundfunk noch deutlicher. Er warf der Regierung vor, „alte Politik mit neuen Verträgen" machen zu wollen, und verwies darauf, dass die Probleme, die das Ber-

41 Bahr an Innenminister Genscher vom 19. 6. 1973 (Kopie), in: PA Wehner. 42 Aufzeichnung „Gespräch Herbert Wehner mit Ponomarjow" (wie Anm. 39). 43 Fernseh-Interview Wehners mit Ernst Dieter Lueg für die ARD-Sendung „Bericht aus Bonn" vom 14. 9. 1973, in: SPD-Pressemitteilungen und Informationen Nr. 294 vom 14. 9. 1973. 44 Wehner an Lotte vom 14. 9. 1973, abends (Kopie), in: PA Wehner. Herbert Wehner und der Rücktritt Willy Brandts am 7. 5. 1974 313 lin-Abkommen aufwarf, von den Vier Mächten und nicht von der Bundesregierung in der Auseinandersetzung mit der CSSR zu lösen seien45. Von der Ausstrahlung die­ ses Interviews am 22. September erwartete er nun - wie er seiner Frau Lotte anver­ traute - einen „vielstimmigen Chor [...], zunächst in der ,Sonntagspresse' und dann weiter"46. Doch auch in diesem Fall war die Resonanz für Wehner enttäuschend. Dies war die Situation, in der er am 24. September mit einer Bundestagsdelegation nach Moskau aufbrach, wo er in seiner Kritik an der Regierung noch einen Schritt weiterging, wohlwissend was er damit riskierte. Als am 23. September in der Sonntagspresse sein Rundfunkinterview vom Vortag unkommentiert geblieben war, schrieb er vormittags an Lotte: „Wenn ich mich nicht täusche, habe ich innerlich auch schon die Schwelle dessen überschritten, was nach der Reise sowohl auf mich zukommt als auch von mir aufgenommen werden muß und wird."47 Abends fügte er dem noch hinzu: „Aber ich bin entschlossen zu sagen, was ist, soweit ich's eben beurteilen kann; ich werde mich nicht in die Gesellschaft derer begeben, die mehr oder weniger gezwungen-heiter so tun, als ob sich alles noch einschleimen oder glätten lasse. (In solcher Verfassung ist W[illy] B[randt] heute offensichtlich nach New York zur UNO geflogen, [.. .])."48 Wehner nutzte schon die Ankunft in Moskau zu der Äußerung, dass die Regie­ rung in der Berlin-Frage „ein wenig überzogen" habe, und fand damit die erhoffte Publizität49. In den folgenden Tagen überschlugen sich die Meldungen über Wehners Kritik an der Berlin-Politik der Regierung im Zusammenhang mit dem Prager Ver­ trag und dem Plan, das Bundesumweltamt nach Berlin zu legen50. In den USA lösten Wehners Äußerungen, wie ihm ein befreundeter amerikanischer Journalisten berich­ tete, ,,"ein[en] ziemliche[n] Wirbel" aus51. Brandt brach daraufhin seine USA-Reise ab und kehrte noch vor Wehner am 30. September nach Bonn zurück. Am Vormit­ tag des 2. Oktober kam es dann zu einer Unterredung zwischen Wehner und Brandt, über die Wehner seiner Frau Lotte lakonisch schrieb: „Brandt wirkte verstimmt und abweisend."52 Die Briefe Wehners an seine Frau Lotte spiegeln wider, dass Wehner in den ersten Tagen nach seiner Rückkehr aus Moskau zwar eine tiefe Verstimmung Brandts wahrnahm, sie auch nachvollziehen konnte, aber nicht davon ausging, dass sie dauerhaft anhalten werde, schon gar nicht zu einem endgültigen Zerwürfnis füh-

45 Rundfunk-Interview Wehners mit Jürgen Kellermeier für die Sendung „Die Woche in Bonn" von WDR 1 und NDR 1 vom 22.9. 1993, in: SPD-Pressemitteilungen und Informationen Nr. 305 vom 22. 9. 1973. Das Interview wurde am 21. 9. aufgezeichnet. 46 Wehner an Lotte vom 21. 9. 1973, abends (Kopie) in: PA Wehner. 47 Wehner an Lotte vom 23. 9. 1973, vormittags (Kopie), in: Ebenda. 48 Wehner an Lotte vom 23. 9. 1973, abends (Kopie), in: Ebenda. 49 „Parlamentarier aus Bonn in Moskau. Wehner: Berlin-Frage ein wenig überzogen", in: Rhein-Sieg- Anzeiger vom 25. 9. 1973; vgl dazu auch Baring, Machtwechsel, S. 616-620. 50 Vgl. „Verstimmung über Wehners Alleingang", in: Frankfurter Rundschau vom 28. 9. 1973, und „Wehner bleibt in wichtigen Fragen auf Kollisionskurs mit der Regierung", in: Frankfurter Allge­ meine Zeitung vom 29. 9. 1973. 51 David Binder an Wehner, datiert Washington D. C. am 1. 10. 1973 (Kopie), in: PA Wehner. 52 Wehner an Lotte vom 2. 10. 1973, abends (Kopie), in: Ebenda. 314 August H. Leugers-Scherzberg ren könne. Als Horst Ehmke nach der Parteivorstandssitzung am 5. Oktober Weh­ ner mit der Frage konfrontierte: „Du kannst nicht mit ihm, er kann nicht mit Dir, wie soll es weitergehen?" stufte Wehner dies als substanzloses Gerede ein. Seiner Frau schrieb er: „Fast vergeblich versuchte ich, dagegen klarzumachen, daß ich zum Beispiel den sowjetischen Gesprächspartnern in Moskau eindringlich dargelegt habe, es gebe keinen, der besser wäre als Brandt und sie mögen nicht dazu beitragen, ihn zu beschädigen. Seine [Ehmkes] Formeln kamen immer wieder, obwohl ich ihm sagte, daß ich Brandt weder verdrängen, noch mich ihm aufdrängen wolle."53 Auch gelang es Wehner, sich nach seiner Rückkehr aus Moskau in den Führungs­ gremien der SPD mit seiner sachlichen Kritik an der Ostpolitik weitgehend durch­ zusetzen. Selbst Brandt und Egon Bahr konzedierten, dass das Viermächteabkom­ men „gelegentlich (rhetorisch) strapaziert" worden sei54. Als am 8. Oktober ein Arti­ kel im „Spiegel" Wehners Kritik am persönlichen Regierungsstil Brandts in den Vordergrund rückte, führte dies ebenfalls nicht zu einer Verschlechterung des Ver­ hältnisses zwischen Weimer und Brandt. Im Gegenteil: Wehner bestritt, den darin zitierten Satz „Was der Regierung fehlt ist ein Kopf" gebraucht zu haben und erhielt vom „Spiegel"-Korrespondenten Hermann Schreiber die Bestätigung, dass dieser Satz tatsächlich aus dem Zusammenhang gerissen worden war. Brandt dementierte, dass er mit Bezug auf Wehner den im „Spiegel" zitierten Satz „Der Kerl ist zu knip­ sen" gebraucht habe55. Am 9. Oktober konnte Wehner seiner Frau Lotte schließlich berichten: „Im heutigen Mittagskoalitionsgespräch beim B[undes]k[anzler] gab es keine Verstimmung mehr."56 Bisher ist völlig übersehen worden, dass es nicht die öffentlichen und öffentlich bekannt gewordenen Äußerungen Wehners in Moskau waren, die in der Folgezeit das Verhältnis Brandts zu Wehner nachhaltig trübten, sondern Informationen, die Brandt von Egon Bahr über den Inhalt der Gespräche Wehners in Moskau erhielt. Wehner hatte in Moskau, insbesondere gegenüber dem ZK-Sekretär Boris Ponomar- jow, hervorgehoben, dass es keine Alternative zur Kanzlerschaft Brandts gebe. Die SPD, so Wehner, habe seit der letzten Bundestagswahl kontinuierlich an Rückhalt in der Bevölkerung verloren. Ausgenommen davon sei jedoch die Person Willy Brandts. Nur dieser könne den Erfolg der sozialliberalen Koalition garantieren und den Fortgang der Entspannungspolitik sicherstellen57. Bei aller Kritik an der Ostpo­ litik der Regierung Brandt im Herbst 1973 - ein Sturz Brandts lief den Interessen Wehners diametral entgegen. Dass Wehner sich in seinen Unterredungen mit sowjetischen Regierungs- und Par­ teivertretern so eindeutig für Brandt ausgesprochen hatte, behauptete nicht nur Wehner nach seiner Rückkehr in seinem Gespräch mit Horst Ehmke und in seinen

53 Wehner an Lotte vom 5. 10. 1973, abends (Kopie), in: Ebenda. 54 Baring, Machtwechsel, S. 622. 55 Wehner an Lotte vom 8., 9. und 16. 10. 1973 (Kopien), in: PA Wehner; vgl. auch Baring, Machtwechsel, S. 619. 56 Wehner an Lotte vom 9. 10. 1973 (Kopie), in: PA Wehner. 57 Aufzeichnung „Gespräch Herbert Wehner mit Ponomarjow" (wie Anm. 39). Herbert Wehner und der Rücktritt Willy Brandts am 7. 5. 1974 315 Berichten an Brandt. Auch Boris Ponomarjow strich in seinem diesbezüglichen Bericht für die Führung der KPdSU heraus, dass Wehner hervorgehoben habe, „daß die Autorität Brandts äußerst groß sei und es jetzt im politischen Geschehen der BRD niemanden gebe, der besser sein könnte als er"58. Willy Brandt wurde jedoch von Egon Bahr über Wehners Gespräch mit Ponomar­ jow anders unterrichtet. Bahr deutet in seinen Memoiren nur an, was er Brandt dar­ über mitgeteilt hat59. Es dürfte aber dem entsprechen, was sein Gewährsmann Wjat- scheslaw Keworkow in anderem Zusammenhang niedergeschrieben hat. Demnach soll Wehner gegenüber Ponomarjow erklärt haben, „Bundeskanzler Willy Brandt sei als Politiker am Ende, habe in der Partei keinerlei Ansehen mehr, trinke viel und sei ein rechter Schürzenjäger. Nach Wehners Worten teile auch Honecker diese Mei­ nung. Zu ihm unterhalte er ständig vertrauliche Kontakte. Beide wunderten sich, weshalb man in Moskau auf diesen politischen Leichnam' setze."60 Brandt war verständlicherweise außer sich, als ihm dies von Bahr mitgeteilt wurde. Bahr berichtet darüber in seinen Memoiren: „Selten habe ich Brandt so erregt erlebt. Er bebte vor Wut. Jetzt ist es genug. Er oder ich'."61 Wie aber kam es dazu, dass Bahr diese offenbar falsche Version der Geschichte erzählte? Egon Bahr unterhielt seit Ende 1969 im Auftrag Brandts einen angeblich geheimen Informati­ onskanal zum sowjetischen Staats- und Parteichef Leonid Breschnew. Tatsächlich lief dieser „geheime Kanal", wie nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion bekannt wurde, über zwei Mitarbeiter des KGB und den KGB-Chef Jurij W. Andropow, der die Informationen an Breschnew weiterleitete und seine Mitarbeiter anwies, welche Informationen über Bahr an Brandt zu geben waren62. Wehner hatte sich in seinen Gesprächen in Moskau nun nicht nur nachhaltig für Brandt eingesetzt, sondern auch diesen „geheimen Kanal" Egon Bahrs heftig attackiert. Seine Gesprächspartner hatten sich verwundert gezeigt, dass die Bundesregierung seit geraumer Zeit einen ostpolitischen Konfrontationskurs verfolgte. Wehner hatte dar­ aufhin dem 1. stellvertretenden Chefredakteur der Iswestia, Nikolai Poljanow, erklärt, „W[illy] B[randt] müsse einen direkten Draht zu L[eonid] Br[eschnew] haben."63 Dies musste seltsam klingen, existierte doch der „geheime Kanal" Egon

58 Analyse von Boris Ponomarjow über sein Gespräch mit Wehner, zit. bei Ulrich Völklein (wie Anm. 6). 59 Egon Bahr, Zu meiner Zeit, München 1996, S. 440: „Beim Besuch seines alten Chefs, Boris Pono­ marjow, Leiter der internationalen Abteilung im ZK-Apparat, mußte [Wehner] sich schlimmer, ausführlicher geäußert haben." 60 Wjatscheslaw Keworkow, Der geheime Kanal. Moskau, der KGB und die Bonner Ostpolitik, Ber­ lin 1995, S. 162; Bahr, Zu meiner Zeit, S. 440: „Die Mitteilungen des ,Kanals' gipfelten in der Beur­ teilung: ,Der ist ein Verräter.'" 61 Bahr, Zu meiner Zeit, S. 440. 62 Vgl. dazu eingehend Keworkow, Der geheime Kanal; ferner den Vermerk Willy Brandts vom 18.6. 1992 über ein Gespräch mit Valentin Falin am 31.3. 1992 (Kopie im Besitz des Verf.), in dem Brandt von Falin erstmals darüber aufgeklärt wurde, dass es sich bei dem „geheimen Kanal" um eine Geheimdienstverbindung gehandelt habe; vgl. dazu auch Der Spiegel Nr. 4 vom 23.1. 1995, S. 18-22. 63 Aufzeichnung „Gespräch Herbert Wehner mit Herrn Poljanow" (wie Anm. 38). 316 August H. Leugers-Scherzberg Bahrs, der genau diese Aufgabe erfüllen sollte. Doch Wehner bekräftigte noch ein­ mal: „Ein direkter Draht muß hergestellt werden." Und er erläuterte: „Es genüge nicht mit Egon B[ahr] zu sprechen. Daraus habe sich ergeben, daß W[illy] B[randt] meine, es gehe alles gut. [...] W[illy] B[randt] schwebe in großen Höhen, daher sei es wichtig, daß er direkt angesprochen wird."64 Wehners Kritik richtete sich also zum einen gegen die Mittlerrolle Egon Bahrs. Er zog dessen Auffassung in Zweifel, dass der „Schlüssel zur deutschen Frage" in Mos­ kau liege, und lehnte erst recht die daraus resultierende Konzentration der Ostpolitik auf die Sowjetunion ab. Dies, so Wehners Überzeugung, führe nur dazu, die Hegemo- nialstellung der Sowjetunion im Ostblock zu verstärken. Stattdessen setzte Wehner auf den kontinuierlichen Ausbau der Beziehungen zu allen osteuropäischen Ländern, besonders auch zur DDR, in der Hoffnung, dadurch auf Dauer die Blockbindungen lockern zu können65. Gerade durch seine Mittlerrolle zur sowjetischen Führung hatte Bahr aber einen erheblichen Einfluss auf die Ostpolitik Brandts. Die Kritik am „gehei­ men Kanal" zielte daher zunächst darauf ab, den Einfluss Bahrs zu beschneiden. Zugleich stellte Wehner damit aber auch die Konstruktion des „geheimen Kanals" überhaupt in Frage, der alles andere als ein direkter Informationskanal zu Leonid Breschnew war. Wie aus Wjatscheslaw Keworkows Darstellung hervorgeht, war KGB-Chef Andropow derjenige, der die Informationspolitik dieses „back Channels" leitete66. Für Andropow bot dieser „Kanal" die Möglichkeit, direkt Einfluss auf die deutsch-sowjetischen Beziehungen zu nehmen. Wehners Angriff auf den „geheimen Kanal" bedrohte damit Andropows Stellung in den Beziehungen zwischen Bonn und Moskau. Andropow dürfte über Wehners Attacke unmittelbar unterrichtet wor­ den sein, denn Poljanow war mit einem der beiden KGB-Mitarbeiter, die den ständi­ gen Kontakt zu Egon Bahr unterhielten, befreundet und war darüber hinaus selbst Mitarbeiter des KGB67. So ist es nicht verwunderlich, dass Brandt über den „geheimen Kanal" die Geschichte vom angeblichen Verrat Wehners präsentiert wurde. Wehner war für Andropow zu einem Störfaktor geworden, den es zu beseitigen galt. Deutlich wird die Desinformationsstrategie des KGB angesichts der Tatsache, dass die SED, die über die Parteiverbindungen und nicht vom KGB einen Bericht über die Unterre­ dung Wehners mit Ponomarjow erhielt, eine unverfälschte Fassung bekam, in der die Unterstützung Wehners für Brandt deutlich zum Ausdruck kam68. Schließlich kam es aber auch Bahr gelegen, dass die Informationen aus Moskau erheblichen Zweifel an der Loyalität Wehners aufkommen ließen. Dass der Frakti­ onsvorsitzende der SPD seit dem Frühjahr 1973 seine eigene Nebenaußenpolitik

64 Ebenda. 65 Vgl. dazu Leugers-Scherzberg, Die Wandlungen des Herbert Wehner. 66 Vgl. Keworkow, Der geheime Kanal. 67 „In Moskau hatte Herbert Wehner Kontakt zum KGB" aus der Illustrierten Quick [September 1973]. Undatierte Kopie des Artikels mit Unterstreichungen Wehners in: PA Wehner. 68 Vgl. Ulrich Völklein, Neue Dokumente zum Fall Weimer, in: Stern Nr. 6. vom 3. 2. 1994. Herbert Wehner und der Rücktritt Willy Brandts am 7. 5, 1974 317 trieb, war für Bahr ein unhaltbarer Zustand, der so schnell wie möglich beseitigt werden musste69. Damit waren für den Versuch Andropows, Wehner zu stürzen, die besten Voraussetzungen gegeben. Bahr erhielt über den „geheimen Kanal" in den Monaten nach Wehners Moskau-Besuch bis zu Willy Brandts Rücktritt laufend Informationen über Wehners Verhandlungen mit Erich Honecker, die nicht mit den Berichten übereinstimmten, die Wehner für Brandt schrieb70. So notierte Brandt auch in seinen „Notizen zum Fall G." unter dem 6. Mai, dass es vor und während der Regierungskrise „mir gegenüber verheimlichte Kontakte mit Ostberlin gegeben" habe. ,,E[gon] B[ahr] brachte am 6.5. in Erfahrung: in den vorangeg[angenen] Tagen habe es zwischen H[erbert] W[ehner] + Hon[ecker] mehrere (vier) Kommunikatio­ nen gegeben."71 Diese Information stammte vom „geheimen Kanal"72 und sollte selbst noch in den Tagen der Regierungskrise das Misstrauen gegen Wehner schüren. Tatsächlich hatte es nur eine „Kommunikation" gegeben. Am Nachmittag des 3. Mai 1974 war es zu einem bereits lange geplanten Zusammentreffen Wehners mit dem Ostberliner Rechtsanwalt Wolfgang Vogel auf dem Bonner Heiderhof gekom­ men. Honecker hatte am 1. April 1974 über Wehner Vorschläge für eine langfristige Wirtschaftskooperation zwischen der Bundesrepublik und der DDR unterbreitet73. Eine Antwort Brandts darauf stand noch aus. So ging es in dieser Unterredung - soweit sich die stenographischen Aufzeichnungen Wehners über dieses Gespräch entschlüsseln lassen - vornehmlich um Fragen der Ausweitung des innerdeutschen Swing, um für die DDR die wirtschaftlichen Voraussetzungen für die Kooperation zu schaffen74. Allerdings hatte Wolfgang Vogel, wie Wehner kurz darauf Nollau anvertraute, auch die Äußerung Honeckers überbracht, er habe nicht gewusst, „daß im Bundeskanzleramt ein Spion sitze. Der Minister für Staatssicherheit habe ihm, Honecker, versichert, Guillaume sei ,abgeschaltet' worden, als er in die Funktion bei Brandt gekommen sei."75 Diese „Information" war nicht nur falsch76, sondern sie wurde auch weder von Wehner noch von Nollau ernst genommen77. Offenbar ver­ zichtete Wehner deshalb darauf, sie am 4. Mai an Brandt weiterzugeben. Auch wenn Wehner in Moskau bewusst gegen den „geheimen Kanal" Egon Bahrs aufgetreten war, so war er sich doch offenbar nicht darüber im klaren, was er damit ausgelöst hatte. Zwar vermutete er zu Recht, dass, nachdem am 9. Oktober das Ver­ hältnis zu Brandt im großen und ganzen wieder bereinigt schien, Bahr für den neu-

69 So Bahr in einem Gespräch, das er mit mir am 3.4. 1995 im Bonner Ollenhauerhaus führte. 70 Dies bestätigte Bahr ebenfalls im Gespräch am 3. 4. 1995. 71 Brandt, Notizen zum Fall G. 72 Auskunft Egon Bahrs im Gespräch am 3.4.1985 73 Schreiben Honeckers vom 1. 4. 1974, in: PA Wehner; vgl. dazu auch Heinrich Potthoff, Bonn und Ost-Berlin 1969-1982. Dialog auf höchster Ebene und vertrauliche Kanäle. Darstellung und Dokumente, Bonn 1997, S. 43. 74 Stenographische Notizen Wehners von der Unterredung mit Wolfgang Vogel am 3. 5. 1974, in: PA Wehner. 75 So Nollau in seinem Tagebucheintrag vom 3. 5. 1974, zit. nach Brandt, Erinnerungen, S. 329. 76 Vgl. Wolf, Spionagechef, S. 263 ff. 77 So Nollau in seinem Tagebucheintrag vom 3. 5. 1974, zit. nach Brandt, Erinnerungen, S. 329. 318 August H. Leugers-Scherzberg erlichen Stimmungsumschwung bei Brandt verantwortlich war. Doch Wehner ver­ suchte, sich dies aus den allgemeinen politischen Differenzen mit Bahr zu erklären. An Lotte schrieb er am 10. Oktober 1973, als er erfahren hatte, dass Brandt erneut daran dachte, ihn zu stürzen: „Dahinter steckt die Abwehr gegen die von Honecker mit mir und auf meine Anregung vereinbarten konkreten Schritte zu humanitären Hilfen. Bahr ist ganz entschieden dagegen und ist ja der Urheber jener ,toten Monate', in denen gleich nach dem Unterzeichnen des Vertrags mit der DDR die ausreisegenehmigten Leute drüben ,auf ihren Koffern' sitzen blieben, was dann auf unserer Seite reichlich ausgeschlachtet wurde durch Springer und die CDU. Nur, wenn man mich ,knackt', gibt's niemand, der den Bahr-Unsinn wieder durchkreuzt. Von mir weiß W[illy] Br[andt], ich werde mein Bundestagsmandat niederlegen, um nicht zum ,Puffer' zwischen den beiden Seiten zu werden. Das kann ihm aber nur passen, wenn ich in aller Form ,geknackt' würde. - Keine Angst, ich skizziere Dir nur, was man sonst nicht erkennen könnte. Damit hat der Große noch keineswegs erreicht, daß es so kommt, wie es von Ratgebern gemeint wird."78 Dass der „geheime Kanal" gegen ihn intrigiert hatte, erfuhr Wehner erst Monate nach Brandts Rücktritt. Ende August 1974 meldete die „Quick", dass in der letzten Mai-Woche 1974 drei CDU-Bundestagsabgeordnete von einem hohen sowjetischen Funktionär darüber aufgeklärt worden seien, „daß Wehner nicht nur einmal, sondern insgesamt dreimal in der DDR gewesen sei und zumindest bei einer dieser Gelegen­ heiten Honecker vor dem Hochgehen von Guillaume gewarnt habe"79. Der „Spiegel" berichtete kurz darauf, dass es sich bei dem sowjetischen Funktionär um Valeri Led- new handelte80, der für den „geheimen Kanal" den ständigen Kontakt zu Egon Bahr aufrecht erhielt81. Allerdings hatte die sowjetische Seite nach dem Rücktritt Brandts offenbar das Interesse an weiteren Aktionen gegen Wehner verloren. Bereits Mitte Juli 1974 - so Wehner - informierte ihn vorab der sowjetische Botschafter Valentin Falin über „diese Sache, von der er wußte, daß sie mir angehängt wird."82

III.

Wehners Ausgangsposition zu Beginn der Guillaume-Affäre wurde demnach durch vier Faktoren bestimmt: 1. Das Verhältnis zu Willy Brandt war nach seiner Moskaureise belastet. Auch wenn es zwischen beiden zu einem Modus vivendi kam, blieben die Beziehungen

78 Wehner an Lotte vom 10. 10. 1973 (Kopie), in: PA Wehner. 79 „Watergate in Bonn", in: Quick vom 29. 8. 1974. 80 Vgl. Der Spiegel Nr. 36 vom 2. 9. 1974, S. 17. 81 Vgl. Keworkow, Der geheime Kanal, S. 272 ff. 82 So Wehner im Spiegel-Interview, in: Der Spiegel Nr. 36 vom 2. 9. 1974, S. 21. Herbert Wehner und der Rücktritt Willy Brandts am 7. 5. 1974 319 doch gespannt. Horst Ehmke und Conrad Ahlers rieten dazu, Wehner zum Rück­ tritt zu bewegen, um die Position Brandts zu stärken83. Im März 1974 erörterten Wehner und Brandt sogar selbst die Möglichkeit eines Rücktritts Wehners vom Fraktionsvorsitz84. Doch im März war dies für Brandt noch zu früh. Er hatte vor, im Rahmen der geplanten umfassenden Regierungsumbildung im Mai/Juni 1974 auch das Amt des Fraktionsvorsitzenden der SPD neu zu besetzen85. Damit wäre die Entmachtung Wehners besiegelt worden. 2. Wehners Informations- und Sondierungskanal zu Erich Honecker kam nach der Moskaureise endlich zum Tragen. Die Auseinandersetzungen über die Ost- und Deutschlandpolitik der Bundesregierung, die nach Wehners medienwirksam insze­ nierter Kritik in Moskau begannen, führten dazu, dass Brandt sich nunmehr umfas­ send über Wehners Verhandlungen mit Honecker unterrichten ließ und dessen Ver­ bindung zu Honecker dazu nutzte, direkte informelle Verhandlungen mit dem ersten Mann der DDR zu führen86. Insofern hatte Wehner bis zum Frühjahr 1974 erreicht, was er mit seinem Sondierungskanal beabsichtigt hatte. 3. Brandts Image als Bundeskanzler, als Vorkämpfer einer neuen deutschen Ostpo­ litik und als Friedensnobelpreisträger war für Wehner nach wie vor unersetzlich87. Auch wenn die Regierung im Frühjahr 1974 in einem Stimmungstief war, so bestand für Wehner doch kein Zweifel daran, dass sich das Blatt bis zur Bundestagswahl 1976 noch wenden ließe. Nach seiner Einschätzung war dies leichter mit Brandt als ohne Brandt zu bewerkstelligen. 4. Egon Bahr und dessen Einfluss auf Brandt wollte Wehner auf Dauer ausschal­ ten. Sein Angriff auf den „geheimen Kanal" in Moskau hatte dieses Ziel verfolgt. Auch aus den Mitteilungen Honeckers, die Wehner Brandt übermittelte, ließ sich als Quintessenz nur herauslesen, dass Egon Bahr als Ost- und Deutschlandpolitiker denkbar ungeeignet war88. Vom Herbst 1973 bis zum Frühjahr 1974 spielte sich damit ein zäher Kampf hinter den Kulissen ab. Egon Bahr und der „geheime Kanal" arbeiteten darauf hin, Wehners Einfluss auf die Ost- und Deutschlandpolitik zu

83 So der Bonner Korrespondent der „New York Times" David Binder „The Other German. Willy Brandt's Life and Times", Washington 1976. Übersetzung und Abdruck von Auszügen in: Der Spiegel Nr. 47 vom 17. 11. 1975, S. 36-49, hier S. 46. 84 Vgl. Baring, Machtwechsel, S. 713. 85 Vgl. dazu Der Spiegel Nr. 37 vom 9. 9. 1974, S. 22 f. 86 Vgl. dazu Potthoff, Bonn und Ost-Berlin, S. 41 ff. 87 Noch am 17. 3. 1974 erklärte Wehner auf dem Landesparteitag der Bremer SPD „daß Bundeskanz­ ler Brandt Träger der Hoffnungen nach einem sicheren Frieden, nach Verständigung von West- Ost, Nord-Süd, in den Völkern vieler Länder weit über Europa hinaus ist, was wir nie vergessen sollten. [...] Es gibt keinen Ersatz für ihn, und wer ihn, sei es in Fragen der Ostpolitik, sei es in anderen Fragen, so das Leben schwer macht und die Arbeit, der muß wissen, es gibt keinen Ersatz für ihn, keinen Besseren." Herbert Wehner, Rede auf dem Landesparteitag der SPD in Bremen am 17. 3. 1974, maschinenschriftliches Manuskript, S. 15 u. 30 (Exemplar in: PA Wehner). 88 In der von Wolfgang Vogel am 17. 9. 1973 mündlich überbrachten Mitteilung Honeckers für Brandt, die Wehner in seinem Brief an Honecker vom 2. 12. 1973 (in: PA Wehner) vollständig wie­ dergab, wurde heftige Kritik an Egon Bahr geübt. (In den Presse-Abdrucken dieses Schreibens (vgl. Anm. 6) wurde dieser Teil des Briefes leider ausgelassen.) 320 August H. Leugers-Scherzberg beseitigen. Gleichzeitig bemühte sich Wehner mit Unterstützung Honeckers, Egon Bahr aus seiner ost- und deutschlandpolitischen Schlüsselstellung zu verdrängen. In beiden Fällen ging es darum, Einfluss auf Brandts Ostpolitik zu gewinnen. Davon ausgehend, war die Guillaume-Affäre für Wehner zunächst nichts, was zur Besorgnis Anlass gab. Das änderte sich schlagartig, als er am 3. Mai von Nollau erfuhr, was die Bonner Sicherheitsbeamten über den angeblich ausschweifenden Lebenswandel Brandts zu Protokoll gegeben hatten. Gerüchte über angebliche Frau­ engeschichten Brandts hatte es seit langem gegeben. Nun aber waren sie im Rahmen der Ermittlungen zum Fall Guillaume Gegenstand einer amtlichen Untersuchung und damit geeignet, das Image Brandts zu zerstören. Sollte Brandt Bundeskanzler bleiben, war es eine Frage der Zeit, bis die pikantesten Details aus den Leibwächter- Vernehmungen der Presse zugespielt würden89. Brandts mangelhaftes Krisenmanage­ ment ließ Zweifel aufkommen, ob er dies politisch überstehen könnte. Zudem teilte Brandt Wehner zu Beginn der Unterredung am 4. Mai in Bad Müns- tereifel seine Pläne über die Kabinettsumbildung mit, insbesondere dass Egon Bahr neuer Kanzleramtsminister werden sollte90. Diese Mitteilung dürfte Wehner nicht dazu bewogen haben, Brandt unter allen Umständen vom Rücktritt abzuhalten. Für Wehner musste die Aussicht, es künftig mit einem Kanzleramtschef Bahr zu tun zu haben, völlig unakzeptabel sein. Nachdem Wehner ihm am Abend des 4. Mai ein 24-stündiges Ultimatum gestellt hatte, stand für Brandt der Entschluss zum Rücktritt fest. Er ließ sich auch von nie­ mandem mehr umstimmen91. Brandt war zu der (wohl realistischen) Einsicht gekommen, dass er die durch den „Fall Guillaume" ausgelöste Krise politisch nicht überstehen werde. Diese Einsicht hat er allerdings nie verarbeitet. Hatte er sich schon während der Krise Verschwörungstheorien hingegeben, so wurde der durch den „geheimen Kanal" genährte Verdacht gegen Wehner zu einer fixen Idee, die ihn bis zu seinem Lebensende verfolgte92. Hinzu kam, dass Brandt auch nach seinem Rücktritt von Bahr noch einseitig informiert wurde. Wehner hatte nach dem Rück­ tritt Brandts ein undatiertes Schreiben Honeckers mit einer Einladung für den neuen Bundeskanzler erhalten, dem ein Brief Honeckers beilag, den der SED-Chef am 6. Mai zur Unterstützung Brandts verfasst hatte93. In seinen „Notizen zum Fall G." berichtet Brandt unter Berufung auf eine Information Bahrs vom 14. Mai 1974, es sei „am 6.5. ein Brief mit Einladung für H[elmut] S[chmidt] (also vor meinem offi-

89 Vgl. dazu Baring, Machtwechsel, S. 748 f. 90 So (nach Informationen eines SPD-Vorstandsmitglieds) Der Spiegel Nr. 37 vom 9.9. 1974, S. 23. Vgl. zu Brandts Plänen, Bahr zum neuen Kanzleramtsminister zu machen, auch Baring, Machtwechsel, S. 747. 91 Vgl. Brandt, Notizen zum Fall G. 92 Vgl. dazu den Vermerk Willy Brandts vom 18.6. 1992 über ein Gespräch mit Valentin Falin am 31.3. 1992 (wie Anm. 62). Das Gespräch mit Falin führte Brandt nicht zuletzt auch deswegen, um weiteren Aufschluss über die Rolle Herbert Wehners in den Ost-West-Verhandlungen zu bekommen. 93 Vgl. dazu Wehner an Schmidt vom 15. 6. 1974, im PA Wehner (zu Presseabdrucken dieses Schrei­ bens siehe Anm. 6); Potthoff, Bonn und Ost-Berlin, S. 43 ff. Herbert Wehner und der Rücktritt Willy Brandts am 7. 5. 1974 321 z[iellen] Rücktritt!)" Wehner übergeben worden, den Wehner nicht an ihn weiterge­ geben habe94. Brandt meinte deshalb, mit Fug und Recht behaupten zu können, dass ihm Wehner „Briefe und Nachrichten, die in den Tagen um meinen Rücktritt aus Ostberlin eingingen," vorenthalten habe95. Für Wehner blieb als Ergebnis der Regierungskrise: Dadurch, dass Brandt vom Amt des Bundeskanzlers zurücktrat, den Parteivorsitz aber beibehielt, blieb Brandts positives Image der SPD als politischer Aktivposten erhalten, zumal die Angriffe auf seinen privaten Lebenswandel nach seinem Rücktritt sofort eingestellt wurden. Egon Bahr wurde aus seiner Schlüsselstellung in der Ostpolitik verdrängt. Wehner selbst nahm dagegen nach der Übernahme der Kanzlerschaft durch Helmut Schmidt eine Schlüsselstellung in den deutsch-deutschen Beziehungen ein96. Dies ermöglichte es ihm, seine entspannungspolitischen Vorstellungen in einflussreicher Position wei­ ter zu verfolgen. Abschließend lässt sich festhalten: Brandt stürzte nicht über seine „Sex-Affären", wie der „Focus" nach der Veröffentlichung aus den Ermittlungsakten des „Fall Guil- laume" titelte97, und auch nicht über eine Intrige Wehners, sondern über sein unzu­ längliches Krisenmanagement, das seit der Bundestagswahl von 1972 ein latenter Gefahrenherd war. Insofern ist es auch richtig im Zusammenhang mit dem Rücktritt Brandts auf weitere Krisenherde wie den dramatischen Rückgang im Wählerzu­ spruch für die SPD im Frühjahr 1974, die durch die Ölkrise ausgelöste Verschlechte­ rung der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen und den schwindenden Rückhalt der Regierung in Gewerkschaftskreisen hinzuweisen98. Aber erst die Guillaume-Affäre offenbarte das ganze Ausmaß des Versagens der Regierung Brandt. Wehner bemühte sich nach seiner Unterredung mit Nollau am 3. Mai 1974 um eine in jeder Hinsicht zukunftsfähige Lösung. Er ging zum Entsetzen der Vertrauten Brandts sogar so weit, von dem zeitweilig mit Selbstmordgedanken99 spielenden Brandt zu fordern, seinen Rücktritt nicht resignativ, sondern offensiv zu vertreten100. Dies sollte dazu dienen, für den Nachfolger die günstigsten Startbedingungen zu

94 Brandt, Notizen zum Fall G. 95 Brandt, Erinnerungen, S. 329. 96 Vgl. Potthoff, Bonn und Ost-Berlin, S.45 ff. 97 Focus Nr. 7 vom 14. 2. 1994. 98 Vgl. dazu ausführlich Baring, Machtwechsel, S. 687-739. 99 Von Selbstmordgedanken Brandts während der Guillaume-Affäre berichtete zuerst David Binder, in: Der Spiegel Nr. 47 vom 17.11.1975, S. 49, dann Baring, Machtwechsel, S. 746, jetzt auch Schöll­ gen, Brandt, S. 211. Festgemacht wird dies an der Bemerkung Brandts in seinen „Notizen zum Fall G.", er habe am 1. 5. 1974 auf Helgoland „düstere Gedanken" gehabt, „die ich auch in einem dann aber in Bonn vernichteten Brief festhielt". Baring gegenüber erläuterte Brandt diese Passage, „er habe sich das Leben nehmen wollen, er hatte einen Abschiedsbrief an seine Familie verfaßt". Vgl. Express vom 31.1.1994. Brandt selbst bestritt später in seinen „Erinnerungen", S. 321, Selbst­ mordgedanken gehegt zu haben. 100 Brandt, Notizen zum Fall G.: „H[erbert] W[ehner] sagt morgens: Beschränkung auf Vorsitz könnte Sinn ergeben, wenn nicht ,resignativ' begründet werde". Harpprecht, Im Kanzleramt, S. 554: „Wehner habe wiederholt, [Brandt] dürfe nicht resignierend resignieren. Was verlangt er von diesem Mann." 322 August H. Leugers-Scherzberg schaffen. Diese Strategie verhalf aber auch Brandt selbst zu dem Ruf, einer der weni­ gen deutschen Politiker gewesen zu sein, die für Versäumnisse ihrer Untergebenen die politische Verantwortung übernommen haben. Wehner offenbarte in der Guillaume-Affäre einmal mehr eine politische Kaltblü­ tigkeit, für die er zuweilen gehasst, von Anhängern und Gegnern aber stets auch bewundert wurde.