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Plenarprotokoll 15/22

Deutscher Bundestag

Stenografischer Bericht

22. Sitzung

Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2003

Inhalt:

Nachträgliche Glückwünsche zum Geburtstag Zusatztagesordnungspunkt 3: des Bundesministers Dr. Peter Struck sowie des Abgeordneten Norbert Königshofen . . . . 1665 A Antrag der Abgeordneten Rainer Brüderle, Dr. Hermann Otto Solms, weiterer Abge- Glückwünsche zum Geburtstag des Abgeord- ordneter und der Fraktion der FDP: Neue neten Wolfgang Spanier ...... 1665 A Chancen für den Mittelstand – Rahmen- Erweiterung der Mitgliederzahl im Ausschuss bedingungen verbessern statt Förder- für Kultur und Medien ...... 1665 A dschungel ausweiten (Drucksache 15/357) ...... 1666 C Wiederwahl der Abgeordneten Ulrike Poppe als Mitglied des Beirats nach § 39 des Stasi- Wolfgang Clement, Bundesminister BMWA 1666 D Unterlagen-Gesetzes ...... 1665 B Friedrich Merz CDU/CSU ...... 1670 C Festlegung der Zahl der Mitglieder des Euro- Fritz Kuhn BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN . . . 1674 A päischen Parlaments, die an den Sitzungen des Rainer Brüderle FDP ...... 1677 A Ausschusses für die Angelegenheiten der Euro- päischen Union teilnehmen können ...... 1665 B Klaus Brandner SPD ...... 1679 B Erweiterung der Tagesordnung ...... 1665 B Dagmar Wöhrl CDU/CSU ...... 1681 D Nachträgliche Ausschussüberweisungen . . . . 1666 A Werner Schulz (Berlin) BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN ...... 1684 A Gudrun Kopp FDP ...... 1685 D Tagesordnungspunkt 3: Dr. Gesine Lötzsch fraktionslos ...... 1687 B Antrag der Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Offen- Christian Lange (Backnang) SPD ...... 1688 A sive für den Mittelstand Laurenz Meyer (Hamm) CDU/CSU ...... 1690 A (Drucksache 15/351) ...... 1666 B Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk SPD ...... 1692 A in Verbindung mit Hartmut Schauerte CDU/CSU ...... 1694 B Reinhard Schultz (Everswinkel) SPD ...... 1696 D Zusatztagesordnungspunkt 2: Alexander Dobrindt CDU/CSU ...... 1698 D Antrag der Abgeordneten Dagmar Wöhrl, Karl-Josef Laumann, weiterer Abgeordne- Tagesordnungspunkt 4: ter und der Fraktion der CDU/CSU: Grundsätzliche Kehrtwende in der Wirt- a) Erste Beratung des vom Bundesrat ein- schaftspolitik statt neuer Sonderregeln – gebrachten Entwurfs eines Gesetzes Mittelstand umfassend stärken zum optimalen Fördern und Fordern (Drucksache 15/349) ...... 1666 C in Vermittlungsagenturen (OFFENSIV-Gesetz) in Verbindung mit (Drucksache 15/273) ...... 1700 B II Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2003

b) Erste Beratung des vom Bundesrat ein- b)–d) gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum Fördern und Fordern arbeits- Beschlussempfehlungen des Petitions- fähiger Sozialhilfeempfänger und Ar- ausschusses: Sammelübersichten 8, 9, beitslosenhilfebezieher (Fördern-und- 10 zu Petitionen Fordern-Gesetz) (Drucksachen 15/320, 15/321, 15/322) (Drucksache 15/309) ...... 1700 C 1722 A c) Antrag der Abgeordneten Dr. Heinrich L. e) Antrag der Fraktionen der SPD, der Kolb, Daniel Bahr (Münster), weiterer CDU/CSU, des BÜNDNISSES 90/DIE Abgeordneter und der Fraktion der FDP: GRÜNEN und der FDP: Erneute Über- Das Sozialhilferecht gerechter gestal- weisung von Vorlagen aus früheren ten–HilfebedürftigeBürgereffizienter Wahlperioden fördern und fordern (Drucksache 15/345) ...... 1722 C (Drucksache 15/358) ...... 1700 C

Silke Lautenschläger, Staatsministerin (Hessen) 1700 D Tagesordnungspunkt 5: Gerd Andres, Parl. Staatssekretär BMWA . . . 1703 A Wahlvorschlag der Fraktionen der SPD, Dirk Niebel FDP ...... 1705 A der CDU/CSU, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP für die vom Deut- Dr. Thea Dückert BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 1706 B schen Bundestag zu entsendenden Mitglie- Dirk Niebel FDP ...... 1708 B der des Beirats bei der Regulierungs- behörde für Telekommunikation und Petra Pau fraktionslos ...... 1709 B Post gemäß § 67 Abs. 1 des Telekommu- Johannes Singhammer CDU/CSU ...... 1710 B nikationsgesetzes (Drucksache 15/356) ...... 1722 C Thomas Sauer SPD ...... 1712 A Dr. Heinrich L. Kolb FDP ...... 1713 D Zusatztagesordnungspunkt 4: Walter Hoffmann (Darmstadt) SPD ...... 1715 B Erste Beratung des von den Fraktionen der Dr. Heinrich L. Kolb FDP ...... 1716 C SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- Wolfgang Meckelburg CDU/CSU ...... 1717 A NEN eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zur Änderung der Vorschriften über Karin Roth (Esslingen) SPD ...... 1719 D die Straftaten gegen die sexuelle Selbst- bestimmung und zur Änderung anderer Vorschriften Tagesordnungspunkt 12: (Drucksache 15/350) ...... 1722 D Überweisungen im vereinfachten Ver- , Bundesministerin BMJ . . . . 1722 D fahren Dr. Norbert Röttgen CDU/CSU ...... 1724 D Antrag der Abgeordneten Markus Löning, Daniel Bahr (Münster), weiterer Abgeordne- Dr. Wolfgang Götzer CDU/CSU ...... 1725 A ter und der Fraktion der FDP: Westsahara- Jerzy Montag BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 1726 D konflikt beilegen – UN-Friedensplan durchsetzen Jörg van Essen FDP ...... 1729 A (Drucksache 15/316) ...... 1721 D Michaela Noll CDU/CSU ...... 1730 A Joachim Stünker SPD ...... 1731 D Tagesordnungspunkt 13: Siegfried Kauder (Bad Dürrheim) CDU/CSU 1733 D Abschließende Beratungen ohne Aus- sprache Tagesordnungspunkt 8: a) Zweite Beratung und Schlussabstim- mung über den von der Bundesregierung Antrag der Abgeordneten Dirk Fischer eingebrachten Entwurf eines Gesetzes (Hamburg), Eduard Oswald, weiterer zu dem Vertrag vom 26. Juli 2001 zwi- Abgeordneter und der Fraktion der CDU/ schen der Bundesrepublik Deutsch- CSU: Transrapid-Projekt Berlin–Ham- land und der Tschechischen Republik burg unverzüglich wieder aufnehmen über den Bau einer Grenzbrücke an (Drucksache 15/300) ...... 1735 D der gemeinsamen Staatsgrenze in An- Dirk Fischer (Hamburg) CDU/CSU ...... 1736 A bindung an die Bundesstraße B 20 und die Staatsstraße I/26 Angelika Mertens, Parl. Staatssekretärin (Drucksachen 15/12, 15/272) ...... 1722 A BMVBW ...... 1738 B Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2003 III

Horst Friedrich (Bayreuth) FDP ...... 1739 D Georg Schirmbeck CDU/CSU ...... 1756 A Albert Schmidt (Ingolstadt) BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN ...... 1740 D Tagesordnungspunkt 6: Norbert Königshofen CDU/CSU ...... 1742 B Erste Beratung des von den Abgeordneten Reinhard Weis (Stendal) SPD ...... 1743 B Dr. Norbert Röttgen, Cajus Caesar, weite- Dirk Fischer (Hamburg) CDU/CSU . . . . . 1744 A ren Abgeordneten und der Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines Renate Blank CDU/CSU ...... 1746 A Gesetzes zur Änderung des Strafgesetz- buches – Graffiti-Bekämpfungsgesetz (Drucksache 15/302) ...... 1757 B Tagesordnungspunkt 7: Dr. Jürgen Gehb CDU/CSU ...... 1757 C Antrag der Abgeordneten Hans-Michael Goldmann, Dr. Christel Happach-Kasan, Hermann Bachmaier SPD ...... 1759 A weiterer Abgeordneter und der Fraktion der Jörg van Essen FDP ...... 1760 C FDP: EU-Richtlinie zur Haltung von Nutztieren in nationales Recht umsetzen Hans-Christian Ströbele BÜNDNIS 90/ (Drucksache 15/226) ...... 1747 A DIE GRÜNEN ...... 1761 B Hans-Michael Goldmann FDP ...... 1747 B Jörg van Essen FDP ...... 1762 C Uwe Bartels, Minister (Niedersachsen) . . . . . 1748 C Dr. Christoph Bergner CDU/CSU ...... 1763 A Hans-Michael Goldmann FDP ...... 1750 A Hans-Christian Ströbele BÜNDNIS 90/ Peter H. Carstensen (Nordstrand) CDU/CSU 1751 A DIE GRÜNEN ...... 1763 D Gitta Connemann CDU/CSU ...... 1751 D Alfred Hartenbach, Parl. Staatssekretär BMJ 1764 D

Friedrich Ostendorff BÜNDNIS 90/ Nächste Sitzung ...... 1766 C DIE GRÜNEN ...... 1753 B Hans-Michael Goldmann FDP ...... 1755 A Anlage 1 Friedrich Ostendorff BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN ...... 1755 D Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . 1767 A

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(A) (C)

22. Sitzung

Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2003

Beginn: 9.00 Uhr

Präsident Wolfgang Thierse: 1. Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der CDU/CSU: Haltung der Bundesregierung zu den Auswirkungen ihrer Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Steuerpolitik auf die kommunalen Finanzen Sitzung ist eröffnet. 2. Beratung des Antrags der Abgeordneten Dagmar Wöhrl, Karl- Zunächst möchte ich einigen Kollegen zur Vollendung Josef Laumann, Hartmut Schauerte, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU: Grundsätzliche Kehrtwende in ihres 60. Lebensjahres gratulieren: Bundesminister der Wirtschaftspolitik statt neuer Sonderregeln – Mittel- Dr. Peter Struck feierte am 24. Januar, Abgeordneter stand umfassend stärken Norbert Königshofen feierte am 25. Januar und Abgeord- – Drucksache 15/349 – neter Wolfgang Spanier feiert heute seinen 60. Geburtstag. Beste Glückwünsche im Namen des ganzen Hauses! Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit (f) (Beifall) Auswärtiger Ausschuss Innenausschuss Nun gibt es eine Reihe von Mitteilungen. Die Mitglie- Rechtsausschuss (B) derzahl im Ausschuss für Kultur und Medien soll auf ein- Finanzausschuss (D) vernehmlichen Vorschlag aller Fraktionen von 15 auf Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft 17 Mitglieder erhöht werden. Sind Sie mit diesem Vor- Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung schlag einverstanden? – Ich höre keinen Widerspruch. Ausschuss für Bildung, Forschung und Dann ist so beschlossen. Technikfolgenabschätzung Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Sodann teile ich mit, dass die Fraktion des Bündnis- Entwicklung ses 90/Die Grünen in Abänderung ihres Wahlvorschlages Ausschuss für Tourismus vom 16. Januar 2003 nunmehr Frau Ulrike Poppe für den Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss Beirat nach § 39 des Stasi-Unterlagen-Gesetzes vor- schlägt. Sind Sie damit einverstanden? – Ich höre keinen 3. Beratung des Antrags der Abgeordneten Rainer Brüderle, Widerspruch. Damit ist Frau Poppe, die schon bisher Mit- Dr. Hermann Otto Solms, Gudrun Kopp, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Neue Chancen für den Mittel- glied im Beirat war, wieder gewählt. stand – Rahmenbedingungen verbessern, statt Förder- Gemäß § 93 a Abs. 6 unserer Geschäftsordnung ist vor- dschungel ausweiten gesehen, dass Mitglieder des Europäischen Parlaments an – Drucksache 15/357 – den Sitzungen des Ausschusses für die Angelegenheiten Überweisungsvorschlag: der Europäischen Union teilnehmen können. Die Zahl Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit (f) und Zusammensetzung ist in der Geschäftsordnung nicht Auswärtiger Ausschuss vorgesehen und muss daher vom Plenum für die 15. Wahl- Innenausschuss Rechtsausschuss periode neu festgelegt werden. Die Fraktionen haben sich Finanzausschuss einvernehmlich darauf verständigt, die Zahl auf insge- Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und samt 14 mitwirkungsberechtigte Mitglieder des Europä- Landwirtschaft ischen Parlaments festzulegen. Davon entfallen auf die Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Ausschuss für Bildung, Forschung und CDU/CSU acht Mitglieder, auf die SPD fünf Mitglieder Technikfolgenabschätzung und auf Bündnis 90/Die Grünen ein Mitglied. Sind Sie mit Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und diesem Vorschlag einverstanden? – Ich höre keinen Wi- Entwicklung derspruch. Dann ist auch dies so beschlossen. Ausschuss für Tourismus Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene Haushaltsausschuss Tagesordnung zu erweitern. Die Punkte sind in der Ihnen 4. Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD und des vorliegenden Zusatzpunktliste aufgeführt: BÜNDNISSES 90/Die GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines 1666 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2003

Präsident Wolfgang Thierse (A) Gesetzes zur Änderung der Vorschriften über die Straftaten ZP 2 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dagmar (C) gegen die sexuelle Selbstbesimmung und zur Änderung an- Wöhrl, Karl-Josef Laumann, Hartmut Schauerte, derer Vorschriften weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/ – Drucksache 15/350 – CSU Überweisungsvorschlag: Grundsätzliche Kehrtwende in der Wirtschafts- Rechtsausschuss (f) politik statt neuer Sonderregeln – Mittelstand Innenausschuss umfassend stärken Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend – Drucksache 15/349 – Von der Frist für den Beginn der Beratung soll – soweit erforderlich – abgewichen werden. Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit (f) Außerdem wurde vereinbart, dass nach der ersten Be- Auswärtiger Ausschuss Innenausschuss ratung des Sexualstrafrechts-Änderungsgesetzes – das ist Rechtsausschuss Zusatzpunkt 4 – die Reihenfolge der Beratungen wie folgt Finanzausschuss geändert werden soll: Tagesordnungspunkt 8 – Transra- Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und pidprojekt –, Tagesordnungspunkt 7 – Haltung von Nutz- Landwirtschaft tieren – und dann Tagesordnungspunkt 6 – Graffiti- Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Ausschuss für Bildung, Forschung und Bekämpfungsgesetz. Technikfolgenabschätzung Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Darüber hinaus mache ich auf eine nachträgliche Über- Entwicklung weisung im Anhang zur Zusatzpunktliste aufmerksam: Ausschuss für Tourismus Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Der in der 16. Sitzung des Deutschen Bundestages über- Haushaltsausschuss wiesene nachfolgende Entschließungsantrag soll zusätz- lich dem Finanzausschuss, dem Ausschuss für Wirtschaft ZP 3 Beratung des Antrags der Abgeordneten Rainer und Arbeit und dem Ausschuss für Menschenrechte und hu- Brüderle, Dr. Hermann Otto Solms, Gudrun Kopp, manitäre Hilfe zur Mitberatung überwiesen werden. weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Entschließungsantrag der Fraktionen der SPD und Neue Chancen für den Mittelstand – Rahmen- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: zu derAb- bedingungen verbessern statt Förderdschungel gabe einer Regierungserklärung durch den ausweiten Bundeskanzler zu den Ergebnissen des Euro- – Drucksache 15/357 – päischen Rates in Kopenhagen am 12. und 13. Dezember 2002 Überweisungsvorschlag: (B) Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit (f) (D) – Drucksache 15/215 – Auswärtiger Ausschuss Innenausschuss überwiesen: Rechtsausschuss Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union (f) Finanzausschuss Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft Landwirtschaft Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Ausschuss für Bildung, Forschung und Sind Sie mit diesen Vereinbarungen einverstanden? – Technikfolgenabschätzung Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Ich rufe nunmehr Tagesordnungspunkt 3 sowie Zu- Ausschuss für Tourismus satzpunkte 2 und 3 – Beratung mehrerer Anträge zur Mit- Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union telstandspolitik – auf: Haushaltsausschuss Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die 3. Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD und Aussprache zweieinhalb Stunden vorgesehen. – Ich höre des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Offensive für den Mittelstand Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort Herrn – Drucksache 15/351 – Bundesminister Wolfgang Clement. Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit (f) Auswärtiger Ausschuss Wolfgang Clement, Bundesminister für Wirtschaft Innenausschuss und Arbeit: Rechtsausschuss Finanzausschuss Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her- Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und ren! Aus dem Jahreswirtschaftsbericht ist gestern deutlich Landwirtschaft geworden, dass wir mehr Wachstum und mehr Beschäfti- Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung gung brauchen. Aus dem Wachstum heraus müssen mehr Ausschuss für Bildung, Forschung und Jobs entstehen. Dabei kommt dem Mittelstand, also den Technikfolgenabschätzung Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und kleinen und mittleren Unternehmen, eine ganz besondere Entwicklung Bedeutung zu. Um dieses Thema soll es heute gehen. Ausschuss für Tourismus Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Warum kommt den kleinen und mittleren Betrieben Haushaltsausschuss eine so große Bedeutung zu? – Etwa 70 Prozent aller ab- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2003 1667

Bundesminister Wolfgang Clement (A) hängig Beschäftigten in Deutschland arbeiten in solchen Kleinstunternehmen in einem zweiten Schritt auf (C) Unternehmen. Vier von fünf Jugendlichen werden im 35 000 Euro anheben. Mittelstand auf ihr Berufsleben vorbereitet. Rund die (Zuruf von der CDU/CSU: Das könnt ihr auch Hälfte der Bruttowertschöpfung, fast 50 Prozent, kommt gleich machen!) aus kleinen und mittleren Unternehmen. Kurz gesagt: Wenn wir über den Mittelstand sprechen, dann sprechen Wir wollen die Selbstständigkeit durch einen erleich- wir über die Sicherung der wirtschaftlichen Zukunft un- terten Berufszugang im Handwerk und bei nicht hand- seres Landes. werklichen Existenzgründungen fördern. Um dieses Ziel zu erreichen, ist es notwendig, dass der Liberalisierungs- Deshalb haben wir eine Mittelstandsoffensive auf den prozess im Handwerk fortgeführt wird und dass nicht Weg gebracht. Damit wollen wir die Gründung von Un- mehr notwendige Regulierungen abgebaut werden. Darü- ternehmen fördern. Wir brauchen eine Erneuerung, wir ber sind wir – wie schon mehrfach besprochen – mit dem brauchen eine Erweiterung unserer Unternehmensland- Handwerk im Gespräch. Herr Kollege Laumann hat mich schaft, wir brauchen, um es auf den Punkt zu bringen, gestern daran erinnert, dass wir im Vermittlungsverfahren mehr Unternehmen. Das ist die wichtigste Voraussetzung, besprochen hatten, dass wir diese Gespräche gemeinsam um mehr Arbeitsplätze zu schaffen. Dazu müssen wir fortsetzen wollen. Das werden wir gerne tun. Existenzgründungen fördern und gleichzeitig die Rah- menbedingungen für die kleinen und mittleren Unterneh- (Dagmar Wöhrl [CDU/CSU]: Ja, nicht men verbessern. vergessen!) Dass der Ansatz – oder, um es Ihnen leichter zu ma- Im Handwerk geht es zum Beispiel um Erleichterungen chen, die Absicht – der Mittelstandsoffensive richtig ist, bei der Zulassung zur Meisterprüfung. Dabei stellt sich zeigt sich an außerordentlich vielen positiven Reaktionen, die Frage, ob die Berufserfahrung als Zulassungsvoraus- die wir auf diese Aktivität hin erhalten. Ich möchte Ihnen, setzung für die Meisterprüfung gestrichen werden soll. Bis- verehrte Kolleginnen und Kollegen, gerne die wichtigsten her müssen nach der Gesellenprüfung sieben Jahre abge- Bausteine dieser Mittelstandsoffensive darstellen. wartet werden. Daneben geht es um Anreize für Gesellen, die Meisterprüfung möglichst rasch nach der Gesellenprü- Der erste Baustein: Es geht uns um die Förderung von fung abzulegen. Man könnte dies als Freischussregelung Existenzgründungen und um die Förderung von klein- – dies ist nicht martialisch gemeint – bezeichnen. Auch bei und kleinstgewerblichen Unternehmen. Wir wollen die den Juristen – diese sind schon gar nicht martialisch – exis- Startbedingungen für Unternehmensgründungen und tiert diese ja. Wir wollen das Bild der Meisterprüfung prä- gleichzeitig die Arbeitsbedingungen für das Kleinge- zisieren und klarstellen, was ein Meister für sein Gewerbe werbe verbessern. Dazu wollen wir in den nächsten Wo- tatsächlich beherrschen muss. Es stellt sich die Frage, ob al- (B) chen etwas auf den Weg bringen, was wir auf eine Anre- les, was heute gefordert wird, vernünftig ist. Wir wollen, (D) gung des DIHK-Präsidenten, Herrn Braun, hin einen dass Teile der Gesellenprüfung auf die Meisterprüfung an- Small-Business-Act genannt haben. Das bedeutet, dass gerechnet werden können. Andere Anrechnungsmöglich- es zu grundlegenden Vereinfachungen und Entlastungen keiten diskutieren wir ebenfalls. für Gründungsunternehmen und Kleinstunternehmen kommen wird. Dabei gehen wir bewusst einen Schritt Wir sind noch nicht ganz am Ziel und suchen eine ein- weiter, als uns die Hartz-Kommission nahe gelegt hat. In vernehmliche Lösung mit dem Handwerk. Dies soll – wie diese Aktivitäten beziehen wir nicht nur – wie dies bei ich zugesagt habe – nicht von oben herab geschehen. Ich Hartz vorgesehen ist – die Existenzgründer, sondern auch hoffe, wir kommen dabei voran. – wie gesagt – existierende kleine Unternehmen ein. Wir wollen Unternehmensgründer, die eine Ertrags- Das Konzept basiert auf drei Säulen: grenze von 25 000 Euro aufweisen, in den ersten vier Jah- ren von den Beitragszahlungen an die Industrie- und Han- Erstens. Kleinstunternehmen können bei der Einkom- delskammern – diese sind damit einverstanden – und an mensteuer künftig einen pauschalierten Betriebsausga- die Handwerkskammern – diese sind noch nicht ganz ein- benabzug in der Größenordnung von 50 Prozent der Ein- verstanden – befreien. nahmen geltend machen. Damit wird die steuerliche Ein weiteres Anliegen ist eine bessere soziale Absiche- Gewinnermittlung grundlegend vereinfacht. rung der Selbstständigen. Sie tragen nicht nur die Verant- Zweitens. Umfangreiche und komplizierte Buch- wortung für ihre Beschäftigten, sondern sie tragen auch führungs- und Aufzeichnungspflichten der Kleinstunter- ein eigenes hohes finanzielles Risiko. Deshalb wollen wir nehmen entfallen. die Selbstständigen besser absichern und diskutieren wir mit der Justizministerin – sie ist dafür federführend zu- Drittens. In diesem Bereich fallen keine Umsatzsteuer- ständig – eine Verbesserung des Pfändungsschutzes, bei- pflichten mehr an, das heißt, die steuerlichen Erklärungs- spielsweise in Bezug auf die private Altersvorsorge. pflichten werden auf ein Minimum reduziert. Daneben gibt es natürlich auch hier das Thema Ent- Dieses Konzept werden wir sehr rasch umsetzen. In ei- bürokratisierung. Dabei geht es uns zunächst einmal um nem ersten Schritt profitieren rückwirkend zum 1. Januar eine schnellere Eintragung ins Handelsregister. Das alles 2003 bereits solche Kleinstunternehmen, die einen Um- dauert viel zu lange. Des Weiteren sollen – wenn irgendwie satz von bis zu – diese Grenze ist allerdings sehr niedrig – möglich – die Kosten für diese Eintragung gesenkt werden. 17 500 Euro aufweisen. Ein Jahr später, also zum 1. Januar 2004, wollen wir – vorbehaltlich der Zustimmung durch Neben diesem so genannten Small-Business-Act die Europäische Kommission – die Umsatzgrenze für planen wir weitere Maßnahmen zur Förderung der 1668 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2003

Bundesminister Wolfgang Clement (A) Selbstständigkeit. Beispielsweise wollen wir für Gründe- nem Unternehmen mit einem Kredit bis zu 100 000 Euro (C) rinnen und Gründer sowie für den Mittelstand insgesamt begleitet wird, davon bis zu 50 000 Euro zur Eigenkapi- das Beratungs- und Gründungs-Know-how zu Servicean- talbildung. Es ist gut angelaufen und läuft inzwischen im- geboten bündeln. mer besser. Die Kreditanstalt für Wiederaufbau erwartet, dass in diesem Jahr über dieses Kreditprogramm 1,2 Mil- Wir wollen den unternehmerischen Generationswechsel liarden Euro abgerufen werden. Damit würden über die- weiter fördern. Wir fördern ihn schon heute. Wir wollen die ses Kreditprogramm 12 000 Arbeitsplätze eingerichtet Einrichtung weiterer Börsen im Internetportal zur Unter- und gefördert. Das ist nicht wenig. Die „Richterskala“ ist nehmensnachfolge „nexxt“ ausweiten und uns verstärkt an nach oben offen. Wir hoffen in diesem Sektor natürlich Existenzgründer wenden, denen wir über die Unterneh- auf noch mehr Bewegung. mensnachfolge – das ist sehr wichtig, weil in den Unter- nehmen ständig Generationswechsel stattfinden, ohne die Ich will in diesem Zusammenhang noch ein Thema an- ein existierendes Unternehmen nicht erhalten werden sprechen, das die mittelständischen Unternehmen zuneh- kann – den Weg in die Selbstständigkeit nahe legen. mend belastet, nämlich die schlechte Zahlungsmoral in Deutschland. Die Zahlungssäumigkeit von Auftraggebern Es geht im zweiten Baustein um die Finanzierung des weitet sich für die mittelständische Wirtschaft, insbeson- Mittelstandes. Wie Sie wissen, haben wir die KfW und dere für das Handwerk, zu einem existenzgefährdenden die Deutsche Ausgleichsbank zusammengelegt. Bereits Problem aus. Leider – so muss man sagen – zeigt sich bisher unterstützen sie diesen Weg faktisch. Jetzt soll dies diese Tendenz zur Zahlungssäumigkeit auch bei Aufträ- über die Gesetzgebung festgeschrieben werden. Damit gen der öffentlichen Hand. werden – das geschieht in der Realität schon – alle För- derprogramme unter einem Dach der Mittelstandsbank (Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk [SPD]: Leider! des Bundes zusammengeführt. Die beiden Banken bün- Leider!) deln so ihre Kraft und ihr Wissen zu einem übersichtli- Ich trete den Kommunen nicht zu nahe, wenn ich sage, chen Förderangebot als Mittelstandsbank des Bundes in- dass dies vor allen Dingen ein Problem der Städte und Ge- nerhalb der KfW-Gruppe. meinden ist. Durch die Neustrukturierung der Förderprogramme Die Bundesregierung hatte bereits in der letzten Legis- werden die Antragstellung vereinfacht und die Transpa- laturperiode mit dem Gesetz zur Beschleunigung fälliger renz erhöht. Dem Mittelstand steht somit in Finanzie- Zahlungen auf diese Entwicklung reagiert und verschie- rungsfragen ein Ansprechpartner zur Verfügung. Dazu dene Möglichkeiten eingeführt, mit denen Gläubiger ihre gehört beispielsweise auch ein Beratungs- und Betreu- berechtigten Ansprüche schneller durchsetzen können. ungsangebot, wie wir es von der Deutschen Ausgleichs- Die Praxis zeigt aber leider, dass es die durchweg (B) bank kennen, angefangen von der Gründungsberatung schwächeren Gläubiger, beispielsweise Handwerksunter- (D) über das Thema Generationswechsel bis hin zu den Run- nehmen, aus Sorge um das Ausbleiben von Anschlussauf- den Tischen, die die Deutsche Ausgleichsbank in ganz trägen oft nicht wagen, die Möglichkeiten dieses Gesetzes Deutschland, insbesondere in Ostdeutschland durchge- zu nutzen. Manchen ist das Gesetz auch nicht bekannt. führt hat. Wir werden zunächst die mittelständische Wirtschaft, Die Tatsache, dass es nur noch einen Ansprechpartner insbesondere die kleinen Betriebe, verstärkt über die gibt, bedeutet natürlich auch einfachere und kostengüns- Möglichkeiten informieren, die nach derzeitiger Geset- tigere Verfahren für die Partner der Kreditwirtschaft. Da- zeslage die Durchsetzung praktischer und berechtigter durch werden sich die Chancen der mittelständischen Un- Ansprüche erleichtern und beschleunigen. Wir wollen uns ternehmen auf günstige Finanzierungsmittel erhöhen. Das dann mit dem Zentralverband des Deutschen Handwerks ist eines der wichtigsten Themen, mit denen wir es zu tun und dem Deutschen Industrie- und Handelskammertag in- haben. tensiv um die Entschärfung dieses Problems kümmern. Wir werden dazu Gespräche mit den Ländern führen und (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Vorschläge erörtern, die wir dann in diesem Hohen Haus DIE GRÜNEN) beraten können. Die kleinen und mittleren Unternehmen haben erheb- Der dritte Baustein betrifft den Bürokratieabbau. Um liche Kredit- und Eigenkapitalprobleme. Das sind, wie mehr Wachstum und Beschäftigung zu bewirken, müssen wir alle wissen, keine politischen Probleme, sondern Pro- wir bürokratische Fesseln lösen und Hindernisse beseiti- bleme des Kreditgewerbes. gen, die die Wirtschaft und insbesondere den Mittelstand (Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU) hemmen. Dieser Überzeugung haben wir bereits erste Ta- ten folgen lassen. Gemeinsam haben wir beispielsweise – Darüber mögen Sie schmunzeln. Wir können uns gerne die geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse von büro- darüber unterhalten. Die Probleme des Kreditgewerbes kratischem Ballast befreit. sind allerdings nicht zum Schmunzeln. Das Kreditge- (Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Nach- werbe, insbesondere das private Bankengewerbe, hat sich dem Sie ihn zunächst geschaffen haben!) nicht rechtzeitig auf Umstrukturierungsnotwendigkeiten eingestellt, um das klar zu sagen. Diese Regelung tritt am 1. April in Kraft. Wir haben die Programme auf den Weg gebracht. Dazu (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten gehört beispielsweise auch das Programm „Kapital für Ar- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Lachen beit“, mit dem die Beschäftigung von Arbeitslosen in ei- bei der CDU/CSU) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2003 1669

Bundesminister Wolfgang Clement (A) – Sie waren dabei eine wirkliche Hilfe. geln und Normen umgeben und wünschen solche Normen (C) auch weiterhin vom Staat. Oft finde ich diejenigen, die (Heiterkeit und Beifall bei der SPD und dem solche Normen vom Staat erwarten, unter denen, die rela- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) tiv laut Bürokratieabbau, Deregulierung und Ähnliches Für den Fall, dass Sie es noch nicht gelesen haben sollten, von uns fordern. mache ich Sie darauf aufmerksam, dass es am 1. April Ge- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ setzeskraft erlangen wird. DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der Unsere Vorschläge zum Langzeitthema Ladenschluss- CDU/CSU) gesetz liegen dem Hohen Hause ebenfalls vor. Fortset- Es ist gut, wenn wir uns allesamt mit diesem Thema zung folgt: Ich erwähne beispielsweise die von Frau Kol- beschäftigen und jeder in seinem Sprengel einmal schaut, legin Zypries vorgesehene Reform des Gesetzes gegen welche Regelungen man vielleicht schon freiwillig ab- den unlauteren Wettbewerb, bei der die bislang durch und schaffen kann. Das wäre bereits ein gewaltiger Beitrag zum durch geregelten Sonderaktionen von bürokratischen Fes- Bürokratieabbau und zur Deregulierung in Deutschland. seln befreit werden sollen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Des Weiteren nenne ich den Gesetzentwurf Hartz III, DIE GRÜNEN) der sich mit dem Umbau der Bundesanstalt für Arbeit zu einem wirklichen Bundesunternehmen für Arbeitsver- Ein vierter Baustein betrifft die Ausbildung: Die För- mittlung beschäftigen wird. Der Vorstand der Bundes- derung der Berufsausbildung ist in diesen Tagen zu anstalt arbeitet bereits daran. Wir werden dies gesetzlich Recht wieder in den Mittelpunkt gerückt. Sie ist dringend fundieren. notwendig, da wir mehr Ausbildungsplätze brauchen. Auch brauchen wir eine Reform der Berufsausbildung. Zum Thema Bürokratieabbau liegt uns inzwischen eine Vielzahl von Anregungen aus der Wirtschaft und von (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ der gewerkschaftlichen Seite vor. Diese Anregungen wer- DIE GRÜNEN) den geprüft und dort umgesetzt, wo es möglich und sinn- Unser Versprechen muss eingehalten werden und es ist voll ist. nur einzuhalten, wenn alle mittun – an diesem Punkt hat An dieser Stelle weise ich zur Klarstellung und zur Ver- Peter Hartz absolut Recht –: wenn das Problem in allen meidung allzu hoher Erwartungen hinsichtlich des Um- Städten und Gemeinden angegangen wird und wenn sich setzungstempos darauf hin, dass Veröffentlichungen vom diejenigen, die Verantwortung tragen, zusammentun und heutigen Tage, die eine tabellarische Übersicht über alles darüber nachdenken, wie man mehr Ausbildungsplätze mobilisieren kann. beim Thema Bürokratieabbau Denkbare und Wünschens- (B) (D) werte enthalten, lediglich eine gute Übersicht darstellen, Eine gute Ausbildung – das wissen wir alle – ist die Vo- aber keine politische Verbindlichkeit beanspruchen kön- raussetzung für einen Erfolg am Arbeitsmarkt. Um mög- nen. Es handelt sich um ein Papier aus dem Wirtschafts- lichst allen Jugendlichen einen Ausbildungsplatz anbieten ministerium, wie es so schön heißt, aber nicht um ein Pa- zu können, planen auch wir einige Maßnahmen: bei- pier des Wirtschaftsministeriums und schon gar nicht um spielsweise Erleichterungen für Betriebe und insbeson- ein Papier des Wirtschaftsministers. Wir werden bei die- dere für junge Unternehmen beim Erwerb der Ausbil- sem Thema also weiterhin von Fall zu Fall miteinander dungsbefugnis. ringen und diskutieren müssen. Meine Damen und Herren, verehrte Kolleginnen und (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Kollegen, wir müssen uns folgenden Sachverhalt vor Au- DIE GRÜNEN) gen führen: 44 Prozent der Betriebe in den alten Bundes- ländern und 51 Prozent der Betriebe in den neuen Bun- Meine Damen und Herren, wir wollen das Ganze oh- desländern sind zurzeit nicht ausbildungsberechtigt. Das nehin nicht in Einzelpunkte aufdröseln, sondern unter der heißt, rund die Hälfte der Betriebe haben überhaupt keine Federführung des Bundesinnenministers in einem Mas- Berechtigung, junge Menschen auszubilden. Dies ist terplan zusammenführen. Ein solches Konzept zum Bü- nicht vernünftig; so kann es nicht funktionieren. Deshalb rokratieabbau wird die Bundesregierung voraussichtlich müssen, wollen und werden wir die Ausbildereignungs- im Februar beraten; danach werden wir Ihnen unsere Vor- verordnung vereinfachen. Um es ganz vorsichtig zu sa- schläge vorlegen. gen: Künftig muss es möglich sein, dass auch junge Un- Da ich mich nun mit diesem Thema intensiver be- ternehmen ausbilden können. Viele von ihnen haben Spaß schäftigt habe, finde ich Folgendes bemerkenswert: Alle und Freude daran und wir müssen sie unterstützen. Man gesellschaftlichen Gruppen haben sich mit dem Thema kann sie auch finanziell unterstützen, beispielsweise aus Bürokratieabbau auseinander zu setzen. Wer sich bei- privaten Stiftungen, die noch aufzubauen wären. Aber spielsweise mit den Gebührenordnungen und sonstigen man muss es auch tun, indem wir die rechtlichen Bedin- Regelungen befasst, die einzelne Berufsgruppen sich auf- gungen dafür verändern. Gemeinsam mit meiner Kollegin erlegt haben oder vom Staat erwarten, wird auf interes- Bulmahn setze ich mich dafür ein, die Ausbildungsord- nungen weiter zu entschlacken und sie konsequenter als sante Dinge stoßen, die über Jahrzehnte entstanden sind. bisher auf die betrieblichen Möglichkeiten und auch auf Das gilt nicht nur für das Handwerk, sondern beispiels- die Belange des Mittelstandes auszurichten. weise auch für Architekten, Ingenieure, Rechtsanwälte, Steuerberater und Schornsteinfeger. Alle ehrenwerten Be- Das bedeutet auch, dass wir mehr differenzierte, mehr ar- rufe haben sich in Deutschland mit einem Netz von Re- beitsmarktfähige und mehr zweijährige Ausbildungsberufe 1670 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2003

Bundesminister Wolfgang Clement (A) brauchen, um allen Jugendlichen eine Erfolg verspre- Präsident Wolfgang Thierse: (C) chende Ausbildung zu ermöglichen. Nicht alle Jugendli- Ich erteile das Wort dem Kollegen Friedrich Merz, chen sind – Gott sei Dank – über einen Leisten zu schla- CDU/CSU-Fraktion. gen, genauso wenig wie wir. Deshalb kann man nicht alle gleichmäßig über den Leisten einer dreieinhalbjährigen (Beifall bei der CDU/CSU) Ausbildung schlagen. Man muss vielmehr unterschiedli- che, differenzierte Ausbildungsmöglichkeiten anbieten. Friedrich Merz (CDU/CSU): (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- DIE GRÜNEN) ren! Wer in diesem Haus will bestreiten, dass der Mittel- Übrigens hat es sich bewährt, Unternehmen zu ermuti- stand in Deutschland die tragende Säule unserer Volks- gen, Patenschaften bzw. Partnerschaften mit Schulen ein- wirtschaft ist? Wer will bestreiten, dass wir gerade unser zugehen. Die Unternehmen profitieren davon, weil solche politisches Augenmerk auf die Stärkung und Förderung Schulen sehr viel stärker auf den Arbeitsmarkt und das des Mittelstands richten müssen, wenn wir aus der schwe- Wirtschaftsleben ausgerichtet sind. Umgekehrt können ren strukturellen Wachstums- und Beschäftigungskrise auch die Schulen sehr davon profitieren, wenn sie mit ei- unseres Landes wieder herausfinden wollen? Aber mit nem Betrieb enger verbunden sind. Beispielsweise kann kleinen Programmen lassen sich die schweren makroöko- sich das positiv – das zeigen Erfahrungen einer Studie, die nomischen Verwerfungen unserer Volkswirtschaft nicht mit Förderung der Bertelsmann-Stiftung durchgeführt beseitigen. Wer nicht an den grundlegenden Vorausset- worden ist – auf die technische Ausstattung der Schulen zungen für Aufschwung und Beschäftigung arbeitet, der auswirken. wird auch mit noch so gut gemeinter Mittelstandsrhetorik Ich möchte – das ist der fünfte Baustein – noch gerne und mit noch so gut gemeinten Programmen für alle mög- auf die Außenwirtschaftsinitiative hinweisen, die wir sehr lichen staatlichen Institutionen dieses Land nicht aus der stark auf den Mittelstand ausrichten, indem wir insbeson- Krise führen. dere versuchen, den Zugang zu den Hermes-Exportbürg- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) schaften und zu Investitionsgarantien zu erleichtern. Wir machen ihn auch mittelstandsfreundlicher, indem wir nur Herr Bundeswirtschaftsminister, Sie haben gestern noch kleine und mittlere Unternehmen mit unserem Mes- den Jahreswirtschaftsbericht vorgelegt. Wir begrüßen seprogramm fördern. Große Unternehmen finden ja al- ausdrücklich, dass der Bundeswirtschaftsminister wie- leine den Weg ins Ausland. Ich will hier besonders darauf der dafür zuständig ist. Aber Sie haben durch die Aus- hinweisen, dass es für Ostdeutschland wichtig ist, den weitung der Zuständigkeiten Ihres Hauses nicht nur die Zuständigkeit für die Wirtschaftspolitik im umfas- (B) Prozess des EU-Beitritts der mittel- und osteuropäischen (D) Staaten als eine große Chance für Deutschland zu verste- senden Sinn und die Zuständigkeit für den Jahres- hen. Wir, Herr Kollege Stolpe und ich, planen deshalb wirtschaftsbericht zurückbekommen, sondern auch die auch in Ostdeutschland Begegnungen und Konferenzen Zuständigkeit für die Arbeitsmarktpolitik hinzubekom- mit Unternehmern aus den mittel- und osteuropäischen men. Dies ist eine richtige strukturelle Entscheidung, Beitrittsländern, um den Markt für beide Seiten transpa- die in der Bundesregierung getroffen worden ist. Sie renter und damit erfolgversprechender zu machen. überantwortet Ihnen aber auch im umfassenden Sinne die Verantwortung für die Wirtschaftspolitik und die Ar- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ beitsmarktpolitik. DIE GRÜNEN) Angesichts dessen wäre es gut gewesen, wenn Sie Das sind die Kernthemen unserer Mittelstandsoffen- heute Morgen nicht nur auf die – im Einzelnen durchaus sive, das heißt unseres Bemühens, mehr Existenzgrün- diskussionswürdigen – Programme der Kreditanstalt für dungen zuwege zu bringen. Die Selbstständigenquote in Wiederaufbau und auf alle möglichen Vorschläge, auch Deutschland liegt momentan bei 9 Prozent. Wir brauchen aus Ihrem Hause, Bezug genommen hätten. Wir haben er- aber eine von 14 Prozent. Wenn wir – theoretisch gespro- wartet, dass Sie etwas zu den grundlegenden Problemen chen – diese europäische Durchschnittsquote bei den unseres Landes sagen; wir haben erwartet, dass Sie etwas Selbstständigen erreichen, dann haben wir eine gute zu der grundlegenden Wachstums- und Beschäftigungs- Chance, das Arbeitsmarktproblem in den Griff zu bekom- krise dieses Landes sagen. men. Wir müssen deshalb den kleinen und mittleren Un- ternehmen das Leben und das Arbeiten erleichtern. Das (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – wollen wir auch tun. Der Erfolg entscheidet über Wachs- Ludwig Stiegler [SPD]: Thema verfehlt!) tum und Beschäftigung. Sie werden auch mit einer noch so gut gemeinten Mit- Ich denke, dass wir uns über die Ziele einig sind. Über telstandsrhetorik aus diesen strukturellen Problemen nicht die Wege zum Erreichen der Ziele werden wir zu disku- herausfinden. Deutschland hat im Jahre 2002 ein Wirt- tieren haben. Aber es kommt darauf an, aus den Zielen so schaftswachstum von 0,2 Prozent gehabt. Wir lagen da- rasch wie möglich Taten und konkrete Entwicklungen zu mit wieder auf dem letzten Platz in der Europäischen machen. Union. Es wäre gut, wenn Sie, Herr Bundeswirtschafts- minister, und noch mehr Sie, Herr Bundeskanzler, endlich Ich danke Ihnen sehr für Ihre Aufmerksamkeit. aufhören würden, das Problem der Wachstumsschwäche (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ in Deutschland damit zu erklären, dass es Unsicherheiten DIE GRÜNEN) in der Weltkonjunktur gibt. Das Problem, das wir in Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2003 1671

Friedrich Merz (A) Deutschland haben, hat mit der Weltkonjunktur praktisch Gerade für kleine und mittlere Unternehmen ist eine (C) nichts zu tun. abnehmende Staatsquote, also ein geringerer Anteil des Staatsverbrauchs am Sozialprodukt, die Existenzbedin- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Wi- gung schlechthin. derspruch bei Abgeordneten der SPD) (Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk [SPD]: Die Weltwirtschaft ist im Jahre 2002 um 3,7 Prozent Volkwirtschaftlicher Unsinn!) gewachsen. Der Export aus Deutschland hat damit zwar nicht Schritt gehalten; aber er ist immerhin stärker als die Kleine und mittlere Unternehmen werden in diesem Binnenwirtschaft gewachsen. Dass wir überhaupt noch Lande nur dann dauerhaft eine Chance haben, wenn sie ein geringfügiges Wirtschaftswachstum – es lag knapp weniger Steuern und weniger Sozialversicherungs- oberhalb der Nachweisgrenze – gehabt haben, ist dem Ex- beiträge zahlen müssen. Im Klartext: Kleinere und mitt- port zu verdanken und nicht der Binnenkonjunktur. Mitt- lere Unternehmen werden in diesem Lande nur dann dau- lerweile sprechen viele europäische Länder – wie ich erhaft eine Chance haben, wenn der Staat weniger von finde, zu Recht – von der „deutschen Krankheit“. Das ei- dem Sozialprodukt verbraucht, das die Unternehmen er- gentliche Problem ist die Wirtschaftspolitik der rot-grü- wirtschaften. nen Bundesregierung seit vier Jahren. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Wenn Sie diese Zusammenhänge in einer so wichtigen Herr Bundeskanzler, Sie verantworten 37 000 Kon- Debatte über die Zukunft des Mittelstandes noch nicht kurse im Jahre 2002. Die meisten zusammengebrochenen einmal erwähnen, meine Damen und Herren von der rot- Unternehmen waren kleine und mittelständische Be- grünen Koalition, dann befürchte ich, dass es auch im triebe, also Unternehmen der mittelständischen Wirt- Jahre 2003 mit der Volkswirtschaft in Deutschland nicht schaft, und nur wenige große. Sie haben vor Jahr und Tag besser laufen wird als im Jahre 2002. das Ziel formuliert, die Anzahl der Arbeitslosen in Wir haben nun in wenigen Stunden den ersten Monat Deutschland auf 3,5 Millionen zu senken. Daran wollten des Jahres 2003 hinter uns. Sie, Herr Bundeswirtschafts- Sie sich über den gesamten Verlauf der letzten Wahlpe- minister, reden zu Recht von Bürokratieabbau. Ich habe riode messen lassen. Ihnen das vor einiger Zeit von dieser Stelle aus schon ein- (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Da sitzt er, mal gesagt: Der Bund hat in der letzten Wahlperiode, der der Prahlhans!) 14., insgesamt 391 neue Gesetze und 973 neue Rechts- verordnungen erlassen. Das war sozusagen das Programm Zu Beginn dieser Wahlperiode, in der Sie leider immer für Bürokratieabbau in der letzten Wahlperiode. Jetzt noch regieren, haben wir 4,5 Millionen Arbeitslose. Herr (B) sprechen Sie wiederum von Bürokratieabbau. Wenn wir (D) Bundeskanzler, das ist mindestens 1 Million zu viel. Es morgen in das Wochenende gehen und die ersten 100 Tage sind Ihre Arbeitslosen, weil es Ihre Wirtschaftspolitik und der neuen rot-grünen Bundesregierung, die fast die alte Ihre Arbeitsmarktpolitik ist, die in der Zahl der Arbeits- ist, vorbei sind, dann werden in diesem Land erneut losen zum Ausdruck kommt. 22 neue Gesetze und fast 100 Rechtsverordnungen in (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Kraft getreten sein. Ein Land, in dem der Staat sich in ei- ner solchen Überregulierung verfängt und in dem die Ge- Bedauerlicherweise sagt der Bundeswirtschaftsmi- sellschaft daran glaubt, dass das Leben nur noch durch nister weder in seinem Jahreswirtschaftsbericht vom ges- Gesetze und Verordnungen und nicht mehr durch Unter- trigen Tag noch in seiner Rede zur Mittelstandspolitik am nehmen und Arbeitnehmer, die auch frei etwas entschei- heutigen Tag etwas zu den langfristigen Entwicklungen den können, geregelt werden kann, wird aus der Beschäf- der zentralen Rahmendaten unserer Volkswirtschaft. Da- tigungskrise nicht herausfinden. zu gehört – ob Sie es nun hören wollen oder nicht – die Entwicklung der Staatsquote. Wir können in diesem (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Zu- Haus – wir tun das seit langer Zeit – über Mittelstand, über rufe von der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE Wirtschaft sowie über Beschäftigung lange streiten und GRÜNEN) diskutieren und dabei viele einzelne Schritte gehen. Wenn Zu den besonders schwer wiegenden Fehlentscheidun- die Staatsquote dieses Landes nicht langfristig zurückge- gen der rot-grünen Koalition gehört die Steuerpolitik. führt wird, wenn die Freiräume für Wirtschaft und Be- schäftigung nicht vergrößert werden, dann werden alle (Franz Müntefering [SPD]: Merz war auch Bemühungen vergebens sein. Ein Land, das eine Staats- schon überzeugender!) quote von fast 50 Prozent hat, bzw. eine Volkswirtschaft, Wir haben gegen Ende des letzten Jahres den Jahres- in der fast die Hälfte des Sozialprodukts durch Steuern wirtschaftsbericht diskutiert. Der Sachverständigenrat hat und Sozialversicherungsbeiträge absorbiert wird, weil die 20 Vorschläge gemacht, wie man aus der Wachstums- und staatlichen Institutionen dieses Geld brauchen, ist in Beschäftigungskrise herausfinden kann. Herr Bundesfi- Wahrheit keine soziale Marktwirtschaft mehr; sie ist eine nanzminister und Herr Bundeswirtschaftsminister, Steu- Staatswirtschaft mit abnehmendem privaten Sektor. ererhöhungen sind in der Liste dieser 20 Vorschläge des (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Sachverständigenrates nicht enthalten gewesen. Sie haben Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk [SPD]: Was ist mit zum 1. Januar 2003 eine hohe Zahl neuer Steuererhöhun- Skandinavien? Sagen Sie das doch den Schweden gen in Kraft treten lassen und Sie muten uns jetzt allen und den Norwegern!) Ernstes im Zusammenhang mit dieser Mittelstandsdebatte 1672 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2003

Friedrich Merz (A) zu, dass wir in wenigen Tagen nach Ihrem Willen erneut benabzug in der Größenordnung von 50 Prozent profitiert. (C) über mehr als 40 weitere neue Steuererhöhungen be- Das ist ein Popanz, den Sie hier mit schönen Worten auf- schließen sollen. bauen und der mit der wirtschaftlichen Realität in Deutschland nichts, aber auch gar nichts zu tun hat. Glaubt denn irgendjemand in diesem Haus im Ernst, dass der Mittelstand in Deutschland so wieder auf die (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Füße kommt? Glaubt irgendjemand im Ernst, dass Sie mit Sie haben uns schon im Oktober des letzten Jahres noch höheren Steuern und Sozialversicherungsbeiträgen voller Stolz ein Programm mit dem Namen „Kapital für und noch mehr Belastungen in diesem Lande wieder mehr Arbeit“ vorgestellt, das bei der Kreditanstalt für Wieder- Beschäftigung in den kleinen und mittleren Betrieben er- aufbau eingerichtet worden ist, einer Bank, die jetzt den reichen können? Das glatte Gegenteil wird eintreten: schönen Namen Mittelstandsbank tragen soll; das ist also Wenn Sie so weitermachen, stehen wir zu Beginn des Jah- keine neue Institution, sie bekommt nur ein neues Tür- res 2003 wahrscheinlich am Anfang des Jahres mit der schild. Die Bilanz dieses Programms „Kapital für Arbeit“ schwersten Wirtschaftskrise, die dieses Land in seiner Ge- sieht nach zweieinhalb Monaten wie folgt aus: Bis Mitte schichte erlebt haben wird, weil Sie immer noch nicht ver- Januar sind in zweieinhalb Monaten, zehn Wochen, ins- standen haben, was die Grundbedingungen für eine ge- gesamt 121 Anträge bewilligt worden sunde Volkswirtschaft sind, und immer noch nicht eingesehen haben, welche gravierenden Fehler Sie ge- (Heiterkeit des Abg. Hans Michelbach macht haben. [CDU/CSU]) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – mit einer Fördersumme von 32,5 Millionen Euro. Damit Widerspruch bei der SPD) sind rund 860 Arbeitsplätze in Deutschland gefördert worden. Ich will das anhand eines ganz konkreten Beispiels, Herr Bundeswirtschaftsminister, zu belegen versuchen. Herr Bundeswirtschaftsminister, in Deutschland ma- Dieses Steuersubventionsabbaugesetz, was Ihr Nachbar chen jeden Werktag 200 Unternehmen Pleite. Wenn man zur Linken jetzt vorgelegt hat, ist ein Gesetz, mit dem Sie unterstellt, dass dadurch „nur“ – in Anführungsstrichen – einen Marketingerfolg erzielt haben. So glauben aufgrund zehn Arbeitsplätze pro Unternehmen damit verloren ge- der Überschrift immer noch einige Journalisten, es han- hen, dann gehen durch die Wirtschaftspolitik dieser rot- dele sich um einen Beitrag zur Sanierung der Staatsfinan- grünen Bundesregierung jeden Tag mehr als doppelt so zen. In Wahrheit ist es ein Steuererhöhungsgesetz, dessen viel Arbeitsplätze verloren, wie Sie in zweieinhalb Mona- ten mit dem so aufwendig verkauften Programm „Kapital Volumen in den nächsten vier Jahren mindestens 20, mög- für Arbeit“ in Deutschland neu geschaffen haben. Sehen licherweise 30 Milliarden Euro an Belastungen für Wirt- Sie nicht die Relationen zwischen dem, was Sie auf der ei- (B) schaft und Arbeitsplätze in Deutschland entspricht. Sie (D) nen Seite tun, und dem, was Sie auf der anderen Seite verkünden hier vor diesem Hintergrund voller Stolz, dass durch die für unsere Volkswirtschaft schwer wiegenden Sie steuerliche Entlastungen für den Mittelstand zwischen Verwerfungen und diesen Nachkriegsrekord an Unterneh- 35 und 60 Millionen Euro mit Ihrem Mittelstandsförde- menskonkursen in Deutschland zulassen? rungsprogramm auf den Weg bringen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Herr Bundeswirtschaftsminister, wenn in diesen Tagen jemand seine Bilanz für das letzte Jahr erstellt, wird er Ich weise auf eine Kostenbelastung hin, die in den letz- darin kaum noch Gewinne ausweisen können. Wenn er ten Wochen und Monaten praktisch außerhalb des Fokus dann unter Einbeziehung der Vorschläge des Bundeskabi- der deutschen Öffentlichkeit und außerhalb der Betrach- netts und der Steuererhöhungen, die jetzt bevorstehen, in tung der politischen Diskussion geblieben ist – bedauer- das Jahr 2003 hineinblickt, muss es ihm wie Hohn vor- licherweise, wie ich finde –: die Entwicklung der Ener- kommen, dass Sie jetzt eine steuerliche Entlastung vor- giekosten in Deutschland. Meine Damen und Herren, in schlagen, der auf der anderen Seite höhere Belastungen, vier Jahren Rot-Grün hat sich die Steuer auf Strom von ungefähr 2 Milliarden Euro im Jahr auf jetzt über 12 Mil- (Zuruf von der FDP: 17 Milliarden!) liarden Euro pro Jahr fast versechsfacht. Sie haben die die auf die Volkswirtschaft und damit auf die mittelstän- Steuerbelastung auf Energie, auf Strom – damit sind alle dischen Betriebe zukommen, gegenüberstehen. Unternehmen unmittelbar betroffen – in den vier Jahren Ihrer Amtszeit fast versechsfacht. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Ludwig Stiegler [SPD]: Sie müssen sich den Ich will in dem Zusammenhang nur der Vollständigkeit Saldo anschauen!) halber sagen: Der Bundesfinanzminister konnte natürlich leichter Hand zustimmen, bis zu einem Umsatz von Das heißt im Klartext, Sie haben durch diese steuerliche Be- 17 500 Euro im Jahr einen pauschalen Betriebsausgaben- lastung auf den Faktor Energie – Energiekosten sind ein abzug zuzulassen. Zeigen Sie mir einmal ein Unterneh- wichtiger Bestandteil jedes Unternehmens, auch mit Blick men, ein ganz kleines, ein kleines, ein mittleres oder ein auf den unternehmerischen Erfolg – praktisch den gesamten Rationalisierungs- und Liberalisierungsgewinn abgeschöpft großes, das 50 Prozent Umsatzrendite macht, Herr Bun- deswirtschaftsminister. ( [CDU/CSU]: Richtig! Für die grünen Schutzgelderpresser!) Das ist doch geradezu lächerlich. Da können Sie auch 175 000 Euro hinschreiben; es gibt kein Unternehmen, und auf diese Weise dafür gesorgt, dass trotz des Wettbe- das allen Ernstes von einem pauschalen Betriebsausga- werbs und sinkender Preise in Deutschland im Ergebnis Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2003 1673

Friedrich Merz (A) mittlerweile mit die höchsten Energiepreise in der gesam- Sie haben dafür gesorgt, dass die öffentlichen Haushalte in (C) ten Europäischen Union bestehen. diesem Lande praktisch handlungsunfähig geworden sind, weil Sie es nicht geschafft haben, die Probleme zu lösen. Was nützt Ihr Mittelstandsprogramm, wenn zu demsel- ben Zeitpunkt diejenigen, die hier wettbewerbsfähige Be- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Klaus triebe aufbauen sollen, immer höhere Steuern und immer Brandner [SPD]: Eine Unmöglichkeit sonder- höhere Energiekosten zu tragen haben? gleichen!) (Ludwig Stiegler [SPD]: 20,3 Prozent Renten- Wir sollten gemeinsam handeln. Ich betone das, weil beiträge!) ich meine, dass die Zeiten der kleinkarierten parteipoliti- schen Auseinandersetzungen nun wahrlich vorbei sind. Es nützt nichts! Sie müssen diese Kostenbelastung sen- ken, sonst wird das beste Programm nichts nützen. (Lachen bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Krista Sager [BÜNDNIS 90/ (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – DIE GRÜNEN]: Das ist eine späte Einsicht!) Zuruf der Abg. Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk [SPD]) – Was die Wählerinnen und Wähler von der Art und Weise halten, wie Sie die Auseinandersetzung führen, werden Meine Damen und Herren, für den Zwischenruf, den wir uns gemeinsam am Sonntagabend anschauen. ich gerade gehört habe, bin ich außergewöhnlich dankbar. Sie sagen, dafür seien aber die Lohnzusatzkosten ge- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- senkt worden. neten der FDP – Christian Lange [Backnang] [SPD]: Das ist ja wohl nicht zu fassen!) (Ludwig Stiegler [SPD]: 20,3 Prozent waren eure Beiträge!) Wir werden ja sehen, wie am Montagmorgen die Lage in Deutschland ist. Trotz aller christlichen Demut bin ich schon Das hätten Sie nun besser nicht gesagt. Wir befinden uns heute voller Schadenfreude auf Ihre Gesichter gespannt. am Anfang des Jahres 2003 bei einer Belastung mit Lohn- (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU – zusatzkosten, allein durch Sozialabgaben, von jetzt wie- Ludwig Stiegler [SPD]: Das haben wir am der über 42 Prozent. Die Wahrheit ist doch, dass beides 22. September gesehen!) dramatisch ansteigt: Die Zeiten des Klein-Kleins sind vorbei. Ich will zwei (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Punkte ansprechen, die wichtig sind, um aus der Wachs- einerseits die Steuerbelastung und die Kostenbelastung tums- und Beschäftigungskrise herauszukommen. durch Energie und andererseits die Sozialversicherungs- Der erste Punkt. Sie müssen gerade kleinen und mitt- (B) beiträge. Sie sind doch am Ende mit Ihrer Politik der Hin- leren Unternehmen das Recht verschaffen, von bestehen- (D) und Herschieberei zwischen den einzelnen Haushalts- den Regelungen der Flächentarifverträge abzuweichen, titeln dieses Landes! (Zurufe SPD: Oh!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) wenn die Betriebsparteien dies wollen und darin überein- Sie von der SPD brauchen sich im Übrigen doch nicht stimmen. darüber zu beklagen, dass die Spielräume in den öffent- lichen Haushalten für eine vernünftige Steuerpolitik mit (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Abgabensenkungen nicht mehr vorhanden sind. Ich will Ich sage Ihnen: Dies ist eine der zentralen wirtschafts- in diesem Zusammenhang eine Zahl nennen – ich muss politischen Herausforderungen, vor der wir stehen. Sie immer wieder feststellen, dass die Bürgerinnen und Bür- müssen sich in der SPD aus der Umklammerung der ger in diesem Lande sie fast nicht kennen –, die verdeut- DGB-Gewerkschaften lösen licht, wie der Bundeshaushalt mittlerweile durch die Zuschüsse zur Rentenversicherung belastet wird. Das (Beifall bei Abgeordneten der FDP) Gesamtvolumen des Bundeshaushalts beträgt knapp und bereit sein, hier ein Stück Freiheit für kleine und mitt- 250 Milliarden Euro. Der laufende Zuschuss aus diesem lere Unternehmen zu ermöglichen, damit sie nicht nur in Haushalt an die Rentenversicherung und Knappschafts- der Krise eine Chance haben, zu überleben, sondern da- versicherung beläuft sich auf über 77 Milliarden Euro. mit sie auch eine Chance haben, in Zeiten, in denen es den (Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Unternehmen relativ gut geht, neue Investitionen zu täti- Ein Drittel!) gen und neue Arbeitsplätze zu schaffen. Das heißt, fast ein Drittel der Ausgaben des Bundes ent- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) fallen auf die Zuschüsse an die Rentenversicherung. Ich will Ihnen ein Zweites sagen, das besonders für den (Ludwig Stiegler [SPD]: Wollt Ihr die Renten Mittelstand gilt. Gerade im Mittelstand ist eines der größten kürzen?) Probleme, dass das Lohnabstandsgebot nicht eingehalten wird und die Konkurrenz durch ABM-Gesellschaften, Im Klartext heißt das: Sie haben nicht ein einziges Pro- (Klaus Brandner [SPD]: 450 000 in 1998!) blem gelöst. Sie haben nur die Finanzierung hin und her geschoben. insbesondere im Osten, das Entstehen von mittelständi- schen Unternehmen praktisch unmöglich macht. (Klaus Brandner [SPD]: Wir haben die Fehl- entwicklungen aufgehoben, Herr Merz!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) 1674 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2003

Friedrich Merz (A) Herr Bundeswirtschaftsminister, vielleicht können Sie haben die Leute angeschmiert! Was ist mit der (C) und andere Mitglieder der Bundesregierung nach dem kom- Telekom-Aktie?) mendem Sonntag über dieses Thema etwas unbefangener Am zweiten Punkt, Herr Merz, treffen wir uns. Die der- mit uns sprechen. In diesem Land muss der Grundsatz wie- zeitige Situation hat natürlich auch hausgemachte Ursa- der gelten, dass derjenige, der arbeitet, mehr Geld verdient chen. Es gibt Strukturprobleme am Standort Deutsch- als derjenige, der nicht arbeitet und soziale Leistungen be- land, die wir zusammen bekämpfen müssen. Ich will die zieht. Wenn Sie aber diesen Grundsatz dauerhaft verletzten, wichtigsten nennen. dann wird weder Beschäftigung entstehen noch haben mitt- lere und kleine Unternehmen in diesem Lande eine Chance. (Michael Glos [CDU/CSU]: Sie sind nicht auf dem Grünen-Parteitag! Bleiben Sie bei der Wahr- Herzlichen Dank. heit!) (Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU – Wir haben die deutsche Einheit falsch finanziert, darunter Beifall bei der FDP) leiden die Sozialversicherungssysteme. Dazu haben Sie nichts gesagt. Präsident Wolfgang Thierse: (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Ich erteile das Wort dem Kollegen Fritz Kuhn, Bünd- und bei der SPD) nis 90/Die Grünen. 30 Milliarden Euro jährlich fehlen uns, weil wir die deut- (Zuruf von der CDU/CSU: Da wollen wir mal sche Einheit aus Kassen finanzieren, die dafür nicht vor- gucken, was der davon weiß!) gesehen sind. (Michael Glos [CDU/CSU]: Dafür habt ihr Fritz Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): den Kohl immer beschimpft!) Sehr verehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Auch aus diesem Grund steigen die Lohnnebenkosten und Kollegen! Herr Merz, die Lebenserfahrung lehrt, dass die die Arbeitslosen sind diejenigen, die darunter zu leiden Welt nicht so einfach ist, wie Sie sie gerade dargestellt haben. haben. (Michael Glos [CDU/CSU]: Gehen Sie doch auf (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Ihren Parteitag! Da können Sie den Unfug vor- sowie bei Abgeordneten der SPD) tragen!) Ihre Rede hatte ja eine einfache Grundaussage: Für alles Wir finanzieren die sozialen Sicherungssysteme nach Positive in Deutschland ist die Union zuständig und für al- wie vor falsch, wir koppeln die Beiträge zu stark an die (B) les Negative in Deutschland ist die Regierung zuständig. Löhne. (D) Wenn Sie mit diesem einfachen Weltbild leben wollen, (Michael Glos [CDU/CSU]: Ein typischer Par- wünsche ich viel Vergnügen. teitagsredner!) Sie haben gesagt: Wir kommen nur weiter, wenn wir Hier müssen wir gründliche Veränderungen schaffen, und mit kleinkariertem Parteiengezänk und Hickhack auf- zwar zunächst aus demographischen Gründen, aber auch hören. Ihre Rede war aber nichts anderes. deshalb, weil in einer sozialen Marktwirtschaft, die die so- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zialen Transferleistungen in den Bereichen Gesundheit, und bei der SPD) Rente und Pflegeversicherung ausschließlich aus Beiträgen finanziert, die Arbeitslosen die Verlierer sein werden. So- Ich will dies ganz konkret an den Punkten, die Sie genannt ziale Sicherung zulasten der Arbeitslosen ist in der sozia- haben, darstellen. Es weiß doch nun inzwischen jeder, der len Marktwirtschaft nicht wirklich eine soziale Sicherung. über Wirtschaftspolitik und Arbeitslosigkeit diskutiert, Deswegen werden wir da umbauen müssen. Das sagen wir dass die hohe Arbeitslosigkeit in Deutschland, die wir gerade in Bezug auf den Mittelstand, der unter den hohen bekämpfen müssen, zwei Ursachen hat und nicht eine, Lohnnebenkosten ja viel mehr leidet als die Großbetriebe, wie Sie es darstellen. die mit Produktivitätssteigerungen hohe Lohnnebenkosten Die eine ist tatsächlich die Entwicklung der Welt- in mittlere Lohnstückkosten verwandeln können, was vie- konjunktur mit dem Börsencrash, den wir erlebt haben. len kleinen Handwerksbetrieben nicht möglich ist. Damit das Gerede, Außenfaktoren hätten keine Wirkung, (Dirk Niebel [FDP]: Wer regiert hier denn? aufhört, will ich eine Zahl nennen: Der Börsencrash seit Dann macht es doch!) August 2000 hat allein in der Euro-Zone Börsenwerte in Höhe von 2 900 Milliarden Euro vernichtet. Dass dies Deswegen ist das Jahr 2003 das Jahr der Reformen. Die Auswirkungen auf die Investitionen, auf das Konsum- Grundlagen der sozialen Sicherungssysteme müssen bis klima, auf die allgemeine Stimmung und auf die Arbeits- zum Ende dieses Jahres reformiert werden. losigkeit hat, ist doch vollkommen logisch. Wenn Sie das Wir haben Probleme mit den Banken. Es ist wahr, dass bestreiten, indem Sie sagen, an allem sei die Bundesre- sich vor allem die Großbanken und die privaten Banken, gierung schuld, dann zeigen Sie damit, dass Sie makro- anders als die öffentlich-rechtlichen Banken und die Ge- ökonomisch – das war ja Ihr Anspruch – keine Ahnung ha- nossenschaftsbanken, aus dem Kreditgeschäft für den ben und Ihre Betrachtung der Wirklichkeit falsch ist. Mittelstand verabschiedet haben. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN bei der SPD – Michael Glos [CDU/CSU]: Sie und bei der SPD) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2003 1675

Fritz Kuhn (A) Das muss sich ändern, weil in der sozialen Marktwirt- Sie sind gegen die Sparvorschläge, die die Regierung (C) schaft auch hier Verantwortung übernommen werden zum Beispiel bei der Eigenheimzulage unterbreitet hat. muss. Sie sind auch gegen eine Neuverschuldung, zumindest be- treiben Sie eine heftige Polemik dagegen. Herr Merz, ein weiteres Problem ist die Bürokratie, über die wir im Zusammenhang mit der Entbürokrati- (Michael Glos [CDU/CSU]: Was habt ihr denn sierungsoffensive der Regierung ausführlich zu sprechen anders gemacht?) haben werden. Ich komme in meiner Rede auf diesen Ist also alles wunderbar? Führt Herr Merz in seiner Punkt noch zurück. Rede alle Möglichkeiten aus, wie der Haushalt mit (Michael Glos [CDU/CSU]: Eine Drohung! – 18 Milliarden Euro saniert werden kann? Nein, und das ist Volker Kauder [CDU/CSU]: Aber nicht in der die große Katastrophe! Nach Monaten der öffentlichen Jungfernrede!) Diskussion macht er noch immer keine einzige Aussage dazu, wie er die Krise meistern will. Ich sehe noch ein Problem, das Sie angehen müssen, Herr Merz. Die Opposition in Deutschland redet die Qua- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN lität des Standortes und die Qualität der Wirtschaft in und bei der SPD – Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Deutschland schlecht, weil Sie daraus politischen Nutzen Dann haben Sie nicht zugehört!) ziehen will. Wir befinden uns, wie gesagt, in einer Konjunkturkrise, (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ aber er äußert sich nicht dazu, was in Deutschland zu tun DIE GRÜNEN und der SPD – Widerspruch bei ist. Stattdessen delektiert er sich fröhlich daran, der Re- der CDU/CSU und der FDP) gierung die Schuld zuzuweisen. Dieses Jammern, dieses Schlechtreden und dieses Mies- Sie versteigen sich in die absolute Staatsgläubigkeit, machen ist ein Teil der deutschen Krankheit, die Sie be- wenn Sie die Auffassung vertreten, der Kanzler sei an den klagt haben. Wenn das nicht aufhört, wird genau das ein- Konkursen schuld. Soweit kommt es noch, dass an jedem treten, was Sie bejammern, aber das hilft den Menschen einzelnen Konkurs in der freien sozialen Marktwirtschaft nicht. der Bundeskanzler persönlich schuld sein soll! Die Staats- gläubigkeit, die Sie hier vertreten, ist doch absurd! (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Widerspruch bei der CDU/CSU) Sie sagen, Sie wollen mitarbeiten und als Opposition hel- fen, dass es besser wird. Voraussetzung dafür ist, dass die- Deswegen wird in den nächsten Wochen und Monaten (B) ses Mobbing des Standorts Deutschland, das die Union im Bundesrat die Stunde der Wahrheit kommen, Herr (D) systematisch als Parteistrategie betreibt, unterbleibt. Merz. Da muss sich die Union – für die FDP gilt im Grunde das Gleiche – dazu äußern, was sie konkret tun (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN will. Sie müssen zum Beispiel dazu Stellung nehmen, ob und bei der SPD – Michael Glos [CDU/CSU]: Ihre Aussage vom Sommer, die Körperschaftsteuer müsse So ein Witzbold! Schämen Sie sich! Herr Präsi- verstetigt und Einnahme des Staates werden, noch gilt. dent, kann hier jeder jeden Unsinn reden?) Sie müssen der Öffentlichkeit klar machen, ob Sie dafür – Aber was machen Sie denn anderes, als Deutschland sind, dass die Steuerguthaben der Betriebe, die noch aus schlechtzureden, Herr Glos? Das ist alles, was Sie in den Ihrer Regierungszeit stammen, anders verrechnet werden, vergangenen Monaten in politischer Hinsicht angepackt und ob Sie die von uns vorgeschlagene Mindestbesteue- haben. Das müssen Sie sich einmal anhören, auch wenn rung befürworten. Ich will an dieser Stelle – weil wir gerade es wehtut. Ich kann allerdings verstehen, dass es wehtut. über den Mittelstand reden – betonen, dass die Mindest- besteuerung in Deutschland nur mit einem vernünftigen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Sockelbetrag erfolgen kann. Nur so werden Investitionen und bei der SPD) der kleinen und mittleren Betriebe möglich und diese sind Eines war auffällig, Herr Merz. Da wir uns in einer die Grundlage für das Wachstum in unserem Land. Konjunkturkrise befinden, können Sie nicht in Abrede (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie stellen, dass zum Beispiel im Jahr 2003 – in diesem bei Abgeordneten der SPD – Hans Michelbach Fall durch den Bund – 18 Milliarden Euro für die Sanie- [CDU/CSU]: Das steht aber nicht im Gesetz!) rung der öffentlichen Haushalte aufgebracht werden müssen. Für meine Fraktion möchte ich eines klarstellen: Nur wenn in Deutschland Reformen angepackt werden – und Sie haben zum wiederholten Male festgestellt, was Sie zwar nicht nur hier und dort ein Progrämmchen, sondern nicht wollen. Sie wollen keine Steuererhöhungen, wobei auch elementare Reformen zum Beispiel bei den sozialen Sie übrigens wieder den kleinen logischen Fehler began- Sicherungssystemen –, gen haben, den Abbau von Steuervergünstigungen als Steuererhöhung zu bezeichnen. Das ist aber nicht richtig; (Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: 19,5 Pro- dabei handelt es sich um verschiedene Maßnahmen. zent Krankenversicherungsbeitrag!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN können wir in Deutschland die Krise überwinden. Ich und bei der SPD – Volker Kauder [CDU/CSU]: sage das auch an die Adresse unseres Koalitionspartners Sie sind wirklich ein Witzbold!) gerichtet, Herr Stiegler. Wir haben uns zwar nicht an der 1676 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2003

Fritz Kuhn (A) Diskussion zu beteiligen, welche Rolle Oskar Lafontaine Entbürokratisierungskommissionen gibt, die wenig um- (C) spielen wird, gesetzt haben. (Ludwig Stiegler [SPD]: Ich auch nicht!) Ich will es noch einmal sagen: Unser Staatsverständnis und die Frage, ob vom Staat alles Gute, das es bei uns gibt, aber ich möchte eines festhalten: Die Vorstellung, die permanent überwacht und kontrolliert werden muss und Reichen sollten mehr zahlen, dann würde in Deutschland ob die damit verbundenen Dokumentationspflichten, zum strukturell alles besser werden, die Oskar Lafontaine in Beispiel beim Handwerk, aufrechterhalten werden müs- der „Bild-Zeitung“ verbreitet hat, bildet nicht die Basis sen, gehören auf den Prüfstand, wenn wir die Entbüro- unserer Koalition. kratisierung in Deutschland wirklich ernst nehmen. (Lachen bei der CDU/CSU – Friedrich Merz Ein weiteres Problem für viele Betriebe ist die Liqui- [CDU/CSU]: Das ist ja stark!) dität. Den Rückzug der Privatbanken aus der Verantwor- Richtig ist – damit wende ich mich an Sie, Herr Merz –, tung habe ich angesprochen. Es kommt darauf an, was ge- dass zwar überall Reformen notwendig sind, nau die neue Mittelstandsbank tun wird. Ich glaube, dass ein wesentliches Element sein muss, die vielen Förder- (Horst Seehofer [CDU/CSU]: Weiter so!) programme in Deutschland zu vereinfachen. Hier muss trotzdem möchte ich auf einen Punkt Ihrer Rede eingehen, eine Interaktion, eine Zusammenarbeit mit den Landes- der nicht richtig ist. Wir haben in Deutschland nicht ir- banken und deren Programmen stattfinden; sonst kann gendeine Marktwirtschaft, sondern eine soziale Markt- das nicht funktionieren. Wir müssen uns vor allem fragen wirtschaft. Das, was Sie getan haben – zum Beispiel die – das halte ich für einen wichtigen Punkt –, ob die neue Kürzungen bei der Arbeitslosenhilfe durchzuwinken, die Mittelstandsbank auch Innovationen des Mittelstands fi- den Empfängern von Arbeitslosenhilfe wehtun, nanzieren kann, soweit sie von Hausbanken nicht über- nommen werden können. (Dirk Niebel [FDP]: Aber Sie haben es doch vorgemacht!) Ich komme zum Schluss und will für meine Fraktion feststellen: Wir glauben, dass man in Deutschland sehr aber im Hinblick auf Maßnahmen, die die Besserverdie- viel für den Mittelstand tun kann. nenden bzw. den Mittelstand unserer Gesellschaft treffen, zu erklären, damit hätten Sie nichts zu tun –, entspricht (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Das ist wohl nicht der sozialen Gerechtigkeit, wie wir sie uns vorstel- wahr!) len und wie wir sie in Deutschland brauchen. Strukturreformen sind dabei entscheidend. Ich fordere Sie (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) auf, dabei nicht die Haltung, die Bundesregierung sei (B) schuld, an den Tag zu legen, sondern in den nächsten Mo- (D) Ich möchte zum Abschluss auf einige Punkte der Mit- naten mit eigenen machbaren Vorschlägen, zum Beispiel telstandsoffensive unseres Wirtschaftsministers eingehen. in Bezug auf die Steuerpolitik und die Haushaltskonsoli- Herr Minister, wir Grüne sind Teil der von Ihnen vorge- dierung, stellten Reformallianz für den Mittelstand. Einen zentra- len Punkt stellt die Entbürokratisierung dar. Im Gespräch (Dagmar Wöhrl [CDU/CSU]: Sie müssen ein- mal die Unterlagen lesen!) mit mittelständischen Betrieben ist festzustellen, dass vor allem die mangelnde Motivation aufgrund zu vieler büro- in Erscheinung zu treten. Dies sind Sie nämlich bisher kratischer Auflagen eines der Hauptprobleme der Be- nicht. triebe darstellt. Wir Grüne haben Lust, diesen Reformprozess mitzu- Dabei ist Folgendes zu unterscheiden: Für einen Be- betreiben. trieb mit 400 Beschäftigten sind die Auflagen kein großes (Zuruf von der CDU/CSU: Lust allein reicht Problem, weil er viele staatliche Auflagen mit eigenem nicht!) Personal bearbeiten kann. In einem Betrieb mit sechs oder acht Angestellten ist es aber Chefsache, diese Bürokratie Wir gehören zu der Allianz, die Sie, Herr Minister, einge- zu übernehmen. Dies hindert die Betreiber der Betriebe fordert haben. Ich kann nur betonen: Alle Menschen in daran, das eigentliche Geschäft voranzutreiben. Deswe- Deutschland, die etwas unternehmen, die Risiken einge- gen brauchen wir die Entbürokratisierung. hen wollen, haben in meiner Partei bzw. in meiner Frak- tion einen Bündnispartner. Denn wir wollen einen Prozess Ich glaube nicht, dass wir dies schaffen, wenn wir in Gang setzen, der dazu führt, dass in Deutschland Re- sagen: Wir sammeln einmal ein paar Vorschläge. Wir formen stattfinden und wir nicht den Status quo verteidi- müssen unser Staatsverständnis überdenken. Nur gen oder uns einfach in Wolkenkuckucksheimdiskussio- wenn wir als Staat bereit sind, im Rahmen einer Aufga- nen, wie das Herr Merz getan hat, vergnügen. Ihre Rede, benkritik wirklich zu überlegen, was wir permanent kon- Herr Merz, war zwar vergnüglich; aber Vorschläge der trollieren müssen und was dokumentiert werden muss, Union sind nicht auf den Tisch gelegt worden. Diese hät- und bereit sind, die eine oder andere Kontrollaufgabe ten heute kommen müssen, damit man sieht, was Sie vor- zu verringern, haben wir die Chance, dass die Entbüro- haben. kratisierung ein wirklich breites Programm wird und Ich danke Ihnen. nicht einfach eine Forderung, die man in den Raum stellt. Wer die Politik im Bund und in den Ländern (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN kennt, der weiß, dass es seit vielen Jahren überall große sowie bei Abgeordneten der SPD) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2003 1677

(A) Präsident Wolfgang Thierse: gleich stärker als in benachbarten europäischen Ländern (C) aus. Dafür sind Sie verantwortlich, Ich erteile das Wort dem Kollegen Rainer Brüderle, FDP-Fraktion. (Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk [SPD]: Was ist das für ein Mist!) (Beifall bei der FDP) weil Sie seit fünf Jahren die falsche Politik machen. Die größte Fessel für den Mittelstand in Deutschland ist diese Rainer Brüderle (FDP): grün-rote Regierung. Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kol- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten lege Kuhn, Sie haben heute eine Wutrede gehalten. Ich er- der CDU/CSU) laube mir den Hinweis: Wir können nichts dafür, dass Sie nicht mehr Vorsitzender der Grünen sind und jetzt Herrn Jetzt, kurz vor zwei wichtigen Landtagswahlen, ent- Schulz, einen geschätzten Kollegen, aus der Wirtschafts- deckt Grün-Rot den Mittelstand. Ich habe heute etwas politik verdrängen. über den Masterplan und den Small-Business-Act gelernt; jeden Tag gibt es einen neuen bunten Luftballon, Herr (Heiterkeit und Beifall bei der FDP sowie bei Clement, aber entscheidend sind Taten, nicht das Design Abgeordneten der CDU/CSU – Widerspruch von Worten und ein Wortgeklingel. Reden Sie nicht nur beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) vom Kündigungsschutz, sondern verändern Sie etwas. Ihre permanenten Hinweise auf die Weltwirtschaft Geben Sie denen, die draußen stehen, eine Chance; wei- als Ursache der aktuellen Situation sind unerträglich. Es chen Sie nicht zurück, wenn Ihre Betonfraktion nicht be- gibt nicht zwei Typen von Weltwirtschaft: eine, die eine reit ist, über neue Ansätze nachzudenken. böse Verschwörung gegen uns Deutsche ist und in der (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten wir arbeiten müssen, und eine wohl gesonnene Welt- der CDU/CSU) wirtschaft, in der die Engländer, die Holländer, die Schweden und die Amerikaner arbeiten. Es gibt nur eine Ein Bundeswirtschaftsministerium muss ein ord- Weltwirtschaft. Wenn wir in dieser einen Weltwirt- nungspolitisches Gewissen sein. Es muss von einem ganz- schaft, wie sie sich heute darstellt, schlechter dastehen heitlichen Ansatz ausgehen und darf keine Propagandama- als alle anderen, dann ist dies hausgemacht und dann schine sein, die jeden Tag einen neuen Spruch erfindet, liegt dies an den Problemen in Deutschland und nicht neue Offensiven verkündet und Nebelkerzen wie den Jah- am Ausland. reswirtschaftsbericht wirft. Der Minister hat bis vor weni- gen Tagen noch von 1,5 Prozent Wachstum und 4 Millionen (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Arbeitslosen gesprochen. Jetzt wird das zurückgenommen; (B) (D) der CDU/CSU) mit einem voraussichtlichen Wachstum von 1 Prozent lie- Ihre Ausflüchte, die Opposition rede, wenn sie ihre gen Sie immer noch am oberen Rand sämtlicher Prognosen Aufgabe wahrnimmt, auf Fehlentwicklungen hinzuwei- aller Wirtschaftsforscher und aller Bankinstitute, die sich sen und Alternativen aufzuzeigen, das Land schlecht, sind mit Wirtschaftsentwicklung beschäftigen. Sie können eine Unverschämtheit. glücklich sein, wenn dies eintritt, aber auch das werden Sie nicht schaffen. Die Arbeitslosigkeit steigt. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Der Zusammenhang ist ganz klar: Die Steuern und Ab- gaben steigen, die Arbeitslosigkeit steigt und das Wachs- Noch dürfen wir hier frei reden und unsere Meinung tum sinkt. Es gibt einen Sektor in Deutschland, der zulegt: äußern. Sie sollten nicht mit einer Attitüde auftreten, als Das ist die Schwarzarbeit. Schwarzarbeit ist die Aus- ob dieses Land Ihr Eigentum wäre. Verwechseln Sie nicht weichreaktion vieler, weil Sie ihnen mit unerträglichen Ihre Aufgabe; dieser Staat ist nicht das Eigentum von Belastungen, mit Abgaben und Steuern die Chance neh- Grün-Rot, sondern des ganzen Landes. men, durch anständige, tüchtige Arbeit das zu verdienen, (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten was möglich wäre, wenn man entsprechende Rahmenbe- der CDU/CSU) dingungen gewährleistete. Nach fünf Jahren Regierungszeit wird es allmählich (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten unerträglich, dass Sie ständig auf die Vergangenheit ver- der CDU/CSU) weisen. Wirtschaftsgeschichte ist zwar ein interessantes Das, was Sie im Jahreswirtschaftsbericht ansprechen, Thema, aber wer beim Autofahren ständig in den Rück- nennen Sie Allianz für Erneuerung. Das ist schon ein spiegel schaut, Herr Kollege Kuhn, fährt an die Wand. dreister Begriff. Diese grün-rote Regierung ist keine Al- Schauen Sie einmal durch die Frontscheibe! Dann sehen lianz der Erneuerung, sondern eine Allianz der Verteue- Sie die reale Lage in der Republik. rung und der Verschlechterung der Bedingungen für den Mittelstand in Deutschland. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Ich erlaube mir auch folgenden Hinweis, Herr Kuhn: der CDU/CSU) Wir haben keine Konjunkturkrise, wie Sie sagten, sondern eine Strukturkrise, weil die Struktur in diesem Land nicht Ihr Steuervergünstigungsabbaugesetz, das ein Steuer- stimmt, weil wir falsch aufgestellt sind. Deshalb wirken erhöhungsgesetz ist – es bringt 17 Milliarden Euro Zusatz- sich die Veränderungen in der Welt in Deutschland un- belastungen –, zeigt doch, dass es in die falsche Richtung 1678 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2003

Rainer Brüderle (A) geht. Ich frage mich immer wieder: Was hat der deutsche Im Kern macht die Bundesregierung zwei Dinge (C) Mittelstand dieser grün-roten Regierung getan, weswegen falsch. Sie hat erstens nicht verstanden, dass die soziale er so mies behandelt wird? Irgendwo müssen Sie doch Marktwirtschaft ein ganzheitliches System ist. Man muss eine psychologische Sperre haben; anderenfalls würden wissen, dass jede einzelne Maßnahme Auswirkungen hat. Sie nicht permanent in die falsche Richtung gehen. Schon die Gründungsväter haben vor punktuellem Han- deln und vor Interventionismus – das ist die alte indus- Die selbst ernannte Mittelstandsexpertin Frau Scheel triepolitische Denke – gewarnt. Sie müssen klare Rah- spricht von Mehrwertsteuererhöhung; anschließend wird menbedingungen schaffen. Die Politik muss berechenbar es weich dementiert. Ein anderer fordert die Vermögen- sein und Vertrauen auslösen. In der Wirtschaft geht es steuer bzw. die Erhöhung der Erbschaftsteuer. Ihr wich- immer um das Rechnen. Wenn die Entwicklung nicht be- tigster Koalitionspartner, der DGB, fordert in Person von rechenbar ist, kann man keine Entscheidung treffen. Wenn Herrn Sommer eine Erhöhung der Mehrwertsteuer um man dennoch entscheidet, trifft man die falsche Entschei- 2 Prozentpunkte. Sie schaffen ein Klima, in dem die Men- dung. Deshalb muss eine klare Linie erkennbar sein. Das schen verzweifeln müssen und als Konsumenten ihr Geld in einem Eichhörncheneffekt zurückhalten, weil sie nicht ist nicht der Fall, weil Sie durch hektischen Aktionismus wissen, ob sie ihren Job behalten oder, wenn sie ihn ver- nur von eigenen Fehlentscheidungen ablenken wollen. lieren, wieder einen bekommen. Diejenigen, die investie- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten ren würden und auch müssten, sagen: Wir warten einmal der CDU/CSU) ab, was denen noch Neues einfällt, welche weitere Sau durchs Dorf getrieben wird, welche neuen Belastungen Zweitens. Im Kern verweigern Sie dem deutschen Mit- nach den beiden Landtagswahlen von der Regierung telstand Freiheit. Das Steuerthema ist im Kern ein Frei- kommen. – Ich ahne da nichts Gutes. Wahrscheinlich be- heitsthema; denn entscheidend ist: In welchem Umfang treiben Sie schon die Vorbereitungen für eine Mehrwert- können die Menschen, seien es Handwerksmeister oder steuererhöhung. auch Arbeitnehmer, selbst über die Verwendung dessen entscheiden, was sie sich hart erarbeitet haben? Bei einer (Beifall bei der FDP – Ludwig Stiegler [SPD]: Staatsquote von fast 50 Prozent nehmen Sie ihnen die Weltuntergang!) Freiheit. In der Tat ist die Frage: Ist es noch eine soziale Unter dem Stichwort Mittelstandinitiative kündigen Marktwirtschaft, wenn die Hälfte dessen, was erwirt- Sie an, für Betriebe mit einem Umsatz von bis zu schaftet wird, über den Staat gelenkt wird? 17 000 Euro Steuererleichterungen zu gewähren. würde aus dem Grab steigen, wenn er so einen Quatsch hörte wie den, bei einer sozialen Marktwirtschaft könnte (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: 17 500!) man einen Staatsanteil von 50 Prozent haben. (B) – 17 500. – Selbst wenn man Umsatz mit Gewinn ver- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten (D) wechselt – Umsatz gleich Gewinn ist absurd –, käme man der CDU/CSU) auf monatlich nur etwas mehr als 1 000 Euro. Bürokratieabbau – ein wunderschöner Ladenhüter; (Hans Michelbach [CDU/CSU]: Almosen!) davon reden wir alle schon lange. Weshalb geben Sie Kommunen und Ländern nicht über Experimentierklau- Wo ist da der Appeal, der Anreiz, in die Existenzgründung seln die Möglichkeit, Gesetze befristet außer Kraft zu set- zu gehen, zumal ständig neue Verschlechterungen eintre- zen? ten? (Beifall bei Abgeordneten der FDP) Die Kammerbeiträge sollen für die kleinen Betriebe abgeschafft werden. Die Realität ist, dass die meisten Wir haben es beim Planungsbeschleunigungsgesetz ja ge- Kammern in Deutschland das schon längst getan haben, habt, und zwar mit großem Erfolg. Geben Sie ihnen doch ohne dass es dazu einen Appell der Bundesregierung ge- diese Möglichkeit! Viele werden gar nicht merken, wenn geben hätte. Gesetze sozusagen verschwinden, weil sie eh Unsinn sind und weil sie nur diejenigen, die damit arbeiten müssen, (Beifall bei der FDP) zusätzlich verunsichern. Zum Thema Ladenschluss. Sie kündigen an, die La- Weshalb gehen Sie nicht konsequent an die Reform der denöffnungszeit am Samstag um vier Stunden zu verlän- sozialen Sicherung heran? Die Riester-Rente ist im Kern gern. Geben Sie den Ladenschluss doch in der Woche frei! ein Schritt in die richtige Richtung, aber sie ist zu kom- (Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Sehr richtig!) pliziert und reicht nicht aus. Sie müssen die Lohnneben- kosten senken. Sie reden im Jahreswirtschaftsbericht da- Auch das geschieht nicht. Seien Sie doch konsequent! von, dass sie auf 40 Prozent gesenkt werden. Das wären Sie betreiben folgende Politik: Sie verschlechtern die 13 Milliarden Euro weniger. Machen Sie es! Ich sehe nir- Bedingungen. Sie verschärfen den Kündigungsschutz. Sie gends einen Ansatzpunkt dafür, dass Sie bei den Sozial- verstärken die Mitbestimmung. Sie erhöhen die Sozialab- beiträgen eine konkrete Entlastung in Höhe von 13 Mil- gaben. Dann nehmen Sie die Mehrbelastung um ein klei- liarden Euro, sprich: 26 Milliarden DM, vornehmen; im nes Stückchen zurück und sagen, das sei eine Großtat, mit Gegenteil: Die Sozialbeiträge steigen weiter. Die Quote der Sie die Bedingungen in Deutschland verbesserten. liegt bei dicken 42 Prozent. Das ist ungeheuerlich! Machen Sie es doch gleich richtig! Das Tarifkartell ist überholt. Sie wissen wie wir, dass (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten im Osten Deutschlands, aus der Not heraus, fast 70 Pro- der CDU/CSU) zent aller Arbeitsplätze außerhalb des geltenden Tarif- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2003 1679

Rainer Brüderle (A) vertragsrechts sind. Die alle sind, wenn Sie so wollen, Analyse der Lage keine Spur. Stattdessen unentwegt Vor- (C) rechtswidrig. Niemand geht daran – aus gutem Grund. Je- würfe, Anklagen, Schlechtreden, Ängste Verbreiten: Das der, der darangehen würde, würde die Arbeitslosigkeit im ist Ihr Programm. Sie haben das Mittelstandsrhetorik ge- Osten verdoppeln oder verdreifachen. Weshalb lernen Sie nannt. Damit helfen Sie den Menschen in diesem Land daraus nicht, dass wir mehr Spielräume in den Betrieben nicht einen Millimeter weiter. und auch mehr Entscheidungsmöglichkeiten der betroffe- (Beifall bei der SPD) nen Arbeitnehmer brauchen? Es ist ihr Job. Es ist ihre Le- bensperspektive. Geben Sie ihnen doch die Freiheit, über Sie tun so, als ob die deutsche Volkswirtschaft, umgeben ihr Schicksal ein Stück weit zu entscheiden, statt einer von blühenden Volkswirtschaften, wegen der Politik der Funktionärsfremdbestimmung unterworfen zu sein! rot-grünen Bundesregierung von einer Krise in die andere schlittert. (Beifall des Abg. Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]) (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: So ist es ja auch!) Zu vieles ist noch in Beton gegossen. Was wir brauchen, sind Luft und Freiheit, damit wir uns entfalten können. Sie verlieren in Ihrem Antrag kein Wort zu der nun schon mehr als zwei Jahre andauernden weltweiten Wirtschafts- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten flaute. Das alles, meine Damen und Herren, ist nicht se- der CDU/CSU) riös. Was Sie da behaupten, hilft in der Tat nicht weiter, Der Mittelstand ist viel besser, als Sie denken. Lassen Sie Wirtschaftswachstum in diesem Land zu beflügeln. die Leute doch endlich arbeiten, damit sie Erfolg haben (Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk [SPD]: Sehr können, und legen Sie nicht ständig Handschellen an! Wir richtig!) müssen in Deutschland tausend Handschellen abnehmen. Die Lösung heißt Freiheit und die verweigern Sie. Richtig ist vielmehr: Wir haben mit der Wiederver- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – einigung finanzielle Belastungen zu tragen, die unver- Ludwig Stiegler [SPD]: Frische Luft!) meidlich sind. (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Sag nur!) Präsident Wolfgang Thierse: – Sicher, Herr Schauerte. Sie sollten einmal zuhören, Sie Ich erteile das Wort dem Kollegen Klaus Brandner, können hier viel lernen. SPD-Fraktion. (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Späte Einsicht!) (B) Klaus Brandner (SPD): Natürlich hat jeder vernünftige Mensch in diesem Lande (D) Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten die Belastungen mitzutragen. Er trägt sie auch gern; das Damen und Herren! Bei dem Auftritt von Herrn Brüderle muss immer wieder gesagt werden. Die wirtschaftliche gerade musste man Sorge haben, dass er genügend Luft Entwicklung in diesem Land wird aber durch diese Belas- bekommt. Bei der Dröhnung, mit der Sie hier vorgetragen tungen beeinflusst – und das schon seit über zwölf Jahren. haben, Herr Brüderle, haben viele vermutet, dass Ihnen Was haben Sie uns übergeben? Wir haben heute große die Luft ausgeht; denn es war viel heiße Luft und Sie ha- Worte von Ihnen gehört. Herr Merz hat vergessen, dass ben damit sicherlich keinen Beitrag dazu geleistet, dem Sie uns 1998 1,5 Billionen DM Schulden übergeben ha- Mittelstand und den Menschen, die im Mittelstand be- ben, dass Sie höchste Steuerbelastungen übergeben haben schäftigt sind, tatsächlich zu helfen. Ich finde, das war und dass die höchsten Sozialversicherungsbeiträge von kein konstruktiver Beitrag, der uns nach vorne bringt. Ihnen übergeben worden sind. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Dagmar Wöhrl [CDU/CSU]: Alles über- DIE GRÜNEN – Ludwig Stiegler [SPD]: Er hat troffen worden bis jetzt!) gemeint, er ist in der Bütt!) Wir haben die Schulden gesenkt, wir haben die Steuern Es ist schon vieles in Aussicht gestellt worden, was die zurückgeführt und wir haben die Sozialversicherungen Bundesregierung heute angesprochen hat. Der Wirt- konsolidiert. schaftsminister hat – meines Erachtens zu Recht – darauf hingewiesen, dass die Stimmung in der Wirtschaft (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten – auch im Mittelstand – deutlich schlechter ist als die des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) tatsächliche Lage. Ich will das alles nicht wiederholen. All Von gesunder Volkswirtschaft brauchen Sie uns nichts zu diejenigen, die in den vergangenen Wochen und Monaten erzählen, davon haben Sie nämlich keine Ahnung. das Bild der Wirtschaft geradezu lustvoll grau in grau ge- malt haben, sollten sich fragen, ob sie ihrer Verantwortung Lassen Sie mich klar sagen: Circa 70 Milliarden Euro für das Land und für die Menschen in diesem Land ge- an Nettotransfers gehen auch jetzt noch Jahr für Jahr in die recht geworden sind. neuen Bundesländer. Davon werden drei Viertel für den privaten und öffentlichen Konsum verwandt. Die Europä- Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, sind ische Kommission hat im letzten Jahr ausgerechnet, dass bei den Miesmachern in unserem Land an vorderster zwei Drittel der Wachstumsschwäche Deutschlands im Front. Man braucht sich nur den Wortlaut Ihres Antrages Vergleich zu den anderen EU-Ländern den direkten und in- für die heutige Debatte anzuschauen: von einer objektiven direkten Auswirkungen der Belastungen aus dem Prozess 1680 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2003

Klaus Brandner (A) der Wiedervereinigung geschuldet sind. Das ist keine muss klar sein: Die Bundesregierung und der Gesetzgeber (C) Ausrede. Vielmehr muss es uns ein Ansporn sein, das haben ein Problem zu lösen, und zwar hier und heute. Die Reformtempo in Deutschland aufrechtzuerhalten, ja zu Haushalte von Bund, Ländern und Gemeinden sind un- beschleunigen. Die Wiedervereinigung zwingt uns, ein terfinanziert. Es besteht vordringlicher Handlungsbedarf; gegenüber unseren europäischen Partnern höheres Re- wir wissen das. Hier kann man sich nicht wegmogeln. formtempo anzuschlagen. Wir haben einen höheren Re- Hier müssen Vorschläge auf den Tisch und hier müssen formbedarf. Diesen Reformbedarf haben Sie in den Entscheidungen für unsere Bürgerinnen und Bürger ge- 90er-Jahren nicht erkannt. Sie sind Ihren Ansprüchen troffen werden, schmerzliche Entscheidungen, wie jeder nicht gerecht geworden. in diesem Hause weiß. (Beifall bei der SPD – Hartmut Schauerte Es ist mehr Ehrlichkeit angesagt. Es darf nicht auf der [CDU/CSU]: Wir sind langsamer!) einen Seite Subventionsabbau gefordert werden und auf – Sie sind langsam, das geben Sie zu. Sehr schön, Herr der anderen Seite dann, wenn es konkret wird, „Haltet den Schauerte, das ist ja schon ein Stück weit Einsicht. Es Dieb!“ gerufen werden, von Zusatzbelastungen geredet, klingt in der Tat überzeugend, wenn das ein Signal ist und aber nicht Ross und Reiter genannt werden. Dies ist keine Sie sagen: Wir geben unsere Fehler zu. – Von dieser Ba- faire, solide Politik. sis aus können wir gemeinsam etwas nach vorne ent- Ich denke an die Einnahmeverbesserungen der Länder. wickeln. Ich finde, das ist ein positives Zeichen. Das Land Hessen beispielsweise hat eine Einnahmever- (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Was ist das besserung aufgrund des Steuerreformpakets in Höhe von für ein törichter Mann!) 140 Millionen Euro in seinen Haushalt eingestellt, obwohl das Bundesfinanzministerium für das Land Hessen eine Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang ein Wort zu Verbesserung der Steuereinnahmesituation in Höhe von nur den angeblich extrem hohen Abgabenbelastungen in 122 Millionen Euro errechnet hat. Dies zeigt nur zu gut, wie Deutschland sagen. Wir wissen, über die Abgabenbelas- unsozial und unsolide der hessische Haushalt finanziert ist. tungen kursieren viele, auch bewusst missverständliche Dies spricht nicht dafür, wie die Opposition hier antritt, Zahlen. Für den internationalen Vergleich gebräuchlich ist nämlich mehr Solidität in der Steuerpolitik zu verlangen. die Gesamtabgabenquote an Steuern und Sozialabgaben. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Das Institut der deutschen Wirtschaft veröffentlichte DIE GRÜNEN) in seinem Heft 2002 „Deutschland in Zahlen“ für Deutschland eine Abgabenquote in Höhe von 37,8 Pro- Wir haben einen Mix von Ausgabenkürzungen, die im zent. Damit liegen wir zum Beispiel weit hinter Finnland Übrigen alle Gruppen unserer Gesellschaft betreffen, zu- (B) mit einer Abgabenquote in Höhe von 46,5 Prozent, Däne- sätzlicher Neuverschuldung und Abbau von Steuerver- (D) mark mit 45,5 Prozent, den Niederlanden mit 41,8 Pro- günstigungen vorgeschlagen. Man kann darüber diskutie- zent, Schweden mit 53,3 Prozent und liegen praktisch ren. Wenn man aber solche Vorschläge verwirft, haben der gleichauf mit Großbritannien mit 37,7 Prozent. Soweit die Bundesfinanzminister und auch die Länderfinanzminister Fakten. sowie die Gemeindekämmerer ein Recht darauf, zu wis- sen, wie das Loch in ihrer Kasse gestopft werden soll. Betrachtet man allein die steuerliche Entwicklung, muss auch das Institut der deutschen Wirtschaft – dies ist (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Jetzt werden Sie nun in der Tat kein Institut der sozialdemokratischen Par- einmal konkret, Herr Brandner!) tei – feststellen, dass wir die Weichen für eine konse- Beim Steuervergünstigungsabbaugesetz werden wir quente Steuersenkung in kalkulierbaren Stufen bis zum im Laufe der parlamentarischen Beratungen zu Änderun- Jahre 2005 gestellt haben. Beim Grundfreibetrag, also gen kommen. dem Einkommen, für das keine Einkommensteuer gezahlt werden muss, verbessert Deutschland seine internationale (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Dienstwagen! – Position auf eine Spitzenposition. Es nimmt Platz vier im Hans Michelbach [CDU/CSU]: Welche internationalen Vergleich ein. denn?) Unabhängig davon bleibt es für uns auch in Zukunft ein Das ist völlig klar. Aus wirtschaftspolitischer Sicht will zentrales politisches Thema, weiter auf eine allmähliche ich hier nur einige Stichworte nennen. Wir wollen sicher- Abgabensenkung hinzuwirken. stellen, dass die überwiegende Mehrheit der Unterneh- men ihre Verluste auch weiter verrechnen kann. Von der (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Ganz schön Mindestgewinnbesteuerung sollen daher im Wesentlichen langsam!) nur die großen Kapitalgesellschaften betroffen sein. Wir – Wäre ich in Ihrer Situation, Herr Schauerte, würde ich wollen dafür sorgen, dass die Abzugsfähigkeit von Wer- nicht solche lockeren Sprüche machen. Was Sie vorzu- begeschenken voll erhalten bleibt. Über den abzugsfähi- legen haben, bewirkt genau das Gegenteil. gen Betrag wird noch zu reden sein. (Ludwig Stiegler [SPD]: Sie haben ganz schön Ein weiteres Stichwort ist das Lifo-Verfahren. Wir sind schnell alles erhöht! – Franz Müntefering auch für die Beibehaltung des ermäßigten Umsatzsteuer- [SPD]: Schauerlich!) satzes für Kombiprodukte sowie für gartenbauliche Er- zeugnisse. Hier ist auch die Steuerpolitik der Bundesregierung nach der Bundestagswahl angesprochen worden. Eines (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Dienstwagen?) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2003 1681

Klaus Brandner (A) Dies sind aus meiner Sicht diskussionswürdige Punkte, deren Seite besteht für die Arbeitnehmerinnen und Ar- (C) über die wir reden müssen. beitnehmer, die bei einer Personal-Service-Agentur be- schäftigt sind, ein sozialer Schutz. Wir machen mit unserem Antrag der mittelständischen Wirtschaft ein Angebot, über das wir gemeinsam reden (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das ist doch sollten, weil wir damit dem Mittelstand und den Men- Weltwirtschaft, Herr Brandner!) schen in diesem Land einen guten Dienst erweisen. Der Das ist ein intelligenter Ansatz auch für Entbürokratisie- Small-Business-Act wird zügig auf den Weg gebracht rung und für die notwendige Flexibilisierung, die die mit- werden, ohne den die Ich-AGs nicht vernünftig ans Lau- telständische Wirtschaft zu Recht einfordert. fen kommen können. Entscheidend dabei sind die Novel- lierung der Umsatz- und Einkommensteuergesetze und In diesem Zusammenhang will ich ein Wort zu Herrn die Flexibilisierung der Handwerksordnung. Dabei, Merz sagen, der hier das Jobfloater-Modell angespro- meine Damen und Herren von der Opposition, können Sie chen hat. Seine Rede ist wieder ein Beispiel dafür, dass er kräftig mithelfen, damit genau dies möglichst bald in nicht auf der Höhe der Zeit ist. Insgesamt liegen nämlich Form von Gesetzen umgesetzt werden kann. nicht nur 121, sondern über 300 Anträge vor. Wir wissen, die Finanzierungssituation kleinerer und (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das ist enorm!) mittlerer Unternehmen ist dramatisch. Banken befinden Über 1 000 zusätzliche Arbeitsplätze sind ein Beispiel sich aufgrund ihrer eigenen Probleme selbst in einer sehr dafür, dass dieses Modell funktioniert. Wir sollten es des- schwierigen Lage. Die Frage, ob fremd verschuldet oder halb besser „bekanntreden“ und nicht schlechtreden. selbst verschuldet, ist ein weites Feld. Entscheidend ist vielmehr: Der Staat muss mit seiner Förderpolitik, insbe- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ sondere der Steuerpolitik, helfen, die Eigenkapitalausstat- DIE GRÜNEN) tung zu verbessern. Hierzu müssen Möglichkeiten ent- Das, was Herr Merz hier vorgetragen hat, ist ein Beispiel wickelt werden, wie privates Beteiligungskapital für den für schlechtreden. Ich bin dankbar, dass ich die Gelegen- Mittelstand stärker als bisher mobilisiert werden kann. heit hatte, das hier noch sagen zu können. Mit dem Masterplan Bürokratieabbau muss ein Lassen Sie mich zum Schluss kommen. flächendeckender Ansatz für den Abbau von Bürokratie und bürokratischen Belastungen der Wirtschaft insgesamt (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Warum darf und insbesondere des Mittelstandes so schnell wie möglich Stiegler eigentlich nicht reden? Wegen der ab- auf den Weg gebracht werden. Dabei müssen Effizienz und schreckenden Wählerwirkung? – Dagmar Wöhrl Kostensenkung die beiden zentralen Maßstäbe sein. Büro- [CDU/CSU]: Die Bayern werden ihn vermis- (B) kratieabbau darf aber nicht zum puren Sozialabbau durch sen! – Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Ich bin extra (D) die Hintertür missbraucht werden. Auch das muss in die- wegen Stiegler gekommen!) sem Zusammenhang einmal deutlich gesagt werden. Fest steht: Mit Wahlkampfreden ist dem Mittelstand nicht (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ geholfen. In einer Zeit, in der Menschen Zuversicht, Mut DIE GRÜNEN – Ernst Hinsken [CDU/CSU]: und Ideen erwarten, agitieren Sie das Land, verunsichern Donnerwetter! Das ist aber eine Aussage, Herr Sie und reden klein. So helfen Sie dem Mittelstand und Brandner!) den Beschäftigten dort nicht. Sie haben mit Ihrer Debatte dem Mittelstand und den Menschen in diesem Lande Das Erste und das Zweite Gesetz für moderne Dienst- einen Bärendienst erwiesen. leistungen am Arbeitsmarkt, die wir erarbeitet haben, werden, Herr Hinsken, zu mehr Flexibilität am Arbeits- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ markt führen, die insbesondere dem Mittelstand zugute DIE GRÜNEN) kommen wird. (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Sie mischen Präsident Wolfgang Thierse: doch schon wieder den Beton!) Ich erteile das Wort der Kollegin Dagmar Wöhrl, Das wird dem Mittelstand deshalb nutzen, weil er im Un- CDU/CSU-Fraktion. terschied zu Großunternehmen gerade keine eigenen Per- sonalabteilungen vorhält. Eine gute Arbeitsvermittlung Dagmar Wöhrl (CDU/CSU): spart dem typischen Mittelstand deshalb eine enorme Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Menge Geld und auch Zeit. Clement, Sie fordern Mutmacher statt Miesmacher. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Da sieht man, (Ludwig Stiegler [SPD]: Wahrlich! Dann dass Sie vom Mittelstand keine Ahnung dürfte die CSU nicht ans Rednerpult!) haben!) Wenn ich mir aber Ihren Jahreswirtschaftsbericht oder Deshalb ist es wichtig, dass wir das Netz der Personal- Ihre so genannte Mittelstandsoffensive anschaue, muss Service-Agenturen ganz schnell leistungsfähig aus- ich feststellen, dass Sie keines von beiden sind. Sie sind bauen, weil genau diese Agenturen helfen, aus dem Di- ein Schönredner par excellence. lemma beim Kündigungsschutz herauszukommen. Auf der einen Seite gibt es für das mittelständische Unterneh- (Beifall bei der CDU/CSU – Hans Michelbach men, also für den Entleiher, volle Flexibilität, auf der an- [CDU/CSU]: Dampfplauderer!) 1682 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2003

Dagmar Wöhrl (A) Diese Regierung ist doch nicht gewählt worden, um schen die Binnenkonjunktur anregen, wenn sie netto im- (C) schöne Worte zu machen oder nur über die Krise zu reden; mer weniger Geld in der Tasche haben? Die Menschen sie ist gewählt worden, damit sie diese Krise überwindet. werden es am Ende des Monats merken: Sie werden wie- Worte allein werden nicht helfen. Sie müssen Taten folgen der weniger Geld in der Tasche haben. lassen. Doch was diese Taten sind, das steht bis jetzt noch Lassen Sie uns das zusammenfassen: Was haben wir? immer in den Sternen. Beim Wachstum haben wir einen Stillstand, bei der Be- (Beifall bei der CDU/CSU) schäftigung haben wir einen Rückschritt und bei den Steu- ern haben wir Mehrbelastungen. Es bleiben die Sozial- Im Jahreswirtschaftsbericht steht – ich zitiere –: ausgaben. An die gehen Sie nicht heran, weil Sie sich Die Rahmenbedingungen für eine Festigung von nicht an sie herantrauen. Das heißt, auch zukünftig wer- Vertrauen der Konsumenten und Investoren sind den die Lohnnebenkosten nicht gesenkt. Aufgrund Ihrer günstig. Politik müssen wir auch weiterhin mit steigenden Lohn- nebenkosten rechnen. Ich frage mich: In welchem Bereich sind die Rahmenbe- dingungen denn günstig? Wo gibt es denn Vertrauen? Die (Beifall bei der CDU/CSU) Menschen sind verunsichert. Sie trauen Ihnen nicht mehr Das ist fatal für den Mittelstand, weil gerade der Mittel- zu, dass Sie durch Ihre Politik die Arbeitsmarktprobleme stand personalintensiv ist. Er leidet am meisten unter den angehen oder die Sozialversicherungssysteme reformie- hohen Lohnnebenkosten. ren. Warum gehen denn die Menschen von Flensburg bis Passau gegen Ihre Politik auf die Straße? Das müssen Sie Drei Viertel aller mittelständischen Betriebe wollen in sich fragen. diesem Jahr noch weniger investieren als letztes Jahr, wo- bei auch letztes Jahr schon fast nichts mehr investiert (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Ja! So ist es!) wurde. Nur noch 17 Prozent sprechen von Personal- Weiter lese ich in Ihrem Jahreswirtschaftsbericht – ich einstellungen und nur 15 Prozent sprechen von steigen- den Erträgen. Das Handwerk hat im letzten Jahr über bitte Sie aufzupassen –: 300 000 Menschen entlassen. Die Bundesregierung setzt ihre wachstums- und be- (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Ja, allein letztes schäftigungsfreundliche Steuersenkungspolitik fort. Jahr! In diesem Jahr werden es noch einmal Meine Damen und Herren, wo leben Sie denn? Sie sa- 100 000 sein!) gen, Ihre Politik sei beschäftigungsfreundlich sowie Eine Pleite jagt die nächste. wachstums- und steuersenkend. Alle, die wir hier sitzen, dürfen eines nicht vergessen: (B) (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Und jede Menge Die Arbeitslosigkeit werden wir nur mit dem Mittelstand (D) Pleiten!) bekämpfen können, sie wird im Mittelstand entschieden. Haben Sie überhaupt nicht mitbekommen, dass das (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Wachstum im letzten Jahr nur 0,2 Prozent betrug? Das ist Stagnation und kein Wachstum. Auch in Ihrem Jahres- Herr Clement, der Mittelstand braucht keinen Gute- wirtschaftsbericht mussten Sie die Zahlen nach unten re- Laune-Minister, sondern er braucht einen Minister, der vidieren. Wir alle wissen ganz genau, dass nur die Ex- anpackt, portzahl von fast 3 Prozent eine Rezession verhindert hat. (Reinhard Schultz [Everswinkel] [SPD]: Einen Ich muss Ihnen sagen: Hören Sie endlich mit Ihrem Am- Beerdigungsminister aber auch nicht!) menmärchen auf, wonach allein die Weltkonjunktur Schuld sei! Ohne den Außenhandel wäre in unserem Land der eine echte Mittelstandspolitik betreibt und sich gegen schon längst das Licht ausgegangen. die Besitzstandswahrer sowie Gewerkschaftsfunktionäre durchsetzt. Herr Minister, wenn Sie eine echte Mittelstands- (Beifall bei der CDU/CSU) politik auf den Weg bringen, haben Sie uns auf Ihrer Seite. Das war es zum Thema Wachstum. (Volker Kauder [CDU/CSU]: Sehr richtig! Jetzt komme ich zu dem Thema „beschäftigungs- Sonst nicht!) freundliche Politik“. Fakt ist – es ist für uns wenigstens Dann können Sie damit rechnen, dass wir diesen Weg ge- ein kleiner Hoffnungsschimmer, dass Sie das inzwischen meinsam gehen. selbst erkannt haben –, dass es in diesem Jahr 140 000 Ar- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) beitslose mehr geben wird. Im Durchschnitt werden es 4,2 Millionen sein. Wo ist hier die Perspektive? Für Mil- Wenn ich mir Ihre bis jetzt vorgelegten Papiere ansehe, lionen von Arbeitslosen wird auch das Jahr 2003 ein Jahr frage ich mich: Wo ist das Anpacken? Wo ist das Zugrei- der Hoffnungslosigkeit bleiben. fen? Wo sind wegweisende Reformen, die uns nach vorne bringen? (Volker Kauder [CDU/CSU]: Leider!) (Volker Kauder [CDU/CSU]: Das ist ein Wie sieht es mit der Steuersenkung aus? In den kom- Ankündigungsminister!) menden Jahren wird es – dies ist so beschlossen – zu ei- ner Mehrbelastung kommen. Allein in diesem Jahr wer- Sie machen nur eine Ankündigung nach der anderen: den es 27 Milliarden Euro sein. Wo soll hier ein Zuwachs Kleinststeuern, Masterplan, Änderung des Kündigungs- des privaten Konsums herkommen? Wie sollen die Men- schutzes, Sonderwirtschaftszonen. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2003 1683

Dagmar Wöhrl (A) Erst gab es jede Woche eine neue Idee, inzwischen Bei Ihnen erfolgt eine Ankündigung nach der anderen. (C) wird uns jeden Tag eine neue Idee auf den Tisch gelegt. Was ist denn jetzt mit dem Kündigungsschutz? In dem Liebe Kolleginnen und Kollegen von Rot-Grün, ich kann Antrag steht nichts mehr davon. Was ist denn mit den Ihnen nur einen guten Rat geben: Holen Sie einmal Luft Sonderwirtschaftszonen? Auch davon höre ich nichts und setzen Sie die Ideen um. Am besten setzen Sie erst mehr. Aber in den Zeitungen wurde das riesengroß und einmal eine Idee richtig um, sodass es wenigstens ein we- plakativ angekündigt. nig nach vorne geht. Jetzt wird ein neues Bündnis für Arbeit vorbereitet. (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Hilft das dem Mittelstand? Der Mittelstand braucht kei- Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]) nen neuen Debattierklub. Der Mittelstand braucht Entlas- tungen, kein neues Bündnis für Arbeit. Er braucht weni- Sie loben den so genannten Small-Business-Act. Die ger Bürokratie, weniger Lohnnebenkosten und geringere Grenze liegt bei einem Jahresumsatz von 17 500 Euro. Steuern. Wer ist denn zukünftig davon betroffen? (Beifall bei der CDU/CSU) (Hans Michelbach [CDU/CSU]: Almosen- empfänger!) Die Lohnnebenkosten zu senken ist eine sehr schwie- rige Aufgabe. Wir wissen, dass im Bereich der Kranken- Nicht einmal 10 Prozent aller kleineren und mittleren Be- kassen und der Rente wirklich große Reformen anstehen. triebe werden eine kleine Entlastung erfahren. Das Gros Das ist uns allen in diesem Haus klar. Auch wissen wir, des Mittelstandes bleibt außen vor. Daneben sprechen Sie dass diese großen Reformen Zeit brauchen werden. davon, Betriebsübergänge zu erleichtern. Wie das gehen Ebenso wie die Entlastungen können diese Reformen soll und was Sie vorhaben, sagen Sie aber nicht. Sie spre- nicht von heute auf morgen kommen. Deswegen müssen chen davon, dass die Bürokratie abgebaut werden muss. wir nach einer Maßnahme suchen, mit der wir die Lohn- Das ist vollkommen richtig; hier besteht ein eindeutiger nebenkosten schnell senken können. Hier bieten sich die Konsens. Aber wie das gehen soll und was Sie vorhaben, Arbeitslosenversicherungsbeiträge an. haben Sie nicht aufgeführt. Sie sprechen von Bürokra- tieabbau; das ist vollkommen richtig. Darüber herrscht Es ist notwendig, dass man die Arbeitslosenversiche- bei uns Konsens. Aber sagen Sie doch bitte einmal, wie rungsbeiträge von versicherungsfremden Leistungen ent- Sie das machen und wann Sie endlich damit anfangen lastet. Mit der Idee, diese Beiträge um 1 Prozentpunkt ab- wollen. zusenken, stehen wir nicht alleine. Das steht sogar in einem Papier der Bundesanstalt für Arbeit. Eine Absenkung um (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Der Kollege 1 Prozentpunkt bringt 8 Milliarden Euro. Herr Gerster geht Brandner hat gesagt, was nicht geht, aber nicht, davon aus, dass sich die versicherungsfremden Leistungen (B) was geht!) auf gut 6 Milliarden Euro beziffern. Das Karl-Bräuer-Insti- (D) Sie haben die Verbesserung der Zahlungsmoral ange- tut geht sogar von 15 Milliarden Euro aus. sprochen, Herr Minister. Das Einzige, was Ihnen dazu ein- Zudem muss ich fragen: Wollen wir das JUMP-Pro- fällt, ist, eine neue Arbeitsgruppe von Bund und Ländern gramm wirklich so lassen, wie es ist? Anscheinend hat es einzusetzen. Damit hat es sich. Aus. Ende. keinen Erfolg. Die Jugendarbeitslosigkeit steigt perma- Ein anderes wichtiges Thema ist die Mittelstandsfi- nent an. Dafür müssen andere Maßnahmen durchforstet nanzierung. Das ist momentan das ganz große Problem werden, um zu überprüfen, welche versicherungsfremden des Mittelstands. Er bekommt keine Kredite mehr, weil Leistungen von den Arbeitslosenversicherungsbeiträgen seine Eigenkapitalquote so gering ist. 42 von 100 Unter- wirklich noch bezahlt werden müssen. nehmen in Deutschland haben eine Eigenkapitalquote Thema Bürokratieabbau. Schauen Sie sich einmal an, von unter 100 Prozent. Das muss angegangen werden. was die Länder auf diesem Gebiet machen. Hessen, Saar- (Reinhard Schultz [Everswinkel] [SPD]: Knapp land und Bayern machen es Ihnen doch vor. 100 Prozent sind doch gut! – Ernst Hinsken (Lachen des Budesministers – [CDU/CSU]: Unter 10 Prozent!) Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk [SPD]: Das ist wohl – Unter 10 Prozent. Wenn Sie der Deutschen Ausgleichs- ein Witz!) bank nur einen neuen Namen geben, nämlich den einer Dort werden Vorschriften und Rechtsverordnungen abge- Mittelstandsbank, bekommt kein einziger Mittelständler baut. Warum erlassen Sie kein Gesetz, wonach in dieser zusätzlich einen Kredit; das sage ich Ihnen. Wahlperiode jeden Monat mindestens zehn Verordnungen abgeschafft werden müssen? Das ist nicht viel, aber Sie (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordne- machen damit Vorgaben. ten der FDP – Volker Kauder [CDU/CSU]: Das ist leider wahr! – Hans Michelbach [CDU/CSU]: (Beifall bei der CDU/CSU) Etikettenschwindel ist das!) Danach müssen für eine neue Verordnung zehn Verord- Ich muss sagen: Es ist immerhin eine tolle Leistung, nungen abgeschafft werden. Das wäre endlich ein Zei- dass der Mittelstand um 35 bis 60 Millionen Euro entlas- chen dafür, dass die Verwaltung Ernst macht und nicht tet werden soll. Auf der anderen Seite werden in Anwe- einfach nur daherredet. Lösen Sie Verkrustungen des Ar- senheit unseres Wirtschaftsministers am Kabinettstisch beitsmarktes auf. Betriebliche Bündnisse und das Güns- allein für dieses Jahr neue Belastungen in Höhe von tigkeitsprinzip sind angesprochen worden, um nur einige 27 Milliarden Euro beschlossen. Stichworte zu nennen. 1684 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2003

Dagmar Wöhrl (A) Ich kann Ihnen in diesem Zusammenhang nur sagen – Reformen fordern und nicht müde werden, Blut-, (C) wir haben es bei den Minijobs und dem Gesetz gegen Schweiß- und Tränenreden zu halten, also die neuen Fans Scheinselbstständigkeit gezeigt –: Wenn Sie vernünftige von „Blood, Sweat and Tears“, diese Flüssigkeiten nicht Reformen auf den Weg bringen, die dem Mittelstand und in ihrem Gesicht sehen möchten. den Menschen in unserem Land helfen, wenn wir wissen, dass sich wirklich etwas in die richtige Richtung bewegt, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN werden Sie uns immer an Ihrer Seite haben, Herr Minister. und bei der SPD) (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Jawohl! So sind Das „Handelsblatt“ schrieb richtigerweise, dass es in un- wir!) serem Land eine gut organisierte Verantwortungsschizo- phrenie der Eliten gebe. Wir alle machen Ihnen dieses Angebot. Aber diese Refor- men müssen in der Zukunft wirklich etwas bewirken und (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN dürfen keine Schaumschlägerei sein. und bei der SPD) Vielen Dank. Diesen Punkt müssen wir beleuchten. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordne- Wir reden heute über eine Mittelstandsoffensive als ei- ten der FDP – Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Gute nen Teil der Wirtschaftspolitik. Es ist unredlich, wenn Sie Rede!) darauf herumhacken, noch dazu angesichts der dürftigen Anträge, die Sie selbst vorgelegt haben. Darin finden sich Versatzstücke und alte Programmbausteine, die an Dürf- Präsident Wolfgang Thierse: tigkeit nicht zu unterbieten sind. Ihre Anträge enthalten Ich erteile dem Kollegen Werner Schulz, Bündnis 90/ nur wenige konstruktive Punkte, über die man sich über- Die Grünen, das Wort. haupt streiten könnte. Das ist wirklich „Gute Nacht, Deutschland“, Frau Wöhrl. Werner Schulz (Berlin) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN NEN): sowie bei Abgeordneten der SPD) Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Kollegin Reden wir also über das akute Problem der Mittel- Wöhrl, Sie haben über das Lichtausgehen in unserem standsfinanzierung. Hier ist die Regierung tätig gewor- Lande gesprochen. Aber nur dann, wenn man die Augen den und hat eine Mittelstandsbank ins Leben gerufen. Ich vor allem verschließt, wird es richtig dunkel. Es scheint frage mich, wo denn die großen Verfechter der Privatisie- eine beliebte Oppositionsmethode zu sein, Finsternis und rung, die Kritiker der Staatswirtschaft, geblieben sind, als (B) Unsicherheit zu verbreiten. In Ihrer Partei hieß das, die privaten Banken aus diesem Geschäft ausstiegen. (D) glaube ich, Sonthofen-Strategie. (Laurenz Meyer [Hamm] [CDU/CSU]: Das ist (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Sie wissen ja gar ja unglaublich!) nicht, wo Sonthofen liegt!) – Herr Meyer, wo ist denn Ihr Aufschrei über diese Frech- Es handelt sich um ein allgemeines Schwarzmalen, damit heit der privaten Banken geblieben, man selbst als Lichtgestalt erscheinen kann. Dieses He- runterreden hat Methode. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Ich mache mir die Dinge nicht einfach, weil die wirt- schaftliche Lage wirklich schwierig ist. die Zinssenkungen der EZB nicht weitergeben zu wol- len? Wo ist Ihr Aufschrei geblieben, wo ist der Anwalt der (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Das ist wohl Mittelständler? wahr!) (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Herr Schulz, wer Die Staatsfinanzen sind angespannt, die Arbeitslosigkeit regiert denn?) steigt, die Wirtschaftsprognosen sind unter einem starken Vorbehalt zu sehen, weil wir nicht wissen, wie sich die Si- Hier springt der Staat in die Bresche und leistet Mittel- tuation im Golfgebiet entwickeln wird. Wir stehen also standsfinanzierung aus einer Hand, weil es andere nicht vor einer durchaus problematischen Situation. tun. Das ist doch die Wahrheit. An unseren Reformbemühungen waren Sie ja beteiligt; Sie sollten bitte auch nicht vergessen, dass wir bei ich weiß gar nicht, warum Sie hier keinen eigenen Stolz Basel II einen großen Erfolg errungen haben entwickeln. Das Hartz-Konzept entfaltet auch erst mit (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Sie? Sie ha- der Zeit Wirkung. Sie können hier keine Sofortlösung, ben doch gar nichts davon verstanden! – Ernst keine Instantwirkung erwarten. Aber im Jahreswirt- Hinsken [CDU/CSU]: Herr Schulz, das war Ge- schaftsbericht – das sollten Sie anerkennen – wurde ein meinschaftsarbeit!) durchaus reelles Bild gezeichnet; es ist eine kritische Würdigung der Situation. Vor allen Dingen beschreibt die und dass sich 95 Prozent der Mittelständler künftig besser Bundesregierung, wie sie die Modernisierung und den stellen werden, weil die geringe Eigenkapitalausstattung Strukturwandel fortsetzen will. gewährleistet ist und akzeptiert wird. An dieser Stelle empfinde ich es als merkwürdig, dass (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Alle wollten wir ausgerechnet diejenigen, die permanent einschneidende das!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2003 1685

Werner Schulz (Berlin) (A) – Ja, aber die Bundesregierung hat es erreicht. Sie jedoch 1,2 Prozentpunkte zu senken. Das sollten gerade Sie nicht (C) haben es noch nicht einmal erwähnt. gering schätzen; denn Sie haben es geschafft, von 1990 bis 1998 die Lohnnebenkosten von 35 auf 42 Prozent (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – das sind 7 Prozentpunkte; das muss man sich einmal und bei der SPD – Ernst Hinsken [CDU/CSU]: vorstellen – zu erhöhen. Für das Gute ist die Bundesregierung zuständig und für das Negative wir?) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) – Diese Schwarz-Weiß-Malerei bringt uns nicht weiter. Wir haben dagegen, wie gesagt, die Lohnnebenkosten um Wir wollen natürlich nicht nur Existenzgründern den 1,2 Prozentpunkte gesenkt. Das ist sicherlich – das gebe Start erleichtern; denn Bürokratieabbau, Innovations- ich gerne zu – noch zu wenig. Aber im Vergleich zu Ihnen schübe, Technologietransfer und Verbesserung der Zah- sind wir diametral vorangekommen. lungsmoral helfen vor allen Dingen bestehenden Unter- nehmen. Es ist uns doch klar, dass es wesentlich (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN kostengünstiger ist, bestehende Betriebe zu erhalten, als und bei der SPD) neue aufzubauen und zu finanzieren. Niemand will Insol- Sie sind im Moment im Hochgefühl des zu erwarten- venzen und wir steuern dagegen, so weit es geht. Aber Sie den Wahlsiegs am kommenden Sonntag eigentlich nicht müssen sich immer auch die Bilanz von Neugründungen mehr zu erreichen. Frau Merkel, Sie schütteln den Kopf – und Insolvenzen anschauen. ich nehme an, nicht zum Wahlergebnis, sondern zu mei- In diesem Zusammenhang ist vor allen Dingen die nen Worten. Außenwirtschaftsinitiative hervorzuheben. Wir wollen (Zustimmung der Arbg. Dr. den Erfolg exportieren, den wir bei den erneuerbaren [CDU/CSU]) Energien erreicht haben, und einen Beitrag zum globalen Klimaschutz leisten. Den Unternehmen, die im Zuge des Ich komme Ihnen entgegen, weil ich glaube, dass Sie die Erneuerbare-Energien-Gesetzes entstanden sind, wollen mit dem Wahlsieg verbundene größere Verantwortung wir eine Erweiterung ihres Marktes ermöglichen. wahrnehmen möchten nach dem Motto – so kennen wir Sie –: keine Blockade, sondern konstruktive Zusammen- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN arbeit im Bundesrat! Sie wollen sich an der Lösung aller und bei der SPD) Probleme beteiligen. Sie werden nach dem Jubel am Professor Siebert, der Präsident des Instituts für Welt- Wahlabend schnell feststellen, dass die Probleme in wirtschaft in Kiel, hat in der gestrigen Ausgabe der „Welt“ Deutschland noch immer dieselben sind. Ich schlage Ih- einen offenen Brief mit der Frage „Was tun gegen die Ar- nen deshalb vor, sich zumindest an der Lösung eines Pro- (B) (D) beitslosigkeit?“ an uns geschrieben. Er verweist auf die blems zu beteiligen, das Sie selbst mit verursacht haben: Tatsache, dass die Arbeitslosigkeit schubweise immer Etwa 3 Prozentpunkte der Lohnnebenkosten sind noch weiter gestiegen sei, dass die Zahl der Arbeitslosen seit heute durch die Fehlfinanzierung der deutschen Einheit den 70er-Jahren in jeder Rezession um etwa 1 Million an- bedingt, also dadurch, dass wir die Sozialkosten in Ost- steige und in den guten Jahren der Konjunktur nicht ge- deutschland durch die Erhöhung der Lohnnebenkosten fi- senkt werde, dass hier also eine Fehlprogrammierung vor- nanziert haben. Bitte schön, beteiligen Sie sich an einer liege. Ich finde es in diesem Zusammenhang nun wirklich Allianz für Erneuerung in Deutschland, damit wir die abenteuerlich, wenn der Kollege Merz uns nach wie vor Lohnnebenkosten um 3 Prozentpunkte senken können! die Chimäre erzählt, dass die Ökosteuer falsch sei. Im Ge- Die Politik sollte mit gutem Beispiel vorangehen und zei- genteil: Genau das ist das Instrument, mit dem wir um- gen, dass es möglich ist, sich zu einigen. Wir sollten da- steuern, um endlich die Belastung vom Faktor Arbeit auf mit beim Faktor Arbeit beginnen. Das hätte auch Signal- den Faktor Energie zu verlagern. wirkung für das Bündnis für Arbeit; denn eine Senkung der Lohnnebenkosten entlastet sowohl Arbeitnehmer als (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN auch Arbeitgeber, führt zur Schaffung neuer Arbeitsplätze und bei der SPD) und möglicherweise zur Mäßigung in den Tarifverhand- Die eigentliche Fehlsteuerung ist doch: Arbeit ist un- lungen. Das ist der Beitrag der Union, den ich ab kom- verschämt teuer und wird durch jede Rationalisierung ein- menden Sonntag erwarte. Ich bin sehr gespannt darauf. gespart. 40 Prozent der Kosten in den Betrieben sind Ar- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN beitskosten. Nur 5 Prozent sind Energiekosten. Diese und bei der SPD – Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Diskrepanz müssen wir überwinden. Obwohl die Energie Herr Schulz, Sie waren schon besser!) ein wesentlich intensiverer Produktionsfaktor ist, belasten Steuern und Sozialabgaben nur den Faktor Arbeit. Denje- nigen, die immer auf Steuersenkungen drängen, sei ge- Präsident Wolfgang Thierse: sagt: Die Auflistung der OECD zeigt doch ganz deutlich, Ich erteile das Wort der Kollegin Gudrun Kopp, FDP- dass Deutschland ein Niedrigsteuerland ist, in dem die So- Fraktion. zialabgaben zu hoch sind. An dieser Stelle müssen wir an- setzen; das ist der eigentliche neuralgische Punkt. Gudrun Kopp (FDP): Wir haben das mit der Ökosteuerreform getan. Sie ist der erste mutige Schritt in die richtige Richtung; denn wir Herr Präsident! Sehr geehrte Herren und Damen! Lie- haben Energie verteuert, um die Lohnnebenkosten um ber Herr Kollege Schulz, ich mag nicht glauben, dass Sie 1686 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2003

Gudrun Kopp (A) wirklich nicht verstanden haben sollen, welche Probleme dass die einseitige Möglichkeit, einen Vertrag nach sechs- (C) die Firmen und die Menschen am Standort Deutschland monatiger Beschäftigung zu kündigen, zulasten von haben. Frauen gehen wird, weil immer weniger Frauen einge- stellt werden; schließlich sind sie es, die meistens Teil- (Dirk Niebel [FDP]: Doch, er hat es nicht ver- zeitarbeit nachfragen. Also: Schaffen Sie dieses Gesetz standen!) ab! Die rot-grüne Bundesregierung hat ursprünglich da- Sie haben ein weiteres Mal die schwache Ausstattung der rauf gehofft, dass man bei einem Streit innerhalb eines Unternehmen mit Eigenkapital beklagt. Lieber Herr Kol- Unternehmens vor dem Arbeitsgericht klagen werde. Es lege Schulz, daran kann auch eine neue Mittelstandsbank ist mir ein großes Anliegen, in diesem Bereich für weni- nichts ändern; ger Bürokratie zu sorgen. (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Sehr wahr!) Stichwort Lockerung des Kündigungsschutzes: Wenn denn eine solche Bank kann die vielen Firmen, die größte Sie das täten, was wir, die FDP-Bundestagsfraktion, vor- Not leiden, gar nicht auffangen. Es fehlt an einer konse- geschlagen haben, quenten Umsteuerung in der deutschen Politik. Sie sollten (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Wir auch!) zum Beispiel keine Politik betreiben, die die kleinen Ge- winnmargen der Unternehmen, die hier und da vorhanden zum Beispiel die Schwellengrenze von fünf auf 20 zu er- sind, wegbesteuert, sondern mehr Freiraum schaffen. höhen, dann entstünden – das sagt der Präsident des Groß- und Einzelhandelverbandes – allein im Handel 175 000 (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten neue Arbeitsplätze. Diesen Gedanken kann man doch der CDU/CSU) nicht einfach außen vor lassen. Herr Minister Clement, ich hoffe, Sie erkennen, dass (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten wir in Deutschland inzwischen ein weiteres riesiges Pro- der CDU/CSU) blem haben: Die Menschen in diesem Land haben das Ver- trauen in die Kraft der politischen Entscheidungen verlo- Thema Ladenschluss: Herr Clement, es ist inzwischen ren. Ich wiederhole: Es ist ein riesiges Problem, dass der wirklich lächerlich, dass Sie sich intern, wahrscheinlich Politik, insbesondere der rot-grünen, nichts mehr zugetraut auch fraktionsintern, darüber streiten, ob Sie eine weitere wird. Die Menschen wenden sich enttäuscht ab. Es gab Lockerung um zwei, drei, vier oder fünf Stunden zulassen 82 000 private und Firmeninsolvenzen. Im Vergleich zum sollen. Gleichzeitig kündigen die Gewerkschaften De- Vorjahr ist das ein Plus von 66 Prozent. Das muss man sich monstrationen an. Ich kann Ihnen nur empfehlen: Wenn einmal vorstellen! Diese Zahlen müssen in verschiedenen die rot-grüne Regierung im Hinblick auf Kostenentlas- Köpfen hier doch eigentlich ein Umdenken hervorrufen. tung und Entbürokratisierung des Standorts Deutschland (B) überhaupt noch etwas zustande bringen will, dann klären (D) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Sie endlich Ihr Verhältnis zu den Gewerkschaftsfunk- der CDU/CSU) tionären. Lösen Sie sich von diesem Diktat! Herr Minister Clement, ich möchte noch eine Zahl hin- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten zufügen, Stichwort Bürokratielasten. Sie haben von ei- der CDU/CSU) nem Masterplan Bürokratieabbau gesprochen. Sie ha- ben leider nicht erwähnt, dass die bürokratische Belastung Ich rege ganz ausdrücklich an, dass Sie sich für eine gerade kleiner Unternehmen laut Gutachten – es ist in- konsequente Stärkung des Wettbewerbs einsetzen. Wir zwischen schon sieben Jahre alt – bei 3 600 Euro pro Ar- haben im Rahmen der Haushaltsberatungen erfahren, dass beitsplatz pro Jahr liegt. Die bürokratische Belastung 100 Millionen Euro Mehreinnahmen durch Bußgelder zu großer Firmen liegt bei gerade einmal 150 Euro. Die rot- verzeichnen sind, die dem Bundeskartellamt zugeflossen grüne Bundesregierung sollte sich diesbezüglich einmal sind. Mit diesem Geld könnte das Bundeskartellamt mehr einen Überblick verschaffen; die aktuellen Zahlen sind Wettbewerb und gesunden Wettbewerbsstrukturen den nämlich mit Sicherheit noch viel grauenvoller. Sie sollten Weg bereiten. Warum stärken Sie mit diesem Geld nicht nicht mehr nur ankündigen, sondern tatsächlich – fernab das Bundeskartellamt personell, das zum Beispiel im Be- von ideologischen Überzeugungen – zu Potte kommen, reich des Energierechts – dort tut sich eine Menge – mitt- wie man so schön sagt. lerweile viel mehr Aufgaben hat? Ein solches Vorgehen würde den Wettbewerbsstandort Deutschland stärken. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Wir haben es nötig. Eine Politik des Klein-Klein, die darin der CDU/CSU) besteht, jegliche Mehreinnahme zur Entschuldung zu ver- Ich fordere Sie sehr konkret auf: Schaffen Sie durch wenden, ist wirklich nicht zukunftsträchtig. wirklich durchgreifende Maßnahmen Vertrauen! Verzich- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten ten Sie zum Beispiel auf das Gesetz, mit dem das Recht der CDU/CSU) auf Teilzeitarbeit festgeschrieben wird! Ich bitte Sie, auch da tätig zu werden. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Letzter Punkt: Sonderwirtschaftszonen. Wenn Sie der CDU/CSU – Ernst Hinsken [CDU/CSU]: wirklich planen, Verwaltungsabläufe zu optimieren und Das sind alles die Ursachen!) Verfahren zu verkürzen, dann ist das hervorragend. Einige Ich habe in einer Debatte im Wirtschaftsausschuss darauf wenige Menschen draußen, die noch den Glauben an die verwiesen, dass dieses Recht einen Eingriff in unterneh- wirkliche Kraft der Politik haben, fragen auf den Ämtern: merische Freiheiten darstellt. Ich habe darauf verwiesen, Wann ist es denn so weit? Kann ich jetzt auf bestimmte Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2003 1687

Gudrun Kopp (A) Fristverkürzungen und kürzere Antragsverfahren bauen? gen muss. Schon der Begriff Mittelstand ist verwaschen. (C) Diese müssen enttäuscht feststellen: Sie haben noch nicht Man braucht sich nur die Spannbreite der Unternehmen einmal irgendeine gesetzliche Initiative zum Abbau der vor Augen zu führen, die unter den Begriff kleine und Regulierungen, die derzeit noch am Markt gelten, gestar- mittlere Unternehmen gefasst werden. Man kann eben tet. Das heißt, Gesamtdeutschland müsste eigentlich zur nicht ein etabliertes bayerisches Unternehmen mit mehre- Sonderwirtschaftszone erklärt werden und nicht einzelne ren 100 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern mit einem ost- Regionen zu Modellregionen. deutschen Unternehmen mit fünf Mitarbeitern und fak- tisch keinem Eigenkapital in einen Topf werfen und (Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: vergleichen. Hier muss eine entsprechende Initiative er- FDP ist für Sonderwirtschaftszonen!) griffen werden, damit stärker differenziert wird und die Besonderheiten Ostdeutschlands berücksichtigt werden. Präsident Wolfgang Thierse: (Beifall der Abg. Petra Pau [fraktionslos]) Kollegin Kopp, Sie müssen bitte zum Ende kommen. Jetzt schon wissen wir, dass die Vorhaben der Bundes- Sie haben Ihre Redezeit schon deutlich überzogen. regierung zur Flexibilisierung der Arbeit und zur Senkung (Ludwig Stiegler [SPD]: Setzen! Sechs!) der Lohnkosten nicht zu dem gewünschten Erfolg führen werden. Das, was ich hier vortrage, ist keine Weissagung, sondern eine in Ostdeutschland gemachte Erfahrung. Hier Gudrun Kopp (FDP): kann man nämlich vom Osten lernen, wie man es im Wes- Letzter Satz. – Ehe wir aber gar nichts haben, würden ten nicht machen soll. In den 90er-Jahren wurde im Osten wir natürlich, damit Sie probieren können, dem Vorschlag auf den Standortvorteil Lohnkosten gesetzt. Auf dem zustimmen, das in einer Modellregion zu versuchen. ostdeutschen Arbeitsmarkt herrscht so seit Jahren in der Realität eine hohe Flexibilität vor: niedrige Tarifbindung, Schaffen Sie Vertrauen, setzen Sie sich durch und tun ein hoher Anteil an betrieblichen Regelungen, untertarif- Sie nicht das, was ideologisch geboten ist, sondern end- liche Bezahlung, hoher Anteil an befristeten Arbeitsver- lich das, was den Menschen dieses Landes gut tut. hältnissen usw. Doch die gewünschten Arbeitsplatzef- Vielen Dank. fekte wurden dadurch eben nicht erzielt. Auch mit Großinvestitionen haben wir im Osten nicht unbedingt (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten gute Erfahrungen gemacht. Herr Stolpe, der hier nicht an- der CDU/CSU) wesend ist, es aber trotzdem weiß, kann davon ein Lied singen. Ich erinnere nur an Lausitzring, Flughafen Berlin- Präsident Wolfgang Thierse: Schönefeld, Chipfabrik, Cargo-Lifter, Filmpark Babels- (B) berg. Da wurden Milliarden versenkt, ohne entsprechende (D) Ich erteile das Wort der Kollegin Gesine Lötzsch. Arbeitsplatzeffekte zu zeitigen. Ein weiterer Punkt in Ihrem Antrag, meine Damen und Dr. Gesine Lötzsch (fraktionslos): Herren, gilt der Entbürokratisierung. Das ist richtig und Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sehr ge- klingt immer gut. Aber das eigentliche Problem liegt doch ehrte Gäste, ich bin Abgeordnete der PDS. viel tiefer. Die Bundesrepublik ist mit der großen Industrie, mit Kohle, Stahl, Schiffbau usw., groß geworden. Viele Ver- (Klaus Brandner [SPD]: Ach was! Das hätten fahren und Gesetze orientieren sich an diesen alten Indus- die auch so gemerkt!) trien, die heute eben nicht mehr Arbeit schaffen, sondern – Es ist gut, dass Sie das wissen, das sollen aber auch die eher Arbeitsplätze im Mittelstand bedrohen. Doch gerade Gäste wissen. Miniunternehmen, die in den letzten Jahren Arbeitsplätze in beachtlichen Größenordnungen geschaffen haben, werden „Der Osten steht auf der Kippe“, erklärte Herr Thierse von den Verwaltungen als lästig angesehen. Natürlich ist es kurz vor der Wahl. Dafür wurde er vom Kanzler gerügt. für eine Verwaltung immer angenehmer und zeitsparender, Seitdem ist es ruhig um sein Engagement für den Osten den Inhalt eines Fördertopfes auf zwei oder drei Groß- geworden. Der Aufholprozess Ost ist seit Mitte der 90er- unternehmen zu verteilen, als mit mehreren 100 oder gar Jahre ins Stocken geraten; der Abstand zwischen Ost und 1 000 Miniunternehmen zu kommunizieren. Abgesehen da- West ist wieder größer geworden. Da bin ich auch schon von entspricht es der Mentalität von Politikern, gerade vor bei einem wesentlichen Problem des Antrags der Regie- Wahlen, sich über die Generierung von Großprojekten einen rungsfraktionen zur Mittelstandsoffensive: Die unter- Ruf zu erwerben. Das ist einfacher und schöner, als sich mit schiedlichen Voraussetzungen und Bedingungen des Mit- Miniunternehmen herumzuschlagen. telstandes in den neuen Ländern erfordern meiner Meine Damen und Herren, ich denke, es geht nicht ein- Meinung nach auch entsprechend differenzierte gesetzli- fach nur um Entbürokratisierung, sondern es geht um che Regelungen. In Ostdeutschland haben 52 Prozent nicht mehr und nicht weniger als eine Neudefinition der der Betriebe weniger als fünf Mitarbeiter. 1997 betrug die Aufgaben des Staates. durchschnittliche Kreditquote, bezogen auf die Bilanz- summe, 66 Prozent. Diese liegt im Vergleich zu west- Wir, die PDS, schlagen zur Stärkung des Mittelstandes deutschen Unternehmen fast doppelt so hoch und sagt viel unter anderem Folgendes vor: über die Wirtschaftskraft dieser Unternehmen aus. (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Enteignung! Ich denke, dass die Bundesregierung diesen unter- Abschaffung des Erbrechts! Das ist euer Kern- schiedlichen Rahmenbedingungen stärker Rechnung tra- vorschlag!) 1688 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2003

Dr. Gesine Lötzsch (A) erstens ein Infrastrukturprogramm der Bundesregie- kenswert. Und wenn zugleich Ihre Kollegen das hohe Re- (C) rung, das vor allem die Infrastruktur von Städten und Ge- formtempo des Ministers kritisieren, dann muss ich Sie meinden stärkt, so wie es Herr Stolpe bereits aufgegriffen fragen: Was meinen Sie jetzt eigentlich? hat und jetzt praktisch umsetzen muss; zweitens einen (Beifall bei der SPD) neuen Finanzierungsschlüssel für die Gemeinschafts- aufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruk- Ist allein die Weltwirtschaft verantwortlich oder spielen tur“, der den Länderanteil von 50 auf 25 Prozent senkt. In nicht doch auch die Probleme in Deutschland eine Rolle? meiner Heimatstadt Berlin ist es schon jetzt nicht mehr Wir würden uns in der Tat treffen und über eine realisti- möglich, alle vom Bund zugestandenen Mittel der Ge- sche Wirtschaftspolitik sprechen können, wenn wir ge- meinschaftsaufgabe abzurufen, da das Land in einer meinsam die Weltwirtschaft auf der einen Seite und die Haushaltsnotlage steckt, wodurch die Kofinanzierung Strukturprobleme in Deutschland auf der anderen Seite nicht mehr möglich ist. als Verantwortliche sehen würden. Ich denke, die vorgeschlagenen Maßnahmen würden Genau aus diesem Grunde kommt die Mittelstands- Aufträge für kleine und mittlere Unternehmen bringen offensive der Bundesregierung zum richtigen Zeitpunkt. und die Wirtschaft in den neuen Bundesländern beflügeln. Gerade in Zeiten tief greifenden Strukturwandels kann Wir brauchen eine Mittelstandsoffensive, die sehr spezi- und wird Deutschland von einer mittelständisch gepräg- fische Vorschläge für Ostdeutschland enthält. Dann hätten ten Wirtschaftsstruktur profitieren; denn es waren schon Sie, Herr Minister Clement, auch unsere Unterstützung, immer die mittelständischen Unternehmen, die in ökono- aber nur dann. mischen Umbruchsituationen die Richtung vorgegeben und das Tempo bestimmt haben. Unsere Aufgabe ist es, Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. dieses Tempo zu befördern und dafür zu sorgen, dass der Mittelstand Jobmotor Nummer eins in Deutschland ist (Beifall der Abg. Petra Pau [fraktionslos]) und bleibt. Deshalb – da komme ich wieder zum Realismus Ihrer Präsident Wolfgang Thierse: Wirtschaftspolitik zurück – finde ich es bemerkenswert, Ich erteile das Wort Kollegen Christian Lange, SPD- dass Sie die Steuerquoten in Deutschland kritisieren. Fraktion. Mein Kollege Brandner hat bereits auf die Zahlen des DIW hingewiesen. Ich will Ihnen nun die Zahlen der (Beifall bei Abgeordneten der SPD) OECD vorhalten. Wenn Sie die gesamtwirtschaftliche Steuerquote der OECD im internationalen Vergleich 2001 Christian Lange (Backnang) (SPD): heranziehen, dann liegen wir mit 21,7 Prozent mehr als (B) ordentlich, sogar ganz hervorragend. Schweiz, Spanien, (D) Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- USA, Irland, Portugal, Niederlande, Frankreich, Grie- ren! Ich bin froh darüber, dass in die Wirtschaftspolitik chenland, Italien, Kanada, Österreich, Luxemburg, Groß- der Bundesrepublik Deutschland wieder Realismus, britannien, Belgien, Finnland, Norwegen, Schweden und Schwung und Dynamik statt Schwarzmalerei und oller Dänemark haben wesentlich höhere Quoten. Nehmen Sie Kamellen eingezogen sind. das bitte schön endlich einmal zur Kenntnis und betreiben (Beifall bei der SPD) Sie keine Schwarzmalerei! Warum sage ich „Realismus“? Frau Kollegin Wöhrl, (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ wenn Sie sich hier hinstellen und in Ihrer Rede behaupten, DIE GRÜNEN) in Deutschland gebe es kein Wachstum, dann sind Sie be- In Bezug auf den anderen Teil unseres Problems, näm- reits einer Lüge aufgesessen. Wenn Sie wenigstens so ehr- lich die Abgabenquote, muss ich in der Tat sagen: Hier lich gewesen wären, zu sagen, wir hätten zu wenig Wachs- gilt es weiterzuarbeiten. Da hat die Bundesregierung eini- tum, dann hätten wir eine realistische Debatte haben ges auf den Weg gebracht. Die Steuer- und Abgabenquote können. Aber wenn Sie noch nicht einmal dazu bereit im internationalen Vergleich rechtfertigt keinesfalls sind, sondern behaupten, wir hätten kein Wachstum, ob- Schwarzmalerei, wie Sie es behaupten. Wir liegen hier auf wohl alle – Sachverständigenrat, Ifo, HWWA, IfW usw. – einem ordentlichen Platz. Aber ich stimme Ihnen aus- uns ein positives, wenn auch zu geringes Wachstum zu- drücklich zu, dass wir uns verbessern müssen. Es hat je- gestehen, dann macht dies deutlich, dass Ihnen nicht an ei- doch etwas mit Realismus zu tun und nichts mit Schwarz- ner realistischen Debatte, sondern nur an Schwarzmalerei malerei, wenn wir etwa die Steuer- und Abgabenquote von und Polemik gelegen ist. Das brauchen der Standort 36,4 Prozent im internationalen Vergleich der OECD-Zah- Deutschland und der Mittelstand am wenigsten, meine len sehen und zur Kenntnis nehmen, dass Großbritannien, Damen und Herren. Niederlande, Griechenland usw. bis hin zu Schweden we- sentlich höhere Steuer- und Abgabenquoten aufweisen. (Beifall bei der SPD – Ludwig Stiegler [SPD]: Franz Josef Strauß lässt grüßen! Sonthofen!) Das heißt, wir müssen die Rahmenbedingungen ver- bessern und wir müssen die Strukturreformen voranbrin- Wenn wir dann von Ihrem stellvertretenden Fraktions- gen. Deshalb wurde die Rürup-Kommission eingesetzt. vorsitzenden hören müssen, dass die Bundesregierung al- Deshalb gehen wir die Reformen im Gesundheitswesen lein die Weltwirtschaft für die wirtschaftliche Lage ver- an. Deshalb machen wir bei der Riester-Rente weiter. All antwortlich mache, obwohl der Minister kein einziges das werden wir tun. Aber es darf bitte schön keine Wort dazu gesagt hat, dann finde ich das mehr als bemer- Schwarz-Weiß-Malerei geben, als ob Deutschland am Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2003 1689

Christian Lange (Backnang) (A) Ende und diese Bundesregierung dafür verantwortlich Wir haben bereits in der vergangenen Legislaturperiode (C) wäre. Diese hätte nichts mit der Wirklichkeit und mit der mit den Leipziger Beschlüssen einen ersten Schritt in die Situation des Mittelstandes in Deutschland zu tun. Richtung von mehr Flexibilität getan. Wir werden in die- ser Richtung weitergehen. Ich freue mich, dass das Hand- (Beifall bei der SPD) werk grundsätzlich erklärt hat, es sei bereit dazu. Wenn wir Ein wichtiger Bestandteil der Mittelstandsoffensive ist im Bereich der einfachen Dienstleistungen mehr erreichen der Small-Business-Act – das will ich ausdrücklich un- wollen, dann müssen wir zur Kenntnis nehmen, dass diese terstreichen –, in dem alle Maßnahmen zusammengefasst Menschen, die sich selbstständig machen wollen, nicht werden, die der Verbesserung der Startbedingungen für Biotechunternehmer werden, sondern dass sie ganz einfa- Existenzgründer und Kleinstunternehmen dienen. Wir che Tätigkeiten ausüben werden. Sie werden beispiels- wollen eine Minimalbesteuerung und einfachste Buch- weise im Gärtnereibereich oder im Malerbereich tätig wer- führungspflichten sowie bessere Finanzierungskonditio- den. Wir brauchen flexiblere Lösungen. Die Punkte, die nen und Erleichterungen des unternehmerischen Genera- der Minister hier angedeutet hat – Anrechnungsfragen, tionswechsels herbeiführen. Freischussregelungen, die Verkürzung der siebenjährigen Praxiszeit für Gesellen –, gehen in die Richtung, Vereinfa- Zur Erleichterung des unternehmerischen Generations- chungen zu erreichen. Ich freue mich darauf, dass wir in wechsels werden wir die Unternehmensnachfolgeinitia- diesem Punkt Ihre Unterstützung haben. Aber seien Sie tive weiter ausbauen und ergänzen, die es bereits gibt. Ein bitte schön an dieser Stelle auch so fair, diese Maßnahmen Kollege hat behauptet, sie gebe es gar nicht. Sie kennen ja zu begrüßen und nicht nur zu kritisieren! Auch das hat et- noch nicht einmal die Programme, die die Bundesregie- was mit Realismus in der Politik zu tun. rung bereits in der vergangenen Legislaturperiode aufge- (Beifall bei der SPD – Ernst Hinsken [CDU/ legt hat. Auch das sollten Sie endlich einmal nachlesen. CSU]: Wir werden grundsätzlich an der Meis- (Ludwig Stiegler [SPD]: Die können nur terprüfung festhalten!) polemisieren!) Wir brauchen darüber hinaus eine Initiative zur Mo- Alle Existenzgründer, also nicht nur die Ich-AGs, müs- dernisierung der Ausbildung. Auch hier ist die Bundes- sen von diesen Vereinfachungen profitieren. Dafür wurde regierung auf dem richtigen Weg. eine sinnvolle Regelung gefunden. Bis zu einer Umsatz- Wir brauchen Wachstum und Beschäftigung zunehmend größe von 17 500 Euro wird umgehend eine Betriebsaus- auch bei innovativen mittelständischen Unternehmen, zum gabenpauschale von 50 Prozent für Existenzgründer Beispiel in der Bio- und Informationstechnologie. Durch eingeführt. Damit sind die Unternehmen nicht nur von der eine gezielte Ausrichtung der Förderprogramme und deut- Umsatz- und Gewerbesteuerpflicht, sondern auch – so- liche Vereinfachung bei den Antragsverfahren konnte der (B) fern sie keine sonstigen Einnahmen haben – von der Ein- Anteil von kleinen und mittleren Unternehmen an der For- (D) kommensteuer befreit. Ab dem 1. Januar 2004 gilt diese schungsförderung des Bundes in den letzten Jahren um Befreiung vorbehaltlich der notwendigen Zustimmung über 50 Prozent erhöht werden. Mit einer Initiative „Inno- vonseiten der Europäischen Kommission bis zu einer vation und Zukunftstechnologien im Mittelstand“ soll die- Umsatzhöhe von 35 000 Euro. ser Trend weiter verstärkt werden. Es gilt, dies insbeson- dere in den neuen Ländern und in den benachteiligten Wir wollen junge Existenzgründer in den ersten vier Regionen zu forcieren. Jahren von Beitragszahlungen an die Industrie- und Han- delskammern sowie Handwerkskammern ausnehmen. Ich bin fest davon überzeugt, dass wir mit der Offen- Herr Kollege Brüderle, es ist eben nicht so, dass dies be- sive für den Mittelstand zusätzliche Wachstumsimpulse reits heute Realität ist. Ich gestehe Ihnen zu, dass bei den für Existenzgründer, Handwerk und Mittelstand auslösen Industrie- und Handelskammern in der Vergangenheit ein werden. Gleichzeitig werden wir mit der Umsetzung der sehr guter Fortschritt erreicht wurde. Dort gibt es sehr Steuer- und Arbeitsmarktreformen Freiraum für mehr Ei- günstige Einstiegstarife und beitragsfreie Mitgliedschaf- genverantwortung, Kreativität und Experimentierfreude ten. Aber im Bereich der Handwerkskammern muss noch schaffen. Die Wachstumskräfte unserer mittelständischen nachgelegt werden. Der Minister hat schon angekündigt, Wirtschaft werden wir aktivieren. Der Arbeitsmarkt erhält dass wir dies gemeinsam mit dem Zentralverband des neuen Schwung. Deutschen Handwerks erreichen wollen. Deshalb bitte ich In diesem Sinne: mehr Realismus und weniger Schwarz- Sie, uns in diesem Punkt zu unterstützen und nicht nur zu malerei, meine Damen und Herren der Opposition! kritisieren. Auch das hat etwas mit Realismus und Ehr- lichkeit in der Politik zu tun. Herzlichen Dank. Ein genauso wichtiger Beitrag für Existenzgründer ist (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ die Verbesserung der sozialen Absicherung von Kleinst- DIE GRÜNEN – Ernst Hinsken [CDU/CSU]: unternehmern, angefangen bei der Einführung eines Pfän- Ach Gott, Herr Lange!) dungsschutzes für die private Altersvorsorge von Selbst- ständigen. Ebenso soll die Handelsregistereintragung Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: beschleunigt werden. Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Laurenz Meyer – (Vorsitz: Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer) zu seiner ersten Rede hier im Plenum, wie ich mit Erstau- nen gehört habe. Lassen Sie mich auch noch ein Wort zu den handwerk- lichen Tätigkeiten und zur Handwerksordnung sagen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) 1690 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2003

(A) Laurenz Meyer (Hamm) (CDU/CSU): Draußen im Scheinwerferlicht reden Sie von Mittel- (C) standsoffensive, während Sie in Wirklichkeit immer nur Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wenn die Hand aufhalten und abkassieren. Das ist, leider Gottes, man diese Debatte verfolgt – das sage ich insbesondere an die ganze Wahrheit, Herr Clement. Das wird hier im Bund die Adresse der Kollegen aus der SPD-Fraktion –, kommt schneller auffallen als in Nordrhein-Westfalen, das Sie sie einem ein bisschen gespenstisch vor; das muss ich Ih- rechtzeitig verlassen haben. Das war gut für das Land, nen offen sagen. Haben Sie eigentlich seit Beginn der Le- aber schlecht für die Bundesrepublik Deutschland. gislaturperiode nicht einmal mit irgendeinem Mittelständ- ler vor Ort über das, worüber Sie hier reden, gesprochen? (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Meine Damen und Herren, 80 Prozent der Unterneh- Die Stimmung draußen hat mit dem, was Sie hier vor- men beklagen, dass sie heute nur noch ein halbes Jahr tragen, nicht das Geringste zu tun. Das hätten Sie spätes- Planungssicherheit für Investitionen haben. Wie soll tens im Dezember zumindest an den Zahlen erkennen das denn gehen? Der Zeitraum von einem halben Jahr können. Das Ifo-Institut hat im Dezember 1100 Unter- reicht nicht aus. Die Unternehmen sollten für wenigstens nehmen befragt und dabei festgestellt, dass 28,9 Prozent zwölf Monate Planungssicherheit haben. Das war schon der Unternehmen überlegen, ihren Standort ganz oder wenig genug in der früheren Zeit. teilweise ins Ausland zu verlagern. Wir müssen sehen, was die SPD-Fraktion mit den Grü- (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Hört! Hört!) nen zusammen macht. Herr Schulz, ich sage es Ihnen ganz offen: Ich weiß ja, dass Sie untereinander Streit hatten we- 77,2 Prozent werden Investitionen einschränken oder auf- gen dieses Antrags, dass der eine oder andere bei Ihnen schieben oder wollen im Ausland investieren. weitergehen wollte. Ich wundere mich, dass Sie sich dann (Klaus Brandner [SPD]: Alles Mittelstand? Was wirklich darauf verständigt haben, gestern einen Antrag ist der Mittelstand für Sie, Herr Meyer?) einzubringen, der im Text und in den Überschriften der Internetseite des Wirtschaftsministeriums entspricht, die – Haben Sie das nicht zur Kenntnis genommen? Herr seit dem 5. Januar als Public-Relations-Maßnahme für je- Brandner, wenn mich in Zukunft draußen ein Mittelständler dermann zugänglich ist. Sie trauen sich allen Ernstes, das anspricht und mir seine Sorgen vorträgt, werde ich ihm sa- als Mittelstandsoffensive von SPD und Grünen hier im gen: In der SPD-Fraktion sind so wichtige Leute wie Herr Plenum einzubringen. Schämen Sie sich dabei wirklich Brandner und Herr Lange dafür zuständig und Herr Kuhn nicht? Tun Sie sich bei den Sorgen, die der Mittelstand hat diese Aufgabe bei den Grünen übernommen. Ihr braucht hat, nicht wenigstens schwer, wenn Sie so etwas machen? euch überhaupt keine Sorgen zu machen. Die haben das un- heimlich gut im Griff, die wissen, wohin es gehen soll. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – (B) Widerspruch bei der SPD) (D) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) – Herr Brandner, dass Sie dabei nervös werden, kann ich Der Wirtschaftsminister, der draußen große Töne spuckt, verstehen. hat den ganzen Quatsch, die Steuer- und Abgabener- (Klaus Brandner [SPD]: Ich bin überhaupt höhungen und die Belastungen, die hier beschlossen wer- nicht nervös! Wir packen es an!) den sollen und teilweise schon beschlossen worden sind, mitgetragen. Das ist wirklich eine geistige Glanzleistung, die Sie voll- bracht haben. (Klaus Brandner [SPD]: Der Generalagitator!) Das Einzige, was Sie geschafft haben, ist, die Reihen- Bei der Vorbereitung auf diese Debatte ist mir etwas folge der Kapitel Ausbildung und Innovationsoffensive aufgefallen – und ich bitte Sie, Herr Wirtschaftsminister, für den Mittelstand zu vertauschen; es sei dahingestellt, in Ihrem eigenen Laden noch einmal nachzusehen –: An- ob bei der Arbeit geschlampt worden ist oder ob das be- fang der Woche hat mir ein Mittelständler, ein Modell- absichtigt war. bauunternehmer, eine neue Verordnung aus Ihrem Hause zugeschickt, in der auf dreieinhalb Seiten nur Gebühren- (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Das haben erhöhungen für mittelständische Unternehmen aufgelistet sie nicht einmal gemerkt!) sind. Gucken Sie sich diese Verordnung einmal an! Sie Außerdem haben Sie aus dem alten Absatz „Verbesserung stand am 23. Dezember letzten Jahres im Bundesgesetz- der Zahlungsmoral“ in Clements Mittelstandsoffensive blatt, von Ihnen unterschrieben. ein neues Kapitel gemacht und fertig ist die Laube. Das ist (Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk [SPD]: Das sind alles an geistiger Arbeit, was Sie als Offensive für den doch keine Steuern!) Mittelstand eingebracht haben! Und dann stellen Sie sich hier hin und sagen: weniger Sagen Sie einmal ehrlich, Herr Kuhn: Muss man sich Bürokratie, weniger Abgaben für den Mittelstand. Wo ist nicht schlecht fühlen, wenn man so etwas vertreten soll? denn da die Glaubwürdigkeit? Ihrer Rede hat man das auch angemerkt und noch deut- licher wurde es bei Ihrem Kollegen, der die Opposition für (Wolfgang Clement, Bundesminister: Bei Ihnen, alles verantwortlich gemacht hat. weil Sie uns das alles hinterlassen haben!) (Klaus Brandner [SPD]: Und jetzt kommt der Wer soll Ihnen das noch abnehmen? Beitrag, den Sie leisten! Jetzt haben Sie genug (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) geredet! Was kommt von Ihnen?) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2003 1691

Laurenz Meyer (Hamm) (A) Gestern fand eine Tagung des Bundes der Selbststän- niger Geld für den Konsum und mehr für den Staat aus- (C) digen statt, an der auch einige von Ihnen teilgenommen gegeben werden. In Zukunft können Sie den Menschen haben. Wir – der Kollege Schauerte war auch anwesend – vorrechnen, was Sie darunter verstehen. Sie haben es haben bei dieser Gelegenheit gefragt, nämlich in nur zwei Jahren geschafft, dass die Menschen (Klaus Brandner [SPD]: Was wollen Sie denn neun Tage länger für den Staat arbeiten müssen, als es jetzt?) noch im Jahr 2001 der Fall war. Sie müssen neun Tage mehr für Steuern und Abgaben arbeiten. Sie haben den wer von dem Vorhaben der Bundesregierung betroffen ist, Menschen innerhalb von zwei Jahren neun Tage geklaut, für Unternehmen bis zu einer Umsatzgröße von 17 500 Euro die sie zuvor für Familie, Urlaub, Kleidung und ihre Kin- bzw. 35 000 Euro eine hälftige Betriebsausgabenpau- der zur Verfügung hatten. schale einzuführen. (Zuruf von der SPD: Was für ein Quatsch!) (Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk [SPD]: Wir sind doch schon dabei!) Das haben Sie zu verantworten und das werden wir nicht unerwähnt lassen. Wir erhielten darauf zur Antwort, dass von dem, was Sie als Großoffensive für den Mittelstand ankündigen, zwar (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei eine Avon-Beraterin betroffen wäre, Abgeordneten der FDP) (Klaus Brandner [SPD]: Die freut sich auch!) Ein Punkt hat mich bei der Vorbereitung dieser Debatte besonders nachdenklich gemacht. Vor zwei Tagen hat der dass aber niemand davon betroffen wäre, der in Deutsch- DGB seine Ausbildungsbilanz vorgelegt. Das haben Sie land Arbeitsplätze schafft. Das ist aber angesichts der gar nicht mitbekommen, weil Sie die Sorgen der Jungen Situation in Deutschland zu wenig. nicht mehr zur Kenntnis nehmen. Niemand von der SPD (Beifall bei der CDU/CSU) hat darauf reagiert, Das Thema Kündigungsschutz – der einzige Punkt, mit (Franz Müntefering [SPD]: Seien Sie nicht so dem Herr Clement in den vergangenen Wochen positiv aufgeregt, Herr Meyer! Ruhe!) bei den Wirtschaftsverbänden aufgefallen ist – ist in dem Antrag zu der Offensive für den Mittelstand mit keinem dass die Zahl der Ausbildungsplätze um 7,1 Prozent ge- Wort erwähnt. sunken ist. Im vergangenen Jahr sind 43 000 Ausbil- dungsverträge weniger zustande gekommen. Niemand (Ulrich Heinrich [FDP]: Das darf er nicht!) von Ihnen hat darauf reagiert. Das ist die soziale Haltung, Das macht deutlich, in welche Richtung der Weg führt. die Sie an den Tag legen! (B) Deswegen glaube ich persönlich nicht daran, dass mit die- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (D) ser Bundesregierung auch nur eine einzige Offensive bzw. eine einzige ernsthafte Maßnahme für den Mittelstand auf 186 von Ihren 251 Abgeordneten sind Gewerkschaftsmit- den Weg gebracht werden kann. Bei Ihrem Vorhaben han- glied, aber niemand hat zu dieser desaströsen Bilanz des delt es sich um weiße Salbe. Weniger als 10 Prozent der DGB Stellung genommen. Unternehmen im Mittelstand – die Kollegin Wöhrl hat da- Sie wollen die Wirklichkeit nicht mehr zur Kenntnis rauf hingewiesen – sind davon betroffen. nehmen. Das ist soziale Kälte, die heute in Deutschland Es wird keinen einzigen zusätzlichen Existenzgründer herrscht. Diese soziale Kälte nehmen die Menschen wahr. geben, wenn die Rahmenbedingungen für den Mittelstand Das werden Sie am kommenden Sonntag merken. nicht geändert werden. Wie sollen angesichts von 38 000 Fir- (Beifall bei der CDU/CSU) menpleiten – in diesem Jahr soll die Zahl noch zunehmen – Existenzgründer überleben, wenn unter den Rahmenbe- Sie diskutieren immer wieder – die Grünen sollten noch dingungen, die Sie zu verantworten haben, schon beste- einmal ernsthaft darüber nachdenken – über den großen hende Betriebe Pleite gehen? Befähigungsnachweis. Ich habe kürzlich davon gesprochen – das hat mir hin- (Hubertus Heil [SPD]: Sie sind doch für Dere- terher Leid getan –, dass die Bundesregierung handwerk- gulierung!) lich schlechte Arbeit leistet. Die Handwerker haben dage- gen protestiert und mir verboten, in dieser Debatte im Dazu sage ich Ihnen im Zusammenhang mit der Ausbil- Zusammenhang mit dieser Bundesregierung weiterhin dung: Wer im Handwerk soll eigentlich in Zukunft noch das Wort „handwerklich“ zu erwähnen, weil sie sich da- die Ausbildung gewährleisten und die damit verbundenen durch beleidigt fühlen. großen Leistungen erbringen, wenn Sie auch den Meis- terbrief, der eine Grundlage für das Handwerk ist, infrage (Beifall bei der CDU/CSU – Ernst Hinsken stellen? Lassen Sie die Finger davon, wenn Sie nicht noch [CDU/CSU]: Zu Recht!) mehr Ausbildungsplätze gefährden wollen! Ich kann das nachvollziehen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk [SPD]: Olle Kamel- Es ist wirklich Zeit, dass Sie einen Kurswechsel ein- len! – Klaus Brandner [SPD]: Sie haben keine leiten. Dazu sollten Sie aber zumindest zugeben, dass Sie einzige Maßnahme vorgetragen!) die ersten 100 Tage Ihrer Regierungszeit in den Sand ge- Sie brauchen sich nur die Zahlen vor Augen zu halten. setzt haben. Dafür sollten Sie nicht die Opposition und das Herr Müntefering, Sie haben angekündigt, es müsse we- Ausland verantwortlich machen, sondern sich ernsthaft 1692 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2003

Laurenz Meyer (Hamm) (A) fragen, was bei Ihnen falsch gelaufen ist. Dies ist not- Ich möchte Sie auf Folgendes hinweisen: Im gesamten (C) wendig, damit die Menschen wieder Zutrauen zu dem, Euroraum hat sich die Wirtschaftslage deutlich ver- was in diesem Parlament geschieht, bekommen und schlechtert. Die Länder, die immerhin 72 Prozent des Brut- Deutschland zumindest wieder in die erste Reihe der toinlandsprodukts der Eurozone produzieren – Deutsch- Wirtschaftsnationen gelangt. Wir wollen nicht unbedingt land, Frankreich und Italien –, stehen vor den gleichen die Ersten sein, aber nach vorne kommen, anstatt das Problemen. Dies ist nicht deshalb der Fall, weil die unter- Schlusslicht zu sein. So wie Sie bisher vorgegangen sind, schiedlichen Regierungen das gleiche wirtschaftspolitische werden Sie dies nicht schaffen. Instrumentarium verwenden. Dazu haben vielmehr die weltwirtschaftliche Lage und die Verschlechterung im (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Euroraum beigetragen. Wenn Sie jede Woche einen apo- neten der FDP – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] kalyptischen Reiter durch das Land jagen, dann werden [SPD]: Typisch Meyer! – Christian Lange [Back- Sie damit keine Verbesserung des Vertrauens erzielen, wie nang] [SPD]: Jetzt klatschen sie sich auch noch Sie dies soeben verlangt haben. Mut an!) (Beifall bei der SPD) Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Uns dagegen geht es um etwas anderes, nämlich darum, in einer keineswegs einfachen Situation zu fragen: Wie Herr Kollege Meyer, den Sitten des Hauses entspre- können wir dem Mittelstand wirklich helfen? In diesem chend gratuliere ich auch Ihnen zur Ihrer Rede, die man Zusammenhang möchte ich über etwas sprechen, was aber nicht so recht als Jungfernrede bezeichnen kann. Sie Minister Clement und auch mein Kollege von den Grünen sind ja ein geübter Redner. kurz angesprochen haben: die Finanzierungsbedingungen (Beifall) und die größer gewordenen Finanzierungsprobleme der deutschen Wirtschaft schlechthin, aber vor allem die der Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Sigrid Skarpelis- mittelständischen Unternehmen. Es ist keine Frage: Viele Sperk. Wirtschaftsunternehmen haben erhebliche Schwierigkei- ten, schon ihre normale Wirtschaftstätigkeit zu finanzie- Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk (SPD): ren. Viele kleine und mittlere Unternehmen, selbst recht solide Unternehmen mit guter Absatzlage und Expan- Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich war sionsaussichten haben Probleme, von ihren Hausbanken gespannt auf die Rede des Kollegen Meyer. eine Verlängerung ihrer bisherigen Kreditlinie zu erhalten, (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Was? – Volker geschweige denn frisches Geld für neue Investitionen. (B) Kauder [CDU/CSU]: Mit Recht!) (Volker Kauder [CDU/CSU]: Das ist doch Ihre (D) Ich habe mir gedacht: Vielleicht wird er ja mit seiner Schuld! – Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Jungfernrede einen realistischen, vernünftigen Debatten- Machen Sie mal was!) beitrag liefern. Viele, vor allem kleine Existenzgründer, stehen vor ge- (Beifall bei der CDU/CSU) schlossenen Banktüren. Aber er ist seinem Ruf als Wadenbeißer gerecht geworden. (Volker Kauder [CDU/CSU]: Machen Sie mal was!) (Beifall bei der SPD) Dabei ist es besonders beunruhigend, dass nicht nur die Ich habe mir schon überlegt, ob ich ihn Kampfhund nen- privaten Großbanken kleine Unternehmen zurückweisen nen soll. Aber ehrlich gesagt, dafür waren seine Bisse nicht – das ist nichts Neues –, sondern zunehmend auch Spar- wirksam genug. Er hat gekläfft wie ein Wadenbeißer. kassen, Raiffeisenbanken und Genossenschaftsbanken. Ich muss feststellen: Die bisherige Debatte enthielt Zwar sprechen die Deutsche Bundesbank und auch der nichts anderes als – entschuldigen Sie – olle Kamellen. Sachverständigenrat davon, dass es keine Kreditklemme (Beifall bei Abgeordneten der SPD) gebe, aber die im vergangenen Jahr durchgeführten Um- fragen der Kreditanstalt für Wiederaufbau bei den Unter- Das sollte nicht der Ton sein, in dem wir in diesem Hause nehmen zeigen sehr deutlich eine andere Situation: Ein über eine schwierige Wirtschaftssituation und die keines- Drittel der Unternehmen klagt über erhebliche Finanzie- wegs einfache Lage der mittelständischen Unternehmen rungsprobleme und darüber, dass sie abgewiesen würden, diskutieren. ein Drittel sagt, es habe sich nichts geändert, und ein Drit- Herr Merz, ich sage Ihnen eines: Wenn Sie die Feier in tel hat zum Teil sogar verbesserte Konditionen bekommen. Versailles in der vergangenen Woche nur dazu genutzt ha- Das ist aber nur die Crème de la Crème des Mittelstandes. ben sollten, Fotos zu machen und gut zu essen, anstatt mit Die Ursachen für dieses Besorgnis erregende Vorgehen den französischen Kollegen über deren Besorgnisse im der deutschen Banken und Kreditinstitute sind schlicht Hinblick auf die Verschlechterung der Wirtschaftslage in folgende – dass Herr Merz darauf mit keinem Wort ein- Frankreich zu sprechen, dann hat der Ausflug nach Ver- gegangen ist, sailles ein bisschen zu wenig gebracht. (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Weil es so nicht (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Haben Sie stimmt! Sie können nicht alle über einen Leis- das so gemacht?) ten schlagen!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2003 1693

Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk (A) erscheint mir, entschuldigen Sie bitte, schlicht provinziell, wichtige Verbesserungen gefordert und damit der Bun- (C) Herr Hinsken –: Der internationale Wettbewerb im Ban- desregierung und der deutschen Delegation sichtbar und kensektor hat stark zugenommen, wobei insbesondere die nachhaltig den Rücken gestärkt. Privatbanken von der Globalisierung und den Risiken der (Beifall bei Abgeordneten der SPD) internationalen Kapitalmärkte betroffen sind. Sie sind von den weltweiten Rückgängen an den Aktienbörsen ange- Das internationale Finanzkapital hat durch diese schlagen. Es ist einfach eine Tatsache, dass das, was in Bemühungen übrigens gelernt, neben den deutschen Wör- den letzten zwei Jahren passiert ist, die größte Kapital- tern Kindergarten und Heimweh nun auch noch das Wort vernichtung seit der großen Weltwirtschaftskrise im ver- Mittelstand zu buchstabieren, und das ist gut so. gangenen Jahrhundert gewesen ist. Das hat riesige Verlus- Trotzdem sollten wir die Ergebnisse der Quantitative- te bei den Banken und bei vielen Pensionsfonds gebracht, Impact-Study 3, QIS 3, das heißt die Simulationen zu der aber auch bei den Immobiliengeschäften in Deutschland Frage, wie sich die neuen Regeln auf die Banken und da- und weltweit. mit auf die Unternehmen tatsächlich auswirken, abwar- Die Banken stehen inmitten gewaltiger Wertberichti- ten, bevor wir grünes Licht für ein Ja in Basel geben. Das gungen bei den Unternehmenskrediten, vom Neuen Markt sind wir dem Mittelstand und den vielen Hunderttausend zur E-Commerce-Blase, von der Kirch-Pleite in Bayern bis Selbstständigen, Freiberuflern, Handwerkern und Exis- zu den Auswirkungen der Bilanzfälschungen in den USA. tenzgründern und Bauern schuldig. Die deutschen Banken rationalisieren in scharfem Tempo Ein weiterer Punkt sind – wenn ich das offen sagen und bauen massiv Beschäftigte und Filialen ab, um ihre darf – die hohen Realzinsen, die wir in Deutschland zahlen. Renditen wieder zu erhöhen und diese Verluste wenigstens Die Zinsen für den Euroraum werden mittlerweile zentral teilweise auszugleichen. Aber, verdammt noch einmal, das festgelegt. Unsere Preissteigerungsraten sind deutlich ist doch nicht die Schuld dieser Bundesregierung, niedriger. Damit muss Deutschland und müssen deutsche (Lachen bei der CDU/CSU) Unternehmen ein Stabilitätsopfer bringen, das heißt höhere Realzinsen bezahlen. wenn einige auf internationaler Ebene an den Börsen ge- spielt haben und die Renditen zurückgehen! Sie tun so, als Deswegen brauchen wir mehrere Schritte, um die wären wir dafür verantwortlich, wenn hier gezockt wor- Finanzierungsbedingungen zu verbessern: den ist. Erstens brauchen wir eine weitere Senkung der Zinsen (Beifall bei der SPD) durch die Europäische Zentralbank, um die hohen Real- zinsen zu senken und so die Unternehmen von der Kos- Übrigens sprechen Sie die Probleme nie an, die im Un- tenseite her zu entlasten. – Da könnten Sie von der rech- ternehmenssektor entstanden sind und die international (B) ten Seite auch einmal klatschen. (D) anstehen, weil es zu unbequem ist, sich damit auseinander zu setzen und zu fragen, wie man Lösungen für diese (Beifall bei Abgeordneten der SPD) schwierigen Fragen findet. Das ist eine Forderung an eine andere Organisation, nicht Die Sparkassen, die typischerweise die kleinen und an die Bundesregierung. mittleren Unternehmen bedienen, sind durch den von der (Laurenz Meyer [Hamm] [CDU/CSU]: Ach EU-Kommission erzwungenen Wegfall der Gewährträ- so!) gerhaftung getroffen und schränken die Kreditvergabe an ihre traditionellen Kunden ein. Es war übrigens ein kon- Also überwinden Sie sich doch einmal! servativer Kommissar der EU-Kommission, der uns diese Zweitens – ich bin gespannt, ob Sie imstande sind, da Schwierigkeiten eingebrockt hat. zu klatschen – brauchen wir die zügige Weitergabe der (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Aha, auch wieder Zinssenkungen durch die Banken an kleine und mittlere jemand anderes!) Unternehmen. Die neuen internationalen Eigenkapitalrichtlinien, (Beifall bei der SPD – Laurenz Meyer [Hamm] kurz Basel II, sind für das Vorgehen von Banken und [CDU/CSU]: Ihr Kollege hat doch gerade kriti- Sparkassen mehr Ausrede als wahrer Grund; denn richtig siert, dass sie nicht stattfindet!) ist, dass die Banken neue, computergestützte Ratingver- – Auch hier fehlt natürlich der Beifall von der rechten fahren entwickeln und anwenden, damit sie ihre Risiken Seite; denn damit würden Sie sich bei einigen Vorständen und Kosten besser überschauen können. Dabei sortieren unbeliebt machen. – Es geht nicht an, dass die Zinssen- sie jetzt alles aus, was ihnen keinen Mindestprofit mehr kungen der Europäischen Zentralbank nicht unver- bringt. Es wäre wichtig, danach zu fragen. züglich an die Kunden weitergegeben werden. Wir kriti- Definitiv falsch ist, wenn die Banken ihr restriktives sieren hart, dass der Vorsitzende des Aufsichtsrats der Verhalten in der Kreditvergabe im Allgemeinen und ge- Deutschen Bank, Herr Breuer, die Banken auch noch dazu genüber kleinen und mittleren Unternehmen im Besonde- aufgefordert hat, die Zinssenkungen nicht weiterzugeben. ren mit Basel II begründen. Bei der ersten Vorlage der (Beifall des Abg. Ludwig Stiegler [SPD]) neuen Richtlinien waren diese Befürchtungen berechtigt, aber mittlerweile hat die deutsche Verhandlungsführung Zu Recht ermittelt das Bundeskartellamt in dieser Frage in Basel gewaltige und auch dringend notwendige Zuge- und auch das Parlament wird sich mit diesem Vorgang ständnisse herausgeholt. Der Deutsche Bundestag hat ernsthaft befassen und gegebenenfalls als Gesetzgeber zweimal mit einstimmig verabschiedeten Resolutionen handeln müssen. 1694 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2003

Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk (A) Wir appellieren an die deutschen Banken, auch in die- sondern wir haben ein Glaubwürdigkeitsproblem und ein (C) ser Situation ihrer Verantwortung gerecht zu werden und Umsetzungsproblem. den deutschen Mittelstand angemessen zu finanzieren, (Hubertus Heil [SPD]: Sie haben ein Glaub- wie dies in früheren Zeiten der Fall gewesen ist. Exis- würdigkeitsproblem! – Zuruf von den Grünen: tenzgründer sind künftige Kunden; viele von ihnen sind Ein Oppositionsproblem! – Klaus Brandner erfolgversprechend und werden den Banken auch Profite [SPD]: Aber Sie haben bisher noch keine Ideen einbringen. eingebracht!) (Beifall bei der SPD – Ernst Hinsken Damit Sie das begreifen, möchte ich mich ein bisschen [CDU/CSU]: Das ist eine gnadenlose Abrech- mit den beiden Problemen beschäftigen. nung mit den Banken! Das ganze Bankensys- tem wird aus den Angeln gehoben!) Warum sollen die Menschen in Deutschland bei der Viel- zahl von Vorschlägen glauben, dass jetzt etwas passiert? Bei Die Bundesregierung hat mit den vorgeschlagenen der Vielzahl von Vorschlägen müsste eigentlich Freude im Finanzierungsbedingungen, der Schaffung einer Mittel- Lande sein, nämlich darüber, dass etwas passiert. Aber wie standsbank, dem Programm der Kreditanstalt für Wieder- wir alle wissen – Sie wissen es auch; die Wahlen am Sonn- aufbau „Kapital für Arbeit“ und dem Programm der Deut- tag werden das vermutlich zeigen –, hält sich die Freude schen Ausgleichsbank für Mikrodarlehen entscheidende durchaus in Grenzen. Zurzeit – der Befund ist wohl rich- Schritte gemacht, bringt wirkliche Hilfen und – entschul- tig – wachsen die Enttäuschung und die Verunsicherung. digen Sie bitte – nicht nur die ollen Kamellen, die Sie hier anbieten. Wir haben den Mittelstand in den vergangenen (Christian Lange [Backnang] [SPD]: Sie Jahren massiv entlastet. schüren das! Das ist doch Ihre Rede!) (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Kaputtge- Herr Clement, ich will noch einen Punkt benennen. Ich macht! – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Davon hat zitiere: der nur nichts gemerkt!) Moderne Mittelstandspolitik ist für uns weniger Wir müssen jetzt darüber sprechen, konkrete Hilfestel- Bürokratie, schnellere Innovation, besserer Zugang lungen über die neue Mittelstandsbank zu geben, und zu den neuen Technologien, effizientere Vermark- überlegen, wie wir mit neuen Instrumenten die Eigenka- tung sowie Hilfe und Unterstützung auf internatio- pitalbasis stärken. nalen Märkten. (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Bei denen wird Wissen Sie, woher das Zitat stammt? – Aus einer Regie- es nur noch schlechter!) rungserklärung. Wissen Sie, von wann? – Von 1998. Wis- sen Sie, von wem? – Von der SPD. (B) Darüber werden wir noch konkret reden. Ich hoffe, dass (D) das, wenn wir unter Ausschluss der Öffentlichkeit spre- (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Hört! Hört!) chen, auch einmal konstruktiv und vernünftig geht. In der Das könnten Sie abgeschrieben haben. Sie kommen mit Verantwortung für den Mittelstand sollte uns das gele- genau den gleichen Vorschlägen, fast in der gleichen Rei- gentlich gelingen. Ich fordere Sie nachdrücklich dazu auf. henfolge, heute wieder (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Klaus Brandner [SPD]: Die Leitlinien DIE GRÜNEN) stimmen!) und wundern sich, dass die Menschen – nachdem sie fest- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: gestellt haben, dass vier Jahre lang nichts passiert ist, son- Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Hartmut Schauerte. dern dass es im Gegenteil eher Rückschritt gab – jetzt nicht fröhlich erregt sagen: Toll, jetzt geht es los. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Hartmut Schauerte (CDU/CSU): neten der FDP) Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen Herr Clement, jetzt wieder zu Ihnen. Das ist ja auch im- und Kollegen! Frau Skarpelis-Sperk, Ihre Kolleginnen mer eine Frage der persönlichen Glaubwürdigkeit. Sie ha- und Kollegen sowie meine Kolleginnen und Kollegen ben in Nordrhein-Westfalen ebenfalls eine Menge ver- werden, denke ich, Verständnis dafür haben, dass ich nünftiger Dinge angekündigt. Ihren Beitrag jetzt nicht kommentiere. (Hubertus Heil [SPD]: Auch getan!) (Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk [SPD]: Das kannst du gar nicht! Dann müsstest du zustimmen! – Ich will Sie einmal an ein paar erinnern. In Ihrer Regie- Klaus Brandner [SPD]: Jetzt erwarten wir Vor- rungserklärung vom 30. August 2000 haben Sie gesagt: schläge!) Wir wollen die Arbeitslosigkeit in den kommenden Ich möchte mich zur Sache äußern und zunächst eine fünf Jahren deutlich herunterbringen. kleine Vorbemerkung machen. Es gibt in Nordrhein-Westfalen mittlerweile 100 000 Ar- Herr Minister Clement, wir haben kein Problem mit beitslose mehr als zu dem Zeitpunkt, als Sie das gesagt „Mangel an Ideen“ oder „Mangel an Vorschlägen“, haben. (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Bei der (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Das ist ja CDU/CSU schon!) unglaublich!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2003 1695

Hartmut Schauerte (A) Sie haben gesagt: Lassen Sie mich zu ein paar Dingen kommen, die hier (C) in der Debatte angesprochen worden sind. Ich fange ein- Jugendarbeitslosigkeit muss in unserem Land ein mal mit den Banken an. Entweder ist das Ausland schuld Fremdwort werden. oder es sind die Banken. Die Banken sind Teil des Stand- In keinem Land ist die Jugendarbeitslosigkeit so ortes Deutschland und auch denen geht es keineswegs so gestiegen wie in Nordrhein-Westfalen. gut, wie es ihnen gehen sollte. (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Hört! Hört! – (Klaus Brandner [SPD]: Welche Banken meinen Klaus Brandner [SPD]: In Bayern!) Sie denn? Sprechen Sie jetzt als Verbandspräsident oder als Abgeordneter?) Sie haben gesagt: Wir alle wissen, wovon wir da reden. Es werden bei Wir können unser Land in die Spitzengruppe der eu- den Banken durchaus Fehler gemacht, zum Beispiel bei ropäischen Regionen führen. den Großbanken und den Privatbanken; wie sie sich vom Nordrhein-Westfalen ist das Schlusslicht in Deutschland Mittelstand verabschiedet haben, war nicht die feine eng- und Deutschland ist das Schlusslicht in Europa. lische Art. (Widerspruch bei der SPD) Die Banken zeichnen bei ihrer Kreditvergabe die Kon- junkturverläufe nach, Das ist das Fazit nach zwei Jahren Regierungsankündi- gungen von Ihnen. (Christian Lange [Backnang] [SPD]: Es ist ein Lobbyist, der da spricht!) Ich zitiere noch eine letzte Aussage, die das ganz be- sonders deutlich macht. Herr Clement, Sie haben in die- und zwar nicht übersteigert, sondern in einer sanfteren ser Regierungserklärung gesagt: Kurve. Die vorgenommenen Investitionen sind in Deutsch- land deutlich stärker gesunken als die Kredite. Wenn Sie Nordrhein-Westfalen ist mehr als meine Heimat, es das zu Ende denken, dann müssen Sie daraus schließen, ist meine Lebensaufgabe. dass wir mehr Betriebsmittelkredite geben mussten – abso- Zwei Jahre hat die Lebensaufgabe gedauert. Woraus soll lut ungesichert –, weil die Wirtschaft weggebrochen ist. das Vertrauen erwachsen, dass Ihre Aussagen und Ankün- (Klaus Brandner [SPD]: Jetzt sprechen Sie digungen ernst gemeint sind, dass sie sich wirklich nie- doch als Bankpräsident!) derschlagen? Nun den Banken zu sagen, sie sollten endlich großzügig Wir brauchen uns über den größten Teil Ihrer Vor- Kredite geben, ist eine gefährliche Operation – Japan lässt schläge inhaltlich nicht zu streiten. Nein, sehr viele Dinge grüßen. In Japan haben die Banken Kredite gegeben auf (B) (D) davon sind zielgerichtet, richtig auf die Bahn gestellt. Teufel komm raus. Seit zehn Jahren sitzen sie in der Re- (Christian Lange [Backnang] [SPD]: Das ist zession. doch toll! Endlich loben Sie uns mal!) (Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk [SPD]: Ja, Herr Sie müssen aber umgesetzt werden. Das Vertrauen, dass Bankpräsident!) Sie es diesmal schaffen und dass es nicht wieder bei – Ich warne Neugierige vor solch einem populistischen Ankündigungen bleibt, ist eben unter null. Das ist Ihr Pro- Unsinn, Frau Skarpelis-Sperk. blem, Herr Clement. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU – Klaus Brandner [SPD]: Was ist das denn für eine Statistik? Un- Das, was Sie dazu vortragen, ist populistischer Unsinn. ter null?) Ich finde das schon schlimm. Wir wünschen Ihnen wirklich endlich einmal die Kraft, das, Der nächste Punkt sind die EZB-Zinssätze. Sie wissen was Sie ankündigen, auch durchzusetzen. Sie haben in nicht, wovon Sie da reden. Die EZB hat die Zinssätze um Nordrhein-Westfalen sehr viele Baustellen errichtet und einen halben Prozentpunkt gesenkt. In diesem Zusam- kaum eine zu Ende geführt. Das ist wirklich problematisch. menhang muss man wissen, dass das Refinanzierungsvo- lumen der deutschen Banken nicht einmal zu 10 Prozent (Christian Lange [Backnang] [SPD]: Sagen Sie EZB-gesteuert ist. Es besteht zu 90 Prozent aus dem Geld doch einmal, wo Sie im Deutschen Bundestag zu- der Sparer. Wenn wir wollen, dass die Banken die EZB- stimmen werden? – Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE Zinssenkung an ihre Kunden weiterreichen, müssen sie GRÜNEN]: Schneekanonen!) auch die Einlagezinsen für die Sparer senken können. Da- – Vielleicht sind wir bei den Schneekanonen im Sauerland von habe ich bei Ihnen nichts gehört. Sie möchten doch nur, dass die Zinssenkung der EZB an die Kreditnehmer vorangekommen; darüber können wir uns unterhalten. weitergereicht wird. Sie haben überhaupt keine Ahnung. (Franz Müntefering [SPD]: Das ist ja alles (Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk [SPD]: Von Geld- schauerlich, Herr Schauerte!) politik haben Sie keine Ahnung!) Das war ein Masterplan. Herzlichen Glückwunsch! Das Machen Sie sich schlau, bevor Sie hier populistischen Un- ist aber auch das Einzige. Das ist nur deshalb gelungen, sinn verkünden. weil wir mitgemacht haben; sonst wäre auch das wieder schief gegangen. Sie weisen also eine „glänzende“ Bilanz (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – vor. Wo soll das Vertrauen herkommen? Zurufe von der SPD) 1696 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2003

Hartmut Schauerte (A) Ich möchte noch einen weiteren Gesichtspunkt an- Das, was Sie immer wieder theoretisch vortragen, zeigt, (C) sprechen, der mir wirklich aufstößt, und zwar diese dass Sie einen Sprung in der Schüssel haben. 17 500-Euro-Regelung, von mir aus eines Tages die 35 000-Euro-Regelung, wenn Sie diese denn durchsetzen (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Wider- können. Bis zu einem jährlichen Umsatz in Höhe von spruch bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE 17 500 Euro besteht für Existenzgründer und Kleinunter- GRÜNEN) nehmen keine Aufzeichnungspflicht und es gilt eine Be- Lohnzusatzkosten und Steuern: Zum einen stellen triebsausgabenpauschale in Höhe von 50 Prozent. Was Sie sich hier hin und sagen, die Steuerbelastung in aber passiert, wenn ein Betreiber eines solchen Mini-Un- Deutschland sei im internationalen Vergleich durchaus ternehmens über diese Grenze kommt? Wir hoffen ja, dass niedrig. diese Unternehmen möglichst schnell und möglichst häu- fig über diese Grenze kommen. Das geschieht aber nicht (Hubertus Heil [SPD]: Das sagen nicht wir! geplant, sondern plötzlich, im September oder Oktober. Das sagt die OECD!) Bis dahin haben diese Unternehmen keine Aufzeichnun- Sie ist es nicht und sie ist vor allem falsch verteilt; aber las- gen gemacht und damit ein Problem. Denn das Finanzamt sen wir dies einmal. Gleichzeitig sagen Sie, die Lohnne- wird im Januar nach den Aufzeichnungen fragen. benkosten – mittlerweile muss man dazu Lohnhauptkosten Sie werden erleben, dass die Möglichkeit, die Auf- sagen – seien wegen der Wiedervereinigung um 3 Prozent zeichnung zu unterlassen, gegen null läuft. zu hoch. Wenn Sie die Strukturreform angehen und diese Kosten aus den Versicherungssystemen herausnehmen, (Reinhard Schultz [Everswinkel] [SPD]: Sie bauen bürokratische Hürden auf!) (Hubertus Heil [SPD]: Immer wenn wir es Auch die kleinen Unternehmen werden ihre normale machen wollen, sind Sie dagegen!) Buchhaltung machen müssen, weil alles andere mit einem ergibt sich die Frage, ob Sie diese 3 Prozent nicht bei den erheblichen Risiko verbunden ist. Steuern hinzufügen. Es gibt keinen anderen Vorschlag. (Siegfried Kauder [Bad Dürrheim] Entweder machen Sie diese Reform und verbilligen die [CDU/CSU]: So ist es!) Systeme oder Sie schichten um. Ich sage Ihnen: Für den Standort Deutschland ist auch die Umschichtung verkehrt. Dieses Risiko werden Sie dann vollstrecken. Sie wissen an dieser Stelle nicht, worauf es ankommt und was wirk- lich helfen würde. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Ich möchte noch einen Punkt ansprechen, nämlich die Herr Kollege Schauerte, denken Sie an die Redezeit! Energie- und Arbeitskosten in Deutschland. Wir haben (B) (D) in diesem Bereich wirklich Erfahrungen gesammelt. Sie Hartmut Schauerte (CDU/CSU): haben gesagt, die Arbeit sei zu teuer, die Energie sei zu billig. Jetzt ist beides teuer. Das ist das Ergebnis. Ich komme zum Schluss. (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: So ist es!) Herr Clement, ich habe den Eindruck, dass Sie an der einen oder anderen Ecke des Tunnels, in Randbereichen, Energiekosten sind anders als sonstige Belastungen eine Kerze anzünden wollen. Und wenn es ganz dunkel immer kalkulatorische Kosten, die das Produkt belasten. ist, bringt eine Kerze schon viel Licht. Aber in Ihrer Re- Sie belasten das Produkt, das wir um die ganze Welt gierung gibt es noch sehr viele, die am anderen Ende des schicken, und machen es im Wettbewerb teuer. Sie belas- Tunnels Baumaßnahmen unternehmen, um den Tunnel zu ten aber nicht die Produkte, die aus der ganzen Welt nach verlängern. Deswegen geht Ihnen die Kerze aus, bevor Deutschland kommen. Sie am Ende des Tunnels ankommen. (Klaus Brandner [SPD]: Sie haben das 1996, 1997 und 1998 gemacht!) Lafontaine steht vor der Tür, er umkreist schon die Burg. Warten wir es einmal ab! Stiegler ist schon drin, Die Energiesteuer auf die Produkte umzulegen und zu mei- Lafontaine will noch rein. Sehen Sie zu, wie Sie dann die nen, damit Probleme zu lösen, ist für ein Exportland wie die Widerstände brechen wollen. Herzlichen Glückwunsch! Bundesrepublik Deutschland ein absoluter Irrweg. Wir ver- schlechtern unsere Wettbewerbssituation auf den Märkten (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) der Welt und erleichtern den Import von Produkten. Dies ist schlecht für die Arbeitsmarktsituation in Deutschland und Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: unsere Position beim Export. Dies ist ein schwerer Fehler. Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Reinhard Schultz. (Beifall bei der CDU/CSU) (Klaus Brandner [SPD]: Jetzt gibt es Auf- Wer die Löhne hoch halten will – die Nettolöhne sind klärungsunterricht!) in Deutschland eher zu niedrig als zu hoch; unsere Ar- beitnehmerinnen und Arbeiternehmer könnten durchaus ein bisschen mehr gebrauchen –, darf nicht auch noch die Reinhard Schultz (Everswinkel) (SPD): Energie verteuern, sonst kommen wir nicht weiter. Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich finde es sehr be- (Klaus Brandner [SPD]: Und Sie dürfen die achtlich, wenn der mittelstandspolitische Sprecher der deutsche Einheit nicht aus den Sozialsystemen Union, der gleichzeitig den Raiffeisenbanken sehr verbun- finanzieren!) den ist, dem interessierten Publikum erklärt, warum es aus Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2003 1697

Reinhard Schultz (Everswinkel) (A) Sicht der Banken nicht möglich ist, mehr für den Mittel- gen, die in der Lage sind, kleinere Dienstleistungen zu er- (C) stand zu tun. Die Vereinigung dieser Rollen in einer Per- bringen und all die Dinge zu verrichten, zu denen andere son war schon ein beachtlicher intellektueller Klimmzug, aufgrund der extremen Arbeitsteilung in unserer Gesell- den keiner verpassen sollte. Wir werden ihn deswegen schaft selber zu Hause in ihren Familien und ihren Be- weiter verbreiten und immer wieder aus der Rede zitieren. trieben nicht mehr in der Lage sind. Neue Selbstständig- keit ist sowohl in High-Tech-Berufen als auch im (Beifall bei der SPD) Dienstleistungsbereich gefordert. Das gilt auch im hand- Es ist keine Frage, dass es neben den weltwirtschaftli- werksnahen Dienstleistungsbereich. chen Problemen und neben der Zurückhaltung bei Inves- Sie kritisieren, dass die Schwelle für eine vereinfachte titionen und Konsum, die im Zusammenhang mit den Besteuerung von kleinen Unternehmen und Existenz- Ängsten vor Terrorismus und Krieg steht, eine Reihe von gründern mit 17 500 Euro zu niedrig angesetzt ist. Da bin Faktoren in Deutschland gibt, die dazu beitragen, dass ich Ihrer Meinung. Das muss sich weiter entwickeln; das sich die Strukturen nicht verändern oder dass Verände- ist keine Frage. Zielgruppe sind aber in erster Linie dieje- rungsprozesse nur sehr verlangsamt ablaufen. Dazu nigen, die bestimmte handwerkliche Fähigkeiten haben gehören natürlich die zu hohen Kosten für den FaktorAr- und sich aus einer Situation ohne Job in die Selbststän- beit. An der Senkung dieser Kosten haben wir in der letz- digkeit bewegen wollen. Ihr einziges Kapital sind im We- ten Legislaturperiode gearbeitet und wir arbeiten daran sentlichen sie selbst und die Dienstleistung, die sie ver- auch bei der Strukturreform der sozialen Systeme. kaufen wollen. Umsatz und das, was übrig bleibt, liegen Zu den wichtigen Faktoren, die strukturbremsend wir- in diesem Falle sehr nah beieinander. Das ist die Wirk- ken, gehört darüber hinaus leider auch die Platzhalter- lichkeit. mentalität der Akteure, die bestimmte berufsständische (Beifall des Abg. Christian Lange [Backnang] Organisationen und Verbände vertreten. Archetypischer [SPD]) Vertreter ist Herr Schauerte. Diese Akteure reden über al- les, zum Beispiel über Entbürokratisierung oder über Diese Regelung zielt nicht auf einen Handwerksbetrieb, Wettbewerb. Aber wenn sie selber betroffen sind, der 20 oder 25 Mitarbeiter beschäftigt. Wer Existenz- gründungsoffensiven aus der Arbeitslosigkeit heraus för- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) dern will, der muss so vorgehen und die steuerlichen und wenn Wettbewerb angesagt ist, weil man die Grenzen ei- bürokratischen Hürden so niedrig wie möglich halten, zu- nes bestimmten Berufsstandes etwas aufbohren will, dann mindest zu Beginn der Existenzgründung. wird der Markt dicht gemacht, weil man den Wettbewerb Sie, Herr Schauerte, wollen aber gleich eine neue fürchtet. Hürde aufbauen, (B) (D) (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Von wem (Christian Lange [Backnang] [SPD]: So sind reden Sie?) sie!) – Sie, Herr Schauerte, sind ein typischer Vertreter dafür. weil Sie sich nicht vorstellen können, wie die Abgrenzung Das gilt aber leider auch für die Akteure der Organisa- zwischen dem, der weniger als 17 500 Euro umgesetzt tionen, die Arbeitnehmer vertreten. Sie denken zunächst hat, und demjenigen, der 1 Euro mehr umgesetzt hat, aus- nur an diejenigen, die in den Betrieben in ihrem Verband sehen soll. Das werden wir im Gesetzgebungsverfahren organisiert sind, und erst in zweiter Linie an diejenigen, schon hinkriegen. Regelungen, ob wir das Jahr, in dem die vor den Betriebstoren stehen. Dieses Problem muss dieser Betrag überschritten wird, der Grundsituation angegangen werden. Den Dialog, den Wolfgang Clement gleichstellen und erst im darauf folgenden Jahr die Buch- mit den Akteuren, mit den Vertretern der alten Strukturen führungspflicht einführen, sind doch problemlos zu tref- auf allen Seiten aufgenommen hat, und das, was er an Re- fen. Wer jetzt, nachdem wir ein großes Entbürokratisie- formvorstößen vorgelegt hat, finde ich in hohem Maße rungsprogramm gestartet haben, bereits ankommt und beachtlich. Er legt dabei ein tolles Tempo vor. eine neue Bürokratenfrage stellt, ist meines Erachtens als Mittelstandsvertreter ausdrücklich fehl am Platz. (Beifall bei der SPD) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Ich bin fest davon überzeugt, dass es in Deutschland des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) viel zu wenig Bewusstsein gibt, Leute aufzufordern, ihr Schicksal selber in die Hand zu nehmen. Die Menschen Wir machen das ja auch nicht erst seit jetzt. In der letz- sollten, anstatt arbeitslos zu sein, drei Jahre zu überwin- ten Wahlperiode haben wir sowohl bei der Altersversor- tern und darauf zu warten, bis das gnädige Schicksal sie gung als auch im Bereich des Steuerrechts angefangen, ereilt und sie in der Großorganisation der Wirtschaft oder ordentlich aufzuräumen. Laut OECD haben wir mit die im öffentlichen Dienst irgendwann einen Job bekommen, niedrigste Steuerquote aller Industrieländer, weil diese ihr Schicksal lieber selbst in die Hand nehmen und sich Regierung diese Steuerpolitik gemacht hat und nicht, weil sie sozusagen als Geschenk vom Himmel gefallen ist. Es selbstständig machen. Darauf zielt die Mittelstands- war ein riesengroßes Reformvorhaben. offensive. Sie soll sowohl diejenigen, die aufgrund ihres hohen Know-hows durch eine Universitätsausbildung Dass das angesichts der krisenhaften Entwicklung ins- oder andere Qualifikationen fähig sind, Produkte und gesamt von den Menschen nicht so honoriert worden ist, Dienstleistungen auf höchstem Niveau zu entwickeln, an- wie wir es uns selbst wünschen, ist gar keine Frage. Das regen, sich selbstständig zu machen, ebenso wie diejeni- ändert aber nichts daran, dass in den letzten vier Jahren 1698 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2003

Reinhard Schultz (Everswinkel) (A) zumindest die steuerpolitischen Grundlagen für die Ar- schaft zugemutet wird. Dies gilt natürlich erst recht für die (C) beitnehmer, die Selbstständigen und die Mittelständler Unternehmen, die aus dem Mittelstand entstanden sind, deutlich besser geworden sind, als sie es in den 16 Jahren wie die Raiffeisen- und Volksbanken, und für die öffent- vorher waren. lich-rechtlichen Sparkassen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Wer als öffentlich-rechtliches Kreditinstitut nicht be- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) reit ist, den Mittelstand zu fördern, verliert im Grunde ge- nommen den Anspruch auf seine Existenz. Wir haben dafür gesorgt, dass sich Unternehmen um- strukturieren können, ohne dabei steuerlich diskriminiert (Beifall bei Abgeordneten der SPD) zu werden. Man kann Beteiligungen und alle Formen, die Die Begründung von Sparkassen beruht darauf, ihr Auf- das Kapital haben kann – ob es sich um eine Beteiligung trag sei es, die regionale Geldversorgung für den Einzel- an einem Anlagegut oder um etwas anderes handelt –, in- nen und für die regionale Wirtschaft sicherzustellen. Ge- nerhalb von Kapitalgesellschaften so tauschen, wie man meinsam mit den Ländern werden wir gesetzgeberisch es wirtschaftlich für richtig hält, ohne dabei diskriminiert einiges tun müssen, um diese Verpflichtung, die die ein- zu werden. Durch die Einführung der Reinvestitionsrück- zige Begründung für die Existenz öffentlicher Banken ist, lage haben wir bei den Personenunternehmen Ähn- aufrechtzuerhalten, so wie wir es bezüglich der bundes- liches geschaffen. Durch die volle Anrechnungsmöglich- eigenen Bankinstitute und Förderbanken mit Erfolg hand- keit der Gewerbesteuer auf die Einkommensteuer bei haben. Personenunternehmen haben wir eine weitgehende Waf- fengleichheit hergestellt. Das sind fast revolutionäre Vor- Wir haben eine Entwicklung, in der der Mittelstand die gänge im Steuerrecht, die dem Mittelstand helfen und Un- Finanzierung des Anlagevermögens zunehmend nicht ternehmensgründungen im Mittelstand ermöglichen. mehr mit Krediten, sondern über das Leasing sicherstellt. Auch das muss man zur Kenntnis nehmen. In einer sol- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ chen Situation, in der bereits fast der gesamte Fahrzeug- DIE GRÜNEN) park des Mittelstandes über Leasing finanziert wird – das In dieser Richtung werden wir weitermachen. Wir wer- Gleiche gilt zunehmend für Geräte, Aggregate und Ge- den das Steuervergünstigungsabbaugesetz abklopfen. bäude –, muss man sich auch überlegen, ob die Leasing- Es darf nichts beschlossen werden, was die Mobilität des raten im Vergleich zu Dauerschuldzinsen auf die Gewer- Kapitals und die Möglichkeit, Unternehmen zu sanieren besteuer angerechnet werden. und umstrukturieren, behindert. Wir befinden uns mitten Es muss zumindest Waffengleichheit hergestellt wer- im Verfahren. Im Ergebnis wird es mehr Möglichkeiten den. Man darf nicht über das Ziel hinausschießen. Das ist der Sanierung und Beteiligung geben als jetzt. Das ist für ein Hinweis auf die aktuelle Diskussion über das Steuer- (B) uns Sozialdemokraten, die den Mittelstand fördern wol- vergünstigungsabbaugesetz. Ein alternatives Finanzie- (D) len, überhaupt keine Frage. rungsinstrument für den Mittelstand darf nicht ins Rut- (Beifall bei der SPD) schen geraten. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich denke, wir haben Ich bin davon überzeugt, dass diese Debatte um die Zu- Riesenprobleme bei der Finanzierung von mittelständi- kunft des Mittelstandes, die heute ihren Anfang nimmt, schen Unternehmen. Das stand zum Teil auch im Mittel- wirklich nur ein Anfang ist. Wir werden im Laufe dieser punkt der Redebeiträge vonseiten der Opposition und Wahlperiode mit Wolfgang Clement und der Bundes- vonseiten der Regierung. Das liegt an der Eigenkapital- regierung eine Reihe von Bremsklötzen beseitigen, Fes- quote. Sie ist im Wesentlichen bei Personenunternehmen seln sprengen – um im Bild von Herrn Brüderle zu blei- extrem niedrig. Das ist fast naturgesetzlich so. Sowohl in ben –, Hindernisse ausräumen, die unternehmerisches der privaten Lebenssphäre als auch in der Lebenssphäre Denken und Handeln in Verantwortung für sich selbst, die der Personenunternehmen ist es nicht möglich, Eigen- Beschäftigten, aber auch das Gemeinwesen behindern. kapital in der Größenordnung zu haben wie in einer Ka- Unternehmerische Freiheit bedeutet gleichzeitig unter- pitalgesellschaft. Bei der Reform der Unternehmensteuer nehmerische Verantwortung für das Ganze. Diese Sicht- – insbesondere der Gewerbesteuer – werden wir darauf weise muss man sich gerade als rot-grüne Koalition er- achten müssen, dass Prozesse in Gang gesetzt werden, die halten. Wir werden sie uns erhalten. Aber sie hindert uns die Eigenkapitalbildung steuerlich deutlich erleichtern. nicht daran, Bremsklötze zu beseitigen. Das wird einer der nächsten Schritte sein müssen. Vielen Dank. Natürlich haben wir auch Probleme mit den Banken. Ich bin ausdrücklich dafür, dass Banken den Kreditneh- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ mer – auch den Unternehmer – zwingen, die Hosen her- DIE GRÜNEN) unterzulassen und zu zeigen, welche Sicherheiten er hat und wie sein Schulden- und Vermögensstand aussieht. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das dient auch dem Selbstschutz des Kreditnehmers. Die andere Frage ist aber, welches Risiko die Bank selber ein- Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Alexander Dobrindt. zugehen bereit ist. (Beifall bei der SPD) Alexander Dobrindt (CDU/CSU): Ich erwarte von ihr dasselbe Risikobewusstsein, wie es Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Da Mär- dem mittelständischen Unternehmer in dieser Gesell- chen immer wieder Hochkonjunktur haben, möchte ich Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2003 1699

Alexander Dobrindt (A) gerne mit Jonathan Swifts „Gullivers Reisen“ beginnen. im Jahresdurchschnitt auf jetzt 4,2 Millionen festgelegt. (C) Wie einigen von Ihnen sicherlich bekannt, findet sich An alte Versprechen von 3,5 Millionen Arbeitslosen will Gulliver auf seinen Reisen plötzlich gefesselt auf einer Insel man bei der Regierungskoalition in diesem Zusammen- wieder, vertaut mit allerlei Seilen und Schnüren. Geknebelt hang ohnehin nicht mehr erinnert werden. Sie wurden im auf dem Boden liegend, musste Gulliver feststellen, dass er Vertrauen darauf gegeben, dass die Konjunktur in der vollkommen bewegungs- und handlungsunfähig war. zweiten Hälfte des Jahres 2003 wieder anzieht. Ich erin- nere an die gleiche Ankündigung vor genau einem Jahr, (Klaus Brandner [SPD]: Das haben Sie aber die wir noch sehr gut im Gedächtnis haben. schön aufgeschrieben!) Minister Clement hat gestern sehr richtig gesagt: „Für die Nicht genug dieses Zustandes wurde Gulliver von vielen Rückgewinnung des Vertrauens muss Politik verlässlich Liliputanern, die ihn in diese Lage gebracht hatten, ohne sein.“ Ich wünschte mir, dass diese Verlässlichkeit erkenn- dass er dies sofort bemerkte, mit Hunderten winziger Lan- bar wäre. Dem ist aber leider nicht so. Mit einer Vielzahl von zen und Speere bedroht, die jede für sich genommen viel- Ankündigungen werden die Menschen und Unternehmen in leicht nur ein wenig schmerzhaft wären, aber in der Summe unserem Land täglich verunsichert: Besteuerung von durchaus in der Lage waren, sein Leben zu bedrohen. Dienstfahrzeugen, Erhöhung der Mehrwertsteuer, Mindest- (Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk [SPD]: Was sagt steuer, Kündigungsschutz und vieles mehr. Meine Damen uns das jetzt?) und Herren, diese Art verlässlicher Politik von Rot-Grün hat der Mittelstand in Deutschland nicht verdient. Ähnlich wie Gulliver in dieser Geschichte geht es heute dem Mittelstand in Deutschland. Während sich die- (Beifall bei der CDU/CSU) ser um seine Unternehmungen bemühte, Arbeitsplätze Herr Minister Clement, Sie müssen Obacht geben, dass schuf, sich in besonderem Maße um die Ausbildung un- aus Ihrem Ministerium für Wirtschaft und Arbeit nicht das serer Jugend kümmerte und sich, ganz offensichtlich vom Ministerium für Ankündigung und Rücknahme wird; Gerede über die Neue Mitte geblendet, auf die Schaffens- diese Gefahr besteht. kraft der rot-grünen Bundesregierung verließ, wurde der Rund 70 Prozent der Arbeitnehmer in Deutschland sind Mittelstand durch immer mehr bürokratische Hinder- in mittelständischen Unternehmen beschäftigt. Wenn Sie nisse, durch Gesetze und Verordnungen, durch Steuer- es sich zum Ziel setzen würden, dass nur jeder fünfte Mit- und Abgabenerhöhungen Zug um Zug gefesselt und letzt- telständler einen Arbeitslosen beschäftigt, könnten Sie die lich bewegungs- und handlungsunfähig gemacht. Arbeitslosenzahl in Deutschland um 600 000 senken. Mo- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- mentan sieht es leider ganz anders aus: Fast jeder zweite neten der FDP) Mittelständler überlegt sich heute, Personal abzubauen. (B) (D) Märchen finden meist ein gutes Ende. Doch wie schaut Ihnen von der Regierungskoalition fällt dazu nur die so die Realität in Deutschland aus? „Die Stimmung im deut- genannte Offensive für den Mittelstand ein, die mit einer schen Mittelstand ist zu Jahresbeginn 2003 dramatisch überschaubaren Zahl von Einzelmaßnahmen ausgestattet eingebrochen“, so berichtet die „Süddeutsche Zeitung“. ist, die – das gestehe ich Ihnen durchaus zu – in Teilen Die Vereinigung Mittelständischer Unternehmer resümiert, dazu beitragen mögen, die eine oder andere Fesselung des dass auch in den vergangenen Jahren die Lage für den Mittelstandes zu lockern. Aber sie ist unter keinen Um- Mittelstand nicht besonders gut war – ich zitiere –, „aber ständen der große Wurf, der endlich die lähmenden Fes- die Stimmung war noch nie so schlecht“. seln von Bürokratie, Steuerlast und Depressionsangst durchtrennen könnte. Der Small-Business-Act zur För- Anstatt in dieser bedrohlichen Lage endlich Entlastun- derung von Existenzgründern im vorliegenden Antrag der gen für die Vielzahl kleiner Firmen und Selbstständigen Regierungskoalition greift beim Mittelstand vollkommen anzugehen, versetzt die Bundesregierung den Unterneh- ins Leere. Wenn Sie Existenzgründer wirklich fördern mern erst einmal eine ganze Reihe von Tiefschlägen: wollen, dann sorgen Sie dafür, dass in den ersten Jahren Massive Steuererhöhungen werden angekündigt, die nach der Gründung deutliche Steuererleichterungen mög- Lohnnebenkosten drastisch erhöht. Die Einschränkung lich sind. Das wäre ein Schritt in die richtige Richtung. des Verlustvortrags wird erklärt. Die Eigentumsförderung Um langfristig den Mittelstand wieder zum Beschäfti- wird als Zeichen der Familienfreundlichkeit gekürzt, gungsmotor in Deutschland zu machen, ist es notwendig, ohne dabei die Auswirkungen auf die Bauwirtschaft zu die Ausstattung mit Eigenkapital zu verbessern. Der Mit- berücksichtigen. telstand in Deutschland hat offenbar eine zu geringe Ka- Obwohl Sie, Herr Minister, gestern bei der Vorstellung pitaldecke. Ich erlebe es – wie viele von Ihnen mit Si- des Jahreswirtschaftsberichts feststellten, dass die Lage cherheit auch – in meinem Wahlkreis, wie traditionsreiche genauso wie die Stimmung in unserem Land ist, nämlich Unternehmen inzwischen daran scheitern, dass sie nicht geprägt von Verzweiflung und Frustration, bleiben Sie über ausreichende finanzielle Mittel verfügen. Darum ist Ihrem von mir ehrlich bewunderten Optimismus treu und es dringend notwendig, neue steuerliche Regelungen für prognostizieren für 2003 ein Wirtschaftswachstum von Beteiligungs- und Chancenkapital vorzulegen. Machen 1 Prozent, obwohl das DIW und der BGA ihre Wachs- Sie einen mutigen Schritt und sorgen Sie dafür, dass Per- tumsprognosen schon lange weit unter 1 Prozent korri- sonen, die Geld in mittelständische Unternehmen inves- giert haben. tieren, für ihre Erträge aus diesen Beteiligungen von höheren Steuerfreibeträgen bei den Kapitaleinkünften Die Arbeitslosenzahlen, die diesen Monat wieder dras- profitieren können! Damit leisteten Sie einen ernsthaften tisch gestiegen sind und bei 4,5 Millionen liegen, werden Beitrag dazu, die Kapitalausstattung beim Mittelstand zu 1700 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2003

Alexander Dobrindt (A) verbessern. Sorgen Sie ferner dafür, dass Betriebsübernah- Finanzausschuss (C) men durch Familienangehörige von der Erbschaftsteuer Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft freigestellt werden, wenn der Betrieb weiterläuft und Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Arbeitsplätze sichert! Diese Maßnahmen sorgen konkret Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung für eine bessere finanzielle Ausstattung des Mittelstandes. Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ich bin gespannt, ob ich diese und weitere Vorschläge Ausschuss für Tourismus bei Ihnen wiederfinden werde oder ob nicht eher, wie das Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO „Handelsblatt“ gestern geschrieben hat, die Bundesregie- rung Pläne hat, bei Leasinggeschäften die Raten des Lea- b) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten singnehmers mit einer Steuer zu belegen. Damit nähmen Entwurfs eines Gesetzes zum Fördern und Fordern Sie dem Mittelstand eine seiner letzten wichtigen Finan- arbeitsfähiger Sozialhilfeempfänger und Arbeitslo- zierungsmöglichkeiten. senhilfebezieher (Fördern-und-Fordern-Gesetz) Begrüßen kann ich nur Ihre Willenserklärung zum – Drucksache 15/309 – Bürokratieabbau; Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit (f) (Dagmar Wöhrl [CDU/CSU]: Aber es ist nur Sportausschuss eine Willenserklärung!) Rechtsausschuss Finanzausschuss denn wer – wie ich selbst – in seinem Unternehmen mit Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und einer Vielzahl von statistischen Meldungen befasst ist und Landwirtschaft bei den statistischen Ämtern lediglich die Auskunft be- Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend kommt, er solle froh sein, wenn es nicht noch mehr Mel- Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung depflichten würden, der kann Sie in diesem Ansinnen nur Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung unterstützen. Ich weise allerdings darauf hin, dass bereits Ausschuss für Tourismus Wirtschaftsminister Müller den Abbau der Bürokratie Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO versprochen hat. Aber Sie, Herr Minister Clement, haben angekündigt: „Wir sind schlichtweg in einer Situation, in c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Heinrich der wir alles, was wir bisher getan haben, überprüfen müs- L. Kolb, Daniel Bahr (Münster), Dr. Dieter Thomae, sen.“ Ich empfehle dieses Vorgehen auch für die vorlie- weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP gende Offensive für den Mittelstand. Das Sozialhilferecht gerechter gestalten – Hilfe- Danke schön. bedürftige Bürger effizienter fördern und for- dern (B) (Beifall bei der CDU/CSU) (D) – Drucksache 15/358 – Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit (f) Ich gratuliere Ihnen, Herr Kollege, im Namen des Hau- Sportausschuss Rechtsausschuss ses zu Ihrer ersten Rede. Finanzausschuss (Beifall) Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft Wir sind damit am Ende der Aussprache. Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf Ausschuss für Bildung, Forschung und den Drucksachen 15/351, 15/349 und 15/357 an die in der Technikfolgenabschätzung Ausschuss für Tourismus Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Haushaltsausschuss Die Vorlage auf Drucksache 15/351 soll zusätzlich an den Auswärtigen Ausschuss, den Ausschuss für Verbraucher- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die schutz, Ernährung und Landwirtschaft, den Ausschuss für Aussprache anderthalb Stunden vorgesehen. – Es gibt kei- wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung sowie nen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. an den Ausschuss für Tourismus überwiesen werden. Sind Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat als Erste die Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann sind die hessische Sozialministerin, Frau Silke Lautenschläger. Überweisungen so beschlossen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Ich rufe die Tagesordnungspunkte 4 a bis 4 c auf: Klaus Brandner [SPD]: Ist das eine Dienst- reise?) a) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum optimalen För- Silke Lautenschläger, Staatsministerin (Hessen): dern und Fordern in Vermittlungsagenturen (OFFENSIV-Gesetz) Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir – Drucksache 15/273 – könnten schon viel weiter sein. Überweisungsvorschlag: (Zuruf von der SPD: Das ist falsch!) Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit (f) Sportausschuss Als ich heute Morgen die Diskussion genau verfolgt habe, Rechtsausschuss habe ich mich – das gebe ich zu – ein bisschen in den Teil Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2003 1701

Staatsministerin Silke Lautenschläger (A) meines Ressorts versetzt gefühlt, der sich mit Gesund- Pilotprojekten kann man zwar einiges in Gang setzen. (C) heitspolitik und Psychologie beschäftigt. Es gibt eine Aber Sie müssen endlich auch die entsprechenden bun- Krankheit namens Schizophrenie, das heißt gespaltene desrechtlichen Rahmenbedingungen schaffen, Wirklichkeitswahrnehmung. Genau an dieser Stelle, liebe (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Kollegen von der SPD-Fraktion, scheinen wir uns wie- derzufinden. Die Sozialhilfereform ist bereits vor gut ei- die uns die Möglichkeiten geben, besser und schneller in nem Jahr mit dem OFFENSIV-Gesetz auf den Weg ge- den Arbeitsmarkt zu vermitteln. bracht worden. Tausende Sozialhilfeempfänger könnten Im Übrigen sprechen Sie immer so gerne – dieses schon heute wieder in Arbeit sein, Stichwort findet man auch in einigen Ihrer Gesetze – von (Klaus Brandner [SPD]: Warum machen Sie Fördern und Fordern. Wenn man aber nicht fordern das dann nicht?) kann, weil die entsprechenden Sanktionsmöglichkeiten in Ihren Gesetzen fehlen, wenn der Datenaustausch zwi- wenn die rot-grüne Koalition im Bundestag nicht blockie- schen den verschiedenen Stellen noch immer nicht richtig ren und taktieren würde. geregelt ist und wenn man keine Möglichkeiten hat, die (Beifall bei der CDU/CSU – Klaus Brandner Beweislast umzukehren, damit Fördern und Fordern auch [SPD]: Jetzt werden Sie doch einmal kon- im Bereich der Sozialhilfeempfänger und der Arbeitslo- kret!) senhilfeempfänger möglich ist, dann kann ich nur sagen: Auch Sie im Bund müssen Ihre Hausaufgaben machen Genau an dieser Stelle heißt es, schneller zu handeln. und mit den Bundesländern endlich zusammenarbeiten; Sie haben die Wachstumsprognosen nach unten korrigiert. denn wir haben natürlich das allergrößte Interesse daran, (Klaus Brandner [SPD]: Wo leben Sie denn?) dass sich auf dem Arbeitsmarkt etwas tut, und zwar vor al- lem für diejenigen, die besonders schwer zu integrieren Fast 4,5 Millionen Menschen sind bereits arbeitslos. Genau sind. Deshalb brauchen wir Jobcenter, die Betreuung, derjenigen, die besonders betroffen sind, also der Lang- Qualifizierung, Vermittlung und Leistungsgewährung an zeitarbeitslosen und Sozialhilfeempfänger, muss man sich einer Stelle zusammenführen. wieder besonders annehmen. Es sind sich doch längst alle einig darin, dass wir hier eine Reform brauchen. Sie muss (Dr. Uwe Küster [SPD]: Falsche Wahrneh- mung! Das haben wir längst!) aber auf den Weg gebracht werden. Wir brauchen auch hier nicht ständig einen neuen Luftballon, der zerplatzt, Das versuchen wir bereits in vielen Pilotprojekten umzu- und können nicht auf Hartz III, IV oder V warten, falls Sie setzen. Nur, Sie müssen natürlich weitere gesetzliche Mög- die Vorschläge dieser Kommission überhaupt noch um- lichkeiten schaffen, wenn wir eine verbindliche Eingliede- setzen wollen. rungsvereinbarung haben wollen, die für beide Seiten (B) verpflichtend ist. Das haben Sie bisher noch nicht gemacht. (D) (Klaus Brandner [SPD]: Sie können doch längst anfangen! Warum machen Sie es dann nicht?) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Wir brauchen vielmehr eine Sozialhilfereform, Die Überprüfung der Verfügbarkeit sowie Trainingsmög- lichkeiten und Fortbildungsmaßnahmen sollten erst nach (Klaus Brandner [SPD]: Nun lenken Sie nicht dem Abschluss einer Eingliederungsvereinbarung kom- dauernd von Ihren eigenen Unaktivitäten ab!) men. Eine solche Vereinbarung, die dazu dient, die Be- die tatsächlich Fördern und Fordern möglich macht. troffenen in den Arbeitsmarkt zu integrieren, muss am An- fang stehen. (Klaus Brandner [SPD]: Frau Lautenschläger, Sie haben doch alle Möglichkeiten!) Ich verstehe ja, dass Sie sich auch an dieser Stelle ein wenig aufregen und dass Sie ein wenig unruhig werden; Eine solche Reform ist dringend notwendig. (Dr. Uwe Küster [SPD]: Der Einzige oder die (Beifall bei der CDU/CSU – Klaus Brandner Einzige, die hier unruhig ist, sind Sie!) [SPD]: Warum passiert in Hessen nicht mehr?) denn der 2. Februar steht kurz bevor. Danach haben Sie endlich die Möglichkeit, es nicht bei Ankündigungen und – Ich werde Ihnen sehr gerne erklären, was in Hessen be- dem Aneinanderhängen immer neuer Reförmchen zu be- reits alles passiert ist. lassen, sondern endlich umzusteuern, auch für die schwer (Zuruf von der SPD: Sie kürzen die Vermittelbaren Chancen zu eröffnen und den Ländern ei- Leistungen!) gene Möglichkeiten einzuräumen. Der Kollege Clement hat angekündigt – dafür bin ich sehr dankbar; das sage ich sehr deutlich –, dass er zu Experimentiermöglichkeiten Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: bereit ist. Diese brauchen wir. Rufen Sie bitte nicht ständig dazwischen. Lassen Sie (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Die hat er aber der Rednerin ein bisschen Luft. nur angekündigt!) – Genau, die sind angekündigt. Das ist der große Unter- Silke Lautenschläger, Staatsministerin (Hessen): schied. Wir haben erstens ein Gesetz vorgelegt und zweitens Ich erwarte, dass sowohl der Herr Bundeskanzler, der schon viele Pilotprojekte auf den Weg gebracht. Nur, mit gleichzeitig der Bundesvorsitzende der SPD ist, als auch 1702 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2003

Staatsministerin Silke Lautenschläger (A) der Fraktionsvorsitzende der SPD am 3. Februar endlich Es ist schön und gut, über Erfolge zu reden. Wir nehmen (C) auf diesen Kurs einschwenken. Sie gern an die Hand. Nur: Geben Sie uns doch die Mög- lichkeiten zu experimentieren! Geben Sie uns die Möglich- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) keiten, die es in anderen Staaten schon längst gibt! Dort ha- Es ist ein Fehler, dass das bis heute nicht geschehen ist. ben Länder die Möglichkeit bekommen, den Arbeitsmarkt Ich will Ihnen einige Punkte nennen, deren Beachtung selbst zu gestalten. Wir müssen dahin kommen, dass es auf für die Gestaltung von Experimentiermöglichkeiten auf dem Arbeitsmarkt tatsächlich einen Wettbewerb gibt, zum Länderebene vonnöten ist. Die Länder brauchen dazu Beispiel dadurch, dass Jobcenter versuchen, schneller zu Änderungen im SGB III. Ich denke dabei an Folgendes: vermitteln und freie Träger einzuschalten. Teilnahme an Hilfsmaßnahmen, Zumutbarkeit, Bereit- Ich fordere Sie dazu auf mitzumachen. Ich verweise schaft zu gemeinnütziger Arbeit, den verbindlichen Ab- auf einen Kollegen aus der SPD-Fraktion, der bei unseren schluss der Eingliederungsvereinbarung auch im SGB III. Pilotprojekten mitmacht. Er reist im Moment durch die Auch was das BSHG angeht, sieht es nicht besser aus; Gegend und sagt: Das, was die Bundesregierung an die- denn die entsprechenden Regelungen sind noch nicht ge- ser Stelle macht, ist falsch. Ich fordere Sie auch dazu auf, troffen worden. Noch immer ist es uns nicht möglich, das sich einmal freie Träger anzuschauen, die wir in die Ar- mit Landesrecht umzusetzen. Wir brauchen die Länder- beit der Jobcenter einbinden. Sie bringen dort beispiels- öffnungsklauseln, damit es möglich sein wird, dass die weise ihre Erfahrungen aus der Drogen- und Suchthilfe Arbeitsvermittlung eine Pflichtaufgabe der örtlichen So- ein. Sie tragen dazu bei, dass Menschen schneller wieder zialhilfeträger ist. in Arbeit gebracht werden. Auch im Bereich Drogen- und Suchthilfe ist Arbeit das Entscheidende. Sie sollten sich an dieser Stelle vielleicht einmal mit dem auseinander setzen, was der Deutsche Landkreistag Sie können uns auf unserem Weg begleiten. Sie können längst beschlossen hat. Es geht darum, dass der gesamte auch hoffen, dass wir auf die Nase fallen. Sie sollten es Sachverstand der auf der kommunalen Ebene Tätigen aber im Interesse derjenigen, die wieder Arbeit haben nicht einfach ausgeschlossen wird. Sie sollten nicht mei- wollen, nicht bei Ankündigungen, Experimentiermög- nen, alles auf die Bundesanstalt verlagern zu müssen. Da- lichkeiten zu schaffen, belassen. Sie haben die Chance, mit bilden Sie einen neuen Moloch. Wir wollen die Zu- zum ersten Mal Experimentiermöglichkeiten der Länder sammenarbeit der auf der kommunalen Ebene Tätigen, zu schaffen. der Sozialhilfeträger und der Arbeitsämter, um besser und Meine Damen und Herren, wir haben an dieser Stelle schneller vermitteln zu können. die Tür aufgemacht. In unserem Sinne ist es nicht, im (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Bundesrat Blockade à la Lafontaine zu üben. Uns geht es (B) vielmehr darum, zusammenzuarbeiten und Reformen auf (D) Ich gebe zu: Ich verstehe natürlich auch Ihre Angst an den Weg zu bringen. Aber was hilft es uns, wenn die Re- dieser Stelle. Wir könnten schon seit einem Jahr Erfolge gierung die Reformen ankündigt, der Nächste das wieder aufweisen, wir könnten schon wesentlich mehr Menschen zurücknimmt und die SPD-Fraktion hier im Bundestag vermittelt haben, sagt, man habe es überhaupt nicht nötig, an dieser Stelle (Dirk Niebel [FDP]: Schon seit fünf Jahren, etwas zu tun? Lassen Sie uns doch auch im Bereich der wenn die nicht gewählt worden wären!) Sozialhilfe endlich die Chancen nutzen, wie wir es bei Hartz mit der 400-Euro-Regelung, die vorher schon so im wenn Sie uns an dieser Stelle Experimentiermöglichkei- ten gegeben hätten. Sie können dafür sorgen, dass nur die CDU/CSU-Programm stand, getan haben! Hessen das ausprobieren. (Dirk Niebel [FDP]: Auch sehr bürokratisch (Dr. Thea Dückert [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- geworden!) NEN]: Das ist doch schon Bundesgesetz!) Ein letzter Punkt. Sie kündigen die Sozialhilfereform Wenn es nicht funktioniert, dann können Sie sich ins für 2004, vielleicht auch 2005 an. Wir können sofort an- Fäustchen lachen. Wir sind noch nicht von dem Ziel ab- fangen. Das kann parallel laufen, wenn Sie den Ländern gekommen, mehr Menschen in Arbeit zu bringen, indem Experimentiermöglichkeiten geben, wenn Sie an dieser wir einen Wettbewerb um diejenigen, die außen vor sind, Stelle mit uns zusammenarbeiten. Da ist tatsächlich die starten. Chance gegeben, dass wir uns endlich wieder richtig um die benachteiligten Gruppen kümmern. Wir haben in Sie reden von verriegelten Arbeitsmärkten. Wir hören Hessen gute Erfolge vorzuweisen, gerade bei der Vermitt- viel von Bürokratieabbau. Darüber wurde heute Morgen lung von Schwerbehinderten und Langzeitarbeitslosen in diskutiert. den Arbeitsmarkt. Aber wir wollen noch besser werden. (Dr. Thea Dückert [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Wir stecken unsere Ziele hoch. Wir haben immer noch NEN]: Handwerksordnung, sage ich da nur!) den Anspruch, mit diesen Reformen die Zahl der er- werbsfähigen Sozialhilfeempfänger zu halbieren, indem Gerade die Bundesländer wollen mithelfen, die Bürokratie wir sie wieder in den Arbeitsmarkt integrieren. Wenn Sie abzubauen. Bei den Verhandlungen über die Hartz-Ge- das aufgegeben haben, würde mir persönlich das sehr setze konnten wir wenigstens in dem Bereich Schein- Leid tun. Denn ich denke, man muss sich darum selbstständigkeit etwas erreichen. Es ging dabei um Dinge, bemühen, genau diese Gruppen wieder in den Arbeits- die Sie wieder eingeführt hatten. Jetzt helfen wir Ihnen, markt zu integrieren. Bürokratie abzubauen, die Sie in den vergangenen vier Jahren aufgebaut haben. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2003 1703

Staatsministerin Silke Lautenschläger (A) Ich lade Sie herzlich dazu ein, mit uns über dieses Ge- Recht so! Damit wir uns richtig verstehen: Das will auch (C) setz, über die Experimentiermöglichkeiten endlich einmal die Bundesregierung. Ich stimme mit den Zielen der bei- wirklich nachzudenken. Die Tür im Bundesrat ist offen den Gesetzentwürfe durchaus überein, die Strukturen der und sie wird am 2. Februar mit Sicherheit noch ein Stück Arbeitsvermittlung effizienter zu machen, die Beschäfti- größer werden. Ich hoffe, dass Ihre Seite sich bewegt und gungssituation für Arbeitslosenhilfebezieher und Sozial- dass wir dazu kommen, einen verriegelten Arbeitsmarkt hilfeempfänger zu verbessern und deren Arbeitslosigkeit endlich zu öffnen und zu entbürokratisieren und auch eine nachhaltig abzubauen. Sozialhilfereform, die ihren Namen verdient, auf den Weg zu bringen. Die Gesetzentwürfe gehen dazu aber trotz erwägens- werter Vorschläge im Detail grundsätzlich den falschen (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Weg. Der wird auch beim dritten Aufguss nicht besser. Ich will das begründen. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Im August vergangenen Jahres hat die Kommission Für die Bundesregierung hat jetzt der Parlamentarische „Moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt“ einen be- Staatssekretär Gerd Andres das Wort. merkenswerten Bericht vorgelegt, den Ihr Kandidat ja öf- fentlich richtig abqualifiziert hat, wie ich meine, völlig zu (Friedrich Merz [CDU/CSU]: Sagen Sie ein- Unrecht. Wir haben in der Zwischenzeit zwei Gesetze auf fach, dass das gut war! – Gegenruf von der SPD: den Weg gebracht und umgesetzt – ich will ausdrücklich Das wäre gelogen! – Klaus Brandner [SPD]: hinzufügen: auch mit Ihrer Hilfe, was den zustimmungs- Was gut war, das sagt er auch! Dafür ist er be- pflichtigen Teil angeht. kannt! – Dr. Uwe Küster [SPD]: Gerd, bleibe ehrlich!) Nun arbeiten wir konsequent an der weiteren Umset- zung der Hartz-Vorschläge. Die beiden Gesetzentwürfe des Bundesrates setzen im Wesentlichen lediglich an den Gerd Andres, Parl. Staatssekretär beim Bundesminis- bestehenden Systemen der Arbeitslosenhilfe und der So- ter für Wirtschaft und Arbeit: zialhilfe an und würden damit das dauerhafte Nebenein- Meine sehr verehrten Damen und Herren! OFFENSIV- ander von zwei Hilfesystemen für einen vergleichbaren Gesetz zum Dritten! Das vom Bundesrat im November Personenkreis verfestigen. Deswegen greifen Sie mit die- auf Initiative der Länder Hessen und Bayern beschlossene sen Vorschlägen zu kurz. OFFENSIV-Gesetz Die Bundesregierung hingegen wird als dritte Stufe der (Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Ist gut!) Umsetzung der Hartz-Vorschläge noch in diesem Jahr ei- (B) nen Gesetzentwurf zur Zusammenführung von Arbeits- (D) liegt uns nun zum dritten Mal hier vor. Das ist natürlich losenhilfe und Sozialhilfe vorlegen, der nach unserer kein Zufall; denn am Wochenende sind Wahlen. Vorstellung am 1. Januar des kommenden Jahres in Kraft (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Ihr habt doch treten kann. die Mehrheit! Ihr könnt doch die Tagesordnung Demgegenüber könnte aufgrund des OFFENSIV-Ge- bestimmen! Das macht ihr doch immer!) setzentwurfes eine Reform der Hilfesysteme frühestens Ich bin sehr versucht, Ihnen, sehr verehrte Kollegin 2008 beginnen, weil die vorgeschlagene Experimentier- Lautenschläger, ein bisschen Nachhilfeunterricht zu ge- klausel, die Sie eben so heftig gelobt haben, zur modell- ben. Das schenke ich mir. Viele der Dinge, die Sie hier be- haften Erprobung von Vermittlungsagenturen bis Ende hauptet haben, stimmen hinten und vorne nicht. 2007 gelten soll. So steht es in Ihrem Entwurf; wenn Sie dort nachlesen, werden Sie das feststellen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Ein Großteil der von beiden Gesetzentwürfen vorgese- henen Änderungen sind zudem bereits geltende Rechts- Sie können experimentieren, so viel Sie wollen. Wir ha- praxis bzw. wurden im Rahmen des Ersten und des Zweiten ben dafür die gesetzlichen Grundlagen geschaffen. Wir Gesetzes für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt sind längst dabei, entsprechende Modellversuche durch- geregelt. zuführen, zum Beispiel die MoZArT-Projekte. Das kön- nen Sie alles machen; daran werden Sie überhaupt nicht Der Gesetzentwurf zum Fördern und Fordern ist ins- gehindert. Das läuft auch in Hessen. Vieles von dem, was besondere bei den Änderungen im Bundessozialhilfe- Sie hier geschildert haben, ist also einfach dummes Zeug. gesetz inhaltlich nicht schlüssig. Er ist letztlich nur ein un- Es tut mir sehr Leid, Ihnen das so sagen zu müssen. vollständiger Vorgriff auf die für diese Legislaturperiode von der Koalition vorgesehene umfassende BSHG- (Beifall bei der SPD) Reform. „Zum Dritten“ sage ich, weil wir schon im Sommer da- Der Grundsatz des Förderns und Forderns steht übrigens rüber geredet haben und Sie das Ganze im Bundestags- bereits sowohl im geltenden Arbeitsförderungsrecht als wahlkampf als Aufguss noch einmal eingebracht haben. auch im Sozialhilferecht. Es gibt kein Wahlrecht zwischen Nun diskutieren wir zum dritten Mal darüber. Arbeitsaufnahme und Leistungsbezug. Erwerbsfähige Beide Gesetzentwürfe des Bundesrates zielen darauf Hilfebedürftige müssen schon nach geltendem Recht zur ab, Arbeitslosenhilfebezieher und Sozialhilfeempfän- Bestreitung ihres Lebensunterhalts in erster Linie ihre Ar- ger schneller in Arbeit zu bringen. Da kann ich nur sagen: beitskraft einsetzen. 1704 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2003

Parl. Staatssekretär Gerd Andres (A) Nehmen wir das konkrete Beispiel der Jobcenter. Wir che Steuerungsmöglichkeiten bei der Erbringung der Leis- (C) brauchen solche integrierten Anlaufstellen für alle er- tung zu haben. Dazu sage ich Ihnen, Frau Lautenschläger: werbslosen und erwerbsfähigen Personen, um Verwal- Auch wenn Sie das noch fünfmal hier einbringen, so geht tungsabläufe effizienter zu gestalten und Verschiebebahn- es nicht; Sie werden hier auch keine Mehrheit dafür höfe zu vermeiden. Mit dem vorgelegten Gesetzentwurf finden. aber würde das genaue Gegenteil erreicht: Indem den (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Ländern überlassen werden soll, zu entscheiden, ob die DIE GRÜNEN) Arbeitsvermittlung durch die Sozialämter oder die Ar- beitsämter durchgeführt wird, würde eine unübersichtli- Ein derartiges Auseinanderklaffen von Organisations- che Doppelbürokratie für die Vermittlung von Arbeitslo- und Finanzhoheit halte ich verfassungsrechtlich für sen geschaffen. äußerst problematisch. Wie soll eine vernünftige Steue- rung eines solchen Systems überhaupt gewährleistet wer- (Beifall bei der SPD) den? Auch die Einführung von regelmäßigen Meldekontrollen Wie ich eingangs bereits ausgeführt habe, hat die Bun- – von Ihnen eben noch einmal stark betont – führt, wie die desregierung mit den ersten zwei Gesetzen für moderne Vergangenheit gezeigt hat, nicht zu besseren Vermitt- Dienstleistungen am Arbeitsmarkt bereits bewiesen, dass lungsergebnissen. wir die Arbeitsmarktpolitik durchgreifend reformieren Im Gegensatz dazu stellt das geltende Arbeitsförde- wollen und können. Wir werden dafür sorgen, dass der rungsrecht bereits die passgenaue Arbeitsvermittlung zum Umbau der Bundesanstalt für Arbeit zu einem modernen Beispiel durch Profiling, Eingliederungsvereinbarung und Dienstleister richtig Fahrt aufnimmt. Wir werden auch Beteiligung Dritter im Vermittlungsprozess für alle Ar- dafür sorgen, dass Bürger und Unternehmen von Büro- beitslosen in den Mittelpunkt. Im Übrigen können wir dann kratie entlastet werden. Insgesamt wird es uns gelingen, – ich habe das eingangs schon gesagt – auf Experimentier- mit der Umsetzung des Hartz-Konzepts die dringend not- klauseln in diesem Zusammenhang wirklich verzichten. wendigen Impulse zur Belebung des Arbeitsmarktes zu setzen, was durch die beiden von der Opposition vorge- Einzelne Vorschläge der Gesetzentwürfe des Bundes- legten Gesetzentwürfe nicht geleistet wird. rates sind auch verfassungsrechtlich nicht unproblema- tisch. Das wissen Sie sehr genau, Frau Lautenschläger. Frau Lautenschläger, ich will noch etwas zu Ihrer For- Regelungen über die Zumutbarkeit von Arbeit, über derung sagen, dass gehandelt werden muss. Ich kann Sperrzeiten und über Leistungskürzungen müssen zur diese Forderung – Stichwort: Wisconsin – ein bisschen Wahrung der Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse nachvollziehen. nach Auffassung der Bundesregierung bundeseinheitlich (B) (Klaus Brandner [SPD]: Schönes Land! Aber (D) geregelt bleiben und dürfen nicht von Land zu Land un- als Dienstreise zu teuer!) terschiedlichen Maßstäben unterworfen sein. Sie sind dorthin gefahren und haben sich die Situation vor Besonders fragwürdig sind für mich aber die in dem Ort angesehen. Es hat lange gedauert, bis Sie den Gesetz- OFFENSIV-Gesetzentwurf enthaltenen Vorschläge zur entwurf auf den Weg gebracht haben. Nach meiner Wahr- Organisation und Finanzierung der Vermittlungsagentu- nehmung kreißte der Berg und gebar eine Maus. ren. Das ist wirklich ein Geniestreich Ihrerseits. (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Ihr kreißt ja (Wolfgang Meckelburg [CDU/CSU]: Sie haben ja nur und gebärt überhaupt nichts!) noch nicht einmal einen Streich hingelegt!) Was Sie an gesetzlichen Konstruktionen vorgelegt haben, Die Jobcenter sollen zwar im Sinne einer Bundesauf- ist absolut untauglich. Sie sind doch darüber informiert, tragsverwaltung Landesbehörden sein, das Personal und dass wir in der Kommission zur Reform der Gemeinde- die Sachmittel aber sollen anteilig von der Bundesanstalt finanzen und in deren Arbeitsgruppe „Arbeitslosenhilfe/ für Arbeit und den Trägern der Sozialhilfe gestellt werden. Sozialhilfe“ längst viel weiter sind. Das zuständige Bundesministerium soll kein Weisungs- recht gegenüber den Jobcentern haben, obwohl der Bund (Wolfgang Meckelburg [CDU/CSU]: Tagt sie die Arbeitslosenhilfe finanziert, die die Bundesanstalt für endlich mal, Herr Staatssekretär?) Arbeit ja nur im Auftrag des Bundes erbringt. – Ich kann Ihnen sagen, dass die Arbeitsgruppe schon (Dr. Margrit Spielmann [SPD]: Hört! Hört!) viermal getagt hat. Bei der Finanzierung ist es dagegen genau umgekehrt. (Wolfgang Meckelburg [CDU/CSU]: Im Dun- Der im Gesetzentwurf vorgesehene finanzielle Beitrag keln!) der Länder wird gar nicht erst konkretisiert; dazu sagen Was die Rechenmodelle und bestimmte Kriterien angeht, Sie überhaupt nichts. Die Bundesanstalt für Arbeit soll sind wir uns dort weitgehend einig. Die hessische Sozial- aber über die Landesarbeitsämter 30 Prozent der Mittel ministerin hat bei der Vorstellung Ihres tollen Modells für aktive Arbeitsförderung für die nach Landesrecht er- vom Landkreistag gesprochen. Interessant ist, dass der richteten Vermittlungsagenturen bereitstellen Landkreistag die einzige kommunale Spitzenorganisation (Dr. Margrit Spielmann [SPD]: Aha!) ist, die eine andere Position einnimmt. und der Bund soll sogar die bewilligte Arbeitslosenhilfe (Doris Barnett [SPD]: Was sagt Frau Roth aus an die Vermittlungsagenturen erstatten, ohne irgendwel- Frankfurt?) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2003 1705

Parl. Staatssekretär Gerd Andres (A) Ich bin sehr gespannt, Frau Kollegin aus Hessen, was Aus diesem Grund haben wir einen eigenen Antrag vor- (C) Sie mit den beiden Gesetzentwürfen machen, die Sie er- gelegt. neut eingebracht haben; denn Sie müssen uns die Hand (Beifall bei der FDP) reichen, damit eine Reform auf diesem Gebiet zustande kommen kann. Ich habe in diesem Zusammenhang eine Auch hier gilt – der Herr Staatssekretär hat es schon an- Bitte: Ersparen Sie uns, dass wir darüber zum vierten oder gesprochen –: Zu viel Koch verdirbt den Brei. zum fünften Mal diskutieren müssen. Glauben Sie mir: Es (Beifall bei Abgeordneten der SPD) wird nicht besser. Deswegen müssen wir das Ganze noch etwas nachwür- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE zen. Wir brauchen eine flächendeckende Regelung für GRÜNEN – Wolfgang Meckelburg [CDU/CSU]: Solange Sie nichts tun, wird es so bleiben!) ebendiese Maßnahmen und keine Experimentierklauseln. Wir müssen endlich dazu kommen, dass die Reform der Organisationsstruktur der Bundesanstalt für Arbeit Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: greift, dass sie also umgesetzt und nicht immer nur an- Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Dirk Niebel. gekündigt wird. Dass die Landesarbeitsämter und die Selbstverwaltung abgeschafft werden, ist eine Margina- (Zurufe von der SPD: Oh! – Wolfgang Zöller lie, die man nur am Rande erwähnen muss. [CDU/CSU]: Das tut euch schon vorher weh!) (Beifall bei der FDP)

Dirk Niebel (FDP): Die Bundesregierung kündigt an, all das, was noch nicht geregelt ist, werde mit Hartz III und Hartz IV be- Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und handelt. Angesichts von Hartz I und Hartz II würde ich Herren! Die FDP ist die Partei der sozialen Verantwor- empfehlen, nicht darauf zu warten. Was gibt es denn außer tung, vielen Ankündigungen? Wenn ich wäre, (Dr. Uwe Küster [SPD]: Der sozialen Kälte! der leider nicht anwesend ist, würde ich heulend durch Niebel, der Kühlschrank!) den Plenarsaal laufen. Denn alles, was hier an Reform- schritten angekündigt wird, ist doch nichts anderes als die weil wir dafür sorgen wollen, dass sich die Menschen nicht ausreichende Rücknahme der arbeitsmarktpoliti- ihren Lebensunterhalt durch ihrer eigenen Hände Arbeit schen „Großereignisse“ der letzten Legislaturperiode. erwirtschaften können. Deshalb ist es notwendig, dass wir Das ist nichts anderes als der Beweis, dass Sie vier Jahre gerade für diejenigen, die sich am wenigsten helfen kön- lang arbeitsmarktpolitisch die Weichen in die falsche nen, erst einmal die organisatorischen Möglichkeiten (B) Richtung gestellt haben. (D) schaffen, dass sie die Chance bekommen, im Arbeits- marktprozess integriert zu werden. Wenn Sie schon bereit sind, einen Teil davon zu korri- gieren, dann machen Sie es auch noch hasenfüßig, halb- (Beifall bei der FDP – Dr. Uwe Küster [SPD]: herzig und teilweise handwerklich falsch, sodass man mit Sie werden die Partei der sozialen Kälte blei- großer Freude in der heutigen „Welt“ die Liste des Bun- ben! – Weiterer Zuruf von der SPD: Zahnärzte- deswirtschaftsministeriums sieht, in der die nächsten Re- partei!) formschritte angekündigt werden. Selbstverständlich brauchen wir nicht nur die Zusam- Ich möchte die erforderlichen Maßnahmen einmal Re- menführung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe, vue passieren lassen, denn um die Menschen, die Hilfe sondern wir brauchen mittel- und langfristig auch die Zu- brauchen, in Arbeit vermitteln zu können, brauchen wir sammenführung der beiden Behörden, die diese Hilfen zu auch einen Arbeitsmarkt, der Arbeitsplätze überhaupt ge- erbringen haben. Wir brauchen One-Stop-Career-Center, nerieren kann. Der erste Schritt wäre eine umfassende und also etwas Weitergehendes als das, was Sie mit den Job- vereinfachende Steuerreform, die Sie strikt verweigern, centern im Rahmen der Umsetzung des Hartz-Konzepts im Gegenteil: Sie gehen in die andere Richtung und er- erreichen werden. Wir benötigen eine Anlaufstelle, wo höhen die Steuern. Der zweite Schritt wäre eine umfas- die Menschen ein umfassendes Dienstleistungsangebot sende Deregulierung des Arbeitsrechts. Hier kündigt erhalten. Herr Clement einiges an und nimmt es wieder zurück. An dieser einen Stelle muss es sowohl die Arbeitsver- Frau Lautenschläger war wie ich Mitglied der Arbeits- mittlung als auch – nach der Zusammenführung von Ar- gruppe im Vermittlungsausschuss zur Umsetzung der beitslosen- und Sozialhilfe wird es nur noch ein An- Hartz-Vorschläge. In der ersten Sitzung hat Herr Clement sprechpartner sein – die Leistungsgewährung durch den angekündigt: Das Scheinselbstständigengesetz, das Sie jeweils zuständigen Träger geben. Die Menschen müssen perfiderweise Gesetz zur Förderung der Selbstständigkeit die Möglichkeit haben, an einer Stelle Bildungsmaßnah- genannt haben, wird abgeschafft. – In der zweiten Runde men in Anspruch nehmen zu können, Zeitarbeitsverträge haben Sie ihn zurückgepfiffen. Jetzt entfällt nur die Ver- abschließen zu können oder die notwendigen sozialen mutungsregelung, der ganze andere Schrott steht immer Maßnahmen von der Schuldnerberatung bis hin zur Dro- noch im Gesetz. gentherapie oder zu Alkoholentziehungskuren beantragen (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: So ist es!) zu können. Deswegen ist es richtig und notwendig, dass dieses Gesetz wieder eingebracht wurde. Es geht in die So geht es Schritt für Schritt weiter. Herr Clement kündigt richtige Richtung, aber einige wichtige Punkte fehlen. die Aufhebung der gesetzlichen Bestimmungen über den 1706 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2003

Dirk Niebel (A) Ladenschluss an, das liegt gerade bei Verdi im Genehmi- Vermittlungsausschusses kennen gelernt, als es um die (C) gungsverfahren fest. Umsetzung der Hartz-Vorschläge ging. Da habe ich durchaus Ihre konstruktive Mitdiskussion schätzen ge- (Heiterkeit und Beifall bei der FDP sowie bei lernt. Abgeordneten der CDU/CSU) Ich habe allerdings gehofft, dass Sie im Zuge dieser Er kündigt in der Arbeitsmarktpolitik eine Reform pro Auseinandersetzung endlich bemerken, dass das, was Sie Monat an. in Ihrem OFFENSIV-Gesetz zusammengeschrieben ha- (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Drei Monate sind ben, an vielen Stellen schon Gesetz ist oder dass wir in der vergangenen und nichts ist passiert!) Umsetzung sind, dass es also schlichtweg vollständig überholt ist. Ich habe auch gedacht, Sie hätten in der Ver- Zu der für den Monat Januar geplanten Reform des Kün- gangenheit die Chance wahrgenommen, zu begreifen, dass digungsschutzes hat er, wie wir der gestrigen Regierungs- die Experimentiermöglichkeiten für Ihr Land, für Hessen, befragung entnehmen konnten, versprochen, dass sie die Sie hier einklagen, längst bestehen. Wir haben ein Ende Februar abgeschlossen sei. Das werden wir uns an- MoZArT-Projekt; wir brauchen kein Köchelverzeichnis. schauen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Jetzt kündigt er an oder lässt sein Ministerium zwei und bei der SPD) Tage vor der Wahl an die Presse lancieren, man müsse über das Teilzeitpflichtgesetz und das Betriebsverfas- Wir haben ein MoZArT-Projekt, in dem nicht nur in sungsgesetz reden. Richtig, sage ich Ihnen. Ich bin ja froh, Hessen, sondern in vielen anderen Ländern, beispiels- wenn Sie auf den richtigen Weg kommen. Aber machen weise in Nordrhein-Westfalen, in Niedersachsen und an Sie es und machen Sie es vernünftig, denn die Menschen anderer Stelle in unserem Land haben das, was Sie mit ihnen tun, nicht (Klaus Brandner [SPD]: Auch in Berlin!) verdient. Man muss sich ja wirklich dafür schämen, wie schlecht es den Leuten in diesem Land geht. Es geht ih- – genau, auch in Berlin; danke, Herr Kollege –, die Zu- nen so schlecht, dass der Bauer, dem Sie die Sau vom Hof sammenführung der Arbeitsämter und der Sozialämter klauen und dem Sie hinterher drei Schnitzel zurückbrin- gerade bei der Vermittlung von Langzeitarbeitslosen gen, damit auch noch zufrieden sein muss. Es ist un- längst Realität ist. Dort werden unterschiedliche Erfah- glaublich, was Sie mit den Menschen in Deutschland an- rungen gesammelt, die in das eingehen werden, was wir zustellen versuchen. Deswegen sage ich Ihnen offen und mit Hartz III geplant haben. ehrlich: Ihre Arbeitsmarktpolitik wird den Menschen Wie gesagt, was Sie hier einbringen, ist wirklich alles nicht die Möglichkeit geben, in den Arbeitsprozess überholt. (B) zurückzukehren. (D) (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Was überholt Ihr Staatsverständnis – wir haben es vorhin in der De- ist, ist Ihre Regierung!) batte von Herrn Kuhn, dem grünen Chefarbeitsmarktpoli- tiker, der auch nicht mehr da ist, gehört –, wonach man Ich glaube, Sie wissen alle, wen Wilhelm Busch meinte, Deutschland schlechtredet, wenn man als Opposition die als er schrieb: Wofür sie besonders schwärmt, wenn es Regierungspolitik kritisiert, ist hochherrschaftliches wieder aufgewärmt. Die Köchin, die von Wilhelm Busch Staatsverständnis. Wenn Sie sich als Deutschland empfin- beschrieben wird, ist Witwe Bolte. den, dann ist mir angst und bange um dieses Land und (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Sauerkraut dann kann man wirklich nicht mehr ruhig schlafen. schmeckt am besten, wenn es aufgewärmt ist! Nein, Sie sind einfach nur eine schlechte Regierung. Sie kochen scheinbar nicht selber!) Das Land ist gut und mit einer guten, verantwortungsvol- Ich glaube, dass sich Ihr Koch von der CDU an der Witwe len Arbeitsmarkt- und Wirtschaftspolitik bekommen die Bolte orientiert, weil er uns das OFFENSIV-Gesetz zum Menschen auch wieder Chancen, selbst dabei zu sein. dritten Mal aufgekocht lancieren lässt. Aber leider ist es Deswegen unterstützen wir vom Ansatz her die vorgeleg- nur beim Sauerkraut so, dass es durch Aufwärmen besser ten Gesetze, verbessern sie mit unseren eigenen Vorschlä- wird, gen und hoffen auf ein gutes Ergebnis am 2. Februar in Niedersachsen und Hessen – für Deutschland. (Wolfgang Meckelburg [CDU/CSU]: Haben Sie Wilhelm Busch gelesen?) Vielen Dank. in der Arbeitsmarktpolitik ist das jedoch nicht der Fall. In (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) der Arbeitsmarktpolitik muss man mit dem, was man in Angriff nimmt, auf der Höhe der Zeit sein. Ihr OFFEN- SIV-Gesetz aber ist bereits verköchelt. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Schauen wir uns das Gesetz noch einmal an. Herr Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Thea Dückert. Andres hat das bereits getan, deshalb muss ich es nicht im Detail erläutern. Wir beraten es schließlich schon zum Dr. Thea Dückert (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): dritten Mal. Frau Präsidentin! Meine verehrten Damen und Herren! Sie fordern die Einführung einer privaten Arbeitsver- Lassen Sie mich eine Bemerkung vorab machen. Frau mittlung. Dabei ist bereits zum 1. Januar 2002 das Job- Lautenschläger, wir haben uns in der Arbeitsgruppe des AQTIV-Gesetz in Kraft getreten. Wir haben damit den Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2003 1707

Dr. Thea Dückert (A) Weg für die private Arbeitsvermittlung geebnet und im cherungssysteme ein verräterisches Bild benutzt hat. Er (C) vergangenen Jahr mit Vermittlungsgutscheinen nachge- hat festgestellt: Wer ein Feuchtbiotop austrocknen will, legt. darf nicht die Frösche fragen. (Wolfgang Meckelburg [CDU/CSU]: Alles (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Aber die Frösche Schnellschüsse!) sind doch grün!) Ich sage in aller grünen Bescheidenheit: Das hat auch viel Was für ein soziales Verständnis verbirgt sich hinter mit dem zu tun, was wir in diesem Zusammenhang ein- diesem Bild? Ich meine, dass Sie, wenn Sie über die Idee gebracht haben. des Förderns und Forderns reden, die wir gesetzlich ver- ankert haben und in vielen Schritten verfolgen, letztlich (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sehr stark den Sozialabbau angehen wollen. sowie bei Abgeordneten der SPD) Wir wollen und werden mit dem Arbeitslosengeld II Meine Damen und Herren, Sie fordern verschärfte die Zusammenführung der Sozialhilfe und der Arbeitslo- Sanktionen. Das scheint Ihnen in Hessen besonders senhilfe bewerkstelligen. Wir werden diese Schritte gehen wichtig zu sein, Frau Lautenschläger. Ist Ihnen entgangen, und bestreiten nicht, dass es dadurch zu sozialen Ein- dass wir im Zuge der Hartz-Gesetzgebung und der neuen schnitten in einzelnen Bereichen, auch bei der Arbeitslo- Arbeitsmarktgesetze, die inzwischen Realität geworden sind, die Zumutbarkeit nicht einfach undifferenziert ver- senhilfe, kommen wird. Das ist ganz sicherlich so. schärft haben, wie Sie es immer wieder gefordert haben? Hierbei kommt es aber auf Folgendes an: Wir werden Vielmehr haben wir differenzierte Lösungen gefunden, erstens der Idee – sie wird immer wieder in die Welt ge- mit den Arbeitslosen so umzugehen, wie es ihren Mög- setzt –, einen zeitlichen Schnitt zu machen, das heißt, die lichkeiten entspricht. Zum Beispiel müssen junge Men- betroffenen Personen letzten Endes irgendwann aus der schen eine höhere Mobilität aufbringen, wenn sie in den sozialen Grundsicherung hinauszuwerfen, nicht folgen. Arbeitsmarkt einsteigen wollen. Uns ist zweitens wichtig, dass mit der Zusammenlegung Des Weiteren haben Sie die Schaffung von Jobcentern von Arbeitslosen- und Sozialhilfe ein Angebot an die gefordert. Als Oldenburgerin kann ich verkünden, dass Langzeitarbeitslosen, an die Sozialhilfeempfänger ver- wir vor zwei Wochen das erste niedersächsische Jobcen- bunden ist. Mit der heutigen Situation, die schon wäh- ter ins Leben gerufen haben. Sie fordern für Hessen etwas, rend Ihrer langjährigen Regierungsverantwortung be- das wir für Niedersachsen längst auf den Weg gebracht stand und an der Sie nichts geändert haben, nämlich dass haben, Frau Lautenschläger. Arbeitslosenhilfeempfängern, die arbeitsfähig sind, der Zugang zu den aktiven Maßnahmen der Arbeitsmarkt- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN politik verwehrt wird, werden wir Schluss machen. (B) und bei der SPD – Johannes Singhammer Frau Lautenschläger, es wird genau das passieren, was (D) [CDU/CSU]: Wie hoch ist die Arbeitslosigkeit Sie einklagen: Langzeitarbeitslose und auch die heutigen in Niedersachsen?) Sozialhilfeempfänger werden in die Beratung zum Bei- Natürlich bestehen Unterschiede zwischen dem, was spiel über Eingliederungspläne integriert. Deswegen wir verfolgen und was bereits verwirklicht worden ist, sage ich noch einmal: Ihr OFFENSIV-Gesetz ist Schnee und dem, was Sie fordern. Es wurde bereits deutlich ge- von gestern, der mit einem Hauch sozialer Kälte verse- macht, woran Sie sich orientieren. Sie orientieren sich an hen ist. einem Reisebericht aus Wisconsin, an einem Modell, das (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN so- Sie dort kennen gelernt haben. Wenn man sich damit aber wie bei Abgeordneten der SPD – Wolfgang Zöller stärker befasst, wird deutlich, dass Sie einen Pferdefuß [CDU/CSU]: Wenn Sie Kürzungen vornehmen, des Wisconsin-Modells verschweigen, nämlich dass die- ist es notwendig und bei uns ist es soziale Kälte!) jenigen, die in diese Förderung hineingekommen sind, dann, wenn sie zu einem späteren Zeitpunkt möglicher- Meine Damen und Herren, wir haben heute Morgen weise wieder herausfallen, den Anspruch auf Sozialhilfe über den Jahreswirtschaftsbericht diskutiert. Die wirt- auf einem vernünftigen Niveau verwirkt haben. Sie haben schaftliche Situation ist natürlich in vielerlei Weise aus- diesen Anspruch verwirkt, weil die Förderung befristet schlaggebend für die Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt; ist. Ich meine, dass Sie die Idee, das Fördern und Fordern das ist völlig klar. zu kappen und den kruden Sozialabbau an das Ende die- (Wolfgang Meckelburg [CDU/CSU]: 4,5 Mil- ser Kette zu stellen, letztlich immer im Hinterkopf haben lionen in sozialer Kälte!) und sie nur deshalb nicht deutlich formulieren, weil Sie nicht den Mut dazu haben. Eine Folgerung, die man aus diesem Jahreswirtschaftsbe- richt ziehen muss, ist: Es macht keinen Sinn, nur auf die Herr Merz geht etwas anders damit um. Er äußert sich zukünftigen Wachstumserwartungen zu starren, wenn zu diesem Thema erfrischend deutlich. Er hat im April vor man die Langzeitarbeitslosigkeit und die Probleme auf zwei Jahren an dieser Stelle deutlich gemacht, dass es je- dem Arbeitsmarkt beseitigen will. mandem, der die Arbeit verweigert, zwar ein Dach über (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Aber irgendwoher dem Kopf und Essen zu garantieren gilt, dass er aber den müssen die Arbeitsplätze doch kommen!) Anspruch auf Sozialhilfe verwirkt hat. Interessant er- scheint mir in diesem Zusammenhang, dass Herr Merz – Das scheinen Sie nicht gelernt zu haben. Ich erinnere an gestern auf einer Podiumsdiskussion über die Notwen- Herrn Wulff. Vor zwei Tagen hat er in den Nachrichten digkeit von Einschnitten durch Reformen der sozialen Si- behauptet, dass es mit der Wirtschaft und dem Wachstum 1708 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2003

Dr. Thea Dückert (A) allein dadurch besser werden würde, dass die CDU ge- und der Fraktion der SPD getragen wird, war, die in der (C) wählt würde. Hartz-Gesetzgebung festgeschrieben hat, dass entgegen Art. 9 Grundgesetz der Tarif eines anderen, also der eines (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Kunden, den man nicht selbst ausgehandelt hat, per Ge- neten der FDP – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: setz für die Zeitarbeitsbranche gilt, wenn man keinen an- Schlechter wird es auf keinen Fall!) deren Tarifvertrag aushandelt? Würden Sie mir weiter Das entblößt Ihre gesamte Konzeptlosigkeit und die darin zustimmen, dass in Art. 9 Grundgesetz, in dem die Überzogenheit Ihrer Personen. Koalitionsfreiheit geregelt wird, nicht nur dafür gesorgt wird, dass man das Recht hat, Tarifverträge abzuschließen, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sondern auch, dass man das Recht hat, keine Tarifverträge und bei der SPD) abzuschließen, und dass Sie als Bundesregierung dagegen In Wirklichkeit geht es um Folgendes: Wenn wir, wie staatsdirigistisch verstoßen haben? in diesem Jahr, mit einem Wachstum zu rechnen haben, (Doris Barnett [SPD]: Nein!) das, wenn auch immerhin positiv, unterhalb der Beschäf- tigungsschwelle – sie beträgt 2 Prozent – liegt, dann müs- sen wir es auf die Hörner nehmen, alle Anstrengungen zu Dr. Thea Dückert (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): unternehmen, die Beschäftigungsschwelle von 2 Prozent Herr Niebel, ich gebe Ihnen erstens darin Recht, dass herunterzudrücken. Wir müssen noch etwas tun: Wir müs- die rot-grüne Regierung die in diesem Hause mit Mehr- sen die Dauer der Arbeitslosigkeit, die bei uns heute im heit verabschiedeten Hartz-Gesetze auf den Weg gebracht Durchschnitt 32 Wochen beträgt, senken und wir müssen hat, wenn auch nicht mit Ihrer Hilfe, aber doch mit der der die Schwarzarbeit zurückdrängen. CDU. Das sind die Hebel, die Ansatzpunkte, die wir mit dem (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Nein, wir sind da Hartz-Konzept in Angriff genommen haben. Aber das konsequent, Frau Dückert! – Dirk Niebel [FDP]: reicht nicht aus. Wir brauchen „Hartz plus“; wir müssen Wir sind ordnungspolitisch klar!) in vielen Punkten weitergehen. Ein Beispiel: Die Zeitar- beit ist auf den Weg gebracht; wir Grüne haben uns sehr Zweitens möchte ich Sie angesichts dessen, was Sie dafür eingesetzt. Aber natürlich geht es jetzt darum, um- hier vorgetragen haben, an Folgendes erinnern: Die rot- zusetzen, dass im Rahmen der Zeitarbeit vernünftige Ein- grüne Regierung hat auf den Weg gebracht, dass die büro- stiegstarife für Langzeitarbeitslose festgelegt werden. kratischen Verkrustungen, die Sie in den letzten Jahren Auch ich bin der Auffassung, dass die Einstiegstarife 30 wie Ihren Augapfel gehütet haben – ich denke hier an die Prozent niedriger sein sollten als die Normaltarife. Aber Regelungen des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes im (B) im Unterschied zu Ihnen, meine Damen und Herren von Verbund mit dem, was Sie hier gerade vorgetragen haben –, (D) der FDP, wollen wir das nicht staatsdirigistisch vorgeben. im nächsten Jahr in zentralen Punkten aufgebrochen werden. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Was? Seit wann sind wir denn die Staatsdirigisten? Ganz neue (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Jetzt verwech- Situation!) seln Sie etwas, Frau Dückert!) Vielmehr wollen wir den Gewerkschaften und den Ar- Wenn wir über mehr Dynamik am Arbeitsmarkt reden, beitgebern das Vertrauen entgegenbringen, vernünftige Herr Niebel, dann wird nur im Zusammenhang aller Maß- und verantwortungsvolle Bedingungen auszuhandeln. nahmen ein Schuh daraus. Ich halte es für gut, dass wir überflüssige Regulierungen im Bereich der Arbeitneh- (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Wir sagen nur, merüberlassung abgeschafft haben. dass das so nicht funktionieren wird, Frau Dückert!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Wir machen mehr und wir gehen weiter, zum Beispiel bei der Unterstützung von Selbstständigen im Rahmen Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des der – ich gebe zu, es war ein Unwort des letzten Jahres – Kollegen Niebel? Ich-AG. Es ist ein guter Einstieg, wenn den Leuten in ei- ner solchen Situation zu kleinen Einkommen verholfen wird; denn ansonsten werden solche Leistungen schwarz Dr. Thea Dückert (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): erbracht. Das ist unabhängig von einem Wachstumspfad. Ja. Hiermit können wir Menschen helfen, aus der Schwarz- arbeit herauszukommen. Dirk Niebel (FDP): Außerdem haben wir wesentliche Schritte bei der Ent- bürokratisierung der geringfügigen Beschäftigung und Vielen Dank, Frau Präsidentin, und vielen Dank, Frau mit der Einführung von Gleitzonen gemacht. Sie alle Dückert. wissen, dass die Grünen immer vorgeschlagen haben, die Frau Dückert, Sie haben uns als FDP in dieser Frage Teilzeitmauer aufzubrechen, die am Arbeitsmarkt durch Staatsdirigismus vorgeworfen. Würden Sie sich erinnern plötzlich einsetzende Sozialabgaben besteht. Wir werden und mir das dann gegebenenfalls auch bestätigen, dass es das tun, aber wir sind nicht so blauäugig wie zum Beispiel die Bundesregierung, die von der Fraktion der Grünen Ihr Kandidat Wulff in Niedersachsen, der nunmehr wei- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2003 1709

Dr. Thea Dückert (A) tere Versprechungen macht und Einkommensgrenzen tungen und die angedrohten Sanktionen noch größer wer- (C) oberhalb von 800 Euro – bis zu 1 500 Euro – in den Blick den, als sie es ohnehin schon sind. Das ist der Kern der nimmt, und zwar ohne einen Vorschlag zur Gegenfinan- vorliegenden Gesetze. zierung. Man geht von erwerbslosen Sozialhilfeempfängern (Doris Barnett [SPD]: Er hofft, dass er nicht aus, denen der Sinn nach Arbeit abhanden gekommen ist, drankommt!) (Wolfgang Meckelburg [CDU/CSU]: Das ist Aber das ist ja ohnehin das beliebteste Spiel bei der CDU: völlig falsch gelesen!) Vorschläge zur Subventionierung der Sozialabgaben zu nicht zuletzt deshalb, weil das bestehende Arbeitslosen- machen. hilfesystem zum Faulenzen und Schmarotzen ermutige. Nein, meine Damen und Herren, unsere Modelle sind (Wolfgang Meckelburg [CDU/CSU]: Das ist realistisch. Wir haben uns vorgenommen, die hohen Lohn- ein Teil des Problems!) nebenkosten gerade im Bereich der kleinen Einkommen zu senken. Wir haben bereits erste Reformen vorgenom- – Auch wenn es Ihnen längst aus den Ohren quillt, Herr men und werden bei den Reformen der Sozialsysteme wei- Kollege, sage ich Ihnen: Wer so argumentiert, hat vom ter vorangehen – wir Grüne haben das sehr hartnäckig ver- Osten dieses Landes überhaupt keine Ahnung. – Das ist folgt –, um insbesondere einen Beitrag dazu zu leisten, der erste Grund dafür, dass wir diese Gesetzentwürfe ab- dass die hohen Lohnnebenkosten gesenkt werden. lehnen. Das wird noch ein weiter Weg werden, weil wir uns Re- (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [frakti- formen der sozialen Sicherungssysteme vorgenommen ha- onslos]) ben, die in den 90er-Jahren verschlafen worden sind, und Sozialhilfeempfänger sollen verschärft nachweisen, weil wir es gleichzeitig mit einer hohen Staatsverschul- dass sie sich hinreichend um einen Job bemühen. Wie dung zu tun haben, die wir nicht weiter aufstocken können. wäre es denn einmal mit einer Umkehrung der Beweis- (Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Was ha- last – ich weiß, es ist polemisch –, also damit, dass Re- ben Sie denn 2002 mit der Verschuldung ge- gierung, Banken und Unternehmen verpflichtet wären, macht?) nachzuweisen, dass sie sich ausreichend um die Schaf- fung von Arbeitsplätzen bemühen? Wir wollen nämlich eine Politik machen, die nicht nur Be- schäftigung bringt, sondern auch nachhaltig ist und im In- (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das wäre Popu- teresse der künftigen Generationen nicht das Kapital ver- listik!) spielt, das man morgen braucht. Wie wäre es mit entsprechenden Sanktionen für den Fall, (B) (D) Schönen Dank. dass sie den dafür notwendigen Eifer nicht aufbringen? (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Dirk Niebel [FDP]: Machen Sie es wie in der und bei der SPD) DDR: keine Arbeitslosen und keine Produkti- vität!) Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Damit es nicht nur polemisch bleibt, will ich es Ihnen an einem Beispiel illustrieren, Kollege Niebel. Am Beginn der Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Petra Pau. Arbeitslosigkeit und vor einer so genannten Sozialhilfekar- riere steht inzwischen allzu häufig die schlichte Tatsache, Petra Pau (fraktionslos): dass Jugendliche nicht einmal einen Ausbildungsplatz be- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es kommen, weil es an Angeboten mangelt. Auch deshalb for- geht darum, „Erwerbsarbeit ... zu fördern und nicht ... Ar- dert die PDS seit Jahren eine Umlagefinanzierung. Mit ihr beitslosigkeit zu finanzieren.“ So heißt es im vorliegen- würden Betriebe begünstigt, die ausbilden, und Unterneh- den Gesetzentwurf des Bundesrates. Wer will das nicht? men zur Kasse gebeten, die sich verweigern. Berlins Sozialsenatorin Heidi Knake-Werner, PDS, hat (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das ist auch nichts in dieser Woche die ersten drei regionalen Jobcenter vor- anderes als eine Abgabenerhöhung!) gestellt. Sie sollen helfen, Sozialhilfeempfänger schneller Sie lehnen eine Umlagefinanzierung ab und be- in Arbeit zu vermitteln – und das ist auch gut so, um ein schwören stattdessen das freiwillige Engagement der Un- geflügeltes Berliner Wort zu verwenden. ternehmer. Das beschreibt die Scheinmoral in dieser Auch das gehört zum Problem: Sozialhilfekosten fallen ganzen Debatte: Zwang bei den Betroffenen und Freibriefe in den Kommunen an. Wir alle wissen – nicht erst seit den für die Zuständigen. – Das ist der zweite Grund dafür, dass wir die vorliegenden Gesetzentwürfe ablehnen. jüngsten Stellungnahmen des Städte- und Gemeindetages –, dass über allzu vielen Dörfern und Städten der Pleitegeier Nun ein dritter Grund. Nahezu alles, was CDU/CSU kreist. Jede Sozialhilfeempfängerin, die in Erwerbsarbeit hier via Bundesrat anstrebt, ist längst geregelt. SPD und kommt, ist daher auch für die gebeutelten Stadt- und Ge- Grüne haben es gerade noch einmal bestätigt, und zwar meindekassen eine willkommene Entlastung. – wenn ich die Redebeiträge richtig verstanden habe – nicht ohne Stolz. Die Frage ist nur: Welche Besserung bietet der nun vor- liegende Gesetzentwurf? Der Bundesrat will, dass die (Dirk Niebel [FDP]: Seit wann glauben Sie Zwänge zur Arbeitssuche, die damit verbundenen Zumu- denen denn?) 1710 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2003

Petra Pau (A) Der vierte Grund dafür, dass wir Nein sagen, ist ganz Bundeswirtschaftsminister an dieser Stelle an die Opposi- (C) simpel. Sozialhilfe gilt als Mindeststandard für ein men- tion gewandt erklärt: schenwürdiges Leben. Wer diesen Mindeststandard zur Nicht einmal 1,5 Prozent Wachstum, wie Sie es, Disposition stellt, spielt mit der Würde des Menschen. meine Damen und Herren von der Opposition, im Sie tun das mit diesen Gesetzentwürfen. Schnitt zwischen 1995 und 1998 trotz boomender Wir können gern einmal darüber reden, dass es Men- US-Konjunktur eingefahren haben – das ist einfach schen gibt, die sich am Sozialstaat bereichern – ich kenne zu wenig. da ebenfalls Beispiele –, Meine Damen und Herren, das erwartete Wachstum von (Wolfgang Meckelburg [CDU/CSU]: Aha!) 1 Prozent ist auch zu wenig. Es wird wahrscheinlich noch weniger werden. Allein bei einem um ein halbes Prozent und zuweilen sollen auch Sozialhilfeempfänger darunter geringeren Wachstum sind 3 Milliarden Euro an Steueraus- sein. Aber: Den großen Reibach machen in dieser Gesell- fällen und eine gesamtstaatliche Belastung von fast 5 Mil- schaft andere. Deshalb mein Angebot: Wenn der Bundes- liarden Euro zu erwarten. Das bedeutet: mehr Arbeitslose, rat hier einen Gesetzentwurf zur Wiedereinführung der noch weniger Beschäftigung, mehr Steuerausfälle und Vermögensteuer vorlegt, wird die PDS im Bundestag zu- mehr Finanzprobleme. Die Arbeitsmarktkatastrophe und stimmen. Soziale Gerechtigkeit hat bekanntlich auch im- die Wirtschaftsmisere dulden keinen Aufschub mehr. mer etwas mit Steuergerechtigkeit zu tun. Im Berliner Ab- geordnetenhaus haben die SPD, die PDS und Bündnis 90/ Wir haben in Deutschland kein Analyseproblem, son- Die Grünen gemeinsam für die Wiedereinführung der dern wir haben ein Umsetzungsproblem. Deshalb bringen Vermögensteuer gestimmt. Warum soll das nicht auch hier wir heute diese zwei Gesetzentwürfe in den Bundestag im zuständigen Bundestag geschehen? Das würde der ein: das Gesetz zum optimalen Fördern und Fordern in PDS im Bundestag einmal die Möglichkeit geben, aus Vermittlungsagenturen und das Gesetz zum Fördern und vollem Herzen Ja zu sagen. Fordern arbeitsfähiger Sozialhilfeempfänger und Arbeits- losenhilfebezieher. Dahinter steckt eine klare Konzep- (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch tion: Wer arbeitet, soll immer mehr in der Tasche haben [fraktionslos]) als derjenige, der nicht arbeitet. Wer die Ärmel aufkrem- pelt und mitmacht, der soll besser leben als jemand, der Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: von staatlichen Transferleistungen lebt. Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Johannes (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Singhammer. Das ist ein geschlossenes Konzept. Deshalb bitten wir Sie (B) eindringlich, nicht bei halben Sachen zu bleiben. (D) Johannes Singhammer (CDU/CSU): Sie haben immerhin zwei Säulen unseres vorgeschla- Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Her- genen Drei-Säulen-Modells akzeptiert, und zwar die Steu- ren! Der Redner der Bundesregierung, Herr Staatssekretär erbefreiung bei Mini-Jobs bis 400 Euro und das so ge- Andres, und Frau Dr. Dückert haben kritisiert, dass diese nannte Einschleifmodell, das heißt, mit geringeren Debatte hier stattfindet, und gesagt, das alles sei ein Wie- Lohnnebenkosten zu beginnen, um den Einstieg in ein re- derholungseffekt, die vorgelegten Gesetzentwürfe seien guläres Arbeitsverhältnis zu erleichtern. Das ist gut so. Ich unnötig und im Übrigen sei die Problematik bereits gere- bitte Sie jetzt aber, auch die dritte Säule – darum geht es in gelt. Ich sage Ihnen Folgendes: Wir werden nach exakt diesem Gesetzespaket –, nämlich das Lohnabstands- viereinhalb Jahren rot-grüner Bundesregierung am Ende gebot zu regeln. Ohne die dritte Säule werden die beiden dieses Monats exakt 4,5 Millionen Arbeitslose haben. anderen nicht die gewünschte Wirkung haben. Deshalb ist das so entscheidend und deshalb legen wir so viel Wert da- (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Oh, wenn man rauf, dass heute auch diese dritte Säule auf den Weg ge- das hochrechnet!) bracht wird. Deshalb halte ich diese Problematik nicht für geregelt. Es Im Übrigen brauchen Sie nicht allzu weit zurückzu- geht um die Schicksalsfrage für Deutschland. Wir müssen blicken. Sie haben unsere Anträge zu dem früheren 630- uns Gedanken darüber machen, wie es besser wird. DM-Gesetz und zur Scheinselbstständigkeit zunächst auch immer abgelehnt, sie für überflüssig erachtet, sie als (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Dirk Teufelszeug bezeichnet, und dann haben Sie zugestimmt. Niebel [FDP]: Hoffentlich regieren die nicht Ich zitiere noch einmal den Kollegen Peter Dreßen; er hat acht Jahre! Wenn man das hochrechnet!) am 12. November 1999 gesagt: Die Debatte ist Ihnen unangenehm, weil alle Ihre Re- Der Gipfel Ihrer Alternativvorschläge ist ... , dass ... zepte erkennbar gescheitert sind. Wäre es anders, hätten wir das 630-DM-Gesetz zurückziehen sollen. wir nicht das ständige Wachsen der Arbeitslosenzahlen. Auch der Jahreswirtschaftsbericht von gestern war alles Sie haben weitere drei Jahre gebraucht und unermess- andere als hoffnungweckend. Der Bundeswirtschaftsmi- licher Schaden ist in Deutschland eingetreten, dann haben nister hat die Wachstumsprognosen korrigiert. Prognos- Sie es zurückgezogen. Warten Sie bei der dritten Säule tiziert wird nun ein Wachstum von 1 Prozent. nicht so lange, sondern schließen Sie sich unserem Pro- gramm an, meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich möchte an dieser Stelle erinnern: Noch vor weni- gen Wochen, nämlich am 5. Dezember, hat der gleiche (Beifall bei der CDU/CSU) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2003 1711

Johannes Singhammer (A) Die Ziele unserer Entwürfe sind klar: Der Bundeswirtschaftsminister ist heute exakt 100 Tage (C) im Amt und hat sich einen Ruf als Medienstar erworben. Erstens. Statt eines Daueraufenthalts im zweiten Ar- Er gibt sich als politischer Pferdeflüsterer. beitsmarkt – bei ABM und bei ständiger Fort- und Wei- terbildung – wollen wir einen Wiedereintritt in den ersten (Zuruf von der SPD: Aua!) Arbeitsmarkt fördern. Er erzählt, was er alles tun will, wie nett er ist und wie Zweitens. Wir wollen die Arbeitsaufnahme finanzie- leicht all diese Probleme anzupacken seien. ren, anstatt die Arbeitslosigkeit zu subventionieren. (Peter Dreßen [SPD]: Das tut euch weh!) Drittens. Eigeninitiative soll belohnt, eigene Leistung Herr Clement – das gestehe ich ihm zu – muss einen Groß- und staatliche Gegenleistung sollen stärker miteinander teil des Riestererbes abtragen. Aber wenn es Ihnen wirk- verknüpft werden. lich ernst ist, dann räumen Sie nicht nur das fehlgeleitete Viertens. Mit einer sinnvollen Verzahnung von Löhnen Scheinselbstständigkeitsgesetz und das unselige 630- und Zuschuss – so genannten Kombilöhnen – wollen wir Mark-Gesetz weg, sondern machen mit mindestens drei die Bereitschaft arbeitsfähiger Hilfeempfänger stärken, ganz konkreten Maßnahmen weiter: Das als Wundermit- selbst aktiv zu werden, selbst mitzumachen. tel gepriesene Job-AQTIV-Gesetz, welches Sie noch vor wenigen Monaten als das Heilmittel für den Arbeitsmarkt Wir erheben keinen Anspruch auf das politische Copy- gepriesen haben, hat die Erwartungen nicht erfüllt. Von right. Uns liegt Deutschland am Herzen. Wenn Sie unsere den 180 000 ausgegebenen Vermittlungsgutscheinen wur- Entwürfe Punkt für Komma so übernehmen, wie wir sie den bis Ende 2002 gerade einmal 11 000 bei privaten Ver- vorschlagen, dann wird sich die Situation in Deutschland mittlern eingelöst. Die Hilfen und Wirkungen, die Sie sich bessern. Darüber würden wir uns freuen. versprochen haben, sind nicht eingetreten. Es ist aber auch klar, dass Deutschland nicht allein Auch die Bilanz Ihres nächsten Vorzeigeprojektes, des durch die Umsetzung dieser Pläne wieder eine blühende Mainzer Modells, könnte nicht dürftiger sein: In gerade Landschaft wird. Zuallererst ist es deshalb nötig, dafür einmal 7 000 Fällen ist dieses Fördermodell umgesetzt Sorge zu tragen, dass uns nicht weitere falsche Entschei- worden. Selbst die Bundesanstalt für Arbeit bescheinigt dungen in eine wirtschaftspolitisch falsche Richtung dem rot-grünen Vorzeigemodell offiziell das Versagen. führen. Vor kurzem ist vom Chef des Deutschen Gewerk- Kurz und bündig wird festgestellt, „ ... die in dieses Pro- schaftsbundes öffentlich eine Reihe von Vorschlägen ge- gramm gesetzten Erwartungen sind nicht erfüllt“. macht worden. Diese werden von der Bundesregierung immer sehr ernst genommen, denn viele Kolleginnen und Das JUMP-Programm war ebenfalls ein Flop. Hier ist Kollegen der SPD-Bundestagsfraktion gehören dem DGB nirgends gesprungen worden. (B) (D) an. Der DGB-Chef Sommer hat vor kurzem erklärt: „Ar- (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Aber viel Geld beitnehmer, die es sich leisten können, sollten weniger ar- ausgegeben worden!) beiten.“ Dies stellt man sich wie folgt vor: Zwischen 1 und 1,5 Millionen Arbeitnehmer verzichten für einige Vielmehr gab es mit diesem Programm eine harte Bauch- Zeit auf 20 Prozent ihres Einkommens. Mit den so gespar- landung. Wie immer, wenn man auf englische Bezeich- ten Personalkosten schaffen die Unternehmer neue Jobs. nungen ausweicht, zeigt sich, dass mehr vernebelt als Klarheit in der Sache geschaffen werden soll. Diesem Unsinn und der dahinter stehenden Philosophie müssen Sie ernsthaft und deutlich wiedersprechen! (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Das liegt an Deutschland braucht nicht die Stückelung der Arbeit, dem Wetter dort drüben!) nicht die Mangelverwaltung bei Jobs, nicht weniger Arbeit, Wenn Sie wirklich effizient und wirksam eine Verrin- sondern ausschließlich und allein mehr Wachstum. Dies ist gerung der Arbeitslosenzahlen erreichen wollen, müssen die richtige Weichenstellung für eine bessere Zukunft. Sie all die Gesetze, die Sie in den vergangen vier Jahren (Beifall bei der CDU/CSU) beschlossen haben, die aber wirkungslos geblieben sind, korrigieren und zurücknehmen. Dass in Deutschland genügend Arbeit vorhanden ist, zeigt die Schwarzarbeit. Von 350 Milliarden Euro (Dirk Niebel [FDP]: Das wird so sein!) (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Die Zeit läuft uns davon. Viel Zeit bleibt nicht mehr 370 Milliarden Euro!) und die Menschen in Deutschland spüren dies. Sie, meine Damen und Herren, werden dies bei den Wahlen am – ja, bis 370 Milliarden Euro – Umsatz und einem Wachs- Sonntag zu spüren bekommen. Im Jahre 2004 werden sich tum von 6 Prozent im Jahr ist die Rede. Schwarzarbeit ist die Grenzen der EU für 75 Millionen Osteuropäer öffnen. also eine boomende Branche. Die dort geleisteten Ar- In Deutschland wird es eine wachsende Niedriglohnkon- beitsstunden entsprechen umgerechnet mittlerweile mehr kurrenz geben. Kapital wird in die Niedriglohngebiete als 9 Millionen Vollzeitjobs. Wenn die Rechnung erlaubt des Ostens abwandern. Die Herausforderungen werden wäre, könnte man sagen: Bei 4,5 Millionen Arbeitslosen wachsen und nicht geringer. könnte man jedem Arbeitslosen zwei Jobs zur Auswahl geben, wenn die Schwarzarbeit entsprechend zurückge- Wir sind der Meinung, dass Deutschland die Kraft für ei- führt werden könnte. Genau hier liegt das Problem, näm- nen neuen Aufbruch hat. Die Arbeitnehmer in unserem Land lich bei den hohen Lohnnebenkosten. Deshalb müssen Sie sind fleißig und hervorragend ausgebildet. Die Unterneh- diese drei Säulen in einem Zusammenhang sehen. mer sind kenntnisreich und brauchen den internationalen 1712 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2003

Johannes Singhammer (A) Wettbewerb nicht zu scheuen. Deutschlands Substanz ist ist, drosseln und Gefahr laufen, in die Stagnation zurück- (C) intakt. Aber sie darf nicht Tag für Tag durch die falschen fallen, wie wir sie aus der letzten Zeit der Kohl-Ära noch Rahmenbedingungen dieser Regierung aufgezehrt wer- in schlechter Erinnerung haben. Die Zeiten des Aussitzens den. Wir brauchen einen anderen wirtschaftlichen Rah- und der halbherzigen Experimente ist vorbei. Zumindest men. Dann geht es mit Deutschland auch wieder aufwärts. sind wir Sozialdemokraten nicht bereit, neue Verzögerun- gen hinzunehmen, wie Sie sie uns heute vorschlagen. Wir (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) halten an einer seriösen und zügigen Umsetzung der Re- formen am Arbeitsmarkt fest. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Thomas Sauer. DIE GRÜNEN) Im Kern wollen wir die Beschäftigungschancen von Thomas Sauer (SPD): Arbeitslosenhilfe- und erwerbsfähigen Sozialhilfebezie- hern weiter verbessern und damit die Arbeitslosigkeit ab- Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und bauen. Die schnelle und effiziente Integration von ar- Herren! Auch wenn hier zu Recht bemerkt wurde, dass beitslosen und erwerbsfähigen Sozialhilfebeziehern war wir heute Gesetzentwürfe diskutieren, die schon öfter auf das Ziel unserer Politik in der vergangenen Legislaturpe- der Tagesordnung standen, muss ich sagen: Ich bin froh riode und sie ist es auch in der jetzigen. Von dieser Kraft- darüber, dass wir heute wieder einmal Gelegenheit haben, anstrengung werden wir nicht abrücken. Das haben die über einen wichtigen Politikbereich zu sprechen. Beratungen und Gesetze für moderne Dienstleistungen (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Ich auch!) am Arbeitsmarkt gezeigt, die wir in den vergangenen Mo- naten verabschiedet haben. Das werden auch unsere Ini- Wenn ich Ihre Vorschläge Revue passieren lasse und tiativen zeigen, die wir noch in diesem Jahr auf den Weg unsere Initiativen, die wir in den letzten Jahren unter- bringen werden. nommen haben und die wir in den kommenden Jahren un- ternehmen werden, gegenüberstelle, dann schneiden wir (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ gut ab und brauchen eine Diskussion nicht zu scheuen. DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Dabei fällt allerdings ein wirklich wichtiger Unter- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) schied zwischen Regierung und Opposition ins Auge – Frau Dückert hat das dankenswerterweise schon ange- Dass die Union bis heute kein wirklichkeitstaugliches sprochen –: Wir wollen zusammen mit den Akteuren in Konzept hat, das zeigen die Gesetzentwürfe, die wir dis- erster Linie Anreize und Förderungen schaffen, um An- (B) kutieren und die Sie, wie schon gesagt wurde, zum dritten strengungen zu generieren, die Arbeitslose zurück ins Er- (D) Mal in die Beratungen des Bundestages einbringen. Die werbsleben bringen. Wir wollen alle Akteure motivieren, Opposition musste in der Öffentlichkeit einen Nachweis die Anforderungen zu meistern. Das wollen wir aber nicht für Aktivitäten auch in Bezug auf Reformen des Ar- gegen die betroffenen Menschen tun. Auch Arbeitslose beitsmarktes abliefern; das verstehe ich. Sie sollte aber und Sozialhilfeempfänger müssen – das ist richtig – An- dennoch in der Lage sein, den aktuellen Stand der Regie- reize und Förderung erfahren, um wieder in Arbeit zu rungspolitik wenigstens zur Kenntnis zu nehmen. Auch da kommen. Das ist Gegenstand unserer Politik. Aber es sind hapert es. Sie kann – Frau Lautenschläger ist nicht mehr in erster Linie der Mangel an Arbeitsplätzen und die ver- da und nimmt an der Debatte nicht mehr teil krusteten Strukturen, die es zu modernisieren gilt und die (Walter Hoffmann [Darmstadt] [SPD]: Sie schuld sind an der viel zu hohen und zu langen Arbeitslo- kommt gleich wieder!) sigkeit. Es sind nicht die Arbeitslosen selber, wie es im- mer wieder aus den Papieren von Union und FDP heraus- – alle möglichen Dinge nutzen; sie sollte aber angesichts zulesen ist. ihrer eigenen Untätigkeit nicht mit dem Finger auf die Bundesregierung zeigen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Offensichtlich ist die Opposition bei dem Reform- tempo, das wir vorlegen, leider überfordert. Es ist einigermaßen frech, wenn die Union und die FDP vorgeben, sie wollten mit ihrer Politik die Akzeptanz (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Haben Sie der Sozial- und der Arbeitslosenhilfe in der Bevölkerung Fieber, Herr Kollege? Sie fantasieren!) stärken. Sie provozieren doch durch Ihre Politik einen Ge- Sonst würde sie kaum einen Entwurf erneut diskutieren, neralverdacht gegenüber den Leistungsbeziehern. Frau der nur abgestandene Vorschläge aufwärmt und in der Lautenschläger, Sie haben im Bundesrat das böse Wort Substanz nichts Neues zu bieten hat. „soziale Hängematte“ gebraucht. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Vorsitz: Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne DIE GRÜNEN) Kastner) In Wahrheit ist es noch viel schlimmer; Herr Andres hat Ich glaube, das macht deutlich, dass Sie in erster Linie ein das vorgestellt. Denn wenn wir Ihren Vorschlägen tatsäch- Schwergewicht auf die Sanktion von Arbeitslosen und Leistungsbeziehern legen wollen. lich folgen würden, dann würden wir das Reformtempo bei einer an den Interessen der Arbeitslosen orientierten (Dirk Niebel [FDP]: Hat nicht der Bundes- Reform des Arbeitsmarktes, die so dringend notwendig kanzler den Begriff erfunden?) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2003 1713

Thomas Sauer (A) Wir brauchen eine ausgewogene Politik des Förderns Der Vorsitzende der Bundesanstalt für Arbeit, Herr (C) und Forderns, und zwar genau in dieser Reihenfolge. Gerster, hat im Wirtschaftsausschuss sehr interessante Ausführungen gemacht. (Dirk Niebel [FDP]: Ich meine, das war sogar Ihr Kanzler!) (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Er ist bei Ihnen Wir wollen alle erwerbsfähigen Menschen fördern und aber in Ungnade gefallen!) die Brocken wegräumen, die einer erfolgreichen Integra- Er hat gesagt, er sei dem Gesetzgeber dankbar dafür, dass tion in das Erwerbsleben im Weg stehen. Deshalb können er ihm und seiner Bundesanstalt die Arbeit erleichtert hat; wir zielführende Eigenbemühungen erwarten und diese er beabsichtige, in den kommenden Jahren 5 000 Mitar- mit Instrumenten einfordern. beiter durch Umschichtung von der Verwaltung in die Nach dem Vorschlag der Union sollen die Sozialhilfe- Vermittlung zu bringen. bezieher, die ein Anrecht auf Arbeitslosengeld erworben (Dirk Niebel [FDP]: 3 000 davon sind Neuein- haben, zukünftig keine Ansprüche mehr auf erneutes Ar- stellungen!) beitslosengeld erwerben können. Das geht nicht. Man kann vieles diskutieren. Man kann aber keine Vorschläge Diesen Weg müssen wir gehen: weniger Bürokratie und ernsthaft in die Diskussion einbringen, die eine Bevölke- mehr Vermittlung und nicht umgekehrt, wie es in Ihrem rungsgruppe so eklatant vom Gleichheitsgrundsatz aus- Offensivgesetz vorgeschlagen wird. schließt, wie Sie es mit Ihrem Vorschlag tun. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) DIE GRÜNEN) Mir läuft komischerweise die Zeit davon. Im Gegenteil: Ich denke, wir müssen in diesem Bereich (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Dieses Schicksal darauf achten, dass die kommunalen Beschäftigungs- teilen Sie mit Ihrer Regierung!) strukturen und die kommunale Beschäftigungspolitik er- halten bleiben, um Arbeit statt Sozialhilfe zu organisieren. Meine Damen und Herren, die Union schlägt vor, die Eine wichtige Reform für eine bessere und schnellere Ver- Finanzierungslasten der Arbeitsmarktpolitik länderfreund- mittlung sehen wir in der Schaffung von Jobcentern als lich auszugestalten und einseitig auf den Haushalt der integrierten Anlaufstellen für alle erwerbsfähigen und er- Bundesanstalt und auf den Bundeshaushalt zu verschie- werbslosen Personen. Das wurde im Hartz-Konzept vor- ben. Gleichzeitig sollen dem Bund Steuerungskompe- geschlagen; wir setzen dies um. Auf diese Art und Weise tenzen entzogen werden. Das mag aus der Sicht eines können und sollen schlanke Verwaltungsstrukturen ge- Wettbewerbsföderalismus folgerichtig sein. Es zeigt viel- (B) schaffen und Verschiebebahnhöfe vermieden werden so- leicht aber auch nur, dass Sie in erster Linie an Länder- (D) wie eine effiziente Vermittlung, orientiert am ersten Ar- interessen denken, solange Sie im Bund keine Verantwor- beitsmarkt, erfolgen. tung tragen. Ich glaube, wir müssen dieses Lagerdenken im Interesse der betroffenen Menschen und des sozialen Die Vermittlungsorientierung ist durch die Entbürokra- Zusammenhalts überwinden. tisierung von uns bereits gestärkt worden. Aus meiner Sicht besteht weitgehend Einigkeit darüber, dass durch Lassen Sie mich abschließend sagen: Die Regierung die einheitliche Verantwortung eine bessere und schnel- und die sie tragenden Parteien wissen, dass die Probleme lere Vermittlung möglich wird. Ihr Offensivgesetz stellt auf dem Arbeitsmarkt nur mit einem Bündel von Maß- dies nicht sicher. nahmen beseitigt werden können. Die Vermittlung wird zukünftig einsetzen, sobald die (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Aber Sie tun Kündigung des betroffenen Arbeitnehmers ausgespro- nichts!) chen wurde, und nicht mehr erst Monate später, wenn die Arbeitslosigkeit eingetreten ist. Wir setzen auf eine hö- Hinter den nackten Zahlen der Arbeitsmarktstatistik ver- here Mobilität derjenigen, die mobil sein können, um die bergen sich Menschen, denen wir uns verpflichtet fühlen. regionalen Arbeitsmarktdifferenzen für die Vermittlung Die kommenden Jahre werden auf dem Feld der Arbeits- zu nutzen. Wir stärken die Qualifizierung und Weiterbil- marktpolitik zu weiteren wesentlichen Neuerungen füh- dung und setzen den Akzent deutlich auf die Vermittlung ren. Wir haben diesen Reformprozess produktiv eingeleitet in den ersten Arbeitsmarkt und nicht auf die Verwaltung und wir werden ihn im Sinne der Arbeitslosen fortsetzen. von Arbeitslosigkeit. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Sie haben die Idee ins Spiel gebracht, Meldekontrollen DIE GRÜNEN) wieder einzuführen. Das zeigt mir, dass Sie den Weg in die erneute Bürokratie gehen wollen. Mit Ihrer Idee, die Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Meldekontrollen wieder einzuführen, zeigen Sie, dass Ihnen bürokratische Verwaltungsvorgänge wichtiger Nächster Redner ist der Kollege Dr. Heinrich L. Kolb, sind als die Arbeitsvermittlung. Die Erfahrung hat uns FDP-Fraktion. doch gezeigt, dass dieses Verfahren nicht zu mehr Ver- mittlungen führt. Es belastet die Arbeitsämter nur mit Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): neuen Aufgaben und lenkt sie von ihrer Kernfunktion, nämlich auf unbürokratische Art und Weise Arbeit zu Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Seit vermitteln, ab. Beginn ihrer Regierungszeit 1998 kündigt die rot-grüne 1714 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2003

Dr. Heinrich L. Kolb (A) Koalition immer wieder eine Reform der Sozialhilfe an. sem Hause in fünf Punkten klar vorlegt, dann bekommen (C) Aber außer der Verlängerung von Fristen bei Modellver- wir eine gute Reform zustande und erreichen trotzdem suchen ist Ihnen bisher leider nichts eingefallen, Herr schnell Ergebnisse. Brandner. (Beifall bei der FDP) (Beifall bei der FDP – Klaus Brandner [SPD]: Die FDP ist der Ansicht – das steht auch in unserem Wo leben Sie denn?) Antrag –, dass die Sozialhilfe so ausgestaltet werden – Sie brauchen gar nicht zu lachen. – Deswegen ist es muss, dass sie einerseits den wirklich Bedürftigen ein Le- wichtig und richtig, Herr Staatssekretär Andres, dass wir ben in Würde ermöglicht, aber andererseits die Selbst- heute die Gelegenheit nutzen, auf die Notwendigkeit, jetzt ständigkeit aller Sozialhilfeempfänger stetig stärkt und zu handeln, hinzuweisen. Sie haben im Rahmen dieser Leistungsmissbrauch vermeidet. Gesetzesinitiativen die Möglichkeit, auf den Reformzug (Beifall bei der FDP) aufzuspringen. Subsidiäre Hilfegewährung – das sage ich hier deutlich – Wir lassen uns auch nicht madig dafür machen, Frau darf keine Kultur der Unselbstständigkeit hervorbringen. Dückert, dass wir Dinge angeblich zum dritten Mal dis- kutieren. Ich erinnere daran, wie lange es bei geringfü- (Beifall bei der FDP) giger Beschäftigung, Kündigungsschutz, Scheinselbst- Deswegen ist es wichtig – das ist für uns Leitlinie einer ständigkeit, Arbeitnehmerüberlassung und privater Sozialhilfereform –, dass derjenige, der arbeitet, deutlich Arbeitsvermittlung gedauert hat, wie viele Anträge wir mehr in der Tasche hat als derjenige, der von Leistungen einbringen und diskutieren mussten, bis es am Schluss so der Gesellschaft lebt. weit war. Das Problem ist, Frau Dückert: Der eine kapiert schneller, der andere braucht ein bisschen länger. Offen- (Beifall des Abg. Dirk Niebel [FDP]) sichtlich gibt es in der rot-grünen Koalition viele, die et- Wir haben schon in der letzten Legislaturperiode meh- was mehr Zeit brauchen. rere Anträge eingebracht, um die verschiedenen steuer- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Dirk finanzierten Systeme der existenziellen Sicherung neu zu Niebel [FDP]: Murks und Marx regieren! – ordnen. Wir müssen also nicht bei null anfangen, um das Klaus Brandner [SPD]: Wir haben es solide ge- noch einmal deutlich hervorzuheben. Ich will ergänzend macht! Das ist der Unterschied! Jetzt funktio- zu dem, was der Kollege Niebel gesagt hat, drei Punkte niert es! – Dr. Uwe Küster [SPD]: Herr Kolb, nennen. Sie brauchen lange Zeit, um es zu begreifen!) Erstens. Von den rund 2,7 Millionen Sozialhilfeemp- (B) – Herr Brandner, es ist nun einmal so: Die Zeit drängt. Wir fängern sind mindestens 800 000 grundsätzlich arbeits- (D) befinden uns in einer Notlage. Die Finanzen der Kommu- fähig. Aber warum lohnt es sich für diese 800 000 arbeits- nen sind desaströs. fähigen Sozialhilfeempfänger nicht, Arbeit anzunehmen? Zum einen weil bei niedriger Qualifikation, die mit dem (Dr. Thea Dückert [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Empfang von Sozialhilfe regelmäßig einhergeht, und da- NEN]: Die Realität ist anders, als Sie sie be- mit einem niedrigen Einkommen der Lohnabstand ein- schreiben!) fach zu gering ist. Zum anderen kann ein arbeitswilliger Das ist auch das Ergebnis der rot-grünen Steuerreform. Sozialhilfeempfänger im Monat nur bis zur Hälfte seines Das muss man einmal sagen. Sie lassen die Kommunen Regelsatzes etwas hinzuverdienen. Alles, was er darüber nachhaltig im Stich. Das haben die Kommunen nicht ver- hinaus verdient, wird ihm zu 100 Prozent angerechnet. dient. Das ist schlicht und einfach demotivierend. (Beifall bei der FDP) (Beifall bei der FDP) Deswegen muss die angekündigte Zusammenlegung Wir haben dazu präzise Vorschläge: Freibeträge er- von Arbeitslosen- und Sozialhilfe schnell passieren. höhen, Anrechnungssätze langsamer steigen lassen, und Der Presse ist zu entnehmen, dass Sie das frühestens zwar temporär, um diejenigen, die auf Dauer ohne Ar- Ende 2004 realisieren wollen. Das ist schon deswegen be- beitslosen- oder Sozialhilfe zu arbeiten bereit sind, zu mo- merkenswert, weil Sie die dann vielleicht einzusparenden tivieren. Zudem wollen wir, dass der Eingangssteuersatz Mittel in Höhe von 1,5 Milliarden Euro bereits für das auf 15 Prozent gesenkt wird. Jahr 2004 für die Förderung der Betreuung von Kindern (Beifall des Abg. Dirk Niebel [FDP]) unter drei Jahren eingeplant haben. Auch daher müssten Sie ein Interesse daran haben, schnell etwas zu tun. All das wird nicht ohne Gegenfinanzierung möglich sein. Darin sind wir vollkommen Ihrer Meinung. Deswegen (Doris Barnett [SPD]: Was denn jetzt: schnell brauchen wir einen neuen dauerhaften föderalen Finanz- oder langsam?) ausgleich. Aber das Thema ist ohnehin auf der Agenda. – Wir müssen das schnell, aber sorgfältig machen. Das Daran kommen wir nicht vorbei. schließt sich nicht aus. Bei Ihnen war es allerdings bisher Zweitens. Wir wollen bessere Kinderbetreuungs- oft so, dass Sie im Schweinsgalopp Gesetze mit der angebote – ich betone: Angebote – in Kooperation mit heißen Nadel gestrickt haben. Hinterher mussten wir dann den Ländern. Gemeint ist die ganze Palette von Krippen nachbessern. Wenn wir diese Sache gemeinsam anpacken über Kindergärten und Horte bis hin zur Tagespflege. Ver- und wenn Sie als Vorlage das nehmen, was die FDP die- lässliche Schulzeiten sind zum Beispiel in Hessen mitt- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2003 1715

Dr. Heinrich L. Kolb (A) lerweile vorbildlich realisiert. Auch muss es Ganztags- Wenn man sich den Hintergrund anschaut, vor dem wir (C) schulen in unterschiedlicher Trägerschaft geben, sowohl heute diese Diskussion führen – der Staatssekretär hat es privater, staatlicher als auch freier. Schauen wir einmal, vorhin schon sehr vorsichtig und diplomatisch angedeu- was die sozialliberale Regierung in Rheinland-Pfalz tet –, dann kristallisiert sich heraus, dass der hessische Mi- macht. Auch das ist durchaus vorbildlich. nisterpräsident zum Jahreswechsel 2001/2002 in einem Bundesstaat der USA war, sich dort die Arbeitsmarktpoli- Wir wollen drittens keine Leistung ohne grundsätz- tik angeguckt hat, mit leuchtenden Augen zurückkam und liche Bereitschaft zur Gegenleistung. Hier wird es nach erklärte, dieses Modell sollten wir nicht nur in Hessen, unserer Auffassung allerdings nicht ohne eine Umkehr der Beweislast gehen. Der Sozialhilfeempfänger wird, wenn sondern in der ganzen Bundesrepublik umsetzen. Die Be- er vom Staat und damit vom Steuerzahler Hilfe erhalten troffenen vor Ort waren alle sichtlich erstaunt und haben möchte, künftig darlegen müssen, dass er seinen Lebens- deutlich gemacht, dass man zum Beispiel in Kassel, in unterhalt nicht selbst bestreiten kann. Hanau, in Marburg, in Hofheim und in Darmstadt viel weiter sei; überall gebe es Modellversuche, bei denen die (Doris Barnett [SPD]: Macht er doch!) Integration von Arbeitslosenhilfeempfängern und Sozial- Bisher scheuen sich die Kommunen davor, Frau Kollegin hilfeempfängern zum Teil gut funktioniere, Barnett, weil der Prüfungsaufwand hoch und auch das (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Hessen ist halt Prozessrisiko nicht unerheblich ist. vorbildlich!) Alles in allem brauchen wir weniger Streuverluste. Wir nicht zuletzt aufgrund der hervorragenden Förderkondi- müssen Leistungsmissbräuche bekämpfen. tionen des Bundes. Keiner der Betroffenen und der han- (Zuruf der Abg. Doris Barnett [SPD]) delnden Akteure hat verstanden, warum man nach Amerika fahren muss, um dann ein Modell, das in einer völlig an- – Wenn die einzige Boombranche in diesem Land die deren wirtschaftlichen und sozialen Situation entwickelt Schwarzarbeit mit einem Umsatz von 370 Milliarden Euro worden ist, auf die in Deutschland vorhandenen Bedin- und einem Anteil am Bruttoinlandsprodukt in Höhe von gungen zu übertragen. 16 Prozent ist, Frau Kollegin Barnett, dann stimmt ein- fach etwas nicht. (Klaus Brandner [SPD]: Koch ist zu oft in Wisconsin und zu selten in seinem eigenen Bundesland!) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Meine Damen, meine Herren, ich sage es jetzt zum Herr Kollege Kolb, schauen Sie bitte einmal auf die Uhr fünften Mal, mache es aber sehr kurz und werde meine am Rednerpult. Ihre Redezeit ist deutlich überschritten. Redezeit nicht ausschöpfen. Seit dem Jahre 2001 – viel- (B) (D) (Dirk Niebel [FDP]: Ich könnte ihm noch ewig leicht hat die Diskussion damals noch Sinn gemacht; in zuhören, Frau Präsidentin!) diesem Punkt gebe ich Ihnen Recht – (Wolfgang Meckelburg [CDU/CSU]: Bei Ih- Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): nen vor allem! Das ist wohl wahr!) Noch wenige Sätze: Wir brauchen mehr Eigenverant- hat sich eine Menge verändert. Nehmen wir nur das Job- wortung und müssen das Solidaritätsprinzip stärken. Für AQTIV-Gesetz: Herr Singhammer, im Hinblick auf des- uns ist Solidarität keine Einbahnstraße. Deswegen bitte sen Instrumente finden Sie fast wortgleiche Formulie- ich Sie, unserem Antrag zuzustimmen. Er zeigt den Weg rungen im Job-AQTIV-Gesetz und im Entwurf des in eine gute Zukunft der Sozialhilfe. Fördern-und-Fordern-Gesetzes. Wir haben in diesem Be- reich also kein Theorie- oder Beschlussproblem, sondern Vielen Dank. wir haben ein operatives Problem, ein Umsetzungspro- (Beifall bei der FDP) blem. Jetzt benötigen wir eine Phase, in der das, was wir beschlossen haben, sinnvoll und effektiv in die Praxis um- gesetzt werden kann. Das Hartz-Konzept stellt doch auch Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: eine große Chance dar. Teile davon werden erst im Laufe Nächster Redner ist der Kollege Walter Hoffmann, des Jahres in Kraft treten. SPD-Fraktion. Gehen wir einmal theoretisch davon aus, wir würden diesen Gesetzentwurf beschließen – Frau Lautenschläger, Walter Hoffmann (Darmstadt) (SPD): die in meinem Bundestagswahlkreis wohnt, ist jetzt nicht mehr anwesend; Herr Kolb, auch Sie kennen die regiona- Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und len Bedingungen – und die Länder verfügten dann über Herren! Herr Kolb, mit einer Aussage haben Sie in der Tat eine Experimentierklausel. Ich komme aus Südhessen. Recht: Die Zeit drängt. Deswegen sollten wir sie auch Südhessen wird von drei Bundesländern eingerahmt. Hier nicht mit völlig überflüssigen, nutzlosen und ineffizienten treffen also vier Bundesländer aufeinander. Meine Da- Diskussionen vergeuden. men, meine Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, stel- (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Der Koalition len Sie sich einmal vor, in allen vier Bundesländern gäbe wäre es natürlich am liebsten, wenn die Oppo- es unterschiedliche Regelungen bei den Sperrzeiten, bei sition nichts täte! Aber da könnt ihr lange war- der Zumutbarkeit und möglicherweise sogar bei der Kür- ten!) zung von Leistungen. Jetzt will ich gar nicht mit dem 1716 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2003

Walter Hoffmann (Darmstadt) (A) Argument der Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): (C) kommen – gegen dieses Gebot würde klar verstoßen –, Dafür bedanke ich mich ausdrücklich, Herr Kollege sondern nur darauf hinweisen, dass es in der Praxis für die Hoffmann. – Mich drängt es, Sie zu fragen – das liegt mir Betroffenen einen völlig unzumutbaren Zustand bedeuten auf dem Herzen –: Wenn es in Hessen tatsächlich so würde. Auch aus solchen Erwägungen der Praktikabilität schlimm ist – Sie haben zum Beispiel behauptet, dass die heraus gibt es kein sinnvolles Argument, diesem Gesetz Mittel für eine aktive Arbeitsmarktpolitik stark herunter- zuzustimmen. gefahren worden seien –, wie erklären Sie sich dann die Da dieser Gesetzentwurf ein hessisches Baby ist, Erfolge, die Hessen bei der Bekämpfung der Arbeitslo- möchte ich ein paar Worte zur Situation in Hessen sagen, sigkeit vorzuweisen hat? Die Arbeitslosigkeit ist doch in und zwar in der Hoffnung, dass dies am Sonntag positive Hessen am stärksten zurückgegangen. Die Konzepte der Wirkungen zeitigen wird. hessischen Landesregierung scheinen also nicht so falsch (Lachen bei der CDU/CSU – Dr. Heinrich L. zu sein. Kolb [FDP]: Da sollten Sie nicht reden, sondern beten, Herr Hoffmann! – Zuruf von der CDU/ Walter Hoffmann (Darmstadt) (SPD): CSU: Jetzt kippt die Stimmung in Hessen!) Herr Kolb, die jetzige hessische Landesregierung hat ja Ich kenne die Arbeitsmarktpolitik, die in Hessen betrieben nicht beim Punkt null begonnen, sondern eine relativ gute wird, relativ gut. Ich finde es unredlich, in Hessen die Situation vorgefunden. Landesmittel für eine aktive Arbeitsmarktpolitik konse- quent zu kürzen (Wolfgang Meckelburg [CDU/CSU]: Eichel?) (Manfred Grund [CDU/CSU]: Vom Bund auf Schon damals war Hessen in dem angesprochenen Sektor Null gesetzt!) nach meinen Informationen an der dritten Stelle in der Rangliste der Bundesländer. Das ist der erste Punkt. – es gibt ein einziges Programm in Hessen, dessen Mittel vorsichtig aufgestockt wurden; die Mittel für alle anderen Zweiter Punkt. Es ist ja bekannt, dass gerade Südhes- Programme, auch diejenigen für das Programm „Arbeit sen – Sie kennen sich in diesem Bereich mindestens ge- statt Sozialhilfe“, wurden konsequent gekürzt –, dann ei- nauso gut aus wie ich – eine hervorragende Mischstruktur nen Forderungskatalog aufzustellen, nach Berlin zu fah- im industriellen Sektor, beim Handel und im Handwerk ren und zu sagen: Bitte schön, Bundesgesetzgeber, setz aufzuweisen hat. Diese gute Situation in Verbindung mit das doch um! Ich denke, die hessischen Kolleginnen und einer stark exportorientierten Wirtschaft bedeutet auto- Kollegen sollten erst einmal ihre Hausaufgaben vor Ort matisch Standortvorteile gegenüber vielen anderen Bun- (B) machen. Diese bestehen schlicht und ergreifend darin, die desländern. Daher sage ich noch einmal: Das sind nicht (D) mit viel Fantasie und Kreativität entwickelte Arbeits- die Erfolge der hessischen Landesregierung, sondern die marktpolitik in den Regionen durch ein entsprechendes aller Akteure in diesem Bundesland, die im Grunde ge- Landesgesetz zu vereinheitlichen – warum macht man das nommen versucht haben, etwas Produktives zu machen. nicht? – und Gelder für eine aktive Arbeitsmarktpolitik Ich denke, das ist ihnen auch ein Stück weit gelungen. zur Verfügung zu stellen. Ich sage es noch einmal: Die jet- (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das ist das Prin- zige hessische Arbeitsmarktpolitik ist ein einziger Stein- zip Schröder: Mein Aufschwung!) bruch. Man hat, seitdem man an der Regierung ist, fast alle Programme konsequent zurückgefahren, was sich – Das würde ich an diesem Punkt nicht so sagen. verheerend für die Personen auswirkt, die eigentlich drin- Die hessische Landesregierung – ich sage das noch ein- gend unserer Unterstützung bedürfen. mal – hat die Mittel für alle wichtigen Programme im Be- (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Trotzdem hat reich der Arbeitsmarktpolitik gekürzt. Sie hat wichtige Hessen den stärksten Rückgang der Erwerbs- Hausaufgaben – ich habe bereits das Landesgesetz zur losen!) Einführung von Jobcentern erwähnt – nicht gemacht. Sie hat in der Kinderbetreuung – diese ist wichtig für Sozial- – Herr Kolb, es stimmt zwar, dass Hessen im bundeswei- hilfeempfängerinnen, damit sie arbeiten können – Milli- ten Vergleich relativ gut dasteht, wenn man sich die Zah- onen gestrichen. Das weiß man vor Ort auch; das ist all- len anschaut. Trotzdem gibt es Zuwächse bei denjenigen gemein bekannt. Daher ist sie kein guter Ratgeber bei der Personengruppen, die ich gerade angesprochen habe. Umsetzung des vorliegenden Gesetzentwurfs. Deshalb sage ich ganz bewusst noch einmal: Diese brau- chen auch die Unterstützung des Landes Hessen. Es ist In der Tat steckt viel heiße Luft in dem Gesetzentwurf. nicht in Ordnung, Forderungen an den Bund zu richten Mich persönlich stört aber am meisten das Menschenbild, und selber vor Ort kaum etwas zu tun. das hinter dem Gesetzentwurf zum Vorschein kommt; denn wenn man diesen Entwurf liest, hat man den Ein- druck, dass die überwiegende Mehrheit der 900 000 ar- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: beitsfähigen Sozialhilfebezieher in der Bundesrepublik Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Kolb? – 70 000 gibt es wohl in Hessen – schlicht und ergreifend nicht arbeitswillig ist. Ich denke, bei aller Kritik und bei allen Problemen im Einzelfall darf dies kein Men- Walter Hoffmann (Darmstadt) (SPD): schenbild für den Gesetzgeber sein. Der Schwerpunkt des Natürlich. Gesetzentwurfs liegt eigentlich auf Kürzen und Fordern. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2003 1717

Walter Hoffmann (Darmstadt) (A) So müsste Ihr Motto korrekt lauten. Ich vermisse hier ei- getätigt und muss Handel betrieben werden. Die Verunsi- (C) gentlich einen Akzent im Bereich der Förderung. cherung hat dazu geführt, dass Investitionen zurückgehal- ten werden. Wir alle wissen, dass es viele Gründe gibt, warum Menschen nicht arbeiten können. Diese Gründe können in (Klaus Brandner [SPD]: Hören Sie doch auf mit der Betreuung, in der Qualifizierung und in der mangeln- dem Schlechtreden! Als Pädagoge sollten Sie den Bereitschaft vieler Betriebe liegen, gerade diese wissen, der Schwerpunkt ist Loben und För- Personengruppe zu beschäftigen. Die schwierige kon- dern!) junkturelle Situation – viele Vorredner haben sie ange- Auch die insgesamt fehlenden Rahmenbedingungen ha- sprochen – ist in der Tat ein Problem und es gibt auch viele ben dazu geführt, dass manche Dinge, die wir auf den Weg individuelle Probleme, die man in einer freien Gesell- gebracht haben, nicht funktionieren können. schaft klar benennen muss. Das alles spielt in der Philo- sophie dieses Gesetzes überhaupt keine Rolle. Von daher Meine Damen und Herren von Rot-Grün, unser Haupt- werden wir an unserer Haltung nichts ändern können. Ich vorwurf an Sie bleibt: Sie leben von der Hand in den sage klar und deutlich: Unsere Fraktion kann nicht nur, Mund, Sie haben wirklich kein Konzept und keine Zu- aber auch aus diesem Grund hier nicht zustimmen. kunftsvision. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Doris Barnett [SPD]: Doch, Herr DIE GRÜNEN) Meckelburg!) Die Erfahrung der letzten vier Jahre – ich bin nicht neu Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: hier – lässt mich befürchten, dass die nächsten vier Jahre ähnlich ablaufen wie die letzten vier. Nächster Redner ist der Kollege Wolfgang Meckelburg, CDU/CSU-Fraktion. (Doris Barnett [SPD]: Die werden noch besser!)

Wolfgang Meckelburg (CDU/CSU): Deswegen ist es notwendig, hier über die Zusammenle- gung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe zu reden. Wir Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol- machen über Anträge und Gesetzentwürfe im Bundesrat legen! Herr Kollege Hoffmann, Sie haben in einem Teil und über Anträge und Gesetzentwürfe der Unionsfraktion Ihrer Rede gesagt, Sie hofften noch auf Auswirkungen auf im Bundestag Druck auf Rot-Grün. die Hessenwahl. Eine von mir soeben durchgeführte Blitz- umfrage hat aber ergeben: Das war nichts. Die Politik in Das Hauptproblem scheint mir wirklich darin zu lie- Hessen ist schon besser geworden. Dass Sie auf Herrn gen, dass die Reformfähigkeit von Rot-Grün im Hinblick (B) Eichel verwiesen haben, zeigt, dass Sie nicht realistisch auf strukturelle Fragen sehr blockiert ist. Ich denke an die (D) sind. Ich sage ganz deutlich: Ich finde, es ist dringend not- Rentenreform. Was ist da nicht alles hin- und hergescho- wendig, dass wir – unabhängig von der bevorstehenden ben worden? Eine wirkliche Reform war es am Ende nicht. Ich denke an die Sozialhilfereform in der letzten Le- Wahl in Hessen – heute im Bundestag über das Thema gislaturperiode. Herr Brandner, Sie haben daran mitge- „Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozial- wirkt. Diese Reform ist zweimal verschoben worden und hilfe“ reden. zweimal ist ein Übergangsmodell verlängert worden. (Walter Hoffmann [Darmstadt] [SPD]: Das ist Strukturell haben Sie nichts zustande gebracht. klar! Aber wir müssen das Gesetz nicht verab- (Klaus Brandner [SPD]: Das war nicht der schieden! Das ist kontraproduktiv!) Auftrag!) Nach der Wahl 1998 haben wir Ihren ersten Fehlstart Die Reform der Arbeitsförderung wurde während erlebt. Mittlerweile haben Sie Ihren zweiten Fehlstart hin- der letzten Legislaturperiode zwar mehrfach angekündigt; gelegt. Zwischen den beiden Fehlstarts gibt es einen Un- am Schluss kam aber lediglich das schlappe so genannte terschied: Beim zweiten Fehlstart haben Sie sich geradezu Job-AQTIV-Gesetz zustande. Dass es nicht wirkt, können ins Zeug gelegt, ein Stückchen Erfahrung mit Fehlstarts Sie an den Zahlen ablesen. Herr Schröder hat die Senkung einzubringen. Sie haben für ein so großes Durcheinander der Anzahl der Arbeitslosen auf 3,5 Millionen verspro- gesorgt, dass die Bürger verunsichert sind. Täglich neue chen; 4,5 Millionen Arbeitslose werden es in diesem Ja- Vorschläge, täglich neue Rückzieher – ein Konzept, das nuar sein. Ihrer Politik zugrunde liegt, ist nicht erkennbar. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das ist leider noch (Beifall bei der CDU/CSU) nicht das Ende! Februar wird noch schlimmer!) Ich wiederhole: Das Ergebnis des zweiten Fehlstarts ist, Alles, was Sie auf den Weg gebracht haben, hat nicht dass die Bürger verunsichert sind. funktioniert. (Klaus Brandner [SPD]: Glauben Sie das wirk- Sie sind – auch das muss man vielleicht in Erinnerung lich, Herr Meckelburg? Sie als Christ!) rufen – in Hektik geraten. Die Hartz-Kommission ist nicht – Das glaube ich. eingesetzt worden, weil Sie erkannt haben: Wir müssen in diesem Bereich etwas tun. Diese Verunsicherung kann man an den Stellen erken- nen, wo der Bürger sie zum Ausdruck bringt: bei der (Klaus Brandner [SPD]: Das ist die Fortsetzung Kaufzurückhaltung und bei der Scheu vor Investitionen. vom Job-AQTIV-Gesetz! Das wissen Sie doch! Damit Arbeitsplätze geschaffen werden, müssen Käufe Hören Sie mit dem Schlechtreden auf!) 1718 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2003

Wolfgang Meckelburg (A) Vielmehr haben Sie, als Sie zu Beginn des letzten Jahres Ich nenne ein Beispiel: Eine Steuerpolitik, die Bürger (C) merkten, dass sich auf dem Arbeitsmarkt nicht mehr viel und Wirtschaft nicht entlastet, sondern belastet, ist eine bewegen wird, aus der Not eine Tugend gemacht und die falsche Politik. Eine Politik, die kein Wirtschaftswachs- Krise der Bundesanstalt für Arbeit genutzt, um eine große tum bringt – Sie haben gerade gestern im Jahreswirt- Kommission einzusetzen. Dann sind plötzlich Themen schaftsbericht das Wirtschaftswachstum auf 1 Prozent und am Ende an vielen Stellen auch Reformvorschläge korrigieren müssen, nachdem es im letzten Jahr 0,2 Pro- diskutiert worden, die wir hier in den letzten vier Jahren zent waren –, praktisch Monat für Monat eingefordert hatten, die Sie (Klaus Brandner [SPD]: Nachdem wir bei Ih- aber über vier Jahre blockiert hatten. Wir wären vier Jahre nen Minuswachstum hatten!) weiter, wenn Sie jeweils vier Jahre früher die Erkenntnis gehabt hätten. ist eine falsche Politik. Bei den Sozialversicherungen sind Entlastungen statt neuer Belastungen erforderlich. Fragen (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Klaus Sie doch einmal die Bürger, die gerade ihre Gehaltszettel Brandner [SPD]: Sie wissen das doch besser! bekommen! Sie bekommen die Mehrbelastungen doch Reden Sie nicht gegen eigenes Wissen!) gerade schriftlich. Die Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und (Klaus Brandner [SPD]: Sie haben sie doch auf Sozialhilfe ist eines dieser Themen. Lesen Sie doch ein- Deubel komm raus belastet! Das wissen Sie mal nach, wie häufig wir darüber debattiert haben und wie doch!) häufig Sie das auf die lange Bank geschoben haben. Dann sagen Sie hier, die Bürger nähmen das nicht wahr. (Klaus Brandner [SPD]: Bei der Geschwindig- keit, mit der wir die Arbeitsmarktreform durch- Das ist der wichtigste Punkt: Die Rahmenbedingungen gesetzt haben, haben Sie doch nur mit den Oh- an dieser Stelle müssen sich wirklich ändern, damit sich ren gewackelt!) auf dem Arbeitsmarkt etwas bewegt und die arbeits- marktpolitischen Instrumente funktionieren können. Wir können fast froh sein, dass dieses Thema in der Hartz- Kommission vorkam und Sie sich gezwungen fühlten, (Klaus Brandner [SPD]: Dann blockieren Sie sich damit auseinander zu setzen. doch nicht! Unterstützen Sie den Prozess!) Was ist das Ziel der Zusammenlegung von Arbeitslo- Davon sind Sie weit entfernt. senhilfe und Sozialhilfe? Das Ziel ist es – ich sage das Wir müssen zweitens ganz klar sagen: Es entspricht noch einmal deutlich, weil eben missverständlicher- nicht unserer gesellschaftlichen Vorstellung vom Leben, weise immer Teilbereiche als Hauptziel herausgestellt in Abhängigkeit von Sozialsystemen zu bleiben. Unsere (B) wurden –, Menschen aus der Arbeitslosigkeit in Arbeit Vorstellung ist vielmehr, dass Sozialhilfe eine Hilfe zur (D) auf dem ersten Arbeitsmarkt zu bringen, ihnen ein Stück Überbrückung, zur Integration in den ersten Arbeitsmarkt Selbstständigkeit, nein, eigentlich die entscheidende Vo- ist, aber keine Einrichtung, in deren Abhängigkeit man raussetzung für selbstständige Lebensführung zurückzu- verharrt. Deswegen nenne ich einmal ein paar Zahlen, die geben, eine deutliche Sprache sprechen. (Klaus Brandner [SPD]: So weit, so gut!) Es gab im Jahr 2000 rund 2,7 Millionen Sozialhilfe- empfänger. Davon sind 60 Prozent in erwerbsfähigem Al- nämlich aus eigener Arbeit – das muss man deutlich ge- ter. Wir können uns doch nicht erlauben, so zu tun, als nug sagen, weil das das Ziel ist und nicht das, was hier wenn wir die 60 Prozent – das sind 1,6 Millionen – auf dauernd vorgeführt wird – ein eigenes Einkommen zu er- Dauer in Sozialhilfe lassen wollten. Genau das ist der zielen, das die Basis für die eigene Lebensgestaltung ist. Handlungsbereich. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Klaus Die Dauer des Sozialhilfebezuges ist gestiegen. 1997 Brandner [SPD]: Wo unterscheiden wir uns lag die durchschnittliche Bezugsdauer – man spricht in- da?) zwischen von Sozialhilfekarriere – bei 25,4 Monate; das Was ist dazu notwendig? Erstens. Die Politik muss sind über zwei Jahre. Innerhalb von drei Jahren, bis 2000 Rahmenbedingungen schaffen, unter denen in der Wirt- – das ist die jüngste Zahl, die ich gefunden habe –, ist die schaft Arbeitsplätze entstehen. Da unterscheiden wir uns Dauer auf 31 Monate gestiegen. Meine Damen und Her- wirklich. ren, wollen Sie sagen, das sei kein Problem? (Klaus Brandner [SPD]: Jetzt einmal ganz Wenn wir feststellen, dass 60 Prozent der Sozialhilfe- konkret! Jetzt ein paar Hinweise!) empfänger in erwerbsfähigem Alter sind, müssen wir al- les tun, um diese Menschen wirklich in Arbeit zu bringen Sie können noch so viel Hartz-Vorschläge aufgreifen und und ihnen ein Stückchen Freiheit und Unabhängigkeit Job-AQTIV-Gesetzgebung machen, Sie können noch so vom Sozialsystem zurückzugeben. Das muss unser ge- viel fördern: Wenn Sie keine Arbeitsplätze haben, wird es meinsames Ziel sein. schwierig. Das ist das Hauptproblem, unter dem Deutsch- land leidet. Die Hauptverantwortung für diesen Bereich (Klaus Brandner [SPD]: Herr Meckelburg, wir sind schon viel weiter! Die Problembeschrei- tragen wirklich Sie. Es ist nicht zu erkennen, dass Sie an bung haben wir schon 23-mal gehört! Es kommt dieser Stelle viel täten. Das ist das eigentliche Problem. auf die Lösung an! Sie beschreiben, beschrei- (Beifall bei der CDU/CSU)P ben, beschreiben! Wir sind viel weiter!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2003 1719

Wolfgang Meckelburg (A) – Genau das ist das Problem, Herr Brandner. Wir als Uni- schuss, dem ich angehöre, Vereinbarungen gegeben hat, (C) onsfraktion haben die Problembeschreibung in den letz- in denen Teile der hier vorliegenden Gesetzentwürfe über- ten Jahren dauernd per Antrag eingebracht. nommen worden sind. (Karin Roth [Esslingen] [SPD]: Der Sockel Ich erwähne das in dieser Debatte deswegen so ausführ- war viel zu hoch! Das war die Ursache!) lich, weil ich glaube, dass wir ab Montag, ab dem 3. Fe- bruar, in Deutschland in einer neuen politischen Welt sind. Sie haben das verschoben. (Karin Roth [Esslingen] [SPD]: Ach was!) Jetzt haben wir gehört, dass es möglicherweise Mitte des Jahres endlich eine Vorlage der Bundesregierung ge- Wir werden stärker aufeinander zugehen müssen, wenn ben wird, mit der wir uns beschäftigen können und die wir Reformen auf den Weg bringen wollen. Friedrich verwertbar ist, um Sozialhilfe und Arbeitslosenhilfe zu- Merz hat heute Morgen ein entsprechendes Angebot ge- sammenzubringen. Das hat lange gedauert, aber sie soll macht. jetzt endlich kommen. (Klaus Brandner [SPD]: Ist das mit Frau Merkel Ich habe die Befürchtung, Herr Staatssekretär, dass es und Herrn Stoiber abgesprochen?) dabei ähnlich läuft wie bei allen großen Projekten: Wir be- Das bedeutet aber nicht, dass wir als Opposition nicht kommen relativ schnell etwas auf den Tisch gelegt und weiterhin ständig kritisch das anmahnen, was uns an die- müssen es innerhalb von zwei Wochen im Ausschuss be- ser Stelle fehlt. Was uns bis jetzt fehlt, ist eine Vorlage der raten. Bundesregierung für die Zusammenfügung von Arbeits- (Klaus Brandner [SPD]: Jetzt beklagt ihr, dass losenhilfe und Sozialhilfe. es zu schnell geht! Was wollt ihr denn?) (Beifall bei der CDU/CSU) – Ich möchte, dass wir Zeit zur Beratung haben. Die In- Deswegen habe ich die Bitte, dass wir diese Bundes- ternkommission, die sich im November und Dezember ratsinitiativen heute an den zuständigen Ausschuss über- erst einmal vertagt hatte, hat inzwischen möglicherweise weisen, mit dem Ziel – angesichts der neuen Welt ab im Schnellverfahren fünfmal getagt. Es freut mich, wenn nächster Woche – einer gemeinsamen Beratung aller das so ist. Aber ich erwarte, dass wir die Vorlagen recht- Fraktionen, und dass Sie die bisherige Blockadepolitik an zeitig bekommen, damit wir das Problem und seine Lö- dieser Stelle aufgeben. Es gab kein Expertentreffen in den sungsvorschläge gründlich beraten können, statt das, wie letzten Jahren, bei dem nicht alle gesagt hätten, dass etwas bisher, im Zwei-Wochen-Schweinsgalopp durchzujubeln. passieren muss; es dauert nur zu lange. Wir haben in der Da haben Sie völlig Recht: Das ist mir zu wenig Zeit; Tat ein Umsetzungsproblem. Das liegt aber daran, dass dafür haben wir zu lange Vordiskussionen geführt. (B) Sie von Rot-Grün nicht schnell genug aus dem Quark (D) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) kommen. Das ist das Problem. Es kommt auch darauf an – das ist der dritte Punkt –, Jetzt muss Schluss sein mit dem verbalen Behandeln Anreize zu schaffen. Die beiden Bundesratsgesetzent- des Problems. Wir brauchen endlich eine Vorlage. Ich würfe geben Hilfestellung, hier noch etwas zu unterneh- bitte Sie, Herr Staatssekretär, alles daranzusetzen, dass men. wir im Ausschuss so rechtzeitig wie möglich mit der Dis- kussion über die Zusammenführung von Arbeitslosenhilfe Viertens müssen wir die Kostenfrage näher beleuch- und Sozialhilfe beginnen können. Da können Sie einen ent- ten. Denn bei den Sozialhilfeausgaben liegen wir inzwi- scheidenden Beitrag leisten, was die Gemeinsamkeit aller schen – das ist ebenfalls eine Zahl aus dem Jahr 2000 – Fraktionen angeht. bei 20,9 Milliarden Euro. Schönen Dank. (Karin Roth [Esslingen] [SPD]: Wir sind bei 2002!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) – Wenn Sie neuere Zahlen haben, nennen Sie diese; ich vermute, dass sie nicht darunter liegen. Aber die Zahlen Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: von 2000 sind die letzten, die ich gefunden habe. Letzte Rednerin in der Debatte ist die Kollegin Karin Wir hatten in diesem Bereich in 2001 – ich sehe hier Roth, SPD-Fraktion. gerade eine weitere Zahl – einen Anstieg um 2,7 Prozent. Im ersten Halbjahr 2002 waren es 4,4 Prozent. Es ist also Karin Roth (Esslingen) (SPD): mehr geworden. Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Deswegen ist es notwendig, sich mit den beiden Ge- Herr Meckelburg, Sie haben in Ihren Ausführungen ver- setzentwürfen des Bundesrates zu beschäftigen. Dass ei- gessen, dass wir im Jahre 1997 fast 5 Millionen Arbeits- niges davon bereits erledigt ist – darauf ist hingewiesen lose in diesem Land hatten und dass Sie bis dahin durch- worden –, hat auch damit zu tun, dass diese beiden Ge- aus die Möglichkeit hatten, die Arbeitslosenhilfe und die setzentwürfe Anfang bzw. Ende November im Bundesrat Sozialhilfe zusammenzulegen. Wir haben das in unser eingebracht worden sind. In der Zwischenzeit hat es im Programm aufgenommen, Bundestag eine Hartz-Gesetzgebung gegeben – übrigens ebenfalls im Schweinsgalopp, innerhalb von zwei Wo- (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Und dann nichts chen –, zu der es im Bundesrat und im Vermittlungsaus- gemacht!) 1720 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2003

Karin Roth (Esslingen) (A) weil wir wussten und wissen, dass diese Reform not- Herr Meckelburg, es geht Ihnen in Wahrheit nicht da- (C) wendig ist. Wir wissen aber auch, dass es sehr kompli- rum, Arbeit statt Sozialhilfe zu organisieren. Auf der ei- ziert ist – es handelt sich nämlich um einen Finanzaus- nen Seite soll zwar die Vermittlungstätigkeit beschleunigt gleich –, einen fairen Interessenausgleich zwischen werden, auf der anderen Seite führen Ihre Maßnahmen Kommunen, Ländern und Bund zu organisieren. Daran aber zur Diffamierung von Sozialhilfeempfängern. arbeiten wir. (Klaus Brandner [SPD]: So ist es!) Heute beschäftigen wir uns mit dem Gesetzentwurf, Das lassen wir nicht zu, weil wir wissen, wo das endet. der von Hessen in den Bundesrat eingebracht worden ist. Die Frage ist: Sind die Vorschläge neu? Dazu kann ich Ih- (Beifall bei der SPD – Wolfgang Meckelburg nen sagen – das ist schon von meinen Vorrednerinnen und [CDU/CSU]: Das ist unverschämt!) Vorrednern gesagt worden –, dass dieser Gesetzentwurf Wenn man sich die Mühe macht, den Gesetzentwurf schon vor einem Jahr in diesem Hohen Hause ausführlich diskutiert wurde. genauer zu prüfen, dann stellt man zwei Dinge fest: (Klaus Brandner [SPD]: Alter Wein!) (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Was haben Sie die Teilzeitarbeit diffamiert! Heute ist das für Sie Jetzt wurde er wieder wortgleich eingebracht. das Patentrezept!) (Klaus Brandner [SPD]: Abgestandenes Bier! – Erstens. Ihr Vorschlag bezüglich der Instrumente ist über- Wolfgang Meckelburg [CDU/CSU]: Das haben holt, weil es die Jobcenter bereits gibt. Zweitens. Ihre ge- wir bewusst getan!) samten Vorschläge sind überflüssig, weil wir all das im Ich habe den Verdacht, dass es Ihnen bei diesem Thema Rahmen der Umsetzung des Hartz-Konzepts schon auf nicht um die Sache, sondern darum geht, uns kurz vor den den Weg gebracht haben. Wir blockieren nicht, sondern Wahlen in Hessen und Niedersachsen weismachen zu wir haben eine Dynamik auf dem Arbeitsmarkt ent- wollen, dass Sie einen besseren Weg gefunden hätten. wickelt. (Wolfgang Meckelburg [CDU/CSU]: Sie hätten Wir werden in diesem Jahr in diesem Hohen Hause die letztes Jahr zustimmen können! Dann wäre er Reform von Sozial- und Arbeitslosenhilfe diskutieren. Ich weg gewesen!) bin nicht nur auf die Haltung der Länder und Kommunen sehr gespannt, sondern auch darauf, ob Sie bereit sind, Die Wahrheit ist: Die Ministerin aus Hessen interes- diesen Weg mitzugehen. siert dieses Thema, zu dem sie gesprochen hat, so sehr, (Wolfgang Meckelburg [CDU/CSU]: Sie sind (Dr. Uwe Küster [SPD]: Sie ist schon weg!) (B) neu in diesem Haus! Sie haben die Erfahrung (D) dass sie nach der Hälfte der Debatte den Saal verlassen der letzten vier Jahre nicht!) hat, nach dem Motto: Was interessiert uns das Gerede im Ich sage Ihnen – es ist schade, dass Frau Lautenschläger Bundestag? Wir machen unsere Politik ohnehin! nicht mehr anwesend ist –, dass es aufseiten der Länder (Klaus Brandner [SPD]: Wahlkampf!) interessante Möglichkeiten gibt. Auch die Länder können auf dem Gebiet der Sozialhilfe die Hilfe zur Arbeit unter- Ich komme nachher noch auf die Ministerin zu sprechen. stützen. Interessant ist in diesem Zusammenhang, was Ich frage Sie, meine Damen und Herren von der Op- Hessen in den letzten Jahren gemacht hat. position: Warum glauben Sie, dass dieses Gesetz, das wir (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Erfolgreich die damals abgelehnt haben, so neu und so wichtig ist, dass Arbeitslosigkeit abgebaut! Das hat Hessen ge- wir ihm nun zustimmen sollten? Das machen wir natür- macht!) lich nicht. Damals war es nicht richtig und auch heute nicht. Die Koalition aus CDU und FDP in Hessen hat in diesem Jahr – man höre und staune – die Mittel für die aktive Ar- (Widerspruch des Abg. Dirk Niebel [FDP]) beitsmarktpolitik deutlich reduziert. Der Landesanteil an Hier wurde ein verstaubter Ladenhüter aus dem Hut arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen für Sozialhilfeemp- gezaubert. Dabei vergessen Sie – das hat Herr Brandner fänger beträgt noch nicht einmal 3 Prozent. eben deutlich gesagt –, dass wir schon vieles auf den Weg (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Aber die Arbeits- gebracht haben. Sie geben alte Antworten auf schon be- marktpolitik ist doch kein Selbstzweck! Wenn antwortete Fragen. Wir haben die Probleme gelöst. Ich die Arbeitslosigkeit trotzdem gesenkt wird, denke, bei Ihrem Gesetzentwurf handelt es sich nicht um sollte man das nicht schlechtreden!) alten Wein in neuen Schläuchen, sondern um alten Wein in alten Schläuchen. Ich glaube, diese Zahl spricht für sich. Man kann daran erkennen, wie wichtig das Thema „Arbeit statt Sozial- (Klaus Brandner [SPD]: Abgestanden! Unge- hilfe“ für Frau Lautenschläger ist. Nach meiner Meinung nießbar!) ist das ein Offenbarungseid und zeigt die fehlende Man sollte diesen Entwurf zu den Akten legen. Wir je- Glaubwürdigkeit. Es handelt sich um heiße Luft und denfalls werden neue Projekte starten. Wahlkampfgetöse. (Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Aber die Anstatt Ihre Hausaufgaben zu machen, legen Sie die- Arbeitslosigkeit steigt!) sen Gesetzentwurf noch einmal vor. Letztendlich soll mit Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2003 1721

Karin Roth (Esslingen) (A) der Experimentierklausel versucht werden – Frau Dückert Wir haben die Menschen im Blick und wir erwarten, dass (C) hat das schon gesagt –, bis 2007 das zu organisieren, was durch unsere Maßnahmen ihre Integration möglich ist. Wir wir schon ab 2004 dringend brauchen. Wir brauchen keine machen eine Politik für die Menschen und nicht gegen sie. Experimentierklausel. Erstens gibt es sie (Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Hoffent- (Klaus Brandner [SPD]: Das ist lange genug ge- lich spüren die das auch! – Dirk Niebel [FDP]: macht worden! Wir haben ja die Projekte ge- Immer die alte Leier!) habt! – Nicht „alte Leier“. Nach Ihrem Freiheitsbegriff gibt es und zweitens wollen wir ab 2004 flächendeckend die So- diese Freiheit nur für diejenigen, die besitzen, aber nicht zialhilfe und die Arbeitslosenhilfe zusammenführen. Von für diejenigen, die nichts haben. daher ist das, was wir hier planen und organisieren, wich- (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das ist ja aus der tig und notwendig. Ich hoffe auch, dass wir zu diesem Mottenkiste des Klassenkampfes, Frau Roth! – Thema zu einer Einigung im Bundesrat und im Bundes- Dirk Niebel [FDP]: Das ist tiefster Klassen- tag kommen. kampf, Frau Roth!) Lassen Sie mich noch zu drei oder vier Punkten, die aus Die Menschen in unserem Land wissen, dass sie sich auf unserer Sicht wichtig sind, etwas sagen. Wir haben die Rot-Grün verlassen können. Rahmenbedingungen geschaffen. Wir haben die Einrich- tung von Jobcentern organisiert. Diejenigen Bundeslän- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ der, die das noch nicht umgesetzt haben, sollten nicht bei- DIE GRÜNEN) seite stehen, sondern die Möglichkeiten nutzen. Wir verlieren nicht die soziale Balance, wir stehen für Gleichzeitig haben wir das Job-AQTIV-Gesetz auf den Modernisierung und soziale Gerechtigkeit. Das ist unser Weg gebracht und Instrumente zur passgenauen Arbeit Programm. entwickelt. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Dirk Niebel [FDP]: Ist ja prima, dass die Ar- DIE GRÜNEN – Dirk Niebel [FDP]: Das ist un- beitslosigkeit so drastisch sinkt!) glaublich! – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Nur schade, dass die Menschen das anders sehen!) Auch die individuellen Eingliederungsbeihilfen und Ein- gliederungsmöglichkeiten können genutzt werden. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Wenn jetzt noch die Arbeitslosenzahl zurückgeht, haben wir Ich schließe die Aussprache. Vollbeschäftigung!) (B) Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf (D) Deshalb sage ich Ihnen: Unser Projekt „Fördern und For- den Drucksachen 15/273, 15/309 und 15/358 an die in der dern“ muss umgesetzt werden. Es gibt eine gemeinsame Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Verantwortung von Bund und Ländern, das liegt nicht nur Die Vorlage auf Drucksache 15/358 soll abweichend von in der Verantwortung des Bundes. der Tagesordnung an den Haushaltsausschuss lediglich zur Mitberatung überwiesen werden. Die wichtigsten Schritte wurden also gemacht. Die Umsetzung der Hartz-Vorschläge wird erfolgen. Ich Gibt es anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der bin sicher, dass die Menschen in unserem Land begrei- Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. fen und wissen, dass es nicht darum gehen kann und ge- hen darf, die Menschen, die keine Arbeit haben, zu dif- Ich rufe Tagesordnungspunkt 12 – es handelt sich um famieren, eine Überweisunge im vereinfachten Verfahren – auf: (Dirk Niebel [FDP]: Das macht ja auch keiner! – Beratung des Antrags der Abgeordneten Markus Löning, Daniel Bahr (Münster), Rainer Brüderle, Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Ich verstehe nur weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP nicht, wenn alles so gut ist, warum dann die Jah- resarbeitslosenzahl steigt!) Westsaharakonflikt beilegen – UN-Friedens- plan durchsetzen sie auszugrenzen. Es geht darum, die Menschen durch Qualifizierung in Arbeit zu bringen. – Drucksache 15/316 – Überweisungsvorschlag: (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Auswärtiger Ausschuss (f) Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Wir müssen den Menschen Mut machen. Schließlich Entwicklung geht es darum, dass Arbeit auch dazu beiträgt, die Per- Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe sönlichkeit zu fördern, das Selbstbewusstsein zu unter- stützen Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlage auf Drucksache 15/316 an die in der Tagesordnung aufge- (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Ich glaub‘, jetzt führten Ausschüsse zu überweisen. hat sie’s!) (Dr. Werner Hoyer [FDP]: Eine sehr gute und die Teilnahme an der Gesellschaft zu realisieren. Es Idee!) geht hier um Menschen und nicht nur um Statistik. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann (Beifall bei der SPD) sind die Überweisungen so beschlossen. 1722 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2003

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner (A) Ich rufe die Tagesordnungspunkte 13 a bis 13 e auf. Es Tagesordnungspunkt 13 e: (C) handelt sich um die Beschlussfassung zu Vorlagen, zu de- Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD, der nen keine Aussprache vorgesehen ist. CDU/CSU, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP Tagesordnungspunkt 13 a: Erneute Überweisung von Vorlagen aus frühe- Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von ren Wahlperioden der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs ei- nes Gesetzes zu dem Vertrag vom 26. Juli 2001 – Drucksache 15/345 – zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Wer stimmt für diesen Antrag? – Wer stimmt dagegen? der Tschechischen Republik über den Bau einer – Enthaltungen? – Der Antrag ist mit den Stimmen des Grenzbrücke an der gemeinsamen Staatsgrenze ganzen Hauses angenommen. in Anbindung an die Bundesstraße B 20 und die Staatsstraße I/26 Ich rufe Tagesordnungspunkt 5 auf: – Drucksache 15/12 – Wahlvorschlag der Fraktionen der SPD, der CDU/ CSU, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und (Erste Beratung 12. Sitzung) der FDP für die vom Deutschen Bundestag zu ent- Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- sendenden Mitglieder des Beirats bei der Regu- ses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen lierungsbehörde für Telekommunikation und (14. Ausschuss) Post gemäß § 67 Abs. 1 des Telekommunika- – Drucksache 15/272 – tionsgesetzes Berichterstattung: – Drucksache 15/356 – Abgeordnete Renate Blank Ergänzend schlägt die Fraktion der SPD vor, den Ab- Der Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen geordneten Gerhard Rübenkönig als Stellvertreter für empfiehlt auf Drucksache 15/272, den Gesetzentwurf an- Petra Bierwirth und Eike Hovermann als Stellvertreter für zunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf Klaus Barthel zu wählen. Wer stimmt für diese Wahlvor- zustimmen wollen, sich zu erheben. – Wer stimmt dage- schläge? – Gegenprobe! – Enthaltungen? – Die Wahlvor- gen? – Enthaltungen? – Damit ist der Gesetzentwurf mit schläge sind mit den Stimmen des ganzen Hauses ange- den Stimmen des ganzen Hauses angenommen. nommen.

Tagesordnungspunkt 13 b: Ich rufe Zusatzpunkt 4 auf: (B) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD (D) ausschusses (2. Ausschuss) und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN einge- brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung Sammelübersicht 8 zu Petitionen der Vorschriften über die Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung und zur Änderung – Drucksache 15/320 – anderer Vorschriften Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal- – Drucksache 15/350 – tungen? – Die Sammelübersicht 8 ist mit den Stimmen des Überweisungsvorschlag: gesamten Hauses angenommen. Rechtsausschuss (f) Innenausschuss Tagesordnungspunkt 13 c: Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die ausschusses (2. Ausschuss) Aussprache eine Stunde vorgesehen. – Ich höre keinen Sammelübersicht 9 zu Petitionen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. – Drucksache 15/321 – Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Bundes- ministerin der Justiz, Brigitte Zypries. Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal- tungen? – Auch die Sammelübersicht 9 ist mit den Stim- men des ganzen Hauses angenommen. Brigitte Zypries, Bundesministerin der Justiz: Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Tagesordnungspunkt 13 d: Herren Abgeordneten. Es ist kein Zufall, dass ich gestern Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- zwei Pressekonferenzen durchgeführt habe: eine zu dem ausschusses (2. Ausschuss) Gesetzentwurf, den wir zurzeit beraten, und die andere Sammelübersicht 10 zu Petitionen mit meiner Kollegin zu dem Aktionsplan der Bundesregierung zum Schutz von Kindern und Ju- – Drucksache 15/322 – gendlichen vor sexueller Gewalt und Ausbeutung. Denn Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal- die Bundesregierung weiß, dass die Verhütung von sexu- tungen? – Damit ist die Sammelübersicht 10 mit den Stim- eller Gewalt nicht durch das Strafrecht allein gelingt. Ge- men der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen gegen rade weil die Dunkelziffer so hoch ist, sind Aufklärung die Stimmen der CDU/CSU und der FDP angenommen. und niedrigschwellige Angebote für Kinder notwendig. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2003 1723

Bundesministerin Brigitte Zypries (A) Hinschauen, nicht wegschauen – dieses Prinzip ist ei- men. Deshalb ist der Personenkreis derjenigen, die anzei- (C) ner der wesentlichen Punkte des Gesetzentwurfs der Ko- geverpflichtet sind, auf die über 18-Jährigen beschränkt alitionsfraktionen, der Ihnen heute vorliegt. Es ist auch und wir erfassen auch nur die Fälle, in denen der Täter die das Motto einer bundesweiten Aufklärungskampagne, die sexuelle Unerfahrenheit seines Opfers ausnützt. Natürlich wir starten werden. wollen wir nicht, dass das Knutschen des 15-Jährigen mit der 13-Jährigen angezeigt werden muss. Damit bin ich schon zu Beginn meiner Rede bei dem zentralen Ziel, das wir mit der Änderung des Sexualstraf- Ein zweiter Punkt des Entwurfs ist die Erhöhung der rechts verfolgen: Straftaten gegen die sexuelle Selbstbe- Strafrahmen zahlreicher Vorschriften. Wie Sie wissen, stimmung sind abscheulich und verachtenswürdig. Jeder habe ich mich im vergangenen Jahr an dieser Stelle dafür sexuelle Übergriff ist einer zu viel. Deshalb wollen wir ausgesprochen, den Grundtatbestand des sexuellen Miss- diese Straftaten nicht nur angemessen bestrafen, sondern brauchs vom Vergehen zum Verbrechen heraufzustufen. – wir wollen sie vor allem verhindern. Herr Kollege, Sie sollten jetzt zuhören, damit Sie das spä- ter auch bearbeiten können. Menschen im Umfeld von Missbrauchsopfern haben oftmals Kenntnis von den Vorgängen oder zumindest eine (Dr. Wolfgang Götzer [CDU/CSU]: Jawohl!) Ahnung. Trotzdem unternehmen viele nichts dagegen. Mein Ziel war es, auch diejenigen schweren Fälle des Deshalb wollen wir mit diesem Gesetzentwurf Ver- sexuellen Missbrauchs als Verbrechen ahnden zu können, wandte, Nachbarn und Betreuungspersonen mit in die die, weil kein Eindringen in den Körper vorliegt, als ein- Verantwortung nehmen. Wir erwarten, dass sie sich ein- facher sexueller Missbrauch qualifiziert werden und des- mischen und Missbrauch verhindern. halb mit einem Strafmaß belegt sind, das unseres Erach- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten tens deutlich zu niedrig ist. Die Folge der Qualifikation zum Verbrechen wäre aber die Einführung eines minder- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) schweren Falles. Denn darin sind wir uns auch mit der Denn wirksamen Schutz für Kinder erreichen wir nur, Opposition einig: Nicht jeder sexuelle Missbrauch ist als wenn sich alle verantwortlich fühlen. Nach unseren Vor- Verbrechen zu qualifizieren. stellungen wird sich deshalb in Zukunft derjenige strafbar Die Praktiker haben mich in unseren Diskussionen da- machen, der von einem geplanten sexuellen Missbrauch von überzeugt, dass der jetzt von uns gewählte Weg rechts- weiß und nichts dagegen tut. technisch gesehen der bessere ist. Im vorliegenden Ge- Wir erweitern § 138 StGB um den sexuellen Miss- setzentwurf wird der Grundtatbestand des sexuellen brauch von Kindern, die sexuelle Nötigung und Verge- Missbrauchs mit einem Strafrahmen von sechs Monaten waltigung und den sexuellen Missbrauch widerstandsun- bis zu zehn Jahren beibehalten. Künftig wird es aber keine (B) fähiger Personen, also vor allem behinderter Menschen. minderschweren Fälle des sexuellen Missbrauchs mehr (D) geben; diese Regelung streichen wir. Wir sind uns – das will ich auch nicht verhehlen – da- bei durchaus bewusst, dass wir uns in einem sehr sen- Neu eingeführt wurde dagegen in § 176 Abs. 3 Straf- siblen Bereich bewegen: Es gibt Fälle – gerade bei Miss- gesetzbuch der besonders schwere Fall des sexuellen brauch im familiären Umfeld –, in denen sich das Opfer Missbrauchs mit einer Freiheitsstrafe von mindestens ei- nicht nur vor dem Missbrauch fürchtet, sondern auch zu nem Jahr. dem Täter, zum Beispiel dem Stiefvater, der die Familie (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten finanziell unterstützt, eine persönliche Beziehung hat. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Deshalb will das Kind in der Regel nicht, dass der Stief- Damit erfassen wir vor allem die Fälle, die sich deutlich vater ins Gefängnis kommt; es will aber natürlich, dass vom Grundtatbestand des einfachen sexuellen Miss- der Missbrauch aufhört. Das heißt, das Kind will sich je- brauchs abheben, ohne dass aber schon die Voraussetzun- mandem anvertrauen, der nicht sofort zur Polizei gehen gen des schweren Missbrauchs nach § 176 a Strafgesetz- soll. buch erfüllt werden. Gemeint sind also diejenigen Fälle, Um diesem Spannungsfeld gerecht zu werden, haben bei denen es nach unserer Ansicht eine Regelungslücke wir die Anzeigepflicht eingeschränkt. Diejenigen, die gab. Dabei geht es darum, dass beischlafähnliche Hand- häufig Ansprechpartner sind, zum Beispiel Erziehungsbe- lungen stattfinden, ohne dass es zum Eindringen in den ratungsstellen, Psychologen und Ähnliche, haben wir von Körper kommt. Entsprechend erhöhen wir beim schweren der Anzeigepflicht ausgenommen, wenn sie sich ernsthaft sexuellen Missbrauch von Kindern, § 176 a, die heutige um die Verhinderung weiterer Taten bemühen. Aber, sie Mindeststrafe von einem Jahr auf zwei Jahre. müssen es auch ernsthaft tun. So einen Fall, wie er mir (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten letztes Wochenende geschildert wurde, dass Mitarbeiter des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) eines Jugendamtes fünf Jahre lang vom Missbrauch eines Kindes in einer Familie wussten, aber nichts unternom- men haben, darf es künftig nicht mehr geben. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Frau Ministerin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Röttgen? des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Wir haben eine weitere Einschränkung vorgenommen. Brigitte Zypries, Bundesministerin der Justiz: Natürlich wollen wir nicht, dass die ersten sexuellen Kon- takte junger Menschen untereinander zur Anzeige kom- Nein. 1724 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2003

Bundesministerin Brigitte Zypries (A) Der Vorteil dieser Regelung ist, dass die Ahndung von Wir haben hierüber intensiv diskutiert. Ich will mit mei- (C) Taten an der unteren Grenze der Strafbarkeit auch weiter- ner Einstellung dazu nicht hinter dem Berg halten: Wenn hin flexibel gehandhabt werden kann. Es wird deshalb das Gericht bei einem heranwachsenden Sexualtäter, der – für Einzelfälle – die Einstellung des Verfahrens ebenso nach Erwachsenenstrafrecht verurteilt wird, eine beson- zulässig bleiben wie der Strafbefehl, der dem Opfer das dere Gefährlichkeit für die Zukunft feststellt, dann sollte Auftreten in der Hauptverhandlung erspart. es auch die Sicherungsverwahrung anordnen können. Für diese Lösung spricht ein Argument der Praktiker: Aber man muss eines im Auge behalten: Wir reden von In den Fällen, in denen die Strafe zwischen sechs Mona- einer verschwindend geringen Anzahl von Fällen. 80 Pro- ten und einem Jahr tat- und schuldangemessen ist, müssen zent der Heranwachsenden, die Taten gegen die sexuelle die Gerichte auch in Zukunft nicht wegen eines minder- Selbstbestimmung oder das Leben begehen, werden nach schweren Falles verurteilen, wie es, würde sich Ihre Vor- Jugendstrafrecht verurteilt; also sprechen wir von 15 bis stellung durchsetzen, der Fall wäre. Dies – so sagen die 20 Prozent. Diese müssen weitere Voraussetzungen erfül- Praktiker – legitimiert die Täter, nach dem Motto: Es war len, denn sie müssen erhebliche Vortaten begangen haben ja gar nicht so schlimm; es ist ja nur ein minderschwerer und in Zukunft, auch über die Strafverbüßung hinaus, ge- Fall. Dieses Argument sollten wir berücksichtigen. fährlich sein. Es betrifft also nur eine ausgesprochen ge- ringe Zahl von Menschen. Allerdings sollten wir uns die- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) ser Option nicht begeben und uns bemühen, zu einer Zu einem weiteren Punkt, zu § 179 Strafgesetzbuch, vernünftigen Lösung zu kommen. Ich rege an, dass wir wo wir wie bei § 176 den Strafrahmen erhöhen: Der Bei- diesen Punkt in der Sachverständigenanhörung besonders schlaf mit einem widerstandsunfähigen behinderten intensiv diskutieren werden; darüber waren wir uns einig. Menschen ist künftig ebenso sanktioniert wie eine Verge- Meine Damen und Herren, ich möchte mich an dieser waltigung, nämlich mit zwei Jahren Mindeststrafe. Damit Stelle ganz herzlich bei den Abgeordneten Stünker und wird einem seit vielen Jahren bestehenden Begehr der Be- Montag bedanken, mit denen wir intensive Gespräche ge- hindertenverbände endlich Rechnung getragen. führt haben, ebenso wie mit den anderen Mitgliedern der (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Arbeitsgruppe, denen gleichfalls mein Dank gilt. Die Her- DIE GRÜNEN) ren werden sicherlich zu den von mir jetzt aus Zeitgrün- den nicht erwähnten Punkten dieses Gesetzes weitere Ein weiterer Schwerpunkt des Entwurfs nimmt die Ausführungen machen. technische Entwicklung auf. Es geht um die Strafbarkeit von Kinderpornographie im Internet. Dass dies nö- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ tig ist, zeigen die Fallzahlen. Im Jahr 1996 waren es DIE GRÜNEN) (B) 663 Fälle, im Jahr 2001 bereits 2 745. Deshalb erhöhen (D) wir die Höchststrafe für den Besitz und die Besitzver- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: schaffung von Kinderpornographie auf zwei Jahre statt bisher einem Jahr. Ich gebe das Wort dem Kollegen Norbert Röttgen zu einer Kurzintervention. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Dr. Norbert Röttgen (CDU/CSU): Die Zahl der Computerbesitzer und derjenigen, die über einen Internetzugang verfügen, nimmt stetig zu; dies Es wird eine kurze Kurzintervention sein. – Es ist Ihr begünstigt den Handel mit kinderpornographischen Ab- gutes Recht, Frau Ministerin, Zwischenfragen nicht zuzu- bildungen. Ich spreche hier insbesondere die Weitergabe lassen, wenngleich ich das immer bedaure, weil die De- von Kinderpornographie in den so genannten geschlosse- batte ja auch vom Dialog und davon lebt, dass man auf Ar- nen Benutzerräumen des Internets an. In diesen Fällen gumente eingeht. werden die Gerichte künftig nicht mehr lediglich auf den Ich habe mich an der Stelle gemeldet, an der Sie sich Besitz abstellen müssen und damit zu einem geringeren zu der Frage äußerten, ob sexueller Missbrauch von Kin- Strafrahmen kommen; vielmehr können sie die Verbrei- dern Vergehen oder Verbrechen sein soll, was mit unter- tung zugrunde legen. Insoweit haben wir den Tatbestand schiedlichen strafrechtlichen Konsequenzen verbunden erweitert. Damit kommen wir auch zu einem höheren wäre. Ich wollte eine Frage vor dem Hintergrund eines Strafmaß, denn bei der Weitergabe in geschlossenen Be- Interviews stellen, das Sie erst im letzten Monat, im De- nutzerräumen handelt es sich um nichts anderes als um zember 2002, im „Focus“ gegeben haben. Dort wurden eine Verbreitung. Wir versprechen uns davon auch, dass Sie nach bestehenden Lücken in der Verfolgung von Ta- es durch eine Reduzierung der Nachfrage zu einem Rück- ten gefragt; solche Lücken haben Sie festgestellt und ge- gang der Produktion kommt, denn man muss sich immer sagt, darum müsse es zu Änderungen kommen. Dann sind klarmachen: Jedem kinderpornographischen Foto ist ein Sie nach Beispielen für Änderungen und für nicht erfass- sexueller Missbrauch vorausgegangen. An dieser Stelle te Tatbestände gefragt worden. Ich zitiere jetzt: müssen wir auch über solche Regelungen eingreifen. Zypries: Dazu gehören die versuchte Anstiftung zu Meine Damen und Herren, es ist Ihnen sicherlich auf- sexuellen Handlungen mit Kindern und die Verab- gefallen, dass unser Entwurf die Frage der Sicherungs- redung von entsprechenden Taten. Wenn man das verwahrung für Heranwachsende nicht behandelt. strafbar machen will, muss man den sexuellen Miss- (Zuruf von der CDU/CSU: Richtig! Das ist brauch von Kindern im Gesetz grundsätzlich vom uns sehr aufgefallen!) Vergehen zum Verbrechen hochstufen. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2003 1725

Dr. Norbert Röttgen (A) Gerade dies ist mit Ihrem jetzigen Gesetzentwurf nicht er- Nr. 2 StPO die DNA-Analyse künftig bei allen Straftaten (C) folgt. Der Grundfall des sexuellen Missbrauchs bleibt gegen die sexuelle Selbstbestimmung erlaubt werden soll. Vergehen. Darum meine Frage an Sie: Haben Sie inner- Dies ist ein Schritt in die richtige Richtung, aber das wird halb dieser kurzen Zeit Ihre Meinung geändert oder konn- leider nicht konsequent zu Ende geführt, sodass es kaum ten Sie sich mit Ihrer Meinung nicht durchsetzen? Wirkung zeigen wird. Zum einen nimmt der Koalitions- entwurf bei den Anlasstaten lediglich die in den §§ 174 ff. StGB festgelegten Tatbestände auf. Andere Delikte, die Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: ebenfalls einen sexuellen Hintergrund haben können, zum Frau Ministerin, Sie können auf diese Kurzintervention Beispiel tätliche Sexualbeleidigungen und andere sexuelle antworten. Belästigungen, werden damit immer noch nicht erfasst. (Joachim Stünker [SPD]: Und Kaufhaus- Brigitte Zypries, Bundesministerin der Justiz: diebstahl!) Herr Abgeordneter, ich habe dargestellt, dass ich meine Zum anderen darf nach dem Koalitionsentwurf eine Auffassung geändert habe. Ich habe in meiner Rede aus- DNA-Analyse nur dann erfolgen, wenn die Sozialpro- drücklich erwähnt, dass ich das getan habe. Ich habe gnose ergibt, dass von dem Straftäter künftig Straftaten außerdem gesagt, dass wir dasselbe Regelungsziel errei- von erheblicher Bedeutung zu erwarten sind. chen, das ich erreichen wollte. (Joachim Stünker [SPD]: Das verlangt die Ich habe nicht erwähnt – das liegt an der Kürze der ver- Verfassung von uns!) fügbaren Zeit; es kann noch ergänzt werden –, dass wir die Damit fällt der Grundtatbestand des Kindesmissbrauchs, beiden Punkte, die sich daraus ergeben, dass wir die Tat der nach dem Koalitionsentwurf weiterhin lediglich als zum Verbrechen hochstufen, gesondert als Straftatbestand Vergehen und nicht als Verbrechen eingestuft wird, aus geregelt haben. diesem Raster heraus. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) NEN]: Das ist falsch!) Rot-Grün weigert sich damit nach wie vor, die DNA-Ana- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: lyse im Kampf gegen den sexuellen Missbrauch von Kin- Herr Kollege Götzer, nun haben Sie das Wort. dern konsequent einzusetzen. (Beifall bei der CDU/CSU) Dr. Wolfgang Götzer (CDU/CSU): (B) Unser Entwurf war insofern wesentlich umfassender und (D) Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! erfasste alle Formen von sexuellen Vergehen. Jetzt ist der mit Spannung erwartete Entwurf der Regie- Positiv festzustellen ist zunächst auch, dass der Koali- rungskoalition zum Sexualstrafrecht also endlich da. Man tionsentwurf – Frau Ministerin, Sie haben es ausführlich ist versucht zu sagen: Allein schon die Tatsache, dass sich dargestellt – die Nichtanzeige von bestimmten Sexual- jetzt endlich etwas tut, ist ein Fortschritt, nachdem sich delikten unter Strafe stellt. Rot-Grün bisher zu keinen nennenswerten Maßnahmen durchringen konnte und beispielsweise den Gesetzent- (Joachim Stünker [SPD]: Das haben Sie ganz wurf des Bundesrats dazu in der 14. Wahlperiode abge- vergessen!) lehnt hatte. Aber jetzt hat man es sehr eilig. Erst vor zwei Diese an sich begrüßenswerte Neuerung wird aber durch Tagen wurde der Entwurf vorgestellt und heute behandeln die ebenfalls geplante Änderung des § 139 StGB wieder wir ihn bereits in erster Lesung. so weit eingeschränkt, dass sie praktisch kaum Wirkung Zum wesentlichen Inhalt des rot-grünen Gesetzent- zeigen wird. wurfs: Wenn man die Übersicht auf den ersten Seiten an- (Joachim Stünker [SPD]: Das haben Sie nicht sieht, gewinnt man den Eindruck: Hier tut sich wirklich et- verstanden!) was. In der Tat fallen die Strafverschärfungen im Bereich des Sexualstrafrechts, die der Entwurf der Koalition vor- – Ich glaube, die Verfasser haben das nicht verstanden oder sieht, grundsätzlich positiv auf. Hier nähert sich Rot-Grün nicht gewollt. – Die von Rot-Grün geplante Änderung des zumindest in Teilen den Positionen der Union an bzw. § 139 StGB sieht nämlich vor, die Nichtanzeige von übernimmt sie sogar. Straftaten für eine Vielzahl von Personen- oder Berufs- gruppen wie Ehe-, Familien-, Erziehungs- oder Jugend- So folgt der Koalitionsentwurf dem Vorschlag der berater straflos zu stellen. Das sind aber gerade die Grup- Union, einen spezifischen Tatbestand „Anbieten von pen, die etwas wissen können und damit zur Aufklärung Kindern für sexuelle Handlungen“ zu schaffen. Denselben von Sexualdelikten beitragen können und müssten. Vorschlag hatte bereits ein bayerischer Gesetzentwurf im Jahr 1998 enthalten. Ein ganz schwerer Mangel des Koalitionsentwurfs ist, dass der Grundfall des sexuellen Missbrauchs von Kin- Dass die Kinderpornographie ein eigener Straftatbe- dern, also der Kinderschändung, weiterhin lediglich als stand mit höheren Strafen wird, findet unsere Zustim- Vergehen und nicht als Verbrechen eingestuft wird. Ver- mung. ehrte Kolleginnen und Kollegen, es kann doch nicht sein, Wir begrüßen auch grundsätzlich, dass nach dem Ko- dass der Kindesmissbrauch rechtlich auf dieselbe Stufe alitionsentwurf gemäß dem neu gefassten § 81 g Abs. 1 wie etwa Hausfriedensbruch oder Beleidigung gestellt 1726 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2003

Dr. Wolfgang Götzer (A) wird! Der derzeitige Strafrahmen für sexuellen Miss- Dass Rot-Grün weiterhin auf der bisherigen Regelung (C) brauch von Kindern entspricht lediglich dem für Woh- beharrt, zeigt, dass der Täterschutz offensichtlich noch nungseinbruchdiebstahl. immer Vorrang vor dem Opferschutz hat. (Jörg van Essen [FDP]: Ja, das ist auch (Hans-Joachim Hacker [SPD]: Herr Götzer, daneben!) was soll denn das?) Die im Koalitionsentwurf vorgesehene Schaffung ei- – Das ist leider die Wahrheit. nes schweren Falls des Kindesmissbrauchs genügt hierbei (Joachim Stünker [SPD]: Das ist doch unter nicht. Zwar führt dies zu einer Strafverschärfung – das ist Ihrem Niveau, Herr Götzer!) unbestritten –, aber gemäß § 12 Abs. 3 StGB führt das eben nicht zur Einstufung als Verbrechen mit den ent- Besonders deutlich zeigt sich dies vor allem aber da- sprechenden Konsequenzen. Der Entwurf der Unions- ran, dass im Gesetzentwurf der Regierungskoalition die fraktion vermeidet diese Falschgewichtungen, indem er nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung die Grundfälle des Kindesmissbrauchs konsequent als wieder nicht enthalten ist. Liebe Kolleginnen und Kolle- Verbrechen ausgestaltet. gen, auch weiterhin hält die Regierung also an der von ihr in der letzten Wahlperiode halbherzig beschlossenen Vor- Verehrte Frau Justizministerin, Sie hatten sich erfreu- behaltslösung fest. Damit wird es nach dem Willen dieser licherweise im Vorfeld mehrfach dafür ausgesprochen, Regierung auch künftig kein wirksames Mittel geben, ei- den Kindesmissbrauch als Verbrechen auszugestalten. Es nen Täter, dessen Gefährlichkeit erst im Strafvollzug zu- ist sehr bedauerlich, dass Sie sich damit in der Koalition tage tritt, in Sicherungsverwahrung zu nehmen. offensichtlich nicht durchsetzen konnten. (Beifall bei der CDU/CSU) Ein Punkt in diesem Gesetzentwurf, der von Rot-Grün in der Hoffnung auf Wirkung in der Öffentlichkeit als Ver- Verehrte Frau Ministerin, Sie haben gesagt, das beträfe schärfung des Sexualstrafrechts präsentiert wird, ist völ- nur wenige Fälle. Das ist doch ein etwas befremdendes lig unverständlich. Argument, wenn es um Menschenleben geht. In der Tat hätten Menschenleben gerettet werden können, wenn es (Zuruf des Abg. Hans-Christian Ströbele wirksame Regelungen zur Wegschließung von solchen [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) hochgefährlichen Straftätern gegeben hätte. – Herr Kollege Ströbele, Sie sagen selber, dass das ver- (Beifall bei der CDU/CSU – Hans-Christian kehrt ist, wenn ich Sie richtig verstanden habe. Das ist Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das auch unsere Einschätzung. Wenn man das als eine Ver- ist die Unwahrheit, Herr Kollege!) schärfung des Sexualstrafrechts verkauft, dann ist das (B) eine Mogelpackung. Es ist hoch an der Zeit, dass diese Lücke endlich beseitigt (D) wird. (Beifall bei der CDU/CSU – Joachim Stünker [SPD]: Na, na!) Lassen Sie mich zum Schluss kommen. Insgesamt zeigt also der heute in erster Lesung diskutierte Entwurf, Ich nenne ein Beispiel: § 176 a Abs. 1 Nr. 4 StGB soll dass sich die Koalition in einigen Fragen unserer Position gestrichen werden. Damit würde der Täter, der wiederholt angenähert hat. In vielen und wesentlichen Punkten aber Kinder schändet, künftig nicht mehr als Verbrecher, son- verweigert sie sich – wohl auf Druck der Grünen – weiter- dern nur noch wegen eines Vergehens bestraft werden. hin den zum Schutz der Kinder vor Sexualverbrechen not- wendigen Maßnahmen. Wir geben aber die Hoffnung (Joachim Stünker [SPD]: Das stimmt doch gar nicht auf, dass Sie, verehrte Frau Ministerin, sich im Ver- nicht!) lauf der Beratungen doch noch gegen die Bremser in Ih- Bei einem so zentralen Punkt des Vorhabens schwächt rer Koalition durchsetzen können. Rot-Grün den Strafrechtsschutz von Kindern also sogar Verehrte Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, noch ab. stimmen Sie dem Gesetzentwurf der CDU/CSU zu – im (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Interesse eines bestmöglichen Schutzes der Bevölkerung Sie haben den Entwurf nicht gelesen!) und vor allem unserer Kinder vor Sexualverbrechen. – Ich habe den Entwurf sehr genau gelesen, Herr Kollege. Ich bedanke mich. Lesen Sie es nach: Sie haben den Kindesmissbrauch nicht (Beifall bei der CDU/CSU) hochgestuft. Das ist ein schwerer Mangel in diesem Ent- wurf. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Leider unterlässt es der Entwurf der Regierung auch, die Telekommunikationsüberwachung nach § 100 a StPO Nächster Redner ist der Kollege Jerzy Montag, Bünd- auf alle Fälle des sexuellen Missbrauchs von Kindern aus- nis 90/Die Grünen. zudehnen. Wir wissen, besonders bei der Anbahnung von Kindesmissbrauch werden immer häufiger Telekommuni- Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): kationsmittel eingesetzt. Auf die Verabredung im Internet folgt in der Regel ein Telefonat. Wir brauchen also die Sehr verehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Überwachung der Telekommunikation, weil sie sich als ef- Herren! Lieber Kollege Götzer, auch wir geben die Hoff- fizientes Mittel im Kampf gegen Straftaten erwiesen hat. nung nicht auf, dass wir bei der Debatte über das Sexual- Wir dürfen sie gerade in diesem Bereich nicht einschränken. strafrecht, also bei den weiteren Beratungen dieses Ge- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2003 1727

Jerzy Montag (A) setzeswerks, zu einer rationalen und an den Interessen der Widersprüche zwischen den Strafnormen. Der Gesetzent- (C) Opfer ausgerichteten Diskussion kommen werden, und wurf ist verantwortungsbewusst, denn er berücksichtigt zwar – ich sage das ganz klar und deutlich – auch mit der die berechtigten Interessen der Opfer. Opposition und mit Ihnen. Ich will an dieser Stelle nicht eine fruchtlose und end- Es gab erstaunlich wenig Polemik, wenn Sie sich auch lose Debatte über die generalpräventive Wirkung des nicht jede verkneifen konnten. Wenn ich mir diese weg- Strafrechts führen. Es ist klar, dass einzelfallbezogen die denke, glaube ich aufgrund vieler Punkte – dies ist ein generalpräventive Wirkung gering ist. Trotzdem hat das gutes Zeichen für die Arbeit im Rechtssauschuss und für Strafgesetz generalpräventive Wirkungen und im Sinne den weiteren Gesetzgebungsgang –, dass wir uns viel- einer Normsetzung, die fragt, was wir unter Strafe stellen leicht doch auf ein gemeinsames Gesetz werden ver- wollen und welches Verhalten wir für strafwürdig halten, ständigen können, insbesondere dann, wenn Sie es sich in durchaus eine Bedeutung. Deswegen unterstützen wir Zukunft verkneifen, populistischen Neigungen nachzu- auch die Gedanken, die dahin gehen, dass sich die Ver- geben, werflichkeit der Tat auch im Strafmaß ausdrücken muss. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Aus diesen Gründen haben wir auch zugestimmt, dass und bei der SPD) man beim sexuellen Missbrauch von Kindern und anderen vergleichbaren Vorschriften dieses Abschnittes die Geld- also zum Beispiel zu glauben, Sie könnten durch Strafver- strafe gestrichen hat. Denn die Geldstrafe ist ein Signal schärfungen in Einzelfällen mögliche Opfer tatsächlich für eine etwaige Bagatelltat. davor schützen, Opfer zu werden. So simpel und einfach läuft Strafgesetzgebung nicht. Man kann Opferschutz (Beifall bei Abgeordneten der SPD) nicht ausschließlich über höhere Strafen betreiben. Diese Abschaffung halten wir für richtig und haben wir (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN unterstützt. In Richtung FDP sage ich: Dies ist keine heiße und bei der SPD – Dr. Wolfgang Götzer [CDU/ Luft, sondern hier geht es wirklich um die Frage, ob wir CSU]: Wer sagt das?) in der Öffentlichkeit und gegenüber der Gesellschaft sa- gen: Kindesmissbrauch ist eine Straftat, die man auch mit – Das sagen Sie, indem Sie an erster Stelle und sich nur einer Geldstrafe aus der Welt schaffen kann. – Wir halten darauf beziehend an den Vorschlägen der Koalition dies für nicht richtig. Darüber hinaus geht es uns auch da- geißeln, dass wir mit den Strafverschärfungen nicht weit rum, zu zeigen, dass die Herstellung und Verbreitung von genug gehen würden. Ich werde Ihnen dies anhand des Kinderpornographie – gerade durch das Internet geschieht § 176 des Strafgesetzbuches und den guten Gründen, das in hohem Maße – keine Bagatelle ist. warum wir hier nicht zu einem Verbrechenstatbestand ge- (B) kommen sind, noch zu beweisen versuchen. Wir sind dafür, auch die Zahl der minderschweren (D) Fälle, wenn es um sexuellen Missbrauch geht, zu redu- Ich freue mich ganz besonders – die Frau Ministerin zieren, Zypries hat darauf hingewiesen –, dass wir heute nicht nur über den Gesetzentwurf der Koalition reden, sondern dass (Zuruf von der CDU/CSU: Und zu streichen!) wir auch den Aktionsplan zum Schutz von Kindern und weil das Opferschutz bedeutet. Wir haben die minder- Jugendlichen vor sexuellem Missbrauch und Ausbeutung schweren Fälle aus einigen Grundtatbeständen herausge- mitdiskutieren können. Ich danke dafür ganz ausdrück- nommen, und zwar ganz bewusst, weil wir der Meinung lich. Dies ist ein Beweis dafür, dass die Koalition beim sind, dass sich die Opfer, wenn sie mit den Straftaten, die Schutz von Kindern und Jugendlichen vor sexueller ihnen angetan werden, schon in der Öffentlichkeit stehen, Gewalt eben nicht ausschließlich ans Strafrecht denkt, nicht auch noch damit auseinander setzen müssen, dass sondern auch an viel wirksamere Mittel, die Kinder und das, was ihnen geschehen ist, nur ein minderschwerer Fall Jugendliche tatsächlich schützen können. und folglich nicht so schlimm sei. Die Opfer empfinden (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN es als eine ganz besonders schlimme Tat gegen sie selbst. und bei der SPD sowie des Abg. Jörg van Essen Wir fordern Strafen, die, ganz besonders bei Straftaten [FDP]) im sozialen Nahraum, in der Konsequenz die Opfer nicht Aufklärung, Sensibilisierung der Gesellschaft, Arbeit verängstigen und zum Schweigen bringen. Das ist dann mit Jugendlichen, Schaffen von Anlaufstellen, von Bera- der Fall – das übersehen Sie von der Opposition –, wenn tungsstellen und – das sage ich ganz bewusst – auch eine Sie schon den Grundtatbestand des sexuellen Miss- gesellschaftliche Ächtung des sexuellen Missbrauchs sind brauchs zu einem Verbrechen hochstilisieren. Daraus er- mindestens genauso gute Elemente wie das Mittel des gibt sich nämlich als Folge, dass keine flexible Antwort Strafrechts, wobei ich nicht sage, dass das Strafrecht keine der Justiz auf bestimmte Straftaten möglich ist. Rolle spielt. Es muss aber eingebettet werden. Es muss (Axel E. Fischer [Karlsruhe-Land] [CDU/ auf Rationalität abgeklopft werden. Das haben wir mit CSU]: „Stilisieren“? Das ist unglaublich! Wei- diesem Gesetzentwurf versucht. terer Zuruf von der CDU/CSU: Deswegen wol- len wir die minderschweren Fälle lassen!) Dieser Gesetzentwurf, meine Damen und Herren von der Opposition, ist rational. Er sieht Strafverschärfungen – Das habe ich verstanden. Aber auch durch Ihre Einwürfe nur da vor, wo sie wirklich erforderlich sind, und auch hier wird Ihre Argumentation nicht besser. Nehmen Sie zur nur in einem angemessenen Umfang. Er ist durchdacht Kenntnis, Herr Götzer: Das, was Sie in Ihrem Beitrag als ei- und schließt Strafbarkeitslücken, er beseitigt bestehende nen Fall der „Kinderschändung“, als sexuellen Missbrauch 1728 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2003

Jerzy Montag (A) von Kindern bezeichnet haben, umfasst im Straftatbe- Gutes als Schlechtes tun. Damit erreichen wir nämlich, (C) stand viel mehr als das, was Sie damit zum Ausdruck brin- dass sich die Opfer, Kinder, an diese Gruppen wenden gen wollen und was ich mit Ihnen teile. Es gibt Fälle mit können und dass ein Vertrauensverhältnis geschaffen großem Altersunterschied, bei denen Erwachsene, meis- wird. Wir wollen einen Raum dafür schaffen, dass Opfer- tens Männer, kleine Kinder sexuell in einem Ausmaß miss- schutz auch tatsächlich ausgeübt werden kann. brauchen, ohne dass es zu einer Vergewaltigung kommt, ohne ein Eindringen in den Körper, das in hohem Maße In der Redezeit, die mir verbleibt, möchte ich noch strafwürdig ist. Der sexuelle Missbrauch von Kindern einen weiteren Punkt ansprechen. Es geht um den Opfer- nach § 176 StGB umfasst allerdings auch das Petting ei- schutz für behinderte und widerstandsunfähige Perso- ner 15-Jährigen mit einem 13-Jährigen. Wir halten es für nen. Nach jahrelangen Diskussionen, in denen das offen- falsch, einen solchen Sachverhalt, nämlich die Sexualer- sichtlich nicht gelungen ist, haben wir jetzt endlich einen fahrung von Jugendlichen diesseits und jenseits der Gesetzentwurf vorlegen können, in dem der Unterschied zwischen der Vergewaltigung auf der einen Seite und den Schwelle des 14. Lebensjahres, pauschal zu einem Ver- Beischlafhandlungen mit widerstandsunfähigen Personen brechen zu stigmatisieren. auf der anderen Seite vom Strafgesetz auf die gleiche (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Ebene gestellt wird. und bei der SPD – Dr. Wolfgang Götzer [CDU/ Es gibt Unterschiede: Bei der Vergewaltigung gibt es die CSU]: Dafür haben wir doch den minderschwe- Gewaltfrage, die es bei den Beischlafhandlungen mit wi- ren Fall, Herr Kollege!) derstandsunfähigen Personen nicht gibt. Auf der anderen Deswegen sage ich Ihnen: Wenn Sie sich von Ihren Seite gibt es dafür ein höheres Maß an Verwerflichkeit, weil Vorbehalten lösen und versuchen, den Text vernünftig zu eine entsprechende Situation ausgenutzt wird. Das Straf- lesen, dann werden Sie merken, dass das, was Sie haben gesetzbuch kennt so etwas zum Beispiel in § 243 Abs. 1 wollen, in der Lösung, die wir gefunden haben, enthalten Nr. 6, wonach der Diebstahl bei widerstandsunfähigen, und in dem Entwurf der Koalition weitestgehend erfüllt hilflosen Personen sehr wohl straferschwerend wirkt. ist. Wir werden darüber im Einzelnen noch im Ausschuss (Jörg van Essen [FDP]: So ist es, genau!) zu sprechen haben. Sie werden feststellen: Wir liegen in der Sache nicht so weit auseinander, wenn Sie nur den Auf der einen Seite steht also die Gewaltfrage und auf der Versuch aufgeben, in der Öffentlichkeit mit solchen For- anderen Seite steht die Verwerflichkeit der Ausnutzung ei- derungen nach Verbrechenstatbeständen und mit Begrif- ner hilflosen Lage als ein straferschwerendes Moment. fen wie „Kinderschändung“ Punkte machen zu wollen. Deswegen sagen wir, dass die Vergewaltigung nach § 177 Das ist der Punkt. Strafgesetzbuch und der Beischlaf mit widerstandsun- fähigen Personen gleich behandelt werden sollen. Hier (B) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN soll der gleiche Strafrahmen gelten. (D) und bei der SPD) Die DNA-Analyse ist schon angesprochen worden. Diskutieren Sie mit uns über die Sache. Dann werden Sie Dazu möchte ich nur ein Wort sagen: Es ist nicht so, dass mit uns zu einem gemeinsamen Ergebnis kommen kön- sich die Anlasstat bei einer negativen Prognose auf der glei- nen. chen Ebene wiederholen kann. Die Anlasstat kann jedes Ich komme zum § 138 StGB und zur Nichtanzeige ge- Vergehen gegen die sexuelle Selbstbestimmung sein. Bei planter Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung. der Frage der Negativprognose muss es sich um erhebliche Dies wird jetzt von uns unter Strafe gestellt. Wir wollen Straftaten handeln. Sie gehen fehl, wenn Sie sagen, dass ein – Frau Ministerin hat darauf hingewiesen –, dass diejeni- sexueller Missbrauch von Kindern keine schwerwiegende gen zum Beispiel aus der Nachbarschaft, die auf die eine Straftat ist. Natürlich ist sie das im Sinne des § 81 g Straf- oder andere Weise von einem sexuellen Missbrauch von prozessordnung. Daran haben wir nichts geändert. Kindern erfahren und einfach wegschauen wollen, dies nicht können. Sie werden nicht mehr sagen können: Was Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: interessiert mich das? Das bringt mir mit der Justiz nur Ärger ein. Damit will ich nichts zu tun haben. – Diese Än- Herr Kollege Montag, Ihre Redezeit ist schon deutlich derung ist ein Signal, das ich für richtig halte. Dem kön- überschritten. nen wir, wie ich glaube, folgen. Wir haben, damit das Gesetz vernünftig und rational Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): ist, aber auch die entsprechenden Schranken eingesetzt. Ich will nur ein Letztes sagen: Über die Frage der Wenn Sie das Gesetz genau lesen, dann werden Sie nichts Sicherungsverwahrung von Heranwachsenden werden dagegen sagen können, dass wir bestimmte Berufsgrup- wir uns im Rechtsausschuss im Einzelnen noch unterhal- pen von einer strafbewehrten Anzeigepflicht ausgenom- ten müssen. Wir werden Ihnen unsere Bedenken dazu vor- men haben. Wir haben diese Gruppen aber nicht von einer tragen. Im Übrigen denke ich, dass der Gesetzentwurf der Beistandspflicht ausgenommen. Sie bleiben verpflichtet, Koalition die richtige Antwort auf die Probleme, die im sich aus ihrem Arbeitsfeld heraus darum zu bemühen, und Sexualstrafrecht bestehen, ist. Deswegen bitte ich um Zu- zwar effektvoll, weiteren sexuellen Missbrauch zu ver- stimmung zu unserem Entwurf. hindern. Sie sollen dazu beitragen, dass sich solche Danke. Straftaten nicht fortsetzen. Wir haben sie mit gutem Grund aus der strafbewährten Anzeigepflicht herausge- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN nommen, weil wir der Meinung sind, dass wir damit mehr und bei der SPD) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2003 1729

(A) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: getragen werden, dann müssen wir möglicherweise zu ei- (C) ner anderen Antwort kommen, als das vor zwei oder drei Nächster Redner ist der Kollege Jörg van Essen, FDP- Jahren der Fall war. Fraktion. Dazu tragen natürlich auch technische Entwicklungen bei. Sie, Frau Ministerin, haben vorhin ein Beispiel ge- Jörg van Essen (FDP): nannt. Dadurch, dass immer mehr Menschen Zugang zum Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Internet haben, ergibt sich ganz automatisch, dass zum Herr Kollege Montag, wir führen ja die erste Lesung Beispiel Kinderpornographie im Internet einen völlig an- durch, weshalb es nicht um die Frage der Zustimmung deren Stellenwert hat, als das noch vor mehreren Jahren der zum Gesetzentwurf, sondern um eine erste Bewertung Fall war. Darauf gehört eine strafrechtliche Antwort. Wenn dessen, was Sie vorgelegt haben, geht. wir sehen, dass zu diesem Punkt im Strafrecht Lücken sind, muss selbstverständlich dafür gesorgt werden, dass diese Vor einigen Wochen konnten wir in einem Hamburger Lücken geschlossen werden. Wir sind dazu bereit. Nachrichtenmagazin die Geschichte lesen, dass ein Kunsterzieher in einer niedersächsischen Stadt offen- Im Übrigen erleben wir, dass in einem Bereich große sichtlich über 30 Jahre hinweg männliche Jugendliche se- technische Fortschritte gemacht werden, nämlich bei der xuell missbraucht hatte, ohne dass diese Tatsache in den Auswertung von Gendaten. Immer wieder können wir le- 30 Jahren irgendwann einmal zur Sprache gekommen und sen, dass beispielsweise Morde, die vor vielen Jahren ge- diesem Täter das Handwerk gelegt worden ist. Erst vor schehen sind, durch die Fortschritte in der Gentechnik wenigen Monaten ist es durch Jugendliche, die miss- aufgeklärt werden. Das ist gut so. Deshalb sind wir auch braucht worden sind, zur Anzeige gekommen. im Bereich der stärkeren Nutzung von Gentechnik offen für Gespräche. Das macht Folgendes deutlich: Der Schwerpunkt der Überlegungen bezüglich der notwendigen Verhinderung Ich will mich nicht zum Anwalt von Tätern machen. von sexuellem Missbrauch muss darin liegen, Kinder und Wer weiß, dass ich von Haus aus Oberstaatsanwalt bin, Jugendliche, die Opfer sind, in ihrer Bereitschaft zu stär- dem ist klar, dass ich meinen Beruf verfehlt hätte, wenn ken, diese Taten anzuzeigen und sich dagegen zu wehren. das so wäre. (Beifall bei der FDP, der SPD, der CDU/CSU (Joachim Stünker [SPD]: Sie sind und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) unverdächtig!) Ich habe bereits in einer Debatte, die wir dazu vor einigen Trotzdem will ich in dieser ersten Debatte ein paar Fragen Monaten geführt haben, erklärt, dass für uns Liberale ein- in die Diskussion stellen. Der Strafrahmen soll erweitert (B) deutig dort der Schwerpunkt liegt. werden. Einen Punkt, den Sie angesprochen haben, halte (D) ich tatsächlich für nachdenkenswert, Herr Montag, näm- Es hat mich gefreut, dass Sie, Frau Ministerin, aber lich dass eine Geldstrafe kleinere und mittlere Krimina- auch einige meiner Vorredner dies heute angesprochen lität signalisiert. Wir besitzen durchaus das Instrumenta- haben. Ich habe es bedauert, dass der Aspekt, Kinder stär- rium, auch kleineren Fällen gerecht zu werden. Deshalb ker zu machen, beim Kollegen Götzer von der CDU/CSU finde ich es nachdenkenswert, in diesem Bereich auf leider überhaupt keine Rolle gespielt hat. Geldstrafe zu verzichten, weil das ein falsches Signal (Dr. Wolfgang Götzer [CDU/CSU]: Doch!) wäre. Ich bin aber sicher – das habe ich auch Ihrem Beifall ent- Wenn wir aber den Strafrahmen erweitern, wenn wir nommen –, dass wir in diesem Punkt nicht auseinander schärfere Strafen, so wie sie in der Bevölkerung nach sind. Sexualstraftaten immer gefordert werden, in das Gesetz hineinschreiben, dann müssen wir dazu sagen, dass wir (Joachim Stünker [SPD]: Sehr gut!) als Gesetzgeber keinerlei Möglichkeiten haben, dafür zu Deshalb sollten wir das praktizieren, was wir in diesen sorgen, dass diese schärferen Strafen verhängt werden. Fragen in der Vergangenheit aus gutem Grunde praktiziert Das ist eine Entscheidung des Richters. Wir sollten nicht haben: sachlich und fair zu prüfen und das umzusetzen, den Eindruck erwecken, dass wir für schärfere Strafen was wirklich zu einem Fortschritt führt. sorgen könnten. Wofür wir sorgen und wofür wir das Be- wusstsein schärfen können, ist, dass Richter diese Ange- (Beifall des Abg. Joachim Stünker [SPD]) legenheit nicht als Bagatelle ansehen. Ein Beispiel dafür Ich will für die FDP deutlich signalisieren, dass es auch habe ich gerade genannt. Herr Montag hat es ausgeführt. unser Interesse ist, dies zu tun. Sie werden unsere Unter- Ich brauche es nicht noch einmal zu tun. stützung für alle Maßnahmen bekommen, bei denen es Ich habe aber das Gefühl – auch das will ich in dieser wirklich einen Fortschritt in unserem Bemühen gibt, se- Debatte ansprechen –, dass im Regelfall Gott sei Dank im xuellen Missbrauch von Kindern so weit wie möglich zu Bereich des sexuellen Missbrauchs von Kindern harte verhindern. Strafen verhängt werden. Aus diesem Grunde werden wir sorgfältig prüfen, ob wir tatsächlich zu einer Verbesserung Ich weiß, dass wir die Fragen, die auch heute wieder der Situation kommen. zur Diskussion stehen, in den vergangenen Jahren sehr häufig diskutiert haben. Trotzdem sage ich: Wir sind in Ich möchte noch einen anderen Punkt mit einem Fra- der Verpflichtung, alle aufgeworfenen Fragen immer wie- gezeichen versehen. Ich möchte wie die Ministerin, die der neu zu prüfen. Wenn neue vernünftige Argumente vor- Koalition und die gesamte Opposition, dass Menschen 1730 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2003

Jörg van Essen (A) Straftaten früher anzeigen. Ich möchte sie dazu ermuti- Grund? Das ist kein guter parlamentarischer Stil, generell (C) gen, dies zu tun. Ob wir das allerdings mit einem Straftat- nicht und schon gar nicht in diesen speziellen Fragen. bestand erreichen, möchte ich als fraglich ansehen. Die (Beifall bei der CDU/CSU – Hans-Christian Menschen sind natürlich in einer Zwickmühle. Sagen sie Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wie zu früh etwas, wird möglicherweise der strafrechtliche man es macht, ist es verkehrt!) Vorwurf der falschen Verdächtigung erhoben. Auf der anderen Seite besteht die Gefahr, dass sie etwas nicht an- Die Bekämpfung des sexuellen Missbrauchs in sämt- zeigen. Ob hier aber das Schwert des Strafrechts richtig lichen Formen ist uns doch allen ein gemeinsames Anlie- ist, erscheint mir fraglich. gen. Daher ist ein sachlicher Austausch im Interesse eines breiten politischen und gesellschaftlichen Konsenses zu Wir sind für die Argumente offen, die in der Diskussion empfehlen. vorgebracht werden. Der bisherigen Debatte habe ich ent- nommen, dass wir alle den Wunsch haben, auf dem Weg, Der Entwurf ist in zu vielen Punkten täterorientiert und Kinder besser zu schützen, ein Stück voranzukommen. zu wenig opferorientiert. Wir werden dabei helfen. (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE Vielen Dank. GRÜNEN]: Welcher?) Warum fällt es Ihnen so schwer, die Grundtatbestände des (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten sexuellen Missbrauchs nach § 176 Abs. 1 und 2 StGB von der SPD, der CDU/CSU und des BÜNDNIS- Kindern als Verbrechen einzustufen? Durch diese Straf- SES 90/DIE GRÜNEN) schärfung würde zugleich erreicht, dass für diese Form des Kindesmissbrauchs bereits die Verabredung und der Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Anstiftungsversuch unter Strafe gestellt werden könnten. Ihre Erklärungsversuche, sehr geehrter Herr Montag, kön- Nächste Rednerin ist die Kollegin Michaela Noll, nen wir an dieser Stelle nicht nachvollziehen. Der vorlie- CDU/CSU-Fraktion. gende Entwurf stellt in diesem Punkt nur einen Kompro- miss dar. Auf die generelle Anhebung wurde verzichtet. Michaela Noll (CDU/CSU): Liebe Kolleginnen und Kollegen, eines der wichtigsten Frau Präsidentin! Liebe Kollegen und Kolleginnen! Instrumente in unserem Strafrecht ist die Sicherungsver- Der Umgang mit Sexualität stellt jede Gesellschaft auf die wahrung. Probe. Umgang mit Sexualstraftaten ist die Zerreißprobe. (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE „Wegschließen, und zwar für immer“ lautet ein Zitat ei- GRÜNEN]: Was? – Jerzy Montag [BÜND- (B) nes Juristen: von keinem Geringerem als dem Bundes- NIS 90/DIE GRÜNEN]: Völlig abwegig! – (D) kanzler Schröder. Eine umstrittene Äußerung – unsach- Joachim Stünker [SPD]: Das tut weh!) lich, aber medienwirksam. Warum hat die Ministerin in der Plenardebatte am 14. No- Was wollen wir eigentlich? – Wir wollen eine von Hu- vember 2002 erklärt, dass sie es für richtig halte, die Si- manität und christlichen Werten geprägte Gesellschaft, cherungsverwahrung auch für Heranwachsende vorzuse- die den Straftäter menschlich behandelt. Insoweit muss hen? Frau Ministerin, Sie haben doch erklärt, dass es sie zwingend auch den Sexualstraftäter menschlich be- besonders gefährliche frühkriminelle Haupttäter gebe und handeln. Wir haben aber alle die Erfahrung machen müs- dass wir für solche Fälle eine Sicherungsverwahrung sen, dass gerade Sexualstraftäter immer wieder rückfällig für Heranwachsende vorsehen sollten. Was tun Sie denn wurden und neue Opfer schufen. mit diesen tickenden Zeitbomben? Das wird im vorlie- genden Entwurf mit keinem Wort mehr erwähnt. Wie sieht Liebe Kolleginnen und Kollegen, nicht an ihren Wor- es denn nun aus? Was ist denn Ihre Meinung dazu? Steht ten, sondern an ihren Taten sollt ihr sie erkennen. Bis vor- die SPD nach wie vor auf dem Standpunkt, die Siche- gestern tat sich gar nichts. Aber das hat sich buchstäblich rungsverwahrung für Heranwachsende sei notwendig? über Nacht geändert. Liegt es nicht nahe, dass dieser Punkt um des Koalitions- (Jörg van Essen [FDP]: Die christlich-liberale friedens willen geopfert wurde? Koalition hat enorme Fortschritte gemacht!) (Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: So ist es!) Der Entwurf der Koalitionsfraktionen liegt nun vor. In Frau Ministerin, in Ihrem Interview in der „Bild am einzelnen Vorschlägen finden wir von der Union uns wie- Sonntag“ haben Sie betont, Ihnen sei es ein besonderes der. Das gibt Hoffnung. Anliegen, sexuellen Missbrauch an Frauen, Kindern und Die Vorgehensweise allerdings spricht nicht dafür, dass Behinderten zu bekämpfen. Sie tatsächlich an einer konstruktiven Zusammenarbeit (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE mit der Union interessiert sind. Wie lässt es sich sonst er- GRÜNEN]: Und an Jungen!) klären, dass der Gesetzentwurf erst dpa vorgelegt wurde? Dem können wir nur zustimmen. Aber wir sollten nicht (Joachim Stünker [SPD]: Stimmt doch gar vergessen, dass die frühere CDU/CSU-geführte Bundes- nicht!) regierung bereits 1998 ein umfassendes Strafrechtsän- derungsgesetz verabschiedet hat. Nahe liegend wäre es, zu vermuten, dass es Ihnen auch hier nicht um die Sache, sondern nur um den Applaus in (Joachim Stünker [SPD]: Bruch haben Sie der Öffentlichkeit geht. Ist vielleicht der 2. Februar der gemacht!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2003 1731

Michaela Noll (A) Darin ging es uns um zwei zentrale Punkte: Der eine be- an diesem Punkt bei Ihnen vermisse, ist, dass auf den Ge- (C) traf den Schutz von Behinderten vor Kriminalität, der danken der Vorbeugung oder der Prävention eingegan- andere die Erweiterung der Sicherungsverwahrung. Das gen wird. Dabei ist gerade hier der Aspekt, Kinder stark heißt, wir haben kontinuierlich für den Schutz der zu machen, von grundlegender Bedeutung. Wir sind hier Schwächeren in unserer Gesellschaft gearbeitet. auf Ihrer Seite, Herr Kollege van Essen. Es ist wichtig, dass sich Kinder wehren, sich offenbaren und bereits bei Was wollen Sie mit der Erweiterung der Ausnahme- den ersten Versuchen offensiv damit umgehen, also selbst regelung des § 139 Abs. 3 Satz 2 StGB wirklich schützen? aktiv werden, um sich zu schützen. Jeder Kriminalbeamte Warum reicht Ihnen ein „ernsthaftes Bemühen“, die Tat ab- und Psychologe kann Ihnen bestätigen, dass es wichtig ist, zuwenden, aus, um von einer Anzeigepflicht abzusehen? einem potenziellen Täter gegenüber Selbstbewusstsein (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE und Sicherheit auszustrahlen. Täter suchen keine Gegner. GRÜNEN]: Das hat der Kollege van Essen ver- Täter suchen Opfer. sucht zu erklären!) (Jörg van Essen [FDP]: So ist es!) Warum wollen Sie einen so großen Personenkreis aus der Kinder müssen auch ihren nahen Angehörigen Grenzen Verantwortung entlassen? Wollen Sie tatsächlich den El- aufzeigen und den Mut haben, Nein zu sagen. tern eines Opfers erklären: Der Psychotherapeut hat sich zwar bemüht, aber leider ist es dennoch zu der grauen- Wir müssen im Bereich der Erziehung sowohl die Kin- vollen Tat gekommen? Erwarten Sie für eine solche Er- der als auch die Eltern stärken. Das besondere Vertrau- klärung bitte kein Verständnis. Sie werden es nicht be- ensverhältnis zwischen Eltern und Kindern ist die Grund- kommen. lage für eine erfolgreiche Prävention. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) Abgeordneten der FDP) Sie müssen sich schon die Frage gefallen lassen, in- Aber diese wichtige Erkenntnis ist in Ihrem Entwurf voll- wieweit Sie dem Vertrauensverhältnis zum Täter einen ständig unter den Tisch gefallen. Sie haben in der Debatte höheren Stellenwert beimessen als der Verbrechensverhü- über unseren Gesetzentwurf am 14. November einen ver- tung. Das, was Sie in ihrem Gesetzentwurf vorsehen, führt besserten Opferschutz angekündigt. Ihr Gesetzentwurf zu einer ausgesprochenen Täterorientierung. Die Opfer- lässt aber die Belange der Opfer nach meinem Dafür- orientierung kommt dagegen zu kurz. halten außer Acht. Leider ist auch bei dem jetzt vorliegenden Entwurf Abschließend möchte ich feststellen: Ihr Gesetzent- festzustellen, dass die jährlich Tausenden sexuellen Über- wurf enthält zwar einige diskussionswürdige Punkte. (B) griffe auf Kinder und Frauen, die direkt hinter der Haustür Aber dem eigentlichen Ziel sind wir nur einen kleinen (D) geschehen, nicht wahrgenommen werden. Oftmals ge- Schritt näher gekommen. Fazit: Ihr Koalitionsentwurf ist schehen sie im so genannten sozialen Umfeld, im Nahfeld zwar umfangreich, aber nicht aufschlussreich. Mit Ihrem der Familie, im Verwandten- oder Bekanntenkreis. Gesetzentwurf haben Sie nicht alles getan, was Sie tun können. Handeln Sie endlich! Es ist höchste Zeit. (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Meistens!) Danke. Im Bereich des sexuellen Missbrauchs von Kindern und (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Jugendlichen kommen rund 94 Prozent der Täter aus der Abgeordneten der FDP) Familie und ihrer Umgebung und nur 6 Prozent der Täter sind Fremde. Auch noch heute werden diese Formen der Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: sexuellen Übergriffe in unserer Gesellschaft nicht wahr- genommen und tabuisiert. Diese Erkenntnis versucht die Nächster Redner ist der Kollege Joachim Stünker, Bundesjustizministerin jetzt umzusetzen, indem sie einen SPD-Fraktion. wirksameren Schutz der Kinder dadurch erreichen möchte, dass sich alle in der Gesellschaft verantwortlich Joachim Stünker (SPD): fühlen und kümmern. Der Altbundespräsident Roman Herzog, der Vorsitzende der Stiftung „Bündnis für Kin- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! der – gegen Gewalt“, hat sich in der gleichen Art und Meine Damen und Herren! Die bisherige Debatte hat Weise geäußert. Er sagte: mich in meiner tiefen Überzeugung bestätigt, dass der Ge- setzgeber mehrfach und gründlich nachdenken muss, be- Wenn jeder mit wachem Auge auf seine Umgebung vor er Änderungen im Strafrecht vornimmt; denn das schaute, wäre es eher möglich, solche Verbrechen zu Strafrecht ist – daran sollten wir uns immer erinnern – die verhindern. Ultima Ratio des Staates, auf Fehlverhalten seiner Bürge- Dem stimmen wir uneingeschränkt zu. rinnen und Bürger zu reagieren. Dabei gilt es, immer die Balance zwischen den Freiheitsrechten jedes Einzelnen (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei und seinem berechtigten Anspruch auf persönliche Si- Abgeordneten der FDP) cherheit und Unversehrtheit zu halten. Opferschutz vor Täterschutz, das muss besonders in Dabei müssen wir wiederum das verfassungsrechtliche den Fällen gelten, in denen der Täter aus dem unmittel- Gebot der Verhältnismäßigkeit beachten. Ich gehe ein- baren sozialen Umfeld des Kindes stammt. Das, was ich mal davon aus, dass Sie diese Abwägung in den 16 Jahren, 1732 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2003

Joachim Stünker (A) in denen Sie regiert haben, immer vorgenommen haben; schwerwiegender Tatbestand bewertet. Dadurch sollen (C) denn Sie haben entsprechende Verschärfungen des Se- die Handlungen derjenigen erfasst werden, die bisher die xualstrafrechts – Stichwort Kindesmissbrauch – in dieser Schwelle des Eindringens in den Körper nicht überschrit- Zeit nicht vorgenommen. Um es einmal ganz deutlich zu ten haben. Der Bundesgerichtshof hat in diesem Zusam- sagen: Kindesmissbrauch gibt es nicht erst seit 1998, seit- menhang von allgemeinem Tatbestand gesprochen. Mit dem wir regieren. dieser Neuregelung werden die angesprochenen Fälle er- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ fasst. Die Täter werden zukünftig mit einer Freiheitsstrafe DIE GRÜNEN) von – mindestens – einem Jahr bis zu 15 Jahren bestraft. Um genau diesen Tatbestand geht es Ihnen; allerdings Ich möchte auch sehr deutlich sagen – der Kollegin, die wird dafür nicht die Bezeichnung Verbrechen verwendet. vor mir gesprochen hat, muss ich da widersprechen –: Wir Dennoch erzielen wir dieselbe Wirkung. begrüßen es sehr, dass die Bundesregierung gestern – pa- rallel zu den strafrechtlichen Regelungen, die wir Ihnen (Dr. Wolfgang Götzer [CDU/CSU]: Nur im vorschlagen – den Aktionsplan zum besseren Schutz von Strafrahmen, Herr Kollege!) Kindern und Jugendlichen vor sexueller Gewalt vorgelegt – Natürlich. hat; denn die Frau Justizministerin und die Kollegin Schmidt werden mit diesem Aktionsplan der von Ihnen Unser Gesetzentwurf enthält zusätzlich den Straftat- eingeforderten Prävention voll und ganz gerecht. Ich darf bestand des Einwirkens auf ein Kind durch Schriften, um Ihnen sagen, Herr van Essen: Wir unterstützen diese ge- es zu sexuellen Handlungen zu bringen. Darüber hinaus wird sich künftig jemand strafbar machen, der ein Kind samtgesellschaftliche Offensive zum Opferschutz, zum für einen Missbrauch anbietet, nachzuweisen verspricht besseren Schutz von Kindern, von Schutzbefohlenen und oder sich mit anderen zu einer solchen Tat verabredet. Wir von widerstandsunfähigen Menschen. Es handelt sich so- erreichen damit im Ergebnis diejenigen Fälle, um die es in zusagen um eine konzertierte Aktion in dem sehr sen- der Praxis eigentlich geht, ohne dass wir damit den Tat- siblen Bereich des Sexualstrafrechts. bestand strafrechtlich dogmatisch zum Verbrechen he- Im Rahmen dieser konzertierten Aktion sind die Be- raufgestuft haben. stimmungen des Strafrechts, über die wir heute reden, nur Warum ist es sinnvoll, diesen Tatbestand nicht zum ein Mosaikstein von vielen. Wir bemühen uns um eine an- Verbrechen zu erklären? Ich will versuchen, Ihnen auch gemessene Strafandrohung und insbesondere um eine das darzulegen. Es ist deshalb sinnvoll, weil es gerade bei verstärkte Kriminalprävention. sexuellem Missbrauch Fälle gibt – wir alle wissen, dass (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ die überwiegende Zahl dieser Taten im familiären Umfeld, DIE GRÜNEN) im nahen persönlichen Umfeld der Opfer geschehen –, in (B) denen es notwendig ist, dass man mit den Mitteln der (D) Die Überschrift des Paketes, das wir Ihnen hier vorlegen, §§ 153 ff. StPO – Täter-Opfer-Ausgleich und Ähnli- lautet – darin stimme ich Herrn van Essen zu –: Opfer- ches – reagieren kann. Entsprechend reagieren kann man schutz. nicht mehr, wenn ein Verbrechenstatbestand vorliegt. Lassen Sie mich nun etwas zu einem Ihrer Haupt- Wenn Sie das uns schon nicht glauben wollen, weil für Sie kritikpunkte sagen. Wir haben festgestellt, dass wir in vie- alles das, was von Rot-Grün kommt, irgendwie Teufels- len Bereichen Gemeinsamkeiten haben. Während Sie in zeug ist, dann glauben Sie Ihren eigenen Sachverstän- Ihrem Entwurf dem § 176 StGB dogmatisch einen Ver- digen. Wir haben zu Ihrem Gesetzentwurf, der ja nicht neu brechenstatbestand zugrunde gelegt haben, liegt ihm in ist, in der letzten Legislaturperiode, der 14., schon einmal unserem Gesetzentwurf im Ergebnis weiterhin ein Ver- eine Sachverständigenanhörung durchgeführt. Da haben gehenstatbestand zugrunde. Man kann darüber sicherlich Ihre Sachverständigen, zum Beispiel Professor Krey aus weidlich streiten. Trier, der ja nun nicht verdächtig ist, Sozialdemokraten sehr nahe zu stehen, genau darauf hingewiesen und ge- Was haben wir gemacht? Was schlagen wir Ihnen hier sagt: Seid vorsichtig und begebt euch nicht der Möglich- für die weitere Diskussion und auch für die Sachverstän- keiten von Mediation und Täter-Opfer-Ausgleich. Wenn digenanhörung vor? Wir haben die Strafrahmen bei Miss- ihr einen Verbrechenstatbestand schafft, habt ihr sie hin- brauch heraufgesetzt. Zukünftig gibt es in Bezug auf die terher nicht mehr. Genau das ist der Hintergrund. von mir genannten Personengruppen keinen minder schweren Fall des sexuellen Missbrauchs mehr. Das heißt, (Siegfried Kauder [Bad Dürrheim] [CDU/ Täter kommen nicht mehr mit einer Geldstrafe davon. Ich CSU]: Stimmt doch gar nicht! Das geht auch denke, davon geht ein wichtiges Signal aus. Ihr Entwurf beim Verbrechen! Das geht nach dem Gesetz!) enthält eine solche Regelung nicht. – Lesen Sie das doch nach, Herr Kollege Kauder, dann (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ werden Sie es feststellen. Wir können es ja in der Sach- DIE GRÜNEN – Dr. Wolfgang Götzer [CDU/ verständigenanhörung diskutieren. Es verhält sich genau- so, wie ich es gesagt habe. CSU]: Das stimmt doch nicht! Der minder schwere Fall ist selbstverständlich in unserem (Siegfried Kauder [Bad Dürrheim] Entwurf enthalten!) [CDU/CSU]: Es stimmt nicht!) – Nein, das ist nicht falsch. – Doch. Des Weiteren wird in unserem Gesetzentwurf der ein- Einen weiteren Punkt möchte ich ansprechen: Wir sa- fache sexuelle Missbrauch von Kindern als besonders gen, dass sich in Zukunft jemand, der einen sexuellen Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2003 1733

Joachim Stünker (A) Missbrauch, von dem er Kenntnis hat, nicht anzeigt, mög- des Gutachtens des Max-Planck-Instituts, hier keinerlei (C) licherweise strafbar macht. Das ist übrigens ein neuer Veränderungen vornehmen werden. Vorschlag von unserer Seite, der in Ihrem Entwurf nicht Zweitens zur Sicherungsverwahrung. Wir führen, wie enthalten ist. Sie werfen uns nun vor, wir würden von die- ich glaube, heute die fünfte, sechste oder siebte Debatte sem möglichen Straftatbestand, den Sie gar nicht vorge- zum Thema Sicherungsverwahrung. Sie bringen dieses sehen haben, zu viele Personen ausnehmen. Das ist ja der Thema gebetsmühlenartig immer wieder auf den Tisch. Vorwurf, den Sie, Herr Götzer, heute Mittag hier erhoben haben. Wenn Sie in unseren Entwurf hineinschauen, wer- (Dr. Wolfgang Götzer [CDU/CSU]: Führen den Sie feststellen, dass wir genau den Personenkreis, der wir sie endlich in die Realität!) nach der Strafprozessordnung ein Zeugnisverweige- Nochmals: Die Frage der nachträglichen Sicherungsver- rungsrecht hätte, von der möglichen Strafbarkeit ausneh- wahrung haben wir für uns endgültig mit dem Gesetz, das men. Das ist auch sinnvoll. Sie können doch nicht sagen: wir hier im letzten Sommer beschlossen haben, abge- Du machst dich zwar auf der einen Seite strafbar, wenn du schlossen. Da haben wir die vorbehaltene Sicherungs- das nicht anzeigst, auf der anderen Seite hättest du aber als verwahrung neu geregelt und ins Strafgesetzbuch aufge- Zeuge vor Gericht die Möglichkeit, das Zeugnis zu ver- nommen. weigern. Man muss die Zusammenhänge sehen, wenn man das Gesetz analysiert. Ich halte auch das für eine sehr (Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Das ist doch sinnvolle Regelung und hoffe, dass wir uns darüber in der etwas anderes!) Diskussion noch verständigen. Wenn Sie da mehr wollen, müssen Sie sich an die Länder (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ wenden, die für den Personenkreis, der von dieser Rege- DIE GRÜNEN) lung nicht mehr erfasst wird, zuständig sind. Dann lassen Sie mich noch etwas zu Ihrer Kritik an (Dr. Wolfgang Götzer [CDU/CSU]: Drücken dem Punkt DNA-Analyse sagen. Wir machen meiner Sie sich nicht vor der Verantwortung!) Meinung nach einen sehr sinnvollen Vorschlag, indem wir – Wieso? Was heißt „Verantwortung“? Es gibt verfas- sagen, dass alle Straftaten, die gegen die sexuelle Selbst- sungsrechtliche Zuständigkeiten. Die Länder sind ja auch bestimmung des Menschen gerichtet sind, zukünftig zum sonst immer sehr darauf bedacht, dass wir nicht in ihre Anlass für eine DNA-Analyse genommen werden kön- Zuständigkeiten eingreifen. Das Problem ist nur – deshalb nen, wenn der Richter aufgrund konkreter Tatsachen in sind Sie so nervös –, dass Baden-Württemberg und Bay- seiner Prognose zu dem Ergebnis kommt, dieser Täter ern Gesetze verabschiedet haben, die schlecht sind und könne zukünftig schwere andere Straftaten begehen. Das gegenwärtig beim Bundesverfassungsgericht überprüft ist in sich schlüssig. Was Sie wollen, wäre schwierig mit werden. Deshalb möchten Sie Regelungen vom Bundes- (B) dem von mir vorhin schon genannten Gebot, dass Strafen (D) gesetzgeber haben. oder in diesem Fall Eingriffe immer auch verhältnismäßig sein müssen, zu vereinbaren. Einen Satz noch, Frau Präsidentin. (Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Prävention!) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Nach Ihrer Konstruktion wäre der Diebstahl von Damen- Aber nur einen kurzen Satz, Herr Kollege Stünker. unterwäsche ein Grund, eine DNA-Analyse durchzu- führen. Ich denke, unser Vorschlag ist sehr wohl verfas- Joachim Stünker (SPD): sungsrechtlich ausgewogen. Ich bin gespannt, was die Sachverständigen zu unseren Vorschlägen sagen werden. Was die Frage der Sicherungsverwahrung von Heran- Ich bin sehr sicher, dass wir hier auf einem guten Weg wachsenden, die von den Gerichten nach allgemeinem sind. Strafrecht beurteilt werden, angeht, sind wir der Mei- nung – damit gehen wir auch in die Sachverständigen- Lassen Sie mich zum Schluss noch Anmerkungen zu anhörung –, dass hier das von uns geschaffene Instrument Themen machen, die Sie auch heute wieder vorgetragen der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung genau die rich- haben. tige Lösung ist. Erstens. Ausweitung der Telefonüberwachung, § 100 a Schönen Dank. Strafprozessordnung, auf Fälle des sexuellen Missbrauchs. Zunächst ist es für mich schwer vorstellbar, wenn man (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ meint, auf diese Weise Verabredungen oder Ähnliches am DIE GRÜNEN) Telefon aufdecken zu können. Das erschließt sich mir schon vom Praktischen her nicht so ganz; rechtlich be- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: trachtet sage ich Ihnen, wir sollten hier sehr vorsichtig sein. Auch Sie kennen wohl das Gutachten, das in Biele- Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege feld zum § 100 a der Strafprozessordnung vorgelegt wor- Siegfried Kauder, CDU/CSU-Fraktion. den ist, also wie in der Praxis mit diesem hohen Schutz- gut umgegangen wird. Wir sollten also sehr vorsichtig Siegfried Kauder (Bad Dürrheim) (CDU/CSU): sein, ehe wir da Änderungen vornehmen. Darum bleiben wir dabei, dass wir, bevor nicht eine Gesamtschau der Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol- Auswirkungen des § 100 a StPO vorliegt, auch mithilfe legen! Die richtige Botschaft zu diesem Thema kam von 1734 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2003

Siegfried Kauder (Bad Dürrheim) (A) einem Sozialdemokraten, allerdings nicht von einem, der Jeder Jurist im ersten Semester weiß, dass das so in § 12 (C) heute unter uns sitzt, Herr Stünker. Es war Ihr General- Abs. 3 StGB steht. sekretär, der gefordert hat, der Staat solle die Lufthoheit (Beifall bei der CDU/CSU – Jerzy Montag über Kinderbetten haben. [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist trotz- (Widerspruch bei der SPD) dem eine Mindeststrafe von einem Jahr!) – Doch, meine Damen und Herren, das war die richtige – Ich werde es Ihnen noch erklären, Herr Kollege Montag. Botschaft, nur zum falschen Thema. Wir wollen keine Das hat zur Folge, dass der Wiederholungstäter ge- Lufthoheit über das Erziehungsrecht der Eltern, aber Luft- genüber denjenigen Tätern, die gemeinschaftlich über ein hoheit über Kinderbetten, soweit es um die richtige sexu- Kind herfallen, privilegiert ist. Es bleibt zwar bei der ein- elle Entfaltung und Entwicklung sowie den Schutz von jährigen Freiheitsstrafe, aber es ist kein Verbrechen mehr. Kindern unter 14 Jahren geht. Wissen Sie, welche inakzeptable Konsequenz das für das Wir müssen erst einmal festhalten, welche Gesetzes- kindliche Tatopfer hat? – Die Folge ist, dass dieses Verge- lage wir im Augenblick haben. Damit kommen wir zu der hen im Falle eines Wiederholungstäters beim Amtsgericht juristischen Argumentation, die uns offensichtlich etwas angeklagt werden kann und dass Staatsanwälte und Richter schwerer fällt als die politische. Wir haben § 176 StGB, dieses Verfahren nach § 153 a StPO wie bei einem Kauf- den sexuellen Missbrauch von Kindern, als Vergehen aus- hausdiebstahl gegen eine Geldbuße einstellen können. Das gestaltet und damit qualitativ nicht anders als Diebstahl wollen wir nicht und das dürfen wir nicht zulassen, weil es bewertet. hier um Kinder geht, die sexuell missbraucht werden. (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE (Beifall bei der CDU/CSU – Jerzy Montag GRÜNEN]: Wer hat das denn 1998 gemacht? – [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das tut kein Joachim Stünker [SPD]: Das haben Sie selber Staatsanwalt!) verbrochen!) – Das tut ein Staatsanwalt, wenn die Beweislage schlecht Ich weiß, wo das Herz der Frau Bundesjustizministerin ist. schlägt, denn sie gehört der gleichen Opferschutzorgani- (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: sation an wie ich. Wir wissen: Sexueller Missbrauch von Dann hilft auch kein Landgericht!) Kindern ist Mord an einer kindlichen Seele und Mord ist ein Verbrechen. Deswegen muss auch sexueller Miss- Bei einem Verbrechen kann er das Verfahren nicht nach brauch von Kindern ein Verbrechen werden. § 153 a StPO einstellen. (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE (Beifall bei der CDU/CSU – Jerzy Montag (B) GRÜNEN]: Das muss er doch, wenn die Be- (D) [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das war aber weislage nicht reicht! – Jerzy Montag [BÜND- kein juristisches Argument! Wahrhaft nicht!) NIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist doch Unsinn, – Das war ein Opfer schützendes Argument; ich werde was Sie hier erzählen! – Joachim Stünker [SPD]: dazu noch etwas sagen. Was erzählen Sie eigentlich?) (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: – Hören Sie doch bitte einfach erst einmal zu! Sie waren Nicht einmal das! – Joachim Stünker [SPD]: doch schon dran mit Ihrem Redebeitrag! Ein Eiferer sind Sie!) Sie wollen den minderschweren Fall abschaffen. – Manchmal muss man sich, wenn es um kindliche Opfer Nennen Sie mir bitte einen Verbrechenstatbestand im geht, auch ereifern; vielleicht tun Sie das zu wenig. StGB, der den minderschweren Fall nicht kennt. (Joachim Stünker [SPD]: Aber an der richtigen (Joachim Stünker [SPD]: Das hat damit nichts Stelle!) zu tun! Was erzählen Sie hier eigentlich?) Wir haben § 176 a StGB, in dem als selbstständiger Wir schlagen in unserem Entwurf keine Geldstrafe für ei- nen minderschweren Fall vor. Wir denken nämlich nach, Qualifikationstatbestand besonders schwere Fälle mit ei- bevor wir Gesetzesänderungen anregen. Wir fordern viel- ner Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr bedacht mehr, dass der minderschwere Fall mit mindestens drei werden. Monaten bis zu fünf Jahren Freiheitsstrafe belegt werden (Joachim Stünker [SPD]: Das fällt Ihnen alles muss. Das ist der Unterschied zu Ihrem Gesetzentwurf. nach 1998 ein! Sie haben 1998 den Tatbestand (Vorsitz: Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer) gemacht, wir doch nicht!) Die Beibehaltung des minderschweren Falles ist not- Das ist die Gesetzeslage. Jetzt passen Sie bitte genau wendig. Damit erhält der Täter einen Anreiz, ein Ge- auf: Was Sie nach Ihrem Entwurf machen wollen, ist ständnis abzulegen. Ein minderschwerer Fall kann nach rechtstechnisch ein furchtbarer, nicht korrigierbarer der Rechtsprechung nämlich schon dann angenommen Fehler. Sie brechen aus § 176 a StGB einen Verbre- werden, wenn der Täter dem Tatopfer das Erscheinen in chenstatbestand, die Wiederholungstat, heraus und inte- der Hauptverhandlung erspart. Ein Kind muss also nicht grieren ihn in § 176 als besonders schweren Fall. Wir ha- als Zeuge vernommen werden. Diese Möglichkeit schaf- ben darüber in unserer Fraktion diskutiert. Wer die fen wir, indem wir die Einstufung als minderschweren Gesetzessystematik kennt, weiß, dass dieser besonders Fall erhalten und so dem Täter einen Anreiz geben, ein schwere Fall damit vom Verbrechen zum Vergehen wird. Geständnis abzulegen. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2003 1735

Siegfried Kauder (Bad Dürrheim) (A) Meine Damen und Herren von Rot-Grün, ich verstehe Aus Opfersicht gibt es dafür einen weiteren wichtigen (C) Sie nicht. Warum fürchten Sie wie der Teufel das Weih- Grund. Die Staatsanwälte neigen dazu, sexuellen Miss- wasser, den sexuellen Missbrauch von Kindern zu einem brauch von Kindern beim Amtsgericht anzuklagen, was Verbrechenstatbestand zu erheben? zulässig ist. § 24 des Gerichtsverfassungsgesetzes gibt (Joachim Stünker [SPD]: Das habe ich Ihnen aber die Möglichkeit – das sollte bei Verbrechen mit gerade erklärt! Sie haben nicht zugehört! Keine sexuellem Hintergrund ohnehin die Regel werden –, in Ahnung!) erster Instanz beim Landgericht anzuklagen. Über dem Landgericht gibt es keine weitere Tatsacheninstanz. Man Es gibt genügend Milderungsgründe. Einen wichtigen ha- vermeidet damit eine sekundäre Viktimisierung des Tat- ben Sie übersehen, Herr Kollege. Den Täter-Opfer-Aus- opfers, indem man ihm eine weitere Vernehmung er- gleich gibt es auch bei Verbrechen. Das ist unsere Philo- spart. sophie: Ein Täter, der sich an einem Kind vergangen hat, muss laufen; er muss sich bemühen und Punkte sammeln. Kommen Sie mir bitte nicht mit dem Argument, es Er soll ein Geständnis ablegen gebe jetzt schon die Videografie. Frau Justizministerin, ich möchte Sie in diesem Punkt um Mithilfe bitten. Wir (Joachim Stünker [SPD]: Ja, im Prozess!) wissen aus unserer praktischen Erfahrung, dass die und sich um den Täter-Opfer-Ausgleich kümmern. Dann Richter die Videografie nicht so anwenden, wie wir uns gibt es Milderungsgründe, die ihm die Chance eröffnen, das als Gesetzgeber gewünscht haben. dass seine Strafe unter der Freiheitsstrafe von sechs Mo- (Jörg van Essen [FDP]: Das ist richtig!) naten, die nach Ihrem Entwurf verhängt werden muss, liegt. In einem minderschweren Fall kann der Täter mit Ich freue mich, dass diese Diskussion angefangen Täter-Opfer-Ausgleich und beim Vorliegen einer beson- wurde. Ich freue mich auch auf eine konstruktive Zusam- deren Fallkonstellation sogar mit einer Freiheitsstrafe von menarbeit. Aber erlauben Sie mir bitte, dass ich rechts- unter drei Monaten davonkommen. technische Fehler in Ihrem Gesetzentwurf aufgreife und Ihnen sage: Wenn Sie den ersten Schritt tun, müssen Sie Ich verstehe Sie auch in einem anderen Punkt nicht; im Interesse von Tatopfern auch den zweiten Schritt tun. auch da scheuen Sie eine Gesetzesänderung wie der Sexueller Missbrauch ist Mord an der Seele von kleinen Teufel das Weihwasser. Was spricht eigentlich gegen die Kindern. Unsere Kinder müssen es uns wert sein, darüber Einführung der nachträglichen Sicherungsverwahrung? im Rechtsausschuss sachlich zu diskutieren. (Joachim Stünker [SPD]: Die Verfassung!) Ich danke Ihnen, dass Sie mir zugehört haben. Was spricht dagegen, die Sicherungsverwahrung auf He- (Beifall bei der CDU/CSU) ranwachsende anzuwenden, wenn sie nach Erwachsenen- (B) strafrecht verurteilt werden? (D) Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Lesen Sie mal die Urteile des Bundesverfas- Ich möchte Ihnen, Herr Kollege Kauder, zu Ihrer ers- sungsgerichts nach!) ten Rede in diesem Hohen Haus im Namen des ganzen Wir haben schon jetzt einen Anknüpfungspunkt. Bei der Hauses gratulieren. Frage der Sicherungsverwahrung darf nämlich auch eine (Beifall) verhängte Jugendstrafe berücksichtigt werden. Gehen wir also den nächsten Schritt und sagen, dass die Sicherungs- Ich schließe die Aussprache. verwahrung gegen Heranwachsende bei Anwendung des Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzent- Erwachsenenstrafrechts zulässig ist. wurfs auf Drucksache 15/350 an die in der Tagesordnung Ich gebe der Frau Bundesjustizministerin Recht: Es aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu an- sind nur ganz wenige Fälle, die dafür in Betracht kommen, derweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann ist weil ein Heranwachsender im Alter von 18 bis 21 Jahren die Überweisung so beschlossen. kaum die Gelegenheit zu einer kriminellen Karriere hatte, die notwendig ist, um eine Sicherungsverwahrung zu ver- Ich rufe Tagesordnungspunkt 8 auf: hängen. Prüfen Sie einmal die in der Presse hochgekom- Beratung des Antrags der Abgeordneten Dirk menen spektakulären Fälle, in denen Kinder nach sexuel- Fischer (Hamburg), Eduard Oswald, Georg lem Missbrauch zu Tode gekommen sind. In drei von fünf Brunnhuber, weiterer Abgeordneter und der Frak- dieser Fälle wäre die Straftat nicht geschehen, wenn die Si- tion der CDU/CSU cherungsverwahrung für Heranwachsende möglich gewe- Transrapid-Projekt Berlin–Hamburg unver- sen wäre. Sie sind also auf dem falschen Weg. züglich wieder aufnehmen (Beifall bei der CDU/CSU – Jerzy Montag – Drucksache 15/300 – [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Faktisch falsch!) Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (f) Wir wägen in unserem Gesetzesvorschlag sehr detail- Finanzausschuss liert Täterrechte und Opferrechte gegeneinander ab. Die Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Opfersicht geht bei Ihrem Gesetzentwurf völlig verloren. Ausschuss für Tourismus Wir wünschen, dass der Grundtatbestand des § 176 StGB Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union als Verbrechen ausgelegt wird. Haushaltsausschuss 1736 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2003

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer (A) Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die die rot-grüne Bundesregierung nicht die Referenzstrecke (C) Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Wider- Hamburg–Berlin bösartig zerstört, hätten Bundeskanzler spruch höre ich nicht. Dann ist so beschlossen. Schröder und Verkehrsminister Stolpe die Anwendung dieses deutschen Hightechproduktes nicht im fernen Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst der China bewundern müssen; sie hätten stattdessen nur ein- Abgeordnete Dirk Fischer. mal zum Lehrter Bahnhof hinüberlaufen müssen. (Beifall bei der CDU/CSU) Dirk Fischer (Hamburg) (CDU/CSU): Anscheinend hat aber wenigstens die Eröffnungsfahrt Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! in China die Bundesregierung von diesem deutschen Spit- Hocherfreut habe ich die Äußerung von Minister Stolpe zenprodukt überzeugt. Ich zitiere aus der Neujahrsanspra- im NDR-Info-Radio vernommen, die Transrapidstrecke che von Bundeskanzler Schröder: Hamburg–Berlin sei auch seine Traumstrecke, er halte den Bau einer Transrapidstrecke zwischen Hamburg und Am heutigen Silverstertag haben wir in Schanghai Berlin weiterhin für denkbar. Wann hat es das seit den Transrapid eingeweiht – eine bei uns in Deutsch- Matthias Wissmann schon gegeben, dass ich in dieser land entwickelte Zukunftstechnologie, die eine vor- Frage mit dem Verkehrsminister einer Meinung bin? zügliche Lösung der Mobilitätsprobleme bietet. Auch das zeigt deutlich: Wir in Deutschland haben (Eduard Oswald [CDU/CSU]: Das ist sehr alles, was zum Erfolg notwendig ist. Wir müssen ihn wahr!) aber auch tatsächlich wollen. Niemand darf blockie- ren oder behindern. Jeder sollte mit seinen Möglich- Nach vier Jahren Rot-Grün und vier Verkehrsminister keiten vorangehen, damit das Ganze vorankommt. später endlich einmal wieder eine vernünftige Aussage zum Transrapid zwischen Haupt- und Hansestadt. So Schröder. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Abgeordneten der FDP) Eduard Oswald [CDU/CSU]: Beifall nur bei der Union! Wo bleibt der Beifall bei den Sozialde- Dabei sagte noch am 10. August 2002 die Parlamenta- mokraten, wenn schon nicht bei ihrem eigenen rische Staatssekretärin Mertens in der „taz Hamburg“, der Kanzler?) Transrapid sei auf der Strecke Berlin–Hamburg verkehrs- politisch nicht zu begründen und zu teuer. Es besteht also Hamburg–Berlin ist unverändert das einzige durchge- ein tief greifender Meinungskonflikt in der Spitze des zu- plante und bewertete Fernverkehrsprojekt des Transrapid. ständigen Ministeriums. Hamburg–Berlin könnte auch die Kernstrecke anderer öf- (B) fentlich diskutierter Verbindungen, zum Beispiel eines (D) (Reinhard Weis [Stendal] [SPD]: Das hättest Eurorapid, sein. du gern!) (Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ Ich vertraue nun aber auf das Ministerwort und fordere DIE GRÜNEN]: Sie sollten ein Geschichtsbuch ein, dass den Liebesschwüren seit der Jungfernfahrt in schreiben!) Schanghai nun endlich auch Taten in der Bundesrepublik Ich denke auch an Strecken wie Hamburg–Groningen– Deutschland selbst folgen. Amsterdam, Hamburg–Kopenhagen–Stockholm oder an (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) ostgängige Strecken von Berlin aus nach Warschau oder über Dresden, Prag und Wien nach Budapest. Die negative Entscheidung zum Bau der Transrapid- verbindung Hamburg–Berlin am 5. Februar 2000 war (Beifall bei der CDU/CSU – Albert Schmidt falsch. Der Technologie- und Wirtschaftsstandort Deutsch- [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: land hat großen Schaden genommen. Dass Bahnvorstand Oder Moskau!) Mehdorn mit Billigung der Bundesregierung durch Rück- Die Strecke bietet die einmalige Attraktivität, zwischen nahme sämtlicher Anträge auf Planfeststellung 350 Mil- den Ballungsräumen Hamburg und Berlin einen Nahver- lionen DM Planungsaufwand von Industrie und Bund kehrstakt mit halbierter Fahrzeit einzurichten. Herr Kollege quasi in den Ascheimer geworfen hat, Königshofen, wie unterscheidet sich ein solches Projekt (Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ von dem Metrorapid, bei dem diese Technologie bei einer DIE GRÜNEN]: Das wird uns nicht noch ein- durchschnittlichen Reisegeschwindigkeit von 50 Stunden- mal passieren!) kilometern – also knapp oberhalb der einer Postkutsche – zur Anwendung gebracht wird? Das ist doch lächerlich. statt für zehn Jahre die Baurechte zu sichern, ist eigentlich eines eigenen parlamentarischen Untersuchungsaus- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) schusses würdig. Dieses Projekt würde auch die Option einer späteren Anbindung des Berliner Zentralflughafens Schönefeld (Beifall bei der CDU/CSU – Zurufe von beinhalten und Entwicklungsperspektiven und Chancen BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Oh!) für neue hochwertige Arbeitsplätze, davon allein 400 im Nach knapp 1,3 Milliarden Euro Entwicklungskosten Betriebswerk Perleberg in Brandenburg, bieten. Bau und von Bund und Industrie in Deutschland und nochmals rund Betrieb des Transrapids hätten zudem direkte Beschäfti- 100 Millionen Euro Entwicklungshilfe an China existiert gungswirkungen. Der Transrapid hätte auf der Strecke ei- bislang nur eine Anwendungsstrecke im Ausland. Hätte nen Konkurrenzvorsprung gegenüber der Rad-Schiene- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2003 1737

Dirk Fischer (Hamburg) (A) Technik, dem Auto und Luftverkehr und würde eine echte Damit hat er doch die Maske vollständig fallen gelassen. (C) Alternative zu Kurzstreckenflügen darstellen. Nur die Auf der ICE-Ausbaustrecke Hamburg–Berlin ist bisher Langstreckenverbindung Hamburg–Berlin von 292 km wenig geschehen. Nun soll bis 2004 eine Ausbaustrecke kann die Systemvorteile dieser Highspeed-Technologie mit einer Fahrzeit von 90 Minuten bei Tempo 230 km/h voll zur Geltung bringen. Außerdem gäbe es wenigstens durch geschlossene Ortschaften befahren werden. Ich auf dieser Strecke keinen Parallelverkehr, wie er derzeit gehe davon aus – das ist überprüfbar –, dass diese Zusa- auf anderen Strecken geplant ist. gen erneut gebrochen werden. Das ist die Realität. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Man kann aber die Leute nicht für dumm verkaufen. neten der FDP) Für die Strecke Hamburg–Berlin wurden 6,1 Milliar- Mit dem Transrapid wären zudem eine geringere Lärmemis- den DM gewährt und kein Pfennig mehr. Die Preisgleit- sion und eine vermehrte Energieeinsparung verbunden. klausel im Konzept wurde von Rot-Grün gestrichen. Die Qualitätsverbesserung durch eine Aufständerung aus Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen, nicht Stahl anstelle von Beton sollte nach den Erfahrungen auf nur Minister Stolpe, sondern auch Ministerpräsident der Teststrecke im Emsland ebenso wie die in dem Projekt Ringstorff hat mittlerweile seine Liebe zur Strecke Ham- unterstellte Inflationsrate zurückverdient werden. Dage- burg–Berlin entdeckt; gen eilen Bund und Industrie beim Metrorapid nach Be- (Eduard Oswald [CDU/CSU]: Ja, damit man kanntwerden einer Finanzierungslücke wie selbstver- wenigstens mal irgendwas von dem Kerl hört!) ständlich mit weiteren Fördermitteln in Höhe von 250 Millionen Euro bzw. 200 Millionen Euro der Indus- denn nur so würde seine Hauptstadt, die derzeit völlig ab- trie herbei. Dort wird völlig anders gehandelt. Dort wird gekoppelt ist, an den Highspeed-Personenverkehr ange- zugelegt, während für das andere Projekt kein Pfennig bunden werden. mehr gewährt wird. In seiner Rede im mecklenburg-vorpommerischen Land- (Reinhard Weis [Stendal] [SPD]: Du hast wohl tag am 24. April 2002 hat Ministerpräsident Ringstorff die Zeitungen nicht richtig gelesen!) ausgeführt: Hartherziger und bösartiger als in diesem Fall kann ein Der Transrapid ist eine faszinierende Technik. Die Projekt nicht kaputtgemacht werden. Idee, die Strecke Hamburg–Berlin im Rahmen eines europäischen Transrapidnetzes zu realisieren, finde (Beifall bei der CDU/CSU) ich höchst interessant. Lassen Sie mich kurz Vergleiche mit dem Rad- (Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: Schiene-Projekt Köln–Rhein/Main anstellen. Schätzkos- (B) Wir auch!) ten für die politische Entscheidung: 1991 3,4 Milliar- (D) den DM, Vergabepreis 1995 7,8 Milliarden DM, Wir in Mecklenburg-Vorpommern haben unsere Abrechnungspreis beträgt 11,8 Milliarden DM. Rad- Hausaufgaben gemacht – das Planfeststellungsver- Schiene-Technik Hannover–Fulda–Würzburg: geplante fahren ist abgeschlossen. Von mir aus könnte morgen Gesamtkosten 1973 4,2 Milliarden DM, Abrechnungs- der erste Spatenstich erfolgen ... preis 11,2 Milliarden DM. (Beifall bei der CDU/CSU – Eduard Oswald (Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ [CDU/CSU]: Kein Beifall bei den Sozialdemo- DIE GRÜNEN]: Wissmann, Waigel!) kraten!) Kilometerkosten: Transrapid Hamburg–Berlin Das sind wahrlich späte Einsichten. 20,9 Millionen DM pro Kilometer, Metrorapid 79 Milli- Mehdorn stellte am 3. Februar 2000 – zwei Tage, be- onen DM pro Kilometer, Transrapid München 85 Milli- vor das Projekt zerstört wurde – im „Stern“ fest: onen DM pro Kilometer. Rad-Schiene-Technik Köln– Rhein/Main: Schätzkosten kilometerbezogen 19,2 Milli- (Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ onen DM, Vergabepreis 43,8 Millionen DM pro Kilome- DIE GRÜNEN]: Sie sollten ein Geschichtsbuch ter, Abrechnungspreis 66,5 Millionen DM pro Kilometer. schreiben!) (Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ Innerhalb von eineinhalb Jahren können wir die DIE GRÜNEN]: Wissmann, Waigel!) Fahrzeit von zweieinhalb auf gut eineinhalb Stunden verkürzen. Der Ausbau würde 350 Millionen DM Ich könnte nun noch die Zahlen für die Strecke Hanno- kosten. ver–Fulda–Würzburg anführen; dort ist es genauso. Demnach müsste dieser Zustand bereits seit Mitte 2001 Das heißt also: Es wird zwar überall gebaut, aber Mehrkosten haben nie eine Rolle gespielt. herrschen. Insofern gilt für alle drei Behauptungen: Wort- bruch, Wortbruch, Wortbruch! Das ist skandalös, weil das (Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ Projekt durch Dumpingzusagen kaputtgemacht worden DIE GRÜNEN]: Wissmann, Waigel!) ist, die später nicht eingelöst worden sind. Ausgerechnet beim Erstlingsanwendungsfall Transrapid Am 26. Januar 2000 stellte Mehdorn im Verkehrsaus- sollte, was es noch nie in der Vergangenheit gegeben hat, schuss fest: exakt zum Schätzkostenpreis abgerechnet werden. Das ist ein Skandal. Ich will diese Technologie in meinem System nicht haben. (Beifall bei der CDU/CSU) 1738 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2003

Dirk Fischer (Hamburg) (A) Ich komme zum Ende. die Entwicklung und Erprobung der Magnetschwebetech- (C) nik, und zwar ideell und finanziell. Die staatliche Unter- (Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ stützung beginnt im Jahre 1969 mit der Studie über ein DIE GRÜNEN]: Zum Schluss reicht schon! Hochleistungsschnellverkehrssystem, die so genannte Zum Ende müssen Sie nicht kommen!) HSB-Studie, die vom damaligen Verkehrsminister Georg Das Transrapidprojekt Berlin–Hamburg ist nicht nur das Leber initiiert wurde. einzige, sondern verglichen mit anderen unverändert das (Eduard Oswald [CDU/CSU]: Respekt! – verkehrlich und betriebswirtschaftlich beste Fernver- Renate Blank [CDU/CSU]: Da wart ihr noch kehrsprojekt, das es überhaupt gibt. Es besteht eine volle zukunftsweisend!) Entscheidungsoption. Deswegen sollte heute im Rahmen der Abstimmung über unseren Antrag der Lackmustest im Zur Internationalen Verkehrsausstellung im Jahre 1979 Hinblick auf die Glaubwürdigkeit der Worte von Schröder in Hamburg fährt die weltweit erste für den Personenver- und Stolpe stattfinden, darüber also, ob sie bereit sind, kehr zugelassene Magnetschwebebahn auf einer Strecke ihre Ankündigungen umzusetzen. von 900 Metern. 1981 wird eine Versuchs- und Planungs- (Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: gesellschaft für Magnetschwebebahnsysteme gegründet. Richtig!) Die Gesellschafter sind die Deutsche Bundesbahn und die Deutsche Lufthansa. Stolpe im „Focus“ am 30. Dezember 2002: Von 1984 bis 1987 wird die Transrapidversuchsanlage Das hat ausgereicht, zum Transrapidfan für Ber- im Emsland gebaut. 1989 gibt die damalige Bundesregie- lin–Hamburg zu werden. Ich wollte die Strecke rung grünes Licht für die Strecke zwischen den Flughäfen bauen. Denn wir hatten in rasanter Zeit alle Verfah- Düsseldorf und Köln/, die bekanntlich nicht reali- ren bis zur Baureife durchgezogen. siert wurde. 1994 beschließt die damalige Bundesregie- Es muss also Wort gehalten werden; sonst ist das ein rung die Realisierung der Strecke Hamburg–Berlin und neuer Fall nach dem Motto: Versprochen und dann wieder im Februar 2000 stellen der Bund, die DB AG und die In- gebrochen! Ich kann Minister Stolpe nur auffordern: Er- dustrie, damals Daimler-Chrysler mit Adtranz, Siemens füllen Sie sich Ihren Traum! Ich fordere die Koalitions- und Thyssen, gemeinsam, Herr Fischer, fest, die Strecke fraktionen auf: – nicht zu realisieren. (Dirk Fischer [Hamburg] [CDU/CSU]: Das ist Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: schlicht und ergreifend die Unwahrheit! Der Bund ist ausgestiegen! Das konnte die Industrie Herr Kollege, Sie sind jetzt zwei Minuten über der Zeit. (B) nicht allein!) (D) – Ich würde Ihnen anraten: Lesen Sie einfach einmal Dirk Fischer (Hamburg) (CDU/CSU): meine Pressemitteilung dazu nach! Sie sammeln ja solche – Helfen Sie mit, dass Stolpes Träume und Schröders Pressemitteilungen. Wünsche erfüllt werden! Das führt zu drei weiteren Beschlüssen. Aus den ver- anschlagten Haushaltsmitteln für das Transrapidprojekt Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: werden 1 Milliarde DM für den Ausbau der schnellen Schienenverbindung Hamburg–Büchen–Berlin reser- Herr Kollege! viert. Die zweite Verabredung lautet: Mit der DB AG und der Industrie werden Vereinbarungen für den Weiterbe- Dirk Fischer (Hamburg) (CDU/CSU): trieb der Versuchsanlage Lathen getroffen. Es wird weiter die Vereinbarung getroffen, zügig eine neue Anwen- Lassen Sie uns das Projekt wieder aufgreifen! Stimmen dungsstrecke zu finden und im Rahmen eines Technolo- Sie für unseren Antrag! giesicherungsprogramms Ressourcen vorzuhalten. Diese (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- dritte Entscheidung lautet, im Zusammenhang mit den neten der FDP – Eduard Oswald [CDU/CSU]: Ländern neue Anwendungsstrecken zu finden. Das Er- Der Kollege Fischer ist nicht zu bremsen! Da gebnis kennen Sie: die Transrapidstrecke München–Mün- bremst man leichter den Transrapid, aber nicht chen/Flughafen und der Metrorapid. den Kollegen Fischer!) Ich denke, dass dieser kurze Rückblick zeigt, dass die Union die Diskussion nicht redlich führt. Nämlich egal ob Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: sozialdemokratisch oder unionsgeführte Regierungen, sie alle haben sich bemüht, dieses Projekt in Deutschland auf Das Wort hat jetzt die Parlamentarische Staatssekretä- die Spur zu bringen. Zumindest ist es uns gelungen, es rin Angelika Mertens. schon einmal in China zu realisieren. Ich werfe Ihnen übrigens keine Technikfeindlichkeit Angelika Mertens, Parl. Staatssekretärin beim Bun- vor, obwohl Sie es in 16 Jahren nicht geschafft haben, desminister für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen: diese oder irgendeine andere Anwendungsstrecke Realität Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Seit über werden zu lassen. Der Wunsch allein reicht eben nicht; er 30 Jahren fördern die verschiedenen Bundesregierungen genügt bei keinem Verkehrsprojekt. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2003 1739

Parl. Staatssekretärin Angelika Mertens (A) Sie hätten das Eckpunktepapier für die Strecke Ham- – Was denn nun, Herr Fischer? Mit welcher Seriosität Sie (C) burg–Berlin vor der Wahl 1998 zu einer Finanzierungs- dieses Thema behandeln, haben Sie vorhin schon vorge- vereinbarung machen können. Sie haben es nicht getan. führt. Ich habe es gar nicht für möglich gehalten, dass Sie Sie haben auch keinen der sonst üblichen und beliebten das, was Sie im Interview gesagt haben und was ich mir Spatenstiche gemacht. Dafür muss ich Sie fast loben, noch einmal herausgesucht habe, auch noch wiederholen denn Sie haben damit wirklich sehr verantwortungsvoll würden. gehandelt. Sie verschweigen nämlich, dass in diesem Eckpunktepapier einige Sachverhalte stehen, die Sie jetzt (Heiterkeit bei der SPD) nicht mehr wahrhaben wollen. Die dort vorgesehene Risi- Ich rufe es noch einmal ins Gedächtnis. Sie haben ge- koaufteilung war abenteuerlich. Wir haben damals ver- sagt: Im gleichen Moment bauen wir die Strecke sucht, das Projekt zu retten und sind Klinken putzen ge- Köln–Rhein/Main; bei der Grundsatzentscheidung habe gangen. Ich war damals verkehrspolitische Sprecherin der der Schätzpreise 3,35 Milliarden DM betragen, der Ver- Fraktion. Mir ist besonders die Hamburger Handelskam- gabepreis habe 7,71 Milliarden DM betragen und abge- mer im Gedächtnis geblieben. Mit so viel heißer Luft hätte rechnet würden jetzt über 10 Milliarden DM. Deswegen ich mir auch die Haare föhnen können. sagen Sie: Hätte man den Transrapid gleich behandelt, (Heiterkeit bei der SPD und dem BÜND- hätte die Strecke über 18 Milliarden DM kosten können. NIS 90/DIE GRÜNEN) Das wäre Gleichbehandlung gewesen. Ich finde das umso bedauerlicher, als es gerade in Ham- Genau das ist Ihr Problem. Die Verbindung burg eine Menge Vorzeigeunternehmer gibt. Köln–Rhein/Main ist übrigens nicht unser, sondern Ihr Projekt. Das war Ihre Verantwortung. Wir haben damals Um die Jahreswende flammte dann mit den üblichen nicht regiert. Verdächtigen das Thema Transrapid Hamburg–Berlin wieder auf. Der erste Höhepunkt war ein Interview mit (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ dem verkehrspolitischen Sprecher Dirk Fischer, der gleich- DIE GRÜNEN – Dirk Fischer [Hamburg] zeitig Landesvorsitzender der CDU Hamburg ist. Er be- [CDU/CSU]: Was heißt „unser Projekt“? – hauptete in diesem Interview zum Beispiel, der Unterhalt Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ für die Schienenwege werde aus dem Staatshaushalt be- DIE GRÜNEN]: Wissmann, Waigel, Dürr!) zahlt. Was ist das eigentlich für eine Argumentation? Beim Um- (Dirk Fischer [Hamburg] [CDU/CSU]: Das ist gang mit Steuergeldern gehen Sie nach dem Motto vor: doch so!) Darf es vielleicht ein bisschen mehr sein? Wir haben deut- lich gesagt, Hamburg–Berlin werde sich nicht wiederho- (B) – Große Frage: Wofür erhebt dann die DB AG Trassen- len. Es muss für beide jetzt anstehenden Projekte klare (D) preise? Es ist auch egal. Konditionierungen geben. Die Projekte werden Schritt für Das Interview hat den Bürgermeister jedenfalls unter Schritt abgearbeitet. Der erste Stichtag ist der 4. Februar Druck gesetzt. dieses Jahres, wenn NRW sein Finanzierungskonzept vor- legt. (Dirk Fischer [Hamburg] [CDU/CSU]: Ist das denn nicht so?) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Es gab dann im Senat eine große Debatte darüber und einen Beschluss. Ich zitiere das „Hamburger Abendblatt“ vom 8. Januar, das unter der Überschrift „Transrapid – Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Beust gibt nicht auf“ schreibt: Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Horst Friedrich. Bürgermeister Ole von Beust (47), CDU, will einen Brief an das Transrapidkonsortium schreiben. Darin Horst Friedrich (Bayreuth) (FDP): erfragt er die Bedingungen, zu denen die bereits ver- worfene Strecke Hamburg–Berlin doch noch gebaut Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen werden könnte. und Kollegen! Ich habe heute zum ersten Mal etwas Probleme – das gebe ich zu –, einen Antrag, der feder- Ich hatte eine Nachmeldung zum Bundesverkehrs- führend von meinem Freund Dirk Fischer formuliert wor- wegeplan erwartet, aber der Berg kreißte nur. Es geht aber den ist, inhaltlich ausführlich zu behandeln. Man kann mit insofern noch weiter, als es einen Bericht über eine Fahrt heißem Herzen darangehen und sagen: Augen zu und des Bürgermeisters mit dem ICE 3 von Hamburg nach durch, volle Unterstützung. Berlin gibt – ich zitiere –: Niemand kann der FDP und insbesondere mir vorwer- Wenn die Fahrzeit der Eisenbahn von Hamburg nach fen, dieses Projekt nicht in allen Phasen der Planung un- Berlin wesentlich verkürzt wird, dann hat die Trans- terstützt zu haben. rapidverbindung zwischen den beiden größten Städ- ten Deutschlands für den Hamburger Senat nicht (Beifall bei der FDP) mehr Priorität. Man kann aber auch mit kühlem Kopf darangehen statt (Dirk Fischer [Hamburg] [CDU/CSU]: Da mit heißer Luft, wie von Frau Staatssekretärin angeboten. ist ja nichts! Wir haben ja die Entschei- Dazu kann ich übrigens nur sagen: Was der Minister im dungsoption!) Zusammenhang mit dem Metrorapid derzeit an heißer 1740 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2003

Horst Friedrich (Bayreuth) (A) Luft produziert, reicht mindestens aus, um sich die Haare niemand weiß, wohin Sie eigentlich wollen. Ich sage Ih- (C) zu föhnen. nen hier: Nach wie vor wollen Sie die Technik eigentlich nicht. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Renate Blank [CDU/CSU]: (Beifall bei Abgeordneten der FDP sowie der Um uns allen die Haare zu föhnen!) Abg. Renate Blank [CDU/CSU] – Zuruf von der SPD: Das ist falsch!) Bei Abwägung aller Fakten muss man realistischer- weise aber einmal zur Kenntnis nehmen, wie der Sach- Was Sie bisher betreiben, ist, um Herrn Gabriel zu stand ist. Der Sachstand ist: 19 von 20 Planfeststellungs- zitieren, tatsächlich Voodoo-Mathematik. Sie sagen: abschnitten für den Transrapid Hamburg–Berlin sind 2,3 Milliarden Euro stehen im Bundeshaushalt zur Verfü- abgeschlossen. Die Planfeststellung ist aufgehoben. Das gung, irgendwann ab dem Jahr 2006. Sie versprechen Magnetschwebebahnbedarfsgesetz ist aufgehoben. Nordrhein-Westfalen mehr. Sie versprechen aber auch, dass das nicht zulasten des Projekts in Bayern geht. Ich In die Bahnstrecke Hamburg–Berlin, das VDE-Pro- kann der Antwort der Bundesregierung vom 24. Januar jekt 2, sind seit 1991 1 935 Millionen Euro verbaut wor- entnehmen: Verpflichtungsermächtigungen in Höhe von den, also auch ein bisschen mehr, als bei den Anhörungen 2,3 Milliarden Euro sind in folgenden Fälligkeiten zu zah- zum Transrapid damals genannt worden ist. Das war not- len: im Haushaltsjahr 2004 200 Millionen Euro, im Haus- wendig, damit dort mit einer Geschwindigkeit von haltsjahr 2005 300 Millionen Euro, im Haushaltsjahr 230 Stundenkilometern gefahren werden kann. Nun sind 2006 400 Millionen Euro. Das sind zusammen, wenn ich weitere knapp 700 Millionen Euro nötig, damit dort richtig rechne, 900 Millionen Euro. Im Jahr 2006 aber soll tatsächlich 230 Stundenkilometer gefahren werden kön- nach Aussagen der Landesregierung NRW der Metrorapid nen. Die Finanzierungsvereinbarung geht bis ins Jahr 2004. bereits fahren, weil dann die Fußballweltmeisterschaft Dann werden wir 2,6 bis 2,7 Milliarden Euro in die Eisen- dort stattfindet. Wie das funktionieren soll, nachdem Sie bahn investiert haben und wird – hoffentlich – mit einer noch nicht einmal mit der Planfeststellung begonnen ha- Geschwindigkeit von 230 Stundenkilometern gefahren ben, müssen Sie der schlauen Öffentlichkeit erklären. werden können. Angesichts dessen ist zu fragen: Ist da- nach – die Realisierung wird sicherlich später sein – der Nein, liebe Freunde, wenn wir tatsächlich lernen wol- Transrapid noch zu finanzieren? len, dann müssen wir uns ein Beispiel an China nehmen: Die haben es in zwei Jahren nicht nur geschafft, den Vor dem Hintergrund hätte ich mir gewünscht, dass wir Transrapid zu planen, sie haben ihn auch noch gebaut und als Opposition Herrn Stolpe einmal festnageln, was seine inzwischen in Betrieb genommen. Aussagen zu den beiden von der jetzigen Mehrheit ins Auge gefassten Transrapidprojekten angeht. Was sich täg- (Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ (B) lich aus dem Blätterwald, aus Agenturmeldungen zu Aus- DIE GRÜNEN]: Na ja, einmal!) (D) sagen des Verkehrsministers, zu Dementis, zu wider- Wir diskutieren in zwei Jahren – das sage ich Ihnen vo- sprüchlichen Aussagen der Landesregierung NRW über raus – immer noch, ob eine Finanzierung des Metrorapid die staunende Öffentlichkeit ergießt, ist fast schon Legion. seriös dargestellt werden kann oder nicht. Das ist unser ei- (Detlef Parr [FDP]: Stolpe stolpert!) gentliches Problem in Deutschland. Daran sollten wir ar- beiten. Offensichtlich wird von Ihnen, liebe Kollegen von Rot- Grün, genau das vollzogen, was Sie uns bei der Strecke (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Hamburg–Berlin immer vorgeworfen haben. Offensicht- der CDU/CSU) lich gilt das Prinzip: Augen zu und durch! Auf Teufel komm raus, egal welche Unterlagen vorliegen, dieses Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Projekt soll offensichtlich gepuscht werden. Gleichzeitig erklärt der Verkehrsminister immer wieder, dass die Zah- Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Ali Schmidt, Bünd- len natürlich belastbar sein müssen. Nur, was belastbar ist, nis 90/Die Grünen. definiert offensichtlich er. Wenn man alles zusammen nimmt, ist eines sicher: Das Albert Schmidt (Ingolstadt) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN): Land NRW wird, wenn es denn auch nur eine Chance ha- ben will, den Metrorapid zu realisieren, zumindest eine Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bürgschaftsverpflichtung in Höhe von 600 bis 700 Milli- Herr Kollege Fischer, man sollte nicht versuchen, verlo- onen Euro eingehen müssen. Ohne das wird sich das Pro- rene Schlachten von gestern noch einmal schlagen und im jekt – da können Sie rechnen, was Sie wollen – nicht rea- Nachhinein gewinnen zu wollen. Sie kommen mit Ih- lisieren lassen. Dazu aber gibt es Landtagsbeschlüsse in rem Antrag und mit Ihrem Redebeitrag heute drei bis NRW, die ganz anders aussehen. Der grüne Koalitions- vier Jahre zu spät. partner hat es ja schon abgelehnt, dass das Land auch nur (Annette Faße [SPD]: Rückwärtsgewandt!) bürgschaftsmäßig eine Verpflichtung übernimmt. Der Transrapid Hamburg–Berlin ist aus heutiger Sicht (Detlef Parr [FDP]: Sehr richtig! So ist das!) eine Geisterbahn. Die Debatte darüber ist eine Geister- Ich wünsche viel Vergnügen bei den Diskussionen. debatte. An Geisterdebatten beteilige ich mich nicht. Ich halte das übrigens insgesamt für eine unseriöse (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Diskussion. Sie führen wieder eine Diskussion, bei der und bei der SPD) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2003 1741

(A) Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: stimmte Grundlagen brauchen, das heißt, dass wir solide (C) Bedingungen definieren müssen. Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Fischer? (Dirk Fischer [Hamburg] [CDU/CSU]: Sie ha- ben den Antrag doch abgelehnt!) Albert Schmidt (Ingolstadt) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Diese Bedingungen sind ein – was die Investitionen anbe- NEN): trifft – belastbares Finanzierungskonzept und darauf auf- setzend Wirtschaftlichkeitsberechnungen – die im Laufe Ich habe noch gar nichts gesagt, insofern kann er noch der Planungen fortzuschreiben sind –, die auch zeigen, gar nichts Vernünftiges fragen. dass nachher im Betrieb, nachdem eine solche Technolo- (Heiterkeit beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gie in Deutschland irgendwo zur Anwendung gekommen und bei der SPD – Hans-Michael Goldmann ist, nicht dauernd rote Zahlen eingefahren bzw. weitere [FDP]: Dann kann er dich ja nie etwas fragen! – Subventionen des Steuerzahlers verlangt werden. Über Heiterkeit bei der FDP und der CDU/CSU) diese beiden Grundlagen sollten wir uns im ganzen Hause einig sein. Alles andere würde in der Tat bedeuten, dass Liebe Kolleginnen und Kollegen, nach den zig Debat- man nach dem Motto „Augen zu und durch“ handelt. Das ten, die wir zum Thema Hamburg–Berlin schon hatten wäre dann unseriös. und die wir nicht um eine weitere Debatte verlängern soll- ten, will ich zu dem Thema reden – – Im Vorfeld des für den 4. Februar angekündigten Finan- zierungskonzeptes aus Nordrhein-Westfalen hatte ich nun (Dirk Fischer [Hamburg] [CDU/CSU]: Die ent- erwartet, dass seitens der Industrie ein klares Signal kommt, scheidende Frage ist, wie Sie die Äußerungen dass man mit dem Wort von der Public Private Partnership, des Ministers bewerten!) also der Partnerschaft zwischen öffentlichen Investoren und – Sie lassen mich ja nicht reden. privaten Investoren, Ernst macht und wirklich einen sub- stanziellen Beitrag einbringt. Das, was bisher zu hören und (Dirk Fischer [Hamburg] [CDU/CSU]: Was zu lesen ist, dass es zweimal 100 Millionen Euro als Darle- sagen Sie zu Stolpes Zitaten?) hen – rückzahlbar – seitens der Industrie geben soll oder ge- – Herr Stolpe hat gesagt, das sei seine Traumstrecke. ben könnte, ist enttäuschend. Im Klartext: Die Enttäu- Träumen darf man ja, aber hier im Plenum des Deutschen schung all derjenigen, die erwartet hatten, die privaten Bundestages wollen wir hart und vernünftig miteinander Investoren würden jetzt Schlange stehen, um an dieser, rechnen und entscheiden. Herr Kollege Fischer, so erfolgreichen Technologie und auch nachher an der Rendite beteiligt zu sein, ist groß. Wir (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN stellen stattdessen fest, dass die Wirtschaft, die Industrie (B) (D) und bei der SPD – Dirk Fischer [Hamburg] nicht mit Risikobereitschaft zur Sache geht, sondern das [CDU/CSU]: Herr Stolpe hat gesagt, er hält die Risiko auf die Steuerzahler abwälzt. Erhoffte Gewinne hin- Strecke für machbar!) gegen sollen privatisiert werden. Jetzt aber zur Sache. Um was geht es? Lassen Sie mich (Dirk Fischer [Hamburg] [CDU/CSU]: Wie ist hier realistisch von den möglichen Anwendungsper- das eigentlich bei der Bahn? Das kann doch spektiven dieser Technologie in Deutschland reden, die wohl nicht wahr sein!) hier und heute zur Diskussion stehen. Kollege Horst Friedrich hat mit Recht angemahnt, dass man von einer – Lieber Herr Kollege Fischer, das ist nicht Public Private cleveren Opposition eigentlich einen ganz anderen Antrag Partnership, sondern eine falsche Akzentsetzung. Das ist hätte erwarten müssen; das ist aber Ihr Problem. unseres Erachtens keine gute Grundlage für ein solches Konzept. Ich möchte Ihnen sagen, dass wir sehr bewusst nicht das Verfahren „Augen zu und durch“ gewählt haben und (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN so- wählen werden. wie bei Abgeordneten der SPD – Dirk Fischer [Hamburg] [CDU/CSU]: Sie sind doch völlig (Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Warten wir unglaubwürdig! Bei der Bahn wird genau das es mal ab! – Dirk Fischer [Hamburg] [CDU/ Gegenteil gemacht!) CSU]: Wir haben keine Unterlage! Nichts!) – Herr Kollege Fischer, regen Sie sich doch ab! Im Vielmehr haben wir bereits im Februar letzten Jahres Grunde genommen äußere ich doch die gleiche Kritik wie die prinzipielle Zusage gemacht – wir haben sie im Koa- Ihre Freunde in Nordrhein-Westfalen. litionsvertrag zu Beginn dieser Legislaturperiode erneu- Ich will darauf aufmerksam machen, dass der Bund ert –, dass der Bund bereit ist, an der Anwendung dieser bereit ist, über die 2,3 Milliarden Euro hinaus nochmals Technologie in Deutschland mitzuwirken und sie mit bis 338 Millionen Euro in die so genannten Sowieso-Maß- zu 2,3 Milliarden Euro an Bundeszuschüssen zu unter- nahmen, die Infrastrukturmaßnahmen nach dem Bundes- stützen. schienenwegeausbaugesetz, zu investieren. Wenn den- (Renate Blank [CDU/CSU]: Ohne Beteiligung noch ein Kreditbedarf in Höhe von knapp 700 Millionen des Parlaments!) Euro übrig bleibt, müssen schon ein paar Fragen offen und ehrlich beantwortet werden. Wir alle sollten uns hier aber, liebe Frau Kollegin Blank, einig sein, dass wir bei Finanzierungszusagen Die erste Frage lautet: Wer ist eigentlich der Kreditneh- in einer solchen Größenordnung selbstverständlich be- mer dieser 679 Millionen Euro? Denn der Kreditnehmer ist 1742 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2003

Albert Schmidt (Ingolstadt) (A) nachher Rückzahlungspflichtiger und Zinsschuldner. Wer (Beifall bei der CDU/CSU – Ute Kumpf [SPD]: (C) ist das eigentlich? Das Land? Wieder der Bund? Oder ist die Sie scheinen nicht zugehört zu haben!) Industrie vielleicht bereit, als Kreditnehmer und damit als Der Metrorapid hat keine verkehrspolitischen Vorteile. Risikoträger einzusteigen? Diese schlichte Frage sehe ich Die Fernreisenden müssen in oder Düsseldorf bis heute nicht beantwortet. Soll diese Rückzahlungspflicht umsteigen. Die Autofahrer werden kaum genötigt umzu- etwa auf den möglichen Betreiber, die Deutsche Bahn AG, steigen; denn 80 Prozent aller Autofahrten im Ruhrgebiet verlagert werden, was bedeuten würde, dass Mindererlöse finden in einem Radius von 10 Kilometern statt. Zu glau- zu einer entsprechenden Zins- und Tilgungslast gegenüber ben, dass die Autofahrer zwischendurch auf den Metrora- den Investitionsvorleistungen geltend gemacht werden kön- pid umsteigen, ist so töricht wie das ganze Projekt. nen? All diese Fragen werden wir in Ruhe prüfen. Der Bundesrechnungshof – ich hoffe, Sie haben das ge- Genauso müssen wir prüfen, ob sich die erneute Ver- lesen; ansonsten würde ich Ihnen, vor allem der Regie- kürzung der Züge von einstmals sechs Sektionen pro rung, empfehlen, das nachzulesen – kommt zu einem ver- Zug in der Vorstudie 2000 auf jetzt nur noch drei Sektio- nichtenden Urteil. nen pro Zug, (Zuruf des Abg. Reinhard Weis [Stendal] (Dirk Fischer [Hamburg] [CDU/CSU]: Woher [SPD]) wissen Sie das eigentlich alles?) – Wenn Sie das gelesen haben, kann ich nicht verstehen, die für die Fahrgäste mehr Stehplätze bedeutet, auf den warum Sie sich noch dafür einsetzen können. Obwohl der Komfort, auf die Nachfrage und damit die Erlössituation Bundesrechnungshof noch nicht einmal die Prognose für auswirkt. Diese Frage muss man rational diskutieren. Das das Fahrgastaufkommen und das Kostenrisiko für den werden wir tun. Wir werden uns das in aller Ruhe an- Fahrweg überprüft hat, kommt er zu dem Ergebnis, dass schauen. das Projekt nicht realisierungswürdig ist. (Dirk Fischer [Hamburg] [CDU/CSU]: Wir Die Fachkompetenz des Wissenschaftlichen Beirats haben bisher keine Informationen!) beim Bundesminister für Verkehr wurde nicht genutzt, so Dann werden alle an dem Projekt Beteiligten eine sehr stellt der Bundesrechnungshof fest. Die Alternativlösun- gen modernerer Rad-Schienen-Technik sind nicht unter- verantwortliche Entscheidung zu treffen haben. sucht worden. Die versprochene Inbetriebnahme zur Fuß- Lassen Sie uns die Planungen vertiefen, um eine Ent- ballweltmeisterschaft 2006 ist unrealistisch. scheidungsgrundlage mit präzisen Daten und realitätsnahen (Zuruf von der SPD: Sie sollen über Kosten- und Risikoabschätzungen herzustellen! Lassen Sie Berlin–Hamburg reden!) uns dafür Sorge tragen, dass der Bund bei den Planungsmit- (B) teln mithilft, damit wir gemeinsam entscheiden können, ob Der Kosten-Nutzen-Quotient liegt bei unter 1 Prozent, (D) das entstehende Projekt wirklich tragfähig ist! Lassen Sie sagt der Bundesrechnungshof. uns auch darauf achten, dass es im Verlauf der weiteren Pla- (Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ nungen, bei der Planfeststellung und bei der Ausschreibung, DIE GRÜNEN]: 1 Prozent!) Revisionspunkte gibt, an denen wir gemeinsam feststellen können und sollten, ob die Grundannahmen bestätigt wur- Dabei sind Kosten für Park-and-Ride-Anlagen, Schall- den oder die Kosten aus dem Ruder laufen. Diese Korrek- schutz und Instandhaltung von Fahrweg und Bahn gar turmöglichkeiten müssen wir uns im Interesse aller Betei- nicht erst untersucht worden. ligten offen halten. Auch dafür werden wir uns einsetzen. Der Bahnexperte Reimeier warnt ebenfalls vor der Kollege Fischer, in diesem Sinne sage ich: Nicht die Realisierung. Er sagt einen Verlust in Höhe von jährlich Strecke Hamburg–Berlin ist das Thema, sondern ein ver- 90 Millionen Euro voraus. nünftiger Umgang mit den anderen möglichen Anwen- In diesem Zusammenhang sind Fragen an die Indus- dungsstrecken. trie, was sie dazugeben werde, unsinnig. Eine Industrie, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN die in ein Projekt investiert, das nachweislich defizitär und bei der SPD) sein wird, wird in Deutschland nicht mehr lange Arbeits- plätze vorhalten können.

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Wir haben es also mit Dauerinvestitionen in riesiger Höhe zu tun, die angesichts geringer Verkehrswirkungen Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Norbert nicht zu verantworten sind, so das Urteil der Fachleute. Königshofen. Das sagt auch Herr Mehdorn, der im Übrigen als Betrei- ber auftreten soll. Er war es übrigens, der die Strecke Ham- Norbert Königshofen (CDU/CSU): burg–Berlin kaputtgemacht hat, nicht die Industrie. Es war die Bahn AG, die mithilfe des Bundes das Projekt kaputt- Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe gemacht hat. Das will ich festhalten, Frau Staatssekretärin. Kolleginnen und Kollegen! Wenn man die Einlassungen der Vertreter der rot-grünen Koalition hört, kann man ei- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) gentlich nur noch mit dem Kopf schütteln. Sie bekämpfen Herr Mehdorn sagt jetzt, das Projekt Metrorapid sei mit unseren Antrag und sind gleichzeitig bereit, in ein unsin- erheblichem finanziellen Risiko verbunden und er glaube niges Verkehrsprojekt in Nordrhein-Westfalen, in ein Fass nicht, dass der Bund mit den Mitteln für die Infrastruk- ohne Boden, 2 Milliarden Euro Bundesmittel zu stecken. turmaßnahmen auskommen werde. Wir sind uns dabei si- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2003 1743

Norbert Königshofen (A) cher; in diesem Punkt hat er Recht. Es stehen mittlerweile Für die beiden aussichtsreichen Landesprojekte Me- (C) 3,5 Milliarden Euro zur Verfügung. Jetzt soll gekürzt trorapid in Nordrhein-Westfalen und die Flughafenanbin- werden; Kollege Schmidt hat das angesprochen. Es soll dung in München ist Ihr Antrag als Störfeuer zu betrach- deswegen nur noch drei Sektionen geben. Laut „WAZ“ ten. Die Rede, die Norbert Königshofen hier gehalten hat, müssen die meisten Fahrgäste stehen. Es wird sehr an- bestätigt dies. Deshalb scheint mir, Kollege Fischer: Sie schaulich sein, wenn die ausländischen Gäste kommen sind ein schlechter Verlierer. und sehen, dass wir die modernste Technik in Deutsch- land haben, die Leute aber über 78 km stehen müssen. (Dirk Fischer [Hamburg] [CDU/CSU]: Was? Schlecht? – Renate Blank [CDU/CSU]: Das ist Die interessanteste Haltung in dieser Sache nehmen aber das Letzte, was man dem Kollegen Fischer un- die Grünen ein. Kollege Schmidt sagt beispielsweise, terstellen kann!) 80 Millionen Euro für Planung und Berechnung könnten wir noch zahlen. Das sei zu verkraften, wenn am Ende Sub- Wenn schon das Projekt Hamburg–Berlin nicht realisiert ventionen in Milliardenhöhe verhindert werden könnten. werden kann, dann soll wohl auch kein anderes Projekt in Deutschland realisiert werden. Anders kann man Ihren (Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ Antrag und den Beitrag, den wir eben von Norbert DIE GRÜNEN]: Das habe ich nicht gesagt!) Königshofen gehört haben, nicht verstehen. Erst einmal sollen also 80 Millionen Euro ausgegeben (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten werden. Dabei haben Sie gesagt – ich zitiere Sie wörtlich –: des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Dirk Ich bin überzeugt, dass mit jedem konkreten Pla- Fischer [Hamburg] [CDU/CSU]: Was hat das nungsschritt die Unwirtschaftlichkeit bewiesen wird. denn damit zu tun? Sie haben eine Fehlent- scheidung getroffen!) Wenn Sie davon überzeugt sind, Herr Schmidt, dann weiß ich nicht, wie Sie überhaupt noch einen Eurocent für das Die Vorstellung in Ihrem Antrag, man könne jetzt so- Projekt Metrorapid ausgeben können. fort an die Planungen vom Februar 2000 anknüpfen, ist so Meine Damen und Herren, machen Sie Schluss mit absurd, dass man nur mit dem Kopf schütteln kann. Sie diesen unsinnigen Projekten und stimmen Sie unserem wissen doch sehr genau, warum das Magnetschwebe- Antrag zu! Wir haben eine Strecke ins Auge gefasst, die bahnprojekt Hamburg–Berlin, das ursprünglich mit circa sinnvoll ist. Im Ruhrgebiet würde der Metrorapid die Si- 3 Milliarden Euro veranschlagt wurde, gescheitert ist. tuation nur verschlechtern. (Dirk Fischer [Hamburg] [CDU/CSU]: Es ist (Beifall bei der CDU/CSU – Zuruf von der nicht gescheitert! Es ist zerstört worden!) SPD: Die Strecke ist total verkehrt! – Weiterer Es beruhte auf einer Finanzierungsvereinbarung, die so- (B) Zuruf von der SPD: Dazu haben Sie doch noch wohl dem Bund als auch der DB AG unkalkulierbare Ri- (D) kein Wort gesagt, Herr Königshofen!) siken zuschob. (Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Das ist Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: beim Metrorapid aber nicht anders!) Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Reinhard Weis. Hingegen wollte die Wirtschaft nur minimale Risiken bei maximaler Sicherheit für die Refinanzierung und die Ge- Reinhard Weis (Stendal) (SPD): winne eingehen. So kann man kein Public-Private-Part- nership-Projekt durchführen. Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Dirk Fischer, dass du dir deine schönen Träume (Beifall bei Abgeordneten der SPD) von der kalten Realität nicht zerstören lässt, ehrt dich. Der Wissenschaftliche Beirat beim Bundesminister für (Dirk Fischer [Hamburg] [CDU/CSU]: Stolpe Verkehr hat 1994, also zur Zeit Ihrer Regierungsverant- hat vom Traum gesprochen, nicht von der Rea- wortung, festgestellt – und an dem Finanzierungskon- lität!) zept bemängelt –, dass man von der Industrie, wenn sie Mir scheint der von der CDU/CSU-Fraktion vorgeleg- von der Weltmarktfähigkeit des Magnetbahnprodukts te Antrag „Transrapid-Projekt Berlin–Hamburg unverzüg- überzeugt ist, eine höhere Risikobereitschaft erwarten lich wieder aufnehmen“ dem Geist der Kinotraumwelt und darf. der Erwartung auf das Happy End entsprungen zu sein. (Dirk Fischer [Hamburg] [CDU/CSU]: Bei den (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Betriebseinrichtungen und nicht bei der Strecke!) Wenigstens im Kino ist immer ein Happy End zu sehen, auch wenn dafür Fakten, Logik und die Realität noch so Dieser Satz ist wahrhaftig von hoher Aktualität. sehr strapaziert werden müssen. Wir hier im Deutschen Bundestag sind von Ihnen schon zigmal zu den Vorfüh- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: rungen Ihres Lieblingsfilms Transrapid Hamburg–Berlin eingeladen worden: Transrapid Hamburg–Berlin die Erste; Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Fischer? Transrapid Hamburg–Berlin die Zweite; heute sind wir, wie ich glaube, bei Transrapid Hamburg–Berlin die 25. Das Reinhard Weis (Stendal) (SPD): mag Sie, Kollege Fischer, vielleicht dazu veranlasst haben, jetzt alles auf den Anfang zurückdrehen zu wollen. Bitte schön. 1744 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2003

(A) Dirk Fischer (Hamburg) (CDU/CSU): dass er dieses Risiko in Ihrem Namen nicht eingegangen (C) ist. Herr Kollege, ist Ihnen bekannt, dass durch das Kon- zept Public Private Partnership die Aufgabenteilung so (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ gestaltet wurde, dass die öffentliche Hand in der Vorfi- DIE GRÜNEN – Dirk Fischer [Hamburg] [CDU/ nanzierung der Strecke und die Industrie in der Finanzie- CSU]: Es wurden Staatsgarantien verlangt! – rung der Betriebseinrichtungen ihre Pflichten hatten Werner Kuhn [Zingst] [CDU/CSU]: Wer hat das denn in unverantwortlicher Weise zurück- (Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/DIE gezogen, sodass ein Millionenschaden entstan- GRÜNEN]: Sie tun ja nicht einmal das!) den ist? Das war die SPD!) und dass sich diese Bemerkung nicht auf Streckeninvesti- Interessanterweise hat er Ihren Antrag nicht unterzeich- tionen, sondern nur auf die Betriebseinrichtungen bezog, net. Wahrscheinlich hat er sich etwas dabei gedacht. wohingegen später von der Industrie verlangt wurde, in den Verantwortungsbereich der öffentlichen Hand einzu- Erneute detaillierte Überprüfungen der Wirtschaft- treten und sich auch an der Strecke zu beteiligen? Können lichkeit der Strecke Hamburg–Berlin führten im Sommer Sie mir darin zustimmen? 2000 zum endgültigen Aus für das Projekt. Ich wiederhole es: Dies geschah einvernehmlich zwischen den Partnern der trilateralen Vereinbarung, also der Industrie, der DB Reinhard Weis (Stendal) (SPD): AG und dem Bund. Wir hatten uns die damalige Ent- Das kann ich so nicht anerkennen, lieber Kollege scheidung nicht leicht gemacht; darüber haben wir hier im Fischer, Plenum bereits debattiert. (Dirk Fischer [Hamburg] [CDU/CSU]: Das (Renate Blank [CDU/CSU]: Das war der Be- steht aber so im Konzept!) schluss der Grünen! Ihr seid gefolgt!) da wir den Bau einer Strecke nicht von dem Betrieb, der Von Beginn an war klar, dass eine Magnetbahnstrecke in später auf ihr stattfinden soll, trennen können. Ich werde Deutschland kein reines Verkehrsprojekt ist. Vielmehr in meinem Beitrag später noch einmal darauf hinweisen, ging und geht es auch heute noch um die Technologiepo- wie die unsichere Kalkulationsbasis für den Betrieb und litik. Aus diesem Grunde waren unter Ihrer Verantwor- die Finanzierungsbedingungen für die Strecke miteinan- tung 1994 alle Bundesressorts aufgefordert, zur Finanzie- der verwoben sind. rung des Projektes rund 40 Prozent der Investitionsmittel beizusteuern. Logischerweise kam der größte Anteil aus (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ dem Verkehrshaushalt. DIE GRÜNEN) (B) Dieses Konzept der Technologiepolitik ist weiterhin (D) Auch der Bundesrechnungshof hat zu der übermäßi- aktuell. Das ist auch die Begründung dafür, dass wir in un- gen Risikobelastung der DB AG – jetzt bin ich bei dem serer Koalitionsvereinbarung einen Bundeszuschuss in Thema – und des Bundes sehr kritisch Stellung genom- Höhe von 2,3 Milliarden Euro vereinbart haben. men. Die Systemhersteller hatten von der DB AG seiner- zeit ein garantiertes Nutzungsentgelt zur Refinanzierung Nach der Entscheidung gegen die Strecke Ham- ihres Einsatzes verlangt. Die Zahlungen sollten unabhän- burg–Berlin, zu der meine Fraktion nachdrücklich steht gig von den tatsächlichen Erlösen erfolgen und notfalls und nach der wir konsequenterweise das Magnetschwe- sogar aus den DB-Mitteln an die Industrie entrichtet wer- bebahnbedarfsgesetz außer Kraft gesetzt haben, war es den. Diese Kritik des Bundesrechnungshofes machte da- uns wichtig, sicherzustellen, das angesammelte Know- mals Furore. Ich verweise auch hier auf die Parallelität zur how in Sachen Magnetschwebetechnik für den Industrie- aktuellen Debatte. standort Deutschland zu erhalten. Deswegen sollten wir heute lieber über zukunftsfähige Projekte als über begra- (Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ bene Träume reden. DIE GRÜNEN]: Richtig! Sehr gut!) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Zu einer endgültigen Finanzierungsvereinbarung zwi- DIE GRÜNEN – Dirk Fischer [Hamburg] schen dem Bund, der DB AG und den privaten Herstellern [CDU/CSU]: Das ist doch der Metrorapid ist es im Sommer 1998, als die Beteiligten es eigentlich nicht!) erwartet hatten, übrigens nicht mehr gekommen, weil die Industrie keine Risiken eingehen und sie beim Bund und Von den durch die Bundesländer vorgeschlagenen kur- bei der DB AG abladen wollte. zen Referenzstrecken erschienen die in Nordrhein-West- falen und Bayern am aussichtsreichsten. Ende Februar fiel (Annette Faße [SPD]: Unter Minister deshalb die Entscheidung, die ausgewählten Landespro- Wissmann! – Gegenruf des Abg. Hans-Michael jekte mit den industriepolitisch begründeten Zusagen zu Goldmann [FDP]: Das ist aber lange her!) bezuschussen. – Ja, unter Minister Wissmann. – Die Staatssekretärin hat Nun hat die öffentliche Diskussion über die Magnet- darauf hingewiesen, dass Sie es in Ihrer Regierungsver- schwebebahntechnik durch die erfolgreiche Probefahrt in antwortung in der Hand gehabt haben, die von Ihnen Schanghai enormen Rückenwind bekommen. Es wäre heute eingeklagten Schritte einzuleiten. Sie müssen gut, wenn beide Landesprojekte, Metrorapid und Anbin- Bundesminister Wissmann, der die Finanzierungsverein- dung an den Flughafen München, realisiert werden könn- barung seinerzeit nicht unterschrieben hat, dankbar sein, ten. Beide Projekte sind, obwohl Nahverkehrsprojekte, Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2003 1745

Reinhard Weis (Stendal) (A) unterschiedlich strukturiert, sodass mit beiden Projekten höhung nicht 2003, sondern erst zu einem späteren Zeit- (C) die Anwendungsbreite dieser Technologie demonstriert punkt ansteht, nämlich dann, wenn alle relevanten Fakten werden könnte. nach Durchführung des Planfeststellungsverfahrens auf Aber es ist doch interessant, dass zurzeit aus der CSU dem Tisch liegen. Wir wollen eine verantwortbare Ent- Zweifel an der Wirtschaftlichkeit der Magnetschwebe- scheidung zur Magnetschwebetechnik. Deshalb muss bahnverbindung zum Flughafen München geäußert wer- man einen Revisionspunkt bestimmen, an dem man noch den. ergebnisoffen entscheiden kann, an dem man dann aber auch entscheiden muss. Dieses Verfahren wenden wir (Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ übrigens auch bei dem Projekt „Stuttgart 21“ an. DIE GRÜNEN]: Zum Glück!) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Wir stehen also mit unseren Bedenken nicht allein. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Von wem Wenn das erforderliche finanzielle Engagement der wurden Zweifel geäußert?) Industrie verbrieft ist und das Land NRW Planung und – Reden Sie einmal mit dem Finanzminister des Freistaa- Finanzierung garantiert, wird die SPD-Bundestagsfrak- tes Bayern! tion nicht abseits stehen. Wir werden dann die Mittel im vereinbarten Umfang bereitstellen, aber erst dann und Das Land Bayern muss ein schlüssiges Finanzierungs- nicht vorher. konzept vorlegen. (Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Aus (Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: welchem Haushalt denn?) Schlüssiger als das in NRW!) In diesem Zusammenhang möchte ich noch einmal daran – Weil der Zeitpunkt noch nicht reif ist – die Entwicklung erinnern, dass es sich um ein Technologieprojekt für den dauert noch an –, können wir heute noch nicht darüber re- Standort Deutschland handelt. Der Bundesbeitrag zu die- den. sem Projekt, der heute zur Verfügung steht, ist von allen Positiv ist der Planungsfortschritt beim Metrorapid zu Ressorts gemeinsam aufgebracht worden. Das muss bewerten. Eigentlich hatten wir damit gerechnet, erst selbstverständlich auch für eventuell anfallende Mehrkos- 2004 Barmittel in den Bundeshaushalt einstellen zu müs- ten gelten. sen. Nordrhein-Westfalen wird in den nächsten Tagen alle (Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Das ist der Hausaufgaben machen und sie uns vorlegen. Wir rechnen Stand von vor vier Wochen! Du bist nicht auf auch mit einer verbindlichen Erklärung über die finanzi- (B) (D) dem aktuellen Stand!) ellen Verpflichtungen des Landes. Bisher ist dies durch ei- nen Landtagsbeschluss aus dem vorigen Jahr ausge- Wir freuen uns, dass der Prozess in Fahrt gekommen ist. schlossen. Das kann so nicht bleiben. Deshalb werden wir uns dafür einsetzen, nötige Pla- nungsmittel aus dem zugesagten Plafond für Nordrhein- (Norbert Königshofen [CDU/CSU]: Die sind Westfalen in Höhe von 1,75 Milliarden Euro bereits ab doch pleite!) 2003 zur Verfügung zu stellen, sofern ein tragfähiges So weit der Stand der beiden Landesprojekte, die wir mit Finanzierungskonzept vorgelegt wird. Wir erwarten das großen Hoffnungen hinsichtlich ihres verkehrstechnolo- offiziell am 4. Februar. gischen Entwicklungspotenzials begleiten und natürlich Umso unverständlicher ist die weiter zögerliche Hal- auch mit den unter den genannten Konditionen zugesag- tung der beteiligten Industrie, bei der Realisierung des ten Bundesmitteln unterstützen werden. Metrorapid echte Risiken zu übernehmen. Wir unterstüt- (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Das ist genau zen ausdrücklich Bundesminister Stolpe, für den die Be- das, was die Bürger ärgert! Dummes Zeug ist teiligung von Thyssen-Krupp und Siemens am Risiko tra- das!) genden Kapital – im Gespräch sind 200 Millionen Euro – eine unabdingbare Voraussetzung ist, um zusätzliche Mit- Meine Damen und Herren, hier in Berlin startet in die- tel für das Metrorapidprojekt bereitzustellen. Für ihn ist sen Tagen die Berlinale. Ihr Antrag, Herr Fischer, war der das eine Conditio sine qua non. In diesem Sinne lehnt es erste Beitrag in der Rubrik „Play it again“. Minister Stolpe ab, der DB AG als zukünftigem Betreiber Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. die Übernahme des Betriebsrisikos und die Last der Refi- nanzierung eines Kredites der Industrie für deren ver- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ meintliche zusätzliche Risikobeteiligung aufzuerlegen. DIE GRÜNEN – Horst Friedrich [Bayreuth] Auch darin hat er unsere Unterstützung. [FDP]: Hoffentlich holt Sie diese Aussage nicht noch ein, Herr Weis!) Die Presse bemüht sich zurzeit – das kam vorhin auch in dieser Debatte zum Ausdruck –, einen Dissens zwi- schen der SPD-Bundestagsfraktion und der Regierung zu Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: konstruieren. Das ist Unsinn. Wir sind uns darin einig, Das Wort hat jetzt die Kollegin Renate Blank. dass es der verbindlichen Zusage der Industrie bedarf, wenn es eine Erhöhung des Zuschussbedarfs geben soll. (Eduard Oswald [CDU/CSU]: Jetzt kommt die Wir sind uns auch darin einig, dass eine solche Mitteler- Stimme Bayerns! – Lachen bei der SPD) 1746 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2003

(A) Renate Blank (CDU/CSU): 50 Prozent, nach der Zusage des Bundeskanzlers nun weit (C) über 50 Prozent, und für Bayern mit 550 Millionen Euro nur Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Kollege ein Drittel der Gesamtkosten von 1,6 Milliarden Euro. Weis, da Sie die Transrapidstrecke in München überhaupt nicht erwähnt haben, (Eduard Oswald [CDU/CSU]: Das ist (Annette Faße [SPD]: Hat er erwähnt!) unglaublich!) frage ich Sie: Vergessen Sie eigentlich, dass Bayern auch Es kann doch nicht sein, dass der Kanzler der Genos- zum Aufbau Ost beiträgt? sen nur noch seine Genossen kennt! Welches Demokra- tieverständnis in einem föderalen Staat steckt hinter der (Lachen und Widerspruch bei der SPD) Stirn des Kanzlers, der den Bayern schon „Steine statt Kollege Weis, sie praktizieren hier dieselbe Verschiebe- Brot“ angekündigt hat, nur weil die Bayern sowohl bei technik wie im Jahr 2000, als Sie das Aus für die Transra- den Landtags- als auch bei den Bundestagswahlen richtig pidstrecke Hamburg–Berlin beschlossen hatten. Dies war entscheiden. ein unverzeihlicher Fehler; denn wie sich jetzt zeigt, ist (Eduard Oswald [CDU/CSU]: Er sollte zurück- der Verkehrsminister plötzlich zu einem großen Fan die- treten! – Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Bei ser Strecke geworden. den Landtagswahlen müssen wir erst mal (Reinhard Weis [Stendal] [SPD]: Er hat vorhin gucken! Die kommen erst noch!) von seinem Traum gesprochen!) Der Kanzler hat doch in seinem Amtseid, wenn auch ohne Sie sollten Ihren Verkehrsminister ernst nehmen und Gott, geschworen, dem Wohle des ganzen Volkes zu die- nen. Dies scheint er mehr und mehr zu vergessen. (Eduard Oswald [CDU/CSU]: Ihn loben!) Tatsache ist, dass der Transrapid in Bayern kommen auf ihn hören, meine Damen und Herren. wird, denn das CSU-Kabinett hat die Weichen für eine Die damalige Fehlentscheidung hat auch deutlich ge- schnelle Verwirklichung gestellt. Dies ist allein schon da- macht, dass die Grünen diese zukunftsweisende Technik raus ersichtlich, dass die Vorfinanzierung der Planungs- in Deutschland absolut nicht haben wollen. Frau Staatsse- kosten von 40 Millionen Euro übernommen worden ist. kretärin, im Jahr 2000 wollten Sie uns noch weismachen, (Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Von dass „man im Herbst nächsten Jahres“, also im Jahr 2001, Bayern im Gegensatz zu NRW!) in 90 Minuten von Berlin nach Hamburg gelangen könne, wie Sie auch sonst hier schon unqualifizierte Äußerungen Bayern handelt und Berlin schläft. gemacht haben. Denn noch heute braucht man für die (Beifall bei der CDU/CSU) (B) Fahrt von Hamburg nach Berlin und umgekehrt weit über (D) zwei Stunden. Um dies nachzuvollziehen, braucht man Bayern wird mit einer schnelleren Planung, die für den nur den Fahrplan zu lesen. Transrapid in München erheblich einfacher als die Pla- nungen für den Metrorapid in NRW ist, einer sicheren Nun kommen die Grünen in NRW, die den Transrapid Finanzierung und, was besonders wichtig ist, einer höhe- stets abgelehnt haben, ein bisschen in die Zwickmühle. ren Wirtschaftlichkeit dafür sorgen, dass der Transrapid Ich weiß gar nicht, wie sie sich daraus befreien wollen. in Bayern schneller als in Nordrhein-Westfalen auf den Aber auch die Bundesregierung, deren Herz nur für die Weg gebracht wird. Strecke in NRW schlägt, was sie bei der Zusammenset- zung der Delegation für die Eröffnungsfahrt in Schanghai (Eduard Oswald [CDU/CSU]: Genau!) deutlich zum Ausdruck brachte, gerät in Bedrängnis; denn Ich bin davon überzeugt, dass die erste Transrapidstrecke Anfang Februar wird die bayerische Staatsregierung ein in Bayern in Betrieb gehen wird, da Sie unseren heutigen Finanzierungskonzept für den bayerischen Transrapid Antrag zu Berlin–Hamburg ablehnen. beschließen, während in NRW die Finanzierung absolut noch nicht gesichert ist. Es ist doch grotesk, wenn die Bundesregierung auf meine schriftliche Frage am 17. Januar antwortet: (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Reinhard Weis [Stendal] [SPD]: Darüber wer- Nach derzeitigem Kenntnisstand des Bundes plant den wir ja noch reden!) das Land Nordrhein-Westfalen die Inbetriebnahme im Jahr 2006. Die nicht gesicherte Finanzierung in NRW kann aber nicht bedeuten, dass die Bundesregierung plötzlich für Welche Leichtgläubigkeit im Verkehrsministerium offen- NRW bei heruntergerechneten Kosten von 3,2 Milliarden bart sich hier! Drei Jahre für Planung und Bau sind in Euro den Zuschuss von 1,75 Milliarden Euro um 250 Mil- Deutschland eine viel zu kurze Zeit. Dies ist nur in China lionen Euro auf 2 Milliarden Euro erhöht, um Rot-Grün zu verwirklichen. Die Einschätzung Bayerns, aus der Patsche zu helfen. Das wäre eine eindeutige Be- (Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ nachteiligung Bayerns und kann nur mit rot-grünem Filz DIE GRÜNEN]: Die CSU ist die letzte große bezeichnet werden. Staatspartei, die es noch in Deutschland gibt!) (Beifall des Abg. Horst Friedrich [Bayreuth] dass der Transrapid erst im Jahr 2008/09 fahren wird, ist [FDP]) berechtigt. Ich bin gespannt, ob die Bundesregierung be- Diese verfilzte Kungelei war doch schon im Gange, als reit ist, die Transrapidstrecken in den Bundesverkehrswe- die ersten Bundeszuschüsse zugesagt wurden: für NRW fast geplan aufzunehmen, damit sich das Parlament damit be- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2003 1747

Renate Blank (A) fassen kann. Wir jedenfalls haben damals den Fahrweg heutigen Plenartages; denn wir waren mit dem jetzt zur (C) Berlin–Hamburg als wichtige Strecke aufgenommen. Diskussion stehenden Thema nicht nur in der britischen „Times“, sondern auch in vielen anderen europäischen Der Transrapid ist ein Projekt mit Signalwirkung für Medien vertreten. Die Überschriften waren ein bisschen unser Land. Diese Technologie steht für die Innovations- verwirrend. Eine lautete zum Beispiel: Müssen Schweine und Erneuerungsfähigkeit unseres Landes und ist zu- Basketball spielen? – Worum geht es? Es geht um die Um- gleich ein gewaltiges Konjunkturprogramm. Rot-Grün setzung einer europäischen Richtlinie zur Haltung von sollte danach handeln und nicht nur die Parteischiene Nutztieren in nationales Recht. Das hätte die tierschutz- fahren. orientierte rot-grüne Bundesregierung eigentlich schon (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – bis zum November 2001 tun müssen. Aber leider hat sie Eduard Oswald [CDU/CSU]: Jetzt können wir wie so oft bei diesem Thema kläglich versagt. den Antrag gleich beschließen!) (Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Warum ist denn Frau Künast nicht da? Sie könnte bei die- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: sem Thema noch etwas lernen! – Zuruf von der SPD): Das haben wir von Euch gelernt!) Ich schließe damit die Aussprache. – Nein, Herr Kollege, das hat Ihre Regierung nicht von Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf uns gelernt. Ich hoffe, dass Sie so etwas nicht ernsthaft be- Drucksache 15/300 an die in der Tagesordnung aufge- führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- haupten; denn das, was ich angesprochen habe, ist ja er- verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung schreckend. so beschlossen. Es ist nach unserem Verständnis absolut notwendig, die europäische Richtlinie eins zu eins in nationales Recht Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 auf: umzusetzen; denn es macht keinen Sinn, nationale Al- Beratung des Antrags der Abgeordneten Hans- leingänge zu machen. Solche führen nur zu Verunrechtli- Michael Goldmann, Dr. Christel Happach-Kasan, chung und dazu, dass eine gesetzliche Grundlage für ei- Gudrun Kopp, weiterer Abgeordneter und der nen vernünftigen Tierschutz in Deutschland nicht mehr Fraktion der FDP gegeben ist. EU-Richtlinie zur Haltung von Nutztieren in (Beifall bei der FDP) nationales Recht umsetzen Das hat gerade das Beispiel einer Auseinandersetzung vor – Drucksache 15/226 – einem Gericht in Minden gezeigt. Dort hat ein Schweine- (B) Überweisungsvorschlag: halter gegen das Land Nordrhein-Westfalen prozessiert (D) Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und und gewonnen. Es wurde festgestellt, dass das Land re- Landwirtschaft (f) gionales Sonderrecht geschaffen hat. Solche regionalen Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Sonderrechte sind häufig auch weit entfernt von jeder Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Form von Fachlichkeit. Das liegt daran, dass sehr viele Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die FDP Menschen überhaupt keine Ahnung davon haben, wel- fünf Minuten erhalten soll. – Ich höre keinen Wider- chen Anspruch Tiere bei der Haltung haben. Das gilt vor spruch. Dann verfahren wir so. allen Dingen für die Grünen, die dieses Thema immer in eine bestimmte ideologische Richtung schieben und die Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat als Erster der beispielsweise suggerieren, dass sich Schweine darüber Abgeordnete Hans-Michael Goldmann. freuten, wenn sie auf Stroh lägen. Das ist überhaupt nicht der Fall. Schweine spielen mit Stroh, legen sich aber nicht Hans-Michael Goldmann (FDP): ins Stroh, weil sie es als störend empfinden. Es gibt auch eine Diskussion darüber, wie viel Fläche einem Schwein Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrter Herr zur Verfügung zu stellen ist. Die Grünen behaupten, dass Minister Bartels aus Niedersachsen, Schweine besonders viel Fläche bräuchten. Auch das ist (Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: falsch. Das Schwein ist nämlich kein Läufer. Es ist ein Noch-Minister!) Tier, das sich außerordentlich ungerne bewegt. Wenn es sich bewegt, dann nur, um Nahrung zu suchen. ich freue mich uneingeschränkt, dass Sie heute hier sind. Dass ich mich auch freuen würde, wenn Sie nach den Deswegen muss in einer solchen Richtlinie fachlich Wahlen am kommenden Sonntag nicht mehr Minister in korrekt festgeschrieben sein – – Niedersachsen wären, werden Sie mir sicherlich nicht (Zuruf von der SPD: Wo haben Sie denn Ihre übel nehmen; Erfahrung her?) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) – Lieber Kollege, ich spreche vor dem Hintergrund eines reichen Erfahrungsschatzes; denn ich habe im Bereich denn ich gehöre einer anderen Partei an. Aber ich finde es Tiermedizin geforscht und ich fand den Umgang mit die- gut, dass Sie sich dem Thema der Tierhaltung zuwenden. sen Tieren hochinteressant. Lieber Kollege, wir haben an Ich weiß auch, welche Position Sie in dieser Frage haben. der tierärztlichen Hochschule schon zu einem Zeitpunkt Auch wenn es der eine oder andere noch nicht gemerkt bei Schweinen Lebertransplantationen vorgenommen, als hat: Wir nähern uns jetzt dem absoluten Höhepunkt des die Humanmedizin von Lebertransplantationen noch 1748 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2003

Hans-Michael Goldmann (A) geträumt hat. Erzählen Sie mir also nichts über die Qua- Herzlichen Dank. (C) lität dieser Tiere! (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Akzeptieren Sie vielmehr einfach einmal, dass diese Tiere Jetzt hat der niedersächsische Landwirtschaftsminister bestimmte Ansprüche haben und dass man dafür sorgen Uwe Bartels das Wort. muss – das wäre Ihre Verpflichtung gewesen –, dass diese Tiere – nebenbei gesagt, sie sind sehr intelligent – tierge- recht gehalten werden. Sie haben die Haltung dieser Tiere Uwe Bartels, Minister (Niedersachsen): mit Verordnungen und Bestimmungen überzogen, die we- Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und der fachlich noch sachlich sind. Herren! Das scheint hier eine niedersächsische Veranstal- (Lachen bei Abgeordneten der SPD) tung zu werden. Ich will versuchen, die Diskussion auf die nationale Ebene zu heben. – Ich weiß nicht, warum Sie an dieser Stelle lachen. Sie scheinen diesem Thema nicht so interessiert gegen- Klar ist – das will ich gleich unmissverständlich sagen –: überzustehen, wie es eigentlich nötig ist. Deutschland muss handeln in Sachen Regelungen zur Haltung von Schweinen. (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Wir ha- ben ausschließlich über Sie gelacht!) (Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sehr richtig!) Soweit ich weiß, sind Sie Mitglied in dem Ausschuss, in dem diese Dinge entschieden werden. Da gibt es dringenden Handlungsbedarf, insbesondere nachdem die Schweinehaltungsverordnung im Novem- Sie scheinen nicht verstanden zu haben, wie drama- ber des letzten Jahres aufgehoben worden ist. Seitdem tisch die Auswirkungen dieser EU-Richtlinie für deutsche fehlen bundeseinheitliche Regelungen. Darüber, dass Tierhalter und für die Landwirtschaft sind. Lieber Kol- dringender Handlungsbedarf besteht, gibt es gar keinen lege, ich bin dafür, dass die Regionen, in denen eine zu- Streit; das haben wir alle miteinander festgestellt. kunftsorientierte Landwirtschaft und in denen eine zu- (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Rot-Grün kunftsorientierte Tierhaltung betrieben wird, auf dem hat nichts getan!) Markt bleiben. Die Region Vechta – Herr Bartels kommt dort her – hat das höchste wirtschaftliche Wachstum aller Natürlich hat die Aufhebung der Schweinehaltungs- niedersächsischen Regionen. Das ist so, weil man in die- verordnung Konsequenzen gehabt, die für uns als diejeni- (B) sem Bereich nach wie vor eine kluge, marktorientierte gen, die für die Durchführung vor Ort zuständig sind, (D) Agrarpolitik betreibt, und daran wollen wir festhalten. nicht immer erfreulich waren. Man muss ganz klar sagen: Über uns schwebt das Damoklesschwert eines Vertrags- (Heiterkeit und Beifall bei der SPD und dem verletzungsverfahrens, weil die EU-Richtlinie nicht frist- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) gerecht umgesetzt worden ist. Aber das ist in der Bundes- – Der Herr Minister Bartels wird Ihnen gleich sagen, dass republik ja nichts Neues. Das war ja auch bei der die FDP und er in diesem Punkt völlig einer Meinung Vorgängerregierung schon so. sind. Außerdem wird der Minister Ihnen gleich sagen, Richtig ist natürlich, dass auf der Länderebene Umset- dass er das, was die Grünen seiner Landespolitik antun, zungsschwierigkeiten bestanden haben. Vor allen Dingen ganz furchtbar findet. Das hat er bei jeder Veranstaltung den Genehmigungsbehörden vor Ort fehlen derzeit ver- mit Landwirten – wir haben solche Veranstaltungen zum lässliche bundeseinheitliche Vorgaben insbesondere für Teil gemeinsam wahrgenommen – gesagt. Die Front ver- den Umgang mit Anträgen zum Um- oder Neubau von läuft nicht zwischen uns und ihm, sondern zwischen Ih- Schweineställen. Das ist sicherlich ein Problem und ich nen und den Grünen, weil die Grünen eine rein ideologi- hoffe, dass es alsbald zu einer Klärung kommt. sche Politik verfolgen, Es nützt uns überhaupt nichts, diesen Zustand zu be- (Beifall des Abg. Peter H. Carstensen [Nord- klagen. Vielmehr geht es jetzt darum, was wir aus den EU- strand] [CDU/CSU]) Vorgaben machen. die eine zukunftsfähige Agrarwirtschaft in Deutschland (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Das ist doch im Grunde genommen mit Füßen tritt. Deswegen haben ganz einfach! Stimmen Sie unserem Antrag wir diesen Antrag vorgelegt. zu!) (Beifall bei der FDP) Wir, die Vertreter der Länder, mussten Abhilfe schaffen, weil wir in der Zwischenzeit handeln mussten. Nieder- Stimmen Sie unserem Antrag ganz einfach zu! Sorgen sachsen hat gehandelt. Herr Goldmann hat natürlich Sie endlich dafür, dass – an dieser Stelle ist das sinnvoll Recht, wenn er sagt, Niedersachsen handelt immer gut und klug – europäisches Recht in nationales Recht umge- und richtig sowie wettbewerbsorientiert. setzt wird! Tun Sie endlich etwas für den Tierschutz in (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ diesem Bereich! Tun Sie etwas dafür, dass die deutschen DIE GRÜNEN) Schweinehalter und die deutschen Schweinezüchter, die tüchtige Leute sind, Investitionssicherheit haben und dass Ich brauche ja nur den Präsidenten des Deutschen Bau- dieser Markt den Deutschen erhalten bleibt. ernverbandes, Herrn Sonnleitner, zu zitieren, Herr Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2003 1749

Minister Uwe Bartels (A) Schirmbeck, der gesagt hat: Bartels steht für Wettbe- und meinen, dass wir besondere Lorbeeren bekommen (C) werbsfähigkeit und Marktorientiertheit der niedersächsi- und besonders Gutes für die Tiere tun, schen Landwirtschaft. (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Aber im (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Bundesrat sind Sie umgefallen!) DIE GRÜNEN) wenn wir zu deutlich über eine Eins-zu-eins-Umsetzung Das ist kein unbedeutender Mensch, keiner, der den Sozi- von EU-Recht hinausgehen. aldemokraten angehört. Dessen Urteil ist fundiert und trifft zu. Ich kann nur wiederholen, dass ich froh darüber (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Sehr richtig! bin, dass er das erkannt hat. Das müssen Sie einmal Ihren Freunden sagen!) (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Nur leider tan- – Nun einmal langsam. – Die Auswirkungen sehen wir zen Ihnen die Grünen auf der Nase herum!) nämlich bei uns im Lande: Die professionelle Legehen- nenhaltung wird woandershin verlagert. Das können wir Sie wissen ja, dass bei Landwirten Schweigen die höchste feststellen; darüber werden wir ja auch in diesem Jahr Form von Zustimmung ist. Wenn dann der oberste Bauern- noch einmal im Bundesrat diskutieren. präsident sagt, das ist gut, kann man sich darüber nur freuen. Wir haben also die Dinge auf dem Erlasswege geregelt. (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Ihr nicht mehr!) (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Können Sie nicht auf dem Erlasswege regeln!) Ich bedauere ja, Herr Goldmann – Sie haben sich hier ge- rade hingestellt und so getan, als hätten Sie daran nicht – Aber selbstverständlich. – Wir brauchen aber ganz klar mitgewirkt –, dass auch Ihre rheinland-pfälzischen Par- und eindeutig Vorschriften, die über die EU-Vorgaben teifreunde, die ja dort an der Regierung beteiligt sind, ge- nicht hinausgehen. nauso gegen die niedersächsischen Vorschläge gestimmt (Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Jawohl! – und sie abgelehnt haben. Hans-Michael Goldmann [FDP]: Eins zu (Zurufe von der SPD: Hört! Hört! – Hans- eins!) Michael Goldmann [FDP]: Stimmt doch gar – Nicht deutlich hinausgehen. Hören Sie genau zu. Sie nicht!) nehmen Ihre Zustimmung zurück, wenn ich das gleich – Aber selbstverständlich. Sehen Sie, meine Damen und weiter ausführe. Herren, der biegt sich die Wahrheit so hin, wie er sie gerne (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Wollen Sie haben möchte. Aber das ist manchmal so bei der FDP. weniger?) (B) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (D) Ich will damit nämlich nicht sagen, dass ich mit allen De- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Georg tails in der europäischen Richtlinie einverstanden bin. Das Schirmbeck [CDU/CSU]: Wofür haben Sie muss ich hier ganz klar und deutlich sagen. denn gestimmt?) Meine fachliche Kritik bezieht sich zum Beispiel auf – Ich sage ganz klar und eindeutig: Meine Anträge sind die Definition eines ausreichenden Tageslichteinfalls und von Bayern, Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz auch auf die Problematik der Platzanforderung insbeson- abgelehnt worden. dere für Mastschweine. Herr Goldmann, auch wenn Sie (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Sie haben die Veterinär sind, Sie liegen nicht richtig. Das, was ich Ihnen Legehennenhaltungsverordnung abgelehnt!) jetzt sage, beruht auf wissenschaftlichen und praktischen Erkenntnissen in Niedersachsen. Sie liegen nicht richtig, Damit sind sozusagen die zukunftsfähigen Anträge abge- wenn Sie sagen, jüngere Mastschweine hätten kein Be- lehnt worden, Herr Goldmann. wegungsbedürfnis. Nein, meine Damen und Herren, schon damals habe (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Habe ich ich für den behutsameren niedersächsischen Weg plädiert, überhaupt nicht gesagt!) der die Tierhalter mitnimmt. Das ist meine Auffassung. Wir müssen die Tierhalter bei Verbesserungen mitneh- Gerade die haben ein entsprechendes Bewegungsbedürf- men. Bedauerlicherweise haben, wie gesagt, die nieder- nis. Gerade bei denen müssen wir zusehen, dass die Platz- sächsischen Anträge keine Mehrheit im Bundesrat be- erfordernisse angemessen berücksichtigt werden. Hier kommen. Auf diese Weise hätte die Wettbewerbsfähigkeit plädiere ich also durchaus für eine Abweichung von den unserer niedersächsischen – sogar unserer deutschen – EU-Vorgaben nach oben, wie sie im Übrigen in Nieder- Betriebe gesichert und es hätte erheblich zum Verbrau- sachsen in der Praxis – schauen Sie einmal in die Betriebe cher- und Tierschutz in unserem Land und in Europa bei- hinein – gang und gäbe ist. getragen werden können. Meine Damen und Herren, die EU-Vorgaben stellen be- Ich warne jetzt nur davor – deshalb habe ich das zitiert –, reits einen erheblichen Schritt in Sachen verbindliche Vor- heute im Zusammenhang mit der Schweinehaltungsver- gaben für den Tierschutz dar. Wir sollten nicht – jetzt kön- ordnung einen ähnlichen Fehler zu wiederholen. Denn bei nen Sie wieder freudig klatschen – in denselben Fehler wie der Schweinefleischproduktion haben wir einen Selbst- bei der Legehennenhaltungsverordnung verfallen versorgungsgrad von 87 Prozent, das heißt, wir sind auf (Beifall des Abg. Hans-Michael Goldmann Importe angewiesen. Lassen Sie uns also gemeinsam die [FDP]) Gelegenheit nutzen, dafür zu sorgen, dass das wichtige 1750 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2003

Minister Uwe Bartels (A) Nahrungsmittel Schweinefleisch zu einem überwiegen- chergestellt. Das ist ein fundamentaler Unterschied zu (C) den Teil in deutschen Ställen produziert wird. Nur dann dem, was Sie gerade hier gesagt haben. können wir auf so wichtige Bereiche wie den Tierschutz, die Lebensmittelsicherheit und den Umweltschutz wirk- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ lich umfassend Einfluss nehmen. Das erreichen wir DIE GRÜNEN – Hans-Michael Goldmann nicht, wenn wir die Wettbewerbsfähigkeit unserer Be- [FDP]: Kann ich noch eine Frage stellen?) triebe in der EU dadurch stärker beschneiden, dass wir EU-Vorgaben – ich sage es nochmals – bedeutend ver- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: schärfen. Sie hatten einen langen Redebeitrag und haben eine Wir machen in Niedersachsen sehr gute Erfahrungen Frage gestellt. Ich glaube, dass das ausreicht. mit Haltungsanforderungen, die in Zusammenarbeit mit den Betroffenen, das heißt Behörden, Wissenschaftlern, Praktikern, Verbänden und Landwirten, erarbeitet wer- Uwe Bartels, Minister (Niedersachsen): den. Wir erreichen auf diesem Wege sogar viel mehr, als Wie gesagt, meine Damen und Herren, wir agieren ge- wir auf gesetzlichem Wege überhaupt erreichen können. meinsam mit den Betroffenen und erreichen auf diesem So haben wir zum Beispiel Vereinbarungen über die Hal- Wege viel mehr. Auch unsere derzeitige Übergangsrege- tung von Hähnchen und von Puten. lung – damit komme ich auf unseren Erlass zurück – zur Haltung von Schweinen ist mit der Wissenschaft und den Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Betroffenen abgestimmt worden. Das heißt, wir ziehen in Niedersachsen an einem Strang und haben eine hohe Ak- Herr Minister, lassen Sie eine Zwischenfrage des Kol- zeptanz für den derzeitigen Erlass. legen Goldmann zu? Wir haben aber noch mehr erreicht. In einigen Punk- ten gehen wir einen Schritt weiter, und zwar betrifft Uwe Bartels, Minister (Niedersachsen): das die Details der Schweinehaltungsverordnung. Das Ja, aber sicher doch. ist dort der Fall, wo wir es fachlich für geboten hal- ten, zum Beispiel bei der Vorgabe zum Tageslichteinfall in Schweineställen. Damit tragen wir in besonderer Hans-Michael Goldmann (FDP): Weise dem Tierschutzgedanken und gleichzeitig in Herr Minister Bartels, stimmen Sie mit mir dahin ge- hohem Maße den gesellschaftlichen Anforderun- hend überein, dass Sie und die Freien Demokraten der gen Rechnung, und zwar unter Berücksichtigung der (B) Meinung waren, dass sich bei der Legehennenhaltung et- ökonomischen Interessen der Landwirte in Niedersach- (D) was tun muss und dass das bis 2012 umgesetzt werden sen. Dies wird mir ausdrücklich auch von Präsident sollte, und sind Sie wie ich der Meinung, dass das Vorzie- Sonnleitner bestätigt; einen besseren Kronzeugen gibt hen der rot-grünen Bundesregierung auf 2006, vor allen es nicht. Dingen durch Frau Ministerin Künast, ein dicker Fehler ist, der dazu beitragen wird, dass die Legehennenhaltung (Beifall bei der SPD – Hans-Michael Goldmann aus Deutschland verschwindet, wodurch wir dann über- [FDP]: Auch das stimmt nicht! Das wird von haupt keine Möglichkeit mehr haben, Einfluss darauf zu Herrn Niemeyer sehr kritisiert!) nehmen, dass die Tiere, die die Eier legen, die wir brau- Der Grundsatz des Tierschutzgesetzes besagt, dass der chen, artgerecht gehalten werden? Mensch aus der Verantwortung für das Tier als Mitge- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) schöpf heraus dessen Leben und dessen Wohlbefinden zu schützen hat. Das heißt auch, dass bei der Festlegung bun- deseinheitlicher Anforderungen an die Haltung von Tie- Uwe Bartels, Minister (Niedersachsen): ren – das sage ich ganz deutlich – das Tierverhalten und Herr Goldmann, ich bin mit Ihnen einer Meinung, dass nicht das Wunschdenken der Menschen entscheidend ist. wir in Deutschland einen solchen Alleingang in der Form, Ich denke, dass wir an einer Eins-zu-eins-Umsetzung eu- wie er geschehen ist, nicht hätten machen sollen. Aber das ropäischer Vorschriften grundsätzlich, aber insbesondere Datum 2006 ist überhaupt nicht das Entscheidende. Sie bei der Schweinehaltung gut tun. Über fachlich sinnvolle haben noch immer nicht verstanden, worum es bei der Abänderungen in Detailregelungen kann und sollte man Auseinandersetzung ging. Es ging darum, die Kleingrup- reden, wie wir es bei uns im Lande auch getan haben und penvoliere in der Legehennenhaltung im Jahre 2003 in die weiter tun werden. Verordnung aufnehmen zu können. Ich hätte sogar für Übergangszeiträume bis zum Jahr 2012 gestimmt. Das Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: haben wir im Bundesrat gemacht. Entscheidend für mich war erstens der Punkt, dass jedes Haltungssystem einer Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Tierschutzüberprüfung standhalten muss, und zweitens, Kollegen Carstensen? dass die Kleingruppenvoliere ab dem Jahre 2003 tatsäch- lich zugelassen wird. Nur auf diesem Wege wäre sicher- Uwe Bartels, Minister (Niedersachsen): gestellt, dass wir den hohen Selbstversorgungsanteil, den wir in Deutschland im Bereich der Hühnerhaltung noch Wenn Herr Carstensen fragen möchte, bin ich immer haben, halten können. Auf anderem Wege ist das nicht si- gern bereit. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2003 1751

(A) Peter H. Carstensen (Nordstrand) (CDU/CSU): von ihr vorgeschlagenen reinen Eins-zu-eins-Umsetzung (C) vorgesehen ist. Er hat mich gebeten, zu sagen, dass er das Ich wollte auf jeden Fall die Gelegenheit noch einmal durchführt, was in unserem Erlass enthalten ist, und dass nutzen, Herr Minister. er mit der praktischen Umsetzung höchst zufrieden ist. Auch er ist also ein Kronzeuge für die Richtigkeit dieses Uwe Bartels, Minister (Niedersachsen): Erlasses. Wollen Sie aus dem Bundestag ausscheiden? (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Aber das spricht doch für unseren Antrag!) Peter H. Carstensen (Nordstrand) (CDU/CSU): Lassen Sie mich Ihnen unseren niedersächsischen Weg ans Herz legen. Nein! (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Ihr Weg (Heiterkeit – Beifall bei der SPD und dem hat keine Rechtssicherheit! Das wissen Sie BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) genau!) Aber wenn ich in die Zukunft schaue, weiß ich nicht, ob Hiermit lässt sich eine gute Balance zwischen einem fach- ich Sie in dieser Richtung noch einmal sehe. Das ist das lich ausgewogenen Tierschutz, einem angemessenen Tier- Problem. halterschutz und dem Schutz unserer wirtschaftlichen Wett- bewerbsinteressen finden. Der niedersächsische Erlass, der Uwe Bartels, Minister (Niedersachsen): auch von den Landwirten mitgetragen wird, ist dafür eine gute Grundlage. Er ist eine gute Orientierungshilfe, um die- Haben Sie Vertrauen! sem hohen Anspruch und auch den gesellschaftlichen An- forderungen bei diesem Thema gerecht zu werden. Peter H. Carstensen (Nordstrand) (CDU/CSU): Herzlichen Dank. Genau das haben wir! (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Heiterkeit bei der CDU/CSU) DIE GRÜNEN – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Zur nächsten Sitzung wird dieser Minis- Herr Minister, wenn Sie in Niedersachsen so gute Ar- ter wieder eingeladen!) beit leisten – dazu möchte ich im Moment nichts sagen – und von Herrn Sonnleitner so gelobt werden, Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Tut er ja (B) gar nicht!) Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Gitta Connemann. (D) Es ist ihre erste Rede. können Sie mir dann einen Grund sagen – denn das habe ich in Ihrer Rede noch nicht gehört –, warum Sie nicht der (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei SPD-Fraktion und meinetwegen auch den Grünen hier im Abgeordneten der SPD) Bundestag empfehlen, dem Antrag der FDP zuzustim- men? Gitta Connemann (CDU/CSU): (Beifall des Abg. Ernst Burgbacher [FDP]) Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Auch ich komme wie Herr Bartels aus Niedersachsen. Vor 50 Jahren Uwe Bartels, Minister (Niedersachsen): zählte der Nordwesten unseres Landes zu den Armenhäu- sern Deutschlands. Danach setzte ein einzigartiger Auf- Herr Abgeordneter, ich wollte gerade in dem Schluss- schwung ein. Heute gelten Landkreise wie zum Beispiel das teil meiner Rede deutlich machen, was der Bundestag bei Emsland, Cloppenburg und Vechta als Vorzeigeregionen. seiner Entscheidung über den FDP-Antrag insgesamt berücksichtigen sollte. Wenn Sie nicht gefragt hätten, Einer der Hauptmotoren für das Wachstum war und ist wäre ich schon mit meinen Ausführungen fertig. Ihre die Veredlungswirtschaft, insbesondere die Geflügel- und Schweinehaltung durch landwirtschaftliche Betriebe. Frage hat uns immerhin die Gelegenheit gegeben, dass Denn rund um diese haben sich Dienstleister, Gewerbe wir beide noch einmal miteinander geredet haben. Das ist und Industrie angesiedelt. Nachdem die Kommunen auch ja auch nicht schlecht. durch die Politik der Bundesregierung vor dem Kollaps (Heiterkeit und Beifall bei der SPD und dem stehen, sind die Landwirte dort für das Bauhandwerk die BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) entscheidenden Investitionsträger. Über sinnvolle Änderungen bei Detailregelungen kön- Allein in einem Landkreis wie zum Beispiel dem Ems- nen und müssen wir miteinander reden, wie das bei uns im land beläuft sich die Gesamtbruttowertschöpfung der Lande durch Gespräche mit den Landwirten und mit der Landwirtschaft und ihrer nachgelagerten Bereiche auf Wissenschaft geschehen ist. Ich habe heute den Präsi- circa 820 Millionen Euro. denten der Landwirtschaftskammer Weser-Ems, Herrn (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Scholten, gesprochen. Ich habe ihm mitgeteilt, dass ich im Deutschen Bundestag über die Schweinehaltungsverord- Zudem hat sich in diesen Regionen ein erhebliches Know- nung reden werde und dass ich der FDP sagen werde, dass how in Forschung, Entwicklung und Beratung angesam- wir ein bisschen anders verfahren müssen, als es in der melt, geballte Kompetenz, die auch dazu genutzt worden 1752 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2003

Gitta Connemann (A) ist, den möglichen Belastungen der Intensivtierhaltung holen darf.“ Zwar haben die vergangenen Wochen ge- (C) für Gesundheit, Umwelt und Tier entgegenzuwirken, nach- zeigt, dass Aussagen von Herrn Gabriel regelmäßig nur weisbar und wirtschaftlich tragbar. eine Halbwertzeit von einigen Stunden haben, aber in die- sem Fall hat er ausnahmsweise einmal Recht. Die Landwirte und ihr Umfeld erbringen Leistungen, anders als die Bundesregierung. Herr Minister Bartels, mich wundert es schon etwas, wenn Sie jetzt sagen, es sollte keinen Alleingang, jeden- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Peter falls keinen deutlichen Alleingang, geben. In Ihrer schrift- H. Carstensen [Nordstrand] [CDU/CSU]: Ob- lichen Stellungnahme gegenüber dem niedersächsischen wohl die genau so viel Mist machen!) Landvolk lese ich: Gerade im Bereich des Tierschutzes Deren Aufgabe wäre es gewesen, bis zum 1. Januar 2003 – darauf kommt es mir an – muss aber auf nationale Al- die EU-Richtlinie in nationales Recht umzusetzen. Was leingänge verzichtet werden. ist aber passiert? Nichts. Das ist ein Novum bei einer Bun- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) desregierung, die sonst durch Regulierungswut auffällt. Die Folge einer Verordnung wird wie bei der Legehen- (Zuruf von der SPD: Ach, Gitta!) nenverordnung sein, dass die deutsche Produktion ins Nach Erlass der EU-Richtlinie wurde die bis dato gel- Ausland abwandern wird. Damit ist weder den Tieren tende Schweinehaltungsverordnung aufgehoben, aber kei- noch den Verbrauchern gedient. Denn die Eier werden ne neue Rechtsverordnung erlassen. Was ist die Folge? auch zukünftig aus Käfigen kommen, aber eben aus pol- Landwirte, Schweine und Kommunen bewegen sich im nischen, rumänischen, wie auch immer. rechtsfreien Raum. Meine Damen und Herren, eine Verordnung wie die (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und Legehennenverordnung vernichtet aber auch Arbeits- der FDP – Heiterkeit bei der SPD) plätze und Betriebe in Deutschland. Nationale Allein- gänge sind schädlich für unsere Wirtschaft. Unsere Land- Die Bundesregierung hat eine Rechtsunsicherheit zu wirte fürchten nicht die Konkurrenz in Europa, sondern verantworten, die dazu führt, dass Landwirte die Planung den Würgegriff aus Berlin. von Bauvorhaben und damit Investitionen stoppen müs- sen, dass Kreisveterinäre ohne Rechtsgrundlage im Ein- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) zelfall entscheiden müssen und – schließlich – dass vier Die einseitigen Verschärfungen treiben lediglich die Kos- Bundesländer die Haltungsbedingungen im Alleingang ten der Tierhaltung hierzulande hoch und führen damit geregelt haben. zu gravierenden Wettbewerbsnachteilen gegenüber aus- (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Sehr ländischen Betrieben. Das dürfen wir nicht zulassen und (B) (D) richtig!) das wollen wir auch nicht zulassen. Den Vogel hat aber das Land Nordrhein-Westfalen mit (Beifall bei der CDU/CSU – Peter H. seinem ersten Schweinehaltungserlass, dem so genannten Carstensen [Nordstrand] [CDU/CSU]: Sehr Kuschelerlass, abgeschossen. richtig!) (Ilse Falk [CDU/CSU]: Das ist wohl wahr!) Die EU-Vorgaben sind deshalb direkt und ohne zusätz- liche Auflagen in nationales Recht umzusetzen. Darin wurde den Schweinehaltern vorgeschrieben, jedes Schwein pro Tag 20 Sekunden individuell zu betreuen. Mindestanforderungen an die Schweinehaltung und an Frei nach Bogart: Schau mir in die Augen, Schweinchen. andere Nutztierhaltungen festzulegen ist sinnvoll und er- forderlich. Diese Festlegung darf aber nicht nach gefühl- (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und tem Tierschutz oder gefühltem Umweltschutz geschehen. der FDP) Auch sozialromantische Träumereien oder Sehnsucht Hier gab es nur ein Urteil: ideologisch verbrämt und an nach einer vermeintlichen landwirtschaftlichen Idylle sind der Praxis vorbei. Deshalb ist dieser Erlass überarbeitet keine vernünftigen Vorgaben. Die einzige Basis für worden. Er war auch rechtlich nicht haltbar. Das hat das Mindestanforderungen müssen nachvollziehbare wissen- Verwaltungsgericht Minden am 11. Dezember 2002 ent- schaftliche Erkenntnisse sein, nichts anderes. Diese Er- schieden. Dies ist eine richtige Entscheidung; denn die kenntnisse hatte die EU beim Erlass ihrer Richtlinie. Sie Landwirtschaft hat es nicht mit Kuscheltieren, sondern hat sich auf ihre wissenschaftlichen Gremien gestützt, in mit landwirtschaftlichen Nutztieren zu tun. Ein Schwein denen alle Länder vertreten sind. ist und bleibt nun einmal ein Schwein. Das war auch eine der Kernaussagen des Verwaltungs- Das Urteil ist aber auch ein wichtiges Signal für die gerichts Minden. Im Urteil hieß es: Es gibt keine neuen Bundesregierung, nicht aus ideologischen Gründen und wissenschaftlichen Erkenntnisse, nach denen Schweine- einseitig zu weit über die europäischen Vorgaben hinaus- haltungssysteme, die diesen Forderungen nicht entspre- zupreschen. chen, eine angemessene verhaltensgerechte Unterbrin- gung der Tiere nicht sicherstellen können. Meine Damen und Herren, einen solchen Alleingang (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) hatten wir bereits mit der Legehennenverordnung. Damit ist – ich zitiere den zurzeit in Niedersachsen noch amtie- Deswegen hat die Eins-zu-eins-Umsetzung der EU-Vor- renden Ministerpräsidenten – „der Sündenfall erfolgt, der gaben nicht nur den Vorteil, dass damit Wettbewerbsver- sich mit der Schweinehaltungsverordnung nicht wieder- zerrungen innerhalb der EU vermieden werden; es ist Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2003 1753

Gitta Connemann (A) damit auch gewährleistet, dass der wissenschaftliche Gericht in Arnsberg – jetzt müssen Sie zuhören, Herr (C) Sachverstand in die Entscheidungen eingeflossen ist. Goldmann! – in seinem Urteil festgestellt, dass das Land Nordrhein-Westfalen sehr wohl das Recht hat, eine eigene Meine Damen und Herren, wenn die Bundesregierung Landesverordnung zu erlassen bzw. einen eigenen Schwei- wissenschaftlich begründen kann, dass EU-Vorgaben nehaltungserlass zu verfügen. nicht oder nicht mehr ausreichend sind, dann hat sie die- ses auf europäischer Ebene durchzusetzen, aber nicht ein- (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Das bestrei- seitig in Deutschland durch nationale Vorgaben. tet auch niemand, aber daraus ergibt sich keine Rechtsbindung!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Peter H. Carstensen [Nordstrand] [CDU/CSU]: Völ- Es muss schlecht um die Umfragewerte der FDP bei lig richtig!) den Bauern und Bäuerinnen im Lande stehen, Herr Goldmann. Abschließend weise ich darauf hin, dass mit der Fest- legung von Mindestvorgaben kein Verbot freiwilliger (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Sie erzählen weiter gehender komfortabler Haltungsbedingungen ver- hier die Unwahrheit!) bunden ist. – Lassen Sie mich weiterreden! Anders ist Ihr populisti- (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Richtig!) scher Antrag insbesondere im Zusammenhang mit der Schweinehaltung nicht zu verstehen. Zwischen der Bun- Dieses sollte aber in der Tat freiwillig bleiben. Es wird desregierung und dem Deutschen Bauernverband ist zwar dann erfolgen, wenn sich ein Markt für die so erzeugten noch keine Liebe entflammt, aber die Grüne Woche hat Produkte findet. Aber diesen Markt, dieses Verbraucher- doch wohl deutlich gemacht – das haben Sie sicherlich verhalten wollen zumindest wir nicht erzwingen. Unser auch mitbekommen –, dass die Zeit der plumpen Feind- Staat braucht mündige Bürger und Verbraucher. Wir wol- bilder endgültig vorbei ist. len sie nicht bevormunden. Deshalb kann es nur eine Ent- scheidung geben, nämlich die EU-Richtlinie eins zu eins (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN in nationales Recht umzusetzen. Wir werden deshalb dem und bei der SPD – Hans-Michael Goldmann Antrag in allen Punkten zustimmen. [FDP]: Darum geht es doch gar nicht!) Vielen Dank. Ministerin Künast hat für ihren Anstoß, über den Zu- sammenhang von Preis, Markt und Qualität zu reden, auf (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) der Grünen Woche zu Recht viel Lob von DBV-Präsi- dent Sonnleitner bekommen. Zeitgleich haben in Westfalen Bäuerinnen und Bauern mit Aktionen auf die Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: (B) Problematik von Dumpingangeboten des Handels auf- (D) Frau Kollegin, ich gratuliere Ihnen zu Ihrer ersten Rede merksam gemacht. im Namen des ganzen Hauses. (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Wollen Sie (Beifall) nun eins zu eins umsetzen?) Jetzt hat der Abgeordnete Friedrich Ostendorff das Die Bauern und Bäuerinnen ziehen mit der Politik an ei- Wort. nem Strang. Das scheint dem Kollegen Goldmann und der FDP Angst zu machen. Glauben Sie aber nicht, Herr Kol- lege, dass die Bauern und Bäuerinnen auf Ihre Inszenie- Friedrich Ostendorff (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): rung und billige Stimmungsmache hereinfallen werden! Sehr geehrte Frau Präsidentin Antje Vollmer! Sehr ge- Sie müssen sich schon mit der eigentlichen Materie der ehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen! Liebe Kol- Tiere befassen, wenn Sie sich Anerkennung in dem Be- legen! Werter Herr Goldmann, zuerst einmal: Ich bin rufsstand verschaffen wollen. Schweinehalter. Meine Schweine liegen im Sommer auf Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir arbeiten in Ber- Stroh, im Winter im Stroh. Das tun Schweine so. Kommen lin an einer neuen nationalen Verordnung für die Sie zu mir, gucken Sie sich das an. Da können Sie eine Schweinehaltung. Menge lernen. (Peter H. Carstensen [Nordstrand] [CDU/ Ich weiß nicht, wie viele Schweine Sie zu Hause hal- CSU]: Von „arbeiten“ kann ja wohl keine Rede ten, Frau Connemann. Aus meiner Erfahrung kann ich Ih- sein!) nen versichern, dass meine Schweine die saubersten Tiere sind, die ich auf dem Hof halte. Vielleicht – weil Sie sag- Das oberste Ziel ist eine moderne und zukunftsfähige ten: Schwein bleibt Schwein – ist das bei Ihnen anders. Schweinezucht und -mast, die wir Bäuerinnen und Bau- ern den Verbraucherinnen und Verbrauchern jederzeit mit Es gibt einen weiteren Punkt, zu dem ich mich äußern gutem Gewissen vorzeigen können. Wir setzen dabei den möchte: Heute haben hier viele Niedersachsen gespro- Tierschutz als Überschrift. chen. Ich bin zwar Westfale, besuche aber häufig mit Uwe Bartels zusammen Veranstaltungen in Niedersachsen. Wir Landwirtschaftliche Ställe, die wir besser nicht öffnen, fallen nicht nur im Berufsstand unten durch. Sie zerstören kennen uns gut. Ich kenne auch das Land sehr gut. auch das Vertrauen der Kunden und damit unsere Märkte. Des Weiteren wurden Gerichtsurteile zitiert. Es gab da- Ställe, in denen sich die Tiere wohl fühlen, sind auch eine rüber hinaus aber noch andere Gerichtsurteile. So hat das Investition in den Markt. Deshalb will Rot-Grün mit dem 1754 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2003

Friedrich Ostendorff (A) Bundesprogramm „Artgerechte Tierhaltung“ in Zukunft Drittens. Schweine sind sehr neugierige und höchst (C) auch für Schweine tiergerechte Stallbauten fördern. aktive Tiere. Um diesem Bewegungsdrang etwas besser gerecht zu werden, müssen den Schweinen Beschäfti- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gungsmöglichkeiten, zum Beispiel Strohraufen oder Spiel- und bei der SPD) ketten, zur Verfügung gestellt werden. Das machen uns aber auch die führenden Akteure auf den internationalen Schweinemärkten, die Niederländer Viertens. Wer einen neuen Stall bauen will, muss nach- und Dänen, erfolgreich vor. Die Niederländer haben be- weisen, dass eine Arbeitskraft des Betriebs nicht mehr als sonders für die Schweinemast Vorschriften erlassen, die 1 500 Schweine versorgt und betreut. Das sichert den Tie- weit über die EU-Norm hinausgehen. Die Dänen sind in ren eine Mindestbetreuung und bietet den Bauern, die sich der Schweinehaltung bzw. in der Sauen- und Ferkelhal- ordentlich um ihre Tiere kümmern, einen gewissen Schutz tung weit vorangegangen. Anders als bei uns wirbt dort vor der agrarindustriellen Produktion. die Branche offensiv damit, dass die dänische Gesetz- Fünftens. Der Platzanspruch für ein Schwein wurde gebung deutlich über das allgemeine europäische Niveau von 0,65 Quadratmeter auf rund 1 Quadratmeter – je nach hinausgeht. Größe – angehoben. Um es mit den Worten von Ministe- (Peter Hettlich [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- rin Höhn zu sagen: Drei Schweine in einem Normalbett NEN]: Hört! Hört!) von 2 Quadratmetern sind eines zu viel. Eines muss raus. Zwei Schweine sind genug. Im Vergleich zu den dortigen Regeln sind selbst die des nordrhein-westfälischen Erlasses noch sehr zurückhal- Meine Damen und Herren, das Bundesministerium hat tend. Man kann nicht ernsthaft behaupten, dass diese of- intensive Gespräche mit Ministerien der europäischen fensive Strategie der dänischen Fleischwirtschaft gescha- Nachbarländer geführt. Es gibt also eine enge Abstim- det hätte. Im Gegenteil: Sie war damit auch im deutschen mung, die der Wettbewerbsfähigkeit unserer Schweine- Handel sehr erfolgreich. halter zugute kommen wird. Die EU verordnet Mindest- standards. Es wird deshalb sicherlich keine Verordnung Ich möchte hier den Vorsitzenden des Zentralverbandes geben, in der die Standards so tief wie möglich angesetzt der deutschen Schweinezüchter, Helmut Ehlen, zitieren: werden. Denn das ist auf Dauer weder zum Wohle der Kürzlich bin ich sehr nachdenklich aus Dänemark Tiere noch ökonomisch sinnvoll. zurückgekehrt. Unsere Kollegen expandieren dort Die Verbraucher bestimmen die Nachfrage. Wenn Sie weiter. Sie tun dies trotz vergleichbar hoher Umwelt- ein Schwein zeichnen würden, würden Sie es mit Sicher- standards und trotz schärferer Tierschutzbestimmun- heit mit einem Ringelschwanz malen. Der Ringelschwanz gen. (B) und die „Steckdose“ sind die Erkennungszeichen des (D) Dieses Zitat zeigt nicht nur, dass in Dänemark schärfere Schweines. Wenn alle Haltungsbedingungen so toll Gesetze gelten als bei uns, sondern auch, dass diese kei- wären, wie von der FDP behauptet, warum sind dann weit neswegs investitionshemmend wirken. mehr als 90 Prozent der Schweineschwänze abgeschnit- ten, Herr Goldmann? Das heißt, die Tiere werden ver- Reden Sie nicht immer von Investitionsstau, meine stümmelt. Damen und Herren von der FDP, sondern begreifen Sie endlich die Chancen! Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: (Peter H. Carstensen [Nordstrand] [CDU/ CSU]: Begreifen Sie die Chancen von der Herr Kollege, denken Sie bitte an die Zeit! FDP!) Die Dänen haben im Gegensatz zu Ihnen scheinbar früher Friedrich Ostendorff (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- erkannt, dass der Markt diesen Weg will. Das sollte uns NEN): ein Vorbild sein. Nach langen und heftigen Diskussionen Ich bin sofort fertig. – Sie als Tierarzt, Herr Goldmann, haben das auch die Bauernverbände in Nordrhein-West- müssten doch wissen, dass diese Praxis etwas mit falschen falen erkannt. Sie tragen den mit Ministerin Bärbel Höhn Haltungsbedingungen zu tun hat. Umgekehrt wäre es ausgehandelten Kompromiss inzwischen mit. richtig. Bisher gehen aber leider fast nur Neuland- und Ich selbst habe in einer Arbeitsgruppe von Praktikern, Biobetriebe den anderen Weg. Ministeriums-, Kammer- und Verbandsvertretern mit- Meine Damen und Herren, wir müssen die Ställe den gearbeitet, die von dem neuen schleswig-holsteinischen Tieren anpassen, nicht die Tiere den Ställen. Wir vom Staatssekretär Peter Knitsch geleitet wurde. Diese Arbeits- Bündnis 90/Die Grünen lehnen deshalb den Antrag der gruppe hat für Nordrhein-Westfalen einen Schweine- FDP ab. haltungserlass für Mastschweine und Sauen erarbeitet, in dem im Wesentlichen fünf Bereiche neu geregelt wur- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN den: und bei der SPD) Erstens. Es gibt mehr Tageslicht in den Ställen. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Zweitens. Der Stallboden darf nicht mehr ganz aus Be- tonspaltenboden bestehen, das heißt, es muss befestigte Zu einer Kurzintervention, bezogen auf eine bestimmte Liegeflächen oder Auslauf geben. Äußerung, erhält der Kollege Goldmann das Wort. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2003 1755

(A) Hans-Michael Goldmann (FDP): Schriftstück verteilen, das so aussieht wie ein Antrag, der (C) zum Steuervergünstigungsabbaugesetz gestellt wird. Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich stelle zunächst einmal fest, dass Herr Bartels – meiner (Hermann Bachmaier [SPD]: Untersuchungs- Auffassung nach völlig zu Recht – gesagt hat: „Wir set- ausschuss!) zen eins zu eins um“, und dass Sie, Herr Ostendorff, sa- Dies ist ein massiver, bösartiger Wahlbetrug. Denn die gen: „Wir wollen mehr als eins zu eins.“ Deswegen haben gleichen Vertreter der SPD und des Bündnisses 90/Die sie 50 Millionen Euro für alternative Haltungsformen in Grünen haben gestern im Ausschuss einen Antrag, der ge- den Bundeshaushalt eingebracht. nau das beinhaltet, was sie in Niedersachsen verteilen, ab- gelehnt. Das ist eine ganz böse Sache, die auf dem Rücken Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: der Bauern und des grünen Bereiches ausgetragen wird. Herr Kollege Goldmann, mir ist angekündigt worden, Ich bitte Herrn Ostendorff und Vertreter der SPD, dazu Sie wollten sich auf eine bestimmte Äußerung beziehen. Stellung zu nehmen, sich für diesen Vorgang zu entschul- digen und klipp und klar zu erklären, dass ein solcher An- trag wahrscheinlich gefälscht worden ist. Hans-Michael Goldmann (FDP): (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das ist Herr Ostendorff, Sie haben soeben behauptet, dass die am Rande der Legalität, was Sie da jetzt alles FDP mit ihrem Antrag Wählertäuschung betreibe veranstalten!) (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das stimmt!) Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: und es mit der Wahrheit nicht so genau nehme. Auch ich denke, wir sollten darüber noch einmal spre- (Manfred Helmut Zöllmer [SPD]: Das ist doch chen. Denn Ihr Geschäftsführer, Herr Goldmann, hat mir bekannt!) angekündigt, dass Sie sich gegen einen für Sie ungerecht- fertigten Vorwurf wenden. Deshalb habe ich Ihnen das Herr Ostendorff, ich möchte Sie auf einen Vorfall gestern Rederecht gegeben. Das hat sich jetzt aber offensichtlich im Ausschuss ansprechen. Ist Ihnen bekannt, dass die So- anders entwickelt. zialdemokraten in Niedersachsen ein Schriftstück vertei- (Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Herr len, das von der Aufmachung her einem Bundestagsantrag Goldmann muss eine Rüge bekommen! – Ge- entspricht – ich habe es hier; es ist mit „Änderungsantrag“ genruf des Abg. Peter H. Carstensen [Nord- überschrieben, mit einer Drucksachennummer versehen strand] [CDU/CSU]: Du bist hier nicht mehr in und mit „Berlin“ sowie einer Namenszeichnung, der von (B) der Sonderschule! – Weitere Gegenrufe von der (D) Franz Müntefering, unterschrieben –, in dem steht, FDP und der CDU/CSU: Wieso denn das?) (Annette Faße [SPD]: Das ist nicht öffentlich! – Ich gebe jetzt dem Kollegen Ostendorff die Gelegen- Manfred Helmut Zöllmer [SPD]: Das geht heit, darauf zu antworten. nicht! Das ist aus dem Ausschuss!)

der Bundestag wolle beschließen – – Friedrich Ostendorff (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN): Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, ich weiß Herr Kollege Goldmann, ich glaube nicht, dass sich nicht, ob das eine Kurzintervention war. Ich denke, das Ihre Ausführungen auf die Richtigstellung einer Äuße- wird das Präsidium feststellen. Ich bitte darum. Ich rung beziehen. glaube, dass es keine war. Ich habe nicht von Wahlbetrug gesprochen, sondern Hans-Michael Goldmann (FDP): von Nervosität bei der FDP. Wir werden das gleich im Protokoll nachlesen können. Ich habe in Niedersachsen Doch. Das ist der Vorwurf – – keine Flugblätter verteilt. Ich denke, da müsste jetzt je- mand anderes aufzeigen. Ich kenne dieses Flugblatt nicht. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Ihr habt das Der Punkt ist folgender: Sie haben einen Redebeitrag doch gestern im Ausschuss gelesen!) gemacht. Wenn Sie einen Vorgang aus dem Ausschuss an- – Herr Goldmann, überlassen Sie es mir! Ich werde es mit sprechen wollen, dann hätten Sie das in Ihrer Rede tun Interesse lesen. Ich kenne es nicht. Ich kann dazu nichts sollen. Sie dürfen nicht einfach Ihre Redezeit verlängern. sagen. (Gitta Connemann [CDU/CSU]: Haben wir Hans-Michael Goldmann (FDP): doch gestern im Ausschuss gesehen!) Es handelt sich um einen Sachverhalt, der sich im Aus- schuss dargestellt hat. Herr Ostendorff hat soeben be- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: hauptet, wir würden Wahlbetrug betreiben. Ich stelle fest, Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Georg Schirmbeck. dass die Sozialdemokraten und das Bündnis 90/Die Grü- nen Wahlbetrug betreiben, weil sie in Niedersachsen ein (Beifall bei der CDU/CSU) 1756 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2003

(A) Georg Schirmbeck (CDU/CSU): Um den Landwirten endlich Rechtssicherheit zu ge- (C) ben, muss die EU-Richtlinie zur Haltung von Nutztieren Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr unverzüglich in nationales Recht umgesetzt werden. Jede Minister Bartels, bei uns zu Hause würde man sagen: Das versteht kein Schwein. – Sie sind aus Niedersachsen hier- weitere Verzögerung bedroht bis zu 300 000 Arbeitsplätze her angereist und haben Ihre kostbare Wahlkampfzeit ge- in der Wertschöpfungskette Schweinefleisch. Kollege opfert, dann aber die ganze Zeit zum Kollegen Goldmann Goldmann, Kollegin Connemann und ich, die wir das an- gesprochen, obwohl Sie sich mit ihm in der Sache im We- gemahnt haben, kommen aus den Regionen, in denen die sentlichen einig zu sein scheinen. Sie hätten die Leute an- Schweinehaltung mindestens so wichtig ist wie VW in sprechen müssen, die Sie überzeugen müssen: Ihre rot- Wolfsburg. grünen Unterstützer und vor allem die Ministerin Künast, (Beifall bei der CDU/CSU) die uns hier mit Abwesenheit bestraft. Damit Sie eine Vorstellung davon bekommen, über wel- (Peter H. Carstensen [Nordstrand] [CDU/ ches Volumen wir sprechen: Hier geht es nicht um Peanuts; CSU]: Nein, belohnt! – Heiterkeit und Beifall das ist eine Branche mit einem jährlichen Umsatz von bei Abgeordneten der CDU/CSU) 20 Milliarden Euro. Wenn aufgrund der bei uns bestehen- Meine Damen und Herren, schon der Schweizer den Rechtsunsicherheit Produktionsverlagerungen ins Aus- Schriftsteller Friedrich Dürrenmatt wusste: Ideologie ist land stattfinden, dann greift das tief in den Wohlstand die- Ordnung auf Kosten des Weiterdenkens. In kaum einem ser Regionen ein. Zynischerweise führt es dazu, dass diese anderen Bereich wird dies deutlicher als in der Agrar- und Produktionen in Länder abwandern, in denen die Tiere von Ernährungspolitik dieser Bundesregierung. den hohen deutschen Standards nur träumen können. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Zuruf von der CDU/CSU: Wenn überhaupt!) Mittels staatlicher Vorgaben versucht Ministerin Künast, Jede weitere Verzögerung führt zu nachhaltigen Wett- die in den letzten Jahrzehnten gewachsenen landwirt- bewerbsnachteilen und zu nicht wieder gutzumachenden schaftlichen Strukturen tief greifend umzuwälzen, und ver- Folgen für die Landwirtschaft und die gesamte Branche. hindert so die positive Weiterentwicklung des ländlichen Bereits jetzt ist durch die Untätigkeit großer Schaden ent- Raums. Anstatt auf Konsens setzt die Bundesregierung auf standen. Anhand der Baugenehmigungen können wir fest- Konfrontation; anstatt Vernunft herrscht Ideologie. stellen, dass eine große Zurückhaltung herrscht: Wer in- vestiert schon in Anlagen, Maschinen und Geräte, wenn Herr Minister Bartels, ich stimme Ihnen ausdrücklich er nicht weiß, ob er diese morgen oder übermorgen noch zu, dass wir die Tierhalter, dass wir die Bauern bei der gesetzeskonform betreiben kann? Entwicklung der Landwirtschaft mitnehmen müssen. Die (B) Ministerin für Verbraucherschutz, Ernährung und Land- (Beifall bei der CDU/CSU) (D) wirtschaft aber macht genau das Gegenteil: Anstelle einer praxisorientierten und ausgewogenen Politik steht ökolo- Mit anderen Worten, meine Damen und Herren: Die gisch verblendeter Dogmatismus. rot-grüne Verblendung und Anmaßung führen nicht nur für die Landwirte zu Verzerrungen des ökonomischen (Beifall bei der CDU/CSU) Wettbewerbs, sondern laufen auch den Interessen der Gekonnt ignoriert die rot-grüne Bundesregierung dabei Umwelt, der Tiergesundheit und des Tierschutzes zuwi- den Sachverstand aller Experten und Landwirte. der. Das Ergebnis ist genau das Gegenteil dessen, was Sie hier vorgeben erreichen zu wollen. Seit dem Legehennenurteil des Bundesverfassungsge- richts vom Juni 1999 ist die Schweinehaltungsverordnung Die nun von der Ministerin angekündigte Verschärfung als nichtig anzusehen. Seit dreieinhalb Jahren bedarf es der Haltungsbedingungen im nationalen Alleingang geht daher einer bundeseinheitlichen Regelung zur Haltung allerdings noch weit über den herkömmlichen rot-grünen von Nutztieren, doch wegen der verantwortungslosen Unfug hinaus. Es führt dazu, dass die Zukunftschancen Untätigkeit der Bundesregierung existieren bis heute unserer Landwirte in schon bösartiger Weise mit Füßen keine einheitlichen nationalen Rahmenbedingungen für getreten werden. Dagegen müssen wir unsere Stimme er- die Haltung von Nutztieren. heben und uns wehren. (Peter H. Carstensen [Nordstrand] [CDU/ (Beifall bei der CDU/CSU) CSU]: Sehr richtig! Weil sie Angst haben, Angst Wie jeder Unternehmer brauchen unsere Landwirte klare vor Höhn!) Perspektiven für ihre Investitionen. Das kommt dann den Das haben Sie eben bestätigt, Herr Minister. Menschen im ländlichen Raum, also den Landwirten, aber auch den Menschen, die im vor- und nachgelagerten Um die Rechtslücke zu füllen, sind einige SPD- Bereich arbeiten, sowie den Tieren und damit dem Tier- regierte Bundesländer durch den Erlass eigener Verordnun- schutz zugute. Wir brauchen keine arroganten Politiker gen vorgeprescht, mit teils katastrophalen Auswirkungen und keine arrogante Ministerin, die den Fachleuten etwas für die betroffenen Landwirte. Eben wurde bereits die aben- vorschreiben wollen, sondern wir brauchen eine sachge- teuerlich anmutende nordrhein-westfälische Schweine- rechte Politik. haltungsverordnung erwähnt: Sie ist so praxisfern und von so tiefer Unkenntnis geprägt, dass man darüber nur (Beifall bei der CDU/CSU) den Kopf schütteln kann. Noch im Koalitionsvertrag haben Sie, meine Damen (Beifall bei der CDU/CSU) und Herren von Rot-Grün, festgehalten, dass Sie eine leis- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2003 1757

Georg Schirmbeck (A) tungsfähige und wettbewerbsfähige Landwirtschaft und Götzer, weiteren Abgeordneten und der Fraktion (C) gleichzeitig einheitlich hohe Standards für den Verbrau- der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines cher-, Umwelt- und Tierschutz wollen. Was Sie jetzt auf Gesetzes zur Änderung des Strafgesetzbuches Bundesebene angekündigt haben, geht genau in die – Graffiti-Bekämpfungsgesetz – falsche Richtung. Wir fordern daher, dass die EU-Richtli- – Drucksache 15/302 – nie unverzüglich eins zu eins umgesetzt wird. Das dient den Landwirten, der Umwelt und auch dem Wohl der Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss (f) Tiere. Innenausschuss Herr Minister Bartels, wir haben im Niedersächsischen Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Landtag 13 Jahre lang unsere Klingen kreuzen dürfen, Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen wenn ich das einmal so sagen darf. Sie haben – das darf man ruhig einmal so festhalten – an der einen oder ande- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die ren Stelle größeren Schaden von unseren Landwirten und Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Widerspruch dem ländlichen Raum abgewendet, aber – das muss man höre ich nicht. Dann ist das so beschlossen. genauso sagen – Sie haben auch an ganz entscheidenden Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst der Stellen gekniffen. Es hilft uns überhaupt nicht weiter, dass Abgeordnete Dr. Jürgen Gehb. beispielsweise Ihr Vorgänger, der ehemalige Bundesland- wirtschaftsminister Funke, heute für gutes Geld bei land- wirtschaftlichen Veranstaltungen die rot-grüne Bundes- Dr. Jürgen Gehb (CDU/CSU): regierung beschimpft und dass Sie da, wo Sie meinen, das Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Lassen geeignete Publikum zu haben, versuchen, die katastro- Sie mich meinen Redebeitrag mit der Wiedergabe zweier phale Politik der rot-grünen Bundesregierung für den Zitate beginnen: ländlichen Raum schönzureden. Erstens.

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Damit komme ich zu einem weiteren Zitat, diesmal aus „Max und Moritz“ von Wilhelm Busch, nämlich Herr Kollege, denken Sie bitte an die Redezeit. über das Sauerkraut der Witwe Bolte, „wovon sie be- sonders schwärmt, wenn es wieder aufgewärmt“. Georg Schirmbeck (CDU/CSU): Zweitens. Die Politik, die von der Ministerin Künast betrieben Alle Jahre wieder kommt das Graffito auf die (B) wird, ist zum Schaden des ländlichen Raums, ohne dass Menschheit nieder und belästigt sie. (D) man mehr Tierschutz erreicht. Das sind nicht etwa Passagen aus einer Büttenrede, wie (Beifall bei der CDU/CSU) man annehmen könnte, Deshalb hätten Sie allen Grund gehabt, das Ihren Partei- (Peter H. Carstensen [Nordstrand][CDU/CSU]: genossen einmal deutlich ins Stammbuch zu schreiben. Von einem Niedersachsen geschrieben!) Herzlichen Dank, Frau Präsidentin. und auch nicht aus der Jungfernrede einer Kollegin oder eines Kollegen, die ein besonders poetisch veranlagter (Beifall bei der CDU/CSU) wissenschaftlicher Mitarbeiter aufgeschrieben hat; nein, es sind Passagen aus einer Rede unseres Parlamentari- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: schen Staatssekretärs im Justizministerium zur Debatte über Graffitischmierereien am 20. Dezember letzten Jah- Herr Kollege, ich möchte Ihnen im Namen des Hauses, res. Nachzulesen ist das im Plenarprotokoll 15/17 auf den wie das so üblich ist, zu Ihrer ersten Rede gratulieren. Seiten 1 352 folgende. Die einschlägige Passage von Ih- (Beifall) nen, Herr Hartenbach, kann man auf Seite 1 358 nachle- sen. Weil es Ihre erste Rede war, war ich auch mit der Zeit et- was großzügiger. Allgemein gilt: Wenn die rote Lampe (Beifall bei der CDU/CSU – Hans-Christian leuchtet, heißt das, dass Ihre Redezeit überschritten ist. Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Jetzt Das als Hinweis für die Zukunft. kommen Sie schon wieder damit!) Damit schließe ich die Aussprache. Ich sage das vor einem bestimmten Hintergrund. Zur gleichen Zeit, am 20. Dezember, fand dazu auch eine Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Debatte im Bundesrat statt. Dort hat Ihr Kollege von der Drucksache 15/226 an die in der Tagesordnung aufge- SPD, der Minister Wolfgang Gerhards aus Nordrhein- führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- Westfalen – nicht „Gerhardt“ –, verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. (Hermann Bachmaier [SPD]: Wir kennen den schon!) Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 auf: gesagt, er freue sich sehr darüber, wie sachlich die Debatte Erste Beratung des von den Abgeordneten über Graffiti geführt werde. Er hat betont, wie wichtig es Dr. Norbert Röttgen, Cajus Caesar, Dr. Wolfgang sei, dass die Vorschriften über die Sachbeschädigung 1758 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2003

Dr. Jürgen Gehb (A) ergänzt würden. Er hat erklärt, das könne und müsse jeder Oder liegt es nicht vielmehr im staatlichen Justizgewäh- (C) eigentlich unterstützen. Das ist der Unterschied zwischen rungsanspruch, dass die Staatsanwaltschaft diesem Tatbe- der Sachlichkeit einer Debatte im Bundesrat und einer stand in einem Ermittlungsverfahren mit den Vollzugsbe- Debatte mit den Mitgliedern der rot-grünen Fraktionen amten der Polizei nachgeht? hier im Deutschen Bundestag. Da fällt mein Blick natür- (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE lich auf wen? – Auf den Obergraffitischützer, Herrn GRÜNEN]: Die haben nichts Wichtigeres zu Ströbele. tun!) (Heiterkeit bei der CDU/CSU – Josef Philip Das ist keine Frage des Zivilrechts. Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Der ist doch fürs Hanf zuständig!) Ein weiterer Einwand, den man immer wieder hört – das hat zum Beispiel Herr Ströbele gesagt –, ist, dass Graffiti Heute Morgen konnte man in der „Berliner Zeitung“ lesen, auch jetzt schon nach § 303 StGB bestraft werde, dass Sie diese Debatte als PR-Gag ansehen, (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: So steht es im Gesetz!) GRÜNEN]: Als Versuch eines PR-Gags von Ih- nen! Ein schlechter PR-Gag!) etwa wenn jemand mit der Sprühflasche die Wände des Reichstags bemalt, weil die Wand so porös ist. Was ist der kurz vor den Landtagswahlen noch einmal richtig denn, wenn derjenige zehn Meter weiter geht und eine platziert werden müsste. Nach dem 2. Februar wird Ihnen glatte Wand besprüht? Dann ist es keine Sachbeschädi- die Munition ausgehen, dann können Sie nicht mehr be- gung mehr. haupten, der „Lügenausschuss“ oder diese Initiative zum Graffiti fänden allein wegen der Landtagswahlen statt. (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Kommt darauf an, womit er ge- (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE sprüht hat!) GRÜNEN]: Es ist aber so!) Meine Damen und Herren, man kann doch die Beurtei- Schön wäre es gewesen, wenn Sie sich mit diesem Thema lung der Frage, ob Graffiti Sachbeschädigung ist und un- sachlich auseinander gesetzt hätten. ter den § 303 StGB subsumiert werden muss, nicht von Bisher wird immer sehr vollmundig gesagt, man müsse der Tiefenwirkung der Farbe, von der Beschaffenheit des etwas gegen Graffitischmierereien tun. Herr Bachmaier, Untergrundes, vom Lösungsmittel und vom Aufwand der mein Blick fällt dabei auch auf Sie; Eigentümer, die dagegen vorgehen, abhängig machen. (Beifall bei der CDU/CSU) (B) (Hermann Bachmaier [SPD]: Na endlich, ich (D) wäre schon fast beleidigt gewesen!) Sie wenden immer wieder dagegen ein – Herr Ströbele, das ist ja auch leicht angesichts der Besetzung und der Sie haben das in mindestens fünfzehn Zwischenrufen be- rhetorischen Feuerwerke, die heute sicherlich noch ge- hauptet –, Graffiti sei Kunst. zündet werden. Sie haben gesagt, es bestehe kein signifi- (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE kantes Bedürfnis, den Graffitischmierereien mit dem ma- GRÜNEN]: Manchmal!) teriellen Strafrecht zu begegnen, weil – das ist wörtlich in dem Plenarbericht nachzulesen – man bei diesem Katz- Was würden Sie eigentlich sagen, wenn nachts um 3 Uhr und-Maus-Spiel der Täter gar nicht habhaft werden ein Geigenvirtuose bei Ihnen ins Haus kommt und Ihnen könne. auf der Geige „Fiddler on the roof“ vorspielt? (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: So ist es! Wo er Recht hat, hat er GRÜNEN]: Dann träume ich wunderbar! – Recht!) Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Wunder- schön! Sagen Sie uns mal die Adresse!) Meine Damen und Herren, wenn die Frage der materiel- len Strafbewehrung davon abhängen soll, ob man im Er- Selbst unter der Hand eines Künstlers darf das Unrecht mittlungsverfahren oder im Vollzug der Täter habhaft nicht zum Recht werden. Es kommt überhaupt nicht da- werden kann, dann könnten Sie die Hälfte der materiellen rauf an, ob diese Graffitischmierereien oder -malereien Straftatbestände streichen, Herr Ströbele. In einigen Fäl- künstlerisch oder ästhetisch besonders wertvoll sind. Sie len wäre Ihnen das wahrscheinlich ganz besonders lieb. machen ja immer den Einwand, die Strafverfahren seien so aufwendig, weil man Sachverständige hören müsse. (Beifall bei der CDU/CSU) Darauf kommt es nicht an. Es kommt einzig und allein da- rauf an, ob sich der Eigentümer unter Wahrung seines Herr Bachmaier, wenn Sie an anderer Stelle sagen, das nach Art. 14 GG und § 903 BGB geschützten Eigentums Strafrecht brauche man gar nicht und man könne diesen daran stört oder nicht. Dingen mit der zivilrechtlichen Haftung begegnen, dann muss ich Sie fragen: Wer soll als Zivilgeschädigter ei- (Beifall bei der CDU/CSU – Hans-Christian gentlich dieser Täter habhaft werden? Soll denn der Ei- Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann gentümer hinterherlaufen? ist es eine Störung!) (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE Mit der Strafanzeige und dem Strafantrag hat der Berech- GRÜNEN]: Sie sollen hinterherlaufen!) tigte zu erkennen gegeben, dass das Erscheinungsbild sei- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2003 1759

Dr. Jürgen Gehb (A) nes Eigentums in einer Art und Weise beeinträchtigt wor- Staatssekretär aufklären lassen – eine hoch angesehene (C) den ist, die ihm nicht gefällt. Das – und nur das – ist das Richtung in der italienischen Malerei. geschützte Rechtsgut und muss in Zukunft durch die Er- (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE weiterung des § 303 StGB einem besonderen Schutz un- GRÜNEN]: Hört! Hört!) terworfen werden. Heute allerdings ist es ein Ärgernis, wenn – Herr Gehb, Deshalb, meine Damen und Herren – Sie reden ja auch darin sind wir uns einig – bisweilen fast flächendeckend noch, Herr Staatssekretär –, kann ich nur hoffen – jetzt ist Häuserwände, Brücken, Busse und Bahnwaggons be- ja Weihnachten vorbei, aber die Faschingszeit fängt an –, sprüht werden. dass Sie Ihre Einlassungen weniger an Wilhelm Busch und Witwe Bolte orientieren als vielmehr an der ständigen Alle bisherigen Versuche, diese – vorwiegend von Ju- Rechtsprechung, der Literatur und den Gesetzen dieses gendlichen zu verantwortenden – Aktivitäten einzugren- Staates. zen und zu bekämpfen, haben keine allzu großen Erfolge gezeitigt. Seit Jahren wird uns nunmehr suggeriert, dass Herzlichen Dank, meine Damen und Herren. eine Ergänzung des Straftatbestandes der Sachbe- (Beifall bei der CDU/CSU) schädigung – in den 80er-Jahren ging es um das Ord- nungswidrigkeitenrecht – Abhilfe schaffen könnte. Dabei sind bereits die weitaus meisten Fälle – das können Sie Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: nicht bestreiten – mit der geltenden Fassung des § 303 des Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Hermann StGB zu ahnden. Bachmaier. (Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Nein!) – Schauen Sie in die Rechtsprechung! Hermann Bachmaier (SPD): (Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Warum wollen Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wenn es Ihre Kollegen im Bundesrat denn anders ma- Herr Gehb redet, muss man immer ein wenig Sorge ha- chen?) ben, dass ihm etwas zustößt. Das ist ein größeres Problem. Sie sollten deshalb nicht so tun, als würde eine Ergän- (Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Widerlegen Sie zung des Sachbeschädigungstatbestandes das Problem meine Einlassung! Soll ich aus der Drucksache der Graffiti aus der Welt schaffen. vorlesen?) (Vorsitz: Vizepräsident Dr. Hermann – Sie dürfen alles. Das haben Sie aber nicht getan. Otto Solms) (B) (Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Ich kann es Wir wissen doch alle, dass die größte Schwierigkeit darin (D) frei!) besteht, die Täter überhaupt zu fassen. Das bleibt das Hauptproblem. Schauen Sie sich doch die Aufklärungs- Lieber Herr Gehb, um es ganz kurz zu machen: Das, rate an! Dann werden Sie ganz schnell merken, dass da- was Sie gesagt haben, hat mit Ihrem Gesetzentwurf prak- ran auch ein ergänzter Straftatbestand der Sachbeschädi- tisch gar nichts zu tun. Das ist das Problem, mit dem Sie gung nichts ändern wird. sich herumzuschlagen haben. Dies hier ist schließlich kein Wahlkampftermin. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Mit dem Kollegen van Essen bin ich einig, wenn er fragt, warum wir eine solche Debatte innerhalb eines kur- Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des zen Zeitraumes zum zweiten Mal führen müssen. Offen- Kollegen Bergner? sichtlich haben Sie ein Profilierungsbedürfnis. (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Der (Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Stimmen redet doch gleich noch!) Sie einfach zu!) Es gibt kaum ein rechtspolitisches Thema, über das wir Hermann Bachmaier (SPD): im Parlament häufiger diskutiert haben – das muss man Die Zwischenfragen des Herrn Bergner sind mir aus der sich einmal überlegen –, als über das der Graffitisprühe- letzten Beratung bekannt. Er wird nachher selbst reden. rei. Erst in der vorletzten Sitzungswoche haben wir über einen fast gleich lautenden Entwurf der FDP-Fraktion in (Dr. Christoph Bergner [CDU/CSU]: Ich erster Lesung beraten. In Kürze werden wir uns mit einem wollte Ihnen nur die Gelegenheit zur Ant- Entwurf des Bundesrates befassen, der sich allerdings in wort geben!) einem nicht unwesentlichen Punkt von den beiden uns Ich habe eigentlich keine Scheu; Zwischenfragen beleben vorliegenden Entwürfen unterscheidet. Darin wird näm- die Reden. Ich möchte nur nicht ständig auf andere Punkte lich vernünftigerweise auf den schillernden und zen- gebracht werden; denn sonst bekomme ich Probleme, surähnlichen Begriff der Verunstaltung verzichtet. meine Rede in der mir vorgegebenen Zeit zu beenden. (Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Das ist ja nun Wir sollten nicht so tun, als würde lediglich eine Er- eine Exegese!) gänzung des Straftatbestandes Abhilfe schaffen. Im vergangenen Jahrhundert war Graffiti – darüber (Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Das tut doch habe ich mich in diesen Tagen von einem kunstsinnigen keiner!) 1760 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2003

Hermann Bachmaier (A) Ein ergänzter Tatbestand der Sachbeschädigung wird da- Wir werden noch in diesem Jahr zusammen mit Ihnen (C) ran nicht viel ändern. Wenn man die Täter erst einmal ge- nach einer sachgerechten Lösung suchen. Es wird leider fasst hat, kann man sie meist auch bestrafen trotzdem Graffitischmierereien geben, wenn die Aufklä- rungsmethoden nicht verbessert werden. (Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Nein!) (Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Es wird auch und sie dazu zwingen – das ist für die Eigentümer am weiter Mörder geben trotz § 211!) wichtigsten –, den angerichteten Schaden zu beseitigen. – Regen Sie sich bitte nur in Maßen auf, lieber Herr Gehb. Wir haben bereits anlässlich der Beratung des FDP- Entwurfes deutlich gemacht – das sollten Sie nicht ver- Vielen Dank. schweigen –, dass wir durchaus bereit sind, den § 303 (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ StGB so zu ergänzen, dass auch die geringe Anzahl der DIE GRÜNEN) Fälle, bei denen es sich nicht um eine Substanzverletzung handelt, strafrechtlich erfasst werden kann. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Wir sind allerdings nicht bereit – auch das sage ich hier klar und deutlich – den von Ihnen wiederum vorgeschla- Als nächster Redner hat der Kollege Jörg van Essen das genen Begriff der Verunstaltung in das Strafgesetzbuch Wort. aufzunehmen. Dieser Begriff gibt den Strafverfolgungs- behörden und Gerichten Steine statt Brot. Jörg van Essen (FDP): (Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Quatsch!) Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wie Ein Tatbestandsmerkmal der Verunstaltung würde der Kollege Bachmaier habe auch ich mich sehr darüber dazu führen, dass sich die Polizei, die Staatsanwaltschaf- gewundert, dass wir heute diese Debatte führen müssen, ten und die Gerichte mit der Frage herumschlagen müss- und zwar nicht deshalb, weil ich mich nicht über Graffitis ten, ob die jeweiligen Graffiti verunstaltender Natur sind und die Verunstaltung unserer unmittelbaren Umgebung, oder nicht. Dieser Begriff hat in unserem Strafgesetzbuch von Fahrzeugen und vielen anderen Dingen ärgern würde wahrlich nichts zu suchen. – das tue ich genauso wie die Kolleginnen und Kollegen der CDU/CSU-Fraktion –, sondern weil wir in der vor- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ letzten Sitzungswoche hier eine, wie ich finde, gute De- DIE GRÜNEN – Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: batte zu diesem Thema hatten, in der wir wirklich alle Ar- Es gibt ihn aber schon!) gumente ausgetauscht haben. (B) – Ja, aber in einem anderen Zusammenhang. Mein Gott! (Beifall bei der FDP, der SPD und dem (D) (Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Seien Sie doch BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) nicht so gereizt!) Wir sind hier doch ein oberstes Verfassungsorgan und kein Tourneetheater, das immer das gleiche Stück aufführt. Der Entwurf des Bundesrates verzichtet aus gutem Ich denke, dass dieses Haus Anspruch darauf hat, dass wir Grund auf diesen Begriff. Allerdings kommt auch der bestimmte Dinge wie beispielsweise Würde wahren. Bundesrat nicht ohne unbestimmte Rechtsbegriffe aus, die einer weiteren Interpretation durch die Rechtspre- (Beifall bei der FDP, der SPD und dem chung bedürfen. Wenn wir also den Straftatbestand der BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Sachbeschädigung ergänzen, sollten wir alles daran set- Dazu gehört, dass Debatten, die vor kurzer Zeit stattge- zen, die bisherige klare Formulierung dieses Straftatbe- funden haben und wozu es praktisch keine neuen Argu- standes nicht durch unbestimmte Rechtsbegriffe zu ver- mente gibt, nicht neu geführt werden. Ich ärgere mich wässern. wirklich sehr darüber. Aber auch dann, wenn § 303 StGB entsprechend er- Ich möchte mich aber auch in der Sache äußern. Die gänzt wird, wird kein Täter mehr gefasst werden als heute. Debatte in der vorletzten Sitzungswoche hat gezeigt Das sollten wir der Bevölkerung nicht verschweigen. – da gebe ich dem Kollegen Bachmaier Recht; darüber (Zuruf von der CDU/CSU: Es würden aber habe ich mich gefreut –, dass die Bundesregierung bereit mehr Täter bestraft!) ist nachzudenken. Allerdings hat sie Kritik an unserem und Ihrem Vorschlag geübt, den Begriff des Verunstal- Entscheidend für die Bekämpfung von Graffitisprühe- tens zu verwenden. Ich signalisiere hier aber sehr deut- reien sind vernünftige Präventions- und Strafverfol- lich: Wenn wir tatsächlich dazu kommen, die vorhandene gungsmaßnahmen durch die Bundesländer. Wir sollten Strafbarkeitslücke – auf die hat der Präsident des Ober- den Menschen also nicht vorgaukeln, dass eine Ergänzung landesgerichtes Brandenburg in der letzten Woche aus- des materiellen Strafrechtes alle Probleme in der Praxis drücklich hingewiesen; wir sprechen also nicht über eine beseitigen würde. Chimäre – gemeinsam zu schließen, dann bin ich damit (Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Das tut auch zufrieden. keiner!) Ich wehre mich allerdings gegen die vom Kollegen Bachmaier wieder vorgetragene Kritik an dem Vorschlag Das tun Sie mit großer Vorliebe immer kurz vor Wahlen. der FDP und auch der CDU/CSU, den Begriff des Verun- (Beifall bei der SPD) staltens ins Strafgesetzbuch aufzunehmen. Das ist näm- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2003 1761

Jörg van Essen (A) lich kein neuer Begriff für das deutsche Strafgesetzbuch, liche Zusammenhang ist so eindeutig, dass man ihn ei- (C) wie Sie tun. gentlich gar nicht mehr benennen muss. (Hermann Bachmaier [SPD]: Nein, so tue ich (Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Der Gesetzent- nicht!) wurf ist aus der letzten Legislaturperiode!) § 134 StGB enthält diesen Begriff bereits. Jeder kann ein- Sie sehen ja auch, dass sich das Interesse der Öffentlich- mal nachsehen, wie lange er dort schon vorkommt. Des- keit an diesem im wahrsten Sinne des Wortes so spritzi- halb soll niemand so tun, als ob die FDP – wir haben den gen Thema in Grenzen hält. Vorschlag zuerst gemacht – und nun auch die CDU/CSU Ich habe mir einen bekannten Strafrechtskommentar irgendeinen Begriff in das deutsche Strafgesetzbuch ein- mitgebracht, um der Sache einmal auf den Grund zu ge- führen wollten, der Richtern und Staatsanwälten Pro- hen. bleme machen würde. Diese hat es bei der Einführung des § 134 in das Strafgesetzbuch nicht gegeben und diese (Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Von Wilhelm würde es auch jetzt nicht geben. Busch oder was?) Wir wollen – das will ich ganz deutlich sagen – ein kla- Sie tun immer so, als ob das zehntausendfache Sprayen res politisches Signal, dass wir das Ganze nicht für Kunst und die Sachbeschädigungen in U-Bahnen sowie an öf- halten. Dass es mit Kunst wirklich nichts zu tun hat, zeigt fentlichen und privaten Gebäuden von der Bundesregie- sich ganz deutlich am so genannten Scratchen von Fens- rung, die angeblich aus einer schwachen SPD und tern. Das hat in Gegenden angefangen, in denen es (Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Noch S-Bahnen gibt. Dabei wird natürlich überhaupt keine schwächeren Grünen!) Kunst produziert, einer grünen Partei, die so etwas gerne erhalten möchte, (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE besteht, einfach hingenommen würden, und sie deshalb GRÜNEN]: Das hat niemand behauptet!) nicht zu Potte komme. Deshalb gebe es auch keine Ge- sondern schlicht und einfach ein Fenster zerstört. Genau setze und könne es immer so weitergehen. das gleiche Ziel wird auch mit den Graffitis verfolgt. Hier (Beifall bei der CDU/CSU) geht es um pure Zerstörungslust, um pure Beschädi- gungslust. Das Gegenteil ist wahr: (Hermann Bachmaier [SPD]: Darüber sind wir (Beifall bei Abgeordneten der SPD) uns einig!) Schon heute wird das Zerkratzen von Fensterschei- (B) Deshalb ist es ganz wichtig, dass wir das politische ben, das man in fast allen S-Bahnen von Berlin sehen (D) Signal setzen, dass wir nicht bereit sind, das hinzuneh- kann und über das auch ich mich immer sehr ärgere, mit men; denn die Leidtragenden sind häufig Menschen, die erheblichen Strafen bedroht. unter großem finanziellen Aufwand – sie leben nicht (Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Darüber strei- unbedingt in rosigen finanziellen Verhältnissen – bei- ten wir doch auch nicht!) spielsweise ihr Haus neu gestrichen haben und nach kur- zer Zeit erleben müssen, dass ihr Haus in einer geradezu In diesem Buch steht, dass dies mit einer Freiheitsstrafe unerträglichen Weise von Graffitisprayern beschädigt von bis zu drei Jahren geahndet werden kann. worden ist. Ihnen fehlt dann häufig das Geld, das wieder (Jörg van Essen [FDP]: Sie wissen aber, dass zu beseitigen. sie nicht verhängt werden!) Wir als FDP sagen dazu ein klares Nein. Wir wollen, Dasselbe gilt grundsätzlich auch für das Sprayen. dass die entsprechenden strafrechtlichen Lücken ge- schlossen werden. (Jörg van Essen [FDP]: „Grundsätzlich“ heißt ja, dass es Ausnahmen gibt!) Vielen Dank. Dass das Sprayen grundsätzlich strafbar ist, wenn (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) die Beseitigung einen erheblichen Aufwand erfordert, wird mit unendlich vielen Zitaten aus der Rechtsprechung Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: belegt. Das Wort hat jetzt der Kollege Hans-Christian Ströbele (Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Wer soll das vom Bündnis 90/Die Grünen. denn prüfen?) Das Sprayen ist heute schon – um bei dem Beispiel, das ich in der Tat beim letzten Mal gebracht habe, um den Un- Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN): terschied klar zu machen, zu bleiben – nicht nur dann strafbar, Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! (Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Das wäre Ich gestehe, dass auch ich das Problem habe, heute wie- unsinnig, gell?) der zu demselben Thema wie vor 14 Tagen zu reden. Dies muss wohl deshalb schon wieder sein, weil am Wochen- wenn es an der porösen Fassade des Reichstags geschieht, ende in Hessen und Niedersachsen Wahlen sind. Der zeit- sondern auch dann, wenn man zum Beispiel das äußere 1762 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2003

Hans-Christian Ströbele (A) Erscheinungsbild einer Sache ganz erheblich anders ge- Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (C) staltet, als das der Eigentümer will NEN): (Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Wenn man zum Ja, es ist schön, mit ihm zu diskutieren. Beispiel auf das Glas des Paul-Löbe-Hauses spritzt!) Jörg van Essen (FDP): – es ist egal, ob das ein öffentlicher oder ein privater Ei- Herr Kollege Ströbele, Sie haben gerade über Kunst gentümer ist –, und ein erheblicher Aufwand erforderlich gesprochen. Ist Ihnen bekannt, dass die Deutsche Bahn, ist, um das wieder zu beseitigen. die in besonderer Weise unter Graffitischmierereien zu Das Problem – an diesem reden Sie vorbei – ist, dass man leiden hat, Graffitikünstlern Flächen zur Verfügung ge- die Leute in aller Regel nicht fasst. Die Aufklärungsquote stellt hat, um sie künstlerisch zu gestalten, aber dieses An- ist regional unterschiedlich und liegt zwischen 10 und gebot nicht angenommen worden ist? Offensichtlich hatte 35 Prozent. Hier kommen Sie mit Ihren Strafen nicht weiter. man etwas ganz anderes vor, nämlich Sachbeschädigung Sie versuchen Signale zu setzen und so zu tun, als ob Sie mit und nicht Kunst. einer solchen Gesetzesergänzung oder einer neuen Geset- zesvorschrift dagegen ankämen. Das schaffen Sie leider Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- nicht. Sie träufeln den Leuten Sand in die Augen und tun wie NEN): immer so, als ob Sie mit einer Gesetzesverschärfung gegen solche gesellschaftlichen Phänomene angehen könnten. Nein, das stimmt nicht. Herr Kollege van Essen, mir ist bekannt, dass viele öffentliche Stellen, nicht nur die Deut- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) sche Bahn, sondern beispielsweise auch viele Bezirke in Die Beseitigung dieser Zerstörungen und die Wieder- Berlin, Sprayern Wände zur Verfügung gestellt haben. herstellung der besprühten Fläche sind in der Tat sehr häu- Dass das nicht angenommen worden ist, ist nicht richtig. fig nicht nur ein Ärgernis, sondern für die betroffenen Ei- Leider ist aber das sonstige Sprayen nicht viel weniger ge- gentümer und die öffentliche Hand mit erheblichen worden. Kosten verbunden. – Es handelt sich um einen mehrstel- Dazu will ich eine letzte Bemerkung machen. Ich habe ligen Millionenbetrag. viele Menschen verteidigt, die wegen solcher Vorwürfe vor (Jörg van Essen [FDP]: Richtig!) Gericht standen. Daher weiß ich, dass das Strafgesetzbuch in solchen Fällen in aller Regel zur Anwendung kommt und Das kann niemand wollen. Niemand kann dem Eigentü- Strafen ausgesprochen werden. Warum sprayen diese mer oder der öffentlichen Hand zumuten wollen, dass das Leute? – Die meisten sprayen nicht, weil sie Kunstwerke (B) Geld, das man in anderen Bereichen ganz dringend vollbringen wollen, sondern weil sie ihr Markenzeichen in (D) benötigt, dafür ausgegeben wird. der Öffentlichkeit sichtbar machen wollen. Ich habe das einmal mit Hunden verglichen. So wie diese ihr Marken- Ich habe heute in der Zeitung gelesen, dass die Kinder zeichen an Bäumen hinterlassen, so wollen viele Sprayer in Berlin einen Teil ihrer Schulbücher selbst bezahlen ihr Markenzeichen überall in der Stadt hinterlassen. Das sollen. Mit dem Geld, das jetzt für die Beseitigung der müssen wir nicht gut finden und auch nicht billigen. Aber durch das Sprayen entstandenen Schäden ausgegeben wir dürfen uns nicht dem Irrglauben hingeben, dass die wird, könnte man den Kindern ihr Schulmaterial auch in Graffiti dann, wenn eine zusätzliche Vorschrift ins Strafge- Zukunft gratis zur Verfügung stellen. setzbuch aufgenommen wird, weniger werden. (Jörg van Essen [FDP]: Richtig! Genauso Das Interessante für viele dieser Sprayer ist leider das ist es!) Räuber-und-Gendarm-Spiel. Sie reizt das Verbotene. Das kann nicht sein. Das will auch keiner. Auch die Grü- Wir alle wollen das verhindern. Deshalb sollten wir uns nen wollen das nicht. Gedanken darüber machen – diese Idee haben auch Sie gehabt –, den Gutwilligen unter den Sprayern Ersatz- Trotzdem, Herr Kollege van Essen, sind einige flächen zur Verfügung zu stellen. Zudem müssen wir in Sprayereien Kunst. In Berlin – ich habe schon mehrfach da- der Öffentlichkeit, gerade auch bei Schülern und jungen rauf hingewiesen – gab es ein riesiges Bauwerk, das wir alle Leuten, die so etwas machen, möglichst drastisch klar ma- nicht haben wollten und bei dem wir froh waren, als es weg chen, dass durch die Beseitigung von Graffiti und die da- war, nämlich die Berliner Mauer. Sie ist unendlich viel be- mit verbundenen Kosten eine anderweitige und sinnvol- sprayt worden. Später wurden diese Werke, die darauf zu lere Nutzung von öffentlichen Geldern verhindert wird. sehen waren, in Kunstkalendern verbreitet. Auch ich habe Ich glaube, viele kann man überzeugen, nicht dort zu einen solchen Kalender bei mir im Büro hängen. In einzel- sprayen, wo es unmittelbar beseitigt werden muss, weil nen Fällen war dies tatsächlich Kunst. Ich will diese Graffiti sonst der Gebrauchswert der Gegenstände wie bei U- und nicht verteidigen, aber wir sollten vor der Tatsache, dass S-Bahnen ganz erheblich vermindert wird. auch Kunstwerke darunter sind, die Augen nicht ver- schließen. Das hat auch die Rechtsprechung so entschieden. All das wollen wir nicht. Wir wollen andere Wege ge- hen. Wir wollen schädliches Sprayen verhindern, aber nicht immer mit dem Hammer des Strafgesetzbuches und Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: der Kriminalisierung. Herr Kollege Ströbele, erlauben Sie eine Zwi- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN so- schenfrage des Kollegen van Essen? wie bei Abgeordneten der SPD – Dr. Jürgen Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2003 1763

Hans-Christian Ströbele (A) Gehb [CDU/CSU]: Lieber mit Hammer und nicht nur um die Einzelbelange eines Hauseigentümers, (C) Stemmeisen als mit dem Hammer des Strafge- sondern um die Frage geht, wie ernst wir den Umstand setzbuches!) nehmen, dass wir über Denkmalschutzgesetze, über Sa- nierungs- und Gestaltungssatzungen der Kommunen, über bauaufsichtliche Vorgaben und über die Berufung Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: von Gestaltungsbeiräten gemeinschaftlich versuchen, das Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Christoph Bergner Bild einer Stadt in einem Prozess konsensualer Mei- von der CDU/CSU-Fraktion. nungsbildung zu einer besonderen Ausprägung zu brin- gen, und dann eine Horde von Spraydosenvandalen kommt und diesen Anblick in einer einzigen Nacht zu- Dr. Christoph Bergner (CDU/CSU): nichte macht. Mit diesem Problem haben wir uns ausei- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kol- nander zu setzen. lege Ströbele, Sie haben diesen Antrag als einen PR-Gag bezeichnet. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE Aus meiner Sicht wird die Dimension des Problems in GRÜNEN]: So ist es!) der Frage deutlich, ob der Staat bereit und in der Lage ist, diese Willkürhandlung gegen die Gemeinschaft einer Als jemand, der lautstark plebiszitäre Elemente im städtischen Bürgerschaft mit einer zweifelsfreien Ant- Grundgesetz fordert, sollten Sie für eine Massenpetition wort des Strafrechts zu unterbinden und zu verfolgen. aus meinem Wahlkreis, die folgenden Wortlaut hat, be- sondere Aufgeschlossenheit zeigen: (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das schaffen Sie nicht!) Die Unterzeichner fordern den Deutschen Bundestag auf, die Regelungen des Strafgesetzbuches so zu än- Herr Ströbele, ich weiß nicht, von welchen Auf- dern, dass unerlaubtes Besprühen oder Bemalen von klärungsquoten Sie sprechen. Ich habe Zahlenangaben fremdem Eigentum, so genannte Graffiti-Tags und aus der Stadt Halle, die besagen, dass polizeiliche Auf- andere, regelmäßig als Sachbeschädigung gelten und klärungsquoten in einzelnen Jahren durchaus bei 70 Pro- damit als Straftat verfolgt werden können. zent lagen. Aber die Erfolgsquote bei der strafrechtli- chen Verfolgung ist aufgrund der Zweifelhaftigkeit der (Beifall bei der CDU/CSU – Hans-Christian Strafrechtsregelung so erbärmlich, dass inzwischen auch Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ha- diejenigen, die die Ermittlungen zu betreiben haben, frus- ben Sie die Leute aufgeklärt?) triert und nicht mehr motiviert sind, diesen Dingen wirk- lich nachzugehen. (B) Diese Massenpetition, Herr Kollege Ströbele, liegt seit (D) über einem Jahr im Deutschen Bundestag und hat bisher (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) noch keine sachgerechte Behandlung gefunden. Strafrechtliche Verfolgung wird auch derjenige für un- (Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Das ist es!) entbehrlich halten, der begriffen hat – auch dafür gibt es Dies sage ich mit Hinweis darauf, dass offenbar auch der Belege –, dass diese Graffitisprühereien oft genug Ein- Petitionsausschuss den Sachverhalt als im Rechtsaus- stiegs- und Wegbereitungsdelikte für Vandalismus und schuss noch nicht ausreichend diskutiert betrachtet. kriminelles Handeln sind. Die Unterzeichner, zu denen ich gerne noch etwas sa- gen möchte, Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE Herr Kollege Bergner, erlauben Sie eine Zwi- GRÜNEN]: Haben Sie in die Irre geführt!) schenfrage des Kollegen Ströbele? hätten für alles Mögliche Verständnis, aber nicht dafür, Dr. Christoph Bergner (CDU/CSU): dass wir das Thema einfach liegen lassen. Vielmehr muss es immer wieder aufgegriffen werden. Zu den Unter- Bitte. zeichnern, um auch dies klar zu sagen, gehören ehren- werte Bürger der Stadt, aus der ich komme – Künstler, Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Vertreter von Verbänden und Vereinigungen der Stadt –, die vor allen Dingen ein Anliegen haben: dass wir uns mit Bitte schön, Herr Ströbele. solchen Anträgen und einer solchen Debatte der Dimen- (Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Für eine sion der Problematik bewusst werden. völlig überflüssige Debatte ist das erstaunlich!) Die Dimension hat jetzt die Größenordnung einer ge- sellschaftlichen Herausforderung erreicht. Die gesell- Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- schaftliche Herausforderung lautet aus der Sicht dieser NEN): Unterzeichner: Bleibt der Anblick einer Stadt so etwas wie das Gemeingut seiner Bürgerinnen und Bürger oder Herr Kollege, können Sie mir sagen, in welchen Jahren fällt er unter das Faustrecht einer Minderheit, die sich mit die Aufklärungsquote in der Stadt Halle bei Graffiti oder gemalten Albträumen an jeder sichtbaren Fläche verewi- anderen Sachbeschädigungen 70 Prozent betragen hat gen möchte? Dieses Anliegen macht deutlich, dass es hier und in wie vielen Fällen Täter zweifelsfrei festgestellt 1764 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2003

Hans-Christian Ströbele (A) worden sind, es aber nicht zu einer Verurteilung gekom- men. Nur, wenn immer Sie so etwas tun, werden Sie fest- (C) men ist, weil angeblich die Vorschriften des Strafgesetz- stellen: Allein mit bürgerschaftlichem Engagement lässt buches nicht ausreichen? sich dieses Problem nicht lösen. Der Staat ist gefordert, mit dem Strafrecht eine zweifelsfreie Antwort zu geben. Um eine solche Antwort sollten wir uns bemühen; denn Dr. Christoph Bergner (CDU/CSU): die Resignation der Bürger – das erlebe ich leider in den Herr Kollege Ströbele, ich bin gern bereit, Ihnen die Stadtteilen, in denen unbesprühte Wände zur Seltenheit Zahlen zu liefern, die wir bei einer Anhörung im Mai 2000 geworden sind – führt zu Wegzug und Verslumung ganzer in der Stadt Halle zur Kenntnis bekamen. Damals wurde Stadtteile. Insofern stehen wir hier vor einer grundsätzli- uns von der Polizei erklärt, dass wir mit einer Auf- chen Entscheidung. Ich kann nur dazu auffordern, dass klärungsquote von bis zu 70 Prozent rechnen könnten und wir dem Anliegen, das mir in den letzten Jahren in einer dass insgesamt drei Tatverdächtige tatsächlich verurteilt ostdeutschen Großstadt vermittelt wurde, gerecht werden, worden seien. Mit einem solchen Verhältnis haben wir es und zwar in seiner ganzen Dimension. zu tun. Danke schön. Ich habe noch keinen Polizisten erlebt – die Polizisten (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) bemühen sich bei diesen Ermittlungen ja beträchtlich –, der, wenn er nicht das Gefühl hat, für den Papierkorb zu arbeiten, nicht mit demselben Nachdruck, mit dem ich es Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: über Jahre tue, an dieser Stelle eine Strafrechtsverschär- fung fordert. Herr Kollege Dr. Bergner, ich gratuliere Ihnen zu Ihrer ersten Rede im Deutschen Bundestag. Herzlichen Glück- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Jörg wunsch! van Essen [FDP]: Die Gewerkschaft der Polizei tut das zum Beispiel auch!) (Beifall) – Die Motivlage ist völlig eindeutig. Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat nun der Parlamentarische Staatssekretär Alfred Hartenbach Herr Kollege Ströbele, mir macht aber Sorgen – hier das Wort. stehen wir in der Gefahr der Bagatellisierung; auch dies haben über Jahre geführte Gespräche mit der Polizei er- (Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Ach, was muss geben –, dass wir es mit einem Einstiegs- und Weg- man oft von bösen Buben hören oder lesen? bereitungsdelikt zu tun haben. Das Kratzen geschieht Jetzt kommt doch bestimmt wieder Wilhelm dort, wo man Sorge hat, dass die Sprayereien leicht abzu- Busch!) (B) waschen sind. Nach dem Kratzen kommt das Zertrüm- (D) mern und nach dem Zertrümmern kommen weiter ge- Alfred Hartenbach, Parl. Staatssekretär bei der Bun- hende Sachbeschädigungen. desministerin der Justiz: (Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Und Körper- Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Kollegin- verletzungen!) nen und Kollegen! Herr Gehb, ich zitiere heute einmal Herr Kollege Ströbele, Folgendes hat mich in den Jah- nicht Wilhelm Busch, sondern beginne mit Karl Valentin, ren, in denen ich mich mit diesem Problem beschäftige, damit ich Ihren Wissensschatz noch ein bisschen erwei- nachdenklich gemacht: Inzwischen gibt es eine Szene – tere. Karl Valentin hat gesagt: „Es ist alles gesagt, aber das betrifft sicherlich nur eine Minderheit des Täterkrei- noch nicht von allen.“ Ich möchte zu dem Gesetzentwurf, ses –, die hoch organisiert ist. Als wir unsere Bemühun- den Sie heute vorgelegt haben, sagen: Es ist alles gesagt, gen im Internet präsentierten, sind wir durch einen Link und zwar von allen. auf eine Seite gestoßen – die Internetadresse ist (Beifall bei der SPD) www.halle.crime.de; inzwischen habe ich ähnliche Seiten gefunden –, auf der Sprayer die Hauswände, auf die sie Wir diskutieren heute über das Gleiche wie schon in ihre Tags gesetzt haben, wie Trophäen ausstellen. Außer- der letzten Legislaturperiode oder wie vor fast sechs Wo- dem werden in einem Vorspann die Sicherungsbemühun- chen. Nun zitiere ich Goethe: „Getretener Quark wird gen der Polizei in einer solch zotigen Weise verhöhnt, breit, nicht stark.“ Vor gut einem Monat haben wir alle Ar- dass ich mich scheue, das in diesem Hohen Hause zu zi- gumente ausgetauscht. Sie erwecken heute trotzdem wie- tieren. Auch so etwas fordert aus meiner Sicht, dass der der den Eindruck, dass mit dem Begriff der Verunstal- Staat beim Strafrecht eine eindeutige Antwort nicht schul- tung das Problem in den Griff zu bekommen ist. dig bleiben darf. (Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Das hat über- (Beifall bei der CDU/CSU) haupt keiner gesagt!) Zum Abschluss möchte ich noch sagen: Die Straf- Sie befinden sich ein weiteres Mal auf dem Holzweg. rechtsverschärfung ist nur ein Teil eines Handlungskon- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) zepts. Ich selbst habe mich um die Gründung eines Vereins bemüht, der beispielsweise versucht, eine zivil- Beim Lesen Ihres Gesetzentwurfes bekommt man den rechtliche Entscheidung über die Anerkennung der Säu- Eindruck, Farbschmierereien und Graffiti würden nur berung von Denkmälern als gemeinnütziges Anliegen selten vom Tatbestand der Sachbeschädigung erfasst und herbeizuführen und darüber finanzielle Hilfe zu bekom- seien aus diesem Grunde regelmäßig straflos. Wir alle Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2003 1765

Parl. Staatssekretär Alfred Hartenbach (A) wissen, dass das so nicht stimmt. Wenn Graffitisprayer allen Dingen möchte ich Staatsanwälten und Richtern (C) gefasst werden, können sie in vielen Fällen wegen Sach- nicht zumuten, dass sie sich zu Kunstsachverständigen beschädigung verurteilt werden. Ich weiß im Gegensatz machen müssen. zu Ihnen, Kollege Bergner, als Staatsanwalt und Richter, (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ dass das so ist. Für eine Verurteilung reicht schon aus, DIE GRÜNEN) dass die Substanz der besprühten Fläche durch die Reini- gung geringfügig beschädigt wird. Herr van Essen, der Einwand, dass der Begriff des Ver- unstaltens bereits im Strafgesetzbuch existiert, greift zu Ich habe die Aussage eines Berliner Malermeisters kurz. bei einer Sachverständigenanhörung im Jahre 1999 noch sehr gut in Erinnerung. Dieser Malermeister hat (Jörg van Essen [FDP]: Nein!) gesagt, der heute handelsübliche Außenputz sei bei – Hören Sie zu! § 134 StGB, der damit gemeint ist, hilft Farbschmierereien nur durch Abschleifen und damit nur durch eine Verletzung der Substanz zu beseitigen. Da- für unseren Fall nicht weiter. Dort geht es um den Schutz mit haben wir es mit dem Tatbestand der Sachbeschädi- der öffentlichen Wirksamkeit amtlicher Kundmachungen. gung zu tun. Die Missachtung des dienstlichen Schriftstücks steht im Vordergrund und nicht die Frage, ob die Veränderung als (Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Das hängt ästhetisch gelungen erscheint oder nicht. vom Material ab!) (Jörg van Essen [FDP]: Trotzdem haben wir Es ist deshalb nicht redlich, wenn Sie immer wieder so den Begriff des Verunstaltens!) tun, als klaffte hier eine Gesetzeslücke und als genügte ein Federstrich des Gesetzgebers, um sämtlichen Farb- Anders wäre es bei dem Tatbestand der Sachbeschädi- schmierereien bis in alle Ewigkeit ein Ende zu bereiten. gung. Dort würde das Moment der Ästhetik für den Be- Nicht die Rechtslage ist das Problem bei der Graffiti- griff des Verunstaltens eben nicht von vornherein als un- bekämpfung, sondern die Schwierigkeit, die Täter zu fas- beachtlich angesehen werden können. sen. Wenn Täter nicht ermittelt werden können, dann kön- (Jörg van Essen [FDP]: Österreich macht es nen sie nicht bestraft werden. An diesem Problem werden doch auch so!) alle Eingriffe in das materielle Strafrecht nichts ändern. Vorrangig ist es deshalb – gerade aus jugendpolitischer Ich verstehe deshalb nicht, weshalb die Fraktionen von Sicht –, eine wirksame Prävention sicherzustellen. Da- CDU/CSU und FDP am Begriff des Verunstaltens hängen. rauf sollten wir uns konzentrieren. Das eigentliche Problem ist doch nicht die Frage Herr Gehb, ich zitiere aus der „Hessischen Nieder- (Unruhe bei der CDU/CSU und der FDP) (B) sächsischen Allgemeinen“ – Ort ist Hofgeismar, wo ich – hören Sie doch einmal zu! –, ob Graffiti uns oder den (D) einmal Amtsrichter war –: Richtern und Staatsanwälten gefallen oder nicht. Das Är- „Das war ein gutes Beispiel von Zivilcourage. Da- gernis für den konkreten Eigentümer oder den Berechtig- rauf sind wir angewiesen, um unsere Ermittlungsar- ten ist doch die nicht unerhebliche Veränderung des Er- beiten auch zum Erfolg zu führen.“ Gerhard Wöhrl, scheinungsbildes einer Sache, also der Hauswand oder Erster Hauptkommissar und Leiter der Polizeistation was auch immer, gegen seinen Willen. Wir sollten deshalb in Hofgeismar, spricht von einer Zeugin aus Immen- darüber nachdenken, ob wir den Tatbestand der Sachbe- hausen, schädigung in diese Richtung rechtsstaatlich einwandfrei weiterentwickeln können. – da wohne ich – Verehrter Kollege Gehb, wenn Sie das Protokoll mei- die der Polizei einen entscheidenden Hinweis gege- ner Rede vom 20. Dezember 2002 richtig gelesen hätten, ben hat. dann hätten Sie festgestellt, dass ich schon zu diesem Der Artikel schließt folgendermaßen: Zeitpunkt das Gleiche gesagt habe. Wir werden uns auf diesen Weg begeben. Wenn das geschehen ist, sind, Um diese Straftaten aber aufklären zu können, soll- meine Damen und Herren von der Union, die von der ten die Bürger Mut beweisen und ihre Beobachtun- CDU oder von der CSU regierten Länder am Zuge, ord- gen melden. Wöhrl: „Es ist nicht damit getan, die Au- nungsgemäße Polizeivorschriften zu finden, um Graffiti gen zu schließen oder gleichgültig weiterzugehen, zu verhindern. wenn man etwas gesehen hat.“ Ich möchte zum Schluss kommen. Danach bin ich fer- Sicherlich kann man über eine Gesetzesänderung tig und ich bedanke mich, dass mir Herr Gehb so gut zu- nachdenken, um auch die wenigen Fälle zu erfassen, die gehört hat. ausnahmsweise einmal nicht die Voraussetzungen der Substanzverletzung erfüllen. Der Begriff des Verunstal- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: tens ist – auch das hat bereits die Sachverständigenan- hörung im Jahre 1999 ergeben – als Grundlage für eine Herr Staatssekretär, gestatten Sie eine Zwischenfrage? Ausdehnung der Sachbeschädigungsdelikte aber nicht ge- eignet. Er ist in diesem Zusammenhang für einen Straf- Alfred Hartenbach, Parl. Staatssekretär bei der Bun- rechtsbegriff zu stark an ein ästhetisches Werturteil ge- desministerin der Justiz: bunden. Der Kollege Bachmaier hat unsere Haltung dazu ausgeführt. Ich möchte darauf nicht weiter eingehen. Vor Nein. 1766 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2003

Parl. Staatssekretär Alfred Hartenbach (A) Zu Ihrem Gesetzentwurf ist im Grunde schon in der Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (C) Bibel alles gesagt. Nun müssen Sie dem ehemaligen Theologiestudenten auch noch gestatten, dass er die Bibel Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs zitiert. Im Buch Daniel, in Kapitel 5, Vers 25, wird wohl auf Drucksache 15/302 an die in der Tagesordnung auf- zum ersten Mal in der Weltliteratur ein Graffiti erwähnt. geführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu ander- weitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann ist die Da steht: Überweisung so beschlossen. Mene mene tekel – gezählt, gezählt, gewogen und zu leicht befunden. Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesord- nung. Das gilt auch für Ihren Gesetzentwurf. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundes- Danke schön. tages auf morgen, Freitag, den 31. Januar 2003, 9 Uhr, ein. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Die Sitzung ist geschlossen. DIE GRÜNEN – Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Sagenhaft! Klasse!) (Schluss: 17.30 Uhr) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 22. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 30. Januar 2003 1767

(A) Anlage zum Stenografischen Bericht (C) Anlage 1

Liste der entschuldigten Abgeordneten

entschuldigt bis entschuldigt bis Abgeordnete(r) einschließlich Abgeordnete(r) einschließlich Berninger, Matthias BÜNDNIS 90/ 30.01.2003 Rauber, Helmut CDU/CSU 30.01.2003* DIE GRÜNEN Rauen, Peter CDU/CSU 30.01.2003 Bindig, Rudolf SPD 30.01.2003* Riester, Walter SPD 30.01.2003* Burchardt, Ulla SPD 30.01.2003 Robbe, Reinhold SPD 30.01.2003 Deittert, Hubert CDU/CSU 30.01.2003* Rupprecht SPD 30.01.2003* Eymer (Lübeck), Anke CDU/CSU 30.01.2003* (Tuchenbach), Marlene Dr. Gauweiler, Peter CDU/CSU 30.01.2003 Dr. Scheer, Hermann SPD 30.01.2003* Göppel, Josef CDU/CSU 30.01.2003 Schmidt (Fürth), CDU/CSU 30.01.2003 Christian Granold, Ute CDU/CSU 30.01.2003 Haack (Extertal), Karl SPD 30.01.2003* Schröter, Gisela SPD 30.01.2003 Hermann Siebert, Bernd CDU/CSU 30.01.2003* * Höfer, Gerd SPD 30.01.2003 Simm, Erika SPD 30.01.2003 * Hoffmann (Chemnitz), SPD 30.01.2003 Steenblock, Rainder BÜNDNIS 90/ 30.01.2003* Jelena DIE GRÜNEN * Jäger, Renate SPD 30.01.2003 Dr. Thomae, Dieter FDP 30.01.2003 * Jonas, Klaus Werner SPD 30.01.2003 * (B) Tritz, Marianne BÜNDNIS 90/ 30.01.2003 (D) Kelber, Ulrich SPD 30.01.2003* DIE GRÜNEN Lanzinger, Barbara CDU/CSU 30.01.2003 Volquartz, Angelika CDU/CSU 30.01.2003 * Leibrecht, Harald FDP 30.01.2003* Wegener, Hedi SPD 30.01.2003 Lintner, Eduard CDU/CSU 30.01.2003* Wicklein, Andrea SPD 30.01.2003 * Dr. Lucyga, Christine SPD 30.01.2003* Dr. Wodarg, Wolfgang SPD 30.01.2003 Möllemann, Jürgen W. FDP 30.01.2003

Müller (Düsseldorf), SPD 30.01.2003 * für die Teilnahme an Sitzungen der Parlamentarischen Versammlung Michael des Europarates

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