Wässermatten

Die Wässermatten in den oberaargauischen Flusstälern der Langete, Oenz und Rot sind die letzten Reste einer ehemals im Schweizer Mittelland verbreiteten Kultur- form der genossenschaftlichen Wiesenbewässerung und -düngung. Die Praxis lässt sich bis ins 9. Jahrhun- dert zurückverfolgen und wurde im 13. Jahrhundert durch die Zisterziensermönche des Klosters St. Urban im Rahmen der Massnahmen zur Bodenverbesserung gefördert. Es wurden weit verzweigte Systeme aus Ka- nälen und Gräben geschaffen, Dämme geschüttet und Hauptbewässerungsgräben mit «Brütschen» (Schleu- sen), Seitengräben mit «Ablissen» (Wasserauslassen), «Wuhren» (Wehre) sowie Staubrettern angelegt. Die Wässermatten wurden früher mehrmals im Jahr gewäs- sert. Die mitgeschwemmten Schwebstoffe düngten die Matten. Die Hauptgräben wurden von den Wässermat- ten-Genossenschaften im Gemeinwerk, die Seitengrä- ben privat unterhalten. Heute werden im bernischen noch rund 80 Hektaren Wässermatten un- terhalten, in der aargauischen Region Zofingen-Wigger- Verbreitung BE (Region Oberaargau), AG, LU tal noch etwa 15 Hektaren, im luzernischen Rottal, an der Grenze zum Kanton , sind es noch gut 20 Hek- Bereiche Umgang mit der Natur taren. In allen anderen Regionen der Schweiz sind die Version Juni 2018 Wässermatten entweder ganz verschwunden oder auf einzelne kleinere Flächen beschränkt. 1983 wurden die Autorin Katrin Rieder Wässermatten ins Bundesinventar der Landschaften und Naturdenkmäler von nationaler Bedeutung aufge- nommen.

Die Liste der lebendigen Traditionen in der Schweiz sensibilisiert für kulturelle Praktiken und deren Vermittlung. Ihre Grundlage ist das UNESCO-Übereinkommen zur Bewahrung des immateriellen Kulturerbes. Die Liste wird in Zusammenarbeit und mit Unterstützung der kantonalen Kulturstellen erstellt und geführt.

Ein Projekt von:

Wässermatten sind eine landwirtschaftliche Nutzungs- «usegloh» (Wasser herausgelassen). Die grossen Tal- form mit Grasanbau und einem speziellen Bewässe- matten wurden meist in Genossenschaften bewirtschaf- rungssystem. Sie waren früher im Schweizer Mittelland, tet. Im Langetental wurde schon 1349 das Amt des im Jura und bis Schaffhausen weit verbreitet, ebenso in Wässermanns geschaffen. Bis in die 1960er-Jahre war anderen Ländern Europas. Im Oberaargau blieben die unterhalb von ein Wässer-Bannwart einge- letzten Wässermatten der Schweiz bis heute erhalten; setzt, der nach «alter Übung» erst die grosse Steina- sie liegen in den bernischen Gemeinden Rohrbach, Ur- cher-Schleuse an der Langete zog, hernach nach senbach, Madiswil, , Langenthal, Roggwil, Bet- «Kehrordnungen» und Regeln die «Brütschen» zu den tenhausen, und sowie in einzelnen Mattengrundstücken. den luzernischen Gemeinden Altbüron und Pfaffnau. Neben den Tälern der Langete, der Oenz und der Rot im Trotz der Bezeichnung «Wässermatten» war der bernischen Oberaarau und im luzernischen Hinterland, Hauptzweck der Bewässerung nicht allein die Graswirt- gibt es gegenwärtig Wässermatten im aargauischen schaft. Ursprünglich zielte die Bewässerung darauf, die Wiggertal-Suhrental sowie in Deutschland, die grössten Talböden und andere Fluren überhaupt fruchtbar zu in der badischen Oberrheinebene «Elzwiesen» im Ge- machen; durch Aufschlämmung (Kolmation) wurde biet Rheinhausen-Rust-Kenzingen. neues Kulturland gewonnen. Im Wässerland lagen frü- her neben Wässermatten auch Äcker und Weiden – sie Ein traditionelles Bewässerungssystem wurden in Wechselwirtschaft genutzt. Im Roggwiler Zel- genland hiess dies: fünf Jahre Nutzung als Wässerwie- Ein durchlässiger Kiesuntergrund sowie grossflächige, sen, zehn Jahre Ackerwirtschaft im Turnus. In dieser zusammenhängende Areale in der Talsohle oder in ei- Fruchtfolge wurden die Felder zehn Jahre abwechs- ner Ebene bildeten die günstigen Voraussetzungen für lungsweise mit Dinkel und Hafer bebaut und anschlies- Wässermatten. Zur Wiesenbewässerung wurden Sys- send während fünf Jahren als Wässerwiese bewirt- teme aus Gräben geschaffen, Dämme geschüttet und schaftet. Wie in der klassischen Dreizelgenwirtschaft Hauptbewässerungsgräben mit «Brütschen» (Schleu- gab es also immer zwei bebaute Zelgen und eine be- sen), Seitengräben mit «Ablissen» (Wasserauslässen), wässerte (anstatt brachliegende) Zelge, wobei ein Tur- «Wuhren» (Wehre) sowie Staubrettern angelegt. Das nus fünfzehn (nicht drei) Jahre dauerte. Die Matten Wasser wurde durch ein weit verzweigtes, der Mikro- wurden mehrmals im Jahr gewässert, im Langetental morphologie angepasstes Netz von Kanälen geführt drei- bis viermal (im Frühling, nach dem Einbringen von und schliesslich zur Überrieselung der Matten genutzt. Heu und Emd im Sommer und im Spätherbst), im Die traditionelle landwirtschaftliche Bedeutung der Rottal jeden Monat. Die mitgeschwemmten Schweb- Wässermatten liegt in der Naturdüngung und der Wet- und Nährstoffe düngten die Matten auf natürliche terunabhängigkeit. Mit der natürlichen Düngung, die Weise. Zudem boten die Wässermatten Schutz vor über das Rieselverfahren mit seinem grossen Wasser- Hochwasser, da dieses ohne Schäden über die Matten durchsatz erreicht wurde, konnten die landwirtschaftli- floss und von dort ins Grundwasser versickerte. chen Erträge gesteigert werden; die Heuwiesen waren

Voraussetzung für vermehrte Viehhaltung und damit Durch die grossflächige Wiesenbewässerung entstand vermehrter Mistproduktion, die eine Erweiterung des im Langetental, im Rottal und im Oenztal eine natur- Ackerbaus ermöglichte. Der Überschwemmungen we- nahe Kulturlandschaft mit Flüsschen, Gräben und den gen wurden die Wässermatten nie gepflügt; die dick- zahlreichen Hecken sowie einem die Landschaft prä- verfilzte Grasnarbe verhinderte selbst bei reissenden genden Kleinrelief, geschaffen durch die feinen, ständi- Überflutungen ein Wegschwemmen der Erde. Hoch- gen Ablagerungen des Wassers. Die Graben-Relief- wasser der letzten Jahrzehnte an der Langete zeigten, landschaft der alten Wässermatten ist in photogramme- dass Äcker metertief ausgefressen wurden, während trischen Karten im Sinne eines Denkmals festgelegt. die Wässermattengebiete verschont blieben. Die Wässermattenlandschaft ist geprägt von weiten

Grünlandflächen – meist Naturwiesen – und vielen He- Das Bewässerungssystem war überall sehr ähnlich an- cken sowie Einzelgehölzen entlang den Gewässern und gelegt. Den Abfluss in einen ersten Kanal (Hauptgra- Wassergräben. Erlen, Weiden, Traubenkirschen, ben) stellt normalerweise eine Stauschleuse mit Eschen und einzelne, markante Eichen gliedern die «Schwelli» (Schwelle) im Fluss her. In diesem folgen in Landschaft. bestimmten Abständen Verteilwerke (sogenannte «Brüt- schen»), die das Wasser in Seitengräben leiten, wo es Viele Tierarten finden hier ihren Lebensraum: Raben- schliesslich in die Matten überläuft und diese überrieselt krähe, Mäusebussard, Stockente, Ringeltaube, Fisch- (daher der Ausdruck: «Rieselbewässerung»). Gemäss reiher, Specht, Lerche und zahlreiche Amphibien. verbrieften Rechten und althergebrachten Regeln wurde in jeder Jahreszeit einmal während rund einer Woche

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Das Kloster St. Urban als Begründer der Oberaar- Genossenschaftlicher Besitz und gemeinsame gauer Wässermatten Nutzung

Die Wässermatten im Oberaargau sind die letzten Reste Wie Wald, Weide und Wege war auch der Wasserlauf einer ehemals im schweizerischen Mittelland verbreiteten im Tal ein Teil der Allmend und wurde als Gemeingut Kulturform der genossenschaftlichen Wiesenbewässe- von der Genossenschaft genutzt. Von den alten Eigen- rung und -düngung. Am besten sind sie heute noch in tumsverhältnissen ausgehend sind zwei Arten von den Flusstälern der Langete, Oenz und Rot erhalten. Das Wässermatten zu unterscheiden: In den Talböden die Entstehen der Oberaargauer Wässermatten geht zurück genossenschaftlich genutzten sogenannten «echten» bis ins 9. Jahrhundert. Die Massnahmen zur Bodenver- Wässermatten mit vielseitigen Grabensystemen; und in besserung der Zisterzienser Mönche des Klosters den Seitentälern die privaten «Ablissmatten» an den St. Urban im 13. Jahrhundert beförderte die Bewässe- Hängen mit einfachen Grabensystemen und meist pri- rungswirtschaft stark. Die Mönche, denen die Urbarisie- vater Nutzung. Die genossenschaftliche Nutzung ist rung des Bodens als Ordensregel aufgegeben war, fass- charakteristisch für die Talwässermatten, ebenso die ten die Langete bei der Mühle Langenthal, um das systematischen Wässerzeiten auf Grund von urkundli- Wasser auf die Felder ihres Roggwiler Zehnthofes zu lei- chen Rechten und von Regeln «nach alter Übung». Da ten. Unter der Leitung der Mönche wurde der Kanal ge- die Wässerung auch mit Kosten und Aufwand verbun- graben, der noch heute den Langetelauf bis zum Zusam- den war, wurde genau Buch geführt, welcher Landwirt menfluss mit der Rot darstellt. Sie schufen das zu welchen Zeiten Wasser bezog und wie hoch der da- weitverzweigte Grabensystem, schütteten Dämme auf für zu entrichtende Wasserzins war. Um die Wasser- und erstellten «Wuhreschwellen», «Britschen» und «Ab- verteilung gab es immer wieder Konflikte, die oft vor lisse», die eine intensive Bewässerung erst erlaubten. Gericht ausgetragen wurden. Ursprünglicher Hauptzweck der Bewässerung war die Bil- dung einer landwirtschaftlich nutzbaren Bodenschicht Hauptgräben und «Brütschen» wurden von den Wäs- und die Düngung; die Befeuchtung wurde erst später sermatten-Genossenschaften im Gemeinwerk, die Sei- zum eigentlichen Zweck. tengräben mit den dazugehörigen Anlagen von den je- weiligen Bewirtschaftern unterhalten. Die Bewässe-

Das Kloster St. Urban, als Empfänger von Bodenzinsen rung erfolgte nach alten Rechten: Grundbucheintrag, und Zehnten in und um Langenthal, hatte die Pflicht, verbrieftes Wässerrecht, Reglement und Kehrordnung. jährlich im Frühling die Räumung des Langetelaufes, Der Uferschutz ist bis in die Gegenwart Aufgabe der den sogenannten «Bachabschlag» bis Weinstegen vor- Anstösser geblieben. Die Unterhaltspflicht der öffentli- zunehmen. Mit einem stark bespannten Pflug wurde die chen Gewässer liegt heute zumeist bei den Einwoh- Sohle des Bachbettes aufgerissen und anschliessend nergemeinden. der Schutt ausgeräumt. Nach einer Verordnung aus dem Jahre 1859 musste die Sohlenbreite 14 Fuss oder 4,2 Traditionelles Wissen im Umgang mit der Natur Meter breit sein. Die Anstösser waren verpflichtet, Wur- Das Wissen um das Wässerhandwerk, die Rechte und zelstöcke zurückzuschneiden und beschädigte «Wuh- Regeln sind traditionelles Erfahrungswissen im Um- ren» und Schleusen zu ersetzen. gang mit der Natur. Dieses wurde unter anderem in Reimsprüchen formuliert, so beispielsweise im Aus- Nach Aufhebung des Klosters im Jahr 1848 gingen die spruch: Verpflichtungen an den Kanton Luzern über, wie Chris- «Wär im Früehlig wässeret, wett Gras, wär im Herbscht tian Leibundgut informiert. Mitte des 20. Jahrhunderts wässeret, hett Gras!». Auch in «10 Geboten der Wäs- übernahmen die Gemeinden Langenthal und Roggwil für serung» (nach Walter Bieri) wurde dieses Wissen zu- die auf Gemeindegebiet liegenden Teilstücke der Lan- sammengefasst: gete die jährliche Räumung. In Roggwil wurde dafür ein «1. Man kann nur da mit Erfolg wässern, wo zwei Unternehmen beauftragt. Noch lange wurde der «Wäs- Tage nach Abstellen des Wassers wieder mit be- serbammert» nach der alten Vereinbarung vom «Chlos- spanntem Wagen gefahren werden kann (durchlässi- ter» besoldet (von der in den Gebäuden des ehemaligen ger Untergrund). Kloster St. Urban installierten Heil- und Pflegeanstalt 2. Das Wässern wirkt am besten, wenn die Steine in der des Kantons Luzern). «Britschen» und Graben werden Langeten schwarz werden (der schwarze Belag besteht vom jeweiligen Eigentümer unterhalten. aus Algen; das Wasser ist konzentriert an Nährstoffen). 3. Das Wasser muss rieseln, es darf nicht ruhig ste- hen bleiben. 4. Je wärmer das Wasser, umso besser wirkt es. 5. Das Wässern im Herbst wirkt am günstigsten, es wirkt auch noch im Frühling.

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6. Auf frisch geheuten Matten soll nicht gewässert wer- den Matten. Dass umfangreiche Abschnitte der Wässer- den, weil sonst die ausgefallenen, bestandverjüngenden matten erhalten blieben, sei gemäss Binggeli, das Ver- Grassamen fortgeschwemmt werden. dienst der Bauern und der bäuerlichen Traditions- und 7. Wird während der Flugzeit der Maikäfer gewässert, Naturverbundenheit. Der Rückgang betraf aber auch die so werden in den Matten keine Eier abgelegt. althergebrachten Wässerzeiten. In den Talmatten wurde 8. Fliesst das Wasser auf einer Matte, so darf es wäh- nur noch unregelmässig gewässert, oft beschränkte man rend grosser Hitze nicht abgestellt werden (der sich auf die Frühlings- und eine Sommerwässerung oder Schlamm trocknet sonst an, es entsteht eine Kruste und gar nur auf Trockenzeiten. Damit wurde auch die typi- diese verstopft die Atemöffnungen). sche Zweiteilung der Agrarlandschaft in Talsohle mit 9. Oberhalb Langenthal wirkt das Langetenwasser weni- Wässergrünland und in Talhänge (samt Terrassen) mit ger gut als unterhalb (weniger Düngstoffe aus Abwäs- Ackerbau stark verwischt, so dass sich das Landschafts- sern). Anmerkung: Gilt heute nicht mehr. bild augenfällig veränderte. In den Wässermatten von 10. Es ist besser, das letzte Gras im Herbst auf den Oberönz wurde 1954 die Wässerung aufgegeben als die Wässermatten abzuweiden als zu mähen, da der Pflan- letzten Anlagen zerfallen waren. Auch die Steinlen-Mat- zenbestand sonst leidet.» ten in Madiswil wurden «aufgelassen».

Auch in der Sagenwelt haben die «Wassermänner» Ein- Bedrohung der Wässermatten gang gefunden. Der Rohrbacher Lehrer Melchior Sooder (1885–1955) überlieferte beispielsweise die Sage von Die relativ kleinflächigen Areale Rohrbach- der Wässerkrähe: «Vo dr Chräihe uf em Britschelade. (42 Hektaren) und Lotzwil-Langenthal (49 Hektaren) We’s Wätter wott chehre u Räge gä, flügt alben e wiesen einen kleineren Rückgang auf (31 bzw. 25 Pro- Chräihe uf ene Britschelade u gaagget eis Gurts, was zent im Jahre 1984, gemäss Binggeli 1989), zumal die- zum Hals use ma. Mi Elter het gäng bhauptet: Das isch e ses Gebiet nur in geringem Masse unter dem Sied- ke Chräihe. Das isch dä u dä. Dä het drum ei Zit nid ume lungsdruck aus Langenthal stand. Zudem engagierten gwässeret, we dr Chehr an ihm isch gsi.» sich die Lotzwiler Wasserbauern für deren Erhaltung. In den grossen Teilsystemen Kleindietwil-Lotzwil (195

Auch die deutsche Redensart von den «Mäusen» als Hektaren) und Langenthal-Roggwil (391 Hektaren), wo Synonym für Geld lässt sich auf die Wässermatten zu- das Siedlungswachstum Langenthals seine Folgen zei- rückführen. Offenbar kam man der ärmeren Landbevöl- tigte, schritt hingegen die Auflassung der Wässermat- kerung bei der Begleichung der Wasserzinsen entgegen, ten sehr schnell voran (Reduktion auf 11 bzw. 8,4 Pro- indem sie einen Teil der Schuld in Form von Mäusen – zent im Jahre 1984). die vielerorts eine Plage waren – abtragen konnte. Zur Zeit der Überflutung kamen die Mäuse in Scharen aus Mit diesem Rückgang der Wässermatten war auch das ihren Löchern, boten Nahrung für Störche, Reiher, Krä- Wissen um das Wässerhandwerk bedroht. Die Rechte hen und Füchse sowie die genannte Möglichkeit zur und Regeln verloren an praktischer Bedeutung. Da nur Teilzahlung von Wasserzinsen. noch wenige wässerten, hatten die Bauern fast freie Hand. Jahrhunderte alte Genossenschaften gingen ein,

die Wässerung erfolgte auch in den Talmatten auf pri- Bedeutungsrückgang der Oberaargauer Wässer- vater Basis und nur noch zwecks Befeuchtung, also re- matten lativ unsystematisch wie in den Hofmatten der Hänge

Die Zeit um 1900 gilt als «späte Blütezeit» der Wässer- und Seitentäler. Selbst das Wissen über Eigentum an matten. Die Öffentlichkeit und die Landwirtschaft brach- Recht und Pflicht ging mit der Bedeutung der Wässer- ten der Wässerwirtschaft eine hohe Wertschätzung ent- briefe verloren. Wenn allerdings konkrete Anfragen er- gegen. Die Landwirtschaft wurde weiterhin auf folgten, so wehrte sich der Bauer dann doch vehement traditionelle Art ausgeübt. Auch in der Zwischenkriegs- gegen Verkauf, Rechtsabtretung oder Löschung im zeit des 20. Jahrhunderts war der Stolz der Bauern über Grundbuch. ihren Besitz an den Wässermatten noch deutlich, wie Valentin Binggeli schreibt. Die Umwälzungen in der Die Wässermatten hatten solange Bestand, als ihr spe- Landwirtschaft durch Rationalisierung und Mechanisie- zifischer Vorteil – die Wässerung –, wirksam war und rung bedeuteten aber für die Wässermatten eine starke sie als Weideland genutzt wurden. Jedoch sollten auch Bedrohung. Diese Bedrohung wuchs nach 1939 noch an in einer verstärkt als Ballungszentrum geprägten Re- und führte in den 1950er- und 1960er-Jahren zur Zerstö- gion die Wässermatten eine Daseinsberechtigung ha- rung zahlreicher dieser traditionellen Bewässerungskul- ben. Ihnen kommt Bedeutung als Grundwasser- und Er- turen. Durch das Aufkommen von Kunstdünger und die holungsgebiet zu. Zudem bieten die Ufer- und Möglichkeit der Klärschlammdüngung für Wiesen- und Feldgehölze mit ihrer pflanzlichen Vielfalt unzähligen Ackerland schwand der Vorteil der Schwebdüngung in Kleintieren und Vögeln einen idealen Lebensraum.

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Unterschutzstellung und Gründung der Wässer- der Wässermatten als Kulturgut und die faire Entschädi- matten-Stiftung gung deren Bewirtschafter Unterstützung forderte: Das Kantonsparlament sprach einen Eventualkredit von 3,75 Intensivanbau, Mechanisierung und Kunstdüngereinsatz Millionen Franken für die Sanierung der Wässermatten- haben zum drohenden Untergang der Wässermatten ge- Stiftung innerhalb von 15 Jahren. führt. Von den ehemals rund 700 Hektaren im Langeten-

tal war 1980 kaum ein Zehntel übrig geblieben. Natur- schutzkreise forderten schon früh den Schutz der Weiterführende Informationen verbleibenden Wässermatten. Bereits in den 1970er-Jah- Walter Bieri: Die Wässermatten von Langenthal. In: Mitteilungen ren wurde die Gefährdung der Wässermatten erkannt, der Naturforschenden Gesellschaft Bern 4/6, Bern, 1949 und die Forderung nach Unterschutzstellung wurde breit Walter Bieri: Wässermatten-Reminiszenzen. In: Jahrbuch des unterstützt. 1983 wurden die Wässermatten in den Tälern Oberaargaus 18. Bern, 1975, p. 138-152 der Langete, der Rot und der Önz ins Bundesinventar der Landschaften und Naturdenkmäler aufgenommen (BLN- Valentin Binggeli: Kulturlandschaftswandel am Beispiel der Ober- aargauer Wässermatten. Zerfall und Wiederaufbaumöglichkeiten Inventar, Objekt 1312). Nach der Lösung von Bewirt- in einem subalpinen Bewässerungssystem. In: Jahrbuch des schaftungs- und Entschädigungsfragen war auch die Oberaargaus 32. Bern, 1989, p. 39-74 Landwirtschaft bereit, ihren Beitrag zur Unterschutzstel- Valentin Binggeli, Markus Ischi: Wässermattenschutz. Erhaltungs- lung und Pflege der Kulturlandschaft zu leisten. und Wiederherstellungsarbeiten 1985 – 1993. In: Jahrbuch des Oberaargaus 36. Bern, 1993, p. 289-306 Nachdem in Ortsplanungen, in den regionalen und kanto- Cristina Boschi, René Bertiller, Thomas Coch: Die kleinen Fliess- nalen Richtplänen Wässermatten als Schutzzonen aus- gewässer. Bedeutung – Gefährdung – Aufwertung. Zürich, 2003 geschieden worden waren, gaben der Regierungsratsbe- schluss von 1985 entscheidende Anstösse und der Christian Leibundgut: Die Wässermatten des Oberaargaus. In: Jahrbuch Oberaargau 13. Bern, 1970, p. 163-186 Grossratsentscheid von 1991 die rechtliche wie finanzi- elle Grundlage zur Erhaltung einiger typischer Teilgebiete Christian Leibundgut: Zum Wasserhaushalt des Oberaargaus und der Wässermatten im Oberaargau. Zum ersten Mal zur hydrologischen Bedeutung des landwirtschaftlichen Wiesen- bewässerungssystems im Langetental (Beiträge zur Geologie der wurde nicht nur ein Gebiet geschützt, sondern zugleich Schweiz, Hydrologie 23). Bern, 1976 die Bewirtschaftung erhalten – und damit auch die Über- lieferung des Wissens im Umgang mit der Natur gesi- Christian Leibundgut: Erhaltung und Wiederherstellung der Wäs- sermatten. Kulturlandschaft im Langetental. In: Jahrbuch des chert. 1991 beschloss der bernische Grosse Rat über Oberaargaus 30. Bern, 1987, p. 15–52 Kredite und eine Wässermatten-Stiftung, die schliesslich am 14. Februar 1992 gegründet wurde. Die Stiftung si- Christian Leibundgut: Die Wässermatten des Oberaargaus – ein regionales Kulturerbe als Modell für Europa? In: Jahrbuch des chert seither auf rund 105 Hektaren die Wässerwirtschaft Oberaargaus, Vol. 54 (2011), p. 121–144 mit all ihren Elementen. Dafür hat sie mit sechzig Was- serbauern Bewirtschaftungsverträge abgeschlossen und Christian Leibundgut, Ingeborg Vonderstrass: Traditionelle Be- wässerung – ein Kulturerbe Europas. Langenthal, 2016 richtet ihnen Entschädigungen für Mehrarbeit und Min- derertrag aus. Zu diesem Zweck äufnete sie ein nicht an- Wässermatten-Stiftung tastbares Stiftungskapital, aus dessen Zinsertrag die Ab- Kulturerbe «Traditionelle Bewässerung» - International Network geltungen erfolgen. 1994 schloss sich der Kanton Luzern on Tarditional Water Use, INTwater mit rund fünfzehn Hektaren Wässermatten im Rottäli (Ge- meinde Altbüron) der Stiftung an. Zwei Jahre später ka- Kontakt men die unmittelbar angrenzenden Matten von Melchnau hinzu. Mit der Grü ndung der Stiftung Wä ssermatten ge- Wässermatten-Stiftung lang es, das in langjähriger Forschung entstandene Ar- chiv an Dokumentationsmaterial umzusetzen, wesentli- che Teile dieser agrarischen Kulturlandschaft und ihrer Funktionsweise blieben erhalten und wurden unter einen wirkungsvollen Schutz gestellt.

Die Bewirtschafter der Wässermatten beklagen sich je- doch, die Entschädigung genüge nicht. Im April 2015 protestierte der Bauer gar, indem er Abbrennmittel auf einen Teil seiner Wässermatten unterhalb von Lotzwil spritzte und später die geschützten Flächen mit Mais bepflanzte. Diese Aktion beschleunigte den bereits vorbe- reiteten Vorstoss im Grossen Rat, welcher für die Erhaltung

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