Mitteilungen DES INSTITUTS FÜR DEUTSCHES UND INTERNATIONALES MIP PARTEIENRECHT UND PARTEIENFORSCHUNG

Aus dem Inhalt

Prof. Dr. Roland Rixecker Das Statutenstreitverfahren nach der Schiedsordnung der SPD – Feststellungsklagen, innerparteiliche Organstreitigkeiten oder abstrakte Norminterpretationsverfahren?

Dr. Rolf Winkelmann

Spender in Estland – Welche Strukturen finden sich bei Spenden an estnische Parteien?

Dr. Simon Tobias Franzmann Von AfD zu ALFA: Die Entwicklung zur Spaltung

Dr. Simon Tobias Franzmann Die Programmatik von ALFA in Abgrenzung zur AfD: Droht Deutschland eine Spirale des Populismus?

Prof. Dr. Karl-Heinz Reuband Pegida im Wandel? Soziale Rekrutierung, politisches Selbstverständnis und Parteipräferenzen der Kundgebungsteilnehmer

Sven Jürgensen/Juan Garcia J. Pluralismus als Maxime des Versammlungsrechts

Prof. Dr. Ulrich von Alemann MIP 2016 Otto Kirchheimer – ein Hidden-Champion 22. Jahrgang ISSN 2192-3833 Simon Gauseweg

Die Satzung von Parteiuntergliederungen zwischen Autonomie und Herausgegeben vom Homogenitätsgebot Institut für Deutsches und Internationales Duygu Dişçi Parteienrecht und Grundsatz (partei-)politischer Neutralität Parteienforschung

Dr. Heike Merten Das Bundesverfassungsgericht und die Politikfinanzierung: Zu den Zulässigkeitsvoraussetzungen eines Organstreitverfahrens

Herausgeber

Institut für Deutsches und Internationales Parteienrecht und Parteienforschung (PRuF)

Prof. Dr. Martin Morlok Prof. Dr. Thomas Poguntke

Das Institut für Deutsches und Internationales Parteienrecht und Parteienforschung ist eine zentrale interdisziplinäre wissenschaftliche Einrichtung der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf gem. § 29 Abs. 1 S. 2 HG NW.

Zitierweise: MIP 2016, S.

Erscheint jährlich.

Der Bezug ist kostenfrei. Sie können das PRuF als Herausgeber des MIP mit einer Spende unterstützen: Helaba Landesbank Hessen-Thüringen (NL Düsseldorf) Kontoinhaber/Empfänger: Heinrich-Heine-Universität (HHU) BLZ 300 500 00 Kto.-Nr.: 1610211 IBAN: DE79 3005 0000 0001 6102 11 BIC: WELADEDDXXX Verwendungszweck: MIP 170 000 00 00

Redaktion Dr. Alexandra Bäcker

Layout Dr. Alexandra Bäcker

Postanschrift Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf Institut für Deutsches und Internationales Parteienrecht und Parteienforschung Universitätsstraße 1 Geb. 23.31 Raum 01.35 D – 40225 Düsseldorf Tel.: 0211/81-15722 Fax: 0211/81-15723 E-Mail: [email protected] Internet: www.pruf.de MIP 2016 22. Jhrg. Inhaltsverzeichnis

Inhaltsverzeichnis

Editorial ...... 4

Aufsätze

Das Statutenstreitverfahren nach der Schiedsordnung der SPD – Feststellungsklagen, innerparteiliche Organstreitigkeiten oder abstrakte Norminterpretationsverfahren?...... 5 Prof. Dr. Roland Rixecker

Spender in Estland – Welche Strukturen finden sich bei Spenden an estnische Parteien?...... 13 Dr. Rolf Winkelmann

Von AfD zu ALFA: Die Entwicklung zur Spaltung...... 23 Dr. Simon Tobias Franzmann

Die Programmatik von ALFA in Abgrenzung zur AfD: Droht Deutschland eine Spirale des Populismus?...... 38 Dr. Simon Tobias Franzmann

Pegida im Wandel? Soziale Rekrutierung, politisches Selbstverständnis und Partei- präferenzen der Kundgebungsteilnehmer...... 52 Prof. Dr. Karl-Heinz Reuband

Pluralismus als Maxime des Versammlungsrechts...... 70 Sven Jürgensen/Juan Garcia J.

Otto Kirchheimer – ein Hidden-Champion...... 84 Prof. Dr. Ulrich von Alemann

1 Inhaltsverzeichnis MIP 2016 22. Jhrg.

Die Satzung von Parteiuntergliederungen zwischen Autonomie und Homogenitätsgebot...... 92 Simon Gauseweg

Grundsatz (partei-)politischer Neutralität...... 101 Duygu Dişçi

Das Bundesverfassungsgericht und die Politikfinanzierung: Zu den Zulässigkeits- voraussetzungen eines Organstreitverfahrens...... 108 Dr. Heike Merten

„Aufgespießt“

Griechenland-Hilfe im : DIE LINKE und ihre Anhängerschaft...... 114 Dr. Andreas Wimmel

Bundesverfassungsgericht im Parteienstaat Deutschland: ein kurzer Kommentar aus chinesischer Sicht...... 118 Dr. Mai Cheng

Parteischiedsgerichtliche Normenkontrollbefugnis und deren Kontrollmaßstab...... 122 Florian Zumkeller-Quast

Rederecht in der Bundesversammlung: Ist das Ausspracheverbot des Art. 54 Abs. 1 GG noch zeitgemäß?...... 126 Katharina-Isabelle Prenzel

2 MIP 2016 22. Jhrg. Inhaltsverzeichnis

Rechtsprechung und Literatur

Parteienrecht im Spiegel der Rechtsprechung ...... 130 1. Grundlagen zum Parteienrecht ...... 130 Dr. Alexandra Bäcker 2. Chancengleichheit ...... 142 Dr. Alexandra Bäcker 3. Parteienfinanzierung ...... 145 Dr. Heike Merten 4. Parteien und Parlamentsrecht ...... 147 Sven Jürgensen 5. Wahlrecht ...... 151 Sven Jürgensen Rezensionen ...... 158 Rechtsprechungsübersicht ...... 168 Neuerscheinungen zu Parteienrecht und Parteienforschung ...... 171

PRuF intern

Vortragstätigkeiten und Veröffentlichungen der Institutsmitarbeiter...... www.pruf.de

3 Editorial MIP 2016 22. Jhrg.

Editorial Den Mittelpunkt der Forschung bildet seit jeher die Analyse theoretischer und praktischer Fragen zu den Prof. Dr. Martin Morlok/ politischen Parteien in einem weit verstandenen Sin- Prof. Dr. Thomas Poguntke ne. Mit seinem anwendungsorientierten, interdiszi- plinären und internationalen Ansatz hat das PRuF in der parteienwissenschaftlichen Forschung Zeichen ge- In diesem Jahr feiert das PRuF sein 25-jähriges Jubi- setzt. Vor allem die Integration von Wissen über läum. Aus der Taufe gehoben wurde das Institut vor Fachgebietsgrenzen hinweg macht das wissenschaftli- einem Vierteljahrhundert im Juni 1991 an der che Arbeiten am PRuF zu etwas Besonderem. Dabei FernUniversität Hagen als „Institut für Deutsches und wurde nie eine Forschung im Elfenbeinturm aus rei- Europäisches Parteienrecht“. Im Zuge der Umstruk- nem Selbstzweck betrieben. Wesentliches Anliegen turierung der nordrhein-westfälischen Hochschul- war und ist immer, den gesellschaftlichen Dialog und landschaft fand das Institut im Dezember 2001 sei- Wissenstransfer in die Öffentlichkeit zu fördern. Als nen neuen Sitz an der Heinrich-Heine-Universität Mittler zwischen Wissenschaft und Politik, Medien Düsseldorf. Es erweiterte zugleich sein Aufgaben- und Gesellschaft gestalten und bewegen die Mitarbei- spektrum durch eine neue Kooperation mit der terinnen und Mitarbeiter des PRuF. Mit seinen Fach- politikwissenschaftlichen Parteienforschung. Diese tagungen, Vorträgen, der Graduiertenförderung und nun institutionalisierte Verbindung beider Diszipli- auch mit der Öffentlichkeitsarbeit hat sich das Insti- nen spiegelte sich auch in der Namensgebung: als tut – über die Grenzen Deutschlands hinaus – als Ort gemeinsame interdisziplinäre Einrichtung der Juristi- der grundlagenorientierten Parteienforschung und schen und der Philosophischen Fakultät lautete der auch in der Bearbeitung aktueller Fragestellungen neue Name „Institut für Deutsches und Europäisches einen Namen gemacht. Ein wesentliches Produkt ei- Parteienrecht und Parteienforschung“, womit zugleich nes in Forschung, Beratung und Nachwuchsförde- auch das – ganz praktische – Bedürfnis nach einer rung engagierten Instituts sind aber Veröffentlichun- Kurzbezeichnung aufkam. Zunächst zur Vereinfa- gen. Darüber werden Forschenden, Studierenden, der chung der Kommunikation entstand aus den bedeu- Politik, der Öffentlichkeit und den Medien die aus tungstragenden Elementen des Namens Parteien, dem kontinuierlichen Dialog miteinander gewonne- Recht und Forschung das Akronym PRuF. Diese ein- nen Erkenntnisse und Einsichten beständig zur Ver- gängige Kurzbezeichung etablierte sich schnell und fügung gestellt. konnte glücklicherweise auch beibehalten werden, Ein Ort dieses Austausches und der Kommunikation als das PRuF im Januar 2011 eine weitergehende In- wissenschaftlicher Erkenntnisse sind die Mitteilun- ternationalisierung seiner Forschungsgebiete an- gen des PRuF. Die Entwicklung, die diese jährlich strebte und dies erneut zu einer Namensänderung erscheinende parteienwissenschaftliche Zeitschrift des führte: „Institut für Deutsches und Internationales PRuF als bislang einziges interdisziplinäres Publika- Parteienrecht und Parteienforschung“ lautet der seit- tionsorgan für dieses Forschungsfeld genommen hat, her geführte Langname des Instituts, das zu diesem ist beachtlich. Mit der Zielsetzung ins Leben geru- Zeitpunkt auch zu einer zentralen wissenschaftlichen fen, mindestens einmal jährlich über Erfahrungen, Einrichtung der Heinrich-Heine-Universität wurde. Aktivitäten, Ergebnisse und Perspektiven des Insti- Die Namensgeschichte veranschaulicht, wie das PRuF tuts zu berichten und einen Überblick über parteien- seit seiner Gründung inhaltlich und personell ge- rechtliche Entwicklungen in Rechtsprechung und wachsen ist. Seine führenden Persönlichkeiten haben Schrifttum zu geben, hat sich die Zeitschrift weit sich immer dafür eingesetzt, das Institut nicht nur zu darüber hinaus entwickelt und ist inzwischen zu ei- erhalten, sondern es stetig weiterzuentwickeln. Um nem zitierfähigen und viel zitierten Publikationsor- die vielseitigen und umfangreichen Forschungsauf- gan mit eigener ISSN geworden. gaben bearbeiten zu können, ist dank der Hochschul- Unser Dank und unsere Anerkennung dafür gilt den leitungen in Hagen und Düsseldorf, der Freunde, Autorinnen und Autoren dieser, der vergangenen und Förderer und vieler anderer helfender Hände im Hin- der künftigen Ausgaben für ihre niveauvollen und tergrund ein leistungsfähiges Institut entstanden, das anregenden Beiträge. Wir wünschen den interessier- sich im Laufe der Zeit zu einem etablierten und ange- ten Leserinnen und Lesern auch in diesem Jahr eine sehenen Parteienforschungszentrum entwickelt hat. spannende und erkenntnisreiche Lektüre. Derzeit forschen zwei Professoren sowie über zehn wissenschaftliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sowie Stipendiaten am PRuF. Düsseldorf, im März 2016

4 MIP 2016 22. Jhrg. Rixecker – Das Statutenstreitverfahren nach der Schiedsordnung der SPD [...] Aufsätze

Das Statutenstreitverfahren nach der re Ordnung einer politischen Partei muss demokrati- schen Grundsätzen entsprechen (Art. 21 Abs. 1 Satz 2 Schiedsordnung der SPD – Feststellungs- 3 klagen, innerparteiliche Organstreitigkei- GG) – zugleich aber Raum für autonome, „partei- isch“ gefasste Entschlüsse lassen muss. Anders als in ten oder abstrakte Norminterpretations- der „Verbandsgerichtsbarkeit“ von Vereinen aller verfahren? Art, vor allem des Sports, geht es allerdings in politi- schen Parteien nicht nur um eine mehr oder weniger Prof. Dr. Roland Rixecker1 bedeutsame Kontrolle der Beachtung vereinsspezifi- scher Regelungen sowie der Fairness von Verfahren, sondern um die rechtliche Ordnung der Mitwirkung 1. Vorbemerkung politischer Parteien an der Willensbildung des Volkes: Parteigerichte und Schiedskommissionen sind also „Parteigerichten“ haftet der sich scheinbar schon aus nicht nur Teil der rechtsstaatlichen, sondern gerade ihrem Namen ergebende Ruch fehlender rechtsstaat- auch Teil der demokratiestaatlichen inneren Ord- licher Seriosität an. Das verkennt, dass es sich nicht nung politischer Parteien. Sie befinden über ganz um beliebige, jederzeit verzichtbare Einrichtungen spezifische „Regeln“, „Fouls“ und „Sperren“. Die einer politischen Partei handelt, vielmehr verlangt das Folgen ihrer Entscheidungen treffen nicht „nur“ Gesetz (§ 14 PartG) nicht nur, sie einzurichten, sondern einen isolierten gesellschaftlichen Bereich, den es schreibt zugleich Mindeststandards ihrer Organisa- Sport, die Kultur oder die Freizeit im Allgemeinen, tion und ihrer Aufgaben vor2. Parteigerichte – von der sondern die freiheitliche demokratische Ordnung un- SPD „Schiedskommissionen“ genannt – nehmen also mittelbar. Parteigerichte und Schiedskommissionen nicht „parteiisch“ politische Aufgaben ähnlich einer befinden über Fragen der grundrechtlich verbürgten Mitgliederversammlung oder einem Vorstand wahr. Teilnahme an der politischen Willensbildung in ei- Sie erfüllen ein gesetzliches, verfassungsrechtlich nem Spannungsfeld von subjektiven Mitgliedschafts- fundiertes Gebot. Das wird gelegentlich (auch) von rechten, wie sie in jedem privaten „Verein“ Gegen- der „Legislative“ und der „Exekutive“ einer politi- stand von Auseinandersetzungen sein können, und schen Partei verkannt, die – nicht nur durch eine ge- von organisatorisch notwendigen Vorkehrungen zur wissermaßen unter einer Art „Verschiedenes“ erfol- Gewährleistung der demokratischen Willensbildung. gende Befassung mit diesem Parteiorgan – den Ein- Das verlangt – parteiübergreifend – Transparenz und druck der Wahrnehmung einer lästigen aber jeden- Kontrolle. falls nebensächlichen Pflicht erwecken, wenn es um Berufung, Platzierung oder Ausstattung von „Partei- Dass Parteigerichte über „Ordnungsmaßnahmen“ ge- gerichten“ geht. Im Hauptamt tätige richterliche Mit- gen Mitglieder – vor allem deren Ausschluss – ent- glieder solcher Institutionen kennen das allerdings: scheiden, ist allgemein bekannt4. Dass sie indessen Dritte Gewalten stören. Und genau das ist ihre Auf- eine zweite, zuweilen grundlegendere weil über den gabe und Pflicht. Einzelfall hinausreichende Aufgabe trifft, entzieht sich der öffentlichen (und wissenschaftlichen) Auf- Dogmatisch handelt es sich um die Verwirklichung merksamkeit. Parteigerichte befinden allgemein über eines über die politischen Parteien hinaus in vielen die Auslegung und Anwendung des internen Ver- Verbänden geltenden Prinzips: Judikative Subsidiari- bandsrechts. Insoweit definieren sie (vorbehaltlich tät als staatliche Anerkennung von Verbandsautono- einer staatlichen gerichtlichen Intervention) verbind- mie. Dort, wo die gesellschaftliche Selbstorganisation lich den Inhalt der Strukturen und der Regeln der in- Konflikte zu lösen vermag, soll sich der Staat zu- nerparteilichen Demokratie im Vorfeld der Mitwir- nächst – bei der Konfliktentscheidung um subjektive kung an der Willensbildung des Volkes. Rechte, aber auch bei der Auslegung und Anwen- dung des innerparteilichen Rechts – zurücknehmen. 2. Gesetzliche und statutarische Regelungen Zugleich aber erkennt der Staat an, dass politische Parteien „Tendenzbetriebe“ sind, deren Gebaren zwar § 14 Abs. 1 Satz 1 PartG weist den Parteigerichten nicht uneingeschränkt kontrollfrei sein darf – die inne- die Entscheidung über Streitigkeiten zwischen der Partei als ganzer oder einem Gebietsverband mit ein- 1 Der Autor ist Stellvertretender Vorsitzender der Bundes- schiedskommission der SPD und Präsident des Verfassungs- 3 Vgl. zu den Grundsätzen Jarass/Pieroth, GG, 13. Aufl. 2014, gerichtshofs des Saarlandes sowie des Saarländischen Ober- Art. 21 Rdn. 23 ff. landesgerichts. 4 Zur Begrenzung BGHZ 73, 275 ff.; allg. Lenski, NVwZ 2015, 2 Vgl. Ipsen, ParteienG, 2008, § 14 Rdn. 11 ff. 1730.

5 Aufsätze Rixecker – Das Statutenstreitverfahren nach der Schiedsordnung der SPD [...] MIP 2016 22. Jhrg. zelnen Mitgliedern sowie für Streitigkeiten über die chen (oder kommunalen) Wahlen erfolgenden Wil- Auslegung und Anwendung der Satzung zu. Das Or- lensbildung. ganisationsstatut der SPD bezeichnet einen Teil dieser Verfahren als „Statutenstreitverfahren“. Ihr Gegen- a. Territoriale Gliederung: Ortsvereine stand sind – versucht man eine ausschließende Ab- Die regionale und lokale Gliederung einer politischen grenzung – nicht Streitigkeiten um die Zugehörigkeit Partei ist nicht nur von innerparteilicher Bedeutung: eines Mitglieds zur Partei selbst oder um Sanktionen Gliederungen sind Akteure der Ausübung von politi- wegen der Verletzung von Regeln des Verbands- scher Macht nach innen und außen. Sie prägen für rechts („Parteiordnungsverfahren“). Und es geht ih- ihr staatliches oder kommunales Pendant den politi- nen nicht um die rechtliche Kontrolle von Wahlen schen Willen der Partei. Sie beeinflussen mit der („Wahlanfechtungsverfahren“) im Vorfeld staatlicher Entsendung ihrer Repräsentanten auf höhere Ver- oder kommunaler oder auch lediglich im Bereich bandsstufen die Entscheidungsfindung der Gesamt- parteiinterner Wahlen. Darüber hinaus gilt jedoch: partei. Sie vergeben unmittelbar und mittelbar Ein- Parteigerichte und Schiedskommissionen verfügen fluss und Ämter. Und sie sind zugleich das örtliche nicht über eine Art „Allzuständigkeit“, die es ihnen Gesicht der politischen Partei, das in Wahlkämpfen erlauben würde, jegliche Maßnahme oder Unterlas- und zwischen ihnen über die Attraktivität der politi- sung der Organe einer politischen Partei zu prüfen: schen Partei für Nichtmitglieder und auch für deren Streitigkeiten um „Sachbeschlüsse“ einer Mitglieder- Bereitschaft und deren Chancen zur Mitwirkung ent- oder Delegiertenversammlung oder eines Vorstands scheidet. Vor allem gilt gerade für staatliche und sind im Statutenstreitverfahren nicht klärungsfähig5. kommunale Wahlen eine Art Kongruenzgebot: Kandi- Was aber positiv alles Gegenstand eines Statuten- datinnen und Kandidaten sowie Listen müssen wahl- streitverfahrens sein kann, erschließt sich aus der ge- kreis- und wahlbezirksspezifisch aufgestellt werden. setzlichen Beschreibung und dem ihr zu entnehmen- Die territoriale Gliederung politischer Parteien kor- den Sinn nicht ohne weiteres, sondern folgt erst aus respondiert weit überwiegend, aber nicht immer mit den Details des Verfahrensrechts selbst. Antragsbe- der territorialen Gliederung des Staates und der Ge- rechtigt im „Statutenstreitverfahren“ ist in der SPD meinden. Das kann zu „Schieflagen“ der Parallelisie- jede „Gliederung“. Das sind Ortsvereine, Unterbezir- rung der Wahlvorbereitungsprozesse und der Wahl- ke und Bezirke, welchen Namen sie auch immer tra- körperschaften führen: Aus staatlicher und kommu- gen mögen (§ 8 OrgStatut). Die Partei als Ganzes naler Sicht „extraterritoriale“ Gebiete (und damit kann sich also der Auslegung und Anwendung des Mitgliedschaften) der Gliederungen der politischen innerparteilichen Rechts nicht durch ein Statuten- Partei müssen in der Wahlvorbereitungsphase „be- streitverfahren vergewissern. Arbeitsgemeinschaften reinigt“ werden, um eine Art lokale Repräsentations- und regionale Zusammenschlüsse sind nur dann an- äquivalenz zu gewährleisten. Das ist organisatorisch tragsbefugt, wenn sie plausibel geltend machen kön- schwierig und drängt zur Vereinfachung: Innerpar- nen, in eigenen Rechten verletzt zu sein (§ 21 Abs. 2 teiliche Gliederungen sollten staatlichen und kom- OrgStatut). Das bedeutet merkwürdigerweise zum munalen Gliederungen soweit wie möglich entspre- einen, dass Bezirke ohne konkrete Betroffenheit ein chen. Darüber hinaus verlangt die Mitgliederent- Statutenstreitverfahren einleiten können, ihr Zusam- wicklung (und die Organisierbarkeit und Repräsenta- menschluss in einem Landesverband indessen nicht. tivität von Entscheidungsprozessen) zuweilen eine Und zum anderen ergibt sich daraus, dass einzelne Neuordnung der innerparteilichen Gliederung. Mitglieder nicht antragsberechtigt sind. Territoriale Fragen sind indessen Machtfragen, deren 3. Veranschaulichung rationale Entscheidung nicht auf der Hand liegt. Die Antwort auf Machtfragen in Angelegenheiten der Die danach vorstellbare Vielfalt der Schauplätze von Mitwirkung an der Willensbildung des Volkes be- Auseinandersetzungen bedarf der Veranschauli- darf – nicht anders als bei der Neuorganisation staat- chung, um zu verdeutlichen, dass es nicht um klein- licher und kommunaler Herrschaft – der Legitimation. krämerische Vereinsmeierei geht, sondern um die Die Bundesschiedskommission der SPD war und ist Konstitution der politischen, im Vorfeld von staatli- immer wieder mit der Neuordnung von Untergliede- rungen – ihrem Zusammenschluss, ihrer territorialen 5 BSK 6/2011/St; 5/2008; 1/2005/St, Entscheidungen online Veränderung oder ihrer Auflösung – befasst und hat veröffentlicht in der Sammlung der Rechtsprechung oberster insoweit Regeln entwickelt, die sich auch im staatli- Parteischiedsgerichte des PRuF, http://docserv.uni-duesseldorf. chen Organisationsrecht finden. de/search/search-judgment.xml.

6 MIP 2016 22. Jhrg. Rixecker – Das Statutenstreitverfahren nach der Schiedsordnung der SPD [...] Aufsätze

Der Fall „Neugliederung von Ortsvereinen“6 durch rechtliches Gehör zu erreichende Beschaffung einer ausreichenden und ausgewogenen Entschei- In einem norddeutschen Gebiet entsprach die Unter- dungsgrundlage ebenso wie um eine Beteiligung gliederung der SPD nicht mehr den politischen und nachteilig Betroffener. tatsächlichen Gegebenheiten. Die Gebiete der orga- nisatorischen Untergliederung des Staates und sei- In materieller Hinsicht bedarf die „politische und ner Gemeinden und die Gebiete der organisatori- wirtschaftliche Zweckmäßigkeit“, will sie nicht will- schen Untergliederung der SPD überschnitten sich. kürlich erscheinen, eines „Konzepts“, also der rationa- Zugleich verfügten einzelne historisch gewachsene, len Planung. Dabei kann innerparteilichen Neugliede- vielleicht aber auch historisch überholte Einheiten rungen allerdings ein ohne weiteres einsichtiger Plan nicht mehr über einen angemessenen Mitgliederbe- zugrunde liegen. Das gilt vor allem dann, wenn sie die stand. Das veranlasste die übergeordnete Gliede- Organisation der Partei der Organisation des Staates rung, eine auf eine adäquate Mitgliederzahl und schlicht anpassen, unabhängig davon, ob eine inner- eine den Grenzen der staatlichen Untergliederung parteiliche Binnenstruktur bei Kompatibilität der zielende Neuordnung (unter Neuzuordnung von Mit- Außengrenzen differenzierter als das staatliche Pen- gliedern und Auflösung von Organisationseinheiten) dant ist. Dem Konzeptgedanken entspricht es weiter, anzuordnen. Dem widersetzte sich ein sich nachtei- dass schrittweise Anpassungen möglichst vermieden lig betroffen sehender Ortsverein, der – vorläufig – werden sollen. Vor allem aber muss eine Neugliede- vor der Bundesschiedskommission Erfolg hatte. rungsentscheidung „vollständig“ sein, sie darf – von besonderen Umständen vielleicht abgesehen – nicht Das Satzungsrecht der SPD sieht (lediglich) vor, dass nur „Teil“ der Lösung eines Konflikts sein. Sie muss die Abgrenzung der Ortsvereine (als „unterster“ Glie- daher als vereinsrechtliche Grundlagenentscheidung derung) durch die Unterbezirksvorstände (als dem alle von der Neugliederung erfassten sachlichen und Organ der „mittleren“ Gliederungsebene) nach „poli- rechtlichen Fragen beantworten: die lokalen Grenzen, tischer und wirtschaftlicher Zweckmäßigkeit“ erfolgt die personellen Veränderungen, die finanzielle Aus- (§ 8 Abs. 2 OrgStatut). Das Problem der Neugliede- einandersetzung und den Zeitpunkt der Reorganisati- rung von Organisationen ist nicht auf politische Par- on, zu dem ihre Rechtsfolgen – Zugehörigkeit von teien beschränkt. Es ist ein Problem staatlicher und Mitgliedern zu Ortsvereinen, Aufteilung des Vermö- gesellschaftlicher (vor allem auch gewerkschaftlicher gens, Bildung der Organe – eintreten. und auch sonst verbandsinterner) Organisation im All- gemeinen. Wer ein Territorium beherrscht, übt Macht Organisationsentscheidungen dürfen folglich nicht der über es und seine „Bewohner“ aus. Dort, wo die Mit- Willkür und nicht dem Zaudern der sie treffenden glieder einer Verbandsorganisation das personale Sub- Organe unterliegen. Sie sind rechtlich gebundene strat der Mitwirkung an der Willensbildung des Vol- Entscheidungen, die Planungsgrundsätze zu beachten kes darstellen, bedarf dessen Erfassung und Regulie- haben, und die den Geboten der Vollständigkeit und rung allerdings in besonderem Maße der verfahrens- der Sachlichkeit unterworfen sind. Insoweit handelt es rechtlichen Regulierung und materiellen Kontrolle. sich insoweit um eine Art innerparteilicher „Kommu- Das gilt nicht nur für kommunale Gebietsreformen, nalverfassungsbeschwerde“, der es (in der Rechts- sondern nicht weniger für innerparteiliche Neustruk- wirklichkeit) um den Ausgleich tradierter Herr- turierungen. schaftsbasen mit all jenen lokalen und gesellschaftli- chen Entwicklungen geht, die die politische Willens- Dabei gilt es zunächst formelle Voraussetzungen zu bildung neuen personalen Substraten zuordnen. beachten. Die durch das OrgStatut vorgesehene An- hörung setzt zweierlei voraus: Der anzuhörenden b. Zuordnung von Mitgliedern zu Gliederungen Gliederung (und nicht einem oder einzelnen Vor- standsmitgliedern) müssen der in Erwägung gezogene Jedes Mitglied einer Partei gehört grundsätzlich der Neugliederungsbeschluss und die ihn tragenden (Basis-)Gliederung an, in deren Zuständigkeitsbe- Überlegungen bekannt gegeben werden. Ihr muss ge- reich es wohnt. So wie sich Familien streiten, Nach- nügend Zeit eingeräumt werden, die für eine solche barschaften entzweien, so entstehen Fehden auch in Grundlagenentscheidung erforderliche Beteiligung politischen Parteien. Je ernster eine initiale Krän- der Mitglieder zu bewirken. Es geht also um eine kung wirkt, je länger ein Konflikt unausgesprochen dauert, je hässlicher die Machtspiele sind, die sich 6 2/2008/St; ebenso 4/2009/St; Entscheidungen veröffentlicht anschließen, und je mächtiger die (manchmal inhalt- in der Sammlung der Rechtsprechung oberster Parteischieds- lichen, immer wieder aber auch persönlichen) Inter- gerichte des PRuF, http://docserv.uni-duesseldorf.de/search/ essen sind, um deren Durchsetzung es geht, desto search-judgment.xml.

7 Aufsätze Rixecker – Das Statutenstreitverfahren nach der Schiedsordnung der SPD [...] MIP 2016 22. Jhrg. friedloser wird der Zustand. Manchmal suchen Mit- eine – restriktiv zu behandelnde – „Ausnahmegeneh- glieder dann eine andere innerparteiliche Heimat, migung“, zu deren Rechtfertigung der aufnehmende manchmal eine andere innerparteiliche Machtbasis. Ortsverein besondere, gewissermaßen atypisch vor- Das OrgStatut der SPD sieht vor, dass ein Mitglied, liegende Gründe anführen müsse. Dem hat die Bun- das einem anderen als dem heimatlichen Ortsverein desschiedskommission widersprochen und darauf angehören will, dies dem Vorstand des übergeordne- aufmerksam gemacht, dass es sich zwar um die Ge- ten Unterbezirks mitteilen muss, der die „Neuzuord- nehmigung einer „Ausnahme“, damit aber nicht um nung vornimmt“. Diesem Antrag „soll“ gefolgt wer- eine „Ausnahmegenehmigung“ handele, gewisserma- den (§ 3 Abs. 5 Satz 3 OrgStatut), wenn das Mitglied ßen um einen nur unter strengen Voraussetzungen nachvollziehbare Gründe vorträgt und überwiegende möglichen Dispens. Das ergab im Übrigen schon der Organisationsinteressen dem nicht entgegenstehen. Wortlaut der Satzung, nach dem die abweichende Zuordnung unter den genannten Voraussetzungen Der Fall „Migration von Mitgliedern“7 vorgenommen werden „soll“: Das Ermessen des zu- Die Bundesschiedskommission der SPD hatte sich mit ständigen Vorstands der übergeordneten Gliederung einem Fall zu befassen, in dem es um Grundsätze der ist also gelenkt; nicht die Genehmigung, sondern Zuordnung von Mitgliedern ging. Hintergrund war ihre Versagung bedarf einer besonderen Rechtferti- eine in ihrer Genese und ihren Abläufen (wie üblich) gung. Nachvollziehbare, das Begehren tragende schwer aufklärbare Auseinandersetzung zwischen zwei Gründe sind davon abgesehen (unabhängig von ihrer „verfeindeten“ Gruppen von Mitgliedern eines Orts- – gar schuldhaften – Verursachung) solche, die als vereins X. Nachdem eine Gruppe obsiegt hatte und den solche „zu verstehen, durchdacht und begriffen“ Vorstand und die Vorschlagslisten für Kommunal- werden können und „belegbar“ sind. Dazu können wahlen bestimmen konnte, beantragten die unterle- auch reparaturresistente Brüche zwischen Gruppen genen Mitglieder die Zuordnung zum (benachbarten, von Mitgliedern, unentwirrbare Konflikte und tiefe andere Gemeindeteile erfassenden) Ortsverein Y. Der Antipathien gehören: Dauern sie an, sind Versuche Unterbezirksvorstand lehnte das – nachhaltig unter- sie zu lindern oder zu heilen gescheitert, so kann ein stützt von dem Ortsverein X, der möglicherweise im Wechsel des Ortsvereins folglich einen nachvoll- Verbleib der dissentierenden Mitglieder die Chance ziehbaren Grund haben. Auf dieser ersten Prüfungs- sah, sie gänzlich loszuwerden und die Macht seiner ebene geht es folglich um die Sicht des Mitglieds, Mehrheit dauerhaft zu sichern – mit kargen Worten dessen Interessen die Gliederung, der es angehören ab: Die hohe Zahl der Wechselwilligen wirke sich will, vertritt. nachteilig auf Organisationsstrukturen aus. Dage- Dem können jedoch, wechselt man zur Sicht der zur gen wandte sich der Ortsverein Y, der (vorerst) vor Neuzuordnung berufenen übergeordneten Gliederung, der Bundesschiedskommission Erfolg hatte. „überwiegende Organisationsinteressen“ entgegenste- Die Bundesschiedskommission sah sich gehalten dar- hen. Die Verhinderung „fliegender Ortsvereine“ oder auf hinzuweisen, dass über die Zuordnung von Mit- vergleichbare – belegbare und konkrete (!) – Gefahren gliedern zu Gliederungen nicht gewissermaßen nach manipulativer Einwirkungen auf Entscheidungen und dem politisch „Genehmen“, nach zufälligen Mehrhei- Mehrheitsverhältnisse in gleich- oder übergeordneten ten in bestimmten Regionen beispielsweise, entschie- Gremien, die Destabilisierung des zu verlassenden den werden dürfe. Vielmehr gehe es auch insoweit um oder des aufnehmenden Ortsvereins, können dem subjektive, vertraglich begründete Mitgliedschafts- Wechselbegehren entgegengesetzt werden. Es geht rechte und ihre Ausgestaltung, weil – oft – erst die folglich um nichts anderes als um eine tragfähige Ab- Zugehörigkeit zu einer bestimmten örtlichen Gliede- wägung zwischen den Mitgliedschaftsrechten des oder rung dem Mitglied tatsächlich ermögliche, sich an der der Einzelnen auf der einen und den Verbandsinteres- innerparteilichen Willensbildung zu beteiligen. Das sen der Partei als solcher auf der anderen Seite. sei auch dann zu bedenken, wenn nicht das Mitglied Insoweit darf allerdings kein „Formenmissbrauch“ selbst seine Mitgliedschaftsrechte verteidige, son- betrieben werden: Der Wechselwille missliebiger dern die Gliederung, der es künftig angehören wolle. Mitglieder darf nicht unterdrückt werden, um – ohne Die Vorinstanz hatte angenommen, der Antrag auf Vorliegen der Voraussetzungen eines Parteiaus- Zuordnung zu einem anderen Ortsverein ziele auf schlusses – zu erreichen, sie faktisch – aufgrund der von ihnen empfundenen Unerträglichkeit des Wir- 7 1/2013/St, veröffentlicht in der Sammlung der Rechtsprechung kens in alter Umgebung – zum Verlassen der Partei oberster Parteischiedsgerichte des PRuF, http://docserv.uni- zu veranlassen. duesseldorf.de/search/search-judgment.xml.

8 MIP 2016 22. Jhrg. Rixecker – Das Statutenstreitverfahren nach der Schiedsordnung der SPD [...] Aufsätze c. Transzendente Konflikte: Parteien und Fraktionen schiedskommission der SPD unterscheidet folglich zwischen „instabilen“ Chancen und „stabilen“ Posi- Dem immer wieder konfliktbeladenen Verhältnis tionen. Sie akzeptiert darüber hinaus, dass staatliche von Partei und Fraktion hat sich die Bundesschieds- (oder kommunale) Wahlen einen Einschnitt bei der kommission aus Anlass eines Streits um die Benen- Bestellung von Repräsentanten der Partei bedeuten: nung von „Kandidaten“ angenommen. Die Korrekturfähigkeit politischer Parteien schließt Der Fall „Stabilität von Personalvorschlägen“8 auch die Korrekturbefugnis in Bezug auf personelle Die Bundesschiedskommission der SPD war mit ei- Entscheidungen ein. nem Fall befasst, in dem einer Kreisdelegiertenver- d. Kollektive Teilhaberechte von Mitgliedern: Mit- sammlung der Partei ein Vorschlagsrecht gegenüber gliederentscheide der ihr regional entsprechenden Fraktion einer kom- munalen Vertretungskörperschaft für die von dieser Das „Volk“, dem die politischen Parteien – jeden- zu wählenden Organe – die Inhaber eines staatlichen falls nach den programmatischen Äußerungen ihrer Amtes – zustand. Die Kreisdelegiertenversammlung Akteure – gerne dadurch schmeicheln, dass sie ihm hatte vor kommunalen Wahlen bestimmte Personen versprechen, auf sein unmittelbares Wort zur Sache (öffentlichkeitswirksam) vorgeschlagen. Nach ihrem zu hören, hat zuweilen die unangenehme Angewohn- wenig überzeugenden Ausgang sollte eine neue Kreis- heit, einen anderen als den gewünschten Willen zu delegiertenversammlung zu erneuten Vorschlägen ein- bilden. Direkte Demokratie ist daher gelegentlich berufen werden. Dagegen wandte sich eine Unter- eine wohlfeile abstrakte Forderung, wird im konkre- gliederung mit der Begründung, der frühere Vor- ten Fall aber zum Problem. Das Recht der SPD sieht schlag genieße eine Art parteiinternen Bestandsschutz. (§ 13 OrgStatut) die Möglichkeit eines Mitglieder- entscheids vor, durch den ein Beschluss eines Partei- Gegenstand des Statutenstreitverfahrens war nicht organs geändert oder aufgehoben oder an seiner Stelle (und konnte es auch nicht sein) eine etwaige Bindung gefasst werden kann. Ein solcher Mitgliederent- einer kommunalen Fraktion an Beschlüsse der kom- scheid findet aufgrund eines Mitgliederbegehrens munalen Parteigliederung. Es ging allein um einen statt, das einen konkreten Entscheidungsvorschlag Personalvorschlag, dem allerdings eine gewisse fak- enthalten und mit Gründen versehen sein muss; es tische Wirkung nicht abzusprechen sein mochte. In der kommt (unter anderem) zustande, wenn es binnen ei- Tat gilt in der SPD zunächst, dass gewählte „Funkti- ner Frist von 3 Monaten von 10 Prozent der Mitglie- onsträgerinnen und Funktionsträger“ der Partei nur der unterstützt wird. aus wichtigem Grund – vor allem aufgrund eines 9 nachhaltigen Vertrauensverlustes (§ 11 Abs. 3 d Der Fall „Das erledigte Mitgliederbegehren“ OrgStatut) – in einem näher geregelten Verfahren Die Bundesschiedskommission hatte sich mit einem (§ 9 WahlO) abberufen werden dürfen. Diese Siche- Fall zu befassen, in dem der Vorstand einer Gliede- rung der temporären Unabsetzbarkeit, die die jeder- rung der Partei die Aufnahme von Koalitionsver- zeitige Abberufung von Amtsträgern im Interesse ei- handlungen mit der A-Partei mit dem Ziel einer be- ner kontinuierlichen Amtsführung verhindern will, stimmten Koalitionsregierung beschlossen hatte. gilt allerdings nur für „Funktionsträgerinnen und Daraufhin unternahmen eine abweichende Auffas- Funktionsträger“. Das sind nicht nur dem Wortlaut, sung vertretende Parteimitglieder, ein Mitgliederbe- sondern auch dem Sinn und Zweck der Regelung gehren gegen diese Absicht herbeizuführen. Nach- nach Inhaber eines (innerparteilichen politischen) dem in zwei parallelen Verfahren – der Unterzeich- Amtes. Sie gilt nicht schon für Personen, die für ein nung von Unterschriftslisten und der Absendung von solches Amt erst vorgeschlagen sind. Wer Kandidat, Postkarten an den Vorstand, jeweils mit den unter wer Kandidatin für ein öffentliches Wahlamt ist, ge- der Überschrift „Koalitionsfrage“ enthaltenen An- nießt nicht schon als solcher einen staatliche Wahlen trägen, den Beschluss des Vorstands aufzuheben, temporär übergreifenden „Bestandsschutz“. Der durch Koalitionsverhandlungen mit der A-Partei abzubre- das OrgStatut gewährleistete Grundsatz der Ämter- chen und Koalitionsverhandlungen mit der B- und stabilität gilt einem übertragenen Amt oder einer sta- der C-Partei aufzunehmen – eine das Unterstüt- bilen Nominierung für ein solches, nicht schon der zungsquorum überschreitende Zahl von Unterschrif- Kandidatur dafür. Die Rechtsprechung der Bundes- ten vorgelegt wurde, entschied der Vorstand des

8 2/2006/St, veröffentlicht in der Sammlung der Rechtsprechung 9 3/2010/St, veröffentlicht in der Sammlung der Rechtsprechung oberster Parteischiedsgerichte des PRuF, http://docserv.uni- oberster Parteischiedsgerichte des PRuF, http://docserv.uni- duesseldorf.de/search/search-judgment.xml. duesseldorf.de/search/search-judgment.xml.

9 Aufsätze Rixecker – Das Statutenstreitverfahren nach der Schiedsordnung der SPD [...] MIP 2016 22. Jhrg. maßgeblichen Gebietsverbandes, dass das Mitglie- entsprechende Satzungsregelung) kein bestimmtes derbegehren nicht zustande gekommen sei. formales Vorgehen der Initiatoren verlangt. Jedoch müssen bei jedem Verfahren (Unterschriftenliste, Mitgliederbegehren sind nach dem Satzungsrecht der Postkarte, Telekommunikation) die Identität des ab- SPD die Vorstufe eines Mitgliederentscheids, mit stimmenden Mitglieds und die Authentizität seiner dem eine verbindliche Entscheidung gegenüber dem Willensbekundung sichergestellt sein. Der konkrete Organ getroffen wird, an das der Mitgliederentscheid Entscheidungsvorschlag muss also für alle benutzten gerichtet ist (§ 13 Abs. 8 OrgStatut). Ein Mitglieder- Medien denselben (und nicht nur einen ähnlichen) entscheid ist (unter anderem) durchzuführen, wenn Wortlaut haben. Darüber hinaus muss festzustellen ein auf ihn gerichtetes Mitgliederbegehren binnen ei- sein, dass die Abstimmung tatsächlich innerhalb der ner Frist von drei Monaten von 10 Prozent der Mit- satzungsrechtlich vorgesehenen Frist erfolgt ist: Sie glieder unterstützt wird (§ 13 Abs. 3 OrgStatut). dient nämlich der politisch notwendigen innerpartei- Die Bundesschiedskommission stellte – von der Klä- lichen Konzentration der Entscheidungsprozesse und rung verfahrensrechtlicher Fragen abgesehen – fest, der Beteiligung des innerhalb dieses zeitlichen Rah- dass Gegenstand eines Mitgliederbegehrens auch die mens vorhandenen aktuellen Mitgliederbestandes. von einem Organ der SPD getroffene Entscheidung Von größerer Bedeutung ist allerdings ein Wermuts- über die Aufnahme von Koalitionsverhandlungen tropfen für alle Verfechter der innerparteilichen di- sein könne. Dabei ging es also nicht um die dem Sta- rekten Demokratie, der auf der Übernahme von Er- tutenstreitverfahren nicht zugängliche Frage der kenntnissen der Verfassungsrechtsprechung zur „politischen“ Überprüfung des Beschlusses zur Auf- Volksgesetzgebung beruht: die Notwendigkeit der nahme von Koalitionsverhandlungen, sondern allein Aktualität ihres Gegenstandes. Die Entscheidung des um die Voraussetzungen der Ausübung der kollekti- Parteiorgans, auf deren Aufhebung oder Änderung ven Beteiligungsrechte der Mitglieder in Bezug auf das Mitgliederbegehren zielt, muss noch wirksam einen solchen Beschluss. sein, oder es muss sich um eine Entscheidung han- Voraussetzung eines Antrags auf ein Mitgliederbe- deln, die das Parteiorgan, das sie treffen soll, noch gehren ist zunächst, dass nach einer verständigen, treffen darf und kann. Haben sich Gegenstände eines nicht am Wortlaut des Antrags haftenden Auslegung Mitgliederbegehrens in diesem Sinne „erledigt“, ist das Anliegen nach seinem Sinn und Zweck nicht nur das Mitgliederbegehren „überholt“, so ist es unzuläs- abstrakt zu verstehen ist (Verlangen nach einer sig geworden: Sind Koalitionsverhandlungen been- „Politik für die kleinen Leute und die linke Mitte“), det, so können sie nicht mehr abgebrochen werden. sondern hinreichend konkret auf eine bestimmte Maß- Und eine Umdeutung in ein Verlangen, eine gebilde- nahme der Organe der Partei (und im Übrigen nicht te Regierung zu stürzen oder sie zu verlassen, zielt einer Fraktion) bezeichnet wird (Abbruch von Ver- (abgesehen davon, dass Umdeutungen eines Ent- handlungen mit A, Aufnahme von Verhandlungen mit scheidungsvorschlags für ein Mitgliederbegehren un- B und C). Ein solcher „konkreter Entscheidungsvor- zulässig sind, weil sie den Willen der Initiatoren ge- schlag“, den (anders als nach damaligem Statuten- wissermaßen auf veränderter sachlicher Grundlage recht) § 13 Abs. 3 Satz 2 OrgStatut heute ausdrück- neu zu bestimmen suchen würden) auf ein Verhalten, lich verlangt, liegt allerdings nicht nur dann vor, wenn über das von vornherein kein Parteiorgan (und damit auch formal eine Entscheidungsalternative angeboten auch nicht die Mitglieder der Partei), sondern ledig- wird. Da das Mitgliederbegehren ohnehin eines be- lich eine Fraktion oder ein Mitglied einer Regierung stimmten Quorums bedarf, ist es völlig unerheblich, selbst befinden darf. dass nur die von ihm gestellte Frage bejaht oder ver- neint werden kann, nicht aber zwischen dem ihr zu e. Individuelle Teilhaberechte: Versammlungs- und entnehmenden Antrag und einem davon abweichen- Vorstandssitzungen den gewählt werden kann. Initiativrechte von Mit- Der Fall „Seniorenfreundliche Vorstandssitzungen“10 gliedern einer politischen Partei sind ebenso wie sol- che des Volkes oder der Bürgerschaft Minderheiten- Die Bundesschiedskommission hatte sich mit einem rechte, die nur die Chance zur Mehrheitsgewinnung Streit zwischen dem Kreisverband einer Arbeitsge- gewährleisten, nicht aber einer Mehrheit förmlich meinschaft älterer Mitglieder (AG 60plus) mit ihrem das Angebot einer Alternative unterbreiten müssen. Landesverband zu befassen. Die berufstätige Vorsit-

Die Bundesschiedskommission hat ferner entschie- 10 2/2014/St., veröffentlicht in der Sammlung der Rechtsprechung den, dass ein Mitgliederbegehren (jedenfalls ohne oberster Parteischiedsgerichte des PRuF, http://docserv.uni- duesseldorf.de/search/search-judgment.xml.

10 MIP 2016 22. Jhrg. Rixecker – Das Statutenstreitverfahren nach der Schiedsordnung der SPD [...] Aufsätze zende des Kreisverbandes war gewähltes Mitglied des ligen Organs stehen. Dabei seien nicht nur Terminie- Vorstandes des Landesverbandes. Der Vorstand des rungen, die bewusst, gewollt oder gar gezielt einzel- Landesverbandes hatte beschlossen, seine Sitzungen ne Mitglieder an ihrem Erscheinen und ihrer Beteili- regelmäßig vormittags stattfinden zu lassen, um den gung an der Arbeit des Organs hinderten, unzulässig. Bedürfnissen seiner weitgehend beruflich nicht mehr Auch Terminierungen, die die Gebote der Solidarität tätigen Mitglieder zu entsprechen und den Interes- und Rücksichtnahme auf die Belange einzelner Mit- sen älterer Mitglieder entgegenzukommen, in den glieder grundsätzlich vermissen ließen, seien unzu- Abendstunden nicht mehr unterwegs zu sein. lässig und könnten dazu führen, dass mitgliedschaft- liche Rechte verletzt werden. Dabei werde nicht ver- Antragsberechtigt im Statutenstreitverfahren sind kannt, dass die Eigenart des jeweiligen Verbandes und nach dem OrgStatut alle Gliederungen der Partei. die daraus folgenden besonderen Bedürfnisse ihrer Darüber hinaus sind es auch Arbeitsgemeinschaften Mitglieder eine gewichtige Rolle bei der Terminie- und regionale Zusammenschlüsse von Gliederungen, rungspraxis spielten. Wenn beispielsweise „arbeit- soweit sie geltend machen können, in eigenen Rech- nehmerfreundliche“ Terminierungen verlangt wür- ten verletzt zu sein. Im Streitfall war der Kreisver- den, könne die Anwendung dieser Vorgabe von den band der AG 60plus also grundsätzlich fähig, Betei- spezifischen Bedingungen der jeweils erfassten Ar- ligter eines Statutenstreitverfahrens zu sein. Jedoch beitnehmerinnen und Arbeitnehmer abhängen. Der ging es ihm um die Verteidigung der möglicherweise jeweilige Interessenausgleich habe dies zu berück- verletzten Rechte seiner Vorsitzenden, also um die sichtigen und darauf abzuzielen, so weit wie möglich Geltendmachung fremder Rechte. Das lässt die allen Bedürfnissen gerecht zu werden. Gründe der Schiedsordnung nicht zu. Ungeachtet dessen sah sich Bequemlichkeit dürften den Ausschlag nicht geben. die Bundesschiedskommission veranlasst, sehr grund- Vielmehr seien die tatsächlichen, berechtigten Wün- sätzlich in einem obiter dictum das Satzungsrecht in sche aller Mitglieder zur Kenntnis genommen und der Sache auszulegen. Sie hat darauf hingewiesen, bedacht worden, und es müsse Sorge getragen wer- dass auch Arbeitsgemeinschaften der Partei über ei- den, sie miteinander in Einklang zu bringen. gene Mitwirkungsbefugnisse verfügen, ihre Organi- sation damit auch den grundlegenden demokrati- Die Bundesschiedskommission hat damit die Grund- schen Erfordernissen der Organisation einer politi- sätze der demokratischen Teilhabe und ihrer fakti- schen Partei selbst, vor allem den Anforderungen des schen Voraussetzungen für alle Gliederungen und alle § 9 Abs. 1 Satz 1 OrgStatut, entsprechen muss, nach sonstigen Organisationseinheiten der SPD in dem denen die Gliederungen einer politischen Partei die kleinen Bereich der zeitlichen Organisation von Ver- Teilhabe ihrer Mitglieder an der politischen Willens- sammlungen und Sitzungen festgeschrieben. Sie hat bildung zu gewährleisten haben. deutlich gemacht, dass demokratische Teilhabe kein abstrakter Begriff ist, sondern tatsächlichen Proble- Diese Teilhaberegelung stelle nichts anderes dar als men begegnet, die einen Interessenausgleich, Rück- die satzungsrechtliche Übernahme allgemeiner ver- sichtnahme und Solidarität verlangen. einsrechtlicher Grundsätze, zu denen die Regelungen der §§ 28, 32 BGB gehörten. Diese Vorschriften hat 4. Rechtsnatur die Rechtsprechung aber dahin ausgelegt, dass der Vorstand eines Vereins zwar grundsätzlich in der Versucht man danach, die Rechtsnatur des Statuten- Wahl des Orts und des Zeitpunkts einer Mitglieder- streitverfahrens des Schiedsordnungsrechts der SPD versammlung und seiner eigenen Sitzungen frei sei, zu klären, gerät man allerdings in Untiefen. den jeweiligen Mitgliedern eine Teilnahme aber nicht unzumutbar erschwert werden dürfe11. Ort und Zeit- Schon die Regelung der Antragsberechtigung zeigt punkt solcher Versammlungen und Sitzungen müssten – blickt man auf die Regelung des § 14 PartG – ein also verkehrsüblich und angemessen gewählt werden. grundsätzliches Problem: Mitglieder als solche sind (im Übrigen anders als beispielsweise bei der Partei Daraus hat die Bundesschiedskommission gefolgert, Bündnis 90/ Die Grünen nach § 3 Nr. 3 der Schieds- dass für die Sitzungen des Vorstands des Landesver- gerichtsordnung des Bundesverbandes, und anders bandes der Arbeitsgemeinschaft – und nichts anderes als bei der Partei Die Linke nach § 7 Abs. 2 der würde für alle Sitzungen aller Organe aller Gliede- Schiedsordnung) nicht antragsberechtigt. Entsteht rungen der Partei gelten – nicht in einem völlig frei- folglich Streit um Mitgliedschaftsrechte außerhalb en Ermessen der Mehrheit der Mitglieder des jewei- von Parteiordnungsmaßnahmen und Wahlen, geht es also einmal um „schlichte“ Mitgliedschaftsrechte, um 11 BayObLG FGPrax 2004, 295; OLG Hamm NJW-RR 2001, 516; OLG NJW 1983, 398. die innerverbandliche Teilhabe oder die innerverband-

11 Aufsätze Rixecker – Das Statutenstreitverfahren nach der Schiedsordnung der SPD [...] MIP 2016 22. Jhrg. lichen Leistungspflichten und Informationsrechte bei- Verfahrensarten müssen sich aber nicht in ein Korsett spielsweise, muss das Mitglied staatlichen Rechts- nationaler Traditionen und Strukturen einfügen. Norm- schutz erbitten. Ob das § 14 Abs. 1 PartG entspricht, interpretationsverfahren als objektive Feststellungs- der keine sachliche Beschränkung der Zuständigkeit verfahren sind weder dem nationalen noch dem su- für Streitigkeiten zwischen der Partei und ihren Glie- pranationalen Recht fremd (Art. 65 Nr. 1 der Verfas- derungen und den Mitgliedern befiehlt, ist mehr als sung der Freien und Hansestadt Hamburg, Art. 267 fraglich, zeigt aber vorab – dogmatisch – eines: Statu- Abs. 1 Nr. 1 AEUV ). Sie haben ihren guten Sinn al- tenstreitverfahren sind (nach dem Schiedsordnungs- lerdings nur unter bestimmten Voraussetzungen: Sie recht der SPD) keine Feststellungsklagen im Sinne müssen zwar keine konkrete Betroffenheit von Betei- des staatlichen Verfahrensrechts. Sie setzen kein ligten voraussetzen, ungeachtet dessen aber einen „Rechtsverhältnis“ der Streitenden untereinander oder Anlass haben: Die völlig abstrakte „Das wollten wir zu parteiinternen Dritten voraus. Ihr Gegenstand ist immer schon einmal wissen“-Frage löst sie nicht aus. die Auseinandersetzung um das Organisationsrecht ei- Sie verlangen ein gewissermaßen objektives Rechts- ner politischen Partei zwischen bestimmten verfestig- schutzinteresse, eine nachvollziehbare und für das ten Teilen der Organisation der Partei selbst. Um die Prozedere oder die Entscheidungsfindung innerhalb Durchsetzung subjektiver Rechte des einzelnen Mit- der politischen Partei im Allgemeinen relevante Mei- glieds geht es ihnen – jedenfalls in erster Linie – nicht. nungsverschiedenheit zwischen ihren Gliederungen. Und sie müssen – vorbehaltlich staatsgerichtlicher Dass das gelegentlich Unwohlsein auslöst, zeigt sich Kontrolle und ungeachtet des Umstands, dass die im Fall des erledigten Mitgliederbegehrens. Antrag- Satzung keine entsprechende Regelung enthält – steller war dort ein Ortsverein, also eine Gliederung verbindlich sein. der Partei. Die Bundesschiedskommission hat aus- drücklich offen gelassen, ob die Verteidigung der Vor allem aber muss der verfassungsrechtliche Sinn kollektiven Mitgliedschaftsrechte wirklich nur einer und Zweck der Notwendigkeit, eine innerparteiliche Gliederung der Partei zusteht, oder ob nicht – in ana- unabhängige Rechtsprechung vorzusehen, Grundlage loger Anwendung der Regelungen über die Antrags- des Tätigwerdens sein. Es muss darum gehen, die berechtigung – auch die Initiatoren eines Mitglieder- Autonomie der politischen Partei, über ihre Grund- begehrens als „Gliederung“ anzusehen sind. Der fai- sätze und ihre Ordnung zu entscheiden, mit der Si- ren Absicherung von Mitgliederrechten dienlich cherung der individuellen Teilhaberechte ihrer Mit- wäre das zweifellos. glieder in Einklang zu bringen. Geht es indessen um die Abgrenzung und Inhalte der Befugnisse der Organe von Gliederungen der SPD – um die Zuweisung von Mitgliedern, um organisa- torische Veränderungen oder schlicht um Entschei- dungskompetenzen – ähnelt das Statutenstreitverfah- ren zunächst dem dem staatlichen Verfahrensrecht bekannten Organstreit. Einem solchen Vergleich steht allerdings manches entgegen. Die Geltendma- chung der Verletzung eigener Rechte (oder Befug- nisse), die dem Organstreit wesenseigen ist, ist regel- mäßig (von Anträgen von Arbeitsgemeinschaften und regionalen Zusammenschlüssen abgesehen) nicht Voraussetzung der Einleitung eines Statuten- streitverfahrens. Jede Gliederung der Partei kann es – unabhängig von einer tatsächlichen oder rechtli- chen Betroffenheit – einleiten. Und davon abgesehen fehlt es an jeder zeitlichen Befristung seiner Einlei- tung. Beides zeigt, dass die Auslegung und Anwen- dung der Satzung – und im Übrigen deren Vereinbar- keit mit höherrangigem Recht, das gleichfalls Maß- stab der Prüfung ist12 – gewissermaßen betroffen- heitsunabhängig und zeitlos ist.

12 Lenski, ParteienG, 2011, § 14 Rdn. 8.

12 MIP 2016 22. Jhrg. Winkelmann – Spender in Estland [...] Aufsätze

Spender in Estland – Welche Strukturen die Möglichkeit, die Spenden und Spender zu analy- finden sich bei Spenden an estnische Par- sieren, weil jede Spende auch im €-Cent-Bereich teien? veröffentlicht werden muss. In dieser Analyse soll den Fragen nachgegangen Dr. Rolf Winkelmann1 werden, wer an die Parteien spendet und wie die Spendenstruktur aussieht, ob also Klein- oder Groß- spenden dominieren. Des Weiteren soll geprüft wer- I. Einleitung den, ob Parteisteuern bezahlt werden bzw. existieren und ob diese eingezogen werden. Wie finanzieren sich Parteien? Diese Frage ist in der Politikwissenschaft bis heute aktuell. Für die westli- II. Rechtliche Regulierung der Parteienfinanzierung chen Parteiensysteme ist diese Frage gut dokumen- in Estland tiert (Naßmacher 2009, Naßmacher 2000). Für Ost- europa aber ist diese Frage trotz zunehmender Publi- Die Parteienfinanzierung in Estland wird durch das kationen noch immer nur begrenzt beantwortet. Parteiengesetz geregelt. Der relevante Abschnitt ist der § 12 (1)-(16) (Political Parties Act: Legaltext.ee). Mit Blick auf die Spenden besteht hier ein Desiderat Auf diesem Abschnitt basieren auch die folgenden der Forschung. „Comprehensive information on grass- Angaben. Berücksichtigt werden die Aspekte der Ein- roots funding is not available for any democracy” nahmen (Spenden) und Transparenzpflichten. Die ak- (Naßmacher 2009: 215) urteilt Karl-Heinz Naßmacher tuelle Regelung der Parteienfinanzierung stammt aus in seinem Opus Magnum zur Parteienfinanzierung. dem Jahr 2004. Die Parteienfinanzierung wurde wei- Diese Aussage ist weitestgehend Konsens in der testgehend ohne öffentliche Diskussionen gestaltet Politikwissenschaft – aber eben nicht vollständig zu- (Sikk 2003). In der Tat sind die Parteien nun keinem treffend. Es existieren einzelne Studien über Spenden direkten und legalen finanziellen Einfluss durch Un- an bestimmte Parteien in einzelnen Ländern (Fisher ternehmen ausgesetzt. Aus theoretischer Sicht ist 1999). In Lettland und Estland sind detaillierte Da- dies durchaus begrüßenswert, weil hierdurch Interes- ten über Spenden vorhanden. Im Falle Lettlands sind senvertretung ohne demokratische Legitimation be- sie aber mit Vorsicht zu genießen (Winkelmann grenzt wird (Hopkin 2004: 644-645). Grzymala-Busse 2007: 191). Die Frage, wer spendet, wird in der Wis- geht ebenfalls davon aus, dass die Neuregelung sinn- senschaft hingegen nicht behandelt. Ein Hindernis ist voll ist und begründet dies mit einem starken Wett- die Datenlage und der Datenzugang. Zum einen wird bewerb der Parteien in Estland (2007: 183). nicht jede Einzelspende veröffentlicht und zum an- deren hindert auch die Zahl der Spender an einer Die Einnahmearten der Parteien setzen sich zusam- vertieften Untersuchung. Estland gilt in vielerlei men aus Mitgliedsbeiträgen, Spenden natürlicher Hinsicht als Musterschüler der wirtschaftlichen und Personen, Einnahmen aus dem Staatshaushalt und politischen Transformation. Das dortige Parteiensys- wirtschaftlichen Aktivitäten der Parteien. Anonyme tem hat sich stabilisiert, wenngleich unter Inkaufnah- Spenden und Spenden juristischer Personen sind me der Kartellisierung (Winkelmann 2014). Die Ein- nicht gestattet. Ebenfalls explizit illegal sind die nahmen der estnischen Parteien stammen vom Staat, Übertragung von Eigentum, Dienstleistungen und den Parteimitgliedern und Spenden natürlicher Per- Rechten unter Konditionen, die Dritten nicht eben- sonen. Juristische Personen dürfen nicht spenden. falls eingeräumt werden. Winkelmann und Solska (2007 und 2013) stellen Jede Partei ist aufgefordert, einen jährlichen Rechen- fest, dass die staatliche Parteienfinanzierung einen schaftsbericht vorzulegen und zu publizieren. Außer- wichtigen Anteil an dieser Stabilisierung hat. Estland dem müssen sie vierteljährlich einen Spendenbericht bemüht sich um Transparenz in der Parteienfi- auf ihrer Homepage veröffentlichen. Im Anschluss nanzierung. Estland bietet einen guten Fall, um die an Wahlen müssen die Parteien einen gesonderten Forschungslücke etwas zu schließen. Wegen des ho- Rechenschaftsbericht über die Einnahmen und Aus- hen Arbeitsaufwandes wurden diese Daten bisher gaben im Wahlkampf veröffentlichen. Im Spenden- noch nicht im Detail untersucht. Estland bietet aber verzeichnis müssen der vollständige Name und die Spendenhöhe einzeln ausgewiesen werden. Illegiti- 1 Der Autor ist Lehrender für besondere Aufgaben am Institut me Spenden müssen zurückgegeben oder in den für Sozialwissenschaften an der Carl-von-Ossietzky Universität Staatshaushalt überführt werden. Oldenburg.

13 Aufsätze Winkelmann – Spender in Estland [...] MIP 2016 22. Jhrg.

Die Parlamentsparteien erhalten den größten Anteil Sie ist die älteste Partei des post-sozialistischen der staatlichen Finanzierung. Jede Partei, die bei Par- Estlands. Die Sozialdemokratische Partei Estlands lamentswahlen 1 % der abgegebenen Stimmen er- (Sotsialdemokraatik Erakond; SDE) ist sozialdemo- zielt, ist berechtigt an der staatlichen Finanzierung kratisch orientiert und entwickelte sich durch einen zu partizipieren. Die Höhe ist festgelegt und beträgt längeren Umbenennungs- und Fusionsprozess bis 9587 € für Parteien, die 1-4 % der Stimmen erhiel- 1996 zur heutigen SDE (Winkelmann 2007:56, 75). ten. Alle anderen außerparlamentarischen Parteien Die Grünen (Rohelised), die nach ihrem Wahlerfolg (4-4,9 %) erhalten 15.978 €. Mindestens 50 % der 2007 vier Jahre später wieder die Parlamentsbühne zur Verfügung stehenden Gelder gehen an die Partei- verlassen mussten, stellten die jüngste Fraktion im en im Riigikogu. Berücksichtigt werden bei der Be- Riigikogu. rechnung der Ansprüche auch die Kommunalwahlen. Die Konsolidierung des Parteiensystems ist weitest- Bei der Zuteilung staatlicher Gelder ist ein Erfolgs- gehend abgeschlossen. Seit fast zehn Jahren stehen wert von 5 % der abgegebenen Stimmen notwendig. sich mehr oder weniger dieselben Parteien im Wett- Einen innerparteilichen Finanzausgleich gibt es bewerb gegenüber. Die zunehmende Strukturierung nicht. Die staatliche Unterstützung wird direkt an die in Mitte-Rechts- (Reformierakond, IRL) und Mitte- Parteizentralen überwiesen (Sikk & Kangur 2008: Links-Parteien (SDE, Keskerakond) ist hierbei hilf- 66). Die starke Position der Parteizentralen wird reich gewesen (Lagerspetz & Maier 2010: 101; Kru- hierdurch gefestigt, weshalb im Folgenden davon pavicius 2012: 227). ausgegangen wird, dass auch Spenden zunächst in der Parteizentrale in Tallinn gesammelt werden, ob- IV. Daten und Vorgehensweise gleich es aus den Rechenschaftsberichten nicht ein- deutig hervorgeht. Dieser Analyse liegen die Rechenschaftsberichte der Parteien Reformierakond (Reformpartei/RP), Isamaa III. Parteiensystem Estland ja Res Publica Liit (Vaterlandspartei und Res Publica Union/IRL), Keskerakond (Zentrumspartei/KE), Das heute existierende estnische Parteiensystem ist Sotsiaaldemokratiik erakond (Sozialdemokratische das Ergebnis zahlreicher Fusionen, Abspaltungen Partei Estlands/SDE) und Rohelised (Die Grünen), und Neugründungen in den ersten zehn Jahren nach aus den Jahren 2009-2012 zugrunde. Die Daten wur- der 1991 wiedererlangten Unabhängigkeit (Grofman/ den den Internetseiten der Parteien entnommen. Mikkel/Taagepera 2000). Der Nukleus wiederum war Die Rechenschaftsberichte im gewählten Zeitraum die Bürgerbewegung Rahvarinne (Volksfront), gefolgt erscheinen vierteljährlich. Jede in diesem Zeitraum von einer längeren Periode starker Fragmentierung eingegangene Spende sollte dort verzeichnet sein. durch die Auflösung der Volksfront (vgl. Tiemann Die Spenden werden einzeln aufgeführt. Dies bedeu- 2011: 135). Die wiedererlangte Unabhängigkeit führte tet, dass ein Spender mehrere Spenden entrichten zu einer Vervielfachung der Parteienzahl, weil der ei- kann und jede einzelne auch publiziert wird. Eine nigende Gegner verschwunden war. Erfolgreiche An- Kumulierung der Spenden und Spender findet nicht knüpfungen an die Zwischenkriegszeit gibt es im est- statt. Daraus folgt in einem ersten Schritt, dass die nischen Parteiensystem nicht (Krupavicius 2012: Spenden einzelnen Spendern zugeordnet werden 224). müssen, um eine bessere Übersicht zu erlangen. We- Gegenwärtig dominieren vier Parteien die politische gen der vierteljährlichen Berichterstattung erfolgt Bühne. Dazu gehören die Partei Vaterland und Res die Kumulierung der Spenden und Spender auf das Publica (Isamaa ja Res Publica Liit; IRL), eine kon- gesamte Berichtsjahr. In einem weiteren Schritt er- servative Partei. Die Vaterlandspartei gehörte zu den folgt eine Unterteilung der Spenden in kleine, mittle- ältesten Parteien in Estland und fusionierte 2006 mit re und große Spenden, um eine vertiefte Analyse der der 2002 gegründeten Res Publica (ResPub). Die Re- Spendenstrukturen zu ermöglichen2. Die Spenden formpartei (Reformierakond, RP), eine liberale Partei, werden in drei Kategorien unterteilt. Die erste Kate- deren Wähler eher städtisch und jünger sind, wurde gorie umfasst Spenden bis 999 € pro Jahr, die zweite bereits 1994 als Abspaltung von Isamaaliit gegrün- bis 1999 € und die dritte Kategorie umfasst die det. Die Zentrumspartei (Keskerakond) repräsentiert Spenden ab 2000 € per annum. Die Kategorisierung Wähler in Städten, Angehörige der russischsprachi- erfolgt mit Bezug auf die durchschnittlichen Ein- gen Minderheit sowie Ältere, die stärker von den ne- kommen in Estland, die in jenen Jahren bei etwas gativen Effekten der Transformation betroffen sind, 2 Ein großer Dank bei der Kategorisierung der Spenden gebührt und versteht sich als Nachfolgerin der Rahvarinne. meiner studentischen Hilfskraft Frau Pia Catharina Frohberg.

14 MIP 2016 22. Jhrg. Winkelmann – Spender in Estland [...] Aufsätze unter 1000 € pro Monat lagen. Bestehende regionale Tab. 2: Einnahmen aus Spenden (in €) Unterschiede werden nicht berücksichtigt. Es wird RE KE SDE IRL Grüne also davon ausgegangen, dass jährliche Spenden in 2009 516.572,05 365.242,45 45.410,06 123.036,62 17.932,00 Höhe eines durchschnittlichen Monatseinkommens 2010 482.016,54 407.382,24 32.413,82 232.768,65 3.813,08 als Kleinspende angesehen werden und Großspenden 2011 453.708,49 280.416,28 166.259,04 458.202,37 42.663,39 erst ab 2000 € einsetzen. Ein weiterer Grund für die 2012 115.360,34 119.241,24 77.392,00 135.775,00 13.609,70 Unterteilung in drei Spendenkategorien liegt in der Möglichkeit, eine verbesserte Analyse der Spenden- Quelle: Eigene Berechnungen auf der Grundlage der Quar- struktur anbieten zu können. talsberichte Die Einnahmen aus Spenden sind die zweitwichtigste Estland ist im Jahr 2011 dem Euro beigetreten. Einnahmequelle nach den Mitteln aus der staatlichen Durch die feste Bindung und den fixen Wechselkurs Finanzierung. In Relation zu den Gesamteinnahmen an den Euro (1 € = 15,6466 EEK) wurden die Daten sind die Spendeneinnahmen aber relativ gering. von estnischer Krone (EEK) in Euro (€) umgerechnet. Die Einnahmen aus Spenden weisen die in der Par- Die Analyse der Spenden erfolgt deskriptiv. teienfinanzierung üblichen Schwankungen auf. Die V. Einnahmen der estnischen Parteien Einnahmen steigen, wenn Wahlen (insbesondere zum nationalen Parlament) stattfinden. In den Mona- Die Einnahmeseite der estnischen Parteien enthält ten zuvor gelingt es den Parteien ihre Anhänger zur neben den Spenden Einnahmen aus der staatlichen Spende zu bewegen. Besonders deutlich wird dies Parteienfinanzierung und Einnahmen aus wirtschaft- bei den Grünen, die ihre Einnahmen im Jahr 2011 licher Tätigkeit. Letztgenannte Position ist aber au- mehr als verzehnfachen konnten. Aber auch bei den ßer bei der Zentrumspartei bei keiner Partei bedeut- anderen Parteien (SDE, IRL) kann im Wahljahr 2011 sam. eine signifikante Erhöhung der Einnahmen festge- stellt werden. Der Trend sinkender Einnahmen bei Tab. 1: Einnahmen der Parteien in Estland (in Tsd. €). der Reformpartei (RE) und der Zentrumspartei (KE) Partei/Jahr 2009 2010 2011 2012 ab 2011 kann durch das sehr frühe und sehr hohe RP 1665 1794 2188 1875 Spendenaufkommen im Wahljahr 2009 (Europa- KE 1650 1891 1712 1507 wahl, Kommunalwahl) und die Vorbereitung des IRL 1091 1249 1634 1423 Wahljahres 2011 erklärt werden. Ab 2012 befinden SDE 579 566 916 1091 sich die Einnahmen der Parteien aus Spenden wieder Grüne 342 322 323 100 auf einem niedrigeren Niveau. Die Spendensummen Quelle: Eigene Berechnungen auf der Grundlage der je- und ihre Volatilität unterliegen in Estland keinen von weiligen Quartalsberichte und Jahresbilanzen den Erkenntnissen der Politikwissenschaft abwei- Wie Tabelle 1 zeigt, sind die Gesamteinnahmen der chenden Schwankungen. Parteien schwankend, wenn man von der Zentrums- partei absieht, die über einen relativ konstanten Mit- VI. Analyse der Spenden telzufluss verfügt. Die Schwankungen lassen sich Wie sehen die Spendenstrukturen der Parteien aber durch die Terminierung der Wahlen erklären. Im nun aus? Zunächst soll die Quantität der Spender Frühjahr 2009 fanden Europawahlen statt und im herangezogen werden. Hier lässt sich für den Unter- März 2011 gab es Parlamentswahlen. Durch den frü- suchungszeitraum folgende Struktur erkennen: Ins- hen Zeitpunkt im März flossen viele Spenden bereits gesamt konnten 1993 Personen identifiziert werden, im letzten Quartal des Jahres 2010. Die Parlaments- die ein- oder mehrmals in den Jahren 2009-2012 an wahlen erklären auch den signifikanten Rückgang eine der Parlamentsparteien gespendet haben. Die der Einnahmen bei den Grünen. Die Partei Rohelised meisten Spender finden sich bei der Reformpartei gelangte nicht mehr in das Parlament (Riigikogu) mit 590 Spendern (29 % aller Spender) gefolgt von und verlor dadurch auch seine Mittel aus der staatli- der Zentrumspartei mit 534 Spendern (27 %). Die chen Parteienfinanzierung, die für die estnischen Sozialdemokraten erhielten Geld von 432 Spendern Parteien die bedeutendste Einnahmequelle ist (vgl. (22 %). Die Vaterlands-Res Publica Union (IRL) Winkelmann 2014: 38). verzeichnete 342 Spender (17 %). Am Ende der Lis- te stehen die Grünen mit nur 95 Spendern oder 5 % aller Spender. Es zeigt sich, dass nur relativ wenige

15 Aufsätze Winkelmann – Spender in Estland [...] MIP 2016 22. Jhrg. der knapp unter einer Million Wahlberechtigten (Re- Ansip nie in der Spenderliste auftauchten. Gleiches ferenz: Kommunalwahlen) bereit sind, Parteien Geld gilt für die Abgeordneten Astok und Leinatamm, die zu spenden. Eine Untersuchung der Spenderanzahl im genannten Zeitraum nicht spendeten. Gleichzeitig pro Jahr zeigt in der oben aufgeführten Reihenfolge stammen die Großspenden nur aus wenigen Quellen. keine Veränderungen. Die meisten Spender pro Jahr Zwischen 2009 und 2012 stammten mehr als die finden sich bei Reformpartei und Zentrumspartei. In- Hälfte der Spender aus der Kategorie „0-999 €“. Die teressant sind die Schwankungen der Spenderzahlen. Zahl der Großspender im selben Zeitraum liegt zwi- Wie die Einnahmen auch, schwankt die Bereitschaft schen 13 (2012) und 53 (2009). Die Durchschnitts- der Spender ebenfalls mit den Wahlterminen. Auf- höhe der Spenden lag in den Jahren 2009-2012 bei fallend ist allerdings, dass die Zahl der Spender au- 1238 €, 3624 €, 2577 € und 1721 € (gerundet). Die ßer bei den Grünen im Jahr 2009 (EP-Wahl) am niedrigste Spende betrug 1 Cent (Ingrid Schultz, 2009) höchsten war und selbst bei den nationalen Wahlen und die höchste Spende betrug 191.734,95 € (Arti 2011 nicht überboten wurde. Die Mobilisierungsun- Arakas, 2010). Arakas ist Vorstandsmitglied des fähigkeit kann auch durch die schwere Wirtschafts- Bauunternehmens Arco Vara und ist nicht Mitglied krise in Estland in jener Zeit zu erklären sein. Im der Reformpartei. Eine derart hohe Summe erhielt letzten Untersuchungsjahr (2012) ist die Zahl der die Partei im Untersuchungszeitraum nur einmal. Spender bei allen Parteien unter 100. Insgesamt lässt Da jede Spende in den Quartalsberichten angegeben sich anhand der Spenderzahlen deutlich erkennen, werden muss, sollte sich auf diesem Wege auch dass die Parteien mobilisieren können, wenn Wahlen nachweisen lassen, wie hoch die Parteisteuern bei der anstehen und zusätzliche Gelder benötigt werden, Reformpartei sind. Für den genannten Zeitraum lassen während in wahlfreien Jahren die Einnahmen aus der sich diese aber nicht durch die Spenden erkennen. Die staatlichen Finanzierung ausreichen und ein geringe- Abgeordneten der Reformpartei (wie die oben ge- res Interesse an der Verstetigung von Spendenein- nannten Personen zeigen) scheinen keine Parteisteu- nahmen seitens der Parteien besteht. ern entrichten zu müssen. Die Spenden der Abgeord- Wie sehen die Spenden aber aus? Entspricht Estland neten der Reformpartei können aber bewertet werden. dem Klischee, dass Oligarchen sich mittels Geld bei Tab. 4: Spenden von Abgeordneten der Jahre 2009-2012 Parteien einkaufen? Natürlich haben auch in Estland einzelne Persönlichkeiten wie die Unternehmer-Fa- Jahr 2009 2010 2011 2012 milie Ossinovski Kontakte zu Parteien (wie im Fall Summe € 60.366,33 88.216,49 82.695,31 9.680,00 der SDE noch zu zeigen sein wird), aber ob es sich Quelle: Eigene Berechnungen um einen inhaltlich bestimmenden Einfluss handelt, lässt sich anhand der Spendenstrukturen nicht exakt In der Summe liegt der Anteil der Spenden durch bestimmen. Im Weiteren werden die Spenden an die Abgeordnete durchgehend unter 20 %. Auch unter Parteien in Einzelanalysen dargestellt. den Abgeordneten der Partei lässt sich keine Kon- stanz in der Spendengabe erkennen. Nur wenige der 1. Reformpartei identifizierten Personen spendeten in jedem Jahr. Auch die Höhe der Spendensumme weist eine große Die Reformpartei erhält mehrheitlich Großspenden. Spannbreite auf und reicht von 19,17 € (Aare Heinvee, Durchschnittlich über 80 % der Spendeneinnahmen 2010) bis 12.782,33 € (Harri Ounapuu, 2010). stammen aus der Kategorie mehr als 2.000 € pro Jahr. Tab. 3: Reformpartei (Summe der Spenden in €) Die meisten Spenden von Abgeordneten befinden sich im unteren vierstelligen Bereich. Die vorgefun- 2009 2010 2011 2012 denen Strukturen der Spenden lassen keinen Auf- 55.644,65 20.161,62 29.240,29 5.518,67 0-999 € schluss über Parteisteuern und ihre Höhe zu. Und (10,74 %) (2,23 %) (6,44 %) (4,78 %) selbst wenn es Parteisteuern gäbe, kann durch die 45.115,97 36.046,16 48.945,90 13.161,67 1000-1999 € (8,73 %) (3,81 %) (10,79 %) (11,41 %) Berichte nicht eindeutig nachgewiesen werden, ob 415.811,43 425.808,75 375.522,30 96.680,00 sie auch eingetrieben werden. 2000 € (80,49 %) (88,69 %) (82,77 %) (83,81 %) Zusammengefasst lässt sich für die Reformpartei fol- Summe € 516.572,05 482.016,54 453.708,49 115.360,34 gender Schluss fassen: Spenden sind bei der Reform- Quelle: Eigene Berechnungen partei nur eine untergeordnete Finanzierungsquelle. Darunter befinden sich auch Spenden von Mitglie- Die wichtigste Spendenquelle sind nur wenige Perso- dern und Abgeordneten. Hier fällt auf, dass der Au- nen, die insbesondere für die Wahlkampffinanzierung ßenminister Paet und der damalige Ministerpräsident Geld an die Partei geben und den Löwenanteil (über

16 MIP 2016 22. Jhrg. Winkelmann – Spender in Estland [...] Aufsätze

80 %) der Spendeneinnahmen generieren. Parteisteu- wurde, ist dies nicht erstaunlich. Umgekehrt zeigt es ern können nicht gesichert erkannt werden. Nicht je- aber, dass die Partei in anderen Jahren durchaus in des Mitglied des Parlaments spendet an die eigene der Lage ist, Kleinspenden einzunehmen. Es lohnt Partei. Sanktionen scheint es für die fehlenden Spen- sich bei der Zentrumspartei anzusehen, wie hoch die den nicht zu geben. Summe ist, die aus den eigenen Reihen stammt. 2. Zentrumspartei Tab. 7: Spendensumme der Abgeordneten Die Struktur der Spenden an die Zentrumspartei 2009 2010 2011 2012 zeigt folgende Werte auf: Summe € 134.183,84 157.301,20 154.626,06 3.605,00 Tab. 5: Verteilung der Spendeneinnahmen nach Größe Quelle: Eigene Berechnungen (in €) Die Partei finanziert sich mit Blick auf die Spenden- 2009 2010 2011 2012 einnahmen (außer in den Jahren 2010 und 2012) fast 47.115,56 13.984,09 51.474,22 15.943,56 durchgehend zu mehr als einem Drittel aus den Rei- 0-999 € (12,90 %) (3,43 %) (18,27 %) (13,37 %) hen der Abgeordneten. 2011 waren es sogar über 1.000 - 44.153,67 25.842,47 38.379,83 24.117,98 50 % der Spendeneinnahmen, die von diesen gespen- 1.999 € (12,09 %) (6,35 %) (13,62 %) (20,23 %) det wurden. Die Frage nach den Parteisteuern kann 273.973,22 367.555,68 190.562,23 79.179,70 2.000 € - strukturell beantwortet werden. Ja, die Zentrumspar- (75,01 %) (90,22 %) (67,63 %) (66,40 %) tei erhält regelmäßige Zahlungen von ihren Abgeord- Summe € 365.242,45 407.382,24 280.416,28 119.241,24 neten. Der genaue Betrag kann nicht gesichert ange- Quelle: Eigene Berechnungen geben werden. Mit Blick auf die Summen, die Abge- Die Zentrumspartei finanziert sich primär durch ordnete abgeben, scheinen Steuern in Höhe von Großspenden. Mehr als zwei Drittel der Spendenein- 200 € plus x (ca. 3.000 EEK) pro Monat aber wahr- nahmen stammen von nur wenigen Spendern. scheinlich. Die Analyse der Spenden der Abgeordne- ten zeigen mitunter monatlich überwiesene Zahlungen Tab. 6: Anzahl der Spender unterschiedlicher Höhe. Ein Blick auf das Jahr 2012 2009 2010 2011 2012 zeigt aber auch, dass die Partei nicht in der Lage oder nicht willens ist, die Parteisteuern einzutreiben. Der 0-999 € 268 82 140 68 (77,46 %) (55,4 %) (69,3 %) (70,83 %) ehemalige Generalsekretär der Zentrumspartei, Priit 1.000 - 29 17 28 17 Toobal, legte dies 2015 offen, als er (Postimees 2015) 1.999 € (8,38 %) (11,49 %) (13,87 %) (17,71 %) erklärte, dass er im Gegensatz zu anderen Abgeord- neten unter anderem deswegen keine Parteisteuern 2.000 € - 49 49 34 11 (14,16 %) (33,11 %) (16,83 %) (11,46 %) abführt, weil seine Position als Generalsekretär nicht Summe 346 148 202 96 vergütet wird. Es existiert also seit Jahren eine Par- teisteuer, die aber nicht immer eingetrieben wird. Quelle: Eigene Berechnungen Andere Abgeordnete wie Kadri Must, Ester Tioksoo Gleichzeitig bilden die Kleinspender bei der Zen- oder Jaan Kundla sind für den Zeitraum 2009-2012 trumspartei die Mehrheit. Die absolute Zahl der überhaupt nicht aufgeführt worden. Spender an eine der größten Parteien des Landes ist Zusammengefasst kann festgehalten werden, dass die überschaubar. Es wird deutlich, dass nur sehr wenige Spendeneinnahmen der Partei hauptsächlich von aus der Gruppe kommen, deren sozio-ökonomischer Großspendern stammen. Besonders bedeutsam sind Status es erlauben würde, mehr als zweitausend Euro Zahlungen von Abgeordneten. Die Analyse der Spen- pro Jahr zu spenden. den zeigt auch, dass es Parteisteuern gibt, diese aber Die niedrigste Spende kam 2009 von Irinia Porohnja nicht besonders regelmäßig und in nachvollziehbarer in Höhe von 0,77 € und die höchste von Arnold Ki- Höhe erbracht werden. Eine Minderheit bezahlt visaar im Jahr 2010 in Höhe von 93.092,62 €. Kivi- überhaupt keine Parteisteuern oder spendet nicht. saar ist nicht Mitglied der Partei. Im Durchschnitt hatten die Spenden zwischen 2009 und 2012 eine 3. Isamaa ja Res Publica Liit Höhe von 1055 €, 2752 €, 1395 € und 1242 € (gerun- Bei der Regierungspartei IRL zeigt sich grundsätz- det). Die durchschnittliche Spende fiel also nur 2010 lich ein mit den anderen Parteien vergleichbares Bild in die aufgeführte Kategorie der Großspende. Da bei den Einnahmen aus Spenden. Die Einnahmen aus 2010 bereits die Parlamentswahl 2011 vorbereitet

17 Aufsätze Winkelmann – Spender in Estland [...] MIP 2016 22. Jhrg.

Parteispenden werden primär durch Großspenden ge- eine Parteisteuer entrichten. Nicht jeder Abgeordnete neriert. Im Jahr 2011 waren es sogar 90 % aller hat sich daran gehalten, aber es lassen sich verschie- Spendeneinnahmen. Die relativ große Abweichung dene Abgeordnete finden, die monatlich 1.500 EEK von den anderen untersuchten Jahren lässt sich unter oder nach der Währungsumstellung den ungefähren anderem durch vier Spenden in Höhe von jeweils Gegenwert von 100 € pro Monat an den Schatzmeis- 30.000 € von Hillar Teder erklären. Derartig hohe ter überwiesen haben. Die Parteisteuer liegt also bei Spenden des Geschäftsmanns Teder sind nicht unge- ca. 100 € pro Monat. Insbesondere ab 2011 lässt sich wöhnlich wie ein Blick in spätere Berichte zeigt der Betrag von 100 € oder nahe dran vermehrt finden (news.err. 17.12.2015). (z.B. Pommerants, Aviksoo, Lukas, Ergma). Meist Tab. 8: Verteilung der Spendeneinnahmen nach Größe werden die Steuern monatlich gespendet. Andere (in €) zahlen einen geringeren Steuersatz, überweisen jähr- lich oder in wechselnden Summen. In der Tendenz ist 2009 2010 2011 2012 aber zu erkennen, dass Abgeordnete der IRL um die 30.893,92 8.404,87 19.054,49 4.327,07 0-999 € 1.200 € pro Jahr an Parteisteuern zu zahlen haben und (25,11 %) (3,61 %) (4,16 %) (3,19 %) dieser Aufforderung auch durchaus nachkommen. Nur 1.000 - 23.948,98 28.222,10 24.282,78 30.247,17 Taavi Veskimägi zahlte im Untersuchungszeitraum 1.999 € (19,46 %) (12,12 %) (5,30 %) (22,28 %) keine Steuern oder spendete an die Partei. 68.193,72 196.141,68 414.865,1 101.200,76 2.000 € - (55,43 %) (84,43 %) (90,54 %) (74,53 %) Zusammengefasst gelingt es der Partei Großspender anzuziehen. Gleichzeitig zeigt sich in Großspenden 123.036,62 232.768,65 458.202,37 135.775,00 Summe € wie von Teder (2011: 120.000 €), dass die Partei Quelle: Eigene Berechnungen sich zum Teil in Abhängigkeit begibt zu einzelnen Es zeigt sich, dass die IRL primär Großspenden erhält. Spendern. Ohne deren Bereitschaft Geld zu geben, Gleichzeitig wird deutlich, dass die Partei nicht beson- würden die Spendeneinnahmen wegbrechen. Auch ders stark ist, Unterstützer zur Spende zu mobilisie- konnten bei IRL Parteisteuern in Höhe von ca. 100 € ren. Seit der Wahl zum Europaparlament 2009 (180) pro Monat nachgewiesen werden. Die Spenden von ist die Zahl der Kleinspender auf 25 Spender im Jahre Abgeordneten repräsentieren einen signifikanten An- 2012 zurückgegangen. Insgesamt war die Zahl der teil der Spendeneinnahmen der Partei. Spender in 2012 mit 57 Spendern am niedrigsten. Die 4. Sozialdemokraten Höhe der Spenden zeigt eine Spannweite von 1 € (Rainer Loo, 2012) bis zu den genannten 120.000 € Die Einnahmen aus Spenden weichen von den Mus- von Hillar Teder (2011). Die durchschnittlichen Spen- tern der anderen etablierten Parteien ab. In den Jah- denwerte lagen im Untersuchungszeitraum bei der ren 2011 und 2012 stellten die Spendeneinnahmen IRL bei 595 €, 1923 €, 3883 € und 2382 € (gerundete durch Großspender die Mehrheit. Auffallend ist das Werte). Die wenigen Großspender erhöhen den Durch- Jahr 2009, als mehr als 40 % der Spendeneinnahmen schnitt erwartungsgemäß. Das Jahr 2012 ist mit Blick aus Kleinspenden kamen. Dies war bei allen unter- auf die Zusammensetzung der Spendensumme höchst suchten Parteien der höchste Wert in dieser Katego- aufschlussreich. Von den eingenommenen 135.000 € rie. Im Folgejahr reduzierte sich dieser Wert aber stammen 60.000 € erneut von Hillar Teder. Die Ein- dramatisch und stabilisierte sich auf einem niedrigen nahmen durch Spenden zeigten in 2012 ein hohes Niveau, das den anderen Parteien ähnlich ist. Maß an Abhängigkeit von einer einzelnen Person. Tab. 10: Verteilung der Spendeneinnahmen nach Größe Aus den Reihen der Abgeordneten stammt ein signi- (in €) fikanter Anteil aller Spendeneinnahmen. Der Anteil 2009 2010 2011 2012 liegt grob berechnet zwischen 15 % und 25 % der 18.719,86 5.833,28 13.079,03 3.216,40 0-999 € jährlich eingehenden Spenden. (41,22 %) (18,00 %) (7,87 %) (4,16 %) Tab. 9: Spenden von Abgeordneten 1.000 - 17.413,94 12.647,81 9.566,70 22.475,60 1.999 € (38,35 %) (39,02 %) (5,75 %) (29,04 %) 2009 2010 2011 2012 9.276,26 13.932,73 143.613,31 51.700,00 2.000 € - Summe € 29.554,66 29.605,54 66.666,76 28.247,17 (20,43 %) (42,98 %) (86,38 %) (66,80 %) Quelle: Eigene Berechnungen Summe € 45.410,06 32.413,82 166.259,04 77.392,00 Ein Blick in die Liste der Einzelspender unter den Quelle: Eigene Berechnungen Abgeordneten offenbart, dass die IRL-Abgeordneten

18 MIP 2016 22. Jhrg. Winkelmann – Spender in Estland [...] Aufsätze

Die durchschnittliche Spendensumme im Untersu- 2012. In den Jahren zuvor findet man zwar auch ver- chungszeitraum betrug 150 €, 381 €, 1340 € und gleichbare Muster, doch scheinen die Sozialdemo- 1018 €. Der Anstieg der durchschnittlichen Summe kraten erst seit 2012 zu einer disziplinierten Zah- korrespondiert erwartungsgemäß mit der zunehmen- lungsmoral gekommen zu sein, denn die Spenden- den Bedeutung der Großspender in den Jahren 2009- summen in den Jahren 2009-2011 variieren doch 2012. Die niedrige durchschnittliche Spendensumme sehr stark. Der ehemalige Ministerpräsident Tarand im Jahr 2009 lässt sich auch durch die für die Sozial- und Liina Tõnison spendeten im Untersuchungszeit- demokraten hohe Spenderanzahl im Bereich der Klein- raum nicht an die Partei. spenden erklären. Im Jahr 2009 spendeten 283 Perso- Zusammengefasst kann festgestellt werden, dass die nen an die Sozialdemokraten. So viele Personen spen- Sozialdemokraten nur 2009 in der Lage waren, signi- deten in den folgenden drei Jahren insgesamt an die fikant Kleinspender zu mobilisieren und die Abhän- Partei. 2009 ist ein Ausnahmejahr für die Partei gewe- gigkeit von Großspendern zu durchbrechen. Tenden- sen. Die Spendeneinnahmen hängen in hohem Maße ziell ist die sozialdemokratische Partei aber abhängig (wie die Jahre 2011 und 2012 zeigen) von wenigen von Großspendern. Ein ungewöhnlicher Fall ist si- Großspendern und den Abgeordneten ab. Die folgende cherlich der der Familie Ossinovski. Die Spenden Tabelle zeigt, dass fast 50 % der gesamten Spenden- des erfolgreichen Vaters an die Partei seines Sohnes einnahmen aus den Reihen der Abgeordneten der so- sind auf der einen Seite menschlich nachvollziehbar zialdemokratischen Fraktion im Riigikogu stammen. und nur bedingt kritikwürdig. Auf der anderen Seite Tab. 11: Spenden der Abgeordneten besteht durch die familiäre Bindung die größte Ge- fahr der Einflussnahme auf die Politik, nicht nur mit 2009 2010 2011 2012 Blick auf die hohen Spenden. Summe € 17.165,58 23.008,83 71.848,23 41.775,60 Quelle: Eigene Berechnungen 5. Grüne/Rohelised Trotzdem kann für 2009 eine erhöhte Mobilisierungs- Die Analyse der Spenden bei den estnischen Grünen fähigkeit vor Kommunal- und Europawahlen attes- weicht grundsätzlich von den anderen Parteien ab, tiert werden. Die Höhe der Spendensumme zeigt wie weil diese Partei 2011 nach nur einer Legislaturperi- überall eine relativ große Spannweite. Die niedrigste ode wieder aus dem Riigikogu ausscheiden musste. Spende wurde 2010 von Mai Tãust in Höhe von 32 Entsprechend kann davon ausgegangen werden, dass Cent gegeben und die höchste Spende in Höhe von die Einnahmen aus Spenden rückläufig sein müssten 18.000 € stammt von Ivari Padar (2012). Die Spann- und die Bereitschaft, überhaupt zu spenden, bei einer weite ist groß, aber nicht so weit wie in den anderen außerparlamentarischen Partei erfahrungsgemäß nied- untersuchten Fällen. Insgesamt fällt bei den Sozial- riger ausfällt. demokraten auf, dass sie nur fünf Spenden über Tab. 12: Verteilung der Spendeneinnahmen nach Größe 10.000 € erhielten. In zwei Fällen (je 15.000 € in (in €) 2011 und 2012) kamen diese von Oleg Ossinovski, einem umstrittenen Geschäftsmann (news.err.ee (2)) 2009 2010 2011 2012 2.273,64 617,50 3.961,49 3.009,70 und Vater des Arbeits- und Gesundheitsministers der 0-999 € aktuellen Regierung sowie Vorsitzenden der Sozial- (12,68 %) (16,19 %) (9,28 %) (22,11 %) 1.000 - 4.832,10 1.000,00 demokratischen Partei. Zwei weitere fünfstellige 00 Spenden stammen jeweils von Ivari Padar (2011) 1.999 € (11,33 %) (7,35 %) 15.658,36 3.195,58 33.869,85 9.600,00 und Terje Eipre (2012). Alle anderen Spenden sind 2.000 € - deutlich unter 10.000 € angesiedelt. Auch hier lässt (87,32 %) (83,81 %) (79,39 %) (70,54 %) sich die tendenzielle Abhängigkeit der Sozialdemo- Summe € 17.932,00 3.813,08 42.663,39 13.609,70 kraten von wenigen Großspendern erkennen. Alleine Quelle: Eigene Berechnungen im Jahr 2012 waren vier Personen für mehr als 60 % der Spendeneinnahmen verantwortlich. Auffallend ist das vollständige Fehlen von Spenden in der Kategorie 1.000-1.999 € in den Jahren 2009 und Wie oben schon festgestellt wurde, tragen die Abge- 2010. Grundsätzlich gilt aber bei den Grünen derselbe ordneten zu einem wesentlichen Teil zu den Spen- Befund wie bei den oben bereits analysierten Par- deneinnahmen bei. Wie bei IRL auch, beträgt die lamentsparteien: Die Grünen sind abhängig von Parteisteuer der Abgeordneten ca. 100 €. Dieser Be- Großspendern. Gerade die niedrige Einnahmequote trag findet sich in monatlichen Spenden des Jahres

19 Aufsätze Winkelmann – Spender in Estland [...] MIP 2016 22. Jhrg. aus Spenden und das Wegbrechen der staatlichen Die Grünen haben es nicht geschafft, in den Jahren Gelder führen zu einer deutlichen Schwächung der ihrer Parlamentszugehörigkeit einen ausreichend ge- Grünen im Wettbewerb und dort werden dann die nerösen Stamm an Spendern zu rekrutieren. Die wenigen Großspenden noch bedeutsamer, um we- durchschnittliche Spende ist relativ niedrig und die nigstens die Parteiarbeit gewährleisten zu können. Abgeordneten tragen nicht wesentlich zu den Ein- Das Spendenniveau bei den Grünen ist insgesamt auf nahmen der Partei bei, was an dem Fehlen einer Par- einem sehr niedrigen Niveau angesiedelt und dies teisteuer zu erkennen ist. Die Oppositionsrolle der schon während ihrer Parlamentszeit. Spenden über Grünen, in der sie nicht viel erreichen können, ist si- 2.000 € dominieren und haben einen Anteil von 70 % cherlich ein Grund für die Schwäche der Spenden- (2012) bis 87 % (2009). Strukturell befindet sich die einnahmen. Partei damit aber im normalen Bereich im estnischen Parteiensystem. Deutlich wird auch, dass die Partei VII. Fazit insgesamt nur sehr wenige Spendeneinnahmen gene- rieren kann und deshalb primär aus den Zahlungen Die Analyse der Spenden an estnische Parteien im des Innenministeriums finanziert wurde (Winkelmann Zeitraum von 2009 bis 2012 zeigt mehrere Punkte 2014: 39). deutlich auf. Obwohl die estnischen Parteien einen re- lativ hohen Organisationsgrad von 4,87 % aufweisen Die durchschnittliche Spende im Untersuchungszeit- (Auers 2015: 114), sind sie nicht in der Lage, ihre raum beträgt bei den Grünen 1054 €, 317 €, 735 € zahlreichen Mitglieder zu mobilisieren und einen ste- und 388 €. Hier wiederum weist die Partei Rohelised tigen Spendenfluss zu generieren. Insgesamt konnten die niedrigsten Durchschnittswerte aller Parteien nur knapp 2000 Personen als Spender identifiziert aus. Auch ist die Partei nicht in der Lage, Unterstüt- werden, von denen sehr viele nicht einmal Mitglied zer zu Geldzahlungen zu mobilisieren. Die Zahl der jener Parteien waren. Aus demokratietheoretischer Spender war selbst in Parlamentsjahren sehr niedrig: Sicht ist die geringe Anzahl an Spendern durchaus 17, 12, 58, 35 Spender konnten festgestellt werden. kritisch zu sehen. Sie spiegelt die schwache Verwur- Nur im Wahljahr 2011 konnte die Partei aus ihrer zelung der Parteien in der Bevölkerung wider. Sicht signifikant mehr Unterstützer mobilisieren. Die niedrigste Spende lag 2011 bei 57 Cent (Paves Kaur) Die Mitgliedschaft in einer Partei muss in Estland und die höchste Spende lag bei 19.175 € im Jahr also mehr Anreize haben als Idealismus und Partizi- 2011 von Aivar Berzin, einem Unternehmer aus dem pationsbereitschaft. Auch die Zahl derjenigen, die Bezirk Viljandi und nicht Mitglied der Partei. mehr als einer Partei spenden, ist überschaubar und liegt unter einem Dutzend Personen. Obwohl es sich Die Abgeordneten bzw. Personen, die sich im Unter- bei den größten Spendensummen um Spenden von suchungszeitraum wenigstens zeitweise im Parla- bekannten Unternehmern handelt, ist eine allgemeine ment befanden, waren nur im Jahr 2009 relevant für „Pflege der politischen Landschaft“ (v. Brauchitsch) die Spendeneinnahmen, dort betrugen sie etwas we- in Estland offenbar nicht üblich, sondern Unternehmer niger als 10 % in Relation mit den gesamten Spen- als Privatpersonen spenden an die ihnen nahestehen- deneinnahmen. den Parteien. Dies schließt eine Übereinstimmung mit Tab. 13: Spenden der Abgeordneten geschäftlichen Interessen nicht aus. Im Fall des Unter- nehmers Ossinovski ist nicht ausgeschlossen, dass 2009 2010 2011 2012 die familiären Bande ausschlaggebend sind für die Summe € 1.220,71 402,64 7.870,73 870,00 hohen Spenden an die Sozialdemokraten. Quelle: Eigene Berechnungen Gemeinsam ist den estnischen Parteien aber die grundsätzlich reduzierte Bedeutung von Spenden an- Eine Parteisteuer hat es bei den Grünen nicht gegeben. gesichts des sehr hohen Anteils der staatlichen Fi- Die Spendenstruktur der Abgeordneten lässt hierzu nanzierung (vgl. Winkelmann 2014). Ebenfalls be- keine Schlussfolgerungen zu. Die Spenden sind unre- deutsam ist die Rolle der Großspender für die Partei- gelmäßig und variieren in der Summe in einem niedri- en. Eine kleine Gruppe von Personen dominiert die gen Bereich. Erst im Wahljahr 2011 haben vier Abge- Einnahmen aus Spenden der Parteien. Wie oben dar- ordnete im vierstelligen Bereich gespendet, doch gelegt, kann das Wegbrechen nur eines Großspen- auch hieraus lassen sich keine Steuern erkennen, ders die Einnahmen der jeweiligen Partei massiv be- denn nicht jeder hat bezahlt. Der Abgeordnete Trapi- einträchtigen. Ohne die hohe staatliche Finanzierung do hat keine Spende an die Partei überwiesen. würden hier Gefahren der Korruption lauern. Mit Blick auf die wenigen Großspender ist die Korrupti-

20 MIP 2016 22. Jhrg. Winkelmann – Spender in Estland [...] Aufsätze onsgefahr durch Parteispenden neben der großzügi- zur Parteienfinanzierung in Estland, aber auch in gen Staatsfinanzierung auch durch die rigiden Publi- Osteuropa, noch viel Nachholbedarf. kationspflichten wiederum reduziert worden. Auf der anderen Seite machen es sich alle Parteien einfach Referenzen und scheinen der Mobilisierung von Kleinspendern Auers, Daunis (2015) Comparative Politics and Gov- und Spendern der mittleren Kategorie keine erhöhte ernment of the Baltic States. Estonia, Latvia and Bedeutung beizumessen. Nur vor wichtigen Wahlen Lithuania in the 21st Century. London. bemühen sich die Parteien verstärkt um Spenden. Das Beispiel der Grünen zeigt, dass das abrupte Fisher, Justin (1999): Modelling the Decision to Donate Ende einer großzügigen Finanzierung ohne eine brei- by Individual Party Members: The Case of British te Unterstützergruppe, die Gelder zur Verfügung Parties. In: Party Politics, Vol. 5, Nr. 1, S. 19-38. stellt, auch zu einem Ausscheiden aus dem Parteien- Grofman, Bernard/Mikkel, Evald/Taagepera, Rein wettbewerb führen kann. Insgesamt müssen die est- (2000): Fission and fusion of parties in Estonia, nischen Parteien viel stärker an den Spendeneinnah- 1987-1999. In: Journal of Baltic Studies, Vol. 31, men interessiert sein, um ihre Finanzierungsgrund- Nr. 4, S. 329-357. lagen abzusichern und die zunehmend durch Medien Grzymala-Busse, Anna (2007): Rebuilding Leviathan. organisierten Wahlkämpfe finanzieren zu können. Party Competition and the State Exploitation in Abgeordnete stellen keine ausschlaggebende Fi- Post-Communist Democracies. Cambridge. nanzierungsgrundlage der Parteien dar, können aber Hopkin, Jonathan (2004): The Problem with Party in wahlfreien Zeiten relevante Teile der Spenden Finance: Theoretical Perspectives on the Funding of ausmachen. Parteisteuern sind auch in Estland be- Party Politics. In: Party Politics, Vol. 10, Nr. 6, kannt, nur ist der finanzielle Nachweis schwierig. S. 627-651. Bei den Grünen konnten keine Parteisteuern nachge- wiesen werden. Bei den Sozialdemokraten und IRL http://news.err.ee/v/15dbd803-5b9e-4838-b462-fc82 ist die Steuerbelastung ca. 100 € im Monat. Zen- f74c28fd (2) (Letzter Zugriff: 17.12.2015) trumspartei und Reformpartei haben Parteisteuern, http://news.err.ee/v/3d8d6427-e16b-41a9-9b2a-5e63 die aber in ihrer Höhe nicht absolut nachgewiesen b4f402e7 (Letzter Zugriff: 17.12.2015) werden können. Bei der Zentrumspartei beträgt der http://news.postimees.ee/3396817/secretary-gene- Steuersatz ca. 200 € im Monat. Bei den Parteien war rals-the-generous-philanthropists-stuffing-party-cof- es vor einigen Jahren aber scheinbar nicht üblich, die fers (Letzter Zugriff: 19.11.2015) Parteisteuern einzutreiben. Einige Abgeordnete und herausragende Politiker haben im Untersuchungs- http://www.legaltext.ee/text/en/X1022K6.htm. zeitraum nicht einen Cent gespendet. Neben bekann- Krupavicius, Algis (2012): Fluide Parteiensysteme in ten Personen der politischen Elite (z.B. Velliste, den baltischen Staaten. In: Knodt, Michèle & Urdze, Parts, Paet) finden sich unter den Verweigerern auch Sigita: Die politischen Systeme der baltischen Staa- unbekannte Politiker wie Tioksoo wieder. Sanktio- ten. Wiesbaden. S. 217-239. nen scheint es nicht gegeben zu haben. Inzwischen Lagerspetz, Mikko & Maier, Konrad (2010): Das politi- kann sich das aber auch geändert haben, wie die zu- sche System Estlands. In: Ismayr, Wolfgang (Hrsg.): nehmende Zahlungsdisziplin bei den Sozialdemokra- Die politischen Systeme Osteuropas. 3. aktualisierte ten 2012 vermuten lässt. und erweiterte Auflage. Wiesbaden. S. 79-121. Offen bleiben aber auch nach der Analyse der Spen- Naßmacher, Karl-Heinz (2000): Foundations for den verschiedene Fragen. Unklar bleibt in Estland, democracy. Approaches to comparative political fi- und hier ist Naßmacher wiederum zuzustimmen, an nance. Baden-Baden. welche Ebene die Spende ging. Angesichts der Stär- Naßmacher, Karl-Heinz (2009): The funding of par- ke und des Einflusses der Parteizentralen muss da- ty competition. Political finance in 25 democracies. von ausgegangen werden, dass die Zentralen die Baden-Baden. Verteilung/Nutzung der Spenden zentralisiert haben. Auch stellt sich die Frage weiterhin, ob es demokra- Sikk, Allan & Kangur, Riho (2008): Estonia: The in- tietheoretisch akzeptabel ist, dass Parteien sich nicht creasing costs and weak oversight of party finance. um Spenden bemühen. Insgesamt hat die Forschung In: Roper, Steven D. & Ikstens, Janis (Eds.): Public

21 Aufsätze Winkelmann – Spender in Estland [...] MIP 2016 22. Jhrg. finance and post-communist party developments. Al- dershot. S. 63-76. Solska, Magdalena (2013): Die Systemkrise des Kommunismus und die Entwicklung der Parteien- systeme in Estland, Lettland und Litauen 1988 – 2011. Nationale Identität, Cleavage-Politik und Par- teienwettbewerb in Nordosteuropa. Berlin. Tiemann, Guido (2011): Parteiensysteme. Interakti- onsmuster und Konsolidierungsgrad. In: Grotz, Flo- rian/Müller-Rommel, Ferdinand (Hrsg.): Regie- rungssysteme in Mittel- und Osteuropa. Die neuen EU-Staaten im Vergleich. Wiesbaden. S. 127-146. Winkelmann, Rolf (2007): Politik und Wirtschaft im Baltikum. Stabilisierung von Demokratie und Markt- wirtschaft in Estland, Lettland und Litauen. Saar- brücken. Winkelmann, Rolf (2014): Auswirkungen der Ver- änderungen der Parteienfinanzierung in Estland nach 2004. In: MIP (Mitteilungen des Instituts für Deut- sches und Internationales Parteienrecht und Parteien- forschung). Jg. 20, S. 34-42.

22 MIP 2016 22. Jhrg. Franzmann – Von AfD zu ALFA: Die Entwicklung zur Spaltung Aufsätze

Von AfD zu ALFA: Die Entwicklung zur wird häufig auf wissenschaftliche Sachverhalte über- Spaltung tragen. Die Folge sind dann mangelnde Trennschärfe und unbeabsichtigte Wertungen. Aus politikwissen- schaftlicher Sicht ist die ideologische Verortung von Dr. Simon Tobias Franzmann1 Parteien vor allem in Hinblick auf die Mechanik des Parteiensystems interessant. Die Etablierung einer Einleitung neuen Partei kann dabei sowohl positive als auch ne- gative Wirkungen entfalten. Gemäß der Theorie der Seit bald drei Jahren schickt sich eine Partei an, sich Parteiendemokratie ist die Etablierung als positiv zu nachhaltig rechts von den Unionsparteien im deut- interpretieren, wenn die neue Partei konkret durch schen Parteiensystem zu etablieren. Die im Frühjahr die Setzung neuer Themen die Innovationskraft im 2013 gegründete Alternative für Deutschland (AfD) Rahmen des demokratischen Parteienwettbewerbs durchlebte dabei im Jahr 2015 stürmische Zeiten. verbessert und insgesamt die Repräsentationsqualität Der ursprünglich medial präsenteste der drei Grün- erhöht (Franzmann 2016a: 68). Im günstigen Fall ist dungsparteisprecher, Bernd Lucke, wurde nicht nur eine funktionierende Parteiendemokratie in der Lage, als Parteisprecher abgewählt. Er schied auch kom- solche neuen Wettbewerber für die gesamte Demo- plett aus der Partei aus und gründete mit der Allianz kratie Gewinn bringend zu integrieren (Franzmann für Fortschritt und Aufbruch (ALFA) sogleich im 2016a: 69-73). Die Etablierung wird allerdings für Juli 2015 eine neue Partei. Was führte zu diesem in- die Funktionsweise eines Parteiensystems als negativ nerparteilichen Bruch? War es wirklich das Ergebnis erachtet, wenn die neue Partei sich selbst als Anti- einer innerparteilichen Radikalisierung, die zum System-Partei versteht, die Koalitionsbildung er- Austritt der Moderaten führte? Diesen Fragen soll schwert und ohne eine wirksame Steigerung der Re- hier anhand einer theoretisch-konzeptionell geleite- präsentationsqualität zur Polarisierung und mitunter ten dichten Beschreibung des Entwicklungsprozess sogar zur Destabilisierung beiträgt (Sartori 1976). der AfD bis hin zur Spaltung nach dem Essener Par- Im Fokus der politikwissenschaftlichen Debatte ste- teitag nachgegangen werden. hen Begriff und Definition des Wesens einer solchen Zunächst erfolgt eine ausführliche Auseinanderset- Anti-System-Partei. Sie findet im konkreten Fall der zung mit dem Populismusbegriff, der bei der öffentli- Diskussion über den ideologischen Charakter der AfD chen Debatte der AfD eine große Rolle spielt. Im vor- ihren Ausdruck darin, ob die AfD nun eine (rechts-)po- liegenden Beitrag wird argumentiert, dass Populismus pulistische Partei sei oder nicht (z.B. Arzheimer 2015; erst mit dem politikwissenschaftlichen Konzept der Berbuir/Lewandowsky/Siri 2015; Lewandowsky 2015). relationalen Anti-Systempartei seine spezifische Be- Durch die Fokussierung auf den Populismusbegriff deutung erfährt. Anschließend werden ausführlich die gerät gelegentlich die Bedeutung der Frage für die Geschichte und der Prozess hin zur Spaltung der AfD Wirkung auf das gesamte Parteiensystem aus dem nachgezeichnet. Dabei zeigt sich, dass schon im Ver- Blickfeld. Für die Funktion des Parteiensystems ist lauf des Jahres 2014 gesellschaftspolitisch liberale entscheidend, ob demokratische Flügelkoalitionen Kräfte die AfD schleichend verließen. Mit den ost- weiterhin möglich sind, oder ob de facto nur noch deutschen Landtagswahlen desselben Jahres und dem Zentrumskoalitionen der großen Parteien gebildet Aufkommen der PEGIDA-Bewegung eskalierte der werden können (Schmitt 2016; Schmitt/Franzmann Streit zwischen stärker auf Regierungsverantwortung 2016). Im letzteren Fall wäre der für die Funktions- und Wirtschaftsliberalismus orientierten Akteuren um weise einer Parteiendemokratie essentielle Mechanis- Lucke herum und einer grundsätzlichen Oppositions- mus der Regierung-Opposition-Auseinandersetzung orientierung. Letztere setzte sich dabei durch. und des potentiellen Wechsels bei Wahlen suspendiert (Franzmann 2016a). Populismus kann zu dieser Situa- Zur Konzeption von Anti-System-Partei und Popu- tion beitragen, wenn er sich in Form „unverantwortli- lismus cher Opposition“ (Sartori 1976) äußert. Er muss aber nicht zwangsläufig diese Wirkung haben. Mit „unver- Analysieren Politikwissenschaftler Ideologien, so antwortlicher Opposition“ ist hier gemeint, dass eine sind ihre Begriffe nicht exklusiv für die Wissen- Partei öffentliche Forderungen gegenüber der Regie- schaft kreiert. Das Verständnis von Alltagsdebatten rung aufstellt im Wissen, sich selbst niemals in der Regierung wiederzufinden und sich somit für die 1 Der Autor ist Akademischer Rat a.Z. am Institut für Sozial- Nicht-Erfüllbarkeit ihrer Forderungen gegenüber dem wissenschaften, Vergleichende Politikwissenschaft, Heinrich- Heine-Universität Düsseldorf, und PRuF-Fellow. Wähler nicht verantworten zu müssen (Sartori 1976).

23 Aufsätze Franzmann – Von AfD zu ALFA: Die Entwicklung zur Spaltung MIP 2016 22. Jhrg.

Wenn in der Öffentlichkeit über Anti-System-Partei- Abschnitt). Zum Zweiten ging es in der innerparteili- en diskutiert wird, wird häufig ein „absoluter“ Be- chen Auseinandersetzung um den Charakter als Op- griff zu Grunde gelegt. Für die politikwissenschaftli- positionspartei oder als (potentielle) Regierungspar- che Diskussion ist es sinnvoll, den Begriff der Anti- tei. Wer sich als potentielle Regierungspartei sieht, System-Partei präzise in zwei Dimensionen zu erfas- wird von sich aus versuchen, den Graben zu den üb- sen: (i) zum Ersten in einer Dimension der relationa- rigen Parteien und somit den (temporären) Anti-Sys- len Anti-System-Positionierung und (ii) zum Zweiten tem-Status zu überwinden. Das dritte Element der in einer Dimension der ideologischen Verortung als Definition einer relationalen Anti-System-Partei ist anti-demokratisch (Capoccia 2002). Eine relationale permanenter Teil der Debatte über die AfD und Anti-System-Partei kann dabei durchaus demokra- ALFA: die populistische Propagandataktik. tisch sein, aber trotzdem die Mechanik eines Partei- Nun ist Populismus innerhalb der Politikwissenschaft ensystems über eingeschränkte Möglichkeiten zur ein häufig genutztes, aber in der Detaildefinition um- Regierungsbildung negativ beeinträchtigen. Dies kämpftes Konzept. Ein Großteil der in der politikwis- wäre zwar nicht eine klassische „absolute“ Anti-Sys- senschaftlichen Literatur anzutreffenden Verwirrung tem-Partei, aber eine polarisierende relationale Anti- über den Populismusbegriff rührt daher, dass die einen System-Partei. Nach Capoccia (2002: 15) können über einen Kommunikationsstil reden, während ande- drei Charakteristika zur Kennzeichnung von relatio- re Populismus an sich als Ideologie betrachten (van naler Anti-System-Positionierung identifiziert wer- Kessel 2014). Wer populistisch kommuniziert, muss den: (1) eine hohe räumlich-ideologische Distanz der nicht zugleich auch einer populistischen Ideologie Wählerschaft gegenüber anderen Parteien; (2) gerin- anhängen. Wer aber dauernd populistisch kommuni- ges Koalitionspotential; (3) eine [populistische]2 ziert, kann als populistischer Akteur gekennzeichnet Propagandataktik mit dem Ziel, andere Wettbe- werden (van Kessel 2014: 112). Tatsächlich ist Po- werbsteilnehmer zu delegitimieren. Wir werden spä- pulismus gut geeignet, die beiden oben aufgeteilten ter sehen, dass die Auseinandersetzung über genau Dimensionen der Anti-System-Positionierung – rela- diesen relationalen Anti-Systemstatus die Triebfeder tionale Anti-System-Haltung und anti-demokratische für den innerparteilichen Konflikt und schließlich Ideologie – miteinander zu verbinden. Kommunikati- Spaltung der AfD war. Dabei standen zum Ersten die onsstil und Ideologie mögen dabei miteinander kor- Haltung zu PEGIDA und damit verbunden das respondieren, sie müssen es aber nicht.3 Auch wenn Selbstverständnis als eine Art „Widerstandsbewe- er in öffentlichen Debatten meist negativ konnotiert gung“ und Sprachrohr derjenigen, die sich von den ist, möchte ich den Populismusbegriff wertfrei ver- „Altparteien“ nicht mehr vertreten sahen, auf der wenden. Es geht zunächst schlicht um die Konstatie- Agenda (siehe folgender Abschnitt). Dies ist mit rung, ob Populismus vorliegt oder nicht. Innerhalb dem ersten Punkt einer räumlich-ideologischen Di- der Politikwissenschaft konkurrieren mehrere Populis- stanz gemeint – und diese kann räumlich und zeitlich musdefinitionen miteinander. Da eine Definition nicht variieren. Was zum Beispiel innerhalb Thüringens wahr oder falsch sein kann, sondern axiomatisch ge- und Sachsens ideologisch noch nicht weit von den setzt wird, möchte ich im Folgenden eine solche ver- übrigen Parteien entfernt erscheint, mag in der Ge- wenden, die mir am nützlichsten im Sinne der Her- samtbetrachtung der Bundesrepublik ein unüber- stellung von Trennschärfe gegenüber dem noch zu brückbarer Graben sein. Hier kommt der relationale klärenden Konzept des Extremismus und zur Integra- Charakter zum Tragen: Wer ideologisch zu weit von tion in die Betrachtung über Anti-System-Parteien den anderen politischen Akteuren entfernt ist, ist erscheint. Dabei differenziere ich zwischen Populis- selbst nicht gut ins politische System integriert. Dies mus als politischen Kommunikationsstil, Populismus macht sich nicht an einem bestimmten Politikinhalt als Komplementärideologie und Populismus als Voll- fest, sondern an den Positionen der unterschiedli- ideologie. Allgemein wird Populismus in Anlehnung chen Akteure. Was in den 1960er Jahren zum Bei- an Mudde (2004) sowie Mudde/Kaltwasser (2013: spiel in Hinblick auf Geschlechterrollen noch gerade 149-150) wie folgt definiert: akzeptabel als inhaltliche Position erschien, mag ein halbes Jahrhundert später als kaum noch integrati- „a thin-centred ideology that considers so- onsfähig angesehen werden (siehe auch folgender ciety to be ultimately separated into two homogeneous and antagonistic groups, 2 Capoccia (2002) selbst verwendet nicht den Begriff Populismus. 3 So lässt sich z.B. gut zeigen, dass Bernd Lucke als AfD-Bun- Er hält sich eng an Sartori (1976), der diesen Begriff auch noch dessprecher während des Bundestagswahlkampfes sich popu- nicht kannte. Die aktuell gängigen Konzepte von Populismus listischer Stilmittel bediente, während des Europawahlkamp- entsprechen aber sachlich den Ausführungen Capoccias. fes aber nicht (Franzmann 2016b).

24 MIP 2016 22. Jhrg. Franzmann – Von AfD zu ALFA: Die Entwicklung zur Spaltung Aufsätze

‘the pure people’ versus ‘the corrupt elite’, quasi zum Teil der Kernideologie. Diesem Verständ- and which argues that politics should be an nis nach würde ich z.B. die fundamentalistischen expression of the volonté générale (general Grünen der 1980er Jahre als Populisten kennzeich- will) of the people”. nen. Der Anti-Pluralismus orientiert sich hier nicht an der Feindschaftsdefinition gegenüber einer Klasse Zentral für die Identifikation eines populistischen Dis- (wie bei sozialistischen Populisten) oder der Rasse kurses sind entsprechend die folgenden drei Eigen- (wie bei Faschisten) oder der Nation (wie bei konser- schaften: (1) eine antagonistische Beziehung zwischen vativen Populisten), sondern am Lebensstil.5 Es gibt „dem Volk“ und „der Elite“, bei dem (2) „das Volk“ aber auch einige Ideologien, die im Kern logisch un- als homogene und gute Einheit wahrgenommen wird, vereinbar mit Populismus erscheinen, da sie eben während (3) „die Elite“ als moralisch verkommen den Antagonismus zwischen Volk und Elite aus- und als Gegner des „guten Volkes“ dargestellt wird, schließen und auf Kompromisse zwischen verschie- und deswegen (4) „die Elite“ als Schuldiger für eine denen gesellschaftlichen Gruppen ausgerichtet sind. tatsächliche oder vermeintliche aktuelle Krise darge- Dazu gehört in erster Linie die Christdemokratie stellt wird (Decker 2006; Jagers/Walgrave 2007; (vgl. Frey 2009), die Soziale Demokratie (Meyer Hawkins 2009; Mudde/Kaltwassser 2013; Rooduijn, 2011), der klassische Liberalismus im Sinne Mills de Lange, van der Brug 2014; Rooduijn 2014; Le- ([1969]1859) und der britische Konservatismus in wandowsky 2015). Unter einem populistischen der Tradition von Burke ([1968]1793). Der sich in Kommunikationsstil verstehe ich entsprechend eine einer orthodoxen Interpretation auf Carl Schmitt be- Argumentation, die in moralisierender Art und Wei- rufende Konservatismus hingegen ist auf Grund sei- se auf den Antagonismus zwischen „gutem“ Volk nes Freund-Feind-Politikverständnisses (vgl. Schmitt und „böser“ Elite abhebt. Der Gegenstand „des Vol- 1932) explizit offen für Populismus. Unter Populis- kes“ kann dabei variieren. Er kann sich auf Klassen- mus als komplementären Ideologiebestandteil ver- zugehörigkeit, Nation, Rasse oder Kultur gründen stehe ich nachfolgend eine Weltanschauung, die in- (Rooduijn/de Lange/van der Brug 2014: 564). nerhalb einer größeren Ideologie die eigene Partei In der Tradition von Mudde (2004) sehe ich Populis- als relationale Anti-System-Partei definiert. mus als keine „dicke“ Ideologie an: „Populism is Theoretisch ist nun durchaus denkbar, dass die „dün- moralistic rather than programmatic.“ (Mudde ne“, komplementäre Teilideologie verabsolutiert wird 2004: 544). Solche „dünnen“ Ideologien sind da- und jeder Bezug zu einer übergreifenden, komplexen durch gekennzeichnet, dass sie aus sich heraus keine „dicken“ Ideologie verloren geht. Dann ist die Welt- Antworten auf komplexe Phänomene wie die Her- anschauung einzig vom Antagonismus Volk-vs.-Elite ausforderungen des Sozialstaates geben (Freeden geprägt. Die Verschwörungstheorie ist zur Weltan- 1998: 750-751). Sie können leicht mit anderen Ideo- schauung geworden. Sie formuliert als Vollideologie logien kombiniert werden, die wiederum eine dichte keine wirklichen Antworten auf gesellschaftliche begriffliche Morphologie aufweisen (Mudde/Kalt- Probleme und führt die Existenz von Krisen und wasser 2013: 150-151). Dies gilt selbstverständlich Kriegen alleine auf die Elitenverschwörung zurück. auch für den Populismus. Populismus ist nach mei- Unter Populismus als Vollideologie verstehe ich im nem Verständnis eine nicht pluralistische Spielart Folgenden eine Ideologie, die einen Gegensatz zwi- (Mudde 2004: 544-545) innerhalb einer größeren schen „Volk“ und „Elite“ konstruiert, bestehende Ideologiefamilie. So kann es folgende ideologische gesellschaftliche Probleme auf eine Elitenverschwö- Ausprägungen geben: konservativ-populistisch, libe- rung zurückführt und den Willen des „Volks“ als ral-populistisch, sozialistisch-populistisch, ökolo- normativ für das politische Handeln setzt.“ Anhänger gisch-populistisch. Populismus ist dann in erster Li- eines solch einfachen Weltbildes blenden üblicher- nie eine Komplementärideologie.4 Solche ideolo- weise gegenläufige Informationen aus. Gegebenen- gisch komplementär-populistischen Parteien schlie- falls werden die Übermittler der dem Weltbild entge- ßen die kompromisshafte Verständigung mit anderen genstehender Fakten als Lügner und Teil der Ver- gesellschaftlichen wie politischen Akteuren grund- schwörung aufgefasst, etwa die Medien als „Lügen- sätzlich aus, lehnen daher die Regierungsverantwor- presse“ bezeichnet. Nur so lässt sich das Weltbild tung im Rahmen einer Koalitionsregierung ab und erheben den relationalen Anti-System-Charakter 5 Eine solche populistische Lebensstilorientierung weist eben- falls die populistische Interpretation des Wirtschaftsliberalis- 4 Den Begriff „Komplementärideologie“ als präzise Formulie- mus aus. Der soziale Status wird hier dann als direktes Ergeb- rung gegenüber „dünner Ideologie“ verdanke ich einem Hin- nis der persönlichen Lebensführung interpretiert bei Ausblen- weis von Oliver Franzmann. dung fast aller gesellschaftlichen Rahmenbedingungen.

25 Aufsätze Franzmann – Von AfD zu ALFA: Die Entwicklung zur Spaltung MIP 2016 22. Jhrg. aufrechterhalten. Die Weltverschwörung ist zur Welt- Bestandteile der Demokratie als Kriterium zu neh- anschauung geworden. men, um eine anti-demokratische Ideologie zu identi- fizieren. In Anlehnung an Collier und Levitsky Wer eine „dicke“ Ideologie hat, ist gegen Populis- (1997) sind dies (a) faire und freie Wahlen, (b) ein mus keineswegs „immun“ und kann sich durchaus umfassendes und gleiches Wahlrecht, (c) Wahlen als populistischer Kommunikationsstrategien bedienen. entscheidender Faktor zur Besetzung von Regie- Überlegungen zur Wählerstimmenmaximierung set- rungsämtern sowie (d) die effektive Durchsetzung zen dabei Anreize für politische Akteure, sich entge- von Bürgerrechten für die gesamte Bevölkerung. gen der eigenen Ursprungsideologie populistischer Stilmittel zu bedienen. Das Gründungskernthema Im Rahmen der Klassifizierung anti-demokratischer von AfD und ALFA, die Kritik am EURO und dem Ideologien kommen zwei weitere, in der Öffentlich- Stand der Europäischen Integration, eignet sich da- keit ebenfalls häufig diskutierte Konzepte zum Tra- bei besonders gut zur Verknüpfung mit Populismus gen: das Konzept des Radikalismus und das Konzept und zur Begründung einer relationalen Anti-System- des Extremismus. Beide sind grundsätzlich mit Po- Position: Es fordert Identitätskonflikte heraus, ist mit pulismus kombinierbar. So fasst Mudde (2007: 23-26) der EWWU eng in der Tagespolitik mit ökonomi- unter „populist radical right“ radikale Parteien als schen Themen verknüpft und kritisiert mit der EU solche auf, die stets gegen die Werte der liberal-de- institutionell ein partiell demokratiedefizitäres mokratische Grundordnung opponieren. Radikale Mehrebenensystem (Decker/Lewandowsky 2012: Gegner der liberalen Demokratie opponieren gegen 276-277). Somit können real vorhandene, kaum auf- politisch-gesellschaftlichen Pluralismus und den lösbare Widersprüche der politischen Realität aufge- Schutz von Minderheiten (Mudde 2007: 25). Solche nommen und populistisch zugespitzt werden (Kalt- Radikale können auf der linken wie rechten Seite des wasser 2014). Der Trick der populistischen Rhetorik politischen Spektrums angesiedelt sein. Dies macht ist es nun, die handelnden Akteure für die nicht auf- deutlich, dass Radikalismus erst in Verbindung mit lösbaren Widersprüche moralisch verantwortlich zu einem anderen Konzept, dem Extremismus, seine machen. Diese vereinfachende, moralisierende Zu- spezifische Bedeutung erfährt. Unter Extremismus spitzung reduziert wiederum das Koalitionspotential möchte ich schlicht die Positionierung auf der Links- und erhöht potentiell die Distanz zur übrigen Wäh- Rechts-Dimension fassen. Nimmt eine Person, eine lerschaft, kurz: Je nach thematischer Konstellation Partei eine extreme Links-Rechts-Position ein? Dabei löst die Verwendung populistischer Stilmittel eine ist der Grad des Extremismus durch das (extreme) Sogwirkung in Richtung einer relationalen Anti-Sys- Ausmaß der gewünschten Veränderung des gesell- tem-Positionierung aus. Manche kommunikativen schaftlichen und politischen Status Quo definiert. Akte, die vordergründig eine populistische Ideologie Unter Links wird dabei das Streben nach einer Ver- zum Ausdruck bringen, sind in Wirklichkeit nur änderung des Status Quo nach mehr Gleichheit, un- „rhetorisch“, also eigentlich schein-populistisch, ter rechts das Streben der Veränderung des Status nämlich so wie eine „rhetorische Frage“ ihrer Funk- Quo nach mehr Ungleichheit definiert (vgl. Bobbio tion nach keine echte Frage ist, sondern die Antwort 1994). „Rechtsextrem“ ist dann eine im Vergleich eigentlich schon klar ist, man verwendet dieses Stil- zum Status Quo und den Wettbewerbern extreme mittel, um emotional getriebene Unterstützung her- Befürwortung von Ungleichheit, „linksextrem“ eine zustellen. Selbstverständlich kann der Antrieb aber extreme Befürwortung der Herstellung von Gleich- auch eine komplementär-ideologische Spielart einer heit. Antidemokratisch ist dieses Streben dann, wenn großen Ideologie sein sowie eines vollständig popu- einer der vier definitorischen Minimalbestandteile listischen Weltbildes. Die Eigenverortung als relatio- der Demokratie auf Basis einer radikalen Ideologie nale Anti-System-Partei ist dabei ein wichtiger Hin- abgelehnt wird. Entsprechend sind „rechtspopulisti- weis, wenn auch kein Beweis, dass die populistische sche“ Parteien ohne das Adjektiv radikal oder ex- Rhetorik einer zumindest komplementär-ideologi- trem schlicht Parteien, die einer komplementär-popu- schen Sichtweise entspringt. In der späteren Detail- listischen Ideologie anhängen, deren übergeordnete analyse des Entwicklungsprozesses der AfD wird Kernideologie eine Veränderung des Status Quo hin deutlich werden, dass sich diese Dreiteilung gut an- zur mehr Ungleichheit befürwortet. Dies kann eine wenden lässt. konservativ-populistische oder eine wirtschaftslibe- ral-populistische Ausrichtung sein. Denkbar ist auch Wann ist nun eine Ideologie als anti-demokratisch zu eine Abgrenzung gegenüber kulturellen Außensei- kennzeichnen? Capoccia (2002: 19-20; 26) schlägt tern als Begründung von Ungleichheit (Berbuir et al vor, die Ablehnung eines der minimaldefinitorischen 2015: 157).

26 MIP 2016 22. Jhrg. Franzmann – Von AfD zu ALFA: Die Entwicklung zur Spaltung Aufsätze

Der Kampf um den Anti-System-Charakter und „Wir müssen unsere Wähler auf der die programmatische Bedeutung des Wirtschaftsli- Grundlage einer erkennbaren christlichen beralismus: Die Entwicklung der AfD bis zur Orientierung mit Botschaften zur Leitkul- Gründung von ALFA tur, zur Bedeutung von Bindung und Frei- heit, zur Familie, zum Lebensschutz und Gerade in den Anfangsmonaten war die ideologische zum Patriotismus ansprechen.“6 Einordnung der AfD umstritten. Die programmatische Dominanz der Eurokritik ließ die AfD zunächst als Insbesondere der Mitverfasser und damalige hessische national-konservative Partei erscheinen (Niedermayer Landtagsfraktionsvorsitzende Christean Wagner be- 2015: 190). Lewandowsky (2015: 125) vertritt hinge- mühte sich in den folgenden Jahren um die Etablie- gen bei einer synoptischen Auswertung eines Litera- rung des Berliner Kreises innerhalb der CDU. Dieser turberichtes die Auffassung, dass die AfD „relativ Kreis versteht sich als Organisation der Konservativen eindeutig als populistisch“ bezeichnet werden könne. innerhalb der CDU.7 Soweit wäre noch keine Partei- Vor zwei Jahren kam ich bei der Programmanalyse neugründung nötig gewesen. Als Katalysator für den der frisch gegründeten AfD hier an dieser Stelle zu Gründungsanlass dienten hingegen Merkels wider- einem etwas vorsichtigeren Schluss: sprüchliche Erklärungen am 25. März 2010: Sie ver- kündete morgens im Bundestag keine Finanzmittel „Die von der AfD besetzen Kernthemen ziehen ein für die Rettung Griechenland aufbringen zu wollen, bestimmtes Klientel an, das zuvor auch in extremisti- doch abends beschloss sie beim EU-Gipfel ein erstes schen und populistischen Parteien ihre Heimat sah Rettungspaket mit (Niedermayer 2015: 177). Die (Häusler 2013). Folglich zeichnet sich ab, dass (…) Kritik aus der deutschen Ökonomenzunft ließ nicht innerhalb der Parteigliederungen der AfD system- lange auf sich warten. Sie fürchteten aus ordnungs- kritische bis systemfeindliche Personengruppen ver- politischen Gründen ein Bail-Out Griechenlands und suchen, Fuß zu fassen, während auf der anderen Seite damit verbunden negative Anreize zur Verfolgung bürgerliche Kreise mit konservativer oder klassisch einer strikten Haushaltskonsolidierungspolitik. Der national-liberaler Einstellung eher spezifische Problem- Hamburger Volkswirtschaftsprofessor Lucke entwi- lösungsaspekte der Euro-Krise in den Vordergrund ckelte in der Folge schnell ein politisches Sendungs- stellen werden. (…) “ (Franzmann 2014: 122-123) bewusstsein. In einem Gastbeitrag in der FAZ kriti- Tatsächlich waren die Kandidaten der AfD zur Bun- sierte er insbesondere die CDU, dass sie mit ihrer Hal- destagswahl 2013 in ihrer Gesamtheit nicht sonder- tung zum EURO ihre wirtschaftspolitische Kompe- lich extrem positioniert (Jankowski et al 2016). Wir tenz verspiele.8 In Verbindung mit der schon abhan- sind nun 24 Monate weiter. Die eher technokratisch den gekommenen Kompetenz auf dem Feld konser- geprägten Personen mit konservativer und national- vativer Gesellschaftspolitik sah er die CDU und so- liberaler Einstellung sind überwiegend von der AfD mit das gesamte deutsche Parteiensystem vor großen zu ALFA gewechselt. Im Moment (Februar 2016) Herausforderungen. In gewisser Weise warnte er scheint innerhalb der AfD weiterhin der rechte Flügel hier vor den Dingen, die er später selbst anstoßen im Aufwind. Zentral zum Verständnis der Entstehung, sollte (Franzmann 2014). Lucke trat aus der CDU aus Entwicklung und schließlich Spaltung der AfD ist die und begründete im September 2012 unter anderem Unterscheidung von Gründungsanlass und Gründungs- zusammen mit den konservativen Publizisten Konrad ursache (Franzmann 2014). Gründungsanlass für die Adam und die „Wahlalternative AfD war die EURO-Krise. Die Gründungsursache 2013“. Sowohl Adam als auch Gauland waren zuvor lag hingegen in einer generellen Unzufriedenheit vor Mitglieder des „Berliner Kreises“ in der CDU gewe- allem konservativer Persönlichkeiten mit der Politik sen. Schon wenige Monate vor Luckes Gastbeitrag der christlichen-liberalen Koalition und der Amts- in der FAZ beklagte Gauland in einem Kommentar führung Merkels während der vorangegangenen für die Tageszeitung „Die Welt“: „Mit großen Koalition (2005-2009). Schon kurz nach der für die CDU erfolgreichen (!) Bundestagswahl 2009 äußerte sich der Unmut öffentlich. In einem Gastbei- 6 Steffen Flath, , Christean Wagner und Mike trag für die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung Mohring: „Mehr Profil wagen“, Frankfurter Allgemeine kritisierten die CDU-Landtagsfraktionsvorsitzenden Sonntagszeitung vom 10.1.2010. 7 Hessens, Sachsens und Thüringens sowie die stell- Siehe die entsprechende Eigencharakterisierung auf der Home- page des Berliner Kreises: www.berlinerkreisinderunion.de/ vertretende Landtagsfraktionsvorsitzende Branden- (zuletzt abgerufen am 7.2.2016). burgs die Amtsführung Merkels sowie das aus ihrer 8 Lucke, Bernd (2011): Euro-Retter auf der falschen Spur. Sicht zu geringe konservative Profil ihrer Partei: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 10. Juni 2011, S. 10.

27 Aufsätze Franzmann – Von AfD zu ALFA: Die Entwicklung zur Spaltung MIP 2016 22. Jhrg. hat die CDU ihre Seele verloren.“9 Gaulands Antrieb wanger.15 Hinzu kamen wohl programmatische Dif- war dabei weniger die EURO-Krise, die er in seinem ferenzen bezüglich der finanziellen Ausstattung der Beitrag nur kurz erwähnt. Vielmehr trieben ihn klas- Kommunen und der Energiepolitik.16 Aiwanger war sisch konservative Themen um, wie die Abschaffung nicht dazu bereit, die FW primär als Teil eines bun- der Wehrpflicht, der Ausstieg aus der Atomkraft, die desweiten bürgerlichen Anti-Euroblocks aufzustel- Schwächung des Gymnasiums und die Frauenquote, len.17 Aus dieser Enttäuschung heraus beschlossen aber auch der Umgang Merkels mit der Plagiatsaffäre Lucke, Gauland und Adam mit einigen anderen Mit- um den ehemaligen Verteidigungsminister von Gutten- streitern im Februar 2013 die Gründung einer eige- berg. Sein Beitrag endet trotz seiner damals noch an- nen Partei. So kam es im April 2013 zum Grün- dauernden CDU-Mitgliedschaft praktisch mit einem dungsparteitag der AfD in Berlin. Im Gegensatz zu Scheidungswort: „Wenn Angela Merkel das Bundes- vielen anderen Parteineugründungen konnte sie da- kanzleramt verlassen muss, werde ich symbolisch am bei auf eine gute Ressourcenausstattung und eine Wagenschlag stehen. Bedauerlich nur, dass dann auch überraschend gut funktionierende Organisations- die Union Geschichte sein wird.“10 Gauland arbeitete struktur zurückgreifen (Niedermayer 2015: 183-184). zu diesem Zeitpunkt an der Etablierung des Berliner Thematisch profitierte sie davon, mit ihrer Kritik an Kreises mit. In den Folgemonaten wurde jedoch deut- der Euro-Rettungspolitik ein programmatisches Allein- lich, dass die CDU-Führung nicht gewillt war, die In- stellungsmerkmal gegenüber den etablierten Parteien stitutionalisierung eines konservativen Flügels inner- einnehmen zu können (Schmitt-Beck 2014). Ihre halb der Partei zu akzeptieren. Sowohl der CDU-Frak- Wählerschaft kam von fast allen Parteien, insbeson- tionsvorsitzende Kauder11 als auch der CDU-General- dere aber von der FDP.18 sekretär Gröhe12 machten dies öffentlich deutlich. Nach der Bundestagswahl stand mit den Europawah- Die Wahlalternative 2013 unterstütze Gauland zu- len im Frühjahr 2014 die nächste Herausforderung nächst nur passiv. Im Gegensatz zu früheren Äuße- für die junge Partei an. Hier zeigte sich schnell, dass rungen bekannte er sich nun bei ihrer Gründung im sich jenseits der Gründungselite neue Strömungen September 2012 zur EURO-Politik als entscheiden- innerhalb der Partei Gehör verschaffen wollten. Als des Thema für seinen Beschluss: „Ich sehe in der Strömungen zeichneten sich ein national-konservati- CDU nicht die Möglichkeit, das Thema voranzubrin- ver und ein liberal-konservativer Flügel ab. Die Bun- gen, um das es geht, nämlich die Geldrettung und desgeschäftsführer Hansel und Pazderski versuchten, nicht die Eurorettung".13 Die Wahlalternative suchte befeuert von einer Umfrage des Institutes INSA, eine zunächst die Zusammenarbeit mit den Freien Wäh- restriktivere Asyl- und Einwanderungspolitik auf die lern und strebte diese auch für die Bundestagswahlen Agenda zu setzen (AfD PM 19.2.2014). an. Allerdings kam es nur bei der niedersächsischen Die im parteiinternen Vergleich liberalen Aktiven Landtagswahl zu diesem Bündnis zwischen Wahlal- sammelten sich in der Gruppe „Kolibri“ – den Kon- ternative 2013 und Freien Wählern. Lucke war hier servativen und Liberalen der AfD. Obwohl Ende Ja- auf Listenplatz 3 platziert.14 Zusammen erlangten sie nuar beim Aufstellungsparteitag zur Europawahl noch 1,1%. Lucke zeigte sich enttäuscht über organisatori- einmal Einigkeit hergestellt werden konnte, verschärf- sche Unzulänglichkeiten und die mangelnde Wahl- ten sich in der Folge die innerparteilichen Auseinan- kampfunterstützung durch den FW-Vorsitzenden Ai- dersetzungen drastisch. Kristallisationspunkt waren

15 9 DIE WELT vom 23.06.2011, www.welt.de/debatte/article1344 www.cicero.de/berliner-republik/frei-waehler-unfrei-freie-wae 6426/MitAngelaMerkelhatdieCDUihreSeeleverloren.Html, hler/55711, zuletzt abgerufen am 7.2.2016. zuletzt abgerufen am 30.01.2016. 16 Aiwanger in einem Interview mit der WELT vom 24.3.2013, 10 Quelle siehe vorherige Fußnote. www.welt.de/politik/article114730641/Grossteil-des-Geldes- fuer-das-wir-buergen-ist-weg.html, zuletzt abgerufen am 11 Welt Online vom 12.12.2011, www.welt.de/politik/deutschland/ 15.2.2016. article13763925/Der-misslungene-Coup-der-CDU-Konservati 17 ven.html, zuletzt abgerufen am 7.2.2016. Interessanterweise So Stephan Wehrhahn in einem Interview mit der Welt am wird in diesem Zeitungsartikel Alexander Gauland wie folgt 30.3.2013, www.welt.de/politik/deutschland/article114875983/ zitiert: „Es geht nicht um die Gründung einer neuen Partei“. Ich-wollte-mich-fuer-Aiwanger-nicht-verheizen-lassen.html, zuletzt abgerufen am 15.2.2016. 12 ZEIT Online vom 8.2.2012, zuletzt abgerufen am 7.2.2016. 18 Eine Schätzung von infratest dimap bezifferte die absolute An- 13 Zitiert zitiert nach: DIE Welt vom 4.10.2012, www.welt.de/po zahl der Wechsler von FDP zu AfD auf ca. 430.000, 340.000 litik/deutschland/article109606449/EnttaeuschteCDUPolitiker von den LINKEN, 290.000 von der Union, 210.000 von den gruendenWahlalternative.html, zuletzt abgerufen am 30.1.2016. Nichtwählern, 180.000 von der SPD und 90.000 von den Grü- 14 www.n-tv.de/politik/Eurokritiker-planen-den-Aufstand-article nen (https://wahl.tagesschau.de/wahlen/2013-09-22-BT-DE/a 9626296.html, zuletzt abgerufen am 7.2.2016. nalyse-wanderung.shtml, zuletzt abgerufen am 7.2.2016).

28 MIP 2016 22. Jhrg. Franzmann – Von AfD zu ALFA: Die Entwicklung zur Spaltung Aufsätze die unterschiedlichen Auffassungen darüber, welche (Franzmann 2016b). Diagramm 119 fasst diese Ergeb- Fraktionsmitgliedschaft die AfD im EP anstreben nisse zusammen. Dabei dominiert bei Verwendung sollte. Parteisprecher Bernd Lucke favorisierte dabei populistischer Stilmittel die Verwendung allgemei- eine Zusammenarbeit vor allem mit den britischen ner populistischer Verweise aufs „gute“ Volk als Konservativen in der EKR (Europäische Konservati- Antagonismus zur herrschenden Elite. Die Kritik an ve und Reformer), während zum Beispiel der nord- den „Altparteien“ nimmt einen deutlich geringeren rhein-westfälische Landesvorsitzende Marcus Pret- Stellenwert ein. Dies ist insofern bemerkenswert, zell eine stärkere Anbindung an die britische UKIP weil Parteineugründungen durchaus zugestanden oder gar eine Mitgliedschaft in einer der Fraktionen werden kann, eine solche vergleichsweise undiffe- entweder mit der französischen Front National oder renzierte Kritik des etablierten Parteiensystems in der britischen UKIP favorisierte. Offenkundig wurde der Euphorie der Parteineugründung zu äußern. Die diese Auseinandersetzung nur wenige Tage nach AfD hat sich im Bundestagswahlkampf verglichen dem Europaparteitag der AfD Ende März 2014. In mit ihrem eigenen Europawahlkampf eindeutig in Köln sprach auf Einladung der AfD Jugendorganisa- viel stärkerem Maße populistischer Stilmittel bedient. tion „Junge Alternative“ (JA) der UKIP Parteivorsit- Die meisten dieser Pressemitteilungen stammen von zende Nigel Farage. Bernd Lucke positionierte sich Parteisprecher Bernd Lucke selbst. Entgegen seiner klar gegen eine solche Zusammenarbeit und distan- durchaus fundierten Eurokritik und vermutlich nicht zierte sich von der Einladung (Herkenhoff 2016: beabsichtigen Transformation der AfD war er es 203). Auf den ersten Blick setzte sich Lucke durch. selbst, der die populistischen Geister innerhalb der Das Europawahlprogramm der AfD wurde von der AfD geweckt hat (Franzmann 2016b).20

Politikwissenschaft allgemein als moderat eingestuft 19 Das Diagramm 1 zeigt den Prozentanteil an Pressemitteilungen (Arzheimer 2015). Eine ausführliche Analyse der mit populistischen Stilmitteln und undifferenzierter Kritik aller Pressemitteilungen der AfD in Hinblick auf die Ver- übrigen Parteien. Der linke Balken stellt die Anteilssumme die- wendung populistischer Stilmittel offenbart ferner ser Stilmittel dar. Der mittlere Balken repräsentiert, ob nach der obigen Kerndefinition ein Antagonismus zwischen Volk und ein interessantes Muster: Während die AfD im Zuge Elite hervorgehoben wird, wobei die AfD sich sinngemäß als des Bundestagswahlkampfes durchaus auf populisti- Anwalt des guten, einheitlichen Volkswillen gegenüber einer sche Stilmittel zurückgriff, verschwinden diese aus moralisch verkommenden Elite darstellt. Der rechte Balken den AfD-Pressemitteilungen fast vollkommen mit symbolisiert den Anteil undifferenzierter Parteienkritik. Eintritt in die heiße Phase des Europawahlkampfes 20 Hierfür sprechen auch Auswertungen von über 3000 parteiinter- nen E-Mails von Bernd Lucke durch DER SPIEGEL Online (www.spiegel.de/politik/deutschland/afd-und-lucke-spiegel-w ertete-interne-afd-e-mails-aus-a-1013592.html, veröffentlicht 18.1.2015, zuletzt abgerufen am 7.2.2016)

29 Aufsätze Franzmann – Von AfD zu ALFA: Die Entwicklung zur Spaltung MIP 2016 22. Jhrg.

Der Verzicht auf populistische Stilmittel ab März programmes ist derzeit für April 2016 angesetzt – ur- 2014 kann als Ergebnis der innerparteilichen Ausein- sprünglich sollte dies schon im Herbst 2015 gesche- andersetzung mit den stärker rechten und populisti- hen. Die Leitlinien wurden im ersten Entwurf vom schen Kräften innerhalb der Partei gewertet werden. AfD-Vorstand erarbeitet und mittels einer Mitglie- Das programmatische Signal bezüglich der innerpar- derbefragung diskutiert. Sie offenbarte in einigen teilichen Flügel war stellenweise widersprüchlich. wenigen Fragen eine innerparteiliche Spaltung. Dies Zum einen trat die Kolibri-Führungsfigur Dagmar war vor allem die Frage zur Westbindung, der nur Metzger von ihrem Amt als Pressesprecherin zurück. 50,1% der Befragten zustimmten.23 Auch in der Fa- Dies war sicherlich Ausdruck der Schwäche der eher milienpolitik zeigte sich die Partei in Fragen der Ehe konservativ-liberalen Positionen innerhalb der Partei. und Abtreibung gespalten. Bezüglich der Einwande- Der national-konservative, spätere Lebensgefährte von rung plädierte ein Großteil der AfD Mitglieder dafür, , Marcus Pretzell, rückte als Beisitzer in dass Deutschland als Einwanderungsland eine ge- den Vorstand auf. Ferner scheiterte Bernd Lucke mit setzlich geregelte Zuwanderung bräuchte. 34,5% der einem Vorschlag für eine Satzungsreform, die darauf Umfrageteilnehmer lehnten dies ab.24 In dem Vor- abzielte, ihn zum alleinigen Parteivorsitzenden zu wort zu den Leitlinien nimmt Bernd Lucke zum ers- wählen. Er forderte damit massiven Protest innerhalb ten Mal offiziell eine klare Verortung der AfD als der AfD heraus und trug somit zum Zusammenschluss bürgerlich-konservative Partei vor: seiner innerparteilichen Gegner bei. Zum anderen „Mit den Politischen Leitlinien beschreiben konnte aber Hans-Olaf Henkel als Parteivize gewon- wir nicht nur, wogegen wir sind, sondern nen werden. Mit Gustav Greve und Ursula Braun- wir zeigen vor allem, wofür wir eintreten. Moser rückten zwei ehemalige CDU-Politiker in den Die AfD ist keine Protestpartei, die sich Vorstand, die eher für wirtschaftsliberale Positionen auflöst, wenn der Gegenstand des Protestes standen. Die ebenfalls in den Vorstand aufrückende erledigt ist. Die AfD gibt der bürgerlich- Verena Brüdigam ließ sich schwer zuordnen, verließ konservativen Mehrheit in Deutschland aber im Juli 2015 die AfD. Noch vor der Wahl zum eine Stimme.“ (AfD Leitlinien). EP gründete sich aus dem Kreis konservativ-liberaler AfD-Mitglieder die Liberale Vereinigung. Ihr Ziel ist Die Leitlinien führen 20 einzelne Punkte an, denen die überparteiliche Zusammenarbeit liberaler, euro- eine Präambel vorangesetzt ist. Interessanterweise kritischer Kräfte, was effektiv in einer Vereinigung bezeichnet sich die AfD hier zuvorderst als „Rechts- ehemaliger AfDler mit beim Mitgliederentscheid un- staatspartei“ (Seite 6, AfD Leitlinien). Sie stellt hier terlegenen FDP-Mitgliedern mündete. Viele von ih- direkt einen Bezug zur Gleichstellungspolitik her nen verließen in den Folgemonaten die AfD.21 Das ge- und betont die Ablehnung von Geschlechterquoten. sellschaftlich-konservative Profil hatte Lucke in den Sie betont hier eindeutig ihr gesellschaftspolitisch- Vormonaten selbst geschärft und somit gesellschafts- konservatives Profil. Unter Punkt 2 kritisiert die AfD politisch konservativ-liberale Mitglieder verprellt. Mit die „überbürokratische Bevormundung“ durch den seinen kritischen Statements zum Outing des ehema- Staat und verweist unter anderen auf Gesundheits-, ligen Fußballnationalspielers Hitzelsperger legte er Sozial- sowie Asyl- und Zuwanderungsgesetzgebung die AfD auf ein traditionelles Familien- und Ge- (ebd.). Punkt 3 thematisiert die Kriminalitätsbekämp- schlechterrollenverständnis fest.22 Der Beschluss der fung. Erst unter Punkt 8 wird die Europäische Union Politischen Leitlinien im Mai 2014 offenbarte weite- unter dem Gesichtspunkt der Wahrung der Subsidia- re interessante Details. Die Leitlinien gaben der AfD rität diskutiert. Was für eine bemerkenswerte Verän- ein vorläufiges Grundsatzprogramm, dessen Diskus- derung der programmatischen Prioritätensetzung! sion bei Abfassung dieses Beitrags noch nicht abge- Nur auf den ersten Blick wird dieser Befund durch schlossen war. Der Beschluss des AfD-Grundsatz- die Präambel relativiert. Hier erfolgt ein klarer Be- zug zur Eurokrise. Allerdings wird die Eurokrise vor 21 ZEIT Online vom 27.5.2014, www.zeit.de/politik/deutschland /201405/Afdspaltungaustritt, zuletzt abgerufen am 2.2.2016. allem als Kristallationspunkt zahlreicher politischer 22 Bernd Lucke in seiner „Richtigstellung der Berichterstattung und gesellschaftlicher Fehlentwicklungen, die nicht über meine Äußerungen zum Fall Hitzlsperger“ vom 22.1. 2014: direkt mit dem EURO zu tun haben, diskutiert. Dane- „Ich habe gesagt, dass Hitzlsperger Mut zur Wahrheit bewie- ben finden sich aber auch die klassischen kritischen sen hätte, wenn er sein Coming Out damit verbunden hätte, auch die Bedeutung von Ehe und Familie zu würdigen, weil 23 diese Verfallserscheinungen aufweisen, die ungern themati- Tagesspiegel Online vom 23. April 2014, www.tagesspiegel.de siert werden.“, abrufbar (zuletzt am 20.2.2016 überprüft) unter /politik/mitgliederbefragungafdsiehtdeutschlandalseinwander www.alternativefuer.de/2014/01/22/richtigstellung-der-berich ungsland/9795512.html, zuletzt abgerufen am 28.1.2016. terstattung-ueber-meine-aeusserungen-zum-fall-hitzlsperger/ 24 Quelle siehe vorherige Fußnote.

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Analysen der EURO-Rettungspolitik und der Ent- genutzt werden25. Als wahrer Brandbeschleuniger der wicklung der EU im Besonderen. Mit dem Beschluss Flügelauseinandersetzung diente das Aufkommen von der Leitlinien verbreiterte die AfD nicht nur ihre Pro- PEGIDA. Die Auseinandersetzung über die AfD-Po- grammatik, sondern sie versetzte das ursprüngliche sitionierung zu PEGIDA vertiefte die Spaltung zwi- Kernthema des EURO in die zweite Reihe. Im Kon- schen den ost- und westdeutschen Landesverbänden. trast dazu widmen sich der Wahlkampf sowie das Der zuvor bei der Landtagswahl in er- Europawahlprogramm weiterhin primär dem Euro- folgreiche Parteivizesprecher Alexander Gauland äu- thema (Zittlau 2014). In Wahlkampfreden wurde die ßert sich positiv zu PEGIDA und verkündet sogar of- Eurokrise eher zur Begründung innenpolitischer Po- fiziell, dass die AfD die natürliche PEGIDA-Partei sitionen genutzt (Pieper/Haussner/Kaeding 2015), sei (Vorländer/Herold/Schäller 2016: 40). Dagegen während im Europawahlprogramm der ökonomische distanzierte sich innerparteilich als erstes der damali- Bezug der Eurokritik vergleichsweise hoch war (Le- ge Bundesvizevorsitzende Hans-Olaf Henkel deut- wandowsky 2016: 42). Gewählt wurde die AfD lich von PEGIDA, woraufhin Bernd Lucke zunächst durchaus für ihre europapolitische Agenda (Wagner/ medial versuchte eine vermittelnde Position einzu- Lewandowsky/Giebler 2015). Das Europawahlpro- nehmen (ebd.). Frauke Petry hingegen forderte in ei- gramm war retrospektiv betrachtet ein wenig irrefüh- ner Pressemitteilung den Rücktritt von Justizminister rend bezüglich der künftigen thematischen Schwer- Maas auf Grund seiner Kritik an PEGIDA (Petry, punkte der AfD. Die Leitlinien dokumentieren somit PM 15.12.2014). Gauland (PM 23.12.2014) legte als nicht nur die Themenverbreiterung der AfD, sondern Replik gegenüber der Aufforderung von Altkanzler auch und vor allem den ersten Schritt ihrer Themen- Schröder, PEGIDA einen Aufstand der Anständigen verlagerung. Sie stellen im Wesentlichen ein Be- entgegenzusetzen, nach: „Kaum eine Demonstration kenntnis zum Rechtsstaat, dem Grundgesetz und zu ist in der letzten Zeit friedlicher, gewaltfreier und an- der Notwendigkeit zur Kriminalitätsbekämpfung dar. ständiger verlaufen als jene von Pegida.“ Nach den Auch findet sich das im Mitgliederentscheid knapp Anschlägen auf Charly Hebdo bekannte Gauland im bestätigte Bekenntnis zur Westbindung wieder. Januar 2015 in einer weiteren Pressemitteilung: „Vor diesem Hintergrund erhalten die Forderungen von Die programmatische Auseinandersetzung innerhalb Pegida besondere Aktualität und Gewicht. Die Alt- der AfD verlagerte sich nach der EP-Wahl auf eine parteien sollten sich sehr gut überlegen, ob sie bei Auseinandersetzung von Wirtschaftsliberalen, die im ihrer Haltung, die Menschen von Pegida weiterhin Vergleich zur Gesamtbevölkerung auch konservative zu diffamieren, bleiben wollen.“ (Gauland, PM 7. Ja- Positionen in der Gesellschaftspolitik vertraten, mit nuar 2015). Nur einen Tag später bemühte sich Lucke klassischen sowie nationalen Konservativen, die das um ein differenziertes Pressestatement zu Charly Primat des Ökonomischen bezweifelten. Die Land- Hebdo. Er (Lucke, PM 8. Januar 2015) mahnte, die tagswahlen in Brandenburg und Sachsen im Oktober „Gewalttat zweier Extremisten nicht einer ganzen Re- 2014 führten zu einer Stärkung der ostdeutschen ligionsgemeinschaft“ anzulasten. Henkel (PM 8. Janu- Landesverbände. Inhaltlich ging dieser Erfolg mit ei- ar 2015) äußerte sich ähnlich: „Anstatt schweigend ner national-konservativen innenpolitischen Agenda gegen die vermeintliche Islamisierung des Abendlan- und einer Abkehr von den europapolitischen Themen des zu protestieren, sollten wir über die massiven einher (Lewandowsky 2015: 127). Schon bei den Menschenrechtsverletzungen im Namen des Islam AfD-Kandidaten für die Bundestagswahl 2013 zeigte diskutieren und gegen diese Widerstand leisten.“ sich ein Ost-West-Muster in dem Sinne, dass die ost- Gauland hingegen positionierte sich in den Folgeta- deutschen Kandidaten deutlich autoritärere Einstel- gen mit Kritik an den Sozialdemokraten Oppermann lungen aufwiesen als die westdeutschen Kandidaten und Maas auch weiterhin als PEGIDA-Verteidiger (Jankowski et al. 2016). Die ostdeutschen Wahlsie- (Gauland, PM 9. & 12. Januar 2015). Die verhärtete ger Gauland, Höcke und Petry setzen nun öffentlich Flügelauseinandersetzung zeigte sich anschließend vernehmbarer als zuvor die Bundesgeschäftsführung sowohl beim AfD Bundesparteitag in Bremen im Ja- im Februar das Asyl- und Einwanderungsthema auf nuar 2015 als auch bei den Wahlkämpfen in Bremen die Agenda (AfD PM 2.10.2014). Die gewachsene innerparteiliche Stärke der Konservativen zeigte sich 25 Frankfurter Rundschau Online vom 10.11.2014, www.fronline. auch bei den vorstandsinternen Diskussionen um die de/politik/parteienrechtegewinnenaneinflussinderafd,1472596 Gestaltung der Programmatik bis zur Bundestags- ,29007790.html, zuletzt abgerufen am 2.2.2016. Umstritten ist wahl 2017. Asylpolitik und innere Sicherheit, die allerdings, inwieweit dies tatsächlich schon als ein „Sieg“ des schon in den Leitlinien einen erhöhten Stellenwert national-konservativen Flügels zu werten ist – oder ob es ein- fach Ausdruck eines konservativen, flügelübergreifenden eingenommen hatte, sollten verstärkt zur Profilierung Konsenses war.

31 Aufsätze Franzmann – Von AfD zu ALFA: Die Entwicklung zur Spaltung MIP 2016 22. Jhrg. und Hamburg. Lucke bekräftigte im Januar 2015 sei- Vor allem die beiden Bundessprecher Petry und nen Willen, die Partei alleine als Sprecher zu führen. Adam sowie Vizevorsitzender Gauland nahmen dar- Laut Pressemitteilung des Bundesvorstandes vom an Anstoß und geißelten den Wahlkampf als zu wirt- 16. Januar wurde dieser Vorschlag von „Bernd Lucke, schaftsliberal und zu wenig am national-konservativen Frauke Petry, Konrad Adam, Hans-Olaf Henkel und Wählerkern orientiert.27 Einen neuen öffentlich sicht- Alexander Gauland erarbeitet“ (AfD, PM 16.1.2015). baren Höhepunkt erreichte die innerparteiliche Aus- Auf dem Bremer Parteitag führte Lucke dann die einandersetzung schon im März. Lucke setzte die mangelnde Professionalität innerhalb der bisherigen Beurlaubung des national-konservativen Bundesge- Führung als Begründung an. Dies forderte zwangs- schäftsführers Georg Pazderski mit 7:4 im Bundesvor- läufig seine Mitsprecherin Frauke Petry sowie Partei- stand durch. Laut Medienberichten stimmten Petry, sprecher Konrad Adam heraus. Der damalige Vize- Adam, Gauland und Diefenbach gegen die Beurlau- vorsitzende Hans-Olaf Henkel äußerte später in ei- bung.28 Wenige Tage später veröffentlichte der thü- nem Zeitungsinterview, dass tatsächlich der Kampf ringische Landeschef Björn Höcke zusammen mit gegen rechtsextreme Strömungen das treibende Mo- dem AfD-Vorsitzenden aus Sachsen-Anhalt, André tiv hinter dem Streben nach der alleinigen Parteifüh- Poggenburg, die „Erfurter Resolution“ mit dem Auf- rung stand.26 Petry begann nun, entgegen der zuerst ruf einen Flügel innerhalb der AfD mit stark natio- signalisierten Unterstützung, selbst die Führung für nal-konservativer Färbung zu etablieren. Die Resolu- sich zu beanspruchen. Bei der auf dem Bremer Par- tion erfreute sich der Unterstützung von Alexander teitag weiter vorangetriebenen Programmdiskussion Gauland, während Frauke Petry nicht offiziell unter- wurde deutlich, dass sich die AfD wie im November schrieb. Laut der Erfurter Resolution habe die AfD 2014 vom Parteivorstand beschlossen klar gegen Is- „Mitglieder verprellt und verstoßen, […], sich von lamismus und islamische Staaten äußerte. Ferner bürgerlichen Protestbewegungen ferngehalten […] trachtete sie nach der Themenführerschaft in den im Hamburger Wahlkampf auf die Unterstützung der Themen innere Sicherheit und Asylpolitik. Weiterhin Wahlsieger aus Thüringen, Brandenburg und Sach- hatten sich in einer Mitgliederbefragung zuvor 98% sen […] verzichtet“. Hier wird die Auseinanderset- der Teilnehmer für eine Auflösung des Eurogebietes zung um PEGIDA und die Wahlkampfführung als ausgesprochen (AfD, PM 23. Januar 2015). Trotz der Anlass direkt erwähnt. In der Erfurter Resolution scheinbaren Kompromisse des Bremer Parteitages wird auch die angestrebte Ausrichtung der AfD ver- wurde im Rahmen der Hamburger Bürgerschafts- deutlicht. Die Erfurter Resolution bezeichnet die wahlen der Riss durch den Parteivorstand nun auch AfD unter anderem „als Bewegung unseres Volkes öffentlich unübersehbar. In Hamburg betrieb der Lan- gegen die Gesellschaftsexperimente der letzten Jahr- desvorsitzende Jörn Kruse einen moderaten, stark auf zehnte (Gender Mainstreaming, Multikulturalismus, wirtschaftspolitische Themen sowie auf den EURO Erziehungsbeliebigkeit usf.)“ sowie „als Wider- fokussierten Wahlkampf. Er verzichtete explizit auf standsbewegung gegen die weitere Aushöhlung der die Unterstützung der ostdeutschen Landesverbände Souveränität und der Identität Deutschlands“. Die und national-konservativer Vorstandsmitglieder. In AfD drohe zu technokratisch zu werden. Die Ant- einer gemeinsam mit Hans-Olaf Henkel verfassten wort erfolgte nur wenige Tage später in Form der so Pressemitteilung unterstrich Kruse das Ziel, in Ham- genannten Deutschland-Resolution. Als Initiatoren burg mit einem liberalen Kurs in einer liberalen fungierten die heutigen ALFA-Mitglieder Starbatty, Stadt einen AfD-Wahlerfolg einzufahren: Kölmel, Trebesius und Henkel. Sie betonten die Not- wendigkeit von „Sachkompetenz, Realitätssinn und „Es geht aber auch darum, zu zeigen, dass Überzeugungskraft“ für eine erfolgreiche AfD, wen- die AfD in einer liberalen, weltoffenen den sich gegen die ideologische Vereinnahmung der Stadt erfolgreich sein kann. Die Signal- Partei durch den rechten Flügel und bekennen wirkung nach außen wäre: „Die AfD ist schließlich: „Wir wollen die Partei des gesunden auch im Westen Deutschlands angekom- men!“; die nach innen: „Die AfD kann 27 Welt Online am 15.2.2015, www.welt.de/politik/deutschland/ auch mit einer liberalen Einstellung und article137485286/PetryattackiertdieAfDWahlkaempferinHam mit Betonung auf die Bedürfnisse des burg.Html, zuletzt abgerufen am 28.1.2016. Mittelstandes erfolgreich sein!“ (AfD, 28 Spiegel Online vom 3.3.2015, www.spiegel.de/politik/deutsch PM 9. Februar 2015). land/afd-georg-pazderski-soll-als-bundesgeschaeftsfuehrer-ge hen-a-1021477.html, sowie Die WELT Online: www.spiegel. 26 ZEIT Online vom 30.12.2015, www.zeit.de/2015/51/hans-olaf de/politik/deutschland/afd-georg-pazderski-soll-als-bundesge -henkel-afd-hamburg-buehnenredner-kampf, zuletzt abgerufen schaeftsfuehrer-gehen-a-1021477.htmlvom 3. März 2015, je- am 2.2.2016. weils zuletzt abgerufen am 30. Januar 2016.

32 MIP 2016 22. Jhrg. Franzmann – Von AfD zu ALFA: Die Entwicklung zur Spaltung Aufsätze

Menschenverstandes bleiben. Deshalb unterstützen 2015). In Bremen entzündete sich der Streit über den wir klar die politische Linie von Bernd Lucke und Umgang mit der Gruppierung Bürger in Wut (BiW): Frauke Petry.“ Die inhaltliche Auseinandersetzung Während Schäfer eine Strategie der strikten Abgren- über die programmatische Priorität des Wirtschaftsli- zung favorisierte, betonte Petry medial die inhaltli- beralismus trat mit diesen beiden Resolutionen of- chen Schnittmengen.30 Wenige Tage nach der Bremer fenkundig in den Hintergrund. Es ging nun vielmehr Bürgerschaftswahl wurden schließlich in Thüringen sowohl um eine Stilfrage als auch um das Selbstver- drei Unterzeichner der Deutschlandresolution aus der ständnis der AfD als Anti-System-Partei. Die „Erfur- Landtagsfraktion ausgeschlossen31 (Tagesspiegel, 13. ter Resolution“ entspricht dabei in ihrer Eigendefini- Mai 2015). Adam und Petry spekulierten öffentlich tion als „Widerstandsbewegung“ praktisch idealty- über einen Austritt Luckes aus der AfD.32 Am 18. pisch der obigen politikwissenschaftlichen Definiti- Mai 2015 erfolgte schließlich auf Initiative Bernd on einer relationalen Anti-System-Partei. Die Unter- Luckes die Gründung des Vereins „Weckruf 2015“. zeichner der Deutschlandresolution widersprechen Der Aufruf versucht austrittswillige Mitglieder zum dieser Anti-System-Haltung. Ungeachtet der Hervor- Verbleib in der AfD zu überreden. Er richtet sich hebung von Frauke Petry distanzierte Petry sich von eindeutig gegen einen möglichen (relationalen) Anti- der Deutschlandresolution. In einem Interview mit System-Kurs der AfD: der BILD (26. März 2015) betonte sie, dass die AfD „Deshalb kann die AfD nicht erfolgreich „ein kritischer Stachel im System der etablierten Par- sein, wenn manche Führungspersonen teien“ sei (ebd.)29, was sie allerdings selbst nicht als weiterhin versuchen, die politischen Systemkritik versteht. Ihre folgenden Ausführungen Ränder aufzuweichen und auch radikale weisen aber exakt auf die politikwissenschaftliche Kräfte integrieren wollen, die grundsätz- Definition einer relationalen Anti-Systempartei: lich systemkritisch, fundamental-opposi- „Der Richtungsstreit tobt vielmehr zwi- tionell und nationalistisch daherkom- schen jenen, die weiter als Oppositions- men. […] Die AfD muss eine unideolo- kraft wehtun wollen und denen, die jetzt gische, sachlich und konstruktiv arbei- schon alles dran setzen, die bessere Re- tende Volkspartei für die Mitte der Ge- gierungspartei zu werden.“ sellschaft bleiben.“33 Innerhalb des Vorstandes fand zudem eine Untersu- Interessanterweise wird ferner ein direkter Appell an chung zum Finanzgebaren des EP-Abgeordneten Frauke Petry formuliert, sich dem „Weckruf 2015“ Marcus Pretzell statt. Die Folgenlosigkeit dieser Un- anzuschließen. Der Verein würde nämlich die „ba- tersuchung veranlasste Hans-Olaf Henkel zum Rück- sisdemokratisch beschlossenen Positionen der AfD tritt von seinem Vorstandposten. In einer ungewöhn- [vertreten]: Das Bundestagswahlprogramm, das Eu- lich offenen Pressemitteilung des AfD Bundesvor- ropawahlprogramm und die politischen Leitlinien“. standes begründete Henkel seinen Schritt unter ande- Petry hingegen lehnte jede Zusammenarbeit ab. Als rem mit der auffälligen Intervention einer Vorstands- Reaktion kündigte Petry vielmehr eine Kampfkandi- kollegin zugunsten Pretzells (AfD, PM 23. April 2015). datur um den Parteivorsitz gegen Lucke an. Der Ver- Während des Bürgerschaftswahlkampfes in Bremen wiederholten sich mit leicht veränderten Vorzeichen 30 ZEIT Online vom 9. Mai 2015, www.zeit.de/politik/deutsch land/201505/bremenbuergerschaftswahlafd/, zuletzt abgerufen die Ereignisse des Hamburger Wahlkampfes. Wieder am 29.1.2016. Der Bundesvorstand würdigte übrigens den verzichtete der Landesverband auf Hilfe der ostdeut- Einzug in der Bremer Bürgerschaft nicht mit einer gesonder- schen Landesverbände. Das Wahlprogramm formu- ten Stellungnahme. Dies mag als Indiz gewertet werden, dass lierte Bildung als prioritäres Thema und favorisierte die Auseinandersetzung im Vorstand so eskaliert war, dass eine konservative Familienpolitik, die sich kritisch andere Dinge als der Wahlerfolg wichtiger erschienen. 31 mit „Gender Mainstreaming“ auseinandersetzt (AfD Tagesspiel vom 13. Mai 2015, www.tagesspiegel.de/politik/af d-thueringen-stellt-abgeordnete-kalt-bjoern-hoecke-unsere-pa Bremen Wahlprogramm, S. 3 & S. 11). Im konkreten rtei-ist-noch-in-der-pubertaet/11774660.html , zuletzt abgeru- Wahlkampf orientierte sich der Bremer Vorsitzende fen am 29.1.2016. Christian Schäfer aber durchaus an Themen der inne- 32 Frankfurter Rundschau Online vom 17. Mai 2015, www.fron- ren Sicherheit (z.B. AfD, PM 13. April 2015 & 16. April line.de/politik/afdrechterfluegelzaehltluckean, 1472596,30716 176.html, zuletzt abgerufen am 29.1.2016. 29 Das Interview ist auch online abrufbar (zuletzt überprüft am 33 Die Seite www.weckruf2015.de war bei Redaktionsschluss 30. Januar 2016): www.bild.de/politik/inland/alternative-fuer- nicht mehr online. Der genaue Wortlaut des Gründungsauf- deutschland/petry-verlangt-treueschwur-von-lucke-40304718. rufs kann derzeit (7.2.2016) noch hier abgerufen werden: bild.html. bernd-lucke.de/weckruf-2015/.

33 Aufsätze Franzmann – Von AfD zu ALFA: Die Entwicklung zur Spaltung MIP 2016 22. Jhrg. ein „Weckruf 2015“ wurde im Juni als unvereinbar setzt wurde, bei einem stillen Einverständnis in ein mit der Satzung der AfD erklärt. Als Begründung konservatives gesellschaftspolitisches Programm. wurde angeführt, dass Weckruf Richtungsentschei- Als dann mit dem Erstarken der national-konservativ dungen für die Partei treffen wolle, die aber satzungs- orientierten ostdeutschen Landesverbände und dem gemäß dem Bundesvorstand und dem Bundesparteitag Aufkommen der PEGIDA-Bewegung die innerpar- vorbehalten seien.34 Bei der Kampfabstimmung auf teiliche Auseinandersetzung sich ihrem Höhepunkt dem Essener Parteitag wurde Petry mit 60% der näherte, waren die Personen um Lucke herum längst Stimmen zur Sprecherin gewählt. Co-Bundesspre- nicht mehr Vertreter der Parteimitte. Es fehlte cher wurde Jörg Meuthen. Als Fachhochschuldozent schlicht links von ihnen ein schlagkräftiger konser- für Volkswirtschaftslehre repräsentiert er seitdem den vativ-liberaler Flügel. Allerdings gab es den inner- vor allem auf Eurokritik hin orientierten, eher techno- halb der AfD von Anfang an nicht. Die mediale Fo- kratisch-bürgerlichen Flügel an der AfD-Parteispitze kussierung auf Bernd Lucke und dem Anti-Euro- (Häusler 2016: 242). In einer internen Abstimmung Thema ließ aus dem Blick verlieren, dass der EURO votierten nach dem Essener Parteitag über 70% der nur Gründungsanlass, aber nicht Gründungsursache Weckruf-Mitglieder für die Bildung einer neuen Par- war (vgl. Franzmann 2014). Im Gründungsvorstand der tei. In der Folge trat Lucke aus der AfD aus und AfD dominerten eindeutig mit Frauke Petry, Konrad gründete zusammen mit anderen Vertretern des wirt- Adam und vor allem Alexander Gauland Vertreter schafsliberalen Flügels die Partei „Allianz für Auf- des späteren national-konservativen AfD-Flügels. bruch und Fortschritt“ (ALFA). Die EP-Abgeordne- Der im März 2014 erweiterte Vorstand rekrutiert ten Starbatty, Kölmel, Trebesius und Henkel folgten sich zusätzlich aus Personen, die nach dem Essener ihm. Das Gründungsprogramm von ALFA nimmt da- Parteitag der AfD nicht mehr angehören sollten. Es bei eine etwas konservativere Position als die Union waren aber überwiegend dezidiert konservative und ein (siehe in diesem Heft Franzmann 2016c). nicht liberale Persönlichkeiten, die dazu stießen. Nicht übersehen werden darf, dass die Gründungsur- Diskussion sache der AfD im Kern immer eine Unzufriedenheit mit der fehlenden konservativen Ausrichtung der Inwiefern war der innerparteiliche Bruch von An- CDU war. Die Eurokrise schuf schlicht ein Gelegen- fang an in der AfD angelegt? Der Entwicklungspro- heitsfenster zur Parteigründung (Decker 2016: 14). zess der AfD gibt hier einige interessante Einblicke. Sie spielte temporär der AfD Stimmen unzufriedener Den Bruch zwischen den Freien Wählern und der Liberaler nach der FDP-internen Mitgliederentschei- Wahlalternative 2013 begründete Lucke ähnlich wie dung zur Stützung der Regierungspolitik in der Euro- sein Streben nach dem alleinigen Sprecheramt bei krise zu. Aber sie war im Kern nie eine liberale, son- der AfD. Er führte wieder in erster Linie organisato- dern eine konservative Angelegenheit. Die Begriffs- rische Probleme an, beklagte aber auch eine unzurei- wahl war von Beginn an parteispaltenden Vorbildern chende Fokussierung auf währungs- und wirtschafts- orientiert. „Die Wahlalternative“35 war im Jahr 2004 politische Themen. Dabei hat Lucke durchaus den ein Instrument, um den SPD-internen Protest gegen gesellschaftspolitischen konservativen Kurs der AfD die Agenda-Politik Schröders zu organisieren und zu unterstützt. Den schleichenden Verlust der konserva- einer Parteigründung zu führen. Ein Schelm wer tiv-liberal orientierten Mitglieder im Verlauf des glauben konnte, dass bei dieser Begriffsgleichheit Jahres 2014 konnte oder wollte er nicht aufhalten. die „Wahlalternative 2013“ etwas anderes vorhatte, Im Nachhinein betrachtet war aber genau der Verlust als spiegelbildlich im bürgerlichen Lager eine Ab- des von Anfang an kleinen konservativ-liberalen Flü- spaltung zur Union zu etablieren wie es zuvor der gels entscheidend für die Niederlage des wirtschafts- WASG gelungen war. Ihr Bestreben konnte daher politischen Flügels gegenüber dem national-konser- mehrheitlich nur eine konservative Agenda sein. Der vativen Flügel. Die AfD war nun gesellschafts- EURO war nur der temporäre Anlass, der inhaltlich politisch eindeutig konservativer als die Union auf- ganz verschiedene inhaltliche Strömungen zusam- gestellt. Es fehlten konservativ-liberale Argumente menschweißte. gegen die national-konservative Ausrichtung ebenso wie natürlich die Stimmen dieser Mitglieder. Da- Der innerparteiliche Bruch der AfD als Konsequenz durch wurde es möglich, dass in den parteiinternen des Essener Parteitages ist neben einer programmati- Debatten „liberal“ mit „wirtschaftsliberal“ gleichge- schen Auseinandersetzung über die Bedeutung des Freihandels und des Wirtschaftsliberalismus vor allem 34 ZEIT Online vom 23. Juni 2015, www.zeit.de/politik/deutsch land/2015-06/afd-bernd-lucke-weckruf-2015-gescheitert, zu- 35 Arbeit & soziale Gerechtigkeit – Die Wahlalternative (WASG) letzt abgerufen am 29. 1 2016. fusionierte 2007 mit der PDS zur Partei „Die Linke“.

34 MIP 2016 22. Jhrg. Franzmann – Von AfD zu ALFA: Die Entwicklung zur Spaltung Aufsätze auf die Frage, inwieweit sich die AfD als relationale wicklung und politische Verortung. Wiesbaden: Anti-Systempartei ohne Regierungsambitionen ver- Springer VS, S. 7-24. steht oder nicht, zurückzuführen. Mit dem Aufkom- Decker, Frank und Marcel Lewandowsky (2012): men der PEGIDA-Bewegung und den starken Land- Die rechtspopulistische Parteienfamilie. In: Uwe Jun tagswahlergebnissen der ostdeutschen Landesverbän- und Benjamin Höhne (Hrsg.): Parteienfamilien. de ließ sich diese Frage nicht mehr von der innerpar- Identitätsbestimmend oder nur noch Etikett? Opla- teilichen Agenda nehmen. Im Nachhinein erscheint den: Barbara Budrich, 268-281. der Bruch fast unvermeidlich. Der moderatere Flügel innerhalb der AfD war dabei in Folge des schon im Franzmann, Simon T. (2014): Die Wahlprogrammatik Vorjahr erfolgten Exodus der konservativ-liberalen der AfD in vergleichender Perspektive. In: MIP Jg. 20, Kräfte hoffnungslos unterlegen. Die um Lucke orga- Düsseldorf, 115-124. nisierten Ökonomen waren somit im Endeffekt die Franzmann, Simon T. (2016a): Opposition und bürgerlich-moderaten Türöffner für die Etablierung Staat. Zur Grundlegung der Parteiendemokratie. In: einer national-konservativen, populistischen Partei Sebastian Bukow, Uwe Jun und Oskar Niedermayer innerhalb des deutschen Parteiensystems.36 (Hrsg.) Parteien in Staat und Gesellschaft Zum Ver- hältnis von Parteienstaat und Parteiendemokratie, im Literatur Erscheinen. Art, David (2011): Inside the Radical Right. Cam- Franzmann, Simon T. (2016b): How Lucke calls the bridge: Cambridge University Press. ghost of populism. The tactical and the strategic Arzheimer, Kai (2015): The AfD: Finally a Success- Agenda of the German AfD. Manuskript Düsseldorf. ful Right-Wing Populist Eurosceptic Party for Ger- Franzmann, Simon T. (2016c): Die Programmatik many? In: West European Politics 38 (3), 535-556. von ALFA in Abgrenzung zur AfD: Droht Deutsch- Berbuir, Nicole et al. (2015): The AfD and its Sym- land eine Spirale des Populismus? In: MIP Jg. 22, pathisers: Finally a Right-Wing Populist Movement Düsseldorf, 38-51. in ? In: German Politics 24 (2), 154-178. Freeden, Michael (1998): Is Nationalism a distinc Bobbio, Norberto (1994): Rechts und Links. Gründe ideology? In Political Studies XLVI, S. 748-765. und Bedeutungen einer politischen Unterscheidung. Frey, Timotheus (2009): Die Christdemokratie in Berlin. Westeuropa: der schmale Grat zum Erfolg. Baden- Burke, Edmund [1793] 1968: Betrachtungen über Baden: Nomos. die Französische Revolution. Aus dem Englischen Hawkins, Kirk A. (2009): Is Chávez Populist? Meas- übertragen von Friedrich Gentz. Zürich: Manesse uring Populist Discourse in Comparative Perspective. Verlag. Comparative Political Studies 42 (8), 1040-1067. Capoccia, Giovanni (2002): Anti-System Parties. A Häusler, Alexander et al. (2013): Die „Alternative Conceptual Reassesment. Journal of Theoretical Pol- für Deutschland“ – eine neue rechtspopulistische itics 14 (1), 9-35. Partei? Materialien und Deutungen zur vertiefenden Collier, David und Steven Levitsky (1997): Democ- Auseinandersetzung. Düsseldorf: Heinrich-Böll-Stif- racy with adjectives: Conceptual innovation in com- tung Nordrhein-Westfalen. parative research. World Politics 49 (03), 430-451. Häusler, Alexander (2016): Die Alternative für Decker, Frank (2006): Die populistische Herausfor- Deutschland. Programmatik, Entwicklung und politi- derung. Theoretische und ländervergleichende Per- sche Verortung. Wiesbaden: Springer VS. spektiven. In: ders. (Hrsg.): Populismus. Gefahr für Herkenhoff, Anna-Lena (2016): Rechter Nachwuchs die Demokratie oder nützliches Korrektiv? Wiesba- für die AfD–die Junge Alternative (JA). Die Alterna- den: Springer VS., S. 33-58. tive für Deutschland. In: Alexander Häusler (Hrsg.): Decker, Frank (2016): Die » Alternative für Die Alternative für Deutschland. Programmatik, Ent- Deutschland « aus der vergleichenden Sicht der Par- wicklung und politische Verortung. Wiesbaden: teienforschung, In: Alexander Häusler (Hrsg.): Die Springer VS, 201-217. Alternative für Deutschland. Programmatik, Ent- Jagers, Jan und Stefaan Walgrave (2007): Populism 36 Vgl. hierzu auch die Argumentation bei Art (2011). Arzheimer as Political Communication Style: An Empirical Stu- (2015) wies schon zuvor darauf hin, dass Arts Theorie der dy of Political Parties’ Discourse in Belgium. Euro- moderaten Türöffner zur Legitimation radikalerer Positionen pean Journal of Political Research 46 (3), 319-345. bei der AfD bestätigt werden könnte.

35 Aufsätze Franzmann – Von AfD zu ALFA: Die Entwicklung zur Spaltung MIP 2016 22. Jhrg.

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36 MIP 2016 22. Jhrg. Franzmann – Von AfD zu ALFA: Die Entwicklung zur Spaltung Aufsätze

Weckruf 2015 (18.5.2015): bernd-lucke.de/weckruf- f-auf-unsere-grundwerte/ (zuletzt abgerufen am 2015/ (zuletzt abgerufen am 17.2.2016). 17.2.2016). Pressemitteilungen Gauland, PM (9.1.2015): Gauland: Parteipolitisch motiviertes Gezänk ist jetzt fehl am Platze. www.alte AfD, PM (19.2.2014): Bundesgeschäftsführung: Bri- rnativefuer.de/2015/01/09/gauland-parteipolitisch-m santes Ergebnis: Die absolute Mehrheit der Deut- otiviertes-gezaenk-ist-jetzt-fehl-platze/ (zuletzt abge- schen wünscht mehr Kontrolle in Sachen Zuwande- rufen am 17.2.2016). rung. www.presseportal.de/pm/110332/2668810 (zu- letzt abgerufen am 17.2.2016). Gauland, PM (12.1.2015): Gauland: Maas repräsen- tiert nicht, er spaltet. www.alternativefuer.de/2015/ AfD, PM (2.10.2014): AfD: Mit dem beschleunigten 01/12/gauland-maas-repraesentiert-nicht-er-spaltet/ Bau von Heimen ist dauerhaft niemandem geholfen, (zuletzt abgerufen am 17.2.2016). www.alternativefuer.de/2014/10/02/afd-mit-dem-bes chleunigten-bau-von-heimen-ist-dauerhaft-niemande Henkel, PM (8.1.2015): Henkel fordert Aufklärung m-geholfen/ (zuletzt abgerufen am 17.2.2016). über und Widerstand gegen Auswüchse des Islam, www.alternativefuer.de/2015/01/08/henkel-fordert-a AfD, PM (16.1.2015): AfD-Spitze einigt sich auf ufklaerung-ueber-und-widerstand-gegen-auswuechse Vorschlag zur neuen Führungsstruktur, www.alterna -des-islam/ (zuletzt abgerufen am 17.2.2016). tivefuer.de/2015/01/16/afd-spitze-einigt-sich-auf-vor schlag-zur-neuen-fuehrungsstruktur/ (zuletzt abgeru- Lucke, PM (8.1.2015): Lucke: Die Gewalttat zweier fen am 17.2.2016). Extremisten nicht einer ganzen Religionsgemein- schaft anlasten. www.alternativefuer.de/2015/01/08/ AfD, PM (23.1.2015): 98 Prozent der AfD-Mitglie- lucke-die-gewalttat-zweier-extremisten-nicht-einer-g der für Eurokritik als Kernthema. www.alternative anzen-religionsgemeinschaft-anlasten/ (zuletzt abge- fuer.de/2015/01/23/98-prozent-der-afd-mitglieder-fu rufen am 17.2.2016). er-eurokritik-als-kernthema/ (zuletzt abgerufen am 17.02.2016). Petry, PM (15.12.2014): Petry: Maas als Justizminister vollständig disqualifiziert. www.alternativefuer.de/ AfD, PM (9.2.2015): Konrad Adam verlangt Famili- 2014/12/15/petry-maas-als-justizminister-vollstaendi enleistungsausgleich. www.alternativefuer.de/2015/02 g-disqualifiziert/ (zuletzt abgerufen am 17.2.2016). /06/konrad-adam-verlangt-familienleistungsausgleich/ (zuletzt abgerufen am 17.2.2016). AfD, PM (13.4.2015): Schäfer: Polizei stärken, Ku- scheljustiz beenden! www.alternativefuer.de/2015/ 04/13/schaefer-polizei-staerken-kuscheljustiz-been den/ (zuletzt abgerufen am 17.2.2016). AfD, PM (16.4.2015): Schäfer: Union offenbart In- kompetenz in Sachen Einwanderung. www.alternative fuer.de/2015/04/16/schaefer-union-offenbart-inkom petenz-sachen-einwanderung/ (zuletzt abgerufen am 17.2.2016). AfD, PM (23.4.2015): Hans-Olaf Henkel zieht sich aus dem Bundesvorstand der AfD zurück. www.alter nativefuer.de/2015/04/24/hans-olaf-henkel-zieht-sich -aus-dem-bundesvorstand-der-afd-zurueck/ (zuletzt abgerufen am 17.2.2016). Gauland, PM (23.12.2014): Gauland: Altparteien stehen für Politikversagen und Indifferenz. www.alte rnativefuer.de/2014/12/23/gauland-altparteien-stehen -fuer-politikversagen-und-indifferenz/ (zuletzt abge- rufen am 17.2.2016). Gauland, PM (7.1.2015): Gauland: Anschlag in Paris ist Angriff auf unsere Grundwerte. www.alternative fuer.de/2015/01/07/gauland-anschlag-paris-ist-angrif

37 Aufsätze Franzmann – Die Programmatik von ALFA in Abgrenzung zur AfD: Droht Deutschland eine Spirale des Populismus? MIP 2016 22. Jhrg.

Die Programmatik von ALFA in Abgrenzung servative Spielart des Thatcherismus charakterisiert zur AfD: Droht Deutschland eine Spirale werden. Die Auswertung der Pressemitteilungen der des Populismus? AfD bis Sommer 2015 offenbaren, dass die AfD eine zunehmend extrem rechte Position auf dem Links-

1 Rechts-Spektrum eingenommen hat – also schon vor Dr. Simon Tobias Franzmann der Spaltung. Das am 27. Februar 2016 beschlossene Grundsatzprogramm von ALFA ist im Gegensatz zum Gründungsprogramm nicht vollkommen frei von po- Einleitung pulistischen Argumenten. Die Folgen für das deut- Mit der Spaltung der AfD im Nachgang des Essener sche Parteiensystem sind durch eine dreifache Her- Parteitags hat sich neben der AfD mit ALFA eine ausforderung charakterisiert. ALFA etabliert auf eu- weitere Partei mit Repräsentanten auf Landes- und ropäischer Ebene einen auf vorgeblicher oder tat- Europaebene etabliert. ALFA gehören unter anderem sächlicher Wirtschaftskompetenz beruhenden Anti- fünf der vormals sieben AfD-Europaparlamentarier EURO-Diskurs. Zwar nicht auf nationalstaatlicher, an. Bemerkenswerterweise ist ALFA damit mit eben- aber auf europäischer Ebene nimmt ALFA eine er- so vielen Abgeordneten im Europaparlament (EP) klärtermaßen relationale Anti-System-Position ein.3 vertreten wie die bayrische CSU und vor der FDP Ähnlich wie zuvor als „Ökonomenflügel“ innerhalb fünftstärkste deutsche Kraft im EP. Unter den aktuell der AfD legitimieren sie somit einen Anti-System- wohl 3000 Parteimitgliedern2 befindet sich auch ein Diskurs. Die AfD wiederum erscheint in der Folge Teil der neu gewählten Abgeordneten der Bremer mit ihrer auch auf nationalstaatlicher Ebene verfolg- Bürgerschaft. Bemerkenswerterweise wechselte prak- ten Anti-System-Diskurs nicht mehr so extrem. Zu- tisch der gesamte ehemalige wissenschaftliche Beirat dem kann sie auf die radikalere PEGIDA-Bewegung der AfD hinüber zu ALFA. Obwohl zunächst auf verweisen, gegenüber der sie wiederum moderater Grund der Spaltung der AfD keine große Zukunfts- erscheint. Umgekehrt kann PEGIDA auf die AfD aussicht bescheinigt wurde, erlebte die AfD im An- und ALFA verweisen, die auf jeweils anderen Ebe- schluss einen enormen Aufstieg bei den Umfragen. nen einen relationalen Anti-Systemdiskurs betreiben. Dies kann im Wesentlichen auf die frühzeitige Be- Der Beitrag schließt mit der Empfehlung, dass die setzung der Themenfelder Migration und Flüchtlinge der Idee des Meinungspluralismus anhängenden eta- zurückgeführt werden. Die Neugründung ALFA hin- blierten Parteien die Begründung ihrer Programmatik gegen schaffte es bislang in der medialen Aufmerk- und ihrer auf Kompromiss ausgerichteten Ideologie samkeit trotz der fünf Europaparlamentarier kaum offensiver vertreten sollten. Kurz: Mehr Programma- über ein Nischendasein hinaus. In den Meinungsum- tik wagen! fragen wird sie nicht gesondert aufgeführt. Ist ALFA trotz der Europaparlamentsfraktion wirklich eine ALFA in Abgrenzung zur AfD vernachlässigbare Größe? Und inwieweit ist ALFA Die Spaltungs- und Entwicklungsgeschichte der AfD schlicht eine Neuauflage der AfD-Gründung mit Fo- hin zu ALFA wird in diesen MIP im vorherigen Bei- kus auf den EURO? In diesem Beitrag möchte ich trag ausführlich dargestellt. Hier sollen nur kurz die diesen Frage nachgehen. Auf Basis einer quantitati- für die Programmatik relevanten Verbindungslinien ven Inhaltsanalyse von AfD-Pressemitteilungen und dargestellt werden. ALFA ging personell aus dem dem Gründungsprogramm von ALFA diskutiere ich Beschluss des Vereins „Weckruf 2015“ hervor. Er zunächst, inwieweit die Programmatik zwischen bei- hatte sich im Rahmen der personellen und inhaltlichen den Parteien vergleichbar ist. Dabei zeigt sich, dass Auseinandersetzung im Frühjahr 2015 gegründet. Der ALFA im internationalen Vergleich sich als liberal- Verein Weckruf 2015 berief sich explizit in seiner konservative Partei darstellt, während sie in einer Programmatik auf die Politischen Leitlinien sowie das räumlichen Analyse des deutschen Parteiensystems Europa- und Bundestagswahlprogramm. Daher sollte konservativer als Union und FDP positioniert ist. Die es nicht erstaunen, wenn das ALFA-Gründungspro- Programmatik von ALFA könnte dabei als eine kon- gramm hier große Schnittmengen aufweisen würde. 1 Der Autor ist Akademischer Rat a.Z. am Institut für Sozial- Tatsächlich warf die AfD ALFA vor, ein program- wissenschaften, Vergleichende Politikwissenschaft, Heinrich- matisches Plagiat vorgelegt zu haben. Dieser Vor- Heine-Universität Düsseldorf, und PRuF-Fellow. wurf bezog sich aber nicht auf die schon veröffent- 2 So Bernd Lucke am 2.2.2016 in einem Interview mit der Tages- lichten Dokumente, sondern auf Passagen zum Islam zeitung Augsburger Allgemeine: www.augsburgerallgemeine.de/ politik/ExParteichefLuckeattackiertAfDEinehaesslichePolitik 3 Zur Klärung der Begrifflichkeit siehe den vorherigen Beitrag id36802747.html. von Franzmann, MIP 2016, S. 23 ff. (in diesem Heft).

38 MIP 2016 22. Jhrg. Franzmann – Die Programmatik von ALFA in Abgrenzung zur AfD: Droht Deutschland eine Spirale des Populismus? Aufsätze aus der AfD-Grundsatzprogrammkommission.4 An- bach, Charles Blankart sowie Roland Vaubel. Neu dererseits betonten Lucke und Henkel bei der Grün- dabei ist Ulrich van Suntum, Volkswirtschaftsprofes- dung von ALFA, sich dezidiert von der AfD abgren- sor in Münster. Van Suntum war zuvor nicht bei der zen zu wollen. Wie passt das zusammen? Tatsächlich AfD aktiv und somit der einzige wirkliche „Neue“ in ist das ALFA-Gründungsprogramm beides: ein Ab- dem wissenschaftlichen Beirat. Er „ersetzt“ in ge- grenzungsprogramm und ein in Stellen wortgleiches wisser Weise den ALFA-Europaabgeordneten Joa- Programm verglichen mit früheren AfD-Programm- chim Starbatty, der zuvor auch Mitglied des wissen- dokumenten. Die hohe Übereinstimmung zu den of- schaftlichen Beirates der AfD war. An programmati- fiziellen AfD-Dokumenten kann dabei kaum überra- schen Dokumenten hat ALFA bislang das bei der schen. Zum einen ist die aktuelle ALFA-Spitze zuvor Gründung am 19.7.2015 in Kassel vorlegte Partei- maßgeblich bei der Formulierung der offiziellen AfD- programm sowie ein gesondertes Konzept zur Asyl- Programmatik gewesen. Somit finden sich hier of- politik vorgelegt. Die vorliegende Analyse wird sich fenkundig Eigenplagiate, gegen die die AfD auch im Wesentlichen auf das Gründungsprogramm kon- nicht vorgehen wollte. Zum anderen verlor die AfD zentrieren. Weitere Dokumente wie das Asylkonzept auf dem Essener Parteitag ihren Programmkommissi- und Pressemitteilungen zu programmatischen Stand- onsvorsitzenden Gustav Greve.5 Der hatte sich schon punkten werden ergänzend zur Einschätzung heran- zuvor medial darüber beklagt, dass die AfD-Landes- gezogen. Schließlich wurde noch kursorisch das am verbände Thüringen, Sachsen-Anhalt sowie die Person 27. Februar beschlossene neue Parteiprogramm von Alexander Gauland sich nicht in den offiziellen Pro- ALFA berücksichtigt. Eine Integration in die spätere grammprozess einbringen würden, aber von außen räumliche Analyse war auf Grund des Redaktions- Forderungen stellten.6 Greve wollte die AfD program- schlusses der MIP nicht mehr möglich. Tatsächlich matisch regierungsfähig machen und lehnte eine radi- ergibt die Berücksichtigung des neuen Programms kale Oppositionsrolle und somit die Positionierung als noch wertvolle zusätzliche Informationen. relationale Anti-Systempartei ab.7 Innerhalb der AfD wurde der Programmprozess von , Die Programmatik von ALFA und ihre Einord- und übernommen. nung ins deutsche Parteiensystem Alle drei stehen für einen klar national-konservati- ven Kurs. Insofern wird spannend sein, das voraus- Dem ALFA-Gründungsprogramm ist grundsätzlich sichtlich im April 2016 erscheinende Grundsatzpro- anzumerken, dass es vor dem Hintergrund der per- gramm der AfD mit der ALFA-Gründungsprogram- sönlichen Erfahrung mit der Auseinandersetzung in- matik zu vergleichen. Zu erwarten wäre hier eine star- nerhalb der AfD entstanden ist. Dem Programm vor- ke Themenverschiebung hin zu national-konservativen angestellt ist ein klares Bekenntnis zu einem pflegli- Themen. Auch die Weiterentwicklung der ökonomi- chen innerparteilichen Umgang: „Wir stehen für schen Themen und der Positionierung zum EURO Werte, die in unserer politischen Kultur verloren zu sowohl bei der AfD als auch bei ALFA werden in gehen drohen: 1. Streitkultur: Gute Politik fängt mit den kommenden Jahren interessant zu beobachten gutem Benehmen an…:“ (ohne Formatierung zitiert; sein, da ja nicht nur der Programmkommissionsvor- ALFA Programm, S. 2). Neben Streitkultur werden sitzenden Greve, sondern wie schon erwähnt, der ge- hier als zentrale Themen Rechtsstaat, mündige Bür- samte wissenschaftliche Beirat nach dem Essener ger, gesellschaftliche Werte, Soziale Marktwirtschaft Parteitag die AfD verließ. Seine Mitglieder sind nun sowie Westbindung aufgeführt (ebd.). In der späte- alle im wissenschaftlichen Beirat von ALFA tätig. ren eigentlichen Präambel erfolgt dann einerseits ein Hier gibt es zumindest eine hohe organisationale wie klares Bekenntnis zur „freiheitlich-demokratischen personelle Kontinuität. Dem wissenschaftlichen Bei- Grundordnung“, andererseits eine klare Abgrenzung rat von ALFA gehören nur Ökonomen an. Wie schon von „technologiefeindlicher Stimmungsmache“ und bei der AfD sind dies Dirk Meyer, Helga Lucken- „politische[r] Korrektheit“. Den sich aufdrängenden Eindruck, als zentralen programmatischen Gegner 4 www.tagesspiegel.de/politik/ALFA-afd-wirft-bernd-lucke-pla die Grünen zu sehen, bestätigte Hans-Olaf Henkel in giat-vor/12091118.html, 22.7.2015, zuletzt abgerufen am 10.2.2016. einem Zeitungsinterview: „Wir brauchen ALFA we- 5 www.handelsblatt.com/politik/deutschland/gustav-greve-afd-v gen ihres Programms, wir legen uns ganz bewusst ordenker-schmeisst-hin/12055954.html, 14.7.2015, zuletzt ab- mit den Grünen an, wir sind technikfreundlich.“8 gerufen am 7.2.2016. 6 www.handelsblatt.com/politik/deutschland/afd-vorstand-gustav- greve-das-geschaeft-mit-macht-und-politik-sollten-wir-auch-wol 8 ZEIT Online vom 30.12.2015, www.zeit.de/2015/51/hans-ol len/11713948.html, 30.4.2015, zuletzt abgerufen am 7.2.2016. af-henkel-afd-hamburg-buehnenredner-kampf, zuletzt abgeru- 7 Siehe Fn. 4. fen am 2.2.2016.

39 Aufsätze Franzmann – Die Programmatik von ALFA in Abgrenzung zur AfD: Droht Deutschland eine Spirale des Populismus? MIP 2016 22. Jhrg.

Bei der Detailanalyse des Gründungsprogramms zeigt S. 19-20). Die AfD-Gründungsanlassthemen EU und sich, dass im Vergleich zur AfD manche Unterschie- EURO finden sich in den Programmpunkten drei und de eher kosmetischer Natur sind. Neben begriffli- vier. Auch hier ist eine geringfügige programmati- chen Anpassungen äußert sich auf den ersten Blick sche Weiterentwicklung zu erkennen. ALFA spricht der Unterschied zur AfD vor allem durch unter- sich nun konkret für einen Grexit aus. Zudem präzi- schiedliche Prioritätensetzung. Begrifflich lässt sich siert ALFA die Vorstellung darüber, wie ein künfti- die Abgrenzung schon am ersten Themenpunkt ges Europa aussehen sollte: „Wir befürworten ein „Bürgerrechte“ festmachen. Der Begriff „Bürger- Europa souveräner Staaten.“ (ALFA, S. 8). Präziser rechte“ begegnet in den AfD-Leitlinien überhaupt und ausführlicher im Vergleich zu den AfD-Vorgän- nicht. Allerdings ist der folgende Abschnitt fast gerdokumenten sind die Erläuterungen zur Familien- wörtlich an verschiedenen Stellen der AfD-Leitlinien sowie Umweltpolitik. Zudem gibt es einen eigenen zu finden. Das zweite Thema des ALFA-Gründungs- Abschnitt zur Landwirtschaft. Schließlich findet sich programmes ist „Souveränität und Volksentscheide doch ein programmatisch erheblicher Unterschied zur nach Schweizer Vorbild“. Hier gibt es immerhin AfD: Im Kapitel „Soziale Marktwirtschaft und inter- einen bemerkenswerten Wandel und offenkundigen nationaler Handel“ spricht sich ALFA eindeutig ge- Lernprozess. In den AfD-Leitlinien hieß es noch: gen wirtschaftlichen Protektionismus und für das „Da wir die Demokratie ernst nehmen, befürworten transatlantische Freihandelsabkommen TTIP aus wir die direkte Demokratie.“ Das ALFA-Gründungs- (ALFA, S. 9-10). Im Oktober 2014 hatte Starbatty zu- programm spricht nun von einer „Ergänzung der par- vor noch offiziell in einem Mitgliederbrief innerhalb lamentarischen Demokratie durch plebiszitäre Ele- der AfD für TTIP geworben (AfD PM 22.10.2014). mente nach Schweizer Vorbild“ (ALFA, S. 6). Die Marcus Pretzell hatte mit einem ebenfalls offenen Nuance hat eine weitreichende Konsequenz: Anders Brief ablehnend geantwortet (AfD PM 24.10.2014) als die AfD geht es nun nicht mehr um die Einfüh- und etwas später der damalige AfD-Bundesprecher rung der „direkten Demokratie“, wie immer diese Konrad Adam ebenfalls (AfD PM 12.11.2014). Inner- aussehen mag.9 Freilich sieht ALFA die aktuelle Pra- halb der AfD-Programmkommission hatten sich in der xis der deutschen Parteiendemokratie weiterhin sehr Folge die TTIP-Befürworter nicht durchsetzen kön- kritisch: „Die übergroße Macht der politischen Par- nen.10 Noch vor Gründung von ALFA bekräftigte teien soll beschnitten und die der Bürgerinnen und Alexander Gauland diese Haltung der AfD. Er mach- Bürger ausgeweitet werden.“ Die Themen Migration te allerdings weniger ökonomische denn außenpoliti- und Asyl bilden im ALFA-Gründungsprogramm nun sche Vorbehalte geltend und kritisierte, dass „durch die letzten Programmpunkte. Die Abschnitte sind die einseitige Anbindung an die USA […] die ohne- deutlich ausführlicher gehalten als in den AfD-Leitli- hin schwierige Verständigung mit Russland weiter nien. Nach wie vor wird ein Einwanderungsgesetz erschwert“ [werde] (AfD PM 10.07.2015). Es geht favorisiert. Der inhaltliche Unterschied erscheint im ALFA mitnichten nur darum, sich nicht als dauer- Vergleich zu den AfD-Leitlinien nicht sonderlich oppositionelle Anti-Systempartei, wie die AfD es ist, groß. Allerdings formuliert das ALFA-Gründungs- zu verorten. ALFA ist offenkundig auch das Sam- programm nun explizit, was für eine gelingende Ein- melbecken derer geworden, die sich eindeutig zu wanderungspolitik nicht zuträglich sei: „Ein ausländer- Westbindung, Freihandel und freie Marktwirtschaft feindliches Klima ist dafür abträglich. Wir lehnen es bekennen. strikt ab, Einwanderung nach "völkischen" oder kul- Schlagen sich nun diese Modifikationen hinsichtlich turchauvinistischen Kriterien zu steuern.“ (ALFA, der Präzisierung und einer moderateren Rhetorik auch in der quantitativen Analyse des Programms 9 Zu beachten ist, dass Populismus an sich in keiner Weise anti- nieder oder stellt das ALFA-Gründungsprogramm demokratisch sein muss. Auf den ersten Blick scheint sogar das Gegenteil der Fall zu sein: Viele populistische Parteien schlicht wirklich nur eine Kopie der AfD-Leitlinien betonen, dass sie die „direkte Demokratie“ favorisieren und in neuem Gewand dar? Hierzu wurden auf Basis eines damit erst die „echte“ Demokratie propagieren. Gemeint ist leicht modifizierten Kodierschemas des Manifesto- hierbei die Befürwortung der vermehrten Durchführung di- projektes (Volkens et al 2013; Modifikationen bei rektdemokratischer Instrumente wie Volksabstimmungen auf Franzmann 2016b ausführlich beschrieben) sowohl Kosten des Repräsentationsprinzips. Pervertiert werden sol- che Forderungen allerdings dann, wenn sie primär auf die Be- die AfD-Leitlinien als auch das ALFA-Gründungs- seitigung des in der Konzeption der liberalen Demokratie in- newohnenden Gedankens des Minderheitenschutzes abzielen 10 So Gustav Greve in einem Interview mit dem Handelsblatt vom (Kielmansegg 2014). Die Forderung nach direkter Demokratie 30.4.2015, www.handelsblatt.com/politik/deutschland/afd-vorsta zielt dann eigentlich auf die Abschaffung wesentlicher Ele- nd-gustav-greve-das-geschaeft-mit-macht-und-politik-sollten- mente der liberal-demokratischen Ordnung. wir-auch-wollen/11713948.html, zuletzt abgerufen am 9.2.2016.

40 MIP 2016 22. Jhrg. Franzmann – Die Programmatik von ALFA in Abgrenzung zur AfD: Droht Deutschland eine Spirale des Populismus? Aufsätze programm systematisch, Aussage für Aussage in- weiterhin zu Vergleichszwecken ein künstliches Pro- haltsanalytisch kodiert. Dies ermöglicht eine Aggre- gramm kreiert werden. Somit erhalten wir angesichts gation der einzelnen Aussagen zu abstrakten The- der Abwesenheit eines aktualisierten offiziellen AfD- menhervorhebungen in Prozent. Diese Werte können Programmes einen Hinweis darauf, wie sich die AfD nun verschiedentlich analysiert werden. Zum ersten Ende Juni 2015 in der deutschen Öffentlichkeit pro- können so schlicht die programmatischen Prioritäten grammatisch präsentierte. Hier gingen auch zahlrei- intersubjektiv nachvollziehbar ermittelt werden. Zum che Pressemitteilungen späterer ALFA-Mitglieder, zweiten kann die prozentuale Ähnlichkeit zu anderen insbesondere der Europaabgeordneten, mit ein. Ta- Programmen ermittelt werden (vgl. Franzmann 2008; belle 1 fasst die Ergebnisse zusammen. Franzmann 2014). Dies gibt Auskunft über die mög-

Tabelle 1: Programmatisches Profil von AfD und ALFA im Vergleich Themen AfD Leitlinien 2014 ALFA Programm 2015 AfD PM 01 bis 06 2015 TOP 1 Demokratie: Ökonomische Orthodoxie EU negativ: 9,49% & Umweltschutz: 16,92% TOP 2 Ökonomische Orthodoxie: Je 5,57% Ökonomische Orthodoxie: 8,38% 16,16% TOP 3 Freiheitsrechte: Freiheitsrechte: Staatliche Autorität: 7,82% 5,06% 10,1% TOP 4 Soziale Marktwirtschaft Verwaltungseffizienz Demokratie: & Familie: 6,57% TOP 5 & Umweltschutz 4,56% Nationale Kultur: 4,8% TOP 6& Law & Order: Law & Order: Law & Order: je 5,58% 4,30% 4,55% TOP 7 EU negativ: EU negativ Familie: 5,03% & Internationalismus negativ 3,79% & Demokratie: je 3,54% Skala: Wertebereich von 0 bis 10 (0 äußerster „linker“ Pol, 10 äußerster „rechter“ Pol, Wert unter 2 und ab 8 werden als „extrem“ interpretiert ) Links-Rechts 6,93 6,38 8,03 Ökonomische 7,42 6,04 8,86 Skala Gesellschafts- 6,36 6,55 7,62 politische (3,64) (3,45) (2,38) Skala (invers)

Ähnlichkeit zu 100% 70% 62% den Leitlinien Anmerkung: Themenhervorhebung gemessen in %-Anteil im Vergleich zu allen kodierbaren Aussagen liche inhaltliche Nähe zu anderen Parteien und Partei- Tatsächlich ist es trotz der in Teilen wörtlichen familien. Zum dritten können Parteipositionen ermit- Übernahme von Passagen aus den AfD-Leitlinien telt werden, sowohl für die abstrakte Links-Rechts- ALFA inhaltlich gelungen, ein vergleichsweise mo- Dimension als auch für diverse Politikdimensionen.11 derates und ausgeglichenes Programm zu präsentie- Über eine gesonderte Auswertung der AfD-Presse- ren. Erkennbar ist dies direkt an zwei Auffälligkei- mitteilungen im Zeitraum von Januar bis Juni 2015 ten: Zum einen werden sehr viele Themen fast mit demselben inhaltsanalytischen Schema konnte gleichberechtigt nebeneinander betont, anstelle nur ein Thema wie den EURO oder Flüchtlingspolitik 11 Das technische Vorgehen zur Ermittlung der Links-Rechts- Positionswerte ist ausführlich bei Franzmann/Kaiser 2006 und extrem stark zu betonen und andere Politikfelder da- Franzmann 2015 dargestellt. für überhaupt nicht. Die Spitzenwerte von über 5,5%

41 Aufsätze Franzmann – Die Programmatik von ALFA in Abgrenzung zur AfD: Droht Deutschland eine Spirale des Populismus? MIP 2016 22. Jhrg. in Umweltschutz sowie ökonomischer Orthodoxie weit weg von jeder Art extremer Gesamtpositionie- sind bemerkenswert niedrig.12 Zum anderen sind die rung. Die kritische Auseinandersetzung mit der Eu- aggregierten Links-Rechts-Positionen vergleichsweise ropäischen Union ist scheinbar innerhalb der ALFA- moderat und als rechts der Mitte zu verorten. Die Wer- Gründungsprogrammatik nicht mehr so dominierend. te von 6 bis 6,5 entsprechen zum Beispiel Positionie- Das täuscht allerdings ein wenig. Die Haltung gegen- rungen der CDU-Wahlprogramme in den 1950er Jah- über der EU und insbesondere dem EURO ist nach ren sowie um die Jahrtausendwende (vgl. Franzmann/ wie vor sehr kritisch. Ein Austritt Deutschlands aus Kaiser 2006).13 dem EURO wird weiterhin befürwortet für den Fall, Abbildung 1: Geschätzte offizielle programmatische Parteipositionen in dass kein Grexit erfolgt Deutschland im Juli 2015* (ALFA, S. 8). Zudem orien- tiert sich ALFA in ihrer EU- Kritik nun stärker an einem nationalstaatlichen Souverä- nitätskonzept. Dies schlägt sich in der ebenso hohen Be- tonung der inhaltsanalyti- schen Kategorie „Internatio- nalismus negativ“ nieder. Wird ferner berücksichtigt, dass die ökonomische ortho- doxe Haltung von ALFA ih- ren Ausdruck auch in der EURO-Kritik findet, so bleibt ALFA weiterhin eine Partei, deren Kernthema in der Kritik des aktuellen Stan- des der Europäischen Union * Entsprechend der üblichen Darstellung wurden liberale gesellschaftspolitische liegt. Ganz anders sind die Positionen oben, autoritär-konservative Positionen unten abgetragen. Die Links- Ergebnisse für die AfD Pres- Rechts-Werte dieser Dimension wurden somit „umgedreht.“ semitteilung im Halbjahr vor dem innerparteilichen Bruch. Diese moderate Positionierung geht im Wesentlichen Hier dominieren der Euroskeptizimus und wirt- auf das Thema „Umweltschutz“ sowie den sozial- schaftliche Themen. Positive Hervorhebungen der staatlichen Maßnahmen zur Famlienförderung zu- nationalen (deutschen) Kultur finden sich ebenfalls rück. Ohne diese Themen erscheint ALFA im Aggre- noch in den am meisten angesprochenen Themen gat durchaus etwas „rechter“, aber immer noch sehr wieder. Im Aggregat können die Pressemitteilungen einen Links-Rechts-Skalenwert von knapp über 8 zu- 12 Die Kodierung des ALFA-Gründungsprogrammes erfolgte gemessen werden. Ab Skalenwerte von 7,5 und hö- unter Beteiligung des Lehrforschungsprojektes „Sozialwissen- her fängt bei einer 0-10-Skala der Bereich an, in der schaftliche Inhaltsanalyse“ an der HHU Düsseldorf. Allen Teilnehmern möchte ich hierfür danken. Zunächst wurde das sich in der Regel rechtspopulistische Parteien veror- vollständige Programm vom Autor kodiert. Davon unabhän- ten lassen. Werte über 8 werden meist als extremis- gig erfolgten Kodierungen einzelner Teile des ALFA-Grün- tisch interpretiert. Diesen Wert überschreitet die dungsprogrammes durch zwei bis drei Studierende. Diese un- AfD deutlich bei den ökonomischen Themen, nicht abhängigen Kodierungen wurden miteinander verglichen und ggf. angepasst. Schließlich erfolgte durch den Autor mit zwei- aber im gesellschaftspolitischen Bereich. Der extre- monatlichem Abstand eine erneute Kodierung. Für die Relia- me Wert könnte also durchaus auch durch die später bilität zwischen den ersten und dieser letzten Kodierung zu ALFA abgewanderten Ökonomen erklärt werden. durch den Autor wurde ein akzeptabler Holsti-Koeffizient von Im Vergleich zu den Leitlinien wird aber auf jeden 0,81 ermittelt. Der relativ niedrige Wert der Spitzenthemen Fall der klare, schon vor dem Essener Parteitag im wurde dabei stets bestätigt. Sommer 2015 vollzogene Rechtsrutsch der AfD 13 In allen anderen Phasen wurden moderatere Links-Rechts-Werte für die CDU/CSU ermittelt. Die später in der Graphik 1 relativ deutlich. Das Programm von ALFA erscheint zudem mittige derzeitige Platzierung der Union ist im historischen etwas näher an den Leitlinien (70% zu 62% in der Vergleich nicht so ungewöhnlich, wie es manche Kommentie- Ähnlichkeitsmessung). rungen aktuell vermuten lassen.

42 MIP 2016 22. Jhrg. Franzmann – Die Programmatik von ALFA in Abgrenzung zur AfD: Droht Deutschland eine Spirale des Populismus? Aufsätze

Zur besseren Interpretation der Zahlenwerte eignet sis der Pressemitteilung liegt auf beiden Dimensio- sich die räumliche Darstellung der Politikdimensio- nen rechts der Leitlinien. Allerdings wies auch schon nen. Hierzu eignet sich für Deutschland besonders das Bundestagswahlprogramm eine ökonomisch ex- gut eine zwei-dimensionale Darstellung, in der eine treme Positionierung auf.15 ökonomische und gesellschaftspolitische Dimension Über die vergleichende Ermittlung programmati- abgetragen werden (Pappi 1973, Kitschelt 2003). scher Ähnlichkeiten mit europäischen Wahlprogram- Abbildung 1 gibt dabei den geschätzten Stand zum men einzelner Parteien sowie Parteifamilien lassen Zeitpunkt Juli 2015 wieder.14 sich weitere Anhaltspunkte zur Klassifizierung des Bei der räumlichen Darstellung wird offenkundig, ALFA-Gründungsprogrammes ermitteln. Dabei be- dass sich ALFA und AfD im rechten unteren Qua- stätigt sich der Eindruck der räumlichen Analyse. dranten mit sowohl ökono- misch als auch gesellschafts- politisch rechten Positionen Tabelle 2: Ähnlichkeiten des ALFA-Gründungsprogrammes mit historischen befinden. Diagonal gegenüber Wahlprogrammen anderer Parteien: liegt der Quadrant mit Lin- ken, Bündnis90/Grüne und Ähnlichkeit (%) Land Jahr MARPOR Code Parteiname SPD, die fast spiegelbildlich LCS (Litauische platziert sind. Ökonomisch 68,59% Litauen 1996 88420 Zentrumsunion) sind die Grünen dabei sogar 67,93% Deutschland 2009 41521 CDU/CSU leicht rechts der SPD plat- ziert. Ihre gesellschaftspoliti- 67,71% Frankreich 1978 31621 RPR - Gaullisten sche linke Position spiegelt 67,16% Österreich 1994 42520 ÖVP ferner die hohe Betonung von 67,12% Großbritannien 2010 51620 Konservative Umweltthemen wider, die hier im Sinne der GAL-TAN 66,95% Deutschland 2013 41521 CDU/CSU (grün, alternativ, libertär vs. 66,60% Deutschland 2013 41420 FDP traditional, autoritär und na- 66,09% Niederlande 1989 22420 VVD tional) Dimension (Marks et al, 2006) unter den nicht-öko- 65,87% Schweiz 1983 43810 SVP/UDC nomischen, gesellschafts- politischen Themen subsu- miert wurde. Ihre Positionie- rung wäre ansonsten deutlich zentraler. Die Union Das ALFA-Gründungsprogramm weist hohe Über- ist die Partei, die ökonomisch am nächsten der Mitte einstimmungen mit den jüngeren Unionswahlpro- kommt und insgesamt im zwei-dimensionalen politi- grammen sowie mit dem 2013-Wahlprogramm der schen Raum Deutschlands derzeit die zentrale Positi- FDP auf. Die höchste Übereinstimmung aus der on einnimmt. Von einer gedachten Diagonale mit MARPOR-Datenbank weist es mit dem Programm Startpunkt der Linken links oben hin zur AfD im der litauischen Zentrumspartei auf, einer agrarisch- Jahre 2015 liegt nur die FDP etwas abseits. Sie kom- liberalen Partei. Es ähnelt ferner zu über 2/3 den biniert als einzige Partei gesellschaftspolitische libe- Programmen der französischen Gaullisten 1978, der rale Positionen mit ökonomisch marktorientierten ÖVP 1994, den britischen Konservativen von 2010, Forderungen. Die ökonomische Dimension betref- der niederländischen VVD 1989 sowie der schweize- fend liegen FDP, ALFA sowie die AfD-Leitlinien rischen SVP 1983. Dies sind durch die Bank liberal- praktisch in derselben Zone. Gut zu erkennen ist, konservative Programme mit einer starken Betonung dass das ALFA-Gründungsprogramm räumlich der nationalstaatlichen Souveränität. Verglichen mit rechts der Union und links der AfD-Leitlinien veror- den Programmen der Parteifamilien in Europa seit tet werden kann. Die Positionierung der AfD auf Ba- 1990 im Durchschnitt zeigt sich eine bemerkenswert 14 Das Wort Schätzung sollte hier ernst genommen werden. ausgeglichene Ähnlichkeit mit diversen bürgerlichen Neue Positionen zwischen den Bundestagswahlen lassen sich valide nur durch zur Hilfenahme neuer Dokumente erheben. 15 Für das AfD-Wahlprogramm von 2013 wurde eine eigene, von Hier wurden die AfD-Leitlinien, die AfD-Pressemitteilung so- MARPOR abweichende Kodierung vorgenommen (Franzmann wie das ALFA-Gründungsprogramm berücksichtigt und die 2014; Franzmann 2016b). Hier wurde die ökonomische Begrün- Werte für die anderen Parteien ggf. im Rahmen des Verfah- dung der EURO-Kritik explizit berücksichtigt, bei MARPOR rens von Franzmann/Kaiser (2006) angepasst. nicht.

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Parteifamilien. ALFA zeigt die höchste Ähnlichkeit schaftsliberalerer Positionierung von ALFA in künf- zu Special Issue Parteien mit fast 70%. So hoch ist tigen Programmen als dies im Gründungsprogramm üblicherweise die Übereinstimmung zwischen zwei festgehalten wurde. Sie erstaunen aber auch nicht, da Programmen ein und derselben Partei (Hennl/Franz- die Protagonisten zuvor innerhalb der AfD schon mann 2016). Mit Christdemokraten und den Libera- ähnliche Positionen vertraten. Das am 27. Februar len zeigt das Programm eine ähnlich hohe inhaltliche 2016 beschlossene neue Programm von ALFA bestä- Übereinstimmung, in nur etwas geringerem Ausmaß tigt diese Vermutung. Die thematische Ausgeglichen- mit Nationalisten und Konservativen. heit des Gründungsprogrammes hat sich insofern ver- Tabelle 3: Ähnlichkeit des ALFA-Gründungsprogram- schoben, als dass das Kapitel zur Wirtschaftspolitik mes mit Parteifamilien innerhalb der EU (seit 1990) mit 20 Seiten doppelt so lang ist wie das nächstlän- gere. Das Kapitel Wirtschaftspolitik beginnt mit 70,85% Special Issue Parteien Haushalts- und Steuerpolitik. Es finden sich nun im Programm die oben erwähnten Forderungen nach 69,28% Christdemokraten Abschaffung der Erbschafts- und Vermögenssteuer 69,07% Liberale sowie darüber hinaus der Abschaffung bzw. Um- 67,20% Nationalisten wandlung der Gewerbe- und der KFZ-Steuer (ALFA 2016: 44 & 46). Eine grundlegende Reform der Ein- 66,77% Konservative kommenssteuer nach dem „Kirchhoff-Modell“ des Stufentarifs sowie eine Reduzierung der Ermäßi- Die Selbsteinschätzung von ALFA bestätigt dies. gungstatbestände in der Umsatzsteuer werden favori- ALFA bekennt sich aktuell klar zur Zusammenarbeit siert (ebd.: 44-45). Die aktuelle Mindestlohnrege- mit dem Brüsseler Think Tank „New Direction“. Die- lung wird abgelehnt (ebd.: 50-51). Das Kapitel zur ser bezieht sich in seiner Gründung und in seinem Umweltpolitik, im Gründungsprogramm noch Top- Wirken auf die ehemalige britische Premierministerin thema, ist thematisch ganz nach hinten sortiert. Zu- Margaret Thatcher. Thematisch verfolgt er erklärter- vor widmet sich ALFA im Rahmen der Energie- maßen die Verbreitung des Konservatismus und Eta- politik auch umweltpolitischen Fragen und fordert blierung eines Europas der Nationalstaaten. Als Visi- „den deutschen Atomausstieg vor dem Hintergrund on verfolgt er freies Unternehmertum, niedrige Steu- neuerer wissenschaftlicher Erkenntnisse und Fort- ersätze, Individualismus und eine militärisch starke schritte zu überprüfen.“ Interessanterweise setzt transatlantische Allianz.16 Die innenpolitisch eher ALFA in der Umweltpolitik auf einen einheitlichen konservative Ausrichtung sowie den Schwerpunkt auf europäischen Standard (ebd.: 79). Grundsätzlich wirtschaftspolitische Themen bestätigte der ALFA- sieht ALFA die EU als „eine Union souveräner Staa- Parteivorsitzende Bernd Lucke in verschiedenen In- ten“, favorisiert Subsidiarität und lehnt „überflüssige terviews. Dort bezeichnete er die Auseinanderset- Harmonisierung“ ab (ebd.: 14). Das neu beschlosse- zung über PEGIDA und den Anti-Islamismus als die ne Programm von ALFA äußert sich ausführlicher eigentlichen Spaltungsthemen in der AfD.17 Stärker als zuvor konkret zu den Politikfeldern, die als euro- als im verabschiedeten Parteiprogramm äußern sich päische Aufgaben angesehen werden. Diese sind vor Vertreter von ALFA in ihren Pressemitteilungen als allem der Binnenmarkt, die Wettbewerbskontrolle, Anwälte des freien Marktes. Dort warnt Lucke vor der der internationale Handel, grenzübergreifende Infra- Wiedereinführung der Vermögenssteuer18, Henkel for- strukturprojekte sowie die schon angesprochene dert die Abschaffung der Erbschaftssteuer19 und Energie- und Umweltpolitik (ebd.: 16-17). Die Auf- Starbatty und später auch Lucke warnen grundsätz- lösung des EURO-Währungsgebietes ist wie schon lich vor der Etablierung einer europäischen Transfe- bei der AfD-Gründung 2013 nun auch eine ALFA- runion20. Diese Äußerungen sind ein klarer Hinweis Kernforderung: auf eine absehbare deutlich „rechtere“ im Sinne wirt- „Die Währungsunion ist deshalb aufzulösen 16 europeanreform.org/index.php/site/mission, zuletzt abgerufen oder auf eine kleinere Kernwährungsunion am 30.1.2016. der unzweifelhaft stabilitätsorientierten Mit- 17 Interview in der Augsburger Allgemeinen vom 20.7.2015, gliedsländer zurückzuführen… Sollte weder www.augsburger%adallgemeine.de/politik/Bernd%ADLucke eine Auflösung der Währungsunion noch %Adrechnet%ADab%ADPutin%ADFreunde%ADsollen%AD bei%ADder%ADAfD%ADbleiben%ADid34864922.html, zu- ihre Reduktion auf wenige stabilitätsorien- letzt abgerufen am 2.2.2016. tierte Länder durchsetzbar sein, darf auch 18 ALFA PM Lucke vom 29.1.2016. 20 ALFA PM Lucke vom 8.2.2016 und ALFA PM Starbatty vom 19 ALFA PM Henkel vom 27.1.2016. 27.1.2016.

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ein einseitiger Ausstieg Deutschlands aus ein ähnliches Staatsverständnis wie bei Burke hin- dem Euro und eine Wiedereinführung der D- durch, der die Familie als Grundlage des organischen Mark kein Tabu sein.“ (ebd.: 19). Wachstums der bürgerlichen Gesellschaft und der Nation darstellt (Burke 1967 [1794]: 357). Aber Recht ausführlich ist auch das Kapitel „Geistiges Le- ALFA widerspricht ebenso wie die heutigen britischen ben“. ALFA befürwortet das dreigliedrige Schulsys- Tories an entscheidenden Stellen dem klassischen tem und lehnt eine verordnete gendergerechte Sprache Konservatismus bei Burke, der durchaus staatlich- ab (ebd.: 33-35). Ein Unterkapitel behandelt Presse- paternalistisches Verhalten zum Schutz des Einzel- freiheit und Medienpolitik. ALFA sieht faktische nen vor selbstschädigendem Verhalten empfahl „Einschränkungen der Meinungsfreiheit. Vor allem in (ebd.: 137-138). Dazu gesellt sich eine Präferenz di- Fragen der Zuwanderungspolitik“ (ebd.: 40). Dabei rektdemokratischer Instrumente und tiefgehendes betont ALFA selbst den Unterschied von Asyl- und Misstrauen gegenüber der Parteiendemokratie. Zuwanderungspolitik (ebd.: 19). Asyl sei nach den jeweiligen kommunalen Kapazitäten zu gewähren Diskussion: Auswirkungen auf das deutsche Par- (ebd.: 21), die Zuwanderung aus wirtschaftlichen Grün- teiensystem den mit einem Gesetz zu regeln (ebd.: 22). Sozial- politisch setzt sich ALFA vor allem für die finanzielle Das aktuelle ALFA-Parteiprogramm kann insgesamt Förderung von Familien ein (ebd.: 43 & 51 & 65-67). als konservativ-national-wirtschaftsliberales Pro- Ein nationaler Rentenversicherungsfonds soll die Pro- gramm gekennzeichnet werden. Es stellt eine gesell- bleme in der Altersvorsorge lösen (ebd.: 69). In der schaftspolitisch konservative Spielart des Thatche- Gesundheitspolitik möchte ALFA die DRG-Pauscha- rismus vor dem Hintergrund des politischen Systems len abschaffen und eine Grundversorgung einführen Deutschlands dar. Die Frage, inwieweit die AfD (ebd.: 73-74). Neben dieser Präzisierung und Ak- nach dem personellen Adererlass seit dem Sommer zentverschiebung gegenüber dem Gründungspro- 2015 jetzt eine rechtspopulistische oder rechtsextre- gramm fällt der stellenweise aggressivere Tonfall me Partei sei, stellt sich nach der vorangegangenen auf. Das neu beschlossene Parteiprogramm tritt ins- Analyse so nicht. Tatsächlich war die AfD vor dem besondere gegenüber den etablierten Parteien offen- Bruch schon im Sommer 2015 weit rechts positio- siver auf. Es dominiert Anti-Parteienrhetorik. In der niert. Es stellt sich vielmehr die Frage, ob diese Posi- Präambel heißt es nun: „ALFA fordert […] ein Auf- tionierung direkter Ausfluss einer extrem rechten brechen der alles dominierenden Parteienherrschaft“ Ideologie war oder schlicht das Ergebnis des Versu- (ebd.: 7), später wird von „ausufernden Machtan- ches unterschiedlicher Flügel der Parteispitze extre- sprüchen der Parteien“ (ebd.: 24) gesprochen. Den me Parteimitglieder auf ihre Seite zu ziehen. Die Ant- etablierten Parteien und nicht dem gesellschaftlichen wort auf diese Frage würde uns zugleich einen Hin- Wandel werden die Probleme des aktuellen Schul- weis darauf geben, inwieweit ALFA tatsächlich der systems sowie des Familienzusammenhaltes ange- nicht-populistische, nicht-rechtsextreme Neuanfang rechnet (ebd.: 35 & 65). Demokratie und Rechtsstaat der AfD ist. Zu diesem Zeitpunkt können wir uns nur seien nicht mehr in vollem Umfang gewährleistet, auf Indizien zur Herleitung einer besten Erklärung weil die Regierung den Willen des Volkes ignoriere stützen. Auf den ersten Blick erscheint das ALFA- (ebd.: 7). In der Gesamtbetrachtung ist das neue Par- Gründungsprogramm in der Tat als moderat. Es ist teiprogramm von ALFA nicht mehr so moderat wie programmatisch ausgeglichen, wenn auch konserva- das Gründungsprogramm. In der obigen räumlichen tiv und ungefähr dort zu verorten, wo die CDU in der Analyse des deutschen Parteiensystems würde es Vergangenheit phasenweise zu finden war. Die öf- vermutlich ökonomisch den AfD-Leitlinien von fentlichen Bekenntnisse von Lucke und Henkel so- 2014 bei einer zugleich leicht gesellschaftspolitisch wie der dem ALFA-Grundsatzprogramm vorange- konservativeren Position entsprechen. ALFA ist stellte Verhaltens- und Wertekatalog bestätigen die- nicht mehr so nahe an der aktuellen Position der sen Eindruck.21 Union positioniert. Das Profil von ALFA erscheint derzeit insgesamt wie das einer klassisch konservativen Partei, ähnlich der 21 Henkel in ZEIT ONLINE „Ich fühle mich verpflichtet, alles britischen Konservativen, bei denen wirtschaftslibera- zu tun, um zu verhindern, dass diese AfD Fuß fasst, so wie sie heute dasteht. Und da ist ALFA ein Mittel. Das ist für mich le Positionen, Freihandelsphilosophie, nationalstaatli- auch eine Art, ich will mal sagen: Korrektur dessen, was ich che Souveränität und Betonung der traditionellen Fa- mitgeholfen habe anzurichten.“, Quelle: ZEIT Online vom milie Hand in Hand gehen. Es schimmert durchaus 30.12.2015, www.zeit.de/2015/51/hans-olaf-henkel-afd-ham burg-buehnenredner-kampf, zuletzt abgerufen am 2.2.2016.

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Dagegen spricht, dass auch schon unter Lucke die Vaubel, Mitglied des wissenschaftlichen Beirates AfD sich extrem positionierte, neben der Eurokritik von ALFA, griff in einem Blogbeitrag ebenfalls die gezielt innenpolitische Themen auf die Agenda setzte, FDP an. Er unterstellt ihr eine Partei von „Zentrali- Lucke selbst in der Anfangsphase sich in Wahlkämp- sierer[n] und Harmonisierer[n]“ zu sein und die Idee fen populistischer Stilmittel bediente und der Prozess der Subsidiarität zu vernachlässigen.23 Das im Febru- der Radikalisierung unter ihm nicht gestoppt werden ar beschlossene Parteiprogramm erwähnt sogar die konnte. Die Verwendung populistischer Stilmittel er- FDP explizit als Urheber der Umsatzsteuervergünsti- folgte dabei nicht zufällig. Gauland und Lucke bezo- gung für Hoteliers (ALFA 2016, S. 45). Eine solche gen sich auf Martin Luther und rühmten sich, dem Form der Negativkampagne ist für Grundsatzpro- „Volk aufs Maul“ zu schauen.22 Programmatisch stellt gramme eher ungewöhnlich. Die EP-Abgeordneten lediglich das Bekenntnis zum Freihandel und TTIP von ALFA sind auf europäischer Ebene Mitglied der eine wirklich unüberwindbare inhaltliche Kluft zwi- „Freedom of Choice“, eine von einem finnischen Li- schen AfD und ALFA dar. In zunehmendem Maße ist beralen gegründete parteiübergreifende eurokritische dies auch hinsichtlich unterschiedlicher Auffassungen Vereinigung (ALFA PM 7.12.2015). bezüglich der Notwendigkeit von Umverteilung der Aus politikwissenschaftlicher Sicht kann die ALFA- Fall. Dabei ist die moderate Grundhaltung des von der Gründungsprogrammatik trotzdem nicht als eine AfD zu ALFA gewechselten Personals durchaus Spielart des Liberalismus gekennzeichnet werden. glaubhaft. Sie haben sich im innerparteilichen Streit Giovanni Sartori (2006: 363-369) wies darauf hin, klar für eine sachorientierte, konstruktive Opposition dass häufig ökonomischer Liberismus mit politi- ausgesprochen und lehnten einen auch nur temporären schem Liberalismus verwechselt würde. Ein solcher Anti-Systemcharakter ab (Franzmann 2016). Liberismus wird von ALFA und wurde bereits zuvor ALFA hat sich zwar einerseits als eine konservativere von der AfD propagiert. Im klassischen, politischen Alternative zur Union aufgestellt. Sie verfügt jedoch Liberismus steht die Meinungsfreiheit des Individu- in den für konservativ orientierte Wähler gesell- ums im Mittelpunkt (Hayek 1959: 591). Zu ihrer schaftspolitisch relevanten Gebieten im Gegensatz zur Verwirklichung bedarf es nach Ansicht des Libera- AfD über keine Themenführerschaft. Zugleich ist lismus der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft ALFA auch eine konservative Ausgabe der FDP. In (ebd.). Ohne ökonomische Freiheit kann es nach ökonomischen Themen ist sie ähnlich wie die FDP Überzeugung des Liberalismus keine gesellschaftli- positioniert, nur stellenweise radikaler. Bei den Bun- che Freiheit geben. Diese Argumentation kommt am destagswahlen konnte die AfD um Lucke schon bei deutlichsten in Mills Werk „On Liberty“ zum Aus- Mittelständlern mit dieser Ausrichtung punkten druck (1969 [1859]). Logisch kann nur die Mei- (Niedermayer 2015). ALFA verfügt über einen wissen- nungsfreiheit am Anfang liberalen Denkens stehen. schaftlichen Beirat durchaus angesehener Ökonomen. Aus der Meinungsfreiheit folgt die Handlungsfrei- Nicht nur durch die fast vollständige Personengleich- heit, aus der Handlungsfreiheit die Vereinigungsfrei- heit wird sie die Kompetenz für die marktwirtschaft- heit sowie die wirtschaftliche Freiheit (ebd.). Die lich orientierte Politik für sich beanspruchen. Der umgekehrte Beziehung funktioniert logisch nicht. Slogan „Stoppt Merkel“ aus der Anfangszeit könnte Aus der wirtschaftlichen Freiheit folgt eben logisch somit in der Realität eher in ein Programm zur Ver- zwingend weder Handlungs- noch Meinungsfreiheit. hinderung eines FDP-Comebacks münden. Konse- Wirtschaftliches Handeln ist nur frei im Rahmen der quenterweise startete ALFA Formen der Negativ- allgemeinen Handlungsfreiheit und vor der Hand- kampagnen gegen die FDP. Henkel griff vor dem lung steht die Originalität des Individuums, die sich FDP-Dreikönigstreffen die FDP direkt an: „die FDP wiederum nur unter der Bedingung der Meinungs- war maßgeblich an der Zerstörung des Maastricht- freiheit entfalten kann (ebd.: 64-75). Daher liegt im Vertrages beteiligt, sie ist treibende Kraft bei der klassisch-bürgerlichen Liberalismus die zentrale, Aushöhlung der Eigenverantwortung nationaler Par- prioritäre Betonung auf der Meinungsfreiheit als lo- lamente zugunsten einer maßlosen Zentralisierung in gischer Ausgangspunkt jeder wirklich liberalen Ideo- Brüssel“ (ALFA PM 5.1.2016). Der Ökonom Roland logie, weshalb auch Sartori (2006: 369) zum Schluss kommt, den Wirtschaftsliberalismus nicht zum klas- 22 Gastbeitrag von Alexander Gauland im Tagesspiegel vom 3.12.2013, www.tagesspiegel.de/meinung/andere-meinung/alter sischen Liberalismus zu zählen. War zu Lebzeiten native-fuer-deutschland-dem-volk-aufs-maul-schauen/915606 von Hayek der Irrglaube verbreitet, dass gesell- 4.html, zuletzt abgerufen am 15.2.2016; zur Berichterstattung im schaftlicher Liberalismus ohne ökonomischen Libe- SPIEGEL über AfD interne E-Mails von Bernd Lucke, DER SPIEGEL vom 17.1.2015, www.spiegel.de/spiegel/print/d-1313 23 ALFA-bund.de/blog/vaubel-drei-erscheinungsformen-des-libe 55078.html. ralismus, zuletzt abgerufen am 15.2.2016.

46 MIP 2016 22. Jhrg. Franzmann – Die Programmatik von ALFA in Abgrenzung zur AfD: Droht Deutschland eine Spirale des Populismus? Aufsätze ralismus zu haben sei, scheint jetzt der umgekehrte Etablierungsursachen für die Parteien rechts der Irrtum verbreitet: der Glaube, dass alleine ökonomi- Union sche Freiheit auch gesellschaftliche Freiheit garan- tiere. Dem Liberismus, sofern er vollkommen losge- Die drohende Etablierung mindestens einer Partei löst von gesellschaftspolitisch liberalen Vorstellun- rechts jenseits der Union im deutschen Parteiensys- gen vorgetragen wird, fehlt es an der argumentativen tem kann durchaus auf ein verändertes Verhalten der Eleganz sowie logischen Stringenz, wie sie Mill für Unionsparteiführung zurückgeführt werden. Dabei den klassischen Liberalismus entwickelte. Dies gilt sind für die CDU die vergleichsweise mittigen Posi- im Grunde für jede Form von Bindestrich-Liberalis- tionen nicht unbedingt untypisch. Solche Positionen mus, also auch einem wie immer gearteten Wohl- haben Christdemokraten in Europa häufig inne (Frey fahrtsliberalismus (vgl. Sartori 2006: 372). Nun mag 2009). Vielmehr galt offenkundig das Verhindern die Kategorie der logischen Stringenz nur für den des Aufkommens einer Partei rechts der Union nicht Politikwissenschaftler von Interesse sein. Politisch mehr das Hauptaugenmerk. Dieses Diktum bedeutete ist es natürlich nicht verboten, eine Partei mit einem ja in der alten westdeutschen Bundesrepublik auch, nationalstaatlich orientierten Wirtschaftsliberalismus im Zweifel Wählerwanderungen zu FDP und SPD konservativer Prägung als Kernideologie zu begrün- eher in Kauf zu nehmen als Abwanderungen nach den. Es ist dann aber eine konservative Partei, ähn- rechts. Entsprechend fanden national-konservative lich wie die britischen Tories, und eben keine libera- Positionen immer wieder Unterschlupf in CDU und le Partei. Die logische Leerstelle können AfD und CSU. Dies ist unter Merkel definitiv nicht mehr in ALFA über die Adressierung unterschiedlicher der früheren Konsequenz der Fall. Was aber auch politischer Ebenen füllen. Bei ALFA ist es der inter- unter einem anderen Kanzler und CDU-Vorsitzenden national maximalst wettbewerbsfähig zu haltende wie Helmut Kohl der Fall gewesen wäre, ist sicher- Nationalstaat, der die Idee des Wirtschaftsliberalis- lich die Stützung der EURO-Rettungspolitik. Einen mus in die Praxis umzusetzen hat. Dies wird als libe- solchen Gründungsanlass gab es nun erstmalig mit rale Subsidiarität interpretiert. Somit werden die Wi- der EURO-Krise. Mit dem Image der ökonomischen dersprüchlichkeit von Nationalstaat und Freihandel Kompetenz konnte die AfD mit dem Parteisprecher in der Programmatik von ALFA dialektisch zu einer Lucke als moderater Türöffner für extremere Positio- Synthese zusammengeführt. Bei der AfD kommen nen dienen (Art 2011; Arzheimer 2015). Das zuvor kulturalistische Begründungen des Nationalstaates in Westdeutschland geltende Tabu der Formulierung hinzu, die wiederum nicht gut mit Freihandelsüberle- von Anti-Systempositionen, welche die Etablierung gungen kombinierbar sind. rechtspopulistischer Parteien trotz günstiger Rahmen- bedingungen jahrzehntelang verhinderte (Decker/ Eine zunehmende Verengung der ALFA-Programma- Hartleb 2006), wurde gebrochen. Auch wenn AfD tik auf solche ökonomischen Konzepte würde tatsäch- und ALFA nicht auf den ersten Blick als typische lich zu einer „dünnen“ Ideologie führen. Die Frage für Repräsentanten von für den Rechtspopulismus anfäl- die Zukunft wird sein, inwieweit ALFA sich ein ela- ligen Modernisierungsverlierern gelten können (Betz boriertes gesellschaftspolitisches Programm gibt, das 1994; Kitschelt/McGann 1995; Spier 2006), lässt die sich wieder abzeichnende Dominanz ökonomi- sich ihre Programmatik als Antwort auf die Heraus- scher Themen ausbalanciert. Kann wirklich ausge- forderungen der Globalisierung lesen. Die Antwort schlossen werden, dass dies nicht wieder über einen von ALFA ist die Herstellung eines maximalst wett- populistischen Diskurs erfolgt, zumal ALFA wie ge- bewerbsfähigen Nationalstaates. Der EURO und seine sehen ein starkes Misstrauen gegenüber der Parteien- Rettungspakete sind aus diesem Blickwinkel schlicht demokratie hegt? Im aktuellen Wahlwerbespot zu den eine Bürde, die den einen Staaten Ressourcen für Landtagswahlen pflegt ALFA das Protestimage und den Wettbewerb und den anderen Staaten die Anrei- empfiehlt sich für alle, „die es satt haben“. Gemeint ze zur Herstellung von Wettbewerbsfähigkeit neh- ist hier die Sättigung mit dem „Einheitsbrei“ der eta- men. So erklären sich auch die Grünen als zentrales blierten Parteien, denen zugleich extrem rechte Posi- Feindbild. Deren Technikskepsis wird ebenfalls als tionen auch nicht schmecken.24 Dieser Werbespot ist ein potentielles Wachstumshemmnis identifiziert. nicht weiter entfernt von dem, was wir von anderen Zwar erscheint für ALFA auf bundespolitischer Ebene europäischen Populisten gewohnt sind. Er mag aber derzeit die parteipolitische Konkurrenz zu groß. auch so angelegt sein, um gezielt potentielle Wähler Aber auf europäischer Ebene könnte sie weiterhin at- der AfD für ALFA zu gewinnen. traktiv für unionsaffine Wähler sein, die die Euroret- 24 www.youtube.com/watch?v=RpSoslsUp3M, zuletzt abgerufen tungs- sowie Einwanderungspolitik der Regierung am 20.2.2016. Merkel nicht mittragen. Bei der um ein Großteil der

47 Aufsätze Franzmann – Die Programmatik von ALFA in Abgrenzung zur AfD: Droht Deutschland eine Spirale des Populismus? MIP 2016 22. Jhrg.

Ökonomen befreiten AfD kommen zudem Sorgen sich weiter, geriert sich weiter als Anti-Systemkraft um den Erhalt der nationalen Identität sowie wohl- und wird endgültig zu einer rechtsradikalen Partei. In fahrtschauvinistische Überlegungen hinzu. Die AfD beiden Szenarien könnte sie sich durchaus mittelfris- ähnelt hier am ehesten rechtspopulistischen Parteien tig in einigen Landtagen in Ost- wie in Westdeutsch- im europäischen Ausland, die sich auf einer kulturel- land etablieren. len Konfliktachse gegen kosmopolitische Einstellun- gen positionieren (Bornschier 2010). Die extremste Ausblick: Die Gefahr einer populistischen Spirale? Opposition gegen den Kosmopolitismus, ja im Grun- de gegen die offene Gesellschaft an sich formuliert Die deutsche Parteiendemokratie sowie die deutsche die PEGIDA-Bewegung. Die sich dort äußernden ex- Öffentlichkeit werden in den kommenden Jahren in tremen Ressentiments steigern sich zur vollpopulisti- dreifacher Weise herausgefordert. Zum einen ist eine schen Weltverschwörungsideologie und speisen sich Verstetigung der PEGIDA-Bewegung zu erwarten. dabei nach Vorländer et al. (2016) vorwiegend aus Sie formuliert eine dezidiert anti-pluralistische, voll- der Angst vor einem regionalen Identitätsverlust. populistische Weltanschauung mit starken Bezügen Das Aufkommen der AfD mag hier ebenfalls der zur Verschwörungstheorie. Anhänger einer solchen Türöffner zum öffentlichen Bekenntnis zu diesen Po- Weltanschauung sind nur schwer über sachorientier- sitionen gewesen sein (ebd.). Ihre Persistenz ver- te Diskurse zu erreichen. Zum zweiten hat sich die dankt sie vermutlich in einem nicht geringem Aus- AfD als eine Partei mit einer komplementär-populis- maß einer politisch-kommunikativen Katastrophe, tischen Ideologie etabliert. Ihre Kernideologie ist der nämlich zum Höhepunkt der Flüchtlingskrise dem Konservatismus. Die Selbstdefinition einiger AfD- Merkel Ausspruch „Wir schaffen das.“ Was wohl als Protagonisten als PEGIDA-Partei ist ein klarer Hin- Ausdruck des Bekenntnisses zur christlichen Nächs- weis darauf, dass der Populismus nicht mehr nur rei- tenliebe und der offenen Gesellschaft gedacht war, ne Rhetorik ist. Sie ist Ausfluss einer relationalen wurde als Konstatierung einer grenzenlosen Gesell- Anti-System-Haltung und eines nicht pluralistischen schaft aufgenommen. Eine offene Gesellschaft im Weltbildes. Zum dritten hat sich ALFA auf europäi- Sinne Poppers (1945) ist aber niemals eine grenzen- scher Ebene im Verbund mit anderen europäischen lose Gesellschaft, weder im Inneren noch im Äuße- Bewegungen als relationale Anti-EU-Partei positio- ren. Sowohl im Inneren als auch im Äußeren hat sie niert. Sowohl im Gründungs- als auch im aktuellen klare Grenzen gegenüber den Anhängern geschlosse- Parteiprogramm formuliert ALFA zwar keine kom- ner Gesellschaften. Wie diese Grenzen zu ziehen plementär-populistische Programmatik. Nur bei Aus- sind, wird eine der Kernaufgaben der Politik in den blendung der europäischen Ebene erscheint zunächst kommenden Jahren sein. keine populistische, relationale Anti-Systempositionie- rung vorzuliegen. Sie pflegt eine Anti-Parteien-Rhe- Nun sind langfristig AfD und ALFA nicht aus- torik, opponiert klar gegen das aktuelle Institutionen- schließlich ein Problem der Union. Kurzfristig wird system der EU und strebt eine Rückkehr zu einer Art die AfD absehbar durch die Themenführerschaft be- EU an, die den früheren Bildern de Gaulles „des Eu- züglich restriktiver Flüchtlingspolitik und der For- ropas der Vaterländer“ sowie aktuell der britischen mulierung gesellschaftspolitisch konservativer Posi- Konservativen gleichen. tionen der Union, aber auch in geringerem Ausmaß allen anderen Parteien Wählerstimmen abspenstig Momentan mag ALFA noch nicht den allzu großen machen. Sollte bis zur Bundestagswahl die Flücht- Wählerrückhalt genießen. Für die landes- und bun- lingskrise thematisch in den Hintergrund treten, despolitische Ebene ist dies kurzfristig auch nicht zu muss mit einer Rückkehr dieser temporären Protest- erwarten. Ein hohes Potential hat diese Partei aber wähler zur Union gerechnet werden. Zumindest für bei Europawahlen. Sie bedient gleichermaßen euro- Westdeutschland erscheint derzeit die Attraktivität kritische Christdemokraten wie konservative Wirt- für eine erklärtermaßen Anti-System-Partei zu stim- schaftsliberale. Beide Gruppen werden bei national- men innerhalb der für die Union potentiell erreichba- staatlichen Wahlen weiterhin für Union und FDP vo- ren Wählerschaft als gering. In Ostdeutschland sieht tieren. Bei Wahlen zum Europaparlament gilt diese das durchaus anders aus. Zwei Szenarien wären dann Loyalität vermutlich nicht. Hier hat ALFA ein ab- denkbar: Entweder wird die AfD programmatisch sehbar hohes Potential, sich als reine relationale An- deutlich moderater, gibt ihre relationale Anti-Sys- ti-Euro-Partei zu etablieren. Die besondere Heraus- tem-Position auf und folgt im gewissen Sinne ihren forderung für die anderen Parteien entsteht dadurch, westdeutschen Landtagswahlwählern mit dem Ziel, dass ALFA ähnlich wie zuvor die AfD eine intellek- diese an sich zu binden. Oder die AfD radikalisiert tuelle Deutungshoheit über wirtschaftsliberale Posi-

48 MIP 2016 22. Jhrg. Franzmann – Die Programmatik von ALFA in Abgrenzung zur AfD: Droht Deutschland eine Spirale des Populismus? Aufsätze tionen anstrebt. Sie stellt damit mittelfristig die FDP gierung attackieren und somit erst die von ihnen vor die Aufgabe, ihrerseits den Begriff des Liberalis- selbst beklagten Funktionsstörungen der Parteiende- mus im Sinne des klassischen Liberalismus gegen- mokratie herbeiführen. Theoretisch Erfolg verspre- über einer konservativen Umdeutung zu verteidigen. chender erscheint eine Strategie, die bislang nicht Ferner droht durch das diskursive Zusammenspiel praktiziert wurde. Die nicht-populistischen Parteien von AfD auf Bundesebene und ALFA auf europäi- müssen schlicht wieder mehr Programmatik und scher Ebene eine populistische Spirale in Gang ge- Ideologie wagen. Sie müssen offensiv begründen, setzt zu werden. ALFA droht dabei wie zuvor die warum sie Anhänger einer pluralistischen Weltan- Ökonomen innerhalb der AfD unbeabsichtigt mode- schauung sind, warum Kompromisse zur Politik rater Türöffner für extremere Positionen zu werden. dazu gehören und dass solche pluralistischen, Min- So könnte ALFA auf europäischer Ebene einen Anti- derheiten berücksichtigenden Politikansätze sich bis- System-Diskurs etablieren. Die AfD wiederum profi- lang am Ende des Tages für die gesellschaftliche tiert mittelbar davon, da in der Folge auch ihr Anti- Entwicklung immer am nützlichsten erwiesen haben. System-Diskurs auf der nationalstaatlichen Bundes- Zudem ist nicht ausgeschlossen, dass ALFA die ebene nicht mehr so ungewöhnlich wirkt. Gegenüber Gründungsankündigungen wahrmacht und sich ihrer- dem harten populistischen und zum Teil rechtsradi- seits eindeutig auch gegen die innerparteilichen po- kalen Kern der PEGIDA-Bewegung wirkt die AfD pulistischen Tendenzen stemmt. Nur auf Grund der dann wiederum vergleichsweise moderat. PEGIDA Trennung der extremeren Anhänger in der AfD ist selbst profitiert schließlich davon, dass durch AfD dies aber noch nicht gewährleistet. und ALFA auf bundes- und europäischer Ebene An- ti-System-Diskurse etabliert werden. Die Spirale Literatur dreht sich dann weiter: Solange die AfD versucht, weiterhin sich als PEGIDA-Partei zu etablieren, wird Art, David (2011): Inside the Radical Right. Cam- sie sich zunehmend derer extremen Rhetorik bedie- bridge: Cambridge University Press. nen. ALFA hat dann Anreize, wiederum die Rhetorik Arzheimer, Kai (2015): The AfD: Finally a Success- zu verschärfen, um ehemalige AfD-Wähler, die eine ful Right-Wing Populist Eurosceptic Party for Ger- zunehmende Radikalisierung der AfD nicht mehr un- many? In: West European Politics 38 (3), 535-556. terstützen wollen, als Wähler zu gewinnen. Eine sol- che populistische Spirale könnte dann zu einem ech- Betz, Hans-Georg (1994): Radical Right-Wing Pop- ten Problem für die Funktionsweise der deutschen ulism in Western Europe, New York, St Martin’s Parteiendemokratie werden, wenn in der Folge sach- Press. orientierte Auseinandersetzungen über inhaltliche Bornschier, Simon (2010): The New Cultural Divide Fragen nicht mehr möglich wären. Eine Parallelität and the Two-Dimensional Political Space in Western von unzureichendem Diskurs bei gleichzeitiger Er- Europe. In: West European Politics 33(3), 419-444. schwernis der Regierungsbildung droht dann in einer Burke, Edmund (1968) [1793]: Betrachtungen über blockierten Republik im rhetorischen Daueralarmzu- die Französische Revolution. Aus dem Englischen stand zu enden. Nicht die Etablierung einer Partei übertragen von Friedrich Gentz. Zürich: Manesse rechts der Union, auch nicht die Etablierung einer Verlag. populistischen Partei im deutschen Parteiensystem bedroht potentiell die Funktionsweise der Parteien- Decker, Frank/Hartleb, Florian (2006): Populismus demokratie. Theoretisch denkbar wäre auch eine Er- auf schwierigem Terrain. Die rechten und linken Her- höhung der Repräsentationsqualität durch die neue ausfordererparteien in der Bundesrepublik, in: Frank Partei. Bedrohlich erscheint derzeit die Möglichkeit Decker (Hrsg.), Populismus. Gefahr für die Demokra- einer dauerhaften, sich selbst verstärkenden Spirale tie oder nützliches Korrektiv?, Wiesbaden, 191-215. populistischen Diskurses. Franzmann, Simon T. (2016a): Opposition und Staat. Zur Grundlegung der Parteiendemokratie. In: Sebastian Wie könnte eine solche Spirale des sich immer wei- Bukow, Uwe Jun und Oskar Niedermayer (Hrsg.) ter selbst verstärkenden Populismus gestoppt wer- Parteien in Staat und Gesellschaft. Zum Verhältnis den? Hier kann nur spekuliert werden. Die bisheri- von Parteienstaat und Parteiendemokratie, im Er- gen Erfahrungen im europäischen Ausland ergeben scheinen. wenig ermutigende Vorbilder. Die Einbindung popu- listischer Parteien in Regierungsverantwortung Franzmann, Simon T. (2016b): Calling the ghost of scheint kein Allheilmittel zu sein, solange die Popu- populism. The tactical and the strategic Agenda of listen von links oder rechts von innen heraus die Re- the German AfD. Manuskript Düsseldorf.

49 Aufsätze Franzmann – Die Programmatik von ALFA in Abgrenzung zur AfD: Droht Deutschland eine Spirale des Populismus? MIP 2016 22. Jhrg.

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50 MIP 2016 22. Jhrg. Franzmann – Die Programmatik von ALFA in Abgrenzung zur AfD: Droht Deutschland eine Spirale des Populismus? Aufsätze

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51 Aufsätze Reuband – Pegida im Wandel? Soziale Rekrutierung, politisches Selbstverständnis und Parteipräferenzen [...] MIP 2016 22. Jhrg.

Pegida im Wandel? Soziale Rekrutierung, allzu optimistisch − Demonstrationen fanden weiter- politisches Selbstverständnis und Partei- hin, wenn auch mit kleinerer Teilnehmerzahl, statt. präferenzen der Kundgebungsteilnehmer Gleichwohl blieb auch weiterhin die Vorstellung be- stehen, dass Pegida auf Dauer wenig Überle-

1 benschancen hätte, weniger aufgrund interner Zer- Prof. Dr. Karl-Heinz Reuband splitterung als aufgrund von Ermüdungserscheinun- gen. Die Aufbruchphase sei vorbei. „Heute ist Pegi- da vor allem eines: langweilig“, heißt es im Juli 2015 1. Einleitung in einem Zeitungsbericht. „Es scheint niemand mehr Keine andere soziale Bewegung hat in Deutschland so wirklich zu interessieren“ (Kalitz 2015). innerhalb einer so kurzen Zeit einen derartigen Auf- Der vermeintliche Niedergang jedoch blieb aus: Die schwung erlebt und sich in ihrem Dauerprotest zu Teilnehmerzahlen stiegen nach einer Phase der Sta- etablieren vermocht wie Pegida. Seit mehr als ein- gnation im Herbst 2015 wieder an und erreichten am einhalb Jahren versammeln sich in Dresden (nahezu) 19.10.2015 − dem Jahrestag der Bewegung − mit jeden Montag Tausende von Menschen, um ihren 15.000 bis 20.000 fast wieder das Niveau vom Januar Protest kundzutun. Von den Rednern werden die Ge- des Jahres. Seitdem ist die Zahl der Teilnehmer wie- fahren des Islams, der Flüchtlingszuwanderung und der gesunken und hat sich auf rund 3.000 bis 6.000 der Asylpolitik beschworen. Und auf Seiten der Teil- Personen eingependelt. Höhere Zahlen sind bei ein- nehmer wird einer symbolisch stark aufgeladenen zelnen Veranstaltungen mit herausgehobenem sym- Atmosphäre gehuldigt, zu der wiederholte, kollektiv bolischem Wert − wie am 06.02.2016 (gedacht als vorgetragene Rufe (wie „Merkel muss weg“ oder europaweiter Protesttag, mit 8.300 bis 9.200 Teilneh- „Lügenpresse“) wie auch das symbolträchtige Tra- mern in Dresden) − zwar noch möglich. Aber sie sind gen von Fahnen und nationalen Emblemen gehören. nicht die Regel. Von einem Niedergang von Pegida Waren es zu Beginn, am 20.10.2014, gerade mal 350 ist nichts zu erkennen, aber auch von keiner kontinu- Personen, die sich zum Protest einfanden, waren es ierlichen Ausweitung des Protests.3 zwei Monate später bereits 17.500 und am Wie stellt sich die Situation auf Seiten der Teilneh- 12.01.2015 − dem Höhepunkt der Bewegung mit der mer unter diesen Umständen dar? Die meisten Publi- größten Zahl an Protestteilnehmern − womöglich gar kationen, die ausführlichere Informationen zu Pegida 2 bis zu 25.000. Doch diese Hochphase war von kurzer bieten, stützen sich auf Befragungen, die am 12. Ja- Dauer. Interne Querelen in der Organisation des Pro- nuar 2015 − der Kundgebung mit der bislang größten tests und andere Einflüsse ließen die Zahl der Teil- Teilnehmerzahl − durchgeführt wurden (Vorländer nehmer fallen: auf Werte, die zeitweise bei unter et al. 2015, 2016, Geiges et al. 2015, Rucht et al. 2.000 lagen. Nicht wenige Beobachter haben ge- 2015; dazu vgl. auch Reuband 2015a). Zwei Wochen meint, das Ende von Pegida sei bereits eingeleitet. später kam es zu einer Erhebung durch Werner J. „Das ist der Anfang vom Ende der Pegida-Bewegung“, Patzelt, zwei weitere von ihm folgten im April und meinte Hajo Funke (Focus Online 28.01.2015), Mai (Patzelt 2015a, b). Letztere in einer Zeit, in der nachdem Lutz Bachmann − die zentrale Figur des Pro- sich Pegida in einer Phase der Stagnation befand und tests − Ende Januar 2015 wegen eines Hitler-Selfies zeitweise nicht mehr als 1.500 Personen zu mobili- (vorübergehend) von der Leitung zurückgetreten sieren vermochte. Seit diesem Tiefpunkt hat sich die war. Wenig später verkündete der Spiegel, nach der Bewegung wieder erholt, ist die Zahl der Teilnehmer Abspaltung des gemäßigteren Flügels um Kathrin wieder gestiegen. Und damit wird auch die Frage Oertel: „Pegida steht vor dem Aus … Pegida ist Ge- nach dem sozialen und politischen Profil der Teil- schichte“ (Spiegel Online 10.02.2015). Doch die nehmer erneut aufgeworfen. Prognosen eines baldigen Endes erwiesen sich als Im Folgenden soll der Frage auf der Basis einer neueren Befragung nachgegangen werden. Sie wurde 1 Der Autor ist Professor für Soziologie (em.), Institut für Sozi- von uns am 14. Dezember 2015 durchgeführt, auf alwissenschaften, Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. der 54. Kundgebung seit Beginn der Proteste, mit 2 Es handelt sich um Schätzungen der Polizei. Dieter Rucht und sein Team haben die Zahl auf 17.000 beziffert (Rucht et al. zwischen 5.400 und 5.800 Teilnehmern (Durchge- 2015). Seit dem 27.04.2015 bieten die sorgfältig ermittelten Schätzungen der Studentengruppe „Durchgezählt“ die beste 3 Eine Übersicht über die Entwicklung der Teilnehmerzahlen Basis für Aussagen über Teilnehmerzahlen und deren Ent- findet sich sowohl im Wikipedia-Eintrag zu Pegida als auch in wicklung. Zur angewandten Methodik siehe Pravermann und aktuellen Zusammenstellungen der Studentengruppe „Durch- Poppe (2015) sowie Durchgezählt (2015a). gezählt“ (2015a).

52 MIP 2016 22. Jhrg. Reuband – Pegida im Wandel? Soziale Rekrutierung, politisches Selbstverständnis und Parteipräferenzen [...] Aufsätze zählt 2015b).4 Fünf Fragestellungen sollen behandelt den Zugangswegen zur Veranstaltung. Wie zu erwar- werden: (1) Welcher Art ist die soziale Dynamik des ten war, konnte das systematische Auswahlprinzip in Protests? Welche sozialen Bezüge werden aktiviert? der Praxis nur in Teilen realisiert werden. Besonders (2) Woher kommen die Teilnehmer? Welche sozialen die Tatsache, dass kurz vor Beginn der Veranstal- Merkmale sind für sie typisch? (3) Wie stufen sie sich tung ein massiver Andrang der Teilnehmer stattfin- in ihrem Selbstverständnis auf der Links-Rechts-Di- det und diese z.T. in Gruppen mit eigener Dynamik mension politischer Orientierung ein? (4) Welche auftreten, erschwerte die Einhaltung. Eine einseitige Änderungen haben sich in der Links-Rechts-Selbst- Bevorzugung spezifischer Personengruppen kann einstufung ergeben? (5) Welchen Stellenwert haben seitens der Interviewer jedoch ausgeschlossen werden. die etablierten Parteien und welchen die AfD? Wel- Eingesetzt waren neun Interviewer − sechs Studenten che Parteien werden als Wahloption betrachtet? der TU Dresden6, drei der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Sie alle hatten zu einem früheren Zeit- 2. Methodisches Vorgehen punkt eine ausführliche Interviewerschulung durch- Empirische Grundlage ist eine Befragung von 331 laufen und verfügten über Erfahrungen mit der Kon- Teilnehmern. Die Befragung erfolgte schriftlich-pos- taktaufnahme und Durchführung mündlicher Befra- talisch und weicht damit methodisch von den früheren gungen (die Dresdner Studenten mit face-to-face Be- Erhebungen ab, die face-to-face oder online durchge- fragungen bei Pegida, die Düsseldorfer mit bundes- führt wurden (lediglich das Göttinger Institut für De- weiten CATI-Telefonbefragungen). Für die Kontakt- mokratieforschung setzte kurz zuvor ebenfalls einen aufnahme waren ihnen allgemeine Regeln und Argu- schriftlichen Fragebogen ein, vgl. Finkbeiner et al. mentationslinien vorgegeben, aber es war jedem 2016a). Vorteil schriftlich-postalischer Erhebungen überlassen, diese je nach den Erfordernissen abzu- ist, dass sie im Vergleich zu face-to-face Befragungen wandeln und an die Situation anzupassen. Derartige anonymer sind und man − insbesondere bei Vor-Ort flexibel gehaltene Vorgehensweisen haben sich bei Demonstrationsbefragungen − einen längeren Frage- der Durchführung von Bevölkerungsbefragungen als bogen einsetzen kann. Vorteil gegenüber Online-Be- sinnvoll erwiesen (vgl. auch Snijkers et al. 1999). fragungen ist, dass man auch Personen ohne Internet- Der Fragebogen war zusammen mit einem Anschrei- zugang einbeziehen kann und die Teilnahmerate üb- ben und Rücksendeumschlag („Porto zahlt Empfän- licherweise höher ausfällt (vgl. Reuband 2014). ger“) in einem DIN A5 Umschlag enthalten, der mit Angestrebt war eine systematische Randomauswahl. der Aufschrift „Pegida in Dresden“ und einem Ab- Der dabei präferierte Auswahlrhythmus orientierte bild der Silhouette von Dresden versehen war. Rund sich an der Zahl der auszugebenden Fragebögen, der zwei Drittel der angesprochenen Teilnehmer nahmen erwarteten Teilnehmerzahl und der Kooperationsrate den Fragebogen entgegen. Die anderen verweigerten im Verlauf der Erhebung.5 Positioniert waren die In- explizit (indem sie eine Verweigerung aussprachen) terviewer (ähnlich wie bei Vorländer et al. 2015) an oder implizit (indem sie wortlos weitergingen). Ins- gesamt war die Atmosphäre, auch unter den Verwei- 4 Die Thematik wurde nahezu zeitgleich zu unserer Untersu- gerern, entspannt. Von nennenswerten aggressiven chung erneut aufgenommen vom Göttinger Institut für Demo- Reaktionen gegenüber den Interviewern kann nicht kratieforschung am 30.11.2015 (zwei Wochen vor unserer Be- gesprochen werden.7 Die Tatsache, dass die endgülti- fragung, dazu vgl. Finkbeiner et al. 2016a) sowie − wenig später − ge Entscheidung für oder gegen die Befragung auf von Werner J. Patzelt von der TU Dresden am 25.01.2016 (vgl. Patzelt 2016; dazu vgl. auch Patzelt und Klose 2016). Eine wei- einen späteren Zeitpunkt verlagert wurde − weil man tere Erhebung von uns erfolgte am 06.02.2016 (Ergebnisse lie- gen derzeit noch nicht vor). Unsere eigenen Erhebungen wurden 6 Es handelt sich um Interviewer, die bereits an früheren Erhe- dankenswerterweise gefördert von der „Gesellschaft von Freun- bungen von Werner J. Patzelt teilgenommen hatten und dort den und Förderern der Universität Düsseldorf“. auch einer umfangreichen Schulung unterzogen worden waren. 5 Aufgrund früherer Demonstrationsbefragungen (vgl. u.a. Rucht Prof. Dr. Werner J. Patzelt und seinem Mitarbeiter Christian et al. 2015), eigenen Erfahrungen mit Publikumsbefragungen Eichardt, M.A. seien für die Unterstützung der Erhebung an und der erwarteten Teilnehmerzahl wurde geschätzt, wie viele dieser Stelle herzlich gedankt. der kontaktierten Personen den Fragebogen annehmen und 7 Dies gilt im Übrigen auch für unsere Folgeerhebung am wie viele ihn auch beantworten würden. Darauf aufbauend 06.02.2016. Demgegenüber stießen die Interviewer in der wurden zwei Szenarien mit mittlerer und niedriger Kooperati- kurz zuvor durchgeführten Umfrage von Patzelt (2016) auf onsbereitschaft dem Auswahlmodus zugrundelegt und den In- weniger Aufgeschlossenheit, was zum Teil der Tatsache ge- terviewern vorgegeben, welchen Auswahlrhythmus sie in Ab- schuldet sein dürfte, dass es sich um eine face-to-face Befra- hängigkeit von der situativ erfahrenen Kooperationsbereit- gung handelte und die Interviews auch während der Kundge- schaft wählen sollten. 810 zu verteilende Fragebögen bildeten bung durchgeführt wurden. In unserem Fall fiel die Kontakt- die Ausgangsbasis der Kalkulation. aufnahme vollständig auf die Zeit vor Beginn der Veranstaltung.

53 Aufsätze Reuband – Pegida im Wandel? Soziale Rekrutierung, politisches Selbstverständnis und Parteipräferenzen [...] MIP 2016 22. Jhrg. den Fragebogen erst zu Hause ausfüllen musste −, da-Online-Befragung von Rucht et al. (2015) liegt erwies sich hierbei als gewichtiger Vorteil: Auch zö- zwar unter der zu den „Montagswachen für den Frie- gerliche oder eher abweisende Personen konnten so den“ in Berlin, ist im Vergleich zu anderen Orten je- zur Annahme des Fragebogens motiviert werden. doch höher (Daphi et al. 2014: 8). Sie liegt ebenfalls höher als in Online- Befragungen von TTIP-De- Der von uns eingesetzte Fragebogen umfasste 11 Sei- monstranten in Berlin (Finkbeiner et al. 2015b: 40). ten mit Fragen und Statements zu Pegida und anderen Themen. Der Zeitaufwand für die Beantwortung dürf- Auch im internationalen Vergleich erweist sich die te durchschnittlich bei etwa einer halben Stunde gele- Ausschöpfungsquote unserer Pegida-Studie nicht als gen haben (bei älteren Befragten sogar noch mehr).8 unterdurchschnittlich: Sie liegt innerhalb des Wertebe- Je länger ein Fragebogen ist, je größer der Zeitauf- reichs, der bei Einsatz schriftlich-postalischer Befra- wand, desto geringer im Allgemeinen die Rücksende- gungen bei Demonstrationen (meist eher linker Prove- quote (Reuband 2014). Umso bemerkenswerter ist es, nienz) üblich ist. Gemessen am Durchschnittswert der dass 41 % der Teilnehmer, die den Fragebogen ange- vorliegenden Studien ist unser Wert sogar überdurch- nommen hatten, ihn auch ausgefüllt zurücksandten. schnittlich hoch.11 Mag es auch mitunter schwierig sein, Der Wert liegt sogar höher als in der Untersuchung des Pegida-Teilnehmer zu befragen (vor allem wenn man Göttinger Instituts für Demokratieforschung (= 33 %, mit Journalisten oder der Studentengruppe „Durch- vgl. Finkbeiner et al. 2016), bei der ein kürzerer − vier- gezählt“ verwechselt wird) − mit entsprechend aus- seitiger − Fragebogen zum Einsatz gekommen war. differenzierten Strategien und Argumenten ist es Dies ist ein Hinweis dafür, dass auch längere Fragebö- kein grundlegendes Problem. Von einer ausgepräg- gen kürzeren Fragebögen nicht zwangsläufig unterle- ten Verweigerungshaltung, die Pegida von anderen gen sein müssen (dazu vgl. auch Reuband 2015b: 222). sozialen Bewegungen und Protestveranstaltungen unterscheidet, kann nicht gesprochen werden: weder Es gibt keinen Hinweis dafür, dass sich die Pegida- in der Phase der Kontaktaufnahme12 noch der Beant- Teilnehmer überproportional wissenschaftlichen Be- wortung der Fragebögen. fragungen verweigern. Dies ist zwar in der Vergan- genheit behauptet worden (so z.B. Rucht et al. 2015: 3. Die soziale Dynamik des Protests 7, Vobruba 2015), hält aber einer näheren Prüfung nicht stand: weder im Vergleich mit methodisch ähn- Die Kundgebung, die den Gegenstand der folgenden lichen Open-Air-Befragungen zu anderen Themen9 Analyse bildet, zeichnete sich durch den üblichen Ab- noch im Vergleich mit anderen Demonstrationsbe- lauf der Pegida-Veranstaltungen aus: stattfindend an ei- fragungen neueren Datums (gleiche Befragungsme- nem Montag, auf einem zentralen Platz in der Altstadt thodologie vorausgesetzt).10 Die Quote der Pegi- − in unserem Fall dem „Theaterplatz“ nahe der Semper- oper − mit Veranstaltungsbeginn um 18:30. Die Kund- 8 Geschätzt auf der Basis einer eigenen Dresdner Bevölke- gebung beinhaltet in der Regel (so auch am Tag unserer rungsbefragung mit einem 11-seitigen Fragebogen aus dem Jahr 2014, bei der wir die Befragten am Schluss des Fragebo- Erhebung) drei Teile: Nach einer Auftaktveranstaltung gens um Angaben zu ihrem Zeitaufwand baten. mit Reden folgt ein Demonstrationszug durch die Stadt 9 So erreichten wir in einer Umfrage, die wir im Jahr 2014 bei (von Pegida als „Spaziergang“ bezeichnet) und eine einer Open-Air Operngala-Übertragung in der Düsseldorfer Abschlussveranstaltung am Ausgangsort. Alles zu- Altstadt durchführten und bei der ebenfalls der Fragebogen sammen dauerte ca. eineinhalb bis zwei Stunden. nur zurückgesandt und nicht vor Ort ausgefüllt werden konn- te, mit einem vierseitigen Fragebogen eine Rücklaufquote von 44 %. Besucherumfragen in Kultureinrichtungen erreichen bung (rückläufige Ausschöpfungsquoten seitdem bei Befra- trotz zusätzlicher Rückgabeoption vor Ort teilweise niedrigere gungen), der sozialen Zusammensetzung der Teilnehmer (ins- Werte (so z.B. bei Brauerhoch 2005). besondere hinsichtlich Bildung), der Länge des Fragebogens 10 und anderen Eigenheiten der Befragung zu tun haben. Im Üb- So erzielten Hornig und Baumann (2013: 7) bei einer schriftlich- rigen sei betont, dass die Höhe der Ausschöpfungsquote nicht postalischen Demonstrantenbefragung auf dem Frankfurter Flug- zwangsläufig mit der Qualität der Umfrage und Repräsentativität hafen Quoten von 43 % und 29 %. Auch die Erfahrungen mit der Ergebnisse gleichzusetzen ist (vgl. Reuband 2015a). face-to-face Befragungen sprechen gegen eine überdurchschnitt- 11 liche Verweigerungshaltung der Pegida-Teilnehmer. So erreichte Walgrave et al. (2016) kommen bei 51 Studien auf einen Durch- Patzelt zeitweise eine Ausschöpfungsquote von nahezu 50 % schnittswert von 33 %, bei 21 (etwas älteren) Studien liegt er bei (Inzwischen liegen die Werte niedriger, in seiner letzten Erhe- 41 % (Walgrave und Verhulst 2011) (eigene Berechnungen auf bung bei 37 %, vgl. Patzelt 2016). Wohl gibt es einen Unter- der Basis der Werte der einzelnen Erhebungen). schied zwischen unserer und der Göttinger Untersuchung 12 Bei uns nahmen zwei Drittel der Befragten den Fragebogen (Finkbeiner et al. 2016a) zu einigen (z.T. älteren) schriftlich- entgegen, in der Göttinger Umfrage rund die Hälfte, in der postalischen Demonstrationsbefragungen (vgl. Rucht et al. Online-Untersuchung von Rucht et al. (2015) waren es hinge- 2015a: 6). Dies mag aber weniger etwas mit der ideologischen gen nur 37 %, die den Flyer mit dem Link zur Online-Befra- Ausrichtung der Teilnehmer, als mit dem Zeitpunkt der Erhe- gung annahmen.

54 MIP 2016 22. Jhrg. Reuband – Pegida im Wandel? Soziale Rekrutierung, politisches Selbstverständnis und Parteipräferenzen [...] Aufsätze

Nicht alle Teilnehmer der Auftaktveranstaltung neh- so gut wie nie vor. Dies ist erwähnenswert, weil die men gewöhnlich auch am Demonstrationszug und Gelegenheit dafür bei dieser Kundgebung durchaus der Schlussveranstaltung teil. Nach Schätzungen der günstig war: Teile des vielbesuchten Weihnachts- Gruppe „Durchgezählt“, die regelmäßig die Teilneh- markts befanden sich in unmittelbarer Nähe. Einige merzahlen ermittelt, verlassen 10-20 % der Men- wenige Schritte am Dresdner Schloss vorbei hätten schen den Platz anderweitig (persönl. Mitteilung). direkt zum Veranstaltungsort von Pegida geführt. Bei der von uns erfassten Kundgebung wurde die Auch die Tatsache, dass von Pegida vor Beginn der Zahl der Personen, die nicht am „Spaziergang“ teil- Kundgebung auf dem Theaterplatz laute Weihnachts- nahmen, auf 705 (von zwischen 5.400 und 5.800 musik abgespielt wurde, hätte Menschen anlocken Teilnehmern) beziffert (Durchgezählt 2015b). Dies können. Aber für die einheimischen Dresdner (und entspräche einem Anteil von ca. 13 %. womöglich auch die Nicht-Dresdner) war Pegida vermutlich schon zu sehr Routine geworden und zu In unserer Untersuchung gaben praktisch alle Be- wenig attraktiv, als dass Interesse und Neugier − mit- fragten (96 %) an, sich die ganze Zeit bei der Auf- begünstigt durch Sympathie für Pegida − sie zum taktveranstaltung aufgehalten zu haben. Nur für eini- Besuch hätte verleiten können.14 Dass Passanten ge wenige galt dies nicht − es handelte sich meist um nach Beginn der Kundgebung zufällig dazu stießen, „Nachzügler“, die verspätet am Veranstaltungsort ist zwar denkbar. Dass dies in nennenswertem Maße eintrafen, dann aber bis zum Schluss blieben. Von geschah, ist jedoch unwahrscheinlich. denen, die an der Auftaktveranstaltung ganz oder zeitweise anwesend waren, nahmen 90 % am „Spa- Aufgesucht wurde die Veranstaltung meist in Beglei- ziergang“ teil, 81 % auch noch an der Abschlussver- tung. Lediglich 22 % der Befragten gaben an, allein anstaltung. Alles in allem spiegeln unsere Befunde gekommen zu sein. Wer bislang nur einige wenige damit ziemlich gut die Verhältnisse wieder, wie sie Male bei Pegida war oder aus Dresden stammte, war für Pegida-Kundgebungen typisch sind. etwas häufiger ohne Begleitung. Wer mit anderen Personen kam, tat dies nicht selten in einer größeren Bezogen auf die Gesamtheit der Befragten blieben Gruppe. Vermutlich handelte es sich um keinen zu- 78 % der Befragten von Anfang bis zum Schluss. Es fällig neu entstandenen, sondern um einen schon län- handelt sich um einen höchst engagierten Kreis: mit ger bestehenden Kreis von Personen. Unter diesen einer im Durchschnitt (arithmetisches Mittel) rund 28- Umständen wäre die Entscheidung zur wiederholten maliger Teilnahme an den Demonstrationen in Dres- Teilnahme an den Kundgebungen in vielen Fällen den (bei denen, die weniger lang blieben, liegen die mehr als nur eine individuelle Entscheidung. Sie un- Werte etwas niedriger).13 Entsprechend hoch ist ihre terläge zugleich gruppendynamischen Einflüssen: Identifikation mit Pegida: sie gaben auf ein entspre- mit Anstößen, die nicht nur von der Person selbst, chendes Statement überproportional häufig an, sich sondern auch von ihrer interpersonalen Umwelt Pegida besonders eng verbunden zu fühlen. Und sie stammen. Darüber hinaus kommt den Kontakten eine zeichnen sich durch eine hohe Bereitschaft aus, für die wichtige Funktion für die Herausbildung spezifi- Veranstaltung einen größeren Aufwand auf sich zu scher Weltbilder zu: sie begünstigen soziale und nehmen: so stammen sie überproportional häufig nicht kommunikative Formen der Bekräftigung, in deren aus Dresden oder dem Umland, sondern aus anderen Verlauf sich soziale Bindungen und Realitätsdefini- Teilen Sachsens. Um nach Dresden zu gelangen, müs- tionen herausbilden und stabilisieren.15 sen sie längere Anfahrten in Kauf genommen haben. Bei fast allen Befragten erfolgte die Teilnahme ziel- gerichtet. Dass Personen zufällig dazu stießen, kam 14 Einen Fragebogen, der von einem Nicht-Pegida-Anhänger 13 Die Angaben zur Häufigkeit bisheriger Teilnahme muss man ausgefüllt wurde, der sich − wie er mitteilte − lediglich am Ort als Schätzwerte ansehen, kaum jemand wird Buch über seine aufhielt, um sich mal die Kundgebung anzuschauen, schlos- Demonstrationsteilnahme führen. Eine Tendenz zur Über- sen wir aus der Auswertung aus. schätzung ist bei manchen Befragten nicht auszuschließen. So 15 Die Bedeutung interpersonaler Beziehungen und sozialer gaben einige wenige Befragte Häufigkeiten an, die über der Netzwerke für politisches Verhalten ist insbesondere von Paul möglichen Zahl lagen. Ihre Angaben gehen in die Berechnung F. Lazarsfeld herausgearbeitet worden (u.a. Lazarsfeld et al. hier mit der maximal möglichen Zahl ein. Für die Gesamtheit 1968 [1944], Berelson et al. 1954. In neuerer Zeit ist das In- der Pegida Befragten liegt das arithmetische Mittel bei 26-mal teresse daran in der politischen Soziologie − nach langer Zeit (der Median bei 25). In den Erhebungen, die im Januar 2015 der Abstinenz − z.T. wieder erwacht (vgl. u.a. Huckfeldt et al. durchgeführt wurden, lag der Wert noch bei 4 (Vorländer et 1992, Zuckerman 2005). Zur Bedeutung sozialer Beziehun- al. 2015a, Rucht et al. 2015), im April/Mai bei 16 (Patzelt gen vor dem Hintergrund kognitiver Dissonanzerfahrungen, 2015b). Die Pegida-Demonstranten setzen sich offenbar in speziell auch im Hinblick auf die Wahlentscheidung für rech- zunehmendem Maße aus einem Stammpublikum zusammen. te Parteien, siehe Reuband (1971).

55 Aufsätze Reuband – Pegida im Wandel? Soziale Rekrutierung, politisches Selbstverständnis und Parteipräferenzen [...] MIP 2016 22. Jhrg.

Manche Gruppen mögen sich aus bestehenden sozia- Es gibt auch keine empirischen Belege dafür, dass die len Bezügen am Heimatort gebildet haben, andere Dresdner in ihren Einstellungen gegenüber Auslän- beim Besuch der Pegida-Veranstaltungen entstanden dern kritischer oder feindlicher eingestellt sind oder sein: z.B. auf dem Heimweg, wenn man realisiert, dass waren als die Bewohner anderer Großstädte. Dies andere Personen auf dem Weg ebenfalls bei Pegida wird zwar des Öfteren als quasi-selbstverständlich waren, oder auf dem Demonstrationszug durch die unterstellt − auch in wissenschaftlichen Abhandlun- Stadt. Fragt man, ob man auf früheren Pegida-Kund- gen (z.B. bei Lucke 2015: 5) −, doch es entspricht gebungen neue Kontakte geknüpft hätte, die man nicht der Realität. Die empirischen Befunde, basie- weiterhin pflegt, gaben 53 % der Teilnehmer solche rend auf repräsentativen Bevölkerungsumfragen, er- Kontakte an. Je häufiger sie an den Kundgebungen bringen keine Belege für die These (Reuband 2015a: teilgenommen hatten, desto eher traf dies zu. In wel- 137 f.).17 Dass Dresden zum Ort des Protests wurde, cher Form sie die Kontakte unterhielten − ob ledig- hat eher mit Dresden als Sitz der Landesregierung, der lich auf der Ebene freundlicher Begrüßung und des symbolischen und kulturellen Bedeutung der Stadt Gesprächs während der Kundgebung oder auch da- und wohl auch mit Zufälligkeiten zu tun: denn die Or- nach, muss an dieser Stelle ungeklärt bleiben. ganisatoren des Protests stammen aus dem Umland von Dresden. Wären sie nahe Leipzig ansässig, wäre 4. Die soziale Zusammensetzung der Teilnehmer womöglich Leipzig zum Ort des Protests geworden. Dresden ist der Ort des Pegida-Protests. Aber der Ort Die Teilnehmer des Pegida-Protests setzen sich des Protests muss nicht der Ort sein, aus dem die Teil- mehrheitlich aus Männern zusammen. In der Mehr- nehmer stammen. Bei der Großkundgebung im Januar zahl der Untersuchungen liegt ihr Anteil zwischen 2015, zu der zwischen 17.000 und 25.000 Menschen 72 % und 77 % (Vorländer et al. 2015, 2016, Rucht kamen, stammten mehr als 60 % von außerhalb (Vor- et al. 2015, Geiges et al. 2015). Und daran hat sich länder et al. 2015, Rucht et al. 2015, Geiges et al. bis heute nichts geändert. In unserer Studie beläuft 2015). Bei den Folgekundgebungen, bei denen die sich der Anteil auf 75 %. Anders dagegen die Ver- Teilnehmerzahlen erheblich gefallen waren − auf hältnisse bezüglich der Alterszusammensetzung: In Werte zwischen rund 1.500 und 3.000 − änderte sich der Vorländer-Untersuchung, die in diesem Fall die dies: die Zahl der auswärtigen Teilnehmer nahm ab- beste Ausgangsbasis bietet, fand sich bei den Befrag- solut wie relativ ab. Der Anteil der Dresdner stieg. ten ein Durchschnittsalter von 48 Jahren (Vorländer So ermittelten Patzelt und Eichardt in ihrer Untersu- et al. 2016: 58). Gemessen am Durchschnittsalter der chung am 27. April einen Dresdner Anteil von 54 % sächsischen Bevölkerung mit deutscher Staatsange- und am 4. Mai von 61 % (Patzelt 2015b: 11). In un- hörigkeit (16 Jahre und älter) − es liegt bei 53 Jahren serer Untersuchung waren 51 % aus Dresden, 32 % (Statistisches Landesamt Sachsen, persönliche Mit- aus dem Umland, 11 % aus den anderen Teilen teilung) −, bedeutet dies eine leichte Überrepräsenta- Sachsens und 6 % aus anderen Teilen der Bundesre- tion der Jüngeren. 18 Der Altersdurchschnitt in unse- publik oder dem Ausland. mehr aus einem festen Stammpublikum bestehen. Was die Dass nicht mehr als die Hälfte der Teilnehmer in Ablehnung von Pegida angeht, schließt diese eine partielle Dresden ansässig ist, lässt all jene Interpretationen Zustimmung zu den Themen und Anliegen von Pegida nicht zwangsläufig aus. In welchem Umfang dies zutrifft, variiert obsolet werden, welche die Pegida-Teilnehmer mit von Umfrage zu Umfrage (vgl. Fehser 2015, DNN 2016b), es Dresdnern gleichsetzen und Pegida als ein Ausdruck ist auch eine Funktion der jeweiligen Frageformulierung. Dresdner Besonderheiten und Mentalitäten interpre- 17 Es gibt auch keine Hinweise dafür, dass sich die Einstellun- tieren. Tatsächlich aber wird Pegida, so zeigt sich in gen kurz vor der Entstehung von Pegida verschlechtert hätten. repräsentativen Befragungen, von den Dresdnern Das Gegenteil ist der Fall: die Dresdner waren zu dieser Zeit mehrheitlich abgelehnt (Stern Online 2015, Fehser gegenüber Ausländern positiver eingestellt als jemals zuvor (Reuband 2016). Ob sich die Dresdner von den Bürgern ande- 2015). Nicht mehr als 7 % haben eigenen Angaben rer Städte und ihrer Bereitschaft unterscheiden, ausländer- zufolge schon mal an einer Pegida-Demonstration feindliche Einstellungen eher in entsprechendes Verhalten teilgenommen. Die Zahl derer, die an einer Gegende- umzusetzen und sich auch eher ausländerfeindlich äußern, ist monstration teilnahmen, ist größer (DNN 2016b).16 eine andere Frage, die hier nicht geklärt werden kann. 18 Bei der Berechnung des Altersdurchschnitts der Bevölkerung 16 Dass die Zahl derer, die an Gegendemonstrationen teilnah- muss man zwangsläufig die Altersuntergrenzen der Vergleichs- men, größer ist, mag erstaunen − übertrifft doch die Zahl der population zum Maßstab nehmen und nicht das Durch- Pegida-Demonstranten regelmäßig die Zahl der Teilnehmer an schnittsalter als Ganzes (das in den Statistiken ebenfalls Kin- Gegendemonstrationen. Aber dies muss kein Widerspruch der umfasst). In den vorliegenden Pegida-Untersuchungen sein: wenn die Teilnahmefrequenz bei den Gegendemonstran- liegt das Alter der jüngsten Befragten bei 15-16 Jahre − wes- ten geringer ist als bei den Pegida-Demonstranten, letztere wegen wir für den Vergleich als Untergrenze 16 Jahre zugrun-

56 MIP 2016 22. Jhrg. Reuband – Pegida im Wandel? Soziale Rekrutierung, politisches Selbstverständnis und Parteipräferenzen [...] Aufsätze rer Untersuchung hingegen beläuft sich auf 59 Jahre. älter geworden, aber sie sind innerhalb der vorgege- Entsprechend größer geworden ist der Anteil der benen Quoten gealtert.20 Rentner (46 %). Die Älteren sind im Vergleich zur Methodische Gründe, die aus dem Wechsel des Be- Bevölkerung nunmehr überrepräsentiert. fragungsmodus erwachsen, scheiden als Erklärung Natürlich stellt sich die Frage, ob die beiden Erhe- für den Altersanstieg weitgehend aus. Gemessen an bungen die Realität hinreichend abbilden oder Ver- Bevölkerungsumfragen, die sich schriftlich-postali- zerrungen unterliegen, sei es aufgrund idiosynkrati- scher Befragungsmethoden bedienen, sind die Effek- scher Zusammensetzung mancher Protestveranstal- te des Befragungsmodus nicht groß genug, um die tungen oder anderen Gründen. Dass die überpropor- beschriebenen Veränderungen zu erklären. 21 Auch tionale Repräsentation Jüngerer in der Vorländer- internationale Erfahrungen mit Demonstrationsbefra- Untersuchung keine Besonderheit der Erhebung dar- gungen, die sich unterschiedlicher Erhebungsverfah- stellt, legen die Eindrücke nahe, die aufmerksame ren bedienen (face-to-face vs. schriftlich-postalisch), Beobachter bei den Demonstrationen Ende 2014 ge- lassen eindeutige Rückschlüsse nicht zu. Es gibt zwar wannen. Sie schreiben, dass das Publikum jung bis in einigen Studien Hinweise für einen Alterseffekt, mittleren Alters sei, es mehr jüngere als ältere Teil- in anderen jedoch nicht. 22 Auch eine etwaig vorhan- nehmer gäbe (vgl. u.a. Hübler 2015, Schneider 2015, dene „Befragungsmüdigkeit“ − verursacht durch zu Maron 2015). Auch die Ergebnisse der Online-Befra- viele Befragungen − scheidet als Erklärung aus: zwar gung von Rucht et al. (2015) und des Göttinger Insti- hat es zuvor bereits mehrere Erhebungen gegeben tuts für Demokratieforschung (Geiges et al. 2015), die (zuletzt zwei Wochen vorher), und rund die Hälfte sich auf die gleiche Kundgebung wie Vorländers Un- der Befragten wurde früher schon mal im Zusam- tersuchung beziehen, deuten in die gleiche Richtung, menhang mit einer Pegida-Veranstaltung befragt.23 auch wenn das Durchschnittsalter durch die Wahl ei- 20 Die Übernahme der früher bereits eingesetzten Quotierung hat ner Online-Befragung sicherlich etwas zu niedrig den Vorteil einer Konstanthaltung sozialer Randbedingungen eingeschätzt wird. auf der Ebene sozialer Merkmale, aber als Nachteil, dass sich mögliche zwischenzeitliche Veränderungen in der sozialen Was unsere Befragung und ihre Ergebnisse angeht, Zusammensetzung nicht abbilden lassen. Wird dieser Tatbe- erweisen sich diese ebenfalls nicht als einzigartig. stand nicht beachtet − wie mitunter in der Rezeption dieser Auch eine kurz zuvor stattgefundene schriftlich-pos- Befunde durch Medien −, werden falsche Schlüsse gezogen. talische Untersuchung des Göttinger Instituts für De- 21 In einer 2014 in Dresden durchgeführten Bevölkerungsumfra- mokratieforschung erbrachte ein höheres Durch- ge (mit einer Ausschöpfungsquote von etwas über 50 %) lag das Durchschnittsalter in der Bruttostichprobe bei 48,0 Jahren schnittsalter als frühere Untersuchungen (Finkbeiner in der realisierten Stichprobe unter den Befragten bei 50,4. et al. 2016a). Erfasst wurde das Alter zwar lediglich Würde man sich auf diejenigen beschränken, die ohne weite- in Altersklassen, rechnet man diese jedoch um, kann res Erinnerungsanschreiben innerhalb der ersten Woche ant- man in etwa den Altersdurchschnitt bestimmen. Er worteten, kommt man auf einen Wert von 51,0 Jahren. In ei- 19 ner 2011 in Hamburg durchgeführten Bevölkerungsumfrage liegt bei (ca.) 54 Jahren. Der Wert ist nicht so hoch (mit Ausschöpfungsquote 44 %) lag in der Bruttostichprobe wie unserer, macht aber ebenfalls deutlich, dass die das Durchschnittsalter bei 47,3, unter den Befragten bei 48,7, früher bestehenden Altersverhältnisse nicht mehr zu- bei Beantwortung ohne Mahnung bei 50,0 Jahren. In einer treffen. Weitere Untersuchungen, die Licht auf die 1991/92 in Köln durchgeführten Bevölkerungsumfrage (Aus- veränderte Alterszusammensetzung werfen könnten, schöpfungsquote 70-71 %) lag das Durchschnittsalter der face- to-face Befragung bei 45,5, der postalisch Befragten bei 46,9. gibt es leider nicht. Die Replikationsuntersuchung Die Differenz beläuft sich bei allen drei Vergleichen auf ma- von Patzelt, die sich einer Quotenstichprobe bedient, ximal 2 Jahre bzw. − bei Beschränkung auf die Befragten, die vermag nicht weiterzuhelfen, weil sie bei der Quotie- ohne Mahnaktion antworteten auf drei Jahre (jeweils eigene rung frühere Altersverteilungen zugrundelegte. Zwar Erhebungen). sind auch hier die Teilnehmer im Lauf der Zeit etwas 22 In den 48 Studien, die Walgrave et al. (2016: 95) aufführen, gab es bei 15 statistisch signifikante Alterseffekte: die Älteren waren in der schriftlich-postalischen Befragungen stärker ver- treten. Wie stark die Unterschiede auf der Ebene des Alters- delegen (in unserer eigenen Untersuchung liegt die unterste durchschnitts waren, wird jedoch nicht mitgeteilt. Keine An- Altersgrenzen etwas höher, die Spannweite des Alters reicht gaben dazu finden sich ebenfalls bei Rüdig (2008), der in sei- von 21 bis 86 Jahren). ner Studie einen ähnlichen Alterseffekt konstatiert. 19 Das Alter wurde in sechs Altersklassen erfasst (16-25, 26-35 23 In der Patzelt-Untersuchung (2016) gaben 30 % an, vorher … 66 und älter). Diesen wurde von uns jeweils der mittlere schon mal befragt worden zu sein. Aufgrund des Einleitungs- Wert zugewiesen, im Fall der über 65-jährigen der Wert 72 textes ist nicht auszuschließen, dass die Befragten vor allem Jahre (letzterer geschätzt auf der Basis des Durchschnittsalters an frühere Erhebungen von Patzelt dachten und deshalb der der Befragten in dieser Altersgruppe unter den von uns be- Wert unter unserem liegt. Eine zweite mögliche Erklärung ist, fragten Pegida-Anhänger). dass sich unsere Erhebung unterscheidet, weil wir verschiede-

57 Aufsätze Reuband – Pegida im Wandel? Soziale Rekrutierung, politisches Selbstverständnis und Parteipräferenzen [...] MIP 2016 22. Jhrg.

Doch diejenigen, die in unserer Erhebung erstmals nalen Herkunft der Teilnehmer in der Vorländer-Er- befragt wurden, sind nur unwesentlich jünger als die hebung vom Januar 2015 orientieren (damals stamm- Interviewerfahrenen (58,1 vs. 60,5 Jahre). ten 40 % aus Dresden), und die Daten entsprechend gewichten, käme man für die Teilnehmer, die den Hinweise dafür, dass sich tatsächlich Veränderungen Fragebogen annahmen, auf einen Altersdurchschnitt in der Alterszusammensetzung vollzogen haben von 55 Jahren. könnten, lassen sich − mit der gebotenen methodi- schen Vorsicht − aus den Ergebnissen einer Folgeer- An diesen Zahlen gemessen hat sich tatsächlich eine hebung ableiten, die wir rund sieben Wochen später Altersverschiebung im Lauf der Zeit vollzogen. In- − am 06.02.2016 − in Dresden durchführten und bei wieweit eine überproportionale Befragungsbereitschaft der wir eine face-to-face Befragungskomponente in Älterer den Altersdurchschnitt unserer schriftlichen das Forschungsdesign einbezogen.24 Bei dieser Erhe- Befragung noch weiter in die Höhe getrieben hat26, bung wurde eine Auswahl der kontaktierten Personen oder andere Gründe eine Rolle spielen, muss unge- von den Interviewern nach ihrem Alter gefragt bzw. klärt bleiben. Entscheidender ist an dieser Stelle, dass das Alter bei denen, die sich unkooperativ zeigten, sich überhaupt eine Altersveränderung ereignet hat, mehrheitlich (in Form von Altersgruppen) geschätzt. und die Teilnehmer älter sind als in der Früh- und Dass eine derartige Schätzung des Alters das reale Hoch-Phase der Bewegung. Alter − zumindest auf der Aggregatebene − brauch- Nicht zuletzt aufgrund des höheren Durchschnittsal- bar erfassen kann, haben Untersuchungen zu anderen ters (die ältere Generation verfügt über eine niedrigere Themen dokumentiert (vgl. Hüfken 1998: 29). Bildung), sind die besser Gebildeten nicht (mehr) so Durch den Kontakt an den Zugangswegen vor Be- stark vertreten wie früher. 9 % gaben einen Haupt- ginn der Kundgebung und die Wahl einer fa- oder Volksschulabschluss an (bzw. POS 8. Klasse), ce-to-face Befragung wurden mit unserer Zusatzer- 42 % einen Realschulabschluss (bzw. POS 10. Klasse), hebung ähnliche äußere Befragungsbedingungen ge- 21 % die Fachhochschulreife/Abschluss einer Fach- schaffen wie in der Vorländer-Untersuchung, die uns oberschule und 20 % die Hochschulreife (Abitur, als Ausgangsbasis dient. In unserem Fall beschränkte Gymnasium oder EOS). Auf sonstige Abschlüsse sich der face-to-face Teil auf drei Fragen: zur Regel- mäßigkeit der Pegida-Teilnahme, dem Wohnort (Dresden oder woanders) und als drittes auf das Al- 2016): Wie man dem Feldbericht entnehmen kann, gelang es ter. Ermittelt wurde in dieser Weise, auf der Basis den Interviewern überproportional oft nicht, die Quotenvorga- der Befragungen oder der Schätzungen, ein Durch- ben für die jüngeren Teilnehmer zu erfüllen. Allerdings ist nicht auszuschließen, dass neben Verweigerungen auch schnittsalter der Teilnehmer von 54 Jahren. Differen- Schwierigkeiten bei der Einhaltung der Quotenvorgaben mit ziert nach Kooperationsbereitschaft erwiesen sich dazu beitrugen − weil Jüngere, wie es unsere Daten nahele- die Jüngeren etwas häufiger als die Älteren als Ver- gen, nicht mehr so häufig auf der Kundgebung präsent waren weigerer: Während sich das durchschnittliche Alter wie zu früheren Zeiten. derer, die den Fragebogen annahmen (N=173), auf 26 Auch in unserer Befragung vom 06.02.2016, bei welcher der 55 Jahre belief (unter den Dresdnern gar auf 58 Jah- gleiche Fragebogen wie in der hier verwendeten Untersuchung eingesetzt wurde, ergab sich mit 58,5 Jahren ein ähnlicher Al- re), lag es unter den Verweigerern (N=82) bei (ge- tersdurchschnitt. Dass die unterschiedliche Länge des Fragebo- 25 schätzten) 52 Jahren. Würde man sich an der regio- gens den Unterschied zwischen der Göttinger (Altersdurch- schnitt 54 Jahre) und unserer Untersuchung erklären könnte, ist nen Formen der Befragung − face-to-face, Online, schriftlich- unwahrscheinlich. So erbrachte der Vergleich eines 11-seitigen postalisch − in der Frage spezifizierten und dies den „Recall“ Langfragebogens mit einem 4-seitigen Kurzfragebogen in einer begünstigte. Eine dritte mögliche Erklärung ist, dass sich an Düsseldorfer Bevölkerungsumfrage (dazu vgl. Reuband 2015b) unserer Befragung überproportional Personen beteiligten, die keinen statistisch signifikanten Altersunterschied. Dass es einen schon mal an einer Pegida-Befragung teilgenommen hatten. Unterschied macht, ob man die Fragebogenverteilung vor Be- ginn (wie in unserer Untersuchung) oder auch noch später 24 Es handelt sich um eine Kundgebung an einem Samstagnachmit- vornimmt (wie bei den Göttingern), ist ebenfalls nicht anzu- tag auf dem „Königsufer“ gegenüber der Altstadt Dresdens. Die nehmen: schließlich ist die Zahl derer, die nach Beginn der Erfassung des Alters − mittels Befragung oder Beobachtung − Veranstaltung dazu kommen, in der Regel vernachlässigens- durch die Interviewer erfolgte in überproportionaler Weise in der wert. Vermutlich handelt es sich bei den Differenzen zwi- Zeit zwischen 14:00 und 14:30. In der Folgezeit war der An- schen unserer und der Göttinger Untersuchung um nicht un- drang z.T. so stark, dass mehr auf eine angemessene Verteilung übliche Schwankungen in der Alterszusammensetzung der der Fragebögen geachtet werden musste als auf eine systemati- Teilnehmer, abhängig vom erwarteten Event-Charakter der sche Erfassung der sozialen Merkmale der Kontaktpersonen. Veranstaltung, den Rednern, dem Wetter etc. So wäre z.B. Damit ist ein potentieller „Bias“ in der Erfassung gegeben. denkbar, dass der starke Regen an dem Abend, an dem die 25 Hinweise dafür, dass sich die Jüngeren eher der Befragung Göttinger ihre Befragung durchführten, überproportional stark entziehen, gibt es auch in der Patzelt-Untersuchung (Patzelt die Älteren von einer Teilnahme an der Kundgebung abhielt.

58 MIP 2016 22. Jhrg. Reuband – Pegida im Wandel? Soziale Rekrutierung, politisches Selbstverständnis und Parteipräferenzen [...] Aufsätze entfallen 8 %.27 Klammert man letztere aus der Be- unter den Pegida-Teilnehmern muss daher nicht − wie rechnung aus, kommt man auf einen Anteil von 45 %, manche Autoren meinen (so z.B. Nachtwey 2015: der über eine Fachhochschul- oder Hochschulreife 85) − ein Krisenerleben der Mittelschicht und ein verfügt, unter den Pegida-Teilnehmern aus Dresden daraus entstehendes „autoritäres Syndrom“ widerspie- sind es 54 %. In der Bevölkerung der Stadt Dresden geln. Ebenso wenig schlagen sich darin typische Re- liegt der entsprechende Anteil bei einer vergleichba- aktionen der Mittelschicht auf Krisensituationen nie- ren Geschlechtsverteilung bei 46 %.28 der, wie sie aus der Historie bekannt seien.32 Die besser Gebildeten sind demnach weiterhin überre- 5. Politische Selbstpositionierung auf der Links- präsentiert. Dies trifft auch dann zu, wenn man anstel- Rechts-Skala le der Dresdner die Sachsen als Maßstab nimmt: So liegt unter den von außerhalb Dresdens stammenden Einer in der Öffentlichkeit vielfach geäußerten Sicht- sächsischen Pegida-Teilnehmern29 der Anteil mit weise zufolge ist Pegida im Lauf der Zeit radikaler Fachhochschul- oder Hochschulreife bei 43 %, in der geworden und hat sich weiter politisch nach „rechts“ sächsischen Bevölkerung liegt er bei 23 %.30 Bei einer bewegt. Mehr denn je weise die Bewegung ein Pegida vergleichbaren Geschlechts- und Altersvertei- rechtsradikales Profil auf. Die Reden seien hetzeri- lung lägen die Werte – generationsbedingt – zwar dar- scher und gehässiger geworden. Als am 19. Oktober unter, doch die besser Gebildeten blieben weiterhin 2015, beim einjährigen „Jubiläum“ der Bewegung, überrepräsentiert.31 Von einem grundlegenden Wandel, der türkisch-stämmige Schriftsteller Emin Pirincci der Pegida zu einer Massenbewegung schlechter Ge- als Redner auftrat, er Flüchtlinge, Muslime und bildeter gemacht hat, kann nicht gesprochen werden. Politiker beschimpfte und mit einem Anflug des Be- Der Bildungszusammenhang mag angesichts der dauerns äußerte, es gäbe ja keine KZs mehr, war für Verteilung ausländerfeindlicher Einstellungen in der viele Beobachter die Grenze zum Rechtsextremis- Bevölkerung erstaunen − man findet sie eher unter mus endgültig überschritten. Dies galt umso mehr, den schlechter als den besser Gebildeten (Reuband als auf der vorangegangenen Demonstration ein Teil- 2015a: 139) −, vom Stellenwert der Bildung für die nehmer eine Galgen-Attrappe getragen hatte mit der politische Partizipation ist es jedoch nicht verwun- Aufschrift, dieser sei reserviert für Angela Merkel derlich. Denn besser Gebildete sind allgemein eher und Sigmar Gabriel. als schlechter Gebildete zu unkonventionellen Formen Von diesen Ereignissen zur Orientierung und Moti- der Partizipation bereit (dazu vgl. u.a. Barnes/Kaase vation der Teilnehmer war für viele Kommentatoren et al. 1979, Lüdemann 2001). Ihre Überrepräsentation und Politiker nur ein kurzer Schritt. Die Teilnehmer 27 Anders als in den Erhebungen von Vorländer, Geiges et al. wurden zu Komplizen erklärt, ihre eigenen Orientie- und Patzelt erfassten wir den höchsten allgemeinbildenden rungen mit dem Geschehen gleichgesetzt und sie Schulabschluss und klammern Berufsausbildungs- und Be- letztlich mit dafür haftbar gemacht.33 So verkündete rufschulabschlüsse aus. Damit ist eine bessere Vergleichbar- Justizminister , es gebe keine Ausreden keit mit dem Mikrozensus und mit den herkömmlichen Bil- mehr: „Wer Galgen baut und Menschen daran bau- dungskategorien in Bevölkerungsumfragen gegeben. meln sehen will, setzt Hemmschwellen herab. Nie- 28 Eigene Berechnungen auf der Basis des Mikrozensus 2014, nach Angaben des Statistischen Landesamtes Sachsen (per- mand der da mitläuft, kann sich von der Verantwor- sönliche Mitteilung). tung frei machen für die Taten, die diese Hetze inspi- 29 Umland von Dresden und übriges Sachsens zusammengefasst. riert. Für brennende Heime oder verletzte Flücht- Die Mehrheit entstammt im vorliegenden Fall dem Umland, lingshelfer.“ (Rheinische Post- Online, 17.10. 2015). verfügt vermutlich im Durchschnitt über eine höhere Bildung als die aus anderen Teilen des Landes stammenden Befragten. 32 Häufig werden Parallelen zur NS-Zeit gezogen und die Mitte − in 30 Der Anteil derer mit Fachhochschul- oder Hochschulreife Form der unteren Mittelschicht − für den Aufstieg des National- liegt in der Bevölkerung Sachsens bei den Männern bei 24 % sozialismus verantwortlich gemacht (vgl. u.a. Nachtwey 2015). und den Frauen bei 20 % (hier Bevölkerung ab 15 Jahren. Damit wird einer überholten Erklärung gefolgt, die ursprünglich Personen ohne Schulabschluss − meist sind es noch Schüler − aus den 1930er Jahren stammt. Dass die NSDAP in ihrer Rekru- nicht mitgerechnet). Basis Statistisches Landesamt Sachsen tierung von Wählerstimmen eher einer Volkspartei glich, hat be- (2015: 125); eigene Berechnungen. sonders Jürgen Falter in seinen Untersuchungen dargelegt. 31 So liegt z.B. unter den 55-64-jährigen Männern der Anteil mit 33 Bei einer zeitgleich in Berlin stattgefundenen TTIP-Protest- Fachhochschul- oder Hochschulreife unter den Pegida-Teil- kundgebung gab es im Übrigen ebenfalls einen Teilnehmer, nehmern (N=49) bei 39 %, in der Bevölkerung bei 23 %, un- der eine Galgen-Attrappe mit den Namen von Sigmar Gabriel ter den 65-74-jährigen Pegida-Teilnehmern (N=67) bei 43 %, hielt. Dies wurde in der öffentlichen Reaktion jedoch kaum in der sächsischen Bevölkerung bei 27 % (Angaben zur Be- thematisiert und keine ähnlichen Schlüsse gezogen (vermut- völkerung nach Statistisches Landesamt Sachsen, persönliche lich, weil die TTIP-Demonstrationen eher den Ruf eines lin- Mitteilung; Ergebnisse des Mikrozensus). ken Protests haben).

59 Aufsätze Reuband – Pegida im Wandel? Soziale Rekrutierung, politisches Selbstverständnis und Parteipräferenzen [...] MIP 2016 22. Jhrg.

Und die ZEIT schrieb „Der Galgen ist keine Überra- py“-Bewegung (Daphi et al. 2014: 20). Ost-West-Un- schung mehr. Wer hier mitläuft, ist kein besorgter terschiede auf Bevölkerungsebene scheiden − wie Bürger mehr. Er ist Teil einer Gruppe und einer Dy- man der Analyse des ALLBUS entnehmen kann − als namik, die Gewalt gegen Ausländer und Staatsver- Erklärung dafür aus. Ebenso wenig gibt es methodi- treter … heraufbeschwört“ (Jacobsen 2015). sche Gründe, die aus der Konstruktion des Fragebo- gens erwachsen. 34 Offensichtlich rekrutieren sich in Die Wirklichkeit ist etwas komplizierter. Abgesehen die Bewegungen Personengruppen mit unterschiedlich davon, dass der KZ-Vergleich eine andere Bedeutung starker Verankerung des eigenen politischen Selbst- hatte, als in der Öffentlichkeit dargestellt, und unter verständnisses auf der Links-Rechts-Dimension. den Zuhörern teilweise auch Protest zu vernehmen war (vgl. u.a. Niggemeier 2015, Freie Presse 2015, Klassifiziert man die 10er Skala in Zweier-Schritten Spiegel Online 20.10.2015), ist auch die Existenz des und erfasst die Mitte durch die Werte 5-6, so zeigt „Galgenmannes“ für Rückschlüsse auf die Teilnehmer sich: 52 % rechnen sich der Mitte zu, 37 % wählen wenig geeignet. Nur wenige dürften ihn in der Menge eine eher rechte Einstufung (auf der Skala Werte 7-10) von 15.000-20.000 Personen gesehen haben. Und für und 11 % eine eher linke Selbsteinstufung (auf der diejenigen, die ihn sahen, dürfte dies noch lange kein Skala 1-4). Die Extremwerte auf der Skala (die man Grund gewesen sein, die Kundgebung zu verlassen: als „sehr weit rechts“ bzw. „sehr weit links“ bezeich- solange man ihn als eigenwilligen, idiosynkratischen nen könnte), werden weitgehend gemieden. Die Einzelfall und nicht als Bestandteil des offiziellen „Rechten“, die sich in der Selbsteinstufung auf der politischen Programms wahrnehmen kann, macht ein Skala entsprechend positionieren, stellen nach unse- solcher Rückzug subjektiv keinen Sinn. ren Befunden keine Mehrheit dar. Dass sie in der Be- fragung unterrepräsentiert sind, ist zwar zu vermu- Will man etwas über die Orientierung der Teilnehmer ten. Dass sie die Mehrheit der Teilnehmer repräsen- erfahren, muss man die Teilnehmer selbst und nicht tieren, ist jedoch unwahrscheinlich.35 das äußere Geschehen zum Maßstab nehmen. Eine Möglichkeit, dies im Rahmen unserer Studie zu tun, Die Tatsache, dass lediglich die Endpunkte begrifflich liegt darin, das politische Selbstverständnis als Krite- gekennzeichnet sind und ansonsten ein breites Spek- rium zu nehmen: Wie stufen sich die Teilnehmer ent- trum an Zahlen auf der Skala zur Verfügung steht, lang des Links-Rechts-Kontinuums ein? Die Links- verleiht der nachträglichen Klassifikationen der Ant- Rechts Dimension gilt als ein grundlegendes Struk- worten durch den Forscher zwangsläufig eine gewisse turmerkmal politischer Orientierungen und findet Willkürlichkeit. Denn wer sich als Befragter z.B. auf sich auch in den Medien wiederholt thematisiert. Die der Skala links von der Mitte positioniert − etwa mit Mehrheit der Bürger vermag sich darin wiederzufin- dem Wert 4 − wird der gängigen Praxis zufolge (und den und zu positionieren (vgl. u.a. Fuchs und Klinge- ebenfalls von uns) mit einer linken Selbsteinstufung mann 1989, Neundorf 2011, Rottinghaus 2015). klassifiziert. Seinem Selbstbild mag dies nicht ent- sprechen. Er mag sich eher in der Mitte sehen. Aus Erfragt haben wir die Selbstpositionierung auf der dieser Sicht muss man die Einstufung, die wir auf Grundlage einer 10er Skala, wie sie u.a. im ALLBUS der Basis der Skala vornehmen, als eine Annäherung Verwendung findet. Benannt sind hier nur die End- an das politische Selbstverständnis der Befragten punkte der Skala, mit den Begriffen „links“ bzw. werten und mit der gebotenen Vorsicht interpretie- „rechts“. Lediglich 3 % unserer Befragten kreuzten alle ren. Dies gilt selbstverständlich auch für diejenigen, Kategorien an oder meinten explizit, dass die Links- die gemäß der Zurechnung zu politischen Lagern als Rechts-Dimension heutzutage keine Bedeutung mehr „rechts“ klassifiziert (und im Folgen von uns auch so hätte. Dies entspricht vergleichbaren Werten bundes- bezeichnet) werden. weiter Bevölkerungsumfragen (wie dem ALLBUS). Es entspricht ebenfalls den Befunden in der Online- Befragung der Pegida-Teilnehmer durch Dieter Rucht 34 Neben den Werten 1-10 waren in den Online-Befragungen et al. (hier sind es 7 %, Rucht et al. 2015: 19). auch „Keine Position auf dieser Skala“ und „weiß nicht“ an- gegeben. Diese beiden Kategorien waren in unserem Fragebo- Der Anteil entspricht aber nicht zwingend den Ver- gen nicht aufgeführt, wohl aber in der Online-Befragung der hältnissen bei anderen Protestbewegungen. So wollten Pegida-Anhänger von Rucht et al. (2015). Die Unterschiede können daher nicht auf Unterschiede der Fragekonstruktion sich 39 % der Befragten, die an den „Montagswachen zurückgeführt werden. für den Frieden“ teilgenommen hatten, nicht auf der 35 Dass sich die Rechten der Befragung überproportional häufig Links-Rechts-Skala verorten. Ein ähnlich hohen Anteil entziehen, darauf deuten die Beobachtungen unserer Inter- (von 44 %) fand sich bei den Teilnehmern der „Occu- viewer hin − vor allem in der Erhebung vom 06.02.2016 (ge- messen u.a. am Auftreten, Kleidung, Reaktionen etc.).

60 MIP 2016 22. Jhrg. Reuband – Pegida im Wandel? Soziale Rekrutierung, politisches Selbstverständnis und Parteipräferenzen [...] Aufsätze

Eines jedoch ist sicher: Im Vergleich zur Gesamtbe- „ganz links“/„ganz rechts“ und ohne Verweis auf die völkerung sind mittlere bis rechte politische Selbst- Mitte) in der Patzelt-Untersuchung eine Antwortten- einstufungen unter den Teilnehmern überrepräsen- denz zur Mitte hin begünstigen. Die Bereitschaft, sich tiert. Das Spektrum der Selbsteinstufung ist deutlich rechts einzuordnen, könnte in unserer Studie entspre- nach rechts verschoben. Dies gilt sowohl, wenn man chend stärker ausgeprägt sein. Man könnte dies auch den Vergleich mit der Bundesrepublik als Ganzes als aufgrund der größeren Anonymität unserer Untersu- auch mit Ostdeutschland oder mit Sachsen unter- chung erwarten: denn soziale Erwünschtheitseffekte nimmt. 36 Und es gilt für den Vergleich mit Dresden. gegenüber dem Interviewer entfallen.38 Betrachtet So rechneten sich einer repräsentativ angelegten Be- man die Angaben auf der Prozentpunktebene (Tabel- völkerungsumfrage, die wir 1998 in Dresden durch- le 1), erkennt man: der Anteil derer, die sich in der führten (1.212 Befragte, Selbsteinstufung ebenfalls Mitte einstufen, ist in unserer Untersuchung in der mit einer 10er Skala), 44 % der Bürger dem linken Tat geringer als in den Patzelt-Untersuchungen und Spektrum, 43 % der Mitte und lediglich 12 % dem der Anteil derer, die sich links oder rechts positionie- rechten Spektrum zu. Die Verhältnisse sind damit na- ren, etwas größer. Eine überproportionale Tendenz in hezu spiegelverkehrt zu denen der Pegida-Befragung. die eine oder andere politische Richtung − nach links Dass sich seitdem die Verhältnisse in der Dresdner oder rechts − erwächst aus dem Wechsel des Frage- Bevölkerung grundlegend verschoben haben, ist nicht instrumentariums jedoch nicht. anzunehmen. Tabelle1: Selbsteinstufung auf dem Links-Rechts-Kon- tinuum im Zeitverlauf, 2015 (in %) in Patzelt-Umfrage 6. Veränderungen in der Selbsteinstufung und eigener Umfrage

Welche Änderungen haben sich in der Selbstpositio- Eigene Patzelt-Umfragen nierung der Pegida-Teilnehmer vollzogen? Eine Ver- Umfrage gleichsmöglichkeit bietet sich mit den Umfragen von Werner J. Patzelt, in denen wie bei uns eine numeri- Januar April Mai Dezember 37 sche Skala verwandt wurde − allerdings in Form ei- Ganz links 2 1 2 2 ner 5er Skala und mit einer leicht differierenden Be- zeichnung der Endpunkte als „ganz links“ bzw. „ganz Eher links 6 6 5 9 rechts“ sowie der Mitte als „genau in der Mitte“. Die In der Mitte65606154 Wahl einer 5er Skala macht im Rahmen mündlicher Eher rechts 23 29 28 31 Befragungen durchaus Sinn, da bei 10er Skalen ohne Skalenvorlage bei den Befragten leicht Irritationen Ganz rechts 4 4 4 4 entstehen können. Die Kennzeichnung der Endpunk- 100 100 100 100 te als Extremwerte ist in der Forschung nicht ganz (N=) (227) (259) (404) (322) unüblich und erscheint durchaus als legitim. Quelle der Patzelt-Umfragen: Patzelt (2016). Die andersgeartete Benennung der Endpunkte dürfte im Vergleich zu unserer Skala („links“/„rechts“ statt Frageformulierung der Patzelt-Studie: „Und nun noch einige letzte Fragen: Wie würden Sie Ihren politischen Standort ein- schätzen? 1 meint ‚ganz links‘, 3 meint ‚genau in der Mitte‘, 36 So ordneten sich im ALLBUS 2012 auf der 10er Skala 36 % der Ostdeutschen der Kategorie links zu, 54 % der Mitte und und 5 meint ‚ganz rechts“ (Vorlage einer 5er Skala). 10 % rechts (in Westdeutschland 30 % links, 52 % Mitte und Frageformulierung der eigenen Studie: „In der Politik wird 18 % rechts). Unter den Befragten in Sachsen ordneten sich oft von ‚links‘ und ‚rechts‘ gesprochen. Wo würden Sie sich 29 % links zu, 59 % der Mitte und 12 % rechts (eigene Be- in dieser Hinsicht auf einer Skala von 1 bis 10 einstufen, wo- rechnungen). Daran gemessen ist der Anteil der „Linken“, zu- bei 1 ‚links‘ bedeutet und 10 ‚rechts‘. Mit den Werten da- mindest in der Umfrage von 1998 in Dresden, noch stärker zwischen können Sie abstufen“ [Umwandlung der 10er ausgeprägt als in Sachsen bzw. Ostdeutschland und weitaus Skala in eine 5er Skala, mit Übernahme der Wortwahl von stärker als in Westdeutschland. Patzelt in der Tabelle]. 37 Angaben zur Selbsteinstufung finden sich ebenfalls bei Rucht et al. (2015) und Geiges et al. (2015). Sie beruhen allerdings auf Online-Befragungen und erscheinen uns deshalb (vgl. Reuband 2015a:140) für unseren Vergleich nur eingeschränkt brauchbar. Die grundlegenden Verhältnisse, wie wir und Pat- 38 Gegenüber den studentischen Interviewern könnte eine Nei- zelt sie finden, werden freilich auch hier reproduziert. Rech- gung bestehen, sich weniger rechts zu äußern als realiter der net man bei Rucht et al. (2015:19), die Personen raus, die kei- Fall. Andererseits könnten andere Teilnehmer zugegen sein, ne Angaben machen, kommt man für die Zurechnung zur Ka- welche die Antworten des Befragten hören, was − im Fall ei- tegorie „links“ auf einen Anteil von 10 %, „Mitte“ von 52 % ner von dem Befragten unterstellten Rechtsorientierung der und „rechts“ von 38 % (eigene Berechnungen). Anwesenden − rechte Äußerungen begünstigen dürfte.

61 Aufsätze Reuband – Pegida im Wandel? Soziale Rekrutierung, politisches Selbstverständnis und Parteipräferenzen [...] MIP 2016 22. Jhrg.

Wählt man anstelle der Prozentwerte das arithmeti- schied, dass sich diese Entwicklung bei Pegida in sche Mittel − aus Vergleichsgründen gerechnet auf ausgeprägterer und verschärfter Form niederschlägt. der Basis einer 5er Skala −, erhält man für unsere Um- Es ist wohl primär die als Bedrohung wahrgenomme- frage einen durchschnittlichen Wert von 3.3. Im Ver- ne Flüchtlingssituation, und weniger eine davon un- gleich zu den vorangegangen Umfragen von Werner J. abhängige Eigendynamik (die aus bestehenden An- Patzelt wird dann deutlich, dass sich an der durch- sichten und Orientierungen erwächst), die den Ein- schnittlichen Einstufung nichts geändert hat: In seiner stellungswandel vorantreibt. Dass sich aus dieser Januar 2015 Erhebung lag der Wert bei 3.2, in seinen Entwicklung in der Bevölkerung letztlich auch eine April und Mai Erhebungen bei 3.3 (Patzelt 2016). Verschiebung nach rechts ergeben könnte, ist zwar Auch wenn man der Tatsache Rechnung trägt, dass längerfristig nicht ausgeschlossen. Aber den Wandel sich die Altersverteilung unserer Untersuchung von zum jetzigen Zeitpunkt bereits in dieser Weise zu der Altersverteilung der Patzelt-Untersuchung unter- deuten, wäre vermutlich vorschnell. scheidet und wir eine Gewichtung der Daten nach Zum anderen sprechen die Befunde bei Pegida für dem Altersaufbau der Patzelt-Studie vornehmen, einen differentiellen, komplexen Wandel, der von bleibt unser Durchschnittswert erhalten. Keinen Hin- Widersprüchen nicht frei ist und eine Zurechnung zu weis auf eine Verschiebung erbringt ebenfalls der einem Rechtstrend nicht eindeutig erlaubt. Einige Vergleich mit der später, im Januar 2016, durchge- Entwicklungen gehen in diese Richtung, andere führten Patzelt-Untersuchung. Auch dort beläuft sich nicht.39 Manche spiegeln eher Veränderungen in den der Mittelwert auf 3.3 (vgl. Patzelt 2016). Akzenten als im Grundsätzlichen wider, und manche Nun sagt die Positionierung auf der Links-Rechts- lassen sich wohl z.T. auch durch Veränderungen des Skala letztlich nur etwas über das Selbstbild des Be- Bezugsrahmens erklären: so etwa, wenn bestimmte Be- fragten aus, und dieses unterliegt üblicherweise rela- tiv starken Beharrungstendenzen. Selbst wenn die 39 So sinkt z.B. in der Patzelt-Untersuchung seit Januar 2015 die politischen Ansichten im Zeitverlauf nach rechts Zahl derer, welche der Aussage „sehr“ zustimmen, dass driften sollten, muss sich dies nicht unmittelbar im Deutschland weiterhin politisch Verfolgten und Bürgerkriegs- flüchtlingen Asyl gewähren sollte. Der entsprechende Zustim- Selbstbild niederschlagen. Schließlich muss sich mungswert hat sich von 65 % im Januar 2015 auf 36 % im Janu- nicht notwendigerweise ebenfalls ein Wandel bei ar 2016 reduziert. Fasst man den Wert allerdings mit der Aussa- den anderen politischen Einstellungen ereignet ha- ge „stimme eher zu“ zusammen, erscheinen die Veränderungen ben, die dem Links-Rechts-Kontinuum zugeordnet weniger dramatisch: auch in der neusten Erhebung stimmen sind. Wie sieht es aus, so fragt sich daher, wenn man noch 52 % der Aussage zu. Und addiert man zusätzlich die Hälf- te derer, welche die Antwortkategorie „teils-teils“ wählen, sind die inhaltlichen Orientierungen auf der Einstellungs- es 66 %. Vermutlich ist der Rückgang in der Zustimmung primär ebene anstelle der Links-Rechts-Einstufung zum der Einbeziehung der Bürgerkriegsflüchtlinge in die Fragefor- Maßstab nimmt? Lässt sich dann eine entsprechende mulierung geschuldet – vermutlich hat sich hier die maßgebliche Verschiebung nach rechts feststellen? Veränderung vollzogen (werden diese als weniger bedürftig an- gesehen) und weniger in der Frage des politischen Asyls. Denn Wir verfügen für unsere Umfrage über keine Ver- erfragt man in unserer Umfrage die Stellungnahme zu politi- gleichsdaten, die sich auf identische Fragekonstruk- schem Asyl („Wer politisch verfolgt wird, sollte weiterhin in Deutschland Asyl bekommen“) sind es (auf einer Vierer-Skala) tionen stützen. Einzig die Umfragen von Patzelt er- 47 %, die sich „voll und ganz“ für ein Asyl aussprechen. Zählt lauben einen solchen Vergleich. Sie deuten auf eine man diejenigen dazu, die „eher zustimmen“, sind es 84 % zunehmende kritische oder feindliche Haltung in der − mehr als dies in der Patzelt-Untersuchung der Fall ist. Ande- Frage des Asyls und der Flüchtlingsproblematik hin rerseits gibt es auch gegenläufige Entwicklungen. So sprachen (Patzelt 2016). Ob man diese Entwicklung als einen sich z.B. in der Online-Befragung von Rucht (2015) nur 9 % „voll und ganz“ oder „eher“ dafür aus, dass man den Zuzug von generellen Rechtsruck deuten sollte, ist freilich frag- Muslimen verbieten solle. Ergänzt man dies durch diejenigen, lich (auch Patzelt hält eine solche Interpretation für die „teils-teils“ antworten, um die Hälfte des letztgenannten nicht gerechtfertigt). Drei Argumente sprechen unse- Wertes, kommt man auf einen Anteil von 23 % (eigene Berech- rer Meinung nach gegen eine eindeutige Zurechnung nungen) − ein Wert, der paradoxerweise nicht höher liegt als in der Bevölkerung zu dieser Zeit. In unserer Umfrage stimmen auf zu einem allgemeinen Rechtsruck. einer Vierer-Skala hingegen 69 % der Aussage „voll und ganz“ Zum einen spiegeln sich in dem Einstellungswandel oder „eher“ zu. Inwieweit die frühen Ergebnisse einen Ausreißer darstellen (populationsbedingt oder aus anderen Gründen) und der Pegida-Teilnehmer Veränderungen wider, die das Ausmaß des Wandels überschätzt wird, ist eine ungeklärte sich auch in der Bevölkerung vollziehen. Auch dort Frage. Eine offene Frage ist ebenfalls, welcher Art der Wandel werden die Ansichten im Lauf der Zeit kritischer in Subgruppen ist. Patzelt (2016) meint, besonders bei den Jün- (vgl. u.a. Infratest dimap 2016, Forschungsgruppe geren Tendenzen einer Radikalisierung zu erkennen (eine Grup- pe allerdings, deren Anteil an der Gesamtheit der Teilnehmer Wahlen 2016, YouGov 2016). Nur mit dem Unter- unserer Untersuchung zufolge gesunken ist).

62 MIP 2016 22. Jhrg. Reuband – Pegida im Wandel? Soziale Rekrutierung, politisches Selbstverständnis und Parteipräferenzen [...] Aufsätze griffe − wie „Ausländer“ − aufgrund des Asylantenzu- man starke Gewerkschaften braucht, sieht den Kapita- stroms vermehrt durch Assoziationen mit „Flüchtlin- lismus eher skeptisch und kritisiert häufiger die Unter- gen“ und/oder „Muslime/Islam“ überlagert werden.40 schiede zwischen Arm und Reich. Linke Parteien ge- nießen dementsprechend auch eine größere Wert- Auch jenseits der Fragen zu Ausländern, Flüchtlin- schätzung: so vermag die Partei „Die Linke“ immer- gen oder dem Islam gibt es nach Patzelts Befunden hin bei 55 % der Befragten mit linker Selbsteinstufung keinen eindeutigen Rechtsrutsch. Dass es gut wäre, auf dem Parteien-Skalometer Sympathiewerte zwi- wenn an Pegida-Demonstrationen keine Rechtsradi- schen +1 und +5 auf sich vereinen. Unter denen, die kalen oder Rechtsextremisten teilnähmen, meint eine sich politisch in der Mitte sehen, sind es lediglich 9 % große Mehrheit. Und deren Anteil ist weiter gestie- und unter den „Rechten“ 1 % (Tabelle 2). gen. Gestiegen ist ebenfalls der Anteil derer, welche die Demokratie als Vorteil sehen („Ist die Demokra- Tabelle 2: Sympathiewerte (+ 1 bis + 5) auf dem Partei- tie, alles in allem, eher etwas vorteilhaftes oder et- enskalometer in Abhängigkeit von der Links-Rechts- was problematisches?“) (vgl. Patzelt 2016). Mag Selbsteinstufung (Mehrfachnennungen in %) sich auch die Kritik an der Regierung und den politi- Selbsteinstufung schen Institutionen verstärkt haben, die grundlegen- de Legitimität des politischen Systems wird anschei- Links Mitte Rechts Insgesamt nend nicht in Frage gestellt. CDU 3 19 29 21 7. Parteibewertung und Parteipräferenzen SPD 9 3 2 3 FDP16 91713 Wie kann es sein, dass sich Menschen, die sich so ve- Bündnis 90/ 15 2 - - hement für eine restriktive Asylpolitik und gegen eine Die Grünen Zuwanderung von Muslimen engagieren, auf der Die Linke 55 9 1 11 Links-Rechts-Skala politisch links oder in der Mitte AfD 73 87 94 88 einstufen und nicht rechts − so wie es ihr Engagement NPD 9 11 32 19 auf den ersten Blick nahelegt und es auch von der Öf- fentlichkeit wahrgenommen wird? Unterliegen sie ei- (N=) (33) (164) (104) (305) ner Selbsttäuschung, haben sie ein „falsches Bewusst- Frageformulierung: „Wie bewerten Sie die nachfolgenden sein“? Dies muss nicht der Fall sein. Denn was Parteien auf der Skala von -5 bis +5? -5 bedeutet, dass sie politisch als links (oder auch als Mitte) gilt, wird von Ihnen sehr unsympathisch ist, +5 bedeutet, dass sie Ihnen der Position in der Ausländerfrage nur partiell be- sehr sympathisch ist. Mit den Werten dazwischen können Sie stimmt. Zwar werden kritische oder feindliche Aussa- ihr Urteil abstufen. Bitte beurteilen Sie jede der Parteien“. gen über Ausländer in der Bevölkerung im Allgemei- Ungeachtet der Affinitäten zur Partei „Die Linke“ gilt nen mit rechten Ansichten gleichgesetzt. Doch in der aber auch: die größte Sympathie wird der AfD entge- Frage der Links-Rechts-Einstufung zählen andere Di- gen gebracht. Unter den Befragten mit linker Selbst- mensionen oft mehr: wie etwa die Einstellungen zur so- einstufung genießt sie bei 73 % eine positive Bewer- zioökonomischen Ungleichheit oder zum Sozialismus tung, unter denen mit mittlerer Einstufung 87 % und (vgl. Reuband 2015a: 141). Welche Positionen man denen mit rechter Einstufung 94 %. Die Unterschiede bei diesen Fragen einnimmt, dürfte − zusammen mit entlang des politischen Spektrums sind somit eher den Parteipräferenzen − am ehesten das Selbst- und graduell als grundsätzlich. Die NPD vermag nirgends Fremdbild auf dem Links-Rechts-Kontinuum prägen. in größerem Umfang Sympathie für sich zu verbu- Gemessen an den Einstellungen zur sozialen Ungleich- chen. Selbst unter denen, die sich „rechts“ einordnen, heit kann man die Selbsteinstufung der Befragten in sind es nicht mehr als 32 % (wobei die Sympathiewerte der Tat nicht notwendigerweise als ein Akt der Selbst- im unteren Bereich der Skala überwiegen). Lediglich täuschung werten: Wer sich auf der Skala „links“ ein- unter denen, die sich besonders weit rechts auf der ordnet, vertritt häufiger traditionell „linke" Werte und Skala positionieren, liegen die Gesamtwerte höher. 41 Ansichten als diejenigen, die sich rechts einstufen : er In Übereinstimmung mit den Sympathiewerten fallen oder sie sieht eher den Sozialismus als eine gute Idee, die Parteipräferenzen aus (Tabelle 3). Gefragt, welche die nur schlecht ausgeführt wurde, meint eher, dass Partei sie wählen würden, wenn am nächsten Sonntag Bundestagswahl wäre, avanciert einmal mehr die AfD 40 So nimmt bei Patzelt (2016) der Anteil derer zu, die „sehr“ dem Statement zustimmen „Es sollte einfach überhaupt weniger Aus- 41 Eine andere Frage ist, wie die Einstellungen im Vergleich zu länder in Deutschland geben“. Zählt man diejenigen dazu, die denen sind, die nicht Pegida angehören. Durchaus denkbar wäre, „eher“ zustimmen, unterscheiden sich die Werte nur minimal. dass hier die linken Einstellungen deutlich ausgeprägter sind.

63 Aufsätze Reuband – Pegida im Wandel? Soziale Rekrutierung, politisches Selbstverständnis und Parteipräferenzen [...] MIP 2016 22. Jhrg. zum Favoriten. Unter den „linken“ Pegida-Teilneh- Aus welchen politischen Lagern rekrutieren sich die mern bei 66 %, unter den übrigen bei 83 %. Für die Pegida-Teilnehmer? Über die Wahltraditionen unse- Gesamtheit der Befragten beläuft sich der Anteil auf rer Befragten wissen wir nichts. Wohl aber verfügen 82 %. Für diejenigen, die sich anderen politischen wir über Informationen zur Frage, ob und welche Traditionen verbunden fühlen, ist die Wahl dieser Par- Partei sie bei der letzten Bundestagswahl 2013 ge- tei allerdings nicht immer ohne Probleme. Unter de- wählt haben. Anders als man es aufgrund ihrer Par- nen, die sich auf der Skala links einstufen − sie identi- teiverdrossenheit (vgl. u.a. Vorländer et al. 2015, fizieren sich auch etwas weniger mit Pegida als die Geiges et al. 2015) hätte erwarten können, zählen die übrigen −, ist der Anteil der Unentschiedenen bei der Pegida-Anhänger nicht zu den Nichtwählern. Im Ge- Wahlfrage am höchsten (mit 22 %, vs. 5 bis 7 % bei genteil: lediglich 9 % gaben an, sie hätten sich bei den anderen). Sie neigen auch etwas eher zur Wahlab- der letzten Bundestagswahl der Stimme enthalten, stinenz. Beide Antworten machen psychologisch gese- weitere 5 % vermochten sich nicht mehr an ihre letz- hen Sinn: Die Befragten befinden sich ideologisch in te Wahlentscheidung zu erinnern (ob dies auch die einer Art „Cross Pressure“-Situation zwischen ihrer Frage zum Wahlgang einschließt, muss offen blei- ideologischen Affinität und ihren aktuellen Präferen- ben). Nach der amtlichen Wahlstatistik lag die Wahl- zen und ziehen sich − wie es schon Paul F. Lazarsfeld enthaltung in Sachsen bei der Bundestagswahl 2013 in seinen Wahlstudien beschrieb − zurück: Sie sind bei 30 % (Statistisches Bundesamt 2015: 289). sich unsicher, wen sie wählen sollen, oder entscheiden Gewiss muss man die Angaben der Befragten etwas sich für Wahlabstinenz (vgl. Lazarsfeld et al. 1968 relativieren − weniger aufgrund der Alters- oder Bil- [1944], Berelson et al. 1954). dungszusammensetzung (die eine Wahlbeteiligung Tabelle 3: Wahlabsicht bei zukünftiger Bundestags- begünstigt) als aufgrund der Tatsache, dass die frü- wahl in Abhängigkeit von der Links-Rechts-Selbstein- here Wahlbeteiligung in Umfragen aufgrund sozial stufung (in %) erwünschter Antworttendenzen stets überschätzt wird (Hardmeier und Fontana 2006). Dies gilt selbst Selbsteinstufung für schriftlich-anonyme Befragungen (Eilfort 1994), Links Mitte Rechts Insgesamt was als Hinweis für die Existenz von Selbsttäu- schungstendenzen gewertet werden kann. Doch CDU - - - - selbst wenn man eine Fehleinschätzung konzediert SPD - - - - − dass sie so groß wäre, um in unserem Fall die Dis- FDP - 1 1 1 krepanz zwischen Angaben im Interview und der Bündnis Realität zu erklären, halten wir für unwahrschein- --- - 90/Grüne lich. Was bedeutet: auch wenn sich die Pegida-An- hänger durch Partei- und Politikverdrossenheit aus- Die Linke 3 1 - 1 zeichnen, scheinen sie doch überproportional bereit, AfD 66 84 82 82 sich an den Wahlen zu beteiligen. Dies hatten im NPD - - 4 1 Übrigen auch schon einige der früheren Studien na- Sonstige - 2 1 2 hegelegt, wenn auch die Ausgangslage aufgrund der empirischen Basis nicht immer so eindeutig war Weiß noch nicht 22 7 5 8 (vgl. Reuband 2015a: 140). Würde nicht 622 3 wählen Beschränkt man sich auf die Befragten, die bei der Bundestagswahl ihre Stimme abgaben, ergibt sich Werde ungültig 334 3 wählen das folgende Bild: (Tabelle 4): Diejenigen, die sich im linken Spektrum verorten, entschieden sich zu 100 100 100 100 50 % für die Partei „Die Linke“, 21 % der Stimmen (N=) (32) (165) (167) (304) entfielen auf die CDU und 7 % auf die SPD. Ob sie Frageformulierung: „Wenn am nächsten Sonntag die Bundes- die CDU wählten, weil sie Angela Merkel wert- tagswahl stattfände, welche Partei würden Sie wählen?“ [Offe- schätzten oder die Partei, muss dabei offen bleiben. ne Frage mit Ausnahme der letztgenannten drei Kategorien] Unter denen, die sich in der Mitte oder eher rechts Befragte mit Mehrfachnennungen sind unter „Sonstige“ einordnen, liegt der Anteil der CDU-Wähler erwar- mit gefasst, ansonsten gilt: Kombination mit AfD=AfD tungsgemäß höher, der Anteil der SPD sinkt ab. Kei- und Kombination mit NPD=NPD. Befragte ohne Angaben (= 2%) sind aus der Berechnung ausgelassen. nen herausgehobenen Stellenwert hatte damals (an-

64 MIP 2016 22. Jhrg. Reuband – Pegida im Wandel? Soziale Rekrutierung, politisches Selbstverständnis und Parteipräferenzen [...] Aufsätze ders als in der späteren Landtagswahl)42 die AfD. Sie Seitdem sich von der AfD der moderate Flügel (in vermochte unter den Linken nur einen Anteil von Form von ALFA) abgespalten hat − im Juli 2015 −, 11 % zu gewinnen, unter den Befragten in der Mitte ist das Profil der AfD stärker als zuvor auf die Asyl- der Skala 30 % und denen auf der rechten Seite von und Flüchtlingspolitik fokussiert, Fragen des Euro 26 %. Die NPD war allenfalls bei denen, die sich auf und der Griechenlandkrise haben an Bedeutung ver- der Skala rechts positionierten, in der Lage, einen et- loren. Das Profil ist geschärfter und findet sein Pen- was größeren Anteil − von 13 % − für sich zu akti- dant im Themenprofil von Pegida. Hinzu kommt, vieren. Alles in allem blieb sie jedoch auch hier von dass die AfD Aussichten hat, sich als Partei in der marginaler Bedeutung. Politik zu etablieren: sie ist Umfragen zufolge im Tabelle 4: Wahlentscheidung bei der letzten Bundestags- Aufwind, und sie ist in einigen Landesparlamenten wahl (2013) in Abhängigkeit von der Links-Rechts- bereits vertreten. Die AfD muss unter diesen Um- Selbsteinstufung (in %) ständen von den Pegida-Anhängern als eine Wahlop- tion mit realistischen Chancen auf künftige parla- Selbsteinstufung mentarische Repräsentation und Einfluss wahrge- nommen werden. Links Mitte Rechts Insgesamt CDU 21 42 46 41 Die Überlegungen des Pegida-Gründers Lutz Bach- mann, Pegida zu einer eigenen Partei zu machen − die SPD 7 5 1 4 dann ggf. mit der AfD koaliert − erscheint angesichts FDP - 6 7 6 dieser Konstellationen wenig realistisch. Dafür ist Bündnis 90/ 72 1 2die AfD bereits zu sehr etabliert. Und dafür ist Pegi- Grüne da zu klein, und deren Ableger an anderen Orten Die Linke 50 11 1 12 (von denen sich Pegida z.T. abgrenzt) zu unbedeu- AfD 11 30 26 27 tend. Die AfD hat den Vorschlag so denn auch abge- NPD - 3 13 6 lehnt: Man habe inhaltliche Schnittmengen, aber Sonstige 4 1 5 3 man unterscheide sich „gravierend in Rhetorik und 100 100 100 100 Handeln. Wenn Pegida eine eigene Partei gründet, (N=) (28) (129) (87) (244) ist diese unser politischer Gegner“ (DNN 2016b). Frageformulierung: „Welche Partei haben Sie bei der letzten 8. Schlussbemerkungen Bundestagswahl (2013) gewählt?“ [Offene Frage mit Aus- nahme der Kategorien für Nichtwahl/Ungültig wählen/ Die Proteste von Pegida sind Bestandteil des Lebens weiß nicht mehr] in Dresden geworden. An jedem Montag kommen Nichtwähler und Befragte, die sich nicht mehr erinnern, un- Tausende zusammen, um gegen den Islam, Zuwan- gültig wählten oder keine Angaben machten, sind aus der Be- derung und die Asylpolitik zu protestieren. Hinweise rechnung ausgelassen. auf einen Niedergang der Bewegung durch schwin- Die Historie der Wahlentscheidungen, wie sie sich in dende Teilnehmerzahlen sind nicht erkennbar, aber diesen Befunden abbildet, entspricht der Historie der auch kein Aufbruch mehr. Allenfalls bei einzelnen Parteipräferenzen, wie sie in den Befragungen der herausgehobenen Ereignissen − wie dem einjährigen Pegida-Anhänger ermittelt wurden. Danach hatte die Jubiläumstag − ist ein „Event-Charakter“ möglich, AfD in den Umfragen Anfang des Jahres 2015 zu- der große Menschenmassen vereint. nächst keine so herausgehobene Bedeutung (Rucht et al. 2015: 20, Geiges et al. 2015, Patzelt 2016). Erst Die weitgehende Konstanz in der Teilnehmerzahl ist in den jüngsten Befragungen änderte sich dies, ver- umso bemerkenswerter als die Asyl- und Flücht- mochte die AfD mehr als die Hälfte der Stimmen auf lingsthematik in der Öffentlichkeit an Bedeutung ge- sich zu vereinen (dazu vgl. auch Patzelt 2016). Einen wonnen hat und die Unzufriedenheit gestiegen ist. zunehmenden Rechtsruck muss diese Hinwendung Womöglich ist die fehlende Umsetzung in erhöhte zur AfD nicht zwangsläufig bedeuten: es handelt Teilnehmerzahlen zum einen der lokalen Ausdiffe- sich eher um eine zunehmende Übereinstimmung in renzierung des Protests geschuldet − er zeigt sich vor grundlegenden Fragen, entstanden aus einer verän- allem an Orten, in denen Flüchtlingsunterkünfte ent- derten Positionierung der AfD. standen oder geplant sind. Zum anderen mag auch die relative Erfolglosigkeit von Pegida ihren Anteil daran haben − je weniger Pegida Kundgebungen be- wirken, desto geringer die Motivation zur Teilnah- 42 Vgl. dazu die Angaben zum Wahlverhalten in der Landtags- wahl Rucht et al. (2015: 20), me. Unter diesen Umständen haben die Treffen mehr

65 Aufsätze Reuband – Pegida im Wandel? Soziale Rekrutierung, politisches Selbstverständnis und Parteipräferenzen [...] MIP 2016 22. Jhrg. den Charakter der Selbstvergewisserung auf Seiten dungskräfte wirksam werden, um Pegida-Anhänger der Teilnehmer als die Funktion, Strategien der Ver- zur wiederholten Teilnahme zu motivieren. Umso änderung zu entwickeln und zu implementieren. mehr dürfte der soziale Charakter an Bedeutung ge- winnen: die Bekräftigung bestehender kollektiver Die Pegida-Teilnehmer sind älter geworden. Waren Gruppenbindung und die Gemeinsamkeiten des Pro- sie in der Aufbruchphase, als die höchsten Teilneh- tests. Je häufiger sich jemand zu den Kundgebungen merzahlen erreicht wurden, in den späten 40ern, sind begibt, desto größer die Chance, alte und neue Be- sie inzwischen in den 50ern.43 Womöglich schlagen kannte mit ähnlichen Ansichten zu treffen und sich sich darin Schwankungen in der Zusammensetzung mit ihnen auszutauschen. Wer an den kollektiv ge- nieder, wie sie von Treffen zu Treffen möglich sind. teilten Aktionen teilnimmt − vom gemeinsamen Ru- Vielleicht sind die Veränderungen auch nur vorüber- fen (wie „Merkel muss weg“ oder „Lügenpresse“) gehender Natur. Unter Umständen spiegelt sich darin bis hin zum gemeinsamen Singen der Nationalhymne aber auch ein allgemeineres Muster wider, dem so- am Schluss der Veranstaltung −, bekräftigt im Ritual ziale Bewegungen anheimfallen können: in der Pha- soziale und kollektive Identität. 44 se des Aufbruchs, wenn der Protest große mediale und öffentliche Aufmerksamkeit auf sich zieht, fin- Die Teilnahme an der Kundgebung schafft den Teil- den auch die Jüngeren den Weg zum Protest. In dem nehmern die Möglichkeit, ihre Unzufriedenheit Maße wie sich die Bewegung veralltäglicht und zur kundzutun und bietet ihnen zugleich das Gefühl, da- Routine wird, ohne dass neue Impulse erwachsen, mit nicht allein zu stehen. Inwieweit sie damit eine bleiben vor allem diejenigen übrig, die zum Stamm- Erfolgsaussicht verbinden, ist eine andere Frage. publikum gehören. Dass es ein solches Stammpubli- Dass sie mehrheitlich meinen, die Pegida-Kundge- kum bei Pegida gibt, daran besteht kein Zweifel. In- bungen würden in Deutschland eher etwas zum Bes- zwischen hat es mehr als 50 Kundgebungen gegeben. seren ändern (und nicht etwa Deutschland schaden Die Zahl der Kundgebungen, die durchschnittlich von oder nichts bewirken)45, ist ein Zeichen dafür, dass den Teilnehmern besucht wurden, liegt bei 26-mal. sie an Erfolge glauben − ob auf der Ebene der Ein- wirkungen auf die Bürger, die Politik oder in anderer Veralltäglichung und Routinisierung sind geeignet, Form, ist eine andere Frage. Auch ist die Mehrheit den Wiedererkennungswert zu erhöhen, aber auch der Pegida-Teilnehmer der Meinung, dass Lutz Bach- Langeweile zu produzieren. Wenn es stimmt, dass mann und sein Organisationsteam „gute Arbeit leis- die Reden auf den Pegida-Veranstaltungen radikaler tet und Pegida politisch voranbringt“ (Patzelt 2016). geworden sind, so mag dies der Eigendynamik der Der Zustimmungswert ist allerdings leicht rückläu- Bewegung und den Reaktionen auf äußere Verände- fig. Was bedeutet, dass die Frage politischer Wirk- rungen geschuldet sein. Es mag aber auch − manifest samkeit und Einflussnahme in der Zukunft zu einem oder latent (Merton 1968) − einem funktionalen Er- Thema werden könnte, mit Rückwirkungen auch auf fordernis entsprechen, um dem Geschehen einen das Engagement der Pegida-Anhänger.46 Event-Charakter zu verleihen. Radikale Reden, oft- mals von Gästen vorgetragen, setzen potentielle „Highlights“, welche einem nachlassendem Interesse 44 Zur Bedeutung von Ritualen für die Bildung eines kollektiven entgegenwirken und zu erneuter Teilnahme motivie- Bewusstseins siehe bereits Durkheim (1981/zuerst 1912). Der ren könnten. soziale „Mehrwert“ wiederholter Teilnahme mag womöglich auch noch andere Aspekte umfassen. So mag sich für man- Die Möglichkeiten, für jede Kundgebung einen chen Teilnehmer ein Gefühl kollektiver Einbindung wieder Event-Charakter auf der Ebene des Programmange- einstellen, wie es einst zu DDR-Zeiten − im Betrieb, in der Hausgemeinschaft oder bei anderen Gelegenheiten − bestand bots, der Reden und der Redner zu schaffen, sind na- und geschätzt wurde (und im Gefolge der Wende zerbrach). turgemäß begrenzt. Umso mehr müssen andere Bin- Für manche Rentner mag die Teilnahme überdies eine subjek- tiv befriedigende Ersatzbeschäftigung bedeuten (was in bei-

43 den Fällen eine politische dezidierte Orientierung in Fragen Ob sie eher Mitte 50 (Finkbeiner et al. 2016a, unsere Zusatz- der Asylpolitik und Pegida nicht ausschließt!). erhebung) oder Ende 50 Jahre alt sind (unsere Erhebungen), 45 ist eine offene Frage. Auch ist im Einzelnen unbekannt, ob 75 % glauben in unserer Untersuchung, dass die „Pegida-Kund- und in welchem Ausmaß Effekte des Befragungsmodus − face- gebungen“ etwas zum Besseren ändern und 24 %, dass sich to-face vs. schriftlich-postalisch − die Unterschiede zwischen nichts ändert. An einen Schaden glaubt lediglich 1 %. Bei Pat- der Vorländer-Untersuchung (Vorländer et al. 2015b) und den zelt sind es sogar 86 %, die meinen, dass die „Pegida-Demons- späteren Erhebungen mit anderem Befragungsmodus verstärkt trationen“ in Deutschland etwas zum Besseren ändern. Der Wert haben könnten. Alles in allem besteht (auch bei Berücksichti- ist über die Zeit hinweg weitgehend stabil (vgl. Patzelt 2016). gung der Patzelt-Untersuchung, die den Wandel nur begrenzt 46 Zu Konflikten innerhalb des Teams, insbesondere zwischen abbilden kann) kein Zweifel, dass sich der Altersdurchschnitt Lutz Bachmann und Tatjana Festerling in der Frage von Stra- der Teilnehmer nach oben hin verschoben hat. tegie und Rhetorik, siehe Wolf (2016).

66 MIP 2016 22. Jhrg. Reuband – Pegida im Wandel? Soziale Rekrutierung, politisches Selbstverständnis und Parteipräferenzen [...] Aufsätze

Für die Mehrheit der Befragten gilt, dass sie sich Fehser, S. (2016): Eine gespaltene Stadt. Repräsen- politisch in ihrem Selbstverständnis nicht rechts, tative Studie der TU Dresden zu Einstellungen in sondern in der Mitte positioniert. Gewiss könnte man Dresden zum Thema Asyl. Institut für Soziologie, argumentieren, dass die „Rechten“ in den Pegida- unter: https://tu-dresden.de/aktuelles/news/Downloa Umfragen unterrepräsentiert seien. Ob dies aller- ds/asyl-studie-dresden [Stand: 07.03.2016]. dings in dem starken Maße der Fall ist, um dies Bild Finkbeiner, F./Schneke, J./Trittel, K./Schmitz, C./ nachhaltig zu beeinträchtigen, ist unwahrscheinlich. Marg, S. (2016a): Pegida: Aktuelle Forschungsergeb- Von einer Verschiebung in der Selbstpositionierung nisse, unter: www.demokratie-goettingen.de/blog/peg auf dem Links-Rechts-Kontinuum kann im Lauf der ida-2016-studie [Stand: 29.02.2016]. Pegida-Protestwelle nicht die Rede sein. Profitiert von der Abkehr von den etablierten Parteien hat un- Finkbeiner, F./Keune, H./Schenk, J./Geiges, L./Marg, ter den Pegida-Anhängern die AfD, nicht die NPD. S. (2016b): Stop-TTIP-Proteste in Deutschland. In- Gemessen an der politischen Selbsteinstufung und stitut für Demokratieforschung (Forschungsbericht), den Parteipräferenzen ist die Mehrheit der Teilneh- Göttingen, vom 01/2016, unter: www.demokratie- mer konservativ bis rechtspopulistisch, aber nicht goettingen.de/content/uploads/2016/01/Bericht_TTI rechtsextremistisch. P_2016-01-28_web.pdf [Stand: 07.03.2016]. Focus Online (2015): Pegida sagt Demo ab, Literaturverzeichnis 28.01.2015, unter: www.focus.de/politik/deutschlan d/dresden-pegida-sagt-demonstration-am-kommende Barnes, S.H./Kaase, M. et al. (1979): Political Ac- n-montag-ab_id_4437299.html [Stand: 08.03.2016]. tion. Beverly Hills/London. Forschungsgruppe Wahlen (2016): Politbarometer Berelson, B./Lazarsfeld, P.F./McPhee, W. (1954): Februar 2016, 19.02.2016, unter: www.forschungsgru Voting: A Study of Opinion Formation During a ppe.de/Aktuelles/Politbarometer/ [Stand: 29.02.2016]. Presidential Campaign. Chicago/London. Freie Presse (2015): Wie radikal ist Pirincci? In: Brauerhoch, F.O. (2004): Theater, Publikum und Freie Presse, 21.10.2015 Image – eine Studie über die „Theaterlandschaft“ in Frankfurt am Main. In: Institut für Kulturpolitik der Fuchs, D./Klingemann, H.D. (1989): -Right Kulturpolitischen Gesellschaft (Hg.): Jahrbuch für Schema. In: Jennings, M.K. et al. (Hg.) Continuities Kulturpolitik 2004. Bonn. S. 141-151. in Political Action. Berlin/New York. S.203-234. Daphi, P./Rucht, D./Stuppert, W./Teune, S./Ullrich, Geiges, L./Marg, S./Walter, F. (2015): PEGIDA. Die P. (2014): Occupy Frieden. Eine Befragung der Teil- schmutzige Seite der Zivilgesellschaft. Bielefeld. nehmer/innen der „Mahnwachen für den Frieden“. Hardmeier, S./Fontana, M. C. (2006): Overreporting: Ipb Working Papers. Berlin. Ein vernachlässigtes Problem und die Schwierigkeit DNN (2016a): Pegidisten bleiben Minderheit. In: von Gegenmaßnahmen. In: ZUMA-Nachrichten, 58, Dresdner Neuste Nachrichten, 18.02.2016, S. 11. S. 50-80. DNN (2016b): AfD lehnt Kooperation mit Pegida ab. Hornig, E./Baumann, J. (2013): Politik und Wirt- In: Dresdner Neuste Nachrichten, 02.03.2015, S. 4. schaft im Zeichen des Bürgerprotestes. Das Beispiel Durchgezählt (2015a): Durchgezählt. Klickern, Zäh- des Frankfurter Flughafens (Stiftung Marktwirt- len, Schätzen, unter: http://durchgezählt.org [Stand: schaft. Argumente zu Marktwirtschaft und Politik. 29.02.2016]. Nr. 120). Berlin. Durchgezählt (2015b): Analyse der Teilnehmerzah- Huckfeldt, R./Johnson, P.E./Sprague, J. (2004): Po- len zu Pegida und Gepida am 14.12.15, unter: litical Disagreement. The Survival of Diverse Opin- http://durchgehangelt/2015/12/19/analyse-der-teilne ions within Communication Networks. Cambridge. hmerzahlen-zu-pegida-und-gepida-am-14-12-15-in- Hübler, A. (2015): Pegida – ein Aufstand von rechts. dresden/ [Stand: 29.02.2016]. In: Heinrich Böll Stiftung, 16.01.2015, unter: www.bo Durkheim, E. (1982 [1912]): Elementare Formen des ell.de/de/2015/01/16/pegida-ein-aufstand-von-rechts religiösen Lebens. Frankfurt a. M. [Stand: 29.02.2016]. Eilfort, M. (1994): Die Nichtwähler. Wahlenthaltung Hüfken, V. (1998): Ist eine repräsentative Besucher- als Form des Wahlverhaltens. Paderborn/München/ umfrage in einer öffentlichen Einrichtung möglich? Wien/Zürich. Eine empirische Studie der Kölner Stadtbibliothek. In: Planung & Analyse, 5, S. 24-29.

67 Aufsätze Reuband – Pegida im Wandel? Soziale Rekrutierung, politisches Selbstverständnis und Parteipräferenzen [...] MIP 2016 22. Jhrg.

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68 MIP 2016 22. Jhrg. Reuband – Pegida im Wandel? Soziale Rekrutierung, politisches Selbstverständnis und Parteipräferenzen [...] Aufsätze

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69 Aufsätze Jürgensen/Garcia J. – Pluralismus als Maxime des Versammlungsrechts MIP 2016 22. Jhrg.

Pluralismus als Maxime des Versammlungs- ten Art und Inhalt der Aussage beschäftigen, der rechts Umstand, dass so deutlich auf einen gesellschaftli- chen Diskurs von staatlicher Seite Einfluss genom- men wird, muss Bedenken erwecken. Sven Jürgensen1/Juan Garcia J.2 Der Anlass wird das Erreichen eines kritischen Punktes der Einwanderungsdebatte gewesen sein, A. Einleitung das Ausmaß der Beteiligung und die Form der Aus- einandersetzung schienen ein Tätigwerden der Re- I. Einführung gierungschefin selbst zu erfordern. Insgesamt, so „Folgen Sie denen nicht!“ Mit diesen Worten richtete scheint es, spitzen sich politische Auseinanderset- sich die Bundeskanzlerin Angela Merkel am 31. De- zungen in diesem Lande zu, zum Teil werden sie gar zember 2014 in ihrer Neujahrsansprache an die Bevöl- mit offener Gewalt ausgetragen. So kommt es immer kerung und warnte vor den PEGIDA-Demonstranten, wieder zu Straßenschlachten zwischen linksradikalen deren Versammlungen seit geraumer Zeit die gesam- Demonstranten und der Polizei,7 bei der Eröffnung te Bevölkerung beschäftigen. Die Kanzlerin fand als der neuen Zentrale der Europäischen Zentralbank Zentralfigur des politischen Systems der Bundesre- (EZB) am 18. März 2015 in Frankfurt erinnerte die publik Deutschland deutliche Worte für diese Bewe- mediale Berichterstattung über die dagegen gerichte- gung und deren Inhalte. Der Aufruf fand in Form des ten Demonstrationen gar an bürgerkriegsähnliche Imperativs statt, der „in erster Linie für Aufforderun- Zustände,8 in ganz Deutschland wurden im vergange- gen und Befehle, oder Ratschläge und Einladungen“ nen Jahr im Verlauf der Flüchtlingsdebatte Asylbe- verwendet wird.3 Wollte die Bundeskanzlerin aber werberheime niedergebrannt.9 tatsächlich den Bürgern den Befehl erteilen, sich In der rechtspolitischen Diskussion wird sich jeden- nicht an den Dresdener und vergleichbaren „Abend- falls der Aufruf nach Restriktionen und Verschärfun- spaziergängen“ zu beteiligen, nicht krude Thesen zu gen im Versammlungsrecht mehren.10 Die Reaktio- einer drohenden Islamisierung Europas zu vertreten,4 nen auf die geschilderten Ereignisse scheinen vor- eben sich nicht in dieser Form zu versammeln und programmiert, sie sind auch als nicht von vornherein bestimmte Meinungen zu äußern? unberechtigt zu bewerten, soweit sie sich auf sachli- Dies wird kaum der Sinn ihrer Worte gewesen sein. che Gründe stützen können. Letztlich sind sie Aus- Ein derartiger Befehl wäre mit den Prinzipen des libe- druck einer „klassischen Interpretationslinie“ zu der ralen Verfassungsstaats mit seinen Grundrechten auf Versammlungsfreiheit des Art. 8 GG, die bei dessen Meinungs- und Versammlungsfreiheit in keiner Weise Auslegung „vom Staat und seinem friedschaffenden zu vereinbaren.5 Die Gedanken sind schließlich frei, Gewaltmonopol“ her denkt.11 die Vorstellung vom totalen Staat ist überwunden.6 Der folgende Beitrag soll als Gegenaufruf verstan- Was aber war dann Zweck ihrer Aussage? Die Bun- den werden. Er möchte die Versammlungsfreiheit deskanzlerin wollte mit ihr wohl Stellung nehmen zu gerade in Zeiten von scheinbaren Zuspitzungen wei- einer intensiv geführten Debatte, sie wollte ihre ter vom Bürger und seinen Rechten her verstehen, Sicht der Dinge darstellen, damit nicht noch mehr 7 So zuletzt in Leipzig am 12.l2.2015 s. www.faz.net/aktuell/ Bürger dem scheinbar gefährlichen Gedankengut fol- politik/inland/krawalle-in-leipzig-das-ist-offener-strassenterro gen. Dennoch muss den deutschen Verfassungsjuris- r-13962756.html (zuletzt abgerufen am 12.03.2016). 8 1 Der Autor ist studentische Hilfskraft am PRuF. www.faz.net/aktuell/rhein-main/blockupy/hessische-politiker- ueber-gewalt-bei-blockupy-entsetzt-13491031.html (zuletzt ab- 2 Der Autor ist wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Sozietät gerufen am 12.03.2016). Linklaters LLP in Düsseldorf. 9 www.spiegel.de/politik/deutschland/bundeskriminalamt-ansch 3 https://de.wikipedia.org/wiki/Imperativ_%28Modus%29 (zu- laege-auf-asylunterkuenfte-haben-sich-2015-vervierfacht-a-10 letzt abgerufen am 12.03.2016). 66932.html (zuletzt abgerufen am 12.03.2016). 4 Zu den Positionen s. www.menschen-in-dresden.de/wp-conte 10 Dazu www.csu.de/aktuell/meldungen/november-2015/vermu nt/uploads/2014/12/pegida-positionspapier.pdf (zuletzt abge- mmung-wird-zur-straftat/ (zuletzt abgerufen am 12.03.2016); rufen am 12.03.2016). für eine Neujustierung der Versammlungsfreiheit im Grund- 5 Grzeszick, in: Herzog/Scholz/et al. (Hrsg.), Maunz/Dürig gesetz in Bezug auf Demonstrationen von Rechtsradikalen s. Grundgesetz Kommentar, Bd. II, 57. Lfg. 2010, Art. 20 Sarnighausen, ZRP 2014, 79. Rn. 17; Fraenkel, Deutschland und die westlichen Demokrati- 11 Schulze-Fielitz, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz Kommentar, en, 6. Auflage 1974, S. 199. Bd. I, 3. Auflage 2013, Art. 8 Rn. 5; vgl. Kloepfer, Isensee/ 6 Zu dessen Elementen s. Forsthoff, Der totale Staat, 2. Auflage Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. VII, 3. Auf- 1934, insbes. S. 32 ff. lage 2009, § 164 Rn. 67.

70 MIP 2016 22. Jhrg. Jürgensen/Garcia J. – Pluralismus als Maxime des Versammlungsrechts Aufsätze die die demokratische Offenheit bei der Gemein- 1. Zur Funktion des Grundrechts des Art. 8 GG wohlfindung gewährleisten.12 Gerade in beschwore- nen Krisenzeiten muss sich das Versammlungsrecht a) Die demokratische Funktion der Versamm- auf seine verfassungsrechtlichen und theoretischen lungsfreiheit Grundlagen besinnen und dem Zwecke dienen, zu Alle Staatsgewalt geht nach Art. 20 Abs. 2 S. 1 GG dem es geschaffen wurde: dem Pluralismus. vom Volke aus. Die grundgesetzliche Demokratie 14 Ausgangspunkt der Betrachtung soll das liberale basiert auf der Volkssouveränität. Handlungsfähig Verständnis der Versammlungsfreiheit sein, welches wird das Volk als Träger der Staatsgewalt erst durch 15 auch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsge- Repräsentation, die frei gewählt wird und Entschei- richts bislang prägte. Von diesem ausgehend soll der dungen nach dem Mehrheitsprinzip bei gleichzeiti- 16 Pluralismus als rechtsdogmatische Maxime des Ver- gem Minderheitenschutz trifft. Verfassungswirk- sammlungsrechts entwickelt werden, um dieses ver- lich erschöpft sich die unmittelbare Einwirkung des fassungsimmanente Prinzip für die Rechtsanwen- Bürgers auf den Staatswillensbildungsprozess mithin 17 dung operabel zu machen. erst mal in der Teilnahme an Wahlen. Dort findet der staatliche Willensbildungsprozess seinen formal- II. Gang der Darstellung institutionalisierten Höhepunkt.18 Damit sich die Re- präsentanten vom Willen des Volkes in der Zwi- Die Entwicklung und Rechtfertigung einer solchen schenzeit aber nicht „abkoppeln“ und Herrschaft nur Maxime für das Versammlungsrecht verlangt zu- noch über, nicht aber für das Volk ausüben, muss der nächst die Darstellung der grundlegenden verfas- Bürger auf die demokratischen Plebiszite auch Ein- sungsrechtlichen Verortung der Versammlungsfreiheit fluss nehmen können.19 Essenziell für die freiheit- im repräsentativ-demokratischen System (B. I. 1.) lich-demokratische Grundordnung des Grundgeset- sowie die Deutung des Grundrechts in der Recht- zes ist dabei, dass auf eben diese Meinungsbildungs- sprechung des Bundesverfassungsgerichts (B. I. 2.). prozesse (auch „Volkswillensbildung“20) von staatli- Sodann soll eine Betrachtung von Bedeutung und cher Seite kein Einfluss genommen wird. Nur ein Funktion des Art. 8 GG im Lichte der Pluralismus- weitestgehend freier Meinungsmarkt kann gewähr- theorie erfolgen (B. II. 1.), um diese schließlich – auch leisten, dass es nicht zur Bildung einer zentral ge- unter rechtsmethodischen Gesichtspunkten – auf eine steuerten „öffentlichen Meinung“ kommt. „Eine ‚ge- für die konkrete Rechtsanwendung taugliche Formel lenkte‘ Demokratie ist keine Demokratie“,21 die zu bringen (B. II. 2. und 3.). Staatsgewalt im Sinne des Art. 20 Abs. 2 S. 1 GG Der so entwickelte dogmatische Leitsatz soll dann soll eben nur „vom Volke ausgehen“. Dass ein Zu- auf drei konkrete Fallbeispiele angewendet werden, sammenhang zwischen Meinungsfreiheit und Demo- um darzustellen, wie sich eine pluralismusgeleitete kratie besteht, diese sich gegenseitig bedingen, ist Rechtsanwendung auswirken kann (C. I., II., III.). 14 Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik B. Die Bedeutung eines freiheitlichen Versamm- Deutschland, 20. Auflage, Neudruck 1999, Rn. 127 ff.; Morlok/ Michael, Staatsorganisationsrecht, 2. Auflage 2015, § 5 Rn. 127; lungsrechts zur Ideengeschichte s. Erbentraut, Volkssouveränität, 2009. I. Das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit 15 Grzeszick (Fn. 5), 57. Lfg. 2010, Art. 20 Rn. 66 ff.; Morlok, in: Morlok/Schliesky/Wiefelspütz (Hrsg.), Parlamentsrecht, In der pluralistischen Gesellschaft sind Versammlun- 2015, § 3 Rn. 3 f.; zum Begriff der Repräsentation s. Hofmann, gen ein häufig eingesetztes Mittel, eigenen Meinun- Repräsentation, 4. Auflage 2003. gen und Standpunkten in der Öffentlichkeit Geltung 16 Klein (Fn. 5), 69. Lfg. 2013, Art. 42 Rn. 77; Ullrich (Fn. 13), zu verschaffen.13 Art. 8 Abs. 1 GG garantiert allen S. 86. 17 Deutschen das Grundrecht, sich ohne Anmeldung Grzeszick (Fn. 5), 57. Lfg. 2010, Art. 20 Rn. 62 ff.; Ullrich oder Erlaubnis friedlich und ohne Waffen zu versam- (Fn. 13), 2015, S. 82. 18 BVerfGE 44, 125 (140); zu den sich daraus ergebenden An- meln. forderungen s. VerfGH Rheinland-Pfalz, Beschl. v. 13.6.2014 – VGH N 14/14, VGH B 16/14 und VerfGH Rheinland-Pfalz,

12 Einstweilige Anordnung vom 04.04.2014 – VGH A 15/14, Schulze-Fielitz (Fn. 11), Art. 8 Rn. 5.; dazu Hoffmann-Riem, VGH A 17/14; dazu Jürgensen, MIP 2015, 170, 172. in: Merten/Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte, 19 Bd. IV, 2011, § 106 Rn. 9. Depenheuer (Fn. 5), 48. Lfg. 2006, Art. 8 Rn. 34; Ullrich (Fn. 13), 2015, S. 82. 13 Ullrich, Das Demonstrationsrecht, 2015, S. 25; Hoffmann- 20 Riem (Fn. 12), § 106 Rn. 16 f.; Schulze-Fielitz (Fn. 11), Art. 8 Schmitt Glaeser, Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Rn. 16; Benda, in: Kahl/Waldhoff/Walter (Hrsg.), Bonner Staatsrechts, Bd. III, 3. Auflage 2003, § 38 Rn. 31. Kommentar zum Grundgesetz, Stand 9/2002, Art. 8 Rn. 2. 21 Depenheuer (Fn. 5), 48. Lfg. 2006, Art. 8 Rn. 33.

71 Aufsätze Jürgensen/Garcia J. – Pluralismus als Maxime des Versammlungsrechts MIP 2016 22. Jhrg. deshalb weitgehend anerkannt:22 Die Meinungsfrei- die funktionierende repräsentative Demokratie des heit ist für eine freiheitlich-demokratische Staatsord- Grundgesetzes, darf aber nicht als selbst demokra- nung „schlechthin konstituierend“.23 Von der Not- tisch in dem Sinne verstanden werden, dass durch wendigkeit einer „politischen Willensbildung des Versammlungen der Volkswille ausgedrückt würde Volkes“ geht das Grundgesetz auch in Art. 21 GG oder demokratisch legitim Ausdruck finden könnte. aus, wenn hiernach Parteien an dieser mitwirken.24 Die Plebiszitfunktion der Versammlungsfreiheit be- schränkt sich vielmehr darauf, abseits von Wahlter- Durch Versammlungen können Bürger ihren durch minen auf die politische Willensbildung einzuwir- Art. 5 Abs. 1 GG geschützten Meinungsäußerungen ken.32 Versammlungen sind Mittel der geistigen Aus- Gewicht verleihen und sich so einerseits an der einandersetzung, dessen Ergebnisse sich im Rahmen Volkswillensbildung beteiligen und andererseits Ein- von Wahlen abzeichnen.33 fluss auf die Entscheidung der gewählten Repräsen- tanten nehmen. Meinungen wird in Form von Ver- b) Die sachliche Reichweite der Versammlungs- 25 sammlungen kollektiv Nachdruck verliehen. Von freiheit Minderheiten kann Demokratie nur Akzeptanz er- warten, wenn diese die Möglichkeit haben, die Durch Art. 8 GG ist insbesondere das Recht ge- Mehrheitsverhältnisse alsbald ändern zu können; der schützt die Art und Weise, den Ort und die Zeit der grundgesetzlichen Demokratie ist das Mehrheitsprin- Durchführung der Versammlung selbst zu bestim- 34 zip inhärent, sie zeichnet sich aber doch dadurch aus, men. Anerkannt ist überdies auch die diesbezügli- nicht bloß die Herrschaft der Mehrheit, sondern des che Schutzpflicht des Staates gegenüber grundrecht- 35 gesamten Volkes zu sein.26 Zu weit geht das Bundes- lich geschützter Versammlungen. Nicht unumstrit- verfassungsgericht, wenn es in Versammlungen „ein ten ist indes, ob der Zweck der Versammlung inhalt- Stück ursprünglich-ungebändigter unmittelbarer De- lichen Anforderungen unterliegt, damit sich für diese mokratie“27 erkennen will. Das Versammlungsrecht der Schutzbereich der Versammlungsfreiheit über- „gehört [zwar] zu den unentbehrlichen Funktionsele- haupt erst öffnen kann. In Art. 8 GG hat das demo- menten eines demokratischen Gemeinwesens“28, hat kratische Grundrechtskonzept Niederschlag gefun- 36 aber mit der Ausübung von Staatsgewalt, wie sie der den. Das Bundesverfassungsgericht sieht deshalb Verweis auf unmittelbare Demokratie suggeriert, richtigerweise und entgegen teilweise im Schrifttum 37 nichts zu tun.29 Das Versammlungsrecht ist eben vertretener Ansichten , nur Zwecke von „Bedeutung nicht zuletzt ein Minderheitenrecht. Die häufig – auch für den Prozess öffentlicher Meinungsbildung in der 38 und gerade in neuerer Zeit – verlautbarten „Wir sind freiheitlichen demokratischen Ordnung“ als von das Volk“-Rufe sind meist tatsächlich unzutreffend Art. 8 GG umfasst an. Tatbestandlich ist der Schutz- (PEGIDA30, Stuttgart 2131). Unmittelbar wird Demo- bereich darüber hinaus auf friedliche Versammlun- kratie in Wahlen und zur Entscheidung berufen und gen ohne Waffen begrenzt (Art. 8 Abs. 1 GG); Mei- berechtigt ist somit allein die Mehrheit. Die Ver- nungen sollen im Kollektiv ausgedrückt, nicht aber 39 sammlungsfreiheit ist mithin zwar Voraussetzung für durchgesetzt werden können. Für Versammlungen unter freiem Himmel ist in Art. 8 22 Kraujuttis, Versammlungsfreiheit zwischen liberaler Tradition Abs. 2 GG allgemein bestimmt, dass diese nur durch und Funktionalisierung, 2005, S. 127 ff.; Ullrich (Fn. 13), Gesetz oder aufgrund eines Gesetzes beschränkt wer- 2015 S. 81. den können.40 Die legitimen Eingriffsziele sind mit 23 BVerfGE 76, 196 (208 f.). 32 24 BVerfGE 8, 104 (112 f.); Schmitt Glaeser (Fn. 20), § 38 Rn. 11. Ullrich (Fn. 13), 2015, S. 92. 33 25 Michael/Morlok, Grundrechte, 4. Auflage 2015, Rn. 265. Depenheuer (Fn. 5), 48. Lfg. 2006, Art. 8 Rn. 36. 34 26 Ullrich (Fn. 13), 2015, S. 80. BVerfGE 69, 315 (343). 35 27 BVerfGE 69, 315 (347); Hesse (Fn. 14), Rn. 404. Hoffmann-Riem, NJW 2004, 2777, 2778; Schneider, in: Epping/ 28 Hillgruber (Hrsg), Grundgesetz Kommentar, 2. Auflage 2013, BVerfGE 69, 315 (315). Art. 8 Rn. 29. 29 Depenheuer (Fn. 5), 48. Lfg. 2006, Art. 8 Rn. 33. 36 Kraujuttis (Fn. 22), S. 127 ff.; Klein, Die Grundrechte im de- 30 Als Indiz hierfür kann das 9,6%-Ergebnis der PEGIDA-Kan- mokratischen Staat, 1974, S. 9 ff. didatin bei der Dresdner Oberbürgermeisterwahl dienen, vgl. 37 Vgl. Michael/Morlok (Fn. 25), Rn. 272; Gusy, in: v. Mangoldt/ www.spiegel.de/politik/deutschland/wahl-in-dresden-cdu-verl Klein/Starck (Hrsg.), Kommentar zum Grundgesetz, 6. Auf- iert-11-prozent-fuer-pegida-frau-a-1037608.html (zuletzt ab- lage 2010, Art. 8 Rn. 18 m.w.N. gerufen am 31.12.2015). 38 BVerfGE 104, 92 (104 f.). 31 Die Demonstrationsbewegung gegen das Bahnhofsprojekt un- 39 terlag in der Volksabstimmung, vgl. www.lpb-bw.de/volksab Michael/Morlok (Fn. 25), Rn. 275, dazu näher sogleich C. III. stimmung_stuttgart21.html (zuletzt abgerufen am 31.12.2015). 40 Gusy (Fn. 37), Art. 8 Rn. 56.

72 MIP 2016 22. Jhrg. Jürgensen/Garcia J. – Pluralismus als Maxime des Versammlungsrechts Aufsätze

Blick auf die Schranken der Meinungsfreiheit zu be- an Eingriffe werden äußerst hohe Anforderungen ge- stimmen. Was nicht Anlass für Meinungsbeschrän- stellt. kungen sein kann, kann auch nicht Anlass für ver- Hieran hielt das Gericht auch bei der Überprüfung sammlungsbeschränkende Maßnahmen sein.41 Ein in von Versammlungsverboten fest als es in den 1990er die Versammlungsfreiheit eingreifendes Gesetz muss Jahren vermehrt zu Demonstrationen „von rechts“ somit „allgemein“ im Sinne des Art. 5 Abs. 2 GG kam.47 In diesem Zusammenhang stehen die Ent- sein, was insbesondere solche Gesetze ausschließt, scheidungen des Bundesverfassungsgerichts in Sa- die nicht „Standpunkt-neutral“ sind.42 Ermächti- chen „Synagogenbau“48 (zur rechtlichen Tragweite gungsgrundlagen für Eingriffe in die Versammlungs- des Schutzguts der öffentlichen Ordnung49) und freiheit finden sich insbesondere im Versammlungs- „Schweigeprotest“50 (zur Formfreiheit von Ver- gesetz (Bund), in den – dann vorrangigen (Art. 125a sammlungen und zur Friedlichkeit im Sinne des GG) – Versammlungsgesetzen der Länder, sowie im Art. 8 Abs. 1 GG). allgemeinen Polizei- und Ordnungsrecht.43 II. Pluralismus als Maxime des Versammlungsrechts 2. Judizielle Prägung des Schutzbereichs Die beschriebene Bedeutung der Versammlungsfrei- Nach einer bezüglich Versammlungen „ruhigen“ An- heit im demokratischen Verfassungsstaat ist zu ver- fangsphase der Bundesrepublik kam es ab 1965 ver- stehen als Ausdruck der politischen Theorie des Plu- mehrt zu – meist links vom Parteiensystem stehender ralismus. Nachgehend soll deswegen diese politische – Studentendemonstrationen.44 In den 1970er Jahren Theorie und deren Bedeutung für das Versamm- waren die Entwicklungen im Bereich des Versamm- lungsrecht erläutert werden. lungsrechts durch die Anti-AKW und die Friedens- bewegung geprägt, die sich vermehrt insofern durch 1. Pluralismus als Wesensmerkmal der Demokratie ihre Radikalisierung auszeichnete, dass Blockadetak- tiken verschärft wurden und vermehrt versucht wur- Die nach dem Jahre 1945 mit Art. 20 Abs. 1 GG als de, gewaltsam auf abgesperrte Gelände einzudrin- Herrschafts- und Gesellschaftsform etablierte Demo- gen. Insbesondere von aus „Schwarzen Blöcken“ kratie stellt sich als eine nach westlichem Vorbild dar: Die Bundesrepublik hat sich als „westliche Demo- vermummten Linksradikalen wurde die gewaltsame 51 45 kratie entwickelt.“ Essenzielles Merkmal einer sol- Auseinandersetzung mit der Polizei gezielt gesucht. 52 Anlässlich des von 150.000 Demonstranten ignorier- chen freiheitlichen Demokratie ist der Pluralismus. ten Verbots von Demonstrationen gegen das Atom- Pluralismus als Konfliktmodell der Politik meint den kraftwerk Brokdorf betonte das Bundesverfassungs- Zustand eines Staates oder einer Gesellschaft, in gericht die Bedeutung der Versammlungsfreiheit für welchem der Mensch sich in Gruppen organisiert die Demokratie, die vom Gesetzgeber beim Erlass und in diesen dem Staat bzw. der Gesellschaft ge- grundrechtsbeschränkender Vorschriften sowie de- genübertritt und sie dort die eigentlich relevante ren Auslegung und Anwendung durch Behörden und Größe darstellt. Ein Staat ist folglich als pluralistisch Gerichte zu beachten sind.46 Seit dieser Leitentschei- zu bezeichnen, wenn die von diesen Gruppen reprä- dung zieht sich die herausragende Bedeutung der sentierten Ideen und Interessen infolge ihrer Ein- Versammlungsfreiheit als fundamentales Bürger- flussnahme auf den Staatsapparat von diesem in er- recht wie ein roter Faden durch die verfassungsge- heblichem Maße berücksichtigt werden.53 richtliche Rechtsprechung. Ihr Schutzbereich wird vom Bundesverfassungsgericht weit verstanden und 47 Ullrich (Fn. 13), 2015, S. 70; scheinbar gegenläufig aber die Entscheidung „Wunsiedel“ (BVerfGE 124, 300), die wegen 41 BVerfGE 124, 300 (319); BVerfGE 111, 147 (155); Schulze- ihres singulären Charakters aber gesondert zu betrachten ist, Fielitz (Fn. 11), Art. 8 Rn. 128; Ullrich (Fn. 13), 2015, dazu Michael, ZJS 2010, 155 ff. S. 269; enger Ott/Wächtler/Heinhold, Gesetz über Versamm- 48 BVerfGE 111, 147. lungen und Aufzüge, 7. Auflage 2010, Einf. IV Rn. 1; Ott, 49 Das Recht auf freie Demonstration, 1967, S. 28 ff., 38 ff. Dazu näher C. II. 50 42 Ullrich (Fn. 13), 2015, S. 290. BVerfG, Beschl. v. 10.12.2010 - 1 BvR 1402/06 = NVwZ 2011, 422. 43 Zur Polizeifestigkeit von Versammlungen: Pieroth/Schlink/ 51 Kniesel, Polizei- und Ordnungsrecht, 8. Auflage 2014, § 20 Fraenkel (Fn. 5), S. 32; Frotscher/Pieroth, Verfassungsge- Rn. 14; Dietlein (Fn. 43), § 3 Rn. 298. schichte, 13. Auflage 2014, Kap. 10 Rn. 812; zum Verfassungs- gebungsprozess s. Mußgnug, Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Hand- 44 Ullrich (Fn. 13), 2015, S. 67; Kraujuttis (Fn. 22), S. 61 ff. buch des Staatsrechts, Bd. I, 3. Auflage 2003, § 8 Rn. 1 ff. 45 Ullrich (Fn. 13), 2015, S. 68. 52 Fraenkel (Fn. 5), S. 197; Isensee, Isensee/Kirchhof (Hrsg.), 46 BVerfGE 69, 315. Handbuch des Staatsrechts, Bd. II, 3. Auflage 2004, § 15 Rn. 73.

73 Aufsätze Jürgensen/Garcia J. – Pluralismus als Maxime des Versammlungsrechts MIP 2016 22. Jhrg.

Die Theorie des Pluralismus beruht auf der Grundan- mokratie das politische Leben aktiv mitgestaltenden nahme, dass in einer differenzierten Gesellschaft das Bürger“.63 Dies lässt sich letztlich aus der Menschen- Gemeinwohl als politisches Verwirklichungsziel nicht würdegarantie des Art. 1 Abs. 1 GG herleiten, wel- von vornherein (a priori) feststeht und auch keine da- che ein „Maßgabegrundrecht auf Demokratie“ ge- hingehende monopolisierte Definitionsmacht be- währleistet.64 Die Verwirklichung des Prinzips der steht.54 Gemeinwohl sei vielmehr im Widerstreit di- Volkssouveränität im Modus pluralistischer Demo- vergierender Ideen und Interessen erst zu gewinnen, kratie findet ihren Ausdruck in Art. 21 Abs. 1 GG, wofür eine personelle Offenheit von Gemeinwohlak- der die politische Willensbildung auch in die Hände teuren bestehen muss.55 Das Ergebnis dieses Verfah- der Parteien, damit der Bürger insgesamt, legt, denen rens der Gemeinwohlfindung habe, wenn es bestimm- neben dem Wahlrecht gemäß Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG te Voraussetzungen erfülle, die Vermutung für sich, das subjektive Recht auf chancengleiche politische Gemeinwohl (a posteriori bzw. ex processu) zu sein.56 Teilhabe zukommt.65 Individualrechtlich geschützt Eine pluralistische Demokratie lebt demnach von der wird dieser Vorgang durch die entsprechenden Existenz und der Artikulation von Einzelinteressen, Grundrechte, insbesondere durch die politischen und von Vorstellungen, Meinungen und Forderungen des die Kommunikationsgrundrechte der Artt. 5 Abs. 1, Einzelnen auf den Gebieten, die ihn und das Gemein- 8, 9 GG, welche die Beteiligung des Bürgers am wesen betreffen, vom „Kampf der Meinungen“57 der politischen Diskurs sichern.66 verschiedenen Gruppen von Bürgern über „das Richti- ge“, was seinen Ausdruck in den verbindlichen Ent- 2. Die Bedeutung des Pluralismus als Maxime scheidungen des Staates finden soll.58 Die Versammlung hat für die bürgerliche Beteili- Dieses Verständnis von Staat und Gesellschaft kann gung an der diskursiven Entscheidungsfindung eine heute als allgemein anerkannt und mit dem Grundge- entscheidende Rolle, indem sie eine auswirkungs- 67 setz als verwirklicht angesehen werden.59 Die Vor- mächtige Form der Artikulation darstellt. Ein Ver- stellung der pluralistischen Demokratie wird zum sammlungsrecht hat sich an dieser Bedeutung zu ori- einen den Grundgegebenheiten der menschlichen entieren. In diesem Zusammenhang gewinnt der Plu- Existenz gerecht, indem sie den Menschen zu Recht ralismus seine Bedeutung als rechtsdogmatische Ma- als auf Kommunikation angewiesenes Gruppentier xime für die Anwendung des Versammlungsrechtes. auffasst.60 Zum anderen ist sie allein mit den Anfor- Rechtsanwendung bedarf dogmatischer Leitsätze.68 derungen und dem Menschenbild des Verfassungs- Die Rechtsdogmatik nimmt eine vermittelnde Stel- staates vereinbar.61 Dem Grundgesetz liegen das lung zwischen einer Rechtsnorm und dem Einzelfall Prinzip der individuellen wie kollektiven Selbstbe- ein und dient dazu die auf diesen Normen basieren- stimmung und ein freiheitsorientiertes Menschenbild den Entscheidungen vorhersehbarer und nachvoll- zugrunde.62 Es versteht den Bürger im politischen ziehbarer zu machen.69 Die Leitsätze entstehen dabei Bereich als „Aktivbürger“, also als einen „in der De- in „mühsamer Diskussion“70 der Rechtspraxis, ihre Quellen sind somit insbesondere die Rechtspre- 53 Herzog, in: Kunst/Siegfried (Begr.), Herzog/Kunst/Schlaich/ chung, aber auch die Rechtswissenschaft.71 Schneemelcher (Hrsg.), Evangelisches Staatslexikon, Bd. II, 3. Auflage 1987, Sp. 2539 f.; Fraenkel (Fn. 5), S. 202 ff.; zur 62 Ideengeschichte s. von Beyme, Politische Theorien der Gegen- Häberle (Fn. 61), S. 50 mit Verweis auf BVerfGE 22, 180 wart, 8. Auflage 2000, S. 270 ff. (219 f.). 63 54 Fraenkel (Fn. 5), S. 197 ff.; Horn, Die Verwaltung 1993, 545, 548. Häberle (Fn. 61), S. 50 f. 64 55 Schuppert, in: Münkler/Fischer (Hrsg.), Gemeinwohl und Ge- Häberle (Fn. 52), § 22 Rn. 67 ff. meinsinn im Recht, Berlin 2002, S. 67 (73 f.). 65 Volkmann (Fn. 56), Art. 20 Rn. 15; zum Individualrecht auf 56 Fraenkel (Fn. 5), S. 200; Häberle, Öffentliches Interesse als (partei)politische Betätigung s. Jürgensen, MIP 2015, 13, 20. juristisches Problem, 2. Auflage 2006, S. 208 ff.; Häberle 66 BVerfGE 85, 1 (16); Volkmann (Fn. 56), Art. 20 Rn. 15; Jestaedt (Fn. 55), S. 99 (102 f.); Volkmann, in: Friauf/Höfling (Hrsg.), (Fn. 12), § 102 Rn. 10 ff.; Häberle (Fn. 52), § 22 Rn. 69. Berliner Kommentar zum Grundgesetz, Stand Februar 2016, 67 Hoffmann-Riem (Fn. 12), § 106 Rn. 16 f.; Schulze-Fielitz (Fn. Art. 20 Rn. 28. 11), Art. 8 Rn. 16; Benda (Fn. 13), Art. 8 Rn. 2. 57 BVerfGE 7, 198 (208). 68 Zum Begriff Lepsius, in: Jestaedt/Lepsius (Hrsg.), Rechtswis- 58 Hofmann (Fn. 55), S. 25 (33 ff.) senschaftstheorie, 2008, S. 1 (16 ff.). 59 Schuppert (Fn. 55), S. 67 (73 f.). 69 Hassemer, in: Kirchhof/Magen/Schneider (Hrsg.), Was weiß 60 Herzog (Fn. 53), Sp. 2359. Dogmatik?, 2012, S. 3 (7); Lepsius (Fn. 68), S. 1 (18). 70 61 Herzog (Fn. 53), Sp. 2539 f.; zum Menschenbild der Verfassung von Savigny, in: von Savigny (Hrsg.), Juristische Dogmatik s. Häberle, Das Menschenbild im Verfassungsstaat, 4. Auf- und Wissenschaftstheorie, 1976, S. 100 (106). lage 2005, S. 47 f. 71 Hassemer (Fn 69), S. 3 (8 ff.).

74 MIP 2016 22. Jhrg. Jürgensen/Garcia J. – Pluralismus als Maxime des Versammlungsrechts Aufsätze

Der Pluralismus reiht sich für das Versammlungsrecht Der Staat hat die Voraussetzungen eines rationalen als Gefahrenabwehrrecht ein in das verfassungsrecht- Diskurses zu schaffen und zu erhalten, was sachliche liche Prinzip des Übermaßverbotes, welches fordert, und personelle Offenheit des Prozesses verlangt.78 dass bei staatlichen Eingriffsakten Mittel und Zweck Während diese Forderung aus Sicht der Bürger als nicht außer Verhältnis stehen dürfen.72 Pluralismus als Appell politischer Toleranz und Diskussionsbereit- Maxime meint, dass bei Anwendung der versamm- schaft verstanden werden kann und soll, stellt sie für lungsbezogenen Gesetze der Staat selbst meinungs- den Staat einen justitiablen Imperativ dar. Für ihn ist neutral und so zu handeln hat, dass der Meinungs- das Verbot zu konstatieren, Meinungen mit seinen kampf der Bürger gerade ermöglicht wird. Alle Ent- Mitteln durchzusetzen, dementsprechend auch das scheidungen haben auf die Teilhabe der Bürger an der Recht entsprechend der politischen Vorstellungen politischen Willensbildung zu zielen ohne sie daran zu der Adressaten anzuwenden.79 Er hat vielmehr die hindern oder sie dafür zu sanktionieren. Diese Ermög- Meinungsäußerung insbesondere in Versammlungen lichungsfunktion ist dann im Einzelfall mit anderen zu fördern, insbesondere auch den Meinungsstreit Belangen ins Verhältnis zu setzen. der Bürger untereinander. Dieses Ziel hat Grundlage der Anwendung des Versammlungsrechts zu sein. Gegenwärtige Entwicklungen scheinen diese Aus- richtung des Versammlungsrechts erforderlich zu III. Theorie und Praxis der Normverwirklichung machen. Wenn öffentliche Auseinandersetzungen in für das Gemeinwesen grundsätzlichen Fragen an Die Maximeneigenschaft des Pluralismus im Ver- Schärfe gewinnen, trifft den Staat in besonderem sammlungsrecht stellt die Folge verfassungsrechtli- Maße die Verantwortung kommunikationsfördernd cher Grundentscheidung dar und dient der Verwirkli- 73 chung dieser. Dies wirft die Frage nach der tatsächli- tätig zu werden. Als aktuelles Beispiel mag die 80 Auseinandersetzung um die Einwanderungspolitik chen Durchsetzung dieser Norm auf. dienen, in deren Rahmen sich die PEGIDA-Demons- 1. Braucht es ein neues Versammlungsgesetz? trationen in Dresden entwickelten, welche sich auf andere Großstädte ausweitete, und deren Debatte In Betracht kommt zunächst legislatives Tätigwer- von enormer Intensität geprägt war und ist. Auch den. So wurde im Rahmen der Föderalismusreform dies ist Bestandteil einer pluralistischen Auseinan- das Versammlungsrecht den Länderkompetenzen zu- dersetzung und muss es sein. Die Verfassung schützt geordnet, wobei die Reform der Vereinfachung gerade auch die Äußerung extremer Ansichten, so- diente, sind diese doch bereits für das allgemeine lange sie im Rahmen der geistigen Auseinanderset- Gefahrenabwehrrecht zuständig.81 In der Folge könn- zung getätigt werden.74 Allerdings fand eine Diskus- ten neue Versammlungsgesetze erlassen werden, sion weniger auf Inhaltsebene statt, sondern war ge- welche sich stärker daran ausrichten den freien Mei- prägt von fundamentaler Medien- und damit Quel- nungskampf der Bürger zu ermöglichen. Aufgrund lenkritik einerseits und persönlichen Vorwürfen an- der Beschaffenheit des Gesetzgebungsverfahrens als dererseits, was seinen Ausdruck insbesondere darin integrativer Vorgang ist dieses Vorgehen auch grund- fand, dass gefordert wurde, die Diskussion mit den sätzlich zu favorisieren.82 Ob jedoch Anlass für umfas- Demonstranten erst gar nicht zu suchen.75 Dies stellt sende Novellierungen besteht und ob diese tatsächlich eine Belastung des gesellschaftlichen Kommunikati- onsklimas insgesamt dar, der die Befürchtung eines als Rechtsquelle, 2002, S. 21 ff.; zum möglichen Ende des „Diskursinfarkts“ aufkommen lässt.76 Dies ist unter Diskurses und der daraus folgenden Kritik an diesem Konzept Berücksichtigung der Bedeutung des Diskurses als Schlink, RHJ 1993, 57, 69. Grundlage der Gesellschaft mit Sorge zu betrachten, 78 Habermas (Fn. 77), S. 349 ff.; Volkmann fasst dies in (Fn. 13), Art. 20 Rn. 17 mit den Begriffen „Toleranz und dessen mögliches Ende wirft gar existentielle Fragen Fairneß“ zusammen. für den Verfassungsstaat auf.77 79 Dazu sogleich C. I. 72 BVerfGE 7, 377 (378); Lerche, Übermass und Verfassungsrecht, 80 Ob es sich bei der dargestellten Maxime tatsächlich um eine 2. Auflage 1999, S. 21 f.; Merten, in: Merten/Papier (Hrsg.), Norm im Sinne eines Rechtssatzes oder um einen „Rechts- Handbuch der Grundrechte, Bd. III, 2011, § 68 Rn. 51 ff. Grundsatz“ handelt, kann hier nicht diskutiert werden. S. zu 73 Volkmann (Fn. 56), Art. 20 Rn. 40 f. der Frage im Zusammenhang mit dem Übermaßverbot Lerche (Fn. 72), S. 316 ff. 74 BVerfG 124, 300 (320 f.); Michael/Morlok (Fn. 25), § 9 Rn. 210. 81 Ullrich (Fn. 13), S. 71; Gerstenberg, Zu den Gesetzgebungs- 75 Dazu Pörksen, in: SPIEGEL 2/2015, 72 ff. und Verwaltungskompetenzen nach der Föderalismusreform, 76 Pörksen (Fn. 75), 72, 74. 2009, S. 201. 77 Zur theoretischen Bedeutung des Diskurses s. Habermas, 82 S. dazu Schulze-Fielitz, Theorie und Praxis parlamentarischer Faktizität und Geltung, 1992, S. 138 f.; Engländer, Diskurs Gesetzgebung, 1988, insbes. S. 135 ff.

75 Aufsätze Jürgensen/Garcia J. – Pluralismus als Maxime des Versammlungsrechts MIP 2016 22. Jhrg. zielführend wären, scheint zumindest zweifelhaft.83 So chend deutlich bewertet werden, regelmäßig im Rah- ist ein Zugzwang im Sinne eines Gesetzgebungsauf- men von (Fortsetzungs-)Feststellungsklagen. Ande- trages in der Kompetenzneuverteilung nicht zu sehen, rerseits erfährt das Instrument des präventiven da über Art. 125a Abs. 1 GG weiterhin das Versamm- Rechtsschutzes im Wege der Anträge nach §§ 80 lungsgesetz des Bundes gilt, solange ein Land nicht Abs. 5, 123 Abs. 1 VwGO eine besondere Bedeu- ein eigenes Versammlungsgesetz erlässt.84 Diejenigen tung.89 Zur wirksamen Durchsetzung des Demonstra- Länder, die bereits eigene Wege gegangen sind,85 sa- tionsrechtes müssen Maßnahmen der Verwaltung hen sich weiter veranlasst in den neuen Gesetzen auch in kurzer Zeit angegriffen und unter Umständen eher einschränkende Regelungen zu treffen.86 Diese suspendiert werden. Diese prozessualen Mittel des Tendenzen sind dem Pluralismus nicht förderlich. gerichtlichen Rechtsschutzes sind an sich geeignet die Demonstrationsfreiheit umfassend zu sichern. 2. Möglichkeiten einer pluralismusgeleiteten Rechts- Dafür müssen diese jedoch tatsächlich auch ver- anwendung sammlungsspezifisch angewandt werden. Zum einen Ohnehin ist Adressat der Pluralismusmaxime zuvör- ist das Feststellungsinteresse bei der nachträglichen derst der konkrete Rechtsanwender, insbesondere die Überprüfung behördlicher Maßnahmen weit auszule- Versammlungsbehörden, die unmittelbar gegenüber gen, insbesondere unter den Gesichtspunkten der den Grundrechtsträgern tätig werden.87 Ihnen obliegt Wiederholungsgefahr und des Rehabilitationsinteres- die Verwirklichung einer grundrechtswahrenden und ses, damit bestimmte Rechtsverstöße in der Verwal- -ermöglichenden Rechtsanwendung im Rahmen des tungspraxis auch als solche entsprechend deutlich ihnen zustehenden Ermessens gemäß § 40 VwVfG.88 identifiziert werden.90 Zum anderen müssen im Fall Das Versammlungsgesetz (Bund) bietet mit seiner of- des Eilrechtsschutzes die möglichen Folgen der ge- fenen Tatbestandsstruktur und der Möglichkeit der Er- richtlichen Entscheidung hinreichend abgewogen messensausübung nach § 15 VersG (Bund) auch die werden und im Einzelfall auch bei ungeklärten Möglichkeit einer pluralismusgeleiteten Anwendung. Rechtsfragen endgültig entschieden werden.91 Zu- Gerade im Bereich von politisch motivierten oder bri- letzt ist von entscheidender Bedeutung, dass die Ge- santen Versammlungen besteht immer die Gefahr, richte selbst frei von der eigenen politischen Über- dass die Behörden nicht mit der notwendigen Neutra- zeugung entscheiden. Ein Blick in die Gerichtspraxis lität entscheiden: Die Verwaltung ist das Ergebnis ei- legt zumindest den Verdacht nahe, dass auch dies nes politischen Prozesses und kann sich im Einzelfall nicht lückenlos funktioniert.92 veranlasst sehen eine bestimmte Entscheidung aus ei- ner Überzeugung oder vermeintlichen Verantwortung gegenüber „den Wählern“ heraus zu entscheiden. 89 Dazu Hoffmann-Riem, NVwZ 2002, 257 ff. Aus diesem Grunde kommt den Verwaltungsgerich- 90 Als Negativbeispiel mag die Entscheidung des VG Düsseldorf ten als Rechtsschutzinstanzen eine besondere Rolle vom 28.8.2015 – 1 K 1369/15 zum Fall „DÜGIDA“ dienen: bei der Durchsetzung der Pluralismusentscheidung Die Klage wurde mangels Feststellungsinteresse als unzuläs- sig abgewiesen, weil weder eine Wiederholungsgefahr, noch der Verfassung zu. Ihnen kommt die Prüfung be- ein Rehabilitationsinteresse vorlägen. Indes wäre eine andere hördlicher Entscheidungen in zweierlei Hinsicht zu: Ansicht vor allem in Bezug auf das Rehabilitationsinteresse So muss das Handeln der Verwaltung im Wege des sehr gut vertretbar gewesen, zumal wesentliche Rechtsfragen repressiven Rechtsschutzes überprüft und hinrei- hätten geklärt werden können. 91 Anders etwa das OVG Münster (Beschl. v. 12.1.2015 – 15 B 45/15 = BeckRS 2015, 40521), das wegen des Verbots der 83 Zur Notwendigkeit neuer Regelungen Scheidler, ZRP 2008, Vorwegnahme der Hauptsache entschied, die begehrte einst- S. 151, 152. weilige Regelung könne nicht erlassen werden, da die Frage 84 Haratsch, in: Sodan/Haratsch/et al. (Hrsg.), Grundgesetz, 3. nach der Geltung und Reichweite des für Amtswalter gelten- Auflage 2015, Art. 125a Rn. 3; eine Verpflichtung zum ge- den Neutralitätsgebots in politischen Auseinandersetzungen setzgeberischen Tätigwerden kann höchstens dann angenom- außerhalb von Wahlkampfzeiten und ohne Beteiligung politi- men werden, wenn eine Landesverfassung die Versammlungs- scher Parteien nicht hinreichend geklärt sei. Im Sinne der Plu- freiheit weitergehend schützt als das Grundgesetz, s. dazu ralismusmaxime wäre es indes die Aufgabe des OVG Münster Kirchhoff, NVwZ 2009, 754. gewesen, die Rechtsfrage vorläufig zu beantworten und hier- 85 Kritisch hierzu: Gintzel, Die Polizei 2010, 1. nach zu entscheiden, ob der Antragssteller im Hauptsachever- fahren mit überwiegender Wahrscheinlichkeit obsiegen wird; 86 Ullrich (Fn. 13), S. 71 f.; Lux, LKV 2009, 491, 494 ff. s. dazu vor allem Roßner, Das OVG, das sich nicht traut, 87 Zur Anwendung parlamentarischer Entscheidungen Schulze- http://www.lto.de/recht/hintergruende/h/duegida-demonstratio Fielitz (Fn. 82), insbes. S. 143 ff. n-oberbuergermeister-duesseldorf-rechtsschutz/ (zuletzt abge- 88 Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, 18. Auflage 2011, rufen am 12.03.2016). § 6 Rn. 4 ff.; 16 ff. 92 Dazu unten C. II.

76 MIP 2016 22. Jhrg. Jürgensen/Garcia J. – Pluralismus als Maxime des Versammlungsrechts Aufsätze

IV. Zwischenfazit langt eine dogmatisch konsistente Fundamentierung juristischer Entscheidungen. Aus diesem Grund sol- Demokratie heißt Beeinflussbarkeit.93 Sie bedeutet len hier politisch gefärbte Konfliktsituationen des Streit um die Erkenntnis der richtigen Entscheidung, Versammlungsrechts untersucht werden und in Be- welche nicht als solche besteht, sondern allein als zug gesetzt werden zu den Forderungen, welche aus Regulativ, als Ergebnis eines Prozesses. Bei allem einer pluralismusgeleiteten Rechtsanwendung fol- Bedürfnis nach Konsens und der „geräuschlosen“ gen. Dies betrifft zunächst die politische Neutralität Entscheidungsfindung in Repräsentationsorganen ist des Staates gegenüber Demonstranten (I.), sodann es von fundamentaler Bedeutung, dass dieser Streit die rechtliche Beurteilung von Versammlungsverbo- auch „auf der Straße“ ausgefochten wird. Der Ver- ten, insbesondere aus dem Grund der Gefahr für die sammlung kommt historisch, ideengeschichtlich und öffentliche Ordnung (II.), und das besonders proble- auch symbolisch die Eigenschaft zu, gerade Minder- matische Verhältnis zwischen Demonstration und heiten eine Plattform zu geben, Missstände wirksam Gegendemonstration (III.). anzuprangern, das Korrektiv zum Mainstream zu sein. Bei aller – mitunter vielleicht verständlichen – I. Neutralität von Amtsträgern gegenüber Demons- Verachtung für getätigte Äußerungen ist diese Be- tranten deutung immer zu beachten, zu bedenken, dass eine pluralistische Demokratie den Kampf der Ideen Immer wieder äußern sich Amtsträger gegenüber De- 97 braucht und dass auch bedenklich erscheinenden An- monstranten. Neben dem eingangs genannten State- sichten nur das Argument entgegengebracht werden ment der Bundeskanzlerin, erfuhr auch der Düssel- kann. Der Diskurs bedeutet Beteiligung.94 Er hat eine dorfer Oberbürgermeister Thomas Geisel einiges an integrative Wirkung, indem er die Streitenden kom- Aufmerksamkeit, als er auf dem Internetauftritt der munizieren lässt, ins Gespräch bringt und dadurch Stadt zur Demonstration gegen das Bündnis DÜGIDA unter Umständen nicht allein das Trennende heraus- aufrief und ankündigte in sämtlichen städtischen Ge- stellt, sondern auch das Verbindende.95 Auf diese be- bäuden das Licht abzustellen, um die Ablehnung ge- 98 friedende Wirkung ist der Staat genau wie die Ge- genüber den Demonstranten auszudrücken. sellschaft angewiesen, weswegen er diesen Vorgang 1. Grundlagen der politischen Neutralität aktiv fördern muss.96 Er hat den Pluralismus als Ma- xime des Versammlungsrechts zu beachten, indem er Noch deutlicher als im Aufruf der Kanzlerin drängt nicht selbst Meinungen durchzusetzen versucht und sich hier ein Konflikt mit dem Neutralitätsgebot des seine Entscheidungen derart trifft, dass bürgerliche Staates auf. Dieses trifft den Staat in verschiedener Auseinandersetzung gerade stattfinden kann. Hinsicht. So ist er im Bereich ethischer Auseinander- setzungen99 sowie bezüglich Glaubens- und Weltan- Im Folgenden sollen drei klassische Problemfelder schauungsfragen anerkanntermaßen zur Neutralität des Versammlungsrechts im Lichte dieser Maxime verpflichtet.100 Doch auch im Bereich des Politischen untersucht und entsprechend der dargelegten Grund- lässt sich aus dem Grundgesetz die Pflicht zur staat- sätze entschieden werden. lichen Neutralität folgern: Objektiv-rechtlich aus dem Demokratieprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG, sub- C. Optimierungspotenziale im Versammlungsrecht jektiv-rechtlich aus Art. 3 Abs. 1 und 3 GG. Neutra- Aus der Eigenschaft des Versammlungsrechts als lität ist als Identifikationsverbot zu verstehen, der politisches Recht folgt, dass juristische Auseinander- „neutrale Staat identifiziert sich nicht mit einer ge- setzungen auf diesem Gebiet auch vor diesem Hin- sellschaftlichen oder geistigen Kraft“, sondern be- tergrund betrachtet werden müssen. So muss immer auch die politische Dimension einer konkreten Ent- 97 S. dazu auch Urteil des BVerfG vom 10.6.2014 – 2 BvE 4/13 scheidung bei der kritischen Auseinandersetzung be- zur Äußerungsfreiheit des Bundespräsidenten in Bezug auf trachtet werden. eine Versammlung der NPD, insbes. mit der Anmerkung von Das Recht verlangt hingegen eine Anwendung frei Bäcker, MIP 2015, 151 ff. 98 von subjektiven Tendenzen des Anwenders, es ver- Dazu die folgenden Entscheidungen: VG Düsseldorf, Beschl. v. 9.1.2015 – 1 L 54/15 = BeckRS 2015, 40408; OVG Müns- ter, Beschl. v. 12.1.2015 – 15 B 45/15 = BeckRS 2015, 93 Morlok/Michael (Fn. 14), § 5 Rn. 6. 40521; VG Düsseldorf, Urt. v. 28.8.2015 – 1 K 1369/15 = 94 Habermas (Fn. 77), S. 53 ff. BeckRS 2015, 52178. 95 Zum Begriff der politischen Integration s. Bühler, Das Inte- 99 Dazu Huster, Die ethische Neutralität des Staates, 2002. grative der Verfassung, 2011, S. 15 ff. 100 Dazu BVerfGE 12, 1 (4); E 18, 385 (386); E 19, 206 (216); E 96 Zum Konsensbezug Morlok/Michael (Fn. 14), § 3 Rn. 13. 24, 236 (246); Herzog (Fn. 5), 27. Lfg. 2015, Art. 4 Rn. 19.

77 Aufsätze Jürgensen/Garcia J. – Pluralismus als Maxime des Versammlungsrechts MIP 2016 22. Jhrg. wahrt sich seine „neutrale Offenheit.101 Adressat die- aus Art. 3 Abs. 1 und 3 GG folglich versagt „eine ses Gebots ist die Staatsgewalt im Sinne des Art. 1 Gruppe von Regelungsadressaten im Vergleich zu ei- Abs. 3 GG. ner anderen anders zu behandeln, obwohl zwischen beiden Gruppen keine Unterscheide von solcher Art Etabliert hat sich dieser Gedanke im Zusammenhang und solchem Gewicht bestehen, dass sie die unglei- mit dem Wettbewerb politischer Parteien, indem sich che Behandlung rechtfertigen.“109 Solche Unterschie- jede staatliche Einwirkung zugunsten oder zulasten de können in der inhaltlichen Ausrichtung einer Ver- eines Wettbewerbs verbietet.102 Die Parteien, welche sammlung110 oder der Organisationsform des Ver- gemäß Art. 21 Abs. 1 GG an der politischen Willens- sammlungsveranstalters nicht gefunden werden. Es ist bildung mitwirken und in ihr eine herausgehobene festzuhalten, dass alle Versammlungen, soweit sie nur Rolle einnehmen, müssen vom Staat strikt und formal von Art. 8 GG geschützt sind, als wesentlich gleich gleichbehandelt werden.103 In diesem Zusammenhang gelten müssen, sodass sich jede Benachteiligung nicht hat sich eine umfassende Judikatur des BVerfG ent- parteiförmiger politischer Aktivitäten verbietet.111 wickelt, in der Regierungsmitglieder insbesondere in Überschneiden sich dem folgend die Interessen und Wahlkampfzeiten zur umfassenden Zurückhaltung in Begehren zweier Versammlungen, kann ein gegebe- politischen Fragen angehalten wurden.104 nenfalls entstehender Konflikt allein anhand objekti- Die Geltung des Neutralitätsgebotes in politischen ver Kriterien wie dem Prioritätsprinzip gelöst wer- Fragen beschränkt sich indes nicht auf die Beteili- den.112 Eine gegenläufige Positionierung führt dem- gung von Parteien, sondern gilt umfassend. Parteien gegenüber zu rechtswidrigen Neutralitätsverstößen. wirken gemäß Art. 21 Abs. 1 S. 1 GG an der politi- Diese Konzeption einer umfassenden politischen schen Willensbildung mit ohne dass ihnen in diesem Neutralität im Sinne einer strengen „Nichtidentifika- Zusammenhang ein Monopol zukäme.105 Das Demo- tion“113 der für den Staat handelnden mit dem fragli- kratieprinzip verlangt eine staatsfreie Auseinander- chen Inhalt ist durchaus nicht unkritisch zu betrachten. setzung im Prozess gesellschaftlicher Willensbil- Jeder Amtsträger ist zugleich Privatperson mit eigener dung.106 Damit unvereinbar ist der Versuch der Identität, Weltanschauung und politischer Gesinnung. Durchsetzung einer „Staatsmeinung“: Gesellschaftli- Seine Stellung als staatliche ist zudem Produkt eines che Positionen sollen von staatlichen Stellen weder demokratischen, mithin politischen Prozesses. Das positiv noch negativ sanktioniert werden. Deshalb Postulat völliger Meinungsneutralität dieser Perso- kann aus dem Parteienprivileg des Art. 21 GG auch nen könnte somit künstlich sein, es könnte die tat- keine staatliche Privilegierung eines Demonstrations- sächlichen Umstände der Amtsführung verkennen veranstalters nur aus seiner Partei-Eigenschaft fol- und auch gar nicht notwendig sein, wenn man sich gen.107 Für die Funktionsfähigkeit einer pluralistischen der politischen Komponenten demokratischer Ver- Willensbildung ist es vielmehr vollkommen unerheb- fahren gewahr wird.114 Tatsächlich ist weder an der lich von wem eine Meinung vertreten wird – eine Wer- Künstlichkeit der vorgeschlagenen Differenzierung tung von staatlicher Seite soll gerade unterbleiben.108 noch an dem politischen Gehalt eines staatlichen Der Verwaltung ist es wegen des Gleichheitssatzes Amtes je zu zweifeln. Trotzdem scheint die Recht- sprechung zur Öffentlichkeitsarbeit der Bundesregie- 101 Schlaich (Fn. 53), Sp. 2239 f. rung115 im Grundsatz richtig und auf dargestellte 102 Zum Verständnis des Parteienrechts als Wettbewerbsrecht s. Konstellationen übertragbar. An dieser festhaltend ist Morlok, in: Häberle/Morlok/Skouris (Hrsg.), Festschrift für streng zu differenzieren: Als Bürger ist man grund- Dimitris Th. Tsatsos zum 70. Geburtstag, 2003, S. 410 ff.; Köhler, Parteien im Wettbewerb, 2006, S. 63 ff. rechtsberechtigt und kann seine Meinung frei äußern. 103 BVerfGE 20, 56 (116); E 44, 125 (146); E 52, 63 (89); E 82, 322 Als Amtsträger ist man hingegen aus der Verfassung (337), E 104, 14 (25); E 111, 382 (398); E 129, 300 (313). 109 104 Seibert, in: Schmidt-Aßmann/Sellner/Hirsch/et al. (Hrsg.), Fest- Dazu BVerfG, Urt. v. 16.12.2014 – 2 BvE 2/14 = NVwZ gabe 50 Jahre Bundesverwaltungsgericht, 2003, S. 535, 547 2015, 209; dazu Krüper, JZ 2015, 414; VerfGH Rheinland- 110 Pfalz, Beschl. v. 21.5.2014 – VGH A 39/14 = NVwZ-RR 2014, Ullrich (Fn. 13), S. 269 f. 665; für die kommunale Ebene s. Oebbecke, NVwZ 2007, 30. 111 Morlok (Fn. 105), Art. 21 Rn. 25. 105 Morlok, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz Kommentar, Bd. II, 112 Ullrich, DVBl. 2012, 666, 667. 2. Auflage 2006, Art. 21 Rn. 25; Klein (Fn. 5), Lfg. 64 2012, 113 Krüger, Allgemeine Staatslehre, 2. Auflage 1966, S. 178 ff., Art. 21 Rn. 157. zum Verhältnis von Neutralität und Freiheit S. 184. 106 Depenheuer (Fn. 5), Lfg. 48 2006, Art. 8 Rn. 33. 114 Dies hebt Krüper in JZ 2015, 414, 417, hervor. 107 Morlok (Fn. 105), Art. 21 Rn. 25; Klein (Fn. 5), Lfg. 64 2012, 115 BVerfG, Beschl. v. 26. 6. 2002 – 1 BvR 558/91 = NJW 2002, Art. 21 Rn. 157; Ullrich (Fn. 13), S. 473 f. 2621; BVerfG, Urt. v. 16.12.2014 – 2 BvE 2/14 = NVwZ 108 Klein (Fn. 5), Lfg. 64 2012, Art. 21 Rn. 157. 2015, 209.

78 MIP 2016 22. Jhrg. Jürgensen/Garcia J. – Pluralismus als Maxime des Versammlungsrechts Aufsätze verpflichtet, welche gerade die Neutralität fordert. Entscheidung des Gemeinwesens dar, die dem Dis- Diese Differenzierung erfordert für den Amtsträger kurs deshalb nicht mehr zugänglich sei. ein gewisses Maß an Disziplin und Reflektion. Genau Unter Anwendung dieser Maßstäbe ergibt sich für wie die Entscheidung Amtsträger zu werden eine be- den „Fall Geisel“ ein Verstoß gegen das Neutralitäts- wusste ist, ist auch die Einhaltung des Neutralitäts- gebot gegenüber den DÜGIDA-Demonstranten. Ei- gebots eine, die von einer bewussten Entscheidung nerseits sind die Netzseite der Stadt sowie die Licht- abhängt. Es ist insofern kein uneinhaltbares Gebot, anlagen der städtischen Gebäude als staatliche Res- private Vorstellungen nicht zur Grundlage staatlicher sourcen dem Bürgerdialog nicht von vornherein ge- Hoheitsakte gegenüber dem Bürger zu machen. widmet und dürfen mithin nicht als politisches 2. Bedeutung für das Versammlungsrecht Kampfmittel zweckentfremdet werden. Andererseits vermittelte der Aufruf zur Demonstration explizit ge- Somit gilt: Amtsträger der Exekutive verfolgen gen diese Versammlung den Eindruck, dessen Posi- politische Agenden, sie setzen Programmatiken um. tionen seien nur beschränkt vertretbar und von Staats Dies ist ihre ureigene Aufgabe für die sie demokra- wegen unerwünscht, ja gar minderwertig. Darüber tisch gewählt und damit legitimiert sind. Für diesen hinaus kann dem Aufruf auf der Netzseite ein nahezu Zweck müssen sie sich im Dialog mit den Bürgern subordinativer, anordnender und belehrender Cha- befinden, in welchem sie ihre Positionen erklären rakter vergleichbar mit dem eines Bescheids zuge- und verteidigen können müssen. Dies tun sie insbe- schrieben werden. sondere dann, wenn sie gegenüber Versammlungen oder den in deren Zusammenhang geäußerten Inhal- Dagegen kommt den Äußerungen der Bundeskanzle- ten Stellung nehmen. Die in diesem Rahmen vertre- rin ein solcher Charakter trotz des imperativen Wort- tenen Standpunkte dürfen aber von Amtsträgern lauts nicht zu. Unabhängig von der politischen Klug- nicht zu Gemeinwohldefinitionen bzw. Staatsansich- heit ihres Vorgehens, bediente sie sich doch eines ten „geadelt“ werden, die jeweils eine Konsens- und Mediums, das gerade für die Kommunikation und den Richtigkeitsvermutung für sich beanspruchen. Dies Dialog mit dem Volk geschaffen wurde. Dadurch wäre aber immer dann der Fall, wenn diesen Positio- sind ihre Bemerkungen erkennbar als Beitrag zu den nen durch die Stellung des Amtsträgers und die Auf- auch von den Demonstrationen betroffenen Streitfra- wendung von (Staats-)Ressourcen ein herausgehobe- gen zu verstehen. Sie bleiben mangels Anspruchs auf nes Gewicht verliehen wird, sich diese also nicht als Hoheit der Kritik zugänglich. Ihr Verhalten stellt da- gleichberechtigt in den pluralistischen Widerstreit mit keinen Verstoß gegen das Pluralismuselement divergierender Ideen einfügen. des grundgesetzlichen Demokratieprinzips dar. Dies bedeutet für die Rechtsanwendung, dass zunächst Insgesamt werden die vorgestellten Maßstäbe immer unterschieden werden muss, in welcher Funktion der dann Bedeutung haben, wenn sich Hoheitsträger ge- jeweilige Akteur gegenüber den Bürgern handelt. gen gesellschaftliche Extrempositionen wenden, wo- Handelt er nach den tatsächlichen Umständen in Aus- bei sie sich oft auch in der Verpflichtung gegenüber übung seines Amtes, so sind an die konkrete Äußerung Demokratie und Rechtsstaat sehen werden. Gerade verschiedene Anforderungen zu stellen, damit kein Minderheitspositionen haben aber in einer pluralisti- Verstoß gegen das pluralismuswahrende Neutralitäts- schen Verfassungsordnung eine schützenswerte Po- gebot vorliegt: Zum einen müssen Äußerungen von sition inne. Ihr Durchsetzungsvermögen soll nicht Amtsträgern aufgrund ihrer Integrationsverantwortung von staatlicher Willkür abhängen, sondern von ge- in besonderem Maße sachbezogen sein, insofern ist sellschaftlicher Resonanz, weswegen eine klare ju- eine gewisse Zurückhaltung zu fordern. Zum anderen ristische Erfassung und Bewertung von Äußerungen dürfen für den Bürgerdialog allein diese Ressourcen durch Amtsträger gewichtige Bedeutung hat. verwendet werden, die gerade dafür bestimmt sind, II. Versammlungsverbote als Mittel des Versamm- die Positionen des Amtsträgers darzustellen. Innerhalb lungsrechts dessen muss dann gewährleistet sein, dass durch Art und Form der Äußerung nicht der Eindruck entsteht, Nach § 15 Abs. 1 VersG können die Versammlungs- es handele sich um eine verabsolutierte Staatsan- behörden ein Versammlungsverbot aussprechen, sicht, die einen Wahrheitscharakter zu haben scheint wenn eine unmittelbare Gefährdung für die öffentli- und deswegen einen Vorrang genießt. Es muss der che Sicherheit oder Ordnung besteht.116 Gründe, die Zusammenhang zu der Position des konkreten Amts- ein solches Verbot rechtfertigen, sind in vielerlei Ge- trägers gewahrt bleiben, sodass nicht der Eindruck 116 Zu den Anforderungen s. Dietlein, in: ders./Burgi/Hellermann, entsteht, eine bestimmte Äußerung stelle bereits eine Öffentliches Recht in Nordrhein-Westfalen, § 3 Rn. 300.

79 Aufsätze Jürgensen/Garcia J. – Pluralismus als Maxime des Versammlungsrechts MIP 2016 22. Jhrg. stalt denkbar: So können beispielsweise Sicherheits- Die Rechtsprechung des Oberverwaltungsgerichts bedenken bestehen, Straftaten sofort und nahezu mit vermag indes nicht zu überzeugen. Dies könnte bereits Gewissheit zu erwarten sein oder schützenswerte aus der generellen Kritik gegen die öffentliche Ord- Rechte Dritter betroffen sein.117 Die Behörden haben nung als Grundlage für Grundrechtseingriffe folgen, bei der Ermessensentscheidung jedoch das Verhält- die insbesondere den demokratieinhärenten Minder- nismäßigkeitsprinzip, insbesondere die Bedeutung heitenschutz und die Unbestimmtheit als Argumente der Versammlungsfreiheit im pluralistisch-demokra- gegen die Verfassungsmäßigkeit des Begriffs an- tischen System zu berücksichtigen. Da diese eine führt. Diese Fundamentalkritik kann nicht in ihrer möglichst umfassende Grundrechtsermöglichung Gänze gefolgt werden, wenn berücksichtigt wird, verlangt, muss das Verbot als Mittel der Verwaltung dass in einer Demokratie neben dem Minderheiten- möglichst restriktiv angewandt werden.118 Insofern schutz auch immer das Mehrheitsprinzip steht, wes- entfaltet der Pluralismus als versammlungsrechtliche wegen es nicht von vornherein demokratie- und ver- Maxime seine Wirkung im Rahmen der zu tätigen- fassungswidrig sein kann, Ermessensentscheidungen den Abwägung auf Rechtsfolgenseite. an die Wertvorstellungen der Mehrheit zu knüpfen.122 Dies kann nicht gelten, sobald und soweit die öffent- Bereits auf Tatbestandsebene wird sie indes im Falle liche Ordnung für Eingriffe in die Versammlungs- des Verbotes wegen eines Verstoßes gegen die öffent- freiheit herangezogen wird, weil die inhaltliche Aus- liche Ordnung relevant. Solche sind in der versamm- richtung der Versammlung als mehrheitlich misslie- lungsrechtlichen Praxis insbesondere im Zusammen- big empfunden wird. Der Maxime des Pluralismus hang mit Demonstrationen neonazistischer Gruppen unterstellt, sollen sich die Wertvorstellungen der ausgesprochen worden.119 Die öffentliche Ordnung um- Mehr- und Minderheiten im Rahmen von Versamm- fasst die Gesamtheit aller ungeschriebenen Regeln, lungen gleichberechtigt gegenüberstehen. Eine offe- deren Befolgung nach den jeweils herrschenden so- ne geistige Auseinandersetzung kann aber dann nicht zialen und ethischen Anschauungen als unerlässliche stattfinden, wenn als extremistische Bedrohung wahr- Voraussetzung eines geordneten menschlichen Zusam- genommene Standpunkte die Bühne des öffentlichen menlebens innerhalb eines bestimmten Gebiets ange- Diskurses „auf der Straße“ entzogen wird. Hierzu sehen wird.120 Das Oberverwaltungsgericht Münster kann jedenfalls nicht die Exekutive berufen sein, hat bei der juristischen Bewertung dieser Hoheitsakte wenn andererseits rechtsstaatlich geregelte Verfah- einiges Aufsehen erregt, indem es zahlreiche dieser ren das Instrumentarium bieten und in Artt. 8 Abs. 2 offensichtlich politisch motivierten Entscheidungen i.V.m. 5 Abs. 2 GG gebieten, um Verfassungskrisen bestätigte. Zur Begründung trugen die Richter vor, Herr zu werden. Insoweit versperrt mithin das beste- dass eine Versammlung die erkennbar ein Bekennt- hende Meinungsstrafrecht den Weg zum Versamm- nis zum Nationalsozialismus beinhaltet, allein wegen lungsverbot wegen eines Verstoßes gegen die öffent- dieser inhaltlichen Ausrichtung eine Gefährdung für liche Ordnung aus inhaltlichen Gründen.123 Rechtmä- die öffentliche Ordnung darstelle. Die jeweiligen ßig können somit allenfalls Einschränkungen der Art herrschenden Anschauungen im Sinne der Definition und Weise der kollektiven Meinungskundgabe zum der öffentlichen Ordnung würden geprägt durch die Schutze der öffentlichen Ordnung sein.124 Wertmaßstäbe des Grundgesetzes, sodass letztlich nationalsozialistisch geprägte Versammlungen gene- Als Folge der Pluralismusmaxime für die Rechtsan- rell verboten werden dürften, und zwar unabhängig wendung im Fall von Versammlungsverboten lässt davon, ob im Einzelfall die Schwelle zur Strafbarkeit sich neben des Erfordernisses einer generellen restrik- erreicht sei oder die Begehung von Straftaten kon- tiven Anwendung, das Gebot einer verfassungskonfor- kret zu befürchten sei.121 men Auslegung des § 15 Abs. 1 VersG konstatieren: Ein Verstoß gegen die öffentliche Ordnung aus inhaltli- 117 Lux, LKV 2009, 491, 493; vgl. zur unmittelbaren Gefährdung chen Gründen vermag ein Versammlungsverbot nicht der öffentlichen Sicherheit Ott/Wächtler/Heinhold (Fn. 41), § 15 Rn.19 ff.; Dietel/Gintzel/Kniesel, Kommentar zum Ge- 2001, 2113; OVG Münster, Beschl. v. 23.3.2001 – 5 B setz über Versammlungen und Aufzüge, 16. Auflage 2011, 395/01 = NJW 2001, 2111. § 15 VersG Rn. 169 ff. 122 Baudewin, Der Schutz der öffentlichen Ordnung im Ver- 118 Ott/Wächtler/Heinhold (Fn. 41), § 15 Rn. 25. sammlungsrecht, 2. Auflage 2014, S. 108. 119 Roth, VBlBW 2003, 41. 123 BVerfG, Beschl. v. 24.3.2001 – 1 BvQ 13/01 = NJW 2001, 2069; 120 BVerfG, Beschl. v. 14.5.1985 – 1 BvR 233/81, 1 BvR 341/81 BVerfG, Beschl. v. 7.4.2001 – 1 BvQ 17/01 u. a. = NJW = NJW 1985, 2395, 2398. 2001, 2072; Depenheuer (Fn. 5), Lfg. 48 2006, Art. 8 Rn. 55. 121 OVG Münster, Beschl. v. 30.4.2001 – 5 B 585/01 = NJW 124 BVerfG, Beschl. v. 23.6.2004 - 1 BvQ 19/04 = NJW 2004, 2814; 2001, 2114; OVG, Beschl. v. 12.4.2001 – 5 B 492/01 = NJW BVerwG, Urt. v. 26.2.2014 – 6 C 1/13 = NVwZ 2014, 883.

80 MIP 2016 22. Jhrg. Jürgensen/Garcia J. – Pluralismus als Maxime des Versammlungsrechts Aufsätze zu rechtfertigen. Dies dürfte gar für alle Maßnahmen steht nicht unter einem Fiskalvorbehalt,129 sodass im auf Grundlage des Versammlungsgesetzes gelten. Rahmen des Adressatenauswahlermessens Gesichts- punkte der Effizienz der Gefahrenabwehr keine III. Das Verhältnis von Demonstration und Gegende- übergeordnete Rolle einnehmen dürfen. Vielmehr monstration verlangt der pluralistische Volkswillensbildungspro- Das Verhältnis von Demonstration und Gegende- zess unter dem Aspekt der Versammlungsfreiheit die monstration stellt ein äußerst konfliktgeladenes dar. Ermöglichung und Unterstützung von (Gegen-)Ver- In der Gesellschaft besteht teilweise die Auffassung, sammlungen bis zum Äußersten. Das Versammlungs- es sei Bürgerpflicht gegen bestimmte Ansichten ak- gesetz ist grundrechtsermöglichend anzuwenden. tiv tätig zu werden und deren Verbreitung zu verhin- Nötige Auflagen sind so zu erlassen, dass beide Ver- dern, zur Not auch im Rahmen eines „zivilen Unge- sammlungen hinsichtlich ihrer Zielangaben – d.h. horsams“ gegen anderslautende Entscheidungen der Ort, Zeit, Form, Ausmaß der Versammlungen – opti- Behörden.125 Dahinter steht letztlich die Vorstellung mal Geltung erlangen können. Dies ist notwendig, von „falschen“ Meinungsäußerungen, die bei der Be- damit Kommunikation als solche auch tatsächlich antwortung der Frage, ob Toleranz zu wahren oder stattfinden kann, die ein gewisses Maß an örtlicher den Anfängen zu wehren ist, zum Vorzug letzterer und zeitlicher Nähe voraussetzt. Auch ist – soweit Alternative führen. Aus Perspektive des Staates wirft sie sich als solche identifizieren lassen – vorrangig eine solche Situation das Gefahrenszenario der Eska- gegen unmittelbare Störer im Sinne des § 6 HSOG lation auf, wenn also der geistige Meinungskampf vorzugehen; die Rechtsfigur des Zweckveranlassers physisch ausgetragen zu werden droht. Dies könnte ist, unabhängig von grundsätzlicher Kritik,130 jeden- eine besonders eingriffsintensive Anwendung des falls im Versammlungsrecht abzulehnen.131 Polarisie- Versammlungsrechts begründen, um einer Gefähr- rende Versammlungen, die naturgemäß auf – im ord- dung von Versammlungsteilnehmern, Dritten und nungsrechtlichen Sinne störenden – Widerstand sto- Polizeibeamten vorzusorgen. Verschärft wird dies ßen, diesen durch ihr extremes Sein provozieren und noch durch den häufig beklagten Personalmangel bei deshalb subjektiv vorhersehbar veranlassen, ließen den Sicherheitsbehörden, der dazu geführt hat, dass sich andernfalls kaum noch durchführen. Versammlungsverbote vermehrt mit dem Bestehen Den Bereich der grundrechtlichen geschützten Ver- eines polizeilichen Notstands gerechtfertigt werden. sammlungen verlassen Demonstrationen dann, wenn Ein solcher ist aber erst beim Fehlen ausreichender diese ihre Forderungen „zwangsweise oder sonst wie Polizeikräfte gegeben. Wenn zum Beispiel die Si- selbsthilfeähnlich“ durchzusetzen versuchen.132 Weil cherheit der Versammlungsteilnehmer dann nicht im der Pluralismus nur den geistigen Meinungskampf nötigen Maße gewährleistet werden kann, können und die in diesem Zusammenhang stehende Ausein- Versammlungen von sog. Nichtstörern im Rahmen andersetzung umfasst, sind mithin solche Blockade- polizeilichen Ermessens gemäß § 15 Abs. 1 VersG 126 versammlungen nicht von Art. 8 Abs. 1 GG gedeckt, verboten werden. Insoweit muss aber vorher gege- dessen alleiniger Zweck ist, andere Versammlungen benenfalls auch versucht worden sein, Polizeikräfte zu vereiteln, zu verhindern oder zu sprengen.133 anderer Bundesländer und des Bundes anzufordern. Vor diesem Hintergrund sind polizeiliche Notstände Solche ausschließlich der Blockade dienenden Ver- – von unangemeldeten Veranstaltungen abgesehen – sammlungen dürften indes selten vorkommen. In der kaum vorstellbar.127 Entsprechend häufig mussten Regel werden die versuchten Behinderungen auch das diese Versammlungsverbote von Verwaltungsgerich- kommunikative Ziel verfolgen, dem eigenen Anliegen ten aufgehoben werden:128 Die Grundrechtsausübung mehr Gehör in der Öffentlichkeit zu verschaffen.134 Teilweise wird hier für die Frage, ob eine Versamm- lung in den Schutzbereich der Versammlungsfreiheit 125 Vgl. http://duesseldorf-stellt-sich-quer.de/: „Wir, das Bündnis "Düsseldorf stellt sich quer", rufen dazu auf sich RassistInnen 129 Schenke (Fn. 126), Rn. 319. mit Mitteln des zivilen Ungehorsams in den Weg zu stellen.“ 130 (zuletzt aufgerufen am 31.12.2015) Vgl. Schenke (Fn. 126), Rn. 244 Fn. 57 m.w.N. 131 126 Schenke, Polizei- und Ordnungsrecht, Rn. 312; Schoch, Jura Götz, NvWZ 1990, 725, 731; Enders, Jura 2003, 103, 108; 2007, 676 f. Schenke (Fn. 126), Rn. 246; offen lassend BVerfG, Beschl. v. 1.9.2000 – BvQ 24/00 = NVwZ 2000, 1406. 127 Ullrich, DVBl. 2012, 666, 668. 132 BVerfGE 87, 399 (408 ff.); BVerfGE 104, 92 (107). 128 Vgl. nur BVerfG, Beschl. v. 26.6.2007 – 1 BVR 1418/07 = 133 NVwZ-RR 2007, 641; OVG Lüneburg, Beschl. v. 13.8.2010 Depenheuer (Fn. 5), Lfg. 48 2006, Art. 8 Rn. 68; vgl. BVerfGE – 11 ME 313/10; OVG Berlin-Brandenburg, Urt. v. 20.11.2008 84, 203 (209). – 1 B 5.06; VG Weimar, Urt. v. 28.4.2009 – 1 K 710/07 WE. 134 Ullrich (Fn. 13), S. 249.

81 Aufsätze Jürgensen/Garcia J. – Pluralismus als Maxime des Versammlungsrechts MIP 2016 22. Jhrg. fällt, auf das Kriterium der Friedlichkeit im Sinne des gung der Pluralismusmaxime im Rahmen des ermes- Art. 8 Abs. 1 GG abgestellt und danach differenziert, sensgeleiteten Handelns der Behörden zu lösen ist. ob sich die Blockade bloß symbolisch den Demonstra- Konkret: Das Entschließungsermessen der Ver- tionszug der Andersdenkenden in den Weg stellt und sammlungsbehörde ist bezüglich eines Einschreitens nicht aufzuhalten vermag oder ob die Demonstration gegenüber Blockadeversammlungen dann auf Null tatsächlich daran gehindert wird, den vorgesehenen reduziert, wenn und sobald die gegnerische Ver- Weg zu nehmen.135 Von der Definition des Bundesver- sammlung in der Ausübung ihrer Versammlungsfrei- fassungsgerichts ausgehend, erscheint eine solche heit behindert zu werden droht.144 Wann dieser Zeit- Einordnung zweifelhaft. Hiernach ist eine Versamm- punkt erreicht ist, muss von Fall zu Fall entschieden lung dann nicht mehr friedlich, wenn „ersichtlich äu- werden, wobei den Behörden hierbei ein Beurtei- ßerliche Handlungen von einiger Gefährlichkeit wie lungsspielraum zuzubilligen ist. etwa Gewalttätigkeiten oder aggressive Ausschreitun- gen gegen Personen oder Sachen“136 festzustellen sind. D. Fazit Blockaden zeichnen sich demgegenüber gerade durch Passivität137 aus. Die meisten Blockadeversammlungen Die Versammlung ist eine recht emotionale Angele- überschreiten die verbale Auseinandersetzung mithin genheit. Dies vermag nicht zu verwundern, ist sie nicht weit138 genug, um als unfriedlich eingestuft wer- doch von Geschichte durchwirkt, im Positiven, man den zu können, insbesondere weil Versammlungen denke an die Montagsdemonstrationen, die das tota- sich gerade durch eine gewisse physische Präsenz139 litäre System der DDR in vollkommener Friedlich- kennzeichnen und deshalb an die Friedlichkeit keine keit zum Fall brachten, im Negativen, man denke an übersteigerten Anforderungen gestellt werden soll- die martialischen nationalsozialistischen Aufmärsche ten.140 Das Bestreiten des Rechts der Blockierten tritt in den dreißiger Jahren des vergangenen Jahrhun- vielmehr neben das positive Eintreten für eigene Ziele derts, aber auch an die schrecklichen Ereignisse An- und Ideale, was wiederum dem auf die Teilnahme an fang der neunziger Jahre in Rostock/Lichtenhagen oder Solingen, wo sich der Hass in der Bevölkerung der politischen Meinungsbildung gerichteten Ver- 145 sammlungsbegriffs entspricht.141 Wenn man die in verheerende Gewalt entlud. Durchsetzungsfähigkeit des modernen Staates bedenkt Sie ist durch das Physische geprägt in einer Demo- und erkennt, dass die tatsächliche Vereitelung einer kratie, die ansonsten auf doch sterile Vorgänge der rechtmäßigen Versammlung in den seltensten Fällen volksunmittelbaren Machtausübung, wie dem Wahl- realistische Aussicht auf Erfolg hat, ist überdies davon akt oder den gelegentlichen Abstimmungen, be- auszugehen, dass der kommunikative Versammlungs- schränkt ist. zweck regelmäßig im Vordergrund stehen wird.142 So- Sie verlangt eine gewisse Dringlichkeit in der Sache, lange die Gegenversammlung den Rahmen passiver die die Menschen dazu bewegt auf die Straße zu ge- Resistenz nicht überschreitet, bleibt sie also vom hen, in einer Zeit in der doch so viel Verdrossenheit Schutzbereich der Versammlungsfreiheit umfasst.143 herrschen soll. Das Verhältnis von Versammlung zur kommunikativ So wird auch die Rechtsanwendung zu einer emotio- blockierenden Gegenversammlung stellt somit einen nalen Sache, sobald sie sich mit der Versammlung zu Grundrechtskonflikt dar, der im Wege der prakti- befassen hat. Dies steht mit dem Verlangen nach schen Konkordanz unter besonderer Berücksichti- möglichst formaler, gefühlsloser, eben neutraler Ge- 135 Ullrich, DVBl. 2012, 666, 671. setzesanwendung in Konflikt, lässt sich aber nicht 136 BVerfGE 73, 206 (248 f.); BVerfGE 87, 399 (406); BVerfGE vermeiden solange Menschen an diesem Vorgang 91, 1 (9 ff.); BVerfGE 104, 92 (101 ff.). beteiligt sind.146 137 Vgl. hierzu Höfling, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz Kommen- Letztlich kann der vorliegende Beitrag auch in diese tar, 7. Auflage 2014, Art. 8 Rn. 33. Richtung verstanden werden: Wo Rechtsanwendung 138 Schulze-Fielitz (Fn. 11), Art. 8 Rn. 42; Kloepfer (Fn. 11), § 164 Rn. 65 ff. zu einer Frage von Gefühlen werden kann, bedarf es Vorkehrungen, damit es nicht an diesen ausgerichtet, 139 Depenheuer (Fn. 5), Lfg. 48 2006, Art. 8 Rn. 6 („Argument des Körpers“). 144 So im Ergebnis auch Dietel/Gintzel/Kniesel (Fn. 117), § 15 140 Schneider (Fn. 35), Art. 8 GG Rn. 13; Gusy (Fn. 37), Art. 8 VersG Rn. 210. GG Rn. 22. 145 Zu Geschichte und Symbolik der Versammlung s. Hoffmann- 141 Rusteberg, NJW 2011, 2999, 3002. Riem (Fn. 12), § 106 Rn. 1 ff. 142 Rusteberg, NJW 2011, 2999, 3001. 146 Dazu Wang, Subjektivität und Objektivität in der Rechtsan- 143 Dietel/Gintzel/Kniesel (Fn. 117), § 15 VersG Rn. 196, 209. wendung, 2013.

82 MIP 2016 22. Jhrg. Jürgensen/Garcia J. – Pluralismus als Maxime des Versammlungsrechts Aufsätze nicht gebogen, damit es nicht gebrochen wird, von mit emotionale Debatten auch wirklich geführt und denen die damit beauftragt wurden es im Sinne des nicht verhindert werden. Die hinter dieser Forderung Souverän anzuwenden. Die hier vorgeschlagene Vor- stehende Vorstellung von der Heilsamkeit eines Dis- kehrung ist ein verstärktes Theoriebewusstsein des kurs mag als Utopie abgetan werden, es ist allerdings Versammlungsrechts, eine Maximenorientierung am nicht von der Hand zu weisen, dass Beteiligung und pluralistischen Demokratieprinzip. vor allem auch die faire Chance der Beteiligung Ak- zeptanz fördern. Auch wenn einer Diskussion diame- Die Schwierigkeit dieser Aufgabe darf nicht unter- trale Unterschiede in den Prämissen im Wege zu ste- schätzt werden, sie ist auch nicht einfach zu vermit- hen scheinen, bringt ein tatsächlich geführter Kampf teln. Es ist in der Regel eben viel angenehmer ein um die Sache immer einen Sieger und einen Verlie- Versammlungsverbot für eine Demonstration von rer hervor, dessen Ergebnis die Überlegenheit der Neonazis auszusprechen oder ein solches zu bestäti- Sache bezeugt.149 Aus diesem Grunde ist die Beto- gen. Mitunter kann es als moralische Pflicht verstan- nung der grundlegenden Voraussetzungen einer ge- den werden so zu handeln, genau wie es von vielen sellschaftlichen Willensbildung in der freiheitlichen Bürgern als solche empfunden wird, wenn diese ge- Ordnung des Grundgesetzes so wichtig. gen geltendes Recht solche Aufmärsche blockieren, dies von Beginn an zu verhindern. Eine Wissenschaft Der Pluralismus als Maxime des Versammlungs- vom Recht muss sich mit diesem Umstand auseinan- rechts soll dazu dienen, dass die Versammlungsbe- dersetzen, diese Debatte muss offen geführt werden. hörden im Rahmen ihres Ermessens und die Gerichte bei deren Überprüfung so entscheiden, dass die Denn dies sind nicht die Spielregeln, auf die wir uns Grundrechtsausübung von jedem ermöglicht und ent- geeinigt haben. Der Pluralismus als Wesensmerkmal faltet wird, der danach verlangt. Der Staat soll unserer Demokratie fordert, dass auch das für den Schlüsse aus gesellschaftlichen Debatten schließen Einzelnen Unerträgliche geäußert und versamm- und diese nicht mit seiner Autorität steuern und be- lungsmäßig beworben werden kann. Karl Popper hat einflussen. Er soll auch gegen seine Überzeugung uns in seiner Schrift „Die offene Gesellschaft und Meinungen die Möglichkeit verschaffen, zukünftig ihre Feinde“ verdeutlicht, was der Wert und die Be- die herrschende zu werden, in der Hoffnung, dass die deutung einer solchen offenen Gesellschaft sind.147 gesellschaftlichen Kräfte dies zu verhindern wissen. Ihre Schranke findet sie erst dort, wo es um die Es- senz der Verfassung geht, die freiheitlich demokrati- Dieser Ansatz macht die Rechtsanwendung nicht un- sche Grundordnung.148 Und selbst dies mag aus plu- bedingt einfacher, er schafft vielleicht auch in der ralistischer Perspektive paradox erscheinen. Praxis mehr „Probleme“ als er löst. Er darf deswe- gen aber nicht als naive Forderung aus dem universi- Eine konsequente Anwendung der Pluralismusmaxi- tären Elfenbeinturm verworfen werden, sondern ver- me ist in der Lage das Versammlungsrecht zu einem langt zumindest die Auseinandersetzung mit der Fra- ungeliebten Recht zu machen. Sie führt dazu, dass ge, wie die Demokratie aussehen soll, in der wir le- zugunsten von Ideen und Menschen entschieden ben möchten. werden muss, die einem zutiefst zuwider sind. Das Recht hat aber gar nicht die Aufgabe dem Anwender zu gefallen, vor allem nicht das öffentliche Recht. Deswegen ist auch den Rufen nach Verschärfung und Restriktion des Versammlungsrechts nicht zu folgen. Dies kann nicht die Antwort auf die Fragen sein, die sich Wissenschaft und Praxis im Versamm- lungsrecht stellen müssen. Die Staatsgewalt darf nicht dazu verwendet werden, die Unbequemen zu verhindern, sie zu bestrafen. Das wird auch dann nicht helfen, wenn diese tatsächlich Recht brechen, Schaden anrichten, Unheil stiften. Die Staatsgewalt muss eine viel stärkere Betonung ihrer freiheitsermöglichenden Funktion erfahren, da-

147 Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, Bd. I, II, 2003. 148 Zum Prinzip der wehrhaften Demokratie s. Morlok (Fn. 105), Art. 21 Rn. 142 ff. 149 Dazu Morlok/Michael (Fn. 14), § 5 Rn. 42 ff.

83 Aufsätze von Alemann – Otto Kirchheimer – ein Hidden-Champion MIP 2016 22. Jhrg.

Otto Kirchheimer – ein Hidden-Champion Er ist eben ein Hidden Champion, dessen Einfluss gleichwohl bis heute spürbar bleibt. Mittler zwischen Staatslehre und Ich will Ihnen diesen verborgenen Meister heute nä- Politikanalyse1 her bringen. Aber ich kann in der kurzen Zeit sicher nur ein paar Schlaglichter auf ihn werfen. Ich werde Prof. Dr. Ulrich von Alemann2 fünf Nachfragen an ihn stellen. 1. Wie verlief sein Lebensweg? 2. Was waren seine frühen wissen- schaftlichen Schwerpunkte? 3. Was war die Bot- Am 1. Oktober 2015 habe ich in der FAZ ein Verlags- schaft seines Hauptwerkes aus der Nachkriegszeit? spezial gefunden über die Region Heilbronn/Franken. 4. Was will uns seine Parteien- und Oppositionsana- Es geht im ganzen Heft um die Hidden Champions. lyse sagen? Und schließlich: 5. Was können wir heu- Denn „in kaum einer Region Deutschlands gibt es te noch von ihm lernen und das heißt gleichzeitig: mehr Unternehmen mit Marktführerschaften als in Was ist von ihm geblieben? Heilbronn.“3 Es geht nicht nur um die Unternehmen, am Ende geht es auch um „kluge Köpfe mit Weltruhm“ 1. Frage: Wie war sein Leben? als da sind: „Weltmarktführer, Weltmeister und Welt- raumfahrer – Sie alle kommen aus Heilbronn/Franken“.4 Otto Kirchheimer wurde am 11. Nov. 1905 in Heil- bronn in einer gutsituierten jüdischen Familie, als In dieser Liste – angeführt von Theodor Heuss – Sohn des Kaufmanns Julius Kirchheimer, geboren. kommt unser heute zu ehrender Otto Kirchheimer Er gehört damit zu einer Generation mit Carl Joachim leider nicht vor. Obwohl auch er ein Heilbronner ist, Friedrich (geb. 1901), Karl Popper (geb. 1902), der seiner Heimat so verbunden war, dass er nach Theodor W. Adorno (geb. 1902), Theodor Eschenburg über 30 Jahren Exil hier seine letzte Ruhestätte ne- (geb. 1904) oder Hannah Arendt (geb. 1906), die in ben dem Grab seiner Eltern finden wollte. Wir haben ganz unterschiedlicher Weise die sozialwissenschaft- heute seine Grabstätte besucht. liche Theorie und Praxis sowie die spätere deutsche Ja, Otto Kirchheimer ist ein Hidden Champion des Politikwissenschaft des noch jungen Jahrhunderts Geistes und der Wissenschaft. So verborgen, dass er prägen sollten. in seiner eigenen Geburtsstadt noch nicht einmal bei Otto Kirchheimer wurde in Heilbronn eingeschult und vielen Bürgern präsent ist. Aber das wird sich mit wuchs dort bis zum 12. Lebensjahr auf. Aber als seine dem heutigen Tage sicherlich ändern. Eltern früh gestorben waren, haben ihn seine älteren Kirchheimer war ein herausragender Solitär der Wis- Geschwister nach Heidelberg-Neuenheim umgeschult. senschaft, der keine umfassende Schule gebildet hat In Ettenheim bei Lahr in Baden hat er sein Abitur ge- oder ihr angehörte. Er blieb eher unauffällig, genießt macht. Auch sein enger Freund und Kollege und aber international und interdisziplinär eine beeindru- ebenfalls großer Politologe John H. Herz bekennt, ckende Reputation. In der wissenschaftlichen Öffent- dass man wenig über Kirchheimers Kindheit und Ju- lichkeit ist er nicht so bekannt wie etwa die „Konzern- gend weiß. Vielleicht mag der frühe Verlust der Eltern marken“ Jürgen Habermas (147.000 hits bei google sein lebenslanges Bedürfnis nach Sicherheit erklären. scholar) oder Niklas Luhmann (65.700 hits). Otto Immerhin erzählt sein Jugendfreund Eugen Amschel Kirchheimer muss sich mit 11.200 hits bescheiden. von gemeinsamen Erlebnissen im deutsch-jüdischen Wanderbund. Im Übrigen scheint er aber nicht sehr religiös geprägt gewesen zu sein, vielmehr hat er sich 1 Vortrag zur Verleihung des Otto-Kirchheimer-Preises am 24. schon jung der sozialistischen Arbeiterbewegung und November 2015 im Rathaus der Stadt Heilbronn. Eine ge- ihrem marxistischen Gedankengut zugewandt. Er kürzte Fassung dieses Beitrages mit dem Titel „Besonders Kirchheimer“ ist erschienen in der FAZ vom 14.03.2016, S. 8. wurde Jungsozialist und trat der SPD bei. 2 Der Autor ist Professor für Politikwissenschaft und ehem. Er studierte Rechtswissenschaft und auch das junge Prorektor für Lehre und Studienqualität der Heinrich-Heine- Fach Soziologie an den Universitäten in Münster, Universität Düsseldorf. Er war von Dezember 2001 bis März 2010 stellvertretender Direktor des PRuF. Köln, Berlin und ab dem WS 1926/27 in Bonn, um dort 1928 bei Carl Schmitt zu promovieren. Ja, an 3 Ühlin, Achim (2015): Still und leise zur Weltmarktführer- schaft. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung. Region Heil- der Rheinischen-Wilhelms-Universität im damals bronn-Franken. Verlagsspezial vom 01.10.2015, S. V1. verschlafenen Universitäts- und Pensionärsstädtchen 4 Zimmer, Christiane (2015): Mit Talent, Mut und Beharrlich- Bonn, wo auch der Stifter dieses Preises, der Laudator keit zum Erfolg. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung. Region und ich selbst studiert haben. Wir aber bei dem je- Heilbronn-Franken. Verlagsspezial vom 01.10.2015, S. V4.

84 MIP 2016 22. Jhrg. von Alemann – Otto Kirchheimer – ein Hidden-Champion Aufsätze denfalls damals explizit linksliberalen Karl Dietrich der sogenannten Machtergreifung vom 30. Januar Bracher, Kirchheimer bei dem rechtskonservativen 1933 alles anders aussah. Er war zwar nicht der SAP Carl Schmitt, dem später berüchtigten „Kronjuristen beigetreten, wie andere linke Sozialdemokraten, den- des 3. Reiches“. Wie ging das denn zusammen? Ein noch war ihm als Jude klar, dass er nicht in Deutsch- marxistischer Jungsozialist und Carl Schmitt? Mehr land bleiben konnte, und er emigrierte zunächst mit noch, Otto Kirchheimer gehörte neben anderen Sozial- seiner ersten Frau Hilde Kirchheimer-Neumann und demokraten, wie Ernst Fraenkel und Franz Neumann, der Tochter (geb. 1930) nach Paris. Dort arbeitete er sogar zu den Lieblingsschülern Schmitts, der in sei- vier Jahre an der französischen Sparte des Internatio- nem Tagebuch notierte: „Abends Seminar, nett, be- nalen Instituts für Sozialforschung (Horkheimer-In- sonders Kirchheimer“ (23. Juni 1927) und wenig stitut). Er musste sich finanziell mehr schlecht als später: „Seminar, Kirchheimer war klug und nett“.5 recht durchschlagen und hat sich auch mit Horkhei- Die Erklärung dieser geistigen Nähe, die uns heute mers autoritärem Führungsstil nicht wirklich abfin- befremdlich erscheint, liegt nahe, denn beide Seiten den können. Aber auch die „kritische Theorie“ war waren damals gegen Liberalismus, Pluralismus und ihm als freiem Geist zu eng, und er blieb ihr gegen- Parlamentarismus. Mit Kirchheimers Dissertation über ambivalent. Mit Carl Schmitt, seinem Lehrer, „Zur Staatslehre des Sozialismus und Bolschewis- hatte er natürlich längst gebrochen. mus“ konnte Schmitt schon weniger anfangen, und Mit dem Institut siedelte Kirchheimer 1937 mit Frau er schrieb nur ein knappes Gutachten und notierte in und Tochter von Paris in die USA um; sie ließen sich sein Tagebuch: „Kirchheimer mangelt jedes Natio- allerdings 1941 scheiden. 1943 zog er mit seiner nalgefühl, grauenhaft“ (25. Februar 1928).6 zweiten Frau, Anne Rosenthal, nach Washington Otto Kirchheimer begann nach der Promotion sein D.C., wo 1945 ihr Sohn Peter geboren wurde, und Referendariat und publizierte nebenbei, so im Früh- wo sie bis zu seinem frühen Tod 1965 wohnen blie- jahr 1932 in der sozialistischen „Gesellschaft“ den ben. 1937 bis 1942 konnte Kirchheimer am New Aufsatz „Legalität und Legitimität“. Schmitt klaute Yorker International Institut for Social Research als kurzerhand den Titel von seinem Schüler und veröf- wissenschaftlicher Assistent für Recht und Sozial- fentlichte im selben September eine gleichnamige wissenschaften weiterarbeiten, schon auch mit einem Schrift, die Kirchheimer umgehend lobte: „Wenn eine Lehrauftrag an der Columbia University, die finanzi- spätere Zeit den geistigen Bestand dieser Epoche sich- ellen Sorgen allerdings blieben. tet, so wird sich ihr das Buch von Carl Schmitt über Die wurden endlich weniger seit er ab 1943 am Wa- Legalität und Legitimität als eine Schrift darbieten, shingtoner Office of Strategic Service (OSS) in deren die sich aus diesem Kreis sowohl durch ihr Zurückge- Research and Analysis Branch unterkam. Manche hen auf die Grundlagen der Staatstheorie als auch meinen, dies sei der Vorläufer der CIA gewesen, was durch ihre Zurückhaltung in den Schlussfolgerungen Beteiligte heftig zurückweisen. Es war eher ein früher auszeichnet.“7 Schon merkwürdig, ausgerechnet dem think tank, es wurden Expertisen für das Europa im scharfzüngigen Schmitt eine Zurückhaltung in den und nach dem Krieg angefertigt. Aber es war schon Schlussfolgerungen zu attestieren. War das schon Iro- eine bizarre Situation, die das Mitglied John H. Herz nie? Möglicherweise war ihr Verhältnis von der Devi- in seiner Autobiographie „Vom Überleben“ so schil- se bestimmt: Du bist rechts, ich bin links, aber wir re- dert: „Es war eine seltsame Gruppe von Menschen, spektieren uns als Revolutionäre. die sich in dieser Abteilung zusammenfand. Deut- Diese Koexistenz währte aber nicht mehr lange. sche und österreichische Emigranten, die zumeist Kirchheimer machte sein Assessorexamen und stand noch gar nicht amerikanische Staatsbürger hatten kurz davor, sich als Anwalt niederzulassen, als mit werden können und daher technisch ‚enemy aliens‘ 5 Mehring, Reinhard (2010): „ein typischer Fall jugendlicher waren, die nunmehr in den ‚most sensitive‘ Ämtern Produktivität“. Otto Kirchheimers Bonner Promotionsakte. tätig wurden (…). Führend in der Gruppe waren drei In: forum historiae iuris (04.01.2010). Online verfügbar unter: deutsche Sozialwissenschaftler (mit Herz vier, UvA), www.forhistiur.de/it/2010-01-mehring/?l=de (zuletzt abgeru- die aus dem Frankfurter, später nach New York aus- fen am 10.02.2016). gewanderten Institut für Sozialforschung herkamen: 6 Mehring, Reinhard (2010): „ein typischer Fall jugendlicher Franz Neumann, Herbert Marcuse und Otto Kirch- Produktivität“. Otto Kirchheimers Bonner Promotionsakte. In: forum historiae iuris (04.01.2010). Online verfügbar unter: heimer. Alle mehr oder weniger Marxisten, alle vor www.forhistiur.de/it/2010-01-mehring/?l=de (zuletzt abgeru- Hitler der linken Richtung der SPD angehörend. Es fen am 10.02.2016). war, als hätte sich der linkshegelianische Weltgeist 7 Otto Kirchheimer (1932): Verfassungsreaktion. In: Die Ge- sellschaft Bd. IX, S. 415ff.

85 Aufsätze von Alemann – Otto Kirchheimer – ein Hidden-Champion MIP 2016 22. Jhrg. vorübergehend in der Mitteleuropäischen Abteilung Prinzip anzuordnen. Die „Füchse“ hingegen, so Ber- der OSS angesiedelt“.8 lin, verfolgten „viele Ziele oft ohne inneren Zusam- menhang oder sogar widersprüchlich, (…) verbun- Am 16. November 1943 erhielt Kirchheimer die ame- den durch kein moralisches oder ästhetisches Prin- rikanische Staatsbürgerschaft. Neben seiner Arbeit als zip; (…) ihre Gedanken sind verstreut und weit- Research Analyst konnte er nur wenig selbst wissen- schweifig, bewegen sich auf vielen Ebenen, nehmen schaftlich publizieren, weil die Gutachten meistens die Essenz einer Vielzahl von Erfahrungen und Ob- kollektiv und/oder anonym verfasst wurden. Auch jekten in sich auf.“10 Die Meisterdenker aus der Ka- hier erweist sich wieder sein Inkognito als Visiten- tegorie der Igel sind dann z.B. Platon, Hegel, Marx karte des verborgenen Meisters. Trotzdem war er und Nitzsche; Aristoteles, Tocqueville und Montaigne auch schon durch Lehraufträge mit mehreren Hoch- sind Füchse. schulen verbunden. Schließlich wurde er 1955 or- dentlicher Professor an der New School of Social Auch wenn diese Denker, bei aller Bewunderung für Research in New York und 1960 an die Columbia den Namensträger des Preises, vielleicht noch eine Universität berufen. Diese Zeit an den beiden renom- Gewichtsklasse über Otto Kirchheimer stehen: Es ist mierten New Yorker Hochschulen wurde seine wis- eine nützliche Unterscheidung, die uns auch hilft senschaftlich fruchtbarste Schaffensperiode. Er lehrte Kirchheimers Denken zu verorten. Denn keine Fra- 1961/62 als Fulbright Professor an der Universität ge: Kirchheimer war ein Fuchs. Freiburg und überlegte immer mal wieder, eine deut- Otto Kirchheimer kann nicht allein auf die Rolle des sche Professur anzunehmen. Aber seine Frau war Erfinders eines Trends zur catch-all party reduziert eher skeptisch und wollte insbesondere den Sohn Pe- werden. Ich komme gleich darauf zurück. Neben die- ter in den USA aufwachsen sehen. ser zweifellos wichtigen Parteien- und Oppositions- 1965 stand eine Berufung nach Freiburg möglicher- forschung steht sein eigentliches opus magnum in weise unmittelbar bevor, als er in Hektik von seiner der Nachkriegszeit, die „Politische Justiz“. Seine Frau, die ihn immer überall hin chauffierte, an den schon zitierte Dissertation trug den Titel „Zur Staats- Flughafen in Washington gebracht wurde und ihn lehre des Sozialismus und Bolschewismus“ und zeigt ein Herzanfall ereilte. ihn als Rechtstheoretiker. Er hat das Leben geliebt und genossen: „Otto liebte Schon hier findet sich eine weitsichtige These: „Man Wein, Bücher, Bilder und Natur“, erinnert sich John schritt auf allen Gebieten zur Verrechtlichung, jeder H. Herz an ihn.9 Er hasste Schwätzer und Eitelkeiten. tatsächlichen, jeder Machtentscheidung wird auszu- Er war immer sehr offen und konnte auch einmal weichen versucht, ob es sich um die Diktaturgewalt grob werden. Wenn es seiner Frau, die ihn nicht nur des Reichspräsidenten oder um die Beilegung von chauffierte, denn er hatte nie einen Führerschein, Arbeitskonflikten handelt, alles wird neutralisiert da- sondern auch seine Finanzen, seine Schriften und durch, daß man es juristisch formuliert. Jetzt erst be- sein vielen Besuchern offenes Haus am Waldrand ginnt die wahre Epoche des Rechtsstaats. Denn die- versorgte, bei ihren Spazierfahrten zu bunt wurde, ser Staat beruht nur auf seinem Recht. Dadurch, daß setzte sie ihn kurzerhand im Wald ab und nahm ihn die Entscheidung, die gefällt wird, möglichst farblos nach einer halben Stunde abgekühlt und guter Laune und wenig autoritativ wirkt, daß durch sie der Glau- wieder auf. be hervorgerufen wird, daß sie von unabhängigen, nach freier Überzeugung entscheidenden Richtern 2. Frage: Was waren die Schwerpunkte seiner frü- gefällt wird, wird sie überhaupt erst tragbar. Das Pa- hen Schriften? radox ist Tatsache geworden, der Wert der Entschei- dung liegt darin, daß sie eine rechtliche Entschei- Es gibt eine schöne Unterscheidung des Philosophen dung ist, daß sie von einer allgemein anerkannten In- Isaiah Berlins über die Meisterdenker der politischen stanz ausgesprochen wird, aber daß sie trotzdem Philosophie: Diese unterschieden sich nämlich in möglichst wenig Sachentscheidung enthält“.11 Wir „Füchse“ und „Igel“: Die Igel, so Berlin, versuchten die Welt nach einem einzigen, universellen System 10 Berlin, Isaiah (2009): Der Igel und der Fuchs. Essays über zu verstehen, die Dinge in ihr nach einem einzigen Tolstojs Geschichtsverständnis, Frankfurt a.M., S. 7. 11 Kirchheimer, Otto (1928): Zur Staatslehre des Sozialismus und Bolschewismus. In: Zeitschrift für Politik, 17 (1928), 8 Herz, John H. (1984): Vom Überleben. Wie ein Weltbild ent- S. 593 ff., zitiert nach: Voigt, Rüdiger (1989): Recht als stra- stand. Autobiographie. Düsseldorf: Droste Verlag, S. 136. tegische Ressource. In: Luthardt, Wolfgang/Söllner, Alfons 9 Herz, John H. (1984): Vom Überleben. Wie ein Weltbild ent- (Hrsg.): Verfassungsstaat, Souveränität, Pluralismus. Otto stand. Autobiographie. Düsseldorf: Droste Verlag, S. 139. Kirchheimer zum Gedächtnis. Opladen: Westdeutscher Ver-

86 MIP 2016 22. Jhrg. von Alemann – Otto Kirchheimer – ein Hidden-Champion Aufsätze müssen nur das eine der beiden Beispiele – Reichs- trollierten Staat“ sehen, der nur „vom totalitären präsident – ersetzen, meinetwegen durch Europa- Strategiekonzept des faschistischen Führers“14 her politik, dann können wir dies eins-zu-eins in einen gedeutet werden konnte. Zentral für seine Analyse heutigen Kommentar übernehmen. des NS-Regimes ist vielmehr, dass „das Individuum seine Unabhängigkeit völlig verloren hat und die Seine frühen Schriften als Jungsozialist und linker herrschenden Gruppen vom Staat als die einzigen Jurist thematisierten das Verhältnis von Verfassung rechtlichen Partner des politischen Kompromisses und Sozialstruktur, von Legalordnung und Macht- anerkannt werden“.15 Diese entscheidenden Macht- ordnung. Für Kirchheimer war damals („Weimar und träger des „Dritten Reiches“ seien Großindustrie und was dann?“ 1930) das demokratische Majoritätsprin- Großgrundbesitz, die Partei, die Armee und die staat- zip nur unter der Voraussetzung sozialer Homogeni- liche Bürokratie. Man sieht: Manche marxistischen tät denkbar, weil nur dann das Parlament und nicht Grundpositionen sind nur aufgehoben, nie ganz auf- die ökonomischen Mächte das Sagen haben. Hier gegeben. traf er sich mit Carl Schmitt, der weniger die soziale Homogenität aber ähnlich eine substantielle Identität Kirchheimer hat in der Tat über vieles geschrieben des Volkes zur Grundvoraussetzung demokratischer und nachgedacht. Ihn interessierte auch die Rechts- Herrschaft sehen wollte. So konnten beide mit der dogmatik, aber er war alles andere als ein Dogmati- formalen Demokratie der Weimarer Reichsverfas- ker im landläufigen Sinne. Er hat kein System ge- sung nicht viel anfangen. Der junge Kirchheimer schaffen, keine Schule gegründet, keine ehernen Ge- nutzte „Schmitts Methode für linke Zwecke“.12 setze formuliert, wie beispielsweise der frühe Partei- enforscher Robert Michels mit seinem Gesetz der Als Carl Schmitt sich 1933 endgültig dem National- Oligarchie. So nannte er sich selbst bescheiden, aber sozialismus verschrieb und Otto Kirchheimer sich sicher auch mit kalkuliertem Understatement einen ins Exil vertrieben sah, kam der endgültige Bruch. „Hersteller politischer Analysen“.16 „Was ihn als Aus dem Pariser Exil publizierte Kirchheimer sogar Wissenschaftler vor allem auszeichnete, war sein unter Pseudonym – wieder das Motiv des verborge- untrügliches Gefühl für das politisch Relevante, eine nen Meisters – vorgeblich über „Staatsgefüge und zuweilen fast unheimliche Fähigkeit, aus dem Strom das Recht des Dritten Reiches“ angeblich unter den der Ereignisse das Entscheidende herauszufischen Auspizien des Staatsrat Carl Schmitt ein kritisches und zu analysieren. (…) So machte er (…) es sich Pamphlet. Obwohl Kirchheimer im Exil in Paris und zum ‚Geschäft, grundlegende Mechanismen der ab 1937 auch in New York von den Instituten Hork- politischen Ordnung und Unordnung aufzudecken‘, heimers, der später sogenannten Frankfurter Schule wobei ‚die Vordringlichkeit der Kritik nicht die und Kritischen Theorie, aufgefangen und unterstützt Konstanz der Zielvorstellung – Schaffung menschen- wurde, hat er deren Faschismus-Analyse nie mitge- würdiger und sinnvoller Zustände – überschatten tragen, sondern eine eigene Version entwickelt, die sollte‘“.17 Schaffung menschenwürdiger Zustände, sich eher an seinem Freund und Kollegen Franz Neumann orientierte. 14 Saage, Richard (1989): Otto Kirchheimers Analyse des national- Kirchheimer sah im Nazi-Regime nicht den „Dop- sozialistischen Herrschaftssystems 1935-1941. In: Luthardt, pelstaat“ wie Ernst Fraenkel aus dem Dualismus von Wolfgang/Söllner, Alfons (Hrsg.): Verfassungsstaat, Souverä- Führer-Partei und Staatsapparat gefolgert hatte, auch nität, Pluralismus. Otto Kirchheimer zum Gedächtnis. Opla- nicht „Staatskapitalismus“ oder den „integralen Eta- den: Westdeutscher Verlag, S. 77-91 (S. 84f.). 15 tismus“ wie Friedrich Pollock bzw. Max Horkheimer Kirchheimer, Otto (1976): Strukturwandel des politischen 13 Kompromisses. In: Kirchheimer, Otto: Von der Weimarer Re- aus Sicht der Kritischen Theorie. Kirchheimer publik zum Faschismus. Die Auflösung der demokratischen konnte keinen „einheitlichen, im höchsten Maße zen- Rechtsordnung, S.245, zitiert nach Saage, Richard (1989): tralisierten, monokratischen, von der NSDAP kon- Otto Kirchheimers Analyse des nationalsozialistischen Herr- schaftssystems 1935-1941. In: Luthardt, Wolfgang/Söllner, lag, S. 115-127 (S. 115). Alfons (Hrsg.): Verfassungsstaat, Souveränität, Pluralismus. 12 So Wilhelm Hennis nach Czada, Roland (1986): „Hersteller Otto Kirchheimer zum Gedächtnis. Opladen: Westdeutscher politischer Analysen“. Zur Aktualität von Werk und Person Verlag, S. 77-91 (S. 86). Otto Kirchheimers. Ein Tagungsbericht. In: Journal für Sozi- 16 Czada, Roland (1986): „Hersteller politischer Analysen“. Zur alforschung, Jg. 26, S. 107-113 (S. 109). Aktualität von Werk und Person Otto Kirchheimers. Ein Tagungs- 13 Saage, Richard (1989): Otto Kirchheimers Analyse des national- bericht. In: Journal für Sozialforschung, Jg. 26, S. 107-113. sozialistischen Herrschaftssystems 1935-1941. In: Luthardt, 17 Herz, John H. (1989): Otto Kirchheimer, Leben und Werk. In: Wolfgang/Söllner, Alfons (Hrsg.): Verfassungsstaat, Souverä- Luthardt, Wolfgang/Söllner, Alfons (Hrsg.): Verfassungsstaat, nität, Pluralismus. Otto Kirchheimer zum Gedächtnis. Opla- Souveränität, Pluralismus. Otto Kirchheimer zum Gedächtnis. den: Westdeutscher Verlag, S. 77-91 (S. 84f.). Opladen: Westdeutscher Verlag, S. 11-23 (S. 17).

87 Aufsätze von Alemann – Otto Kirchheimer – ein Hidden-Champion MIP 2016 22. Jhrg. das war sein Credo, sein Lebensmotto seit seinen so- bei Luchterhand. Politische Justiz liegt nach Kirch- zialistisch-marxistischen jungen Jahren. heimer vor, „wenn Gerichte für politische Zwecke in Anspruch genommen werden, so daß das Feld politi- 3. Frage: Was war die Botschaft seines Hauptwer- schen Handelns ausgeweitet und abgesichert werden kes aus der Nachkriegszeit? kann. Die Funktionsweise der politischen Justiz be- steht darin, daß das politische Handeln von Gruppen Seit er dem amerikanischen OSS angehörte, veröf- und Individuen der gerichtlichen Prüfung unterwor- fentlichte er nicht viel. Das meiste, was er schrieb, fen wird. Eine gerichtliche Kontrolle des Handelns blieb versteckt in administrativen Schubladen liegen. strebt an, wer seine eigene Position festigen und die Von dort wanderte es später in die Archive. Die seiner politischen Gegner schwächen will“.20 Männer des OSS machten sich wenig Illusionen über die Wirkung ihrer Expertisen. John H. Herz arbeitete Er selbst äußerte sich ironisch über sein großes mit ihm eng zusammen, so eng, dass er ihn anfangs Werk: „Letztes Jahr ein dickes Buch über Politische in seine Schranken weisen musste. Herz erzählt das Justiz bei der Princeton University Press geschrie- so: „Als wir beide 1943 dem OSS beigetreten waren, ben, was die meisten nicht lesen, weil es zu umständ- traf ich ihn in einem Washingtoner Sportpalast, der lich ist, und den meisten, die es lesen, keinen Spaß in der Eile zum OSS-Büro umfunktioniert worden macht, weil es unangenehm ist“.21 Es war ein großer war. Man arbeitete an langen Bänken. Dort einge- Wurf, aber auch ein sperriges Teil, das er der Wis- troffen, bemerkte ich, daß sich eine massige Gestalt senschaft, aber auch der Politik vor die Füße legt. neben mich setzte und sich gegen ihre Nachbarn aus- Denn es herrschte allenthalben noch der Kalte Krieg, zubreiten begann. Es war Otto. Ich begrüßte ihn mit und die SPIEGEL-Affäre fand 1962, genau zwischen den Worten: hier ist die Grenze; bis hierher geht Ihr der Publikation der amerikanischen und deutschen Platz, ab da beginnt meiner. Die Freundschaft war Version statt. 18 damit begründet“. Ich will die Botschaft Kirchheimers mit den Worten Schon früher schrieb John H. Herz in seinen Erinne- von Frank Schale zusammenfassen: „Kirchheimers rungen: „Er war einer der brillantesten Menschen, Hauptwerk diagnostiziert keine Verschärfung, son- die mir je begegnet sind, voller Einsichten und Geis- dern einen komplexen Wandel der politischen Justiz. tesblitze“ und später: „Er war der Anreger, ich, als Zentraler Ausgangspunkt für seine Feststellung ist Ordnungsmensch, der Verfertiger (...) Seine Mei- der sich ausweitende Ost-West-Konflikt, der zu einer nung sprach er immer offen aus. Mir sagte er einmal: Verstärkung polizeilich-administrativer Kontrollen ‚John, Sie gehören zu den wenigen Menschen, die führt. Gemäß seiner bei der Beschreibung des Wan- klüger sind, als sie aussehen‘. Das konnte man als dels der politischen Systeme diagnostizierten These Lob interpretieren oder auch als Gegenteil“.19 von der zunehmenden Durchdringung staatlicher, öf- fentlicher und privater Institutionen erstrecken sich Trotz Kirchheimers sozialistischer Vergangenheit solche präventiven Verschärfungen nicht ausschließ- überstand er auch die McCarthy-Ära der Kommunisten- lich auf staatliche Organe, sondern betreffen auch in- hatz und -hysterie Anfang der 50er Jahre im Amt. nerorganisatorische Maßnahmen in Gewerkschaften, Aber er hatte schon zahlreiche Lehraufträge und Parteien oder privatwirtschaftlichen Betrieben. Gastdozenturen hinter sich, als er endlich 1955 seine feste Professur an der New School of Social Research Diese Kontrollen werden von der Bevölkerung nicht in New York erhielt. Seine Produktivität platzte ge- etwa empört zurückgewiesen, sondern gebilligt. Als radezu. Ursache dieses Wandels der öffentlichen Meinung macht Kirchheimer die Entstehung moderner Mas- Sein größtes Werk entstand in diesen Jahren: Politi- senmedien verantwortlich, die zur Entpolitisierung cal Justice. The Use of Legal Procedures for Politi- und Vereinheitlichung beitragen“.22 cal Ends, Princeton University Press 1961. Die deut- sche Ausgabe erschien 1963 unter dem etwas sperri- gen Titel: Politische Justiz. Verwendung juristischer 20 Kirchheimer, Otto (1963): Politische Justiz. Die Verwendung Verfahrensmöglichkeiten zu politischen Zwecken juristischer Verfahrensmöglichkeiten zu politischen Zwecken, 18 Herz, John H. (1989): Otto Kirchheimer, Leben und Werk. In: Neuwied, S. 606. Luthardt, Wolfgang/Söllner, Alfons (Hrsg.): Verfassungstaat, 21 Kirchheimer, Otto: Biographische Notiz, zitiert nach: Schale, Souveränität, Pluralismus. Otto Kirchheimer zum Gedächtnis. Frank (2006): Zwischen Engagement und Skepsis. Eine Stu- Opladen: Westdeutscher Verlag, S. 11-23 (S. 15). die zu den Schriften von Otto Kirchheimer, S. 231. 19 Herz, John H. (1984): Vom Überleben. Wie ein Weltbild ent- 22 Schale, Frank (2006): Zwischen Engagement und Skepsis. stand. Autobiographie, Düsseldorf: Droste Verlag, S. 139. Eine Studie zu den Schriften von Otto Kirchheimer, S. 286.

88 MIP 2016 22. Jhrg. von Alemann – Otto Kirchheimer – ein Hidden-Champion Aufsätze

Das Zitat zeigt die Hell- und Weitsichtigkeit von wie „The Transformation oft the Western European Kirchheimer. Die gesellschaftliche Durchdringung Party System“ in dem nicht minder bekannten Klas- aller Sphären erleben wir im Zeitalter von NSA und siker von Joseph LaPalombara und Myron Weiner, Google. Dave Eggers hat in seinem Roman „Der Political Parties and Political Development, Prince- Circle“ kürzlich aufgezeigt, wie Kontrollen nicht zu- ton 1966, erst ein Jahr nach seinem plötzlichen Tod rückgewiesen, sondern gebilligt werden.23 Sogar das erschienen. Gerade der Parteienaufsatz wurde post- Asylrecht, das uns heute so umtreibt, wurde von hum in den Band aufgenommen, obwohl Kirchhei- Kirchheimer bereits mitbehandelt, was bei einem, mer noch letzte Feinarbeiten vornehmen wollte. der Exil und Emigration selbst erlebt hat, naheliegt. Beide Themen, den Wandel und die Erosion der Par- teien und der Opposition hatte er bereits Mitte der 4. Frage: Was will uns seine Parteien- und Opposi- 50er Jahre aufgegriffen, nachdem er aus dem OSS tionsanalyse sagen? ausgeschieden war und endlich frei publizieren Obwohl die „Politische Justiz“ zum Hauptwerk konnte: „Parteistruktur und Massendemokratie in Kirchheimers zählt, so ist er in den Sozialwissen- Europa“ hatte er auf Deutsch im Archiv des Öffentli- schaften doch ungleich bekannter durch seine Analy- chen Rechts 1954 veröffentlicht. Und „The Waning sen der Parteienentwicklung und der parlamentari- of Opposition in Parliamentary Regimes” 1957 in schen Opposition. Kirchheimer hat seine Oppositions- Social Research. Sein berühmter Parteienaufsatz er- und Parteientheorie nie in systematischer Buchform, schien in einer deutschen Version schon im Frühjahr nie in ausführlicher empirischer Analyse mit Hilfe 1965 als “Der Wandel des westeuropäischen Partei- von Daten aus Längsschnitt- und Querschnittsfor- ensystems” in der Politischen Vierteljahresschrift, schungen der vergleichenden Politikwissenschaft aus- mit kleinen abweichenden Nuancen von der späteren gearbeitet. Es handelt sich eher um gelehrte Essays englischen Fassung, so dass man auf jeden Fall nicht illustriert mit Beispielen aus der europäischen und von einer einfachen Übersetzung ausgehen kann. amerikanischen Politikentwicklung der letzten Jahre, Die zehn Jahre von der Mitte der 50er zur Mitte der insbesondere aus Deutschland, Österreich, Frank- 60er Jahre, in denen er seine Thesen publizierte, las- reich und den USA. sen durchaus eine Akzentverschiebung erkennen. So Und dennoch waren seine Analysen und Thesen war aus dem „Waning of Opposition“, also dem Ver- nicht weniger einflussreich in den letzten Jahrzehn- blassen, ein „Vanishing“ als Schwinden, Verschwin- ten der Parteienforschung als etwa die Klassiker Ro- den geworden. Das zeigt generell eine gewachsene bert Michels, Maurice Duverger, Stein Rokkan und resignative, pessimistische Haltung Kirchheimers in Seymour Martin Lipset oder Giovanni Sartori. Das seinem letzten Jahrzehnt an, gerade auch gegenüber ist ein Phänomen: Mir ist kein vergleichbar wichti- der politischen Entwicklung in Europa und im ges sozialwissenschaftliches Theorem bekannt, das Deutschland von Adenauers Kanzlerdemokratie und sich allein auf zwei oder drei Essays des Verfassers dem Godesberg der SPD, während in den USA der zurückführen lässt. junge John F. Kennedy ab 1961 für neuen Schwung sorgte. Dies war wohl auch dafür verantwortlich, Dabei hat Kirchheimer keinesfalls einen genialen Geis- dass er sich nicht entschließen konnte, eine Professur tesblitz flugs niedergeschrieben, sondern über ein Jahr- in Deutschland anzunehmen, wie manche seiner Ge- zehnt an seinen Thesen gefeilt, diese umformuliert fährten, so Ernst Fraenkel. und verfeinert. Nie ist ein fertiges Theoriesystem, ein abgeleitetes Konvolut von Definitionen, Hypothesen Otto Kirchheimer hat den Terminus catch-all party und Aussagesätzen aus seinen Ideen entstanden. Das erfunden und geprägt, den er selbst manchmal mit der war nicht sein Ding. Er blieb, wie das schon John H. deutschen Bezeichnung Volkspartei gleichsetzte, und Herz ausgedrückt hatte, der Anreger, der Skizzen auf der im Deutschen von ihm mit dem Begriff „Aller- dem Reißbrett hinwarf. Den Bau des schlüsselfertigen weltspartei“ eher unzureichend übersetzt wird. Denn Theoriegebäudes überließ er den Statikern und Statis- catch all heißt: Wir nehmen alle, wir sind eine Partei tikern, den Funktionalisten und Systemingenieuren. der Stimmenmaximierung. Allerweltspartei stellt eher auf Profillosigkeit, Entideologisierung, Programmlo- Leider sind die beiden Aufsätze letzter Hand, nämlich sigkeit und Graumäusigkeit ab. Aber wie auch im- „Germany: The Vanishing of Opposition“ in dem be- mer, er hat es so übersetzt. Was meint er damit? kannten Band von Robert A. Dahl, Political Opposi- Trotz Fehlens einer präzisen Definition hat er doch tions in Western Democracies, New Haven 1966, so- in einem Aufsatz von 1965 fünf Bedingungen für das 23 Eggers, Dave: Der Circle, Köln 2014. Entstehen von catch-all parties formuliert:

89 Aufsätze von Alemann – Otto Kirchheimer – ein Hidden-Champion MIP 2016 22. Jhrg. a) Radikales Beiseiteschieben der ideologischen und nachgedacht hat. Was hat er nicht alles in der Komponenten einer Partei, Parteienforschung geahnt und früh artikuliert: b) weitere Stärkung der Politiker an der Parteispitze, • Die Erosion der politischen Opposition, die c) Entwertung der Rolle des einzelnen Parteimitglieds, nicht mehr grundsätzliche Alternativen aufzei- d) Abkehr von einer Wählerschaft auf Klassen- oder gen kann, wenn die Regierung dekretiert: Es gibt Konfessionsbasis, keine Alternative. e) das Streben nach Verbindungen zu den verschie- denen Interessenverbänden.24 • Die Beeinträchtigung der klassischen Gewalten- teilung und der Vormarsch einer Verrechtli- Die Massenintegrationspartei der Vergangenheit sei chung politischer Entscheidungen. damit passé. Sie band die Mitglieder ein in ihre Or- ganisation mit Teilhabe an der politischen Willens- • Die Erosion des Parlamentarismus und der De- bildung in Programm und Politik und schließlich mokratie im Sinne einer „Postdemokratie“ (Colin auch in die Führungsauswahl. Und sie bot ein wär- Crouch), auch wenn viele dieser Thesen überzo- mendes soziales Milieu nicht nur mit Parteiabenden, gen scheinen. sondern auch einer Fülle von Vorfeldorganisationen: • Den „party decline“, der in den westeuropäi- Man konnte von der Wiege bis zur Bahre im Partei- schen Staaten mit Rückgang von Wahlbeteili- umfeld leben. Prägnanteste Beispiele boten dafür in gung, Parteimitgliedschaft und Ansehen der Par- Europa die deutsche Sozialdemokratie und das ka- teien einhergeht. tholische Zentrum. • Die Entwicklung zu „Kartellparteien“ (Katz/ Nachdem es in den 1970er und 1980er Jahren vor- Mair), die ihre Verwurzelung in der Wähler- übergehend zu einer Reideologisierung der europäi- schaft verlieren. schen Parteiensysteme gekommen war, sind die Par- teien spätestens mit den 1990er Jahren wieder auf je- • Die Personalisierung und Professionalisierung nen Pfad zurückgekehrt, den Kirchheimer in den der großen Parteien, die dadurch die Bodenhaf- 1960er Jahren prognostiziert hatte: Programmatische tung zu ihren alten Milieus und ihre Mitglieder- Annährung der Parteien, Schwächung der Parteibasen, und Wählerschaft einbüßen. Minderung der Partizipationsansprüche und Zentrali- • Die Zunahme von Entpolitisierung, politischer sierung der Macht bei den Parteiführungen, Loslösung Apathie und Entfremdung in der Bevölkerung. vom gesellschaftlichen Wurzelboden, Anzeichen all- gemeiner politischer Apathie. Oder um es etwas böser Das ist nicht wenig. Sein wissenschaftliches Ver- auszusprechen: Die zeitgenössische Parteiensoziolo- mächtnis ist groß und prägt auch 50 Jahre nach sei- gie trabt immer noch in den Fußspuren Kirchheimers. nem Tod nach wie vor die Politikwissenschaft. Otto Kirchheimer war ein Großer, und er brannte für die Natürlich blieb Kirchheimer nicht unwidersprochen. Wissenschaft. Er konnte darüber alles um sich herum Im Gegenteil, kaum je hat in der Parteienforschung vergessen. Deshalb eine letzte Anekdote aus seinem ein Theorem ein solche intensive und bis heute an- Leben berichtet von John H. Herz: „Ich erinnere mich haltende Debatte ausgelöst.25 Die hier wiederzuge- einer Erzählung seiner Studenten an der Columbia- ben, würde viel zu weit führen und Sie wohl auch Universität, wo er, beleibt und massiv wie er war, mit- nicht interessieren. Lieber will ich abschließend auf samt seinem Katheder umfiel. Noch im Fallen sprach das eingehen, was bleibt. er weiter, und die Vorlesung wurde nicht unterbro- chen. Wieder einmal hatte der Geist über die armse- 5. Frage: Was bleibt von Otto Kirchheimer? ligen Bedingungen des täglichen Lebens gesiegt“.26 Otto Kirchheimer bleibt ein Solitär, ein strahlender So geht mein großer Dank an die Stifter des Otto- brillianter Denker der Staatslehre und Politik. Aber Kircheimer-Preises, Harald Friese und Gudrun Hotz- auch ein Lehrer und Mahner, der zahlreiche Krisen Friese, und an die Stadt Heilbronn, die daran mitwir- und Verwerfungen der politischen Entwicklung, sei ken, dass das Gedenken an diesen großen Bürger der es im Strafrecht oder in der Asylpolitik, sei es in der Stadt Heilbronn, diesen großen Wissenschaftler der politischen Justiz oder der Kriminologie vorgedacht internationalen Staatslehre und der Politik- und Par-

24 Kirchheimer, Otto (1965): Der Wandel des westeuropäischen 26 Herz, John H. (1989): Otto Kirchheimer, Leben und Werk. In: Parteiensystems. In: Politische Vierteljahresschrift Jg. VI, S. 32. Luthardt, Wolfgang/Söllner, Alfons (Hrsg.): Verfassungsstaat, 25 Vgl. statt vieler Krouwel, André (2003): Otto Kirchheimer and Souveränität, Pluralismus. Opladen: Westdeutscher Verlag, the Catch-All Party. In: West European Politics Jg. 26, S. 23-40. S. 11-23 (S. 12).

90 MIP 2016 22. Jhrg. von Alemann – Otto Kirchheimer – ein Hidden-Champion Aufsätze teienanalyse nicht abreißt. Ich freue mich auch dar- über, dass es ein aktuelles Forschungsprojekt geleitet von Hubertus Buchstein, Universität Greifswald, der Deutschen Forschungsgemeinschaft gibt, das die „Gesammelten Schriften“ von Otto Kirchheimer, die immer noch verstreut und teilweise unpubliziert sind, in einer fünfbändigen Gesamtausgabe der Nachwelt zugänglich machen will. Ich selbst freue mich natürlich ganz besonders, dass mir die Ehre des ersten Preisträgers zu Teil wird. Ob ich das verdiene, haben andere entschieden. Jedenfalls habe ich ihn schon in meiner Dissertation von 1973 bei Prof. Bracher, an der Universität Bonn wie Kirchheimer, nur 45 Jahre später, mehrfach zitiert, und er hat mich auch danach nicht losgelassen. Auch ich habe neben Bonn in Münster und Köln studiert, nur Berlin habe ich ausgelassen. Und eines verbindet mich besonders mit ihm: Die Verknüpfung von Staatslehre und Politikanalyse. Im Rigorosum wählte ich das Nebenfach Staatsrecht und an der Hein- rich-Heine-Universität Düsseldorf habe ich geholfen das „Institut für deutsches und internationales Partei- enrecht und Parteienforschung“ aufzubauen, das ein- malig in der Welt das Parteienrecht der Juristen und die Parteienforschung der Politikwissenschaft inte- griert. Politik ohne Recht versteht man nicht, und Recht ohne Politik bleibt blutleer. Aber ich will mich natürlich nicht vergleichen mit dem großen Gelehrten Otto Kirchheimer. Ich wollte diesen Hidden Champion, unseren verborgenen Meister, ein wenig ins helle Licht rücken. Ja, er war auch ein Fuchs, aber er war insbesondere ein Geistes- riese. Auf den Schultern dieses Riesen bleibe ich ein Zwerg.

91 Aufsätze Gauseweg – Die Satzung von Parteiuntergliederungen zwischen Autonomie und Homogenitätsgebot MIP 2016 22. Jhrg.

Die Satzung von Parteiuntergliederungen Die vorliegende Untersuchung betrachtet dieses Gegen- zwischen Autonomie und Homogenitäts- über von Satzungsautonomie und Homogenitätsgebot gebot genauer: Kann eine Bundespartei in ihrer Satzung un- mittelbar geltende Regelungen für Gliederungen un-

1 terhalb der Landesverbände erlassen und wie würden Simon Gauseweg diese wirksam? Oder müssen Bezirks- oder Kreisver- bände ihre Satzungen lediglich in Vereinbarkeit mit der Satzung ihrer unmittelbar übergeordneten Glie- I. Einleitung derungsebene erlassen? Wie werden Kollisionen von Das Grundgesetz (GG) schreibt vor: Die „innere Normen unterschiedlicher Ebenen aufgelöst? Ordnung der Parteien muss demokratischen Grund- Zur Beantwortung wird die Bestimmung des § 6 sätzen entsprechen“, Art. 21 Abs. 1 S. 3 GG. Aus Abs. 1 S. 2 PartG ihrem Wortlaut nach analysiert (II.). 2 diesem Gebot zur innerparteilichen Demokratie der Erweitert wird die Betrachtung dann durch eine Un- Verfassung leitet das Parteiengesetz (PartG) die tersuchung der Praxis ausgewählter politischer Par- Pflicht zur gebietlichen Untergliederung ab, § 7 teien (III.). Aus beidem werden schließlich Folgerun- Abs. 1 S. 3 PartG. Je nach Größe und Struktur der gen für die Auslegung der gesetzlichen Bestimmung Partei wird eine Gliederung in sog. Gebietsverbände abgeleitet (IV.), wobei auch auf Kollisionsfolgen über die Gesamt- bzw. Bundespartei und deren Lan- eingegangen wird. Der Beitrag schließt mit einer Zu- desverbände hinaus auf Bezirks-, Kreis-, Stadt- oder sammenfassung (V.). sogar Ortsverbandsebene nötig.3 § 6 Abs. 1 PartG legt dazu fest: „Die Gebietsverbände II. Wortlaut des § 6 Abs. 1 PartG regeln ihre Angelegenheiten durch eigene Satzungen, Regelungsgegenstand der Norm sind nach ihrem soweit die Satzung des jeweils nächsthöheren Ge- Wortlaut die „Angelegenheiten der Gebietsverbän- bietsverbandes hierüber keine Vorschriften enthält.“ de“ (1.), die nach Maßgabe der Vorschriften höherer Grundlegend statuiert dies die Satzungsautonomie Gebietsverbände (2.) einer eigenen Regelung zu- von Untergliederungen.4 Als deren Grenze fungiert gänglich sind. Nur innerhalb dieses Rahmens können allerdings ein Regelungsvorbehalt zugunsten der hö- Untergliederungen „durch eigene Satzung“ (3.) Re- heren Ebene, dessen Zweck letztlich Homogenität5 gelungen treffen. der einzelnen Satzungen aller Parteiuntergliederun- gen ist. Für Streit sorgt allerdings der Bezug auf den 1. „Angelegenheiten der Gebietsverbände“ „jeweils nächsthöheren Gebietsverband“: Wörtlich Die Regelungsbefugnis der Gebietsverbände erstreckt genommen könnte dies einen Zusammenhang von sich auf „ihre eigenen Angelegenheiten“ (§ 6 Abs. 1 Landesverbands- zur Bundessatzung bedeuten, nicht S. 2 PartG). Dies sind nur solche, die ausschließlich aber von einer Satzung eines Bezirks-, Kreis- oder Sache des jeweiligen Gebietsverbandes sind. Ange- Ortsverbandes zur Satzung des Bundes.6 legenheiten, die mehr als eine Parteigliederung be- treffen, müssen demnach so lange die Gliederungs- ebenen „hochgereicht“ werden, bis die Angelegen- heit eine „eigene Angelegenheit“ ausschließlich die- 1 Der Autor ist Student der Rechtswissenschaften an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder) und sitzt seit ser Gliederung ist. 2013 dem Schiedsgericht der Piratenpartei Deutschland, Lan- An der Faustformel „nur für den ureigenen Bereich“ desverband Brandenburg vor. 2 ändert auch § 6 Abs. 2 PartG nichts, der keine Aus- Klein, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, München, 72. Lfg. 2014, nahmen von dieser Regel enthält, sondern lediglich Art. 21 Rn. 337. 7 3 die Mindestinhalte der Satzungen in nicht abschlie- Wie das PartG geht dieser Beitrag grundsätzlich von einem an 8 der staatlichen Gliederung orientierten Aufbau der politischen ßender Aufzählung vorgibt. Diese müssen in jeder Parteien aus (vgl. § 7 Abs. 2 PartG). einzelnen Satzung enthalten sein – die genaue Aus- 4 Ipsen, ParteienG – Gesetz über die politischen Parteien, gestaltung wiederum ist eigene Angelegenheit der je- München 2008, § 6 Rn. 4; Augsberg, in: Kersten/Rixen, Par- teiengesetz (PartG) und europäisches Parteienrecht, Stuttgart 6 2009, § 6 Rn. 10; Lenski, Parteiengesetz und Recht der Kan- So im Ergebnis Ipsen (Fn. 4), § 6 Rn. 5; Augsberg, in: Kersten/ didatenaufstellung, Baden-Baden 2011, § 6 Rn. 10; Morlok, Rixen (Fn. 4), § 6 Rn. 11. Dagegen: Lenski (Fn. 4), § 6 Parteiengesetz, in: Das Deutsche Bundesrecht, Baden-Baden, Rn. 11, Morlok (Fn. 4), § 6 Rn. 5. 2. Aufl. 2013, § 7 Rn. 4. 7 Augsberg, in: Kersten/Rixen (Fn. 4), § 6 Rn. 15. 5 Augsberg, in: Kersten/Rixen (Fn. 4), § 6 Rn. 11. 8 Lenski (Fn. 4), § 6 Rn. 2, 12.

92 MIP 2016 22. Jhrg. Gauseweg – Die Satzung von Parteiuntergliederungen zwischen Autonomie und Homogenitätsgebot Aufsätze weiligen Gebietsverbände.9 Deren Regelungen kön- eigenen Gliederung regelte, bestünde für Satzungs- nen sich auch innerhalb der Partei unterscheiden, geber von Untergliederungen schneller Klarheit, zum z.B. bei Gliederungen oder Vorstandszusammenset- Erlass welcher Vorschrift eine Befugnis besteht oder zung.10 eben nicht. Auch die Vorgabe eines Rahmens, der le- diglich durch konkretisierende Regelungen ausge- 2. Vorschriften höherer Gebietsverbände füllt werden könnte,14 wäre prinzipiell möglich. Die Zuständigkeitsregelung des § 6 Abs. 1 S. 2 PartG Hier allerdings wird die Schwäche dieser Interpreta- enthält auch eine inhaltliche Begrenzung: Ein örtlich tion deutlich: Sie eignet sich gut für gänzliche Frei- zuständiger Satzungsgeber ist nur dann sachlich für gabe oder gänzlichen Ausschluss; nur teilweise Be- eine Regelung zuständig, „soweit die Satzung des je- schränkungen hingen aber entweder von auslegungs- weils nächsthöheren Gebietsverbandes hierüber kei- bedürftigen Formulierungen15 oder umfassenden Auf- ne Vorschriften enthält.“ Einer begrifflichen Klärung zählungen16 ab. bedürfen hier die Worte „hierüber“ und „soweit“, die die Reichweite des Vorbehalts bestimmen (a), sowie Die von der höherrangigen Satzung ausgehende der Begriff der „nächsthöheren“ Satzung (b). Sperrwirkung für die Regelungsbefugnis der Unter- gliederung wäre dann letztlich vergleichbar mit der Im Ergebnis ist diejenige Interpretation vorzugswür- konkurrierenden Gesetzgebungszuständigkeit aus dig (c), die einerseits dem Demokratiegebot des GG Art. 72 Abs. 1 GG, die für das Land entfällt, wenn entspricht und andererseits das Satzungsgefüge einer der Bund eine Regelung getroffen hat.17 Dafür spricht, Partei auch ihren juristischen Laien einfach ver- dass als Folge Untergliederungssatzungen schlank ständlich hält. blieben. Diesem begrenzten Nutzen steht aber eine a) Reichweite des Regelungsvorbehalts drohende weitgehende Zentralisierung – sogar bis hin zu einzelnen Verfahrensbestimmungen – gegen- Die Formulierung „hierüber“ als allgemeiner Vorbe- über. In der Folge würden – grundsätzlich ein Nach- halt der höheren Ebene über die Regelungsbefugnis teil fortschreitender Zentralisierung – Satzungen mit verstanden, bedeutete als Lesart der gesetzlichen steigender Rangfolge immer umfassender, während Vorschrift in etwa das Folgende: „Die Gebietsver- Satzungen niederer Untergliederungen immer in- bände regeln ihre Angelegenheiten durch eigene Sat- haltsleerer würden und sich im Extremfall auf die zung, soweit die Satzung des nächsthöheren Gebiets- Mindestinhalte nach § 6 Abs. 2 PartG beschränkten. verbandes keine Vorschriften über die Regelungsbe- fugnis ihrer nächsten Untergliederung(en) enthält.“ „Hierüber“ jedoch auf einen konkreten Regelungsge- genstand bezogen, bedeutete als Lesart: „Die Ge- Dem Satzungsgeber der höheren Satzung käme dem- bietsverbände regeln ihre Angelegenheiten durch ei- nach die Befugnis zur vollständigen Regelung der gene Satzung, soweit die Satzung des nächsthöheren Satzungsautonomie einer Untergliederung zu, d.h. Gebietsverbandes keine Vorschriften über die einzel- gänzlicher Ausschluss, Rahmenbestimmung oder ne Angelegenheit enthält.“ volle Freigabe.11 Ein Ausschluss der Satzungsauto- nomie für den niederen Gebietsverband müsste dabei Im Unterschied zur zuvor angesprochenen Interpreta- ausdrücklich erfolgen;12 schwiege die Satzung, wäre tionsmöglichkeit, gäbe nun die höhere Satzung stets die Untergliederung in ihrer Satzungsgebung voll- einen grundlegenden Rahmen vor. Soweit dieser die ständig autonom.13 Angelegenheiten seiner Untergliederungen der Sache In der Praxis ist dies eine leicht umsetzbare und zu- 14 Ipsen (Fn. 4), § 6 Rn. 5, so auch Wietschel (Fn. 9), ibid. gleich die Komplexität eines verflochtenen Satzungs- 15 Vgl. die in der Bundessatzung der Piraten (PIRATEN-BS) gefüges entzerrende Interpretation: Gäbe es in der niedergelegte Pflicht der Untergliederungen, mit den „grund- übergeordneten Satzung jeweils nur eine Bestim- sätzlichen Regelungen“ der Bundessatzungen übereinzustim- men, PIRATEN Bundesvorstand (Hrsg.), Bundessatzung, mung, die die Reichweite der Satzungsautonomie der Berlin (2014), § 14, http://wiki.piratenpartei.de/wiki/index.php? 9 So auch Wietschel, Der Parteibegriff, Baden-Baden 1996, title=Bundessatzung&oldid=2441245, zuletzt abgerufen am S. 49, die wohl zumindest in den Anforderungen des Abs. 2 11.12.2015; ebd. auch die Finanzordnung (PIRATEN-FO) die Grenzen der dort angesprochenen „Rahmensatzungen“ und Schiedsgerichtsordnung (PIRATEN-SGO). oberer Verbände sieht. 16 Vgl. § 28 Abs. 2 der Bundessatzung der FDP (FDP-BS): FDP- 10 Vgl. Morlok (Fn. 4), § 7 passim. Bundespartei (Hrsg.), Bundessatzung der Freien Demokratischen Partei, Berlin (2014), www.fdp.de/content/bundessatzung-gesch 11 Augsberg, in: Kersten/Rixen (Fn. 4), § 6 Rn. 10. aefts-und-beitragsordnung, zuletzt abgerufen am 11.12.2015. 12 Lenski (Fn. 4), § 6 Rn. 10. 17 Dazu umfassend Uhle in: Maunz/Dürig (Fn. 2), 69. Lfg. 2013, 13 Augsberg, in: Kersten/Rixen (Fn. 5), § 6 Rn. 10. Art. 72, Rn. 78-121 passim.

93 Aufsätze Gauseweg – Die Satzung von Parteiuntergliederungen zwischen Autonomie und Homogenitätsgebot MIP 2016 22. Jhrg. nach (mit-)regelte, wären diese daran gebunden. Kon- Während die Literatur zuweilen auf den insoweit kretisierungen wären danach ebenso denkbar wie Er- eindeutigen Wortlaut verweist,24 ist dem entgegenzu- gänzungen, eine widersprüchliche Regelung jedoch halten, dass das strikte Einhalten der Bestimmung nicht. schlicht zu absurden Ergebnissen führt: Eine Bun- dessatzung, die die Satzungsautonomie der ihr unter- Die weitere einschränkende Formulierung in § 6 geordneten Landesverbände weitgehend oder voll- Abs. 1 S. 2 PartG, nach der Regelungen durch Unter- ständig ausschlösse, gleichzeitig aber nicht die Befug- gliederungen gesperrt sind, „soweit“ höherrangige nis hätte, die darunter liegenden Gliederungen eben- Vorschriften bestehen, stützt diese Lesart. Schon die falls zu beschränken, erreichte dadurch bei buchsta- Bedeutungsbeschreibung des Duden versteht das bengetreuer Befolgung der Norm vollständige Auto- Wort „soweit“ im Sinne von „in dem Maße, wie“. nomie der darunter liegenden Gliederungen.25 Da- Die Konjunktion bezieht sich auf das Merkmal „ihre durch, dass der Landesverband als einzig Befugter die Angelegenheiten“ und enthält in Bezug auf die Aus- Satzung des Kreisverbandes nicht beschränken könn- sage der Satzungsautonomie der Untergliederung te, weil er selbst vom Bundesverband beschränkt ist, eine Einschränkung oder Spezifizierung dem Ausma- bliebe die Satzungsautonomie des Kreisverbandes ße nach. Bereits der föderative Aufbau der Parteien18 unberührt. spricht für diesen Ansatz. Ebenso entspricht er eher den Ansprüchen der Parteienfreiheit, deren Historie Hier könnte man entgegnen, das geschilderte, absurde in der Abwehr gesetzgeberischer Eingriffe in die in- Ergebnis werde schon von den jeweiligen Satzungsge- nere Ordnung liegt19 und die gesetzgeberische Ein- bern vermieden, weswegen den Landesverbänden au- griffe auf „schonenden Ausgleich“20 zwischen äuße- tomatisch mehr Autonomie in ihrer Satzungsgebung rer Autonomie der Partei und den Anforderungen zukäme. Auch die Abweichung des endgültigen Ge- des GG begrenzt. Überzeugender erscheint daher die setzestextes vom damaligen Regierungsentwurf, der Annahme einer Sperrwirkung lediglich für inhaltli- noch von „höheren Parteiverbänden“ anstatt der jetzt chen Widerspruch. Denn rein deklaratorische Wie- maßgeblichen „nächsthöheren Ebene“ sprach, stützt derholungen wären unproblematisch möglich und diese Ansicht.26 Unter der Voraussetzung, dass ein kollidierten nicht21 mit höherrangigem Recht. Eben- Satzungsgeber diesen Effekt erkennt und in seinen falls wären schließlich (widerspruchsfreie) Konkreti- Auswirkungen richtig bewertet, ist anzunehmen, dass sierungen und Ergänzungen höherrangigen Rechts er diesen Fehler umgeht und die Landesverbände nur möglich: „eigene Regelungsspielräume [können] ge- soweit beschneidet, dass diese wiederum Kontrolle nutzt, und Regelungslücken gefüllt werden.“22 über die untere(n) Ebene(n) ausüben können. Auch wenn die innere Struktur einer Partei dadurch quasi b) Die Bedeutung der „nächsthöheren“ Satzung „automatisch“ ein wenig föderativer werden könnte, Die Bedeutung der Formulierung, dass die Satzung negiert das nicht die Tatsache, dass diese Argumenta- des „nächsthöheren“ Gebietsverbandes maßgeblich tion letztlich auf der paradoxen Annahme fußt, der für die Satzungsautonomie des niederen Gebietsver- Sinn einer Norm könne in der eigenen, planmäßigen bandes sei, ist umstritten.23 Folgt man dem Wortlaut Widersinnigkeit liegen. des Gesetzes, so kann die Satzungsautonomie eines Das Beharren auf einer engen Wortlautauslegung ist Kreisverbandes einer Partei nur vom Bezirks- oder möglicherweise charmant – trägt aber keinesfalls den Landesverband beschränkt bzw. geregelt werden, realen Anforderungen an eine Parteisatzung Rechnung: nicht aber vom Bundesverband. Ebenso hätte auf Die wenigsten Parteien lassen ihre Satzungen von ju- einen Ortsverband lediglich der unmittelbar überge- ristischem Fachpersonal schreiben oder überprüfen.27 ordnete Kreisverband Einfluss und nicht der Landes- Als Organisationen mit dem verfassungsmäßigen verband, erst Recht nicht der Bundesverband. Auftrag, an der politischen Willensbildung der Be- völkerung mitzuwirken (Art. 21 Abs. 1 S. 1 GG), sind 18 Augsberg, in: Kersten/Rixen (Fn. 4), § 7 Rn. 4. die Parteien dazu auch nicht verpflichtet; gerade ihre 19 Mauersberger, Die Freiheit der Parteien, Baden-Baden 1994, S. 57. 24 Ipsen (Fn. 4), § 6 Rn. 5; Augsberg, in: Kersten/Rixen (Fn. 4), 20 Klein, in: Maunz/Dürig (Fn. 2), Art. 21 Rn. 146. § 6 Rn. 11. 21 Anderer Ansicht wohl Lenski (Fn. 4), § 6 Rn. 6. 25 Lenski (Fn. 4), § 6 Rn. 11. 22 Merten, Parteienrechtliche Rahmenbedingungen in NRW, in: 26 Augsberg, in: Kersten/Rixen (Fn. 4), § 6 Rn. 11. Marschall (Hrsg.), Parteien in Nordrhein-Westfalen, Essen 27 Auch unter den hier untersuchten großen Parteien verfügt ein- 2013, S. 57 (60). zig die FDP in ihrer Satzung die Pflicht, Satzungsänderungen 23 Vgl. Fn. 6. juristisch prüfen zu lassen.

94 MIP 2016 22. Jhrg. Gauseweg – Die Satzung von Parteiuntergliederungen zwischen Autonomie und Homogenitätsgebot Aufsätze

(maßgeblich von Satzungsarbeit bestimmte) Gründung weilen vorgeschlagen wird:35 Bei „eigener“ Umset- ist frei (Art. 21 Abs. 1 S. 2 GG). zung einer Verpflichtung einer oberen Ebene mit Wirkung für eine untere Ebene („Durchgriff der obe- Das Bestimmtheitsgebot gilt, wie auch für sonstige ren Ebene“) würde die mittlere Ebene letztlich doch zivile Rechtstexte,28 auch für Parteisatzungen. Die nur im Auftrag der höheren Ebene tätig. Wenn es Verkehrssitte, die sich letztlich aus der Übung der sich aber an ihrem eigenen Tätigwerden, abgesehen viel- zumeist aus Laien zusammensetzenden Mitglied- leicht vom formellen Umsetzungsakt, fehlt, so ist schaft ergibt, ist stets zu berücksichtigen, § 157 BGB. auch das Pochen auf die Notwendigkeit dieses Tätig- Zusätzlich ist die „Laiensphäre“ hinsichtlich der werdens wertlos. politischen Partizipation der Parteien besonders zu schützen: Als organisatorische Grundlage, die in letz- c) Ergebnis ter Konsequenz Einfluss auf Wahlen bis hinauf zum Bundestag hat,29 haben Parteisatzungen eine erhebli- Die bloße Existenz einer höherrangigen Norm be- che rechtliche Bedeutung. Je bedeutender aber die gründet keine allgemeine Sperrwirkung für Unter- Norm, „desto höher sind die Anforderungen an [ihre] gliederungen. Anstelle einer Kontrolle der Form Bestimmtheit“.30 Die grundsätzlich privatrechtliche nach muss der Inhalt kontrolliert werden. Hierfür Satzung bedingt daher erhebliche öffentlich-rechtliche spricht bereits, dass das Gesetz explizit „Vorschrif- Folgen. „Private Regelungen können [aber] jedenfalls ten“ nennt, während zur Befugnisregelung prinzipiell dann nicht Grundlage staatlicher Maßnahmen mit auch eine Vorschrift ausreichte. grundrechtseinschränkender Wirkung sein, wenn sie Das bedeutet indes nicht, dass höhere Ebenen die den rechtsstaatlichen Anforderungen, die an staatliche Satzungsautonomie ihrer Untergliederungen nicht Normen zu stellen sind, nicht entsprechen.“31 Für die nahezu vollständig (vorbehaltlich jedoch eines Kern- innerparteiliche demokratische Ordnung folgen daraus bereiches36) aufheben könnten: Legt ein höherer Ge- höhere Anforderungen an die Bestimmtheit von bietsverband durch Satzung fest, dass ein niederer Rechtssätzen, die ihrerseits allerdings zumeist von Gebietsverband über keine Satzung verfügen darf, so Laien erarbeitet werden. Dies führt zur Notwendigkeit verstößt letztlich jede, diesem Verbot zum Trotz er- einer „laienfreundlichen“ Auslegung zumindest der lassene Satzung inhaltlich gegen genau dieses Verbot. „Grundnormen“,32 auf die sich die Satzungen stützen. Alle Angelegenheiten des niederen Gebietsverban- Im Ergebnis bedarf es einer teleologischen Korrek- des (außer denen des Kernbereiches eigener Zustän- tur:33 „Die Satzungsautonomie der Gebietsverbände digkeit) müssten dann vom höheren geregelt werden. muss (…) auch durch [jede] höhere als die direkt Eine solche formelle Bestimmung bzw. ihr Fehlen übergeordneten Verbandsebenen beschränkbar sein.“34 sagt indes noch nichts über die Reichweite der Sat- Wenn bereits Zwischenebenen die Satzungsautono- zungsautonomie aus. Schweigt eine Satzung voll- mie der Untergliederungen beschränken dürfen, so ständig über ihren Vorrang, so bedeutet das nicht, muss dies erst recht für noch höhere Ebenen gelten. dass die untergeordnete Satzung Vorschriften mit Diese Verfahrensweise ist auch wesentlich praktika- Geltungsanspruch erlassen könnte, die diesem höher- bler als eine Verpflichtung „über Bande“, wie sie zu- rangigen Recht diametral entgegenstehen. Im Gegen- teil wäre eine solche, vollständige Entkopplung ge- nauso explizit zu normieren, wie deren Ausschluss.37 28 Explizit BVerfGE 88, 366, 2. Leitsatz (für einen privaten Pferdezuchtverein). Zuletzt sind zu solchen Einschränkungen nicht nur 29 So ist z.B. die Aufstellung der Kandidaten größtenteils Sache die nächsthöheren, sondern auch darüber liegende der Parteien; die genaue Regelung dazu wird wiederum den Gliederungen befugt. jeweiligen Parteien überlassen; vgl. ausführlich: Klein, in: Maunz/Dürig (Fn. 2), Art. 21 Rn. 345, 350-353. 3. „Eigene Satzungen“ 30 Papier/Möller, Das Bestimmtheitsgebot und seine Durchsetzung, Dieser Begriff knüpft nicht an eine Satzungsgebungs- AöR 122 (1997), 177 (187), unter Verweis auf BVerfGE 83, 130 (145). kompetenz an, da ein solches Verständnis selbst rein deklaratorische Wiederholungen aus Satzungen über- 31 BVerfGE 88, 366, 2. Leitsatz. geordneter Ebenen ausschlösse. Solche vorgegebenen, 32 Zur Begrifflichkeit nach Kelsen: Koller, Zur Theorie des rechtlichen Stufenbaus, in: Paulson/Stolleis (Hrsg.), Hans gebundenen Entscheidungen entzögen sich dann Kelsen. Staatsrechtslehrer und Rechtstheoretiker des 20. Jahr- hunderts, Tübingen 2005, S. 107 ff. 35 Augsberg, in: Kersten/Rixen (Fn. 4), § 6 Rn. 11. 33 Lenski, (Fn. 4) § 6 Rn. 11. 36 Dazu noch folgend 3. 34 Lenski, ibid. 37 Lenski (Fn. 4), § 6 Rn. 10.

95 Aufsätze Gauseweg – Die Satzung von Parteiuntergliederungen zwischen Autonomie und Homogenitätsgebot MIP 2016 22. Jhrg. streng genommen der „eigenen“ Befugnis. Beispiel verbandes fallen. Sind auch andere Gebietsverbände hierfür mag die Verpflichtung sein, „Größe und Um- betroffen, muss die Angelegenheit von höherer Ebe- fang der Gebietsverbände“ durch Satzung festzuhalten ne geregelt werden. (§ 7 Abs. 1 S. 2 PartG), die sich an die höhere Glie- Die Vorschriften höherer Gebietsverbände nehmen derung richten soll.38 Lässt man aber bereits konkre- höheren Rang ein. Den Satzungsgebern der niederen tisierende oder erweiternde Regelungen zu (s.o. 2.b), Ordnung(en) kommt insofern eine subsidiäre Zustän- so ist das gleichzeitige Ausschließen von deklaratori- digkeit zu, als dass das Homogenitätsgebot ihre Sat- schen Wiederholungen inkonsequent. Vorschriften, zungsautonomie einschränkt sofern und soweit höhe- die eine Bestimmung höherrangigen Rechts bekräfti- re Ebenen Regelungen auch mit Wirkung für ihre gen, schaden nicht, tragen im Zweifelsfalle nur zur Untergliederungen getroffen haben. Eine Sperrwir- Übersicht bei und fördern die Laientauglichkeit des kung tritt hier allerdings nur für inhaltlich kollidie- innerparteilichen Rechts. rende Regelungen ein, diese sind unzulässig. Zuläs- Stattdessen ist die Bestimmung der „eigenen Satzung“ sig bleiben Konkretisierungen, Erweiterungen und also eine Wiederholung des Schriftlichkeitserforder- Wiederholungen höherer Satzungen. nisses,39 das vor ad-hoc-Manipulationen schützen Die Satzungen der Gebietsverbände sind schließlich und den Mitgliedern der Partei Handlungssicherheit als von der Satzung der jeweils höheren Ebene ge- geben soll:40 Die „eigene Satzung“ ist ein eigenstän- trennte Dokumente schriftlich zu fassen. diges, von der Satzung anderer Verbände getrenntes Dokument.41 Die Pflicht, alles in einer (einzelnen) Schlussendlich muss der Wortlaut des § 6 Abs. 1 S. 2 Satzung zu regeln, geht daraus nicht hervor; die PartG insofern teleologisch korrigiert werden, als Möglichkeit von Beschlüssen, (auch umfangreichen) dass auch höhere als die nächsthöhere Gliederung Nebenordnungen und sogar vertraglichen Regelun- Gebietsverbände durch Satzung in ihrer Satzungsau- gen mit anderen Gliederungen bleibt unberührt.42 tonomie einschränken bzw. berechtigen oder ver- pflichten können. Darüber hinaus deutet die Vorschrift darauf hin, dass die Regelungsbefugnis, die Reichweite der Satzungs- III. Praxis ausgewählter politischer Parteien autonomie zu begrenzen, nicht allumfassend ist. Selbst wenn höhere Ebenen grundsätzlich befugt Die Satzung beinhaltet, wie bei einem gewöhnlichen sein mögen43 das Satzungsrecht ihrer untergeordne- Verein, die wesentlichen Grundentscheidungen47 der ten Gebietsverbände auszuschließen, so muss diesen Parteiorganisation. Auf den Punkt gebracht lässt sich ein Kernbereich, der zumindest einige Angelegen- das politische Selbstverständnis einer Partei auch an heiten nach § 6 Abs. 2 PartG umfasst, erhalten blei- ihrer satzungsmäßig ausgestalteten Struktur ablesen, ben.44 Dies ergibt sich bereits daraus, dass das Ge- da hier die Organisation der innerparteilichen Willens- setz Bildung von eigenständigen Verbänden45 vor- bildung gestaltet wird.48 So unterschiedlich die Pro- schreibt und Einheitsverbände verbietet.46 gramme der verschiedenen Parteien sind, so unter- schiedlich sind auch die Strukturen, die diese Pro- 4. Ergebnis gramme hervorbringen und vertreten. Ergeben sich Die Untersuchung zeigt: Eigene Angelegenheiten der aus diesen so unterschiedlichen Strukturen dennoch Gebietsverbände sind solche, die ausschließlich in Gemeinsamkeiten, können diese in die Auslegung die örtliche und sachliche Zuständigkeit des Gebiets- der gesetzlichen Bestimmungen als „herrschende Meinung“ mit einfließen. Betrachtet werden hier 38 Morlok (Fn. 4), § 7 Rn. 10. ausschließlich demokratische Parteien mit mehrjähri- 39 Von diesem Erfordernis kann auch nicht abgewichen werden; ger parlamentarischer Praxis in mehr als einem Lan- die „Anweisung“ einer höheren Ebene, die Angelegenheiten desparlament – eine Analyse der Satzungen aller 112 bspw. durch mündlich tradierte Gewohnheit zu regeln, wäre derzeit beim Bundeswahlleiter gelisteten49 Parteien unwirksam. 40 wäre für den Rahmen der vorliegenden Untersuchung Morlok (Fn. 4), § 6 Rn. 1. zu umfangreich. Aus demselben Grund muss auch 41 Morlok (Fn. 4), § 7 Rn. 4. 42 Vgl. Waldner/Wörle-Himmel, in: Sauter/Schweyer/Waldner, 47 Der eingetragene Verein, München, 19. Aufl. 2010, Rn. 33. Waldner/Wörle-Himmel, in: Sauter/Schweyer/Waldner (Fn. 42), Rn. 32. 43 Augsberg, in: Kersten/Rixen (Fn. 4), § 6 Rn. 10. 48 Endlich, Recht und Praxis der politischen Parteien in der 44 Im Ergebnis: Wietschel (Fn. 9), ibid. Bundesrepublik Deutschland, München 1992, S. 45 f. 45 Ipsen (Fn. 4), § 7 Rn. 3. 49 Bundeswahlleiter, www.bundeswahlleiter.de/de/parteien, Stand 46 Morlok (Fn. 4), § 7 Rn. 5. 11.12.2015.

96 MIP 2016 22. Jhrg. Gauseweg – Die Satzung von Parteiuntergliederungen zwischen Autonomie und Homogenitätsgebot Aufsätze eine Betrachtung der teilweise umfangreichen Recht- Abs. 2 CDU-Statut) schließt das CDU-Statut ein Sat- sprechung der jeweiligen Parteigerichte entfallen. zungsrecht für Gliederungen unterhalb des Kreisver- bandes (explizit normiert in § 19 CDU-Statut) sogar 1. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (GRÜNE) völlig aus. Diese Bestimmung ist aufgrund des Wort- Die Satzung des Bundesverbandes50 von BÜNDNIS 90/ lauts der gesetzlichen Vorschrift des § 6 Abs. 1 S. 2 DIE GRÜNEN (GRÜNE-BS) sichert den Orts-, Kreis- PartG in der Literatur vielfältig in die Kritik geraten.52 und Landesverbänden „größtmögliche Autonomie“ Auch weitere Bestimmungen treffen Regelungen in zu (§ 10 Abs. 1 S. 1 GRÜNE-BS). Die Satzungsauto- die Ebene unterhalb des Landesverbandes hinein; nomie dieser Verbände wird in § 10 Abs. 2 GRÜNE- u.a. Inhaltsvorschriften für Satzungen (§ 18 Abs. 4, 6 BS noch einmal explizit wiederholt. Explizit wird CDU-Statut), Berichtspflichten für Kreisverbände, Widerspruchsfreiheit nur zum „Grundkonsens“ (ein zu deren Ausgestaltung die Landesverbände ver- programmatisches, von der GRÜNE-BS unterschie- pflichtet sind (§ 21 CDU-Statut), und unmittelbar auf denes Dokument) angeordnet, nicht aber zur GRÜNE- Bundesebene geregelte Eingriffsrechte gegenüber BS selbst. Einschränkend wirkt aber die Vorschrift, den Kreisverbänden (§ 24, 25 CDU-Statut). dass die Landesverbände durch Satzung nicht nur ihre eigenen Organe, sondern auch die ihrer Unter- Im Ergebnis formuliert das CDU-Statut eine Reihe gliederungen regeln (womit im Umkehrschluss wohl tiefgreifender Einschränkungen für Untergliederun- den darunter liegenden Untergliederungen diese Mög- gen unterhalb der Landesverbände – bis hin zum lichkeit verwehrt bleiben soll). Sieht man Inhalte Ausschluss eigener Satzungen. Obwohl den Landes- nach § 6 Abs. 2 Nr. 7 PartG als „homogenisierungs- verbänden einige Verpflichtungen auferlegt werden festen“ Bestandteil an (s.o. II. 3.), erscheint diese (insb. auch explizit mit Umsetzungsfrist in § 18 Regelung zumindest nicht unproblematisch. Abs. 6 CDU-Statut), für die unteren Untergliederun- gen Recht zu setzen, scheinen die Regelungen des DIE GRÜNE ist die einzige der untersuchten Partei- CDU-Statut in der Regel unmittelbaren Geltungsan- en, die die Satzungsautonomie ihrer Untergliederun- spruch für alle Untergliederungen zu erheben. gen expressis verbis festschreibt. Allerdings trifft auch sie dahingehend Einschränkungen, dass erstens 3. DIE LINKE Widerspruchsfreiheit zum Grundkonsens bestehen Die Bundessatzung der Partei DIE LINKE53 (LINKE- muss und zweitens den Landesverbänden aufgege- BS) trifft die für Untergliederungen besonders maß- ben wird, Regelungen für Verbände zu treffen, de- geblichen Regelungen in den §§ 12, 13, 14 LINKE- nen gegenüber sie nicht notwendigerweise die BS. Den Landesverbänden werden dabei bereits einige „nächsthöhere Gliederung“ sind. Organe in ihre Satzungen geschrieben (§ 12 Abs. 3 2. Christlich Demokratische Union (CDU) LINKE-BS). Umfangreicher fallen die Regelungen

51 über die Kreisverbände (abweichend auch Stadt- Das Statut der CDU (CDU-Statut) beinhaltet bereits oder Bezirksverband) in § 13 LINKE-BS aus. Beson- dem nominellen Umfang nach die meisten Vorschrif- ders hervor sticht § 13 Abs. 10 LINKE-BS, der den ten mit Wirkung für Untergliederungen. Zentrale Kreisverbänden zwar eigene Satzungen gestattet, Norm ist hier § 50 CDU-Statut: Er schreibt erstens gleichzeitig aber deren Inhalte, die den Satzungen Widerspruchsfreiheit der Satzungen (aller) nachge- des Bundes- oder entsprechenden Landesverbandes ordneten Verbände zum CDU-Statut vor. Zweitens widersprechen, für unwirksam erklärt. § 14 Abs. 2 legt er eine subsidiäre Geltung einer Reihe von Do- LINKE-BS legt schließlich fest, dass alle Bestim- kumenten der Bundesebene der CDU fest, die sich mungen (der LINKE-BS) zu Organen sinngemäß auf auch auf „die auf deren Grundlage jeweils beschlos- die Organe anderer Gliederungen anzuwenden sind. senen rechtlichen Regelungen“ erstreckt und „unmit- Dies gilt allerdings nur subsidiär; die dort gültigen telbar anzuwenden“ ist (§ 50 S. 2 CDU-Statut). Satzungen und auch die Bundessatzung selbst kön- Mit der Ausgestaltung von Kreisverbänden als kleinste nen explizit andere Regelungen vorsehen. Untergliederung mit eigenständiger Satzung (§ 18 Im Ergebnis erhebt die LINKE-BS einen klaren, ebe- nenübergreifenden Anspruch auf Widerspruchsfreiheit. 50 Bundesgeschäftsstelle BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Satzung des Bundesverbandes, Berlin (2014), www.gruene.de/partei/do 52 Ipsen (Fn. 4), § 6 Rn. 5; Augsberg, in: Kersten/Rixen (Fn. 4), kumente-publikationen.html, zuletzt abgerufen am 11.12.2015. § 6 Rn. 11. 51 Statut der CDU, in: CDU-Bundesgeschäftsstelle (Hrsg.), Statuten- 53 Bundesgeschäftsführung der Partei DIE LINKE (Hrsg.), Bun- broschüre der CDU Deutschlands, Berlin (2014), www.cdu.de/ dessatzung, Berlin (2014), www.die-linke.de/partei/dokumente, partei/dokumente, zuletzt abgerufen am 11.12.2015. zuletzt abgerufen am 11.12.2015.

97 Aufsätze Gauseweg – Die Satzung von Parteiuntergliederungen zwischen Autonomie und Homogenitätsgebot MIP 2016 22. Jhrg.

Einzig die in § 14 Abs. 2 LINKE-BS anklingende 6. Sozialdemokratische Partei Deutschland (SPD) Subsidiarität könnte daran zweifeln lassen – sie be- Regelungen für Untergliederungen trifft die SPD auf trifft allerdings nicht Struktur, sondern Verfahren Bundesebene in den §§ 8, 9 ihres Organisationssta- und lässt die sehr umfangreichen Bestimmungen der tuts (SPD-OrgStatut).57 LINKE-BS selbst für die Kreisverbandsebene aus- drücklich unberührt. § 8 SPD-OrgStatut enthält eine Reihe von Bestimmun- gen, die die Untergliederungen direkt betreffen. Sie 4. Freie Demokratische Partei (FDP) geben ebenenübergreifend Inhalte vor, wobei es sich Die Bundessatzung der FDP54 schreibt in § 28 Abs. 1 jeweils um Verpflichtungen handelt, die offenbar FDP-BS vor, dass die Satzungen ihrer Untergliede- keiner Transformation durch die nächstniedrigere rungen (und Auslandsgruppen) „mit den grundsätzli- Ebene bedürfen (bspw. schreibt § 8 Abs. 6 S. 2 SPD- chen Regelungen“ der Bundessatzung übereinstim- OrgStatut unmittelbar ein Antragsrecht für Unter- men müssen. Abs. 2 zählt eine Reihe solcher Rege- gliederungen unterhalb der Ortsvereine auf allen lungen auf, die explizit gegenüber allen Landessat- Ebenen der Partei fest). zungen Vorrang genießen. Der explizite Bezug auf § 9 Abs. 2 SPD-OrgStatut wiederholt die gesetzliche die Grundsätzlichkeit dieser Regeln allerdings lässt Bestimmung des § 6 Abs. 1 S. 2 PartG fast wortge- vermuten, dass Untergliederungen zumindest inhalt- treu, ergänzt sie jedoch auch um die Vorschrift, dass lich nicht abweichen dürfen. „[d]ie Satzungen der Gliederungen […] nicht im Wi- Bis auf die Vorschrift des § 8 Abs. 5 FDP-BS, der die derspruch zu höherrangigen Satzungen stehen [dür- Satzungen von Auslandsgruppen (inkl. deren Ände- fen].“ Im Ergebnis erwirkt die SPD über diese Rege- rungen) unter den Genehmigungsvorbehalt des FDP- lung eine über die Ebenen hinweg ungebrochene Wi- Bundesvorstands stellt, finden sich kaum weitere Re- derspruchsfreiheit ihrer Satzungen. gelungen, die Untergliederungen betreffen. 7. Zusammenfassung Im Ergebnis definiert die FDP-BS einen Katalog an Regelungen, von denen keine Untergliederung ab- Die größte Satzungsautonomie gewähren ihren Un- weichen darf. Auch hier wird ebenenübergreifende tergliederungen zweifelsfrei die GRÜNEN und die Widerspruchsfreiheit gefordert. PIRATEN. Am anderen Ende der Achse hat sich die CDU positioniert, die ihren Untergliederungen unter- 5. Piratenpartei Deutschland (PIRATEN) halb der Kreisverbandsebene das Satzungsrecht Die Satzung der Piratenpartei Deutschland55 trifft gänzlich abspricht (s.o.). Gleichwohl sind sich alle wenige Regelungen zu untergeordneten Verbänden. betrachteten Parteisatzungen darin einig, dass sie Be- Diese umfassen im Großen und Ganzen die gebietli- stimmungen über den Landesverband hinweg treffen. che Gliederung (§ 7 PIRATEN-BS) und die Pflicht Die jeweiligen Formulierungen legen auch eine un- zur Einhaltung von Grundsätzen und Ordnung der mittelbare Anwendbarkeit für Untergliederungen ohne Partei (§ 6, 8 PIRATEN-BS). Es besteht ein Durch- „Transformation“ durch die Landessatzungen nahe. griffsrecht in § 4 PIRATEN-FO und die Schiedsge- IV. Folgerungen für das Homogenitätsgebot für richtsordnung ist für alle Untergliederungen verbind- Parteisatzungen lich (§ 1 Abs. 2 PIRATEN-SGO). § 14 PIRATEN-BS schließlich legt fest, dass Satzungen der Landesver- Die Praxis der untersuchten Parteien zeichnet ein bände und auch ihrer Untergliederungen „mit den deutliches Bild: Obgleich sie den unterschiedlichsten grundsätzlichen Regelungen“ der Bundessatzung über- politischen Spektren angehören und die jeweiligen einstimmen müssen. Parteigründungen teilweise Jahrzehnte auseinander Im Ergebnis wird auch hier unmittelbar die Wider- liegen, legen die Parteien die fragliche Bestimmung spruchsfreiheit zwischen Bundessatzung und sämtli- des PartG nahezu identisch aus. Das spricht dafür, chen nachgeordneten Satzungen hergestellt, die sich jedoch lediglich auf „grundsätzliche Regelungen“ der 56 Der Unterschied besteht freilich darin, dass die PIRATEN Bundessatzung bezieht und insoweit an das Homoge- Homogenität von „Regelungen“ verlangen, während nitätsgebot aus Art. 28 GG im Verhältnis Bund/Län- Art. 28 GG (abstrakter) an Prinzipien anknüpft, vgl. auch der erinnert.56 Mehde, in: Maunz/Dürig (Fn. 2), 74. Lfg. 2015, Art. 28 Rn. 2. 57 SPD Parteivorstand (Hrsg.), Organisationsstatut, Wahlord- nung, Schiedsordnung, Finanzordnung der Sozialdemokrati- 54 Vgl. Fn. 16. schen Partei Deutschlands, Berlin (2014), www.spd.de/partei/ 55 Vgl. Fn. 15. organisation/gremien/, zuletzt abgerufen am 11.12.2015.

98 MIP 2016 22. Jhrg. Gauseweg – Die Satzung von Parteiuntergliederungen zwischen Autonomie und Homogenitätsgebot Aufsätze dass die von allen Parteien gewählte Auslegung sich 2. Mittelbare Wirkung durch implizite Verpflichtung in der Praxis als dienlich erwiesen hat. Mit einer Regelung in der höherrangigen Satzung Gleichwohl kann Praxisnähe eine Auslegung nur un- über eine niedere Gliederungsstufe könnte die mittle- terstützen, nicht aber festlegen. Sie muss sich immer re Stufe automatisch verpflichtet sein, den Gegen- noch aus dem Gesetz ergeben. Dass das jedoch ge- stand ihrerseits für die mittlere Stufe zu regeln (d.h. lingt, wurde bereits gezeigt: Als Grundsatz sieht das zu wiederholen). Täte(n) sie das nicht, verstieße die PartG vor, dass sämtliche Gebietsverbände Satzungs- Satzung der Zwischenebene(n) gegen die höherrangi- autonomie genießen. Gleichzeitig trägt es dem Orga- ge(n) Satzung(en). Auch hier gälte letztlich nur die Re- nisationsinteresse der Gesamtpartei Rechnung und ge- gelung der letzten Zwischenebene. Hinsichtlich „un- bietet den Satzungen Homogenität, die in ihrem Um- gehorsamer“ Zwischenebenen stellt sich also dassel- fang von höheren Gliederungen auszugestalten ist. be Problem wie bei einer expliziten Verpflichtung. Aufgrund der Besonderheit der Formulierung des § 6 3. Unmittelbare Anwendung Abs. 1 S. 2 PartG stellt sich die Frage, wie genau die Ausformung der Satzungsautonomie von untergeord- Dieses Problem löst letztlich nur ein Anwendungsan- neten Gebietsverbänden wirksam wird. spruch unmittelbar der höchsten Ebene. Da diese oh- nehin die Befugnis hat, mittlere Ebenen zu verpflich- In Bezug auf die nächsthöhere Ebene ist der Wort- ten und jene die implizite oder gar explizite Kette laut des Gesetzes eindeutig. Gesetzlich aber gerade gerade nicht eigenmächtig unterbrechen dürfen, kann nicht normiert sind Durchgriffsmöglichkeiten von man der höchsten Regelung letztlich auch direkt Satzungen höherer Gliederungsebenen als der „je- einen unmittelbaren Geltungsanspruch zuschreiben.59 weils nächsthöhere[n]“. Jedoch ist ein Durchgriff Dieser Ansicht scheinen sich auch die Satzungsgeber auch gliederungsübergreifend nicht nur allgemeine der untersuchten Parteien angeschlossen zu haben. Praxis sondern als teleologische Korrektur des Ge- setzeswortlautes auch rechtlich vertretbar. 4. Kollisionsfolgen Die Wirksamkeit könnte sich daher mittelbar durch Grundsätzlich ist eine Normenkollision nach dem explizite (1.) oder implizite (2.) Verpflichtung oder Grundsatz lex superior derogat legi inferiori aufzulö- aber unmittelbar (3.) ergeben. Schließlich stellt sich sen, da „die vorrangige Satzungsgebungskompetenz die Frage nach den Folgen einer Normenkollision (4.). den höheren Organisationsstufen“60 zusteht. Aller- dings stellt sich die Frage nach der konkreten Kolli- 1. Mittelbare Wirkung durch explizite Verpflichtung sionsfolge: Diese könnte auf Vorrang der höherran- Teilweise wird in Kommentaren eine mittelbare Wir- gigen Norm in Geltung (a) oder Anwendung (b) lauten. kung durch explizite Verpflichtung der Zwischen- a) Geltungsvorrang ebene(n) vorgeschlagen.58 Durch eine ungebrochene Kette von Verpflichtungen könnte so eine Verpflich- Der Geltungsvorrang und damit die Nichtigkeitsfolge tung der gewünschten Ebene erreicht werden. Gelten wird, symbolträchtig mit „Bundesrecht bricht Lan- würde letztlich die Regelung der letzten Zwischen- desrecht“ in Art. 31 GG formuliert, weithin als Stan- ebene, die die Zielebene unmittelbar verpflichtete. dardfolge einer Kollision mit höherrangigem Recht betrachtet.61 Dafür sprechen gewichtige systemati- Unter der Voraussetzung, dass die Verpflichtungen sche Argumente.62 Allerdings löst „[d]en möglichen jeweils ordnungsgemäß (und zeitnah!) umgesetzt Konflikt zwischen zwei gültigen Normen verschie- würden, ließe sich mit diesem Vorgehen eine Aus- dener Stufen (…) das Recht selbst“,63 weswegen wirkung auch ohne die angesprochene teleologische nicht zwangsläufig von normvernichtender Wirkung Korrektur erzielen. ausgegangen werden kann. Im anderen Fall wäre hier die Pflicht zur Einhaltung der Kette einziges Argument, um eine Bindung zu er- 59 Im Ergebnis so auch Lenski (Fn. 4), § 6 Rn. 11. reichen – was allerdings in letzter Konsequenz einer 60 Morlok (Fn. 4), § 7 Rn. 4. unmittelbaren Anwendbarkeit gleichkäme; der Prä- 61 Statt aller Frau, Der Gesetzgeber zwischen Verfassungsrecht misse der mittelbaren Wirkung also widerspräche. und völkerrechtlichem Vertrag, Tübingen 2015, S. 41. 62 Vgl. Kelsens Ausführungen zum Stufenbau der Rechtsord- nung, in: ders., Reine Rechtslehre, S. 72 f., 74 ff., zitiert nach Jestaedt, Hans Kelsen: Reine Rechtslehre, Studienausgabe der 1. Auflage 1934, Tübingen 2008, S. 82 ff. 58 Augsberg, in: Kersten/Rixen (Fn. 4), § 6 Rn. 11. 63 Kelsen, (Fn. 62), S. 89, zitiert nach Jestaedt, ibid, S. 99.

99 Aufsätze Gauseweg – Die Satzung von Parteiuntergliederungen zwischen Autonomie und Homogenitätsgebot MIP 2016 22. Jhrg. b) Anwendungsvorrang den gesamten Zeitraum ihrer Unanwendbarkeit wei- terhin sichtlich Teil des Regelwerks war – und erst Vielmehr ist vom Anwendungsvorrang als der Folge ab diesem Neubeschluss, nicht aber ab dem Zurück- von geringerer Intensität auszugehen. Dies ist auch treten der vormals vorrangigen Norm gelten sollte, im deutschen Recht nicht systemwidrig, denn auch erfordert ein juristisches Verständnis, was Laien das GG kennt den Anwendungsvorrang höherrangi- nicht abzuverlangen ist. ger Normen (bspw. in Art 25 GG,64 vgl. auch, soweit das Recht der Europäischen Union als „höherrangig“ V. Gesamtergebnis begriffen werden kann, den „Vorrang kraft verfas- sungsrechtlicher Ermächtigung“65). Der verfassungsmäßige Schutz der Satzungsautono- 68 Allerdings hängt die niederrangige Satzung nicht mie der Gesamtpartei erstreckt sich auch auf ihre von der höherrangigen ab: Die höherrangige Satzung Untergliederungen. Allerdings reicht das Homogeni- ist nicht konstitutive Regel für die Satzungen der tätsgebot für Satzungen von Parteiuntergliederungen Untergliederungen. Stattdessen leiten beide kollidie- aus § 6 Abs. 1 S. 2 PartG weit. renden Satzungen ihre Geltung aus der sie konstitu- Zwar genießen die Gebietsverbände einer Partei Sat- ierenden Vorschrift aus dem Parteiengesetz ab. Dem- zungsautonomie in den originär sie betreffenden An- gemäß entzieht eine höherrangige Norm einer gegen- gelegenheiten. Diese Autonomie kommt aber nur zum läufigen niederrangigen Norm auch nicht ihren Gel- Tragen, solange und soweit eine höhere Ebene keine tungsgrund.66 Stattdessen ordnet § 6 Abs. 1 PartG inhaltlich kollidierenden Regelungen (lex superior den Anwendungsvorrang der höherrangigen Norm …) erlassen hat. Diese Regelungen gelten unmittel- an, „sofern und soweit“ sie Geltung beansprucht. Die bar und beanspruchen Anwendungsvorrang; ein Gel- niederrangige Norm gilt fort und behält ihren An- tungsvorrang müsste individuell angeordnet werden. wendungsbereich, „soweit“ die höherrangige Norm In gewissen Grenzen dürfen auch Mindestinhalte ei- ihn nicht abdeckt bzw. erhält ihn zurück, „sofern“ ner Satzung nach § 6 Abs. 2 PartG vorgegeben wer- die höherrangige Norm – aus welchem Grund auch den. Deklaratorische Wiederholungen, inhaltliche immer – nicht mehr anwendbar ist.67 Zu unterschei- Konkretisierungen oder gar Erweiterungen bleiben den ist hiervon nur die bereits entgegen höherrangi- davon unberührt. ger Bestimmung erlassene Norm: Da dem Satzungs- geber hier laut PartG die Zuständigkeit fehlt, kann diese von Anfang an keine Geltung entfalten. Demgegenüber ermöglicht § 6 Abs. 1 PartG freilich auch prinzipiell die Möglichkeit der Nichtigkeitsfolge. Diese müsste allerdings in der jeweils höherrangigen Satzung explizit angeordnet werden und gilt nicht un- mittelbar aus dem PartG. Einer solchen Anordnung käme ein ausdrückliches Verbot des Erlasses einer Bestimmung gleich. Dies ist letztlich auch die für Laien ersichtlichere und praktikablere Folge: Das Zurücktreten einer nie- derrangigen Norm hinter einer höherrangigen ist leicht zu vermitteln und wird i.d.R. auch akzeptiert werden, wenn die Norm nicht unmittelbar aus dem fraglichen Regelwerk gestrichen wird. Dass eine ein- mal unanwendbare Norm aber im Falle einer raum- gebenden Änderung des höherrangigen Rechts erst neu beschlossen werden müsste – obwohl sie über

64 Herdegen, in: Maunz/Dürig (Fn. 2), 37. Lfg. 2000, Art. 25 Rn. 43; a.A. Frau (Fn. 61), ibid. 65 BVerfGE 123, 267 (397), sog. „Lissabon-Entscheidung“. 66 Dies ist aber Voraussetzung für ihre „Vernichtbarkeit“, Kelsen (Fn. 62), S. 84 f., 89, zitiert nach Jestaedt, ibid, S. 94 f., 98 f. 67 Anderer Ansicht: Lenski (Fn. 4), § 6 Rn. 10. 68 Endlich (Fn. 48), S. 47.

100 MIP 2016 22. Jhrg. Dişçi – Grundsatz (partei-)politischer Neutralität Aufsätze

Grundsatz (partei-)politischer Neutralität rend erstere bereits impliziert, dass politische Partei- en involviert sind und dass zu deren Lasten Äuße- Duygu Dişçi1 rungen getätigt werden, geht es der politischen Neu- tralität im hier verstandenen Sinne um staatliches Handeln gegenüber sonstigen Personenzusam- In Anbetracht der Vielzahl der jüngst getroffenen menschlüssen. Negative Äußerungen erschöpfen sich Entscheidungen zur Neutralität von Staatsorganen ist nicht in ihrer Bedeutung gegenüber politischen Par- eine Auseinandersetzung mit dieser Figur angezeigt. teien. Demnach kristallisiert sich bereits mit der ge- Bekannte Fälle stellen insbesondere die Urteile des nauen Terminologie die betroffene Konstellation Bundesverfassungsgerichts dar, die zu den Äußerun- heraus: Durch staatliche Äußerungen können sowohl gen des Bundespräsidenten Gauck und der Bundes- politische Parteien als auch Personenvereinigungen, familienministerin Schwesig ergingen2, oder aber auch die nicht das Parteienprivileg aus Artikel 21 GG ge- der Fall des Düsseldorfer Oberbürgermeisters, der nießen, in ihren verfassungsrechtlich verankerten unter anderem gegen die Demonstration von Dügida Rechten verletzt sein. Denn am politischen Mei- zu einer Gegendemonstration aufrief3. All diesen nungs- und Willensbildungsprozess wirken beide Fällen ist gemein, dass sie Situationen betreffen, in Teilnehmer mit und tragen so zur Entfaltung der öf- denen Hoheitsträger parteiergreifend Stellung bezie- fentlichen Meinung bei. Insbesondere ist dabei an hen, so dass sich die Frage nach einer parteipoliti- die politischen Freiheits- und Kommunikations- schen bzw. politischen Neutralität stellte. Wenngleich grundrechte des Grundgesetzes (sowie an Artikel 21 die aktuellen Entscheidungen diesem Themengebiet GG) zu denken, die das Wirken von Personenverei- zu neuer Aufmerksamkeit verhelfen, so handelt es nigungen verfassungsrechtlich absichern. Die Ge- sich doch nicht um ein neues Thema, denn bereits in meinsamkeit beider Konstellationen besteht darin, den Jahren 1977 und 1983 traf das Bundesverfassungs- dass staatliches Handeln in Form von Äußerungen gericht grundlegende Entscheidungen4, die sich mit eine Rechtsverletzung verursachen kann. der Frage nach Äußerungsbefugnissen staatlicher Or- Adressat des (partei-)politischen Neutralitätsgebots gane befassten. Ein Unterschied zwischen den älteren ist der Staat. Damit sind alle staatlichen Stellen und und den neuen Rechtssachen, die das Gericht zu ent- Hoheitsträger gemeint. Auf der „anderen“, also der scheiden hatte, liegt darin, dass sich die älteren mit dem Staat gegenüberstehenden Seite stehen die Be- schriftlichen Äußerungen und Veröffentlichungen be- teiligten des politischen Meinungswettbewerbs, zu fassten, wohingegen die neuesten Entscheidungen deren Gunsten der Neutralitätsgrundsatz eintritt. mündliche Äußerungen zum Gegenstand hatten5. Vorliegend steht die Ausprägung von Neutralität im Inhaltliche Konkretisierung von Neutralität und Vordergrund, die sich mit Äußerungen von Hoheits- Ursprung trägern im politischen Wettbewerb gegenüber politi- Zur Wortbedeutung von Neutralität kann auf lateini- schen Parteien und sonstigen Vereinigungen be- sche Begrifflichkeiten abgestellt werden, denn neuter/ schäftigt. Damit stellt sich bereits die terminologi- neutrum bedeutet „keiner von beiden“ und neutralis sche Frage, wann von politischer und wann von par- „keiner Partei angehörend“. Genau diese Übersetzung teipolitischer Neutralität die Rede sein sollte. Partei- macht den Inhalt der Neutralität aus: Sie „bezeichnet politische Neutralität lässt sich unter den allgemeine- allgemein eine unparteiische Haltung, Nichteinmi- ren Begriff der politischen Neutralität fassen. Wäh- schung und Nichtbeteiligung.“6 In diesem Kontext 1 Die Autorin ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl kann das bekannte Krüger’sche Prinzip der Nicht- für Öffentliches Recht, Rechtstheorie und Rechtssoziologie Identifikation7 herangezogen werden, welches sich (Prof. Dr. Martin Morlok) an der Heinrich-Heine-Universität der Frage widmet, ob sich der Staat in einer pluralis- in Düsseldorf. tischen Gesellschaft mit einzelnen inhaltlichen An- 2 BVerfGE 136, 323 ff. (Gauck); BVerfG, Urteil vom 16.12.2014 schauungen identifizieren darf. Zwar kommt Krüger – 2 BvE 2/14 (Schwesig), online veröffentlicht bei juris. zu dem Ergebnis, dass weder die Identifikation noch 3 Dazu OVG NRW, Beschluss vom 12.01.2015 – 15 B 45/15, in: NwVBl. 2015, 195; vorgehend VG Düsseldorf, Beschluss die Nicht-Identifikation die schlechtere Alternative vom 09.01.2015 – 1 L 54/15, in: NwVBl. 2015, 201 f.; VG darstelle, allerdings bedeute letztere mehr Freiheit Düsseldorf, Urteil vom 28.08.2015 – 1 K 1369/15, online ver- öffentlicht bei juris. 6 M. Droege, in: Heun/Honecker/Morlok/Wieland (Hrsg.), Evan- 4 BVerfGE 44, 125 ff.; 63, 230 ff. gelisches Staatslexikon, Stuttgart 2006, Spalte 1620; Brockhaus 5 Ausdrücklich zu dieser Unterscheidung auch H. Mandelartz, Enzyklopädie, Bd. 19, 21. Aufl., Mannheim 2006, S. 603. DÖV 2015, 326 ff. 7 H. Krüger, Allgemeine Staatslehre, Stuttgart, 1964, S. 178 ff.

101 Aufsätze Dişçi – Grundsatz (partei-)politischer Neutralität MIP 2016 21. Jhrg. für den Bürger, denn sobald der Staat sich mit einer (Partei-)Politische Neutralität Auffassung identifiziere, entstehe Unfreiheit auf Sei- ten des Bürgers8. Die Nicht-Identifikation von staatli- Politischer Wettbewerb zwischen den einzelnen cher Seite sorgt bei der Bürgerschaft für die Gleich- Wettbewerbsteilnehmern des Meinungs- und Willens- 13 heit der Freiheit, eine bestimmte Anschauung zu ha- bildungsprozesses muss vor parteiergreifenden, den ben und diese auszuleben9. Dadurch kann sich in der Wettbewerb verzerrenden Eingriffen – durch öffent- Gesellschaft erst eine öffentliche Meinung entwi- liche Äußerungen – seitens des Staates geschützt ckeln und die pluralistische Gesellschaftsstruktur be- werden, denn eine Einwirkung zu Gunsten eines stehen. Von daher ist der Einschätzung Krügers zu- Wettbewerbsteilnehmers kann sich zu Lasten eines zustimmen. Auch Kriele hat Neutralität – in die glei- anderen auswirken. Wenn also die Rede von che Richtung gehend – dadurch auf den Punkt ge- (partei-)politischer Neutralität ist, bedeutet dies, dass bracht, dass er von Unparteilichkeit des Staates als staatliche Stellen zu allen Beteiligten des öffentli- Verfassungsgrundsatz spricht, „mit dessen Geltung chen Meinungswettbewerbs die gleiche Nähe bzw. die gleiche Freiheit eines jeden steht und fällt.“10 Distanz zu wahren haben. Die Notwendigkeit eines (partei-)politischen Neutralitätsgrundsatzes wird so- Diese beispielhaft aus einer Reihe von Ansichten lange bestehen, wie es den Staat einerseits und ge- ausgewählten Aussagen konkretisieren und konturie- sellschaftliche Akteure wie politische Parteien und ren die Wortbedeutung der Neutralität. Sie stellen sonstige Interessenvereinigungen als Ausfluss des den Kern des Neutralitätsgebots dar und lassen sich politischen Pluralismus andererseits gibt, zwischen auf jedem Neutralitätsgebiet wiederfinden. denen es zu Spannungsverhältnissen kommen kann. Die Wurzel der Neutralitätsforderung liegt – unab- Neutralität stellt eine Erwartungshaltung an den hängig vom Gebiet – im Pluralismus, denn in einer Staat dar, damit dieser die Vielfalt an politischen In- pluralistischen und damit heterogenen Gesellschaft teressen nicht durch einseitige Verhaltensweisen be- bestehen überhaupt eine Vielzahl von Wertvorstel- einträchtigt. lungen und Auffassungen, denen es möglich sein Obwohl terminologisch unterschieden wird, macht es muss, nebeneinander und besonders von staatlicher für die Geltung des Neutralitätsgrundsatzes keinen Seite ungestört zu leben. In freiheitlichen Gesell- Unterschied, ob staatliches Handeln politische Partei- schaften ist es nicht unüblich, dass die Bürger in Fra- en berührt, denn politisch neutral muss der Staat nicht gen der Lebensorientierung und Lebensführung nicht nur diesen gegenüber sein, die nach der grundgesetz- übereinstimmen11. Pluralismus ist aber nicht ledig- lichen Verfassungsordnung eine besondere Rolle zwi- lich durch die Existenz einzelner Interessen gekenn- schen Staat und Gesellschaft einnehmen, Art. 21 GG, zeichnet, sondern vielmehr durch die daraus folgen- sondern auch sonstigen Personenvereinigungen ge- de Konsequenz: die Bildung von Personenzusam- genüber, denen ebenfalls Verfassungsnormen zugu- menschlüssen zur Interessendurchsetzung12. Das tekommen. Zwar ist die Berufung auf Art. 21 GG al- Neutralitätsgebot reagiert und antwortet also auf den lein politischen Parteien vorbehalten, aber diesen wie Pluralismus, sei es religiöser Pluralismus, sei es allen anderen Personenvereinigungen stehen auch an- politischer Pluralismus, indem es ein neutrales, un- dere grundrechtliche Gewährleistungen zur Seite. Ins- parteiisches Verhalten vom Staat verlangt, um den besondere ist an die Kommunikationsfreiheiten der öffentlichen Diskurs zwischen den beteiligten Inter- Verfassung zu denken, also an Art. 5 Abs. 1 S. 1, essen und Gruppen nicht zu beeinträchtigen. Art. 8 sowie Art. 9 Abs. 1 GG. Diese Grundrechte 8 H. Krüger, Allgemeine Staatslehre, Stuttgart, 1964, S. 181, 185. fungieren als verfassungsrechtliche Absicherung für 9 M. Morlok, Selbstverständnis als Rechtskriterium, Tübingen den politischen Meinungs- und Willensbildungspro- 1993, S. 332; ähnlich W. Schmitt Glaeser, Der freiheitliche zess des Volkes und stellen damit politische Frei- Staat des Grundgesetzes, Tübingen 2008, S. 138. heitsrechte dar14. Auch das Bundesverfassungsge- 10 M. Kriele, Freiheit und Gleichheit, in: HdbVerfR, 1. Aufl., Berlin 1983, S. 129 (151). 11 S. Huster, Die ethische Neutralität des Staates, Tübingen 2002, 13 Dazu M. Morlok, Parteienrecht als Wettbewerbsrecht, in: FS S. 5, 7 ff., setzt sich grundlegend mit Pluralismusvorstellungen Tsatsos, 2003, S. 408 ff. auseinander und kommt zu dem Ergebnis, dass eine Gesell- 14 D. Murswiek, Grundrechte als Teilhaberechte, soziale Grund- schaft erst dann pluralistisch ist, wenn „in den tieferliegenden, rechte, in: HdbStR V, 2. Aufl., Heidelberg 2000, § 112 Rn. 15; für die Lebensführung zentralen Fragen Differenzen zwischen W. Schmitt Glaeser, Die grundrechtliche Freiheit des Bürgers ihren Mitgliedern bestehen.“ und nicht, wenn eine Vielfalt zur Mitwirkung an der Willensbildung, in: HdbStR III, 3. Aufl., von Lebensstilen in unbedeutenden Vorlieben besteht. Heidelberg 2005, § 38 Rn. 11 ff.; E.-W. Böckenförde, Demokra- 12 So auch W. Schmitt Glaeser, Der freiheitliche Staat des tie als Verfassungsprinzip, in: HdbStR II, 3. Aufl., Heidelberg Grundgesetzes, Tübingen 2008, S. 140, 189 f. 2004, § 24 Rn. 37; J. Krüper/H. Kühr, ZJS 2014, 16 (17 f.).

102 MIP 2016 22. Jhrg. Dişçi – Grundsatz (partei-)politischer Neutralität Aufsätze richt betont und hebt unter anderem diese Grund- Als faktische Begründung ist die gesellschaftliche He- rechte als maßgeblich für diesen Prozess hervor15. terogenität und damit der Pluralismus zu sehen, der das Bedürfnis nach Neutralität weckt. Eine allgemeine Dass Staatsorgane politische Neutralität nicht nur rechtliche Herleitung lässt sich den Freiheits- und gegenüber politischen Parteien, sondern gegenüber Gleichheitsverbürgungen des Grundgesetzes entneh- allen Teilnehmern des politischen Wettbewerbs zu men, da diese erst die Vielfalt in der Gesellschaft er- wahren haben, veranschaulicht die nordrhein-westfä- möglichen und fördern, indem sie den Bürgern das lische Dügida-Rechtsprechung16. Gegenstand des Recht verleihen, entsprechend ihrer Ansichten zu le- Rechtsstreits ist die Zulässigkeit eines Aufrufs zur ben und sich zu entfalten sowie sich zur Verfolgung Gegendemonstration gegen eine Dügida-Versamm- gemeinsamer Interessen zusammenzuschließen. Durch lung sowie ein durch den Oberbürgermeister der die Anknüpfung an die Grundrechte tritt neben die ob- Stadt Düsseldorf angeordneter Beleuchtungsboykott jektivrechtliche Dimension staatlicher Neutralität, als städtischer Gebäude. Hierbei wirkt das gerügte staat- ein sich aus der Verfassung abzuleitender Handlungs- liche Handeln nicht zu Lasten einer politischen Par- maßstab staatlicher Gewalt, eine subjektivrechtliche. tei, sondern einer einfachen Vereinigung, nämlich Die ausschlaggebenden Rechte, deren Verletzungen der Düsseldorfer Bewegung des eingetragenen Ver- gerügt werden und auf denen der Neutralitätsgedanke eins Pegida e.V., die sich gegen die „Islamisierung fußt, sind – wie bereits aufgeführt – insbesondere in des Abendlandes“ einsetzt. Vor allem diese Recht- den Kommunikationsfreiheiten sowie in Art. 21 GG sprechung hat das Bedürfnis geweckt, sich die Frage zu sehen; je nach dem, zu wessen Lasten staatliche nach der Erweiterung des politischen Neutralitäts- Äußerungen getätigt werden. grundsatzes zu stellen. Zweifellos ist der besondere Status politischer Parteien in unserer Parteiendemo- Sowohl in den Grundsatzentscheidungen von 1977 kratie17 nicht außer Acht zu lassen, allerdings zeigt und 1983 als auch in den jüngeren Entscheidungen gerade der Fall des Oberbürgermeisters, dass der des Bundesverfassungsgerichts waren politische Par- politische Meinungswettbewerb nicht erst dann in teien Antragsteller, die sich durch staatliches Han- Mitleidenschaft gezogen wird, wenn Äußerungen ge- deln in ihrem Recht auf Chancengleichheit verletzt genüber politischen Parteien getätigt werden. Auch sahen. Das Recht auf politische Chancengleichheit sonstige Personenzusammenschlüsse, welche eben- stellt einen Verfassungsgrundsatz dar, der sich trotz falls Teilnehmer des politischen Meinungswettbe- fehlender ausdrücklicher Normierung vor allem aus werbs sind, verfolgen grundrechtlich geschützte In- Art. 21 Abs. 1 GG entnehmen lässt18. Chancengleich- teressen. Ferner ist darauf hinzuweisen, dass sich heit stellt eine Ausprägung des Gleichheitssatzes dar praktisch gesehen der gesellschaftliche Pluralismus und meint die „Gleichheit in den wettbewerblichen an politischen Interessen nicht auf parteipolitische Ausgangsbedingungen (…)“, „nicht aber eine Garan- Ansichten und Zusammenschlüsse reduzieren lässt. tie auf eine bestimmte Erfolgsverwirklichung.“19 Der Staat ist an die sich aus der politischen Willensbil- Herleitung (partei-)politischer Neutralität dung der Bürger ergebende Wettbewerbslage gebun- den und darf in diese nicht lenkend eingreifen20. Der Zur Herleitung des Grundsatzes (partei-)politischer Grundsatz der Chancengleichheit ist in einer demo- Neutralität können sowohl faktische als auch rechtli- kratischen Gesellschaft unverzichtbar, um den Teil- che Argumente herangezogen werden. nehmern des politischen Wettbewerbs die Chance zu geben, sich in den politischen Meinungs- und Wil- lensbildungsprozess einbringen und aktiv daran teil- 15 BVerfGE 20, 56 (98). Damit verdeutlicht es, dass es für den Meinungs- und Willensbildungsprozess der Bürger nicht allein nehmen zu können. Staatliche Stellen dürfen nicht auf Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG ankommt. Dessen Bedeutung als eines der wichtigsten Rechtsgüter einer demokratischen Grundord- 18 Die genaue Verortung ist umstritten; in diesem Zusammen- nung wird damit aber nicht bestritten, zumal das Verfassungs- hang werden ferner zitiert Art. 38 Abs. 1, Art. 3 Abs. 1, Art. 20 gericht der Meinungsfreiheit ein „grundsätzliches Recht der Abs. 1, 2, Art. 28 Abs. 1 S. 2. S. Für eine umfassende Darstel- freien politischen Betätigung“ zur Bildung der öffentlichen lung des Rechts auf Chancengleichheit statt vieler A. Kißlinger, Meinung entnimmt: BVerfGE 5, 85 (134 f.); 20, 56 (98). Das Recht auf politische Chancengleichheit, Baden-Baden 16 S.o. Fn. 3. 1998, S. 17 ff.; BVerfGE 44, 125 (145 f.); 85, 264 (297); 111, 382 (398 f.) m.w.N. 17 Vgl. BVerfGE 1, 208 (223 ff.); 8, 51 (63); 20, 56 (113 ff.); 85, 19 264 (284 ff.); K. Hesse, VVDStRL 17 (1959), S. 11 ff.; D. A. Kißlinger, Das Recht auf politische Chancengleichheit, Ba- Grimm, Politische Parteien, in: HdbVerfR, 2. Aufl., Berlin den-Baden 1998, S. 14. 1994, § 14; G. Radbruch, Die politischen Parteien im System 20 A. Kißlinger, Das Recht auf politische Chancengleichheit, Ba- des deutschen Verfassungsrechts, in: Hdb des Deutschen den-Baden 1998, S. 14; s. auch R. Zippelius/T. Würtenberger, Staatsrechts, Bd. 1, 1930, § 25; G. Leibholz, DVBl. 1950, 194 ff. Deutsches Staatsrecht, München 2008, S. 99

103 Aufsätze Dişçi – Grundsatz (partei-)politischer Neutralität MIP 2016 21. Jhrg. durch negative Äußerungen parteiergreifend in den ist noch erwähnenswert, dass sich die politische Wil- politischen Meinungswettbewerb einwirken und da- lens- und Meinungsbildung in einem demokratischen mit das Recht auf chancengleiche Entfaltung der Staat vom Volk zu den Staatsorganen und nicht um- Wettbewerbsteilnehmer beeinträchtigen. Eine solche gekehrt von den Staatsorganen zum Volk hin vollzie- Intervention benachteiligt einen Beteiligten, während hen muss26, damit der Prozess der Meinungs- und die anderen eine bessere Chance zur Teilnahme und Willensbildung staatsfrei gewesen sein kann. Das ist Entfaltung im Meinungs- und Willensbildungspro- dann nicht der Fall, wenn der Willensbildungspro- zess haben. Die Wettbewerbssituation zwischen den zess von staatlicher Seite beeinflusst und determi- Beteiligten wird gestört. Als Ausprägung des Gleich- niert gewesen ist, so dass die Meinung bzw. letztlich heitssatzes reiht sich daher auch das Recht auf Chan- die Wahlentscheidung nicht das Ergebnis eines un- cengleichheit in die Linie der Freiheits- und Gleich- beeinflussten Prozesses gewesen ist. Der Grundsatz heitsverbürgungen ein, die die verfassungsrechtliche der Staatsfreiheit ist von daher offensichtlich mit Grundlage staatlicher Neutralität darstellen. Denn ih- dem Gebot (partei-) politischer Neutralität verknüpft, nen allen ist der Gedanke gemein, dass um der glei- denn nur ein neutraler Staat, also einer, der sich chen Chance der freien Entfaltung willen der Staat nicht mit einzelnen Wettbewerbsteilnehmern identi- nicht parteiergreifend handeln darf. fiziert und unparteiisch ist, kann dafür sorgen, dass der Prozess der Meinungs- und Willensbildung frei Eine weitere rechtliche Grundlage ist der Grundsatz von staatlicher Einwirkung bleibt und die Bürger des freien, offenen und unreglementierten Prozesses nicht beeinflusst werden in ihrer Urteilsfindung. der Meinungs- und Willensbildung des Volkes (auch: Staatsfreiheit), der vom Bundesverfassungsgericht zu Allerdings sollte stets von einer „grundsätzlichen Recht als Verfassungsgebot21 bezeichnet wird und un- Staatsfreiheit“ des Meinungs- und Willensbildungs- verzichtbar für die Bildung der öffentlichen Meinung prozesses gesprochen werden: Zum einen kann die ist. Auch dieser Grundsatz wird neben dem Recht Meinungs- und Willensbildung nie komplett frei von auf Chancengleichheit in den für die (partei-)politi- staatlicher Beeinflussung sein, weil nicht genau ab- sche Neutralität relevanten Entscheidungen als Maß- zusehen ist, inwiefern von staatlichem Handeln tat- stab herangezogen22. Abzuleiten ist die Staatsfreiheit sächlich Auswirkungen auf das Meinungsurteil der aus dem Wahlrechtsgrundsatz der Freiheit der Wahl Bürger ausgehen27. Zum anderen kann es verfas- und damit letztlich aus dem Demokratieprinzip sowie sungsrechtliche Gründe geben, die eine Durchbre- der freiheitlich demokratischen Grundordnung. Der chung dieses Grundsatzes zulassen (z.B. bei staatli- Wahlrechtsartikel des Grundgesetzes (Art. 38 Abs. 1 cher Öffentlichkeitsarbeit)28. S. 1 GG) verlangt mit dem Grundsatz der Freiheit der Wahl nicht nur, dass der Wahlakt frei von Zwang Reichweite und Druck bleibt23, sondern auch der vorhergehende Prozess der Meinungs- und Willensbildung24. Denn Bislang wurde festgestellt, dass der Staat inklusive die Entscheidungsfreiheit der Bürger ist erst dann aus- seiner Organe und Hoheitsträger als Adressaten an reichend gewährleistet, wenn die ihr vorgelagerte Wil- den Neutralitätsgrundsatz gebunden sind. Allerdings lensbildung auch staatsfrei bleibt. Für die Ausweitung gilt dies nicht uneingeschränkt, denn ein Hoheitsträ- der Anwendung des Grundsatzes der Staatsfreiheit auf den Meinungs- und Willensbildungsprozess ist zu- 26 BVerfGE 20, 56 (99); 44, 125 (140); dazu aus der Literatur dem in Anlehnung an das Bundesverfassungsgericht E. Bärmeier, Über die Legitimität staatlichen Handelns unter auf Art. 20 Abs. 2 GG abzustellen25. An dieser Stelle dem Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland, Frankfurt am Main 1992, S. 97 ff. 21 BVerfGE 20, 56 (100, 101, 111); „Der verfassungsrechtliche 27 Vgl. dazu BVerfGE 44, 124 (140 f.): „So sehr von dem Verhal- Grundsatz der Staatsfreiheit (…)“ heißt es in BVerfGE 85, ten der Staatsorgane Wirkungen auf die Meinungsbildung und 264 (287); E. Bärmeier, Über die Legitimität staatlichen Han- Willensbildung des Wählers ausgehen und dieses Verhalten delns unter dem Grundgesetz der Bundesrepublik Deutsch- selbst mit Gegenstand des Urteils des Wählers ist, so sehr ist land, Frankfurt am Main 1992, S. 87 ff. spricht ähnlich vom es den Staatsorganen in amtlicher Funktion verwehrt, durch „Verfassungsprinzip der Staatsfreiheit“. besondere Maßnahmen darüber hinaus auf die Willensbildung 22 BVerfGE 44, 125 ff.; 63, 230 ff.; BVerfG, Urteil vom 16.12.2014 des Volkes bei Wahlen einzuwirken, um dadurch Herrschafts- – 2 BvE 2/14 (Schwesig). macht in Staatsorganen zu erhalten oder zu verändern.“ 28 23 BVerfGE 7, 63 (69); 44, 125 (139); 47, 253 (282); 95, 335 (350). Vgl. BVerfGE 20, 56 (99 f.): Danach bedarf es verfassungs- rechtlich legitimierender Gründe für die Einschränkung des 24 BVerfGE 20, 56 (97 ff.); 44, 125 (139); 73, 40 (85); 103, 111 Grundsatzes der Staatsfreiheit; s. a. B. Daiber, Grenzen staat- (130); C. Hillgruber, Parteienfreiheit, in: Hdb der GR, Bd. V, licher Zuständigkeit, 2006, S. 301; E. Bärmeier, Über die Le- Heidelberg 2013, § 118 Rn. 7. gitimität staatlichen Handelns unter dem Grundgesetz der 25 BVerfGE 44, 125 (139); 73, 40 (85); 91, 262 (267). Bundesrepublik Deutschland, Frankfurt am Main 1992, S. 92.

104 MIP 2016 22. Jhrg. Dişçi – Grundsatz (partei-)politischer Neutralität Aufsätze ger hat mehrere Rollen bzw. Funktionen inne29. Zu kampf durch die Bundesregierung abgrenzen zu kön- unterscheiden ist hierbei zwischen der Privatperson, nen32. Diese, im Folgenden aufzuzeigenden Maßstä- dem Parteipolitiker und dem Amtsträger. Da nicht be – die nach wie vor gelten – können und sollten jede dieser Funktionen die Geltung und Anwendung auch bei der rechtlichen Bewertung der jüngst ge- staatlicher Neutralität auslöst, bedarf es bei der richtlich angegriffenen Äußerungen staatlicher Orga- rechtlichen Untersuchung von Aussagen stets einer ne angewandt werden. genauen Konkretisierung der jeweiligen Rolle, in der Erstens müsse sich das Handeln innerhalb des dem sie getätigt wurden. Allein beim Handeln in amtli- Organ zugewiesenen Aufgaben- und Zuständigkeits- cher Eigenschaft kann infolge der Grundrechtsbin- bereichs bewegen, um vor allem Eingriffe in die dung des Staates Neutralität gefordert werden, nicht Kompetenzbereiche anderer Stellen auszuschließen. jedoch bei Handlungen als Privatperson oder Partei- Es sei zwar nicht auszuschließen, dass sich regie- politiker, da diese grundrechtlich geschützt sind und rungsamtliche Öffentlichkeitsarbeit mit dem politi- nicht der staatlichen Grundrechtsbindung unterlie- schen Programm der sie tragenden Parteien decken gen. Nichtsdestotrotz ist eine genaue Unterscheidung können, dennoch müsse die Öffentlichkeitsarbeit den zwischen den Funktionen im Einzelfall nicht einfach Eindruck einer werbenden Einflussnahme zu Guns- bzw. immer möglich. Für die Bindung an das Neutra- ten einzelner politischer Parteien sowie herabsetzen- litätsgebot insbesondere relevant ist die Frage nach de und polemische Äußerungen über diese vermei- der Inanspruchnahme amtlicher Ressourcen und Au- den. Die besondere Bedeutung dieses Kriteriums torität, was bereits in der Grundsatzentscheidung aus lässt sich vor allem den jüngst ergangenen Urteilen dem Jahr 1977 herausgearbeitet wurde30. Sobald die zu den Äußerungen von Gauck und Schwesig ent- einem Amt zur Verfügung gestellten Ressourcen und nehmen, in denen grundlegende und detaillierte Aus- Möglichkeiten eingesetzt werden, ist das Handeln führungen zu den grundgesetzlich festgelegten Auf- dem Staat zuzurechnen und deshalb dem Grundsatz gabenbereichen des Bundespräsidenten und der Bun- staatlicher Neutralität unterworfen. Bei einer reinen desregierung erfolgen und in denen diese zwei Teilnahme am politischen Meinungskampf eines Staatsorgane gegenübergestellt werden. Amtsinhabers dürfen amtliche Autorität und Mittel nicht in Anspruch genommen werden31. Zweitens finde Öffentlichkeitsarbeit dort ihre Grenze, wo die Wahlwerbung beginne, wofür Indizien vor al- Maßstäbe zur Feststellung einer Neutralitätsver- lem die äußere Form, die Aufmachung und der infor- letzung mative Gehalt von Veröffentlichungen seien. Inhalt- lich dürfe es keine Werbung für eine politische Par- Wie bereits deutlich wurde, hängt die Verletzung des tei oder Herabsetzung der Oppositionsparteien ge- (partei-)politischen Neutralitätsgebots von mehr als ben. Bezogen auf die äußere Form und Aufmachung nur einem Aspekt ab. Das Bundesverfassungsgericht sei darauf zu achten, ob der informative Gehalt einer hat dies bereits in seiner grundlegenden Entschei- Anzeige hinter die reklamehafte Aufmachung zu- dung erkannt und dementsprechend Maßstäbe aufge- rücktrete oder Sympathiewerbung für Mitglieder der stellt, an denen Handlungen von Staatsorganen in Bundesregierung gemacht werde, was dann ein unzu- Form von Äußerungen und Publikationen zu messen lässiges Einwirken andeute. An dieser Stelle ist zu sind, um zulässige Öffentlichkeitsarbeit von unzuläs- beachten, dass diese Indizien nicht ohne Weiteres für siger, parteiergreifender Einwirkung auf den Wahl- mündliche Äußerungen staatlicher Organe (wie zum Beispiel des Bundespräsidenten oder der Bundesfa- 29 Vgl. bereits BVerfGE 44, 125 (141), das zwischen Wahl- milienministerin) fruchtbar gemacht werden können; kampfteilnahme im Amte und außerhalb amtlicher Funktion insbesondere die äußere Form und die Aufmachung unterscheidet; dies wiederholt BVerfGE 63, 230 (243). Aus- führungen auch in BVerfG, Urteil v. 16.12.2014 – 2 BvE sind für mündliche Äußerungen weniger von Rele- 2/14, juris Rn. 50 ff. vanz. Diese Kriterien wurden durch das Bundesver- 30 BVerfGE 44, 125 (141): „Es ist ihnen von Verfassungs wegen fassungsgericht für jeweils streitgegenständliche versagt, sich als Staatsorgane im Hinblick auf Wahlen mit politi- (schriftliche) Publikationen in Zeitungen und Zeit- schen Parteien oder Wahlbewerbern zu identifizieren und sie un- schriften entwickelt. Demgegenüber sind bei mündli- ter Einsatz staatlicher Mittel zu unterstützen oder zu bekämpfen, chen Äußerungen andere Indizien aussagekräftig, insbesondere durch Werbung die Entscheidung des Wählers zu beeinflussen.“ Aus der Literatur J. Oebbecke, NVwZ 2007, 30 etwa der örtliche Rahmen, der Kontext, der Tonfall (31 f.); C. Gusy, NVwZ 2015, 700 (702 f.); T. Barczak, NVwZ sowie die Art und Weise der Formulierung. 2015, 1014 (1015 f.); für detaillierte Ausführungen insbes. S. Studenroth, AöR 125 (2000), 257 (272 ff.). 31 BVerfG, Urteil v. 16.12.2014 – 2 BvE 2/14, juris Rn. 53. 32 BVerfGE 44, 125 (148 ff.).

105 Aufsätze Dişçi – Grundsatz (partei-)politischer Neutralität MIP 2016 21. Jhrg.

Drittens sei der zeitliche Aspekt zu berücksichtigen, habe. Problematisch erscheint an dieser Entschei- wonach mögliche Anzeichen für das Vorliegen unzu- dung, dass, obwohl die Bezeichnung als Spinner eine lässiger Wahlwerbung die zeitliche Nähe zu einer herabsetzende Äußerung darstellt, das Gericht diese bevorstehenden Wahl33 und die Intensität des Wahl- als verfassungsgemäß ansah. Dies geschieht vor allem kampfes sein können. Dieses Kriterium dient dazu, mit Verweis auf seinen Wunsiedel-Beschluss und der unmittelbar vor Wahlen Beeinflussungen der Bürger- Feststellung, dass der Bundespräsident zu bürger- schaft durch staatliche Stellen zu vermeiden, damit schaftlichem Engagement gegenüber politischen An- die Wahlentscheidung sowie der ihr vorgelagerte schauungen, die seiner Meinung nach eine Gefähr- Prozess der Meinungs- und Willensbildung staatsfrei dung der freiheitlich demokratischen Grundordnung bleiben können. In dieser Phase unterliegen Staatsor- darstellen, aufrufen dürfe34. Dass es sich dabei um gane strengeren Einschränkungen, so dass „das Ge- ein negatives Werturteil handelt, das nicht haupt- bot äußerster Zurückhaltung“ zu wahren sei, welches sächlich der sachlichen Auseinandersetzung dient, erhöhte Aktivitäten ausschließen soll. Je näher also erkannte das Bundesverfassungsgericht zwar an35, je- die Veröffentlichungen in die heiße Phase des Wahl- doch wurde daraus nicht die erforderliche Konse- kampfes fallen, desto weniger können ihre Auswir- quenz gezogen, nämlich die Beeinträchtigung der kungen auf das Wahlergebnis ausgeschlossen wer- Gleichheit der Wettbewerbschancen der betroffenen den. Dabei trete die Regierungskompetenz, die Bür- politischen Partei. Gerade bei mündlichen Äußerun- gerschaft zu informieren, hinter das Gebot zurück, gen ist die rechtliche Bewertung mehr denn je auf die Willensbildung des Volkes von staatlicher Ein- zusätzliche Kriterien angewiesen. Vor allem sollte flussnahme freizuhalten. dabei berücksichtigt werden, dass die Ausgangslage zwischen einer schriftlichen Publikation und einer Zusammengefasst sind mündliche Äußerungen und Fragerunde an einer Schule unterschiedlich ist. So- Veröffentlichungen danach jedenfalls stets an folgen- wohl die Tatsache, dass die Frage gestellt wird, wie den Kriterien zu messen: Aufgaben- und Zuständig- der Bundespräsident zum Verbot der NPD stehe, als keitsbereich, Inhalt, äußere Form und Aufmachung, auch die Tatsache, dass dieser sich dazu äußert, sind Wahlkampfphase bzw. Vorwahlzeit. nicht überraschend oder zu beanstanden. Insbesondere Bewertung der aktuellen Entscheidungen als Staatsoberhaupt ist er dazu aufgerufen, zu allge- meinpolitischen Themen Stellung zu beziehen. Aller- Die rechtliche Bewertung der den jüngeren Entschei- dings muss er dabei den Grundsatz parteipolitischer dungen zugrundeliegenden Sachverhalte und Äuße- Neutralität wahren, den er jedoch durch die Äuße- rungen kann nicht ohne Heranziehung der oben ge- rung, die er im Amte als Bundespräsident tätigte, nannten Kriterien erfolgen und ohne Feststellung ei- verletzt. Interessant ist und bleibt die Frage, ob das ner Rechtsverletzung. Politische Neutralität als Ge- Bundesverfassungsgericht bei einer solchen Äuße- bot und Grundsatz, der staatliches Handeln näher be- rung die gleiche Entscheidung getroffen hätte, wäre schreibt und damit einen Handlungsmaßstab dar- diese nicht gegenüber einer dem rechten Spektrum stellt, kann nur verletzt werden, wenn die hinter die- zugehörigen politischen Partei abgegeben worden. ser Figur stehenden Rechte durch dem Staat zuzu- Das Bundesverfassungsgericht verneint in seiner rechnendes Handeln beeinträchtigt werden. Denn Schwesig-Entscheidung die Verletzung der NPD in Neutralität entfaltet erst durch die Anknüpfung an ihrem Recht auf Chancengleichheit durch die Aussa- Normen und Rechte ihre Wirkung. Demnach kommt ge der Bundesfamilienministerin in einem Interview, es neben den genannten Kriterien auf eine Rechts- der Einzug der NPD in den Thüringer Landtag müsse verletzung sowie die Zurechnung einer Handlung verhindert werden und sie werde alles dafür tun. Die zum Staat an, die anhand der Zuordnung zu den oben Ministerin habe das Interview nicht in Wahrneh- dargelegten Rollen erfolgt. mung ihres Amtes geführt, so dass bereits die Bin- In der Gauck-Entscheidung wird die Äußerung des dung an das Neutralitätsgebot zu verneinen sei. Hier- Bundespräsidenten, Mitglieder und Aktivisten der bei ließ das Gericht zu Recht die Verfassungswidrig- NPD seien Spinner, Ideologen und Fanatiker, durch keit der Äußerungen an der fehlenden Zurechenbar- das Bundesverfassungsgericht als zulässig angese- keit zum Staat scheitern36. Ein Eingriff in den laufen- hen, da der Bundespräsident sich im Rahmen seiner Repräsentations- und Integrationsfunktion gehalten 34 BVerfGE 136, 323 (337 f.). und nicht willkürlich gegen die NPD Partei ergriffen 35 BVerfGE 136, 323 (337). 33 Die Vorwahlzeit soll an dem Tag anfangen, an dem der Bun- 36 BVerfG, Urteil vom 16.12.2014 – 2 BvE 2/14, juris Rn. 69 ff.; despräsident den Wahltag gemäß § 16 BWahlG festlegt. s. auch H. Mandelartz, DÖV 2015, 326 (328 f.).

106 MIP 2016 22. Jhrg. Dişçi – Grundsatz (partei-)politischer Neutralität Aufsätze den Wahlkampf war nämlich schon zu verzeichnen37. Judikatur des nordrhein-westfälischen Oberverwal- Für die Annahme einer privaten Äußerung spricht, tungsgerichts im einstweiligen Rechtsschutz, die sich dass sie amtliche Ressourcen nicht in Anspruch durch eine kurze Entscheidung ohne wirkliche Be- nahm und der Inhalt ihrer Aussagen nicht speziell gründung zu Gunsten des Oberbürgermeisters hervor- Regierungsarbeit betraf. Der Gesamtkontext deutet tut39. Vor allem warf das Gericht zwar ein, dass es um vor allem darauf hin, dass die Ministerin auf Grund- die „neue“ Frage der Geltung des für Amtswalter gel- lage ihrer persönlichen Erfahrungen und als Partei- tenden Neutralitätsgebots in politischen Auseinander- mitglied antwortete, auch wenn das Interview im An- setzungen außerhalb von Wahlkampfzeiten und ohne schluss an eine Sommertagung stattfand, an der sie Beteiligung politischer Parteien ging, allerdings stellte in amtlicher Eigenschaft teilnahm. es danach lediglich fest, dass diese Frage bislang in der Rechtsprechung nicht hinreichend geklärt worden Die nordrhein-westfälische Verwaltungsgerichtsbar- sei. Hier durfte erwartet werden, dass sich das Gericht keit hat sich vergangenes Jahr mit der Rechtsstreitig- mit dieser Frage auseinandersetzt, damit es eine nach- keit zwischen der Dügida-Bewegung und dem Düs- vollziehbare Entscheidung hervorbringt; zumal gerade seldorfer Oberbürgermeister beschäftigt, bei der es um diese Rechtsprechung den Anlass für die Ausweitung die Zulässigkeit eines Beleuchtungsboykotts und eines der Neutralität in politischen Angelegenheiten bietet. Aufrufs zu einer Gegendemonstration gegen eine ge- plante Dügida-Versammlung ging (s. oben). Das Ver- Fazit waltungsgericht hat im einstweiligen Rechtsschutz eine Verletzung des Neutralitätsgebots aufgrund eines Unzweifelhaft kann man von Neutralität – sei es in Eingriffes in den öffentlichen Diskurs angenommen, religiös-weltanschaulichen Fragen oder im politi- während es im Hauptsacheverfahren das Klagebegeh- schen Bereich – als Gebot und Grundsatz sprechen, ren der Dügida am fehlenden Feststellungsinteresse, der staatliches Handeln näher beschreibt und damit insbesondere an einer fehlenden Wiederholungsge- einen Handlungsmaßstab darstellt. Eine solche Be- fahr, scheitern ließ, obgleich es die streitigen Maßnah- zeichnung wird dem generellen Charakter dieser Fi- men für unzulässig ansah38. Vor dem Hintergrund, gur, welche umfassend zu verstehen ist und mehrere dass der Oberbürgermeister die städtische Internetsei- Aspekte in sich vereint, gerecht. Führt man sich die te für sein Anliegen nutzte, kann die Amtsqualität und Tatsache vor Augen, dass Neutralität in jedem Be- damit die Anwendbarkeit des Neutralitätgrundsatzes reich, in dem sie von Relevanz ist, mangels aus- bejaht werden. In diesem Fall wird dieser nicht auf die drücklicher Normierung an gesetzliche Vorschriften Chancengleichheit politischer Parteien gestützt, man- angeknüpft wird40, so dürfte es nahe liegen, „Neutra- gels Parteieigenschaft der Antragstellerin, sondern auf lität“ als Sammelbegriff41 zu verstehen. Erst durch die Meinungs- und Versammlungsfreiheit. Von diesen eine Anknüpfung an Normen und damit einherge- Freiheiten macht die Dügida-Gruppierung durch die hend durch eine Konkretisierung entfaltet Neutralität Abhaltung ihrer regelmäßigen Versammlungen Ge- ihre Wirkung und kann als Argumentationsfigur her- brauch. Durch den Aufruf zu einer Gegendemonstrati- angezogen werden. Allein dem Begriff der Neutrali- on von staatlicher Seite wird Einfluss auf die öffentli- tät kann außer der Aussage, dass im Wesentlichen che Meinung zu Lasten der angemeldeten Hauptver- Unparteilichkeit und Nicht-Identifizierung mit ein- sammlung ausgeübt. Allerdings muss berücksichtigt zelnen Gehalten gemeint ist, ein autonomer Inhalt werden, dass dem Handeln des Oberbürgermeisters le- nämlich nicht entnommen werden. diglich faktische Wirkung mit Eingriffsqualität zukam und kein unmittelbarer Eingriff gegeben war; die Ver- sammlung konnte durchgeführt werden. Der Sache 39 S.o. Fn. 3. nach kann hier eine Verletzung des Neutralitätsgrund- 40 Beispielsweise für weltanschaulich-religiöse Neutralität (aus satzes angenommen werden, es sprechen aber auch BVerfGE 19, 206 (216)): Art. 4 Abs. 1, Art. 3 Abs. 3, Art. 33 gute Gründe dafür, aufgrund der lediglich mittelbaren Abs. 3 GG sowie Art. 136 Abs. 1 und 4 und Art. 137 Abs. 1 und nicht sehr schwerwiegenden Beeinträchtigung der WRV in Verbindung mit Art. 140 GG; für arbeitsrechtliche Grundrechte, noch von einer Wahrung des Neutrali- Neutralität: Art. 9 Ab. 3 GG. 41 tätsgrundsatzes auszugehen. Diese Abwägung ist urei- Vgl. für den Bereich der weltanschaulich-religiösen Neutrali- tät M. Morlok, Neutralität des Staates und religiöser Radika- gene Aufgabe der Rechtsprechung. Besonders proble- lismus, in: J. Masing/O. Jouanjan (Hrsg.), Weltanschauliche matisch erscheint deshalb in dieser Rechtssache die Neutralität, Meinungsfreiheit, Sicherungsverwahrung, Tübin- gen 2013, S. 13 f. m.w.N. sowie umfassender K. Schlaich, Neutralität als verfassungsrechtliches Prinzip, 1972, S. 12 ff., 37 BVerfG, Urteil vom 16.12.2014 – 2 BvE 2/14, juris Rn. 65 f. 218 ff.; C. Jasper, Religiös und politisch gebundene öffentli- 38 S.o. Fn. 3. che Ämter, 2015, S. 209 ff.

107 Aufsätze Merten – Das Bundesverfassungsgericht und die Politikfinanzierung [...] MIP 2016 22. Jhrg.

Das Bundesverfassungsgericht und die Poli- res 2012 an die Fraktionen des Bundestages in Höhe tikfinanzierung: Zu den Zulässigkeitsvoraus- von 80,835 Mio. €, an die Bundestagsabgeordneten setzungen eines Organstreitverfahrens für die Beschäftigung von Mitarbeitern in Höhe von 151,823 Mio. € sowie an die parteinahen Stiftungen 3 1 in Höhe von 97,958 Mio. € . Daneben rügt sie das Dr. Heike Merten Fehlen eines Bewilligungs- und Kontrollverfahrens, das einen möglichen Missbrauch der staatlichen Zu- schüsse durch die Mittelempfänger verhindern soll. I. Einleitung Hierdurch sieht sie den Grundsatz der Chancen- Mit einstimmigem Beschluss hat der Zweite Senat gleichheit im Parteienwettbewerb zum Nachteil der des Bundesverfassungsgerichts am 15. Juli 2015 eine nicht im Deutschen Bundestag vertretenen Parteien am 12. Juni 2012 eingereichte Organklage der Öko- (Art. 21 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 3 Abs. 1 logisch-Demokratischen Partei (ÖDP) gegen den GG) verletzt4. Deutschen Bundestag nach dreijähriger Verfahrens- dauer als unzulässig gemäß § 24 BVerfGG verwor- III. Wesentliche Erwägungen des Senats fen2. Die ÖDP hält die Mittelzuweisung an Fraktio- Nach der Entscheidung des zweiten Senats des Bun- nen und politische Stiftungen sowie für Abgeordne- desverfassungsgerichts sind die Anträge im Organ- tenmitarbeiter im Haushalt 2012 für eine verdeckte streitverfahren bereits unzulässig5. Finanzierung der im Bundestag vertretenen Parteien und sieht sich in ihrem Recht auf Chancengleichheit 1. Das Organstreitverfahren ist keine objektive Bean- im politischen Wettbewerb verletzt. standungsklage, sondern setzt eine rechtserhebliche Maßnahme oder Unterlassung des Bundestages als Soweit sich die ÖDP gegen die Zuweisung von staat- Antragsgegner voraus, die geeignet ist, die Rechts- lichen Mitteln aufgrund von seit Jahren unveränder- stellung der ÖDP als Antragstellerin zu beeinträchti- ten Rechtsgrundlagen richtet, sie also geltend macht, gen. Die ÖDP kann sich als politische Partei auf das durch den Erlass der Norm in ihren Rechten verletzt Recht auf Chancengleichheit im politischen Wettbe- zu sein, sind die Anträge gemäß § 64 Abs. 3 werb gemäß Art. 21 Abs. 1 GG in Verbindung mit BVerfGG verfristet. Daran besteht auch kein Zwei- Art. 3 Abs. 1 GG berufen. Dieses Recht ist ein unab- fel. Diese Frist soll im Organstreitverfahren angreif- dingbares Element des vom Grundgesetz gewollten bare Rechtsverletzungen nach einer bestimmten Zeit freien und offenen Prozesses der Meinungs- und im Interesse der Rechtssicherheit außer Streit stellen. Willensbildung des Volkes. Es steht in engem Zu- Aber im Übrigen reicht nach Ansicht des Bundesver- sammenhang mit den Grundsätzen der Allgemeinheit fassungsgerichts der Vortrag der ÖDP nicht aus, um und Gleichheit der Wahl (Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG); die Antragbefugnis bejahen zu können. Zwar könne daher ist es streng formal zu verstehen und zieht dem das Recht auf Chancengleichheit, und damit ein der Ermessen des Gesetzgebers besonders enge Grenzen. ÖDP grundsätzlich zustehendes Recht aus dem Der Staat darf vor allem die vorgefundene Wettbe- Grundgesetz, durch die Zuweisung staatlicher Fi- werbslage nicht verfälschen6. nanzmittel grundsätzlich betroffen sein. Werden die Finanzmittel jedoch – wie hier – nicht an die Partei- „Das Recht der politischen Parteien auf Chancen- en, sondern an Dritte gezahlt, hätte dargelegt werden gleichheit kann durch die Zuweisung staatlicher Fi- müssen, dass der Bundestag als Haushaltsgesetzge- nanzmittel betroffen sein: Erfolgt die Zuweisung öf- ber bereits durch die Bewilligung einer missbräuchli- fentlicher Mittel unmittelbar an Parteien, wirkt sich chen Verwendung der Mittel Vorschub geleistet hat. dies in jedem Fall auf ihre Möglichkeit zur Teilnah- Dies ist zu hinterfragen. me am politischen Wettbewerb aus. […..] Erfolgt die Zuweisung hingegen an Dritte, kann davon – auch II. Zum Sachverhalt wenn der Verwendungszweck politische Bezüge auf- weist – nicht ohne weiteres ausgegangen werden. Antragstellerin im Organstreitverfahren ist die 1981 […] In diesen Fällen hat die Antragstellerin im Or- gegründete ÖDP. Sie wendet sich gegen die Zuwei- sung von Finanzmitteln im Bundeshaushalt des Jah- 3 Bundeshaushaltsgesetz vom 22.12.2011, BGBl. I S. 2938, zu- letzt geändert durch Gesetz vom 14.12.2012, BGBl. I S. 2580. 1 Die Autorin ist Geschäftsführerin und wissenschaftliche Mit- 4 arbeiterin des PRuF. BVerfG, Beschluss vom 15.07.2015 – 2 BvE 4/12, juris Rn. 17. 5 2 NVwZ 2015, 1361 ff., mit Anmerkung von Ch. Lenz; DVBl. BVerfG, Beschluss vom 15.07.2015 – 2 BvE 4/12, juris Rn. 56 ff. 2015, 1523 ff., mit Anmerkung von H. H. von Arnim. 6 BVerfG, Beschluss vom 15.07.2015 – 2 BvE 4/12, juris Rn. 63.

108 MIP 2016 22. Jhrg. Merten – Das Bundesverfassungsgericht und die Politikfinanzierung [...] Aufsätze ganstreit darzulegen, dass die Zuweisung der staatli- Parteienfinanzierung verwendet wurden. Die ÖDP chen Mittel zu einem Eingriff in ihr Recht auf Chan- beruft sich auf eine Umkehr der Darlegungslast, weil cengleichheit führt.“7 die Betroffenen insoweit „in eigener Sache“ ent- schieden; dies begründe die Vermutung der Unrich- Werden durch den Haushaltsgesetzgeber zugewiesene tigkeit der Entscheidungen und indiziere die Gefahr Mittel nicht bestimmungsgemäß verwendet, ist zwi- des Missbrauchs. Diese Argumentation bezieht sich schen der Bewilligung der Mittel und der Verwen- auf die Rechtsprechung des Senats zur Wahlgesetz- dung durch den Zuwendungsempfänger zu unterschei- gebung, aus der sich jedoch keine Folgerungen für den. Nicht jede zweckwidrige Verwendung staatli- die Darlegungslast in diesem Verfahren herleiten lie- cher Zuschüsse führt dazu, dass der Haushaltsgesetz- ßen9. Zudem vernachlässige diese Sichtweise, dass geber bereits durch die Bewilligung dieser Mittel das nicht der Bundestag, sondern die Fraktionen in eige- Recht der politischen Parteien auf Chancengleichheit ner Verantwortung über die Verwendung der Mittel verletzt hat. Vielmehr muss sie dem Haushaltsge- entscheiden. setzgeber zugerechnet werden können. Davon ist auszugehen, wenn Mittel in einem überhöhten Um- Jedenfalls habe die ÖDP nicht dargelegt, dass der fang zur Verfügung gestellt oder unzureichende Vor- Bundestag einer missbräuchlichen Verwendung der kehrungen zur Verhinderung einer zweckwidrigen Fraktionsmittel durch ungenügende Voraussicht und Verwendung dieser Mittel getroffen werden. Kontrolle den Weg geebnet habe. Mit Blick auf die gesetzlichen Vorschriften im Abgeordneten- und 2. Diesen Anforderungen wird nach Auffassung des Parteiengesetz liege ein erhebliches Kontroll- oder BVerfG der Vortrag der ÖDP nicht gerecht. strukturelles Vollzugsdefizit nicht auf der Hand10. a) In Bezug auf die Bewilligung von 80,835 Mio. € im Der Rechnungshof prüfe zwar – wegen der verfas- Haushaltsgesetz 2012 für die Fraktionen des Bundesta- sungsrechtlich gewährleisteten Autonomie der Frak- ges habe die ÖDP eine Verletzung ihres Rechts auf tionen – nicht, ob eine Maßnahme politisch erforder- Chancengleichheit nicht hinreichend dargelegt. lich ist. Er sei jedoch nicht daran gehindert zu prü- Dem Vortrag der ÖDP könne nicht entnommen wer- fen, ob die strikte Zweckbindung der Fraktionsmittel den, dass die Bewilligung der Fraktionszuschüsse in und das Verbot ihrer Verwendung für Parteiaufga- so übermäßiger Höhe erfolge, dass einer verfas- ben eingehalten werden. sungswidrigen Parteienfinanzierung dadurch Beihil- b) Soweit die ÖDP sich gegen die Ausweisung eines fe geleistet würde8. Soweit darauf verwiesen wird, Betrages von 151,823 Mio. € für persönliche Mitar- diese hätten sich seit den 1960er Jahren nominal ver- beiter von Bundestagsabgeordneten im Bundeshaus- fünfzigfacht und real verachtfacht, könne hieraus für halt 2012 wendet, hat sie laut BVerfG eine Verlet- sich genommen eine überhöhte Festsetzung der Frak- zung ihres Rechts auf Chancengleichheit ebenfalls tionszuschüsse im Bundeshaushalt 2012 nicht abge- nicht hinreichend dargelegt11. leitet werden. Das Gericht verlangt vielmehr eine § 12 Abs. 3 Satz 1 AbgG begründe zwar lediglich Gegenüberstellung des für die Erfüllung der Frakti- einen Anspruch auf Ersatz des mandatsbedingten onsaufgaben benötigten Finanzbedarfs mit der Höhe Aufwandes. Die hiervon losgelöste Wahrnehmung der tatsächlich festgesetzten Fraktionszuschüsse, die von Partei- oder Wahlkampfaufgaben durch einen nicht geliefert wurde. Nichts anderes ergibt sich laut Abgeordnetenmitarbeiter sei nicht ersatzfähig. Inso- Urteil des BVerfG, soweit die ÖDP stattdessen auf weit habe die ÖDP aber nicht dargelegt, dass dem die Ausgaben der Bundestagsfraktionen im Bereich Bundestag eine etwaige missbräuchliche Mittelver- der Öffentlichkeitsarbeit, deren Anstieg um 62 % im wendung in einer Weise zugerechnet werden kann, Jahr 2007 und den insoweit – relativ wie absolut – die es rechtfertigt, bereits die Bewilligung dieser höheren Aufwand der kleineren Fraktionen im Ver- Mittel im Bundeshaushalt 2012 als Eingriff in ihr gleich zu den beiden großen Fraktionen verweist. Recht auf gleichberechtigte Teilnahme am politi- Nach dem Vortrag der ÖDP könne auch nicht davon schen Wettbewerb anzusehen. ausgegangen werden, dass die im Bundeshaushalt Soweit die ÖDP auf die Steigerung der Anzahl der 2012 für die Fraktionen des Bundestages zur Verfü- Abgeordnetenmitarbeiter insgesamt und insbesonde- gung gestellten Mittel in relevantem Umfang miss- re in den Wahlkreisen sowie auf die Steigerungsra- bräuchlich zum Zweck einer verfassungswidrigen 9 BVerfG, Beschluss vom 15.07.2015 – 2 BvE 4/12, juris Rn. 82. 7 BVerfG, Beschluss vom 15.07.2015 – 2 BvE 4/12, juris Rn. 64-66. 10 BVerfG, Beschluss vom 15.07.2015 – 2 BvE 4/12, juris Rn. 86. 8 BVerfG, Beschluss vom 15.07.2015 – 2 BvE 4/12, juris Rn. 77. 11 BVerfG, Beschluss vom 15.07.2015 – 2 BvE 4/12, juris Rn. 89.

109 Aufsätze Merten – Das Bundesverfassungsgericht und die Politikfinanzierung [...] MIP 2016 22. Jhrg. ten und die Höhe der im Bundeshaushalt 2012 zur IV. Eigene Erwägungen Verfügung gestellten Mittel verweise, ließe sich dar- aus nicht entnehmen, dass die Zahl der Abgeordne- Nach einer Verfahrensdauer von drei Jahren hat das tenmitarbeiter und die Höhe der Mittel einen Um- Bundesverfassungsgericht das gegen die Bewilligung fang erreicht haben, der das erforderliche Maß zur von Haushaltsmitteln an Fraktionen, Abgeordneten- Unterstützung bei der Erledigung der parlamentari- mitarbeiter und parteinahe Stiftungen gerichtete Or- schen Aufgaben übersteige. ganstreitverfahren für unzulässig erklärt. Ob die ÖDP in sonstiger Weise eine missbräuchliche Das Bundesverfassungsgericht hat der ÖDP die An- Verwendung der im Bundeshaushalt 2012 für Abge- tragsbefugnis gemäß § 64 Abs. 1 BVerfGG abge- ordnetenmitarbeiter bereitgestellten Mittel hinrei- sprochen. Dies gibt Anlass sich der Anforderungen chend dargelegt hat, bezeichnet das Gericht als frag- an die Antragsbefugnis im Organstreitverfahren er- lich. Soweit sie sich auf eine Umkehr der Darle- neut zu vergewissern. gungslast beruft, da es sich bei der Bewilligung von Der Antragsteller muss nach § 64 I BVerfGG gel- Haushaltsmitteln für Abgeordnetenmitarbeiter um tend machen, dass er durch die Maßnahme oder Un- eine „Entscheidung in eigener Sache“ handele, ver- terlassung in seinen ihm vom Grundgesetz übertrage- weist das Gericht auf die Ausführungen zu den Frak- nen, also eigenen Rechten und Pflichten verletzt oder tionsmitteln. unmittelbar gefährdet ist. Nach gerichtlicher Um- Jedenfalls habe die ÖDP nicht dargelegt, dass der schreibung muss der Antragsteller die Verletzung Bundestag einer derartigen missbräuchlichen Ver- oder Gefährdung behaupten oder behaupten können, wendung dieser Haushaltsmittel durch unzureichen- d.h. sie muss, wie bei der Klagebefugnis nach § 42 II de Voraussicht und Kontrolle Vorschub geleistet hat. VwGO, möglich oder nicht „von vornherein ausge- 12 Vor dem Hintergrund der bestehenden gesetzlichen schlossen“ und zwischen den Beteiligten in Streit 13 Vorschriften hätte sie darlegen müssen, inwieweit sein. Für die Antragsbefugnis ist eine schlüssige gleichwohl ein Kontrolldefizit auf Seiten des An- Behauptung des Antragstellers notwendig, dass die tragsgegners besteht. Verletzung oder unmittelbare Gefährdung einer ver- fassungsrechtlichen Position gegeben ist14. Schlüssig c) Auch im Hinblick auf die Globalzuschüsse an ist die Behauptung, wenn die Rechtsverletzung nach politische Stiftungen – im Haushaltsjahr 2012 in Höhe dem vorgetragenen Sachverhalt möglich erscheint15. von 97,958 Mio. € – ließe der Vortrag der ÖDP die Möglichkeit einer Verletzung ihres Rechts auf Chan- Im Detail muss das Recht, auf dessen Verletzung cengleichheit nicht erkennen. Das Bundesverfas- oder Gefährdung sich der Antragsteller beruft, zum sungsgericht hat die Frage, ob die Bewilligung von generell zulässigen Prüfungsumfang des Organstreit- Globalzuschüssen für die parteinahen Stiftungen das verfahrens gehören und im konkreten Fall dem An- Recht auf Chancengleichheit aus Art. 21 Abs. 1 GG tragsteller zu eigenem Recht zustehen. Die organ- verletzt, bereits im Jahr 1986 verneint (vgl. BVerfGE schaftliche Rechtsposition muss auf Verfassungs- 73, 1). Aus dem Vorbringen der Antragstellerin er- recht beruhen und ist zu ermitteln. Die Berufung auf schließe sich nicht, warum eine hiervon abweichen- objektives Verfassungsrecht reicht nicht aus. Der Or- 16 de Beurteilung geboten sein soll. ganstreit ist keine objektive Beanstandungsklage . Mit Rechten sind allein diejenigen gemeint, die dem d) Für unzulässig erachtete das BVerfG auch den Antragsteller zur ausschließlich eigenen Wahrneh- Antrag, der bei sachgerechter Auslegung darauf ab- mung oder zur Mitwirkung übertragen sind oder de- zielt, dem Bundestag die Einrichtung eines bestimm- ren Beachtung erforderlich sind, um die Wahrneh- ten Bewilligungs- und Kontrollverfahrens vorzu- mung seiner Kompetenzen zu gewährleisten. Es muss schreiben, das einen möglichen Missbrauch der staat- lichen Zuschüsse durch die Mittelempfänger verhin- 12 BVerfGE 94, 351 (362 f.); 99, 19 (28); 104, 14 (19); 104, 310 dern soll. Die Unzulässigkeit dieses Antrags folge (325); 108, 251 (271 f.); 118, 277 (317); 134, 141 (194). bereits daraus, dass die ÖDP die derzeitige Bewilli- 13 Bethge, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/ Bethge (Hrsg.), gungs- und Kontrollpraxis, die sich in ihrer heutigen BVerfGG Kommentar, 47. EL August 2015, § 64 Rn. 59 ff.; Form spätestens in den 1990er Jahren herausgebildet Schlaich/Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, 10. Auflage hat, jahrelang hingenommen und damit die sechsmo- 2015, Rn. 94 f. natige Antragsfrist des § 64 Abs. 3 BVerfGG hat 14 BVerfGE 102, 224 (231 f.). verstreichen lassen. 15 BVerfGE 93, 195 (203); 102, 224 (232); 117, 359 (366). 16 BVerfGE 73, 1 (29); 80, 188 (212); 104, 151 (194); 126, 55 (68); Pietzcker, in: FS 50 Jahre BVerfG I, 2001, S. 603.

110 MIP 2016 22. Jhrg. Merten – Das Bundesverfassungsgericht und die Politikfinanzierung [...] Aufsätze eine eigne Rechtsposition des Antragstellers in Rede Hier stellt sich, bei Berücksichtigung des oben Dar- stehen17. Eigene Rechte des Parlamentes stehen nach gestellten, die Frage, ob die Anforderungen an die der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes Zulässigkeit damit nicht zu weitgehend sind und nicht in Frage, wenn die Missachtung grundrechtli- nicht vielmehr eine Gefährdung des verfassungs- cher Gesetzesvorbehalte (Parlamentsvorbehalt, Wesent- rechtlich geschützten Rechtes der Chancengleich- lichkeitstheorie) durch die Exekutive gerügt wird18. heit, entsprechend der selbst entwickelten Maßstäbe, für die Zulässigkeit des Organstreitverfahrens hätte Die Geltendmachung der potentiellen Verletzung oder genügen müssen. der unmittelbaren Gefährdung von Rechten ist für die Zulässigkeit existenziell. Geltendmachung bedeutet In der Tat, ein bloßes „Behaupten“ einer Rechtsver- dabei einen plausiblen bzw. vertretbaren Vortrag der letzung reicht nicht, es müssen vielmehr Tatsachen Möglichkeit der Rechtsbeeinträchtigung. Die Mög- mitgeteilt werden, die eine Rechtsverletzung mög- lichkeit, also das nicht außerhalb des wahrscheinli- lich erscheinen lassen. Dass der Vortrag der ÖDP chen Stehende, bezieht sich nur auf die Rechtsbeein- diesen Anforderungen nicht genügt, ergibt sich je- trächtigung (Verletzung oder Gefährdung). Verlet- doch so nicht aus der Beschlussbegründung des Bun- zung bedeutet die akute oder existente Beeinträchti- desverfassungsgerichts. Vielmehr lassen die Ausfüh- gung der Rechte des Antragstellers. Gefährdung be- rungen erkennen, dass statt der bloßen Möglichkeit deutet das Bevorstehen einer Rechtsverletzung. Mit die Frage einer tatsächlich eingetretenen Rechtsver- der Gefährdung wird ein Element vorverlagerten letzung geprüft wurde. Das Bundesverfassungsge- Rechtsschutzes verwirklicht19. Die tatsächliche Be- richt überstrapaziert damit die von ihm selbst entwi- einträchtigung des rügefähigen Rechts ist auf alle ckelten Anforderungen an die Darlegungslast eines Fälle eine Frage der Begründetheit der Organklage20. Antragstellers im Organstreitverfahren. Diese Anforderungen an die Antragsbefugnis im Or- Im Detail werden Voraussetzungen und Grenzen des ganstreitverfahren hat das Bundesverfassungsgericht Rechts auf politische Chancengleichheit herausgear- in zahlreichen Entscheidungen klar umrissen und beitet und als zumindest möglicherweise betroffenes Maßstäbe entwickelt. Auf diese Maßstäbe verweist Recht der ÖDP, sowohl bezogen auf die Fraktions-, die hier in Rede stehende Politikfinanzierungsent- die Stiftungs- als auch die Abgeordnetenmitarbeiter- scheidung konsequenterweise gleich zu Beginn sei- finanzierung anerkannt. Die ÖDP scheitert vor dem ner Erwägungen21. Das Gericht sieht im zu prüfen- Bundesverfassungsgericht also nicht, weil ihr grund- den Fall diese Maßstäbe durch die gestellten Anträge sätzlich kein verteidigungsfähiges Recht zustünde. als nicht erfüllt an. Lediglich den seitens des Bundesverfassungsgerichts nunmehr verschärften Anforderungen an die Darle- Die Mittelbewilligungen durch den Haushaltsgesetz- gungslast bezüglich eines tatsächlich vorliegenden geber seien zwar grundsätzlich geeignet das Recht Eingriffs24 in dieses Recht konnte die ÖDP nicht ge- der ÖDP auf politische Chancengleichheit zu verlet- recht werden; hätte auch sonst keine Partei gerecht zen22. Die behauptete Verletzung der Chancengleich- werden können. Hier sei etwa verwiesen auf die der heit führe aber nicht ohne weiteres zu einem Ein- Beschlussbegründung offensichtlich zugrundeliegen- griff, insb. dann, wenn die Mittel rechtlich und tat- de Vorstellung, eine (zudem nicht parlamentarisch sächlich Institutionen zufließen, die von den politi- vertretene Partei) könne den zur Erfüllung der Frak- schen Parteien unabhängig sind. In diesen Fällen, tionsaufgaben benötigten Finanzbedarf ohne weite- und nur um diese Fälle ging es, habe „der Antrag- res ermitteln und mit der Höhe der tatsächlich festge- steller im Organstreit darzulegen, dass die Zuweisun- setzten Fraktionszuschüsse ins Verhältnis setzten.25 gen der staatlichen Mittel zu einem Eingriff in sein Bezogen auf die Finanzierung der Abgeordnetenmit- Recht auf Chancengleichheit aus Art. 21 Abs. 1 GG arbeiter in den Wahlkreisen verlangt das Bundesver- führt“23. fassungsgericht offensichtlich eine rechnerische Auf- schlüsselung, ob und in welchem Umfang eine „Ali- 17 Voßkuhle, in: Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), GG III, 6. Aufl. mentation“ des parteipolitischen Engagements statt 2010, Art. 93 I Nr. 1 Rn. 109. 18 einer Finanzierung der parlamentarischen Arbeit des BVerfGE 68, 1 (69 ff.); 73, 1 (29). Abgeordneten stattfindet.26 Weniger auffällig, gleich- 19 Pestalozza, Verfassungsprozessrecht, 3. Aufl. 1991, § 7 II Rn. 34. 20 Löwer, HStR III, 3. Aufl. 2005, § 70 Rn. 21. 24 BVerfG, Beschluss vom 15.07.2015 – 2 BvE 4/12, juris Rn. 66 21 BVerfG, Beschluss vom 15.07.2015 – 2 BvE 4/12, juris Rn. 58. und 69. 22 BVerfG, Beschluss vom 15.07.2015 – 2 BvE 4/12, juris Rn. 64. 25 BVerfG, Beschluss vom 15.07.2015 – 2 BvE 4/12, juris Rn. 78. 23 BVerfG, Beschluss vom 15.07.2015 – 2 BvE 4/12, juris Rn. 66. 26 BVerfG, Beschluss vom 15.07.2015 – 2 BvE 4/12, juris Rn. 100.

111 Aufsätze Merten – Das Bundesverfassungsgericht und die Politikfinanzierung [...] MIP 2016 22. Jhrg. wohl in dieselbe Richtung weist auch die Beschluss- nahme, dass es sich um eine verkappte Parteienfi- begründung zu der Globalfinanzierung parteinaher nanzierung handele. Im Ergebnis wurde das Organ- Stiftungen. Das Bundesverfassungsgericht verlangt streitverfahren einstimmig für unbegründet erklärt der Sache nach eine durch Zahlen, Daten und Fakten und dem praktizierten Verfahren der staatlichen Fi- untermauerte Darlegung, dass sich die „inhaltliche nanzierung der parteinahen Stiftungen der Rücken Ausrichtung der Arbeit der politischen Stiftungen“ gestärkt. Auch der Verfassungsgerichtshof des Saar- derart verändert hat, dass eine von dem früheren sog. landes31 hat das Organstreitverfahren der Partei DIE Stiftungsurteil27 abweichende Beurteilung „geboten“ LINKE wegen der staatlichen Förderung parteinaher sei.28 In der umfangreichen Klageschrift und den vier Stiftungen im Saarland für zulässig erachtet, weil Ergänzungsschriftsätzen hat die ÖDP natürlich auch schon nur durch die staatliche Finanzierung der an- Tatsachen vorgetragen29. Nicht vorgetragen hat die deren Stiftungen und trotz des Trennungsgebotes ÖDP eine konkrete Berechnung, wie hoch der fi- nicht von vornherein auszuschließen sei, dass DIE nanzielle Bedarf der parteinahen Stiftungen zur Er- LINKE in ihrem geltenden Recht auf Chancengleich- füllung der ihnen zugedachten Aufgaben ist und in- heit aus Art. 63 Abs. 1, 60 Abs. 1 SVerf i.V.m. Art. wieweit die konkret gewährten Globalzuschüsse die- 21 Abs. 1 GG verletzt sei.32 Im Ergebnis wurde auch sen Bedarf übersteigen. Eine derartige Berechnung dieses Organstreitverfahren für unbegründet erklärt kann, wenn überhaupt nur eine Wirtschaftsprüfungs- und dem im Saarland praktizierten, zugegebenerma- gesellschaft liefern. Es überrascht, dass die von der ßen recht eigenwilligen, System der staatlichen För- ÖDP vorgenommenen Darlegung des Nutzens, den derung parteinaher Landesstiftungen damit die Ver- die jeweiligen Parteien aus der Arbeit einer ihr ver- fassungsmäßigkeit bescheinigt. bundenen politischen Stiftung zieht, nicht ausreichen Mit dem Beschluss im Politikfinanzierungsverfahren soll, um wenigstens die Hürde der Zulässigkeit des ist es dem Bundesverfassungsgericht gerade nicht Organstreitverfahrens zu überspringen. gelungen, dem zweifellos notwendigen staatlichen Schaut man sich unter dem Gesichtspunkt der An- Politikfinanzierungssystem den Rücken zu stärken. tragsbefugnis die im Urteil auch erwähnte sog. Stif- Das Organstreitverfahren für unzulässig zu erklären, tungsentscheidung einmal näher an, so findet man lässt viele Fragen offen und führt eben nicht zu einer doch Überraschendes. Die Zulässigkeit ist, obwohl inhaltlichen Klarstellung. Das Bundesverfassungsge- auch hier über die Mittelzuweisung im Haushaltsge- richt nutzt aber in der umfangreichen Begründung setz an rechtlich und tatsächlich von den politischen der Unzulässigkeit die Chance, das Verhältnis der Parteien unabhängige Institutionen im Organstreit- politischen Institutionen neben den politischen Par- verfahren wegen Verletzung des Gleichbehandlungs- teien etwas realitätsnaher einzustufen. Es gesteht der grundsatzes gestritten wurde, kurz und prägnant mit ÖDP zu, „dass das Handeln der einzelnen Bundes- folgendem Satz bejaht: In diesem Recht auf Gleich- tagsfraktionen mit den jeweiligen Parteien verbun- behandlung kann die Antragstellerin verletzt sein, den wird, in deren Bewertung einfließt und sich da- wenn es sich – wie sie behauptet – bei den im Haus- mit auf die Wahlchancen der im Wettbewerb stehen- haltsplan für das Haushaltsgesetz 1983 ausgewiese- den Parteien auswirken kann. Dies ist jedoch Teil nen „Globalzuschüssen zur gesellschaftlichen und des Prozesses einer freiheitlichen Demokratie, wie politischen Bildungsarbeit“ um eine verkappte Par- das Grundgesetz sie versteht.“33 Auch im Hinblick teienfinanzierung handelt“30. In der Begründetheit auf die Abgeordnetenmitarbeiter im Wahlkreis ge- prüft das Bundesverfassungsgericht dann im Folgen- steht das Bundesverfassungsgericht der ÖDP zu, den, ob die Mittelzuweisung im Haushaltsgesetz tat- dass sich die Tätigkeit dabei auch auf die Wahlchan- sächlich zu einer Verletzung der Chancengleichheit cen der Partei auswirken, der der Abgeordnete ange- führt. Im Ergebnis wurden Einzelfälle ausgemacht, hört. Auch das sei Teil des Prozesses einer freiheitli- in denen die parteinahen Stiftungen dem „verfas- chen Demokratie, wie das Grundgesetz sie verstehe34. sungsrechtlichen Leitbild“ nicht entsprochen haben. Durch den ausführlichen Verweis auf das Stiftungs- Diese Einzelfälle rechtfertigten aber nicht die An- urteil, in dem das Bundesverfassungsgericht schon 1986 konstatiert, dass unbeschadet der Abgrenzbar- 27 BVerfGE 73, 1 ff. 28 BVerfG, Beschluss vom 15.07.2015 – 2 BvE 4/12, juris Rn. 107. 31 VerfGH Saarland, Urteil vom 16.04.2013 – Lv 15/11. 29 Die Klageschrift und alle Ergänzungsschriftsatze sind online 32 unter www.oedp.de/aktuelles/aktionen/verdeckte-parteienfina VerfGH Saarland, Urteil vom 16.04.2013 – Lv 15/11, B I. 3b. nzierung/ verfügbar, zuletzt abgerufen am 29.02.2016. 33 BVerfG, Beschluss vom 15.07.2015 – 2 BvE 4/12, juris Rn. 76. 30 BVerfG, Urteil vom 14.07.1986 – 2 BvE 5/83, juris Rn. 99; 34 BVerfG, Beschluss vom 15.07.2015 – 2 BvE 4/12, juris Rn. 93 BVerfGE 71, 1 (29). mit Verweis auf R. 76.

112 MIP 2016 22. Jhrg. Merten – Das Bundesverfassungsgericht und die Politikfinanzierung [...] Aufsätze keit der Tätigkeit der Stiftungen von derjenigen der Eine unabhängige Expertenkommission zu Fragen Partei, nicht zu verkennen sei, dass ihre Arbeit der der staatlichen Politikfinanzierung, eingesetzt durch ihnen jeweils nahestehenden Partei in einem gewis- den Bundespräsidenten, hätte die Möglichkeit mit sen Maße zugutekommt35. Von einer Nützlichkeit der parteipolitischer Neutralität das System der staatli- Stiftungen für die Parteien36 geht das Bundesverfas- chen Politikfinanzierung zu hinterfragen. Das derzei- sungsgericht mithin schon 1986 aus, toleriert dies tige System ist wesentlich von den Zwängen, der aber, solange alle wesentlichen Grundströmungen vom Bundesverfassungsgericht in seiner letzten berücksichtigt werden. großen Entscheidung zur Parteienfinanzierung im Jahre 199238 entwickelten, absoluten Obergrenze der Das bringt die Dinge genau auf den Punkt und zeigt staatlichen Mittel an die Parteien geprägt. Das aus- realistisch die institutionelle Vermischung der politi- drückliche Zugeständnis des Bundesverfassungsge- schen Parteien auf der einen Seite und der vom Bun- richts im Politikfinanzierungsbeschluss bezüglich desverfassungsgericht jetzt als „Dritte“ bezeichneten der Auswirkungen von staatlichen Zuwendungen an Institutionen auf der anderen Seite. politische Institutionen, wie beispielsweise Fraktio- V. Fazit nen, auf die Wettbewerbslage der politischen Partei- en, gibt Anlass über die zweifellos notwendige staat- Das Bundesverfassungsgericht nimmt sich im Politik- liche Politikfinanzierung nachzudenken. Letztlich finanzierungsbeschluss zurück und sieht keinen Raum wäre dies ein wichtiger Beitrag zur Anerkennung der für eine inhaltliche Prüfung. Gleichzeitig bereitet der überaus wichtigen Tätigkeit dieser Institutionen im Beschluss mit dem Hinweis auf die Auswirkungen der Dienste unserer Demokratie. „parteiunabhängigen“ politischen Institutionen auf den Wettbewerb der Parteien dem parlamentarischen Gesetzgeber den Weg zu einer umfassenden gesetzli- chen Neujustierung der staatlichen Politikfinanzie- rung. Die am 17. Dezember 2015 beschlossene jüngs- te Änderung des Parteiengesetzes, die sich erneut le- diglich auf den Finanzierungsteil fokussiert, lässt al- lerdings wenig Hoffnung, dass die im Bundestag ver- tretenen Parteien die Chance ergreifen und gesetzge- berisch tätig werden. Das Dilemma liegt sicherlich auch im fehlenden Korrekturverlangen durch die obersten Gerichte und die fehlende Gesetzgebungs- initiative. Angehen ließe sich die Auflösung dieses Dilemmas durch die Einsetzung einer unabhängigen Expertenkommission. Als Muster könnte hier die vom Bundespräsidenten gemäß § 18 Abs. 6 PartG einzu- berufende Kommission unabhängiger Sachverständi- ger zu Fragen der Parteienfinanzierung dienen. Die letzte Expertenkommission hat ihren Bericht im Jahre 2001 vorgelegt37 und damit wesentlich zu einer offe- nen Debatte über die Reformierung des Systems der Parteienfinanzierung beigetragen.

35 BVerfGE 73, 1 (37). 36 Siehe zur wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dieser Thematik Adams, Parteienfinanzierung in Deutschland, 2005, S. 408, insb. 414; Geerlings, Verfassungsrechtliche- und Ver- waltungsrechtliche Probleme der staatlichen Finanzierung parteinaher Stiftungen, 2003, S. 166 ff.; ders. Die Finanzie- rung parteinaher Stiftungen im Lichte der vom Bundesverfas- 37 sungsgericht entwickelten Wesentlichkeitstheorie, ZParl 2003, Bundespräsidialamt (Hrsg.), Bericht der Kommission unab- 768 (775); Merten, Parteinahe Stiftungen im Parteienrecht, hängiger Sachverständiger zu Fragen der Parteienfinan- 1999, S. 20 ff.; Kretschmar/Merten/Morlok, Wir brauchen ein zierung, Empfehlungen für Änderungen im Recht der Partei- „Parteistiftungsgesetz“, ZG 2000, 41 ff.; Born, Parteinahe enfinanzierung, 2001. Stiftungen: Stiftung oder Partei?, 2007, S. 80 ff. 38 BVerfGE 85, 264 (288 ff.).

113 „Aufgespießt“ Wimmel – Griechenland-Hilfe im Bundestag: DIE LINKE und ihre Anhängerschaft MIP 2016 22. Jhrg.

„Aufgespießt“ CDU/CSU-Anhänger und gerade einmal 34 Prozent der SPD-Anhänger dafür aussprachen (siehe Abb. 1). Griechenland-Hilfe im Bundestag: Abb. 1: Griechenland-Hilfe und Partei-Anhänger im DIE LINKE und ihre Anhängerschaft Juni 2010

Dr. Andreas Wimmel1

Noch zu Zeiten der christlich-liberalen Koalition be- anstandete der Fraktionsvorsitzende der Linkspartei, , in einer der unzähligen Bundestagsde- batten zur Finanz- und Staatsschuldenkrise in der Eurozone die Reihenfolge der Rednerliste. Nach der Bundeskanzlerin sollte eigentlich ein echter Vertre- ter der parlamentarischen Opposition sprechen, und nicht jemand, der zwar die Bundesregierung laut- stark kritisiert, aber am Ende dennoch seiner Frakti- 2 on empfiehlt, ihren Vorlagen zuzustimmen. Diese Quelle: Infratest dimap, ARD-DeutschlandTREND, Juni 2010, Einlassung war als Seitenhieb insbesondere auf die http://tinyurl.com/o7bjma4 (Abruf am 21.07.2015). Basis: SPD zu verstehen, die – damals noch aus der Oppo- 1.500 Befragte; Erhebungszeitraum: 25.-26.05.2010. Frage: sition heraus – die auf europäischer Ebene vereinbar- Das Schutzpaket für die europäische Gemeinschaftswährung ten „Euro-Rettungsmaßnahmen“ trotz erheblicher umfasst rund 750 Milliarden Euro. Deutschland wird sich Zweifel an deren wirtschaftspolitischer Ausrichtung daran mit Bürgschaften von bis zu 123 Milliarden beteiligen. ganz überwiegend mitgetragen hatte. Die Linkspartei Finden Sie diese Entscheidung richtig oder falsch? hingegen ließ ihren Worten stets Taten folgen und hatte bis dato alle von der Regierung zur Abstim- Debatte zur Verlängerung der Griechenland-Hilfe mung gestellten Maßnahmen zur Stabilisierung der Eurozone geschlossen abgelehnt.3 Nach Bildung der Großen Koalition im Dezember 2013 bekleidete Gysi tatsächlich die Rolle des Oppo- Diese Blockadehaltung der Linken war anfangs ganz sitionsführers im Bundestag und seine Kritik an der im Sinne ihrer Anhängerschaft. Kurz nachdem der Euro-Rettungspolitik war eher lauter als leiser gewor- Bundestag im Mai 2010 die ersten Finanzhilfen für den. In der Debatte über die Verlängerung der Grie- Griechenland beschlossen hatte, beurteilten laut einer chenland-Hilfen am 17. Juli 2015 warf er Finanzmi- repräsentativen Umfrage von infratest dimap 79 Pro- nister Schäuble vor, die „europäische Idee zu zerstö- zent der Linke-Anhänger die deutschen Bürgschaften ren“. Die Politik der Bunderegierung sei „unsozial, zum Schutz des Euro als falsch und nur 18 Prozent undemokratisch und antieuropäisch“. Die Aufnahme als richtig. Damit war die Ablehnung im direkten von Verhandlungen könne seine Fraktion nicht un- Vergleich zu den Anhängern der anderen Parteien terstützen, weil allein die Bedingungen dafür schon eindeutig am größten, stärker noch als unter den FDP- unerträglich seien.4 Die stellvertretende Fraktions- Anhängern mit einer Ablehnungsquote von 66 Pro- vorsitzende, , fand noch deutli- zent. Das Abstimmungsverhalten der Fraktion der chere Worte: Das geplante Reformpaket verlängere Linken stand also zunächst ganz im Einklang mit der nur die „rabiate Kürzungspolitik der letzten fünf Jah- Basis – im Gegensatz zu den anderen Parteien, die re, die schon ein Viertel der griechischen Wirt- die Euro-Rettungspolitik im Bundestag unterstützt schaftsleistung zerstört hat, die das Land in Rekord- bzw. sich enthalten hatten: Allein unter den Anhän- arbeitslosigkeit, in Armut und in wirkliches Elend gern der Grünen hielt eine knappe Mehrheit eine fi- getrieben“ habe.5 Die Linkspartei hat also bis heute nanzielle Beteiligung an den Stabilisierungsmaßnah- an ihrer Frontalopposition gegenüber der Europa- men für richtig, während sich nur 43 Prozent der politik der Bundesregierung festgehalten und dementsprechend wieder als einzige Fraktion mit 1 Der Autor ist Universitätsassistent am Institut für Politikwis- senschaft an der Universität Innsbruck. 2 Gregor Gysi, in: Deutscher Bundestag. Plenarprotokoll 17/135 4 Gregor Gysi, in: Deutscher Bundestag. Plenarprotokoll vom 26.10.2011, S. 15963 A. 18/117 vom 17.07.2015, S. 11355 B, 11356 A, 11357 A. 3 Vgl. Andreas Wimmel, Deutsche Parteien in der Euro-Krise: Das 5 Sahra Wagenknecht, in: Deutscher Bundestag. Plenarprotokoll Ende des Konsensprinzips? In: integration 01/2012, S. 19-34. 18/117 vom 17.07.2015, S. 11368 B.

114 MIP 2016 22. Jhrg. Wimmel – Griechenland-Hilfe im Bundestag: DIE LINKE und ihre Anhängerschaft „Aufgespießt“ großer Mehrheit gegen eine Fortsetzung der Grie- Spaltung zwischen Linkspartei und Anhängerschaft chenland-Hilfen gestimmt.6 Während die Linkspartei zu Beginn der Euro-Krise Diese scharfe Ablehnung der Linken steht in Kon- die Meinungen ihrer Unterstützer somit am besten trast zu einem Meinungsumschwung in der eigenen repräsentiert hat, ist der Graben zur eigenen Anhän- Anhängerschaft, der selbst abgeklärte Demoskopen gerschaft nun breiter als bei den anderen im Bundes- überraschen dürfte. Wenige Tage vor der Abstim- tag vertretenen Parteien, obwohl keine der Fraktionen mung über ein erneutes Griechenland-Hilfspaket ihr Abstimmungsverhalten grundlegend verändert wiederholte infratest dimap seine Umfrage zu den hat. Dieser Trend ist für eine Partei, die eigentlich Einstellungen der Parteianhänger für den ARD- über eine Wählerschaft mit relativ stabilen sozial- DeutschlandTREND. Diesmal sprachen sich 66 Pro- und wirtschaftspolitischen Einstellungen verfügt, zent der Anhänger der Linken dafür aus, dass der durchaus erklärungsbedürftig. Ganz offensichtlich Bundestag der Aufnahme von Verhandlungen unter wollten sich die Linke-Anhänger solidarisch zeigen den gegebenen Bedingungen zustimmen sollte, wäh- gegenüber einer Syriza-Regierung, die die Bedingun- rend nur 30 Prozent für eine Ablehnung plädierten. gen zur Aufnahme von Verhandlungen schlussend- Das Stimmungsbild an der Linken-Basis hatte sich lich akzeptiert hatte (um nicht zu sagen: akzeptieren also im Laufe der fünf Krisenjahre ins Gegenteil ge- musste), während die Parteieliten ihr Votum vorran- wendet, so dass die Unterstützung nun größer war gig als Kritik an der Verhandlungsführung der Bun- als unter den Anhängern der anderen Parteien, die im desregierung und den „aufoktroyierten“ Spar- und Bundestag mehrheitlich der Wiederaufnahme von Reformauflagen verstanden wissen wollen.7 Viel- Verhandlungen zugestimmt haben. Während immer- leicht sehen die Linke-Anhänger die Griechenland- hin noch 62 Prozent der Grünen-Anhänger ihre Par- Krise aber auch einfach pragmatischer als die Partei- tei unterstützten, lag die Zustimmungsquote bei den führung – wenn der Bundestag zustimmt, fließen die Unions-Anhängern (51 Prozent) und den SPD-An- Milliardenkredite weiter, die Banken öffnen wieder, hängern (50 Prozent) deutlich darunter (s. Abb. 2). ein Staatsbankrott scheint vorerst abgewendet. Abb. 2: Griechenland-Hilfe und Partei-Anhänger im Natürlich ließe sich einwenden, das Abstimmungs- Juli 2015 verhalten der Linkspartei sei für den Beschluss so- wieso irrelevant gewesen, weil vorher abzusehen war, dass der Antrag mit den Stimmen der beiden großen Regierungsfraktionen aus CDU/CSU und SPD angenommen werden würde. Deswegen konnte die Linke im Stile einer Protestpartei mit Nein stim- men, was sie möglicherweise nicht getan hätte, wenn ihre Unterstützung für die Wiederaufnahme von Ver- handlungen notwendig gewesen wäre. Mit einer sol- chen Unterstellung würde man der Linkspartei nicht gerecht werden: Dass die Parteiführung sehr genau abwägt, wie sie sich in der Griechenland-Frage posi- tioniert, zeigte sich in der vorherigen Entscheidung über die Verlängerung des zweiten Hilfsprogramms am 27. Februar 2015, als die Abgeordneten aus Soli- Quelle: Infratest dimap, ARD-DeutschlandTREND, Juli 2015, http://tinyurl.com/ovw5dow (Abruf am 21.07.2015). Basis: darität zur neu gewählten Syriza-Regierung erstma- 8 1.029 Befragte; Erhebungszeitraum: 13.-15.07.2015. Frage: lig zugestimmt hatten. Diese Neuausrichtung war In der griechischen Schuldenkrise haben sich die Euro-Län- innerparteilich höchst umstritten, weil sie fälschli- der mit Griechenland auf Verhandlungen über ein drittes cherweise als Billigung der rigiden Austeritätspolitik Hilfspaket über 86 Milliarden Euro geeinigt. Im Gegenzug soll Griechenland ein umfangreiches Spar- und Reformpaket akzeptieren. Was meinen Sie: Sollte der Bundestag am Frei- 7 Vgl. , Die Kanzlerin heißt Schäuble. In: tag Verhandlungen über ein drittes Hilfspaket zustimmen WeltTrends 106, August/September 2015, S. 94-95. oder sollte der Bundestag dies ablehnen? 8 In der Abstimmung votierten 41 Abgeordnete der Linken mit Ja, drei mit Nein und zehn enthielten sich (Deutscher Bundes- 6 Ergebnis der namentlichen Abstimmung: CDU/CSU (Ja: 241, tag, Plenarprotokoll 18/89 vom 27.02.2015, S. 8436 D); siehe Nein: 60, Enthaltung: 5), SPD (175/4/0), Bündnis 90/Die Grünen dazu auch Constanze von Bullion, Die leidige Solidarität. Das (23/2/33), Die Linke (0/53/2); vgl. Deutscher Bundestag. Plenar- Hilfsprogramm stellt die Linke vor mehr als ein Dilemma, in: protokoll 18/117 vom 17.07.2015, S. 11388 D-11391 C. Süddeutsche Zeitung, 25.02.2015, S. 5.

115 „Aufgespießt“ Wimmel – Griechenland-Hilfe im Bundestag: DIE LINKE und ihre Anhängerschaft MIP 2016 22. Jhrg. hätte gelesen werden können.9 Blanker Opportunis- durch die Gegenüberstellung von „Grexit“ bzw. der mus kann als Grund für die Spaltung zwischen Verarmung der griechischen Bevölkerung innerhalb Linkspartei und ihrer Anhängerschaft also sicher der Eurozone versus europäische Solidarität durch nicht ins Feld geführt werden. die Gewährung weiterer Milliardenkredite.13 Vor diese Alternative gestellt, hat sich eine deutliche Vielmehr scheint sich ganz allgemein die Deutung Mehrheit der Linke-Anhänger für die zweite Option und Bewertung der Euro-Rettungspolitik im linken ausgesprochen, obwohl ein drittes Hilfsprogramm er- Lager gewandelt zu haben: Während zuerst die Auf- neut mit schmerzhaften Sparauflagen und Strukturre- fassung vorherrschte, die Milliardenkredite zur Sta- formen verbunden sein wird. Offenkundig hat man bilisierung der Eurozone dienten lediglich der deut- im linken Spektrum durchschaut, dass sich die wah- schen Exportwirtschaft und dem globalen Finanzka- ren Beweggründe für die Griechenland-Rettung ver- pitalismus, wird die Causa Griechenland-Rettung schoben haben: Seit immer deutlicher zu Tage tritt, heute vermehrt als Projekt gegen die Interessen des dass die Hilfsprogramme nicht mehr zwingend not- liberal-konservativen Establishment interpretiert.10 wendig sind, um den Kurs des Euro zu stabilisieren, Die schärfsten Gegner weiterer Finanzhilfen finden sinkt die Unterstützung für weitere Finanzhilfen in sich mittlerweile nicht mehr im linksalternativen Mi- vielen Mitgliedstaaten der Eurozone, da sich diese lieu, sondern in den bürgerlichen Schichten, die sich nicht mehr mit nationalen Wirtschaftsinteressen be- nicht länger bereit zeigen, deutsches Steuergeld ohne gründen lassen.14 Stattdessen kann es den verbliebe- Aussicht auf Rückzahlung in ein Land zu transferie- nen Befürwortern, zu denen vor allem die deutsche ren, dessen Regierung sozialistischen Ideologien Bundeskanzlerin und der französische Präsident zäh- nachhängt und deswegen Reformauflagen ver- len, wohl nur noch um die Vermeidung eines ersten schleppt. Griechenland wird zu einer Last, der man wirklich schweren Kollateralschadens am europäi- sich gern entledigen würde und inzwischen wohl schen Integrationsprojekt gehen, möglicherweise auch könnte, weil die Stabilität des Euro auch bei ei- eben doch „um jeden Preis“.15 nem Ausscheiden aus der Währungsunion nicht mehr ernsthaft gefährdet wäre.11 In der letzten Ab- Vor diesem Hintergrund klärt sich der Meinungsum- stimmung über die Bedingungen für die Gewährung schwung im linken Lager langsam auf. Die Grie- des dritten Hilfsprogramms votierten bereits 63 Ab- chenland-Rettung steht längst nicht mehr unter dem geordnete der CDU/CSU-Fraktion gegen den Kurs Primat rationaler ökonomischer Interessen der Geld- der Bundeskanzlerin, viele andere brachten in per- geber – mit dem Europäischen Stabilitätsmechanis- sönlichen Erklärungen zum Ausdruck, dass sie nur mus (ESM) wurden Vorkehrungen geschaffen, um unter größten Vorbehalten zugestimmt haben.12 In die Eurozone unabhängig von der Situation in Grie- dieser politischen Gemengelage wird ein Ja zu weite- chenland zu stabilisieren, und kein ernstzunehmen- ren Hilfsmaßnahmen fast schon zu einer Protesthal- der Ökonom glaubt mehr an eine Tilgung der Milli- tung gegen nationalistisches Denken und hegemonia- ardenkredite. Mehr noch: trotz aller Einsparungen le Ausgrenzung in einem vereinten Europa. und Investitionen bestehen größte Zweifel, ob die griechische Wirtschaft im Euro jemals wieder so Grexit versus europäische Solidarität wettbewerbsfähig werden kann, um auf die interna-

Der technokratische Streit um diverse finanz- und 13 Vgl. Steffen Vogel, Grexit: Das Scheitern der europäischen wirtschaftspolitische Lösungskonzepte ist in der Idee. In: Blätter für deutsche und internationale Politik, Juni Griechenland-Debatte vielfach abgelöst worden 2015, S. 9-12, sowie die Kommentierungen vor der Entschei- dung im Bundestag, z.B. Ulrich Schäfer, Grexit. Schäubles Plan, in: Süddeutsche Zeitung, 17.07.2015, S. 4 9 Vgl. Dominic Heilig, Der Funke, der überspringen muss. Die 14 Linke und Griechenland. In: WeltTrends 102, April 2015, Vor allem einige Regierungen osteuropäischer Euro-Länder, S. 74-75. die die Vor- und Nachteile der EU und des Euro sehr viel pragmatischer abwägen, lehnten eine Verlängerung der Grie- 10 Vgl. dazu Andreas Nölke, Abschied vom Euro? Europas Lin- chenlandhilfe zunächst ab; vgl. Karl-Peter Schwarz, Was die ke nach der Griechenlandkrise. In: Blätter für deutsche und Slowaken schon lange wussten, in: Frankfurter Allgemeine internationale Politik, September 2015, S. 68-76. Zeitung, 03.07.2015, S. 3. 11 So die Einschätzung vieler liberaler Ökonomen, vgl. etwa 15 In der Aussprache zur Situation nach dem Auslaufen des Fi- Hans-Werner Sinn, Die griechische Tragödie, ifo Schnell- nanzhilfeprogramms für Griechenland sagte Kanzlerin Mer- dienst vom 29.05.2015, http://www.cesifo-group.de/DocDL/ kel: „Ein guter Europäer ist nicht der, der eine Einigung um SD_Mai_2015_Sonderausgabe_1.pdf jeden Preis sucht“, in: Deutscher Bundestag. Plenarprotokoll 12 Vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung, Bundestag stimmt 18/114 vom 01.07.2015, S. 10956 D; vgl. Frankfurter Allge- Hilfspaket für Griechenland zu. 63 Unionsabgeordnete dage- meine Zeitung, Merkel gegen „Einigung um jeden Preis“ mit gen, 20.08.2015, S. 1. Griechenland, 02.07.2015, S. 1.

116 MIP 2016 22. Jhrg. Wimmel – Griechenland-Hilfe im Bundestag: DIE LINKE und ihre Anhängerschaft „Aufgespießt“ tionalen Finanzmärkte zurückzukehren.16 Jede Ver- längerung von Hilfsprogrammen wird dann zu einem Schritt in Richtung einer dauerhaften Transferunion, die ein Gegengewicht darstellen könnte zum syste- misch bedingten Wettbewerbsdruck in der Wirt- schafts- und Währungsunion, der den Mitgliedstaa- ten strikte Haushaltsdisziplin abverlangt. Der Präsi- dent des Zentrums für Europäische Wirtschaftsfor- schung, Clemens Fuest, hat sogar schon eine Sonder- steuer für Athen ins Gespräch gebracht, um die Kos- ten der Hilfsprogramme nicht durch die ständige Verlängerung von Schuldenlaufzeiten zu verschlei- ern, sondern für jeden Bürger direkt spürbar werden zu lassen.17 Zugespitzt formuliert: Die Konsequenzen weiterer Finanzhilfen, um Griechenland aus rein politisch- ideologischen Gründen einen Verbleib in der Euro- zone zu ermöglichen, entsprechen paradoxerweise den Leitlinien linker Europaprogrammatik: Zur Be- kämpfung der „umfassenden neoliberalen Ausrich- tung“ der EU fordert die Linke „Solidarität statt bru- talem Wettbewerb“ mittels einer „Europäischen Aus- gleichsunion“, die Euro-Staaten auf das Ziel ausge- glichener Handelsströme verpflichtet.18 Die Idee ei- nes Euro-Länderfinanzausgleichs, um innerhalb eines Währungssystems trotz gravierender Unterschiede in der volkswirtschaftlichen Produktivität seiner Mit- gliedstaaten zumindest vergleichbare Lebensbedin- gungen und Sozialstandards zu gewährleisten, war also bereits im Programm der Linken zur Bundes- tagswahl 2013 angelegt. Die Anhängerschaft der Linken hat diesen Nexus inzwischen offenbar er- kannt – ob und wann die Linkspartei ihre Positionie- rung gegenüber der Griechenland-Rettungspolitik anpassen wird, werden die kommenden Monate und Jahre zeigen.

16 So die Analyse des Internationalen Währungsfonds (IWF), vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung, Währungsfonds hält Athens Schulden für untragbar, 16.07.2015, S. 17. 17 Vgl. Clemens Fuest, Eine Sondersteuer für Athen. Das gebie- tet die Ehrlichkeit gegenüber den Bürgern, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 16.07.2015, S. 17. 18 Vgl. Wahlprogramm der Partei DIE LINKE zur Bundestagswahl 2013, S. 49; http://tinyurl.com/l843s53 (Abruf am 24.07.2015).

117 „Aufgespießt“ Cheng – Bundesverfassungsgericht im Parteienstaat Deutschland [...] MIP 2016 22. Jhrg.

Bundesverfassungsgericht im Parteienstaat Die Notwendigkeit einer Sonderverfassungsgerichts- Deutschland: ein kurzer Kommentar aus barkeit wird ebenso wie das Verhältnis zwischen der chinesischer Sicht Kommunistischen Partei und dieser Verfassungsge- richtsbarkeit sehr kritisch betrachtet. Aber sind Par-

1 teien und die Verfassungsgerichtsbarkeit tatsächlich Dr. Mai Cheng „geborene Feinde“, die sich stets gegenseitig angrei- fen, und muss es zwangsläufig an einem wechselsei- tigen Vertrauen zwischen den politischen und den A. Anlass der Überlegungen rechtlichen Eliten fehlen? Vor diesem Hintergrund Das deutsche Bundesverfassungsgericht genießt können die deutschen Erfahrungen, Überlegungen ohne Zweifel ein hohes Ansehen, nicht nur in und sogar Fehlschläge wertvolle Hinweise für den Deutschland, sondern auch im Ausland – auch in Aufbau eines Verfassungsstaates in China liefern. China. Aber das Zustandekommen dieser verfas- sungsrechtlichen Besonderheit lässt sich aus meiner B. Entstehen und Entwicklung des Bundesverfas- Sicht nicht mit einer „selbstverständlichen Entwick- sungsgerichts lung“ oder als notwendige Folge der Anwendung von Logik oder Theorie erklären. Viele andere Staa- I. Die Abkehr von der unmittelbaren Demokratie: ten haben auch eine Sonderverfassungsgerichtsbar- inhaltlich und prozedural keit errichtet, um die Verfassungsmäßigkeit des Je länger die Legitimationskette ist, desto mehr ge- politischen Lebens zu sichern. Jedoch ist die Arbeit winnt die Vermittlung von Demokratie an Bedeu- der Verfassungsgerichte mitunter von einer großen tung. Die unmittelbare Demokratie hat im Entste- Zurückhaltung geprägt, wie in Süd-Korea und Japan, hungsprozess des Grundgesetzes kaum Unterstüt- manchmal von einem engen Verhältnis zur Regie- zung gefunden. Deutlich wird dies daran, dass der rung und einer Entfremdung von den Bürgern, womit Herrenchiemseer Entwurf – anders als die Weimarer es sich geradezu in Widerspruch setzt zu seiner ei- Reichsverfassung – fast kein plebiszitäres Element gentlich vorgesehenen Rolle als ausgleichendes Ge- enthielt. Zudem scheiterten die beiden Anträge der wicht gegen die anderen Staatsgewalten, um nicht zu Deutschen Partei und der Kommunistischen Partei sagen: zu der eines Hüters der Verfassung. auf Einführung eines allgemeinen Volksentscheid- 2 In der heutigen Zeit ist, zumindest den Verfassungs- verfahrens. Auch war zunächst nach den Frankfurter rechtlern aller Länder, die theoretische Bedeutung Dokumenten zur Ratifizierung des Grundgesetzes von Verfassungsgerichtsbarkeit schon wohlbekannt. ein Referendum in jedem beteiligten Land vorgese- Dann müssten Misserfolge dabei, funktionierende hen. Aber nach der Überarbeitung im Parlamentari- Verfassungsgerichtsbarkeiten zu etablieren, auf schen Rat wurde diese direktdemokratische Bestim- praktische Ursachen zurückzuführen sein. Eine Rolle mung durch ein indirektes Verfahren ersetzt: nun- mag hierbei spielen, dass im Rahmen der politischen mehr hatten die Volksvertretungen in den jeweiligen und gesellschaftlichen Verhältnisse das Verfassungs- Ländern über die Ratifizierung zu entscheiden. Da- gericht nur ein Akteur neben anderen ist, die dessen bei war sich der Parlamentarische Rat durchaus dar- zu erwartenden Einfluss maßgeblich mitbestimmen. über im Klaren, dass er hierbei gefährlich von der Grundlinie der Militärgouverneure abwich. Aber der Deshalb stellt sich die Frage, ob es neben den theore- Wunsch und der Wille, plebiszitäre Verfahren wei- tischen Argumenten noch andere praktische, gesell- testgehend auszuschließen, ließen den Parlamentari- schaftliche oder historische Ursachen für den Erfolg schen Rat die Gefahr in Kauf nehmen.3 des deutschen Bundesverfassungsgerichts gibt. Mei- ner Ansicht nach haben im Zusammenhang mit dem Als von unmittelbarer Demokratie keine Rede mehr starken Parteienstaat in Deutschland, in dem die Par- war, rückten zwei Konsequenzen in den Vorder- teien die wichtigsten Akteure auf der politischen grund. Erstens war das Volk nicht mehr Hüter der Bühne darstellen, diese zu der heutigen starken Stel- Verfassung, zumindest war ihm innerhalb des Ver- lung des Bundesverfassungsgerichts innerhalb des fassungsrahmens keine direkte Rolle mehr zugewie- politischen Lebens mit beigetragen. 2 Michael F. Feldkamp (Bearb.): Der Parlamentarische Rat: Auf die chinesische Verfassungsrechtsforschung hat 1948-1949, Akten und Protokolle (Band 14), München 2009, die deutsche Verfassungslehre einen großen Einfluss. S. 667-669. 3 Edgar Büttner/Michael Wettengel (Bearb.): Der Parlamentari- 1 Der Autor ist Associate Professor an der Nanchang Universität sche Rat: 1948-1949, Akten und Protokolle (Band 13), in China und PRuF-Fellow. Boppard 2002, S. 537.

118 MIP 2016 22. Jhrg. Cheng – Bundesverfassungsgericht im Parteienstaat Deutschland [...] „Aufgespießt“ sen. Zweitens kam den Vermittlern zwischen Staat ments bei der personellen Besetzung dieser Sonder- und Gesellschaft – im Falle der grundgesetzlichen verfassungsgerichtsbarkeit. Demokratie: den Parteien – eine deutlich größere Be- So einigte man sich in Bezug auf die Zusammenset- deutung zu. Der Entwurfsprozess des Grundgesetzes zung des Bundesverfassungsgerichts auf einen Kom- stellt insofern bereits ein sehr gutes Beispiel für den promiss, der im Herrenchiemseer Entwurf wie folgt großen Einfluss der Parteien dar. So kam der wich- lautete: „Die Hälfte der Richter des Bundesverfas- tigste Ausschuss des Parlamentarischen Rats, der sungsgerichts müssen Richter der obersten Bundes- Hauptausschuss, zu insgesamt 60 Sitzungen zusam- gerichte und höchsten Gerichtshöfe der Länder sein. men, während die Unions-Fraktion 172 und die SPD- Der Vorsitzende muss die Befähigung zum Richter- Fraktion 106 Sitzungen einberufen hatte.4 amte haben.“7 Bei den weiteren Beratungen setzte II. Eine Sonderverfassungsgerichtsbarkeit als Hüter sich aber nach größerer Diskussion durch, im Grund- der politisch unneutralen Verfassung gesetz auf ein quantitatives Quorum von beruflichen Richtern zu verzichten und diese Detailregelung der Trotz dieser betonten Abkehr von direktdemokrati- Gestaltungsfreiheit des künftigen Ausführungsge- schen Elementen in der Verfassung, waren sich alle setzgebers zu überlassen. Die Antwort auf die Be- beteiligten Parteien darüber einig, dass die kommen- rücksichtigung eines Laienelements gibt das Bundes- de Verfassung nicht mehr politisch neutral sein soll- verfassungsgerichtsgesetz, indem es festlegt, dass te. Da aber in der vorgesehenen repräsentativen De- mindestens drei der insgesamt acht Richter eines je- mokratie die unmittelbare Ausübung der Staatsge- den Senats – und damit eine Minderheit – aus den walt durch das Volk im Wesentlichen auf die Teil- obersten Bundesgerichten (Bundesgerichtshof, Bun- nahme an Wahlen beschränkt ist, war es unerläss- desverwaltungsgericht, Bundesfinanzhof, Bundesar- lich, einen anderen Hüter einzusetzen, der permanent beitsgericht und Bundessozialgericht) stammen müs- die Verfassungsmäßigkeit des politischen Lebens in sen, damit ihre besondere richterliche Erfahrung in der neuen demokratischen Bundesrepublik gewähr- die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts leistet. Aufgrund der bitteren Erfahrung mit der Wei- einfließen kann. marer Republik und insbesondere dem NS-Regime 5 befürworteten fast alle Parteien – außer der KPD – C. Die Kontrolle des Bundesverfassungsgerichts eine Sonderverfassungsgerichtsbarkeit, ausgestattet über die Parteien mit der Zuständigkeit, alle Tätigkeiten des Staates zu kontrollieren. Aber über die Zusammensetzung des Auch noch nach Schaffung des Bundesverfassungs- Verfassungsgerichts und die Qualifikation der Ver- gerichts wollten die Parteien Kontrolle über das Ge- fassungsrichter gab es heftige Kontroversen. Wäh- richt ausüben. Die Wahl der Bundesverfassungsrich- rend des Verfassungskonvents auf Herrenchiemsee ter ist ein gutes Beispiel für die Steuerungsabsicht übten zahlreiche Konventsmitglieder scharfe Kritik der Parteien. Die nach wie vor nicht unumstrittene an dem Vorschlag, diese neu einzurichtende Sonder- Wahl der Richter des Bundesverfassungsgerichts, die verfassungsgerichtsbarkeit solle nur aus beruflichen jeweils zur Hälfte vom Bundestag und vom Bundes- Richtern bestehen. Mitglieder wie Carlo Schmid gin- rat gewählt werden, begünstigt die etablierten Partei- gen davon aus, dass wegen der unvermeidlichen pro- en, d.h. die großen, parlamentarisch vertretenen Par- fessionellen Deformation die beruflichen Richter die teien. Auf der anderen Seite kann man nicht behaup- politische Bedeutung und die politischen Auswir- ten, dass die Entscheidungen des Bundesverfas- kungen ihrer Entscheidungen außer Acht lassen sungsgerichts von parteipolitischen Überlegungen könnten.6 Das reaktionäre Image der Justiz in der geprägt sind, jedenfalls nicht nach außen. Das Nach- Weimarer Republik und im Dritten Reich war ein denken über politische Neutralität, Überparteilich- weiterer Grund für die Einführung des Laienele- keit usw. spielt nämlich immer eine große Rolle in den Urteilen.

4 Michael F. Feldkamp (Bearb.): Der Parlamentarische Rat: 1948- Auch wenn die Parteien auf die Schaffung des Bun- 1949, Akten und Protokolle (Band 14), München 2009, S. X. desverfassungsgerichts und die Wahl der Richter 5 Edgar Büttner/Michael Wettengel (Bearb.): Der Parlamentari- entscheidenden Einfluss hatten und haben, stellt sich sche Rat: 1948-1949, Akten und Protokolle (Band 13), die umgekehrte Frage nach dem Einfluss des Bun- Boppard 2002, S. 1119-1120. desverfassungsgerichts auf die Parteien. Die Antwort 6 Horst Säcker, Die Verfassungsgerichtsbarkeit im Konvent von Herrenchiemsee, in: Walther Fürst/Roman Herzog/Dieter C. Umbach (Hrsg.): Festschrift für Wolfgang Zeidler, Berlin 7 Artikel 100 „Entwurf zu einem Grundgesetz für einen Bund 1987, S. 276. deutscher Länder” (Herrenchiemseer Entwurf, 1948).

119 „Aufgespießt“ Cheng – Bundesverfassungsgericht im Parteienstaat Deutschland [...] MIP 2016 22. Jhrg. auf diese Frage hängt von unserem Verständnis der Höhe der eigenen Einnahmen.13 Die Urteile des Bun- Parteien ab. desverfassungsgerichts würden – bei einem Ver- ständnis der Parteien als „Politische Klasse“ – die Wenn die Parteien, wie die Leibholz'sche „Lehre Idee vermitteln, dass wenn die etablierten Parteien vom Parteienstaat“ annimmt, als das Sprachrohr des Fleisch genießen können, die kleinen Parteien oder Volkes zu verstehen sind, 8 würde das Bundesverfas- andere politische Gruppierungen wie Wählergemein- sungsgericht dem ganzen Volk gegenüber stehen, schaften Brot essen dürfen sollten. Dieses Entgegen- wenn es Entscheidung über alle Parteien trifft. Im kommen gegenüber der politischen Klasse wäre ein Zusammenhang mit dem starken Parteienstaat gutes Zeichen für ein hohes Konsensniveau zwi- Deutschlands spielt das Bundesverfassungsgericht in schen den rechtlichen und politischen Eliten diesem Bereich nicht nur eine klassische Rolle einer Deutschlands. Verfassungsgerichtsbarkeit in einer rechtstaatlichen Demokratie, die die so genannte Trennung zwischen Beiden zuvor genannten Blickwinkeln gemein ist die Recht und Politik betrifft, sondern auch eine einzig- Annahme, dass die Parteien – als Sprachrohr des artige Rolle in der deutschen wehrhaften Demokra- Volkes oder als politische Klasse – eine einheitliche tie. Das vom Grundgesetz vorgesehene Parteiver- Gruppierung wären. Diese Grundannahme ist in ei- botsverfahren gibt dem Bundesverfassungsgericht nem wettbewerblichen Parteiensystem jedoch falsch. die Zuständigkeit und die Möglichkeit, unmittelbar Hier ist nun über ein drittes, das wahrscheinlich in den politischen Prozess einzugreifen. In diesem wichtigste Verständnis der Rolle von Parteien zu Verfahren stellt das Bundesverfassungsgericht einen sprechen: nämlich von den Parteien als Vertreter ei- echten Hüter der Verfassung dar. Aber sowohl bei ner gesellschaftlichen Gruppe. Wenn sich das Bun- dem von einer intensiven Debatte über die politische desverfassungsgericht mit dieser Rolle der Parteien Opportunität begleiteten KPD-Verbotsverfahren9 als befasst, spielt es endlich die klassische Rolle einer auch bei dem nur wegen Verfahrensfehlern geschei- Verfassungsgerichtsbarkeit: die des Hüters der Min- terten NPD-Verbotsverfahren10 erkennt man eine derheit und der Opposition. Diese Sichtweise fließt deutliche Zurückhaltung des Bundesverfassungsge- auch in die Entscheidungen des Bundesverfassungs- richts. Dies würde die Feststellung stützen, wonach gerichts mit ein, die sich mit den ersten beiden Rol- eine Verfassungsgerichtsbarkeit, zumindest sie al- len der Parteien befassen. So war etwa in Bezug auf lein, die Verantwortung als Hüter der Verfassung die Parteienfinanzierung die SPD in den 50er und nicht gänzlich übernehmen könnte. 60er Jahren als damalige Oppositionspartei ur- sprünglich ein Gegner der Steuerbegünstigung von Verstehen wir die Parteien als eine besondere Grup- Parteienspenden und der staatlichen Parteienfinan- pierung, deren Mitglieder im Vergleich zu normalen zierung. Deswegen war das von der SPD regierte Bürgern mehr Einfluss auf das politische Handeln Land Hessen in den früheren Verfahren vor dem ausüben, können die Parteien als eine „Politische Bundesverfassungsgericht Antragsteller.14 Aber an- Klasse“ bezeichnet werden. Als solche haben die gesichts des zunehmenden Mitgliederschwunds seit Parteien, insbesondere die etablierten Parteien, ein den 70er Jahren hat die SPD dann eine Verstärkung eigenes Interesse daran, ihren Einfluss auf den der staatlichen Parteienfinanzierung mitgetragen. Staatsapparat zu monopolisieren oder mit Hilfe staat- Damals hatten es die Die Grünen übernommen, ge- licher Mittel ihr Vorrecht zu verstärken. In Anbe- gen die staatliche Parteienfinanzierung vorzugehen.15 tracht einer funktionsfähigen Demokratie äußert sich Als nach den 90er Jahren die Partei Die Grünen zu das Bundesverfassungsgericht von Anfang an nie- den etablierten Parteien zählte und sich als solche mals im Prinzip gegen ein Privileg von Parteien. mit der Parteifinanzierung zufrieden zeigte, fanden Sperrklausel? Ja, aber nur eine niedrigere Schwelle.11 sich mit anderen kleinen Parteien neue Ankläger ge- Staatliche Parteienfinanzierung? Ja, aber nur für gen die ungleiche Parteienfinanzierung, wenn auch Wahlkostenerstattung12 oder (später) maximal in nicht gegen die Parteienfinanzierung als solche.16 An diesem Beispiel wird wunderbar deutlich, dass eine 8 Gerhard Leibholz/Hans Reif, Verfassungsrechtliche Stellung und Innere Ordnung der Parteien: Ausführung und Anwen- dung der Art. 21 und 38 I 2 des Grundgesetzes, Tübingen 12 1951, S. C7-26. BVerfGE 20, 56. 13 9 Hans-Dietrich Genscher, Möglichkeit einer Wiederzulassung BVerfGE 85, 264. der KPD, in: NJW 1967, S. 164-167. 14 BVerfGE 8, 51; BVerfGE 20, 56. 10 BVerfGE 107, 339. 15 BVerfGE 73, 40; BVerfGE 85, 264. 11 BVerfGE 1, 208. 16 BVerfGE 111, 382.

120 MIP 2016 22. Jhrg. Cheng – Bundesverfassungsgericht im Parteienstaat Deutschland [...] „Aufgespießt“

Parteiendemokratie eine Minderheits- und Oppositi- onsdemokratie sein soll.

D. Schlussfolgerung Dank ihrer Koordinationsfunktion spielen die Partei- en eine positive Rolle in der modernen Demokratie. Von dem politischen Wettbewerb der Parteien er- warten die Bürger Öffentlichkeit und Vorhersehbar- keit der Ausübung von Staatsgewalt. Jedoch ist auch das Bundesverfassungsgericht ein Staatorgan, das trotz seiner überragenden Bedeutung von diesem politischen Wettbewerb ausgenommen ist. Die dar- aus folgende mangelnde Durchsichtigkeit und Vor- hersehbarkeit können nur durch wohlbegründete Ent- scheidungen ausgeglichen werden. Das „schwarze Kästchen“ Bundesverfassungsgericht ist ein Sonder- bereich in der deutschen modernen, hellen Demokra- tie. Um potentieller Kritik an einem undemokrati- schen Bundesverfassungsgericht zu begegnen, ist die fast immer zurückhaltende Position der Gerichtsent- scheidungen eine vernünftige verfassungspolitische Strategie. Die politische Neutralität und das unpar- teiliche oder überparteiliche Ansehen sind auch Vor- aussetzungen für die Funktionsfähigkeit des Bundes- verfassungsgerichts. Obwohl eine stark formalisierte juristische Me- thodik, insbesondere innerhalb der deutschen Rechtswissenschaft, einen zusätzlichen Beitrag zur Autorität des Bundesverfassungsgerichts leistet, hängt sein Ansehen dennoch maßgeblich von der Zu- stimmung des Volkes ab, nicht nur der politischen Elite, sondern auch der normalen Bürger. Das Bun- desverfassungsgericht muss nicht nur für Rechtssi- cherheit sorgen, sondern dabei auch die Auswirkun- gen seiner Entscheidungen, die finanzielle Lage des Staates, den Geist der Zeit usw. mitbedenken. In die- ser Hinsicht wird sich das Bundesverfassungsgericht wohl wie eine Partei verhalten, wenn auch mit dem Bemühen um politische Neutralität. Wenn das Bun- desverfassungsgericht eine politisch unvernünftige Entscheidung getroffen hat, sind die Trennung zwi- schen Recht und Politik sowie die Formalität der Rechtswissenschaft eine gute Pufferzone. Aber der Vorteil dieses „schwarzen Kästchens“ Bundesverfas- sungsgericht liegt darin, dass es nur ein kleiner Bau- stein innerhalb der demokratischen Ordnung des Grundgesetzes ist, nicht in seiner dunklen Farbe, die nur im Zusammenspiel mit den anderen bunten Bau- steinen der Demokratie akzeptabel ist.

121 „Aufgespießt“ Zumkeller-Quast – Parteischiedsgerichtliche Normenkontrollbefugnis und deren Kontrollmaßstab MIP 2016 22. Jhrg.

Parteischiedsgerichtliche Normenkontroll- keine Dispositionsbefugnis vorliege.4 Daher dürfe befugnis und deren Kontrollmaßstab eine Normenkontrolle bzw. eine Feststellung der Geltung einer Satzungsnorm nur von staatlichen Ge- richten durchgeführt werden. Eine andere Auslegung Florian Zumkeller-Quast1 des § 14 I 1 Alt. 2 PartG verkenne die unterschiedli- che Bedeutung von Anwendung einer Norm und An- I. Einleitung wendbarkeit derselben. Letztere sei nicht mehr Teil der Zuweisung in § 14 I 1 Alt. 2 PartG.5 Art. 21 I 3 GG schreibt den Parteien eine demokrati- sche innere Ordnung vor. Weitgehend wird darunter 2. Praxis auch die Anforderung zur Erfüllung rechtsstaatlicher Der Meinungsstand in der Rechtsanwendungspraxis Grundsätze verstanden, die in § 14 PartG mit der zur Normenkontrollbefugnis wird im Folgenden an- Pflicht zur Einrichtung von Parteischiedsgerichten 2 hand der Rezeption des § 14 I 1 Alt. 2 PartG in den konkretisiert wird. Das Parteiengesetz weist den Satzungen und der Rechtsprechung ausgewählter Parteischiedsgerichten diverse Mindestzuständigkei- Parteien (a.) untersucht. Im Anschluss wird die ein- ten zu. Nach § 14 I 1 Alt. 2 PartG sind die Partei- schlägige Rechtsprechung der staatlichen Gerichts- schiedsgerichte unter anderem für „Streitigkeiten barkeit betrachtet (b.). über Auslegung und Anwendung der Satzung” zu- ständig. Darüber, wie diese Zuständigkeitszuweisung a) Parteien in Bezug auf Normenkontrollen zu verstehen ist, be- Analysiert werden die Bundestagsparteien mit Aus- stehen unterschiedliche Auffassungen. Dieser Bei- nahme der reinen Landespartei CSU. trag stellt den Meinungsstand in Literatur und Praxis zur Normenkontrollbefugnis dar (II.), nimmt dazu aa) CDU Stellung (III.), stellt Überlegungen zum Umfang des 6 Kontrollmaßstabes vor (IV.) und schließt mit einer Die Parteigerichtsordnung der CDU enthält für die Zusammenfassung (V.). Kreisschiedsgerichte in § 11 Nr. 5 und für die Landes- schiedsgerichte in § 13 I Nr. 6 für die jeweilige Sat- II. Meinungsstand zungsebene eine § 14 I 1 Alt. 2 PartG entsprechende Zuständigkeitszuweisung. Für Streitigkeiten über die 1. Literatur Bundessatzung der CDU fehlt im Zuständigkeitskata- Die herrschende Meinung in der Literatur betrachtet log für das Bundesparteigericht (CDU-BPG) in § 14 eine Kontrolle des parteiinternen Rechts auf Verein- der Parteigerichtsordnung eine entsprechende Zu- barkeit mit höherrangigem Recht als von § 14 I 1 ständigkeitszuweisung, es muss daher davon ausge- Alt. 2 PartG gedeckt.3 gangen werden, dass der Satzungsgeber diese Aus- lassung planvoll bedacht hat. Kressel hingegen ist der Ansicht, die Normenkon- trolle des innerparteilichen Rechts sei kein Anwen- Das CDU-BPG deutet die entsprechenden Regelun- dungsfall des § 14 I 1 Alt. 2 PartG, da diesbezüglich gen der Parteigerichtsordnung lediglich im Sinne ei- ner instanziellen Zuständigkeitsabgrenzung und ent- nimmt ihnen gerade keinen Anspruch auf (eine ab- 1 Der Autor ist Student der Rechtswissenschaft an der Goethe- Universität Frankfurt am Main und war 2013-2015 Richter strakte) Normenkontrolle, da dies einen Eingriff in am Bundesschiedsgericht der Piratenpartei Deutschland. die ausschließliche Normsetzungskompetenz des 7 2 Graf Kerssenbrock, Der Rechtsschutz des Parteimitgliedes vor Parteitages darstellen würde. Lediglich im Rahmen Parteischiedsgerichten, 1994, S. 29 ff.; Heimann, Die eines anderweitig zulässigen Klageantrags erkennt Schiedsgerichtsbarkeit der politischen Parteien in der Bundes- das CDU-BPG eine mögliche Normenkontrollbefug- republik Deutschland, 1977, S. 42; Seifert, Die politischen Parteien im Recht der Bundesrepublik Deutschland, 1975, S. 250; Morlok, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetzkommentar, 4 Kressel, Parteigerichtsbarkeit und Staatsgerichtsbarkeit, 1998, Bd. II, 3. Aufl. 2015, Art. 21 Rn. 141; Lenski, Parteiengesetz S. 155 f. und Recht der Kandidatenaufstellung, 2011, § 14 Rn. 1. 5 Kressel (Fn. 4), S. 156 ff. 3 S. statt vieler Heimann (Fn. 2), S. 301 f.; Graf Kerssenbrock 6 (Fn. 2), S. 41, 72; Henke, in: Bonner Kommentar, 64. Lfg. Stand: 26.1.15. Nov. 1991, Art. 21 Rn. 260; Lenski (Fn. 2), § 14 Rn. 9; Ein- 7 Urt. v. 25.2.91 – BPG 5/89; Urt. v. 22.3.95 – BPG 6/93; Urt. schränkend auf den Fall der Kontrolle lediglich schon beste- v. 16.4.02 – BPG 6/2001; Entscheidungen online veröffent- henden Satzungsrechts Wißmann, in: Kersten/Rixen, Partei- licht in der Sammlung der Rechtsprechung oberster Partei- engesetz (PartG) und europäisches Parteienrecht, 2009, § 14 schiedsgerichte des PRuF, http://docserv.uni-duesseldorf.de/ Rn. 14, 15 sowie dort Fn. 23. search/search-judgment.xml.

122 MIP 2016 22. Jhrg. Zumkeller-Quast – Parteischiedsgerichtliche Normenkontrollbefugnis und deren Kontrollmaßstab „Aufgespießt“ nis in Form der inzidenten Feststellung der Anwend- auch bestehendes Satzungsrecht der schiedsgerichtli- barkeit einer Norm an.8 chen Normenkontrolle unterfallen.14 Als Maßstab legt sie dabei Verfassungs- und Gesetzesrecht sowie bb) Die Grünen höherrangiges Satzungsrecht an. Die Bundessatzung der Grünen9 enthält im Zustän- dd) SPD digkeitskatalog keine Referenz auf den Wortlaut des § 14 I 1 Alt. 2 PartG. Allerdings ist die allgemeine In § 21 ihrer Schiedsordnung15 regelt die SPD aus- Aufgabenbeschreibung für die Schiedsgerichte in führlich ein Statutenstreitverfahren, welches zwar als § 19 I Nr. 1 so gefasst, dass eine Subsumtion jeweils kontradiktorisches Verfahren stattfinden kann, aber beider Alternativen des § 14 I 1 PartG unter die je- nicht muss16 und auch nur in einigen Fällen über- weilige Zuständigkeitsnorm möglich und richtig er- haupt eine subjektive Betroffenheit verlangt17. Die- scheint. Eine Antragsbefugnis ergibt sich nach § 3 ses Verfahren befasst sich neben reinen Interpretati- Schiedsgerichtsordnung zumindest aus persönlicher onsfragen auch mit der Vereinbarkeit mit höherran- Betroffenheit, sodass wohl eine konkrete Normen- gigem Recht,18 ein direktes Verfahren gegen Ände- kontrolle durch die Parteischiedsgerichtsbarkeit in rungsbeschlüsse ist allerdings nicht vorgesehen.19 Es solchen Fällen möglich ist. dürfte aufgrund dieser Eigenschaften am ehesten mit einer umfassenden abstrakten Normenkontrolle ver- In seiner Rechtsprechung hat das Bundesschiedsge- gleichbar sein, auch wenn es mit der klarstellenden richt der Grünen mehrfach eine Normenkontrollbe- Interpretation der anwendbaren Satzungsvorschriften fugnis angenommen. Dabei spielte es keine Rolle, ob etwas enthält, das diesem fremd ist und somit eine es um die Kontrolle von Satzungsänderungen10 oder Gleichsetzung verbietet. von bestehendem Satzungsrecht11 ging. Als Kontroll- maßstab wendet das Bundesschiedsgericht der Grü- Dies spiegelt sich so auch in der Rechtsprechung der nen dabei sowohl Verfassungs- und Gesetzesrecht Bundesschiedskommission der SPD. Anfechtungen sowie unter Verweis auf § 6 I 2 PartG auch höher- einzelner Satzungsänderungsbeschlüsse werden nicht rangiges Satzungsrecht an.12 als zulässige Verfahrensart behandelt,20 allerdings ist im Rahmen des Statutenstreitverfahrens die Verein- cc) Die Linke barkeit mit höherrangigen Satzungen und Gesetzes- Die Schiedsordnung der Partei Die Linke (SchO)13 sowie Verfassungsrecht ein wesentlicher Punkt.21 enthält in § 1 I 2 Alt. 1 schlicht einen Verweis auf b) Rechtsprechung die Zuständigkeitszuweisungen des PartG. Weder diesem Zuständigkeitskatalog noch sonstigen Be- Vor den staatlichen Gerichten wurde die Frage der stimmungen der SchO lässt sich ein Anhaltspunkt Normenkontrollbefugnis von Parteischiedsgerichten dafür entnehmen, von welchem Verständnis der Nor- bisher kaum aufgeworfen. menkontrolle der Satzungsgeber ausgegangen ist. 14 Urt. v. 12.2.11 – BSchK/109-112/2010, veröffentlicht in der Die Bundesschiedskommission der Linkspartei ge- Sammlung der Rechtsprechung oberster Parteischiedsgerichte steht der Schiedsgerichtsbarkeit allerdings eine um- des PRuF, http://docserv.uni-duesseldorf.de/search/search- fassende Normenkontrollbefugnis formeller und ma- judgment.xml. terieller Natur zu, sodass sowohl Änderungen als 15 Stand 10.3.14. 16 § 21 Abs. 5 SPD-Schiedsordnung fordert lediglich eine ent- 8 Urt. v. 25.2.91 – BPG 5/89, veröffentlicht in der Sammlung sprechende Anwendung der Vorschriften des Parteiordnungs- der Rechtsprechung oberster Parteischiedsgerichte des PRuF, verfahrens, dessen Vorschriften für Beteiligte in § 9 und das http://docserv.uni-duesseldorf.de/search/search-judgment.xml. generelle Verfahren bzgl. der Beteiligten nach § 6 gerade 9 Stand: 29.6.15. nicht direkt übertragbar sind. 17 10 Urt. v. 15.9.94 – 14/94, veröffentlicht in der Sammlung der Siehe hierzu ausführlich in diesem Heft Rixecker, Das Statu- Rechtsprechung oberster Parteischiedsgerichte des PRuF, tenstreitverfahren nach der Schiedsordnung der SPD, MIP http://docserv.uni-duesseldorf.de/search/search-judgment.xml. 2016, S. 5 ff., zur Antragsbefugnis konkret S. 6. 18 11 Urt. v. 19.12.87 – 9/87; Urt. v. 7.11.98 – 98-08, Entscheidun- Ibid, S. 12. gen veröffentlicht in der Sammlung der Rechtsprechung 19 Ibid, S. 6 m.w.N. oberster Parteischiedsgerichte des PRuF, http://docserv.uni- 20 Ibid. duesseldorf.de/search/search-judgment.xml. 21 Zum Maßstab der SPD-Schiedskommission s. Urt. v. 13.9.89 12 Urt. v. 15.1.11 – 5/2010, veröffentlicht in der Sammlung der – 5/1989/St; s. auch Urt. v. 23.8.13 – 01/2013/St; Entschei- Rechtsprechung oberster Parteischiedsgerichte des PRuF, dungen veröffentlicht in der Sammlung der Rechtsprechung http://docserv.uni-duesseldorf.de/search/search-judgment.xml. oberster Parteischiedsgerichte des PRuF, http://docserv.uni- 13 Stand: 20.7.07. duesseldorf.de/search/search-judgment.xml.

123 „Aufgespießt“ Zumkeller-Quast – Parteischiedsgerichtliche Normenkontrollbefugnis und deren Kontrollmaßstab MIP 2016 22. Jhrg.

Das LG Hamburg22 ist der Ansicht, dass § 14 I 1 Gewaltenteilung widerspreche,27 tragen nicht, da zu- Alt. 2 PartG mit der Zuständigkeitsregelung „Strei- mindest ohne entsprechend normierte Befugnis auch tigkeiten über Auslegung und Anwendung der Sat- die Gewaltenteilung kein mit höherem Recht unver- zung” eine eigene, vollständige Normenkontrollbe- einbares Satzungsrecht erzwingen kann und den Par- fugnis für Parteischiedsgerichte begründet. Das Ge- teien aufgrund ihrer grundgesetzlich garantierten Au- richt legt dar, dass die Worte „Auslegung und An- tonomie die authentische Auslegung ihrer Satzung zu- wendung” eine inhaltliche Doppelung wären, die im gestanden werden muss.28 § 14 I 1 Alt. 2 PartG ist als Widerspruch zum systematischen Auslegungsgrund- zumindest auch eigene Verfahrensart zu verstehen, satz der Nichtredundanz stünde, wenn Anwendung wobei die systematische Auslegung des LG Hamburg hier lediglich als Anwendung von Satzungsvorschrif- überzeugt, da die Rechtsordnung einem Schiedsge- ten auf den konkreten Einzelfall verstanden würde. richt nicht auferlegen kann, eine Norm, die es für un- Vielmehr müsse Anwendung hier im Gegensatz zu vereinbar mit höherrangigem Recht hält, dennoch einfacher Auslegung als Frage des wie und des ob anzuwenden und so eine im Ergebnis rechtswidrige der Anwendung und somit auch im Sinne von An- Entscheidung zu produzieren. Einen Anhaltspunkt wendbarkeit einer Satzungsnorm verstanden werden, für ein zwingend erforderliches eigenständiges ab- sodass die Parteigerichtsbarkeit auch Normenkontroll- straktes Normenkontrollverfahren ist dem PartG al- verfahren der parteieigenen Satzungen durchführen lerdings nicht zu entnehmen, sodass die Möglichkeit könne und müsse. für ein konkretes Normenkontrollverfahren den ge- setzlichen Anforderungen des § 14 I 1 Alt. 2 PartG Das OLG Naumburg23 nimmt eine Normenkontroll- genügt. Gleichwohl bleibt es den Parteien unbenom- befugnis der Parteischiedsgerichtsbarkeit aus § 14 men, satzungsrechtlich weitergehende Normenkon- PartG als gegeben an, da die Parteien über ihre inne- trollbefugnisse vorzusehen. ren Angelegenheiten autonom entscheiden müssten und die staatliche Gerichtsbarkeit auch dann auf IV. Kontrollmaßstab Willkür- und Vertretbarkeitskontrolle beschränkt sei. Dies schränkt die Rechtsprechung zur Wahlprüfung24 Unstreitig hat jede Kontrolle von Satzungsrecht min- zwar dahingehend ein, dass eine volle Prüfung zwin- destens die Normen des zwingenden Verfassungs- genden staatlichen Rechts, insbesondere des Wahl- und Gesetzesrechts als Prüfungsmaßstab heranzuzie- rechts, möglich sei, nimmt aber wiederum den davon hen. Eine dieser Normen, § 6 I 2 PartG, zwingt die nicht betroffenen Bereich der inneren Ordnung ex- Gebietsverbände dazu, ihre Satzung in Einklang mit 25 den Satzungen übergeordneter Gliederungen zu hal- plizit aus. Auch die Verfassungsrechtsprechung 29 nimmt demnach eine Normenkontrollbefugnis der ten , weshalb Satzungsbestimmungen auch auf ihre Parteischiedsgerichtsbarkeit an, da die Parteisatzun- Vereinbarkeit mit höherrangigem Satzungsrecht zu gen in diesem Bereich von den staatlichen Gerichten überprüfen sind. Als politischen Organen muss es den Parteischiedsgerichten im Rahmen ihrer Ten- nur sehr eingeschränkt kontrolliert werden dürfen 30 und es einer authentischen Auslegung durch die Par- denzfreiheit erlaubt sein, auch die politische Pro- teischiedsgerichtsbarkeit bedarf. grammatik der Partei zur Auslegung von Satzungs- normen heranzuziehen, da diese die Identität und das III. Stellungnahme Selbstverständnis der Partei beschreiben und so zum Verständnis ihrer inneren Ordnung beitragen. Gegen Die überzeugenderen Argumente sprechen für die eine darüber hinausgehende direkte Heranziehung grundsätzliche Annahme einer umfassenden Normen- des Programms als Normenkontrollmaßstab spricht kontrollbefugnis der Parteischiedsgerichtsbarkeit. Be- aber, dass das Programm selbst, auch wenn es denken wie von Kressel, dass das staatliche Recht- schriftlich niederlegt werden muss, lediglich von de- sprechungsmonopol gefährdet sei,26 oder des CDU- BPG, dass eine solche Kontrolle in die ausschließli- chen Rechte des Parteitags eingreife und somit der 27 CDU-BPG, Urt. v. 25.2.91, Az. BPG 5/89. 28 Risse, Der Parteiausschluß, 1985, S. 239; Morlok, in: Dreier (Fn. 2), Art. 21 Rn. 142; BVerfGE 89, 243, 264; Wißmann, 22 Urt. v. 27.4.89 – 77 O 307/88, abgedr. bei Kressel (Fn. 4), S. 278. in: Kersten/Rixen (Fn. 3), § 14 Rn. 36 ff. 29 23 Urt. v. 30.9.14 – 1 W 26/14. Ausführlich hierzu in diesem Heft: Gauseweg, Die Satzung von Parteiuntergliederungen zwischen Autonomie und Homo- 24 BVerfGE 89, 243; HVerfG NVwZ 1993, 1083, 1087. genitätsgebot, MIP 2016, S. 92 ff. 25 BVerfGE 89, 243, 264. 30 Morlok, Parteiengesetz, in: Das Deutsche Bundesrecht, 2. Aufl. 26 Kressel (Fn. 4), S. 156 ff. 2013, § 14 Rn. 14.

124 MIP 2016 22. Jhrg. Zumkeller-Quast – Parteischiedsgerichtliche Normenkontrollbefugnis und deren Kontrollmaßstab „Aufgespießt“ skriptiv-normativem Charakter ist.31 Anders verhält es sich jedoch mit den Grundsätzen der Partei, die, obwohl als ideologisch-programmatische Kernidenti- tät32 der Programmatik entspringend, Mitglieder wie Gliederungen zur Achtung verpflichten und daher nach §§ 10 IV, 16 I 1 PartG normativen Charakter entfalten.33 Ein Beschluss des Bundesverbandes, sei- ne Satzung entgegen einem solchen Grundsatz zu än- dern, dürfte jedoch eine implizierte Aufgabe des Grundsatzes darstellen, weswegen in einem solchen Fall die normative Bindung entfällt. Anders sieht es jedoch aus, wenn ein nachgeordneter Gebietsverband seine Satzung in direkten Widerspruch zu einem Grundsatz der Partei bringt. In einem solchen Fall können dem Gebietsverband nach § 16 I 1 PartG Sanktionen der Verbandsgewalt drohen.34 Bei Be- stand der Satzung gegenüber dem weiterbestehenden Grundsatz entstünde daher ein Wertungskonflikt, der gelöst werden muss. Aus diesem Grund müssen Sat- zungen nachgeordneter Gebietsverbände im Nor- menkontrollverfahren auch am Maßstab der normati- ven Verpflichtung politischer Grundsätze gemessen werden.

V. Zusammenfassung Den Parteischiedsgerichten steht aus § 14 I 1 Alt. 2 PartG mindestens eine konkrete Normenkontrollbe- fugnis zu. In Literatur, Rechtsprechung und in der Praxis der Schiedsgerichtsbarkeit der analysierten Parteien ist dies größtenteils anerkannt. Maßstab für die Normenkontrolle ist zwingendes Verfassungs- und Gesetzesrecht sowie das Satzungsrecht der über- geordneten Gliederungen. Die politischen Grundsät- ze können normativen Charakter entfalten und daher ebenfalls zur Normenkontrolle des Rechts nachge- ordneter Gebietsverbände herangezogen werden.

31 Roßner, Parteiausschluss, Parteiordnungsmaßnahmen und in- nerparteiliche Demokratie, 2014, S. 101. 32 Morlok (Fn. 30), § 10 Rn. 12; Lenski (Fn. 2), § 10 Rn. 55 ff., § 16 Rn. 9; Ipsen, Parteiengesetz, 2008, § 10 Rn. 30 f.; Wiß- mann, in: Kersten/Rixen (Fn. 3), § 10 Rn. 35. 33 Zum normativen Charakter Roßner (Fn. 31), S. 102 ff. 34 Zur Sanktionsandrohung Risse (Fn. 28), S. 239.

125 Aufgespießt Prenzel – Rederecht in der Bundesversammlung [...] MIP 2016 22. Jhrg.

Rederecht in der Bundesversammlung: Ist reits im Rahmen der 13. Bundesversammlung stellte das Ausspracheverbot des Art. 54 Abs. 1 GG Norbert Lammert diesen Antrag gar nicht erst zur noch zeitgemäß? Abstimmung im Plenum, weil er „ganz offenkundig gegen das Ausspracheverbot des Art. 54 des Grund- gesetzes [verstößt] und deshalb unzulässig [ist]“.5 Anmerkung zum Urteil des BVerfG vom 10. Juni 2014, 2 BvE 2/09, 2 BvE 2/10, und zum Beschluss In ihren wesentlichen Zügen wiederholten sich diese des BVerfG vom 16. Dezember 2014, 2 BvE 2/12 Geschehnisse sowohl im Rahmen der 14. als auch im Rahmen der 15. Bundesversammlung.

Katharina-Isabelle Prenzel1 II. Antragsbegründung Die Begründung des Antrages auf Feststellung der I. Einleitung Verletzung der Rechte als Mitglied der 13., 14. und 15. Bundesversammlung durch Verweigerung des Ist den Mitgliedern der Bundesversammlung ein Re- Rederechts stützt sich auf folgende wesentliche Er- derecht im weiteren Sinne2 zuzubilligen oder ver- wägungen: stößt ein solches gegen das Ausspracheverbot des Art. 54 Abs. 1 S. 1 GG? Genauer: Ist das Rederecht Die Regelungen über das freie Abgeordnetenmandat als notwendigerweise einhergehend sowohl mit der und das damit eng verbundene Rederecht seien auf persönlichen Vorstellung der Präsidentschaftskandi- die Mitglieder der Bundesversammlung anwendbar, Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG analog, jedenfalls gemäß daten auf der einen Seite als auch mit der daran an- 6 schließenden politischen Diskussion über und mit ih- Verfassungsgewohnheitsrecht. Dieses Rederecht, nen auf der anderen Seite zu verstehen? das Pastörs als notwendigerweise einhergehend so- wohl mit der persönlichen Vorstellung der Präsident- Mit ebendiesen Fragen hatte sich das BVerfG in den schaftskandidaten als auch mit der daran anschlie- von Udo Pastörs3 gegen die 13., 14. und 15. Bundes- ßenden politischen Diskussion über und mit ihnen versammlung sowie deren jeweiligen Vorsitzenden versteht, leite sich aus den Grundsätzen der Demo- Norbert Lammert geführten Organstreitverfahren zu kratie und des Parlamentarismus ab und bedürfe befassen.4 Der Antragsteller rügte anlässlich der Wie- folglich keiner gesonderten Normierung.7 Eine per- derwahl Horst Köhlers, der Wahl Christian Wulffs sönliche Vorstellung der Präsidentschaftskandidaten sowie derjenigen Joachim Gaucks zum Bundespräsi- sehe als solche gerade keine Diskussion vor und ver- denten eine Verletzung seiner Rechte als Mitglied stoße dementsprechend nicht gegen das grundgesetz- der Bundesversammlung. liche Ausspracheverbot. Das BPräsWahlG stehe dem Jeweils im Vorfeld der streitgegenständlichen Bundes- ebenfalls nicht entgegen: Sowohl Art. 54 Abs. 1 versammlungen stellte Pastörs einen Antrag auf Auf- S. 1 GG als auch § 9 Abs. 1 S. 3 BPräsWahlG gin- nahme einer bis zu dreißigminütigen persönlichen gen wegen der grundsätzlich allgemeinen Bekannt- Vorstellung der Präsidentschaftskandidaten in die heit der Präsidentschaftskandidaten lediglich von der Tagesordnung, mit dem er wiederholt scheiterte. Be- Entbehrlichkeit, nicht aber dem Verbot einer Vor- stellung aus. Die Chancengleichheit gebiete es, diese im Einzelfall zu ermöglichen, sofern der Kandidat 1 Die Autorin ist Studentin im Studiengang Rechtswissenschaft an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf und studenti- (ausnahmsweise) keine hohe Bekanntheit genieße. sche Hilfskraft am PRuF. Schließlich sei es für die Mitglieder der Bundesver- 2 Das Rederecht im weiteren Sinne wird im Rahmen dieses Bei- sammlung notwendig zu wissen, wer zur Wahl stehe. trages als das Recht auf eine persönliche Vorstellung der Bun- Das passive Kandidatenwahlrecht sowie das Rede- despräsidentschaftskandidaten einerseits sowie als Diskussion recht seien im Wege praktischer Konkordanz mitein- über und mit diesen in Hinblick auf politische Auffassungen ander in Einklang zu bringen.8 und aktuelle Themen andererseits, also als doppeldeutiger Be- griff, definiert. Sofern im Folgenden auf ein „Rederecht“ der Mitglieder der Bundesversammlung eingegangen wird, ist dieses 5 im Sinne des Rederechts im weiteren Sinne zu verstehen. BVerfG, Urteil vom 10.06.2014, 2 BvE 2/09, 2 BvE 2/10, ju- ris Rn. 11. 3 Der Antragsteller gehört der NPD an und war von Januar bis 6 November 2014 deren Bundesvorsitzender. Ebd., juris Rn. 26 f.; BVerfG, Beschluss vom 16.12.2014, 2 BvE 2/12, juris Rn. 9. 4 BVerfG, Urteil vom 10.06.2014, 2 BvE 2/09, 2 BvE 2/10, online 7 veröffentlicht bei juris = NVwZ 2014, S. 1149 ff.; BVerfG, Be- BVerfG, Urteil vom 10.06.2014, 2 BvE 2/09, 2 BvE 2/10, ju- schluss vom 16.12.2014, 2 BvE 2/12, online veröffentlicht bei ris Rn. 28. juris = NVwZ 2015, S. 216 ff. 8 Ebd., juris Rn. 31.

126 MIP 2016 22. Jhrg. Prenzel – Rederecht in der Bundesversammlung [...] Aufgespießt

III. Rechtliche Würdigung durch das BVerfG tät14 zu verstehen. Eine gegenüber anderen Organen möglichst unabhängige Stellung sei erforderlich. Der Der Standpunkt der Richter des Zweiten Senats des Bundespräsident sei keiner der drei Gewalten zuzu- BVerfG sticht im Ergebnis bereits in den Leitsätzen ordnen und müsse Distanz wahren zu Zielen und Ak- deutlich hervor: tivitäten politischer Parteien und gesellschaftlicher „Die Bundesversammlung hat nach Art. 54 Abs. 1 GG Gruppen.15 ausschließlich die Aufgabe, den Bundespräsidenten Bei der Wahl des Bundespräsidenten komme es laut zu wählen; sie soll in ihren Abläufen die besondere Auffassung des BVerfG insbesondere auf die Sicht- Würde des Amtes unterstreichen. barkeit des Wahlaktes in seinen realen und symboli- Den Mitgliedern der Bundesversammlung sind schen Dimensionen an; öffentliche Debatten seien in durch Art. 54 GG außer dem Recht zur Teilnahme diesem Zusammenhang gerade nicht vorgesehen.16 an der Wahl nur begrenzte Rechte zugewiesen. Ihre „Das Ausspracheverbot dient dem Schutz der Würde Rechtsstellung entspricht nicht der der Mitglieder des Wahlakts, der dem parteipolitischen Streit entho- des Bundestages.“9 ben sein soll […]. Es richtet sich deshalb nicht nur an die Mitglieder der Bundesversammlung, sondern „Das GG gewährleistet ihnen [den Mitgliedern der auch an die Kandidaten […]; es schließt daher auch Bundesversammlung] kein generelles Rede- und An- eine Vorstellung der Kandidaten durch diese selbst tragsrecht; Art. 54 Abs. 1 GG steht einer Personal- aus […]. Andernfalls bestünde die Gefahr, dass die und Sachdebatte der Mitglieder der Bundesversamm- 10 Bundesversammlung entgegen der Intention des lung über oder mit den Kandidaten entgegen.“ Ausspracheverbots zum Forum für eine politische Zur Urteilsbegründung im Einzelnen: Als Bundesver- (Selbst-)Darstellung würde. Damit die Bundesver- sammlungsvorsitzenden habe Norbert Lammert nicht sammlung ihre Aufgaben funktionsgerecht erfüllen die Pflicht oblegen, den Tagesordnungspunkt in Hin- kann, obliegt es den Mitgliedern, sich die für ihre blick auf die Vorstellung der Präsidentschaftskandi- Wahlentscheidung erforderlichen Informationen au- daten aufzunehmen.11 Den Mitgliedern der Bundes- ßerhalb der Bundesversammlung zu beschaffen.“17 versammlung stehe kein generelles Rederecht zu12, Insofern verstoße ein Rederecht also gegen das ver- die Bundesversammlung sei vielmehr ein reines fassungsrechtlich normierte Ausspracheverbot des Kreationsorgan.13 Als solchem komme ihr als einzige Art. 54 Abs. 1 S. 1 GG. Aufgabe die Wahl des Bundespräsidenten zu, im Rahmen derer sie die besondere Würde des Amtes IV. Ist das Ausspracheverbot des Art. 54 Abs. 1 des Bundespräsidenten unterstreichen solle. S. 1 GG noch zeitgemäß? Das BVerfG argumentiert mit den Erfahrungen der Das BVerfG hält hinsichtlich seiner bisherigen Weimarer Republik und vergleicht in diesem Zusam- Rechtsprechung an den von ihm entwickelten Grund- menhang die Stellung des damaligen Reichs- mit sätzen weiter fest.18 Diesem ist im Ergebnis und in derjenigen des heutigen Bundespräsidenten: Wäh- 14 BVerfG, Urteil vom 10.06.2014, 2 BvE 2/09, 2 BvE 2/10, ju- rend der Reichspräsident unmittelbar vom Volk ge- ris Rn. 91, 93 m.w.N. wählt wurde und ein mit gewichtigen Kompetenzen 15 Ebd., juris Rn. 95 m.w.N.; erneut aufgegriffen in BVerfG, Ur- ausgestattetes Gegengewicht zum Parlament darstell- teil vom 10.06.2014, 2 BvE 4/13, online veröffentlicht bei ju- te, sei der Bundespräsident als integrierende, die ris = NVwZ 2014, S. 1156 ff., juris Rn. 23, und in BVerfG, Einheit von Volk und Staat repräsentierende Autori- Urteil vom 16.12.2014, 2 BvE 2/14, online veröffentlicht bei juris = NVwZ 2015, S. 209 ff., juris Rn. 36; so auch: Badura, Staatsrecht, 6. Aufl. 2015, Kapitel E Rn. 73; Heun, in: Dreier (Hrsg.), Kommentar zum GG, 3. Aufl. 2015, Bd. 2, Art. 54 9 Ebd., Leitsätze. Rn. 12 m.w.N. Der Bundespräsident habe kaum genuine Regie- 10 BVerfG, Beschluss vom 16.12.2014, 2 BvE 2/12, Leitsatz 2a. rungsaufgaben, d.h. er sei eine unabhängige und weisungsfreie 11 BVerfG, Urteil vom 10.06.2014, 2 BvE 2/09, 2 BvE 2/10, ju- Instanz, die über dem alltäglichen, politischen Geschehen stehe ris Rn. 89; BVerfG, Beschluss vom 16.12.2014, 2 BvE 2/12, und zentrale Werte der Bundesrepublik Deutschland vermitteln juris Rn. 26. solle, so: Gröpl, Staatsrecht I, 5. Aufl. 2013, Rn. 1439. 16 12 BVerfG, Urteil vom 10.06.2014, Az: 2 BvE 2/09, 2 BvE 2/10, BVerfG, Urteil vom 10.06.2014, 2 BvE 2/09, 2 BvE 2/10, ju- juris Rn. 89; BVerfG, Beschluss vom 16.12.2014, 2 BvE ris Rn. 103; BVerfG, Beschluss vom 16.12.2014, 2 BvE 2/12, 2/12, juris Rn. 25. juris Rn. 25. 17 13 So auch: Herzog, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), Kommentar zum BVerfG, Urteil vom 10.06.2014, 2 BvE 2/09, 2 BvE 2/10, ju- Grundgesetz, 54. EL, Stand: Januar 2009, Art. 54 Rn. 27; ris Rn. 108 f. m.w.N. Kimminich, in: Bonner Kommentar zum Grundgesetz, 20. EL, 18 Vgl. hierzu BVerfG, Beschluss vom 14.03.2012, 2 BvQ Stand: Mai 1968, Vorbem. zu Art. 54-61 Rn. 2. 16/12, online veröffentlicht bei juris = NVwZ-RR 2012,

127 Aufgespießt Prenzel – Rederecht in der Bundesversammlung [...] MIP 2016 22. Jhrg. seinen wesentlichen Inhalten zuzustimmen. Proble- gerade keine ständige Bundeseinrichtung, sondern matisch erscheint auf den ersten Blick lediglich der vielmehr ein bloßer Wahlkörper ist, der einberufen oben dargestellte Begründungsansatz des BVerfG, und nach erfolgreicher Beendigung der Wahl wieder gestützt auf den Vergleich zwischen damaligem aufgelöst wird.25 Der Grund für die Schaffung eines Reichs- und heutigem Bundespräsidenten.19 derart speziellen Organs zur Bundespräsidentenwahl ist – wie das BVerfG zutreffend argumentiert – in Der Bundespräsident ist nach einhelliger Auffassung der Weimarer Republik zu suchen: Aufgrund der ne- das Staatsoberhaupt der Bundesrepublik Deutsch- gativen Erfahrungen mit der Weimarer Reichsverfas- land20; er ist sowohl eigenständiges Verfassungs- als sung („Hindenburg-Syndrom“)26 entschied der Ver- auch oberstes Bundesorgan, d.h. weder stilles Mit- fassunggeber von 1948/1949, den Bundespräsidenten glied der Bundesregierung noch deren Sprachrohr21. zur Verhinderung des Dualismus‘ von parlamentari- Seine – vorwiegend formellen und repräsentativen – schem und präsidentiellem System nicht (mehr) via Aufgaben und Befugnisse sind im Wesentlichen die Direktwahl vom Volk legitimieren zu lassen.27 Ausfertigung und Verkündung von Gesetzen (Art. 82 Abs. 1 S. 1 GG), die völkerrechtliche Vertretung der Kurz gesagt: Art. 54 Abs. 1 S. 1 GG normiert ein Bundesrepublik Deutschland nach außen (Art. 59 verfassungsrechtliches Ausspracheverbot für die Abs. 1 S. 1 GG), die Ernennung und Entlassung des Bundespräsidentenwahl, das im Wesentlichen dazu Bundeskanzlers (Art. 63 Abs. 1 GG), der Bundesmi- dienen soll, diese von jeder parteipolitisch gefärbten, nister (Art. 64 Abs. 1 GG), der Bundesrichter, Bun- die Autorität des zukünftigen Bundespräsidenten ge- desbeamten, Offiziere und Unteroffiziere (Art. 60 fährdenden Personaldebatte fernzuhalten.28 Dieses Abs. 1 GG) sowie der Mitglieder des BVerfG Ziel zur Wahrung der besonderen Würde des Amtes (§ 10 BVerfGG).22 Er soll den gesamten Staat nach des Bundespräsidenten29 steht grundsätzlich auch außen hin einheitlich vertreten, in seinem Amt soll Debatten und Absprachen im Vorfeld der Wahl sich die Kontinuität des Staates manifestieren.23 Das (Bundespräsidentenwahlkampf) entgegen. Grundgesetz räumt dem Bundespräsidenten – im Allerdings zeichnet sich die heutige Wirklichkeit Vergleich zum Reichspräsidenten – einen nur sehr durch eine ausgeprägte Medienöffentlichkeit aus, in eingeschränkten Kompetenzbereich ein.24 Seine der Informationsbeschaffung ein Leichtes ist; sich Wahl erfolgt durch die ausschließlich dafür geschaf- den modernen Medien wie Fernsehen, Internet und fene Bundesversammlung, ein besonderes Verfas- Radio gänzlich zu entziehen, ist beinahe unmöglich. sungsorgan, das sich dadurch auszeichnet, dass es Von daher erscheint es gerade im Rahmen dieser S. 537; BVerfG, Urteil vom 17.12.2001, 2 BvE 2/00, online Medienöffentlichkeit faktisch schier utopisch, einen veröffentlicht bei juris = DVBl. 2002, S. 193; BVerfG, Be- Bundespräsidentenwahlkampf verhindern zu wol- schluss vom 27.01.1994, 2 BvR 1693/92, online veröffent- len.30 Die Parteien bringen ihre Wunschkandidaten, licht bei juris = NJW 1994, S. 648; BVerfG, Urteil vom ihre Favoriten mit Hilfe der modernen Medien an die 19.07.1966, 2 BvE 1/62, 2 BvE 2/64, online veröffentlicht bei juris = MDR 1966, S. 906; BVerfG, Entscheidung vom 25 Burkiczak, JuS 2004, S. 278 (279) m.w.N.; Gröpl, Staatsrecht I, 11.07.1961, 2 BvG 2/58, online veröffentlicht bei juris = 5. Aufl. 2013, Rn. 1435; Ipsen, Staatsrecht I, 26. Aufl. 2014, NJW 1961, S. 1453. Rn. 516; Morlok/Michael, Staatsorganisationsrecht, 1. Aufl. 19 So bereits Hillgruber, JA 2014, S. 950 (953). 2013, Rn. 847. 20 Heun, in: Dreier (Hrsg.), Kommentar zum GG, 3. Aufl. 2015, 26 Das Hindenburg-Syndrom sei die „Absage an die Weimarer Bd. 2, Art. 54 Rn. 11 m.w.N.; Kimminich, in: Bonner Kom- Präsidialdemokratie“; der Bonner Verfassunggeber habe dem mentar zum GG, 20. EL, Stand: Mai 1968, Vorbem. zu heutigen Bundespräsidenten zahlreiche Kompetenzen vorent- Art. 54-61 Rn. 8; Lörler, ZRP 2014, S. 209. halten, die dem Reichspräsidenten hingegen zugestanden hät- 21 Fritz, in: Bonner Kommentar zum GG, 95. EL, Stand: Febru- ten, so: Isensee, NJW 1994, S. 1329. ar 2001, Art. 54 Rn. 114 m.w.N.; Lörler, ZRP 2014, S. 209. 27 Burkiczak, JuS 2004, S. 278 (279) m.w.N. 22 Kimminich, in: Bonner Kommentar zum GG, 20. EL, Stand: Mai 28 Ebd., S. 278 (280) m.w.N.; Fink, in: von Mangoldt/Klein/ 1968, Vorbem. zu Art. 54-61 Rn. 8; Lörler, ZRP 2014, S. 209. Starck (Hrsg.), Kommentar zum GG, 6. Aufl. 2010, Bd. 2, 23 Badura, Staatsrecht, 6. Aufl. 2015, Kapitel E Rn. 73, 76; Art. 54 Rn. 44 m.w.N.; Fritz, in: Bonner Kommentar zum Heun, in: Dreier (Hrsg.), Kommentar zum GG, 3. Aufl. 2015, GG, 95. EL, Stand: Februar 2001, Art. 54 Rn. 140; Heun, in: Bd. 2, Art. 54 Rn. 18 m.w.N.; Kimminich, in: Bonner Kom- Dreier (Hrsg.), Kommentar zum GG, 3. Aufl. 2015, Bd. 2, mentar zum GG, 20. EL, Stand: Mai 1968, Vorbemerkungen Art. 54 Rn. 34; Leisner, NJW 2009, S. 2938 (2939); Pieroth, zu Art. 54-61 Rn. 9; Lörler, ZRP 2014, S. 209. in: Jarass/ders. (Hrsg.), Kommentar zum Grundgesetz, 13. Aufl. 2014, Art. 54 Rn. 4. 24 Fritz, in: Bonner Kommentar zum GG, 95. EL, Stand: Februar 29 2001, Art. 54 Rn. 113; Leisner, in: Sodan (Hrsg.), Beck’scher BVerfG, Urteil vom 10.06.2014, 2 BvE 2/09, 2 BvE 2/10, ju- Kompakt-Kommentar zum GG, 2. Aufl. 2011, Art. 54 Rn. 1; ris Leitsatz 1. Pieroth, in: Jarass/ders. (Hrsg.), Kommentar zum Grundge- 30 Burkiczak, JuS 2004, S. 278 (280) m.w.N.; Leisner, NJW setz, 13. Aufl. 2014, Art. 54 Rn. 1 f. m.w.N. 2009, S. 2938.

128 MIP 2016 22. Jhrg. Prenzel – Rederecht in der Bundesversammlung [...] Aufgespießt

Öffentlichkeit; sie helfen ihnen, allgemeine Bekannt- spracheverbot des Art. 54 Abs. 1 S. 1 GG noch zeit- heit zu erlangen.31 Dieses Parteiverhalten hat not- gemäß ist, wie folgt zu beantworten: wendigerweise zur Folge, dass die Bundespräsident- Insbesondere in Hinblick auf die ausgeprägte Medien- schaftskandidaten bereits im Vorfeld der Bundesver- öffentlichkeit fand ein erheblicher Wandel der Ge- sammlung medial dargestellt werden – und das auf sellschaft insgesamt statt. In dieser heutigen, moder- vollkommen unterschiedliche Art und Weise: Aus- nen Gesellschaft scheint eine Bundespräsidenten- sichtsreiche Kandidaten, Favoriten der großen, star- wahl gänzlich ohne vorherige mediale Darstellung ken und einflussreichen Parteien, sind deutlich prä- der Kandidaten sowie gänzlich ohne damit verbun- senter in der Medienöffentlichkeit als andere, schein- denem Bundespräsidentenwahlkampf faktisch nicht bar unspektakuläre Kandidaten. möglich zu sein. Insoweit könnte an dieser Stelle die Sofern Leisner die Auffassung vertritt, es entspreche Frage gestellt werden, ob nicht in den vergangenen der ursprünglichen Idee des Verfassunggebers, dass Jahren und Jahrzehnten ein Verfassungswandel statt- die Bundespräsidentschaftskandidaten sich aufgrund gefunden hat, der das Ausspracheverbot des Art. 54 ihrer allgemeinen Bekanntheit nicht beweisen müss- Abs. 1 S. 1 GG als nicht mehr zeitgemäß erscheinen ten32, vermag dies in Hinblick auf die gesellschafts- lässt. Dieses ist jedoch im Ergebnis im Einklang mit politische Entwicklung des großen Einflusses der der Auffassung des BVerfG zu verneinen.33 Zwar heutigen Medienöffentlichkeit nicht zu überzeugen. tragen – neben den politischen Parteien – die moder- Welche Persönlichkeit steckt in dem Kandidaten? nen Medien zweifelsfrei durch ihre jedermann zu- Welche politischen und gesellschaftlichen, morali- gängliche Berichterstattung erheblich zur Willensbil- schen Ansichten und Überzeugungen vertritt er? Ist dung innerhalb der Bevölkerung bei. Allerdings sollte er geeignet und in der Lage, die Bundesrepublik sich der Bundespräsidentenwahlkampf, wenn er denn Deutschland nach außen zu repräsentieren? Stand er schon stattfinden muss, auf das Vorfeld der Bundes- schon einmal im Mittelpunkt eines Skandals? Kann versammlung beziehen. Die Bundesversammlung ist, er die besonderen Aufgaben des Bundespräsidenten wie oben bereits ausgeführt, ein reines Kreationsor- erfüllen und wird er der besonderen Würde des Am- gan, das ausschließlich die Aufgabe der Wahl des tes gerecht? All das sind Fragen, die sich die Gesell- Bundespräsidenten wahrnimmt. Sie ist gerade nicht schaft und insbesondere die Mitglieder der Bundes- der richtige Ort für politische Auseinandersetzungen versammlung im Vorfeld der Bundespräsidenten- und Debatten über und mit den Kandidaten. wahl stellen und auch stellen dürfen. Aber die Ant- Zur Wahrung der besonderen Würde des Amtes des worten erhalten sie nicht von den Bundespräsident- Bundespräsidenten erscheint es absolut notwendig, schaftskandidaten selbst, sondern sie werden ihnen den Mitgliedern der Bundesversammlung kein Rede- präsentiert von den unterstützenden Parteien und der recht zuzubilligen. Ein solches verstößt gegen das Hilfe moderner Medien. Weder die Mitglieder der – nach wie vor aktuelle – Ausspracheverbot des Gesellschaft noch speziell die Mitglieder der Bun- Art. 54 Abs. 1 S. 1 GG. desversammlung können sich dieser aufgedrängten Informationsfülle entziehen. Sie müssen sich also zwangsläufig im Vorfeld der Bundespräsidentenwahl mit den Bundespräsidentschaftskandidaten und deren medialer Darstellung auseinandersetzen. Und genau diese von Medien und Parteien selektierten, präsen- tierten Informationen beeinflussen notwendigerweise – wenn auch nur unbewusst – die Willensbildung und damit verbunden die endgültige Entscheidung der Mitglieder der Bundesversammlung im Hinblick auf die Wahl des zukünftigen Bundespräsidenten.

V. Fazit Auf der Grundlage der soeben dargestellten Erwä- 33 Anders: Burkiczak, JuS 2004, S. 278 (280) m.w.N.: Burkiczak gungen ist die eingangs gestellte Frage, ob das Aus- sieht keine Alternative zur öffentlichen Diskussion über die Besetzung des höchsten Staatsamtes in einer freiheitlichen Demokratie. Seiner Ansicht nach sind breite Aussprachen im Vorfeld der Wahl geeigneter, sowohl das Amt als auch den 31 Leisner, NJW 2009, S. 2938. Kandidaten zu beschädigen, als eine Aussprache in der Bun- 32 Ebd., NJW 2009, S. 2938 (2939). desversammlung selbst.

129 Parteienrecht im Spiegel der Rechtsprechung MIP 2016 22. Jhrg.

Parteienrecht im Spiegel der Rechtspre- Verfassungsschutzberichten der NPD inzwischen at- chung testierten organisatorischen Schwäche und der ab- nehmenden tatsächlichen Bedeutung durchaus eine Rolle spielen. Ob die ausführliche Erörterung dieser 1. Grundlagen zum Parteienrecht Fragen in der mündlichen Verhandlung Ausdruck ernsten Zweifels an der Verhältnismäßigkeit eines Parteien, die nach ihren Zielen oder nach dem Ver- Verbots der NPD ist oder nicht vielmehr doch nur halten ihrer Anhänger darauf ausgehen, die freiheitli- der argumentativen Vorbereitung des Verbots diente, che demokratische Grundordnung zu beeinträchtigen bleibt zwangsläufig bis zur Entscheidung des Bun- oder zu beseitigen oder den Bestand der Bundesrepu- desverfassungsgerichts Spekulation. Darüber, ob ein blik Deutschland zu gefährden, sind verfassungswid- solches Verbot, sei es auch rechtlich möglich, rig (Art. 21 Abs. 2 S. 1 GG). Über die Frage, ob dies politisch sinnvoll ist, lässt sich trefflich streiten und auf die NPD zutrifft, entscheidet nun das Bundesver- wird weiterhin sowohl in der Rechts- und der fassungsgericht, nachdem es beschlossen hat, das Politikwissenschaft als auch in den Medien sehr kon- Hauptverfahren zum Verbot der NPD einzuleiten1. trovers diskutiert. Dies zu diskutieren und zu ent- Damit hat der entsprechende Antrag des Bundesrates scheiden obliegt nunmehr aber dem Bundesverfas- schon eine bedeutende Hürde genommen, denn dem sungsgericht. Der Bundesrat hat mit seinem Verbots- eigentlichen Verbotsverfahren ist ein Verfahren vor- antrag die Debatte darüber, ob überhaupt auf diese geschaltet, in dem das BVerfG – allein auf Grund- Weise gegen die NPD vorzugehen sei, beendet. lage des schriftsätzlichen Vorbringens der Verfah- Wenn das Bundesverfassungsgericht angesichts der rensbeteiligten – die Erfolgsaussichten (vorläufig) seit dem letzten Parteiverbot im Jahre 1956 verän- nach Aktenlage bewertet (§ 45 BVerfGG). Den ur- derten Bedingungen rechtlicher und tatsächlicher Art sprünglichen Verbotsantrag vom Dezember 2013 die rechtlichen Maßstäbe des Verbots neu bestimmt, hatte das BVerfG noch für nachbesserungsbedürftig wird es auch seiner Rolle als – vertrauens- und gehalten: Es forderte zunächst weitere Beweise für glaubwürdiger – politscher Akteur in der parlamen- das Abschalten verdeckter Informanten des Verfas- tarischen Demokratie des Grundgesetzes4 gerecht sungsschutzes in den Führungsgremien und insbe- werden müssen: denn was verhältnismäßig ist, das sondere auch für die Quellenfreiheit des Parteipro- bestimmen letztlich die Bundesverfassungsrichter, gramms der rechtsextremen Partei an, zudem sollte und dabei spielen unabdingbar auch politische Erwä- belegt werden, auf welche Weise sichergestellt wor- gungen eine Rolle. Es gilt jetzt, sich von der Debatte den sei, dass keinerlei nachrichtendienstlich erlangte um die Sinnhaftigkeit gerade eines NPD-Verbotes zu Informationen über die Prozessstrategie der NPD lösen und sich wieder auf eine Bekämpfung des entgegengenommen oder verwertet werden2. Nach Rechtsextremismus – unabhängig vom Schicksal der der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverfas- NPD – zu fokussieren. Dass mit einem NPD-Verbot sungsgericht scheinen derlei Bedenken hinsichtlich weder der Rechtsextremismus abgeschafft noch das des Vorliegens etwaiger Verfahrenshindernisse end- menschenverachtende, demokratiefeindliche Gedan- gültig ausgeräumt3. Auch die verfassungsfeindliche kengut in den Köpfen der Anhänger solcher Ideolo- Ausrichtung der Partei hat sich in der mündlichen gien verschwunden ist, liegt auf der Hand. Ein Par- Verhandlung – erwartungsgemäß – nur bestätigt. teiverbot ist seinem Sinn und Zweck nach ein Orga- Schwieriger zu beantworten sein wird die Frage, ob nisationsverbot, das einer Partei und – für den Fall, ein Verbot der NPD verhältnismäßig wäre. Wenn dass sich der Verbotsausspruch darauf erstreckt – das Bundesverfassungsgericht mit der Einleitung des späteren Ersatzorganisationen die Möglichkeit Verbotsverfahrens auch grundsätzlich zum Ausdruck nimmt, an Wahlen teilzunehmen, an der staatlichen gebracht hat, dass es dem Verbotsantrag nach Akten- Parteienfinanzierung teilzuhaben, Demonstrationen lage hinreichende Erfolgsaussichten einräumt, so anzumelden oder sich auf die Chancengleichheit wurde in der mündlichen Verhandlung doch deut- politischer Parteien zu berufen, wenn es etwa um lich, dass gerade die Fragen der selbst in den meisten den Zugang zu Stadthallen für Veranstaltungen oder 1 BVerfG, Beschluss vom 02.12.2015 – 2 BvB 1/13, online die Zurverfügungstellung von Flächen im öffentli- veröffentlicht bei juris. chen Straßenraum zu Werbezwecken etc. geht. Gera- 2 BVerfG, Beschluss vom 19.03.2015 – 2 BvB 1/13, online de im Bereich der Rechtsanwendung erleichtert ein veröffentlicht bei juris. 3 Süddeutsche Zeitung vom 02.03.2016, www.sueddeutsche.de/ 4 Dazu M. Cheng, Bundesverfassungsgericht im Parteienstaat politik/karlsruhe-gericht-npd-verbotsantrag-scheitert-nicht-an- Deutschland: ein kurzer Kommentar aus chinesischer Sicht, v-leuten-1.2888401, zuletzt abgerufen am 07.03.2016. in: MIP 2016, S. 118 ff. (in diesem Heft).

130 MIP 2016 22. Jhrg. Parteienrecht im Spiegel der Rechtsprechung

Parteiverbot damit einiges. Eine verbotene Partei hat Abs. 2 Nr. 3 WaffG sein. Danach ist regelmäßig un- derlei Rechtsansprüche von vornherein nicht. Behör- zuverlässig, wer einzeln oder als Mitglied einer Ver- den und Gerichte müssen sich keine Gedanken mehr einigung Bestrebungen verfolgt oder unterstützt oder darüber machen, ob eine Teilhabe zu ermöglichen ist in den letzten fünf Jahren verfolgt oder unterstützt oder versagt werden kann. In der Vergangenheit hät- hat, die (u.a.) gegen die verfassungsmäßige Ordnung te dies gerade im Falle eines Verbots der NPD noch oder gegen den Gedanken der Völkerverständigung zu einer – zumindest in begrenztem Umfang – wahr- gerichtet sind. Dass Vereinigung im Sinne der Norm nehmbaren Entlastung der Gerichte geführt5. auch eine politische Partei sein kann, widerspricht nicht dem Parteienprivileg des Art. 21 Abs. 2 S. 2 GG, Auch im zurückliegenden Berichtszeitraum (2015) das die Entscheidung über die Verfassungswidrigkeit hätte der VerfGH des Saarlandes6 sich nicht mit ei- einer politischen Partei ausschließlich in die Hand ner Verfassungsbeschwerde der NPD auseinander- des Bundesverfassungsgerichts legt. „Zwar kann setzen müssen, mit der diese geltend machte, die grundsätzlich das, was dem Mitglied oder Anhänger Stadt Saarbrücken habe sich mit einer auf ihrer Home- einer Partei an parteioffizieller oder parteiverbundener page veröffentlichten Presseerklärung, in der sie die Tätigkeit von Verfassungs wegen gestattet ist, nicht in Forderung nach einem NPD-Verbot aufstellte, nicht anderen Rechtsbereichen mit nachteiligen Folgen in den Grenzen des Neutralitätsgebots gehalten7, verknüpft werden“. Aber die Mitglieder und Anhän- wenn auch das Anliegen der NPD schon an der Zu- ger einer politischen Partei unterliegen hier – ver- lässigkeit der Verfassungsbeschwerde scheiterte. Die gleichbar mit den allgemeinen, d.h. kein Sonderrecht NPD hatte zwar den Rechtsweg im Eilverfahren aus- gegen die Parteien enthaltenden, dem Schutz funda- geschöpft, aber der VerfGH des Saarlandes legte auf mentaler Rechtsgüter der Allgemeinheit dienenden immerhin neun Seiten der Urteilsbegründung aus- Strafgesetzen – denselben Restriktionen wie alle an- führlich dar, dass das Hauptsacheverfahren der be- deren Bürger. Das Waffengesetz will die Allgemein- haupteten (Grund-)Rechtsverletzung abzuhelfen ge- heit vor unzuverlässigen Waffenbesitzern schützen. eignet gewesen und die Verfassungsbeschwerde Das mit jedem Waffenbesitz verbundene Risiko soll demgegenüber subsidiär sei. minimiert und nur bei Personen hinzunehmen sein, die Selbst die Frage des Widerrufs der Waffenbesitzkarte das Vertrauen verdienen, in jeder Hinsicht ordnungs- eines NPD-Funktionärs nebst Einziehung der Waffe, gemäß und verantwortungsbewusst mit der Waffe mit der das OVG Bremen8 befasst war, ließe sich umzugehen. Wenn das Verfolgen von Bestrebungen bei einem Verbot der NPD leichter beantworten9: der in § 5 Abs. 2 Nr. 3 WaffG genannten Art nach Nach § 5 Abs. 2 Nr. 2 lit. b) WaffG gilt als unzuver- der Wertung des Gesetzes regelmäßig die Unzuver- lässig im Sinne des Waffenrechts, wer Mitglied in lässigkeit begründet, kann dies nicht „im Schatten einer Partei war, deren Verfassungswidrigkeit das der Mitgliedschaft in einer nicht verbotenen Partei“ Bundesverfassungsgericht nach § 46 BVerfGG fest- zum Nachteil der Allgemeinheit folgenlos bleiben10. gestellt hat, wenn seit der Beendigung der Mitglied- Allerdings soll nach der Entstehungsgeschichte der schaft zehn Jahre noch nicht verstrichen sind. Ist die Vorschrift „jedwede – individuelle oder kollektive – Verfassungswidrigkeit einer Partei nicht festgestellt, verfassungsfeindliche Betätigung in der Regel zur kann Anknüpfungspunkt für einen Widerruf der Annahme der Unzuverlässigkeit führen, wobei im Waffenbesitzkarte wegen Unzuverlässigkeit nur § 5 Unterschied zu Nr. 2 der Begriff des ‚Verfolgens‘ verfassungsfeindlicher Bestrebungen auch in der kol- 5 Die „Spiegel der Rechtsprechung“ in den vorangegangenen Ausgaben der MIP belegen die juristische Streitlust der NPD. lektiven Fallvariante ‚als Mitglied‘ immer an eine aktive individuelle Betätigung anknüpfen soll“11. 6 VerfGH des Saarlandes, Beschluss vom 08.01.2015 – Lv 2/14, online veröffentlicht bei juris. Den Nachweis der Unzuverlässigkeit zu führen, ist 7 Zu den vorausgegangenen, eine Verletzung des Neutralitäts- bei dieser Tatbestandsvariante der Regelunzuverläs- grundsatzes verneinenden Eilentscheidungen des OVG des sigkeit deshalb weitaus schwieriger und begründung- Saarlandes und des VG des Saarlandes s. bereits A. Bäcker, aufwendiger. Es bedarf entsprechender Tatsachen- Spiegel der Rechtsprechung – Grundlagen, in: MIP 2015, feststellungen, ob und in welchem Umfang der Inha- S. 154 (156). ber der Waffenbesitzkarte selbst verfassungsfeindli- 8 OVG Bremen, Beschluss vom 28.10.2015 – 1 LA 267/14, on- che Bestrebungen verfolgt. Dafür reicht es nicht, ver- line veröffentlicht bei juris. fassungsfeindliche Bestrebungen einer nicht verbote- 9 Wenngleich die Anzahl derartiger Verfahren zahlenmäßig scheinbar kaum ins Gewicht fällt, s. www.focus.de/politik/ nen Partei – etwa durch Verfassungsschutzberichte – deutschland/400-neonazis-mit-waffenschein-neonazis-mit-wa 10 ffenschein-duerfen-waffen-behalten_id_5337902.html, zuletzt BVerwG, in: NVwZ-RR 2010, 225 ff. abgerufen am 07.03.2016. 11 BVerwG, in: NVwZ-RR 2010, 225 (226).

131 Parteienrecht im Spiegel der Rechtsprechung MIP 2016 22. Jhrg. zu belegen. Es bedarf vielmehr Feststellungen dazu, Das dringend notwendige zivilgesellschaftliche En- dass der Inhaber der Waffenbesitzkarte im Rahmen gagement gegen Rechts erhält Aufwind, wenn sich seiner Parteitätigkeit aktiv die verfassungsfeindli- prominente Künstler gegen eine Vereinnahmung ih- chen Bestrebungen unterstützt hat. Zudem ist etwa rer Kunst durch rechte Parteien wehren. So erreichte ein langjähriger beanstandungsfreier Waffenbesitz die Kölner Band „Höhner“ gerichtlich, dass ihre Lie- grundsätzlich geeignet, die Regelvermutung der Un- der nicht mehr von der NPD bei Wahlkampfveran- zuverlässigkeit zu widerlegen12. Das OVG Bremen staltungen zum Stimmenfang benutzt werden dürfen. attestierte der Vorinstanz13 und der Waffenbehörde Das OLG Jena16 betonte, dass § 14 UrhG nicht nur allerdings hinreichend detaillierte Tatsachenfeststel- die direkte Beeinträchtigung des Musikstücks unter- lungen zur Unzuverlässigkeit, die eben nicht allein sage, sondern den Urhebern auch einen Unterlas- an der Mitgliedschaft in der NPD anknüpften. sungsanspruch bei einer so genannten indirekten Be- einträchtigung gebe, wenn die Nutzung dem Urheber Für die rechtliche Beurteilung einer Entlassung eines zum Beispiel aufgrund konträrer politischer Ansich- Soldaten auf Zeit wegen arglistig verschwiegener ten unangenehm sei. Den „Höhnern“ war es unange- früherer Mitgliedschaft in der NPD ist die Frage, ob nehm und sie haben dem Abspielen der Lieder einen es sich bei der NPD um eine „nur“ verfassungsfeind- Riegel vorgeschoben. liche oder „schon“ verfassungswidrige, verbotene Partei handelt, eher nebensächlich. Schon 1975 ur- Zuvor hatte sich bereits die Sängerin Helene Fischer teilte das BVerfG14, die Zugehörigkeit eines Beam- gerichtlich dagegen gewehrt, dass die NPD auf Wahl- ten zu einer nicht verbotenen Partei mit „verfas- kampfveranstaltungen im thüringischen Landtags- sungsfeindlichen“ Zielen könne einen Entlassungs- wahlkampf mehrfach das Lied „Atemlos durch die grund darstellen. Die in dieser Entscheidung bereits Nacht“ gespielt hatte. Das wollte die Sängerin – ver- entwickelten Grundsätze zur Verfassungstreuepflicht ständlicherweise – nicht hinnehmen. Zunächst hatte von Beamten gelten auch für Soldaten. Während das LG Erfurt17 auf Antrag der Künstlerin eine Un- eine Partei auch im Einklang mit Art. 21 Abs. 2 GG terlassungsverfügung erlassen, diese dann jedoch auf der freiheitlich-demokratischen Grundordnung ge- den Widerspruch der NPD hin aufgrund fehlender genüber kritisch eingestellt sein darf, gelten für Be- Ruf- oder Ansehensgefährdung wieder aufgehoben. amte generell wie für Soldaten der Bundeswehr im Gegen diese Entscheidung zog Helene Fischer vor Besonderen strengere Regeln. Für alle Soldaten ist das OLG Jena18 und bekam Recht. Eine besondere es Dienstpflicht, die freiheitliche demokratische Eignung zur Ansehens- und Rufgefährdung ergebe sich Grundordnung im Sinne des Grundgesetzes anzuer- schon daraus, dass ein unvoreingenommener Durch- kennen und durch das gesamte eigene Verhalten für schnittsbeobachter aufgrund der Wiedergabe der Dar- ihre Erhaltung einzutreten (§ 8 SoldatenG). Die Fra- bietung bei der Veranstaltung annehmen könnte, die ge nach einer Mitgliedschaft in der NPD als verfas- Künstlerin wirke im Wahlkampf (zumindest duldend) sungsfeindliche Partei vor der Einstellung ist deshalb mit oder stehe auch nur den politischen Überzeugun- auch erlaubt, die wahrheitsgemäße Beantwortung er- gen nahe. Für eine Ansehensgefährdung reicht es forderlich. Gibt ein Soldat wahrheitswidrig an, nie- dann auch aus, wenn ein Teil der Durchschnittsbeob- mals Mitglied der NPD gewesen zu sein, ist es auch achter eventuell Assoziationen dahingehend herstel- irrelevant, dass er kürzlich aus der Partei ausgetreten len könnte, dass die Künstlerin aufgrund ihrer eige- ist. Es genügt, dass die unrichtigen Angaben für die nen politischen Überzeugung zumindest „nichts da- Einstellung in die Bundeswehr ursächlich geworden gegen habe“, dass ihre Darbietung bei dieser Wahl- sind, weil aufgrund dessen weitere Nachfragen und kampfveranstaltung gespielt wird. Würde die NPD eine Nachprüfung der Art und des Umfangs des En- verboten, müssten sich andere Künstler zumindest gagements für eine verfassungsfeindliche Partei un- nicht mehr gegen eine Vereinnahmung ihrer Werke terblieben sind, so dass VG Ansbach15. zu Werbezwecken durch die NPD wehren. Das Aus- nutzen der von einer Darbietung ausgehenden positi-

15 12 BayVerwGH, Beschluss vom 06. März 2012 – 21 AS 11.3004, VG Ansbach, Urteil vom 11.03.2015 – AN 11 K 14.00127, online veröffentlicht bei juris, im Anschluss an BVerwG, in: online veröffentlicht bei juris. NVwZ-RR 2010, 225 (227), das die Sache zur erneuten Ent- 16 OLG Jena, Urteil vom 22.04.2015 – 2 U 738/14, in: ZUM-RD scheidung an den BayVerwGH zurückverwiesen hatte. 2015, 670-673. 13 VG Bremen, Urteil vom 08.08.2014 – 2 K 1002/13, online 17 LG Erfurt, Urteil vom 05.09.2014 – 3 O 1076/14, nicht veröf- veröffentlicht bei juris; dazu bereits A. Bäcker, Spiegel der fentlicht. Rechtsprechung – Grundlagen, in: MIP 2015, S. 154 (158). 18 OLG Jena, Urteil vom 18.03.2015 – 2 U 674/14, online veröf- 14 BVerfGE 39, 334 (LS 8). fentlicht unter http://tlmd.in/u/1548.

132 MIP 2016 22. Jhrg. Parteienrecht im Spiegel der Rechtsprechung ven Stimmung zu parteipolitischen Werbezwecken zuwachs sein, anderen könnte es unangenehm sein. findet sich aber nicht nur bei der NPD oder typi- Jedoch müssen Beitrittswillige keine Aufnahme fin- scherweise bei rechten Parteien, es ist vielmehr ein den, wie das LG Trier23 in einem Urteil unter Bezug- gesinnungsübergreifendes Phänomen. Weil aber „ge- nahme auf diese höchstrichterlich bereits geklärte rade die politische Überzeugung ein Bereich ist, den Rechtsfrage24 noch einmal bekräftigt hat. Parteien sind zu offenbaren jedem Einzelnen selbst überlassen weder verpflichtet, jeden Eintrittswilligen aufzuneh- werden muss“, kommt es nach Auffassung des OLG men, noch die entsprechende Ablehnung inhaltlich Jena auch nicht maßgeblich darauf an, um welche zu begründen (§ 10 Abs. 1 S. 1 und S. 2 PartG)25. politische Partei es sich handelt. Den verschiedenen Parteien stellen sich regelmäßig Die Zahl der Gerichtsverfahren, die NPD-Mitglie- dieselben Rechtsfragen. Hatte sich die NPD schon dern oder der NPD selbst – soweit die Verfahrensbe- im Jahre 1975 erstmals – vergeblich – dagegen ge- teiligung ersichtlich wurde – zugeordnet werden wandt, in einem Verfassungsschutzbericht als verfas- können, wird im Berichtsjahr 2015 noch ergänzt um sungsfeindlich charakterisiert zu werden, sind im einzelne weitere. In einem ging es um die Überlas- Laufe der Jahre zahlreiche weitere Verfahren – auch sung einer Stadthalle19, in einem um die Einrichtung anderer Parteien26 – hinzugekommen. Rechtlich sind eines Girokontos20, in einem um den Gruppenstatuts die damit zusammenhängenden Fragestellungen weit- in einem Stadtrat21 und in zweien um die Ungültig- gehend geklärt. Die Beschreibung einer Partei als keitserklärung einer Wahl22. Im Vergleich zu den verfassungsfeindlicher Bestrebungen verdächtig im Vorjahren ist die NPD damit in gerichtlichen Strei- Verfassungsschutzbericht bedarf einer gesetzlichen tigkeiten vergleichsweise wenig präsent. Dies mag Grundlage und ist am Grundsatz der Verhältnismä- Ausdruck einer zunehmenden organisatorischen ßigkeit zu messen, wobei das Vorgehen der Verfas- Schwäche sein. Wahrscheinlich hat aber auch sungsschutzbehörden gerechtfertigt ist, wenn es hin- schlicht die frühere Klagefreudigkeit der NPD inzwi- reichende Anhaltspunkte dafür gibt, dass die Partei- schen in vielen Bereichen zu einer gefestigten Recht- en tatsächlich die in Art. 21 Abs. 2 S. 1 GG genann- sprechung geführt, die in der Praxis zumindest weit- ten Ziele verfolgen27. Gerade im Bereich der Tatsa- gehend Beachtung findet, mit der Folge, dass die chenfragen besteht allerdings nach wie vor häufig NPD gänzlich aussichtslose Prozesse – auch aus fi- Klärungsbedarf. Nunmehr versuchte die Partei „Die nanziellen Gründen – vermeidet. Stattdessen werden Freiheit“ in mehreren Gerichtsverfahren – letztlich entsprechende Gerichtsverfahren von anderen Partei- erfolglos – zu verhindern, dass sie als verfassungs- en geführt. Das Verbotsverfahren gegen die NPD feindliche Bewegung bezeichnet wird, die pauschal wird zu einer Zeit vor dem Bundesverfassungsge- islamfeindliche Propaganda nutze und dadurch die richt verhandelt, in der längst andere Rechtsaußen- Religionsfreiheit, die Menschenwürde und den Gleich- Parteien wie „Die Freiheit“, „Die Rechte“ oder die behandlungsgrundsatz verletzt. Dies hatte der bayeri- „Alternative für Deutschland“ bereit stehen. sche Innenminister erstmals in einer Rede anlässlich der Vorstellung des Verfassungsschutzberichts 2012 Im Falle eines Verbots der NPD könnten NPD-Mit- so dargestellt und damit die künftige Beobachtung glieder Zuflucht in anderen Parteien suchen. Manche durch den Verfassungsschutz verkündet. In diesem dieser Parteien werden erfreut über den Mitglieder- Verfassungsschutzbericht wurde die Partei allerdings noch nicht erwähnt. Bei der folgenden Vorstellung 19 StGH Baden-Württemberg, Urteil vom 23.03.2015 – 56/14, online veröffentlicht bei juris; dazu A. Bäcker, Parteienrecht des Verfassungsschutzberichts 2013 wiederholte (und im Spiegel der Rechtsprechung – Chancengleichheit, in: MIP ergänzte) der bayerische Innenminister seine Aussa- 2016, S. 142 (142 ff.), in diesem Heft. 20 VG Hannover, Urteil vom 13.05.2015 – 1 A 6549/13, online 23 LG Trier, Urteil vom 05.08.2015 – 5 O 68/15, online veröf- veröffentlicht bei juris; dazu A. Bäcker, Parteienrecht im Spie- fentlicht bei BeckRS 2015, 14663. gel der Rechtsprechung – Chancengleichheit, in: MIP 2016, 24 S. 142 (143 f.), in diesem Heft. BGHZ 101, 193-207. 25 21 VG Gelsenkirchen, Beschluss vom 10.12.2015 – 15 L Wenn auch in der rechtswissenschaftlichen Literatur teilweise 2106/15, nicht veröffentlicht; dazu S. Jürgensen, Parteien- andere Meinungen vertreten werden, s. die Übersicht und die recht im Spiegel der Rechtsprechung – Parteien und Parla- Gegenargumente bei S. Lenski, Parteiengesetz und Recht der ment, in: MIP 2016, S. 147 (149 f.), in diesem Heft. Kandidatenaufstellung, 2011, § 10 Rn. 9 ff. 26 22 VerfGH Thüringen, Beschluss vom 09.07.2015 – 9/15, in: Ausführlich etwa zu den „Republikaner-Verfahren“ in den KommJur 2015, S. 374-378; VG Trier, Urteil vom 20.01.2015 1990er Jahren L. O. Michaelis, Politische Parteien unter Be- – 1 K 1591/14.TR, in: LKRZ 2015, S. 208-209; dazu S. Jür- obachtung des Verfassungsschutzes, 2000, S. 27 ff. gensen, Parteienrecht im Spiegel der Rechtsprechung – Wahl- 27 H.H. Klein, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz-Kommentar, 75. recht, in: MIP 2016, S. 151 (155 f. und 157), in diesem Heft. Erg.-Lfg. September 2015, Art. 21 Rn. 576.

133 Parteienrecht im Spiegel der Rechtsprechung MIP 2016 22. Jhrg. gen und nahm Bezug auf den aktuellen Verfassungs- verfassungswidriger Organisationen, Volksverhetzung, schutzbericht 2013, in dem die Partei „Die Freiheit“ mehrfache Beleidigung, Körperverletzung und Wi- nun in die Rubrik „Verfassungsschutzrelevante Islam- derstand gegen Vollstreckungsbeamte) Verurteilten feindlichkeit“ aufgenommen worden war. Gegen die den Zugang zur weiteren Juristenausbildung verwei- Reden, deren Herausgabe als Pressemitteilung sowie gert. Zwar ist der juristische Vorbereitungsdienst in ihre Veröffentlichung im Internet und gegen die Auf- NRW nicht als Beamtenverhältnis auf Widerruf, son- nahme in den Verfassungsschutzbericht wandte sich dern als öffentlich-rechtliches Ausbildungsverhältnis nun die Partei „Die Freiheit“. Das VG München28 eigener Art ausgestaltet, so dass die für Beamte gel- ging in beiden Verfahren davon aus, dass allenfalls tende Verfassungstreuepflicht nicht uneingeschränkt ein „bloßer Verdacht“ verfassungsfeindlicher Bestre- in dem Sinne gilt, dass der Bewerber die Gewähr da- bungen gegeben sei, der es nicht rechtfertige, über für bieten muss, er werde jederzeit für die freiheitliche die Verdachtsstufe hinausgehend darüber zu unter- demokratische Grundordnung im Sinne des Grund- richten, dass „Die Freiheit“ in feststehender und er- gesetzes eintreten. Gleichwohl setzt die Aufnahme in wiesener Weise solche Bestrebungen und Tätigkei- den Vorbereitungsdienst nach § 30 Abs. 4 Nr. 1 ten verfolge. Das sah der jeweils in zweiter Instanz HS. 1 JAG NRW voraus, dass der Bewerber der Zu- entscheidende Bayerische VerwGH29 anders: Nach lassung würdig ist. An der danach vorausgesetzten dem vorgelegten Erkenntnismaterial ergeben sich charakterlichen Eignung fehlt es zum einen, wenn sehr wohl „hinreichende tatsächliche Anhaltspunkte dem Bewerber ein schwerer Verstoß gegen das Recht, dafür, dass die Partei 'Die Freiheit' in einer mit dem das er bereits während des Vorbereitungsdienstes mit- Grundgesetz unvereinbaren Weise die Religionsfrei- unter eigenverantwortlich pflegen soll, zum Vorwurf heit der in der Bundesrepublik lebenden Muslime gemacht wird. Nach dem in § 30 Abs. 4 Nr. 1 HS. 2 einschränken und damit die freiheitliche demokrati- JAG NRW ausdrücklich aufgeführten Beispiel, ist sche Grundordnung insoweit außer Geltung setzen dies in der Regel – auch dann aber nicht zwingend – will“30. Der Bayerische VerwGH wies daher die Kla- anzunehmen, wenn der Bewerber wegen einer vor- gen der Partei „Die Freiheit“ ab. sätzlich begangenen Tat zu einer Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr rechtskräftig verurteilt wurde. Konfliktpotential bietet auch regelmäßig jedwede Bei der Beurteilung der Würdigkeit sind alle rele- Form der Beschäftigung von Mitgliedern oder An- vanten Umstände des Einzelfalles zu berücksichti- hängern verfassungsfeindlicher Parteien im öffentli- gen. Mit Blick auf die Summe, Bandbreite und Qua- chen Dienst. So klagte der stellvertretende Landes- lität der Straftaten sowie auf die Unbelehrbarkeit des vorsitzende der Partei „Die Rechte“, der zudem bis Bewerbers, den bislang weder vorangegangene Ver- zu deren Verbot in der „Kameradschaft Hamm“ aktiv urteilungen, noch laufende Bewährungsstrafen oder war, vor dem VG Minden31 und in zweiter Instanz vor sein Studium der Rechtswissenschaft zur Einhaltung dem OVG Nordrhein-Westfalen32 im Wege des einst- der Rechtsordnung bewegen konnten, war hier von weiligen Rechtsschutzes auf Zulassung zum juristi- einer Unwürdigkeit auszugehen, auch wenn sämtli- schen Vorbereitungsdienst. Das Land Nordrhein- che Bestrafungen unter dem im Regelbeispiel des Westfalen hatte dem wiederholt (in einem Zeitraum § 30 Abs. 4 Nr. 1 HS. 2 JAG NRW genannten Straf- von mehr als zehn Jahren in regelmäßigen Abstän- maß von mindestens einem Jahr Freiheitsstrafe ge- den von etwa ein bis zwei Jahren insgesamt zehn blieben sind. Ob darüber hinaus zum anderen Un- Mal) wegen verschiedener, unter anderem rechtsex- würdigkeit anzunehmen sein kann, wenn der Bewer- tremer Straftaten (z.B. Verwenden von Kennzeichen ber sich verfassungsfeindlich betätigt, bedurfte ange- sichts dieses Gesamtbildes keiner abschließenden 28 VG München, Urteil vom 16.10.2014 – M 22 K 14.1743, on- Entscheidung mehr, ist aber nach Ansicht des VG line veröffentlicht bei juris; VG München, Urteil vom Minden zu bejahen. Das VG begründet diese Rechts- 17.10.2014 – M 22 K 13.2076, online veröffentlicht bei juris, auffassung unter Hinweis auf ein sehr frühes Urteil dazu L. Janßen, jurisPR-ITR 18/2015 Anm. 6. des BVerfG. Danach ist „auch eine Beschäftigung 29 Bayerischer VerwGH, Urteil vom 22.10.2015 – 10 B 15.1320, online veröffentlicht bei juris; Bayerischer VerwGH, Urteil im öffentlichen Dienst außerhalb des Beamtenver- vom 22.10.2015 – 10 B 15.1609, online veröffentlicht bei juris. hältnisses, einschließlich einer vorübergehenden Be- 30 Bayerischer VerwGH, Urteil vom 22.10.2015 – 10 B 15.1609, schäftigung im öffentlichen Dienst zum Zwecke der juris Rn. 34. Berufsausbildung, nicht völlig unbeschränkt jeder- 31 VG Minden, Beschluss vom 12.06.2015 – 4 L 441/15, in: mann zugänglich [...]. Ohne daß die Grenze in diesem NWVBl 2015, 315-319. Verfahren abschließend zu ziehen ist, verbietet es 32 OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 12.08.2015 - 6 B sich jedenfalls, Bewerber, die darauf ausgehen, die 733/15, in: NWVBl 2015, 467-470.

134 MIP 2016 22. Jhrg. Parteienrecht im Spiegel der Rechtsprechung freiheitliche demokratische Grundordnung zu beein- Obgleich Fragen des Versammlungsrechts – auch von trächtigen oder zu beseitigen, in die praktische Aus- rechten und rechtsextremen Parteien – in der Recht- bildung zu übernehmen. Die in diesen Konstitutions- sprechung schon hinreichend geklärt sind, neigen prinzipien unserer Verfassung enthaltenen Wertent- Versammlungsbehörden mitunter immer noch dazu, scheidungen schließen es aus, daß der Staat seine die Bedeutung der ihnen obliegenden „Verwirkli- Hand dazu leiht, diejenigen auszubilden, die auf die chung einer grundrechtswahrenden und -ermögli- Zerstörung der Verfassungsordnung ausgehen“33. chenden Rechtsanwendung im Rahmen des ihnen zu- Auch das JAG NRW geht vom Leitbild eines Juris- stehenden Ermessens“35 zu verkennen. In diesem ten aus, der aufgeschlossen ist „für die Lebenswirk- Sinne als „überschießende Abwehrreaktion“ ist das lichkeit im Geiste eines demokratischen und sozialen per versammlungsrechtlicher Allgemeinverfügung Rechtsstaates“ (§ 39 Abs. 1 JAG NRW). Eine aktive angeordnete generelle und stadtweite Versamm- Betätigung für die Partei „Die Rechte“ und zuvor für lungsverbot für das sächsische Heidenau für ein die mittlerweile verbotene „Kameradschaft Hamm“ komplettes Wochenende im August 2015 zu werten. lässt insbesondere in einer Zusammenschau mit den Eine Woche nach schweren rechtsradikalen Aus- politisch motivierten Straftaten durchaus den Schluss schreitungen vor einer Asylunterkunft begründete zu, dass der Bewerber diesem Leitbild – jedenfalls zu das Landratsamt Pirna das Versammlungsverbot mit diesem Zeitpunkt – nicht entspricht. Diese, an vergan- einem „polizeilichen Notstand“. Es stünden nicht ge- genem Verhalten anknüpfende Momentaufnahme der nug Polizisten zur Verfügung, um die zu erwartende Unwürdigkeit kann aber nur bei einer tragfähigen Pro- Lage zu beherrschen. Dieser Lagebeurteilung moch- gnose für zukünftig zu erwartendes unwürdiges Ver- te sich indes kein Gericht anschließen. Ein (potenti- halten des Bewerbers rechtliche Grundlage für die eller) Teilnehmer eines für das Wochenende u.a. ge- Nichtzulassung zum Vorbereitungsdienst sein. Die planten Willkommensfestes für Flüchtlinge wehrte danach erforderliche Risikobeurteilung des in der sich im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes. Das Vergangenheit regelmäßig straffälligen und nach wie erstinstanzlich angerufene VG Dresden36 kam bei vor aktiv und verantwortlich im Bundes- und Lan- der im Eilverfahren gebotenen summarischen Prüfung desvorstand der Partei „Die Rechte“ tätigen Bewer- zu dem Ergebnis, dass die Allgemeinverfügung „offen- bers bezüglich seiner Fähigkeit und Motivation, zu sichtlich rechtswidrig“ ist und kippte das Versamm- einem späteren Zeitpunkt Regeln und Gesetze einzu- lungsverbot. Die Gefahrenprognose für den behaup- halten, fiel nachvollziehbar negativ aus. Zu der er- teten „polizeilichen Notstand“ stützte sich aus- heblichen Anzahl der Vorstrafen war erst vier Mona- schließlich auf die Ereignisse des vergangenen Wo- te zuvor eine weitere Verurteilung zu einer Freiheits- chenendes ohne sich konkret mit den für das anste- strafe hinzugekommen. Dies rechtfertigt allerdings hende Wochenende angezeigten Versammlungen nicht, den Bewerber auf Dauer, also lebenslang, von und dem von diesen eventuell ausgehenden Gefahren der Vollendung seiner Berufsausbildung auszu- auseinanderzusetzen. Auf eine gegen den Beschluss schließen. Es geht bei der Referendarausbildung von des VG Dresden gerichtete Beschwerde des Landrats Juristen, für die der Staat das Monopol hat, um den erlaubte das OVG Bautzen37 dann zwar eine Ver- Erwerb einer Befähigung, auch außerhalb des Staats- sammlung am Freitag – nämlich die, an der der An- dienstes eine entsprechende berufliche Tätigkeit aus- tragsteller hatte teilnehmen wollen –, hielt aber das zuüben. Ohne den Vorbereitungsdienst ist nicht nur Versammlungsverbot im Übrigen aufrecht. Das Ver- der Zugang zum öffentlichen Dienst, sondern auch bot der übrigen Veranstaltungen verletze den Antrag- zur Anwaltschaft oder zu entsprechenden Positionen steller nicht in seiner Demonstrationsfreiheit. Jedoch in der Wirtschaft verschlossen. Das Grundrecht aus konnte auch das OVG einen polizeilichen Notstand Art. 12 Abs. 1 GG auf freie Wahl des Berufes und nicht erkennen. Letztlich setzte dann das BVerfG38 der Ausbildungsstätte verlangt hier einen dem Ver- 34 hältnismäßigkeitsgrundsatz entsprechenden Ausgleich VG Minden, Urteil vom 22.02.2016 – 4 K 1153/15, nicht ver- öffentlicht. zwischen den gegenläufigen Interessen. Dem ent- 35 Instruktiv und überzeugend S. Jürgensen/J. Garcia J., Plura- spricht die festgesetzte „Wohlverhaltensphase“ von lismus als Maxime des Versammlungsrechts, in: MIP 2016, drei Jahren, nach deren Ablauf eine Aufnahme in S. 70 (76), in diesem Heft. den Vorbereitungsdienst wieder in Betracht kommt. 36 VG Dresden, Beschluss v. 28.08.2015 – 6 L 815/15, online Inzwischen hat das VG Minden34 die Klage auch im veröffentlicht unter http://tlmd.in/u/1614. Hauptsacheverfahren abgewiesen. 37 OVG Bautzen, Beschluss v. 28.08.2015 – 3 B 276/15, online veröffentlicht unter http://tlmd.in/u/1618. 33 So zu § 28 der hamburgischen Juristenausbildungsordnung 38 BVerfG, Beschluss vom 29.08.2015 – 1 BvQ 32/15, in: BVerfG, Beschluss vom 05.10.1977 – 2 BvL 10/75, juris Rn. 39. NVwZ 2016, S. 244-245.

135 Parteienrecht im Spiegel der Rechtsprechung MIP 2016 22. Jhrg.

– wenig überraschend – das Versammlungsverbot end- beiden Verfahren als auch das jeweils in zweiter In- gültig außer Kraft. Immer wieder betont das BVerfG stanz entscheidende OVG Münster42 die in der Ver- die Bedeutung der Versammlungsfreiheit für einen botsverfügung angeführten Gründe nicht für ausrei- demokratischen Staat39, und so auch in diesem Fall. chend, um eine unmittelbare Gefährdung der öffent- In dem „zeitlich wie örtlich eng durch aktuelle Ereig- lichen Sicherheit bei Durchführung der Versamm- nisse gebundenen Kontext“ gab das BVerfG im Rah- lungen anzunehmen, der nur durch ein Verbot begeg- men der im einstweiligen Rechtsschutz vorzuneh- net werden kann. Es fehlte an tatsachengestützten menden Folgenabwägung der Möglichkeit, an Ver- Erkenntnissen, die mit hoher Wahrscheinlichkeit die sammlungen teilzunehmen und hierdurch an der öf- Verwirklichung der zur Begründung der angegriffe- fentlichen Meinungsbildung mitzuwirken, den Vor- nen Verbotsverfügung herangezogenen Strafnormen rang. „Dafür, dass auch unter Berücksichtigung von erwarten lassen. Zudem hätte etwaigen Gefährdungs- polizeilicher Unterstützung durch die anderen Län- situationen durch Auflagen begegnet werden kön- der und den Bund, deren Bereitstellung soweit er- nen. „Die Rechte“ hatte auch im Rechtsmittelverfah- sichtlich nicht in Frage gestellt wird, jede Durchfüh- ren erklärt, während der Versammlung den Todestag rung von Versammlungen in Heidenau für das ganze sowie die Umstände der Tat nicht zu thematisieren Wochenende zu einem nicht beherrschbaren Not- und eine entsprechende Auflage in der Versamm- stand führt, ist […] substantiiert nichts erkennbar“40. lungsbestätigung zu akzeptieren. Selbstverständlich blieb es der Versammlungsbehör- Allerdings sind nach ständiger Rechtsprechung auch de unbenommen, als milderes Mittel gegenüber ei- versammlungsbeschränkende Auflagen nur dann nem Verbot nach Maßgabe der allgemeinen ver- rechtmäßig, wenn nach den zur Zeit des Erlasses der sammlungsrechtlichen Bestimmungen beispielsweise Verfügung erkennbaren Umständen die öffentliche in örtlicher oder zeitlicher Hinsicht Auflagen zu er- Sicherheit oder Ordnung bei Durchführung der Ver- teilen, um etwa ein Aufeinandertreffen der unter- sammlung unmittelbar gefährdet ist und eine entspre- schiedlichen politischen Lager zu unterbinden. Mit chende Gefahrenprognose auf konkrete und nachvoll- dem Versuch, ohne Einzelfallabwägung und taugli- ziehbare tatsächliche Anhaltspunkte gestützt werden che Gefahrenprognose schlicht jegliche Versamm- kann. Dies war bei einer von „Die Rechte“ angemelde- lung zu verbieten, ist die Versammlungsbehörde aber ten NSU-Protestkundgebung unter dem Motto „Schluss weit über das Ziel hinaus geschossen. mit dem NSU-Schauprozess – Freiheit für Ralf In zwei weiteren Fällen erstritt „Die Rechte“ im Wohlleben“ unmittelbar vor dem Münchner Strafjustiz- Wege des einstweiligen Rechtsschutzes in jeweils zentrum aber nicht der Fall, wie das VG München43 zwei Instanzen das Recht, von ihr geplante Ver- und in zweiter Instanz der Bayerische VerwGH44 sammlungen durchführen zu können. „Die Rechte“ entschieden. Die Stadt München sah Würde und hatte für den 28.03.2015 in Dortmund ein Rechts- Ehre der Angehörigen von NSU-Mordopfern durch rock-Konzert und eine Demonstration unter dem Ti- die unmittelbare Nähe zum Gerichtseingang verletzt. tel „Wir sind das Volk“ angemeldet. Beide Veran- Es wertete die Aktion als „Provokation“ und Verstoß staltungen wurden vom Polizeipräsidenten der Stadt gegen die öffentliche Ordnung im Sinne des § 118 Dortmund verboten. Die Verbotsverfügungen gingen OWiG, weshalb die Versammlung nicht direkt vor davon aus, die Versammlungsthemen seien lediglich dem Gerichtsgebäude stattfinden sollte, sondern vorgeschoben und in Wahrheit sei beabsichtigt, an- rund 200 Meter weiter entfernt. Auch die Gerichte lässlich des 10. Todestages des von einem Dortmun- verkannten nicht, dass sich die Öffentlichkeit und der Rechtsextremisten erstochenen Thomas Schulz insbesondere die Angehörigen der Opfer des NSU dessen Persönlichkeit zu verunglimpfen und das Ge- durch die angezeigte Versammlung belästigt oder denken an ihn zu stören. Unter Zugrundelegung der provoziert fühlen können. Jedoch: „Als Freiheit zur ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsge- kollektiven Meinungskundgabe, die auch und vor al- richts erachtete sowohl das VG Gelsenkirchen41 in lem andersdenkenden Minderheiten zugute kommt,

39 Zur demokratischen Funktion der Versammlungsfreiheit s. S. 42 OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 25.03.2015 – 15 B Jürgensen/J. Garcia J., Pluralismus als Maxime des Versamm- 358/15, online veröffentlicht bei juris; OVG Nordrhein-West- lungsrechts, in: MIP 2016, S. 70 (71 ff.), in diesem Heft. falen, Beschluss vom 25.03.2015 – 15 B 359/15, online veröf- 40 BVerfG, Beschluss vom 29.08.2015 – 1 BvQ 32/15, in: fentlicht bei juris.. NVwZ 2016, S. 244 (245). 43 VG München, Beschluss vom 02.03.2015 – M 7 S 15.786, 41 VG Gelsenkirchen, Beschluss vom 17.03.2015 – 14 L 474/15, online veröffentlicht bei juris. online veröffentlicht bei juris; VG Gelsenkirchen, Beschluss 44 Bayerischer VerwGH, Beschluss vom 02.03.2015 – 10 CS vom 17.03.2015 – 14 L 543/15, online veröffentlicht bei juris. 15.471, online veröffentlicht bei juris.

136 MIP 2016 22. Jhrg. Parteienrecht im Spiegel der Rechtsprechung ist die Versammlungsfreiheit für eine freiheitlich de- feststellte. Der Bundesministerin wurde aufgegeben, mokratische Staatsordnung konstituierend und wird eine Pressemitteilung mit dem Titel „Rote Karte für im Vertrauen auf die Kraft der freien öffentlichen die AfD“ aus dem Internetauftritt ihres Bundesminis- Auseinandersetzung grundsätzlich auch den Gegnern teriums zu entfernen. Darin wurde eine angemeldete der Freiheit gewährt“45. Beschränkungen sind nach Versammlung der AfD in Berlin unter dem Motto der Rechtsprechung des BVerfG daher nur dann „Asyl braucht Grenzen – Rote Karte für Merkel“ mit möglich, wenn die Gefahr nicht auf der bloßen Äu- den Worten kommentiert: „Die Rote Karte sollte der ßerung der Inhalte beruht, sondern auf besonderen, AfD und nicht der Bundeskanzlerin gezeigt werden. beispielsweise provokativen oder aggressiven, das Björn Höcke und andere Sprecher der Partei leisten Zusammenleben der Bürger konkret beeinträchtigen- der Radikalisierung in der Gesellschaft Vorschub. den Begleitumständen46. „Die Rechte“ hatte aller- Rechtsextreme, die offen Volksverhetzung betreiben dings zahlreiche weitere Auflagen der Versammlungs- wie der Pegida-Chef Bachmann, erhalten damit uner- behörde akzeptiert, wonach „Reden und Sprechchöre trägliche Unterstützung.“ Darin ist nicht nur ein (fak- sowie auf Transparenten alle Äußerungen zu unter- tischer) Eingriff in die Versammlungsfreiheit (Art. 8 bleiben haben, die das NS-Regime sowie Organisa- Abs. 1 GG), sondern zugleich eine Beeinträchtigung tionen und deren (auch selbsternannte) Folgeorgani- der Chancengleichheit politischer Parteien im politi- sationen sowie verbotene Parteien und Vereine ein- schen Wettbewerb (Art. 21 Abs. 1 GG) zu sehen. schließlich deren Nachfolge- und Ersatzorganisatio- Mit Blick auf das für Staatsorgane geltende Neutrali- nen glorifizieren, verharmlosen oder sonst wiederbe- tätsgebot ist die Pressemitteilung in beiderlei Hin- leben. Gleiches gilt für etwa zu verbreitende Druck- sicht nicht haltbar50. Zwar hat das BVerfG nicht ab- werke und musikalische Darbietungen. Weiterhin sind schließend entschieden, ob Art. 8 Abs. 1 GG oder Parolen und Sprechchöre verboten, die eine Assozia- das Recht auf Chancengleichheit im politischen tion zu verbotenen Organisationen und Vereinigun- Wettbewerb aus Art. 21 Abs. 1 GG tatsächlich ver- gen hervorrufen […]. Des Weiteren wurden Be- letzt sind. Entscheidungen im einstweiligen Rechts- schränkungen hinsichtlich der Bekleidung oder Be- schutz ergehen auf Grundlage einer reinen Folgenab- kleidungsstücken vorgenommen mit Aufschriften, wägung. Die Entscheidungsgründe lassen aber kaum aus denen sich durch teilweises Überdecken Buch- einen Zweifel daran zu, dass auch nach Ansicht des staben- bzw. Zahlenfolgen wie 'NS', 'NSD', 'NSDAP', BVerfG die Bundesministerin jedenfalls das Recht 'SS', 'SA' [...] ergeben kann“47. Vor diesem Hinter- der AfD auf Chancengleichheit im politischen Wett- grund erreichte nach Ansicht der Gerichte „die nach- bewerb aus Art. 21 Abs. 1 GG verletzt hat. Unter Be- vollziehbare und verständliche Beeinträchtigung ins- zugnahme auf seine zuletzt noch einmal in der besondere der Angehörigen und Betroffenen“ keine Schwesig-Entscheidung51 entfalteten Grundsätze, solche Schwere, dass sie die örtliche Verlegung der nach denen im Falle der in dem Verfahren beanstan- Versammlung rechtfertigt48. deten Äußerung der Bundesfamilienministerin in ei- nem Zeitungsinterview allerdings keine Verletzung Die Versammlungsfreiheit aus Art. 8 Abs. 1 GG des Neutralitätsgebots festgestellt wurde, bekräftigte kann auch durch faktische Maßnahmen beeinträch- das BVerfG, dass eine Beeinträchtigung der Chan- tigt werden, wenn sie in ihrer Intensität imperativen cengleichheit im politischen Wettbewerb stattfindet, Maßnahmen gleichstehen und eine abschreckende wenn der Inhaber eines Regierungsamtes im politi- Wirkung entfalten. Dies kann bei einer Pressemittei- schen Meinungskampf Möglichkeiten nutzt, die ihm lung, die als Boykottaufruf verstanden werden kann, aufgrund seines Regierungsamtes zur Verfügung ste- jedenfalls nicht ausgeschlossen werden, wie das hen, während sie den politischen Wettbewerbern BVerfG49 im Verfahren des einstweiligen Rechts- verschlossen sind. Die Subsumtion des Sachverhalts schutzes der AfD gegen die Bundesministerin für unter diese Voraussetzungen bereitet im hier zu ent- Bildung und Forschung, Prof. Dr. , scheidenden Fall keinerlei Schwierigkeiten: „Vorlie- 45 Bayerischer VerwGH, Beschluss vom 02.03.2015 – 10 CS gend erfolgte die Veröffentlichung der Presseerklä- 15.471, juris Rn. 5. 50 46 BVerfG, Beschluss vom 24.03.2001 – 1 BvQ 13/01, juris Rn. 30. Grundlegend dazu S. Jürgensen/J. Garcia J., Pluralismus als Maxime des Versammlungsrechts, in: MIP 2016, S. 70 (77 ff.); 47 VG München, Beschluss vom 02.03.2015 – M 7 S 15.786, ju- D. Dişçi, Grundsatz (partei-)politischer Neutralität, in: MIP ris Rn. 23. 2016, S. 101 ff. 48 VG München, Beschluss vom 02.03.2015 – M 7 S 15.786, ju- 51 BVerfG, Urteil vom 16.12.2014 – 2 BvE 2/14, online veröf- ris Rn. 24. fentlicht bei juris (= BVerfGE 138, 102-125); dazu schon A. 49 BVerfG, Beschluss vom 07.11.2015 – 2 BvQ 39/15, in: EuGRZ Bäcker, Parteienrecht im Spiegel der Rechtsprechung – 2015, 699-700. Grundlagen, in: MIP 2016, S. 154 (154 f.).

137 Parteienrecht im Spiegel der Rechtsprechung MIP 2016 22. Jhrg. rung der Antragsgegnerin auf der Homepage des von Das in zweiter Instanz angerufene OVG Nordrhein- ihr geführten Ministeriums, ohne dass ein Bezug zu Westfalen55 versagte den Veranstaltern der Dügida- den mit dem Ministeramt verbundenen Aufgaben er- Versammlung dann aber die beantragte einstweilige kennbar wäre. Zwar ist der Antragsgegnerin zuzuge- Anordnung, allerdings mit unrühmlicher Begrün- stehen, dass im Text der Presseerklärung eine Be- dung. Allein Zweifel an der (richtigen) rechtlichen zugnahme auf ihr Ministeramt unterbleibt. Gleich- Beurteilung des zur Entscheidung anstehenden Fal- wohl nimmt sie mit der Verbreitung der Erklärung les lähmten die Entscheidungskraft des Gerichts. Der über die Homepage des von ihr geführten Ministeri- Fall werfe „die schwierige Frage nach der Geltung ums Ressourcen in Anspruch, die ihr aufgrund ihres und Reichweite des für Amtswalter geltenden Neu- Regierungsamtes zur Verfügung stehen und politi- tralitätsgebots in politischen Auseinandersetzungen schen Wettbewerbern verschlossen sind.“ außerhalb von Wahlkampfzeiten und ohne Beteili- Diese für Amtsträger entwickelten Maßstäbe politi- gung politischer Parteien auf. Zulässigkeit und Gren- scher Neutralität gelten nicht nur gegenüber politi- zen von staatlichen Aufrufen an die Bevölkerung zu schen Parteien, sondern auch gegenüber anderen Kundgebungen oder ähnlichen politischen Aktionen Formen der Teilhabe am politischen Willensbil- sind jedoch bislang in der verfassungs- und verwal- tungsrechtlichen Rechtsprechung nicht hinreichend dungsprozess, insbesondere durch Demonstrationen 56 bzw. Versammlungen52. Dies hat ausdrücklich auch geklärt“ . Unabhängig davon, dass es zumindest richtungsweisende Gerichtsentscheidungen gab57, das VG Düsseldorf53 so gesehen und dem Düssel- obliegt es doch gerade den Gerichten, durch Rechts- dorfer Oberbürgermeister den Aufruf zur Teilnahme anwendung im Einzelfall die geltenden Maßstäbe an einer Gegendemonstration zu einer geplanten Dü- festzulegen und weiter zu konturieren, was dann gida-Versammlung und einen beabsichtigten „Be- – im Zeitverlauf – zu einer gefestigten Rechtspre- leuchtungsboykott“ per einstweiliger Anordnung un- chung führt. Darüber hinaus geht es im Verfahren tersagt. Der Oberbürgermeister hatte den fraglichen des einstweiligen Rechtsschutzes um eine vorläufige Aufruf auf der offiziellen Internetseite der Stadt in Regelung in Bezug auf den Streitgegenstand, die an- amtlicher Funktion unter dem Motto „Lichter aus! hand der Wahrscheinlichkeit eines Obsiegens bzw. Düsseldorf setzt Zeichen gegen Intoleranz“ veröf- Unterliegens in der Hauptsache zu treffen ist. Eine fentlicht und darin auch das Ausschalten der Be- dahingehende Prognose, die selbstverständlich im- leuchtung verschiedener öffentlicher Gebäude als mer mit gewissen Unsicherheiten behaftet ist und Zeichen gegen Dügida angekündigt. Richtigerweise sich nicht selten im Hauptsacheverfahren als unzu- ist das VG Düsseldorf unter Anwendung der für die treffend erweist, hat das OVG schlicht verweigert. Neutralitätspflicht von Regierungsmitgliedern entwi- Dieser Aufgabe hätte es sich – trotz der Eilbedürftig- ckelten Maßstäbe zu dem Ergebnis gelangt, dass der keit – nicht entziehen dürfen58, zumal es um Fragen Oberbürgermeister unzulässigerweise auf Mittel zu- rückgegriffen hat, die ihm nur in seiner amtlichen Düsseldorfer Oberbürgermeister für zulässig und den Be- Funktion zur Verfügung stehen. Sowohl die Inter- leuchtungsboykott für unzulässig hält K. F. Gärditz, Unbe- netseite der Stadt als auch die Lichtanlagen der städ- dingte Neutralität? Zur Zulässigkeit amtlicher Aufrufe zu Ge- tischen Gebäude stehen ihm aufgrund seines Amtes gendemonstrationen durch kommunale Wahlbeamte, in: zur Verfügung und ein Zugriff ist politischen Wett- NWVBl. 2015, S. 165 (171), der gewählten Amtsträgern auf- grund einer „spezifischen Politizität“ von Wahlämtern einen bewerbern verschlossen. Diese staatlichen Ressour- größeren Spielraum gibt: erlaubt sei eine „schlichte politische cen hat er als politisches Kampfmittel zweckent- Parteinahme für oder gegen eine Versammlung, mit der über fremdet und damit gegen den Grundsatz politischer die politische Werbung hinaus eine substantielle Freiheitsein- Neutralität verstoßen54. buße weder final herbeigeführt noch absehbar verbunden ist“ (S. 170); offen gelassen bei D. Dişçi, Grundsatz (partei-) politischer Neutralität, in: MIP 2016, S. 101 (107). 52 D. Dişçi, Grundsatz (partei-)politischer Neutralität, in: MIP 55 2016, S. 101 ff.; gerade mit Blick auf die Versammlungsfrei- OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 12.01.2015 – 15 heit instruktiv S. Jürgensen/J. Garcia J., Pluralismus als Ma- B 45/15, online veröffentlicht bei juris. xime des Versammlungsrechts, in: MIP 2016, S. 70 (78 f.); s. 56 OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 12.01.2015 – 15 auch K. F. Gärditz, Unbedingte Neutralität? Zur Zulässigkeit B 45/15, juris Rn. 4. amtlicher Aufrufe zu Gegendemonstrationen durch kommuna- 57 Etwa des BVerfG zur Äußerungsbefugnis von Mitgliedern der le Wahlbeamte, in: NWVBl. 2015, S. 165 (169 ff.). Bundesregierung, Fn. 51. 53 VG Düsseldorf, Beschluss vom 09.01.2015 – 1 L 54/15, juris 58 Ausführlich dazu S. Roßner, Kein Rechtsschutz für DÜGIDA- Rn. 12. Demonstranten: Das OVG, das sich nicht traut, in: Legal Tri- 54 Wie hier S. Jürgensen/J. Garcia J., Pluralismus als Maxime bune Online, 05.02.2015, www.lto.de/persistent/a_id/14592/ des Versammlungsrechts, in: MIP 2016, S. 70 (S. 78 f.); den (zuletzt abgerufen am 16.03.2016); D. Dişçi, Grundsatz (par- Aufruf zur Teilnahme an einer Gegendemonstration durch den tei-)politischer Neutralität, in: MIP 2016, S. 101 (107);

138 MIP 2016 22. Jhrg. Parteienrecht im Spiegel der Rechtsprechung des Rechts und nicht der Sachverhaltsaufklärung Düsseldorf sei „kein Platz für das Schüren dumpfer ging59. Ängste und Ressentiments“ – und dem Ausschalten Das Hauptsacheverfahren vor dem VG Düsseldorf60 der Beleuchtung gegen die inhaltlichen Positionen, scheiterte dann an einem fehlenden Feststellungsin- die seiner Erwartung nach bei der Versammlung von teresse des Veranstalters der Dügida-Versammlung. deren Teilnehmern geäußert und verbreitet werden Immerhin hielt das VG daran fest, dass es „weiterhin würden, und gegen diese Versammlung als solche die streitigen Maßnahmen des Oberbürgermeisters gerichtet. Obwohl der Veranstalter zwar namentlich […] für rechtswidrig erachtet“61. Es vermochte aber als Anmelder der Versammlung genannt und damit das für die Feststellungsklage erforderliche rechtlich von den negativen Aussagen zu der angemeldeten anerkannte Interesse an der (nachträglichen) Feststel- Demonstration mittelbar betroffen war, beträfe die lung der Rechtswidrigkeit des (erledigten) Verwal- Erklärung aber im Kern nicht die Person und beein- tungshandelns nicht zu erkennen. Fallgruppen recht- trächtige sie damit nicht wesentlich in ihrem Persön- lich anerkannter Interessen sind in diesem Zusammen- lichkeitsrecht. Darüber hinaus sei zu berücksichti- hang etwa die konkrete Wiederholungsgefahr oder gen, dass „die Klägerin sich selbst mit teilweise pro- auch das Rehabilitierungsinteresse. Wiederholungsge- vokanten Äußerungen in die Öffentlichkeit begeben fahr setzt voraus, dass es möglicherweise erneut an- hat und damit ein höheres Maß an – auch öffentlich lässlich einer vergleichbaren Veranstaltung zu ähnli- geäußerter – Kritik hinnehmen muss als eine nicht in chen Maßnahmen kommt. Dafür hätte auf Seiten der gleicher Weise öffentlich hervorgetretene Person“62. Veranstalter der Dügida-Versammlungen der Wille Unabhängig davon, dass insbesondere letztgenanntes erkennbar sein müssen, in Zukunft vergleichbare Ver- Argument in schmerzhafter Weise Grundlagen des sammlungen bzw. Aufzüge abzuhalten. Daran fehlte Staatsorganisationsrechts und die daraus resultieren- es. Die Veranstalter hatten bis Ende des Jahres 2015 den Bindungen der Staatsgewalt ignoriert63, steht die einmal wöchentlich angemeldeten Versammlun- auch die Bewertung der mangelnden Schwere der gen bereits im Juni 2015 abgesagt und lediglich gel- Beeinträchtigung eher auf schwachen Beinen. Die tend gemacht, „es bestünden Überlegungen, ob weite- „künstliche“ Differenzierung nach der Zielrichtung re Demonstrationen stattfinden sollten“. Dies reicht des Handelns des Oberbürgermeisters, das unmittel- nicht, um eine konkrete Wiederholungsgefahr glaub- bar der Versammlung und nur mittelbar dem Veran- haft zu machen. Ein Rehabilitierungsinteresse liegt stalter gegolten hätte, lässt sich schon nach den eige- vor, wenn es bei vernünftiger Würdigung der Verhält- nen Ausführungen, wonach der Veranstalter selbst nisse des Einzelfalles schutzwürdig ist, insbesondere namentlich erwähnt war, kaum halten. Das VG Düs- weil das in Rede stehende Verwaltungshandeln den seldorf lehnte auch ein Rehabilitierungsinteresse vor Betroffenen in seinem Persönlichkeitsrecht oder ande- dem Hintergrund einer Beeinträchtigung des Grund- ren Grundrechtspositionen in diskriminierender Weise rechts der Versammlungsfreiheit ab. Es ging mit dem beeinträchtigt hat und diese Beeinträchtigung auch Bundesverfassungsgericht davon aus, dass auch eine noch nach Eintritt der Erledigung fortwirkt. Auch dies versammlungsbehördliche Auflage eine einschüch- verneinte das VG Düsseldorf, allerdings schon mit et- ternde und diskriminierende Wirkung entfalten kann, was weniger überzeugender Begründung: Der Ober- insbesondere wenn sie geeignet ist, den freien Zu- bürgermeister habe sich mit dem veröffentlichten gang zu der Versammlung zu behindern, indem sie Aufruf – er wolle anlässlich der Demonstration „Zei- die Teilnehmer in den Augen der Öffentlichkeit als chen gegen Intoleranz und Rassismus“ setzen und in möglicherweise gefährlich erscheinen lässt und da- mit potentielle Versammlungsteilnehmer von einer S. Jürgensen/J. Garcia J., Pluralismus als Maxime des Ver- Teilnahme abhalten kann64. In diesem Sinne trans- sammlungsrechts, in: MIP 2016, S. 70 (76, Fn. 91); die recht- liche Abstinenz des OVG für vertretbar hält K. F. Gärditz, portierte der Aufruf zur Demonstration explizit ge- Unbedingte Neutralität? Zur Zulässigkeit amtlicher Aufrufe gen diese Versammlung durchaus die Botschaft, die zu Gegendemonstrationen durch kommunale Wahlbeamte, in: Positionen der sich dort Versammelnden – und damit NWVBl. 2015, S. 165 (171). 59 Zu den aus der Rechtsschutzgarantie folgenden Maßstäben in Eilverfahren s. StGH Baden-Württemberg, Urteil vom 23.03.2015 62 VG Düsseldorf, Urteil vom 28.08.2015 – 1 K 1369/15, juris – 1 VB 56/14 (Verfassungsbeschwerde), juris Rn. 45; dazu Rn. 59. noch unten A. Bäcker, Parteienrecht im Spiegel der Rechtspre- 63 So leider auch schon VerfGH Saarland, Urteil vom chung – Chancengleichheit, in: MIP 2016, S. 142 (142 f.). 08.07.2014 – Lv 5/14, online veröffentlicht in BeckRS 2014, 60 VG Düsseldorf, Urteil vom 28.08.2015 – 1 K 1369/15, online 53505; dazu A. Bäcker, Parteienrecht im Spiegel der Recht- veröffentlicht bei juris. sprechung – Grundlagen, in: MIP 2015, S. 154 (154). 61 VG Düsseldorf, Urteil vom 28.08.2015 – 1 K 1369/15, juris 64 BVerfG, Beschluss vom 12.05.2010 – 1 BvR 2636/04, juris Rn. 79. Rn. 15.

139 Parteienrecht im Spiegel der Rechtsprechung MIP 2016 22. Jhrg. auch des Veranstalters – seien nur beschränkt ver- aus, dass diese Grundsätze auch dann Anwendung tretbar und von Staats wegen unerwünscht, gar min- finden, wenn es nicht um belastende Verwaltungsak- derwertig. Eine potentielle Versammlungsteilnehmer te und damit unmittelbare Eingriffe in die Versamm- einschüchternde und diskriminierende Wirkung, ge- lungsfreiheit geht, sondern um eingriffsgleiche Maß- rade auch in Verbindung mit dem Beleuchtungsboy- nahmen mit mittelbar faktischer Wirkung. Und ob- kott, ist dem Aufruf damit durchaus zu eigen65. Die gleich das VG Düsseldorf die Handlungen des Ober- freiheitsbeschränkenden Auswirkungen dieses Auf- bürgermeisters als mittelbare Eingriffe qualifizierte rufs sind zwar nicht gleichermaßen weitreichend wie und diesen spürbare beeinträchtigende Auswirkun- die der Anordnung einer polizeilichen Durchsuchung gen bescheinigte, maß es diesen dennoch nicht hin- der Teilnehmer einer Versammlung vor Beginn der reichend Gewicht bei. Die Begründung beruht auf ei- Veranstaltung, über die das BVerfG entschieden hat. nem Fehlschluss. Nach den Worten des VG Düssel- Wenn das VG Düsseldorf deshalb annimmt, die Ver- dorf „betrafen die Erklärung und das symbolische sammlungsteilnehmer waren durch den Aufruf in Ausschalten der Beleuchtung öffentlicher Gebäude, wesentlich geringerer Intensität betroffen, als dies das sich nicht unmittelbar auf die Beleuchtung des bei einer körperlichen Durchsuchung der Fall gewe- Versammlungsweges auswirkte, nicht nur die äuße- sen wäre, ist dies grundsätzlich nachvollziehbar. ren Modalitäten der Versammlung, wie es etwa bei Eine andere Auffassung wäre aber zumindest sehr Auflagen, die das Mitführen von Fackeln verbieten gut vertretbar gewesen66. Darüber hinaus hat sich oder den Weg eines Aufzugs beschränken, der Fall aber, wie auch das VG Düsseldorf gesehen, aber sein dürfte, sondern den kommunikativen Kern der- letztlich verneint hat67, eine weitere Fallgruppe eines selben. Denn der Oberbürgermeister trat den (vermu- rechtlich anerkannten Feststellungsinteresses durch- teten) Meinungsäußerungen der Teilnehmer der Ver- gesetzt. Danach ist ein solches zu bejahen, auch sammlung entgegen“70. Danach ist der Sachverhalt wenn das erledigte Rechtsverhältnis keine anhalten- also der zuvor genannten Fallgruppe einer „den spe- den abträglichen Wirkungen mehr zeitigt, wenn es zifischen Charakter der Versammlung verändern- sich um einen tiefgreifenden Grundrechtseingriff bei den“ Maßnahme zuzuordnen, bei der nachträglicher sich typischerweise schnell erledigenden Maßnah- Rechtsschutz zu gewähren ist. Vor dieser Schlussfol- men handelt. In diesen Fällen verlangt letztlich die gerung scheute das VG Düsseldorf dann aber zurück Rechtsschutzgarantie aus Art. 19 Abs. 4 GG, dass und ergänzte: „Gleichwohl hatte der faktische Ein- ein effektiver Hauptsacherechtsbehelf zur Verfügung griff nur geringes Gewicht, da der Oberbürgermeis- steht68. Wie das VG selbst ausführt, ist nach der vom ter nicht unmittelbar durch Verwaltungsakt, sondern Bundesverfassungsgericht für versammlungsrechtli- nur mittelbar auf die Versammlung einwirkte, indem che Maßnahmen entwickelten Systematik nachträgli- er die öffentliche Meinung zu Ungunsten dieser Ver- cher Rechtsschutz zu eröffnen, wenn die Versamm- sammlung zu beeinflussen versuchte und zur Teil- lung zwar durchgeführt werden konnte, aber z.B. in- nahme an der Gegendemonstration aufrief“. Mit an- folge von versammlungsbehördlichen Auflagen nur deren Worten, das Gericht sprach der Maßnahme in einer Weise, die ihren spezifischen Charakter ver- hinreichendes Gewicht ab, weil es sich nicht um ändert, insbesondere die Verwirklichung ihres kom- einen unmittelbar wirkenden Verwaltungsakt handel- munikativen Anliegens wesentlich erschwert hat. te. Die Tatsache, dass es sich nicht um einen Ver- Dagegen liegt kein gewichtiger, nachträglichen waltungsakt handelt, ist aber kein selbständig tragen- Rechtsschutz gebietender Grundrechtseingriff vor, der Grund für die Annahme, dass einem anderen wenn die z.B. durch versammlungsbehördliche Auf- (faktischen) Verwaltungshandeln Grundrechtsrele- lagen begründeten Abweichungen bloße Modalitäten vanz von hinreichendem Gewicht fehlt. Auch nach der Versammlungsdurchführung betroffen haben69. den selbst vom VG Düsseldorf dargelegten Grund- Zutreffend geht das VG Düsseldorf weiter davon sätzen, kommt es auf die Rechtsförmlichkeit des Verwaltungshandels als Unterscheidungs- und Ab- 65 Vgl. S. Jürgensen/J. Garcia J., Pluralismus als Maxime des grenzungsmerkmal ja gerade nicht an. Diese Begrün- Versammlungsrechts, in: MIP 2016, S. 70 (79). 66 dung jedenfalls trägt das Urteil des VG Düsseldorf So auch S. Jürgensen/J. Garcia J., Pluralismus als Maxime nicht. Die Klage letztlich wegen fehlenden Feststel- des Versammlungsrechts, in: MIP 2016, S. 70 (76, Fn. 90). lungsinteresses als unzulässig abzuweisen, ist auch 67 VG Düsseldorf, Urteil vom 28.08.2015 – 1 K 1369/15, juris Rn. 63 ff. vor dem Hintergrund bedenklich, dass es infolge der 68 M. Möstl, in: Posser/Wolff, Beck'scher Online-Kommentar Entscheidung des OVG Nordrhein-Westfalen, eine VwGO, 36. Edition, Stand: 01.01.2016, § 43 Rn. 25 m.w.N. 69 VG Düsseldorf, Urteil vom 28.08.2015 – 1 K 1369/15, juris 70 VG Düsseldorf, Urteil vom 28.08.2015 – 1 K 1369/15, juris Rn. 70. Rn. 78.

140 MIP 2016 22. Jhrg. Parteienrecht im Spiegel der Rechtsprechung rechtliche Klärung der aufgeworfenen Rechtsfragen bezieht, und aus denselben Gründen – einer juristi- zu unterlassen, auch jetzt noch an einer rechtskräfti- schen Verweigerungshaltung gleich. Es sei eine gen fachgerichtlichen Feststellung zur Rechtswidrig- schwierige Frage und in der Rechtsprechung nicht keit des Verwaltungshandelns fehlt71. Alles in allem ausreichend geklärt, ob der Oberbürgermeister in sei- wäre dem VG Düsseldorf auch in hier etwas mehr ner amtlichen Funktion zu Gegendemonstrationen Mut bei der Feinjustierung der juristischen Maßstäbe dieser Art aufrufen darf oder nicht. Deshalb liege die zu wünschen gewesen. nötige hohe Wahrscheinlichkeit für ein Obsiegen der Antragstellerin nicht vor73. Auch die Veranstalterin der Bagida-Versammlungen, einem Pegida-Ableger in Bayern, ist vor dem VG Letztlich verdient noch ein nicht in Zusammenhang München72 mit einem Eilantrag gescheitert, mit dem mit einer rechten Partei bzw. Bewegung ergangenes sie künftige Aufrufe des Münchener Oberbürger- Urteil Aufmerksamkeit, vor allem deshalb, weil es meisters zu Demonstrationen gegen Bagida-Veran- sich – was selten ist – mit den Organisationszusam- staltungen verhindern wollte. Das VG München be- menhängen politischer Parteien auseinandersetzt. Eine jaht eine Eröffnung des Verwaltungsrechtsweges mit Arbeitnehmerin im Büro des Kreisverbandes einer der Begründung, der Oberbürgermeister von München politischen Partei wehrte sich vor dem ArbG Düssel- habe unter Inanspruchnahme staatlicher Ressourcen in dorf74 gegen ihre Kündigung. Das Kündigungsschutz- amtlicher Eigenschaft und nicht als Privatperson/ gesetz war nicht anwendbar, da in dem Betrieb des Parteipolitiker gehandelt. Damit überstrapaziert es Kreisverbandes nicht mehr als zehn Arbeitnehmer be- die Filterfunktion dieser Zulässigkeitsvoraussetzung schäftigt werden. Das Kreisbüro unterfiel der Klein- zwar. Wird ein Anspruch geltend gemacht, ist auf betriebsregelung, weil nach Auffassung des ArbG die Rechtsnatur der geltend gemachten Anspruchs- bei der Ermittlung der Zahl der Beschäftigten die Ar- grundlage, demnach des öffentlich-rechtlichen Un- beitnehmer des Landesverbandes nicht hinzugerech- terlassungsanspruchs, abzustellen, nicht auf das Vor- net werden können, da Landes- und Kreisverband liegen der Anspruchsvoraussetzungen. Gleichwohl keinen gemeinsamen Betrieb unter einheitlicher Lei- ist der rechtlichen Beurteilung des streitgegenständ- tung betreiben. Dies begründete das Gericht damit, lichen Verhaltens des Oberbürgermeisters zuzustim- dass es keine personelle oder technisch-organisatori- men. Die Ausführungen zum Anordnungsanspruch sche Verknüpfung der Arbeitsabläufe und auch keine sind nachvollziehbar. Insoweit hat der Anspruchstel- Anzeichen für einen gemeinsamen Einsatz der Be- ler glaubhaft zu machen, dass ihm der geltend ge- triebsmittel gebe. Aus parteienrechtlicher Sicht be- machte Anspruch mit überwiegender Wahrschein- dauerlicherweise hat das ArbG offen gelassen, ob lichkeit zusteht. Voraussetzung eines auf künftiges dies bereits aus Gründen des Tendenzschutzes für Unterlassen gerichteten Anspruchs ist, dass eine Be- den Betrieb einer politischen Partei geboten ist. Es einträchtigung der subjektiv-öffentlichen Rechte des hielt dies aber für denkbar, da die beiden Verbände, Anspruchsstellers ernstlich zu besorgen ist. Bei der auf Kreis und auf Landesebene, durch die Satzungen danach erforderlichen summarischen Prüfung der Er- selbständig ausgestaltet sind, so dass eine arbeits- folgsaussichten in der Hauptsache kommt das VG rechtliche Führungsvereinbarung deshalb ausge- München zu dem – vertretbaren – Ergebnis, dass schlossen sein könnte75. Das BAG folgerte in einem nicht mit hinreichender Sicherheit davon ausgegan- Verfahren, in dem es um die Frage der Errichtung ei- gen werden könne, der Oberbürgermeister werde nes Gesamtbetriebsrates ging, die rechtliche Selb- vergleichbare Aufrufe erneut veröffentlichen. Wohl ständigkeit der beteiligten Gebietsverbände inner- auch, weil hier aber durchaus noch Restzweifel ver- halb des Gesamtvereins politische Partei aus einer bleiben, verneint das VG München zusätzlich auch Zusammenschau der Vorschriften des PartG zur einen Anordnungsgrund. Diese Ausführungen kom- Gliederung demokratischer Parteien (§§ 6, 7, 8, 9 men – wie die des OVG Nordrhein-Westfalen in der und 11) und deren Umsetzung im Organisationssta- Dügida-Entscheidung, auf die das VG München sich tut der Partei76. Dass es sich bei politischen Parteien um Tendenzbetriebe im Sinne des § 118 Abs. 1 Nr. 1

71 In diesem Sinne selbst bei einem den Funktionen des Eil- 73 Zur Fragwürdigkeit dieser Argumentation s. schon oben, S. 138 f. rechtsschutzes gerecht werdenden Verfahren auch StGH Ba- 74 den-Württemberg, Urteil vom 23.03.2015 – 1 VB 56/14 (Ver- ArbG Düsseldorf, Urteil vom 31.08.2015 – 6 Ca 751/15, online fassungsbeschwerde), juris Rn. 37; dazu noch unten, A. Bäcker, veröffentlicht bei juris. Parteienrecht im Spiegel der Rechtsprechung – Chancen- 75 ArbG Düsseldorf, Urteil vom 31.08.2015 – 6 Ca 751/15, juris gleichheit, in: MIP 2016, S. 142 (142 f.). Rn. 52. 72 VG München, Beschluss vom 19.01.2015 – M 7 E 15.136, in: 76 BAG, Beschluss vom 09.08.2000 – 7 ABR 56/98 (= BAGE K&R 2015, S. 285-286. 95, 269 ff.), juris Rn. 21.

141 Parteienrecht im Spiegel der Rechtsprechung MIP 2016 22. Jhrg.

BetrVG handelt ist wohl auch anzunehmen77. Inwie- den knappen Worten ein, die seitens der NPD geäu- weit daraus folgt, dass der Kern der Arbeitgeber- ßerten Zweifel teile er nicht. Die dagegen gerichtete funktionen im sozialen und personellen Bereich Anhörungsrüge wies der VerwGH Baden-Württem- nicht von einer (übergeordneten) institutionalisierten berg 82 ebenfalls zurück. Die NPD rügte unter ande- Leitung (etwa der Landesebene einer Partei) ausge- rem eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches übt werden kann, ist eine spannende Rechtsfrage, die Gehör und des Rechts auf effektiven Rechtsschutz durchaus eine nähere Betrachtung verdient, der aber (Art. 67 Abs. 1 LVerf. BW), weil das Gericht den hier – wie auch im Urteil des ArbG Düsseldorf – Sachvortrag schlicht übergangen und keine weitere nicht weiter nachgegangen werden soll. Sachverhaltsaufklärung betrieben habe, obwohl dies Dr. Alexandra Bäcker erforderlich und möglich gewesen wäre. Auch in dieser Beschlussbegründung gab sich das Gericht 2. Chancengleichheit eher wortkarg und verwies darauf, dass es den Vor- trag zur Kenntnis genommen und immerhin – wenn In dieser Rubrik des Spiegels der Rechtsprechung auch knapp – mit einem Satz gewürdigt habe. Für geht es im Kern um Fragen der chancengleichen Be- eine weitergehende Sachaufklärung habe es keine Ver- rücksichtigung von politischen Parteien, soweit die anlassung gesehen. Der StGH Baden-Württemberg83 öffentliche Gewalt den Parteien Einrichtungen zur sah dies anders und erließ die beantragte einstweilige Verfügung stellt oder andere öffentliche Leistungen Anordnung. Er hielt es nicht für ausgeschlossen, dass gewährt (§ 5 PartG). Klassiker sind hier etwa die der angegriffene Beschluss des VerwGH Baden- Stadthallenfälle, von denen einer auch vor den StGH Württemberg die Garantie effektiven Rechtsschutzes Baden-Württemberg78 getragen wurde. Die NPD aus Art. 67 Abs. 1 LVerf. BW verletzt habe und kam hatte bei der Stadt Weinheim beantragt, ihr deren bei der für den Erlass der einstweiligen Anordnung Stadthalle an einem der Novemberwochenenden für vorzunehmenden Folgenabwägung zu dem Ergebnis, einen Bundesparteitag zur Verfügung zu stellen. dass die Interessen der NPD an der Durchführung ih- Dies lehnte die Stadt ab und begründete die Ableh- res Bundesparteitages überwiegen. Letztlich war der nung damit, die Stadthalle sei bereits vor Eingang NPD auch in der vor dem StGH Baden-Württem- des Überlassungsantrages der NPD für andere Ver- berg84 zeitgleich erhobenen Verfassungsbeschwerde anstaltungen vergeben worden bzw. an einem ange- Erfolg beschieden. Nachdem die NPD auf die einst- fragten Termin wegen eines Feiertages (Allerheiligen) weilige Anordnung des StGH Baden-Württemberg hin geschlossen. Der in der Folge gestellte Antrag auf am ersten Novemberwochenende 2014 in der Stadt- Erlass einer einstweiligen Anordnung wurde vom VG halle Weinheim ihren Bundesparteitag durchführen Karlsruhe79 abgelehnt. Dagegen legte die NPD – wie- konnte, erstritt sie nunmehr auch die begehrte Fest- derum erfolglos – Beschwerde vor dem VerwGH stellung, dass die Versagung einstweiligen Rechts- Baden-Württemberg80 ein81. Die für einen Anord- schutzes durch den VerwGH Baden-Württemberg sie nungsgrund zu fordernde Dringlichkeit sei zwar an- in ihren Grundrechten verletzt hat. Der StGH ging in zunehmen, aber der Anordnungsanspruch scheitere Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des unter Beachtung des Prioritätsprinzips an der tat- BVerfG von einem Fortbestehen des Rechtsschutz- sächlichen Verfügbarkeit der Stadthalle. Auf konkret bedürfnisses, trotz Erledigung des im Ausgangsver- und substantiiert vorgetragene Zweifel am Vorbringen fahren geltend gemachten Anspruchs, in Fällen be- der Stadt zur anderweitigen Belegung und insbeson- sonders tiefgreifender und folgenschwerer Grund- dere zur zeitlichen Reihenfolge der Überlassungsan- rechtsverstöße aus. Insbesondere bei sich typischer- träge ging der VerwGH Baden-Württemberg nur mit weise schnell erledigenden Maßnahmen verlangt letztlich die Rechtsschutzgarantie, dass ein effektiver 77 J. Ipsen, in: ders., Parteiengesetz, 2008, § 3 Rn. 20. Hauptsacherechtsbehelf zur Verfügung steht. Soll 78 StGH Baden-Württemberg, Urteil vom 23.03.2015 – 1 VB 56/14 die Möglichkeit einer verfassungsgerichtlichen Über- (Verfassungsbeschwerde), online veröffentlicht bei juris, und prüfung der Versagung von einstweiligem Rechts- StGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 30.10.2014 – 1 VB 56/14 (einstweilige Anordnung), online veröffentlicht bei juris. schutz nicht gänzlich vereitelt werden, kann – so der 79 VG Karlsruhe, Beschluss vom 10.09.2014 – 6 K 1670/14, on- line veröffentlicht bei juris. 82 VerwGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 29.10.2014 – 1 S 80 VerwGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 16.10.2014 – 1 S 2086/14, nicht veröffentlicht. 1855/14, online veröffentlicht bei juris. 83 StGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 30.10.2014 – 1 VB 81 Zu den Entscheidungsgründen der Vorinstanzen s. schon 56/14 (einstweilige Anordnung), online veröffentlicht bei juris. S. Jürgensen, Parteienrecht im Spiegel der Rechtsprechung – 84 StGH Baden-Württemberg, Urteil vom 23.03.2015 – 1 VB Chancengleichheit, in: MIP 2015, S. 160 (161). 56/14 (Verfassungsbeschwerde), online veröffentlicht bei juris.

142 MIP 2016 22. Jhrg. Parteienrecht im Spiegel der Rechtsprechung

StGH zu Recht – „in einem Fall wie hier nicht ange- fern liegenden Zweifel nachgehen muss. Der inso- nommen werden, das Rechtsschutzbedürfnis sei nach weit bestehende Ermessensspielraum ist allerdings Ablauf des Veranstaltungstermins entfallen, zumal dann überschritten, „wenn sich weitere Ermittlungen der Beschluss des Staatsgerichtshofs über den An- nach den konkreten Umständen aufdrängen. […] Die trag der Beschwerdeführerin auf Erlass einer einst- bloße Bezugnahme auf eine behördliche Äußerung weiligen Anordnung im Ergebnis auf einer Folgen- genügt jedenfalls dann nicht den Erfordernissen ei- abwägung beruht und die grundsätzliche Frage, ob ner von der Garantie effektiven Rechtsschutzes ge- der angegriffene Beschluss ihre Grundrechte ver- botenen Rechtmäßigkeitskontrolle, wenn konkrete letzt, offen gelassen hat“85. In der Sache entfaltet der und substanzielle Umstände vorliegen, die Zweifel StGH Baden-Württemberg dann überzeugend die in an der Richtigkeit der behördlichen Äußerung her- Eilverfahren an die Gewährung effektiven Rechts- vorrufen“87. Diesen Maßstäben war der VerwGH Ba- schutzes durch die Gerichte zu stellenden Maßstäbe. den-Württemberg nicht gerecht geworden, als er den Danach verpflichtet die Rechtsschutzgarantie aus begründeten, durch konkrete Tatsachen gestützten Art. 19 Abs. 4 GG und Art. 67 Abs. 1 LVerf. BW die und deshalb nachvollziehbaren Zweifeln der NPD an Gerichte, „bei ihrer Entscheidungsfindung diejeni- dem Vortrag der Stadt nicht weiter nachging, obwohl gen Folgen zu erwägen, die mit der Versagung vor- die seitens der NPD in diesem Zusammenhang mehr- läufigen Rechtsschutzes für den Bürger verbunden fach – außergerichtlich und vor Gericht – aufgewor- sind. Je schwerer die sich daraus ergebenden Belas- fenen Fragen von der Stadt nicht beantwortet wur- tungen wiegen, je geringer die Wahrscheinlichkeit den. Zu Recht stellte der StGH deshalb eine Verlet- ist, dass sie im Falle des Obsiegens in der Hauptsa- zung des Rechts auf effektiven Rechtsschutz aus che rückgängig gemacht werden können, umso weni- Art. 67 Abs. 1 LVerf. BW fest. ger darf das Interesse an einer vorläufigen Regelung Auch andere Träger öffentlicher Gewalt, wie etwa oder Sicherung der geltend gemachten Rechtspositi- die als Anstalten des öffentlichen Rechts organisier- on zurückgestellt werden. […] Geht es – wie hier ten kommunalen Sparkassen, sind bei der Gewäh- oder etwa im Versammlungsrecht – um die Wahr- rung von Leistungen an den Grundsatz der chancen- nehmung eines zeitgebundenen Rechts, muss das gleichen Berücksichtigung gebunden. In Rechtsstrei- verwaltungsgerichtliche Eilverfahren zum Teil tigkeiten über das „Ob“ der Eröffnung eines Giro- Schutzfunktionen übernehmen, die sonst das Haupt- kontos als „andere öffentliche Leistung“ i.S.d. § 5 sacheverfahren erfüllt […]. Das Maß dessen, was Abs. 1 PartG ist deshalb der Verwaltungsrechtsweg wirkungsvoller Rechtsschutz ist, bestimmt sich ent- eröffnet, wie nun auch das VG Hannover88 in aus- scheidend auch nach dem sachlichen Gehalt des als drücklicher Abkehr von einer früheren gegenteiligen verletzt behaupteten Rechts. Die verfahrensrechtli- Entscheidung89 urteilte. Auch der Sache nach sah es chen Anforderungen an die Sachverhaltsaufklärung einen Anspruch der selbständigen Untergliederung haben dem hohen Wert dieser Rechte Rechnung zu der NPD „Unterbezirk Oberweser“ auf Eröffnung ei- tragen“86. Danach tritt das Gebot einer zureichenden nes Girokontos bei der Sparkasse Hildesheim gege- Aufklärung des jeweiligen Sachverhalts unter der ben. Der Unterbezirk hat einen Anspruch auf Gleich- Geltung des Untersuchungsgrundsatzes nach § 86 behandlung mit anderen politischen Parteien, für die VwGO „lediglich da zurück, wo eine Überprüfung bei der Sparkasse Hildesheim Girokonten geführt ohne weitere Tatsachenermittlung der Eilbedürftig- werden. Die von der Sparkasse bemühten Gegen- keit der Sache geschuldet ist. […] Gefährdet eine gründe rechtfertigen kein anderes Ergebnis. Die be- fehlende Sachverhaltsermittlung grundrechtlich ge- hauptete „örtliche Unzuständigkeit“ für den die schützte Rechtspositionen und werden diese durch Landkreise Hildesheim, Hameln-Pyrmont und Holz- die Verfahrensgestaltung unterlaufen, darf das Ver- minden umfassenden Unterbezirk ändert nichts, da waltungsgericht nicht davon absehen, seinen Aufklä- das geographische Tätigkeitsgebiet des Unterbezirks rungspflichten nach § 86 VwGO nachzukommen“, jedenfalls auch im Geschäftsbereich der Sparkasse wobei es jedoch nicht jedem geringfügigen und eher

85 StGH Baden-Württemberg, Urteil vom 23.03.2015 – 1 VB 87 56/14 (Verfassungsbeschwerde), juris Rn. 37; anders leider StGH Baden-Württemberg, Urteil vom 23.03.2015 – 1 VB das VG Düsseldorf, Urteil vom 28.08.2015 – 1 K 1369/15, ju- 56/14 (Verfassungsbeschwerde), juris Rn. 45. ris Rn. 63 ff., dazu schon oben, A. Bäcker, Parteienrecht im 88 VG Hannover, Urteil vom 13.05.2015 – 1 A 6549/13, online Spiegel der Rechtsprechung – Grundlagen, in: MIP 2016, veröffentlicht bei juris. S. 130 (139 ff.). 89 Das VG Hannover, Beschluss vom 29.05.2001 – 1 A 86 StGH Baden-Württemberg, Urteil vom 23.03.2015 – 1 VB 1782/01, in: NJW 2001, S. 3354-3355, hatte den Rechtsstreit 56/14 (Verfassungsbeschwerde), juris Rn. 44. auf den Zivilrechtsweg verwiesen.

143 Parteienrecht im Spiegel der Rechtsprechung MIP 2016 22. Jhrg. liegt90, die zudem ihren Sitz in der Kreisstadt des schriftswidrig das Privatkonto einer ehemaligen Vor- größten der zusammengefassten Landkreise hat. So- sitzenden des Unterbezirks Verwendung gefunden weit die Sparkasse vorbringt, der NPD-Unterbezirk hat, konnte sich die Sparkasse nicht berufen. Es ver- habe keinen Anspruch auf Gleichbehandlung mit stößt gegen Treu und Glauben (§ 242 BGB analog), politischen Parteien, da er keine politische Arbeit in die Verweigerung der Kontoeröffnung auf einen nennenswerten Umfang leiste, ist dies durch die Grund zu stützen, den die Sparkasse selbst unter Teilnahme an der Bundestagswahl 2013 mit einem Verstoß gegen geltendes Recht (genauer: durch die Stimmenanteil von 1,6 % konkret im Wahlkreis Hil- mehrmalige rechtswidrige Verweigerung der Konto- desheim schon widerlegt91 und auch sonst abwegig. eröffnung) mittelbar herbeigeführt oder zumindest in Die NPD erfüllt unzweifelhaft die Voraussetzungen seinem Fortbestand begünstigt hat, zumal bei einer des Parteibegriffs (§ 2 PartG) und ist (noch) nicht Kontoeröffnung derlei Verstöße nicht mehr zu er- verboten. An der Parteieigenschaft, die nach dem warten stehen94. Selbstverständlich kann der Spar- Gesamtbild der tatsächlichen Verhältnisse zu beur- kasse auch nicht der Verweis auf die (vorschrifts- teilen ist, haben selbstverständlich auch alle Unter- widrige) Weiterbenutzung dieses Privatkontos oder gliederungen teil, unabhängig von ihrem regionalen eines anderen Privatkontos helfen. Ebenso wenig der Erfolg bzw. Engagement. Die seitens der Sparkasse auf eine Mitbenutzung des Landesverbandskontos der als notwendig erachtete Vorlage einer eigenen Sat- NPD. Die parteiengesetzlich vorgesehenen Transpa- zung des Unterbezirks, um ihn als kontofähiges renz- und Rechenschaftspflichten für politische Par- Rechtssubjekt anzuerkennen, steht nicht im Einklang teien gelten auch für die Untergliederungen, so dass mit den parteiengesetzlichen Wertungen zur einge- ein eigenes Konto der Untergliederungen nicht nur schränkten Satzungsautonomie gebietlicher Unter- sachgerecht, sondern auch erforderlich ist95. Zudem gliederungen (§ 6 Abs. 1 S. 2 PartG), die eine eigene sind nach Sinn und Zweck des § 5 PartG – neben der Satzung erlaubt, aber nicht erzwingt92. Die Sparkasse Gesamtpartei – auch die jeweiligen regionalen oder muss sich daher mit der Einreichung der für den Un- lokalen Untergliederungen anspruchsberechtigt96. terbezirk geltenden Satzungen des Bundes- und Lan- Anspruchsverpflichtet nach § 5 PartG sind alle Trä- desverbandes begnügen. Auch die vorgetragenen ger öffentlicher Gewalt, nicht aber Private. Die pri- Unzumutbarkeitsgesichtspunkte bescherten der Spar- vatwirtschaftlich organisierte Presse trifft auch unter kasse nicht die offenkundig so dringend herbeige- keinem zivilrechtlichen Gesichtspunkt die Verpflich- sehnte Rettung vor der Verpflichtung zur Kontoer- tung, Anzeigen politischer Parteien zu veröffentli- öffnung. Die Aufnahme einer Geschäftsbeziehung chen. Insbesondere unterliegen Presseorgane auch wird nicht deshalb unzumutbar, weil der – inzwi- dann keinem Kontrahierungszwang, wenn ihnen eine schen zudem ehemalige – Unterbezirksvorsitzende lokale oder regionale Monopolstellung zukäme. Die vor mehr als zwei Jahren in einem Vier-Augen-Ge- privatwirtschaftlich organisierte Presse unterliegt bei spräch mit einem Mitarbeiter der Sparkasse über der Auswahl der von ihr verbreiteten Nachrichten eine schon damals beantragte und abgelehnte Konto- und Meinungen nicht der Verpflichtung zu Neutrali- eröffnung äußerte „Ich will ein Konto hier am tät, wie das BVerfG97 unterstrich, als es einen An- Marktplatz eröffnen und nicht in irgendeiner drecki- trag der AfD abgelehnte, die Allgemeiner Anzeiger gen Filiale der Sparkasse“. Selbst wenn darin eine in GmbH und die Mediengruppe Thüringen Verlag den Anwendungsbereich des § 185 StGB fallende GmbH im Wege der einstweiligen Anordnung zu ehrverletzende Äußerung gesehen werden könnte, verpflichten, eine Einladung der AfD zu einem „Bür- wäre diese jedenfalls als geringfügig einzustufen und gerdialog“ über ein „Konzept zur Asyl- und Zuwan- zudem nicht dem Unterbezirk zuzurechnen93. Auch derungspolitik“ zu veröffentlichen. Damit bestätigte darauf, dass die Aufnahme der Geschäftsbeziehung das BVerfG die vorhergehenden Entscheidungen des unzumutbar sei, weil in der Vergangenheit vor- OLG Thüringen98 und des LG Erfurt99. Die Presse- 90 VG Hannover, Urteil vom 13.05.2015 – 1 A 6549/13, juris freiheit schützt auch die politische Tendenz der Presse, Rn. 31 f. 94 91 VG Hannover, Urteil vom 13.05.2015 – 1 A 6549/13, juris VG Hannover, Urteil vom 13.05.2015 – 1 A 6549/13, juris Rn. 35. Rn. 46. 95 92 VG Hannover, Urteil vom 13.05.2015 – 1 A 6549/13, juris VG Hannover, Urteil vom 13.05.2015 – 1 A 6549/13, juris Rn. 41; S. Lenski, Parteiengesetz und Recht der Kandidaten- Rn. 45. aufstellung, 2011, § 6 Rn.10; J. Ipsen, in: ders., Parteienge- 96 S. Augsberg, in: Kersten/Rixen (Hrsg.), Parteiengesetz und sez, § 6 Rn. 4. europäisches Parteienrecht, 2009, § 5 Rn. 27. 93 VG Hannover, Urteil vom 13.05.2015 – 1 A 6549/13, juris 97 BVerfG, Beschluss vom 27.11.2015 – 2 BvQ 43/15, online Rn. 42-44. veröffentlicht bei juris.

144 MIP 2016 22. Jhrg. Parteienrecht im Spiegel der Rechtsprechung die daher auch den Abdruck von Anzeigen und Le- zu halten wurde der Zustimmungsvorbehalt normiert. serzuschriften einer bestimmten Tendenz verweigern Diesem Schutzzweck dient nach Auffassung des darf. Da politische Wettbewerber – nicht zuletzt auf- OVG die Berücksichtigung privater Interessen Drit- grund der Entwicklung der modernen Informations- ter gerade nicht104. Der Norm komme keine dritt- technologien – über vielfältige Möglichkeiten der schützende Wirkung zu. Für die Berücksichtigung Verbreitung von Informationen verfügen, bedarf es qualifizierter und individualisierender Umstände des auch bei einer regionalen Monopolstellung keiner Einzelfalles sei kein Raum. Einschränkung der durch Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG Das OVG Berlin-Brandenburg105 hatte sich mit der geschützten verlegerischen Freiheit. Rücknahme von Bewilligungsbescheiden über die Dr. Alexandra Bäcker Gewährung staatlicher Parteienfinanzierung an die FDP im Zusammenhang mit rechtswidrigen Spenden 3. Parteienfinanzierung des damaligen nordrhein-westfälischen FDP-Landes-

100 vorsitzenden Jürgen W. Möllemann zu beschäftigen. Das OVG Berlin-Brandenburg hatte über einen Das OVG entschied nach Zurückverweisung im Re- Antrag auf Zulassung der Berufung zu entscheiden. visionsverfahren durch das Bundesverwaltungsge- Die klageabweisende vorinstanzliche Entscheidung 106 101 richt erneut. des VG Berlin wurde entscheidungstragend damit In der Vorinstanz hatte sich das VG Berlin107 bereits begründet, dass der Klägerin die Klagebefugnis ge- intensiv und richtungsweisend mit der damaligen mäß § 42 Abs. 2 VwGO fehle. Der Regelung des 102 Spendenpraxis der FDP auseinandergesetzt. Zur Er- § 20b Abs. 1 PartG DDR , die einen generellen Zu- innerung: Die Bundestagsverwaltung erließ im Juli stimmungsvorbehalt für Verfügungen über Parteiver- 2009 einen Strafbescheid gegen die FDP in Höhe von mögen normiert, fehle der tatbestandliche Anknüp- 3.463.148,79 Mio. Euro. Im Zeitraum von 1996 bis fungspunkt für einen etwaigen Drittschutz. § 20b 2002 hatte der nordrhein-westfälische Landesverband PartG DDR diente der Herstellung der Chancen- der FDP von Herrn Möllemann herrührende Bar- und gleichheit der politischen Parteien und der Wieder- Sachspenden angenommen bzw. es unterlassen, die herstellung der materiellen Vermögenslage. Er sollte Spenden im Rechenschaftsbericht zu veröffentli- verhindern, dass Parteien der ehemaligen DDR – ins- chen. Für die streitbefangenen Sachverhalte findet besondere in Nachfolge der SED – am demokrati- die Rechtslage des Parteiengesetzes 1994, geändert schen Willensprozess mit Vermögenswerten teilneh- durch das Siebte Änderungsgesetz 1999, Anwen- men, die sie in einem demokratischen Rechtsstaat 103 dung. Zwischen den Parteien war streitig, ob die Par- nie hätten erwerben können . Daher sollten die tei Spenden rechtswidrig erlangt hat (§§ 23a Abs. 2, Vermögenswerte erfasst und sichergestellt und unter 25 Abs. 1 und 3 PartG 1994). Bei den Beträgen han- treuhänderische Verwaltung gestellt werden. Die un- delte es sich zweifellos um Spenden. Diese musste rechtmäßig erlangten Vermögenswerte wurden den die Partei erlangt, d.h. sie angenommen haben. Ob- Parteien entzogen und nach Möglichkeit den frühe- jektiv setzt die Spendenannahme voraus, dass die ren Berechtigten oder deren Rechtsnachfolgern zu- Spende in die Verfügungsbefugnis eines – aufgrund rückgegeben oder gemeinnützigen Zwecken zuge- des Organisationsrechts der Partei oder infolge partei- führt. Um dies zu gewährleisten und unter Kontrolle interner Bestellung – für die Parteifinanzen Verant- wortlichen und Zeichnungsberechtigten gelangt. 98 OLG Jena, Beschluss vom 26.11.2015 – 2 W 578/15, nicht Subjektiv verlangt die Annahme den Willen, die veröffentlicht. Spende als solche, nämlich als Zuwendung für Par- 99 LG Erfurt, Beschluss vom 19.11.2015 – 3 O 1379/15, nicht veröffentlicht. 100 OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 22.04.2015 – 3 N 104 OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 22.04.2015 – 3 N 6.14, 3 L 38.15, online veröffentlicht bei juris. 6.14, 3 L 38.15, juris Rn. 7 ff. Siehe zum Schutzzweck der 101 VG Berlin, Urteil vom 21.11.2013 – 29 K 65.12, nicht veröf- Norm auch OVG Berlin, Beschluss vom 29.04.1994 – 3 S fentlicht. 22.93, in: ZIP 1994, 991-993. 105 102 § 20 b PartG (1) Mit Inkrafttreten dieses Gesetzes können die OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 17.12.2014 – 3 B Parteien und die ihnen verbundenen Organisationen, juristi- 16.13, online veröffentlicht bei juris. schen Personen und Massenorganisationen Vermögensverän- 106 BVerwG, Urteil vom 25.04.2013 – 6 C 5.12 = BVerwGE 146, derungen wirksam nur mit Zustimmung der Bundesanstalt für 224-254. Siehe auch H. Merten, Spiegel der Rechtsprechung vereinigungsbedingte Sonderaufgaben oder deren Rechts- – Parteienfinanzierung, in: MIP 2014, S. 201. nachfolger vornehmen. 107 VG Berlin, Urteil vom 08.12.2009 – 2 K 126.09, online ver- 103 BVerwG, Urteil vom 11.03.1993 – 7 C 15/92 = BVerwGE 92, öffentlicht bei juris. Siehe H. Merten, Spiegel der Rechtspre- 196-207. chung – Parteienfinanzierung, MIP 2011, S. 174 ff.

145 Parteienrecht im Spiegel der Rechtsprechung MIP 2016 22. Jhrg. teizwecke, entgegenzunehmen. Herr Möllemann hat in der heutigen Fassung des Gesetzes in § 23b PartG die Beträge an den für die Parteifinanzen verantwort- verankerte sanktionsbefreiende Selbstanzeige analog lichen und zeichnungsberechtigten, den damaligen zugunsten der FDP hätte angewendet werden müssen. Landesschatzmeister der Partei und späteren Haupt- Dies wäre dann der Fall, wenn auf der Grundlage der geschäftsführer Herrn Hans-Joachim Kuhl, herausge- früheren Rechtslage eine planwidrige Regelungs- geben. Der Landesverband hat die fraglichen Geld- lücke, die durch eine analoge Anwendung des – aus- beträge mithin zu Parteizwecken erlangt. schließlich begünstigenden und deshalb nicht dem Die von Möllemann an Kuhl ausgehändigten Beträge rechtsstaatlichen Rückwirkungsverbot unterliegen- wurden auf Weisung Möllemanns in Kleinbeträge den – § 23b PartG 2002 zu schließen wäre. Der gestückelt und unter Verwendung falscher Spender- Wortlaut der Norm, die ausschließlich auf die bezeichnungen bzw. unter Verwendung von „Stroh- Rechtsfolgen der erst am 1. Januar 2003 getretenen männern“ als Spenden entgegen genommen und für §§ 31b und c PartG 2002 Bezug nimmt, spricht zwar die FDP verbucht. Da es sich um für Finanzangele- zunächst gegen eine Anwendbarkeit der Vorschrift genheiten zuständige Personen der Partei handelte, auf den Sachverhalt, der dem Sanktionssystem des hätte eine Wissenszurechnung greifen können und PartG 1994 unterliegt. Danach erfolgt die Rücknah- damit wäre der wahre Spender für die Partei fest- me des Bewilligungsbescheides gemäß § 48 Abs. 1 stellbar gewesen. Das VG Berlin hat die Rechtspre- VwVfG i.V.m. § 23a Abs. 1 S. 1 PartG 1994. In das chung in diesem Punkt zu Recht weiterentwickelt. alte Regelungssystem fügt sich der durch die strafbe- Eine Wissenszurechnung scheide ausnahmsweise freiende Selbstanzeige gesetzte Anreiz zur Schaffung dann aus, „wenn der Spender und die zur Entgegen- größtmöglicher Transparenz ein. Die Rücknahme ei- nahme einer Spende befugte Person (Wissensvertre- nes Bewilligungsbescheides ist danach ausgeschlos- ter) bei der Spendenannahme kollusiv zum Nachteil sen, wenn bei einer von der Partei angezeigten Un- des Transparenz- und Publizitätsgebotes handeln, in richtigkeit im Zeitpunkt des Einganges der Anzeige dem sie verabreden, dass der oder die Wissensvertre- konkrete Anhaltspunkte für diese unrichtigen Anga- ter ihr Wissen über die Person des Spenders tatsäch- ben öffentlich nicht bekannt waren oder weder dem lich nicht weitergeben werden, um Partei und Öf- Bundestagspräsidenten, noch in einem amtlichen fentlichkeit über dessen Identität dauerhaft im Un- Verfahren entdeckt waren und die Partei den Sach- klaren zu lassen“108. Nur durch eine derartige Geset- verhalt umfassend offenlegt und korrigiert. Die FDP zesanwendung könne man dem auf Wahrung des hat die Unrichtigkeit im Rechenschaftsbericht nach Transparenzgebotes gerichteten Sinn und Zweck des Ansicht des Gerichtes im angefochtenen Umfang in § 25 Abs. 1 S. 2 Nr. 5 PartG 1994 gerecht werden Höhe von 199.403,83 € dem Bundestagspräsidenten und verhindern, dass „Einflüsse Dritter auf den Wil- unverzüglich, nachdem sie davon Kenntnis erlangt lensbildungsprozess der Partei begründet werden, die hatte, angezeigt. Der Gesetzgeber wollte mit der nur bestimmten Führungspersonen bekannt sind und Schaffung der Norm Sachverhalte der Korrektur deren Herrschaftsansprüche stärken“109. Bei den von nachträglich entdeckter Fehler erfassen. Die Bezug- Möllemann an Kuhl ausgehändigten Beträgen hat es nahme von § 23b Abs. 2 S. 1 PartG 2002 auch auf sich mithin um die Spenden eines für die Partei nicht § 31c zeigt, dass auch Fälle erfasst sind, in denen es feststellbaren Spenders gehandelt. Das Wissen der um die Veröffentlichung von sog. Großspenden oder zum Nachteil der Partei handelnden Personen (Möl- um einen Verstoß gegen die sog. Spendenannahme- lemann und Kuhl) um die Person des Spenders kön- verbote geht, wenn nämlich dieser Verstoß im Re- ne der Partei nicht zugerechnet werden. Dieser chenschaftsbericht dadurch verschleiert wird, dass Rechtssatz wurde vom Bundesverwaltungsgericht so rechtswidrige Spenden nicht oder nicht rechtmäßig auch bestätigt110. dargestellt werden. Kenntnis im Rahmen des § 23b Das OVG Berlin-Brandenburg hatte in seinem Beru- PartG 2002 meint grundsätzlich die positive Kennt- fungsurteil nunmehr ausschließlich zu prüfen, ob die nis des für den Rechenschaftsbericht der Gesamtpar- tei verantwortlichen Bundesvorstands. 108 VG Berlin, Urteil vom 08.12.2009 – 2 K 126.09, juris Rn. 43 Die Rechnungslegung einer Partei dient der Transpa- unter Hinweis auf Saliger, Parteiengesetz und Strafrecht, renz gegenüber der Öffentlichkeit und fußt auf den 2005, S. 112 f. Siehe auch BVerwG, Urteil vom 25.04.2013 – 6 c 5/12 = BVerwGE 146, 224-254. Grundsätzen der innerparteilichen Demokratie. Wür- 109 VG Berlin, Urteil vom 08.12.2009 – 2 K 126.09, juris Rn. 41 de es einer Partei aber erschwert, aufgedeckte Feh- und 43 unter Hinweis auf die Rechtsprechung des BVerwG, ler, die vor ihr selbst gezielt verborgen wurden, öf- E 126, 254 ff., Rn. 91 m.w.N. fentlich zu machen und zu korrigieren, weil sie sich 110 BVerwG, Urteil vom 25.04.2013 – 6 C 5.12 = BVerwGE 146, mit der daraus folgenden Sanktion konfrontiert sähe, 224-254.

146 MIP 2016 22. Jhrg. Parteienrecht im Spiegel der Rechtsprechung würde dies dem Interesse an einer größtmöglichen Partei verwirklichen soll. Folglich hat das Finanzamt Transparenz entgegenwirken. Die Richtigkeit der zurecht den Gewerbesteuermessbetrag festgelegt, Angaben soll fortlaufend überwacht werden, um denn politische Parteien unterfallen als rechtsfähige hieraus ohne Zögern die richtigen Konsequenzen zu Vereine grundsätzlich der Gewerbesteuerpflicht. ziehen. Entdeckt die Partei einen Fehler, soll sie die- Dies gilt in gleicher Weise auch für die Umsatzsteuer. sen sanktionslos berichtigen können. Das Gericht hat Zu dem im Berichtszeitraum ergangenen Beschluss festgestellt, dass die „goldene Brücke“ zu Transpa- des BVerfG vom 15.07.2015, 2 BvE 4/12, in Sachen renz und Rechtmäßigkeit einer Partei nicht vorent- der Bewilligung von Haushaltsmitteln für Bundes- halten sein soll, die gleichsam Opfer einer internen tagsfraktionen, persönliche Mitarbeiter der Bundes- Täuschung geworden ist111. tagsabgeordneten sowie zugunsten parteinaher Stif- Das Thüringer Finanzgericht112 hatte sich in einem tungen im Bundeshaushalt 2012 s. die ausführliche Urteil mit der Umsatz- und Körperschaftssteuerpflicht Besprechung in diesem Heft, S. 108 ff. sowie mit der Festsetzung des Gewerbesteuermess- Dr. Heike Merten betrages einer politischen Partei zu befassen, die zum Wahlkampfauftakt ein Rockkonzert veranstaltet 4. Parteien und Parlamentsrecht hat. In den Pausen wurden parteipolitische Reden ge- halten. Die Veranstaltung war öffentlich. Ein Ein- In einem Organstreitverfahren vor dem BVerfG113 trittsgeld wurde offiziell nicht erhoben, allerdings stritten zwei ehemalige Abgeordnete des Deutschen eine freiwillige Spende von 15,00 € deutlich erbeten. Bundestages, sowie die Fraktion „DIE LINKE“ gegen Politische Parteien und ihre Untergliederungen sind den Ausschluss von der Mitwirkung an einer Arbeits- gemäß § 5 Abs. 1 Nr. 7 KStG von der Körperschafts- gruppe und einer informellen Gesprächsrunde, die steuer befreit. Dies gilt nicht, wenn die Partei einen im Rahmen des Vermittlungsverfahrens über das Ge- wirtschaftlichen Geschäftsbetrieb unterhält. Ein wirt- setz zur Ermittlung von Regelbedarfen und zur Än- schaftlicher Geschäftsbetrieb ist nach § 14 AO eine derung des Zweiten und Zwölften Buches Sozialge- selbständige nachhaltige Tätigkeit, durch die Einnah- setzbuch eingerichtet wurden. Für zulässig erachtete men oder andere wirtschaftliche Vorteile erzielt wer- das Gericht jedoch allein den Antrag in Bezug auf den und die über den Rahmen einer Vermögensver- die Mitwirkung an der Arbeitsgruppe. Zwar sei der waltung hinausgehen. Eine Gewinnerzielungsabsicht Einrichtungsbeschluss im Rahmen eines informellen wird nicht verlangt. Für die Bewertung der Veran- Treffens getroffen worden, es seien jedoch hinrei- staltung kommt es nicht auf die Bezeichnung son- chende Umstände gegeben, um dem Vermittlungs- dern auf die tatsächlichen Umstände an. Die Beweis- ausschuss die Zusammenkunft und die Beschlussfas- erhebung des Gerichts hat ergeben, dass Ausrich- sung zuzuordnen. Keinem der Antragsgegner zure- tung, Organisation und Gestaltung des Umfeldes auf chenbar seien dagegen die informellen Gesprächs- die Ausrichtung eines Rockkonzertes gerichtet wa- runden, die nicht ausschließlich von Mitgliedern des ren. Die politischen Reden in der Pause waren dem- Vermittlungsausschusses besetzt gewesen seien und gegenüber nachrangig. Der Besuch war nach Ansicht denen der Grad an formeller und organisatorischer des Gerichts und entgegen der Ausführungen der Ähnlichkeit mit einem Verfahren eines Antragsgeg- politischen Partei auch nicht kostenfrei. Die Besu- ners fehle, der es rechtfertigen könnte, die Gespräche cher haben für den Besuch der Veranstaltung ge- einem von ihnen zuzurechnen. Soweit der Antrag zu- zahlt. Bei den Zahlungen handelte es sich auch nicht lässig war, erwies er sich jedoch als unbegründet, der um Parteispenden. Spendenquittungen wurden nicht Vermittlungsausschuss habe keine Rechte der Antrag- angeboten und ein Spendenzweck nicht benannt. steller aus Art. 38 Abs. 1 S. 2 und Art. 77 Abs. 2 GG Sog. Eintrittsspenden, denen Entgeltcharakter zu- verletzt, indem er es ablehnte, die Abgeordnete Katja kommt, werden von Verwaltung und Rechtspre- Kipping zum Mitglied der Arbeitsgruppe des Ver- chung ohnehin nicht als Spenden anerkannt. Ihnen mittlungsausschusses zu ernennen und ihr die Mög- fehlt das Element der Uneigennützigkeit. Die politi- lichkeit zur Mitwirkung zu geben. Grundlage dieser sche Partei hat auch nicht als Zweckbetrieb gehan- Entscheidung war der Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG. Aus delt, da nicht ersichtlich ist, inwiefern ein Rockkon- diesem ergebe sich die gleiche Mitwirkungsbefugnis zert die satzungsmäßigen Zwecke einer politischen aller Abgeordneten und das Recht auf gleiche Teil- habe am Prozess der parlamentarischen Willensbil- 111 OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 17.12.2014 – 3 B 16.13, juris Rn. 68. dung, welche sich nicht nur auf die Beschlussfas- 112 Thüringer Finanzgericht, Urteil vom 23.04.2015 – 1 K 113 BVerfG, Urteil vom 22.09.2015 – 2 BvE 1/11, in: NVwZ 2015, 743/12, in: EFG 2015, S. 1473-1476. S. 1751-1755.

147 Parteienrecht im Spiegel der Rechtsprechung MIP 2016 22. Jhrg. sung, sondern auch auf die Beratung beziehe. Diese ausschuss frei, die Ergebnisse der Arbeitsgruppen zu Mitwirkungsbefugnis erstrecke sich auch auf Aus- übernehmen, zu ändern oder ganz zu verwerfen, schüsse, da diese einen wesentlichen Teil der parla- sämtliche Mitglieder könnten zudem eigene Vor- mentarischen Arbeit leisten würden. Daraus folge, schläge einbringen, auch die nicht in den Arbeits- dass jeder Ausschuss ein verkleinertes Abbild des gruppen vertretenen. Aus Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG und Plenums sei und in seiner Zusammensetzung die Zu- Art. 77 Abs. 2 GG ließe sich somit keine zwingende sammensetzung des Plenums widerspiegeln müsse. Vorgabe für die Geltung des Spiegelbildlichkeits- Dieser Grundsatz der Spiegelbildlichkeit erfordere grundsatzes in den Arbeitsgruppen folgern. eine möglichst getreue Abbildung der Stärke der im Der BGH114 hatte sich mit einem Parteienfinanzie- Plenum vertretenen Fraktionen und gelte auch für rungsskandal aus Rheinland-Pfalz zu befassen. Der die Wahl der Mitglieder des Bundestages im Ver- dortige Partei- und Fraktionsvorsitzende der CDU mittlungsausschuss. Dieser ist zwar als gemeinsamer Böhr hatte im Jahre 2006 Zahlungen in Höhe von Ausschuss nicht ohne weiteres mit einem Ausschuss mehreren Hunderttausend Euro an eine Unternehmens- des Bundestages vergleichbar. Seine Bedeutung im beratung für die Erstellung eines Konzeptes „Wahl- Gesetzgebungsverfahren stehe aber der Aufgaben- sieg 2006“ veranlasst. Problematisch war, dass es wahrnehmung durch Ausschüsse des Bundestages sich bei den Mitteln um solche der Landtagsfraktion nicht nach. Der Spiegelbildlichkeitsgrundsatz gelte handelte und Böhr diese Zahlungen im Rechen- jedoch nicht für Arbeitsgruppen des Vermittlungs- schaftsbericht der Partei verschleierte. Er wurde des- ausschusses, unabhängig davon, ob diese durch wegen vom LG Mainz115 wegen Untreue gem. § 266 einen förmlichen Beschluss des Ausschusses oder StGB zum Nachteil der Fraktion und der Landespar- durch eine informelle Entscheidung eingerichtet tei verurteilt, der Geschäftsführer der Unternehmens- würden. Die Ausgestaltung der Organisation dieser beratung wegen Beihilfe. Gegen die Entscheidung Arbeitsgruppen obliege nach Art. 77 Abs. 2 GG dem beantragte der CDU-Politiker Revision, welche der Bundestag und dem Bundesrat. § 9 der GO des Ver- BGH jedoch verwarf: Die Verurteilung durch das mittlungsausschusses regele lediglich, dass der Aus- Landgericht sei rechtsfehlerfrei ergangen. So werde schuss Unterausschüsse einsetzen kann. Aus der Ge- – entgegen der Auffassung der Revision – § 266 schäftsordnungsautonomie ergebe sich ein weiter StGB nicht durch das Regelungsgefüge des Frakti- Gestaltungsspielraum, womit diese Regelung verfas- onsgesetzes Rheinland-Pfalz (insbesondere § 6) ver- sungsgerichtlich lediglich darauf zu prüfen sei, ob drängt. Für eine derartige Einschränkung eines Straf- zwingende verfassungsrechtliche Vorgaben für die gesetzes, fehle es bereits an der Kompetenz des Lan- Besetzung und die Mitwirkungsbefugnisse in diesen desgesetzgebers. Einen Fraktionsvorsitzenden treffe Gremien eingehalten sind. Dies sei für die Arbeits- eine für den Untreuetatbestand notwendige Vermö- gruppen der Fall. Weder erstrecke sich die Mitwir- gensbetreuungspflicht gegenüber der Fraktion: Er sei kungsbefugnis aller Abgeordneten auf Arbeitsgrup- befugt über das Fraktionsvermögen zu verfügen, die pen des Vermittlungsausschusses, noch seien diese Fraktion nach innen und außen zu vertreten und ge- derart in die Repräsentation des Volkes durch das genüber dem Fraktionsgeschäftsführer, sowie den Parlament einbezogen, dass eine möglichst genaue Mitarbeitern weisungsberechtigt. Diese Pflicht habe Abbildung der Fraktionen in diesen Arbeitsgruppen Böhr durch Veranlassung der Zahlungen in klarer, erforderlich wäre. Diese seien zwar nicht rein orga- evidenter und schwerwiegender Weise verletzt. Das nisatorischer Natur, sondern an einer inhaltlichen Konzept „Wahlsieg 2006“ weise keinerlei Bezug zur Vorformung der Willensbildung im Vermittlungs- parlamentarischen Arbeit der Fraktion auf, sondern ausschuss beteiligt. Dies entspreche aber der spezifi- sei – was § 2 Abs. 1 S. 2 RhPfFraktG ausdrücklich schen Arbeitsweise im Vermittlungsausschuss, des- untersage – eine Verwendung von öffentlichen Mit- sen Zweck die Kompromisserzielung zwischen Bun- teln für Parteiaufgaben. Der vorliegende Fall liege destag und Bundesrat sei. Die der Erfüllung dieser auch nicht in einem Grenzbereich, in dem die Ab- Aufgabe dienende Verfahrensautonomie schließe die grenzung zwischen Fraktions- und Parteiaufgaben Befugnis ein, sich formeller und informeller Gremi- schwierig sein könne, die Finanzierung der Wahl- en zur Vorbereitung der Beschlussfassung zu bedie- kampfaktivitäten stelle vielmehr eindeutig eine unzu- nen, wobei deren Zusammensetzung in Hinblick auf lässige verdeckte Parteienfinanzierung dar, die auch das jeweils anstehende Thema nach anderen Kriteri- en als demjenigen der Spiegelbildlichkeit erfolgen 114 BGH, Urteil vom 11.12.2014 – 3 StR 265/14, in: NJW 2015, könne, insbesondere der Einbeziehung externen S. 1618-1624. Fachwissens. Letztlich stehe es dem Vermittlungs- 115 LG Mainz, Urteil vom 03.12.2013 – 3111 Js 3775/10.1 KLs, online veröffentlicht bei BeckRS 2015, 08258.

148 MIP 2016 22. Jhrg. Parteienrecht im Spiegel der Rechtsprechung durch das Parteienrecht verhindert werden solle cher Korrekturen.116 Der Partei- und Fraktionsvorsit- (§§ 27 Abs. 1 S. 3 und 4, 26 Abs. 1 S. 2, 25 Abs. 2 zenden wurde aber richtigerweise eindeutig als Nr. 1 PartG). Die Pflichtwidrigkeit des Handelns ent- Adressat einer Vermögensbetreuungspflicht identifi- falle nicht durch eine „mutmaßliche Einwilligung“ der ziert, insbesondere wird diese nicht abschließend Fraktion, etwa durch die Entlastung für die Geschäfts- durch die spezialgesetzlichen Regelungen des Parla- jahre 2005 und 2006. Eine nachträgliche Genehmigung ments- und Parteienrechts normiert. Der BGH erteilt genüge bei einer vermögensschädigenden Pflichtverl- damit der Gegenauffassung eine Absage117 und dies etzung von vornherein nicht, zumal ein Einverständnis mit Verweis auf deren Regelungszwecke und der Fraktion einen eindeutigen Gesetzes- und Verfas- Schutzgüter auch überzeugend. Weiter lenkt der sungsverstoß bedeutet hätte und damit keine tatbe- BGH die Aufmerksamkeit auf den § 31c PartG, in- standsausschließende Wirkung entfalten könne. Dem dem er sich die Frage stellt, inwiefern sich die par- so entstandenen Vermögensnachteil stehe mithin kein teiengesetzliche Sanktion, deren Wirksamkeit einen Vorteil gegenüber, auch nicht in Form eines Erstat- feststellenden Verwaltungsakt verlangt, einen unmit- tungsanspruches der Fraktion gegenüber der Landes- telbar auf der Pflichtverletzung beruhenden Vermö- partei. Dieser bestehe wegen des kollusiven Zusam- gensnachteil darstellt und den § 31d Abs. 1 Nr. 1 menwirkens höchstens in einem nicht zu berücksichti- PartG, der sich nach dem BGH wegen des eigenstän- genden Bereicherungsanspruch, zumindest aber fehle digen Unwertgehalts tateinheitlich neben den § 266 es an der Werthaltigkeit der Forderung, da die Partei StGB einordnet und keine mitbestrafte Nachtat dar- offenbar nicht in der Lage gewesen sei, das Wahl- stellt. Was das Verhältnis des StGB zu den Strafnor- kampfkonzept selbst zu finanzieren. Auch in Bezug men des PartG betrifft, hat der BGH somit eine Klar- auf den CDU-Landesverband Rheinland-Pfalz stelle heit schaffende Grundsatzentscheidung getroffen. sich das Verhalten des Vorsitzenden als Untreue dar. Für Aufsehen sorgte ein Beschluss des VG Gelsen- Der Untreuetatbestand werde nicht durch die Spezi- kirchen118 zu einer kommunalverfassungsrechtlichen alregelung des § 31d PartG verdrängt, der andere Streitigkeit zwischen der Stadt Dortmund und zwei Rechtsgüter schütze und keine Privilegierung gegen- Ratsmitgliedern der Parteien NPD und „Die Rechte“. über den Tatbeständen der §§ 263, 266 StGB darstelle. Diese hatten erfolglos verlangt, dass ihnen die Rech- In seiner Funktion als Parteivorsitzender treffe Böhr te als Gruppe, insbesondere die finanziellen Zuwen- eine Vermögensbetreuungspflicht, die die Verpflich- dungen aus § 56 Abs. 1 S. 3, Abs. 3 GO NRW, ge- tung zur Beachtung der Vorschriften des PartG zum währt werden und ersuchten deswegen den Erlass ei- Umgang mit Parteispenden einschließe. Dies sei auch ner einstweiligen Anordnung nach § 123 Abs. 1 so in den entsprechenden Regelungen der Partei (§ 5 VwGO. Das VG sah allerdings den dafür erforderli- der Finanz- und Beitragsordnung der CDU), insbeson- chen Anordnungsanspruch für nicht glaubhaft ge- dere in Bezug auf Zuwendungen von Parlamentsfrak- macht an, da nicht mit der erforderlichen überwie- tionen geregelt. In den Zahlungen an die Unterneh- genden Wahrscheinlichkeit festgestellt werden kön- mensberatung sei eine Spende gem. § 27 Abs. 1 S. 3 ne, dass im Hauptsacheverfahren eine Verpflichtung und 4 PartG zu sehen, welche unter Verstoß gegen zur Anerkennung des Gruppenstatus erreicht werden § 25 Abs. 2 PartG angenommen und nicht gem. § 25 könne. Dieser setze den freiwilligen Zusammenschluss Abs. 4 PartG an den Bundestagspräsidenten weiter- von zwei Ratsmitgliedern voraus, die sich auf der geleitetet worden sei. Dies führe für die CDU wegen Grundlage grundsätzlicher politischer Übereinstim- § 31c Abs. 1 S. 1 PartG zu einem Vermögensnachteil mung zu möglichst gleichgerichtetem Wirken zusam- sogar in Höhe des Zweifachen des von der Partei mengeschlossen haben. Während hinsichtlich der rechtswidrig erlangten Betrages. Zuletzt schließe politischen Übereinstimmung keine Bedenken be- sich eine Strafbarkeit nach § 31d Abs. 1 Nr. 1 PartG stünden, immerhin handele es sich bei beiden Räten wegen Bewirkens eines falschen Rechenschaftsbe- um Mitglieder rechtsextremer Parteien, sei nicht hin- richts an. Der BGH bestätigt die Entscheidung der reichend glaubhaft gemacht worden, dass der Zu- Vorinstanz zur Strafbarkeit von Verantwortungsträ- gern in Fällen verdeckter Parteienfinanzierung in al- 116 ler Deutlichkeit. Interesse erweckt dabei vor allem Zum Begriff der Vermögensbetreuungspflicht s. BVerfGE 126, 170 (208 ff.). das Ineinandergreifen von parteienrechtlichen Spezi- 117 VerfGH Rheinland-Pfalz, Urteil vom 19.08.2002 – VGH O fika und strafrechtlicher Dogmatik. So bedurfte 3/02, in: NVwZ 2003, S. 75-81, mit Verweis auf das Fraktions- § 266 StGB wegen der Unschärfe seiner tatbestandli- gesetz als „abschließendes System der Kontrolle und Korrek- chen Reichweite immer wieder verfassungsgerichtli- tur der Mittelverwendung“. 118 VG Gelsenkirchen, Beschluss vom 10.12.2015 – 15 L 2106/15, nicht veröffentlicht.

149 Parteienrecht im Spiegel der Rechtsprechung MIP 2016 22. Jhrg. sammenschluss zum Zwecke eines möglichst gleich- Der ehemalige Ministerpräsident des Landes Baden- gerichteten Wirkens vollzogen worden sei. Die bloße Württemberg Stefan Mappus klagte vor dem VG Bekundung der Absicht gleichgerichteten Wirkens Stuttgart122 auf die Feststellung, dass ihm die Rechts- reiche für diese Feststellung ebenso wenig aus wie stellung eines Betroffenen gegenüber dem Untersu- vereinzelt gemeinschaftliche Aktionen, vielmehr müs- chungsausschuss zum „EnBW-Deal“ zu gewähren se die Gruppe nachhaltig auf das gleichgerichtete war, welche ein Fragerecht entsprechend § 240 StPO Zusammenwirken ausgerichtet sein. Dies ergab sich und ein Beweisantragsrecht entsprechend § 244 StPO in den Augen des Gerichts nicht aus den dargelegten zur Folge hat. Das Gericht hielt jedoch die darauf ge- Indizien. Weder seien regelmäßige Gruppensitzun- richtete Klage schon für unzulässig. Dies nicht des- gen ersichtlich, noch sei das gemeinsame Abstim- halb, weil die Streitigkeit durch die Beteiligung ei- men ein Beleg, da dieses auch auf beiderseitiger Zu- nes Organs des Landtages und eines ehemaligen Mi- gehörigkeit zu einer rechtsextremen Partei fußen nisterpräsidenten eine doppelte Verfassungsunmittel- könne. Einmal gemeinsam gestellte Anfragen seien barkeit aufweise, welche nach § 40 Abs. 1 S. 1 nicht in der Lage, das Zusammenwirken zu doku- VwGO eine Zuständigkeit des Verwaltungsgerichts mentieren. Insgesamt ließe sich nicht ausschließen, ausschlösse. Dem Untersuchungsausschuss komme dass tatsächlich nur ein finanzieller Zweck der wahre insoweit die Funktion eines parlamentarischen Hilfs- Grund des Zusammenschlusses sei. Die Entschei- organs zu, welches materiell Verwaltungstätigkeit dung des VG Gelsenkirchen, die mittlerweile vom ausübe, während Mappus sich nicht auf organschaft- OVG Nordrhein-Westfalen119 aufgehoben wurde, liche Rechte, sondern auf seine Rechte als Bürger im ist durchaus kritisch zu sehen. In der Sache geht es Untersuchungsausschussverfahren berufe. Vielmehr um die Feststellung der politischen Homogenität der gründe sich die Unzulässigkeit der Klage auf das Ratsmitglieder, welche Voraussetzung für den Grup- Fehlen eines Feststellungsinteresses. Der Kläger hatte penstatus ist.120 Die Beurteilung ihrer politischen zunächst eine Wiederholungsgefahr geltend gemacht, Gleichgerichtetheit ist dabei richtigerweise zuvör- die sich daraus ergebe, dass bereits ein weiterer Unter- derst den zusammenschließungswilligen Ratsmitglie- suchungsausschuss („Polizeieinsatz Schlossgarten II“) dern zu überlassen, denen nach § 43 Abs. 1 GO NRW eingesetzt worden sei, in dem sich erneut die Frage die Freiheit der Mandatsausübung zukommt.121 Die stellen werde, inwiefern er als Betroffener gelte. Der unterschiedliche Parteizugehörigkeit kann dabei kei- Argumentation folgte das VG indes nicht, weil be- nesfalls als Ausschlusskriterium fungieren, ebenso reits vom Untersuchungsauftrag her nicht angenom- wenig wie das bloße Bestehen einer Konkurrenzsi- men werden könne, dass er in besagtem Verfahren tuation der Parteien. Gewichtiger zu bewerten war den Status noch erhalten werde. Auch ein Rehabilita- somit das tatsächliche Verhalten der Ratsmitglieder, tionsinteresse sei mangels diskriminierenden Cha- insbesondere das Abstimmungsverhalten und das ge- rakters des beanstandeten Verwaltungshandelns meinsame Vorgehen auf Ratssitzungen. Ersteres nicht ersichtlich. Der ehemalige Ministerpräsident konnte wegen dieser Ausgangslage nicht überzeu- sah in dem Abschlussbericht den „gravierend ehren- gend auf Zufälligkeit reduziert, letzteres nicht als un- rührigen Vorwurf“, er habe das Land „in Höhe meh- beachtlich abgetan werden. Auch wenn dies im Er- rerer Millionen Euro geschädigt“. Nach Prüfung des gebnis missfällig sein mag, muss das Vorgehen der Gerichts ließe sich jedoch die Aussage in dieser Stadträte im Lichte der – auch vom Gericht als zwei- Form nicht in besagtem Abschlussbericht finden, zu- felsfrei übereinstimmend erkannten – Ideologie und mal es zu den Kernaufgaben eines Untersuchungs- Programmatik ihrer Parteien betrachtet werden. Es ausschusses gehöre, einen Sachverhalt aufzuklären ist somit zu erwarten, dass das VG Gelsenkirchen in und politisch zu bewerten. Der Vorwurf, der Kläger der Hauptsache abweichend entscheiden wird. habe dem Land einen finanziellen Schaden zugefügt, beziehe sich auf das Regierungshandeln und sei eine politische Bewertung, welche einer verwaltungsge- richtlichen Kontrolle entzogen sei. Einen Schutz der 119 OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 26.02.2016, nicht veröffentlicht; s. aber www.derwesten.de/staedte/dortmund/st „Amtsehre“ gebe es grundsätzlich nicht. Zuletzt greife adt-muss-rechtsextremen-im-rat-42-000-euro-zahlen-id11601 auch der geltend gemachte Gesichtspunkt der Präju- 270.html, zuletzt abgerufen am 21.03.2016. dizialität für einen Schadensersatz- oder Entschädi- 120 Dazu A. Bäcker, Der Ausschluss aus der Bundestagsfraktion, gungsanspruch nicht durch. Mappus sehe sich in sei- 2011, S. 110 ff. Die dort zur Bundestagsfraktion aufgestellten ner Menschenwürde und in seinem allgemeinen Per- Grundsätze sind auf Fraktionen bzw. Gruppen generell über- tragbar, s. zur kommunalrechtlichen Ebene S. 113 und Fn. 515. 122 121 A. Bäcker, Der Ausschluss aus der Bundestagsfraktion, 2011, VG Stuttgart, Urteil vom 03.07.2015 – 7 K 806/14, online S. 114. veröffentlicht bei juris.

150 MIP 2016 22. Jhrg. Parteienrecht im Spiegel der Rechtsprechung sönlichkeitsrecht verletzt, weswegen er einen Amts- trag auf Prozesskostenhilfe ab. Das BVerfG126 nahm haftungsanspruch begehre. Indes sei die Rechtspre- die mit einem Antrag auf einstweilige Anordnung chung in diesem Bereich ausgesprochen zurückhal- verbundene Verfassungsbeschwerde mangels Zuläs- tend, zumal eine Verletzung des Persönlichkeits- sigkeit derselben nicht zur Entscheidung an. Das rechts durch den Untersuchungsausschuss nicht er- Landgericht gehe zwar zu Unrecht davon aus, dass sichtlich sei. Insgesamt fehle es somit an einem be- die Parteien bei der Ausgestaltung des passiven rechtigten Interesse an der Feststellung, ob ihm die Wahlrechts für Parteiämter nicht an den Grundsatz Betroffenenstellung zu gewähren war. der Wahlrechtsgleichheit gebunden seien, trotzdem seien Quotenregelungen auch vor dem Hintergrund Vor dem VG Regensburg123 wollte eine Ratsfraktion dieses verfassungsrechtlichen Maßstabs von der Par- der „Freien Wähler“ erreichen, dass die ständigen teienfreiheit erfasst. Die Bewertung der Erfolgsaus- Ausschüsse des Rates nicht mehr mit zwölf, sondern sichten der Klagen sei somit im Ergebnis nicht zu mit jeweils 13 Mitgliedern besetzt werden, weil damit beanstanden. Aus prozessrechtlicher Sicht inter- dem Grundsatz der Spiegelbildlichkeit besser entspro- essant war die Flankierung der Verfassungsbe- chen würde. Der Rat lehnte den darauf gerichteten schwerde mit Befangenheitsanträgen gegen die Rich- Antrag ab. Dies auch zu Recht, wie das Verwaltungs- ter Baer und Maidowski. Das Gericht verwarf diese gericht feststellte. Die gegenwärtige Sitzzahl halte sich als offensichtlich unzulässig. Dies ergab sich für die im Rahmen des Organisationsermessens des Rates, Richterin Baer daraus, dass diese mangels Kam- während ein Anspruch auf eine das Spiegelbildlichkeits- merangehörigkeit schon nicht mit dem Verfahren be- gebot optimierende Ausschussgröße nicht bestehe. traut war. Der Richter Maidowski kam in seiner Dis- Sven Jürgensen sertation (Umgekehrte Diskriminierung – Quotenrege- lungen zur Frauenförderung im öffentlichen Dienst 5. Wahlrecht und in den politischen Parteien, 1989) zu von der Rechtsansicht des Beschwerdeführers abweichenden Durch einen ablehnenden Prozesskostenhilfebeschluss 124 Ergebnissen. Dieser Umstand allein könne aber die des LG Berlin und eine dies bestätigende Ent- Annahme von Befangenheit nicht begründen. scheidung des KG Berlin125, sah sich ein Bürger in seinen Grundrechten aus Art. 3 Abs. 1 GG i. V. m. Eine Entscheidung von durchaus einiger Bedeutung Art. 20 Abs. 3 GG und Art 19 Abs. 4 GG verletzt hatte das BVerwG127 zu fällen. So schloss der Rat ei- und erhob Verfassungsbeschwerde. In der Sache be- ner rheinland-pfälzischen Gemeinde ein gewähltes gehrte der Beschwerdeführer die gerichtliche Fest- Mitglied aus, das wegen einer in Mittäterschaft be- stellung, dass verschiedene Regelungen im Grund- gangenen gefährlichen Körperverletzung rechtskräf- konsens, Frauenstatut, Urabstimmungsordnung und in tig verurteilt wurde. Hintergrund der Tat war ein der Satzung der Partei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, vom Ratsmitglied initiiertes gewalttätiges Vorgehen sowie in dem Statut ihrer Bundesarbeitsgemeinschaf- gegen eine Gruppe politischer Gegner, welche zuvor ten nichtig seien. Damit verbunden sollte die Fest- Wahlplakate seiner Partei abgerissen hatte. Dies be- stellung der Nichtigkeit diverser innerparteilicher wog den Rat zu dem Ausschluss auf Grundlage des Wahlen ergehen. Grund für die Nichtigkeit der Rege- § 31 Abs. 1 GemO RLP, wogegen sich der Kläger lungen und der darauf beruhenden Wahlen seien die vor dem VG Trier128 gerichtlich wehrte. Nach dieser statuarischen Bestimmungen der Partei, welche Quo- Norm kann der Rat ein Mitglied ausschließen, wenn tenregelungen für Frauen enthalten. Diese seien es durch Urteil eines deutschen Strafgerichtes rechts- nicht mit demokratischen Grundätzen, insbesondere kräftig zu einer Freiheitsstrafe von mindestens drei nicht mit der Freiheit und der Gleichheit der Wahl Monaten verurteilt wird und durch die Straftat die nach Art. 21 Abs. 1 S. 3 GG i.V.m. Art. 38 Abs. 1 GG für ein Ratsmitglied erforderliche Unbescholtenheit zu vereinbaren. Die Instanzgerichte sahen keine hin- verwirkt hat. Der Kläger begründete die Klage im reichenden Erfolgsaussichten für die Klage des Be- Wesentlichen mit der Verfassungswidrigkeit dieser schwerdeführers und lehnten in der Folge den An- Norm, welche die Grundsätze der Allgemeinheit, Gleichheit und Unmittelbarkeit der Wahl verletze.

123 VG Regensburg, Urteil vom 14.01.2015 – RN 3 K 14.1045, 126 BVerfG, Beschluss vom 01.04.2015 – 2 BvR 3058/14, online online veröffentlicht bei juris. veröffentlicht bei juris. 124 LG Berlin, Beschluss vom 23.09.2014 – 6 O 375/14, nicht 127 BVerwG, Urteil vom 21.01.2015 – 10 C 11/14, in: JA 2015, veröffentlicht. S. 558-560. 125 KG Berlin, Beschluss vom 24.11.2014 – 4 W 55/14, nicht 128 VG Trier, Urteil vom 08.05.2012 – 1 K 1302/11.TR, in: veröffentlicht. LKRZ 2012, S. 331-334 (Gründe).

151 Parteienrecht im Spiegel der Rechtsprechung MIP 2016 22. Jhrg.

Das Verwaltungsgericht wies die Klage allerdings RLP derart einschränkend auszulegen, dass ein Aus- ab, das OVG Rheinland-Pfalz 129 wies die Berufung schluss nur beim Vorliegen einer Straftat möglich des Klägers mit der Begründung zurück, § 31 Abs. 1 ist, die im Zusammenhang mit der Ratsarbeit steht. GemO RLP sei verfassungsrechtlich nicht zu beanstan- Zudem müsse die Tat die Sorge begründen, dass von den. Vor dem BVerwG hatte der Kläger mit seiner dem Ratsmitglied auch künftig eine Gefährdung der Revision hingegen Erfolg. Das Gericht urteilte, dass Arbeitsfähigkeit des Rates ausgeht. Diese komme der Ausschluss rechtswidrig war. Grund hierfür sei namentlich in Betracht, wenn das Ratsmitglied orga- nicht eine Verfassungswidrigkeit der Norm. Eine nisierte Gewalt als Mittel politischer Auseinander- solche ergebe sich – entgegen des Klägervorbringens – setzung eingesetzt hat. Ob dies im vorliegenden Fall nicht aus der fehlenden Gesetzgebungskompetenz vorlag, wurde vom Rat im Rahmen seiner Ermessens- des Landes, denn es handele sich bei § 31 Abs. 1 entscheidung nicht festgestellt. Die Erwägungen be- GemO RLP nicht um ein Strafgesetz, für dessen Er- zogen sich allein auf die zwar historisch korrekte lass nach Artt. 72 Abs. 1, 74 Abs. 1 Nr. 1 GG allein aber verfassungswidrige Auslegung des § 31 Abs. 1 der Bund zuständig wäre. Das Berufungsurteil beruhe GemO RLP als Norm zum Schutze der Lauterkeit aber auf einer unzutreffenden Auslegung des Art. 28 und Sauberkeit der Verwaltung und konnten deswe- Abs. 1 S. 2 GG, nach dem die Verfassung die Wahl- gen den Ausschluss nicht tragen. rechtsgrundsätze auch für Gemeinderatswahlen ver- Der VerfGH Rheinland-Pfalz130 hatte sich infolge bindlich festsetze. Die Regelung berühre zwar nicht einer Verfassungsbeschwerde eines Landtagsabge- die Allgemeinheit und Unmittelbarkeit, wohl aber die ordneten und Wahlkreisbewerbers mit der Einteilung Gleichheit der Wahl. § 31 Abs. 1 GemO RLP führe zu der Wahlkreise zur Landtagswahl im Jahre 2016 zu einer Ungleichbehandlung der Mandatsträger, denn befassen. Vorangegangen war die Änderung des der Ausgeschlossene könne sein Mandat im Gegen- Landeswahlgesetzes, welche einen veränderten Zu- satz zu den anderen Ratsmitgliedern nicht länger schnitt von 23 der insgesamt 51 Wahlkreise in ausüben. Zur Rechtfertigung dieser Ungleichbehand- Rheinland-Pfalz zur Folge hatte. Der Beschwerde- lung seien zwingende Gründe des Allgemeinwohls führer hielt die veränderte Einteilung in seinem Wahl- notwendig. Das Berufungsgericht hatte darauf abge- kreis für das Ergebnis parteipolitischen Kalküls, nicht stellt, dass der § 31 Abs. 1 GemO RLP notwendig sachgerechter und willkürfreier Abwägung und sah sei, damit der Rat das Gemeindevolk richtig reprä- sich in seinen verfassungsmäßigen Rechten verletzt. sentieren könne bzw. damit sich das Gemeindevolk Dem wollte das Verfassungsgericht nicht folgen, es richtig repräsentiert sehe. Nur so könne die Akzep- sah den Beschwerdeführer durch den Gesetzgeber tanz des Rates und seiner Entscheidungen gewähr- weder in seinem Recht auf Wahlchancengleichheit leistet werden. Das BVerwG verwarf diese Begrün- (Art. 76 Abs. 1 LV i.V.m. Art. 17 Abs. 1 und 2 LV) dung. Die Wahrung oder Wiederherstellung der Funk- noch in seinem Anspruch auf willkürfreie Entschei- tionsfähigkeit des Rates könne zwar an sich einen dung des Gesetzgebers (Art. 17 Abs. 1 und 2 LV, rechtfertigenden Grund für die vorliegende Un- Art. 77 Abs. 2 LV) verletzt, erklärte die Verfas- gleichbehandlung darstellen, allerdings allein in Be- sungsbeschwerde somit für unbegründet. Normativer zug auf den Rat in seiner Funktion als Verwaltungs- Ausgangspunkt für diese Entscheidung waren die organ, nicht als Repräsentationsorgan. So diene der Wahlrechtsgleichheit und das Recht von Wahlbe- Rat zwar auch der Vertretung des Gemeindesvolkes, werbern auf Chancengleichheit. Diese seien nicht die Repräsentationsfähigkeit gebiete jedoch in erster auf die gleiche Behandlung der Bewerber bei der Zu- Linie eine Repräsentationsgenauigkeit, welche sich teilung der Mandate beschränkt, sondern stellten gerade gegen eine Veränderung des Wahlergebnisses eine Wahlgleichheit im Wettbewerb dar. Beide ausspricht. Benachteiligungen einzelner Abgeordne- Rechte seien streng und formal zu verstehen, Ein- ter seien nur in besonderen, hier nicht einschlägigen griffe nur bei dem Vorliegen von Gründen von hin- Ausnahmelagen und begrenzt auf diese zulässig. reichend zwingendem Charakter zulässig. Insgesamt Nach Ansicht des BVerwG führt dies aber nicht zu folge aus der Verfassung ein Anspruch des Wahlbe- der Nichtigkeit der Vorschrift. So sei der Wortlaut werbers darauf, dass die Einteilung des Wahlgebie- einer verfassungskonformen Auslegung zugänglich, tes nicht zu seinem Nachteil unter rein persönlichen auch wenn der historische Gesetzgeber mit ihr allein und/oder parteipolitischen Aspekten vorgenommen die Sicherstellung des Ansehens des Rates in der Be- und so das Wahlergebnis vorprogrammiert wird. völkerung im Sinn hatte. So sei § 31 Abs. 1 GemO Dies schließe das sog. „Gerrymandering“ aus, bei

129 OVG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 15.03.2013 – 10 A 130 VerfGH Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 30.10.2015 – VGH 10573/12, in: DVBl 2013, S. 736-740. B 14/15, in: DVBl 2016, S. 52-57.

152 MIP 2016 22. Jhrg. Parteienrecht im Spiegel der Rechtsprechung dem ein Zuschnitt der Wahlkreise aufgrund einer richtliche Kontrolle deswegen von besonderer Be- Analyse des bisherigen Wahlverhaltens durch die je- deutung. Der VerfGH kommt dieser Aufgabe in ge- weilige Parlamentsmehrheit erfolge. Die Wahlkrei- botenem Maße nach. So achtet er die prozeduralen seinteilung müsse an sachgerechten Kriterien ausge- Rechte des Beschwerdeführers, aber auch den im richtet werden. Dies seien allein solche, die sich aus Gewaltenteilungsprinzip wurzelnden Spielraum des der Natur des Sachbereichs der Wahl der Volksver- Gesetzgebers. Bei dessen formalen Begründungsan- tretung selbst ergäben, insbesondere also die Siche- sätzen ist zwar immer auch eine gewisse Skepsis an- rung des Charakters der Wahl als eines Integrations- gebracht, diese darf aber nicht in eine rein unterstel- vorganges bei der politischen Willensbildung des lende Haltung umschlagen, wie sie im Ansatz etwa Volkes. Aus der Verfassung folge der Imperativ an dem Vorbringen des Beschwerdeführers zu entneh- den Gesetzgeber, möglichst gleich große Wahlkreise men ist. Die Ausführungen des Gerichts zeichnen zu bilden. Abweichungen von der Durchschnittsgröße vielmehr das Bild einer rational getroffenen Legisla- seien – insbesondere unter den Gesichtspunkten der tiventscheidung nach. Unabhängig von der tatsächli- Wahlkreiskontinuität, der Wahrung regionaler Beson- chen, nur zu vermutenden Motivation der gesetzge- derheiten und der Beachtung historisch verwurzelter benden Mehrheit, wurde zum einen dem Gebot trans- Verwaltungsgrenzen – verfassungsrechtlich zu recht- parenter Gesetzgebung – gerade im Bereich des fertigen. Allerdings stehe dem Gesetzgeber in Hin- politischen Wettbewerbsrechts – zum anderen der blick auf die komplexen Abwägungs- und Progno- verhältnismäßigen verfassungsgerichtlichen Kontrolle seentscheidungen bei der Wahlkreiseinteilung ein in diesem brisanten Bereich entsprochen. Gestaltungs- und Beurteilungsspielraum zu, der ver- In einer Wahlprüfungsbeschwerde hatte sich das fassungsgerichtlich nur eingeschränkt – insbesondere Hamburgische VerfG132 mit der rechtlichen Zuläs- auf das Willkürverbot – überprüfbar sei. Daran ge- sigkeit einer verfassungsunmittelbaren Drei-Prozent- messen sei nicht ersichtlich, dass im konkreten Fall Sperrklausel für die Wahl zu den Bezirksversamm- die Wertungen und fachbezogenen Abwägungen des lungen auseinanderzusetzen. Die Einführung von wahl- rheinland-pfälzischen Gesetzgebers eindeutig wider- rechtlichen Zugangshürden auf Ebene der Verfas- legbar oder offensichtlich fehlerhaft sind oder der sung stellt eine neuere Entwicklung im Verfassungs- verfassungsrechtlichen Werteordnung widerspre- recht der Länder dar, ist also auch über die Grenzen chen. Vielmehr seien sachgerechte Kriterien zugrun- der Hansestadt hinaus von Interesse. Die entspre- de gelegt und ordnungsgemäß abgewogen worden, chende Normierung wurde in Hamburg am Ende des was auch hinreichend dokumentiert worden sei. Die Jahres 2013 mit der Einführung des Art. 3 Abs. 3 Einwendungen des Beschwerdeführers in Bezug auf S. 2 HV vorgenommen. Der Beschwerdeführer war die seinen Wahlkreis betreffenden Änderungen seien für die Wahl zur Bezirksversammlung Bergedorf insofern nicht durchgreifend. Dort sei der Gesetzge- wahlberechtigt und kandidierte dort selbst für die ber – unabhängig von der verfassungsrechtlichen „Ökologisch-Demokratische-Partei“ (ÖDP). Dies an Notwendigkeit dieser Maßnahme – gerade dem Ge- sich auch erfolgreich, wäre er doch – ohne Anwen- bot der zahlenmäßigen Größenanpassung gefolgt. dung der Sperrklausel – in die Bezirksversammlung Auch seien parteipolitische Erwägungen nicht er- eingezogen. Der in der Folge bei der Hamburger kennbar. Die konkreten Veränderungen im Zuschnitt Bürgerschaft erhobene Einspruch gegen die Gültig- der Wahlkreise seien ausführlich und nachvollzieh- keit der Wahl blieb erfolglos, weswegen der Be- bar begründet, Alternativvorschläge – gerade auch schwerdeführer sich an das Landesverfassungsge- die vom Beschwerdeführer favorisierten – erörtert richt wandte. Zur Begründung trug er vor, dass worden. Ein Verstoß gegen die Verfassung des Lan- Art. 3 Abs. 3 S. 2 HV die Grundsätze der Gleichheit des Rheinland-Pfalz sei somit insgesamt nicht festzu- der Wahl sowie der Chancengleichheit der Parteien stellen. Das grundsätzliche Misstrauen zwischen par- verletze, es sich bei der Sperrklausel mithin um ver- lamentarischer Opposition und parlamentarischer fassungswidriges Verfassungsrecht handele. Diesem Mehrheit im Bereich der Wahlkreiseinteilung ist Vorbringen lässt sich bereits die Besonderheit der ohne weiteres nachvollziehbar. Diese bietet augen- sich stellenden Rechtsfrage entnehmen. So hebt das scheinlich das Potential, bloß machtstrategische Ent- HVerfG zu Beginn der Prüfung hervor, dass sich die scheidungen zu eigenen Gunsten zu treffen. Als Ent- Sperrklausel gleichrangig neben die gerügten Verfas- scheidungen in eigener Sache – oder eben mit struk- sungsgrundsätze einordne und diese gestalte. Damit turellem Kontrolldefizit131 – ist eine verfassungsge- unterscheidet sich der vorliegende von vergangenen

131 Zu den Begrifflichkeiten s. T. Streit, Entscheidungen in eige- 132 Hamburgisches VerfG, Urteil vom 20.10.2015 – HVerfG 4/15, ner Sache, 2006. online veröffentlicht bei juris.

153 Parteienrecht im Spiegel der Rechtsprechung MIP 2016 22. Jhrg.

Streitigkeiten, handelte es sich bislang stets um ein- diesen Prämissen stellt das HVerfG fest, dass die fachgesetzliche Regelungen. Was daraus für den Sperrklausel als Ausgestaltung bzw. Modifikation Prüfungsmaßstab der verfassungsunmittelbaren Sperr- des Verhältniswahlrechts weder das Mehrheitsprin- klausel folgt, lässt das Gericht indes offen. So ergebe zip in Frage stellt, noch elementare Grundprinzipen sich der Grundsatz der Gleichheit der Wahl für die des Verhältniswahlrechts außer Kraft setzt. Dem Bezirksversammlungen aus Art. 4 Abs. 3 S. 1 HV, in Wesen und der Funktion einer politischen Wahl wer- dem auch die Chancengleichheit der Parteien wurze- de insgesamt Rechnung getragen, weswegen der le, der zudem aus dem verfassungsrechtlichem Status Kernbereich des Demokratieprinzips nicht verletzt der Parteien (umschrieben in Art. 21 Abs. 1 GG) fol- werde. Eine die Erfolgswertgleichheit der Stimme ge, welcher als Bestandteil der Landesverfassungen einschränkende Drei-Prozent-Hürde übersteige das für die Länder unmittelbar gelte. Die Drei-Pro- jeder Wahl immanente, natürliche Quorum von ca. zent-Hürde bilde mit diesen Normen eine Einheit, einem Prozent in nur unerheblichem Maße. Es wür- keine der Verfassungsbestimmungen könne die den durch deren Einführung ein hinnehmbarer Anteil Rechtswidrigkeit der anderen begründen, vielmehr von Stimmen unberücksichtigt bleiben (im Fall der sei jede von ihnen in der Lage, die anderen einzu- konkreten Bezirksversammlung 5,5 %), wobei aller- schränken oder Ausnahmen von ihnen zu begründen. dings der Gesetzgeber einer Normbeobachtungs- Ob der verfassungsändernde Gesetzgeber bei der pflicht unterliege. Anders als der einfache Gesetzge- Ausgestaltung der genannten Grundsätze Einschrän- ber müsse der verfassungsändernde auch keine zwin- kungen ausgesetzt ist, entschied das HVerfG aller- genden Gründe des Verfassungsrechts zur Rechtfer- dings nicht, da mögliche Grenzen jedenfalls einge- tigung der Einschränkung der betroffenen Verfas- halten worden seien. Ein verfassungswidriges Ver- sungsgüter geltend machen. Er sei nicht auf den Aus- fassungsrecht sei allenfalls dort möglich, wo von ei- gleich kollidierender Güter in der Verfassung be- nem Kernbereich von Grundsätzen, die zu den ei- schränkt, die verfassungsändernde Gewalt überneh- gentlichen Gerechtigkeitswerten der Verfassung ge- me vielmehr deren Gestaltung. Legitim war es somit hören, in einem schlechthin nicht mehr erträglichen die von der Verfassung eingerichtete Institution der Maße abgewichen würde. Anders als etwa das Bezirksversammlung stärken und in besonderer Wei- Grundgesetz in Art. 79 Abs. 3 GG sehe die Hambur- se absichern zu wollen und dabei politische Gleich- ger Landesverfassung in Art. 51 keine materiellen heitsrechte zu beschränken. Insgesamt verfolge die Vorgaben für Verfassungsänderungen vor. Grenzen Sperrklausel das Ziel, stabile Mehrheiten zu erzeu- könnten sich dennoch aus den für die Verfassungen gen und somit – unabhängig davon welcher Maßstab wesensbestimmenden und identitätsstiftenden Funda- anzulegen sei – legitime Zwecke. Ergäben sich für mentalnormen ergeben. Eine diese Fundamentalnor- den verfassungsändernden Gesetzgeber aus der Lan- men verletzende Verfassungsänderung sei, so das desverfassung selbst Grenzen bei deren Gestaltung, Verfassungsgericht, eben keine Verfassungsänderung so seien sie hier gewahrt worden. Darüber hinaus wi- mehr, sondern ein Verfassungsbruch. Unabhängig von derspreche auch das GG der Einführung einer Sperr- der Tragfähigkeit des vorgestellten dogmatischen An- klausel in der konkreten Gestalt nicht. Prüfungsmaß- satzes, sei der Gesetzgeber im Rahmen etwaiger stab sei allein das Homogenitätsgebot, nicht der Grenzen geblieben. Aus Art. 3 Abs. 1 HV ergebe sich Art. 28 Abs. 1 S. 2 GG mit seiner Forderung nach als Fundamentalnorm der Verfassung das Demokra- gleichen Wahlen, denn bei den Bezirken des Landes tieprinzip, welches auch Quelle der Grundsätze der Hamburg handele es sich nicht um Gemeinden i.S.d. Wahlrechtsgleichheit und der Chancengleichheit der Art. 28 GG. Das Homogenitätsgebot hingegen ver- Parteien sei. Dieses Prinzip dürfe von der Sperrklau- lange keine Uniformität bei der Ausgestaltung der sel nicht in seinem Wesenskern angetastet werden, Gleichheit der Wahl in Bund und Ländern, den Län- wobei für die Bestimmung dieses Kerns auf die dern komme vielmehr eine Autonomie bei der Ge- Grundsätze zu Art. 79 Abs. 3 und Art. 28 Abs. 1 S. 1 staltung des Landeswahlrechts und den Status der GG rekurriert werden könne. Daraus ergebe sich der Parteien im demokratischen Willensbildungsprozess unantastbare Anspruch des Bürgers auf freie und zu. Die in der Hamburgischen Verfassung gewährleis- gleiche Teilhabe an der öffentlichen Gewalt, welcher teten Rechte der Wahlrechtsgleichheit und Gleichheit auch bei der Ausgestaltung des Wahlrechts zu ach- der Parteien blieben so zwar hinter den Gewährleis- ten. Diese obliege dem Verfassungs- bzw. einfachen tungen des Grundgesetztes zurück, die Gewährleis- Gesetzgeber, nicht dem Verfassungsgericht, welches tungsdifferenz hält sich in den Augen des Landesver- allein zur Prüfung der verfassungsrechtlichen Gren- fassungsgerichts aber im Rahmen des durch Art. 28 zen und somit zur Zurückhaltung berufen sei. Unter Abs. 1 S. 2 GG eröffneten Gestaltungsrahmen. Die

154 MIP 2016 22. Jhrg. Parteienrecht im Spiegel der Rechtsprechung vorliegende Entscheidung behandelt aus wissen- wenn man als Motivation für die Einführung von schaftlicher wie praktischer Perspektive äußerst in- Sperrklauseln die Kartellbildung und -erhaltung zu- teressante Fragestellungen, ist doch – wie eingangs gunsten etablierter Parteien vermuten möchte, kann aufgezeigt – die Einführung verfassungsunmittelbarer die Regelungsebene der Verfassung nicht lediglich Sperrklauseln ein sich verbreitendes Phänomen. Ob- als „Verfahrenskniff“ gewertet werden. Sie verlangt wohl sich das Verallgemeinerungspotential der Aus- vielmehr eine neue, von den bisherigen Sachverhal- führungen durch die hamburgische Besonderheit der ten abweichende Betrachtung der Prüfungsmaßstäbe Bezirksversammlungen reduziert, bleiben die Grund- und Rechtfertigungsvoraussetzungen. Dem entspricht probleme der Verfassungsbindung bei Verfassungs- der Ansatz des Hamburgischen Verfassungsgerichts, änderungen und der Reichweite der richterlichen weswegen der Entscheidung im Ergebnis durchaus Kontrolle bei diesen Vorgängen virulent. Dement- gefolgt werden kann. sprechend enttäuscht wird der an Verfassungsdog- Ebenfalls eine Wahlprüfungsbeschwerde beschäftigte matik interessierte Jurist zurückgelassen, wenn das den Thüringer VerfGH134. Diese folgte einem vom Gericht zwar mögliche theoretische Begründungsan- Landtag zurückgewiesenen Einspruch gegen die sätze aufzeigt und dabei u.a. auch die Verfassungs- Landtagswahl 2014, welcher die Regelung des Lan- lehre eines Carl Schmitt bemüht, eine Entscheidung deswahlgesetzes über die Reihenfolge der Wahlvor- in der Sache aber nicht trifft. Dies ist jedoch auch schläge auf dem Stimmzettel rügte. Nach § 31 Abs. 3 und vor allem dem Format der Gerichtsentscheidung ThürLWG richtet sich diese für die im letzten Land- zuzuschreiben. Natürlich wären tiefgehende Abhand- tag vertretenen Parteien nach der Zahl der in der vor- lungen über dieses auch in der Literatur umstrittene angegangenen Wahl erlangten Landesstimmen, wäh- Thema von Interesse gewesen. Ein Gericht hat je- rend sich die übrigen Listen in alphabetischer Reihe doch einen konkreten Fall zu entscheiden, was das anschließen sollten. Die Wahlkreisvorschläge sollten HVerfG hier auch mit überzeugender Argumentation dieser Ordnung folgen, sonstige Vorschläge sich er- getan hat. Einfachgesetzliche Sperrklauseln wurden neut alphabetisch einreihen. Die die Beschwerde in der vergangenen Zeit von den verschiedensten Ge- führende NPD sah in dieser Regelung eine Verlet- richten zu Fall gebracht, was – unabhängig von der zung politischer Gleichheitsrechte, da sie eine unge- Richtigkeit dieser Entscheidungen – die Frage nach rechtfertigte Privilegierung der im Landtag vertrete- der gerichtlichen Kontrolldichte bei derartigen Ent- nen Parteien darstelle. Eine Anordnung müsse kon- scheidungen aufwirft.133 So wurde letztlich immer sequenterweise entweder dem Stimmergebnis oder eine Prognoseentscheidung des jeweiligen Gesetzge- dem Alphabet folgen, da sonst dem Wähler ein ver- bers in Bezug auf die Notwendigkeit derartiger Klau- zerrtes Bild über die Stärkeverhältnisse der Parteien seln für nicht überzeugend gehalten und in der Folge vermittelt würde. So müsse der durchschnittlich in- verworfen. Dem verfassungsändernden Gesetzgeber formierte Wähler, dem zumeist nur die ungefähren ist jedoch – wie auch das HVerfG erkennt – mit an- Stärkeverhältnisse der Landtagsparteien geläufig sei- deren Maßstäben und mit größerer Zurückhaltung zu en, dem Gesamtbild nach zu dem Schluss kommen, begegnen. Wenn das entsprechende Quorum für die der Wahlzettel folge einem Gesamtkonzept und auch Verfassungsänderung erreicht wird und nicht allein die übrigen Parteien seien nach ihrem Ergebnis bei die einfache Parlamentsmehrheit agiert, muss über- der letzten Landtagswahl angeordnet. Dies führe zu dacht werden, ob sich eine intensivierte Kontroll- einer Irreleitung in Bezug auf die Erfolgsaussichten dichte noch über die Rechtsfigur der Entscheidung in der jeweiligen Parteien insbesondere in Hinblick auf eigener Sache bzw. mit strukturellem Kontrolldefizit ein etwaiges Überspringen der Fünf-Prozent-Hürde, gerechtfertigt werden kann. In dieser verfassungs- was in krassem Widerspruch zur tatsächlichen Sach- rechtlich nicht vollständig aufgearbeiteten Lage eine lage stehe. Als Beispiel führte die Beschwerdeführe- zurückhaltende Prüfung anhand hypothetischer Maß- rin an, dass die AfD, welche bei der letzten Land- stäbe vorzunehmen zeugt somit nicht von fehlender tagswahl noch gar nicht existierte, den Listenplatz Entscheidungsfreudigkeit, sondern von einem ange- sechs – unmittelbar im Anschluss an die Landtags- messenen Verständnis des judicial self-restraint, vor parteien – erhalten habe, während die NPD 4,3 % allem da die Einführung der Sperrklausel von nach- der Stimmen bei der letzten Wahl erreichte und auf vollziehbaren Erwägungen getragen wurde und der Platz zehn stand. Diese Regelung sei nicht zu recht- Eingriff von überschaubarer Intensität ist. Auch fertigen, weswegen eine identische Vorschrift auch vom VerfGH des Saarlandes für verfassungswidrig 133 Kritisch in Bezug auf die Entscheidung des BVerfG zur Sperr- klausel bei Wahlen zum Europäischen Parlament S. Jürgensen, 134 VerfGH Thüringen, Beschluss vom 09.07.2015 – 9 /15, in: MIP 2015, S. 171. KommJur 2015, S. 374-378.

155 Parteienrecht im Spiegel der Rechtsprechung MIP 2016 22. Jhrg. erklärt worden sei. Dies alles begründe einen Wahl- dann überschritten werde, wenn diese täuschend fehler mit Mandatsrelevanz, sei doch die Aussicht, oder manipulativ vorginge. Dem widerspreche bis- dass eine Partei an der Sperrklausel scheitere von lang allein der Saarländische Verfassungsgerichtshof Bedeutung für die Wahlentscheidung des Bürgers. In in der angeführten Entscheidung, allerdings zu Un- Bezug auf die Verfassungsmäßigkeit des § 31 Abs. 3 recht, weil auf einem unzutreffenden Verständnis der ThürLWG folgte der VerfGH diesem Vorbringen. Formalität der Wahlrechtsgleichheit beruhend. Diese Die Regelung verstoße gegen die Wahlrechtsgleich- dürfe nicht so verstanden werden, dass bereits jede heit des Art. 46 Abs. 1 ThürVerf und den Grundsatz Ungleichbehandlung einen Eingriff darstellt, ohne der Chancengleichheit der Parteien. Diese seien dass es auf ihre Wirkungen ankäme. Die von der durch ihren formalen Charakter gezeichnet und vom Mehrheit der Richter angeführte Suggestivwirkung Gesetzgeber nur in besonders engen Grenzen zu ge- der Stimmzettelgestaltung sei empirisch gerade nicht stalten. Dieser Gestaltungsspielraum sei vorliegend belegt worden und auch nicht plausibel. durch die Ungleichbehandlung der im Landtag vertre- Wegen einer Scheinkandidatur eines Landrates woll- tenen und der übrigen Parteien überschritten. Zwar te ein Kläger vor dem VG Meiningen135 eine Kreis- lasse sich Erkenntnissen aus der Wahlforschung ent- tagswahl für ungültig erklären lassen. Das VG ent- nehmen, dass die Reihenfolge der Wahlvorschläge für schied jedoch, dass entsprechend der Regelungen die Wahlentscheidung des Bürgers weniger Relevanz des thüringischen Wahlrechts auch Amtsträger zum habe, als die Programme und Ziele der jeweiligen Par- Wahlantritt berechtigt seien. Dass mit der Kandida- teien, jedoch genüge es für einen Eingriff in die ge- tur nicht ernsthaft die Annahme der Wahl verfolgt nannten Rechte, wenn die Reihenfolge eine suggesti- werde, stelle zwar durchaus eine bedauerliche Er- ve Wirkung entfalte und ein möglicher Faktor bei scheinung, nicht aber ein verbotenes Vorgehen dar, der Wahlentscheidung darstelle, auch wenn sich die- welches somit auch nicht als unzulässige Wahlbeein- ser nicht isolieren und messen lasse. Dieser Eingriff flussung gewertet werden könne. sei vorliegend auch nicht zu rechtfertigen. Zwar sei die Regelung der Reihenfolge überhaupt einem legi- Vor dem VG Greifswald136 stritten vermeintlich zu timen Zweck geschuldet und auch die politische Be- Unrecht nicht zu einer Bürgerschaftswahl zugelasse- deutung ein nicht von vornherein zu beanstandendes ne Kandidaten für deren Wiederholung. Tatsächlich Ordnungskriterium, wobei auch die Hinzuziehung könne, wie das Verwaltungsgericht feststellt, in der der letzten Wahlergebnisse zulässig sei. Allerdings unberechtigten Nichtzulassung eine Unregelmäßig- müsse dieses auch durchgehend auf alle Parteien an- keit bei der Vorbereitung der Wahl liegen, welche gewendet werden, die bei der letzten Wahl angetre- auch Mandatsrelevanz habe und insofern die Wahl- ten sind und nicht nur auf diese, die es tatsächlich in anfechtung begründen könne. Allerdings sei der den Landtag geschafft haben. Diese Inkonsequenz Wahlvorschlag der fraglichen Partei zu Recht zurück- finde keine verfassungsrechtliche Rechtfertigung, gewiesen worden. Dies nicht deswegen, weil das Ver- auch nicht in der Fünf- Prozent-Klausel, welche die fahren der Kandidatenaufstellung innerhalb der Partei Stabilität des Parlaments sichern, aber nicht den verfahrensfehlerhaft gewesen sein könnte (nicht ord- Wahlvorgang ausgestalten soll. Der § 31 Abs. 3 nungsgemäße Ladung zur Mitgliederversammlung), ThürLWG sei somit verfassungswidrig und dessen wie es die Beklagte behauptete, da sich die Prüfungs- Anwendung ein Wahlfehler. Dieser führe indes nicht kompetenz des Wahlausschusses auf den Wahlvor- zu einer Ungültigkeit der Landtagswahl von 2014, da schlag und die mit ihm eingereichten Unterlagen be- keine ernsthaft in Betracht zu ziehende Möglichkeit grenze. Die rechtliche Prüfung des innerparteilichen der Auswirkung auf die konkrete Sitzverteilung im Verfahrens stelle vielmehr eine die Chancengleich- Parlament bestünde, was aber Voraussetzung sei, da- heit der politischen Parteien verletzende Ungleichbe- mit eine Wahl für ungültig erklärt werden könne. handlung dar. Diese begründe einen Wahlfehler, Der Entscheidung, soweit sie die Verfassungswidrig- welcher der Klage jedoch nicht zum Erfolg verhelfe, keit des § 31 Abs. 3 ThürLWG annimmt, wider- weil sich die Rechtswidrigkeit des Wahlvorschlages spricht der Richter Ruffert in einem Sondervotum. So aus der bewusst unrichtigen Angabe ergebe, es lägen sei es seit über 40 Jahren gefestigte Verfassungs- keine Einwendungen gegen das Wahlergebnis der rechtsprechung, dass die Entscheidung des Wählers Mitgliederversammlung vor. Tatsächlich wurde die nicht inhaltlich determiniert sei und nicht von äuße- ren Umständen wie der Gestaltung des Stimmzettels 135 VG Meiningen, Urteil vom 03.03.2015 – 2 K 515/14 Me, on- abhänge. Daraus folge, dass die Gestaltungsfreiheit line veröffentlicht bei juris. des Gesetzgebers in Bezug auf den Stimmzettel nur 136 VG Greifswald, Urteil vom 17.02.2015 – 2 A 1226/14, online veröffentlicht bei juris.

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Kandidatenkür aber von der Landesschiedskommis- sion der Partei – bestätigt durch die Bundesschieds- kommission – für ungültig erklärt, weswegen der Wahlvorschlag zurückzuweisen gewesen sei. Die stetige Auseinandersetzung um den Grundsatz der politischen Neutralität gegenüber der NPD setzte sich zuletzt vor dem VG Trier137 fort. Dort begehrte die Partei die gerichtliche Ungültigkeitserklärung der Wahl, weil der Oberbürgermeister durch verschiede- ne Handlungen (u.a. Bezeichnung als „Verrückte“, Einladung zu einer Anti-NPD-Demonstration und parteiische Öffentlichkeitsarbeit) das Neutralitätsge- bot verletzt und so massiv in den laufenden Wahl- kampf eingegriffen habe. Der prozessualen Beson- derheit der Wahlanfechtung geschuldet, beschränkte sich das VG in der Prüfung indes allein auf solche Äußerungen, die überhaupt Auswirkungen auf das Wahlergebnis im Sinne einer Mandatsrelevanz ent- falten konnten. Dies konnte für mehrere Verhaltens- weisen nicht der Fall sein, weil sie nach Ende der Wahl getätigt wurden. Aus demselben Grunde könn- ten auch tatsächlich feststellbare Verstöße gegen die Geheimheit der Wahl die Klage nicht begründen. Diese Fehler seien zwar als erheblich zu qualifizie- ren und an sich zur Beeinflussung des Wahlergebnis- ses geeignet gewesen, es sei jedoch hinreichend dar- gelegt worden, dass entsprechende Maßnahmen er- griffen wurden um eine Auswirkung zu vermeiden. Zuletzt fehle es bezüglich weiterer Äußerungen ein- deutig am Wahlbezug. Zur rechtlichen Bewertung der verbliebenen Äußerungen zog das Verwaltungs- gericht die elaborierten Grundsätze zur Neutralität von Amtsträgern heran und konturiert diese für das Organ des Bürgermeisters.138 Dabei grenzt es dessen Funktion vor allem von anderen Staatsorganen, ins- besondere dem Bundespräsidenten und der Bundes- regierung, ab. So ergebe sich aus der Konzeption des Amtes eine Befugnis zur Öffentlichkeitsarbeit einer- seits, andererseits aber eine strenge Pflicht zur Neu- tralität. Die zu prüfenden Äußerungen stellten nach Würdigung aller tatsächlichen Umstände allerdings keinen Verstoß gegen dieses Gebot dar, da entweder der unmittelbare Bezug zur NPD fehle oder es sich um private Äußerungen handele. Sven Jürgensen

137 VG Trier, Urteil vom 20.01.2015 – 1 K 1591/14.TR, in: LKRZ 2015, S. 208-209. 138 Siehe zum Grundsatz der politischen Neutralität den Beitrag von D. Dişçi,, in: MIP 2016, S. 101 ff. (in diesem Heft).

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Rezensionen verloren hat, indem immer mehr Kompetenzen auf die EU verlagert wurden, sondern die Instrumente, Brand, Franziska: Europapolitische Kommuni- die dem Parlament von Art. 23 GG in die Hand gege- kation zwischen Bundestag und Bundesregierung, ben werden, müssen als verfassungsrechtliche Kom- Duncker & Humblot Berlin 2015, 320 S.; ISBN petenzen auch wahrgenommen werden. „Kompensa- 978-3-428-14477-8, € 89,90. tion“ für Verlorenes, in welchem Begriff ja stets das Gefühl eines schmerzlichen Verlustes mitschwingt, „Europapolitische Kommunikation zwischen Bundes- schlägt daher einen falschen und verfassungsrecht- tag und Bundesregierung“ geht zurück auf die Disser- lich irreführenden Ton an. Art. 23 GG konstituiert tationsschrift der Autorin aus dem Jahr 2014. Brand vielmehr eine andere, neue Modalität politischer Ge- nimmt sich damit eines Stoffs an, der unbestreitbar staltung durch den Bundestag, die neben die vorhan- bedeutsam ist und der sich zugleich mit einigem denen Möglichkeiten tritt. Tempo fortentwickelt, nicht zuletzt angetrieben von den verschiedenen politischen Belastungsproben, de- Die Rezension greift an dieser Stelle aber – wie ge- nen die EU in jüngerer Vergangenheit ausgesetzt sagt – dem Gang der Untersuchung vor, die zunächst wurde, sowie von der Rechtsprechung des Bundes- die einzelnen rechtlichen Informations- und Mitwir- verfassungsgerichts. Dort nimmt seit der Lissabon- kungsrechte des Bundestages – außer in Art. 23 GG Entscheidung der Begriff der „Integrationsverant- finden sie sich etwa im EUZBBG und im Integrati- wortung“ eine zentrale Stellung ein. Das Gericht onsverantwortungsgesetz – einer Analyse unterzieht. würdigt damit den Umstand, dass gerade die europäi- Im zweiten Kapitel (S. 118 ff.) steigt die Arbeit dann schen Verträge im Wege der Vertragsauslegung und in eine Untersuchung der Praxis des Umgangs von der Schaffung von Sekundärrecht eine erhebliche Ei- Bundestag und Bundesregierung mit den untersuchten gendynamik entfalten und auch entfalten sollen, die Instrumenten ein. Für eine juristische Qualifikations- aber nicht sich selbst überlassen werden darf. Die Pro- arbeit bemerkenswert, schöpft die Autorin ihre Daten zesse, die mit den Verträgen initiiert wurden, bedür- unter anderem aus einer Reihe von Interviews mit fen vielmehr einer kontinuierlichen Kontrolle, weite- politischen Akteuren. Sie gelangt zu dem Ergebnis, ren Steuerung und fortlaufenden Legitimation durch dass die Regierung dem Bundestag Informationen den Bundestag. Brand arbeitet diesen wichtigen mittlerweile zwar in angemessenem Umfang und Aspekt heraus und zeigt auch, dass zwar nicht der hinreichend zeitig zuleite, es jedoch häufig an den Begriff, wohl aber der Gehalt der „Integrationsver- gebotenen Erläuterungen fehlen lasse (S. 140 f.). Zu- antwortung“ bereits in der Vor-Lissabon-Rechtspre- dem mangele es an einer Strukturierung der dargebo- chung des Verfassungsgerichts angelegt ist (S. 48 ff.). tenen Informationen. Auf Empfängerseite habe der Damit ist auch die Hauptfrage umrissen, deren Beant- Bundestag organisatorische Vorkehrungen zur Be- wortung sich die Untersuchung widmet: Wie kann es wältigung der Informationsflut getroffen – diese wer- der Bundestag bewerkstelligen, Integrationsverant- den von der Arbeit akribisch beschrieben. Es fehle wortung für Deutschland in dem geschilderten um- jedoch an einer politischen und der Arbeitsweise des fassenden Sinne zu übernehmen? Parlaments orientierten Gewichtung der einzelnen Diese Frage muss um so schärfer gestellt werden, als Dossiers im Sinne einer Prioritätenliste. Zudem stün- den Bundestag eine verfassungsrechtliche Pflicht den wesentliche Texte nur in englischer oder franzö- trifft, seine Kontroll- und Mitwirkungsinstrumente sischer Fassung zur Verfügung (S. 131 ff.), was dazu zu gebrauchen. Diese wichtige Erkenntnis gewinnt beitrage, dass europapolitische Mitwirkungshandlun- Brand zwar erst im letzten Drittel ihrer Untersu- gen des Bundestages rar blieben. Realistisch scheint chung (S. 229 ff.), sie durchzieht aber die gesamte in dem Zusammenhang jedoch die Einschätzung der Arbeit (weshalb auch deren Aufbau in diesem Punkt Autorin, diese parlamentarische Zurückhaltung liege nicht restlos überzeugt). Die Autorin ändert damit nicht zuletzt auch darin begründet, dass Einflussnah- den Aspekt ganz wesentlich, unter dem sie die ver- men der Regierungsfraktionen unter den Bedingun- fassungsrechtliche Schlüsselvorschrift des Art. 23 GG gen der parlamentarischen Demokratie meist eben betrachtet: Es geht bei den Informations- und Mit- nicht öffentlich durch Votum des Plenums, sondern wirkungsrechten, die dem Bundestag dort und in den auf Wegen einer vertraulicheren Kommunikation ge- einfachgesetzlichen Ausgestaltungen eingeräumt wer- schehen (S. 215, 218 f.). den, nicht – jedenfalls nicht nur – um eine Kompensa- Eine weitere Ursache, die mutmaßlich von größtem tion für die politischen und rechtlichen Gestaltungs- Gewicht für die relative Passivität des Bundestages möglichkeiten, die der Bundestag Stück für Stück in europapolitischen Angelegenheiten ist, spricht

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Brand erst im dritten Kapitel an, das sich möglichen schungsfrage wird untergliedert in die Themenkom- Verbesserungen und Remeduren widmet, nämlich plexe „Außenbeziehungen“ (ebd.) und „Binnenkultur“ die ausgeprägte politische Responsivität der Abge- (S. 19). Ersterer dient der Analyse von Interdepen- ordneten. Diese führe wegen eines meist eher gerin- denzen zwischen lokaler Parteigliederung und außer- gen öffentlichen Interesses an Fragen der Unions- parteilichen Akteuren vor Ort, letzterer der Organi- politik dazu, dass auch die Parlamentarier sich die- sation des lokalen Parteilebens, wie beispielsweise sen Themen nur in geringerem Umfang widmeten. Partizipationsmöglichkeiten für Parteimitglieder, die Wenn diese These zutrifft, für welche die Untersu- Offenheit für Nicht-Mitglieder oder die Aktivitäten chung immerhin einige Belege bietet, ist es um die vor Ort. Das Werk ist insofern an der Schnittstelle Chancen für die anschließend entfalteten Verbesse- zwischen lokaler Politik-, Parteien- und Organisations- rungsmöglichkeiten schlecht bestellt: Gegen die An- forschung angesiedelt. Zwar existieren bereits empi- reize des politischen Systems – die in ihrem Me- rische Studien über die formalen Linkages zwischen chanismus der repräsentativen Demokratie entspre- Parteien und zivilgesellschaftlichen Organisationen chen – wird das Parlament sein Verhalten kaum än- (u.a. Poguntke 2000) sowie über den Wandel der dern. Dies ist umso gravierender, als es sich bei dem Binnenorganisation von Parteien (u.a. Bukow 2013), europapolitischen Engagement des Bundestag um dabei wird jedoch die nationale Ebene fokussiert, die eine Verfassungspflicht handelt, deren gerichtliche ‚party on the ground‘ (Katz/Mair) bleibt meist unbe- Durchsetzung aber von der Autorin zutreffend als achtet. Sich auf die bisherigen Forschungsergebnisse sehr unwahrscheinlich beurteilt wird (S. 270). der politikwissenschaftlichen Teildisziplinen stützend, widmet sich der Autor einem bislang kaum erforsch- Dennoch ist es richtig, wenn sie – als Konsequenz ten Terrain. Das Werk verspricht insofern einen Ein- der im zweiten Kapitel gewonnenen Ergebnisse – blick darüber zu geben, mit welchen Strategien die eine bessere Strukturierung sowohl des Informati- Parteigliederungen vor Ort auf den Prozess sinken- onsflusses von der Regierung zum Parlament wie der Mitgliederzahlen und sinkenden Vertrauens in auch der Informationsverarbeitung im Bundestag politische Parteien reagieren. Die Fokussierung auf verlangt und weiterhin fordert, die Bundesregierung die lokale Ebene gewinnt zudem an Relevanz, da müsse es nach Möglichkeit vermeiden, die Volksver- sich die in der Literatur diskutierte Entkopplung von tretung unter starken Zeitdruck zu setzen. Die Mög- Parteien und Gesellschaft in der Kommunalpolitik lichkeiten des Bundestages zu verbessern seine Inte- mutmaßlich in geringerem Maße äußert als in der grationsverantwortung wahrzunehmen, ist auch dann Bundespolitik. So vermutet D‘Antonio, dass Lokal- geboten, wenn man die aktuellen Chancen als eher politiker allein aufgrund der räumlichen Nähe zu ih- gering veranschlagt, dass das Parlament von diesen ren potenziellen Wählern nicht „in gleicher Weise Möglichkeiten umfassenden Gebrauch machen wird. von den alltäglichen Lebenswelten vor Ort abge- Insgesamt bietet das Buch eine aufschlussreiche und schnitten [...] [sind], wie dies auf das politische Füh- überzeugende Analyse des Themas und ist jedem In- rungspersonal in Berlin oder in den Landeshaupt- teressierten zur Lektüre zu empfehlen. städten zutreffen dürfte“ (S. 25-26, 556). Der Verfas- ser macht gleich zu Beginn deutlich, dass neben dem Dr. Sebastian Roßner, M.A. wissenschaftlichen Erkenntnisinteresse für ihn auch die normative Prämisse einer vor Ort etablierten und vitalen Parteiorganisation relevant ist (S. 29-30). Da- D'Antonio, Oliver: Zwischen Rathaus, Milieu und mit bereichert er die lokale Politikforschung auch Netzwerk. Über die lokale Verankerung politischer abseits empirischer Erkenntnisse um eine optimisti- Parteien, Springer VS, Wiesbaden 2015, 621 S., schere Sichtweise bezüglich des Stellenwerts von ISBN 978-3-658-07243-8 , € 59,99. Parteien in der Kommunalpolitik. Zur Beantwortung seiner Forschungsfrage setzt D’Antonio auf ein ex- Mit seiner Dissertation legt Oliver D‘Antonio ein fast ploratives Vorgehen und verwendet ein Korpus aus 600 Seiten umfassendes Werk über die lokale Veran- sechzig selbst geführten Interviews mit Vorstands- kerung politischer Parteien in der Bundesrepublik vor. mitgliedern aus Stadt- und Kreisverbänden sowie lo- Seine qualitativ angelegte Studie setzt sich zum Ziel, kalen Verbandsfunktionären (S. 53-54). Ergänzend Erkenntnisse darüber zu gewinnen, „welche Kontakte nutzt er teilnehmende Beobachtungen, u.a. von Sit- [...] die politischen Parteien in die lokale Gesellschaft zungen der untersuchten Parteigliederungen. Der Au- [pflegen]“ und welche Maßnahmen Parteistrategen tor beschränkt sich in seiner Fallauswahl auf die Städ- vor Ort unternehmen, um „eine solche gesellschaftli- te Leipzig und Frankfurt sowie auf die Parteien DIE che Verankerung aktiv herzustellen“ (S. 18). Die For-

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LINKE, FDP und Grüne (S. 18). Nach einem kurzen gehen, dass die Einstellungen und das Verhalten von Überblick über den Forschungsstand (S. 39-46) so- Parteipolitikern mit der Einwohnerzahl der Kommune wie eine Erläuterung des methodischen Zugangs und variieren (u.a. Holtkamp 2015). Insofern wäre eine der Klärung grundlegender Begrifflichkeiten (S. 47- weniger detaillierte Schilderung der Situation in den 76) folgt eine sehr ausführliche Darstellung der Cha- beiden Städten zugunsten der zusätzlichen Berück- rakteristika der ausgewählten Städte (S. 77-104). An- sichtigung einer Land- und Kleinstadt wünschens- schließend porträtiert der Verfasser detailliert die or- wert gewesen. Die Entscheidung für die Beschrän- ganisatorische Entwicklung und gegenwärtige Aus- kung der Analyse auf die Kleinparteien begründet gestaltung der Aktivitäten der untersuchten Parteien D’Antonio mit deren geringeren Ressourcen und in vor Ort (S. 107-500). Die Darstellung mündet in der der Regel fehlenden Kollateralorganisationen, was Verdichtung des empirischen Datenmaterials und ei- im Vergleich zu mitgliedsstarken Parteien zu einer ner Typenbildung der lokalen Verankerung politi- anderen Ausgangslage und somit anderen Strategien scher Parteien (S. 501-527). Abschließend analysiert zur Etablierung lokaler Verankerung führt (S. 34). D’Antonio die empirischen Ergebnisse vor dem Hin- Ob sich eine unterschiedliche Ausgangslage tatsäch- tergrund seiner eingangs präsentierten normativen lich in divergierenden Strategien widerspiegelt, kann Prämisse der Wünschbarkeit von lokal verankerten ohne expliziten Vergleich mit SPD und CDU durch Parteiorganisationen (S. 555-567). Aufgrund der ge- die Studie jedoch nicht geklärt werden. wonnenen Erkenntnisse sieht er zwar eine prinzipielle Trotz der genannten Kritikpunkte hat Oliver D’Anto- Erneuerung der Parteien durch die Basis nicht als un- nio ein für die Parteien- und lokale Politikforschung möglich an, warnt jedoch ebenso vor einer „übermä- wichtiges Werk vorgelegt, das nicht zuletzt durch ßigen Reformeuphorie“ (S. 559): Zwar erschwere dessen Typenbildung der lokalen Verankerung eine „fragmentierte Stadt [...] den Parteien die Inte- politischer Parteien wichtige Impulse für weiterge- gration der zersplitterten Gesellschaft“ (S. 558), den- hende Untersuchungen liefert und darüber hinaus die noch reagierten die Parteien darauf mit einer „Viel- normative Debatte um die Rolle von Parteien in der seitigkeit der Kontakt- und Kooperationsformen“ Kommunalpolitik befeuert. (ebd.). Vor Ort fände sich ein „[…] vielfältiges Pot- pourri an personellen Verflechtungen, punktuellen Michael Angenendt, M.A. Kooperationen, regelmäßigen und unregelmäßigen Kontakten sowie losen Netzwerken [...]“ (S. 557). Kluth, Winfried (Hrsg.): „Das wird man ja wohl Positiv hervorzuheben sind die aus der Empirie ge- noch sagen dürfen.“ Staatliche Organe und die wonnenen Typen lokaler Parteiorganisation (S. 518). Pflicht zur Neutralität, Universitätsverlag Halle- Sie bieten die Möglichkeit, die Belastbarkeit der ex- Wittenberg, Halle an der Saale 2015, 92 S., ISBN plorativ gewonnenen Ergebnisse künftig im Rahmen 978-3-86977-128-1, € 11,80. repräsentativer und stärker theoriegeleiteten Studien zu überprüfen. Wünschenswert wäre jedoch eine Über Neutralität ist in der Juristerei bekanntlich viel ausführlichere Darstellung der Typenbildung und nachgedacht und geschrieben worden, gerade auch in möglicher Erklärungsfaktoren gewesen. Während die der Rechtsprechung. Diese Rechtsfigur ist kein Phä- Beschreibung der Parteistruktur vor Ort sehr aus- nomen, das lediglich auf einem einzelnen Gebiet führlich erfolgt, widmet sich der Autor in vergleichs- eine Rolle spielt, sie taucht beispielsweise im Religi- weise geringem Umfang dem Vergleich der Parteien onsverfassungsrecht, Arbeitsrecht oder im Recht des in den untersuchten Städten. Bei der Fallauswahl Berufsbeamtentums auf. bleibt unklar, warum Leipzig und Frankfurt ausge- Der von Winfried Kluth herausgegebene Sammelband wählt wurden. Die Berücksichtigung kultureller Un- ist eine Dokumentation des 2. Staatsrechtlichen Fo- terschiede zwischen einer ost- und westdeutschen rums zum Thema „Unparteilichkeit gegenüber politi- Großstadt ist schlüssig (S. 34-35). Die detaillierte schen Parteien als Verfassungspflicht – Zwischen Beschreibung der wirtschaftlichen Struktur beider extrem und extremistisch: welche Verfassungsorga- Städte wirft jedoch die Frage auf, ob der Autor ne- ne dürfen Parteien und „Bewegungen“ bewerten und ben kulturellen Unterschieden noch weitere Einfluss- beurteilen?“, welches am 29. Mai 2015 in der Lan- faktoren als relevant erachtet. Hier fehlt eine theore- desvertretung von Sachsen-Anhalt in Berlin statt- tische oder empirische Grundlage für die Beurtei- fand. Bereits der Tagungsname impliziert Ausfüh- lung, warum die genannten Rahmendaten aufgeführt rungen zur Neutralität gegenüber politischen Partei- werden (S. 77-104). Nach bisherigen Erkenntnissen en. Dementsprechend gespannt ist man auf diesen der lokalen Politikforschung ist zudem davon auszu-

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Tagungsband und seinen Ertrag für die wissenschaft- schen Wettbewerbs der Grundsatz der Neutralität er- liche Diskussion über ein (partei-)politisches Neutra- forderlich sei. Auch die Frage, ob gegenüber verfas- litätsgebot, das womöglich aus der Verfassung abzu- sungsfeindlichen oder extremistischen Parteien auf leiten ist. Gerade in jüngster Zeit sind Gerichtsent- das staatliche Neutralitätsgebot verzichtet werden scheidungen sowohl der nordrhein-westfälischen Ver- sollte, wird bereits an dieser Stelle kurz angerissen. waltungsgerichtsbarkeit als auch des Bundesverfas- Auch der Beitrag von Christian Hillgruber bietet eine sungsgerichts erschienen, die dies zum Gegenstand gute Grundlage für das Thema der Neutralität, da er haben. Dabei ist vor allem an die Entscheidungen aus auf die Meinungsfreiheit und ihre unverzichtbare dem Jahr 2014 zu den Äußerungen des Bundespräsi- Funktion für einen politischen Meinungs- und Willens- denten Gauck (BVerfGE 136, 323 ff.) und der Bun- bildungsprozess eingeht und diese vor allem vor dem desfamilienministerin Schwesig (BVerfG, Urteil vom Hintergrund der bundesverfassungsgerichtlichen Recht- 16. Dezember 2014, 2 BvE 2/14) sowie die Dügida- sprechung (u.a. Lüth, Wunsiedel, Benetton-Werbung) Rechtsprechung des Verwaltungsgerichts Düsseldorf darstellt. Begrüßenswert ist, dass politische Protest- (Beschluss vom 09.01.2015, 1 L 54/15, und Urteil bewegungen wie beispielsweise die Pegida-Bewegung vom 28.08.2015, 1 K 1369/15) und des Oberverwal- zur Sprache gebracht werden. Zu Recht stellt der Au- tungsgerichts Nordrhein-Westfalen (Beschluss vom tor fest, dass diese nicht den Schutz des Artikel 21 12.01.2015, 15 B 45/15) zu denken. Abs. 1 GG genießen; ihnen stehen jedoch die Mei- Der Tagungsband enthält die Vorträge der Konfe- nungs- und Versammlungsfreiheit gegenüber staatli- renzteilnehmer und eine Zusammenfassung der ab- chem Handeln zur Seite. Beispielhaft werden an die- schließenden Podiumsdiskussion. Die Einzelthemen ser Stelle Äußerungen einiger Regierungsmitglieder wurden bearbeitet von Winfried Kluth (Demokratie dargestellt und auf ihre verfassungsmäßige Zulässig- als Wettbewerbsordnung – Zur Einführung in die keit hin analysiert, unter Bezugnahme auf die durch Thematik), Foroud Shirvani (Das Parteiverbot und das Bundesverfassungsgericht aufgestellten Kriterien die rechtlichen Garantien der EMRK), Franz Wil- in der Glykol- und Osho-Entscheidung. Zwar ist nicht helm Dollinger (Muss man beim Parteiverbot be- jede staatliche Informationstätigkeit per se unzulässig, sorgt nach Straßburg blicken? Das Parteiverbot und da die staatliche Teilhabe am politischen Meinungs- die rechtlichen Garantien der EMRK), Hermann bildungsprozess auch erwünscht und notwendig sein Butzer (Frei von der Leber weg? Die Äußerungsbe- kann, jedenfalls sind aber Diffamierungen und fugnisse des Bundespräsidenten und von Mitgliedern Schmähungen unzulässig. Wo darüber hinaus die der Bundesregierung gegenüber extremistischen Par- Grenze zwischen zulässiger und unzulässiger staatli- teien), Hans-Georg Maaßen (Einschätzungspräroga- cher Intervention genau zu ziehen ist, ist nicht leicht tiven des Verfassungsschutzes bei der Beobachtung zu ermitteln und von Inhalt und Kontext der Äuße- von extremistischen Parteien und ihren Mitgliedern rungen sowie der Amtseigenschaft des sich Äußern- und Abgeordneten), Winfried Kluth (Unparteilichkeit den abhängig. Stets muss dabei die Bedeutung der als Handlungsmaßstab der Zentralen für politische Meinungsfreiheit als politisches Freiheits- und Kom- Bildung und vergleichbare Stellen und Einrichtun- munikationsgrundrecht berücksichtigt werden. gen) und Christian Hillgruber (Zwischen wehrhafter Demokratie und „political correctness“; wieweit darf die politische Mehrheit die Spielregeln der politi- Foroud Shirvani behandelt in seinem Beitrag das schen (Meinungs-)Bildung bestimmen? Die Reich- Thema des Parteiverbots, welches sowohl im Verfas- weite der politischen Meinungsfreiheit). sungsrecht als auch im europäischen und internationa- len Recht eine große Rolle spielt. Dabei wird insbe- Bereits auf den ersten Blick lässt sich festhalten, sondere auf die bundesverfassungsgerichtlichen Ent- dass Schwerpunkte des Tagungsbandes zum einen scheidungen zum Verbot der SRP und der KPD einge- die Verfassungsfeindlichkeit von politischen Partei- gangen, dessen grundlegende Aussagen zusammenge- en sowie Parteiverbotsverfahren und zum anderen fasst dargestellt werden. Überwiegend wird hierbei die Unparteilichkeit und Neutralität von Staatsorga- Bezug genommen auf die EMRK und die Rechtspre- nen gegenüber politischen Parteien sind. chung des EGMR. Daran anknüpfend analysiert der Der erste Beitrag von Winfried Kluth gibt einen Autor einige Entscheidungen des EGMR, vor allem Überblick über das Tagungsthema und skizziert kurz, vor dem Hintergrund ihrer Bedeutung für die Rege- dass sich die grundgesetzliche Demokratieordnung lung in Artikel 21 Abs. 2 GG. Keinen allzu kleinen durch wettbewerbliche Elemente kennzeichne und Raum nimmt die Frage der Anwendbarkeit des Ver- vor dem Hintergrund eines funktionierenden politi- hältnismäßigkeitsgrundsatzes bei Parteiverboten ein.

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Auch der nächste Beitrag von Franz Wilhelm Dollinger fall. In Bezug auf die Art und Weise von Äußerun- ist darauf gerichtet, jedoch liegt hier der Fokus auf gen wird für ein weites Verständnis in dem Sinne der Konventionskonformität des Parteiverbots, wel- plädiert, dass der Bundespräsident frei sein solle in ches neben Artikel 21 Abs. 2 GG durch einfachrecht- seinen rhetorischen Mitteln und in der Verwendung liche Normen im BVerfGG geregelt wird. Gerade einer umgangssprachlich-saloppen Ausdrucksweise, die Auseinandersetzung mit diesen Normen verdeut- wenn er dies für sinnvoll erachte, um die Aufmerk- licht die zwei Stufen, in denen sich ein Parteiverbot samkeit seiner Zuhörer zu bekommen. Zwar ist es vollzieht (Feststellung der Verfassungswidrigkeit und nicht immer einfach zu entscheiden, ob eine Äuße- Folgen des Parteiverbots). rung zulässig ist oder nicht, allerdings kann dies nicht dazu führen, dass man mit Verweis auf das Im Zusammenhang mit dem Thema der Verfassungs- Temperament der Person die Grenzen der Äußerun- feindlichkeit von politischen Parteien und Parteiver- gen beim Bundespräsidenten im Vergleich zu Regie- botsverfahren greift Hans-Georg Maaßen die Beob- rungsmitgliedern tiefer ansiedelt; auch wenn ein Un- achtung von extremistischen Parteien durch den Ver- terschied zwischen Regierungsmitgliedern und dem fassungsschutz auf. Dabei werden insbesondere die Bundespräsidenten in Bezug auf die allgemeinen Ziele des Verfassungsschutzes und die Kritik an des- Kompetenzen und die Stellung besteht, der nicht zu sen Beobachtungsauftrag behandelt und die sich ge- leugnen ist. Im Fazit lässt der Autor begrüßenswer- genüberstehenden Rechte und Rechtsgüter dargestellt. terweise verlauten, dass die Bezeichnung der NPD- Besonders lesenswert ist der Beitrag von Hermann Anhänger als Spinner deswegen noch als verfas- Butzer, der die Entscheidungen des Bundesverfassungs- sungsgemäß eingestuft worden sei, weil es um die gerichts zu den Äußerungsbefugnissen des Bundes- NPD gehe, denn die Entscheidungsbegründung sei präsidenten und der Mitglieder der Bundesregierung auch mit Verweis auf den Wunsiedel-Beschluss sehr gegenüber politischen Parteien zum Gegenstand hat. auf den Aspekt der grundgesetzlichen Ordnung als Nicht zuletzt diese zwei Urteile haben die Diskussion Gegenentwurf zum Nationalsozialismus gemünzt. über ein politisches Neutralitätsgebot neu entfacht. Der Vorwurf einer ergebnisorientierten Entschei- Der Fokus liegt auf der rechtlichen Bewertung des dung in dieser Rechtssache wird auch hier geäußert. Gauck-Falles. Interessant ist vor allem die Aufzäh- Erfreulich ist, dass Winfried Kluth sich mit einem lung von Negativäußerungen des Bundespräsidenten, Beitrag zu Aktivitäten der Zentralen für politische die medial bekannt sind und als problematisch darge- Bildung einem bisher kaum näher beleuchteten stellt werden. Dadurch wird die Relevanz der Debat- Randthema widmet. Die Auseinandersetzung mit der te um einen Neutralitätsgrundsatz in (partei-)politi- Rechtsprechung, vor allem des Bundesverfassungs- schen Angelegenheiten nochmals unterstrichen. Auch gerichts, die sich ebenfalls mit einem Grundsatz der die Rechtsprechungslinie des Bundesverfassungsge- Unparteilichkeit als Maßstab für das Handeln der richts, in die sich die in Rede stehenden Entschei- Zentralen beschäftigt, da die in Frage stehenden Äu- dungen einfügen, wird in ausreichender Kürze darge- ßerungen Grundrechtsrelevanz aufweisen, bereichert stellt, da auch sie die Verletzung des Rechts auf die Diskussion um die Neutralität staatlicher Organe. Chancengleichheit politischer Parteien zum Gegen- stand haben. Wenn der Autor eine Unterscheidung Insgesamt handelt es sich beim vorliegenden Buch zwischen privatem und amtlichem Handeln vor- um eine überschaubare, aber interessante Zusam- nimmt, so steckt er zu Recht die Reichweite der An- menschau mehrerer Themenkomplexe, die die staat- wendung staatlicher Neutralität ab, denn während liche Neutralität tangieren und sie vor allem im Lich- beim Handeln in amtlicher Eigenschaft die Neutralität te der Rechtsprechung aufbereiten. zur Anwendung kommt, gilt sie nicht bei privatem Duygu Dişçi Handeln des Amtsträgers. Im Vergleich von Bundes- präsident und Bundesfamilienministerin kommt der Autor zu dem Ergebnis, dass beim ersteren nur zwi- König, Klaus: Operative Regierung, Mohr Siebeck, schen seiner privaten und seiner amtlichen Rolle zu Tübingen 2015, 477 S., ISBN 978-3-16-153615-1, € 44. unterscheiden sei, wohingegen bei Mitgliedern der Bundesregierung die dritte Rolle des Parteipolitikers Klaus König ist als emeritierter Universitätsprofessor hinzukomme. Wenn richtigerweise eine solche Un- für Verwaltungswissenschaft, Regierungslehre und terscheidung zwischen den Funktionen der Staatsor- Öffentliches Recht in Speyer nicht nur im Bereich gane getroffen wird, so muss bedacht werden, dass der Regierungsforschung wissenschaftlich ausgewie- sie in der Theorie besser funktioniert als im Einzel- sen, sondern als Ministerialdirektor a.D. (Bundes-

162 MIP 2016 22. Jhrg. Rezensionen kanzleramt) auch mit der politischen Praxis bestens gierungsprozess sowie das Regierungspersonal in vertraut. In seinem jüngst vorgelegten Buch „Opera- den Blick nehmen. Alle Kapitel zeigen den das Buch tive Regierung“ bündelt er dieses Wissen, um die kennzeichnenden breiten Zugriff auf die Regierung. „machinery of government“ (S. V) genauer zu be- So wird beispielsweise der Regierungsprozess nicht trachten. Dazu verbindet er ganz im Sinne einer nur mit Blick auf das Regierungshandeln, sondern staatswissenschaftlichen Perspektive die traditionelle auch hinsichtlich möglicher Kontrollen des Regie- Staatsrechtslehre mit der Politikwissenschaft und er- rungshandelns durchgesprochen, und auch im Be- gänzt diese mit verwaltungswissenschaftlichen Bezü- reich Personal werden nicht nur die politischen, son- gen. So entsteht ein interdisziplinär angelegtes Werk, dern auch die ministerial-administrativen Akteure in das sich mit der Regierung in Fortführung einer or- den Blick genommen. ganisatorischen Begriffstradition und somit in einer Da es sich bei dem vorliegenden Werk nicht um eine institutionellen Perspektive beschäftigt, dabei aber eigenständige Studie, sondern vielmehr um eine Zu- auch eine funktionale Erweiterung vornimmt. sammenführung der Literatur bzw. der aktuellen For- Das Werk basiert im Kern auf „Ausbildungs- und schung im Kontext der wissenschaftlichen Lehre Weiterbildungsveranstaltungen“ (S. V), was dem handelt, bieten die Kapitel zwar keine grundlegend Buch durchaus anzumerken ist. Von Vorteil ist die neuen Erkenntnisse, gleichwohl aber einen vielfach so bedingte klare Struktur und ein homogener Auf- durch Beispiele erläuterten Überblick über den The- bau, jedes Kapitel untergliedert sich in vier Subthe- menbereich „operative Regierung“. Insofern ist der men. Von Nachteil, und dies ist bedeutender, ist je- Gesamteindruck des Buchs stimmig, auch wenn etwa doch, dass eine umfassende Einleitung ebenso fehlt ein durchgängiges Analyseraster fehlt. Dies macht es wie ein Schlusskapitel, das die einzelnen Abschnitte der Leserin bzw. dem Leser nicht so einfach, die vie- des Buches verbindet und zusammenfasst. In Erman- len im Buch angesprochenen Facetten miteinander in gelung einer Zusammenfassung der verschiedenen Bezug zu setzen. Bedauerlich ist darüber hinaus, Kapitel obliegt es so der Leserin bzw. dem Leser dass „intime“ Einblicke eines Insiders des politi- selbst, sich die Kernbotschaft des Werkes zu er- schen Geschäfts, wie sie vielleicht – mit Blick auf schließen. Von diesem Defizit abgesehen bieten die die Erfahrung des Autors – zu erwarten, zumindest jeweiligen Kapitel, die vorrangig die deutsche Re- aber zu erhoffen gewesen wären, fehlen. So bietet gierung im Bund, ergänzend aber auch die Landes- das Buch insgesamt einen umfassenden und durch- ebene und andere Staaten, insbesondere die USA, weg fundierten staatswissenschaftlichen Überblick berücksichtigen, einen fundierten Einblick in we- über die Regierungslehre, der Wissenschaftler/innen sentliche Aspekte der Regierungsforschung. Im ers- ebenso wie Praktiker/innen ansprechen dürfte. ten Kapitel werden zentrale Begriffe geklärt und ver- Dr. Sebastian Bukow schiedene Facetten der Regierungslehre aufgezeigt, insb. Executive Governance, Politische Führung und Politisches Management – hier zeigt sich der im Schmücking, Daniel: Negative Campaigning. Die Vorwort angekündigte Blick auf den „arbeitenden Wirkung und Entwicklung negativer politischer Staat“, der „in den Fokus der Lehre“ (S. V) und da- Werbung in der Bundesrepublik, Springer VS, mit auch des Buches rückt. Daran schließt ein Kapi- Wiesbaden 2015, 367 S., ISBN 978-3-658-08211-6, tel zur Systematisierung von Regierungssystemen an. € 49,99. Im Zentrum steht dabei der Blick auf „die operativen Möglichkeiten der Regierung“, weshalb – in Anbin- Negativkampagnen als Mittel der politischen Wer- dung an Renate Mayntz – „die Persistenz exekutiver bung sind häufig Gegenstand des medialen, seltener Macht einerseits und […] deren Dispersion anderer- aber des wissenschaftlichen Diskurses. Insbesondere seits“ (S. 53) unterschieden und ausführlich disku- in Deutschland steckt die Forschung zu Negativkam- tiert wird. Es folgen zwei Kapitel, die sich mit den pagnen verglichen mit den USA noch in den Kinder- Funktionen und der Bildung von Regierungen aus- schuhen. Dies erstaunt, kann doch die Bundesrepublik einandersetzen, wobei auch hier keineswegs nur for- auf eine reiche Geschichte öffentlich diskutierter Ne- malrechtliche Aspekte betrachtet werden, sondern gativkampagnen zurückschauen. So ist sicherlich die stets auch mit empirischen Befunden und illustrieren- Unionskampagne gegen Willy Brandt im Jahr 1961 den Beispielen gearbeitet wird. Anschließend richtet eine der bemerkenswertesten Wahlkampfauseinander- sich der Blick des Autors auf die Inhalte der Regie- setzungen der BRD gewesen: Allen voran Konrad rungstätigkeit. Den Abschluss des Buches bilden Adenauer diffamierte seinen Gegenkandidaten Willy drei Kapitel, die die Regierungsorganisation, den Re- Brandt (alias Herbert Frahm) als Vaterlandsverräter,

163 Rezensionen MIP 2016 22. Jhrg. da dieser während des Dritten Reichs nach Norwe- Wahlplakate von Union und SPD in den Bundestags- gen emigriert war. Der Dissertation von Schmücking wahlkämpfen zwischen 1949 und 2013 durch. Die kommt der Verdienst zu, sich erstmalig systematisch Ergebnisse seiner Vollerhebung ergänzt Schmücking und ausschließlich dieser Forschungslücke in Deutsch- durch Erkenntnisse aus der Sekundärliteratur. Er land zu widmen. Unter Negativkampagnen versteht stellt unter anderem fest, dass Union und SPD in al- Schmücking „eine Wahlkampfmethode, bei der mittels len bisherigen Bundestagswahlkämpfen Gebrauch politischer Kommunikation die Schwächen der politi- von Negativkampagnen machten. Diese seien „Sache schen Konkurrenz aufgezeigt werden, um so das Ziel der Parteien“ (S. 108), da die meisten Angriffe des Wahlsiegs zu erreichen (…).“ In seiner Arbeit be- (78,1 %) von Parteiebene kommen und sich auch auf leuchtet er näher, was deutsche Negativkampagnen diese Ebene beziehen (65,9 %). Damit konstatiert ausmachen, wie sie sich entwickeln und wie sie auf Schmücking einen wichtigen Unterschied zu den die Meinungsbildung der Wähler wirken (S. 23). Ge- kandidatenzentrierten Negativkampagnen in den rade die Wirkungsmessung ist ein ehrgeiziges Ziel, da USA. Er kann außerdem die Herausfordererstrategie es zum einen hierzu bislang kaum deutsche Arbeiten bestätigen, das heißt, Oppositionsparteien setzen gibt und zum anderen seit Jahrzehnten über die mög- eher auf Negativkampagnen gegen Regierungspartei- lichen (de)mobilisierenden Auswirkungen debattiert en. Die Angriffe sind eher thematisch (67,9 %) und wird (u.a. Krupnikov, Yanna [2011]: When Does etwas häufiger direkt als vergleichend (52 % vs. Negativity Demobilize? Tracing the Conditional Ef- 47,3 %). Er stellt insgesamt eine abnehmende und fect of Negative Campaigning on Voter Turnout. In: wellenförmige Entwicklung der deutschen Negativ- American Journal of Political Science 55 [4], S. 796). kampagnen fest, die er in sechs Phasen einteilt Schmücking betrachtet Negativkampagnen als reines (S. 161 ff.). Zusätzlich diskutiert der Autor, ob Ne- Wahlkampfinstrument, nimmt also ausschließlich die gativkampagnen im Zuge der Amerikanisierung nach Perspektive der politischen Kommunikation ein. Da- Deutschland kamen, was er abschließend ablehnt, da mit steht seine Arbeit in einer Reihe mit dem Großteil solche schon in der Weimarer Republik stattgefun- der bisherigen Studien zu diesem Thema, in denen Theo- den hätten. Es fehlen jedoch Annahmen darüber, rien zum Parteienwettbewerb bis dato meist unbeach- welchen Einfluss Amerikanisierung auf die deut- tet blieben (u.a. Johnson-Cartee, Karen S./Copeland, schen Negativkampagnen haben könnte. Gary A. [1997]: Manipulation of the American Voter. Nachdem Schmücking im ersten Hauptteil festgestellt Political Campaign Commercials. Westport: Praeger; hat, dass Negativkampagnen ein fester Bestandteil Holtz-Bacha, Christina [2000]: Wahlwerbung als deutscher Bundestagswahlkämpfe sind, überprüft er politische Kultur. Parteienspots im Fernsehen 1957- diese im zweiten Teil auf ihre Wirkung. Dieser be- 1998. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag). ginnt mit einer umfangreichen Darstellung des For- Auf den Forschungsstand zu Negativkampagnen in schungsstandes zur Wirkungsanalyse. Die kurzfristige Deutschland und den USA folgt eine Diskussion zur Wirkung von Negativkampagnen misst er anhand von Legitimität von Negativkampagnen aus demokratie- sechs Online-Experimenten, die zwischen Mai 2012 theoretischer Sicht. Diese mündet in einer Kampag- und Juli 2013 stattfanden. Selbst entwickelte Wahlan- nentypologie (legitime und illegitime Kampagnen vs. zeigen bilden den Stimulus. Pro Experiment gibt es Positiv- und Negativkampagnen; S. 40). Danach glie- drei Gruppen, von denen jeweils zwei einem Negativ- dert sich die Arbeit in zwei Hauptteile. Der erste Stimulus und eine einem Positiv-Stimulus ausgesetzt widmet sich der Entwicklung von Negativkampag- werden. Auf Kontrollgruppen ohne jeglichen Stimulus nen zwischen 1949 und 2013. Dazu werden zunächst wird verzichtet. Als Ergebnis stellt er unter anderem die zwei „Ausgangspunkte“ Weimarer Republik und Solidarisierungseffekte (S. 231) fest, ein Angriff hilft USA hinsichtlich verschiedener Rahmenbedingungen dem Angegriffenen also unter bestimmten Bedingun- wie Wahl-, Parteien- und Mediensystem vorgestellt. gen mehr, als dass er ihm Schaden zufügt. Weiterhin Dadurch soll eine „Schablone [entstehen], vor deren konstatiert er den „Merkel-Effekt“ (S. 266): Angriffe Hintergrund Negativkampagnen in der Bundesrepu- auf Angela Merkel können ihrer Bewertung nichts blik Deutschland betrachtet wird.“ (S. 46). Im an- anhaben. Angreifende Frauen erzielen allgemein grö- schließenden, recht detaillierten Forschungsstand ßeren Schaden beim Angegriffenen, sind aber gleich- stellt der Autor dann vor allem die Studien vor, die zeitig stärker vom sogenannten Bumerang-Effekt Negativkampagnen eine große Bedeutung unterstel- (der Angriff fällt negativ auf den Angreifer zurück) len. Die Hypothesen werden aus den beiden Aus- betroffen (S. 288). Außerdem geht Schmücking „von gangspunkten abgeleitet. Um die Entwicklung zu einer starken Abneigung gegenüber politischer Wer- messen, führt er eine quantitative Inhaltsanalyse der bung im Allgemeinen“ (S. 284) aus, weil einem

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Großteil der Probanden der Stimulus nicht gefällt. Grün“ (S. 187). Um zu verstehen, wie es zu den farben- Allerdings fehlt die Diskussion darüber, ob die Ab- froheren Sondierungen und Kombinationen gekom- lehnung eventuell nur für Wahlanzeigen gilt oder men ist, studiert Switek anhand von Gesprächen und durch die Stimuli begründet ist. Interviews „mit den beteiligten Akteuren“ (S. 87) di- verse „Fälle von Koalitionsbildungen der Grünen auf Insgesamt bietet die Dissertation eine umfangreiche Länderebene seit der Etablierung des Fünfparteien- Aufarbeitung des Forschungsstandes zu Negativkam- systems ab 2005“ (S. 16), und zwar unter Berücksich- pagnen in Deutschland und den USA sowie eine an- tigung der „Logik der abweichenden Fälle, die von schauliche Nachzeichnung der bundesdeutschen Wahl- der Koalitionstheorie nicht hinreichend erklärt werden kämpfe. Die praktischen Hinweise für das Anwenden können“ (S. 74), somit jenen, die „dem von Ortmann von Negativkampagnen (z.B. „Wer auf Nummer si- herausgestellten Typus der Innovationsspiele im Ge- cher spielen will, sollte sich gegen den Angriff ent- gensatz zu den Routinespielen“ (S. 75) entsprechen. scheiden. Wer ein Risiko eingehen will, kann dafür Hierzu gehören, im Gegensatz zu Koalitionsbildun- durchaus belohnt werden“, S. 337) sowie der Fragen- gen mit der SPD, dem konventionellen oder routi- katalog für Wahlkampfakteure für das Ob und Wie ei- nierten politischen Partner, etwa Koalitionen mit der nes potenziellen Einsatzes (S. 343f.) fassen die wich- CDU allein oder mit der CDU und der FDP. tigsten Ergebnisse pointiert zusammen und sind für Praktikerinnen und Praktiker sicherlich hilfreich. Als Die Genese des Untersuchungsobjekts ist auf den eine zentrale Schlussfolgerung stellt Schmücking her- ersten Blick bemerkenswert: Die Grünen, nunmehr aus, dass Negativkampagnen nicht demobilisierend „multi-koalitionsfähig“ (S. 13), waren anfänglich, in wirkten, sondern sogar vorteilhaft für eine Demokratie der Außenwahrnehmung wie im inneren Verständnis sein könnten (S. 339). Aufgrund der der recht stark mehrheitlich, eine „Outsider-Partei“ (S. 95) und verzerrten Experimentalgruppen (S. 220f.) bedarf die- „Anti-Parteien-Partei“ (S. 123), deren Ankunft und ses Ergebnis aber noch weiterer Überprüfung. Auch andauernder Aufenthalt im politischen System mit- unpräzise formulierte Hypothesen können mehrfach nichten gesichert schien. Doch seit dem ersten Re- nicht bestätigt werden. Bedauerlich ist, dass aus for- gierungsbündnis auf Länderebene mit grüner Beteili- schungspraktischen Gründen viele Einschränkungen gung, nämlich jenem mit der SPD in Hessen zwi- an der Arbeit vorgenommen wurden, sodass keine der schen 1985 und 1987, entpuppen sich die Grünen in beiden Studien zu verallgemeinerbaren Erkenntnissen den Bundesländern als ansprechbar für facettenrei- kommt. Zukünftige Forschung sollte es sich deshalb che Koalitionen, mit mehr oder minder langlebigem zur Aufgabe machen, solche verallgemeinerbaren Erfolg. So koalierten die jeweiligen Ländergrünen Resultate zu Negativkampagnen in Deutschland zu mit der CDU in Hamburg (2008–2010), mit der CDU liefern. Mit Schmückings Arbeit ist aber ein erster und der FDP im Saarland (2009–2012) sowie mit der wichtiger Schritt in diese Richtung getan. Partei DIE LINKE und der SPD in Thüringen (seit 2014). Auf den zweiten Blick (und auf weitere Blicke) Jana Lassen ist dies womöglich weniger bemerkenswert, u.a. ein- gedenk dessen, dass die Grünen, trotz bestimmter eigen- sinniger Parteistrukturen, einer spezifischen „Orga- Switek, Niko: Bündnis 90/Die Grünen. Koalitionsent- nisationskultur mit ihrem basisdemokratischen Erbe scheidungen in den Ländern, Nomos, Baden-Baden und dem Einfluss informeller Strömungsstrukturen“ 2015, 392 S., ISBN 978-3-8329-5385-0, € 29,90. (S. 342), im politischen System angekommen sind In seiner 2015 an der Universität Duisburg-Essen und systemkonform operieren: Als (auch selbst er- vorgelegten Dissertationsschrift untersucht Switek nannte) Programmpartei mit unterschiedlichen Strö- die vermeintlich überraschende Koalitionsflexibilität mungen ist es den Grünen insbesondere wichtig und der Partei Bündnis 90/Die Grünen in den Bundeslän- für sie überlebenswichtig, zentrale programmatische dern mittels eines mikropolitischen Ansatzes, der in- Aspekte umzusetzen, für die sich allerdings unter- nerparteiliche Prozesse und Fixierungen in den Blick schiedliche Partner finden lassen können. So gibt es nimmt. War es bei den Grünen anfänglich, so Switek, Verbindungspunkte nicht nur mit der SPD, sondern, „ein mühsamer innerparteilicher Prozess […] eine zumindest grundsätzlich und plausibel konstruierbar, Mehrheitsfähigkeit zumindest für Koalitionen mit auch mit konservativen Parteien wie der CDU den Sozialdemokraten zu organisieren“ (S. 187), so (Stichwort: Nachhaltigkeit) oder mit dezidiert linken ließ sich die Partei insbesondere seit Mitte/Ende der Parteien wie der Partei DIE LINKE (Stichwort: Re- 2000er-Jahre auf diverse Farbenspiele ein, „von form des Schulsystems) (S. 236). Angesichts dessen Schwarz-Grün über Schwarz-Gelb-Grün bis Rot-Rot- erscheint die Koalitionsflexibilität nicht unbedingt

165 Rezensionen MIP 2016 22. Jhrg. als Beliebigkeit, wie Parteikritiker meinen könnten, ger/innen der SPD und CDU in Nordrhein-Westfalen sondern tatsächlich als Flexibiliät, somit als jene bzw. deren Parteiorganisationsverständnis in den Mit- „Eigenschaft“, wie der Duden bestimmt, derzufolge telpunkt und geht so zwei Leitfragen nach: „1) Wel- sich die Partei „leicht bewegen lässt“. Dies muss che Grundannahmen der Parteienwandeldebatte und nicht zwingend zum Umkippen führen, wenngleich welche wesentlichen Charakteristika der unterschied- die, wenn man es so auszudrücken wünscht, Gefahr lichen Modelle lassen sich aus Sicht politischer Man- hierzu besteht. datsträger/innen bestätigen oder verneinen? 2) Welche normativen Positionen und Erwartungen werden im In Switeks Buch ist – angesichts des gewählten me- Kontext Professionalisierung und Mitgliederorientie- thodischen Ansatzes nicht überraschend – häufig von rung von den politischen Akteuren vertreten?“ (S. 13). „Spielen“ die Rede, etwa von Koalitionsspielen, Routinespielen, Farbenspielen oder von Innovations- Nach einer Einleitung wird allerdings nicht, wie zu er- spielen. Die Strapazierung der Anleihe an das warten wäre, die parteientypologische Forschung auf- „Spiel“ ist analytisch letztlich wenig dienlich; das gegriffen, sondern zunächst (zu) umfassend der Buch bietet explikativ kaum Momente, die über Be- „Wandel seit den 60er Jahren als Hintergrund der Par- kanntes oder Naheliegendes hinausweisen. Dies ist teienwandelforschung“ (S. 17 ff.) thematisiert. In die- nicht dem Autor, sondern dem Gegenstand zuzu- sem Kapitel führt die Autorin aus, welcher Gesell- schreiben, der letztlich auf eine Beschreibung inner- schaft und welchen strukturellen Arbeitsbedingun- parteilicher politischer Realität und Machtverwirkli- gen Mandatsträger/innen nunmehr gegenüberstehen. chung verpflichtet. In der Untersuchung finden sich Angesprochen werden u.a. Milieu- und Ideologiever- entsprechend diverse wenig überraschende Schlüsse. lust, gesellschaftlicher Wandel und das Politiker- Auf der vorletzten Seite des Textes heißt es etwa: Image sowie Veränderungen durch die Mediengesell- „Den neuen Koalitionen kommt zunächst ein Präze- schaft bzw. durch die Professionalisierung der Politik. denzfall-Charakter zu. Mit den ersten Sondierungen Erst auf Seite 73 der gut 200 Seiten starken Disserta- und der Umsetzung erster Bündnisse in einer be- tion kommt die Autorin auf das eigentliche Objekt ih- stimmten Farbkonstellation sinkt in der Folge der in- rer Untersuchung zu sprechen, die verschiedenen Or- nerparteiliche Widerstand. Der Charakter des Neuen ganisationsmodelle politischer Parteien. Aus ihrer schleift sich ab, das Modell etabliert sich und wird Sicht bilden dabei die Mitgliederpartei und die pro- einfacher umzusetzen“ (S. 356). Dies ist so zutreffend fessionelle Wählerpartei zwei sich gegenüberstehen- wie augenscheinlich. Umfassend erweist sich der de Extremtypen, wobei sie die von ihr selbst heraus- Wert der Studie im Deskriptiven und in der Samm- gestellte Dichotomie mit einem dritten Parteienmo- lung von Information, die einen relevanten Einblick in dell, der Kartellpartei, durchbricht. Dieser Bruch ist das Innenleben von Bündnis 90/Die Grünen ermög- systematisch unglücklich und verdeutlicht das Pro- licht. Hierzu gehören die geführten und zitierten Inter- blem des Kapitels: Die drei Modelle werden nach- views, etwa mit Landesvorsitzenden in der Partei. einander einzeln besprochen, eine echte vergleichen- An Switeks Buch ist dann nicht vorbeizukommen, de Betrachtung bzw. eine Abstrahierung des Gegen- wenn man sich mit der einst rebellisch-romantisch satzes Mitglieder vs. Berufspolitiker unter Berück- anmutenden grünen Partei auseinanderzusetzen sucht, sichtigung weiterer, aktueller Parteitypen, zudem fo- und zwar deswegen, weil es lehrreich und mit weitrei- kussiert auf die später zu untersuchenden Teilaspek- chender Recherche auf die Bedingungen und Einfluss- te von Parteien, fehlt weitgehend. Lediglich eine Ta- faktoren verweist, welche die Koalitionsrealität der belle am Ende des Kapitels deutet einen Vergleich Grünen bestimmen. Dies macht das Buch zu einem re- der nunmehr drei Modelle an. Dies ist bedauerlich, levanten Titel für die Parteien- und Koalitionsfor- da gerade der Modellvergleich die Gelegenheit gege- schung bundesrepublikanischer Gegenwartspolitik. ben hätte, klare Thesen für die empirische Analyse zu entwickeln. Allerdings, dies ist positiv herauszu- Dr. des. Christoph Sebastian Widdau stellen, werden die drei Modelle systematisch auf vier übliche, gleichwohl nicht theoretisch abgeleitete Dimensionen geprüft (Bedeutung von Mitgliedern; Vielhaber, Barbara: Mitgliederpartei oder Profes- Handeln von Mandatsträgern/innen; Kräfteverhältnis sionalisierte Wählerpartei, Springer VS, Wiesbaden innerhalb der Organisation; Bedeutung der Parteien 2015, 233 S., ISBN 978-3-658-08127-0, € 59,99. im politischen System). Auf diesen konzeptionellen In ihrer Dissertation „Mitgliederpartei oder Profes- Teil folgt eine breitere Betrachtung der parteilichen sionalisierte Wählerpartei“ greift Barbara Vielhaber Selbstverständnisse von SPD und CDU, die Gegen- die Party-Change-Debatte auf, rückt die Mandatsträ- stand der späteren empirischen Untersuchung sind.

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Überraschend ist dabei, dass im Gegensatz zum ten Leser dennoch einen zumindest partiellen Ein- Nordrhein-Westfalen-Fokus der empirischen Unter- blick in das Spannungsverhältnis berufspolitischer suchung in diesem Kapitel nur die Bundesparteien, Mandatsträger/innen vs. ehrenamtliche Parteibasis nicht jedoch die eigentlich interessierende Landes- bietet, wobei viele in der Literatur diskutierte An- ebene thematisiert wird. Nach der zusammengeführ- nahmen und Befunde bestätigt werden. ten, mit Blick auf die breite Parteienliteratur erwart- Dr. Sebastian Bukow baren Erkenntnis, dass die deutschen Parteien allen Problemen zum Trotz weiterhin um Mitglieder wer- ben (S. 156), steht im letzten Viertel des Buches die eigentliche empirische Forschungsarbeit an. Dabei handelt es sich um die Auswertung einer telefoni- schen Befragung von Landtags- und Bundestagsab- geordneten sowie von Mitgliedern des Europäischen Parlaments von SPD und CDU aus Nordrhein-West- falen. Positiv fällt die Entscheidung für eine Tele- fonbefragung auf, da nur so sichergestellt werden kann, dass tatsächlich die Mandatsträger/innen (und nicht die Mitarbeiter) die Fragen beantworten. Die Fall- bzw. Ebenenauswahl wird allerdings nur zum Teil begründet und führt zu der schwierigen Situati- on, dass einerseits nur Abgeordnete eines Bundes- landes, andererseits aber aller drei Parlamentsebenen (EP, BT, LT) befragt werden. Dies ist zumindest für die europäische Ebene höchst problematisch, da die geringe Zahl an Befragten (realisiert wurden vier Be- fragungen von MdEPs) eigentlich keine Untersu- chung zulässt – gleichwohl wird diese Gruppe im empirischen Teil bisweilen separat ausgewiesen. Das Ziel einer „belastbaren […] Datenbasis“ (S. 13) kann so nicht erreicht werden, und auch die Genera- lisierbarkeit der Ergebnisse ist fraglich. Verlässli- cher ist die Datenbasis für die beiden verbleibenden Parlamentsebenen, wenngleich die Entscheidung, Abgeordnete aller drei Ebenen von nur einem Bun- desland zu befragen, letztlich nicht überzeugt. Dies gilt auch für den empirischen Teil der Untersuchung selbst. So macht sich der Mangel an (Hypo-)Thesen bemerkbar, vor allem aber, und dies ist die größte Schwäche, verbleibt die Analyse im Deskriptiven. Dargestellt werden ausschließlich Häufigkeitsvertei- lungen, weitergehende analytische Verfahren finden keine Anwendung. Dazu kommt, dass die Auswer- tungen unterschiedlich vorgenommen werden: Die Verteilungen werden entweder gar nicht oder aber nach Parlamentsebene, Mandatsart oder Partei diffe- renziert. Hier wären detaillierte, multivariate Analy- sen hilfreich. In der vorliegenden Form verschenkt die Autorin leichtfertig einen empirischen Erkennt- nisgewinn, den die eigentlich vielversprechende und solide erhobene Datengrundlage bietet. Alles in al- lem ist festzuhalten, dass die Arbeit zwar viele kon- zeptionelle und empirische Schwächen aufweist, sie aber der interessierten Leserin bzw. dem interessier-

167 Rechtsprechungsübersicht MIP 2016 22. Jhrg.

Rechtsprechungsübersicht

1. Grundlagen zum Parteienrecht BVerfG, Beschluss vom 02.12.2015 – 2 BvB 1/13, online veröffentlicht bei juris (Durchführung der Ver- handlung im NPD-Verbotsverfahren). BVerfG, Beschluss vom 19.03.2015 – 2 BvB 1/13, online veröffentlicht bei juris (Zur Abschaltung nachrich- tendienstlicher Quellen in der Führungsebene im Rahmen des NPD-Verbotsverfahrens). BVerfG, Beschluss vom 07.11.2015 – 2 BvQ 39/15, in: EuGRZ 2015, 699-700 (Entfernung einer Pressemit- teilung aus dem Internetauftritt eines Bundesministeriums). BVerfG, Beschluss vom 29.08.2015 – 1 BvQ 32/15, in: NVwZ 2016, S. 244-245 (Aufhebung des Versamm- lungsverbots in Heidenau aufgrund einer Folgenabwägung im Eilverfahren). VerfGH des Saarlandes, Beschluss vom 08.01.2015 – Lv 2/14, online veröffentlicht bei juris (Unzulässige Verfassungsbeschwerde gerichtet auf die Unterlassung der Forderung eines Parteiverbots der NPD durch eine Presseerklärung der Oberbürgermeisterin von Saarbrücken). Bayerischer VerwGH, Urteil vom 22.10.2015 – 10 B 15.1609, online veröffentlicht bei juris (Bezeichnung einer Partei als verfassungsfeindliche Bewegung in der Rede des Innenministers zur Vorstellung eines Ver- fassungsschutzberichts). Bayerischer VerwGH, Urteil vom 22.10.2015 – 10 B 15.1320, online veröffentlicht bei juris (Berichterstat- tung über Landesverband einer Partei im Verfassungsschutzbericht). Bayerischer VerwGH, Beschluss vom 02.03.2015 – 10 CS 15.471, online veröffentlicht bei juris (Einstweili- ger Rechtsschutz gegen die Verlegung des Ortes für eine Versammlung einer politischen Partei). OVG Bautzen, Beschluss v. 28.08.2015 – 3 B 276/15, online veröffentlicht unter http://tlmd.in/u/1618 (Teil- weise Aufhebung des Versammlungsverbots in Heidenau im Eilverfahren). OVG Bremen, Beschluss vom 28.10.2015 – 1 LA 267/14, online veröffentlicht bei juris (Widerruf der Waf- fenbesitzkarte und Einziehung der Waffe eines NPD-Kreisvorsitzenden). OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 12.08.2015 – 6 B 733/15, in: NWVBl. 2015, 467-470 (Nichtzu- lassung des stellvertretenden Landesvorsitzenden der Partei „Die Rechte“ zum juristischen Vorbereitungs- dienst). OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 25.03.2015 – 15 B 358/15, online veröffentlicht bei juris (Kein Verbot einer Versammlung der rechtsextremen Partei „Die Rechte“). OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 25.03.2015 – 15 B 359/15, online veröffentlicht bei juris (Kein Verbot einer Versammlung der rechtsextremen Partei „Die Rechte“). OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 12.01.2015 – 15 B 45/15, online veröffentlicht bei juris (Vorläu- figer Rechtsschutz gegen Gegenversammlungsaufruf und „Beleuchtungsboykott“ eines Oberbürgermeisters). OLG Jena, Urteil vom 22.04.2015 – 2 U 738/14, in: ZUM-RD 2015, 670-673 (Unterlassungsansprüche be- treffend die Wiedergabe zweier Lieder der Band „Höhner“ bei Wahlkampfveranstaltungen der NPD). OLG Jena, Urteil vom 18.03.2015 – 2 U 674/14, online veröffentlicht unter http://tlmd.in/u/1548 (Unterlas- sungsanspruch betreffend die Wiedergabe des Liedes „Atemlos durch die Nacht“ bei Wahlkampfveranstal- tungen der NPD). LG Trier, Urteil vom 05.08.2015 – 5 O 68/15, online veröffentlicht bei BeckRS 2015, 14663 (Zum An- spruch eines Bürgers auf Aufnahme in eine politische Partei). VG Ansbach, Urteil vom 11.03.2015 – AN 11 K 14.00127, online veröffentlicht bei juris (Entlassung eines Soldaten auf Zeit wegen arglistig verschwiegener früherer Mitgliedschaft in der NPD).

168 MIP 2016 22. Jhrg. Rechtsprechungsübersicht

VG Dresden, Beschluss v. 28.08.2015 – 6 L 815/15, online veröffentlicht unter http://tlmd.in/u/1614 (Aufhe- bung des Versammlungsverbots in Heidenau im Eilverfahren). VG Düsseldorf, Urteil vom 28.08.2015 – 1 K 1369/15, online veröffentlicht bei juris (Unzulässigkeit der Klage gegen Gegenversammlungsaufruf und „Beleuchtungsboykott“ eines Oberbürgermeisters). VG Düsseldorf, Beschluss vom 09.01.2015 – 1 L 54/15, online veröffentlicht bei juris (Vorläufiger Rechts- schutz gegen Gegenversammlungsaufruf und „Beleuchtungsboykott“ eines Oberbürgermeisters). VG Gelsenkirchen, Beschluss vom 17.03.2015 – 14 L 543/15, online veröffentlicht bei juris (Kein Verbot einer Versammlung der rechtsextremen Partei „Die Rechte“). VG Gelsenkirchen, Beschluss vom 17.03.2015 – 14 L 474/15, online veröffentlicht bei juris (Kein Verbot einer Versammlung der rechtsextremen Partei „Die Rechte“). VG Minden, Beschluss vom 12.06.2015 – 4 L 441/15, in: NWVBl 2015, 315-319 (Nichtzulassung des stell- vertretenden Landesvorsitzenden der Partei „Die Rechte“ zum juristischen Vorbereitungsdienst). VG Minden, Urteil vom 22.02.2016 – 4 K 1153/15, online veröffentlicht bei juris (Nichtzulassung des stell- vertretenden Landesvorsitzenden der Partei „Die Rechte“ zum juristischen Vorbereitungsdienst). VG München, Beschluss vom 02.03.2015 – M 7 S 15.786, online veröffentlicht bei juris (Einstweiliger Rechtsschutz gegen die Verlegung des Ortes für eine Versammlung einer politischen Partei). VG München, Beschluss vom 19.01.2015 – M 7 E 15.136, in: K&R 2015, S. 285-286 (Unterlassungsan- spruch wegen Aufrufes eines Oberbürgermeisters zur Teilnahme an einer Gegendemonstration). VG München, Urteil vom 17.10.2014 – M 22 K 13.2076, online veröffentlicht bei juris (Bezeichnung einer Partei als verfassungsfeindliche Bewegung in der Rede des Innenministers zur Vorstellung eines Verfas- sungsschutzberichts). VG München, Urteil vom 16.10.2014 – M 22 K 14.1743, online veröffentlicht bei juris (Berichterstattung über Landesverband einer Partei im Verfassungsschutzbericht). ArbG Düsseldorf, Urteil vom 31.08.2015 – 6 Ca 751/15, online veröffentlicht bei juris (Kündigung einer Sachbearbeiterin durch Partei-Kreisverband bei Streit um das Vorliegen eines gemeinsamen Betriebs und ei- nes Zwischenzeugnisses).

2. Chancengleichheit BVerfG, Beschluss vom 27.11.2015 – 2 BvQ 43/15, online veröffentlicht bei juris (Kein Kontrahierungs- zwang privatrechtlicher Presseorgane bzgl. des Abdrucks von Zeitungsanzeigen einer politischen Partei selbst bei regionaler Monopolstellung). StGH Baden-Württemberg, Urteil vom 23.03.2015 – 1 VB 56/14, online veröffentlicht bei juris (Verfas- sungsbeschwerde: Überlassung einer Stadthalle an die NPD). StGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 30.10.2014 – 1 VB 56/14, online veröffentlicht bei juris (Einst- weilige Anordnung: Überlassung einer Stadthalle an die NPD). OLG Jena, Beschluss vom 26.11.2015 – 2 W 578/15, nicht veröffentlicht (Kein Kontrahierungszwang pri- vatrechtlicher Presseorgane bzgl. des Abdrucks von Zeitungsanzeigen einer politischen Partei selbst bei re- gionaler Monopolstellung ). LG Erfurt, Beschluss vom 19.11.2015 – 3 O 1379/15, nicht veröffentlicht (Kein Kontrahierungszwang pri- vatrechtlicher Presseorgane bzgl. des Abdrucks von Zeitungsanzeigen einer politischen Partei selbst bei re- gionaler Monopolstellung). VG Hannover, Urteil vom 13.05.2015 – 1 A 6549/13, online veröffentlicht bei juris (Rechtsweg für Streitig- keiten einer Partei über die Eröffnung eines Sparkassengirokontos).

169 Rechtsprechungsübersicht MIP 2016 22. Jhrg.

3. Parteienfinanzierung BVerfG, Beschluss vom 15.07.2015 – 2 BvE 4/12, in: NVwZ 2015, 1361-1368 (Bewilligung von Haushalts- mitteln für Bundestagsfraktionen, persönliche Mitarbeiter der Bundestagsabgeordneten sowie zugunsten par- teinaher Stiftungen im Bundeshaushalt 2012). OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 22.04.2015 – OVG N 6.14, OVG 3 L 38.15, online veröffentlicht bei juris (Keine drittschützende Wirkung des § 20b Abs. 1 PartG DDR). OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 17.12.2014 – OVG 3 B 16.13, online veröffentlicht bei juris (Rück- nahme von Bewilligungsbescheiden über die Gewährung staatlicher Parteienfinanzierung und sanktionsbe- freiende Selbstanzeige). FG Thüringen, Urteil vom 23.04.2015 – 1 K 743/12, in: EFG 2015, 1473-1476 (Umsatzsteuer und Körper- schaftssteuer für das von einer Partei mit politischen Reden in den Pausen veranstaltete Rockkonzert).

4. Parteien und Parlamentsrecht BVerfG, Urteil vom 22.09.2015 – 2 BvE 1/11, in: NVwZ 2015, 1751-1755 (Grundsatz der Spiegelbildlich- keit von Parlament und Ausschüssen gilt nicht für Arbeitsgruppen des Vermittlungsausschusses). BGH, Urteil vom 11.12.2014 – 3 StR 265/14, NJW 2015, S. 1618-1624 (Strafbarkeit gesetzeswidriger Fi- nanzierung eines Landtagswahlkampfes durch Fraktionsmittel in Rheinland-Pfalz). VG Gelsenkirchen, Beschluss vom 10.12.2015 – 15 L 2106/15, nicht veröffentlicht (Nichtanerkennung der Ratsmitglieder der Parteien NPD und „Die Rechte“ im Dortmunder Stadtrat als Gruppe). VG Regensburg, Urteil vom 14.01.2015 – RN 3 K 14.1045, online veröffentlicht bei juris (Spiegelbildlich- keit bei der Besetzung von Ausschüssen und Aufsichtsräten in kommunalen Gremien). VG Stuttgart, Urteil vom 03.07.2015 – 7 K 806/14, online veröffentlicht bei juris (Zur Rechtsstellung des Betroffenen im Untersuchungsausschussverfahren).

5. Wahlrecht BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 01.04.2015 – 2 BvR 3058/14, online veröffentlicht bei juris (Zur Aus- gestaltung des passiven Wahlrechts für Ämter innerhalb einer politischen Partei, insbesondere zur Zulässig- keit von Quotenregelungen). BVerwG, Urteil vom 21.01.2015 – 10 C 11/14, in: JA 2015, S. 558-560 (Ausschluss eines Mitglieds aus dem Gemeinderat wegen strafrechtlicher Verurteilung). Hamburgisches VerfG, Urteil vom 20.10.2015 – HVerfG 4/15, online veröffentlicht bei juris (Verfassungs- mäßigkeit einer landesverfassungsrechtlichen Drei-Prozent-Klausel für die Wahl zu den Bezirksversamm- lungen). VerfGH Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 30.10.2015 – VGH B 14/15, in: DVBl 2016, S. 52-57 (Beachtung des Grundsatzes der Wahlchancengleichheit bei der Einteilung von Wahlkreisen). VerfGH Thüringen, Beschluss vom 09.07.2015 – 9 /15, in: KommJur 2015, S. 374-378 (Verfassungswidrig- keit einer wahlrechtlichen Regelung wegen unterschiedlicher Kriterien für im Landtag vertretene Parteien und für nicht im Landtag vertretene Parteien). VG Greifswald, Urteil vom 17.02.2015 – 2 A 1226/14, online veröffentlicht bei juris (Anfechtung einer Bürgschaftswahl). VG Meiningen, Urteil vom 03.03.2015 – 2 K 515/14 Me, online veröffentlicht bei juris (Zur Rechtmäßigkeit der „Scheinkandidatur“ eines Amtsträgers bei einer Kreistagswahl). VG Trier, Urteil vom 20.01.2015 – 1 K 1591/14.TR, in: LKRZ 2015, S. 208-209 (Antrag auf Ungültigkeits- erklärung einer Stadtratswahl wegen Verletzung der Neutralitätspflicht von Amtsträgern).

170 MIP 2016 22. Jhrg. Literaturübersicht

Neuerscheinungen zu Parteienrecht und Parteienforschung Dieser Literaturüberblick schließt an die in Heft 21 der „Mitteilungen des Instituts für Deutsches und Interna- tionales Parteienrecht und Parteienforschung“, S. 206 ff., aufgeführte Übersicht an. Auch hier handelt es sich um eine Auswahlbibliographie, die keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben will. Im Wesentlichen wurden Publikationen des Jahres 2015 berücksichtigt. Entsprechend der Konzeption kann und soll im Rahmen der reinen Übersicht keine inhaltliche Auseinandersetzung mit den jeweiligen Publikationen geleistet werden. Afonso, Alexandre: Choosing whom to betray: populist right-wing parties, welfare state reforms and the trade-off between office and votes, in: European Political Science Review, Vol. 7 (2015), pp. 271-292. Alban, Werner: Was ist, was will, wie wirkt die AfD?, Neuer ISP Verlag, Köln u.a. 2015. Alemann, Ulrich von/Morlok, Martin/Roßner Sebastian (Hrsg.): Politische Parteien in Frankreich und Deutschland, Nomos, Baden-Baden 2015. Alexy, Robert: Grundrechte, Demokratie und Repräsentation, in: Der Staat 2015, S. 201-212. Alter, Maximilian J.: Die historische Auslegung des Parteiverbots und das NSDAP-Urteil von 1923, in: JZ 2015, S. 297-300. Andersen, Uwe (Hrsg.): Parteien in Deutschland – Krise oder Wandel? (eBook), Wochenschau Verlag, Schwalbach am Taunus 2015. Anwen, Elias/Szöcsik, Edina/Zuber, Christina Isabel: Position, selective emphasis and framing: How parties deal with a second dimension in competition, in: Party Politics, Vol. 21 (2015), pp. 839-850. Arnim, Hans Herbert von: Entscheidungen des Parlaments in eigener Sache: Das Problem ihrer gerichtlichen Kontrolle, in: DÖV 2015, S. 537-546. Arzheimer, Kai: The AfD: Finally a Successful Right-Wing Populist Eurosceptic Party for Germany?, in: West European Politics, Vol. 39 (2015), pp. 535-556. Backhaus, Ralph: Die Überhangmandate vor dem Bundesverfassungsgericht. Eine rechtshistorische Betrach- tung, in: Gornig, Gilbert H./Stompfe, Philipp (Hrsg.), Rechtspolitische Entwicklungen im nationalen und in- ternationalen Kontext, Festschrift für Friedrich Bohl zum 70. Geburtstag, Berlin 2015, S. 259-280. Barczak, Tristan: Die parteipolitische Äußerungsbefugnis von Amtsträgern. Eine Gratwanderung zwischen Neutralitätsgebot und politischem Wettbewerb, in: NVwZ 2015, S. 1014-1020. Bargon, Vinzent Fabian: Tendenzunternehmen „zweiter Klasse“? Anwendungsbereich und Intensität des Tendenzschutzes am Beispiel parteinaher Stiftungen, Nomos, Baden-Baden 2015. Bassi, Anna: Voting systems and strategic manipulation: An experimental study, in: Journal of Theoretical Politics, Vol. 27 (2015), pp. 58-85. Bebnowski, David: Die Alternative für Deutschland: Aufstieg und gesellschaftliche Repräsentanz einer rech- ten populistischen Partei, Springer VS, Wiesbaden 2015. Becher, Phillip/Begass, Christian/Kraft, Joseg: Der Aufstand des Abendlandes: AfD, PEGIDA & Co.: vom Salon auf die Straße, PapyRossa Verlag, Köln 2015. Berbuir, Nicole/Lewandowsky, Marcel/Siri, Jasmin: The AfD and its Sympathisers: Finally a Right-Wing Populist Movement in Germany?, in: German Politics, Vol. 24 (2015), pp. 154-178. Berge, Benjamin von dem: Im Osten was Neues. Die Osterweiterung der Europarteien und ihr Einfluss auf mittel- und osteuropäische Partnerparteien, Nomos, Baden-Baden 2015. Bertram, Alice: Zur Verfassungsmäßigkeit der Sperrklauseln im Europawahlrecht, auch in vergleichender Betrachtung zum Bundeswahlrecht, in: AL 2015, S. 159-166. Best, Volker: Koalitionssignale bei Landtagswahlen, Nomos, Baden-Baden 2015.

171 Literaturübersicht MIP 2016 22. Jhrg.

Beutel, Hannes: Die Scheinkandidatur bei der Wahl von Kommunalorganen: eine probate Strategie im Zwie- licht von Wahlrecht und Wählertäuschung, in: ThürVBl. 2015, S. 105-110. Beutel, Hannes: Scheinkandidaturen im Parteien-Poker – Gravierender Transparenzverlust bei der Wahl von Kommunalorganen, in: PUBLICUS 2015, S. 4-6. Bevern, Simona: Party communication in routine times of politics: issue dynamics, party competition, agenda- setting, and representation in Germany, Springer VS, Wiesbaden 2015. Blumenstiel, Jan Eric/Plischke, Thomas: Changing motivations, time of the voting decision, and short-term volatility – The dynamics of voter heterogeneity, in: Electoral Studies, Vol. 37 (2015), pp. 28-40. Brand, Franziska: Europapolitische Kommunikation zwischen Bundestag und Bundesregierung: die Umset- zung der parlamentarischen Mitwirkungs- und exekutiven Kooperationspflicht nach Art. 23 Abs. 2 und 3 GG, Duncker & Humblot, Berlin 2015. Brandt, Peter/Haratsch, Andreas/Schmidt, Hans-Rüdiger (Hrsg.): Verfassung – Parteien – Unionsgrundord- nung: Gedenksymposion für Dimitris Th. Tsatsos, Berliner Wissenschafts-Verlag, Berlin 2015. Büchner, Hermann: Stimmvergabe und Stimmenauswertung bei unechter Mehrheitswahl, in: KommP BY, S. 42-44. Bukow, Sebastian/Jun, Uwe/Niedermayer, Oskar (Hrsg.): Parteien in Staat und Gesellschaft. Zum Verhältnis von Parteienstaat und Parteiendemokratie, Springer VS, Wiesbaden 2016. Bukow, Sebastian: Das innerparteiliche Kampagnenmanagement im Bundestagswahlkampf 2013: Angebotsba- sierte Steuerung als Antwort auf die parteiliche Stratarchie, in: Korte, Karl-Rudolf (Hrsg.), Die Bundestags- wahl 2013. Analysen der Wahl-, Parteien-, Kommunikations- und Regierungsforschung, Springer VS, Wies- baden 2015, S. 243-267. Bull, Hans Peter: Neue Volksinitiativen zur Verfassungsreform in Hamburg. Eine kritische Stellungnahme zu den Vorschlägen von „Mehr Demokratie e.V.“, in: NordÖR 2015, S. 151-157. Bunge, Felix: Fragerecht von Abgeordneten zur Beteiligung an Willensbildung und Entscheidungsfindung. Anmerkung zu VerfGH Berlin, B. v. 18.02.2015 – VerfGH 92/14, in: LKV 2015, S. 162-163. Butzer, Hermann: Im Streit: Die Äußerungsbefugnisse des Bundespräsidenten, (zugl. Anmerkung zu BVerfG, U. v. 16.12.2014 – 2 BvE 2/14), in: ZG 2015, S. 97-127. Crome, Erhard: AfD. Eine Alternative?, Spotless, Berlin 2015. Dalton, Russell J./McAllister, Ian: Random Walk or Planned Excursion? Continuity and Change in the Left- Right Positions of Political Parties, in: Comparative Political Studies, Vol. 48 (2015), pp. 759-787. D'Antonio, Oliver: Zwischen Rathaus, Milieu und Netzwerk: über die lokale Verankerung politischer Parteien, Springer VS, Wiesbaden 2015. Danzer, Stephan: Unvereinbarkeit von Amt und Mandat. Ist der Ausschluss noch bestimmt und vorherseh- bar?, in: KommP Wahlen, S. 52-58. Davis, Belinda: A Brief Cosmogeny of the West German Green Party, in: German Politics and Scoiety, Vol. 33 (2015), pp. 53-65. Decker, Frank/Henningsen, Bernd/Jakobsen, Kjetil (Hrsg.): Rechtspopulismus und Rechtsextremismus in Europa. Die Herausforderung der Zivilgesellschaft durch alte Ideologien und neue Medien, Nomos, Baden- Baden 2015. Decker, Frank: Parteiendemokratie im Wandel, Nomos, Baden-Baden 2015. De Petris, Andrea/Poguntke, Thomas (Hrsg.): Anti-Party Parties in Germany and Italy. Protest Movements and Parliamentary Democracy, Luiss University Press, Rom 2015. Ding, Hui: Die Demokratisierung der Parteiführerauswahl, Springer VS, Wiesbaden 2015.

172 MIP 2016 22. Jhrg. Literaturübersicht

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173 Literaturübersicht MIP 2016 22. Jhrg.

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180 MIP 2016 22. Jhrg. Vortragstätigkeiten und Veröffentlichungen der Institutsmitarbeiter

Vortragstätigkeiten und Veröffentlichungen der Institutsmitarbeiter Angaben zu den wissenschaftlichen Publikationen sowie den Vorträgen der Mitarbeiterinnen und Mitarbei- ter des PRuF auf den Gebieten des Parteienrechts und der Parteienforschung finden sich auf den Internetsei- ten des PRuF (www.pruf.de).

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