Das Bernbiet ehemals und heute : wer kennt Zollikofen wirklich?

Objekttyp: Group

Zeitschrift: Historischer Kalender, oder, Der hinkende Bot

Band (Jahr): 286 (2013)

PDF erstellt am: 08.10.2021

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Wer kennt Zollikofen wirklich?

DAS BERNBIET EHEMALS UND HEUTE

Soll ich wohl dieses Porträt von Zollikofen mit Aber ich muss relativieren. der Schlagzeile beginnen, die ein Journalist Diese Aussage machte ich neulich in einem vierstündigen Interview über mit Blick auf das Jahr 1947, mich als Dorfchronisten in seiner Zeitung zur als ich jeweils übers Wochenende Überschrift gewählt hat? «Ich fand Zollikofen von ins Seeland fuhr und am Sonntag- absolut scheusslich!» Liebe Leserin, lieber abend spät mit dem Velo nach Bern zurück- Leser, es mag sein, dass ihr beim Befahren der kehrte, wo ich als Gymeler im Bürgerlichen Bernstrasse einen ähnlichen Eindruck habt. Waisenhaus wohnte. Nie hätte ich mir damals träumen lassen, später je in diesem Dorf beruf- Flugaufnahme des Autors aus einem Linienflugzeug der lieh tätig zu sein - sozusagen lebenslang, aber Swissair 1985. Bloss fünf Quadratkilometer Fläche umfasst und zufrieden mit meiner die weiss gestrichelte Gemeindegrenze mit ihrem höchsten glücklich zusammen Punkt von 594 m (*) ganz rechts im Meielenwald und dem Familie. Zollikofen ist ein spannender Ort mit tiefsten Punkt (*) von 480 m an der Aare. einer vielfältigen, interessanten Geschichte.

68 Aus der Vorzeit Fund wurde um 1830 bei Drainagearbeiten im Moorgrund des Moosackers nördlich der Rütti Kaum zu glauben, aber wahr! Vor über 15 000 in der Tiefe von sechs Fuss gemacht. Es han- Jahren lag das Siedlungsgebiet unseres Dorfes delte sich um zwei bronzene Rapiere, «Riesen- unter einem Eispanzer mit einer Mächtigkeit nadeln» mit spitz zulaufender Klinge und ge- von über 300 Metern - es war die letzte Eis- rilltem Knauf, die beinahe ein Pfund wiegen zeit, die das ganze Mittelland bedeckte. Im und an die 85 cm lang sind. Waren es Opfer- Raum Zollikofen vereinigten sich der gewaltige niederlegungen oder Grabbeilagen? Wir wissen Eisstrom des Rhonegletschers aus dem Wallis es nicht. Sie befinden sich heute im Histo- und der Aaregletscher aus dem Berner Ober- rischen Museum in Bern. land. - Woher wir das wissen? - Die bis zu Weitere Funde wurden 1905 bei Funda- mehreren Tonnen schweren Felsbrocken, die mentgrabungen für die Kaffeerösterei an der bei Aushubarbeiten in Zollikofen zum Vor- Bernstrasse gemacht. Arbeiter stiessen 80 cm schein kamen, sind die stummen Zeugen, die unter der Erdoberfläche auf Skelette mit sehr es den Geologen möglich machen, die Herkunft schönen Grabbeilagen aus dem 3. Jh. v.Chr. dieser Findlinge - Steine, die auf dem Glet- scherrücken hierher transportiert wurden - zu bestimmen. Bald nach dem Abschmelzen der Die Kelten- und Römerzeit Gletscher vor etwa 10 000 Jahren am Ende der Eiszeit eroberte ganz allmählich die Pflanzen- Etwa hundert Jahre vor Beginn unserer Zeit- weit die Schotterebenen und die Moränen, die rechnung baute ein Keltenstamm der Helvetier die Gletscher als weitere Zeugen zurückgelas- auf der gut geschützten Aareflussschlaufe, der sen hatten. Mit der Vegetation entstand für die Engehalbinsel, ein Oppidum (Festungsanlage) Tierwelt ein neuer Lebensraum. Weite Wälder mit Siedlung. Ums Jahr 15 v.Chr. erfolgte der dehnten sich aus und wurden zum Jagdgebiet Einmarsch der Römer, die hier ein Strassen- der Steinzeitmenschen. dorf, ein Vicus, mit Wohn- und Geschäftshäu- sern, Gewerbebetrieben und einem Bad ein- richteten. Aus dieser Zeit gab es auf unserer Erste Spuren der Besiedlung Seite der Aare nur spärliche Funde. In der Schlossmatte, wo früher die Bezeichnung «am Der älteste archäologische Fund auf unserem Römerweg» gebräuchlich war, stiess man 1810 Gemeindegebiet führt uns zurück in die Über- auf einen Abschnitt eines gepflasterten Weges, gangszeit von der Mittel- zur Spätbronzezeit, der von Bremgarten Richtung Steinibach zur also um fast 3300 Jahre, ins 13. Jh. v.Chr. Der Römerbrücke angelegt war. Gleichzeitig fand man viele sehr gut gearbeitete Hufeisen von kleinen Pferden oder Maultieren. Die mittelal- terliche, später in ein Barockschloss verwan- delte Burg Reichenbach wurde möglicherweise auf dem Fundament eines römischen Flusskas- teils gebaut. Ob auf dem Gemeindegebiet rö- mische Gutshöfe angelegt waren, etwa auf dem Büelikofen oder beim Tannengut, wissen wir nicht. Unmittelbar nördlich der Einmündung des Steinibaches in die Aare wurden im Frühjahr 1966 bei Fundierungsarbeiten für den Zulei- tungskanal zur ARA Worblaufen in der Nähe Grabfund aus dem 3Jh.v.Chr.: Armringe aus Glas dieses gallo-römischen Aareüberganges rö-

69 Die Alemannen

Im 7. Jh. erfolgte die friedliche Infiltration (Einwanderung) eines in Süddeutschland behei- mateten Alemannen- Stammes ins schweize- rische Mittelland und damit in unseren Sied- lungsraum. Die Bauten der Kelten und Römer auf der Engehalbinsel waren längst zerfallen und von der Natur zu- rückerobert worden. Die Alemannen rodeten an günstiger Lage auf dem Unten am Steinibachwäldchen, bei der Einmündung des Plateau nördlich der Aareschlaufe den Wald und Steinibachs in die Aare, befand sich eine Brücke, welche legten ihre Felder rings um ihre Höfe an. Da die römische Siedlung auf der Engehalbinsel mit dem rech- ten Aareufer verband. schriftliche Dokumente aus jener Zeit fehlen, Noch im 18.Jh. war am linken Aareufer ein Brückenkopf müssen wir uns auf die Leitnamen der ersten festzustellen, und um 1770 wurden eichene, am untern alemannischen Siedlerwelle abstützen. Die En- Ende angebrannte Brückenpfähle aus der Aare gezogen, düngen -mgen, -iko/en, -igho/en bei den Ortsna- die quer durch den Fluss bis zum gegenüberliegenden Brü- deuten auf durch ckenkopf eingeschlagen waren. Im Engewald ist der Zu- men damalige Hofgründungen fahrtsweg vom Hochplateau herunter heute noch erkenn- diese Alemannen hin. Eine Deutung des Na- bar. Die Brückenköpfe sind verschwunden. Skizze des Au- mens Zollikofen besagt, dass sich hier der Ale- tors manne Zollo mit seiner Sippe niederliess; viel- leicht hiess er auch Chollo, denn alte mische Keramikscherben und ein gut erhaltener Schreibweisen in Urkunden waren: Cholinkove, Tontrinkbecher, 7,5 cm hoch und mit einem Mün- Cholinkova oder gar Hollincoven. Zollikofen dungsdurchmesser von 9 cm, gefunden. wird gedeutet als «Höfe der Ingen (Nachkom- An gleicher Stelle waren im vorletzten Jahr- men) des Zollo». Eines können wir mit Be- hundert Graburnen mit römischen Münzen aufge- stimmtheit sagen: Unsere Mundart, das Bern- funden worden, z.B. ein As des Kaisers Trajan deutsche, ist ein alemannischer Dialekt. aus der Zeit um 100 n. Chr. Unten am Steinibachwäldchen, bei der Ein- mündung des Steinibaches in die Aare, befand Der Landstuhl - das Landgericht sich eine Brücke, welche die römische Siedlung Zollikofen mit dem rechten Aareufer verband. Noch im 18. Jh. war am linken Aareufer ein Brückenkopf Es steht nicht mit Sicherheit fest, ob am höchs- festzustellen, und um 1770 wurden eichene, am ten Punkt der Schützenstrasse, der alten untern Ende angebrannte Brückenpfähle aus der Dorfstrasse von Zollikofen vor dem Bau der Aare gezogen, die quer durch den Fluss bis zum Bernstrasse, in grauer Vorzeit schon eine alte gegenüberliegenden Brückenkopf eingeschlagen Kultstätte bestand; ob unter einer «heiligen waren. Im Engewald ist der Zufahrtsweg vom Eiche» keltische Druiden lehrten und richteten. Hochplateau herunter heute noch erkennbar. Die Gesichert ist dank den Funden aus dem dritten Brückenköpfe sind verschwunden. vorchristlichen Jahrhundert einzig, dass hier

70 Im Jahre 1406 bot sich dem Stadtstaat Bern die günstige Gelegenheit, seine Macht und den Einflussbereich auf Klein-Burgund auszuwei- ten. Die Berner kauften den in Geldnöten ste- ckenden Grafen das Landgrafenamt mit den Rechten des Hohen Gerichtes der Landgerichte Zollikofen und ab. Dazu kamen auf der linken Seite der Aare die beiden Land- gerichte Seftigen und Sternenberg. Die vier In- neren Vogteien, wie sie genannt wurden, im Umkreis von fünf bis sechs Stunden um die Stadt Bern herum, bildeten den Kern des später so viel grösser gewordenen Kantons Bern.

In unserem Raum finden wir die vier folgenden Örtlich- keiten: Büelikofen, Rychingen (Landgarben), Zollikofen und Altikofen (Worblaufen)

Kelten siedelten. Nach der Völkerwanderung, als die Germanenstämme der Alemannen und 15. Jahrhundert: Landstuhl mit dem Landgericht Zollikofen Burgunder in der Gegend der Aare Nachbarn nach der Vorlage der «Berner Chronik» des Diebold Schil- wurden, war auf dem Landstuhl Zollikofen ling von 1483 (Gouache des Autors) eine Ding- oder Thingstätte, also ein Ver- sammlungs- und Gerichtsplatz. Hier Hess sich, wie vorher erwähnt, die Sippe des Zollo nieder. Das Wappen von Zollikofen Urkundlich belegt ist, dass an dieser Stätte unter der Linde das Hohe Gericht tagte, als die Entgegen seiner späteren Gewohnheit Hess Grafen von Kyburg-Habsburg Herren über die Bern die neu erworbenen Gebiete nicht durch Grafschaft Klein-Burgund wurden, das Gebiet Landvögte verwalten, sondern unterstellte sie zwischen Emme, Bucheggberg und dem rech- den vier Stadtvennern, die ursprünglich die ten Ufer der Aare. Gerichtet wurde über Mord, Steuereinzieher, Waffeninspektoren und Ban- Totschlag und Mordbrand; Notzucht, Diebstahl nerträger der Stadt waren. Im Rate nahmen sie und andere «Meinthäten, Frevel oder Bos- nach dem Schultheissen die erste Stelle ein. heiten, die den Leib rührten». Der Galgen, die Dem Landgericht Zollikofen standen die Ven- Hinrichtungsstätte, lag ganz in der Nähe, hin- ner der Gerberzünfte zu Obergerwern und Mit- ter der alten Post zwischen Bernstrasse und tellöwen vor. Deren Wappenlöwen mit ihren Schützenstrasse. Gerbermessern wurden neben dem Landge-

71 richtswappen mit den neun Buchsblättern für das Gemeindewappen übernommen. Die Bedeutung des Landstuhls Zollikofen wird auf der ersten detaillierten Karte des Standes Bern aus dem Jahre 1578 besonders augenfällig dargestellt. Obschon der kleine Weiler Zollikofen damals bloss aus sieben Le- henhöfen bestand, ist der Name ZOLLICKHO- FEN an der Stelle, wo der Landstuhl liegt, in Grossbuchstaben markant gedruckt. Der Land- stuhl selber, mit Linde und Umzäunung, ist deshalb etwas weiter nördlich, nahe beim Jo- hanniterkloster Buchsi (Münchenbuchsee), ein- gezeichnet worden. Die Karte ist entgegen heutigen Gepflogen- heiten südorientiert und zeigt erstaunlich viele Einzelheiten: die Stadt Bern in der Aareschlau- fe, mit dem Münster und den Türmen vom Zyt- glogge bis hin zum Christoffelturm und der Stadtmauer gegen die ungeschützte Westseite hin.

Die Herrschaft Reichenbach

Erst aus dem 14. Jh. liegen uns ausführlichere, urkundlich festgehaltene Einzelheiten über die Entwicklungsgeschichte unseres heutigen Ge- meindegebietes vor, mit der Begründung der Twingherrschaft Reichenbach durch Rudolf

Oben: Dramatische Darstellung der Ermordung Rudolfs von Erlach auf seiner Burg Reichenbach in der Chronik von Diebold Schilling. Der Text über dem Bild lautet: «Das der from tür Ritter Herr Rudolf von Erlach in sinem eignen Hus ermuret wäret.» In Wirklichkeit starb der Held von 1360 in hohem Alter eines natürlichen Todes.

Mitte: Das «feste Hus», die mauerumwehrte trutzige Burg in Reichenbach aus der von Erlachschen Zeit, wie sie vom bernischen Burgenmaler Albrecht Kauw im Jahre 1669 ge- zeichnet worden ist. Am Horizont das Schlösschen Büeli- kofen.

Unten: Eingebettet in eine eindrucksvolle Landschaftskulis- se liegt das zwischen 1683 und 1688 gebaute Schloss des Hochbarocks mit seiner Gartenterrasse im französischen Stil und den drei Springbrunnen. Jenseits des Reichen- baches (Chräbsbach) liegt die Orangerie.

(Gouachen des Autors)

72 von Erlach, den Sieger der Laupenschlacht, der Vom Dorf zur Stadt in jungen Jahren von seinem Grossvater ein grosses Gut in Zollikofen geschenkt erhielt. Eigentlich sollte Zollikofen den Namen «Rei- Durch Erbschaft und Käufe wurde das Besitz- chenbach» tragen, denn das Gemeindegebiet tum erweitert und erreichte annähernd den mit etwas mehr als fünf Quadratkilometern Umfang des heutigen Gemeindegebietes von umfasst die ganze ehemalige Herrschaft Rei- fünf Quadratkilometern. Rudolf Hess sich in chenbach. Ein zusammenhängendes Dorf exi- Reichenbach ein «festes Haus» erbauen, das stierte nicht. Da waren Reichenbach mit dem uns in einer Ansicht des bernischen Burgenma- Schloss und den Mühlen, das Tannengut, die lers Albrecht Kauw aus dem Jahre 1669 über- erste Ziegelei und einige Gewerbebetriebe, liefert ist. Im Besitz der Familien von Erlach heute Unterzollikofen genannt. Der Weiler blieb die Herrschaft bis zum Jahr 1530. In den Zollikofen bestand aus sieben Lehenshöfen folgenden Jahrzehnten wechselten die Herr- beim Landstuhl, der dem Landgericht seinen schaftsfamilien oft durch Erbschaften oder Namen gab. Verstreut lagen kleine Weiler und Verkäufe. Einzelhöfe: Rütti, Büelikofen, Graben, Wald- eck, Geisshubel, Hubel, Weid, Aegelsee, Land- garben, Schweizerhubel... Ein eigentliches Beat Fischer - Begründer des Dorf mit einem historischen Dorfkern mit Kir- bernischen Postwesens che, Gasthof und Schule gab es nie - bis auf den heutigen Tag fehlt ein eigentliches Dorf- Im Jahre 1683 erwarb der Landvogt Beat Fi- Zentrum. scher Aeichenbach. Er wurde später Beat Fi- Entscheidend für die Entwicklung des scher von Wyler und von Reichenbach tituliert Dorfes in den letzten 150 Jahren, das vorher und wegen seiner Verdienste um die Förderung buchstäblich im Abseits lag, waren einerseits des Brief- und Geldverkehrs zwischen dem der Bau der Tiefenaubrücke und der Tannen- Deutschen Reiche und den spanischen Ländern Strasse (heutige Bernstrasse) in den Jahren durch Kaiser Leopold I. in den erblichen 1848-50, anderseits jener der Centraibahn mit Reichsritterstand erhoben. In der Schweiz war den Linien von Bern nach Zürich und Biel er der Begründer der Fischerschen Post, d.h. des schweizerischen Postwesens. Beat Fischer Hess die wenig komfortable von-Erlachsche Burg abbrechen und durch einen barocken Bau mit französischer die Gartenanlage ersetzen, WETTBEWERB uns eine Ansicht des Malers Nikiaus Schiel aus dem Jahre 1781 zeigt. Im Gebäude rechts an Blasinstrumente der heute Restaurant Aare, der Orangerie, Posaune Schloss Reichenbach, wurden die in Kübeln gepflanzten Orangen- und Zitronenbäumchen überwintert, die während des Sommers auf den Die Posaune gehört zu den Gartenterrassen standen. Eine Fähre gewähr- ältesten voll chromatisch leistete die kürzeste Verbindung zur Stadt Bern spielbaren Orchesterinstru- über die Engehalbinsel; denn damals bestanden menten. Sie gehört zur einzig zwei mit Kutschen oder Fuhrwerken be- Trompetenfamilie, unterscheidet NA Stadt: fahrbare Brücken über die Aare in die sich jedoch durch den Zug, der sich die und Untertorbrücke (kleine Nydeggbrücke) in sechs Stufen ausziehen lässt. die Neubrügg bei Bremgarten, erbaut 1466.

S/e/;e Wetflbewerbsfragen auf Se/fe 99

73 (1857-68). Vergeblich bemühten sich die Ge- ten Zuges. 17 wurden getötet, 23 schwer und 30 meindebehörden um die Erstellung des Bahn- leicht verletzt. hofs vollumfänglich auf ihrem Gemeindegebiet. Entlang dieser neuen Verkehrsachsen entwi- Er wurde grösstenteils auf das Gemeindegebiet ekelte sich ein Strassendorf von Worblaufen bis Münchenbuchsee gelegt, kurz vor der Abzwei- zum Bahnhof. Ein Initiativkomitee für den Bau gung nach Biel auf der Scheitelhöhe 575 m ü.M., einer Strassenbahn Bern-Zollikofen gelangte dem höchsten Punkt der alten Bahnverbindung 1905 erstmals an den Gemeinderat. Es dauerte Bern—Zürich. Das Manövrieren, das Schieben eine gute Weile bis zur Eröffnung der BZB-Li- von Wagen, erfolgte damals noch mit Mannes- nie am 13. Juli 1912. Vom Bahnhof Zollikofen kraft; es wäre in der leichten Steigung von der führte die Linie über die Bernstrasse und die Rtitti her nicht möglich gewesen. Tiefenaustrasse ursprünglich bis zum alten Zwei dramatische Unglücke ereigneten sich Tierspital und ab 1917 als SZB (Solothurn- auf den neuen Verkehrswegen. Beim Bau der Zollikofen-Bern-Bahn) über die Stadttram- Tiefenaubrücke stürzte am 18. Juni 1847 das geleise bis auf den Bahnhofplatz. 1974 erfolgte Lehrgerüst ein, was den Tod von zwölf Arbei- die unterirdische Einführung in den Bahnhof tern zur Folge hatte. Am 17. August 1891 geriet Bern. Die Bahn war zwischen Worblaufen und Zollikofen in die Schlagzeilen: Zum 700-Jahr- Unterzollikofen schon vorher auf ein Eigentras- Jubiläum der Gründung der Stadt Bern reisten see verlegt worden, wo sie seither endet. Hunderttausende von nah und fern zu Fuss, zu Es war im August 1961, als der damalige Pferd, auf Bernerwägeli und per Eisenbahn in Gemeindepräsident Dr. Hans Hofer, Direktor die Feststadt. Um halb acht Uhr morgens fuhr der Molkereischule, die Prognose stellte: «Im der Pariser Expresszug auf der Linie Biel-Bern Jahr 1970 wird Zollikofen eine Stadt sein mit kurz vor der Station Zollikofen mit aller Wucht 10 000 Einwohnern!» Die Bautätigkeit hatte in einen auf die Weiterfahrt wartenden Extra- ein ausserordentliches Mass erreicht, ein zug auf. Die Lokomotive des Pariser Express- Quartier nach dem andern wurde buchstäblich zuges zertrümmerte die beiden letzten Wagen aus dem Boden «gestampft». 1971 erreichte des mit Festteilnehmern aus dem Jura besetz- die Bevölkerung den Höchststand von 9246 Einwohnern. Erstaunlicherweise stagnierte diese Zahl - ja, fiel sogar zurück trotz anhal- Die Centraibahn mit Dampflokomotivbetrieb fährt um tender Bautätigkeit. Neubauquartiere überal- 1910 vor der Landwirtschaftlichen Schule Rütti durch. terten, die Jungen zogen aus und das Bedürf-

74 nis nach mehr Wohnraum trug das Seine dazu Name macht deutlich, dass auch Lebensmittel- bei. Beinahe 40 Jahre sollte es dauern, bis im technologie und Forstwirtschaft Teile der Hoch- Jahre 2010 der 10 000. Einwohner gefeiert wer- schule sind. den konnte. Die Bezeichnung «Rütti» (von renfen rot/e«) Das Ortsbild hat sich durch die neuesten geht auf die Rodung des früheren Allmend- Wohnüberbauungen in der Lüftere, der Kläy- waldes zurück. matte und der Häberlimatte stetig verändert. Philipp von Fellenberg war der eigentliche Gewachsen sind die Industriestandorte Ost ent- Begründer des planmässigen landwirtschaft- lang der Bahnlinie und im Westen im Raum liehen Fachunterrichtes in der Schweiz. Seine Aegelsee-Hirzenfeld. Pläne, auf der Rütti eine Ackerbauschule zu er- Zollikofen ist zu einer attraktiven Agglome- öffnen, wurden kurz nach seinem Tod im Jahre rationsgemeinde an ausgezeichneter Verkehrs- 1844 von seinem Sohn Wilhelm umgesetzt. Er läge geworden; aber die intensive Bautätigkeit eröffnete 1845 eine private Ackerbauschule. Sie der letzten Jahre hat gezwungenermassen dazu fand aber nicht das erwartete Interesse und das geführt, dass die Baulandreserven geschwun- Land der Rütti wurde wieder zusammen mit den sind und Einzonungen mehr und mehr auf dem Hofwilgut bewirtschaftet. Die Oekono- den Widerstand der Bevölkerung stossen, die mische Gesellschaft machte 1854 eine Eingabe die letzten Grünzonen erhalten will. In weiser an den Grossen Rat und forderte die Einrichtung Voraussicht sind der baulichen Entwicklung einer landwirtschaftlichen Schule. Dieser durch Schutzzonen Grenzen gesetzt worden. stimmte zu. Es entstand die staatliche Acker- 1 bauschule mit theoretischem und praktischem Unterricht für angehende Landwirte. 1860 über- Zentrum landwirtschaftlicher Schulen nahm der Staat Bern das Rüttigut samt dem von Philipp von Fellenberg erbauten Wohn- und Das klassische «Trio» der landwirtschaftlichen Lehrgebäude und der grossen Scheune. 1868 Schulen von Zollikofen hat sich total gewan- delt. Die evangelische-reformierte Kirche an der Wahlacker- Die Landwirtschaftliche Schule Rütti und Strasse kurz nach ihrer Einweihung 1939 die Molkereischule sind zum Inforama geworden. Höhenflüge hat das eins- tige Landwirtschaftliche Technikum mit der Beför- derung zur Hochschule für Landwirtschaft erfahren. Ab 2012 änderte sich nicht nur der Name nochmals, sondern auch die Träger- schaft. Die Institution nennt sich neu «Hochschu- le für Agrar-, Forst- und Lebensmittelwissenschaft - HFL». Neuer Träger ist der Kanton Bern. Er tritt an die Stelle des Konkor- dates, dem alle Kantone und Liechtenstein ange- schlössen waren. Der neue

75 10000 Die Kirchen von Zollikofen ify 9000 / 8000 // Bis zum Bettag 1939 gab es in unserer Gemein- 7000 / de keine einzige Kirche. Heute aber finden sich 6000 neben der evangelisch-reformierten die römisch- 5000 / katholische Kirche St. Franziskus (1959) und 4000 / die neuapostolische Kirche an der - 3000 / Strasse (1999). Der Mormonentempel aber mit / 2000 seinem weitherum gleissenden goldenen Engel

1000 Moroni auf der Spitze, an erhabenem Standort in der Nähe des Bahnhofs Zollikofen, wird zwar _i —»M M M Zollikofen steht auf dem CO CO CO to COOO O zugeschrieben, jedoch Ol Oî -J 00 COOO —» O O O O OIOOIO Gemeindegebiet von Münchenbuchsee. Während mehr als 600 Jahren gehörte Zolli- Bevölkerungsentwicklung in Zollikofen kofen zur Kirchgemeinde Bremgarten. Die Ein- wohner brachten ihre Kinder zur Taufe nach Bremgarten, besuchten dort den Gottesdienst, und die Verstorbenen wurden auf dem Friedhof wurde an der Schule erstmals ein Käserkurs bei der Kirche bestattet. Erst 1898 beschloss durchgeführt. Das Bernervolk lehnte 1886 die der Kirchgemeinderat Bremgarten-Zollikofen Errichtung einer selbstständigen Molkereischu- auf Anregung des neuen Pfarrers Johann Her- le ab. Sieben weitere Jahre dauerte es, bis die mann Ott, an ein bis zwei Sonntagen im Monat Molkereischule Rütti unter eigener Direktion er- im Zollikofner Türmlischulhaus Nachmittags- öffnet werden konnte. Auf den 1. Januar 2001 und Abendgottesdienste abzuhalten. Im ersten wurde die Molkereischule zum Milch- und Le- Stock wurde ein Predigtlokal mit einer vier Re- bensmittelzentrum Rütti (MLZ) und in den fol- gister aufweisenden Orgel eingerichtet. Mit genden Jahren wurden beide Institutionen ge- einer Jahresbesoldung von 20 Franken wurde schlössen. Oberlehrer Gottfried Spychiger als Organist angestellt. 1932 schenkte die alteingesessene Familie Häberli der Kirchgemeinde einen ansehnlichen Betrag als «Fonds für eine neue Kirche Zolli- kofen». Ein Jahr später gelang es dem Gemein- WETTBEWERB derat von Zollikofen, zwischen der Wahlacker- Blasinstrumente Strasse und dem Buchrain einen grösseren Trompete Landkomplex käuflich zu erwerben, der sich sowohl für einen eigenen Friedhof als auch für einen Kirchenbau sehr gut eignete. 1939 kam werden in der Regel Trompeten ein Vertrag mit Bremgarten über die Ausschei- aus folgenden Materialien dung des Kirchengutes zustande. Der Grosse hergestellt: Messing und Gold- Rat des Kantons Bern genehmigte das regie- messing (je unterschiedliche rungsrätliche «Dekret über die Aufhebung der Legierungen aus Kupfer und bisherigen Kirchgemeinde Bremgarten-Zolli- Zink), Neusilber (Legierung aus kofen» in der Sitzung vom 3. Oktober 1939. Kupfer, Zink und Nickel) und Bronze. Damit war Zollikofen als selbstständige Kirch- gemeinde anerkannt. Das Bauprojekt des Architekten Albert Wyt- 5/e/ie Wettbewerbslagen auf Se/te 99 tenbach aus Zollikofen mit einem Kostenvoran-

76 Büelikofen mit den Berner Alpen (Foto des Autors)

schlag von Fr. 187 000 — wurde zur Ausfüh- Am 12. Mai 2012 wurde der neue Land- rung bestimmt. Bund und Kanton sicherten schaftsweg Zollikofen festlich eröffnet, der Subventionen von Fr. 67 000 - zu. zum spannenden Erlebnis wird mit all seinen Die feierliche Einweihung am Bettag 1939, vielen Hinweistafeln. Vom Buchrainwald bei die unter Anteilnahme der ganzen Bevölkerung der reformierten Kirche hinunter ins Chräbs- stattfand, wurde durch den Ausbruch des Zwei- bachtäli, zum Schloss Reichenbach, der Aare ten Weltkrieges überschattet. entlang zum Steinibach, wo einstmals die Rö- merbrücke über die Aare führte, hinauf gegen die Rütti, wo wir eine weitere bekannte land- Epilog wirtschaftliche Schule kennenlernen, die ehe- malige Schweizerische Geflügelzuchtschule, Glücklicherweise ist Zollikofen keineswegs ein die 2002 in «Aviforum» umbenannt worden ist «scheussliches» Dorf. Man mag es mühsam und sich als Kompetenzzentrum der Schweizer und langweilig finden beim Befahren der Bern- Geflügelwirtschaft neu ausrichtete. Strasse im Stau bei Stossverkehr. Wer sich aber Ein Besuch in Zollikofen lohnt sich alleweil. die Mühe nimmt, einmal zu Fuss auf Entde- ckungswanderung zu gehen, wird staunen ob der Vielfalt und der verborgenen Schönheit unten an der Aare, im Graben, auf dem Büeli- kofen oder auf der Rütti mit dem grandiosen Ausblick auf die Voralpen und die Berner AI- penkette.

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