Abschieds-Interview mit dem israelischen Botschafter Aviv

Shir-On UÊMauthausen, eine neue Gedenkstätte UÊDavid Rubingers Lebensgeschichte UÊ Oliver Rathkolb über die Fehler der Vergangenheit UÊÊDie Abtreibungsfrage in Israel

Ausgabe Nr. 52 (2/2013) Tamus 5773 € 4,50 www.nunu.at

Wandern, Wiese, Weltmusik. Timna Brauer NU begleitet die Chansonnière auf ihrem liebsten Spaziergang. Ihr Inserat in der Feiertagsausgabe von NU

Wir reservieren für Ihre Grüße und Glückwünsche zu Rosch Haschana auch heuer wieder einige Seiten in der nächsten Ausgabe unseres Magazins NU.

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Riess-Interview?

Ja, klar doch! FOTO ©: RIGAUD VON PETER MENASSE

Das Interview unseres Kollegen Martin Engelberg mit Susanne überdenken, wenn derart klare Worte von einer kommen, die es Riess im Heft 51 hat Lob und Kritik hervorgerufen. Im wissen muss. Mittelpunkt stand die Frage: Darf eine ehemalige Politikerin der extremen Rechten in NU vorkommen, ja sogar am Cover Es war nach allen Regeln des Journalismus richtig, das Interview abgebildet sein? zu führen, zu drucken und prominent zu platzieren. Die Frau war bereit, über ihre früheren Freunde zu reden, sie sollte ihre Chance Ein berechtigter Einwand lautete, dass wir die Rolle der früheren haben. Bestätigt wurden wir dadurch, dass die deutlichen Politikerin nicht ausführlich dargestellt hätten. Das sei hier in Aussagen von Susanne Riess in großen österreichischen Medien wenigen Sätzen nachgetragen. Susanne Riess war ab 1996 zitiert wurden und das Interview damit eine über die NU- geschäftsführende Bundespartei-Obfrau der FPÖ und damit Leserschaft hinausgehende Öffentlichkeit erhielt. Jörg Haiders Statthalterin. Ab dem Jahr 2000 bis Anfang 2003 fungierte sie als Vizekanzlerin in der Regierung Schüssel. Wir hätten sie weißgewaschen, meinten einige Leserinnen Riess hat in ihren Funktionen alles mitgetragen, verteidigt und Leser. Nein, sage ich, wir haben sie nur reden lassen. und gestützt, was ihr Mentor Haider an Scheußlichkeiten Das Resultat zeigt in aller Klarheit eine larmoyante, sich selbst von sich gegeben hat. Fremdenfeindlichkeit, Angriffe auf den gegenüber vollkommen unkritische Person. Präsidenten der Israelitischen Kultusgemeinde, Niedermachen von politischen Gegnern, sie hat sich nie distanziert, sondern Der Schriftsteller Peter Turrini hat uns dazu geschrieben: hieß das alles gut. Nach dem Putsch von Knittelfeld verließ sie „... ihre politischen Aussagen geben die österreichische die Partei und ging in die Privatwirtschaft ab. Den damaligen Katastrophe der Verharmlosung wider, die eine generelle ist. Zustand unseres Landes charakterisiert, dass man ihr zum Sie weist sehr wehleidig darauf hin, dass die positiven Tendenzen Abschied das „Große Goldene Ehrenzeichen am Bande für innerhalb der FPÖ auf wenig Gegenliebe gestoßen seien, aber Verdienste um die Republik Österreich“ umgehängt hat. sie denkt keinen Moment darüber nach, was verschiedenste Aussagen der FPÖ (auch in ihrer Verantwortung und Ära) Jetzt also ein Interview mit NU. Sie sagt darin, und das erstmals für viele Menschen bedeutet haben.“ Und weiter: „Wer den seit ihrem Ausscheiden aus der Politik, dass Jörg Haider österreichischen Charakter, der mit den Folgen seines Tuns unberechenbar war, dass er seine ideologischen Positionen nichts zu tun haben will, studieren will, der muss dieses immer nach denen gerichtet hat, denen er gerade gegenüber Interview lesen.“ saß, dass er sich der extremen Rechten und sie sich seiner bedient hat. Sie spricht über die heutige FPÖ als eine Partei, Die Distanzierung der Susanne Riess erfolgte erst rund zehn in der nach Knittelfeld „sie plötzlich auferstanden sind aus Jahre nach ihrem Ausscheiden aus der Politik und ist wohl irgendwelchen dumpfen Ecken“. Sie nennt sie ablehnend eine weniger einem Prozess der Einsicht gedankt, als vielmehr dem „Rechtsaußen-, rechtsextreme oder rechtsradikale Partei“. Wissen, dass es für eine Topmanagerin nicht opportun ist, in der braunen Sandkiste bei den Schmuddelkindern mitzuspielen. Gut, unsere Leserinnen und Leser, wie alle politisch wachen Ein Wort der Entschuldigung bei jenen, die in ihrer Zeit Menschen, wussten das immer schon und haben es nie anders als Führungsmitglied der FPÖ verhöhnt, geängstigt und gesehen. Aber wir werden in den Kreisen, denen Riess so lange gedemütigt wurden, hat sie nicht gefunden. in prominenter Position angehört hat, so gar nicht gehört. Was wir wissen, wissen sie noch lange nicht. Jetzt spricht die „Königskobra“ des Jörg Haider erstmals Klartext, und das wird P.S. Peter Huemer, der den Abdruck des Interviews kritisiert hat, auch in rechten Kreisen vernommen. Vielleicht wird sogar der wurde von uns eingeladen, einen Kommentar dazu zu schreiben eine oder andere ÖVP-Politiker seine Koalitionspräferenzen (siehe Seite 53).

2·2013 nu 3 MEMOS

WIR FREUEN UNS Österreicher wieder erklingen zu dass im heurigen Frühjahr gleich zwei lassen, und so wurde die Tournee zu Autoren von NU, Helene Maimann und Leopoldis 125. Geburtstag „nach- Georg Markus, das Österreichische geholt“. Sein Sohn Ronald Leopoldi Ehrenkreuz für Wissenschaft und Kunst eröffnete den Abend gemeinsam mit erhalten haben. 1. Klasse wohlge- dem Wiener Kulturstadtrat Andreas merkt. Wir gratulieren herzlich. Jetzt Mailath-Pokorny. stellt sich die Frage: Wer von uns ist als Nächster dran? UNS EMPÖREN Floridsdorf“. Weinberger gestaltet das Justizministerium und die wie in einem Erinnerungsmosaik Staatsanwaltschaft Wien, die eine aus eigener Erfahrung, aus den FPÖ-Karikatur mit antisemitischen Briefen seiner Mutter sowie ihres Klischees als „nicht verhetzend“ Cousins aus Los Angeles und spä- qualifiziert haben. Sonja Ablinger, ter gefundenen Briefen des Vaters Abgeordnete der SPÖ, wollte wissen, eine Familiengeschichte voll rüh- warum die Staatsanwaltschaft Wien render Bilder und Emotionen. die Anzeige gegen H.C. Strache we- Diese Zeitdokumente sagen viel gen des Vorwurfs der Verhetzung

aus über Lebensumstände, Glaube durch eine antisemitische Karikatur FOTO ©: EPA ©: FOTO und Identität, alltägliche Sorgen eingestellt hat und stellte eine par- UNS GEFÄLLT und Glück, aber auch über die lamentarische Anfrage. Die Antwort dass dort, wo in den vergangenen Schuldgefühle seiner Mutter und von Justizministerin Beatrix Karl Jahren die Burschenschafter aufmar- ihre Motive, nach dem Holocaust machte Ablinger „baff“, lautete sie schiert sind, österreichische Soldaten doch leben zu wollen. (Peter doch: Durch die Karikatur sei „nicht zum Gedenken an die Opfer des Weinberger, Wohlgeordnete Einsamkeit, gegen die Gesamtheit der jüdischen Faschismus Wache gehalten haben. Österreichisches Literaturforum) Bevölkerung gehetzt“, sondern es Auf Erlass von Verteidigungsminister sei „Kritik an der Bundesregierung Gerald Klug, der selbst vor der Krypta und dem beschlossenen am Heldentor erschien, wurde am 8. UNS FREUT Eurorettungsschirm geübt“ worden! Mai ab 7 Uhr früh eine Mahnwache ab- dass in Tel Aviv zum ersten Mal Ob die Ministerin „die gesamte jü- gehalten. Für „einschlägige Gruppen“, die „Österreichischen Kulturtage“ dische Bevölkerung“ dazu befragt hat, die diesen Tag zur Niederlage um- stattgefunden haben. Seit 1955 bezweifeln wir. zudeuten versuchten, sei „nun kein plante Hermann Leopoldi, der be- Platz mehr, schon gar nicht am rühmteste Vertreter des jüdisch- Heldenplatz“, sagte der Minister. wienerischen Musikkabaretts, eine UNS SCHMEICHELT Auch in Zukunft soll das Bundesheer Israel-Tournee. Doch er starb, ohne das Motto der diesjährigen als Institution der Republik der Opfer den Plan realisieren zu können. Judith Jubiläumsspiele Schnitzler im Thalhof. des Faschismus gedenken. Gleichzeitig Weinmann-Stern, der Initiatorin und Exakt unter dem Titel Sehnsucht, fand am Wiener Heldenplatz erstmals Veranstalterin der Kulturtage, war Begehren und Sommerfrische, den wir ein sogenanntes „Fest der Freude“ es ein Anliegen, diese Musik für die für unseren Beitrag anlässlich des 150. zum Gedenken an das Ende des geflüchteten und vertriebenen Exil- Geburtstags Arthur Schnitzlers in der 2. Weltkriegs statt. NU-Ausgabe Nr. 49 gewählt hatten, finden im Juli und August zum 15. Mal die traditionellen Aufführungen statt. UNS BEEINDRUCKT Im stimmungsvollen Ambiente des Reichenauer Thalhofs inszeniert dies- Peter Weinbergers Buch Wohlgeordnete mal Helga David Schnitzlers Komtesse Einsamkeit. Darin erzählt er seine Mizzi und Leutnant Gustl.

Kindheit „in einem menschen- ÖCKER

leeren Teil des Wiener Außenbezirks FOTO ©: L ©: FOTO

4 nu 2·2013 INHALT/EDITORIAL

Liebe Leserin, lieber Leser,

an einem Sonntag in April konnten wir unseren Jerusalem-Korrespondenten Johannes Gerloff in Wien begrüßen. Bei dieser Gelegen- heit erzählte er interessante Geschichten über David Rubinger. Ein Porträt dieses gebür- tigen Wieners, der einer der bekanntesten israelischen Fotojournalisten ist, bringen wir in dieser Ausgabe. Motive aus Jerusalem zeigen auch noch andere Fotos, die Sie sicher begeistern werden. Sie stammen vom Star-Fotografen Peter Rigaud, der uns das Privileg eingeräumt hat, Bilder von

FOTO ©: JACQUELINE GODANY FOTO ©: HANS HOCHSTÖGER seiner jüngsten Israel-Reise abzudrucken. AVIV SHIR-ON OLIVER RATHKOLB Unserem Redakteur Rainer Nowak, ganz ne- SEITE 6 SEITE 28 benbei auch Chefredakteur der Presse, gratulie- ren wir an dieser Stelle herzlich zur Verleihung des Kurt-Vorhofer-Preises. Die Jury würdigte insbesondere „das hohe Maß stilistischer Bril- lanz“ seiner Texte und verwies auch auf sein Engagement in jüdischen Themen. Für NU hat Leitartikel Peter Menasse 3 Viele Musiker und Komponisten er sich diesmal für die Serie „Unterwegs mit“ wurden vom Naziregime verfolgt, auf einen unterhaltsamen Spaziergang mit der AKTUELL außergewöhnlichen Sängerin Timna Brauer vertrieben oder ermordet 32 begeben. Der israelische Botschafter Aviv SERIE JÜDISCHE MUSEEN Wie immer bringen wir ausführliche Interviews Shir-On spricht über seine mit interessanten Menschen. Diesmal haben Erfahrungen in Österreich 6 Das Jüdische Museum Danielle Spera und Peter Menasse mit dem von Satu Mare 36 scheidenden israelischen Botschafter Aviv Shir- On gesprochen. Der zweite Gesprächspartner Kein anderer Ort steht so sehr für den in diesem Heft ist der Zeithistoriker Oliver SCHACH österreichischen Umgang mit der Rathkolb. Emanuel Lasker: Geschichte wie Mauthausen 10 In unserer Serie über jüdische Museen erzählt Der große Spieler 39 Eva Konzett über eines, das noch gar nicht In Griechenland fordert die neonazis- aufgesperrt hat. Der Bericht darüber ist einge- KULTUR packt in eine faszinierende Reportage über die tische Organisation Goldene Morgen- rumänische Stadt Satu Mare und ihre jüdische Die Braginsky Collection – eine dämmerung ein „sauberes Land“ 13 Gemeinde. bemerkenswerte Privatsammlung Und jetzt – zurück zum Anfang. Am angespro- COVER jüdischer Handschriften 41 chenen Sonntag im April dankten wir Erwin Javor, dem Gründer und langjährigen Heraus- Rainer Nowak traf Timna Brauer „Fresh Paint“ präsentierte sich geber von NU. Er hat das Magazin dreizehn bei einem Spaziergang auf Jahre hindurch leidenschaftlich betreut und als gelungener Mix israelischer finanziert, man kann sagen: bis zur Bar Mizwa. den Heuberg 16 Gegenwartskunst 45 Jetzt ist NU demzufolge erwachsen und geht mit den bewährten Kräften, der Freude RIGAUD Gal Weinstein zählt zu den renom- des schreibenden Teams und mit Martin Engelberg, Mitbegründer und schon bisher Motive aus Jerusalem 20 miertesten Künstlern Israels 47 Mitherausgeber von NU, als dem neuem Herausgeber in den nächsten Lebensabschnitt. SCHWERPUNKT NAHOST REZENSION Ad mea we-essrim – bis 120! David Rubinger dokumentiert mit „Die Fünf“: Elegie auf das seinen Bildern die israelische bunte Odessa des Fin de Siécle 48 Zeitgeschichte 22 STANDARDS In der Abtreibungsdiskussion in Israel Rätsel 50 kritisiert Rabbiner Benny Lau das Engelberg 51 rabbinische Establishment 26 Kohnversationen 52 In eigener Sache 53 ZEITGESCHICHTE Zeithistoriker Oliver Rathkolb über die Unsere Autoren 54 Wir wünschen Ihnen einen schönen Sommer. Fehler der Vergangenheit und was wir Dajgezzen & Chochmezzen 55 Sollte es Regentage geben, trösten Sie sich daraus lernen können 28 Impressum 56 mit der Lektüre von NU. Ida Labudovi´c Chefin vom Dienst [email protected] www.nunu.at

2·2013 nu 5 AKTUELL

Ein Israel jenseits des Konflikts

Der israelische Botschafter Aviv Shir-On beendet in diesem Jahr seine Mission in Österreich. Im NU-Interview spricht er über seine Erfahrungen in Österreich, über das Image Israels im Ausland und die Chancen auf einen dauerhaften Frieden.

VON DANIELLE SPERA UND PETER MENASSE (INTERVIEW) JACQUELINE GODANY (FOTOS)

NU: Herr Botschafter Shir-On, Sie der jüdischen Geschichte in Europa. Wie haben Sie Österreich erlebt? werden in Kürze Österreich verlas- Ich lese jetzt das Buch Der Hase mit Durchaus positiv. Dass es natürlich sen, gibt es eine Wunschdestination? den Bernsteinaugen (Edmund de Waal ab und zu Rückschläge und Enttäu- Shir-On: Es wäre schön, meine Karrie- über die Familie Ephrussi). Die Wie- schungen gibt, ist ein Teil des Lebens, re in Berlin abzuschließen, wo ich sie ner Geschichte ist sehr stark jüdisch sonst wäre alles zu schön, vielleicht als junger Diplomat begonnen habe. geprägt; deswegen sind auch die Ver- auch zu langweilig. Meine Frau und Das war damals für mich viel mehr bindungen immer noch viel stärker ich haben hier so vieles entdeckt, das als nur eine diplomatische Aufgabe. als mit anderen kleinen Ländern. wir über Österreich und Wien vor- Meine Mutter musste 1936 Deutsch- Insofern ist es für einen israelischen her nicht wussten. Wir waren über- land verlassen. Daher war es für mich Diplomaten eine besondere Aufgabe, rascht von der kulturellen Vielfalt, schon etwas Besonderes, eine für un- Israel in Österreich zu vertreten. Ich vom Leben im Allgemeinen, von den sere Familie symbolische Mission. bin glücklich, dass ich dieses Privileg Menschen auf der Straße, den Kaffee- hatte. häusern. Wir haben vieles erfahren: Ist Berlin nicht ohnehin ein interes- santer Einsatzort für israelische Di- plomaten? Selbstverständlich, Berlin ist für Isra- el aufgrund der Geschichte und der besonderen Beziehungen zu einem sehr wichtigen Posten geworden. Verstärkt wird das noch durch die Rolle Deutschlands als Wirtschafts- Powerhaus, als ein dominantes Land in Europa. Und es ist heute ein enger Verbündeter Israels.

An welcher Stelle kommt Österreich? An einer wichtigeren Stelle, als Ös- terreich derzeit international steht. Österreich ist ein kleines Land, genau „Wenn Sie Tel Aviv, Jerusalem oder meinen Geburtsort Ashkelon, der stän- wie Israel. Aber gerade für Israel oder dig Ziel von Raketen aus dem Gazastreifen ist, besuchen, werden Sie sehen, für Juden bedeutet Österreich mehr, es gibt Wirtschaft und Handel, Schulen und Kinderprojekte, es gibt Kultur. als es die Größe oder die Bevölke- Das alles hat nichts mit dem Konflikt zu tun, denn auch in Israel versuchen rungszahl sagt, gerade wegen der Ge- die Menschen ganz normal, so normal wie möglich zu leben, wie alle schichte, auch wegen der Bedeutung Menschen auf der ganzen Welt.“

6 nu 2·2013 Die Geschichte, die Landschaft, die jüdische Gemeinde, das wunderbare Essen. Wir waren auch sehr froh zu sehen, wie sich das jüdische Museum in den letzten Jahren entwickelt hat, und das sage ich nicht, weil Sie hier sitzen. Ich habe das Museum vorher gekannt und heute, da ist ein riesiger Fortschritt erzielt worden.

Wo erlebten Sie Rückschläge? Die Probleme, die wir gerade als is- raelische Diplomaten erleben, liegen nicht in den israelisch-österreichi- schen Beziehungen allein. Die gibt es auch mit anderen Ländern, auch mit unseren engsten Verbündeten, seien es die USA oder Deutschland, und insofern ist das eine übliche Aufgabe eines Diplomaten.

Darf ich gleich anschließen – vor dreieinhalb Jahren sind wir schon einmal zusammengesessen. Mit wel- chen Gefühlen sind Sie damals nach Österreich gekommen, und haben sich die bestätigt? Oder gehen Sie jetzt mit einem ganz anderen Gefühl wieder weg? Wegen der gemeinsamen schwie- rigen Geschichte sind wir mit einiger Unsicherheit nach Wien gekommen. Ich kann sagen, dass wir mit einem besseren Gefühl von hier weggehen, mit einer Zuversicht, dass die Bezie- Das war auch für mich eine erste po- themen die israelische Siedlungspoli- hungen sich in manchen Bereichen sitive Überraschung. Heute legen die tik gewählt und sie kritisiert. verbessert haben. Viele Jahre lang meisten österreichischen Politiker war die offizielle Haltung Österrei- diese geänderte Haltung an den Tag. Wie beurteilen Sie die Siedlungs- chs, dass das Land das erste Opfer politik? des Nationalsozialismus gewesen sei. Aber wenn ich jetzt beim Bundes- Die Siedlungen sind ein Problem, das Eine Woche nach meiner Ankunft präsidenten gleich einhaken darf, gebe ich auch als Israeli zu, aber zu in Wien war ich beim Bundespräsi- vor kurzem hat er Mahmoud Abbas oft und in zu vielen Ländern, auch denten eingeladen – mit ehemaligen empfangen. Österreich wird vielfach in Österreich, werden die Siedlungen jüdischen Wienern, denen die Flucht vorgeworfen, eine zu palästinenser- als das Hauptproblem im Nahen Os- vor den Nazis gelungen ist. Das erste, freundliche Haltung einzunehmen. ten gesehen. Ich versuche immer zu was Bundespräsident Heinz Fischer Wie sehen Sie das? erklären, dass es keinen Frieden vor ihnen gesagt hat, war, dass dieser Ja, hier berühren wir einen Streit- den Siedlungen gab, und wenn mor- Mythos, Österreich sei das erste Op- punkt zwischen Israel und Österrei- gen früh alle Siedlungen abgebaut fer, nicht stimme. Man solle sich die ch: die Art und Weise, wie Österreich werden würden, gäbe es trotzdem Bilder vom Heldenplatz beim An- die Dinge im Nahen Osten analysiert. keinen Frieden, denn sie sind nicht schluss anschauen, als Hitler da mit Der gleiche Bundespräsident hat der Grund für den Konflikt. seinem offenen Wagen vorfuhr, da beim letzten Neujahrsempfang für Es ist sehr einfach, einen einzelnen könne man nicht von Opfer reden. die Diplomaten als eines der Haupt- Punkt zu wählen und daraus das

2·2013 nu 7 Für Israel oder für Juden bedeutet Österreich mehr, als es die Größe oder die Bevölkerungszahl sagt, gerade wegen der Geschichte, auch wegen der Bedeutung der jüdischen Geschichte in Europa.

Hauptthema zu machen, weil die ren. Wenn alles schön, gut und ein- len Jahren Konflikt und Spannung Hintergründe kompliziert sind, oder fach ist, dann gibt es keine Story. Es das Bild Israels davon geprägt ist. weil man das Hauptproblem nicht braucht Spannung, damit man eine Die Tatsache, dass die Kultur in Israel ansprechen will. Es ist leicht zu sa- Geschichte hat. Ich glaube, Journa- wirklich floriert, findet kaum Nieder- gen: Ja wenn Israel den Siedlungsbau listen müssen versuchen, möglichst schlag. Theater, Tanz, Literatur, aber stoppt, dann ist alles Friede, Freude, ausgewogen zu berichten, um das auch die Filmindustrie erleben ein Eierkuchen. Aber das ist falsch. Hier richtige Bild zu vermitteln. Und Hoch! In den vergangenen Jahren gelten aber mildernde Umstände für wenn ein verzerrtes Bild dargestellt waren oft israelische Filme für den Österreich, denn viele in der EU se- wird, um die Spannung zu erhöhen, Auslands-Oscar nominiert. Aber die hen es so. dann sehe ich darin auch ein profes- Filme, die man gewählt hat, hatten sionelles Problem. Wir wissen, dass fast alle mit dem Konflikt zu tun. Es Der Bürgerkrieg in Syrien mit nun- Journalisten nicht ganz objektiv sein waren nicht einfach Liebesgeschich- mehr 80.000 Toten scheint hingegen können, aber sie müssen es auf je- ten oder etwas Menschliches. Immer hierzulande kein großes Thema zu den Fall versuchen. Ich erwarte zum ist alles mit dem Konflikt verbunden. sein. Beispiel nicht vom palästinensischen Das ist eines unserer Imageprobleme. Österreich ist in Sorge wegen seiner Präsidenten Mahmoud Abbas, objek- In Wien haben wir den Tel-Aviv- UNO-Truppe, 377 Soldaten auf den tiv zu sein. Er ist es nicht, und ich Beach initiiert, das ist ein großer Er- Golan-Höhen. Da die Umstände so bin es auch nicht. Wir sind Parteien folg, damit können wir zeigen, dass gefährlich wurden, ist Außenminister in einem Konflikt mit gegensätz- es in Israel auch andere Dinge gibt. Spindelegger nach Israel gereist. Ich lichen Interessen, die Medien müs- Ja, wir leben in einer Konfliktsitua- war bei den Treffen mit Premiermi- sen aber beide Positionen bringen. tion und Frieden ist das Wichtigste, nister Netanjahu und Präsident Shi- das wir brauchen, aber es gibt auch mon Peres dabei. Jetzt erst wird er- Wo steht die österreichische Medi- vieles andere mehr. kannt, dass in Syrien ein Bürgerkrieg enlandschaft, was das Verhältnis zu herrscht und daher die persönliche Israel anlangt? Lässt sich das Imageproblem lösen? Sicherheit der Soldaten nicht mehr Sie ist nicht besonders Israel-freund- Wenn Sie Tel Aviv, Jerusalem oder gewährleistet ist. Es heißt, man muss lich. Allerdings haben manche Jour- meinen Geburtsort Ashkelon, der Maßnahmen ergreifen, um den Ge- nalisten im Nachhinein zugegeben, ständig Ziel von Raketen aus dem fahren zuvorzukommen usw. Plötz- dass sie das Bild etwas verzerrt darge- Gazastreifen ist, besuchen, werden lich wird hier klar, wie gefährlich es stellt haben, wenn auch nicht immer Sie sehen, es gibt Wirtschaft und im Nahen Osten sein kann. mit Absicht. Der Konflikt im Nahen Handel, Schulen und Kinderprojekte, Die Situation, wie sie die österreichi- Osten ist äußerst kompliziert. Ich es gibt Kultur. Das alles hat nichts schen Soldaten derzeit auf den Go- vergleiche ihn immer mit der Lage mit dem Konflikt zu tun, denn auch lan-Höhen erleben, ist die Lage Is- am Balkan. Die Geschichte spielt ei- in Israel versuchen die Menschen raels seit seiner Gründung, und die ne Rolle, und ich kann nicht erwar- ganz normal, so normal wie möglich Menschen hier in Europa wollen das ten, dass jeder Österreicher sich ge- zu leben, wie alle Menschen auf der einfach nicht wahrhaben. Die Men- nau auskennt. ganzen Welt. Und was wollen Men- schen begreifen es nicht, weil sie die- Ich habe versucht, hier Kontakte mit schen? Sie wollen ein besseres Leben, sen Gefahren nicht täglich ausgesetzt den Medien zu knüpfen. Allerdings sie wollen bessere Bildung für ihre sind. Ich bin in so eine Atmosphäre war das Interesse nicht immer sehr Kinder, sie wollen Kultur, sie wollen hineingeboren, in ihr groß gewor- groß. In der Schweiz war das anders. das Leben genießen. Dass ab und zu den, musste in Kriegen kämpfen. Vor Da haben die Medien eng mit den Raketen einschlagen, ist ein Thema, kurzer Zeit sind zwei österreichische Diplomaten zusammengearbeitet. aber es ist nicht das einzige. Die Me- UNO-Soldaten in Syrien verletzt wor- Natürlich ist es klar, dass Botschafter dien und viele andere konzentrieren den. Wo, glauben Sie, hat man sie das Etikett ihrer Regierungen tragen. sich hauptsächlich darauf, und dann hingebracht? In ein israelisches Kran- Doch die israelische Regierung ist in entsteht ein verzerrtes Bild. Und das kenhaus. diesem Fall ein Faktor. habe ich hier in Wien versucht rich- tigzustellen. Wie ist es Ihnen im Umgang mit der Hat Israel Ihrer Meinung nach in Ös- Presse ergangen? terreich ein Imageproblem? Wie sieht es mit der Zweistaaten- Es liegt in der Natur der Medien, Leider nicht nur in Österreich. Wir lösung aus? Manche meinen, sie sei sich auf die Konflikte zu konzentrie- haben das Problem, dass nach so vie- nicht mehr durchführbar.

8 nu 2·2013 Die Situation, wie sie die österreichischen Soldaten derzeit auf den Golan-Höhen erleben, ist die Lage Israels seit seiner Gründung, und die Menschen hier in Europa wollen das einfach nicht wahrhaben.

Also ich glaube nicht, dass das stimmt. Es gibt manche, die von Anfang an dieser Zweistaatenlösung nicht zustimmen wollten oder nicht an sie glaubten. Das sind hauptsäch- lich jene, die an einer Koexistenz uninteressiert sind. Die einen wol- len einen jüdischen Staat auf dem gesamten Territorium. Die anderen wünschen sich einen arabischen oder palästinensischen Staat, und die Ju- den werden entweder ins Meer ge- worfen oder müssen zurück nach Europa. Ich bin jedoch überzeugt da- von, dass die Mehrheit auf beiden Seiten an einer friedlichen Lösung interessiert ist. Das kann nur in Form einer Zweistaatenlösung stattfinden. ging es auch um die Frage: Wie wer- Israel, aber auch alle anderen. Und Denn ein Staat für zwei Völker heißt, den die Lasten aufgeteilt? Zwei große deswegen ist es so wichtig, dass es dass weder die Palästinenser noch die Parteien in der neuen Koalition, das das Jüdische Museum gibt, dass es ei- Juden ihren Traum oder ihr Recht auf sind Atid und das Jüdische Haus, lie- ne gut organisierte jüdische Gemein- Selbstbestimmung erfüllen können. gen zwar in den wirtschaftlichen und de gibt, und ich glaube, dass auch Übrigens, der Staat Israel mit mehr gesellschaftlichen Fragen nah beiei- die Gesellschaft, die Regierung auf als einer Million palästinensischer nander, was aber den Frieden und dem richtigen Weg sind. Parlaments- Staatsbürger, mit seiner Demokratie die Sicherheitspolitik betrifft, gibt es präsidentin Prammer übt hier eine und pluralistischen Gesellschaft ist bedeutende Meinungsunterschiede. Vorreiterrolle aus. Dass wir Veran- ein Beweis dafür, dass diese Koexis- staltungen z. B. für die Gerechten tenz möglich ist. Abschließend wieder zu Österrei- der Völker im Parlament abhalten Bei unseren Nachbarn ist eine sol- ch, gab es für Sie hier ein Schlüssel- können, das ist genau der richtige che Koexistenz fast unmöglich. Es erlebnis? Weg, um die Vergangenheit zu be- leben kaum noch Juden in den ara- Ich war glücklich, hier auf eine leb- wältigen und gegen neuen Antisemi- bischen Staaten. Versuchen Sie in hafte, vielfältige jüdische Gemeinde tismus zu agieren. Saudi-Arabien eine Kirche oder eine zu treffen, mit einer Infrastruktur, Synagoge zu bauen – das ist eben- auf die größere und reichere Gemein- Wenige Minuten vor Druckle- falls nicht möglich. Deswegen sehen den auf der ganzen Welt neidisch gung erreicht uns die Nachricht, wir im Übrigen auch einige Probleme sein könnten. Die Tatsache, dass ich dass Österreich seine Truppen mit diesem Dialogzentrum, das die Deutsch spreche, erlaubte mir auch, vom Golan zurückzieht. Wie kom- Saudis in Wien aufbauen. In Mekka Theater und Literatur zu genießen mentieren Sie diese Maßnahme? oder Riad kann man so etwas nicht und Gespräche mit hochrangigen Diese Entscheidung bedauern wir, eröffnen. Aber das ist schon ein The- Politikern, aber auch mit den Men- auch wenn sie nachvollziehbar ist. ma für sich. schen auf der Straße zu führen. Anti- Wir wissen den österreichischen semitismus habe ich persönlich hier Beitrag für den Frieden im Nahen Was kann man von der neuen israe- kaum erfahren, bis auf manche Be- Osten zu schätzen, glauben aber, lischen Regierung erwarten? merkungen hie und da, aber das wie- dass gerade in brenzligen Situati- Die neue Regierung in Israel ist inte- derum kann überall passieren, nicht onen die Blauhelme vor Ort blei- ressant, denn sie will sich vermehrt nur in Österreich. ben sollen. Israel hat leider nicht wirtschaftlichen und sozialen The- die Möglichkeit wegzugehen, men widmen. Die Politik wird also Man braucht nicht einmal Juden dazu. wenn die Gefahr steigt. Wir müs- nicht nur von der Frage des Friedens Genau. Und ab und zu hört man sen dort bleiben und um unser beherrscht. Zum ersten Mal nach Dinge, die einen stutzig machen. Überleben kämpfen, und das tun vielen Jahren sind die Orthodoxen Das müssen wir weiterhin bekämp- wir seit 65 Jahren. nicht in der Regierung vertreten. Da fen, Juden, Nichtjuden, der Staat

2·2013 nu 9 AKTUELL

FOTO ©: FOTOARCHIV DER KZ-GEDENKSTÄTTE MAUTHAUSEN/STEPHAN MATYUS Mauthausen: Entwicklung einer Gedenkstätte

Kein anderer Ort steht so sehr für den österreichischen Umgang mit Geschichte.

VON THOMAS STERN

1945 von Amerikanern befreit, da- Aber eben nicht nur Österreich. Tau- Aufzählung der teilnehmenden Re- nach der Sowjetunion übergeben sende sind da, hauptsächlich Aus- gierungsmitglieder, und Ruhe kehrt und seit 1947 unter österreichischer länder. Traditionell viele Italiener, in ein in Mauthausen. Verwaltung, rückt Mauthausen ein- steigendem Maß Osteuropäer. Die In- mal im Jahr in den Blickpunkt des szenierung ist bemerkenswert, berüh- Seit Jahrzehnten war das so, doch öffentlichen Interesses. Jeden Mai rend sicher nicht. Die Feiern sind bei 2013 ist anders. Eine Woche vor finden die Befreiungsfeiern statt. allem Bemühen der Organisatoren den Befreiungsfeiern wurde die neue Umrahmt von Teilen des offiziellen in einem Ritual erstarrt, das keinen Ausstellung eröffnet. Noch staatstra- Österreich, trifft sich die Communi- Raum für Emotionalität zulässt. Der gender, noch mehr Regierungsmit- ty. Seit Jahrzehnten das ewig gleiche Sonntag im Mai ist vorbei, die Zei- glieder, noch mehr Staatsgäste. 500 Bild des ewig gleichen Österreich. tungen bringen in ihren Artikeln die handverlesene Teilnehmer, ein eige-

10 nu 2·2013 Vier Jahre hat es gedauert, bis alles fertig war, von der Konzeption über die wissenschaftliche Basisarbeit und die Recherche der Namen bis zum Bau und der eigentlichen Gestaltung der Ausstellung. Jetzt ist sie klar durchdacht, offen und sensibel gemacht. Und sie beschönigt nicht. nes Festzelt, Legionen internationaler terviews mit Überlebenden durch- Presseleute. Der ungarische Präsident geführt und dokumentiert. Schon GESTALTEN STATT sprach vom demokratischen Ungarn, kurz nach der Erstpräsentation 2003 VERWALTEN der österreichische vom demokrati- sollten weitere Forschungsprojekte schen Österreich, man verstand sich auf Grundlage dieser Oral-History- auf höchster Ebene. Das alles wäre Sammlung stattfinden. Mit wissen- Seit 2007 leitet die Historikerin ohne großen Erinnerungswert an den schaftlicher Arbeit, die in den näch- DDr. Barbara Glück die KZ-Ge- Besuchern vorübergegangen, wenn sten Jahren ermöglicht werden soll, denkstätte Mauthausen. nicht die letzten Überlebenden brei- richtet sich die Vermittlungsarbeit in ten Raum in dieser Feier gehabt hät- und um Mauthausen auf der Basis der NU: Was treibt die Veränderung ten. Dreißig von den immer weniger Wissenschaftlichkeit aus – der zweite der Gedenkstätte? werdenden Zeitzeugen standen im Strang der Neuorientierung. Glück: Die Veränderung des Zu- Mittelpunkt, brachten Gegenstände gangs und des Umgangs mit dem der Erinnerung. Auch das war rituali- Die Rezeption der Gedenkstätte ist Thema, nicht nur innerhalb der siert, aber schon aufgrund der Fokus- mit einem Namen besonders ver- Gedenkstätte, sondern in der ge- sierung auf das Erlebte und Überlebte knüpft: Hans Maršálek. Selbst ehe- samten Gesellschaft. Es ist eine ein anderes Signal. maliger politischer Häftling im KZ, andere Generation, die nicht er- schrieb er das für Jahrzehnte gültige lebt hat, wie das Thema in der Die Neugestaltung Standardwerk über die Geschich- Schule totgeschwiegen wurde, die te Mauthausens, gestaltete die 1970 auch nicht im Mythos von Öster- Neues Denken, das auch die Neuge- eröffnete erste Ausstellung und war reich als erstem Opfer des Faschis- staltung prägt. Zeitzeugeninterviews auch im zuständigen Innenministeri- mus erzogen wurde. Und natür- bilden auch das Rückgrat der Erinne- um für die Gedenkstätte verantwort- lich haben sich auch der Wissens- rung. 30 Videos personalisieren Ge- lich. Seine persönliche Betroffenheit stand und die didaktischen Mög- schichte und machen Vergangenheit prägte nicht nur sein Leben, sondern lichkeiten entwickelt. Begreifen erlebbar. Getragen vom Dokumen- auch die inhaltliche Positionierung und verstehen – und nicht nur tationsarchiv des österreichischen der Gedenkstätte. Die Konzentrati- lernen –, dazu braucht es diesen Widerstandes sowie dem Institut für on auf politische Häftlinge und das Ort. Konfliktforschung und geleitet von Verharren in den Denkmustern der Gerhard Botz, wurden bereits vor Nachkriegszeit beeinflusste nicht nur Was ist die Kernfunktion der Ge- über zehn Jahren mehr als 800 In- die Wahrnehmung von Mauthausen denkstätte? Mauthausen ist nicht nur Ge- Raum der Namen denkstätte, sondern auch Muse- um und Friedhof. Und es findet auch hier ein Generationenwech- sel statt; wer erzählt die Geschich- te, wenn die Zeitzeugen nicht mehr da sind? Das bedeutet für uns, deren individuelle Geschich- te zu bewahren, an dem Ort und mit dem Ort Geschichte zu erzäh- len.

Wie geht die Entwicklung weiter? Unser nächster Fokus ist das Au- ßengelände. Die Besucher gehen an den Wiesen vorbei und wissen nicht, dass damals hier das größte Massensterben stattgefunden hat. Unsere Aufgabe ist es, das zu än- dern. FOTO ©: FOTOARCHIV DER KZ-GEDENKSTÄTTE MAUTHAUSEN/STEPHAN MATYUS

2·2013 nu 11 Seit Jahrzehnten das ewig gleiche Bild des ewig gleichen Österreich. Aber eben nicht nur Österreich. Tausende sind da, hauptsächlich Ausländer. Traditionell viele Italiener, in steigendem Maß Osteuropäer. Die Inszenierung ist bemerkenswert, berührend sicher nicht. in der Öffentlichkeit, sondern do- jährlich, etwa die Hälfte sind Schü- nalsozialismus gesetzt und die Nach- minierte auch den Ort selbst. Nach lerinnen und Schüler, viele davon kriegsgeschichte thematisiert. Maršáleks Pensionierung 1976 blieb aus dem Ausland. Ein österreichi- die Ausstellung, wie auch das gesamte scher Geburtsjahrgang zählt unge- Mauthausen steht für Vernichtung Gelände, jahrzehntelang unverän- fähr 80.000 Personen, 60.000 österrei- durch Arbeit, doch wenn man das dert. Es gab zwar immer wieder An- chische Schüler besuchen pro Jahr die Gelände heute besucht, sieht man sätze für eine Neugestaltung, unzäh- Gedenkstätte. Und der Anspruch an nur blühende Landschaften. Diesem lige Diskussionen und Kommissionen die Qualität des Besuchs steigt stän- Kontrast widmet sich der zweite Teil befassten sich mit Veränderungen – dig. Seit 2009 liegt ein pädagogisches der Ausstellung. „Der Tatort Maut- doch es kam nicht dazu. Die Mauern Konzept vor, und es wird auch umge- hausen – Eine Spurensuche“ stellt das bröckelten, die Anlage verfiel. setzt. Professioneller Vermittlerpool, aktuelle Bild des Lagerareals und sei- pädagogische Materialien, Lehrerfort- nes Umfelds erstmals in den Kontext Bis 2000 plötzlich der politische Wille bildung und -beratung, Erneuerung der systematischen Verbrechen. da war, und damit auch die budge- der Führungskonzepte und nun eine tären Mittel. Schon 2003 wird das Be- neue Ausstellung. 200.000 Menschen wurden nach sucherzentrum, innerhalb des Lager- Mauthausen verschleppt, ungefähr gebiets, aber außerhalb des jetzigen Die neue Ausstellung 90.000 starben dort und in den zahl- Kernbereichs, eröffnet. Neue Infra- reichen Außenlagern. Unter den struktur mit Filmsälen, Seminarräu- Von der Errichtung des Lagers über Nazis wurden sie anonymisiert, mit men und einer provisorischen moder- die Zwangsarbeit und die Außenla- Nummern versehen und ermordet. nen Ausstellung wird geschaffen. Die ger bis zum Massenmord wird die Nun wird ihnen zumindest das Ge- alte Ausstellung rückt aus dem Fokus Geschichte des Lagers klassisch, denken an ihren Namen zurückgege- des Besuchsprogramms, dafür wird multimedial und auch anhand von ben. Im „Raum der Namen“ finden die pädagogische Begleitung zum 100 Objekten dokumentiert. 14 For- sich 81.007 Opfer in Blättersamm- Zentrum der Bemühungen. schungsprojekte unter der wissen- lungen und einer Großinstallation schaftlichen Leitung von Bertrand wieder. Seit 1949 „öffentliches Denkmal“, Perz haben dafür in den letzten Jah- wird Mauthausen über Jahrzehnte zu ren die Grundlagenarbeit geleistet. Er- Der Respekt vor den Opfern bestimmt einer der größten Bildungseinrich- gänzend wird das Lager auch in den auch die Gestaltung der Gaskammer, tungen. 200.000 Besucher kommen Kontext der Geschichte des Natio- des Hinrichtungsraums und der Kre- matorien. Früher direkt begehbar, sind sie nun zum Teil nur mehr von Der Tatort Mauthausen – eine Spurensuche außen zu besichtigen, und gerade diese Distanz verstärkt den unmittel- baren Eindruck.

Vier Jahre hat es gedauert, bis alles fertig war, von der Konzeption über die wissenschaftlichen Basisarbeit und die Recherche der Namen bis zum Bau und der eigentlichen Gestal- tung der Ausstellung. Und 1,7 Mil- lionen Euro betrug das Projektbud- get, zu dem man die internen Kosten noch addieren muss.

Diese Ausstellung ist klar durchdacht, offen und sensibel gemacht. Und die- se Ausstellung beschönigt nicht.

Eigentlich eine völlig unösterrei-

FOTO ©: FOTOARCHIV DER KZ-GEDENKSTÄTTE MAUTHAUSEN/STEPHAN MATYUS chische Entwicklung.

12 nu 2·2013 AKTUELL Griechenland: Blut, Angst und Scheinheiligkeit in Krisenzeiten

Die neonazistische Organisation Goldene Morgendämmerung (Chryssi Avgi) fordert „ein sauberes Land“, im Parlament bezeichnen sich ihre Mitglieder offen als Rassisten. Eine Analyse.

VON SALOMI BOUKALA; ÜBERSETZUNG: KITTY WEINBERGER

Im fünften Jahr der Rezession stöh- muss den Bürgern wiedergegeben werden. ter der Koalitionsregierung, Andreas nen die Griechen unter der Last der Schließlich müssen wir der allgemeinen Loverdos, und der damalige Minister größten Arbeitslosigkeit in der Euro- Vorstellung von Recht gerecht werden.“ für öffentliche Ordnung und Bürger- zone und der Beeinträchtigung ihres Frühere Reden klangen nicht anders. schutz derselben Regierung, Michalis täglichen Lebens. Migranten sind mit Er sprach von den dramatischen Fol- Chrysochoidis, in einer Pressekon- rassistischen Attacken konfrontiert, gen der Migration in Griechenland, ferenz über Anhaltelager für illegale Gewalt dominiert, und die griechische von „illegalen Migrantenghettos“ und Migranten eine militärische Meta- Politik zeigt sich nach den Ereignis- erklärte zu wiederholten Malen, dass pher: Sie sprachen von ihnen als „hy- sen in Neu Manolada, einem Dorf am er die griechischen Städte von illega- gienische Bombe“, die demnächst im Peloponnes, schockiert über die un- len Migranten befreien werde. Zentrum von Athen losgehen werde. menschliche Haltung einiger „weni- Aber Samaras war nicht allein in sei- Tatsächlich forderten die zwei Mini- ger“ griechischer Unternehmer. Grie- ner nationalistischen Front gegen die ster als Teil einer Kampagne für Not- chische Bauern eröffneten das Feuer neuen „Feinde“. Am 1. April 2012 ver- fälle und Sicherheit eine verpflich- auf eine Gruppe von 30 Erdbeerpflü- wendeten der damalige Gesundheits- tende hygienische Untersuchung für ckern aus Bangladesh, moderne Skla- minister der sozialistischen und spä- Migranten und kündigten die Einfüh- ven, die von ihren Arbeitgebern sechs ausständige Monatslöhne forderten. Feier nach Bekanntgabe der Wahlresultate in Thessaloniki Laut lokalen Medien wurden bis zu 30 Arbeiter verwundet, von denen sich manche in einem kritischen Zustand befinden. FOTO ©: STR/EPA

Sündenbock gefunden

Am 7. April 2012 betonte der dama- lige Ministerpräsident Antonis Sama- ras am Ende seiner Vorwahlkampagne eine Hauptstoßrichtung seiner politi- schen Agenda mit den Worten: „Wir werden unsere Städte und Wohngebiete wieder besetzen. Wir werden all jene, die es nötig haben, menschlich behandeln. Aber das Gesetz muss in die Städte zu- rückkehren. Das Gefühl der Sicherheit

2·2013 nu 13 Der Wahlerfolg und der steigende Zuspruch für die Goldene Morgendämmerung hat ihre Mitglieder veranlasst, ihre Neonaziprinzipien – Bewunderung für das Dritte Reich und Hitler, „Auschwitzlüge“, Nazigruß – aufzugeben und ihre Organisation in einer Reihe öffentlicher Stellungnahmen als griechisch-nationalistische, populistische Anti-System-Partei zu präsentieren. rung einer Beschwerdemöglichkeit für geben und ihre Organisation in ei- de 1985 gegründet, aber sie etablierte Bürger an, die sich durch die Anwe- ner Reihe öffentlicher Stellungnah- sich im politischen Leben des moder- senheit von Migranten in ihren Bezir- men als griechisch-nationalistische, nen Griechenland erst nach 1993, als ken, besonders im Stadtzentrum von populistische Anti-System-Partei zu sie Einfluss auf bedeutende Medien Athen, bedroht fühlen. präsentieren, die gegen die Sparmaß- gewann und auch auf ihre Leistun- Diese Erklärungen zeigen, dass die nahmen der Troika (EZB, EU, IWF) gen im Jugoslawienkrieg an der Sei- politische Führung Griechenlands und gegen die Korruption des grie- te der serbischen Nationalisten hin- den perfekten Sündenbock für die Fi- chischen politischen Systems kämpft. gewiesen wurde. Es wurde auch ihre nanzkrise und die Sparmaßnahmen Die Wahrheit ist allerdings eine ande- nachdrückliche Ablehnung der Ver- gefunden hat. Nach der ultranationa- re. Die Goldene Morgendämmerung wendung des Namens Mazedonien für listischen Rhetorik und unter Druck ist eine Neonazi-Organisation, sie hat ein anderes Land (die ehemalige jugo- des Aufstiegs der „Goldenen Morgen- Kontakte zu anderen Neonazigruppen slawische Republik Mazedonien) be- dämmerung“ (Chryssi Avgi) betrieben in Deutschland (NDP), Italien (Forza tont. Die Schwadronen der Goldenen die Minister und politischen Eliten, Nuova), Frankreich (PNFE), Russland Morgendämmerung attackierten linke die sich nie auf Einwanderungspolitik (LDPR) und anderen europäischen Studenten, und sie wurden bei ihren konzentriert hatten und die nie an Ländern. Ihre Mitglieder wurden Angriffen auf Linke und Anarchisten der Integration von Muslimen und mehrfach mit Angriffen gegen Lin- während antirassistischer/antifaschis- Flüchtlingen in die griechische Ge- ke und Homosexuelle und mit ras- tischer Demonstrationen von der Be- sellschaft interessiert gewesen waren, sistischer Gewalt in Zusammenhang reitschaftspolizei unterstützt. eine rhetorische Hexenjagd, die aber gebracht. Der Generalsekretär der den Wahlerfolg der Goldenen Mor- Partei, Nikos Michaloliakos, wurde Griechenland den Griechen gendämmerung nicht schmälerte, 1978 festgenommen und wegen sei- sondern sogar indirekt Gewalt gegen ner Mitgliedschaft in einer rechtsex- Bei den Gemeinderatswahlen 2010 Migranten rechtfertigte. Genau die tremen Gruppe und des Besitzes von wurde Nikos Michaloliakos in den Taktik der Goldenen Morgendämme- Sprengstoff zu einem Jahr Gefängnis Athener Stadtrat gewählt; die Haupt- rung und ihrer Schwadronen. verurteilt. Im Gefängnis traf er Junta- slogans seiner Kampagne lauteten Obristen (an der Macht 1967-74), und „Für ein sauberes Land“ und „Auslän- Goldene Morgendämmerung nach seiner Entlassung bekam er eine der raus aus Griechenland“. Die Par- oder der Sonnenuntergang führende Position in der EPEN (Natio- teimitglieder wurden als „Bürger- der Demokratie Athens nale Politische Union), einer anderen wehr“ gegen illegale Einwanderer, rechtsextremen Organisation. die angeblich griechische Bürger in Der Einzug der Nazisympathisanten Die Goldene Morgendämmerung wur- abgewohnten städtischen Bezirken in das griechische Parlament nach den Wahlen am 6. Mai und 17. Juni 2012 war eines der wichtigsten Ele- Mitglieder der Chryssi Avgi: „Ausländer raus aus Griechenland“ mente dieser Wahlen. Die politische Klasse und die etablierten Medien drückten Abscheu aus und behaup- teten scheinheilig, die Existenz die- ser ultranationalistischen, extremen

Gruppe zu ignorieren. Aber ein kurzer FOTO ©: REX FEATURES Rückblick auf die Aktivitäten der Gol- denen Morgendämmerung während der letzten 20 Jahre widerspricht den Behauptungen der politischen und medialen Eliten. Der Wahlerfolg und der steigende Zu- spruch für die Goldene Morgendäm- merung hat ihre Mitglieder veranlasst, ihre Neonaziprinzipien – Bewunde- rung für das Dritte Reich und Hitler, „Auschwitzlüge“, Nazigruß – aufzu-

14 nu 2·2013 FOTO ©: STR/EPA FOTO ©: REX FEATURES

Chryssi-Avgi-Parteichef Nikos Michaloliakos Mitglied der Chryssi Avgi mit Hakenkreuz-Tätowierung bedrohten, präsentiert. Anfang 2012 gegen die Goldene Morgendämme- bezeichnet und verhaftet werden, im führte die fremdenfeindliche Rhetorik rung zu demonstrieren und Solidari- Polizeibetrieb im heutigen Griechen- der Goldenen Morgendämmerung zu tät mit den dort lebenden Migranten land auf der Tagesordnung, während einem Anstieg ihrer Popularität. Ih- zu zeigen. Zusammenstöße mit den eine apathische Öffentlichkeit dem re Mitglieder forderten „Griechenland Schlägertrupps der Goldenen Morgen- Blutvergießen im Fernsehen zuschaut. den Griechen“, gaben nur jenen Armen dämmerung riefen die Polizei auf den In Griechenland, wo sozialer Aus- Essen, die ihr „Griechentum“ durch Plan, die 23 Antifaschisten und zwei schluss, Massenarbeitslosigkeit, Ras- einen Ausweis belegen konnten, und Mitglieder der Goldenen Morgendäm- sismus, Antisemitismus und Not im kündigten an, dass sie „nur für Grie- merung verhaftete. Während die Mit- Zunehmen begriffen sind, hat die Kri- chen“ Blut spenden würden. Die Ab- glieder der Goldenen Morgendämme- se eine andere Dimension: humanitär, geordneten der Goldenen Morgen- rung entlassen wurden, brachte man sozial, politisch, institutionell und fi- dämmerung haben ihre rassistische, die antifaschistischen Demonstranten nanziell. In einem Land mit gewalt- antisemitische Hetze im griechischen auf die Polizeigeneraldirektion, wo sie samer Repression, wo die Polizei offen Parlament offen fortgesetzt, als Part- brutal gefoltert wurden. Die britische mit den Neonazis gegen die „Feinde“, eisprecher Ilias Kasidiaris das „Proto- Zeitung The Guardian berichtete über wie Migranten, Homosexuelle, Juden, koll 19“ aus Die Protokolle der Weisen den Zwischenfall, worauf der Minister Anarchisten und Linke, zusammenar- von Zion vorlas und eine andere Abge- für öffentliche Ordnung, Nikos Den- beitet, besorgen die führenden Me- ordnete, Eleni Zaroulia, Migranten als dias, ankündigte, die Zeitung klagen dien das Geschäft der Finanz- und „subhuman“ bezeichnete. Die Zahlen zu wollen. Der griechische Premier- Politeliten, verbreiten Angst vor den zeigen die grausame Realität: Im Zeit- minister Antonis Samaras und Dendi- „Anderen“ und rechtfertigen damit raum Jänner–Dezember 2012 wurden as befahlen gemeinsam einen Polizei- indirekt die Schüsse gegen die neuen dem Netzwerk zur Aufzeichnung ras- einsatz gegen die älteste und aktivste Sklaven aus Bangladesh in Manolada. sistischer Gewalt 154 Fälle bekannt, Anarchistengruppe Athens, Villa Ama- In seinem Buch Ist das ein Mensch 151 von ihnen gegen Flüchtlinge und lias, und 40 weitere anarchistische meint Primo Levi: „Ein Land wird als Migranten und 3 gegen europäische und linke Gruppen im ganzen Land, um so zivilisierter angesehen, je mehr Staatsbürger. die Samaras als „Zentren der Gesetz- Weisheit und Tauglichkeit seiner Ge- losigkeit“ bezeichnete. Villa Amalias setze verhindern, dass die Schwachen Zu einer Orwell´schen Realität ist nicht nur eine der ältesten Grup- zu schwach und die Mächtigen zu pen, das Besondere an ihr ist auch stark werden.“ In Griechenland, wo Man mag sich fragen, welche Rolle ihr Standort in einer Gegend Athens, im dritten Memorandum der griechi- die griechische Polizei in dieser Ent- in der viele Immigranten wohnen. schen Regierung und der Troika (IWF, wicklung spielt. Nach den Wahlen im Durch ihre sozialen Aktivitäten, die EZB, EU) Bürgerrechte missachtet wer- Sommer erreichte die Goldene Mor- Einheimische und Zuwanderer zusam- den und politische Scheinheiligkeit gendämmerung in der Polizei bis zu menbrachten, war die Villa Amalias vorherrscht, werden die Begriffe Zi- 50 % Zustimmung. Die politische eines der Bollwerke gegen die Ausbrei- vilisation und Demokratie vergessen. Führung zeigte sich unwissend und tung der Goldenen Morgendämme- Sie gehören zur „ruhmreichen“ Ver- überrascht, tolerierte aber die faschis- rung. Die Villa Amalias wurde ebenso gangenheit des Landes. tischen Tendenzen innerhalb der grie- geschlossen wie im April 2013 das In- chischen Polizei und die Übernahme formationsnetz Athens Indymedia, das der Taktik der Goldenen Morgendäm- seine Stimme gegen Drohungen ge- VIDEO ZUM ARTIKEL: merung durch viele Polizisten. genüber Journalisten erheben wollte. Am 30. September 2012 fuhr eine Außerdem sind Folter und Gewalt https://www.youtube.com/ Gruppe Antifaschisten auf Motorrä- gegen Migranten, Antifaschisten und watch?v=HUcB4BQ5oLI dern in das Zentrum von Athen, um junge Menschen, die als Terroristen

2·2013 nu 15 UNTERWEGS MIT

16 nu 2·2013 Timnas Wiese, Timnas Dorf

NU begleitet die Chansonnière bei ihrem Lieblingsspaziergang auf den Heuberg. Es geht von Dornbach an Gemeindebauten vorbei zur schönsten Wiese weitum.

VON RAINER NOWAK (TEXT) UND JACQUELINE GODANY (FOTOS)

Nennen wir sie Meditationswiese. nerwald-Grenze lautstark gestört sie nicht zur Schönung der eigenen Timna Brauers Meditationswiese. Ei- und aufgeschreckt: Einer der weni- Biographie verwenden: Nachdem nen richtigen Namen hat der kleine, gen Spaziergänger hatte gedacht, ihr Brauer für einige Zeit aus ihrem wildromantische Fleck über Dorn- sei, weil sie da ausgestreckt in der geliebten Paris nach Wien zurück- bach gleich neben den letzten Ge- Wiese lag, etwas passiert und wollte gekehrt war, wurde sie vom ORF ländeausläufern des Neuwaldegger schon Erste Hilfe leisten. Das erzählt 1986 gefragt, ob sie nicht beim Bades am Heuberg gar nicht. Schön Brauer mit diesem Lächeln, mit dem Songcontest für Österreich antre- einsam ist es hier im tiefen Gras, sie über andere – wichtigere – Epi- ten wolle. Sie wollte und sang ihr obwohl man doch eigentlich in der soden spricht: leise fröhlich könnte Lied „Die Zeit ist einsam“. Erst ein, Großstadt sitzt, liegt, geht. Genau man es nennen. Und fern jeder zwei Jahre später beschlich sie ein deswegen spaziert Timna Brauer Selbstdarsteller-Wichtigkeit. Verdacht: Vielleicht hatte man sie auch täglich hierher, um sich kurz – eine jüdische Künstlerin – gefragt, zu sammeln und, so altmodisch das Wer sonst würde eine solche Ge- weil Österreich dank der Wahl Kurt klingen mag, um Kraft zu schöpfen. schichte fast beiläufig erzählen und Waldheims zum Bundespräsidenten Warum hier so wenige Spaziergän- ger beziehungsweise Wanderer sind? Die Meditation besteht, wie Timna Brauer dem für den Anlass völlig falsch „Vermutlich weil Grinzing und Sie- gekleideten Begleiter von NU erläutert, darin, an nichts zu denken und vering so viel bekannter sind, Tou- völlig loszulassen. risten finden hier nie her.“ So kann es schon vorkommen, dass Timna Brauer gar niemanden trifft auf ih- rer täglichen Runde, die an ihrem Haus, genau genommen: ihren Häusern – es sind zwei kleine eines ehemaligen Heurigenbetriebes – in der Dornbacher Hauptstraße vorbei- führt. Das ist auch gut so, es hilft bei der Konzentration, oder bes- ser: bei der Meditation. Denn die besteht, wie Timna Brauer dem für den Anlass völlig falsch gekleideten Begleiter von NU erläutert, darin, an nichts zu denken und völlig los- zulassen.

Einmal wurde sie freilich auf der Wiese mit dem Blick auf die Wie-

2·2013 nu 17 international geächtet war. Um das Bild nach außen ein bisschen zu verbessern? Brauer zuckt die Ach- seln: „Kann schon sein.“ Aber was ändere das an ihrer künstlerischen Entwicklung.

Das heißt nicht, dass Timna Brau- er unpolitisch wäre. Wie jeder, der damals und in den späteren Jahren reiste – und sie reiste viel –, wur- Weltmusik nennt sie, nennt man ihre Richtung: Einflüsse der ganzen de auch sie ständig auf Österreichs Welt zusammentragen, hineinhören und das Stimmigste in das eigene Nazivergangenheit angesprochen, Repertoire einbauen. auf Kurt Waldheim und Jörg Haider. Für eine Frau, die Tel Aviv, Paris und Wien als ihre Heimat angibt – und eine schwierige Singrolle, wie fach- Wiesen auf und begann mit einem (ohne sie festzulegen zu wollen) kundigere Experten wissen. Brauer Pianisten zu arbeiten, den sie in Tel diese Reihenfolge vermutlich nicht ließ vor dem Engagement wissen, Aviv kennengelernt hatte: Bis heute zufällig wählt, war das nervend bis dass sie nicht auf ein gemeinsames arbeitet und lebt sie mit Elias Meiri traurig. Haider sollte sie später so- Foto mit dem Kärntner Landes- zusammen: „Der Jazz war die Ba- gar persönlich erleben: Brauer sang hauptmann wolle. Und so gab es sis, das Bindeglied zwischen uns“, die Evita im gleichnamigen Musi- auch kein Foto. sagte sie 2006 im Standard. Sie ka- cal auf der heute Finanzskandal- 1986 war überhaupt ein wichtiges men aus unterschiedlichen musika- umwobenen Wörtherseebühne – Datum: Brauer trat beim Jazzfestival lischen Kulturkreisen: Brauer wuchs

18 nu 2·2013 Begonnen hat das regelmäßige Spazieren schon in ihrer Kindheit: Vater Arik Brauer bestand auf gemeinsamen Ausflügen der Familie zu Fuß. Timnas Begeisterung hielt sich damals in Grenzen, heute lächelt sie und geht selbst täglich. mit Schubert, Mozart und Wiener- lied väterlicherseits, jemenitischen Gesängen mütterlicherseits auf, der Israeli Meiri stammt musikalisch aus einer polnisch-russischen Familie.

Weltmusik nennt sie, nennt man ihre Richtung: Einflüsse der ganzen Welt zusammentragen, hineinhö- ren und das Stimmigste in das ei- gene Repertoire einbauen. So ist sie selbstredend international vernetzt, auch in Wien, auch privat. Grenzen sind nicht das ihre. Und so lobt sie auch das kleine Völkergemisch, das in einem der vielleicht am schöns- ten gelegenen Wiener Gemeinde- bauten, eben an den Hängen des Heubergs, lebt. Brauer kennt jedes der Kinder vom Sehen, die da vor den Bauten im Garten der Häuser spielen und sie winkend begrüßen.

Gemeinsam mit ihrem Mann Elias Meiri, mit dem sie zwei Kinder hat, organisierte sie jahrelang das Pro- jekt „Voices for Peace“: Sänger aus Tel Aviv und Galiläa, ein jüdischer und ein arabischer Chor sangen Lieder und Stücke aus dem Nahen Osten, „ein kleines musikalisches Wunder“ nannte es der sonst nüch- terne Presse-Musikkritiker Wilhelm Fuß. Timnas Begeisterung hielt sich KONZERTTERMINE Sinkovicz 2008 mit überraschender damals in Grenzen, heute lächelt Euphorie. Vier Jahre lang war Brauer sie und geht selbst täglich. Ähnlich 21. Juni 2013 - „Songs from Jerusalem“ mit den „Stimmen für den Frieden“ überraschend mag es für langjährige Timna Brauer & Elias Meiri Straßenfest Kindergarten Bärli-Brumm- auf großer Europa-Tournee gewesen. Freunde gewesen sein, als sie sich Brumm – vor der Jahrtausendwende – in Gschwendtergasse, 1170 Wien Berührungsängste mit der Populär- Dornbach das alte kleine Biedermei- kultur kennt sie nicht, sie tanzte er-Ensemble kaufte. Plötzlich war 24. Juni 2013 - „Der g´schupfte Ferdl auch für den ORF in Dancing Stars. sie, die überzeugte Städterin, quasi geht Tauben vergiften im Park“ Ein Bronner/Kreisler-Liederabend Dort stellte sie übrigens fest, dass auf dem Land zu Hause. Das kann mit Bela Koreny, Timna Brauer und es fast von Nachteil sei, wenn man und will sie nicht mehr missen. Als Wolf Bachofner wie sie in afrikanischen Tänzen aus- Nachbarin hat sie nun die Grünen- Wiener Volksliedwerk gebildet sei und sich dann in das Vizebürgermeisterin von Wien, Ma- Gallitzinstr. 1, 1160 Wien Korsett der europäischen Tanzkon- ria Vassilakou, die auch schon eini- 5. Juli 2013 - „Songs from Jerusalem“ ventionen begeben müsse. ge Jahre Neo-Dornbacherin ist. Di- Timna Brauer & Elias Meiri rekt neben Brauer hat Erich Lessing EVN Kraftwerk Ottenstein Begonnen hat das regelmäßige Spa- sein Büro und sein Archiv unter- Peygarten-Ottenstein 70 zieren schon in ihrer Kindheit: Va- gebracht. Dörflich nennt man das 3532 Rastenfeld ter Arik Brauer bestand auf gemein- wohl. Wenn die Welt das Dorf ist. www.brauer-meiri.com/ samen Ausflügen der Familie zu

2·2013 nu 19 RIGAUD

Aus der Löwentorr-Perspektive.

20 nu 2·2013 Unterwegs in Mea Shearim.

Unter der „Brücke der Saiten“.

2·2013 nu 21 SCHWERPUNKT NAHOST

Rubingers Linse: Das Objektiv, durch das TIME Israel sah

David Rubinger gilt als einer der berühmtesten Fotojournalisten weltweit. Er wur- de in Wien geboren, wo er bis zu seinem 15. Lebensjahr aufwuchs. Kurz nach Be- ginn des Zweiten Weltkrieges gelang es ihm, nach Palästina auszuwandern. Seine Bilder dokumentieren die israelische Zeitgeschichte seit der Staatsgründung, im Krieg und im Frieden. Ein Porträt.

VON JOHANNES GERLOFF, JERUSALEM (TEXT UND FOTOS)

Neunzig Jahre alt wurde in diesem im Informationschaos – und tat das Fotografen einer werdenden Nation“ Frühjahr das einflussreichste Wo- mit so großem Erfolg, dass die Zeit- bezeichnet. Die englischsprachige Ta- chenmagazin aller Zeiten: TIME schrift bis heute Maßstäbe setzt und geszeitung Jerusalem Post beschreibt Magazine. Einer der Gründer und Themen bestimmt, auch für die Me- ihn als „größten Porträtisten der is- TIMEs erster Nachrichtenchef, Bri- dien in Europa. raelischen Seele“. Und Jim Kelly, von ton Hadden, war schon Anfang der 2001 bis 2006 Managing Editor von 1920er-Jahre überzeugt, es gebe zu Als David Rubinger sich 2009 im Al- TIME Magazine, fasst zusammen: viele Medienangebote in den USA. ter von 85 Jahren offiziell in den Ru- „David Rubinger hat einige der be- Landesweit waren das damals etwa hestand verabschiedete, war er der eindruckendsten Bilder seiner Zeit 2000 Tageszeitungen, 160 Zeitschrif- dienstälteste Mitarbeiter des Maga- eingefangen. Niemand hat besser ten und 500 Radiostationen. TIME zins. Israels Staatspräsident Schimon die Geschichte Israels mit all ihrem trat an, um Orientierung zu bieten Peres hat Rubinger einmal als „den Ruhm und Schmerz gezeigt.“

Mit seiner Kamera begleitete Rubinger alle Kriege, aber auch alle Einwanderungswellen seines Landes. Er dokumentierte den Schrecken der Terroranschläge genauso wie das Leid der ara- bischen Flüchtlinge oder die Freude über einen ersten Ölfund in Israel. Palästinenseraufstände und die Gründung von jüdischen Siedlungen gehören ebenso zum Repertoire seiner Bilder wie die Dreharbeiten zu Filmen wie Ben-Hur.

22 nu 2·2013 Geschenk seines Lebens

David wurde am 29. Juni 1924 als einziges Kind des Schrotthändlers Kalman Rubinger und seiner Frau Anna in Wien geboren. Ende der 1930er-Jahre entkam er mit Hilfe der Jugend-Aliyah auf dem Umweg über Italien nach Palästina und ließ sich im Kibbuz Tel Amal im Jordantal nie- der. Während des Zweiten Weltkriegs diente Rubinger in der Jüdischen Bri- gade der Britischen Armee in Ägyp- ten, Libyen, Malta, Italien, Öster- reich, Deutschland und schließlich Belgien.

In Deutschland lernte er seine Cou- sine Anni kennen, die mehrere Kon- Seit der Ausstellung seiner Bilder im israelischen Parlament, der Knesset, zentrationslager überlebt hatte. Um im Januar 1995 darf er als einziger Fotograf überhaupt in der Cafeteria der ihr die Einwanderung nach Palästi- Knesset fotografieren. Parlamentsabgeordnete haben ihn scherzhaft das na zu ermöglichen, ging er im Sep- „121. Knessetmitglied“ genannt. tember 1946 in Herford eine fiktive Ehe mit ihr ein, die – so Rubinger schmunzelnd – ganze drei Tage dau- zu teilen. Nachdem er ein Fotoge- schickte die israelische Luftwaffe eine erte. Danach waren Anni und David schäft in Jerusalem eröffnet hatte, ganze Staffel für den Starfotografen mehr als fünfzig Jahre, bis zu Annis wurde die Zeitung HaOlam HaZeh in die Luft. Der schnappt in der Er- Tod, verheiratet. Die Rubingers be- des Journalisten und heutigen Frie- innerung vom wienerischen Deutsch kamen zwei Kinder, fünf Enkel und densaktivisten Uri Avnery 1951 zu ins Englische hinüber: „LIFE Maga- zwei Urenkel. seinem Sprungbrett in eine journa- zine asked for it. LIFE Magazine got listische Laufbahn. Nach kurzen En- it.“ Guter Journalismus ist eben nicht Im September 1945 hatte David in gagements bei Yediot Achronot und selten eine Frage des Geldes. Paris als Abschiedsgeschenk von sei- der Jerusalem Post erhielt David Ru- ner französischen Freundin Claudet- binger 1954 seinen ersten Auftrag Eine gute Geschichte braucht Zeit te Vadrot eine amerikanische Argus von TIME-LIFE. 35-Millimeter-Kamera geschenkt be- Rubingers erste Geschichte, die in- kommen, „das vielleicht wichtigste Das war der Beginn einer Zusammen- ternational veröffentlicht wurde, be- Geschenk meines Lebens“, erkennt arbeit, die über ein halbes Jahrhun- gann damit, dass eine Nonne im so- Rubinger im Rückblick, und der Be- dert währen sollte. Das scheinbar genannten „French Hospital“ das Ge- ginn einer Liebesaffäre mit dem Fo- unbegrenzte Budget von TIME-Life biss eines Patienten aus dem Fenster toapparat, die bis heute andauert. In eröffnete dem Fotografen Möglich- fallen ließ. Das Notre-Dame-Kran- Gelsenkirchen kaufte er sich dann keiten, von denen andere nur träu- kenhaus lag damals direkt an der seine erste Leica – „für 200 Zigaretten men konnten. So reiste er mehrfach Befestigungslinie, die das jordanisch und ein Kilo Kaffee“. mit dem israelischen Premiermini- besetzte Ostjerusalem vom israe- ster Menachem Begin zu den Frie- lischen Westjerusalem trennte. Nach Sein erstes offizielles Foto machte densgesprächen mit Ägypten in die langen Verhandlungen durften die David Rubinger im November 1947 USA. TIME bezahlte immer den Sitz Ordensschwestern ins Niemandsland in Jerusalem während der Jubelfei- neben Begin in der ersten Klasse. steigen und den Zahnersatz bergen ern über die Entscheidung der UN- Auch ein Hubschrauber scheint nie – unter den kritischen Augen eines Generalversammlung, das britische ein Problem gewesen zu sein. Und als israelischen und eines französischen Mandatsgebiet Palästina in einen jü- er einmal Phantom-Flugzeuge über Offiziers. dischen und einen arabischen Staat dem Tempelberg fotografieren sollte,

2·2013 nu 23 Nach zwei, drei Tagen fängst du an, ihr auf die Nerven zu gehen… schließlich ignoriert sie dich einfach… und so kam ich dann zu dem Bild, wie Golda Meir ihr Enkelkind wie eine jiddische Mamme mit dem Löffel füttert. So ein Bild bekommst du nicht, wenn du an die Tür klopfst und sagst: „Frau Außenminister, ich möchte gerne fotografieren, wie Sie ihre Enkel füttern!“

Ein Luxus hinter Rubingers Bildern anischen Tempelbergs auf einem Bild Anni Rubinger erkannte den Charme ist die Zeit, die ihm zur Verfügung festzuhalten. Der Raum zwischen des Bildes sofort. David hält bis heu- stand. „Eine gute Story braucht Zeit, den Häusern und der Mauer war da- te ein zehn Minuten später entstan- viel Zeit“, erzählt der Fotograf und mals gerade einmal drei Meter weit. denes Bild für viel wichtiger. Darauf stellt Stimmungsstadien bei den Po- Kurz zuvor war David noch in El- ist Rabbi Schlomo Goren zu sehen, litikern fest, die er nicht selten tage- Arisch an der Sinaifront gewesen. Er der mit Tora-Rolle und Schofar-Horn lang auch im Privatleben begleiten hatte Gerüchte gehört, in Jerusalem die zweitausend Jahre lang ersehnte durfte: „Nach zwei, drei Tagen fängst tue sich etwas, und ohne zu wissen, Rückkehr des jüdischen Volkes an du an, ihr auf die Nerven zu gehen… wohin er flog, einen Hubschrauber seine heiligste Stätte feiert. Deshalb schließlich ignoriert sie dich ein- mit verletzten Soldaten bestiegen; in schenkte er damals das Bild mit den fach… und so kam ich dann zu dem Beer Schewa eher zufällig sein Auto drei Soldaten als Dank für gute Ko- Bild, wie Golda Meir ihr Enkelkind wiedergefunden; auf der Fahrt nach operation dem Sprecher der Armee, wie eine jiddische Mamme mit dem Jerusalem einen Soldaten mitgenom- der es ans israelische Government Löffel füttert. So ein Bild bekommst men und hinters Steuer gesetzt, weil Press Office (GPO) weiterreichte. Das du nicht, wenn du an die Tür klopfst er selbst zu müde zum Fahren war; in GPO verschleuderte die Aufnahme und sagst: ‚Frau Außenminister, ich Jerusalem kurz seine Familie besucht, für zwei israelische Pfund – „heute möchte gerne fotografieren, wie Sie um dieser zu versichern, dass er noch sind das vielleicht 10 Cent“. Ihre Enkel füttern!‘ – Aber wer hat lebe; und war dann zur Front in der heute noch vierzehn Tage Zeit für Altstadt geeilt. In der Folgezeit wurde das Bild zu eine Story? Dafür fehlt einfach das einem der meistgeraubten, d.h. ille- Geld.“ gal abgedruckten Bilder aller Zeiten. So veröffentlichte die Jerusalem Post Als Fotograf von TIME-Life hatte er das Bild schon drei Tage nach dem einzigartigen Zugang zu führenden Sechstagekrieg als Werbung für Du- Politikern. In seinem Archiv finden bek-Zigaretten mit der Aufschrift: sich Bilder des verletzten David Ben- „Real Men Smoke Dubek“ – obwohl, Gurion nach einem Handgranaten- so unterstreicht Rubinger, auf dem anschlag auf die Knesset im Okto- Bild überhaupt niemand raucht. In ber 1957 ebenso wie die eines schla- den 1990er-Jahren montierte Ha- fenden Tourismusministers namens Aretz den Kopf Jasser Arafats zwi- Teddy Kollek oder ein Bild von Me- schen die israelischen Fallschirm- nachem Begin, der seiner Frau Aliza springer. Als Rubinger daraufhin vor gegen Ende eines Langstreckenflugs Gericht zog, wurden ihm 35.000 in die USA hilft, die Schuhe anzu- Schekel Schadensersatz zugespro- ziehen. Seit der Ausstellung seiner chen. Doch die meisten Verfahren Bilder im israelischen Parlament, der um die Rechte für dieses Bild verlor Knesset, im Januar 1995 darf er als er. „Manche Fotografen haben ein- einziger Fotograf überhaupt in der fach ihren Stempel hinten auf das Cafeteria der Knesset fotografieren. Bild gedrückt“, erzählt er mit einer Parlamentsabgeordnete haben ihn Mischung aus Belustigung und Bit- scherzhaft das „121. Knessetmit- terkeit in der Stimme: „Einer davon glied“ genannt. lebt noch – und nennt sich mein bester Freund… Er weiß nicht, dass Rubingers Markenzeichen ist ein ich weiß – aber ich weiß!“ 2001 Foto, das er im Juni 1967 von drei versuchte der Richter am Obersten Soldaten machte, unmittelbar nach Gerichtshof Israels, Mischael Che- der Eroberung der Klagemauer in der Zu den bekannten Fotos zählt schin, alle Streitigkeiten zu schlich- Altstadt von Jerusalem. Die Soldaten unter anderem auch das Bild vom ten, indem er Rubingers Bild zum weinten, der Fotograf weinte – wäh- Gipfeltreffen zwischen dem ägyp- „Eigentum der ganzen Nation“ er- rend der auf dem Boden lag, um die tischen Präsidenten Sadat und dem klärte. Der israelische Schriftsteller Eroberer und einen möglichst großen israelischen Ministerpräsidenten Jossi Klein Halevi nannte das Bild Teil der alten Westmauer des herodi- Menachem Begin. mit den drei Soldaten vor der West-

24 nu 2·2013 mauer später einmal „das beliebteste jüdische Foto unserer Zeit“.

Im Mittelpunkt

Mit seiner Kamera begleitete Rubin- ger alle Kriege, aber auch alle Ein- wanderungswellen seines Landes. Er WORD-RAP dokumentierte den Schrecken der Johannes Gerloff hat beim Gespräch mit David Rubinger in dessen Stammlokal, dem Terroranschläge genauso wie das Leid Café Caffit in Jerusalem, einen „Word-Rap“ zu aktuellen Fragen versucht. der arabischen Flüchtlinge oder die Hier ein paar der prägnantesten Antworten: Freude über einen ersten Ölfund in „Arabischer Frühling?“ „Zweistaatenlösung?“ Israel. Palästinenseraufstände und die „Die Palästinenser brauchen keinen Gründung von jüdischen Siedlungen „Das hat der Amos Oz so schön gesagt: ein islamischer Winter! Die westliche Staat. Ich brauche einen palästinen- gehören ebenso zum Repertoire sei- Welt hat den Arabischen Frühling mit sischen Staat, um überleben zu können. ner Bilder wie die Dreharbeiten zu den Augen des Westens gesehen, nicht Ich brauche einen Palästinenserstaat nicht, weil ich die Palästinenser liebe, Filmen wie Ben-Hur. mit den Augen des Islam. Das ist das Problem.“ sondern weil ich einen jüdischen Staat „Demokratie muss wachsen, lässt sich brauche.“ Seit den frühen 1980er-Jahren nicht auf Befehl verordnen. Das dauert. „Die Leute sagen mir: ein links- schleppte der eher kleine David Ru- Der Arabische Frühling hat nur den radikaler Judenfeind und denkst nur an die Menschlichkeit von den Arabern. – binger eine kurze Leiter mit sich he- Anschein von Demokratie. Echte Demokratie würde Meinungsfreiheit, Sage ich: Nee, im Gegenteil: Ich bin rum, um aus höherer Perspektive Respekt vor der Meinung des anderen, Kahanist. Was ich mir eigentlich wün- fotografieren zu können. Dieser Ge- beinhalten.“ sche, ist das, was Rabbi Meir Kahane genstand seiner Ausrüstung wurde propagiert hat, nämlich, dass ich morgen aufwache und alle Araber sind aus Eretz so typisch für ihn, dass ihn in Ale- „Palästinenser…?“ „… sind das Opfer der Geschichte. Wir Israel herausgeschmissen.“ xandrien beim Aussteigen aus dem sind auch Opfer der Geschichte. Alle „Weil das aber nicht möglich ist, bin ich Flugzeug ein ägyptischer Grenz- waren Opfer der Geschichte. Die Serben linksradikal. Dass unmöglich ist, wovon und die Kroaten, alle sind Opfer. Die ich träume, ist der einzige Grund dafür, polizist mit der Bemerkung begrüßte: dass ich einen Palästinenserstaat will – „Ooooh, Abu Sulam (der Vater der Deutschen sind die eigentlichen Opfer von Hitler. Sieh dir an, wie Deutschland nicht Menschlichkeit. Es gibt keine Leiter) has come!“ ausgesehen hat! Dresden…“ Menschlichkeit in der Geschichte. Deshalb bin ich ein linksradikaler Kahanist.“ Einige Jahre nach Annis Tod im No- „Du hast selbst zehn Kriege hautnah vember 2000 ließ sich David mit miterlebt…?“ „Jede Generation, die einen Krieg „Was spricht eigentlich gegen einen bi- 78 Jahren auf eine neue Beziehung gemacht hat, sagt sich: nie wieder! Aber nationalen Staat?“ ein, mit Ziona Spivak, einer jeme- es ist ihr nie gelungen, dieses Gefühl der „Das haben wir in Jugoslawien versucht, das geht in Irland nicht, die Holländer nitischen Einwanderin. Diese Bezie- nächsten oder übernächsten Generation weiterzugeben.“ haben Probleme damit, das geht kaum hung endete auf tragische Weise, als noch in Kanada. Das geht einfach nicht! David seine Ziona am 26. Dezember „Gilt das auch für Deutschland? Das ist Blödsinn! Bi- oder mehrnationale 2004 mit durchschnittener Kehle „Ich denke doch, sie haben aus dem Staaten sind nur möglich… sieh dir Jugoslawien an: Solange ein Diktator in ihrer Wohnung fand. „Plötzlich Zweiten Weltkrieg gelernt und ein neues Deutschland aufgebaut!“ namens Tito da war, hat’s gehalten. sah ich mich, der so viel Furchtbares „Noch zwei Generationen, und das ist Sobald die Demokratie kam: Serben mor- fotografiert hatte, im Mittelpunkt alles vergessen.“ den Kroaten, Kroaten morden des Interesses der Objektive“, erin- Mohammedaner, Mohammedaner mor- den Serben – jeder ist gegen jeden.“ nert sich David Rubinger an diese „Antisemitismus…?“ „…ist nicht mehr mein Problem. Meinen „Ich brauche einen jüdischen Staat schreckliche Zeit. Muhammad, der Kindern kann nicht mehr passieren, was wegen der Welt. Wenn in Amerika mor- palästinensische Gärtner aus Beit meinen Eltern passiert ist. Ob ich das gen die Wirtschaft zusammenbricht, Land nun liebe oder nicht liebe, mit all glaube mir, werden genug Amerikaner Omar bei Hebron, hatte 25.000 Sche- sagen: Das sind die Juden! Was in kel von Ziona Spivak verlangt und meiner Kritik an Israel – und die ist him- melhoch! –, es ist noch immer das Land, Deutschland passiert ist, kann in sich schrecklich gerächt, als seine wo ich hingehen kann, wenn ihr mich Amerika noch viel leichter passieren. ehemalige Arbeitgeberin dieser un- nicht mehr wollt.“ Wenn morgen in Amerika die Juden ver- folgt werden, brauchen wir einen Staat verschämten Forderung nicht nach- als Zufluchtsort. “ kommen wollte.

2·2013 nu 25 SCHWERPUNKT NAHOST

Abtreibungsfrage im Judentum – quo vadis?

Der bekannte israelische Rabbiner Benny Lau, Neffe des früheren Oberrabbiners von Israel, Israel Meir Lau, überraschte vor kurzem mit harter Kritik am rabbinischen Establishment: Dieses würde die halachische Auslegung in der Abtreibungsfrage in Richtung des christlich-katholischen Wertekanons bewegen und damit einen schweren Fehler begehen.

VON MARTIN ENGELBERG

Die jüngste Abtreibungs-Diskus- außerhalb des Körpers der Mutter sion in Israel entzündete sich am zu überleben.“ Diese Definition von

geplanten Selbstmord zweier Teen- FOTO ©: EFRAT Abtreibung entspreche den Wert- ager, weil das 17-jährige Mädchen vorstellungen des Christentums schwanger geworden war. Es kam zu und stehe klar im Widerspruch zur einem Schusswechsel mit der Poli- jüdisch-halachischen Tradition, stel- zei, bei dem der Bursch getötet wur- len Kritiker wie Rabbiner Benny Lau de. Das Problem dabei: Die Familie fest. des Mädchens behauptete, Mitarbei- terinnen der Organisation Efrat hät- Ist Abtreibung Mord oder nicht? ten versucht, sie mit „Brainwashing“ von einer Abtreibung abzubringen Die beiden Oberrabbiner Israels, und hätten damit das junge Pärchen Shlomo Amar und Yona Metzger, in völlige emotionale Verwirrung ge- stellten sich daraufhin demonstrativ trieben. hinter Efrat und lobten deren Aktivi- täten in höchsten Tönen. Efrat habe Efrat, eine jüdisch-religiöse Organi- in den vergangen 30 Jahren zehn- sation mit etwa 2.800 Freiwilligen tausende Föten gerettet. Der Brief in Israel, wurde schon oft kritisiert, von Amar und Metzger ging an alle weil sie versuchen soll – praktisch Rabbiner Israels und gipfelte in der unter allen Umständen – einen Feststellung: „Die breite Öffentlich- Schwangerschaftsabbruch zu ver- keit muss auf die gravierende Bedeu- hindern, so z. B. auch in Fällen von tung der Tötung von Föten aufmerk- Schwangerschaften Jugendlicher sam gemacht werden, welche wie oder absehbarer medizinischer Pro- tatsächlicher Mord ist.“ bleme. Auf der Homepage von Efrat befindet sich auch folgender Leit- Als Reaktion auf diesen Brief be- satz: „Was ist eine Abtreibung? Ab- klagte Rabbiner Lau, es werde die treibung bedeutet, das Leben eines Komplexität des Themas nicht mehr Kindes zu beenden, welches noch Plakatslogan: „STOP! Wegen Geld erfasst, es gäbe keine Diskussionen nicht genügend entwickelt ist, um beendet man nicht ein Leben!“ mehr. „Wir sind flach geworden,

26 nu 2·2013 Die Position der Halacha (jüdischer Rechtskodex) gegenüber der Abtreibung ist – wie in vielen anderen Fragen – höchst komplex. Die Tora (die schriftliche Überlieferung) berührt das Thema Abtreibung gar nicht. Die Mischna (die münd- liche Überlieferung) gebietet den Abbruch einer Schwangerschaft für den Fall, dass das Leben der Mutter durch diese in Gefahr ist.

Republikaner, Katholiken“, sagte er sondern z. B. nach Maimonides so- dekommen der Schwangerschaft, in einem Interview mit der Zeitung gar geboten. Eine solche Abtreibung z. B. durch Vergewaltigung, Inzest Ha’aretz und schloss: „Der Slogan kann bis zum Zeitpunkt der tatsäch- oder außerhalb einer Ehe; physische ‚Abtreibung ist Mord‘ entspricht we- lichen Geburt erfolgen, weil erst oder psychische Defekte des Fötus; der dem rabbinischen Gesetz, noch dann das Kind ein eigenständiger oder Umstände, unter denen eine gehört er zum Judentum.“ Mensch ist. Fortsetzung der Schwangerschaft das Leben der Frau gefährden oder ihr Daraufhin beeilte sich der Gründer Ein Rabbiner kennt die Regeln, ein physischen oder psychischen Scha- von Efrat, Dr. Eli Schussheim, festzu- Oberrabbiner auch die Ausnahmen den zufügen könnte. In der Praxis stellen, seine Organisation hätte nie werden die meisten Anträge geneh- behauptet, dass Abtreibung Mord sei Die Frage der Auslegung, wann das migt, und es finden darüber hinaus und hätte diese Formulierung nie Leben bzw. auch nur die physische viele Schwangerschaftsabbrüche ille- verwendet. oder psychische Gesundheit der gal in Arztpraxen statt. werdenden Mutter in Gefahr ist, was Was sagt die Halacha? eine Abtreibung rechtfertigt, ist ge- Position des konservativen nau jener Bereich, der Rabbinern ei- und des Reformjudentums Die Position der Halacha (jüdischer nen beträchtlichen Spielraum lässt. Rechtskodex) gegenüber der Abtrei- Oberrabbiner Paul Chaim Eisenberg Konservatives und Reformjuden- bung ist – wie in vielen anderen wird äußerst selten mit einer Frage tum, welches vor allem in den USA Fragen – höchst komplex. Die To- zu einer Abtreibung konfrontiert. beheimatet ist, hält Abtreibungen ra (die schriftliche Überlieferung) Aber auch in diesem Bereich würde für gerechtfertigt, wenn die Fortset- berührt das Thema Abtreibung gar er seine persönliche Maxime anwen- zung einer Schwangerschaft der Frau nicht. Die Mischna (die mündliche den: „Ein Rabbiner kennt die Re- schweren physischen oder psycho- Überlieferung) gebietet den Abbruch geln, ein Oberrabbiner kennt nicht logischen Schaden zufügen könnte einer Schwangerschaft für den Fall, nur die Regeln – er kennt auch die oder wenn der Fötus aufgrund einer dass das Leben der Mutter durch Ausnahmen.“ Im Übrigen kam es medizinischen Diagnose als schwer diese in Gefahr ist. Der Talmud be- schon einmal vor, dass ihn ein Ak- geschädigt eingeschätzt wird. Die zeichnet den Fötus bis zum 40. Tag tivist einer christlichen Organisati- Entscheidung zu einer Abtreibung schlicht als Wasser, und die Weisen on dazu bewegen wollte, an einer solle nie leichtfertig getroffen wer- sehen keinen Grund, die Gesetze Anti-Abtreibungsdemonstration teil- den; es wird der Frau angeraten, sich über Mord auf den Fötus anzuwen- zunehmen. Als Eisenberg zögerlich davor mit dem biologischen Vater, den. Der Embryo wird nicht als Per- reagierte, habe der Aktivist noch- anderen Familienmitgliedern, ihrem son bezeichnet, daher finden auch mals nachgesetzt und gefragt, ob der Arzt, ihrem Rabbiner und jeder an- die jüdischen Trauergesetze für die- Oberrabbiner nicht ebenfalls gegen deren Person beraten, die ihr helfen sen keine Anwendung. Abtreibung sei. Daraufhin habe Ei- kann, diese schwerwiegende Ent- senberg geantwortet, dass er jeden- scheidung zu treffen. Das Reformju- Andererseits stellt der Talmud je- falls gegen Demonstrationen gegen dentum erlaubt darüber hinaus ei- doch fest, dass eine Abtreibung Abtreibung ist. nen Abbruch auch ausdrücklich im unter das Noachidische Verbot des Falle einer Schwangerschaft infolge Blutvergießens fällt. Viele Rabbiner In Israel muss vor einer Abtreibung einer Vergewaltigung oder von In- argumentierten auch, dass Abtrei- die Zustimmung eines „Terminati- zest. bung ebenso wie Empfängnisver- on Committee“ eingeholt werden. hütung der Mitzwa der fruchtbaren Dieses besteht aus einer Gynäkolo- Die Haltung zur Abtreibungsfra- Vermehrung entgegensteht. Jeden- gin, einem weiteren Arzt, der ent- ge gilt daher im Judentum als jene falls entwickelten sich auf Basis weder der Familienarzt, ein Psychi- Frage, die am wenigsten umstritten dieser Quellen zwei Stränge in den ater, Internist oder Gynäkologe ist ist. Eine jüdische US-amerikanische halachischen Überlegungen zur Ab- und einer Sozialarbeiterin, wobei Publikation führte 2012 eine Um- treibung: Im Prinzip ist eine solche zumindest ein Mitglied eine Frau frage durch, bei welcher 93 % der verboten. Ist jedoch das Leben der sein muss. Als Gründe für die Ge- jüdischen Befragten angaben, in al- werdenden Mutter in Gefahr – egal nehmigung einer Abtreibung gel- len bzw. den meisten Fällen für das ob physisch oder psychisch – so ist ten: Alter der Schwangeren (unter Recht einer Frau auf eine Abtreibung eine Abtreibung nicht nur zulässig, 17 oder über 40); illegales Zustan- zu sein.

2·2013 nu 27 ZEITGESCHICHTE

„Ich bin utopisch optimistisch“

Der Zeitgeschichtler Oliver Rathkolb zeigt immer wieder auf, wie Strukturen lange vor 1938 das Aufkommen der National- sozialisten begünstigt haben. Für NU erläutert er, was wir aus den Fehlern der Vergangenheit für das Heute lernen können.

VON PETER MENASSE (INTERVIEW) UND HANS HOCHSTÖGER (FOTOS)

NU: In diesen Maitagen feiern wir nur Deutschland und Österreich be- die Befreiung vom Nationalsozialis- troffen, sondern weite Teile Europas mus. Da wird oft das „Wehret den – wieder in Erinnerung ruft. Und Anfängen“ beschworen. Gleich- zwar nicht unter der Devise „die Ge- zeitig erleben wir mehr und mehr schichte wiederholt sich“, sondern heutigen Rechtsextremismus, wir dass man klar macht, dass bestimmte sehen Nazis in Griechenland, in Un- Mechanismen nach wie vor funktio- garn. Was kann die Geschichtswis- nieren. Klassisches Beispiel ist, dass senschaft tun, um mitzuhelfen, dass in Zeiten der ökonomischen Krise solche neuen Wurzeln nicht entste- extremistische Positionen wesent- hen? lich stärker ankommen, als in den Rathkolb: Ein ganz wichtiger Punkt goldenen 70er-Jahren eines großen ist, dass man die Erinnerung an die Wachstums in Europa. Zwischenkriegszeit und die Faschi- Das zweite, was mich zunehmend sierung in Europa – es hat ja nicht zu irritieren beginnt: Dass man mei- ner Meinung nach kaum etwas aus der Geschichte gelernt hat, was Ele- DDr. OLIVER RATHKOLB mente wehrhafter Demokratie und ist Universitätsprofessor für auch demokratischer Justiz betrifft. Zeitgeschichte an der Universität Wien. Schwerpunkte seiner wis- Die jüngste Argumentation der Frau senschaftlichen Arbeit sind unter Justizministerin Beatrix Karl bezüg- anderem: europäische Geschichte im lich der antisemitischen Karikaturen 20. Jahrhundert, historische Diktatur- auf der Homepage von H.-C. Strache und Transformationsforschung kann ich nicht mal im Ansatz nach- sowie Geschichte der inter- vollziehen, speziell vor dem Hin- nationale Beziehungen und tergrund, dass sonst jedes Bezirks- NS-Perzeptionsgeschichte. gericht gerne ein Fachgutachten in Er war Vorsitzender der Kommission Auftrag gibt. zur Straßenbenennung in Wien, In der Demokratie brauchen wir Ele- deren Ergebnisse vor wenigen mente einer wehrhaften Demokratie, Wochen durch Stadtrat Mailath- Pokorny veröffentlicht wurden. da ist bei der Justiz jetzt wenigstens ein bisschen bezüglich der Neonazis

28 nu 2·2013 nachjustiert worden – nach langem, in Umfragen überhaupt nicht ver- Es genügt nicht, dass man im Schul- zähem Ringen. Aber es ist noch ein schwiegen haben. Im Gegenteil. In unterricht oder auf der Ebene der langer Weg zu gehen, und insofern einer IFES-Umfrage kam auch 1978 politischen Elite ansetzt, sondern da sind Gedenkveranstaltungen wich- noch ein enorm hohes Ausmaß an müsste man meiner Meinung nach tig. Sie schaffen Medieninteresse Antisemitismus, auch einer wirk- auch einmal überlegen, ob es nicht und öffentliches Bewusstsein; und lichen Verherrlichung des National- eine subtile Form eines demokra- auch Richter, Schöffen, Staatsanwäl- sozialismus, eine starke Zustimmung tiespielerischen Erziehungsbereichs te leben ja nicht in einem luftleeren zu autoritären Einstellungen zu Ta- bereits in den Kindergärten geben Raum, sondern inmitten unserer Ge- ge. Das war am Höhepunkt der Ära könnte. Da sehe ich eigentlich die sellschaft. Kreisky, wo es den Leuten extrem größten Möglichkeiten und Chan- Was mich freut, ist, dass es endlich gut gegangen ist, wo Sozialtransfers cen. Man müsste sich mal fragen: gelungen ist, den Heldenplatz den passiert sind, Justizreformen. Selbst Was wird dort gespielt? Nur irgend- Fängen einer radikalen Minderheit da gab es eine klare Mehrheit für die wie mit Bausteinen, oder lassen von Burschenschaftern und der FPÖ- Wiedereinführung der Todesstrafe. sich die Grundsätze von demokra- Entourage zu entreißen und ihn Wir haben in einer Umfrage aus tischen Abläufen üben, des Mitein- auch friedlich durch ein Konzert der 2007/2008 gesehen, dass die Tsche- anders von unterschiedlichen Grup- Wiener Symphoniker zu besetzen. chen etwas Antiautoritäres in sich pen mit Migrationshintergrund etc. Die Idee, da das Bundesheer einmal haben. Sie machen es sich nicht Ich weiß, dass das theoretisch leicht zu einer Mahnwache abzukomman- leicht mit der Politik, wie man im- gesagt, in der Praxis jedoch extrem dieren, finde ich hervorragend. Sol- mer wieder sieht, aber sie haben schwierig umzusetzen ist, aber es che Zeichen bewirken viel. nicht diesen Hang zu einer großen als politisches Ziel zu formulieren Führerfigur. wäre wichtig, um frühzeitig Struk- Ungünstige ökonomische Bedin- turen von grundlegenden Vorurtei- gungen begünstigen also politische Und wie schaffen wir ein solches Be- len auch gegenüber der Demokratie Auswüchse. Aber es gibt doch auch wusstsein auch hierzulande? abzubauen. subjektive Faktoren. Im Jahr 1938 hat sich zum Beispiel die Tschecho- slowakei bei gleichen ökonomischen Durch die Orbán-Regierung ist die so ökonomisch fokussierte Brüsseler Bedingungen anders verhalten als Administration gezwungen, sich plötzlich mit den Themen Autoritarismus, Österreich, Deutschland oder Un- Antisemitismus, Rechtsradikalismus auseinanderzusetzen, und das begleitet garn. Das heißt, es muss auch etwas von einem gewaltigen Medienecho. geben, das in der Kultur eines Lan- des liegt, wie Widerstandsfähigkeit, Mut oder Ähnliches. Ja, ich stimme zu. Vorurteile wer- den nach meiner Erfahrung und bei Durchsicht von Mikrostudien, die wir gemacht haben, ganz stark auf der Ebene der Familien und des Freundesumfelds transportiert. Das heißt, in dem Moment wo die Leh- rer, wo die Schulbücher, wo die wis- senschaftlichen Publikationen dazu- kommen, sind schon bestimmte Ele- mente geformt, und es bedarf dann eines sehr hohen pädagogischen und didaktischen Aufwands, hier noch deutlich gegenzusteuern. Es gab zum Beispiel diese unglaublich starke, ve- hement antisemitische Konstitution der österreichischen Gesellschaft im Jahr 1945, was die Leute auch später

2·2013 nu 29 Wir sollen keine Fachroboter der digitalen Revolution ausbilden, sondern kritischen, widerständigen Menschen das Rüstzeug geben, sich in dieser globalisierten Welt zu orientieren. Das rechnet sich letzten Endes auch, weil damit die Demokratie stabiler wird.

Mein Eindruck ist, dass viel zu viele Wir müssten auch die Lehrpläne Diskurs, in der Familie zum Beispiel Lehrer in ihrem Unterricht Schülern entstauben und wie in einer gut ge- – reagiert? Die Mikroebene noch ein- gegenüber eher ein autoritäres Ver- machten Ausstellung Objekte he- mal in Erinnerung zu rufen, das wäre halten pflegen. Das heißt, Schüle- rausnehmen und neue hineinstellen, ganz wichtig. rinnen und Schüler in österreichi- anhand derer eine bessere Vermitt- Wir sind gerade in der Finalphase schen Schulen werden vielfach nicht lung möglich ist. eines Projektberichts, den Theodor dazu erzogen, kritisch zu hinterfra- Es liegt meiner Meinung nach nicht Venus und ich zur Geschichte der gen, widerständig zu sein, sich et- an den Lehrerinnen und Lehrern, Reichsbank-Hauptstelle im Wien was zu trauen. Und fehlt nicht auch sondern es liegt daran, dass man es des Jahres 1938 gemacht haben. Es interdisziplinäre Forschung zur nicht schafft, sich endlich vom Kul- war das ein entscheidendes Element Struktur des Rechtsextremismus? turkampf der Zwischenkriegszeit mit der Finanzpolitik des autoritären Ich glaube, es ist keine Frage der wis- Ausläufern in die Monarchie zu be- Dollfuß- und Schuschnigg-Regimes. senschaftlichen Expertise oder der freien. Aber bereits 1932 hatten die Nazis Bereitschaft zur interdisziplinären auf Betriebsebene bei den Angestell- Zusammenarbeit. Das Grundpro- Es werden bis heute immer wieder ten dort fast die Mehrheit. Das ist blem ist einfach der fehlende po- noch Institutionen gefunden, die völlig verrückt: An einem zentralen litische Wille. Die ständigen Strei- sich nicht mit ihrer Geschichte aus- Schalthebel der autoritären Republik, tereien von Gewerkschaft und Un- einandergesetzt haben, Stichwort die immer wieder versucht, sich mit terrichtsverwaltung in allen Rich- Philharmoniker, Akademie der Wis- unterschiedlichen Mitteln gegen die tungen blockieren wirklich große senschaften. Wäre es nicht einmal Umarmung durch das nationalsozi- Projekte. Es gibt eine hervorragende interessant, eine Institution zu fin- alistische Deutschland zu wehren, Studie von Martha Nussbaum, ei- den, wo niemand beteiligt war oder sitzen die Nazis nicht nur in klei- ner Philosophin an der University wo die wenigsten beteiligt waren? nen Positionen, sondern im Herzen, of Chicago. Sie zeigt, warum es so Weil der Verdacht liegt doch nahe, im Zentrum. Es begann nicht erst wichtig für unsere Demokratie ist, dass sich die gesamte Gesellschaft 1938, sondern es gab eine lange Vor- dass wir eine kritische Erziehung for- und damit auch alle Institutionen geschichte. cieren. Wir sollen keine Fachroboter vom Nationalsozialismus befallen der digitalen Revolution ausbilden, haben lassen. Wären diese Geschichten nicht viel sondern kritischen, widerständigen Es wäre ein interessantes Ziel, aber wichtiger als die Geschichten, wie Menschen das Rüstzeug geben, sich ich bin, ehrlich gesagt, momentan dann alles ganz am Ende im KZ ge- in dieser globalisierten Welt zu ori- ratlos. Das hängt auch damit zusam- endet hat? entieren. Das rechnet sich letzten men, dass der Nationalsozialismus Völlig richtig. Es ist ein zentrales Pro- Endes auch, weil damit die Demo- sich ja vom ersten Moment an, auch blem in der „Holocaust-Didaktik“ in kratie stabiler wird. Wir brauchen in seiner Frühphase, als eine tota- Schulen, auch international, etwa in schulpolitische Utopien statt diesem litäre Massenbewegung präsentiert den USA, dass ein relativ enger Zeit- Weiterwurschteln, das in Österreich hat und versuchte, bis in die letzten raum in den Fokus genommen wird so eine lange negative Tradition hat. Bereiche durchzudringen. Parade- und nicht so sehr die Vorgeschichte. beispiel ist diese inszenierte Volks- Was bedeutet es zum Beispiel, wenn abstimmung im April 1938. Bis ins ein Rektor ständig blutige Demons- letzte Dorf im Waldviertel wird jene trationen auf Universitätsboden zu- Inszenierung, die ein Architekten- lässt, wie das lange vor 1938 in Wien team um Albert Speer in Berlin ent- der Fall war und den Nazis nicht Ein- worfen hat, hineingepfropft, um ein halt gebietet? Sich das anzuschauen, flächendeckendes Massenerleben zu wäre lehrreich für eine wehrhafte konstruieren. Demokratie in der Gegenwart. Es Was sich sicher noch einmal ren- gibt ja auch heute immer wieder De- tieren würde, was leider momentan batten, welche Versammlungen man nicht mehr trendy ist: auf den All- an der Uni zulassen darf, weil Wis- tag der Menschen zu schauen. Wie senschaft und Lehre frei sein sollen, haben sie auf offen rassistische Maß- und welche nicht. nahmen – jetzt im privaten Umfeld, Da würde ich wirklich empfehlen, nicht im Widerstand, sondern im sich die Geschichte vor 1914 anzu-

30 nu 2·2013 Was sich sicher noch einmal rentieren würde, was leider momentan nicht mehr trendy ist: auf den Alltag der Menschen zu schauen. Wie haben sie auf offen rassistische Maßnahmen – jetzt im privaten Umfeld, nicht im Widerstand, sondern im Diskurs, in der Familie zum Beispiel – reagiert? schauen, denn das ist ein Lehrbei- war, eine derartig gewaltige, tiefgrei- spiel. Da muss man sagen, dass zum fende Personaländerung in allen Be- Beispiel die preußischen Unterrichts- reichen durchzuführen. verwaltungen geschickter vorgingen. Denen war klar, wenn diese radi- Es werden jetzt die letzten KZ- kalen deutschnationalen Korpora- Wärter identifiziert, die sind über tionen weiter die Universitäten in neunzig Jahre alt und werden jetzt Geiselhaft nehmen, kriegt die Zen- angeklagt. Führt das nicht nur wie- tralmacht ein Problem. Sie hatten der zu einer Individualisierung der dann auch wesentlich stärkere dis- Ereignisse, zu einigen wenigen, die ziplinarrechtliche Möglichkeiten als Schuld tragen? Führt uns das nicht in der Monarchie, die da viel zu lax weg von allen Versuchen, National- gewesen ist. Dieses Studentenpoten- sozialismus als strukturelles Element zial, dessen Auswüchsen in Wien zu begreifen? nicht Einhalt geboten wurde, ist Genau. Ich muss sagen, ich habe der Nachwuchs nach 1918. Sie sind heute wieder die Fotos dieser alten andere Medienlandschaft, wenn dann später als antisemitische Pro- Frau und der zwei alten Männer be- ich sie mit früheren Perioden ver- fessoren ganz gezielt gegen Habili- trachtet, die man gefunden hat. Ich gleiche, zum Beispiel während der tationen und Berufungen von Juden fürchte, die schauen heute so aus, Waldheim-Debatte, zum Zeitpunkt aufgetreten. dass sie eher Mitleid erwecken. Und der Auseinandersetzung um die so- Wir veranstalten nächste Woche ein es ist ein Problem, wenn man ver- genannte Wehrmachtsausstellung, kleines Symposium zu Guido Adler, sucht, die gesamtgesellschaftliche da hat sich viel geändert. Man sieht einem der international bedeutends- Verantwortung auf völlige Nebenfi- das auch jetzt in der Berichterstat- ten österreichischen Musikhistoriker guren abzuwälzen, möglichst Deut- tung um den 8. Mai. Ich möchte mir und Musikwissenschaftler, der auch sche und keine Österreicher, die na- nicht vorstellen, wie das vor zwanzig die Musikwissenschaft an der Uni- türlich Schuld auf sich geladen ha- Jahren ausgesehen hätte. Ich muss versität Wien etabliert hat. Er ist ben, individuell, keine Frage, aber sagen, da hat sich viel entwickelt. heute in der österreichischen Mu- die strukturell überhaupt keine Rolle Es gibt noch einen anderen großen sikwissenschaft – zu ihrer Schande spielen. Ich fürchte auch, dass das Schritt zu tun: das Thema auf die eu- – marginalisiert, während er in den nicht nur zu negativen Mitleidsef- ropäische Ebene zu bringen. USA als ein ganz zentraler, wichtiger fekten führt, sondern dass ein Bild Durch die Orbán-Regierung ist die Pionier für kritische Musikwissen- vom Nationalsozialismus entsteht, so ökonomisch fokussierte Brüsseler schaft gilt. als ob das nur eine Geschichte von Administration gezwungen, sich Auch an seinem Beispiel kann man einigen bösen Verblendeten gewe- plötzlich mit den Themen Autori- das brutale Geschäft der Nazis in vie- sen wäre. Es geht auf diese Weise der tarismus, Antisemitismus, Rechts- len Bereichen erkennen, die schon Gesamtkonnex verloren, warum es radikalismus auseinanderzusetzen, vor 1938 die Strukturen so verändert dem Nationalsozialismus gelungen und das begleitet von einem gewal- hatten, dass dann die Machtüber- ist, die Macht so durchgreifend zu tigen Medienecho. So schrecklich nahme so schnell, so radikal funk- übernehmen. das klingt, aber manchmal braucht tioniert hat. Für mich ist nach wie man offensichtlich so einen Agitator, vor völlig unvorstellbar, wie es mög- Letzte Frage: Was kann uns heute der das dann gleich alles ausprobiert, lich war, in allen Institutionen – von optimistisch stimmen? wie das Umdrehen der Verfassung. der Bundestheaterverwaltung über Mich stimmt optimistisch, dass diese Das ähnelt ja sehr einem in unserer die Universitätsverwaltung bis hin Krise irgendwann vorbei sein wird. Geschichte. Da wurde in den 1930er- zu allen Ministerien – die schwar- Es gibt sicherlich ein wesentlich bes- Jahren auch Verfassungsmissbrauch zen Listen zusammenzustellen, also ser – auch international – vernetztes, betrieben. Und der Verfassungsge- festzuschreiben, wer Jude, Halbjude kritisches Potenzial, das Ansätze von richtshof war schon vor 1933 so po- oder mit einem jüdischen Partner Autoritarismus, Rechtspopulismus, litisiert, dass er nicht mehr imstande verheiratet ist, wer welchen politi- Neonazismus erkennt und versucht, war, seine Aufgaben wahrzunehmen. schen Hintergrund hat. Es dürfte da sie im Sinne einer wehrhaften De- Mittelfristig bin ich utopisch opti- ein unbekanntes Spitzelnetzwerk ge- mokratie rechtzeitig zu bekämpfen. mistisch. geben haben, das auf Abruf imstande Ich sehe heute eine eigentlich doch

2·2013 nu 31 ZEITGESCHICHTE Vertriebene Musik

Es ist gar nicht so einfach, einen überge- ordneten Begriff für die Musik von unter dem Naziregime verfolgten Komponisten bzw. Musikern zu finden. Vertriebene Musik, Musik im Exil, verbotene Musik? Vertrieben oder ermordet wurden Menschen. Manche von ihnen hinterließen bloß Spuren ihres mu- sikalischen Könnens. Viele von ihnen warten noch immer auf Anerkennung. Und es waren nicht ausschließlich rassistische Verfolgungen, die viele in die Emigration zwangen.

VON PETER WEINBERGER

Opern, Operetten, Kammermusik, Die nach 1945 versuchte Wieder- in seinem Tagebuch folgenderma- Symphonien, Chansons, Wiener geburt der Operette erwies sich im ßen kommentiert: „‚Urgermanen‘ Lieder, Schlager: Vertriebene Musik Land des süffisanten Lächelns – wie mit Wampe und Nackenspeck, mit kann sich gefällig anhören oder aber die wiederentdeckten Steireranzüge rückwärts rasiertem und oben hah- auch fast transzendentale Momente und Dirndln – lediglich als eine In- nenkammartig durch eine Scheitel- vermitteln. Sie bedient sich spätro- tarsie in der Staatsideologie vom er- frisur gekrönte Schädel, […] arisch- mantischer Stilmittel, der Zwölfton- sten Opfer des Nationalsozialismus: arrogant, provinzlerisch gackernd...“ technik, des Jazz, spielt mit Tango- Der Operette mangelte es nicht nur 1948 ließ er sich nach einer langen Rhythmen und Elementen aus der an Komponisten, sondern auch am Emigrationszeit in den USA endgül- „Volksmusik“. Sie kann Gewohntes Verständnis für die Welt von ge- tig in Zürich nieder. Für das Große widerspiegeln oder aber auch in Er- stern. Das Musical trat seinen Sie- Schauspielhaus komponierte Benatz- innerungen an Verlorenes schwel- geszug an. ky zwischen 1928 und 1930 die Tri- gen. logie der sogenannten „historischen Emmerich Kálmán (eigentlich: Imre Revueoperetten“, auf denen sein Das Ende der silbernen Koppstein) emigrierte 1938 über Zü- Weltruhm basiert: Casanova, Die drei Operettenära rich nach Paris und von dort 1940 Musketiere und Im weißen Rößl. in die Vereinigten Staaten. Nach Ös- Operetten waren bis zum Anschluss terreich kehrte er erst 1949 zurück, das Unterhaltungsmedium einer wo er sich mit einer Pressekampa- Wiener Lieder, Chansons letztlich doch nur pseudobürger- gne herumschlagen musste, die da- und Schlager lichen Wiener Bevölkerungsschicht. rauf abzielte, seine Villa in Wien zu Mit Ausnahme von Franz Lehár enteignen. Seine Werke Die Csárdás- Chansons und Schlager waren stets (Die lustige Witwe, Der Graf von fürstin, Gräfin Mariza und Die Zir- Teil der musikalischen Identität al- Luxemburg, Land des Lächelns, Der kusprinzessin machten ihn zu einem ler gesellschaftlichen Schichten, Zarewitsch, Guiditta), der es offen- der berühmtesten Operettenkompo- stellten einen Teil jener Volkskunst sichtlich genoss, von Nazigrößen nisten. dar, die die Nationalsozialisten in hofiert zu werden und dessen jü- eine einfallslose Blut- und Boden- dische Frau 1938 zur „Ehrenarierin“ Ralph Benatzky (eigentlich Rudolph mythologie zu pressen versuchten. erklärt worden war, hatten die mei- Josef František Benatzky) übersiedel- Verboten wurden Lieder, die jeder sten der wohlbekannten Operetten- te zeitgerecht Anfang der 30er-Jahre kannte und mitsingen konnte, bloß komponisten Österreich schleunigst in die Schweiz. Bereits 1924 hatte weil der betreffende Komponist ein zu verlassen. er das „hakenkreuzlerische Leben“ Jude war. Viele von ihnen, die mit

32 nu 2·2013 Verboten wurden Lieder, die jeder kannte und mitsingen konnte, bloß weil der betreffende Komponist ein Jude war. Viele von ihnen, die mit Gebrauchsmusik Zugang zu allen gefunden hatten, überlebten nicht bzw. mussten emigrieren – in ein Land, aus dem die wenigsten zurückkehrten.

Gebrauchsmusik Zugang zu allen Walter Jurmann (geb. 1903 in sik, sondern auch „Entartung“ als gefunden hatten, überlebten nicht Wien) flüchtete 1933 nach Paris, Argument. bzw. mussten emigrieren – in ein 1934 wurde ihm dort ein Sieben- Land, aus dem die wenigsten zu- jahresvertrag in Hollywood ange- Musik aus Theresienstadt (Viktor rückkehrten. boten. In Hollywood schrieb er u.a. Ullmann, Gideon Klein, Hans Kra- den Song Cosí Cosa für den Marx- sa), ein ganz spezielles Kapitel im Gustav Pick verbrachte seine Kind- Brothers-Film A Night at the Opera, Kontext vertriebener Musik, blieb heit im jüdischen Ghetto von Rech- ein Musikstück, das viele noch im- nach 1945 für viele Jahre vergessen. nitz. Sein Fiakerlied, von Girardi mer für ein echtes neapolitanisches So hatte Ullmann den letzten Satz erstmals vorgetragen, mutierte in- Volkslied halten. Seine größten Er- seines dritten Streichquartetts nur folge der Popularisierung durch die folge in der Filmindustrie waren Die eine Woche vor dem Abtransport Wiener Schrammeln zur eigent- Meuterei auf der Bounty (1935, mit nach Auschwitz beendet – einen lichen Hymne Wiens. Während der Marlon Brando) und San Francisco Satz, der das Bevorstehende aku- NS-Zeit waren Picks Werke wegen (1936, mit Clark Gable und Spencer stisch erahnen lässt und an Dicht- seiner jüdischen Herkunft verboten. Tracy). Berühmteste Filmmusik: San heit kaum zu überbieten ist. Aber Francisco. Dieses Chanson, unzähli- auch jene, die es in die Emigration Hermann Leopoldi (eigentlich ge Male von Judy Garland vorgetra- geschafft hatten (z. B. Erich Wolf- Hersch Kohn, geb. 1888 in Wien) gen, wird wohl für immer ein welt- gang Korngold, Arnold Schönberg, wurde zunächst ins KZ Dachau ein- weiter Hit bleiben. Ernst Toch, Erich Zeisl und andere), geliefert und danach ins KZ Buchen- gerieten in bewusst gewollte Ver- wald überstellt („Buchenwaldlied“). Richard Wagners Vermächtnis gessenheit. Lediglich einige poli- Seiner (ersten) Frau gelang es, für tisch Laute kehrten in das Wissen ihn ein Affidavit zu schicken. In „Als neuesten Witz erzählte Stern: der Öffentlichkeit zurück, nämlich New York trat er u.a. in „Eberhardts H. eifere seinem Liebling Wagner als beschimpft als Kommunisten (z. B. Café Grinzing“ auf, wo er auch sei- Componist nach; er habe eine Opern- Hanns Eisler und Paul Dessau). ne spätere Partnerin Helly Möslein trilogie geschaffen: Der nie gelungene kennenlernte. 1947 kehrten beide Ring: 1. Niefried, 2. Die Willkür, 3. Das Loch nach Wien zurück. Wie alle ande- Ghettodämmerung.“ Viktor Klemperer, ren hatte Leopoldi unter Heimweh Tagebücher, 1937 Das kulturelle Loch nach 1945 war gelitten, ein Gefühl, von dem sein gigantisch und allumfassend. Es ist Lied Das Märchen vom Bernhardiner Richard Wagners triefender Antise- bezeichnend, dass die einzigen zwei („Jüngst trafen sich zwei Dackel, it mitismus (Das Judenthum in der Mu- Theaterstücke, die die ersten Jahr- happened in Washington Heights, sik, 1850) hat nicht nur Hitler als zehnte der 2. Republik am besten mit fröhlichen Gewackel begrüßten Ideologie gedient, sondern auch die charakterisieren, nämlich der Herr sie sich allseits…“) in transponierter musikalische Welt des 20. Jahrhun- Karl und Der Bockerer, von (ehema- Form erzählt. Seine bekanntesten derts in zwei voneinander getrennte ligen) Emigranten wie Carl Merz, Ul- Chansons sind: Ich bin a stiller Ze- Galaxien gespalten. Wagners Sieg- rich Becher und Peter Preses verfasst cher, Schön ist so ein Ringelspiel, Po- fried Idyll schien auf viele Kompo- worden sind. Die liebevolle Verklä- widltatschkerln und In einem kleinen nisten um die Jahrhundertwende rung des Salzkammerguts, tanzende Café in Hernals. wie ein Aufbruch in eine neue Art Lichter und grüne Bergschatten auf von Romantik zu wirken. Antiwag- dem Attersee, die 4. Symphonie Fritz Spielmann (geb. 1906 in nerianer wie z. B. Johannes Brahms von Gustav Mahler, ruhte viele Jah- Wien) emigrierte 1938 über Paris in wurden in der Folge mitunter als re hindurch in den Notenarchiven. die USA, wo er ab 1944 vor allem als Philosemiten beschimpft. Erst der Ungespielt. Filmkomponist große Erfolge errang. Erste Weltkrieg gab den Anstoß für Einige seiner Kompositionen, inter- neue Kunst- und Kulturformen, For- Das Kammermusikfestival Schloss pretiert von Stars wie Bing Crosby, men, die Jahre später von den Na- Laudon widmet sich insbesondere der Doris Day, Nat King Cole und El- zis als „entartete Kunst“ bezeichnet Aufführung ausgesuchter Werke von unter vis Presley, erreichten weltweite wurden. So gesehen diente nicht nur dem Naziregime verfolgten Komponisten. Bekanntheit. Bekannteste (Wiener) der Antisemitismus Wagner’scher 6. Kammermusikfestival Schloss Laudon Schlager: I muaß an Doppelgänger Prägung der Vertreibung und Auslö- 20. – 25. August 2013 www.schlosslaudonfestival.at hab’n, Schinkenfleckerln. schung ernster zeitgenössischer Mu-

2·2013 nu 33 SMART CITY WIEN

Wien die Stadt FOTO ©: CHRISTANELL für`s Leben

Nicht nur an heute denken, sondern auch für zukünftige Generationen planen. Jetzt schon überlegen, was Menschen in zehn, zwanzig, dreißig oder sogar vierzig Jahren brauchen und die richtigen Schritte setzen. Intelligent ist, was das Leben einfacher macht. Smart City Wien- das heißt mit Innovationen die Lebensqualität der Menschen erhöhen, gleichzeitig Ressourcen und Umwelt schonen. So wird Wiens Zukunft.

Alltagstauglich und zukunftsweisend Mobilität neu denken Best Practice Floridsdorf 2013 startet das derzeit größte Stad- Mit dem Fahrrad zum Bäcker, zu Fuß Seit 14 Jahren gibt es sie, die „Auto- tentwicklungsprojekt der Bundes- zur Freundin, mit der Straßenbahn freie Siedlung“ in Floridsdorf. Hier, hauptstadt richtig durch: „aspern Die ins Büro und mit dem Auto ins Grüne in der Nordmanngasse 25-27, ist der Seestadt Wiens“. Hier wird ein Traum - multimodal mobil ist, wer für seine Bezug einer Wohnung mit dem Ver- vieler Menschen verwirklicht, näm- täglichen Wege unterschiedliche Ver- zicht auf ein eigenes Auto verbun- lich städtisches Leben kombiniert kehrsmittel benutzt und diese mitei- den. Die freigesetzten Mittel - auf- mit Wohnen im Grünen. Die See- nander verknüpft. Auch Carsharing grund des Wegfalls der Fahrzeugab- stadt ist nachhaltig, gerade eben weil ist eine Säule multimodaler Mobilität. stellplätze-wurden für die Errichtung sie vieles vereint: Karriere und Fami- Wien bietet immer mehr die richtigen von gemeinsam geplanten Gemein- lie, Stadt und Land Lifestyle, und Rahmenbedingungen, damit Vielfalt schaftseinrichtungen, wie beispiel- Gesundheit, Mobilität und Umwelt. und Mobilität möglich sind. Unter- weise Grünflächen am Dach, Kin- Zukünftig werden hier rund 20.000 stützung gibt es durch Park and Ride- derfreiräume und Sauna umgewid- Menschen hochwertigen Wohnraum Anlagen oder auch durch praktische met. 56 Prozent der BewohnerInnen finden. Dazu kommen 20.000 Ar- Informationssysteme wie „qando“ nützen das Fahrrad für die täglichen beitsplätze in Dienstleistungs-, Pro- von den Wiener Linien. Qando, ein Wege. Die Wohnzufriedenheit ist au- duktions- und Gewerbebetrieben. App für Smart-Handys zeigt neben ßergewöhnlich hoch und der Mit- Einzigartig: Mehr als ein Drittel des den schnellsten Wegen auch zahl- bestimmungscharakter bei Verwal- Gebietes steht für aufwendige Frei- reiche Dienste in der Nähe an - und tung und Planung stößt auf groß- und Grünraumgestaltung zur Verfü- zwar in Wien, Niederösterreich und en Zuspruch bei den MieterInnen, gung. Fußgänger und Radfahrer ha- dem Burgenland. Es informiert zu- wie zum Beispiel bei Gerda Daniel: ben hier absoluten Vorrang. Und ab sätzlich auch über Aufzugsstörungen, „Seit 13 Jahren wohne ich in der Au- Herbst 2013 fährt die U2 bis ins Herz Umleitungen und Haltestellenverle- tofreien Siedlung. Hier schätze ich der Seestadt. In nur 25 Minuten er- gungen der Wiener Linien. Das ist ein die hohe Lebensqualität ohne Auto. reicht man damit die City. smarter Beginn Richtung Zukunft. Wir haben ein reges, bereicherndes ENTGELTLICHE EINSCHALTUNG ENTGELTLICHE ner Rathaushat eineMengedavon. lich gemachtwerden.Und das Wie- einer breitenÖffentlichkeit zugäng- wegung. DabeisollenInformationen ist diesogenannte„OpenData“-Be- darstellen, erfolgreichauf.Herzstück zugehörenden undbeliebtenApps wie esdieSmartphonesmitdenda- bei auchdieVorteile neuerMedien, kunft angekommen-undgreiftda- Die StadtWien istlängstinderZu- Technologien Intelligente Kommunikations- als Forschungsmetropoleausbauen. - undÖkologieMusterstadtsowie als Wirtschaftsstandort, alsEnergie ber fungierenunddiePositionWiens stitionen willdieStadtalsImpulsge- in Österreich.MitintelligentenInve- rInnen anderEnergiewendeführend und beiderBeteiligungBürge- ist beiderFörderungvonPV-Anlagen zent desinvestiertenKapitals.Wien ren finanziellmitjährlich3,1Pro- Photovoltaik (PV)-Modulenprofitie- voranzutreiben. DieBesitzervon gung vonSonnenstrompersönlich sonen ohneeigenesHaus,dieErzeu- Haushalte. SieermöglichenauchPer- produzieren Ökostromfürrund800 ligungsmodelle vonWien Energie Erfolg. DievierPhotovoltaik-Betei- Solarkraftwerk wareinnachhaltiger Vorjahr initiierteersteBürgerInnen- Das vonderStadtWien bereits im alternativer Energieausgesprochen. Volksbefragung starkfürdenAusbau Die WienerInnen habensichbeider Neues Energiezeitalter Autos genutzt,derRestfürFahrräder. und werdenzumTeil fürCarSharing der sonstüblichenZahlreduziert Stellplätze wurdenaufzehnProzent zung vonCarSharingAutos.Die lichen Autoverzicht,sondernNut- Autofrei bedeutetnichtgrundsätz- schaftsaktivitäten.“ lichkeiten undRäumenfürGemein- Nachbarschaftsleben mitvielenMög- Alle InfoszuInitiativen,ProgrammenundProjektenzumThemaSmartCityunterwww.tinavienna.at Informations- undKommunikationstechnologie(IKT). Klammer zwischendenBereichen wicklung dieserFührungsrolle Wien istdaherauchinSmartCity-Rankingsganzvornezufinden.Wien setztaufdie Wien setztseitLangemaufdieVerknüpfung vonLebensqualität,Technologie undUmweltschutz. Smart CityWien –Intelligentplanenundleben

www.smartcity.wien.at viele mehrsein! den. UndinZukunftwerden esnoch Applikationen fürAnwender entstan- bereitsüber 80nützliche mittlerweile gend. AusdenWiener Daten sind Tablet-Computer an.Tendenz stei- Applikationen fürSmartphonesoder bietet derKatalogmehreremobile zur Verfügung stellen.Inzwischen schreiben undsiederAllgemeinheit Entwickler ihreeigenenProgramme gegeben werden,könnenSoftware- der öffentlichenVerwaltung freifrei- rend aufdenInformationen,dievon „Open Data“funktioniertso:Basie- sogarpreisgekrönt. ist mittlerweile in DeutschlandundÖsterreich.Und wegweisend fürandereVerwaltungen sogar Pionierarbeit.DasProjektist struktur. Wien leistetauf diesemFeld Freizeit, BildungoderBevölkerungs- öffentliche Einrichtungen,Budget, taloge ausdenBereichenVerkehr, Ka- gebaut undumfasstmittlerweile Das Angebotwirddabeistetigaus- zur Verfügung. Natürlichkostenlos. formationen zurWeiterverwendung „maschinenlesbare“ Verwaltungsin- anderen Organisationenunzählige Unternehmen, Wissenschaftlern und Stadt seiteinigerZeitseinenBürgern, Mit seinemDaten-Katalogstelltdie Stadtentwicklungsprojekt Wiens aspern DieSeestadtWiens- istdaszurZeitgrößte undschafftmitseinenSmartCity-Aktivitäteneineintelligente Energie, Klimaschutz,Stadtentwicklung,Mobilitätsowie Alternative zum Auto Radfahren inderStadt-beliebte Umweltpreis ausgezeichnet Unternehmen werdenmitdem Gut fürdieUmwelt-Wiener Weiterent-

FOTO ©: FAHRRAD WIEN, PETER PROVAZNIK FOTO ©: HOUDEK FOTO ©: SCHREINERKASTLER

ENTGELTLICHE EINSCHALTUNG SERIE JÜDISCHE MUSEEN

Im Dreiländereck der Geschichte

Der rumänische Landkreis Satu Mare (deutsch Sathmar) beherbergt eine wechselvolle jüdische Vergangenheit, mehr jüdische Friedhöfe als Mitglieder in der Gemeinde und eine große Synagoge, in der gerade ein Museum eingerichtet wird. Bis zur Eröffnung probt hier noch der katholische Kirchenchor.

VON EVA KONZETT (TEXT UND FOTOS)

Der Flügelschlag bricht die Ruhe in- Nachkriegsregime berichten soll. Die nerhalb der sakralen Gemäuer. Eine Mitglieder selbst können ihre Ge- Taube hat Eingang in die Synagoge schichte kaum mehr erzählen. Satu gefunden. Vielleicht haben die bei- Mare gehörte ab 1940 wieder zu je- den Besucherinnen aus Ungarn die nem Land, dem das Städtchen durch Eingangspforte nicht geschlossen, den Vertrag von Trianon nach dem oder die Frauen der Gemeinde ha- Ersten Weltkrieg genommen wurde: ben die Fenster zum Lüften geöff- Ungarn. Die jüdische Gemeinde der net, vielleicht hat auch die Zeit dem Stadt wurde 1944 beinahe vollzählig Dach ein taubengroßes Loch zuge- nach Auschwitz deportiert. fügt, durch welches das schwarz- weiße Tier in den Innenraum ge- Neues Leben für den Frauenbalkon raten konnte. Es flattert aufgeregt zwischen den beiden Seiten des ehe- „Das Museum muss vorbereitet wer- maligen Frauenbalkons hin und her, den, aber wir haben kein Geld“, sagt bis es in einer staubigen Ecke Ruhe Decsei und steigt von einem Fuß auf findet. den anderen. Beim Anblick des Ge- Die große orthodoxe Synagoge im bäudezustandes ist es eigentlich un- rumänischen Satu Mare, dem klei- nötig, fehlende finanzielle Mittel zu nen Städtchen, das der Welt au- erwähnen. Rumänien ist insgesamt ßerhalb des Landes eher unter der Satu Mare: Einst und jetzt nicht reich, die jüdische Gemein- deutschen Bezeichnung Sathmar be- de in Satu Mare ist es noch weniger. kannt ist, feiert in diesem Sommer durchdringenden Witterungsschä- Doch Decsei hat es sich in den Kopf den 120. Geburtstag. Ihrer Schwe- den, so doch von der unmittelbaren gesetzt, das Museum zu eröffnen. ster blieb ein solches Alter verwehrt. Zerstörungskraft der Planierraupen „Es soll zwei Bereiche geben – nein, Das Gotteshaus des liberalen Flügels, schützt, soll das jüdische Leben der eigentlich drei“, erklärt er. So wird Anfang des 20. Jahrhunderts erbaut, Gemeinde von Satu Mare wieder das ehemalige Gotteshaus künftig ging 1965 in den Betonmauern des auferstehen, so der Plan von Nico- eine Dauerausstellung beherbergen, sozialistischen Polizeiinspektorates lae Decsei, dem Präsidenten der ört- die dem Alltag der hiesigen Juden unter. Und die zahlreichen Bethäu- lichen Gemeinde. Er errichtet hier folgt. Decseis Wunsch ist es auch, ser von Satu Mare sind, sofern sie gerade ein Museum, das vom Leben eine eigene kleine Ausstellung den niemand abgerissen hat, längst ih- der einst bedeutenden jüdischen Be- Ermordeten zu widmen. Schließ- rem eigentlichen Zweck entfremdet völkerung in diesem Städtchen im lich lebten vor dem Zweiten Welt- und nicht mehr als Sakralbauten er- geschichtlichen Dreiländereck zwi- krieg alleine in der Stadt Satu Mare kennbar. In der alten Synagoge aber, schen dem Galizien der Monarchie, 13.000 Juden. Das entsprach einem die der Denkmalschutz, wenn auch dem Ungarn der Pfeilkreuzler und Viertel der Bevölkerung. Im gleich- nicht vor den die Wände langsam dem sozialistischen rumänischen namigen Landkreis waren es knapp

36 nu 2·2013 SERIE JÜDISCHE MUSEEN:

Bisher erschienen: NU 51 New York NU 44 Eisenstadt NU 37 Sarajevo NU 30 Basel NU 50 Venedig NU 43 Philadelphia NU 36 Barcelona NU 29 Sydney NU 49 Amsterdam NU 42 Frankfurt NU 35 Kopenhagen NU 28 München NU 48 Istanbul NU 41 Bratislava NU 34 London NU 27 Berlin NU 47 Casablanca NU 40 Rom NU 33 Hohenems NU 46 Wien NU 39 Südafrika NU 32 Buenos Aires NU 45 Melbourne NU 38 Oslo NU 31 Wien

20.000 Juden. Ab dem 18. Jahrhun- ge für die große Synagoge, sondern und unter deren Dach das Museum dert in mehreren Wellen vorwie- auch für das kleine kanariengelbe geschaffen wird, wurde vorrangig gend aus dem slawischen Osten Bethaus übernommen, das Mitglie- an Festtagen genutzt. Zum gewöhn- eingewandert, bildeten sie eine der der kurz nach der Jahrhundertwen- lichen Gebet fand sich der ortho- bedeutendsten jüdischen Gemein- de direkt neben die Synagoge bau- doxe Teil der Gemeinde im Bethaus schaften im Karpatenraum. Heute ten. Warum beide nebeneinander daneben ein. Noch heute feiern die hat die Gemeinde noch insgesamt stehen? „Es gab hier halt viele Ju- gläubigen Juden hier im Vorzimmer 102 Mitglieder. den“, so die einfache Antwort. Die ihren Gottesdienst. Der Hauptraum Um flexibel agieren zu können und große Synagoge, die gegenwärtig muss bereits von einem kunstvollen auch Menschen anzuziehen, die keine Thorarollen mehr beherbergt Holzgerüst gehalten werden – das vielleicht noch nie einen Fuß in eine Synagoge gesetzt haben, hat der Prä- sident zusätzlich Raum für Wech- Große Synagoge, Innenraum selausstellungen geschaffen. Seit zwei Jahren wird das frühere Gottes- haus mit Kunstereignissen bespielt – auf frisch gelegtem Parkett und mit entsprechender Lichtinstallation auf der linken Seite des ehemaligen Frauenbalkons. Gegenüber soll die Dauerausstellung aufgebaut werden. Nur die Bänke in der Mitte möch- te Decsei erhalten. „Die Leute müs- sen sehen können, wie es hier früher ausgesehen hat“, kommentiert er. An den Kartonwänden sind noch die Namen der Fotografen, deren Bilder jüngst gezeigt wurden, zu le- sen. Säuberlich wurden die Werke der Ferenc’, Csongors, Andras’ und Istvans mit Namensschildchen ge- kennzeichnet – einzeln mit bunten Stecknadeln angebracht. Satu Mare ist in all den Jahrzehnten nie ganz rumänisch geworden, ähnlich wie auch viele andere Ortschaften in Sie- benbürgen. Auf der Straße tratschen die Blumenverkäuferinnen selbst- verständlich auf Ungarisch, der Bä- cker fragt erst gar nicht auf Rumä- nisch, was dem Kunden beliebt. Und Präsident Decsei entschuldigt sich kurz, das Telefon klingelt schon wieder: „Szia, igen“, antwortet er fröhlich, um dann in dieser Sprache fortzufahren – obwohl er selbst gar nicht in Siebenbürgen geboren ist. Auch nicht in Satu Mare. Die Liebe hat ihn hierher gebracht. „Und ich bin geblieben“, lacht der Präsident. Als Vorsitzender der jüdischen Ge- meinde hat er nicht nur die Obsor-

2·2013 nu 37 Die große orthodoxe Synagoge im rumänischen Satu Mare, dem kleinen Städtchen, das der Welt außerhalb des Landes eher unter der deutschen Bezeichnung Sathmar bekannt ist, feiert in diesem Sommer den 120. Geburtstag.

Dach droht einzustürzen. Seit dem Die Orte bleiben 19. Mai 1944, dem Tag der Deporta- tion, wurde hier nichts mehr verän- Einer von ihnen steht rauchend vor dert. dem Hotel Aurora am Hauptplatz Doch Decsei will nicht über die To- von Satu Mare. Der Betonklotz wirkt ten sprechen, derer die Gemein- in seinem übertriebenen Format mit de zwischen den Gotteshäusern mit abblätternder Aufschrift merkwür- einem Marmorstein gedenkt. „Es hat dig deplatziert – ein unüberwind- doch keinen Sinn, nach hinten zu bares Erbe des Sozialismus. Auch der schauen“, denkt er laut nach. Viel Mann davor gehört eigentlich nicht lieber wolle er ein Fest organisieren. mehr hierher, wie er nach einigen Im Juni, wenn die große Synago- Zügen an seiner Zigarette – wenn ge ihren Jahrestag feiert. Zu diesem auch zaghaft – sagt. Wie alt wird er Anlass lädt die jüdische Gemeinde wohl sein? Sein Bart ist längst ver- die lokalen Größen und natürlich gilbt, der Körper schon etwas in sich die Bevölkerung von Satu Mare in zusammengesunken, zwei Hosen- die Synagoge ein. Eine eigene Aus- träger bewahren den schwarzen An- stellung rund um das Gotteshaus zugstoff vor dem Hinabgleiten. „Ich und dessen Geschichte wird gestal- bin hier geboren“, murmelt er, nach- tet. Die Festveranstaltungen werden dem er den Rauch tief in seine Lun- dieses auch endlich wieder mit Men- gen gezogen hat. Seine Familie sei schen füllen – der Zustand, in dem Nicolae Decsei, Präsident der aber noch vor dem Krieg emigriert. Nicolae Decsei die Synagoge am lieb- jüdischen Gemeinde Heute lebt er in Kiryas Joel. Die Fra- sten sieht. „Es ist doch schade, sie ge nach einem Arbeitsplatz bei B&H, nur leer dastehen zu lassen“, meint tra-orthodoxe chassidische Gemein- dem von Satmar-Juden geführten er. Auch aus diesem Grund kann das de gründete, die bis heute unter der Fotografiegeschäft in New York, lässt Gebäude als Veranstaltungssaal ge- Bezeichnung Satmar-Chassidim be- seine anfängliche Distanz deutlich mietet werden. Kammermusik- und steht. Aber das betreffe hier in Satu schwinden. „Nein“, sagt er anerken- Jazzkonzerte haben so bereits an je- Mare eigentlich niemanden, sagt nend. Er habe seinen Lebtag lang in nem Platz stattgefunden, wo früher er. „Manchmal kommen Leute aus einem Heim für behinderte Kinder Gläubige gebetet haben. Amerika. Sie schauen sich um, fla- gearbeitet. Seit er denken könne, zi- Der klaren Akustik in der Synagoge nieren ein bisschen, besuchen den ehe es ihn aber einmal im Jahr nach ist das einerlei. Sie unterstützt jegli- Friedhof und gehen wieder. Wir ha- Satu Mare zurück. che Art von Klang – auch die Lieder ben keine wirkliche Beziehung zu Satu Mare: Im gleichnamigen Land- des katholischen Kirchenchors, der ihnen, sie halten uns ja nicht für Ju- kreis werden heute noch mehr als wöchentlich vor dem ehemaligen den“, führt Decsei aus. Die Figur des 100 jüdische Friedhöfe gezählt. Mitt- Thoraschrein probt. Am schönsten Rabbiners Teitelbaum selbst werde lerweile gibt es mehr Friedhöfe als klinge hier aber die Klezmer-Musik, hier in der Stadt zwiespältig gese- Mitglieder in der jüdischen Gemein- so Decsei. Schöner ginge es eigent- hen. So hat ihm mancher nicht ver- de. Wer nicht in der Zwischenkriegs- lich nicht, seufzt er. ziehen, 1944 mit dem berühmten zeit auswanderte und die Deporta- Ob auch Gäste aus New York zum Kasztner-Zug in die Schweiz und tion überlebte, emigrierte in den Fest anreisen? Fragen nach den mit dem Leben davongekommen 60er-Jahren nach Israel. Glaubensbrüdern aus den Vereini- zu sein. Decsei selbst möchte sich „Wissen Sie, warum ich immer wie- gten Staaten bereiten dem Präsi- über die Person Teitelbaum kein Ur- der zurückkehren muss?“ fragt der denten augenscheinlich Unbeha- teil bilden, die Gäste aus Williams- Alte schließlich. Er klemmt den Zi- gen. Er kratzt sich ausweichend am burg und Kiryas Joel (eine Klein- garettenfilter zwischen Zeige- und Schnauzer. Natürlich kennt er die stadt nahe Monroe im Bundesstaat Mittelfilter und schnippt ihn auf die Geschichte des Rabbiners Joel Tei- New York, die von Rebbe Teitel- Straße. „Ich komme hierher zurück, telbaum, der in den 30er-Jahren baum für seine Anhänger gegrün- weil es in New York keine Geschich- Rebbe in Satu Mare geworden war det wurde) sieht er aber kritisch: te gibt. Die Geschichte ist in Europa und nach seiner Emigration im New „Im Grunde sind das Fundamenta- geblieben.“ Er zögert: „Nur die dazu- York Stadtteil Williamsburg eine ul- listen.“ gehörenden Menschen nicht.“

38 nu 2·2013 SCHACH

Emanuel Lasker: Der große Spieler

Sein Spielstil wurde als pragmatisch und kämpferisch bezeichnet. Der einzige deutsche Schachweltmeister und Gründer von Lasker’s Chess Magazine war nicht nur Schachspieler, sondern auch Mathematiker und Philosoph.

VON ANATOL VITOUCH

Wenn es einen Schachweltmeister zur Meisterschaft. Darüber hinaus Heute ist diese These umstritten und gab, der als Verkörperung des ho- galt er als gefährlicher Pokerspieler. kann bei Betrachtung der Partien mo ludens gelten darf, dann war es Laskers aus der historischen Distanz wohl Emanuel Lasker. Der 1868 in Zu Laskers Stärke beim Poker passt durch eine andere, vielleicht zutref- der deutschen Kleinstadt Berlinchen natürlich die Zuschreibung, er ha- fendere ergänzt werden: Im Gegen- (heute Barlinek in Polen) geborene be die „psychologische Spielweise“ satz zu vielen anderen Meistern sei- Sohn eines jüdischen Kantors nahm im Schach erfunden. Lasker, so sein ner Zeit war Lasker kein Dogmatiker. Wilhelm Steinitz (siehe NU Nr. 50) Zeitgenosse Richard Réti, mache Er suchte weder nach den allgemei- den Weltmeistertitel in einem 1894 häufig nicht den objektiv besten, nen Prinzipien des Spiels, noch (wie gespielten Wettkampf ab und be- sondern den für seinen Gegner un- die „Kakophoniker“) nach ihren hielt ihn bis 1921. Damit ist Lasker angenehmsten Zug. So gelinge es Ausnahmen – sondern immer nach bis heute der längstdienende Welt- ihm, seine Kontrahenten auf ein den konkreten, besten Lösungen meister der Schachgeschichte. Terrain zu führen, auf dem sie die für die gerade auf dem Brett befind- Noch beeindruckender als dieser Re- jeweiligen Stärken ihres Stils nicht lichen Stellungsprobleme. kord erscheint jedoch die Tatsache, ausspielen können. dass Lasker niemals nur Schachspie- Diese geistige Flexibilität ermögli- ler war. Der Doktor der Mathema- Schach als Serie im NU chte es Lasker, akkurater als seine tik publizierte nicht nur auf seinem Nicht weniger als sechs der fünf- Gegner zu reagieren, wenn sich die akademischen Fachgebiet, sondern zehn Weltmeister, aus denen die Charakteristik einer Position uner- auch auf dem Feld der Philosophie, 1886 mit dem Juden Wilhelm wartet änderte. Während sein ewi- veröffentlichte literarische Texte Steinitz begonnene Ahnenreihe ger Rivale, Siegbert Tarrasch, immer und gab seine eigene Schachzeit- der Schachchampions besteht, auf der Jagd nach dem schönsten schrift heraus. Außerdem versuchte waren jüdischer Herkunft. Hinzu und daher allein richtigen Zug war, er sich zeitweise als Landwirt und kommen noch mehrere jüdische verteilte Lasker die ästhetischen Ge- Taubenzüchter. WM-Herausforderer sowie unzäh- wichte anders: „Mein Gegner glaubt lige jüdische Großmeister des an Schönheit, ich glaube an Stärke. Spiels. Grund genug für NU, Seine größte Liebe galt allerdings jüdischen Schachgrößen eine Ich finde, dass ein Zug dadurch, dass immer den Spielen: Lasker schrieb Serie zu widmen. In ihr porträtie- er kraftvoll ist, auch schön ist.“ Abhandlungen zur Theorie der Kar- ren wir die wichtigsten jüdischen tenspiele Skat und Bridge, in denen Schachspieler – inklusive eines Vor allem in dieser Hinsicht muss er auch ein starker Praktiker war, Schachrätsels. man Lasker als geistigen Verwandten und brachte es im japanischen Go und großen Vorfahren der heutigen,

2·2013 nu 39 Laskers Freund Albert Einstein, der das Vorwort zu einer posthum erschienenen Lasker- Biographie beisteuerte, war übrigens der Meinung, Lasker verschwende sein geistiges Potenzial an das Schachspiel. Der Begründer der Relativitätstheorie soll diese wiederholt mit Lasker diskutiert haben, dem er nachdrücklich riet, sich doch der Wissenschaft zu widmen. Emanuel Lasker aber blieb ein Spieler – den am Ende unverdienterweise das Glück verließ. durch und durch pragmatischen Ge- ker höflich dankend und verstaute neration von Schachmeistern begrei- die Rauchwaren als Vorrat in seiner fen. Mit dem norwegischen Wun- Brusttasche, während er ungerührt derkind, Jeansmodel und aktuellen weiter seine „Stinkbombe“ paffte. WM-Herausforderer Magnus Carlsen verbindet Lasker nicht nur unglaub- Laskers Freund Albert Einstein, der liche Zähigkeit in der Defensive und das Vorwort zu einer posthum er- perfekte Endspieltechnik, sondern schienenen Lasker-Biographie bei- auch ein ziemlich geringes Interesse steuerte, war übrigens der Meinung, an ausgefeilter Eröffnungstheorie. Lasker verschwende sein geistiges Potenzial an das Schachspiel. Der Genau wie Carlsen heute fand sich Begründer der Relativitätstheorie auch Lasker vor etwa hundert Jah- soll diese wiederholt mit Lasker dis- ren nach der Eröffnung oft in wenig kutiert haben, dem er nachdrücklich aussichtsreichen Positionen wieder, riet, sich doch der Wissenschaft zu war davon aber nicht zu entmuti- widmen. Emanuel Lasker aber blieb gen. So trifft der kürzlich von einem ein Spieler – den am Ende unver- Konkurrenten über Carlsen geäu- dienterweise das Glück verließ. ßerte Ausspruch auch auf Lasker zu: „Wenn er schlechter steht, dann Emanuel Lasker, 1929 Lebenslang hatte Lasker um faire hält er remis. Steht er aber besser, Bezahlung für seine Fähigkeiten ge- dann gewinnt er unvermeidlich.“ kämpft, weil er sich ein Schicksal sich bis heute gerne von ihm macht: wie jenes seines weltmeisterlichen Seine praktische Spielstärke be- Während der Partien schmauchte er Vorgängers Wilhelm Steinitz erspa- wahrte Lasker selbst noch, als er prinzipiell nur gefürchtete, schwarze ren wollte. Dennoch starb er 1941, schon lange nicht mehr Weltmeister Billigexemplare. Bot ihm ein davon ähnlich wie dieser, verarmt im New war. Noch 1935 belegte er im Alter entnervter Gegner, in der Hoffnung Yorker Exil, wo er sich zuletzt müh- von 66 Jahren den dritten Platz in auf Luftverbesserung, eine teurere sam als Bridge-Profi über Wasser ge- einem der stärksten Turniere der da- Marke an, dann bediente sich Las- halten hatte. maligen Zeit, das in Zürich ausgetra- gen wurde, wobei er ungeschlagen blieb und unter anderem den zwan- Pillsbury–Lasker, St. Petersburg 1896: Auflösung aus NU Nr. 51: Nicht der zig Jahre jüngeren Kubaner Jose Raul Lasker hat den Angriff seines Gegners Übergang in ein besseres Endspiel Capablanca besiegte, an den er den abgewehrt und im Konter dessen mit dem naheliegenden 44...Dxf3+ WM-Titel vierzehn Jahre zuvor ab- Königsstellung geöffnet. Wie setzt war Tartakowers Plan. Nach dem treten hatte müssen. Schwarz nun in fünf Zügen matt? stillen Zug 44...Dh5! gab M. Vidmar auf. Nach 45.e5 Lxe5 müsste er mit Stark gealtert, aber mit der unver- Auflösung in der nächsten Ausgabe von 46.Dxe5 die Dame opfern, um das meidlichen Zigarre im Mundwin- NU. Matt auf h2 zu verhindern. kel – der Weltschachbund verbot das Rauchen am Brett erst in den 1980er-Jahren – war Lasker in den Turniersaal zurückgekehrt, nachdem die Machtergreifung der Nazis und der damit verbundene Verlust sei- nes bescheidenen Vermögens die Hoffnung auf einen ruhigen Le- bensabend zerstört hatten. Laskers Rauchverhalten dürfte dabei, einer beliebten Anekdote nach, noch am ehesten zu jenem Bild des „psycho- logischen Kriegers“ passen, das man

40 nu 2·2013 KULTUR

„Sammler sind kurzfristige Besitzer“

Die Braginsky Collection ist eine bemerkenswerte Privatsammlung von jüdischen illustrierten Handschriften, Heiratsverträgen und Estherrollen. Traditionsbewusstsein und der Einfluss der Geschichte seiner Vorfahren hat René Braginsky bewogen, sie zusammenzutragen.

VON IDA LABUDOVIC´

Unerwartet und spontan hat alles be- sich zwei Leidenschaften entwickelt gonnen. Die Bar-Mizwa-Feier seines und zum Erfolg geführt: eine für einzigen Sohnes war schon für sich das Geschäft und eine zweite für die etwas Besonderes, und Vater René wichtigen Zeitzeugen der jüdischen Braginsky wollte für die geladenen Kultur und Vergangenheit – die he- Gäste etwas entsprechend Einzigar- bräischen Handschriften, gedruck- tiges bieten. Nachdem Braginsky lan- ten Bücher, illustrierten Schriftrollen, ge nach einem originellen, schmü- Hochzeitsverträge und Estherrollen. ckenden Manuskript für den Gebets- „Wer die Vergangenheit nicht kennt, text nach dem Essen Birkat-ha-Mazon hat es schwer, die Gegenwart zu be- gesucht hatte, holte er den Rat eines wältigen und sich auf die Zukunft Experten ein. Dieser Kenner jüdischer einzustellen“, sagte Braginsky anläss- Handschriften konnte für das Fest lich der Eröffnung einer Ausstellung genau das anbieten, was der zukünf- von Objekten aus seiner Sammlung tige Sammler gesucht hatte. Und viel im Landesmuseum Zürich. Er hat mehr als das: Er hat den Weg für die zu jedem einzelnen Stück eine per- weltgrößte Sammlung der jüdischen sönliche Beziehung, jedes ist für ihn RENÉ BRAGINSKY, geboren 1949, ist Schriftkultur geebnet. Mehr als zwei Zeuge „für eine längst vergangene Inhaber und Verwaltungsratspräsident Jahrzehnte sind seither vergangen, Zeit, die mich fasziniert und die ich der InCentive Gruppe, die auf Vermögensverwaltung und und der Reichtum der Sammlung verstehen will“. Braginskys Staunen Fondsmanagement spezialisiert ist. Vor „hilft zu verstehen, wie vielfältig in über die „großartige handwerkliche kurzem hat er mit seiner Frau Susanne einer globalen Perspektive auch die Kunst, aber auch die tiefe Religiosi- und seinem Sohn David, der mit einer jüdische Identität sein kann“, wie tät, welche viele dieser Werke prägt“, Wienerin verheiratet ist, die Braginsky René Braginsky zu NU sagte. hält bis heute an: „Gerade in unserer Family Office AG gegründet, welche kurzlebigen, oft sogar hektischen Zeit sich hauptsächlich um die Belange der Geschichte der Vorfahren schöpfe ich aus dem Betrachten einer Familie inklusive der Familienstiftung als Ausgangspunkt Handschrift Ruhe, Gelassenheit und und der Kunstsammlung kümmert. Er die Zuversicht, dass das unvergäng- fungiert als Stiftungsratspräsident der Für René Braginsky, Schweizer Un- lich bleibt.“ René und Susanne Braginsky-Stiftung, ternehmer mit einem exzellenten die seit mehr als 25 Jahren sozial- und gesellschaftspolitische Projekte und Gespür für Investments, ist die Ge- Vom 13. Jahrhundert bis Initiativen in der Schweiz und Israel schichte seiner Vorfahren von großer zu Charlotte Rothschild unterstützt. René Braginsky wurde Bedeutung: „Ich wollte sie verstehen 2012 zum Ehrendoktor des Weizmann und mein Leben auf diesem Wissen Die Sammlung besteht aus etwa 800 Institute ernannt. aufbauen und gestalten.“ So haben Objekten, die meist nach Gefühl

2·2013 nu 41 Gerade in unserer kurzlebigen, oft sogar hektischen Zeit schöpfe ich aus dem Betrachten einer Handschrift Ruhe, Gelassenheit und die Zuversicht, dass das unvergänglich bleibt. gekauft wurden, weil sie René Bra- aus dem 18. Jahrhundert, und dieser schönsten Stücke in der Sammlung ginsky entweder ästhetisch besonders Bestand scheint der weltweit größte noch immer zu.“ ansprechend fand oder ihn eine spe- zu sein. Mehrere Dutzend der etwa Die Sammlung wird von zwei bis drei zifische Geschichte faszinierte. „Man 500 bekannten Handschriften aus Kuratoren beschrieben und verwaltet, entwickelt seine eigene Beziehung zu Mitteleuropa sind in der Braginsky- internationalen Spezialisten auf ih- einzelnen Objekten. Diese basiert oft Sammlung enthalten. Viele prächtig rem Gebiet, mit denen Braginsky ein eher auf einem Bauchgefühl als auf ausgeführte Stücke wurden übrigens Vertrauensverhältnis aufgebaut hat. ihrem Studium“, meint er. Außer- in Wien von berühmten Künstlern „Man übernimmt ja mit dem Ankauf dem „kauft man die Objekte oft auch wie Aaron Wolf Herlingen und Me- von alten Kulturobjekten auch die schon mit guten Beschreibungen“, schullam Simmel aus Polna gefertigt. Verantwortung für die langfristige wie er sagt. Eine späte Handschrift, für die sich Konservierung solcher Stücke. Dies ist Höhepunkte sind die illustrierten Ke- Forscher und Ausstellungsbesucher mit einem erheblichen praktischen tubbot (Eheverträge), von denen in gleichermaßen begeistern, ist eine und finanziellen Aufwand verbun- letzter Zeit immer mehr aus Asien, Haggada aus dem Jahr 1842, die von den“, erklärt Braginsky. Zu diesem Nordafrika und dem Nahen Osten Charlotte von Rothschild für ihren Zweck wurde ein Bibliotheksraum erworben wurden. Die älteste Hand- Onkel Amschel Rothschild in Frank- eingerichtet, in dem Raumklima und schrift in der Sammlung ist ein Se- furt geschrieben wurde. Charlotte Temperatur für eine Lagerung nach fer Mizwot Gadol aus 1288, ein ha- wurde vom berühmten Maler Moritz modernen Standards steuerbar sind. lachisches Kompendium, das wahr- Daniel Oppenheim unterrichtet. Auf Grundlage einer Kooperation mit scheinlich in der Schweiz geschrie- Auch der materielle Wert der Samm- dem Landesmuseum Zürich hat die ben wurde. Insgesamt sind etwa 80 lung ist beträchtlich. Auf die Fra- Sammlung ein eigenes Restaurations- mittelalterliche Handschriften Teil ge, welches das kostbarste Stück sei, atelier im Sammlungszentrum des der Sammlung – mehr als sich in meint René Braginsky: „Kostbar ist Museums, in dem ein hochspeziali- mancher großen Bibliothek findet. ein relativer Begriff. Kulturhisto- sierter Buchbinder bzw. Restaurator Die weltweit älteste datierte Megilla, rischer und monetärer Wert sind mehrere Monate im Jahr arbeitet. 1564 in Venedig von einer Frau ge- nicht immer identisch.“ Seine Ant- schrieben, ist auch Teil der Braginsky wort auf diese oft gestellte Frage: „Im Offen und zugänglich Collection. späten Mittelalter kostete eine illu- Ein anderer wichtiger Bestandteil der minierte Handschrift so viel wie ein Die Szene ist malerisch: ein Stadt- Sammlung sind die Handschriften großes, nobles Haus. Das trifft auf die palais, die Wände sind reich

Haggada mit deutscher Übersetzung nach Wolf Heidenheim, 1829, Abschrift von Elieser Sussman Meseritsch, Illustration von Charlotte Rothschild, Hamburg. Megilla (Estherrolle), Detail, 19. Jh., Frankreich.

42 nu 2·2013 Im späten Mittelalter kostete eine illuminierte Handschrift so viel wie ein großes, nobles Haus. Das trifft auf die schönsten Stücke in der Sammlung noch immer zu. geschmückt. Nebeneinander ste- Amsterdam angefangen habe, meine Anfragen von Institutionen, die ein- hen ein Mann mit Turban und ei- Sammlung zu präsentieren, wollte zelne Objekte reproduzieren oder ne Frau. Sie trägt ein schönes, grün- ich eine moderne Ausstellung, no- ausstellen möchten, aber ich bin blaues Kleid mit weißer Spitze und bel und frisch gestaltet und mit einer nicht daran interessiert, ununterbro- Schmuck, ihre Frisur ist hochge- Integration von Buch- und Ausstel- chen als Sammler in der Öffentlich- steckt. Diese Illustration in einem der lungsgestaltung.“ keit aufzutreten“, sagt René Bragins- vielen gedruckten Bücher stammt aus Die ersten, welche die Ausstellung ky, der aber mit den Worten „Wer dem beginnenden 18. Jahrhundert. gesehen haben, waren die Nieder- weiß, was die Zukunft bringt“ wei- Und jeder kann sie jederzeit sehen. länder. Die berühmte Bibliotheca tere Ausstellungsprojekte auch nicht Rosenthaliana, eine weltbekannte kategorisch ausschließt. Während Privatsammlungen sonst Sammlung von jüdischen Büchern Eindeutig dagegen seine Antwort auf oft nicht zugänglich sind, ermöglicht und Handschriften, ist Teil der die von NU gestellte Frage, ob die es eine virtuelle Tour mit detaillierten Amsterdamer Universitätsbibliothek. Sammlung komplett sei und wie sie Beschreibungen, in die Welt der Bra- In der Rosenthaliana waren die not- sich weiter entwickeln werde: „Es ginsky Collection einzutauchen. Da- wendigen Kenntnisse und Vorausset- gibt keine komplette Sammlung. hinter steht die Überzeugung des zungen vorhanden, um eine profes- Sammler sind kurzfristige Besitzer, Sammlers, dass es ein Privileg ist, die sionelle Ausstellung zu organisieren. und die Bücher werden uns überle- Schönheit der Sammlung mit einem Die Ausstellung wurde anschließend ben. Ich bin auch nicht der typische großen Publikum zu teilen. Umge- in den zwei wichtigsten Zentren der Sammler, der immer wieder auf der setzt wurde die virtuelle Präsentation jüdischen Kulturwelt gezeigt: New Suche ist nach dem einen Objekt, in Zusammenarbeit mit dem welt- York und Israel. Die bisher letzte Sta- das die Sammlung vervollständigen weit führenden Internet-Experten tion der Schau war 2012 das Landes- wird. Die Sammlung ist schön, so wie und Fotografen Ardon Bar-Hama. museum Zürich, wo sie von 30.000 sie ist. Ich werde noch weitere gute Ein weiterer wichtiger Beitrag zum Besuchern gesehen wurde. Stücke kaufen, aber viele andere auch herausragenden Niveau der Schau ist nicht.“ der Sammlungskatalog, gestaltet von Zukunft der Sammlung Frederik de Wal und Kurator Emile Und was die Zukunft der Sammlung Schrijver, der auch für alle Ausstel- Da überrascht es, dass derzeit keine betrifft, sie steht ganz in Einklang lungen mit verantwortlich zeich- weitere Ausstellung in Vorbereitung mit der Familientradition – der Sohn net. Dazu sagt Braginsky: „Als ich in ist. „Wir honorieren immer wieder wird mitentscheiden. ALLE FOTOS ©: BRAGINSKY COLLECTION, ZÜRICH. FOTO: ARDON BAR-HAMA Ketubba (Hochzeitsvertrag), Blick in die Ausstellung Schöne Seiten. Jüdische Schriftkultur aus 1648, Venedig. der Braginsky Collection

2·2013 nu 43 Europa ist überall. GGK LOWE

Österreich

Zusammenhänge verstehen.

Welt

wienerzeitung.at KULTUR

„Fresh Paint“ feiert israelische Gegenwartskunst

Als ein gelungener Mix israelischer Gegenwartkunst präsentierte sich die sechste Ausgabe von „Fresh Paint“, die im Mai 2013 in Tel Aviv stattfand. Mit ihrem publikumsorientierten Profil lockte die Messe über 30.000 Besucher an. Typisch für „Fresh Paint“ sind die jährlich wechselnden Standorte, heuer im neugebauten Logistikzentrum im Süden der Stadt.

VON MONIKA MERYN

„Israelische Sammler lieben figura- ellen Trends der israelischen Kunst- sen Bilder bereits in Russland, Eur- tive oder realistische Werke, am lieb- szene. Als einer von dreiundzwan- opa und den USA zu sehen waren. sten Öl auf Leinwand“, beschreibt zig Ausstellern bei der Kunstmesse Litvinov wurde in Vitebsk, Belarus, Nir Altmann, Besitzer der Galerie „Fresh Paint“ zeigte Altmann drei geboren, das zwischen 1917 und MIKA – Contemporary Art die aktu- Künstler, darunter Igor Litvinov, des- 1922 ein Laboratorium der Moder- ne war, in welchem bedeutende Ver- treter der europäischen Avantgarde, wie z. B. Marc Chagall oder Kasimir Malewitsch, tätig waren. In seinen Werken spiegelt Litvinov seine Ge- burtsstadt wider, oder er malt in dem ihm eigenen farbenfrohen Stil – ei- ner Verbindung aus Realismus und Abstraktion – weibliche Akte.

Tatsächlich fanden sich auf der Mes- se kaum abstrakte Bilder oder In- stallationen. „Der israelische Kunst- markt ist klein und es gibt nicht so viele Galerien in Tel Aviv. Diese Mes- se bietet uns die einzige Möglichkeit, uns lokal zu präsentieren und neue Kontakte zu knüpfen“, so Altmann.

Ein heiß umkämpfter Markt

Gegründet wurde „Fresh Paint“ 2008 von Sharon Tillinger und Yifat Gu- rion. Einerseits wollten sie damit Kunst einem breiteren Publikum zu- gänglich machen und Hemmschwel- len, die mit Kunstkauf verbunden waren, niederreißen, andererseits auch Künstlern eine Plattform bie- ten, ihre Werke zu verkaufen. Der Ofir Dor, Sechs Schwäne, Öl auf Leinwand (220 x 230 cm) Erfolg gibt ihnen recht. Die Messe

2·2013 nu 45 Gegründet wurde „Fresh Paint“ 2008 von Sharon Tillinger und Yifat Gurion. Einerseits wollten sie damit Kunst einem breiteren Publikum zugänglich machen und Hemmschwellen, die mit Kunstkauf verbunden waren, niederreißen, andererseits auch Künstlern eine Plattform bieten, ihre Werke zu verkaufen. hat sich als feste Größe in Israels re präsentierte den renommierten Aviv-Museum gezeigt wurden. Sein Kunstszene etabliert. Solide in wei- Künstler Gal Weinstein (Interview expressionistischer Stil lotet in kraft- ßen Ständen angeordnet, reihte sich siehe Seite 47). Eine der bekanntes- vollen Farben die Grenzen zwischen in der weitläufigen Halle eine Galerie ten Galerien in Israel ist Sommer Phantasie und Realität aus und ist an die andere. Contemporary Art, die auch inter- beeinflusst durch Träume, Erinne- Gleich mit zwei Ständen war die re- national tätig ist. Sie setzte unter an- rungen und Nostalgie. nommierte Gordon Gallery vertre- derem auf den heute in Berlin leben- ten: Einer zeigte Werke von Khen den Maler Ofir Dor, dessen Werke Neben den Ständen der Galerien Shish und Philip Rantzer, der ande- 2009 in einer Soloausstellung im Tel- gab es wie jedes Jahr das sogenann- te „Artists’ Greenhouse“. Jungen, aufstrebenden Künstlern wird hier die Möglichkeit geboten, ihre Werke Igor Litvinov, O. T., Öl auf Leinwand (100 x 140 cm) auszustellen. Diese werden von ei- ner Fachjury ausgewählt, wodurch hohe Qualität gewährleistet ist: Von tausend Einreichungen wurden nur knapp über fünfzig berücksichtigt.

Heuer präsentierte die „Fresh Paint“ eine neue Initiative: Zum ersten Mal fand die „1st Fresh Design“-Messe am gleichen Standort statt, jedoch in einem eigenen Zelt. Ausgestellt waren israelische Designer wie Asaf Weinbroom oder Noam Dover und Michal Cederbaum. Parallel dazu gab es auch ein Design Greenhouse mit Arbeiten von jungen Designern am Beginn ihrer Karriere. Diese Schau wurde in Kooperation mit führen- den Design-Hochschulen und Insti- tutionen wie dem Design Museum Holon durchgeführt.

„Wir sind mit dem Ergebnis der Mes- se sehr zufrieden, denn in der Regel beginnen meine Kunden mit dem Ankauf israelischer Kunst, bevor sie über die Grenzen blicken“, resümiert Altmann von der MIKA Gallery und beschreibt die Szene weiter: „Aber der heimische Kunstmarkt ist sehr schwierig, denn es gibt nicht so viele Sammler wie anderswo. Allein in die- sem Jahr haben sechs Galerien in Tel Aviv, die zum Teil schon vor zehn bis zwölf Jahren gegründet wurden, geschlossen. Der Markt ist auch des- halb so heiß umkämpft, weil es nur eine kleine Gruppe von Kunstinte- ressierten gibt, die 50.000 Dollar und mehr für ein Werk ausgeben.“

46 nu 2·2013 KULTUR Die Versuchung der Oberfläche

Gal Weinstein zählt zu den renommiertesten Künstlern Israels. Er wurde 1970 in Ramat Gan geboren und lebt in Tel Aviv. Derzeit sind seine Bilder in der Gordon Gallery 2 und im Musée d’Art Contemporain (MAC) in Marseille zu sehen. Sein Werk umfasst Bilder aus Stahlwolle, dreidimensionale Installationen, Objekte sowie Videos. Seit 2008 unterrichtet Weinstein Bildhauerei am Shenkar College, Multi- disciplinary Art Department, in Ramat Gan.

VON MONIKA MERYN

NU: Woran arbeiten Sie im Moment? ner Serie von Selbstportraits, die wie sie bearbeitet wird, sieht Stahlwolle Weinstein: Ich beschäftige mich mit vergrößerte Passfotos aussehen. Über wie Staub oder Haare aus. Ich suche Schimmel, den wir in der Umwelt die Stahlwolle spraye ich noch eine das Widersprüchliche in Materialien, finden. Ein Beispiel dafür ist die Bo- Flüssigkeit, z. B. Coca-Cola oder Co- und ich mag Oberflächen sowie die deninstallation Jeezrael Valley in der ca-Cola light. Ich experimentiere mit Versuchung, diese berühren zu wol- Dunkelheit. Ich habe schwarzen Kaf- verschiedenen Inhaltsstoffen, und len. fee in ein von mir speziell hergestell- das Ergebnis ist überraschend: Cola tes Gefäß eingegossen, das die Um- verfärbt das Bild schwarz und Cola Wie kamen Sie zur Kunst? Was war risse von Jeezrael Valley hat, und ließ Light orange. für Ihre Entscheidung auslösend? es in einem dunklen Raum liegen, bis Ich liebe es einfach, Künstler zu sein. es schimmelte. Was fasziniert Sie an der Arbeit mit Nach der Armee wollte ich eigentlich Stahlwolle? Architektur studieren, wie mein Bru- Wie kamen Sie auf diese Idee? Diese Methode ist das Ergebnis einer der, oder Grafikdesign. Aber ich hatte Durch einen Zufall. Ich vergaß eine längeren Entwicklung, und oft weiß immer schon gerne gemalt und nach Kaffeetasse auszuwaschen und ent- der Betrachter nicht, ob es sich um einem zweimonatigen Umweg, wo deckte den Schimmel. Jeden Tag foto- ein Foto oder eine Zeichnung han- ich mit Bühnenausstattung begann, grafierte ich ein neues Stadium, denn delt. Das ist von mir so beabsichtigt. merkte ich, dass es doch die bilden- die Farbe verändert sich je nach Grad Ich wollte mit einem Material arbei- de Kunst ist, die mich am meisten des Schimmels. Mittlerweile habe ten, das nicht attraktiv ist, denn ich fasziniert. ich ein Archiv von tausenden Fotos. bin der Meinung, dass Schönes nicht Diese verarbeite ich z. B. in meiner mehr verändert werden muss. Bevor Sie produzierten die Serie Fire Tires: Serie Kaffeetassen, wo ich Bilder der raumhohe Installationen, die bren- verschiedenen Phasen mit Stahlwolle nende Reifen und Rauchwolken dar- fertige. Diese runden Scheiben kön- stellten. Sehen Sie sich als politischer nen an die Wand gehängt werden. Künstler? Nein! Überhaupt nicht. Bei dieser Se- Wie kann ich mir die Arbeiten mit rie verwendete ich zwar ein typisch Stahlwolle vorstellen? politisches Motiv, aber ich veränderte Stahlwolle verwendet man üblicher- das Material dermaßen, dass sich der weise im Haushalt. Ich nehme ein Betrachter fragen muss, woraus es ge- Stück, drehe eine Spitze und ver- macht ist. Die Rauchwolken wirken wende es wie einen Zeichenstift. Die so weich, dass der erste Impuls das Leinwand muss eine klebende Ober- Berühren ist. Vielleicht besteht das fläche haben, und ich setze einen politische in meinen Arbeiten darin, Punkt nach dem anderen, bis das Gal Weinstein, dass ich Neugier hervorrufen möchte, Bild fertig ist. Ich arbeite z.B. an ei- Selbstporträt mit Stahlwolle die ich für den Ursprung von politi- schen Gedanken halte.

2·2013 nu 47 REZENSION

Elegie auf das bunte Odessa des Fin de Siècle

Ein literarisches Fundstück.

VON HERBERT VOGLMAYR

Vladimir Jabotinskys jahrzehntelang kann: hundert Sprachen“. Jabotins- ristische Agenten andererseits. Die li- verschollener Roman Die Fünf ist ei- ky, 1880 in Odessa geboren, schildert berale Gesellschaft verliert langsam ne ergreifende Elegie auf das bürger- das verflossene Paradies seiner Ju- ihre Offenheit, erkennbar an Über- lich-jüdische Odessa, das um 1900 gend und die Vertreibung daraus am wachungsmaßnahmen seitens der seinem Untergang entgegengeht. In Beispiel des tragischen Zerbrechens zaristischen Obrigkeit, an der Zensur einer geschmeidigen, elegant-beiläu- der jüdischen Familie Milgrom, de- von Zeitungsberichten, an der Grün- figen Sprache, die den Leser unmerk- ren Schicksal eng mit dem ihrer Stadt dung von Bürgerwehren und deren lich in ihren Bann zieht, beschreibt verbunden ist. Bewaffnung, an Zielübungen mit Pi- er das bunte Odessa im letzten stolen vor dem heimischen Spiegel, Glanz des Zarenreiches, das Odes- Der Glanz der blühenden Stadt wird bis der Aufstand, den Eisenstein in sa der Wortspiele und geistreichen am Vorabend der Revolution lang- Panzerkreuzer Potemkin verewigt hat, Unterhaltungen, bekannt für seinen sam getrübt vom heraufziehenden das Ende der alten Zeit anzeigt. Ein schalkhaften und leicht schlitzoh- Niedergang. In die heitere Sorglo- Hauswart, der vom dienstbeflissenen rigen Humor, ein polyglottes Viel- sigkeit des Bürgertums schleicht Arbeiter zum einschüchternden Über- völkergemisch, in dem man „das sich Misstrauen gegen revolutionäre wacher mutiert, wird von der Polizei schönste Lied der Menschheit hören Schwarmgeister einerseits, gegen za- verpflichtet, als es darum geht, die erste Demonstration niederzuknüp- peln. Die Veränderungen spiegeln Odessa zu Beginn des 20. Jahrhunderts sich im Schicksal der fünf Kinder der Familie Milgrom: Die warmherzige, alle bezaubernde Marussja verbrennt bei lebendigem Leib, der nihilistische Filou Serjosha mit Hang zur Gaunerei wird von einem gehörnten Ehemann mit Säure geblendet, der naive Marko bricht bei Nebel im Eis ein und ver- schwindet spurlos, der kühl-intellek- tuelle Karrierist Torik konvertiert, und die humorlose Fanatikerin Lika wird kommunistische Agentin, die später in Stalins Gefängnissen umkommt.

Der Roman wurde bei seiner Erstver- öffentlichung 1936 in Paris kaum be- achtet und nach 2000 in Russland neu aufgelegt. Es ist dem Verlag „Die Andere Bibliothek“ zu danken, dass er nun auch auf Deutsch vorliegt – und vom deutschsprachigen Feuil-

48 nu 2·2013 Vladimir Jabotinskys jahrzehntelang verschollener Roman Die Fünf ist eine ergreifende Elegie auf das bürgerlich-jüdische Odessa, das um 1900 seinem Untergang entgegengeht. leton für seine literarische Qualität er Ghetto-Aufstand kämpften und te, sondern lebende Juden, und er gerühmt wird, wie zuvor schon von die Untergrundaktivitäten gegen die sehe keinen Segen in der Vermeh- der russischen Kritik. Die Fünf steht britische Mandatsmacht in Palästina rung von Gräbern in Israel. 1964 ge- in einer Reihe von Neu- und Wie- dominierten. Jabotinskys Bewegung stattete Ministerpräsident Levi Esch- derentdeckungen russischer Literatur war nicht monolithisch, sondern be- kol die Überführung der sterblichen in den letzten Monaten, zu denen stand aus mehreren Fraktionen, von Überreste und deren Bestattung auf Gaito Gasdanows – ebenfalls erstmals denen die moderateren die Koopera- dem Herzlberg in Jerusalem. In Israel auf Deutsch verlegter – Roman Das tion mit den Briten suchten, während sind mehr Straßen und Plätze nach Phantom des Alexander Wolf ebenso andere die Mandatsmacht erbittert Jabotinsky benannt als nach Theo- gehört wie die Neuübersetzungen bekämpften. Jabotinsky sah in den dor Herzl. von M. Agejews Roman mit Kokain 1930er-Jahren klar, dass in Europa und Michail Bulgakows Meister und das Leben von Millionen Juden be- Neben seiner politischen Tätigkeit Margarita. Jabotinsky war zudem als droht war und propagierte das Zu- war er Journalist, Hebraist und viel- Romanautor so gut wie unbekannt, sammenleben mit den Palästinensern sprachiger Übersetzer, der unter an- er wurde bisher vor allem als Journa- in einem jüdisch dominierten Staat, derem Dante und Goethe ins Hebrä- list und zionistischer Politiker wahr- mit gleichen Bürgerrechten für beide ische übersetzte. Sein literarisches genommen. Der Verlag erzählt über Volksgruppen. Ab 1937 leitete er die Werk besteht neben dem hier bespro- den Autor fast nichts, obwohl die Geheimorganisation Irgun, die den chenen Buch aus dem Roman Richter Kenntnis seines schillernden Lebens- Guerillakampf gegen die britische und Narr (über die biblische Samson- laufes das Leseerlebnis bereichern Besatzungsmacht anführte, was auch Figur, erscheint im Herbst 2013 auf würde. Daher etwas mehr über ihn. Attentate auf Märkten einschloss, bei Deutsch), einer Autobiografie sowie denen zufällige Passanten, Araber wie Novellen, Gedichten und Theaterstü- Zionist und vehementer Juden, starben. Nach Jabotinskys Tod cken. Es wurde nach 2000 in Russ- Anti-Sozialist radikalisierte sich die Irgun unter der land erstmals als Gesamtwerk ediert. Führung Menachem Begins (beson- Da war das multikulturelle Odessa Vladimir Ze’ev Jabotinsky, ein eben- ders als die Briten begannen, jüdische längst untergegangen. Die Fünf en- so charismatischer wie umstrittener Flüchtlinge aus Nazi-Deutschland ab- det mit der Erkenntnis, dass das ei- Führer des politischen Zionismus, zuweisen) und verstärkte die Terror- gene Heiligtum so wenig oder viel wurde 1880 in Odessa als Sohn ei- anschläge auf britische Einrichtungen wert ist wie das der anderen, und ner jüdischen, assimilierten Familie und Vergeltungsschläge gegen Ara- dem Gedanken, was für ein wunder- geboren und starb 1940 in den USA. ber. Der politische Flügel der Irgun bares Wort „Zärtlichkeit“ ist, in wie Während der Studienjahre in Rom sammelte sich nach Gründung des vielen Dingen dieser Welt sie sich wurde er stark beeinflusst vom Na- Staates Israel in der Cherut-Partei, die ausdrückt, nicht zuletzt im Lachen. tionalismus Garibaldis, der zur Ver- den Kern des Likud-Blocks bildet. Man ahnt, was der Schmerz, die al- einigung Italiens geführt hatte. Laut te Welt zu verlieren, bedeutet haben eigener Aussage ist er in Italien Zi- Als Jabotinsky in den USA starb, wur- muss und wie ein großartiger Autor onist geworden. Durch das Pogrom de seine Beerdigung in Israel von Da- im politischen Untergrund zum Ex- von Kishinew politisiert, nahm er vid Ben Gurion abgelehnt mit der tremisten wurde. Der Roman erzählt 1903 erstmals am Zionistenkongress Begründung, Israel brauche nicht to- davon, wie das zu vermeiden wäre. teil. Er wurde Mitglied des Exekutiv- Komitees der World Zionist Organi- zation (WZO) und führte in weiterer Vladimir Jabotinsky Folge als vehementer Anti-Sozialist Die Fünf deren rechten Flügel. Der politische Aus dem Russischen von Ganna-Maria Braungardt Falke wandte sich gegen die gemä- Die Andere Bibliothek, Berlin 2013 ßigten Zionisten um Chaim Weiz- 267 Seiten, 22 EUR mann und gründete 1923 die Union der Zionistischen Revisionisten und die Jugendbewegung Betar, welche organisatorisch die Einwanderung europäischer Juden nach Palästina unterstützten, führend im Warschau-

2·2013 nu 49 RÄTSEL Suchbild auf Jiddisch …

And here it comes, der lang erwartete Sommer, den wir mit dem Some Like It Hot-Rätsel begrüßen!!

VON MICHAELA SPIEGEL

4. DIAMANTRING 4.

3. LOCKE 3.

2. ZWEI SCHMUCKROSEN ZWEI 2.

1. ZWEI ALTERUNGSPROZESSE ZWEI 1. AUFLÖSUNG: AUFLÖSUNG:

50 nu 2·2013 ENGELBERG

Das Image Israels – Anlass zu Sorge und

FOTO©: PETER RIGAUD Nachdenklichkeit

VON MARTIN ENGELBERG

Das Image Israels ist wieder einmal welchem Kind sie ihr Kind spielen Boykott gewinnt an Boden, und ei- zerzaust. Negativer als Israel wer- lassen wollen. Sicher nicht mit je- ne zunehmende Zahl von Künst- den gerade noch der Iran, Pakistan nem, welches sich ständig mit sei- lern und Wissenschaftlern weigern und Nordkorea gesehen. Es bricht nem Nachbarkind prügelt, egal wer sich, nach Israel zu kommen. einem das Herz, während man sel- letztlich recht hat. ber, hinsichtlich der Politik Israels, Viele dieser Aktivitäten können die Widersprüche spürt. Europa ist für Israel politisch oh- aufgrund des sehr tauglichen „3-D- nehin verloren, lautet ein weiteres, Tests“ als unausgewogen bis klar Im Zuge einer BBC-Umfrage wur- oft vorgebrachtes Argument. Man antisemitisch entlarvt werden. Das den nicht weniger als 26.000 Leu- hört, dass diese Haltung sogar Teil wichtigste „D“ dabei – „Double te in 25 Ländern gefragt, welchen der Politik des israelischen Außen- Standards“ – ist zumeist besonders Ländern sie einen positiven bzw. amtes sei, weshalb der Löwenan- schlagend: Wo sind die Proteste, einen negativen Einfluss zuordnen. teil von dessen Ressourcen für die Boykotte und Sanktionen gegen Während Deutschland in diesem israelische Öffentlichkeitsarbeit in schwerste Menschenrechtsverlet- Jahr den positivsten Wert erzielte, die USA gehe, immer weniger je- zungen, bis hin zu Verbrechen ge- sehen Israel im Durchschnitt nur doch für PR in Europa aufgewen- gen die Menschlichkeit, in Länder 21 % der Menschen positiv – 52 % det werde. Dies ist ein Trend, der wie Syrien, Iran, Sudan, Saudi-Ara- jedoch negativ. Es schmerzt, dass von den jüdischen Gemeinden und bien, Nordkorea usw.? Die Doppel- Israel im negativen Ranking nur Freunden Israels in Europa schon moral der westlichen Länder in ih- vom Iran, mit lediglich 15 % po- seit vielen Jahren beklagt wird. Da rer Verurteilung Israels zeigt sich sitiven und 59 % negativen Wer- wirken die oft sehr engagierten und auch immer in deren Verhalten ge- tungen, deutlich übertroffen wird. einfallsreichen Initiativen von zum genüber Terror, sobald er sie selber Teil hervorragenden israelischen trifft: Da wird oft gar nicht so zim- Zur Beruhigung und Freude lässt Diplomaten (siehe auch das Inter- perlich vorgegangen. sich einwenden, dass Israel wenig- view mit dem scheidenden israe- stens von den Menschen in den lischen Botschafter Aviv Shir-On Letztlich ruhte die Hoffnung der USA mit über 50 % sehr viel posi- in diesem NU) wie ein Tropfen auf Freunde Israels jedoch auf der is- tiver gesehen wird. Diese Tatsache den heißen Stein. raelischen Politik: Sie werde schon hat jedoch auch Schattenseiten: So wissen, was die richtige Vorgangs- wird Israel auch in der Realität po- Die negative Entwicklung der öf- weise sei. Doch auch dieses Bild litisch immer abhängiger von den fentlichen Meinung in Europa ge- bekommt Risse: Der für den Oscar USA und deren Wohlwollen. Zwei- genüber Israel darf jedoch nicht un- nominierte israelische Dokumen- tens kann man sich ausrechnen, terschätzt werden. Die sogenannte tarfilm The Gatekeepers, in dem die wo Israel im Ranking zu liegen kä- „Boycott, Divestment, Sanctions“- letzten sechs Chefs des israelischen me, wenn die Zahlen aus den USA Bewegung verzeichnet Erfolge. Ihr Inlandsgeheimdienstes „Shin Bet“ den Durchschnittswert nicht so Ziel ist es, Israel letztlich zu einem zu Wort kamen, brachte Einsichten stark in die positive Richtung be- Paria der Völkergemeinschaft zu von zum Teil historischer Tragwei- einflussten. machen, wie es seinerzeit Südafri- te. Ein Schlüsselsatz war jedoch: ka zur Zeit der Apartheid war. Eine „Es ging immer nur um die Taktik. Wie schon in den Vorjahren gibt es Mehrheit der EU-Länder (auch Ös- Wir hatten nie eine Strategie.“ einige Argumente gegen die Stich- terreich) befürworten inzwischen haltigkeit der Befragung. Es sei so, einen Boykott von Gütern aus dem als würde man Eltern fragen, mit Westjordanland, der akademische

2 ·2013 51 KOHNVERSATIONEN

VON RUTH LEWINSKY (ZEICHNUNG) UND CHARLES LEWINSKY (TEXT)

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www.rcb.at IN EIGENER SACHE

LESERBRIEFE ZU Kommentar von PETER HUEMER AUSGABE 51 zum Interview mit Susanne Riess

Susanne Scholl trifft Ruth Eisenreich in der Albertina UÊ (Siehe dazu auch den Leitartikel von Peter Menasse) Eine Hollywood Geschichte von Georg Markus: Franz

Lederer U Pulitzerpreisträger Saul Friedländer im Porträt UÊÊ

Gedenk-Boom. Vergangenheitsbewältigung im Burgenland Ausgabe Nr. 51 (1/2013) Nissan 5773 € 4,50 www.nunu.at Frau Riess (ehemals Riess-Passer) sagt ihrer Zeit, hat sie natürlich unrecht. im Interview mit NU (Ausgabe 51): „Ich Sie beklagt sich ja auch selber über vermute, es wird auch jetzt noch Leute Parteifreunde damals, „dass sie plötzlich geben, die Sie fragen werden, warum auferstanden sind aus irgendwelchen Sie überhaupt mit mir reden.“ Wie dumpfen Ecken“. Es stimmt schon, wahr! Ich gehöre auch dazu. heute sind diese Leute noch stärker, aber wichtig waren sie in der FPÖ Was ist der Redaktion denn da eingefal- immer. Wie Frau Riess übersehen konn- len? Ich war ganz bestimmt nicht der te, was für uns alle offensichtlich war, einzige, der sich das gefragt hat ange- „Es war schon erstaunlich für mich, Susanne Riess dass sie plötzlich auferstanden sind bleibt ihr Geheimnis. aus irgendwelchen dumpfen Ecken. “ sichts von Frau Riess auf dem Cover von NU samt Interview im Heft und Wenn Frau Riess freimütig eingesteht, Zu: Durch den Tunnel zur Angelo- vier (!) zusätzlichen Fotos. Um des dass sie und ihre Partei „keine Ahnung bung von Martin Engelberg Rätsels Lösung zu finden, war es aller- vom Regieren“ hatten, ist das für uns dings unvermeidlich, das Interview zu keine Neuigkeit, aber es freut uns, das Nanu? Auf der jüngsten NU-Front- lesen. Und ich entdeckte darin tatsäch- aus berufenem Munde zu hören. Was in page die letzte Frontfrau der ein- lich ein Detail, das mir neu war und das diesem Interview allerdings völlig fehlt, stigen „Haider-FPÖ“: Susanne Riess (-Passer). Ihres Zeichens Jahrhundert- ich für wichtig halte: den Schotter! was aber die FPÖ an der Macht ganz besonders auszeichnet, ist: die Gier wende-Vizekanzlerin im Kabinetts des Als die Regierung Schüssel/Riess-Passer Dr. Schüssel, dessen schwarz-blaue und die Korruption. Die Rumpolds, die angelobt wurde, musste sie bekannt- Regierung die EU erstmals das Gru- Meischbergers und wie sie alle heißen, seln gelehrt hatte. Signifikanter Spitz- lich durch einen Tunnel die wenigen und mit welch unersättlicher Gier sie name der Zweitchefin der damaligen Meter vom Bundeskanzleramt zum über das öffentliche Gut hergefallen Wenderiege: Königskobra. Als poli- Bundespräsidenten zurücklegen, weil es sind und genommen haben, was sie tisch die Luft zu dünn wurde, fand sie oben angeblich zu gefährlich gewesen in der Privatwirtschaft Unterschlupf. kriegen konnten. Und natürlich auch wäre. Welche Demütigung! Das wussten Auch dieser flotte, existenzsichernde Haider selbst und sein unglaubliches Alltags-Airbag war und ist bemer- wir, aber Details erfahren wir nun: „Wir Regime in Kärnten, bis das Land am kenswert. gingen durch Schotter und es standen Abgrund stand und er selbst sich „mit dort Leute mit Lampen, die uns den seiner Asche aus dem Staub gemacht Zehn Jahre Mauerblümchen-Dasein in Weg gezeigt haben.“ der Provinz-Ritze einer Bausparkasse hat“, wie es Josef Winkler so unnach- sind offenbar genug. Nun hievt NU Wenn in künftigen Geschichtsbüchern ahmlich formuliert hat. Das sollte daher Haiders Exvertraute weich gezeichnet über diese Regierung geschrieben wird, die Regel sein: kein Interview über die als Unschuldsengerl auf das Titel- dann sollte zur Ehre des Landes auch blatt. Entsprechend flau liest sich das FPÖ, ohne über deren Korruptheit zu „feinfühlige Interview“: keine jour- das erzählt werden: Schon der Weg reden. nalistisch-kritischen Fragestellungen, zur Angelobung dieser Regierung war Das Interview mit Susanne Riess ist kein Hinterfragen. Kuschel-Inhalte, steinig. Es gab nämlich auch noch ein kein besonderes Malheur, und selbst- die dem Image-Polish einer FPÖ- wütendes anderes Österreich. Leitfigur a. D. dienen. Riess neu – im verständlich kann man mit ihr über Nu rein gewaschen. Vom Scheitel bis Sonst nicht viel Neues. Dass Jörg Haider ihre große Zeit reden. Aber warum zur noblen Schuhspitze blitzsauber extrem auf seine Eltern fixiert war und ausgerechnet im NU? Als „Gespräch modelt sie nun vor blütenweißen dass sein Bild vom Nationalsozialismus der Feinde“, wie es Friedrich Heer einst Fensterstores. Soll sein, dass die Dame unmittelbar damit zusammenhing, inzwischen einen Läuterungsprozess gefordert hat? Dazu kommt es zu spät. wissen wir. Peter Michael Lingens hat durchschritt. Warum jedoch bietet ihr Aber etwas bleibt aus diesem Gespräch: gerade NU eine Plattform? Womög- das vor zwei Jahrzehnten auf den Punkt der Schotter. lich, weil kein anderes Medium inte- gebracht: Haider sei kein Nazi, sondern ressiert ist? Ablass und Absolution ein „Nazibua“. sind übrigens altvertraute katholische Usancen. Das sollten sie auch bleiben. Wenn Frau Riess die FPÖ heute in eine Peter Huemer ist Publizist, Journalist Nu? Reihe mit Le Pen und dem einstigen und Historiker. Bekannt wurde er vor Vlaams Blok stellt, hat sie natürlich allem als Leiter der Fernsehsendung Mit freundlichen Grüßen, Dr. Rubina Möhring recht. Wenn sie behauptet, das sei Club 2 und danach der Hörfunksendung Vorsitzende der „heute eine andere Partei“ als zu Im Gespräch. „Reporter ohne Grenzen“

2·2013 nu 53 Monika Meryn UNSERE AUTORINNEN Studium am Zentrum für Translationswissen- schaft der Universität Wien (Mag.phil.). Langjäh- rige Tätigkeit in der PR-Branche, bis Mai 2011 Pressesprecherin des Museums für angewandte Kunst (MAK). Seit 2012 selbstständig mit dem Kunsthandel Meryn Art Consulting.

Salomi Boukala Rainer Nowak ist unabhängige Journalistin. Sie hat als interna- Der ständige NU-Mitarbeiter und Vater zweier tionale Korrespondentin für verschiedene grie- Töchter ist Chefredakteur der Tageszeitung chische Medien gearbeitet und absolviert derzeit Die Presse. ein Doktoratsstudium an der Fakultät für Linguis- tik und Englisch der Universität Lancaster.

Martin Engelberg Peter Rigaud Der NU-Herausgeber ist Betriebswirtschafter, studierte Fotodesign am renommierten Lette- Psychoanalytiker, Coach und Consultant. Er ist Verein in Berlin. Nach dem Studium arbeitete er im Schnittbereich Politik/Psychoanalyse und lange Zeit in New York, Chicago und Cleveland. Wirtschaft/Psychoanalyse tätig. Seit 2006 lebt und arbeitet er in Berlin und Wien.

Johannes Gerloff Danielle Spera hat in Tübingen, Vancouver und Prag evan- Das NU-Gründungsmitglied ist Direktorin des gelische Theologie studiert und lebt seit 1994 Jüdischen Museums Wien. Davor war sie ORF- mit seiner Familie in Jerusalem. Er arbeitet als Journalistin und Moderatorin. Sie studierte Publi- Nahostkorrespondent des Christlichen Medien- zistik- und Politikwissenschaft (Dr. phil.), verbundes KEP. u. a. Autorin des Buches Hermann Nitsch – Leben und Arbeit.

Jacqueline Godany Michaela Spiegel lebt als Fotografin in Wien. Die NU-Rätseltante studierte Malerei an der Angewandten in Wien und der École nat. sup. des Beaux Arts in Paris. Sie zählt sich zur Schule des feministischen Irrealismus. Zahlreiche Aus- stellungen und Publikationen.

Erwin Javor Thomas Stern ist Unternehmer. Seine Firma Frankstahl ist das Eigentümer und Geschäftsführer der Internet- führende österreichische Stahlhandelsunterneh- agentur Braintrust und Verleger zeitgeschicht- men. Der NU-Gründer und langjährige Heraus- licher Werke in Zusammenarbeit mit dem geber ist Dajgezzen-Partner von Chefredakteur Versöhnungsfonds der Republik Österreich und Peter Menasse. dem Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstands.

Eva Konzett Anatol Vitouch Seit 2008 im Journalismus tätig. Themenfeld ist Schachmeister und Student des Faches „Buch Osteuropa mit Schwerpunkt Rumänien. Lebt als und Dramaturgie“ an der Wiener Filmakademie. freie Journalistin in Wien. Gründungsmitglied der Künstlervereinigung „DIE GRUPPE“.

Ida Labudovi´c Herbert Voglmayr Die NU-Chefin vom Dienst ist in Belgrad gebo- Nach dem Studium der Sozial- und Wirtschafts- ren, wo sie Ethnologie, Kultur- und Sozialanthro- wissenschaften berufliche Tätigkeit an der pologie studierte (Mag. Dr. phil.). Sie lebt seit Universität und in der Erwachsenenbildung. 2007 in Wien und ist Mitarbeiterin von M-Media. Seit 2004 freiberuflicher Publizist. Neben seiner Tätigkeit für NU verfasst er Kultur- und Wein- reiseführer durch italienische Weinregionen.

Charles Lewinsky Peter Weinberger ist Schriftsteller. Sein letzter Roman schildert das war bis 2008 Professor für Allgemeine Physik an Leben des Schauspielers und Regisseurs Kurt Gerron. der TU Wien und ist seitdem Gastprofessor an Ruth Lewinsky der New York University. Er ist auch literarisch begann als Grafikerin, wurde dann Cranio-Sacral- tätig. Therapeutin und veröffentlichte im letzten Jahr ihren ersten Gedichtband.

54 n u 2·2013 DAJGEZZEN UND CHOCHMEZZEN*

Alles verkehrt FOTO ©: PETER RIGAUD FOTO ©: PETER RIGAUD

DER ZWIEKOMMENTAR VON PETER MENASSE UND ERWIN JAVOR

Javor: Endlich wird das NU so gelesen, wie manchmal auf dich einließe, wärst du Keynesianer sind die Roten und die Austria- es bei uns Juden üblich ist. schon lange vereinsamt. ner die Violetten. Menasse: Was meinst du? Javor: Ich werde den NU-Redakteuren hel- Menasse: Uje, das weiß der Stronach sicher fen müssen und einen Leitfaden für rich- nicht. Javor: Das Impressum, das bisher immer tiges Interviewen herausbringen. auf der letzten Seite war, ist jetzt auf der Javor: Der Faymann war unlängst im Fern- ersten. Und man liest das NU von rechts Menasse: Da bin ich dabei. Es wäre wich- sehen und hat sich für die Bankenabgabe nach links. tig, jedem Politiker die für ihn maßge- starkgemacht. Ich verstehe nicht, was er da schneiderte richtige Frage zu stellen. will. Geben wir nicht ohnehin schon genug Menasse: Geh so ein Blödsinn, wie kommst an die Banken ab? du darauf? Javor: Also Faymann würde ich fragen, ob er irgendeinen Sozialdemokraten kennt Menasse: Du missverstehst das. Die Ban- Javor: Überall, wo ich das NU gesehen und ihn mir empfehlen kann. ken müssen alle Namen der Kontoinhaber habe, ist es so gelegen. Außer in der Trafik, und den Kontostand abgeben. Das hilft bei dort lag es neben dem Blatt vom schmis- Menasse: Spindelegger wäre zu fragen, ob der Korruptionsbekämpfung. sigen Mölzer Zur Zeit. Das ist typisch für österreichische Soldaten immer dann diese Leute. Was mir die Rückseite ist, ist zurückgezogen werden, wenn es gefähr- Javor: Und was meinen die Zeitungen stän- denen die Vorderseite – und umgekehrt. lich werden könnte. Zusatzfrage wäre, dig mit Offshore-Veranlagungen? wohin sich das Bundesheer flüchtet, sollte Menasse: Erwin, ich weiß, dass du nicht Menasse: Das heißt nur, dass die großen Österreich von fremden Truppen bedroht einverstanden warst, die Frau Riess auf das Vermögen vor dem Fiskus in Übersee in werden. Titelblatt zu setzen, aber du bist ja auch Sicherheit gebracht und die kleinen Vermö- nicht gerade ein echter Experte für Journa- Javor: Strache ist zu fragen, ob er therapeu- gen dafür im Wörthersee versenkt werden. lismus. tische Hilfe in Anspruch nehmen musste, Javor: Ich verstehe. Das ist so wie die als er gehört hat, dass Faymann unter die Javor: Der einzige Grund, sie auf ein Titel- Geschichte von Uli Hoeneß, dem Präsi- zehn schönsten Politiker der Welt gewählt blatt zu nehmen, wäre als Role-Model für denten von Austria Wien, der sich in Malibu wurde. die Weight Watchers. So nach dem Motto mit Hilfe der Hypo Alpe Adria drei Boote „Vorher und nachher“. Menasse: Interessant wäre auch zu wissen, gekauft hat. warum er immer schreit. Könnte es sein, Menasse: Aber nur in dem Sinn, dass sie Menasse: Du meinst wohl Herbert Stepic, dass er schwerhörig ist und niemand traut früher eine gewichtige Politikerin war, die den Präsidenten von Bayern München. sich, es ihm zu sagen? jetzt über die Leichtgewichte in der FPÖ Aber der hat nicht drei Boote in Malibu, herzieht. Ist doch nett, wenn sich diese Javor: Das könnte von den vielen Disco- sondern drei Fußballer in Singapur gekauft. Genossen selber zerfleischen. Besuchen kommen. Javor: Aber dass die Austria die Champions Javor: Ich war ohnehin beeindruckt von Menasse: Glawischnig wäre zu fragen, ob League gewonnen hat, stimmt schon? den knallharten Fragen. sie bei Stronach tatsächlich einen grünen Menasse: Ja klar, sie hat im Finale 4:0 Finger entdeckt hat. Menasse: Du bist wie immer obergescheit. gegen Mattersburg gewonnen. Trotzdem Was hättest du sie denn gefragt? Javor: Und Stronach fragen wir, ob er den wurde Mourinho entlassen. Es gibt keine Unterschied zwischen Austrianern und Gerechtigkeit. Javor: Es haben mir die drängenden Fragen Keynesianern kennt. gefehlt, zu welchem Friseur sie geht und Javor: Ja, ja. Es ist alles offshore im Leben. wie das Wetter ist. Menasse: Sehr gute Frage. Aber sag, was ist denn nun wirklich der Unterschied? * dajgezzen: sich auf hohem Niveau Sor- Menasse: Es ist überflüssig, mit dir noch gen machen; chochmezzen: alles so ver- weiter zu diskutieren. Dir gibt sowieso kein Javor: Das ist wieder typisch für dich, dass komplizieren, dass niemand – einschließ- Mensch ein Interview. Wenn ich mich nicht du auch das Einfachste nicht weißt. Die lich seiner selbst – sich mehr auskennt.

n 2 ·2013 u 55 *°L°L°ÊUÊ6iÀ>}ëœÃÌ>“ÌÊ£ä£äÊ7ˆi˜ÊUÊ<Տ>ÃÃ՘}ØÀ°\ÊäÓ<äÎΣ£Î

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