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KULTUR

Autoren „Die Legende wird zerstört“ Thomas Mann nannte ihn einen „Märtyrer der Friedensidee“: Während Carl von Ossietzky im KZ gequält wurde, nutzten Emigranten seinen Fall zur Propaganda gegen die Nazis – offenbar ohne Einverständnis des kritischen Publizisten. Doch warum fehlen die entsprechenden Dokumente in der neuen Ossietzky-Gesamtausgabe?

m Sommer 1935 erhielt Corder Catchpool endlich die Erlaubnis, den Iprominenten Häftling zu besuchen. Catchpool, Vertreter der englischen Quäker in , reiste in das Konzen- trationslager Papenburg-Esterwegen im Emsland und traf dort Carl von Os- sietzky, den international angesehenen Pazifisten und Publizisten. Der Brite war der erste Besucher überhaupt, den Ossietzky nach eineinhalb Jahren sehen durfte. Dank einer engagierten Pressekam- pagne deutscher Emigranten wußte die Weltöffentlichkeit von Ossietzkys elen- der Lage. Um ihn zu schützen und um die Nazis anzuprangern, forderten seine Freunde, darunter Heinrich Mann, Ar- nold Zweig und Lion Feuchtwanger, die Verleihung des Friedensnobelprei- ses an den KZ-Häftling. Doch Catchpool bekam in Esterwe- gen Überraschendes zu hören: „O. bat mich, bei seinen Freunden zu insistie- ren (sehr scharf), daß er gegen die No- belpreiskampagne ist“, notierte der Be- KZ-Häftling von Ossietzky*: „Er will absolut in Ruhe gelassen werden“ sucher aus Berlin in einem Brief. „Er will absolut in Ruhe gelassen werden, Ossietzky also als Mittel zum Zweck, In einem Südwestfunk-Streitgespräch was diese Maßnahmen betrifft. Er als Propaganda-Medium im Kampf ge- attackierte er deswegen kürzlich den möchte, daß ein Rechtsanwalt seinen gen die Nazis? Diese These vertritt der Mitherausgeber der Ossietzky-Ausga- Fall beobachtet.“ Ossietzky-Forscher Stefan Berkholz, 39. be, Gerhard Kraiker, 58. Der aller- Ossietzkys Bitte wurde nicht beach- Der Berliner Germanist und Publizist dings bestritt jede Manipulation: Man tet: Hilde Walter zum Beispiel, eine polemisiert gegen die Freunde Ossietz- habe unmöglich alle Texte abdrucken nach Paris emigrierte Journalistin und kys, aber auch gegen die Herausgeber können, der Dokumentenband sei Ossietzky-Anhängerin, arbeitete weiter der neuen, achtbändi- „sowieso schon sehr am Projekt Nobelpreis. gen Ossietzky-Ausga- umfangreich“. Auch Auch der junge Emigrant Willy be des Rowohlt-Verla- Hilde Walter wird von Brandt wollte dazu seinen Teil leisten ges**. Durch das Weg- Kraiker verteidigt: und eine Broschüre mit Ossietzky-Zita- lassen entscheidender „Die Frau hat Jahre ih- ten zusammenstellen. Hilde Walter bat Dokumente sei Os- res Lebens für die Ret- er in dieser Angelegenheit um Rat. Ih- sietzkys Biographie tung Ossietzkys ein- re Antwort vom Dezember 1935: verzerrt worden. gesetzt.“ Manchmal Die wirklich guten und wirksamen Arti- Tatsächlich findet kel von O. . . . sind so, daß sie uns die sich weder der Wort- laut des Catchpool- * Im KZ Esterwegen im ganze Friedenspreis-Kampagne kaputt Emsland. machen. Es sind . . . eben aktuelle Briefs noch Hilde Wal- ** Carl von Ossietzky: Zeitschriften-Artikel, schön heute noch ters Schreiben an Willy „Sämtliche Schriften“. Her- Brandt im Dokumen- ausgegeben von Werner für Kenner, für einen großen Kreis eher Boldt, Dirk Grathoff, Ger- enttäuschend als anfeuernd. Ganz un- tenband der Rowohlt- hard Kraiker, Elke Suhr un- ter uns gesagt: Ich fürchte, die große Ausgabe. „Hier wird ter Mitwirkung von Rosalin- systematisch Material da von Ossietzky-Palm. Ro- Legende wird zu leicht zerstört und da- wohlt Verlag, Reinbek bei mit die Propaganda-Möglichkeit. unterschlagen“, be- P. LANGROCK / ZENIT ; 8 Bände; 6120 hauptet Berkholz. Ossietzky-Forscher Berkholz Seiten; 248 Mark.

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Wahrscheinlich irrten Ossietzky und auch Catchpool. Die Kampagne war si- cher dafür mitverantwortlich, daß die Nazis den prominenten Häftling nicht gleich umbrachten. Und dennoch: Catchpools Zeilen sind der Forschung bekannt, in die Werkausgabe gehören sie zweifellos hinein. Dasselbe gilt für einen Brief des Physikers und Nobel- preisträgers Albert Einstein. Der schrieb 1935 an den Regisseur Gustav Hartung: Ossietzky hat durch seine Freunde im Ausland wissen lassen, daß irgendwel- che Schritte zu seinen Gunsten von Sei- ten Emigrierter, falls sie den deutschen Machthabern bekannt werden, zur Ver- schärfung seiner ohnedies grauenvol- len Lage beitragen. Was machen die Herausgeber daraus? In einer kleingedruckten Anmerkung heißt es lapidar, Einstein habe „aus taktischen Erwägungen nicht selbst an das Nobel-Komitee schreiben wollen“. Welcher Art diese „Erwägungen“ waren, wird dem Leser verschwie- gen. Carl von Ossietzky war seit dem 28. Februar 1933 in Haft, die Nazis hatten ihn am Morgen nach dem Reichstags- brand abgeholt. Im April wurde er zu- nächst ins KZ Sonnenburg gebracht, OSSIETZKY-ARCHIV Ossietzky-Urkunde*: „Ich war Pazifist und werde Pazifist bleiben“

schreibe sie zwar „ein bißchen flapsig“, kratie, auf Militarismus und Klassenju- doch habe sie „alles andere als eine zyni- stiz sind in erdrückender Vielzahl wieder- sche oder gar instrumentelle Haltung“ gegeben. gegenüber Ossietzky eingenommen. Verständlich also, wenn Berkholz Die Parteien stehen sich unversöhn- nicht glauben mag, daß ausgerechnet je-

lich gegenüber: hier der Ossietzky-Ex- ne Texte nur zufällig im Dokumenten- P. MEYER / FORUM perte Berkholz, der bereits 1988 eine bandfehlen, dievonden Differenzenzwi- Ossietzky-Herausgeber Kraiker Dokumentation über einen der bekann- schen Ossietzky und seinen Freunden in Jede Manipulation bestritten testen Publizisten der Weimarer Repu- der Emigration Zeugnis ablegen. blik veröffentlichte – dort die Herausge- Auch ein weiterer Brief Corder Catch- später kam er nach Esterwegen im Ems- ber der bisher umfangreichsten Werk- pools blieb ungedruckt, ein Brief, der die land. Die schwere Arbeit im Moor rui- Ausgabe, vier Wissenschaftler der Carl- wichtige Frage beantwortet, warum Os- nierte seine Gesundheit, er wollte zu- von-Ossietzky-Universität . sietzky so dringlich um die Beendigung nächst nur eines: raus aus der mörderi- Sechs Jahre lang hatte das Forscher- der Nobelpreiskampagne bat: schen Quälerei. team das Lebenswerk des 1889 gebore- Offenbar setzten sich seine Freunde nen Ossietzky gesichtet. Weit mehr als Als ich ihn im Konzentrationslager be- wissentlich über seine Vorbehalte hin- 1000 Texte wurden zum Abdruck ausge- suchte, sagte mir der Lagerkomman- weg, und zwar in bester Absicht. Willy wählt, darunter frühe Artikel des Re- dant, er habe ihn zur Freilassung emp- Brandt ermutigte Hilde Walter im No- dakteurs bei der Berliner Volks-Zeitung, fohlen. Das ist jetzt über ein Jahr her, vember 1935 ausdrücklich, die Kampa- vor allem aber jene Aufsätze, mit denen und ich glaube, es gibt keinen Zweifel gne fortzusetzen, andernfalls werde Ossietzky als verantwortlicher Redak- daran, daß seine Chancen, freigelassen „ein gefährliches Schweigen über den teur der Weltbühne (1927 bis 1933) Ge- zu werden, von übereifrigen Freunden Fall O.“ eintreten. Wenige Wochen schichte machte. Ossietzkys Angriffe aus dem Ausland zerstört wurden, die zuvor hatte schon Thomas Mann an auf rechte und linke Feinde der Demo- geglaubt haben, daß Druck von außen das Osloer Nobel-Komitee appelliert, die einzige Möglichkeit wäre, ihm zu hel- „einem Märtyrer der Friedensidee wie * Für den Friedensnobelpreis 1935. fen. dem seit drei Jahren das Konzentrati-

DER SPIEGEL 32/1995 137 KULTUR onslager erduldenden Ossietzky den Gerade erst hatte er für sich und seine Friedenspreis zuzuerteilen“. Familie eine neue Wohnung in Berlin Spektakel Im Mai 1936 wurde Ossietzky aus eingerichtet – die erste mit eigenen Mö- dem KZ in ein Berliner Krankenhaus beln, wenn auch auf Kredit. Hat er die gebracht, blieb dort allerdings unter Entschlossenheit seiner Gegner, der Bewachung. Hermann Göring selbst neuen braunen Machthaber, die er oft Verrückt oder war es, der ihm Ende 1936 den Ver- genug verspottet und angegriffen hatte, zicht auf die Annahme des Friedensno- unterschätzt? belpreises abhandeln wollte, im Ge- Von der Verleihung des Friedensno- gehirntot genzug dürfe er als freier Mann nach belpreises hat er nicht mehr profitiert, Hause gehen. Ossietzky lehnte Görings selbst um das Preisgeld wurde er ge- Der Schauspieler Ben Becker, 31, Kuhhandel ab: „Ich war Pazifist und prellt. Allerdings nicht von den Nazis, hat ein Rock-Grusical geschrieben. werde Pazifist bleiben.“ sondern von einem schlichten Betrüger, Dieser vielzitierte Satz zeigt Ossiet- den Ossietzky gebeten hatte, die Sum- Nun präsentiert er das Werk in einer zky als unbeugsamen Widerständler. me – etwa 100 000 Reichsmark – in Berliner Szenekneipe. Aber das war seinen Freunden offen- für ihn abzuholen. Zwei der Herausge- bar noch nicht genug, und so forderte ber, Kraiker und Elke Suhr, haben die Hilde Walter offen, „daß man hinter bislang wenig bekannten Details dieser m14.Oktober1978meldeteBildauf den Kulissen Legendenbildung för- Aktion in einer Ossietzky-Monographie der Titelseite: „Rock-Star schlitzt dert“. Zu diesem Zweck war sie auch dargestellt, die parallel zur Werkausga- AGeliebte auf – tot.“ Ben Becker hat bereit, Informationen zurückzuhalten, be erschienen ist*. die Schlagzeile ausgeschnitten und fein die sie über die bis heute diskutierte Der Mann, ein ehemaliger Anwalt na- säuberlich mit vielen anderen auf ein gro- Frage besaß, warum Ossietzky mens Kurt Wannow, strich selbst eine ßes Stück schwarzes Tonpapier geklebt. Deutschland nicht rechtzeitig verlassen Denn damals, lange bevor er als Schau- hat: spieler Erfolg hatte, war Becker 14 und ein Punker, und die Geschichte vom Unter uns gesagt, war er ja am Abend mordenden Popmusiker begründete die des Reichstagsbrandes zum Wegge- dauerhafte und finsterste aller Punk- hen entschlossen. Ob man das sagen Legenden. soll oder nicht, wage ich nicht allein Am 12. Oktober 1978 fand man Nancy zu entscheiden. Mir scheint, mit Rück- Spungen erstochen in einem schäbigen sicht auf die Nazis, besser nicht. Sein Badezimmer im New Yorker Chelsea- Hotel. IhrFreundSidVicious, Bassistder britischen Punk-Band Sex Pistols, wurde Hat er die verhaftet. Vier Monate später starb Vi- Entschlossenheit seiner cious an einer Überdosis Heroin. Ein Rock’n’Roll-Alptraum: Zwei Gegner unterschätzt? Hoffnungslose richten sich gegenseitig zugrunde, verwirrtvon Gift und Geldund Dableiben kann man ja ruhig begrün- jähem Ruhm. Becker, demnächst im Ki- den mit . . . dem ständigen Wunsch, no zu sehen in Joseph Vilsmaiers Litera- für alles, was er verteidigt hat, gera- turverfilmung „Schlafes Bruder“, hat aus dezustehen. dem Stoff sein erstes Theaterstück ver- faßt: „Sid &Nancy“. Es erzählt die trauri- Hilde Walter wird gute Gründe ge- ge Liebesgeschichte von einem Jungen habt haben, ihr Wissen zu verschwei- und einem Mädchen in einem Hotelzim- gen. Aber dürfen das auch die Heraus- mer, das die beiden nicht mehr lebend geber des Dokumentenbandes für sich verlassen – ein historisches Junkie-Mär- in Anspruch nehmen, die viele Walter- chen. Briefe zitieren und die nur dieses Zitat Ossietzky-Zeitschrift Die Weltbühne Becker hat eine lose Szenenfolge ge- wiederum unterschlagen? Angriffe auf rechte und linke Feinde schrieben, in der vier Figuren – Sid, Nan- Ossietzky-Kenner Berkholz hält den cy, ein Polizist, ein Zimmermädchen –al- Walter-Brief vom Dezember 1935 für große Summe ein, verlieh Geld an lerhand Seelenmüll auf die Theaterbret- die „einzige authentische Stimme aus Freunde und kaufte ein altes Kino. Es ter kippen: Die Hauptakteure brüllen, jener Zeit“ zur Frage der geplanten kam sogar zu einem Prozeß, bei dem leiden und lieben aneinander vorbei, die Ausreise. „Alles andere sind Überlie- Ossietzky im Februar 1938 als Zeuge Randgestalten aber beschwören die ferungen aus späteren Jahren.“ aussagte. Wannow wurde verurteilt, Ordnungssucht der kleinbürgerlichen Ossietzky-Herausgeber Kraiker, im doch der größte Teil des Vermögens Schreckenswelt. Rundfunk auf die Lücke angespro- war verloren. In Beckers bizarrem Reigen erschießt chen, degradierte die sonst häufig zi- Ein letzter Schlag für den todkran- der Polizist beispielsweise Sid Vicious im tierte Zeugin Walter in diesem Zusam- ken Publizisten. Der Preis habe ihm Traum und deliriert von „der Überheb- menhang zur „Randfigur“. Sie sei am keinen Segen gebracht, höhnte die lichkeit der Neger, der Türken, Juden 27. Februar 1933 nicht bei Ossietzky Berliner Börsen-Zeitung in ihrem Pro- und Osteuropäer“ – in einer Haßtirade gewesen. Muß ihre Aussage deswegen zeßbericht. Carl von Ossietzky starb an auf den „ganzen Abschaum, der sich da gleich unter den Tisch fallen? den Folgen der KZ-Haft am 4. Mai draußen rumdrückt und sich von mir aus- Die Frage, ob Ossietzky Deutsch- 1938. halten läßt“. land damals tatsächlich verlassen woll- Das irische Zimmermädchen dagegen te, wird sich kaum noch definitiv be- erzählt vom Suffdes Vaters,der gehirnto- * Gerhard Kraiker/Elke Suhr: „Carl von Ossietzky“. antworten lassen. Möglicherweise war Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek bei Ham- ten Schwester im Krankenhaus und dem er sich selbst nicht im klaren darüber. burg; 160 Seiten; 12,90 Mark. Unfalltod der Mutter – und von ihren

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