<<

Nagel Der Skandal des Literalen

Barbara Natalie Nagel

Der Skandal des Literalen

Barocke Literalisierungen bei Gryphius, Kleist, Büchner

Wilhelm Fink Gedruckt mit freundlicher Unterstützung des DFG-Graduiertenkollegs Lebensformen und Lebenswissen und dem German Department der New York University

Umschlagentwurf: David Rager

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Dies betrifft auch die Vervielfältigung und Übertragung einzelner Textabschnitte, Zeichnungen oder Bilder durch alle Verfahren wie Speicherung und Übertragung auf Papier, Transparente, Filme, Bänder, Platten und andere Medien, soweit es nicht §§ 53 und 54 URG ausdrücklich gestatten.

© 2012 Wilhelm Fink Verlag, München Wilhelm Fink GmbH & Co. Verlags-KG, Jühenplatz 1, D-33098 Paderborn

Internet: www.fink.de

Einbandgestaltung: Evelyn Ziegler, München Herstellung: Ferdinand Schöningh GmbH & Co KG, Paderborn

E-Book-ISBN 978- 3-8467-5289-0 ISBN der Printausgabe 978- 3-7705-5289-4 DANKSAGUNG

Wer zu Kleist arbeitet und im Begriffe ist, Danke zu sagen, den mag die Sorge be- schleichen, dass es jenen, bei denen man sich da bedanken möchte, womöglich wie Piachi im Findling ergangen ist – dass sie einen nämlich „in dem Maße lieb gewonnen“ haben, als man ihnen „teuer zu stehen gekommen war“. Dem ist hoffentlich nicht so, obgleich guter Rat in der Tat teuer ist, und ich davon so viel habe erhalten dürfen. Zuerst soll hier der Dank an meine Betreuer gehen, an , John Hamilton und Anselm Haverkamp: Keine bedachtere Kritik, kei- ne ermunternderen Worte, keinen firmeren Rückhalt hätte ich mir wünschen können als von diesen Dreien. Sodann möchte ich vor all jenen den Knicks machen, die mich in ihren Sprechstunden, in Parks oder Cafés beherbergt haben – als da wären: Frauke Berndt, Rüdiger Campe, Andrea Dortmann, Michael Levine, Jacques Lezra, Mi- chèle Lowrie, Günter Oesterle, Richard Sieburth. Bei meinem Vater bedanke ich mich für seine großzügige Unterstützung genauso wie bei meiner Mutter, der die Ehrendoktorwürde gebührt für das Korrekturlesen und dafür, dass sie mir wei- terhalf, wo ich mit meinem Latein am Ende war. Freunden, Kollegen und Le- bensmentoren – Claudia Hein, Dania Hückmann, Walter Johnston, Mari MacLean, Deborah Miller, Mareike Stoll, Lauren Stone, Jenny Willner und Nina Tecklenburg – fühle ich mich auf schönste Weise verpflichtet für Anregung und Beruhigung und für den Spaß an der Sache. Da sich eine Dissertation nicht allein mit Spaß an der Sache und gutem Rat zur Hand schreiben lässt, sondern finanziert werden will, bin ich der Graduate School of Arts and Sciences der New York University verbunden für das von ihr verliehene Promotionsstipendium wie auch dem DFG-Graduiertenkolleg Le- bensformen und Lebenswissen, das mir unter der unermüdlichen Inspiration An- selm Haverkamps die wunderbare Möglichkeit eröffnet hat, meine Arbeit ins Le- ben zu rufen und sodann in Form zu bringen. Am Ende steht der Dank an meinen Mann, Daniel Hoffman-Schwartz, dem Alpha und Omega meiner Gedanken – da, wo sie am stärksten sind, da, wo sie abschweifen.

INHALTSVERZEICHNIS

INHALTSVERZEICHNIS INHALTSVERZEICHNIS EINLEITUNG...... 011 „The figurative is surely less literal than the literal“ (S. 12) – „Unfähigkeit zum Symbol“ als Self-Consuming Artifact (S. 14) – Walter Benjamin: barockes Lesedrama (S. 21) – Richard Alewyn: Versinnlichung und Versichtbarung (S. 23) – Jacques La- can: obszönes Christentum (S. 27) – Louis Marin: vom deskriptiven zum präskripti- ven Sprachmodus (S. 029) – Überblick über die Analysekapitel (S. 30) – Heuristi- sche vs. dramatische Literalisierung (S. 33)

GRYPHIUS...... 037

1. REFORMATIONEN UND DEFORMATIONEN DES LITERALEN ...... 037 Die Crux mit der Kreuzabnahme (S. 41) – Theologie(parodie) des Kreuzes: Luthers sensus literalis (S. 47) – Literalisierung als apotropaia (S. 49) – Zwischen techné und Subjekt (S. 50) – Literalisierung als simulacrum von Transsubstantiation (S. 52) – Wie körperlich ist Jesu Körper im Abendmahl? (S. 055) – (Super-)Literalisierung des katholischen Literalen (S. 56) – Das Diese und das Diesseits (S. 59) – Sola scriptura wortwörtlich (S. 60)

2. TYPOLOGIEPARODIE...... 065 Spectres ex machina (S. 67) – Sterbenlernen als dramatische Aufgabe (S. 69) – Das Rhetorischwerden der Typologie (S. 70) – Typologie und Wiederholung (S. 72) – Von Wort- und Realprophetie zur literalisierenden Sprechhandlung (S. 74) – Lite- ralisierung und Anagnorîsis (S. 77) – „Postfiguration“ beim Worte genommen (S. 78) – Gott und Kaiser als mimetische Rivalen (S. 84) – „Der Kaeyser herrsch’ und lebe!“ (S. 85)

3. DAS URTEIL DER SENTENZ...... 089 Literalität der Rechtssprache, Metaphorizität der literarischen Sprache (S. 90) – „Quod enim tantum in sententia bona crimen est?“ (S. 93) – Verendlichung der Sentenz auf Leben und Tod (S. 97) – Präventive Strafe, vorentschiedene Handlung, prä-originäres Recht (S. 99) – Das Begehren des Rechts nach dem Körper (S. 103) – Gesetz und Gesetzmäßigkeit (S. 104) – Wuchern des Eindeutigen (S. 106) 8 INHALTSVERZEICHNIS

4. SPIEGELSTRAFEN ...... 108 Das Ius Talionis als Literalisierungsprinzip (S. 109) – Der Exzess in der Talio (S. 112) – Le Démon de l’analogie (S. 113) – Das Aug’ um das Aug’ (S. 115) – Ver- eindeutigung von Beispielhaftigkeit (S. 118) – The Theater of the Real (S. 119) – Naturalisierung des Rechts (S. 120) – „der stolze Kopff mag springen./Der sich nicht beugen kan.“ (S. 122) – „Soll diß entschuldigt heissen?/Soll man die Zunge dir nicht aus dem Nacken reissen?“ (S. 123) – „Versich’re dich; der Grund/Ligt nicht so tiff; dass ihn nicht unser Bleymaß fuehle.“ (S. 124) – Zur Latenz der Rede- wendung in der Strafe (S. 126) – „Als wenn/was mit der Glutt gespill’t/muß Aschen werden.“ (S. 128)

KLEIST ...... 131

5. FAMILIE ALS INKLUSION ...... 131 Ein barocker Kleist (S. 132) – Literalisierung jenseits der Penthesilea (S. 133) – Kein Buch für die ganze Familie (S. 135) – „Wache! Wache! Wache! Wache“ (S. 138) – Who’s your daddy? (S. 142) – Die Heilige Familie (S. 143) – L’inceste de la lettre dans l’inconscient (S. 145) – Tautologie im Kreis der Familie (S. 148) – Das Verkennen des Selben oder der Differenz im Selben (S. 150) – Die Familie als Keimzelle un- heimlicher Literalisierungen (S. 154) – The circle of familiarity (S. 155) – Die Spra- che ist ein „Mörderhaus“ (S. 157)

6. DAS TRAUERSPIEL ALS FARCE ...... 160 „Nimm diesen Dolch [...] – Hast du nicht einen/Mir schon ins Herz gedrückt?“ (S. 165) – „Vnd wilst diß Hertz?“: Gryphius’ Cardenio und Celinde (S. 167) – „Take up the sword again, or take up me“: Shakespeares Richard III (S. 168) – Von der Tragödie zur Farce qua Perlokution (S. 170) – Drei Zweikämpfe (S. 172) – Das Komische als missglücktes Martyrium (S. 174) – Der Intertext zwischen Literalisie- rung und Dissemination (S. 179)

BÜCHNER...... 181

7. DER GEIST DER MATERIE...... 181 Zur Kritik des historischen Materialismus an Büchners „unklaren Tendenzen“ (S. 182) – Die Anti-Dialektik des Hungermaterialismus (S. 185) – Terror der Mate- rie: Biopolitik als Kontingenzreduktion (S. 188) – Physiologischer Wille, spirituelle Physiologie: der anthropologische Materialismus (S. 191) – Zwischen Typologie und Physiologie: der quasi-barocke Materialismus (S. 194) – Die Guillotine als Lite- ralisierungsmaschine (S. 198) – Der Geist der Materie (S. 200) INHALTSVERZEICHNIS 9

8. INKORPORATIONEN ...... 202 Vom Hunger zum (Selbst-)Kannibalismus (S. 204) – Zitieren als Einverleiben (S. 209) – Zitat und (Nicht-)Wörtlichkeit (S. 211) – Corpsing Danton’s corpse (S. 213) – Zur Selbstreflexion des Literalisierungsvorgangs (S. 214) – Kontrollversu- che (S. 215) – Das Ende der figura (S. 217)

OB VERBORGNER KRAFFT ...... 221

BIBLIOGRAPHIE ...... 229

PERSONEN- UND SACHREGISTER ...... 250 10 INHALTSVERZEICHNIS EINLEITUNG

EINLEITUNG EINLEITUNG Literalness is desirable but...1

Was würde ein Konzept von Literalisierung umfassen? Dass bislang keine aus- führliche theoretische Auseinandersetzung mit dem Terminus stattgefunden hat, heißt nicht, dass von Literalisierung nicht die Rede wäre; seit den achtziger Jah- ren hat der Begriff im Zuge eines erneuten Interesses an Rhetorik und Tropologie vielfach Verwendung gefunden. Doch Terminologien entwickeln bekanntlich ih- re eigene Doxa und das nicht immer streng systematisch, so dass es bestimmte Randbegriffe gibt, die, obwohl sie marginal scheinen, doch konstitutiv sind für das, was sich formiert; ein solcher Begriff ist ‚Literalisierung‘. Der Ausdruck wird da herangezogen, wo in der Konfrontation mit Autoren, die einen anderen Zu- gang zum ‚Realen‘ suchen als den ‚bloß‘ metaphorischen, nach einer alternativen Deutungstheorie gesucht wird. So wurde als ‚literalisierend‘ z.B. der Sprachgestus von Dante2 und Shakespeare3, aber auch von Beckett4 charakterisiert; im deut- schen Sprachraum haben die Lektüren Hölderlins5, Kleists6 und Kafkas7 zu ähnli-

01THOMAS KUHN, „Reflections on My Critics“, aus: The Road Since Structure: Philosophical Essays, 1970-1993, hg. v. James Conant und John Haugeland (Chicago IL: The University of Chicago Press 2002 [2000]), 123-175, hier 164. 02JOHN FRECCERO sieht in Dantes Inferno „the principle [...] of literalization“ am Werke, hinter dem sich die strengste Form der Jurisprudenz verberge, die Rache Gottes: „Infernal Irony: The Gates of Hell“, in: MLN 99:4 (Sept. 1984), 769-786, hier 782. 03MARGARET W. FERGUSON, „Hamlet: letters and spirits“, in: Patricia Parker und Geoffrey Hart- man (Hg.), Shakespeare and the Question of Theory (New York/London: Methuen 1985), 292- 309. 04STANLEY CAVELL, „Ending the Waiting Game“, in: Stephen Mulhall (Hg.), The Cavell Reader (Cambridge MA: Blackwell 1996), 94-112, insbesondere 97. 05Vgl. PHILIPPE LACOUE-LABARTHE, „Le courage de la poésie“, aus: Heidegger: La politique du poème (Paris: Galilée 2002), 117-155, hier 146: „La déposition du mythologique est une geste délibéré: elle va dans le sens d’une conquête de l’objectivité et du concret – c’est-à-dire, tech- niquement si l’on veut, dans le sens d’une sorte de littéralisation, d’un prosaïsme, d’une phrasé qui se soustrait à celui de l’éloquence et du à l’ancienne“. Zuvor forderte bereits RAINER NÄGELE in Text, Geschichte und Subjektivität in Hölderlins Dichtung: „Uneßbarer Schrift gleich“ (Stuttgart: Metzler 1985), Hölderlin „buchstäblich“ zu lesen (18), wobei NÄGELE auch aufmerksam macht auf die Vorbehalte im 18. Jahrhundert gegen eine solche Lektüre. Diese Vorbehalte gehen zurück auf Paulus’ Unterscheidung von Geist und Buchstabe: „Die Spaltung des Zeichens in das Tote und Lebendige ist der Versuch, die Gefahr des Fetischs abzuwenden, der droht, das zu usurpie- ren, was er vertritt. Der Versuch führt freilich zu einer Verschlingung ohne Ende, in der ein Si- gnifikant nach dem anderen zum toten Buchstaben wird, auf dessen Leiche neue Signifikanten aufblühen“ (21). 06CAROL JACOBS verwendet den Begriff der „literalization“ für „the language of the anti-word“ in Kleists Drama Penthesilea: „“, aus: Uncontainable : Shelley, Brontë, Kleist (Baltimore MA/London: John Hopkins University Press 1989), 85-196, hier 94, siehe auch 114. Siehe auch BARBARA VINKENS und ANSELM HAVERKAMPS Essay „Die zurecht- 12 EINLEITUNG chen Befunden geführt. Hamlet – von dem Anselm Haverkamp meint, seine Iro- nie werde „handgreiflich“ durch „eine ganz buchstäbliche Ironie, in der alle Me- taphern mit einem Mal ,wahr‘ werden, und alle offenbare Wahrheit metapho- risch“8 –, Hamlet nimmt auch in diesem Zusammenhang eine Sonderstellung ein, insofern als Shakespeares Tragödie Margaret Ferguson dazu angeregt hat, die meines Wissens nach einzige, so kurze wie konzise Literalisierungsdefinition zu formulieren: Ausgehend von Paulus’ Diktum „Der Buchstabe tötet“ (2. Kor. 3,6) beschreibt Ferguson „the process of dramatic literalization“ als textuelles Phäno- men, „that is associated [...] with the impulse to kill“; Literalisierung erziele „a cu- rious effect of materializing the word, materializing it in a way that forces us to question the distinction between literal and figurative meanings“.9

„(T)he figurative is surely less literal than the literal“10

Das Problem, das Ferguson anspricht – die Instabilität der Unterscheidung zwi- schen Literal- und Figurativbedeutung – hat die Rhetorik seit jeher beschäftigt. Die überzeugendsten Reflexionen über das Konzept ‚literal vs. figurativ‘ (sei es

gelegte Frau: Gottesbegehren und transzendentale Familie in Kleists Marquise von O...“, in: Ger- hard Neumann (Hg.), Heinrich von Kleist. Kriegsfall – Rechtsfall – Sündenfall (Freiburg: Rombach 1994), 127-147, die beschreiben, wie Kleist in Die Marquise von O... vermittels „Literalisierung [...] die Metapher vom ‚symbolischen Vater‘, der ein Gott ist, wörtlich nimmt“ (138). In Bestien. Kleist und die Deutschen (Berlin: Merve 2011) spricht VINKEN „von der buchstäblichen Wahr- werdung“ (91) von Kleists Rhetorik (eine umfassende Liste der Forschungsliteratur im weiteren Feld dessen, was ‚Literalisierung‘ bei Kleist berührt, findet sich zu Beginn des Kleist-Inklusions- Kapitels). VINKEN verwendet den Terminus Literalisierung bereits in Unentrinnbare Neugierde. Die Weltverfallenheit des Romans (Freiburg: Rombach 1991), wobei sie den Aspekt der Körper- lichkeit in der Buchstäblichkeit fokussiert, z.B. in ihrer Lektüre von Clarissa: „Lovelace literali- siert die Blumen der Rhetorik, die Metapher der Figuren, zu Blumen im Sarg [...]. Deutlichster Ausdruck dieser seiner andauernden ‚referential fallacies‘ ist das Herz Clarissas, das er während ihres Lebens nicht besitzen konnte, und das er nach ihrem Tod in Alkohol eingelegt, in einem goldenen Gefäß besitzen will“ (101 f.). In den Liaisons Dangereuses sieht VINKEN Valmonts Rückzug auf den Literalsinn konterkariert durch Marquise de Merteuils Ironie (188 f.). Die Li- aisons als Ganze seien „gezeichnet von ironischen Reflexen allegorischer Buchstäblichkeit“, die sich bei Richardson und Laclos in einer „Blindheit des Fleisches“ manifestierten (232 f.). 07 Für Kafka haben unterschiedlichste Theoretiker gefordert, seine Worte literal zu nehmen: GÜNTHER ANDERS, „Nicht Symbole, sondern Metaphern“, aus: Kafka pro und contra. Die Pro- zeß-Unterlagen (München: Beck 1951), 39-51; THEODOR W. ADORNO, „Aufzeichnungen zu Kafka“, aus: Prismen. Kulturkritik und Gesellschaft (Frankfurt/M.: Suhrkamp 1955), 302-342; GILLES DELEUZE/FÉLIX GUATTARI, Kafka: Pour une Littérature Mineure (Paris: Éditions de Mi- nuit 1975); STANLEY CORNGOLD sieht in Kafka den ‚Entdecker‘ des Spiels mit Literal- und Fi- gurativbedeutung – eine These, die hier korrigiert werden soll: „Preface to an Understanding of Kafka“, in: ders. (Hg.), Kafka’s Selected Stories (New York: Norton 2007 [2006]), 217-235, hier 224. 08ANSELM HAVERKAMP, Hamlet. Hypothek der Macht (Berlin: Kadmos 2004 [2001]), 50. 09MARGARET W. FERGUSON, „Hamlet: letters and spirits“, 292. 10 NELSON GOODMAN, Languages of Art. An Approach to a Theory of Symbols (Indianapolis IN/Cambridge: Hackett 1976), 51; „the features that distinguish the metaphorical from the lite- ral are transient“, 85. EINLEITUNG 13 von Nietzsche11 oder von Derrida) lassen sich grob auf zwei Grundformeln kon- densieren: ‚nichts ist Metapher‘, ‚alles ist Metapher‘ und diverse Varianten und Kombinationen davon. Das Konzept des Literalen bleibt einerseits epistemolo- gisch instabil, weil „the dividing line between the figurative and literal usages shift“12, wie Kenneth Burke feststellt. Andererseits lässt sich nicht einfach, wie Paul Ricœur in La Métaphore vive fordert, mit dem Begriff des ‚Literalen‘ bre- chen, indem man den Literalsinn auf einen Lexikalsinn reduziert.13 Ein solches Vorhaben scheint nicht nur praktisch undurchführbar14 – Jacques Derrida wehrt Ricœurs Vorstoß mit dem Hinweis ab, die Opposition zwischen Literal- und Fi- gurativsinn sei konstitutiv für den metaphysischen Gehalt der Metapher. Daher könnten die metaphysischen Phantasmen, die sich mit dem Literalen als Eigentli- chen und Ursprünglichen verbänden, nicht einfach, wie Ricœur vorschlägt, abge- schüttelt werden, ohne dadurch auch die Metapher in einem ‚zweiten Tod‘15 zu töten: nämlich in der Auto-Destruktion der Metapher durch ihre Verallgemeine- rung.16 Nach Derrida inkorporieren wir die Opposition von Literal- und Figura-

11 FRIEDRICH NIETZSCHE, „Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne (1873)“, aus: Nachgelassene Schriften 1870-1873, Teil 3, Bd. 2, hg. v. Giorgio Colli und Mazzino Montinari (Berlin/New York: Walter de Gruyter 1973), 369-384. 12 KENNETH BURKE, „Four Master Tropes“, aus: A Grammar of Motives (Berkeley/Los Angeles CA: University of California Press 1969) 503-517, hier 503. 13„(I)l faut dissocier la notion de sens littéral de celle de sens propre: est sens littéral n’importe laquelle des valeurs lexicales“ und: „(L)ittéral ne veut pas dire propre au sens d’originaire, mais simplement courant, ‚usuel‘; le sens littéral est celui qui est lexicalisé. Il n’est donc pas besoin d’une métaphysique du propre pour justifier la différence du littéral et du figuré“, PAUL RICŒUR, La métaphore vive (Paris: Seuil 1975), 239 und 369. Die Diskussion um die Oppositi- on von Literal- vs. Figurativsinn zwischen RICŒUR und DERRIDA bildete Teil jener größeren Debatte der siebziger Jahre zwischen den beiden französischen Philosophen um das Verhältnis von Metapher und Philosophie und endete damit, dass RICŒUR und DERRIDA nicht mehr in einem Zuge zitierbar waren. Innerhalb dieser Debatte konzentriert sich paradoxerweise RICŒUR (der Ältere der beiden Philosophen, Denker der Hermeneutik mit großem Interesse an Theolo- gie) auf die Innovation qua Metapher, während der jüngere DERRIDA (Mitbegründer der noch jungen Dekonstruktion, assoziiert mit Tel Quel und der Avantgarde) hinsichtlich der Metapher auf die bindende Kraft der Geschichte pocht. 14 ERHARD SCHÜTTPELZ geht in Figuren der Rede. Zur Theorie der rhetorischen Figur (Berlin: Erich Schmidt 1996) auf den Vorschlag, den Literalsinn mit dem lexikalischen gleichzusetzen, bis zu einem gewissen Grad ein, doch verwirft er ihn zuletzt aus praktischen Gründen: „Die Trennung von eigentlichen und uneigentlichen Bedeutungen verliert für eine mündliche Sprache viel von ihrem Sinn, denn es fehlt in ihr [...] an vollständigen Auflistungen von Wörtern und ihren Be- deutungen. [...] So wie Bedeutungen in einem Lexikon stehen (stehen müssten), stehen die Be- deutungen in einem idealen Lexikon, haben einen bestimmten Ort, bilden eine ideale Liste – das ist eine Grundvorstellung der ‚wortwörtlich‘ genommenen Bedeutung“ (112). 15 Der erste Tod der Metapher bestünde für DERRIDA in der Übersetzung der Metapher in Begrif- fe, um sie als bloß kognitives Instrument zu benutzen: „La Mythologie blanche“, aus: Marges de la philosophie (Paris: Éditions de Minuit 1972), 247-324, hier 320 ff. 16 Ebd.: „Cette auto-destruction aurait encore la forme d’une généralisation mais cette fois, il ne s’agirait plus d’étendre et de confirmer un philosophème; plutôt, en le déployant sans limite, de lui arracher ses bordures de propriété. Et par conséquent de faire sauter l’opposition rassurante du métaphorique et du propre dans laquelle l’un et l’autre ne faisaient jamais que se réfléchir et se renvoyer leur rayonnement“. Vor allem der Abschnitt „Les Fleurs des la Rhétorique: L’Héliotrope“ (292 ff.) beschäftigt sich mit der Bedeutung, die das Phantasma des ‚Eigentlichen‘ 14 EINLEITUNG tivsinn als literarische Tradition und riskieren Blindheit oder Hybris, wollten wir sie schlicht überwinden.17 Anstatt also das Literale entweder als Gegebenes zu be- greifen und damit zu suggerieren, das Figurative könnte gänzlich eliminiert wer- den, oder aber mit dem Konzept zu brechen, werde ich in dieser Arbeit Literali- sierung als strukturelles Problem angehen und mich auf die Analyse der Effekte des Literalen konzentrieren.18 Damit ist dieses Dissertationsprojekt im Nie- mandsland zwischen Literalem und Figurativem angesiedelt: In jenem Gebiet, welches Gérard Genette l’écart nennt, und Paul de Man umreißt als „a world where literal and figurative meanings get in each other’s way, though not without discomforts“.19

„Unfähigkeit zum Symbol“ als Self-Consuming Artifact

Literalisiert werden kann paradoxerweise nur das, was an sich mehrdeutig ist, womit Ambiguität zur Voraussetzung von Literalisierungen wird. Im Barock sind Literalisierungen denn auch Teil jener umfassenden Obsession von Wortspielen, die Paul Fleming zufolge ihre Dynamik aus der Vorstellung von der Unbestän- digkeit der Sprache wie der Welt als vanitas beziehen.20 Zu Zeiten von Andreas

für die Metapher hat. Als Entgegnung auf RICŒURS Kritik der „Mythologie blanche“ schrieb DERRIDA „Le Retrait de la métaphore (1978)“, in: Psyché. Inventions de l’autre (Paris: Galilée 1987), 63-93. 17 Die Opposition von figurativ und literal bildet ein konstitutives Element dessen, was DERRIDA als ,Metaphysik‘ bezeichnet. Aber auch der ‚Bruch‘ ist für DERRIDA eine metaphysische Geste par excellence, so dass, mit der Metaphysik brechen zu wollen, bedeuten würde, Metaphysik auszu- weiten oder zu wiederholen. 18 In diesem Sinne distanziere ich mich vom kognitiven Ansatz der analytischen Philosophie, die meines Erachtens eine Naturalisierung des Begriffs des Literalen vornimmt, wie FRANÇOIS RECANATI, Literal Meaning (Cambridge, UK: Cambridge University Press 2004); MARINA RAKOVA, The Extent of the Literal. Metaphor, Polysemy and Theories of Concepts (New York: Pal- grave Macmillan 2003); GEORGE LAKOFF/MARK JOHNSON, Metaphors We Live By (Chica- go/London: The University of Chicago 2003 [1980]). 19 PAUL DE MAN, „Semiology and Rhetoric“, in: Allegories of Reading: Figural Language in Rousseau, Nietzsche, Rilke, and Proust (New Haven CT/London: Yale University Press 1979), 3-19, hier 10; siehe auch DE MANS „The Epistemology of Metaphor“, in: Sheldon Sacks (Hg.), On Metaphor (Chicago IL/London: The University of Chicago Press 1979), 11-28, wo DE MAN in kritischer Auseinandersetzung mit Locke an der Figur der Katachresis veranschaulicht, dass der Versuch, eine Theorie figurativer Sprache in einem Konzept referentieller Korrespondenz zwischen Wor- ten und Dingen zu gründen, scheitern muss (19 f.). NELSON GOODMAN polemisiert diese Überlegung in Languages of Art. An Approach to a Theory of Symbols: Wenn der Unterschied zwi- schen Literal- und Figurativsinn sich an der Katachresis festmachen ließe, müsse er eine Frage des Alters sein: „Is a metaphor, then, simply a juvenile fact, and a fact simply a senile metaphor?“ (68). 20 „Will man eine Charakteristik der Poesie und Poetik des deutschen Barock entwerfen, so sollte man mit dieser Faszination für unterschiedliche Wort- und Buchstabenspiele [...] beginnen“, empfiehlt der Germanist Paul Fleming, denn „(g)enauso wie das Leben, nach barocker Vorstel- lung, jeder möglichen Drehung des Schicksals ausgeliefert ist, auf Fortunas Ball prekär wankt, so ist auch die Sprache selbst solcher Unbeständigkeit, solcher Umkehrung [...] unterworfen“, „Pa- EINLEITUNG 15

Gryphius erstreckt sich der Horror vor der ‚gespaltenen Zunge‘, d. h. der Mehr- deutigkeit der Sprache, dabei auch und gerade auf die Sphäre des Religiösen. Seit der Reformation vermag bekanntlich selbst und gerade das Abendmahl nicht län- ger, die christliche Kirche zu vereinen, sondern spaltet sie in Fraktionen; die Reli- gionsstreitigkeiten über die Auslegung des göttlichen Wortes machen denn auch einmal mehr deutlich, „wie wenig selbstverständlich und eindeutig Sprache ist“21, resümiert Claudia Brinker-von der Heyde in ihre Analyse von Gryphius’ Reyen von der Zunge. Bei diesem Reyen handelt es sich um die meist-rezipierte Passage aus Gryphius’ erstem Trauerspiel Leo Armenius, oder Fuersten-Mord (1650)22, das in den folgenden Kapiteln zusammen mit Heinrich von Kleists Die Familie Schroffenstein. Ein Trauerspiel23 (1803) und Georg Büchners Danton’s Tod. Ein Drama24 (1835) auf seine Literalisierungen hin analysiert werden wird. Der Rey- en im fünften Eingang der ersten Abhandlung des Leo Armenius gibt nach An- sicht Peter Szondis der „Tragik des Menschen, dessen Rede sich gegen ihn selbst wenden kann“25 Ausdruck. Formal findet Szondis These ihre Bestätigung im ver- balen Wettstreit zwischen Satz, Gegensatz und Zusatz,26 der mit der Lobpreisung der Macht menschlicher Rede einsetzt („durch Reden herrschen wir!“, LA I, v, 512) und in der Ohnmacht dessen mündet, dem die eigene Zunge das Wort im Munde umdreht: „Die Zung ist dieses Schwerdt/Dein Leben/Mensch/und Todt

ragramm. Grimmelshausens Poetik der Unbeständigkeit“, in: Eckart Goebel/Martin von Kop- penfels (Hg.), Die Endlichkeit der Literatur (Berlin: Akademie Verlag 2002), 35-49, hier 36 f. 21 CLAUDIA BRINKER-VON DER HEYDE situiert den Reyen im sprachphilosophischen und theolo- gischen Diskurs der Zeit und hebt dabei den heilsgeschichtlichen Aspekt des gesprochenen Worts hervor: „Freundschafft und grimmer Haß Oder: Die Macht des Wortes im Leo Armenius von Andreas Gryphius“, in: Simpliciana 20 (1998), 293-305, hier 298. Vgl. LEE PALMER WANDEL, The Eucharist in the Reformation. Incarnation and Liturgy (Cambridge, MA: Cambridge Univer- sity Press 2006): „By 1529, it had become agonizingly clear across the empire that the Word of God was subject to divisive readings, and that this particular text, so transparent to Luther, divi- ded Christian from Christian, its connotations visceral, its simple words subject to dramatically different consonances“ (101). 22 ANDREAS GRYPHIUS, Leo Armenius, aus: Dramen (Frankfurt/M.: Deutscher Klassiker Verlag 1991). Im Folgenden werden Stellennachweise aus Gryphius’ Leo Armenius den Zitaten mit der Abkürzung (LA) angefügt. 23 HEINRICH VON KLEIST, Die Familie Schroffenstein, aus: Sämtliche Werke und Briefe, hg. v. Hel- mut Sembdner (München: dtv 2001). Stellennachweise werden anschließend an die Zitate mit der Abkürzung (FS) genannt. 24 GEORG BÜCHNER, Danton’s Tod, aus: Dichtungen. Kommentierte Ausgabe, Bd. 1, hg. v. Rosema- rie und Henri Poschmann (Frankfurt/M.: Insel 2002). Stellennachweise aus Büchners Danton’s Tod folgen den Zitaten mit der Abkürzung (DT). 25 PETER SZONDI, „Gryphius: Leo Armenius“, aus: Versuch über das Tragische (Frankfurt/M.: Insel 1961), 80-84, hier 82. 26 GERHARD FRICKE macht in Die Bildlichkeit in der Dichtung des Andreas Gryphius. Materialien und Studien zum Formproblem des deutschen Literaturbarock (Berlin: Junker und Dünnhaupt 1933) auf die performative Wirkung des Reyens über die Zunge aufmerksam, der in seiner „ne- gativen und zugleich positiven Einschätzung der Sprache“ zu keiner Synthese gelange, „sondern für die unvereinbare Doppelseitigkeit“ einstehe und „die Wiederholung jener dem menschlichen Sprechen eigenen Doppelwirkung in der Dingwelt“ inszeniere (141 f.). 16 EINLEITUNG haelt staets auf deiner Zungen“ (LA, I, v, 554).27 Doch bleibt der Aspekt der Mehrdeutigkeit in Gryphius’ erstem Trauerspiel nicht aufs Thematische be- schränkt,28 sondern wird formal als versteckter Kippmechanismus zwischen Lite- ral- und Figurativbedeutung inszeniert. Dieser technische Effekt ist seinerseits al- legorisch überdeterminiert, denn seit Paulus’ Diktum „Der Buchstabe tötet, der Geist aber macht lebendig“ (2. Kor. 3,6), auf das Margaret Ferguson in ihrer Li- teralisierungsdefinition verweist, ist der Opposition von Literal- und Figurativbe- deutung eine Wertehierarchie eingeschrieben, die den Figurativsinn als geistige, Leben gebende Bedeutungsvariante privilegiert, den Literalsinn hingegen zum bloß körperlichen, tötenden Überbleibsel degradiert.29 Es lässt sich eine ganze deutschsprachige theologisch-philosophische Tradition von Böhme30, Hamann31, Herder32 über Fichte33, Hegel bis zu nachzeichnen,34 welche die exegeti-

27 Hier sei auf die Forschung zum Zungen-Reyen verwiesen: WILFRIED BARNER meint in „Gryphi- us und die Macht der Rede. Zum ersten Reyen des Trauerspiels Leo Armenius“, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 42:3 (Aug. 1968), 325-358, Gry- phius’ Warnung, dass sich das eigene Wort gegen einen wenden könne, sei im biographischen Sinne wörtlich zu nehmen: „Was auf den ersten Blick vielleicht als bloß ‚rhetorisch‘ überspitzte These erscheint, gewinnt in der Tat an grausamer Realität und zugleich an historischer Plausibi- lität, wenn man diesen Zeithintergrund [gemeint sind die konfessionellen Auseinandersetzungen, BNN] nicht vernachlässigt. Es lohnt, Gryphius beim Wort zu nehmen. Wieviel von der ,zunge‘ eines Menschen, ja von seiner rhetorischen Schulung abhängen kann, hat Gryphius [...] an sich selbst erfahren müssen“ (338). Siehe auch RALF GEORG BOGNERS Die Bezähmung der Zunge. Literatur und Disziplinierung der Alltagskommunikation in der frühen Neuzeit (Tübingen: Nie- meyer 1997), in dem der Autor zwar selbst nicht vollbringt, wovon er schreibt, nämlich seine Zunge zu zähmen, doch überblickt seine polemische Schrift ein weites Textareal, dem sich BOGNER mit Norbert Elias’ These vom Zivilisationsprozess und systemtheoretischer Methode annähert. 28 „Die Zweideutigkeit menschlicher Sprache ist [...] im Drama selbst thematisch“, PETER SCHÄUBLIN, „Andreas Gryphius’ erstes Trauerspiel Leo Armenius und die Bibel“, in: Daphnis 3:1 (1974), 1-40, hier 3. 29 Siehe auch 8. Röm. 8,9: „Wer vom Fleisch bestimmt ist, kann Gott nicht gefallen. Ihr aber seid nicht vom Fleisch, sondern vom Geist bestimmt, da ja der Geist Gottes in euch wohnt“. Der Neue Bund soll sozusagen den Tod des tötenden Buchstabens der alten Schrift besiegeln, womit PAULUS die Christen als Nachkommen Abrahams und sich selbst als Nachfolge Moses’ einsetzt. 30 JAKOB BÖHME warnt vor „der antichristischen, babylonischen Hure aller Zungen“, die er mit dem wörtlichen Sinn assoziiert: „Also verstehet nun recht! Die buchstabische Form in der sen- sualischen Zunge ist nun das böse Thier, das in eigener Gewalt herrschen will“, Mysterium Mag- num oder Erklärung über das erste Buch Mosis, in: Sämmtliche Werke, Bd. 5, hg. v. R. W. Schiehler (Leipzig: Johann Ambrosius Barth 1843), v. a. 265-280, hier 273. 31 So fordert JOHANN GEORG HAMANN in Aesthetica in Nuce, hg. v. Sven-Aage Jørgensen (Stutt- gart: Reclam 2004 [1762]), 77-147, Exegese nicht als „buchstäbliche Deuteley“ eines „Leich- nam(s) des Buchstabens“, „des tödtenden Buchstabens“ (103) zu betreiben, sondern als Suche nach einer offenbarten, bildhaften Sprache. 32 JOHANN GOTTFRIED HERDER greift auf den Topos des toten Buchstaben in Fragmente über die neuere deutsche Literatur (1767), in: Werke, Bd. 1, hg. v. Ulrich Gaier (Frankfurt/M.: Deutscher Klassiker Verlag 1985), 402 f. zurück, wo er die mit der Verschriftlichung einhergehenden Zwänge beklagt: „Nun armer Dichter! [...] du sollst deine ganze lebendige Seele in tote Buchsta- ben hinmalen, und parlieren, statt auszudrücken.“ 33 Bei JOHANN GOTTLIEB FICHTE, „Ueber Geist und Buchstab in der Philosophie (1794)“, in: Werke, Bd. 8 (Berlin: Walter de Gruyter 1971), 270-300 sind mit dem „blossen Buchstaben“ EINLEITUNG 17 sche Linie von Paulus und Augustinus fortsetzend den figurativen Sinn mit der geistigen Kraft der Sprache identifiziert, das Literale hingegen zum bloß sinnli- chen Zusatz deklassiert. Selten besteht soviel Einigkeit zwischen den konkurrie- renden Konfessionen wie in der Ablehnung des Literalen. Die Literalisierungsszenen, die in den folgenden Kapiteln vorgestellt werden, zeigen jedoch, dass der Topos vom tötenden Buchstaben nicht nur als Negati- vurteil im theoretischen Diskurs kursiert, sondern dass das Phantasma des unin- spirierten, körperlichen Literalsinns in Gryphius’, Kleists und Büchners Trauer- spielen dramatisiert wird. Dass auch diese Dramatisierungen des bloß sinnlichen Literalen Rügen der Kritik provozierten, verwundert nicht. Vor allem an der Sprachwucht, die sich ballt, wo Worte zu Taten führen, hat die Kritik Anstoß ge- nommen: Herbert Cysarz macht für Gryphius’ „Wort-Wucht“ den „zähe(n) und wuchtige(n) Geist“ des Barockdichters verantwortlich,35 und auch in den Analy- sen der Trauerspiele von Kleist und Büchner ist immer wieder von der „Wucht und Gewalt“36 deren Ausdrucksart die Rede.37 Es ist Walter Benjamin zu verdan- ken, dass er das Streben „nach einem Rustikastil der Sprache, der sie der Wucht des Weltgeschehens gewachsen scheinen ließe“38 als barocke Stilstrategie rehabili- tiert hat. Doch drückt sich, meine ich, noch in der Kritik an Gryphius’, Kleists und Büchners Wort-Wucht ein – wenn auch negatives – Wissen darüber aus,

(271) und „Buchstäbler(n)“ (298) Kunstformen bzw. Künstler gemeint, die einer bloßen Regel, anstatt ihrem subjektiven Geist, folgen. 34 So kommt es, dass ‚Literalität‘ für lange Zeit nur noch als schwarzer Peter kursiert, den sich die großen Religionen des Okzidents wechselseitig zuschieben: Wendet sich der Vorwurf der Litera- lität bei PAULUS noch gegen ‚die Juden‘, die angeblich das Geistige ignorierten, so wirft HEGEL in den Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte den Katholiken eine bloß literale Lesart vor. Der Katholik NOVALIS dreht den Spieß um, indem er angesichts Luthers sola scriptura-Gebot die Protestanten einer entleerten Literalität bezichtigt: „Luther behandelte das Christentum über- haupt willkürlich, verkannte seinen Geist und führte einen andern Buchstaben und eine andere Religion ein, nämlich die heilige Allgemeingültigkeit der Bibel. […] Dem religiösen Sinn war diese Wahl höchst verderblich, da nichts seine Irritabilität so vernichtet wie der Buchstabe“, NOVALIS, Die Christenheit oder Europa. Ein Fragment, hg. v. Otto Heuschele (Stuttgart: Reclam 1966 [1799]), hier 29. 35 HERBERT CYSARZ, Die Bildlichkeit in der Dichtung des Andreas Gryphius. Materialien und Studien zum Formproblem des deutschen Literaturbarock, 170 und 165. Siehe auch WILLI FLEMMING, Ba- rockdrama, Bd. 1: Das Schlesische Kunstdrama (Hildesheim: Olms 1965 [1930]) über die „Wucht und Schwere“ (27) von Gryphius’ Rhythmus. Gepriesen hat DANIEL CASPER VON LOHENSTEIN Gryphius’ „Zentner=Worte“ in: „Wer ihn gehört…“, abgedruckt in: Text + Kritik: Andreas Gry- phius 7/8 (1980), 1. 36 META CORSSEN, „Die Sprache Kleists und Shakespeares“, aus: Kleist und Shakespeare (Heidel- berg: Gerstenberg 1978 [1930]), 163-208, hier 201. 37 FRIEDRICH GUNDOLF spricht von Büchners „Wucht“ und „Gewalt“ des Ausdrucks: „(E)r wuchtet umso nachdrücklicher“, heißt es kaum weniger wuchtig in GUNDOLFS „Georg Büchner (1929)“, in: Dietmar Goltschnigg (Hg.), Büchner im ‚Dritten Reich‘. Mystifikation – Gleichschal- tung – Exil. Eine Dokumentation (Bielefeld: Aisthesis 1990), 64-73, hier 65 und 73. 38 WALTER BENJAMIN, Ursprung des deutschen Trauerspiels, in: Gesammelte Schriften, Bd. I, 1, hg. v. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser (Frankfurt/M.: Suhrkamp 1974), 37. 18 EINLEITUNG dass eine grundlegende Affinität zwischen deren theatralen Texten besteht. Diese Vermutung erhärtet sich, wenn man weitere Darstellungskategorien in die Be- trachtung mit einbezieht, Analyseparadigmen, die nicht nur die Diskussion über Gryphius’, Kleists und Büchners Stil fluktuieren, sondern interessanterweise auch die über den Barockstil: Die Rede ist von den Prozessen der Versichtbarung39, Verdinglichung40, Veräußerlichung41, Verkörperung42, Verlebendigung43 und Ver-

39 „Das Zeitalter ist geradezu besessen von einem schrankenlosen Bedürfnis nach Versinnlichung und nach Versichtbarung“; „nichts galt, was nicht sichtbar wurde“, RICHARD ALEWYN, „Das große Welttheater“, aus: ders. und Karl Sälzle, Das große Welttheater. Die Epoche der höfischen Fe- ste in Dokument und Deutung (Hamburg: Rowohlt 1959), 9-70, hier 59 und 37. „Überhaupt drängt alles zu immer breiterer Sichtbarmachung“, WILLI FLEMMING, Das Schlesische Kunstdra- ma, 28; BENJAMIN spricht in Ursprung des deutschen Trauerspiels von der barocken „Liebe zum Anschaulichen“ (147). Siehe auch GERHARD FRICKE, Die Bildlichkeit in der Dichtung des Andre- as Gryphius. Materialien und Studien zum Formproblem des deutschen Literaturbarock, 30 und MAX KOMMERELL, Die Kunst Calderons (Frankfurt/M.: Klostermann 1974 [1946]), 100. Den exorbitanten Einsatz von Sichtbarem hält auch ANSELM HAVERKAMP mit Verweis auf Marin und Lacan für typisch für barocke „Darstellungsexzesse“ in „Latenz des Barock – Der Riss im Bild der Geschichte“, in: Vera Beyer, Jutta Voorhoeve und ders. (Hg.), Das Bild ist der König (München: Wilhelm Fink 2006), 205-216, hier 207 und 210: „Die schiere Unentscheidbarkeit des Dargestellten schlägt sich auf die Seite [...] des unsichtbaren Anteils einer überschüssigen Sichtbarkeit, die ihrerseits die bloße Ersichtlichkeit scheut und sich doch unweigerlich der Ef- fekthascherei aussetzt: ‚mimésis en excès‘“. Zu Büchners Drang nach Sichtbarkeit äußert sich z.B. WALTER JENS, Euripides, Büchner (Pfullingen: Neske 1964), 39. 40 HEINRICH WÖLFFLIN, Renaissance und Barock. Eine Untersuchung über Wesen und Entstehung des Barockstils in Italien, hg. v. Hans Rose (München: F. Bruckmann 1926 [1888]) spricht von der barocken „Freude an der Stoffgewalt“ (40; siehe auch 56); WILLI FLEMMING bezieht sich in Das Schlesische Kunstdrama auf die barocken „konkretisierenden Kräfte“ (20); FRIEDRICH GUNDOLF geht in Andreas Gryphius (Heidelberg: Weiss’sche Universitäts-Buchhandlung 1927) auf Gryphi- us’ „Sprachkampf mit dem Stoff“ ein (17); zur Verdinglichung siehe auch WALTER BENJAMIN, Ursprung des deutschen Trauerspiels, 136 und 176. Ein Beispiel für eine solche Konkretisierung liefert ALBRECHT SCHÖNE, Emblematik und Drama im Zeitalter des Barock (München: C.H. Beck 1993 [1964]), 161, Fn. 1. Für Gryphius’ Komödien hat ARMIN SCHLIENGER, Das Komi- sche in den Komödien des Andreas Gryphius. Ein Beitrag zu Ernst und Scherz im Barocktheater (Bern: Lang 1970) in der Analyse der ‚Wort-Prügel‘ im Horribilicribrifax gezeigt, wie „Verdingli- chung“ bei Gryphius in „Tätlichkeit“ übergeht (44). 41 HERBERT CYSARZ, Deutsche Barockdichtung. Renaissance, Barock, Rokoko (Leipzig: Haessel 1924), 31; MAX KOMMERELL, Die Kunst Calderons: „Das innere Handeln braucht gar nicht berührt zu werden, denn es ist ganz in einem äußeren Handeln enthalten“ (52); HERBERT HECKMANN, Elemente des barocken Trauerspiels am Beispiel des „Papinian“ von Andreas Gryphius (München: Hanser 1959): „Der Sinn veräußert sich derart, dass er sich schließlich verliert“ (184). GILLES DELEUZE und FÉLIX GUATTARI haben in Milles Plateaux: Capitalisme et Schizophrénie 2 (Paris: Éditions de Minuit 1980) den Vorgang der Veräußerlichung als Kleistsches Stilmerkmal heraus- gearbeitet: „Cet élément de l’extériorité, qui domine tout, que Kleist invente en littérature“ (440). Zu Büchners Tendenz zur Veräußerlichung äußert sich PAUL LEVESQUE in „The Sentence of Death and the Execution of Wit in Georg Büchner’s Dantons Tod“, in: The German Quarterly 62/1 (Winter 1989), 85-95, hier 86. 42 BETTINE MENKE liest in Das Trauerspiel-Buch. Der Souverän – das Trauerspiel – Konstellationen – Ruinen (Bielefeld: transcript 2010) BENJAMINS Begriff der „Sprachgebärde“ (Ursprung des deut- schen Trauerspiels, 178) als „so gewaltsame, wie unmögliche [...] Verkörperung“ (201 f.). Zur Verkörperung bei Gryphius: ALBRECHT SCHÖNE, Emblematik und Drama im Zeitalter des Ba- rock, 177. Zu Kleists „Kunst [...] der Verkörperlichung des Unkörperlichen“ arbeitet META CORSSEN in „Die Sprache Kleists und Shakespeares“, 181; PAUL LEVESQUE spricht vom „word- EINLEITUNG 19 selbständigung44 der Ausdrucksformen. Das Präfix Ver- indiziert in allen diesen Termini eine Intensivierung, gar Pervertierung der Ausdrucksform, die Cysarz im Fall von Gryphius abermals negativ als „Unfähigkeit zum Symbol“45 bezeichnet hat, ich dagegen Literalisierung nenne. Was an Gryphius’, Kleists und Büchners Literalisierungen Missfallen erregt, scheint am Barock insgesamt zu missfallen, so dass es sich bei der Literalisierung um ein spezifisch barockes Phänomen handeln könnte. Deshalb stützt sich meine Lektüre der Literalisierung auf Theoretiker des Barock wie Walter Benjamin, Richard Alewyn, Louis Marin und Jacques Lacan. Nun ist das Barock eine künstliche Epoche, Erfindung des 20. Jahrhunderts, wie Richard Alewyns Sammelband Deutsche Barockforschung46 deutlich macht, dessen Untertitel Dokumentation einer Epoche denn auch nach Ansicht Bettine Menkes eher als aufs Konstrukt Barock auf die Epoche seiner Erforschung bis 1933/36 angewandt werden müsse. Die Erfindung des Barock kann grob auf die Ge- schmacks- bzw. ‚Schwulst‘-Kritik an Autoren wie Lohenstein und Gryphius da- tiert werden, wobei die Literalisierung meiner Ansicht nach zu jenen „Tendenzen zur manieristischen Übersteigerung“47 zählt, die Gegenstand der Kritik bilden.48

become-flesh“ in „The Sentence of Death and the Execution of Wit in Georg Büchner’s Dantons Tod“, 86. 43 HEINRICH WÖLFFLIN, Renaissance und Barock, 25. 44 Ebd., 79 f.; BENJAMIN, Ursprung des deutschen Trauerspiels, 183: „Die Sprache des Barock ist al- lezeit erschüttert von Rebellionen ihrer Elemente“. BENJAMIN nimmt Bezug auf FRITZ STRICHS Konzept des Wortbarock in „Der lyrische Stil des 17. Jahrhunderts“, in: Richard Alewyn (Hg.), Deutsche Barockforschung. Dokumentation einer Epoche (Köln/Berlin: Kiepenheuer & Witsch 1966 [1965]), 229-259. PETER SZONDI weist auf die „Verselbständigung der Körperteile“ hin in „Amphitryon, Kleist’s ‚Lustspiel nach Molière‘“, in: Schriften, Bd. 2 (Frankfurt/M.: Suhrkamp 1996), 155-169, hier 163; HELMUT MÜLLER-SIEVERS kommt in Desorientierung. Anatomie und Dichtung bei Georg Büchner (Göttingen: Wallstein 2003) zu sprechen auf die „Verselbständigung von Worten“ (11) in Büchners Texten. 45 HERBERT CYSARZ, Die Bildlichkeit in der Dichtung des Andreas Gryphius, 165 und 167. 46 RICHARD ALEWYN (Hg.), Deutsche Barockforschung. Dokumentation einer Epoche (Köln/Berlin: Kiepenheuer & Witsch 1966 [1965]). 47 WILFRIED BARNER, Barockrhetorik. Untersuchungen zu ihren geschichtlichen Grundlagen (Tübin- gen: Niemeyer 1970), 43. 48 Die Kritik der Aufklärung verfestigt sich im „Schwulst-“Vorwurf, mit dem DANIEL GEORG MORHOF 1682 die spätbarocke Stildebatte initiierte: Unterricht von der Teutschen Sprache und Poesie, hg. v. Henning Boetius (Bad Homburg: Gehlen 1969 [1682]). Auf Morhofs Kritik am ‚Tumorstil‘ Lohensteins und Hoffmannswaldaus, aber auch des Nürnberger Dichterkreises um Harsdoerffer folgen JOHANN VON BESSER, Des Herrn von Besser Schrifften (Leipzig: o. A. 1711), insbesondere die Vorrede; CHRISTIAN FRIEDRICH HUNOLD, Einleitung zur vernünftigen Poesie (Halle: Zeitler 1713) und ERDMANN NEUMEISTER, Die allerneueste Art, zur reinen und galanten Poesie zu gelangen (Hamburg: Fickweiler 1722); siehe auch JOHANN CHRISTOPH GOTTSCHED, Versuch einer Critischen Dichtkunst (Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1982 [1751]), VIII, §§21-25, der ebenfalls auf den „Fehler der hochtrabenden Schreibart“ zu sprechen kommt, den GOTTSCHED mit Hofmannswaldau, Lohenstein und Seneca assoziiert. Zur Forschung über die Schwulstdebatte sei MANFRED WINDFUHRS Habilitationsschrift empfohlen: Die barocke Bildlichkeit und ihre Kritiker. Stilhaltungen in der deutschen Literatur des 17. und 18. Jahrhunderts (Stuttgart: Metzler 1966), 316 ff. sowie die Einleitung von PETER SCHWINDS Dissertation Schwulst-Stil. Historische Grundlagen von Produktion und Rezeption manieristischer Sprachformen in Deutschland 1624-1738 (Bonn: Bouvier 1977). 20 EINLEITUNG

Nun ist die Kritik am Barock nicht denkbar ohne die deutsche Konstruktion der Aufklärung, die das Barock freilich nie überwunden hat. In gewissem Sinne leben wir immer noch im Barock, sofern wir unter ‚barock‘ ein „self-consuming arti- fact“ verstehen, das sich gemäß Stanley Fishs Barockkonzeption in seiner Effekti- vität gleichsam selbst verzehrt und „signifies most successfully when it fails, when it points away from itself to something its forms cannot capture“49. ‚Barock‘ wird somit in dieser Arbeit als poetisch-linguistische Kategorie verwandt und nicht als streng historische Epoche. Insofern ist auch die vermeintliche Reihe der Autoren- namen ‚Gryphius, Kleist und Büchner‘ nicht linear als ‚Literaturgeschichte des Literalen‘ in der frisierten Form geistesgeschichtlicher Fortschrittsgeschichte zu verstehen; stattdessen hat dieses Projekt einen historischen Anspruch nur, wo es im dekonstruktivistischen Sinne die Historizität der Geschichte betrifft, und da ist zumeist Benjamin zur Stelle. Statt an linearen Zeitachsen wird diese Studie sich an verräumlichten, oft zyklischen Betrachtungsweisen orientieren, wie sie sich exemplarisch in Giambattista Vicos Figur des ricorso, in Kenneth Burkes Konzept der Master Tropes oder in Harold Blooms Map of Misreading finden.50 Was nicht bedeutet, dass innerhalb der parataktischen Autoren-Konstellation nicht immer wieder kleinere Entwicklungslogiken Beachtung fänden. Aber auch hier gilt das Interesse nicht der Frage, ob sich von Gryphius zu Büchner etwas genuin ‚Neues‘ ereignet, sondern in welcher Weise ein beständiges re-troping des Literalisierungsphänomens stattfindet zwischen Gryphius, Kleist und Büchner oder zwischen Büchner, Kleist und Gryphius oder zwischen Kleist, Gryphius und Büchner. Dabei ist es nicht das erste Mal, dass der Dialog zwischen den drei Autoren er- öffnet wird; schon Peter Szondi hat in Versuch über das Tragische Gryphius’ Leo Armenius an die Seite von Kleists Die Familie Schroffenstein, Büchners Danton’s Tod und einer Vielzahl weiterer Texte gestellt.51 Ist es Szondis Ziel, in den Trau- erspielen einen hegelianisch-inspirierten Begriff des Tragischen zu verfolgen, so will ich untersuchen, wie die Notwendigkeit, die Szondis Aufmerksamkeit bannt, rhetorisch durch Vereindeutigungen produziert wird. Dass bei dieser Untersu- chung der Literalisierungen auch der komische Aspekt im Tragischen, der sich einstellt, wo sich die eigenen Worte konkretisierend gegen einen wenden, merk-

49 STANLEY FISH, Self-Consuming Artifacts. The Experience of Seventeenth-Century Literature (Berke- ley, Los Angeles CA/London: University of California Press 1974 [1972]), 4. 50 GIAMBATTISTA VICO, Die neue Wissenschaft über die gemeinschaftliche Natur der Völker, übersetzt von Erich Auerbach (Berlin/New York: de Gruyter 2000); KENNETH BURKE, „Four Master Tropes“; Harold Bloom, A Map of Misreading (New York: Oxford University Press 2003 [1975]). 51 Vor SZONDI verglich GERHARD FRICKE die ‚Sinn- und Ideenlosigkeit‘ der Familie Schroffenstein bereits mit Gryphius’ Leo Armenius: Die Bildlichkeit in der Dichtung des Andreas Gryphius. Mate- rialien und Studien zum Formproblem des deutschen Literaturbarock, 111. EINLEITUNG 21 bar wird, gibt Gelegenheit, die von Szondi vernachlässigte dramatische Ironie in den Blick zu nehmen, die immer da zum Zuge kommt, wo Tragisches dem Men- schen „durch des Menschen eigenes Tun geschieht“.52 Die Untersuchung der Li- teralisierung im Trauerspiel bringt demnach eine strukturelle Komik zutage, die Szondi wie schon Benjamin, der die Nachtseite und allegorische Todesverfallen- heit ins Zentrum seiner Betrachtung gestellt hat, fast völlig ausblenden musste.

Walter Benjamin: barockes Lesedrama

Mit Benjamin möchte ich beginnen, ausführlicher auf die verschiedenen Theore- tiker des Barock einzugehen, für deren Barocktheorien die Idee der Literalisie- rung zentral ist, auch wenn oder gerade weil der Terminus nicht explizit wird, sondern aus der Latenz heraus wirkt. Vor allem Benjamins Gedanken zur Gat- tungsspezifik erweisen sich fürs Verständnis des Phänomens der Literalisierung im barocken Trauerspiel fruchtbar: Bekanntlich hat Benjamin das barocke Trau- erspiel ein „Lesedrama“53 genannt, weil es danach verlange, „dass der erwählte Zu- schauer solcher Trauerspiele grüblerisch, und mindestens dem Leser gleichend, sich in sie versenkte“54. Mit dem Begriff des ‚Lesedramas‘ nimmt Benjamin einen weiteren Terminus auf, der bis dahin nur als Schimpfwort kursierte, denn genau- so wie die Bezeichnungen „Buchdramatiker“ und „Gelehrtendichtung“ wurde das Lesedrama laut Willi Flemming bis dato mit „der vollständigen Entfremdung von Bühne und Drama“ assoziiert.55 Selbst Flemming, der anders als Benjamin noch Revision gegen das Verdikt der Buchdramatik einzulegen sich bemühte, gelang es

52 PETER SZONDI, Versuch über das Tragische, 213. Wie eng Tragik und Ironie beieinander liegen, wird deutlich, wenn man CHRISTOPH MENKES Definition von dramatischer Ironie in Versuch über Urteil und Spiel zum Vergleich heranzieht: Die „Verkehrung der einen, gemeinten in die an- dere, bewirkte Bedeutung ist dramatische Ironie [...], dass das eigene Handeln selbst zur Hervor- bringung eines Zusammenhangs beiträgt, der über den Handelnden hinausgeht, ja, sich gegen ihn richten kann“, Die Gegenwart der Tragödie. Versuch über Urteil und Spiel (Frankfurt/M.: Suhrkamp 2005), 177. 53 WALTER BENJAMIN, Ursprung des deutschen Trauerspiels, 163. 54 Auch RICHARD ALEWYN schreibt dem Zuschauer eine aktive „Rolle“ bei der Rezeption des Trauerspiels zu: „Der Zuschauer ist die Hauptperson“. Idealerweise imaginiert ALEWYN einen Zuschauer, der sich in einen „Träumenden“ und einen „Wachen“ spaltet: einen, der der Täu- schung erliegt, und einen, der sich ihrer bewusst ist. ALEWYN, „Das große Welttheater“, 41, 18 und 68. Im Vorwort zu dem von ihm herausgegebenen Band Deutsche Barockforschung, 9-13 spricht ALEWYN von „ein(em) ‚Verstehen‘, an dem das Subjekt des Betrachters oft nicht geringe- ren Anteil hatte als der Gegenstand seiner Betrachtung“ (9). Dass das Genre des Lesedramas nicht auf den deutschsprachigen Raum beschränkt ist, zeigt LUKAS ERNES Shakespeare as Literary Dramatist (Cambridge UK: Cambridge University Press 2003). 55 WILLI FLEMMING, Andreas Gryphius und die Bühne (Halle: Niemeyer 1921), hier 303 f. Zu Flemmings Kritik am Vorwurf der ‚Buchdramatik‘ siehe auch Das Schlesische Kunstdrama, 18. Zur rassistischen Strömung in der deutschen Barockforschung, der neben Flemming u. a. auch Cysarz, Viëtor und Ermatinger angehörten, sei WILHELM VOSSKAMPS Aufsatz „Deutsche Ba- rockforschung in den zwanziger und dreißiger Jahren“, in: Klaus Garber (Hg.), Europäische Ba- rock-Rezeption, Bd. 1 (Wiesbaden: Harrassowitz 1991), 483-703 empfohlen. 22 EINLEITUNG nicht, sich einen Reim auf Gryphius’ zweigleisige Verfahrensweise zu machen: Betont Flemming in seiner Studie Andreas Gryphius und die Bühne, dass Gryphius bei der Konzeption des Leo Armenius allzeit die dramatische Umsetzung des Ge- schriebenen für die Bühne vor Augen gehabt habe,56 so schreibt er in Das Schlesi- sche Kunstdrama, bei Gryphius müsse „alles erst gedeutet und bezogen werden“57. Das Ergebnis ist laut Flemming eine „Inkongruenz von Sichtbarem und Gesag- tem“, von „Schaubarkeit und Wortdeutung“.58 Benjamin schließt an Flemmings Beobachtungen an, nicht ohne den angeblichen Schwachpunkt des Lesedramas ästhetisch stark zu machen: Das Lesedrama ziehe seine Wirkung aus dem Wider- spruch der Gattungen. Was aber, fragt man sich auch bei Benjamin, sind die Mi- krostrukturen, die diese Zwitternatur des Trauerspiels hervorbringen? Hier kommt der Literalisierungsmechanismus ins Spiel, der auf dieselbe paradoxe Verfasstheit angewiesen ist, die das Lesedrama auszeichnet: Erstens verläuft jede Literalisierung als Handlungsstruktur prozessual. Zweitens zeugen Literalisierun- gen vom Bemühen, die spezifische Materialität der theatralen Handlung ins Me- dium des Textes zu retten. Grundsätzlich verschließt sich ja das schriftliche Me- dium der spezifischen Temporalität und Materialität der Aufführung: Ist einer- seits die theatrale Aufführung ihrer Zeitlichkeit nach irreversibel, so lädt der Text zum Wiederlesen ein. Zeichnet andererseits die Aufführung eine eminente Mate- rialität aus, die sich dem Agieren, bzw. dem Ausagieren (des geschriebenen Tex- tes) verdankt, so geht diese spezifische Körperlichkeit im Text erst mal verloren. Die Handlungsstruktur der Literalisierung vermittelt, behaupte ich, zwischen den verschiedenen Kapazitäten des schriftlichen und theatralen Mediums; sie ermög- licht, das Moment des Ausagierens bereits im geschriebenen Text zu performieren – mit dem Ergebnis, dass Rhetorik und Handeln sich einander annähern und die Form einer barocken Sprechhandlung annehmen. Aufgrund der Materialität und vielschichtigen Zeitlichkeit seiner Aufführung eignet sich das Genre des Lesedra- mas vorzüglich zur Analyse des gewaltsamen Versuchs, Ambiguität zu reduzieren, denn es verbindet die temporale Irreversibilität des Theaters mit der rekursiven Zeitlichkeit des Lesevorgangs.59

56 WILLI FLEMMING, Andreas Gryphius und die Bühne, 303-314: „(D)em Dichter stand während der ganzen Ausarbeitung seiner Tragödien stets die reale Schulbühne der protestantischen Gym- nasien vor Augen, die zu sehen er dauernd die meiste Gelegenheit hatte. [...] Es geht nicht länger an, von ihm als Buchdramatiker zu reden, die Fabel von der weltfremden Gelehrtenpoesie trifft für diese Zeit überhaupt noch nicht zu“ (306, 314). 57 Ders., Das Schlesische Kunstdrama, 38. 58 Ebd., 30. 59 Als „(Lese-)Drama“ bezeichnet RÜDIGER CAMPE Danton’s Tod in seinem Eintrag „Zitat“, in: Roland Borgards/Harald Neumeyer (Hg.), Büchner-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung (Stutt- gart/Weimar: Metzler 2009), 274-282, hier 274. EINLEITUNG 23

Richard Alewyn: Versinnlichung und Versichtbarung

Neben Benjamin und Wölfflin war es vor allem Richard Alewyns Verdienst, das Barock vom engen Epochenbegriff gelöst und als „Stilbegriff“60 etabliert zu ha- ben. Derselben Strategie, die sich bei Benjamin bewährte, Eigenarten des Barock- stils nicht zu entschuldigen, sondern sie selbstbewusst als Stilformen zu affirmie- ren, bedient sich auch Alewyn in Das große Welttheater. Den oft kritisierten Man- gel an Handlung und die daraus resultierende Spannungslosigkeit des Trauer- spiels adressiert er so: Die ‚Passivität‘ des Helden, der Mangel an Aktion, das Fehlen von ‚Spannung‘, das Typische der Figuren, der Gebrauch der Allegorien, die übernatürlichen Eingriffe – das alles wird als ‚undramatisch‘ getadelt, mit Recht, wenn man seine Begriffe vom Drama an der säkularisierten Welt des protestantischen Theaters entwickelt hat61 Alewyns Bemerkung ist nicht ohne Spitze; sie stichelt all jene, die sich dem ba- rocken Trauerspiel mit einem klassischen Dramatikbegriff annähern: Wer im Ba- rock wie bei Lessing oder Schiller nach einem Geschehen sucht, das sich Zahnrä- dern gleich reibungslos, doch spannungsreich am Was der Handlung abarbeitet, wird von der „undramatische(n) Struktur des Trauerspiels“62 enttäuscht werden.63 Auch dieser Wesenszug des Trauerspiels ist bei Kleist und Büchner präsent, so dass sich der Herausgeber von Danton’s Tod, Karl Gutzkow, genötigt sah, auf den „Mangel der Handlung“64 von Büchners Trauerspiel hinzuweisen. Doch Alewyn weigert sich, diese Reduktion von Aktion rein negativ zu begreifen; stattdessen gewinnt er ihr eine eigene Form der Dramatik ab: Theatralität. Die Theatralität

60 Siehe hierzu ALEWYNS Ausführungen zum „Stilbegriff Barock“, zu seiner Struktur und Funktion im Vorwort zu Deutsche Barockforschung. Dokumentation einer Epoche, 10. ALEWYN wendet die- sen Stilbegriff extensiv an, und so will ich es auch in dieser Arbeit handhaben, wenn ich Autoren wie Kleist und Büchner in die barocke Stilanalyse mit einbeziehe: „Wir bezeichnen dagegen mit dem Substantiv ‚Barock‘ auch die Epoche, die diesen Stil gezeitigt hat und die in Goethes Zeit noch nicht ausgelaufen war. Dieses Zeitalter erstreckt sich zwischen Renaissance und Reformati- on einerseits, der Aufklärung andererseits“: „Goethe und das Barock“, aus: Probleme und Gestal- ten. Essays (Frankfurt/M.: Suhrkamp 1982 [1974]), 271-280, hier 271. 61 Ebd., 56 f. 62 HARALD STEINHAGEN, Wirklichkeit und Handeln im barocken Drama. Historisch-ästhetische Stu- dien zum Trauerspiel des Andreas Gryphius (Tübingen: Niemeyer 1977), 38. 63 Siehe hierzu auch WILLI FLEMMINGS Differenzierung zwischen barockem und klassischem Stil: „Im Gegensatz zum Drama der Klassik ist die Handlung hier nicht symbolisch; der Gehalt durchleuchtet nicht alles von innen her, steckt nicht untrennbar darinnen wie das Herz im Leibe. Doch wird sie auch nicht schlechthin allegorisch und sinkt zur bloßen Chiffre für ein Andersarti- ges, bloß ‚Gemeintes‘ herab. Keineswegs wird sie wie im Expressionismus entmaterialisiert“, Das schlesische Kunstdrama, 27. 64 „Büchner gibt statt eines Dramas, statt einer Handlung, die sich selbst entwickelt, die anschwillt und fällt, das letzte Zucken und Röcheln, welches dem Tode vorausgeht“, KARL GUTZKOW, „Danton’s Tod“, in: Phönix. Literatur-Blatt 27 (Frankfurt/M.: 11. Juli 1835), 645-646. 24 EINLEITUNG verlange, dass im Trauerspiel „der Ausgang niemals ungewiß, sondern von Ewig- keit her vorausbestimmt [ist]. Das ist nicht immer ‚dramatisch‘, aber das kann im verwegensten Sinne ‚theatralisch‘ sein“65. Obwohl die Trauerspiele, auf die Ale- wyn Bezug nimmt, ihre Wirkung nicht vor dem Ende entfalten, ist dieses Ende doch ein im Titel, Untertitel, Vorwort oder Anspielungen Antizipiertes. Die Spannungsökonomie des Trauerspiels kann, lautet meine These, als profanierte Version heilsgeschichtlicher Vorsehung oder auch als überspannte Transzendenz gelesen werden, denn im Trauerspiel wie im typologischen Muster bildet das En- de den Anfang. Nehmen wir Gryphius’ Leo Armenius als Beispiel: Der Titel Leo Armenius, oder Fuersten-Mord nimmt das Ende des Trauerspiels (den Mord an Leo) vorweg66; „Vorentschiedenheit“67, um Gerhard Kaisers Terminus zu entleh- nen, charakterisiert folglich die Spannungsökonomie des Leo Armenius. Klarer noch liegt der Fall bei Büchners Danton’s Tod, denn dass der Protagonist sterben muss, wird vom Paratext von Anfang als bekannt vorausgesetzt.68 In Die Familie Schroffenstein, einem Trauerspiel, das mit einer Fluchszene einsetzt, macht sich Kleist einen Scherz daraus, die Lösung des Rätsels aus dem Ödipus – ‚Wer ist ver- flucht?‘ – als Titel gleich auf dem Deckblatt prangen zu lassen: Die Familie Schroffenstein. Somit kann die Schockwirkung, welche die Todesfälle in den Trauerspielen von Gryphius, Kleist und Büchner hervorrufen, nicht der Tatsache geschuldet sein, dass jemand stirbt; stattdessen muss dieser Schock auf ein Vor- und Nachbeben zurückgeführt werden, dessen nur schwer lokalisierbares Epizen- trum der Ort des Zusammenfalls von arche und telos ist – jener Punkt, an dem Vergangenes und Zukünftiges konvergieren. Konstruiert ist dieser Ort aus For- mulierungen, die Kippfiguren gleich entweder figurativ oder aber wörtlich gele- sen werden können, wobei die wörtliche Bedeutung latent gehalten wird, bis sie plötzlich ihr Realisierungspotential entfaltet und ihre Zukünftigkeit im Nachhin- ein offenbart: Dann stellt sich heraus, dass Äußerungen die Wirkungsmächtigkeit

65 RICHARD ALEWYN, „Das große Welttheater“, 57. 66 Auf eine relative Bekanntheit der Geschichte von Leo Armenius lässt zudem schließen, dass die englische Wanderbühne des Jesuiten Joseph Simon mit ihrem Leo Armenius zu Gryphius’ Leb- zeiten in Europa tourte, und dass das Stück auf historische Quellen der byzantinischen Historiker Kedrenos und Zonaras zurückgeht. Zur Quellen- und Entstehungslage des Leo Arminius siehe hierzu: EBERHARD MANNACK, „Kommentar zum Leo Armenius“, in: Gryphius. Dramen (Frank- furt/M.: Deutscher Klassiker Verlag 1991), 881-920. 67 Einen kontrastierenden Vergleich zwischen klassischer, dialogisch-entwickelter Dramatik und ba- rocker „Vorentschiedenheit“ im Leo Armenius nimmt GERHARD KAISER vor in „Leo Armenius, Oder Fürsten=Mord“, in: ders. (Hg.), Die Dramen des Andreas Gryphius. Eine Sammlung von Einzelinterpretationen (Stuttgart: Metzler 1968), 3-34. 68 GÉRARD GENETTE beschäftigt sich in „Les functions de la préface originale“, aus: Seuils (Paris: Seuil 1987), 182-218 mit dem Verhältnis des Vorworts als „Paratext“ zum restlichen Textkorpus; GENETTE bestimmt die Funktion des vom Autor verfassten Vorworts als Schwelle, die den Weg zur „bonne lecture“ eröffne: „La préface auctoriale assomptive originale, que nous abrégerons donc en préface originale, a pour function cardinale d’assurer au texte une bonne lecture“ (183). EINLEITUNG 25 von Prophezeiungen oder Flüchen haben, Sentenzen sich zu Spiegelstrafen ver- kehren, Urteile die Ironie von Selbstverurteilungen entfalten. Statt nach Geheimnissen, mahnt Benjamin, solle man im Barock lieber nach dem „Rätselhafte(n) und Versteckte(n)“69 Ausschau halten. In diesem Sinne spannt auch die barocke Literalisierung ihre Leser/innen nicht mit der Frage Was passiert? auf die Folter, sondern verrätselt, wie etwas passiert. Wäre techné allein dem Was zu Diensten mit einem so geringen Maß an sprachlicher Mehrdeutig- keit wie möglich, verschwände sie im reibungslosen Verlauf. Will techné dagegen, da dem barocken Trauerspiel der Zugang zur Transzendenz versperrt ist, ihre al- legorische Immanenz, ihre Technizität zur Schau stellen, so muss der verfrem- dende Effekt der barocken Literalisierung darauf abzielen zu verstecken, wie Leo, Danton oder die Familie Schroffenstein (aus-)sterben: Die Literalisierung muss den Plot als Störenfried aufmischen, indem sie die allzu bekannte Handlung un- kenntlich macht. Das Detail, dessen Relevanz jüngst Samuel Weber für Benjamins Trauerspiel- buch nachgewiesen hat, wird in diesem Sinne erst dadurch theatral, dass es grö- ßenwahnsinnig wird70: Die „Requisiten des Bedeutens“ gewinnen eine „Mächtig- keit [..], die den profanen Dingen inkommensurabel sie erscheinen lässt und sie in eine höhere Ebene hebt, ja heiligen kann“71. Dieses Phänomen trifft im barok- ken Trauerspiel auch für das Wort-Detail zu, mit dem sich Bettine und Chri- stoph Menke beschäftigt haben: „Die Sprachlichkeit des Agierens und die Tex- tualität des Theaterstücks selbst werden so in neuer Weise sichtbar, und zwar als ein Überschuss oder auch als Verweigerung gegenüber der dramatischen Hand- lung“.72 Literalisierung ist ein perfektes Beispiel für ein solches Sichtbarmachen der Sprache im Agieren und die damit einhergehende Verunmöglichung von Handlung im klassischen Sinne. Denn wenn ein Wort, die sprachliche Requisite, auf einmal Regie führt, muss dies natürlich die Gesamtkomposition stören, die Forderung nach Form und wohlproportionierter Handlung; sobald das Margi- nale zentral wird, findet sich die Hierarchie der Signifikanz auf den Kopf gestellt. Dass das Detail überhaupt einen solchen Einfluss erlangen kann, liegt wesentlich am Prinzip der Versichtbarung: Man dürfe sich den Barock, schreibt Alewyn, „beileibe nicht so vorstellen, als ob [..] irgend etwas der diskreten Andeutung überlassen geblieben wäre. [...] Das Zeitalter ist geradezu besessen von einem

69 WALTER BENJAMIN, Ursprung des deutschen Trauerspiels, 158. 70 „What distinguishes Benjamin’s interpretation of the detail is that its spatial dimension becomes distinctively theatrical“, SAMUEL WEBER, „God and the Devil – in Detail“, aus: Benja- min’s –abilities (Cambridge MA: Harvard University Press 2008), 240-249, hier 242 f. 71 Ebd., 152 f. 72 BETTINE MENKE/CHRISTOPH MENKE, „Tragödie – Trauerspiel – Spektakel. Drei Weisen des Theatralen“ im von ihnen herausgegebenen gleichnamigen Sammelband (Berlin: Theater der Zeit 2007), 6-17. 26 EINLEITUNG schrankenlosen Bedürfnis nach Versinnlichung und nach Versichtbarung“73. Mit den Begriffen der Versinnlichung und Versichtbarung macht Alewyn implizit die Körperlichkeit des Barocktheaters für die Inflation der herkömmlichen Span- nungsökonomie verantwortlich: Das barocke Theater ist zwar, wie wir glauben, ein in eminentem Maße geistiges Theater, das geistigste, das die Erde gesehen hat. Aber es ist ebensosehr das sinnlich- ste Theater, das jemals existiert hat. Darum spielt unter all den Bestandteilen, die zusammen das Theater ausmachen, das Wort die geringste Rolle. So belanglos war der Text, dass es nicht störte, wenn er unverständlich blieb.74 Alewyns Argumentation liegt eine zweiteilige Opposition zugrunde: Geist/Wort steht Sinnlichkeit/Körper gegenüber. Schreibt Alewyn zunächst, das Barockthea- ter sei so geistig (sprachlich) wie sinnlich (körperlich), dann nimmt er diese These gleich darauf zurück, wenn er behauptet, das Barocktheater sei nur deshalb so sinnlich, weil Sprache in ihm zur Nebensache werde. Mit dieser Ansicht steht Alewyn nicht allein da, hat doch schon Willi Flemming die Funktion des Wortes im Barocktheater als rein „dekorativ( )“75 abgetan. Allerdings zeichnet sich an die- ser Stelle ein Widerspruch ab. Schließlich ist man ebenso mit der konträren An- sicht konfrontiert, wenn etwa Wilhelm Dilthey an Gryphius’ Trauerspielen ein „Übergewicht des Wortes über die eigentlich dramatischen Mittel von Miene, Gebärde und Handlung“76 bemängelt. Ist nun das Wort im Barocktheater, wie Alewyn und Flemming behaupten, bloße Nebensache oder dominiert es gar, wie Dilthey nahe legt, das gesamte Stück? Ursächlich für diese Verwirrung scheint zu sein, dass das Detail im Barock, wie Weber beschreibt, außer Rand und Band gerät, so dass seine Proportionen im ba- rocken Trauerspiel mal klein, mal riesig erscheinen. Zudem bedeutet die Tatsa- che, dass alles explizit und sichtbar wird, nicht, dass damit auch alles übersichtli- cher würde. Im Gegenteil: Literalisierungen partizipieren insofern an der Öko- nomie des purloined letter, als sie sich gerade durch ihre demonstrative Sichtbar- keit verdeckt halten und Latenz in der Oberfläche erzeugen.77 Diese paradoxe La-

73 RICHARD ALEWYN, „Das große Welttheater“, 50 f. 74 Ebd., 51. 75 Hier wende ich mich gegen WILLI FLEMMINGS Ansicht, dass „(v)om Worte natürlich nur die dekorativen Seiten, sein Klangreiz und ein gewisses Meinen (bleiben), das für die Verdeutlichung der vagen Sprache der anderen Künste eben noch unumgänglich nötig war“, Das Schlesische Kunstdrama, 7. 76 WILHELM DILTHEY, Studien zur Geschichte des deutschen Geistes, Bd. 3 (Göttingen: Vanden- hoeck & Ruprecht 1969), 58 f. DILTHEY bezieht sich an dieser Stelle auf Gryphius wie auch auf dessen Vorgänger . 77 „Quoi de plus convaincant d’autre part que le geste de retourner les cartes sur la table?“, JACQUES LACAN, „Le séminaire sur ‚La lettre volée‘ (1956)“, aus: Écrits (Paris: Seuil 1966), 11-41, hier 20. Man könnte die tiefgründige Oberflächlichkeit der Literalisierung auch mit der des Denkbildes vergleichen: Obwohl sich einem Literalisierungen wie Denkbilder plötzlich erschließen (die Ähn- lichkeit mit Benjamins Vexierbild zeigt sich im Moment des Kippens zwischen Figurativ- und Literalbedeutung), setzen beide Darstellungsökonomien voraus, dass alles bereits da ist. Dazu greifen beide auf Mechanismen des Traumes zurück, die sie dahingehend modifizieren, dass die Repräsentation auf die Ebene des Manifesten beschränkt bleibt. Es gehe stets „um den manifesten