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Frankfurter Anthologie. Gedichte und Interpretationen

Zweiunddreißigster Band

Bearbeitet von Marcel Reich-Ranicki

1. Auflage 2008. Buch. 308 S. Hardcover ISBN 978 3 458 17409 7 Format (B x L): 12,5 x 20,4 cm Gewicht: 408 g

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Leseprobe

Reich-Ranicki, Marcel Frankfurter Anthologie. Gedichte und Interpretationen

Zweiunddreißigster Band Herausgegeben von Marcel Reich-Ranicki

© Insel Verlag 978-3-458-17409-7

Zweiunddreißigster Band Gedichte und Interpretationen Herausgegeben von Marcel Reich-Ranicki Insel Verlag  Insel Verlag Frankfurt am Main und Leipzig 2008 Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Quellenhinweise am Schluß des Bandes Satz und Druck: Memminger MedienCentrum AG Printed in Erste Auflage 2008 ISBN 978-3-458-17342-7

123456–13 12 11 10 09 08 In memoriam Peter Rühmkorf

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inhalt

13 Martin Luther: Psalm XXIII (Annemarie Ohler) 17 : Einsamkeit (Andreas Blödorn) 21 : Der Kreis im Punkte (Hermann Kurzke) 25 Johann Wolfgang Goethe: An Frau von Willemer (Eva Demski) 29 Johann Wolfgang Goethe: Unbegrenzt (Joachim Sartorius) 33 Johann Wolfgang Goethe: Meine Ruh’ ist hin (Thomas Anz) 39 : Nicht lange wird der schöne Fremde säumen (Ludwig Harig) 43 Casimir Ulrich Boehlendorff: Die rabenfeder mit dem schmetterlingsflügel (Rüdiger Görner) 49 : 10.Jänner 1834 (Dirk von Petersdorff) 53 : Frühlingsglaube (Wolfgang Schneider) 8 Inhalt

57 Joseph von Eichendorff: Waldesgespräch (Peter von Matt) 61 Joseph von Eichendorff: An einen Unedlen von Adel (Hartwig Schultz) 65 Joseph von Eichendorff: Herbstklage (Peter von Matt) 69 Annette von Droste-Hülshoff: Lebt wohl (Peter von Matt) 75 : Rückschau (Gert Ueding) 81 : Himmelstrauer (Eckart Kleßmann) 85 : Hans (Tilman Spreckelsen) 89 : Ja, das möcht’ ich noch erleben (Dirk von Petersdorff) 93 Wilhelm Busch: Wiedergeburt (Gert Ueding) 97 : Vogelschau (Peter von Matt) 101 Else Lasker-Schüler: (Joachim Sartorius) 105 Else Lasker-Schüler: Ich liege wo am Wegrand (Barbara Hahn) Inhalt 9

109 Else Lasker-Schüler: Ich glaube wir sind alle für einand’ gestorben (Michael Braun) 115 : Spiegel ... (Silke Scheuermann) 119 Rainer Maria Rilke: Rühmt euch, ihr Richtenden (Ruth Klüger) 123 Rudolf Borchardt: Abschied (Renate Schostack) 127 Paul Zech: Wirhaben nirgend eine Heimat mehr ... (Hans Christoph Buch) 133 Oskar Loerke: Der Wald der Welt (Wulf Segebrecht) 139 : Elternlied (Ruth Klüger) 143 : VomKlettern in Bäumen (Sebastian Kleinschmidt) 147 Peter Huchel: Wintermorgen in Irland (Hub Nijssen) 151 Reinhold Schneider: An meinen Vater (Hermann Kurzke) 155 Jesse Thoor: Rede von der Anschauung (Michael Lentz) 159 Mascha Kale´ko: Gewisse Nächte (Ingrid Bache´r) 10 Inhalt

165 Arno Schmidt: Trunkner im Dunkel (Rüdiger Görner) 169 : Begräbnis meines Vaters (Harald Hartung) 173 : Alkohol (Silke Scheuermann) 179 Günter Grass: Liebe geprüft (Andreas Blödorn) 183 Hans Magnus Enzensberger: Kurze Geschichte der Bourgeoisie (Ludwig Harig) 187 Walter Helmut Fritz: Also fragen wir beständig (Wulf Segebrecht) 193 Heiner Müller: Neujahrsbrief 1963 (Jan-Christoph Hauschild) 197 Peter Rühmkorf: VomZielen und vom Zittern (Joseph Anton Kruse) 201 : Salome (Michael Braun) 205 Wolf Biermann: Größe des Menschen (Georg Wöhrle) 209 Robert Gernhardt: Kant (Sandra Kerschbaumer) 213 Robert Gernhardt: Nachdem er durch Metzingen gegangen war (Uwe Wittstock) Inhalt 11

217 Hans-Ulrich Klose: Zeit schreiben (Walter Hinck) 221 Michael Krüger: Die Schlüssel (Peter von Matt) 225 Thomas Brasch: Schließ die Tür und begreife (Wolfgang Werth) 229 Nadja Küchenmeister: nebel (Ulrich Greiner)

Anhang: 235 Quellenhinweise 241 Verzeichnis der Interpreten 249 Verzeichnis der in den Bänden 1-32 interpretierten Gedichte

Martin Luther 13

martin luther psalm xxiii

Ein Psalm Davids

DER HERR IST MEIN Hirte / mir wird nichts mangeln.

Er weidet mich auff einer grünen Awen / Vnd füret mich zum frisschen Wasser.

Er erquicket meine Seele / er füret mich auff rechter Strasse / Vmb seines Namens willen.

VNdobich schon wandert im finstern Tal/ fürchte ich kein Vnglück / denn du bist bey mir / Dein Stecken vnd Stab trösten mich.

DV bereitest fur mir einen Tisch gegen meine Feinde / Du salbest mein Heubt mit öle / und schenkest mir vol ein.

Gutes vnd Barmhertzigkeit werden mir folgen mein leben lang / Vnd werde bleiben im Hause des HERRN jmerdar. 14 Annemarie Ohler

annemarie ohler ein gutes gedicht weckt fragen

Da spricht einer von erhebenden Erfahrungen so wie un- sereins von den Ferien: grüne Aue; frisches Wasser; sicher geführt durchs finstere Tal; bewirtet vom großen Gast- geber persönlich. Fast möchte man Luthers berühmtem Wort, er habe »dem volck auffs maul geschaut«, Glauben schenken. Doch das Volk war dem sprachmächtigen Re- formator nicht Vorbild, sondern Familie. Er selber sagt es auf Latein: »Germanis meis natus sum, quibus et serviam.« (Meinen Deutschen bin ich geboren, ihnen will ich die- nen.) Seinen Deutschen hat er Psalm 23 übersetzt, damit er ih- nen »klinge und dringe ins hertz durch alle sinne«. Er fin- det Alliterationen, wie Deutsche sie lieben, »Stecken und Stab«, und solche, die dem Gedicht fast unbemerkt ver- trauten Klang geben: Herr und Hirt, mir und mangeln, auf und Aue ... Ginge es nach Luther,sollte ein Christ die Psalmen so ken- nen, daß er bei allem, was ihm zustößt, »einen Spruch dar- aus anziehe als ein Sprichwort«. In zwölf Mönchsjahren hat Luther täglich mehrfach Psalmen gesungen; wer die Psalmen so eingeübt hat, weiß, wie oft sich dort Worte fin- den, die auf eigenes Erleben passen wie ein gutes Kleid. Die Psalmen sind Jahrtausende hindurch stets die kräftige Quelle einer Sprache geblieben, die Welt- und Geistes- erfahrung erschließt. Luther hat den Deutschen diesen Schatz rechter Worte erschlossen; durch ihn sind Psalm- Martin Luther 15 verse volkstümlich geworden. Der Anfangsvers von Psalm 23 ist das vielleicht sogar immer noch. Nur,wer sich den heutzutage »anzieht als ein Sprichwort«, braucht auf Spott nicht lange zu warten. Im Schafstrott durchs Leben ge- hen? Dichter sind nicht unbedingt die besten Deuter ihrer Werke. Luther hat seine Bibel gerühmt; man könne darin »wie auf gehobelten Brettern fein dahergehen«. Werseinen Psalm 23 laut liest, kann den freien Rhythmen strecken- weise wirklich wie im Spaziergang folgen. Doch unverse- hens stoßen Betonungen aufeinander,und zwar gerade dort, wo man ohnehin ins Stocken gerät: »Stecken und Sta´b–tro´ esten«. Wiedas?–Die Sätze sind einfach gebaut; der Schlußsatz aber beginnt, anders als üblich, mit dem Verb. Soeben hat der Dichter erklärt, daß er ohne Furcht vor Hinterlist durchs Leben geht, denn treue Wächter fol- gen ihm, und im Hause des Herrn ...Nach den Regeln der deutschen Sprache müßte der nächste Satz so anfangen; doch dann bliebe einen Moment lang offen, was der Wan- derer im Hause des Herrn findet; gelegentlich etwas Er- holung?Nein, das Bild der Wanderung wird sogleich umgestoßen: »Und werde bleiben im Hause des Herrn – jmerdar.« Wieder prallen zwei betonte Silben aufeinan- der.Auftrumpfend klingt das; sprechen läßt es sich jeden- falls kaum, ohne daß man vor dem letzten Wort kurz Luft holt. Sprichwörter sind besserwisserisch; ein gutes Gedicht weckt Fragen. Wieerlebt ein Mensch »Stecken und Stab«, wenn die ihn ins finstere Talführen?Wie genießt er reiche Bewirtung, wenn gegenüber die Feinde stehen?Im»Send- brief vom Dolmetschen« wünscht Luther,»die leute sollen ergern /stoßen und fallen /damit sie mügen lernen und 16 Annemarie Ohler wissen«. Dort geht es um den Römerbrief; aber auch Psalm 23 hat Stolperstellen. Hier spricht ein Mensch, wie Luther selber es sein wollte, einer,der sich durch alles, was ihm zustößt, bestärkt sehen möchte in seinem Vertrauen, daß er sogar auf der Straße draußen im Hellen und im Fin- stern bei dem ist, der ihm Haus und Heimat gibt. Luther kannte Sprachen als »die scheyden, darynn dis Messer des geystes stickt«. Nicht jedes Messer des hebräi- schen Psalms hat er herausgezogen. Dort heißt es, daß die Wächter dem Wanderer »nachjagen« wie Krieger dem flie- henden Feind. Will dieser sich nicht schützen lassen? Warum übersetzt Luther nicht »Tal des Todesschattens«, wie er es in seiner Mönchszeit oft und oft auf Latein gesun- gen hat?Antwort mag eine Frage geben, die Luther sich selber gestellt hat: »Lieber,wie redet der Deudsche man jnn solchem Fall?« Luther will sich beim Übersetzen von seinen lieben Deutschen beraten lassen; aus seinem Psalm soll kein Fremder reden. Heute möchte man fragen: Können, oder vielmehr: Dür- fen Dichter das Deutsche noch ebenso familiär gebrau- chen?Könnten die Messer der Psalmen den Deutschen ihre volle Schärfe zeigen, würde diese uralte Quelle rechter Worte vielleicht von neuem sprudeln. Andreas Gryphius 17

andreasgryphius einsamkeit

IN diser Einsamkeit /der mehr denn öden Wüsten / Gestreckt auff wildes Kraut /andie bemoßte See: Beschau’ ich jenes Thal und diser Felsen Höh’ Auff welchem Eulen nur und stille Vögel nisten. Hir /fern von dem Pallast; weit von des Pövels Lüsten / Betracht ich: wie der Mensch in Eitelkeit vergeh’ Wie/auff nicht festem Grund’ all unser Hoffen steh’ Wiedie vor Abend schmähn /die vor dem Taguns grüßten. Die Höl’ /der rauhe Wald /der Todtenkopff /der Stein / Den auch die Zeit aufffrist /die abgezehrten Bein / Entwerffen in dem Mutt unzehliche Gedancken. Der Mauren alter Grauß /diß ungebau’te Land Ist schön und fruchtbar mir /der eigentlich erkant / Daß alles /ohn ein Geist /den Gott selbst hält /muß wancken. 18 Andreas Blödorn

andreasblödorn schönheit der meditation

Einsam, zurückgezogen, weit entfernt von jeglicher Ge- meinschaft steht das sprechende Ich außerhalb menschli- cher Kultur.Anders als in vielen seiner rhetorisch stärker bewegten Gedichte läßt Andreas Gryphius dieses Ich scheinbar abgeklärt die zurückgelassene irdische Welt be- schauen. Doch bei aller Leichtigkeit geht es auch hier,im ruhigen Wechselrhythmus um Existentielles, zeigt uns der Dichter keine liebliche Landschaft, sondern einen schreck- lichen, unbeseelten Ort: Öde, Wildnis und Verfall, wohin wir schauen. Ein Gedankenspiel nur,ist diese Landschaft zusammengesetzt aus konventionellen Versatzstücken, die Gryphius ganz im Sinne des bildhaften Denkens seiner Zeit aneinanderreiht. Als das Sonett 1650 erstmals ge- druckt wurde, war der Dreißigjährige Krieg gerade zwei Jahre beendet; der Vorstellungsraum des Gedichts aber steht über aller weltlichen Geschichte. Hier wachen Eulen und stille Vögel, traditionelle Zeichen melancholischer Einsamkeit und stillen Philosophierens. Wüste und See, Berg und Tal, Herrscher im Palast und die ihren Leidenschaften überlassenen Beherrschten: Mit Bedacht ist diese barocktypische Naturkomposition ar- rangiert, ergeben die einzelnen Elemente zusammen das geordnete Bild einer Lebenswelt, deren Gegensätze nur beispielhaft ausgeschritten werden, um am Ende ihre gänzliche Vernichtung durch die alles »fressende« Zeit zu erweisen. Einerlei, was oben und unten, am Tagoder Andreas Gryphius 19 abends geschieht: unter dem Gesichtspunkt der Ewigkeit heben sich die Antithesen der einzelnen Verszeilen im Ge- danken an die Vergänglichkeit auf. Wasaber ist angesichts dieser bedrückenden Erkenntnis, so die rhetorische Frage dahinter,dann noch der Mensch? Eine existentielle Frage unseres Daseins, auf die das Ge- dicht eine erste, erschütternde Antwort bereithält: Der Mensch ist nichts. Er ist, mit dem im Barock allgegenwär- tigen Vanitasgedanken gesprochen, »eitler« Schein, wie al- les Sichtbare auf Erden. Nichtig sogar »all unser Hoffen«; Unsicherheit, wo wir eben noch auf festem Grunde zu stehen meinten. Auf diesem melancholischen Tiefpunkt wechselt das Ich die Perspektive: Im ersten der beiden Ter- zette wendet es sich ab von der Betrachtung des Äußeren und schaut meditativ ins eigene Innere. Der Sinneswahr- nehmung folgt die religiöse Gewißheit, das »ungebau’te Land« erscheint jetzt in fruchtbarer Verheißung auf Gott hin. Aus dem toten Staub der Vergänglichkeit, dem »Grauß«, entsteht neues Leben im Geiste: Wasfür eine Offenbarung!Der Höhepunkt des Gedichtes ist die Er- kenntnis Gottes in innerer Versenkung. Und erst diese Ruhe in Gott gibt dem menschlichen Geist Kraft, jene an- dere, große, existentielle Einsamkeit zu ertragen, die ihn angesichts seiner eigenen Sterblichkeit befällt. Der einsame Mensch: das ist Gryphius’ Sinnbild für die todgeweihte Existenz. Wasalso ist der Mensch?Die zweite Antwort des Gedich- tes ist eine versöhnliche: Zu Staub zerfällt alles, von dem Gott seinen Odem hinwegnimmt, so sagt es der 104.Psalm, auf den die Schlußverse anspielen; dem aus Staub neu Er- schaffenen aber haucht Gottes Atem wieder Leben ein. Das Vergängliche erhält seinen Sinn aus dem Verweis auf das 20 Andreas Blödorn

Unvergängliche. Vier Strophen vollziehen diesen medita- tiven Erkenntnisweg von der Betrachtung der Natur zur Erkenntnis Gottes: Dem anfänglichen »Beschauen« der Außenwelt folgt das kontemplative »Betrachten« der Ver- gänglichkeit, dem Vorstellen »in dem Mutt« das endliche »Erkennen«, daß der Geist Gottes dem Menschen inne- wohnt. Das heilsgewisse Ich kann frohgemut ins nunmehr beseelte Diesseits zurückkehren. Nur einsam ist es, aber nicht allein. Wieließe sich die Erkenntnis überzeugender fassen als mit der Schönheit der regelgeleiteten, kunstvol- len Form des Sonetts, jener Form, der Gryphius erst zu poetischer Eigenständigkeit im Deutschen verhalf. Diese poetische Schönheit meditativer Erkenntnis spricht uns aus der Ferne der Barockzeit bis heute an. Wieder Mensch ist?Gryphius verbindet beide Antworten: Der Mensch ist nicht länger nichts –erist alles, wenn er er- kennt, daß Gott in ihm ist. So ist zuletzt auch die Welt re- habilitiert: Werdas Zeitliche auf eine ewige Wirklichkeit hin durchschaut, dem wandelt sich das Häßliche geistig ins Fruchtbare und Schöne. Nicht um ein subjektives Einzel- erlebnis, sondern um eine allgemeingültige Wahrheit ist es Gryphius zu tun. Mit optimistischer Erkenntnisgewißheit bindet das Sonett Weltzerfall und neu gefundenen Halt im Glauben in den umarmenden Reimen der Schlußverse poetisch zusammen. Wer, so appelliert das Gedicht in sei- ner Formvollendung, würde dem nicht gerne folgen –al- lein um der Schönheit dieser Erkenntnis willen?