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Herr der Bücher: Marcel Reich-Ranicki in seiner Frankfurter Wohnung MONIKA ZUCHT / DER SPIEGEL SPIEGEL-GESPRÄCH „Literatur muss Spaß machen“ Marcel Reich-Ranicki über einen neuen Kanon lesenswerter deutschsprachiger Werke SPIEGEL: Herr Reich-Ranicki, Sie haben für die an der Literatur interessiert sind. Gibt es um die Schule geht, für den Unterricht den SPIEGEL Ihren persönlichen literari- es überhaupt einen Bedarf für eine solche besonders geeigneter Werke. Die Frage, ob schen Kanon zusammengestellt, die Sum- Liste literarischer Pflichtlektüre? wir einen solchen Katalog benöti- me Ihrer Erfahrung als Literaturkritiker – Reich-Ranicki: Ein Kanon ist nicht etwa ein gen, ist mir unverständlich, denn für Schüler, Studenten, Lehrer und dar- Gesetzbuch, sondern eine Liste empfehlens- über hinaus für alle, werter, wichtiger, exemplarischer und, wenn Das Gespräch führte Redakteur Volker Hage. Chronik der deutschen Literatur Marcel Reich-Ranickis Kanon Johann Wolfgang von Goethe, Andreas Gryphius, 1749 –1832 1616 –1664 „Die Leiden des Gedichte jungen Werthers“, Gotthold Ephraim Lessing, „Faust I“, „Aus Walther von der Christian Hofmann Johann Christian 1729 –1781 meinem Leben. Das Nibe- Vogelweide, Martin Luther, von Hofmannswaldau, Günther, „Minna von Barnhelm“, Dichtung und lungenlied ca. 1170 –1230 1483 –1546 1616 –1679 1695 –1723 „Hamburgische Dramaturgie“, Wahrheit“, (um 1200) Gedichte Bibelübersetzung Gedichte Gedichte „Nathan der Weise“ Gedichte MITTELALTER16. JAHRHUNDERT 17. JAHRHUNDERT 18. JAHRHUNDERT 212 der spiegel 25/2001 Titel der Verzicht auf einen Kanon würde den der verfassten Rahmenrichtlinien und und auch die liebe Elke Heidenreich. Be- Rückfall in die Barbarei bedeuten. Ein Lehrpläne für den Deutschunterricht an merkenswert der Lehrplan des Sächsischen Streit darüber, wie der Kanon aussehen den Gymnasien haben einen generellen Staatsministeriums für Kultus: Da werden sollte, kann dagegen sehr nützlich sein. Fehler: Sie sind zu reichhaltig. Es handelt auch „Texte der Unterhaltungsliteratur von SPIEGEL: Wie lange kann ein solcher Kanon sich um lange, allzu lange Listen. Bisweilen Konsalik bis Simmel“ empfohlen. Auf Gültigkeit haben? Der Geschmack ändert hat man sogar den Eindruck, dass irgend- irgendeinem dieser Verzeichnisse habe ich sich doch – von Individuum zu Indivi- jemand die Namen nacheinander aus einer Ephraim Kishon gefunden. duum, von Epoche zu Epoche. Literaturgeschichte abgeschrieben hat. Ich SPIEGEL: Unterhaltend braucht demnach Reich-Ranicki: Jeder Kanon ist ein Produkt bin dafür, dass man dem Lehrer die Mög- der Deutschunterricht nicht zu sein? seiner Epoche und vom persönlichen Ge- lichkeit der Wahl gibt. Aber bei den jetzi- Reich-Ranicki: Im Gegenteil: Gerade der schmack gefärbt. Wie er in 20 oder 30 Jah- gen voluminösen Listen sind alle überfor- Deutschunterricht sollte unbedingt unter- ren aussehen wird, interessiert mich über- dert – die Lehrer ebenso wie die Schüler. haltend sein. Nur kommt es darauf an – haupt nicht. Sicher ist: anders als heute. Diese Richtlinien und Lehrpläne zeugen und das ist durchaus möglich –, die Schüler SPIEGEL: Leben wir nicht längst in einer vor allem von einem: von Weltfremdheit. nicht mit minderwertiger, sondern mit Epoche der totalen Beliebigkeit? SPIEGEL: Nennen Sie ein Beispiel. guter Literatur zu unterhalten. Reich-Ranicki: Der Bil- SPIEGEL: Was soll denn die Schule bei der dungsplan für die Gym- Vermittlung von Literatur leisten? nasien in Baden-Würt- Reich-Ranicki: Die Aufgabe des Deutsch- temberg ist von erschre- unterrichts besteht nicht nur darin, den ckender Vollständigkeit: Schülern bestimmte literarische Texte zu Aus der Epoche nach vermitteln. Wichtiger ist es, dass die Schü- 1945 werden ganz ein- ler etwas lernen, was sich durchaus er- fach – jedenfalls ent- lernen lässt, nämlich: Wie sollte man ein steht dieser Eindruck – Gedicht oder eine Novelle lesen und ver- alle Autoren empfoh- stehen? Es ist eine Banalität, aber vielleicht len, die in dieser Zeit sollte man doch darauf hinweisen: Wer publiziert haben, ein- gelernt hat, ein Gedicht von Eichendorff zu schließlich des mittler- begreifen oder gar zu lieben, der wird auch weile zum Glück ver- mit Gedichten von Mörike oder Rilke zu gessenen Gerd Gaiser. Rande kommen. Der Schüler soll lernen, Nichts gegen Ruth Reh- was eine Ballade ist und was eine Meta- mann oder Reinhold pher, was die Begriffe Romantik oder Na- Schneider oder Erich turalismus bedeuten. Er soll erfahren, war- Loest: Aber ich erlaube um ein bestimmtes Gedicht von Goethe RUTH WALZ RUTH mir die schüchterne oder Heine, das von allen für schön gehal- „Faust I“ im Theater (2000)*: „Dafür muss man Zeit haben“ Frage, ob sie wirklich ten wird, tatsächlich schön ist. Aber das zum Kanon für den Allerwichtigste kommt erst jetzt. Reich-Ranicki: Wenn das zutrifft, dann ist Gymnasialunterricht gehören sollten. Das SPIEGEL: Wir sind gespannt. ein Kanon erst recht notwendig. In der Kultusministerium von Sachsen-Anhalt Reich-Ranicki: Dem Schüler soll gezeigt und Sehnsucht nach einem Kanon verbirgt sich nennt in seinem „Lektüre- und Medienan- bewiesen werden, welche Aufgabe Litera- die Angst vieler Zeitgenossen, überinfor- gebot“ für den Deutschunterricht an Gym- tur vor allem hat: Sie soll den Menschen miert und dennoch unwissend zu sein, und nasien und Fachgymnasien Irina Liebmann Freude, Vergnügen und Spaß bereiten und daraus ergibt sich die Sehnsucht nach einer und Jens Sparschuh und den ehrenwerten sogar Glück. Ordnung. Gerade wer fürchtet, in der un- Erich Loest – und wiederum Gerd Gaiser. SPIEGEL: Ist das machbar? entwegt wachsenden Bücherflut zu ertrin- Im Lehrplan für die gymnasiale Oberstufe Reich-Ranicki: Aber sicher. Freilich hängt ken, wird für einen Kanon dankbar sein. in der Freien und Hansestadt Hamburg fin- es vom pädagogischen Geschick des Leh- SPIEGEL: Haben Sie sich mit den aktuellen den sich – doch etwas überraschend – die rers ab und von der richtigen Auswahl der Lehrplänen vertraut gemacht? Autorinnen Karin Struck und Elisabeth zu behandelnden Werke. Reich-Ranicki: Die von den Minis- Plessen. Auf einer in Rheinland-Pfalz gül- SPIEGEL: Manches von Kishon oder der Hei- terien der einzelnen Bundeslän- tigen Lektüreliste sehen wir nicht ohne denreich ist doch durchaus vergnüglich. Verwunderung die Autoren Innerhofer und Reich-Ranicki: Lassen Sie * Mit Bruno Ganz, Corinna Kirchhoff (2000). Woelk, Peter Schneider, Leonie Ossowski die Scherze, denn Sie Johann Peter Hebel, Friedrich von Schlegel, Clemens Ferdinand Jakob Raimund, 1760 –1826 1772 –1829 Brentano, 1790 –1836 „Schatzkästlein Essayistisches 1778 –1842 „Der Verschwender“ Friedrich von Schiller, des rheinischen Gedichte August Graf von Platen, 1759 –1805 Hausfreundes“ „Kabale und Liebe“, Adelbert von 1796 –1835, Gedichte „Die Schaubühne Chamisso, als moralische Friedrich Hölderlin, 1781 –1838 Anstalt betrachtet“, 1770 –1843 „Peter Schlemihls „Don Carlos“, „Hyperion oder der Heinrich von Kleist, wundersame „Über naive und Eremit in Griechen- 1777 –1811 Geschichte“ sentimentalische land“, Gedichte „Die Marquise von O.“, Dichtung“, „Michael Kohlhaas“, Joseph Freiherr „Wallenstein“, E.T.A. Hoffmann, „Prinz Friedrich von von Eichendorff, Annette von Droste-Hülshoff, „Maria Stuart“, Novalis, 1772 –1801 1776 –1822 Homburg“, kleinere 1788 –1857 1797 –1848 Balladen Gedichte „Die Serapions-Brüder“ Erzählungen Gedichte „Die Judenbuche“, Gedichte 19. JAHRHUNDERT der spiegel 25/2001 213 Titel zwingen mich, Sie zu belehren, dass Fonta- Schule verzichten, leider auch auf Gott- ne noch unterhaltsamer ist als die Heiden- fried von Straßburg. Danach Luther: reich und Joseph Roth besser als Kishon! unbedingt zwei, drei Auszüge aus der SPIEGEL: Also wie wollen Sie Ihre hehren Bibelübersetzung, beispielsweise „Amnons Ziele erreichen? Mit einem entsprechend Schandtat an Absaloms Schwester“ aus ergänzten und aktualisierten Kanon? dem zweiten Buch Samuel. Reich-Ranicki: Umgekehrt – zunächst mit ei- SPIEGEL: Warum gerade diese Geschichte? nem entsprechend gekürzten, mit einem ri- Reich-Ranicki: Weil sie beweist, wie modern goros zusammengestrichenen Lektüreplan. das Alte Testament bisweilen ist, hier gibt Er muss berücksichtigen, dass dem Lehrer es Stellen, die von Strindberg oder He- oft für Deutsch nicht mehr als drei Unter- mingway hätten stammen können. richtsstunden in der Woche zur Verfügung SPIEGEL: Was wollen Sie mit der Barock- stehen und dass die Schüler für die Lektü- dichtung machen? re heute erheblich we- niger Zeit haben als vor 30 oder gar 50 Jahren. Umfangreiche Werke, längere Romane vor allem, muss man, wie schmerzhaft es auch sein mag, weglassen, „Die Wahlverwandt- schaften“ oder den „Zauberberg“ etwa. SPIEGEL: Sind diese Ro- Büchners „Woyzeck“ auf der Bühne*: „Große mane nicht gut genug? Reich-Ranicki: Ich ken- deres – für Goethe und Schiller, für Kleist, ne keine besseren. Hölderlin und die Romantiker. Aber sie sind für Schü- SPIEGEL: Von Lessing bleibt nichts im ler zu schwierig und zu Kanon? anspruchsvoll. Auch Reich-Ranicki: O doch: „Nathan der Weise“ auf den „Grünen Hein- & SCHEIKOWSKI JAUCH und „Minna von Barnhelm“ und mindes- rich“, den „Joseph“- Frischs „Homo faber“ im Kino*: „Der Film ist nützlich“ tens ein Auszug aus der „Hamburgischen Roman und erst recht Dramaturgie“ – am besten das letzte Stück. auf den „Mann ohne Eigenschaften“ muss Reich-Ranicki: Wir müssen uns auf drei ge- SPIEGEL: Und der gewaltige Goethe – was man verzichten. Im Vordergrund sollten niale Autoren beschränken – auf Hofmann sollte davon in den Unterricht gelangen? Gedichte, Dramen und kurze Romane,