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Herr der Bücher: Marcel Reich-Ranicki in seiner Frankfurter Wohnung MONIKA ZUCHT /

SPIEGEL-GESPRÄCH „Literatur muss Spaß machen“ Marcel Reich-Ranicki über einen neuen Kanon lesenswerter deutschsprachiger Werke

SPIEGEL: Herr Reich-Ranicki, Sie haben für die an der Literatur interessiert sind. Gibt es um die Schule geht, für den Unterricht den SPIEGEL Ihren persönlichen literari- es überhaupt einen Bedarf für eine solche besonders geeigneter Werke. Die Frage, ob schen Kanon zusammengestellt, die Sum- Liste literarischer Pflichtlektüre? wir einen solchen Katalog benöti- me Ihrer Erfahrung als Literaturkritiker – Reich-Ranicki: Ein Kanon ist nicht etwa ein gen, ist mir unverständlich, denn für Schüler, Studenten, Lehrer und dar- Gesetzbuch, sondern eine Liste empfehlens- über hinaus für alle, werter, wichtiger, exemplarischer und, wenn Das Gespräch führte Redakteur Volker Hage.

Chronik der deutschen Literatur Marcel Reich-Ranickis Kanon

Johann Wolfgang von Goethe, , 1749 –1832 1616 –1664 „Die Leiden des Gedichte jungen Werthers“, , „Faust I“, „Aus Walther von der Christian Hofmann Johann Christian 1729 –1781 meinem Leben. Das Nibe- Vogelweide, Martin Luther, von Hofmannswaldau, Günther, „Minna von Barnhelm“, Dichtung und lungenlied ca. 1170 –1230 1483 –1546 1616 –1679 1695 –1723 „Hamburgische Dramaturgie“, Wahrheit“, (um 1200) Gedichte Bibelübersetzung Gedichte Gedichte „Nathan der Weise“ Gedichte MITTELALTER16. JAHRHUNDERT 17. JAHRHUNDERT 18. JAHRHUNDERT

212 der spiegel 25/2001 Titel der Verzicht auf einen Kanon würde den der verfassten Rahmenrichtlinien und und auch die liebe Elke Heidenreich. Be- Rückfall in die Barbarei bedeuten. Ein Lehrpläne für den Deutschunterricht an merkenswert der Lehrplan des Sächsischen Streit darüber, wie aussehen den Gymnasien haben einen generellen Staatsministeriums für Kultus: Da werden sollte, kann dagegen sehr nützlich sein. Fehler: Sie sind zu reichhaltig. Es handelt auch „Texte der Unterhaltungsliteratur von SPIEGEL: Wie lange kann ein solcher Kanon sich um lange, allzu lange Listen. Bisweilen Konsalik bis Simmel“ empfohlen. Auf Gültigkeit haben? Der Geschmack ändert hat man sogar den Eindruck, dass irgend- irgendeinem dieser Verzeichnisse habe ich sich doch – von Individuum zu Indivi- jemand die Namen nacheinander aus einer Ephraim Kishon gefunden. duum, von Epoche zu Epoche. Literaturgeschichte abgeschrieben hat. Ich SPIEGEL: Unterhaltend braucht demnach Reich-Ranicki: Jeder Kanon ist ein Produkt bin dafür, dass man dem Lehrer die Mög- der Deutschunterricht nicht zu sein? seiner Epoche und vom persönlichen Ge- lichkeit der Wahl gibt. Aber bei den jetzi- Reich-Ranicki: Im Gegenteil: Gerade der schmack gefärbt. Wie er in 20 oder 30 Jah- gen voluminösen Listen sind alle überfor- Deutschunterricht sollte unbedingt unter- ren aussehen wird, interessiert mich über- dert – die Lehrer ebenso wie die Schüler. haltend sein. Nur kommt es darauf an – haupt nicht. Sicher ist: anders als heute. Diese Richtlinien und Lehrpläne zeugen und das ist durchaus möglich –, die Schüler SPIEGEL: Leben wir nicht längst in einer vor allem von einem: von Weltfremdheit. nicht mit minderwertiger, sondern mit Epoche der totalen Beliebigkeit? SPIEGEL: Nennen Sie ein Beispiel. guter Literatur zu unterhalten. Reich-Ranicki: Der Bil- SPIEGEL: Was soll denn die Schule bei der dungsplan für die Gym- Vermittlung von Literatur leisten? nasien in Baden-Würt- Reich-Ranicki: Die Aufgabe des Deutsch- temberg ist von erschre- unterrichts besteht nicht nur darin, den ckender Vollständigkeit: Schülern bestimmte literarische Texte zu Aus der Epoche nach vermitteln. Wichtiger ist es, dass die Schü- 1945 werden ganz ein- ler etwas lernen, was sich durchaus er- fach – jedenfalls ent- lernen lässt, nämlich: Wie sollte man ein steht dieser Eindruck – Gedicht oder eine Novelle lesen und ver- alle Autoren empfoh- stehen? Es ist eine Banalität, aber vielleicht len, die in dieser Zeit sollte man doch darauf hinweisen: Wer publiziert haben, ein- gelernt hat, ein Gedicht von Eichendorff zu schließlich des mittler- begreifen oder gar zu lieben, der wird auch weile zum Glück ver- mit Gedichten von Mörike oder Rilke zu gessenen Gerd Gaiser. Rande kommen. Der Schüler soll lernen, Nichts gegen Ruth Reh- was eine Ballade ist und was eine Meta- mann oder Reinhold pher, was die Begriffe Romantik oder Na- Schneider oder Erich turalismus bedeuten. Er soll erfahren, war- Loest: Aber ich erlaube um ein bestimmtes Gedicht von Goethe

RUTH WALZ RUTH mir die schüchterne oder Heine, das von allen für schön gehal- „Faust I“ im Theater (2000)*: „Dafür muss man Zeit haben“ Frage, ob sie wirklich ten wird, tatsächlich schön ist. Aber das zum Kanon für den Allerwichtigste kommt erst jetzt. Reich-Ranicki: Wenn das zutrifft, dann ist Gymnasialunterricht gehören sollten. Das SPIEGEL: Wir sind gespannt. ein Kanon erst recht notwendig. In der Kultusministerium von Sachsen-Anhalt Reich-Ranicki: Dem Schüler soll gezeigt und Sehnsucht nach einem Kanon verbirgt sich nennt in seinem „Lektüre- und Medienan- bewiesen werden, welche Aufgabe Litera- die Angst vieler Zeitgenossen, überinfor- gebot“ für den Deutschunterricht an Gym- tur vor allem hat: Sie soll den Menschen miert und dennoch unwissend zu sein, und nasien und Fachgymnasien Irina Liebmann Freude, Vergnügen und Spaß bereiten und daraus ergibt sich die Sehnsucht nach einer und Jens Sparschuh und den ehrenwerten sogar Glück. Ordnung. Gerade wer fürchtet, in der un- Erich Loest – und wiederum Gerd Gaiser. SPIEGEL: Ist das machbar? entwegt wachsenden Bücherflut zu ertrin- Im Lehrplan für die gymnasiale Oberstufe Reich-Ranicki: Aber sicher. Freilich hängt ken, wird für einen Kanon dankbar sein. in der Freien und Hansestadt Hamburg fin- es vom pädagogischen Geschick des Leh- SPIEGEL: Haben Sie sich mit den aktuellen den sich – doch etwas überraschend – die rers ab und von der richtigen Auswahl der Lehrplänen vertraut gemacht? Autorinnen Karin Struck und Elisabeth zu behandelnden Werke. Reich-Ranicki: Die von den Minis- Plessen. Auf einer in Rheinland-Pfalz gül- SPIEGEL: Manches von Kishon oder der Hei- terien der einzelnen Bundeslän- tigen Lektüreliste sehen wir nicht ohne denreich ist doch durchaus vergnüglich. Verwunderung die Autoren Innerhofer und Reich-Ranicki: Lassen Sie * Mit , Corinna Kirchhoff (2000). Woelk, Peter Schneider, Leonie Ossowski die Scherze, denn Sie

Johann Peter Hebel, Friedrich von Schlegel, Clemens Ferdinand Jakob Raimund, 1760 –1826 1772 –1829 Brentano, 1790 –1836 „Schatzkästlein Essayistisches 1778 –1842 „Der Verschwender“ Friedrich von Schiller, des rheinischen Gedichte August Graf von Platen, 1759 –1805 Hausfreundes“ „Kabale und Liebe“, Adelbert von 1796 –1835, Gedichte „Die Schaubühne Chamisso, als moralische Friedrich Hölderlin, 1781 –1838 Anstalt betrachtet“, 1770 –1843 „Peter Schlemihls „Don Carlos“, „Hyperion oder der , wundersame „Über naive und Eremit in Griechen- 1777 –1811 Geschichte“ sentimentalische land“, Gedichte „Die Marquise von O.“, Dichtung“, „Michael Kohlhaas“, Joseph Freiherr „Wallenstein“, E.T.A. Hoffmann, „Prinz Friedrich von von Eichendorff, Annette von Droste-Hülshoff, „Maria Stuart“, , 1772 –1801 1776 –1822 Homburg“, kleinere 1788 –1857 1797 –1848 Balladen Gedichte „Die Serapions-Brüder“ Erzählungen Gedichte „Die Judenbuche“, Gedichte 19. JAHRHUNDERT

der spiegel 25/2001 213 Titel

zwingen mich, Sie zu belehren, dass Fonta- Schule verzichten, leider auch auf Gott- ne noch unterhaltsamer ist als die Heiden- fried von Straßburg. Danach Luther: reich und besser als Kishon! unbedingt zwei, drei Auszüge aus der SPIEGEL: Also wie wollen Sie Ihre hehren Bibelübersetzung, beispielsweise „Amnons Ziele erreichen? Mit einem entsprechend Schandtat an Absaloms Schwester“ aus ergänzten und aktualisierten Kanon? dem zweiten Buch Samuel. Reich-Ranicki: Umgekehrt – zunächst mit ei- SPIEGEL: Warum gerade diese Geschichte? nem entsprechend gekürzten, mit einem ri- Reich-Ranicki: Weil sie beweist, wie modern goros zusammengestrichenen Lektüreplan. das Alte Testament bisweilen ist, hier gibt Er muss berücksichtigen, dass dem Lehrer es Stellen, die von Strindberg oder He- oft für Deutsch nicht mehr als drei Unter- mingway hätten stammen können. richtsstunden in der Woche zur Verfügung SPIEGEL: Was wollen Sie mit der Barock- stehen und dass die Schüler für die Lektü- dichtung machen? re heute erheblich we- niger Zeit haben als vor 30 oder gar 50 Jahren. Umfangreiche Werke, längere Romane vor allem, muss man, wie schmerzhaft es auch sein mag, weglassen, „Die Wahlverwandt- schaften“ oder den „Zauberberg“ etwa. SPIEGEL: Sind diese Ro- Büchners „Woyzeck“ auf der Bühne*: „Große mane nicht gut genug? Reich-Ranicki: Ich ken- deres – für Goethe und Schiller, für Kleist, ne keine besseren. Hölderlin und die Romantiker. Aber sie sind für Schü- SPIEGEL: Von Lessing bleibt nichts im ler zu schwierig und zu Kanon? anspruchsvoll. Auch Reich-Ranicki: O doch: „Nathan der Weise“

auf den „Grünen Hein- & SCHEIKOWSKI JAUCH und „Minna von Barnhelm“ und mindes- rich“, den „Joseph“- Frischs „“ im Kino*: „Der Film ist nützlich“ tens ein Auszug aus der „Hamburgischen Roman und erst recht Dramaturgie“ – am besten das letzte Stück. auf den „Mann ohne Eigenschaften“ muss Reich-Ranicki: Wir müssen uns auf drei ge- SPIEGEL: Und der gewaltige Goethe – was man verzichten. Im Vordergrund sollten niale Autoren beschränken – auf Hofmann sollte davon in den Unterricht gelangen? Gedichte, Dramen und kurze Romane, von Hofmannswaldau und Gryphius und als Reich-Ranicki: Da muss man rigoros und besser noch: Erzählungen, stehen. Übergang zur Sturm-und-Drang-Zeit Johann konsequent sein. Man muss Zeit haben vor SPIEGEL: Wie stellen Sie sich die Literatur Christian Günther. Mit der Literatur des 18. allem für „Faust I“ und für die Lyrik aus des Mittelalters in der Schule vor? Jahrhunderts sollte man in der Schule be- den verschiedenen Zeitabschnitten, insge- Reich-Ranicki: Zwei – nicht zu lange – Aus- sonders streng verfahren, also keine Lyrik samt nicht weniger als 20 bis 30 Gedichte. züge aus dem „“ müssen von Lessing oder Klopstock, keine Prosa Ferner sollte man auch den „Werther“ sein. Das Allerwichtigste aus dem deut- von Wieland oder Herder. Das muss man gründlich behandeln und Auszüge aus schen Mittelalter ist, glaube ich, die Lyrik den Studenten der Germanistik überlassen. „Dichtung und Wahrheit“. Ob man die heu- Walthers von der Vogelweide, von ihm soll- SPIEGEL: Warum wollen Sie den Schülern tigen Schüler für den „Tasso“ oder ein so te man mindestens fünf Gedichte behan- einen genialen Dichter wie Klopstock vor- herrliches Stück wie die „Iphigenie“ begeis- deln. Aus der Epoche des Minnesangs enthalten? empfehle ich überdies einige wunderbare Reich-Ranicki: Weil wir Zeit und Platz brau- * Links: mit Sam Shepard und Julie Delpy (1991); rechts: (und nicht Zeit raubende!) Kleinigkeiten. chen für noch Wichtigeres und Bedeuten- Probe mit Kaya Bruel in Kopenhagen (2000). Auf Wolfram von Eschen- bach muss man in der , , 1797 –1856 1844 –1900 1871 –1950 , Gedichte, Prosa Essayistisches „Professor Unrat“ 1875 –1955 Eduard Mörike „“, , Christian „“, „Der 1804 –1875 1862 –1931 Morgenstern, Gedichte Tod in Venedig“, , „Reigen“, „Leutnant 1871 –1914 „Tonio Kröger“, Georg Büchner Gustl“, „Professor Gedichte 1877 –1962 „Mario und der „Unterm Rad“ 1813 –1837 Bernhardi“ Zauberer“, „Dantons Tod“, Hugo von Essayistisches „Woyzeck“, „Lenz“ , Hofmannsthal, Carl Sternheim , 1862 –1946 , 1874 –1929 1878 –1942 , 1819 –1898 „Die Ratten“ „Der Schwierige“, 1817 –1888 1868 –1933 „Der Snob“ „Schach von Gedichte Gedichte Novellen Wuthenow“, , , „Frau Jenny Treibel“, 1864 –1918 Else Lasker-Schüler, , , , 1819 –1890 „Effi Briest“, „Frühlings 1869 –1945 1874 –1936 1875 –1926 1878 –1956 Erzählungen „Der Stechlin“ Erwachen“ Gedichte Essayistisches Gedichte Erzählungen 19. JAHRHUNDERT 20. JAHRHUNDERT

214 der spiegel 25/2001 Abiturientenklasse über den „Tell“ gere- det. Sie fanden das Stück, das sie gerade Johann Christian Günther gelesen hatten, sehr langweilig. Aber der Gedichte Vergleich der Ermordung Geßlers mit dem Attentat auf Rudi Dutschke hat sie, ich Wortgewaltige Barockdichter hatte es übertreibe nicht, beinahe fasziniert. schon viele gegeben. Aber der Schlesier SPIEGEL: Soll man also den „Tell“ Günther traf ganz neue Töne: und die „Räuber“ in der Schule be- Seine Verse klingen bei aller handeln? Rhetorik so authentisch, kraft- Reich-Ranicki: Das kann man tun, voll und Ich-bewusst nach aber ich würde doch eher den „Don Liebe, Hass, Reue, Zweifel, Carlos“ empfehlen und den „Wal- Ergebung, Übermut oder Groll, lenstein“ und als drittes Stück ent- dass man ihn zum Vorläufer weder „Kabale und Liebe“ oder des erklärte. „Maria Stuart“. So beschwerte sich der Poet, SPIEGEL: Ist damit Schiller für Sie der in seinem kurzen Leben abgehakt? wenig Glück hatte, einmal Reich-Ranicki: Keineswegs. Drei, über die Frauen: „Viel verspre- vier Balladen, vor allem „Die Kra- chen, wenig halten; / Sie ent- niche des Ibycus“ und den „Ring des Po- zünden und erkalten / Öfters, eh ein Tag lykrates“, sollte man unbedingt berück- verfließt. / Dieses ist / Aller Jungfern Hin- sichtigen, ferner zumindest Auszüge aus terlist.“ Goethe rühmte den nahezu ver- der Schrift „Die Schaubühne als eine mo- gessenen Kollegen später für seine

OLIVER FANTITSCH OLIVER ralische Anstalt betrachtet“ und aus der Kunst, „im Leben ein zweites Leben Schriftsteller schrieben vor allem Dramen“ Arbeit „Über naive und sentimentalische durch Poesie hervorzubringen“. Dichtung“. tern kann, weiß ich nicht. Nebenbei: Es ist SPIEGEL: Sie wollten doch rigoros kürzen – das erste deutsche Rundfunk-Hörspiel. haben Sie keine Angst vor Überfrachtung? , Chamisso, Conrad Fer- SPIEGEL: Goethe und der Rundfunk – viel- Reich-Ranicki: Eben deshalb verzichte ich dinand Meyer, Herwegh und Freiligrath, leicht bringen Sie hier was durcheinander? auf das gesamte Werk von . Hin- um eben Platz zu haben für jeweils einige Reich-Ranicki: Durchaus nicht. Hier haben gegen müssen ganz stark repräsentiert sein: Gedichte von Novalis, Brentano, Eichen- wir es mit einem Werk zu tun, in dem es Kleist, Hölderlin und Büchner. Von Höl- dorff, Platen, Mörike, von der Droste und, nur auf das Akustische ankommt. derlin mindestens ein halbes Dutzend Ge- das wird manche verwundern, von Rai- SPIEGEL: Und ist das alles von Goethe? dichte und wenigstens ein Brief aus dem mund, zumindest das „Hobellied“ aus dem Reich-Ranicki: Genügt Ihnen das nicht? Da „Hyperion“. Von Kleist ziemlich viel: Theaterstück „Der Verschwender“. hilft nun nichts: Wenn man das Zentrale „Michael Kohlhaas“, „Die Marquise von SPIEGEL: Wie aber soll man mit der Prosa bei Goethe ordentlich „durchnehmen“ O.“ und zwei, drei der kleineren Erzäh- und mit dem Drama des 19. Jahrhunderts will, muss man auf „Egmont“ und „Götz lungen und natürlich und unbedingt der umgehen? von Berlichingen“ ebenso verzichten wie „Prinz von Homburg“. Von Büchner bei- Reich-Ranicki: Bis heute merkt man unse- auf „Stella“ und „Clavigo“, von „Hermann nahe alles, also „Dantons Tod“, „Woyzeck“ rem Kanon die Lektürelisten aus der ersten und Dorothea“ ganz zu schweigen. und die Erzählung „Lenz“. Hälfte des 20. Jahrhunderts an. Damals SPIEGEL: Glauben Sie, dass Schillers Dra- SPIEGEL: Doch wohl etwas viel Theater? war die Literatur des 19. Jahrhunderts noch men, die Sie wohl nicht ignorieren wollen, Reich-Ranicki: Es ist nicht meine Schuld, sehr gegenwärtig und wurde daher viel zu junge Menschen noch interessieren? dass die meisten der großen deutschen stark im Deutschunterricht und auch im Reich-Ranicki: Mit Sicherheit. Nur muss Schriftsteller, also Lessing, Schiller, Kleist Theaterrepertoire berücksichtigt. Jetzt ist man seine Stücke aus heutiger Sicht er- oder Büchner, vor allem Dramen und kei- es Zeit, vieles, was längst verstaubt ist, zu klären. Bei den „Räubern“ bietet sich die ne Romane geschrieben haben. streichen, also Gotthelf und Stifter, Grab- Parallele zu den Vorgängen um 1968 wie SPIEGEL: Bei der Lyrik wollen Sie sich ganz be, Grillparzer und Hebbel, Immermann, von selber an. Ich habe einmal mit einer auf Goethe und Hölderlin konzentrieren? und Raabe. Reich-Ranicki: In der Tat SPIEGEL: Das ist ja nicht zu glauben: Sie verzichte ich auf die wollen den Schülern solche Glanzstücke Alfred Döblin, Gedichte von Uhland, wie „Das Amulett“ von 1878 –1957 , „Die Ermordung einer 1887 –1912 Butterblume“, „ Gedichte Alexanderplatz“ , Erich Kästner, , 1887 –1914 1899 –1974 1903 –1981 Gedichte Gedichte Gedichte , 1883 –1924 , 1900 –1983 „Der Prozeß“, „Die Ver- 1890 –1935, wandlung“, „Ein Bericht „Das siebte Kreuz“, Feuilletons , 1906 –1996 für eine Akademie“, „Der Ausflug der „Tauben im Gras“ „In der Strafkolonie“, 1898 –1956 toten Mädchen“ , „Ein Hungerkünstler“ Joseph Roth „Mutter Courage 1911 –1991 , 1894 –1939, und ihre Kinder“, Ödön von Horváth, „Tagebuch“, „Homo 1880 –1942 , „Radetzky- „Leben des Galilei“, 1901 –1938 Günter Eich, faber“, „Biedermann „Die Verwirrungen des 1886 –1956 marsch“, „Kalender- „Kasimir und 1907 –1972 und die Brandstifter“, Zöglings Törleß“, „Tonka“ Gedichte Erzählungen geschichten“ Karoline“ Gedichte „Montauk“

der spiegel 25/2001 215 Titel

Reich-Ranicki: Noch eine Menge. Arthur Schnitzler Vor allem Chamissos „Peter „Leutnant Gustl“ Schlemihl“, an dessen Beispiel den Schülern das Wesen des Ein großes kleines Werk: Kaum mehr als Phantastischen und zugleich des 30, 40 Seiten (je nach Schriftgrad) um- Romantischen bewusst gemacht fasst dieses legendäre Selbstgespräch werden kann. Überdies: sehr viel eines Soldaten in der Nacht vor dem ge- von der Lyrik und Prosa Heines, planten Selbstmord. Die 1900 publizier- ferner „Die Judenbuche“ der te Novelle ist der erste Droste, einige Kalenderge- durchgespielte innere Mo- schichten von Johann Peter He- nolog der deutschsprachi- bel, mindestens zwei Erzählun- gen Literatur – ein voll- gen aus den „Serapions-Brü- endetes Lehrstück aus dern“ von E.T.A. Hoffmann und dem Wien des ausgehen- je zwei von Gottfried Keller und den 19. Jahrhunderts, von Theodor Storm. eine Novelle, in der sich SPIEGEL: Ist denn Storm wirklich die erwachende psycho- so ein bedeutender Erzähler? analytische Neugier der Reich-Ranicki: Darüber kann man Zeit ebenso spiegelt wie streiten, aber ich bin für Storm eine heute kaum noch im Kanon, weil sich am Beispiel

nachvollziehbare Vorstel- seiner Prosa sehr schön und an- & SCHEIKOWSKI JAUCH lung von Ehre und Satis- schaulich erklären lässt, was die TV-Serie „Berlin Alexanderplatz“*: Schwieriger Dialekt faktion. Wie in anderen frühen Erzählun- moderne Novelle von einer Er- gen lässt der Österreicher Schnitzler zählung unterscheidet – vor allem der Kon- Worten: Meist kommt es nicht auf einzel- auch hier seine Figur sich selbst entlar- flikt im Mittelpunkt, von dem aus das ne Bücher an, sondern auf die Autoren. ven – am Ende erübrigt sich der patheti- Ganze straff organisiert ist. Überdies: An- SPIEGEL: Was wollen Sie also von Thomas sche Plan des Offiziers, sich am Morgen ders als die Erzählung ist die Novelle kei- und Heinrich Mann aufnehmen? eine Kugel in den Kopf zu jagen, auf neswegs eine Gattung in der Nachbarschaft Reich-Ranicki: Von Thomas Mann drei oder überraschende Weise. des Romans, sondern des Dramas, übri- vier Erzählungen – am besten „Tonio Krö- gens schon bei Kleist. Wichtiger als Storm ger“, „Tristan“, „Der Tod in Venedig“ und ist allerdings Fontane. Da brauchen wir un- „Mario und der Zauberer“ – und von allen Meyer und „Die schwarze Spinne“ von bedingt verhältnismäßig viel, also mindes- Romanen bloß die „Buddenbrooks“. Von Gotthelf vorenthalten? tens zwei Romane, nämlich „Effi Briest“ Heinrich Mann ist alles schon verstaubt Reich-Ranicki: Jede Diskussion über den und entweder „Frau Jenny Treibel“ oder und überlebt, vielleicht mit einer Ausnah- Kanon leidet darunter, dass die Gesprächs- „Der Stechlin“, ein Buch, das ich beson- me: „Professor Unrat“. Ich empfehle den partner sich gern auf Werke berufen, die ders liebe, das aber für die Jugend wohl et- Roman auch deshalb, weil man seine Be- sie vor Jahrzehnten in ihrer Schulzeit ge- was weniger geeignet ist. Überdies: wenn handlung mit dem Marlene-Dietrich-Film lesen haben. Sie wollen nicht bedenken, möglich noch die Erzählung „Schach von „Der blaue Engel“ schön verbinden kann. dass im Laufe der Zeit sich vieles überlebt Wuthenow“. Von den Kafka-Romanen nur „Der Pro- hat. Ohnehin kommen hier stets auch re- SPIEGEL: Sie haben die Liste des 19. Jahr- zeß“, aber auf jeden Fall einige Geschich- gionale Interessen zum Zuge: Die Schwei- hunderts deutlich reduziert, aber das wird ten, so „In der Strafkolonie“, „Der Hun- zer werden auf Gotthelf und Meyer nicht Ihnen mit dem 20. Jahrhundert nicht ge- gerkünstler“, „Die Verwandlung“, „Ein verzichten, die Österreicher nicht auf Stif- lingen. Bericht für eine Akademie“. Ganz wichtig: ter und Grillparzer – und dagegen ist natür- Reich-Ranicki: Sie vergessen, dass wir hier Schnitzlers „Leutnant Gustl“ – exempla- lich nichts einzuwenden. Lesen Sie noch nur ein Minimalprogramm entwerfen. Und risch für den inneren Monolog, den er lan- einmal Ihre Lieblingsbücher, Sie werden wenn man sich auf kleinere epische For- ge vor Joyce fabelhaft angewandt hat. Von verblüfft erkennen, dass nicht nur Sie ge- men konzentriert, dann kann man so gut Musil vor allem „Die Verwirrungen des altert sind. wie alle wirklich wichtigen Schriftsteller Zöglings Törleß“ und von den Erzählungen SPIEGEL: Was bleibt dann? im Unterricht behandeln. Mit anderen wohl „Tonka“; bei Hesse, der einst so populär war, sollte man sich mit „Unterm

* Mit Günter Lamprecht (1980).

Arno Schmidt, , 1914 –1979 1920 –1970 Günter Grass, , Wolf „Die Umsiedler“, Gedichte *1927 *1935 Biermann, „Seelandschaft „Die Blech- Gedichte *1936 mit Pocahontas“ Friedrich Dürrenmatt, trommel“, Gedichte „Katz und Maus“ , 1921 –1990 1931 –1989 , „Die Panne“ Jurek Becker, Peter Rühmkorf, „Holzfällen“, 1937 –1997 1916 –1982 Heinrich Böll, , „Wittgensteins „Die Verfolgung und Er- 1917 –1985 *1929 „Jakob der 1925 –2000 Gedichte Neffe“ Lügner“ mordung Jean Paul Ma- „Der Mann mit den Gedichte rats dargestellt durch die Messern“, „Wanderer, Schauspielgruppe des kommst du nach Spa...“, Ingeborg Hans Magnus , Robert Hospizes zu Charenton „Doktor Murkes Bachmann, Enzensberger, 1934 –1984 Gernhardt, unter Anleitung des gesammeltes 1926 –1973 *1929 „Mutmassungen *1937 Herrn de Sade“ Schweigen“ Gedichte Gedichte über Jakob“ Gedichte 20. JAHRHUNDERT

216 der spiegel 25/2001 Titel Jeder liest für sich allein Wie Lektüre den Menschen prägt – mein privater deutscher Literaturkanon. Von Elke Schmitter

angeweile – mein erstes Lesemotiv. und pietistischen Schriften gefüttert wird wird. „Der Herzog der Stille / wirbt un- Und wie beglückend, es wiederzu- und als Erwachsener, voller Mitgefühl ten im Schlosshof Soldaten“ – der Lyriker Lfinden: In einem Kinderbuch, das und Selbstmitleid, einen Bildungsroman Paul Celan ist darin einzigartig. heute vergriffen ist (aber es gibt ja Anti- verfertigt: nicht klassisch und nicht gut Ich erinnere mich, einen Morgen lang quariate) und den obskuren Titel „Harriet gebaut, weder erbaulich noch heiter. glücklich gewesen zu sein, weil jemand in M. Welsch – Spionage aller Art“ führte, Man war nicht allein in jener Phase des der U-Bahn neben mir einen Satz (den macht sich die Heldin aus Langeweile leichten Jugend-Irreseins, die wir ja alle ich vergessen habe) aussprach, der in sei- auf den Weg in die Welt. Ihre Mittelklas- durchlaufen (durchgehen, heute vielleicht ner Melodie, in seinem Rhythmus dem durchtanzen): Die Tagebücher von Kafka ersten, vollkommenen Satz der Proust- waren mein Brevier – und der Anstrei- Übersetzung von Eva Rechel-Mertens chungen kein Ende. „Wie fern sind mir z. gleichgebildet war: „Lange Zeit bin ich B. die Armmuskeln“ (20. Februar 1911). früh schlafen gegangen.“ Dieses mitgeführte Befremden, dem er Denn auch das Nüchterne kann schön seine ganze Kraft widmet: nur kein Un- sein: Fabian, Titelheld von Erich Kästners glück vergessen! Da baut sich einer ein Roman, ist ein schwerer Melancholiker Gehäuse aus Schmerz, macht hin und der neuen Sachlichkeit aus einer uns nicht wieder ein Fenster auf, erschrickt vor so fernen Epoche, in der den Menschen Luftzug und Licht und kehrt zurück zu die Utopien ausgingen und sie ihren Kopf seiner ureigenen Scham, ein Mensch zu zum Besserwissen, aber nicht mehr zum sein. Viel schwarze Tinte ist da geflossen, Klügerwerden nutzten. Ein luzides und be- mit kleinen Lachen in Lakonie. scheidenes Buch voller Sentenzen, zu de- Von da aus war es nicht weit zu Heine, nen ich eine Neigung habe, weil sie wie ei- dem es wie keinem gegeben ist, mit jedem ne Abkürzung des Geistes scheinen, aber Entsetzen Scherz zu treiben: „Ich aber den Umweg des Begreifens erzwingen. verhänge die Fenster / Des Zimmers mit Deshalb, auch deshalb, Fontane – und schwarzem Tuch; / Es machen mir meine da nicht nur „Effi Briest“. Das „weite Gespenster / Sogar einen Tagesbesuch.“ Feld“ ist sprichwörtlich geworden, wie er

DEFD Es ist der Rhythmus, der alles bei ihm überhaupt groß darin war, vorzugsweise Simmel-Verfilmung*: Alles verziehen grundiert, eine verlässliche Eindeutigkeit älteren Herren zitierfähige Weisheiten an- in diesem Kosmos von Ambivalenz: Ro- zudichten, die nur auf den ersten Blick, se-Familie kennt sie längst besser, als ihr mantik und deren Verspottung, Polemik wenn überhaupt, gemütlich sind. Ich be- lieb ist, und sie hat gelernt, dass sie deren und äußerste Zartheit, totale Selbstbezo- wundere ihn als moralischen Autor: Die Geheimnisse deshalb nicht ergründen genheit und großer politischer Scharfsinn. Auseinandersetzung Instettens, des betro- wird, weil sie mittendrin steckt. Mein Gedächtnis für Lyrik ist dürftig, genen Ehemanns, mit einem Vertrauten So wählt sie die Beobachtung, das heißt: doch bei Heine hält es fest: „Das Fräulein über die Frage, ob er sich duellieren soll – Ein Mädchen von elf Jahren erforscht die stand am Meere / Und seufzte lang und wie wird da (in „Effi Briest“) abgewogen! Nachbarschaft, denkt sich eine Route aus bang…“ Wer hier nicht singt, ist taub! Der Freund gibt die Zeit zu bedenken: und hockt sich unter Küchenfenster, ver- Das Melodische ist nicht mit Schönheit Wofür Sie sich heute duellieren, liegt sie- steckt sich im Gebüsch, setzt sich in einen identisch, doch bei Matthias Claudius ist ben Jahre zurück. Wann setzt eigentlich Speiseaufzug und hört täglich mit, was es vereint: „Kalt ist der Abendhauch. / Verjährung ein? Das ist ein pragmatisches Maier, Müller, Schulze reden, wenn sie Verschon uns, Gott! mit Strafen / Und lass Argument, von großer Lebensklugheit, mit sich allein sind. Und schreibt es auf. uns ruhig schlafen! / Und unsern kranken und Instetten gibt ihm beinahe Recht. Es Denn sie will Schriftstellerin werden. Nachbarn auch!“ Getrost würde ich das stellt die einmalige Absolutheit des mo- Wie Zeit langsam vergeht, sich eintrübt ganze kleine Werk von Georg Büchner als ralischen Vergehens gegen die totale und und verdickt, ist meine Erfahrung von den Gipfel dessen annoncieren, was die unpersönliche der Zeit, des trivialen Ver- Kindheit – das zähe Gefühl der Abson- deutsche Sprache erreichen kann, wenn gehens von Zeit. Aber jetzt wissen Sie da- derung, das damit verbunden ist und das sie Schärfe und Klugheit behalten will – von, entgegnet Instetten schließlich, und übergeht in Absonderlichkeit, auch das doch schön ist es eher im Untergrund, im selbst, wenn Sie nie davon sprechen, Sie fand ich aufgeschrieben wieder: Im „An- Rumor der einzelnen Zeilen, im Unerbitt- werden es ja nicht vergessen. Weil Sie es ton Reiser“, der literarischen Lebensbe- lichen, Schroffen, Nichtversöhnlichen: wissen, ist es nun in der Welt, und damit schreibung des unglücklichen Karl Phi- „Blutwurst sagt: komm Leberwurst!“ bin ich nicht mehr Privatmann, sondern lipp Moritz, des ersten modernen Neuro- Man muss es sprechen, mit dieser ein Mitglied der Gesellschaft, und als sol- tikers. Eine arme Jugend im zerstückelten schrecklichen Pause, und leise, dann ches habe ich meine Ehre zu retten… Deutschland der Goethe-Zeit, ein ver- schaudert es einen sofort… Manchmal Das ist ein großer, wie man heute sagt, wahrlostes Kind, das mit trockenem Brot gleicht das Melodische das Nichtverste- „Diskurs“, der deshalb so ergreift, weil hen aus und hält es fest, lötet den Leser nur seine Verkleidung historisch ist. Er * Oben: Alain Noury (l.) in „Und Jimmy ging zum Re- an einzelne Zeilen, deren Rätselhaftig- setzt Scham und Schuld in Beziehung, genbogen“ (1970); rechts: mit Angelica Domröse (1968). keit durch Schönheit in Schwebe gehalten Erfahrung und Prinzipien, den Einzelnen

218 der spiegel 25/2001 Stefan George und die Gesellschaft: Was kann ein Ro- Und Simmel, wenn ich gerade dabei Gedichte man, der zudem so wunderbar geschrie- bin, verzeihe ich ohnehin alles, was ande- ben ist, Größeres leisten? (Unterschätzt re über ihn sagten, als er noch nicht pro- Bei den Pariser Symbolisten hatte er wird übrigens noch immer Fontanes moviert war zum Zeitdiagnostiker – und sein Handwerk gelernt. Doch in den ei- traurigster Eheroman „Unwiederbring- zwar für eines seiner Bücher, das mich genen Gedichten überwand Stefan Geor- lich“ – in seiner fatalen Abschüssigkeit, mehr amüsiert hat als vieles andere: „Es ge bald die Jugendstil-Dekadenz: Er fühl- der inneren Konsequenz ein einzigarti- muss nicht immer Kaviar sein“. (Nicht te sich zum Lehrmeister ges Buch, ein mähliches Versickern in die nur wegen der Rezepte!) kultureller Erneuerung Ausweglosigkeit, tatsächlich: unerhört Was darf man nicht vergessen? Die berufen. Unbeirrbar modern.) „Buddenbrooks“, die ich beinahe nacher- sammelte der priester- Und das Glück in der deutschen Lite- zählen kann (was bestürzend vermessen lich strenge Poet, der ratur – das gibt es natürlich auch. „See- klingt, aber doch keine große Leistung ist, zeitlebens bei Freunden landschaft mit Pocahontas“ von Arno weil es auch eine Pointen-Fibel ist). Erst und Gönnern logierte, Schmidt ist nicht nur eine Novelle für die spät ist mir aufgefallen, wie wenig Thomas eine Elite junger Män- gebildeten Stände – obwohl die, wie im- Mann selbst hier, in seinem ersten Roman, ner um sich. In diesem mer bei Schmidt, auf ihre erhöhten Kos- seinen Figuren verfällt, wie sehr er sie auf „Geheimen Deutsch- ten kommen. Es ist auch die erste mir be- Abstand bringt zu sich wie zu seinen Le- land“ galten seine Ge- kannte Liebesgeschichte in der deutschen sern und wie gekonnt er dafür sorgt, dass dichtbände („Der Sie- Literatur, die eine hässliche Heldin er- wir, mit ihm, über sie lachen. Er ist ein bente Ring“, „Der Stern hört. Der armen Selma Wientge, Steno- Autor ohne Mitgefühl, doch seine Ge- des Bundes“) als Hei- typistin aus der Provinz, im „zaundür- schöpfe, in all ihrem Reichtum und ihrer ligtümer, und seine Übersetzungen von ren Wespenkleid“, dünn und staksig: Ihr Beschränktheit, sind meine Verwandten Dante oder Shakespeare wurden auch leuchtet in dieser Nachkriegsnovelle rei- geworden, und was ich von jener geschicht- außerhalb des Kreises gerühmt. Mit ihrer ne, erotische Erfüllung. lichen Phase weiß, verdanke ich nicht zu- rätselhaft kristallinen Klarheit ist Geor- Bei Arno Schmidt darf es nach Blut- letzt seiner klugen Anschaulichkeit. ges Sprachkunst wegweisend für die wurst und nach Bratkartoffeln riechen, Die „Buddenbrooks“ also, und von deutsche Dichtung des 20. Jahrhunderts nach schalem Bier und faulen Witzen, Max Frisch den leichtesten Roman, sein geworden. und doch gibt es ein Glück des Kleinbür- anmutigstes Spiel mit Einbildungskraft und geralltags, das neben ihm nur Heinrich Identität: „Mein Name sei “: Böll – in schlichteren Worten – zu würdi- ein Mann, der den Blinden spielt und Rad“ begnügen, von Brecht empfehle ich gen wusste. Dessen wunderbare Leni durch diesen kleinen Trick – oder auch unbedingt zwei, drei der „Kalenderge- Pfeiffer, Zentrum seines „Gruppenbilds diese große Lüge – die Menschen aufrich- schichten“, von Joseph Roth den „Radetz- mit Dame“, ist mir ans Herz gewachsen tiger werden lässt, weil sie sich vor ihm, kymarsch“ und zwei Geschichten, vielleicht schon bei der ersten Lektüre. der ja nichts sieht, nicht mehr verstellen „Die Legende vom heiligen Trinker“ und Und beiläufig gelingt es Böll, auch hier müssen. Frischs Erzählung „Der Mensch „Stationschef Fallmerayer“, von Döblin in diesem Roman mit seinen nervösen erscheint im Holozän“, ein mürbes Spät- „Die Ermordung einer Butterblume“ und Kettenrauchern und heimgekehrten Sol- werk von feinster Ironie, darf auch nicht da, wo der Berliner Dialekt nicht zu große daten, bigotten Kirchenmännern und unterschlagen werden: Ein alter Mann, al- Schwierigkeiten bereitet, „Berlin Alexan- gläubigen Menschen, freundlichen Rich- lein im Gebirg, der von einem Unwetter derplatz“. Zwei, drei kurze Geschichten tern und vergesslichen Nazis ein Bild des heimgesucht wird, und das mögliche Ende von Robert Walser sollten nicht fehlen und Nachkriegsdeutschlands zu zeichnen. der Welt und das seines unauffälligen Le- schließlich „Das siebte Kreuz“ der Anna Wer „Gruppenbild mit Dame“ und bens scheinen zusammenzufallen. Seghers und auch noch ihre Erzählung „Der „Das Brot der frühen Jahre“ geschrieben Zuletzt ein Zeitgenosse, der eigentlich Ausflug der toten Mädchen“. hat, dem ist selbst „Frauen vor Fluss- alles kann – er lebt in Hamburg und lacht SPIEGEL: Glauben Sie, dass es sinnvoll ist, in landschaft“ zu verzeihen – wie auch dem über sich und die Welt, beherrscht jede li- den Unterricht Verfilmungen literarischer begnadeten Prosapoeten Schmidt eine terarische Form und hört nie auf zu pro- Werke einzubeziehen? Neigung zum ranzigen Altherrenwitz … bieren, schreibt unerbittliche Prosa und Reich-Ranicki: Ja, ich bin davon überzeugt zarteste, politische Lyrik, mei- – und man kann ruhig auch solche Filme ßelt am Alterswerk und hat einbeziehen, die nicht gerade Meisterwer- den Mut, auch dann bei sich ke der Filmkunst sind. Und umgekehrt: zu bleiben, wenn die Besich- Bücher, die nicht zu den Höhepunkten der tigung seines porösen Inners- deutschen Literatur gehören, können ge- ten nicht eben schmeichelnd legentlich behandelt werden, wenn es eine ausfällt: Peter Rühmkorf. Es gute Verfilmung gibt. Ein Beispiel: Ob wäre zu sprechen von den „Homo faber“ in den Kanon gehört, ist frühen Memoiren „Die Jahre keineswegs sicher, aber der Film ist nicht die ihr kennt“, von seinen schlecht und nützlich. letzten Gedichten, vom Tage- SPIEGEL: Findet sonst noch etwas von Max buchwerk „Tabu“. Frisch Gnade vor Ihren Augen? Es wäre noch von vielem Reich-Ranicki: Einige kleine Prosastücke aus zu sprechen! Ein großer Vor- seinem „Tagebuch“ und eventuell „Mon- teil der Literatur gegenüber tauk“. journalistischer Arbeit ist SPIEGEL: Wird eine 15-jährige Schülerin

JAUCH & SCHEIKOWSKI JAUCH eben am Ende auch: dass ihr „Montauk“ verstehen? Muss man dazu „Effi Briest“-Filmversion*: Großer Diskurs niemals der Platz ausgeht. nicht mindestens 50 sein? Reich-Ranicki: In „Montauk“ geht es vor allem um die Liebe. Daran sind viele

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kleine Geschichten, etwa: „Der Mann mit den Messern“ und „Wanderer kommst du nach Spa …“, von Arno Schmidt „See- landschaft mit Pocahontas“ und „Die Um- siedler“, von Grass „Katz und Maus“ und ausgewählte Kapitel aus der „Blechtrom- mel“, von Uwe Johnson einige Abschnitte aus den „Mutmassungen über Jakob“, von Thomas Bernhard „Wittgensteins Neffe“ und „Holzfällen“. SPIEGEL: Wie ist es mit Dürrenmatt bestellt? Reich-Ranicki: Da ist vieles inzwischen ver- blasst und verstaubt. Ich glaube, es genügt eine einzige Novelle: „Die Panne“. SPIEGEL: Und die Prosa von , , , , Jurek Becker, Botho Strauß, ? Reich-Ranicki: Das sind natürlich allesamt ehrenwerte Autoren, aber sie gehören doch nicht in einen Kanon für Schulen. Hier zwei Beispiele. Ich habe Christa Wolfs Roman „Nachdenken über Christa T.“ nachdrücklich gelobt – und Martin Walsers Novelle „Ein fliehendes Pferd“ ebenfalls. In beiden Fällen bedauere ich meine na-

DEFD hezu enthusiastischen Urteile keineswegs. Kinofilm „Tod in Venedig“*: „An der Liebe sind Jungen und Mädchen interessiert“ Aber seit dem Roman der Wolf sind 33 Jahre vergangen, seit Walsers Novelle im- Mädchen und Jungen im Schulalter nach gar gelesen wurden. Aber sie haben sich merhin 23 Jahre. Versuchen Sie, diese wie vor stark interessiert, auch wenn sie überlebt. Vom literaturhistorischen Stand- Bücher heute zu lesen – und Sie werden darüber nicht gern sprechen. punkt gesehen, waren es Eintagsfliegen, sehr verwundert sein. SPIEGEL: Erotische Motive in der Literatur nützliche Eintagsfliegen – Alfred Kerr hat SPIEGEL: Im Falle von Jurek Beckers La- spielen in Ihrer Kritik stets eine besonders einen Band seiner gesammelten Kritiken so ger-Roman „Jakob der Lügner“ sind wir große Rolle. Sollte etwa die Schule in die- genannt: „Eintagsfliegen“. Aber es wäre anderer Meinung. Gibt es nicht Bücher, ser Hinsicht ähnlich verfahren? falsch und auch schädlich, wollten wir die- die vielleicht nicht gleich in den Kanon Reich-Ranicki: Ja, ich widme der Liebe in se Werke in den Kanon aufnehmen. gehören, sich aber hervorragend als Schul- der Literatur viel Platz. Das geht auf einen SPIEGEL: Welche Romane und Erzählungen stoff eignen? einfachen Umstand zurück: Die Liebe ist waren denn keine Eintagsfliegen? Reich-Ranicki: Woran denken Sie? das zentrale Thema der deutschen Litera- Reich-Ranicki: Von Wolfgang Koeppen SPIEGEL: Etwa an Plenzdorfs „Die neuen tur – von Walther von der Vogelweide bis „Tauben im Gras“, von Böll „Doktor Mur- Leiden des jungen W.“ oder Schlinks Ro- zu und Sarah Kirsch. kes gesammeltes Schweigen“ und zwei man „Der Vorleser“. Zu den größten Erotikern der europäischen Reich-Ranicki: Ich habe nichts dagegen, dass Literatur gehören zwei deutsche Autoren: man Plenzdorfs Erzählung im Unterricht Goethe und Heine. Gut beraten ist der „Der Schwierige“ behandelt, aber in den Kanon gehört sie Lehrer, der immer wieder auf Erotisches nun doch nicht. Und Schlinks „Vorleser“? eingeht. Und ich hätte Sympathie für einen Ein gut lesbares, verdienstvolles Buch, des- Deutschlehrer, der plötzlich, jeden Kanon Als letzter großer Dichter des alten Euro- sen sprachliches Niveau nicht sehr hoch ignorierend, seine Schüler beispielsweise pa ist der Wiener Hugo von Hofmanns- ist. Jurek Becker? Nein, seine inzwischen Nabokovs „Lolita“ lesen lässt oder Tsche- thal gerühmt worden. Sein Ge- schon vergessenen Romane ha- chows Erzählung „Die Dame mit dem heimnis: Er überwindet die Tra- ben im Kanon nichts zu suchen. Hündchen“. dition, ohne sie lächerlich zu Aber „Jakob der Lügner“? Ja- SPIEGEL: Und was ist mit den typischen machen. Sein „Schwieriger“ wohl, Recht haben Sie, ich gebe deutschen Nachkriegsautoren, mit denen (1921), der entschlusslose nach und nehme das Buch in Sie sich als Kritiker zeitlebens beschäftigt Junggeselle Graf Hans Karl meinen Kanon auf. haben – bleibt davon für Ihren Kanon Bühl, fühlt sich fehl am Platz in SPIEGEL: Was machen Sie mit nichts übrig? der feinen Gesellschaft, zu der den Dramatikern des Jahrhun- Reich-Ranicki: Ja, hier muss man sehr vor- er doch zählt; am Schluss wird derts? sichtig sein – und da bleibt in der Tat nur er überrascht und erlöst von Reich-Ranicki: Das Drama veral- wenig. Ich habe viel über große deutsche der menschlich-echten Liebe tet besonders schnell. Werfen Schriftsteller der Vergangenheit geschrie- der Gräfin Helene Altenwyl. Sie einen Blick auf das Reper- ben, aber zugleich so gut wie nie die deut- Diese Selbstfindung auf toire der deutschen Theater zwi- sche Literatur der Gegenwart vernachläs- höchstem Niveau, nach klassi- schen den beiden Weltkriegen – sigt oder gar ignoriert. Darunter waren schem Muster auf wenige Momente kon- was man damals gespielt hat, ist, von we- nicht wenige gute oder zumindest brauch- zentriert, ist in einem virtuos beiläufigen nigen Ausnahmen abgesehen, längst ver- bare Bücher, die zu Recht viel diskutiert Dialog erzählt, der das Drama zu einer gessen. Für den Kanon kommen wohl nur und 10 oder vielleicht sogar 20 Jahre lang so- der besten deutschsprachigen Konver- acht oder neun Dramatiker in Frage: sationskomödien macht. Hauptmann („Die Ratten“), Schnitzler * Mit Dirk Bogarde und Björn Andresen (1970). („Reigen“, „Professor Bernhardi“), Hof-

220 der spiegel 25/2001 Titel mannsthal („Der Schwierige“), Wedekind Schüler finden, von Morgenstern und Reich-Ranicki: Sehr ungern, aber meinet- („Frühlings Erwachen“), Sternheim („Der Georg Heym, von Kästner, Huchel, Eich, wegen: „Werther“, „Effi Briest“, „Bud- Snob“), Horváth („Kasimir und Karoline“), Celan, Ingeborg Bachmann, Jandl, Enzens- denbrooks“, „Der Prozeß“, „Faust I“, je Brecht („Galilei“, „Mutter Courage“), berger, Sarah Kirsch, Rühmkorf und auch ein Band mit ausgewählten Dramen von Peter Weiss („Marat“). Biermann und Robert Gernhardt. Schiller und Kleist, je ein Band mit aus- SPIEGEL: Und das ist alles? Keine Stücke SPIEGEL: Insgesamt ist die Zahl der Frauen gewählten Gedichten von Goethe, Heine von Frisch, Dürrenmatt, Walser, Handke? in Ihrem Kanon recht klein. und Brecht. Und wenn Sie mir noch zwei Reich-Ranicki: Allenfalls Frischs „Bieder- Reich-Ranicki: Das stimmt schon, aber ich mann und die Brandstifter“. Von Dürren- kann es nicht ändern. Anders als zum matt haben sich alle Stücke, sogar „Der Beispiel in England, Frankreich oder Bestseller Besuch der alten Dame“, überlebt, ob die Polen gibt es nur wenige deutsche Auto- Stücke von Walser und Handke je gelebt rinnen von beachtlicher Qualität. Ich Belletristik haben, dessen bin ich nicht sicher. bin nicht bereit, einen ermäßigten Tarif 1 (1) Henning Mankell SPIEGEL: Sind Sie im Bereich der Lyrik wegen Geschlechtszugehörigkeit anzu- ebenso streng? wenden. Der Mann, der lächelte Zsolnay; 39,80 Mark Reich-Ranicki: In der Lyrik haben die An- SPIEGEL: Und die Nobelpreisträgerin Nelly 2 (2) Joanne K. Rowling Harry Potter thologisten viel Unheil angerichtet. Ich Sachs? Reich-Ranicki: Ihre Lyrik und der Feuerkelch Carlsen; 44 Mark wurde immer über- schätzt und hat sich in- 3 (3) John Grisham Die Bruderschaft zwischen überlebt. Heyne; 46 Mark SPIEGEL: Warum haben Sie die nichtfiktionale 4 (4) Joanne K. Rowling Harry Potter Prosa, außer derjenigen und der Stein der Weisen Carlsen; 28 Mark von Lessing, Goethe, Schiller und Heine, nicht 5 (5) Donna Leon Feine Freunde aufgenommen? Diogenes; 39,90 Mark Reich-Ranicki: Weil sie sich in der Schule 6 (6) Joanne K. Rowling Harry Potter verhältnismäßig schwer und die Kammer des Schreckens vermitteln lässt. Doch Carlsen; 28 Mark sollte man Essayistisches von Friedrich Schle- 7 (7) Joanne K. Rowling Harry Potter gel, Nietzsche und und der Gefangene von Askaban Thomas Mann aufneh- Carlsen; 30 Mark men, vielleicht auch noch von Karl Kraus 8 (9) Stephen King und Feuilletons von Kurt Duddits – Dreamcatcher Ullstein; 48 Mark Tucholsky. SPIEGEL: Insgesamt, so 9 (8) John le Carré Der ewige Gärtner scheint uns, leidet auch List; 44,90 Mark Kinofilm „Wahlverwandtschaften“*: Schmerzhafter Verzicht Ihre Liste unter dem Problem der Überfrach- 10 (10) liebe Anthologien, ich habe viele her- tung. Wann sollen die Schüler das alles Der Besuch des Leibarztes Hanser; 42 Mark ausgegeben, und es hat mir immer Freude lesen? bereitet. Aber viele Anthologisten sind Reich-Ranicki: Also, was wollen Sie? Dass 11 (11) John R. R. Tolkien Faulpelze: Sie verlassen sich gern auf ihre ich dieses Programm noch mehr reduziere? Vorgänger. So werden manche Gedichte Das kann ich nicht. Das sollen andere ma- Der Herr der Ringe Klett-Cotta; 59,90 Mark 100, ja 200 Jahre lang mitgeschleppt. Das chen. Es wird ohnehin manchen geben, der 12 (12) Zeruya Shalev Mann und Frau gilt für Klopstock und Herder, deren lite- mich erdrosseln wird: kein Stifter, kein rarhistorische Bedeutung niemand anzwei- Jean Paul! Berlin; 39,80 Mark felt, für Lessing, der ein Genie, aber kein SPIEGEL: Auch ohne Jean Paul wirkt Ihre 13 (15) Frédéric Beigbeder großer Lyriker war, für Uhland, den man Liste opulent. überschätzt hat, für Fontane, dessen Ge- Reich-Ranicki: Ich habe doch schon auf Neununddreißigneunzig dichte oft nur Plaudereien in Versen sind. so vieles verzichtet! Zum Beispiel auf Rowohlt; 39,90 Mark SPIEGEL: Nun wollen wir aber hören, wen die ausländische Literatur. Ich bin in Ber- Sie von der Lyrik des 20. Jahrhunderts gel- lin auf die Schule gegangen, da haben wir 14 (14) Liza Marklund Studio 6 ten lassen. im Englischunterricht „Hamlet“ gelesen Hoffmann und Campe; 44,90 Mark Reich-Ranicki: Auch hier ist vieles mitge- und Dickens und Joseph Conrad, im schleppt worden, worauf man verzichten Französischunterricht Molière und Mau- 15 (–) Minette Walters kann, um Platz zu machen für sechs be- passant und andere. Heute sei das unmög- Schlangenlinien deutende Poeten: für Hofmannsthal, Geor- lich, sagt man mir. Andererseits: Abitu- Goldmann; 46 Mark ge, Rilke, Trakl, Benn und selbstverständlich rienten, die keine Ahnung haben, was für Brecht, den Jahrhundertlyriker. sich hinter den Namen Shakespeare, Bal- SPIEGEL: Ist das alles? zac, Dostojewski verbirgt – wäre das nicht Warum musste die „verrückte Annie“ im Reich-Ranicki: Es sollten sich im Kanon absurd? Rinnstein sterben? noch einzelne Gedichte von der Lasker- SPIEGEL: Könnten Sie zehn oder zwölf Der neue Thriller der Bücher nennen, die ein Abiturient unbe- britischen Krimi-Königin * Mit Marie Gillain, Jean-Hugues Anglade (1996). dingt kennen sollte?

222 der spiegel 25/2001 Titel genehmigen sollten, schlage ich einen Reich-Ranicki: Nein, wo denken Sie denn Band mit den Werken von Büchner vor hin? Das ist ja eine ganz weltfremde Frage. Max Frisch und einen Auswahlband mit der Lyrik der SPIEGEL: Und die Germanisten? „Montauk“ deutschen Romantiker. Reich-Ranicki: Ob in Deutschland, in Öster- SPIEGEL: Dass die Kultusministerkonferenz reich oder in der Schweiz – es wird sich Ein Wochenende auf Long Island, das Ihren Kanon zumindest in den Hauptzügen kein einziger Germanist finden, der einen ein Schweizer Schriftsteller mit einer viel akzeptiert – halten Sie das für möglich? solchen Kanon-Vorschlag für ansatzwei- jüngeren Frau verbringt, bevor er zurück se akzeptabel hält. Jeder wird nach Europa reist. Beide sind Im Auftrag des SPIEGEL wöchentlich empört darauf hinweisen, dass erst seit kurzem ein Paar, ermittelt vom Fachmagazin „Buchreport“ dieser oder jener Autor fehlt. kennen sich noch wenig, die Ich aber meine, dass mein Ka- Gespräche finden in engli- Sachbücher non-Vorschlag immer noch viel scher Sprache statt, was dem zu umfangreich ist. Jeder Kenner Mann Gelegenheit gibt, sein 1 (1) Sebastian Haffner Geschichte der deutschen Literatur (und es Leben noch einmal wie aus eines Deutschen DVA; 39,80 Mark gibt Hunderte von hervorragen- weiter Ferne zu betrachten. den Kennern) ist ganz und gar Wenig Stoff eigentlich, und 2 (2) Dietrich Schwanitz Bildung sicher, dass er einen besseren doch weitet sich, dank raffi- Eichborn; 49,80 Mark Kanon machen kann als ich. Und nierter Montage kleinster Er- das gilt ebenfalls für alle, die innerungsstücke, die 1975 3 (3) Norman G. Finkelstein sich für Kenner, für Experten erschienene Erzählung „Mon- Die Holocaust-Industrie Piper; 38 Mark unserer Literatur halten. Ihre Zahl tauk“ zu einer faszinierenden beträgt schätzungsweise zwei bis drei autobiografischen Skizze mit Tiefen- 4 (5) Günter Ogger Der Börsenschwindel Millionen. schärfe, zu einem melancholischen, da- C. Bertelsmann; 44 Mark SPIEGEL: Also alles für die Katz? bei niemals sentimental gestimmten Al- Reich-Ranicki: Nein. Aber nicht ich sollte terswerk („Sowie eine Frau mir gefällt, 5 (4) Carola Stern Doppelleben mich über den eventuellen Nutzen meiner komme ich mir jetzt als Zumutung vor“): Kiepenheuer & Witsch; 39,90 Mark Arbeit äußern, sondern doch wohl andere. kluge Reflexionen über die Liebe, ohne SPIEGEL: Wie kommt es, dass Sie die Ka- Schmu und Schmus. non-Idee, die Sie ja seit Jahren immer neu diskutiert haben, nicht loslässt? Reich-Ranicki: Das hat zunächst mit einer gelang mir, den Titel des Buches zu lesen. Die bekannte Publizistin Warschauer Gymnasialschülerin zu tun, Es war Leo Tolstois „Anna Karenina“. Wie beschreibt ihren die mir vor vielen Jahren aufgefallen ist. man sieht, habe ich diese Schülerin bis Lebensweg zwischen Ost Sie stand an einer Haltestelle und las ein heute nicht vergessen. und West, Stasi und Amnesty International Buch. Dann kam die Straßenbahn, sie ging SPIEGEL: Aber sie gehört doch mit Sicher- zur Bahn, ohne die Lektüre zu unterbre- heit einer Minderheit an. chen, und auch auf den Stufen des Wag- Reich-Ranicki: Ja, wahrscheinlich einer 6 (6) Günter de Bruyn Preußens Luise gons, in den sie stieg, las sie weiter. Ich verschwindend kleinen Minderheit. Nur Siedler; 28 Mark folgte ihr und setzte mich neben sie. Ich habe ich als Kritiker dafür zu sorgen, wagte es nicht, sie anzusprechen. Doch es dass diese Minderheit nicht noch kleiner, 7 (7) Guido Knopp Hitlers Frauen dass sie vielleicht sogar arg größer wird. und Marlene C. Bertelsmann; 48 Mark Das habe ich von meinen Lehrmeistern gelernt, von den Brüdern Schlegel, von 8 (11) Dietrich Schwanitz Männer Heine und Fontane, von Kerr und Polgar: Eichborn; 44 Mark Sie alle waren der Ansicht, dass Kritik vor allem vermitteln müsse, und zwar zwi- 9 (8) Dale Carnegie Sorge dich schen der Literatur und dem Publikum. nicht, lebe! Scherz; 46 Mark Diesem Zweck dient der Kanon. Und ich bin sicher, dass viele Leser, junge und 10 (10) Hans-Olaf Henkel alte, Schüler und Lehrer und sogar Rent- Die Macht der Freiheit Econ; 39,90 Mark ner, für einen solchen Kanon dankbar sein werden. Denn ein fragwürdiger Kanon 11 (12) Bodo Schäfer Der Weg zur ist immer noch besser als überhaupt kein Kanon. finanziellen Freiheit Campus; 39,80 Mark SPIEGEL: Warum eigentlich? 12 (9) Florian Illies Generation Golf Reich-Ranicki: Ohne Kanon gibt es nur Will- kür, Beliebigkeit und Chaos und, natür- Argon; 34 Mark lich, Ratlosigkeit. Ich habe einmal ge- 13 (13) Gregor Gysi schrieben: Ohne Liebe zur Literatur gibt es keine Kritik. Ich darf das hier ergänzen: Ein Blick zurück, ein Schritt nach vorn Einem Deutschlehrer, der die Literatur Hoffmann und Campe; 39,90 Mark nicht liebt, wird es nicht glücken, das Interesse an der Literatur zu wecken und 14 (15) Dagmar von Gersdorff eben die Liebe zur Literatur. Es wird ihm Goethes Mutter Insel; 49,80 Mark nicht gelingen, seine Schüler zu überzeu- gen, dass Literatur – ich wiederhole es – 15 (–) Sebastian Haffner Spaß machen kann, darf und soll. Historische Variationen DVA; 39,80 Mark Schüler Marcel Reich (um 1936) SPIEGEL: Herr Reich-Ranicki, wir danken „Lehrpläne zeugen von Weltfremdheit“ Ihnen für dieses Gespräch.

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