DER BÜRGER IM STAAT

49. Jahrgang Heft 1/2 19 99

Die Bundesländer

50 Jahre Bundesrepublik

Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg Herausgegeben von der Landeszentrale für politische Bildung DER BÜRGER Baden-Württemberg IM STAAT

Schriftleiter Prof. Dr. Hans-Georg Wehling Stafflenbergstraße 38, 70184 Stuttgart 49. Jahrgang Heft 1/2 19 99 Fax (07 11) 2 37 14 96

Inhaltsverzeichnis

Vorwort 1 Werner Rellecke Sachsen 85 Hartmut Klatt † Reformbedürftiger Föderalismus Wilfried Welz in Deutschland? 2 Sachsen-Anhalt 92

Hans-Georg Wehling Klaus Kellmann Baden-Württemberg 5 Schleswig-Holstein 96

Peter März Antonio Peter Bayern 12 Thüringen 102

Hansjoachim Hoffmann Martin Große Hüttmann Berlin 23 Die föderale Staatsform in der Krise? 107 Werner Künzel Brandenburg 31 Gerhard Lehmbruch Föderalismus als entwicklungs- Michael Scherer geschichtlich geronnene 37 Verteilungsentscheidungen 114

Helga Kutz-Bauer Ursula Münch Hamburg 42 Vom Gestaltungsföderalismus zum Beteiligungsföderalismus 120 Elisabeth Abendroth/Klaus Böhme Hessen 47 Wolfgang Renzsch Der Streit um den Finanzausgleich 126 Heinrich-Christian Kuhn Mecklenburg-Vorpommern 54 Thomas Fischer Die Außenpolitik der Peter Hoffmann deutschen Länder 133 Niedersachsen 61 Das politische Buch 140 Andreas Kost Nordrhein-Westfalen 66 Einzelbestellungen und Abonnements bei der Dieter Grube Landeszentrale (bitte schriftlich) Rheinland-Pfalz 71 Impressum: Seite 4

Burkhard Jellonek/ Bitte geben Sie bei jedem Schriftwechsel Marlene Schweigerer-Kartmann mit dem Verlag Ihre auf der Adresse aufgedruckte 77 Kunden-Nr. an. Die Bundesländer

Wenn die Bundesrepublik Deutschland und die zen in der Aufgabenwahrnehmung, stärker ihr zugrundeliegende Verfassung, das Grundge- aber noch die Gesetzgebung und Gesetzesaus- setz, in diesen Tagen auf 50 Jahre Bestehen führung zwischen Bund und Ländern aufgeteilt zurückblicken können, zudem noch auf 50 gute, sind. Das schließt die Aufteilung der finanziellen erfolgreiche Jahre, ist das auch für die dem Bund Ressourcen, sowohl nach Aufkommen als auch zugrunde liegenden Länder Anlass genug: zu Verteilung, mit ein. Wir haben es mit einem um- feiern, aber auch inne zu halten und nachzu- fassenden Verbundsystem zu tun. Zugleich aber denken über die Verfassung, in der sich die Bun- wirken die Länder in Gestalt der Länderexekuti- desrepublik befindet und wie die Zukunft zu ge- ven in die Politik des Bundes hinein, mit Hilfe stalten ist. Das Ländern gemäße Thema, und des Bundesrates und der dort genehmigungs- damit auch den Landeszentralen als Länderein- pflichtigen Bundesgesetze. Die Grenzen von Re- richtungen angemessene Thema ist hier das von gierung und Opposition verwischen sich dort Föderalismus und Ländern. gelegentlich, wenn nach der Verantwortung ge- So werden in diesem Heft der Zeitschrift „Der fragt wird. Bürger im Staat“ die 16 Bundesländer einzeln Auch die überkommene und im Staatsrechts- vorgestellt: nach geografischen Grundlagen, denken fest verankerte Zuordnung der Aussen- nach Geschichte und politisch wirksamen Tradi- politik zur Ebene des Gesamtstaates ist von der tionen, nach Wirtschaftsstruktur und wirtschaft- Wirklichkeit überholt. In der Aussenpolitik – be- licher Bedeutung, nach ihren politischen Ver- sonders greifbar in der Europapolitik – wirken hältnissen wie Verfassung, Parteien und und die Länder längst mit oder machen ihre eigene Wahlen, Verwaltungsaufbau. Es sollen farbige Aussenpolitik – in Absprache mit dem Bund, Porträts sein, die man gerne liest, um sich zu in- aber auch nebenher und sogar in Konkurrenz. formieren. Autorinnen und Autoren sind, von Reformüberlegungen sind darauf gerichtet, einer Ausnahme abgesehen, innerhalb ihrer je- klare Verantwortlichkeiten herzustellen und weiligen Landeszentrale jeweils für den Publika- Konkurrenzverhältnisse zur Beförderung von In- tionssektor zuständig, für Eigenpublikationen novation und Reformen zu installieren. Doch wie für den Ankauf von Verlagspublikationen. alle Reformvorstöße müssen sich die Frage nach Von daher stellt dieses Heft auch so etwas dar der Realisierbarkeit gefallen lassen: Geschichte wie die Visitenkarte der Landeszentralen, soweit ist nicht Vergangenheit, sondern immer auch es die Publikationsarbeit und die für sie Verant- höchst lebendige Gegenwart, die die vorhande- wortlichen betrifft? Selbstverständlich sind diese nen Entscheidungsspielräume absteckt. Einmal Beiträge persönliche Meinungsäußerungen der betretene Entwicklungspfade sind nur unter Autoren. großen Schwierigkeiten wieder zu verlassen. Das zweite große Thema dieses Heftes der Zeit- Die Globalisierung der Wirtschaft wird nicht nur schrift „Der Bürger im Staat“ ist der deutsche Fö- deutsche Industrieprodukte der weltweiten deralismus in seiner spezifischen Ausprägung, Konkurrenz aussetzen, auch das politische Sy- nach seiner gegenwärtigen Gestalt, seiner Ent- stem, die Institutionen von Bund und Ländern wicklung, seinen Problemen und Reformper- werden sich zunehmend dem internationalen spektiven. Geschrieben sind diese Beiträge von Konkurrenzdruck ausgesetzt sehen. Und das ausgewiesenen Politikwissenschaftlern. kann auch bedeuten: Ist der deutsche Föderalis- Das föderale System der Bundesrepublik hat sich mus in seiner gegenwärtigen Form ein Standort- – durch Tradition und Verfassung begünstigt – vorteil oder ein Standortnachteil? Auch unter zum spezifisch deutschen unitarischen Bundes- diesem Aspekt wird das Thema Reform des staat entwickelt, der in Kooperation einheitliche deutschen Föderalismus künftig geführt werden Problemlösungen für das gesamte Bundesgebiet müssen. zu verankern sucht, im Bemühen, die Vorteile Das Heft ist dem jüngst verstorbenen Prof. Dr. von Einheitsstaat und Bundesstaat zu verbin- Hartmut Klatt gewidmet, der auch zur Diskussi- den. Ergeben hat sich daraus jedoch ein System on des Themas Föderalismus in Deutschland We- eher verwischter Verantwortlichkeiten; Kritiker sentliches beigetragen hat, nicht zuletzt auch in werfen ihm zudem eine gewisse Immobilität vor. unserer Zeitschrift „Der Bürger im Staat“. Am ausgeprägtesten, am unverwechselbarsten Gedankt sei abschließend Andrea Scheurlen für zeigt sich der deutsche Föderalismus in der „Po- die Unterstützung bei der Redaktionsarbeit an litikverflechtung“, der zufolge die Kompeten- diesem Heft. Hans-Georg Wehling

1 Die ratio des Föderalismus ist eigentlich die Differenzierung Reformbedürftiger Föderalismus in Deutschland? Beteiligungsföderalismus versus Konkurrenzföderalismus

Von Hartmut Klatt †

Föderalismus in Deutschland definiert sich, anders als beispielsweise in der Prof. Dr. Hartmut Klatt ist unseren Leserinnen und Schweiz oder in den USA, vom Bund, Lesern seit langem als Autor bekannt. Zu Fragen des nicht von den Ländern her. Entsprechend Föderalismus, des Parlamentarismus und der Massen- hat sich der deutsche Föderalismus zu medien hat er für unsere Zeitschrift immer wieder einem Beteiligungsförderalismus ent- geschrieben, dabei politikwissenschaftliche Theorie wickelt, innerhalb dessen immer mehr und praktische Erfahrung in einzigartiger Weise mit- vom Bund her geregelt wird. Die Län- einander verknüpfend. Er war auch Herausgeber des der(regierungen) haben sich dafür ent- Bandes „Baden-Württemberg und der Bund“, der schädigen lassen: in Form verstärkter Mit- 1989 als Band der 15 der Schriften zur politischen Lan- sprache an der Bundespolitik auf dem deskunde Baden-Württembergs erschienen ist. Wege über den Bundesrat. Die Experi- Nach seinem Ersten und Zweiten Examen für das mentierlust und das Innovationspoten- Lehramt an Gymnasien war er Redakteur bei der tial, das im Wettbewerb der Länder um Stuttgarter Zeitung, wurde dann von Annemarie Ren- die besten Lösungen liegt, sind damit auf- ger in das Büro der Bundestagspräsidentin geholt gegeben worden. Bislang schien es aller- wegen seiner vielbeachteten Dissertation über „Die dings so, als ob Föderalismus in Deutsch- Altersversorgung der Abgeordneten“ (1972 als Buch erschienen). land nur akzeptiert würde, wenn Politik Doktorvater war Theodor Eschenburg in Tübingen. An der Universität Tübingen die Lebensverhältnisse so einheitlich wie lehrte Hartmut Klatt über viele Jahre hinweg Politikwissenschaft, zuletzt als in einem zentralistischen Staat zu ordnen Honorarprofessor. Für seine Familie, für seine Freunde und Weggefährten, aber in der Lage wäre. Doch der Versuch, beide auch für die Wissenschaft starb er viel zu früh, mit 58 Jahren am 13. Oktober 1998 Staatsprinzipien miteinander zu koppeln, an einem Herzversagen. Der hier abgedruckte Beitrag ist sein letzter. So, als ob er hat zu beträchtlichen Nachteilen geführt, es geahnt hätte: Er hat seinen Beitrag vorzeitig abgeliefert, entgegen seinen son- für die das Wort „Reformstau“ in Mode stigen Gewohnheiten. Hans-Georg Wehling gekommen ist. Vorstöße zur Veränderung des Föderalismus in Richtung Konkurrenz- föderalismus kommen vor allem von jenen Bundesländern, die zu den Zahler- ländern des Finanzausgleichs gehören. Auch sonst mehren sich die Stimmen, die fassungsauftrag angenommen. Im Rah- Kompetenzen vor dem Zugriff des Bundes sich für einen Konkurrenzföderalismus men der Verfassungsrevision 1993/94 ist in zu schützen. stark machen. Doch sind sie stark genug, Artikel 72 Absatz 2 GG auf Druck der Län- eine Veränderung herbeizuführen? Red. der der Begriff der Einheitlichkeit durch Ein „verkappter Einheitsstaat“? den der Gleichwertigkeit ersetzt worden. Föderalismus vom Bund her definiert Das soll den Bund daran hindern, weiter- Pointiert könnte man schlußfolgern, daß hin – unter Hinweis auf die Notwendig- der Bundesstaat in Deutschland (nur) Das deutsche föderalstaatliche System de- keit bundeseinheitlicher Regelung durch unter der Voraussetzung akzeptiert wird, finiert sich vom Bund her, nicht von den Bundesgesetz – praktisch jede Materie der daß die Politik die Lebensverhältnisse so Ländern, obwohl die Länder als staatliche konkurrierenden Gesetzgebung bean- einheitlich wie in einem Zentralstaat ord- Teileinheiten eigentlich die Bausteine spruchen zu können, zu Lasten der Län- net. Dies hat einige Beobachter dazu ver- jeder Föderation bilden. In diesem Para- der. Konrad hat dies schon Anfang anlaßt, von der Bundesrepublik als einem dox liegt der entscheidende Unterschied der 50er Jahre auf die einprägsame For- „verkappten Einheitsstaat“ (Heidrun Ab- des deutschen Föderalismus zur Bundes- mel vom „unitarischen Bundesstaat“ ge- romeit) zu sprechen. Mit dem Einheitlich- staatlichkeit in der Schweiz und in den bracht. Damit ist keine Zentralisierung ge- keitspostulat wird die ratio des Föderalis- USA begründet. In der Schweiz bzw. in meint, sondern sie benennt den Sachver- mus, die auf dem Prinzip der Differenzie- den Vereinigten Staaten leitet sich der halt, wonach der Inhalt der Politik weni- rung zwischen den subnationalen Einhei- Gesamtstaat nach wie vor, ungeachtet ger auf die territorial bezogene Differen- ten basiert, natürlich weit verfehlt. Im aller Zentralisierungs- und Unitarisie- zierung ausgerichtet ist als auf eine Ver- Grunde wird mit dem Axiom der Einheit- rungstendenzen, von den Kantonen bzw. einheitlichung der Lebensverhältnisse, lichkeit versucht, die Vorteile einer fö- den Einzelstaaten ab. Genau gegenteilig d.h. auf eine Unitarisierung. Über diesen deralen Staatsorganisation mit den positi- sehen die Verhältnisse in der Bundesrepu- Befund gibt es sowohl bei den Praktikern ven Elementen zentralisitisch organisier- blik Deutschland aus, wenn man einzelne wie bei den Wissenschaftlern keinen ter Staaten zu kombinieren. Gerade am Befunde über die Ausprägung der bun- Streit, allenfalls über die Gründe für diese deutschen Beispiel wird je länger, desto desstaatlichen Ordnung hierzulande mit- Tendenz, genauer gesagt über die Initia- deutlicher, daß eine solche Kombination einander in Beziehung setzt. toren der generellen Unitarisierungsten- verschiedener staatsorganisatorischer Ele- Ein Axiom deutscher Politik, auch und ge- denz. Dabei gilt es zu berücksichtigen, mente nicht ohne gravierende Nachteile rade im föderalen Rahmen, ist seit jeher daß nicht nur der Bund im Wege bundes- zu haben ist. In letzter Zeit treten entspre- die Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse. weiter Regelungen Einheitlichkeit herstel- chende Defizite (z.B. anstelle vertikaler Aus Artikel 72 Absatz 2 des Grundgesetzes len kann, sondern ebenso die Länder Gewaltenteilung kumulierte staatliche (GG) und Artikel 106 Absatz 3 Nr. 2 GG durch koordinierte Regelungen. Das Macht zu Lasten der Freiheitsrechte der wird von einigen Vertretern der Staats- haben sie in der Bildungspolitik und im Bürger/innen) immer stärker ins öffentli- rechtslehre sogar ein entsprechender Ver- Rundfunkwesen ausgiebig getan, um ihre che Bewußtsein.

2 Der „Beteiligungsföderalismus“ rungschefs der finanzstarken Südländer, 1. Zielsetzung ist nicht die Einheitlichkeit wurde kontinuierlich ausgeweitet, dem Ministerpräsidenten der Lebensverhältnisse, sondern eine mit Hilfe der Länder von Baden-Württemberg und seinem regional bezogene Vielgestaltigkeit bayerischen Amtskollegen Edmund Stoi- bzw. Unterschiedlichkeit der Lebensver- Aufgrund ihrer unterschiedlichen Größe ber, energisch verfochten. Zu der Umorien- hältnisse gemäß den Präferenzen der und Wirtschaftskraft waren die Länder tierung auf Länderseite haben einerseits jeweiligen (Teil-)Bevölkerung und son- praktisch seit 1949 bestrebt, ihren Einfluß die Auswirkungen der unterschiedlichen stiger Adressaten (z. B. Wirtschaft mit auf die Bundespolitik durch Mitwirkungs- Mehrheiten im Bundesrat, andererseits die Interesse an Rechtsklarheit und Rechts- rechte über den Bundesrat zu verstärken. Folgen des Finanzausgleichs auf die jewei- sicherheit, z. B. auch der steuerpflichti- Dieser Beteiligungsföderalismus sichert ligen Haushalte mit beigetragen. Die gen Bürger/innen). Ziel ist nicht eine allen Ländern gleichermaßen, unabhän- These von der Notwendigkeit eines wett- Konkurrenz der Länder als staatlicher gig von Größe und Finanzstärke, eine ent- bewerbsorientierten Föderalismus wird im Teileinheiten um der Konkurrenz wil- sprechend der im Grundgesetz genau Rahmen der aktuellen Reformdiskussion len, es geht vielmehr um eine Optimie- festgelegten Stimmenzahl ein gleiches auch von führenden Wirtschafts- rung staatlichen Handelns im Interesse Mitwirkungspotential im Bundesrat. Die- managern, einer Reihe von CDU- und SPD- der Menschen, um eine Modernisie- ser Beteiligungsföderalismus wurde in der Politikern sowie von der CSU und der FDP rung der einzelnen Länder, um politi- politischen Praxis kontinuierlich ausge- vertreten (siehe dazu weiter unten). sche und ökonomische Innovationen weitet, und zwar unter Zustimmung der sowie um ortsnahe Problemlösungen. Länder, also nicht gegen ihren Willen. Als Eine Reform setzt selbstbewußte Voraussetzung für die Zielerreichung ist Faktoren in diesem Prozeß sind vor allem Länder als Motoren voraus die Akzeptanz der nur gleichwerti- zu nennen: gen Lebensverhältnisse, der von Land ● Ausdehnung der Zustimmungsbedürf- Das Konzept eines länderzentrierten Bun- zu Land ggf. unterschiedlich festgeleg- tigkeit von Bundesgesetzen in der Pe- desstaates harrt immer noch der Umset- ten staatlichen Leistungen bzw. Steuer- riode der sozialliberalen Koaliton auf zung in die politische Praxis. Die Umbruch- sätze. Initiative der damaligen Opposition im situation im Zusammenhang mit dem Eini- 2. Konkurrenz auf politischem und öko- Bundestag, d.h. der CDU/CSU, sanktio- gungsprozeß wurde für diese Zielsetzung nomischem Feld zwischen unterschied- niert durch die Rechtsprechung des nicht genutzt. Immerhin haben sich aber lich großen (Größe als doppeltes Krite- Bundesverfassungsgerichts; die Ministerpräsidenten (zunächst der rium verstanden: Fläche und Bevölke- ● Finanzverfassungsreform von 1969, mit alten, dann aller) Länder im Rahmen der rungszahl) staatlichen Organisations- der drei echte Gemeinschaftsaufgaben deutschen Einheit erstmals auf ein Kon- einheiten wird sich nur ausbilden kön- und Mischfinanzierungen verfassungs- zept verständigt, das dem Beteiligungsfö- nen, wenn beim Start eine gewisse rechtlich fixiert wurden: Ausprägung deralismus entgegenwirken soll und das Chancengleichheit besteht (Chancen- des Bundesstaates als „kooperativer auf den Ländern als entscheidenden Fak- gleichheit z.B. hinsichtlich der Wirt- Föderalismus“, von dem Sozialwissen- toren im Bundesstaat aufbaut, sich also schafts- und Finanzkraft sowie der schaftler Fritz W. Scharpf präziser als nicht primär vom Bund als Gesamtstaat ab- Finanzausstattung der einzelnen Län- „System der Politikverflechtung“ cha- leitet. Dieses Konzept ist in dem sogenann- der). Im Rahmen des laufenden interre- rakterisiert. Damit wurden weitere Poli- ten „Eckpunkte-Papier“, beschlossen von gionalen Wettbewerbs wird sich eine tikbereiche vergemeinschaftet und die der Ministerpräsidenten-Konferenz am 5. solche, auch nur annähernde Chancen- Eigenständigkeit der Länder nochmals Juli 1990, zusammengefaßt worden. Auch gleichheit, wenn überhaupt, dann mit erheblich eingeschränkt. durch die Verfassungsrevision 1993/94, die großen Schwierigkeiten einstellen. Die im Gefolge der deutschen Einheit erfolgte, knapp 50jährige Entwicklung des Fö- Dem steht das Wettbewerbsmodell gelang die politische Durchsetzung der deralismus in Deutschland weist aus, gegenüber wesentlichen Bestandteile des Konzepts daß die wirtschaftsschwachen und nicht. Die Länder waren froh, wenigstens finanzschwachen Länder nicht nur nicht Das diesem Beteiligungsföderalismus ent- die Ausweitung ihrer legislativen Zustän- den Anschluß an die wirtschafts- und fi- gegengesetzte Wettbewerbsmodell, das digkeiten im Bereich der konkurrierenden nanzstarken Länder geschafft haben zumindest partiell in der Schweiz und in und Rahmengesetzgebung gegen den Wi- (einzige Ausnahme Bayern), sondern den USA praktiziert wird, geht von der derstand des Bundes realisiert zu haben. (u.U. weil sich die negativen Stand- Eigenständigkeit der staatlichen Teilein- Für die Länder wird es in Zukunft darauf ortfaktoren summiert haben) eher noch heiten aus. Eigenständigkeit wird dabei ankommen, ihr Erstgeburtsrecht wieder einen größeren Rückstand als zu Beginn nicht ausschließlich staatsrechtlich (d.h. zurückzugewinnen und für dieses Ziel aufweisen – und dies trotz eines verfas- unter dem Aspekt der Kompetenzen) de- auch die kleinen und finanzschwachen sungsrechtlich garantierten, sehr inten- finiert, sondern auch ökonomisch (d.h. Länder zu motivieren. Der Wettbewerbsfö- siven Finanzausgleichssystems. unter dem Aspekt der Aufgabenerfüllung deralismus wird nur gegen mannigfachen aus eigener Kraft). Die Kosten für die Widerstand zu erreichen sein und setzt die So müßte der Wettbewerbsrahmen Wahrnehmung der staatlichen Aufgaben Reformbereitschaft selbstbewußter Länder aussehen werden entweder vom Gesamtstaat oder voraus. Die derzeitige schwierige Finanzla- von den Ländern getragen. Letztere müs- ge und die ökonomische Strukturkrise ver- Elemente eines solchen herzustellenden sen deshalb über gewisse autonome Rech- stärken dabei den Handlungsdruck. Wettbewerbsrahmens sind folgende: te bei der Steuergesetzgebung und über – Rückgabe von Kompetenzen des Bun- eine angemessene, länderindividuell aus- Die Realisierung des Wettbewerbs des an die Länder (Verlagerung einzel- gestaltete Finanzausstattung zur Erfül- ist an bestimmte Voraussetzungen ner gesetzgeberischer Materien auf die lung der übertragenen Aufgaben verfü- gebunden Länder). Für eine Stärkung der Eigen- gen. Der Wettbewerbsföderalismus geht ständigkeit aller Länder (sowohl der von bestimmten Annahmen der Wirt- Für das Modell des Wettbewerbsföderalis- großen wie der kleinen) genügen Kom- schaftswissenschaften aus, daß nämlich mus kann nicht nur die reine Theorie maß- petenzen allein nicht; denn die mit den das Konkurrenzprinzip vom wirtschaft- gebend sein, wie sie z. B. vom Kölner Kompetenzen i.d.R. verbundenen Auf- lichen Bereich auf den politischen Sektor Nationalökonomen Carl Christian von gaben müssen auch aus eigener Kraft, übertragen werden kann und daß Wett- Weizsäcker vertreten wird, sondern für d.h. ohne finanzielle Hilfe des Bundes bewerb zwischen den staatlichen Einhei- ein entsprechendes funktionsfähiges Fö- oder der anderen Länder, zu erfüllen ten zu mehr Innovation bzw. generell zu deralismusmodell sind bestimmte Rah- sein. besseren Problemlösungen beiträgt, also menbedingungen notwendig. Sollten – Aufgabenverteilung zwischen Bund einen entscheidenden Beitrag zur Moder- diese Voraussetzungen nicht oder nur und Ländern unter strikter Wahrneh- nisierung zu leisten vermag. höchst unzureichend gegeben sein, muß mung des Konnexitätsprinzips bei der Das Modell des Wettbewerbsföderalismus damit gerechnet werden, daß ein solches Lastenverteilung. Nach der Finanzver- wird inzwischen von einigen Akteuren im Modell eines föderalstaatlichen Systems fassung folgt die Ausgabenlast i.d.R. Bund-Länder-Verhältnis, so den Regie- der Zukunft scheitert. der Aufgabenlast im Verwaltungsvoll-

3 zug. Dafür verantwortlich sind zum fen des Bundes an die Länder. Das bis- Managern wie der Präsident des BDI, überwiegenden Teil die Länder. Wenn herige Aufkommen des Bundes für die Hans-Olaf Henkel, für eine Erneuerung durch die Finanzierung bundesgesetz- Zuweisungen sollte den Ländern für des Föderalismus im Sinne eines echten lich vorgeschriebener Aufgaben die eine bessere Finanzausstattung zur Ver- Wettbewerbsföderalismus votiert. Diese Haushalte der Länder (und Kommunen) fügung gestellt werden. gewichtigen Stimmen können in der poli- übermäßig belastet werden, dann ist – Eine Reform des Beteiligungsföderalis- tischen Diskussion nicht mehr überhört die Eigenstaatlichkeit der Länder und mus setzt auch eine Neuordnung der werden. Aufgabe der Wissenschaft in die- damit das föderale System ernsthaft ge- Zuständigkeiten des Bundesrates vor- sem Stadium ist es, neben den Rahmenbe- fährdet. aus, d.h. konkret, die weitreichenden dingungen auch die Konditionen der Um- – Steuergesetzgebungsrecht der Länder. Mitwirkungsrechte des Bundesrates an setzung eines solchen radikal neuen Fö- Damit ist nicht unbedingt ein Steuerfin- der Bundesgesetzgebung müßten ein- deralismus-Modells zu analysieren. Im- dungsrecht gemeint, ausreichend wäre geschränkt werden, sonst würde das merhin wollen die Ministerpräsidenten ein Hebersatzrecht der Länder zu einer notwendige institutionelle Gleichge- von Bayern und Baden-Württemberg, der flexiblen und ertragreichen Steuer- wicht zu Lasten des Bundes verschoben. Stoiber und Teufel, mit einer Änderung arten, z.B. der Einkommensteuer. Dies Fazit: Wettbewerbsföderalismus setzt des Länderfinanzausgleichs einen Einstieg würde den Ländern nicht nur die Mög- eine institutionelle Totalreform voraus. in die für notwendig erachtete Strukturre- lichkeit eröffnen, den Landeshaushalt Damit ist automatisch die Frage gestellt, form erreichen. Die finanzschwachen Län- auch auf der Einnahmenseite bestim- wie eine solche umfassende staatliche Or- der, die im Bundesrat über die Mehrheit men zu können; variable Steuersätze ganisationsreform realistischerweise ins verfügen, lehnen diese Pläne geschlossen wären überdies ein Instrument der Werk gesetzt werden kann. Die Vision ab. Ein Kompromiß ließe sich allenfalls bei Strukturpolitik, dabei muß die Gefahr liegt nicht allzu fern, daß „kein Stein auf einer ausreichend langen Übergangsfrist der ruinösen interregionalen Konkur- dem anderen bleiben wird“. vom bisherigen zu einem geänderten renz um die Ansiedlung neuer Indu- neuen Ausgleichssystems finden. strien als Risiko des Wettbewerbs aller- Reformchancen Selbst wenn eine für beide Seiten akzepta- dings mit einkalkuliert werden. Zu- ble Änderung des Länderfinanzausgleichs gleich würde jedoch die Verantwor- Im aktuellen kooperativen Bundesstaat zustande käme, wäre damit nur ein Ein- tung der Regierungsmehrheit für ihre sind jedoch weder auf Bundesseite noch stieg in die große Strukturreform erreicht. Politik gegenüber der Wählerschaft ge- auf seiten der Länder entsprechende Re- Wahrscheinlich werden deren Befürworter stärkt, die Regierung könnte nicht formenergien und -kräfte erkennbar, die unter dem Aspekt der Realisierung des mehr wie bisher die Verantwortung eine Strukturreform des föderalstaatli- Modells eines effizienten Wettbewerbsfö- für negative Folgen ihrer Politik der chen Systems im Hinblick auf eine konse- deralismus eher auf einen Strukturwandel anderen Ebene (also z.B. dem Bund) zu- quente Wettbewerbsorientierung anstre- in vielen kleinen Teilschritten als auf die schieben. ben. Damit ist nicht gesagt, daß das neue große, alle Probleme gleichzeitig lösende – Entflechtung von gemeinsamen Kom- Modell eines Wettbewerbsföderalismus in Strukturreform setzen müssen. Der Hand- petenzen und Finanzen des Bundes und Wissenschaft, Politik und Wirtschaft nicht lungsdruck, der von den aktuellen wirt- der Länder, d.h. „Rückbau“ (statt Aus- ernstzunehmende Befürworter gefunden schaftlichen Schwierigkeiten (ökonomi- bau) des kooperativen Föderalismus im hätte. Im Gegenteil: Neben dem bayeri- scher Strukturwandel; Massenarbeitslosig- Interesse der Selbständigkeit der Län- schen und baden-württembergischen Mi- keit) und den finanziellen Restriktionen der, bedeutet nicht die Etablierung nisterpräsidenten hat sich auch die FDP aller öffentlichen Haushalte ausgeht und eines „separativen Föderalismus“, da mit ihren Spitzenpolitikern Gerhardt und der Anpassung der institutionellen Struk- weiterhin Formen der Zusammenarbeit Graf Lambsdorff für die Strukturierung turen an veränderte Umweltbedingungen zwischen den Akteuren der Bundesebe- des Föderalismus nach Wettbewerbsge- erfordert, wird den notwendigen Reform- ne und jenen der föderalen Ebene zur sichtspunkten ausgesprochen. In einem prozeß des föderalen Systems befördern. Wahrnehmung der Interessen des Ge- Manifest der liberalen Friedrich-Nau- samtstaates existieren werden. mann-Stiftung1 haben Wissenschaftler Literaturhinweise – Trennung der vergemeinschafteten wie der Kölner Finanzwissenschaftler Karl- Kompetenzen einschließlich der Ge- Heinrich Hansmeyer und der Direktor des 1) Thesenpapier „Wider die Erstarrung in unserem Staat – für eine Erneuerung des Föderalismus“ vom 4. Fe- meinschaftssteuern. Bei den Gemein- Instituts für Energiewirtschaft und Ener- bruar 1998, veröffentlicht von der Friedrich-Nau- schaftssteuern Aufteilung der Zustän- gierecht an der Universität Köln, Carl Chri- mann-Stiftung. Bonn 1998; vgl. dazu A. Ottand/ E. Linnartz: Föderaler Wettbewerb statt Verteilungs- digkeit für die Steuergesetzgebung auf stian von Weizsäcker, neben dem frühe- streit. 1998, eine Studie des Bonner Instituts Bund und Länder, d.h. der Bund regelt ren Hamburger Bürgermeister Klaus von für Wirtschaft und Gesellschaft (IWG) zu Länder- die Bundessteuern gesetzlich, die Län- neugliederung. Dokumentation „Zukunft des Fö- Dohnanyi und dem Vorstandsvorsitzen- deralismus: Mehr Wettbewerb, weniger Solidarität?“ der die Landessteuern. den der Ludwig-Erhard-Stiftung, dem in: Gegenwartskunde H. 1/1998, S. 91–100. – Abschaffung der Mischfinanzierungen früheren Staatssekretär im Wirtschaftsmi- nach Art. 104a IV GG und der Finanzhil- nisterium Otto Schlecht eine Reihe von

Die Zeitschrift „Der Bürger im Staat“ wird herausgegeben von der LANDESZENTRALE FÜR POLITISCHE BILDUNG Baden-Württemberg. Direktor der Landeszentrale: Siegfried Schiele Schriftleiter: Prof. Dr. Hans-Georg Wehling, Stafflenbergstraße 38, 70184 Stuttgart, Telefax (07 11) 23 71- 4 96. Herstellung: W. E. Weinmann Druckerei GmbH, Raiffeisenstraße 15, 70794 Filderstadt, Telefon (07 11) 7 78 98-0, Telefax (07 11) 7 78 98 50. Verlag: Verlagsgesellschaft W. E. Weinmann mbH, Postfach 12 07, 70773 Filderstadt, Telefon (07 11) 7 00 15 30, Telefax (07 11) 70 01 53 10. Preis der Einzelnummer: 6,50 DM, Jahresabonnement 25,– DM Abbuchung. Die namentlich gezeichneten Artikel stellen nicht unbedingt die Meinung der Redaktion dar. Für unaufgefordert eingesandte Manuskripte übernimmt die Redaktion keine Haftung. Nachdruck oder Vervielfältigung auf Papier und elektronischen Datenträgern sowie Einspeisung in Datennetze nur mit Genehmigung der Redaktion.

4 Nach Gestalt und Traditionen von großer Vielfalt Nach Süden zu und gegen Bayern im Osten schließen sich die Hügellandschaft Oberschwabens – ein klassisches Bauern- Baden-Württemberg land –, das obstreiche Bodenseevorland und der Bodensee sowie das württember- gische Allgäu an, wie das willkürlich davon getrennte bayerische Allgäu das Land der Milchwirtschaft, wegen der idea- Von Hans-Georg Wehling len Kombination von hohen Niederschlä- gen und langer Sonnenscheindauer. Der Schwarze Grat bei Isny ist mit 1118 m die höchste Erhebung Württembergs. Der Norden Baden-Württembergs ist ge- kennzeichnet durch Mittelgebirge wie Die Nummer 3 in der Bundesrepublik Landschaftlich gesehen ist Baden-Würt- Odenwald, Stromberg und Heuchelberg, temberg ein äußerst abwechslungsrei- Löwensteiner Berge und jenen Gebirgs- Baden-Württemberg ist das drittgrößte ches, vielgestaltiges Land, oft mit vielen landschaften, die man summarisch als Bundesland: nach Fläche mit 35 752 qkm kleinräumigen Unterteilungen. Geogra- Schwäbischen Wald bezeichnet. Die Ho- hinter Bayern und Niedersachsen als auch phen sprechen hier von Kleinkammrig- henloher (Hoch-)Ebene und das Bauland nach Einwohnern mit 10,4 Mio. hinter keit. Im Westen beginnt es mit dem Ober- schließen sich an. Zwischendurch finden Nordrhein-Westfalen und Bayern. Auch rheingraben, mit hoher Klimagunst zwi- sich immer wieder fruchtbare Gäuland- der Wirtschaftsleistung nach steht der schen Vogesen und Schwarzwald gelegen. schaften. Durchflossen werden diese Teile Südweststaat mit einem Bruttoinlands- Auch der Kaiserstuhl gehört dazu, mit den Baden-Württembergs vom Neckar und produkt von 581 Milliarden DM auf Platz wärmsten Temperaturen in Deutschland seinen Nebenflüssen, in deren Tälern

Ein Blick über das Neckartal mit den Tanklagern des Stuttgarter Hafens auf die Weinberge. Auf dem mittleren Berg hinten ist das Mau- soleum zu erkennen, das König Wilhelm I. an der Stelle des Stammsitzes der Wirtemberger baute. Foto: Helga Wöstheinrich

3, nach Nordrhein-Westfalen und Bayern (neben der Pfalz). Es ist das Land der Son- Wein wächst. Im Nordosten dann grenzt (zum Vergleich: das gesamte deutsche derkulturen, des Obstes und vor allem des Baden-Württemberg an den Main, dessen Bruttoinlandsprodukt macht gegenwärtig Weins, der bis in die Ausläufer des Nebenfluß, die Tauber, bei Wertheim 3,46 Billionen DM aus). Schwarzwaldes hier vorzüglich gedeiht. mündet. Das Land grenzt im Norden an Rheinland- Nach Osten zu folgt der Schwarzwald mit Der Neckar entspringt im Lande (bei Pfalz und Hessen, die längste Grenze hat dem höchsten Berg Baden-Württembergs, Schwenningen), aber auch die Donau (in es mit Bayern – vom Main bis ins Allgäu dem 1493 m hohen Feldberg. Zusammen der Gegend von Donaueschingen). Bis und zum Bodensee. Der Rhein bildet zu- mit dem Bodensee stellt der Schwarzwald Ulm ist er ein baden-württembergischer gleich die deutsche Staatsgrenze zum nicht nur die baden-württembergische, Fluß. Kurz vor der alten Grenze zwischen Elsaß, nach Frankreich also. Im Süden sondern für viele Menschen – zusammen Baden und Württemberg im Raum Tuttlin- grenzt Baden-Württemberg zudem an die mit den bayerischen Alpen – die deutsche gen versickert die Donau, was von badi- Schweiz, mit einem teilweise vertrakten Ferienlandschaft schlechthin dar. scher Seite bis zum heutigen Tage so inter- Grenzverlauf. So ist beispielsweise die Ge- Es folgen das Tafelgebirge der Schwäbi- pretiert wird, die Donau wende sich be- meinde Büsingen ganz von Schweizer Ge- schen Alb, rauh und steinig, von herber wußt ab, um nicht ins Württembergische biet (Kanton Schaffhausen) umschlossen, Schönheit, mit dem Hohenzollern bei He- zu müssen. Tatsächlich taucht das Wasser sodaß diese Exklave zum Schweizer Zoll- chingen (855 m) als bekanntestem Berg denn auch nicht an späterer Stelle wieder und Währungsgebiet gehört. Büsingen, und dem 983 m hohen Dreifaltigkeitsberg als Donau auf, sondern im Aachtopf im obwohl zum Landkreis Konstanz gehörig, bei Spaichingen als höchster Erhebung. badischen Bodenseehinterland. Mit dieser hat sogar ein eigenes Autokennzeichen: Bemerkung sind aber bereits Besonder- BÜS. heiten der politischen Kultur angespro- chen.

Baden-Württemberg 5 Kleinkammrigkeit auch in Napoleon nahm dann eine große Flurbe- weststaatslösung gehen sollte. Lediglich historischer und politisch-kultureller reinigung im deutschen Südwesten vor, (Süd-)Baden widersetzte sich energisch Hinsicht um starke Mittelstaaten als Vasallen und immer wieder hinhaltend der großen (Württemberg) zu gewinnen oder um die Lösung, letztlich aus einer tiefen Abnei- Der deutsche Südwesten war das klassi- französische Ostgrenze abzusichern gung gegen das als protestantisch und sche Land der Kleinstaaterei. Eine Unzahl (Baden). Als starker Kern bot sich Würt- ungemein „schaffig“ wahrgenommene kleiner und kleinster Territorien be- temberg für eine solche Gebietserweite- Württemberg, unter dessen „Bevormun- herrschten die historische Landkarte bis zu rung geradezu an, das moderne Baden ist dung“ man nicht geraten wollte. Der ent- den Zeiten Napoleons, also bis Anfang des im Grunde ein napoleonisches Kunstpro- scheidende Schritt zur Bildung des neuen 19. Jahrhunderts: weltliche und geistliche dukt mit einem sehr kleinen namenge- Südweststaates gelang mit der Veranke- Territorien, Deutschordensgebiete und benden Ausgangsbestandteil. Württem- rung des Art. 118 im neuen Grundgesetz Ritterschaften sowie eine Vielzahl Freier berg wurde auf diese Weise zum König- der Bundesrepublik Deutschland, der ab- Reichsstädte. Größere Gebiete umfaßten reich befördert, Baden zum Großherzog- weichend von der komplizierten Prozedur lediglich die Kurpfalz (Residenzstadt Hei- tum. des Art. 29 ein vereinfachtes Verfahren delberg bzw. Mannheim), käseartig Als Anachronismus überlebten lediglich zur Länderneugliederung im Südwesten durchlöchert, das Herzogtum Württem- die beiden kleinen Fürstentümer Hohen- erlaubte. Strittig war die Prozedur für die berg, einigermaßen zusammenhängend zollern-Sigmaringen und Hohenzollern- im Ausführungsgesetz vorgesehene Volks- im mittleren Neckarraum (Hauptstadt Hechingen, einfach deshalb, weil die da- abstimmung: Sollte die Abstimmung auf Stuttgart), sowie Österreich, sehr zersplit- malige Fürstin von Sigmaringen, Amalie der Grundlage der bestehenden drei tert vom Breisgau um Freiburg bis hin vor Zephyrine, bereits seit vielen Jahren in Länder stattfinden, mit der Aufteilung die Tore Tübingens (Rottenburg) und nach Paris lebte und eine enge Freundin von Jo- Württemberg-Badens in die Stimmbezirke Oberschwaben. Bequem kann man heute sephine Beauharnais war, der Frau Napo- Nordwürttemberg und Nordbaden, wo- bei einer Tageswanderung durch drei ehe- leons. Die Revolution von 1848/49 über- bei dann der Südweststaat als zustande mals quasi-souveräne Gebiete laufen. Eine lebten die Fürstentümer nicht. Seit ihnen gekommen galt, wenn sich die Mehrheit Folge davon ist eine entsprechend hohe die eigenen Untertanen das Fürchten ge- in drei der vier Abstimmungsgebiete Kulturdichte um die ehemaligen geistli- lehrt hatten, dienten die Fürsten den ent- dafür entschied. Oder sollte die Abstim- chen und weltlichen Zentren herum: mit fernten protestantischen preußischen Ver- mung getrennt nach den früheren Län- Kirchen und Klöstern, Schlössern, Resi- wandten ihre Herrschaft an, König Fried- dern Baden und Württemberg stattfin- denzstädten und -dörfern. Diese kleinen rich Wilhelm IV. nahm an, dankbar, nun- den, dann hätte die Bevölkerung der bei- Zentren waren gute Ansatzpunkte auch mehr das Stammschloß seiner Vorfahren den ehemaligen Länder mehrheitlich eine für die Wirtschaftsentwicklung, besonders im Besitz zu haben. Bis nach dem Zweiten Neugliederung bejahen müssen. Entschie- im Falle der Reichsstädte. Das Konzept der Weltkrieg lebten Hechingen und Sigma- den hat sich der Bundesgesetzgeber für Zentralen Orte von Walter Christaller, das ringen als kleinste Landkreise Preußens den ersten Modus, und das Ergebnis fiel überall heute der Landesplanung zugrun- fort, angeschlossen an die Rheinprovinz. entsprechend aus: Nordwürttemberg, de liegt, ist nicht zufällig am Beispiel des Somit reichte Preußen jetzt bis ins Allgäu Nordbaden und Württemberg-Hohenzol- deutschen Südwestens entwickelt wor- und bis in Sichtweite des Bodensees (Ex- lern sprachen sich mehrheitlich dafür, Süd- den. klave Achberg). baden dagegen aus. Damit war das neue Die ehemalige territoriale Zugehörigkeit Pläne, Baden und Württemberg miteinan- Land am 25. April 1952 zustande gekom- ist keine bloße historische Reminiszenz, der zu vereinigen, hat es bereits in der men. Gegner der Südweststaats-Lösung sondern nach wie vor von erheblicher Be- Weimarer Republik gegeben. Für Hohen- rechneten vor, daß eine Abstimmung nach deutung, auch für die politische Kultur. zollern kam eine Aufgabe seiner Existenz den alten Ländern in Baden eine knappe Grenzen umschreiben die obrigkeitlichen überhaupt nur im Rahmen einer Südwest- Mehrheit gegen den Südweststaat erge- Einwirkungsmaßnahmen auf die ehemali- staatslösung in Frage, zu tief war die Ab- ben hätte, sie ließen in der Folge keine gen Untertanen. Von besonderer Bedeu- neigung gegenüber dem benachbarten Ruhe, bis das Bundesverfassungsgericht tung ist dabei die Konfession, die festzule- protestantischen Württemberg. Parteien für den 7. Juni 1970 eine erneute Volksab- gen seit dem Augsburger Religionsfrieden und Verbände hatten teilweise in ihrer Or- stimmung ansetzte, die dann überwälti- von 1555 Sache des Landesherrn war. Die ganisationsbildung eine Südweststaatslö- gend für Baden-Württemberg ausfiel, si- Konfession bestimmt bis zum heutigen sung schon vorwegenommen, auch die cherlich auch Ausdruck der Macht des Fak- Tag sehr stark das Verhalten der Men- NSDAP. tischen. schen, das bekannteste Beispiel ist das Wahlverhalten. Die kurpfälzischen Gebie- Baden-Württemberg entstand Unterschiedliche politische Kulturen te im Norden, die weit in das heutige erst 1952, und zwar unter großen standen im Wege Rheinland-Pfalz hineinreichen, sind calvi- Schwierigkeiten nistisch geprägt. Das bedeutendste prote- Der „Kampf um den Südweststaat“ war stantische Gebiet lutherischer Prägung Das Kriegsende 1945 teilte den südwest- Ausdruck von Antipathien, für die Theo- war das Herzogtum Württemberg, eine deutschen Raum auf zwischen der ameri- dor Eschenburg den Begriff des „Näch- Art Bollwerk des Protestantismus in den kanischen Besatzungszone im Norden und stenhasses“ geprägt hat. Baden und weitgehend katholischen Süden hinein. der französischen im Süden. Der Grenz- Württemberg besitzen eine unterschiedli- Die Landesherren bestimmten aber auch verlauf wurde durch die Autobahn Karls- che politische Kultur, bedingt durch ihre das Erbrecht: ob nur einer alles erbte (An- ruhe – Stuttgart – Ulm bestimmt, die die unterschiedliche Lage im Raum, mehr erbenrecht) oder ob der Besitz gleich- Amerikaner in ihrer Hand behalten woll- noch durch ihre verschiedenartigen Tradi- mäßig unter alle Kinder aufgeteilt wurde ten. Damit waren Baden und Württem- tionen. Das Rheintal ist ein Durchgangs- (Realteilung). Die Kurpfalz und das Her- berg jeweils zweigeteilt. Auf amerikani- land, offen für die vielfältigsten Einflüsse, zogtum Württemberg sind die klassischen scher Seite entstanden so das Land Würt- die nicht zuletzt auch über den Rhein von Realteilungsgebiete, was man sich hier temberg-Baden mit der Hauptstadt Stutt- Frankreich herüberkamen. So ist es kaum wegen der größeren Ertragskraft der gart, auf französischer Württemberg-Ho- ein Zufall, daß 1848/49 in Baden die einzi- Böden auch eher leisten konnte. In fast henzollern (Hauptstadt Tübingen) und ge erfolgreiche Revolution in Deutschland allen anderen Gebieten (Hohenlohe, Baden (Hauptstadt Freiburg). Keines die- stattfand, genauso wenig, daß der Gour- Schwarzwald, Oberschwaben) galt das ser Länder wollte so bestehen bleiben. Es metführer Guide Michelin für Baden mit Anerbenrecht. stellte sich allerdings die Frage, ob man Abstand die meisten Sterne aufweist. Die den Vorzustand wiederherstellen wollte zu Baden gekommenen Territorien wie- (was mit Hohenzollern nicht ging, weil Preußen aufgehört hatte zu existieren) oder ob man gleich an eine große Süd-

6 Baden-Württemberg sen nicht die rigide, protestantisch inspi- Voraussetzungen für den Eintritt in die In- Unterhalb einer badischen und württem- rierte Arbeitserziehung wie in Altwürt- dustriegesellschaft, die hier jedoch später bergischen regionalen politischen Kultur temberg auf. In Baden kann man das erst im großen Stil einsetzte: in erster Linie liegen viele andere politische Kulturen, Leben genießen, das fällt in Württemberg sicherlich auch wegen der fehlenden eige- die man sich als geologische Gemengela- schwerer. Die Württemberger (meist als nen Energie- und Rohstoffquellen. Wegen ge vorzustellen hat, wobei frühere politi- „Schwaben“ bezeichnet) gelten dafür als fehlender Transportwege konnte auch die sche Grenzen die Schichten markieren. So tüchtiger, denen nicht nur die Bibel, son- Kohle für den Betrieb von Dampfmaschi- weist in Württemberg das fränkische Ho- dern auch das Sparbuch heilig ist. Dage- nen erst vergleichsweise spät ins Land ge- henlohe eine ganz andere regionale poli- gen haben viele Badener eine ausgespro- langen. Es gab aber eben auch mentale tische Kultur auf, mit einem weniger rigo- chene Phobie entwickelt, die auch nach Hindernisse: Wer nur über einen kleinen rosen Protestantismus, mit einem großzü- fast 50 Jahren des Zusammenlebens immer wieder hervorbricht, nicht nur in der Unzahl gehässiger Schwabenwitze, denen auf der anderen Seite keine Ba- denerwitze entgegenstehen. Tief geprägt hat Baden im 19. Jahrhundert ein Kultur- kampf zwischen (liberalem) Staat und (ka- tholischer) Kirche, der dem preußischen vorausging und nirgendwo so heftig tobte wie hier. Protestantischer Monarch und seine liberale Beamtenschaft standen einer Bevölkerung gegenüber, die zu zwei Dritteln katholisch war. Die Protestanten und Liberalen konzentrierten sich eher in den Städten und im kurpfälzischen Raum. Vom Kulturkampf her sind in Baden die parteipolitischen Scheidelinien, ja Partei- politik überhaupt und der Stil politischer Auseinandersetzung stärker ausgeprägt als in Württemberg, das einen Kultur- kampf so gut wie nicht kannte. Das Herzogtum Württemberg war im Ver- gleich zum badischen Raum ein eher ab- gekapseltes Gebiet, von Gebirgen umge- ben. Die eingeschlossene Kessellage der Hauptstadt Stuttgart ist gleichsam sym- ptomatisch. Fremde Ideen hatten es schwerer, hier einzudringen. Obrigkeitlich wurde hier, gestützt auf einen rigorosen Protestantismus, eine über Jahrhunderte währende Arbeitserziehung von Fleiß und Disziplin betrieben, die dem Land den An- strich eines Überwachungsstaates gab. Träger waren nicht nur, nicht einmal in er- ster Linie, der Herzog selbst und seine Ver- waltung, sondern vor allem die bürgerli- chen Eliten, die untereinander verbunden waren durch Verwandtschaft, Ausbildung und Erziehung, ganz gleich ob sie in der Karlsruhe, die alte Landeshauptstadt Badens ist als Residenzstadt der Markgrafen von Verwaltung, in der Kirche, im Erziehungs- Baden-Durlach auf dem Reißbrett mit Lineal und Zirkel entstanden. wesen oder in der kommunalen Selbstver- Foto: Landesbildstelle Baden. Freigegeben vom Regierungspräsidium Karlsruhe waltung tätig waren. Es war ein eher ega- litäres Land, gestützt auf den (durch die Besitz verfügt, will ihn nicht gefährden, ist gigerem Gehabe in diesem reichen Bau- Realteilung bedingt) kleinen Besitz, die risikoscheu. Geld zu investieren, das man ernland (Anerbengebiet), das seine Mast- Oligarchie der bürgerlichen „Ehrbarkeit“ nicht selbst verdient, sondern ausgeliehen ochsen bis Paris exportierte, mit seinem hob sich wirtschaftlich kaum davon ab, hatte, galt als unsolide und gefährlich. In weit verzweigten Herrscherhaus, das Adel gab es in diesem Land überhaupt Hinblick auf die Verbindung von Innova- einen beinahe täglich in Kontakt mit des- nicht. Angesichts der vielen kleinen selb- tionsbereitschaft und Scheu vor struktu- sen Angehörigen brachte, woraus bis zum ständigen Existenzen, deren Grund und rellen Neuerungen, die als Experimente heutigen Tage sich ein Stil der „zweideuti- Boden keine großen Sprünge erlaubten, wahrgenommen werden, läßt sich als gen“ Rede erhalten hat: Man sagt deut- machten Fleiß und Disziplin durchaus Mentalitätsmerkmal – auch in bezug auf lich seine Meinung, aber hintenherum. Sinn, waren für jedermann einsehbar. Da die Wirtschaftsgesinnung – für heute for- Oberschwaben, der südliche Teil Würt- man zumeist nicht von dem ausschließlich mulieren, zugespitzt natürlich: High Tech tembergs zwischen Donau und Bodensee, leben konnte, was die Landwirtschaft her- und CDU. bayerischer und badischer Grenze, ist gab, sah man sich ständig nach anderen Doch Parteipolitik wird in Württemberg weitgehend ein katholisches Land, mit Verdienstmöglichkeiten um. Flexibilität traditionell sehr klein geschrieben, erklär- einem reichen, selbstbewußten Bauern- im Denken und Handeln sowie Erfin- bar aus der egalitären Tradition und dem tum, vielen Reichsstädten, Abteien und dungsreichtum waren gefragt, um die ei- fehlenden Kulturkampf. So herrschen in weltlichen Herrschaften. Über die Jahr- gene Lebenssituation zu verbessern. So den Gemeinderäten die Freien Wähler hunderte hinweg standen die Bauern entstand der schwäbische „Tüftler“. Ins- vor, die landesweit 42,7% der Sitze in- selbstbewußt ihren Herren gegenüber, gesamt waren das alles hervorragende nehaben. Selbst in einer Großstadt wie trotzten ihnen Herrschaftsverträge ab, die Stuttgart sind sie vertreten. Daß mehr als Rechte und Pflichten sauber von einander die Hälfte aller Bürgermeister in Baden- Württemberg insgesamt parteilos ist, paßt ebenfalls ins Bild.

Baden-Württemberg 7 abgrenzen. Aus eigener Initiative setzten Die Verbände orientieren sich jedoch man die Großstadtgrenze erst bei 200 000 sie den Prozeß der „Vereinödung“ in- nach wie vor an den alten Grenzen, das Einwohnern an – wofür zumindest nach gang, eine Reform der Agrarstruktur, die gilt für die Tarifgebiete der Branchen, für der Gemeindereform einiges spricht –, zu Aussiedlung und Arrondierung der Be- die landwirtschaftlichen Verbände, aber dann kennt Baden-Württemberg mit triebe führte. So lag der Hof dann vielfach auch für den Sport. Besonders zäh halten Stuttgart, Mannheim, Karlsruhe und Frei- inmitten des eigenen Besitzes, was nicht die Kirchen an den alten Grenzen von burg nur vier Großstädte. Die Landes- nur betriebswirtschaftliche Vorteile brach- Baden und Württemberg fest. Auf evan- hauptstadt Stuttgart ist mit 585 000 Ein- te, sondern auch die Konflikte mit den gelischer Seite hat das Gründe, die in der wohnern die größte. Zur Bewältigung der Nachbarn minimierte.Eine Liberalität des Kirchenordnung und Liturgie liegen, aber Probleme im Stadt-Umland-Bereich, die Leben und Lebenlassens konnte sich so auch in der inhaltlichen Ausrichtung insbesondere im Großraum Stuttgart herausbilden, die sich deutlich vom Le- (Württemberg lutherisch mit starker pie- drängend sind, ist 1994 eine dritte Ebene bensstil im engeren, besitzmäßig ver- tistischer Akzentuierung); auf katholi- geschaffen worden: der Verband Region schlungenen Leben im altwürttembergi- scher Seite bestehen die Unterschiede in Stuttgart, bestehend aus Nachbarstädten schen Dorf mit seiner Realteilung unter- der kirchenpolitischen Einordnung zwi- und -kreisen. Die 87 Mitglieder der Ver- schied. Als nach der Einverleibung ins Kö- schen der Erzdiözese Freiburg und der bandsversammlung sind zusammen mit nigreich Württemberg hier durch die Diözese Rottenburg-Stuttgart. Auch das den Gemeinde- und Kreisräten direkt ge- neuen Beamten und Schulmeister der alt- umfangreiche und differenzierte kirchli- wählt worden. Strittig sind gegenwärtig württembergische way of life verbindlich che Vereinswesen ist somit organisato- noch der Status des Verbandes, Finanzaus- gemacht werden sollte, bildete sich eine risch nach wie vor am alten Gebietsstand stattung (bislang im Umlageverfahren fi- eigene oberschwäbische Mentalität her- orientiert. Das heißt: Badische Landeskir- nanziert) sowie der Umfang der Kompe- aus, deren einigendes Band die katholi- che (mit Bischofssitz in der alten badi- tenzen. sche Konfession als das Unterscheidungs- schen Hauptstadt Karlsruhe) für das alte merkmal abgab, organisatorisch verstärkt Land Baden, Württembergische Landes- Die Verfassung ist am Grundgesetz durch das sich bildende katholische Ver- kirche für das alte Land Württemberg orientiert eins- und Verbandswesen einschließlich einschließlich Hohenzollern (bis 1950 der katholischen Partei, des Zentrums, das gehörte Hohenzollern zur Rheinischen Die Verfassung des neu gegründeten Lan- hier nach dem Zweiten Weltkrieg erfolg- Landeskirche innerhalb der Altpreußi- des Baden-Württemberg wurde am 11. reich von der CDU beerbt werden konnte. schen Union) bzw. Erzdiözese Freiburg 11. 1953 verabschiedet, also deutlich nach für Baden und Hohenzollern sowie Bis- der Verabschiedung des Grundgesetzes. Die Neugliederung der Verwaltung tum Rottenburg-Stuttgart für Württem- Entsprechend nimmt die Landesverfas- versuchte, die historischen Bestand- berg. Mithin können die alten Länder sung auf das Grundgesetz Bezug, verzich- teile zu verzahnen Baden, Württemberg und Hohenzollern tet auf einen eigenen Grundrechtsteil und trennscharf nur noch auf den aktuellen hat die Stellung des Ministerpräsidenten Nach der Gründung des Südweststaates kirchlichen Verwaltungskarten ausge- der des Bundeskanzlers nachempfunden, 1952 orientierte man sich bei der verwal- macht werden. mit Richtlinienkompetenz und konstruk- tungsmäßigen Gliederung des Landes Die Kreis- und Gemeindereform, in tivem Mißtrauensvotum im Rahmen ei- streng an der historischen Ausgangslage. Baden-Württemberg 1973 bzw. 1975 ab- nes einkammerigen parlamentarischen Das Vorgängerland Baden wurde zum Re- geschlossen, veränderte die Verwaltungs- Systems. In der Auswahl seiner Minister ist gierungsbezirk Südbaden mit der Haupt- karte vollständig. Die Zahl der Landkreise der Ministerpräsident rechtlich gesehen stadt Freiburg, dessen Regierungspräsi- wurde von 63 auf 35 verringert, die Zahl frei, er braucht allerdings für das Kabinett dent konnte so zum Sachwalter südbadi- der Stadtkreise blieb mit neun konstant als solches die Zustimmung des Parla- scher Belange in Stuttgart werden. Der (Mannheim, Heidelberg, Karlsruhe, Ba- ments. Anders als der Bundesregierung badische Teil des Ausgangslandes Würt- den-Baden, Pforzheim, Freiburg, Heil- können der Landesregierung auch Staats- temberg-Baden wurde zum Regierungs- bronn, Stuttgart, Ulm). Die Zahl der selb- sekretäre und Staatsräte (ohne Geschäfts- bezirk Karlsruhe, der bis nach Wertheim ständigen Gemeinden reduzierte sich auf bereich) angehören, beide mit oder ohne am Main sich erstreckte.Der württember- ein Drittel, nämlich von 3 384 auf 1 111 Stimmrecht, wobei die Zahl der Staatsse- gische Teil nannte sich Regierungsbezirk (einschließlich des gemeindefreien Ge- kretäre nicht mehr als ein Drittel der Zahl Nordwürttemberg mit der Hauptstadt biets Gutsbezirk Münsingen). Diese kom- der Minister betragen darf. Seit 1972 sind Stuttgart. Und das Vorgängerland im munale Gebietsreform ignorierte völlig Politische Staatssekretäre zur Entlastung Süden wurde zum Regierungsbezirk Süd- die historischen Zugehörigkeiten. In man- der Minister hinzugekommen, die nicht württemberg-Hohenzollern mit der chen Kreisgebieten vermischen sich nun- Mitglied des Kabinetts sind (gleichwohl an Hauptstadt Tübingen. Der Zuständigkeits- mehr badische, württembergische und dessen Sitzungen teilnehmen). Beamtete bereich der Sonderbehörden wurde dem hohenzollerische Bestandteile. Manche Staatssekretäre kennt Baden-Württem- angepaßt (z. B. die Oberschulämter). Im neuen Gemeinden gar sind aus ehemals berg in der Regel nicht, höchster Beamter Zuge der territorialen Verwaltungsreform badischen und württembergischen Ge- eines Ministeriums ist der Ministerialdirek- der 60er Jahre wurden auch die Regie- meinden zusammengesetzt. So wächst in tor. Nur in Ausnahmefällen – wie im rungsbezirke gleichmäßiger und „rationa- der Gemeinde Eppingen sowohl Würt- Staatsministerium, der Kanzlei des Mini- ler“ zugeschnitten, zudem mit der politi- temberger als auch Badischer Wein. Das sterpräsidenten – wird der oberste Beam- schen Absicht, die historischen Grenzen markanteste Beispiel stellt jedoch Villin- te in den Rang des Staatssekretärs erho- von Württemberg und Baden aufzuhe- gen-Schwenningen dar: Beide Städte, ben. Mithin gibt es drei Kategorien von ben, die Ausgangsbestandteile miteinan- wiewohl benachbart, gehören ganz ver- Staatssekretären: den mit Kabinettsrang der zu verzahnen, um sie besser zusam- schiedenartigen historischen und poli- (mit und ohne Stimmrecht), den Politi- menwachsen zu lassen – was freilich bis tisch-kulturellen Räumen (einschließlich schen Staatssekretär als Ministergehilfe zum heutigen Tage nicht gelungen ist. Ho- Konfessionsverschiedenheit) an, bis zum und den Ministerialdirektor de luxe. Von henzollern verschwand sogar völlig von heutigen Tage ist diese neue Stadt nicht der Möglichkeit, Staatssekretäre zu beru- der Verwaltungskarte. So nennen sich zusammengewachsen. Nach wie vor ist fen, wird nicht zuletzt Gebrauch gemacht, seitdem die Regierungsbezirke nur noch Baden-Württemberg ein Land der kleine- um die Regierungsfraktion(en) zu diszipli- nach dem Verwaltungssitz: Stuttgart, Tü- ren und mittleren Gemeinden: rund 80% nieren. Minister müssen nicht Mitglied des bingen, Karlsruhe, Freiburg. haben bis zu 10 000 Einwohner. Dem ste- Landtags sein, immer wieder wurde hen lediglich neun Großstädte mit über davon Gebrauch gemacht, qualifizierte 100 000 Einwohnern gegenüber (das sind Außenseiter zu berufen, jüngstes Beispiel die genannten Stadtkreise außer Baden- ist die Kultusministerin Dr. Annette Scha- Baden und Pforzheim, hinzu kommen dafür Esslingen und Reutlingen). Setzt

8 Baden-Württemberg van. Auffällig ist, daß immer wieder Bür- cher Versuch erst einmal unternommen Die Gewichte im Parteiensystem sind Aus- germeister in die Führungspositionen des worden, und zwar von Gegnern der kom- fluß der politischen Kultur. In einem tradi- Landes gekommen sind: so der gegenwär- munalen Gebietsreform 1971; sie sind tionell organisationsfeindlichen Gebiet tige Ministerpräsident Erwin Teufel (wie kläglich gescheitert. Seit 1974 gibt es wie Altwürttemberg, in dem persönliche schon sein Vorgänger Lothar Späth), In- zudem die Möglichkeit der Volksgesetz- Bindungen mehr zählen als straffe Orga- nenminister Dr. Thomas Schäuble, Finanz- gebung (Art. 59/60): Ein Sechstel der nisation, zudem mit einem ausgeprägten minister Gerhard Stratthaus, sowie der Wahlberechtigten kann ein solches Volks- religiösen Hintergrund, hat es eine zen- Vertreter des Landes beim Bund Willi begehren einleiten. Macht der Landtag tralistische und organisationsgläubige Stächele. sich den entsprechenden Gesetzesentwurf Partei wie die SPD von vornherein schwer. Der Landtag besteht aus 120 Mitgliedern, nicht zu eigen, wird er in einer Volksab- Hinzu kommt die Skepsis eines Realtei- im Regelfall zumindest. 70 Abgeordnete stimmung Gesetz, wenn die Mehrheit ein lungsgebietes gegen alle gesellschaftli- werden in Einer-Wahlkreisen direkt ge- Drittel der Wahlberechtigten ausmacht. chen Umgestaltungsansprüche. Ein Groß- wählt, die übrigen werden entsprechend Auf Verlangen von einem Drittel der teil der Arbeiter sind von Hause aus Ar- dem proportionalen Ergebnis ihrer Partei- Landtagsmitglieder kann die Regierung beiterbauern und Pendler, die in ihrer en aus dem Kreis der Wahlkreisbewerber ein bereits beschlossenes Gesetz zur Volks- dörflichen Umgebung sich nicht zuletzt genommen, die absolut die besten Stimm- abstimmung vorlegen. Ähnliches gilt für von ihrem kleinen Besitz her definieren. ergebnisse erzielt hatten (Prinzip des „eh- ein Gesetz, das vom Landtag eingebracht So paßte die CDU besser zur politischen renvollst Unterlegenen“). D. h. es gibt worden ist. Bislang hat es in Baden-Würt- Kultur des Landes und konnte leichter die keine Landeslisten – was den Parteien die temberg jedoch keinen einzigen Fall von ursprünglich starken Liberalen beerben. Fraktionsplanung erschwert. Bei diesem Volksgesetzgebung gegeben. Die SPD sank bei der letzten Landtags- Verfahren kann es Überhangmandate Das Schwergewicht der Parlamentsarbeit wahl mit 25,1% auf einen historischen geben, wenn eine Partei mehr Kandida- hat sich, wie in den anderen Ländern Tiefpunkt. Zu beachten ist allerdings, daß ten in der Direktwahl durchgebracht hat, auch, auf die Verwaltungskontrolle verla- der badische Landesteil ein sehr viel „nor- als ihr vom Gesamtergebnis prozentual gert, nachdem die großen landespoliti- maleres“ Wahlverhalten zeigt, das sich zustehen. Dafür erhalten die anderen Par- schen Gesetzgebungsvorhaben wie Bil- viel stärker an den sozialstrukturellen Ge- teien dann Ausgleichsmandate, damit die dungsreform, kommunale Gebietsreform gebenheiten (einschießlich Konfession) Gesamtproportionen wieder stimmen. und Mediengesetzgebung abgeschlossen orientiert. Auf diese Weise wächst der Landtag leicht sind. über die Regelzahl hinaus, so nach der Starke Bürgermeister, mehr direkte Wahl von 1996 auf 155 Mitglieder! Baden- Die CDU als dominierende Partei Einwirkungsmöglichkeiten der Württemberg hält am Modell des Teilzeit- Bürger parlamentariers fest, nur wenige Abge- Für das Parteiensystem Baden-Württem- ordnete sind Berufspolitiker. Der sozialen bergs ist charakteristisch: die Dominanz Die baden-württembergische Kommunal- Zusammensetzung nach sind ca. 60% An- der CDU, die relative Schwäche der SPD politik ist durch starke Bürgermeister ge- gehörige des öffentlichen Dienstes, ca. trotz einer für sie günstigen Sozialstruktur kennzeichnet sowie durch mehr direkte 20% sind Selbständige und Freiberufler, (Arbeiter- und Protestantenanteil), eine Beteiligungsmöglichkeiten der Bürger ca. 20% sind Angestellte. Der Akademiker- vergleichsweise starke FDP (Baden-Würt- von Anfang an. anteil ist mit rund 70% sehr hoch, der temberg gilt als „Stammland der Libera- Die Macht des Bürgermeisters ist zunächst Frauenanteil mit rund 16,77% gering, bei- len“), die frühe Behauptung der GRÜNEN eine Folge der Kompetenzballung: Der des mit charakteristischen Abweichungen (seit 1979 im Landtag). Bürgermeister ist zugleich stimmberech- nach Fraktionen: So haben die GRÜNEN Von Dr. (FDP/DVP), dem tigter Vorsitzender des Gemeinderats und sowohl den höchsten Akademiker- als ersten Ministerpräsidenten, abgesehen, aller seiner Ausschüsse, Chef einer mono- auch den höchsten Frauenanteil. Das der eine Koalition gegen die CDU aus kratisch strukturierten – also auf ihn zuge- hohe Durchschnittsalter (ca. 50 Jahre) FDP/DVP, SPD und GB/BHE zustande ge- spitzten – Verwaltung sowie Repräsentant macht deutlich, daß politische Karrieren bracht hatte (1952/53), gehörten alle Mi- und Rechtsvertreter der Gemeinde nach langfristig angelegt werden müssen. nisterpräsidenten der CDU an: Dr. Geb- außen. Hinzu kommt die direkte Wahl des Bislang ist die Landesverfassung nur hard Müller (1953–58), Dr. Kurt Georg Kie- Bürgermeisters durch das Volk, die unab- 17mal geändert worden (das Grundgesetz singer (1958–1966), Dr. hängig von der Ratswahl stattfinden muß. 43mal), teilweise zur Stärkung des Land- (1966–1978), Lothar Späth (1978–1991), Die Amtsperiode beträgt acht Jahre, ist tags. So wurde das Petitionsrecht verbes- Erwin Teufel (seit 1991). Von 1972 bis 1992 also bedeutend länger als die des Rates sert (z. B. Aktenzugang auch ohne Ein- konnte die CDU sogar mit absoluter Mehr- mit fünf Jahren. Kandidieren dürfen schaltung der jeweiligen Ministeriumsspit- heit allein regieren. 1966 bis 1972 und zudem nur Einzelpersonen, Parteienvor- ze, Art. 35a), Verwandlung des Notstands- dann wieder von 1996 kannte das Land schläge sind ungültig. Kein Wunder, daß rechts von der Stunde der Exekutive zur eine Große Koalition, ansonsten regierte die Hälfte aller Bürgermeister parteilos ist, Stunde der Legislative (Art. 62), Stärkung die CDU mit der FDP/DVP. Die immer wie- die anderen haben ein eher instrumentel- der Untersuchungsausschüsse (z. B. strik- der aufgetretene Notwendigkeit von Ko- les Verhältnis zu den Parteien. Mit anstei- tes Verbot, den Untersuchungsgegen- alitionen hat verhindert, daß die Beam- gender Gemeindegröße erhöht sich der stand gegen den Willen der Minderheit tenschaft ebenfalls dominiert ist. Anteil der Parteimitglieder, vor allem weil abzuändern, Art. 34 und 35), Mitsprache Obwohl die CDU des Landtags fast immer sie im Wahlkampf auf die organisatori- des Landtags in Fragen der Europäischen Regierungsfraktion gewesen ist, hat sie sche und finanzielle Unterstützung durch Union (Stellungnahme des Landtags in sich zumindest in den letzten Jahrzehnten Parteien angewiesen sind. Es kommt aber Fragen von „herausragender politischer stets auch als Gegengewicht zur Regie- durchaus vor, daß Kandidaten einer Min- Bedeutung“ und wenn „wesentliche In- rung verstanden. Die Fraktionsführer seit derheitspartei am Ort zu Bürgermeistern teressen des Landes unmittelbar“ berührt Lothar Späth profilierten sich gegen den gewählt werden, weil sie als Persönlich- werden; wenn dadurch die Gesetzgebung eigenen Ministerpräsidenten, um ihn ab- keit überzeugen oder weil die Wähler ein des Landes betroffen wird, „berücksich- lösen zu können, wenn er in Schwierigkei- Gegengewicht haben wollen (auch im tigt die Landesregierung die Stellungnah- ten geraten war. Sinne einer „Filzbremse“). me des Landtags“, Art. 34a). Regieren können Bürgermeister einer Die Verfassung Baden-Württembergs Minderheitspartei nicht zuletzt deshalb, kennt auch direktdemokratische Elemen- weil die Gemeinderäte ein differenzier- te: So kann der Landtag durch Volksab- teres Parteiensystem als bei Bundestags- stimmung aufgelöst werden, wenn ein und Landtagswahlen aufweisen bzw. Sechstel der Wahlberechtigte es verlangt weil sie weitgehend ihren Honoratioren- und die Mehrheit der Stimmberechtigten charakter wahren konnten. In einer Stadt dem beitritt (Art. 43). Bislang ist ein sol-

Baden-Württemberg 9 wie Reutlingen z. B. – mit 106 000 Ein- Mehrheit aus, sie muß gleichzeitig 30% Die Landwirtschaft ist – wie überall in wohnern eine der neun Großstädte des der Abstimmungsberechtigten ausma- Deutschland – nur noch von geringer wirt- Landes –, die bei Bundes- und Landtags- chen). Übersehen werden sollte jedoch schaftlicher Bedeutung, auch wenn sie das wahlen mehrheitlich CDU wählt, umfaßt nicht, daß die Existenz des Instruments al- Bild des Landes immer noch stark prägt der Gemeinderat Mitglieder folgender lein schon Kommunalpolitik verbessern und im Bereich der Sonderkulturen Erheb- acht Gruppierungen: CDU und eine mag, weil es die gewählten Vertreter liches zur Bekanntheit des Landes Abspaltung der CDU, SPD und eine Ab- zwingt, nah am Bürger zu entscheiden, beiträgt: Badischer und Württemberger spaltung der SPD, Freie Wähler, GRÜNE, um keinen Bürgerentscheid heraufzube- Wein, Schwetzinger und Bruchsaler Spar- Freie Frauenliste, FDP. Das kommunale schwören. – Auch im Fall von Bürgerbe- gel, Obst und Obstbrände (Schwarzwälder Wahlrecht, das die Möglichkeiten zur gehren und Bürgerentscheid sind inzwi- Kirsch), Sauerkraut (von den Fildern ober- Stimmenhäufung (kumulieren) und zum schen alle Flächenstaaten dem baden- halb Stuttgarts), Tettnanger Hopfen, All- Listenwechsel (panaschieren) zuläßt, württembergischen Beispiel gefolgt, aller- gäuer Käse. begünstigt die Profilierung Einzelner dings zum Teil mit großzügigeren Rege- Mit der Branchenstruktur allein wäre die und prämiert Abspaltungen. Die Wähler lungen, was das Zustimmungsquorum Wirtschaft des Landes jedoch nur sehr un- kumulieren und panaschieren vorzugs- und die Entscheidungsgegenstände an- vollkommen beschrieben. Eine Fülle von weise solche Kandidaten, die in der Ge- geht. Markenprodukten, weit in der Welt be- meinde etwas sind und etwas gelten. Das kannt, kommt aus dem Land. Gerade die sind die Angehörigen angesehener Fami- Der Reichtum des Landes sind nicht für das Land so typischen mittelständi- lien und Berufe, aber auch Vereinsvorsit- Bodenschätze und Energiequellen, schen Betriebe, häufig im Familienbesitz zende. Parteifunktionäre, die keine wei- sondern seine Menschen und vom Erfindungsreichtum ihrer Besit- teren Qualifikationen vorzuweisen zer lebend, sind es, die sich mit ihren haben, werden nicht gewählt. Die Listen- Über nennenswerte Bodenschätze und Produkten einen Namen gemacht haben: macher von Parteien und Wählervereini- Energiequellen verfügt das Land nicht. so etwa Reisebusse von Neoplan und gungen wissen das und nominieren ih- Erst die Transportierbarkeit von Energie Setra, Wohnwagen von Dethleffs und rerseits im Konkurrenzkampf vorzugs- (Kohle per Schiff und Bahn; Elektrizität) Hymer, Baumaschinen, Kräne, aber auch weise allseits bekannte und beliebte Per- machte in Baden-Württemberg eine Indu- Kühlschränke von Liebherr, Bizerba-Waa- sönlichkeiten als Stimmenfänger, so daß strialisierung möglich, in Baden früher gen, Grohe-Sanitärarmaturen, Hartmann- der genannte Effekt sich verdoppelt. (Rhein), in Württemberg später. Den wirt- Watte, Triumpf-Miederwaren und Wä- Auch in Gemeinden, in denen nur die schaftlichen Reichtum Baden-Württem- sche, Boss-Anzüge, Salamander-Schuhe, Bundestagsparteien vertreten sind, ist bergs machen jedoch seine Menschen aus, Junghans-Uhren, Steiff-Tiere, Märklin- dieses Auswahlverhalten schon bei Auf- durch ihren hohen Ausbildungsstand, Modelleisenbahnen und -Baukästen, stellung der Listen zu beobachten, weil mehr noch durch ihre Arbeitsmentalität, UHU-Alleskleber, WMF-Bestecke, aber die Gefahr einer weiteren Konkurrenz die wiederum Ausfluß einer spezifischen auch Sauerkonserven und Senf von Heng- potentiell immer vorhanden ist. Mit sol- politischen Kultur ist. Die Industriestruk- stenberg. Maggi und Knorr sind allerdings chen Gemeinderäten kann auch ein par- tur ist entsprechend dezentralisiert, zuge- Töchter Schweizer Konzerne. Viele kleine, teiloser Bürgermeister oder einer der spitzt formuliert: Jedes Dorf hat sein „Fa- dem breiten Publikum unbekannte, aber Minderheitspartei am Ort in der Regel brikle“. Die Produktpalette ist ausgespro- für die Produktion unverzichtbare Pro- mühelos kooperieren. chen vielfältig, bestimmt durch Know- dukte kommen aus dem Land, oftmals mit Die starke Stellung des Bürgermeisters how, Erfindungs- und Einfallsreichtum, In- einer monopolartigen Stellung. So etwa schafft klare Verantwortlichkeiten. Er novaton. Baden-Württemberg steht nicht im Bereich der Meß- und Regeltechnik. kann sich hinter niemanden verstecken, zufällig an der Spitze bei den Patentan- Und wer hätte gedacht, daß nahezu alle und er muß Leistung erbringen, will er meldungen in Deutschland. An erster Stel- Jeanshosen der Welt Lederetiketten tra- wiedergewählt werden. Die Bürger le der Wirtschaftsstruktur rangiert das gen, die aus Isny im Allgäu (oder dessen wählen in der Regel gelernte Verwal- produzierende Gewerbe mit den Bran- nordamerikanischem Tochterunterneh- tungsfachleute (zu 89%!), die aber mehr chen Maschinenbau, Fahrzeugbau (Daim- men) stammen? aufweisen müssen: Bürgernähe und die ler-Chrysler, Porsche, Audi) einschließlich Monostrukturen kennt also die Wirtschaft Fähigkeit, Konzeptionen für die Zukunft Zulieferer (Bosch, ZF = Zahnradfabrik Frie- Baden-Württembergs nicht, dementspre- der Gemeinde zu entwickeln. Unter den drichshafen), Elektrotechnik. Knapp die chend ist sie nicht allzu konjunkturabhän- rund 1030 hauptamtlichen Bürgermei- Hälfte der Wertschöpfung im Lande wird gig, wenngleich inzwischen vom Fahr- stern befinden sich lediglich 12 Frauen, hier erbracht, und jeder zweite Erwerb- zeugbau sehr viele Arbeitsplätze abhän- deren erste 1990 gewählt worden ist stätige gen. Die Arbeitslosigkeit ist entsprechend (Beate Weber als Oberbürgermeisterin ist hier beschäftigt. An zweiter Stelle gering (7,9%). Sehr hoch ist die Exportab- von Heidelberg), nicht zuletzt ein Aus- folgt die Verbrauchsgüterindustrie mit hängigkeit. Der Ausländeranteil beträgt druck überkommener Rollenvorstellun- Textil, Holz-und Kunststoffverarbeitung. Anfang 1999 12,7%. gen. Schwach vertreten ist der Dienstleistungs- Über Jahrzehnte hinweg war Baden- bereich. Politiker beklagten immer Hochschullandschaft Württemberg neben Bayern das einzige wieder, daß keine deutsche Großbank Baden-Württemberg Land, das den volksgewählten Bürgermei- ihren Sitz im Lande hat, und kein Mini- ster kannte. Inzwischen sind alle sterpräsident wird müde, sich um Ban- Baden-Württemberg bietet eine profilier- Flächenstaaten diesem Beispiel gefolgt. kenfusionen im Lande zu bemühen. Die te Hochschullandschaft, der Rohstoffar- Bis in die neunziger Jahre war Baden- Schwierigkeiten liegen auch hier in den mut und der Exportorientierung durchaus Württemberg sogar das einzige Bundes- Gegensätzen zwischen den Landesteilen angemessen. 64 Hochschulen, darunter 10 land, das das Instrument von Bürgerbe- (soll die neue Großbank ihren Sitz im Universitäten, von denen drei – Heidelberg gehren und Bürgerentscheid kannte, mit Badischen oder Württembergischen (die älteste deutsche Universität über- dessen Hilfe sich die Bürgerschaft jeder- haben?). Inzwischen jedoch hat die Poli- haupt, 1386 gegründet), Freiburg, Tübin- zeit direkt in die Kommunalpolitik einmi- tik eine Fusion landes- und gemeinde- gen – zu den ältesten und angesehensten schen kann, und zwar entscheidend. Von eigener Banken zur Landesbank Baden- in Deutschland gehören, 34 allgemeine dieser Möglichkeit wird allerdings nur sel- Württemberg zustande gebracht, die am Fachschulen, 5 Verwaltungsfachhochschu- ten Gebrauch gemacht, sicherlich auch 1. 1. 1999 ins Leben trat. len, 6 Pädagogische Hochschulen, 8 Kunst- eine Folge der restriktiven Regelungen (z. hochschulen, 1 Theologische Hochschule. B. reicht bei der Abstimmung nicht die Zwei private Universitäten sind in Planung, eine davon, nämlich in Bruchsal, auch be- reits eröffnet. Hinzu kommen als weitere Einrichtungen des tertiären Bildungssek- tors acht Berufsakademien, die in beson-

10 Baden-Württemberg derer Weise Studium und Berufspraxis mit- gen, Badische Zeitung (Freiburg), Badi- Baden-Württemberg ist mit weitem Ab- einander verknüpfen (außer Baden-Würt- sche Neuesten Nachrichten (Karlsruhe), stand das Fachpresseland Nr. 1 in Deutsch- temberg nur noch in Berlin und Sachsen). Stuttgarter Zeitung, Schwarzwälder Bote land (mit einem Umsatz von 45,7%). So- In der Bildungspolitik allgemein, in der (Oberndorf am Neckar), Südkurier (Kon- wohl der Zahl der Verlage (472 = 17%) als Schulpolitik im besonderen, gehört Baden- stanz). Hinzu kommen die beiden Man- auch den erwirtschafteten Umsätzen Württemberg mit Bayern zusammen zu tellieferanten Südwestpresse (Ulm) und (29,5%) nach ist Baden-Württemberg den eher konservativen Ländern. Seit eh Stuttgarter Nachrichten, die damit die auch das Buchland Nr. 1. Mehr als jedes und je besteht hier Zentralabitur. Inzwi- höchsten Auflagen im Land insgesamt in- fünfte neue Buch kommt aus Baden- schen kann man hier das Abitur bereits nehaben. In der Landeshauptstadt Stutt- Württemberg. Im Multimedia Bereich nach acht Jahren machen. gart konkurrieren die Stuttgarter Zeitung nimmt das Land vor Hessen, der Schweiz und die Stuttgarter Nachrichten mitein- und Bayern – gemessen an Umsatz, Pro- Die immense Kulturdichte ist ander, die aus dem selben Verlag kom- Kopf-Umsatz und Wachstum – den ersten auch eine Folge der historischen men und eine gemeinsame Anzeigen- Platz im deutschsprachigen Raum ein. Zersplitterung und Vertriebsabteilung haben. Ansonsten sind lokale und regionale Monopole für Das Wappen: Die dezentrale Struktur des Landes als das Land charakteristisch. Typisch für Erbe der historischen Zersplitterung hat Baden-Württemberg ist, daß es keine Das Drei-Löwen-Wappen ist dem Wappen eine immense Kulturdichte zur Folge. Das „Landeszeitung“ gibt (wie etwa in Bay- der Staufer nachempfunden, die bis 1268 betrifft nicht nur das vorzeigbare Erbe in ern die Süddeutsche Zeitung), die überall Herzöge Schwabens waren. Form von Baudenkmalen aller Stilrichtun- verbreitet, vielleicht sogar tonangebend Die zwei mittleren Wappen der Wappen- gen: Klöster, Kirchen, Schlösser, liebevoll wäre. Auffällig ist, daß die Zeitungen sich krone repräsentieren die beiden früheren gepflegte Stadtensembles. Die vielen Zen- ziemlich genau an die alten Landesgren- Staaten: Baden mit rotem Schrägbalken tren des Landes bieten viel, auch in Form zen zwischen Baden und Württemberg auf goldenem Grund und Württemberg kultureller Veranstaltungen. Das betrifft als ihrem Verbreitungsgebiet halten. Wo mit drei übereinanderliegenden Hirsch- insbesondere die große Zahl alter Reichs- eine Gemeinde nach der kommunalen stangen. Des weiteren sind noch der städte im Lande. Schlösser und Kirchen Gebietsreform aus badischen und würt- „Fränkische Rechen“ zu sehen, der „Zol- sind Veranstaltungsorte für Konzerte und tembergischen Ortsteilen zusammenge- lernschild“ für die ehemals hohenzolleri- Festspiele. Daß bis zur Gründung des Süd- setzt ist wie Villingen-Schwenningen, schen Gebiete, der goldene Löwe der Kur- weststaates 1952 zwei überkommene wird im einen Stadtteil die badische Zei- pfalz und der österreichische „Brücken- Hauptstädte bestanden, nämlich Karlsru- tung, im anderen die württembergische schild“. Der Hirsch ist Schildhalter früherer he und Stuttgart, hat dazu geführt, daß vorwiegend gelesen. württembergischer, der Greif badischer bestimmte staatliche Kultureinrichtungen In der öffentlich-rechtlichen Rundfunk- Staatswappen. doppelt vorhanden sind: Landesbiblio- landschaft spiegelten sich bis 1998 die Das kleine Landeswappen zeigt nur das thek, Landesmuseum, Staatsgalerie (Stutt- alten Besatzungsverhältnissen nach 1945 Drei-Löwenschild. Anstatt der Wappen- gart) bzw. Staatliche Kunsthalle (Karlsru- bzw. die Länderaufteilung vor der Grün- krone ist eine goldene Blattkrone, auch he), Staatstheater und Staatsoper. Die dung Baden-Württembergs wieder: Die „Volkskrone“ genannt, zu sehen. Stuttgarter Staatsoper wurde von Kriti- ehemalige amerikanische Zone (Nord- Da von Monarchenkronen älterer Staats- kern 1998 zum „Opernhaus des Jahres“ württemberg, Nordbaden) war das Sende- wappen eindeutig verschieden, soll sie die gewählt. Das Ballett gilt als eines der be- gebiet des Süddeutschen Rundfunks Volkssouveränität symbolisieren. sten der Welt, mit einer hohen Beliebt- Stuttgart (SDR), für die französische Zone heit: für eher „verdruckte“, pietistisch ge- (Südbaden, Südwürttemberg-Hohenzol- prägte Altwürttemberger eine Form von lern) war der Südwestfunk Baden-Baden Erotik, die man (und natürlich auch frau) (SWF) zuständig, als Zweiländer-Anstalt sich gestatten kann, weil sie „Kunscht“ ist zudem auch für Rheinland-Pfalz. Nach vie- (Erotik „helinge“ sozusagen). – Kommu- len Anläufen von Seiten der Politik ist es nale Theater als Ausfluß bürgerlichen inzwischen gelungen, zum 1. Januar 1998 Selbstbewußtseins kommen hinzu, von eine einheitliche Zweiländer-Anstalt denen nicht zuletzt das Nationaltheater durch Staatsvertrag zu gründen, deren Mannheim eine große Tradition besitzt. Sendegebiet ganz Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz umfaßt. Sie ist am 30. Eine vielfältige Medienlandschaft August 1998 als Südwestrundfunk (SWR) Literaturhinweise auf Sendung gegangen. Nach dem West- Auch in Hinblick auf die Auflagen der Ta- deutschen Rundfunk ist der SWR damit, Schriften zur politischen Landeskunde Baden- geszeitungen nimmt Baden-Württem- gemessen sowohl an den Gesamtaufwen- Württembergs. Bd. 1–27. Hgg. von der Landes- berg nach Nordrhein-Westfalen und Bay- dungen als auch der Zahl der Beschäftig- zentrale für politische Bildung Baden-Württem- ern den dritten Platz ein. 50% der Haus- ten die zweitgrößte Anstalt innerhalb der berg. Insbes.: Baden-Württemberg. Eine politi- halte werden damit erreicht. Doch die ARD. sche Landeskunde. (Schriften zur politischen Zeitungslandschaft ist hier ausgespro- Im Bereich des privaten Hörfunks gibt es Landeskunde Baden-Württembergs,1). Stuttgart 1996. chen zersplittert. So gibt es insgesamt 17 in Baden -Württemberg drei Bereichssen- Taschenbuch Baden-Württemberg. Gesetze – publizistischen Einheiten mit 64 selbstän- der (Radio Regenbogen, Antenne 1/An- Daten – Analysen. Hg. von der Landeszentrale digen Zeitungsverlagen. Typisch ist die tenne RT 4, Radio 7), 15 Lokalsender und für politische Bildung Baden-Württemberg in mittelgroße Heimatzeitung. Lediglich 14 nichtkommerzielle (z. B. Uni Welle der Verbindung mit dem Statistischen Landesamt neun Zeitungen haben eine Auflage von Universität Tübingen) Veranstalter. Hinzu Baden-Württemberg. Neuausgabe. Stuttgart 1999. über 125 000 Exemplaren. Der Größe kommen fünf private Fernsehanbieter. nach sind das die Schwäbische Zeitung (Leutkirch im Allgäu), Mannheimer Mor-

Anschrift: Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg, Stafflenbergstr. 38, 70184 Stuttgart

Baden-Württemberg 11 Ein Fünftel Deutschlands Scheidelinien und Verbindungslinien

Bayern wird nicht nur durch die Donau Freistaat Bayern geteilt, sondern nördlich von ihr auch durch zwei weitere Scheidelinien: Durch die Grenze des früheren römischen Imperiums, die ihren dramatisch sichtba- ren Ausdruck im Limes fand – bei Weißen- Von Peter März burg erreichte er den heutigen mittelfrän- kischen Raum – und durch die europäische Wasserscheide zwischen Rhein- und Do- naugebiet, die sich über die Höhenlinien der schwäbischen und fränkischen Alb hinzieht. Diese sehr wichtige Grenzlinie Das alpenländische Klischee die mit 2.963 m Seehöhe noch nicht die trennt das wasserreiche Süd- vom wasser- für Hochgebirgsverhältnisse wichtige armen Nordbayern. Durch das große Pro- Bayern, das räumlich größte deutsche Grenze von 3.000 m erreicht. Für das klas- jekt der Überleitung von Donauwasser in Land, macht mit seinem Staatsgebiet von sische Altbayern ist vielmehr ebenso wie den mittelfränkischen Raum und die An- 70.554 km2 19,8% am Territorium der Bun- die Alpen selbst das sich nördlich anschlie- lage des sogenannten mittelfränkischen desrepublik aus, indes nicht einmal 1% an ßende Voralpenland mit einer sehr man- Seengebietes rund 50 km südwestlich von der Fläche Europas insgesamt. Das bayeri- nigfachen, gewellten und von Seen durch- Nürnberg wurde hier in den 80er und 90er sche Staatsgebiet ist in sieben Regierungs- zogenen Landschaft typisch, so das als Jahren ein Ausgleich geschaffen – auch bezirke (zu den Bezirken als kommunale Naherholungsgebiet für den Münchner mit positiven Folgen für die touristische Selbstverwaltungskörperschaften vgl. im Ballungsraum besonders beliebte Fünf- Anziehungskraft dieses relativ strukturar- men Gebietes. Nordbayern ist ein insgesamt vielfach ge- gliederter Raum, gewissermaßen die ver- bindende Klammer zwischen dem westli- chen Mitteleuropa – die Region um Aschaffenburg westlich des Spessarts ist bereits auf den Rhein-Main-Ballungsraum hin orientiert – und dem östlichen Mittel- europa: Die sich an die fränkischen Gebie- te nach Osten anschließende Oberpfalz und die Mittelgebirgslandschaften Nie- derbayerns, nördlich der Donau – der „Bayerische Wald“ – sind, dem böhmi- schen Becken benachbart, schon auf Kon- tinentaleuropa und seine sehr rauhen kli- matischen Verhältnisse hin bezogen. Nach Norden grenzt Nordbayern mit Franken- wald und Fichtelgebirge, im Westen in der Rhön, an das klassische thüringisch-sächsi- sche Mitteldeutschland. Aus dem Württembergischen setzt sich erst eher nach Osten, dann nach Norden umbiegend die geologisch junge Mittel- gebirgsschwelle der Alb fort, auf bayeri- schem Gebiet freilich nicht mehr die Höhenlagen wie in Baden-Württemberg erreichend.

Das Land der Bayern, Franken, Schwaben und Sudetendeutschen

In der historischen Retrospektive ist das Land Bayern alt und jung zugleich: Alt im Zusammenhang mit der Territorial- Garmisch-Partenkirchen vor der Kulisse von Deutschlands höchstem Berg, der Zugspitze. bildung des frühen bayerischen Stammes- Foto: dpa herzogtums, die letztlich bis in die Zeit der Völkerwanderung zurückgeht, jung inso- Teil kommunale Verhältnisse), 25 kreis- Seen-Land südlich der Landeshauptstadt fern, als das heutige Bayern als Staat freie Städte, 71 Landkreise und insgesamt um Starnberger- und Ammersee. Weiter räumlich und administrativ ein Geschöpf 2.056 (Stand 1997) Gemeinden eingeteilt. nach Norden schließen sich die Schotter- der napoleonischen Ära und der damals Die Bevölkerungszahl hat 1996/97 erst- ebene, in der München liegt, und das be- vollzogenen großen territorialen Flurbe- mals in der bayerischen Geschichte die wegte Hügelland der Holledau (Hop- reinigung auf deutschem Boden ist. Zahl von 12 Millionen überschritten. fenanbau!) an, bevor man schließlich die Bayern stellt sich zunächst dar als ein Sied- Von Bayern wird häufig ein rein alpenlän- das Land teilende Donau erreicht, an lungsgebiet von Altbayern – im Süden, disches Klischee mit eisgepanzerten Berg- deren Lauf durch Bayern die drei es in sei- Südosten und Nordosten –, Schwaben, also spitzen, Almen und Wilderern, Lederho- ner Mitte mit strukturierenden Städte In- Alemannen, im Südwesten und Franken im sen und Dirndln, einem melodischen Zu- golstadt, Regensburg und Passau liegen. Norden und Nordwesten. Seit den 50er Jah- sammenklang von Jodeln und Kuh- Die beiden südlichen bayerischen Stäm- ren unseres Jahrhunderts werden ferner die glocken vermittelt. Dabei gehört in Wirk- me, Schwaben und Altbayern, dehnen nach dem Zweiten Weltkrieg aus Böhmen lichkeit nur ein schmaler Streifen des sich mit ihrer Mundart über die Donau und Mähren vertriebenen Sudetendeut- bayerischen Staatsgebietes zum Bereich nach Norden aus, das Altbayerische prägt schen, von denen mehr als eine Million in der nördlichen Kalkalpen, mit der Zugspit- in Gestalt des Oberpfälzischen den bayeri- Bayern eine neue Heimat fand, als vierter ze als höchstem Berg der Bundesrepublik, schen Osten bis weit nach Norden. bayerischer Stamm angesehen.

12 Bayern Die Geschichte der Bayern, Franken und machte sich aber gerade bei den Wahlen Innerhalb der deutschen Staatenwelt des Schwaben bis zu den französischen Revo- am Ende der Weimarer Republik bemerk- 19. Jahrhunderts betrieb Bayern über län- lutionskriegen unterscheidet sich gravie- bar, als im katholischen Bereich bis zuletzt gere Phasen eine relativ liberale Politik, al- rend: die Bayerische Volkspartei dominierend lerdings nicht selten von reaktionären Während aus dem ursprünglichen bayeri- blieb, in den evangelischen Räumen hin- Rückschlägen unterbrochen wie bei der schen Stammesherzogtum einer der gegen – entsprechend der auch sonst in Verfolgung der Exponenten des Hamba- großen deutschen Territorialstaaten her- Deutschland anzutreffenden Wahlsozio- cher Festes 1832 in der bayerischen Pfalz, vorging – seit 1180 unter den Wittelsba- logie – das deutschnationale Moment der ersten liberal-demokratischen Volks- chern –, der ein kompaktes Herrschaftsge- stark war und schließlich die NSDAP in und Massenversammlung auf deutschem biet auszuformen vermochte, setzte sich hier ländlichen und kleinstädtischen Milie- Boden. Bayern war Mitglied des 1834 ge- im schwäbischen und fränkischen Bereich us außerordentliche Wahlerfolge hatte. gründeten Deutschen Zollvereins und ver- schon seit dem 12. Jahrhundert eine Nach dem Stand der Volkszählung 1987 suchte innerhalb des Deutschen Bundes außerordentliche räumliche Zersplitte- waren von damals 10,9 Millionen Bewoh- gegenüber den beiden Großmächten rung durch. Eine bis heute spürbare positi- nern Bayerns 7,3 Millionen katholisch und Preußen und Österreich eine Trias-Politik ve Folgewirkung ist allerdings die Vielzahl 2,6 Millionen evangelisch. der mittleren und kleineren Staaten zu or- an Residenzen und früheren Reichsstäd- Das moderne „Staatsbayern“ entstand ganisieren, die allerdings scheiterte. Im ten, die bis heute die kulturelle Topogra- zwischen dem Frieden von Lunéville 1801 deutschen Hegemonialkrieg von 1866 auf phie des Landes entscheidend mitprägt. und dem Wiener Kongreß 1814/15: Nun der Seite der unterlegenen österreichi- Große Bedeutung gewannen die Hochstif- konnten die Fürsten, die linksrheinische schen Partei mußte Bayern danach ein ge- te – die weltlichen Herrschaftsgebiete der Gebiete an das revolutionäre Frankreich heimes Schutz- und Trutzbündnis mit Bistümer – Bamberg und Würzburg im verloren hatten, wie Kurfürst Max Joseph, Preußen abschließen. Die in Bayern noch Fränkischen, Augsburg im Schwäbischen, der aus der wittelsbachischen Nebenlinie lange wirkungsmächtige katholisch-groß- ferner die Hohenzollernschen Markgraf- Zweibrücken-Birkenfeld stammte, sich deutsche Orientierung vermochte nicht, schaften Ansbach und Bayreuth und rechtsrheinisch entschädigen. Bayern ge- das Land aus dem Krieg von 1870/71 schließlich die beiden mittelalterlichen wann durch den Reichdeputationshaupt- gegen Frankreich herauszuhalten. Im Sog Metropolen im oberdeutschen Bereich schluß von 1803 vor allem in Franken und der bismarckschen Politik setzte sich die li- Augsburg und Nürnberg: Schwaben eine Fülle von Reichsstädten, beral-nationale Orientierung durch. Bay- Beide hatten im Alten Reich herausragen- weltlichen Territorien und Adelsherrschaf- ern trat dem am 18. Januar 1871 prokla- de Bedeutung als Gewerbe- und vor allem ten (Reichsritter und Reichsgrafen) sowie mierten deutschen Kaiserreich bei, wußte Fernhandelsstädte an den Verbindungen Klöstern und Hochstiften. Der Wiener sich allerdings wichtige Reservatrechte zu von Nordeuropa nach Oberitalien bzw. Kongreß brachte schließlich den Erwerb erhalten, so eigene Post, Eisenbahn und vom Westen in den böhmisch-polnischen, des heutigen unterfränkischen Gebiets Militär in Friedenszeiten, ferner ein weit- mittelosteuropäischen Raum; die politi- und der linksrheinischen Pfalz (allerdings gehendes Gesandtschaftsrecht und den sche Rolle Nürnbergs war vor allem seit gingen das kurzfristig gewonnene Tirol Vorsitz im Auswärtigen Ausschuß des Bun- der goldenen Bulle Kaiser Karls IV. enorm und Salzburg wieder verloren), die zu desrates. Eine liberal-zweckrational orien- gewachsen, so als Ort, wo die Reichsklein- einer der später acht Kreise (moderne Ter- tierte „aufgeklärte“ Beamtenschaft steu- odien aufbewahrt wurden und wo neuge- minologie: Regierungsbezirke) wurde und erte das Land nunmehr auf dem Kurs der wählte Kaiser ihren ersten Reichstag abzu- 1945/46 im Land Rheinland-Pfalz aufging. bismarckschen Reichspolitik, so daß die halten hatten. Augsburg stand im Zenit Von diesem Verlust abgesehen hat Bayern bayerische Politik auch den Kulturkampf seiner Macht, als die Fugger die Wahl Kai- seine territoriale Integrität seitdem unein- gegenüber der katholischen Kirche weit- ser Karls V. 1519 in entscheidendem Maße geschränkt gewahrt, sieht man von ge- gehend mittrug. Während das finanzierten. ringfügigen Gebietseinbußen in der Rhön Bürgertum – der Adel spielte in Bayern Die Territorial- und Städtelandschaft im nach dem an der Seite Österreichs 1866 nicht die Rolle wie im ostelbischen Fränkischen und Schwäbischen verlor frei- gegen Preußen verlorenen Krieg ab. Bay- Preußen – diesen Kurs weitgehend akzep- lich seit dem Dreißigjährigen Krieg we- erns letzter territorialer Zugewinn war tierte, ja sich schließlich in beachtlichem sentlich an Bedeutung und geriet in den 1920 nach einer Volksabstimmung das bis Maße mit der wilhelminischen Weltpolitik Windschatten größerer politischer Ent- dahin thüringische Coburg mit seinem identifizierte, blieb die bäuerlich-katho- wicklungen. Umland. lisch orientierte Mehrheit im Landtag, ver- treten durch die Patriotenpartei, später Die Folgen von Reformation und Die Formierung zum modernen das Zentrum skeptisch; am linken Rand Gegenreformation Staatswesen durch Montgelas des politischen Spektrums entwickelte sich seit etwa den 80er Jahren des 19. Jahr- Eine für Bayern wichtige Trennungslinie Ausdruck des Aufstiegs Bayerns zu einem hunderts die Sozialdemokratie in Bayern, ergab sich im Gefolge von Reformation Staat von Rang war 1806 die Erhebung angesichts der unterdurchschnittlichen In- und Gegenreformation: zum Königreich. Die Formierung zum mo- dustrialisierung des Landes freilich relativ Während die wittelsbachischen Territori- dernen Staatswesen oblag dem „allmäch- schwach und vor allem auf die Industrie- en durchgängig katholisch blieben bzw. tigen Minister“ Maximilian Graf von zentren wie Augsburg, Nürnberg, Nordo- es dank einer energischen Politik der Her- Montgelas, der bis 1817 eine wirksame stoberfranken und Ludwigshafen be- zöge wieder wurden, stellte sich in Schwa- Staatsverwaltung mit hochqualifizierter schränkt. ben und vor allem Franken eine dauerhaf- Beamtenschaft, Zentralregierung und Trotz allen bayerischen eigenständigen te konfessionelle Spaltung ein: Die Reichs- Fachministerien schuf, das Rechtswesen Selbstbewußtseins trat das Land – zumin- städte wurden in der Regel evangelisch – neue ordnete und eine Wirtschaftsreform dest in den großen Städten – mit dem glei- Augsburg und Regensburg allerdings pa- durchführte (Vereinheitlichung der Maße chen Hurra-Patriotismus in den Ersten ritätisch –, die weltlichen Fürstentümer, und Zölle, Abschaffung der Grundherr- Weltkrieg ein wie das Kaiserreich insge- insbesondere die beiden Markgrafschaf- schaft und der Zünfte). Mit der Konstituti- samt. ten ebenfalls. Hingegen behauptete sich on von 1808 und insbesondere der Verfas- Angesichts der hohen Verluste an Men- auf dem Gebiet der Hochstifte das katho- sung von 1818 vollzog Bayern zugleich schenleben und der immer kritischeren lische Bekenntnis. Die so geschaffenen den wenn auch erst allmählich spürbar Versorgungslage orientierte sich die poli- Trennungslinien sind zwar durch immer werdenden Übergang vom Absolutismus tische Stimmung unter den breiten Mas- wieder neugezogene politische Grenzen zu einem konstitutionellen Staatswesen sen zusehends nach links. Zugleich wur- bis hin zu den Gebietsreformen der 70er mit Parlament und Teilhabe der Volksver- den antipreußische Affekte immer leben- Jahre des 20. Jahrhunderts scheinbar tretung an der Gesetzgebung. In zahlrei- diger. überlagert. Ihre enorme Bedeutung chen Zwischenschritten erfolgte eine immer weitergehende Öffnung und Egali- sierung des Wahlrechts bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts.

Bayern 13 Bürgerkrieg und Räterepublik stellte, und die „Völkischen“ mit den Na- sammelte sich der neu zusammengesetzte tionalsozialisten unter Adolf Hitler an der Bayerische Landtag zur Annahme eines ei- Am 7. November 1918 mußte König Lud- Spitze, für die die Eroberung der Macht in genen Ermächtigungsgesetzes für das wig III. aus München fliehen, am folgen- München das Sprungbrett zum Staats- Land, gegen das nur die SPD stimmte. Die den Tag wurde durch den Unabhängigen streich im Reich darstellen sollte. Beide gleichzeitig laufenden verschiedenen Sozialdemokraten (USPD) Kurt Eisner der Richtungen, deren gemeinsamer Nenner Gleichschaltungsmaßnahmen beraubten Freistaat Bayern proklamiert. Eisner avan- die Aversionen gegen Berlin waren, ko- Bayern, das zur Verwaltungsprovinz cierte zum Ministerpräsidenten eines Ko- operierten zeitweise. Der „Hitler-Putsch“ wurde, seiner Eigenstaatlichkeit. Zu den alitionskabinetts aus USPD und SPD. Seine vom 8. und 9. November 1923 auch gegen spektakulärsten Akteuren nationalsoziali- Partei, die den Rätegedanken verfocht, er- die etablierten rechten Kräfte im Land stischer Machtausübung avancierten nun- litt bei den Wahlen zur Bayerischen Ver- wurde freilich zum Fiasko, wenn auch mehr die , außerhalb Bayerns am fassunggebenden Nationalversammlung zum geringen Teil aufgewogen durch den bekanntesten der „Frankenführer“ Julius vom 12. Januar 1919 eine vernichtende Prozeß gegen Adolf Hitler und seine Mit- Streicher, Herausgeber des antisemiti- Niederlage (2,5%). Auf dem Weg zur Par- verschworenen Anfang 1924, der zur juri- schen Hetzblattes Der Stürmer. In Mün- lamentseröffnung, bei der er seinen Rück- stischen Farce geriet und zum Vehikel für chen, als „Hauptstadt der Bewegung“ eti- tritt bekanntgeben wollte, wurde Eisner den späteren Wiederaufstieg des „Füh- kettiert, residierte die Reichsleitung der am 21. Februar 1919 ermordet. In der rers“ wurde. NSDAP, die mittelalterliche Metropole Folge kam es in Bayern zu einer Bürger- Galt Bayern in den Anfangsjahren der Nürnberg, „Schatzkästlein“ des Heiligen kriegsentwicklung: Weimarer Republik insgesamt als eine Römischen Reiches, wurde zur „Stadt der Die neue legale Regierung unter dem so- „Ordnungszelle“ im Reich mit einem teil- Reichsparteitage“. Hier wurden auch 1935 zialdemokratischen Ministerpräsidenten weise extrem rechten politischen Milieu, die „Nürnberger Gesetze“ verkündet, Hoffmann mußte nach Bamberg auswei- so kam es doch in den Folgejahren zu zentraler Einschnitt in der Geschichte von chen, in München etablierte sich eine Rä- einer Konsolidierung der Verhältnisse. Die Verfolgung und Vernichtung der Juden. In terepublik unter zunächst sozialistisch-an- Landespolitik konzentrierte sich vor allem den Rang einer Art nationalsozialistischer archistischen, dann kommunistischen Vor- darauf, den Spielraum der Länder wieder Weihestätte stiegen die von Hitler häufig zeichen. Sie wurde Anfang Mai 1919 von über das in der Weimarer Verfassung zu- besuchten Bayreuther Festspiele auf. Ou- „Weißen“ Truppen niedergeschlagen, gestandene Maß hinaus zu erweitern. vertüre zum großen Propagandaerfolg wobei es auf beiden Seiten zu blutigen Ex- In den letzten Jahren der Weimarer Repu- der Olympischen Spiele 1936 in Berlin zessen kam, vor allem durch die Sieger, die blik rückten unter dem Druck der extremi- waren die Winterspiele von Februar dieses in der Landeshauptstadt grausame Ver- stischen Bedrohungen, vor allem des An- Jahres in Garmisch-Partenkirchen. geltung an ihren Gegnern übten. Im Au- wachsen der NSDAP, Zentrum und Bayeri- Die zugleich bekannteste und menschlich gust 1919 erhielt Bayern seine erste, repu- sche Volkspartei wieder näher zusammen. berührendste Widerstandsgruppe auf blikanische, die „Bamberger Verfassung“. Insbesondere nach dem „Preußen-Schlag“ bayerischem Boden war die Weiße Rose Sie entfaltete vor allem deshalb eine nur der Reichsregierung vom 20. Juli 1932, um die Geschwister Scholl, deren Expo- geringe prägende Kraft, da im unitari- dem Staatsstreich gegen die legale nenten in den ersten Monaten des Jahres schen Bundesstaat der Weimarer Republik preußische Regierung aus Zentrum und 1943 hingerichtet wurden. Aufstieg, Nie- die Kompetenzen der Länder gegenüber SPD, bemühte sich die Bayerische Staatsre- dergang und Verbrechen der nationalso- dem Bismarckreich stark beschnitten gierung, eine Abwehrfront der Länder zialistischen Herrschaft, zumal die Ver- waren. Hinzu kam die Entwicklung der gegen drohende Berliner Willkürakte auf- nichtung des Judentums in Bayern, vollzo- Länder zu „Kostgängern des Reiches“ in- zubauen. gen sich weitgehend nach dem für ganz folge der Erzbergerschen Finanzreform. Nach der nationalsozialistischen Machter- Deutschland geltenden Ablauf. Diese Entwicklungen führten auch zu greifung vom 30. Januar 1933 konnte sich einer parteipolitischen Entfremdung: auch Bayern dem von der Reichsebene Der föderalistische Staat als Ziel Die am 12. November 1918 in Regensburg ausgehenden Druck nicht lange wieder- bayerischer Nachkriegspolitik gegründete Bayerische Volkspartei, die setzen: Reichsinnenminister Frick über- für das katholisch-bürgerliche und ländli- trug am 9. März 1933 dem nationalsoziali- Am 26. Mai 1945 setzte die US-Militärre- che Lager im Land stand, geriet in Ge- stischen General die gierung den letzten Vorsitzenden der BVP, gensätze zum Zentrum im Reich und ver- vollziehende Gewalt in München. Die Re- Fritz Schäffer, als ersten – vorläufigen – folgte einen dezidiert föderalistisch-kon- gierung Held wurde aus dem Amt gejagt. Nachkriegsministerpräsidenten in Bayern servativen Kurs. 1920 verließ sie die Frakti- Alle Bemühungen, durch die Wiederer- ein. Am 28. September 1945 wurde er onsgemeinschaft mit dem Zentrum im richtung der Monarchie im Land bzw. durch den Sozialdemokraten Wilhelm Reichstag. durch eine Zusammenarbeit von BVP und Hoegner ersetzt. Nach der Wiederkonsti- Im selben Jahr wurde die SPD aus der Re- SPD ein Abwehrbollwerk zu errichten, tuierung politischen Lebens auf kommu- gierung in Bayern verdrängt. Bis zum hatten sich als zu spät, zu zaghaft oder zu naler Ebene (Gemeinde- und Kreistags- Ende der Weimarer Republik regierten im schwach erwiesen. Festzuhalten bleibt wahlen) wurde für Bayern eine neue Ver- Land nur mehr rein bürgerliche Kabinette. freilich, daß Bayern trotz der Gründung fassung geschaffen: Am 30. Juni 1946 der NSDAP auf seinem Boden, der hier so wählte die Bevölkerung des Landes eine Der Nationalsozialismus in Bayern lange starken rechtsradikalen Tendenzen verfassungsgebende Landesversammlung, und der Tatsache, daß nicht wenige Expo- in der die CSU mit 58% der Stimmen eine Das Krisenjahr 1923 brachte in Bayern nenten des Regimes von hier stammten, in starke Mehrheit besaß. eine besondere Konfrontation: seiner Wahlsoziologie kein Land mit Spit- Am 8. Dezember 1946 trat die durch Ple- Die Rechtsentwicklung in Wehrverbän- zenwerten für die NSDAP war: biszit eine Woche zuvor mit großer Mehr- den, Geheimorganisationen (Organisa- Im katholisch-ländlichen Milieu wie in den heit gebilligte Verfassung (Inhalt und Än- tion Consul mit Fememorden) und erstar- Industriebereichen hatte sie hier bis zu- derungen s.u.) in Kraft. Nach monatelan- kender NSDAP unter Adolf Hitler und mit letzt nur relativ begrenzte Wahlerfolge. In gen, teilweise erbitterten Auseinanderset- dem Aushängeschild General Ludendorff den folgenden Jahren der Diktatur hielt zungen war es dabei nicht zur Veranke- kulminierte: Gegen die als links, juden- sich in diesen Zonen lange resistentes Ver- rung eines eigenen bayerischen Staatsprä- hörig und den Siegermächten des Ersten halten. Zugleich aber kamen große Teile sidenten gekommen; seine Funktion wäre Weltkrieges willfährig denunzierte der bayerischen Gesellschaft mit antisemi- es vor allem gewesen, den Selbstbehaup- Reichsregierung formierten sich zweierlei tischen Prägungen und oft geradezu vor- tungswillen des Landes gegenüber einer Kräfte: auseilendem Gehorsam den Judenverfol- wiederhergestellten deutschen Staatlich- Eine auf bayerische Selbständigkeit be- gungen des Regimes gewissermaßen ent- keit gewissermaßen auch protokollarisch dachte, gouvernemental-monarchistische gegen. zum Ausdruck zu bringen. Richtung mit nationalistischer Prägung Am 22. März 1933 wurde in Dachau das In der Folge bemühte sich die bayerische unter Generalstaatskommissar von Kahr, erste große und auf Dauer angelegte Politik – sowohl die CSU als auch der die die in Bayern stationierten Teile der Konzentrationslager auf deutschem Hoegner-Flügel in der SPD – um eine mög- Reichswehr der Staatsregierung unter- Boden errichtet, am 28. April 1933 ver- lichst föderalistische Prägung des sich seit

14 Bayern Frühjahr 1948 abzeichnenden deutschen mit voller Wucht wie etwa Sachsen, das etwa Elektronik und Aluminium in die Weststaates. Obwohl hier durchaus Erfol- Ruhrgebiet oder den Berliner Raum. Das Fahrzeuge von Audi und BMW. Insgesamt ge gelangen (Einrichtung des Bundesra- Land blieb eher agrarisch bestimmt, ist heute zweifellos ein weiterer Vorzug tes, Mischverfassung im Bereich des Fi- wobei die kleinräumige bäuerliche Land- der bayerischen Industrie, daß sie dank nanzwesens) lehnte der Bayerische Land- wirtschaft dominierte. Allerdings hatten der Modernität ihrer Branchen relativ tag am 19./20. Mai 1949 das Grundgesetz die beiden Großstädte Nürnberg und wenig umweltbelastend produziert. ab, da es den einschlägigen Wünschen Augsburg mit ihrer alten Gewerbetraditi- nicht genüge, erkannte aber seine Rechts- on vollen Anteil an der Industrialisierung, Keine Nachtwächterrolle verbindlichkeit an, da ihm mehr als zwei vor allem im Metall- und Elektrobereich. für den Staat Drittel der Landtage zustimmten. Die Residenzstadt München war zwar In der Folge nahm der Freistaat trotz sei- eher ein Ort höfischen und kulturellen Le- Die Wirtschaftspolitik verstand sich in Bay- ner föderalistischen Wächterrolle in der bens, konnte aber etwa im Lokomotivbau ern zwar traditionell als marktwirtschaft- Bundesrepublik zugleich eine besondere mithalten. In der Oberpfalz gab es eine lich, sah dabei den Staat aber nicht in Sensibilität in gesamtdeutschen Fragen alte schwerindustrielle Tradition, im nord- einer Nachtwächterrolle. Staatliche An- für sich in Anspruch: Spektakulärster Aus- östlichen Oberfranken konzentrierte sich strengungen sollten z.B. Rahmenbedin- druck dieser Orientierung ist die auf eine die Porzellanindustrie, das unterfränki- gungen im Bereich von Bildung, Ausbil- bayerische Klage hin erstrittene Entschei- sche Schweinfurt wurde zum Zentrum der dung und Forschung optimieren, Existenz- dung des Bundesverfassungsgerichts vom europäischen Kugellagerindustrie; die sich gründern helfen, Technologietransfer for- 31. Juli 1973 zum Grundlagenvertrag zwi- überschlagende Entwicklung Ludwigsha- cieren, die Infrastruktur verbessern und schen Bundesrepublik und DDR, in der fens in der bayerischen Pfalz dank der Ex- die Genehmigungswege verkürzen. Aus trotz formaler Billigung des Vertrages pansion der Chemie (BASF) wies nach der dieser Sicht galt es auch, ein kreatives kul- klassische staatsrechtliche Positionen wie Jahrhundertwende schon auf den Über- turelles Klima zu schaffen, in dem Innova- das Festhalten an einer gemeinsamen gang zu neuen industriellen Leitsektoren tionen gedeihen können. Für diesen Weg deutschen Staatsangehörigkeit „festge- hin. Die Zwischenkriegszeit brachte in steht ein dichtes Netz an Fachhochschu- klopft“ wurden. Unmittelbare Bedeutung Bayern eine beschleunigte Entwicklung in len, Fraunhofer-Instituten und ähnlichen gewann das Urteil vor allem im Prozeß der der Elektrizitätsversorgung, vor allem Einrichtungen. Vor allem hat der Freistaat deutschen Wiedervereinigung 1989/90, da durch den Ausbau von Wasserkraftwer- Bayern in den letzten Jahren („Offensive die hier formulierten Rechtsgrundlagen ken im Alpenbereich (Walchensee Kraft- Zukunft Bayern“) durch umfangreiche Pri- den Beitritt der DDR zum Geltungsbereich werk) wie in Gestalt von Staustufen an vatisierungen von Staatsbesitz – in der Le- des Grundgesetzes nach Art. 23 GG (alt) Donau und Main. Damals wurde auch be- gislaturperiode von 1994–1998 über möglich machten. Als weitere zentrale reits das Konzept für den neuen Main- 5 Mrd. DM – Freiräume geschaffen, um Komponente in der bayerischen Politik Donau-Kanal festgelegt, den ersten hatte die Zukunftsfähigkeit des Landes zu ent- nach außen trat seit Ende der 70er Jahre König Ludwig I in den 40er Jahren des wickeln. Die so frei gewordenen Gelder vor allem das Bemühen in Erscheinung, im 19. Jahrhunderts anlegen lassen. flossen forciert in Forschung, Bildung und Bereich der Europäischen Gemeinschaft Der eigentliche take off Bayerns zum High Ausbildung. Z.B. gelingt es am Univer- eine regionale Politik zu initiieren und zu Tech-Land fand seit den 60er Jahren dieses sitätsstandort Erlangen, die Medizintech- bündeln, die dem Gedanken der Subsi- Jahrhunderts statt. Positive Rahmenbe- nik beschleunigt zu entwickeln. Hohe diarität, des Wirkens der Kräfte von unten dingungen schufen die Zuwanderung von Summen kommen aber auch dem Kultur- nach oben, verpflichtet ist (s.u.). Flüchtlingen und Heimatvertriebenen, vor staat Bayern zugute: In der parteipolitischen Landschaft Bay- allem der Sudetendeutschen aus Böhmen So entstehen gegenwärtig finanziert aus erns verlor die CSU nach ihren großen und Mähren, die ebenso kompetent wie Privatisierungserlösen als staatliche Ein- Wahlerfolgen von 1946 angesichts innerer hochmotiviert waren, der Ausbau des Ver- richtungen in München eine Pinakothek Zerstrittenheit zwischen einem eher radi- kehrs- und Energienetzes vor allem durch der Moderne, in Nürnberg ein Museum kal föderalistischen und einem eher libe- neue Autobahnen und die Ölraffinerien für Kunst und Design. Sie komplettieren ralen Flügel und wegen des Erstarkens der bei Ingolstadt, die ihr Öl über Pipelines den Museumsstandort Bayern, für den Bayernpartei an Gewicht: Sie mußte so- von Mittelmeerhäfen beziehen, dazu die hier nur beispielhaft die Alte wie die Neue wohl bei der Bundestagswahl 1949 wie Errichtung von Kernkraftwerken, die Pinakothek in München, das Germanische bei der Landtagswahl 1950 erhebliche Ein- heute knapp 70% zur bayerischen Strom- Nationalmuseum in Nürnberg und das bußen erleiden. Trotz Stimmengewinnen versorgung beisteuern. Ein wesentlicher Mainfränkische Museum in Würzburg ge- bei der Landtagswahl 1954 wurde sie Faktor war die Verlagerung von Unter- nannt seien. In nächster Zeit sollen weite- durch die Verständigung sämtlicher ande- nehmen und Unternehmensführungen re 2 Mrd. DM aus Privatisierungserlösen in rer Parteien im Parlament auf die soge- aus den früheren deutschen Ostgebieten besonder innovative Vorhaben fließen. nannte „Viererkoalition“ unter Wilhelm bzw. aus der sowjetischen Besatzungszo- Die stärker in Nordbayern konzentrierten Hoegner in die Opposition „verbannt“. ne, namentlich des Hauses Siemens, das klassischen Industrien in der Metallverar- Diese Koalition brach nach der Bundes- seine Forschungskapazitäten wie die Un- beitung haben in den letzten Jahren die tagswahl 1957 auseinander. Seitdem ist ternehmensleitung auf Erlangen und Folgen von Globalisierung und Verdrän- die CSU die führende Regierungspartei, München konzentrierte. gungswettbewerb deutlicher zu spüren seit 1962 mit der absoluten Mehrheit der Der weitere Ausbau der Verkehrsinfra- bekommen. Dies schlägt sich auch in den Mandate im Landtag, seit 1970 (56,4%) struktur brachte 1992 die Eröffnung des Arbeitslosenzahlen, etwa in der mittel- auch mit der absoluten Mehrheit der Main-Donau-Kanals und im selben Jahr fränkischen Industrieregion oder in Stimmen (zu den soziologischen und poli- des Flughafens München II Franz Josef Schweinfurt, nieder. Sie liegen hier über tisch-strategischen Gründen dieser Ent- Strauß, der sehr bald nach Frankfurt zum den südbayerischen Werten, die teilweise wicklung s.u. im Abschnitt „Dominierende zweiten deutschen Luftkreuz avancierte. Vollbeschäftigung anzeigen – zugleich al- Stellung der CSU“). Im industriellen Bereich weist Bayern, vor lerdings immer noch unter dem westdeut- Zuletzt hat die Landtagswahl vom 13. Sep- allem Südbayern, heute eine hohe Kon- schen Mittel. Nimmt man den Durch- tember 1998 die parteipolitischen Kräfte- zentration von modernsten Fertigungen schnitt, hat Bayern unter den deutschen verhältnisse im Land bestätigt. im Bereich des Fahrzeugbaus (München, Ländern die niedrigste Arbeitslosenquote Ingolstadt, Regensburg), der Elektronik und zugleich die höchste Investitionsquo- Vom Agrarland zum High-Tech-Land (München, Erlangen), der Chemie sowie te im Staatshaushalt (September 1998: Ar- der Luft- und Raumfahrt auf. In jüngster beislosenquote in Bayern 6,3%, Bundes- Allgemein gilt Bayern als früheres Agrar- Zeit spielt die Biotechnologie eine zuneh- gebiet West 8,8%, Nordrhein-Westfalen land, das sich zur technologischen Avant- mende Rolle. Auch wo es sich um relativ 10,2%; Investitionsquote 1997: Bayern garde entwickelt hat. Dieses nicht ganz „alte“ bzw. ausgereifte Branchen wie bei 16,1%, Durchschnitt Flächenländer West falsche Bild bedarf der Differenzierung: der Automobilindustrie handelt, profitiert 12,1%, Nordrhein-Westfalen 10,6%). Dem Die strukturellen Prozesse des 19. Jahr- die betreffende Herstellung, weil Spitzen- Kampf gegen die Arbeitslosigkeit dient hunderts – Industriealisierung und Bevöl- produkte angeboten werden, in die mo- auch der im Juni 1996 zwischen Staatsre- kerungszunahme – erfaßten Bayern nicht dernste Komponenten integriert sind, wie gierung, Arbeitgebern und Gewerkschaf-

Bayern 15 ten geschlossene „Beschäftigungspakt dokumentiert sich das bei allen politi- Staatszwecks enthält Art. 3 Abs. 1 BV: Bayern“, in den die staatliche Seite schen Auseinandersetzungen unbestritte- „Bayern ist ein Rechts-, Kultur- und Sozial- rd. 2 Mrd. DM aus Privatisierungserlösen ne überdurchschnittliche Qualitätsprofil staat. Er dient dem Gemeinwohl.“ einbrachte. des bayerischen Bildungswesens – mit Gerade die Kulturstaatlichkeit Bayerns Über dem High-Tech-Standort Bayern dem Festhalten an sozialen Bauformen wird im Blick auf die Staatsqualität der wird gerne vergessen, welche Rolle hier und Gemeinschaften. Diese Synthese ge- Länder im Bundesstaat immer wieder her- Dienstleistungen in einem breiten Spek- währleistet auch unter permanentem Mo- vorgehoben. trum spielen: Nach Frankfurt am Main dernisierungsdruck ein überdurchschnitt- Schließlich sei noch auf die Sprache der wird wohl in der Landeshauptstadt an der liches Maß an Stabilität. Verfassung hingewiesen. Mit einem heute Isar am meisten Geld im Bundesgebiet gewiß nicht mehr wiederholbaren, zu- „umgeschlagen“, dank der hier bestehen- Besonderheiten der gleich aber nicht antiquiert anmutenden den Konzentration an Versicherungen (Al- Bayerischen Verfassung Pathos beschreibt sie die Abgrenzung zur lianz) wie auch an Banken. Für den Wett- totalitären nationalsozialistischen Ver- bewerb mit den Großbanken mit ihren Die Bayerische Verfassung vom 8. Dezem- gangenheit und die Aufgaben des Staates Stammhäusern am Main steht die jüngst ber 1946 – am 1. Dezember 1946 durch wie die Rechte seiner Bürger. Kennzeich- aus einer Fusion hervorgegangene Hypo- Plebiszit gebilligt – zeichnet sich durch nend für dieses Selbstverständnis ist insbe- Vereinsbank. Konzentriert finden sich in mehrere Besonderheiten aus: sondere die Präambel, die den Nationalso- München darüber hinaus herkömmliche Zur Zeit einer fehlenden gesamtdeut- zialismus als „eine Staats- und Gesell- und neue Medien (Magazin Focus, Pro Sie- schen Staatlichkeit abgefaßt, regelt sie die schaftsordnung ohne Gott, ohne Gewis- ben u.s.w.) wie eine Vielzahl an Filmpro- Gesamtheit staatlichen Lebens und macht sen und ohne Achtung vor der Würde des duktionen, so daß die Straßenzüge der zugleich in ihrem Art. 178 darauf auf- Menschen“ beschreibt. Landeshauptstadt dem deutschen Fern- merksam, daß Bayern eine künftige natio- Die Bayerische Verfassung von 1946 kennt sehpublikum vor allem aus Krimiserien nale Staatlichkeit nicht voraussetzungslos vier Staatsorgane: Landtag, Senat, Staats- vertraut werden. akzeptieren werde: regierung und Verfassungsgerichtshof. „Bayern wird einem künftigen deutschen Trotz Strukturwandel blieb die demokratischen Bundesstaat beitreten. Er Der Landtag Landwirtschaft im Seelenhaushalt soll auf einem freiwilligen Zusammen- der Menschen verankert schluß der deutschen Einzelstaaten beru- Der Bayerische Landtag besteht in der Le- hen, deren staatsrechtliches Eigenleben gislaturperiode von 1998 bis 2003 letztma- Bei allem relativen Bedeutungsverlust der zu sichern ist.“ lig aus 204 Abgeordneten, von denen 104 Landwirtschaft angesichts dieser moder- Mit insgesamt 188 Artikeln in der durch- in Stimmkreisen direkt und 100 in den nen strukturellen Entwicklungen ist sie gehenden Zählung, dazu mehreren Einfü- Wahlkreisen (Regierungsbezirken) auf Li- doch im Seelenhaushalt der Menschen gungen (z.B. Art. 111a Rundfunkfreiheit sten gewählt werden. Nach der Verfas- verankert geblieben. Das hat auch politi- aus dem Jahre 1973) ist diese Verfassung sungsänderung vom 20. Februar 1998 sche Folgen: Landwirtschaftspolitik ist ein außerordentlich umfangreich. Typisch für wird der Landtag ab der nächsten Legisla- zentrales Stück Landespolitik. Nimmt man die frühe Nachkriegszeit ist ferner der um- turperiode – 2003 – nurmehr 180 Abge- im übrigen den ganzen Bereich von Zulie- fangreiche Hauptteil über Wirtschaft und ordnete umfassen. Nach derselben Verfas- ferung und Versorgung, Weiterverarbei- Arbeit (Art. 151 bis Art. 177 BV). Ein Spezi- sungsänderung ist die Legislaturperiode tung und Handel hinzu, dann ist die Land- fikum ist schließlich auch der zweite seit 1998 5, zuvor 4 Jahre lang. wirtschaft in Bayern auch nach wie vor ein Hauptteil „Grundrechte und Grundpflich- Die Abgeordneten werden nach einem namhafter volkswirtschaftlicher Faktor, ten“ (Art. 98 bis Art. 123 BV), wobei in Art. stark personalisierten Wahlrecht gewählt, gerade auch im Export wie von Milchpro- 100 zweieinhalb Jahre vor dem Grundge- das außerhalb Bayerns gerne als kompli- dukten nach Oberitalien. Und für die Psy- setz bereits die „Würde der menschlichen ziert beschrieben wird, zugleich aber vor che des Landes gilt – vielleicht vergleich- Persönlichkeit“ hervorgehoben wird. Die allem das Moment der Entscheidung für bar den Lebensverhältnissen in Frank- maßgebliche inhaltliche Beschreibung des bestimmte Persönlichkeiten betont. reich –, daß viele Menschen in Bayern zwar Städter geworden sind, aber einen Teil ihrer Seele auf dem Land gelassen haben. Vor diesem Hintergrund ist die Landespolitik vor allem bemüht, gegen- über den Strategien der EU (Agenda 2000) die Möglichkeit zur Förderung sensibler, kleinräumiger Strukturen zu erhalten. Nach wie vor verfügen die bayerischen Höfe nur über unterdurchschnittlich große Flächen und arbeiten unter topo- graphischen (Hoch- und Mittelgebirge) und klimatischen Verhältnissen, die im EG- wie im Weltmarktvergleich ungünstig sind. Eine Vielzahl von Programmen soll dazu beitragen, trotz dieser Ausgangsbe- dingungen sicherzustellen, daß das Land nicht versteppt und verödet: Kulturland- schaftsprogramme, Urlaub auf dem Bau- ernhof, Dorferneuerung, aber auch eine faire Preispolitik. Die bayerische Gesellschaft unterliegt den seit Jahrzehnten für ganz Westeuropa typischen Wanderungsprozessen und Wandlungsbedingungen. Gleichwohl sind nicht nur Wahlergebnisse ein Indikator, daß sie sich ein eigenes Gepräge – mittler- weile über die innerbayerischen Stammes- grenzen hinweg – und ein spezifisches Verständnis von sich selbst bewahrt hat. Offenkundig verbinden sich Leistungs- fähigkeit und Leistungswilligkeit – hier

16 Bayern Bei der Ermittlung des Gesamtergebnis- Mehrheit gegenüber dem Gesetzentwurf Die Stärkung der Regierungszentrale in ses, d.h. der auf die einzelnen Parteien des Landtags, der eine Reform dieses Ver- Gestalt der Staatskanzlei, (Einzelheiten und Fraktionen entfallenden Mandats- fassungsorgans vorsah. Damit wird der s.u.) zeigt, daß der Ministerpräsident Prio- zahl, werden im Gegensatz zur Bundes- Senat wohl seine Tätigkeit zum 31. De- rität auf Kapazitäten legt, die unmittelba- tagswahl Erst- und Zweitstimmen zusam- zember 1999 beenden. Allerdings ist von res operatives Handeln, gerade im Reflex mengezählt. Daher ist ein Stimmensplit- Seiten des Senats dagegen im November über Bayern hinaus, möglich machen. Be- ting bei der Wahl zum Bayerischen Land- 1998 der Bayerische Verfassungsgerichts- merkenswert ist weiter die Übertragung tag auch unüblich. hof angerufen worden. In der Klage, der Zuständigkeit für den besonders zu- Nach dem Hare/Niemeyer-System wird auf deren Ausgang gegenwärtig (Stand März kunftsweisenden Bereich von Medien und der Ebene jedes Wahlkreises, d.h. Regie- 1999) noch offen ist, wird die Rechtmäßig- Förderung der Telekommunikations-Tech- rungsbezirks, die den jeweiligen Parteien keit dieses Volksentscheids bestritten. nologie an die Staatskanzlei. nach der Addition von Erst- und Zweit- Der Senat setzt sich aus 60 Mitgliedern zu- stimmen zustehende Mandatszahl ermit- sammen, die von den dazu berechtigten Der Verfassungsgerichtshof telt. Davon werden die dann durch ihre Körperschaften und Verbänden gewählt, Stimmkreisbewerber mit den Erststimmen im Falle der Religionsgemeinschaften be- Dieses Oberste Bayerische Gericht für individuell gewonnen Sitze abgezogen. stimmt werden. Die Senatsmitglieder wer- staatsrechtliche Fragen besteht aus dem Wichtig ist nun, daß die Zweitstimmen, den auf 6 Jahre berufen, ihr Mindestalter Präsidenten (gegenwärtig mit Frau Holz- auch hier ein Gegensatz zur Bundestags- beträgt 40 Jahre. Der Senat hat nach der haid einer Präsidentin), 22 berufsrichterli- wahl, nicht für die Liste einer Partei abge- noch geltenden Rechtslage folgende chen Mitgliedern und 15 weiteren (nicht geben werden, sondern für den Bewerber Kompetenzen: berufsrichterlichen) Mitgliedern. Präsi- einer Partei auf der jeweiligen Wahlkreis- Er darf wie Landtag und Staatsregierung dent und Berufsrichter werden vom Land- liste. Bewerber, die sowohl im Stimmkreis Gesetzesvorlagen einbringen, gutachtli- tag mit einfacher Mehrheit auf die Dauer als auch auf der Wahlkreisliste kandidie- che Stellungnahmen zu Gesetzesvorlagen von 8 Jahren gewählt, die nichtberufsrich- ren und im Stimmkreis unterlegen sind, der Staatsregierung abgeben – wohl bis- terlichen Mitglieder – die aber auch die bringen ihre dort errungenen Stimmen her seine wenn auch oft eher verborgen Befähigung zum Richteramt haben oder nun gewissermaßen mit und erhalten sie geleistete, so doch wirksamste Tätigkeit – Lehrer der Rechtswissenschaft an einer bei der Festlegung, welche Kandidaten und Einwendungen gegen vom Parla- bayerischen Universität sein sollen – vom aus den Wahlkreislisten ins Parlament ein- ment bereits beschlossene Gesetze erhe- jeweils neuen Landtag für die Dauer der ziehen, angerechnet. Ähnlich wie bei ben. Hier hat er allerdings nur ein suspen- laufenden Legislaturperiode. Kommunalwahlen (s.u.) können also be- sives Veto; ein Gesetz definitiv verändern Der Verfassungsgerichtshof entscheidet sonders angesehene Kandidaten auf oder aufheben kann er nicht. Ferner muß z.B. über Anklagen gegen Minister und Wahlkreislisten nach vorn gewählt wer- dem Senat Gelegenheit zur Stellungnah- Abgeordnete (Art. 61 BV). In der Praxis den. Im übrigen gilt die in Deutschland me bei Organ- und Popularklagen gege- haben aber vor allem Bedeutung seine Zu- übliche 5%-Klausel. ben werden, die vor dem Verfassungsge- ständigkeit bei Organstreitigkeiten zwi- Der Landtag hat die in parlamentarischen richtshof verhandelt werden. schen den oberen Staatsorganen (Art. 64 Systemen klassischen Zuständigkeiten: BV), bei Popularklagen (Art. 98 BV), bei Wahl des Ministerpräsidenten, Bestäti- Die Staatsregierung denen jedermann geltend machen kann, gung der weiteren Regierungsmitglieder, daß eine Rechtsvorschrift des bayerischen Entscheidung über die Gesetzgebung, Die Staatsregierung besteht aus dem Mi- Landesrechts gegen Grundrechte der Ver- wobei verfassungsändernde Gesetze einer nisterpräsidenten und – nach der Verfas- fassung verstößt, und bei Verfassungsbe- Zustimmung von zwei Dritteln der Mit- sungsänderung vom Februar 1998 – bis zu schwerden (Art. 120 BV). Danach kann glieder bedürfen und danach noch einem 17 Staatsministern und Staatssekretären. „jeder Bewohner Bayerns, der sich durch Volksentscheid unterworfen werden müs- Letztere sind in Bayern also keine Lauf- eine Behörde in seinen verfassungsmäßi- sen, ferner Budgetrecht, Kontrolle von Re- bahnbeamte, sondern Regierungsmitglie- gen Rechten verletzt fühlt, (...) den Schutz gierung und Verwaltung. Wie in den der. Der Ministerpräsident muß das 40. Le- des Bayerischen Verfassungsgerichtshofes deutschen Landesparlamenten üblich hat bensjahr beendet haben. Er wird vom anrufen“. In diesem Fall muß aber der vor allem die Betreuung der Bürgerinnen neugewählten Landtag entsprechend der Rechtsweg erschöpft sein. Insbesondere und Bürger durch die Abgeordneten an auf fünf Jahre verlängerten Legislaturpe- die sogenannte Popularklage ist eine Bedeutung gewonnen. Die Verfassungs- riode gleichfalls für fünf Jahre gewählt. bayerische Besonderheit. änderungen vom Februar 1998 haben in Zur Ablösung des Ministerpräsidenten einer Reihe von Punkten die Stellung des heißt es in Art. 44 Abs. 3 BV, er müsse Die scharfe Waffe der Parlaments gestärkt: Die parlamentari- „zurücktreten, wenn die politischen Ver- „Volksgesetzgebung“... sche Opposition wird in ihrer Bedeutung hältnisse ein vertrauensvolles Zusammen- hervorgehoben und ihr der „Anspruch auf arbeiten zwischen ihm und dem Landtag Die Volksgesetzgebung ist eine scharfe eine zur Erfüllung ihrer besonderen unmöglich machen.“ und in Bayern durchaus wirkungsvolle Aufgaben erforderliche Ausstattung“ Der Ministerpräsident beruft und entläßt Waffe, um entweder Landtagsmehrheit (Art. 16a BV) zuerkannt. Der Landtag mit Zustimmung des Parlaments die und Regierung zu einer Kursänderung zu kann nunmehr auf Antrag eines Fünftels Staatsminister und Staatssekretäre (Art. 45 zwingen, damit sie eine Niederlage ver- seiner Mitglieder Enquete-Kommissionen BV). Er führt den Vorsitz in der Staatsre- meiden, oder gegen sie in der „offenen einrichten (Art. 25a BV), der Landesbeauf- gierung, leitet ihre Geschäfte und be- Feldschlacht“ des Volksentscheides eine tragte für Datenschutz wird vom Par- stimmt die Richtlinien der Politik (Art. 47 gesetzliche Regelung durchzusetzen, die lament gewählt (Art. 33a BV), ebenso BV). den Intentionen der Parlamentsmehrheit der Präsident des Rechnungshofes Die Staatsminister führen ihre Geschäfts- entgegenläuft. Das Gesetzgebungsver- (Art. 80 Abs. 2 BV). bereiche selbständig. Besondere Bedeu- fahren zu Volksbegehren und Volksent- tung hat die Zuständigkeit des Minister- scheid beginnt nach dem Abschluß eines Der Senat: präsidenten nach Art. 49 BV, Zahl und Ab- Zulassungsverfahrens, das von mindestens Unikat vor dem Ende? grenzung der Geschäftsbereiche (Staats- 25.000 Bürgern unterstützt werden muß. ministerien) zu bestimmen. Dazu ist die Dann können sich alle wahlberechtigen Der Senat, die zweite Parlamentarische Bestätigung des Landtages notwendig. Bürgerinnen und Bürger innerhalb von Kammer, ist bzw. war eine sonst nirgend- Gerade die jüngste Regierungsbildung 14 Tagen durch Eintragung für ein Volks- wo in Deutschland anzutreffende bayeri- vom 6. Oktober 1998 hat deutlich ge- begehren aussprechen. Für seinen Erfolg sche Besonderheit. Beim Volksentscheid macht, wo hier angesichts der auf Bundes- sind die Unterschriften von mindestens vom 8. Februar 1998 erhielt der Gesetz- ebene nach der Bundestagswahl vom 27. einem Zehntel der in Bayern Stimmbe- entwurf des Volksbegehrens „Schlanker September 1998 veränderten Regierungs- rechtigten, also rund 900.000 Stimmen, Staat ohne Senat“ mit der Forderung, den konstellation die Gewichte gesetzt wer- notwendig. Das erfolgreiche Volksbegeh- Senatsteil der Bayerischen Verfassung er- den: ren wird vom Ministerpräsidenten na- satzlos zu streichen (Art. 34-42 BV), die mens der Staatsregierung dem Landtag

Bayern 17 unterbreitet. Letzterer hat nun drei Mög- genen Gesetze fanden die Billigung des Politische Kräftefelder lichkeiten: Er kann den aus dem Volksbe- Volksentscheides. gehren hervorgegangenen Gesetzent- Die im Bereich von Landtag und Staatsre- Die enge Abfolge von zwei Wahlen im wurf unverändert annehmen; dann wird gierung getroffenen Neuregelungen wur- September 1998 auf bayerischem Boden dieser als Gesetz verabschiedet. den ebenso wie die Abschaffung des Se- – der Landtagswahl am 13. September Er kann den im Volksbegehren zugrunde nats bereits dargestellt. und der Bundestagswahl am 27. Septem- liegende Gesetzentwurf ablehnen. In die- ber – erleichtert die Analyse der Kräfte- sem Fall kommt es zum Volksentscheid. Im Bereich der Grundrechte und Staatszie- konstellationen im Land. Dabei lautet der Die Mehrheit der Abstimmenden ent- le sind, von eher redaktionellen Änderun- zentrale Befund: Die Hegemonie der CSU scheidet dann darüber, ob der Entwurf gen abgesehen, folgende Ergänzungen als integrierende Volkspartei bleibt unbe- zum Gesetz wird. hervorzuheben: stritten, zugleich wächst die Diskrepanz Der Landtag kann aber auch (mit seiner – Das für die bayerische Position gerade- zu den politischen Stärkeverhältnissen im Mehrheit) einen eigenen Gesetzentwurf zu klassische Bekenntnis zu einem geein- übrigen Bundesgebiet, vor allem nördlich einbringen. In diesem Fall wird beim ten Europa, das „dem Grundsatz der Sub- der Mainlinie. Was dies für künftige Kon- Volksentscheid zwischen dem aus dem sidiarität verpflichtet ist, die Eigenständig- fliktlinien bedeuten mag, kann noch nicht Volksbegehren hervorgegangenen Ge- keit der Regionen wahrt und ihre Mitwir- sicher prognostiziert werden. Der Ver- setzentwurf und dem Gesetzentwurf des kung an europäischen Entscheidungen si- gleich von Landtags- und Bundestagwah- Landtags entschieden. In der Vergangen- chert“ (Art. 3a BV, vgl. auch Ausführun- len 1998 zeigt jedenfalls, daß sich die CSU heit hat sich etwa beim Volksentscheid in gen zur Thematik im letzten Abschnitt in ihrem eigenen Bereich von Bundes- der Frage der Abfall-Entsorgung 1991 der dieses Beitrages). tendenzen in besonderem Maße absetzen Gesetzentwurf des Landtags gegen den – Die Betonung des staatlichen Eintre- kann. Bei einem, wie der Ausgang der des Volksbegehrens durchgesetzt, im Falle tens für „die tatsächliche Durchsetzung Bundestagswahl zeigte, negativen Trend von kommunalem Bürgerbegehren und der Gleichberechtigung von Frauen und gegen die Union vermochte die CSU bei Bürgerentscheid obsiegte 1995 der Ent- Männern“ (Art. 118 Abs. 2 BV). der Landtagswahl zwei Wochen zuvor wurf des Volksbegehrens gegen den der – Das Verbot der Benachteiligung von Be- nicht nur marginal nach Prozenten (52,9 Landtagsmehrheit; ebenso verhielt es sich hinderten sowie das staatliche Gebot, gegenüber 52,8), sondern infolge einer 1998 in der Frage Abschaffung oder Re- „sich für gleichwertige Lebensbedingun- höheren Wahlbeteiligung auch absolut an form des Senats (s.o.). gen von Menschen mit und ohne Behinde- Stimmen zuzulegen – und dies, obwohl Eine besondere Konstellation gab es beim rung“ einzusetzen (Art. 118a BV). sie – die eigentliche Besonderheit in der Volksentscheid zur Christlichen Gemein- – Achtung und Schutz von Tieren als Le- bayerischen Parteienlandschaft – Landes- schaftsschule 1968: Dabei lagen dem Volk bewesen und Mitgeschöpfen (Art. 141 und Bundespartei ist, also formal und or- drei Alternativen vor: Ein ursprünglicher Abs. 1 BV). ganisatorisch in einer besonderen Bezie- CSU-Entwurf, der 8,5% erhielt, ein ur- In der Summe wird man sagen können, hung zur Bundespolitik steht. (Nicht nur sprünglicher Entwurf von SPD und FDP, daß die neuen bzw. neugefaßten Grund- ist die Partei eigenständig, sondern ihre auf den 13,5% entfielen, und ferner ein rechts- und Staatszielformulierungen der Landesgruppe im Bundestag ist in der Entwurf des Bayerischen Landtages, auf Verfassungsentwicklung der 80er und Fraktionsgemeinschaft mit der CDU auch den man sich schließlich in einem politi- 90er Jahre folgen, wie sie etwa auch eini- besonders institutionalisiert und hat einen schen Kompromiß verständigt hatte. Er ge der Grundgesetzänderungen vom Ok- eigenen Korpsgeist entwickelt.) Offen- obsiegte mit 66,3% der abgegebenen tober 1994 mit sich brachten, so Art. 3 kundig verhält es sich aber so, daß das Stimmen. Abs. 2 GG (staatlicher Einsatz für die bayerische Publikum in dieser Tatsache vor Volksentscheide sind in Bayerm auch ohne Gleichberechtigung von Frauen und Män- allem ein Indiz besonderer bayerischer vorangegangene Volksgesetzgebung not- nern), sowie die Ergänzung von Abs. 3 Stärke auf der nationalen Ebene sieht, die wendig, wenn der Landtag zuvor mit der desselben Art. (keine Benachteiligung von es zu erhalten gelte. Die für ihr Agieren notwendigen Zweidrittelmehrheit eine Behinderten). auf bundespolitischer Ebene notwendige Verfassungsänderung beschlossen hat Mit der Neueinführung bzw. Ausweitung Souveränität gewinnt die CSU aber wie- (s.o.). Solche Fälle waren die Herabset- von Staatszielbestimmungen wird ein derum, auch ganz nach der Einschätzung zung des Wahlalters 1970 und der Volks- Trend erkennbar, die staatlichen Politiken der eigenen Mitgliederschaft, durch die entscheid zur Verankerung des Umwelt- noch dezidierter auf eine humanitäre von Koalitionsbindungen freie Regie- schutzes in der Bayerischen Verfassung Richtung festzulegen. rungsmöglichkeit in München. Sie ist ge- 1984. wissermaßen das Kugelgelenk für die Manövrierfähigkeit der Partei in alle Rich- ... brachte die umfangreichsten tungen – gegenüber Partnern und Geg- Änderungen der Bayerischen nern im Bund, gegenüber der europäi- Verfassung

Am 8. Februar 1998 hatten die Stimmbe- rechtigten in Bayern über drei Volksent- scheide zu votieren, die die umfangreich- sten Änderungen in der Bayerischen Ver- fassung seit 1946 brachten. Zwei dieser Volksentscheide gingen auf Landtagsgesetze zurück, wobei in einem Fall – Weiterentwicklung im Bereich der Grundrechte und Staatsziele – alle drei Fraktionen im Landtag das Gesetz trugen, im anderen – Reform von Landtag und Staatsregierung – CSU- und SPD-Fraktion. Beim dritten Volksentscheid über Bestand oder Reform des Senats kam es zur Kampfabstimmung zwischen dem Volks- begehren „Schlanker Staat ohne Senat“, das sich durchsetzte, und dem „Senatsre- formgesetz“, hinter dem die Landtags- mehrheit der CSU stand. Die beiden von Regierungspartei und Op- position – in einem Fall zur Gänze, in einem anderen Fall teilweise – getra-

18 Bayern schen Ebene, was das bayerische Insistie- fessionellen Grenzen, in denen die Bayeri- heiten für die Union in anderen Ländern ren auf regionalen Anliegen betrifft, und sche Volkspartei agiert hatte. Heftige in- in einer ganz anderen Funktion als in der auch gegenüber dem kommunalen Be- nerparteiliche Konflikte zwischen einem Zeit der sozialliberalen Koalition von reich, wo die CSU in der Staatsregierung liberalen-konservativ-national orientier- 1969–1982. Indizien für die bewußte An- ausgleichend, unterstützend und för- ten Flügel (Müller) und einer stark födera- nahme dieser Herausforderung sind ins- dernd auftreten kann. Dies bedeutet zu- listisch-katholisch orientierten Gruppie- besondere die Ausstattung der Münchner gleich, daß der parlamentarische Unter- rung (Schäffer, Hundhammer) sowie das Staatskanzlei mit zwei Staatsministern, bau der Staatsregierung, die Landtags- Erstarken der radikal-föderalistisch bis se- ihrem neuen Leiter Erwin Huber, der in fraktion, ein erstrangiger Machtfaktor ist. paratistisch orientierten Bayernpartei Bayern eine Nicht nur weil die Fraktion Regierung und führten aber zum Verlust ihrer ursprüng- erstrangige politische Potenz darstellt, Ministerpräsidenten trägt, sondern weil lich gegebenen Mehrheitsfähigkeit und und dem Staatsminister für Bundes- und ihre Mitglieder zumeist als direkt gewähl- zu schweren Niederlagen bei der Bundes- Europaangelegenheiten Reinhold Bock- te Stimmkreisabgeordnete die wichtige tagswahl 1949 wie der Landtagswahl 1950 let, der als besonderer Kenner der Rechts- Rolle von Ombudsmännern gegenüber (Absturz von 52,3% auf 28,0%). In der materien auch im Bund-Länder-Verhältnis Bürgern, Vereinen, Verbänden, Kommu- Folge regenerierte sich die CSU dank eines gilt. nen und Unternehmen ausfüllen und zu- Modernisierungskurses, den vor allem die gleich häufig als Kreisvorsitzende inner- Ministerpräsidenten Ehard und Seidel SPD: Strukturelle Schwächen, nam- halb der CSU eine wichtige Management- (1955 bis 1961 auch Parteivorsitzender) hafte historische Persönlichkeiten Funktion innehaben. In der Binnenstruk- wie die Parteivorsitzenden bzw. General- tur der CSU spielen darüber hinaus ihre sekretäre Strauß (Parteivorsitzender Die traditionelle große Oppositionspartei 1961–1988) und in Bayern, die SPD, agiert unter anderen Zimmermann Bedingungen, da sie als Teil einer Bundes- vorantrieben. partei nicht dasselbe Maß an Unabhän- Die Partei öff- gigkeit wie die CSU besitzt. Sie hat in den nete sich für das letzten Jahren diese Diskrepanz unter an- liberale, evan- derem durch eine Änderung ihrer Organi- gelische und Ar- sationsstrukturen und die Schaffung eines beitnehmermi- eigenen SPD-Landesverbandes zu behe- lieu wie für Hei- ben versucht. matvertriebene. Die SPD „startete“ bei den ersten Bayeri- Der eigentliche schen Landtagswahlen nach dem Krieg take off von mit Werten, die dem 1998 Erreichten einer zwischen (28,7%) verblüffend ähneln: 1946: 28,6%, 45% und 50% 1950: 28,0%. Wohl entsprechend dem für liegenden Par- die SPD im ganzen Bundesgebiet seit Be- tei zur eindeuti- ginn der 60er Jahre immer positiveren gen Dominanz Trend steigerte sie sich bis auf den Höchst- erfolgte im Zu- wert von 35,8% bei der Landtagswahl Blick über die Nürnberger Altstadt auf die Kaiserburg, im Mittelalter sammenhang 1966. Nicht zuletzt der Aufstieg der Grü- zentraler Ort des Heiligen Römischen Reiches (Deutscher Nation). mit der Bildung nen (1982: 4,6%, 1986: 7,5%) reduzierte Foto: dpa der soziallibera- ersichtlich die SPD-Anteile bis auf den len Koalition Tiefstwert von 26,0% im Jahre 1990. Vor 10 Bezirksverbände (für die 7 Regierungs- 1969 in Bonn: Bei der Landtagswahl 1970 allem dem motivierenden Auftreten der bezirke, dazu München, Nürnberg, Fürth schoß die CSU auf 56,4%, bei der Land- neuen Spitzenkandidatin Renate Schmidt und Augsburg) sowie die Bundeswahl- tagswahl 1974 auf den bisherigen absolu- (Landesvorsitzende seit 1991) dankte die kreisgeschäftsstellen eine herausgehobe- ten Spitzenwert von 62,1% der Stimmen Partei 1994 eine erneute Kräftigung auf ne Rolle. Als eigentliches Erfolgsgeheim- empor. Offenkundig gelang es ihr gerade 30,0%. nis der CSU wird immer wieder das dichte im Zeichen gegensätzlicher Regierungs- Die SPD hat zur bayerischen Nachkriegs- Kommunikationsnetz hervorgehoben, das konstellationen in Bonn und München, geschichte mit bedeutungsvollen Persön- sie um sich entwickelt hat, nicht nur die sich als Ausdruck gesamtbayerischer lichkeiten beigetragen, an ihrer Spitze der vielgenannte „Luftherrschaft über den Selbstbehauptung zu profilieren. Von da zweimalige Ministerpräsident Wilhelm Stammtischen“. Zentrale Bedeutung hat an sank ihr Stimmenanteil leicht kontinu- Hoegner (1945/46 und 1954/57), dessen die intensive Verbindung zur gesamten ierlich, ohne daß aber die Mehrheitsfähig- Erfolg aber nicht zuletzt daran litt, daß Struktur von Verbänden und Vereinen, zu keit je in Gefahr geriet. Bei der Landtags- seine ausgeprägt bayerisch-föderalistische den administrativen Bereichen und, vor wahl 1998 gelang erstmals wieder ein ge- Haltung in den ersten Jahren nach dem allem in kleinstädtischen Milieus, zur mit- ringer Anstieg von 1994: 52,8% auf jetzt Krieg mit unitarischen Tendenzen in der telständischen Wirtschaft. Allerdings: Die 52,9%. Ob im Blick auf die nach der Bun- SPD auf nationaler Ebene kollidierte, ins- CSU ist keine Wirtschaftspartei. Bei den destagswahl 1998 eingetretene Polarisie- besondere beim Parteivorsitzenden Kurt Arbeitnehmern erreichte sie bei der Land- rung gegenüber der neuen rot-grünen Schumacher. Persönlichkeiten von beson- tagswahl 1998 einen Stimmenanteil von Bundesregierung ein erneuter, zusätzli- derem Rang waren vor allem auch die rund 45%. Sie hat ein dezidiertes soziales cher Sog zugunsten der CSU in Bayern be- Landesvorsitzenden Waldemar von Knoe- Profil, das sie etwa ihrer Familienpolitik vorsteht, läßt sich gegenwärtig nicht pro- ringen (1947–1969), ein ausgesprochener (z.B. Einführung eines Landeserziehungs- gnostizieren. Die Neubildung der Bayeri- Intellektueller, der besonderen Wert auf geldes) verdankt. schen Staatsregierung vom 6. Oktober die Erwachsenenbildung legte, und Hans- 1998 macht jedenfalls deutlich, in wel- Jochen Vogel (1972–1977), der in der wei- Dominierende Stellung der CSU chem Maße sich der wiederbestätigte Mi- teren Folge zum SPD-Bundesvorsitzenden nisterpräsident und seit Januar 1999 auch avancierte und viele Jahre als Münchner Die bei der Landtagswahl vom 13. Sep- CSU-Vorsitzende Stoiber der Tatsache be- Oberbürgermeister eine völlig unange- tember 1998 bestätigte dominierende wußt ist, daß die Bayerische Staatsregie- fochtene Position innehatte. Freilich ist es Stellung der CSU in Bayern stellt keine sich rung nach dem Regierungswechsel in der SPD bis heute in Bayern bei Landtags- durch die gesamte Nachkriegszeit ziehen- Bonn die stärkste machtvolle staatliche wahlen nicht gelungen, ähnlich wie die de Konstante dar: Bastion der Union insgesamt in Deutsch- CSU eine Bindung an das gesamte gesell- Zwar wurde die CSU wie die CDU als über- land darstellt. Sie wächst damit in eine sin- schaftliche Gefüge zu entwickeln. konfessionell ausgerichtete, zugleich bür- guläre Rolle hinein – gegenüber der Für beide große Parteien in Bayern gilt gerlich, sozial und marktwirtschaftlich ori- CDU/CSU wie im bundesstaatlichen Wech- aber zugleich, daß sie sich keineswegs entierte Volkspartei gegründet und selspiel von Regierung und Opposition, mehr in hergebrachten Wählermilieus be- sprengte damit von vornherein die kon- wegen des Mangels an absoluten Mehr- wegen, auf deren Zuspruch sie sich fest

Bayern 19 verlassen können. Bei der CSU hat längst wertkonservative Konkurrenz, und sprochen starke Stellung hat in Bayern der eine Nivellierung zwischen ihren Anteilen schließlich hatten die Grünen in Bayern Erste Bürgermeister bzw. Oberbürgermei- in Altbayern wie in Franken und Schwa- gerade in den letzten Jahren nicht zuletzt ster wie der Landrat. Der Bürgermeister ist ben stattgefunden, auch das Gefälle zwi- durch innerparteiliche Konflikte auf sich in Gemeinden bis zu 5.000 Einwohnern in schen Stadt und Land wie zwischen den aufmerksam gemacht. So zeigen ihre der Regel ehrenamtlich tätig, sofern der beiden Konfessionen ist bei beiden Partei- Wahlergebnisse seit dem erstmaligen Ein- Gemeinderat nichts anderes bestimmt, in en geringer geworden, wenn es auch im zug in den Landtag 1986 (7,5%) eine Gemeinden von 5.000 bis 10.000 Einwoh- katholischen Bereich die CSU noch etwas leicht fallende Tendenz auf 5,7% (1998). nern hauptamtlich (Wahlbeamter), sofern stärker als im evangelischen ist. Nicht zuletzt dank der Profilierung der der Gemeinderat auch hier nichts gegen- Vor allem Kommunalwahlen bieten zu- CSU als klassische Vertretung bayerischer teiliges bestimmt, in Gemeinden mit über gleich immer wieder Beispiele dafür, daß Interessen wie Ausdruck bayerischen 10.000 Einwohnern muß der Bürgermei- gerade in Bayern nach Persönlichkeiten Selbstwertgefühls hat die Bayernpartei ster berufsmäßig tätig sein. Er hat Sitz und gewählt wird – ebenso wie der CSU-Sieg bald an Bedeutung verloren. Seit 1970 ist Stimme im Gemeinderat, übt hier zugleich bei der Landtagswahl 1998 in hohem sie nicht mehr im Landesparlament vertre- den Vorsitz aus und legt die Tagesord- Maße Ausdruck einer Stoiber-Wahl war: ten. nung fest, wobei er natürlich Anträge aus Die Kommunalwahlen zeigen zugleich, Genugtuung herrscht in Bayern vor allem dem Gemeinderat berücksichtigen muß. daß die Parteien ihre Wähler jeweils neu darüber, daß extremistische Pareien seit Konkret bedeutet dies etwa, daß in einem durch Leistung für sich gewinnen bzw. bei Jahrzehnten nicht mehr in den Landtag Gemeinderat (Stadtrat) bei einer Stadt einem unbefriedigenden Erfolgskatalog einziehen konnten. Zuletzt gelang dies von 25.000 Einwohnern mit 30 Mitglie- Niederlagen akzeptieren müssen: der NPD 1966. Aber der in den 90er Jahren dern insgesamt 31 Stimmen abgegeben So brachten die Kommunalwahlen 1996 in im Bundesgebiet auftretende, gewisser- werden können. Der Bürgermeister ist zu- Bayern den für die CSU frappierenden Er- maßen jüngere Extremismus, scheint sich gleich Chef der kommunalen Verwaltung folg, daß sie die Ämter der Oberbürger- in Bayern mit seinen überdurchschnittlich mit allen sich daraus ergebenden dienst- meister in den drei Großstädten des mit- stabilen soziokulturellen Lebensbedin- rechtlichen Zuständigkeiten; Entscheidun- telfränkischen Ballungsraumes Nürnberg, gungen relativ schwer zu tun, was freilich gen von geringerer Bedeutung kann er Fürth und Erlangen erobern konnte – der nicht heißt, daß das Land grundsätzlich selbst treffen. klassischen SPD-Hochburg in Bayern. Um- frei von dieser Gefahr wäre. Bei der Abstimmung im Gemeinderat gekehrt regiert etwa im vermeintlich tief- kann nur mit Ja und Nein votiert werden, schwarzen niederbayerischen Passau seit Die Gemeinden Enthaltung ist nicht zulässig. Eine bayeri- 1990 ein Sozialdemokrat als Oberbürger- sche Besonderheit ist die Verwaltungsge- meister, der durch eine besonders innova- Die Ersten Bürgermeister bzw. Oberbür- meinschaft. Dank ihr haben zahlreiche tive Kommunalpolitik auf sich aufmerk- germeister (in den kreisfreien Städten und kleine Gemeinden die in Bayern wie im sam macht. Auch die Hauptstadt der sogenannten Großen Kreisstädten) wie übrigen Bundesgebiet in den 70er und Oberpfalz, Regensburg, hatte von 1990 die Landräte werden unmittelbar von der 80er Jahren durchgeführte Gebietsreform bis 1996 eine SPD-Oberbürgermeisterin. wahlberechtigten Bevölkerung bestimmt; überlebt. Die Mitgliedsgemeinden blei- wenn im ersten Wahlgang kein Kandidat ben eigenständig, sie unterhalten aber in Die Liberalen und die Grünen haben die absolute Mehrheit erreicht, wird ein der Verwaltungsgemeinschaft gemeinsam es hier schwer zweiter notwendig, an dem die beiden eine Verwaltungsstelle, deren Personal Kandidaten mit den höchsten Stimmen- ihnen zuarbeitet. Für Angelegenheiten, Bayern ist, anders als etwa Südwest- zahlen teilnehmen. Bei den Wahlen zu die alle Mitgliedsgemeinden betreffen, ist deutschland, kein klassisches Land des den Gemeinde- und Kreistagen gelten die eine Gemeinschaftsversammlung zustän- parteipolitischen Liberalismus. Die Libera- Grundsätze des Panaschierens und Kumu- dig. len in Gestalt der FDP haben es zugleich in lierens: Das heißt, daß der Wähler sich Auf der Landkreisebene sei noch auf eine der Nachkriegszeit in Bayern überdurch- nicht nur für einzelne Listen entscheiden weitere Spezialität hingewiesen: Hier be- schnittlich schwer gehabt, so daß auch die muß, sondern einzelnen Kandidaten auf stehen das Landratsamt als staatliche Diskrepanz zwischen ihren Ergebnissen den jeweiligen Listen bis zu drei Stimmen Behörde wie der Landkreis als kommuna- bei der Landtags- und der Bundestags- geben kann, wobei er seine Stimmen ins- le Selbstverwaltungseinrichtung. Der Land- wahl besonders groß wurde, kulminie- gesamt – entsprechend der Zahl der Man- rat ist Behördenleiter des Landratsamtes. rend in den Wahlergebnissen von 1998: date in der jeweiligen kommunalen Ver- Damit kann sein Handeln je nach Materie 1,7% bei der Landtagswahl, 5,1% der tretung – auch auf Kandidaten aus ver- entweder dem Landkreis oder dem Frei- Zweitstimmen bei der Bundestagswahl. schiedenen Listen verteilen kann. Auf staat Bayern zugerechnet werden. Zwar hat auch die FDP in Bayern Persön- diese Weise können besonders beliebte, lichkeiten von bundesweiter Resonanz angesehene oder lokal verankerte Kandi- Die Bezirke als dritte hervorgebracht, wie vor allem ihren daten weit nach vorne gewählt werden. kommunale Ebene langjährigen Bundesvorsitzenden Thomas Alle kommunalen Mandatsträger in den Dehler oder auch Hildegard Hamm- Gemeinden und Kreisen werden für Bayern zeichnet sich durch die Besonder- Brücher, die mit ihrer Profilierung als 6 Jahre gewählt. Andere Regelungen gel- heit einer dritten kommunalen Ebene, der „progressiv“ insbesondere den emanzipa- ten für die Bezirkstage (s.u.). Bezirke aus. Die Bezirke sind territorial torischen Vorstellungen der 70er Jahre Eine starke Stellung haben in Bayern tra- deckungsgleich mit den Regierungsbezir- entsprach. Es ist der FDP in Bayern aber ditionell neben den politischen Parteien ken als staatlichen Verwaltungsgliederun- nie gelungen, in den Rang eines als unver- Wählergruppen. Von ihnen werden gen auf der mittleren Ebene zwischen zichtbar geltenden parteipolitischen Fak- ca. 30% der kommunalen Mandate im Staatsregierung bzw. Landesämtern und tors aufzusteigen. Da sie im Freistaat zu- Land gestellt. Naturgemäß ist ihre Positi- Landratsämtern bzw. kreisfreien Städten. mindest seit den sechziger Jahren für Ko- on in kleineren Gemeinden stärker als in Die Bezirke tragen auch, was gerade alitionsbildungen ersichtlich nicht ge- den großen Städten, wo eher die Politisie- außerhalb Bayerns mitunter zur Verwir- braucht wurde und wird, wird sie hier ge- rung nach parteipolitischen Orientierun- rung führt, die gleichen Namen wie die rade in Zeiten starker Polarisierung zum gen greift. Regierungsbezirke, so z.B. Mittelfranken marginalen Faktor. Die Gemeinderäte sind ebenso wie die oder Oberfranken. Sie sind aber kommu- Auch die Grünen bzw. Bündnis 90/Die Kreistage keine Parlamente im Sinne der nale Selbstverwaltungskörperschaften mit Grünen tun sich in Bayern schwerer als klassischen Gewaltenteilung. Vielmehr eigenen Aufgaben. Ihr Vertretungsorgan etwa in Baden-Württemberg mit dem sind Gemeinderat und Bürgermeister ist der Bezirkstag. Die Zahl seiner Mitglie- ihnen gewogenen Milieu in dessen Uni- gleichberechtigte Organe, die die Ge- der entspricht der Zahl der Landtagsabge- versitätsstädten: Einmal beansprucht die meinde nebeneinander und nach unter- ordneten, die jeweils aus dem entspre- regierende CSU für sich selbst, seit langem schiedlichen Zuständigkeiten verwalten. chenden Wahlkreis (Regierungsbezirk) ge- Umweltpartei zu sein, zum anderen gibt Dabei erfüllen die Gemeinderäte exekuti- wählt werden, so z.B. bis einschließlich es hier mit der Ökologisch-Demokrati- ve und legislative Funktionen, so etwa die schen Partei (ÖDP) eine relativ starke Festlegung der Satzungen. Eine ausge-

20 Bayern 1998 in Mittelfranken 28, in Oberbayern menden an den Abstimmungsberechtig- Für das heutige Bayern gilt, daß seine Hal- 65, insgesamt 204. Mit den infolge der Än- ten ist. Es kommt hinzu, daß der Bürge- tung wie sein Aktionsradius nach außen derungen der Bayerischen Verfassung im rentscheid mit der Wirkung eines Gemein- auf verschiedene Bezugsobjekte gerichtet Februar 1998 auch für den Landtag in deratsbeschlusses (bzw. Kreistagsbeschlus- sind: Kraft getretenen Neuregelungen ergeben ses) eine Bindungswirkung von drei Jah- – Die Kooperation wie den Wettbewerb sich folgerichtig auch hier Anpassungen: ren hat: Innerhalb dieser Frist kann er nur mit anderen deutschen Ländern und die Die Bezirkstage werden nunmehr für durch einen anderen Bürgerentscheid Position gegenüber dem Bund. fünf Jahre gewählt, so jetzt von 1998 bis geändert werden. Zwar ist die Haushalts- – Die Rolle der deutschen Länder und 2003, die Gesamtzahl ihrer Mitglieder in satzung vom Bürgerentscheid ausgenom- zumal des Freistaates Bayern in der Eu- Bayern muß bei der Bezirkstagswahl 2003 men, doch muß das ihn tragende Bürger- ropäischen Union. erstmals auf 180 reduziert werden. Die Be- begehren – anders als ein kostenwirksa- – Die regionale Zusammenarbeit Bayerns zirkstage werden nicht nur zum gleichen mer Antrag eines Gemeinderates – keinen mit seiner europäischen Nachbarschaft. Zeitpunkt wie die Landtage gewählt, son- Deckungsvorschlag enthalten. dern – im Gegensatz zu Gemeinderäten Damit es zum Bürgerentscheid kommt, Bayern und der Föderalismus und Kreistagen – auch nach den Regulari- bedarf es eines Bürgerbegehrens. Die An- in Deutschland en für die Landtagswahl (s.o.). So werden zahl der Gemeindebürger, die es unter- Kandidaten für die Bezirkstage in einzel- stützen müssen, variiert je nach Größe von Im Blick auf den innerdeutschen Föderalis- nen Stimmkreisen – oft entsprechend den z.B. in Gemeinden bis zu 10.000 Einwoh- mus ist für Bayern heute wesentlich, daß Landkreisgrenzen – aufgestellt, daneben nern 10% der Wahlberechtigten zu 3% in die Teilung der Staatsgewalt in Deutsch- gibt es auch hier Wahlkreislisten. Städten über 500.000 Einwohnern. land auf zwei Ebenen – Bund und Länder – Der Bezirkstag wählt in seiner ersten Sit- Der Bayerische Verfassungsgerichtshof wieder stärker profiliert und mehr Wettbe- zung aus seiner Mitte den Bezirkstagsprä- hat mit Urteil vom 29. August 1997 das werbsföderalismus unter den Ländern sidenten. Dieser ist im Gegensatz zum Gesetz über Bürgerbegehren und Bürger- möglich wird. Diese Position, auch inner- Landrat und Oberbürgermeister wie Er- entscheid in einigen Punkten für verfas- deutsch vom Gedanken der Subsidiarität sten Bürgermeister in den größeren Ge- sungswidrig erklärt und dem Gesetzgeber getragen, richtet sich gegen die Vermen- meinden ehrenamtlich tätig, erhält aber aufgetragen, bis zum 1. Januar 2000 eine gung von Aufgaben und Finanzierungen, eine angemessen Aufwandsentschädi- Neuregelung zu treffen. Mit dieser Frage wie sie insbesondere durch die Große Ko- gung. Grundsätzlich gilt, daß die Bezirke ist somit der am 13. September 1998 ge- alition in Bonn 1966–1969 eingerichtet kommunale Aufgaben wahrnehmen, die wählte Landtag befaßt. Zugleich bemüht wurde, u.a. durch die Gemeinschaftsaufga- die Möglichkeiten der Landkreise und sich die Initiative Mehr Demokratie in Bay- ben nach Art. 91a GG. Die Prioritätenset- kreisfreien Städte übersteigen. Das gilt ern, die das 1995 erfolgreiche Volksbe- zung auf die Förderung von Eigenleistung etwa für Spezialkrankenhäuser, regionale gehren trug, durch ein weiteres Volksbe- und Wettbewerb war auch das leitende Museen, die der Heimat- und Denkmal- gehren mit Volksentscheid Neuregelun- Motiv für die Klage Bayerns und Baden- pflege dienen, und bestimmte Bereiche gen in der Bayerischen Verfassung durch- Württembergs, der Hessen mit einer inhalt- der beruflichen Bildung. Analog zur Kreis- zusetzen, die das Gesetz in der ursprüngli- lich ähnlich begründeten Klage folgt, vor umlage, die die Gemeinden entrichten chen Form mit geringen Modifikationen dem Bundesverfassungsgericht gegen den müssen, erhalten die Bezirke von den „retten“. In der parlamentarischen Be- Länderfinanzausgleich in der bestehenden Kreisen und kreisfreien Städten eine Be- handlung sind derzeit (März 1999) ein Ge- Form. Dabei wird von seiten der Bayeri- zirksumlage. Klar ist auch, daß Bezirk und setzentwurf der CSU, der den Festlegun- schen Staatsregierung immer wieder be- Regierungsbezirk, auch wenn sie unter- gen des Verfassungsgerichtshofes (s.u.) tont, daß es hier nicht um ein sich Ausklin- schiedliche Funktionen erfüllen, nicht wie Rechnung trägt, sowie ein mit dem neuen ken aus der Solidarität mit den 1990 beige- Fremdkörper nebeneinander bestehen Volksbegehren von „Mehr Demokratie in tretenen neuen Ländern geht, da hier hi- können. Zwischen der Verwaltung des Be- Bayern“ textlich identischer Entwurf von storisch bedingte Nachteile weiterhin aus- zirkes und dem Regierungsbezirk als SPD und Bündnis 90/Die Grünen. geglichen werden müßten. Im Gegensatz staatlicher Verwaltungsebene besteht ein Der Verfassungsgerichtshof hat vor allem dazu habe das bayerische Beispiel aber ge- Verwaltungsverbund. Der von der Staats- gerügt, daß der Verzicht auf ein Beteili- rade im Vergleich mit einigen Westländern regierung für den Regierungsbezirk er- gungs- und Zustimmungsquorum beim bewiesen, daß man sich durch Eigenan- nannte Regierungspräsident kann an Bürgerentscheid in Kombination mit der strengung, wenn man es nur wolle, vom allen Sitzungen des Bezirkstages und sei- Bindungswirkung von dessen Resultat mit Nehmer- zum Geberland entwickeln ner Ausschüsse teilnehmen, zugleich kön- einer Dauer von drei Jahren zu einer ver- könne. Solche Eigenanstrengungen müß- nen diese sein Erscheinen auch verlangen. fassungswidrigen Beeinträchtigung des ten gerade von den Westländern erwartet Über Funktion und weitere Entwicklung Kernbereichs der Selbstverwaltung der werden, deren Wirtschaftsstruktur durch der Bezirke wird gegenwärtig eine inten- Gemeinden und Landkreise führe. Den sogenannte „alte“ Industrien geprägt sei. sive Diskussion geführt. kommunalen Vertretungen würden die Insgesamt hat der Prozeß der Wiederver- Hände gebunden. Politisch geht es hier einigung Deutschlands zu einem gerade Bürgerentscheid – auch um die oft geäußerte Vermutung, auch von Bayern aus induzierten intensi- bislang ohne Quorum ohne Quorum könnten Minderheiten veren Nachdenken über Wesen und Inhal- ihre nicht unbedingt mit dem Gemein- te des deutschen Föderalismus geführt. Jungen Datums ist die plebiszitäre Kom- wohl kompatiblen Anliegen durchsetzen. Auf der ersten gesamtdeutschen Minister- ponente auf Gemeinde- und Kreisebene Wie immer der weitere Gang der Ent- präsidentenkonferenz nach der Wieder- in Bayern, die Einrichtung von Bürgerbe- wicklung verläuft, die Frage nach der Zu- vereinigung am 20./21. Dezember 1990 gehren und Bürgerentscheid. Beim Volks- kunft von Bürgerbegehren und Bürge- hoben die Regierungschefs der deutschen entscheid vom 1. Oktober 1995 setzte sich rentscheid ist in jedem Fall die gegenwär- Länder in ihrer „Münchner Erklärung“ eine Mehrheit von 57,8% der an der Ab- tig kommunalpolitisch bedeutungsvollste hervor, daß Föderalismus und Subsi- stimmung Beteiligten für den Gesetzent- in Bayern. diarität tragende Prinzipien bei der weite- wurf eines entsprechenden Volksbegeh- ren Entwicklung Deutschlands wie der eu- rens und gegen den alternativen Gesetz- Beziehungen nach außen ropäischen Integration sein müßten. In entwurf der von der CSU getragenen der Folge dieser Festellungen sind gerade Landtagsmehrheit durch. Damit trat am Bayern, wiewohl seit 1871 in den deut- die von Bayern vorangetriebenen Ände- 1. November 1995 im Freistaat Bayern schen Nationalstaat integriert und damit rungen des Grundgesetzes zu sehen, eine entsprechende gesetzliche Neurege- ohne staatliche Souveränität, hat sich nie die 1994 in Kraft traten, zumal im Bereich lung in Kraft, die als die weitestgehende auf eine reine Binnenrolle beschränkt. So der konkurrierenden Gesetzgebung im Bundesgebiet anzusehen ist: Danach erregte in den 20er Jahren Aufsehen, als in (Art. 72 GG). Hier ist nunmehr von gleich- kennt der Bürgerentscheid in Bayern kein München die faschistische Italienisierungs- wertigen, nicht gleichen Lebensverhältnis- Quorum. Die Mehrheit der Abstimmen- politik in Südtirol heftig kritisiert wurde, in sen im Bundesgebiet die Rede; zugleich den setzt sich durch, ungeachtet der Tat- einer Intensität, die Reichsaußenminister wird die Möglichkeit eröffnet, daß Lan- sache, wie hoch der Anteil der Abstim- Stresemann als irritierend empfand. desrecht Bundesrecht ersetzen kann.

Bayern 21 Vor allem die seit Herbst 1998 gravierend zips im Amsterdam-Vertrag schreibt sich der aus dem Jahr 1990 rührenden Arbeits- veränderte politische Gesamtlandschaft in gerade auch Bayern auf seine Fahnen. Al- gemeinschaft Donauländer mit. Ein zen- Deutschland mit gegensätzlichen Regie- lerdings scheint vor allem die Wirksamkeit trales Anliegen für den Freistaat Bayern ist rungskonstellationen in München und des Ausschusses der Regionen, um es die durchgreifende Verbesserung der Ver- Bonn respektive Berlin läßt es aber – um zurückhaltend auszudrücken, noch aus- kehrsanbindung zu Oberitalien über den sich zurückhaltend auszudrücken – nicht baufähig. Eckpfeiler der gestärkten euro- Brenner. Bei den Beziehungen zwischen einfach erscheinen, mehr Wettbewerbsfö- papolitischen Position der Länder ist aber Bayern und der tschechischen Republik deralismus in der Form durchzusetzen, offenkundig der 1992 neugefaßte Art. 23 bleibt die Frage der Bewertung von Ver- daß Transfers von prosperierenden und des Grundgesetzes. Er regelt die Mitwir- folgung und Vertreibung der Sudeten- zugleich durch die Union regierten Län- kung der Länder an der Europapolitik des deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg, dern zugunsten solcher, die entsprechend Bundes und gibt ihren Auffassungen eine die ja vor allem im Freistaat eine neue Hei- der Konstellation im Bund regiert werden, maßgebliche Position, wenn es um Län- mat gefunden haben, ein wichtiger, aus reduziert werden. dermaterien geht. Sicht der Bayerischen Staatsregierung bis- lang nicht befriedigend geklärter Punkt. Bayern – Anwalt für regionale Europa und die Politik Wie an den Außengrenzen anderer deut- Gestaltungsspielräume der Staatsregierung scher Länder auch gibt es grenzüber- schreitende Zusammenarbeit in Gestalt Die bayerische Sensibilität für die Ein- Die Betrauung von Staatsminister Rein- der sogenannten „Euregios“ z.B. die „Eu- schränkung regionaler Gestaltungsspiel- hold Bocklet bei der Neubildung des regio Egrensis“, die „Euregio Bayerischer räume durch die europäische Integration Bayerischen Kabinetts im Oktober 1998 Wald/Böhmerwald“, die Inn-Salzach-Eure- ist keine Entdeckung der letzten Jahre. mit den Bundes- und Europaangelegen- gio und die „Euregio Salzburg-Berchtes- Hier liegt vielmehr eine Kontinuität vor, heiten zeigt im übrigen, daß der Weg gadener Land-Traunstein“. die sich bis in die Regierungszeit von Mini- einer energischen Vertretung bayerischer sterpräsident Strauß in den 80er Jahren Interessen gegenüber Brüssel, zumal in Das Wappen zurückverfolgen läßt. Dabei wurde da- den oft komplexen europarechtlichen Ma- mals schon immer deutlicher, daß mit Zu- terien, entschlossen fortgesetzt werden Das Herzschild des großen bayerischen stimmung des Bundes zunehmend Kom- soll. Die Europaangelegenheiten, schon Staatswappens zeigt silber- und blaufar- petenzen an die Europäische Gemein- bislang in der Staatskanzlei angesiedelt, bene Schrägrauten (Wecken), die schon schaft abgegeben wurden, bei denen es genießen seit langem die besondere Auf- seit dem 13. Jahrhundert von den Wittels- sich innerdeutsch um Ländermaterien merksamkeit des Ministerpräsidenten. Die bachern geführt worden waren. Auf dem handelte. Bayern ist dagegen sogar den Betrauung eines Staatsministers innerhalb viergeteilten Schild repräsentiert der gol- Weg der Klage vor dem Bundesverfas- der Staatskanzlei mit dieser Materie, der dene Löwe die altbayerisch-oberpfälzi- sungsgericht gegangen, wie durchaus mit als ehemaliger Abgeordneter im Europäi- schen Bezirke, der „fränkische Rechen“ Erfolg bei der Fernsehrichtlinie der Eu- schen Parlament wie juristischer Fachken- die drei fränkischen Regierungsbezirke ropäischen Gemeinschaft. Wesentliche ner besondere Kompetenz besitzt, zeigt, Bayerns. Unten links steht der blaue Streitpunkte in diesen Auseinanderset- wie sehr Europapolitik in Bayern als exi- Panther als Symbol Niederbayerns und für zungen im Dreieck zwischen Ländern, stentielles Thema behandelt wird. den schwäbischen Teil das Drei-Löwen- Bund und Brüssel sind seit längerem die Zweifellos ist es in der Summe binnen we- Wappen der Staufer. Regionalförderung und die Agrarpolitik, niger Jahre gelungen, eine Reihe von Sper- Die beiden Löwen sind in Bayern seit dem beides Bereiche, in denen Bayern gegen ren zu errichten, die verhindern sollen, daß 14. Jahrhundert als Schildhalter verwen- die von der Kommission vorgeschlagene die Länder auf dem Weg über die Integra- det worden. Auf dem Schild liegt die Agenda 2000 Zuständigkeiten auf natio- tion zu Verwaltungsprovinzen mediatisiert Volkskrone, die die Volkssouveränität ver- naler und vor allem regionaler Ebene ver- werden, ein Anliegen, das mit umso größe- sinnbildlicht. langt und sich dabei ordnungspolitisch rer Vehemenz naturgemäß von solchen Als kleines Staatswappen wird das Rau- auf den Subsidiaritätsgedanken beruft. Ländern wie Bayern vertreten wurde und tenwappen mit Volkskrone verwendet. Institutionell und vertragsrechtlich ist es wird, die sich ihrer eigenen Staatlichkeit gerade nach den Initiativen der bayeri- auch wirklich bewußt sind. Ob und wie schen Politik in den letzten 10 Jahren ge- diese Sperren weniger Zentralisierung und lungen, auf der europäischen Ebene eini- mehr Pluralität gewährleisten können, ges zugunsten der Länderanliegen zu be- muß die weitere Zukunft zeigen. wegen: Voraussetzungen waren u.a. die Einrichtung einer eigenen Vertretung des Grenzüberschreitende Beziehungen Freistaates Bayern bei der EG in Brüssel und die Einrichtung der Konferenz „Euro- Wie auch andere deutsche Länder hat Literaturhinweise pa der Regionen“ seit 1989. U.a. mit die- Bayern historisch gewachsene grenzüber- sen Vehikeln gelang es, die Kommission in schreitende historische Bindungen und Brüssel erst einmal stärker für die Spezifik Beziehungen in sein unmittelbares Um- Geschichte des modernen Bayern. Königreich und Freistaat, A 95, Bayerische Landeszentrale der Staatlichkeit der deutschen Länder zu feld, die in bestimmter Weise dichter sein für politische Bildungsarbeit, München 1994 sensibilisieren. Ein Prestigeerfolg auf die- können als zu anderen Teilen des Bundes- Peter Kitzeder: Gemeinde, Landkreis, Bezirk, sem Weg war es, daß Kommissionspräsi- gebietes. Erinnert sei an die enge ökono- Bürger und Kommunen in Bayern, 3. Aufl., A 98, dent Delors am 1. Februar 1991 eine Rede mische Verflechtung mit Oberitalien oder Bayerische Landeszentrale für politische Bil- im Bayerischen Landtag hielt. auch an die freilich von Sensibilitäten und dungsarbeit, München 1997 Peter Jakob Kock: Der Bayerische Landtag. Eine Was haben nun die beiden entscheiden- problematischen historischen Reminiszen- Chronik, Bamberg 1991 den vertragsrechtlichen Weiterentwick- sen nicht freie Beziehung mit dem stamm- Alf Mintzel: Die CSU-Hegemonie in Bayern, lungen der Integration, der Vertrag von verwandten Österreich, dessen Kernland München 1998 Maastricht aus dem Jahr 1991 und der bei ja bis 1156 Teil des bayerischen Herzog- Rainer A. Roth: Freistaat Bayern. Politische Lan- Redaktionsschluß dieses Beitrages noch tums war. Zur Optimierung der kulturel- deskunde, 2. Aufl., A 92 Bayerische Landeszen- trale für politische Bildungsarbeit, München nicht ratifizierte Vertrag von Amsterdam len und infrastrukturellen Zusammenar- 1994 1997, gebracht? beit wirkt Bayern in der 1972 gegründe- Max Spindler (Hg.): Handbuch der Bayerischen Die Einrichtung des Ausschusses der Re- ten Arbeitsgemeinschaft Alpenländer, der Geschichte, 4 Bde., München 1967/75 gionen, die Möglichkeit des Auftretens 1978 gegründeten Arbeitsgemeinschaft Thomas Schlemmer: Aufbruch, Krise und Er- von Länderministern im Ministerrat, wenn Adria, der im gleichen Jahr eingerichteten neuerung. Die Christlich-Soziale-Union 1945 bis 1995, München 1998 es um Ländermaterien geht, und die deut- Internationalen Bodenseekonferenz und liche Verankerung des Subsidiaritätsprin-

Anschrift: Bayerische Landeszentrale für politische Bildungsarbeit, Brienner Straße 41, 80333 München

22 Bayern Bundesland und wieder Hauptstadt ternationale Ächtung des Deutschen Rei- ches nach dem Ersten Weltkrieg lange an- dauerte, habe Berlin nie den prägenden Berlin Rang von Paris (Kultur) und London (Fi- nanzen) erreichen können. Vom „Mythos Berlin“ wird gesprochen, der im Grunde erst nachträglich entstanden sei, als ver- klärender Rückblick. Wie dem auch sei, Von Hansjoachim Hoffmann eine unbestrittene Metropolenstellung Berlins, auf die man sich nur zu berufen brauchte, als die Behinderungen der Tei- lung fielen, gibt es ebenso wenig wie einen glatten Übergang von der Symbol- funktion in den Trennungsjahren zur rea- Randlage oder „Mythos Berlin“? jedoch der Ausbreitung von Siedlungen len Hauptstadt des vereinten Deutsch- und Verkehrswegen nach allen Seiten gün- land. Berlin – an Fläche (889 Quadratkilometer) stig. Heute überdeckt die Stadt das Spree- „Es gibt keine natürlichen Hauptstädte. und Einwohnerzahl (3,47 Millionen) die tal und die angrenzenden Landschaften, Hauptstädte werden durch politische Ent- größte Stadt Deutschlands, unter den Län- allerdings in sehr unterschiedlicher Inten- scheidungen geschaffen.“ Dieses Urteil dern nach diesen Kriterien an vierzehnter sität, die von der Innenstadt zu den Gebie- des Politikwissenschaftlers Klaus von Beyme erwies im Falle Berlins erneut seine Richtigkeit. Das knappe Ergebnis der ent- scheidenden Abstimmung des Bundesta- ges am 20. Juni 1991 (338 Abgeordnete – vor allem aus CDU, FDP, PDS und Bündnis 90/Grüne – für Berlin, 320 für Bonn) ist mittlerweile zwar schon Geschichte, es gibt aber zu denken, auch daß die regio- nale Herkunft und das Alter sich als aus- schlaggebender erwiesen als die Parteizu- gehörigkeit: Abgeordnete aus dem We- sten und Süden stimmten eher für Bonn, aus dem Norden und Osten eher für Ber- lin; ältere Abgeordnete neigten zu Berlin, jüngere zu Bonn. Seitdem befindet sich die Stadt inmitten eines tiefgreifenden Wandels, in dem sich die bekannten Si- cherheiten und Gewißheiten auflösen, während die neuen Konturen sich noch festigen müssen. Mit der Verlegung des Parlaments- und Regierungssitzes verbin- den sich vielfältige Hoffnungen..

Von der Residenzstadt Brandenburg- Preußens zur Hauptstadt des Deut- Blick über moderne Industriebauten auf das Produktionstechnische Zentrum, das „Dop- schen Reiches. pelinstitut“ der Technischen Universität Berlin und der Fraunhofer-Gesellschaft, an der Spree im Bezirk Charlottenburg. Foto: Günter Schneider Als Berlin, die Hauptstadt Preußens, 1871 zur Hauptstadt des Deutschen Reiches und an achter Stelle – liegt annähernd ten außerhalb des S-Bahn-Ringes deutlich wurde, hatte es reichlich hundert Jahre gleichweit entfernt von Harz, Ostseeküste abnimmt. Charakteristisch für Berlin ist, hinter sich, in denen es als Stadt von eu- und Erzgebirge mitten im östlichen Teil daß sich innerhalb des Stadtgebietes ropäischer Bedeutung gelten konnte. der Norddeutschen Tiefebene. Bereits seit größere Wasser- oder Grünflächen erhal- Seine Anfänge waren dagegen eher be- dem Ende des Ersten, noch deutlicher ten haben, ein Viertel der Gesamtfläche scheiden nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges der Stadt. Die Nord-Süd-Ausdehnung Ber- Berlin entstand gegen Ende des 12. Jahr- nimmt Berlin innerhalb Deutschlands lins beträgt heute achtunddreißig Kilome- hunderts – inmitten eines Jahrzehnte geographisch eine Randlage ein. Abseits ter, die von Osten nach Westen fünfund- zuvor noch slawisch beherrschten und der beiden zentraleuropäischen Streifen vierzig, was ungefähr der Entfernung wenig besiedelten Gebietes – als eine der mit hoher Bevölkerungsdichte und großer Duisburg-Dortmund gleichkommt. Auf der vielen deutschen Siedlerstädte östlich der Städtezahl, der dominierenden Rhein- Fläche Berlins hätten die Flächen von Mün- Elbe, abgelegen von den politischen und achse und der (Neben-) Achse Ruhr- chen, Stuttgart und Frankfurt am Main be- wirtschaftlichen Schwerpunkten zwischen gebiet/Dresden, bildet Berlin mit dem en- quem zusammen Platz. Rhein, Weser und Donau. Die Askanier, geren Umland eine eigene punktuelle Auf die Frage nach der Bedeutung dieser Landesherren der Mark Brandenburg und Siedlungskonzentration. Die Entfernung Agglomeration im nationalen und inter- als Kurfürsten Mitglieder des Gremiums, von den Dichtezonen wird durch eine ge- nationalen Leben werden gern – meist das den deutschen König wählte, gründe- wisse Ost/West-Mittellage ausgeglichen: unter Berufung auf die zwanziger Jahre – ten die Doppelstadt Berlin-Cölln an einem Warschau und München sind knapp 500 Begriffe wie „Metropole“ und „Welt- ausbaufähigen Spreeübergang. Größere Kilometer, Paris und Riga etwa 900 Kilo- stadt“ verwendet. Manche Untersuchun- Bedeutung erhielt Berlin allerdings erst im meter Luftlinie entfernt. gen der letzten Zeit sprechen jedoch von 15. Jahrhundert als Residenzstadt der Ho- Der geologisch von der Eiszeit geprägte der „überschätzten Metropole“: Berlin henzollern (Belehnung 1415), freilich ver- Berliner Raum mit zahlreichen Überresten hätte bis in die Zeit zwischen den Kriegen, bunden mit dem Ende städtischer Bürger- der Schmelzwasserrinnen und geringen mit Ausnahme der politischen Leitungs- autonomie. Höhenunterschieden bedurfte zwar der funktionen und ihres Umfeldes, gegen- Die Entwicklung der Stadt spiegelte nun- Inwertsetzung durch den Menschen, war über anderen wichtigen deutschen Städ- mehr die Entwicklung der Landesherr- ten nie dominiert. Auch und gerade in schaft wider, die von hier aus regierte. Mit den „Goldenen Zwanzigern“, als die in-

Berlin 23 dem Aufstieg des sich aus dem Kurfür- die Hauptstadt Preußens und des Reiches, Krieg nicht verwinden konnten und die in stentum Brandenburg entwickelnden Kö- ohne daß die anderen Residenzstädte ihre Demokratie, Kritik und künstlerischer Frei- nigreiches Preußen zur europäischen Ansprüche als Zentren der jeweiligen Bun- heit den Ursprung allen Übels sahen, als Großmacht und zur Vormacht in Deutsch- desmitglieder aufgaben. Symbol des Verfalls. Wer in Deutschland land wuchs auch Berlin. War die Stadt von gegen die Republik war, bezog meist auch Siedlern aus dem Vorharz und vom Nie- Fünfundsiebzig Jahre Hauptstadt in Stellung gegen die Hauptstadt und richte- derrhein gegründet worden, kamen mit drei Staatsformen te seine Ressentiments verstärkt gegen den Hohenzollern fränkische Hofbeamte, das jüdische Berlin. im ausgehenden 17. und beginnenden Die neue Hauptstadt mußte ebenso in die Schon 1918/19 beim Übergang vom Kai- 18. Jahrhundert in mehreren Wellen reli- neue Rolle hineinwachsen wie das Deut- serreich zur Republik hatte Berlin die Rolle giöse Flüchtlinge aus Frankreich, Wallo- sche Reich. Immerhin überstand sie den eines „symbolischen Ortes“ übernommen, nien, Böhmen, Salzburg und Piemont. Be- Wechsel dreier Staatsformen. Erst die vom an dem – an herausragenden und mög- sonders die durch landesherrliche Privile- Reich herbeigeführte totale Niederlage lichst gleichbleibenden Stellen – Entschei- gien gestützten Hugenotten wirkten als stellte Berlin vor neue Herausforderun- dungen für den Gesamtstaat zeichenhaft geistige und gewerbliche Avantgarde. Um gen. sichtbar wurden. Das Maschinengewehr 1700 war jeder fünfte Berliner Einwohner Im Reichstag, in dem das gleiche und ge- auf dem Brandenburger Tor, die Ausru- französischer Herkunft. Als Napoleon den heime Wahlrecht galt, stellte die SPD seit fung der demokratischen Republik vom preußischen Staat besiegt hatte und ein 1893 fünf der sechs Berliner Reichstagsab- Fenster des Reichstages und der sozialisti- Wiederaufstieg nur durch tiefgreifende geordneten. Das „rote“ Berlin stand in der schen Republik vom Balkon des Schlosses Reformen in der kommunalen Selbstver- gesamten Kaiserzeit in einer gewissen (11.11.1918), die Bürgerkriegsbilder aus waltung, in der rechtlichen Stellung der Spannung zu Preußen und dem Reich. Erst der Berliner Innenstadt der Jahre 1919 Bauern und des Gewerbes sowie im Bil- die neue republikanische Ordnung er- und 1920, in denen sich die Demokratie dungswesen zu erreichen war, wirkten möglichte es 1920 der knappen Mehrheit behauptete, schließlich auch die Bilder der Männer in entscheidenden Positionen, von SPD und USPD im Preußischen Land- Straßenkämpfe ab 1929, die zu ihrem Un- die, ohne gebürtige Preußen zu sein, in tag, das Gesetz über die Bildung einer tergang beitrugen, signalisierten die Si- den preußischen Staatsdienst getreten neuen Stadtgemeinde Berlin durchzuset- tuation, aber auch die Rolle Berlins bei Si- waren. Auch Anwerbung von Arbeitern zen, die jetzt den Umfang erreichte, der cherung und Gewinnung der Macht. Die gab es seit dem 18. Jahrhundert. Während auch heute noch (mit kleineren Korrektu- nationalsozialistische Diktatur begann mit der Industrialisierung kam der beachtli- ren) gilt. einer Fülle inszenierter Bilder: vom Fackel- che Zuzug vor allem aus den preußischen Die Stadt war bis zum Ersten Weltkrieg im zug durch das Brandenburger Tor, über Ostprovinzen. engeren Stadtgebiet auf über zwei Millio- den Reichstagsbrand und den „Tag der Ar- Im 18. und frühen 19. Jahrhundert war nen, im Gebiet von 1920 auf 3,7 Millionen beit“ auf dem Tempelhofer Feld, der das Berlin durch die barocke Stadtplanung Einwohner gewachsen. Bald galt das Ende der Gewerkschaften brachte, bis hin und durch das vergrößerte Stadtschloß, „Steinerne Berlin“ innerhalb des späteren zur Bücherverbrennung. Die zunehmende durch das von Friedrich II. geplante Forum S-Bahn-Ringes als „Stadt der Mietskaser- Verfolgung der Juden wurde im Pogrom an der Repräsentationsstraße Unter den nen“. In der Ausdehnung folgte die Stadt vom 9.11.1938 drohend sichtbar. Linden sowie durch das im klassizistischen dem alten Drang nach Westen. Dort und Ende der dreißiger Jahre war die Haupt- Stil ausgebaute Brandenburger Tor und im Süden waren neue Großstädte mit stadt Deutschlands zur Zentrale des natio- die Bauten Karl Friedrich Schinkels zu qualitätvolleren Wohnungen und Vororte nalsozialistischen Terrorregimes gewor- einer Stadtgestalt gelangt, die trotz aller nach englischem Vorbild mit ländlichen den, das sich nach dem Kriegsbeginn über Wechselfälle bis heute erkennbar bleibt. Villenkolonien entstanden. Mit der Europa ausbreitete. Nach dem Lauf der Die 1810 gegründete Universität gab Ber- Prachtstraße Kurfürstendamm hatte sich Dinge zog hier eine Funktion die andere lin – mit ihrer Verbindung von Forschung im Westem eine zweite City entwickelt. nach sich. Ein besonders starkes national- und Lehre – einen geistigen Mittelpunkt. Schon damals sprach man von den „zwei sozialistisches Potential in Berlin selbst Ende des 18.Jahrhunderts hatte Berlin Städten Berlin“, der „Stadt der Arbeit“ im war dafür nicht erforderlich. Die Wahler- hundertsiebzigtausend Einwohner. Die Osten und Norden und dem „Festsaal der gebnisse der Weimarer Zeit sprechen Zahl stieg bis zur Märzrevolution von 1848 Residenz“ im Westen und Südwesten. gegen eine „Nazi-Hochburg“ in Berlin. auf vierhunderttausend, um sich bis zur War es eine Hochburg des Widerstandes? Reichsgründung (mit Eingemeindungen) Das „jüdische“ Berlin Schon aus technischen Gründen mußte dann noch einmal zu verdoppeln. Ursache der militärische Widerstand (20.Juli 1944) war die durch die Gewerbefreiheit begün- Im Großraum Berlin wuchs das größte seinen Schwerpunkt in Berlin haben. stigte Industrialisierung. städtische Wirtschaftszentrum des Reiches Während der ganzen Zeit der Diktatur Nach dem Scheitern der Revolution von zur größten Industriestadt des Kontinents gab es eine vielfältig motivierte, wenn 1848/49 blieb die preußische Regierung und zum ersten Finanzplatz Deutschlands. auch meist isolierte und schnell wieder un- unter Ministerpräsident von Bismarck Die Elektroindustrie überflügelte den Ma- terdrückte Widerstandstätigkeit in Berlin. auch im Verfassungskonflikt siegreich. schinenbau. Städtische Betriebe für Ver- Trotz mancher Hilfe und auch Protestak- Den Liberalen gelang es nicht, die Rechte kehr und Versorgung und Gemeinnützige tionen in Einzelfällen gab es keinen des Parlaments durchzusetzen, in einer Wohnungsunternehmen suchten in den größeren Widerstand gegen die Deporta- konstitutionellen Monarchie den Staats- zwanziger Jahren neue Lösungen für die tion jüdischer Mitbürger in die Vernich- haushalt zu bestimmen. So wurde die Ein- Verbindung von wirtschaftlichen und so- tungslager im Osten, die am 18.10.1941 heit Deutschlands nicht, wie von den Pa- zialen Aufgaben. Der Begriff der „Golde- begann und der mindestens fünfzigtau- trioten 1848 erhofft, vom Volk, sondern nen Zwanziger“ Berlins bezog sich aber send Berliner Juden zum Opfer fielen. Am von „oben“ – zum Teil mit kriegerischen vor allem auf die kulturelle Vielseitigkeit, Kriegsende war die Stadt – nach jahrelan- Mitteln – erschaffen. Das Deutsche Reich die Lebendigkeit und die geistige Faszina- gem Bombenkrieg und traumatischer wurde gegründet als eine Versammlung tionskraft der Stadt, die sich unter der re- Endkampfphase – eine Trümmerwüste. souveräner Bundesstaaten, der der König publikanischen Staatsform voll entwickeln von Preußen als Deutscher Kaiser (Primus konnten. 1925 lebte mit hundertfünfund- Ein Symbol der Einheit in der Zeit inter Pares) vorstand. Berlin war nunmehr siebzigtausend ein Drittel aller deutschen der Teilung Juden in Berlin. Die Stadt, die sich zu einem Zentrum jüdischen Lebens ent- Berlin fand sich 1945 innerhalb des alliier- wickelte, zog sie an und sie machten Ber- ten Besatzungssystems als besonderes, in lin anziehend. Doch der Glanz war gefähr- vier Sektoren geteiltes Gebiet wieder. Aus det. Der „Asphaltdschungel der Metropo- dem Machtzentrum des besiegten und le“ galt denjenigen, die den verlorenen nicht mehr handlungsfähigen Deutschen

24 Berlin Reiches war ein Symbol des gemeinsamen Triumphes der Alliierten geworden. Von der Hauptstadt aus sollte ein Alliierter Kontrollrat „die Deutschland als Ganzes betreffenden Angelegenheiten“ regeln. Ihm unterstand die Alliierte Kommandan- tur Berlin. Das System war auf Zusam- menarbeit angelegt, aber mit den unter- schiedlichen gesellschaftspolitischen Vor- stellungen in Ost und West war die ent- scheidende Bruchlinie der Nachkriegsent- wicklung schon vorgezeichnet. Berlin, in- mitten der sowjetischen Zone gelegen, geriet in schwierige Situationen. Die An- wesenheit der vier Großmächte in der Stadt machte sie zum bevorzugten Kon- fliktfeld. Als die Berliner in den Gesamt- berliner Wahlen am 20. Oktober 1946 dem kommunistischen System (SED 19,8; SPD 48,7%) eine Absage erteilten, stan- den die Besatzungsmächte vor grundsätz- lichen Entscheidungen. Die Absicht der Sowjets, 1948/49 mit Hilfe einer Blockade der Zugangswege die Westalliierten aus der Stadt zu vertreiben Der Neptunbrunnen von Reinhold Begas (1891) vor dem roten Backsteingebäude des und die Bildung eines westdeutschen Berliner Rathauses. 1861–1869 nach Entwürfen des Architekten Hermann Friedrich Staates zu verhindern, schlug fehl. Die Waesemann im Neo-Renaissancestil erbaut. Foto: Günter Schneider Westalliierten blieben in Berlin, organi- sierten die Luftbrücke, und die deutsche Als die Zeit gekommen war, beteiligte sich auch der innerstädtischen Straßenverbin- Bevölkerung hielt zu ihnen. Seitdem war die Bevölkerung Ost-Berlins tatkräftig an dung dient) befinden sich im Bau. Ein Berlin (West) ein Symbol der Freiheit, mit der Auflösung der DDR: Bürgerrechts- dichtes Netz von IC-, ICE- und Regional- starker gefühlsmäßiger Bindung beson- gruppen nutzten die Freiräume in den Kir- Zügen, ausgebaute Autobahnen und der ders an die Amerikaner, wie die Berlin- chen. Am 9. November 1989 erzwangen internationale Luftverkehr sichern die re- Krise von 1958-1962 (Chruschtschow-Ulti- die Massen an den Grenzübergängen die gionalen und für die Berlin in seiner Lage matum, Mauerbau) und der anschließen- Öffnung, die vom Regime so nicht vorge- besonders wichtigen überregionalen Ver- de Kennedy-Besuch zeigte. Der Preis für sehen war, und entzogen ihm die Macht- bindungen. die Freiheit der Westsektoren war die Tei- grundlage. Bei den ersten freien Wahlen Die Angleichung der Lebensverhältnisse lung Berlins. War in den fünfziger Jahren in der DDR am 18. März 1990 zeigten die macht Fortschritte, und es ist nicht mehr Berlin der Ort, an dem sich Menschen aus Berliner Ergebnisse bemerkenswerte Ab- ohne weiteres und dann nicht an den glei- Ost und West noch verhältnismäßig kom- weichungen gegenüber den in der DDR chen Kriterien erkennbar, in welchem plikationslos treffen konnten, war mit insgesamt erzielten. So erreichte die von (ehemaligen) Teil der Stadt man sich be- dem Mauerbau 1961 die Trennung kom- der CDU geführte Allianz für Deutschland findet. Meinungsumfragen, in denen plett. in Ost-Berlin einen Anteil von 21,8 Prozent nach der Zufriedenheit mit der Lebenssi- Ost-Berlin wurde Haupstadt der DDR. Auf der Stimmen (DDR insgesamt 48 Prozent), tuation gefragt wird, ergeben in beiden den Stadtplänen verschwand „Westber- die gerade erst in Partei des Demokrati- Teilen eine Stimmungslage, die die Verän- lin“ als weiße Fläche. „Konzentrations- schen Sozialismus (PDS) umbenannte SED derungen zwar begrüßt, sie aber gleich- raum mit Leitungsfunktionen höchster kam auf 30,2 Prozent (16,4), die SPD er- zeitig mißtrauisch prüft, ob durch sie nicht Hierarchie für Staat und Partei, Wirtschaft hielt 34,9 Prozent (21,4). Die Milieus des eigene Interessen gefährdet werden. Ver- und Kulturelles“, so beschrieb 1988 ein ehemaligen Machtapparats der SED soll- lustängste überwiegen nicht selten positi- DDR-Wissenschaftler die Funktionen Ost- ten sich als verhältnismäßig dauerhaft er- ve Gefühle und suchen sich ihre politi- Berlins. In den siebziger und achtziger weisen. schen Absicherungen. Dem entspricht Jahren stieg die Bevölkerung, besonders auch, daß die Medienlandschaft, soweit der Anteil der gut ausgebildeten Acht- Berlin – altes und zugleich neues sie Grundinformationen betrifft, sich noch zehn- bis Fünfunddreißigjährigen. Für die Land in der Bundesrepublik uneinheitlich darstellt. So können die anderen DDR-Bezirke hatte die besser ver- großen Berliner Abonnementszeitungen, sorgte Hauptstadt Anziehungskraft. Seit 1990 ist Berlin das einzige alte und Der Tagesspiegel und die Berliner Mor- Die Verträge Anfang der siebziger Jahre neue Land der Bundesrepublik. Rechtssy- genpost im Westen, die Berliner Zeitung (unter anderem Grundlagenvertrag Bun- stem, Verwaltung und Polizei wurden ver- im Osten, trotz großer Anstrengungen desrepublik/DDR und Viermächteabkom- einheitlicht, Schulen und Wissenschaftsbe- ihren Herkunftsbereich nur allmählich men über Berlin) brachten nach der lan- trieb nach neuen Vorgaben einander an- überschreiten. Bei den Zeitschriften, mit gen direkten Bedrohung für den Westteil geglichen. Die getrennten Telefon- und Ausnahme der politischen Blätter, ist das der Stadt eine gewisse Beruhigung, konn- Verkehrsnetze zusammenzuschließen und anders. ten allerdings die räumlich-politische Iso- modernen Erfordernissen entsprechend Berlin hatte schon immer seine Stadtteile. lierung nicht aufheben und ließen die auszubauen, erforderte einen in Milliar- Man war eher „Spandauer“ und Köpe- Frage nach der längerfristigen Lebens- den zu beziffernden Investitionsaufwand. nicker“ als Berliner. Auch in der Innen- fähigkeit unter diesen Bedingungen 1993 wurde der durchgehende U-Bahn- stadt hing man an seinem „Kiez“, der ge- offen. Die für die Stadt notwendigen Zu- Verkehr in Stadtmitte eröffnet, 2001 soll wohnten näheren Umgebung, die vom züge kamen jetzt verstärkt aus dem Aus- der S-Bahn-Ring wieder geschlossen sein. täglichen Umgang bekannt war. So gese- land, vorwiegend aus der Türkei. Eine Befanden sich Bahnhöfe, Gleise und fah- hen trennte die Mauer gewissermaßen „Subventionsmentalität“ bemächtigte rendes Material der DDR-Reichsbahn im zwei „Groß-Kietze“, und die Umgewöh- sich der Halbstadt. Andererseits konnte vernachlässigten Zustand, so sind jetzt nung fällt schwer. Manche „Wessis“ kom- das isolierte Berlin (West) gerade in seiner beispielsweise die Gleisanlagen der Berli- men nach Osten über den Alexanderplatz absurden Lage, noch immer als sichtbares ner Stadtbahn und Bahnhöfe wie Frie- kaum hinaus, mancher „Ossi“ kennt im Zeichen der Offenheit der deutschen drichstraße und Alexanderplatz vollstän- Frage und damit als Symbol der Einheit dig erneuert. Der neue zentrale Lehrter gelten. Bahnhof und ein Nord-Süd-Tunnel (der

Berlin 25 Westen kaum mehr als den Kurfürsten- ten eines zwölften Landes“ besitzen soll- Höchstzahl der Senatsmitglieder ist durch damm. Selbst Taxifahrer haben bisweilen te. Ein 1948 bereits fertiggestellter und in Verfassungsänderungen von sechzehn Se- noch ihre Schwierigkeiten. Berlin wird die Stadtverordnetenversammlung und Magi- natoren plus einem Bürgermeister auf unterschiedlichen Lebensräume behalten, strat verabschiedeter Verfassungsentwurf acht Senatoren (einschließlich zwei Bür- wenn auch nicht mehr von den Ost-West- war von der SED abgelehnt worden und germeistern) herabgesetzt worden. Differenzen geprägt. schließlich am Veto der Sowjets in der Alli- Das Berliner Abgeordnetenhaus ist ein ierten Kommandantur gescheitert, die Teilzeitparlament. Die Mandatsträger sind Die Fusion von Berlin und Branden- sich vor allem gegen den Status Berlins als also nicht gezwungen, zugunsten des burg scheiterte Land und alle Garantien demokratischer Mandats ihren Beruf völlig aufzugeben, Gewaltenteilung, besonders durch eine es sei denn, sie sind von der Vorschrift Einige Versuche, mit Anstößen von außen unabhängige Justiz, wandten. Es ist aus über die Unvereinbarkeit von Amt und die Strukturschwierigkeiten zu beseitigen, dieser Vorgeschichte zu erklären, wenn Mandat betroffen. Bei der stadtstaatenty- scheiterten. 1993 erhielt nicht Berlin, son- die Verfassung von 1950 einen ausführli- pischen engen Verflechtung von staatli- dern Sydney die Olympischen Spiele des chen Grundrechtsteil erhielt, der nun in chen und kommunalen Aufgaben sind Jahres 2000 zugesprochen. Vergeblich der 95er Verfassung durch gesellschafts- hier die Grenzen nicht leicht zu ziehen hatte man auf den alten internationalen politische Staatsziele (als Richtpunkte und haben, zum Beispiel bei den Regelun- Berlin-Bonus gehofft. 1996 lehnten in staatlichen Handelns) erweitert wurde. gen für Lehrer, schon mehrmals gewech- einer Volksabstimmung die Brandenbur- Mit Fördermaßnahmen und Diskriminie- selt. ger und Ost-Berliner mit Mehrheit den rungsschutz wurden 1995 die Möglichkei- Über den reinen Gesetzgebungsvorgang Staatsvertrag über die Fusion der Länder ten einer Landesverfassung genutzt, inno- und die üblichen parlamentarischen An- Berlin und Brandenburg ab, der bereits in vativ auf gesellschaftliche Veränderungen fragen hinaus sind die Einflüsse der Mehr- beiden Parlamenten die verfassungsän- einzugehen. Anstoß dazu gab die erste heitsfraktionen des Parlaments auf die dernde Mehrheit erhalten hatte. So blieb freigewählte Stadtverordnetenversamm- Exekutive erheblich. In Berlin ist es üblich man lieber beim „Eigenen“ und wollte lung im Ostteil Berlins, die noch 1990 eine geworden, daß die Vorsitzenden der nicht „Ein Land für alle“, wie der Slogan eigene Verfassung verabschiedet hatte, Mehrheitsfraktionen an Senatssitzungen der Fusionskampagne gelautet hatte. In- die jedoch nicht mehr in Kraft trat. teilnehmen und daß viele Fragen des Se- zwischen bemühen sich beide Länder mit Als Berlin nach dem Zweiten Weltkrieg nats- und Verwaltungshandelns in Koaliti- einer gemeinsamen Landesplanungsab- den Charakter eines Landes erhielt, änder- onsausschüssen und Arbeitskreisen, in teilung und einer Reihe von Staatsverträ- te sich die Bezeichnung der Staatsspitze: denen Regierungs- und Parlamentsmit- gen die Probleme zu lösen, die sich aus Aus dem Magistrat und der Stadtverord- glieder sitzen, vorbesprochen werden. dem Nebeneinander von hochverdichte- netenversammlung einer Kommune wur- Seit 1992 besitzt Berlin einen Verfassungs- tem Ballungsraum (Berlin und engeres den, in Anlehnung an die Traditionen der gerichtshof, was vorher wegen des alliier- Umland) und den unverhältnismäßig norddeutschen Stadtstaaten, der Senat ten Sonderstatus nicht möglich war. Es dünn besiedelten ländlichen Gebieten und das Abgeordnetenhaus. Zugleich entscheidet durch Auslegung der Verfas- Brandenburgs ergeben. Trotz aller Koope- wurden auch Merkmale der hanseati- sung unter anderem bei Streitigkeiten ration sind aber beide Länder „Ausland“ schen Senatsverfassung übernommen, die über den Umfang der Rechte und Pflich- füreinander, und Berlin beklagt lebhaft in Berlin noch immer gelten, während ten eines Obersten Landesorgans oder seine Bevölkerungsverluste durch Umzü- Hamburg den Empfehlungen einer Stadt- gleichgestellter Beteiligter, wozu auch die ge in das Brandenburger „Umland“. staatenkommission zur Änderung und Bezirke gehören, bei Zweifeln über die Berlin hat noch einige schwierige Jahre damit zur Angleichung an andere Länder- Vereinbarkeit von Landesrecht mit der vor sich. Die Wirtschaftsstruktur ist im Um- verfassungen gefolgt ist. Verfassung, auch in einem konkreten bruch, der Hauptstadtumzug muß noch Rechtsfall. seine realen Auswirkungen entfalten. Daß Die starke Stellung des Abgeord- Berlin sich in der Lage zeigt, in schwieri- netenhauses Das konfliktträchtige Verhältnis von gen Situationen aus eigener Kraft Wege Gesamtstadt und Bezirken in die Zukunft zu finden, beweisen die Das bedeutet eine starke Stellung des Ab- entschlossenen, zum Teil mit Verfassungs- geordnetenhauses gegenüber dem Senat. Als 1920 aus Berlin und sieben weiteren änderungen verbundenen strukturellen Nicht nur der Regierende Bürgermeister Städten, neunundfünfzig Landgemeinden Sparmaßnahmen in Haushalt und Verwal- als Spitze des Senats, sondern auch jedes und siebenundzwanzig Gutsbezirken die tung bei gezielter Förderung innovativer Senatsmitglied wird durch das Abgeord- einheitlich verwaltete Stadtgemeinde Potentiale. netenhaus gewählt, das dem Senat insge- Berlin mit fast vier Millionen Einwohnern samt und jedem seiner Mitglieder einzeln entstand, versuchte man durch die Bil- Mit den Merkmalen der das Vertrauen entziehen kann. Der Berli- dung von Bezirken den Widerstand zu hanseatischen Senatsverfassung ner Regierungschef bildet also kein Kabi- mindern und die Grundlage für bürgerna- nett und läßt es nicht in corpore bestäti- he Selbstverwaltungseinheiten zu schaf- Am 23. November 1995 trat die überarbei- gen. Er kann Gefahr laufen, daß, wie ge- fen. Die Akzeptanz war unterschiedlich, tete Verfassung von Berlin in Kraft. Sie ist schehen, ein von ihm vorgeschlagener wenn es sich um gewachsene Einheiten die erste in ganz Berlin geltende Verfas- Kandidat durchfällt. Der Regierende Bür- wie vorher selbständige Städte oder um sung, die auf einer Abstimmung der Be- germeister bedarf für seine Richtlinien der Zusammenfassungen von Gutsbezirken völkerung beruht und weder von einem Regierungspolitik der Zustimmung des und Gemeinden handelte. Die anfängli- Staat erlassen war noch einer besatzungs- Abgeordnetenhauses. Er überwacht che Zahl von zwanzig Bezirken erhöhte rechtlichen Genehmigung bedurfte. Im deren Einhaltung und kann von den Se- sich zu DDR-Zeiten nach den umfangrei- Plenum des Abgeordnetenhauses wurde natsmitgliedern Auskunft verlangen und chen Neubaumaßmahmen in Ost-Berlin ausdrücklich darauf hingewiesen, daß es im Konfliktfall einen Senatsbeschluß her- auf dreiundzwanzig. sich um eine Fortschreibung der bewähr- beiführen. Er kann aber einem Senatsmit- Berlin, in den Nachkriegsverfassungen als ten Verfassung vom 1. Oktober 1950 han- glied, das in seinem Geschäftsbereich Land und Stadt bezeichnet, blieb Einheits- dele analog der Verfassungsdebatte in an- weitgehend selbständig ist, weder Wei- gemeinde. Weil die Bezirke zwar Selbst- deren, insbesondere in den neuen Län- sungen erteilen noch es entlassen, es sei verwaltungseinheiten Berlins – ausgestat- dern. Die Verfassung von 1950 aber galt denn, er gewinnt das Abgeordnetenhaus, tet mit Bürgermeistern und parlaments- de facto nur in West-Berlin und hier nur diesem das Mißtrauen auszusprechen. Die ähnlichen Bezirksverordnetenversamm- unter einigen alliierten Vorbehalten, die lungen –, aber keine selbständigen Ge- im Interesse der Stadt und unbeschadet bietskörperschaften mit entsprechender aller engen Bindungen an den Bund si- Rechtsfähigkeit sind, handelt es sich bei chern sollten, daß Berlin „während der den Bezirksverwaltungen um Teile der Übergangsperiode“ keine der Eigenschaf- Landesverwaltung. Aus dieser komplexen

26 Berlin Lage ergeben sich Spannungen zwischen (SMAD) in den „Block“, zeitweilig „Ein- Die FDP, die 1950 als Nachklang der Oppo- Zentralisierung und Dezentralisierung. heitsfront“ genannt, der „antifaschistisch- sitionsrolle in der späten Sowjetzone noch Fragen der Zweistufigkeit und der Kom- demokratischen Parteien“ gewisser- knapp ein Viertel der Wählerstimmen er- petenzzuweisung sind daher seit 1920 in maßen „hineingegründet“ worden. 1948 halten hatte, verlor in Berlin schnell den Bewegung. sahen die Landesverbände von CDU und Status einer größeren Partei und diente 1998 wurde, begleitet durch eine erneute LDP (später FDP) keine politische Wir- wie im Bund bei Regierungsbildungen als Verfassungsänderung, ein neuer Anlauf kungsmöglichkeit mehr im Ostsektor – die „Funktionspartei“, ständig von der Fünf- zur Modernisierung gemacht, charakteri- SPD war hier 1946 mit der KPD ohnehin prozent-Klausel bedroht. Die SED, nach siert durch eine Verminderung der Zahl zur SED zwangsverschmolzen worden –, dem Mauerbau SEW genannt, wobei das der Bezirke auf zwölf (zum Jahr 2001), so daß sie sich von den verbliebenen Or- W für „Westberlin“ stand, beteiligte sich Kompetenzerweiterung der Bezirke (Bei- ganisationen ihrer Parteien im sowjeti- ab 1954 wieder an den Wahlen. Ihr Stim- spiel Globalhaushalt) und, wie man hofft, schen Machtbereich trennten. Dort ent- menanteil lag in den achtziger Jahren genauere Ausweisung der den Hauptver- wickelten sich CDU und LDP mit den kom- unter einem Prozent. waltungen verbliebenen Aufgaben, näm- munistischen Neugründungen Bauernpar- Die erstaunlichste Veränderung im Partei- lich vor allem „Leitungsaufgaben (Pla- tei und Nationaldemokratische Partei zu ensystem war die Gründung der Alternati- nung, Grundsatzangelegenheiten, Steue- Blockparteien, die als „Transmissionsrie- ven Liste für Demokratie und Umwelt- rung, Aufsicht)“ sowie ein Eingriffsrecht men“ des SED-Regimes wirkten und die schutz (AL), die 1979 nach monatelangen in bezirkliche Entscheidungen, wobei Be- Vorherrschaft der SED beim „Aufbau des Diskussionen in Bürgerinitiativen, Wähler- griffe wie „dringendes Gesamtinteresse Sozialismus“ vorbehaltlos anerkannten. gemeinschaften und meist kleinen linken Berlins“ und „Belange Berlins als Bundes- Bei Wahlen traten die Parteien mit einer Gruppierungen erfolgte. Die AL verstand hauptstadt“ auftauchen. Das Thema „Einheitsliste“ bei vorgegebener Sitzver- sich anfangs als Anti-Partei, basisbewußt Hauptverwaltung und Bezirke wird die teilung auf, zusätzlich wurden die Ergeb- und hierarchiefrei. Mit ihr wurde die Al- Stadt wohl weiter beschäftigen. nisse gefälscht. ternativbewegung aber selbst Bestandteil Im Westteil der Stadt erreichten SPD, CDU des Parteiensystems und gewöhnte sich Wahlen und Parteien und FDP während der Zeit der offenen Be- daran, ihre Ziele im Rahmen des Parla- drohung bis Anfang der siebziger Jahre in ments zu verfolgen. Bald hatten die Mit- In der Geschichte Berlins nach dem Zwei- freien Wahlen stets die Zustimmung von glieder der AL Erfahungen in der Exekuti- ten Weltkrieg – von der unmittelbaren mehr als achtzig Prozent der Wahlberech- ve als Bezirksstadträte und 1989/90 für Nachkriegszeit über die Spaltung der tigten. Ursache war der breite gesell- zwanzig Monate als Koalitionspartner in Stadt bis zu ihrer unverhofften Einigung – schaftliche Konsens, die Freiheit des West- einem rot-grünen Senat. Nach der Vereini- spielten freie und geheime Wahlen eine teils erhalten zu wollen. Der enge Zusam- gung wurde die AL zum Berliner Landes- eminente Rolle. Wahlakte wie in ganz menhalt begann sich bereits gegen Ende verband von Bündnis 90/Die Grünen. Berlin 1946 und nachher im Westteil in der der sechziger Jahre („Achtundsechziger“) Bei den Wahlen, besonders bei den Abge- Zeit der offenen Bedrohung waren mar- zu lockern. Die Tendenz verstärkte sich, als ordnetenhauswahlen von 1995, zeigten kante Zeichen der Opposition gegen den 1971 das Viermächte-Abkommen über sich in der geeinten Stadt zwei unter- Kommunismus. An diesen fundamentalen Berlin die Lage entspannte und die isolier- schiedliche Tendenzen: CDU, SPD, Bündnis Entscheidungen nahm die Bevölkerung te Halbstadt sich zu einem Zentrum alter- 90/ Grüne waren im Westen bestimmend; ungewöhnlich zahlreich teil (Spitzenwer- nativer Bewegungen entwickelte. während im Osten die PDS, die Nachfolge- te 1946: 92,3 und 1958: 92,9 Prozent). Daß Die SPD galt, gestützt auf die Tradition der partei der SED, als stärkste Kraft, CDU und im Ostteil der Stadt zwischen 1946 und deutschen Arbeiterbewegung, infolge SPD als Mittelparteien und Bündnis 1990 keine freien Wahlen stattfinden ihres Widerstandes gegen die Kommuni- 90/Grüne schwächer als im Westen vertre- konnten, war der kennzeichnende Aus- sten lange Zeit als die „Berlin-Partei“. Mit ten waren. Die FDP, die weder auf Landes- druck dafür, daß ohne Rücksicht auf den Ernst Reuter und stellte sie noch auf Bezirksebene Mandate erringen Willen der Bevölkerung eine bestimmte zwei charismatische Regierende Bürger- konnte, ist dabei nicht berücksichtigt. politische und gesellschaftliche Ordnung meister und führte bis 1981 den Senat. Auffallend sind die Unterschiede in der durchgesetzt werden sollte, die die Staats- Nach dem Mauerbau erhielt die SPD für Organisationsdichte: 1996 hatte die PDS in partei SED als „historisch gesetzmäßig“ ihre längerfristige Perspektive eines „Wan- den Ostbezirken jeweils zwischen 867 und definierte. dels durch Annäherung“ im Rahmen der 3921 Mitglieder, im Westen nicht über 67, Für die Wahlen zum Abgeordnetenhaus neuen Ostpolitik die Zustimmung der Be- die SPD zwischen 835 und 2731 Mitglieder gilt seit 1958 ein personalisiertes Verhält- völkerung. Gleichzeitig verstärkte die Aus- in Westbezirken und zwischen 126 und niswahlrecht, verbunden mit einer Fünf- einandersetzung über die Außerparla- 350 Mitglieder im Osten. prozent-Klausel. Danach erfolgt die Ver- mentarische Opposition den Riß zwischen teilung der Sitze proportional zu den ab- dem linken und dem rechten Flügel der Nachwirkungen der Teilung in der gegebenen Stimmen, die Personalaus- Partei. Von 1967 bis 1981 sank ihr Stim- Parteienlandschaft wahl nach dem Mehrheitsprinzip. Zu die- menanteil von 56,9 auf 38,3 Prozent. sem Zweck werden für 60 Prozent der Die CDU, anfangs nur knapp vor der FDP Das Berliner Parteiensystem ist in Bewe- Sitze Wahlkreise mit Direktmandaten ein- zweitstärkste Partei, hatte ihre Schwer- gung: 1995 hat die CDU (in Berlin insge- gerichtet. Da neben den entstehenden punkte in den südwestlichen Bezirken. Sie samt) 37,4 Prozent erreicht. Sie ist mit kla- Überhangmandaten auch Ausgleichsman- verlor die Unterstützung, als nach dem rem Abstand die „West-Berlin-Partei“ und date vergeben werden, konnten aus den Mauerbau neue Konzepte gefragt waren. hat hierin die SPD abgelöst. Andererseits 200 vorgesehenen Mindestsitzen leicht Die schien in Berlin und dann in Bonn die blieb ihr nur die SPD als Koalitionspartner, 241 werden (12. Legislaturperiode). Die SPD Brandts zu bieten. 1963 ging die CDU deren 23,6 Prozent die Partei tief verunsi- Zahl der Mindestsitze ist jetzt auf 130 her- für fast zwei Jahrzehnte voller politischer chert hatten und die deshalb eine Große abgesetzt worden. Für die Wahl der Be- und gesellschaftlicher Veränderungen in zirksverordnetenversammlungen gilt das die Opposition, wobei ihr Stimmenanteil reine Verhältniswahlrecht, verbunden mit bis 1981 von 28,8 auf 48,0 Prozent wuchs. einer Dreiprozent-Klausel. Seit 1990 neh- 1981 übernahm sie – inzwischen für einen men die Berliner direkt an den Wahlen flexibleren Umgang mit der DDR eintre- zum Deutschen Bundestag und zum Euro- tend und für viele einen Ausweg aus der paparlament teil. Krise der SPD bietend – unter Richard von Die Parteien der Nachkriegszeit waren Weizsäcker die Führung des Senats. Ange- nach den Vorstellungen der Sowjetischen sichts empfundener „alternativer Unsi- Militäradministration in Deutschland cherheiten“ war das auch ein bürgerlicher Gegenzug.

Berlin 27 Koalition nur widerstrebend einging. Der großen monopolartig arbeitenden Kom- Bundeszuschüsse für West-Berlin, die vor- PDS (14,6, Prozent,im Osten aber 36,3 Pro- binate, erwiesen sich als nicht wettbe- her mehr als fünfzig Prozent der Ausga- zent) war der beabsichtigte Durchbruch werbsfähig, die „nichtproduzierenden Be- ben deckten, die überkommenen struktu- nach Westen mißglückt. Die Erinnerungen reiche“ als personell überbesetzt. Viele rellen Schwächen des Berliner Haushalts an die Zeit vor 1989 sind hier noch lebhaft. Arbeitsplätze waren an die Besonderhei- mit aufgeblähter Verwaltung und kost- Ob sich die PDS als Regional- und Nostal- ten von Machtapparat und Wirtschaftssy- spieliger Infrastruktur sowie der eini- giepartei (gestützt auf die Reste der alten stem gebunden. gungsbedingten Ausweitung der Perso- Apparate) oder auf mittlere Sicht als re- Der drastische Subventionsabbau im We- nalkosten und Institutionen, bei denen es formsozialistische Regierungspartei im sten und der Verlust der Absatzmärkte im unter anderem um den sozialen Frieden in Wartestand empfinden soll, ist ihr selbst Osten, in beiden Teilen der Stadt verbun- der Stadt ging, vor allem aber das Ausblei- noch unklar. Bündnis 90/Die Grünen, mit den mit einem rapiden Abbau des verar- ben des erhofften wirtschaftlichen Auf- 13,2 Prozent an vierter Stelle, hoffen auf beitenden Gewerbes, die „Abwicklung“ schwungs. Von alten Subventionsmenta- eine Wiederbelebung der rot-grünen Ko- der ehemaligen Staats- und Parteiappara- litäten in beiden Teilen der Stadt befan- alition im Wahljahr 1999, mit sich im te der DDR und vieler personalintensiver gen, stiegen Schulden und Zinsbelastung. Streit, ob man dabei gegebenenfalls auch Einrichtungen, der dann der „Stellenab- Die finanzpolitische Umkehr hat 1996 mit eine Zusammenarbeit mit der PDS einge- bau“ im Westen folgte, sind Merkmale langfristigen gesetzlichen Vorgaben für hen sollte. Die Reste der Bürgerrechtsbe- des strukturellen Wandlungsprozesses, Sparmaßnahmen begonnen. Die Konsoli- wegung der DDR sind nur noch schwer dem die Stadt noch immer unterworfen dierung des Haushalts erweist sich jedoch aufzufinden. ist. Wie sehr der internationale Wettbe- als schwieriges und langfristiges Unter- werb das Wirtschaftsgeschehen beein- nehmen. Noch immer liegt das Steuerauf- Strukturwandel und Zukunfts- flußt, wird am Beispiel des Baugewerbes kommen pro Kopf der Bevölkerung er- potentiale deutlich. Obgleich sich Berlin zur „größ- heblich unter dem anderer Ballungszen- ten Baustelle Europas“ entwickelte und tren. Ausgabenkürzungen und Einnah- Die Berliner Wirtschaft befindet sich in ein Bauvolumen von über dreißig Milliar- meerhöhungen sollen den Haushalt entla- den meisten Bereichen noch immer in den DM im Jahr erreicht hat, sinken Lei- sten, viele der strukturellen Maßnahmen einem tiefgreifenden Strukturwandel, der stung und Arbeitsplatzangebot der Berli- (zum Beispiel bei den Personalkosten und durch die besonderen Belastungen der ner Baufirmen, während importierte Bau- den Konsumtiven Sachausgaben) bringen Vergangenheit im Wirtschaftsraum Berlin leistungen, insbesondere auch aus Staa- den politischen Ärger sofort, werden aber länger anhält als erwartet. Betroffen ten der Europäischen Union, steigen. Daß erst allmählich wirksam. Besonders um- davon sind viele Arbeitsplätze und ein Berlin heute in der Entwicklung des Brut- stritten ist die Veräußerung von Landes- großer Teil der Einnahmequellen der toinlandsproduktes den vorletzten Platz vermögen wie Anteilen an städtischen Be- Stadt. unter den deutschen Ländern einnimmt, trieben und im Eigentum des Landes Ber- Vor dem Krieg waren in der wichtigsten charakterisiert die besonderen Schwierig- lin befindlichen Grundstücken, um in der Industriestadt Deutschlands 48 Prozent keiten. In der Arbeitslosenstatistik steht kritischen Übergangszeit höhere Schulden der mehr als 2,2 Millionen Erwerbstätigen der inzwischen durch lebhaften Pendler- und damit höhere Zinsen zu vermeiden. im produzierenden Gewerbe, 46 Prozent verkehr kräftig durchmischte Arbeits- Daß Berlin den Weg geht, Vermögen im in den öffentlichen Dienstleistungen, markt Berlin-Brandenburg etwa im Durch- größeren Umfang zu veräußern, beweist Handel und Verkehr beschäftigt. Beide schnitt der neuen Länder. gleichermaßen die Ernsthaftigkeit der fi- Werte lagen erheblich über dem Reichs- Berlins Zukunftspotentiale sind erheblich. nanziellen Notlage und der Bemühungen, durchschnittt. Kriegszerstörungen und Die geographische Randlage sollte mehr sie zu überwinden. Demontagen brachten im produzieren- als bisher kompensiert werden durch den den Gewebe im Westteil einen Kapazitäts- inneren und äußeren Ausbau der Europäi- Städtebau Ost – Städtebau West verlust von 80 Prozent, im Ostteil von 50 schen Union einschließlich ihrer Verbin- Prozent. Der Wiederaufbau geriet bald in dungen zu den östlichen Reformstaaten. Wer sich durch die Stadt bewegt, kann im den Strudel der Teilung, aus dem jede der Ziel der vom Strukturfonds der EU unter- Osten wie im Westem die einzelnen Etap- beiden Stadthälften mit unterschiedlichen stützten Wirtschaftspolitik ist es, Berlin pen des Berliner Baugeschehens nach dem Bedingungen und Entwicklungen hervor- zum europäischen Dienstleistungszen- Zweiten Weltkrieg erkennen und sie als ging. trum mit industriellem Kern zu ent- Folge unterschiedlicher Antworten auf Die Wirtschaft des Westteils wurde eben- wickeln. Anfänge sind sichtbar in den Bau- die Frage nach der Gestaltung einer le- so wie der Landeshaushalt vom Bund sub- ten großer Firmen wie DaimlerChrysler benswerten Stadt identifizieren. ventioniert. Die Wirtschaftssubventionen (Debis) und Sony und in der Verlegung In Ost-Berlin endete das DDR-Baugesche- sollten die Nachteile politischer Herkunft von Unternehmenszentralen von IBM- hen mit den Großsiedlungsbau am Stadt- ausgleichen, denen Unternehmen und Deutschland und der Deutschen Bahn AG rand in industrieller Fertigung. Ziel war Arbeitnehmer ausgesetzt waren. Tatsäch- nach Berlin. Eine Studie des Deutschen In- die Erfüllung des SED-Programms Einheit lich verdeckten sie eine Strukturkrise. Die stituts für Wirtschaftsforschung sieht für von Wirtschafts- und Sozialpolitik, in dem Vorstände, Entwicklungs- und Marketing- die Stadt „bald wieder (den) Anschluß an der Wohnungsbau eine zentrale Stelle abteilungen, die ab 1945 die Stadt verlas- den gesamtwirtschaftlichen Wachstums- einnahm. Die Größe der neuen Siedlun- sen hatten, kamen nicht zurück. West- pfad“ voraus und zählt dabei sowohl auf gen übertraf die westlicher Stadtrandsied- Berlin geriet zur „verlängerten Werk- das produktionsnahe als auch auf das lungen bei weitem. Insgesamt zählt man bank“. Unter den Dienstleistungen über- konsumorientierte Dienstleistungsgewer- 273 000 in Plattenbauweise errichtete wog der Öffentliche Dienst. Sein Anteil an be als expansiver Bereich der Berliner Wohnungen im Ostteil der Stadt. Sicher- den Beschäftigten lag Ende der achtziger Wirtschaft. „Für die Wirtschaftspolitik in lich boten die neuen Viertel mit ihren Jahre mit 20 Prozent etwa doppelt so Berlin heißt das“, so schließt der Bericht, Komfortwohnungen sozialen Fortschritt, hoch wie in westdeutschen Ballungszen- „daß sie die schwierige Aufgabe zu lösen aber beeinträchtigt durch die Monotonie tren. Die Bundesbehörden, zum Ausgleich hat, in einer Umbruchszeit (bis 2010 ver- der Großanlagen und zunehmend auch für verlorene Hauptstadtfunktionen in anschlagt!) und bei knappen Mitteln zu- durch bauliche Mängel. der Stadt angesiedelt, waren ihr zweit- kunftsträchtige Akzente zu setzen.“ Die Mietskasernenviertel der Innenstadt größter Arbeitgeber. wurden dagegen dem zunehmenden Ver- Ost-Berlin besaß als Hauptstadt des zen- Der Zustand der Landeskasse: In der fall überlassen. Im alten Kerngebiet von tralisierten Staates DDR insoweit bessere Tat sehr ungünstig Berlin und Cölln hatte der Wiederaufbau Standortbedingungen. Jedoch ergaben der sechziger und siebziger Jahre ohnehin sich aus den Folgen des ideologisch be- Der Zustand der Landeskasse ist in der Tat tiefe Spuren hinterlassen. Das „Sozialisti- stimmten, bürokratisierten Wirtschaftssy- sehr ungünstig. Die Ursachen der Finanz- sche“ an diesem Städtebau machte sich in stems riesige Belastungen, die sich nach krise sind vielfältig: das abrupte Ende der der großzügigen Flächennutzung für Ge- dem Ende der DDR voll bemerkbar mach- bäudeumfeld und überdimensionierte ten. Die Industrie, insbesondere die Straßen, in der Mißachtung alter Stadt- grundrisse und in der Konzentration von

28 Berlin Handels- und Versorgungseinrichtungen gleichermaßen saniert. Der Aufwand ist Der politische Anspruch, Hauptstadt der bemerkbar. Die Reste der alten Bebauung hoch (etwa 1 Milliarde allein für die Plat- DDR zu sein, und der zentralistische Cha- wurden durch großdimensionale und tenbauten jährlich), aber die Gleichwer- rakter des Staates hatten in Ost-Berlin zu locker gruppierte, meist keine erlebbaren tigkeit der Lebensverhältnisse soll herge- einer ungewöhnlichen Konzentration von Stadträume bietende Neubauten ersetzt. stellt und die Wohnzufriedenheit erhal- Wissenschaftseinrichtungen geführt. Die Heute wird darüber gestritten, ob es sich ten bleiben. Das Land Berlin fördert den Humboldt-Universität war die größte der hier um eine Art Naherholungsgebiet Wohnungsneubau, zum Teil in neuen Vor- DDR. An ihr und fünf weiteren Hochschu- oder um schlichte Stadtbrache handelt. städten, wobei die alten Fehler vermieden len lernten Ende der achtziger Jahre rund Demgegenüber konnten die in den fünf- werden sollen. Inzwischen übersteigen fünfundzwanzigtausend Studierende. Die ziger Jahren errichtete Stalinallee noch als die Kosten dieser Programme die Finanz- Akademie der Wissenschaften beschäftig- städtebauliches Angebot eigener Art gel- kraft Berlins. te als eine Art Forschungskombinat allein ten: dem sozialistischen Realismus Mos- Wenn von Berlin als der „größten Baustel- in Berlin zwanzigtausend Mitarbeiter. kauer Herkunft folgend in der Form eines le Europas“ die Rede ist, wird an die Mitte Hinzu kamen andere Akademien, unter geschlossenen Straßenzuges mit Boule- der Stadt zu beiden Seiten der ehemali- ihnen auch dem Zentralkomitee der SED vard-Charakter und mit Anklängen an gen Mauer gedacht. Im Spreebogen ent- unterstellte Institutionen des ideologi- Berliner Bauformen des Klassizismus , „Ar- stehen mit dem umgebauten Reichstag schen Lenkungsapparates. beiterpaläste“, die die Vorzüge der künfti- und dazugehörigen Bürogebäuden und Nachdem Empfehlungen des Wissen- gen sozialistischen Gesellschaft darstellen dem Neubau des Bundeskanzleramtes der schaftsrates, unter anderem für Struktur- sollten, anstelle eines weitgehend zerstör- Parlamentssitz und der Kern des Regie- und Berufungskommissionen an Hoch- ten Mietskasernenviertels. Erst gegen rungsviertels, wobei die Ministerien sa- schulen und für die Auflösung der Akade- Ende der DDR wandte man sich erneut der nierte und gegebenenfalls erweiterte Alt- mie der Wissenschaften, vom Land Berlin Innenstadt zu mit der Rekonstruktion des bauten und in Einzelfällen gemietete Ge- übernommen worden waren, bilanzierte Gendarmenmarktes und der Mischung bäude nutzen. Private Investoren bauen 1995 eine Senatsbroschüre für das verei- aus historisierendem Plattenbau, alten in den Quartieren der Friedrichsstadt im nigte Berlin siebzehn staatliche und priva- Häusern und deren Kopien im Nicolaivier- Rahmen städtebaulicher Vorgaben wie te Hochschulen sowie rund zweihundert- tel. Blockrandbebauung, „Berliner Trauf- zwanzig staatliche und private For- Das westliche Gegenstück zur Stalinallee höhe“ von zweiundzwanzig Metern und schungseinrichtungen. Dazu gehören die war der Wiederaufbau des Hansaviertels steinerne Fassaden sowie am Potsdamer Großforschungseinrichtungen Hahn-Meit- am Rande des Tiergartens, der im Rahmen Platz in neuen Formen und mit größeren ner-Institut (West) und Max-Delbrück- einer Internationalen Bauausstellung Gebäudehöhen. Zentrum (Ost) sowie Max-Planck- und 1957 mit Beteiligung einer Weltelite von Mit ihrem „Planwerk Innenstadt“ stellt in- Fraunhofer-Institute mit ihren Außenstel- Architekten erfolgte. Die Moderne trat zwischen die Berliner Stadtentwicklungs- len, zum Teil neu gegründet. Inzwischen hier als „kosmopolitische Veranstaltung verwaltung eine größere Verdichtung der ist deutlich geworden, daß die kritische Fi- der Demokratie auf die Bühne“. „Jedes inneren Stadt zur Diskussion, da erst nanzlage deutlichere Einschnitte erfor- Haus eine Diva“ hieß es in einer damali- deren weitere Belebung und Inwertset- dert. Sprach der Senat 1993 von einem gen Senatsbroschüre. In dieser kostspieli- zung die gewünschte Ausgewogenheit moderaten Absenken der Studienplätze gen Form wurde der Wohnungsbau in der Stadtstruktur zwischen der doppelten von hundertfünfzehn auf hunderttau- beiden Teilen nicht fortgesetzt. City, den gewachsenen und den neuen send, so wird jetzt, Ende der neunziger Der Westen, bis in die siebziger Jahre dem Stadtbereichen schaffen kann. Jahre, als Ziel der Erhalt von fünfundacht- Osten im Wohnungsbau weit voraus, zigtausend (oder eher fünfundsiebzigtau- wandte sich der Innenstadt früher zu. In „Alles doppelt“: in Wissenschaft . . . send?) angegeben. In Einzelverträgen, ab- den sechziger Jahren galt international geschlossen vom Senat mit den einzelnen noch die Doktrin der zukunftsgerechten „Alles doppelt“, konnte ausrufen, wer Hochschulen, werden die reduzierten Zu- Stadt: Großsiedlungen am Stadtrand, nach der Einigung auf die wissenschaftli- schüsse (nach Abzug der Sparraten) ga- Kahlschlagsanierung in den Innenstadtbe- chen – und auf die künstlerischen – Insti- rantiert, während die Hochschulen selbst zirken und rücksichtsloser Autobahnbau. tutionen Berlins blickte. Nach der Vereini- sich zur Ausarbeitung von Strukturplänen So sollte zum Beispiel das Märkische Vier- gung der Stadt war auch auf diesem Ge- verpflichten, die das Profil der jeweiligen tel in Reinickendorf (16 000 Wohnungen) biet das, was getrennt gewachsen war, Hochschule und ihre Stellung im Gesamt- durch „vertikale Verdichtung“ in markan- den neuen Anforderungen entsprechend gefüge der Berliner Hochschulen beschrei- ten Formen ein modernes Stadtgefühl er- zu ordnen. Das betraf, wie sich bald her- ben. zeugen. Bei den Sanierungsvorhaben soll- ausstellen sollte, beide Teile der Stadt. Die Im Forschungsbereich konzentrieren sich ten Altbauviertel der Mietskasernenzeit Fülle der Institutionen bot zugleich Chan- die Probleme besonders deutlich bei dem abgeräumt und durch Neubauten ersetzt cen einer institutionellen Vielfalt und Be- Wissenschafts- und Wirtschaftsstandort werden. Aber in den siebziger Jahren lastungen finanzieller und administrativer Adlershof. Dort sollen in einer „integrier- stellte man sich weltweit die Frage, ob Art. Der Prozeß der Umstrukturierung ist ten Landschaft aus Wissenschaft, Wirt- man den richtigen Weg gegangen sei. bis heute noch nicht abgeschlossen.. schaft und Lehre“ innovative Wirtschafts- Was eben noch als funktional, modern Im Westteil hatten die gemeinsamen An- unternehmen mit den Instituten der ma- und sozial gepriesen wurde, galt plötzlich strengungen von Bund und Land dem Ziel thematisch-naturwissenschaftlichen Fa- als monoton und stadtzerstörend, als Be- gegolten, die Stadt zu einem Zentrum kultäten der Humboldt-Universität zu- tonbrutalität und Autofetischismus, als von Wissenschaft, Forschung und Kunst sammenarbeiten, die von der Stadtmitte Ursache für individuelle Unzufriedenheit auszubauen, um ein Gegengewicht zu der kostenaufwendig auf das neue Gelände und gesellschaftliche Konflikte. Erneut politisch und wirtschaftlich isolierten Lage zu verlegen sind. Der Senat hat trotz sei- gab es eine Internationale Bauausstel- im geteilten Deutschland zu bieten. Das nes Sparkurses die Planungen bestätigt, lung, „kritische Stadterneuerung“ (Wie- gelang in einem gewissen Umfang. Ende denn sollte es gelingen, in der Lehre ein derherstellung der alten Blockstrukturen) der achtziger Jahre zählten die West-Ber- zukunftsträchtiges und qualitätvolles An- und „behutsame Sanierung“ (Aufwer- liner Hochschulen und Fachhochschulen gebot zu sichern und in der Forschung tung alter Stadtquartiere mit Berücksichti- zusammen über hunderttausend Studie- Vielfalt und Anwendungsbezogenheit gung der Bewohner) lauteten jetzt die rende. Gemessen am Bevölkerungsanteil weiter zu stärken, so kann – das ist die Devisen. Man wandte sich der „Europäi- an der Bundesrepublik hatte Berlin dop- Überlegung – Berlin seine Chancen als ein schen Stadt“ mit ihren Werten zu. pelt soviele Studierende aufgenommen. Schwerpunkt des Transfers von Wissen- Mit der Vereinigung wurden gewisser- Durch zahlreiche außeruniversitäre Neu- schaft und Forschung nutzen, die sich mit maßen die Karten neu verteilt. Ideologi- gründungen wuchs West-Berlin wieder zu der bevorstehenden Osterweiterung der sche und ökonomische Zwänge der DDR einem Forschungsstandort von internatio- Europäischen Union beträchtlich verbes- sind entfallen. Die Altbau- und Platten- naler Bedeutung heran. sern werden. bauwohnbestände der Ostbezirke werden

Berlin 29 . . . wie auch Kultur Seitdem gibt es eine einheitliche Struktur- überwunden wie der Zustand der halben planung. Bund und Länder tragen – durch Hauptstadt Berlin (Ost), deren Grenz- „Drei Opernhäuser, über 150 Theater und Finanzierungsabkommen bekräftigt – ge- anlagen nach West aller Welt kraß vor Bühnen, rund 170 Museen und Sammlun- meinsame Verantwortung für die größte Augen führten, in welchem Maße das Re- gen, über 300 private und kommunale Ga- und bedeutendste Kultureinrichtung gime der DDR deren Bewohnern grundle- lerien, mehr als 250 öffentliche Bibliothe- Deutschlands, die als eindrucksvolles Bei- gende Menschenrechte wie Freizügigkeit ken, 130 Kinos sowie zahlreiche andere spiel für einen lebendigen Föderalismus und Selbstbestimmung vorenthalten kulturelle Einrichtungen“ zählt eine Ver- gilt. Zur Stiftung gehören die siebzehn hatte. Demgegenüber besitzt, trotz aller öffentlichung aus dem Jahr 1996 auf. Die wiedervereinigten staatlichen Museen – gegenwärtigen Probleme, die vereinigte Statistik nennt für die Bühnen aller Art der größte Museumskomplex Europas –, Stadt alle Chancen für eine vielverspre- knapp drei Millionen Besucher in einer die zwei Häuser der Staatsbibliothek chende und gesicherte Entwicklung. Spielzeit, für die Gesamtheit der Museen sowie eine Reihe weiterer Einrichtungen. Hoffnung gibt die jetzt auch im wörtli- und Ausstellungen jährlich über sechs Mil- Beim Publikum besondere Beachtung fan- chen Sinne vorhandene Offenheit der lionen. Nicht oder nur zum Teil einbezo- den die Eröffnung des Museums der Ge- Stadt. Wenn es gelingt, Qualität, Kreati- gen sind die über vierhundert Freien genwart im alten Hamburger Bahnhof als vität und Innovationskraft zu verbinden, Gruppen mit ihren Performances, Kleinga- drittem Haus der Nationalgalerie und der könnte Berlin einer der großen europäi- lerien und Off-Off-Bühnen in alten Knei- Gemäldegalerie (Alte Meister) im jetzt schen „Umschlagplätze“ werden, auf pen, Läden und Hinterhöfen, in denen zentral gelegenen Kulturforum. denen sich vielfältige Formen des städti- manche das eigentlich Unverwechselbare Unter der vielfältigen Berliner Museums- schen Lebens überzeugend und faszinie- des Berliner kulturellen Lebens sehen. landschaft treten Einrichtungen hervor, rend darstellen, gegenseitig beeinflussen Wer in eines der Programm- oder Stadtma- die Berlin als Ort totalitärer Geschichte er- und verändernd entwickeln. gazine blickt, findet täglich rund hundert fahrbar machen: das Jüdische Museum – Bühnenaufführungen, jeweils um ein Dut- dessen ungewöhnlicher Neubau (Archi- zend „klassische“ Konzerte, dazu Lesun- tekt Daniel Libeskind) die Katastrophe der gen und Kabarettvorstellungen, ein halbes Ermordnung von Millionen Juden archi- Das Wappen Hundert Jazz-, Folk- und Rockveranstal- tektonisch spüren läßt – und die bedeu- tungen und über zweihundert zeitlich be- tenden Gedenkstätten: von der Topogra- Der „Berliner Bär“ wurde erstmals 1280 in fristete Ausstellungen in Museen und Ga- phie des Terrors, den Gedenkstätten Deut- einem Siegel der Stadt Berlin geführt. Die lerien, wieder die freie und sehr freie scher Widerstand und Haus der Wannsee- Herkunft dieses Wappentieres ist umstrit- Szene nur zum Teil einbezogen. Hinter den konferenz bis zur Stasi-Zentrale in der ten. Einer Theorie zufolge geht er auf den imponierenden Zahlen dieses Angebots Normannenstraße. Askanier Albrecht den Bären zurück, eine finden wir sowohl die geballte Macht des Es spricht für die zunehmende Anzie- andere Sichtweise bringt ihn in Beziehung überkommenen Kulturpotentials der „bei- hungskraft Berlins, wenn private Kunst- mit dem Ortsnamen. Lange Zeit gehörte den Berlins“ als auch Neues, von der Auf- sammlungen wie die von Ernst Marx der brandenburgische Adler – Wappentier bruchsstimmung der veränderten Situati- (Hamburger Bahnhof) und Heinz Berg- der Landesherrn, der Kurfürsten von Bran- on Getragenes. Noch klingt das alte Span- gruen (Picasso und seine Zeit) in der Stadt denburg – zum Wappen Berlins. Nach der nungsfeld zweier „kultureller Identitäten“ eine Bleibe gefunden haben. Verlage, Ga- Belehnung der Hohenzollern mit der nach, löst sich aber in der Pluralität der An- lerien, Kunstmessen und Auktionshäuser Mark Brandenburg wurde dieser durch gebote und der Nachfrage, von kritischer sind zurückgekehrt, haben Dependancen den Adler der Hohenzollern ersetzt. 1918, und zustimmender Teilhabe. eröffnet oder sind neu gegründet wor- mit Abschaffung der Monarchie, setzte Inzwischen ist fast ein Jahrzehnt des Zu- den. Die Fernsehanstalten ARD und ZDF sich der Bär als alleiniges Wappentier der sammenwachsens vorbei. Aber noch bereiten Hauptstadtstudios vor; der priva- Stadt Berlin dann endgültig durch. Nach immer ist, was man die kulturelle Infra- te Nachrichtensender ntv sendet von hier; 1948 führten beide Stadtteile den Bären struktur nennen könnte, in Bewegung. SAT 1 wird seine Zentrale nach Berlin ver- weiter. Ihre Wappen unterschieden sich le- Möglichst alle Institutionen sollen erhal- legen. Das kommerzielle Entertainment diglich durch die Kronen: die Mauerkrone ten bleiben, lautet die Devise. Kann sie modernen Stils entdeckt die Stadt: neben im Osten, die kombinierte Mauer- und auch bei beispielsweise drei Opernhäu- Multiplex-Kinos sollen in den Arealen am Blätterkrone im Westen, die schließlich sern, zwei weiteren Musikbühnen und Potsdamer Platz auch Musical- und Varie- auch für das vereinigte Berlin übernom- fünf zusätzlichen großen Konzertorche- te-Bühnen entstehen. Auch die Interna- men wurde. stern sowie einer Vielzahl von Chören gel- tionalen Filmfestspiele ziehen um. ten? Auf die Frage, wieviel Theater Berlin Den geballten Investorenträumen ge- brauche, antwortete ein prominenter In- genüber wirkt die alternative Kulturszene tendant: Soviele überleben können, aber mit ihren neuen Schwerpunkten Spandau- unverwechselbar müßten sie sein. Die er Vorstadt und Prenzlauer Berg fast kon- Suche nach Profil, deren Zwang heilsam ventionell. Sie ist ohnehin von ihrem An- sein kann, dauert an. Geschlossen wurden spruch her ständig in Bewegung, kämpft bisher West-Berliner Theater. Immerhin aber um Erhalt und Ausbau ihrer sozio-kul- wurde in letzter Zeit die Bereitschaft des turellen Institutionen in Halbruinen und Bundes deutlicher, „kulturelle Leuchttür- ehemaligen Brauereigebäuden, die den me“ angemessen zu unterstützen. freien Gruppen Rückhalt geben sollen. Nicht nur das kulturelle Leben Berlins ist Die „Stiftung Preußischer Kultur- vom Übergang geprägt. Berlin erlebt die besitz“ als Beispiel eines lebendigen „mentalen deutsch-deutschen Dissonan- Föderalismus zen“, wie das Problem einmal benannt Literaturhinweise wurde, am eigenen Leibe. Entscheidend Am Tage der Vereinigung übernahm die wird sein, ob die Stadt auf Dauer gesehen Hoffmann, Hansjoachim: Berlin. Eine politische Landes- Stiftung Preußischer Kulturbesitz die Ost- die Kraft findet, diese Dissonanzen zu kunde. Hrsg. von der Landeszentrale für politische Bil- dungsarbeit Berlin. Opladen 1998. Berliner Staatlichen Museen und ihre Mit- überwinden. Die Aussichten sind nicht Ribbe, Wolfgang, Schmädeke, Jürgen: Kleine Berlin-Ge- arbeiter und legte die einzelnen Mu- ungünstig. Vergleicht man die gegenwär- schichte. Hrsg. von der Landeszentrale für politische Bil- dungsarbeit Berlin i.V. mit der Historischen Kommission seumsinstitute wieder zusammen. tige Lage Berlins mit der jüngsten Ver- zu Berlin 1994. (3. Auflage). gangenheit, so ist Optimismus am Platz: Die bis zum Schluß latente Gefährdung der „Frontstadt“ Berlin (West) ist ebenso

Im Auftrag der LpB Berlin verfaßt von Hansjoachim Hoffmann, Leitender Oberschulrat i.R. Anschrift: Landeszentrale für politische Bildungsarbeit Berlin, Hauptstraße 98/99, 10827 Berlin

30 Berlin Vom Kernland Preußens zum größten der neuen Länder Brandenburg

Von Werner Künzel

Großes Land, dünn besiedelt Gemeindegrößegruppe Bevölkerung (nach Einwohnern) (Stand: 31. 12. 1997) Unter den neuen Ländern hat Branden- burg das ausgedehnteste Territorium. Mit unter 500 258 944 29 476 km 2 (Stand: 31. 12. 1997) steht es 500 – unter 2 000 395 093 der Fläche nach unter allen Bundes- 2 000 – unter 5 000 267 444 ländern an fünfter Stelle. Es grenzt an 5 000 – unter 10 000 319 531 die Bundesländer Sachsen (Grenzlänge 10 000 – unter 20 000 320 540 244 km), Sachsen-Anhalt (370 km), Nieder- 20 000 und mehr 1 011 793 sachsen (29,5 km) und Mecklenburg-Vor- pommern (441 km). Das Land Berlin wird Spreewälderin in traditioneller Tracht. von Brandenburg vollständig umschlossen Der größere Teil der Bevölkerung ist im Foto: Rainer Weisflog (234 km). Von den Ländern, die an Polen ländlichen Raum ansässig. Mehr als jeder grenzen, besitzt Brandenburg mit der zehnte Brandenburger lebt in einer Ge- zuverleiben, scheiterte im großen Sla- längs der Flüsse Oder und Lausitzer Neiße meinde, die weniger als 500 Einwohner wenaufstand 983. Erst 150 Jahre später sich erstreckenden Grenze (252 km) die hat: gelang im Zuge der deutschen Ostkoloni- längste. Nur in zwei Städten übersteigt die Bevöl- sation dem Askanier Albrecht dem Bären Brandenburgs geografische Gestalt als Teil kerungszahl die Grenze von hunterttau- die dauerhafte Unterwerfung der Sla- der Norddeutschen Tiefebene bildete sich send: in der Landeshauptstadt Potsdam wen; seit 1157 nannte er sich – den während der Eiszeit, deren gewaltige Eis- (31. 12. 1997: 131 851 Einwohner) und Namen der slawischen Havelfestung auf schichten das Land zwischen Elbe und Cottbus (118 463). Und neben diesen bei- das ganze Land übertragend – Markgraf Oder glätteten, während die Ablagerun- den gibt es nur zwei Städte, deren Ein- von Brandenburg. Albrechts Nachfolger gen der Endmoränen Erhebungen bilde- wohnerzahl die fünfzigtausend erreicht: dehnten in der Folgezeit ihr Gebiet bis ten. So entstanden einander abwechseln- die kreisfreien Städte Brandenburg a.d. weit östlich der Oder, der später so ge- de Hügellandschaften und Ebenen mit Havel (82 460) und Frankfurt (Oder) nannten Neumark, aus und besiedelten weiten Wäldern. Der im Fläming gelegene (77 871). Deutlich über dem Landesdurch- es mit deutschen und flämischen Koloni- Hagelberg ist mit 200 m der höchste Berg schnitt liegt der engere Verflechtungs- sten. Über 100 Städte wurden gegründet. Brandenburgs. Brandenburgs reizvolle raum Berlin-Brandenburg. Auf einer Die alteingesessene slawische Bevöl- Landschaft wird durch viele eiszeitliche Fläche von 4477 km2 leben hier 846 477 kerung vermischte sich rasch mit den Seen, weite Ketten schmaler Rinnenseen, Menschen. Dies entspricht einer Bevölke- deutschen Zuwanderern. Nur im Süden Flüsse und Wälder geprägt. Die bekannte- rungsdichte von 189,1 Personen je km2. Brandenburgs – im Spreewald und der sten Seen sind der Ruppiner See, der Wer- Der Anteil der Ausländer an der Gesamt- Lausitz – bewahrten die Sorben (Wen- bellinsee, der Scharmützelsee und der bevölkerung nimmt zwar kontinuierlich den) bis heute ihre slawische Sprache und durch Theodor Fontanes Roman bekannte zu, bleibt aber immer noch beträchtlich Kultur. Stechlin. Die bedeutendsten Flüsse sind unter dem am 30. 09. 1996 8,9 % betra- Nach dem Aussterben der brandenburgi- die Oder und die Havel mit ihren Neben- genden Bundesdurchschnitt. schen Linie der Askanier traten Wittelsba- flüssen. cher und Luxemburger ihr Erbe an. Sie re- Im Gegensatz zu seiner großen territoria- 500 Jahre Hohenzollernherrschaft gierten fern der Mark, die im Innern in len Ausdehnung gehört Brandenburg zu Anarchie versank und schutzlos den Nach- den Ländern mit geringer Bevölkerungs- Brandenburgs Geschichte unterscheidet barn preisgegeben war. Dies sollte sich dichte. Sie beträgt 87 Pers./km2. Unter den sich in mancherlei Hinsicht von der anderer erst ändern, nachdem Kaiser Sigismund neuen Ländern wie auch im gesamtdeut- Bundesländer. Das verfassungsrechtlich 1415 seinen Vertrauten, den Burggrafen schen Maßstab rangiert Brandenburg „neue“ Land Brandenburg gehört in die Friedrich von Nürnberg mit der Mark damit vor Mecklenburg-Vorpommern an Reihe der historisch „alten“ Länder, deren Brandenburg belehnte. Damit begann die vorletzter Stelle. Die nach 1990 infolge Existenz auf die Errichtung von Territorial- über fünf Jahrhunderte währende Herr- Abwanderung und Geburtenrückgang herrschaften im 12. Jahrhundert zurück- schaft der Hohenzollerndynastie über das stetig zurückgegangene Bevölkerungszahl geht, nachdem sich die alten Stammesher- Land. In den nächsten Jahrhunderten wuchs in den letzten Jahren wieder an: zogtümer aufgelöst hatten. Seine Ge- machten die Hohenzollern Brandenburg, schichte war von seinen Anfängen bis in das zum Kernland des Königreichs die Gegenwart von engen Beziehungen Preußen mit den mit ihrem Namen ver- Bevölke- zwischen Deutschen und Slawen geprägt. bundenen vielgeschmähten „preußischen rungszahl Entscheidend für die Geschichte des Landes Militarismus“ und den gepriesenen Jahr gesamt männlich weiblich war, daß es zur Keimzelle des Königreichs „preußischen Tugenden“ wurde, zu einer 1990 2 578 312 1 246 460 1 331 852 Preußen wurde, das seit dem 18. Jahrhun- Großmacht von europäischem Rang. 1994 2 536 747 1 242 804 1 293 943 dert Deutschlands Geschichte dominierte. Drei Faktoren markierten diesen Prozeß. 1997 2 573 291 1 267 196 1 306 095 Seit dem 7. Jahrhundert war Branden- 1. Durch glückliche Erbschaften (1614 burgs Territorium slawisch besiedelt. Der Erwerb des Herzogtums Kleve und der Versuch der ottonischen Herrscher Hein- Grafschaften Mark und Ravensberg, 1618 rich I. und Otto I., die Gebiete zwischen Elbe und Havel dem deutschen Reich ein-

Brandenburg 31 Eintreten des Erbfalls im Herzogtum gen ein. Gegenentwürfe wurden vorgelegt. sidenten nach gescheiterter Vertrauens- Preußen) erstreckten sich die Territorien Einige lehnten die entstehende Verfassung frage sowie durch einen Volksentscheid der Hohenzollern vom Rhein im Westen als „Weg in eine andere Republik“ ab und mit erhöhten Quoren aufgelöst werden. bis jenseits der Reichsgrenzen im Osten. drohten mit Verfassungsklage. Die Bran- Zu den verfassungsrechtlichen Besonder- Diese vorerst noch lediglich durch dynasti- denburger Bürger jedoch gaben der neuen heiten in der Stellung des Landtags sche Personalunion miteinander verbun- Verfassung im Referendum vom 14. Juni gehören, daß die Opposition ein von der denen Länder territorial abzurunden, war 1992 eine eindeutige Legitimation. Zwar Verfassung garantiertes Recht auf Chan- ein zentrales politisches Ziel der Hohen- lag die Abstimmungsbeteiligung lediglich cengleichheit besitzt und daß die Immu- zollern, die ihrem Staat immer neue Er- bei 47,93 %; die Zustimmungsquote aber nität der Abgeordneten erst auf Verlan- oberungen einverleibten (u. a. 1648 Hin- betrug 94,04 %. gen des Landtags hergestellt wird. terpommern, Minden und Halberstadt, Die Landesverfassung Brandenburgs nahm An die Wahlperiode des Landtags ist die 1680 Magdeburg, 1742 Schlesien, 1772 die Traditionen demokratischer Verfas- Amtszeit der Landesregierung gebunden. Westpreußen). sungsentwicklung in sich auf. Regelungen Der Landtag wählt den Ministerpräsiden- 2. Wie kaum ein zweites deutsches Für- im Grundrechtskatalog, in den parlamenta- ten, der die Richtlinien der Regierungs- stentum hatte Brandenburg im Dreißig- rischen Arbeitsstrukturen, der Rechtsstel- politik bestimmt und die Minister ernennt jährigen Krieg zu leiden. Militärisch lung von Abgeordneten, der richterlichen und entläßt. Die Landesregierung ist ver- schwach, lavierte es zwischen Kaiserlichen Unabhängigkeit usw. lassen sich in Inhalt pflichtet, den Landtag über die Vorberei- und Schweden und war der Willkür beider und teilweise sogar im Wortlaut bis auf die tung von Gesetzen und Verordnungen, Blöcke ohnmächtig ausgesetzt. Der „Paulskirchen“-Verfassung von 1849 über Grundsatzfragen von Raumordnung „Große Kurfürst“ Friedrich Wilhelm setzte zurückführen. Darüber hinaus reflektiert und Standortplanung, die Durchführung deshalb die Bildung eines stehenden Hee- die Verfassung die Impulse der bundeswei- von Großvorhaben sowie über die Zusam- res durch, das von seinem Enkel, dem „Sol- ten Diskussionen, wie sie sich auch in ande- menarbeit mit Bund, den anderen Län- datenkönig“ Friedrich Wilhelm I., zu einer ren neueren Landesverfassungen niederge- dern, den Europäischen Gemeinschaften der schlagkräftigsten europäischen Ar- schlagen haben. Unverkennbar hat aber und anderen Staaten frühzeitig und voll- meen ausgebaut wurde. auch das Rechtsverständnis von DDR-Bür- ständig zu unterrichten. 3. Mit der Installierung eines Verwaltungs- gerbewegungen vielfach Brandenburgs Die Landesverfassung garantiert eine un- apparates, dessen Aufgaben und Kompe- Verfassungsschöpfern die Feder geführt. So abhängige Rechtspflege. Nachdem für tenzen sich über die Mark hinaus auf al- entstammt die Formulierung zur Würde im eine Übergangszeit die Gerichtsstruktur le erworbenen Territorien erstreckten, Sterben oder zur schützenden Toleranz se- der DDR bestehen blieb, wurde in den wurde ein Prozeß staatlicher Vereinheitli- xueller Identität nahezu wörtlich der Ver- Jahren 1991 bis 1993 mit einer Vielzahl chung von oben eingeleitet. Brandenburg fassung des Zentralen Runden Tisches. Dar- von Maßnahmen die Justiz den rechts- nahm in diesem Staatsgefüge schließlich über hinaus werden wichtige Staatszielbe- staatlichen Anforderungen angepaßt. Es seit 1815 nur noch die Position einer von stimmungen formuliert, die – wenngleich entstanden eigenständige Arbeits-, Sozial- zehn Provinzen ein. Aus dem Kurfürsten- juristisch nicht einklagbar – der Landespoli- und Verwaltungsgerichte sowie das Fi- tum Brandenburg entstand 1701 das Kö- tik bestimmte Schwerpunkte vorgeben. So nanzgericht des Landes Brandenburg. Mit nigreich Preußen; seit 1871 war die hat der Staat „im Rahmen seiner Kräfte für dem 1. Dezember 1993 war die strukturel- preußische Königskrone durch die Reichs- die Verwirklichung des Rechts auf eine an- le Neuordnung der ordentlichen Gerichts- verfassung mit der des deutschen Kaisers gemessene Wohnung“ sowie „durch eine barkeit mit Amts- und Landgerichten verbunden. Politik der Vollbeschäftigung und Arbeits- sowie dem Brandenburgischen Oberlan- Bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges be- förderung für die Verwirklichung des desgericht abgeschlossen. Seit Oktober stand der formell erst durch das Gesetz Nr. Rechts auf Arbeit zu sorgen“. 1993 ist auch ein eigenes Landesverfas- 46 des Alliierten Kontrollrats vom 25. Fe- Breiten Raum nimmt der Schutz der natür- sungsgericht tätig. bruar 1947 aufgelöste Staat Preußen. Aus lichen Lebensgrundlagen ein. Verschiede- Ein schwieriges Problem bei der Umstel- seiner Konkursmasse entstand durch Be- ne in der Verfassung geregelte Politikbe- lung der Gerichtsbarkeit war die Aufgabe, fehl der sowjetischen Besatzungsmacht reiche sind ökologischen Zielsetzungen das Vertrauen der Bürger in die neue vom 9. Juli 1945 – vorerst als Provinz be- unterworfen. Ein eigener Verfassungsar- Rechtspflege zu sichern. Dabei galt es, ei- zeichnet – das Land Brandenburg, das seine tikel ist dem Recht des sorbischen (wendi- nerseits die Justiz politisch und moralisch östlich der Oder gelegenen Teile an Polen schen) Volkes auf Schutz, Erhaltung und Belasteter zu entledigen, andererseits verlor. Doch das neue Land sollte nicht Pflege seiner nationalen Identität und der aber einer übermäßigen westdeutschen lange Bestand haben. Nachdem ihm die Gewährleistung seines angestammten Überfremdung vorzubeugen. Deshalb Zentralisierungspolitik der SED grundle- Siedlungsgebietes gewidmet. wurden von dem auf der Grundlage der gende Entscheidungskompetenzen ent- Bei der in der Verfassung benannten Auf- Landesverfassung gebildeten Richter- zog, wurde es schließlich im Juli 1952 gänz- gabe, eine friedliche Zusammenarbeit mit wahlausschuß alle Richter und Staatsan- lich liquidiert. Aus ihm gingen mit territo- anderen Völkern anzustreben, wird der wälte, die an DDR-Gerichten tätig gewe- rialen Veränderungen die Bezirke Pots- polnische Nachbar ausdrücklich hervorge- sen waren und ihren Beruf weiter aus- dam, Frankfurt/Oder und Cottbus hervor. hoben. Dieser Verpflichtung ist das Land üben wollten, auf ihre persönliche und Erst mit der Wiederherstellung der deut- seitdem mit einer Vielzahl grenzüber- fachliche Eignung überprüft. Von 242 schen Einheit am 3. Oktober 1990 ent- schreitender Aktivitäten nachgekommen. Richtern, die einen Antrag auf Übernah- stand das Land Brandenburg erneut. So sind Brandenburger Kommunalge- me gestellt hatten, wurden schließlich 128 meinschaften an den Euro-Regionen Po- (53 %) übernommen, von 166 Staatsan- Die Landesverfassung ist erkennbar merania, Pro Europa Viadrina und Spree- wälten 101 (61 %). vom Runden Tisch geprägt Neiße-Bober beteiligt. Der Landtag besteht aus 88 Abgeordne- Die Brandenburger machen regen Noch bevor sich das neue Land Branden- ten. Sie werden auf fünf Jahre gewählt. Gebrauch von direktdemokratischen burg juristisch konstituierte, setzte die Dis- Wahlberechtigt sind alle Bürger Branden- Verfahren kussion um eine Landesverfassung ein. En- burgs, die das 18. Lebensjahr vollendet gagiert geführte Debatten entspannen sich haben. Bei der Sitzverteilung werden nur Die parlamentarische Gesetzgebung wird um solche Probleme wie das Für und Wider jene Parteien, politische Vereinigungen durch ein dreistufiges direktdemokrati- sozialer Staatszielbestimmungen, die Ein- oder Listenverbindungen berücksichtigt, sches Verfahren (Volksinitiative, Volksbe- beziehung direktdemokratischer Verfahren die mindestens fünf Prozent der gültigen gehren, Volksentscheid) ergänzt. Die ver- in die Gesetzgebung, den Umfang des Zweitstimmen oder mindestens in einem langten Quoren – 20 000 Einwohner (ca. Grundrechtskatalogs oder die Regelung des Wahlkreis ein Direktmandat errungen 1 %) bei der Volksinitiative, 80 000 Wahl- Umweltschutzes. Zu den verschiedenen haben. Diese Sperrklausel gilt nicht für po- berechtigte (ca. 4 %) beim Volksbegehren Entwürfen gingen Hunderte von Vorschlä- litische Vertretungen der Sorben. Der – sind die niedrigsten aller deutschen Bun- Landtag besitzt das Recht der Selbstauflö- sung. Er kann auch durch den Ministerprä-

32 Brandenburg desländer. Verfassungsrechtlich nicht un- Kompliziert verlief die Entwicklung des auf F.D.P. und Bündnis 90. SPD, F.D.P. und umstritten ist das Beteiligungsrecht aller Landesverbandes von Bündnis 90/Die Grü- Bündnis 90 gingen die sogenannte „Am- Einwohner – also nicht nur der wahlbe- nen. Zur ersten Landtagswahl hatten die pelkoalition“ ein. Der von Ministerpräsi- rechtigten Deutschen – bei der Volksinitia- Grünen und die aus den Bürgerbewegun- dent Manfred Stolpe (SPD) geführten Re- tive. Der Erfolg eines Volksentscheids ver- gen Neues Forum, Demokratie Jetzt und gierung gehörten fünf SPD-Minister an, langt die Zustimmung der Mehrheit der Initiative für Frieden und Menschenrechte je zwei Minister wurden von F.D.P. und Abstimmenden, mindestens jedoch 25 % bestehende Listenverbindung Bündnis 90 Bündnis 90 gestellt; ein Minister war par- der Stimmberechtigten. Bei Verfassungs- getrennt kandidiert. Dem 1991 gegründe- teilos. Im 1994 gewählten Landtag sind änderungen und Landtagsauflösungen ten Landesverband Bündnis 90 traten nur noch drei Fraktionen vertreten. Mit gelten höhere Quoren. 15 Volksinitiati- nicht alle Mitglieder der Bürgerbewegun- (nach inzwischen erfolgtem Parteiwechsel ven, 4 Volksbegehren und 2 Volksent- gen bei. Der bundesweite Zusammen- und -ausschluß von Abgeordneten) ge- scheide seit Inkrafttreten der Landesver- schluß von Bündnis 90 und Die Grünen genwärtig 51 Sitzen verfügt die SPD über fassung zeigen, in welch hohem Maße die löste in Brandenburg parteiinterne Kon- die absolute Mehrheit. Der CDU- und PDS- Brandenburger die Möglichkeiten plebis- troversen aus. In deren Folge traten Mit- Fraktion gehören je 18 Abgeordnete an, zitärer Demokratie angenommen haben. glieder und Abgeordnete aus der Partei ein Abgeordneter ist fraktionslos. Das aus und gründeten das Bürgerbündnis, zweite Stolpe-Kabinett ist – mit Ausnah- Dominanz der SPD das aber nach dem Mißerfolg bei der me des parteilosen Ministers der Justiz Landtagswahl 1994 zerfiel; einige seiner und für Bundes- und Europaangelegen- Während der Wendezeit bildeten sich in Mitglieder fanden in der CDU eine politi- heiten Hans Otto Bräutigam – ausschließ- Brandenburg zahlreiche Parteien neu sche Heimat. lich mit SPD-Mitgliedern besetzt. bzw. um. Im November 1989 wurde – we- Um ihr politisches Überleben kämpft auch nige Wochen nach der noch unter konspi- die F.D.P., die in Brandenburg aus den Brandenburger wollen keine rativen Umständen erfolgten Gründung früheren Blockparteien Liberal-Demokra- Fusion mit Berlin der Sozialdemokratischen Partei Deutsch- tische Partei Deutschlands (LDPD) und lands in der DDR deren provisorischer Be- National-Demokratische Partei Deutsch- Von besonderer Art sind die Beziehungen zirksverband Brandenburg gegründet. lands (NDPD) sowie den Neugründungen zwischen den Ländern Brandenburg und Die Partei genießt – nicht zuletzt dank des Deutsche Forumspartei (DFP) und Ost- Berlin. Sie bilden nicht nur, indem Bran- Ansehens von Ministerpräsidenten Man- F.D.P. hervorgegangen ist. Die 5%-Hürde denburg das Land Berlin vollständig um- fred Stolpe – Popularität, verfügt aber konnte die Partei bei den letzten Land- schließt, ein geografisches Spezifikum, über eine vergleichsweise geringe Mitglie- tagswahlen nicht überwinden. sondern haben auch weit zurückreichen- derzahl. Die bisherigen Wahlergebnisse in Bran- de historische Hintergründe. Die heutige Die CDU entstand durch Fusion der DDR- denburg sind sowohl Spiegelbild inner- Bundeshauptstadt Berlin übertraf bis ins Blockparteien Christlich-Demokratische parteilicher Entwicklungen als auch der 15. Jahrhundert hinein – bis 1709 als noch Union (CDU) und Demokratische Bauern- Popularität der einzelnen Parteien und getrennte Städte Berlin und Cölln – an partei Deutschlands (DBD) und der Bür- der sie repräsentierenden Persönlichkei- Größe, Wirtschaftskraft und politischer gerbewegung Demokratischer Aufbruch. ten. Während es anfänglich schien, als Bedeutung andere märkische Städte Die durch diesen Zusammenschluß ge- würde eine Pattsituation zwischen SPD kaum. Erst mit der ständigen Verlegung wonnene Mitgliederstärke konnte sie je- und CDU bestehen, setzte sich in der der kurfürstlichen Residenz und aller doch nicht halten. Führungskämpfe, Ost- Wählergunst sehr rasch die SPD durch. Bei wichtigen Verwaltungsbehörden in die West-Rivalitäten, innerparteiliche Konflik- allen nach 1990 stattgefundenen Wahlen Stadt gewann sie eine exponierte Stel- te zwischen Neumitgliedern und „Block- dominierte sie eindeutig. Ständige Stim- lung. Die aufblühende Industrie im vori- flöten“ prägen nicht nur das Bild der Par- mengewinne konnte die PDS verbuchen – gen Jahrhundert zog viele Tausende Ar- tei in der Öffentlichkeit, sondern führten bei den Landtagswahlen 1990 bildete sie beitssuchende in die Stadt, deren Grenzen auch zu erheblichen Mitglieder- und gemeinsam mit dem Demokratischen nun immer mehr ausgedehnt wurden. Stimmverlusten. Seit 1990 wechselte drei- Frauenbund Deutschlands, Die Nelken, Zahlreiche umliegende Orte wurden nach mal der Parteivorsitz. Freie Deutsche Jugend und Marxistische Berlin eingemeindet. Dies führte schon Die aus den SED-Bezirksorganisationen Jugendvereinigung Junge Linke die Linke damals zu Konflikten und Einsprüchen be- hervorgegangene PDS ist trotz rückläufi- Liste, während die Ergebnisse von F.D.P. troffener Kommunen. Aber auch die Berli- ger Zahlen die mitgliederstärkste Partei. und Grüne/Bündnis 90 unter dem Bundes- ner Behörden wehrten sich vorerst gegen In einigen Kommunalparlamenten stellt durchschnitt blieben. die von der preußischen Regierung favori- sie die stärkste Fraktion. Im Landtag der Wahlperiode 1990-1994 sierte Einverleibung der großen Nachbar- stellte die SPD die stärkste Fraktion. Von orte in die Stadt. Sie fürchteten übermäßi- den 88 Sitzen fielen 36 auf die SPD, 27 auf ge finanzielle Belastungen. Man ent- die CDU, 13 auf PDS/Linke Liste und je 6 schied sich vorerst dafür, Berlin aus dem Provinzialverband Brandenburg heraus- zulösen (1881), zugleich aber eine intensi- ve grenzüberschreitende Regionalpolitik Wahl % der Stimmen (Landes- und Bundestagswahlen: Zweitstimme) über kommunale Grenzen hinweg zu si- chern. So ermöglichte die Ausdehnung SPD CDU PDS F.D.P. Bü 90/Grüne Sonstige der Berliner Bauordnung 1887 auf das Umland die Errichtung von Mietskasernen Landtagswahl 38,24 29,40 13,41 6,63 6,42 2,84 3,06 außerhalb der Hauptstadt. Seit 1899 um- 14. 10. 1990 faßte eine einheitliche Gerichts- und Poli- Bundestagswahl 32,90 36,28 11,03 9,74 6,63 3,41 zeiorganisation Berlin und die Nachbar- 2. 12. 1990 städte. Höhepunkt dieser Entwicklung Kommunalwahl 34,50 20,56 21,19 7,09 4,19 12,47 war die Gründung des Zweckverbandes 5. 12. 1993 für Groß-Berlin im Juli 1911. Dieser um- Landtagswahl 54,14 18,72 18,71 2,20 2,89 3,34 faßte 374 Einzelgemeinden mit 4,1 Millio- 11. 9. 1994 nen Einwohnern. Er sah seine Aufgabe vor Bundestagswahl 45,05 28,12 19,28 2,62 2,89 2,03 allem in der Abstimmung und Zentralisie- 16. 10. 1994 rung gemeinsamer Aufgaben im Ver- Bundestagswahl 43,50 20,78 20,30 2,85 3,62 8,95 kehrswesen, Bebauung und Erhaltung 27. 9. 1998 von Grünflächen. Einer seiner größten Er- Kommunalwahl folge war der „Dauerwaldvertrag“ 1915; 27. 9. 1998 38,97 21,42 21,62 4,14 4,13 9,70 (Kreise und kreis- freie Städte)

Brandenburg 33 durch den Ankauf riesiger Waldflächen tungsaufgaben auf der unteren Ebene ein und die frühzeitige Unterrichtung der Ein- vom preußischen Staat wurden diese bis Höchstmaß an Bürgernähe erreicht wer- wohner über Ziele, Zwecke und Auswir- zum heutigen Tag der Bauspekulation den. kungen wichtiger Planungen und Vorha- entzogen. So ist Brandenburgs Kommunalverfassung ben. Eine Vielzahl durchgeführter Bürger- Nach langen Debatten in staatlichen und durch eine Vielzahl von Regelungen ge- begehren zeigt, daß die Brandenburger kommunalen Gremien beschloß die kennzeichnet, die auf mittelbar, vielfach mit den demokratischen Elementen der Preußische Landesversammlung 1920 mit auch auf unmittelbar demokratische Wil- Kommunalverfassung verantwortungsbe- der knappen Mehrheit von 164 gegen 148 lensbildung die Bürger in die kommunale wußt umgehen und daß sich Befürchtun- Stimmen die Bildung von Groß-Berlin. 7 Willensbildung einbezieht. gen über deren möglichen Mißbrauch als Brandenburger Städte, 59 Landgemein- Das Schwergewicht kommunaler Entschei- unbegründet erwiesen haben. den und 27 Gutsbezirke wurden der dungs- und Kontrollbefugnis liegt bei der Die Wiedereinführung der kommunalen Hauptstadt einverleibt. gewählten Vertretung. Sie ist für alle An- Selbstverwaltung nach dem Zusammen- Nach dem Zweiten Weltkrieg gehörten gelegenheiten der Gemeinde zuständig bruch der DDR war mit der Notwendigkeit Brandenburg und der Westteil der geteil- und kontrolliert die Durchführung ihrer verbunden, größere und ökonomisch lei- ten Hauptstadt gegensätzlichen politi- Entscheidungen durch den Bürgermeister. stungsfähigere Regionaleinheiten zu bil- schen Blöcken an. Ost-Berlin wurde als Dieser wird durch die Bürger direkt ge- den, als sie aus dem zentralistischen Ver- „Hauptstadt der DDR“ in materieller Ver- wählt und hat eine starke Position im Ver- waltungsaufbau überkommen waren. Die sorgung, Baukapazitäten und kultureller hältnis der Kommunalorgane zueinander. 1992/93durchgeführte Kreisgebietsreform Ausstattung dem provinziellen Umland Die Wahlperiode dauert bei den ehren- reduzierte deshalb die Zahl der Landkreise deutlich vorgezogen. Trotz vielfacher amtlichen Bürgermeistern amtsangehöri- von 38 auf 14 und die der kreisfreien Städ- menschlicher Bindungen, die auch Blocka- ger Gemeinden (zu den Ämtern siehe te von 6 auf 4. Die neue Kreisstruktur ist de und Mauer nicht zu zerstören ver- unten!) fünf Jahre, bei den hauptamtli- durch acht Sektoralkreise gekennzeich- mochten, bauten sich Ressentiments zwi- chen Bürgermeistern amtsfreier Gemein- net, die an Berlin grenzen und sich bis auf schen Berlin und der „Zone“ auf. Mit der den sowie in den amtsangehörigen Ge- eine Ausnahme bis an die Landesgrenze Herstellung der deutschen Einheit ver- meinden, die die Geschäfte des Amtes erstrecken. schwanden sie nicht über Nacht, sondern führen, acht Jahre. Relativiert wird die erfuhren – besonders wegen mancherlei einflußreiche Stellung des Bürgermeisters Statt Gemeindereform nicht erwarteter Begleiterscheinungen durch das Recht der Gemeindevertretung, Zusammenfassung zu Ämtern des Einigungsprozesses – eher noch eine ihm Geschäfte der laufenden Verwaltung Vertiefung. Unter diesen Umständen be- zu entziehen, und durch die Möglichkeit Ähnlich wie auf Kreis- verhielt es sich auf gannen die beiden Länder, die Empfeh- des Wahlvolkes, den Bürgermeister auf Gemeindeebene. Die vielen kleinen und lung des Einigungsvertrages über die dem Weg des Bürgerentscheids abzu- Kleinstgemeinden waren nicht fähig, Schaffung eines einheitlichen Bundeslan- wählen. Von dieser Möglichkeit haben die Rechte und Pflichten der kommunalen des Berlin-Brandenburg in die Tat umzu- Bürger vielfach Gebrauch gemacht, letzt- Selbstverwaltung wahrzunehmen. Nach setzen. In den folgenden Jahren wurden lich in der Landeshauptstadt Potsdam. den Erfahrungen der alten Länder betraf die notwendigen vertraglichen Regelun- Das aktive und passive Wahlrecht besitzen dies 9 von 10 Brandenburger Gemeinden. gen zwischen beiden Ländern erarbeitet. Deutsche im Sinne des Grundgesetzes Die Suche nach Alternativen führte zu der Eine Grundgesetzänderung ermöglichte sowie alle Bürger der Europäischen Union. Entscheidung, auf eine Gemeindegebiets- ein vereinfachtes Verfahren; ein Bundes- Die Wählbarkeit setzt voraus, daß der reform im großen Stil vorerst zu verzich- gesetz sicherte die finanziellen Vorausset- Kandidat seit mindestens drei Monaten ten und die Existenz politisch und juri- zungen für die Länderfusion. Alle großen seinen Wohnsitz im Wahlgebiet hat. Ein stisch selbständiger – auch sehr kleiner - Parteien bis auf die PDS favorisierten den Versuch, das Wahlrecht auf 16 Jahre her- Gemeinden beizubehalten. Statt dessen Zusammenschluß. Um so größer war die abzusetzen, scheiterte, so daß das Wahl- sollten mehrere kleinere Gemeinden ge- Enttäuschung bei den Politikern, als sich recht nach wie vor das Mindestalter von meinsame Verwaltungseinheiten einrich- die Brandenburger verweigerten. Bei der 18 Jahren voraussetzt. Jeder Wähler kann ten. Aus den geschichtlichen Erfahrungen Volksabstimmung am 5. Mai 1996 gaben die ihm verfügbaren drei Stimmen belie- Preußens, aber auch der Praxis des ver- 1 299 424 ihre Stimme ab. 814 936 votier- big kumulieren und panaschieren. gleichbar dünn besiedelten Landes Schles- ten gegen ein gemeinsames Bundesland. Neben dem Wahlrecht zu den kommuna- wig-Holstein erwuchs die Einführung der Der von der Politik eingeschlagene Weg len Vertretungen und zum Bürgermeister Amtsverfassung. Dem Amt angehörige lautet seitdem: Statt Fusion verstärkte Ko- weist die Brandenburger Kommunalver- Gemeinden verzichten auf eine eigene operation über Staatsverträge und Ver- fassung eine Fülle weiterer demokrati- Verwaltung. Statt dessen übertragen sie waltungsvereinbarungen. Die beiden Län- scher Mitwirkungsmöglichkeiten auf. So die ihnen obliegenden Verwaltungsauf- der bildeten eine Gemeinsame Landespla- kann über Bürgerbegehren und Bürger- gaben auf das Amt. Nach wie vor ver- nungsabteilung, die Landesentwicklungs- entscheid unmittelbar über gemeindliche bleibt die Entscheidungsbefugnis über die programme erarbeitete sowie einen Koor- Belange entschieden werden. Ferner kön- Selbstverwaltungsaufgaben bei der ein- dinierungsrat, der jedoch keine binden- nen die Einwohner – d.h. nicht nur Wahl- zelnen Gemeinde, während deren Vollzug den Beschlüsse fassen kann. Vertragliche berechtigte, sondern alle in der Gemeinde in der Zuständigkeit des Amtes liegt. Ge- Vereinbarungen zwischen beiden Län- Wohnenden, also auch Ausländer – ihren genwärtig machen viele Gemeinden von dern gibt es u.a. auch in der Schul- und Willen in einer Einwohnerversammlung der Möglichkeit Gebrauch, die die Amts- Verkehrspolitik. In jüngster Zeit mehren oder über einen Einwohnerantrag formu- ordnung einräumt, auch die Entschei- sich die Stimmen zugunsten eines zweiten lieren. Dieser ist zwar für die kommunale dungskompetenz in bestimmten Selbst- Anlaufs für eine Länderfusion. Vertretung nicht verbindlich; die Gemein- verwaltungsangelegenheiten – z. B. die devertretung muß sich aber damit inner- Bauleitplanung – auf das Amt zu übertra- Kommunalverfassung mit Bürgernähe halb von drei Monaten befassen. Als wei- gen. Die Wahrung der Interessen der tere demokratische Elemente enthält die amtsangehörigen Gemeinden liegt in der Brandenburgs Verwaltungsaufbau ist Kommunalverfassung das Petitionsrecht Verantwortung des Amtsausschusses, dem zweistufig mit obersten (Ministerien) und in kommunalen Angelegenheiten, das zwei Vertreter – darunter der Bürgermei- oberen (Landesoberbehörden) Landes- Teilnahmerecht jedes Einwohners an den ster – jeder Gemeinde angehören. behörden auf der ersten und Landesun- öffentlichen Sitzungen der Vertretung Im Durchschnitt umfaßt jedes Amt 11 Ge- terbehörden mit regional begrenzten Zu- und ihrer Ausschüsse, wobei die Öffent- meinden und hat eine Fläche von etwa ständigkeiten auf der zweiten Ebene. Die lichkeit die Regel ist, Einwohnerfragestun- 160 km2 mit ca. 8000 Einwohnern. Mit Entscheidung, auf Regierungsbezirke als den als Bestandteil der Vertretersitzungen 32 000 Einwohnern ist das Amt Rathenow Mittelinstanz zu verzichten, ergab sich aus das bevölkerungsstärkste. Das Amt Anger- der geringen Bevölkerungszahl; zugleich münde/Land hat mit einer Zahl von 22 die sollte durch Konzentration von Verwal- meisten Mitgliedsgemeinden. Die größte

34 Brandenburg Fläche hat das Amt Wittstock/Land mit besitzt eine Reihe touristischer Sehens- Jahr Ausfuhr Einfuhr 412 km2. Im Moment vollzieht sich ein würdigkeiten, die weit über die Grenzen Trend zu freiwilligen Zusammenschlüssen (in TDM) (in TDM) des Landes hinaus berühmt sind. Hauptat- von Gemeinden, die auf Grund ihrer traktionen sind Park und Schloß Sanssouci 1995 3 577 604 5 503 420 Größe dann eine eigenständige amtsfreie und der im Siedlungsgebiet der Sorben 1996 4 331 898 6 844 810 Gemeinde bilden. Diese Tendenz wird liegende Spreewald. Aber auch Schloß 1997 5 663 227 7 723 146 durch soeben beschlossene gesetzliche Rheinsberg mit seinem Wald- und Seen- Regelungen gefördert, so daß innerhalb gebiet, die Schorfheide, die Märkische eines Jahres (1. 1. 1997 zu 1. 1. 1998) die Diese positive Entwicklung findet jedoch Schweiz, die Zisterzienserklöster Chorin, Zahl der Ämter von 158 auf 153 abnahm, keine Resonanz auf dem Arbeitsmarkt. Lehnin oder Zinna, das BUGA-Gelände in die der amtsfreien Gemeinden hingegen Die Arbeitslosenquote betrug im August Cottbus und viele andere Ziele locken von 52 auf 61 anstieg. Insgesamt sank die 1998 16,3%; am höchsten war sie im Raum jährlich viele Tausende von Gästen an. Das Zahl der Gemeinden von 1692 auf 1560. Cottbus mit 18,7%. Betroffen waren alle Land favorisiert einen „sanften Touris- Wirtschaftszweige. Lediglich im Dienstlei- mus“, der in die natürlichen Gegebenhei- Wirtschaftlich geprägt von stungsbereich nahm die Beschäftigten- ten nicht eingreift. 2,4 Millionen Gäste re- der Nähe zu Berlin und dem hohen zahl zu. gistrierten Brandenburgs Hoteliers im Jahr Anteil der Landwirtschaft

Brandenburgs Wirtschaft ist von zwei Um- ständen geprägt: der Nähe zu Berlin mit der damit verbundenen Abhängigkeit von der dortigen ökonomischen Entwicklung und dem hohen Anteil der Landwirt- schaft. Die im 19. Jahrhundert entstande- nen industriellen Zentren kennzeichnen noch heute die ökonomische Struktur des Landes: das Niederlausitzer Braunkohlere- vier, Metallverarbeitung in Brandenburg an der Havel, optische Industrie in Rathe- now und Maschinenbau in Eberswalde; in den ersten Jahrzehnten der DDR kamen der neuerrichtete Stahlstandort Eisenhüt- tenstadt sowie der Fahrzeugbau in Lud- wigsfelde hinzu. Die wirtschaftliche Umstrukturierung von Plan- auf Marktwirtschaft war von einer Reihe ungünstiger Faktoren beglei- tet, die sich in Brandenburg in besonde- rem Maße negativ auswirkten. Veraltete Produktionskapazitäten, niedrige Arbeits- produktivität und mangelnde Infrastruk- tur trafen besonders die Regionen, in Schloß Sanssouci. Foto: Helga Wöstheinrich denen einzelne Industriezweige vor- herrschten. Die Dominanz des Kohle- bergbaus, der noch 1991 mehr als ein Die Zahl der in der Landwirtschaft Be- 1997. Bei einer durchschnittlichen Betten- Viertel der gesamten nicht landwirt- schäftigten sank im Zuge der Auflösung auslastung von 32,3 % wünschen sie sich schaftlichen Produktion ausmachte, und der LPG im Zeitraum von 1990 bis 1992 auf aber, daß der steigende Trend der letzten der Landwirtschaft, zweier Wirtschafts- etwa ein Fünftel. Die landwirtschaftlich Jahre anhält. bereiche mit beträchtlicher Arbeitsinten- genutzte Fläche sank um etwa 15 %. Des- sität und hohen Beschäftigtenzahlen, halb weisen die vorwiegend landwirt- Der Streit um das Schulfach LER hatte hier besonders negative Folgen. schaftlich geprägten Regionen in den Ferner fiel der Wandlungsprozeß in Ost- nördlichen Landesteilen heute die höch- Brandenburgs Schulwesen wird vom Mo- deutschland zusammen mit globalen ste Arbeitslosenquote auf. Bäuerliche Fa- dell der Gesamtschule mit einem 13jähri- Strukturveränderungen und dem Ausfall milienbetriebe werden durch das Land be- gen Weg zum Abitur geprägt. Das Schul- traditioneller Wirtschaftsbeziehungen vorzugt gefördert. So konnte seit 1993 der system gliedert sich in eine sechsjährige mit den osteuropäischen Märkten. Die rückläufige Trend gestoppt werden; die Primarstufe (Grund- und Förderschulen), mit dieser Entwicklung verbundenen Be- Beschäftigung entwickelte sich stabil. Der- eine vierjährige Sekundarstufe I und eine triebsstillegungen und hohen Arbeitslo- zeit gibt es rund 8000 landwirtschaftliche dreijährige Sekundarstufe II. Die gymna- senzahlen kennzeichnen noch immer Betriebe. Ihre Größenstruktur weicht siale Oberstufe kann auch an berufsbil- Brandenburgs Wirtschaft. deutlich von der der alten Bundesländer denden Schulen absolviert werden. Die In den letzten Jahren aber weist sie ein ab. Während dort meist kleinere und mitt- staatlichen Schulen werden durch ein – im kontinuierliches Wachstum auf; das Brut- lere Familienbetriebe das Bild des Dorfes Umfang allerdings sehr geringes – Ange- toinlandsprodukt wuchs beständig. prägen, bearbeiten in Brandenburg ca. bot an Schulen in freier Trägerschaft (Wal- 1998 verzeichnete das Land mit einem 600 Betriebe mit einer Betriebsfläche von dorfschulen, Internationale Schule Pots- Plus von 3,2% zum vierten Mal in Folge jeweils über 500 Hektar etwa 60 % der dam-Berlin) ergänzt. Infolge der abneh- den höchsten Zuwachs am Bruttoinland- landwirtschaftlichen Fläche. Ihre Arbeits- menden Schülerzahlen (1995: 406 423; produkt unter den neuen Länder. Der produktivität liegt teilweise über dem 1997: 397 982) mußten Schulen geschlos- Außenhandel expandiert insbesondere Bundesdurchschnitt. Der Zuwachs in der sen werden. Die Zahl der allgemeinbilden- dank der raschen Westorientierung beim Bruttowertschöpfung liegt in der Land- den Schulen sank von 1205 im Jahr 1995 Export und der Wiederbelebung des Ost- wirtschaft fast dreimal so hoch wie in der auf 1160 im Jahr 1997. Schwerpunkt der handels (mit Ausnahme der GUS): gesamten Wirtschaft. Schulentwicklung wird das Bemühen sein, Als Wirtschaftszweig gewinnt der Frem- denverkehr an Bedeutung. Brandenburg

Brandenburg 35 reichsten Traditionen Eine beachtliche Entwicklung hat Bran- auf (Gründung 1506, denburg als Medienstandort genommen. Verlegung nach Bres- Die Filmstadt Potsdam-Babelsberg, wo lau 1811, Neugrün- seit 1912 Filme produziert werden, hat dung 1992), als aka- Unsicherheiten der Wendezeit überstan- demische Einrichtung den und behauptet sich erfolgreich im in- mit Brückenfunktion ternationalen Wettbewerb. Der ostdeut- zwischen Ost und sche Rundfunk Brandenburg (ORB) produ- West wirkt sie auch ziert mehrere Hörfunk- und ein eigenes weit über die Landes- Fernsehprogramm. Im Bereich der Print- grenzen hinaus. Sie Medien dominieren die drei ehemaligen ist insbesondere auf SED-Bezirkszeitungen, die nach 1989 von die Förderung der westdeutschen Unternehmungen aufge- deutsch-polnischen kauft wurden, den Zeitungsmarkt. Zusammenarbeit aus- gerichtet und wird Das Wappen: dabei von der Eu- ropäischen Union un- Erstmals wurde nach heutigem Kenntnis- terstützt. In allen Stu- stand der märkische Adler in einem mark- diengängen werden gräflichen Wappen 1170 verwandt. Es 30 % polnische Stu- wird vermutet, daß er sich vom Wappen denten aufgenom- des kaiserlichen Lehnsherrn ableitet. In men. Die Hochschule der Folge nahmen mehr als 50 vom Mark- für Film und Fernse- grafen gegründete Städte den Adler in ihr hen in Potsdam-Ba- Stadtwappen auf. Nach etlichen Verände- belsberg ist die einzi- rungen (Ergänzung des Wappens um die die der Bevölkerungsstruktur adäquaten ge künstlerische Hochschule des Landes. kurfürstlichen Insignien Kurhut, Zepter kleinen Grundschulen – teilweise mit jahr- Außerdem bilden sieben Fachhochschulen und Schwert 1824 und um den Erzkäm- gangsübergreifendem Unterricht – zu er- Studenten aus. merstab 1864) und nach der gänzlichen halten. Die Schließung weiterer Grund- Neben diesen Lehr- und Forschungsein- Abschaffung des Adlerwappens 1945 schulen in dünnbesiedelten Räumen wird richtungen sind in Brandenburg wissen- kehrte der Landtag des wiedererstande- aber nicht zu vermeiden sein. schaftliche Institutionen von nationalem nen Landes Brandenburg 1991 zur jahr- Umstritten ist das Schulfach LER (Lebens- und internationalem Rang tätig. Beson- hundertealten Tradition des roten Adlers gestaltung-Ethik-Religionskunde). Seine dere Erwähnung verdient das Geo-For- zurück. schrittweise Einführung als ordentliches schungszentrum, das als weltweit erste Unterrichtsfach trennt die Schüler nicht Einrichtung alle Disziplinen der Wissen- nach Konfessionen und hat zum Ziel, In- schaften der Erde zum Forschungsgegen- formationen über Religionen und Weltan- stand „System Erde“ in einem fachüber- schauungen gemeinsam mit Wissen von greifenden Forschungsverbund zusam- ethischen Grundsätzen zu vermitteln, menfaßt. ohne an die Stelle eines von Kirchen oder Vielgestaltig ist Brandenburgs Kulturland- Religionsgemeinschaften verantworteten schaft, die von reichen Traditionen ge- Religionsunterrichts zu treten. Kritiker prägt ist. Sechs Theater, rund 200 Museen, werfen dem Fach vor, durch staatlich ver- 160 öffentliche Bibliotheken, viele Ge- mittelten Weltanschauungsunterricht die denkstätten, Orchester und Chöre, etwa Ausgrenzung der Kirche aus der Schule zu 25 000 Bodendenkmale und rund 40 000 begünstigen. Baudenkmale befinden sich auf Branden- Die Debatten um dieses Schulfach erhal- burger Territorium. Im ländlichen Raum ten auch deshalb eine spezifische Dimen- stehen über 600 Schlösser und Herrenhäu- sion, weil der überwiegende Teil von ser. Gerade auf kulturellem Gebiet koope- Brandenburgs Bevölkerung keiner Kon- riert das Land eng mit Berlin. Die Bran- fession angehört. Nach vielen Kirchenaus- denburger im Berliner Umland nutzen die Literaturhinweise tritten in der Nach-Wende-Zeit ist nur Angebote der Hauptstadt. Die Potsdamer etwa jeder vierte Brandenburger konfes- Schlösser und Gärten, seit 1990 auf der Christiane Büchner/Jochen Franzke, Das Land sionell gebunden, davon gehört der größ- UNESCO-Liste des Weltkulturerbes, wer- Brandenburg. Kleine politische Landeskunde, te Teil (20 % der Bevölkerung) der evan- den von der Stiftung Preußische Schlösser Potsdam 1997 gelischen Kirche in Berlin-Brandenburg und Gärten Berlin-Brandenburg verwal- Brandenburgische Geschichte, lngo Materna an. Einige grenznahen Regionen sind tra- tet. und Wolfgang Ribbe (Hrsg.), Berlin 1995 ditionell benachbarten Landeskirchen zu- Ein besonderes Gepräge erhält Branden- Handbuch der Verfassung des Landes Branden- burg Helmut Simon, Dietrich Franke und Michal geordnet. Ca. 4 % der Bevölkerung gehört burgs Kulturlandschaft durch die sorbi- Sachs (Hrsg.), Stuttgart 1997 der katholischen Kirche an (Erzbistum Ber- schen Einflüsse. Eigene Vereine, das Sorbi- Potsdamer Kommentar zur Kommunalverfas- lin, Bistum Görlitz). Im Gegensatz zur sche Nationalensemble, ein sorbischer sung des Landes Brandenburg, hgg. vom Städte- evangelischen wächst die Mitgliederzahl Verlag, das deutsch-sorbische Volksthea- und Gemeindebund Brandenburg, Mitheraus- der katholischen Kirche. ter, Museen und andere Einrichtungen si- geber Michal Muth, Erfurt/Vieselbach 1995 Wirtschaftsatlas Brandenburg regional, hgg. Drei Universitäten gibt es in Brandenburg: chern den Erhalt der Traditionen im vom Brandenburgischen Wirtschaftsinstitut, die Universität Potsdam, die Technische deutsch-sorbischen Siedlungsgebiet. Im Potsdam 1995 Universität Cottbus und Europa-Univer- grenznahen Raum an Oder und Neiße sität Viadrina. Letztere weist nicht nur die haben sich vielfältige Beziehungen deutsch-polnischer Zusammenarbeit her- ausgebildet.

Anschrift: Brandenburgische Landeszentrale für politische Bildung, Heinrich-Mann-Allee 107, 14473 Potsdam

36 Brandenburg Ein Bundesland – Zwei Städte men voll von Spaziergängern, Radlern, Radrennfahrern und Skatern. Die geogra- phische Höhe des Landes gravitiert um Freie Hansestadt Bremen 0,00 NN. Die höchste Erhebung ist der Weyerberg in Worpswede – im nieder- sächsischen Umland. Somit besteht das Bundesland Bremen im wesentlichen aus urbanen Strukturen mit nahe gelegenem Von Michael Scherer reizvollen Umland. Insgesamt leben im Bundesland Bremen rund 673 800 Menschen (1997), davon 547 900 in Bremen und 126 900 in Bremerha- ven. 324 900 Bewohner des Bundeslandes sind männlichen Geschlechts, 348 900 sind Der Schlüssel als Wappen: wählen, einen davon zum Präsidenten des Frauen. Im Bundesland leben 82 500 Aus- der Schlüssel zur Welt Senats, der damit die Funktion eines Mini- länder. Es gibt in Bremen 346 200 Haushal- sterpräsidenten wahrnimmt. te, mehr als 42 Prozent davon sind Single- Das Bundesland Bremen, offiziell die Freie Zur Sicherstellung einer bürgernahen Ver- Haushalte, ein Drittel besteht aus zwei Hansestadt Bremen, ist das kleinste Land waltung dienen 17 Ortsämter und 22 Personen. Während Angehörige der Al- der Bundesrepublik Deutschland und be- stadtteilbezogene Beiräte als direkt ge- tersgruppe unter 40 Jahren in der Regel steht aus den Städten Bremen und Bre- wählte Verwaltungsausschüsse mit Mit- zur Miete wohnen, sind rund 40 Prozent merhaven. Nicht ohne Stolz verteidigen wirkungs-, Beratungs- und Anhörungs- der über 40jährigen Bremerinnen und die Bewohnerinnen und Bewohner dieses rechten. Bremer Eigentümer ihrer Wohnung, Bundeslandes bei vielen Gelegenheiten Bremen und Bremerhaven liegen rund 65 wobei ein Drittel aller Bremer Wohnun- ihre traditionsreiche und immer wieder Kilometer voneinander getrennt und wer- gen in Ein- und Zweifamilienhäusern liegt. angefeindete und bedrohte Selbständigkeit, für die der Bre- Ständiger Kampf um mer Schlüssel als Wappen des Selbständigkeit Bundeslandes das Symbol ist. Bremen – der Schlüssel zur Welt. Die Selbständigkeit innerhalb Die Freie Hansestadt Bremen ist einer politischen Gemein- 404 Quadratkilometer groß und schaft beherrscht wie kein an- macht damit gerade 0,16 Prozent deres Thema die geschichtli- der Gesamtfläche der Bundesre- che Entwicklung Bremens. Am publik Deutschland aus. Das Bun- Anfang stand die Siedlung desland umfaßt drei Gebietskör- Bremen am Ufer des Flusses perschaften mit jeweils eigenem Weser. Im Jahre 787 unter Karl Etat, die beiden Stadtgemeinden dem Großen zum Bischofssitz Bremen und Bremerhaven sowie erhoben, entwickelte sich aus das Land Bremen. Die Stadt Bre- der Marktsiedlung die Stadt men liegt 8° 48’ 30” Länge östlich Bremen, der 965 aus der Hand von Greenwich und 53° 04’ 38” Kaiser Ottos I. das Marktprivi- nördlicher Breite, Bremerhaven leg mit Marktzoll, Münzrecht 8° 34’ 48” Länge östlich von Gre- und Marktgericht verliehen enwich und 53° 32’ 45” nördli- wurde. Im Jahre 1035 fand cher Breite. Im Nordwesten der erstmals ein großer Herbst- Bundesrepublik Deutschland an markt statt, der seitdem als der Küste und nahe der Küste der sogenannter Freimarkt all- Nordsee gelegen, wird das Bun- jährlich abgehalten wird und desland ganz wesentlich maritim inzwischen das älteste Volks- geprägt. Häfen und Handel, fest Deutschlands ist. Ein ver- weltweite Verbindungen und brieftes eigenes Stadtrecht er- Aufgeschlossenheit gegenüber hielt Bremen mit der soge- Neuem machen die besondere nannten Barbarossa-Urkunde Atmosphäre in diesem kleinsten Bremer Wahrzeichen: „Der Roland“. Foto: Bremen-Werbung durch Kaiser Friedrich I. im Bundesland aus. Jahre 1186, die den Weg von Die Landesregierung mit dem of- der landesherrlichen Bischofs- fiziellen Titel Senat der Freien Hansestadt den durch den Fluß Weser verbunden. stadt zur freien Reichsstadt eröffnete. Bremen ist zugleich die Regierung der Zwischen beiden Städten liegt niedersäch- Unter anderem regelte diese Urkunde, Stadtgemeinde Bremen, während Bre- sisches Gebiet. Die Lage in der norddeut- daß, wer Jahr und Tag in der Stadt ge- merhaven einen eigenen Magistrat hat, schen Tiefebene sorgt dafür, daß keine be- wohnt hatte, „frei“ und keinem Landes- der von einer Stadtverordnetenversamm- sonderen landschaftlichen Reize für das herrn außerhalb Bremens mehr untertan lung gewählt wird und an dessen Spitze Bundesland Bremen zu benennen sind. Al- war. ein Oberbürgermeister steht. lerdings schätzen es die Bremerinnen und Anfang des 13. Jahrhunderts bildete sich Das Landesparlament heißt Bremische Bremer sehr hoch ein, daß sie in sehr kur- in Bremen ein Rat mit einem Bürgermei- Bürgerschaft (Landtag) und besteht aus zer Zeit von ihren jeweiligen Stadtmittel- ster an der Spitze, der dem geistlichen insgesamt 100 Abgeordneten, 80 aus Bre- punkten aus „im Grünen“ sind – auch Stadtherrn, dem Erzbischof, zunehmend men und 20 aus Bremerhaven. Die 80 Ab- wenn es dann rasch bereits im niedersäch- das Herrschaftsrecht bestritt. Symbol die- geordneten aus der Stadt Bremen bilden sischen Umland ist. Besonders an den we- ses Freiheitswillens wurde der 1404 auf die Stadtbürgerschaft als kommunale Ver- nigen sonnigen Wochenenden sind die dem Marktplatz und in Richtung des erz- tretung. Deichstraßen an den Flüssen rund um Bre- bischöflichen Domes errichtete steinerne Die Bürgerschaft (Landtag) wählt die Mit- Roland, Ritter Kaiser Karls, der zur Unter- glieder des Senats, die aus ihrer Mitte in streichung der städtischen Forderungen geheimer Wahl zwei Bürgermeister 1512 ein Schild erhielt mit der Umschrift „Freiheit tu ich Euch offenbar, die Karl der

Bremen 37 Große und mancher Fürst fürwahr, dieser mische oder hanseatische Gesandte und des Deutschen Reiches dienten und dem Stadt gegeben hat. Dafür danket Gott – Kaufleute, die dabei nicht nur Bremens In- gesamten Hinterland per Bahn und Schiff das ist mein Rat“. teressen vertraten, sondern die Deutsch- den Zugang zum Welthandel erschlossen. Bremen gab sich ein eigenes Stadtrecht, lands. Besondere Bedeutung im Seehandel hat- das als sogenannte Eintracht in der Fas- ten Produkte wie Kaffee, Wolle, Baum- sung von 1433 jahrhundertelang die Den Zugang zum offenen Meer wolle und Tabak. Nicht zuletzt reisten Grundlage einer bremischen Verfassung sichern auch die aus ganz Europa stammenden bildete. Ein weiteres Symbol für Bremens Auswanderer mit Ziel Nordamerika über Freiheitsdrang war in den Jahren 1405 bis Zur Sicherung der wirtschaftlichen Le- Bremen und Bremerhaven – ein durchaus 1410 der Bau des Rathauses, dessen Fassa- bensgrundlagen Bremens gehörte auch lohnendes Geschäft. de die Skulpturen des Kaisers und der sie- die Verfügung über seeschifftiefes Wasser, Neben Handel und Schiffahrt konnte Bre- ben Kurfürsten schmücken. die durch die Versandung der Weser men erst spät neue Wirtschaftsschwer- Bereits 1358 war Bremen dem mächtigen immer wieder gefährdet war. Zur Lösung punkte setzen. Noch 1888 betrug der An- Städtebund der Hanse beigetreten. Bre- dieses Problems kaufte Bremen unter dem teil von Arbeitern an der Gesamtbevölke- men hatte zwar formal noch nicht den Bürgermeister Johann Smidt ein Stück rung von rund 170 000 Einwohnern ledig- Status einer unmittelbar freien Reichs- Land an der Wesermündung von Hanno- lich 5,2 Prozent. Dies änderte sich erst An- stadt, wurde aber bereits ab 1461 vom ver und ließ dort 1827 einen Hafen mit Zu- fang des 20. Jahrhunderts, als im Zuge der Kaiser zu den Reichstagen geladen. Kai- gang zum offenen Meer bauen. Mit Bre- Entwicklung des 1857 gegründeten Nord- serliche Privilegien aus den Jahren 1541 merhaven, 1851 zur Stadt erhoben, trat deutschen Lloyd zur größten deutschen und 1542, die unter anderem Hoheitsrech- neben Bremen ein zweites städtisches Ge- Reederei auch moderne Industriebetriebe te zur Regelung der Schiffahrt oder das bilde, womit die noch heute bestehenden der Metall- und Maschinenbaubranche Recht, goldene und silberne Münzen zu Strukturen des Landes Bremen geschaffen entstanden. schlagen, sicherten, vertieften Bremens wurden. Unabhängigkeit vom erzbischöflichen 1867 trat Bremen dem Norddeutschen Bis 1919 Acht-Klassen-Wahlrecht Landesherrn. Dieser war in der Stadt in- Bund bei und verlor damit die völker- zwischen auf den Dombezirk einge- rechtliche Souveränität, gewann dafür In der Revolution des Jahres 1848 war in schränkt und verlegte seine Residenz nach aber die Eigenständigkeit im Bundesstaat Bremen unter anderem ein gleiches Wahl- Bremervörde im nichtbremischen Umland. und dieselbe staatsrechtliche Stellung wie recht durchgesetzt worden, das aber nur die hanseatischen Schwesterstädte. Mit wenige Jahre Bestand hatte. In einem Durch das „Linzer Diplom“ der Gründung des neuen Deutschen Rei- konservativen Gegenschlag war 1854 eine zur freien Reichsstadt ches im Jahre 1871 trat Bremen als Freie Verfassung durchgesetzt worden, die das Hansestadt dem Bundesstaat bei und war Wahlrecht in acht Klassen aufteilte und an Doch dauerte es noch mehr als einhundert im Bundesrat mit voller Einzelstimme ver- ein Bürgerrecht band, das gegen eine Jahre, bis Bremen durch das Linzer Diplom treten. Aber erst 1888 erfolgte die volle nicht unerhebliche Gebühr von 16,50 im Jahre 1646, gegen Ende des Dreißig- wirtschaftliche Integration in das übrige Mark durch die Ableistung des Bürgerei- jährigen Krieges, endlich aus der Hand Deutschland und der Beitritt zum Zollver- des erst erworben werden konnte. Den Kaiser Ferdinands III. die Reichsunmittel- ein, nachdem Bremen ein Freihafen ga- einzelnen Wahlklassen, die durch Berufs- barkeit bestätigt wurde. Wichtiger als Sitz rantiert und damit ein wesentlicher Be- zugehörigkeit, Bildung oder auch Wohn- und Stimme beim Reichstag war die abge- reich der bremischen Wirtschaft abgesi- sitz definiert wurden, war eine bestimmte sicherte Freiheit für Handel und Schif- chert worden war. Anzahl von Bürgerschaftsmandaten zuge- fahrt. Ein weiterer Vorteil für die wirt- Diesem Ziel diente auch Ende des 19. Jahr- ordnet, so daß eine konservative Mehr- schaftliche Entwicklung Bremens war die hunderts die Korrektion der Unter- und heit im Parlament garantiert war. Die ei- geringe Besteuerung in Friedenszeiten. der Außenweser sowie der Bau und Aus- gentliche Macht übte der Senat aus, des- Dagegen zahlte Bremen 100 000 Gulden bau der stadtbremischen Häfen. Diese sen Mitglieder auf Lebenszeit gewählt an den Kaiser und mußte sich verpflich- Maßnahmen waren Leistungen, die weit- wurden und dessen Wahl so kompliziert ten, für das Reichsheer 16 Reiter und 32 gehend von Bremen selbst finanziert wur- geregelt war, daß gegen den Willen dieses Fußknechte zu stellen. Wie es heißt, sollen den, auch wenn sie der Gesamtwirtschaft Gremiums kein Senator neu gewählt wer- die aus der Kaufmannsstadt entsandten den konnte. Söldner aber immer ein wenig zu spät auf Diese Verhältnisse änderten sich erst am den Schlachtfeldern erschienen sein. Ende des Ersten Weltkrieges, nachdem am In den folgenden Jahrhunderten war Bre- mens Freiheit nie ungefährdet, konnte aber doch immer wieder bewahrt werden. 1741 erkämpfte sich Bremen die volle Lan- deshoheit im Stader Vergleich. Mit der Auflösung des alten deutschen Kaiserrei- ches im Jahre 1806 wurde Bremen ein selbständiger und souveräner Freistaat, der sich Freie Hansestadt nannte. Doch schon 1810 endete diese Freiheit, als die Hansestädte dem französischen Kaiser- reich einverleibt wurden und Bremen Hauptort des Departements der Weser- Mündungen wurde. Nach der Befreiung drei Jahre später vereinigte sich die Freie Hansestadt Bremen auf dem Wiener Kon- greß mit den Fürsten und den anderen freien Städten im Jahre 1815 zum Deut- schen Bund, dessen Bundesakte Bremen eine eigene auswärtige Politik zugestand. Eine Folge dieser Freiheit war die Er- schließung der überseeischen Märkte durch Handels-, Schiffahrts- und Freund- schaftsverträge, abgeschlossen durch bre-

Blick auf Bremerhaven. Foto: Tourismusförderungsgesellschaft Bremerhaven mbH

38 Bremen 6. November 1918 die von Kiel ausgehen- Bereits am Tag darauf erfolgte die Bremerhaven und Wesermünde, wurde de Matrosenrevolte auch Bremen erreicht Machtübernahme der Nationalsozialisten dieses Ziel erreicht. Unter dem Namen hatte. Der Arbeiter- und Soldatenrat über- in Bremen im Zuge eines geschickt ge- Bremerhaven vereinigten sich dann am 7. nahm die Macht und setzte am 14. No- planten Zusammenspiels der Bremer Februar 1947 die beiden Städte Bremerha- vember 1918 Senat und Bürgerschaft ab. Parteiführer und des Reichsministeriums ven und Wesermünde. Am 10. Januar 1919 wurde die Bremer Rä- des Inneren in Berlin. Als der Senat gegen terepublik ausgerufen, die aber schon am die Stimmen der sozialdemokratischen Die Landesverfassung 4. Februar 1919 durch den Einsatz von Senatoren beschloß, am Rathaus die Reichstruppen blutig niedergeworfen schwarz-weiß-rote Fahne zu hissen, traten Die ersten freien Bürgerschaftswahlen wurde. Eine aus fünf Mitgliedern der die drei Senatoren der SPD zurück. Noch fanden am 12. Oktober 1947 zugleich mit Mehrheitssozialdemokratie bestehende am selben Tage wurde durch Reichsinnen- einer Volksabstimmung über die Verfas- Regierung verwaltete provisorisch die po- minister Frick ein Reichskommissar für die sung statt. Am 21. Oktober 1947 trat mit litische Macht in Bremen und amtierte bis Polizei mit weitgehenden Befugnissen der Verkündung die Landesverfassung der zum 10. April 1919, als ein aufgrund der eingesetzt. Nur wenige Tage später wurde Freien Hansestadt Bremen in Kraft. Ge- Wahlen zur Bremer Nationalversammlung der noch bestehende Rumpf-Senat durch genüber dem gut eineinhalb Jahre später aus Mehrheitssozialdemokraten und zwei einen aus sechs Nationalsozialisten und erst entwickelten Bonner Grundgesetz bürgerlichen Parteien gebildeter Senat drei Deutschnationalen bestehenden enthielt die Bremer Landesverfassung Be- die Regierungsgeschäfte in Bremen über- kommissarischen Senat nach den Vorstel- sonderheiten, die sich aus der liberalen nahm. Die in der Nationalversammlung lungen der Reichsregierung ersetzt. Tradition und den politischen Auffassun- erarbeitete Verfassung trat am 18. Mai Die Bremische Bürgerschaft hatte sich gen der Zeit ergaben. Die Bremer Landes- 1920 in Kraft und sah eine Bürgerschaft ebenfalls aufgelöst und Neuwahlen ange- verfassung hat – in der Tradition der er- aus 120 Abgeordneten vor, die in allge- setzt, die aber Ende März unter Berufung sten umfassenden demokratischen Verfas- meiner und gleicher Wahl aufgrund von auf die Verordnung zum Schutz von Volk sung Bremens aus dem Jahre 1920 – den Parteilisten auf drei Jahre gewählt wurde. und Staat vom 28. Februar 1933 abgesetzt 1947 einzigartigen Versuch gemacht, das Mit der Verabschiedung der Bremer Lan- wurden. Eine Neubildung der Bürger- Bild einer gerechten und insbesondere desverfassung hatte die parlamentarische schaft wurde entsprechend den Ergebnis- den Menschenrechten und der sozialen Demokratie auch in Bremen Einzug gehal- sen der Reichstagswahl vorgenommen. Gerechtigkeit verpflichteten Gesell- ten. Die Eröffnungssitzung am 28. April 1933 schaftsordnung zu entwerfen. So stellte war zugleich die erste und auch letzte Zu- schon Artikel 1 der Bremer Landesverfas- Der Nationalsozialismus sammenkunft. Schließlich wurde Bremens sung die Maxime künftigen und dauer- und der Verlust der Selbständigkeit Parlament am 14. Oktober 1933 aufgelöst, haften Handelns politischer Herrschaft auch die letzten Befugnisse gingen auf klar mit der Formulierung: Welche politische Bedeutung die Ernen- den Senat über. Zu diesem Zeitpunkt „Gesetzgebung, Verwaltung und Recht- nung Adolf Hitlers zum Reichskanzler am hatte Bremen bereits seine Selbständig- sprechung sind an die Gebote der Sittlich- 30. Januar 1933 hatte und welche Folgen keit verloren, nachdem der oldenburgi- keit und Menschlichkeit gebunden.“ dies nach sich ziehen würde, wurde auch sche Ministerpräsident am 5. Mai 1933 Zur Wirtschaftsordnung ging die Bremer in Bremen zunächst nicht erkannt. Auf- zum in Bremen und Ol- Verfassung weit über das hinaus, was grund des Bürgerschaftswahlergebnisses denburg ernannt worden war. später im Grundgesetz festgeschrieben vom November 1927 wurde Bremen seit wurde. Zwar war das Eigentum auch in April 1928 von einem Senat der „Großen Bremen im Jahre 1945 der Bremer Verfassung gesichert. Außer- Koalition“ aus je drei Senatoren der DDP dem aber wurde der Staat verpflichtet, und der DVP sowie aus fünf Senatoren der 1945, am Ende des Zweiten Weltkrieges „die Wirtschaft zu fördern, eine sinnvolle SPD regiert. Nach den Bürgerschaftswah- und des nationalsozialistischen „Dritten Lenkung der Erzeugung, der Verarbei- len vom 30. November 1930 blieb diese Reiches“, lag Bremen in Schutt und Trüm- tung und des Warenverkehrs durch Ge- Senatskoalition im Amt, wenn auch parla- mern. Am 27. April 1945 zogen britische setz zu schaffen, jedermann einen gerech- mentarisch geschwächt und nur halb- Truppen in Bremen ein, die aber schon ten Anteil an dem wirtschaftlichen Ertrag herzig von den sie tragenden Parteien ge- nach wenigen Wochen verabredungs- aller Arbeit zu sichern und ihn vor Aus- wollt. So war dann im Frühjahr 1933 nach gemäß der amerikanischen Besatzungs- beutung zu schützen“. der Reichstagsauflösung am 1. Februar macht Platz machten, die damit Zugriff Neben der sittlichen Verpflichtung zur Ar- 1933 und der Festsetzung von Neuwahlen auf die Hafenanlagen hatte, um ihren beit schreibt die Landesverfassung auch zum Reichstag am 5. März 1933 eine un- Nachschub nach Süddeutschland ab- ein Recht auf Arbeit ebenso fest wie die gewisse Lage auch in Bremen vorhanden. wickeln zu können. Die erste Zeit nach Pflicht zum Widerstand, wenn „die in der Die Beeinträchtigungen im Wahlkampf, dem Ende des nationalsozialistischen Re- Verfassung festgelegten Menschenrechte Presse- und Versammlungsverbote, gimes war geprägt von der Notwendig- durch die öffentliche Gewalt verfassungs- schließlich die Folgen des Reichstagsbran- keit, die Versorgungslage der Bevölke- widrig angetastet werden“, so heißt es in des führten zu Verunsicherungen. Am Tag rung zu verbessern, aber auch vom Wie- Artikel 19. der Reichstagswahl am 5. März 1933 war deraufbau einer eigenständigen Verwal- Bremen das einzige Land, in dem noch so- tung. Schon im August 1945 wurde der Langjährige SPD-Dominanz genannte „Marxisten“ in der Landesregie- ehemalige sozialdemokratische Wohl- in Bremen rung saßen. Auch wenn die Wahlergeb- fahrtssenator von der nisse für die Parteien der Reichsregierung, amerikanischen Militärregierung zum Bereits seit der ersten Bürgerschaftswahl insbesondere die der NSDAP, weit unter Bürgermeister und Präsidenten des Senats im Oktober 1947 war die Sozialdemokrati- dem Reichsdurchschnitt blieben, forder- gemacht. Dem aus Sozialdemokraten, sche Partei Deutschlands die stärkste Kraft ten die bremischen Nationalsozialisten Bürgerlich-Liberalen und Kommunisten im Bundesland Bremen. Der erste Regie- den Rücktritt des Senats und die Neuwahl bestehenden Senat wurde im April 1946 rungschef war Wilhelm Kaisen, der auch der Bürgerschaft, wobei sie unverhohlen ein erstes ebenfalls noch ernanntes bremi- bei absoluten Mehrheiten für die SPD in mit dem Eingreifen der Reichsbehörden sches Parlament an die Seite gestellt. Zu Bremen immer wieder Koalitionsregierun- drohten. den Hauptaufgaben dieser Gremien gen vorstand, um so ein Bündnis von „Ar- gehörte neben dem materiellen auch der beiterschaft und Kaufmannschaft“ zum staatliche Neuaufbau, insbesondere die Si- cherung der Ländereigenschaft und die Festschreibung einer Landesverfassung. Mit der Ausrufung des Landes Bremen am 21. Januar 1947, bestehend aus Bremen,

Bremen 39 Wohle der Interessen des Bundeslandes Die Gründung der Universität Bremen zu bilden. So bestand von 1947 Bremen bis 1951 eine Koalition von SPD und Frei- demokraten und von 1951 bis 1959 ein Im Herbst 1971 wurde nach langen Jahren Senat aus SPD, F.D.P. und Christlich-Demo- der Planung die Universität Bremen ge- kratischer Union (CDU). Das seit 1959 nur gründet, um die es handfeste Auseinan- noch aus SPD und F.D.P. bestehende Bünd- dersetzungen gab. Die Regierungskoali- nis wurde von der F.D.P. 1971 noch vor der tion aus SPD und F.D.P. zerbrach wenige Bürgerschaftswahl wegen gravierender Monate vor den Bürgerschaftswahlen Meinungsunterschiede aufgekündigt. Ent- 1971 wegen eines Konfliktes im Senat um scheidender Konflikt war die Gründung diese neue Universität, die bundesweit der Bremer Universität im Herbst 1971 mit auf lange Zeit als „rote Kaderschmiede“ den damit verbundenen inhaltlichen Ziel- bezeichnet wurde. setzungen, die auf neue Strukturen der Die Ansiedlung der Universität hatte be- universitären Hierarchien hinausliefen. trächtliche Folgen für die soziokulturelle Seitdem regierten die Sozialdemokraten Entwicklung Bremens. Studentische in Bremen allein, bestätigt durch die Wohn- und Lebensformen veränderten Wahlerfolge der nächsten Wahlen. Wil- ganze Stadtteile, kulturelle Anstöße wirk- helm Kaisen trat im Sommer 1965 zurück ten auf eingefahrene Strukturen und lö- und überließ dem langjährigen Bildungs- sten auch politische Entwicklungen aus. senator Willy Dehnkamp sein Amt, der So wurde Bremen nicht nur ein Schwer- nach einer Niederlage bei den Bürger- punkt der Umweltschutz- und Anti-Atom- schaftswahlen im Jahre 1967, als die SPD kraft-Bewegung, sondern auch Ausgangs- von 54,7 auf 46,0 Prozent rutschte, von punkt der parlamentarischen „grünen“ abgelöst wurde. Karriere. Bereits zur Bürgerschaftswahl Der Faltturm des „Zentrums für ange- 1979 kandidierte die Bremer Grüne Liste Wirtschaftlicher Wiederaufbau wandte Raumfahrttechnologie und Mi- (BGL), gegründet von ehemaligen SPD- krogravitation“ bei der Universität Bre- Mitgliedern, und zog als erste grüne Zu Beginn der fünfziger Jahre – nach dem men. Foto: Bremen-Werbung Gruppe in ein Landesparlament ein. Ende der Demontagen, der Freigabe der Inzwischen lernen rund 26 000 Studieren- bremischen Häfen, dem Beginn einer de an den Hochschulen des Landes Bre- neuen Werftindustrie in Bremen, der Un- Wirtschaftliche Struktur- men, davon 17 000 an der Universität Bre- terstützung durch den Marschallplan und veränderungen und Probleme men, beinahe 6 500 an der Hochschule die Währungsreform – war die bremische Bremen und fast 1 300 an der Hochschule Wirtschaftsstruktur auf Handel, Häfen, den 1961 brach der Borgward-Konzern zusam- Bremerhaven. Schiffbau und die Fischwirtschaft – mit dem men. Die bremische Automobilindustrie Eine wichtige Rolle nahm die Universität Schwerpunkt in Bremerhaven – ausgerich- war damit erst einmal am Ende, nachdem auch in der Umstrukturierung der wirt- tet. In den folgenden Jahren kamen Flug- die zuständigen Banken nicht mehr bereit schaftlichen Substanz in Bremen ein. Mit zeug- und Automobilbau, beispielsweise gewesen waren, die für die Fortsetzung den Weltwirtschaftskrisen seit der Mitte der inzwischen schon legendäre Borgward, der Automobil-Produktion notwendigen der siebziger Jahre wurde Bremen wegen hinzu, wenig später auch die Stahlindustrie Kredite zu gewähren. Der Senat der Freien des hohen Anteils an Krisenbranchen mit der Ansiedlung der sogenannnten Hansestadt Bremen sah sich nicht in der schwer belastet. Fischwirtschaft, Stahl und „Hütte am Meer“ des Klöckner-Konzerns. Lage, hier mit den notwendigen finanziel- vor allem der Werftenbereich mußten er- Bremen bot damit viele neue Arbeitsplät- len Mitteln einzuspringen. Zwar gelang es, hebliche Einbrüche mit gravierenden Aus- ze. Zusätzlich waren Bremens politische In- die im Autobereich tätigen Arbeiter zum wirkungen hinnehmen. Das Bundesland stanzen auch bereit, in die städtische Infra- größten Teil wieder in feste Arbeitsplätze Bremen wurde die Region mit der höch- struktur zu investieren. So wurden die zu integrieren, doch deutete sich damit sten Arbeitslosigkeit der Bundesrepublik Theater ausgebaut, eine neue Stadthalle bereits an, daß die bremische Wirtschafts- Deutschland. Die Bemühungen des Senats als Ort von Massenveranstaltungen wie struktur verbreitert werden mußte. In die- der Freien Hansestadt Bremen, durch dem „Sechs-Tage-Rennen“ wurden errich- ser turbulenten Zeit der Wirtschaftskrise in staatliche Eingriffe diese Situation zu ver- tet, Freizeitangebote, soziale Dienstleistun- der Mitte der sechziger Jahre griff nicht bessern, führten zu einer immensen Ver- gen und Bildungseinrichtungen wurden nur die Arbeitslosigkeit um sich, sondern schuldung, die Bremen in eine extreme großzügig unterstützt. Das Land Bremen es schwanden auch die politischen stabilen Haushaltsnotlage brachte. gab in diese Bereiche viel Geld und war Verhältnisse. Während die sogenannten auch bereit, sich für diese Zielsetzungen zu Studentenunruhen und die Außerparla- Wirtschaftlicher und verschulden. Und dennoch waren die mentarische Opposition von sich reden politischer Umbruch Bemühungen nur begrenzt erfolgreich, auf machten, formierten sich auf dem rechten Dauer Firmen und Menschen im bremi- politischen Sektor neue Kräfte. Die rechts- Die im Jahre 1978 beginnende Mercedes- schen Stadt- und Staatsgebiet zu halten. radikale Nationaldemokratische Partei Benz-Ansiedlung sorgte für eine in den Die Randgemeinden im niedersächsischen NPD zog nach den Bürgerschaftswahlen nächsten Jahren expandierende neue Au- Umland waren für viele attraktiver, so daß des Jahres 1967 in das Bremer Landespar- tomobilindustrie mit entscheidenden Aus- Arbeitsplätze und Steuerzahler Bremen lament ein, während in Bonn kurz darauf wirkungen auf den bremischen Arbeits- mit ihren Abgaben verließen. Die neue aus CDU/CSU und SPD unter Kurt-Georg markt. Auch die Neubelebung der Luft- Steuerregelung nach dem Wohnsitzprinzip Kiesinger und Willy Brandt die Große Ko- fahrtindustrie durch den Airbus und der führte zu massiven Einnahmeverlusten für alition gebildet wurde. Ausbau der Raumfahrtindustrie erbrach- das Bundesland Bremen, das bis zur Finanz- In Bremens regierender Sozialdemokratie, ten neue Arbeitsplätze in Bremen. Doch reform von 1969 Geberland im Länderfi- das Bundesland Bremen prägend, vollzog der spektakuläre Zusammenbruch der nanzausgleich gewesen war. sich in dieser Zeit auch der Generationen- wechsel. Eine neue Nachwuchsriege bilde- te sich heraus und machte ihre Ansprüche geltend.

40 Bremen Großwerft AG Weser aufgrund der Ent- Universität hin zu Natur- und Ingenieur- Antreten einer neugegründeten Partei scheidungen des Krupp-Konzerns im wissenschaften zog die Gründung wichti- mit dem Namen Arbeit für Bremen/Bre- Jahre 1983 nur wenige Tage vor der Bür- ger Großforschungseinrichtungen nach merhaven (AfB), die sich entscheidend aus gerschaftswahl, der die Grenzen staatli- sich. Die Institute für Meeres- und Polar- ehemaligen SPD-Mitgliedern und SPD- chen Handelns deutlich machte, bedeute- forschung oder für Angewandte Strahl- Sympathisanten zusammensetzte; sie hat- te einen industriellen Einbruch, der lang- technik, das Zentrum für angewandte ten sich aus Enttäuschung über die Läh- währende Konsequenzen nach sich zog. Raumfahrttechnologie und Mikrogravita- mung der SPD in der „Ampel“ zu einer Trotz der Schließung dieser Werft gewann tion, aber auch das Zentrum für Europäi- eher konservativ angehauchten neuen die Sozialdemokratische Partei mit Hans sche Rechtspolitik oder die Forschungs- Partei aufgerafft und waren auf Anhieb Koschnick als Spitzenkandidat die Wahlen stelle Osteuropa, um nur einige Beispiele bei der Wahl des Jahres 1995 erfolgreich. mit absoluter Mehrheit. Im Sommer 1985 aufzuführen, dienen sowohl dem Ausbau Seit dem Sommer 1995 wird das Bundes- trat der seit 1967 amtierende Präsident der Wissenschafts- als auch der Wirt- land Bremen von einer gleichstarken des Senats Hans Koschnick zurück. Nach schaftsstruktur. Bei allen Erfolgen auf die- „Großen Koalition“ aus SPD und CDU re- einer intensiven Auseinandersetzung in- sem Gebiet war dennoch die Gefährdung giert, wobei die SPD mit nerhalb der regierenden Sozialdemokra- der Eigenständigkeit des Bundeslandes den Präsidenten des Senats einer aus acht tie zwischen den beiden Nachfolgekandi- als bremisches Dauerthema auch in der Senatoren bestehenden Regierung stellt. daten Sozialsenator Dr. Henning Scherf Regierungszeit Wedemeiers ständig prä- Auch dieser Senat hat mit erheblichen und Klaus Wedemeier setzte sich der Vor- sent. wirtschaftlichen Problemen zu kämpfen, sitzende der SPD-Bürgerschaftsfraktion Eine nicht unerhebliche Bedeutung für wofür der Zusammenbruch des letzten Wedemeier durch. die wirtschaftliche Entwicklung und Siche- bremischen Werftbetriebes, des Vulkan- Die schwierige Lage Bremens setzte beim rung von Arbeitsplätzen kommt dem so- Konzerns, Ende 1995 steht. Zum seit Jah- neuen Präsidenten des Senats und Bürger- genannten Standortfaktor Freizeit und Er- ren betriebenen Schuldenabbau und zur meister Wedemeier die Schwerpunkte der holung zu. Neben den bereits genannten Haushaltskonsolidierung durch Ausga- aktuellen Politik mit den Themen „Haus- Naherholungsangeboten im Bremer Um- benkürzungen einerseits und Einnahme- haltssanierung“ und „Politikgestaltung land spielen auch die vielfältigen kulturel- verbesserung andererseits gibt es in Bre- trotz finanzieller Einschränkungen“. Vor len Aktivitäten eine wichtige Rolle. Neben mens politischen Kreisen keine Alternati- dem Bundesverfassungsgericht gelang es, einer bunten und freien Kulturszene gibt ve. Im Frühsommer 1999 finden die näch- die Interessen des Bundeslandes um einen es die institutionalisierten Kulturbereiche sten Bürgerschaftswahlen statt. gerechten Finanzausgleich erfolgreich Theater, Musik und Museen mit überre- durchzusetzen und Sanierungshilfen aus gionaler Ausstrahlung. Das Bremer Thea- dem Bundeshaushalt in erheblicher Höhe ter hat sich trotz vieler Bedrohungen Das Wappen zu erwirken. immer wieder zu neuen Höchstleistungen Das Thema Länderfinanzausgleich war aufgeschwungen und gilt insbesondere in Der Schlüssel des bremischen Stadtwap- und ist auch ein immer wieder auftau- der Sparte des Tanztheaters als stilbil- pens ist Attribut des städtischen Schutzpa- chendes Problem für Radio Bremen, den dend. Das Deutsche Schiffahrtsmuseum in trons Apostel Petrus. Das Wappen wird kleinsten deutschen Hörfunk- und Fern- Bremerhaven gehört zu den meistbesuch- seit 1366 geführt und entstammt damit sehsender, der als Landesrundfunkanstalt ten Museen der Bundesrepublik. Auch einer Zeit, da die Stadt noch unter der vier Hörprogramme ausstrahlt. Das Zweite das Übersee-Museum, die Bremer Kunst- Landeshoheit des Erzbischofs stand. Deutsche Fernsehen (ZDF) unterhält ein halle und das Neue Museum Weserburg eigenes Landesstudio. Im Bereich der präsentieren überragende Angebote. Printmedien dominiert die Bremer Tages- zeitungen AG mit dem Weser-Kurier den Unter der Großen Koalition Markt. Diverse überregionale Zeitungen berichten durch Korrespondenten aus Die Wahl zur Bremischen Bürgerschaft im dem Bundesland. Die Tageszeitung (taz) Jahre 1991 erbrachte beachtliche Verluste hat in Bremen eine eigene Lokalredak- der Sozialdemokratischen Partei, die dar- tion. aufhin unter dem amtierenden Präsiden- 1987 konnte Wedemeier als Chef einer ten Klaus Wedemeier in eine sogenannte SPD-Alleinregierung mit einem beein- „Ampelkoalition“ aus SPD, Grünen und druckenden Ergebnis bei der Bürger- Freien Demokraten führte. Die unge- schaftswahl die absolute Mehrheit vertei- wöhnliche Konstellation brachte erhebli- digen. Als Wermutstropfen dieser Wahl che Friktionen im Regierungshandeln, die galt der Erfolg der rechtsextremen DVU, bis hin zu „Lähmungserscheinungen“ in die in das Bremer Parlament einziehen der Entscheidungsfindung führte. Um- konnte. weltpolitische Kontroversen um die An- meldung bremischer Gebiete als von der Die Umstrukturierung Europäischen Union als geschützt ausge- Literaturhinweise des Standortes Bremen wiesene Gebiete führten schließlich im Frühjahr 1995 zur Aufkündigung der Drei- Schwarzwälder, Herbert: Geschichte der Freien Die Ansiedlung und der Ausbau zukunfts- Parteien-Koalition und zu Neuwahlen, die Hansestadt Bremen, 5 Bde., erw. und verb. Auf- trächtiger Forschungs- und Wirtschafts- im Mai 1995 für die SPD zu einem Desaster lage, Bremen 1995. zweige vor allem des High-Tech-Sektors wurden. Dazu beigetragen hatte auch das Gerstenberger, Heide (Bearb.): Bremer Freihei- wie Luft- und Raumfahrtindustrie, moder- ten. Zur Geschichte und Gegenwart des Stadt- staates Bremen (Beiträge zur Sozialgeschichte ner Automobilbau, Mikroelektronik und Bremens; H. 18), Bremen 1997. Umwelttechnologie, maritime Geowissen- Kröning, Volker/Pottschmidt, Günther/Preuß, schaften und Produktionstechnik diente Ulrich K./Rinken, Alfred: Handbuch der bremi- in der Ära Wedemeier der Umstrukturie- schen Verfassung, Baden-Baden 1991. rung des Standortes Bundesland Bremen. Insbesondere die Umsteuerungen bei der

Anschrift: Landeszentrale für politische Bildung, Osterdeich 6, 28203 Bremen

Bremen 41 Stadt der Superlative In den folgenden 100 Jahren wurde Ham- burg immer wichtiger und überrundete dann auch Lübeck, das lange die mächtig- Freie und Hansestadt Hamburg ste Stadt der Hanse war. Immer bedeutsa- mer wurde der Handel mit England, mit Frankreich und der iberischen Halbinsel. Nach der Entdeckung Amerikas und des Seeweges nach Indien wuchs Hamburg in Von Helga Kutz-Bauer die Funktion als Handelsmetropole für Skandinavien, die Ostseestädte und das Hinterland bis nach Krakau und Böhmen und Mähren hinein. Zugleich wurde Ham- burg bedeutsamer Börsenplatz und wich- tiges Finanzzentrum. Die Freiheit der Schifffahrt von ca. 218 000 Hektolitern Bier brauten Seit 1529 ist in Hamburg die Reformation als Lebensnerv und zu Dreiviertel exportierten. Hinzu abgeschlossen und es wird zu einem Zen- kam der Handel mit Fisch aus der Nordsee trum lutherischer Orthodoxie. Anderer- Daß Hamburg einmal eines der wichtig- und den Gewässern um Island sowie der seits nimmt Hamburg aus den spanischen sten Wirtschaftszentren Europas werden Handel mit englischen Tuchen. Zur glei- Niederlanden vertriebene Calvinisten und würde, war bei seiner Gründung in der chen Zeit wurde Hamburg, wie andere aus Portugal vertriebene Juden auf – Zeit der Karolinger nicht absehbar. Noch Städte auch, von der schwarzen Pest wenn sie denn wohlhabend genug sind, Jahrhunderte später versuchten die Lan- heimgesucht. Da man auf sie jetzt viel eine Bereicherung für die Stadt zu wer- desherren, im heutigen Weichbild der mehr angewiesen war, erlaubte das nun den. Stadt Konkurrenzsiedlungen zu etablie- auch den überlebenden einfachen Hand- Der 30jährige Krieg stärkte dann die Rolle ren. Sie statteten diese mit Privilegien aus, werkern, sich gegen die wenigen, mächti- Hamburgs, war es doch finanziell in der die Hamburg das Wasser abgraben soll- gen Patrizierfamilien aufzulehnen. Ergeb- Lage, einen der modernsten Festungsgür- ten. So wurde für Hamburg die Freiheit nis dieser Revolten war in vielen Fällen ein tel um die Stadt zu bauen und dadurch der Schiffahrt auf der Niederelbe der Le- größeres Mitspracherecht dieser Teile der Zufluchtstadt für das Umland zu werden. Großzügige Geldzahlungen an die kriegs- führenden Parteien führten zusätzlich zu seiner Schonung. So wurde Hamburg nicht nur Handelsme- tropole, sondern wurde nach und nach auch ein kulturelles Zentrum. Musik, Oper, Theater und Literatur blühten hier. Zu- gleich entwickelte sich Hamburg zu einem Zentrum der Aufklärung. Trotzdem hat es seine unangefochtene Stellung als freie Reichsstadt – im Reich selber schon seit Jahrhunderten anerkannt – erst im soge- nannten Gottorper Vergleich 1768 end- gültig auch gegenüber Dänemark absi- chern können. Am Ende des 18. Jahrhunderts ist Ham- burg als Konkurrenz von Amsterdam mit letzterem zusammen eines der beiden wichtigsten Handelszentren auf dem eu- ropäischen Festland. In Europa war nur London wichtiger als die beiden Städte. Eine Unterbrechung dieses unaufhaltsa- men Aufstiegs der Elbmetropole gab es nur zwischen 1798 und 1813. Die napoleo- nische Kontinentalsperre, die britische Blockade der deutschen Nordseeküste und 1809 bis 1813 die französische Beset- zung Hamburgs waren eine ökonomische und soziale Katastrophe. Der Hamburger Hafen. Foto: Landesmedienzentrum Hamburg Die reichste Stadt Europas, ... bensnerv. Die Garantien des Hafenfrei- Stadtgesellschaften. In Hamburg schlug Die Stadt erholte sich jedoch bald und briefes, der in einer Fälschung von 1265 sich das im sogenannten Ersten Rezess von konnte ihre Position im Weltmarkt das Privileg auf 1189 datierte, wird des- 1410 nieder, den man auch als Magna zurückgewinnen und ausbauen. Um sie halb als Hafengeburtstag auch heute Charta Hamburgs bezeichnet hat. Willkür- herum wuchsen die nicht-hamburgischen noch zu Recht gefeiert. liche Verhaftungen wurden darin ebenso Randgemeinden, allen voran Altona und Den ersten wirklichen Wohlstand erwarb verboten wie Kriegserklärungen ohne Be- Wandsbek. Die einsetzende Industrialisie- Hamburg durch Schiffahrt und Brauerei- teiligung der Bürgerschaft. Auch Steuerer- rung ließ die Gemeinden ökonomisch und gewerbe und mit diesem Wohlstand hebungen wurden nun zustimmungs- städtebaulich zusammenwachsen, so daß konnte es von seinem ständig verschulde- pflichtig. man im ausgehenden 19. Jahrhundert ten Landesherren Recht um Recht für vom Fünf-Städte-Gebiet sprach, denn zu seine Stadtfreiheiten erkaufen. Um 1370 den genannten Städten kamen noch Ot- gab es in Hamburg 450 Brauereien, die die tensen und Harburg-Wilhelmsburg hinzu. für damalige Verhältnisse riesige Menge

42 Hamburg Alle Randgemeinden waren seit dem deutsch-dänischen Prof. Dr. h.c. Schnabel hat die TOP-Liste Hamburg „Hamburg die Wirt- und dem deutsch-österreichischen Krieg seit 1866 schaftsmetropole - 99 x die Nummer Eins“ zusammengestellt. preußisch. Erst durch das Groß-Hamburg-Gesetz von 1937 Hier ein Auszug daraus: wurden diese Städte Hamburg zugeschlagen. Ökonomischer, vor allem auch industrieller Fortschritt Die höchste Steuerkraft je Einwohner unter allen Ländern der Bun- prägten im 19. Jahrhundert die Stadt. Politischer Fort- desrepublik Deutschland hat Hamburg. schritt war – trotz lebhafter demokratischer Bestrebun- Hamburg ha mit 30 m2 pro Person die höchste durchschnittliche Woh- gen – nicht erwünscht. Republikanismus war in Hamburg nungsfläche aller europäischen Großstädte. weit verbreitet, aber Demokratie gab es erst seit 1919, seit 1921 eine demokratische Verfassung. Auch die end- Hamburg ist die am weitläufigsten besiedelte Millionenstadt der lich 1860 reformierte Verfassung hatte die Masse der Erde. Hamburger Bürger noch von der Politik ausgeschlossen. Die erste und damit älteste Handelskammer der Bundesrepublik Die Angst vor der Sozialdemokratie, die in Hamburg eine Deutschland befindet sich in Hamburg. Sie wurde gegründet im Jahre Hochburg hatte, beherrschte das Bürgertum, war Ham- 1665 und betreut heute ca. 90 000 Mitgliedsfirmen. burg doch das Zentrum der Gewerkschaftsbewegung, der Die erste und damit älteste Börse der Bundesrepublik Deutschland ist sozialistischen Presse und hatte die SPD doch seit 1890 die „Hamburger Börse“. Sie wurde gegründet im Jahre 1558 und be- alle Hamburger Reichstagswahlkreise erobert. findet sich am Hamburger Rathaus. Die Weltkriege brachten Hamburg einen enormen wirt- Mit 98 Konsulaten ist Hamburg der größte Konsularplatz der Welt. schaftlichen Einbruch. Die Bombardierung der Stadt 1943 Der größte Bankenplatz ist Hamburg mit 60 deutschen Banken und war der Luftangriff mit den zweitgrößten Opferzahlen 37 Auslandsbanken als Hauptsitz in Hamburg. nach Dresden. Der Wiederaufbau seit 1945 zeigte aber die ungebrochene Lebenskraft der Stadt. Sehr schnell Hamburg ist das größte Handelszentrum der Bundesrepublik und Eu- wurde sie wieder die reichste Stadt Europas und ist es ge- ropas. Es gibt mehr als 6.200 exportierende Unternehmen, davon – blieben, obwohl es bis zum Eisernen Vorhang nur ca. 50 1.700 der Industrie – 900 des Großhandels – 3.600 des Imports und Ex- km waren. ports Die Revolution in der DDR und in Osteuropa haben Ham- Die Speicherstadt in Hamburg ist der weltweit größte historische La- burg aus seiner 45jährigen Randlage befreit und ihm die gerhauskomplex. Sie befindet sich im Hamburger Freihafen, erbaut Chance eröffnet, wieder in seine Metropolfunktionen für 1895 - 1910. die Ostseeländer und Mittel-Ost-Europa hineinzuwachsen. Hamburg hat, trotz schwerster Kriegszerstörungen, das einheitlichste und städtebaulich reichste Stadtbild aller europäischen Millionen- ... die zweitgrößte Stadt städte. Deutschlands...

Mit 22 000 neuen Arbeitsplätzen im Jahr 1995 und einer Investition Die Freie und Hansestadt Hamburg ist nach Berlin mit rd. von 5,8 Mrd. DM ist Hamburg gemäß der Bilanz der Hamburgischen 1 700 000 Einwohnern (Ende 1997) die zweitgrößte deut- Gesellschaft für Wirtschaftsförderung – nach neun Jahren – in Europa sche Stadt. Der Ausländeranteil beträgt 15 %. Hamburg spitze. ist zugleich ein Land der Bundesrepublik Deutschland. Hafenrundfahrten und darüber hinaus Fahrten auf der Alster, Kanal- Etwa 10 Prozent der Gesamtfläche des Stadtgebiets und Fleetfahrten können nur in Hamburg unternommen werden. (755 km2) wird durch den Hafen eingenommen, weite Dieses sind erstklassige touristische Attraktionen und einmalig in der Grünflächen – allein der Park des Ohlsdorfer Friedhofs ist Bundesrepublik Deutschland. 4 km2 groß – setzen deutliche Akzente. Ersteigt man das Der älteste Leuchtturm Europas ist der Hamburger Leuchtturm auf Hamburger Wahrzeichen, die Michaeliskirche, auch „Mi- Neuwerk. Gebaut im Jahr 1300 ist er gleichzeitig das älteste Bauwerk chel“ genannt, so kann man aus einer Höhe von über 130 Hamburgs. m sehr gut erkennen, daß Hamburg, am Unterlauf der Elbe gelegen, geprägt ist durch den Hafen, durch die Die größte Versandhandelsgruppe ist der „Otto Versand“ in Ham- künstlich angelegte Binnenalster mitten in der Stadt und burg, mit eigenen Versandunternehmen in Europa, Amerika und die von ihr getrennte Außenalster, die immerhin 1,6 km2 Asien. Sie ist die Nummer Eins der Welt. umfaßt. Die Hamburger betonen gerne, daß ihre Stadt Mit 24 „Kulturfabriken“ steht Hamburg in Europa an erster Stelle. mehr Brücken hat als Venedig, nämlich 2 302. Hierzu gehört „Kampnagel“ als größtes kulturell genutztes Fabrika- real. ... und die produktivste Stadt Europas Das erste Kommunikationszentrum in der Bundesrepublik Deutsch- land hat den Namen „Die Fabrik“. Es befindet sich in Hamburg. Aufgrund seiner Produktivitätsentwicklung zählt Ham- Das größte Sprech-Theater in Europa hat Hamburg. Es ist das „Deut- burg zu den Zentren der höchsten Wertschöpfung in Eu- sche Schauspielhaus“ mit 1 300 Sitzplätzen. ropa, die entscheidend von seinem Umland mitgetragen wird. Denn, so hatte das Statistische Amt der Europäi- Das „Ballettzentrum Hamburg John Neumeier“ ist das größte Zen- schen Gemeinschaften festgestellt, gemessen am Brut- trum dieser Art und einmalig in der Welt. Das Einmalige ist, daß Com- toinlandsprodukt (BIP) erreichen acht Regionen, darunter pany, Ballettschule und Internat unter einem Dach sind. drei Hauptstädte, mehr als das Eineinhalbfache des EU- Die 15 der 20 stärksten Publikationen der Bundesrepublik Deutsch- Durchschnitts. Die Tabelle wird von Hamburg angeführt, land werden in Hamburg herausgegeben, u.a. die Tageszeitung das fast auf den doppelten Durchschnittswert kommt. „Bild“, die Wochenzeitung „Die Zeit“, die Wochenillustrierte „Der Daß die Pendler dazu einen Beitrag leisten, sollte man Stern“, das Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ und die Programm- dabei nicht vergessen: Von den über 900 000 Erwerbs- zeitschrift „Hör zu“. An den insgesamt verkauften Zeitungs- und Zeit- tätigen sind rd. 32 % Einpendler (1996), die außerhalb der schriftenauflagen in der Bundesrepublik Deutschland haben Hambur- Stadtgrenzen im Umland wohnen. Damit geht Hamburg ger Publikationen einen Anteil von über 50 %. allerdings auch der Landes- und Gemeindesteueranteil 173 Sportarten werden in Hamburg angeboten. Damit hat Hamburg der Pendler verloren, da dieser an das Wohnsitz-Bundes- das vielfältigste Sportangebot in der Bundesrepublik Deutschland. land fällt. Als Welthafenstadt hatte Hamburg immer hohe Beschäf- Die größte Fitneßzentrale Europas ist Hamburg. Mit 150.000 Mitglie- tigtenanteile in den Bereichen Handel, Dienstleistungen, dern in ca. 150 Fitnessanlagen hat der Stellenwert dieser Sportart mit Verkehr. Seit langem entwickelt sich die Hamburger Wirt- guten Studios und qualifizierten Trainern ein erstklassiges Niveau. schaft von einer ausgeprägten maritim- und rohstoffori- In Hamburg gibt es mehr als 2.000 Restaurants unterschiedlichster Art entierten Dominanz hin zu einer stärker differenzierten und Größe. Die Auswahl der verschiedenen Küchen ist einmalig. Keine andere Stadt in Deutschland hat mehr Spitzenrestaurants als Hamburg.

Hamburg 43 Dienstleistungs- und Industriestruktur. Die starke Entwicklung der unternehmens- und personenbezogenen Dienstleistun- gen sowie die Stärkung der technologie- orientierten Industriezweige geht mit er- höhten Anforderungen an die Qualifika- tion der Arbeitnehmer einher. Arbeits- plätze für Geringqualifizierte im industri- ellen Bereich wurden demgegenüber stark abgebaut. 1998 erhöhte sich das Bruttoinlandsprodukt (BIP) gegenüber dem Vorjahr um rd. 2,8 % (auf real 124 Mrd. DM), was dem Bundesdurchschnitt von 0,4 % entspricht. Einen boom erleben derzeit die ganzen sogenannten neuen Medien in Hamburg und die Werbewirtschaft. Die Medienwirt- schaft ist mittlerweile drittgrößter Um- satzträger in der Freien und Hansestadt Hamburg. Hamburg ist Standort für über- regionale Zeitungen und Zeitschriften wie der SPIEGEL, die ZEIT, die WELT, BILD-Zei- tung, STERN und HÖR ZU, es ist aber auch Musik-, Verlags-, Nachrichten- und Fern- sehproduktionsstandort. Wer gut verdient will sein Geld nicht nur vermehren, son- dern auch ausgeben: Hamburgs Innen- Hamburg. Blick auf die Innenstadt mit Rathaus und Binnenalster. stadt hält ein breites, räumlich engver- Foto: Landesmedienzentrum Hamburg knüpftes Einkaufs-, Unterhaltungs- und Freizeitangebot vor. Mit dazu gehören ei- Überlebt die soziale Stadt? schaftlicher Steuern hat erheblichen Ein- nige der schönsten und teuersten Passa- fluß auf den Hamburger Haushalt. Mit gen, die sich wie ein Netzwerk durch die Der Abfluß von Finanzausgleichsabgaben, 360 DM je Einwohner mußte Hamburg Innenstadt ziehen. Bundessteuern und anderer gemein- nach Hessen 1998 die höchste Pro-Kopf- Summe in den Länderfinanzausgleich ein- zahlen. Zwar beläuft sich das jährliche Steueraufkommen 1997 auf rd. 63 Milliar- den DM, aber haushaltswirksam verblei- ben Hamburg für alle öffentlichen Aufga- ben lediglich Steuereinnahmen von über 11 Milliarden, von denen gut 2 Milliarden für Sozialhilfe, sonstige soziale Leistun- gen, aber auch für Beratung und Therapie Drogen- und Alkoholabhängiger ausge- geben wurden. Dem stehen die großstadttypischen Pro- bleme gegenüber: Wie in anderen Großstädten bündeln sich auch in Hamburg die sozialen Folgen der wirtschaftlichen Entwicklung und der Ab- wanderung vor allem einkommensstarker Haushalte in das Umland: Die Arbeitslosig- keit ist seit 1990 um 23 % gestiegen, die Sozialhilfelasten haben sich seit Mitte der 80er Jahre mehr als verdoppelt. 1997 er- hielt jede/r 11. Einwohner/in Sozialhilfe (laufende Hilfe zum Lebensunterhalt nach BSHG und AsylBLG). Von den Empfängern mit laufender Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem BSHG waren 1997 in Hamburg – das nach wie vor mit 15 % einen geringe- ren Ausländeranteil aufweist als andere (west)deutsche Großstädte – bereits 27,5 % Ausländer. Der Einwohnerzuwachs Hamburgs seit Ende 1986 wurde zu rd. 71 % von Ausländern getragen, die oft auf staatliche Unterstützung angewiesen sind. Die fortschreitende Abwanderung ökonomisch leistungsfähiger junger Fami- lien in das Umland (der Pendlersaldo stieg 1996 auf 217 000 Personen) trägt dazu

44 Hamburg bei, die finanzielle Lage der Stadt zu ver- schlechtern und die sozialen Disparitäten SENAT zu vergrößern. Zwölf Mitglieder

Erster Bürgermeister (Präsident) Stadtteilprofile Sechs Senatorinnen Fünf Senatoren Jede Stadt und jeder Staat gedeiht nur auf dem Fundament sozialen Friedens. Die So- zialstruktur von Stadtteilen neigt zu dau- Stellvertreterin des Ersten Bürgermeisters (Zweite Bürgermeisterin) ie St r d erhafter Verfestigung. Schon vor 100 Jah- aa Drei Staatsrätinnen Neun Staatsräte fü g ts mt un ar tsa ll ren galten erstklassige Wohngebiete an B chi ena ste e v S ich h 5 Se ter Gle der Alster wie Harvestehude und Rother- . f natsäm zirks- un . t für Be d Sc Person Senatsam ten e B h alamt genhei rd baum als Stadtteile der Wohlhabenden. e ule Senatskanzlei angele hö G B ru , J 1 be - Auch Vororte wie Othmarschen und Blan- e e fsb uge 1 Fa en anz gs s hö ild nd chbeh putation Fin n un rd ung Beh örden mit eigenen De lu kenese in Altona, damals noch preußisch, d e örde ck he f. sc für Wiss ustiz- i it Ar haft u en- Beh für J ntw de zogen die Bevölkerungsschichten an, die u. bei . Forsch örde hörde te ör So t, ung Inneres be tad eh zia S b nicht wie Zigarrenarbeiter, Fischfrauen, les Wirts r- H chafts- Kultu am beh Um rde Hilfskräfte, mit den kleinen engen Woh- b örde welt- Bau- behö ur behö rg g- rde behörde bu nungen in Ottensen vorlieb nehmen muß- Mi ar t t e 7 B en H ten. Bis heute hat sich daran nicht viel ezirks Bezirksverwaltung : lung Al ämt amm f tona er mit rksvers edor geändert, zumindest ist dieses an den eigenen Bezi Berg Eimsb bek stadtteilspezifischen Durchschnittsein- üttel Hamburg-Nord Wands kommen, Arbeitslosenquoten und dem Anteil an Sozialhilfeempfänger/innen zu Ve g d B ur de il b l- lst s e belegen. R ed elm b Fi oth t lh el nk en Wi er Vergleicht man beispielsweise den Stadt- en bu üd w rgs de S erd ort Blan 1 hlan teil Billstedt, in dem 1997 rund 15 % So- er kene 5 Ortsä chüsse Marsc se mter und Ortsauss Vier-u. Loks feld zialhilfeempfänger wohnten, wo ein tedt Fuhlsbüttel Bram Stelli rtal Steuerpflichtiger im Durchschnitt ein Jah- ngen Barmbek-Uhlenhorst Alste Walddörfer reseinkommen von 51 000 DM 1992 Rahlstedt angab, mit dem Stadtteil Othmarschen, Hamburg: Regierung und Verwaltung mit 1,3 % Sozialhilfeempfänger/innen (Einkünfte je Steuerpflichtigem 1992 fast 174 000 DM), so werden die sozialen Asymmetrien deutlich. Dabei muß man mit berücksichtigen, daß ja gerade in Oth- Sport – Spiel – Spaß Kulturereignisstadt marschen auch einige der vielen Hambur- ger Einkommensmillionäre wohnen, von Hamburgs Fußballfans teilen sich in zwei Hamburgs Staatsoper, in der Saison denen immer mehr es fertig bringen, ihr Lager, die einen als Anhänger des HSV, der 1996/97 zum „Opernhaus des Jahres“ ge- Einkommen gegenüber dem Finanzamt renommiert, bekannt und wegen seiner wählt, hat Weltruf. Der Chef des Balletts, so zu deklarieren, daß sie im Zweifelsfalle Krisen berüchtigt ist, die anderen John Neumeier, der Generalmusikdirektor Anspruch auf eine Sozialwohnung hätten. schwören auf FC St. Pauli, einem Fuß- Ingo Metzmacher, sind auf steilem Er- Die sozialen Brennpunkte Hamburgs be- ballclub, der eher die Fans aus der Region folgskurs. Die Philharmoniker und das finden sich in den Stadtteilen, in denen und solche mit links-alternativem Selbst- NDR-Sinfonieorchester locken internatio- durch ein Ineinandergreifen von sozialen verständnis anzieht. Die Skater schwören nal bekannte Dirigenten und Solisten Problemlagen, öffentlicher Wohnungsbe- auf Jungfernstieg und ähnlich attraktive nach Hamburg. Doch die musikalischen legung und Zuwanderung eine Konsoli- Straßen, die Tennisfans auf Rotherbaum, Ausdrucksformen in Hamburg sind in sel- dierung dort nur noch mit besonderen die Schlittschuhläufer, immer in Hoffnung tener Vielfalt von Klassik über Jazz und Anstrengungen möglich ist. Manche auf einen strengen Winter, auf die zuge- Pop bis Techno präsent. Ob es daran liegt, Stadtteile, z.B. St. Georg, geraten in den frorene Alster, die im Sommer ein Paradies daß die Beatles hier einen ihrer ersten Er- Knebelgriff der Drogenszene. für Segler ist. Aus- und Inländer lieben die folge feierten? Im Zentrum Hamburgs Seit einigen Jahren wird in Hamburg Möglichkeit, in den attraktiven alten ehe- wird fast die Hälfte des gesamten Umsat- durch die Aktivitäten der Stadtentwick- maligen Wallanlagen, jetzt Planten un zes der Tonträgerbranche erwirtschaftet. lungsbehörde ein Programm im Rahmen Blomen mitten im Zentrum der Stadt, spa- Doch Hamburg hat nicht nur Musik und einer solidarischen Stadtentwicklung ge- zieren zu gehen und um die Alster zu jog- Oper zu bieten, sondern vor allen Dingen fördert, mit welchem öffentliche und pri- gen und schätzen den Besuch der nahege- auch eine breite und vielseitige Theater- vate Ressourcen effektiver gebündelt wer- legenen Messe und des Congress-Cen- landschaft. Mit dem Deutschen Schau- den sollen, vor Ort vorhandene Kompe- trums. Die Vielfalt attraktiver Restaurants, spielhaus hat Hamburg ein Theater mit tenzen stärker genutzt und die betroffe- Kneipen und Diskotheken ist kaum zu Wilhelminischem Prunk und nationalem nen Menschen aktiver zu beteiligen sind. überblicken. Ereignisse wie der Hanse-Ma- Renommé. Es war mehrfach Theater des Damit werden innovative Projekte, z.B. rathon, der Hafen-Geburtstag im Mai und Jahres. Ähnlich leistungsfähig ist die zwei- Beschäftigungsförderung, lokale Wirt- das Alstervergnügen ziehen Tausende an. te große Sprechbühne, das Thalia-Theater. schaftsentwicklung, Sozial- und Gesund- Am heißesten geliebt wird von Erwachse- Dazu kommen an die 40 weitere Theater, heitsversorgung auf den Weg gebracht. nen und Kindern möglicherweise Hagen- die meist privat geführt werden. In Ham- Drogenabhängigkeit ist damit aber nicht becks Tierpark. Er war 1907 der erste git- burg sind davon die bekanntesten das zu verhindern. Der einzige Weg führt terlose Tierpark der Welt und noch heute Ernst-Deutsch-Theater, die Kammerspiele über die Entkriminalisierung der Abhän- beeindrucken artgerechte Haltung, die gigkeit und Abhängigen. Grünanlagen und die Parklandschaft mit Hügeln und Seen.

Hamburg 45 – jahrzehntelang von der unvergessenen getreten am 1. September 1996, teilweise Ministerien und die alten Bezeichnungen Ida Ehre geführt – das Altonaer Theater erheblich verändert wurde. In einem für Parlament und Regierung. Sie sind und nicht zuletzt die Kulturfabrik Kamp- Punkt allerdings blieb man der Tradition aber inhaltlich umstrukturiert im Sinne nagel. treu: Auch die neue Verfassung schreibt einer modernen Parteiendemokratie. Aber auch die sogenannte leichte Muse als einzige deutsche Landesverfassung kommt zu ihrem Recht – mehr als ande- vor, daß die Amtsausübung eines Mit- renorts! So laufen hier gleich mehrere glieds der Bürgerschaft mit einer Berufs- Das Wappen Musicals, von denen Cats und das Phan- tätigkeit vereinbar ist. Die Tagungszeiten tom der Oper die bekanntesten sind und der Gremien der Bürgerschaft und der Der Ursprung des Wappens geht auf städ- Besucher aus ganz Deutschland anziehen. Fraktionen entsprechen daher denen tische Siegel aus dem 12./13. Jahrhundert Ähnlich vielfältig ist das Museumsangebot kommunaler „Feierabendparlamente“. zurück. Das rote Tor, auf weißem, silber- mit dem Museum für Hamburgische Ge- Die Bürgerschaft, das Hamburger Parla- nen Grund, mit drei Türmen in der Mitte schichte, dem renommierten Museum für ment, wird auf vier Jahre gewählt und hat der Burgmauer, wurde mal offen, mal ge- Kunst und Gewerbe, der Kunsthalle mit in der Regel 121 Mitglieder. Mit dem Zu- schlossen gezeigt. Flagge und Wappen dem neuen attraktiven Ungersbau für die sammentritt einer neuen Bürgerschaft wurden durch Senatsentscheid 1834 in der Kunst nach 1945. Dazu ein besonderer Tip: enden die Amtszeiten aller Mitglieder des noch heute gültigen Form beschlossen. Einer der kleinsten Räume, in dem Wech- Senats, der Hamburger Landesregierung. selausstellungen von Zeichnungen der Der Senat besteht aus dem Ersten Bürger- Hamburger „Institution“ Horst Janssen meister, also dem Ministerpräsidenten, stattfinden, ist für viele die Attraktion in und den Senatorinnen und Senatoren, diesem Bau! Aber es gibt auch ein Muse- also den Ministern. An der Bestellung des um der Arbeit, ein berühmtes Völkerkun- Senats ist die Bürgerschaft wie folgt betei- demuseum und viele spezialisierte andere. ligt: Ihr obliegen die Wahl des Ersten Bür- germeisters und die Bestätigung der von Staatliche und gemeindliche Tätigkeit ihm berufenen Senatorinnen und Senato- nicht getrennt ren. Als schärfste Waffe in der Kontrolle des Senats steht der Bürgerschaft das kon- In Artikel 4 der Hamburger Verfassung struktive Mißtrauensvotum zur Verfü- heißt es: „In der Freien und Hansestadt gung. Der Senat ist der Bürgerschaft je- Hamburg werden staatliche und ge- doch nicht direkt verantwortlich, sondern meindliche Tätigkeit nicht getrennt.“ In durch den Ersten Bürgermeister. Der Senat Literaturhinweise der Einheitsgemeinde Hamburg werden besteht derzeit aus 12 Mitgliedern, dem daher Verwaltungsaufgaben den 7 Bezir- Ersten Bürgermeister, sechs Senatorinnen Bilstein, H. (Hrsg.) – Staat und Parteien im Stadt- ken (vgl. die Karte) übertragen, „die nicht und fünf Senatoren (s. Abb.). staat Hamburg oder die „Unregierbarkeit der wegen ihrer übergeordneten Bedeutung Nach der sogenannten kleinen Verfas- Städte“, Landeszentrale für politische Bildung, oder ihrer Eigenart einer einheitlichen sungsreform 1971 war die Hamburger Hamburg 1997 Durchführung bedürfen“. Die 41 Mitglie- Verfassung die erste und für mehrere Raloff, H. / Strenge, H.P. – Das neue Bezirksver- der der Bezirksversammlung wirken an Jahre die einzige deutsche Verfassung, die waltungsgesetz, Landeszentrale für politische Bildung, Hamburg 1997 den Aufgaben des jeweiligen Bezirksam- die politische Gewaltenteilung zwischen Abisch, Monika – Soziale Stadtentwicklung – tes mit. Sie werden von der wahlberech- Regierungsblock und Opposition in Arti- Leitlinien einer Politik für benachteiligte Quar- tigten Einwohnerschaft des Bezirkes aus kel 23a ausdrücklich anerkannte. Nach der tiere. Das Beispiel Hamburg, in: Hanesch, W. dessen Mitte gewählt. Ihre Mittel erhalten letzten Bürgerschaftswahl am 21. Septem- (Hrsg.) – „Überlebt die soziale Stadt?), Opladen die Bezirksämter aus dem gesamthambur- ber 1997 teilten sich die Sitze in der Bür- 1997 Jochmann, W. / Loose, H.-D. (Hrsg.) Hamburg. – gischen Haushalt, den die Bürgerschaft gerschaft wie folgt auf die Parteien auf: Geschichte der Stadt und ihre Bewohner, Bd. 1 + beschließt. SPD – 54, CDU – 46, GRÜNE/GAL – 21. 2, Hamburg 1982/1986 Aufbauend auf verfassungsgeschichtli- Auch die politischen Institutionen zeigen Voscherau, H. – Die Großstadt als sozialer Brenn- chen Vorläufen von 1921 wurde im Jahre die Verknüpfung von Tradition und Fort- punkt – am Beispiel Hamburgs, in: Carlson, L. / 1952 die Hamburger Verfassung beschlos- schritt. So gibt es noch sogenannte Depu- Unter, F., Highland Park oder die Zukunft der Stadt, Berlin und Weimar 1994 sen, die mit dem Fünften und Sechsten tationen aus der Verfassungstradition des Gesetz zur Änderung der Verfassung der 19. Jahrhunderts, sozusagen parlaments- Freien und Hansestadt Hamburg, in Kraft ähnliche Fachberater bei den einzelnen

Anschrift: Landeszentrale für politische Bildung, Große Bleichen 23, 20354 Hamburg

46 Hamburg Drei Hessen unter einem Hut ern und im Süden an Baden-Württem- berg. Der Grenzverlauf Hessens orientiert sich kaum an geographischen Gegeben- Hessen heiten, wie etwa im Norden streckenwei- se an der Weser oder im Osten zum Teil am Lauf der Werra. Ansonsten zieht sich die Landesgrenze im Westen mitten durch das Rheinische Schiefergebirge, im Süd- Von Elisabeth Abendroth und Klaus Böhme osten zerschneidet sie den Odenwald und den Spessart und im Süden zerteilt sie den Wirtschaftsraum des Rhein-Neckar-Drei- ecks. Hessen ist ein Mittelgebirgsland. Die Viel- fältigkeit seiner Landschaften hat Ge- schichte und Gegenwart geprägt. Das alte, erzreiche, schroff konturierte Rheini- sche Schiefergebirge an Lahn, Dill und Sieg im Westen ist durch einen mehrere Hundertmillionnen Jahre dauernden Ab- tragungsprozeß entstanden. Die ersten Besiedlungshinweise reichen bis in die Bronzezeit zurück und die dortigen Ei- senerzvorkommen wurden bereits in vor- christlicher Zeit ausgebeutet. Ortsnamen in dieser Gegend wie Silberberg und Gold- hausen deuten darauf hin, daß auch edle- re Metalle gefunden worden sind. Für Osthessen charakteristisch sind geologisch viel jüngere Buntsandsteinformationen, zum Teil bewaldete, weitgespannte Pla- teaulandschaften, die durch ihre mine- ralarmen Böden die Nutzung durch den Menschen erschweren, historisch eine dünn besiedelte, arme Gegend. Prägend für das geographische Bild Hessens sind die Vulkanberglandschaften – die älteren wie der Vordere Odenwald und der Vor- dere Spessart – sind die Folge einer star- ken Hebung am Rande des Oberrheingra- bens, und die wesentlich jüngeren Basalt- berge des Westerwalds, der Hohen Rhön, des Hohen Meißners, des Kaufunger Walds und des Knülls sind das Ergebnis vulkanischer Tätigkeit vor ca. 50 Millionen Jahren. Die größte zusammenhängende Basaltberglandschaft ist der Vogelsberg, hessischer Teil eines riesigen europäischen Grabens aus dem Tertiär, der im Rhonetal in Ostfrankreich beginnt, sich über den Oberrheingraben fortsetzt, Hessen in nordöstlicher Richtung durchzieht und im Mjösengraben in Skandinavien endet. Der hessische Teil dieser Tertiärlandschaft ist durch mehrere beckenartige Senken ge- gliedert, die Wetterau, das Gießener Becken, das Amöneburger Becken, das Schwalmbecken, das Fritzlar-Waberner Becken und die Kasseler Becken. Dieser „Westhessischen Senke“ steht die „Osthessische Senke“ von der Haunau-Se- ligenstädter Gegend, dem Kinzigtal, dem Fuldaer, dem Hersfelder, dem Bebraer Becken bis zum Werratal und dem Leine- graben gegenüber. Diese Senkenzonen mit ihren dort abgelagerten Lößböden Die Mutter aller Parlamente in Deutschland steht in Frankfurt: die Paulskirche 1848/49. wurden zu den ersten Besiedlungsgebie- Quelle: Horst Pötsch: Die deutsche Demokratie. Bonn 2/1997. S. 10. ten. So verweisen beispielhaft die ältesten menschlichen Spuren in Münzenberg und Historisch, nicht geographisch dem Zweiten Weltkrieg durch die Prokla- in der Wetterau auf die Altsteinzeit. Zum abgegrenzt mation Nr. 2 der US-Militäradministration anderen boten sich diese Zonen als Durch- am 19. September 1945 entstanden. Es gangsstraßen für Völkerwanderungen an, Hessen, mit 21 114 qkm eines der kleine- grenzt im Westen an die Bundesländer Straßen, die überall in Hessen ihre Spuren ren Bundesländer, im Herzen Europas und Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfa- hinterließen. So ist Hessen das Land mit nach der Wiedervereinigung 1989 im Zen- len, im Norden an Niedersachsen, im den meisten vor- und frühgeschichtlichen trum Deutschlands gelegen, ist in seiner Osten an Thüringen, im Südosten an Bay- Festungsanlagen, deren Überreste zum heutigen politischen Grenzziehung nach Teil noch heute zu besichtigen sind, wie

Hessen 47 der jüngst durch sensationelle Funde aus Als bedeutendste unter den hessischen der Friedfertige erlangte auf dynasti- keltischer Zeit bekannt gewordene Glau- Grafen vereinten Ende des 9. Jahrhun- schem Wege das Erbe der Ziegenhainer berg bei Büdingen, der Christenberg bei derts die Konradiner mit dem Lahn-, Hes- und die Lehnshoheit über die Grafschaft Marburg und der Büraberg bei Fritzlar. sen- und Rheingau sowie der Wetterau Waldeck und führte so 1459 Ober- und Auch in der Römerzeit wurde Hessen zum fast das gesamte Gebiet des heutigen Hes- Niederhessen zusammen. 1479 kam die Durchgangs- und Kriegsschauplatz, leben- sen unter ihrer Herrschaft. Die Kirchen Grafschaft Katzenelnbogen mit St. Goar, dig durch die Erinnerung an die Chatten- ihrer Stiftsgründungen in Limburg, Weil- Rheinfels, Darmstadt, Groß-Gerau, Zwin- kriege. Reste des Limes im Taunus und im burg und Wetzlar sind überkommene genberg und Reinheim hinzu. Odenwald zeugen von der römischen Tra- Zeugnisse ihrer Macht. Zu Beginn des 12. dition, die neben vielen anderen Prägun- Jahrhunderts erheiratete Ludwig von Einer der bekanntesten Landgrafen: gen, auch den Weinbau an die Bergstraße Thüringen das in Urkunden als „terra Has- Philipp der Großmütige und in den Rheingau brachte. sia“ (hessische Erde) bezeichnete, durch Städteneugründungen geprägte Gebiet Nicht zu Unrecht ist Ludwigs Nachkomme Vom „populus Hassiorum“ um Kassel und Marburg. Sein Nachkomme Philipp der Großmütige bis heute einer zu „“ Ludwig III nannte sich 1189 erstmals „rec- der bekanntesten Landgrafen von Hessen tor Hassiae“ (Fürst von Hessen). Im 12. geblieben. Als Anhänger Martin Luthers Im Jahre 738 wird erstmals ein „populus Jahrhundert verstetigte sich auch Frank- war er einer der profiliertesten Befürwor- Hassiorum“ (Volk der Hessen) in einem furts Aufstieg zur bedeutenden Stadt der ter der Reformationsbewegung. Ab 1526 Sendschreiben von Papst Gregor III an den Kaiserkrönungen und Messen. 1152 emp- finanzierte er mit dem Vermögen der auf- heiligen Bonifatius erwähnt. Gemeint fing Barbarossa dort die Königskrone. Das gehobenen Stifte und Klöster den waren vor allem die Bewohner der Ge- durch die befestigten Reichsstädte Geln- Neuaufbau vorbildlicher Schulen, Landes- gend um Fritzlar und des Kasseler hausen, Friedberg und Wetzlar gesicherte hospitäler und Einrichtungen der Armen- Beckens. Wo jedoch „die“ ursprünglichen Rhein-Main-Gebiet wurde zum ökonomi- pflege sowie die Gründung der ersten Hessen angesiedelt waren und woher sie schen, kulturellen und politischen Zen- evangelischen Universität in Marburg. Ob- kamen ist bis heute wissenschaftlich kon- trum des Reiches. 1240 verlieh Kaiser wohl das „Marburger Religionsgespräch“ trovers und ungeklärt. Erst seit dem Karo- Friedrich II der Stadt Frankfurt das Messe- von 1529, bei dem die Reformatoren Lu- lingischen Zeitalter ist Genaueres über die privileg und legte damit den Grundstein ther, Zwingli und Melanchton um die Territorialstruktur im Gebiet des heutigen für die bis heute andauernde Rolle der Grundfragen ihrer neuen Zeit rangen, Hessen überliefert. Die zu Beginn der Ka- Stadt am Main als Wirtschafts- und Fi- ohne theologischen Konsens endete, kam rolingerherrschaft gegründeten Benedik- nanzmetropole. Bedeutender als Frank- es im damals hessischen Schmalkalden tinerabteien Fulda, wo Bonifatius begra- furt war damals Marburg. Zum Grab der zum Zusammenschluß der Waldecker, der ben liegt, Hersfeld und Lorsch an der 1231 verstorbenen und später heiligge- Nassauer Grafen und der freien Reichs- Bergstraße waren wichtige Stützpunkte sprochenen Elisabeth von Thüringen stadt Frankfurt mit der Landgrafschaft der Königsmacht, von denen äußerst be- strömten Pilgerscharen aus dem ganzen Hessen zum Evangelischen Bund. Im deutsame kulturelle und ökonomische Reich. 1248 ließ Elisabeths Tochter Sophie Schmalkaldischen Krieg wurden die Terri- Entwicklungsimpulse ausgingen. Unter von Brabant ihren kleinen Sohn Heinrich torien der Verbündeten verwüstet. Land-

Flughafen Frankfurt am Main. Foto: FAG Frankfurt

Karl dem Großen avancierte das ehemals zum „neuen Herrn des Landes Hessen“ graf Philipp mußte lange Jahre in kaiserli- römische Rhein-Main-Gebiet mit den Kai- ausrufen. Das Marburger Schloß wurde cher Gefangenschaft verbringen. Nach serpfalzen um Mainz und Worms zum zum kulturellen und politischen Zentrum Philipps Tod 1567 wurde das mühsam ge- Machtzentrum des Frankenreiches, wäh- der neuen Landgrafschaft, die die durch einte Land an seine vier Söhne verteilt. rend Nordhessen zum Aufmarschgebiet das Gebiet der Grafen von Ziegenhain Trotz der zunächst weiterhin gemein- für die Sachsenfeldzüge wurde. Nach der und Nidda räumlich voneinander getrenn- schaftlich betriebenen Einrichtungen wie Reichsteilung unter Karls Enkeln wählte ten Regionen um Kassel, Eschwege und Universität, Samthofgericht und Landtag Ludwig der Deutsche Frankfurt als Haupt- Rotenburg, Marburg, Alsfeld und die wurden schon in der nächsten Generation stadt seines Reichsteils. Die Namen der ka- Stadt Gießen umfaßte. Daneben behaup- die Teilgrafschaften zu selbständigen poli- rolingischen Verwaltungsseinheiten, der teten sich die Fürstenfamilien der Hanau- tischen Einheiten, die sich als Hessen-Kas- „Gaue“ sind über Jahrhunderte überlie- er, Isenburger, Solmser, der Katzenelnbo- sel und Hessen-Darmstadt im Dreißigjähri- fert: „Königssundergau“ um , gener und der Lauenburg-Nassauer, die gen Krieg als Gegner gegenüberstanden. „Rhein-Maingau“, damals südlich des über mehrere Generationen die Mainzer Geblieben sind die bis heute bestehende Mains, „Niddagau“ und „Wettereiba“ im Bischöfe stellten, und der Schenken von evangelische Prägung vieler hessischer Re- Limesgebiet, „Lahngau“ um Marburg und Erbach im Odenwald. Landgraf Ludwig gionen, die reformierte Verwaltung, die „Hessengau“ mit dem Mittelpunkt Maden erste nichtkatholische Universität und die bei Gudensberg. damals wegweisenden Bildungs- und So- zialeinrichtungen.

48 Hessen Im Westfälischen Frieden von 1648, der dene Freie Reichsstadt Frankfurt, das Kur- ten (z.B. der nassauische Minister August den Dreißigjährigen Krieg beendete, fürstentum Hessen, das Großherzogtum Hergenhahn). Andere retteten sich ins Exil wurde das in Schutt und Asche liegende Darmstadt, das Herzogtum Nassau und (z.B. der Hanauer Turner August Schärtt- Land neu aufgeteilt. Das Prinzip „cuius die neu geschaffene Grafschaft Hessen- ner). Manche zahlten mit ihrem Leben. regio – eius religio“ (= wessen Herrschaft – Homburg erhielten teilweise neue Gren- (z.B. der in Rastatt von preußischen Solda- dessen Religion) etablierte teilweise neue zen. Der aus dem Exil heimgekehrte Kur- ten füsilierte Wiesbadener Georg Böning). religiöse Grenzen, die oft bis in unsere fürst von Hessen-Kassel erhielt das katho- Viele Errungenschaften der Demokratisie- Tage spätere administrative Ordnungen lische Fulda. Und Hessen-Darmstadt rung wurden von den Siegern annulliert. überdauern sollten. Hersfeld kam endgül- wurde mit der Eingliederung von links- Aber der Abschluß der Agrarreform, die tig zu Hessen-Kassel und wurde lutherisch, rheinischen Gebieten um Mainz, Worms weitgehende Beseitigung der Feudalprivi- das benachbarte Fulda blieb katholisch. und Alzey zum „Großherzogtum von Hes- legien, und beispielsweise die Öffentlich- Das entvölkerte Hessen-Kassel und die Re- sen und bei Rhein“. keit der Strafverfahren vor dem Geschwo- gionen um Homburg und Darmstadt wur- renengericht blieben. Und die Sieger reali- den zum Einwanderungsland für Men- Büchner: Krieg den Palästen, Friede sierten auch die Einheit, freilich auf ihre schen aus den Alpenländern, für Wallo- den Hütten Weise. Im Sommer 1866 folgte dem nen und für französische Hugenotten. preußischen Einmarsch der Zusammen- Das 18. Jahrhundert war auch im Hessi- Die durch die Französische Revolution und schluß der annektierten Gebiete von Kur- schen eine Glanzzeit des Barock . In diese die in den Befreiungskriegen mobilisier- hessen, Nassau, Bad Homburg und Frank- Zeit fallen die Neugestaltung der Fuldaer ten Prinzipien und Hoffnungen auf Frei- furt zur preußischen Provinz Hessen-Nas- Abtresidenz, die Schloßbauten im nassaui- heit und Gleichheit, Überwindung der sau. Als formal unabhängiges, aber in sei- schen , in Wiesbaden-Biebrich, in Kleinstaaterei, Rechtssicherheit und Ge- nen Rechten stark eingeschränktes „Hes- Hanau-Philippsruhe und auf der Kasseler werbefreiheit waren nicht zu unter- sen“ verblieb nur noch Hessen-Darmstadt, Wilhelmshöhe sowie der aus Geldmangel drücken. Im Herbst 1814 wurde unter Mit- das mit der Darmstädter Künstlerkolonie unvollendet gebliebene Neubau der wirkung des Freiherrn vom Stein der frei- und der Mathildenhöhe die ihm verblie- Darmstädter Residenz. Auch durch das lich in seinen Mitwirkungsrechten sehr bene Restsouveränität immerhin zu einer fürstliche Gebaren in diesem Jahrhundert eingeschränkte Nassauische Landtag ge- auf größerer Liberalität gründenden kul- des Absolutismus wurde Hessen zum Aus- wählt. Dieser und weitere in den folgen- turellen Blüte nutzte. Mit Jugendstil und wanderungsland. Unzählige Menschen den Jahren entstehenden hessischen Wandervogel erlebte auch das „Hessi- folgten den Werbern Maria Theresias von Landtage und Verfassungen blieben sche“ eine Renaissance. Österreich nach Ungarn oder der Zarin zunächst überwiegend auf administrative Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts Katharina von Rußland an die Wolga. Neuerungen beschränkt. Der Kampf um entstanden in Hessen die ersten Organisa- Im amerikanischen Unabhängigkeitskrieg eine zeitgemäße politische Verfassung tionen der Arbeiterbewegung. Einer ihrer wurden Regimenter aus Hessen-Kassel, und soziale Unruhen im Gefolge der lang- herausragenden frühen Vertreter war ein Waldeck und Hanau an die Engländer sam einsetzenden Industrialisierung poli- Neffe des „Vormärzlers“ Ludwig Weidig, „vermietet“. tisierten im Hessenland. Im Herbst 1830 der aus Gießen stammende Mitbegründer gab es Bauernunruhen im Hanauischen der deutschen Sozialdemokratie Wilhelm Die territoriale Neuordnung im und in Oberhessen. Der Gießener Pfarrer Liebknecht. Gefolge Napoleons Ludwig Weidig und der aus Goddelau im Mit der deutschen Kapitulation nach dem Ried stammende Student Georg Büchner ersten großen Krieg in diesem Jahrhun- Die Französische Revolution wirkte auch erklärten im Hessischen Landboten den dert und der November-Revolution von nachhaltig auf Hessen. Die napoleonische Palästen den Krieg. Seit Beginn des Eisen- 1918/19 waren neue Voraussetzungen für Herrschaft gliederte durch die Rheinbund- bahnbaus, verstärkt in den 1840er Jahren, eine Neuordnung Hessens gegeben. akte von 1806 und durch die Aufhebung wurden die vielen Grenzen immer mehr Schon wenige Wochen nach Kriegsende kirchlicher Territorien und die Angliede- zum Hemmnis für Mobilität und ökonomi- wurde ein Freistaat Großhessen propa- rung bisher unabhängiger Grafschaften, schen Fortschritt. Als die europäische Re- giert, der das einstige Nassau, Frankfurt Fürstentümer, Reichsstädte und Reichsrit- volutionswelle im März 1848 Hessen er- und Waldeck einschließen sollte. Die neu- terschaften an die neuformierten Bundes- reichte, forderten die revolutionären Han- gebildete Landesregierung des Volksstaa- staaten das Hessische völlig neu. Gewin- auer „Drei Hessen unter einem Hut“. Und tes Hessen in Darmstadt unter dem Sozial- ner dieser Umgestaltungen waren die nun eine in Darmstadt verteilte „Karte von demokraten Carl Ulrich setzte dem vor zum Großherzogtum avancierte Land- Deutschland mit naturgemäßer Einteilung allem in Kassel, Marburg und Gießen pro- grafschaft Hessen-Darmstadt, das neu ge- in 16 Herzogtümer“ zeigte ein geeintes pagierten Konzept des Hessischen Volks- schaffene Herzogtum Hessen-Nassau aber Hessen, das das Großherzogtum Darm- bundes eine auf den Wirtschaftsraum auch Landgraf Philipp von Hessen-Kassel, stadt, Kurhessen-Kassel und Nassau, nicht Rhein-Main als Zentrum gründende der jedoch 1806 von Napoleon exiliert aber das linksrheinische Rheinhessen ein- „Rheinfranken“-Lösung mit dem früheren wurde. Kassel war anschließend für einige schloß und damit dem heutigen Territori- Großherzogtum Darmstadt, der bayeri- Jahre Hauptstadt des vom jüngsten Bru- um des Landes Hessen glich. schen Pfalz, Aschaffenburg und der Süd- der Napoleons, Jérome, regierten König- hälfte von Hessen-Nassau entgegen. reichs „Westphalen“. Hessische Unterta- Frankfurter Paulskirche Ab 1931 stellte die NSdAP die stärkste nen waren napoleonische Zwangssolda- Fraktion im Darmstädter Landtag. Die ten bei den Feldzügen in Spanien und Die demokratische Revolution von SPD-Regierung blieb zunächst weiter ge- Rußland. Die Bevölkerung partizipierte 1848/49 brachte mit der Paulskirchenver- schäftsführend im Amt, mußte jedoch durch den „Code Napoléon“ an einer der sammlung das erste demokratisch legiti- nach der nationalsozialistischen Macht- zentralen Errungenschaften der Französi- mierte gesamtdeutsche Parlament nach übernahme im Reich am 5. März 1933 wei- schen Revolution: Gleichheit vor dem Ge- Frankfurt. Nach dessen Scheitern mußten chen. Innenminister Wilhelm Leuschner setz. Nach Napoleons Niederlagen bei einige der hessischen Protagonisten dieser ging in den Widerstand und wurde später Leipzig und Waterloo wurden auf dem Bewegung von ihren Ämtern zurücktre- ermordet – mit ihm zahlreiche „politisch“ Wiener Kongreß und auf dem Frankfurter und „rassisch“ Verfolgte, vor allem jüdi- Bundestag die hessischen Landschaften sche Bürgerinnen und Bürger, die die Ge- wieder neu verteilt. Die abermals erstan- schichte Hessens zuvor entscheidend mit geprägt hatten.

Hessen 49 In der Zeit der nationalsozialistischen Wahlen zur Verfassunggebenden Landes- schen Partei und der KPD nicht mitgetra- Herrschaft gab es einen „Gau Hessen-Nas- versammlung statt. Bei einer Wahlbeteili- gene Kompromiß wurde durch die weit- sau“ mit Sitz in Frankfurt, der den Weima- gung von 71% erzielte die SPD 44,3%, die gehende Übereinstimmung der beiden rer Volksstaat Hessen umfaßte. Nordhes- CDU 37,3%, die KPD 9,7% und die LDP großen Parteien im gesamten Bereich der sen bildete den eigenen „Gau Kurhes- 6%. Bereits dieses erste Wahlergebnis zentralen Wirtschafts- und Sozialordnung sen“. Mit der Berufung des Prinzen Philipp signalisiert drei kommende Jahrzehnte ermöglicht, die, basierend auf der Aner- von Hessen zum Kasseler Oberpräsidenten mit stabilen sozialdemokratischen Mehr- kennung der Würde und Persönlichkeit versuchten die Nationalsozialisten an die heiten. des Menschen auch in der Ökonomie, das Tradition des alten Kurfürstentums anzu- Trotz harter Auseinandersetzungen einig- Recht auf Arbeit, den Achtstundentag, knüpfen. Der Frankfurter NS-Gauleiter ten sich SPD und CDU in der Verfassung- einen zwölftägigen Mindesturlaub, das Jakob Sprenger galt als „Führer der Lan- gebenden Landesversammlung über die Streikrecht sowie ein einheitliches Arbeits- desregierung in Hessen“. Sein Plan der Grundprinzipien des neu entstehenden recht für Arbeiter, Angestellte und Beam- Vereinigung des ehemaligen te proklamiert, wobei die Volksstaates mit der Provinz Aussperrung untersagt Nassau zum „Reichsgau Rhein- bleibt. Der Kompromiß kam Main“ wurde nicht mehr in die dadurch zustande, daß die Tat umgesetzt. Die US-Armee hessische CDU damals – an- überquerte am 23. März 1945 fangs unter dem Einfluß bei Oppenheim den Rhein, er- von Eugen Kogon, Walter oberte Südhessen und am 4. Dirks und den Frankfurter April die „Festung Kassel“. Der Heften – im politischen von den Amerikanern initiierte Spektrum eher links anzu- Neuaufbau einer demokrati- siedeln gewesen ist. Die schen Verwaltung vollzog sich zeitliche Nähe der Erfah- zunächst innerhalb der alten rungen mit dem National- territorialen Strukturen: Lud- sozialismus, die viele der wig Bergsträsser verwaltete die (nur vier!) Mütter und provisorische Regierung in Väter der Hessischen Ver- Darmstadt, in Kassel und Wies- fassung geprägt hat, ist si- baden wurden Oberpräsiden- cherlich ebenfalls dafür ver- ten bestellt. Letztlich entschied antwortlich, daß die getrof- der amerikanische Militärgouv- fenen sozialen Normgebun- erneur Lucius D. Clay über das gen viel weiter gingen als in „neue“ Hessen. Am 19. Sep- späteren Länderverfassun- tember 1945 proklamierte US- gen oder im Grundgesetz General Eisenhower, dessen für die alte Bundesrepublik Vorfahren aus dem Odenwald Deutschland. Die US-Militä- stammen, „Greater Hesse“, radministration bestand Hessen in seinen heutigen auf einer gesonderten Ab- Grenzen. stimmung über den Soziali- sierungsartikel im Plebiszit. Die älteste deutsche Am 1. Dezember 1946 Nachkriegsverfassung wurde die Hessische Verfas- sung als älteste deutsche Kriegsfolgen, Zerstörung und Nachkriegsverfassung mit Mangel waren die prägenden 76,4% für die Gesamtfas- Probleme in den Jahren nach sung und mit 72% Stim- 1945. Trotzdem „war Hessen menanteil für den Soziali- 1949 ein stabiles Glied des sierungsartikel 41 von den Weststaates und hatte das wirt- hessischen Bürgerinnen schaftliche und politische Fun- Ausstellungsgelände der Documenta, Kassel. und Bürgern angenommen. dament für eine erfolgreiche Foto: Jochen Herzog Gleichzeitig fanden die er- Aufwärtsentwicklung gelegt,“ sten Wahlen zum Hessi- so der Spezialist für die hessi- schen Landtag statt, aus sche Nachkriegsgeschichte Walter Mühl- Bundeslandes. Besonders schwierig war denen die SPD als stärkste Partei hervor- hausen. Dazu hatte beigetragen, daß die die Debatte über den Staatsaufbau – die ging. hessische Politik in der Zeit nach 1945 CDU konnte sich mit ihrer Forderung nach Der von den US-Behörden eingesetzten überwiegend auf einem breiten Konsens einem parlamentarischen Zweikammersy- Allparteienregierung unter dem parteilo- aller wichtigen politischen Kräfte im stem nicht durchsetzen. Die Sozialisierung sen Rechtswissenschaftler folg- Lande basierte. Der Aufbau demokrati- war für die SPD ein zentraler Punkt der te eine SPD/CDU-Koalition unter dem scher Strukturen erfolgte unter der Ägide gesellschaftlichen Neuordnung. In zweiter Darmstädter Sozialdemokraten Christian der US-Militäradministration „von unten Lesung verabschiedete die Landesver- Stock, dessen Kabinett sehr pragmatisch nach oben“. Im Januar 1946 gab es bereits sammlung am 30. September 1946 den an der Bewältigung der prekären Versor- die ersten Wahlen in Gemeinden unter historischen Hessischen Verfassungskom- gungslage, der schrecklichen Wohnungs- 20 000 Einwohnern. Im April 1946 wählten promiß, der in Artikel 41 Sozialisierungen not, des wirtschaftlichen Wiederaufbaus, die Hessen ihre ersten Kreistage, im Mai in vorsieht, und zwar in den Bereichen Berg- der Integration großer Flüchtlingsströme, neun kreisfreien Städten ihre ersten Stadt- bau, Eisen und Stahl, Energie und Verkehr, der Bekämpfung der Naziideologie und parlamente. Die wieder zugelassene SPD aber nicht, wie ursprünglich von der SPD des allgemeinen Neubeginns arbeitete. erzielte bei all diesen Wahlen große Erfol- gefordert, auch in der chemischen Indu- Hessen war insofern privilegiert, da hier ge, die sie möglichst rasch auf Landesebe- strie. Dieser von der Liberaldemokrati- die wichtigsten überzonalen Gremien an- ne wiederholen wollte. Aber erst am 30. gesiedelt waren. Bereits durch die Wahl Juni 1946 fanden die ersten landesweiten

50 Hessen des IG-Farben-Gebäudes in Frankfurt zu aus Behelfsheimen oder Untermiete in ei- Weiße Sportförderungsprogramm, sozia- ihrem Hauptquartier hatten die US-Ame- gene Wohnungen umziehen. Dies war len und kulturellen Aufgaben. Alle Pla- rikaner einen Schwerpunkt auf Frankfurt auch die Grundlage für Zinns spätere nungen wurden 1965 im „Großen Hessen- gelegt. Hier residierten auch der Wirt- zwölfjährige Kooperation mit dem ur- plan“ zusammengefaßt, der Handlungs- schaftsrat für das vereinigte Wirtschafts- sprünglich mit der FDP verbundenen Bund perspektiven für die nächsten zehn Jahre gebiet der westlichen Alliierten, die bizo- Heimatvertriebener und Entrechteter entwickelte. Mit Ablauf der dynamischen nalen Verwaltungen und schließlich die (BHE). Das Land vergab umfangreiche Aufbauzeit – durchschnittliche jährliche Bank deutscher Länder. Frankfurt konnte Kredite an mittelständische Unterneh- Wirtschaftswachstumsraten von 5,5% war damit an seine historische Bedeutung an- men, vor allem Flüchtlingsbetriebe, die man gewohnt – mußte die Planungseu- knüpfen. Sitz der Landeshauptstadt sich in traditionell strukturschwachen Ge- phorie Mitte der 70er Jahre den rückläufi- wurde aber das nahe Wiesbaden, das von bieten ansiedelten und dort für neue Ar- gen finanziellen Möglichkeiten des Lan- den Verwüstungen des Krieges weit weni- beitsplätze sorgten. Darüber hinaus flos- des angepaßt werden. ger heimgesucht war. sen große Summen in die Verbesserung In seiner langen Regierungszeit ist Georg der Infrastruktur in den teilungsbedingt August Zinn zum „Landesvater“ des jun- „Hessen vorn“ – gesellschaftlicher abgeschnittenen Randregionen, beson- gen, alten Landes Hessen geworden. Als Strukturwandel und ders an der Grenze zur früheren DDR. 1969 der Gießener Albert Oswald die Re- Identitätsbildung Auch industrielle Großprojekte konnte gierungsgeschäfte übernahm, hatte sich Zinn aufgrund seiner guten Wirtschafts- die politische Landschaft verändert. Die Nach der Gründung der Bundesrepublik kontakte ins Land holen: das Volkswagen- Studentenbewegung drängte auf umfas- Deutschland 1949 erhielt die politische werk in Baunatal, das Chemiefaserwerk sendere und schnellere Reformen gerade Kultur Hessens ein neues Gewicht. In der der Hoechst AG in Bad Hersfeld und die – bezüglich einer Erhöhung der in Hessen Landtagswahl von 1950 erreichte die SPD damals noch von allen gesellschaftlichen im Vergleich zu anderen Ländern bereits die absolute Mehrheit der Landtagssitze. Kräften akzeptierte – Atomindustrie nach überdurchschnittlichen Ausgaben für , Mitglied des Parla- Hanau. Hessen erzielte überproportional Schulen und Hochschulen. Die soziallibe- mentarischen Rates und bereits damals steigende wirtschaftliche Wachstumsra- rale Regierung Oswald räumte in einem ein anerkannter Landespolitiker, wurde ten und wurde zum führenden Geberland neuen Hochschulgesetz allen Hochschul- zum Hessischen Ministerpräsidenten ge- im bundesweiten Länderfinanzausgleich, mitgliedern größere Mitwirkungsrechte wählt. Zinn war nicht nur der Kandidat eine Position, die es bis heute inne hat. ein und gründete mit der Gesamthoch- der „Nordhessen“, sondern auch der des schule Kassel eine Universität neuen Typs. SPD-Parteivorsitzenden Kurt Schumacher, Sozialdemokratische Reformpolitik Damit rief sie ebenso konservative Kritiker der sich von ihm ein hessisches Gegenge- in Hessen auf den Plan wie mit dem Ausbau der Ge- wicht zu Konrad Adenauers Bonner Re- samtschulen und mit dem Versuch des gierung erhoffte. Diese Hoffnung wurde Georg August Zinn warb für wichtige Re- Hessischen Kultusministers Ludwig von in den folgenden Jahren doppelt reali- formvorhaben hoch qualifizierte Speziali- Friedeburg, die Lehrinhalte für Deutsch siert: Zum einen engagierte sich die Regie- sten aus anderen Ländern ab, zum Bei- und Gesellschaftslehre in „Rahmenrichtli- rung Zinn mehrfach durch Initiativen im spiel den Bildungspolitiker Ernst Schütte, nien“ neu zu formulieren. Die Schulpolitik Bundesrat oder bei Verfassungsklagen. den Sozialpolitiker Heinrich Hemsath und wurde zum Hauptstreitpunkt der hessi- Die spektakulärste war die erfolgreiche von 1967 bis 1969 die Vorkämpferin für schen Landespolitik. Da die zunehmenden Klage gegen das von Bundeskanzler die Gesamtschule, Hildegard Hamm- Bildungsausgaben mit einer das Land be- Adenauer geplante Staatsfernsehen mit Brücher. nachteiligenden Reform des Länder- dem Ergebnis, daß das ZDF 1961 nur durch Wichtiger Schwerpunkt war ihm Struktur finanzausgleichs einherging, bemühte Staatsvertrag der Länder gegründet wer- und Regionalpolitik. Mit Ausnahme der sich die Regierung Oswald um eine Effek- den konnte. Zum anderen wurde Hessen ökonomisch weit entwickelten Rhein- tivierung der Verwaltung – wegweisend durch die Art, wie es die drängenden Pro- Main-Region, des Lahn-Dill-Gebiets und beispielsweise durch die von einem Da- bleme der Nachkriegszeit löste, zum bei- des Kasseler Raums bestand das Land Hes- tenschutzgesetz begleitete Gründung der spielhaft empfundenen sozialhuman ge- sen damals vor allem aus Agrarregionen, Hessischen Landeszentrale für Datenver- prägten und erfolgreichen Bundesland. die historisch gesehen stets Notstands- arbeitung im Jahre 1970. Der sozialdemokratische Wahlslogan von gebiete waren. Mit Investitionsprogram- Parallel dazu verlief eine umfassende Ge- 1962 „Hessen vorn“ steht leitmotivisch für men für Aussiedlerhöfe, für Dorfgemein- bietsreform, die 2682 Gemeinden zu 421 die gesamte Ära Zinn. Bereits in seiner er- schaftshäuser und für ländliche Mittel- neuen Großgemeinden zusammenfaßte, sten Regierungserklärung verkündete punktsschulen zur Schaffung von Chan- ein Prozeß, der vor Ort erheblichen Ver- Zinn 1951 den „Hessenplan“, der die För- cengleichheit im Bildungssektor – ein druß auslöste, wie z. B. die beabsichtigte derung des Wohnungsbaus, die Integrati- Hauptanliegen der Landespolitik – lag Zusammenlegung der altehrwürdigen on der über eine Million in Hessen leben- Hessen im Bundesvergleich tatsächlich Städte Gießen und Wetzlar zu einem den Flüchtlinge sowie die Verbesserung „vorn“. kommunalen Kunstgebilde namens der Infrastruktur und die Förderung von Die unstreitbaren Erfolge förderten Ent- „Lahn“, ein Vorhaben, das von der nach- Industrieansiedlungen in den struktur- stehung und Herausbildung eines hessi- folgenden Regierung Börner zurückge- schwachen Regionen zum Ziel hatte. Der schen Gemeinschaftsgefühls. Ausdruck nommen wurde. Die umstrittenen Refor- Wohnungsbau stieg in Hessen für die hierfür waren und sind die seit 1961 regel- men dieser Zeit ermöglichten es dem hes- kommenden zwanzig Jahre auf 50 000 mäßig begangenen Hessentage, die zum sischen CDU-Vorsitzenden Alfred Dregger, Einheiten, davon 20 000 Sozialwohnun- Symbol hessischer Identitätsbildung ge- gen jährlich. Viele Vertriebene konnten worden sind. Ein Spezifikum hessischer Landespolitik bestand im Versuch, staatliches Handeln in Form integrativer Planung zu bündeln. Die verschiedenen Einzelpläne, die dem ersten „Hessenplan“ von 1951 folgten, widmeten sich, wie beispielsweise der Hessische Sozialplan für alte Menschen, der Hessische Jugendplan und das Rot-

Hessen 51 seine Partei zu einem zentral wichtigen gesellschaftlichen Umbrüchen am Ende netären Hauptstadt Europas, dem Sitz der landespolitischen Faktor zu gestalten. unseres Jahrhunderts konfrontiert. Späte- Deutschen Bundesbank und der Europäi- Zwischen 1966 und 1974 erhöhte die CDU ren Beobachtern muß es vorbehalten blei- schen Zentralbank niedergelassen. Frank- ihren Stimmenanteil von 26,4% auf ben zu beurteilen, ob Hessen, in zwei furts Börse liegt auf Platz vier der Welt- 47,5%. Legislaturperioden unter politisch rot-grü- rangliste. 70 000 Beschäftigte arbeiten am ner Verantwortung gestaltet, zum „Zu- Ufer des Mains im Bankenwesen. Zudem Biblis und Startbahn West: kunftsland“ und zum Paradigma unserer ist Frankfurt mit großen Fachmessen z.B. Arbeitsplätze versus Umweltschutz heutigen gesamtstaatlichen Gegebenhei- Premiere, Ambiente, Heimtextil, Inter- ten geworden ist. Mentalitätsgeschicht- stoff, Achema, der Internationalen Auto- 1976 trat Albert Oswald als Ministerpräsi- lich sind Leitmotiv und Selbstverständnis mobilausstellung und der historisch be- dent zurück. Seinem Nachfolger, dem Kas- aus der landesväterlichen Ära Zinn: „Hes- deutsamen Internationalen Buchmesse selaner Holger Börner, waren die Schaf- sen vorn“ in der landespolitischen Demo- auch seit alters her die deutsche Messe- fung neuer Arbeitsplätze und die Siche- kratiegesellschaft tief verinnerlicht. stadt schlechthin. Zu Börse und Banken rung der Energieversorgung angelegen. Bei der Wahl zum neuen Landtag im Fe- kommen Finanzdienste, Versicherungen, Börner sah es als notwendig an, das Atom- bruar 1999 erhielten CDU und FDP eine Werbeagenturen, Unternehmensberatun- kraftwerk Biblis auszubauen, ein entspre- Mehrheit zur Bildung der Landesregie- gen, Wirtschaftsprüfer, Anwaltskanzleien chendes Werk in Borken anzusiedeln und rung unter Leitung von und Servicefirmen, bedeutende Buch- und einen Standort in Hessen für die Wieder- (CDU). Presseverlage wie die literarisch und wis- aufbereitung von nuklearem Brennstoff senschaftlich renommierten Häuser Suhr- zu finden. Gegen breiten Protest aus der Verwaltungs-, Wirtschafts- und kamp, S. Fischer und Campus, Zeitschriften Bevölkerung engagierte sich die sozialli- Bevölkerungsstruktur und Zeitungen, mit der Frankfurter Allge- berale Landesregierung für den Bau einer meinen Zeitung und der Frankfurter zusätzlichen Startbahn am Frankfurter Wie die äußeren wurden auch die inneren Rundschau unter ihnen zwei überregional Flughafen unter Hinweis auf die Notwen- Grenzen Hessens im Laufe seiner jüngeren hoch angesehene Tageszeitungen, Nach- digkeit der Sicherung von Arbeitsplätzen Geschichte oft verschoben. Heute besteht richtenagenturen und Telekommunika- in der Rhein-Main-Region. Die sich formie- das Land aus 21 Landkreisen und 5 kreis- tionsunternehmen. Der Hessische Rund- rende Umweltbewegung und die hessi- freien Städten. Verwaltungsreformen funk mit seinen zahlreichen Hörfunk- und sche Partei der Grünen gingen aus diesem haben im Nachkriegshessen eine lange Fernsehprogrammen hat seinen Hauptsitz Konflikt gestärkt hervor. Die Grünen Tradition (seit 1947), deren nachhaltigstes in Frankfurt am Main. zogen bei den Landtagswahlen 1982 mit Ergebnis ab 1972 die bereits erwähnte Und die Welt kommt durch das „Tor zur 8,0% in das Parlament ein und tolerierten kommunale Gebietsreform war. Auch die Welt“, den Flughafen, nach Frankfurt. Mit nach der Wende der FDP aus dem sozialli- mittlere Verwaltungsebene wurde da- 60 000 Beschäftigten ist die FAG-Betriebs- beralen Lager zur CDU eine sozialdemo- durch reformiert. Zu den bestehenden Re- gesellschaft der größte Arbeitgeber Hes- kratische Minderheitenregierung mit poli- gierungsbezirken Darmstadt und Kassel sens. Das verarbeitende Gewerbe ist mit tisch instabilen „hessischen Verhältnissen“ wurde ein weiterer Regierungsbezirk dem Firmenkorsortium der ehemaligen wie es bald sprichwörtlich heißen sollte. Gießen gebildet, der eine neue Region Hoechst AG und Philipp Holzmann in 1985 kam es zur ersten rot-grünen Regie- „Mittelhessen“, bestehend aus den Land- Frankfurt, mit E. Merck und Wella in rungskoalition auf Landesebene in der kreisen Lahn-Dill, Marburg-Biedenkopf, Darmstadt, mit Opel in Rüsselsheim, mit Bundesrepublik mit Joseph Fischer als er- Gießen, Limburg-Weilburg und Vogels- Heraeus in Hanau und Linde in Wiesbaden stem grünen Minister, zuständig für das bergkreis schaffen sollte. Die Veränderun- gut vertreten. Branchenvielfalt und Poly- Umweltressort. gen der Verwaltungsgliederung sind Re- zentrismus kennzeichnen die Rhein-Main- Im April 1987 wurde erstmals in der hessi- flex auf die Modernisierungsprozesse in Region, von der zunehmend auch andere schen Nachkriegsgeschichte eine SPD-ge- der Wirtschafts- und Bevölkerungsstruk- hessische Regionen profitieren. Bedeu- führte Regierung durch eine CDU/FDP-Ko- tur. Nordhessen ist letztlich seit dem spä- tend ist Südhessen auch als Wissenschafts- alition unter dem ehemaligen Frankfurter ten 18. Jahrhundert trotz aller Bemühun- standort mit den Universitäten Frankfurt Oberbürgermeister ab- gen gerade des dynamischen Gesamtlan- und Darmstadt, den Fachhochschulen gelöst. Ministerpräsident Wallmann er- des in der zweiten Hälfte unseres Jahr- Frankfurt und Wiesbaden sowie den zahl- kannte rasch, daß die deutsche Vereini- hunderts der Modernisierungsverlierer reichen angeschlossenen und assoziierten gung 1989 die Möglichkeit barg, Hessen geblieben. Alle bevölkerungsmäßigen Forschungsinstituten. Mit dem Pfund sei- aus seiner früheren Randlage wieder ins Wanderbewegungen gingen zu Lasten ner außergewöhnlichen Hochschuldichte, „Herz Deutschlands“ zurückzuführen. der nordhessischen Region. Auch heute mit dem innovativen Know-how seiner Seine Regierung legte ein 250 Millionen noch liegt die Bevölkerungsdichte in den Universitäten kann das Land wuchern. In Mark schweres Hilfsprogramm für Thürin- nord-, mittel- und osthessischen Regionen die Kooperation Wirtschaft-Wissenschaft gen auf. Dadurch wurden sehr frühzeitig um die Hälfte niedriger als im Landes- sind zum Beispiel das Gießener Transfer- vielfältige hessen-thüringische Behörden- durchschnitt und bis zum Siebenfachen zentrum und das Wetzlarer Institut für Mi- kooperationen ermöglicht, die das Land unter den hochentwickelten Regionen krostrukturtechnologie und Optoelektro- Hessen zum Protagonisten des „Wieder- Südhessens. nik eingebunden, Hier liegen wichtige aufbaus Ost“ werden ließ. Standorte der zukunftsweisenden Bio- In Wallmanns Ägide fiel auch die Schaf- „Mainhattan“: Banken- und technologie. In Marburg entstand das fung der Voraussetzungen dafür, daß Messestadt Software-Center, vielleicht Ausgangs- Frankfurt am Main heute die Europäische punkt für ein hessisches Silicon Valley? Die Zentralbank beherbergt und damit sei- Im Rhein-Main-Gebiet mit seinem Zen- Universität Gesamthochschule Kassel, die nem historisch begründeten Spitznamen trum Frankfurt am Main, in der Region seit ihrer Gründung die Kooperation mit in Finanzkreisen als „Mainhattan“ ge- „Mainhattan“ genannt, multikulturell der Praxis auf ihre Fahnen geschrieben recht wurde und diese Tradition als Me- durch seinen hohen Ausländeranteil an hat, konnte internationale Reputation ins- tropole europäischen Formats in das kom- der Wohnbevölkerung und seiner beein- besondere in zukunftsweisenden Umwelt- mende Jahrtausend tragen wird. druckenden Skyline von Bankentürmen ist technologien erwerben.. Seit 1991 wurde Hessen von einer rot-grü- die Wirtschaftskraft Hessens konzentriert. nen Koalition unter Leitung des früheren 430 Geldinstitute haben sich in der mo- Oberbürgermeisters aus Kassel, Hans Ei- chel, geführt. Seine Regierung war mit den tiefgreifenden ökonomischen und

52 Hessen Ein Streifzug durch die hessische grammkinos und interessanten Filmema- sammlung als erster demokratisch legiti- Kulturszene cher. Da wären die Museen mit alter und mierter Konstituante oder an die Wieder- neuer Kunst vom Städel und Museum für kehr des 250. Geburtstags von Johann Die hessische Kulturszene ist so vielfältig Moderne Kunst in Frankfurt über das Hes- Wolfgang von Goethe in diesem Jahr. wie das Land als Ganzes. Wo soll man be- sische Landesmuseum in Darmstadt bis ginnen? Zu nennen wären die zahlreichen zum Museum der 100 Tage und der immer Stadttheater mit ihren trotz mancher Kri- wieder spannenden Kasseler Documenta. Das Wappen tikerschelte in der Mehrzahl sehr sorgfälti- Da wären die vielen interessanten Gale- gen Inszenierungen. Da wären die Opern- rien. Da wären die Festspiele und Festivals, Der neunmal silbern und rot geteilte, stei- häuser und Musiktheater (wie zum Bei- von den Wiesbadener Maifestspielen über gende Löwe Hessens gleicht dem Wap- spiel die Alte Oper in Frankfurt). Da wären die Bad Hersfelder Festspiele und die re- pentier Thüringens. Denn 1247, als Hessen die zahlreichen Kulturzentren und klei- gionalen Kultursommer-Veranstaltungen und Thüringen geteilt wurden, behielten nen Bühnen – das innovative Kulturzen- über die Darmstädter Tage für neue Musik beide Territorien den Löwen als Wappen- trum Mousonturm in Frankfurt, die Frank- bis zu den Idsteiner Jazztagen und dem tier bei. So wurde der Löwe auch 1920 furter Brotfabrik, die sich der „Weltmu- Rheingau-Musikfestival. vom Volksstaat Hessen übernommen, sik“ verschrieben hat, das rührige Kasseler Gemeinsam ist allen hessischen Kultur- ebenso wie 1948 vom neugegründeten Dock 4, der Kasseler Kulturbahnhof, der schaffenden, daß sie sich mit immer leerer Land Hessen. multikulturelle Kasseler Schlachthof. Da werdenden öffentlichen Kassen konfron- wären die hochprofessionellen freien tiert sehen und deshalb viele von ihnen Theatergruppen vom Klappmaul-Theater dazu übergehen müssen, private Sponso- in Frankfurt bis zur wunderbaren Marbur- ren zu suchen. Gemeinsam ist ihnen, daß ger Studentenbühne. Da wären die be- sie unter schwieriger werdenden Bedin- Literaturhinweise: kannten und weniger bekannten hessi- gungen einen unverzichtbaren Beitrag schen Kabarettisten von Matthias Belz zur politischen Kultur und Lebensqualität Heidenreich, Bernd; Schacht, Konrad (Hrsg.) Hes- über Michael Quast und Cornelia Nie- in Hessen und zur hessischen Identitätsfin- sen. Eine politische Landeskunde. Stuttgart 1993 mann bis Hilde Wackerhagen. Da wäre die dung leisten – oft in Anknüpfung an Er- Heidenreich, Bernd; Schacht, Konrad (Hrsg.) Hes- rührige Jazz-Szene vom internationalen eignisse der hessischen Geschichte und sen. Gesellschaft und Politik. Stuttgart 1995 Starposaunisten Albert Mangelsdorff bis Gegenwart, wie etwa jetzt aktuell an den Heidenreich, Bernd; Schacht, Konrad (Hrsg.) Hes- sen. Wahlen und Politik 1946 – 1995. Stuttgart zu den spannenden Kasseler Funkedelics, 150. Jahrestag der deutschen Revolution 1995 vom Landesjugendjazzorchester, über die und der Frankfurter Paulskirchenver- Heidenreich, Bernd; Böhme Klaus (Hrsg.) Hessen. HR-Big-Band bis zum Gar-nicht-mehr-Insi- Verfassung und Politik. Stuttgart 1997 der-Tip Frankfurt Jazz Big Band. Da wären Böhme, Klaus; Mühlhausen Walter (Hrsg.) Hessi- die Duos, Trios, Quartette, die einfach nur sche Streiflichter. Frankfurt am Main 1995 Berg-Schlosser, Dirk; Fack, Alexander; Noetzel, schöne, kluge Musik zum Zuhören ma- Thomas (Hrsg.) Parteien und Wahlen in Hessen chen vom Duo Bärenz-Wolff aus Frankfurt 1946 – 1994. Marburg 1994 bis zur Kasseler Leib-und-Magen-Gruppe Lilge, Herbert. Hessen in Geschichte und Gegen- Ganz schön feist. Da wäre die Rock- und wart. Stuttgart 1992 Popszene von Sabrina bis zur Beatles Revi- Koch-Arzberger, Claudia; Hohmann, Eckart (Hrsg.) Hessen im Wandel. Wiesbaden 1996 val Band. Da wären die beiden schönen Li- Sarkowicz, Hans (Hrsg.) Stadtluft macht frei. teraturhäuser in Darmstadt und Frankfurt Hessische Stadtporträts. Leinfelden 1993 und die zahlreichen Literaturbüros. Da Schiller, Theo; von Winter, Thomas Hessen. In: wären die Poetik-Professur an der Frank- Hartmann, Jürgen (Hrsg.) furter Goethe-Universität und die zahlrei- Handbuch der deutschen Bundesländer. Frank- furt am Main 1997, S. 269 ff. chen Literaturpreise, deren renommierte- ste alljährlich von der Deutschen Akade- mie für Sprache und Dichtung in Darm- stadt vergeben werden. Da wären die Pro-

Anschrift: Hessische Landeszentrale für politische Bildung, Rheinbahnstraße 2, 65185 Wiesbaden

53 Gemeinsamkeiten trotz unterschiedlicher Geschichte becken (darunter die Müritz als größter deutscher Binnensee) prägen eine ab- wechslungsreiche Landschaft. Mecklenburg-Vorpommern Wesentlichen Einfluß auf das Klima haben die Westwinde mit ihren maritimen Luft- massen und relativer Unbeständigkeit. Dennoch ist sowohl von West nach Ost als auch von Nord nach Süd eine allmähliche Von Heinrich-Christian Kuhn Klimaveränderung in Richtung zuneh- mender Kontinentalität erkennbar. Das Land Mecklenburg-Vorpommern wird erst im Juni 1945 durch eine Verfügung der sowjetischen Militäradministration er- richtet, indem Westvorpommern Meck- Tiefland, vom Meer geprägt Die größte Nord-Süd-Entfernung beträgt lenburg angegliedert wird. Im Februar 157 km, die größte Ost-West-Entfernung 1947 mit Auflösung des Staates Preußen Mecklenburg-Vorpommern ist nach der 254 km. wird der Name „Vorpommern“ aus der Fläche zwar sechstgrößtes Bundesland Mecklenburg-Vorpommern gehört na- Landesbezeichnung gestrichen. (23 170 km2), nach der Einwohnerzahl je- turräumlich zur Großregion „Mitteleuro- Wiedergegründet wird das 1952 aufgelö- doch das viertkleinste (1,8 Mio). Weniger pa“ und hier wieder ausschließlich zu des- ste Land erst am 3. Oktober 1990, mit dem Einwohner haben das Saarland, Hamburg sen Tieflandsbereich. Die 200-m-Höhen- Vollzug der deutschen Einheit. Bis 1945 und Bremen. Nur durchschnittlich 78 Ein- linie wird nirgends erreicht: Die höchsten nahmen beide Landesteile eine eigene wohner kommen auf den km2. Erhebungen liegen im Bereich des Helpter Entwicklung. Die Nordgrenze bildet die Ostsee. Auf Berges (im Landkreis Mecklenburg-Stre- Grund vieler Bodden und Haffs mißt die litz) bei 179 m und der Ruhner Berge Die slawische Herkunft gehört zur Gesamtküste immerhin 1712 km, die (Landkreis Parchim) bei 177 m über NN. Identität Länge der Außenküste dagegen beträgt Im Zuge der eiszeitlichen Überformungen nur ein gutes Viertel davon (354 km). Der und nacheiszeitlichen Naturraumentwick- Im Jahr 1995 feierte das Bundesland (auch Küste vorgelagert sind 62 Inseln und Insel- lung entstanden ebene, wellige und kup- der vorpommersche Teil) die erste urkund- chen, darunter Rügen als Deutschlands pige Platten, Hügelgebiete, Becken, Nie- liche Erwähnung Mecklenburgs. 995 ließ größte Insel mit 930 km2 Fläche. derungen und Seen. Das „Rückgrat“ des in „Michelenburg“ (große Burg) während Im Süden grenzt Brandenburg an Meck- Landes bilden die Hügelzüge der „Pom- eines Kriegszuges gegen die Obotriten lenburg-Vorpommern (375 km), im We- merschen Hauptendmoräne“, die von Li- Otto III. eine Schenkungsurkunde ausstel- sten Schleswig-Holstein (137 km) und Nie- tauen kommend ab Feldberg ganz Meck- len. dersachsen (94 km). lenburg-Vorpommern in südöstlich-nord- Die Mecklenburger blicken mit Stolz auf Die Ostgrenze des Landes mit Polen ist zu- westlicher Richtung durchzieht. Nördlich ihre slawische Herkunft. Als 1918 gleich deutsche (und noch) EU-Außen- von Lübeck erreicht diese Hügelzone Großherzog Friedrich Franz IV. seinen grenze. Dies ist eine Landgrenze. Hierin Schleswig-Holstein. In Mecklenburg-Vor- Thronverzicht erklärt, endet die Herr- unterscheidet sie sich von denen Branden- pommern bildet sie die Wasserscheide schaft der obotritischen Dynastie, die bis burgs und Sachsens, die Flußgrenzen sind zwischen Ost- und Nordsee. auf ihren Gründer Niklot (1131–1160) (Oder und Neiße). Darin sehen die Men- An der Ostsee wurden durch die Tätigkeit zurückgeht. Es ist die älteste slawische Dy- schen beiderseits der Grenze eine große des Meeres Steil- und Flachküsten ge- nastie. Das Bewußtsein slawischer Wur- Chance, zusammenzukommen, weil keine schaffen. Die eiszeitliche Entstehung und zeln gehört zur mecklenburgischen Iden- kostspieligen Brückenbauten nötig sind. die Eigenschaften der Oberflächensedi- tität. Es gibt einen regen kleinen Grenzverkehr mente prägen die naturräumliche Aus- Seit dem 7. Jahrhundert prägt die slawi- und vielfältige Kontakte beiderseits der stattung. Heidesandgebiete, Niederun- sche Besiedlung das Land. Die Slawen er- Grenze. gen, Grund- und Endmoränen und Seen- richten an schwer zugänglichen Stellen Burgen als Verteidigungsanlagen und ver- banden sie zu einem ausgezeichneten Sy- stem kleinerer, überschaubarer Stütz- punkte von weitreichender historischer Wirkung. Der Sitz der Obotritenfürsten (Michelenburg = Mecklenburg) gab dem Land den Namen. Mit der Konfrontation des Sachsenher- zogs Heinrich des Löwen und des Obotri- tenfürsten Niklot beginnt die Entwicklung Mecklenburgs zu einem mittelalterlichen Territorialstaat. Heinrich der Löwe rückte 1160 mit seinem Heer nach Mecklenburg ein und tötete den Obotritenfürsten Ni- klot in der Nähe der Burg Werle im Kampf. Heinrich der Löwe war zwar der Sieger, aber Niklot nicht der Besiegte. Sein Sohn Pribislaw, der inzwischen zum Chri- stentum übergetreten war, erhielt den größten Teil der Obotritenherrschaft als sächsisches Lehen. Heinrich der Löwe gründete zur Besiege- lung des von ihm eingeleiteten Prozesses 1160 als erstes deutsches rechtlich verfaß- tes Gemeinwesen auf mecklenburgischem Boden die Stadt Schwerin, die seither die Reiterfigur des sächsischen Herzogs in

Rostock-Warnemünde. Mole. Foto: Gerhard Hoffmann, Berlin

54 Mecklenburg-Vorpommern ihrem Siegel führt, und stattete sie mit lü- che Städte als zentrale Orte für das Um- ihresgleichen suchte. Er trennte Verwal- bischem Recht aus. Schwerin wurde zum land vor allem durch die Territorialherren tung und Justiz, schuf ein Kabinett aus westlichen Einfallstor nach Mecklenburg. gegründet. Die Küstenstädte (Rostock vier Räten und förderte Handel und Ge- Die alte obotritische Grenzburg auf der 1218, Wismar 1229, Stralsund 1239, Greifs- werbe. Insel im Schweriner See wurde zum Gra- wald 1250) übernahmen das lübische Doch dann wurde das Land mit aller Bru- fensitz, in die Stadt wurde der Bischofssitz Stadtrecht zur Demonstration ihrer Stel- talität und Grausamkeit in das Gemetzel aus der Ortschaft Mecklenburg verlegt lung als Freihandelsplätze mit Zollfreiheit, der Nachbarn einbezogen und selbst zum und somit die Dreigliederung von Feudal- Münz- und Stapelrecht und weitgehender Kriegsschauplatz zwischen Schweden und sitz, Bürgeransiedlung und kirchlichem eigener Gerichtsbarkeit. Kaiserlichen. Die Eroberung und Zer- Zentrum konstituiert. Dem tatenfreudi- Zu weiterer Entwicklung und Machtfülle störung von Neubrandenburg im Jahre gen und machtbewußten Sachsenherzog in Mecklenburg und Vorpommern trug 1631 bezeichnet den Gipfel an Wunden trat eine weitere Gründergestalt an die vor allem der Städtebund der Hanse bei, und Schmerzen, die dem Land zugefügt Seite: Berno, der Zisterziensermönch aus dem alle bedeutenden Küstenstädte an- wurden. dem Weserkloster Amelungsborn. Ihn gehörten. Hanse steht für Urbanität, für Der Dreißigjährige Krieg hinterließ ein setzte Heinrich zum ersten Bischof von intakte Kommunikation nach innen und zerstörtes und verwüstetes Land, dessen Schwerin ein und ließ ihn 1171 einen der außen. Im Jahre 1280 bildeten Rostock Einwohnerzahl auf weniger als ein Drittel Vorgängerbauten des heutigen hochgoti- und Wismar mit Lübeck und Hamburg den dezimiert worden war. Schweden bean- schen Domes in Schwerin weihen. Im glei- Kern des Bündnisses der „wendischen spruchte und erhielt auch Wismar, die chen Jahr siedelte Berno zwölf Zisterzien- Städte“. Die pommerschen Städte Stral- Insel Poel sowie das Amt Neukloster und sermönche aus seinem Heimatkloster in sund, Greifswald, Stettin, Demmin und konnte somit seine Herrschaft im Ostsee- Althof nach Doberan an. Doberan wurde Anklam schlossen sich an. Die Küstenstäd- raum ausbauen. zu einem der wichtigsten christlichen Zen- te unterhielten bedeutende Handelsflot- tren in dem sich wandelnden Land. ten. Unter der Flagge von Stralsund fuh- Die starke Stellung der Ritterschaft Die mecklenburgische Kirchenorganisa- ren zur Blütezeit der Hanse um 1400 mehr tion wurde seit dem 13. Jahrhundert be- als 300 Schiffe. Den Gewinn aus dem Bevölkerungsrück- gründet und ist – wenn auch in wechseln- Aus der Verbindung von Hansegeist und gang zog der Stand der Grundbesitzer, die der Gestalt – bis heute erkennbar. Die Bildungsbedürfnis entstand im Jahre 1419 Ritterschaft. In einem Gesetz von 1654 äußerlich sichtbare Seite dieser Organisa- die Universität Rostock. Sie zog Studenten wurde ihnen das Recht zugebilligt, ihre tion, das dichte Netz gotischer Backstein- vor allem aus dem skandinavischen Raum Untertanen in Knecht- und Leibeigen- kirchen, gehört bis heute zu den besonde- und aus den Niederlanden an. Auf Initiati- schaft zu halten und über ihren Aufent- ren mecklenburgischen Kennzeichen. ve des Bürgermeisters Heinrich Rubenow halt und Familienstand zu entscheiden. Deutsche Ministeriale, Dienstleute im Hof- wurde 1456 eine Universität auch in Brachliegendes Land wurde zu den und Verwaltungsdienst, erhielten seit der Greifswald gegründet, die sich rasch zu großen Gütern gelegt. Die Ritterschaft zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts Land- einem wichtigen geistigen Mittelpunkt wurde immer mächtiger. güter zum Lehen mit dem Auftrag, Meck- des Herzogstums Pommern entwickelte. Mecklenburg wurde auch in die Nachfol- lenburg zu kolonisieren und nach ihren gekämpfe des Dreißigjährigen Krieges, so Erfahrungen umzugestalten. Im 13. Jahr- Die Katastrophe des Dreißigjährigen in den Nordischen Krieg (1713–1717), ein- hundert strömten einige Zehntausend Krieges bezogen. Herzog Carl Leopold (1713 bis Siedler vor allem aus Niedersachsen und 1747) baute mit russischer Hilfe ein ste- Westfalen ins Land. In Mecklenburg griffen kirchenreformato- hendes Heer auf, um ein absolutistisches Die mecklenburgische Raumordnung rische Prozesse im zweiten Viertel des 16. Regime gegen die Ritterschaft zu errich- zeigt bis heute die Wege der Gründer und Jahrhunderts schnell um sich, besonders in ten, was ihm jedoch mißlang. Im Landes- Mönche, der Lokatoren und Siedler, die den größeren, gesellschaftlich differen- grundgesetzlichen Erbvergleich (1755), das Land mit einem Raster von Ortschaf- zierten Städten an der Küste. Seit 1531 der ersten „Verfassung“ Mecklenburgs, ten überzogen. In Verbindung mit dem fanden in allen Kirchen Rostocks lutheri- der Magna Charta der mecklenburgischen alten System der slawischen Burgbezirke sche Gottesdienste statt. 1540 hielt die Re- Ritterschaft, muß der Landesherr der Rit- war diese Ordnung auf Dezentralisierung formation auch im Bistum Schwerin Ein- terschaft ihre Rechte auf unumschränkte angelegt. zug. Herrschaft über ihre Untertanen und das Auf dem Landtag, der Versammlung der unheilvolle „Bauernlegen“ gesetzlich ver- Deutsche Siedler mit überlegener mecklenburgischen Stände in Sternberg, briefen. Ackerbautechnik wurde 1549 das evangelische Glaubensbe- Seit der Landesteilung 1701 gab es kenntnis für das ganze Land Mecklenburg zwei mecklenburgische Territorialstaaten, Die Bauern erhielten steuerfreie Hufen als als verbindlich erklärt. Mecklenburg-Schwerin und Mecklenburg- Lehnsgut und siedelten vor allem im Be- Das Erwachen bürgerlichen Selbstbewußt- Strelitz, und jedes dieser Gebiete nahm reich der schweren Böden nördlich des seins führte zu kultureller Blüte. Auch in eine durchaus elgene Entwicklung. Trotz Landrückens. Auf diese Siedlungen deu- Mecklenburg entwickelten sich Ansätze aller Schäden und Verluste brachte auch ten Ortsnamen mit der Endung „-hagen“ von Humanismus und Renaissance. das 18. Jahrhundert noch einmal eine be- hin. Der Ackerbau bei den slawischen Ein erster Schloßumbau in Schwerin sowie scheidene, liebenswürdige Blüte hervor, Stämmen war unterentwickelt, wurde fürstliche Bauten in Wismar, Gadebusch Zeugnisse einer Feudalkultur mit Schlös- durch Jahrhunderte nur mit hölzernem und Güstrow zeugen von renaissancisti- sem, Herrensitzen und Parkanlagen, die Pflug betrieben, wies geringe Erträge auf schem Formempfinden. zu einem weiteren Charakteristikum der und führte nicht zu Wohlstand und Steu- Die Blüte von Reformation, Humanismus Gebiete von Mecklenburg wurden. Im er- oder Tributpotential für eventuelle und Renaissance wurde durch den Dreißig- Herzogtum Strelitz wurde Neustrelitz als Lehnsherren. Mit den deutschen Sied- jährigen Krieg alsbald geknickt, und über neue Residenz planmäßig angelegt. lern wurde auch die Dreifelderwirtschaft Mecklenburg, das an den Streitigkeiten Im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts mit fortentwickelter landwirtschaftlicher nicht eigentlich beteiligt war, ging die wurde unter Herzog Friedrich Ludwigslust Technik eingeführt. Die Dörfer wurden erste große Walze eines Krieges, der das als Residenz des Herzogtums Mecklen- großflächig und planmäßig angelegt und Land nahezu auslöschte und seine Ent- burg-Schwerin gegründet und zu einer die slawischen Bevölkerungsteile in die wicklung auf Jahrzehnte unterbrach. einmaligen spätbarocken Stadtanlage mit Besiedlung einbezogen. Dabei hatte es zunächst nach Glanz und Schloß, Kirche und weiträumigen, von Im Südwesten Mecklenburgs (Griese Ge- Aufschwung ausgesehen, als Wallenstein, Wasserläufen durchzogenen Parkflächen gend) blieben noch für längere Zeit slawi- der 1628 das Land besetzt und 1629 als ausgebaut. sche Siedlungsräume erhalten. erbliches Lehen vom Kaiser erhalten Seit dem 13. Jahrhundert wurden zahlrei- hatte, auf Schloß Güstrow eine Hofhal- tung entfaltete, die selbst am Kaiserhof

Mecklenburg-Vorpommern 55 Die napoleonischen Kriege zogen auch rin und Mecklenburg-Strelitz 1870 dem burg. Am 13. Oktober 1934 wurden die Mecklenburg stark in Mitleidenschaft und Deutschen Zollverein beigetreten waren, beiden mecklenburgischen Staaten auf raubten das Land aus. wurden sie 1871 mit einer Einwohnerzahl Anordnung des Reiches zusammenge- Die Beschlüsse des Wiener Kongresses er- von 360 000 Gliedstaaten des Deutschen schlossen. Aus dem relativ eigenständigen hoben die beiden mecklenburgischen Reiches. Land wurde der Gau Mecklenburg, eine Herzöge in den Rang von Großherzögen. Die nach der Jahrhundertmitte beginnen- wichtige Ernährungsbasis des Deutschen Im Jahre 1816 wurde Mecklenburg Mit- de Industrialisierung wirkte sich vor allem Reiches. Die Macht lag seit 1934 in den glied des Deutschen Bundes. Die Aufhe- in der Landwirtschaft aus und führte zur Händen des Friedrich bung der Leibeigenschaft 1820 führte in Beschäftigung zahlreicher ausländischer, Hildebrandt. der Folgezeit zum Anwachsen sozialer vor allem polnischer Saisonarbeiter auf Der Zweite Weltkrieg bezog auch Meck- Spannungen und zu einer lawinenartigen den mecklenburgischen Gütern und führ- lenburg in Luftangriffe (besonders Ro- Auswanderungsbewegung vor allem nach te zu einer Verschärfung der sozialen Si- stock und Wismar), Kampfhandlungen Nordamerika. Die ungelösten sozialen tuation. und in die totale Niederlage des Deut- Probleme auf dem Lande hemmten die Mit dem Ende des Ersten Weltkrieges schen Reiches ein. politische und gesellschaftliche Entwick- wurde die Ständeherrschaft in Konse- Die letzten Kriegswochen waren gekenn- lung. quenz der Novemberrevolution 1918 ab- zeichnet durch die deutsche Rückwärts- geschafft und der Großherzog zur Abdan- verteidigung vor allem seitens der SS und Die beiden Mecklenburg überlebten kung veranlaßt, beide Mecklenburg wur- durch die sowjetischen Kampf- und Ver- das Ende der Dynastie den zu Republiken. Der Zwergstaat Meck- geltungsmaßnahmen, denen vor allem lenburg-Strelitz behielt trotz der geringen Städte in Ostmecklenburg zum Opfer fie- Die gesellschaftlichen Bewegungen im Zu- Einwohnerzahl von 110 000 seine Eigen- len. Am Störkanal östlich von Schwerin sammenhang mit der Märzrevolution von ständigkeit. In beiden Landtagen stellten stießen im Mai 1945 amerikanische und 1848 hinterließen in Mecklenburg trotz die Sozialdemokraten die stärkste Frak- sowjetische Truppen aufeinander, West- mecklenburg mit Schwerin und Wis- mar stand bis Juli 1945 unter ameri- kanisch-englischer Besatzungshoheit.

Vorpommern: 200 Jahre lang schwedisch

Auch in Pommern siedelten seit dem 6. Jahrhundert west- slawische Volks- stämme. Zu Beginn des 13. Jahrhun- derts erobert Po- lenherzog Boleslaw III. Pommern. Der Begründer der pommerschen Dy- nastie der Greifen Wartislaw I. dehnt die Herrschaft bis ins Peenegebiet aus. Zur Christianisie- rung wendet sich Boleslaw an Bischof Otto von Bamberg, der in enger Bezie- Schloß Schwerin. Foto: Pressefoto Lindenbeck hung zum polni- schen Herrscher- haus steht. Die Mis- revolutionärer Aufbrüche keine bleiben- tion. Wichtigste Aufgaben waren eine Ver- sionsreisen von 1224 und 1228 sind erfolg- den Spuren. Zwar hatte Großherzog Fried- waltungs- und Agrarreform, soziale Pro- reich, und er legt die Voraussetzungen für rich Franz II. unter dem Druck der Volks- bleme und die Entstaatlichung der Kirche. die kirchliche Organisation. Die Christiani- massen die Umwandlung Mecklenburgs in Überschuldete und unrentabel geworde- sierung Rügens gelingt erst 1168, als die einen konstitutionellen Staat verspro- ne Gutsbetriebe wurden aufgesiedelt und Dänen die Insel erobern. chen, und im April 1848 waren Vertreter an Siedler auch aus Westfalen, Oldenburg Wie in Mecklenburg erfolgt die deutsche aller Schichten des Volkes in Güstrow zu- und dem Emsland vergeben. Siedlungsbewegung aus dem Nieder- sammengetreten, um über die Repräsen- Die NSDAP erhielt 1932 eine knappe abso- rhein, Westfalen und Niedersachsen ent- tativverfassung ohne ständische Gruppie- lute Mehrheit, so daß die Einführung der lang der Küste. In die südlichen und öst- rungen zu beraten, aber im September NS-Diktatur 1933 ohne nennenswerten lichen Gebiete Pommerns gelangen Sied- 1850 wurde die alte ständische Verfassung Widerstand vor sich ging. Ein Staatsmini- ler auf dem Landweg aus Niedersachsen, wieder bestätigt. ster als Verwaltungsbeamter in besonde- Brandenburg, Obersachsen und Thürin- Im Jahre 1867 wurde die in Berlin prokla- rer Position genügte für ganz Mecklen- gen. Nur wenige Jahre später als in Meck- mierte Verfassung des Norddeutschen lenburg folgen hier Bistums- und Stadt- Bundes auch für beide Mecklenburg ver- gründungen. Die Hanse prägt das Leben bindlich. Nachdem Mecklenburg-Schwe- und die Beziehungen der Küstenstädte

56 Mecklenburg-Vorpommern und der Städte im Binnenland. Erstmals lipp Otto Runge. Hier wird ein neues Le- tum“ (Volkseigenes Gut, VEG) erklärt und wird hier eine gemeinsame Identität an bensgefühl auf der Grundlage einer voll vom Staat zur Saat- und Viehzucht sowie der Ostseeküste greifbar. Im Hansebund ausgebildeten norddeutschen Identität, in als Landwirtschaftsschulen genutzt. Von fanden die Städte und Kaufleute eine ge- der auch die Idee des gemeinsamen deut- 1952 bis 1960 wurden zwangsweise die meinsame Organisation, die bis ins 17. schen Vaterlandes bereits fest verankert selbständigen Bauern in Landwirtschaftli- Jahrhundert von Bedeutung war. ist, sichtbar. che Produktionsgenossenschaften (LPG) 1295 kommt es zur Teilung des Herzog- 1815 wird Pommern preußische Provinz. eingegliedert. Diese Kollektivierung war tums in Pommern-Wolgast, das 1325 das Es folgt ein bedeutender Modernisie- nach den Intentionen der SED die Vorstu- Fürstentum Rügen erwirbt, und Pom- rungsschub: Reformen in Verwaltung und fe zum geplanten „Sieg des Sozialismus mern-Stettin. Speziell Pommern-Wolgast Bildungswesen, Sozialreformen, Förde- auf dem Lande“. wird in den folgenden 200 Jahren mehr- rung von Handel, Gewerbe, Verkehrswe- Im Jahr 1947 wurde eine neue Landesver- fach geteilt. Polen, Dänemark, der Kaiser sen. Der Provinz Pommern stehen ein un- fassung in Kraft gesetzt, und im gleichen und Brandenburg wechseln in der Lehns- mittelbar dem preußischen Innenminister Jahr erfolgt die Unterstellung des Landes hoheit ab und machen ihre Ansprüche unterstellter Oberpräsident und Regie- unter die (ost-)deutsche Wirtschaftskom- geltend. rungspräsident vor. Die neue Verwal- mission und somit die Einführung eines Erst 1478 eint Herzog Bogislaw X. ganz tungsstruktur drängt erheblich den Ein- zentralistischen Prinzips. Die Politik richte- Pommern unter seiner Herrschaft. 1493 fluß der Stände zurück. te sich nach einem für die gesamte so- kann Pommern im Vertrag von Pyritz Die revolutionären Ereignisse des März wjetische Besatzungszone verbindlichen Brandenburg zur Aufgabe der Ansprüche 1848 fanden in Pommern geringen Nach- einheitlichen Themenplan, der nach Grün- auf Lehnshoheit bewegen. Allerdings klang. Die Wahlen zur Nationalversamm- dung der DDR 1949 ohne Schwierigkeiten bleibt der Anspruch für den Fall bestehen, lung und zum preußischen Abgeordne- in die neue zentralistische Regie überführt daß das Greifengeschlecht keinen männli- tenhaus gewannen – anders als in den bei- werden konnte, die ausschließlich in den chen Nachfolger habe, dies tritt 140 Jahre den Mecklenburg – die Konservativen. Händen der SED lag. später auch ein. Auch in späteren Wahlen zum Reichstag Das 1952 von der Volkskammer der DDR 1534 wird das reformatorische Bekenntnis und zum Preußischen Abgeordnetenhaus verabschiedete „Gesetz über die weitere eingeführt. Maßgeblichen Anteil an der siegten regelmäßig konservative Politiker. Demokratisierung des Aufbaus und der neuen Kirchenordnung hat Johannes Bu- (Und wenn man die Wahlen zum Landtag Arbeitsweise der staatlichen Organe in genhagen (1485-1558). und Bundestag im September 1998 heran- den Ländern der Deutschen Demokrati- Im ersten Nordischen Krieg (1563-1570) zieht, glaubt man sich bestätigt, Pommern schen Republik“ beendete die Eigenstän- bleibt Pommern offiziell neutral, doch sei von Natur aus konservativ.) digkeit der Länder. versorgen die pommerschen Städte die Schweden mit Waffen und Proviant. Hier Ein Kind der Sowjetischen Die Aufteilung in die Bezirke beginnt die Interessengemeinschaft mit Militäradministration Rostock, Schwerin und Schweden, die auch völkerrechtlich ab Neubrandenburg 1648 fixiert wird, als Vorpommern für fast Nachdem nach Kriegsende 1945 Hinter- 200 Jahre an Schweden fällt, während pommern und Stettin ins polnische Staats- Das Land Mecklenburg(-Vorpommern) Brandenburg Hinterpommern erhält. gebiet eingegliedert worden waren, wurde in die Bezirke Rostock, Schwerin 1625 gelingt es Herzog Bogislaw XIV. wurde Vorpommern Mecklenburg ange- und Neubrandenburg aufgeteilt, die Be- nochmals, die Einheit Pommerns herzu- gliedert und die Sowjetische Militäradmi- zirke Schwerin und Neubrandenburg wur- stellen. Doch schon 2 Jahre später besetzt nistration in Deutschland (SMAD) gründe- den um Landkreise des ehemaligen Lan- Wallenstein Pommern, 1630 folgen die te das Land Mecklenburg-Vorpommern. des Brandenburg erweitert. Jeder Bezirk Schweden und 1637 erlischt mit Bogislaws Schon im Verlauf des Zweiten Weltkrieges erhielt ein „Parlament“ (Bezirkstag) auf Tod das Greifengeschlecht. Brandenburg hatte eine große Wanderungsbewegung der Basis der eingefrorenen und admini- meldet sofort seine Ansprüche auf Pom- eingesetzt und zum starken Anstieg der strativ angepaßten Wahlergebnisse von mern aus dem Vertrag von Pyritz an. 1679 Bevölkerungszahl in Mecklenburg und 1946, in dem die von der Volkskammer ge- besetzt es die östliche Odermündung, Vorpommern geführt. Vor allem aus Ham- faßten Beschlüsse und die zum Gesetz er- 1719 Usedom, Wollin, Demmin, Stettin burg, Berlin und dem Ruhrgebiet waren hobenen Volkswirtschaftspläne an die Ge- und Anklam (Preußisch-Vorpommern). Ausgebombte und Evakuierte ins Land gebenheiten der Bezirke angepaßt wur- Trotz verschiedener militärischer Erfolge gekommen. Seit Anfang 1945 folgten den. Die neuen Bezirksstädte nahmen an kann Preußen Schwedisch-Vorpommern Flüchtlingsströme aus dem Osten, die bis Bedeutung und Einwohnerzahl zu. erst 1815 seinem Gebiet einverleiben. Auf weit in die 50er Jahre anhielten. Die Be- Der Bezirk Rostock mit seiner überdimen- dem Wiener Kongreß wird dem Abkauf völkerungszahl verdoppelte sich inner- sionalen Ausdehnung von der Lübecker des Gebietes für 3,5 Mio Taler von Schwe- halb kürzester Zeit. Der Anteil der Flücht- Bucht bis zum Oderhaff entsprach in sei- den zugestimmt. linge und Vertriebenen lag in Mecklen- ner homogenen Strukturierung als mariti- burg und Vorpommern bei etwa 40 % der me Wirtschaftsregion und attraktives Tou- Ein gemeinsames norddeutsches Gesamtbevölkerung. Das industriell we- rismus- und Erholungsgebiet ganz und Lebensgefühl durch Hanse und nig entwickelte Land bot außerhalb der gar den Interessen einer eigenständigen napoleonische Besetzung Landwirtschaft kaum Arbeits- und Ent- DDR. Rostock zählte zu ihren wichtigsten wicklungsmöglichkeiten, und die Bevölke- Städten. Zum Aufbau der Industrie, insbe- Während der napoleonischen Besetzung rungsbewegung ging in Richtung Westen sondere im Raum Rostock, kamen zahlrei- Pommerns bereitete sich ein neues, ge- kontinuierlich weiter. che Arbeitskräfte aus dem Süden der DDR samtnorddeutsches Lebensgefühl vor. Das Ergebnis der Landtagswahl vom Okto- in den Nordbezirk. Zentralistisch wurde Mecklenburg und Pommern hatten als ber 1946, der die Zwangsvereinigung von das Land industrialisiert. Bei der Ansied- Operationsfeld für die Lützowschen und KPD und SPD vorausgegangen war, (SED lung von Industrie spielten die Erforder- Schillschen Freischaren einen hervorra- 49,5 %, CDU 34,1 %, LDP 12,5 %, VdgB nisse der DDR die Hauptrolle: Die Werften genden Anteil an den Freiheitskriegen. In 3,95 %) diente fortan als Verteilerschlüssel lieferten Schiffe an die Sowjetunion (an- Schwedisch-Pommern hatte sich inzwi- aller folgenden Wahlen. fangs Reparationsleistungen) und produ- schen ein Verinnerlichungspotential ent- Mit der Bodenreform von 1945/46 wurden zierten für die Kriegsmarine, Ansiedlung wickelt, das seinesgleichen sucht. Es präg- alle Güter über 100 ha Fläche entschädi- von Rüstungsindustrie (Neubrandenburg) te sich aus in Ernst Moritz Arndts Worten gungslos enteignet und zu zwei Dritteln und Zulieferern, daneben entstanden Be- vom Gott, der Eisen wachsen ließ und als Neubauernstellen an ehemalige Land- triebe, die landwirtschaftliche Produkte keine Knechte wollte, in den Landschafts- arbeiter, Flüchtlinge und Vertriebene über- verarbeiteten. räumen von Caspar David Friedrich und eignet. Diese agrarische Umstrukturie- den hoffnungsvollen Gestalten von Phi- rung betraf 54 % der landwirtschaftlichen Nutzfläche. 80 Güter mit einer Fläche von etwa 60 000 ha wurden zum „Volkseigen-

Mecklenburg-Vorpommern 57 Am 26. Mai 1952 wurde auch entlang der lang. Man meinte damit das Bismarck- her nicht herausgebildet, deshalb sind Demarkationslinie zwischen Mecklenburg Wort, wonach in Mecklenburg alles 50 auch Prognosen für künftige Entscheidun- und der Bundesrepublik Deutschland eine Jahre später käme, widerlegt zu haben gen vage. 5-km-Sperrzone errichtet. In mehreren und blickte zu optimistisch in eine Zu- Aktionen wurden als politisch unzuverläs- kunft, die schnellen Anschluß an das Le- Eine sanfte Gemeindereform sig geltende Bewohner ausgewiesen. bensniveau der alten Bundesländer brin- Seit Beginn der 80er Jahre verschärften ge. Als das Land Mecklenburg-Vorpommern sich die wirtschaftlichen und gesellschaft- Doch die nach zentralistisch-planwirt- am 3. Oktober 1990 wiederbegründet lichen Widersprüche in der DDR in ständig schaftlichen Vorgaben gegründeten Be- wurde, gab es 6 kreisfreie Städte (größte: zunehmendem Tempo und drängten nach triebe waren für die Marktwirtschaft nicht Rostock mit 221 000 Einwohnern) sowie Veränderungen. gerüstet. Sprunghaft stieg die Arbeitslo- 1 117 kreisangehörige Städte und Ge- Die erste Großdemonstration mit der For- sigkeit an. Bis Mitte 1991 hatten sich die meinden in 31 Landkreisen. Über 90 % der derung nach umfassenden Reformen in Arbeitsplätze in der Landwirtschaft um Gemeinden zählten weniger als 2 500 Ein- der DDR fand am 2.10.1989 in Leipzig statt knapp 110 000 verringert (von 180 000 auf wohner, über 50 % weniger als 500 Ein- und hatte eine auslösende Wirkung auch 71 400). Als dann zu Jahresbeginn 1992 wohner. Die Landkreise umfaßten im auf die mecklenburgischen Bezirksstädte. die Arbeitslosenquote über 17 % lag und Durchschnitt 40 000 Einwohner, in der Diese Großdemonstrationen erzwangen die Zukunft der Werften gefährdet war, kleinsten Kreisstadt Sternberg lebten die Wende in der DDR und mit der Auflö- rollte eine massive Streikwelle gegen die knapp 5 000 Menschen. sung der Bezirke und nach den ersten frei- Landesregierung an. Das ursprüngliche Die Reform der Gemeindeverwaltungs- en Wahlen seit über einem halben Jahr- Konzept der Landesregierung, keine Ver- struktur wurde erforderlich, weil die örtli- hundert auch die Wiedereinführung der bundlösung bei der Werftenprivatisierung chen Verwaltungen in zahlreichen kleine- föderalistischen Struktur durch die Neu- anzustreben, wurde abgelehnt. Minister- ren Gemeinden den fachlichen An- errichtung des Landes Mecklenburg-Vor- präsident Dr. trat auf dem sprüchen nicht mehr gerecht wurden, pommern als Bundesland der Bundes- Höhepunkt der Werftenkrise zurück. Die gleichwohl aber große Anteile der Finanz- republik Deutschland. Regierungskrise konnte jedoch mit der kraft beanspruchten. Wirklichen Widerspruch gegen die Wie- Wahl von Dr. zum neuen Mi- Man entschied sich dennoch bewußt für derbegründung eines gemeinsamen Bun- nisterpräsidenten nach nur 3 Tagen über- die historisch gewachsene Gemeinde- deslandes Mecklenburg-Vorpommern gab wunden werden. Die neue Landesregie- struktur und Erhaltung der Selbstverwal- es weder 1990 noch später, auch wenn ei- rung beugte sich dem Druck von Streiken- tung in den Gemeinden. Gebündelt wur- nige wenige Pommern, die zumeist nicht den und Gewerkschaften und wählte die den lediglich die Verwaltungen in etwa in Vorpommern lebten, aufriefen, sich Verbundlösung. (4 Jahre später in der 2. 120 Ämtern auf der Grundlage der Amts- einem gemeinsamen Bundesland zu wi- Werftenkrise erwies sich, daß diese Ent- ordnung von 1992. Etwa 5 800 Einwohner dersetzen und öffentlich erklärten, die scheidung falsch war.) gehören zu einem Amt. Die amtsan- Vorpommern hätten eher gemeinsame Nach der Landtagswahl vom 16. Oktober gehörigen Gemeinden behalten uneinge- Wurzeln mit Brandenburg. Allerdings 1994 bildeten CDU (37,7 %) und SPD schränkt ihre eigene Rechtspersönlichkeit wurden diese Gedanken beim Gesetz zum (29,5 %) eine Koalitionsregierung. Als ein- sowie Beschluß- und Entscheidungsver- großen Landeswappen mit herangezo- zige Oppositionspartei verblieb die PDS im antwortung in Angelegenheiten des eige- gen. So zeigt dieses heute auf gevierteil- Landtag mit 22,7 % Zweitstimmen. Grüne nen Wirkungskreises. Die Ämter sind le- tem Wappenschild neben den beiden (3,7 %) und F.D.P. (3,8 %) scheiterten an diglich mit der verwaltungstechnischen mecklenburgischen Stierköpfen und dem der 5 %-Klausel. Vorbereitung und Durchführung dieser pommerschen roten Greif den roten bran- Auf dem Höhepunkt der 2. Werftenkrise Aufgaben befaßt. denburgischen Adler, um „die enge histo- („Vulkanpleite“) im Frühjahr 1996 schien Aus den ehemaligen 31 Landkreisen wur- rische Verbindung zu Brandenburg“ zu die Koalition zu zerbrechen. Massiver den 1994 12 neue Landkreise mit durch- dokumentieren. Druck aus Bonn verhinderte eine SPD-PDS- schnittlich 100 000 Einwohnern gebildet. Echte Spannungen aber zwischen Meck- Koalition. Bis zum Ende der Legislatur Dabei hielt man sich nicht an die histori- lenburg und Vorpommern gibt es nicht. stellten CDU und SPD die Landesregie- sche Grenze zwischen den Landesteilen. Und wenn gelegentlich die Vorpommern rung, obwohl die Gemeinsamkeiten auf- Keiner der dafür angeführten Gründe ist ihre Zurücksetzung im gemeinsamen Bun- gebraucht waren und die Koalitionäre im einleuchtend. Die Aufregung hierüber hat desland beklagen wegen angeblich zu Landtag mehrmals unterschiedlich und jedoch sicher die Suche nach gemeinsa- großer Ferne zur Landeshauptstadt und gegeneinander abstimmten. mer Landesidentität von Vorpommern damit nicht genügender Förderung des Im Ergebnis der Landtagswahlen vom 27. und Mecklenburg nicht gefördert. Landesteils, so haben die Maßnahmen der September 1998 (SPD = 34,3 %, CDU = Auf Direktwahlen für Bürgermeister, Landesregierung in den letzten 8 Jahren 30,2 %, PDS = 24,4 %, Bündnis 90/Die Oberbürgermeister und Landräte wurde dieses Argument ad absurdum geführt. GRÜNEN = 2,7 %, F.D.P. = 1,6 %) konstitu- bei der Kommunalwahl 1994 verzichtet. Die Menschen in beiden Landesteilen sind ierte sich eine SPD-PDS-Landesregierung Erst mit der Kommunalwahl 1999 werden auf dem Weg, ihre gemeinsame Identität unter Ministerpräsident Dr. Harald Ring- ehrenamtliche Bürgermeister direkt ge- zu finden. storff als erste im vereinten Deutschland. wählt, hauptamtliche Bürgermeister und Auf absehbare Zeit werden im Landtag Landräte erst ab 2002. Das wird die Positi- Die Regierungsbildung gelang hier von Mecklenburg-Vorpommern nur diese on der Bürgermeister und Landräte stär- nach der Wende am schnellsten 3 Parteien vertreten sein. Die Landesver- ken. Der Gesetzgeber begründete damals, bände von F.D.P. und Bündnis 90/Die GRÜ- die Bürger und Bürgerinnen seien 1994 Am 14. Oktober 1990 fanden die ersten NEN haben nur wenige Hundert Mitglie- hierzu noch nicht reif, nachdem Jahrzehn- Landtagswahlen nach der deutschen Ver- der, und es fehlt das entsprechende te Zentralismus Verhaltensweisen geprägt einigung statt. Die CDU erhielt 38,3 % der Wählerpotential. Mitgliederstärkste Par- hätte. Doch ging es bei dieser Entschei- Stimmen, die SPD 27,0 %, die PDS 15,7 % tei ist mit 10 600 die PDS, gefolgt von dung eher um Machtpositionen der Par- und die F.D.P. 5,5 %. Der Einzug der Grü- der CDU mit 8 300 und der SPD mit etwa teien, die eigene Personalentscheidungen nen in den Landtag scheiterte mit 4,2 %. 3 500 Mitgliedern. Rechtsradikale Parteien so besser durchzusetzen glaubten. Den- Mit nur 1 Stimme Mehrheit wurde eine (NPD, DVU und Republikaner) suchen ver- noch konnten gerade in den kreisfreien Koalitionsregierung aus CDU und F.D.P. stärkt im Land Fuß zu fassen, blieben bei Städten Oberbürgermeisterinnen und schon am 27. Oktober 1990 gebildet. den Wahlen bisher glücklicherweise zu- Oberbürgermeister starke Positionen aus- Die Mehrheit der Bürger und Bürgerinnen sammen immer unter 5 %. Feste Parteibin- bauen. war stolz, daß hier die Regierungsbildung dungen und Wählermilieus haben sich bis- als erste in den neuen Bundesländern ge-

58 Mecklenburg-Vorpommern Der Geist der friedlichen Revolution Elemente in den Artikeln 59 und 60 der In den 8 Jahren seit der deutschen Einheit in der Landesverfassung Landesverfassung verankert. Eine Volks- ist es bisher nicht gelungen, die wirt- initiative muß von mindestens 15.000 schaftlichen Monostrukturen zu durch- Die Verfassung vom 23. Mai 1993 ist nicht Wahlberechtigten (etwa 1 %) unterzeich- brechen. Viel wurde bisher in den Ausbau die erste demokratische Verfassung in net sein, ein Volksbegehren von 140 000. der Infrastruktur investiert, neue und Mecklenburg-Vorpommern. 1919 und Haushalts-, Abgaben- und Besoldungsge- tragfähige Produktionen konnten jedoch 1920 gaben sich die beiden mecklenburgi- setze können nicht Gegenstand eines nicht flächendeckend angesiedelt wer- schen Freistaaten eine Verfassung, für Volksbegehrens sein. Ein Gesetzesentwurf den. Ein selbsttragender Aufschwung Pommern galt ab 1920 die preußische ist durch Volksentscheid angenommen, zeichnet sich bisher nicht ab, und so Verfassung. 1947 beschloß der damali- wenn die Mehrheit der Abstimmenden, schwankt die Stimmung zwischen Resi- ge Landtag eine Verfassung für Meck- mindestens aber ein Drittel der Wahlbe- gnation („Armenhaus Deutschlands“) und lenburg-Vorpommern. Entgegen dem rechtigten zugestimmt hat. (Ausnahme: Euphorie („Bayern des Nordens“ mit Pro- Wunsch von sowjetischer Besatzungs- Verfassungsänderungen sind nur mit duktionsstätten des Airbus A 3 XX und macht und SED enthielt sie neben Staats- Zweidrittelmehrheit bzw. Hälfte der Transrapid). organisationsvorschriften auch die Grund- Wahlberechtigten möglich.) rechte. Ihre Aufnahme konnten CDU und Die Verfassung wurde am 14. Mai 1993 in Mecklenburg-Vorpommern – LDP gegen Besatzungsmacht und SED namentlicher Abstimmung mit den Ge- ein attraktives Urlaubsziel durchsetzen, mußten aber dafür in Kauf genstimmen der PDS vom Landtag be- nehmen, daß bereits deutliche Ansätze schlossen und trat am 23. Mai 1993 vor- Mecklenburg-Vorpommerns Attraktivität für eine sozialistische und zentralistische läufig in Kraft. Am 12. Juni 1994 stimmten für Urlaub und Freizeit liegt zum einen in Entwicklung fixiert wurden. Diese Verfas- die Bürgerinnen und Bürger über die An- dem gesunden naturräumlichen Poten- sung galt bis zur Auflösung der Landes am nahme der Verfassung in einem Volksent- tial, der landschaftlichen Ausstattung, 25. Juli 1952. scheid ab. 60,1 % votierten für die Verfas- dem Klima an den Küsten- und Boddenge- Im November 1990 setzte der Landtag sung (Wahlbeteiligung: 65 %). Mit Be- wässern und seinem reichen interessanten eine „Kommission für die Erarbeitung der endigung der ersten Wahlperiode im Ok- kulturgeschichtlichen Erbe. Landesverfassung“ ein. Mitglieder der tober 1994 trat sie endgültig in Kraft. Wesentliche Grundlage des touristischen Verfassungskommission waren nicht nur Angebots im Land ist die natürliche At- Abgeordnete des Landtags, sondern auch Der schwierige Weg in die traktivität und Erholungseignung vieler vier von den Fraktionen (je Fraktion einer) Marktwirtschaft – nicht mecklenburgisch-vorpommerscher Land- benannte Sachverständige sowie ein Mit- selbsttragender Aufschwung schaften, die in ihrer Kombination und glied der Partei Die GRÜNEN, ein Mitglied Weitläufigkeit diesem Land eine herausra- der Bürgerbewegung, ein Mitglied der Ar- 1990 stand Mecklenburg-Vorpommern gende Position geben: den Gewässern beitsgruppe „Vorläufige Verfassung“ der vor besonderen Herausforderungen beim (Küsten-, Bodden- und Binnengewässern „Runden Tische“ der Bezirke Rostock, Übergang von einer sozialistischen Plan- mit der ihnen eigenen Schönheit und Schwerin und Neubrandenburg aus der wirtschaft zu marktwirtschaftlichen Ver- ihrer Eignung zum Baden und vielfältigen Wendezeit der DDR und ein Mitglied des hältnissen. Schwerpunkte der Wirtschafts- Wassersport) sowie dem relativ stark be- Regionalausschusses. struktur waren Land- und Ernährungs- wegten Relief in Verbindung mit ab- Vorangestellt ist der Verfassung eine wirtschaft und Schiffbau. Diese Mono- wechslungsreicher Bewaldung und Vege- Präambel, die als Auslegungs- und Orien- struktur prägt noch heute die Wirtschaft tation und weiten Blicken in großräumig tierungshilfe für das Verständnis der Ver- und auf ihr basiert ihre Krisenanfälligkeit. unzerschnittene und schwach besiedelte fassung gedacht ist und deutlich macht, Von ehemals 6 Werften, die fast aus- Landschaften. daß die Verfassung an die Werte und Ziel- schließlich für die Sowjetunion produzier- Mecklenburg-Vorpommern blickt auf eine vorstellungen der friedlichen Revolution ten, konnten 4 erfolgreich privatisiert, mehr als 200jährige Tradition im Fremden- an 1989 anknüpft. Sie bekennt sich zu den umstrukturiert und modernisiert werden: verkehr zurück. Nach Gründung des er- Grundrechten der Würde und Freiheit des Aker MTW Wismar, die Kvaerner Warnow sten deutschen Seebades Heiligendamm Menschen als Rechten, die ihm von Natur Werft, die zur A. P. Möller-Gruppe ge- im Jahre 1793 entwickelten sich bald wei- aus zustehen und die der Staat deshalb zu hörende Volkswerft Stralsund und die tere Seebäder entlang der mecklenburgi- schützen hat. Auch die Formulierung der Peene-Werft. Mit ihnen verfügt Mecklen- schen und vorpommerschen Ostseeküste. Grundrechte und Staatsziele atmet den burg-Vorpommern heute über die mo- Schon früh bildeten sich auch Ansätze Geist der friedlichen Revolution von dernsten und wettbewerbsfähigsten zum Fremdenverkehr abseits der Küste, 1989/90. So ist in Artikel 3 etwa formu- Werften in Europa. Die Auftragsbücher insbesondere im Bereich der Mecklenbur- liert: sind voll, es könnten mehr Schiffe gebaut gischen Seenplatte. „Parteien und Bürgerbewegungen wirken werden; dem stehen jedoch die EU-Kapa- Die Gründerjahre und die Jahrhundert- bei der politischen Willensbildung des zitätsbegrenzungen entgegen. Die Men- wende hinterließen ihre Spuren bis heute Volkes mit.“ schen in Mecklenburg-Vorpommern sind in der typischen Bäderarchitektur der Ho- Artikel 11 legt das Land fest auf die Mit- stolz darauf, daß hier gebaute Schiffe tels und Pensionen entlang der Ostseekü- wirkung an der Verwirklichung der eu- weltweit geschätzt werden; aber mit ste. ropäischen Integration und Förderung der Wehmut und Erbitterung nehmen sie zur Seit 1990 ist es gelungen, die Beherber- grenzüberschreitenden Zusammenarbeit Kenntnis, wieviele Arbeitsplätze gerade gungskapazitäten qualitativ und quanti- speziell im Ostseeraum, die auch intensiv im Schiffbau seit 1990 im Zuge der Moder- tativ auszubauen. Waren es bis 1990 jähr- mit Polen und den baltischen Staaten ge- nisierung und Umstrukturierung verloren lich 1 168 000 Gästeübernachtungen in pflegt wird. gingen. teils maroden Unterkünften und auf ein- In Artikel 20 wird die Zahl der Landtags- Zu Zeiten des geschlossenen sozialisti- fachen Zeltplätzen, so stehen dem heute abgeordneten auf „mindestens 71“ fest- schen Wirtschaftssystems war Rostock 11 Mio. in komfortablen Beherbergungs- gelegt. Überhang- oder Ausgleichmanda- nicht nur für die DDR, sondern auch Un- stätten gegenüber. Um witterungsunab- te sind möglich. Gebrauch davon wurde garn und die ehemalige CSSR das „Tor zur hängig zu werden, sind Freizeit- und Er- bisher nicht gemacht. Nach dem Wahlge- Welt“. Heute sind Rostock und die ande- holungsmöglichkeiten geschaffen und setz vom Dezember 1993 werden 36 Man- ren Ostseehäfen „nur“ noch für die Schif- ausgebaut worden, die saisonverlängernd date durch die Erststimme vergeben, 35 fahrt auf der Ostsee von Bedeutung, die wirken. Mecklenburg-Vorpommern be- durch Verhältniswahl aus den Landesli- deutschen Überseehäfen sind Hamburg legt nach Bayern heute den 2. Platz unter sten der Parteien. und Bremen. Die Hafenwirtschaft konnte den deutschen Urlaubsländern. Volksinitiative, Volksbegehren und Volks- trotz zunehmendem Waren- und Perso- entscheid sind als direktdemokratische nenverkehr zwischen den Ostseeanrai- nern die Verluste nicht kompensieren.

Mecklenburg-Vorpommern 59 Jeder Landesteil hat seine eigene nicht etwa wie das SED-Zentralorgan Das Wappen: Universität Neues Deutschland massive Abonnen- teneinbrüche, sondern konnten eher zule- Das große Landeswappen von Mecklen- Die beiden Universitäten des Landes in gen. Falsch wäre es jedoch, aus diesem burg-Vorpommern zeigt einen viergeteil- Rostock (knapp 10 000 Studenten) und treuen Abonnentenstamm Ostalgie abzu- ten Schild. Der Stierkopf auf goldenem Greifswald (etwa 5 500) haben 600 Jahre leiten. Diese Regionalzeitungen (heute Grund im linken oberen und im rechten europäische Universitätsgeschichte mitge- gehören sie Burda und Springer) infomie- unteren Feld symbolisiert die beiden ehe- schrieben. Wenn sie auch 1990 manchen ren aus und für die Region. Und sie weisen maligen Herzogtümer Mecklenburg- Nachholbedarf durch über 50jährige Ab- darauf hin, daß zwischen 1952 und 1990 Schwerin und Mecklenburg-Strelitz. Im schottung zu DDR-Zeiten hatten und er- doch eine gewisse Identifikation der Men- rechten oberen Feld befindet sich der rote hebliche Mittel für Anschaffungen nötig schen mit „ihrem“ DDR-Bezirk als gemein- pommersche Greif auf silbernem Grund. waren, sind es heute moderne Universitä- samem Lebensraum wuchs. das Wappen des Herzogtums Pommern. ten, an denen sich auch zunehmend Stu- Versuche von Zeitungsneugründungen Der rote brandenburgische Adler auf sil- dentinnen und Studenten der alten Bun- nach der Wende, etwa dem Mecklenbur- bernem Grund im linken unteren Feld desländer immatrikulieren lassen. ger Aufbruch sind mangels Nachfrage ge- steht für die schicksalhafte Verbindung Zwei Universitäten für ein kleines Bundes- scheitert. Pommerns mit Brandenburg. Das große land mit geringem Steueraufkommen Artikel 36 des Einigungsvertrages be- Landeswappen wird vom Landtag, Land- sind eine große finanzielle Belastung. stimmte, daß bis zum 31. Dezember 1991 tagspräsidenten und Ministerpräsidenten, Doch jegliche Pläne der Landesregierung, die alte Rundfunk- und Fernsehstruktur von den Ministern sowie vom Bevollmäch- Schwerpunkte an den beiden Universitä- aufzulösen und in Anstalten des öffent- tigten des Landes beim Bund und von den ten zu setzen und nicht jeden Fachbereich lichen Rechts einzelner oder mehrerer anderen oberen Landesbehörden geführt. an beiden Standorten vorzuhalten, schei- Länder zu überführen seien. Wie die Län- nen am aufgeregten Protest der Studen- der Sachsen, Thüringen und Sachsen-An- ten und des Lehrkörpers zu scheitern. halt sich für den MDR entschieden, war Neben universitären Gründen gegen die für Berlin, Brandenburg und Mecklen- Schließung von Fachbereichen wird auch burg-Vorpommern eine gemeinsame An- das Argument ins Feld geführt, man dürfe stalt angedacht. Doch die Mehrheit hier in keinem Landesteil eine Universität be- wünschte sich den NDR. Sicher führte par- schneiden, dies störe das Zusammenwach- teipolitisches Kalkül die Debatten im sen von Mecklenburg und Vorpommern. Landtag. Aber die Mehrheit der Men- Daneben gibt es in Rostock die Hochschu- schen im Land votierte auch für den NDR, le für Musik und Theater (300 Studenten), weil man gesamtnorddeutsch fühlte und 3 Fachhochschulen in Neubrandenburg, zudem so seine Abneigung gegen Berlin Stralsund und Wismar mit zusammen (Ost) dokumentieren konnte. Mecklen- 5 400 Studierenden und die Fachhoch- burg-Vorpommern trat somit zum 1. Janu- schule für öffentliche Verwaltung und ar 1992 dem NDR-Staatsvertrag bei. Damit Rechtspflege Güstrow (700 Studenten). ist der NDR die einzige öffentlich-recht- Literaturhinweise Mit 21 000 Studenten und einem Hoch- liche Rundfunkanstalt, die die Grenze zwi- schulpersonalbestand von 12 000 Perso- schen alten und neuen Bundesländern 1. Werz, N./Schmidt, J. (Hg.): Mecklenburg-Vor- nen ist somit Mecklenburg-Vorpommern überschreitet. Doch heute, 7 Jahre nach pommern im Wandel. Bilanz und Ausblick. ein angemessener Hochschulstandort. der Entscheidung für den NDR, scheint München 1998. Die Forschung der Universitäten und qua- diese ost-west-übergreifende Anstalt in 2. Schwabe, K.: Arroganz der Macht. Herr- lifiziertes Personal müssen zukünftig di- Frage gestellt zu werden. Im Zuge einer schaftsgeschichte von KPD und SED in Meck- rekt auf die Wirtschaft des Landes wirken. (auch politisch motivierten) Ostalgie wer- lenburg und Vorpommern 1945–1952. Schwe- rin 1997. Dazu wurden Projekte und Partnerschaf- den die Stimmen laut, die im Zuge einer 3. Schwabe K.: Zwischen Krone und Haken- ten gerade in der letzten Zeit initiiert. Kultivierung von DDR-Identität ein Ende kreuz. Sindelfingen 1994. dieser „grenzübergreifenden“ Rundfunk- 4. Langer, H.: Leben unterm Hakenkreuz. Alltag Medienlandschaft in anstalt wünschen. Die Programmdirekto- in Mecklenburg 1932–1945. Bremen und Ro- Mecklenburg-Vorpommern ren haben sicher die Chance vertan, die stock 1996. 5. Landeszentrale für politische Bildung Meck- gemeinsame Rundfunk- und Fernsehland- lenburg-Vorpommern (Hg.): Historischer und Auf die Frage, wo heute im Lande noch schaft in den Dienst der inneren Einheit geographischer Atlas von Mecklenburg und am deutlichsten alte DDR-Strukturen faß- Deutschlands zu stellen. Pommern, 2. Bd. Schwerin 1995 und 1996. bar sind, muß man auf die Presseland- Daneben gibt es mit Antenne MV und 6. Buske, N.: Kurzer Abriß der Vorpommerschen schaft verweisen. Die Hauptverbreitungs- Ostseewelle zwei landesweite private Verfassungsgeschichte. Schwerin 1994. 7. bei der Wieden, H.: Kurzer Abriß der Meck- gebiete der drei Zeitungen im Land mit Rundfunkanstalten. lenburgischen Verfassungsgeschichte. Schwe- Regionalbezug (Schweriner Volkszeitung, rin 1994 Ostsee-Zeitung, Nordkurier) entsprechen 8. Schwabe, K.: Mecklenburgische und vorpom- in etwa den ehemaligen DDR-Bezirken mersche Identität. Mentalitäten und Befind- Schwerin, Rostock und Neubrandenburg. lichkeiten, Schwerin 1996. Diese Zeitungen, die aus den SED-Bezirks- zeitungen hervorgingen, verzeichneten

Anschrift: Landeszentrale für politische Bildung des Landes Mecklenburg-Vorpommern, Jägerweg 2, 19053 Schwerin

60 Mecklenburg-Vorpommern Zwischen Ems und Elbe, zwischen Harz und Meer Das vielgestaltige Relief des Berg- und Hügellandes im Süden bildet den Über- gang des Norddeutschen Tieflandes zu Niedersachsen den deutschen Mittelgebirgen. Aus ihnen steigt als geschlossener Gebirgskörper der Harz auf, dessen westlicher Bereich, der Oberharz, zum größten Teil in Niedersach- sen liegt. Hier bieten die Abhänge von Von Peter Hoffmann Wurmberg (971 m), Bruchberg (927 m) und Achtermann (926 m) ein viel genutz- tes Wintersportgelände. Diese naturlandschaftliche Gliederung be- stimmt die Verteilung der Bevölkerung, die Standorte der Industrie und des Berg- Das zweitgrößte Bundesland Die Flüsse, unter ihnen Ems, Weser und baus, die Anlage des Verkehrsnetzes Elbe, durchziehen das Land von Süden sowie die Struktur der Land- und Forst- Niedersachsen erstreckt sich auf einer nach Norden bzw. Nordwest und sind wirtschaft. So finden sich neben nahezu Fläche von 47 609 km2 von der Nordsee bis wichtige Wasserstraßen, die das deutsche unberührten Heide- und Moorflächen zum Harz und Weserbergland und vom Binnenland mit der Nordsee und ihren Ha- Verdichtungsräume mit moderner Indu- Emsland bis zur Elbe. Es ist mit einem An- fenplätzen verbinden. strie und großstädtische Zentren. Von den teil von 13,3 % der Fläche der Bundesre- Der 300 km langen Nordsee-Festlandsküste neun Bevölkerungsschwerpunkten liegen publik Deutschland das zweitgrößte und sind die sieben Ostfriesischen Inseln vorge- mit Ausnahme von Oldenburg und Wil- mit seinen 7,8 Millionen Einwohnern das lagert, von See und Wind aufgebaute San- helmshaven die übrigen sieben – Landes- viertgrößte unter den 16 Bundesländern, dablagerungen, deren Klima und Vegetati- hauptstadt Hannover, Braunschweig, Os- von denen es mit den beiden Stadtstaaten on von der Meeresnähe bestimmt werden. nabrück, Göttingen, Hildesheim, Wolfs- Hamburg und Bremen sowie mit Hessen, Zwischen den Inseln und der Festlandskü- burg und Salzgitter – im südlichen Drittel Nordrhein-Westfalen, Schleswig-Holstein, ste liegt das Wattenmeer, das zweimal täg- des Landes. Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg, lich überflutet wird. Küstenschutz und Schon immer ist Niedersachsen wegen sei- Sachsen-Anhalt und Thüringen gemeinsa- Deichbau bedürfen hier besonderer Auf- ner geographischen Lage und der Anord- me Grenzen hat. Die Grenze zum Nach- merksamkeit und Sorgfalt, um das „Land nung seiner Großlandschaften ein wich- barland Niederlande verläuft über 189 km hinterm Deich“, von denen Teile wie das tiges Durchgangsland innerhalb Deutsch- durch schwach besiedelte Moor- und Freepsumer Meer und der Wynhamster lands und Europas gewesen. Durch die Marschgebiete (Bourtanger Moor). Kolk bis zu 2,3 m unter dem Meeresspiegel deutsche Teilung vorübergehend in eine Das industrie- und städtearme Tiefland liegen, vor „Land unter“ zu bewahren. Randlage gedrängt, ist Niedersachsen läßt in weiten Teilen des Landes die Zahl Entlang der unter dem Einfluß der Gezei- nach der Öffnung der Grenze wieder in der Einwohner zum Teil unter 80 je Qua- ten stehenden Unterläufe von Ems, Weser seine zentrale Lage zwischen Nordeuropa dratkilometer sinken, und so nimmt Nie- und Elbe zieht sich die ebene und waldlo- und dem mittel- und westeuropäischen dersachsen unter den Bundesländern vor se Marschlandschaft weit ins Binnenland Raum gerückt. Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg hinein. Die anschließende Geest, ein 100 und Sachsen-Anhalt die 13. Position hin- bis 170 km breites Altmoränengebiet, das Sachsenkriege, Sachsenkönige und sichtlich der Bevölkerungsdichte ein. von eiszeitlichen und nacheiszeitlichen der Zerfall des Herzogtums Die Mannigfaltigkeit der physisch-geogra- Sand- und Kiesablagerungen geformt Das Land Niedersachsen umfaßt weitest- gehend die Stammesgebiete der Sachsen und Friesen. Vom 2. bis 7. Jahrhundert dehnten die Sachsen ihre Herrschaft in Nordwestdeutschland aus. Erst unter Karl dem Großen gelang es in äußerst langwie- rigen und grausamen Kriegszügen (Sach- senkriege 772-804), den Widerstand der Sachsen zu brechen, sie ins Frankenreich einzugliedern und einer Zwangsmissionie- rung zu unterwerfen. Erstaunlicherweise stellten die spät eingegliederten Sachsen bereits von 919 bis 1024 mit den Ottonen das Königsgeschlecht im ostfränkischen Reich. Auch unter anderen Herzögen blieb das Herzogtum Sachsen ein einheit- liches Gebilde. Der Zerfall und regionale Sonderentwicklungen setzten erst mit dem Sturz Heinrichs des Löwen 1180 ein. Fortan existierten drei territoriale Einhei- ten auf dem Boden des ehemaligen Stam- Neues Rathaus von Hannover. Foto: Peter Hoffmann mesherzogtums: Sachsen wurde in zwei Herzogtümer geteilt, während Heinrich phischen Verhältnisse seiner fünf natür- wurde und zum Teil von Niederungs- und der Löwe seine Eigengüter zwischen lichen Großlandschaften unterscheidet Hochmooren bedeckt ist, erstreckt sich bis Oberweser und Niederelbe behielt. Niedersachsen von anderen deutschen zum Bergvorland. Der schmale Streifen An der Küste bewahrten die Friesen seit Landesteilen. So umschließt es von Nor- des Bergvorlandes mit seiner geringen dem frühen Mittelalter ihre Selbständig- den nach Süden auf einer Entfernung von Höhenlage und nur wenigen größeren Er- keit. 1235 gründete Kaiser Friedrich II. das 290 km und einem Höhenunterschied von hebungen ist durch Lößdecken mit frucht- Herzogtum Braunschweig-Lüneburg für rund 1000 m die Küstenlandschaft, den baren, schwarzerdeähnlichen Böden so- die Nachkommen Heinrichs des Löwen Geestrücken, die Lößbördenzone, das wie zahlreichen wertvollen Bodenschät- und um 1300 wurde die Bezeichnung Berg- und Hügelland und den Harz. zen wie Erdgas und Erdöl, Stein- und Kali- salze, Eisenerze und Kohle sowie Ton- und Kalklagerstätten gekennzeichnet.

Niedersachsen 61 „Niedersachsen“ zum erstenmal für das besaß. Er bildete einen Sonderausschuß, Mit der Einheit entfiel auch die Grundlage Gebiet von der Schelde bis zur Elbe ver- der Vorschläge über den Neuaufbau der für die „Vorläufige Niedersächsische Ver- wendet. Um ihren Anspruch auf das ge- Länder in der britischen Zone Deutsch- fassung“, und im Jahr 1993 verabschiede- samte Gebiet des alten Herzogtums Sach- lands machen sollte . te der Niedersächsische Landtag eine sen zu unterstreichen, übernahmen die Während die Ministerpräsidenten von Neue Verfassung. In diesem Dokument Welfen 1361 das weiße Sachsenroß in Braunschweig und Oldenburg ihre Länder sind als Staatsziele u. a. Regelungen über rotem Felde in ihr Wappen, das im Volk erhalten wissen wollten, trat der hannover- den Schutz der natürlichen Lebensgrund- irrtümlicherweise für das Wappen des sche Ministerpräsident Hinrich Wilhelm lagen und über die Grund- und Men- alten Stammesherzogtums gehalten Kopf in einer Denkschrift entschieden für schenrechte mit Hervorhebung der wurde. die Schaffung eines Landes Niedersachsen Gleichberechtigung von Frauen und Män- Mit dem Niedersächsischen Reichskreis ent- ein. Es gelang ihm, den Zonenbeirat mehr- nern aufgenommen. Artikel 72 der Nie- stand 1512 eine für das deutsche Wahlkai- heitlich von seiner Konzeption zu überzeu- dersächsischen Verfassung verpflichtet sertum wichtige staatsrechtliche Einheit gen, die eine Dreiteilung der britischen den Staat, die kulturellen und historischen und 180 Jahre später wurde der Herzog des Zone in drei Flächenstaaten (Niedersach- Belange der ehemaligen Landesgliede- Fürstentums „Braunschweig-Lüneburg des sen, Nordrhein-Westfalen und Schleswig- rungen des neugeschaffenen Niedersach- calenbergischen Teils“, Ernst-August von Holstein) vorsah, dazu zwei Stadtstaaten sen zu wahren und zu fördern. Hannover, zum Kurfürsten ernannt. Durch (Bremen und Hamburg). General Typisch für Niedersachsen ist die Einheit in seine Heirat mit Sophie von der Pfalz, der Robertson, der britische Militärgouverneur, der Vielfalt, die durch gegenseitiges Re- einzigen protestantischen Enkelin König stimmte diesem Vorschlag von Kopf zu. spektieren bei einem gleichzeitig gleich- Jakobs I. von England, wurde ihr Sohn 1714 Der insbesondere von Oldenburg ausge- berechtigten Nebeneinander regional un- als Georg I. englischer König. Damit be- hende Widerstand gegen ein „Groß-Nie- terschiedlicher Mentalitäten von Heid- gann eine bis 1837 dauernde Personaluni- dersachsen“ blieb erfolglos. Mit der Ver- jern, Ostfriesen, Oldenburgern und Am- on zwischen England und Hannover, je- ordnung Nr. 55 vom 8. November 1946 merländern, protestantischen „Welfen“ doch keine staatsrechtliche Verbindung. entstand rückwirkend zum 1. 11. 1946 das aus Hannover, Braunschweig und Celle, Im 18. Jahrhundert erwarb das Kurfür- neue Land Niedersachsen, das aus dem katholischen Landwirten aus dem Olden- stentum die Herzogtümer Bremen und Zusammenschluß der Länder Hannover, burger Münsterland, VW-Arbeitern aus Verden sowie das Land Hadeln, im Westen Braunschweig, Oldenburg und Schaum- Wolfsburg oder Salzgitter und Wissen- die Grafschaft Bentheim und Osnabrück, burg-Lippe hervorging. Der am 9. Dezem- schaftlern aus Göttingen gekennzeichnet und der Wiener Kongreß brachte dem ber 1946 erstmals in Hannover zusammen- ist. Sie alle wahren ihre Eigenständigkeit nunmehr zum „Königreich Hannover“ er- getretene Landtag, dessen Mitglieder und Identität und wirken gleichzeitig in hobenen Land ab 1814 Ostfriesland, Hil- zunächst ernannt worden waren, wurde einem Netzwerk vielfältiger Austausch- desheim, Goslar, das Untereichsfeld und wenige Monate später durch den demo- und Kooperationsbeziehungen zusam- das Emsland. Dadurch stieg das König- kratisch gewählten ersten Landtag (20. 4. men. reich Hannover zur dominierenden Macht 1947) abgelöst. Aus diesen Wahlen ging Niedersachsentage, die im jährlichen im Nordwesten Deutschlands auf, bis es der Sozialdemokrat Wechsel von einer anderen Stadt ausge- 1866 von Preußen annektiert wurde. Ob- als Sieger hervor, und er wurde der erste richtet werden, sollen dazu beitragen, das wohl der Wille und das Bemühen um Ministerpräsident des neuen Landes Nie- „Niedersachsengefühl“ der 7,8 Millionen Wiederherstellung der Unabhängigkeit dersachsen. Einwohner, von denen 5,8 Prozent Auslän- („Welfenbewegung“) ungebrochen fort- Die Herausforderungen waren gewaltig, derinnen und Ausländer sind, zu stärken. lebten, blieb Hannover auch nach 1918 und zunächst hatte die Lösung der Seit den sechziger Jahren sind viele Men- preußische Provinz, während Braun- drückendsten Alltagsprobleme Vorrang. schen auf der Suche nach einem Arbeits- schweig, Oldenburg und Schaumburg- Entmutigten Menschen wieder Hoffnung platz nach Niedersachsen gekommen, Lippe als eigene Länder weiterexistierten. zu geben, war sicher psychologisch beson- denen später deren Familienangehörigen ders schwierig. Und so sollte es noch Jahre folgten. In jüngerer Zeit kommen Men- Aus Hannoveranern, Braun- dauern, bis die Wirtschaft sich allmählich schen, die vor Bürgerkrieg, Verfolgung schweigern, Oldenburgern, Friesen von den Kriegsfolgen erholte. Besonders und wirtschaftlicher Not in ihren Heimat- und Schaumburg – Lippern werden bedeutend war die Zuwanderung und die ländern fliehen, sowie deutschstämmige Niedersachsen Integration von rund zwei Millionen Aussiedler, vor allem aus Republiken der Vertriebenen und Flüchtlingen aus dem ehemaligen Sowjetunion. Die Rußland- Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs Osten, die ab 1944 eine neue, z.T. auch deutschen haben sich vorwiegend in we- und der Besetzung Deutschlands durch nur vorübergehende Bleibe in Niedersach- nigen Ortschaften niedergelassen. Altbür- die Alliierten gehörte der niedersächsi- sen suchten. Die Verhältnisse in Nieder- ger und Gemeindeverwaltungen sehen sche Raum zum Zuständigkeitsbereich der sachsen konsolidierten sich in den fünfzi- sich hier vor die schwierige Aufgabe ge- britischen Besatzungsmacht. Diese stellte ger Jahren, obwohl das Land unter seiner stellt, die Neubürger möglichst konflikt- zunächst die ehemaligen Länder Braun- langen Grenze zur DDR und den damit frei zu integrieren. schweig, Oldenburg und Schaumburg- verbundenen Problemen besonders zu Lippe wieder her und ernannte dort Land- leiden hatte. Der „Zonenrand“ bot den Vom Agrar- zum Industrieland tage, in Schaumburg einen Landesrat. Im Menschen im Gegensatz zu anderen Tei- August 1946 erhielt nach Auflösung des len des Landes kaum eine Arbeits- und Die Wirtschaft Niedersachsens ist einem Landes Preußen auch dessen ehemalige Einkommensperspektive. So blieb oftmals sehr dynamischen Strukturwandel von Provinz Hannover den Status eines Landes als Ausweg nur die Abwanderung. den produzierenden zu den dienstleisten- und einen ernannten Landtag. den Bereichen unterworfen. Obwohl Der im Herbst 1945 von der Besatzungs- Wandel und Kontinuität nach der weite Teile des Landes zum ländlichen macht ins Leben gerufene Gebietsrat Nie- Wiedervereinigung Raum gehören, wurden 1996 nur noch dersachsen diente der Zusammenarbeit 3,9 % der wirtschaftlichen Leistung in der und Abstimmung des Verwaltungshan- Nicht nur für das Zonengrenzgebiet, son- Land- und Forstwirtschaft erwirtschaftet, delns in den drei großen staatlichen Ge- dern für das gesamte Land wurden der während das Produzierende Gewerbe mit bietskörperschaften. An ihn erging auch Fall der Berliner Mauer und die Öffnung 33,4 %, Handel und Verkehr mit 14,0 %, die Aufforderung der britischen Militär- der Innerdeutschen Grenze sowie die Dienstleistungsunternehmen mit 33,1 % regierung, Vorschläge zur Neugliederung anschließende Wiedervereinigung zu und der staatliche Sektor mit 15,5 % zum der britischen Besatzungszone zu erarbei- einer großen Herausforderung, aber auch Bruttoinlandsprodukt von 279 Mrd. DM ten. Mit dieser Aufgabe wurde zusätzlich zu einer neuen Chance. Als ehemaliges beitrugen. Von den in Niedersachsen der im Februar 1946 gegründete Zonen- Grenzland sah sich Niedersachsen finanzi- wohnenden Erwerbstätigen waren 1997 beirat beauftragt, ein Beratungsorgan der ell und personell gefordert, seinem Nach- 4,4 % in der Landwirtschaft, 31,8 % im in- britischen Militärregierung zur Koordinie- bar- und Partnerland Sachsen-Anhalt dustriellen Sektor und 63,9 % im Dienstlei- rung der Politik der Landesregierungen, beim Neuaufbau bis zur Grenze seiner Lei- stungsbereich tätig. Die Zahl der Arbeits- das keine gesetzgeberischen Befugnisse stungsfähigkeit zu helfen.

62 Niedersachsen losen, die traditionell über dem Bundes- in der weltgrößten Industrieschau Hanno- nenministerium der unabhängige Nieder- durchschnitt liegt, ist vor allem in den Kü- ver-Messe und durch die CeBIT begründet sächsische Datenbeauftragte. stenstädten Emden und Wilhelmshaven ist. Entscheidende Innovationsimpulse für Zur Mittelstufe der Verwaltung gehören sowie in den östlichen Landesteilen sehr die Region Hannover, aber auch für Ge- insbesondere die Bezirksregierungen, hoch. samt-Niedersachsen soll die Expo 2000 deren Zahl durch das Reformgesetz vom Die niedersächsische Wirtschaft ist heute bringen. Davon werden in erster Linie die 28. Juli 1977 von 8 auf 4 reduziert wurde. durch eine starke Konzentration auf den vielen Berufstätigen, die täglich mit dem Diese sogenannten Mittelbehörden neh- Straßenfahrzeugbau gekennzeichnet, bei Auto oder dem öffentlichen Nahverkehr men für ihren Bezirk die mittelinstanz- dem VW und seinen Zulieferern die zwischen ihrem Heim im Grünen und lichen Aufgaben der allgemeinen Landes- Schlüsselstellung zukommt. Während ihrem Arbeitsplatz in der City pendeln verwaltung wahr und sorgen für einen 1945 kaum einer an den Erfolg des Volks- müssen, profitieren. einheitlichen Verwaltungsvollzug. Bei den wagens glauben wollte und die englische Regierungen der niedersächsischen Bezir- Industrie sogar die Übernahme des VW- Es wird regiert und verwaltet ke Hannover (2,1 Mill. Einwohner), Braun- Werks in Wolfsburg ablehnte, entwickelte schweig (1,7 Mill. Einwohner), Lüneburg sich der „Käfer“ später zum weltweit Seit Gründung des Landes Niedersachsen (1,6 Mill. Einwohner) und Weser-Ems (2,3 meistgebauten Personenwagen und be- bis Mitte der 70er Jahre bestimmten, bis Mill. Einwohner), die im Ländervergleich stimmte maßgeblich die wirtschaftliche auf ein kurzes Zwischenspiel einer bürger- den größten Aufgabenbestand haben, Entwicklung Niedersachsens. Über 50 Mil- lichen Regierung unter dem Ministerpräsi- sind grundsätzlich alle Zweige der Landes- lionen Volkswagen wurden bis heute in denten Heinrich Hellwege von der Deut- verwaltung gebündelt. Niedersachsen gebaut, mehr Autos als in schen Partei in den Jahren 1955 bis 1959, Weitere Landesbehörden der Mittelstufe jedem anderen Bundesland. die Sozialdemokraten die Landespolitik. sind u. a. das Justizvollzugsamt des Landes Basis der übrigen vielfältigen industriellen Erst 1976 gelang es den Christdemokraten Niedersachsen in Celle, die Klosterkam- Produktion sind die zahlreichen Rohstoffe überraschend, anläßlich der Wahl eines mer in Hannover, das Landeskriminalamt wie Erdöl und Erdgas, Kali und Salz, Gips, Nachfolgers für den zurückgetretenen Mi- Niedersachsen in Hannover, das Landes- Sand und Kies, Braunkohle und Torf in nisterpräsidenten ihren Kan- sozialamt Niedersachsen in Hildesheim, Niedersachsen, die in gleicher Häufung in didaten Ernst Albrecht in das Amt des Lan- das Landesversorgungsamt Niedersachsen keinem anderen Bundesland zu finden desvaters zu bringen. Bis zu den Landtags- in Hannover, das Niedersächsische Landes- sind. Inzwischen sind zwar fast alle Eisen-, wahlen 1990 regierte die CDU teils alleine, amt für Ökologie in Hildesheim, das Ober- Silber- und Kohlenminen erschöpft, doch teils in einer Koalition mit der F.D.P. das bergamt In Clausthal-Zellerfeld. Hier han- das Erdgas aus Niedersachsen deckt ein Land. Zwischen Wende und Deutscher Ein- delt es sich zum Teil um Landesoberbehör- Fünftel des Verbrauchs in der Bundesrepu- heit ging dann im Frühsommer 1990 die den (zuständig für das gesamte Land, ei- blik. Regierungsverantwortung an eine rot- gener Unterbau), zum Teil um zentrale Doch auch eine hochproduktive und in- grüne Regierungskoalition unter Mini- Landesämter (zuständig für das gesamte tensive Landwirtschaft sowie das mit ihr sterpräsident Gerhard Schröder über, der Land, aber ohne nachgeordnete Behör- eng verbundende Ernährungsgewerbe bereits vier Jahre später mit der SPD die den). spielen eine wichtige Rolle. So stehen Mehrheit an Sitzen im Landtag gewann Auf der Ortsstufe gibt es staatliche Son- zwei von zehn Kühen, drei von zehn und seinen Koalitionspartner gemeinsam derbehörden, die erstinstanzliche Verwal- Schweinen und vier von zehn Hühnern mit den Christdemokraten bis heute auf tungsaufgaben wahrnehmen. Zu ihnen der Bundesrepublik in Niedersachsen, und die Oppositionsbänke verwies. Nach der gehören u. a. die Ämter für Agrarstruktur, das „Alte Land“ an der Elbe schmückt sich Wahl von Gerhard Schröder im Herbst die Bergämter, die Chemischen Untersu- mit dem Namen „größtes Obstanbauge- 1998 zum Bundeskanzler wurde sein bis- chungsämter, die Domänenämter, die biet in Europa“. Nahezu eine Viertelmil- heriger Stellvertreter Gerhard Glogowski Eichämter, die Hafenämter, die Kloster- lion Landwirte einschließlich ihrer mitar- neuer Ministerpräsident. forst- und -rentämter, die Polizeidirektio- beitenden Familienangehörigen beackern Die niedersächsische Landesverwaltung nen und die Staatliche Moorverwaltung in eine Fläche von 2,7 Millionen ha, die 57 % hat ihre tiefgreifendste Veränderung Meppen. des Landes bedecken. Dem Trend der Zeit durch die Verwaltungs- und Gebietsre- Zur Landesverwaltung gehören neben von der Agrarindustrie zum ökologischen form in der Zeit von 1965 bis 1980 erfah- den Behörden auch die sogenannten Ein- Anbau folgend, nehmen von Jahr zu Jahr ren. In einem Stufenbau gliedert sie sich in richtungen des Landes, die keine durch mehr Landwirte das Öko-Förderpro- die Oberstufe (Oberste Landesbehörden) Verwaltungsakte nach außen wirkende gramm des Landes „Niedersachsen Mo- sind, die Mittel- und die Unterstufe (Orts- Tätigkeiten wahrnehmen. Zu ihnen dellregion für nachwachsende Rohstoffe" stufe). Außerdem gehören die sogenann- zählen u. a. die Niedersächsische Landes- an, das darauf abzielt, im Anbau nach- ten Einrichtungen des Landes dazu. zentrale für politische Bildung in Hanno- wachsender Rohstoffe den Landwirten In der Oberstufe der Verwaltung nehmen ver, das Studieninstitut der allgemeinen eine wirksame Produktionsalternative auf die ressortweise gegliederten obersten Verwaltung des Landes Niedersachsen in breiter Ebene anzubieten. Landesbehörden die zentralen Pro- Bad Münder und das Niedersächsische gramm-, Leitungs- und Lenkungsaufga- Landesgestüt in Celle. Urlauber, Messebesucher und ben wahr. In Niedersachsen sind dies die Transitreisende – mehr oder weniger neun Ministerien und der Niedersächsi- Die Kommunalpolitik sorgt willkommen sche Ministerpräsident (Staatskanzlei). für Bürgernähe Eine weitere oberste Landesbehörde ist Der Tourismus, ebenfalls ein bedeutender der Niedersächsische Landesrechnungshof Unterhalb der Bezirksebene ist Nieder- Wirtschaftsfaktor, ist vor allem an der in Hildesheim, der die gesamte Haushalts- sachsen in 9 kreisfreie Städte und 38 Land- Küste, im Harz, in der Lüneburger Heide und Wirtschaftsführung des Landes über- kreise eingeteilt. Einer von diesen, der und in den 48 anerkannten Kurorten und wacht und prüft, den Landtag und die westniedersächsische Landkreis Emsland Heilbädern bestimmend. Landesregierung berät sowie gutachter- ist mit einer Fläche von 2880 km2 sogar Im internationalen Verkehr hat Nieder- lich Stellung nimmt und das Ergebnis sei- größer als das Saarland (2570 km2). Zu den sachsen die Funktion einer Drehscheibe ner Prüfung der jährlichen Haushaltsrech- kreisfreien Städten gehören Braun- übernommen, wo sich die von Skandina- nung in Bemerkungen und einer Denk- schweig, Delmenhorst, Emden, Hannover, vien kommenden Nord-Süd-Linien mit schrift zusammenfaßt. Ebenso ist der Prä- Oldenburg, Osnabrück, Salzgitter, Wil- den an Bedeutung schnell wachsenden sident des Niedersächsichen Landtags helmshaven und Wolfsburg. Göttingen als Ost-West-Verkehrsachsen kreuzen. oberste Landesbehörde, soweit es sich um Universitätsstadt ist zwar kreisangehörig, Verkehrsknotenpunkt ist hier insbeson- die in Art. 18 Abs. 3 der Niedersächsischen hat aber einen besonderen Status, der sie dere der Großraum Hannover, der über Verfassung genannten Aufgaben handelt weitgehend mit einer kreisfreien Stadt einen leistungsfähigen internationalen (z. B. Chef der Landtagsverwaltung). gleichsteilt. Flughafen verfügt. Darüber hinaus gehört Einigen obersten Landesbehörden sind Weitere „große selbständige Städte“ wie Hannover zu einem der führenden Messe- Beauftragte zugeordnet, so z. B dem In- Celle, Cuxhaven, Goslar, Hameln, Hildes- standorte in Europa, dessen Ruf vor allem heim, Lingen und Lüneburg sind „Land-

Niedersachsen 63 kreisgemeinden“, die jedoch eine beson- Kandidaten können durch Parteien, Wäh- über eine Angelegenheit selbst zu ent- dere Stellung haben, da sie auch die sonst lergruppen oder Einzelpersonen nomi- scheiden, falls der Rat bzw. der Kreistag den Landkreisen vorbehaltenen Aufga- niert werden. Gewählt ist, wer in einem zuvor nicht vollständig oder wesentlich ben des „übertragenen Wirkungskreises“ Kreis, einer Stadt oder Samtgemeinde im Sinne des Bürgerbegehrens einen als staatliche Unterbehörde wahrnehmen. über 50 Prozent der Stimmen erhält. Er- Entschluß gefaßt hat. Der betreffende Dies gilt auch für die „selbständigen Städ- reicht niemand im ersten Wahlgang die Sachverhalt muß im Bürgerentscheid so te und Gemeinden“, zu denen Gemein- absolute Mehrheit, findet 14 Tage später gefaßt sein, daß über ihn mit „Ja" oder den mit mehr als 30 000 Einwohnern und eine Stichwahl zwischen den beiden Be- „Nein" abgestimmt werden kann. solche Gemeinden gehören, denen die werbern mit den meisten Stimmen statt. Bisher haben allerdings die Bürgerinnen Landesregierung auf eigenen Antrag die- In diesem Wahlgang reicht die einfache und Bürger in Niedersachsen ihre neuen sen Status zuerkannt hat. Mehrheit. Mitwirkungsrechte nur begrenzt genutzt. Niedersachsen hat 285 Einheitsgemeinden Besondere Qualifikationen – etwa im Ver- mit ca. 1600 Ortschaften. 744 weitere Ge- waltungsbereich – sind nicht erforderlich. Hochschulen und Schulen – meinden haben sich zu einer der 142 Wenn ein neu gewählter Amtsinhaber Partner im Bildungsprozeß ,Samtgemeinden zusammengeschlossen, nicht die Befähigung zum gehobenen um ihre Verwaltung kostensparend ge- oder höheren Verwaltungsdienst besitzt, Das niedersächsische Hochschulsystem meinsam zu organisieren. Durch die muß ein leitender Beamter über eine ent- gliedert sich in Universitäten, künstlerisch- Schaffung von Einheits- und Samtgemein- sprechende Qualifikation verfügen. wissenschaftliche Hochschulen und Fach- den hat sich die Zahl der Gemeindever- Die ersten hauptamtlichen Bürgermeiste- hochschulen. waltungseinheiten von über 4000 auf 417 rinnen und Bürgermeister sowie Land- Während die Universitäten und künstle- reduziert. rätinnen und Landräte wurden in Nie- risch-wissenschaftlichen Hochschulen ihre Aufgabe der 1029 Gemeinden und Städte dersachsen anläßlich der Kommunalwah- zentrale Aufgabe gleichermaßen in Lehre in Niedersachsen ist es, Einrichtungen be- len am 15. September 1996 gewählt. und Forschung haben, liegt bei den Fach- reitzustellen, die für das menschliche Grundsätzlich sind ab dem 31. Oktober hochschulen der Schwerpunkt in der pra- (Zusammen-)Leben unverzichtbar sind. 1997 ausscheidende Hauptverwaltungs- xisnahen Ausbildung. Daneben nehmen Dabei übernehmen die Kommunen gem. beamte nach und nach durch direkt ge- sie mehr und mehr Aufgaben in der ange- der Niedersächsischen Gemeindeordnung wählte Nachfolger zu ersetzen. wandten Forschung und Entwicklung wahr. Schwerpunkte der Forschung in Nieder- sachsen sind die Umweltforschung (Tech- nische Universität Braunschweig, Techni- sche Universität Clausthal, Fachhochschule Wilhelmshaven, Fachhochschule Nordost- niedersachsen und Fachhochschule Braun- schweig/Wolfenbüttel, die Energiefor- schung (Universität Oldenburg, Deutsches Windenergie-lnstitut in Wilhelmshaven). Modernste Verkehrstechnik wird auf der Versuchsstrecke der Magnetschwebebahn Transrapid bei Lathen im Emsland erprobt. Das niedersächsische Schulwesen ist in die Schulformen Grundschule, Orientierungs- stufe, Hauptschule, Realschule, Gymnasi- um, Gesamtschule, Abendgymnasium, Kolleg, Sonderschule und Berufsbildende Schule gegliedert. Neben den „Regel“- Schulen in öffentlicher Hand sind einige in freier, die meisten von ihnen als Konkor- datsschulen in kirchlicher Trägerschaft. Schloß Celle. Foto: Peter Hoffmann Die Integrierten Gesamtschulen wurden mit der Schulgesetznovelle von 1993 den Schulen im dreigliedrigen System gleich- (NGO) einen Teil der Aufgaben in eigener Im Oktober 1995 hatte der Niedersächsi- gestellt. Diese Schulform muß vom Schul- Verantwortung, den anderen Teil führen sche Landtag bereits die Herabsetzung träger im Rahmen seiner Leistungsfähig- sie auf Weisung des Bundes und des Lan- des Wahlalters auf 16 Jahre beschlossen. keit angeboten werden, wenn eine genü- des aus. Um darüber hinaus die Mitwirkungsrech- gend große Zahl von Eltern es wollen. Einschneidende Änderungen in den nie- te der Bürger in der Kommunalpolitik zu Die bildungspolitische Diskussion im dersächsischen Landkreisen, Städten und erweitern, wurden mit der neuen Nieder- Lande wird vorrangig durch finanz- und Gemeinden brachte die Reform der Kom- sächsischen Gemeinde- (NGO) und Land- arbeitsmarktpolitische Themen bestimmt. munalverfassung, die der Niedersächsi- kreisordnung (NLO) ergänzend zum bis- Dazu gehören die prekäre Unterrichtsver- sche Landtag am 6. März 1996 verabschie- herigen Bürgerantrag weitere Möglich- sorgung, die begrenzte Einstellung junger det hat. Die wichtigste Veränderung keiten geschaffen. Lehrkräfte infolge knapper Haushaltsmit- brachte dabei die Einführung der soge- ● Jede Bürgerin oder jeder Bürger kann tel, die Lehrerarbeitszeit und die Lernmit- nannten Eingleisigkeit, d. h. die kommu- sich – allein oder mit anderen – mit An- telfreiheit. nalen Spitzenämter (Bürgermeister, Land- regungen und Beschwerden schriftlich rat und Hauptverwaltungsbeamter) wur- an den Rat oder Kreistag wenden. Kultur – geliebt und gepflegt den zusammengelegt. Nunmehr werden ● Personen ab dem 14. Lebensjahr haben die künftigen Kommunalchefs durch die das Recht, allein oder mit mehreren Die Kulturszene ist durch die landschaft- Wahlberechtigten der Kreise, Städte und eine Angelegenheit per Einwohneran- liche Weite sowie die teils dünne und un- Gemeinden direkt gewählt. Hauptamt- trag an ihren örtlich zuständigen Ge- gleichmäßige Besiedlung geprägt. Des- liche Landrätin oder Landrat bzw. Bürger- meinderat oder Kreistag heranzutra- halb haben sich alle Landesregierungen meisterin oder Bürgermeister kann nun- gen, soweit diese dafür sachlich zustän- bemüht, die Ungleichgewichte zwischen mehr jede Bundesbürgerin oder jeder dig sind. städtischem und ländlichem Raum durch Bundesbürger werden, die oder der seit ● Bürgerinnen und Bürger haben die finanzielle Zuwendungen zu mindern. mindestens einem Jahr Deutscher oder Möglichkeit, durch Bürgerentscheid Während die Großstädte Hannover, Bürger eines EU-Staates und zwischen 23 Braunschweig, Oldenburg, Osnabrück, und 64 Jahren ist. Hildesheim und Göttingen über kulturelle

64 Niedersachsen Zentren mit traditionellen Kulturinstitu- Die Zeitungslandschaft ist in Niedersach- stenz der kleinen Hochschule Vechta, die ten verfügen, unterhalten auch einige der sen bis heute von einer Vielfalt wie in aus einer Lehrerausbildungsstätte mit mittleren Städte Theater mit eigenem En- kaum einem anderen Bundesland ge- dem Schwerpunkt in katholischer Religi- semble oder Theaterbauten für Gastspie- prägt. Besonders charakteristisch ist der onslehre hervorgegangen ist, trotz immer le, so daß Niedersachsen eines der besten lokale Facettenreichtum, um den sich wieder aufkommender Schließungspläne flächendeckenden Theaterangebote in immer noch 56 Verlage mit einer Reihe so- ungefährdet. Deutschland aufweist. Kulturelles Zen- genannter Heimatzeitungen bemühen. Während 1939 noch 78,6 % der Men- trum ist die Landeshaupstadt mit der Die in Niedersachsen erscheinenden Zei- schen, die auf dem Territorium des heuti- Landesgalerie, dem Sprengel- und dem tungen, die noch als publizistische Einhei- gen Niedersachsen lebten, evangelischen Kestnermuseum, dem Niedersächsischen ten den gesamten redaktionellen Teil Kirchen zuzurechnen waren, 16,4 % sich Staatsorchester und der Radio-Philharmo- selbst erarbeiten, sind auf gut zehn zum Katholizismus bekannten und nur nie Hannover des NDR sowie den Festwo- zurückgegangen. Insgesamt werden ca. knapp 5 % anderen oder keiner Kirche an- chen in Herrenhausen. Auf dem flachen 130 Zeitungen in einer Gesamtauflage gehörten, sank bis Ende der achtziger Lande wirken Landschaften und Land- von knapp 2 Millionen Exemplaren her- Jahre der Anteil der Protestanten auf schaftsverbände, Heimat- und Künstler- ausgegeben. An diesen haben die kleine- 66,1 %, während der der Katholiken auf verbände sowie Kunstvereine als freie Trä- ren Verlage, deren Auflage 30 000 Exem- 19,6 % anstieg und sich gleichzeitig ger kultureller Aufgaben. Die Interessen plare nicht übersteigt, einen Anteil von 12,9 % keiner Religion mehr zurechnen. dieser Kultur- und Heimatpfleger nimmt 30 %. Den Rest teilen die zwölf größten Die Zuwanderung aus der Türkei hat zahl- als Dachverband auf Landesebene der Abonnementszeitungen des Landes unter reiche Moslems nach Niedersachsen ge- Niedersächsische Heimatbund wahr, sich auf. Unter ihnen ist die Hannoversche bracht, die mittlerweile 1,4 % der Bevöl- während sich das Institut für niederdeut- Allgemeine Zeitung nicht nur die klare kerung stellen. Evangelische Freikirchen, sche Sprache in Bremen der Förderung der Marktführerin in der Landeshauptstadt der Landesverband der Jüdischen Gemein- niederdeutschen Sprache in allen vier Hannover sondern auch niedersachsen- den und die Griechisch-Orthodoxe Metro- norddeutschen Ländern gemeinsam wid- weit. Noch besteht für die niedersächsi- polie sind weitere kleinere Religionsge- met. schen Zeitungsverleger, die sich größten- meinschaften, die als Körperschaften des Das Netz der fast 300 Museen und Samm- teils im Verband der Nordwestdeutschen öffentlichen Rechts anerkannt sind. lungen ist in allen Regionen dichter ge- Zeitungsverleger zusammengeschlossen worden, und international beachtetete haben, trotz der zahlreichen Konzentra- große Ausstellungen im Hildesheimer tionsbewegungen und der schwer zu Das Wappen: Roemer-Pelizaeus-Museum und im Lan- überwindenden Hürden des Marktzutritts desmuseum Braunschweig sowie kleinere kein Grund, sorgenvoll in die Zukunft zu Obwohl ihr Wappentier ein Löwe war, zur Lokal- und Regionalgeschichte haben schauen. übernahmen die Welfen Mitte des 14. in den letzten Jahren immer mehr Besu- Jahrhunderts das „Sachsenroß“ in ihre cher angelockt. Darüber hinaus ist Nieder- Die Kirchen als Integrationskraft Wappen, das der Volksglaube dem alten sachsen mit dem Dom und der Kirche St. Stammesherzogtum der Sachsen zu- Michael in Hildesheim sowie dem indu- Die Integration und die Vermischung der schrieb (obwohl zu dieser Zeit noch gar striehistorisch bedeutsamen Erzbergwerk ehemals streng getrennten Lebensweisen keine Wappen geführt wurden). Damit Rammelsberg und der Altstadt von Goslar von „Alteinwohnern“ und „Neubürgern“ sollten welfische Anspruchsrechte auf alle in der UNESCO-Liste des Weltkulturerbes erweisen sich beispielhaft in den religiö- Gebiete des „alten Sachsens“ unterstri- vertreten. sen Verhältnissen des Landes. Vor dem chen werden. Als altes Volkssymbol ist das Zweiten Weitkrieg lebten die Katholiken „Sachsenroß“ somit im Unterschied zu Ob öffentlich oder privat vorrangig im Oldenburger Münsterland den meisten deutschen Länderwappen – an Medien mangelt es nicht (Raum Emsland, Vechta, Cloppenburg), im nicht dynastischen Ursprungs. Eichsfeld und in der Region Hildesheim, Der öffentliche und private Rundfunk die calvinistisch reformierten Christen sowie das Fernsehen sind seit den 80er konzentrierten sich in Ostfriesland und Jahren zunehmend regionalisiert worden. die übrigen Gebiete waren von Luthera- Träger der privaten Rundfunkanstalten nern besiedelt. Diese religiöse Dreiteilung Funk und Fernsehen Nordwestdeutsch- hat sich nach 1944 zum Teil aufgelöst, da lands (ffn) und Antenne Das Radio sind in alle Regionen infolge der Migrationsströ- erster Linie niedersächsische Verleger me in religiöser Hinsicht zunehmend sowie der Holtzbrinck-Verlag. Sie wollen „durchmischt“ wurden. mit Hilfe der Werbung ihre ökonomische In Niedersachsen gibt es vier evangelisch- Existenz im Prozeß der Pressekonzentrati- lutherische Landeskirchen, die von Braun- on sichern und Verluste bei der Werbung schweig, Hannover, Oldenburg und in ihren Druckerzeugnissen ausgleichen. Schaumburg-Lippe, sowie die Evangelisch- Die Kontrolle über die privaten Sender Reformierte in Nordwestdeutschland (zu- Literaturhinweise übt die niedersächsische Landesmedien- sammen ca. 5 Millionen Mitglieder), die anstalt aus, die auch an der Zulassung gemeinsam in der Konföderation Evange- neuer Sender, unter ihnen auch nichtkom- lischer Kirchen in Niedersachsen zusam- Korte, Heinrich/Rebe, Bernd: Verfassung und Verwaltung des Landes Niedersachsen. Göttin- merzieller, beteiligt ist. mengeschlossen sind und alle als Gliedkir- gen 1986. Vierzehn Offene Kanäle und nichtkom- chen der Evangelischen Kirche in Deutsch- Kuss, Horst; Mütter, Bernd (Hg.): Geschichte Nie- merzielle Lokalradios, unter ihnen Offe- land (EKD) angehören. Ihre Zentrale, das dersachsens – neu entdeckt. Braunschweig 1996. ner Kanal Oldenburg und Radio Okerwel- Kirchenamt, befindet sich in Hannover. Seedorf, Hans-Heinrich/ Meyer, Hans-Heinrich: le, repräsentieren inzwischen in Nieder- Die römisch-katholischen Kirchenmitglie- Landeskunde Niedersachsen. Natur- und Kultur- geschichte eines Bundeslandes. Band 1: Histori- sachsen die dritte Säule im dualen deut- der (ca. 1,5 Millionen) gehören zu den sche Grundlagen und naturräumliche Ausstat- schen Rundfunksystem. Gemäß dem 1993 Bistümern Hildesheim, Münster, Os- tung. Neumünster 1992. novellierten Niedersächsischen Rundfunk- nabrück, sowie in den Grenzgebieten Seedorf, Hans-Heinrich/Meyer, Hans-Heinrich: gesetz, das die Rechtsgrundlage für die al- auch zu Fulda und Paderborn. Landeskunde Niedersachsen. Natur- und Kultur- ternativen Medienprojekte liefert, sind im Seine Beziehungen zu den evangelischen geschichte eines Bundeslandes. Band 2: Nieder- sachsen als Wirtschafts- und Kulturraum. Neu- Regelfalle eingetragene und gemeinnüt- Kirchen hat das Land Niedersachsen durch münster 1996. zige Vereine Träger des „Rundfunks der den Loccumer Vertrag von 1955 (ergänzt dritten Art“. 1965), die zur römisch-katholischen Kirche durch ein Konkordat von 1965 geregelt. Dank dieses Konkordats ist bisher die Exi-

Anschrift: Niedersächsische Landeszentrale für politische Bildung, Hohenzollernstraße 46, 30161 Hannover

Niedersachsen 65 Vom Land aus der Retorte zum „Wir-Gefühl“ gleichzeitig auch die Wiege der deutschen Industrialisierung im frühen 19. Jahrhun- Nordrhein-Westfalen dert. Entstanden aus Teilen des Landes Preußen

Nordrhein-Westfalen ist auf den Trüm- Von Andreas Kost mern des verlorenen Zweiten Weltkriegs entstanden. So verfügte die Britische Mi- litärregierung in ihrer Besatzungszone mit Verordnung vom 23. 8. 1946 die Auflösung der Provinzen des ehemaligen Landes Das am dichtesten besiedelte Gemeinden verteilen sich die Haushalte Preußen1 und die Neugestaltung selbstän- Bundesland dabei am häufigsten auf nur eine Person diger Länder. Auf diese Weise bildete sich (35%) oder auf zwei Personen (32%). im Jahre 1946 aus den nördlichen Teilen Nordrhein-Westfalen ist mit fast 18 Mio. 1994 zählte man in Nordrhein-Westfalen der ehemaligen Rheinprovinz und aus der Einwohnern das bevölkerungsreichste und insgesamt 396 Gemeinden, darunter 23 Provinz Westfalen das neue Land Nord- am dichtesten besiedelte, mit einer Fläche kreisfreie Städte und nur drei Dörfer (Ge- rhein-Westfalen. Dieses Territorium wurde von 34.075 qkm aber nur das viertgrößte meinden mit weniger als 5 000 Einwoh- Anfang 1947 durch die Eingliederung des Flächenland der Bundesrepublik Deutsch- nern). 203 Gemeinden können als Städte Landes Lippe-Detmold erweitert. Eine der land. In Nordrhein-Westfalen leben 523 bezeichnet werden, insofern man als Gren- ältesten deutschen Kulturlandschaften, Menschen auf einem Quadratkilometer, ze 20 000 und mehr Einwohner zugrunde der niederrheinisch-westfälische Raum, während es im gesamten Bundesgebiet legt. Unter diesen befinden sich 30 Groß- wurde somit erstmalig zu einem gemeinsa- nur durchschnittlich 228 sind. Allerdings städte mit über 100 000 Einwohnern – eine men Staatsgebilde zusammengefügt. schwankt die Siedlungsdichte innerhalb Größenordnung, die nicht annähernd in Eine Besonderheit bleibt jedoch, daß das des Landes beträchtlich, da in den kreisfrei- einem anderen Bundesland erreicht wird. neue Bundesland Nordrhein-Westfalen en Städten auf gleichem Raum etwa sechs- Die größte Stadt ist Köln mit knapp 1 Mio. ohne historisches Vorbild war. Die in ihm mal mehr Menschen als in den übrigen Einwohnern. Im Westen des Landes gibt es „künstlich“ zusammengeschlossenen Teil- Landesteilen leben. mehr Großstädte als im Osten, der stärker regionen waren und sind einerseits Land- Geographisch liegt Nordrhein-Westfalen durch Mittelstädte geprägt ist. Diese un- schaften von ausgeprägter traditioneller im Westen Deutschlands und weist ge- gleiche räumliche Verteilung geht auf un- Eigenart, andererseits sind sie seit langer meinsame Grenzen mit den Bundeslän- terschiedliche ökonomische Bedingungen Zeit kulturell und wirtschaftlich eng mit- dern Niedersachsen (im Norden und Osten) in den beiden Landesteilen zurück. Dies einander verbunden. Als Sinnbild steht sowie Hessen und Rheinland-Pfalz (im liegt nicht nur daran, daß der westliche Teil dafür das Landeswappen mit Roß, Rhein Süden) auf. Äußere Landesgrenzen beste- früher besiedelt wurde, sondern er ist und Rose, welches an die regionalen Wur- hen im Westen zu den Niederlanden und zu Belgien. Die Landesfarben sind Grün- Weiß-Rot, und die Landeshauptstadt ist Düsseldorf. Die Bevölkerung Nordrhein-Westfalens kann als sehr heterogen bezeichnet wer- den, da sie nicht nur durch das (ehemals preußische) Rheinland und Westfalen ge- prägt ist, sondern auch durch eine langjährige Integration verschiedener Generationen von Zuwanderern. Dazu zählen insbesondere Polen, die während der Industrialisierung ins Ruhrgebiet ein- wanderten, Flüchtlinge und Vertriebene des Zweiten Weltkriegs und ausländische Arbeitskräfte unterschiedlicher Nationa- litäten, die vor allem in den 50er und 60er Jahren als „Gastarbeiter“ nach Nordrhein- Westfalen kamen. Der Bevölkerungsanteil der Ausländer liegt deutlich über dem Bun- desdurchschnitt von 8,5% und erreicht im Ruhrgebiet und in großstädtischen Bal- lungsgebieten überdurchschnittliche Wer- te. In Städten wie Köln, Düsseldorf und Duisburg ist der Ausländeranteil mit über 15% der Gesamtbevölkerung besonders hoch. Ob die Bevölkerungsstruktur sich unter dem Einfluß der Zuwanderung ent- scheidend verändert, ist noch nicht ersicht- lich. Jedenfalls ist die Gesellschaft in Nord- rhein-Westfalen in den letzten Jahren – wie im übrigen Bundesgebiet – deutlich gealtert. Kinder und Jugendliche (bis zu 17 Jahren) repräsentieren nur noch 19% der Bevölkerung. 65% stehen im erwerbsfähi- gen Alter zwischen 18 und 64 Jahren, während die restlichen 16% der älteren Generation ab 65 Jahren zugerechnet wer- den können. Insgesamt verteilt sich die Be- völkerung Nordrhein-Westfalens auf rund Kultureller Mittelpunkt am Rhein; der Kölner Dom mit Wallraf-Richartz-Museum/Mu- 8 Mio. Privathaushalte. In den Städten und seum Ludwig. Foto: dpa/Ossinger

66 Nordrhein-Westfalen zeln Nordrhein-Westfalens erinnert und gende Elemente der politischen Kultur zu Versicherungswirtschaft, Medienwirt- gleichzeitig die Einheit der verschiedenen verdeutlichen. Aber auch die Herstellung schaft, Logistik Landesteile symbolisiert. Ohnehin waren einer kollektiven Identität mit dem Bun- ● Raum Aachen-Düren – Braunkohle, die Beziehungen zwischen dem Rheinland desland und einer Identifikation mit dem Papierindustrie, Elektronik und Westfalen immer sehr eng gewesen. politischen System fällt in diesen Rahmen. ● Westlicher Niederrhein – Textil- und Das sich seit dem 19. Jahrhundert zu einer Insbesondere die 1953 gesetzlich festgeleg- Bekleidungsindustrie, Nahrungsmittel- eigenständigen Industrielandschaft ent- ten Landesfarben, die Landesflagge und industrie wickelnde Ruhrgebiet wurde schließlich das Landeswappen sind nunmehr weit ver- ● Bergisch-Märkischer Raum – hochspe- zur verbindenden „Regionalklammer“ der breitet und stehen als durchaus beliebte zialisierte Kleineisenindustrie rheinischen und westfälischen Gebietsteile. Sinnbilder für die drei Landesteile als auch ● Siegerland – Walzwerke, Maschinenbau Nordrhein-Westfalen ist längst nicht mehr für deren Integration. Dagegen scheiterte ● Region Ostwestfalen-Lippe – Beklei- das „Land aus der Retorte“, als das es in sei- die Schaffung eines großen Staatswappens dungs-, Möbel- und Druckindustrie nen Anfangszeiten bezeichnet wurde, son- und die Komposition einer Landeshymne. Nordrhein-Westfalen ist das wirtschaft-lich dern hat im Laufe der Jahre, nicht zuletzt Eine besondere Rolle spielen neben der stärkste Land der Bundesrepublik Deutsch- durch eine gezielte Öffentlichkeitsarbeit Symbolstiftung noch Aktivitäten der Lan- land, da es mehr als ein Fünftel (22%) zur verschiedener Träger (Parteien, Medien, despolitik in der Kulturförderung, wie z. B. gesamten Produktionsleistung beiträgt. Universitäten, Archive, Landeszentrale für der Große Kunstpreis und der Förderpreis Die insgesamt hohe Arbeitslosigkeit liegt politische Bildung), zu einem gemeinsa- des Landes Nordrhein-Westfalens sowie leicht über dem Bundesdurchschnitt. Das men Landesbewußtsein geführt, das in die Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen. Bundesland ist mit der Modernisierung sei- dem Motto „Wir in Nordrhein-Westfalen“ So gibt es eine pluralistische und pragmati- ner Wirtschaft noch nicht am Ziel, auch sich deutlich widerspiegelt und dennoch sche Deutungskultur in Nordrhein-Westfa- wenn Rückstände in der Investitionstätig- die nach wie vor bestehende Vielfalt an len, welche die Vielfalt der Soziokulturen keit oder dem Produktivitätsfortschritt im Identitäten und Identifikationsmöglichkei- widerspiegelt und weiterhin auch kleinräu- Vergleich gegenüber der westdeutschen ten im Land betont. mige Lebenswelten (siehe Ruhrgebiet) to- Wirtschaft in den letzten Jahren wieder leriert. deutlich aufgeholt werden konnten. Der Ein allgemeines Landesbewußtsein notwendige Strukturwandel in Nordrhein- mußte erst geschaffen werden Wirtschaftlicher Strukturwandel Westfalen wird dabei weiter voranschrei- ten, mit anderen Worten der sekundäre Auch in Nordrhein-Westfalen haben sich Die Wirtschaftsstruktur2 Nordrhein-Westfa- Sektor wird anteilsmäßig weiter abneh- zwei Dimensionen von politischer Kultur lens wird durch einen beachtlichen und men und dagegen Branchen des tertiären als besonders relevant erwiesen. Das Stre- manchmal schmerzhaften Strukturwandel Sektors (aller Voraussicht nach insbesonde- ben nach einer einheitlichen, von anderen geprägt. Das Land an Rhein und Ruhr gilt re Telekommunikation und Umweltschutz) Bundesländern, aber auch anderen Ebenen als das industrielle Herz Deutschlands, was kräftig zulegen. Dabei ist es sicher für die (Nation, Region, Gemeinde), unterscheid- traditionell vor allem durch die Förderung Wirtschaftskraft von Vorteil, daß fast die baren Soziokultur war anfangs kaum aus- und die Produktion von Kohle und Stahl Hälfte der 100 größten deutschen Unter- zumachen. Darunter fallen die verinner- begründet war. Allein 1970 trug das Produ- nehmen ihren Sitz in Nordrhein-Westfalen lichten Lebensweisen, Werte und Maßstä- zierende Gewerbe (Energie- und Wasser- haben und gleichzeitig über 600 000 kleine be für das Zusammenleben von Gruppen, versorgung, Bergbau, Verarbeitendes Ge- und mittlere Unternehmen angesiedelt die den Rahmen für politisches Handeln werbe, Baugewerbe) noch ca. 56% zur sind. bilden. Als zweites kommt eine subjektiv Bruttowertschöpfung des Landes bei. Die bewußte Deutungskultur hinzu, welche Folgen der Kohle- und Stahlkrise mit einem Verwaltungsgliederung die landesspezifischen Mentalitäten sicht- in Mitleidenschaft gezogenen Arbeits- bar macht. Hierzu zählt man insbesondere markt leiteten einen sich verändernden In Nordrhein-Westfalen erbringt die öf- die Verdeutlichung durch Symbole, die bei Prozeß ein, der bereits 1994 nur noch 35% fentliche Verwaltung eine Vielzahl von kulturellen Aktivitäten vergegenständlicht des Produzierenden Gewerbes auswies. Ordnungsfunktionen und Dienstleistun- werden, damit sich ein „Wir-Bewußtsein“ Der Beitrag der Dienstleistungsunterneh- gen, die sie im Rahmen von Gesetzen und entwickeln kann. men an der wirtschaftlichen Gesamtlei- Entscheidungen des Bundes, der Europäi- Die beiden ehemaligen preußischen West- stung stieg dagegen im gleichen Zeitraum schen Union, des Landes, der Kreise und provinzen Westfalen und Rheinland sind von 16% auf 36%. Hinzu kommen 14%, der Gemeinden zu erfüllen hat. Zwei orga- im heutigen Bundesland Nordrhein-West- die auf den Handel und den Verkehr ent- nisatorische Gruppen kristallisieren sich in falen Nachbarn, die sich in ihren Soziokul- fallen sowie 13% auf die öffentlichen Form der Landesverwaltung (1993 318 850 turen durchaus unterscheiden. Den West- Dienstleistungen. Beschäftigte) und den Verwaltungen der falen wird ein eher an sachlichen Lei- Nordrhein-Westfalen ist mittlerweile ein Kreise und Gemeinden (282 900 Beschäftig- stungen und weniger an Kompromissen Land mit und nicht mehr von Kohle und te) dabei heraus, welche die Landesgesetze orientiertes Politikverständnis nachgesagt. Stahl, denn die Verflechtung traditioneller ausführen und auch einen großen Teil der Dem Rheinland wird wiederum ein stärker und moderner Wirtschaftszweige hat eine bundesgesetzlichen Verwaltungsaufgaben an den Menschen und an Aushandlungs- recht vielseitige Branchenmischung hervor- mit bewältigen. prozessen ausgerichtetes Verständnis von gebracht. Besonders umsatzstarke Bran- Im Landesbereich gliedert sich die allge- Politik zugeschrieben. Diese unterschiedli- chen sind heute die chemische Industrie meine Verwaltung in mehrere Behörden- chen Deutungskulturen lassen sich tatsäch- und der mittelständisch geprägte Maschi- stufen. An der Spitze fungieren die Landes- lich anhand von Sprache, Brauchtum und nenbau. Auch das Ernährungsgewerbe, die regierung bzw. die Obersten Landesbehör- alltäglichen Lebensweisen der Menschen Elektrotechnik, der Straßenfahrzeugbau den (Staatskanzlei und Ministerien), die je- identifizieren. und mittlerweile die Medienwirtschaft weils für einen bestimmten Aufgabenbe- Das Ruhrgebiet wird in der Außenbetrach- spielen eine hervorzuhebende Rolle. Nord- reich zuständig und verantwortlich sind. tung häufig als Einheit gesehen. Soziokul- rhein-Westfalen verfügt außerdem über Ihnen sind wiederum die Ober- und Mittel- turell ist es jedoch in mehrere konfessionel- wichtige landwirtschaftliche Gebiete. In behörden unterstellt. Während die Lan- le und soziale Milieus gespalten. Die Exi- verschiedenen Regionen des Landes sind desoberbehörden (z. B. Landesamt für Be- stenz verschiedener Subkulturen und das schwerpunktmäßig folgende Wirtschafts- soldung und Versorgung, Landeskriminal- Fehlen einer breiten bürgerlichen Träger- zweige anzutreffen: amt, Landesamt für Datenverarbeitung schicht hat dazu geführt, daß sich nur an- ● Ruhrgebiet – Steinkohlenbergbau, und Statistik) jedoch zentrale Aufgaben für satzweise eine Deutungskultur herausbil- Eisen- und Stahlindustrie, Automobil- das ganze Bundesland wahrnehmen, er- den konnte. bau, Elektrotechnik, Anlagenbau, Um- streckt sich die Zuständigkeit der Landes- Die Förderung eines allgemeinen Landes- welttechnik, Entsorgungswirtschaft mittelbehörden (fünf Regierungspräsidien, bewußtseins durch Landesregierung und ● Rheinschiene – Großchemie, Autoindu- Oberfinanzdirektionen u. a.) nur auf ein- Landesparlament geschieht unter anderem strie, Verwaltungszentren, Kredit- und zelne Landesteile. Gerade auf der mittleren mit Hilfe politischer Symbole, um grundle- Stufe der staatlichen Verwaltung kommt den Bezirksregierungen in Düsseldorf,

Nordrhein-Westfalen 67 Köln, Münster, Detmold und Arnsberg eine vom Geist des Grundgesetzes beeinflußt den Regierungsressorts eingerichtet wer- besondere Bedeutung zu, da sie in ihrem und orientiert sich an den Grundsätzen den und in denen die Parteifraktionen je Territorium für alle Verwaltungsaufgaben eines republikanischen, demokratischen nach ihrer Abgeordnetenzahl vertreten zuständig sind, die nicht ausdrücklich auf und sozialen Rechtsstaats. Ein ausführlicher sind. Der Bevölkerung (auch der Landesre- besondere Behörden übertragen werden. Grundrechtskatalog existiert in der Landes- gierung) steht sogar die Möglichkeit zu, Sie unterstehen dem Innenminister und verfassung nicht, sondern stützt sich auf durch Volksbegehren und Volksentscheid üben die Aufsicht über die Kreise und Ge- die im Grundgesetz verankerten Grund- unmittelbar in die Gesetzgebung einzu- meinden aus. Unterstehen heißt im übri- rechte und staatsbürgerlichen Rechte, die greifen. Dieser Vorgang wurde aber bisher gen, daß bei sachlichen Entscheidungen durch eigene Rechtsgarantien und Staats- nur sehr selten genutzt und ist aufgrund wie bei behördeninternen Organisations- zielbestimmungen (z. B. zum Datenschutz, struktureller Zulässigkeitsvoraussetzungen und Personalangelegenheiten die Weisun- zur Arbeits- und Sozialordnung, zum nicht einfach zu realisieren. Die Landesre- gen der übergeordneten Instanz bindend Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen) gierung, namentlich der Ministerpräsident, sind. Den beiden letzten Behördengrup- ergänzt werden. Ausführliche Bestimmun- erhält durch die Verfassung eine relativ pen sind schließlich die unteren Landes- gen liegen über das Kultur- und Sozialwe- starke Stellung, wobei das Recht, Gesetz- behörden (z. B. Oberkreisdirektoren der sen vor, da Nordrhein-Westfalen hierzu die entwürfe einzubringen, besonders prakti- Landkreise, Finanzämter, Kreispolizeien, alleinige Zuständigkeit besitzt. sche Auswirkungen hat. Der Ministerpräsi- Schulämter, Bergämter, Gewerbeauf- Nach dem Prinzip der Gewaltenteilung dent als oberster Vertreter der Exekutive sichtsämter) unterstellt. werden auch in der nordrhein-westfäli- bestimmt die Richtlinien der Politik und er- Da das Land selbst nur in einigen bestimm- schen Landesverfassung der Aufbau und nennt die Minister. Dennoch kann der ten Bereichen (siehe Lehrer, Polizisten, Ju- die Aufgaben der politischen Organe fest- Landtag mit dem Haushaltsbewilligungs- stizbedienstete) über eigene Unterbehör- gelegt. Die Gesetzgebung (Legislative) recht, verschiedenen Informations- und den verfügt, werden die meisten Verwal- liegt beim Volk und dem Landtag (221 Mit- Kontrollrechten die Politik der Landesre- tungsaufgaben von Kreisen und Gemein- glieder), der als Volksvertretung fungiert. gierung beeinflussen und quasi kritisch be- den wahrgenommen. Es existiert aber eine Die Verwaltung (Exekutive) wird von der gleiten. allgemeine Weisungskette vom Ministeri- Landesregierung ausgeübt und schließlich Erwähnenswert als unabhängige Kon- um über den Regierungspräsidenten zu die Rechtsprechung (Jurisdiktion) von un- trollinstanzen sind noch der Landes- den Oberkreis- und Oberstadtdirektoren abhängigen Richtern wahrgenommen. rechnungshof (externe Finanzkontrolle des und von dort in den kommunalen Bereich Vergleichbar mit den Wahlprinzipien des Staates, hier insbesondere Prüfung des hinein. So kann bei den Aufgaben einer- Bundes wählen die Bürger die Abgeordne- Haushalts) und der Landesbeauftragte für seits zwischen staatlichen Auftragsangele- ten des Landtags in allgemeiner, gleicher, Datenschutz (vor allem Einhaltung des Da- genheiten (z.B. Durchführung der Land- unmittelbarer, geheimer und freier Wahl tenschutzes, Beanstandung nicht abge- tagswahlen) und andererseits den eigentli- (allerdings seit 1975 für eine Wahlperiode stellter Verstöße und Verbesserungsvor- chen kommunalen Angelegenheiten mit von fünf Jahren). Er steht im Zentrum der schläge). Die Klärung verfassungsrechtli- freier Entscheidungsverfügung (freiwillige politischen Willensbildung und berät und cher Streitfragen obliegt dem Landesver- Selbstverwaltungsaufgaben wie Theater, beschließt die Landesgesetze (vor allem die fassungsgerichtshof mit Sitz in Münster. Sportplätze, Jugendzentren) oder staatlich Verabschiedung des Landeshaushalts), verordneten kommunalen Aufgaben wählt den Ministerpräsidenten, soll die Re- Ein spezifisch nordrhein-westfälisches (Pflichtaufgaben der Selbstverwaltung wie gierung kontrollieren sowie die politischen Parteiensystem Bau und Unterhaltung von Schulen, Sozial- Probleme Nordrhein-Westfalens vor der hilfe, Straßenreinigung) bzw. die Bindung Öffentlichkeit artikulieren. Die Abgeord- Seit 1947 fanden in Nordrhein-Westfalen an enge staatliche Vorgaben (Pflichtaufga- neten wählen zu Beginn jeder Sitzungspe- zwölf Landtagswahlen statt. Dabei hat sich ben zur Erfüllung nach Weisung wie Bau- riode ein Präsidium, einen Ältestenrat und ein spezifisches nordrhein-westfälisches aufsicht, Gesundheitsämter, Zahlung von besetzen Ausschüsse, die für die Dauer der Parteiensystem herausgebildet, das sich Wohngeld) unterschieden werden. Wahlperiode annähernd spiegelbildlich zu vom bundesrepublikanischen Parteiensy- Schließlich gibt es im sozialen3 und kultu- rellen Bereich sowie dem Straßenwesen noch gemeinsame regionale Aufgaben, die Tabelle: Landtagswahlergebnisse (in Prozent) und Regierungen in Nordrhein-Westfalen durch die beiden Landschaftsverbände Jahr Wahl- SPD CDU FDP Grüne Sonst. Reg.- Ministerpräsident Rheinland und Westfalen-Lippe abgedeckt bet. parteien werden, in denen die Kreise und kreisfrei- SPD/FDP/Zen- Amelunxen1 1946 en Städte zusammengeschlossen sind. Die trum/KPD Gebietsreformen in der Vergangenheit CDU/SPD/FDP/ Amelunxen1 1946-47 Zentrum/KPD3 haben in Nordrhein-Westfalen größere Ge- 1947 67,3 32,0 37,6 5,9 – 24,52 CDU/SPD/ Arnold/CDU 1947–50 meinden und Kreise geschaffen, um deren Zentrum/KPD Verwaltungskraft zu stärken. Diese Refor- 1950 72,2 32,3 36,9 12,1 – 18,74 CDU Arnold/CDU5 1950 men blieben nie ganz unumstritten, doch zielen derzeitige inhaltliche Reformversu- CDU/Zentrum Arnold/CDU 1950–54 che vor allem darauf die Effizienz und die 1954 72,6 34,5 41,3 11,5 – 12,76 CDU/FDP Arnold/CDU 1954–56 Flexibilität der öffentlichen Verwaltung zu SPD/FDP/ Steinhoff/SPD 1956–58 erhöhen. Dafür stehen bspw. Versuche und Zentrum die Absicht, Verwaltungsaufgaben von Mi- 1958 76,6 39,2 50,5 7,1 – 3,2 CDU Meyers/CDU 1958–62 nisterien auf Landesämter zu übertragen, 1962 73,4 43,3 46,4 6,8 – 3,5 CDU/FDP Meyers/CDU 1962–66 regionale Dienstleistungszentren zu bil- 1966 76,5 49,5 42,8 7,4 – 0,3 CDU/FDP Meyers/CDU 1966 den, Behörden eine globale Haushaltssum- SPD/FDP Kühn/SPD 1966–70 me zur Verfügung zu stellen und betriebs- 1970 73,5 46,1 46,3 5,5 – 2,1 SPD/FDP Kühn/SPD 1970–75 wirtschaftliche Orientierungen zu fördern 1975 86,1 45,1 47,1 6,7 – 1,1 SPD/FDP Kühn/SPD 1975–78 (z. B. Budgetierung und Controlling). SPD/FDP Rau/SPD 1978–80 1980 80,1 48,4 43,2 4,9 3,07 0,5 SPD Rau/SPD 1980–85 Besonderheiten des politischen 7 Systems 1985 75,3 52,1 36,5 6,0 4,6 0,8 SPD Rau/SPD 1985–90 1990 71,8 50,0 36,7 5,8 5,07 2,5 SPD Rau/SPD 1990–95 Spezifischer Ausgangspunkt des politi- 1995 64,0 46,0 37,7 4,0 10,0 2,3 SPD/ B 90/Grüne Rau/SPD 1995–98 schen Systems ist in Nordrhein-Westfalen 4 SPD/ Clement/SPD seit 1998 die Landesverfassung, die am 11. 7. 1950 in B 90/Grüne Kraft trat – also erst nach Gründung der Bundesrepublik Deutschland. Sie ist auch 1 Amelunxen war zunächst parteilos und wurde 1947 Zentrumsmitglied. Seine Regierung wurde von der Militärregierung ernannt. – 2 Davon: KPD 14,0%; Zentrum 9,8% – 3 KPD bis 1948 – 4 Davon: KPD 5,5%; Zentrum 7,5% – 5 Übergangsregierung – 6 Davon: Zentrum 4,0% – 7 Bis einschließlich 1990: Die Grünen Quellen: W. Woyke, Stichwort: Wahlen. Wähler – Parteien – Wahlverfahren, Opladen 1996 und K. Schubert/M. Klein, Das Politiklexikon, Bonn 1997

68 Nordrhein-Westfalen stem unterscheidet. Folgende allgemeine Kritik und vielen Diskussionen von und zwi- denen die Bürgerschaft selbst unmittelbare Erkenntnisse lassen sich konstatieren, so schen Wissenschaftlern, Politikern und Sachentscheidungen (allerdings unter Aus- z.B. daß die allgemein hohe Wahlbeteili- kommunalpolitischen Praktikern am Typus schluß verschiedener kommunaler Sacht- gung sich bei Bundestagswahlen in Nord- der sogenannten Norddeutschen Ratsver- hemen und mit Anbindung an spezifische rhein-Westfalen verstärkt, eine Konzentra- fassung, dem diese Strukturen immanent Quoren) herbeiführen kann. Die Gemein- tion auf die großen Parteien CDU und SPD sind, wird nach der Reform der Gemeinde- den Nordrhein-Westfalens befinden sich bei Wahlen auf allen Ebenen besonders ordnung von 1994 zukünftig eine „einglei- zur Zeit eigentlich in einer Umbruchphase, stark ist (Höhepunkte lagen in den 60er sige“ Kommunalverfassung gelten. Die da die Maßnahmen der einschneidenden und 70er Jahren) und die SPD bei Bundes- Aufgaben und die Funktionen der bisheri- Kommunalverfassungsreform zwar erste tagswahlen konstant bessere Ergebnisse gen „Doppelspitze“ gehen auf den haupt- Auswirkungen zeigen, aber noch nicht erzielt als im Bund. Insgesamt ist das Wahl- amtlichen Bürgermeister über, der ab 1999 genau bestimmbar sind. Beispielsweise läßt verhalten in Nordrhein-Westfalen für die auch erstmalig von den Bürgern für fünf jedoch die teilweise Nutzung der Experi- Bundesrepublik von besonderem Interesse, Jahre direkt gewählt wird. Zeitgleich, für mentierklausel aus der Gemeindeordnung da die Wähler einen Anteil von ca. 21% der dieselbe Amtsperiode, finden auch die erkennen, daß einige Kommunen ernst- Gesamtwählerschaft ausmachen (vor der Ratswahlen statt. Der Bürgermeister ver- hafte Verwaltungsreformen mit dem Ziel deutschen Einheit sogar knapp 30%). tritt gemeinsam mit dem Rat die Bürger- eines Dienstleistungszentrums „Rathaus“ Für die Wahlsoziologie ist es interes- planen. Die Änderungen der nord- sant, daß sich Nordrhein-Westfalen rhein-westfälischen Gemeindeord- im Laufe seiner Geschichte von nung werden voraussichtlich das po- einem „CDU-Land“ zu einem „SPD- litische Klima in den Kommunen Land“ gewandelt hat. Dieser Wandel (und Kreisen) des bevölkerungsreich- wird mit landespolitischen als auch sten Bundeslandes nachhaltig beein- bundespolitischen Ursachen begrün- flussen. det, wie z. B. dem Programmwechsel der SPD mit dem Godesberger Pro- Schule, Wissenschaft gramm 1959, dem Prozeß der abneh- und Forschung menden Kirchenbindung, dem Wer- tewandel, der verstärkten Urbanisie- Nordrhein-Westfalen beherbergt rung, sozialen Wandlungsprozessen eine vielfältige Schullandschaft, die innerhalb der Arbeitswelt und z.T. acht verschiedene Schulformen (z.T. mehrheitlich besser wahrgenomme- mit Unterformen) integriert. Dazu nen Personal- und Politikangeboten. gehören die Grundschule, die Haupt- Das Wahlverhalten der Bürger ist schule, die Realschule, das Gymnasi- dennoch von großen regionalen Un- um, die Integrierte Gesamtschule, die terschieden gekennzeichnet. Die SPD Sonderschule, die Berufsbildende erzielt ihre besten Ergebnisse im Schule und die Kollegschule. In Nord- Ruhrgebiet (teilweise 30%-Punkte rhein-Westfalen gibt es ca. 2,5 Mio. Vorsprung gegenüber der CDU), in Schülerinnen und Schüler an 6 700 den überwiegend evangelischen Schulen aller Schulformen; davon Städten des Rheinlands und im nörd- sind ungefähr 400 Schulen in privater lichen Ostwestfalen. Die CDU hat da- Trägerschaft (z. B. konfessionelle gegen ihre eher ländlichen Hochbur- Schulen und Waldorfschulen). Neben gen im östlichen Westfalen, im Sau- einigen Problemen der äußeren erland, im Münsterland sowie im Landtag und Fernmeldeturm. Foto: Landtag Nordrhein-Westfalen Schulstruktur ist das Lernniveau an westlichen und südlichen Teil des den Schulen in Nordrhein-Westfalen, Rheinlands. Obwohl die beiden großen schaft und führt mit eigenem Stimmrecht inkl. vieler Ansätze zur inneren Reform, als Parteien in den letzten beiden Jahrzehnten den Vorsitz im Rat und im Hauptausschuß. ansprechend zu bezeichnen. Eine Statistik „Abschmelzungsprozesse“ von bis zu 20% Zusätzlich bereitet er/sie die Sitzungen des aus dem Jahre 1994 belegt, daß an allge- hinnehmen mußten, verfügen sie weiter- Rates vor und führt dessen Beschlüsse aus. meinbildenden Schulen lediglich 5,9% aller hin über jeweilige Mehrheiten. Die FDP In größeren Kommunen wird der haupt- Absolventen ohne Abschlußzeugnis blie- hatte in den Dienstleistungszentren relati- amtliche Bürgermeister durch vom Rat auf ben (in der Mehrzahl Haupt- und Sonder- ven Erfolg, büßte diesen jedoch in den letz- acht Jahre gewählte Beigeordnete unter- schüler). 27,5% der Schulabgänger erlang- ten zehn Jahren zunehmend ein. Die Grü- stützt, die mit ihm und dem Kämmerer zu- ten jedoch die Hochschulreife und 40,8% nen erhalten eine überdurchschnittliche sammen einen Verwaltungsvorstand bil- die Fachoberschulreife (mittlere Reife). Seit Wählerunterstützung aus den Universitäts- den. Mitte der 90er Jahre werden die Richtlinien und Großstädten. Der Rat bleibt aber auf jeden Fall in allen und Lehrpläne aller Schulformen einer Er- Gemeindeangelegenheiten oberstes Be- neuerung unterzogen und mit Perspekti- Kommunalpolitik im Umbruch schlußorgan und kann dabei bestimmte ven für die Weiterentwicklung versehen. In Aufgaben auf andere Organe oder Gre- Kenntnis steigender Schülerzahlen und Die innere Organisation der Gemeinden mien der Kommune übertragen. Seine al- leerer öffentlicher Kassen hatte eine aus wird im wesentlichen durch die jeweilige leinige Entscheidungsbefugnis über die Wissenschaftlern, Industrie- und Gewerk- spezifische Gemeindeordnung in einem Haushaltssatzung und den gemeindlichen schaftsvertretern sowie Politikern zusam- Bundesland festgelegt. Besonderes Kenn- Stellenplan dokumentiert seine besondere mengesetzte Bildungskommisssion in zeichen für die nach dem Zweiten Welt- Bedeutung. Über das Rückholrecht kann er Nordrhein-Westfalen zukunftsorientierte krieg unter britischem Einfluß installierten sogar Geschäfte der laufenden Verwal- Vorschläge über inhaltliche Entwicklungs- Gemeindeordnung war in Nordrhein- tung, die üblicherweise vom Bürgermeister perspektiven vorgestellt („Schule der Zu- Westfalen die doppelte Verwaltungsspitze. getätigt werden, wieder an sich ziehen. kunft – Zukunft der Schule“), die bundes- Sie sah einen ehrenamtlichen Bürgermei- Erstmalig erlaubt die reformierte Gemein- weites Aufsehen und Interesse erregte. ster vor, der vom Rat gewählt wurde und deordnung in Nordrhein-Westfalen den Nordrhein-Westfalen setzt in seiner Bil- einen Gemeinde- bzw. Stadtdirektor, der Bürgern auch eine stärkere und effektivere dungs- und Wissenschaftspolitik auf das die Verwaltung leitete. Dieses Organisati- Mitwirkung an der Kommunalpolitik. Her- Prinzip der sozialen und regionalen Öff- onsmodell hatte den Nachteil, daß es häu- vorzuheben sind hierbei insbesondere der nung und verfügt über 54 Hochschulen fig zu unklaren Machtverhältnissen zwi- Einwohnerantrag, mit dem der Rat ge- (darunter fünf Gesamthochschulen und schen Bürgermeister, Rat und Verwaltung zwungen werden kann, über bestimmte eine FernUniversität) mit insgesamt ca. geführt hat und eine mangelnde Transpa- Fragen zu beraten und zu entscheiden 520 000 Studierenden. Zehn Einrichtungen renz der Entscheidungsstrukturen die Bür- sowie die Partizipationsinstrumente Bür- der Max-Planck-Gesellschaft, fünf Institute ger teilweise verwirrte. Nach langjähriger gerbegehren und Bürgerentscheid, mit der Fraunhofer-Gesellschaft, drei Großfor-

Nordrhein-Westfalen 69 schungseinrichtungen, 29 weitere außeru- Nach einer Studie der UNESCO gehört reich in Nordrhein-Westfalen Chancen (zu- niversitäre Forschungseinrichtungen und Nordrhein-Westfalen zu den fünf bedeu- sätzliche Arbeitsplätze) und Risiken („Frei- 38 DFG-Sonderforschungsbereiche bele- tendsten Kulturregionen der Welt, in zeit-Umwelt-Konflikt“, „Freizeitstreß“ ben die Forschungslandschaft und pflegen denen sich neben Theaterbühnen, Opern- usw.). (vor allem) Kontakt zur (mittelständischen) häusern, unzähligen Kirchen, Messen, Wirtschaft. Dabei hat sich Nordrhein-West- Kunstausstellungen und -sammlungen falen zusätzlich mit der Nordrhein-Westfä- auch Filmtage, Literaturbüros und Rock- Das Wappen: lischen Akademie der Wissenschaften und festivals etabliert haben. Baudenkmäler dem Wissenschaftszentrum Nordrhein- und Kunstschätze wie bspw. der Kölner Das Wappen Nordrhein-Westfalens zeigt Westfalen zur dichtesten Wissenschafts- Dom, der Dom zu Aachen mit seinem Dom- die es konstituierenden Landesteile Rhein- landschaft Europas entwickelt. Dennoch schatz, das Rathaus zu Münster, das Kloster land, Westfalen und Lippe. gibt es ausreichend Probleme: Defizitäre Corvey, Schloß Augustusburg bei Brühl Der silberne Rhein war Wappen des personelle und räumliche Ausstattungen oder die Essener Villa Hügel haben zu die- preußischen Rheinlandes. Das steigende, der Hochschulen und eine chronisch zu sem Ruf beigetragen. Rund 540 Museen, silberne Westfalenroß wurde vom Herzog- nennende Finanznot belasten Wissen- darunter 211 Volks- und Heimatkundemu- tum Westfalen geführt. Es ist dem sprin- schaft und Forschung. Diesen problemati- seen, 25 historische und archäologische genden Sachsenroß nachempfunden, da schen Zuständen wollen die Verantwortli- Museen, 76 naturwissenschaftliche und das westfälische Gebiet aus dem Erbe Hein- chen z.B. mit der Verkürzung der Studien- technische Museen und 96 Kunstmuseen richs des Löwen stammte. Im unteren Wap- zeiten, der Einführung der Finanzautono- repräsentieren eine kulturelle Vielfalt im penfeld ist die lippische Rose zu sehen – das mie, der Verbesserung des Hochschulma- Land. Herausragende Kunstsammlungen älteste Wappenbild im Landeswappen, nagements und einem stärkeren Praxisbe- sind das Wallraff-Richartz-Museum und das denn es wird seit 1218 geführt. zug in der Lehre begegnen. Außerdem will Museum Ludwig in Köln, die Kunstsamm- das Land mit dem Zukunftsprogramm For- lung Nordrhein-Westfalen, das Kunstmuse- schung gezielt Zukunftstechnologien för- um und die Kunsthalle in Düsseldorf, das dern und eine Weiterentwicklung der Gei- Wilhelm-Lehmbruck-Museum in Duisburg stes-, Sozial- und Kulturwissenschaften be- und das Museum Folkwang in Essen. Jähr- treiben. Inwieweit diese Maßnahmen grei- lich ziehen die Museen rund 11 Mio. Besu- fen, muß die nähere Zukunft zeigen. Auf cher an. Auch Theater und Opernhäuser jeden Fall wird im Land erkannt, daß die haben sich in der Kulturszene einen Namen Hochschul- und Forschungseinrichtungen gemacht, wobei in 34 Städten Nordrhein- Motoren des ökonomischen Strukturwan- Westfalens ständig Theater gespielt wird. dels sind und einen erheblichen Beitrag zur 96 öffentliche und 30 private Bühnen öko-sozialen sowie kulturellen Entwick- (Spielzeit 1993/94) können vom interessier- lung leisten. ten Publikum besucht werden. Beispielhaft Literaturhinweise: seien dafür das Bochumer Schauspielhaus, Medien, Kultur und Freizeit die Bühnen in Köln und Düsseldorf sowie Andersen, Uwe (Hrsg.) 1998: Kommunalpolitik in die Ruhrfestspiele Recklinghausen ge- Nordrhein-Westfalen im Umbruch, Köln „Nordrhein-Westfalen ist ein Medienland“ nannt, die weit über die Landesgrenzen Angermund, Ralph/Edmund Budrich/Andreas – dieser Spruch läßt sich tatsächlich an zahl- hinaus bekannt sind. Ein wichtiger Be- Kost (Konzeption) 1996: NRW-Lexikon Politik. Ge- reichen Beispielen belegen. Der Westdeut- standteil des kulturellen Lebens sind auch sellschaft. Wirtschaft. Recht. Kultur, Opladen sche Rundfunk (WDR), beheimatet in Köln, die über 2 700 Bibliotheken, deren Litera- Briesen, Detlef/Gerhard Brunn/Rainer S. Elkar/ Jürgen Reulecke 1995: Gesellschafts- und Wirt- ist die größte Landesrundfunkanstalt in tur- und Informationsangebot intensiv ge- schaftsgeschichte Rheinlands und Westfalens, Deutschland und leistet mit seinen Hör- nutzt wird und in denen fast 31 Mio. Köln funkprogrammen einen wichtigen Beitrag Bücher und andere Medien bereitstehen. Brunn, Gerhard/Jürgen Reulecke 1996: Kleine Ge- für die Identität Nordrhein-Westfalens und So hat sich in Nordrhein-Westfalen ferner schichte von Nordrhein-Westfalen. 1946 bis 1996, im Verbund mit der ARD einen wesentli- auch eine Freizeit- und Erlebnisindustrie Köln Dästner, Christian 1996: Die Verfassung des Lan- chen Anteil an der Gestaltung des öffentli- herausgebildet, deren Bedeutung ständig des Nordrhein-Westfalen. Kommentar, Köln chen Fernsehprogramms. Köln ist mittler- zunimmt (Ferienzentren, Multiplexkinos, weile überhaupt zum Mittelpunkt der Spaßbäder, Sportzentren, naturnahe Ein- Anmerkungen elektronischen Medien geworden, denn richtungen usw.). Allerdings ist Nordrhein- auch das größte kommerzielle TV-Pro- Westfalen kein klassisches Tourismusland 1 Auf dem Wiener Kongreß 1815 wurden das gramm RTL sowie die Fernsehsender VOX und liegt mit einer Reise- und Übernach- Rheinland und Westfalen Preußen zugespro- chen. Damit kamen beide als Provinzen in den und VIVA und zahlreiche Produktionsbe- tungsintensität von 1,9 Übernachtungen je preußischen Staatsverband. Diesen Gebiets- triebe haben ihren Sitz in der Domstadt. In 1 000 Einwohner unter dem Durchschnitt stand behielten die preußischen Westprovin- ganz Nordrhein-Westfalen kommt ein der Bundesländer. Bevorzugte Regionen, zen bis zum Ersten Weltkrieg bei. Der Versailler dichtes Netz von Lokalradioprogrammen im Rahmen eines beliebter werdenden Friedensvertrag führte dann dazu, daß das Ge- hinzu. In Düsseldorf ist der Sitz des Eu- Kurzzeitourismus (ca. 11,6 Mio. Fremden- biet Eupen-Malmedy an Belgien fiel, und aus der Rheinprovinz und der bayerischen Pfalz ropäischen Medieninstituts und der Film- verkehrsgäste für eine durchschnittliche wurde das Saargebiet herausgelöst, das im stiftung Nordrhein-Westfalen, und Ober- Aufenthaltsdauer von drei bis vier Tagen), Auftrag des Völkerbundes von Frankreich ver- hausen entwickelt sich zum Zentrum für sind der Teutoburger Wald, das Ruhrgebiet waltet wurde. neue Medientechnologie. Bei den Printme- und das Sauerland. 2 Die Wirtschaftsstruktur eines Landes setzt sich dien spielen die Regional- und Großstadt- Auch Vereine gehören in den Freizeitbe- aus seiner Bruttowertschöpfung nach Sektoren und Branchen zusammen, d.h. nach dem Wert zeitungen im gesamten Bundesland immer reich hinein, von denen hier rund 29 000 der produzierten Güter und Dienstleistungen noch eine herausragende Rolle. 1995 kon- existieren. Die Sportvereine dominieren abzüglich des darin enthaltenen Wertes der kurrierten 54 Tageszeitungen und drei Wo- dabei mit einer Anzahl von ca. 19 500 (4,7 von anderen Wirtschaftseinheiten bezogenen chenzeitungen mit ihren jeweiligen Be- Mio. Mitglieder). Den größten Anteil Produkte. 3 zirksausgaben mit einer verkauften Ge- davon nehmen die knapp 4 000 Fußballver- Hierbei handelt es sich in erster Linie um Spezi- alkrankenanstalten. samtauflage von 4,6 Mio. Exemplaren um eine ein, gefolgt von Schützen- und Tennis- 4 Es ist in diesem Zusammenhang durchaus in- die Leser Nordrhein-Westfalens. Ungefähr vereinen. Im übrigen Vereinsbereich ragen teressant, daß die Bevölkerung sich in einem 650 Presseverlage, darunter viele Zeitschrif- die Taubenzuchtvereine (ca. 3 000), die frei- Volksentscheid mit 3,6 Mio. gegen 2,2 Mio. ten- und Buchverlage, komplettieren diese willigen Feuerwehren (ca. 1 700) und die Stimmen für die Verfassung aussprach und Medienvielfalt. In der westfälischen Pro- Gesangvereine (ca. 1 600) heraus. Die ge- damit unmittelbar an diesem Einführungspro- zeß beteiligt war. vinz, in Gütersloh, ist schließlich das größte sellschaftlichen Entwicklungen, wie der europäische Multimedia-Unternehmen, Trend zu mehr Markt und zum Rückzug ins der Bertelsmann-Konzern, angesiedelt. Private, bergen auch für den Freizeitbe-

Anschrift: Landeszentrale für politische Bildung Nordrhein-Westfalen, Neanderstraße 6, 40233 Düsseldorf

70 Nordrhein-Westfalen Vom armen Retortenbaby zum selbstbewußten Mittelland einnimmt. Mit gleich drei angrenzenden europäischen Nachbarn (Frankreich, Lu- xemburg und Belgien) ist das Land durch Rheinland-Pfalz Versöhnung und Verständigung aus der Randlage eines „Grenzlandes“ in eine eu- ropäische Zentrallage hineingewachsen – für das stark exportorientierte Rheinland- Pfalz eine Grundvoraussetzung für den Von Dieter Grube Aufschwung. Schon in früheren Zeiten wurden die wirtschaftliche Entwicklung und der Wohlstand durch wichtige, sich hier kreuzende europäische Handelsrou- ten bestimmt. Im Westen grenzt Rheinland-Pfalz an Bel- Von den Franzosen verfügt So ist es nicht verwunderlich, daß man gien, mit dem es 57 km gemeinsame Gren- dem sogenannten „Retortenbaby“ Rhein- ze hat, sowie an das Großherzogtum Lu- Das nach dem Kriege neu geschaffene land-Pfalz, das zudem in wirtschaftlicher xemburg (125 km) und an das Saarland Land Rheinland-Pfalz ist aus ehemals ganz Hinsicht zum Schlußlicht der deutschen (203 km). Im Süden grenzt Rheinland- heterogenen Teilen zusammengefügt Länder zählte, keine lange Lebensdauer Pfalz an Frankreich (108 km), im Norden worden. Der Norden des von der französi- vorhersagte. In den fünf Jahrzehnten sei- an Nordrhein-Westfalen mit 305 km ge- meinsamer Grenze. Im Osten bildet zum größten Teil der Flußlauf des Rheins die Grenze zu den Nachbarländern Hessen (266 km) mit Baden-Württemberg (94 km). Kein anderes Bundesland hat so viele europäische Nachbarn; dem entspricht auch eine gewisse Offenheit seiner Bevöl- kerung zu ausländischen Mitbürgern.

Die Landschaft: Rheinisches Mittelgebirge...

Die Landschaft von Rheinland-Pfalz ist ge- prägt von den vier rheinischen Mittelge- birgen Eifel, Westerwald, Hunsrück und Taunus im Norden, dem Pfälzer Wald und dem Oberrheinischen Tiefland im Süden des Landes sowie den großen Flußläufen von Rhein, Mosel, Nahe und Lahn. Die Unterschiede der Regionen haben auch Auswirkungen auf das Klima. Es schwankt zwischen den warmen, windge- schützten, tiefergelegenen Landesteilen (z. B. die Flußtäler oder weite Gebiete Rheinhessens) und den Berg- und Hügel- gebieten mit weitaus rauherem Klima. Das ausgesprochen milde Klima in den Tal- lagen begünstigt den Weinbau, der das Land in starkem Maße prägt; in den Höhenlagen der Mittelgebirgsgegenden ist wegen der klimatisch schlechten Bedin- gungen der Anbau von Getreide und vor allem Zuckerrüben verbreitet. Sehr schnell war so das Wort vom „Land der Rüben Der Speyrer Dom. Foto: Landesmedienzentrum Rheinland-Pfalz und Reben“ entstanden. Die wirtschaftli- che und industrielle Entwicklung in den schen Besatzungsmacht verfügten „rhein- ner Existenz ist das Land mit seinen fast Ballungsräumen – vor allem entlang der land-pfälzischen“ Staates gehörte ur- 20 000 km und über 4 Mio. Einwohnern in- Binnenwasserwege – hat dieses landwirt- sprünglich zur preußischen Rheinprovinz zwischen zu einer Einheit zusammenge- schaftliche Image des Landes überwinden und war sehr stark nach Köln und Düssel- wachsen und hat seine unverwechselbare helfen. dorf hin orientiert. Rheinhessen in der Eigenständigkeit gefunden. Auch wirt- Die Eifel erstreckt sich zwischen Mosel Mitte des Landes wurde vom hessischen schaftlich hat sich Rheinland-Pfalz mit und Kölner Bucht und erreicht bei einer Gebiet abgetrennt, was z.B. zur Folge hat, einem Bruttoinlandsprodukt von 161,5 durchschnittlichen Höhe von 450 bis 600 daß die rechtsrheinischen Stadtteile der Mio. DM einen guten Mittelplatz gesi- Metern auch Spitzenhöhen um 700 Me- Landeshauptstadt Mainz bis zum heuti- chert. tern, so in der Schnee-Eifel und in der gen Tage abgetrennt sind und von rhein- Hohen Acht, dem höchsten Berg der Eifel land-pfälzischer Seite von Zeit zu Zeit um Grenzland in der Mitte Europas mit 747m. Sie ist vorwiegend als Hoch- eine „Wiedervereinigung“ gerungen fläche ausgebildet und – trotz ihres rau- wird. Im Süden war die bayerische Pfalz Schon ein kurzer Blick auf die Landkarte hen und vor allem niederschlagsreichen territorial mit München und gefühls- zeigt, daß Rheinland-Pfalz zwar am west- Klimas – stark gerodet und dadurch agra- mäßig noch eher mit der benachbarten lichen Rand der Bundesrepublik liegt, im risch genutzt. Charakteristisch für die Eifel Kurpfalz verbunden. Starke bayerische Hinblick auf seine gesamteuropäische sind die vulkanischen Berge aus dem Ter- Bestrebungen zielten in den ersten Jahren Lage aber einen Platz in der ersten Reihe tiär und die jüngeren Maare im weiteren des Landes auf eine Wiedereingliederung Umkreis von Daun. der Pfalz in Bayern.

Rheinland-Pfalz 71 Wie die Eifel ist auch der Westerwald vul- Rebbau und einem intensiv betriebenem Kernland des „Heiligen Römischen kanisch geprägt, aber durchweg durch die Obstbau sowie dem Ackerbau die besten Reiches“ Basaltdecken, deren Gesteine weithin Chancen geboten werden. Durch diese In- auch die Grundlage für wirtschaftliche tensivwirtschaft verschwand allerdings Viele Zeugnisse und Geschichtsdenkmäler Entwicklungen bildeten. Begrenzt wird der ohnehin schwache Wald fast ganz; le- in Rheinland-Pfalz spiegeln auch heute der Westerwald durch die Flüsse Rhein, diglich eine Gemeinde Rheinhessens be- noch gut sichtbar die Geschichte wider. Lahn, Dill und Sieg. Höhenstufungen sitzt noch Wald auf seiner Wirtschafts- So verbindet man mit der Stadt Trier, der führen zur räumlichen Untergliederung in fläche. ältesten Stadt Deutschlands, die vielen „Niederwesterwald“, „Oberwesterwald“ noch gut erhaltenen Bauwerke der alten und „Hoher Westerwald“. Die Gebirgs- Residenzstadt der Römer. Porta Nigra, hochfläche ist nur noch auf kleinen ...Pfälzerwald und Oberrheinisches Konstantin-Basilika oder die Kaiserther- Flächen mit Wald bedeckt; Windschutz- Tiefland men sind Zeugnisse der 500jährigen Herr- pflanzungen sind notwendig geworden, schaft der Römer, zu deren Ende Trier, um die landwirtschaftlich besonders ge- Die Landwirtschaft im südlichen Rhein- neben Rom und Konstantinopel, eine der nutzten Flächen vor Ausblasungen (und land-Pfalz ist geprägt von Pfälzerwald, drei Hauptstädte des Reiches war. Auch vor Schneeverwehungen) zu schützen. der aus Buntsandstein aufgebaut ist. Das Mainz diente den Römern schon als wich- Der Hunsrück ist einer der kleineren Ge- bewaldete Mittelgebirge ist ein Teil der tiger Knotenpunkt an Rhein und Main. birgsteile des rheinischen Schiefergebir- westlichen Gebirgsumrahmung des Von nur kurzer Dauer war die Herrschaft ges. Er erstreckt sich südlich der Mosel Oberrheinischen Tieflandes. Seine natürli- der Burgunder in dem Gebiet um Worms zwischen Rhein, Nahe und Saar, fällt fast chen Grenzen sind im Westen das Ende ab dem Jahr 420 n. Chr., da sie bereits nach traufartig nach Süden ab und weist eine der geschlossenen Waldbedeckung, im knapp zwanzig Jahren von den Hunnen deutliche Gliederung in Hochmulden und Süden die leichte Einsenkung des Was- vertrieben wurden. Doch trotz der kurzen Höhenrücken auf. Die wichtigsten Erhe- gaus und im Osten ist es der Steilabfall Zeitspanne erhielt das Burgunderreich bungen des Hunsrücks liegen innerhalb zum Rheintal, auch als „Haardt“ bezeich- durch die Nibelungensage eine bis heute der Höhenrücken: als höchster der Er- net und bekannt. Das Gebirge ist im Un- nachwirkende Faszination. beskopf mit 816 m, auch der höchste Berg terschied zum Rheinischen Schiefergebir- Im Mittelalter erlebte das Gebiet des heu- in Rheinand-Pfalz, ferner der Idarkopf ge sehr dünn besiedelt; Verkehr und Wirt- tigen Rheinland-Pfalz seine politische und und der Rösterkopf, um nur einige zu schaft sind auf die zahlreichen Täler be- kulturelle Blütezeit. Die Lande am Rhein nennen. Die Höhenrücken und die schränkt, wo in kleinen Standorten die waren das Kernland des Heiligen Römi- „Köpfe“ sind bewaldet, die Hochflächen traditionelle Holzverarbeitung erhalten schen Reiches deutscher Nation. Drei der und vor allem die Mulden hingegen noch blieb. sieben Kurfürsten waren in den Städten sehr intensiv agrarisch genutzt. Das Oberrheinische Tiefland ist sowohl hi- und Territorien des heutigen Rheinland- Nur gering ist der Anteil des Landes am storisch als auch wirtschaftlich eine Kern- Pfalz beheimatet: Die Kurpfalz und die Bi- Taunus. Er beschränkt sich auf den nördli- landschaft von Rheinland-Pfalz. Es ist ein schofsitze Mainz und Trier, deren Wap- chen Teil des sogenannten „Westlichen Teil der „Pfaffengasse“ des ehemaligen penbilder heute das Wappen von Rhein- Hintertaunus.“ Es ist eine wellige bis leicht Heiligen Römischen Reiches Deutscher Na- land-Pfalz bilden. Die prägende Kraft der kuppige Gebirgshochfläche zwischen tion zwischen Basel und Köln: Speyer, Kirche in dieser Zeit wird dokumentiert Rhein, Lahn und Aar, im Süden etwa am Worms und Mainz führen die Tradition durch die Kaiserdome in Speyer, Worms Taleinschnitt der Wisper endend. Sie liegt geistlicher Schwerpunkte fort. Es ist – und Mainz oder durch die Abteikirche in im Durchschnitt unterhalb der 400-Meter- ebenfalls traditionell – ein Gebiet intensi- Maria-Laach. Besonders die Bischöfe von Grenze, ragt aber stellenweise bis 450 ver landwirtschaftlicher Nutzung. Es ist Mainz gelangten zu herausragender Meter auf. Der größte Teil des Westlichen aber auch ein hervorragendes Durch- Macht, war doch der Kurfürstentitel mit Hintertaunus ist von Wald bedeckt; die gangsgebiet, welches die Verkehrsträger der Erzkanzlerschaft des Reiches verbun- gerodeten Flächen des Kulturlandes lie- im Wasser, auf der Schiene und auf der den. Über die weltliche Macht hinaus war fern wegen ungünstiger Bodenverhältnis- Straße intensiv nutzen und natürlich er- Mainz auch die größte Kirchenprovinz se nur magere wirtschaftliche Erträge. wuchs hier eine Stadt- und Industriegasse, nördlich der Alpen. Der Papst verlieh dem Wichtige landschaftliche Bestandteile des deren Charakteristikum es ist, daß die ein- Bischofsitz den Ehrentitel „Heiliger Rheinischen Schiefergebirges sind das Mit- zelnen Standorte auch über Strom- und Stuhl“, um auch somit sichtbar zu ma- telrheingebiet mit dem Rheintal als Landesgrenzen hinaus wirksam werden – chen, daß Mainz, neben Rom das Zentrum Hauptverkehrsachse sowie die Talzüge das Oberrheinische Tiefland wird hier zum des katholischen Glaubens war. Im Klei- von Mosel und Lahn. Hier ist die Besied- Brückenland. nen wirkte die heiliggesprochene Hilde- lung relativ dicht und der landwirtschaftli- Die Nutzung der Landschaftsräume von gard von Bingen (geb. 1098), die durch che Anbau konzentriert sich auf Spezial- Rheinland-Pfalz geht auf vor- und früh- ihre mystischen und naturwissenschaftli- kulturen, je nach Lage und Lokalklima auf geschichtliche Zeiten zurück. Spätestens chen Schriften., ihre musikalischen Kom- Reb- und Obstanbau oder auf Beeren- mit der Römerzeit begann die Land- positionen sowie ihren Kochrezepten eine und Gemüsezucht. erschließung durch Verkehrswege und die überragende geistige Autorität ihrer Zeit Die südlich an das Rheinische Schieferge- Anlage von Städten als Schwerpunkte kul- war. birge anschließenden Landschaften besit- tivatorischer und wirtschaftlicher Aktivitä- Steinerne Dokumente des Mittelalters zen einen völlig andersartigen Charakter. ten. Die räumliche Verteilung der Städte sind auch die vielen mächtigen Burganla- Herausragende Landmarke ist der 687 heute läßt erkennen, daß bestimmte gen, die das Landschaftsbild an Rhein und Meter hohe Donnersberg, ein porphyri- Strukturlinien bevorzugt wurden, so z.B. Mosel prägen und die heute Symbole für sches Bergmassiv, das auch für die frühe die „Rheinlinie“ mit insgesamt 28 Städten. das historische Rheinland-Pfalz sind. Besiedlung dieses Raumes eine Rolle spiel- In den Talzügen des Landes liegen, die Ab dem Ende des 15. Jahrhunderts ging te und eine keltische Fliehburg trug. Das Rheinlinie eingeschlossen, 45 Städte oder der politische Einfluß der Kurfürsten Rheinhessische Tafel- und Hügelland war gut 42% aller städtischen Siedlungen des zurück. Im kulturellen Bereich suchten sie frühzeitig besiedelt und landwirtschaft- Landes. Eine andere wichtige Strukturlinie jedoch den Anschluß an die europäische lich genutzt. Boden- und Klimagunst ist der Haardtrand mit der Deutschen Entwicklung der Renaissance im Geist des haben dies möglich gemacht. Es versteht Weinstraße und dem Westrand der Vor- Humanismus. Schon 1473 wurde in Trier, sich von selbst, daß in diesem Raum dem derpfalz: dort reihen sich über ein halbes vier Jahre später in Mainz eine Universität Dutzend kleinerer und mittlerer Städte gegründet. Eine prägende Gestalt dieser aneinander. Umbruchszeit war der Universalgelehrte und Kardinal Nikolaus von Kues. Auch die Reformation hat in Rheinland- Pfalz ihre Wurzeln, gab doch der Mainzer Kurfürst Albrecht von Brandenburg und

72 Rheinland-Pfalz sein „Ablaßgeschäft“, den Anstoß zu Mar- tin Luthers Thesen. Dieser bekannte sich auf dem Wormser Reichstag von 1521 endgültig zu seinem reformatorischen Prinzip und damit zur Abspaltung von der katholischen Kirche. Gerade durch die Er- findung der Buchdruckkunst des Mainzers Johannes Gutenberg konnten die Schrif- ten der Reformation schnell Verbreitung finden.

Das Erbe der Franzosenzeit

Am Übergang zur Moderne breiteten sich die Ideen und Wirkungen der Französi- schen Revolution auch in ganz Deutsch- land aus. Mit dem Vorstoßen der französi- schen Revolutionstruppen, wurde in Mainz 1793 die erste Republik auf deut- schem Boden gegründet. Einer Koalitions- armee der Reichsfürsten gelang es zwar, Mainz zurückzuerobern, aber mit dem Frieden von Lunéville 1801 wurden die linksrheinischen Gebiete dem französi- schen Staat eingegliedert. Die französi- sche Herrschaft bewirkte eine völlige Neu- gestaltung des gesamten öffentlichen Le- bens. Durch die Neuordnung des Wiener Kongresses 1814/15 fielen die ehedem französischen Territorien im Rheinland zu Preußen und die Gebiete um Mainz an das Großherzogtum Hessen, die seither Rhein- hessen heißen. Die Pfalz wurde Bayern zu- gesprochen. Burg Cochem. Blick ins Moseltal. Foto: Landesmedienzentrum Rheinland-Pfalz Verlief das politische Leben in diesen Ge- bieten zunächst in ruhigen Bahnen, so schlug die politische Erregung im Nach- Nach der Kapitulation am 8. Mai 1945 war Wilhelm Boden zum vorläufigen Minister- gang zur französischen Julirevolution das Gebiet des heutigen Bundeslandes präsidenten berufen. Die von ihm geführ- auch in Deutschland hohe Wellen. In der von amerikanischen Truppen besetzt. te Landesregierung sollte das Land bis zur bayerischen Pfalz trafen sich am 27. Mai ersten Landtagswahl „treuhänderisch ver- 1832 30 000 Menschen auf dem Hamba- Das Land Rheinand-Pfalz entsteht walten.“ cher Schloß zur damaligen größten Pro- Die Beratende Landesversammlung verab- testkundgebung auf deutschem Boden, Beim Vollzug der in Potsdam beschlosse- schiedete am 25. April im Hotel „Ritter- auf der vehement Pressefreiheit, ein kon- nen Besatzungszonen übernahmen fran- sturz“, auf den Rheinhöhen bei Koblenz, föderiertes Europa, die nationale deut- zösische Truppen zwischen dem 10. Und den Entwurf der Landesverfassung und sche Einheit und Freiheit eingefordert 15. Juli 1945 nacheinander die Pfalz, empfahl der Bevölkerung die Annahme wurden. Das Hambacher Fest war somit Rheinhessen und die nördlichen Landes- im Volksentscheid. Bei der namentlichen auch ein Vorbote für die Revolution von teile von den amerikanischen Truppen. Schlußabstimmung über den Verfassungs- 1848/49, die mit Mainz eines ihrer demo- Als letzte der drei westalliierten Besat- entwurf stimmten von 127 Mitgliedern kratischen Zentren hatte und vor allem in zungsmächte verfügte Frankreich im Au- der Beratenden Landesversammlung 70 der Pfalz blutig niedergeschlagen wurde. gust 1946 die Errichtung eines politischen mit Ja, 31 mit nein, 26 Abgeordnete Die wachsende Industrialisierung in die- Gebildes, nämlich eines „rheinland-pfälzi- waren bei dieser Sitzung nicht anwesend. sem Jahrhundert warf neue soziale Fra- schen Landes“. Es sollte die Pfalz, die Re- In der Volksabstimmung am 18. Mai 1947 gen auf. Antworten auf die brennenden gierungsbezirke Trier, Koblenz, Mainz und folgte die Bevölkerung mit einer Mehr- sozialen Probleme suchten vor allem der Montabaur umfassen. heit von 53 % gegenüber 47% der Emp- aus Trier stammende Karl Marx, der in Der Neuaufbau der demokratischen Ord- fehlung der Beratenden Landesversamm- Mainz wirkende Bischof Wilhelm Emma- nung sollte von untern nach oben erfol- lung. Das Land Rheinland-Pfalz war somit nuel von Ketteler und der in Hamm an der gen: Die ersten Wahlen zu den kommuna- durch den Willen der Bevölkerung konsti- Sieg geborene Friedrich Raiffeisen zu len Gebietskörperschaften in den Gemein- tuiert. geben. Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts den, Städten und Kreisen fanden im Über die Schulartikel, die bei der Ausar- gerieten die Gebiete am Rhein und in der Herbst 1946 statt. Vier daraus gebildete beitung der Verfassung besonders um- Pfalz wirtschaftlich und politisch mehr Wahlkörper ermittelten die 127 Mitglie- stritten waren, wurde gesondert abge- und mehr ins Abseits. 1870/71, 1914/18 der einer Beratenden Landesversamm- stimmt. Hier entschieden sich 52,4% für und 1939/40 wurden sie zu militärischen lung,die eine Verfassung ausarbeiten soll- und 47,6% gegen die entsprechenden Ar- Aufmarschgebieten für die Kriege gegen ten.Bei der Sitzverteilung entfielen 70 auf tikel 27 bis 40 der Landesversammlung. Frankreich. Die Zeit des Nationalsozialis- die CDU/CDP, 41 auf die SPD, 9 auf die KPD Im Unterschied zum späteren Grundge- mus hat auch in Rheinland-Pfalz seine und auf die beiden liberalen Parteien 5 setz sieht die Landesverfassung auch die schrecklichen Spuren hinterlassen. Die im und 2 Sitze. Möglichkeit der direkten Einflußnahme Mittelalter blühenden jüdischen Gemein- Zur konstituierenden Sitzung trat die Be- der Bürger auf die Gesetzgebung in Form den, die bereits seit römischer Zeit in Städ- ratende Landesversammlung am 22. No- des Volksbegehrens und des Volksent- ten wie Mainz, Trier, Worms und Speyer vember 1946 in Koblenz, im Stadttheater, scheides vor. Somit können Gesetzesvor- existierten, wurden völlig vernichtet. Blie- zusammen.Am 29. November wurde Dr. lagen nicht nur aus der Mitte des Parla- ben die linksrheinischen Gebiete im Ersten ments oder durch die Landesregierung, Weltkrieg noch verschont, so machte die sondern auch durch ein Volksbegehren in Zerstörung auch hier nicht halt.

Rheinland-Pfalz 73 die parlamentarische Beratung einge- Zuschnitt der Wahlkreise führte immer zung des Landtags nach Parteien und bracht werden. Das Volksbegehren richtet wieder zu einer Benachteiligung der klei- Wählervereinigungen, mit den Wahlkreis- sich zunächst an die Landesregierung, die neren Parteien. Im Jahre 1972 erklärte das stimmen, welche Abgeordneten direkt in eine entsprechende Gesetzesvorlage mit Bundesverfassungsgericht das rheinland- den Landtag gewählt werden. einer eigenen Stellungnahme dann dem pfälzische Wahlsystem für verfassungs- Die Ergebnisse der Wahlen zum rhein- Landtag unterbreitet. Volksbegehren widrig, was zu einer nachträglichen Kor- land-pfälzischen Landtag zeigen von 1947 müssen von mindestens einem Fünftel der rektur der Ergebnisse der Landtagswahl bis 1987 eine gewisse Gesetzmäßigkeit. Wahlberechtigten unterstützt werden. 1971 führte. Die Landtagswahl 1971 Die Christlich Demokratische Union (CDU) Folgt der Landtag einem Volksbegehren wurde nach einem noch vor dem Urteil konnte bei allen Wahlen die meisten Stim- nicht, so findet ein Volksentscheid statt. des Bundesverfassungsgerichts geänder- men auf sich vereinigen und war stärkste Die Mehrheit der abgegebenen gültigen ten neuen Wahlgesetz durchgeführt. Die politische Kraft im Lande. Bei sechs Land- Stimmen entscheidet dann über Annahme Zahl der Wahlkreise wurde auf vier gleich tagswahlen errang die CDU die absolute oder Ablehnung. große reduziert. Durch diese Veränderun- Mehrheit der Mandate. Dreimal sogar die Am 19. Januar 1975 haben in drei Abstim- gen wurden die Benachteiligungen der der abgegebenen gültigen Stimmen. mungsgebieten der früheren Regierungs- kleineren Parteien weitgehend beseitigt. Die zweitstärkste Partei, die Sozialdemo- bezirke Koblenz, Trier, Montabaur und Dies zeigen auch die Ergebnisse der Land- kratische Partei Deutschlands (SPD), hatte Rheinhessen Volksentscheide stattgefun- tagswahlen 1975 bis 1983. trotz eines langfristig zu beobachtenden, den, bei denen es um die Angliederung Im November 1989 wurde die Landesver- von kleineren Rückschlägen begleiteten der betreffenden Regionen an Hessen fassung geändert. Dem Landesgesetzge- Aufwärtstrends offenbar keine Mehrheits- bzw. Nordrhein-Westfalen ging. Die Bür- ber wurde jetzt ermöglicht, ein dem Bun- chancen. Für viele daher überraschend ger der betroffenen Regionen bekannten deswahlrecht angenähertes personalisier- drehte die SPD bei der Landtagswahl 1991 sich eindeutig zum Land Rheinland-Pfalz. tes Verhältniswahlrecht einzuführen. die scheinbar unbänderlichen Kräftever- Ein Schlußstrich unter eine jahrzehntelan- Gleichzeitig wurde die Wahlperiode ab hältnisse um, errang mit einem Plus von 7 ge Diskussion war gezogen. 1991 von vier auf fünf Jahre verlängert. Mandaten 47 Sitze im Landtag und ver- wies die CDU auf den zweiten Platz. Die Christdemokraten verloren 8 Mandate und entsandten in den 12. Landtag nur noch 40 Abgeordnete. Bei der Wahl eines Koalitionspartners entschieden sich die Sozialdemokraten für die Freie Demokra- tische Partei (F.D.P.). Diese hatte, ebenso wie DIE GRÜNEN, 7 Sitze errungen. Die Wählerstimmen konzentrierten sich seit Bestehen des Landes auf CDU, SPD und F.D.P. Seit 1987 ist mit den GRÜNEN eine weitere Partei im rheinland-pfälzi- schen Landtag vertreten. Andere Parteien waren nur bei drei Landtagswahlen er- folgreich. 1947 die Kommunistische Partei Deutschlands (KPD), 1959 die Deutsche Reichspartei (DRP) und 1967 die National- demokratische Partei Deutschlands (NPD).

Mainz als Sitz der Landesregierungen

Sitz des Landtags und der Landesregie- rung war zunächst Koblenz, bis der Land- tag 1950 mit 49 gegen 32 Stimmen (bei drei Enthaltungen) beschloß, den Sitz der Legislative und Exekutive nach Mainz zu verlegen. Vom 13. Juni bis zum 9. Juli 1947 war Dr. Wilhelm Boden Ministerpräsident einer aus CDU-Mitgliedern gebildeten Regie- rung. Am 9. Juli 1947 wurde er von Dr. h.c. abgelöst, der ein Allpar- teienkabinett unter Einschluß der KPD bil- dete. Ab Dezember 1949 wurde eine Pfalzgrafenstein in Kaub. Foto: Landesmedienzentrum Rheinland-Pfalz große Koalition zwischen CDU und SPD geschlossen, die bis zum Ablauf der ersten Wahlperiode des Landtages 1951 Bestand Die Landtagswahlen Der Landtag besteht im Regelfall aus 101 hatte. Zwischen der 2. und 6. Wahlpe- und ihre Ergebnisse Abgeordneten, von denen 51 nach Wahl- riode, von 1951 bis 1971, bildeten CDU kreisvorschlägen in Wahlkreisen, die übri- und FDP jeweils Koalitionsregierungen. Gleichzeitig mit der Volksabstimmung gen nach Landeswahlvorschlägen (Lan- Seit der Landtagswahl 1971 verfügte die über die Annahme der Landesverfassung deslisten) oder Bezirkswahlvorschlägen CDU im rheinland-pfälzischen Landtag und die Schulartikel fanden Wahlen zum (Bezirkslisten) gewählt werden. Zur über die absolute Mehrheit der Mandate ersten rheinland-pfälzischen Landtag Durchführung der Wahl ist das Land in und stellte allein die Landesregierung. statt. Die Abgeordneten des Landtags in vier Bezirke mit insgesamt 51 Wahlkreisen Im Mai 1969 gab Peter Altmeier, nach 22 Rheinland-Pfalz wurden in der Zeit von eingeteilt. Jeder Wahlberechtigte hat Jahren, in denen er das neue Land als 1947 bis 1987 nach der Verhältniswahl mit zwei Stimmen, eine für die Wahl einer „Landesvater“ geprägt hatte, seinen starren Listen in Wahlkreisen gewählt. Die oder eines Wahlkreisabgeordneten Rücktritt als Ministerpräsident bekannt. Landesverfassung hatte bis dahin dem Ge- (Wahlkreisstimme) und eine Stimme für Zum Nachfolger wurde Dr. Helmut Kohl setzgeber verwehrt, das Landeswahlrecht die Wahl einer Landes- oder Bezirksliste gewählt, der nach den Aufbaujahren eine stärker zu personalisieren; der wechselnde (Landesstimme). Mit den Landesstimmen Reformpolitik einleitete. entscheiden die Wählerinnen und Wähler über die zahlenmäßige Zusammenset-

74 Rheinland-Pfalz Nach den Bundestagswahlen 1976 ging ren). Insgesamt können sie so viele Stim- mit einer Exportquote von rund 40 Pro- Ministerpräsident Kohl als Oppositions- men verteilen, wie Ratsmandate zu verge- zent. Rheinland-Pfalz ist zugleich ein Zen- führer nach Bonn. Zu seinem Nachfolger ben sind. Zusätzlich darf man seine Ge- trum der Chemie und des Weinbaus, ein wählte der Landtag den damaligen Kul- samtstimmen zwischen den Kandidatin- bedeutender Holzproduzent und Auto- tusminister Dr. zum nen und Kandidaten aller Listen aufteilen mobilzulieferer. Es beherbergt Spezialitä- neuen Ministerpräsidenten, der das Amt (Panaschieren). ten wie die Edelsteinindustrie in Idar- zwölf Jahre lang innehatte. In Rheinland-Pfalz gibt es 24 Landkreise, Oberstein, die Keramikindustrie im We- In der 10. Wahlperiode von 1983–1987 deren Aufgabe es ist, alle Selbstverwal- sterwald oder die Schuhindustrie in der waren im rheinland-pfälzischen Parla- tungsaufgaben dieser Gebietskörper- Pfalz, traditionsreiche Maschinenbauer ment nur zwei Parteien vertreten: die schaft z. B. im schulischen und kulturellen ebenso wie Unternehmen der Informa- CDU und die SPD. Die Regierungspartei Bereich, im Sozialwesen, in der Jugendhil- tions- und Kommunikationstechnik und CDU verfügte mit 57 von 100 Mandaten fe und in der Abfallwirtschaft wahrzuneh- Rundfunkanstalten. So haben weltbe- über die absolute Mehrheit. men. Unterhalb der Ebene der Landkreise kannte Unternehmen, wie die BASF in Mit der Landtagswahl 1987 hatte sich das gibt es in Rheinland-Pfalz 200 hauptamt- Ludwigshafen, Boehringer in Ingelheim, Bild grundlegend verändert. Im Parlament lich verwaltete kommunale Gebietskör- die Schott Glaswerke in Mainz, Pfaff in waren nun mit den Liberalen und Grünen perschaften (163 Verbandsgemeinden Kaiserslautern oder die Bitburger Brauerei vier Parteien präsent. Eine Koalition zwi- und 37 verbandsfreie Gemeinden). Die ihren Sitz in Rheinland-Pfalz. Andere in- schen CDU und FDP ermöglichte die Re- Gebiets- und Verwaltungsreform zwi- ländische und ausländische Firmen haben gierungsbildung mit Dr. Bernhard Vogel schen 1965 und 1972 hat die Zahl der Ge- hier Zweitniederlassungen und -werke ge- als Ministerpräsident bis zu dessen Rück- meinden von 2912 auf 2305 verringert. gründet, so z. B. Mercedes-Benz in Wörth, tritt im Dezember 1988. Die Koalition von Kernstück der Reform war aber die Schaf- Opel in Kaiserslautern und IBM in Mainz. CDU und FDP wählte 1988 Dr. Carl-Ludwig fung der Verbandsgemeinden, deren Darüber hinaus ist der Mittelstand ein Wagner (CDU) zum Nachfolger. Zum er- Hauptaufgabe es ist, die Verwaltungs- starker Pfeiler und Rückgrat der rhein- sten Mal seit 1947 errang die Sozialdemo- und Kassengeschäfte der verbandsan- land-pfälzischen Wirtschaft. kratische Partei Deutschlands bei der gehörigen Gemeinden wahrzunehmen In den ländlichen Gebieten ist nach wie Wahl zum 12. Landtag von Rheinland- sowie staatliche Auftragsangelegenhei- vor die Landwirtschaft vorherrschend, Pfalz 1991 die Mehrheit. Die SPD bildete ten zu erfüllen. Neben Landkreisen, Ver- wobei in rund der Hälfte aller Betriebe des gemeinsam mit der FDP eine Koalitionsre- bandsgemeinden und Gemeinden hat Landes – in 28 106 Betrieben – Reben kul- gierung und wählte Rudolf Scharping Rheinland-Pfalz 12 kreisfreie Städte, tiviert werden. In den sechs Anbaugebie- (SPD) zum Ministerpräsidenten. Bedingt deren größten Mainz, Ludwigshafen und ten des Landes stehen 61 251 Hektar Reb- durch seinen Wechsel nach Bonn wurde Koblenz sind. flächen im Ertrag. Rheinhessen ist mit im Oktober 1994 (SPD) zum Als Besonderheit besteht in der Pfalz, dem knapp 23 000 Hektar größtes Anbauge- Nachfolger gewählt, der auch 1996 die ehemals bayerischen Landesteil, als Kom- biet, gefolgt von der Rheinpfalz mit Wahlen zum 13. Landtag gewinnen konn- munalverband höherer Ordnung der Be- 20 754 Hektar und Mosel-Saar-Ruwer mit te und die sozialliberale Koalitionsregie- zirksverband Pfalz. Mit dem Bezirksver- 12 368 Hektar. Bekannt für gute Weine rung seither fortführt. band, dessen Grundlagen im ersten Drittel sind auch die Regionen an Ahr, Mittel- Der Ministerpräsident bestimmt die Richt- des 19. Jahrhunderts gelegt wurden, rhein und Nahe. linien dieser Politik, er ist dafür dem Land- nimmt die Pfalz eine Sonderstellung ein. Zwar erwirtschaftet das produzierende tag verantwortlich. Innerhalb dieser Richt- Der Bezirksverband ist eine Körperschaft Gewerbe in Rheinland-Pfalz noch den linien verwaltet jeder Minister seinen Ge- des öffentlichen Rechts mit dem Recht der Hauptteil des BIP, doch gewinnt auch der schäftsbereich selbständig und verant- Selbstverwaltung. Er hat vor allem die tertiäre Sektor immer stärker an Bedeu- wortet seine Entscheidungen auch ge- Aufgabe, die von ihm unterhaltenen Ein- tung. Gerade der Fremdenverkehr hat genüber dem Landtag. Der Ministerpräsi- richtungen im klinischen, schulischen und daran einen großen Anteil, da Rheinland- dent ist nicht nur Regierungschef, sondern kulturellen Bereich zu verwalten. Die Mit- Pfalz aufgrund seiner zentralen Lage sein hat auch die Stellung eines Staatsober- glieder des Bezirkstages wurden nach Einzugsgebiet in ganz Deutschland und hauptes – er vertritt das Land Rheinland- dem Verhältniswahlrecht bestimmt. Europa findet. Besonders der Rhein mit Pfalz nach außen, ernennt und entläßt die Inzwischen haben auch Formen der direk- seinen Burgen und Schlössern und der Staatsbeamten und übt das Gnadenrecht ten Demokratie in die Kommunalverfas- weltbekannten sagenumwobenen Lore- bei rechtskräftig Verurteilten aus. sung Einzug gehalten. So sind nun auch ley ist ein großer Anziehungspunkt. Dar- Die Landesregierung bestimmt auch die Bürgerbegehren und Bürgerentscheide über hinaus hat aber jeder Landesteil Organisation der Verwaltung im Lande, möglich. Daneben haben Bürgerinnen seine touristischen Attraktionen. Beson- die immer wieder Reformen und Moder- und Bürger die Möglichkeit von Einwoh- ders die „Themenstraßen“, wie z. B. die nisierungen unterworfen ist. So ist von der nerfragestunden und ihrem kommunalen Weinstraße, die Vulkanstraße, die Edel- derzeitigen SPD/FDP-Koalitionsregierung Petitionsrecht Gebrauch zu machen. Ge- steinstraße oder die Kannebäckerstraße die Auflösung der drei Bezirksregierun- meinden über 1000 und Landkreise über gelten als besonders sehenswert. gen als staatliche Mittelinstanz beschlos- 5000 Einwohner müssen Ausländerbeiräte Einen großen Anteil an dem wirtschaftli- sen worden. Eine Neuorganisation der wählen lassen, welche sich besonders um chen Erfolg in Rheinland-Pfalz haben Landesverwaltung soll den Weg von der die Selbstverwaltungsangelegenheiten auch die mittlerweile gut ausgebauten Obrigkeitsverwaltung hin zur Verwaltung der ausländischen Mitbürgerinnen und Verkehrswege, so z.B. die Wasserstraßen mit Servicecharakter eröffnen. Mitbürger kümmern und die Räte und Rhein und Mosel oder die Nord-Süd-Ver- Kreistage beraten. bindung der Autobahn A 61. Sorge berei- Kommunalverfassung tet dem Land zur Zeit der Abzug der fran- Rheinland-Pfalz Wirtschaftsstrukturen im Wandel zösischen und amerikanischen Truppen. Rheinland-Pfalz war in der Vergangenheit Die derzeit gültige Kommunalverfassung Rheinland-Pfalz war in seinen Anfangs- das Land mit der größten Truppenkonzen- wurde 1993 vom Landtag verabschiedet. jahren ein vor allem landwirtschaftlich ge- tration in Deutschland. Seitdem gingen Damit konnten erstmals 1994 Bürgermei- prägtes Land, es gehörte zu den wirt- 100 000 militärische und zivile Stellen ver- ster und Landräte direkt gewählt werden. schaftlich schwächsten Bundesländern. In- loren; 60% der durch die Streitkräfte ge- Für die Wahlen zu Kreistagen, Stadt-, Ge- zwischen spiegelt die Unternehmensland- leisteten Bruttowertschöpfung in Höhe meinde- und Verbandsgemeinderäten gilt schaft eine ausgewogene Wirtschafts- von ca. 3,2 Mrd. DM blieben aus. Um die der Grundsatz der Verhältniswahl mit Ku- struktur wider. Demzufolge findet sich das Folgen dieser Entwicklung abzumildern, mulieren und Panaschieren; die Wählerin- Land Rheinland-Pfalz nach dem Bruttoin- hat das Land und die Europäische Union nen und Wähler haben die Möglichkeit, landsprodukt (BIP) heute auf einem guten in öffentliche und private Konversionspro- den auf einer Liste benannten Personen sechsten Platz. Die rheinland-pfälzischen jekte mehrere Milliarden DM investiert. bis zu je drei Stimmen zu geben (kumulie- Produkte erfreuen sich einer regen Nach- frage auf den Märkten der ganzen Welt,

Rheinland-Pfalz 75 Hochschullandschaft Kulturvielfalt in Geschichte viele gekrönte Häupter = Weinkönigin- Rheinland-Pfalz und Gegenwart nen) oder die seit den achtziger Jahren bestehenden Rheinland-Pfalz-Tage. Aber Rohstoffe gibt es in Rheinland-Pfalz nicht Der Vielfalt und Unterschiedlichkeit der auch sportliche Größen wie Nürburgring viele, deshalb wird „dem Rohstoff in den Regionen des Landes entspricht die Fülle und 1. FC Kaiserslautern haben zweifels- Köpfen der Rheinland-Pfälzerinnen und und Lebendigkeit seines Kulturlebens. ohne dazu beigetragen. Die Partnerschaf- Rheinland-Pfälzer“ durch ein breites Bil- Aufgrund der Vielzahl bedeutender histo- ten des Landes und seiner Menschen – wie dungsangebot Rechnung getragen. Des- rischer Orte verfügt das Land über eine z. B. mit Burgund – haben den regionalen wegen gibt es in Rheinland-Pfalz 16 Hoch- große Anzahl bedeutender kirchlicher Gesichtskreis aber auch europaweit geöff- schulen und Hochschuleinrichtungen, die und provaner Bauwerke. Des weiteren be- net. mehr als 300 Studiengänge aller Wissen- sitzt das Land über 220 Museen, zahlrei- schaftsbereiche anbieten. Es sind die Uni- che Archive und Bibliotheken. Die Museen versitäten Mainz, Kaiserslautern, Trier und stellen aber nicht nur Exponate vergange- Das Wappen Koblenz-Landau, die Hochschule für Ver- ner Zeit aus, sondern sind auch Orte wis- waltungswissenschaften Speyer, Theologi- senschaftlicher Forschung. Hierbei ist be- Die wichtigsten historischen Territorien sche Hochschulen in Trier und Vallendar, sonders das Römisch-Germanische Zen- des heutigen Landes Rheinland-Pfalz sind die private Wissenschaftliche Hochschule tralmuseum in Mainz und das Rheinische in seinem dreigeteilten Wappen vertre- für Unternehmensführung Koblenz sowie Landesmuseum in Trier zu nennen. Rhein- ten. Das rote Kreuz steht für das Erzbis- die Fachhochschule Rheinland-Pfalz mit land-Pfalz hat aber auch bedeutende zeit- tum und Kurfürstentum Trier, während ihren zehn Standorten. Neben den Hoch- genössische Kunstsammlungen, wie z.B. das Mainzer Rad das Wappenbild des Erz- schulen existieren in Rheinland-Pfalz eine die Sammlung Heyl in Worms oder die bistums und Kurfürstentums Mainz ist. Reihe weiterer wissenschaftlicher Einrich- Hans-Arp-Stiftung in Rolandseck. Bedeu- Der Pfälzer Löwe schließlich repräsentiert tungen, wie z.B. die Max-Planck-Institute tende Theater, die über ein Repertoire die Kurpfalz. für Chemie und Polymerforschung, die von Schauspiel bis zur Oper verfügen, gibt Akademie der Wissenschaften und Litera- es neben dem Staatstheater in Mainz auch tur oder das Deutsche Forschungszentrum in Koblenz, Trier und Kaiserslautern. Da- für Künstliche Intelligenz. neben gibt es Spielstätten ohne eigenes Ensemble, wie den Pfalzbau in Ludwigs- Medienstandort Rheinland-Pfalz hafen oder die Landesbühne, die neben ihrem Standort im Neuwieder Schloßthea- Von den Leistungen des Mainzers Guten- ter im ganzen Land auf Reisen geht. Über- berg profitieren auch heute noch die regional bekannt geworden sind auch das rheinland-pfälzischen Verlagshäuser. 95 Tanztheater Regenbogen aus Koblenz Prozent der Gesamtauflage rheinland- und Freilichtbühnen wie z.B. die Burgfest- pfälzischer Tageszeitungen (rund 750 000) spiele in Mayen. kommen aus den vier großen Verlagshäu- Auch Kleinkunst und Kabarett haben eine sern in Ludwigshafen, Koblenz, Mainz lange Tradition in Rheinland-Pfalz, wo und Trier. Darunter sind die größten die sich auch in Mainz das erste Deutsche Ka- Literaturhinweise Mainzer Allgemeine Zeitung, die Rhein- barettarchiv befindet. Zeitung, der Trierer Volksfreund, die Rheinpfalz und die Pirmasenser Zeitung. Inzwischen eine eigene Statistisches Landesamt: Rheinland-Pfalz wird 50. Ein „zahlenreicher“ Lebenslauf. Bad Ems, Über die Grenzen hinaus ist Rheinland- Landesidentität 1997. Pfalz als Standort für Funk und Fernsehen Heinz-Günther Borck (Hrsg.) / Dieter Kerber: Bei- bekannt. So hat nicht nur die größte Sen- Das Land „aus der Retorte“, dem anfangs träge zu 50 Jahren Geschichte des Landes Rhein- deanstalt Europas ihren Sitz in Mainz, das wenig Überlebenschancen eingeräumt land-Pfalz, Veröffentlichungen der Landes- ZDF, sondern auch der Südwestrundfunk wurden, hat sich im Laufe der Jahrzehnte archivverwaltung Rheinland-Pfalz, Koblenz 1997. und die Geschäftsführung von SAT.1. In gemausert. Eine eigene Landesidentität Landeszentrale für politische Bildung Rheinland- Ludwigshafen wurde vor mehr als zehn und ein Zusammengehörigkeitsgefühl ha- Pfalz: Rheinland-Pfalz – Unser Land. Eine kleine Jahren der private Rundfunk aus der ben sich kontinuierlich entwickelt. Dazu politische Landeskunde. Mainz 1999. Taufe gehoben. Dort hat auch der private beigetragen haben sicherlich der Süd- Landesbank Rheinland-Pfalz (Hrsg.): Ein Land Hörfunksender RPR seinen Standort. westfunk (heute SWR) mit seiner tägli- mit Perspektive. Zweitausend und Fünfzig Jahre Rheinland-Pfalz, Mainz 1997. Schließlich darf die Dichte der „Offenen chen Landesschau, der Bau der Nord-Süd- Kanäle“ in Rheinland-Pfalz mit ihrer un- Autobahn, die Traditionen des Karnevals mittelbaren Bürgerbeteiligung nicht ver- und des Weinbaus (nirgendwo gibt es so gessen werden.

Anschrift: Landeszentrale für politische Bildung Rheinland-Pfalz, Am Kronberger Hof 6, 55116 Mainz

76 Rheinland-Pfalz Europäischer Geist und regionales Bewußtsein biet um die Saar erstmals eine verwal- tungsmäßige und politische Einheit. Frankreich erhielt das Eigentum an den Das Saarland Kohlegruben, durfte das Land seinem Zollgebiet anschließen und konnte es spä- ter schrittweise in seinen Wirtschaftsraum integrieren. Deutschland verzichtete zu- gunsten des Völkerbundes auf die Regie- Von Burkhard Jellonnek und Marlene Schweigerer-Kartmann rung des Gebietes, die Bevölkerung sollte sich nach Ablauf von 15 Jahren für die Bei- behaltung der Völkerbundsverwaltung (Status quo) oder die Rückkehr zu Deutschland bzw. die Vereinigung mit Frankreich entscheiden. Das Jüngste der alten Bundesländer raum ein Produkt des Aufblühens seiner Jener Abstimmungskampf fiel zusammen Schwerindustrie seit dem 19. Jahrhundert. mit der Auseinandersetzung der Parteien Nach wechselvoller Geschichte wurde das Am Ende des Ancien Régime waren die mit dem Nationalsozialismus. Der NSDAP- Saarland 1957 als elftes Bundesland in die Saarlande territorial zersplittert, mit einer Saar gelang es, sich mit einem bürgerli- Bundesrepublik Deutschland eingeglie- schwachen Grafschaft Hessen-Nassau und chen Parteienspektrum zur Deutschen dert. Mit einer Fläche von 2570 km2 ist es dem späteren Fürstentum Saarbrücken in Front zusammenzuschließen und sich die das kleinste Flächenland und grenzt im der Mitte. Auch in der Epoche der Franzö- Stimmung in der breiten Bevölkerung für Norden und Osten an Rheinland-Pfalz, im sischen Revolution gelang keine Konzen- eine Rückkehr zum angestammten Vater- Süden und Westen an Frankreich und im tration: die Saarlande wurden in die drei land zunutze zu machen. In der interna- Nordwesten an Luxemburg. Hat das Saar- Departements Mosel, Saar und Donners- tional kontrollierten Volksabstimmung land somit in der Bundesrepublik Deutsch- berg aufgeteilt. Im Wiener Kongreß fiel am 13. Januar 1935 sprachen sich 90,76% land eine eindeutig randständige Position der größte Teil der Saarlande an die der Bevölkerung für die Rückkehr nach inne, liegt es bezogen auf die Europäische preußische Rheinprovinz, der östliche Teil Deutschland aus. Am 1. März 1935 wurde das Saargebiet in das Deutsche Reich rück- gegliedert. Die in Versailles geschaffene Verwaltungseinheit Saargebiet wurde dabei nicht aufgelöst, sondern am 30. Ja- nuar 1935 im „Gesetz über die vorläufige Verwaltung des Saarlandes“ unter der Be- zeichnung Saarland einem Reichskommis- sar unterstellt.

Die kleine Wiedervereinigung

Am Ende des Zweiten Weltkriegs von amerikanischen Truppen besetzt, ging das Saarland mit dem 10. Juli 1945 in die fran- zösische Besatzungszone über. Da Frank- reichs Versuche einer Annexion des Saar- lands schnell am Widerstand der anderen Siegermächte scheiterten, beschränkte sich die französische Saarpolitik auf die Unterstellung der Saargruben unter fran- zösische Verwaltung, die Errichtung einer Zoll- und Währungsunion und die Ge- währung einer beschränkten Autonomie. Am 17. Dezember 1947 trat die saarländi- sche Verfassung in Kraft, die in der Präam- bel den wirtschaftlichen Anschluß an Saarbrücken: Blick auf das Schloß, das Staatstheater und die City. Frankreich und die Trennung von Deutsch- Foto: Amt für Öffentlichkeitsarbeit der LHS Saarbrücken land festschrieb. Am 18. Dezember nahm die erste saarländische Regierung unter Union zentral „im Herzen Europas“. Die an die bayerische Rheinpfalz. Mit der um Johannes Hoffmann (Christliche Volkspar- aktuelle Einwohnerzahl (Stand 30. Sept. die Mitte des 19. Jahrhunderts rasch vor- tei) die Amtsgeschäfte auf. Der frühere 1997) beträgt 1084 000. Das entspricht anschreitenden Expansion der Kohle- und Militärgouverneur, Oberst Gilbert Grand- einem Anteil an der Bevölkerung Deutsch- Stahlindustrie formte sich die Region zu val, erhielt das Amt eines französischen lands von 1,3 %. Mit einer Bevölkerungs- einem einheitlichen Wirtschaftsraum, Hohen Kommissars, 1952 das eines Bot- dichte von 416 Personen pro km2 gehört dem sogenannten „Saarrevier“, das sich schafters. das Saarland zu den dichtbesiedeltsten nach der Annexion von Elsaß-Lothringen Der Status des Gebiets blieb jedoch unge- Regionen Europas. Zweimal wurde das 1871 zunehmend mit Lothringen verfloch- klärt. Ab 1950 begann die „Saarfrage“ die Saarland im 20. Jahrhundert von Deutsch- ten hat. westeuropäische und atlantische Integra- land getrennt und damit politisch wie tion zu stören. Frankreichs Außenminister auch wirtschaftlich von der Entwicklung Zwischen Deutschland und Frank- Schuman hatte, um die unter dem Zank- im restlichen Deutschland abgekoppelt. reich apfel „Saarland“ leidende deutsch-fran- Bis heute ist die Region kulturell stärker zösische Verständigung in Gang zu brin- als jede andere Gegend in Deutschland Durch den Versailler Vertrag vom 28. Juni gen, 1952 eine Europäisierung der Saar ins französisch beeinflußt. 1919 wurde das sogenannte „Saargebiet“ Gespräch gebracht. Das 1954 zwischen Das Saarland stellt weder eine geographi- aus dem deutschen Reich herausgelöst dem französischen Ministerpräsidenten sche Einheit noch einen alten historischen und der Verwaltung des neugegründeten Mendès France und Bundeskanzler Ade- Raum dar – es ist zunächst als Wirtschafts- Völkerbundes unterstellt. Mit dieser Ent- nauer im Rahmen der Pariser Verträge scheidung der Alliierten bildete das Ge-

Saarland 77 ausgehandelte „Saarstatut“ sah bis zum storisch betrachtet als öffentliche Anpas- ropäischen Identität, dies auch, weil der Abschluß eines Friedensvertrages mit sungsleistung an wechselnde Herren und nationale Bezugsrahmen fehlte und der Deutschland eine Unterstellung des Saar- wechselnde Systeme bei gleichzeitigem Legitimationsdruck entsprechend größer landes unter einen Kommissar der West- verstohlenem Widerstand beschrieben war als in der beginnenden Bundesrepu- europäischen Union vor. In einer Volksab- werden. Das Ergebnis dieser peripheren blik. Junge Menschen wurden für ihr ge- stimmung am 23. Oktober 1955 bekunde- Stellung gegenüber wechselnden Macht- samtes Leben geprägt durch die für die ten jedoch nach erbitterten, emotional zentren ist erstens ein starkes Gefühl der Nachkriegszeit außergewöhnlichen Chan- geführten Auseinandersetzungen 67,7 % Zusammengehörigkeit und der Heimat- cen internationaler Erfahrung, die der der gültig abstimmenden saarländischen verbundenheit, zweitens die Bevorzu- saarländisch-französische Weg bot. Bürger – bei einer Abstimmungsbeteili- gung von Konfliktlösungsstrategien, die gung von 96,6 % – mit der Ablehnung des auf Konsens zielen und drittens die Ent- Folgen des verschleppten „Saarstatuts“ ihren Willen zur erneuten wicklung von persönlichen Beziehungs- Strukturwandels Rückkehr nach Deutschland und zur netzwerken und informellen Wegen Angliederung an die Bundesrepublik neben dem „Dienstweg“. Die lange Tradi- Die wesentliche Weichenstellung für die Deutschland. tion des Zusammenhaltens in Solidarge- heutigen Strukturprobleme des Saarlan- Der deutsch-französische Vertrag von meinschaften zeigt sich z. B. in der Ver- des wurde in der frühen Nachkriegszeit 1954 enthielt keine Regelungen für den einsdichte. Sie ist die höchste bundesweit. gestellt. Da der wirtschaftliche Anschluß Fall einer Ablehnung des Saarstatuts. Er- Allein im Landessportverband sind über an die Bundesrepublik Deutschland erst neute Verhandlungen führten zum Lu- 400 000 Sporttreibende organisiert. Über 1959 erfolgte, konnte das Saarland erst xemburger Vertrag vom 27. Oktober 1956, 65 000 Saarländer und Saarländerinnen spät an der wirtschaftlichen Entwicklung in dem Frankreich der Rückgliederung des engagieren sich in kulturtreibenden Ver- der Bundesrepublik partizipieren. Der Saarlandes unter deutsche Hoheit zum 1. einen. 70 000 Bürgerinnen und Bürger verschleppte Strukturwandel, die Berg- Januar 1957 zustimmte. Die Wirtschafts- sind in Natur- und Umweltschutzvereinen bau- und Stahlkrise der 60er und 70er und Währungsunion mit Frankreich sollte und -verbänden organisiert. Jahre, die wachsende Arbeitslosigkeit jedoch noch bis Juli 1959 bestehen blei- Zweiter wichtiger Bestimmungsfaktor der und die daraus resultierende Überbean- ben. Am 14. Dezember 1956 erklärte der politischen Kultur des Saarlandes ist seine spruchung des Landeshaushaltes führten saarländische Landtag gem. Art. 23 GG a. V. europäische Tradition. Die schwierigen das Land in eine existenzbedrohende den förmlichen Beitritt zum Geltungs- und konfliktreichen Erfahrungen als Krise, deren Lasten auch heute noch spür- bereich des bundesdeutschen Grundge- Grenzland (allein seit 1870 hat sich der bar bleiben. setzes. Durch das Gesetz über die Einglie- Grenzverlauf sechsmal geändert) haben Die traditionellen Industrien: Das Struk- derung des Saarlandes vom 23. Dezember sowohl zur Verbindung verschiedener Kul- turgewicht der Montanindustrie an der 1956 wurde das Saarland am 1. Januar tureinflüsse geführt als auch zur Entste- saarländischen Wertschöpfung ist zwi- 1957 als elftes Bundesland in die Bundes- hung eines außerordentlichen Kapitals an schen 1960 und 1996 von 55,9 % auf republik Deutschland eingegliedert. Mit Weltoffenheit und an internationaler bzw. 23,6 % zurückgegangen. In diesem Zeit- dem wirtschaftlichen Anschluß am 6. Juli europäischer Kompetenz in Politik und raum hat der Bergbau als größter Arbeit- 1959 war die „Kleine Wiedervereinigung“ Verwaltung, in Industrie und Handel, in geber die Zahl seiner Beschäftigten um perfekt. Damit endete nach 14 Jahren der Kultur und Wissenschaft. Den stärksten fast 75 % auf 14 500 verringert. Zugleich zweite saarländische Sonderweg. Einfluß auf das saarländische Bewußtsein fiel der Beschäftigungsstand in der saar- hatte zweifellos die Zeit nach dem Zweiten ländischen Stahlindustrie um ebenfalls na- Die prägende Erfahrung von Weltkrieg, die Zeit des „autonomen Saar- hezu 75 % auf 11 000. Die Rohstahlerzeu- Fremdherrschaft staates“. Hier trat der Gedanke in den Vor- gung lag 1994 bei 4,5 Mio. Tonnen und dergrund, das Saarland könne eine Brücke ging 1997 auf 2,2 Mio. Tonnen zurück. Zwei Bestimmungsfaktoren sind es, die der Verständigung zwischen den europäi- Nach dem Konkurs der Völklinger Saar- die politische Kultur des Saarlandes ent- schen Nationen und insbesondere zwi- stahl AG im Mai 1993 ging es zunächst um scheidend beeinflußten: die Industriekul- schen Frankreich und Deutschland sein. die Sicherung eines wettbewerbsfähigen tur und die europäische Tradition. Ein Dementsprechend übernahm das Saarland Kerns des Unternehmens. Im Zuge des grundlegendes Phänomen, das die saar- in der frühen europäischen Integration Konkursverfahrens ging die Saarstahl AG ländische Mentalität im Zusammenhang eine Pionierrolle. Was waren nun die Aus- in den Besitz des Landes über und wurde mit der Industriekultur geprägt hat, ist die wirkungen dieser europapolitischen Kom- aus öffentlichen Mitteln saniert. Die Lan- Erfahrung preußischer, später französi- ponente? Zum einen bildete die Europai- desregierung hat auch in Zukunft die Ab- scher Fremdherrschaft. „Von außen im- dee ein Einfallstor für westliche Ideen und sicht, eine Sperrminorität am Unterneh- portierte Eliten“ bestimmten das politi- kulturelle Prägungen, von denen sich men Saarstahl AG zu halten, um den Fort- sche, sozio-kulturelle und ökonomische Deutschland in der Zeit des Kampfes bestand einer leistungsfähigen Stahlindu- Leben an der Saar. Von wenigen alteinge- gegen die vermeintliche „Entartung“ ver- strie zu garantieren. sessenen Industriellenfamilien abgesehen, stärkt abgeschottet hatte. Das französi- Ähnlich sieht die Lage beim Bergbau aus. war in der preußischen Zeit der Verwal- sche Hochkommissariat förderte vor allem Auch hier geht es um die Sicherung einer tungs- und Staatsapparat der Bergwerks- die Kultur- und Bildungseinrichtungen wie modernen, leistungsfähigen Kohlebasis. direktion fest in fremder, meist in prote- z. B. den Aufbau der Universität, der Mu- Seit März 1997 haben sich die Rahmenbe- stantisch-preußischer Hand. 1918/19 sikhochschule und der Schule für Kunst dingungen für den Steinkohlebergbau waren es französische Truppen, die die und Handwerk. Schul- und insbesondere durch das Artikelgesetz und den Kohle- Demokratisierungsversuche an der Saar die Hochschulpolitik waren auf internatio- kompromiß (sukzessiver Abbau der Kohle- zwangsweise beendeten. Das Statut über nale Kooperation ausgerichtet. Internatio- subventionen von jährlich rund 10 Mrd. das Industrierevier, das am 10. Januar nal führende Künstler wie Hermann Henry DM auf 5,5 Mrd. DM bis zum Jahr 2005) 1920 in Kraft trat, sah eine politische Mit- Gowa, Frans Masereel, Boris Kleint, Otto massiv verändert. Die Reduktion der Ab- wirkung der saarländischen Bevölkerung Steinert und andere waren bemüht, die satzmengen der Saarbergwerke und der nicht vor. Auch die Zeit nach dem Zweiten Schule für Kunst und Handwerk zu einer Abbau der Steinkohlehilfen schlägt sich in Weltkrieg wurde trotz der zumindest par- internationalen Akademie zu entwickeln. einem Verlust von voraussichtlich mehr als tiell von einheimischen Eliten getragenen Das Stadtplanungskonzept des Le Corbu- 6000 Arbeitsplätzen bei den Saarbergwer- Gestaltung des politischen Lebens von der sier-Schülers Georges-Henri Pingusson für ken – nach Angaben des Unternehmens – Bevölkerung zum Teil als fremdnational, den Wiederaufbau Saarbrückens konfron- und weiteren mindestens 6000 Arbeits- d.h. französisch bestimmt begriffen. Poli- tierte die saarländische Bevölkerung mit plätzen bei den vor- und nachgelagerten tische Kultur im Saarland kann deshalb hi- moderner funktionaler Architektur. Betrieben nieder. Zur Stabilisierung der Zum anderen führte die Europaidee bei Haushalte des Landes und der Kommunen einem großen Teil der nachwachsenden Generation zur Herausbildung einer eu-

78 Saarland wurden im sogenannten Saar-Memoran- fortsetzen. Das reale Wirtschaftswachs- dem Arbeitsmarkt ab. Der Arbeitlosenbe- dum, das an die Adresse der Bundesregie- tum von 1993 bis 1997 (gemessen stand ging zur Jahresmitte auf 51 400 Er- rung gerichtet ist, Ausgleichsmaßnahmen am Bruttoinlandsprodukt in Preisen von werbslose zurück und lag damit um 6,4 % mit einem Volumen von insgesamt rund 1991) liegt im Saarland bei 8,5 % und unter dem Vorjahresniveau. Im August 2,6 Mrd. DM im Zeitraum bis 2005 aufgeli- nimmt damit neben Bayern, Hessen und 1998 betrug die Arbeitslosenquote stet. Mit Hilfe dieser Ausgleichszahlungen Hamburg einen Spitzenplatz ein. Das 11,2 %. Die Zahl der offenen Stellen hat sollen neue zukunftssichere Arbeitsplätze Bruttoinlandsprodukt stieg 1997 um von Juni 1997 (4711) auf Juni 1998 (5742) geschaffen werden. real 2,1 % (Bundesdurchschnitt 2,2 %). um 21,9 % zugenommen, was im Bundes- Eine weitere einschneidende Verände- Mit einem realen Wachstum von 3 % im vergleich beim Beschäftigungszuwachs rung im saarländischen Bergbau ergab ersten Halbjahr 1998 hat sich der kon- einen Spitzenplatz unter den Ländern ein- sich durch die Zusammenfassung des junkturelle Auftrieb im Saarland ge- brachte. Dabei ist strukturell von Bedeu- deutschen Steinkohlebergbaus in einer festigt. Auch die Zahl der Unternehmens- tung, daß sich neben dem Dienstleistungs- Einheitsgesellschaft. Nachdem im Juli gründungen liegt im Saarland im Bun- bereich (Mai 1998: Zuwachs von 2700 Ar- 1998 die EU-Kommission die Fusion der desdurchschnitt, im Bereich der techno- beitsplätzen) auch im verarbeitenden Ge- Saarbergwerke AG und der Ruhrkohle AG logieorientierten Dienstleistungen sogar werbe, wo bundesweit seit vielen Jahren genehmigt hatte, konnte rückwirkend darüber. 1997 ist das Saarland Spitzen- eine rückläufige Entwicklung festzustel- zum 1. Januar 1998 die Deutsche Stein- reiter aller Länder beim Saldo der Gewer- len ist, mit 2000 neuen Beschäftigten eine kohle AG gegründet werden. Als Gegen- beanmeldungen. Die Inanspruchnah- positive Entwicklung eingestellt hat. Eine leistung dafür, daß das Land seine Saar- me von Finanzierungshilfen für Exi- Besonderheit des saarländischen Arbeits- berg-Anteile (26%) für eine symbolische stenzgründer hat sich seit 1995 verdrei- marktes ist seine hohe Quote an Arbeits- Mark an den RAG-Konzern abgibt, wur- facht. und Ausbildungspendlern. Knapp 6 % den u. a. die Beibehaltung von 2 Förder- Forschungsausbau und aller Beschäftigten im Saarland kommen standorten (1997: 3, ehemals 18) mit einer Technologietransfer täglich über die Grenze aus Frankreich jährlichen Kapazität von 5 Mio. Tonnen und Luxemburg. Die Einpendlerquote Steinkohleeinheiten (1995: 8,2 Mio. Ton- Eine besonders wichtige Komponente des liegt damit weit über der Quote in den nen) bis zum Jahre 2005 vereinbart. Strukturwandels ist der Forschungsausbau Grenzländern Nordrhein-Westfalen und Neben dem Kohlebereich wird mit Saar- und der Technologietransfer. Seit 1985 Baden-Württemberg. Ein weiterer Aktiv- berg (neu) ein eigenständiger Teilkonzern wurden mit erheblicher Förderung durch posten des saarländischen Arbeitsmarktes mit Sitz in Saarbrücken gegründet, der als das Land moderne Forschungseinrichtun- ist die Ausbildungsplatzsituation. Im Saar- Kerngeschäft die Energiewirtschaft und gen von Weltrang angesiedelt. Gleichzei- land war das Angebot bei den Ausbil- Umwelttechnologie und -dienstleistun- tig wurde die wirtschaftsnahe Forschung dungsstellen in den letzten Jahren stets gen umfassen wird. Hier erhofft sich die an den wissenschaftlichen Hochschulen höher als die Nachfrage. 1997 gehörte das Landesregierung, für die bisherigen Saar- ausgebaut. Eine wachsende Anzahl von Saarland zu den drei Bundesländern mit bergwerke und ihre Beschäftigten verläß- Kooperationsprojekten zwischen Betrie- dem besten Ausbildungsplatzangebot. liche Zukunftsperspektiven zu eröffnen. ben und Forschungsinstituten dokumen- tiert den Erfolg dieses Wissenstransfers. So Zukunftsinvestitionen trotz Mitte der achtziger Jahre löste weist das Saarland für das Jahr 1997 mit angespannter Haushaltslage man sich aus der Kohle-und 6% einen über dem Bundesdurchschnitt Stahl-Abhängigkeit liegenden Anteil an originären Betriebs- Der saarländische Landeshaushalt weist gründungen auf, die als Spin-Offs direkt 1999 ein Volumen von 6,38 Mrd. DM auf. Einen Ausweg aus der lang andauernden aus Universitäten und Forschungseinrich- Die geringfügige Ausgabensteigerung um Kohle und Stahl-Abhängigkeit der Regi- tungen entstanden sind. Eine weitere 1,1 % gegenüber dem Haushalt 1998 mit on bot der Mitte der 80er Jahre eingelei- Folge dieses Technologietransfers ist, daß 6,32 Mrd. DM belegt den konsequenten tete Strukturwandel. Neben dem alten das Saarland bei Produkt- und Prozeßin- Sparkurs der Landesregierung. Der Ausga- Montankern sind in den Bereichen Ener- novationen über dem Bundesdurchschnitt benanstieg des Saarlandes seit 1990 ist mit gietechnik, Lebensmitteltechnologie, liegt. 17,98 % der niedrigste aller Bundesländer. Fahrzeugbau, Informationstechnik und Im Bereich der Infrastruktur wurden die Zum Vergleich: Baden-Württemberg er- Tourismus inzwischen neue Wachstums- stark auf die Ost-West-Achse Mannheim- höhte seine Ausgaben im Zeitraum branchen entstanden. In der Aufteilung Metz ausgerichteten Verkehrswege durch 1990–1997 um 20 %, Bayern um 31 %. Der der Beschäftigten auf die Wirtschaftssek- ein Autobahnnetz im Raum Saar-Lor-Lux- Spielraum für weitere Einsparungen wird toren zeigen sich die Krise, aber auch be- Trier und den Ausbau der Saar zu einer eu- jedoch immer enger. 1996 lagen die Lei- reits erzielte Erfolge beim Wandel der ropäischen Wasserstraße verbessert. Mit stungsausgaben – Ausgaben ohne Zins- saarländischen Wirtschaft zu einer mo- dem jüngst in Angriff genommenen ausgaben – des Saarlandes und seiner dernen europäischen Industrie- und Lückenschluß auf der A 8 nach Luxemburg Kommunen je Einwohner schon um rund Dienstleistungsregion. Die massiven Ar- sowie der Aufnahme der Hochgeschwin- 5,5 % unter dem Durchschnitt der alten beitsplatzverluste zunächst im Bergbau digkeitsverbindung Paris–Ostfrankreich– Bundesländer. (1957–1973 Rückgang der Belegschaft Süddeutschland mit ihrem nördlichen Ast Trotz dieser angespannten Haushaltslage von 64 961 auf 21 326, Ende 1997: 13 350), über Saarbrücken und Kaiserslautern nach und der Sanierung der Landesfinanzen später in der Eisen- und Stahlerzeugung Mannheim in die Liste der wichtigsten als oberstem Ziel sieht die Landesregie- (1970–1987: von 42 000 auf 28 700, Ende Verkehrsprojekte der Europäischen Union rung im Sparkurs nicht das Allheilmittel, 1997: 10 491) konnten zum Teil durch wird die Anbindung des Saarlandes an die sondern setzt auf Investitionen zur Stär- neue industrielle Arbeitsplätze, außer in großen europäischen Magistralen kom- kung der Wirtschafts- und Finanzkraft des der Stahlbearbeitung insbesondere im plettiert. Landes. Für 1999 sind Gesamtinvestitio- Maschinen- und Fahrzeugbau ausgegli- Auch die Auf- und Abwärtsentwicklung nen von 739 Mio. DM veranschlagt. Dabei chen werden (1997: Maschinenbau auf dem Arbeitsmarkt reflektiert Struktur- wurden die Mittel für Forschung und Bil- 15 136; Fahrzeugbau 17 392; Investitions- krise und -wandel der Saarwirtschaft. dung um 3 Prozent erhöht und die Lan- güterproduzenten 30 131; Verbrauchsgü- 1972 betrug die Arbeitslosigkeit im Saar- desprogramme um 30,5 Mio. DM zur terproduzenten 10 439 Beschäftigte). land 1,5 %. Sie stieg über 6,1 % (1975) auf Schaffung neuer Arbeitsplätze, Verbesse- Mittlerweile gehören rund zwei Drittel 13,4 % (1985), ging danach bis auf 9 % rung der Infrastruktur und zur Stärkung der Arbeitsplätze im Saarland zum (1992) zurück, stieg anschließend erneut der nachhaltigen Umweltpolitik des Lan- Dienstleistungssektor, der damit an der und lag 1997 bei 13,6 %. 1998 zeichnete des ausgeweitet. Die Investitionsquote Saar fast den gleichen Anteil hat wie im sich wieder eine positive Trendwende auf liegt damit bei 11,6 % (1998: 11,2 %), was Bundesgebiet (West). Auch dadurch einen Mittelplatz unter den Ländern bei konnte das Wirtschaftswachstum im den Investitionsausgaben bedeutet. Saarland 1997 seine positive Entwicklung

Saarland 79 Der Haushalt für 1999 ist der erste nach rung Fehlbetrags-, Sonderbedarfs- sowie Von europäischem Geist und zugleich re- der 1. Phase der Teilentschuldung, in seit 1995 auf zehn Jahre befristet, degres- gionalem Bewußtsein zeugt auch, daß das deren Rahmen das Saarland von 1994 bis siv ausgestaltete Übergangs-Bundeser- Saarland als erstes deutsches Bundesland 1998 insgesamt acht Milliarden Mark zur gänzungszuweisungen in einem Gesamt- 1992 den Europagedanken in der saarlän- Sanierung seines Haushalts (zulässige Ver- volumen von 416 Mio. DM (1997). Der gel- dischen Verfassung verankert hat. Und es wendung Schuldenabbau und Investitio- tende Länderfinanzausgleich ist derzeit war auch das Saarland, das im gleichen nen) vom Bund und den finanzstärkeren einmal mehr zur Diskussion gestellt. Vor Jahr den Anstoß gab für eine Ergänzung Ländern erhalten hat. Dem Sanierungs- allem die Südländer Bayern und Baden- des Artikels 24 des Grundgesetzes der ziel, die Deckung aller laufenden Ausga- Württemberg sehen ihn im Widerspruch Bundesrepublik Deutschland. Diese Re- ben durch laufende Einnahmen und den zur Verfassung und deshalb ohne Grund- form ist Grundlage für die Übertragung finanzwirtschaftlichen Anschluß an die lage. Für die saarländische Landesregie- von Hoheitsrechten auf grenznachbar- nächstschwächsten alten Bundesländer, ist rung, die im Landtag vertretenen Parteien schaftliche Einrichtungen. Diesem Ziel das Saarland im vorgegebenen Sanie- und weite Teile der Bevölkerung sind der dient auch das deutsch-französische Ab- rungszeitraum dank der Einhaltung aller Erhalt der Eigenständigkeit des Landes kommen vom Januar 1996 über die regio- Auflagen nähergekommen, konnte es unter den Rahmenbedingungen eines ko- nale und kommunale Zusammenarbeit in aber wegen unkalkulierbarer Ausfälle operativen Föderalismus ein erklärtes Ziel der Saar-Lor-Lux-Region. beim Steueraufkommen nicht abschlie- – der bis zum Jahr 2004 geltende Solidar- Vorreiter war das Saarland bei der Grün- ßend erreichen. Immerhin wurde zwischen pakt mit den finanzschwächeren und ins- dung von Institutionen wie dem Interre- Ende 1993 und Ende 1998 der Schulden- besondere den neuen Ländern dürfe nicht gionalen Parlamentarierrat, dem deutsch- stand des Saarlandes von 14,6 Mrd. DM dem Wettbewerbsföderalismus geopfert französischen Bankenkonsortium oder auf 12,6 Mrd. DM abgebaut, konnte die werden. der Charte de Coopération der Hochschu- Pro-Kopf-Verschuldung um fast 1500 DM Die finanzielle Lage der saarländischen len in der Saar-Lor-Lux-Region. Zahlreiche auf 11 700 DM verringert werden. Die Gemeinden und Gemeindeverbände ist Organisationen im Saarland sichern den Zins-Steuer-Quote von 26,2 % im Jahr trotz Schuldenabbau und Einnahmenstei- Dialog mit den Nachbarn. Beispielhaft 1994 hat sich auf 21,7 % im Jahr 1998 re- gerung nach wie vor schlecht. Der Schul- dafür ist die Europäische Akademie Ot- duziert. Darüber hinaus hat das Saarland denstand der saarländischen Gemeinden zenhausen, die in ihrem Europaeum den bei der Wirtschafts- und Finanzkraft sei- und Gemeindeverbände betrug im Jahr Europa-Gedanken bürgernah vermittelt nen Abstand zu den westdeutschen 1997 insgesamt 2,2 Mrd. DM (1995: 2,45 und weiterträgt. Der Sprachenrat Saar Flächenländern seit der Teilentschuldung Mrd.). Im Gegensatz zu einigen anderen verfolgt das Ziel, die Sprachlernangebote deutlich verringern können. Das Bruttoin- Bundesländern versucht die saarländische im Saarland zu bündeln und ein stärkeres landsprodukt pro Einwohner ist im Saar- Landesregierung nicht, auf Kosten der Bewußtsein für die Notwendigkeit des Er- land seit 1993 überdurchschnittlich ge- Kommunen zu sparen, sondern sieht in lernens von Fremdsprachen zu schaffen. wachsen. Während die alten Bundeslän- den Kommunen einen wichtigen Partner. So wird z. B. seit September 1998 in 28 der ein Plus von 5,5 % erreichten, steiger- Die Zahlungen im kommunalen Finanz- saarländischen Kindergärten zweispra- te sich das Saarland auf 8,6 %. ausgleich betragen im Haushaltsentwurf chig gearbeitet. Französisch ist mittlerwei- Massiv beeinträchtigt wurde gleichzeitig 1999 812 Mio. DM. Sie steigen damit ge- le als Pflichtfach bereits ab Klassenstufe 3 die Politik der Haushaltskonsolidierung genüber dem Vorjahr um 1,7 %, also stär- der Grundschule eingeführt. durch die bundesweit registrierten Ausfäl- ker als der Gesamthaushalt. Außerdem Dieses Engagement beim Aufbau grenz- le bei den Steuereinnahmen. So sind die fließen weitere 372,2 Mio. DM an die überschreitender Institutionen und Ko- erwarteten Steuereinnahmen von 1994 Kommunen, so daß sich die Gesamtzah- operationen hat auch finanziell Früchte bis 1998 um insgesamt drei Milliarden lung an die Städte und Gemeinden um getragen. Das Saarland partizipiert seit Mark geringer ausgefallen, als 1993 von 2,3 % auf ca. 1,19 Mrd. DM erhöht. Auf Mitte der 80er Jahre an verschiedenen Bund, Ländern und Forschungsinstituten der Ausgabenseite ist ein leichter Rück- Programmen der Europäischen Union. Im geschätzt worden war. Allein für 1999 gang zu verzeichnen. Im Jahr 1998 betru- Rahmen der EU-Förderprogramme wird fehlen gegenüber den Prognosen des Jah- gen die bereinigten Ausgaben rund 3,06 das Saarland von 1994 bis 1999 Mittel von res 1993 weitere 1,1 Mrd. DM. Angesichts Mrd. DM (1997: 3,07 Mrd. DM). der Europäischen Union in Höhe von ins- dieser Steuermindereinnahmen kann das gesamt 217 Mio. DM erhalten. Zur finanzi- Saarland den Spar-Kraftakt nicht allein Wirtschafts- und Kulturraum ellen Unterstützung der grenzüberschrei- schultern, sondern ist auf weitere Sanie- Saar-Lor-Lux tenden Zusammenarbeit mit den Nach- rungshilfen angewiesen. Die Notwendig- barn ist das Förderprogramm Interreg von keit einer Fortführung der Teilentschul- Da interregionale und transnationale Ko- herausragender Bedeutung. So konnten dung hat auch die vom Finanzplanungs- operationen im zusammenwachsenden in den Jahren 1991 bis 1996 an der rat eingesetzte Bund-Länder-Arbeitsgrup- Europa eine zentrale Rolle einnehmen, deutsch-französischen Grenze insgesamt pe in ihrem Abschlußbericht vom 11. Fe- wurde schon frühzeitig die Großregion 46 Projekte mit einem Gesamtvolumen bruar 1998 einmütig festgestellt. Diesen Saarland-Lothringen-Luxemburg ent- von knapp 50 Mio. DM verwirklicht wer- Erfordernissen wird das Bundesfinanzmi- wickelt, in die auch die Westpfalz und der den. Bei der Fortschreibung dieses Pro- nisterium aller Voraussicht nach Rechnung Regierungsbezirk Trier eingeschlossen gramms werden bis zum Jahr 1999 dem tragen. Vorgelegt wurde im Dezember sind. Grenzüberschreitende Kooperatio- saarländisch-lothringischen Grenzraum 1998 ein Gesetzentwurf, der über einen nen und Austauschbeziehungen er- voraussichtlich weitere 90 Mio. DM an Zu- mehrjährigen Zeitraum weitere 5 Mrd. strecken sich nicht nur auf Schulen, Ver- schüssen zugeflossen sein. Zu den dadurch DM an Finanzhilfe zur Teilentschuldung bände und Kultureinrichtungen, sondern ermöglichten Zukunftsprojekten gehören des Saarlandes vorsieht. auch auf Forschung, Technologie, Infra- beispielsweise die gemeinsame Flächen- Das Saarland gehört zu den Empfängern struktur, Telekommunikation bis hin zu planung für Gewerbeansiedlungen im von Zahlungen aus dem Länderfinanzaus- einem gemeinsamen Flächenmanage- Grenzgebiet. So z. B. das Projekt Eurozo- gleich und von Ergänzungszuweisungen ment der Grenzräume. Vorbildcharakter ne, das gemeinsame Industrie- und Ge- des Bundes. 1997 betrug der Anteil am haben die jährlichen Gipfeltreffen in der werbeflächen zwischen dem Raum Saar- Länderfinanzausgleich 203 Mio. DM. Auch Saar-Lor-Lux-Region, bei denen die Spit- brücken-Saarlouis auf saarländischer und nach der wiedervereinigungsbedingten zenpolitiker der Großregion sich treffen, Moselle-Est auf lothringischer Seite Neuordnung der Finanzbeziehungen zwi- um die weitere Zusammenarbeit abzu- schafft. Als kulturelles Projekt sei stellver- schen Bund und Ländern bezieht das Saar- stimmen. tretend die saarländisch-lothringische Ko- land darüber hinaus wegen seiner unter- operation bei den archäologischen Aus- durchschnittlichen Finanzkraft und über- grabungen im Europäischen Kulturpark proportionalen Kosten politischer Füh- Reinheim-Bliesbruck genannt.

80 Saarland Regierungssystem: Verfassung, wurde zur Vermeidung künftiger Landesregierung Mandatsgleichstände die Anzahl der Sitze im Landtag um lediglich 1947 war der Regelfall der Ausar- einen auf 51 erhöht (Art. 66 SV). beitung einer Verfassung in den Damit besitzt das Saarland nach deutschen Westzonen zunächst wie vor das kleinste unter den einmal die indirekte Wahl einer Be- deutschen Landesparlamenten. ratenden Landesversammlung. In bezug auf die parlamentarische Diese Versammlungen haben die Arbeit besteht die Besonderheit, Länderverfassungen geschrieben, daß beschlossene Gesetze nach in Volksabstimmungen wurden sie französischem Vorbild fortlaufen- angenommen, danach wurden die de Nummern erhalten. Ein beson- Landtage gewählt. derer Akzent wurde auch bei der Im Saarland war das anders. Auf Einsetzung parlamentarischer Un- Anweisung des Militärgouverneurs tersuchungsausschüsse gesetzt. wurde im Februar 1947 aus 19 Par- 1962 wurde ein Ausschuß für Gru- teivertretern und einem „Treuhän- bensicherheit verfassungsmäßig der“ der Militärregierung eine Ver- verankert, dem nach einem schwe- fassungskommission gebildet ren Grubenunglück das Recht ge- (nicht gewählt!), die nach französi- geben wurde, auf Antrag eines schen Vorgaben im September Viertels seiner Mitglieder parla- einen Verfassungsentwurf vorleg- mentarische Untersuchungen te. Dieser wurde von dem am 5. durchzuführen. 1979 wurde als Oktober gewählten Landtag als weitere Besonderheit erstmals die verfassungsgebende Versammlung Möglichkeit eröffnet, durch Mehr- beraten und verabschiedet. Ohne heitsbeschluß des Landtages En- Volksabstimmung trat die Verfas- quete-Kommissionen einzusetzen. sung am 17. Dezember 1947 in Darüber hinaus ist seit 1993 der Kraft. In deutlichem Gegensatz zu Landesbeauftragte für den Daten- allen anderen deutschen Landes- schutz dem Landtag angegliedert. verfassungen der Nachkriegszeit Von der aus Ministerpräsident und verkündete die saarländische Ver- Ministern gebildeten Landesregie- fassung in ihrer Präambel die Sepa- rung wird allein der Regierung- ration vom Deutschen Reich: schef vom Landtag mit der Mehr- „Das Volk an der Saar (...) gründet heit seiner Abgeordneten gewählt; seine Zukunft auf den wirtschaftli- Die Ausstellung „Prometheus“ in der Gasgebläsehalle der die Ernennung und Entlassung der chen Anschluß des Saarlandes an Alten Völklinger Hütte. Minister bedarf der Zustimmung die französische Republik (...)“ und Foto: Landesinstitut für Pädagogik und Medien, Saarbrücken des Parlaments. Die Verfassung be- erklärt „die politische Unabhängig- kennt sich zum parlamentarischen keit (...) vom Deutschen Reich.“ Repräsentativsystem, d.h. die Re- Obwohl sich die saarländischen Verfas- Der Organisationsteil der saarländischen gierung ist vom Vertrauen des Parlaments sungsväter bei dem Entwurf der Landes- Verfassung wird durch die grundlegende abhängig. Es gibt zwei Optionen, die zum verfassung an deutschen Verfassungsprin- Bestimmung des Artikel 60 eingeleitet: Rücktritt der Regierung führen können: zipien orientierten, bedeutete die Einglie- „Das Saarland ist eine freiheitliche Demo- das konstruktive Mißtrauensvotum und derung in die Bundesrepublik für das Ver- kratie und ein sozialer Rechtsstaat in der die Vertrauensfage. Als Besonderheit be- fassungsrecht des Saarlandes eine scharfe Bundesrepublik Deutschland.“ steht daneben die Möglichkeit, daß durch Zäsur. Durch das verfassungsändernde Ge- Organ des Volkswillens ist der Saarländi- den Beschluß von einer Zweidrittelmehr- setz Nr. 548 vom 20. Dezember 1956 wur- sche Landtag, der aus 51 Abgeordneten heit der Landtagsabgeordneten gegen den insgesamt 46 Bestimmungen in 43 Ar- besteht. Im Unterschied zu den anderen den Ministerpräsidenten oder Minister tikeln aufgehoben oder abgeändert. Die westdeutschen Landesparlamenten konn- vor dem Verfassungsgerichtshof aufgrund Präambel wurde gänzlich gestrichen, te der saarländische Landtag nicht an Tra- von vorsätzlichen Gesetzes- oder Verfas- ebenso alle Bezugnahmen auf das „inter- ditionen des demokratischen Parlamenta- sungsverstößen Anklage erhoben wird nationale Statut“ und auf die „saarländi- rismus aus der Weimarer Epoche anknüp- (Art. 94 SV). Seit der Verfassungsreform sche Staatsangehörigkeit“. Die meisten fen. Gesetzgebende und vollziehende Ge- von 1979 hat der Ministerpräsident ge- anderen Änderungen galten Angleichun- walt hatten im Saargebiet, das am 10. Ja- genüber seinen Kabinettskollegen eine gen an das Grundgesetz. Natürlich wur- nuar 1920 aus der ersten deutschen Repu- stärkere Stellung. Er hat das Recht zur den in der Folge auch eine Reihe von ein- blik ausgeschieden war, bis 1935 einer Festlegung der Geschäftsbereiche der Mi- fachen Gesetzen entweder aufgehoben fünfköpfigen Regierungskommission des nister und zur Übertragung der Kompe- oder abgeändert, vor allem im Sozialbe- Völkerbundes zugestanden, der jeweils tenz zur eigenverantwortlichen Leitung reich. nur ein Saarländer hatte angehören dür- der Ressorts. Ebenfalls neu in die Verfas- Wie das Grundgesetz enthält die saarlän- fen. Der 1922 eingerichtete Landesrat war sung aufgenommen wurde der Grund- dische Verfassung einen Grundrechtskata- ein bloßes Anhörungsorgan ohne Befug- satz, daß das Amt des Ministerpräsidenten log, der die allgemeinen Persönlichkeits- nis zur Zustimmung seiner Tagesordnung. und seiner Regierung mit dem Zusam- rechte und politischen Bürgerrechte auf- mentritt eines neu gewählten Landtages zählt. Hervorzuheben ist der Grundsatz, Das kleinste Landesparlament endet. Obwohl die Größe der Landesre- daß Geschichte und politische Entwick- Deutschlands gierung verfassungsrechtlich nicht fixiert lung des Saarlandes alle Schulen zur Pfle- ist, lag die Zahl der Ministerien in der ge des Geistes der Völkerversöhnung ver- Hinsichtlich der Größe des Parlaments Regel bei sieben. redu- pflichten (Art. 30 SV). Darüber hinaus wur- hatte die Besatzungsmacht 1947 die Vor- zierte zu Beginn seiner dritten Amtszeit den als Staatszielbestimmungen 1985 der stellung durchgesetzt, daß der Landtag (1994) durch Zusammenlegung des Kul- Schutz der natürlichen Lebensgrundlage aus nicht mehr als 50 Abgeordneten be- tur- und Bildungsministeriums sowie des (Art. 59a) und 1992 der Europagedanke stehen soll. Als sich 1975 eine Patt-Situati- Wirtschafts- und Finanzministeriums die (Art. 60 II SV) in die Verfassung aufgenom- on zwischen der zuvor allein regierenden Regierung auf sechs Ministerposten. men. CDU und den damaligen Bonner Koali- tionsparteien SPD und FDP ergeben hatte,

Saarland 81 Alle fünf Jahre entscheiden die Bürger meinde- bzw. Stadtrat und der Bürgermei- Tod 1979 innehatte. Ihm folgte Werner und Bürgerinnen des Saarlandes über die ster, der ebenfalls seit 1994 in absoluter Zeyer (CDU); der 1985, nachdem es der Zusammensetzung des Landtages. 41 der Mehrheitswahl auf acht Jahre zu bestim- SPD erstmals im Saarland gelungen war, insgesamt 51 Abgeordneten werden nach men ist. die absolute Mehrheit zu gewinnen, von Kreisvorschlägen und 10 nach Landesvor- Ein weiteres Novum neben der Direktwahl Oskar Lafontaine (SPD) abgelöst wurde. schlägen gewählt. Das Saarland ist in die von Landräten und Bürgermeistern ist, Die Wahlniederlage von 1985, der Rück- drei Wahlkreise Saarbrücken, Saarlouis daß seit 1995 die Kandidaten und Kandi- zug ihres letzten Ministerpräsidenten, und Neunkirchen eingeteilt. Gewählt wird datinnen bei kommunalen Wahlen nicht Zeyer, aus der Politik und der Tod des ehe- nach Verhältniswahlrecht. Die Verteilung mehr unbedingt deutsche Staatsangehöri- maligen „Kronprinzen“ der Partei, Wer- der Sitze erfolgt nach dem Höchstzahlver- ge sein müssen. Angehörige von Staaten ner Scherer, stürzte die CDU in eine tief- fahren von d’Hondt. Seit 1979 ist als ple- der Europäischen Union sind deutschen greifende Strukturkrise. Die Nominierung biszitäres Element das Volksbegehren ein- Bürgerinnen und Bürgern gleichgestellt. des damaligen Bundes-Umweltministers geführt worden. Entspricht der Landtag Klaus Töpfer als Herausforderer Lafontai- dem Begehren nicht, findet ein Volksent- Parteipolitische Sonderentwicklung nes brachte 1990 keinen sichtbaren Wan- scheid statt. Verfassungsänderungen sind del. 1995 übernahm der Vorsitzende der vom Volksentscheid, „finanzwirksame Ge- Obwohl das Saarland die eigenständige CDU-Landtagsfraktion, Peter Müller, mit setze“ vom Volksbegehren ausgenommen politische Gestalt seiner Bedeutung als In- dem Image des Erneuerers den Vorsitz der (Art. 99 I, Art. 100 IV SV). Seit dieser Ver- dustrierevier verdankt, hat es niemals eine CDU Saar und profilierte sich mit seiner fassungsänderung hat es jedoch in der absolute Stimmenmehrheit für reine Ar- Kritik an Bundeskanzler Kohl bundesweit Praxis keine Volksabstimmung gegeben. beiterparteien hervorgebracht. Drei Fakto- als „Junger Wilder“. ren sind für dieses Phänomen verantwort- Oskar Lafontaine, der schon als früherer Landesverwaltung und lich: erstens der weit überwiegende katho- Saarbrücker Oberbürgermeister etwa Selbstverwaltung lische Anteil der Arbeiterschaft, zweitens durch sein Engagement in der Friedensbe- die dörfliche Siedlungsstruktur und drit- wegung bundesweite Bekanntheit er- Die Rechtsprechung, das Finanzwesen, die tens das repressive Verhalten der größten reicht hatte, gelang es, nach dem Regie- Verwaltung und Selbstverwaltung sind im regionalen Arbeitgeber, die verhinderten, rungswechsel 1985 auch die Landtags- wesentlichen in gleicher Weise geordnet daß die SPD vor dem Ersten Weltkrieg an wahlen von 1990 und 1994 mit absoluter wie in den übrigen deutschen Ländern. der Saar Fuß fassen konnte. Bedeutendste Mehrheit zu gewinnen. Nach seiner Wahl Als „kleines Flächenland“ weist das Saar- Partei während der Völkerbundszeit war zum SPD-Bundesvorsitzenden auf dem land in seinem Verwaltungsaufbau jedoch dann auch das Zentrum. Die NSDAP konn- Mannheimer Parteitag 1995 wurde der keine Mittelinstanz der allgemeinen Ver- te sich in diesem Zeitraum nicht etablieren Vorsitzende der SPD-Landtagsfraktion, waltung auf. Für die Verwirklichung des (1932: 6,7%). Nach dem Zweiten Weltkrieg , im Frühjahr 1996 zum Grundsatzes der „Einheit der Verwal- entstanden zwischen 1946 und 1947 die neuen Landesvorsitzenden gewählt. Nach tung“ kommt daher dem Kreis als der un- Christliche Volkspartei (CVP), die Sozialde- Lafontaines Ernennung zum Bundesmini- teren staatlichen Ebene eine besondere mokratische Partei Saar (SPS), die Kommu- ster der Finanzen wurde Reinhard Klimmt Bedeutung zu. Das Fehlen eines behördli- nistische Partei, Landesverband Saar (KPS) am 10. November 1998 zum neuen Mini- chen Mittelbaus hat aber durchaus auch und die Demokratische Vereinigung des sterpräsidenten des Saarlandes gewählt. Vorteile. Notwendige Entscheidungen Saarlandes (DPS). Während sich die drei Bündnis 90/Die Grünen gelang erst 1994 können auch dann zügig getroffen wer- demokratischen Parteien zu dem separati- im vierten Versuch der Einzug in den den, wenn die obersten Landesbehörden stischen Konzept der saarländischen Ver- Landtag. In harten internen Kontroversen eingeschaltet werden müssen. Die Moder- fassung bekannten, vertrat die KPS eine setzte sich unter dem Partei- und Frakti- nisierung der Verwaltung bildet einen gesamtdeutsche Orientierung. Bis 1955 onsvorsitzenden Hubert Ulrich ein realpo- wichtigen Schwerpunkt in der saarländi- dominierte die CVP unter Johannes Hoff- litischer Kurs durch. Mit dem Einzug in schen Landespolitik. Um sowohl Qualität mann das Parteiensystem. Die SPS über- den Landtag haben die Bündnisgrünen als auch Effizienz der Verwaltung zu ver- nahm zeitweise die Rolle eines „Junior- die FDP als dritte politische Kraft abgelöst, bessern, wurde beispielsweise von 1994 partners“. Parteien, die gegen den auto- die 1994 bei den Landtagswahlen an der bis 1996 im Rahmen eines Wettbewerbs nomistisch-frankophilen Kurs der Hoff- 5-Prozent-Hürde scheiterte. Um bundes- der Kommunen „Modern und Bürger- mann-Regierung opponierten, wurden wie landespolitisch wieder erfolgreich zu nah“ eine Personalqualifizierungsmaß- verboten. 1951 traf das Parteienverbot die werden, „reaktivierten“ die Liberalen nahme in neuen Steuerungstechniken DPS, die ihren separatistischen Kurs zugun- 1998 den einstigen saarländischen Wirt- durchgeführt. In wichtigen bürgernahen sten einer „westdeutschen Option“ aufge- schaftsminister Werner Klumpp als Partei- Bereichen werden derzeit durch eine mo- geben hatte. Ebenso verboten wurden die vorsitzenden. derne Ausstattung mit informationstech- 1952 neu gegründete CDU-Saar und die nologischen Geräten Bearbeitungszeiten Deutsche Sozialdemokratische Partei Medien im Saarland und Verwaltungsaufwand verringert. (DSP). Beide Parteien unterschieden sich Einsparungsmöglichkeiten sollen Modell- von CVP und DPS hauptsächlich durch ihre Die Saarbrücker Zeitung ist mit einer ver- projekte – u. a. beim Statistischen Landes- prodeutsche Ausrichtung. Erst nach Ein- kauften Auflage von rund 200 000 Exem- amt und bei der Hochschule für Technik führung der Parteiengründungsfreiheit plaren (Stand 1998) die einzige Tageszei- und Wirtschaft – aufzeigen, die eine fle- 1955 (deutsch-französischer Vertrag über tung im Saarland; ihre marktbeherrschen- xible Haushaltswirtschaft erproben. das Saarstatut) konnte der Konflikt um die de Stellung konnte in der Vergangenheit Von den ehemals sieben Landkreisen hat künftige nationale Zuordnung des Landes durch keine Konkurrenzgründungen er- die Territorialreform fünf bestehen lassen. im Parteiensystem Ausdruck finden. Er schüttert werden. Das zur Stuttgarter Daneben existiert der Stadtverband Saar- führte kurzfristig zu einer Verdoppelung Holtzbrinck-Gruppe gehörende Blatt er- brücken. Unter den Gemeinden ist durch der Zahl der im Landtag vertretenen scheint mit neun Lokal- und Regionalaus- die territoriale Neugliederung eine Redu- Parteien und konnte erst im Laufe der gaben im gesamten Saarland. zierung von 345 (1972) auf 52 Gemeinden V. Wahlperiode (1965–1970) durch Frak- Nach kriegsbedingter Zerstörung des erfolgt. Organe des Landkreises sind der tionsübertritte der Abgeordneten der Reichssenders Saarbrücken startete Radio Landrat, der seit 1994 auf acht Jahre di- CVP-Nachfolgeorganisation Saarländische Saarbrücken am 17. März 1946 mit der rekt gewählt wird und der auf fünf Jahre Volkspartei (SVP) beigelegt werden. Insge- Marseillaise mit Genehmigung der Mi- gewählte Kreistag mit 27 bis 45 Mitglie- samt hatte das saarländische Parteiensy- litärregierung sein Programm – unter dern. Organe der Gemeinden sind der Ge- stem bis zum Abtreten der „alten Garden“ französischer Kontrolle. Aus ihm ent- einen deutlich konsensualen Charakter. wickelte sich der Saarländische Rundfunk Ministerpräsident war zur Zeit der Rück- (SR), der im November 1957 Anstalt des gliederung (seit April 1959) Dr. Franz-Josef öffentlichen Rechts und Mitglied der ARD Röder (CDU), der dieses Amt bis zu seinem

82 Saarland wurde. Bei der Besetzung des Rundfun- 1986 mit der gesetzlichen Gleichstellung die Universität seit vielen Jahren zuneh- krates des SR wählen die gesetzlich be- von integrierter Gesamtschule und geglie- mend auf seinen französischen Ursprung stimmten Gruppen ihre Vertreter selbst dertem Schulwesen. In der Folge fand und die Nähe zu Frankreich, aber auch auf aus, wobei die Arbeitnehmer durch Ar- eine deutliche Reduzierung des Bestandes seine wichtige Rolle in der europaorien- beitskammer, DGB und DAG, die Unter- an Grund- und Hauptschulen bei sukzessi- tierten Forschung und Ausbildung. Durch nehmer durch ihre Kammern vertreten ver Erhöhung der Zahl der Gesamtschulen eine Hochschulcharta institutionalisiert, werden. auf 15 (Schuljahr 1997/98) statt. Anfang kooperiert die Universität des Saarlandes Wie der Länderfinanzausgleich ist auch 1992 wurde weiterhin die gesetzliche über die deutsch-französische Grenze hin- der interne Finanzausgleich der ARD zur Möglichkeit geschaffen, Haupt- und Real- weg mit Metz und Nancy. Als einzige Zeit umstritten. Daran ändert auch nichts, schüler in Sekundarschulen zu gemeinsa- deutsche Universität ist sie berechtigt, in daß die zwischen den Landesanstalten men Unterrichtsveranstaltungen zusam- bestimmten Studiengängen französische verschobene Summe von insgesamt deut- menzufassen. 1996 wurden die entspre- Diplome zu verleihen. Sie ist auch die ein- lich unter 200 Mio. DM bei Einnahmen chenden Verfassungsbestimmungen da- zige Hochschule in der Bundesrepublik, an von insgesamt fast 10 Mrd. DM kaum ins hingehend neuformuliert, daß Haupt- der französisches Recht studiert werden Gewicht fällt. Die großen Anstalten drän- schulen zugunsten der sog. Erweiterten kann. gen auf einen Abbau des Finanzausglei- Realschulen Schulen für den Sekundarbe- Auf das Anforderungsprofil von Wissen- ches, und auch in der Politik wird der Ruf reich I entfallen und neben diesen sowie schaftlern und von Personen in Wirtschaft nach weiteren Fusionen in der ARD immer den Gymnasien auch die Gesamtschulen und Verwaltung des gemeinsamen Euro- lauter. Der SR, der seit Jahren einen kon- eine verfassungsrechtliche Institutionen- pa bereiten rechts- und wirtschaftswissen- sequenten Sparkurs verfolgt, im ARD-Ver- garantie erhalten haben (Art. 27-29 SV). schaftliche Aufbaustudiengänge am Euro- gleich auf niedrigem Kosten-Niveau Sen- Von den 120 685 Schülerinnen und pa-Institut vor. Aufgrund ihrer europäi- dungen produziert und sein Personal von Schülern allgemeinbildender Schulen be- schen Tradition hält die Universität des 823 (1993) auf maximal 750 Mitarbeiter fanden sich im Schuljahr 1997/98 z. B. Saarlandes bis heute – obwohl sie eine bis zum Jahresende 2000 abbauen wird, 46 444 auf Grundschulen, 4945 auf Erwei- mittelgroße Universität ist – im Bundesge- erhält derzeit jährlich 87,2 Mio. DM aus terten Realschulen, 11 820 auf Realschu- biet eine Spitzenstellung, so in den welt- dem ARD-Finanzausgleich. Für die kom- len, 27 503 auf Gymnasien und 10 609 auf weiten Kooperationsbeziehungen oder in mende Gebührenperiode (ab 2001) sollen Gesamtschulen. der Zahl der Studierenden, die ins Ausland nach dem Vorschlag der großen Anstalten Einen besonderen Stellenwert mißt das gehen und bei denen die Fernziel-Vorga- der Saarländische Rundfunk, Radio Bre- Saarland auch der beruflichen Bildung ben der Europäischen Union bereits er- men und der Sender Freies Berlin zusam- bei. Insgesamt befanden sich im Schuljahr reicht sind. In großem Umfang ist die Uni- men künftig nur noch einen Grundbetrag 1997/98 in den 239 beruflichen Schulen versität auch an den akademischen Aus- von etwa 80 Mio. DM jährlich erhalten. und Berufsbildungszentren 36 579 Auszu- tauschprogrammen der Europäischen Zusätzliche Finanzhilfen sollten über die bildende. Um die Gleichwertigkeit von all- Union beteiligt, was 1990 zur Verleihung nächsten beiden Gebührenperioden voll- gemeiner und beruflicher Bildung zu un- des Erasmus-Preises führte. ständig abgebaut werden. Die Landes- terstreichen, besteht z. B. seit 1995 für be- Jüngster Erfolg der europäischen Ausrich- regierung und die im Landtag vertretenen sonders befähigte Berufstätige unter be- tung der Saar-Universität ist die Entschei- Parteien halten weiter am Fortbestand stimmten Voraussetzungen die Möglich- dung des deutsch-französischen Gipfel- des SR im föderalen System fest – nicht zu- keit, auch ohne Abitur zu studieren. treffens vom 30. November 1998 in Wei- letzt weil er für die Bürgerinnen und Bür- Auch im Bereich der Schulen trifft man auf mar, Saarbrücken als Standort für die ger des Landes unverzichtbar geworden das französische Erbe. So befindet sich in neu einzurichtende deutsch-französische ist und auch in der ARD besondere Akzen- Saarbrücken eines von insgesamt nur zwei Hochschule auszuwählen, die sämtliche te setzt. Deutsch-Französischen Gymnasien in grenzüberschreitenden Studienprojekte Seit der Zulassung des Privatfunks 1984 Deutschland. Europäische Impulse hat das zwischen den beiden Nachbarländern ko- haben sich im Saarland private Rundfunk- Saarland auch in der grenzüberschreiten- ordinieren soll. anbieter etabliert. Euro Radio Saar ist der den beruflichen Bildung gesetzt. Über das Mit der soeben abgeschlossenen Univer- zur Zeit einzige lizensierte, landesweite Saarländisch-Lothringische Büro für den sitäts-Strukturreform sind die Weichen für private Hörfunkanbieter mit seinem Pro- Austausch in der beruflichen Bildung wer- eine im nächsten Jahrhundert tragfähige gramm Radio Salü. Mit Saar TV folgte den Auslandsaufenthalte im Rahmen Hochschullandschaft an der Saar gestellt 1996 die Zulassung eines privaten Fern- grenzüberschreitender Qualifizierungs- worden. Das Reformpaket der Landesre- sehsenders mit regionalem Vollpro- maßnahmen gefördert. gierung führt zu einem Verzicht auf gramm. Daneben existiert seit 1989/90 als Die Universität des Saarlandes ist mit der wenig genutzte bzw. kaum ausgebaute nicht kommerzielles, aus Rundfunkge- Medizinischen, der Rechts- und Wirt- Studienangebote, setzt statt dessen auf bühren finanziertes Hörfunk- und Fern- schaftswissenschaftlichen, der Philosophi- eine Konzentration und Interdisziplina- sehprogramm der Offene Kanal, der als schen, der Mathematisch-Naturwissen- rität der Fachbereiche. Die Universität des Kultur- und Kommunikationszentrum für schaftlichen und der 1990 gegründeten Saarlandes soll künftig noch stärker mit Bürger und Bürgerinnen im Saarland und Technischen Fakultät mit über 19 000 Stu- den benachbarten Hochschulen kooperie- in den benachbarten Regionen Westpfalz, dierenden (WS 1998/99) die größte Hoch- ren und mehr Eigenverantwortung erhal- Lothringen und Luxemburg dient. Für die schule des Saarlandes. Sie nahm nach der ten. Produktionen der Beiträge stellt der Offe- Gründung am 9. April 1948 in Paris als Mit sieben Fachbereichen (Elektrotechnik, ne Kanal Studios, Aufnahmegeräte, tech- selbständige Universität unter dem Rekto- Informatik und Strahlenschutz, Maschi- nische Einweisung und Beratung zur Ver- rat des Physikers Prof. Jean Barriol am 15. nenbau, Architektur, Bauingenieurwesen, fügung. November 1948 in der einstigen Below- Betriebswirtschaft und Wirtschaftsinge- Kaserne im Saarbrücker Stadtwald den nieurwesen) und 2652 Studierenden ist Bildung und Wissenschaft: Lehrbetrieb auf. Bis 1957 fußte sie auf der die Hochschule für Technik und Wirtschaft europaorientiert Gründungsidee, eine deutsch-französi- die zweitgrößte Hochschule des Saarlan- sche, alsbald auch eine gemeinsame eu- des. Neben der Akzentsetzung auf an- 1947 wurde auf Betreiben der CVP die ropäische Universität zu sein. Wenn auch wendungsbezogene Ausbildung, praxis- „Bekenntnisschule“ als einzige staatliche die Rückgliederung an die Bundesrepu- nahe Forschung und Entwicklung sowie Form der Volksschule eingeführt (Art. 27 II blik zunächst eine deutliche Orientierung Wissens- und Technologietransfer liegt ein SV a.F.). Damit hatte das saarländische Bil- nach Deutschland zur Folge hatte, – der weiterer Schwerpunkt bei der Vermitt- dungswesen einen betont katholisch-kon- Großteil der französischen Professoren lung europäischer Kompetenz. In insge- servativen Charakter. Erst 1969 wurde auf verließ die Universität –, so besinnt sich samt fünf deutsch-französischen, inte- Drängen von SPD und FDP die Verfassung grierten Studiengängen bietet das zugunsten der Einführung christlicher Ge- Deutsch-Französische Hochschulinstitut meinschaftsschulen geändert. Eine weite- (DFHI) als Hochschulkooperation mit der re Neuerung im Bildungswesen gab es

Saarland 83 Universität Metz Studierenden die Mög- spiel. Auf Festivals wie Perspectives, das gantische Kulisse gerade die Gasgebläse- lichkeit zu länderübergreifend anerkann- einzige Treffen französischsprachiger halle darstellt, konnten annähernd ten Abschlüssen: Das Diplom der Hoch- Theaterkunst in Deutschland, oder den 200 000 Besucher bei der Menschenbilder- schule für Technik und Wirtschaft des Max-Ophüls-Preis als Leistungsschau des Schau Prometheus bestaunen. Saarlandes und die französische Maitrise. deutschsprachigen Nachwuchsfilms rich- Mit über 900 Vereinen und Chören der Seit 1985 wurden im Saarland neue hoch- ten alljährlich die bundesdeutschen Feuil- volkskulturellen Verbände weist das Saar- schulnahe Forschungseinrichtungen eta- letons ihr Augenmerk. Etabliert haben land eine beeindruckende Organisations- bliert, die dem Land entscheidende Impul- sich inzwischen auch die Musikfestspiele freudigkeit auch im Bereich der Breiten- se für seine wirtschaftliche Entwicklung Saar unter der Leitung von Prof. Robert kultur auf. Durch die Novellierung des gegeben haben. Einige dieser Institute Leonardy, die im Zwei-Jahres-Rhythmus Sportwettengesetzes gelang der Landes- sind: Das Deutsche Forschungszentrum für sich mit einer nicht nur klassischen Werk- regierung eine finanzielle Stärkung dieses künstliche Intelligenz (DFKI), das Max- schau musikalisch einem Nachbarland Engagements. Planck-Institut für Informatik (MPI), das widmen. Zentrum für innovative Produktion (ZIP), Wichtige Impulse für die saarländische das Institut für Neue Materialien (INM), Kulturlandschaft gehen auch von der Das Wappen das Fraunhofer-Institut für Biomedizini- Hochschule für Musik und Theater und sche Technik (IBMT), die Gesellschaft für der Hochschule der Bildenden Künste Saar Daß das heutige Saarland ein spätes umweltkompatible Prozeßtechnik (upt), aus. Erstere kooperiert erfolgreich mit Kunstprodukt ist, das sein Werden zu das Fraunhofer Institut für zerstörungs- dem Staatstheater, während die HBK Saar einem einheitlichen Raum im wesentli- freie Prüfverfahren (IzfP), das Institut der durch ihre Zusammenarbeit mit der Indu- chen wirtschaftlichen Entwicklungen und Gesellschaft zur Förderung der ange- strie- und Handelskammer, der Hand- dem Versailler Vertrag verdankt, findet wandten Informationsforschung (IAI) und werkskammer und Wirtschaftsbetrieben auch Niederschlag in seinem Landeswap- das Institut für Wirtschaftsinformatik einen fruchtbaren Dialog zwischen Kultur pen. Denn hier sind die Wappen der vier (IWI). Um einen intensiven Austausch zwi- und Wirtschaft begonnen hat. größten Territorien vertreten, die zur Zeit schen Wissenschaft und Wirtschaft zu er- Unter dem Dach der Stiftung Saarländi- des Heiligen Römischen Reiches Anteil an möglichen, wurden an den wissenschaftli- scher Kulturbesitz präsentiert sich eine der Fläche des heutigen Saarlandes hat- chen Hochschulen Technologietransfer- reichhaltige Museumslandschaft. Das ten. Links oben steht der silberne Löwe für stellen eingerichtet. Neueste Errungen- Saarland Museum leistet in seiner Ständi- die Fürsten von Nassau-Saarbrücken das schaft in diesem Zusammenhang ist ein gen Sammlung einen repräsentativen rote Kreuz rechts war das Wappen von Science-Park mit angegliedertem Busi- Querschnitt der Kunst des 20. Jahrhun- Kurtrier. Unten links wird das Herzogtum ness-Center. Seit Sommer 1998 werden derts, hat sich zudem durch Sonderaus- Lothringen repräsentiert durch den roten auf dem Campus der Universität des Saar- stellungen von der Renaissance-Kunst Schrägbalken mit drei silbernen Adlern. landes Gebäude, Labors und Dienstlei- über Paul Klee bis hin zu Soutine und Mo- Der goldene Löwe unten rechts steht für stungseinrichtungen gebaut – für innova- randi in der Kunstkritik einen Namen ge- das Herzogtum Pfalz-Zweibrücken. tive Entwickler und Technologiefirmen. macht. Die Stadtgalerie Saarbrücken gilt Neben der Universität unterhält das Land ob ihres Einsatzes für die Avantgarde in- eine Hochschule für Musik und Theater ternational als gewichtiger Ausstellungs- (309 Studierende) und die Hochschule der ort. Im Aufbau befindet sich des weiteren Bildenden Künste Saar (242 Studierende). das Zentrum für Druck- und Buchkultur Außerdem bestehen öffentliche und pri- mit dem Deutschen Zeitungsmuseum in vate Fachhochschulen. Wadgassen. Nicht zu vergessen sind auch das Museum für Vor- und Frühgeschichte Kulturelles Engagement wird im und das Historische Museum am Schloß- Saarland großgeschrieben platz, das neben ständig wechselnden Sonderausstellungen eine eindrucksvolle Kulturelles Engagement wird im Saarland Schau saarländischer Zeitgeschichte prä- sowohl für den Bereich der professionel- sentiert. len Spitzenkultur wie auch der kulturellen Eine überragende Bedeutung kommt der Literaturhinweise Breitenarbeit großgeschrieben. Das Saar- Alten Völklinger Hütte zu, die mit ihrem ländische Staatstheater hat sich unter der Hochofen-Ensemble 1994 als erstes Monu- Das Saarland. Politische, wirtschaftliche und kul- Generalintendanz von Kurt Josef Schild- ment der Industriekultur von der UNESCO turelle Entwicklung, hg. von der Landeszentrale knecht seit Beginn der 90er Jahre bundes- in die Liste des Weltkulturerbes aufge- für politische Bildung, Saarbrücken 1991 weit einen guten Ruf erarbeitet und be- nommen wurde. Im Saarland ist man sich Hudemann, Rainer u.a. (Hg.): Grenzfall. Das Saarland zwischen Frankreich und Deutschland spielt neben dem 1938 erbauten Staats- darüber im klaren, hier mehr als nur ein 1945–1960, St. Ingbert 1997 theater die Alte Feuerwache und das Relikt einer vergangenen Industrieepoche Landtag des Saarlandes. 11. Wahlperiode, hg. Theater Arnual mit Oper, Operette, Tanz- zu konservieren, sondern mit der Hütte vom Landtag des Saarlandes, 3. Auflage, Saar- theater, Musical, Konzerten und Schau- eine gigantische Stahlskulptur, ein Denk- brücken 1998 mal in technischer, sozialer und histori- scher Hinsicht und einen Veranstaltungs- ort par excellence anzubieten. Welch gi-

Anschrift: Saarländische Landeszentrale für politische Bildung, Beethovenstr. 26, 66125 Saarbrücken

84 Saarland Im östlichen Deutschland, in der Mitte Europas und Tschechischer Republik – liegt das kleine Zittauer Gebirge. Nördlich des Berg- landes markieren die Städte Bautzen, Freistaat Sachsen Hoyerswerda, Weißwasser und Görlitz den äußeren Rahmen der Oberlausitzer Teich- und Heidelandschaft, von denen die östlichen Gebiete zum niederschlesi- schen Landesteil zählen. Von Werner Rellecke Die größten Städte in Sachsen sind Leipzig mit über 500 000 Einwohnern, die Haupt- stadt Dresden mit etwas unter 500 000 Einwohnern und Chemnitz mit etwa 270 000 Einwohnern. Die sächsischen Lan- desgrenzen zu Bayern, Thüringen, Sach- Das bedeutsamste unter den fünf schen Landesgrenze bis an die Elbe. Im sen-Anhalt und Brandenburg umfassen neuen Bundesländern Südwesten, zwischen Thüringen, Bayern, insgesamt etwa 660 km, während die dem Erzgebirge und Böhmen finden wir gleichzeitige Außengrenze der Europäi- Der Freistaat Sachsen ist hinsichtlich seiner das Sächsische Vogtland. Östlich schließt schen Union zur Tschechischen Republik Bevölkerungszahl und Wirtschaftskraft das Erzgebirge als typische Mittelgebirgs- und zu Polen eine Länge von beinahe 530 das bedeutsamste unter den fünf neuen landschaft an. In der Nähe des Winter- km aufweist. Entlang der Grenze zu Polen Bundesländern. In Deutschland steht sportortes Oberwiesenthal steht der Fich- verläuft die Lausitzer Neiße, entlang der Sachsen mit ca. 4,55 Mio. Einwohnern an telberg, mit 1214 m die höchste Erhebung Grenze zu Tschechien der Kamm des Erz- sechster Stelle und mit einer Fläche von ca. Sachsens. Die Sächsische Schweiz – rund gebirges und des Zittauer Gebirges. Auf 18 400 Quadratkilometern an zehnter um den oberen Elblauf – mit der berühm- dieser Linie befinden sich auch die vier Eu- Stelle im Ländervergleich. ten Bastei und ihren eindrucksvollen Ta- roregionen (Neiße, Elbe/Labe, Erzgebirge, Egrensis) mit sächsischer Beteiligung, wel- che Aufgaben der Förderung grenzüber- schreitender Zusammenarbeit wahrneh- men.

Anfänge einer tausendjährigen Geschichte

Die Sachsen waren ein germanischer Stamm, der erstmals etwa 150 n. Chr. schriftliche Erwähnung fand und sich vom heutigen Holstein her ausdehnte. Der Name geht wohl – nach Widukind von Corvey – auf das für den Stamm typische Kurzschwert (Sax) zurück. Bis ins 15. Jahr- hundert hinein bezog sich die Geschichte Sachsens allerdings geographisch auf Nie- dersachsen, Teile Westfalens und Sachsen- Anhalts. Die Herrschaftstradition des heutigen Freistaates geht auf die Mark Meißen zurück, die 929 durch Heinrich I. gegrün- det wurde und die Otto der Große in das deutsche Reichsgebiet einband. Germa- nen hatten den Raum in frühgeschichtli- cher Zeit besiedelt, bevor sie im Zuge der Völkerwanderung westwärts zogen und sich unter anderen die slawischen Stämme der Sorben, Milzener, Lusizer, Daleminzer niederließen. Viele Ortsnamen und geo- graphische Bezeichnungen sind slawi- schen Ursprungs. Südlich von Bautzen er- heben sich z. B. zwei Berge, die noch heute auf ihre naturreligiöse Vergangen- heit hindeuten: der Czorneboh („schwar- zer Gott“) und der Bieleboh („weißer Ansicht von Meißen mit Dom und Albrechtsburg, wo am 3. Oktober 1990 der Staatsakt Gott“). zur Wiederbegründung des Freistaates Sachsen begangen wurde. Die germanische oder deutsche Rückbe- Foto: Sächsische Schlösserverwaltung Dresden siedlung des Meißner Landes setzte im 9. und 10. Jahrhundert ein. Anschließend wurde der Grundstock für eine anhalten- Die Geographie Sachsens ist sehr ab- felbergen (z. B. Lilienstein und Königstein) de wirtschaftliche Prosperität des Landes wechslungsreich: Im Nordwesten befindet dient den Dresdnern als Ausflugsziel wie gelegt, denn im 12. und 13. Jahrhundert sich das Leipziger Land mit der Leipziger den Touristen als Erholungsgebiet. Von entwickelte sich der Silberbergbau in der Tieflandsbucht sowie Dübener und Dahle- Dresden elbaufwärts Richtung Osten Mark Meißen unter Otto dem Reichen, ner Heide. Südlich davon, im mittelsäch- dehnt sich das Lausitzer Bergland aus, das der zu diesem Zweck 1180 eigens die sischen Raum erstreckt sich das Sächsi- nach Tschechien zu in das Lausitzer Gebir- Stadt Freiberg gründete. Es war jeder- sche Hügelland von der thüringisch-sächsi- ge übergeht. Und im südöstlichen Zipfel des Landes – im Dreiländereck zu Polen

Sachsen 85 mann erlaubt, Schürf- und Abbaurechte frei zu erwerben, wenn der zehnte Teil der beförderten Edelmetalle als Abgabe entrichtet wurde. Auf diese Art und Weise stieg Meißen in den folgenden Jahrhun- derten zum wohlhabendsten unter den deutschen Herrschaften auf.

Unter den Wettinern

Otto der Reiche entstammte dem Ge- schlecht der Wettiner, dessen Name auf die Burg Wettin an der Saale, nördlich von Halle, zurückgeht. Im Jahre 1089 wurde erstmals ein Wettiner (Heinrich I. von Ei- lenburg) mit der Markgrafschaft Meißen belehnt. Seit 1124 (Konrad der Große) re- gierten sie ununterbrochen in der Mark Meißen, in Kursachsen und im Königreich Sachsen bis 1918. Eine erstmalige Verbin- dung des sächsischen Namens mit dem Gebiet des heutigen Freistaates ergab sich Der Eingang zum 1994 eingeweihten neuen Plenartrakt des Sächsischen Landtags. im Zusammenhang mit dem Tode des Her- Foto: Contur zogs von Sachsen-Wittenberg. Sein politi- sches Erbe trat Markgraf Friedrich von hielt 1497 das kaiserliche Messeprivileg, einen raschen Verlauf. Hierdurch ergab Meißen (aufgrund seiner Verdienste im das sie als privilegierten Handelsplatz aus- sich eine günstige Grundlage für die Re- Kampf gegen die böhmischen Hussiten) wies. Es entstand ein bedeutender wirt- gierungszeit Augusts des Starken (1694 – im Jahre 1423 an. Hiermit ging auch die schaftlicher Knotenpunkt mit Ausstrah- 1733). Kurwürde an die Wettiner. In den folgen- lung auf den gesamten deutschen und eu- 1670 geboren, erlangte Friedrich August I. den Jahrzehnten setzte sich der Name ropäischen Raum. Und Leipzig war bereits im Jahre 1694 die sächsische Kurwürde. Sachsen gegen den der Markgrafschaft damals zu Messezeiten „die Welt in einer Friedrich August war auch von seiner Kör- Meißen durch. Seit dieser Zeit war der je- Nuß“, wie Goethe später schrieb. perfülle her eine eindrucksvolle Gestalt, weils älteste Nachkomme aus dem Ge- Im Jahre 1547 zog Herzog Moritz von was ihm zu seinem Beinamen „der Star- schlecht der Wettiner auch Kurfürst und Sachsen (Albertiner) gegen seinen Vetter ke“ verhalf. Schon 1696 hatte er die Gele- seine Besitzungen zählten zum sächsi- Kurfürst Johann Friedrich (Ernestiner), um genheit, seinen Geltungsdrang und sein schen Kurfürstentum. die Leipziger Teilung rückgängig zu ma- Machtstreben unter Beweis zu stellen: Zu den Territorien der Wettiner zählten chen. Nach der Schlacht bei Mühlberg Die polnische Königskrone wurde va- seit langem auch thüringische Lande, in (1547) wurde Moritz die sächsische Kur- kant und ihm gelang es im darauffolgen- denen bis 1482 eine wettinische Nebenli- würde mitsamt umfangreicher Territorien den Jahr, seine Königskandidatur in War- nie relativ unabhängig regierte. Diese Ne- des bisher ernestinischen Gebietes über- schau durchzusetzen. Kurfürst Friedrich benlinie starb 1482 aus. Nun fielen die Ge- tragen. Das albertinische Sachsen behielt August I. von Sachsen konnte als König biete wieder an die wettinische Hauptlinie seit dieser Zeit den Status des Kurfürsten- August II. von Polen den königlichen zurück, der die beiden Brüder Kurfürst tums. Glanz auch in Dresden erstrahlen lassen. Ernst und Herzog Albrecht vorstanden. Im Rauschende Feste, prunkvolle Bauten, ein Jahre 1485 wurden die sächsischen Terri- Zwischen Preußen und Habsburg großer Hofstaat, eine königliche Zahl von torien zwischen den beiden wettinischen Mätressen und Kindern gehörten zu sei- Brüdern aufgeteilt. Es entwickelte sich Der Dreißigjährige Krieg brachte, wie für ner Regentschaft. So erfreut er sich noch hieraus die ernestinische und die albertini- die meisten deutschen Landesteile, ein- heute in ganz Sachsen und besonders in sche Linie, wovon die albertinische die di- schneidende politische Veränderungen Dresden volkstümlicher Beliebtheit; und rekte Tradition des heutigen Sachsens re- mit sich. In den Jahren 1619 und 1620 un- die wichtigsten noch heute dominieren- präsentiert. Diese sogenannte Leipziger terstützte das sächsische Kurfürstentum den barocken Bauwerke der Dresdener Teilung stellte einen großen Einschnitt in offen die Partei der Habsburger und be- Altstadt (z. B. Zwinger, Kathedrale, Frau- der sächsischen Territorialgeschichte dar. setzte im Herbst 1620 Schlesien und die enkirche) gehen auf seine und seines Soh- Um die wettinischen Lande nicht ausein- beiden Lausitzen. Dies ist umso bemer- nes Regierungszeit zurück. Die sächsisch- anderfallen zu lassen und um ihre Zusam- kenswerter, als Sachsen zuvor zu den vor- polnische Union unter August II. (August mengehörigkeit zu verdeutlichen, wur- dersten Vertretern der protestantischen der Starke) und seinem Sohn als August III. den die zum Besitz gehörigen Herrschaf- Länder im Reich gezählt werden durfte. von Polen dauerte mit Unterbrechungen ten, Städte und Ländereien wie ein Die beiden Lausitzen erhielt Sachsen bis zum Jahre 1763. Flickenteppich auf die beiden Brüder ver- anschließend zum Pfand. Im Jahre 1635 teilt. Entgegen der ursprünglichen Absicht wurden sie bleibend als sächsische Landes- Im 19. Jahrhundert wurde Sachsen verfestigte sich die Landesteilung in den teile etabliert. Obwohl Sachsen somit ter- zum modernsten und innovativsten folgenden Jahrhunderten und schwächte ritorial erheblich gestärkt aus dem Kriege Wirtschaftsraum Deutschlands die sehr mächtige Stellung des Kurfürsten- hervorging, war die Bevölkerung um etwa tums Sachsen im Deutschen Reich. die Hälfte dezimiert worden. Zudem Erst wieder 1806 durften sich die sächsi- Unterhalb der Landesherrschaft ent- wurde langsam erkennbar, daß es in eine schen Kurfürsten Könige nennen, und wickelten sich einflußreiche Wirtschafts- politisch nachteilige Mittelposition zwi- zwar vorerst von Napoleons Gnaden. und Handelszentren, wozu besonders schen Brandenburg-Preußen und dem Durch eine glücklose Koalitionspolitik an Leipzig zu zählen ist: Die Stadt Leipzig er- Habsburgerreich geriet, aus der es sich bis der Seite Frankreichs stand die staatliche ins 19. Jahrhundert hinein nicht zu befrei- Existenz Sachsens 1815 im Rahmen des en vermochte. Vorerst jedoch nahm die Wiener Kongresses zur Disposition. Im wirtschaftliche Genesung des Landes – nicht zuletzt durch die Mitwirkung böhmischer Exulanten (Glaubensflüchtlin- ge), die sich in Sachsen niederließen –

86 Sachsen Mächtespiel zwischen Preußen und Öster- In den Anfangsjahren der Weimarer Repu- und Ereignissen mitgeprägt. Die Leipziger reich durfte das Königreich Sachsen als blik gewann die KPD an politischem Ge- Montagsdemonstrationen trugen der Mittelmacht schließlich zwar bestehen wicht. 1920 und 1921 hatten sich einige Messestadt den Beinamen „Heldenstadt“ bleiben, büßte jedoch geographisch etwa Anschläge der extremistischen Linken ein. Die ersten Montagsdemonstrationen 60% (u. a. Görlitz/niederschlesische Gebie- unter Leitung des Vogtländers Max Hölz waren 1982 in Form von Friedensgebeten te und die Niederlausitz) und hinsichtlich im mitteldeutschen Raum ereignet. Im in der Leipziger Nicolai-Kirche entstan- der Bevölkerungszahl etwa 40% seines Krisenjahr 1923 konzentrierte sich die Ge- den. In den entscheidenden Monaten des Umfanges ein. fahr eines Umsturzversuches in Sachsen, Oktober und November 1989 fanden sich Im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts wo KPD-Funktionäre, nach einer Anwei- oftmals mehrere 100 000 Menschen ein, gelang es, Sachsen zum modernsten und sung der Komintern, als Minister in die um gegen das DDR-Regime und später für innovativsten Wirtschaftsraum Deutsch- Landesregierung Zeigner (SPD) eintraten. die Wiedervereinigung einzutreten. Nach lands zu entwickeln. Ein Umstand, der bis Um einer Bedrohung der inneren Sicher- allzu langer Zeit wurden wieder weiß- heute z. B. im wirtschaftlichen Stellenwert heit für das Reich entgegenzuwirken, grüne Flaggen mitgeführt, lebte auch der der industriellen Produktion, im Erschei- rückten im Oktober mehrere Regimenter Wunsch zur Neubegründung sächsischer nungsbild sächsischer Städte und Dörfer der Reichswehr in sächsische Städte ein. Landesstaatlichkeit wieder auf. oder im Traditionsbewußtsein der Hoch- Anschließend kam es zur Reichsexekution Am 3. Oktober 1990, dem Tag des Voll- schulen seinen Niederschlag findet. Als gegen Sachsen auf Grund Art. 48 der Wei- zugs der Wiedervereinigung, wurde auf wichtigste Triebfeder der Industrialisie- marer Reichsverfassung. Ein Reichskom- der Albrechtsburg in Meißen der sächsi- rung fungierte die Textilindustrie im Vogt- missar wurde eingesetzt und die Reichs- sche Staat neu gegründet. Der Ort der land, im Erzgebirge mit Chemnitz als wehr zwang die sächsischen Minister aus Neugründung, die alte Residenz der Mark „sächsischem Manchester“ und in der ihren Ämtern. Unter diesem Druck trat die Meißen, und die Namengebung „Freistaat Oberlausitz. Regierung Zeigner zurück; die Bildung Sachsen“ knüpften an uralte historische Im Deutschen Kaiserreich nach 1871 präg- einer neuen SPD-Minderheitsregierung Bindungen und demokratische Traditio- ten drei Bestimmungsfaktoren das politi- ohne kommunistische Beteiligung führte nen an. sche Leben in Sachsen: zum einen das Kö- zu einer Normalisierung der Lage. Gegen nigshaus, recht populär, aber politisch Ende der 20er Jahre stieg die NSDAP auch Die Sorben sehr zurückhaltend, zum zweiten die Do- in Sachsen auf und wurde bis zur Kanzler- minanz der Konservativen in den Regie- schaft Hitlers zur stärksten Partei. Im Zuge Seit über 1000 Jahren leben die slawischen rungsgeschäften und zum dritten der der Machtergreifung und der Gleichschal- Sorben in Dörfern und Kleinstädten im große Rückhalt der Sozialdemokraten, die tung der Länder verlor Sachsen – nunmehr Raum zwischen Spree und Oder, von Baut- zwar aus Gründen des Wahlsystems (Zen- als „Reichsgau“ – praktisch seine staatli- zen bis Lübben, in der Ober- und Nie- suswahlrecht) in Sachsen von der Regie- che Existenz. derlausitz. Trotz vielfacher Bedrängung rung ausgeschlossen blieben, aus den Nach dem Zweiten Weltkrieg, im Juli und sogenannten „Germanisierungsver- Reichstagswahlen (Gleichheitsprinzip) je- 1945, ließ die Sowjetische Militäradmini- suchen“ im 19. und 20. Jahrhundert konn- doch fast immer als stärkste sächsische stration wieder eine sächsische Landesver- te sich das etwa 70 000 Menschen umfas- Partei hervorgingen. So sprach man denn waltung einrichten, die zusammen mit sende kleine Volk bis heute behaupten. auch vom „roten Königreich“. den anderen Ländern der SBZ als föderali- Die Sächsische Verfassung (Art. 6) – und stische Staatsgliederung bis in die DDR- für die Niederlausitzer Sorben die bran- Vom Freistaat zum Freistaat Zeit hinein bestand. 1947 erhielt Sachsen denburgische entsprechend – sichert der seine dritte Landesverfassung im Laufe sorbischen Volksgruppe Gewährleistung Am 9./10. November 1918 verließ König der Geschichte. Im Zuge der zentralisti- und Schutz ihres Rechtes auf Sprach- und Friedrich August III. von Sachsen das Land; schen Vorstellungen, Bestrebungen und Kulturpflege „insbesondere durch Schu- am 13. November dankte er offiziell ab, Notwendigkeiten einer kommunistischen len, vorschulische und kulturelle Einrich- wobei er gesagt haben soll: „Dann mach Diktatur hob die DDR 1952 die Länder- tungen“ zu. doch eiern Drägg alleene!“ Am 13. No- strukturen auf und ersetzte sie durch Be- Besonders typisch für das sorbische Volk vember dankte er offiziell ab. Damit ende- zirke (in Sachsen: Chemnitz/Karl-Marx- ist eine sehr enge Verknüpfung von te nicht nur die Herrschaft des alten Ge- Stadt, Leipzig und Dresden). Der sächsi- Sprach-, Kultur- und Religionsgemein- schlechtes der Wettiner sondern auch die sche Schriftsteller Erich Loest schrieb über schaft (evangelisch wie katholisch), die Monarchie als solche. das damalige (zweite) Ende Sachsens: allen historischen Widrigkeiten zum Trotz Bereits am 10. November übernahm ein „Unter den historischen Begriff Sachsen bis heute bestehen blieb. Viele Einrichtun- Arbeiter- und Soldatenrat in Dresden die wurde 1952 ein Schlußpunkt gesetzt, die gen, wie die Domowina als kultureller Macht und proklamierte die Republik Akte geschlossen und im Keller, Abteilung Dachverband oder das Sorbische Institut Sachsen. Am 2. Februar 1919 fanden freie Tote Staaten, unfeierlich beigesetzt. mit der Sorbischen Zentralbibliothek in und gleiche Wahlen statt. In die Volksver- Lange Jahre senkte sich Staub darauf, Bautzen, erhalten nach wie vor ihre finan- tretung wurden 42 Sozialdemokraten Flugasche, Braunkohlendreck.“ zielle Absicherung durch staatliche Mittel. (41,6%), 22 Mitglieder der Demokrati- Während der Jahrzehnte der deutschen Die eigentliche Gefahr für das Sorbentum schen Partei (22,9%), 15 Vertreter der Un- Teilung wurde plötzlich das historisch be- scheint jedoch nach 1989 die zumeist be- abhängigen Sozialdemokraten (16,3%), deutsame und gemütliche Bautzen wegen rufsbedingte höhere Mobilität und die 13 Deutschnationale (14,3%) und 4 Volks- seines Zuchthauses für politisch Inhaftier- Strukturschwäche des ländlichen Raumes parteiler (3,9%) entsandt. Damit hatte te ein Inbegriff des unmenschlichen SED- zu sein. Ohne ausreichende Arbeitsplätze sich Sachsen als traditionelle Hochburg Regimes. Der Volksaufstand vom 17. Juni in der näheren Umgebung der sorbischen der Sozialdemokratie behauptet. Am 28. 1953 fand durch eindrucksvolle Demon- Dörfer ist der Wegzug junger Leute kaum Februar beschloß die sächsische Volkskam- strationen auch in Sachsen großen Rück- vermeidbar. Hieraus resultieren existenzi- mer ein Vorläufiges Grundgesetz für den halt. Mehr als 30 Jahre später spielten die elle Probleme der Pflege und Weitergabe Freistaat Sachsen, aus dem die – nach 1831 sächsischen Schauplätze dann eine von Sprache und Brauchtum. – zweite sächsische Verfassung von 1920 führende Rolle beim Niedergang der SED- hervorging. (Freistaat bedeutet Republik Herrschaft. im Sinne von nichtmonarchischer Herr- Die friedliche Revolution im Jahre 1989 schaft.) und der Weg zur Wiedervereinigung wur- den maßgeblich von sächsischen Personen

Sachsen 87 Die erste Verfassung der neuen Ergebnisse der Runden Tische sowie der die die Anzahl von 1 626 Städten und Ge- Bundesländer politischen Vorstellungen und Erfahrun- meinden auf nunmehr 537 selbständige gen der Verwaltungsfachleute, die haupt- Einheiten in Form von 332 Städten und Die Sächsische Verfassung (die vierte Lan- sächlich aus den Partnerländern Bayern Gemeinden im herkömmlichen Sinne desverfassung in der Geschichte) trat am und Baden-Württemberg nach Sachsen sowie 205 Einheitsgemeinden (Zusam- 6. Juni 1992 in Kraft. Sie war die erste Ver- berufen wurden. Es galt, trotz des immen- menschluß mehrerer ehemals selbständi- fassung, die in den neuen Bundesländern sen Zeitdrucks, eine effektive Landesver- ger Gemeinden) reduziert. Zudem werden verabschiedet wurde. Die Präambel be- waltung aufzubauen, die dem Rahmen Verwaltungsgemeinschaften mit einem tont die historische Tradition Sachsens des Grundgesetzes und Einigungsvertra- Verwaltungszentrum für benachbarte und grenzt diese zu den vorgehenden ges entsprach, aber auch die Eigenarten selbständige Gemeinden und Verwal- Jahrzehnten der Diktatur ab. Dort heißt Sachsens berücksichtigte. Umfangreiche tungsverbände als Zusammenschlüsse selb- es: theoretisch-konzeptionelle Überlegungen ständiger Gemeinden ohne ein Verwal- „Anknüpfend an die Geschichte der Mark mußten vorerst auf zentrale Aufgaben- tungszentrum eingerichtet. Des weiteren Meißen, des sächsischen Staates und des stellungen beschränkt werden. Wegen werden die sächsischen größeren und niederschlesischen Gebietes, ... ausgehend des hohen Regelungsbedarfes im gesam- Großstädte durch erhebliche Eingemein- von den leidvollen Erfahrungen national- ten Prozeß des Umbaus von Verwaltungs- dungen weitgehend von den sogenann- sozialistischer und kommunistischer Ge- und Rechtsordnung konnte vielen weite- ten Speckgürteln befreit. waltherrschaft, ... hat sich das Volk im Frei- ren Problemen vorerst nur durch Über- staat Sachsen dank der friedlichen Revolu- nahme bestehender Gesetze und Verord- Das sächsische Wahlsystem tion des Oktobers 1989 diese Verfassung nungen aus den alten Bundesländern be- gegeben.“ gegnet werden. Das sächsische Wahlsystem orientiert sich Die sächsische Verfassung enthält einen Bei der Diskussion um die Einrichtung von bei den Landtagswahlen am Wahlrecht kompletten Grundrechte-Katalog in Ent- Mittelbehörden in Form von Regierungs- zum Deutschen Bundestag und bei den sprechung zum Grundgesetz und zur Be- präsidien spielte die Erinnerung an die po- Kommunalwahlen an den Regelungen in teuerung ihrer Aufgabenstellung für litisch sehr „berlinhörigen“ Bezirke der Baden-Württemberg und Bayern. Die staatliches Handeln. Besondere Ergänzun- DDR (Karl-Marx-Stadt/Chemnitz, Leipzig Sächsische Verfassung bestimmt eine or- gen zum Grundgesetz wurden zumeist und Dresden) eine große Rolle. Letztend- dentliche Legislaturperiode des Sächsi- aufgrund leidvoller Erfahrungen der DDR- lich setzte sich jedoch das Argument schen Landtages von fünf Jahren. Die 120 Zeit vorgenommen. So umfaßt der Grund- durch, daß die Kreise und Kreisfreien Parlamentssitze werden zur Hälfte über rechtekatalog eingedenk der Verbrechen Städte ohne Mittelbehörden allzu schwer 60 Direktmandate (in 60 Wahlkreisen) der Staatssicherheit gegen politisch Oppo- ihre Anliegen koordinieren könnten. An- und zur Hälfte über 60 Listenplätze be- sitionelle eine besondere Betonung z. B. stelle der ursprünglich geplanten fünf stimmt. Die Wähler haben somit je eine des Datenschutzes (Art. 33) oder die aus- wurden dann drei Regierungspräsidien Stimme für einen Wahlkreiskandidaten drückliche Bestimmung: geschaffen, und zwar den vormaligen Be- und eine Parteiliste zu vergeben. Der „Niemand darf grausamer, unmenschli- zirken geographisch sehr ähnlich. Die Landtag wird nach dem Verhältnis der cher oder erniedrigender Behandlung dreigliedrige Struktur der Regierungsprä- Zweitstimmenanteile der Parteien be- oder Strafe und ohne seine freiwillige und sidien als Mittelbehörden ist in einigen setzt, wobei allerdings die 5%-Hürde zu ausdrückliche Zustimmung wissenschaftli- Bereichen nachträglich durchbrochen überwinden ist. Kommt es durch das Un- chen oder anderen Experimenten unter- worden, wie z. B. durch die Bildung von gleichgewicht von Erst- und Zweitstim- worfen werden“ (Art. 16,2). Kulturräumen und die Zusammenfassung menanteilen zu Überhangmandaten, so An direktdemokratischen Elementen in von Oberschul- und Schulämtern zu fünf werden diese im Unterschied zum Wahl- der Sächsischen Verfassung sind Volks- Regionalschulämtern. recht des Bundestages ausgeglichen. antrag, Volksbegehren und Volksent- Die bestehende Anzahl von 48 Landkrei- Der erste Sächsische Landtag wurde am scheid zu nennen. So ist es entsprechend sen und Kreisfreien Städten sollte verrin- 14. Oktober 1990 – also vor Inkrafttreten Art. 3,2 der Sächsischen Verfassung („Die gert werden, um überschaubarere Ver- der Sächsischen Verfassung – nach dem Gesetzgebung steht dem Landtag oder waltungsstrukturen zu schaffen. So gibt es „Gesetz über die Wahlen zu Landtagen in unmittelbar dem Volk zu.“) möglich, über derzeit in Sachsen 22 Landkreise und sie- der DDR“ vom August 1990 gewählt. Er einen Volksantrag ein Gesetzesvorhaben ben Kreisfreie Städte (Chemnitz, Dresden, besaß eine Legislaturperiode von vier Jah- in den Landtag einzubringen und bei Ab- Görlitz, Hoyerswerda, Leipzig, Plauen und ren und setzte sich aus 160 Abgeordneten lehnung durch den Landtag auch einen Zwickau). Daneben ermöglicht die Sächsi- zusammen. Gesetzesentwurf als Volksbegehren zum sche Gemeindeordnung auf Antrag die In sächsischen Kreisen, Städten und Ge- Volksentscheid zu bringen und bei mehr- Etablierung von sogenannten Großen meinden gilt der Verwaltungsaufbau nach heitlicher Zustimmung gegen die Land- Kreisstädten (Voraussetzung: über 20 000 dem Muster der Süddeutschen Ratsverfas- tagsposition durchzusetzen (Art. 70 ff.). In Einwohner) mit speziellen zusätzlichen sung. Hiernach werden Landräte als Leiter Entsprechung zur Bundesebene sitzt in Kompetenzen gegenüber anderen Städ- der Kreisverwaltung und Vorsitzende der Leipzig ein Verfassungsgerichtshof des ten. 1998 verabschiedete der Sächsische Kreistage direkt für sieben Jahre gewählt. Freistaates Sachsen als unabhängiges Ent- Landtag eine Gemeindegebietsreform, Ebenfalls direkt werden die Oberbürger- scheidungsorgan in Grundsatzfragen. meister und Bürgermeister als Vorsitzende des Stadt- oder Gemeinderates und als Die neue Verwaltungsorganisation Leiter der Stadt- oder Gemeindeverwal-

Die ersten Landtagswahlen (14. 10. 1990) nach der friedlichen Revolution ergaben eine stabile CDU-Mehrheit im Parlament. Wahlergebnisse in Sachsen 1990–1998 zum Deutschen Bundestag (BT) und zum Zum Ministerpräsidenten wurde Prof. Dr. Sächsischen Landtag (LT) nach Zweitstimmen in % gewählt. Er brachte langjährige bundes- und landespolitische BT 1990 LT 1990 BT 1994 LT 1994 BT 1998 Erfahrungen (Nordrhein-Westfalen) in die anstehenden Aufgaben ein. CDU 49,5 54,4 48,0 58,1 32,7 Der Aufbau der Landesverwaltung stand SPD 18,2 19,1 24,3 16,6 29,1 unter den Einflüssen der Diskussionen und PDS 9,0 (10,2) 16,7 16,5 20,0 FDP 12,4 5,3 3,8 1,7 3,6 B 90/Grüne 5,9 (5,6) 4,8 4,1 4,4

(PDS – LT 1990: „Linke Liste – PDS“, B 90/Grüne 1990: „Neues Forum – Bündnis-Grüne) Quelle: Statistisches Landesamt des Freistaates Sachsen

88 Sachsen tung gewählt. Landräte und Bürgermei- nalwahlen 1994 errang die CDU 38,1% tion der DDR. Der Anteil an Beschäftigten ster in Gemeinden mit über 3 000 Einwoh- der Stimmen, bei den Bundestagswahlen im produzierenden Gewerbe betrug noch nern sind hauptamtliche Beamte auf Zeit. im gleichen Jahr 48 % (Zweitstimmen) 1989 54 %. Das Bruttoinlandsprodukt Organe des Landkreises sind der Kreistag und bei den Landtagswahlen 58,1% (BIP) des Freistaates Sachsen belief sich und der Landrat, Behörde des Landkreises (Zweitstimmen). 1997 auf 123,3 Mrd. DM. Dies entspricht ist das Landratsamt. Mitglieder der Kreis- Die Bundestagswahlen vom September etwa 30 % der Wirtschaftsleistung der tage sind Kreisräte und jeweils ein Landrat 1998 brachten der CDU gegenüber 1994 neuen Bundesländer und einem Anteil als Vorsitzender. Die Wahlen zu Kreista- einen massiven Einbruch: In den 21 Wahl- von 3,4 % des deutschen BIP insgesamt. gen, Stadt- und Gemeinderäten werden kreisen gewannen acht SPD- und 13 CDU- Das sächsische BIP liegt damit im Vergleich nach dem Prinzip der Verhältniswahl für Kandidaten die Direktmandate (1990 und zwischen den Bundesländern Schleswig- eine Amtszeit von fünf Jahren durchge- 1994: alle CDU). Der maßgebliche Grund Holstein (112,5 Mrd. DM) und Hamburg führt. Jeder Wahlberechtigte hat drei für die geringen Zuwächse der SPD bei (142,6 Mrd. DM). Das reale Wirtschafts- Stimmen, die er auf einen Bewerber kon- großen Verlusten der CDU liegt in dem be- wachstum der letzten acht Jahre erreichte zentrieren (kumulieren) oder aber auf achtlichen Stimmenanstieg anderer klei- 1994 einen Spitzenwert von 11,1% und mehrere Bewerber verteilen kann (pana- nerer Parteien (DVU: 2,6 % = +2,6 % ; Pro sank seitdem jährlich ab bis auf 2 % im schieren). DM: 2,7 % = + 2,7 % ; Republikaner: 1,9 % Jahre 1997. Dies ist ein bedrückendes Er- Die Stärke der Kreistage variiert von 50 = + 0,5 % ; NPD: 1,2 % = + 1,2 %). Die über- gebnis im Hinblick auf das Ziel der wirt- Sitzen in Kreisen mit weniger als 100.000 wiegende Mehrheit der sächsischen Ge- schaftlichen Angleichung zwischen alten Einwohnern bis zu 70 Sitzen in Kreisen mit meinden und Städte wird von CDU-Bür- und neuen Bundesländern, denn bei bei- mehr als 175 000 Einwohnern. Die Sitzstär- germeistern geführt. In größeren Städ- nahe gleichen Wachtumsraten kommt der ke der Stadt- und Gemeinderäte richtet ten gibt es jedoch einige Ausnahmen: Aufholprozeß natürlich zum Erliegen. sich entsprechend nach der jeweiligen Be- Während sich die CDU im konservativeren Ein altes Sprichwort, das bis heute gewisse völkerungszahl, so werden z. B. acht Ge- Dresden als stärkste Partei behauptete, Gültigkeit besitzt, besagt: „Was in Chem- meinderäte bei bis zu 500 Einwohnern konnte die SPD bei den Kommunalwahlen nitz erarbeitet wird, wird in Leipzig ge- oder 60 bei Städten mit über 400.000 Ein- in Leipzig und Chemnitz ihre Oberbürger- handelt und in Dresden verpraßt.“ Der wohnern gewählt. Für Ortschaften einer meisterkandidaten durchsetzen, in der Raum Chemnitz/Zwickau verfügt über Stadt oder Gemeinde mit einem Orts- Kreisfreien Stadt Hoyerswerda regiert ein eine vorrangig schwerindustriell geprägte vorsteher an der Spitze wird nach den PDS-Bürgermeister. Wirtschaftsstruktur mit dem Schwerpunkt Grundsätzen der Gemeinderatswahlen Den erheblichen Abweichungen vom des Fahrzeugbaus und der Metallverarbei- ein Ortschaftsrat gewählt. durchschnittlichen Landesergebnis der tung (z.B. Volkswagen, Sachsenring). Leip- Ähnlich wie auf der Landesebene besteht Parteien CDU, SPD und PDS bei den Bun- zig ist der infrastrukturelle Knotenpunkt auch auf Gemeinde- und Kreisebene die destagswahlen von 1998 entsprechen ty- der neuen Bundesländer im Bereich des Möglichkeit zur direkten politischen Ein- pische Muster der Wahlanalyse. So errang Handels (Leipziger Messe, Flughafen Leip- flußnahme der Wahlbevölkerung über die CDU bei den Bundestagswahlen von zig-Halle, Bankenstandort) und der poly- Bürgerbegehren und Bügerentscheid. 1998 in den kleinen Gemeinden des ka- graphischen Industrie. In und um die Lan- tholischen Sorbenlandes (z. B. im Wall- deshauptstadt Dresden konzentrieren sich Vom „roten Königreich“ zur fahrtsort Ralbitz-Rosenthal 69,1 %) und in Unternehmen der Elekrotechnik und ele- „schwarzen Hochburg“ den katholisch geprägten Städten Witti- kronischen Hochtechnologie (z. B. Sie- chenau (54,7 %) und Schirgiswalde (54 %) mens, AMD) bis in den Freiberger Raum Die CDU wurde nach der friedlichen Revo- sowie in Erzgebirgsgemeinden mit einer hinein sowie traditionell der kosmetischen lution zur dominierenden politischen Par- hohen Kirchenbindung unter der prote- Industrie. Die wichtigsten Wirtschafts- tei in Sachsen. Dies geschah wohl vorran- stantischen Bevölkerung einen Zweitstim- zweige des produziernden Gewerbes in gig, weil sie als Partei der zügigen Wieder- menanteil, der gegenüber dem Landes- Sachsen sind der Maschinenbau, die Me- vereinigung und der schnellen Eingliede- durchschnitt von 32,7 % deutlich ab- tallverarbeitung, die Elektro- und Elektro- rung in die Bundesrepublik wahrgenom- weicht. Die Stadt Hoyerswerda, die ihr Ge- nikindustrie sowie das Ernährungs-, Textil- men wurde und dies den Wählerinteres- sicht zu DDR-Zeiten vollständig verwan- und Papiergewerbe. Außerhalb der Ober- sen entsprach. Zudem engagierten sich delte und zu einer Industriearbeiterstadt zentren gelang es bisher kaum, in ausrei- zahlreiche Spitzenpolitiker der sächsi- im Herzen des Braunkohlebergbaus chendem Maße Arbeitsplätze zu sichern schen CDU maßgeblich als Bürgerrechtler wurde, stellt heute eine Hochburg der oder neu zu schaffen. Der Braunkohle- in der DDR-Opposition und trugen zur PDS dar mit einem Zweitstimmenanteil tagebau in der Lausitz (z. B. in Schwarze Entwicklung 1989 mit bei. Die SPD konnte von 28,4 %. Die SPD konnte in den zwei Pumpe) oder Waggon- und Turbinenbau somit – vor dem Hintergrund des CDU- Leipziger Wahlkreisen an historische Er- in Görlitz, der Instrumentenbau und die Wahlerfolges – nicht an ihre Erfolge aus folge anknüpfen und im Unterschied zu Spitzenproduktion im Vogtland, die Spiel- der Zeit von 1871 bis 1933 anknüpfen. 1994 die CDU als stärkste Partei ablösen. zeugherstellung im Erzgebirge sowie die Bei den Landtagswahlen 1990 erreichte Sie lag hier mit Zweitstimmenanteilen von Stahl- und Reifenproduktion in Riesa die CDU eine absolute Mehrheit (53,8 % 36,6 und 37 % weit über dem Landes- haben – soweit sie den Wirtschaftswandel der Zweitstimmen) und konnte diese 1994 durchschnitt von 29,1%. überhaupt als Unternehmen überstehen mit 58,1% noch weiter ausbauen. Bündnis konnten – bei weitem nicht mehr das Be- 90 /Die Grünen (4,1%) und FDP (1,7 %) „Was in Chemnitz erarbeitet wird, schäftigungsgewicht wie zu DDR-Zeiten sind im zweiten Sächsischen Landtag nicht wird in Leipzig gehandelt und in und stellen zumeist nur noch einen vertreten, nachdem sie 1990 die 5-%- Dresden verpraßt“ Grundstock für den viel größeren Arbeits- Hürde noch hatten überspringen können. platzbedarf dar. Eine Besonderheit der politischen Verhält- Das Städtedreieck Dresden-Leipzig-Chem- An die traditionelle Wirtschaftsstruktur nisse in Sachsen stellen die recht abwei- nitz stellte vor dem Zweiten Weltkrieg das der Vergangenheit konnte Sachsen nach chenden Wahlergebnisse der Regierungs- industrielle Herz Deutschlands dar. Da- der Revolution von 1989 im großen und partei bei Kommunal-, Landtags- und mals trugen besonders Unternehmen mit- ganzen wieder anschließen. Besonders Bundestagswahlen dar. Bei den Kommu- telständischer Größe zur Blüte der sächsi- weil die Neuansiedlung bzw. Umstruktu- schen Wirtschaft bei. Zu DDR-Zeiten er- wirtschafteten die sächsischen Bezirke etwa 40% der gesamten Industrieproduk-

Sachsen 89 system wurde mit zwei markanten Beson- derheiten im Vergleich zu westlichen Bun- desländern ausgestattet. Einerseits dauert die Schulzeit – im Unterschied zu den mei- sten Bundesländern – bis zum Abitur le- diglich zwölf Jahre, andererseits stellt die neue Mittelschule den einzigen allge- meinbildenden Schultypus neben dem Gymnasium dar. In der Mittelschule kön- nen die Schüler einen Hauptschul- oder Realschulabschluß erlangen. Auch im Be- reich der Schulverwaltung geht man in Sachsen neue Wege. So wurden zum 1. Ja- nuar 1999 20 Schulämter und drei – ent- sprechend den Regierungsbezirken – Oberschulämter aufgelöst und an deren Stelle fünf Regionalschulämter eingerich- tet (mit Sitz in Bautzen, Dresden, Leipzig, Chemnitz und Zwickau). Das Hochschulwesen wurde den Struktu- ren der alten Bundesländer angepaßt, z. B. durch Auflösung der ehemaligen Pädagogischen Hochschulen. Besonders einschneidend waren die personellen Ab- wicklungen von belasteten Hochschulleh- rern. Die Technische Universität Dresden (ca. 22.000 Studenten) wurde mit der Aus- Quelle: Historische Kommission der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig weitung um geisteswissenschaftliche Fa- kultäten zur Volluniversität. Sie lief der rierung großer Industrieunternehmen das größte wirtschafts- und sozialpoliti- Leipziger Universität (ca. 20.000 Studen- nicht mehr den überragenden Stellenwert sche Problem dar. Gab es 1989 noch 2,8 ten) bezüglich der Immatrikulationen den in der Erwerbsstruktur verzeichnen kann, Mio. Erwerbstätige in Sachsen, so ersten Rang ab. In Sachsen werden vier ist die Förderung der Entstehung und Eta- schrumpfte diese Zahl auf etwa 1,8 Mio. Universitäten, vier Kunsthochschulen, und blierung von Kleinunternehmen ein wich- bis 1992 und befindet sich seitdem auf fünf Fachhochschulen als Hochschulen für tiges Anliegen der sächsischen Staatsre- vergleichbarem Niveau. Die Arbeitslosen- Technik und Wirtschaft unterhalten. gierung. Hiermit wird an die Traditionen quote in Sachsen betrug in den vergange- Hinzu kommen als Sondereinrichtungen der Gründerzeit und der Weimarer Repu- nen Jahren zwischen 14 und 17 % und lag das Internationale Hochschulinstitut in blik angeknüpft. damit jeweils etwas günstiger als in den Zittau und die Akademie für Künstleri- neuen Bundesländern insgesamt. Die re- schen Tanz (Palucca Schule Dresden) sowie Ein dynamischer und mittelständisch gionalen Unterschiede sind gravierend die private Handelshochschule Leipzig (als geprägter Wirtschaftsstandort (z.B. im Okt. 1997: 12,1% im Raum Plauen Universität). und 19,3 % im Raum Bautzen). Auf das baden-württembergische Vorbild In den Jahren 1990 bis 1996 ist die Zahl der Trotz hoher Steigerungsraten (1997 ca. zurückgreifend wurde zudem 1991 eine Gewerbe in Sachsen um 216.500 Betriebe 39 %) liegt der Exportanteil Sachsens mit Berufsakademie Sachsen gegründet. An gewachsen. 86 % der sächsischen Betriebe einem Viertel der Exporte der neuen Bun- sechs Standorten absolvieren etwa 3.600 beschäftigen weniger als 20 Mitarbeiter. desländer immer noch unter dem entspre- Studenten ein „duales Studium“, das zur Etwa 50.000 Handwerksbetriebe sind in chenden Anteil der gesamten Wirtschafts- Hälfte nichtstaatlich durch sogenannte Sachsen gemeldet. Die Betriebsdichte und leistung. Dies ist vor dem Hintergrund der Praxispartner organisiert wird. die Anzahl der Handelsregistereintragun- geographischen Lage bemerkenswert und gen liegen in Sachsen signifikant höher als birgt offensichtlich weitere Wachstums- Kultur in Sachsen im Bundesdurchschnitt. Entgegen den er- perspektiven. sten Jahren nach 1989 verlagert sich das Das Kulturland Sachsen in Kürze und aus- Branchengewicht der Gewerbeneuanmel- Neue Wege in der Bildungspolitik gewogen vorzustellen, ist ein Unterfan- dungen von Handel und Handwerk zu- gen, das einem Dialog Heinrich von Kleists nehmend in Richtung Industrieproduk- Das sächsische Bildungswesen steht in ähnelt, den er auf einer Reise durch Sach- tion. Mittlerweile entfallen etwa 75 % der einer langen und verpflichtenden Tradi- sen niederschrieb: „Sind Sie in Dresden ge- sächsischen Industrieproduktion auf den tion. Theodor Fontane schrieb über die wesen?“ – „Ja, durchgereist.“ – „Haben mittelständischen Bereich. Damit behaup- Sachsen im Vergleich zu den übrigen Sie das Grüne Gewölbe gesehen?“ – tet sich Sachsen als dynamischer und be- deutschen Stämmen: „Nein.“ – „Das Schloß?“ – „Von außen.“ – sonders mittelständisch geprägter Wirt- „Sie sind die Überlegenen, und ihre Kul- „Königstein?“ – „Von weitem.“ – „Pillnitz, schaftsstandort. In den sächsischen Wachs- turüberlegenheit wurzelt in ihrer Bil- Moritzburg?“ – „Gar nicht.“ – „Mein Gott, tumszentren um Leipzig und Dresden be- dungsüberlegenheit, die nicht vom neue- wie ist das möglich?“ – „Möglich? Mein finden sich die Werte wiederum auf sten Datum, sondern fast vierhundert Freund, das war notwendig.“ einem bedeutend günstigeren Niveau als Jahre alt ist.“ Die kulturellen Besonderheiten Sachsens in ländlichen Räumen. Allerdings weisen So ging man nach der friedlichen Revolu- sind eng mit der Geschichte der einzelnen die Regionen Zwickau, Bautzen und Riesa tion sehr ambitioniert an die Chance des Regionen verflochten. Zur gezielteren fi- die höchste Dichte an Industriearbeitsplät- Bildungsum- und neuaufbaus. Das Schul- nanziellen Unterstützung und zur besse- zen auf, während in den Ballungszentren ren Koordination der kulturellen Aktivitä- der Dienstleistungsanteil stärker ins Ge- ten in Sachsen schuf man die acht ländli- wicht fällt. chen Kulturräume Vogtland, Zwickauer Die Arbeitslosigkeit stellt in Sachsen – wie Raum, Erzgebirge, Mittelsachsen, Leipzi- in den neuen Bundesländern allgemein – ger Raum, Elbtal, Sächsische Schweiz/ Osterzgebirge, und Oberlausitz-Nieder- schlesien sowie die drei urbanen Kul-

90 Sachsen turräume Chemnitz, Leipzig und Dresden. Seelen). Besonders die katholischen Sor- bracht wird; und nicht zuletzt auch Die Kulturstätten internationalen Ranges ben in ihren Dörfern im Großraum Baut- sprachlich. So möge am Ende dieser Vor- konzentrieren sich in Leipzig und Dres- zen und die Städte Wittichenau und Schir- stellung Sachsens ein Wortspiel des Kaba- den: So stehen die Knaben vom Thoma- giswalde stellen durch lange böhmisch- rettisten Jürgen Hart stehen, das auch für nerchor Leipzig in stetem Wettbewerb mit habsburgische Zugehörigkeit beinahe die gemütliche sächsische Lebensart spre- dem Dresdner Kreuzchor. Das Leipziger rein katholische Enklaven dar. chen mag: Sohn und Vater sehen eine Gewandhausorchester, die Leipziger Oper Die drei jüdischen Gemeinden in Sachsen Gruppe schwarzgekleideter Männer an- und die Deutsche Bücherei als Teil der Na- konnten zwar seit 1989 einen erheblichen gemessenen Schrittes daherziehen. Fragt tionalbibliothek sind weitere Säulen der Zuwachs erzielen, bilden jedoch mit insge- der Sohn: „Babba, was sindn das vor Kulturpflege. Und die Neue Messe beher- samt ca. 450 Mitgliedern eine sehr kleine Leide?“ „Das sind Bilcher, die loofen nach bergt nicht nur die Frühjahrsbuchmesse, Glaubensgemeinschaft. Rom!“ „Und warum gehndn die Bilcher ze sondern ist auch Veranstaltungsort sport- Fuße?“ „Na, das is billcher!“ licher und musikalischer Großereignisse. Presse und Rundfunk in Sachsen In Dresden sind die Semperoper mit der Staatskapelle, die Dresdner Philharmonie, Das Angebot an regionalen Tageszeitun- Das sächsische Wappen die Gemäldegalerie alter Meister mit Raf- gen in Sachsen ist sehr beschränkt. In den faels Sixtinischer Madonna oder das Hy- meisten Regionen dominiert eine Zeitung Die askanischen Herzöge führten seit giene-Museum herausragende Publikums- den Markt. Die Freie Presse mit Sitz in Ende des 12. Jahrhunderts einen mehr- magneten. Außerhalb der Zentren exi- Chemnitz (Eigentümer: Medien Union, fach schwarz-gold geteilten Schild. Nach stiert selbstverständlich auch ein weitver- d. h. Die Rheinpfalz) legt täglich ca. 1200 wurde der grüne Rautenkranz ins zweigtes und tiefschichtiges Kulturange- 452.000 Expl. auf, die Sächsische Zeitung Wappen aufgenommen, der wohl zur Un- bot in allen größeren Städten und Regio- mit Sitz in Dresden (Haupteigentümer terscheidung der Wittenberger Linie der nen, das neben traditionellen Schwer- Gruner und Jahr) ca. 390.000 Expl. und Askanier von der anhaltinischen diente, punkten, die z. B. durch 18 Theater und 10 die Leipziger Volkszeitung mit Sitz in Leip- später aber als Ehrenkranz interpretiert Orchester repräsentiert werden, auch mo- zig (Eigentümer Madsack/Springer) ca. wurde. derne Ansätze berücksichtigt, wie z. B. in 317.000 Expl. Durch die sehr konzentrierte den über 40 soziokulturellen Zentren des Presselandschaft zählen die drei großen Landes. sächsischen Tageszeitungen zu den aufla- genstärksten in ganz Deutschland. Die Nur noch 30 % der Bevölkerung sind großen nationalen Tageszeitungen und Kirchenmitglieder Wochenmagazine (z. B. Frankfurter Allge- meine oder Der Spiegel) finden im Ver- Sachsen war seit 1539 protestantisch ge- hältnis zu den alten Bundesländern einen prägt, auch wenn das Herrscherhaus seit schlechten Absatz. Eine Besonderheit stel- August dem Starken der katholischen Kir- len sorbischsprachige Publikationen dar, che angehörte. Durch die kirchenfeindli- wovon die Tageszeitung Serbske Noviny che Politik und materialistische Ideologie aus Bautzen mit etwa 1.500 Exemplaren des Marxismus-Leninismus und eine er- Auflage das Angebot der großen deutsch- hebliche Zahl von Kirchenaustritten bei- sprachigen Organe gezielt ergänzt. der großer christlicher Konfessionen nach Im Bereich des Fernsehkonsums existieren der friedlichen Revolution ging der Anteil erhebliche Unterschiede zu den alten an Kirchenmitgliedern nach dem Zweiten Bundesländern. So steht in Sachsen in der Literaturhinweise: Weltkrieg von über 90% auf heute unter Rangfolge der beliebtesten Fernsehsen- 30% der Bevölkerung zurück. der zumeist ein privater Anbieter an der Blaschke, Karlheinz: Geschichte Sachsens im Mit- Ungefähr 25% der sächsischen Bevölke- Spitze. Der Mitteldeutsche Rundfunk als telalter. Leipzig 1990. rung gehören Gliedkirchen der Evangeli- gemeinsame Anstalt der Länder Thürin- Drehwald, Suzanne/Jestaedt, Christoph: Sachsen schen Kirche in Deutschland (EKD) an. Die gen, Sachsen-Anhalt und Sachsen hat sich als Verfassungsstaat. Hrsg. von Thomas Pfeiffer. Evangelisch-Lutherische Landeskirche seit seinem Sendestart 1992 zu einer der Leipzig 1998. Sachsen stellt mit ca. einer Million Mitglie- wichtigsten öffentlich-rechtlichen Fern- Gerlach, Siegfried (Hrsg.): Sachsen. Eine politi- sche Landeskunde. Stuttgart 1993. dern die größe Gemeinschaft dar, gefolgt seh- und Radioanstalten in Deutschland Handbuch der Historischen Stätten Deutsch- von der Evangelischen Kirche der schlesi- entwickelt. Das Rundfunkangebot in lands, Bd. 8: Sachsen. Hrsg. von Walter Schlesin- schen Oberlausitz mit ca. 62.000 Mitglie- Sachsen gestaltet sich sehr vielseitig. ger. (Neudruck der 1. Aufl. 1965) Stuttgart 1990. dern und der Evangelischen Kirche der Unter den öffentlich-rechtlichen Program- Kaemmel, Otto: Sächsische Geschichte. Mit Kirchenprovinz Sachsen mit ca. 32.000 men erfreuen sich neben dem MDR auch einem Beitrag Sachsen im 20. Jahrhundert von Agatha Kobuch, Dresden 1995. Mitgliedern im sächsischen Teil. Etwa 4% die nationalen Sender Deutschlandradio Kötzschke, Rudolf und Kretzschmar, Hellmut: der Bevölkerung sind römisch-katholi- Berlin und traditionell der Deutschland- Sächsische Geschichte. Neudruck der 2. Aufl. schen Bekenntnisses. Sie gehören zu den funk (Köln) großer Beliebtheit. Zudem 1965 (1. Aufl. 1935), Augsburg 1995. sächsischen Teilen der Bistümer Dresden- strahlen eine Vielzahl von kleinen Sen- Meißen (ca. 150.000 Seelen), Görlitz (ca. dern über UKW aus, wovon sich die mei- 21.000 Seelen) und Magdeburg (ca. 7.000 sten allerdings auf leichte Unterhaltung konzentrieren. Insbesondere die Regionalsender vermit- teln einen Eindruck, wie sehr die Vielfäl- tigkeit sächsischer Regionen nach 1989 wieder selbstbewußt zum Ausdruck ge-

Anschrift: Sächsische Landeszentrale für politische Bildung, Schützenhofstraße 36-38, 01129 Dresden

Sachsen 91 Das Land „mittendrin“ barsten in ganz Deutschland – überwie- gend landwirtschaftlich genutzt, ist der Süden mit dem länderübergreifenden Sachsen-Anhalt Chemiedreieck Halle – Bitterfeld – Leipzig von der Industrie geprägt. Dazwischen lie- gen die ehemaligen anhaltischen Gebiete, die sich vom Harz bis zum Fläming er- Von Wilfried Welz strecken. Vielgestaltige Landschaft

So wechselvoll wie die Geschichte Sach- sen-Anhalts, so vielgestaltig und abwechs- lungsreich ist auch die landschaftliche Eine geschichtsträchtige Region Tradition zurückblicken. 1945 wurde es Gliederung. Im Norden ist es die Altmark, und ein junges Land auf Anordnung der sowjetischen Besat- die über die Jahrhunderte hinweg ein zungsmacht aus der ehemaligen preußi- stärkeres Eigenleben als andere Landstri- Eine Ausstellung in dem ehemaligen, nach schen Provinz Sachsen, dem Freistaat An- che Sachsen-Anhalts behaupten konnte. der Wende stillgelegten Kraftwerk Vocke- halt und kleineren Gebietsteilen Braun- Die natürlichen Grenzen bilden im Osten rode stellte 1998 unter dem programati- schweigs und Thüringens zusammenge- die Elbe, im Süden die Ohre und der Mit- schen Titel „mittendrin“ die lange Ge- fügt. Bis 1947 lautete die Bezeichnung tellandkanal. Die „Wiege“ Preußens ist schichte des Raumes dar, der heute im we- „Provinz“, danach bis zur Auflösung der überwiegend eben, Wiesen und Weiden, sentlichen das Bundesland Sachsen-An- Länder in der DDR 1952 „Land Sachsen- Äcker und Sümpfe und der größte See Sachsen-Anhalts, der Arendsee sowie die Colbitz-Letzlinger Heide machen den Reiz dieser Region aus. Südlich davon schließt sich die Magdeburger Börde an. Mit ihrem fruchtbaren Lößboden ist sie Ackerland seit Jahrtausenden. Der Anbau und die Verarbeitung der Zuckerrüben in der er- sten Hälfe des vorigen Jahrhunderts wurde zum Motor der Industrialisierung Mitteldeutschlands. Der Harz ist das am weitesten nach Norden vorgeschobene deutsche Mittelgebirge. Von dem vom Teufels- und Hexenspuk sagenumwobe- nen Brocken, mit 1 142 m höchste Erhe- bung des Landes, bietet sich bei gutem Wetter ein weiter Blick auf das sich zu sei- nen Füßen ausbreitende Sachsen-Anhalt. Die Saale-Unstrut-Region zählt zu den nördlichsten Weinanbaugebieten Europas und zu den ältesten in Deutschland. „An der Saale hellem Strande“ liegt auch Halle, die größte Stadt Sachsen-Anhalts, für die der Salzhandel jahrhundertelang die Hauptquelle ihres Wohlstandes war. Anhalt-Wittenberg schließlich ist die Re- gion, in der Kultur und Natur – stellvertre- Der Marktplatz in der Lutherstadt Wittenberg mit den Standbildern des Reformators tend sei hier nur das Wörlitzer Garten- und Philipp Melauchthons. Foto: Sebastian Kaps reich erwähnt – eine einzigartige Verbin- dung eingegangen sind. halt bildet. Und in der Tat, seit dem Fall Anhalt“. Mit dem 3. Oktober 1990 wurde der Mauer liegt Sachsen-Anhalt wieder das Land Sachsen-Anhalt neu gebildet, Territoriale Zersplitterung mitten in Deutschland und Europa, und zur Landeshauptstadt wurde mit Mehr- dies nicht nur geographisch, sondern auch heitsbeschluß des neu gewählten Landta- Der mitteldeutsche Raum und mit ihm das historisch, haben doch zentrale Entwick- ges Magdeburg bestimmt. Mit 20447 km2 heutige Sachsen-Anhalt war bis in das 19. lungen deutscher wie europäischer Ge- ist es flächenmäßig das achtgrößte, nach Jahrhundert hinein gekennzeichnet durch schichte – an dieser Stelle sei nur die Re- der Einwohnerzahl (knapp 2,7 Mio.) das eine territoriale Zersplitterung, wie sie auf formation genannt – hier ihren Ausgangs- neuntgrößte Land der Bundesrepublik diese Weise nur noch im Südwesten punkt gehabt. Erst die Überwindung der Deutschland. Deutschlands anzutreffen war. Daraus deutschen Teilung läßt langsam wieder ins Die ehemalige innerdeutsche Grenze bil- wurde oftmals die Schlußfolgerung gezo- Bewußtsein dringen, daß diese Region det heute die Landesgrenze zu Nieder- gen, daß es sich bei dem Land Sachsen-An- zum gemeinsamen kulturellen Erbe aller sachsen – die frühere Grenzübergangs- halt um ein eher „künstliches“ oder „un- Deutschen gehört. stelle Marienborn wird auf Beschluß des historisches“ Land handele. Dem ist ent- Im Gegensatz zu der mehr als tausend- Landtages von Sachsen-Anhalt als „Ge- gegenzuhalten, daß Sachsen-Anhalt in jährigen Geschichte der Region kann denkstätte Deutsche Teilung Marienborn“ seinen Kerngebieten als zusammenhän- Sachsen-Anhalt nur auf eine vergleichs- erhalten. Brandenburg, Sachsen und Thü- gender historischer Raum, als eine ge- weise kurze landeseinheitliche historische ringen sind die weiteren Nachbarländer. meinsame Geschichts- und Kulturland- Werden die nördlichen Landesteile mit schaft betrachtet werden kann und muß. der Altmark und der Magdeburger Börde – die Böden hier gehören zu den frucht-

92 Sachsen-Anhalt Bereits das Bistum Halberstadt, 804 von an die Wittenberger Schloßkirche ange- det. Vorangegangen waren zum Teil hef- Karl dem Großen gegründet, umfaßte schlagen, erschütterte er das christliche tige und kontroverse Diskussionen, da es entscheidende Teile des heutigen Sach- Abendland in seinen Grundfesten. Der im Gegensatz zu Thüringen, Sachsen, sen-Anhalts. In den folgenden Jahrhun- Protestantismus fand mit der Gründung Brandenburg und Mecklenburg-Vorpom- derten entwickelte sich der Raum an der der Universität und der Einrichtung der mern kaum ein aus der historischen Ent- Mittelelbe, der unteren Saale und dem Franckeschen Stiftungen am Ende des 17. wicklung heraus zu aktivierendes Landes- Harz zum Zentrum des entstehenden Jahrhunderts in Halle einen dauerhafti- bewußtsein gab. Dies zeigte sich auch in Deutschen Reiches. Der Sachsenherzog gen geistigen Mittelpunkt. Mit dem West- dem lang anhaltenden Streit um die künf- Heinrich wurde 919 – der Sage nach beim fälischen Frieden von 1648 wurde die tige Landeshauptstadt, der erst durch die Vogelfang – in Quedlinburg zum ersten Mark Brandenburg unter dem Großen Entscheidung des am 14. Oktober 1990 deutschen König berufen. Sein Sohn Otto I., Kurfürsten zur beherrschenden Macht in gewählten Landtages zugunsten von nach seinem Sieg über die Ungarn 955 auf der Region des heutigen Sachsen-Anhalts. Magdeburg entschieden wurde. Das Land dem Lechfeld auch Otto der Große ge- Die geistlichen Fürstentümer Magdeburg umfaßt den ehemaligen Bezirk Magde- nannt, ließ sich im Jahre 962 zum ersten – die Stadt selbst war während des Drei- burg und den ehemaligen Bezirk Halle deutschen Kaiser der westlichen Christen- ßigjährigen Krieges völlig zerstört worden ohne den Kreis Artern (heute Thüringen), heit in Rom krönen. Unter seiner Herr- – und Halberstadt gelangten in kurbran- aber zuzüglich des Kreises Jessen (vorher schaft wurde Magdeburg zum Erzbistum denburgischen Besitz. Die anhaltischen Bezirk Cottbus). Sachsen-Anhalt gliedert erhoben. Der erste Magdeburger Dom Fürstentümer konnten ihre Unabhängig- sich in drei Regierungsbezirke, die sich wurde errichtet, in ihm fand Otto nach keit bewahren. 1815 wurde nach den Be- wiederum in drei kreisfreie Städte (Mag- seinem Tod im Jahr 973 seine letzte Ruhe- freiungskriegen gegen die napoleonische deburg, Halle, Dessau) und nach dem In- stätte. Die Stadt blieb auch in den nach- Herrschaft die preußische Provinz Sachsen krafttreten der Kreisgebietsreform am 1. folgenden Jahrhunderten lange Zeit ein gebildet. Aufgrund der reichhaltigen 7. 1994 in 21 (statt vorher 37) Landkreise Zentrum des gesamten Raumes. Das Mag- Braunkohle- und Kalivorräte erlebte die unterteilen. Von den rund 1300 Gemein- deburger Stadtrecht – 1118 eingeführt – Provinz im 19. Jahrhundert einen gewalti- den besitzen 128 das Stadtrecht. wurde von vielen Städten Mittel- und Ost- gen Aufschwung der Industrie. Magde- Wie in allen „neuen“ Bundesländern stan- europas übernommen. Vielfach ging es burg entwickelte sich zu einem Zentrum den die politisch Verantwortlichen auf mit dem um 1230 von Eike von Repgow des Maschinenbaus, zwischen Halle und allen Ebenen vor eine Fülle von Aufgaben aufgezeichneten Sachsenspiegel – eine Bitterfeld entstand die chemische Indu- und Problemen. Jahrzehnte des ökonomi- Zusammenstellung traditionellen Rechts – strie. schen und ökologischen Raubbaus hatten eine Verbindung ein. 1209 wurde mit dem Die drei anhaltischen Fürstentümer wur- die Region an den Rand des Ruins ge- Wiederaufbau des Magdeburger Doms, den 1863 vereinigt, nach der Revolution bracht. Die Umstrukturierung der Wirt- dessen Vorgänger bei einem Stadtbrand von 1918 bestand die Region als Freistaat schaft, die Neuordnung der Verwaltung, zwei Jahre zuvor vernichtet worden war, Anhalt fort. Die Bemühungen um eine fö- Schulen und Hochschulen, die Reorganisa- begonnen. Das Wahrzeichen der Stadt ist derale Neugliederung Mitteldeutschlands tion einer unabhängigen Gerichtsbarkeit, der erste nach französischem Vorbild und der Schaffung eines Landes Sachsen- die Schaffung einer modernen Infrastruk- geplante gotische Kathedralenbau in Anhalts zu Zeiten der Weimarer Republik tur und vieles andere mehr mußten in An- Deutschland. scheiterten schließlich. Während des Drit- griff genommen werden. Die Fortschritte, Während sich im Zuge der Ostkolonisa- ten Reiches wurden die Provinz Sachsen die bei der Bewältigung dieser Aufgaben tion ab dem 12. Jahrhundert langsam und der Freistaat Anhalt mittels verschie- erzielt wurden, sind unübersehbar. Größ- großflächige Territorien wie Mecklen- dener Verwaltungsänderungen und -ver- tes und vorrangiges Problem bleibt aber burg, Brandenburg oder Meißen (das heu- schiebungen „gleichgeschaltet“. weiterhin die Schaffung von neuen und tige Sachsen) herausbildeten, blieb die Re- Im Zweiten Weltkrieg wurde die Region zukunftssicheren Arbeitsplätzen. gion an der mittleren Saale weitgehend aufgrund seiner industriellen Basis und territorial zersplittert. Zu den Kerngebie- seiner Lage im Innern des Reiches zu Politik in Sachsen-Anhalt ten, die von besonderer Bedeutung für einem Zentrum der kriegswirtschaftlichen die Geschichte Sachsen-Anhalts sind, Produktion und damit zum Ziel der Alliier- Am 14. Oktober 1990 fanden nach über 40 gehörten vor allem das Erzbistum Magde- ten Luftangriffe. Magdeburg, Halber- Jahren erstmals wieder freie und geheime burg und die Bistümer Halberstadt, Mer- stadt, Dessau, Zerbst und Merseburg wur- Wahlen für einen Landtag des Landes seburg und Naumburg sowie die anhalti- den noch in den letzten Kriegsmonaten Sachsen-Anhalt statt. Aus ihnen ging die schen Gebiete. Neben den genannten Bi- schwer zerstört. Am 25. April 1945 trafen CDU als eindeutiger Sieger hervor. Ge- schofssitzen waren es die Städte Quedlin- bei Torgau an der Elbe die amerikanischen meinsam mit der FDP konnte sie die erste burg, Aschersleben, Stendal, Tangermün- und sowjetischen Truppen aufeinander. Landesregierung bilden. Doch schon im de oder Salzwedel, die die wirtschaftliche Bis zum Frühsommer 1945 zogen sich Juli 1991 erfolgte ein Wechsel im Amt des und politische Entwicklung prägten. Oft- dann die Amerikaner vereinbarungs- Ministerpräsidenten, ein weiterer im mals schlossen sie sich zu Bündnissen – wie gemäß aus den westlich der Elbe von Spätherbst 1993. Seit 1994 steht Dr. Rein- dem Sächsischen Städtebund – zusammen ihnen besetzten Gebieten zurück, am 5. hard Höppner (SPD) an der Spitze der Lan- oder traten der Hanse bei. Bis in das aus- Juli wurden die Provinz Sachsen und An- desregierung. In der 2. Legislaturperiode gehende 15. Jahrhundert erfüllten diese halt von der sowjetischen Militäradmini- bildeten SPD und Bündnis 90/Die Grünen Bündnisse ihren Zweck, die Unabhängig- stration übernommen. Mit der Auflösung eine Minderheitsregierung, toleriert von keit der Städte gegenüber den Landesher- der Länder 1952 in der DDR und der Bil- der PDS. Seit den Landtagswahlen von ren zu wahren. dung der Bezirke Halle und Magdeburg 1998, die vom unerwarteten Wahlerfolg schien die Geschichte des Landes Sachsen- der rechtsextremen DVU (12,9%) über- Ausgangsland der Reformation Anhalt ihr Ende gefunden zu haben. schattet wurden, stehen die Sozialdemo- kraten alleine in der Regierungsverant- Im 16. Jahrhundert erlangte das Land als Das Land wurde 1990 neu gebildet wortung, wiederum von der PDS toleriert. Zentrum der Reformation herausragende Die Christdemokraten mußten 1998 mit historische Bedeutung. 1502 hatte der Mit der Vereinigung der beiden deut- dem Verlust eines Drittels ihrer Wähler- sächsische Kurfürst Friedrich III. in Witten- schen Staaten am 3. Oktober 1990 wurde stimmen gegenüber 1994 eine verheeren- berg eine Universität gegründet, sechs auch das Land Sachsen-Anhalt neu gebil- de Niederlage einstecken. Die Freien De- Jahre später kam Martin Luther als Lektor mokraten sind seit 1994 nicht mehr im für Philosophie an die neue Universität. Landtag vertreten, Bündnis 90/Die Grünen Mit seinen 95 Thesen, 1517 – angeblich – scheiterten 1998 an der 5%-Hürde. Die

Sachsen-Anhalt 93 PDS erreichte bei den Landtagswahlen Neustrukturierung von Wirtschaft Straße der Romanik die 72 bedeutendsten 1994 und 1998 jeweils knapp 20% der und Arbeitsmarkt Bauwerke dieser Epoche wie das Kloster Zweitstimmen. Unserer Lieben Frauen in Magdeburg Der Landtag von Sachsen-Anhalt besteht Sachsen-Anhalt befindet sich wie die übri- oder die unterirdische Krypta in Memle- aus mindestens 99 Abgeordneten, von gen neuen Bundesländer in einer tiefgrei- ben besichtigt werden. Aber das Land ist denen in jedem der 49 Wahlkreise, in die fenden Neustrukturierung des Arbeits- auch reich an gotischen Domen – Magde- das Land eingeteilt ist, ein Abgeordneter marktes und der Wirtschaft. Zu Zeiten der burg, Halberstadt, Merseburg. Sachsen- durch direkte Wahl bestimmt wird. Im DDR produzierte die Landwirtschaft des Anhalt ist das Kernland der Reformation derzeitigen Landtag sind aufgrund von Landes knapp 20% der gesamten Getrei- mit den Geburts- und Wirkungsstätten Ausgleichsmandaten 116 Abgeordnete deproduktion, ca. 24% der in der DDR an- der großen Reformatoren. Komponisten vertreten. Die Geschäftsordnung und die gebauten Gemüse und ein Viertel der ge- wie Johann Sebastian Bach, Georg Frie- Verfassung des Landes legen die üblichen samten DDR-Obstproduktion. Die Land- drich Händel, Georg Philipp Telemann Befugnisse und Aufgaben des Landespar- wirtschaft prägte vor allem den nördli- oder Heinrich Schütz haben hier gelebt laments fest. So können Gesetzesentwür- chen Landesteil um die Altmark und die und gearbeitet. In Wörlitz entstand zwi- fe von der Landesregierung, einer Frak- Börderegion südwestlich von Magdeburg. schen 1764 und 1800 nach den Plänen tion, von mindestens 8 Mitgliedern des Die Standorte der Industrie (Chemie, Me- Friedrich Wilhelm von Erdmannsdorf der Landtages oder durch Volksbegehren ein- tallurgie, Maschinen- und Anlagenbau) erste und bis heute zu den bedeutendsten gebracht werden. Zur parlamentarischen konzentrierten sich dagegen vor allem in zählende Landschaftspark nach engli- Kontrolle der Landesregierung nennt die der Region Halle – Merseburg – Bitterfeld. schem Vorbild auf dem Kontinent. Eben- Geschäftsordnung die Einrichtungen der Auf 6% der Landesfläche wurden über falls ein Kleinod der deutschen Kulturge- Großen und Kleinen Anfrage, der Frage- 40% der Industrieproduktion erbracht. schichte ist das nach den Plänen von stunde und der Aktuellen Debatte. Der Diese Konzentration der industriellen Ak- Goethe errichtete Theatergebäude in Bad Ministerpräsident wird vom Landtag in tivitäten sowie der Energiewirtschaft und Lauchstädt. Quedlinburg mit seinem welt- geheimer Wahl ohne Aussprache ge- des Bergbaus führten zu einer ökologi- berühmten Dom-Schatz und seinen vielen wählt. schen Belastung der Region, wie sie wohl Fachwerkhäusern gehört zum UNESCO- Zu den wichtigsten Aufgaben des ersten einmalig in Deutschland ist. Die Beseiti- Weltkulturerbe. Dessau steht für Bauhaus Landtages von Sachsen-Anhalt gehörte gung der Schäden und die Sanierung der und Hugo Junkers. In Schulpforta gingen natürlich die Ausarbeitung einer Landes- betroffenen Gebiete wird noch viele Jahre Fichte, Klopstock und Nietzsche zur Schu- verfassung. Sie wurde am 15. Juli 1992 mit in Anspruch nehmen. le. Die Aufzählung der Namen und Orte 80 Stimmen der damaligen Regierungs- Die Wirtschaftspolitik war seit 1990 zu- ließe sich noch lange fortsetzen. Halle als fraktionen CDU und FDP sowie der Mehr- nächst vor allem auf die Verbesserung der Zentrum der Aufklärung, die Hanse-Städ- zahl der SPD-Fraktion verabschiedet. Eine wirtschaftlichen Rahmenbedingungen aus- te Tangermünde, Salzwedel, Stendal und Volksabstimmung über die Verfassung gerichtet. Ihre Schwerpunkte lagen im Gardelegen mit ihren prachtvollen Rat- fand nicht statt. Die 101 Artikel umfassen- Aufbau der wirtschaftsnahen Infrastruk- häusern, Stadttoren und Kirchen. de Vollverfassung enthält im ersten Teil tur, der Förderung unternehmerischer In- Dieses reiche kulturelle Erbe, das z.T. erst einen Katalog von Grundrechten, von Ein- vestitionen sowie von Forschung und Ent- wiederentdeckt und wiederbelebt wer- richtungsgarantien und Staatszielen. Als wicklung und der Unternehmensprivati- den muß, bedarf der Pflege und Bewah- Staatsziele werden u.a. der Umwelt- sierung. Trotz aller Erfolge, die dabei er- rung. Es werden in den kommenden Jah- schutz, die Gleichstellung von Mann und zielt werden konnten, bleibt die wirt- ren noch erhebliche finanzielle Mittel von Frau sowie der Minderheitenschutz ge- schaftliche Situation Sachsen-Anhalts wei- staatlicher wie privater Seite aufzubrin- nannt. Im Hauptteil Staatsorganisation terhin schwierig. Die ausgeprägte Export- gen sein, um die unzähligen Baudenkma- folgt die Verfassung den Richtlinien parla- schwäche, die Eigenkapitalsschwäche vie- le zu restaurieren und zu sanieren. mentarischer Demokratie im modernen ler Unternehmen sowie die höchste Ar- Bundesstaat. Erwähnenswert ist, daß die beitslosenquote in Deutschland lassen . . . und wissenschaftliche Tradition Fraktionen als „selbständige und unab- noch einen langen Zeitraum bis zur An- hängige Gliederungen des Landtages“ gleichung an das Niveau der alten Bun- Das Land kann auf eine lange wissen- (Art. 47) ebenso Verfassungsrang erhalten desländer erwarten. Gerade im Bereich schaftliche Tradition zurückblicken. Dafür wie die Opposition (Art. 48). Den Forde- des Arbeitsmarktes spiegelt sich die stehen Namen wie Otto von Guericke, rungen nach politischer Machtkontrolle schwierige gesamtwirtschaftliche Lage Christian Thomasius oder Christian Wolff. und Bürgernähe trägt die Landesverfas- des Landes wider. Zwar ist der rasante Ar- In Halle erlangte mit Dorothea Christiane sung durch die direktdemokratischen In- beitsplatzabbau in den ersten Jahren nach Erxleben 1754 erstmals eine Frau in strumente der Volksinitiative, des Volks- der Wende inzwischen zum Stillstand ge- Deutschland einen Doktorgrad. Die älte- begehrens und des Volksentscheids Rech- kommen, zu einer wirksamen Entspan- ste deutsche wissenschaftliche Akademie, nung. nung am Arbeitsmarkt hat aber das wirt- die Akademie der Naturforscher Leopoldi- Die am 1. Juli 1994 in Kraft getretene schaftliche Wachstum der zurückliegen- na hat ihren Sitz in Halle. In Alexisbad im Kommunalverfassung des Landes Sach- den Jahre nicht ausgereicht. Wurden am Harz wurde 1856 der Verein Deutscher In- sen-Anhalts orientiert sich am Modell der 31. 12. 1989 noch 1,56 Mio. Beschäftigte genieure gegründet. Am Bauhaus Dessau süddeutschen Ratsverfassung. Landräte gezählt, so waren es Ende 1997 rund 1,05 lehrten neben den Architekten Walter und Bürgermeister werden direkt auf die Mio. Die Schaffung wettbewerbsfähiger Gropius und Ludwig Mies van der Rohe Dauer von sieben Jahren gewählt, sie kön- Arbeitsplätze muß deshalb auch in den die Maler Paul Klee, Lyonel Feininger und nen aber vorzeitig abgewählt werden. kommenden Jahren das vorrangige Ziel Wassily Kandinsky. In der Filmfabrik Wol- Elemente direkter Bürgerbeteiligungen aller Bemühungen bleiben. fen wurde in diesem Jahrhundert der wie Einwohnerantrag, Bürgerinitiative erste Farbfilm agfa-color entwickelt. und Bürgerbegehren sind in der Kommu- Bedeutende kulturelle Heute besitzt das Land zwei Universitäten, nalverfassung enthalten. Mit dem Kom- Vergangenheit . . . die Martin-Luther-Universität Halle-Wit- munalrechtsänderungsgesetz von 1997 tenberg und die Otto-von-Guericke-Uni- wurde das Wahlrecht bei Kommunalwah- Überall in Sachsen-Anhalt stößt der Besu- versität in Magdeburg. Hinzu kommen len auf 16 Jahre abgesenkt. cher auf die Zeugnisse der Vergangenheit. Insbesondere die Romanik hat ihre Spuren hinterlassen. Seit 1993 können auf einer

94 Sachsen-Anhalt fünf Fachhochschulen, die Hochschule für Leipzig unterhält in Magdeburg ein Lan- Das Wappen: Kunst und Design Burg Giebichenstein desfunkhaus. Hier werden das Hörfunk- sowie in freier Trägerschaft die Theologi- Vollprogramm Radio Sachsen-Anhalt und Das Wappen des Landes Sachsen-Anhalt sche Hochschule Friedensau und die Evan- Beiträge für das gemeinsame Fernsehpro- knüpft an die Wappen der ehemaligen gelische Hochschule für Kirchenmusik in gramm produziert. Zwei private Rund- preußischen Provinz Sachsen und des Frei- Halle, Ende 1997 waren über 30000 Stu- funksender haben sich ebenfalls etabliert. staates Anhalt an und symbolisiert so in dentinnen und Studenten in Sachsen-An- seiner Gestaltung die historischen und ter- halt immatrikuliert. ritorialen Entwicklungslinien, die dieses Gebiet im Laufe seiner Geschichte be- Literaturhinweise Medienlandschaft stimmten. Holtmann, Everhard, Boll, Bernhard: Sachsen- Die Presselandschaft in Sachsen-Anhalt ist Anhalt. Eine politische Landeskunde. 2. Auflage, seit 1990, als zunächst fast 20 Tageszeitun- Magdeburg 1997 gen erschienen, Schritt für Schritt farblo- Tullner, Mathias: Geschichte des Landes Sachsen- ser geworden. Heute teilen sich die Mittel- Anhalt. 3. Auflage (i.E., Magdeburg 1999) Oelke, Eckehard (Hrsg.): Sachsen-Anhalt mit deutsche Zeitung in Halle und die Magde- einem Anhang – Fakten – Zahlen – Übersichten, burger Volksstimme im wesentlichen den Gotha 1997 Regionalmarkt. Der Mitteldeutsche Rund- Brüggemeier Franz-Josef u.a. (Hrsg.): mitten- funk (MDR) nahm im Sommer 1991 seinen drin, Sachsen-Anhalt in der Geschichte (Kata- log zur Ausstellung im stillgelegten Kraftwerk Sendebetrieb auf. Die öffentlich-rechtli- Veekerode), Dessau 1998 che Dreiländeranstalt – Sachsen, Sachsen- Anhalt und Thüringen – mit Hauptsitz in

Anschrift: Landeszentrale für politische Bildung Sachsen-Anhalt, Schleinufer 12, 39104 Magdeburg

Sachsen-Anhalt 95 „Op ewig ungedeelt“ Karl der Große wagt den Sprung über die Elbe und gliedert Holstein, Stormarn und Dithmarschen als Gaue ins Frankenreich Schleswig-Holstein ein. An der Alster läßt er die Hammaburg anlegen. Die Dänen schützen sich mit dem südlich von Schleswig verlaufenden Dane- werk. 811 kommt es zwischen dem rö- misch-christlichen Frankenreich und der Von Klaus Kellmann heidnisch-nordischen Wikingerwelt zur offenen Konfrontation. Als Ergebnis und Kompromiß wird die Eider zur Trennlinie erklärt, die nunmehr bis 1864, also über 1000 Jahre, die Grenze zwischen Deutsch- land und Dänemark bildet. Landbrücke zwischen Kontinent gensätzliche Stile in der Hof- und Dorfan- In der Folge – dieses ist und bleibt die ei- und Skandinavien lage wie auch in der Ackerbaukultur ent- gentliche Besonderheit des Landes – bilde- sprechen. In dem breiten, an die Nordsee ten sich nördlich und südlich dieser Linie Schleswig-Holstein ist die Landbrücke zwi- grenzenden Küstensaum der Marschen, in die Herzogtümer Schleswig und Holstein schen Mittel- und Nordeuropa, zwischen der Regel dem Meer abgewonnenes heraus, die nach und nach ein gemeinsa- dem Kontinent und seiner skandinavi- Koogland, leben Dithmarscher und Frie- mes Landesbewußtsein entwickeln. So schen Halbinsel. In dieser geographischen sen. Letztere bewohnen auch die dem wählen die Stände beider Herzogtümer Gegebenheit und Funktion ist es das Festland vorgelagerte einzigartige und zwar 1460 den dänischen König zu ihrem natürliche Bindeglied zwischen nord- und deshalb weitgehend unter Naturschutz Landesherrn, lassen sich im Ripener Frei- mitteleuropäischen Kulturen, Sprachen stehende Insel- und Halligwelt. Der heitsbrief aber gleichzeitig garantieren, und Nationen. Marsch nach Osten folgen die karge dat se bliven ewich tosamende ungedeelt. „Schleswig-Holstein, meerumschlungen“, schleswigsche Geest und der dünn besie- Er ist staatsrechtlich die Geburtsurkunde wie es in seiner 1844 entstandenen Lan- delte mittelholsteinische Landrücken. Das Schleswig-Holsteins, eines eigenartigen deshymne heißt, ist im Osten und Westen, östliche Hügelland, von Jungmoränen ge- Gebildes, das als Realunion halb unter wie auch im Süden deutscher und halb durch die Elbe, unter dänischer natürlich begrenzt. Lehnshoheit steht. Lediglich die von Zu den daraus re- Lauenburg bis Lü- sultierenden Ab- beck reichende Lan- sonderlichkeiten desgrenze zu Meck- zählt, daß der dä- lenburg-Vorpom- nische König ab mern ist das Ergebnis 1815 als Vertreter politischer Entwick- Holsteins Sitz und lungen, weit mehr Stimme im Deut- aber noch die nörd- schen Bund in lich von Flensburg bis Frankfurt hat. südlich von Tondern Das überall auf verlaufende Staats- dem Kontinent er- grenze zu Dänemark, wachende Natio- die nach einer über nalbewußtsein be- tausend Jahre wirkt in Schleswig- währenden, oft krie- Holstein den gerischen und bluti- großen europäi- gen Konfrontation schen Krieg. Revo- ihre endgültige Fixie- lutionäre, auch ge- rung erst in der tragen vom Geist durch den Versailler der Paulskirche, Vertrag verfügten Steilküste Ostholstein. Foto: K. Dürkop wollen die Heraus- Volksabstimmung lösung der Herzog- von 1920 erhielt. tümer aus dem dä- Seither lebt nördlich der Grenze eine prägt, ist ursprünglich von slawischen Be- nischen Gesamtstaat, auf der anderen deutsche und südlich von ihr eine däni- völkerungsgruppen kultiviert worden. Seite verlangt die Partei der „Eiderdänen“ sche Minderheit. Hier entwickelten sich gutsherrschaftliche die endgültige Angliederung Schleswigs Von Kiel, der Landeshauptstadt, bis nach Strukturen, es ist die eigentliche Wiege an die dänische Krone. Preußen, zunächst Brunsbüttelkoog wird Schleswig-Holstein des schleswig-holsteinischen Adels. noch mit Österreich verbündet, tritt als durch den Nord-Ostsee-Kanal, immer Schleswig-Holstein ist mit einer Ausdeh- europäische Ordnungsmacht auf den Plan noch die am meisten befahrene künstliche nung von 15 770 km2 das zweitkleinste und besiegt die dänischen Truppen 1864 Wasserstraße der Welt, zweigeteilt, die deutsche Flächenland. Es hatte am 31. 12. bei Düppel. Das Ergebnis: die Herzogtü- das kaiserliche Deutschland 1895 nicht 1996 2,74 Millionen Einwohner. mer werden nicht geteilt, aber auch nicht primär zu Handelszwecken, sondern als unabhängig, so wie es Revolutionäre wie nasse Aufmarschstraße nach England an- Zankapfel zwischen Dänemark Uwe Jens Lornsen gewollt hatten, son- legen ließ. und Deutschland dern preußische Oberprovinz und als sol- che ab 1871 Teil des Deutschen Reichs. Marsch, Geest und Hügelland Die Landbrücke zwischen den Meeren Berlin war an die Stelle von Kopenhagen muß schon früh attraktiv gewesen sein. getreten. Typisch für das Land ist seine geomorpho- Sachsen und Franken, Friesen, Dänen und Die neuen Herrscher hatten aber die logische Dreigliederung in Marsch, Geest Slawen kämpften seit dem 8. Jahrhundert Grenze nördlich von Hadersleben fixiert, und östliches Hügelland, der siedlungs- um ihren Besitz. wodurch das mehrheitlich eindeutig dä- geographisch drei unterschiedliche, ja ge- nischsprachige und -gesonnene Nord- schleswig annektiert und ein neues Kon-

96 Schleswig-Holstein fliktpotential geschaffen wurde. Es war sche Institut in Bredstedt entfaltet zudem am Land zwischen den Meeren nicht vor- erst die deutsche Niederlage im Ersten rege kulturelle und wissenschaftliche Vor- beigegangen. Weltkrieg und die erwähnte Volksabstim- trags- und Publikationstätigkeiten. Im Dennoch ist ein Blick in seine Wirtschafts- mung von 1920 mit der Verschiebung der Zuge der Volksabstimmung von 1920 geschichte und Wirtschaftsgeographie Grenze bis vor die Tore Flensburgs, durch führte der lange schwelende Streit inner- reizvoll und aufschlußreich. Die Impulse die eine beidseitig und dauerhaft aner- halb der friesischen Bewegung über die für Handel und Wandel kamen seit jeher kannte Trennlinie zwischen Deutschland politische Ausrichtung nach Deutschland immer von den Küsten und nicht aus dem und Dänemark geschaffen wurde. oder Dänemark zum offenen Bruch. Der notorisch strukturschwachen Binnen- Schleswig-Holstein erlangte durch die größere Teil brachte in den Bohmstedter land. Die Ochsenwege, historisch ge- Kapitulation des nationalsozialistischen Richtlinien seine deutsche Gesinnung zum wachsene Handelsadern, auf denen das Deutschland nach dem Zweiten Welt- Ausdruck, der kleinere, die nationale Friis- Vieh hoch von der jütländischen Halbin- krieg, die Auflösung Preußens durch die ke, sieht noch heute in dem SSW-Land- sel bis vor die Tore Hamburgs getrieben Alliierten und die Begründung der Bun- tagsabgeordneten seinen verlängerten und zum Verkauf angeboten wurde, ver- desrepublik Deutschland 1949 seine fö- politischen Arm. Die Gegensätze zwischen liefen nicht an, wohl aber in der Nähe derale Selbständigkeit als eigenes Bundes- beiden Gruppierungen sind aber längst von Nord- und Ostsee. land. geglättet, und ihre Vertreter arbeiten im Die Rolle und das Gewicht der Häfen und Friesenrat konstruktiv zusammen. Umschlagsplätze an der Ostküste waren Akzeptiert und integriert: und sind für die maritime Wirtschaft weit die Minderheiten Dänen und Friesen Starker Zuzug von prägender als der Beitrag der Westküste Heimatvertriebenen mit seinen genauso liebenswerten wie Die eigentliche Besonderheit in der politi- verschlafenen Fischerstädtchen Husum, schen Kultur des Landes bildeten seine Weit mehr als durch alles andere in seiner Büsum oder Tönning. Folgt man dem geo- beiden Minderheiten, die Dänen und die Geschichte sind Politik, Kultur und Ge- graphischen Profil der Ostseeküste, dann Friesen. Zur dänischen Minderheit wer- sellschaft Schleswig-Holsteins durch eine haben hier im letzten Jahrtausend je nach den heute etwa 50 000 Personen gerech- Invasion durcheinandergeschüttelt wor- Tiefe und Beschaffenheit der Förden und net, die fast ausschließlich im Landesteil den, die sich 1945 in den letzten Kriegs- Meeresbuchten Handelsstädte zentrale, ja Schleswig wohnen. Ihre politischen Rech- monaten zu Lande und zu Wasser vom dominierende Funktionen weit über das te und ihre kulturelle Eigenständigkeit Osten her regelrecht über das Land Mare Balticum hinaus nach Nord-, Ost- sind in der Kieler Erklärung von 1949 und ergoß. Die Rede ist von den Flüchtlingen und Kontinentaleuropa gehabt. in den Bonn-Kopenhagener Abmachun- und Vertriebenen, die bei ihrer Ankunft Die Wikinger legten im Frühmittelalter gen von 1955 festgelegt, die dem Grund- neben einem bißchen Handgepäck meist nahe des heutigen Schleswig und der satz „Däne ist, wer will“ folgen. Bemer- nicht mehr als das nackte Leben gerettet seichten Schlei ihren Handelsplatz Haitha- kenswert ist in diesem Zusammenhang hatten. Hatte die Bevölkerungszahl bu an, über den sie Waren von Skandina- die neue Landesverfassung von 1990, in Schleswig-Holsteins 1939 noch 1,6 Millio- vien in den Süden transportierten. Lübeck deren Artikel 5 sich das Land ausdrücklich nen Einwohner betragen, so erhöhte sie erwuchs als Königin der Hanse im Hoch- zu „Schutz und Förderung“ der Minder- sich bis 1946 um eine volle Million Men- und Spätmittelalter nicht nur zu einem heit verpflichtet. Schleswig-Holstein hat schen, die meisten von ihnen aus Pom- ökonomischen, sondern auch politischen hiermit auch europaweit eine mern und Ostpreußen. Auch sie brachten Machtfaktor im gesamten Norden Euro- Vorreiterfunktion hinsichtlich der Inte- eine bewahrenswerte Kultur mit, auch pas. Flensburg entfaltete in seiner Blüte- gration von nationalen Minderheiten ein- sie sprachen einzigartige Mundarten und zeit des 18. Jahrhunderts mit seiner hoch- genommen. Dialekte, und auch sie entwickelten mit seetauglichen Seglerflotte einen lukrati- Die Dänen verfügen über ein in seiner Ef- dem Bund der Heimatvertriebenen und ven Überseeimport von Spirituosen und fektivität und Leistungsfähigkeit allseits Entrechteten (BHE) eine eigene politi- Gewürzen aus der Neuen Welt, und Kiel anerkanntes Schul-, Verbands-, Presse-, sche Vertretung, aber geblieben ist von wurde im 19. und beginnenden 20. Jahr- Kultur-, Sport- und Gesundheitswesen mit alledem nicht viel. Der BHE, der im politi- hundert – auch als Ausdruck wilhelmini- eigenen Krankenhäusern, Kirchen, Thea- schen Geschehen neben CDU und SPD scher Großmannssucht – systematisch zum tern und Bibliotheken sowie einem däni- zunächst eine tonangebende Rolle spiel- Reichskriegs- und Marinehafen ausge- schen Gymnasium in Flensburg, dessen te, wurde auch dadurch diskreditiert, baut. Abschluß den Hochschulzugang sowohl in daß alte Nazis ihn als Herbergspartei Heute, nach dem Umbruch und der politi- Deutschland wie auch in Dänemark ge- zur Fortsetzung ihrer Karriere im demo- schen Öffnung in Osteuropa, kann prak- währleistet. Da der Südschleswigsche kratischen Gemeinwesen nutzten. Die tisch jeder Hafen rund um die Baltic Sea Wählerverband (SSW), die politische Ver- Vertriebenen, die inzwischen in zweiter frei angelaufen werden, was die Bedeu- tretung der Minderheit, von der Fünfpro- und dritter Generation im nördlichsten tung von Kiel und Lübeck als Fährhafen zentklausel befreit ist, konnte er seit 1946 Bundesland ansässig sind, haben sich und als Handelsmetropole noch ver- in jeder Legislaturperiode (bis auf 1954 bis vollständig integriert, aus ihnen sind größern könnte. Schon jetzt jedenfalls 1958) mindestens eine/n Abgeordnete/n kaum mehr unterscheidbare Schleswig- vergeht kein Tag, ohne daß die riesigen in den Kieler Landtag entsenden. Holsteiner und Bundesrepublikaner ge- Pötte Richtung Oslo, Göteborg, Helsinki, Als Friesen verstehen sich von den 160 000 worden. St. Petersburg, Tallinn oder Klaipeda able- Einwohnern des Kreises Nordfriesland gen. kaum mehr als ein Drittel, friesisch spre- Die Impulse für Handel und Hinsichtlich des Güterumschlags erreicht chen können hiervon allerdings höchstens Wandel kamen von der Küste Lübeck mit über 20 Millionen Tonnen pro 10 000 Menschen. Diese aber betrachten Jahr die Spitzenstellung. ihr Kommunikationsmedium nicht als Schleswig-Holstein galt noch bis weit ins Die Werftenindustrie, der andere große Mundart oder Dialekt, etwa des Platt- 20. Jahrhundert hinein als das geradezu maritime Wirtschaftszweig mit einer jahr- deutschen, sondern als völlig eigenstän- klassische Agrarland schlechthin. In der hundertelangen Tradition, ist durch die ja- dige europäische Sprache, was inzwischen Tat hat der Dreiklang aus Landwirtschaft, panische und südkoreanische Konkurrenz auch linguistisch-wissenschaftlich nachge- Fischerei und Schiffahrt die Wirtschaftsge- arg gebeutelt worden, die zehn Schiffs- wiesen ist. Anders als die Dänen hat diese schichte der Herzogtümer über tausend werften des Landes haben sich aber auf Minderheit kein eigenes Schul- oder Ge- Jahre geprägt. Heute liegt der Beitrag der einem unteren Level stabilisiert und sundheitswesen, doch ein relativ dichtes Land- und Forstwirtschaft zum Bruttoin- geben heute noch 6000 Menschen Arbeit Netz von friesischen Vereinen, Tanz- und landsprodukt noch bei ganzen zwei Pro- und Brot, vor allem im Container-, Spezial- Trachtengruppen überzieht Städte und zent. Dienstleistungen (36 %), Verarbei- schiff- und U-Boot-Bau. Daß Wohl und Dörfer des Kreisgebiets. Das Nordfriesi- tendes Gewerbe (19 %) sowie Handel und Wehe der größeren Hafenstädte aber von Verkehr (16 %) machen längst den der Auftragslage ihrer Werft abhängen, Löwenanteil in der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung aus – die großen Struk- turbrüche und Umschichtungen sind auch

Schleswig-Holstein 97 gehört durch vielfältige ökonomische Di- versifizierungen längst der Vergangenheit an, und niemand kann heute noch sagen „wenn Howaldt hustet, hat Kiel Lungen- entzündung“.

Die hohe Bedeutung des Tourismus

Fremdenverkehr und Tourismus spielen im Wirtschaftsleben des Landes nach wie vor eine gewichtige Rolle, 200 000 Menschen finden in der Branche ganz oder saisonal ihre wirtschaftliche Existenz. In Travemünde, Westerland und Glücks- burg reicht die Bäder- und Heilkultur bis ins 19. Jahrhundert zurück. Bezogen auf die Zahl der Einwohner machen in keinem anderen Bundesland so viele Personen Ur- laub wie in Schleswig-Holstein, allerdings ist die Zahl der jährlich in das Land führen- den Urlaubsreisen unter die 3-Millionen- Grenze gesunken, über 25 Prozent hier- von kamen und kommen aus Nordrhein- Westfalen. Hallig Gröde. Foto: K. Dürkop Cirka ein Drittel des im Fremdenverkehr erzielten Gesamtumsatzes von 8 Milliar- den DM werden durch den Tagestouris- behörden sowie die Kreisvertretung in der rung der Länder zum Opfer fallen würde. mus erwirtschaftet. (Gesamt-Brutto- Provinz Schleswig-Holstein betreffend“, Es sollte über vierzig Jahre dauern, bis im inlandsprodukt 1996: 108 Mrd. DM) durch die die beiden Herzogtümer im August 1990 – unter der nächsten sozial- In den letzten Jahrzehnten hat sich die Jahre 1867 in 20 Kreise neu aufgegliedert demokratischen Regierung – aus der Lan- Wirtschaftsstruktur des Landes rasant wurden. Die Reform bewährte sich. Nur dessatzung eine Landesverfassung wurde. geändert. Schleswig-Holstein ist von selten mußten in der Folgezeit Neuforma- Die Satzung von 1949 stellte im wesentli- einem Agrar- und Schiffbauland zu einem tionen vorgenommen werden (Auflösung chen ein kurzes, knappes Organisations- Standort von High-Tech-lndustrien gewor- des Kreises Bordesholm 1932, Verlust der statut dar, das auf die Formulierung von den. Im verarbeitenden Gewerbe domi- Reichsfreiheit Lübecks im Zuge des Groß- programmatischen Staatszielen verzich- niert dieser Bereich bei Umsatz und Be- Hamburg-Gesetzes 1937), und es war tete. Bemerkenswert ist, wohl auch auf- schäftigten mit über 20 Prozent. Gleich- dann erst die große Gebietsreform der grund von Weimarer Erfahrungen, die zeitig aber hielt die Umschichtung vom se- Jahre 1969/1970, mit der die Einteilung starke Stellung, die dem Ministerpräsi- kundären Sektor (produzierendes Gewer- der heute elf Landkreise ihre wohl auf denten zugewiesen wird, der sein Amt be) zum tertiären Sektor (Handel, Verkehr, unabsehbare Zeit gültige Gestaltung ge- nur durch freiwilligen oder erzwungenen Dienstleistungen, öffentlicher Sektor) an, funden hat. Pinneberg ist der kleinste Rücktritt verlieren kann, nicht aber auto- der Ende der neunziger Jahre bereits zwei und gleichzeitig bevölkerungsdichteste, matisch mit dem Zusammentreten eines Drittel der Bruttowertschöpfung des Lan- Rendsburg-Eckernförde, fast so groß wie neuen Landtages nach Wahlen. Machtfül- des ausmachte. Industrie und Handwerk das Saarland, ist der flächenmäßig größte. le und Kontinuität sollten im höchsten erwirtschafteten weniger als ein Drittel, In allen elf befinden sich insgesamt 1100 Regierungsrepräsentanten verkörpert die Land- und Forstwirtschaft noch gut Landgemeinden und 57 kreisangehörige sein. Unter dem Eindruck, oder genauer, zwei Prozent. Städte, die größte von ihnen ist Norder- unter dem Schock der sogenannten Bar- Hinsichtlich seiner volkswirtschaftlichen stedt vor den Toren Hamburgs mit 70 000 schel-Pfeiffer-Affäre beschloß der Land- Gesamtrechnung ist Schleswig-Holstein im Einwohnern, ein Kunstprodukt, das erst in tag am 29. Juni 1988 die Einsetzung einer alten Bundesgebiet das Land mit dem den sechziger Jahren das Stadtrecht er- Enquête-Kommission mit der Aufgabe, niedrigsten Anteil des produzierenden hielt. Die Verwaltungsgliederung des Lan- „auf der Grundlage neuerer verfassungs- Gewerbes und dem höchsten Anteil des des wird abgerundet durch seine vier rechtlicher und verfassungspolitischer Er- öffentlichen Sektors, und der Struktur- kreisfreien Städte Neumünster, Flensburg, kenntnisse Möglichkeiten zur wirksame- wandel dauert an. Lübeck und Kiel. Letztere sind mit 210 000 ren Kontrolle der Regierung, zur verstärk- bzw. 240 000 Einwohnern die einzigen ten Beteiligung der Bürgerinnen und Bür- Verwaltungsgliederung Großstädte und urbanen Verdichtungs- ger, zur Stärkung des Landtags sowie zur zentren des Landes. Verbesserung seiner Arbeitsbedingungen Die Verwaltungsgliederung und Kreis- und seiner Arbeitsweise zu prüfen und einteilung hat, lange bevor ein eigenes Von der Landessatzung Anregungen für entsprechende Änderun- Bundesland Schleswig-Holstein entstand, zur Landesverfassung gen der Landessatzung … zu geben“. einen oft unübersehbaren, ja zum Teil ver- Während die Satzung von 1949 nur mit worrenen Weg genommen. Die Auseinan- Die erste Landessatzung für Schleswig- der einfachen Mehrheit der SPD-Abge- dersetzungen zwischen Germanen und Holstein wurde am 13. Dezember 1949 ordneten verabschiedet worden war, Slawen, Deutschen und Dänen sowie Adel vom Landtag angenommen. Der Terminus wurde die Arbeit der Enquête-Kommis- und freiem Bauernstand haben auch hier „Satzung“, der juristisch ja eine weit ge- sion, die wenig später in die Verfassung ihre Spuren hinterlassen. Die dadurch ringere Qualität hat als der Begriff „Ver- des Landes Schleswig-Holstein einmünde- nach und nach entstandenen Verwal- fassung“, erklärt sich daraus, daß die te, am 30. Mai 1990 einstimmig vom tungseinheiten waren deshalb oft das Er- Gründungsmütter und -väter ihrem von Parlament angenommen und bestätigt. gebnis eines mühsamen, nicht selten hart Flüchtlingselend, wirtschaftlicher Not und War in der alten Satzung noch die Formu- umkämpften Interessenausgleichs, der hoher Arbeitslosigkeit geprägten neuen lierung fixiert, daß Schleswig-Holstein eine rationale und sinnvolle Administrati- Bundesland nur wenige Überlebenschan- eine Neugliederung des Bundesgebiets on meist eher behinderte, statt sie zu er- cen einräumten und deshalb auf Doku- anstrebe, so sind derartige Erklärungen in möglichen. Es war Bismarcks Verordnung mente mit quasi „endgültigem“ Charak- der neuen Verfassung bewußt weggelas- „die Organisation der Kreis- und Distrikt- ter bewußt verzichteten. Die (sozialdemo- sen. kratische) Regierung selbst war es, die davon ausging, daß das Provisorium Schleswig-Holstein bald einer Neugliede-

98 Schleswig-Holstein Als wesentlich muß angesehen werden, Wechselvolle politische schen Untersuchungsausschüssen in sei- daß die repräsentativen Strukturen der Mehrheitsverhältnisse nen Unrechtsdimensionen nicht vollstän- politischen Willensbildung nunmehr dig ausgeleuchtet werden. Fest steht, daß durch Formen unmittelbarer Demokratie, Die britische Militärregierung begann vom Uwe Barschel Pfeiffer beauftragte, d. h. durch Gesetzesinitiativen, Volksbe- Herbst 1945 an mit dem Aufbau demokra- Schmutzkampagnen gegen seinen dama- gehren und Volksentscheide ergänzt wer- tisch legitimierter Institutionen und Struk- ligen Kontrahenten, den Oppositionsfüh- den können. „Wir sind das Volk“, der Ruf turen. Im September ließ sie politische Par- rer Björn Engholm zu entfachen. Fest der DDR-Bürgerrechtsbewegung, der zeit- teien wieder zu, im November ernannte steht aber genauso, daß Engholm – nicht lich gleichlaufend zu den kontroversen sie den ehemaligen Rendsburger Landrat zuletzt durch Pfeiffer selbst – von einem Beratungen der Kommission immer lauter Theodor Steltzer, einen aktiven Gegner frühen Zeitpunkt an hiervon wußte, dies erscholl, war für ihre Ergebnisfindung des Nationalsozialismus und Mitbegrün- willentlich mit sich geschehen ließ und „von vielleicht ausschlaggebender Bedeu- der der CDU, zum Oberpräsidenten der wahltaktisch ausnutzte. Uwe Barschel tung“. (von Mutius). Noch-Provinz. Aber die ersten Landtags- starb 1987 in einem Genfer Hotel. Björn In Artikel 6 der Verfassung wird die „För- wahlen im April 1947 gewann die SPD, Engholm – der in den Landtagswahlen derung der Gleichstellung von Frauen und und zwar mit deutlichem Vorsprung. In von 1988 mit 54,8 Prozent der Stimmen Männern“ zum Staatsziel erklärt. Bei der zwei kurzlebigen Kabinetten stellte sie einen erdrutschartigen Sieg davongetra- Besetzung öffentlich-rechtlicher Beschluß- den Ministerpräsidenten bis zu den näch- gen hatte und sich vier Jahre später er- und Beratungsorgane soll dahingehend sten Wahlen vom Juli 1950, die sie erneut neut an die Spitze einer SPD-Alleinregie- entschieden werden, daß in solchen Orga- gewann, mangels Koalitionspartner aber rung stellen konnte, mußte 1993, nach- nen Frauen und Männer möglichst „zu in die Opposition gehen mußte – für 38 dem sein Mitwissen bekanntgeworden gleichen Anteilen vertreten“ sein sollen. Jahre. Die Flüchtlinge und Heimatvertrie- war, von den Ämtern des Ministerpräsi- Auch der „Schutz der natürlichen Grund- benen hatten den BHE, ihre Partei, mit denten und des SPD-Bundesvorsitzenden lagen des Lebens“ (Artikel 7) wird zum 23,4 Prozent zur zweitstärksten Kraft des sowie als Kanzlerkandidat zurücktreten. Staatsziel deklariert. Landes gemacht, ganze vier Prozentpunk- Ob sich das Land und vor allem die beiden Da es in Schleswig-Holstein ein Landesver- te hinter der SPD, aber noch vier vor der großen Parteien bis heute von der Affäre fassungsgericht nicht gibt, schreibt die CDU. Hinzu traten die ähnlich orientierte ganz erholt haben, steht dahin. Immerhin Verfassung nur zwei Staatsorgane fest: Deutsche Partei mit fast zehn Prozent sind die Lähmungen gewichen und die den Landtag und die Landesregierung. sowie die FDP mit sieben und der SSW mit langen Schatten kürzer geworden. Viel- Die Zahl der Abgeordneten wird auf 75 gut fünf Prozent. Zusammen mit BHE, DP leicht verkörperte deshalb erst der Regie- fixiert, um Manipulationen der jeweiligen und FDP bildete die CDU die Regierung rungsantritt von Heide Simonis, die 1993 Parlamentsmehrheit unmöglich zu ma- und stellte, auch diesmal in zwei kurzlebi- als erste Frau in der deutschen Geschichte chen. „Die Landesregierung ist im Bereich gen Kabinetten, den Ministerpräsidenten. Ministerpräsidentin wurde, den ein halbes der vollziehenden Gewalt oberstes Lei- Jahrzehnt zuvor versprochenen Neuan- tungs-, Entscheidungs- und Vollzugsor- „Die Mutter aller Nachkriegsskandale“ fang. Sie bildete nach den Wahlen vom gan.“ (Artikel 26) An ihrer Spitze steht die März 1996, in denen der Abstand zwi- Ministerpräsidentin oder der Ministerprä- In den Landtagswahlen vom September schen SPD (39,8 Prozent) und CDU (37,2 sident, deren bzw. dessen Amtszeit nun- 1954 kam es zu einem Kopf-an-Kopf-Ren- Prozent) merklich verkürzt wurde, mit mehr strikt an die Dauer der Wahlperiode nen zwischen SPD und CDU, das die SPD dem Bündnis 90/Die Grünen (8,1 Prozent) gebunden ist. Er oder sie kann innerhalb immer noch knapp für sich entschied, aber eine rot-grüne Koalition. Diese Partei dieses Zeitraums nur durch das konstruk- die machtpolitischen Konstellationen hat- hatte 1996 nach fünf vergeblichen Anläu- tive Mißtrauensvotum gestürzt werden. ten sich inzwischen so formiert, daß von fen den sechsten Versuch unternommen, (Artikel 35). nun an bis weit in die achtziger Jahre hin- in den Landtag zu gelangen.1992 war sie Schleswig-Holstein ist und bleibt das einzi- ein vier CDU-Ministerpräsidenten die Ge- mit 4,97 Prozent nur um wenige hundert ge Bundesland, in dem der Vorsitzende schicke des Landes lenkten, mit allseits an- Stimmen gescheitert. Diesmal schaffte sie der „stärksten die Regierung nicht tragen- erkannten Leistungen und Bilanzen: Kai- es – ins Parlament und gleich auf die Re- den Fraktion“, mithin der Oppositionsfüh- Uwe von Hassel (1954–1963) in einer Ko- gierungsbank. Erneut sind auch die FDP rer, in der Verfassung verankert ist (Artikel alition mit dem BHE und der FDP, ab 1958 (5,7 Prozent) und der SSW (2,5 Prozent, 12), was seine Position stärkt und seine Be- nur noch mit der FDP, was zwei Mandaten entspricht) in den soldung erhöht. (1963–1971) in einer Koalition mit der FDP, Kieler Landtag eingezogen. In Funktion und Kompetenzen außeror- (1971–1982) und dentlich gestärkt wird der Landesrech- Uwe Barschel (1982–1987) jeweils in CDU- Die Medienlandschaft nungshof, dem in den Artikeln 55 und 56 Alleinregierungen. nicht nur die haushaltsbegleitende Fi- Stoltenberg hatte sich bei seinem Wech- Die Barschel-Pfeiffer-Affäre hatte einmal nanzkontrolle der Regierung auferlegt sel ins Bonner Bundesfinanzministerium mehr gezeigt, welche Rolle die Massen- wird, sondern auch die Kontrolle aller Ein- wohl schon mit einigen inneren Barrieren medien in der modernen Demokratie richtungen und kommunalen Körper- für den erst 38jährigen Barschel als Nach- spielen. In Schleswig-Holstein ist die Me- schaften bis hin zu privaten Personen, so- folger entschieden, aber dieser legte sich dienszene, wie überall in Deutschland, in fern sie Zuwendungen aus dem Landes- mit der Förderung von (bis heute erfolg- einen privat- und in einen öffentlich- haushalt erhalten oder Landesvermögen reichen) Industrieansiedlungen und Tech- rechtlichen Sektor zweigespalten. Letzte- verwalten. nologiezentren zunächst mächtig ins rer wird durch die Landesstudios von NDR Die Schleswig-Holsteinische Verfassung Zeug. Bald war es ein offenes Geheimnis, und ZDF verkörpert, im ersteren finden kann, zumindest in ihrem organisations- daß er im Haus an der Förde nicht die letz- sich die Zeitungsverlage und die privaten rechtlichen Teil, als die modernste aller te Station seiner politischen Karriere sah. Hörfunk- und Fernsehanbieter wieder; in deutschen Landesverfassungen angese- Der Landtagswahlkampf von 1987, für ihm sind also sowohl elektronische wie hen werden, was sich auch daran zeigte, den er aus dem Hamburger Springerkon- auch Printmedien beheimatet. daß sie bei der Verfassungsentwicklung in zern eigens einen „Medienberater“ in 42 verschiedene Zeitungstitel aus sechs den neuen Bundesländern mehrfach zum seine Staatskanzlei einstellte, sollte ihn Vollredaktionen mit insgesamt 560 000 Ex- Vorbild genommen wurde. bundesweit für höhere Aufgaben emp- emplaren erscheinen jeden Tag im Land fehlen. Das „Ergebnis“, die sogenannte zwischen den Meeren. Bis an die Schwelle Barschel-Pfeiffer-Affäre, die von einem der achtziger Jahre konkurrierten diese deutschen Nachrichtenmagazin als die privatwirtschaftlich organisierten Infor- „Mutter aller Nachkriegsskandale“ be- mationsträger mit dem öffentlich-rechtli- zeichnet wurde, konnte auch nach Ab- schluß der Arbeit von zwei parlamentari-

Schleswig-Holstein 99 chen Hörfunk und Fernsehen, aber dann Sowohl in der Kommunalverfassung wie setz von 1990 ist diese nunmehr als Regel- kam Bewegung in die Medienlandschaft. auch im Kommunalwahlrecht Schleswig- schule gleichrangig neben den anderen Zunächst erzwangen Gerhard Stoltenberg Holsteins sind seit 1990 mehrere Novellie- anerkannt. 6 000 Schüler/innen besuchen und Ernst Albrecht, die Ministerpräsiden- rungen vorgenommen worden, die auf die Schulen der dänischen Minderheit. ten von Schleswig-Holstein und Nieder- die verstärkte Einführung von Elementen Der außerordentlich stark gegliederte Be- sachsen, daß das Sendemonopol der in unmittelbarer Demokratie abzielen. So rufsbildungsbereich (Berufsschule, -fach- Hamburg ansässigen NDR-Zentrale aufge- sind die informellen Mitwirkungsrechte schule, -aufbauschale, Fach- und Fach- hoben und die Landesfunkhäuser deutlich der Bevölkerung durch Einwohnerfrage- oberschule, Fachgymnasium, Wirtschafts- aufgewertet wurden (Welle Nord, Schles- stunden und durch die Öffentlichkeit von akademie) umfaßt 363 Schulen mit 52 000 wig-Holstein-Magazin). Richtig Schwung Ausschußsitzungen verbessert worden. Schüler/innen. In ihnen wird ein breites in den Äther kam aber erst in der zweiten Wichtiger noch sind die Formen der Mit- Spektrum von Bildungabschlüssen vermit- Hälfte der achtziger Jahre, als 1986 mit wirkung, mit denen die Bevölkerung nun- telt, das von der traditionellen Lehre im Radio-Schleswig-Holstein (RSH) der erste mehr direkt an Entscheidungen beteiligt Rahmen des dualen Ausbildungssystems privatwirtschaftlich betriebene Sender der ist: auf Antrag von mindestens 15 Prozent bis zur allgemeinen Hochschulreife reicht. Bundesrepublik Deutschland seine Tätig- der Stimmberechtigten einer Gemeinde Insgesamt ist die Schullandschaft zwischen keit aufnahm. Da RSH den Zeitungsverla- oder Stadt müssen Bürgerbegehren bzw. Nord- und Ostsee auch nach 1988 von gen im Lande gehört, hat das Haus Sprin- Bürgerentscheide vorgenommen werden. Kontinuität und moderater Weiterent- ger dadurch einen nachweisbaren Einfluß Hiervon ist innerhalb weniger Jahre weit wicklung, nicht aber von innovativen auf die Hörfunkszene in Schleswig-Hol- mehr Gebrauch gemacht worden als ur- Sprüngen und Brüchen gekennzeichnet. stein, denn beispielsweise an den Lü- sprünglich vermutet. In erster Linie wur- Kern- und Kristallisationspunkt aller Hoch- becker Nachrichten (Auflage: 120 000) ist den sie dazu genutzt, um Entscheidungen schulen des Landes ist und bleibt die 1665 der Hamburger Konzern maßgeblich be- von Gemeindevertretern rückgängig zu gegründete Christian-Albrechts-Univer- teiligt, in geringerem Maße auch an den machen, die die Bürger als belastend oder sität in Kiel. 1997 waren allein 22 000 der Kieler Nachrichten (Auflage: 120 000), als falsch empfanden. Dies hatte aber insgesamt 40 000 in Schleswig-Holstein mehrere Zeitungen im Hamburger Rand- auch zur Folge, daß die Beschlüsse von de- Studierenden hier eingeschrieben. Da sie gebiet gehören ihm ganz. Als die bis mokratisch legitimierten Volksvertretern zusätzlich fast 6000 Bediensteten, davon dahin selbständige Schleswig-Holsteini- durch die unmittelbare Entscheidung von über 400 Professoren, Arbeit gibt, ist sie sche Landeszeitung deshalb mit dem Bürgerinnen und Bürgern wieder aufge- für die Stadt von nicht geringerer wirt- Flensburger Tageblatt fusionierte und hoben wurden. Durch dieses – vom Ge- schaftlicher Bedeutung als beispielsweise zum größten Zeitungsverlag des Landes setzgeber gewollte – Spannungsverhältnis die Howaldt-Werft. Mit dem bereits 1914 wurde (Auflage: 160 000), geschah dies zwischen repräsentativer und direkter De- gegründeten Institut für Weltwirtschaft, ausdrücklich, um eine marktbeherrschen- mokratie ist die Gemeindevertretung eher dem Forschungszentrum für marine Geo- de Stellung des Springer-Verlages im geschwächt worden. wissenschaften, der Muthesius-Kunst- nördlichsten Bundesland zu verhindern, Eine weitere Stärkung der unmittelbaren hochschule und der Verwaltungsfach- bei den Printmedien wie auch bei RSH. Demokratie sollte durch die Einführung hochschule in Altenholz verfügt die Lan- Die Rechts- wie auch die Programmauf- der Direktwahl von Landräten, hauptamt- deshauptstadt zudem über weitere nam- sicht über RSH und weitere, zwischenzeit- lichen Oberbürgermeistern und Bürger- hafte, weit über die Region hinaus aner- lich neu entstandene Privatsender (NORA, meistern der Städte bzw. amtsfreien Ge- kannte Forschungs- und Ausbildungsstät- Delta Radio) übt die „Unabhängige Lan- meinden mit mehr als 2000 Einwohnern ten. In Lübeck sind die Medizinische Uni- desanstalt für das Rundfunkwesen“ (ULR) erreicht werden. Ob dies gelungen ist, versität und die Musikhochschule behei- aus, in der alle gesellschaftlich relevanten steht dahin. So lag die Beteiligung bei der matet, in Flensburg ist aus der ehemaligen Gruppen Schleswig-Holsteins vertreten ersten unmittelbaren Oberbürgermeister- Pädagogischen Hochschule eine Bildungs- sind. Sie ist zuständig für die Vergabe von wahl, die 1997 in Kiel durchgeführt wissenschaftliche Hochschule/Universität privaten Hörfunk- und Fernsehfrequen- wurde, bei nur 46 Prozent, obwohl mit erwachsen. Fachhochschulen gibt es au- zen und für deren mediale Kontrolle. dem gewählten Kandidaten Norbert ßer an den genannten Orten in Wedel, Gansel ein bundesweit profilierter und bis Heide, Rendsburg und Pinneberg. Kommunalpolitik in die letzten Haushalte bekannter Politi- Daß Kunst und Kultur in dem kargen, von ker zur Wahl stand. Auch wenn 60 Pro- Wind und Wetter geplagten Land nörd- Die in der Kommunalpolitik Schleswig- zent der abgegebenen Stimmen auf ihn lich der Elbe nicht gedeihen können, ist Holsteins zu bewältigenden Aufgaben entfielen, kann dies nicht darüber hin- ein von alters her genährtes (Vor)Urteil. unterscheiden sich nicht von denen ande- wegtäuschen, daß nur 25 Prozent der Frisia non cantat, wer kennt nicht diese rer Bundesländer: öffentliche Sicherheit, stimmberechtigten Bevölkerung ihn auch berühmten Worte aus Tacitus’ „Germa- Schule, Kultur, Gesundheit, Sport, gewählt haben. Noch krasser war der Ab- nia“, mit denen ja nicht nur zum Ausdruck Straßenbau, Energie, Sozialfürsorge, Kin- stand in Neumünster, wo bei einer Wahl- gebracht werden sollte, daß die rauhen dergärten. Die Kreistage sowie die Stadt- beteiligung von 40 Prozent im Ergebnis Kehlen dieses Menschenschlages sanges- und Gemeindevertretungen werden auf weniger als 20 Prozent der Bürgerinnen unkundig seien, sondern daß sie auch fünf Jahre, die Landräte und die haupt- und Bürger für den neuen Oberbürger- sonst Barbaren waren. amtlichen Bürgermeister auf sechs oder meister votiert haben. Bleiben wir deshalb einmal bei (Nord) acht Jahre gewählt. Friesland. Hier, zwischen Kühen und Mar- Die letzten Kommunalwahlen, in denen Bildung, Wissenschaft, schen, wuchsen mit dem Lyriker Theodor das aktive Wahlrecht erstmals auf 16 Jahre Kultur und Freizeit Storm, dem Historiker Theodor Momm- herabgesetzt wurde, fanden am 22. März sen, der für seine Römische Geschichte 1998 statt. Sie erbrachten das folgende Wie die anderen Bundesländer, so verfügt den Nobelpreis erhielt, mit dem Soziolo- Ergebnis: SPD 42,4; CDU 39,1; Bündnis auch Schleswig-Holstein über ein nach gen Ferdinand Tönnies und dem Pädago- 90/Die Grünen 6,8; FDP 4,8; SSW 2,9 und Schularten und Schulstufen gegliedertes, gen Friedrich Paulsen Talente und Geister Sonstige 4,0 Prozent. Die Wahlbeteiligung differenziertes Schulwesen. Neben den von Weltruf heran, hier fand der Expres- lag bei 62,8 Prozent. Im Stimmenanteil der 579 Grundschulen gab es 1996 230 Haupt- sionist Emil Nolde seine Heimat und sein „Sonstigen“ sind auch die Freien Wähler- schulen mit 38 000 Schüler/innen sowie Refugium vor den Nazis – Tacitus müßte gemeinschaften enthalten, die jahrzehn- 161 Realschulen mit 50 000, 96 Gymnasien eigentlich noch nachträglich in Achtung telang in der Kommunalpolitik des Landes mit 62 000, 148 Förderschulen mit 11 000 erstarren. eine gewichtige Rolle gespielt hatten. Ihre und 19 Integrierte Gesamtschulen mit Gleichwohl hat es ein kulturelles Zentrum Bedeutung ist heute aber verblaßt. 10 000 Schüler/innen. Bis zur politischen im Lande nie gegeben. Für das hanseati- Wende von 1988 hatte es nur je zwei Ko- sche Lübeck mit seiner ausgeprägten operative und Integrierte Gesamtschulen gegeben, durch das novellierte Schulge-

100 Schleswig-Holstein Stadtkultur waren London, Nowgorod Dominanz der Protestanten Das Wappen: oder Brügge näher als irgendein Ort in Schleswig-Holstein. Auch die Residenz der In Anwesenheit des Reformators Johan- Das schleswig-holsteinische Wappen zeigt Gottorfer Herzöge in Schleswig, ein mo- nes Bugenhagen beschloß der Rendsbur- die Wappen seiner beiden Landesteile. numentaler Renaissancebau aus dem 17. ger Landtag 1542 die Einführung der Re- Die zwei übereinanderschreitenden Jahrhundert, strahlte mehr auf Nordeuro- formation in Schleswig-Holstein. Seine Löwen waren seit 1232 Wappentiere der pa als auf die engere Nachbarschaft aus. Kirchenordnung bildete fortan die Grund- Herzöge Schleswigs. Die schauenburgi- Eutin wurde im 18. Jahrhundert das „Wei- lage für das theologische und rechtliche schen Grafen von Holstein führten das mar des Nordens“ genannt, aber landes- kirchliche Handeln. „Nesselblatt“ seit 1229/38. Die erste Zu- weit prägend war dies nicht. Auch die Aus historischen Gründen war Schleswig- sammenstellung der beiden Wappenbil- Kieler Universität hat diese Rolle nie ein- Holstein in hohem Maße protestantisch der ist im 14. Jahrhundert belegt. nehmen können. So blieb des Land Heim- ausgerichtet. Vor 100 Jahren lag der evan- statt einzelner großer Dichter, Literaten gelische Bevölkerungsanteil bei über 99 und Kunstschaffender wie Friedrich Heb- Prozent, um danach allerdings stetig zu bel in Dithmarschen, Heinrich und Thomas sinken. Mann in Lübeck, Ernst Barlach und A. Paul Heute umfaßt die Nordelbische evange- Weber in Ratzeburg. Siegfried Lenz, Gün- lisch-lutherische Kirche mit ihren drei Bi- ter Grass und Sarah Kirsch leben und ar- schofssprengeln Hamburg – geleitet von beiten seit langem in Schleswig-Holstein. der ersten deutschen, 1992 ordinierten Die Versuche, ein wirklich umfassendes, Bischöfin Maria Jepsen –, Holstein-Lübeck bis in Dörfer, Kirchen und Scheunen rei- und Schleswig 27 Kirchenkreise mit 178 chendes kulturelles Netz zu schaffen, Gemeinden für die 1,7 Millionen Gemein- stammen erst aus jüngster Zeit. Sie verbin- demitglieder. den sich mit dem Namen des Schleswig- Mit 80 Pfarreien und rund 170 000 An- Holstein-Musik-Festivals, das sogar über gehörigen ist die römisch-katholische Kir- eine eigene Orchesterakademie verfügt, che wesentlich kleiner. Sie gehören zum Literaturhinweise in der kein Geringerer als Leonard Bern- Erzbistum Hamburg. stein bis kurz vor seinem Tode den Nach- Etwa gleich groß ist die Zahl der Mitglie- wuchs schulte. Sie verbinden sich aber der der islamischen Religionsgemein- Wewer, Göttrik (Hrsg.), Demokratie in Schles- wig-Holstein – Historische Aspekte und aktuelle auch mit dem Ars-Baltica-Projekt Björn schaft und die anderer Religionsgemein- Fragen, Opladen 1998 Engholms, in dem die künstlerische Ein- schaften mit je ca. 35 000. Zu den evange- Landeszentrale für politische Bildung (Hrsg.), heit und Vielfalt aller Ostseeanrainerlän- lischen Freikirchen bekennen sich 20 000 Schleswig-Holstein – Eine politische Landeskun- der dokumentiert und gefördert werden Mitglieder. de, Kiel 1992 soll. Die nationalsozialistische Gewaltherr- Landeszentrale für politische Bildung (Hrsg.), Eine neue Verfassung für Schleswig-Holstein, Ein Kulturzweig allerdings darf nicht un- schaft hatte in den Jahren 1933–1945 das Kiel 1990. erwähnt bleiben, weil er sich nach wie vor jüdische Leben und die jüdische Kultur na- Landeszentrale für politische Bildung (Hrsg.), einer ungebrochenen Beliebtheit erfreut: hezu restlos ausgelöscht. Erst in den letz- Schleswig-Holstein – Kurze politische Landes- wenn De Plattdütsche Speldeel derbe Sze- ten Jahren bildeten sich durch Zuzug, vor- kunde, Bearb.: Rüdiger Wenzel, Kiel 1998. nen und Döntjes auf die Bretter bringt, nehmlich in die größeren Städte, neue Ge- Degn, Christian, Schleswig-Holstein – Eine Lan- desgeschichte, Neumünster 1994 dann sind die Säle und Dorfgasthöfe meinden, die alle zur jüdischen Gemeinde landauf, landab bis auf den letzten Platz Hamburg gehören. besetzt. Keiner Religionsgesellschaft zugehörig sind fast 20 Prozent aller Schleswig-Hol- steiner, und ihre Zahl nimmt zu.

Anschrift: Landeszentrale für politische Bildung Schleswig-Holstein, Hohenbergstr. 4, 24105 Kiel

Schleswig-Holstein 101 Ehemaliges Musterland der Kleinstaaterei und kulturelles Kleinstaaten Experimentierfeld Thüringen ist oft in negativem Sinn als das Musterland deutscher Kleinstaaterei be- Freistaat Thüringen zeichnet worden. Im 18. und 19. Jahrhun- dert, als Territorialstaaten allgemein als „modern“ galten, sprach man despektier- lich von der Flickenkarte Thüringen. Von Antonio Peter Tatsächlich bestand das Gebiet, das wir heute als Thüringen kennen, über lange Zeit aus vielen Kleinststaaten. Immer wie- der durchgeführte Erbteilungen, Kriege und territoriale Entschädigungen führten Im Herzen Deutschlands riesigen Schüssel, das durch verschiedene zu einem kaum überschaubaren Gewirr kleinere Heraushebungen gekennzeich- von Klein- und Kleinststaaten. Um 1700, Der Freistaat Thüringen ist nach seiner net ist. Eines der bekanntesten Mittelge- dem Höhepunkt der territorialen Zersplit- Fläche mit 16 171 km2 eines der kleine- birge in Deutschland ist der Thüringer terung, bestand Thüringen aus zehn Her- ren Flächenstaaten der Bundesrepublik Wald. Keilförmig erstreckt er sich begin- zogtümern, zehn Herrschaften, vier Graf- Deutschland. Auch die Bevölkerungsdich- nend im Gebiet um Eisenach in südöstli- schaften, einem erzbischöflichen Besitz te (gesamt 2,504 Millionen) liegt mit 155 cher Richtung bis etwa zur Linie Gehren- sowie zwei Reichsstädten. Dies war aber Einwohnern pro km2 (1995) deutlich nied- Schleusingen und geht dort in das Thürin- nicht immer so. Im Mittelalter stellte das riger als zum Beispiel die Flächenstaaten ger Schiefergebirge über. Der auf den Gebiet eine recht geschlossene Herrschaft im Westen der Bundesrepublik (zum Ver- Kammlagen des Thüringer Waldes von dar. Die Landgrafen von Thüringen zähl- gleich: Baden-Württemberg 289 pro km2). Hörschel nach Blankenstein verlaufende ten sich im 12. und 13. Jahrhundert zu den Die Wirtschaftsleistung (Bruttoinlandspro- Rennsteig ist einer der populärsten Wan- mächtigsten Fürstengeschlechtern des Reiches. Ihr Stammsitz, die Wartburg in Ei- senach, ist heute noch eine der bekannte- sten Burgen in Deutschland. Ebenso po- pulär ist die heilig gesprochene Elisabeth (1207-1231) als mildtätige Landgräfin. Am Beginn der neuzeitlichen Staatenge- schichte Thüringens steht die Landestei- lung von 1485. Die Brüder Kurfürst Ernst und Herzog Albrecht (Albert) beschlossen, ihre gemeinsame Regierung zu beenden und den Wettinischen Staat aufzuteilen. Mit der Leipziger Teilung entstand ein „ernestinischer“ und ein „albertinischer“ Staat. Den Ernestiner genannten Wetti- nern blieb der Kurkreis Wittenberg neben großen Gebieten im mittleren und südli- chen Thüringen. Die Albertiner erhielten die Mark Meißen und neben anderen Ter- ritorien die Gebiete von Naumburg bis Weißensee. Diese Gebiete führten den Namen „Herzogtum Sachsen“ mit Dres- den als Mittelpunkt. Im Verlauf der Ge- schichte agierten die Ernestiner zum Teil unglücklich. Zum Beispiel befand sich Kur- fürst Johann Friedrich der Großmütige auf seiten der Verlierer in der Schlacht bei Die Wartburg bei Eisenach. Foto: Thüringer Landesfremdenverkehrsverband Mühlberg 1547 gegen den Kaiser. Infolge dessen verlor das Haus die Kurwürde und die Kurlande an den Albertiner Moritz dukt) des Freistaats betrug 1996 61,0 Mil- derwege Deutschlands. Dabei kann das von Sachsen. liarden DM (zum Vergleich: Baden-Würt- Gebiet auf eine lange touristische Tradi- Aber noch weitreichendere Auswirkun- temberg 510,5 Milliarden DM). tion zurückblicken. Schon Mitte des 19. gen hatte das Erbrecht. Es gelang den Er- Im Nordwesten grenzt Thüringen an Nie- Jahrhunderts entdeckten Reisende die nestinern nicht, die Erbfolge im Sinne der dersachsen, im Norden an Sachsen-An- landschaftlichen Reize dieser Gegend, Primogenitur (Erbrecht des erstgeborenen halt, im Osten an Sachsen, im Süden an und der Thüringer Wald entwickelte sich Sohnes) zu regeln. Vielmehr blieben alle Bayern und im Westen an Hessen. Die zu einem der beliebtesten Feriengebiete. männlichen Mitglieder einer Dynastie zur Oberflächengestalt des Landes ist vielfäl- Als besonders mondän galt der Winter- Erbfolge berechtigt. Das war die wesentli- tig. Während die Gebirge im Norden und sportort Oberhof. che Ursache der Landesteilungen. Viele Süden des Freistaats eine Höhe von über Thüringen gehört zu den waldreichsten der entstandenen Kleinstaaten trugen 600 m erreichen (der Große Beerberg ist Bundesländern in Deutschland. Etwa ein noch die Bezeichnung „Sachsen“ im mit 982 m ü.NN. die höchste Erhebung) Drittel der Fläche (537 400 Hektar) ist mit Namen, obwohl sie kaum noch etwas mit werden an der Grenze zu Sachsen-Anhalt Wald bewachsen. Daher wird das Land dem Kurfürstentum zu tun hatten. So lediglich noch 119 m ü. NN gemessen. Um- auch oft „Das grüne Herz Deutschlands“ auch im Fall des möglicherweise berühm- grenzt von der „buckligen Welt“ des genannt. Eine Bezeichnung, die bereits im testen deutschen Kleinstaates Sachsen- Eichsfeldes im Nordwesten, den Hügellän- vorigen Jahrhundert entstand, und die Weimar-Eisenach, dessen Herzog Carl dern im Osten und den Erhebungen im immer wieder gern in Reiseführern Auf- August (1775-1828) als Mäzen das schrift- Süden liegt das fruchtbare Thüringer nahme findet. Die Länge des Gewässer- stellerische Wirken Johann Wolfgang Becken, ein Raum vergleichbar mit einer netzes beträgt für Thüringen 15 400 km. Goethes und Friedrich Schillers mit ermög- Besonderen Anteil haben daran die Flüsse lichte. Werra (200 km), Saale (196 km), Unstrut (150) km und Ilm (120 km).

102 Thüringen Die Landesgründung von 1920 zum Zentrum der Reformation. Auf der 1919 tagte im Weimarer Theater die Ver- Wartburg übersetzte Martin Luther die fassunggebende Nationalversammlung. Zur maßgeblichen territorialen Zusam- Bibel und schuf damit die Norm für die Auch wenn Weimar lediglich wegen sei- menlegung kam es 1920. Im Laufe des 19. von uns heute gebräuchliche Sprache. Mit ner politisch ruhigen Lage und der guten Jahrhunderts hatte sich die Zahl der Kurfürst Friedrich dem Weisen hatte Lu- Unterbringungsmöglichkeiten für die Ab- thüringischen Kleinstaaten auf acht ver- ther einen Partner innerhalb der Reichs- geordneten gewählt worden war, so be- ringert – vier ernestinische: Großherzog- fürstenschaft gewonnen. Daraus ent- kannten sich die demokratischen Parteien tum Sachsen-Weimar-Eisenach, Herzogtü- wickelten sich auch die frühen und später gerne zum humanistisch weltoffenen mer Sachsen-Coburg und Gotha, Sachsen- traditionell engen Beziehungen zwischen „Geist von Weimar“. 1921 setzte die Meiningen, Sachsen-Altenburg; zwei der Reformation und Teilen der Reichsfür- SPD/USPD-Landesregierung unter August Schwarzburgische: Fürstentümer Schwarz- stenschaft. Die politischen und gesell- Frölich an, das Land radikal zu modernisie- burg-Rudolstadt und Schwarzburg-Son- schaftlichen Friktionen, die sich auch aus ren. Die Schul- und Kulturpolitik nahm ge- dershausen; zwei Reußische: Fürstentü- der neuen Lehre ergaben, wurden eben- radezu kulturkämpferische Züge an und mer Reuß älterer Linie (Greiz) und Reuß falls in Thüringen ausgetragen. Thomas lief doch an den Interessen großer Teile jüngerer Linie (Gera). Nicht zu Thüringen Müntzer verband reformatorische mit so- der Bevölkerung vorbei. Mit dem „Sprung im politischen Sinne zählte der 1816 ent- zialrefomatorischen Ideen. Von hier aus in die Moderne“ setzte die Landesregie- standene Regierungsbezirk Erfurt, der mit verbreiteten sich Müntzers Thesen im rung modernistische Strömungen der der Stadt Erfurt, dem Eichsfeld und den ganzen Reich. Das Territorium wurde zu Weimarer Republik in politisches Handeln ehemaligen Reichsstädten Mühlhausen einem der Zentren des Bauernkrieges in um, aber gleichzeitig überforderte sie und Nordhausen zu Preußen gehörte. Deutschland. damit die thüringische Bevölkerung. 1924 Nach den Landtagswahlen von 1919 ent- kam es zum politischen und damit auch stand durch Zusammenlegung der Klein- Der Geist von Weimar zum kulturellen Umschwung. Der aus den staaten das Land Thüringen mit Haupt- Landtagswahlen als Sieger hervorgegan- stadt Weimar. Die Befürworter einer In den letzten Jahren ist deutlich gewor- gene „Thüringer Ordnungsbund“ rechne- großthüringischen Lösung unter Einbezie- den, daß die thüringische Kleinstaaterei te mit der vorhergehenden Reformpe- hung des Regierungsbezirks Erfurt erhiel- eine Fülle von kulturellen Experimenten riode ab. Künstlerische Experimente wur- ten keine Mehrheit. Erst 1944 wurde Er- förderte. In jedem Territorium gab es den abgebrochen, das Bauhaus nach Des- furt mit weiteren preußischen Gebieten in einen Fürsten, der als Mäzen fungieren sau vertrieben. das Land Thüringen eingegliedert. Auch konnte. Dank des Mäzenatentums des nach 1945 konnte sich Erfurt als Haupt- Fürsten konnten Johann Wolfgang Schon drei Jahre vor der Macht- stadt des Landes gegenüber Weimar Goethe und Friedrich Schiller aus Weimar ergreifung zeigten die Nazis hier ihr durchsetzen. Allerdings endete die Ge- die impulsgebende Stadt für die gesamte wahres Gesicht schichte Thüringens als Staats- und Ver- deutsche Klassik machten. Außerhalb waltungsgebilde wenige Jahre später. Im Thüringens weniger bekannt, aber trotz- In den folgenden Jahren erhielten Rahmen der Aufgliederung der Länder dem nicht minder wichtig, sind die schuli- deutsch-völkische Gruppierungen und die der DDR in Bezirke wurde 1952 auch das schen und pädagogischen Experimente Nationalsozialisten Zulauf. 1926 fand in Land Thüringen in die Bezirke Erfurt, Gera Herzog Ernsts des Frommen von Sachsen- Weimar der erste Parteitag der NSDAP und Suhl unterteilt. Die Landesvertretung Gotha-Altenburg (1601–1675), der erst- statt. Während in anderen Ländern noch wurde aufgelöst, ihre Kompetenzen und mals in Deutschland eine allgemeine Redeverbote und Einschränkungen gal- Aufgaben von der Zentralregierung in Schulpflicht für Kinder einführte. Einige ten, fand Adolf Hitler in Thüringen ein to- Berlin und den einzelnen Bezirksverwal- Fürsten legten aber auch selbst Hand an. lerantes zum Teil auch wohlwollendes po- tungen wahrgenommen. So schrieb Georg II. (1866–1914) von Sach- litisches Klima vor. In den Weimarer Zir- sen-Meiningen mit seinen werkgetreuen keln trafen sich Nationalkonservative, die Thüringen als kultureller Mittelpunkt Aufführungen Theatergeschichte. Der die Demokratie von Weimar ablehnten, Herzog wirkte sowohl als Mäzen wie auch mit den jüngeren radikale Veränderungen Die Einschätzung der Bedeutung Thürin- als Künstler. Im 19. Jahrhundert galt das anstrebenden Nationalsozialisten. Auf gens hat sich in den letzten Jahren radikal kleinstaatliche Thüringen als eines der li- Landesebene entwickelte sich die NSDAP gewandelt. Wurde früher oft von einem beralsten Gebiete Deutschlands. Nicht von zu einer politischen Macht und nahm „Musterland deutscher Kleinstaaterei“ ungefähr wurde 1815 in Jena die erste damit die Entwicklung auf Reichsebene in mit provinzieller Größe gesprochen, des- Burschenschaft gegründet, die sich der gewissem Maße voraus. Am 23. Januar sen einzelne Bestandteile die Modernisie- Vereinigung Deutschlands unter liberalem 1930 übernahm Wilhelm Frick (NSDAP) rung und kulturelle Entfaltung eher be- Vorzeichen verpflichtet fühlte. 1817 ent- die Ministerien Inneres und Volksbildung hinderten als förderten, so weisen neue lud sich der Unmut über die reaktionären in einer Koalitionsregierung. Drei Jahre Studien darauf hin, daß sich hier wie in politischen Verhältnisse in den deutschen vor der Machtergreifung Hitlers zeigte kaum einer anderen kulturellen Land- Einzelstaaten auf dem Wartburgfest. Fricks Vorgehen, wozu die Nationalsoziali- schaft Deutschlands die jeweilig aktuellen Politische und künstlerische Konzepte ver- sten fähig waren. Als Innenminister be- politischen und kulturellen Strömungen dichteten sich im 20. Jahrhundert. Das Ge- trieb er die konsequente Durchsetzung gebündelt haben; hierzu habe die zentra- biet des Thüringer Waldes und der Rhön der Polizei mit Nationalsozialisten. Als le Lage, aber auch die Kleinstaaterei bei- galt vielen deutsch-völkischen Gruppen Kultusminister führte er Schulgebete mit getragen. Denn es gab ideale Möglichkei- als eine der letzten Bastionen deutschen nationalsozialistischen Inhalten ein. Es er- ten, kulturelle Modelle und Gegenmodel- Wesens. Mit den instrumentalisierten Be- ging ein Verbot der Mitgliedschaft in le auf kleinstem Raum aufzubauen. zügen zu Weimar und der Wartburg ent- kommunistischen Organisationen für alle Thüringen ist als Experimentierfeld gesell- wickelten Schriftsteller wie Adolf Bartels Landes- und Kommunalbeamten. Im Juli schaftspolitischer Visionen immer wieder (1862-1945) ihre literarischen und politi- 1932 erhielten die Nationalsozialisten 42,5 in Erscheinung getreten. Der Ruf der schen Konzepte gegen die Moderne. Auf Prozent der Stimmen bei den Landtags- Landgrafen als Mäzene von Kunst und der anderen Seite des politischen Spek- wahlen. Fritz Sauckel übernahm den Vor- Kultur war schon so groß, daß der legen- trums stand das Bauhaus (1919-1925 in sitz des Staatsministeriums und benannte däre „Sängerkrieg“ auf die Wartburg ver- Weimar) als Werkstatt für moderne Ge- als Schwerpunkte seiner Arbeit: „Rasse legt wurde. In Thüringen hielten sich die staltung. Schon 1903 war Harry Graf Kess- und Volkstum, nationaler Lebens- Auf- wichtigsten Sänger und Poeten des 13. ler nach Weimar gekommen und be- bau- und Wehrwille“. Für Thüringen hieß Jahrhunderts auf. Von hier gingen kultu- mühte sich dort um eine Modernisierung dies nach der Machtergreifung Hitlers un- relle Impulse für ganz Deutschland aus. Im des Ausstellungs- und Kunstgewerbes. eingeschränkte Willkürherrschaft, Ermor- 16. Jahrhundert meldete sich Thüringen dung der jüdischen Mitbewohner, Einwei- als religiöses, politisches und kulturelles sungen in Konzentrationslager. Mit dem Zentrum zurück. Die Landschaft wurde Konzentrationslager Buchenwald ent-

Thüringen 103 stand in unmittelbarer Nähe Weimars eines der größten Lager in Deutschland. Die klassische Kultur Thüringens wurde im NS-Sinne instrumentalisiert, Kunst- und Li- teratursammlungen „gesäubert“. Beson- dere Bedeutung kam hier den „Weimar- Festspielen der deutschen Jugend“ zu, die unter der Schirmherrschaft des „Reichs- jugendführers“ durchgeführt wurden. Überregionale Bedeutung hatte ebenfalls die „Woche des deutschen Buches“, die Joseph Goebbels besonders förderte, denn die „Plattform Weimar“ sollte auch international dem Nationalsozialismus zum Transport seiner Ideologie dienen.

Recht schnell instrumentalisierte dann die DDR die kulturellen Tradi- tionen Thüringens

Mit dem Einmarsch der Amerikaner 1945 und später der sowjetischen Streitkräfte setzte eine Neubesinnung auf die kultu- rellen und politischen Traditionen Thürin- gens ein, die allerdings nicht lange an- hielt. Recht schnell instrumentalisierte die DDR die kulturellen Traditionen Thürin- gens. In den 60er Jahren nannten sich die wichtigsten Veranstaltungen „Weimar- tage der Jugend“, in den 80ern „Weimar- tage der FDJ“, die bis 1989 durchgeführt wurden – sie sollten Jugendlichen ein „Weimarerlebnis“ vermitteln und an die „Klassiker“ heranführen. Eine selbständi- ge kulturelle Entfaltung blieb dem Land ebenso verwehrt wie ein eigenes politi- sches Profil an der Nahtstelle zwischen West- und Ostdeutschland. Zwischen 1945 und 1989 unterbanden die Sowjetische Militäradministration und KPD – später die SED – nach Kräften alle kulturellen oder politischen „Sonderwege“. Verein- facht wurde dieses Bestreben durch die Einführung der Bezirke. Thüringen ver- sank weitgehend im politischen und kul- Der Inselsberg im Thüringer Wald. Foto: Thüringer Landesfremdenverkehrsverband turellen Mittelmaß. Auch wenn es an der Universität Jena schon vor 1989 oppositionelle Kreise gab, munaler Ebene frei gewählte und demo- CDU und FDP wählten daraufhin Bern- so spielte Thüringen in der friedlichen Re- kratisch legitimierte Vertretungen aufzu- hard Vogel (ehemals Ministerpräsident in volution von 1989 keine herausragende bauen. In einem zweiten Schritt erließ das Rheinland-Pfalz) zum neuen Ministerprä- Rolle. Nach dem Beitritt zur Bundesrepu- frei gewählte Parlament in Berlin am 22. sidenten. blik Deutschland und der Wiedererlan- Juli 1990 das Ländereinführungsgesetz. gung der staatlichen Souveränität Damit wurden die fünf ostdeutschen Län- Die Verfassung bemühen sich kulturelle Institutionen, an der, darunter auch Thüringen, gebildet. die vielfältigen Traditionen des Landes an- Die erste Landtagswahl in Thüringen fand Thüringen kann auf ruhmvolle Traditio- zuknüpfen. Nicht immer leicht, bei einer am 14. Oktober statt. Nach den rasanten nen als Rechtsstaat zurückblicken. Schon konsequenten Mißachtung innovativen Umbrüchen der Zeit zwischen 1989 und das am 5. Mai 1816 verkündete Grundge- Potentials in den letzten Jahrzehnten. Sommer 1990 verlief die Landtagswahl re- setz einer Landständischen Verfassung für lativ ruhig. Bei einer vergleichsweise nied- das Großherzogtum Sachsen-Weimar-Ei- Das Land Thüringen 1990 rigen Wahlbeteiligung von 70,5 Prozent senach enthielt zwar noch keinen Grund- errang die CDU mit 45,4 Prozent gefolgt rechtekatalog doch garantierte der Text Unmittelbar nach der politischen Wende von der SPD 22,8 Prozent einen Erfolg dank ordentlicher Gerichtsbarkeit und 1989 wurde auch in Thüringen der (PDS 9,7 Prozent, FDP 9,3 Prozent, Grüne Hinweis auf die Pressefreiheit weitgehen- Wunsch nach Bildung eines eigenen Lan- 6,5 Prozent). Am 25. 10. 1990 konstituier- de Grundrechte. Die Thüringer Verfassung des laut. Die aus den Wahlen am 18. März te sich der Thüringer Landtag. Zum Mini- wurde am 25. Oktober 1993 verkündet 1990 hervorgegangene 10. Volkskammer sterpräsidenten einer CDU-FDP-Koaliti- und lehnt sich in ihren Grundzügen an das kam dem Wunsch der Bevölkerung nach onsregierung wurde Josef Duchac (CDU) Grundgesetz für die Bundesrepublik regionaler Selbstverwaltung nach. Zu- gewählt. Allerdings blieb Duchac nicht Deutschland an. Am 16. Oktober 1994 nächst aber fanden am 6. Mai 1990 Kom- lange im Amt. Schon im Januar 1992 trat fand ein Volksentscheid über die Verfas- munalwahlen statt, denn es galt auf kom- er zurück, nachdem er sich des Vertrauens sung statt. Mit 70,1 Prozent der abgege- seiner eigenen Fraktion nicht mehr sicher sein konnte. Die Koalitionsfraktionen

104 Thüringen benen gültigen Stimmen stimmten die weiteren Beruf aus. Auf das Erbe der DDR tionäre das Gewohnheitsrecht, „seine“ Bürgerinnen und Bürger zu. Diesem Er- ist der geringe Anteil an Beamten und Ministerien eigenverantwortlich zu beset- gebnis gingen intensive Beratungen vor- selbständigen Abgeordneten zurückzu- zen. Die Grundzüge der Politik wurden aus. Die Phase der Verfassunggebung zwi- führen. Während die erste Berufsgruppe bereits im Koalitionsvertrag festgeschrie- schen 1991 und 1993 verlief zunächst in der DDR nicht existierte wurde die ben. Weitere Grundsatzfragen werden im weitgehend ohne Beteiligung der Öffent- zweite aus politischen Gründen möglichst Koalitionsausschuß vorbesprochen, so daß lichkeit. Im Sommer 1993 wurde der Ent- klein gehalten. Ähnlich verhält es sich mit die Interessen der beiden Koalitionäre ge- wurf der Bevölkerung vorgestellt und der Religionszugehörigkeit. So ist der An- wahrt bleiben. Trotzdem sind die Möglich- diese zu Stellungnahmen eingeladen. Erst teil der sich als konfessionslos bekennen- keiten des Ministerpräsidenten, Einfluß zu nach Kenntnisnahme der Änderungsvor- den Abgeordneten mit fast 35 Prozent nehmen gegeben, denn alle Minister müs- schläge der Bürgerinnen und Bürger und recht hoch. sen ihn über Angelegenheiten von beson- nochmaligen Beratungen stand der end- Während die parlamentarische Arbeit im derer politischer Bedeutung informieren. gültige und dann verabschiedete Text 2. Landtag in strukturierten Bahnen ver- Der Verwaltungsaufbau des Freistaats fest. läuft, war die Arbeit im 1. Landtag von In- ähnelt dem anderer Flächenstaaten der Die Verfassung entstand aus dem Wissen tensität bestimmt. Galt es doch, innerhalb Bundesrepublik, weist aber eine Beson- um die Gefahren, die Diktaturen für das kürzester Zeit die Gesetzgebung dem derheit auf. Zu den obersten Landes- demokratische Staatswesen bergen. In der westdeutschen Niveau anzugleichen, um behörden gehören die Ministerien sowie Präambel wird unmittelbar auf die „leid- so die Voraussetzungen für ähnliche Le- der Präsident des Landtags, der an der vollen Erfahrungen mit überstandenen bensumstände in Ost- und Westdeutsch- Spitze der Landtagsverwaltung steht. Die Diktaturen“ und auf die „friedlichen Ver- land zu schaffen. Die Aufgaben des Land- wichtigste Mittelbehörde ist das Landes- änderungen im Herbst 1989“ hingewie- tages unterschieden sich nicht nennens- verwaltungsamt in Weimar. Seine Stellung sen. Darüber hinaus werden eindeutige wert von denen der anderen föderalen und Aufgaben sind mit den Regierungs- Bezüge zur weltoffenen kulturellen Tradi- Parlamente in Deutschland. Zu den wich- präsidien bzw. Bezirksregierungen in an- tion Thüringens hergestellt. In der Präam- tigsten Aufgaben gehören die Gesetzge- deren Ländern vergleichbar. Das heißt, bel hieß es „Thüringen ist ein Freistaat“. bung, die Wahl des Ministerpräsidenten daß es in Thüringen keine Regierungsbe- Hiermit wird an den 1921 in der ersten de- und die Kontrolle der vollziehenden Ge- zirke gibt! Dem Landesverwaltungsamt mokratischen Verfassung benutzten Be- walt. sind als untere Landesbehörden die Land- griff angeknüpft. Im Gegensatz zu oft Nach kaum zwei Wahlperioden ist es noch ratsämter der Kreise und die Stadtverwal- geäußerten Vermutungen hat dieser Be- zu früh, langfristige Trends erkennen zu tungen der kreisfreien Städte unterstellt. griff aber keinerlei verfassungsrechtliche können. Die politische Landschaft einer- Auswirkungen. In Rechten und Pflichten seits und das milieubedingte Wahlverhal- Die Kommunen ist der Freistaat den anderen Ländern der ten andererseits sind in Thüringen noch Bundesrepublik Deutschland gleichge- nicht so festgefügt, als daß gesicherte Seit 16. August 1993 gilt die Thüringer stellt. Die Grundrechte stehen an erster Aussagen gemacht werden könnten. Mit Kommunalordnung. Hier wird die Selbst- Stelle in der Verfassung. Dies zeigt, welch Interesse wird die für 12. September 1999 verwaltung der Kommunen garantiert. hohe Bedeutung der Würde und der vorgesehene Landtagswahl erwartet. Die Das Bestreben des Gesetzgebers war es, Selbstbestbestimmung des Menschen bei- politischen Akteure wünschen sich, daß die Voraussetzungen zu schaffen, daß gemessen wird. Hier decken sich Verfas- die Wähler eindeutige Verhältnisse schaf- möglichst alle Angelegenheiten der örtli- sung des Freistaats und Grundgesetz weit- fen und die allseits ungeliebte Große Ko- chen Gemeinschaft auch vor Ort geklärt gehend. Aber anders als das Grundgesetz alition aufgegeben werden kann. werden können. Mit der Thüringer Kom- formuliert die Thüringer Verfassung in munalordnung hat sich der Freistaat für ausführlicher Form Ziele staatlichen Han- Regierung und Verwaltung die Einführung der Süddeutschen Ratsver- delns. Dazu zählen unter anderen: die So- fassung entschieden. Dies heißt, daß Ge- zialstaatlichkeit, der Schutz für Menschen Die Landesregierung ist ein Kollegialor- meinderat und Bürgermeister per Urwahl mit Behinderung, der Schutz der natürli- gan und bildet das „oberste Organ der durch das Volk gewählt werden. Der kom- chen Lebensgrundlagen des Menschen, vollziehenden Gewalt“. Die Landesregie- munale Bereich wurde als erster nach der die Möglichkeiten, durch frei gewählte rung entscheidet als ganze über die Ein- Wende von 1989 durch die freie Kommu- und dauerhafte Arbeit den Lebensunter- bringung von Gesetzesentwürfen im nalwahl vom 6. Mai 1990 demokratisch le- halt zu verdienen, der Schutz von Tieren, Landtag, den Abschluß von Staatsverträ- gitimiert. Dabei haben die Kommunen in das Angebot angemessenen Wohnraums. gen und bei Stimmabgabe im Bundesrat. den zurückliegenden Jahren den größten Gemäß der Koalitionsvereinbarung von Teil der personellen, städtebaulichen und Der Landtag 1994 bestehen neben dem Ministerpräsi- infrastruktur-technischen Konversion tra- denten (Bernhard Vogel, CDU) und der gen müssen. Galt es doch durch personel- Der Thüringer Landtag ist das vom Volk ihm zugeordneten Ministerin für Bundes- le Erneuerung wieder an Glaubwürdigkeit gewählte oberste Organ der demokrati- angelegenheiten in der Staatskanzlei vor den Wählerinnen und Wählern zu ge- schen Willensbildung und übt die gesetz- (CDU), acht Ministerien, denen jeweils vier winnen. Darüber hinaus mußte in erhebli- gebende Gewalt aus. Der Landtag be- Minister von der CDU und vier von der chem Maße Personal abgebaut werden. stand in der Wahlperiode 1990–94 aus 89 SPD vorstehen. Die Verfassung gewährt Die verrottete Infrastruktur, die darnie- Abgeordneten und besteht in der laufen- dem Ministerpräsidenten eine durchaus derliegenden Innenstädte verlangten den Wahlperiode 1994–1999 aus 88 Abge- starke Position. Nur er wird vom Parla- nach schneller und umfassender Sanie- ordneten. Die Zahl der im Landtag vertre- ment direkt gewählt und nur er kann von rung. Mit der zügigen Erschließung von tenen Fraktionen sank vom ersten auf den diesem Parlament durch ein „konstrukti- Gewerbegebieten sollten die Vorausset- zweiten Landtag von fünf auf drei. Waren ves Mißtrauensvotum“ gestürzt werden. zungen für die Ansiedlung neuer Unter- in der ersten Wahlperiode noch CDU (44 Der Ministerpräsident ernennt und ent- nehmen geschaffen werden. In den dieser Sitze), SPD (21), NF/GR/DJ (6), LL-PDS (9), läßt die Minister und hat die Richtlinien- Gründungsphase folgenden Jahren kam FDP (9) vertreten, so blieben in der Wahl- kompetenz in der Politik. De facto sind es zu einer scharfen öffentlichen Diskus- periode 1994–1999 CDU (42), SPD (29), diese Machtmittel allerdings einge- sion um Auslastung der Gewerbegebiete PDS (17) übrig. schränkt. In einer Koalition (in Thüringen und um den Verbrauch von Fördermitteln. Bezüglich der Sozialstruktur des Landta- seit 1994 CDU/SPD) hat jeder der Koali- Dabei muß aber bedacht werden, daß die ges lassen sich im 2. Thüringer Landtag ei- Nachfrage durch ansiedlungswillige Un- nige ostdeutsche Besonderheiten erken- ternehmen oft nur sehr ungenau einge- nen. Neben den acht Abgeordneten, die schätzt werden konnte. auch Minister sind, üben nur elf der 88 Ab- geordneten neben ihrem Mandat einen

Thüringen 105 Die wirtschaftliche Entwicklung genossenschaften und Agrar-GmbH als höhere Lohnstückkosten in Thüringen als Nachfolgebetriebe der LPG wie in den an- im Westen der Republik. Neue Entwick- Wie kaum ein anderer Bereich erfährt die deren neuen Bundesländern große Be- lungen und aufsehenerregende erfolgrei- wirtschaftliche Entwicklung Thüringens triebsstrukturen erhalten, die etwa 68 che Börsengänge (Jenoptik, Mühl) zeigen öffentliche Aufmerksamkeit. Nach wie vor Prozent der landwirtschaftlich genutzten allerdings, daß die wirtschaftliche Ent- liegt die Arbeitslosenquote mit 19 Prozent Fläche bewirtschaften. Stark gestiegene wicklung sehr differenziert zu betrachten (September 1997) deutlich höher als im Hektarerträge und Leistungen in der Tier- ist. Schon jetzt bestehen in Thüringen Un- Westen der Bundesrepublik. Dabei ver- produktion führen bei drastischer Verrin- ternehmen, die fit für den Weltmarkt sind fügt der Freistaat über eine Wirtschafts- gerung der Arbeitskräfte zu einer beacht- und die sich auf diesem behaupten wer- struktur, die von Experten als günstig ein- lichen Produktivität. Günstige natürliche den. geschätzt wird. Große Unternehmen Voraussetzungen für eine landwirtschaft- haben sich in Eisenach (GM, BMW) und in liche Produktion bieten sich vor allem im Jena (Jenoptik, Schott) angesiedelt bzw. Thüringer Becken, wo u. a. die Erzeugung konnten nach 1990 weitergeführt wer- von Braugerste Tradition hat. Das Wappen den. Im übrigen Thüringen sind von ein- zelnen Ausnahmen abgesehen (z.B. Com- Forschungsverbünde zwischen Hoch- Der thüringische Löwe – der ungekrönt puter und Mikroelektronik in Sömmerda schulen und Unternehmen auch im hessischen Wappen zu finden ist – sowie Erfurt) vorwiegend Klein- und mit- geht auf die Landgrafen von Hessen- telständische Unternehmen vertreten. Die Das Land hat große Anstrengungen un- Thüringen zurück, die ihn seit dem 12. Palette der hergestellten Produkte reicht ternommen, um Hochschulen und wissen- Jahrhundert führten, seit 1210 mit der dabei von der Glasproduktion und Vered- schaftliche Einrichtungen auf den neue- Streifenteilung. lung im Thüringer Wald bis hin zum Ma- sten Stand zu bringen. Mit der Techni- Der Löwe ist von acht silbernen Sternen schinenbau. Wie anderenorts auch konnte schen Universität in Ilmenau besteht eine umgeben, von denen sieben die Länder der beschleunigte Abbau von Arbeitsplät- Bildungsstätte, die sich bewußt von den symbolisieren, aus denen Thüringen 1920 zen in der Industrie nicht durch den ex- großen Massenhochschulen abhebt und entstanden ist. Der achte Stern steht für pandierenden Markt für Dienstleistungen ihr Profil im Bereich Maschinenbau und die später hinzugekommenen, ehemals ausgeglichen werden. Städte wie Weimar Mikroelektronik weiter schärft. Die große preußischen Gebietsteile. sowie das Gebiet des Thüringer Waldes „Landesuniversität“ in Jena kann auf eine sind stark auf den Fremdenverkehr hin ruhmreiche Tradition zurückblicken. An- orientiert. Der Neubau von Hotels und die wendungsorientierte Forschung gibt es Wiederherstellung von Sehenswürdigkei- hier seit 100 Jahren. Die Beziehungen zu ten eröffnete für viele, aber eben doch den Firmen Carl Zeiss und Schott waren nicht für alle Menschen neue Berufsper- seit jeher besonders eng und bildeten eine spektiven. Die Dynamik des in den frühen der Voraussetzungen für den weltweiten 90er Jahren sehr aktiven Baugewerbes hat Erfolg beider Unternehmen. In engen deutlich nachgelassen. Dank erheblicher „Forschungsverbünden“ zwischen Hoch- steuerlicher Begünstigungen für Investo- schulen und Unternehmen soll der tech- ren ist die verkommene Bausubstanz in nologische Sprung gelingen, der für das Rekordzeit renoviert worden. In einigen rohstoffarme Thüringen von zentraler Be- Gemeinden hat sich der gravierende Woh- deutung ist. nungsmangel ins Gegenteil gekehrt – aus- Wie in den anderen der sogenannten reichend Wohnungen und gewerblich neuen Ländern tut sich die Wirtschaft nutzbare Immobilien sind vorhanden. nach wie vor schwer, den Anschluß an das Dafür scheint sich in letzter Zeit ein kon- „Westniveau“ zu halten. Die Gründe Literaturhinweise junktureller Aufschwung im industriellen dafür sind vielfältig und werden allenthal- Bereich abzuzeichnen. Allerdings bleiben ben breit diskutiert. Ermutigend ist, daß in Mägdefrau, Werner: Die Landgrafschaft Thürin- Experten skeptisch, ob dieser Aufschwung der verarbeitenden Industrie die Produkti- gen 1130 bis 1247. Erfurt 1996. sich auch in einer zunehmenden Zahl an vität weiter zunimmt und in einigen Be- Thüringen auf dem Weg ins „Dritte Reich.“ Hrsg. Beschäftigten niederschlagen wird. reichen eben jenes geforderte „Westni- von Detlev Heiden, Gunther Mai. Erfurt 1996. In der Landwirtschaft haben sich nach der veau“ bereits erreicht worden ist. Demge- Thüringen: Eine politische Landeskunde. Karl Schmitt (Hrsg.) Weimar 1996. Wende aus den Landwirtschaftlichen Pro- genüber stehen heute noch zum Teil Weiterführende Literatur finden Sie außerdem im duktionsgenossenschaften (LPG) der DDR Internet unter http://www.thueringen.de/LZT Betriebe unterschiedlicher Rechtsform ge- bildet. Neben Einzelbetrieben durch Wie- dereinrichtung und Personengesellschaf- ten haben sich mit eingetragenen Agrar-

Anschrift: Landeszentrale für politische Bildung Thüringen, Bergstraße 4, 99092 Erfurt

106 Thüringen „Cheques“ and balances im deutschen Föderalismus Die föderale Staatsform in der Krise? Die öffentliche Debatte um den Föderalismus in Deutschland

Von Martin Große Hüttmann*

Martin Große Hüttmann, M.A., arbeitet daß sie in „unzulässiger Weise“ den Bun- staatlichkeit und Effizienz des politischen am Europäischen Zentrum für Föderalis- desrat als parteipolitisches „Blockadein- Entscheidungsprozesses in jüngster Zeit mus-Forschung (EZFF) der Universität Tü- strument“ mißbrauche und dringend not- läßt ohne Zweifel verschiedene Interpreta- bingen und ist Lehrbeauftragter am Insti- wendige Gesetzesinitiativen verhindere.2 tionen zu. Wir vertreten in diesem Beitrag tut für Politikwissenschaft. Während diese Diskussion als erste Anzei- die These, daß die in der Öffentlichkeit chen des kommenden Wahlkampfes zum und von politischer und wissenschaftlicher Der deutsche Föderalismus ist ins Gerede Bundestag verstanden werden konnten, Seite geführte Diskussion um die „Verfas- gekommen. Dabei setzt die Kritik weni- waren in der öffentlichen Diskussion paral- sung“ des deutschen Bundesstaates primär ger am föderalen Charakter der Bundes- lel dazu und unabhängig davon Stimmen Ausdruck einer Konkurrenz unterschiedli- republik an, sondern an der Realität des von einzelnen Ländern zu vernehmen, die cher Leitbilder des Föderalismus ist. In der deutschen föderalistischen Systems mit mit Blick auf die Sozialversicherungssyste- Hauptsache geht es darum, dem bislang seinen ihm eigenen Nachteilen, die mit me und das System des Länderfinanzaus- vorherrschenden Konzept eines „koopera- dem Begriff Politikverflechtung beschrie- gleichs für einen „Wettbewerbsföderalis- tiven Föderalismus“ eine Alternative ge- ben werden. mus“ warben, der die geltende komplexe genüberzustellen – das Leitbild eines Wenn die Debatte um den deutschen Fö- Konstruktion des Ausgleichs und der Um- „Wettbewerbs-“ oder „Konkurrenzfö- deralismus auch vor dem Hintergrund verteilung ändern sollte. Ein dritter Punkt, deralismus“. knapper Kassen und eines kostspieligen der im Zusammenhang mit der Diskussion Die aktuelle Föderalismusdiskussion in Länderfinanzausgleichs geführt wird, so um die Leistungsfähigkeit des föderalen Deutschland ist in ihrer vollen Dimension ist sie nicht allein als Verteilungskampf zu Systems in der Bundesrepublik Deutsch- nur dann zu verstehen, wenn nicht nur sehen. Vielmehr stehen sich hier unter- land in dieser Diskussion der Jahre 1997 die materiellen und politischen Interessen schiedliche Leitbilder gegenüber: das her- und folgende aufgegriffen wurde, waren der beteiligten Akteure und Länder in kömmliche Konzept des kooperativen Fö- Forderungen von verschiedener Seite nach den Blick genommen werden, sondern deralismus und die Idee des Wettbe- einer Länderneugliederung. auch und vor allem die Ideen, Leitbilder werbsföderalismus, die die ganze Diskus- Während noch vor zehn Jahren anläßlich und „Philosophien“ des Föderalismus, die sion ausgelöst hat. des 40. Jahrestages der Gründung der Bun- hinter den entsprechenden Reformvor- Doch bei aller offensichtlichen Reformbe- desrepublik dem Föderalismus von politi- schlägen und Kritiken am bestehenden dürftigkeit des deutschen Föderalismus scher Seite hohe Verdienste u.a. für die System des Föderalismus und seinen Insti- sollten sich die Reformvorschläge nicht zu Stabilität der Nachkriegs-Demokratie in tutionen – wie etwa dem Bundesrat und sehr an bestimmten Modellen orientieren Deutschland und das hohe Maß an gesell- dem Finanzausgleich – stehen. Es geht und auf sie fixieren. Damit wird der Blick- schaftlicher und ökonomischer Homoge- zwar in der Tat um viel Geld im bestehen- winkel eingeengt und das Gespür für nität zugeschrieben wurden, scheint heute den System des Finanzausgleichs. Denn es Durchführbarkeit geht hierbei verloren. der deutsche Bundesstaat – im fünften werden etwa 33 Mrd. DM jährlich zwi- Red. Jahrzehnt seiner unwiderruflichen Veran- schen dem Bund und den Ländern hin- kerung im Grundgesetz – Anlaß zu breiter und herbewegt. Die Finanzministerin von Die internationale Wettbewerbs- Kritik zu geben.3 Diese Kritik zielt auf die Brandenburg, Wilma Simon, hat in einem fähigkeit Deutschlands steht zur angebliche Unbeweglichkeit und man- Papier anschaulich gemacht, was das Debatte gelnde Effizienz des auf Konsens orientier- heißt: „Für die gleiche Summe müßte ein ten Entscheidungsprozesses in Deutsch- Lottospieler 630 Jahre lang jedes Wo- Das Wortspiel mit dem klassischen Grund- land, in dem sowohl Bund als auch Länder chenende 1 Mio DM gewinnen.“4 Ange- satz der Gewaltenteilung (checkes and ba- die Möglichkeiten hätten, sich gegenseitig sichts der angespannten Haushaltslage in lances) soll die zentralen Aspekte der aktu- zu blockieren. So ließe sich zu Recht fra- allen Bundesländern konnte es daher ellen Föderalismus-Debatte widerspiegeln: gen, welchen Wert ein Föderalismus über- kaum überraschen, daß die sogenannten im Kern geht es um die Frage nach der Zu- haupt noch haben kann, der „seine Ener- „Geberländer“ eine Debatte um Zweck kunftsfähigkeit des Bundes und seiner gie darauf konzentriert, in Bonn und Brüs- und Umfang des Länderfinanzausgleichs Gliedstaaten in einem globalen Wettbe- sel Entscheidungen zu verhindern, aber eröffnet haben. Aus politischer und wis- werb, konkret um die Fairneß des födera- nichts dafür tut, daß die Länder selbst sich senschaftlicher Sicht ist es aber nicht nur len Länderfinanzausgleichs und um die durch Vielfalt und Ideen auszeichnen“ interessant, zu beobachten und zu unter- „richtige“ Verteilung von Kompetenzen (Dettling 1997). Da die Föderalismus-Kritik suchen, welche Korrekturen am beste- und finanziellen Ressourcen im deutschen gerade von einem Vertreter der Wirt- henden Ausgleichssystem möglicherweise Mehrebenensystem.1 schaftsverbände angestoßen wurde und vorgenommen werden können. Denn Im Sommer 1997 begann eine breitere öf- im Zusammenhang mit der Debatte um entgegen einer weitverbreiteten Mei- fentliche Diskussion um diese Fragen. Da- den „Standort Deutschland“ zu sehen ist, nung werden Verhandlungen und Vertei- mals standen der Bundesrat und der Ver- schien die Diskussion auf die von dem Bre- lungskonflikte nicht nur „durch die op- mittlungsausschuß in der öffentlichen Kri- mer Föderalismusforscher Roland Lhotta portunistischen und egoistischen Interes- tik, da die SPD-Mehrheit in der Länder- überspitzt formulierte Frage abzuzielen: sen von Akteuren bestimmt (…), sondern kammer eine von der Regierung Kohl vor- „Brauchen wir im Zuge der (…) Globalisie- durch die Auseinandersetzung unter- gelegte Steuerreform blockierte und rung und des dräuenden Turbo-Kapitalis- schiedlicher Überzeugungssysteme“ schließlich zum Scheitern brachte. Die Ge- mus jetzt den Turbo-Föderalismus, um den (Braun 1998: 801). In diesem Beitrag soll sellschaft für deutsche Sprache wählte Standort Deutschland auf Vordermann zu die Debatte um den Föderalismus und 1997 deshalb „Reformstau“ zum Wort des bringen?“ (Lhotta 1998: 86). den Finanzausgleich nicht allein als Jahres. Begründet wurde diese Wahl Kampf um knappe Güter dargestellt wer- damit, daß dieser Begriff das politische Die Konkurrenz unterschiedlicher den, sondern als normativer Ideenwett- Leben in jenem Jahr in besonderem Maße Leitbilder streit, als Konkurrenz von „Übersetzungs- kennzeichne. Der Vorwurf der konservativ- systemen“ (belief systems) und als Aus- liberalen Koalition unter dem damaligen Die intensive Auseinandersetzung in der einandersetzung um das „richtige“ Ver- Kanzler Helmut Kohl an die SPD lautete, Öffentlichkeit mit dem Thema Bundes- ständnis des Föderalismus.

107 In einer vielbeachteten und heftig disku- Warum überhaupt Föderalismus? Politikverflechtung haben in der Vergan- tieren Analyse des deutschen Föderalis- genheit stetig zugenommen. Verantwort- mus, dem eine Entwicklung hin zum „ver- In rechts- und politikwissenschaftlichen lich gemacht werden dafür die auf politi- kappten Einheitsstaat“ (so der Titel der Ar- Hand- und Lehrbüchern und auch in der sche und gesellschaftliche Homogenität beit) bescheinigt wurde, konnte die Poli- öffentlichen Diskussion werden dem Fö- und „Einheitlichkeit der Lebensverhältnis- tikwissenschaftlerin Heidrun Abromeit deralismus als politisches Organisations- se“ ausgerichtete politische Kultur in noch zu Recht darauf hinweisen, daß es in prinzip eine Reihe von Eigenschaften und Deutschland. Gerade aber die kleinen und der Bundesrepublik keinen „Hüter“ für Besonderheiten zugeschrieben, die aus finanzschwächeren Länder konnten ein- das Konzept des Konkurrenzföderalismus der politischen Praxis in föderal organi- zelne Aufgaben allein nicht bewältigen. gebe (Abromeit 1992: 131, 143). Gerade sierten Staaten abgeleitet wurden und die Durch die deutsche Einheit und die Erwei- einmal fünf Jahre später ist der Begriff rechts- und politikwissenschaftliche Theo- terung der Bundesrepublik um fünf klei- „Konkurrenzföderalismus“ oder „Wettbe- riediskussion bestimmen. Diese Besonder- nere und im Vergleich zu den „alten“ Län- werbsföderalismus“ aus keiner öffentli- heiten dienen aber auch der Rechtferti- dern extrem finanzschwache Länder ist chen Rede oder wissenschaftlichem Kom- gung bzw. der Legitimation des Föderalis- der Druck auf den Bund, sich finanziell zu mentar mehr wegzudenken. Das Leitbild mus. Zugleich wird kritisch von einem „Tu- engagieren, noch gewachsen. Ein weite- des Wettbewerbsföderalismus wird dabei gendkatalog“ des Föderalismus gespro- rer Punkt, der die Politikverflechtung in in der Regel als Orientierungspunkt und chen (vgl. Kisker 1985). den letzten Jahrzehnten erhöhte, war der Maßstab für eine grundlegende Reform Eine Liste mit Rechtfertigungsgründen für Wandel der Staatsaufgaben.8 des bestehenden Systems diskutiert und den Föderalismus haben Kilper/Lhotta Die finanzielle und koordinierende Betei- zum Lackmustest für die Überlebensfähig- (1996: 58–61) zusammengestellt. Danach ligung des Bundes an den Aufgaben der keit des deutschen Bundesstaates im eu- erlaubt der Föderalismus sachgerechte, an einzelnen Länder kann auch als Versuch ropäischen und globalen Wettbewerb ge- den Verhältnissen „vor Ort“ orientierte angesehen werden, dem Bund unter den macht. Doch zunächst einige Sätze zum Problemlösungen und Entscheidungen; die Bedingungen abnehmender Gestaltungs- theoretischen Hintergrund dieses Beitra- Teilung von Aufgaben und politischer Ver- möglichkeiten den Einfluß auf gesamt- ges. antwortung zwischen verschiedenen Ebe- staatliche Aufgaben wie etwa Konjunk- nen entlastet die Zentrale; Föderalismus er- tur- und Raumordnungspolitik zurückzu- Eine Neubewertung von Ideen und höht die Möglichkeiten, sich demokratisch geben. Ein letzter Punkt, der genannt Leitbildern in der Politik zu engagieren (territorial democracy); er werden muß, um die Entwicklung und Ro- ermöglicht einen Minderheitenschutz; er bustheit der Politikverflechtung zu er- In der neueren politikwissenschaftlichen fördert den ökonomischen, kulturellen klären, ist, daß sie häufig im Interesse der Literatur wird die Bedeutung von Ideen, und politischen Wettbewerb; er erleichtert Akteure in den Regierungen und Verwal- Weltbildern oder Leitbildern in der Politik die Integration von Gesellschaften, die tungen von Bund und Ländern liegt. Denn wieder verstärkt in den Blick genommen.5 durch konfessionelle, sprachlich-kulturelle, die Politikverflechtung „entschädigt“ den Dabei gehen die Ideen-Ansätze davon sozio-ökonomische und politische Hetero- Verlust der Länder, eigenständig handeln aus, daß politisches Handeln nicht in er- genität gekennzeichnet sind; er bietet zu können, durch die im Gegenzug ge- ster Linie von Interessen und ihrem Aus- Schutz vor Zentralismus und ergänzt die in stattete Möglichkeit, an der Bundesge- tausch geprägt sei, sondern von Ideen. liberalen Demokratien klassische horizon- setzgebung und an gesamtstaatlicher Ko- Ideen und Vorstellungen („Philosophi- tale Gewaltenteilung zwischen Legislative, ordination mitzuwirken; zudem erlaubt en“) darüber, wie die politische, ökono- Exekutive und Judikative durch eine verti- die Politikverflechtung, daß sich Bundes- mische oder soziale „Welt“ sei bzw. sein kale Trennung bzw. Verschränkung der Ge- und Landespolitiker die Erfolge teilen und sollte, werden hier den Interessen voran- walten zwischen dem Zentralstaat und den Mißerfolge gegenseitig zuschieben könn- gestellt. Interessen würden erst auf der territorialen Untereinheiten. ten (blame avoidance), und schließlich Basis von bestimmten Vorstellungen und Neben diesem „theoretischen“ Föderalis- können Fachpolitiker und Verwaltungen Ideen über die „Welt“ entstehen und arti- mus gibt es aber auch einen – von diesem auf Bundes- wie Länderebene die Durch- kuliert. Ideen werden dabei verstanden häufig abweichenden – „real existieren- setzung von Programmen häufig erst als „Wissen über die Wirklichkeit (…), den“ Föderalismus, der deshalb entspre- durch den Hinweis erreichen, die jeweils wobei der Begriff ,Wissen‘ nicht nur harte chender Kritik von politischer und vor andere Ebene würde die Ausgaben mitfi- Daten einschließt, sondern auch Normen allem von wissenschaftlicher Seite ausge- nanzieren. Diese Entwicklung des deut- und ästhetische Urteile und Vorstellun- setzt ist: „Der Bundesstaat wird allgemein schen Föderalismus hat natürlich eine gen über die Identität des Akteurs im Ver- akzeptiert – allerdings nicht so, wie er Reihe von Kritikern auf den Plan gerufen. hältnis zu anderen Akteuren“ (Jachten- praktisch verwirklicht ist“ (Benz 1989: 181). fuchs 1995: 428). Das bedeutet, daß die In der Kritik steht vor allem die Ausprä- Der Vorwurf von Zentralisierung Analyse von Interessen immer auch die gung des deutschen Föderalismus als „ko- und Trägheit dahinterliegenden Ideen und Leitbilder operativer Bundesstaat“, und die damit bedenken muß, da nur so das Verhalten zusammenhängende Politik- und Verwal- Eine Konstante in der wissenschaftlichen bestimmter Akteure zu erklären ist. Die tungsverflechtung, das hohe Maß an Inter- Föderalismus-Kritik stellt die Frage dar, ob Ideen sind sozusagen die „Brille“, durch dependenz zwischen Bund und Ländern der deutsche Bundesstaat zu politischer die einzelne Akteure – in unserem Fall bei der Planung, Entscheidung und Umset- Steuerung „in sachlich-zeitlicher, sozial etwa die Länder – die politische Wirklich- zung von politischen Maßnahmen. anspruchsvoller, längerfristig konzipierter keit wahrnehmen und darauf basierend Das Stichwort, das hier eine zentrale Rolle und in einer zur Umverteilung fähigen ihre Interessen definieren und artikulie- spielt und die Eigenheiten der deutschen Weise“ fähig sei (Schmidt 1994: 77). Viele ren. So betont Heinrich Schneider (1992: Fassung des kooperativen Föderalismus Analysen aus den letzten Jahrzehnten 4), Leitbilder seien „nicht nur Zielvorstel- auf den Punkt bringt, ist das der „Poli- sind zu dem Ergebnis gekommen, daß der lungen, sondern auch Wahrnehmungs- tikverflechtung“.7 Der von Scharpf, Reis- deutsche Föderalismus politische Steue- und Deutungsmuster der je gegebenen sert und Schnabel (1976) eingeführte Be- rung nur unter einem (im Vergleich zu an- Situation, und beide Dimensionen sind griff soll die im deutschen Föderalismus deren Staaten) erhöhten Preis zu leisten in dialektisch aufeinander bezogen.“6 Leit- der Nachkriegszeit vorherrschende Ent- der Lage sei.9 Die Debatte um die Pro- bilder geben nicht nur eine bestimmte scheidungsstruktur veranschaulichen, wo- blemlösungskapazität und die politischen Richtung und Finalität des politischen nach die Mehrzahl der öffentlichen Auf- Probleme im deutschen Föderalismus krei- Prozesses an, sondern spielen eine zentra- gaben nicht durch getrennte Entscheidun- sen um mehrere Fragen, die teilweise eng le Rolle schon bei der subjektiv vorge- gen des Bundes oder der Länder, sondern miteinander verflochten sind. prägten Wahrnehmung des Ist-Zustan- durch das enge und institutionalisierte Zu- 1. Ein Vorwurf an den deutschen Födera- des. Diese Definition von Leitbild kann sammenwirken von Bund und Ländern lismus ist, daß die Politikverflechtung zu uns helfen, die teilweise sehr unterschied- bzw. durch die Kooperation zwischen Län- einer Zentralisierung führe. „Zentralisie- liche Wahrnehmung und Deutung eines dern wahrgenommen wird („kooperati- rung“ wird in dem Sinne wahrgenommen, politischen Zustandes (hier: des Bundes- ver Föderalismus“). Die Formen und die daß immer mehr Kompetenzen und staates) plausibel zu machen. Intensität der Zusammenarbeit und der Steuerungskapazitäten von den unteren

108 Einheiten (Länder und Kommunen) auf bescheinigt werden. Die Akzeptanz des fassung dagegen verlangt von den Partei- die Ebene des Zentralstaates übertragen kooperativen Staates wird aber nicht nur en, daß sie wie die britischen öffentlich werden und damit das Prinzip der Subsi- durch eine Beteiligung entsprechend de- aufeinander einprügeln und wie die diarität und der regionalen und lokalen mokratisch legitimierter Akteure und Or- schweizerischen vertrauensvoll zusam- Autonomie verletzt wird. Gegen diese gane gesichert, sondern auch mittels einer menarbeiten sollen. Das kann nicht gut- Zentralisierungsthese kann eingewandt „Legitimation durch Effektivität“, da eine gehen“ (Scharpf 1997). werden, daß diese Tendenz zur Zentrali- intensive Kooperation und Abstimmung sierung kompensiert wurde durch eine auf allen Ebenen effektive Problemlösun- Die „Politikverflechtungs-Falle“ wachsende Beteiligung und Einbindung gen ermöglicht. Diese Form von „Out- der Länder in die Bundespolitik. Das Er- put“-Legitimation ist angesichts der zu lö- 5. In einem vielbeachteten Beitrag, in dem gebnis war weniger ein zentralistischer senden Aufgaben im nationalen und eu- der deutsche Föderalismus und das System Staat als vielmehr der „unitarische Bun- ropäischen Rahmen nicht geringzuschät- der Europäischen Gemeinschaft vergli- desstaat“ (Hesse 1962). Die „Verlierer“ zen, es wird aber wiederholt darauf ver- chen und strukturelle Ähnlichkeiten her- dieser Entwicklung waren weniger die wiesen, daß eine solchermaßen „halbier- ausgearbeitet wurden, formulierte Fritz Länder und noch weniger die Landesre- te“ Legitimationsbasis auf Dauer unzurei- Scharpf die These von der „Politikverflech- gierungen als vielmehr die Landesparla- chend sei (vgl. Benz 1998: 207). tungs-Falle“ (Scharpf 1985). Die Beobach- mente, die eine „Entwertung“ (Schmidt 4. In seiner 1976 veröffentlichten Analyse tung, daß beide untersuchten Systeme, EG 1994: 77) ihrer Rolle zusätzlich im Bereich zum „Parteienwettbewerb im Bundes- wie Föderalismus in Deutschland, häufig der europäischen Integration erfahren staat“ vertrat Gerhard Lehmbruch die suboptimale Politikergebnisse hervorbrin- mußten, diese konnten sie in jüngster Zeit These, das politische System der Bundesre- gen, wurde mit charakteristischen Pro- durch institutionelle Vorkehrungen teil- publik Deutschland sei durch einen histo- blemlösungs-Defiziten der Politikverflech- weise wieder gutmachen.10 risch bedingten Strukturbruch gekenn- tung erklärt, für die Scharpf zwei institu- 2. Die Trägheit und Langsamkeit des politi- zeichnet. Diesen „Strukturbruch“ sieht tionelle Bedingungen verantwortlich schen Entscheidungsprozesses im Bundes- Lehmbruch in den tendenziell sich aus- machte: erstens die Tatsache, daß die Ent- staat gehört gewissermaßen zum Stan- schließenden Entscheidungsregeln, die im scheidungen auf der höheren Ebene von dardrepertoire der Föderalismuskritik. Die Bundesstaat einerseits und im Parteiensy- der Zustimmung von Regierungen der un- große Zahl der am Willensbildungsprozeß stem andererseits vorherrschen: Während teren Ebene abhängig sind, und zweitens, beteiligten Akteure und Gremien, der im Parteiensystem der politische Wettbe- daß diese Zustimmung einstimmig oder Zwang zu Konsens und Konkordanz sowie werb und die Mehrheitsregel zentral beinahe einstimmig erfolgen muß. In der komplizierte Verfahren machen unmittel- seien, bildeten im Bundesstaat dagegen Anwendung der „Theorie der Politikver- bare Reaktionen auf veränderte Situatio- Kooperation, Konsens und wechselseitige flechtung“ auf das Beispiel der EG wird nen im Innern wie im Äußern gar nicht Vetomöglichkeiten die Rahmenbedingun- der Anspruch erhoben, mit den gleichen oder nur unter erheblichem Kostenauf- gen des Entscheidungsprozesses. Die Kon- Hypothesen, die die Analyse des deut- wand möglich. Das heißt – positiv gewen- sequenz dieses Strukturbruchs sei, daß schen Modells des Verbundföderalismus det – natürlich auch, daß sich die Politik in sich beide Konfliktregelungsprinzipien geleitet haben, den „europäischen“ Fall Deutschland durch ein hohes Maß an Sta- wechselseitig blockierten. „Entweder zu erklären. Die „Politikverflechtungs- bilität und Erwartungssicherheit auszeich- läuft der Parteienwettbewerb infolge der Falle“, die die Situation der EG in den net und manche Probleme (z.B. Preisstabi- zunehmend erforderlich werdenden ,Po- achtziger Jahren charakterisieren soll, be- litätspolitik) dadurch gut gelöst werden, litikverflechtung‘ leer, oder aber er schreibt Scharpf als „eine zwei oder mehr andere dagegen aber weniger gut ange- blockiert das Funktionieren der bundes- Ebenen verbindende Entscheidungsstruk- packt werden können (etwa Fragen der staatlichen Institutionen“ (Lehmbruch tur, die aus ihrer institutionellen Logik Umverteilung und des Ausgleichs). Das 1976: 124). heraus systematisch (…) ineffiziente und Argument, der Staatsaufbau in einem Bun- Aufgrund der politischen Situation in den problem-unangemessene Entscheidungen desstaat mit 16 Landesregierungen, Lan- 70er Jahren, mit einer sozial-liberalen Re- erzeugt, und die gleichzeitig unfähig ist, desverwaltungen und Parlamenten gierung in Bonn und einer christdemokra- die institutionellen Bedingungen ihrer komme den Steuerzahler um vieles teurer tischen Mehrheit im Bundesrat, wurde der Entscheidungslogik zu verändern“.12 als ein Zentralstaat mit einer Regierung, klassische Parteienwettbewerb durch eine Die Kritik am Föderalismus, wie sie von einem Parlament und einer zentralen Ver- Art „Allparteienkoalition“ ersetzt, da die wissenschaftlicher Seite in den vergange- waltung, ist immer wieder zu hören, be- Mehrheitsverhältnisse in der Länderkam- nen Jahrzehnten geübt wurde, fand Mitte sonders im Zusammenhang mit der Frage, mer und die gewachsene Bedeutung des der 1990er Jahre in der öffentlichen De- ob eine Länderneugliederung und die Zu- Bundesrates im Entscheidungsprozeß eine batte ein bemerkenswertes Comeback. sammenlegung zu fünf oder sechs etwa intensive Zusammenarbeit und Abstim- Bemerkenswert deshalb, weil so ziemlich gleich starken Länder aus politischen und mung mit dem „politischen Gegner“ not- alle aufgelisteten „Schwachpunkte“ des wirtschaftlichen Gründen nicht sinnvoll sei. wendig machten, um politische Program- real existierenden deutschen Föderalis- me (die der Zustimmung des Bundesrates mus (Immobilität, verkappter Zentralis- Demokratiedefizit und Strukturbruch bedurften) realisieren zu können. Solche mus, etc.), in der Debatte um eine Reform Allparteienkompromisse waren nur zu er- des Föderalismus aufgegriffen und unter 3. Durch die dem deutschen Föderalismus reichen, wenn Konsens und Konkordanz einem neuen Schlagwort diskutiert wur- eigene Politikverflechtung sind im politi- an die Stelle von Konflikt und Mehrheits- den. Als Ziel und Mittel einer mehrheitlich schen Entscheidungsprozeß nicht die Par- regel traten. Fritz Scharpf formuliert den als notwendig erachteten Bundesstaatsre- lamente die zentralen Akteure, sondern Sachverhalt in einem Zeitungsbeitrag vom form wurde von unterschiedlichster Seite die Ministerialbürokratien von Bund, Län- Juni 1997 so: das Leitbild eines „Wettbewerbs-“ oder dern und Gemeinden. Dies führt zu dem Das Grundgesetz, so Scharpf habe „nicht „Konkurrenzföderalismus“ gesehen. Vorwurf, die Politikverflechtung führe zu nur ein schweizerisches Übermaß an Veto- einem Demokratiedefizit im deutschen positionen geschaffen, sondern zugleich Vom „kooperativen“ Föderalismus Föderalismus. Entscheidungen können die britische Konfrontation zwischen Re- zum „Wettbewerbsföderalismus“? kaum oder gar nicht einzelnen Akteuren gierung und Oppostition zur Norm erho- zugerechnet werden, da die Zusammenar- ben (…). In Bern müssen alle Parteien die Dem medizinischen Sprachgebrauch fol- beit zwischen Fachbürokratien und Fach- Kuh gemeinsam vom Eis bringen – und gend wird unter Krise die Phase eines politikern in den unzähligen Ausschüssen alle wissen, daß das nur geht, wenn jeder Krankheitsprozesses verstanden, in dem und Bund-Länder-Gremien, den soge- dem anderen seinen Teil am Erfolg gönnt. sich entscheidet, ob die Selbstheilungskräf- nannten „Fachbruderschaften“, einer di- In London gönnt keiner dem anderen te des Organismus ausreichen, um eine Ge- rekten demokratischen Kontrolle weitge- etwas, aber dafür kann die Mehrheit al- nesung des Patienten herbeizuführen.13 In hend entzogen sei. Diesen Schaltzentra- lein regieren, und die Opposition erfüllt den Sozialwissenschaften dominiert aller- len in der Politikverflechtung muß unter ihre Kontrollfunktion, indem sie alle rea- dings bis heute ein systemtheoretisch ge- bestimmten demokratietheoretischen Ge- len und vermeintlichen Fehler der Regie- faßter Krisenbegriff, wie er von Habermas sichtspunkten ein „Legitimationsdefizit“ rung öffentlich anprangert. Unsere Ver- angelegt wurde. Krisen entstehen danach

109 dann, wenn „die Struktur eines Gesell- bei der Wahrnehmung öffentlicher Aufga- nicht in dieser Grundsätzlichkeit – von po- schaftssystems weniger Möglichkeiten der ben und der Lösung von Problemen Kon- litischer Seite an einem dafür prädestinier- Problemlösung zuläßt, als zur Bestandser- kurrenz und Wettbewerb gelten“ (Klatt ten Ort thematisiert. Beim routinemäßi- haltung des Systems in Anspruch genom- 1982: 22). Das heißt konkret, daß in der Be- gen Wechsel im Amt des Präsidenten des men werden müßten. In diesem Sinne sind ziehung von Bund und Ländern die Mög- Bundesrates im Oktober 1996 vom bayeri- Krisen anhaltende Störungen der Syste- lichkeiten der Dezentralisierung geprüft schen Ministerpräsidenten Edmund Stoi- mintegration (Habermas 1973: 11).14 Über- werden müssen, die Verflechtung der Ebe- ber zu seinem Kollegen aus Baden-Würt- tragen auf unsere Fragestellung heißt dies, nen reduziert, die Verpflichtungen zur Soli- temberg, Erwin Teufel, wurde einer brei- daß von einer „Krise des Föderalismus“ darität abgebaut und generell den Län- teren Öffentlichkeit deutlich gemacht, dann gesprochen werden kann, wenn die- dern mehr Eigenständigkeit eröffnet daß die beiden „Südländer“ angesichts ser systemnotwendige Steuerungsleistun- wird.16 Eine solche Umorientierung von Ko- des globalen Wandels und der damit ver- gen des Gesamtstaates oder der Länder operation hin zu stärkerer Konkurrenz zwi- bundenen Herausforderungen den Wett- (also die „Systemintegration“) permanent, schen den Ländern hat Konsequenzen für bewerb auch in Wirtschaft, Staat und Ge- d.h. strukturell bedingt, erschwert oder un- die bundesstaatliche Ordnung insgesamt sellschaft stärken wollten. Der deutsche möglich macht. Viele Beiträge zur Födera- und das föderale Finanzsystem. Mitverant- Bundesstaat bringe für einen nationalen lismusdebatte und Vorschläge einer Re- wortlich für diesen Wandel des Leitbildes und globalen Wettbewerb gute Voraus- form, die seit Mitte 1997 die öffentliche vom Bundesstaat ist die Tatsache, daß in setzungen mit. Denn der Föderalismus, so Diskussion bestimmen, gehen explizit oder der aktuellen Diskussion die Finanzwissen- der bayerische Regierungschef, mobilisie- implizit davon aus, daß der Bundesstaat schaft und ökonomische Theorien des Fö- re „durch den Wettstreit der Länder un- und seine Institutionen nach dieser Defini- deralismus und der Politik wichtige Impulse tereinander ein erhebliches Potential an tion sich in der Krise befinden. Betrachtet geben, im Unterschied zu den sechziger Innovation für die Entwicklung unseres man die einzelnen Beiträge zur Diskussion Jahren, als die Diskussion um den „koope- Landes. Das ist eine wesentliche Dimensi- genauer, dann lassen sich unterschiedliche rativen Föderalismus“ vorwiegend von on des Föderalismus, die heute immer be- föderale Leitbilder und verschiedene Re- rechtswissenschaftlicher Seite geprägt war deutsamer wird.“ Und Stoiber weiter: „In formstrategien identifizieren. (vgl. Korioth 1997: 439).17 Einen wichtigen Zeiten eher gesättigten Wohlstandes Die föderalen Leitbilder oder die „bundes- Anstoß zur Notwendigkeit einer Reform konnten wir mehr über Umverteilung rä- staatspolitischen Grundanschauungen des föderalen Finanzsystems hat der Sach- sonieren. Heute müssen wir mehr als bis- über Inhalt und Funktion der Bundesstaat- verständigenrat zur Begutachtung der ge- her vor allem unsere Leistungspotentiale lichkeit“, wie Kesper (1998: 131) sie um- samtwirtschaftlichen Lage mit seinem Jah- im gesunden und kreativen Wettbewerb schreibt, sind offensichtlich einem Wandel resgutachten 1990/91 gegeben. Die aus der ausschöpfen (…). Der Wettbewerb fördert bzw. einem „Paradigmenwechsel“ unter- ökonomischen Theorie entlehnten Begriffe die Innovation. Regionalismus und Globa- worfen. Die Bestrebungen zur Reform der der Allokation, Distribution und Stabilisie- lisierung sind nicht Gegensätze, sondern Finanzordnung zeigen deutlich eine Ab- rung dienten dem Sachverständigenrat als bedingen sich gegenseitig. Zentralismus kehr von dem bislang dominierenden Ver- „maßgebliches Raster zur Überprüfung des lähmt; der Föderalismus sollte beflü- ständnis oder Leitbild eines „kooperativen Finanzausgleichs – allerdings mit deutlicher geln.“19 Föderalismus“ hin zur Betonung von Auto- Betonung der allokativen Aspekte und der Auch in der Antrittsansprache des baden- nomie der Länder und des föderalen Wett- diesen eigenen Effizienzgesichtspunkten“ württembergischen Ministerpräsidenten bewerbs. Diesen Wandel des Bundesstaats- (Korioth 1997: 439). Damit war ein zentra- spielt das Stichwort „Wettbewerb“ im Zu- verständnisses herauszustellen und zu er- les Argument der Debatte um den Finanz- sammenhang mit der internationalen klären, scheint in unserem Zusammenhang ausgleich, wie er seit 1997 in der politi- Konkurrenz um Wirtschaftsstandorte eine von zentraler Bedeutung, da das jeweilige schen Öffentlichkeit geführt wird, formu- zentrale Rolle. Eine hochentwickelte Wirt- Leitbild „die Problemwahrnehmung und - liert: das System des föderalen Ausgleichs schaftsregion wie Deutschland könne nur bewertung beeinflußt (und) einen wichti- soll nicht primär der Umverteilung zwi- bestehen, wenn sie die eigenen Stärken gen Faktor bei den Reformüberlegungen“ schen finanzstarken und finanzschwachen und Ressourcen effektiv nutze. Das wich- darstellt (Kesper 1998: 131). Das Leitbild Ländern dienen, sondern es sollen ange- tigste seien Bildung, Qualifikation und eines kooperativen Föderalismus bestimm- sichts eines globalen Wettbewerbs mit an- Kreativität; diese Themen gehören in den te die wissenschaftliche und politische deren Regionen den starken Ländern, die ureigenen Kompetenzbereich der Länder, Diskussion seit 1969 bis in die jüngste Zeit. ihre Ressourcen effizient nutzen, möglichst da diese für Schule, Hochschule, Bildung Die Finanzreform von 1969 wird als „Ge- ein großer Teil der eigenen Mittel verblei- und Forschung zuständig seien: „Es darf burtsstunde des kooperativen Föderalis- ben, damit diese Länder und damit das Ge- auch ruhig mehr Wettbewerb unter den mus“ (Henke/Schuppert 1993: 31) bezeich- samtsystem in der internationalen Konkur- deutschen Ländern sein; Wettbewerb der net. Die Kommission, die diese Reform be- renz bestehen können. In einer Beilage des politischen Ideen, mehr Wettbewerb der gründete, formulierte damals den berühm- Handelsblattes zum Förderalismus in Universitäten, Wettbewerb der Forscher ten Satz, daß der „Föderalismus unserer Deutschland im Frühjahr 1996 stellte Rena- und der Forschungseinrichtungen, Wett- Zeit nur ein kooperativer Föderalismus te Merklein, Mitglied im Herausgeberrat bewerb im Beseitigen von überholten sein“ könne.15 Diese spezifische Form des von Handelsblatt und Wirtschaftswoche, Vorschriften und Investitionshemmnissen, Föderalismus versteht sich – kurz gesagt – verwundert fest, daß der Föderalismus Wettbewerb in der kulturellen Vielfalt.“ als ein System der Zusammenarbeit zwi- deutscher Prägung „in den allerorten an- Ähnlich wie Stoiber weist auch Teufel dar- schen Bund und Ländern und den Ländern gestimmten Abgesängen auf den Wohl- auf hin, daß dieses Plädoyer für mehr untereinander zur Verfolgung des Gesamt- stand der Nation bislang noch nicht der Wettbewerb zwischen den Ländern wohls. Einzelne Institutionen wie vor allem Mitschuld an dem Übel angeklagt“ werde. „keine Absage an Gemeinsamkeit, an die Gemeinschaftsaufgaben nach Art. 91a, Ganz im Gegenteil: „Die Institutionen und Chancengerechtigkeit, an Gleichwertig- 91b GG und die Investitionshilfen des Bun- Personen, die das föderale Prinzip in der keit der Lebensverhältnisse, an einen ge- des nach Art. 104a GG, der Steuerverbund Bundesrepublik kenntlich und greifbar ma- rechten Finanzausgleich“ sei, sondern ein und die Regelung der Verteilung des Um- chen, sind sogar erstaunlich angesehen“ – Plädoyer für „mehr Vielfalt in der Ein- satzsteuerertrages (Art. 106 III, IV GG) kön- obwohl die Bundesrepublik Deutschland heit“.20 Diese ersten Hinweise von politi- nen als Ausdruck des kooperativen Bundes- sich vom „Idealtypus des föderal verfaßten scher Seite auf eine Neuorientierung des staatsverständnisses verstanden werden Staates sich (…) so weit entfernt (habe), föderalen Leitbildes wurde von den Mini- (vgl. Kesper 1998: 132). daß ihre föderalen Elemente nur noch sterpräsidenten Stoiber und Teufel und „Konkurrenz-“ oder „Wettbewerbsfödera- folkloristisch anmuten“.18 ihren Regierungen in der Folgezeit aufge- lismus“ als Gegenentwurf zum „kooperati- griffen und präzisiert.21 ven Föderalismus“ kann in Anlehnung an Der Vorstoß aus Baden-Württemberg Hartmut Klatt, der sich vor vielen Jahren und Bayern Die Klagen gegen den schon mit diesem Begriff auseinanderge- Finanzausgleich setzt hat, so verstanden werden, daß „im Etwa ein halbes Jahr später wurde der Zu- Bund-Länder-Verhältnis sowieim Verhältnis sammenhang von globalem Standort- Auch eine Reform des Länderfinanzaus- der Länder untereinander grundsätzlich wettbewerb und Föderalismus – freilich gleichs wurde angemahnt. Der Finanzaus-

110 gleich solle als „Hilfe zur Selbsthilfe“ die- den Zahlungen des Bundes den Sprung te um die Reformbedürftigkeit und Lei- nen und nicht als „Beihilfe zur Konkursver- auf Platz drei nach dem Finanzausgleich stungsfähigkeit des politischen Systems schleppung“.22 Im Dezember 1996 wurde geschafft. Die durch die jährlichen Trans- insgesamt lösten die Einlassungen des Prä- auf einer gemeinsamen Sitzung des fers bewirkten „Verschiebungen“ und die sidenten des Bundesverbandes der Deut- bayerischen und baden-württembergi- Entwicklung des Finanzausgleichs (Er- schen Industrie (BDI), Hans-Olaf Henkel, im schen Kabinetts der Regierungen Stoiber höhung des Finanzvolumens auch schon Sommer 1997 aus. Im Anschluß an die und Teufel vereinbart, gemeinsam für eine vor der Einbeziehung der ostdeutschen „Berliner Rede“ des Bundespräsidenten Änderung des Länderfinanzausgleichs ein- Länder in das Ausgleichssystems im Jahre Herzog vom April 1997 („Durch Deutsch- zutreten. Kritisiert wurde, daß das gelten- 1995) machten deutlich, daß „verfas- land muß ein Ruck gehen“), gab der BDI- de System des Länderfinanzausgleichs sungsrechtliche Intention und tatsächliche Präsident seinen Anstoß für die „System- dazu führe, daß die Empfängerländer Wirkungen“ weit auseinanderklafften. debatte“. Unter dem Titel Für eine Reform nach dem horizontalen (zwischen den Län- Die Länder, die bereits vor 27 Jahren fi- des politischen Systems fordert Henkel dern) und vertikalen (zwischen Bund und nanzschwach waren, seien dies auch dazu auf, sich mit der Frage zu befassen, einzelnen Ländern) Ausgleich finanziell heute noch. Die „extreme Haushaltsnotla- ob „ein Land mit unserer föderalen Struk- besser gestellt seien als die Geberländer.23 ge“, die das Bundesverfassungsgericht tur, mit sechzehn Bundesländern, einem Es wurde deshalb beschlossen, ein Gutach- dem Saarland und Bremen bescheinigt Verhältniswahlrecht überhaupt eine Chan- ten in Auftrag zu geben, das die Verfas- habe und die dazu führe, daß diese nicht ce hat, sich so schnell zu verändern wie an- sungsmäßigkeit der geltenden Regelun- mal in der Lage seien, ihren Aufgaben als dere. Wenn man sich auf Neuseeland, gen untersuchen solle. Am 14. Oktober Land eigenständig nachzukommen, Holland oder Schweden beruft, ist das Ge- 1997 wurde das von dem Mannheimer macht nach Ansicht des baden-württem- genargument schnell bei der Hand: ,Keine Professor Hans-Wolfgang Arndt (1997) er- bergischen Ministerpräsidenten eine Kunst’ sagen viele, ,dort ist das politische stellte Gutachten Finanzausgleich und Ver- „tiefgreifende Reform des Länderfinanz- System eben anders’. Wenn es aber so ist, fassungsrecht der Öffentlichkeit vorge- ausgleichs, im Grunde aber eine Neuglie- daß der Wettbewerb zwischen Standorten stellt. Im Kern stellte das Gutachten fest, derung der Länder in wirtschaftlich le- eine relative Veranstaltung ist, und daß das seit 1995 geltende Ausgleichssystem bensfähige und leistungsfähige Verbände wir selbst bei eigener Bewegung zurück- führe zu einer „massiven Veränderung der zwingend notwendig“. Für eine Reform fallen, wenn andere schneller auf die Her- Finanzkraftreihenfolge“ unter den Län- des Ausgleichssystems gebe es sehr gute ausforderungen der Globalisierung rea- dern und sei deshalb verfassungswidrig.24 verfassungspolitische und auch ökonomi- gieren als wir, dann müssen wir uns fragen, Dabei stützt sich das Gutachten auf den so- sche Gründe. Es gehe um das Selbstver- ob unser politisches System überhaupt genannten „Halbteilungsgrundsatz“, den ständnis der Länder, um deren Eigenstän- noch wettbewerbsfähig ist. (…) Jemand das Bundesverfassungsgericht in seinem digkeit, ihre finanzielle Selbständigkeit muß beginnen, über die Fähigkeit unseres Urteil vom 22. Juni 1995 zur Vermögen- und faktische Handlungsfähigkeit – und politischen Systems im Wettbewerb mit steuer postulierte, wonach der Staat sei- damit „im Kern um den Föderalismus anderen zu sprechen. Dazu gehört unsere nen Bürgern höchstens die Hälfte der Ein- selbst“. Im Ergebnis dieser Steuervertei- Verfassung. (…) Ich bin davon überzeugt, künfte nehmen darf. Arndt überträgt die- lung, so Teufel weiter, dokumentiere sich daß es bald an der Zeit ist, auch bei uns die ses Prinzip auf das Verhältnis zwischen Erfolg oder Mißerfolg der Wirtschafts- Systemdebatte auf höchster und vor allem Ländern und Gesamtstaat: Die Abgabe- und Strukturpolitik eines Landes. Diese kompetentester Stelle anzustoßen. Wer pflicht eines Landes müsse auf 50 Prozent primäre Intention der Verfassung werde wäre da geeigneter als Bundespräsident seiner überdurchschnittlichen Finanzkraft aber durch die extrem hohe Ausgleichsin- Roman Herzog!“ (Henkel 1997: 89-90). beschränkt bleiben. tensität des bestehenden Systems konter- Die Mehrzahl der ersten Reaktionen auf Mit der Einreichung von Organklagen kariert: „99,5 Prozent der durchschnitt- diese Auslassungen Henkels in Medien beim Bundesverfassungsgericht Ende Juli lichen Finanzkraft sind in jedem Fall auch und Öffentlichkeit war eindeutig ableh- 1998 durch Baden-Württemberg und Bay- für leistungsschwache Länder gewährlei- nend.26 Auch von politischer Seite wurde ern hat die Reformdiskussion einen vor- stet; finanzstarke Länder müssen derzeit Henkel nur von wenigen, wie etwa dem läufigen Höhepunkt erreicht. Diesem bis zu 80 Prozent ihrer überdurchschnittli- ehemaligen Hamburger Bürgermeister Schritt gingen aber eine Reihe von Versu- chen Finanzkraft ,abliefern‘.“ Dies führe Klaus von Dohnanyi, unterstützt. Eine chen, das Thema Finanzreform zwischen bei den Empfängerländern zwangsläufig Mehrzahl von Politikerinnen und Politiker, den Ländern zu regeln, voraus. Gleichzei- zu einer „Subventionsmentalität“. Es spre- die nach der Wünschbarkeit und Notwen- tig haben beide Südländer die Öffentlich- che vieles dafür, so Teufel, „diesen Gedan- digkeit einer grundlegenden Reform des keit über ihre Reformvorstellungen infor- ken der hälftigen Teilung auch auf die Föderalismus gefragt wurde, lehnte es ab, miert und es geschafft, die Frage nach der Zahlungsverpflichtungen finanzstarker die „Systemfrage“ zu stellen.27 Parallel zur Fairneß des bestehenden Länderfinanz- Länder im Rahmen des Länderfinanzaus- bzw. im Anschluß an die Diskussion, die ausgleichs auf die politische Agenda zu gleichs anzuwenden. (…) Im Ergebnis be- sich an den Vorschlägen von Henkel ent- setzen. Wenige Wochen nach der Vorstel- deutet dies, daß überdurchschnittliche Fi- zündet hatten, wurden aber konkretere lung des Arndt-Gutachtens unterstrich der nanzkraft allenfalls bis zur Obergrenze Reformüberlegungen in die öffentliche Stuttgarter Ministerpräsident Teufel in von 50 Prozent abgeschöpft werden darf“ Debatte eingebracht, die die Auseinan- einem Beitrag für die Frankfurter Allge- – und nicht bis zu einer Höhe von 80 Pro- dersetzung um Leistungsfähigkeit und Re- meine Zeitung die Kritik am Länder- zent der überdurchschnittlichen Finanz- formbedürftigkeit des Föderalimus nach- finanzausgleich.25 Die These, die in diesem kraft, wie es das geltende System vorsehe. haltiger geprägt haben als die polemi- Beitrag vertreten wird, lautet, tragendes Eine über die 50 Prozent hinaus gehende schen und wenig differenzierten Beiträge Prinzip des Ausgleichssystems gemäß Arti- Abschöpfung der finanzstarken Länder in der Diskussion des Sommers 1997. kel 107 des Grundgesetzes sei die Vertei- könne keinesfalls als „angemessen“ im In einem Zeitungsbeitrag lieferte Otto Graf lung der Steuern nach dem „örtlichen Sinne des Grundgesetzes angesehen wer- Lambsdorff ein umfangreiches „Plädoyer Aufkommen“ (GG), Finanzkraft-Unter- den und sei daher „verfassungswidrig“. für einen echten Föderalismus“.28 Das deut- schiede unter den Ländern würden dem- sche System könne allenfalls als „Scheinfö- zufolge toleriert. Die faktischen Auswir- Die „Systemdebatte“ oder deralismus“ bezeichnet werden. Zwei kungen des bestehenden Ausgleich- ist der deutsche Föderalismus scheinbar gegenläufige Entwicklungen systems widersprächen diesem Prinzip, da noch wettbewerbsfähig? (Verlagerung der Kompetenzen auf den Baden-Württemberg 1996 vor Finanzaus- Bund und verstärkte Mitwirkung der Län- gleich in der Reihenfolge der Länder auf Die Diskussion um den Länderfinanzaus- der an der Bundesgesetzgebung über den Platz drei (hinter Hamburg und Hessen) gleich, wie sie von Bayern und Baden- Bundesrat) hätten zu diesem „unechten gelegen habe und nach dem Finanzaus- Württemberg angestoßen wurde, fand in Föderalismus“ geführt. Eine Reform des fö- gleich „überraschenderweise“ auf Platz der politischen und publizistischen Öffent- deralen System müsse sich von zwei 15, vor Bayern, das auf Platz 16 zurückge- lichkeit Zustimmung und Unterstützung Grundsätzen leiten lassen: Verantwortung fallen war. Dagegen habe das Saarland – von verschiedenen Seiten, ebenso aber von Aufgaben, Einnahmen und Ausnah- vor Ausgleich auf Platz elf – mit Hilfe der auch Kritik. Eine breiter und an die Grund- men in einer Hand, und dem Prinzip eines Zahlungen der finanzstarken Länder und festen des Bundesstaates gehende Debat- föderalen Wettbewerbs. Das erstgenannte

111 Prinzip habe sich in den USA und in der staat das, was die wirkliche Struktur am Reformbedürftigkeit und ein inhärentes Schweiz bewährt. Eine Vielfalt der Länder entscheidensten bestimmt“. Wenn man Spannungsverhältnis sind also zentrale und Unterschiedlichkeit der Lebensverhält- die öffentliche Diskussion um den Länder- Wesensmerkmale des Bundesstaates.32 nisse würden in diesen Systemen als „fö- finanzausgleich und den Föderalismus ins- Eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe auf Re- derale Tugend“ angesehen. Das deutsche gesamt in jüngster Zeit verfolgt hat, wird gierungsebene, wie sie im Dezember 1998 Modell dagegen folge dem „Leitbild der man sich fragen müssen, ob die von ein- beschlossen wurde, soll die „bundesstaat- Gleichheit“. Der zweite Grundsatz, das zelnen Ländern angestrebte Veränderung liche Aufgaben-, Ausgaben- und Einnah- Prinzip eines föderalen Wettbewerbs, der der föderalen Finanzbeziehungen in die- menverteilung einschließlich der beste- einer Föderalismusreform zugrunde liegen sem Sinne auch zu einem Wandel der henden Regelungen der Finanzverfassung solle, würde dazu führen, so Lambsdorff, „wirklichen Struktur“ des deutschen Bun- und des Länderfinanzausgleichs“ prüfen. daß die verschiedenen Bundesländer die desstaates führen wird. Die Mehrzahl der Nach einer „länderinternen“ Vorberei- unterschiedlichen Vorstellungen ihrer Ein- Experten ist da eher skeptisch. Ob eine tung soll eine gemeinsame Kommission wohner stärker berücksichtigen würden. weitreichende Reform des Föderalismus in von Bundestag und Bundesrat mit den Ein föderaler Wettbewerb als „Ent- Richtung „Trennsystem“ und „Wettbe- dann vorliegenden Ergebnissen befaßt deckungs-Verfahren“ ermögliche, die werbsföderalismus“ zu verwirklichen ist, werden. Dieses Vorgehen wird allen betei- neue, überlegene Wirtschaftspolitik einzel- beruht auf verschiedenen Annahmen. So ligten Akteuren Gelegenheit geben, mög- ner Bundesländer festzustellen, erfolgrei- wird eingewandt, die der ökonomischen liche Reformschritte zu diskutieren und che Aufgabenlösungen nachzuahmen, Theorie des Föderalismus oder dem US- vor allem auf ihre politische Realisierbar- aber auch Folgewirkungen von Fehlschlä- amerikanischen Modell des „dual federa- keit hin zu überprüfen – denn wenn es gen zu begrenzen. Dadurch könnten „ähn- lism“ entlehnten Prämissen vieler Reform- stimmt, daß der Wettbewerbsföderalis- liche Lebensverhältnisse“ herbeigeführt ansätze seien nicht auf die politische und mus eine „institutionelle Totalreform“ werden – und nicht durch einen „nivellie- rechtliche Situation des deutschen Bun- (Klatt in diesem Heft) voraussetzt, dann renden Finanzausgleich“. Dies liefert das desstaates übertragbar. Die Kritik an der werden Fragen der Machbarkeit konkre- Stichwort für eine nächste Etappe in der Ausrichtung der Reformdebatte wird ter Veränderungen im Bundesstaat eine Auseinandersetzung um Sinn und Zweck etwa von dem Rechtswissenschaftler Ste- größere Rolle spielen als dies in der öf- des bestehenden System des Ausgleichs. fan Korioth (1997: 444) so formuliert: fentlichen Debatte bislang geschah. Aber „Die Diskussion um die Zukunft des Bun- auch diese notwendige Diskussion um die Vor dem Bundesverfassungsgericht desstaates legt einen teils modelltheore- Machbarkeit bestimmter Reformen wird tisch, teils ideologisch verfügten Bundes- nicht zu trennen sein von ihrer „Wünsch- Ende Juli 1998 haben Baden-Württem- staatsbegriff zugrunde, der die unitari- barkeit“ von seiten bestimmter Akteure, berg und Bayern dann Organklagen beim sche Anlage des grundgesetzlichen Bun- denn entsprechende substanteille Struk- Bundesverfassungsgericht eingereicht, desstaates als pathologischen Zustand der turreformen sind „vor allem“ (!) von der mit denen das Gesetz über den Finanzaus- Verfassungswirklichkeit vorführt.“ Überprüfung des „föderalen Selbstver- gleich zwischen Bund und Ländern auf- Was bleibt dann aber, wenn andere Mo- ständnisses“ (Ottnad/Linnartz 1997: 17) grund seiner überzogenen Ausgleichswir- delle des Föderalismus offensichtlich nur abhängig. Die Autoren der IWG-Studie kung als Verstoß gegen das im Grundge- bedingt taugen für eine Übertragung auf zur Reform des Länderfinanzausgleichs setz festgeschriebene Gebot eines „ange- die hiesigen Verhältnisse? Es bleibt die Be- und der Neugliederung gehen davon aus, messenen Ausgleichs“ gesehen wurde. obachtung, daß institutionellen Reformen daß eine grundlegende institutionelle Re- Die beiden Ministerpräsidenten Stoiber in modernen Industriestaaten prinzipiell form des Föderalismus nicht ohne eine und Teufel betonten, daß neben der Grenzen gesetzt sind – dies gilt auch und Neudefinition des föderalen Leitbildes zu Klage in Karlsruhe die Anstrengungen für gerade für den deutschen Föderalismus, erwarten ist. Nach allem, was zum jetzi- eine „politische Lösung“ vorangetrieben weil hier ja genau die politischen Einhei- gen Zeitpunkt gesagt werden kann, ist würden. Dieses Vorgehen sei auch keine ten, also die Länder, einer Reform zustim- diese Neudefiniton noch lange nicht ab- Absage an das Prinzip der Solidarität im men müssen, deren institutionelle und fi- geschlossen. Bundesstaat.29 Genau dies aber wird von nanzielle Eigeninteressen durch eine sol- Kritikern unterstellt.30 Es wird erwartet, che Reform des Länderfinanzausgleichs daß aufgrund der elementaren Bedeu- beeinträchtigt werden (vgl. Scharpf 1987: Anmerkungen tung dieser Frage für das politische System 124). Diese Dilemma-Situation wird die der Bundesrepublik die Verfassungsrichter beteiligten Akteure, also Geber- wie Neh- * Ich möchte mich bei Herrn Freund, Dr. Kreuder und Dr. Clostermeyer für die übersandten Materialien die Sache nicht „auf die lange Bank“ merländer, aber nicht daran hindern (dür- sehr herzlich bedanken. schieben werden, sondern schon bald ein fen), in einem politischen Tausch- und 1 Zu den Auswirkungen der Globalisierung auf den Aushandlungsprozeß einen für alle ak- deutschen Föderalismus vgl. Deeg (1996). Urteil ergehen wird. 2 Vgl. dazu im einzelnen König (1997) und Lhotta Inzwischen hat auch das Land Hessen zu zeptablen Interessenausgleich zu suchen (1998). Beginn des Jahres 1999 eine Normenkon- und zu institutionalisieren. Denn dieser 3 Vgl. stellvertretend für die insgesamt positive Würdi- gung des Föderalismus anläßlich der 40-Jahrfeier der trollklage in Karlsruhe vorgelegt, in der Ausgleich bzw. Konflikt widerstreitender Verabschiedung des Grundgesetzes durch den Bei- Hessen sich nicht wie Baden-Württemberg Interessen gehört zum Wesenskern des trag des nordrhein-westfälischen Ministerpräsiden- ten Rau (1989: 148), der einer Würdigung des deut- und Bayern auf den sogenannten Halbtei- Föderalismus, der nach allgemeinem Ver- schen Föderalismus durch den Politikwissenschaftler lungsgrundsatz beruft und ihn auf das Sy- ständnis keine zementierte politische Ord- Kurt Sontheimer zustimmt: „Billig ist der deutsche Fö- stem des Finanzausgleichs überträgt, son- nung darstellt, sondern jeweils nur „zeit- deralismus nicht, aber der Preis, den wir für ihn ent- richten, ist gewiß nicht zu hoch, mißt man ihn an den dern versucht, die Verfassungswidrigkeit räumlich begrenzt die jeweils akzeptierte Kosten einer zentralistischen Ordnung.“ des bestehenden Ausgleichssystems auf Machtbalance unterschiedlicher intra- 4 Papier „Finanzausgleich mittelfristig reformieren, aber nicht zerschlagen“ von Dr. Wilma Simon, Mini- der Basis der vom Bundesverfassungsge- oder interstaatlicher Beziehungen“ (Schu- sterin der Finanzen des Landes Brandenburg unter richt selbst aufgestellten Anforderungen bert 1994: 42) reflektiert. Begreift man Mitarbeit von Ministerialdirigentin Angela Nottel- mann und Ministerialrat Martin Braun, März 1998 (in an einen verfassungsgemäßen Ausgleich den Föderalismus und die bundesstaatli- Auszügen veröffentlicht in Frankfurter Rundschau zu begründen. Parallel zu der Klage kün- che Ordnung in diesem Sinne als „dynami- vom 12. 03. 1998). digte die hessische Regierung für den Au- sches System“ (Benz 1985), so sind Korrek- 5 Die folgenden Ausführungen beziehen sich auf die instruktiven Arbeiten von Braun (1998), Jachtenfuchs gust 1999 ein Gutachten des Gießener Fi- turen und Veränderungen institutioneller (1993,1995) und Schneider (1992), mit jeweils zahlrei- nanzwissenschaftlers Wolfgang Scherf an, und ideeller Art normal und unausweich- chen weiterführenden Literaturangaben. 6 Meine Hervorhebung das Vorschläge für die Diskussion um eine lich. Die „föderale Balance“ zu suchen 7 Vgl. zum folgenden Reissert (1995). Neuregelung des Solidarpaktes unterbrei- und auf begrenzte Zeit zu institutionali- 8 Vgl. dazu ausführlich etwa Grimm (1996). ten soll.31 sieren, gehört zur Geschichte des deut- 9 Vgl. zum folgenden Kapitel 4.2 bei Schmidt (1994) und die entsprechenden Verweise auf weitere Litera- schen Bundesstaates seit eh und je, eben- tur. Korrekturen sind normal und so wie die Auseinandersetzung um die 10 Vgl. dazu allgemein Klatt (1982). 11 Lehmbruch hat 1998 eine stark überarbeitete Fas- unausweichlich – mehr nicht „richtige“ Aufteilung von Kompetenzen sung dieser Schrift vorgelegt, die an der ursprüngli- und Ressourcen und die „Angemessen- chen These weitgehend festhält; vgl. Lehmbruch (1998). Nach Max Weber (1988: 480) sind „die Fi- heit“ des finanziellen Ausgleichs zwischen 12 Kritisch zur These von der „Politikverflechtungs- nanzverhältnisse (…) in einem Bundes- Bund und Ländern. Falle“ vgl. Schmid (1987).

112 13 Vgl. dazu und zum folgenden Habermas (1973) und phan von Bandemer und Göttrik Wewer (Hrsg.), Regie- Männle (Hrsg.) 1998, 79–91. Sturm/Billing (1994). rungssystem und Regierungslehre, Opladen, 181–192. Lhotta, Roland, 1999: Deutsche Staatsrechtslehre und 14 Zur Unterscheidung von „Sozialintegration“ und „Sy- Benz, Arthur, 1998: Postparlamentarische Demokratie? Föderalismus: Theoretisches Vakuum und dogmatische stemintegration“ vgl. Habermas (1973: 14): „Von so- Demokratische Legitimation im kooperativen Staat, in: Stagnation; Beitrag für die Hamburger Föderalismus-Ta- zialer Integration sprechen wir im Hinblick auf Insti- Michael Greven (Hrsg.), Demokratie – eine Kultur des gung (Prof. Dr. Rainer Prätorius) vom 04.–06. 02. 1999, tutionensysteme, in denen sprechende und handeln- Westens?, Opladen, 201–222. unv. Ms. de Subjekte vergesellschaftet sind; Gesellschaftssyste- Braun, Dietmar, 1996: Der bundesdeutsche Föderalismus Mackenstein, Hans/Jeffery, Charlie, 1999: Financial Equa- me erscheinen hier unter dem Aspekt einer Lebens- an der Wegscheide. Interessenkonstellationen, Akteurs- lization in the 1990s: On the Road Back to Karlsruhe?, in: welt, die symbolisch strukturiert ist. Von Systeminte- konflikte und institutionelle Lösungen, in: Staatswissen- Charlie Jeffery (ed.), Recasting German Federalism. The gration sprechen wir im Hinblick auf die spezifischen schaften und Staatspraxis, 7. Jg., H. 2,101–135. Legacies of Unification, London, New York, 155–176. Steuerungsleistungen eines selbstgeregelten Sy- Braun, Dietmar, 1998: Der Einfluß von Ideen und Über- Männle, Ursula (Hrsg.), 1998: Föderalismus zwischen stems.“ – Dies macht deutlich, daß bei der aktuellen zeugungssystemen auf die politische Problemlösung, in: Konsens und Konkurrenz. Tagungs- und Materialien- Diskussion um die „Krise des Föderalismus“ von den Politische Vierteljahresschrift, 39. Jg., H. 4, 797–818. band zur Fortentwicklung des deutschen Föderalismus, Befürwortern einer weitreichenden Reform der Bun- Calliess, Christian, 1997: Die Justitiabilität des Art. 72 Baden-Baden. desstaat vor allem unter steuerungstheoretischen Abs. 2 GG vor dem Hintergrund von kooperativem und Münch, Ursula, 1998: Konkrete Reformansätze in der Aspekten der Systemintegration betrachtet wird und kompetitivem Föderalismus, in: Die Öffentliche Verwal- Kontroverse; Papier für die Tagung der Evangelischen weniger oder gar nicht unter Aspekten der Sozialin- tung, 50. Jg., H. 21, 889–899. Akademie Loccum „Verflochten und verschuldet. Zum tegration (symbolische Bedeutung des Föderalismus). Deeg, Richard, 1996: Economic Globalization and the (finanz-)politischen Reformbedarf des deutschen Fö- 15 Zitiert nach Kesper (1998: 132), dort weitere Litera- Shifting Boundaries of German Federalism, in: Publius, deralismus in Europa“ vom 28.–30. 10. 1998, Loccum. turnachweise. Vol. 26, No. 1, 27–52. Ottnad, Adrian/Linnartz, Edith, 1997: Föderaler Wettbe- 16 Vgl. dazu Korioth (1997: 438) und den Beitrag von Dettling, Warnfried, 1997: Und die Deutschen bewegen werb statt Verteilungsstreit. Vorschläge zur Neugliede- Klatt in diesem Heft. sich doch, in: Die Zeit vom 03. 10. 1997. rung der Bundesländer und zur Reform des Finanzaus- 17 Die ökonomische Theorie des Föderalismus beschäf- Grimm, Dieter, 1996: Der Wandel der Staatsaufgaben gleichs, Frankfurt, New York. tigt sich primär mit der Frage, wie aus ökonomischer und die Zukunft der Verfassung (1990), in: ders. (Hrsg.), Postlep, Rolf-Dieter/Döring, Thomas, 1996: Entwicklun- Sicht eine „optimale“ Kollektivgröße zur Herstellung Staatsaufgaben, Baden-Baden, 613–646. gen in der ökonomischen Föderalismusdiskussion und und Verteilung öffentlicher Güter bestimmt werden Habermas, Jürgen, 1973: Legitimationsprobleme im im föderativen System der Bundesrepublik Deutschland, kann. Vgl. dazu ausführlich Korioth(1997: 2. Kapitel, Spätkapitalismus, Frankfurt am Main. in: Rolf-Dieter Postlep (Hrsg.), Aktuelle Fragen zum Fö- V.2.c) und Postlep/Döring (1996) mit entsprechenden Henke, Klaus-Dirk/Schuppert, Gunnar Folke, 1993: deralismus. Ausgewählte Probleme aus Theorie und Pra- Literaturnachweisen. Rechtliche und finanzwissenschaftliche Probleme der xis des Föderalismus, Marburg, 7–44. 18 Vgl. Renate Merklein: Föderalismus in Deutschland: Neuordnung der Finanzbeziehungen von Bund und Län- Poß, Joachim, 1998: Finanzverfassung: Eine strikte Tren- Nur noch eine sehr teure Folklore?, in: Handelsblatt- dern im vereinten Deutschland, Baden-Baden. nung von Bund und Ländern wäre absurd; Manuskript Analyse vom 21. 03. 1996. Henkel, Hans-Olaf, 1997: Für eine Reform des politischen des finanzpolitischen Sprechers der SPD-Bundestags- 19 Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bun- Systems, in: Manfred Bissinger (Hrsg.), Stimmen gegen fraktion, 18. 12. 1998 (stark gekürzt veröffentlicht in desregierung, Nr. 91 vom 14. 11. 1996, S. 990. den Stillstand. Roman Herzogs „Berliner Rede“ und 33 Frankfurter Rundschau vom 17. 12. 1998). 20 Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bun- Antworten, Hamburg, 87–90. Rau, Johannes, 1989: Der Föderalismus in der Be- desregierung, Nr. 91 vom 14. 11. 1996, S. 991–992. Hesse, Joachim Jens, 1998: Die bundesstaatliche Ord- währung, in: Wilhelm Bleek und Hanns Maull (Hrsg.), Ein 21 Vgl. etwa die Interviews mit Erwin Teufel in der Süd- nung zwischen Vereinigung und Europäisierung – The- ganz normaler Staat? Perspektiven nach 40 Jahren Bun- west Presse vom 07. 11. 1996 („Das Hausgut des Fö- sen in: Ursula Männle (Hrsg.) 1998, 41–47. desrepublik, München, Zürich, 128–151. deralismus wahren“) und mit der Süddeutschen Zei- Hesse, Konrad, 1962: Der unitarische Bundesstaat, Karls- Reissert, Bernd, 1995: Artikel „Politikverflechtung“, in: tung vom 17. 03. 1998 („Wir zahlen, zahlen, zahlen“). ruhe. Dieter Nohlen (Hrsg.), Wörterbuch Staat und Politik 22 Stoiber, nach Frankfurter Allgemeine Zeitung vom Hidien, Jürgen W., 1998: Die Verteilung der Umsatzsteu- Neuausgabe, Bonn (Bundeszentrale für politische Bil- 29. 11. 1996, S. 5. er zwischen Bund und Ländern, Baden-Baden. dung), 555–557. 23 Zu den Einzelheiten des Länderfinanzausgleichs siehe Homeyer, Immo von, 1998: Zukunft des Föderalismus: Renzsch, Wolfgang, 1997: Einheitlichkeit der Lebensver- den Beitrag von Wolfgang Renzsch in diesem Heft Mehr Wettbewerb, weniger Solidarität?, in: Gegen- hältnisse oder Wettbewerb der Regionen? Sechs Thesen und Huber (1997). wartskunde, 47. Jg., H. 1, 91–100. zur Konkurrenz grundlegender Prinzipien im Bundes- 24 Vgl. zum folgenden auch Homeyer (1998). Hrbek, Rudolf, 1986: Doppelte Politikverflechtung: staat, in: Staatswissenschaften und Staatspraxis, 8. Jg., H. 25 „Der gegenwärtige Finanzausgleich pervertiert den Deutscher Föderalismus und Europäische Integration. 1, 87–108. Föderalismus: Gleichmacherei statt Solidarität“ von Die deutschen Länder im EG-Entscheidungsprozeß, in: Scharpf, Fritz W./Reissert, Bernd/Schnabel, Fritz, 1976: Erwin Teufel in der FAZ vom 19. 12. 1997, S. 5. Rudolf Hrbek und Uwe Thaysen (Hrsg.), Die Deutschen Politikverflechtung: Theorie und Empirie des kooperati- 26 Vgl. etwa Günter Frankenberg: „Verfassung als Länder und die Europäischen Gemeinschaften, Baden- ven Bundesstaates in der Bundesrepublik, Kronberg/Ts. Standortnachteil. Soll jetzt auch noch das Grundge- Baden, 17ff. Scharpf, Fritz W., 1985: Die Politikverflechtungs-Falle: setz verschlankt werden?“, in: Die Zeit vom 18. 07. Hrbek, Rudolf, 1997: Die Auswirkungen der EU-lntegra- Europäische Integration und deutscher Föderalismus im 1997, S. 8 und Südddeutsche Zeitung vom 11. 07. tion auf den Föderalismus in Deutschland, in: Aus Politik Vergleich, in: PVS, 26. Jg., H. 4, 323–356. 1997, S. 4 („Der Staat als Beute“). und Zeitgeschichte, B 24/97, 12–21. Scharpf, Fritz W., 1987: Grenzen der institutionellen Re- 27 Vgl. den Bericht im Nachrichtenmagazin Der Spiegel Huber, Bernd, 1997: Der Finanzausgleich im deutschen form, in: Thomas Ellwein u.a. (Hrsg.) Jahrbuch zur Nr. 30/1997 („Der Rambo von Bonn“) und den Beitrag Föderalismus, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 24/97, Staats- und Verwaltungswissenschaft, Band 1, Baden- von Rita Süssmuth in der Frankfurter Allgemeinen 22–30. Baden, 111–151. Zeitung vom 05. 08. 1997, S. 8 („Verhandeln, aushan- Jachtenfuchs, Markus, 1993: Weltbilder als Kategorie Scharpf, Fritz W., 1997: Nötig, aber ausgeschlossen: Die deln – Pflicht der Politik“). der politischen Analyse; MZES Arbeitspapier AB lll, Nr. 2, Malaise der deutschen Politik, in: Frankfurter Allgemei- 28 Süddeutsche Zeitung vom 01. 09. 1997. Ähnliche Ar- Mannheim. ne Zeitung vom 05. 06. 1997, S. 35. gumentationsgänge finden sich in folgenden Beiträ- Jachtenfuchs, Markus, 1995: Ideen und internationale Schmid, Josef, 1987: Wo schnappt die Politikverflech- gen und Reformvorschlägen: Dieter Puchta: Mehr Beziehungen, in: Zeitschrift für Internationale Beziehun- tungsfalle eigentlich zu? Kritische Anmerkungen zu Autonomie für Länder und Gemeinden, in: FAZ vom gen, 2. Jg., H. 2, 417–442. einer These von F.W. Scharpf, in: PVS, Jg. 28, 446–452. 28. 06. 1997; Thilo Sarrazin: Zum Leichtsinn verführt: Kesper, Irene, 1998: Bundesstaatliche Finanzordnung. Schmidt, Manfred G., 1994: Politikverflechtung zwischen Der Finanzausgleich bedarf einer grundlegenden Re- Grundlagen, Bestand, Reform, Baden-Baden. Bund, Ländern und Gemeinden (Fernuniversität Hagen). form, in: DIE ZEIT vom 11. 07. 1997; Rolf Peffekoven: Kilper, Heiderose/Lhotta, Roland, 1996: Föderalismus in Schneider, Hans-Peter, 1998: Nehmen ist seliger als Die deutschen Länder am kollektiven Tropf, in: FAZ der Bundesrepublik Deutschland, Opladen. Geben. Oder: Wieviel „Förderalismus“ verträgt der Bun- vom 18. 04. 1998; das Positionspapier von Walter Kisker, Günter, 1985: ideologische und theoretische desstaat?, in: NJW, Heft 51, 3757–3759. Döring (FDP): „Wie die Krise des Föderalismus über- Grundlagen der bundesstaatlichen Ordnung in der Bun- Schneider, Heinrich, 1992: Europäische Integration – die wunden werden kann“ vom 12. 06. 1998; das Papier desrepublik Deutschland – Zur Rechtfertigung des Fö- Leitbilder und die Politik, in: Michael Kreile (Hrsg.), Die der Reformkommission Soziale Marktwirtschaft „Re- deralismus, in: Probleme des Föderalismus. Deutsch-ju- Integration Europas (PVS-Sonderheft 23), Opladen, form der Finanzverfassung“ der Bertelsmann, Heinz goslawisches Symposium vom 19.–21. 03. 1984 in Bel- 3–35. Nixdorf und Ludwig-Erhard-Stiftung vom Juli 1998; grad, Tübingen, 23–37. Schubert, Klaus, 1994: Föderalismus im Spannungsfeld Stefan Homburg: Im Gewirr der Kompetenzen: Der Klatt, Hartmut, 1982: Parlamentarisches System und von Politik und Wissenschaft, in: Tilman Evers (Hrsg.), Finanzausgleich ist das Ergebnis fauler Kompromisse, bundesstaatliche Ordnung: Konkurrenzföderalismus als Chancen des Föderalismus in Deutschland und Europa, in: FAZ vom 31. 10. 1998 und kritisch zu dieser Re- Alternative zum kooperativen Bundesstaat, in: APuZ, B Baden-Baden, 33–44. formdiskussion der Vizepräsident des Bundesverfas- 31/82, 3–24. Stamm, Barbara/Merkl, Gerhard, 1998: Kompetitiver Fö- sungsgerichts, Hans-Jürgen Papier: Der unitarische Klatt, Hartmut, 1997: Die föderalstaatliche Struktur ist deralismus: Ordnungsprinzipien, historische und verfas- Bundesstaat. Einer Reföderalisierung, der Bundesre- reformbedürftig – Beispiel: Horizontaler Finanzaus- sungspolitische Grundlagen, politische Konsequenzen, publik sind Grenzen gesetzt, in: FAZ vom 05. 11. 1998. gleich, in: Gegenwartskunde, 46 Jg., H. 3, 309–320. in: Zeitschrift für Rechtspolititk, 31. Jg., H. 12, 467–475. 29 Vgl. das Positionspapier des Landes Baden-Württem- König, Thomas, 1997: Politikverflechtungsfalle oder Par- Sturm, Roland/Billing, Peter, 1994: Art. „Krisentheoreti- berg und des Freistaats Bayern „Stärkung der Eigen- teiblockade? Das Potential für politischen Wandel im sche Ansätze“, in: Lexikon der Politik, Band 2, Politikwis- verantwortung der Länder – Reform der Finanzver- deutschen Zweikammersystem, in: Staatswissenschaften senschaftliche Methoden, hrsg. von Jürgen Kriz, Dieter fassung“, 25. 06. 1998 und Staatsanzeiger für Baden- und Staatspraxis, 8. Jg., H. 2, 135–159. Nohlen und Rainer-Olaf Schultze, München, 227–229. Württemberg vom 29. 06. 1998. Korioth, Stefan, 1996: Die bundesstaatliche Finanzver- Sturm, Roland, 1998: Föderalismus als demokratisches 30 Vgl. dazu etwa Pressemitteilung der AG Finanzen der fassung ist besser als ihr Ruf, in: Wirtschaftsdienst, H. 7, Prinzip in Deutschland und Europa, in: Max Vollkommer SPD-Fraktion im Bundestag vom 21. 09. 1998 und 339–344. (Hrsg.), Föderalismus – Prinzip und Wirklichkeit. Atzels- Wieland (1999). Korioth, Stefan, 1997: Der Finanzausgleich zwischen berger Gespräche 1997, Erlangen, 7–16. 31 Vgl. dazu die Presseinformation der Hessischen Lan- Bund und Ländern, Tübingen. Vesper, Dieter, 1998: Länderfinanzausgleich – besteht desregierung vom 29. 12. 1998 (Nr. 220/1998) bzw. Laufer, Heinz/Münch, Ursula, 1997: Das föderative Sy- Reformbedarf?, in: WSI Mitteilungen, H. 11, 762–771. vom 15. 01. 1999 (Nr. 8/1999). stem der Bundesrepublik Deutschland (Bundeszentrale Volkmann, Uwe, 1998: Bundesstaat in der Krise?, in: Die 32 Vgl. dazu etwa auch Hidien (1998: 413) und Korioth für politische Bildung), Bonn. Öffentliche Verwaltung, 51. Jg., H. 15, 613–623. (1996: 258). Lehmbruch, Gerhard, 1976: Parteienwettbewerb im Wachendorfer-Schmidt, Ute, 1998: Föderalismus und Fi- Bundesstaat, Stuttgart u.a. nanzverfassung, in: Ursula Männle (Hrsg.) 1998, 57–71. Lehmbruch, Gerhard, 1998: Parteienwettbewerb im Weber, Max, 1988: Deutschlands künftige Staatsform Bundesstaat. Regierungssysteme und Spannungslagen (1919), in: ders., Gesammelte Politische Schriften, 5. Literaturhinweise im Institutionengefüge der Bundesrepublik Deutsch- Aufl., Tübingen, 448–483. land, 2., erweiterte Auflage, Wiesbaden/Opladen. Wehling, Hans-Georg, 1997: Ist der Föderalismus repara- Abromeit, Heidrun, 1992: Der verkappte Einheitsstaat, Lhotta, Roland, 1993: Der „verkorkste Bundesstaat“ – turbedürftig?, in: Das Parlament, Nr. 38, 12. 09. 1997, 13. Opladen. Anmerkungen zur bundesstaatlichen Reformdiskussion, Wieland, Joachim (unter Mitarbeit von Johannes Heller- Arndt, Hans-Wolfgang, 1997: Finanzausgleich und Ver- in: Zeitschrift für Parlamentsfragen, Bd. 24, H. 1, mann), 1999: Aktuelle finanzverfassungsrechtliche Fra- fassungsrecht; Gutachten für das Land Baden-Württem- 117–132. gen des bundesstaatlichen Finanzausgleichs sowie der berg und den Freistaat Bayern, unveröffentlichtes Ma- Lhotta, Roland, 1997: Der Staat als Wille und Vorstel- zugrunde liegenden Steuerverteilung; Rechtsgutachten nuskript, Mannheim. lung: Die etatistische Renaissance nach Maastricht und erstattet im Auftrag der Länder Berlin, Bremen, Nieder- Benz, Arthur, 1985: Föderalismus als dynamisches Sy- ihre Bedeutung für das Verhältnis von Staat und Bun- sachsen, Saarland und Schleswig-Holstein, Januar 1999, stem. Zentralisierung und Dezentralisierung im föderati- desstaat, in: Der Staat, 36. Bd., H. 2,189–210. unv. Ms. ven Staat, Opladen. Lhotta, Roland, 1998: Der „lästige“ Föderalismus: Über- Benz, Arthur, 1989: Regierbarkeit im kooperativen Bun- legungen zum konsensuellen „dead-lock“ am Beispiel desstaat. Eine Bilanz der Föderalismusforschung, in: Ste- von Bundesstaat und Vermittlungsausschuß, in: Ursula

113 „History matters“ Föderalismus als entwicklungsgeschichtlich geronnene Verteilungsentscheidungen Eine Reform des Bundesstaates ist kein ingenieurwissenschaftliches Problem

Von Gerhard Lehmbruch

Prof. Dr. Gerhard Lehmbruch lehrt Politik- Infolgedessen ist der deutsche Föderalis- wirken der Länder sogar noch verstärkt. und Verwaltungswissenschaft an der Uni- mus durch eine ausgeprägte „Pfadabhän- Damit werde „das staatliche Leben weit- versität Konstanz. 1998 erschien die er- gigkeit“ gekennzeichnet: einmal einge- hin durch Formen der Verständigung be- weiterte Neuauflage seines Buches: „Par- schlagene Entwicklungspfade lassen sich stimmt, die einer freiheitlichen Gesamt- teienwettbewerb im Bundesstaat. Regel- in der späteren geschichtlichen Entwick- ordnung sehr viel gemäßer seien als „An- systeme und Spannungslagen im Insti- lung nur sehr schwer korrigieren. ordnungen der Zentrale und damit For- tutionengefüge der Bundesrepublik men straffer Über- und Unterordnung“ Deutschland“ (Westdeutscher Verlag Op- Die Dominanz der (Hesse 1962, S. 21). laden/Wiesbaden, vgl. auch Besprechung). Gewaltenteilungsidee Dabei sei nicht mehr so sehr an die „verti- kale“ Gewaltenteilung zwischen Bund Zweifelhaft erscheint, ob die gegenwärti- Im Föderalismusdiskurs der „alten“ Bun- und Ländern zu denken, weil deren Wir- ge Diskussion über die Reform des Fö- desrepublik – also in den leitenden Ideen, kungen durch die Unitarisierung wesent- deralismus weitreichende Folgen haben um die sich das Reden vom Föderalismus lich abgeschwächt seien. Vielmehr trete wird. Von daher mag die Frage sinnvoller drehte – dominierte die Vorstellung, daß nun eben die horizontale Gewaltentei- sind, warum die spezifisch deutsche Form Föderalismus eine Form der Gewalten- lung zwischen Regierung und Regierungs- des Föderalismus sich als so beständig er- trennung und wechselseitigen Gewalten- mehrheit einerseits, parlamentarischer weist. Die Gründe dafür sind in der Ge- hemmung sei. Der Staatsrechtslehrer Ru- Opposition andererseits diejenige zwi- schichte zu suchen: Einmal eingeschla- dolf Smend hatte noch 1916 die Rechtfer- schen Bundestag und Bundesregierung ei- gene Entwicklungspfade sind allenfalls tigung des Bundesstaates darin gesehen, nerseits, Bundesrat andererseits, wobei partiell korrigierbar, aber nicht zu verlas- daß sich die deutschen Einzelstaaten „mit sich im Bundesrat „weniger das spezifisch sen, selbst wenn überlegenere Alternati- der ganzen Irrationalität ihrer geschicht- föderalistische Element der Länder als In- ven auftauchen sollten. Das gilt insbeson- lich-politischen Eigenart im Leben des Rei- dividualitäten als das Element der Landes- dere, wenn es um den institutionellen ches auswirken und zur Geltung bringen“ ministerialbürokratien“ zur Geltung brin- Bauplan eines Staates geht. So sind fö- sollten. Diese Zeit aber sei vorbei, schrieb ge (S. 27). Eben darin, daß die Länder über deralistische Strukturen das Ergebnis hi- 1962 der Verfassungsrechtler (und spätere den Bundesrat „das spezifische Element storischer Auseinandersetzungen über Bundesverfassungsrichter) Konrad Hesse der Verwaltung zur Geltung bringen“, den Zugang zu Ressourcen, über die Ver- in seiner viel beachteten und einflußrei- liege aber auch die Legitimation ihrer teilung von Macht. Ist hier einmal eine chen Broschüre „Der unitarische Bundes- Selbständigkeit und ihrer weitgehenden stabile Verteilung erreicht, neigt sie zur staat“: Die Einzelstaaten der Zeit nach Befugnisse. Eine Prämisse dieser Interpre- Dauerhaftigkeit, Änderungen erscheinen 1871 seien noch „echte, historisch ge- tation war damals freilich noch Hesses An- allenfalls in Krisensituationen und Um- wachsene Staatswesen mit je eigener, nahme, die „wohl kaum praktische Mög- bruchzeiten möglich. Das betrifft auch durch Geschichte, Stammesbewußtsein lichkeit einer Oppositionsmehrheit im den spezifisch deutschen Exekutivfödera- und angestammtes Herrscherhaus ge- Bundesrat“ könne vernachlässigt werden. lismus, die Finanzverfassung mit ihrem prägter Individualität“, doch den meisten Steuerverbund als auch die Frage der heutigen Bundesländern fehle es „an aller Die Entdeckung des Neugliederung der Länder. Red. Tradition und prägenden Kraft“, weil sie „Wettbewerbsföderalismus“ nach dem Zweiten Weltkrieg von den Be- Der real existierende deutsche Bun- satzungsmächten errichtet worden seien, Daß diese Prognose voreilig war, sollte desstaat als Produkt der Geschichte und damit hätten wichtige Grundideen sich schon am Ende der sechziger Jahre der älteren Vorstellungen von Bundes- zeigen, als die neu gebildete sozialliberale Der folgende Aufsatz will zeigen, daß den staat ihre Begründung verloren. Mittler- Regierung sich einer Oppositionsmehrheit neuen Leitvorstellungen in der Föderalis- weile verlangten die gewachsenen Ver- im Bundesrat konfrontiert sah. Konrad musdiskussion, die um den Begriff des flechtungen und Interdependenzen des Hesse hat denn auch seine These von der „Wettbewerbsföderalismus“ und um das wirtschaftlichen und sozialen Lebens und Funktion der Länderverwaltungen als Ge- Postulat der Entflechtung von Bundes- die dadurch gestiegenen Planungs-, Len- gengewicht damals stark abgeschwächt. und Länderkompetenzen wie auch von kungs- und Verteilungsaufgaben des Staa- Bezeichnend für die Dominanz der Gewal- Bundes- und Länderfinanzen kreisen, eine tes nach „Einheitlichkeit und Gleich- tenteilungsidee im Föderalismusdiskurs Föderalismusutopie zugrunde liegt. Diese mäßigkeit“, und deshalb müsse der Sozi- wurde dann aber, daß manche Verfas- Utopie hat zwar gravierende Funktions- alstaat zu einer weitgehenden Unitarisie- sungsrechtler sogar diese veränderte Kon- schwächen des deutschen Bundesstaats rung führen. Dem habe einerseits die stellation noch mit solchen Vorstellungen aufgedeckt und ins Bewußtsein der Öf- weitgehende Konzentration von Aufga- interpretierten und rechtfertigten: Die fö- fentlichkeit gerückt. Aber daraus folgt ben beim Bund Rechnung getragen, an- derative Ordnung sei heute „die wirksam- noch nicht, es ließe sich einfach dadurch dererseits aber auch – in den Bereichen, ste aller checks and balances of powers“, Abhilfe schaffen, daß man die bundes- wo den Ländern eigene Gestaltungsmög- denn „an die Stelle des zunehmend inef- staatlichen Institutionen sozusagen im in- lichkeiten verblieben seien – die Selbstko- fektiv werdenden Kontrollmechanismus genieursmäßigen Zugriff umbaut. Denn ordinierung der Länder. Dies bedeute von Parlament und Regierung tritt im bei dieser neuen Themenkonjunktur in aber, daß dank der fortbestehenden bun- Bund weitgehend derjenige von Regie- der Föderalismusdiskussion wird überse- desstaatlichen Struktur die unvermeidlich rung und Bundestagsmehrheit auf der hen, daß der real existierende deutsche gewordene sachliche Unitarisierung nicht einen Seite und Bundestagsopposition Bundesstaat das Ergebnis überaus kom- auch zur Zentralisierung geführt habe. und Bundesratsmehrheit auf der anderen plexer Aushandlungsprozesse und Kom- Vielmehr bleibe der gewaltenteilige Ef- Seite“ (Stern 1975, S. 25, 32). Als es nun promisse ist, und daß auch Veränderun- fekt der bundesstaatlichen Ordnung er- aber seit 1990/1991 zu einer Wiederho- gen nur auf diesem Wege möglich sind. halten und würde durch das Zusammen- lung dieser Konstellation mit umgekehr-

114 ten Vorzeichen kam, nämlich einer CDU- lismus wird verstanden als ein Mechanis- nicht mehr aufgelockert, und bezeichnen- geführten Bundesregierung und einem mus, den man umkonstruieren kann. Das derweise basieren ja selbst die heutigen von der SPD beherrschten Bundesrat, ist eine spezifisch deutsche Perspektive in Computertastaturen noch auf dem altehr- hörte man nichts dergleichen mehr aus der Föderalismusdiskussion. Reform wird würdigen System. Durch die weite Ver- dem Lager der konservativen Staatsrechts- hier sozusagen als ein ingenieurwissen- breitung des frühen, technisch unvoll- lehre. Es wäre aber wohl zu kurz gegrif- schaftliches Problem gesehen, und das kommenen Systems wurden also spätere fen, wollte man das bloß auf vordergrün- wird man in anderen Bundesstaaten in überlegene Technologien gleichsam aus- dige politische Sympathien zurückführen. dieser ausgeprägten Weise nicht finden. gesperrt. Denn inzwischen begann sich eine neue Erklären läßt sich diese sozialtechnologi- Beispiele dieser Art hat man seither auch Themenkonjunktur im Föderalismusdis- sche Schlagseite vor dem Hintergrund der bei zahlreichen anderen technologischen kurs durchzusetzen. Hatte Klaus Stern spezifisch deutschen Erfahrungen mit der Entwicklungen entdeckt, bis hin zur indu- 1975 die föderative Ordnung des Grund- Föderalismusentwicklung. Die Struktur striellen Kernkraftnutzung (David 1997). gesetzes noch in durchaus beifälligen des deutschen Bundesstaates war in der Wohlgemerkt, hier bedeutet Pfadabhän- Wendungen beschrieben als „von Anfang Vergangenheit (bis 1867) in wechselndem gigkeit nicht einfach eine streng determi- an nicht separativ, wie etwa in den USA, Maße gesteuert von den Interessen der nistisch festgelegte Entwicklung. Viel- also als Trennsystem, angelegt, sondern herrschenden Dynastien, die sich der mi- mehr engen vorangegangene Entschei- tendenziell kooperativ, also als Verbund- litärischen Gewalt aber auch der Familien- dungen die Optionsräume für spätere system“ (Stern 1975, S. 33), so wird eben politik bedienen konnten. Und seither Entscheidungen ein, die Veränderungs- dies heute als ein „Geburtsfehler“ des haben noch große kriegerische Machtver- spielräume sind also zwar gegeben, aber Bundesstaates bezeichnet (Abromeit schiebungen eine erhebliche Rolle ge- nur unter Berücksichtigung des Lock-in-Ef- 1992; Färber 1998, S. 2). Sowohl der über spielt, bis hin zu der großen Reorganisati- fektes. History matters, wie Paul David die Bundesratskonstruktion bewirkte Auf- on des deutschen Staates durch die Besat- dazu gesagt hat: Die Geschichte einer gabenverbund als auch der finanzwirt- zungsmächte nach dem Zweiten Welt- Technologie ist es, die über ihre Zukunft schaftliche Verbund sind zunehmend zum krieg. Ein oberflächlicher Blick auf die Ge- mit entscheidet. Und aus diesen Untersu- Gegenstand grundsätzlicher Kritik gewor- schichte kann hier also der Machbarkeits- chungen kann man für andere gesell- den, und die Schlüsselbegriffe des neuen perspektive Vorschub leisten. Bei genaue- schaftliche Bereiche in gleicher Weise fol- Föderalismusdiskurses lauten „Wettbe- rer historischer Betrachtung kommt man gern, daß sich manche Entwicklungen werbsföderalismus“ und „Entflechtung“. freilich zu ganz anderen Einsichten. auch dann nicht mehr entscheidend korri- Man könnte versucht sein, dieses Um- gieren lassen, wenn später überlegene Al- schlagen der Themenkonjunktur aus ver- Föderalismus als pfadabhängige ternativen sichtbar werden. Denn inzwi- änderten politischen Interessenlagen zu Struktur oder die Geschichte ent- schen haben sich komplexe Interdepen- erklären: Die konservativen Verteidiger scheidet auch über die Zukunft denzen zwischen Heerscharen autonomer des bundesstaatlichen Status quo wurden Akteure ausgebildet, die sich auf dem ein- der Kehrseite des Kooperations- und Ver- Betrachtet man die Entwicklung des deut- mal eingeschlagenen Entwicklungspfad handlungszwanges gewahr, seitdem sich schen Föderalismus, dann stößt man auf häuslich eingerichtet haben. Viele – wenn die SPD dank der Bundesratsmehrheit die- ein Phänomen, das Sozialwissenschaftler als nicht gar die meisten – von ihnen müßten ses Instruments bedienen konnte, um der „Pfadabhängigkeit“ bezeichnen. Pfadab- mit erheblichen Umstellungskosten rech- Regierung Kohl weitreichende Zuge- hängigkeit ist zuerst von Wirtschaftshisto- nen, wenn sie mit einer einschneidenden ständnisse abzufordern. Und als nach der rikern entdeckt worden, die sich mit der Änderung dieses Pfades konfrontiert wür- deutschen Vereinigung die Aufmerksam- Durchsetzung neuer Technologien be- den, und so lange man sie dafür nicht keit jäh auf die neuen Unterschiede zwi- schäftigen. Sie sprechen von einer spürbar entschädigt, werden sie am Status schen den Ländern und ihrer Finanzkraft „pfadabhängigen“ Entwicklung, wenn quo festhalten. gelenkt wurde, als vor allem die Legitima- eine einmal eingeführte Technologie Die angedeuteten Probleme begegnen tionsprobleme der Vereinigung beispiello- nicht mehr von überlegenen Alternativen uns mit besonderer Schärfe, wo wir es mit se Umverteilungsaktionen von West nach verdrängt werden kann, weil die zuerst grundlegenden Entscheidungen über den Ost erforderlich machten, entdeckten getroffene Option die weitere Entwick- institutionellen Bauplan eines National- viele (in den finanzstarken Ländern eben- lung gewissermaßen „einsperrt“ (Lock-in- staates zu tun haben, und hier insbeson- so wie bei den Steuerzahlern) den „Wett- Effekt). Das berühmt gewordene Muster- dere mit der Machtverteilung zwischen bewerbsföderalismus“ und die Vorzüge beispiel ist die Schreibmaschinentastatur, dem Zentrum und der Peripherie eines der „Regionalisierung“ (beispielsweise in bei der die Tastenfolge in der oberen Landes. Strukturen wie Föderalismus und derSozialversicherung). In der Tat mögen Buchstabenreihe mit QWERTZ (oder bei Einheitsstaat sind das Ergebnis von histori- diese Umstände manchen Meinungswan- der amerikanischen Tastatur mit QWERTY) schen Auseinandersetzungen – von Kämp- del befördert haben. Aber die Kritik am beginnt (David 1985). Sie wurde um 1870 fen oder Aushandlungsprozessen, Dikta- Verbundföderalismus war schon länger nach langen Versuchen eingeführt, weil ten oder Kompromissen über die Vertei- vorbereitet. Einerseits hat die politikwis- sich bei den frühen mechanischen Schreib- lung von Macht und den Zugang zu Res- senschaftliche Forschung über die „Poli- maschinen mit dieser Anordnung am ehe- sourcen. Wenn hier einmal eine stabile tikverflechtung“ seit der zweiten Hälfte sten das lästige Verhaken der Typenhebel Verteilung erreicht ist, dann tendiert sie der siebziger Jahre die Aufmerksamkeit vermeiden ließ. Seither konnte zwar ei- zur Dauerhaftigkeit, womöglich über auf die Defizite des Verbundföderalismus nerseits die Mechanik der Schreibmaschi- Jahrhunderte. Das gilt bekanntermaßen gelenkt (Scharpf u. a. 1976; 1977). Und nen erheblich verbessert (und schließlich für die zentralisierte Organisation des später richtete sich im Zusammenhang durch Elektrik und Elektronik ersetzt) wer- französischen Staates, erst recht für den mit der wirtschaftspolitischen „Wende“ den, andererseits wurden Tastatursche- englischen Einheitsstaat, wie andererseits der achtziger Jahre das Augenmerk auch mata erfunden, die ergonomisch weit für den schweizerischen Föderalismus. auf den „neuen Föderalismus“ seit der überlegen waren und sehr viel schnelleres Auch die französische Dezentralisierung Präsidentschaft Ronald Reagans, und be- Schreiben ermöglichten. Aber zu jener der letzten zwei Jahrzehnte oder die ge- scherte dann im Wege des Theorieimports Zeit, als Schreibmaschinen vor allem in plante devolution für Schottland und auch der ökonomischen Theorie des „Fi- Büros standen, konnten sich diese überle- Wales stellen den grundlegenden Bau- nanzföderalismus“ zunehmende Auf- genen Alternativen nicht durchsetzen, plan des französischen bzw. britischen Ge- merksamkeit (vgl. schon die Textsamm- weil inzwischen ein Millionenheer von meinwesens nicht in Frage. Dies alles sind lung in: Kirsch 1977). Angestellten das Schreiben mit der alten entwicklungsgeschichtlich geronnene Ver- QWERTY-Tastatur erlernt hatte – ein Ar- teilungsentscheidungen, die sich nicht Ein Mechanismus, den man einfach beitgeber, der das neue System beschaf- mehr prinzipiell korrigieren lassen, weil umkonstruieren kann? fen wollte, hätte zuerst alle seine Ange- sich inzwischen so viele Akteure auf diese stellten umschulen müssen. Als sich dann Strukturen eingestellt haben, daß man In der neuen Föderalismusreformdiskus- Schreibmaschinen auch für den Privatge- sich allenfalls über Korrekturen zweiter sion spielen sozialtechnologische Vorstel- brauch einbürgerten, hat das die inzwi- Ordnung innerhalb des pfadabhängigen lungen eine beherrschende Rolle. Födera- schen entstandenen Marktstrukturen Gesamtrahmens verständigen kann. Bezo-

115 gen auf das Verhältnis von Föderalismus Der Bundesrat als Ausdruck Ein „Kartell der Fürsten und und Parteienwettbewerb habe ich das an einer außerordentlichen Bürokratien“: Bismarcks anderer Stelle gezeigt (Lehmbruch 1998), historischen Kontinuität Verfassungskonstruktion aber es gilt auch für die aktuelle Forde- rung nach einer „Entflechtung“ des deut- Keine von Deutschlands politischen Insti- Bekanntlich ist das Verfassungswerk der schen Föderalismus. tutionen kann auf eine so lange Vorge- Paulskirche gescheitert, nicht zuletzt am Die Bereitschaft, tiefgreifende Struktur- schichte zurückblicken wie der Bundesrat. Widerstande Preußens. Als Bismarck dann veränderungen hinzunehmen, setzt in Er geht bekanntlich – über den Reichsrat in zwei großen Schritten 1867 (Gründung der Regel eine Krisensituation voraus, die der Weimarer Republik – auf den Bundes- des Norddeutschen Bundes) und 1871 für sicher gehaltene Besitzstände erschüt- rat der Bismarckverfassung zurück. Der (Gründung des Deutschen Reiches) die tert und gewohnte Handlungsroutinen in wiederum hatte, was schon Heinrich deutsche Einheit unter preußischer Frage stellt, und solche Situationen sind Treitschke betont hat, seine Wurzeln im Führung durchsetzte, hat er dieses Ele- seltene Ausnahmen. Es ist kein Zufall, daß Alten Reich, in der Nachfolge des Immer- ment der Paulskirchenverfassung igno- es grundlegende Reformen des deut- währenden Reichstags, der von 1663 bis riert und statt dessen an den Bundestag schen Föderalismus immer nur nach krie- 1806 seinen Sitz in Regensburg hatte. des Deutschen Bundes angeknüpft. Wie gerischen Auseinandersetzungen gege- Diese außerordentliche institutionelle jener hatte der Bundesrat des 1867 ge- ben hat, wenn die Sieger eine Neuord- Kontinuität ist aber das Ergebnis von gründeten Norddeutschen Bundes und nung durchzusetzen oder in einem immer wiederholten Auseinandersetzun- des hier anknüpfenden Deutschen Reiches großen Prozeß des Gebens und Nehmens gen, in denen sich jedesmal das Bundes- von 1871 die Form eines Gesandtenkon- auszuhandeln vermochten: so Napoleon ratsprinzip gegen das konkurrierende Se- gresses, durch den die Regierungen der zu Beginn des 19. Jahrhunderts, so der natsprinzip behauptet hat. Einzelstaaten an der politischen Führung Wiener Kongreß 1815, Bismarck Der Immerwährende Reichstag war be- beteiligt wurden. Ideologisch drapiert 1866/1871, oder die alliierten Sieger von kanntlich eine Versammlung von Abge- wurde dieser „Exekutivföderalismus“ mit 1945. Ansonsten setzen, wie im folgen- sandten der Territorien, und als institutio- der Vorstellung vom Reich als einem den gezeigt werden soll, die Lock-in-Ef- nelles Konstruktionsprinzip überdauerte Bündnis der Fürsten, aber im wesentlichen fekte einer pfadabhängigen Entwicklung er den Untergang des Reiches, denn des- konnte Bismarck damit zwei Absichten dem Wunsch nach gesteuerten Verände- sen staatenbündischen Nachfolgeorgani- gleichzeitig verfolgen: Auf der einen Seite rungen enge Grenzen. sationen griffen auf die überlieferte Insti- schuf er ein Gegengewicht gegen den tution zurück: Schon in dem von Napo- Reichstag und damit eine Barriere gegen Falsche Einschätzungen der Reform- leon installierten Rheinbund (der freilich die von den Liberalen erstrebte Parlamen- möglichkeiten in Deutschland nie funktioniert hat) sollte ein in Frankfurt tarisierung der Regierung und sicherte zu- am Main anzusiedelnder Bundesrat – als gleich die Vorherrschaft Preußens. Und In den alten demokratischen Bundesstaa- eine Neuauflage des Regensburger auf der anderen Seite konnte er auf diese ten sind sich die politischen Akteure Reichstags – die Spitze des Bundes bilden. Weise die Ministerialbürokratien der mit- durchweg dieser Grenzen bewußt, und Als dann der Wiener Kongreß 1815 den telgroßen deutschen Länder mit ins Boot deshalb ist es höchst selten, daß es dort zu Deutschen Bund als Nachfolger des unter- holen, die – zumal seit den großen Ver- einer ernsthaften Diskussion über grund- gegangenen Reiches einrichtete, wurde waltungsreformen der napoleonischen legende Veränderungen des bundesstaat- wiederum der Bundesrat in Frankfurt sein Ära – zu mächtigen politischen Akteuren lichen Gefüges kommt. Nur Deutschland oberstes Beschlußorgan. Auch er war dem geworden waren und sich nicht ohne wei- macht hier eine Ausnahme: In unserer po- Immerwährenden Reichstag nachgebildet teres hätten beiseite schieben lassen. Den litischen Diskussion tun nicht wenige Ak- und stellte, wie jener, einen Kongreß von diplomatischen Umgangsstil, den er in sei- teure so, als könne Bundesstaatsreform als weisungsgebundenen Gesandten der Mit- nen Jahren als Bundestagsgesandter ken- eine ingenieurwissenschaftliche Aufgabe gliedsstaaten dar. Für Otto von Bismarck, nengelernt hatte, praktizierte er nun auch betrieben werden, als zielgerichtete der seine Diplomatenkarriere von 1851 bis im Verkehr mit den Länderregierungen. Suche nach der zweckmäßigsten organisa- 1859 als preußischer Bundestagsgesand- Zwar hatte die Hegemonialmacht torischen Lösung. Daß Föderalismusrefor- ter begann, wurden diese Frankfurter Preußen im bundesstaatlichen Gefüge oh- men bei uns nun schon seit dem 19. Jahr- Jahre zu einer wichtigen Erfahrung. nehin eine dominierende Position, aber hundert immer wieder – und ohne nen- Inzwischen war die Institution freilich indem Bismarck und seine Nachfolger die nenswerte Ergebnisse – diskutiert werden, durch die Revolution von 1848 grundsätz- Regierungen der Mittelstaaten im Rechts- läßt sich wiederum nur auf dem Hinter- lich in Frage gestellt worden. Als die verfas- setzungsprozeß konsultierten, konnten grund eigentümlicher historischer Erfah- sunggebende Nationalversammlung in der sie sich das Regierungsgeschäft erheblich rungen verstehen. Dem deutschen libera- Frankfurter Paulskirche zusammentrat, ori- erleichtern. So konnte der oben schon zi- len Bürgertum begegnete die föderale entierte sie sich stark am Föderalismusmo- tierte Rudolf Smend in seinem Aufsatz aus Organisation in Gestalt einer Vielzahl von dell der Vereinigten Staaten von Amerika. dem Jahre 1916 denn auch den deutschen größeren und kleineren Herrscherhäu- Ebenso wie die Schweiz, die sich nach Bundesstaat als ein „Kartell der Fürsten sern, und die Buntscheckigkeit der deut- einem kurzen Bürgerkrieg im selben Jahr und Bürokratien“ charakterisieren. schen Landkarte verstand es als Ergebnis eine moderne bundesstaatliche Verfassung In Bismarcks Konstruktion steckte viel an von Jahrhunderten dynastischer Politik, mit einem Ständerat gab, wollte sie das zielgerichteter Verfassungsarchitektur, die es oft auch als dynastische Willkür Vorbild des amerikanischen Kongresses und dazu gehörte insbesondere die Erfin- deutete. Wenn aber in der Vergangenheit aufnehmen: Das Parlament (genannt dung des modernen deutschen „Exekutiv- Hausmachtpolitik der Fürsten über das Reichstag) sollte aus dem Staatenhaus und föderalismus“, der die Länder nicht – wie Schicksal von Territorien entscheiden dem Volkshaus bestehen. Das Staatenhaus im amerikanischen Bundesstaat – durch konnte, dann lag die Forderung nahe, daß wäre – analog zum amerikanischen Senat – gewählte Repräsentanten in die Willens- nun die selbstbestimmte Nation mit glei- aus Vertretern der deutschen Staaten ge- bildung des Bundes einbezieht, sondern chem Gutdünken die Reorganisation in bildet worden, und zwar sollten diese zur durch ihre Regierungen. Gleichwohl be- die Hand nehmen sollte. Mit einer solchen Hälfte von den Landtagen gewählt, zur an- gegnen wir beim Bundesrat schon einem Vorstellung ging insbesondere Hugo deren Hälfte von den Länderregierungen Stück „Pfadabhängigkeit“ in dem oben Preuß ans Werk, der erste Innenminister enstandt werden. Letzteres war als Kom- beschriebenen Sinne, denn die überliefer- der Weimarer Republik, als er 1919 die promiß mit der hergebrachten Lösung ge- te Institution hatte jedenfalls den Vorteil, Vorentwürfe zur Verfassung ausarbeitete. dacht, und das zeigt die starke Beharrungs- daß sie dank der schon vorliegenden Ver- Dieser liberale Neuerer stieß schnell an kraft des alten Exekutivföderalismus an. Al- gangenheitserfahrungen einigermaßen seine Grenzen, aber auch später haben lerdings sollten die Mitglieder des Staaten- berechenbar erschien. Insbesondere muß- viele Autoren von Reformvorschlägen hauses ein freies Mandat haben, also an ten die Länderregierungen, die ja die ent- nicht sehen wollen, daß es oft gerade die Weisungen nicht gebunden sein, andern- scheidenden Akteure waren, nicht mit Wesensmerkmale demokratischer Selbst- falls hätte man nicht von einem Parlament jenem scharfen Bruch in ihrer bisherigen bestimmung sind, an denen sich die refor- im Sinne einer modernen Repräsentati- Regierungsweise rechnen, den ein Sy- merische Ermessensfreiheit bricht. vverfassung sprechen können. stemwechsel hin zu einer parlamentari-

116 sierten Ländervertretung gebracht hätte. Staatskanzleien, die einen nicht geringen Weit besser vergleichbar ist Österreich, mit In der bürokratischen Organisationsper- Teil der Mitglieder dieses Beratungsgre- seinem Bundesrat, der entsprechend dem spektive konnten ihnen also die Kosten miums stellten, am Bundesratsmodell fest- Senatsprinzip aus von den Landtagen ge- vergleichsweise überschaubar erscheinen. halten wollten. Auch im Parlamentari- wählten Repräsentanten besteht. Weil In der Verfassungspraxis des folgenden schen Rat gingen die Fronten quer durch Österreich aber ähnlich stark disziplinierte halben Jahrhunderts bildete sich auf die- die Parteien. Die süddeutschen Föderali- Parteien kennt wie die Bundesrepublik ser Basis allmählich eine bundesstaatliche sten forderten einen Bundesrat, der mit Deutschland, schlagen die Parteibindun- Gleichgewichtslage aus, und deren Lock- dem Bundestag gleichberechtigt sein soll- gen dort im Bundesrat ähnlich stark durch in-Effekte führten dazu, daß Bismarcks in- te. Adenauer, der wie andere nord- und wie im Nationalrat. Nur sind die Kompe- stitutionelle Konstruktion in einer ei- westdeutsche CDU-Politiker nie besonders tenzen des Gremiums geringere als die der gentümlichen Ironie der Geschichte den große Sympathien für den Föderalismus ersten Kammer, und da sich zudem die Na- Sturz der Fürsten überdauerte. Als Hugo aufbrachte, gehörte zu den Anhängern tionalratsabgeordneten aus Kärnten oder Preuß Anfang 1919 den ersten Entwurf des Senatsprinzips. Aber die wurden aus- Vorarlberg im informellen Einsatz für ihre für die Weimarer Verfassung schrieb, war manövriert, als sich bei einem berühmt ge- Länder von den Bundesratsmitgliedern der noch bewußt als Bruch mit dem Bis- wordenen Mittagessen der bayerische Mi- kaum übertreffen lassen, muß es dem Bun- marckschen Modell konzipiert. Preuß nisterpräsident und der Innen- desrat schwerfallen, noch ein eigenes Pro- wollte unter anderem an das Senatsprin- minister von Nordrhein-Westfalen, der So- fil zu gewinnen. Extrapoliert man von die- zip von 1848 anknüpfen und den Bundes- zialdemokrat Walter Menzel, darauf ei- sen Erfahrungen, dann könnte sich bei uns rat durch ein Staatenhaus ersetzen, des- nigten, ihren Parteien als Kompromiß kaum jemand einen Gewinn davon erwar- sen Mitglieder von den Landtagen zu einen Bundesrat mit reduzierten Kompe- ten, daß etwa der deutsche Bundesrat wählen wären. Er mußte seine Pläne aber tenzen vorzuschlagen. Ehard und Menzel durch einen Senat ersetzt würde. Man sehr schnell aufgeben, denn er konnte kam wohl nicht nur zu statten, daß sie zu- kann also diese Reformdiskussion getrost den Widerstand der Länderregierungen gleich die Regierungen der beiden größ- als ziemlich müßig abhaken. nicht überwinden, die ja inzwischen alle ten Länder repräsentierten – oft hat ja von den politischen Parteien beherrscht auch derjenige besonders gute Karten, Die oft beklagte Unitarisierung ist wurden. Die Parteien in den Ländern woll- der in einer schwierigen Konfliktsituation von Anfang an im deutschen Födera- ten natürlich die institutionellen Ein- einen Kompromiß vorschlagen kann. lismus angelegt flußhebel nicht aus der Hand geben, die ihnen durch die Parlamentarisierung zu- Der Bundesrat als wichtige Ein weiteres kommt hinzu, was die gefallen hatten. Zwar wurden die Kompe- Rückzugsbasis für die jeweilige Pfadabhängigkeit der Entwicklung weiter tenzen der nun Reichsrat genannten Ver- Opposition geschätzt verstärkt und potenziert hat. Das sind die tretung der Länder im Vergleich zu ihrer Zusammenhänge zwischen dem System Vorgängerin reduziert, aber entscheidend Wir haben gesehen, daß die Anhänger des Exekutivföderalismus einerseits, den war, daß das institutionelle Konstruktions- des Bundesrates zunächst vor allem in Veränderungen in der Aufgabenvertei- prinzip des Exekutivföderalismus erhalten Süddeutschland, bei den Konservativen lung zwischen Bund und Ländern ande- blieb. Übrigens war der Weimarer Reichs- und Föderalisten zu finden waren. Aber rerseits. Schon von der Reichsgründung an rat auch keineswegs so einflußlos, wie im Laufe der langen Dominanz einer CDU- konnte der Zentralstaat auf dem Wege man heute gelegentlich lesen kann. Sei- geführten Bundesregierung gegenüber der sogenannten konkurrierenden Ge- nen Einspruch konnte der Reichstag nur einer sozialdemokratischen Bundestags- setzgebung umfangreiche Materien an mit einer Zweidrittelmehrheit überstim- opposition mußte er auch für die Sozial- sich ziehen, und das hat er sehr früh und men, und die war nicht leicht auf die demokraten immer attraktiver werden, auch sehr weitgehend getan.2 Die großen Beine zu bringen; deshalb zog man es weil sie zumindest über die von ihnen be- Kodifikationen des bürgerlichen Rechts, meistens vor, sich im Vorfeld zu einigen.1 herrschten Länderregierungen im Bundes- des Strafrechts und der Gerichtsverfas- Vor allem in der Endphase der Republik, rat einen Zugang zu den Entscheidungs- sung brachten schon in den ersten Jahr- als der Reichstag zunehmend unfähig zur prozessen hatten. Nach der Bildung einer zehnten des Bismarckreiches ein Maß an konstruktiven Mehrheitsbildung wurde, sozialliberalen Bundesregierung diente Vereinheitlichung, wie es die USA niemals erwarb sich der Reichsrat den Ruf eines dann der Bundesrat seit 1969 der CDU-Op- erreicht haben. Seit der napoleonischen letzten Horts der Stabilität, und davon position dreizehn Jahre lang als Hebel, um Zeit war ja das unitarische Frankreich zehrte er auch noch in den Jahren der Bundestagsmehrheit ihre Schranken durchaus ein wirkungsmächtiges Modell, 1948–1949, als es um die institutionellen zu zeigen und den erneuten Machtwech- und vor allem das nationalliberale Bürger- Grundentscheidungen für die westdeut- sel vorzubereiten, und die SPD konnte die- tum neigte dazu, föderative Vielfalt mit sche Nachkriegsdemokratie ging. selbe Erfahrung, nur mit umgekehrten dem dynastischen Obrigkeitsstaat zu asso- Vorzeichen, in den neunziger Jahren ma- ziieren, Unitarisierung hingegen mit Fort- Die Frage Bundesrat oder Senat chen. Nach der hessischen Landtagswahl schritt. Die oft beklagte Unitarisierung ist stellte sich nach 1945 neu – und 1999 haben CDU und CSU im Bundesrat also im deutschen Föderalismus von An- wurde wie gehabt beantwortet zwar nur eine Sperrminorität bei Zustim- fang an angelegt. Aber für den Verlust an mungsgesetzen, aber auch das ist eine eigenständiger Gestaltungsmöglichkeit Denn ebenso wie 1919 stand der Verfas- nicht zu verachtende Machtposition, verg- wurden die Länder dadurch entschädigt, sunggeber auch bei der Gründung der lichen mit der Rolle einer blo-ßen Bundes- daß ihnen die meisten Ausführungskom- Bundesrepublik vor der Wahl zwischen tagsopposition. Die Parteien, zumal die petenzen verblieben. Das war, ebenso wie dem überlieferten Bundesratsmodell und beiden großen, haben also im Laufe eines die Bundesratskonstruktion, ein Teil des der Alternative des Senatsmodells. Dies- halben Jahrhunderts gelernt, daß der Kompromißpakets, mit dem Bismarck die mal mochte man die Optionsspielräume Bundesrat eine wichtige Rückzugsbastion Länderverwaltungen in das neue Reich insofern größer einschätzen, als seit der bilden kann, wie sie sich beim Senatsmo- einband. Immer, wenn das Reich neue Ma- Beseitigung des Reichsrates 1933 ein Va- dell schwer vorstellen ließen. terien als Gesetzgeber an sich zog, erwei- kuum entstanden war. Andererseits hat- Worin sollte man denn auch die Vorteile terte sich damit auch der Bereich, in dem ten die Länder gegenüber dem neu zu einer Senatslösung in Deutschland suchen? die Länder mitzureden hatten. Das änder- gründenden Bund einen Organisations- 1949 mochten ihre Anhänger noch argu- te sich auch unter der Weimarer Verfas- vorsprung von mehreren Jahren, und sie mentieren, daß ein Senat einen unabhän- sung nicht grundsätzlich, weil sie dem konnten sich vom Bundesratsmodell gigen Politikertypus hervorbringe, der als Reichsrat ja ein starkes Einspruchsrecht natürlich versprechen, daß sie damit ihre Gegengewicht zu straffer geführten Bun- einräumte. organisatorische Autonomie am ehesten destagsfraktionen dienen könnte. Aber Als aber im Grundgesetz die Kompeten- behaupten würden. Im Herrenchiemseer wenn zum Beleg dafür auf den amerikani- zen des Bundesrats im Gesetzgebungspro- Verfassungskonvent neigten Politiker wie schen Senat oder den Schweizer Ständerat zeß differenziert wurden, nämlich mit der Carlo Schmid dem Senatsprinzip zu, verwiesen wurde, dann hätte die sehr viel neu eingeführten Unterscheidung zwi- während die süddeutschen Konservativen lockerere Parteienstruktur dieser Länder schen Einspruchs- und Zustimmungsgeset- und die Ministerialbeamten aus den mit in Rechnung gestellt werden müssen. zen, da war das mit einer Schwächung der

117 Länderposition bei der Einspruchsgesetz- zu bestimmen, daß eine bundesgesetzli- Reichstag machten ihm einen Strich durch gebung verbunden.3 Es war deshalb nicht che Regelung durch Landesrecht ersetzt die Rechnung: Auf Antrag des streng fö- verwunderlich, daß die Länder seither ihre werden kann, wenn ein Bedürfnis im deralistischen bayerischen Zentrumsab- Zustimmung zur Ausweitung der Bundes- Sinne von Artikel 72 Abs. 2 GG nicht mehr geordneten Freiherr von Franckenstein gesetzgebung oft daran knüpften, daß besteht“ (Hervorhebungen von mir, GL.). wurde in das Zollgesetz eine Klausel auf- der Bundesrat nicht überstimmt werden Es sind übrigens auch erhebliche Zweifel genommen, die dem Reich die Zolleinnah- könne, daß also m.a.W. die gesetzlichen erlaubt, ob die Länder wirklich bereit men nur bis zu einer Obergrenze von jähr- Regelungen zustimmungspflichtig wur- wären, sich verlorene Regelungsbefugnis- lich 130 Millionen Mark beließ und den den. Das ist mithin keine systemwidrige se zurückzuholen und die damit gewon- Überschuß den Ländern zusprach. Infolge- Erscheinung, sondern liegt in der Entwick- nen Spielräume in Anspruch zu nehmen. dessen blieb das Reich aber auf Matriku- lungslogik des deutschen Föderalismus larbeiträge angewiesen, und damit hatte seit der Gründung des Bismarckreiches. Eine Rückkehr zum Trennsystem in Franckenstein erreicht, daß den Ländern Und wenn heute vielfach beklagt wird, der Finanzverfassung? und dem Reichstag (der die Matrikular- daß durch dieses Einfallstor der Einfluß beiträge festzusetzen hatte) ein fortdau- des Bundesrates stark zugenommen habe Nun wird heute nicht nur die Entflech- ernder Einfluß auf die Einnahmen des Rei- (während in den Anfängen der Bundesre- tung der Gesetzgebungskompetenz ge- ches blieb. Und wenn das Reich neue Steu- publik nur etwas mehr als ein Drittel der fordert, sondern sehr viel mehr noch die ern einführte, setzten die Länder im Bun- Gesetze zustimmungspflichtig war, so ist Entflechtung der bundesstaatlichen Fi- desrat und die Föderalisten im Reichstag es heute über die Hälfte!), dann spiegelt nanzbeziehungen: Das finanzwirtschaftli- durch, daß die Erträge ganz oder teilweise das eben die unitarisierende Ausdehnung che Verbundsystem soll durch ein Trennsy- den Ländern zuflossen. Als dann mit der der Bundeskompetenzen wider. Wer also stem ersetzt werden, das sehr viel mehr Finanzreform von 1904 die Franckenstein- den starken Einigungszwang beklagt, der Ähnlichkeit mit dem amerikanischen Fö- sche Klausel aufgehoben wurde, tauchte durch die Ausweitung der zustimmungs- deralismus hätte. Eine der zentralen theo- mit der neu eingeführten Erbschaftssteu- pflichtigen Gesetzgebung entstanden ist, retischen Begründungen dieser Forde- er die erste große gemeinschaftliche Steu- der müßte, wenn er das korrigieren woll- rung, wie sie in der orthodoxen Finanz- er auf, deren Ertrag mit festgelegten Quo- te, dafür auch den Preis zu zahlen bereit wissenschaft begegnen, ist das Prinzip der ten auf Reich und Länder aufzuteilen war. sein, nämlich die Rückführung umfangrei- „fiskalischen Äquivalenz“ (Olson 1977): Es Wir verdanken also schon dem Föderalis- cher Regelungskompetenzen vom Bund fordert „für jedes Kollektivgut mit spezifi- mus des Kaiserreiches mit seinen politi- an die Länder. schem Wirkungsbereich eine separate Re- schen Tauschgeschäften die ersten Ansät- Hier zeigt sich wieder die ausgeprägte gierungsinstitution …, so daß sicherge- ze einer finanzwirtschaftlichen Verflech- Pfadabhängigkeit des deutschen Födera- stellt werden kann, daß jene, die aus dem tung, die man (mit einer Anleihe beim Vo- lismus. Sie kommt indes nicht so sehr im öffentlichen Gut einen Nutzen erhalten, kabular der Organisationstheorie) als Zentralisierungs- und Unitarisierungs- auch die sind, die dafür bezahlen“. Daraus „Prinzip der wechselseitigen Ressourcen- trend als solchem zum Ausdruck, sondern folgt für die finanzwirtschaftlichen Bezie- abhängigkeit“ charakterisieren könnte. in der Interdependenz zwischen Kompe- hungen zwischen Bund und Ländern und tenzverteilung und Einfluß des Bundesra- im Verhältnis der Länder untereinander, Doch für eine Abkehr vom Verbund- tes. Wofern es einen Bereich gibt, in dem daß sie ihre jeweiligen Aufgaben aus ei- system fehlen alle Voraussetzungen Reformen nicht von vornherein durch die genen Steuerquellen finanzieren und Lock-in-Effekte der geschichtlichen Ent- dafür auch ein autonomes Besteuerungs- Nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg wicklung blockiert werden, dann dürfte recht in Anspruch nehmen sollten. Finanz- wurden dann die enormen Kriegsfolgela- das die Unitarisierung als solche sein. transfers zwischen diesen Einheiten sind sten Anlaß zu tiefgreifenden Veränderun- Wenn heute in Berlin oder Leipzig die gel- dann zwar insoweit erforderlich und ge- gen: Unter dem schockartigen Eindruck tende Ladenschlußgesetzgebung mit Aus- rechtfertigt, als sie „externe Effekte“ aus- dieser Krise konnte der Reichsfinanzmini- nahmeregelungen der Länderregierun- gleichen (also beispielsweise die Aufwen- ster Erzberger 1919 eine tiefgreifende gen massiv unterlaufen wird, dann spricht dungen, die dem Stadtstaat Hamburg für Reichsfinanzreform durchsetzen, mit der ja vieles für die Anregung, doch gleich die Schüler aus dem schleswig-holsteinischen Finanzverfassung und Finanzverwaltung gesetzgeberische Regelungszuständigkeit Umland entstehen). Doch das heute gel- weitgehend zentralisiert wurden. Die Län- an die Länder zurückzugeben. Aber wie tende System des Steuerverbunds zwi- der wurden jetzt zu Kostgängern des Rei- wenig sich selbst in diesem Bereich be- schen Bund und Ländern ist mit dem ches, und das nationalsozialistische Regime wegt, haben 1993 die mageren Ergebnisse Äquivalenzprinzip offensichtlich ebenso trieb die Zentralisierung noch weiter der Gemeinsamen Verfassungskommis- schwer vereinbar wie der Länderfinanz- voran. Dieses Vierteljahrhundert eines sion vom Bundestag und Bundesrat ge- ausgleich. hochgradig zentralisierten Finanzsystems zeigt, die nach der deutschen Vereinigung Nun war zwar auch die Finanzverfassung hinterließ aber ein dauerhaftes Erbe: Es eingesetzt worden war: Es erwies sich da- des Bismarckschen Reiches ursprünglich setzte sich weithin die Vorstellung durch, mals, daß sowohl die Bundesregierung als am Trennsystem orientiert: Die Länder fi- daß sich die Finanzverfassung an den Be- auch große Teile des Bundestages einem nanzierten ihre Ausgaben mit Steuern, dürfnissen eines einheitlichen Wirtschafts- solchen Verzicht auf Kompetenzen wenig die sie selbst erhoben, und dem Reich ver- gebiets ausrichten müsse. Sie beherrschte geneigt waren. Die Änderungen des Art. lieh die Verfassung ein eigenes Besteue- zunächst auch die Beratungen des Parla- 72 Abs. 2 GG, die eine künftige Inan- rungsrecht. Aber dieses autonome Be- mentarischen Rates.4 Für die ertragreichen spruchnahme der konkurrierenden Ge- steuerungsrecht des Zentralstaates ließ großen Steuerarten, nämlich die Umsatz- setzgebungskompetenz nur unter restrik- sich nicht ohne weiteres auch politisch steuer sowie die Einkommens- und Körper- tiver formulierten Voraussetzungen ge- durchsetzen, und die Entwicklungslogik schaftssteuer, strebte man einen Steuerver- statten wollen, werden sich als ein stump- des deutschen Föderalismus hat allmäh- bund zwischen Bund und Ländern mit fes Schwert erweisen. Selbst die relativ be- lich eine ganz andere Richtung genom- einer bedarfsorientierten Aufteilung an, scheidene Vorstellung, daß die Länder das men. Ursprünglich waren die wichtigste während die anderen Steuerarten jeweils Recht zur „Rückholung“ einzelner Mate- eigene Einnahmequelle des Reiches die Bund oder Ländern zufallen sollten. Dem- rien aus dem Bereich der vom Bund schon Zölle und Verbrauchssteuern. Weil das gegenüber beharrten aber die westlichen in Anspruch genommenen konkurrieren- nicht ausreichte, erhob es von den Län- Besatzungsmächte unter dem Einfluß ame- den Zuständigkeit bekommen sollten, dern eine Umlage, die „Matrikularbeiträ- rikanischer Föderalismusvorstellungen auf stieß in der CDU/CSU-Fraktion auf ent- ge“, die nach der Bevölkerungszahl kalku- einer konsequenten Steuertrennung, und schiedenen Widerstand. Man einigte sich liert wurden und ursprünglich nur als so wies das Grundgesetz in seiner Endfas- schließlich, in den Worten des Kommis- Übergangslösung bis zur Einführung von sung die Umsatzsteuer dem Bund, die Ein- sionsberichts, „auf eine von der Bundesre- Reichssteuern gedacht waren. Das Reich kommens- und Körperschaftssteuer den gierung eingebrachte, deutlich abge- war somit „Kostgänger der Länder“. Aus Ländern zu. Indes sollte der Bund Teile der schwächte Form der Rückholklausel, die es dieser Lage hoffte Bismarck es durch die Einkommens- und Körperschaftssteuer für aus Gründen der Rechtssicherheit und 1879 eingeleitete Schutzzollpolitik zu be- Bundeszwecke in Anspruch nehmen dür- Konfliktvermeidung dem Bund überläßt, freien, aber die föderalistischen Kräfte im fen, wenn die ihm vom Grundgesetz zuge-

118 wiesenen Steuern nicht zur Deckung der den Aushandlungsprozesse im Rahmen Schranke für territoriale Eingriffe dar- notwendigen Ausgaben ausreichten. Dank eines Verbundsystems, zu dem eine reali- stellt, ist der gemeinsame Denkfehler aller dieser Klausel, die das Trennsystem durch- stische Alternative nicht in Sicht ist. Projektemacher, die sich seit Hugo Preuß brach, wurde aus der Einkommens- und daran versucht haben. Es mag ja gesche- Körperschaftssteuer unter der Hand eine Länderneugliederung: hen, daß die – zweifellos wünschenswerte Verbundsteuer mit jährlich auszuhandeln- ein illusorischer Ausweg – Vereinigung von Berlin und Branden- der Aufteilung. Die Finanzreform von 1955 burg schließlich doch gelingt oder daß brachte dann die verfassungsrechtliche Be- Die Reformbefürworter wollen deshalb der Stadtstaat Bremen angesichts seiner siegelung dieses „kleinen Steuerverbunds“ auch den Zuschnitt der Ländern, weil sich Finanznöte eines Tages die weiße Fahne und machte aus der Einkommens- und Kör- unter den nun einmal gegebenen Bedin- aufzieht. Aber große Neugliederungs- perschaftssteuer eine Verbundsteuer, gungen dominierend unitarischer Wert- projekte von der Art, wie sie 1972 von deren Ertrag zwischen Bund und Ländern vorstellungen aus dem finanzwirtschaftli- der Ernst-Kommission vorgestellt wurden, aufzuteilen war. Mit der Finanzreform der chen Gefälle zwischen armen und reichen ermangeln ebenso wie die zuvor erwähn- Großen Koalition wurde dann auch die Ländern das Erfordernis eines komplizier- ten Vorschläge zur finanzwirtschaftlichen Umsatzsteuer in den Verbund einbezogen. ten Umverteilungsprozesses durch den Entflechtung einer realistischen Einschät- Dahinter stand nicht zuletzt die Überle- Länderfinanzausgleich ergibt. Aber die zung der strategischen Spielräume für die gung, daß das Aufkommen der verschiede- Paradoxie der Neugliederungsdiskussion Neutralisierung der Vetokoalitionen, mit nen Steuerarten auf die Konjunkturent- liegt darin, daß sie selbst zutiefst der uni- denen es jedes demokratische Gemeinwe- wicklung unterschiedlich stark reagierte; tarischen Denktradition verhaftet bleibt. sen nun einmal zu tun hat. Bund und Länder sollten sich also das Kon- Die Animosität gegen die so viel beklagte junkturrisiko teilen. Eine stabile, auf Dau- Ineffizienz des Zuschnitts der Ländergren- erhaftigkeit angelegte Finanzverfassung zen ist letztlich ein historisches Erbe der hat sich in der Bundesrepublik nicht ausge- Kritik des bürgerlichen Liberalismus an Literaturhinweise bildet, weil einerseits keiner der beteilig- der deutschen „Kleinstaaterei“, in der ten Akteure die Prämisse der Interdepen- man (natürlich ganz zu Recht) ein histori- Abromeit, Heidrun, 1992: Der verkappte Einheitsstaat, Opladen. denz von Bundes- und Länderinteressen in sches Erbe des dynastischen Prinzips er- David, Paul A., 1985: Clio and the economics of QWERTY, Frage stellen wollte, andererseits aber die blickte. Als Versatzstück der Föderalismus- in: American Economic Review, Spapers and Proceedings verteilungspolitischen Interessengegen- diskussion begegnet uns der Neugliede- 75, 332–337. David, Paul A., 1997: Path dependence and the quest for sätze immer nur für begrenzte Zeiträume rungs-Topos samt der Kritik an der gerin- historical economics: One more chorus of the ballad of im Wege des Kompromisses ausgeglichen gen Leistungsfähigkeit der kleinen Länder QWERTY. Discussion Papers in Economic and Social Hi- story 20, University of Oxford, Oxford. werden konnten. An das Prinzip der Ver- schon in der Mitte des 19. Jahrhunderts, so Färber, Gisela, 1998: Finanzverfassung, Referat auf der flechtung ist nie ernsthaft gerührt worden, beim frühen Treitschke (Treitschke 1886, Tagung des Bundesrats „Zur Struktur des deutschen Fö- und im Bereich der Mitfinanzierung von S. 86, 150 ff.). Und die sozialtechnologi- deralismus“, Kloster Seeon. Hesse, Konrad, 1962: Der unitarische Bundesstaat, Karls- Länderaufgaben durch das Reich und spä- sche Vorstellung, die dahinter steckt, re- ruhe ter den Bund – eine Praxis, die weit ins Kai- flektiert ihrerseits die historische Erfah- Kirsch, Guy (Hrsg.), 1977: Föderalismus, Stuttgart. Lehmbruch, Gerhard, 1998: Parteienwettbewerb im serreich zurückreichte und in der Weima- rung der großen Korrekturen am territo- Bundesstaat: Regelsysteme und Spannungslagen im In- rer Republik unter der Bezeichnung Fonds- rialen Zuschnitt des Alten Reiches, mit stitutionengefüge der Bundesrepublik Deutschland, 2. überarbeitete Aufl., Opladen. wirtschaft diskutiert wurde – hat die Ver- denen Napoleon I. 1803–1806 begonnen Olson Mancur, 1977: Das Prinzip „fiskalischer Gleich- flechtung durch die Einführung der Ge- hatte und die dann 1815, 1866 und wieder heit“: Die Aufteilung der Verantwortung zwischen ver- meinschftsaufgaben an Intensität und in- 1945/1946 (mit der Auflösung Preußens) schiedenen Regierungsebenen, in: Kirsch, Guy (Hrsg.), Föderalismus, Stuttgart, 66–76. stitutioneller Verdichtung noch erheblich weitergeführt wurden. Renzsch, Wolfgang, 1991: Finanzverfassung und Finanz- zugelegt. Doch schon dieser geschichtliche Rück- ausgleich: die Auseinandersetzungen um ihre politische Gestaltung in der Bundesrepublik Deutschland zwischen Diese Entwicklung zeigt, daß für einen Sy- blick sollte eigentlich ausreichend klar ma- Währungsreform und deutscher Vereinigung (1948 bis stemwechsel hin zu einem Trennsystem chen, daß eine solche Länderreform 1990), Bonn. alle Voraussetzungen fehlen. Die theoreti- immer nur nach einer militärischen Aus- Scharpf, Fritz W./Bernd Reissert/Fritz Schnabel, 1976: Po- litikverflechtung: Theorie und Empirie des kooperativen schen Gründe für eine radikale Dezentra- einandersetzung von siegreichen Mäch- Föderalismus in der Bundesrepubli, Kronberg/Ts. lisierung der Finanzverfassung mögen ten durchgesetzt werden konnte. 1867/71 Scharpf, Fritz W./Bernd Reissert/Fritz Schnabel, 1977: Po- litikverflechtung II: Kritik und Berichte aus der Praxis, noch so bestechend klingen, aber es gibt aber wurden mit der Konstituierung des Kronberg/Ts. in Deutschland so gut wie keine Erfahrun- deutschen Nationalstaates als Bundes- Stern, Klaus, 1975: Die föderative Ordnung im Span- nungsfeld der Gegenwart: Politische Gestaltung im Mit- gen mit einer Kultur des finanzwirtschaft- staat die Ländergrenzen prinzipiell unan- einander, Nebeneinander und Gegeneinander von Bund lichen Wettbewerbs, die den Akteuren tastbar, und selbst die Weimarer Republik, und Ländern, in: Speyer, Hochschule für Verwaltungs- dazu Mut machen könnte. Vor allem die ansonsten die Länderautonomie wissenschaften (Hrsg.), Politikverflechtung zwischen Bund, Ländern und Gemeinden: Vorträge und Diskussi- könnte ein Systemwechsel selbstverständ- durchaus einzuschränken in der Lage war, onsbeiträge der 42. Staatswissenschaftlichen Fortbil- lich nur im Konsens aller beteiligten Ak- hat nur in einigen wenigen Extremfällen dungstagung 1974, Berlin, 15–40. Treitschke, Heinrich von, 1886: Historische und Politische teure geschehen, und der ist nur vorstell- (von denen der Zusammenschluß der Aufsätze. Zweiter Band: Die Einheitsbestrebungen zer- bar, wenn sich dabei niemand im Ergebnis thüringischen Kleinstaaten der wichtigste theilter Völker, Fünfte vermehrte Aufl., Leipzig. schlechter stellen würde. Jede Systemver- war) den territorialen Zuschnitt zu ändern änderung müßte also mit Kompensatio- vermocht. Wenn vergleichbare Neugliede- Anmerkungen nen für die eventuellen Verlierer erkauft rungspläne weder in den USA noch und er werden, und wo die herkommen sollten, Schweiz je ernsthaft erwogen werden, 1 Zum Vergleich sei daran erinnert, daß der Bundestag heute einen Einspruch des Bundesrates schon mit der das kann man sich insbesondere im Zei- dann hat das seinen Grund darin, daß hier einfachen Mehrheit überstimmen kann – es sei denn, chen fiskalischer Austeritätspolitik nicht der Föderalismus demokratische Ursprün- der Bundesrat habe seinerseits den Einspruch mit recht vorstellen. Wenn man es irgendwo ge hat – auch das hat schon Treitschke ge- Zweidrittelmehrheit beschlossen. Übrigens konnte der Einspruch des Reichsrates theoretisch auch mit mit ausgeprägten Lock-in-Effekten als Er- sehen (Treitschke 886, S. 159 ff., 190). In einer Volksabstimmung überstimmt werden; dazu ist gebnis einer pfadabhängigen Entwick- der Schweiz scheiterte sogar die Wieder- es aber niemals gekommen. 2 Der Begriff „konkurrierende Gesetzgebung“ wurde lung zu tun hat, dann bei der Finanzver- vereinigung des Kantons Basel, der 1830 von der Rechtswissenschaft des Kaiserreiches einge- fassung. Es läßt sich deshalb leicht vorher- durch eine demokratische Revolte der führt, die Reichsverfassung von 1871 kannte ihn noch sagen, daß die Auseinandersetzungen Landschaft gegen die patrizische Oligar- nicht. Aber in der Sache sind das die Materien, die der Artikel 4 der Verfassung aufführte. über Anpassungen des Finanzausgleichs chie geteilt worden war, obwohl die Ursa- 3 Vgl. Anm. 1. Man ging 1949 von der Erwartung aus, periodisch immer wieder kommen wer- chen der Teilung längst obsolet sind und die Zustimmungspflichtigkeit werde nur für einen re- lativ geringen Anteil der Bundesgesetzgebung eine den. Ähnlich wie Arbeitskämpfe von raumordnerische Rationalität es zweifel- Rolle spielen. Diese Erwartung wurde aber schon früh Streikritualen begleitet werden, so gehört los geboten hätte, dieses eng verflochtene durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsge- richts durchkreuzt. auch zu diesen Verteilungskämpfen eine Ballungsgebiet wieder zusammenzu- 4 Die Entwicklung des vertikalen und horizontalen Fi- gehörige Portion Theaterdonner, Verfas- führen. nanzausgelichs hat Wolfgang Renzsch (1991) im ein- sungsklagen einzelner Länder inbegriffen. Zu verkennen, daß im demokratischen Fö- zelnen dargestellt. Das sind unvermeidliche Begleiterschei- deralismus die Selbstbestimmung der Län- nungen der immer wieder neu zu führen- der eine äußerst schwer überwindbare

119 Im internationalen Vergleich ist nicht nur der Bundesrat einzigartig ... doch in einem Trennsystem wie den USA oder der Schweiz deutlich Vom Gestaltungsföderalismus anders und geringer Für bundesstaatliche Systeme wie die USA zum Beteiligungsföderalismus oder auch Australien, in denen erstens die Zuständigkeiten zwischen den politischen Ebenen relativ klar voneinander getrennt Die Mitwirkung der Länder an der Bundespolitik sind und in denen zweitens die Gliedstaa- ten selbst relevante eigene Gesetzge- bungskompetenzen besitzen (sog. Trenn- Von Ursula Münch system), läßt sich feststellen, daß hier die Notwendigkeit zu Kooperation und in- haltlicher Abstimmung eine völlig andere ist als etwa in der Bundesrepublik Deutschland. Obwohl auch in den USA die Privatdozentin Dr. Ursula Münch lehrt macht die Zusammenhänge zwischen der verfassungsrechtlich klare Trennung der Politikwissenschaft am Geschwister- Kompetenzverteilung im Bundesstaat und Kompetenzen des Bundes und der Einzel- Scholl-Institut der Universität München. den Institutionen und Praktiken der Ein- staaten seit den 30er Jahren durch ein flußnahme sichtbar. System des kooperativen Föderalismus In allen Bundesstaaten ist das Verhältnis überlagert wird, erhebt die Politik auf von Bund und Einzelstaaten zu regeln, wozu auch die Mitwirkung der Einzel- staaten an der Politik des Bundes gehört. In Deutschland geschieht das in einzigar- tiger Weise: auf dem Wege über den Bun- desrat als Vertretung der Länder. Minde- stens genau so wichtig ist, daß die Länder die Gesetze des Bundes ausführen – ein System des Vollzugsföderalismus also. Beides ist die Domäne der Landesexeku- tiven, die allzu gerne bundeseinheitliche Lösungen anstreben. An die Stelle des Gestaltungsföderalismus ist somit der Beteiligungsföderalismus der Landesexe- kutiven getreten. Im Endeffekt hat das zu gewaltenteiligen, konsensorientierten Konfliktlösungsmustern geführt, über die Parteigrenzen hinweg, durchaus mit Hilfe der bundesweit operierenden Parteien. Aufgrund der vorliegenden Fakten wird man über die Jahre hinweg kaum von einer Blockadepolitik des Bundesrats sprechen können, schon gar nicht vom Bundesrat als Nebenregierung. Red.

Zwar wirken auch in anderen Bundesstaaten die Gliedstaaten an der Willensbildung des Gesamt- staates mit ...

Jedes föderative System kennt Institutio- nen und Verfahren, durch die die Glied- staaten an der Willensbildung des Ge- samtstaates beteiligt sind. Mit ihrer Hilfe wirken die Einzelstaaten, die Länder oder die Kantone z.B. bei der Verabschiedung von Gesetzen des Bundes mit, oder sie bemühen sich, sonstige Entscheidungen des Bundes zu beeinflussen. Welche Form und Intensität diese Einwirkung auf das Zustandekommen des Bundeswillens im einzelnen Bundesstaat einnimmt, hängt maßgeblich vom jeweiligen Typ von Fö- deralismus ab. Obwohl in allen föderati- ven Systemen Zweite Kammern arbeiten, zeigt deren genauere Analyse, daß diese häufig nur eines von mehreren födera- tiven Elementen bei der Bildung des Bun- deswillens sind und zudem eines, das nicht von vornherein auch wirksam sein muß.1 Um den hohen Stellenwert nachzuvollzie- hen, den die Mitwirkung an der Bundes- politik für die deutschen Länder besitzt, ist es hilfreich, zunächst einen kurzen Blick auf andere Bundesstaaten zu werfen. Er Quelle: Hörst Pötzsch: Die deutsche Demokratie, Bonn 1997, S. 74.

120 Staatenebene in den USA dennoch nicht zen, haben es die Regierungen der Glied- 1969 noch unter der Großen Koalition von den Anspruch, Bundespolitik mitgestalten staaten in den USA oder der Schweiz CDU/CSU und SPD in das Grundgesetz auf- zu wollen.2 Da den amerikanischen Einzel- deutlich schwerer, gezielt Einfluß auf ge- genommen und überführten bisherige staaten nach wie vor relevante Politikfel- samtstaatliche Entscheidungen zu neh- Landesaufgaben in die gemeinsame Ver- der zur eigenen Gestaltung bleiben und men. So genießen weder die Konferenz antwortung von Bund und Ländern. Dieser sie auch nicht die Pflicht haben, mit ihrer der US-Gouverneure noch die Direktoren- Schritt hatte zwar zunächst das von den eigenen Verwaltung Bundesgesetze zu konferenz der kantonalen Exekutiven in Ländern erwünschte Ergebnis, von den vollziehen, drängt sich ihnen weder der der Schweiz Privilegien, wenn es darum hohen Kosten verschiedener grund- Wunsch noch die Notwendigkeit, die poli- geht, ihre Interessen im Wettbewerb mit legender Aufgaben wie dem Hochschul- tischen Entscheidungsprozesse des Zen- Interessengruppen gegenüber der Bun- bau und der regionalen Wirtschaftsförde- tralstaats zu beeinflussen, in einem Maße desregierung vorzubringen. Beide müssen rung teilweise entlastet zu werden, brach- auf, wie wir das aus der Bundesrepublik sich gegenüber ihrer jeweiligen Bundes- te zwangsläufig aber auch den Verlust der kennen. Des weiteren trägt bereits der regierung bis heute auf Lobbying be- bisherigen alleinigen Entscheidungskom- Bestellungsmodus für den US-Senat dazu schränken, also auf eine Form der Einfluß- petenz der Länder mit sich. An deren bei, daß die Senatoren nicht die jeweilige nahme, die auch allen anderen organisier- Stelle trat die gemeinsame Rahmenpla- Regierung oder das Parlament des Einzel- ten Interessen offen steht. nung und die gemeinsame Finanzierung staates, sondern vielmehr ihre Wählerin- dieser Aufgaben durch Bund und Länder. nen und Wähler repräsentieren. Gleich- Der Vollzug von Bundesgesetzen Jede dieser Verschiebungen der ohnehin zeitig verhindert jedoch die relative als Ansatzpunkt unitarisch angelegten Aufgabenverteilung Schwäche der US-amerikanischen Parteien verfestigte den Mangel an eigenständigen im präsidentiellen Regierungssystem, daß Ganz anders stellt sich die Routine glied- Gestaltungsmöglichkeiten der Länder. In sich der US-Senat selbst nach der Ein- staatlicher Beteiligung im deutschen Ver- der Folge konzentrierten sich deren politi- führung der unmittelbaren Senatoren- bundmodell dar: Die Bundesrepublik hat schen Akteure immer noch stärker darauf, wahl durch das Volk im Jahr 1913 als die Formen der Kooperation in den ver- ihre Einflußmöglichkeiten auf die Politik bloße „Verdoppelung“ der Ersten Kam- schiedensten Gremien in einer Weise per- der übergeordneten Ebenen im Bund und mer (Repräsentantenhaus) darstellt, wie fektioniert, daß kritische Beobachter be- in Europa gezielt auszuschöpfen. dies in anderen (Bundes-)Staaten mit di- reits von einem „konzertierten Föderalis- Trotz des Unitarisierungsschubs, der sich rekter Wahl der Mitglieder der Zweiten mus“ sprechen.7 Diese Ausprägung deut- vor allem ab Mitte der 60er Jahre bis in die Kammer häufig der Fall ist. Der US-Senat scher Bundesstaatlichkeit ist ursächlich 70er Jahre hinein feststellen läßt, sollte enthält seine Bedeutung für die gesamte darauf zurückzuführen, daß die Haupt- man bei der Beurteilung der Entwick- bundesstaatliche Ordnung dadurch, daß aufgabe der Länder darin besteht, die Ge- lungstendenzen des deutschen Bundes- der einzelne Senator als „politischer Un- setze des Bundes zu vollziehen. Dieser staates in Rechnung stellen, daß der ko- ternehmer“ in eigener Sache auftritt und Umstand erklärt, daß die Länder ein spezi- operative Föderalismus in Deutschland zugleich danach beurteilt wird, was er für fisches Interesse daran besitzen, wie ein keine völlige Neuausrichtung der Staats- seinen Staat in Washington erreicht.3 Bundesgesetz in Hinblick auf seinen ver- organisation darstellt. Anders als in den Wie stark die Notwendigkeit von Instan- waltungstechnischen Vollzug ausgestaltet USA oder auch in der Schweiz, wo die Ver- zen der gliedstaatlichen Mitwirkung vom sein sollte. Um dieses Interesse wirksam schränkung von Zentralstaat und Glied- jeweiligen Typ von Bundesstaat abhängig umsetzen zu können, sind Institutionen staaten bzw. deren Kooperation erst infol- ist, zeigt auch das Beispiel Schweiz. Nach- und Prozesse unabdingbar, mittels derer ge der verstärkten sozialpolitischen Inter- dem die Schweizer Kantone zusätzlich zu die inhaltliche und verfahrensmäßige Ab- vention des Zentralstaates wirksam ihren nach wie vor relevanten eigenen stimmung zwischen Bund und Ländern er- wurde, kannte bereits die Verfassung des Gestaltungsbefugnissen auch mit der Aus- zielt werden muß. Eine besondere Rolle Deutschen Reichs von 1871 ein Zusam- führung der Bundesgesetze betraut sind,4 nimmt dabei der Bundesrat ein. menwirken von Reich und Gliedstaaten.11 wird immer wieder überlegt, ob es nicht Aufgaben, Zusammensetzung und Ar- Solche historischen Entwicklungslinien funktionaler wäre, den Ständerat, der beitsweise dieses föderativen Bundesor- rechtfertigen es zwar nicht, wenn heutzu- nach dem Vorbild des US-Senats zusam- gans sind im IV. Abschnitt des Grundgeset- tage die Verflechtung der Politikebenen mengesetzt ist und funktioniert, in Rich- zes (Art. 50 bis Art. 53) sowie in der Ge- im Föderalismus zu Fehlentwicklungen tung auf das deutsche Bundesratsmodell schäftsordnung des Bundesrates geregelt.8 wie Intransparenz, Unverantwortlichkeit, umzugestalten. Dennoch ist der entspre- Durch den Bundesrat wirken die Länder an Konfliktvermeidung und Innovations- chende politische Druck zugunsten einer der Gesetzgebung und Verwaltung des feindlichkeit führt. Nichtsdestotrotz müs- stärkeren institutionellen Verschränkung Bundes sowie in Angelegenheiten der Eu- sen aber auch kritische Beobachter der ak- der Kantons- mit der Bundesebene in der ropäischen Union mit (Art. 50 GG). Das Ge- tuellen Situation des deutschen Föderalis- Schweiz nicht so groß, wie dies die dort wicht des Bundesrates im föderativen wie mus zur Kenntnis nehmen, daß mit be- bestehenden Elemente eines Vollzugs- im gesamten politischen System der Bun- stimmten verfassungsrechtlichen Grund- föderalismus ansonsten erwarten ließen. desrepublik Deutschland ist dabei aber entscheidungen dafür zumindest eine Dies dürfte vor allem darauf zurückzu- keine statische Größe. Vielmehr hat es als Basis geschaffen worden ist. führen sein, daß in der Schweiz die Funk- Folge der Dynamik der Aufgabenvertei- tionen, die in der Bundesrepublik lung im Bundesstaat im Laufe der Entwick- Die Entscheidung der Verfassungs- Deutschland vor allem vom Bundesrat er- lung der föderalen Beziehungen zwischen geber für das Bundesrats-Modell bracht werden, auf andere Weise – z.B. Bund und Ländern immer mehr zugenom- ist bis heute nicht unumstritten über die Anhörung der Kantone im sog. men. Ausgangspunkt dieses Prozesses war Vernehmlassungsverfahren5 – vonstatten die im Grundgesetz von vornherein ange- Als die Mitglieder des Parlamentarischen gehen, an dem auch die Kantone beteiligt legte Dominanz des Bundes in der Gesetz- Rats im September 1948 mit den Beratun- sind. Während alle föderativen Systeme gebung, die sich nach 1949 u.a. deshalb gen über Gestalt und Kompetenz einer unabhängig davon, ob es sich dabei ten- noch verstärkte, weil der Staat neue Auf- künftigen Zweiten Kammer begannen, denziell um Trenn- oder um Verbundsyste- gaben übernahm, die im wesentlichen ge- waren sich die verschiedenen Fraktionen me handelt.6 Zweite Kammern kennen, samtstaatlichen Charakter hatten (Wehr- lediglich darin einig, daß auf jeden Fall sind die informellen Praktiken der Beteili- verfassung, Notstandsverfassung, Kernen- neben dem Parlament eine weitere Kam- gung von Gliedstaaten an der Willensbil- ergie etc.). Gleichzeitig wurde dem Bedürf- mer bestehen sollte, durch die „das Ele- dung des Bundes noch stärker davon ab- nis nach einer einheitlichen Regelung der ment Land“ zur Geltung kommen sollte.12 hängig, um welchen Typ von Bundesstaat Lebensverhältnisse9 dadurch Rechnung ge- Ob sich in diesem zweiten Organ gemäß es sich handelt. Im Unterschied zur Bun- zollt, daß bisherige Länderkompetenzen dem für die deutsche Verfassungsge- desrepublik Deutschland, wo die Landes- auf den Bund übertragen wurden.10 Zu schichte charakteristischen „Bundesrats- exekutiven allein schon über die Struktur grundlegenden Veränderungen im födera- Modell“ die weisungsgebundenen Vertre- des Bundesrates, aber auch über die in- tiven System führten die sog. Gemein- ter der Landesregierungen zusammenfin- tensive Praxis des kooperativen Föderalis- schaftsaufgaben (Art. 91 a, b GG). Sie wur- den sollten oder aber in Anlehnung an mus eine herausgehobene Position besit- den im Zuge der Großen Finanzreform von das aus den USA und der Schweiz bekann-

121 te „Senats-Modell“ die von der Bevölke- rung in den Ländern gewählten Senato- Die formellen Befugnisse des Bundesrates ren, war zwischen den Parteien sehr um- im Gesetzgebungsverfahren stritten. Dem bayerischen Ministerpräsi- denten Hans Ehard (1946-1954) gelang es, gegen die ursprünglichen Intentionen vor Der Bundesrat ist am Zustandekommen aller Gesetze beteiligt, die in die Gesetz- allem der SPD und von Teilen der CDU, zu- gebungskompetenz des Bundes fallen – unabhängig davon, ob der Bund das Gesetz mindest die sog. abgeschwächte Bundes- aufgrund seiner ausschließlichen, seiner konkurrierenden oder seiner Zuständigkeit ratslösung durchzusetzen. für die Rahmengesetzgebung erläßt. Dabei kann er Gesetzesbeschlüssen des Bundes- Während einige Beobachter die Absage tages nicht nur zustimmen oder sie zu ändern bzw. sogar zu verhindern versuchen, er an das klassische Bundesratsmodell bekla- hat auch die Möglichkeit, selbst initiativ zu werden. gen und im damaligen Kompromiß den Das Initiativrecht des Bundesrates: „Keim für die Entwicklung der bundes- Ebenso wie der Bundestag und die Bundesregierung hat der Bundesrat bei allen Ge- staatlichen Ordnung von 1949 zum unita- setzesarten gemäß Art. 76 Abs. 1 GG das Recht zur Gesetzesinitiative. Die Mehrheit rischen Bundesstaat“ sehen,13 gilt der Bun- des Bundesrates kann im Plenum – meist auf Antrag von einer oder mehreren Lan- desrat anderen als „kapitale Fehlkon- desregierungen – beschließen, beim Bundestag eine Gesetzesvorlage einzubringen. struktion“ und „Systemfehler“.14 Tatsäch- Zwischen der Behandlung des Gesetzentwurfs im Bundesrat und im Bundestag ist je- lich fällt eine Beurteilung der damaligen doch die Bundesregierung eingeschaltet. Ein Entwurf des Bundesrates ist zunächst an Entscheidung zugunsten des Bundesrats- sie zu leiten. Die Bundesregierung versieht den Entwurf in der Regel mit einer Stel- modells durchaus ambivalent aus. Einer- lungnahme, in der sie entweder ihre grundsätzliche Zustimmung oder auch ihre Ab- seits kann man dem Bundesrat bescheini- lehnung zum Ausdruck bringt und häufig Änderungen vorschlägt. Innerhalb von gen, trotz der Bedeutung der Parteipolitik sechs Wochen soll die Bundesregierung den Entwurf des Bundesrates und ihre Stel- „auf eine besondere Weise die Vertretung lungnahme dazu an den Bundestag weiterleiten. Von dieser Frist kann nur in beson- regionaler Interessen“15 wahrzunehmen deren Fällen abgewichen werden. und ihn damit zu den erfolgreichen und wirksamen Zweiten Kammern zählen. An- Das Recht des Bundesrates, zu Gesetzentwürfen der Bundesregierung dererseits ist aber nicht zu übersehen, daß Stellung zu nehmen: seine Konstruktion und Funktionsweise Nicht nur der Bundesrat ist daran gehindert, seine Gesetzesentwürfe unmittelbar auf den deutschen Föderalismus ebenso dem Bundestag zuzuleiten. Auch die Bundesregierung kann dies nicht. Nach Art. 76 wie auf den gesamten politischen Ent- Abs. 2 GG muß sie ihre Gesetzesvorlagen zunächst an den Bundesrat senden, der scheidungsprozeß zugleich problemati- dazu innerhalb von sechs Wochen Stellung nehmen kann. sche Auswirkungen besaß. Diese äußern sich z.B. im Schlagwort vom „Exekutiv- Die Mitentscheidungsbefugnisse des Bundesrates im weiteren föderalismus“ und der Klage über den Gesetzgebungsverfahren: weitgehenden Substanzverlust des Lan- Das weitere Vorgehen im Bundestag gestaltet sich unabhängig davon, welche der desparlamentarismus.16 berechtigten Institutionen den Gesetzentwurf eingebracht hat. Wie wirksam die Mit- wirkung des Bundesrates dabei letztendlich ist, hängt davon ab, ob der Gesetzesbe- Die Verteilung der Gewichte schluß des Bundestages die Belange der Länder in besonderem Maße berührt oder im Bundesrat nicht.

Die „Abschwächung“ des Bundesrats- a) Zustimmungsbedürftige Gesetze: modells im Grundgesetz ergibt sich im Neben den verfassungsändernden Gesetzen, die eine Zwei-Drittel-Mehrheit in Bun- Vergleich zu seinem historischen Vorläufer destag und Bundesrat benötigen, sind solche Gesetze zustimmungsbedürftig, die in der Reichsverfassung von 1871 in zwei- entweder das Finanzaufkommen der Länder berühren oder in ihre Verwaltungsho- 20 erlei Hinsicht. Neben der Tatsache, daß der heit eingreifen. Damit sie zustandekommen, muß der Bundesrat mit absoluter Stim- Bundesrat bei einem Teil der Bundesgeset- menmehrheit, gegenwärtig sind das 35 von insgesamt 69 Stimmen, zustimmen. Bei ze nur ein aufschiebendes Veto besitzt, zustimmungspflichtigen Gesetzen können alle drei am Gesetzgebungsverfahren be- also dem Bundestag nicht als wirklich teiligten Institutionen jeweils einmal den Vermittlungsausschuß anrufen, der sich aus gleichberechtigte Zweite Kammer entge- Mitgliedern des Bundestages und des Bundesrates zusammensetzt (Art. 77 Abs. 2 gentritt, stellt auch seine Zusammenset- Satz 1 GG). Bei diesen Gesetzen ist der Bundesrat dem Bundestag völlig ebenbürtig zung eine gewisse Modifikation des ur- und gleichberechtigt: Er besitzt ein absolutes Veto, d.h. er kann das Gesetz endgültig sprünglichen Gepräges dar. Im Bundesrat scheitern lassen. des Deutschen Reichs von 1871 wurde durch das Prinzip der Stimmenwägung b) Nicht zustimmungsbedürftige Gesetze: eine sehr differenzierte Gewichtung der Bei allen anderen Gesetzen ist die Position des Bundesrates deutlich schwächer – daß einzelnen Staaten und ihrer Interessen der Bundesrat dem Bundestag gegenüber nachrangige Kompetenzen besitzt, zeigt herbeigeführt.17 Dagegen entschieden sich sich daran, daß er gegen diese Gesetzesbeschlüsse des Bundestages zwar mit seiner die Verfassunggeber 1948/49 für einen Mehrheit (35 Stimmen) Einspruch einlegen kann. Dieser Einspruch kann jedoch durch Kompromiß: Anders als beim sog. arith- einen nachfolgenden Beschluß des Bundestages mit absoluter Mehrheit zurück- metischen Prinzip des Senatsmodells, dem gewiesen werden (vgl. Art. 77 Abs. 4 GG); diese Art von Gesetzen werden daher auch der Grundgedanke der föderalen Gleich- als Einspruchsgesetze bezeichnet. ordnung aller Gliedstaaten zugrundeliegt, ist nicht jedes Land mit der gleichen Stim- menzahl vertreten. Aber auch das sog. lich die 3-4-5-Staffelung der Stimmen fest- Keine symmetrische Zweite Kammer geometrische Prinzip, bei dem die Sitzver- gelegt war, drangen die großen teilung konsequent im Verhältnis zur Be- Flächenstaaten im Zuge der Grundge- Neben der Zusammensetzung sind es vor völkerungszahl erfolgt und damit das de- setzänderung, die infolge der Deutschen allem die gegenüber dem Bundestag ein- mokratische Element betont, wurde nicht Vereinigung am 3. Oktober 1990 notwen- geschränkten Kompetenzen, durch die gewählt. Statt dessen entschied man sich, dig wurde, darauf, eine weitere Stufe ein- das historische Bundesratsmodell im zwar nach der Bevölkerungszahl abzustu- zuführen. Um ihren Einfluß auch im Grundgesetz „abgeschwächt“ wurde. So fen und damit eine mechanische Gleich- größeren Bundesstaat zu bewahren, stellt der Bundesrat keine symmetrische stellung aller Länder zu verhindern, führen die vier größten Länder seither Zweite Kammer dar, sondern ist der Kate- gleichzeitig aber die Einwohnerzahl auch nicht mehr fünf, sondern sechs Stimmen gorie der leicht asymmetrischen Kammern nur teilweise zur Grundlage der Stimmver- im Bundesrat. Damit konnten sie auch ihre zuzuordnen.19 Diese Asymmetrie in der teilung zu machen, um so die Gefahr der bisherige Sperrminorität gegen Verfas- Kompetenz ist das Ergebnis des Kalküls Majorisierung durch sehr wenige große sungsänderungen von einem Drittel der des damaligen bayerischen Ministerpräsi- Länder auszuschalten. Während ursprüng- Stimmen (derzeit 24 Stimmen) wahren.18 denten Hans Ehard, daß die Zusammen-

122 sen geleistet wird, wo jedes Land im Un- terschied zum Bundesratsplenum eine Stimme führt (§ 11 Geschäftsordnung Bundesrat). Mit Ausnahme der „politi- schen Ausschüsse“, wie etwa dem Aus- schuß für Auswärtige Angelegenheiten, kommen in diesen Ausschüssen des Bun- desrates in erster Linie Vertreter der Mi- nisterialbürokratien aus den Ländern zu- sammen. Sie leisten hier die zeitaufwen- dige fachliche Detailarbeit und erlauben es damit den Politikern, sich auf die Be- handlung besonders strittiger und poli- tisch wichtiger Fragen zu konzentrieren. Dieses „bürokratische“ Element des Bun- desrates – von Theodor Heuss zum Anlaß genommen, über das „Parlament der Oberregierungsräte“ zu spotten – wird unterschiedlich bewertet. Bundespräsi- dent Roman Herzog lobte die effiziente Kontrolle, die die Landesministerialbüro- kratien gegenüber der Ministerialbüro- kratie des Bundes auszuüben in der Lage seien.24 Zu Recht wies er darauf hin, daß eine solch effiziente Kontrolle der überall mächtig gewordenen Verwaltung in allen anderen Staaten schon daran scheitern muß, daß es dort immer nur Parlamenta- rier mit ihren eingeschränkten Kontroll- setzung des föderativen Organs für des- läßt sich sogar in Zusammenhang zum möglichkeiten sind, die sich meist vergeb- sen Bedeutung im zu errichtenden politi- Immerwährenden Reichstag bringen, der lich bemühen, dem Sachverstand und der schen System wichtiger sei als die Gleich- seit 1663 in Regensburg als Versammlung Ressourcenkraft der Exekutive etwas ent- berechtigung bei der Gesetzgebung. Zum von weisungsgebundenen Bevollmächtig- gegenzusetzen. Ausdruck kommt sie in der Unterschei- ten der Reichsstände tagte.23 Mit diesen dung zwischen „Einspruchsgesetzen“, bei verschiedenen Ausprägungen hat der Dabei spielen Bundes- und Länder- denen der Bundesrat lediglich ein auf- Bundesrat bis heute sein grundlegendes bürokratien recht gut zusammen schiebendes Vetorecht besitzt, und „Zu- Charakteristikum gemein: Die Vertretung stimmungsgesetzen“, bei denen er dem der föderativen Interessen bei der Bildung Doch es gibt durchaus Anlaß, diese positi- Bundestag gleichberechtigt gegenüber- des Bundeswillens ist in Deutschland den ve Einschätzung der Wirkung des Bundes- tritt (vgl. dazu die Übersicht zu den for- Exekutiven der Länder übertragen. Die rates zu relativieren.25 Schließlich zeigt mellen Befugnissen des Bundesrates im Mitglieder des Bundesrates müssen den sich in der Praxis des Bundesrates, daß die Gesetzgebungsverfahren). Landesregierungen angehören – als Re- Ministerialbürokratien des Bundes und Bei der Diskussion um die Mitwirkungs- gierungschef, Landesminister bzw. in lan- der Länder gemeinsam dazu neigen, einer rechte des Bundesrates an der Bundesge- desverfassungsrechtlich festgelegten Aus- Ausweitung der Kompetenzen des Bun- setzgebung wird häufig übersehen, daß nahmefällen u.U. auch als Staatssekretär. desrates den Vorzug zu geben vor einer die Kompetenzen des föderativen Organs Da die Mitglieder des Bundesrates durch Bewahrung oder gar Stärkung der Spiel- bei der Verwaltung des Bundes noch be- Mehrheitsbeschluß der Landesregierun- räume der Landesgesetzgebung. Die Mo- deutender sind. So verfügt der Bundesrat gen in der Regel für die Dauer ihrer Zu- tive für solche Präferenzen sind leicht zu bei den Rechtsverordnungen des Bundes gehörigkeit zur Regierung bestellt wer- erklären: Die Ministerialverwaltungen der ebenso wie bei dessen Allgemeinen Ver- den, verfügen sie zumindest über eine Länder schätzen ihre eigene Rolle und Be- waltungsvorschriften über ganz erheb- mittelbare demokratische Legitimation. deutung bei der Mitwirkung ihres Landes liche Einflußmöglichkeiten. Die besonde- Scheiden sie aus der Landesregierung aus, an bundesgesetzlichen Regelungen hoch re Stellung des Bundesrates ergibt sich erlischt gleichzeitig ihre Mitgliedschaft im ein und verlieren diese Möglichkeit, an hierbei daraus, daß beide Rechtsnormen Bundesrat. Da nach jeder Wahl eines Lan- der Bundespolitik beteiligt zu sein, un- von der Bundesregierung bzw. dem zu- desparlaments die neugebildete Regie- gern. Gleichzeitig haben sie aber auch ständigen Bundesminister aufgrund ge- rung auch die Bundesratsmitglieder dieses sachliche Gründe, sich kaum für landes- setzlicher Ermächtigung, in der Inhalt, Landes neu bestellt, hat dies für den Bun- politische Regelungen zu engagieren, Zweck und Ausmaß der Rechtsverordnung desrat zur Folge, daß er sich kontinuierlich schließlich kennen sie die Hemmnisse der festgelegt werden, ohne Beteiligung des erneuert. landespolitischen Regelung eines Sachver- Bundestages erlassen werden. Dagegen In den Ausschüssen kommt haltes recht genau: Da gibt es nicht nur muß der Bundesrat gemäß Art. 80 GG mit das bürokratische Element die unliebsame Erfahrung, durch das eige- der Mehrheit zustimmen und verfügt voll zum Tragen ne Landesparlament, dem man nicht damit über erhebliche Einflußmöglichkei- immer Sachkunde zu attestieren bereit ist, ten. Aufgrund der Weisungsgebundenheit der in der eigenen Arbeit „gestört“ zu wer- Bundesratsmitglieder sowie der Festle- den, sondern man weiß aus Erfahrung, Die historischen Wurzeln reichen gung, daß die Stimmen eines Landes oh- wie mühsam es häufig ist, eine landes- weit zurück nehin nur einheitlich und nur durch anwe- rechtliche Regelung in die engen Vorga- sende Mitglieder oder deren Vertreter ab- ben des Bundesrechts einzupassen und Während der Bundesrat im internationa- gegeben werden können (Art. 51 Abs. 3 wie schnell ein Gesetz am Urteil der jewei- len Vergleich im Grunde einzigartig ist GG), ist die jeweilige Entscheidung der ligen Landesverfassungsgerichtsbarkeit und sich ganz maßgeblich von den Zwei- Landeskabinette, wer das Land im Bun- scheitern kann. Allein die Tatsache, daß ten Kammern anderer Bundesstaaten un- desrat formell vertritt, ohne nennenswer- gesetzliche Regelungen im Normalfall Ko- terscheidet,21 reichen seine historischen te politische Bedeutung. Wichtiger für die sten nach sich ziehen, spricht zumindest Wurzeln weit zurück. Er steht nicht nur in Ausprägung der gesamten Arbeit des aus der Sicht der finanzschwächeren Län- direkter Traditionslinie zum Bundesrat des Bundesrates erscheint dagegen, daß die dern häufig gegen eine landesrechtliche Norddeutschen Bundes von 1867 und dem Hauptarbeit des Bundesrates noch mehr Regelung. der Reichsverfassung von 1871,22 sondern als die des Bundestages in den Ausschüs- Das entsprechende Verhalten der Ministe-

123 rialbürokratie der Länder in den Ausschüs- damals mit dem Hinweis entgegen, daß rat in Bonn (bzw. künftig in Berlin) die sen des Bundesrates wird von der Bundes- im föderativen Staat eben die Mehrheit Bundespolitik mitgestalten zu lassen, sol- verwaltung tendenziell unterstützt. Sie ist beider gesetzgebender Körperschaften len die Landesparlamente in Stuttgart, von Haus aus zugunsten bundesrecht- notwendig sei. Daß das Urteil darüber, ob München, Hannover oder Erfurt wieder licher Regelungen eingestellt und nimmt im föderativen Organ Bundesrat parteipo- mehr eigene landespolitische Aufgaben den Wunsch der Länder nach einer Aus- litische Erwägungen eine Rolle spielen selbst erledigen können. Doch ein solcher weitung der Zustimmungspflichtigkeit dürfen, weniger von tieferen verfassungs- Wechsel vom Beteiligungsföderalismus zu der Bundesgesetze dafür in Kauf. Diese rechtlichen Erkenntnissen als von den ak- einem Gestaltungsföderalismus mit der Einigung wird schon dadurch erleichtert, tuellen Mehrheitsverhältnissen abhängt, Möglichkeit, die einzelnen Länder auch in daß man sich die Zusammenarbeit zwi- zeigte spätestens die Umkehrung der den Wettbewerb untereinander um die schen den Ministerialbürokratien der Län- Konstellation in den 90er Jahren. Nun bessere Lösung für politische Probleme der und des Bundes im Vorfeld und im waren es die SPD-regierten Länder, die und die Versorgung der Bürger und der Rahmen der Bundesratsarbeit nicht so unter Hinweis auf die machtteilende Wir- Unternehmen mit Leistungen und Infra- vorstellen darf, als träfen hier „feindliche kung von Föderalismus den Vorwurf der struktur treten zu lassen,28 würde so viele Lager“ aufeinander, die sich gegenseitig CDU/CSU/FDP-Bundesregierung zurück- grundlegende Reformen erfordern, daß in Schach zu halten versuchen. Tatsächlich wiesen, den Bundesrat und den Vermitt- seine Realisierungschancen derzeit sehr begegnen sich die jeweiligen Fachverwal- lungsausschuß als Spielfeld parteipoliti- gering erscheinen. tungen von Bund und Ländern, die häufig scher Rivalitäten zu mißbrauchen. Dieses auch als „Fachbruderschaften“ gekenn- Beispiel zeigt, daß der jeweilige Standort Auch andere Formen der bundes- zeichnet werden. Das heißt, die inhalt- entscheidet, ob man die Auffassung ver- politischen Einwirkungsmöglich- lichen Trennungslinien verlaufen nicht tritt, daß der Bundesrat generell frei sein keiten sind ein Privileg der Landes- nach der institutionellen Verortung auf sollte von parteipolitischen Überlegungen exekutiven den politischen Ebenen, sondern in erster oder ob man dafür plädiert, daß die Län- Linie nach den Fachressorts, die vertreten dermehrheit im Bundesrat ihre Position Die Möglichkeiten der deutschen Länder, werden: hier stehen also z.B. die Vertreter nutzen darf, um Entscheidungen des Bun- ihre Interessen auf Bundesebene zu ver- der Sozial- oder Arbeitsressorts den Fi- destages zu korrigieren oder sogar aufzu- treten und Einfluß auf die Bundespolitik nanzfachleuten gegenüber. heben. zu nehmen, sind nicht auf ihre Mitglied- schaft im föderativen Organ Bundesrat Daß der Anteil der Zustimmungs- Gegenüber den Parteiinteressen beschränkt. Daneben gibt es noch zahlrei- gesetze inzwischen bei 63 Prozent gehen die Länderinteressen keines- che andere, überwiegend informelle Insti- liegt, ist sicher problematisch falls unter tutionen und Verfahren, mittels derer die Länder den Kontakt zu den verschiedenen Die bereits angeführte Unterscheidung Gewisse Veränderungen kann man den- Einrichtungen des Bundes pflegen. Diese zwischen den beiden Typen von Bundes- noch feststellen: So spiegelt sich das in Einwirkungsmöglichkeiten stellen insge- gesetzen und die Kenntnis ihres jeweili- den letzten Jahren gewachsene Selbstbe- samt ein Privileg der Landesexekutiven gen quantitativen Anteils ist nicht nur wußtsein der Länder gegenüber dem dar. Obwohl es ebenfalls institutionalisier- zum Verständnis des Gesetzgebungsver- Bund darin wider, daß es im Bundesrat te Bemühungen etwa der Landtagspräsi- fahrens notwendig. Sie ist darüber hinaus selbst bei abweichenden Mehrheitskon- denten gibt, auch die Belange der Lan- auch Voraussetzung, um die aktuelle Dis- stellationen relativ häufig um den Aus- desparlamente gegenüber der Bundes- kussion über eine mögliche Reform des gleich von Länderinteressen mit dem ebene zu vertreten, kommt diesen deutschen Föderalismus nachvollziehen Bund geht und nicht allein um die Durch- Bemühungen im Vergleich zu den Kon- zu können. Ein Großteil der Kritik am Bun- setzung von Oppositionsforderungen. Ins- takten zwischen Exekutiven und Verwal- desrat entzündet sich daran, daß der An- gesamt kann man demnach feststellen, tungen wenig Bedeutung zu. Dieser Tat- teil der zustimmungspflichtigen Gesetze daß das Bild vom einem durch die Ent- bestand ist nicht nur eine Folge des bun- mit 41,8 % bereits in der ersten Wahl- scheidungsmechanismen des Parteien- desdeutschen Exekutivföderalismus, son- periode des Bundestages (1949–1953) um wettbewerbs blockierten Bundesrat so dern ergibt sich zudem aus der strukturell ein Vielfaches höher lag, als dies der Parla- pauschal nicht zutrifft. Empirische Unter- bedingten Schwierigkeit, parlamentari- mentarische Rat ursprünglich angenom- suchungen zeigen,26 daß es immer wieder sche Interessenlagen in zielgerichtetes men hatte, und in den Folgejahren suk- gerade das Wirken der ebenenübergreife- Handeln umzusetzen. zessive auf derzeit 63 % anstieg. nen politischen Parteien ist, das die Kom- Diese Entwicklung wird aus unterschiedli- promißfindung erleichtern kann. Unge- Die Rolle der Landesvertretungen chen Motiven für problematisch erachtet. achtet gegenteiliger Einzelbeispiele (z.B. Die eine Sichtweise ist vor allem parteipo- das Scheitern der Steuerreform 1997), die Zu den besonders markanten Beispielen litisch begründet und hängt von den vor allem in Wahlkampfzeiten zum der institutionellen Verflechtung von Mehrheitsverhaltnissen zwischen Bund Thema gemacht werden, zeigt sich insge- Bund und Ländern gehören die sogenann- und Ländern ab. Sofern diese divergieren, samt die Neigung zu einer auf Koopera- ten Landesvertretungen.29 Jedes deutsche werden die Kompetenzen des Bundesra- tion angelegten, parteiübergreifenden Land unterhält in Bonn bzw. künftig in tes von der Bundestagsmehrheit und der Mehrheitsbildung. Berlin eine Landesvertretung, an deren von ihr getragenen Regierung als potenti- Doch es ist nicht allein die jeweilige Bun- Spitze immer ein sog. Bevollmächtigter elle Bedrohung der eigenen inhaltlichen destagsmehrheit, die gegebenenfalls die steht – entweder als Minister, der norma- Gestaltungsmöglichkeiten und damit Macht des Bundesrates beklagt und vom lerweise auch dem Landeskabinett an- ihrer politischen Handlungsfähigkeit föderativen Organ eine Selbstbeschrän- gehört, oder als Beamter, der dann meist empfunden und kritisiert. Solche Phasen kung fordert. In der aktuellen Debatte den Rang eines (beamteten) Staatsse- gab es in der Bundesrepublik bereits zwei- über die innovationsfeindlichen Aushand- kretärs inne hat.30 Generell besteht die mal. In den 70er Jahren fiel es der damali- lungsmechanismen, die das politische Aufgabe von Landesvertretungen darin, gen „aufbruchbereiten“ Bundesregierung System der Bundesrepublik prägen, wird die Interessen des Landes beim Bund ausgesprochen schwer, mit dem Zustand sehr kritisch auf den Zusammenhang zwi- wahrzunehmen und auf diese Weise dazu gegenläufiger Mehrheiten, der von der schen der Aufgabenverteilung im deut- beizutragen, die Stellung des jeweiligen Union bewußt ausgenutzt wurde, umzu- schen Bundesstaat und den Kompetenzen Landes im föderativen Aufbau der Bun- gehen. Da sie sich selbst und die eigenen des Bundesrates hingewiesen.27 Kritiker desrepublik zu pflegen. Da eine wirksame Reformvorhaben durch den Ausgang der mahnen eine Reform der bundesstaat- Interessenvertretung voraussetzt, daß die Bundestagswahlen legitimiert sah, mach- lichen Ordnung in der Weise an, daß die Landespolitiker auch über alles informiert te die sozialliberale Bundesregierung der Verhinderungsrechte des Bundesrates im sind, was für ihr Land von Bedeutung sein Union den Vorwurf, den Bundesrat zum System des Beteiligungsföderalismus ein- könnte, müssen die Landesvertretungen Obstruktionsorgan bzw. sogar zu einer geschränkt werden zugunsten einer Stär- die Entwicklungen in den verschiedenen „Gegenregierung“ umzugestalten. Die- kung des Gestaltungsföderalismus: Statt Bundesorganen aufmerksam beobachten. sem Vorwurf traten die Unionsparteien die Landesregierungen über den Bundes- Die besondere Qualität der dort Tätigen

124 sollte darin bestehen, persönliche Kontak- Politik der Bundesregierung mitzutragen. 10) So z.B. die Kompetenz für die wirtschaftliche Siche- rung der Krankenhäuser und die Regelung der Kran- te in alle Bundesorgane hinein zu besitzen Diese Beispiele werfen ein Licht auf die kenhauspflegesätze (Art. 74 Nr. 19 a GG), die Abfall- und diese vorteilhaft nutzen zu können. Funktionsweise des bundesdeutschen Ver- beseitigung, Luftreinhaltung und Lärmbekämpfung Nur dann ist es möglich, die Interessen des bundsystems. Die weitreichenden Mitwir- (Art. 74 Nr. 24 GG), die künstliche Befruchtung beim Menschen und die Organtransplantation (Art. 74 Nr. eigenen Landes schon im Vorfeld der poli- kungsbefugnisse der deutschen Länder an 26 GG) oder die Besoldung und Versorgung der Be- tischen Diskussion zu wahren – also bevor der Gesetzgebung des Bundes sowie das amten und Richter (Art. 74 a GG). Sehr aufschlußreich hierzu die Synopse der Textfassungen des Grundge- sich inhaltliche und parteipolitische Posi- Angewiesensein des Bundes auf die Voll- setzes von 1949 im Vergleich zu heute; vgl. Bauer, An- tionen zu sehr verfestigen. Diese recht zugstätigkeit der Länder haben zur Folge, gela Jestaedt, Matthias: Das Grundgesetz im Wort- laut. Änderungsgesetze, Synopse, Textstufen und aufwendige Kontaktpflege und Interes- daß beide politischen Ebenen im deut- Vokabular zum Grundgesetz. Müller: Heidelberg senwahrnehmung werden von einer Lan- schen Bundesstaat wesentlich enger auf- 1997 (= Motive – Texte – Materialien Band 78). desregierung selten zweckfrei betrieben. einander angewiesen sind, als dies in an- 11) Vgl. Lehmbruch, Gerhard: Parteienwettbewerb im Bundesstaat. Stuttgart u.a.: Kohlhammer 1976, S. 45 Zumeist zielen die entsprechenden Akti- deren föderativen Systemen der Fall ist. (Neuauflage 1998). Vgl. dazu auch den Beitrag von vitäten zumindest mittelfristig darauf ab, Die formalen Mitwirkungsbefugnisse der Gerhard Lehmbruch im vorliegenden Heft. 12) Der Parlamentarische Rat 1948-1949. Band 2: Der Ver- die Landesinteressen vor allem im Rah- Länder an der Bundespolitik haben nicht fassungskonvent auf Herrenchiemsee. Bearbeitet von men der Gesetzgebung wahrzunehmen – nur zur Konsequenz, daß sich die politi- Peter Bucher. Boppard: Boldt 1981, S. 37 ff. sowohl gegenüber dem Bund als auch ge- schen Akteure auf Landesebene häufig 13) So die Einschätzung von Heinz Laufer; ders.: Das föderative System der Bundesrepublik Deutschland. genüber den anderen Ländern, die ja stärker auf bundespolitische als auf lan- München: Bayerische Landeszentrale für politische ebenfalls bemüht sind, auf die Bundesge- despolitische Themen konzentrieren. Bildungsarbeit. 1. Aufl. 1973 bis 6. Aufl. 1991, jeweils unter Gliederungspunkt 4.1.3. In der überarbeiteten setzgebung einzuwirken. Die Tätigkeit Denn umgekehrt bedeutet die häufige Neuauflage Laufer/Münch von 1997 (Anm. 6) wird der Landesvertretungen ist demnach dem Abhängigkeit des Bundes von der Zustim- diese Einschätzung nicht mehr vertreten. 14) Wilhelm Hennis: Am Föderalismus lieg es nicht. In: Gesamtkomplex des sog. kooperativen mung der Mehrheit der Länder, daß auch FAZ vom 14. 8. 1997, Nr. 189, S. 31. Föderalismus zuzurechnen, der sich so- sein Entscheidungsspielraum unter Um- 15) Schüttemeyer/Sturm (Anm. 3), S. 530. wohl als Zusammenarbeit zwischen den ständen entscheidend von der Landesebe- 16) Vgl. dazu die Beiträge von Gerhard Lehmbruch und Hartmut Klatt im vorliegenden Heft. Ländern selbst – der Kooperation auf der ne eingeengt wird. Die Mitwirkungsbe- 17) Während Preußen 17 Stimmen führte, erhielten sogenannten „dritten Ebene“ – als auch fugnisse der Länder an der Bundespolitik nächstgrößere Staaten wie z.B. Bayern (6), Württem- berg (4) und Baden (3) deutlich weniger Stimmen. 11 vor allem in Form des intensiven Zusam- korrespondieren demnach zwangsläufig der damaligen Einzelstaaten hatten so wenig Ein- menwirkens von Bund und Ländern prä- mit der Verpflichtung des Bundes, diese wohner, daß sie jeweils nur über 1 Stimme im Bun- sentiert.31 Einwirkungsmöglichkeiten vor allem der desrat verfügten. 18) Vgl. Ziller/Oschatz (Anm. 8), S. 62 f. Landesexekutiven nicht nur bereits früh- 19) Zur Unterscheidung verschiedener Zweikammer- Insgesamt wird das politische zeitig einzuplanen, sondern sie auch als le- Systeme nach ihren Kompetenzen im Verhältnis zur Ersten Kammer und nach ihrer Zusammensetzung Alltagsgeschäft von Kooperation gitime Kompetenz der Länder zu akzeptie- vgl. Arend Lijphart: Democracies. Patterns of Majori- und Koordination der Verwaltungen ren. Auf diese Weise schaffen die Akteure tarian and Consensus Government in Twenty-One Countries. New Haven u.a.: Yale U. P. 1984, S. 95 ff. betrieben auf der Bundesebene die notwendige Vor- 20) Vgl. den Katalog von zustimmungspflichtigen Geset- aussetzung dafür, daß die Mitwirkung der zen bei Reuter, Konrad: Praxishandbuch Bundesrat. Insgesamt wird das politische Alltagsge- Länder an der Bundespolitik nicht in politi- Verfassungsrechtliche Grundlagen, Kommentar zur Geschäftsordnung, Praxis des Bundesrates. Heidel- schäft im deutschen Bundesstaat von der schem Stillstand und Reformstau mündet, berg: Müller 1991, S. 160 ff. Kooperation und Koordination der Ver- sondern in einer gewaltenteiligen, kon- 21) Einige Anlehnungen an das Bundesratsmodell lassen sich beim 1997 geschaffenen National Council of Pro- waltungen von Bund und Ländern be- sensorientierten Konfliktlösung. vinces der Republik Südafrika feststellen. Der Natio- stimmt. Die meisten dieser Bund-Länder- nalrat der Provinzen setzt sich aus 90 Delegierten (10 Kommissionen, deren Zahl in die Hunder- aus jeder Provinz) zusammen. Bei Gesetzentwürfen Literaturhinweise des Zentralstaates, die die Provinzen betreffen, stim- te geht, klären gemeinsam Fragen von men die Provinzdelegationen aufgrund vorheriger Politik und Verwaltung, die in sämtlichen 1) Vgl. Bothe, Michael: Die Kompetenzstruktur des Instruktion durch die Provinzparlamente mit einer modernen Bundesstaates in rechtsvergleichender Stimme pro Delegation ab. Ansonsten erfolgt die Fachministerien in Bund und Ländern auf- Sicht. Berlin u.a.: Springer 1977 (= Beiträge zum aus- Abgabe der dann einzelnen Delegiertenstimmen tauchen, und koordinieren gegebenen- ländischen öffentlichen Recht und Völkerrecht Band nach parteipolitischer Orientierung. 69), S. 84 ff 22) Vgl. dazu den Beitrag von Gerhard Lehmbruch im falls die notwendigen Maßnahmen und 2) Vgl. Sturm, Roland: Föderalismus in Deutschland und vorliegenden Heft. Regelungen. Da sich die Ministerialbüro- in den USA – Tendenzen der Angleichung? In: Zeit- 23) Vgl. Reuter (Anm.20), S.52 f. kraten von Bund und Ländern in diesen schrift für Parlamentsfragen 28 (1997), S. 335–345, 24) In seiner Rede zum 50. Jahrestag der Verfassung des hier: S. 339. Landes Nordrhein-Westfalen und zum Föderalismus Gremien normalerweise als gleichberech- 3) Vgl. Schüttemeyer, Suzanne S./Sturm, Roland: Wozu am 2. 10. 1996 in Düsseldorf. Die Rede ist abrufbar tigte Partner begegnen, die beidseitig Zweite Kammern? Zur Repräsentation und Funk- über die Homepage des Bundespräsidenten im Inter- tionalität Zweiter Kammern in westlichen Demokra- net: http://www.bundespraesident.de/ aufeinander angewiesen sind, kann man tien. In: Zeitschrift für Parlamentsfragen 23 (1992), 25) Vgl. den Erfahrungsbericht des Chefs der Hessischen in diesem Zusammenhang kaum davon S. 517–536, hier: S. 532 f. Staatskanzlei, Hans Joachim Suchan: Warum der Bun- 4) sprechen, daß hier allein die Länder die Vgl. dazu Weber, Karl: Kriterien des Bundesstaates. desrat so mächtig geworden ist. In: Frankfurter Rund- Eine systematische, historische und rechtsverglei- schau vom 27. 7. 1998. Mitwirkung an der Bundespolitik suchen. chende Untersuchung der Bundesstaatlichkeit der 26) Vgl. Renzsch, Wolfgang: Föderalstaatliche Konflikt- Auch bei den Besprechungen des Bundes- Schweiz, der Bundesrepublik Deutschland und Öster- lösung durch parteipolitische Kartellbildung? Unver- reichs. Wien: Braumüller 1980 (= Schriftenreihe des öffentlichtes Manuskript 1998. kanzlers mit den Regierungschefs der Län- Instituts fur Föderalismusforschung Band 18). 27) Vgl. den Beitrag des Chefs der Hessischen Staatskanz- der liegt keine einseitige Einflußnahme 5) Darunter versteht man die Praxis der schweizerischen lei, Hans Joachim Suchan: Warum der Bundesrat so Regierung (Bundesrat), z.B. Gesetzentwürfe vor der mächtig geworden ist. In: Frankfurter Rundschau vor. Zu diesen Treffen reisen die Regie- parlamentarischen Einbringung zunächst betroffenen vom 27. 7. 1998. Vgl. auch Lambsdorff, Otto Graf: Plä- rungschefs der Länder mit Positionspapie- Verbänden, Organisationen und den Parteien zur doyer für einen echten Föderalismus. In: Süddeutsche ren und Stellungnahmen an, in denen sie Stellungnahme zuzuleiten. Die Kantone sind an dieser Zeitung vom 1. 9. 1997; vgl. das Interview mit Lambs- vorparlamentarischen Willensbildung beteiligt. dorff: Die Länder stoppen - weg mit der Macht des die Eigeninteressen des Landes ebenso 6) Zur Unterscheidung vgl. Schultze, Rainer-Olaf: Art. Bundesrats! In: Süddeutsche Zeitung vom 8. 8. 1997. präsentieren wie ihre Sichtweise der Bun- Föderalismus. In: Schmidt, Manfred G. (Hrsg.): Die 28) Vgl. Männle, Ursula (Hrsg.): Föderalismus zwischen westlichen Länder. Lexikon der Politik. Band 3. Hrsg. Konsens und Konkurrenz. Tagungs- und Materialien- despolitik. Gleichzeitig ist aber gerade von Dieter Nohlen. München: Beck 1992, S. 95–110. band zur Fortentwicklung des deutschen Föderalis- auch der Bundeskanzler daran interes- Vgl. Laufer, Heinz/Münch, Ursula: Das föderative Sy- mus. Baden-Baden: Nomos 1998 (= Schriftenreihe des siert, dieses in § 31 der Geschäftsordnung stem der Bundesrepublik Deutschland. München: Europäischen Zentrums für Föderalismus-Forschung Bayerische Landeszentrale für politische Bildungsar- Band 15). der Bundesregierung geregelte Instru- beit 1997 (7. Aufl.), S. 20 ff. (bzw.: Opladen: Leske + 29) Vgl. dazu Münch, Ursula: Vertretung des Freistaates ment dazu zu nutzen, die Landeschefs für Budrich 1998, S. 23 ff.). Bayern in Bonn. In: Kokott-Weidenfeld, Gabriele/ 7) Ottnad, Adrian/Linnartz, Edith: Föderaler Wettbe- Münch, Ursula (Hrsg.): Bayern und Bonn. Der Beitrag bestimmte politische Absichten zu gewin- werb statt Verteilungsstreit. Vorschläge zur Neuglie- Bayerns zu fünfzig Jahren Bundesrepublik. München: nen. Diese Notwendigkeit ist naturgemäß derung der Bundesländer und zur Reform des Finanz- Bayerische Landeszentrale für politische Bildungs- ausgleichs. Eine Studie des IWG Bonn. Frankfurt a.M. arbeit (1999) (i.E.). dann besonders groß, wenn die Bundesre- New York: Campus 1997, S. 126 ff. 30) Beamtete Staatssekretäre als Bevollmächtigte der gierung und die Bundestagsmehrheit sich 8) Die Geschäftsordnung ist abgedruckt in: Bundesrat Länder gibt es in Hessen, Mecklenburg-Vorpommern, einer Konstellation im Bundesrat gegen- (Hrsg.): Handbuch des Bundesrates für das Geschäfts- Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Rheinland- jahr 1998/99. Stand 1. Januar 1999. Baden-Baden: Pfalz, dem Saarland und Sachsen-Anhalt. In Bremen übersehen, die entweder aufgrund der Nomos 1999 bzw. bei Laufer, Heinz/Münch, Ursula ist der Bevollmächtigte Staatsrat. parteipolitischen Mehrheitsverhältnisse (Anm. 6). Ausführlich erläutert wird sie z.B. von Ziller, 31) Vgl. Kilper, Heiderose/Lhotta, Roland: Föderalismus in Gebhard/Oschatz, Georg-Berndt: Der Bundesrat. Düs- der Bundesrepublik Deutschland. Opladen: Leske + oder aufgrund dezidiert föderativer seldorf: Droste 1998 (10. Aufl.) (= Ämter und Organi- Budrich 1996 (Grundwissen Politik 15), S. 131 ff. Konfliktlinien, wie dies häufig bei Fragen sationen der Bundesrepublik Deuschland Band 6). 9) Vgl. Münch, Ursula: Sozialpolitik und Föderalismus. der Lasten- und Finanzverteilung der Fall Zur Dynamik der Aufgabenverteilung im sozialen ist, nicht von vornherein bereit ist, die Bundesstaat. Opladen: Leske + Budrich 1997, S. 143 ff.

125 Fünf Zahler- und zehn Empfängerländer Der Streit um den Finanzausgleich Die Finanzverfassung als Problem des Bundesstaates

Von Wolfgang Renzsch

Prof. Dr. Wolfgang Renzsch lehrt Poli- in Art. 30 GG), die Kompetenzen des Bun- Für die Bundesrepublik typisch ist die tikwissenschaft an der Universität Magde- des werden einzeln, „enumerativ“ aufge- „funktionale Aufgabenteilung“ burg. führt. Ferner wird bestimmt, in welcher Weise die Gliedstaaten an der Politik des „Funktionale Aufgabenteilung“ heißt Ein föderalistisch organisiertes Staatswe- Bundes mitwirken (Art. 50ff. GG). konkret, daß Gesetzgebung und Vollzug sen wie das der Bundesrepublik Deutsch- Die Wahrnehmung staatlicher Aufgaben – in weiten Bereichen der Innen- und Fi- land benötigt eine klare Verteilung der sei es die Gesetzgebung oder die Aus- nanzpolitik nicht nach Politikfeldern oder Aufgaben und der damit verbundenen führung von Gesetzen – kostet Geld und Aufgabenbereichen, wie z.B. Sozial- oder Ausgaben, für die wiederum entspre- bürdet den jeweils zuständigen Gebiets- Forschungspolitik, sondern nach Funktio- chende Einnahmen erforderlich sind. Da körperschaften finanzielle Lasten auf. Die nen aufgeteilt sind. Der Bund ist sehr sich diese verschiedenen Bereiche aber Aufteilung der staatlichen Aufgaben auf weitgehend zuständig für die Gesetzge- unterschiedlich entwickeln, sind Anpas- den Bund und seine Glieder wäre daher bung, den Ländern obliegt in erheblichem sungs- und Ausgleichsregelungen erfor- unvollständig, wenn nicht zugleich auch Umfang der Vollzug der Bundesgesetze: derlich, die sich in der jeweiligen Finanz- die Verteilung der staatlichen Lasten gere- Die Zuständigkeiten und Tätigkeit der verfassung niederschlagen. gelt würde. Aufgabe der Finanzverfas- Landesverwaltungen werden damit zu Traditionell liegt in Deutschland die sung ist hierbei, nicht nur die Lastenvertei- einem sehr großen Teil durch die Beschlüs- Gesetzgebungskompetenz weitgehend lung (Art. 104 a GG) zu regeln, sondern se des Bundesgesetzgebers bestimmt. beim Bund – mit im Laufe der Zeit stei- insbesondere auch für eine Aufteilung der Der Bund hat seine überlieferten umfang- gender Tendenz –, die Ausführung mit Steuerquellen und Steuererträge (Art. reichen Zuständigkeiten im Bereich der Hilfe der Verwaltung jedoch bei den Län- 105–107 GG) zu sorgen. Idealerweise kor- konkurrierenden Gesetzgebung und Rah- dern. Dementsprechend sollte die Auftei- respondieren Lasten- und Finanzvertei- mengesetzgebung (Art. 74–75, 105 GG) lung der Einnahmen bedarfsorientiert, lung: jede Gebietskörperschaft partizi- seit 1949 – teilweise erst auf Drängen, nicht aufkommensorientiert erfolgen. piert in der Weise an den Steuererträgen, aber immer mit Zustimmung der Länder – Die Dominanz des Bundes im Bereich der daß sie selbständig in der Lage ist, Einnah- kontinuierlich erweitert und extensiv aus- Gesetzgebung dient der Herstellung glei- men und Ausgaben zur Deckung zu brin- geschöpft. Die den Ländern verbliebene cher oder doch zumindest gleichwertiger gen. Gesetzgebung beschränkt sich auf wenige Lebensverhältnisse überall in der Bundes- Bereiche. Für diese, zumindest soweit es republik. Das hat aber notwendigerweise Die Verteilung der Einnahmen ist sich um Pflichtaufgaben handelt (z.B. einen Finanzausgleich zwischen den Län- verständlicherweise konfliktreich weite Teile der Bildungspolitik und der in- dern zur Folge – durch Finanzhilfen des neren Sicherheit), haben sie sich – teilwei- Bundes und durch den Ausgleich der Das Herstellen einer Konkordanz von se unter Beteiligung des Bundes – auf ein- Länder untereinander. Denn die Lei- Steuereinnahmen und öffentlichen Lasten heitliche Standards, z.B. beim Abitur, ver- stungsansprüche, die aus Bundesgeset- ist in der Bundesrepublik äußerst schwie- ständigt. zen folgen, sind überall gleich. rig. In der Regel sind die Auseinanderset- Der Vollzug von Bundesgesetzen liegt, So mag es nicht verwundern, daß die zungen um die Aufteilung der staatlichen von bestimmten Ausnahmen abgesehen Geschichte der Bundesrepublik auch eine Einnahmen zwischen Bund und Ländern (Art 86ff. GG), entweder als „eigene An- Geschichte immer neuer Auseinanderset- konfliktreich und langwierig. Davon zeu- gelegenheit“ (Art. 83 f. GG) oder als Bun- zungen zwischen Bund und Ländern über gen die jüngsten Klagen der Länder desauftragsverwaltung (Art. 85 GG) in der die Aufteilung der Finanzen war und nach Baden-Württemberg, Bayern und Hessen Hand der Länder (für die Finanzverwal- wie vor ist. Denn schließlich geht es um vor dem Bundesverfassungsgericht. Die tung vgl. Art. 108 GG). Mit der Zuständig- die Verteilung politischer Handlungschan- Konfliktintensität erklärt sich daraus, daß keit für die Ausführung von Bundesgeset- cen. Red. aufgrund der „funktionalen Aufgabentei- zen fällt den Ländern im Regelfall (Art. lung“ und der daraus erwachsenen „Poli- 104 a GG; Ausnahmen Art. 104 a Abs. 2 – 4 tikverflechtung“ Bund und Länder nicht GG) auch die Finanzverantwortung zu. Die Aufteilung der oder nur begrenzt in der Lage sind, jeweils Die Finanzverantwortung folgt in der Staatsaufgaben hat die Verteilung für sich ihre Einnahmen und Ausgaben zu Bundesrepublik damit nicht der „Geset- der Lasten zur Folge bestimmen. Angesichts knapper Kassen zes“-, sondern der „Vollzugskausalität“. und stagnierender Steuerzuwächse, die Ein Beispiel: Aufgrund eines Bundesgeset- Die Bundesrepublik Deutschland ist ein faktisch keine Konfliktbefriedung durch zes hat jeder Dreijährige in Deutschland Bundesstaat (Art. 20 Abs. 1 GG). Bundes- Zuwächse erlauben, gleicht die Auftei- einen Rechtsanspruch auf einen Kinder- staaten setzen sich aus den sie konstitu- lung der Steuererträge einem „Null-Sum- gartenplatz. Kindergartenplätze werden ierenden Gliedstaaten (in Deutschland men-Spiel“: was eine Gebietskörperschaft aber nicht vom Bund, sondern von den werden sie „Länder“ genannt) zusammen gewinnt, verliert eine andere. Da die Kommunen (die Teil der Länder sind) ge- und teilen sich mit dem Bund die staat- knappe Ressource „Geld“ entscheidend schaffen und unterhalten. Damit obliegt lichen Hoheitsfunktionen, die sie jeweils für politische Gestaltungsmöglichkeiten die Finanzierung dieser Aufgabe den Ge- eigenständig, d. h. auch in eigener finan- ist, kann die Gebietskörperschaft, die das meinden (und damit indirekt den Län- zieller Verantwortung, wahrnehmen. In Geld in ihrer Kasse hat, damit politisch dern); der Bund, der die Kosten veranlaßt den Verfassungsurkunden von Bundes- handeln; die, der es fehlt, hat diese Mög- hat, trägt keinen Anteil daran. staaten ist niedergelegt, welche staatliche lichkeit nicht. Deshalb geht es beim Durch die Bundesgesetzgebung werden Ebene – Bund oder Gliedstaaten – für wel- Finanzausgleich letztlich um die Vertei- damit das Handeln und die Ausgaben der che Aufgaben zuständig ist. Im Regelfall lung der entscheidenden Ressource von Länder in erheblichem Umfang, ihre steu- wird von einer Zuständigkeitsvermutung Politik, von politischen Handlungschan- erlichen Einnahmen wegen des hier ge- zugunsten der Länder ausgegangen (z.B. cen. gebenen Gesetzgebungsmonopols des

126 Bundes (Art. 105 GG) ausschließlich voneinander erklärt bereits zu einem er- bestand Einigkeit – blieb den Verwaltun- bundesgesetzlich festgelegt. Die Gleich- heblichen Teil die Konfliktintensität dieser gen der Einzelstaaten vorbehalten. Die heit vor dem Gesetz (Art. 3 Abs. 1 GG) Materie. Weimarer Reichsverfassung hielt trotz und das Sozialstaatsgebot (Art. 20 Abs. 1 ihrer unitarischen Anlage (vor allem in GG) gebieten, gegenüber den Bürgern Die Dynamik des Bundesstaates Folge der Erzberger‘schen Finanzreform) Bundesgesetze in gleicher Weise zu voll- erfordert immer neue Anpassungen im Grundsatz daran fest. Eine Ausnahme ziehen. Die weitgehende Angleichung bildete die Reichsfinanzverwaltung. der Lebensverhältnisse in den verschiede- So haben die im Vermittlungsausschuß Durch das Grundgesetz von 1949 wurden nen Teilen der (alten) Bundesrepublik ist verhandelten Gesetze fast alle in irgend- das hergebrachte Prinzip der funktiona- deshalb weniger eine Folge der vielfach einer Weise mit der Lasten- und Finanz- len Aufgabenteilung bestätigt und ge- diskutierten Verfassungssätze, die die verteilung zwischen den Ebenen zu tun. stärkt, das Bund-Länder-Verhältnis ge- „Herstellung gleichwertiger Lebensver- Eine „parteipolitische Instrumentalisie- genüber der Weimarer Reichsverfassung hältnisse“ (Art. 72 Abs. 2 GG) oder die rung“ ist selten. Es gibt allerdings eine dezentralisiert (z.B. durch die Aufteilung Wahrung der „Einheitlichkeit der Lebens- Reihe von Gesetzen, mit denen eine Bun- der Finanzverwaltung auf Bund und Län- verhältnisse im Bundesgebiet“ (Art. 106 desregierung ihre (partei-)politischen der), und dem Bund im Bereich der Innen- Abs. 3 Ziff. 2 GG) postulieren, oder gar Ziele verfolgt, die Länder aber die Lasten politik im wesentlichen nur die regulati- Folge bewußter tragen sollen. Die Bereitschaft der einzel- ven Aufgaben, den Ländern in weitem politischer Entscheidungen als vielmehr nen Landesregierungen, in diesen Fällen Umfang der Vollzug von Bundesgesetzen Konsequenz der funktionalen Aufgaben- Lasten zu übernehmen, hängt auch von übertragen. Von dieser Form der födera- teilung: je mehr und je detaillierter die der parteipolitischen Übereinstimmung len Aufgabenteilung wandte man sich Lebensverhältnisse vom Bund reguliert mit der Bundesregierung ab. lediglich während der beiden deutschen werden, desto einheitlicher werden sie. Verschärft werden die Konflikte durch die Diktaturen 1933–1945 („Drittes Reich“) dem Bundesstaat innewohnende Dyna- und 1949–1989 (DDR) ab. Der Finanzausgleich als mik: die Belastungen der einzelnen staat- In Übereinstimmung mit früheren Bestim- notwendige Folge lichen Ebenen verändern sich teils durch mungen wies das Grundgesetz seit 1949 externe Ereignisse, teils durch politisch ge- die Lasten für die Ausführung von Bun- Aus dieser Form der föderalen Aufgaben- wollte Entwicklungen im Laufe der Zeit. desgesetzen im Regelfall nicht der veran- teilung folgt die Notwendigkeit, die Län- Beispielhaft hierfür ist die Entwicklung lassenden, sondern der ausführenden der finanziell in die Lage zu versetzen, die seit 1989. Aufgrund des Zusammenbruchs staatlichen Ebene zu. Ursprünglich folgte ihnen obliegenden Aufgaben wirksam zu des kommunistischen Herrschaftssystems dieses Prinzip implizit aus den Bestimmun- erfüllen. Das Verfassungsgebot, die Fi- und der dadurch veränderten sicherheits- gen der Art. 30 und 83 GG, seit 1955 be- nanzkraft der Länder „angemessen“ aus- politischen Lage konnten im letzten Jahr- stimmt der Verfassungstext explizit: „Der zugleichen (Art. 107 Abs. 2 GG), folgt aus zehnt erstmals in der Geschichte der Bun- Bund und die Länder tragen gesondert der funktionalen Aufgabenteilung und ist desrepublik die Verteidigungsausgaben die Ausgaben, die sich aus der Wahrneh- sinnvollerweise im Hinblick auf die Lasten (Bundesausgaben) real und nominal ge- mung ihrer Aufgaben ergeben ...“ (Art. der Länder auszulegen. Den Bund und die senkt werden. Auf der anderen Seite wur- 106 Abs. 4 Ziff. 1 GG i.d.F. 23. 12. 1955; Art. Länder – jedes für sich – in die Lage zu ver- den die Länder und Gemeinden infolge 104 a Abs. 1 GG i.d.F. 12. 5. 1969). setzen, ihre Aufgaben wirksam zu erfül- der nun offenen Grenzen und der Zuwan- Bereits bei der Verabschiedung des len, ist der zentrale Auftrag an die Finanz- derung in die Bundesrepublik mit drama- Grundgesetzes waren – trotz Art. 70 verfassung und an den Finanzausgleich. tisch erhöhten Sozialhilfelasten, z.B. für Abs. 1 GG1 – weite Teile der der konkurrie- Weil die originäre Verteilung der Steuern Asylbewerber, zusätzlich belastet. Dazu renden Gesetzgebung unterworfenen unter den Ländern stark variiert, ungleich- kamen erhebliche Aufwendungen für den Materien bereits faktisch durch bundesge- mäßig und nicht aufgabengerecht ist, Aufbau in den neuen Ländern. Wegen setzliche Regelungen normiert, denn das wird ein Finanzausgleich benötigt, der es dieser Umstände, aber auch wegen der Grundgesetz bestimmte, „Recht aus der den Ländern unabhängig von ihrer ori- extremen Finanzschwäche der neuen Län- Zeit vor dem Zusammentritt des Bundes- ginären Finanzkraft ermöglicht, ihren ver- der mußten die bestehenden Verteilungs- tages gilt fort, soweit es dem Grundgesetz fassungsmäßigen Aufgaben hinreichend regeln an die veränderten Bedingungen nicht widerspricht“ (Art. 123 Abs. 1 GG). gerecht zu werden. Das gegenwärtig angepaßt werden. – Diese Dynamik des Außerdem wurde Recht, das Gegenstände praktizierte und vielfach kritisierte Bundesstaates, sei sie extern oder intern der konkurrierenden Gesetzgebung des Finanzausgleichsverfahren mit einer verursacht, erfordert von Zeit zu Zeit An- Bundes betraf, Bundesrecht, soweit es in- hohen Angleichung der Finanzkraft der passungen in der Balance zwischen Bund nerhalb einer oder mehrerer Besatzungs- Länder ergibt sich aus dem Gebot der und Ländern, damit die einzelnen Ebenen zonen einheitlich galt oder soweit es sich gleichmäßigen Aufgabenwahrnehmung des Staates ihren Aufgaben auch weiter- um Recht handelte, durch das nach dem durch die Länder. hin gerecht werden können. Gerade unter 8. Mai 1945 früheres Reichsrecht abgeän- Die Gestaltung der föderalen Finanzbe- Bedingungen knapper Kassen erweisen dert wurde (Art. 125 GG). Damit wurde ziehungen war und ist in der Bundesrepu- sich diese Anpassungsprozesse meist als faktisch der Bestand an Reichsrecht und blik sehr schwierig, konfliktreich und äußerst schwierig und konfliktreich. zonalem Recht, soweit es mit dem Grund- langwierig. Nahezu jede bundesgesetz- gesetz in Einklang stand, Bundesrecht. liche Regelung, die Auswirkungen auf die Die Finanzordnung des Grund- Lasten- und Steuerverteilung zwischen gesetzes von 1949 war zunächst Nahezu die gesamte Steuergesetz- Bund und Länder hat, ist im Bundesrat zu- ein Provisorium gebung in der Hand des Bundes stimmungspflichtig und kann daher nur in Übereinstimmung von Bund und Ländern Die „funktionale“ Aufgabenteilung“, wie Das galt auch für die Steuergesetzge- geregelt werden. Die Zustimmungspflich- wir sie heute kennen, gewann ihre heuti- bung, in deren Bereich die Autoren des tigkeit von Gesetzen, die in die Verwal- ge Ausprägung im wesentlichen in den Grundgesetzes nennenswerte Landes- tung der Länder (Art. 84 Abs. 1 und 2 GG) 50er und 60er Jahren. Diese Entwick- kompetenzen ablehnten. Im Interesse der oder deren Finanzen (s. dazu die Spezial- lungstendenz war jedoch bereits bei der Wirtschaftseinheit und zur Vermeidung bestimmungen in Art. 91 a, 104 a ff. GG) Gründung des föderal verfaßten Deut- eines Steuergefälles in der Bundesrepu- eingreifen, ist unabdingbar. Ohne sie schen Reiches von 1871 angelegt worden. blik wurde die Steuergesetzgebung, teils wäre der Bund nicht gehindert, seine poli- Bei der Reichsgründung ging es den deut- als ausschließliche, teils als konkurrieren- tischen Interessen und Ziele ohne Rück- schen Einzelstaaten darum, einen gemein- de, dem Bund zugewiesen (Art. 105 GG). sicht auf die Leistungsfähigkeit und Inter- samen Wirtschafts- und Rechtsraum zu Ähnlich wie bereits in der Weimarer Repu- essen der Länder durchzusetzen. Die Län- schaffen, also Regelungen zu vereinheitli- blik befindet sich seit 1949 nahezu die ge- der würden zu bloßen Vollzugsorganen chen, nicht jedoch darum, den Einzelstaa- samte Steuergesetzgebung in der Hand des Bundes ohne föderatives Eigenleben. ten den Vollzug und damit die öffentliche des Bundes. Allein die Verflechtung zwischen den Verwaltung aus der Hand zu nehmen. Die Die Verteilung der Steuererträge sollte staatlichen Ebenen und ihre Abhängigkeit Ausführung von Reichsgesetzen – darüber nach den Vorstellungen des Parlamentari-

127 schen Rates bedarfsorientiert, nicht auf- dern die Haushaltsaufstellung ganz er- schen Ländern entschieden abgelehnt, kommensorientiert angelegt werden. heblich, denn keine Seite konnte mit Ge- denn sie fürchteten, auf diese Weise in die Dessen ursprüngliches Konzept wies mit wißheit ihre Steuereinnahmen kalkulie- finanzielle Abhängigkeit des Bundes zu der heutigen Verfassungslage einige be- ren. geraten. merkenswerte Ähnlichkeiten auf: In ei- Bei der Gestaltung des Grundgesetzes be- Nach dem Inkrafttreten des Grundgeset- nem großen Steuerverbund sollten die stand nicht nur im Hinblick auf den verti- zes und bei dessen institutioneller Umset- Einkommen- und Körperschaftsteuer so- kalen Finanzausgleich große Unsicherheit, zung (Wahl des Bundestages und der Bun- wie die Umsatzsteuer zusammengefaßt sondern auch hinsichtlich der Steuerver- desregierung, Einrichtung der Bundes- und durch ein Finanzausgleichsgesetz teilung unter den Ländern, also des hori- behörden etc.) spielte diese Auseinander- zwischen Bund und Ländern aufgeteilt zontalen Finanzausgleichs. Die Lasten- setzung keine Rolle mehr. In der Staats- werden. Im übrigen sollten die Länder im und Finanzverteilung unter den Ländern praxis wurde das von den Deutschen be- wesentlichen die Erträge der direkten, der schwankte vor der Gründung der Bundes- vorzugte Modell eines Länderfinanzaus- Bund die der Verkehrs- und Verbrauchs- republik sehr. Die ungleichmäßig streuen- gleichs verwirklicht. Er litt allerdings, wie steuern erhalten. Für bestimmte den Län- den Steuern wie Zölle und bestimmte Ver- auch der vertikale Ausgleich, während der dern zufließende Steuern oder Steueran- brauchssteuern flossen nur einigen weni- frühen Jahren der Bundesrepublik unter teile waren Bedarfsschlüssel wie Zahl der gen Ländern zu, die Lasten, insbesondere der Kurzfristigkeit und der Nachträglich- Einwohner oder die Straßenlänge vorge- die Kriegsfolgelasten (Flüchtlinge aus den keit der Regelungen. Zudem waren die sehen. Dieses Konzept scheiterte aller- ehemals deutschen Ostgebieten) fielen in Ausgleichszahlungen anfangs vergleichs- dings am Widerstand der Alliierten, die anderen Ländern an. In der Konsequenz weise gering und gaben Anlaß zu perma- für eine Trennung und Aufteilung der hatten einige Länder vergleichsweise nenten Auseinandersetzungen um ihre Steuerquellen auf Bund und Länder hohe, teilweise sehr hohe Steuereinnah- Höhe. Die Finanzkraft der finanzschwäch- (Trennsystem) eintraten. Weil wegen die- men, andere, insbesondere die „ärme- sten Länder wurde auf nur etwa 75 Pro- ser deutsch-alliierten Kontroverse keine ren“, bei geringen Einnahmen überpro- zent pro Einwohner des Länderdurch- abschließende Regelung möglich war, be- portional hohe Lasten zu tragen: Im Jahr schnitts2 angehoben, eine garantierte auftragte das Grundgesetz den Bundesge- 1947 hatte Hamburg (als „reichstes“ Land) Mindestausstattung war nicht vorgese- setzgeber, bis zum 31. Dezember 1952 die pro Kopf Steuereinnahmen in Höhe von hen. „endgültige Verteilung der der konkurrie- 1078 RM, Schleswig-Holstein (als „ärm- Im Grundsatz erwiesen sich sowohl die renden Gesetzgebung unterliegenden stes“ Land) nur 223 RM. Von der Übertra- Verfahren als auch die finanziellen Lei- Steuern auf Bund und Länder“ vorzuneh- gung der ungleichmäßig streuenden Steu- stungen im horizontalen Finanzausgleich men (Art. 107 GG i.d.F. 1949). Das geschah ern und der gesamtstaatlichen Lasten (vor der frühen 50er Jahre als unbefriedigend. dann – für einen Zeitraum von 14 Jahren – allem Kriegsfolgelasten und Besatzungs- im Zuge der Finanzreform von 1955. kosten) auf den Bund erhoffte man sich Die Finanzreform von 1955 sollte einen erheblichen Ausgleich unter den der Verstetigung der föderalen Von Anfang an faktisch Ländern. Kaum zu beantworten war für Finanzbeziehungen dienen ein Steuerverbund den Parlamentarischen Rat die Frage, ob ein solcher „Lastenausgleich“ hinreichend Die Ziele der Finanzreform von 1955 folg- Daß die Grundgesetzfassung von 1949 die sein würde. ten aus den Problemen der unübersicht- Steuererträge nach einem Trennsystem lichen Jahre zuvor. Es galt, dauerhafte und verteilen wollte, wie oftmals behauptet Zwei Varianten: verläßliche Regelungen zu schaffen und wird, ist nur sehr vordergründig richtig. Zuweisungen des Bundes und damit die permanenten Auseinanderset- Nachdem im Streit mit den Alliierten der Ausgleichszahlungen der Länder zungen um die Finanzverteilung im Bun- große Steuerverbund nicht verwirklicht desstaat zu entschärfen, und es galt, die werden konnte, wurde zwar formal ein Mit den Absätzen 3 und 4 des Art. 106 GG finanzielle Ausstattung von Bund und Trennsystem eingeführt, aber Art. 106 in der Fassung von 1949 ermöglichte der Ländern sicherzustellen. Abs. 3 GG i.d.F. 1949 erlaubte dem Bund, Verfassungsgeber zwei verschiedene Va- Im Bereich der vertikalen Steuerverteilung durch zustimmungspflichtiges Bundesge- rianten eines horizontalen Finanzaus- wurde als neues Element eine Gemein- setz einen Teil der Einkommen- und Kör- gleichs, nämlich Zuweisungen des Bundes schaft- oder Verbundsteuer geschaffen: perschaftsteuer in Anspruch zu nehmen an die Länder zur Erfüllung von Landes- Dem Bund wurde verfassungsrechtlich ein und damit faktisch einen kleinen Steuer- aufgaben (Abs. 3) sowie einen Länder- Anteil an der Einkommen- und Körper- verbund zu schaffen. Seit 1951 machte der finanzausgleich durch Ausgleichszahlun- schaftsteuer zugebilligt, für den Zeitraum Bund von dieser Klausel Gebrauch, 1955 gen der Länder untereinander (Abs. 4). bis 1958 wurde der Bundesanteil sogar im wurde der Steuerverbund dann verfas- Diese beiden Möglichkeiten und die teil- Grundgesetz fixiert, danach konnte er im sungsrechtlich vorgeschrieben. weise schwer verständlichen Formulierun- Zweijahresrhythmus durch einfaches Bun- Diese „Inanspruchnahmeregelung“ der gen des Art. 106 Abs. 4 GG (1949) gehen desgesetz mit Zustimmung des Bundes- Jahre 1951 bis 1955 war ambivalent. Ei- auf einen Kompromiß mit den Alliierten rates verändert werden. Der verfassungs- nerseits erwies es sich als vorteilhaft, eine zurück, die das Grundgesetz genehmigen rechtliche Anspruch des Bundes auf einen solche Klausel zur Flexibilisierung des ver- mußten. Auf deutscher Seite, insbesonde- Teil der Einkommen- und Körperschaft- tikalen Finanzausgleichs zu haben, denn re unter den Ländern, favorisierte man steuer und die mehrjährige, nun auf kom- sonst hätte der Bund insbesondere die einen Länderfinanzausgleich (Ausgleichs- mende Haushaltsjahre bezogene Rege- Kriegsfolgelasten und seine sozialpoliti- zahlungen der Länder untereinander), der lung ersparten dem Bund das jährliche schen Aufgaben nicht finanzieren kön- eine reine Angelegenheit der Länder blei- nachträgliche Aushandeln von Anteilen nen. Andererseits war aber das Verfahren ben sollte. Lediglich zur Vermeidung des und erhöhten damit seine Planungssicher- der Inanspruchnahme von Teilen der Ein- Einstimmigkeitsprinzips sollte er bundes- heit erheblich. Wegen des Widerstandes kommen- und Körperschaftsteuer sehr gesetzlich, nicht staatsvertraglich geregelt der Länder vermied man zwar den Begriff aufwendig und kompliziert: Der Bund werden. Die Alliierten, vor allem die Ame- „Gemeinschaft“- oder „Verbundsteuer“, mußte den Ländern seinen Ausgabebe- rikaner (General Clay) lehnten dieses Kon- aber der Sache nach war damit der „klei- darf belegen und begründen, denn er zept ab, denn mit den amerikanischen ne Steuerverbund“ verfassungsrechtlich benötigte die Zustimmung der Länder, um Föderalismusvorstellungen war es nicht abgesichert. seine Ansprüche durchzusetzen. Die Rege- vereinbar, durch ein Bundesgesetz in die Zugleich wurde auch der horizontale Aus- lungen erfolgten in Jahresgesetzen, die Haushalte der Länder für Ausgleichszah- gleich auf eine dauerhafte Grundlage ge- Auseinandersetzungen um die konkrete lungen untereinander einzugreifen. Sie stellt und deutlich intensiviert. Ein unbe- Höhe waren langwierig und intensiv, im befürworteten dem gegenüber ein fristetes Finanzausgleichsgesetz anstelle Regelfall wurden die Inanspruchnahme- Modell nach den grants-in-aid, das dem der früheren mit ein- oder zweijähriger gesetze erst nach Ende des Haushaltsjah- Bund erlaubt hätte, den finanzschwachen Geltungsdauer reduzierte die Unsicher- res, also nachträglich, verabschiedet. Die oder überlasteten Ländern direkte Zu- heiten über die Finanzentwicklung und erst nachträglichen Regelungen erschwer- schüsse zu gewähren. Diese Variante wie- ermöglichte den Ländern eine stetigere ten sowohl dem Bund wie auch den Län- derum wurde insbesondere von den deut- Haushaltsplanung. Zugleich wurde der

128 Länderfinanzausgleich deutlich intensi- Die Installierung des gesetzen (Art. 104 a Abs. 3 GG) ging es viert (Anhebung der Finanzkraft der fi- „kooperativen Föderalismus“ darum, durch die Beteiligung des Bundes nanzschwachen Länder auf mindestens durch die Finanzreform von 1969 die negative Belastungswirkung abzumil- 88,75 % des Durchschnitts je Einwohner). dern. In der Regel sind gerade die Sozial- Dieser Schritt erschien unabweisbar, weil Aus den dargestellten Problemen der ausgaben in den wirtschaftlich schwäche- der Bund seine konkurrierende Gesetzge- bundesstaatlichen Finanzordnung der ren Ländern höher als in den stärkeren, bungskompetenz sehr umfänglich aus- späten 50er und frühen 60er Jahre erga- wodurch tendenziell das interregionale schöpfte und zudem die Länder zur Ein- ben sich die Ziele der Finanzreform von Gefälle verstärkt wird. Die Investitionshil- haltung bundesweit einheitlich anzuwen- 1969. Es galt fen des Bundes (Art. 104 a Abs. 4 GG) soll- dender Maßstäbe für die öffentliche Auf- ● die problematische Finanzierung von ten der Sicherung des gesamtwirtschaftli- gabenwahrnehmung drängte.3 Landesaufgaben durch den Bund zu chen Gleichgewichts und der Förderung beseitigen und durch klar geregelte des wirtschaftlichen Wachstums, konkret Doch die überlegene Finanzmacht und überschaubare Gemeinschaftsauf- der Konjunktursteuerung, wie auch dem erlaubte es dem Bund, in die Länder gaben und finanzielle Beteiligungen Ausgleich unterschiedlicher Wirtschafts- hineinzuregieren des Bundes an bestimmten Landesauf- kraft unter den Regionen dienen. Die Län- gaben zu ersetzen, der und Gemeinden, in deren Kompetenz Die Finanzreform von 1955 erfüllte aller- ● die Steuerentwicklung bei Bund und der weitaus größte Teil der öffentlichen dings viele der in sie gesetzten Erwartun- Ländern durch einen „großen Steuer- Investitionen fällt, waren insbesondere gen nicht. Das Verhältnis von Einnahmen verbund“ gleichmäßiger zu gestalten, während Rezessionen kaum in der Lage, und Ausgaben der beiden staatlichen ● und schließlich die Leistungsfähigkeit die damals angestrebte antizyklische Ebenen entwickelte sich nicht mit der er- der finanzschwachen Länder durch Finanz- und Haushaltspolitik zu betreiben. hofften Gleichmäßigkeit. Daher waren einen intensivierten Finanzausgleich Daher erschien eine finanzpolitische Bun- deutliche Verwerfungen bei der Wahr- besser zu sichern und das System zu ver- deskompetenz notwendig, um insbeson- nehmung öffentlicher Aufgaben zu ver- einfachen. dere auch die finanzschwachen Länder an zeichnen. Die Ursachen dafür lagen so- Unter dem Stichwort „kooperativer Fö- einer „konzertierten“, d.h. zwischen Bund wohl in der Zuordnung der Steuerquellen deralismus“ strebte die Reform ein ver- und Ländern abgestimmten Finanz- und als auch in der föderativen Aufgabentei- stärktes Zusammenwirken von Bund und Wirtschaftspolitik teilnehmen zu lassen. lung. Die Länder erhielten vornehmlich Ländern bei ihrer Aufgabenwahrneh- Im Sinne des Ausgleichsgedankens sollte die Erträge der stark von der Wirtschafts- mung an. Konkret hieß das, daß Landes- es dem Bund gestattet sein, struktur- entwicklung abhängigen Einkommen- aufgaben, bei denen ein bundesstaat- schwache oder andere Problemregionen, und Körperschaftsteuer, sie hatten jedoch liches Interesse an einer gleichmäßigen z. B. mit hoher Arbeitslosigkeit oder un- die dauerhaften und vergleichsweise Wahrnehmung bestand und die die Län- terdurchschnittlichem Wirtschaftswachs- wenig beeinflußbaren Lasten, insbeson- der überforderten, zukünftig gemein- tum, besonders zu fördern. dere die Personalkosten für die öffentli- schaftlich geplant und finanziert werden che Verwaltung, Hochschulen und Schu- sollten. Die Umsetzung blieb den Ländern Der große Steuerverbund len, die Polizei und Justiz zu tragen. Dem vorbehalten. Erreicht werden sollten so- Bund floß die wesentlich stabilere Um- wohl eine effizientere staatliche Aufga- Im Bereich der vertikalen Steuervertei- satzsteuer zu, seine Haushalte waren je- benwahrnehmung als auch ein interregio- lung wurde der große Steuerverbund ge- doch in deutlich geringerem Maß durch naler Ausgleich zugunsten der schwäche- schaffen. Die Einkommen- und Körper- rechtliche und faktische Verpflichtungen ren Länder über den Landerfinanzaus- schaftsteuer, die bereits seit der Finanz- gebunden und damit sehr viel flexibler als gleich hinaus. reform von 1955 faktisch eine Verbund- die der Länder. Eine gleichmäßige Erfül- Bund und Länder verständigten sich dar- steuer war, und die Umsatzsteuer wurden lung der öffentlichen Aufgaben war auf, den Neu- und Ausbau von Hochschu- Gemeinschaftsteuern, die Bund und Län- daher nicht gewährleistet. Für die Länder, len einschließlich der Hochschulkliniken, dern gemeinsam zustanden, soweit sie insbesondere die schwächeren unter die Verbesserung der regionalen Wirt- nicht den Gemeinden zugewiesen wur- ihnen, wurde es immer schwieriger, den schaftsstruktur sowie der Agrarstruktur den. Für die übrigen Steuern wurde im ihnen obliegenden Aufgaben ohne un- und des Küstenschutzes nach bestimmten wesentlichen das hergebrachte Trenn- vertretbare Verschuldung angemessen Regeln gemeinschaftlich vorzunehmen system beibehalten. Die Einkommen- und nachzukommen, der Bund hingegen (Art. 91 a GG). Außerdem wurde der ge- Körperschaftsteuer teilen sich aufgrund konnte seine nun überlegene Finanz- meinschaftlichen Planung und Förderung der Vorschriften des Grundgesetzes (Art. macht nutzen, um nach seinen politi- von wissenschaftlichen Forschungseinrich- 106 Abs. 3 GG) Bund und Länder – nach schen Vorstellungen Aufgaben der Län- tungen und von Forschungsvorhaben von Abzug des Gemeindeanteils an der Ein- der teilweise zu finanzieren: Typische überregionaler kommensteuer in Höhe von z.Zt. 15 % Landesaufgaben wie die Agrar- oder Bedeutung eine verfassungsrechtliche des Aufkommens – hälftig. Die Umsatz- Sportförderung wurden abseits von der Grundlage gegeben (Art. 91 b GG). steuer wurde das variable Element im Verfassung vom Bund alimentiert. Im Ein- Die finanzielle Beteiligung des Bundes an Rahmen der Steuerverteilung. Die Auftei- zelfall gab es für jede Mitfinanzierung weiteren Landesaufgaben – hier ohne lung erfolgt nach der Grundsätzen einer des Bundes triftige Gründe, im Gesamt- Beteiligung an der Planung dieser Aufga- gleichmäßigen Deckung der notwendi- bild jedoch regierte der Bund in schwer ben – wurde zudem aus der rechtlichen gen Ausgaben von Bund und Ländern, erträglicher Weise in die Länder und Grauzone herausgeführt und auf eine ver- eines angemessenen Ausgleichs, der Ver- deren Haushalte hinein und steuerte fassungsmäßige Grundlage gestellt. Be- meidung einer Überlastung der Steuer- damit die Landespolitik (Goldener Zügel). stimmt wurde, daß Geldleistungsgesetze pflichtigen und unter Wahrung der Ein- Zugleich wurden tendenziell Aufgaben, des Bundes, die von den Ländern ausge- heitlichkeit der Lebensverhältnisse im deren Erfüllung der Bund nicht förderte, führt werden, vom Bund ganz oder teil- Bundesgebiet (Art. 106 Abs. 3 GG). Bis zur vernachlässigt. weise finanziert werden können (Art. Eingliederung der neuen Länder in das Fi- Die angestrebte Vereinfachung der fö- 104a Abs. 3 GG). Außerdem wurde die nanzausgleichssystem des Grundgesetzes deralen Finanzbezeichnungen und da- Möglichkeit geschaffen, daß sich der Bund 1995 erhielt der Bund etwa zwei Drittel durch eine Reduzierung ihrer Konflikt- unter bestimmten, allerdings sehr weit des Umsatzsteueraufkommens, die Län- trächtigkeit wurde durch die Finanzre- definierten Voraussetzungen an bedeut- der ein Drittel. Aufgrund der besonderen form 1955 in einem nur geringen Maß er- samen Investitionen der Länder und Ge- Finanzschwäche der ostdeutschen Länder reicht. Gerade die unterschiedliche Ent- meinden (z. B. Krankenhausbau, öffent- und einer Veränderung des Verfahrens wicklung sowohl von Einnahmen als auch licher Personennahverkehr usw.) betei- der Kindergeldzahlungen beläuft sich seit Ausgaben bei Bund und Ländern ließ ins- ligen kann (Art. 104 a Abs. 4 GG). Auch 1996 der Länderanteil auf knapp die Hälf- besondere die Auseinandersetzungen um hier standen sowohl Effizienz- als auch te (49,5 %) des Umsatzsteueraufkom- die vertikale Steuerverteilung zuneh- Ausgleichsgedanken im Vordergrund der mens. mend schwieriger und konfliktreicher Überlegungen. Bei den in vielen Fällen Im bundesstaatlichen Finanzausgleichs- werden. sozialpolitisch motivierten Geldleistungs- system wird zudem die Gewerbesteuer

129 (eine Realsteuer) teilweise ähnlich wie eine Gemeinschaftsteuer behandelt. Zur Die Lohnsteuer ist Bestandteil der Ein- Der Länderanteil der Körperschaft- Stabilisierung und zum Ausgleich des Ge- kommensteuer, sie wird vom Arbeit- steuer großer Unternehmen, die in meindesteueraufkommens wurden im geber an sein zuständiges Finanzamt mehreren Ländern Niederlassungen Rahmen der Gemeindefinanzreform von abgeführt. Lohnsteuerpflichtig ist je- betreiben, wird nach Maßgabe der 1969 Bund und Länder durch die Gewer- doch der Arbeitnehmer, dessen Steuer- Wertschöpfung auf die einzelnen Län- besteuerumlage an deren Aufkommen pflicht an seinem Wohnort entsteht. der verteilt. beteiligt, die Gemeinden erhielten als Deshalb muß dafür Sorge getragen Ausgleich den bereits erwähnten 15-pro- werden, daß der Landesanteil der zentigen Anteil an der Einkommen- und Lohnsteuer dem Wohnsitzland des Ar- Körperschaftsteuer. beitnehmers, der kommunale Anteil geschrieben, für die Jahre 1988 bis 1994 seinem Wohnort zufließt. Dieses ge- wurden sie auf 2 % des Umsatzsteuerauf- Durch den großen Steuerverbund – schieht durch pauschalierte Verrech- kommens, jeweils zahlbar aus dem Anteil die Gemeinschaftsteuern umfassen etwa nungen zwischen den Finanzverwal- des Bundes, erhöht. Seit 1995 sind sie vom 75 % des gesamten Steueraufkommens –, tungen. Umsatzsteueraufkommen abgekoppelt durch die Beteiligung von beiden staat- Diese Bestimmung ist nicht unproble- und an die Fehlbeträge der finanzschwa- lichen Ebene an den zwei großen, jedoch matisch: Die Einkommensteuer von chen Länder an den Durchschnitt gebun- unterschiedlich auf wirtschaftliche Ent- Personen, die in einem Land arbeiten den. Die ausgleichsberechtigten Länder wicklungen reagierenden Steuern sollte und dessen öffentliche Einrichtungen erhalten 90 % der an den Durchschnitt eine gleichmäßige Steuerentwicklung bei nutzen, aber in einem anderen woh- fehlenden Finanzkraft, wodurch den fi- Bund und Ländern erreicht werden. Zu- nen, fließt ausschließlich in das Wohn- nanzschwachen Ländern eine Min- gleich sollte durch die Einbeziehung der sitzland. Besondere Relevanz hat die- destausstattung von 99,5 % des Durch- Umsatzsteuer in den Steuerverbund, die ses Problem bei den Stadtstaaten. schnitts6 garantiert ist. Außerdem wur- Zuweisung von bis zu einem Viertel des Große Unternehmen, die in mehreren den Bundesergänzungszuweisungen für Länderanteils an die besonders finanz- Ländern Niederlassungen betreiben, verschiedenartige Belastungen – über- schwachen Länder (Art. 107 Abs. 1 Satz 4, wie die Großbanken, Automobilher- proportionale Kosten der politischen 2. Halbsatz GG) und die Verteilung des steller oder Chemiekonzerne, aber Führung in kleinen Ländern, teilungsbe- übrigen Länderanteils nach Einwohnern auch öffentliche Einrichtungen wie die dingte Sonderlasten der neuen Länder, bereits im Rahmen der vertikalen Steuer- Bundeswehr, haben oftmals eine zen- Sanierungshilfen für die Haushalte von verteilung der Ausgleich unter den Länder trale Lohnabrechnung und führen die Bremen und Saarland – gewährt. Ihre Ge- befördert werden. Lohnsteuer am Ort der Abrechnung samtsumme stieg von 100 Millionen DM ab. 1970 auf 750 Millionen DM 1974 und wei- Das Prinzip des örtlichen Auf- ter bis auf 2,7 Mrd. DM 1989.7 Im Jahre kommens wurde beibehalten 1995 stiegen die Ergänzungszuweisun- gen im wesentlichen aufgrund der Einbe- Bei der Steuerverteilung unter den Län- Körperschaftsteuer an den Bund abtraten, ziehung der neuen Länder und wegen dern wurde – mit der erwähnten Ausnah- weil für den Länderanteil eine Steuerzer- der Sonderzuweisungen an sie auf gut 25 me des Länderanteils an der Umsatzsteuer legung eingeführt wurde und weil die Mrd. DM, dazu kamen weitere Finanzhil- – das hergebrachte Prinzip des örtlichen Länder an der Umsatzsteuer, die im we- fen an die ostdeutschen Länder in Höhe Aufkommens beibehalten: die Länder er- sentlichen nach Einwohnern verteilt von 6,6 Mrd DM. hielten die Erträge der Landessteuern und wurde, partizipierten. Zudem wurde der des Länderanteils der Einkommen- und Länderfinanzausgleich durch Umsatz- Eine Verlagerung vom horizontalen Körperschaftsteuer, die von ihren jeweili- steuerausgleich nach Art. 107 Abs. 1 Satz Finanzausgleich zu den vertikalen gen Finanzbehörden eingenommen wur- 4, 2. Halbsatz GG entlastet. Danach erhal- Leistungen des Bundes den. Um Verzerrungen durch die Erhe- ten diejenigen Länder, deren Steuerauf- bungsverfahren zu korrigieren, wurde kommen aus den Landessteuern und dem Der Länderfinanzausgleich, das eigent- eine Steuerzerlegung eingeführt. Der Länderanteil an der Einkommen- und Kör- liche Kernstück des horizontalen Aus- Landesanteil an der Lohnsteuer wird ge- perschaftsteuer unter 92 % des Durch- gleichs, nahm von 1970 bis 1989 von 1,2 nerell dem Land zugewiesen, in dem der schnitts je Einwohner liegt, Zuschüsse in Mrd. DM auf 3,5 Mrd. DM zu. 1995 er- steuerpflichtige Arbeitnehmer wohnt. Re- Höhe der Fehlbeträge an 92 % des Durch- reichte er dann die Summe von 11,2 Mrd. levant wird diese Bestimmung im Fall von schnitts.4 Zugleich wurde er intensiviert, DM, von denen rund 9,7 Mrd. DM den Arbeitnehmern, die in einem anderen indem durch ihn die Finanzkraft der fi- neuen und 1,5 Mrd. DM den finanzschwa- Land wohnen als sie arbeiten (Pendler), nanzschwachen Länder auf mindestens chen alten Ländern zugute kamen. Diese sowie in Fällen von zentraler Lohnabrech- 95 % des Durchschnitts je Einwohner auf- Zahlen, in welcher Abgrenzung sie auch nung und Lohnsteuerabführung bei gefüllt wurde.5 Zusätzlich konnten 1970 immer genommen werden, belegen im großen Unternehmen und Behörden. Zer- die schwachen Länder durchsetzen, daß Hinblick auf die alten Länder zweierlei: legt wird auch der Länderanteil der Kör- ihnen der Bund (wieder)* Bundesergän- nämlich – gemessen an der Steuerent- perschaftsteuer großer Unternehmen, die zungszuweisungen (Art 107 Abs. 2 Satz 3 wicklung von Ländern (und Gemeinden) – in mehreren Ländern Niederlassungen GG) gewährt. Im Grundsatz hatte der ein relatives Schrumpfen der Transferlei- unterhalten. Die Steuerzerlegung ist Bund seit 1949 (Art. 106 Abs. 3 GG i.d.F. 23. stungen im Länderfinanzausgleich und damit keine Maßnahme, die die Steuer- 5. 1949) diese Möglichkeit, jedoch be- eine Verlagerung der Ausgleichsfunktio- verteilung nach dem örtlichen Aufkom- trachteten Bund Länder den horizontalen nen vom traditionellen Länderfinanzaus- men modifiziert, sondern lediglich eine, Ausgleich lange als ausschließliche Ange- gleich hin zu vertikalen Leistungen des die erhebungstechnische Fehlleitungen legenheit der Länder, an der sich der Bund Bundes. Die von Politik und Wissenschaft korrigiert. nicht beteiligte. vielfach kritisierte Aufblähung des Finan- Modifiziert wird die originäre Verteilung zausgleichs hat – wie hier zu erkennen ist des Steueraufkommens durch den hori- Die Ergänzungszuweisungen des – wenig mit der wirtschaftlichen Entwick- zontalen Finanzausgleich. Durch die Re- Bundes belaufen sich inzwischen auf lung in den alten Ländern, sehr viel aber gelungen der Finanzreform 1969 wurde 25 Mrd DM mit der deutschen Einheit zu tun. Ange- der horizontale Ausgleich insgesamt in- sichts dieser Entwicklung stellt sich die tensiviert, zugleich aber auch der Länder- Die Bundesergänzungszuweiseungen ge- Frage, ob es sinnvoll ist, an dem tradier- finanzausgleich im engeren Sinn entla- wannen eine unerwartete Dynamik. 1970 ten Leitbild des Länderfinanzausgleichs stet. Durch den großen Steuerverbund und 1971 belief sich ihr Volumen auf le- festzuhalten, oder ob man sich – auch im wurden die Finanzkraftunterschiede diglich jeweils 100 Millionen DM, 1972 Interesse der „Zahlerländer“ – nicht stär- unter den Ländern vermindert, weil sie und 1973 bereits auf 550 Millionen DM. ker auf einen vertikalen Ausgleich mit einen größeren Teil der regional unter- 1974 wurden sie dynamisiert und auf horizontalen Effekten hin orientieren schiedlich streuenden Einkommen- und 1,5 % des Umsatzsteueraufkommens fest- sollte.

130 Eine vorläufige Bilanz nach sechs gleich bieten wenig Anlaß, sich um eine und zehn Empfängerländern besteht Jahren deutscher Einheit fällt Erhöhung der Steuererträge zu bemühen, heute die Gefahr, daß auf Dauer die Ba- ambivalent aus und schließlich hat man in einem der öst- lance zwischen zahlenden und empfan- lichen Bundesländer aus den Ausführun- genden Ländern gestört wird: Durch ein Eine Bilanz des bundesstaatlichen Finanz- gen des Bundesverfassungsgerichts in sei- Verteilungssystem, das von einer Seite do- ausgleichs aus heutiger Sicht fällt ambiva- nem Urteil von 1992 zur extremen Haus- miniert wird, könnten sich unerwünschte lent aus. Die Auseinandersetzungen um haltsnotlage von Bremen und dem Saar- Schieflagen zu Lasten der Minderheit Finanzverfassung und Finanzausgleich land den Schluß gezogen, daß die herausbilden. Denn die Leistungen, die waren immer heftig und langwierig. Der Grundsätze, die diese Finanzhilfen be- die ausgleichspflichtigen Länder im Parlamentarische Rat hinterließ ein Provi- gründen, „in noch viel größerem Maße Länderfinanzausgleich zu erbringen sorium. In den 50er Jahren konnten für die neuen Länder“ gelten. Im Verhält- haben, werden nicht nach deren Lei- Finanzausgleichsregelungen meist erst nis der Länder untereinander bestehen stungsfähigkeit, sondern in erster Linie nach Abschluß des Haushaltsjahres verab- insbesondere für die kleineren und -– ge- durch die Fehlbeträge der ausgleichsbe- schiedet werden. Die Finanzreform von messen an den Maßstäben des Finanzaus- rechtigten Länder bestimmt. 1955 erfüllte die in sie gesetzten Erwar- gleichssystems – schwächeren Länder An- Strategisch steckt der Finanzausgleich in tungen nicht. Eine neue Finanzreform reize zum „Trittbrettfahren“. Die Ge- einem Dilemma: Einerseits soll er die ne- kündigte Bundeskanzler Adenauer in sei- schichte des bundesstaatlichen Finanzaus- gativen Folgen unterschiedlicher Lei- ner letzten Regierungserklärung 1961 an, gleichs kennt zahlreiche Beispiele, in stungskraft abfedern, andererseits aber ist 1969 wurde sie verabschiedet. Beide Fi- denen kleine und schwache Länder ihre er nicht in der Lage, deren Ursachen hin- nanzreformen sanktionierten und syste- Stimmen im Bundesrat regelrecht „ver- reichend zu beheben. Tendenziell steigt matisierten eher längerfristige Entwick- kauften“. Der Modernisierungsdruck ist der notwendige finanzielle Einsatz, um lungen, als daß sie Weichen neu gestellt für kleine Länder, deren Finanzkraft in er- die Kluft zwischen den leistungsstarken hätten: Wesentliche Kehrtwenden haben ster Linie von ihrer Stellung im Finanzaus- und leistungsschwachen Ländern zu bisher nicht stattgefunden, auch in der gleichssystem abhängt, geringer als für schließen. Die starken Länder haben ver- Zukunft sind sie eher unwahrscheinlich. andere Länder. Trotz dieser berechtigten gleichsweise günstige Möglichkeiten, ihre Nimmt man die Auseinandersetzungen Kritik an den Strukturen der Finanzverfas- Positionen durch öffentliche Investitionen und Entwicklungstendenzen der 80er und sung darf allerdings nicht übersehen wer- zu verbessern. Für die schwachen Länder 90er Jahre hinzu, so sind zwei Feststellun- den, daß im Regelfall andere Gesichts- wird es hingegen immer schwieriger, gen sicherlich nicht ganz falsch: erstens, es punkte, z.B. erfolgreiche Industrieansied- wenn nicht unmöglich, ihren Aufgaben gibt kaum ein konfliktreicheres und lungen und Schaffung von Arbeitsplätzen, ohne eine übermäßige Verschuldung ge- schwieriger zu befriedendes Politikfeld in politische Entscheidungen sehr viel stärker recht zu werden.8 der deutschen Innenpolitik, und zweitens, beeinflussen als (falsche) Anreize im Fi- trotz hoher Konfliktintensität und trotz nanzausgleichssystem. Die Botschaft der Klage von zahlreicher Anpassungsleistungen ist die Gegen das bestehende Finanzausgleichs- Baden-Württemberg und Bayern Entwicklung insgesamt durch hohe Konti- system wird zudem eingewandt, daß sich ist angekommen nuität geprägt. infolge mangelnder ökonomischer Anrei- Trotz konfliktreicher Auseinandersetzun- ze die Strukturen zwischen armen und rei- Die permanenten Auseinandersetzungen gen und wenig struktureller Änderung chen Ländern kaum verändert hätten. um den Finanzausgleich, aber auch die wird man der Finanzverfassung und dem Tatsächlich konnten nur drei Länder bundesstaatliche Finanzverfassung selbst, Finanzausgleichssystem Erfolge nicht ab- während der letzten 50 Jahre eine deut- geben vielerlei Anlaß zu Kritik aus Wissen- sprechen können. Vor der deutschen Ein- liche Positionsverbesserung erzielen: Bay- schaft und Politik. Auf der politischen heit hatte die Bundesrepublik als Bundes- ern, das in den 50er und 60er Jahren das Ebene verlangten kurz vor der deutschen staat einen Grad an Homogenität der Ver- „reichste“ unter den armen Ländern war, Einheit die (westdeutschen) Ministerpräsi- sorgung mit öffentlichen Gütern erreicht stieg in die Liga der „reichen“ Länder auf. denten eine Überprüfung und Revision wie wenige vergleichbare unitarische Schleswig-Holstein, in den 50er Jahren das der Finanzverfassung mit dem Ziel einer Staaten. Durch die Instrumente der Fi- mit weitem Abstand schwächste Land, hat Stärkung der Länder. Dieses wurde zwar nanzverfassung wurde verhindert, daß heute etwa den Durchschnitt erreicht. als Auftrag in den Einigungsvertrag schwache Regionen wirklich arm und von Unter den besser gestellten hat sich Hes- übernommen, jedoch wurde er weder von der wirtschaftlichen Entwicklung abge- sen merklich verbessert und ist heute das der Gemeinsamen Verfassungsreform- koppelt wurden. Auch beim Aufbau der „reichste“ Land. kommission von Bundestag und Bundes- neuen Länder hat sie sich im wesentlichen rat noch im Rahmen der Solidarpaktver- bewährt. Die Finanzverfassungsreform Die Ursachen unterschiedlicher handlungen von den Finanzministern um- von 1969 hat sich entgegen vielfach ande- Leistungskraft durch den gesetzt. ren Erwartungen aIs geeignete Grundlage Finanzausgleich nicht behoben Ein neuer Anstoß für die Reformdiskus- zur Einbeziehung der neuen Länder in die sion ging von Klagen der Länder Baden- Finanzverfassung des Grundgesetzes er- Mit dieser Entwicklung ging die Konzen- Württemberg und Bayern vor dem Bun- wiesen. Läßt man einmal die politischen tration der Lasten des Länderfinanzaus- desverfassungsgericht aus. Ein wesentli- Ankündigungen während des Vereini- gleich auf immer weniger Länder einher. ches Ziel ihrer Klagen ist ein verbesserter gungsprozesses außer acht, erinnert sich Im Jahr 1970, als die Finanzreform von Schutz der Zahlerländer vor einer Über- statt dessen an die reale Ausgangslage 1969 in Kraft trat, teilten sich vier Länder – lastung durch die Ansprüche der Empfän- 1990, dann hat sich angesichts des Erreich- Baden-Württemberg, Hamburg, Hessen gerländer. Ohne die weiteren Erfolgsaus- ten – bei allen Problemen und Fehlern im und Nordrhein-Westfalen – die Einzahlun- sichten hier diskutieren zu wollen, können Detail – die föderative Strategie vermut- gen relativ gleichmäßig, zum Ende der die beiden Länder bereits jetzt als Erfolg lich als effizienter erwiesen als mögliche alten Bundesrepublik waren es im wesent- verbuchen, daß die angeschnittenen Pro- zentralistische Alternativen. Die politische lichen noch zwei: Baden-Württemberg bleme mittlerweile von der Politik auf- Stabilität der Bundesrepublik ist zu einem und Hessen. In der neuen Bundesrepublik gegriffen wurden. Im Rahmen der Koali- nicht geringen Teil auf die Leistungen sind es fünf von nun sechzehn, die seit tionsvereinbarung der Bundesregierung der Finanzverfassung zurückzuführen. 1995 regelmäßig Beiträge leisten. Es sind unter Gerhard Schröder wurde vereinbart, die vier, die sich bereits 1970 die Lasten eine Enquetekommission einzuberufen, Schuldenmachen wird prämiert des Länderfinanzausgleichs teilten, hinzu- die Vorschläge für eine Revision der Fi- getreten ist Bayern: die Strukturen haben nanzverfassung und des Finanzausgleichs Gleichwohl hat das System falsche Anreize sich in den letzten 30 Jahren also kaum erarbeiten soll. Die Ministerpräsidenten entwickelt. Die Umsatzsteuerverteilung verändert. Damit wurde eines der Ziele der Länder verlangten auf ihrer Jah- zwischen Bund und Ländern nach dem der Finanzreform von 1969, nämlich eine reskonferenz vom 2. bis 4. Dezember 1998 Deckungsquotenverfahren prämiert das Angleichung der Leistungsfähigkeit der eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe, die Vor- Schuldenmachen, die Abschöpfungs- und Länder, nur sehr bedingt erreicht. Ange- schläge zur Modernisierung der bun- Auffüllungsquoten im horizontalen Aus- sichts des Verhältnisses von fünf Zahler- desstaatlichen Ordnung insgesamt ent-

131 wickeln soll. Auf der Konferenz der Re- wechsel drängen. Zur Zeit der drei wich- Anmerkungen gierungschefs von Bund und Ländern am tigsten Entscheidungssituationen – bei der 17. Dezember 1998 wurde die Einrichtung Formulierung des Grundgesetzes 1948/49, 1) „Die Länder haben das Recht der Gesetzgebung, so- weit dieses Grundgesetz nicht dem Bunde Gesetzge- eines gemeinsamen Ausschusses von Bund bei der Finanzreform 1969 und bei den bungsbefugnisse verleiht.“ und Ländern vereinbart, der die Möglich- Verhandlungen über die Eingliederung 2) Die Angaben in Prozent des Durchschnitts der Fi- keiten einer Reform der Finanzverfassung der neuen Länder in die Finanzordnung nanzkraft in Abgrenzung des Finanzausgleichsgeset- zes sind nicht gleichzusetzen mit den realen Steuer- aufzeigen soll. Sofern in diesem Ausschuß des Grundgesetzes 1992/93 – standen einnahmen der Länder – auch wenn in der öffent- eine Verständigung über gemeinsame Gesichtspunkte des interregionalen Aus- lichen Diskussion immer wieder so getan wird. In den Finanzkraftzahlen der Länder wurden bis 1955 die Ziele erreicht wird, soll eine Verfassungs- gleichs im Vordergrund der Überlegun- Steuereinnahmen der Gemeinden gar nicht, seit dem kommission von Bundestag und Bundes- gen. 1948/49 ging es um das gemeinsame zur Hälfte berücksichtigt. Außerdem wird die Zahl der Einwohner der Stadtstaaten mit 135 % gewichtet rat eingesetzt werden, die die nötigen Bewältigen der Nachkriegsnot, 1968/69 („veredelt“) und werden bestimmte Lasten (heute Grundgesetzänderungen vorbereitet. Die- um die Konzertierung des Handelns von nur noch Lasten für Seehäfen) von den Steuereinnah- ses aufwendige Verfahren wurde ge- Bund und Ländern mit dem Ziel einer An- men der Länder abgezogen. In der Tendenz kommen diese Modifikationen eher den finanzstarken als wählt, weil derzeit unter den Ministerprä- gleichung der Lebensverhältnisse im Bun- finanzschwachen Ländern zugute. sidenten keine oder nur wenig Überein- desgebiet und 1992/93 um den Anspruch 3) Der Bundesinnenminister strebte zu Beginn der 50er Jahre sogar eine Verfassungsänderung an, die es dem stimmung über die Ziele einer Finanzver- der ostdeutschen Bürger auf eine Gleich- Bund erlaubt hätte, eine bundeseinheitliche Gemein- fassungsreform besteht. Sicher zu sein stellung mit ihren westdeutschen Lands- deordnung durch Bundesgesetz zu schaffen. Begrün- scheint, daß eine Totalrevision nicht statt- leuten. Soweit erkennbar, stellen sich in det wurde diese Initiative damit, daß nur so eine ein- heitliche Ausführung von Bundesgesetzen gewähr- finden wird, sondern nur begrenzte An- den nächsten Jahren andere Fragen. Zwar leistet werden könne. Die Initiative scheiterte früh- passungen möglich sein werden. bleibt die Herstellung der „inneren Ein- zeitig am sich abzeichnenden Widerstand der Länder. 4) Diese Bestimmung hatte vor der deutschen Einheit Nach dem Diskussionsstand am Jahres- heit“ sicherlich noch für viele Jahre eine und der Einbeziehung der neuen Länder in die Fi- wechsel 1998/99 scheint eine Reform der Aufgabe von außerordentlicher Prioriät, nanzverfassung des GG zum 1. 1. 1995 eine eher un- tergordnete Bedeutung. Seit 1995 wird diese „Schie- bundesstaatlichen Ordnung und insbeson- darüber hinaus aber sind in einem Europa ne“ genutzt, um den vereinbarten Bundesanteil zur dere der Finanzverfassung für das Jahr ohne Grenzen Einheitlichkeitsvorstellun- Hebung der Finanzkraft der neuen Länder (7 Pro- 2005 – nach Auslaufen der derzeit gelten- gen, die im geschlossenen Nationalstaat zentpunkte des Umsatzsteueraufkommens) in die Kassen der neuen Länder zu transferieren. den Solidarpaktregelungen – möglich. Al- ihre Berechtigung haben mochten, kaum 5) Die Berechnungen des Umsatzsteuerausgleichs er- lerdings wird es nicht einfach werden, ein noch vermittelbar. Es fällt schwer zu be- folgt auf einer anderen Grundlage als die des Län- derfinanzausgleichs, deshalb sind die Zahlen „92 %“ mehrheitsfähiges Konzept zu entwickeln. gründen, warum Dinge von Flensburg bis und „95 %“ nicht ohne weiteres vergleichbar. Beim Die Schwierigkeit besteht darin, daß eine Konstanz und Aachen bis Görlitz einheit- Umsatzsteuerausgleich wird mit realen Einwohnern Reform, die lediglich an der Finanzvertei- lich geregelt werden sollen, wenn jeweils und nur den genannten Steuereinnahmen gerech- net, bei dem Länderfinanzausgleich werden „ver- lung ansetzt, zu kurz greift. Voraussetzung wenige Kilometer weiter andere Lösun- edelte“ Einwohner der Stadtstaaten, die Hälfte der für eine erfolgversprechende Modernisie- gen möglich sind. Das heißt aber vor Gemeindesteuern, weitere Einnahmen und die La- sten für Seehäfen berücksichtigt. rung der bundesstaatlichen Ordnung ist allem, daß der Bund auf seine politische 6) Nach Berechnungen des DIW (Berlin) bedeuten diese eine grundlegende Überprüfung der Auf- Steuerungsmöglichkeit verzichtet oder sie 99,5 % der Finanzkraftmeßzahl im Fall der finanz- schwächsten Länder, d.h. der ostdeutschen, real etwa gabenverteilung im Bundesstaat, eine De- nur zurückhaltend nutzt, damit das im eu- 95 % der durchschnittlichen Steuereinnahmen pro finition dessen, was unter sozialstaatlichen ropäischen Kontext von deutsche Seite Einwohner (vgl. Anm. 2). Gesichtspunkten bundeseinheitlich wahr- immer wieder betonte Subsidiaritätsprin- 7) Zu den Referenzjahren: 1970 war das erste Haushalts- jahr nach der Finanzreform von 1969, 1989 das letzte genommen und finanziert werden sollte, zip auch innerstaatlich beachtet wird und vor der deutschen Wiedervereinigung. Die Zahlen ab und der Bereiche, die Handlungsspielräu- den Ländern mehr Spielräume zur eigen- 1990 sind mit den vorherigen wegen der Übergangs- regelungen bis 1994, die teilweise Verfassungsbe- me und damit unterschiedliche Lösungen ständigen politischen Gestaltung überlas- stimmungen befristet außer Kraft setzten, und der der Länder erlauben. Erst eine Revision der sen bleiben. Ob der Bund dazu bereit ist, Auswirkung der Lasten der Einheit auf die Finanzen Aufgabendefinition mit dem Ziel von bleibt abzuwarten. von Bund und Ländern mit den Vorjahren nicht zu vergleichen. Die neuen Länder wurden zum 1. 1. 1995 mehr Handlungsspielräumen der Länder in den bundesstaatlichen Finanzausgleich einbezo- erlaubt eine Veränderung der bestehen- gen. 8) Die unterschiedlichen Möglichkeiten von „armen“ den Finanzverteilung. und „reichen“ Ländern zu wirtschaftsfördernden Investitionen werden deutlich, wenn man die Ein- nahmen in Relation zu den Ausgabeverpflichtungen Im europäischen Kontext werden setzt: Unterstellt man eine reale Spanne der Steuer- sich ganz andere Fragen stellen kraft (Länder und Gemeinden) von ca. 95 bis 104% des Durchschnitts sowie eine Bindung der Landes- haushalte von ca. 90 bis 95 % ihrer Einnahmen durch Obwohl erkennbar ist, daß trotz aller be- Gehälter, Zinsen, Leistungsgesetze etc., dann ist zu er- rechtigter Kritik an dem bestehenden kennen, daß die nach Finanzausgleich verbleibenden Steuerkraftunterschiede im Hinblick auf eigenfinan- System eine überzeugende Alternative zierte öffentliche Investitionen erheblich sind. derzeit nicht zu erkennen ist, zudem die politische Mehrheitsbildung vermutlich *) Bereits 1968 und 1969 gewährte der Bund Bundes- ergänzungszuweisungen, lehnte es aber ursprünglich sehr schwierig werden wird, erscheint es ab, sie nach der Finanzreform zu verlängern. denkbar, daß veränderte Rahmenbedin- gungen gleichsam auf einen Paradigmen-

132 Die „perforierte“ nationalstaatliche Souveränität keit des Bundesstaates nach außen hin sou- verän und impermeabel“4 zu bleiben hat. Traditionell wird die Alleinzuständigkeit Die Außenpolitik der des Gesamtstaates für die Außenpolitik sogar als wesensbestimmendes Merkmal deutschen Länder jedes Bundesstaates gesehen, das ihn vom bloßen Staatenbund abgrenzt. Auch die in Transföderale Beziehungen zwischen Kooperation und Konkurrenz der deutschen Verfassungslehre mehrheit- lich vertretene Interpretation von Artikel 32 des Grundgesetzes (GG) zur Kompetenz- Von Thomas Fischer verteilung zwischen Bund und Ländern auf dem Gebiet der auswärtigen Gewalt deckt sich mit dieser klassischen Sichtweise. Dies soll zunächst verdeutlicht werden, in dem die Inhalte dieser Grundgesetznorm sowie Thomas Fischer, M. A., ist wissenschaft- das Bewußtsein für die Vielgestaltigkeit ihre Auslegung in der herrschenden Lehre licher Koordinator am Europäischen Zen- des Untersuchungsgegenstandes „Außen- etwas genauer betrachtet werden. trum für Föderalismus-Forschung (EZFF) politik der deutschen Länder“ bisher der Universität Tübingen. äußerst schwach ausgeprägt zu sein: Außenpolitik als „Monopol“ „Daß die Bundesländer verstärkt außen- des Bundes? Die herrschende Lehre Die von der Staatsrechtslehre postulierte politische Neigungen entdecken, ist be- im Staatsrecht alleinige Zuständigkeit des Gesamtstaa- kannt. Erforscht wird – oft aus einer juri- tes für den Bereich der internationalen stischen Perspektive – primär ihre Beteili- Der Artikel 32 GG bildet unter den zahlrei- Beziehungen ist von der Realität längst gung an der Europapolitik. Einen umfas- chen, über den gesamten Verfassungstext überholt, in Deutschland wie anderswo senden Überblick über die Breite der verteilten Einzelregelungen5 für die Kom- auch. In vielfältigen Formen und mit be- außenpolitikrelevanten Aktivitäten der petenzverteilung zwischen Bund und Län- trächtlichem Aufwand treten die Bundes- Länder gibt es dagegen nicht.“2 dern auf dem Gebiet der auswärtigen Ge- länder als außenpolitische Akteure auf, Ein Grund für die sehr selektive Wahrneh- walt die Schlüsselnorm. In seinem ersten unterhalten z. B. quasi „Botschaften“, mung auswärtiger Länderaktivitäten in Absatz wird die Pflege der Beziehungen nicht nur in Brüssel. Sie betreiben über die Wissenschaft und Öffentlichkeit könnte zu auswärtigen Staaten generell zur eigenen Grenzen hinweg Wirtschaftsför- darin liegen, daß das deutsche Föderalis- „Sache des Bundes“ erklärt. Art. 32 Abs. 1 derung, Entwicklungspolitik, Kulturpoli- mus-Verständnis stark von der Staatsrechts- GG bildet somit eine explizite verfassungs- tik, schließen Abkommen mit benachbar- lehre geprägt ist.3 Gerade dort rechtliche Sonderregelung zur grundsätz- ten wie mit fernen Regionen. Das ge- herrscht aber unverändert die Überzeu- lich im föderativen System der Bundesre- schieht in Kooperation mit dem Bund, in gung vor, daß „die mehrstufige Staatlich- publik geltenden Kompetenzverteilungs- Konkurrenz, gelegentlich auch im Kon- flikt. Mitwirkungsansprüche der Länder an der „Außen“politik des Bundes sind Erweiterte verfassungsrechtliche Grundlagen für Europa- und vielfach bereits rechtlich fixiert, beson- außenpolitische Länderaktivitäten seit 1992 ders wenn es um Materien geht, für die innerstaatlich die Länder zuständig sind. Artikel 23 des Grundgesetzes (in Auszügen): Am ausgeprägtesten ist das im Bereich Abs. 1: Zur Verwirklichung eines vereinten Europas wirkt die Bundesrpublik Deutsch- der Europapolitik zu sehen, wie der neu- land bei der Entwicklung der Europäischen Union mit, die demokratischen, rechts- geschaffene Artikel 23 des Grundgesetzes staatlichen, sozialen und föderativen Grundsätzen und dem Grundsatz der Subsi- zeigt. Wie im Binnenverhältnis des deut- diarität verpflichtet ist und einen diesem Grundgesetz im wesentlichen vergleichba- schen Föderalismus insgesamt, sind es ren Grundrechtsschutz gewährleistet. Der Bund kann hierzu durch Gesetz mit Zu- auch hier die Länderexekutiven, die vom stimmung des Bundesrates Hoheitsrechte übertragen. Für die Begründung der Eu- Bedeutungszuwachs profitieren, nicht ropäischen Union sowie für Änderungen ihrer vertraglichen Grundlagen und ver- aber die Länderparlamente. Red. gleichbare Regelungen, durch die diese Grundgesetz seinem Inhalt nach geändert oder ergänzt wird . . . gilt Art. 79 Abs. 2 und 3.

Auf dem internationalen Parkett mit Abs. 2: In Angelegenheiten der Europäischen Union wirken der Bundestag und rund 130 Vertretungen sehr präsent durch den Bundesrat die Länder mit. Die Bundesregierung hat den Bundestag und den Bundesrat umfassend und zum frühestmöglichen Zeitpunkt zu unterrichten. Weltweit unterhalten die deutschen Län- Abs. 4: Der Bundesrat ist an der Willensbildung des Bundes zu beteiligen, soweit er der ca. 130 Vertretungen und Büros, die an einer entsprechenden innerstaatlichen Maßnahme mitzuwirken hätte oder soweit primär wirtschaftlichen Zwecken wie der die Länder innerstaatlich zuständig sind. Standort- und Tourismuswerbung oder Abs. 5: Soweit in einem Bereich ausschließlicher Zuständigkeiten des Bundes Interes- der Produktvermarktung dienen – darun- sen der Länder berührt sind oder soweit im übrigen der Bund das Recht zur Gesetz- ter alleine 21 in den USA. In Norwegen gebung hat, berücksichtigt die Bundesregierung die Stellungnahme des Bundesrates. z. B. existiert ein Schleswig-Holstein-Haus, Wenn im Schwerpunkt Gesetzgebungsbefugnisse der Länder, die Einrichtung ihrer in Burgund das Haus Rheinland-Pfalz. Die Behörden oder ihre Verwaltungsverfahren betroffen sind, ist bei der Willensbil- Botschaften der Bundesrepublik Deutsch- dung des Bundes insoweit die Auffassung des Bundesrates maßgeblich zu berück- land in aller Welt waren alleine 1997 mit sichtigen ... 584 Auslandsaufenthalten von Mitglie- dern deutscher Landesregierungen und Abs. 6: Wenn im Schwerpunkt auschließliche Gesetzgebungsbefugnisse der Länder -parlament befaßt.1 betroffen sind, soll die Wahrnehmung der Rechte, die der Bundesrepublik Deutsch- Schon diese knappen Hinweise lassen er- land als Mitgliedstaat der Europäischen Union zustehen, vom Bund auf einen vom ahnen, daß die Länder der Bundesrepu- Bundesrat benannten Vertreter der Länder übertragen werden . . . blik auch über die Europapolitik hinaus auf dem internationalen Parkett sehr prä- sent sind. Anders als die auf Brüssel ge- Artikel 24 Absatz 1a des Grundgesetzes: richteten Aktivitäten einzelner Minister- Abs. 1a: Soweit die Länder für die Ausübung der staatlichen Befugnisse und die Er- präsidenten findet das sonstige außenpo- füllung der staatlichen Aufgaben zuständig sind, können sie mit Zustimmung der litische Engagement der Länder allerdings Bundesregierung Hoheitsrechte auf grenznachbarschaftliche Einrichtungen übertra- nur selten breitere Beachtung in den Me- gen. dien. Selbst in der Wissenschaft scheint

133 regel des Art. 30 GG. Diese Grundregel be- einer anhaltenden Tendenz zur „Entgren- staaten ein einheitliches Auftreten nach sagt eigentlich, daß die Ausübung der zung“8 innerer- und äußerer Zusammen- außen allmählich zur Illusion verkommen, staatlichen Befugnisse und die Erfüllung hänge staatlichen Handelns, die verschie- weil neben zahlreichen anderen gouver- staatlicher Aufgaben zunächst einmal dene Gründe hat. nementalen und nicht-gouvernementalen Sache der Länder ist. Tatsächlich gilt auch Akteuren auch die Gliedstaaten in wach- die in Art. 32 Abs. 1 GG formulierte Aus- Die Grenzen zwischen Außen- sendem-Maße „transföderale Beziehun- nahme zugunsten des Bundes in der und Innenpolitik verwischen immer gen“ mit dem Ausland unterhalten. Außenpolitik nicht uneingeschränkt. Rela- mehr – auch anderswo „Transföderale Beziehungen“ sind dabei tiviert wird sie wieder durch Art. 32 Abs. 3 zu verstehen als GG, der immerhin die Möglichkeit vor- Seit den siebziger Jahren spielen auch an- „...all jene grenzüberschreitenden Aktio- sieht, daß auch die Länder auf dem Gebiet derswo die Teileinheiten föderaler bzw. nen und Interaktionen, die von föderalen ihrer ausschließlichen Gesetzgebungzu- regionalisierter Staaten eine immer akti- bzw. autonomen Einheiten eines Natio- ständigkeiten mit Zustimmung der Bun- vere Rolle als Akteure in den auswärtigen nalstaates konzeptionell entworfen und desregierung völkerrechtliche Verträge Beziehungen. Dazu gehören u. a. die Ein- direkt oder indirekt von ihnen umgesetzt abschließen können. zelstaaten der USA, die Provinzen Kana- werden. Damit wird die überwiegende Die vorherrschende Interpretation in der das, die Autonomen Gemeinschaften Spa- Zahl der „nicht-zentralstaatlichen“ Akti- Rechtslehre geht davon aus, daß die Kom- niens, die Gemeinschaften und Regionen vitäten in den internationalen Beziehun- petenzzuweisung an den Bund nach Art. Belgiens, die Kantone in der Schweiz, die gen erfaßt.“12 32 Abs. 1 GG nicht nur sehr umfassend ist, österreichischen oder eben auch die deut- Enthalten sind in dieser Definition speziell sondern sogar eine generelle Zuständig- schen Länder.9 mit Blick auf die Bundesrepublik Deutsch- keitsvermutung für ihn begründet.6 Aus Die seit den siebziger Jahren einsetzende land sowohl innerstaatliche Mechanismen dieser Sicht liegt für das Gebiet der globale Integration von Märkten und – zur Abstimmung außen- und europapoli- Außenpolitik also eine völlige Umkehrung wie im Falle Deutschlands – auch der Weg- tischer Positionen der Länder untereinan- der grundsätzlichen Residualkompetenz fall der Binnengrenzen im Rahmen der eu- der als auch kollektive Mitwirkungs- und der Länder nach Art. 30 GG vor. Sie spricht ropäischen Integration haben zu dieser Koordinationsverfahren für den Bereich dem Bund das Vertragsabschlußrecht Entwicklung das ihre beigetragen. Beide der auswärtigen Gewalt, in die zusätzlich selbst in Bereichen zu, in denen er selbst Prozesse bewirken, daß die Bedeutung an- die Bundesebene eingebunden ist. Eben- keine legislativen Rechte besitzt und die in gebotsorientierter Wirtschaftspolitik auf falls abgedeckt werden durch diese weit die ausschließlichen Gesetzgebungszu- mesopolitischer Ebene zunimmt. Unmittel- gefaßte Bezeichnung direkte Auslands- ständigkeiten der Länder fallen. Für eine bar damit verbunden ist eine Aufwertung kontakte der Länder zu auswärtigen Staa- weitestgehende Alleinzuständigkeit des der Regionen als politische Handlungsein- ten sowie im Rahmen grenzüberschreiten- Bundes für die Außenpolitik spricht aus heiten im internationalen Standortwett- der bzw. interregionaler Kooperation auf dieser Sicht, daß letztlich nur die Bundes- bewerb.10 Andererseits dringen die eu- substaatlicher Ebene. republik als Gesamtstaat „Staat im Sinne ropäische und internationale Politik auf des Völkerrechts“ sei. Die Eigenstaatlich- ihrer Suche nach angemessenen Lösungs- Zwischen Kooperation und keit der Länder muß hingegen schon des- strategien, die der hohen Interdependenz Konkurrenz – Versuch einer Typologie halb auf die Qualität von „Staaten im politischer Problemzusammenhänge noch Sinne des Staatsrechts“ begrenzt bleiben, gerecht werden, immer weiter in inner- Zu Recht wird vor dem internationalen damit der völkerrechtliche Panzer äußerer staatlich auf regionaler Ebene angesiedel- Hintergrund einer sich nach außen öff- Souveränität der Bundesrepublik nicht te Kompetenzbestände ein. Die Regionen nenden Staatlichkeit darauf hingewiesen, durchbrochen wird.7 Gerade von dieser bzw. – in föderalen Systemen – die Glied- daß die Bundesebene inzwischen einfach Voraussetzung hänge aber ihre Fähigkeit staaten reagieren darauf, indem sie sich überfordert wäre, müßte sie die Pflege ab, trotz ihrer föderalen Innenstruktur wie zur Verteidigung ihrer Autonomie und zur der auswärtigen Beziehungen Deutsch- jeder andere Nationalstaat einheitlich und Sicherung von Wettbewerbsvorteilen lands in ihrer ganzen Bandbreite allein- geschlossen nach außen aufzutreten. neue Handlungsspielräume in Gestalt von verantwortlich betreiben.13 Der Vertre- Entgegenzuhalten sind diesem Idealbild „intermestic politics“ erschließen. Sie be- tungsanspruch der Bundesregierung ge- einer monopolartigen Bundeszuständig- ginnen damit, ihre internationalen Bezie- genüber den Ländern fällt deshalb auch keit für die Außenbeziehungen allerdings hungen (international relations) auszu- auf Gebieten der Außenpolitik, die nicht zunächst einmal jüngere Entwicklungen bauen und diese mit ihren innerstaatlichen der Europapolitik zuzurechnen sind, we- des deutschen Verfassungsrechts. Die Kompetenzen (domestic) zu verknüpfen. niger absolut aus, als dies die „Alles-oder- Grundgesetzänderungen von 1992 haben Vgl. Groß, Franz, „Interstate Cooperation Nichts-Position“ in der Staatsrechtslehre dem bis zu diesem Zeitpunkt zumindest and Territorial Representation in Interme- erwarten ließe. In Abhängigkeit vom je- formalrechtlich unbeschädigt gebliebe- stic Politics“, in: ??????? ??????? Number 1, weiligen Betätigungsfeld und im zeitli- nen Souveränitätspanzer des Art. 32 Winter 1996, pp. 52–71“. chen Verlauf schwankend gestalten sich Abs. 1 GG ein beachtliches „Loch“ beige- Die vertikalen Strukturen föderativer Sy- die Bund-Länder-Beziehungen auf dem fügt. Verursacht wurde dieses „Loch“ steme, die bislang das Verhältnis von Gebiet der auswärtigen Gewalt ausge- durch die Einführung des neuen Artikels Bund und Gliedstaaten bestimmt haben, sprochen vielfältig. Theoretisch können 23 GG. Er hat die Mitwirkungsrechte der verlieren dabei an Bedeutung. Stattdes- sie vier Grundtypen zugeordnet werden.14 Länder in der Europäischen Union – als sen tritt der prozeßhafte Charakter der 1. einem Dominanzverhältnis der Bundes- einem zentralen Bereich der auswärtigen Politik in den Vordergrund. Der Erfolg po- regierung gegenüber den Ländern, das Beziehungen Deutschlands – nicht nur er- litischer Steuerung auf regionaler bzw. ihnen kaum autonomes internationales heblich ausgebaut, sondern sie zugleich gliedstaatlicher Ebene hängt mehr und Handeln erlaubt; mit Verfassungsqualität ausgestattet. mehr von der Fähigkeit ab, Netzwerke 2. einem Kooperationsverhältnis zwischen Zum anderen bietet aber auch die politi- zwischen staatlichen und nicht-staatlichen beiden Ebenen, das über gemeinsame sche Realität in der international verglei- Akteuren auch über staatliche Grenzen Entscheidungsprozesse ein abgestimm- chenden Perspektive reichlich Anschau- hinweg zu etablieren, in denen politische tes oder gemeinsames Handeln von ungsmaterial dafür, daß die Vorstellung Gestaltung als Aushandlungsprozeß statt- Bund und Ländern in der auswärtigen des einheitlich nach außen auftretenden findet. Bezogen auf die Europäische Politik ermöglicht; Gesamtstaates längst zu einer Illusion ge- Union schlägt sich diese Entwicklung nie- 3. einem moderaten Wettbewerbsverhält- worden ist. Bereits seit den siebziger Jah- der in der Kurzformel vom Europa der Re- nis durch paralleles Handeln, von dem ren lassen sich für eine Vielzahl von Bun- gionen oder – besser – vom Europa mit die jeweils andere Ebene zwar Kenntnis desstaaten gesteigerte außenpolitische den Regionen. nimmt und das in der Regel ergänzen- Aktivitäten ihrer föderalen Teileinheiten Die Grenzen zwischen Außen- und Innen- den Charakter hat, das gleichzeitig aber beobachten. Zu ihnen gehören auch die politik verschwimmen immer weiter und von den jeweiligen spezifischen Interes- deutschen Länder, wie mit den anfängli- bedingen eine „perforierte nationalstaat- sen geprägt ist; chen Beispielen kurz angedeutet werden liche Souveränität“ moderner National- 4. einem Konfliktverhältnis, in dem paral- sollte. Diese Entwicklung ist Ergebnis staaten.11 Sie läßt vor allem für Föderal- leles Handeln der beiden Ebenen

134 gemäß der eigenen Interessenlagen im litik sowie weitere Hauptgebiete auswär- dest „berücksichtigt“ werden (Art. 23 Widerspruch zu den Interessen der je- tigen Handelns der Länder unter Berück- Abs. 5 GG). weils anderen Ebene steht und bis hin sichtigung des horizontalen und vertika- – Schließlich gilt in Fällen, in denen die zu separatistischen Tendenzen führen len Bezuges lediglich skizziert werden. Im ausschließliche Ländergesetzgebung be- kann. Anschluß daran wird der Versuch unter- troffen ist, daß die Vertretung der Bun- In den folgenden Ausführungen zu den nommen, mit Blick auf die aktuelle Debat- desrepublik durch vom Bundesrat zu be- einzelnen Hauptgebieten des europa- te um das deutsche Bundesstaatsmodell nennende Ländervertreter zu erfolgen und außenpolitischen Handelns der Län- wesentliche Probleme der „Länderaußen- hat – bis hin zur Verhandlungsführung im der soll zwar immer wieder auf diese Ty- politik“ zu benennen. Ministerrat durch einen Landesminister pologie Bezug genommen werden. Kei- (Art. 23 Abs. 6 GG). nesfalls darf dies aber so mißverstanden Die deutschen Länder in werden, daß diese Typen in der politi- der Europapolitik Die Zusammenarbeit schen Praxis in Reinform vorliegen wür- verläuft hier im Regelfall gut den. Zumindest erlaubt die Verwendung Die „europäische Innenpolitik“ muß dieser unterschiedlichen Kategorien aber tatsächlich als Sonderfall unter den trans- Alles in allem lassen die bisherigen Erfah- Tendenzaussagen zur vertikalen Dimen- föderalen Beziehungen gewertet wer- rungen mit der Anwendung dieser Mit- sion (Bund-Länder) des im föderativen den.16 Die Länder verfolgten im Zuge der wirkungsrechte der Länder in der europa- System der Bundesrepublik angelegten Verhandlungen um den Maastrichter Ver- politischen Praxis darauf schließen, daß Spannungsverhältnisses zwischen Koope- trag mit großem Erfolg eine Doppelstra- die Zusammenarbeit mit dem Bund im Re- ration und Konkurrenz. tegie. Sie bemühten sich einerseits darum, gelfall gut verläuft. Abgrenzungsproble- über den Ausschuß der Regionen und die me scheinen vereinzelt vor allem hinsicht- Tendenzen zur Entsolidarisierung Möglichkeit zur direkten Mitwirkung im lich der Frage aufzutreten, wessen Zustän- unter den Ländern sind nur schwer Ministerrat unmittelbar Zugang zu den digkeiten im Schwerpunkt berührt sind. zu verkraften Entscheidungsverfahren auf europäischer Besonders deutlich wurden diese Schwie- Ebene zu erhalten. Andererseits setzten rigkeiten in den wiederholten Auseinan- Darüber hinaus muß bei der Darstellung sie sich dafür ein, über die Einführung des dersetzungen über die Frage, ob und in der Handlungszusammenhänge, in denen Art. 23 GG stärkere innerstaatliche Mitwir- welcher Form (Verhandlungsführung) die die Länder als Akteure im Außenbereich kungsrechte an der Gestaltung der Euro- Teilnahme von Ländervertretern an den auftreten, auch die horizontale Dimen- papolitik zu erlangen. Brüsseler Beratungssitzungen einzelner sion in die Betrachtung einbezogen wer- Mit der Einführung von Artikel 23 GG Fachministerräte zu bestimmten Rechtset- den. Mit ihr wird die Frage angeschnitten, findet die Entscheidungslogik „doppelter zungsvorhaben geboten ist. So kam es im ob das Verhältnis der Länder untereinan- Politikverflechtung“,17 die für die Ein- Falle der Fernsehrichtlinie, für die der Frei- der stärker durch Kooperation oder Wett- bindung des föderativen Systems der staat Bayern die Verhandlungsführung bewerb geprägt ist. Besonders relevant ist Bundesrepublik in die europäischen beanspruchte, oder erst jüngst wieder im dies, wenn die Länder ihren außenpoliti- Entscheidungsstrukturen kennzeichnend Zuge der Verhandlungen über das Fünfte schen Einfluß „kollektiv“ und indirekt ist, nicht nur ihre Anerkennung im deut- Forschungsrahmenprogramm der Euro- über die institutionelle Einbindung in die schen Grundgesetz. Sie wird durch ihn päischen Union, bei denen es um die Mit- politikverflochtenen Entscheidungsstruk- sogar erheblich ausgebaut. Letztendlich wirkungsrechte des Wissenschaftsmini- turen des deutschen Bundesstaates aus- bedeutet der Erfolg der Länder in ihrem sters von Baden-Württemberg ging, zu üben. Wachsende Konkurrenz und Wett- Bemühen, den Artikel 23 durchzusetzen ernsthafteren Unstimmigkeiten mit dem bewerb zwischen den Ländern können im und damit für Angelegenheiten der Eu- Bund.22 Deutliche Auffassungsunterschie- Rahmen des kooperativ-föderalen Sy- ropäischen Union die konstitutionelle de zum Bund bestehen überdies nach wie stems dann letztlich zu einer Schwächung „Parallelschaltung“18 von Außen- und In- vor in der Frage, ob Ländervertreter das ihrer Mitwirkungsmöglichkeiten führen. nenkompetenzen zu erreichen, nichts an- ihnen bislang verweigerte Recht erhalten Umgekehrt gilt aber, daß von den jeweili- deres als die „Erweiterung des kooperati- sollen, direkt an den Sitzungen des Aus- gen Handlungsspielräumen und -kapa- ven Föderalismus auf die Europapoli- schusses der Ständigen Vertreter teilzu- zitäten der einzelnen Länder, ihre spezifi- tik“.19 nehmen. Der Bund hat es bislang auch ab- schen Interessen über direkte Auslandsbe- Stark verkürzt20 sieht der „Europa-Artikel“ gelehnt, eine eigenständige Arbeitsein- ziehungen zur Geltung zu bringen, ten- des Grundgesetzes folgende „kollekti- heit der Länder bei der Ständigen Vertre- denziell auch ihre Bereitschaft abhängt, ven“ Mitwirkungsrechte der Länder über tung der Bundesrepublik Deutschland in den innerstaatlichen Ausgleich mit den den Bundesrat vor: 21 Brüssel einzurichten. Er ist lediglich bereit, anderen Ländern zu suchen. Erweisen sich – Die deutsche Zustimmung zu Ände- zwei Länderbeamte in die dort bereits be- einzelne Länder darin als besonders über- rungen des europäischen Vertragsrechts stehenden Arbeitseinheiten einzubinden, legen, so kann dies deren Bereitschaft er- ist künftig von einer Zwei-Drittel- die aber gegenüber dem Ständigen Ver- heblich fördern, gegenüber den anderen Mehrheit im Bundesrat abhängig (Art. 23 treter, sprich: dem deutschen Botschafter Ländern im Sinne der Sinatra Doktrin auf- Abs. 1 GG). bei der Europäischen Union, voll wei- zutreten: I do it my way.15 Sie sind länger- – Die Länder wirken über den Bundesrat sungsgebunden bleiben.23 fristig weit weniger auf die innerstaatli- generell in Angelegenheiten der Europäi- che Nutzung der politikverflochtenen Ent- schen Union mit (Art. 23 Abs. 2 GG) und Ein immenser personeller scheidungsmechanismen im deutschen sind auf dem gleichen Wege an der Aufwand, der besonders den kleinen Bundesstaat angewiesen, als dies bei den Willensbildung des Bundes zu beteiligen, Ländern zu schaffen macht anderen-Ländern der Fall ist, die beim soweit sie innerstaatlich zuständig sind Aufbau transföderaler Beziehungen we- (Art. 23 Abs. 4 GG). Sind von geplanten Trotz dieser Einschränkungen besteht in niger erfolgreich sind. Der kooperative europäischen Rechtsakten im Schwer- der Praxis der Länderbeteiligung generell Bundesstaat in Deutschland ist jedoch nur punkt Gesetzgebungsbefugnisse der Län- ein enges Kooperationsverhältnis mit sehr begrenzt dazu in der Lage, Tenden- der, die Einrichtung ihrer Behörden oder dem Bund. Ein hohes Maß an Entschei- zen einer Entsolidarisierung unter den ihre Verwaltungsverfahren betroffen, so dungsfähigkeit – in der horizontalen Di- Ländern zu verkraften, ohne daß sie sich muß die Bundesregierung die Auffassung mension – ist dadurch gesichert, daß negativ auf seine Entscheidungsfähigkeit des Bundesrates „maßgeblich berücksich- durch die Zwischenschaltung des Bundes- auswirken. Zumindest seine gegenwärti- tigen“. In diesen Fällen verfügt der Bun- rates die Möglichkeit besteht, die jeweili- ge Funktionslogik setzt ein hohes Maß an desrat faktisch über ein Letztentschei- ge Haltung der Länder zu Einzelfragen Bereitschaft zur Zusammenarbeit bei allen dungsrecht in der Frage, welche Position mit Mehrheit zu beschließen. Dennoch Ländern voraus. der deutsche Vertreter im Ministerrat der ergeben sich gerade aus der relativ rei- Aufgrund des begrenzten Rahmens wird Europäischen Union einnimmt. Wenn an- bungslos verlaufenden Zusammenarbeit es nicht möglich sein, die transföderalen sonsten Interessen der Länder berührt institutionelle Engpässe beim Bundesrat Beziehungen der Länder detailliert abzu- sind, muß die Stellungnahme des Bundes- sowie in den Verwaltungen vor allem der handeln. Vielmehr können die Europapo- rates durch die Bundesregierung zumin- kleineren Länder. Zum einen bedeutet al-

135 Länder im Ausschuß der Regionen und der Gibt es einen zweiten Professor im Land, der so kreativ und Arbeit des Bundesrates kaum stattfindet. lebendig praktiziert, was er lehrt? Prof. Dr. Xaver Fiederle Sowohl bei der Mitwirkung im Ausschuß ist schon einmalig! der Regionen als auch bei der Unterhal- Wenn es nach seinen Ideen und seiner Produktivität ginge, tung der Brüsseler Büros handelt sich um dürfte er noch lange nicht in den Ruhestand. Aber die Ge- Erscheinungsformen parallelen europapo- burtsurkunde weist aus: litischen Handelns der Länder gegenüber dem Bund. Dabei hat sich die Einstellung Xaver Fiederle wurde am 24. Februar 65 Jahre alt. des Auswärtigen Amtes zur Einrichtung Dazu gratuliert die Landeszentrale von ganzem Herzen. Sie der Länderbüros seit Mitte der achtziger verdankt dem Jubilar viel. Er ist das einzige Kuratoriums- Jahre allerdings deutlich verändert. mitglied, das seit der Gründung der Landeszentrale im Jahr Zunächst hatte gerade dieses Vorgehen 1972 dem Aufsichtsgremium ununterbrochen angehört. In heftige Kritik auf Bundesebene ausgelöst vielfältiger Weise hat er die Landeszentrale gefördert und und bildete den Kern der Behauptung, die unterstützt. Xaver Fiederle hat vor allem auch neue Fur- Länder betrieben eine „Neben-Außenpo- chen in die didaktische Landschaft geschlagen. Der vor allem von ihm konzipierte litik“.27 Im Rahmen der Ausführungsge- „Grundkurs Politik“ ist noch immer aktuell, auch wenn er bald mit „Democards“ setzgebung zu den Grundgesetzänderun- einen jungen Bruder erhält, der wieder stark von Xaver Fiederle inspiriert ist. Man gen von 1992 erhielten diese Länderein- könnte die Aufzählung fortsetzen. Und wer schon einmal in den Genuß eines von richtungen dann allerdings eine bundes- ihm geführten Seminars gekommen ist, wird lange davon zehren. gesetzliche Grundlage28 und kurz darauf Das Kuratorium und die Landeszentrale freuen sich, wenn Prof. Fiederle neben dem erklärte die Bundesregierung explizit ihre verdienten Ruhestand immer wieder Zeit und Kraft findet, die politische Bildung mit Bereitschaft zur Zusammenarbeit.29 neuen Ideen zu beleben. Siegfried Schiele Wenngleich inzwischen auch von seiten des Bundes die enge Kooperation zwi- schen Ständiger Vertretung und den Län- leine die Zahl von ca. 450 zu benennen- „großen Drei“ – Bayern, Baden-Württem- dereinrichtungen hervorgehoben wird, ist den Bundesratsbeauftragten für rund 300 berg und Nordrhein-Westfalen – und am die anfängliche Skepsis nach wie vor nicht Gremien beim Rat und der Europäischen anderen Rand die ostdeutschen Länder völlig ausgeräumt. So führte die Entschei- Kommission einen immensen personellen gegenüber. Überspitzt ausgedrückt läßt dung von mittlerweile sechs Ländern, ihre Aufwand, der nur durch eine deutliche sich diese Lagerbildung damit erklären, Büros – in auffälliger Nähe zu der immer- Überrepräsentation der größeren Länder daß sich die ostdeutschen Länder die von hin mit diplomatischem Status ausgestat- aufgefangen werden kann. Zum anderen den reichen Ländern geforderte Durchset- teten Ständigen Vertretung der Bundesre- ist die immense Informationsflut der Ma- zung des Subsidiaritätsprinzips für die publik – in „Vertretungen“ umzubenen- terialien kaum zu bewältigen, die von der Aufgabenverteilung in der Europäischen nen, zu einigen Irritationen im Auswärti- Bundesregierung über den Bundesrat an Union nicht leisten können. Eine Versteti- gen Amt. Überdies löst die Beobachtung die Länderverwaltungen weitergeleitet gung dieser unterschiedlichen Interessen- auf Bundesebene Unbehagen aus, daß die wird. Alleine im Jahr 1995 gingen dem lagen könnte auf Dauer einem europapo- „Schere“ zwischen dem Personalbestand Bundesrat 7000 Dokumente der Europäi- litischen Gewichtsverlust der Länder im der Ständigen Vertretung und der Beset- schen Union zu, von denen immerhin 139 Rahmen ihrer über den Bundesrat kanali- zung der 16 Länderrepräsentanzen sich als Bundesratsdrucksachen beraten wur- sierten Beteiligungsrechte zur Folge zusehends weiter öffnet. Insgesamt verfü- den.24 haben.25 gen die Büros inzwischen über rund 140 Mitarbeiter, von denen 90 Beamte im Die europapolitische Abstimmung Die Brüsseler Büros der Länder höheren Dienst sind, während die Ständi- der Länder untereinander verläuft haben inzwischen eine gesetzliche ge Vertretung 112 Mitarbeiter hat, davon spannungsreicher Grundlage 60 im höheren Dienst. Sieht sich das Aus- wärtige Amt zugleich seit einiger Zeit ge- Neben diesen koordinierten Aktivitäten Eine gewisse Entsolidarisierung zwischen zwungen, jährlich zwischen 1,5 und 2 Pro- mit dem Bund im Rahmen gemeinsamer den Ländern dürfte weiterhin dadurch ge- zent an Personalkosten einzusparen, Entscheidungsregeln verfolgen die Länder fördert werden, daß die Länder als Einzel- stockten die einzelnen Länderbüros erst in der Europapolitik verschiedene paralle- akteure direkt in Brüssel auftreten. Sie alle 1997 ihre personelle Besetzung um vier bis le Handlungsstrategien. Als „kollektiver“ vertreten dort vor Ort ihre spezifischen In- sechs Prozent auf.30 Akteur im innerstaatlichen Bereich treten teressen, haben dabei allerdings sehr un- Als Gesamtbild ergibt sich daraus, daß die sie vor allem über die Befassung der diver- terschiedlichen Erfolg zu verzeichnen. An direkte Vertretung von Länderinteressen sen Fachministerkonferenzen und der Mi- erster Stelle sind in diesem Kontext die In- über eigene Informationsbüros in Brüssel nisterpräsidentenkonferenz mit europa- formationsbüros der Länder zu nennen, also nicht mehr in einem offenen Konflikt- politischen Fragen sowie schließlich über die zwar untereinander durch gemeinsa- verhältnis zum Bund erfolgt. Inzwischen die 1992 eigens gegründete Ständige me Arbeitskreise vernetzt sind, primär je- könnte man wohl am ehesten von einem Konferenz der Europaminister der Länder doch für das jeweilige Land direktes Lob- „latenten Konfliktverhältnis“ oder einem in der Bundesrepublik Deutschland auf. bying bei der Europäischen Kommission „ausgeprägten Konkurrenzverhältnis“ Gerade in diesen Gremien, die allesamt betreiben.26 Naturgemäß fällt es auch hier sprechen. der „dritten Ebene“ der politikverflochte- den großen und reicheren Ländern auf- nen Strukturen im deutschen Bundesstaat grund ihrer deutlich überlegenen Perso- Das „Lindauer Abkommen“ oder wie zuzurechnen sind und Beschlüsse nur ein- nal- und Ressourcenausstattung erheblich die Länder an Völkerrechtsverträgen stimmig fassen können, zeigt sich, daß die leichter, ein umfassendes Netz an Außen- mitwirken Interessendivergenzen zwischen den Län- kontakten zu etablieren. Auch die Mit- dern seit der deutschen Vereinigung in gliedschaft im Ausschuß der Regionen, Die Europapolitik nimmt eine Sonderstel- europapolitischen Grundfragen von pri- der durch den Vertrag von Maastricht be- lung in dem Gesamtspektrum transfö- mär verteilungs- oder verfassungspoliti- gründet wurde, bietet dabei tendenziell deraler Beziehungen der deutschen Län- scher Bedeutung zugenommen haben. In gerade ihnen zusätzliche Möglichkeiten, der ein, weil sie über die Beteiligungsrech- Bereichen wie der europäischen Struktur- Beziehungen mit starken Gebietskörper- te des Art. 23 GG stark durch ein enges Ko- politik im Rahmen der Agenda 2000, in schaften in anderen Mitgliedstaaten zu in- operationsverhältnis zwischen Bund und der Subventionskontrolle oder der Wett- tensivieren und dadurch Wettbewerbsvor- Ländern geprägt ist. Die außenpolitischen bewerbspolitik sowie erst kürzlich bei den sprünge auszubauen. Für die „Schwerge- Aktivitäten der Länder haben im Regelfall Vorbereitungsarbeiten der Regierungs- wichte“ unter den deutschen Ländern die Qualität parallelen Handelns zum konferenz 1996/97 zum Vertrag von Am- kann es deshalb sogar von einem gewis- Bund. sterdam stehen sich immer öfter auf der sen Vorteil sein, daß eine Koordination Eine Ausnahme bildet das sogenannte einen Seite des Spektrums das Lager der zwischen den Mitgliedern der deutschen „Lindauer Abkommen.31 Mit dem Ab-

136 schluß dieses Übereinkommens gelang es fernt liegende Regionen einer Nation pragmatische Lösungen sichergestellt hat, Bund und Ländern bereits 1957, ein Ver- (haben). Norddeutschland hat in vielen deuten gerade die Abschlußmodalitäten fahren für den Abschluß völkerrechtlicher Bereichen mehr gemeinsame Interessen des Isselburger, Karlsruher und Mainzer Verträge zu vereinbaren, durch das der mit Dänemark, Südschweden und Nord- Abkommens darauf hin, daß die Bundes- verfassungstheoretische Disput um die polen als mit Bayern“.36 Die grenznachbar- regierung der wachsenden Zahl direkter Reichweite der Eingriffsrechte des Bundes schaftlichen Kooperationsformen, die aus grenzüberschreitender Außenbeziehun- in Gegenstände der Ländergesetzgebung diesen natürlichen Interessenunterschie- gen von Ländern und Kommunen durch- nach Art. 32 GG für die außenpolitische den resultieren, decken das ganze Spek- aus grundsätzliche Bedeutung im Hinblick Praxis faktisch bedeutungslos geworden trum der Länderzuständigkeiten ab. Sie auf die Zuständigkeitsverteilung in der ist. Angestoßen durch die Konkordatsent- umfassen Aufgaben der Wirtschaftsförde- Außenpolitik beimißt. In allen genannten scheidung des Bundesverfassungsgerichts rung und Infrastruktur, Arbeits-, Sozial- drei Fällen konnten sich die Länder auf im gleichen Jahr,32 einigten sich die Partei- und berufliche Weiterbildungspolitik, ihre ausschließliche Gesetzgebungskom- en auf eine Art „verfassungsrechtlichen Umwelt-, Gesundheits- und Katastrophen- petenz im Kommunalrecht berufen, Vergleich“, der eine enge Kooperation schutz, Kultur- und Fremdenverkehrspo- während die Bundesregierung durchgän- beider Ebenen im Rahmen gemeinsamer litik wie auch Gebiete der inneren Sicher- gig ihre prinzipielle Zuständigkeit für die Entscheidungsregeln vorsieht. Seitdem heit und der polizeilichen Zusammenar- Außenpolitik geltend machte. Die verhär- gilt generell, daß geplante Völkerrechts- beit. teten Positionen in dieser Frage führten verträge der Bundesregierung, die aus- Allerdings entfalten sich Aktivitäten in dazu, daß drei unterschiedliche Verfahren schließliche Kompetenzen der Länder be- diesen Aufgabenfeldern an den deut- gewählt werden mußten: im Falle des rühren, eine frühzeitige Beteiligung der schen Grenzen keineswegs nur auf Ebene Karlsruher Abkommens setzte sich der Länder erforderlich machen und die Zu- der Länder. Im Gegenteil stehen gerade Bund durch, im Falle des Isselburger Ab- stimmung jedes einzelnen der (inzwischen die sogenannten Euroregionen idealty- kommens unterzeichneten neben dem sechszehn) Länder benötigen. Werden pisch für die zahllosen Fälle interkommu- Bund auch Nordrhein-Westfalen und Nie- wesentliche Länderinteressen berührt, naler Zusammenarbeit – ob es sich dabei dersachsen, im Falle des Mainzer Abkom- ohne daß es sich dabei um ausschließliche nun um die erste, bereits in den fünfzi- mens sind schließlich nur Nordrhein-West- Kompetenzen handeln muß, besteht eine ger Jahren gegründete EUREGIO Gronau falen und Rheinland-Pfalz auf deutscher Unterrichtspflicht des Bundes.33 Als Koor- im deutsch-niederländischen Grenzraum Seite beteiligt.39 Auch bei dem letztge- dinationsgremium der Länder wurde zu oder die überwiegend erst in den neunzi- nannten Übereinkommen beharrte die diesem Zweck die Ständige Vertragskom- ger Jahren an den östlichen Grenzen Bundesregierung aber grundsätzlich auf mission der Länder eingesetzt, deren Ar- Mecklenburg-Vorpommerns, Branden- ihrer alleinigen Zuständigkeit und ließ beit durchgängig positiv bewertet wird.34 burgs, Sachsens und Bayerns zur Tschechi- den beiden Ländern im Vertragsabschluß Wie bereits erwähnt, entspricht dieser Be- schen Republik und Polen entstandenen mit der Wallonischen Region und der reich völkerrechtlicher Vertragsabschlüsse Euroregionen Pomerania, Viadrina, Deutschsprachigen Gemeinschaft Belgiens ebenso wenig der Regel außenpolitischer Spree/Bobr, Neiße, Elbe/Labe, Zentrales nur unter dem Hinweis auf die besondere Länderaktivitäten wie die europapoliti- Erzgebirge und Egrensis handelt. Dane- verfassungsrechtliche Situation in Belgien schen Mitwirkungsrechte nach Art. 23 GG. ben existieren Mischformen, wie im Falle den Vortritt. Sollte sich also die Verrecht- Das in beiden Fällen vorliegende Koope- der Großregion Saar-Lor-Lux oder der lichungstendenz in diesem Bereich trans- rationsverhältnis mit dem Bund, das über Oberrhein-Kooperation, wo Bund, Länder föderaler Beziehungen fortsetzen, so gemeinsame Entscheidungsregeln ge- und kommunale Gebietskörperschaften könnte sie durchaus zu einem ausgepräg- währleistet wird, bleibt eine Ausnahme vertreten sind. Beispiele wie die ARGE Alp teren Konfliktverhältnis zwischen Bund unter der Vielzahl transnationaler Bezie- oder die ARGE Adria, wo tatsächlich vor- und Ländern beitragen. Der Bewegungs- hungen. Im Unterschied dazu treten die rangig die Länder als Akteure auftreten, spielraum für die Vereinbarung praktika- einzelnen Länder auf den verschiedensten stellen nach wie vor nicht den Regelfall bler Lösungen, der letztlich auch in der Gebieten als internationale Akteure auf, dar. Die Einführung des neuen Art. 24 Abs. Unterschiedlichkeit der gewählten Ver- die ihre spezifischen Interessen relativ un- 1a GG von 1992 könnte aber gerade in fahren erkennbar wird, läßt es dagegen abhängig von der Bundesregierung ver- diesem Punkt weitreichende Auswirkun- noch nicht zu, von einem aufkeimenden folgen. Solche Formen parallelen Han- gen haben. Den Ländern wird durch ihn Dominanzverhältnis der Bundesregierung delns zwischen Bund und Ländern sind in das Recht eingeräumt, mit Zustimmung zu den Ländern zu sprechen. erster Linie auf den Gebieten der grenz- des Bundes eigene Hoheitsrechte auf überschreitenden und interregionalen Zu- „grenznachbarschaftliche Einrichtungen“ Interregionale Kooperation: die vier sammenarbeit in Europa, der regionalen zu übertragen. Tatsächlich existiert mit Motoren als das klassische Beispiel (Außen-) Wirtschaftsförderung, der Ent- dem Karlsruher Abkommen zwischen der wicklungspolitik sowie der Kultur- und Bil- Bundesrepublik, Frankreich, Luxemburg Sowohl im Rahmen interregionaler Ko- dungspolitik zu finden.35 und der Schweiz von 199638 bereits eine operation mit nicht-benachbarten Part- erste Rechtsgrundlage, in der auf diese nern als auch auf dem Gebiet der regiona- Verschiedene Formen Regelung explizit verwiesen wird. len Wirtschaftsförderung steht hingegen grenzüberschreitender Kooperation Von besonderem Interesse ist das Karlsru- wieder die horizontale Dimension des her Abkommen aber auch deshalb, weil es Verhältnisses der deutschen Länder unter- In der grenzüberschreitenden Kooperati- symptomatisch für die seit Beginn der einander stärker im Vordergrund. Läuft on mit Gebietskörperschaften benachbar- neunziger Jahre fortschreitende Tendenz interregionale Kooperation nicht über ter Staaten steht das Ziel im Vordergrund, ist, für Formen grenzüberschreitender Ko- politische Gremien ab, wie die Versamm- durch die wirksame Bewältigung gemein- operation gesicherte rechtliche Grund- lung der Regionen Europas oder den Kon- samer „Alltagsprobleme“ Grenzräume lage zu schaffen. Auch die Gründung der- greß der Gemeinden und Regionen in Eu- stärker zu integrieren, die durch nationale Neuen Hanse Interregio (1991), das Issel- ropa beim Europarat, die als eine Art Grenzen durchschnitten werden, dabei burg-Anholt-Abkommen (1991), das gesamteuropäische Lobby-Organe der re- aber erhebliche geographische, historisch- Bayonner Abkommen (1995) und das gionalen Ebene fungieren, so dient sie kulturelle oder sozio-ökonomische Ge- Mainzer Abkommen (1996) bestätigen meist als Instrument zur gegenseitigen meinsamkeiten aufweisen. Im Gegensatz diese Entwicklung. Sie dürfte sich aus Län- Verbesserung der internationalen Wett- dazu dient interregionale Kooperation dersicht aber nicht nur als vorteilhaft dar- bewerbsposition. Das klassische Beispiel zwischen nicht-benachbarten Regionen stellen, nimmt dadurch doch ihr informel- für eine Zusammenarbeit mit dieser Ziel- nicht dem Zweck der Integration, sondern ler bzw. formloser Spielraum ab. Vor allem richtung bilden die Vier Motoren, die in primär der Vernetzung zum gegenseitigen berührt eine zunehmende Verrechtli- den achtziger Jahren auf eine Initiative politischen oder ökonomischen Nutzen. chung in diesem Bereich aber unmittelbar des damaligen Ministerpräsidenten Ba- Zu Recht wurde für die deutschen Länder die Frage der Reichweite der Vertrags- den-Württembergs ins Leben gerufen konstatiert, daß „benachbarte Regionen, kompetenz des Bundes. Obwohl die wurden. In dieser schwach institutionali- auch über Ländergrenzen hinweg, oft Bund-Länder-Abstimmung im Rahmen sierten Arbeitsgemeinschaft haben sich mehr gemeinsame Interessen als weit ent- des Lindauer Abkommens bisher stets mit Baden-Württemberg, Katalonien, der

137 Lombardei, Rhönes-Alpes und inzwischen Auf die horizontalen Beziehungen der tagserscheinung. Die „Reisediplomatie“ – in einer assoziierten Form – auch Wales Länder untereinander dürfte sich die Pfle- dient vorrangig dem Zweck der interna- ausgesprochen starke bzw. zukunftsträch- ge eigener transföderaler Netzwerke mit tionalen Außendarstellung des Landes, tige europäische Regionen mit ähnlichen dem Ziel der regionalen Wirtschaftsförde- wobei das häufige Beisein von Wirt- Wirtschaftsstrukturen zusammengetan.40 rung eher abträglich auswirken und die schaftsvertretern sie aber auch als Instru- Kooperationen zwischen wohlhabende- Bereitschaft zur Solidarität zwischen den ment des Standortwettbewerbs ausweist. ren und benachteiligten Gebieten, wie Ländern erheblich beeinträchtigen. Gera- Natürlich gilt dies in einem weiteren Sinne diejenige Bayerns als Wachstumsmotor de die auswärtige Wirtschaftsförderung immer auch für die außenpolitische Bil- mit Andalusien, Valencia und Nordportu- in dieser Form trägt wesentlich dazu bei, dungs- und Kulturarbeit der Länder. Hier gal bleiben bei der interregionalen Ko- auch den innerdeutschen Standortwett- wird der mehrjährige Rahmen zwischen operation innerhalb Europas eher eine bewerb zu verschärfen.42 Bund und Ländern jedoch über das Lin- Seltenheit.41 dauer Abkommen festgelegt, weist also Entwicklungspolitik ebenfalls starke Elemente eines Kooperati- Regionale Wirtschaftsförderung auf in Ergänzung zum Bund onsverhältnisses auf. Der Schwerpunkt der internationaler Bühne Ausführung liegt dabei bei den Ländern, In der Entwicklungpolitik liegt zwar eben- während der Bund meist die Initiative er- Die regionale Wirtschaftsförderung, die falls eine Form parallelen auswärtigen griffen hat. Als Länderschwerpunkte sind nach dem Grundgesetz grundsätzlich Handelns der Länder zur Bundesebene im Bereich der auswärtigen Kulturpolitik Sache der Länder ist und an der sich der vor, allerdings trägt sie gewisse Züge eines das Management der Deutschen Schulen Bund nur im Rahmen ausdrücklich verlie- Kooperationsverhältnisses. Grundsätzlich im Ausland, die Vermittlung von Auftrit- hener Zuständigkeiten beteiligt, hat tradi- ist dieser Aufgabenbereich bei der Bun- ten deutscher Künstler, die Ausbildung tionell hohes Gewicht in den transfödera- desregierung angesiedelt. Deshalb beto- ausländischer Studenten sowie die Unter- len Beziehungen der einzelnen Länder. nen auch die Beschlüsse der Ministerpräsi- stützung von Einrichtungen wie dem Durch das seit der deutschen Vereinigung denten von 1962 und 1988, auf die sich Goethe-Institut oder dem Deutschen Aka- gestiegene wirtschaftliche Leistungsgefäl- das entwicklungspolitische Engagement demischen Austauschdienst (DAAD) zu le und die unterschiedlichen Orientierun- der Länder gründet, daß diese nur ergän- nennen. Darüber hinaus existieren aber gen der west- und ostdeutschen Länder zend zum Bund tätig werden dürfen. auch eigenständige Initiativen der Länder bezüglich ihrer Kernmärkte werden die Schwerpunkte bilden die Förderung der ohne Abstimmung mit dem Bund, die vor nach außen gerichteten Aktivitäten auf Fort- und Ausbildung von Fachkräften im allem im Bereich der Bildungsarbeit zu fin- diesem Feld voraussichtlich noch an Be- In- und Ausland, die personelle Hilfe, die den sind und in engem Zusammenhang deutung gewinnen. Sie reichen von der Projektdurchführung in Ländern der Drit- mit der grenzüberschreitenden und inter- Gewährung von Ausfallsgarantien für Ex- ten Welt sowie die entwicklungspolitische regionalen Kooperation bzw. der regiona- portgeschäfte, über Reisen von Ländermi- Informations- und Bildungsarbeit.43 Dabei len Wirtschaftsförderung stehen.45 nistern in Begleitung einheimischer Wirt- ist über die Bund-Länder-Ausschüsse für schaftsvertreter bis hin zu der direkten Er- wirtschaftliche Zusammenarbeit und für Wachsende Bedeutung der richtung eigener Wirtschaftsvertretungen Entwicklungszusammenarbeit eine enge „Sinatra-Doktrin“ und abnehmende im Ausland. Abstimmung in der vertikalen Dimension demokratische Rückbindung Eine zentrale Rolle spielen hier von den des föderativen Systems gewährleistet. Ländern gegründete Wirtschaftsförde- Der jeweilige Stellenwert, den das einzel- Auf dem Feld der Außenpolitik verlaufen rungsgesellschaften, wie Bayern Interna- ne Land dabei der Entwicklungspolitik im die Spannungslinien innerhalb des födera- tional, die Gesellschaft für internationale Rahmen seiner transföderalen Beziehun- tiven Systems der Bundesrepublik nicht in wirtschaftliche Zusammenarbeit Baden- gen einräumt, scheint zumindest bis zu erster Linie zwischen der Bundesregierung Württemberg (GWZ), die Wirtschaftsför- einem gewissen Grad von den parteipoliti- und den Ländern, sondern in wachsendem derung Brandenburg (WFB) oder auch die schen Mehrheitsverhältnissen abzuhän- Maße zwischen den Ländern selbst. Bei- Gesellschaft für Wirtschaftsförderung gen. Dafür spricht unter anderem die her- spiele wie das Lindauer Abkommen veran- Mecklenburg-Vorpommern, zu deren ausragende Rolle, die das sozialdemokrati- schaulichen, daß die Zeichen in der verti- Hauptaufgaben die Anwerbung ausländi- sche Nordrhein-Westfalen auf diesem Ge- kalen Dimension der Bund-Länder-Bezie- schen Kapitals zählt. Zu diesem Zweck un- biet einnimmt. Im Rahmen seiner „Eine- hungen schon sehr früh auf pragmatischer terhalten sie eigene Auslandsrepräsentan- Welt-Politik“ entfaltet es eine Vielzahl un- Kooperation standen. Damit hat auch das zen. So ist Bayern International ständig terschiedlichster Aktivitäten, zu denen in der herrschenden Staatsrechtslehre vertreten in Japan, Rußland, Singapur und auch die Herausgabe der vierteljährlich er- noch immer aus Art. 32 GG abgeleitete Do- Taiwan, Südkorea, der Ukraine, Ungarn, scheinenden Zeitung Forum Eine Welt minanzverhältnis im Grunde genommen den USA, Kanada und der Volksrepublik zählt. Ein anderer Beleg für diese These nie den außenpolitischen Realitäten ent- China. Die GWZ ist außerhalb der Europäi- liegt darin, daß in den wenigen Fällen, in sprochen. Zwar zeigen sich auch in dieser schen Union in den USA und Kanada, denen es zu Konflikten mit dem Bund vertikalen Dimension deutscher Bundes- Japan, Taiwan, der Volksrepublik China, kam, parteipolitische Auffassungsunter- staatlichkeit vereinzelt Durchbrechungen Rußland und Ungarn präsent. Besonders schiede deutlich im Vordergrund standen. ihres kooperativen Grundmusters. Ein deutlich wird das starke Engagement der So konterkarierten sozialdemokratisch re- Konfliktverhältnis zwischen beiden Ebe- Länder in der Außenwirtschaftspolitik gierte Länder seinerzeit die entwicklungs- nen ist vor allem in Fällen zu beobachten, außerdem durch den Abschluß von offizi- politische Zurückhaltung der Bundesregie- in denen der Parteienwettbewerb in die ellen Kooperationsabkommen mit Part- rung gegenüber Nicaragua, indem sie Außenpolitik hineingetragen wird oder nerregionen oder -staaten, wie dies zum selbst Hilfsmaßnahmen finanzierten.44 das auswärtige Handeln der Länder Züge Beispiel erst 1998 mit der Gemeinsamen annimmt, die aus der Sicht der Bundesre- Erklärung über die Partnerschaft Kalifor- Internationales Engagement der gierung unmittelbar einen Anspruch der nien – Bayern auf dem Gebiet der For- Länder zur „Imagepflege“ Länder auf „Eigenstaatlichkeit im Sinne schung und Technologie der Fall war. des Völkerrechts“ implizieren. Die letztge- Voraussichtlich werden gerade die ostdeut- Auch die Auslandsbesuche von Ländermi- nannte Konstellation ist vor allem bei den schen Länder längerfristig von dem Beitritt nistern, Länderministerpräsidenten oder Brüsseler Länderbüros sowie – in jüngerer der mittel- und osteuropäischen Bewerber- Landtagsabgeordneten als weitere Form Zeit – bei den völkerrechtlichen Vertrags- staaten um eine EU-Mitgliedschaft beson- der Pflege transföderaler Beziehungen abschlüssen im Rahmen der grenzüber- ders profitieren. Bislang stellt sich ihre geraten am ehesten dann in ein offenes schreitenden Regionalkooperation zu be- frühere Einbindung in das COMECON-Sy- Konfliktverhältnis zur Bundesregierung, obachten. Im Regelfall hat sich aber ge- stem und der Wegbruch ihrer langjährigen wenn sie zu Wahlkampfauftritten genutzt zeigt, daß ein moderates Konkurrenzver- Absatzmärkte in Osteuropa nach dem werden. Abgesehen von derartigen Aus- hältnis zum Bund durch paralleles Handeln Ende des Kalten Krieges jedoch primär als nahmeerscheinungen wertet wohl auch der Länder im auswärtigen Bereich völlig außenwirtschaftliches Handicap im Ver- das Auswärtige Amt Auslandsreisen von mit dem kooperativen Föderalismusmo- gleich zu den westdeutschen Ländern dar. Landespolitikern inzwischen eher als All- dell der Bundesrepublik vereinbar bleibt.

138 Stärker in Frage gestellt wird dieses Modell Bd. I: Grundlagen von Staat und Verfassung, Heidel- Bundesregierung und den Regierungen der Länder berg 1987, Rn. 169 (S. 657). über die Zusammenarbeit in Angelegenheiten der hingegen durch die wachsenden Interes- 5 Neben Art. 32 enthalten v. a. die Art. 73 Abs. 1 (aus- Europäischen Union in Ausführung von § 9 des Ge- sendivergenzen zwischen den Ländern seit schließliche Gesetzgebung in Auswärtigen Angele- setzes über die Zusammenarbeit von Bund und Län- der deutschen Vereinigung und ihre unter- genheiten), 24 Abs. 1 (Bundesermächtigung zur dern in Angelegenheiten der Europäischen Union“ Übertragung von Hoheitsrechten auf zwischenstaat- vom 29. Oktober 1993 (abgedruckt in: Bundesanzei- schiedliche Fähigkeit, sich im internationa- liche Einrichtungen), Abs. 2 (Beitritt zu Systemen kol- ger, Nr. 226, 1993, S. 10425f.; zuletzt geändert durch len Standortwettbewerb zu behaupten. lektiver Sicherheit) und Abs. 3 (internationale das Protokoll des Bund-Länder-Gesprächs vom 6. Fe- Schiedsgerichtsbarkeit), Art. 59 Abs. 1 in Verb. mit bruar 1998, das mit Schreiben des Chefs des Bundes- Jüngere Forschungen deuten darauf hin, Art. 58 (Völkerrechtliche Vertretung der Bundesrepu- kanzleramtes vom 3. März 1998 an die Ministerpräsi- daß die Überlegenheit einzelner Bundes- blik durch den Bundespräsidenten), Art. 73 Nr. 3 (aus- denten ging und von diesen am 18. März 1998 zur schließliche Gesetzgebung für Freizügigkeit, Paßwe- Kenntnis genommen wurde) geregelt. länder, wie Baden-Württembergs, Bayerns sen, Ein- und Auswanderung sowie Auslieferung) 21 Vgl. ausführlich Morawitz, Rudolf/Kaiser, Wilhelm, und Nordrhein-Westfalens, beim Aufbau und Nr. 5 (ausschließliche Gesetzgebung für Zoll, Die Zusammenarbeit von Bund und Ländern bei Vor- und der Pflege innerstaatlicher und inter- Handel, Schiffahrt, Warenverkehr, Grenzschutz), Art. haben der Europäischen Union, Bonn 1994. 87 Abs. 1 (Führung des Auswärtigen Dienstes), 26 22 Vgl. dazu das „Rechtsgutachten zur Frage der Beteili- nationaler Netzwerke strukturelle Züge Abs. 2 (Kriegswaffen und Rüstungsexportkontrolle), gung des Ländervertreters an den Tagungen des EG- trägt, die längerfristig eine Entwicklung Art. 115a Abs. 5 (völkerrechtliche Erklärungen zur Rates (hier: des Forschungsministerrates)“ vom 29. 08. Feststellung des Verteidigungsfalles durch den Bun- 1997, das am Max-Planck-Institut für ausländisches zum Konkurrenzföderalismus begünsti- despräsidenten) sowie Art. 115 1 Abs. 3 GG (Friedens- öffentliches Recht und Völkerrecht in Heidelberg von gen.46 Auch in der Europapolitik zeigt sich, schluß durch Bundesgesetz) weitere Einzelregelun- Ulrich Beyerlin und Juliane Hilf im Auftrag des Mini- daß die politikverflochtenen Entschei- gen zur Verteilung der Außenkompetenzen, die Bun- steriums für Wissenschaft, Forschung und Kunst deszuständigkeiten begründen, im Grundgesetz al- Baden-Württemberg erstellt wurde. dungsmechanismen im kooperativen Bun- lerdings „wenig kohärent (angelegt) und einer syste- 23 Vgl. Escher, Hendrik, „Ländermitwirkung und der desstaat bei abnehmender horizontaler In- matischen Erfassung schwer zugänglich sind“ (vgl. Ausschuß der Ständigen Vertreter (AStV)“, in: Bor- Magiera, Siegfried, „Außenkompetenzen der deut- kenhagen, Franz H.U. (Hrsg.), Europapolitik der deut- teressenübereinstimmung einer gemeinsa- schen Länder“, in: Lüder, Klaus (Hrsg.), Staat und Ver- schen Länder. Bilanz und Perspektiven nach dem men Länderpolitik des kleinsten gemeinsa- waltung. Fünfzig Jahre Hochschule für Verwaltungs- Gipfel von Amsterdam, Opladen 1998, S. 51–68 wissenschaften Speyer, Berlin 1997, S. 97–115 ) (S. 99 (S. 63–67). men Nenners Vorschub leisten. Die wach- incl. Anmerkung 13). 24 Vgl.: Knodt, Auswärtiges Handeln, a.a.O., S. 158f. sende Ausrichtung der außenpolitischen 6 Vgl. u.a.: Grewe, Wilhelm G., § 77 „Auswärtige Ge- 25 Vgl. Bulmer, Simon/Jeffery, Charlie/Paterson, Will- Aktivitäten der einzelnen Länder an der Si- walt“, in: Isensee, Josef/Kirchhof, Paul, Handbuch des iam E., a.a.O., S. 33–40; 72–77. Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III: 26 Vgl. zu den Aufgaben der Landesvertretungen auch: natra-Doktrin steht in latentem Wider- Das Handeln des Staates, Heidelberg 1988, Rn. 81 (S. Zumschlinge, Konrad, Die Europakompetenzen der spruch zu dem hochgradig auf Solidarität 959). Landesregierungen und die Rolle der Landesvertre- 7 Vgl. Stern, Klaus, „Auswärtige Gewalt und Lindauer tungen in Brüssel (Vortragsskript für den DVPW-Kon- zwischen den Ländern angewiesenen Bun- Abkommen“, in: Ipsen, Jörn et al. (Hrsg.), Verfas- greß in Bamberg vom 13.–17. Oktober 1997). desstaatsmodell Deutschlands. Gerade in sungsrecht im Wandel. Wiedervereinigung Deutsch- 27 Vgl. Nass, Klaus Otto, „,Nebenaußenpolitik’ der Bun- der horizontalen Dimension des föderati- lands - Deutschland in der Europäischen Union – Ver- desländer“, in: Europa-Archiv 21/1996, S. 619–628. fassungsstaat und Föderalismus, Köln u.a. 1995, S. 28 Vgl. § 8 des „Gesetzes über die Zusammenarbeit von ven Systems fördern die regen außenpoli- 251–270 (S. 254). Bund und Ländern in Angelegenheiten der Europäi- tischen Aktivitäten der Länder den Wett- 8 Vgl. zur aktuellen theoretischen Diskussion dieser schen Union“ von März 1993. globalen Entgrenzungsprozesse die Beiträge in: 29 Vgl. Punkt VI. in der „Vereinbarung zwischen der bewerb und erzeugen damit Reformdruck Kohler-Koch, Beate (Hrsg.), Regieren in entgrenzten Bundesregierung und den Regierungen der Länder auf dieses System selbst. Räumen, Opladen 1998. über die Zusammenarbeit in Angelegenheiten der 9 Für die Bundesrepublik sind v.a. allem die Beiträge Europäischen Union in Ausführung von § 9 des Ge- Abschließend soll in diesem Zusammen- von Raimund Krämer über die ostdeutschen Länder setzes über die Zusammenarbeit von Bund und Län- hang noch ein weiterer Aspekt zumindest hervorzuheben, wie z. B.: Krämer, Raimund, Im inter- dern in Angelegenheiten der Europäischen Union“ erwähnt werden, der bislang völlig ausge- nationalen Netzwerk. Brandenburg und seine aus- vom Oktober 1993. wärtigen Beziehungen, Potsdam 1995; ders.:, „The 30 Vgl. Redebeitrag Schönfelder, a.a.O. klammert blieb. Gemeint ist damit die ab- Transfederal Relations of the East German Länder: 31 „Verständigung zwischen der Bundesregierung und nehmende demokratische Rückbindung The Case of Brandenburg“, in: Jeffery, Charlie (ed.), den Staatskanzleien der Länder über das Vertrags- Recasting Federalism. The Legacies of Unification, schliessungsrecht des Bundes“ vom 14. November politischen Handelns über die Landesparla- London/New York: Pinter, 1998, pp. 234–262. 1957 (abgedruckt in: Maunz, Theodor, Art. 32, Rn. 45, mente, die den deutschen „Exekutivfödera- 10 Vgl. Deeg, Richard, „Economic Globalization and the in: Maunz, Theodor/Dürig, Günter/Herzog, Roman/ lismus“ ohnehin kennzeichnet. Durch die Shifting Boundaries in German Federalism“, in: Publi- Scholz, Rupert, Grundgesetz Kommentar, 1994. Län- us, Volume 26, Number 1, Winter 1996, pp. 27–52.; dermitwirkung bei völkervertraglichem Handeln auf wachsende Bedeutung der Vertretung von Renzsch, Wolfgang, „Einheitlichkeit der Lebensver- EU-Ebene – Brauchen wir ein Lindau II?, in: Die öf- Länderinteressen im Ausland wächst auch hältnisse oder Wettbewerb der Regionen? Sechs The- fentliche Verwaltung 4/1998. sen zur Konkurrenz grundlegender Prinzipien im 32 Vgl. Blair, Philip/Cullen, Peter, „Federalism, Legalism dieses systemimmanente Defizit des deut- Bundesstaat“, in: Staatswissenschaften und Staats- and Political Reality: The Record of the Federal Con- schen Bundesstaats, da die Außenrepräsen- praxis 1/1997, S. 87–108 (S. 104). stitutional Court“, in: Jeffery (ed.), a.a.O., pp. 11 In Anlehnung an den Föderalismus-Forscher Duchacek, 119–154 (p. 134). tation praktisch ausschließlich in den Hän- Ivo D., „Perforated Sovereignties: Towards a Typology 33 Vgl. Clostermeyer, Claus-Peter/Lehr, Stefan, (Loseblatt- den der Länderregierungen liegt. Auch of New Actors in International Relations“, in: Michel- sammlung), S. 148–154 (S. 149f.); Stern, a.a.O., S. 259. unter diesem Gesichtspunkt tragen die viel- mann, Hans J./Soldatos, Panayotis (eds.), Federalism 34 Vgl. ausführlich: Hartung, Bernhard, Die Praxis des and International Relations. The Role of Subnational Lindauer Abkommens, 1984. fältigen transföderalen Beziehungen der Units, Oxford: Clarendon Press, 1990, pp. 1–33. 35 Diese Aufzählung wurde übernornmen aus: Knodt, Länder also zur Reformbedürftigkeit des fö- 12 Vgl. Krämer, Raimund, „Regionen als internationale Auswärtiges Handeln, a.a.O., S. 161–166. Nicht Akteure – Eine Vorverständigung“,in: ders. (Hrsg.), berücksichtigt wurde allerdings die Asyl- und Migrati- derativen Systems der Bundesrepublik bei. Regionen inb der Europäischen Union. Beiträge zur onspolitik, die wohl eher dem Bereich des Inneren zu- Debatte (Potsdamer Textbücher 1). Berlin 1998, S. zuordnen ist. 11–25, hier S. 18f 36 Jann, Werner, „Regieren im Netzwerk der Regionen – 13 Vgl. Magiera, a.a.O., S. 113. Das Beispiel Ostseeregion“, in: Böhret, Car/Wewer, Anmerkungen 14 Die Typologisierung erfolgt in Anlehnung an: Krä- Göttrik (Hrsg.), Regieren im 21. Jahrhundert – zwi- mer, Rainer, Vorverständigung, a.a.O., S. 30, unter schen Globalisierung und Regionalisierung, Opladen 1 Nicht enthalten ist in diesen Zahlen der rege Pendel- Hinzuziehung von: Knodt, Auswärtiges Handeln, 1993, S. 166. verkehr von Ländervertretern, wie z. B. den EU-Bun- a.a.O., S. 155, die sich ihrerseits beide auf Duchacek, 37 Vgl. Brunn, Gerhard/Schmitt-Egner, Peter, „Die desratsbeaufragten, zwischen Deutschland und Brüs- a.a.O., sowie Soldatos, Panayotis, „An Explanatory Grenzüberschreitende Zusammenarbeit von Regio- sel. Die Zahlenangaben entstammen dem Vortrag Framework for the Study of Federated States as For- nen in Europa als Feld der Integrationspolitik und Ge- „Föderalismus: Stärke oder Handicap deutscher Inter- eign-Policy Actors“, in: Michelmann/Soldatos (eds.), genstand der Forschung“, in: diess. (Hrsg.), Grenz- essenvertretung in der EU?“, den der Leiter der Euro- a.a.O., pp. 34-53, stützen. überschreitende Zusammenarbeit in Europa. Theorie paabteilung des Auswärtigen Amtes, Ministerialdi- 15 Vgl. Jeffery, Charlie, „From Cooperative Federalism to – Empirie – Praxis, Baden-Baden 1998, S. 7–25 (S. 17); rektor Dr. Wilhelm Schönfelder, im Rahmen der Kon- a ,Sinatra Doctrine‘ of the Länder?“, in: Jeffery (ed.), mit eigenen Ergänzungen. ferenz „Europapolitik“ und Bundesstaatsprinzip. Die a.a.O., pp. 329–342. 38 Vgl. Gesetzblatt für Baden-Württemberg, Nr. 6, 1996, „Europafähigkeit" Deutschlands und seiner Länder 16 Vgl. Beschluß der Ministerpräsidentenkonferenz vom S. 173–184. im internationalen Vergleich“ des Europäischen Zen- Dezember 1990, abgedruckt in: Bauer, Joachim 39 Vgl. Beyerlin, Ulrich, „Neue rechtliche Entwicklungen trums für Föderalismus-Forschung Tübingen am 3. (Hrsg.), Europa der Regionen. Aktuelle Dokumente der regionalen und lokalen grenzüberschreitenden Juli 1998 auf Schloß Hohentübingen gehalten hat. zur Rolle und Zukunft der deutschen Länder im eu- Zusammenarbeit“, in: Brunn/Schmitt-Egner, a.a.O., 2 Vgl. Eberwein, Wolf-Dieter/Kaiser, Karl, „Einleitung: ropäischen Integrationsprozeß, Berlin 1991, S. 120. S. 118–134. Wissenschaft und Außenpolitischer Entscheidungs- 17 Vgl. Hrbek, Rudolf, „Doppelte Politikverflechtung: 40 Vgl. Raich, Sylvia, Grenzüberschreitende und interre- prozeß“, in: diess. (Hrsg.), Deutschlands neue Außen- Deutscher Föderalismus und Europäische Integrati- gionale Zusammenarbeit in einem „Europa der Re- politik, Band 4: Institutionen und Ressourcen, Mün- on“, in: Hrbek, Rudolf/Thaysen, Uwe (Hrsg.), Die gionen“, Baden-Baden, 1995, S.164–183 chen 1998, S. 1–12 (S. 11). Vor diesem Hintergrund be- Deutschen Länder und die Europäischen Gemein- 41 Koll, R./Nam, Ch., „Zusammenarbeit zwischen Regio- tritt Michele Knodt mit ihrem politikwissenschaftli- schaften, Baden-Baden 1986, S. 17–36. nen - ein neues Instrument der Regionalpolitik der chen Beitrag, der im gleichen Band (S. 153–166) einen 18 Vgl. Magiera, a.a.O., S. 106. EG?“, in: ifo Schnelldienst, 1993/1–2, S. 19–22. umfassenden Überblick über „Auswärtiges Handeln 19 Bulmer, Simon/Jeffery, Charlie/Paterson, William E., 42 Vgl. Krämer, Transfederal Relations, a.a.O., pp. der deutschen Länder“ liefert, tatsächlich Neuland. „Deutschlands europäische Diplomatie: Die Entwick- 234–262 (pp. 245–247). 3 Vgl. Lhotta, Roland, Deutsche Staatsrechtslehre und lung des regionalen Milieus“, in: Weidenfeld, Werner 43 Vgl. Krämer, Netzwerk, a.a.O., S. 68. Föderalismus: Theoretisches Vakuum und dogmati- (Hrsg.), Deutsche Europapolitik: Optionen wirksamer 44 Vgl. Knodt, Auswärtiges Handeln, a.a.O., S. 163. sche Stagnation? (Papier zur gemeinsamen Hambur- Interessenvertretung, Bonn 1998, S. 11–102 (S. 38). 45 Vgl. Knodt, Auswärtiges Handeln, a.a.O., S. 164. ger Tagung „Föderalismusforschung: Bestandsauf- 20 Neben Art. 23 Abs. 1, 2, 4, 5 und 6 GG werden Einzel- 46 Vgl. dazu v.a. die Beiträge in: Kohler, Koch, Interakti- nahme und theoretische Perspektive“ der DVPW-Sek- heiten der Beteiligungsrechte der Länder in einem ve Politik in Europa: Regionen im Netzwerk der Inte- tion „Staatslehre und politische Verwaltung“ und der gesonderten Ausführungsgesetz gemäß Art. 23 Abs. gration, Opladen 1998; sowie: Knodt, Michèle, Tie- „ECPR Standing Group on Federalism“ vom 4.–6. Fe- 7 GG („Gesetz über die Zusammenarbeit von Bund fenwirkung europäischer Politik. Eigensinn oder An- bruar 1999). und Ländern in Angelegenheiten der Europäischen passung regionalen Regierens?, Baden-Baden 1998. 4 Vgl. stellvertretend für diese herrschende Meinung: Union“ vom 13. März 1993, abgedruckt in: Bundesge- Isensee, Josef, § 13 „Staat und Verfassung“, in: Isen- setzblatt (BGBl.), Teil I, S. 313) sowie in einer Bund- see, Josef/Kirchhof, Paul, Handbuch des Staatsrechts, Länder-Vereinbarung („Vereinbarung zwischen der

139 Das politische Buch

Blockadepotentiale und Systemreformen Bundes- und Länderebene die Handlungs- lung der Kräfte der SPD-geführten Lan- im deutschen Bundesstaat spielräume des Bundesrates insgesamt be- desregierungen spricht dies zunächst für grenzt blieben, die Vertretung spezifi- eine Umkehr der bisher vorherrschenden Gerhard Lehmbruch scher Länderinteressen aber in Einzelfäl- Logik einer Schwächung des Parteien- Parteienwettbewerb im Bundesstaat. len an Bedeutung gewinnen konnte, ge- wettbewerbs durch bundesstaatliche Aus- Regelsysteme und Spannungslagen im rade weil dem Bundesrat keine grundsätz- handlungsprozesse und für eine stärkere Institutionengefüge der Bundesrepublik liche Oppositionsrolle in der parteipoliti- Parteipolitisierung der Arena des föderati- Deutschland. schen Auseinandersetzung auf Bundes- ven Systems. Und tatsächlich scheint die 2., erweiterte Auflage, Westdeutscher ebene zukam. Mit dem Beginn der sozial- erfolgreiche Blockadepolitik der SPD im Verlag, Opladen 1998, 210 Seiten, DM liberalen Koalition 1969 änderte sich die- Bundesrat bei dem Steuerreformvorha- 42,–. ses Bild schlagartig. Die Mehrheit der ben von 1997/98 diesen Eindruck zu be- CDU-geführten Länderregierungen im stätigen. Lehmbruch betont in der Neu- Die neue, erweiterte Auflage von Gerhard Bundesrat wurde in Verbindung mit dem auflage seines Buches aber zugleich, daß Lehmbruchs „Parteienwettbewerb im Vermittlungsausschuß als Instrument ge- seit der deutschen Vereinigung nicht zu- Bundesstaat“ hat über zwanzig Jahre auf nutzt, um die Bundesregierung regel- letzt durch die Rolle der PDS die Zahl mög- sich warten lassen. Bereits 1976 – noch zu mäßig davon zu zwingen, Kompromisse licher koalitionspolitischer Optionen auf Zeiten der sozialliberalen Koalition – war mit der Opposition auszuhandeln. Diese Länderebene ebenso zugenommen hat die ursprüngliche Fassung erschienen. Bei Einbeziehung der Opposition in die Ge- wie die Heterogenität der spezifischen In- allen tiefgreifenden Veränderungen, die staltung der Bundesrepublik war faktisch teressenlagen der einzelnen Länder. Dar- sich seitdem im Parteiensystem der Bun- gleichzusetzen mit einem weitgehenden aus resultiert letztendlich, daß sich die desrepublik und im Gefolge der deut- Leerlaufen der Parteienkonkurrenz. Im SPD seit Anfang der 90er Jahre in zahlrei- schen Vereinigung auch für ihr föderati- Jahr 1982 wurde mit der Regierung Kohl chen Fällen sehr schwer darin getan hat, ves System ergeben haben, hält Lehm- die ursprüngliche Deckungsgleichheit von parteiintern das Bund-Länder-Verhältnis bruch an seiner zentralen Hypothese fest, Bundesrats- und Bundestagsmehrheit abzustimmen und über den Bundesrat daß die Engpässe bei der Entscheidungs- wieder hergestellt. Allerdings bewogen konsequent Oppositionspolitik zu betrei- findung im politischen System der Bun- die inzwischen enger gewordenen Haus- ben. Immer wieder ist es der christlich-li- desrepublik auf ein strukturelles Span- haltsspielräume sowie die frühe Erfah- beralen Bundesregierung gelungen, ein- nungsverhältnis zwischen der verhand- rung, daß in dieser parteipolitischen zelne Länder aus der SPD-Front herauszu- lungsdemokratischen Funktionslogik im Bund-Länder-Konstellation spezifische brechen. Auch die erfolgreiche Blockade- polarisierten Parteiensystem Deutschlands Länderinteressen stärker zum Tragen politik der SPD gegen die geplante Steu- zurückzuführen sind. kommen können, den neuen Bundes- erreform im Jahr 1998 erscheint vor die- Grundsätzlich resultieren die strukturellen kanzler dazu, eine engere Abstimmung sem Hintergrund nach Lehmbruch eher als „Verwerfungen“ zwischen beiden Regel- speziell mit den Ministerpräsidenten sei- Ausnahmeerscheinung, die erst dadurch systemen seiner Auffassung nach vor ner Partei zu suchen. In den Worten Lehm- möglich wurde, daß sie zugleich den allem daraus, daß nach dem Zweiten bruchs „informalisierte er den Bundes- Eigeninteressen der Länder entgegen- Weltkrieg ein Konzentrationsprozeß im staat“, indem er die Koordination mit den kam. bundesdeutschen Parteiensystem einsetz- CDU/CSU-geführten Ländern in die Präsi- Lehmbruch arbeitet in der erweiterten te, der mit einer immer stärkeren Polari- diumssitzungen seiner Partei verlagerte. zweiten Auflage seiner entwicklungsge- sierung zwischen den beiden großen Par- Diese weitreichende Orientierung Helmut schichtlich angelegten Untersuch klar her- teien SPD und CDU im Wettbewerb um Kohls am parteipolitischen Erfolgskalkül aus, daß die enge „Koppelung“ zwischen die mittlere Wählerschaft verbunden war. hat die SPD letztlich bewogen, ebenfalls Parteien- und Bundesstaatssystem nur in Diese Handlungslogik eines bipolaren Par- diese informelle Form der bundesstaatli- seltenen Fällen tatsächlich „Reformstaus“ teienwettbewerbs steht jedoch in einem chen Koordination zu übernehmen, nach- verursacht. Das eigentliche Problem sieht starken Spannungsverhältnis zu dem auf dem sie 1991 die Mehrheit im Bundesrat Lehmbruch vielmehr darin, daß die Inkon- Aushandlung angelegten Verbundfödera- wiedererlangt hatte. Lehmbruch weist in gruenz der Handlungslogiken des Aus- lismus der Bundesrepublik, wie er bereits diesem Zusammenhang aber darauf hin, handelns im Bundesstaat und des Par- kennzeichnend für das Deutsche Kaiser- daß sich im Vergleich zur sozialliberalen teienwettbewerbs strukturell die Gefahr reich und die Weimarer Republik mit Koalition die Konfliktkonstellation zwi- von Kollisionen beider Regelungssysteme ihrem Vielparteiensystem war. Der Grund- schen Regierungsmehrheit und Opposi- in sich trägt. Als Lösung für dieses Problem gesetzgeber lehnte sich sehr eng an diese tion auch unter koalitionspolitischen schlägt er die Entkoppelung beider Subsy- historischen Vorbilder an, als er sich mit Aspekten grundlegend geändert hat. In steme vor und sieht dafür vor allem im dem Bundesrat für ein Modell der institu- den 90er Jahren konnte die „Bremserrol- Parteiensystem wesentliche Ansatzpunk- tionellen Einbindung der Länder auf Bun- le“ der FDP als Scharnierpartei zur Länder- te. So verweist er unter anderem auf die desebene entschied, von dem erwartet ebene in der internen Willensbildung der Möglichkeit, auf Länderebene verstärkt wurde, daß es ein „Widerlager zur Partei- Regierungskoalition auf Bundesebene Minderheitsregierungen zuzulassen. Die politik“ bilden würde. Schon unter Kon- nicht mehr zugunsten eines Ausgleichs aktuellen Rufe nach grundlegenden Re- rad Adenauer und Kurt Schumacher sollte zwischen Bundestagsmehrheit und oppo- formen des Bundesstaates haben für ihn sich allerdings zeigen, daß die Bundesrats- sitioneller Mehrheit im Bundesrat wirken. hingegen nurmehr die „Qualität von in- konstruktion selbst den Parteiführungen Die Bund-Länder-Koordination von seiten telligenten Sandkastenspielen“, die in der im Bund ein Druckmittel an die Hand gab, der Bundesregierung mußte sich deshalb Verfassungswirklichkeit nicht realisierbar um die Koalitionspolitik in den Ländern immer weiter auf die parteiinterne Ab- sind. entsprechend bundespolitischer Anforde- stimmung mit den CDU-geführten Län- Allerdings stellt sich im Zusammenhang rungen zu disziplinieren. dern beschränken, während die Bereit- mit der Diskussion der Reformfähigkeit In den 50er und 60er Jahren bedeutete schaft zum parteienübergreifenden Kom- des Bundesstaates auch die Frage, ob die zusehends engere Verkoppelung von promiß im bundesstaatlichen System ge- Lehmbruch nicht selbst die wenigen Fälle Parteiensystem und föderativem System schwächt wurde. echter Reformblockaden überbewertet, dann zunächst, daß aufgrund überein- Gemeinsam mit der Konzentration der die im politischen System der Bundesrepu- stimmender Mehrheitsverhältnisse auf SPD-Bundestagsopposition auf die Bünde- blik in jüngerer Zeit aufgetreten sind. Ge-

140 rade nach der Vereinigung hat der koaliti- fänglichen Unterschiede in der Wirt- terschiede zwischen den Ländern stark onspolitische Spielraum auf Länderebene schaftskraft der westdeutschen Länder nivelliert. Die Autoren machen darüber und die Interessendivergenz unter ihnen hatten sich im Zeitablauf nicht verringert. hinaus auch eine ständige Veränderung so erheblich zugenommen, daß darin Vereinzelt sei es zwar zu Aufhol- und der Finanzkraft-Reihenfolge aus, die sich durchaus erste Anzeichen einer „Selbst- Überholprozessen, nicht aber zu einer all- so massiv auswirke, daß dadurch neue heilung“ des Systems gesehen werden gemeinen Annäherung gekommen. Ge- Ungleichheiten entstünden. können. Ganz in seinem Sinne deutet sich messen an der durchschnittlichen Wirt- Die Schlußfolgerungen, die aus diesem darin eine langsame Entkoppelung der schaftskraft aller Länder habe das Lei- Befund gezogen werden, sind aus der ak- Arenen des Parteiensystems und des föde- stungsgefälle leicht zugenommen; abso- tuellen Diskussion um die Änderung des rativen Systems im vereinigten Deutsch- lut habe es sich deutlich vergrößert. Die Länderfinanzausgleichs bekannt; sie wer- land an, die die bislang dominante Aus- Flächenländer ließen sich gemäß der lang- den hier noch einmal gebündelt vorgetra- landlungslogik des Bundesstaates zugun- fristigen Wirtschaftsentwicklung in zwei gen: Zur Herstellung materiell einheit- sten einer stärkeren Geltung des Konkur- recht homogene Gruppen einteilen: Eine licher oder zumindest gleichwertiger renzprinzips in beiden Subsystemen all- Gruppe wirtschaftsstarker und eine Grup- Lebensverhältnisse nimmt der Staat in mählich zurückdrängt. Thomas Fischer pe wirtschaftsschwacher Länder. Auch Be- Deutschland ständig eine massive Umver- schäftigung und Arbeitslosigkeit differie- teilung zwischen den einzelnen Ländern ren zwischen den westdeutschen Ländern vor. Diese Umverteilung, die sich keines- langfristig beträchtlich. Dagegen fallen falls nur auf den Länderfinanzausgleich die Einkommensunterschiede – vor allem beschränkt, ebnet ursprüngliche Unter- Die Reform des deutschen Föderalismus bei den verfügbaren Einkommen – gerin- schiede in der Finanzkraft der einzelnen ger als das Leistungs- und Beschäftigungs- Länder weitgehend ein und sorgt dafür, Adrian Ottnad/Edith Linnartz gefälle zwischen den Ländern aus. Der daß ein Teil der gesamten Steuer- bzw. Föderaler Wettbewerb statt Verteilungs- materielle Lebensstandard ist insoweit Beitragseinnahmen nicht in den Ländern streit sehr einheitlich. Nach der staatlichen Um- verausgabt wird, in denen er vereinnahmt Vorschläge zur Neugliederung der Bun- verteilung noch verbleibende Einkom- wurde. In vielen wirtschaftsschwachen desländer und zur Reform des Finanzaus- mensunterschiede werden großenteils Ländern kommt dem offenen und ver- gleichs durch unterschiedlich hohe Sparquoten deckten Finanzausgleich große Bedeu- Eine Studie des IWG Bonn kompensiert. tung zu, da wesentliche Teile des staat- Mit einem Vorwort von Meinhard Miegel Nun mögen die einzelnen Ergebnisse für lichen Leistungsangebots nicht aus eige- 249 S. Campus Verlag Frankfurt/New York die Fachleute nicht gerade neu sein; ner Kraft finanziert werden. In den Geber- 1997. DM 34,80. gleichwohl haben die Autoren ihre ländern dagegen werden große Teile der Schlußfolgerungen durch volkswirtschaft- überdurchschnittlichen Finanzkraft abge- Das Institut für Wirtschaft und Gesell- liche Berechnungen und entsprechende schöpft. schaft (IWG) geht auf Kurt Biedenkopf Statistiken empirisch untermauert und ab- Aus den negativen Folgen der bisherigen zurück, der es 1977 gründete. Das private gesichert. Auf dieses Material wird man Politik – dazu gehören höhere Steuer- wissenschaftliche Forschungsinstitut wird sich bei künftigen Diskussionen über den und Abgabenbelastung; wachsende von Meinhard Miegel geleitet. Das IWG ökonomischen Status der Länder bezie- Staatsverschuldung; gesamtwirtschaftli- hat sich vor allem mit wirtschafts- und ge- hen können. che Effizienzeinbußen; Wohlstandsein- sellschaftspolitischen Fragen befaßt, ins- Was die Ursachen der wirtschaftlichen Un- bußen durch politisch verursachte Kosten; besondere auch mit Biedenkopfs Projekt terschiede betrifft, kommen die Autoren finanzielle Belastungen der Wirtschaft; einer steuerfinanzierten Grundrente als zu dem Ergebnis, ein wichtiger Teil des sinkende Wettbewerbsfähigkeit durch Alternative zum bestehenden beitragsbe- Leistungsgefälles zwischen den Ländern strukturelle Reformdefizite; Wettbe- zogenen Rentensystem. lasse sich offensichtlich auf deren unglei- werbsnachteile durch die bestehende Län- Zwei Mitarbeiter des Instituts haben sich chen Zuschnitt zurückführen. Dieser Zu- dergliederung; verzerrte Standortent- nun mit einer primär ökonomisch argu- schnitt trage dazu bei, daß in einigen Län- scheidungen der Unternehmen sowie ver- mentierenden Studie in die aktuelle Fö- dern regionale und sektorale Entwick- zerrte Entscheidungen der Bürger – wer- deralismus-Diskussion eingeschaltet. Die lungsdisparitäten besonders hervortreten den die Vorschläge zur Reform des Fö- Prioritäten der beiden Verfasser werden würden. In größeren Flächenländern wür- deralismus abgeleitet. Die Autoren plädie- schon im Titel ihrer Studie deutlich: Es den solche Unterschiede bis zu einem ge- ren für Wettbewerb und Vielfalt als Leit- geht um einen vom Wettbewerb der Län- wissen Maße kompensiert, bei kleineren prinzipien des Bundesstaates, denn nur der untereinander dominierten Föderalis- Ländern sei dies weniger der Fall. Im Falle ein funktionierender föderaler Wettbe- mus, der den bestehenden Beteiligungs- der Stadtstaaten und der angrenzenden werb könne eigennütziges Verhalten der föderalismus (die Verfasser verwenden Flächenländer wird das Bild durch das politischen Akteure auf allen Ebenen statt dessen den Begriff konzertierter Fö- Stadt-Umland-Gefälle verzerrt. Während wirksam begrenzen. Föderaler Wettbe- deralismus) ersetzen soll. Zwei Vorschläge Produktion und Arbeitsplätze zunehmend werb schließt Kooperation zwischen den stehen im Vordergrund des Plädoyers für auf die Kernstadt entfallen, zieht die Er- Ländern keineswegs aus, vielmehr ist den föderalen Wettbewerb statt Vertei- werbsbevölkerung ins Umland. die Länder-Zusammenarbeit in bestimm- lungsstreit: Neugliederung der Bundes- Durch staatliche Umverteilung wird ein ten Fällen erforderlich, um überhaupt länder und Reform des Finanzausgleichs einheitlicher Lebensstandard in allen Län- die ordnungspolitischen Voraussetzungen gelten als conditio sine qua non der not- dern angestrebt. Die „originäre“ Finanz- für einen funktionierenden föderalen wendigen institutionellen Systemände- ausstattung der einzelnen Länder wird Wettbewerb zu schaffen. Ein wesentlicher rungen des deutschen Bundesstaates. schon durch die Aufteilung von Aufgaben Vorteil des föderalen Wettbewerbs: Die Wobei anzumerken bleibt, daß die im und Einnahmequellen zwischen den Ge- Bürger/innen in den Ländern können über Titel enthaltene Alternative „Föderaler bietskörperschaften, also zwischen Bund, ihr Wahlverhalten oder notfalls durch Wettbewerb statt Verteilungsstreit“ zu Ländern und Gemeinden, beeinflußt und Abwanderung die jeweilige Landespolitik stark zugespitzt erscheint, da auch im anschließend durch den horizontalen und positiv bzw. negativ bewerten. Politische Wettbewerbsföderalismus mit Kontrover- vertikalen Finanzausgleich erheblich ver- Verantwortlichkeiten werden offenge- sen der Länder um die Anteile an den fi- ändert. Darüber hinaus vollzieht sich über legt und nicht, wie beim Beteiligungs- nanziellen Ressourcen zu rechnen ist, der den Bundeshaushalt und andere zentrale föderalismus, bis zur Unkenntlichkeit ver- Verteilungsstreit also durchaus weiter exi- Haushalte, insbesondere durch die der wischt. stent sein dürfte, wenn auch in deutlich Sozialversicherungen, ständig ein ver- Zu den wichtigsten Zukunftsaufgaben in geringerem Ausmaß. deckter Finanzausgleich. Nach Ottnad Deutschland rechnen die beiden Autoren Zunächst nehmen die beiden Autoren und Linnartz verändert der offene und aufgrund ihrer Defizit-Analyse eine eine Mängel-Analyse vor. Ihre Bestands- verdeckte Finanzausgleich über den öf- grundlegende Reform des Föderalismus. aufnahme der Defizite des gegenwärti- fentlichen Gesamthaushalt die Verteilung Genannt werden hier als zentrale Elemen- gen föderalen Systems ist außerordentlich der Finanzkraft zwischen den Ländern be- te die Entflechtung und Neuverteilung eindrucksvoll. So wird festgestellt, die an- achtlich. Dabei werden die Finanzkraftun- von Aufgaben und Kompetenzen der Ge-

141 bietskörperschaften bei gleichzeitiger in Art. 29 GG genannten Kriterien keine tischen Wirklichkeit, in deren Rahmen es Stärkung der Eigenverantwortung der hinreichenden Anhaltspunkte für eine be- darum geht, Mittel und Wege Länder. Als unabdingbar wird weiterhin stimmte effiziente Länderneugliederung zur politischen Durchsetzung der als not- eine räumliche Neugliederung der Länder darstellen. wendig erkannten Reform zu benennen. bezeichnet, die die Zahl der staatlichen Die Bedeutung der IWG-Studie liegt mei- Dieser Aspekt scheint in der aktuellen Subeinheiten verringert und deren beste- nes Erachtens weniger im agenda setting, Situation, in der von vielen Seiten von hende Unausgewogenheit beseitigt. d.h. in der Aufarbeitung und Präsentation „Reformstau“ die Rede ist, von besonde- Schließlich sei eine umfassende Reform einer vollständig neuen Thematik. Aus der rer Relevanz. der föderalen Finanzverfassung geboten. aktuellen politischen und wissenschaftli- Die Studie wird mit Sicherheit in allen Lan- In deren Rahmen müßten Ausmaß und chen Diskussion sind nämlich Problemstel- deshauptstädten auf einen Kreis Interes- Nivellierungsgrad staatlicher Umvertei- lung und die meisten Argumente ebenso sierter stoßen. Für die Spitzenpolitiker der lung deutlich reduziert und die finanzielle wie die Reformvorschläge hinlänglich be- beiden Südländer dürfte der Band von Eigenverantwortung der einzelnen Län- kannt. Der Wert der Schrift der Mitarbei- großem Interesse sein, stützt sich doch das der gestärkt werden. ter des Bonner IWG dürfte vielmehr darin von den beiden führenden Landespoliti- Ob die Erwartung der Autoren realistisch zu sehen sein, das Thema des Wettbe- kern favorisierte Modell eines Wettbe- ist, allein durch einen ausgewogenen Zu- werbsföderalismus zusammenhängend werbsföderalismus auf die von Ottnad schnitt der Länder, d.h. durch eine Neu- analysiert zu haben sowie die verschiede- und Linnartz diskutierten Argumente. festlegung der Ländergrenzen, die Unter- nen relevanten Argumente empirisch be- Umgekehrt werden die führenden Reprä- schiede in der Wirtschafts- und Finanz- gründet und abgesichert zu haben. Dabei sentanten der finanzschwachen Länder, kraft einzuebnen, erscheint zumindest fällt auf, daß die beiden Autoren offen- die dem Modell und den damit verbunde- fraglich. Daß die erfolgreiche Teilnahme sichtlich davon ausgehen, die anvisierte nen Veränderungen z. B. beim Finanzaus- am Standortwettbewerb auf nationaler Reform werde gewissermaßen allein auf- gleich sowie bei der Neugliederung des wie auf europäischer Ebene eine be- grund der Durchschlagskraft ihrer Argu- Bundesgebietes nicht vorbehaltlos zustim- stimmte Mindestgröße der Regionalstaa- mente erreicht. Sie verzichten nämlich men, ebenfalls gut daran tun, sich mit den ten voraussetzt, die derzeit von den mei- weithin darauf, auf die Mittel und Metho- Argumenten ihrer politischen Widersa- sten deutschen Ländern deutlich unter- den einzugehen, die eine Realisierung der cher vertraut zu machen. Denn falls auf- schritten wird – dieses Argument wird in Reformvorschläge in der politischen Praxis grund einer Klage Baden-Württembergs der politischen Diskussion um ein „Europa ermöglichen. Wissenschaft und besonders und/oder Bayerns der Länderfinanzaus- der Regionen“ bisher sträflich vernachläs- wissenschaftliche Politikberatung haben gleich vor dem Bundesverfassungsgericht sigt. Für ihr Modell einer Länderneuglie- jedoch eine doppelte Aufgabe: Mit dem auf den Prüfstand gestellt wird, wird mit derung haben die Autoren einen Katalog Aufzeigen der Notwendigkeit von Ver- Sicherheit eine Reihe der von den Autoren für fünf Mindestkriterien aufgestellt. änderungen des politischen Systems ist es genannten Argumente in Karlsruhe eine Diese Mindestkriterien sind jedoch so all- in der Regel nicht getan. Hinzukommen entscheidende Rolle spielen. gemein formuliert, daß sie ähnlich wie die muß vielmehr auch eine Analyse der poli- Hartmut Klatt

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142 Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg

Stafflenbergstraße 38, 70184 Stuttgart Anschriften Tel. (07 11) 23 71-30 Hauptsitz in Stuttgart (s. links) Fax (0711) 23 714 96 * Sophienstraße 28-30, 70178 Stuttgart, Internet http://www.lpb.bwue.de Fax (0711)23 71498 ** Haus auf der Alb Hanner Steige 1, 72574 Bad Urach, Tel. (07125)152-0, Fax (07125)152-100 Telefon (07 11) 23 71- 30 Durchwahlnummern Außenstelle Freiburg Direktor: Siegfried Schiele ...... - 385 Friedrichring 29, 79098 Freiburg, Referentin des Direktors: Sabine Keitel ...... - 387 Tel. (0761) 207730, Fax (0761) 2077399 Öffentlichkeitsarbeit: Joachim Lauk ...... - 484 Außenstelle Heidelberg Friedrich-Ebert-Anlage 22-24, 69117 Heidelberg, Abteilung I Verwaltung (Günter Georgi) Tel. (06221) 60 78-0, Fax (0 62 21) 60 78 22 Fachreferate Außenstelle Stuttgart I/1 Grundsatzfragen: Günter Georgi ...... - 379 Sophienstraße 28-30, 70178 Stuttgart, I/2 Haushalt und Organisation: Jörg Harms ...... - 383 Tel. (0711) 23 71 375, Fax (0711) 23 71498 I/3 Personal: Gudrun Gebauer ...... - 480 Außenstelle Tübingen I/4 Information und Kommunikation: Wolfgang Herterich . - 492 Herrenberger Straße 36, 72070 Tübingen, I/5** Haus auf der Alb: Erika Höhne ...... (07125) 152 - 109 Tel. (0 70 71) 2 00 29 96, Fax (0 70 71) 2 00 29 93

Abteilung II Adressaten (Karl-Ulrich Templ, stellv. Direktor) Bibliothek Bad Urach Fachreferate Bibliothek/Mediothek Haus auf der Alb, Bad Urach II/1 Medien: Karl-Ulrich Templ ...... - 390 Gordana Schumann, Tel. (0 71 25) 152-121 II/2** Frieden und Sicherheit: Wolfgang Hesse .(07125) 152 - 140 Dienstag 13.00–17.30 Uhr II/3 Lehrerfortbildung: Karl-Ulrich Templ ...... - 390 Mittwoch 13.00–16.00 Uhr II/4* Schule, Hochschule, Schülerwettbewerb: Reinhard Gaßmann . . . . -373, Monika Greiner . . . . - 394 Publikationsausgabe Stuttgart II/5 Außerschulische Jugendbildung: Wolfgang Berger . . . . - 369 Stafflenbergstraße 38 II/6** Öffentlicher Dienst: Eugen Baacke . . . . . (07125)152 -136 Ulrike Weber, Tel. (0711) 2 3713 84 Montag 9.00–12.00 Uhr Abteilung III Schwerpunkte (Konrad Pflug) 14.00–17.00 Uhr Fachreferate Dienstag 9.00–12.00 Uhr III/1* Landeskunde/Landespolitik: Donnerstag 9.00–12.00 Uhr Dr. Angelika Hauser-Hauswirth ...... - 392 14.00–17.00 Uhr III/2 Frauenbildung: Christine Herfel ...... - 487 III/3** Zukunft und Entwicklung: Nachfragen Gottfried Böttger ...... (07125)152 -139 III/4** Ökologie: Dr. Markus Hug ...... (07125)152 -146 „Der Bürger im Staat“ III/5* Freiwilliges Ökologisches Jahr: Konrad Pflug ...... - 495 Ulrike Hirsch, Tel. (07 11) 23 71 371 III/6* Deutschland und Europa ...... - 502 Dr. Angelika Hauser-Hauswirth (Komm.) ...... - 392 „Deutschland und Europa“ III/7* Gedenkstättenarbeit: Konrad Pflug ...... - 501 Sylvia Rösch, Tel. (0711) 23 71 378 Abteilung IV Publikationen (Prof. Dr. Hans-Georg Wehling) „Politik und Unterricht“ Fachreferate Sylvia Rösch, Tel. (07 11) 23 71378 IV/1 Wissenschaftliche Publikationen Redaktion „Der Bürger im Staat“: Publikationen (außer Zeitschriften) Prof. Dr. Hans-Georg Wehling ...... - 371 Ulrike Weber, Tel. (07 11) 23 71384 IV/2 Redaktion „Politik und Unterricht“: Otto Bauschert . . . . - 388 IV/3 Redaktion „Deutschland und Europa“: Dr. Walter-Siegfried Kircher ...... - 391 Bestellungen IV/4 Didaktik politischer Bildung: Siegfried Frech ...... - 482 bitte schriftlich an die o.g. Sachbearbeiterinnen: IV/6** Arbeitshilfen: Werner Fichter ...... (0 7125)152 - 147 Stafflenbergstr. 38, 70184 Stuttgart, Fax (07 11) 23 71 496

Abteilung V Regionale Arbeit (Hans-Joachim Mann) Fachreferate/Außenstellen Thema des nächsten Hefts: V/1 Freiburg: Dr. Michael Wehner ...... (0761) 207 7377 V/2 Heidelberg: Dr. Ernst Lüdemann ...... (0 62 21) 60 78 14 V/3* Stuttgart: Hans-Joachim Mann ...... (0711) 2371374 Staat und Wirtschaft V/4 Tübingen: Rolf Müller ...... (07071) 2002996 im Zeichen der Globalisierung Baden-Württemberg Bayern

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