III. Zentralismus, Partikulare Kräfte Und Regionale Identitäten Im NS-Staat Michael Ruck Zentralismus Und Regionalgewalten Im Herrschaftsgefüge Des NS-Staates
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III. Zentralismus, partikulare Kräfte und regionale Identitäten im NS-Staat Michael Ruck Zentralismus und Regionalgewalten im Herrschaftsgefüge des NS-Staates /. „Der nationalsozialistische Staat entwickelte sich zu einem gesetzlichen Zentralismus und zu einem praktischen Partikularismus."1 In dürren Worten brachte Alfred Rosen- berg, der selbsternannte Chefideologe des „Dritten Reiches", die institutionellen Unzu- länglichkeiten totalitärer Machtaspirationen nach dem „Zusammenbruch" auf den Punkt. Doch öffnete keineswegs erst die Meditation des gescheiterten „Reichsministers für die besetzten Ostgebiete"2 in seiner Nürnberger Gefängniszelle den Blick auf die vielfältigen Diskrepanzen zwischen zentralistischem Herrschafts<*«s/>r«c/> und fragmen- tierter Herrschaftspraus im polykratischen „Machtgefüge" des NS-Regimes3. Bis in des- sen höchste Ränge hinein hatte sich diese Erkenntnis je länger desto mehr Bahn gebro- chen. So beklagte der Reichsminister und Chef der Reichskanzlei Hans-Heinrich Lammers, Spitzenrepräsentant der administrativen Funktionseliten im engsten Umfeld des „Füh- rers", zu Beginn der vierziger Jahre die fortschreitende Aufsplitterung der Reichsver- waltung in eine Unzahl alter und neuer Behörden, deren unklare Kompetenzen ein ge- ordnetes, an Rationalitäts- und Effizienzkriterien orientiertes Verwaltungshandeln zuse- hends erschwerten4. Der tiefgreifenden Frustration, welche sich der Ministerialbürokra- tie ob dieser Zustände bemächtigte, hatte Fritz-Dietlof von der Schulenburg schon 1 Alfred Rosenberg, Letzte Aufzeichnungen. Ideale und Idole der nationalsozialistischen Revo- lution, Göttingen 1955, S.260; Hervorhebungen im Original. Vgl. dazu Dieter Rebentisch, Führer- staat und Verwaltung im Zweiten Weltkrieg. Verfassungsentwicklung und Verwaltungspolitik 1939-1945, Stuttgart 1989, S.262; ders., Verfassungswandel und Verwaltungsstaat vor und nach der nationalsozialistischen Machtergreifung, in: Jürgen Heideking u. a. (Hrsg.), Wege in die Zeitge- schichte. Festschrift zum 65. Geburtstag von Gerhard Schulz, Berlin/New York 1989, S. 123-150, hier: S. 148. 2 Zur „geballte(n) Unfähigkeit Rosenbergs und seiner Berater", die sich rasch in einem selbsterzeug- ten Organisationschaos und endlosen Kompetenzkonflikten verfingen, vgl. Rebentisch, Führer- staat, S. 309-331, hier: S. 319. 3 Vgl. dazu eingehend (mit weiteren Hinweisen) Michael Ruck, Führerabsolutismus und polykrati- sches Herrschaftsgefüge Verfassungsstrukturen des NS-Staates, in: Karl D.Bracher u.a. (Hrsg.), Deutschland 1933-1945. -Neue Studien zur nationalsozialistischen Herrschaft, 2. Aufl., Bonn 1993, S. 32-56. Rebentisch, Führerstaat, S. 14, plädiert mit einsichtigen Argumenten dafür, den NS-Staat nicht als „Herrschaftssystem", sondern als „Machtgebilde" oder „Herrschaftsgefüge" zu qualifizie- ren. Die Begriffe „Macht-" und „Herrschaftsgefüge" hat Kurt Düwell bereits vor geraumer Zeit verwendet; siehe ders., Die regionale Geschichte des NS-Staates zwischen Mikro- und Makroana- lyse. Forschungsaufgaben zur „Praxis im kleinen Bereich", in: Jahrbuch für westdeutsche Landes- geschichte [JWL] 9 (1983), S.287-344, hier: S.287 u. 302. 4 Vgl. Rebentisch, Führerstaat, S. 289; ders., Verfassungswandel, S. 149. 100 Michael Ruck 1937 beredten Ausdruck verliehen5. Und ein weiterer Verwaltungsmann, der sich aus fundamentaler Enttäuschung darüber vom NS-Sympathisanten zum Widerstandskämp- fer wandelte Ulrich von Hasseil quittierte 1939 einen ähnlichen Bericht des Hanno- - - veraner Regierungspräsidenten und ersten Gestapo-Chefs Rudolf Diels mit dem lapida- ren Verdikt, die NS-Machthaber wüßten eben „im Grunde gar nicht, was ein Staat ist"6. Doch nicht nur unter den Protagonisten des autoritären Verwaltungsstaates, auch in den oberen Etagen der NS-Hierarchie wurde die fortschreitende Desorganisation der Reichs- verwaltung teilweise mit wachsender Sorge quittiert. So warnte Karl Waldmann, Staatsse- kretär des Stuttgarter Gauleiters und Reichsstatthalters Murr, Anfang 1938 unter der Überschrift „Einheit der Verwaltung" öffentlich vor „Überorganisation", „Kompetenz- konflikte(n)" und der „gefährlich(en)" Tendenz zur Schaffung immer „neue(r) Sonderver- waltungen": ,,De(r) Versuch der Parteien des Weimarer Systems, die Einheit des Reichs mit Mitteln der Verwaltung herzustellen statt mit politischen Mitteln sicherzustellen, [. .] führten zur Zersplitterung und Unübersichtlichkeit des Behördenaufbaus [...]. Gleichzei- tig wurde der Ressortpartikularismus gestärkt, der weder auf andere Verwaltungszweige noch auf die Länderverwaltung Rücksicht nahm." Dieser vorgebliche Hinweis auf die schlechten „Erfahrungen der überwundenen Periode" war unverkennbar auf die Situation der Jahreswende 1937/38 gemünzt7. Im Herbst 1941 sah auch der Leiter der Parteikanzlei, Reichsleiter Martin Bormann, „für die Staatsführung ernste Gefahren" heraufziehen, wenn dieser Prozeß nicht alsbald unter Kontrolle gebracht werde8. Allerdings konnte Hitlers neuer Intimus daran allen - seinen (partei)bürokratischen Neigungen zum Trotz9 letzten Endes gar nicht interes- siert sein. Eröffnete ihm doch gerade und allein die polykratische- „Kompetenzanarchie" des totalitären Führerstaates10 die Chance, als alleiniger Wächter am „Korridor zur Seele 5 Denkschrift über die Krise des Beamtentums v. September 1937; abgedr. in: Hans Mommsen, Be- amtentum im Dritten Reich. Mit ausgewählten Quellen zur nationalsozialistischen Beamtenpoli- tik, Stuttgart 1966, S. 146-149; vgl. ebd., S. 57 f.; Jane Caplan, Government without Administrati- on. State and Civil Service in Weimar and Nazi Germany, Oxford 1988, S. 321 f. 6 Friedrich Freiherr Hiller von Gaetringen (Hrsg.), Die Hassell-Tagebücher 1938-1944. Ulrich von Hassell. Aufzeichnungen vom anderen Deutschland, rev. u. erw. Neuausgabe, 2. Aufl., Berlin 1989, S. 137f. (1.11. 1939); Hervorhebung von mir. Zur Frustration einstmaliger NS-Sympathisan- ten unter der höheren Beamtenschaft vgl. Caplan, Government, S. 324 f.; vgl. auch den Hinweis bei Martin Broszat, Reichszentralismus und Parteipartikularismus. Bayern nach dem Neuaufbau- Gesetz vom 30.Januar 1934, in: Ursula Büttner u.a. (Hrsg.), Das Unrechtsregime. Internationale Forschung über den Nationalsozialismus. Festschrift für Werner Jochmann zum 65. Geburtstag, Bd. 1, Hamburg 1986, S. 178-202, hier: S. 199. 7 Der Artikel des auch auf Reichsebene exponierten NS-Verwaltungspolitikers wurde in Nr. 1/1938 der von ihm herausgegebenen „Württembergischen Verwaltungszeitschrift" publiziert; das Gauor- gan druckte den „richtungweisenden Aufsatz" alsbald nach (Regierungsanzeiger, Nr. 12, S.2f.; Bei- lage zum Stuttgarter NS-Kurier, Nr. 47, 29.1. 1938); Hervorhebungen von mir. Zur Bedeutung Waldmanns vgl. den Hinweis bei Rebentisch, Innere Verwaltung, S. 751. 8 Zit. nach: Martin Broszat, Der Staat Hitlers. Grundlegung und Entwicklung seiner inneren Verfas- sung, München 1969, S.383f.; vgl. danach Hans-Ulrich Thamer, Verführung und Gewalt. Deutsch- land 1933-1945, Berlin 1986, S.677. 9 Vgl. dazu Peter Longerich, Hitlers Stellvertreter. Führung der Partei und Kontrolle des Staatsappa- rates durch den Stab Heß und die Partei-Kanzlei Bormann, München u. a. 1992; ferner Rebentisch, Führerstaat, S.528f. 10 Rebentisch, Führerstaat, S.552; vgl. Broszat, Staat Hitlers, S. 171. Zentralismus und Regionalgewalten im Herrschaftsgefüge des NS-Staates 101 des Machthabers" im „Vorraum" der absoluten Macht11 zum „Super- und Kontrollmini- ster der Reichsregierung"12 aufzusteigen. Die personalistische Verfassungs- und Verwaltungsdoktrin Hitlers und seiner engsten Gefolgsleute war je länger desto weniger vereinbar mit jenem traditionell-obrigkeitsstaat- lichen Zentralismus der prussifizierten Ministerialbürokratie in Berlin, den sich ihr politi- scher Exponent, Reichsinnenminister Wilhelm Frick, von Beginn an zu eigen gemacht hat- te13. Deren hierarchisch-autoritäre, tendenziell statische Ordnungsvorstellungen standen diametral zu jenem ausgeprägten Anti-Institutionalismus, den Hitler nicht als bloße Atti- tüde, sondern als Kernelement seiner autokratischen Herrschaftstechnik in dynamisieren- der Absicht pflegte14. Die Demontage traditioneller Instanzenzüge zugunsten eines diffu- sen, ausschließlich auf seine Person zentrierten Geflechts personaler Herrschaftsbeziehun- gen gehörte zum machttechnischen Arkanbereich des Diktators15. Als wolle er das formalistische Raunen, welches aus den ministeriellen Amtsstuben bis in seine Vorzimmer drang, ein für allemal zum Schweigen bringen, trieb Hitler den Führer- absolutismus 1942 auf die Spitze. Nachdem er im Januar die Leitung der Reichsverwaltung vom Innenminister auf seine Reichskanzlei übertragen hatte, ließ Hitler den Großdeut- schen Marionetten-Reichstag am 26. April 1942 proklamieren, daß er sich „in seiner Ei- genschaft als Führer der Nation, als Oberster Befehlshaber der Wehrmacht, als Regie- rungschef und oberster Inhaber der vollziehenden Gewalt, als oberster Gerichtsherr und als Führer der Partei" mit seinen sogenannten „Führerbefehlen" nach eigenem Gutdün- ken „jederzeit" über „bestehende Rechtsvorschriften" und „vorgeschriebene Verfahren" hinwegsetzen könne16. 11 Carl Schmitt, Gespräche über die Macht und den Zugang zum Machthaber [1954]. Gespräch über den Neuen Raum, Berlin 1994, S. 17-20. Mit Blick auf den Zugang zu Hitler hatte Schmitt dieses treffende Bild bereits 1947 bemüht; vgl. Lothar Gruchmann, Die „Reichsregierung" im Führer- staat. Stellung und Funktion des Kabinetts im nationalsozialistischen Herrschaftssystem, in: Gün- ter Doeker/Winfried Steffani (Hrsg.), Klassenjustiz und Pluralismus.