56. Jahrgang • September/Oktober 2005 • ISSN 0032-3462 POLITISCHE STUDIEN403 Zweimonatszeitschrift für Politik und Zeitgeschehen

Schwerpunktthema: 60 Jahre CSU

Mit Beiträgen von Angela Merkel, Horst Möller, Heinrich Oberreuter, Edmund Stoiber, Theo Waigel, Hans Zehetmair

Wolfgang Schüssel Was nun Europa? Politische Studien- Zeitgespräch

Peter J. Opitz Glanz und Elend einer Weltorganisa- tion – 60 Jahre Vereinte Nationen

Christian Hacke Regionalkultur und Religion als innen- politische Bestimmungsfaktoren ameri- kanischer Außenpolitik am Beispiel Atwerb-Verlag KG George W. Bush 56. Jahrgang • September/Oktober 2005 • ISSN 0032-3462 POLITISCHE STUDIEN 403 Zweimonatszeitschrift für Politik und Zeitgeschehen

Schwerpunktthema: 60 Jahre CSU

Mit Beiträgen von Angela Merkel, Horst Möller, Heinrich Oberreuter, Edmund Stoiber, Theo Waigel, Hans Zehetmair

Wolfgang Schüssel Was nun Europa? Politische Studien- Zeitgespräch

Peter J. Opitz Glanz und Elend einer Weltorganisa- tion – 60 Jahre Vereinte Nationen

Christian Hacke Regionalkultur und Religion als innen- politische Bestimmungsfaktoren ameri- kanischer Außenpolitik am Beispiel Atwerb-Verlag KG George W. Bush Hanns Seidel Stiftung

Herausgeber: ohne schriftliche Genehmigung der Redaktion Hanns-Seidel-Stiftung e.V. reproduziert oder unter Verwendung elektroni- Vorsitzender: Dr. h.c. mult. Hans Zehetmair, scher Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder ver- Staatsminister a.D. breitet werden. Redaktionelle Zuschriften werden Hauptgeschäftsführer: Dr. Peter Witterauf ausschließlich an die Redaktion erbeten. Referat Presse- und Öffentlichkeitsarbeit/ Publikationen: Hubertus Klingsbögl Die Beiträge in diesem Heft geben nicht unbe- dingt die Meinung der Redaktion wieder; die Redaktion: Autoren tragen für ihre Texte die volle Verant- Dr. Reinhard C. Meier-Walser wortung. Unverlangt eingesandte Manuskripte (Chefredakteur, v.i.S.d.P.) werden nur zurückgesandt, wenn ihnen ein Barbara Fürbeth M.A. (Redaktionsleiterin) Rückporto beiliegt. Verena Hausner (stellv. Redaktionsleiterin) Susanne Berke (Redakteurin) Bezugspreis: Einzelhefte € 4,50. Claudia Magg-Frank, Dipl. sc. pol. (Redakteurin) Jahresabonnement € 27,00. Irene Krampfl (Redaktionsassistentin) Schüler/Studenten-Jahresabonnement bei Vorlage einer gültigen Bescheinigung € 13,50. Anschrift: Die Zeitschrift Politische Studien erscheint als Redaktion Politische Studien Periodikum und Themenheft. Hanns-Seidel-Stiftung e.V. Darüber hinaus erscheinende Sonderausgaben Lazarettstraße 33, 80636 München sind im Abonnement nicht enthalten. Telefon 089/1258-241 Abobestellungen und Einzelheftbestellungen Telefax 089/1258-469 über die Redaktion und den Buchhandel. Internet: www.hss.de E-Mail: [email protected] Kündigungen müssen der Redaktion schriftlich mindestens 8 Wochen vor Ablauf des Abonne- Alle Rechte, insbesondere das Recht der Verviel- ments vorliegen, ansonsten verlängert sich der fältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, Bezug um weitere 12 Monate. vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ATWERB-VERLAG KG Publikation © Inhalt

Hans Zehetmair Editorial: 60 Jahre CSU ...... 5

Wolfgang Schüssel Was nun Europa? Politische Studien-Zeitgespräch...... 7

Schwerpunktthema: 60 Jahre CSU

Angela Merkel Geleitwort: Eine Union für Deutsch- land – Sechzig Jahre CSU ...... 13

Edmund Stoiber 60 Jahre CSU – Herkunft und Zu- kunft einer Volkspartei...... 16

Horst Möller Vom christlich-bürgerlichen und konservativen Widerstand gegen Hitler zur Gründung von CDU und CSU nach 1945...... 26

Heinrich Oberreuter Bayerische Akzente – Zum Gestal- tungsanspruch der CSU auf Bun- desebene ...... 39

Theo Waigel Die Wurzeln und geistigen Grund- lagen der CSU – Interview mit dem ehemaligen Parteivorsitzenden der CSU und Bundesminister a.D., ge- führt von Renate Höpfinger...... 47 Peter J. Opitz Glanz und Elend einer Weltorga- nisation – 60 Jahre Vereinte Nationen...... 63

Christian Hacke Regionalkultur und Religion als innenpolitische Bestimmungsfakto- ren amerikanischer Außenpolitik am Beispiel George W. Bush ...... 85

Andreas Feser Die Glaubwürdigkeit der „dpa“ sichern ...... 101

Klaus Brummer Europas Antworten auf innerstaat- liche Konflikte...... 108

Peter L. Münch- Aus dem „Chaos“ und aus der Heubner „Krise“: Die diplomatischen Bezie- hungen zwischen Deutschland und Israel und ihr Beginn vor vierzig Jahren – Ein Rezensionsessay...... 118

Das aktuelle Buch ...... 127

Buchbesprechungen ...... 129

Ausstellung CSU plakativ – 60 Jahre gestaltete Politik ...... 138

Ankündigungen ...... 139

Autorenverzeichnis ...... 140 Editorial: 60 Jahre CSU

Hans Zehetmair

Runde Geburtstage sind eine gute Ge- wie sie hier erfolgt, deutlich. Aber erst legenheit, innezuhalten und den bis- recht die feste Verankerung der CSU in herigen Lebensweg des Jubilars wohl allen Teilen Bayerns und die vielen Er- wollend, aber vielleicht nicht ganz folge, die sie seit Jahrzehnten auf allen ohne Selbstkritik Revue passieren zu politischen Ebenen erzielt, wären ohne lassen. Ein 60. Jahrestag ist schon im dieses normative Fundament nicht normalen menschlichen Leben ein denkbar. Hinzu kam immer die klare wichtiger Einschnitt, der entsprechend politische Verortung, die innere Re- gewürdigt wird. Im politischen und formbereitschaft und überzeugendes öffentlichen Leben gar sind solche Ju- Führungspersonal. Dies war die ent- biläen noch viel wichtiger, schon weil scheidende Voraussetzung dafür, dass sie viel seltener zu feiern sind. Es gibt die CSU über Jahrzehnte die Regierung nicht viele Institutionen, die auf eine in Bayern stellen und im Bund stets jahrzehntelange Erfolgsgeschichte zu- einen überdurchschnittlichen Beitrag rückblicken können. Insofern ist es nur für das Gesamtergebnis der Union konsequent, wenn wir in diesem Heft leisten konnte. Auch die jüngste Bun- in einem gesonderten Schwerpunkt an destagswahl hat – bei aller Enttäu- den 60. Geburtstag der CSU erinnern. schung – daran nichts Grundlegendes geändert. Wir wollen die geistesgeschichtlichen und politischen Wurzeln der CSU her- Franz Josef Strauß fasste in seinen Er- vorheben. Jenseits aller tagespolitischen innerungen die Erfolgsgründe der CSU Aktualität und aller Debatten um Wahl- in drei Säulen zusammen, auf denen ergebnisse wird dadurch erst der tiefe- die Stellung der CSU beruhe: „Erste re Hintergrund für die jahrzehntelange Säule – Zusammenführung aller poli- Erfolgsgeschichte der CSU deutlich. Oh- tischen Kräfte, die zusammengehören. ne diese Verankerung in einem festen Deshalb hielt ich die Bayernpartei von Wertefundament wäre schon die Grün- Anfang an für überflüssig, so wie ich dung der CSU nicht möglich gewesen. konservative Splittergruppen heute für Dies wird durch die Analyse der Rolle überflüssig halte. Hierher gehört mei- vieler der Politiker der ersten Stunde, ne oft wiederholte Aussage und be-

Politische Studien, Heft 403, 56. Jahrgang, September/Oktober 2005 6 Hans Zehetmair schwörende Meinung, dass es rechts scheidend mit geprägt. Dies war nur von uns keine demokratisch legitimier- möglich, weil die CSU in allen Regio- te Partei geben darf. Zweite Säule – nen, Schichten und Altersgruppen des Entklerikalisierung und Liberalisierung Landes fest verankert blieb. Die CSU der Partei. Dritte Säule – Identifikation war immer Volkspartei und muss auch der CSU mit Bayern.“ (Erinnerungen, in der Zukunft Volkspartei bleiben, um S. 530). die enormen Herausforderungen der Zukunft meistern zu können. So wird Wesentliche Elemente dieser Aussage sie auch in Zukunft in der Lage sein, beschreiben auch heute noch den Cha- sich selbst immer wieder neu aufzu- rakter der CSU. Die CSU ist nicht nur stellen und den Willen des Volkes in vom Freistaat Bayern und seinen Tra- praktische Politik umzusetzen. Dies ditionen geprägt, sondern hat seit nun- ist der CSU seit 60 Jahren gelungen, es mehr 60 Jahren Bayern auch selbst ent- wird ihr auch weiter gelingen. Was nun Europa? Politische Studien-Zeitgespräch mit dem Bundeskanzler der Republik Österreich Dr. Juris Wolfgang Schüssel

Dr. Wolfgang Schüssel wurde am 7. Juni 1945 in Wien geboren. Zwischen 1963 und 1968 studierte er an der Universität Wien und wurde zum Dr. Juris promoviert. Von 1968 bis 1975 war Dr. Wolfgang Schüssel Sekretär des Parlamentsklubs der Österreichi- schen Volkspartei (ÖVP), von 1975 bis April 1991 fungierte er als Generalsekretär des Österreichischen Wirtschaftsbundes, einer Teilorganisation der ÖVP. Von 1979 bis 1996 war Schüssel mit Unterbrechungen Abgeordneter zum Nationalrat, 1989 stieg der redegewandte Politiker als Bundesminister für wirtschaftliche Angelegenheiten in der von der SPÖ und ÖVP gebildeten Bundesregierung unter Bundeskanzler Dr. Franz Vranitzky zum Spitzenpolitiker auf. Am 4. Mai 1995 wurde Dr. Wolfgang Schüssel Vizekanzler und Bundesminister für auswärtige Angelegenheiten, am 4. Februar 2000 erlangte er das Amt des Bundeskanzlers. Im Februar 2003 wurde er mit dieser Funktion neuerlich betraut.

Politische Studien: Nach der Osterwei- richtigen Schlüsse zu ziehen. Dabei soll- terung und fast ein Jahr, nachdem die ten wir aber die Kirche im Dorf lassen Regierungschefs die Verfassung feierlich und nicht das Projekt Europa grund- unterzeichnet haben, herrscht großer sätzlich in Frage stellen. Die Europäi- Frust. Noch nie waren die Bürger so ab- sche Union ist und bleibt eine histori- lehnend wie heute. Birgt das doppelte sche Leistung, die ohne Alternative ist Scheitern des Gipfels vom Juni 2005 ei- und dauerhaften Frieden und Freiheit ne Chance für die Europäische Union, für 470 Millionen Menschen gewähr- sich zu wandeln und wieder attraktiv leistet. für die Bürger zu werden? Politische Studien: Muss Europa neu Wolfgang Schüssel: Absolut. Wir müs- gegründet und seine Vision neu defi- sen diese Chance jetzt auch wirklich niert werden? nutzen. Diese Phase des aktiven Zu- hörens ist notwendig, um die tat- Wolfgang Schüssel: Europa ist ein sächliche Stimmungslage bei Europas Prozess, ständig in Bewegung und Ent- Bürgern auszuloten und daraus die wicklung. Wir müssen immer daran

Politische Studien, Heft 403, 56. Jahrgang, September/Oktober 2005 8 Politische Studien-Zeitgespräch

Der österreichische Bundeskanzler Dr. Wolfgang Schüssel. Bild: Bernhard J. Holzner © HOPI-MEDIA

arbeiten und darum bemüht sein, Eu- von denen jedes einen wertvollen Bei- ropa besser zu machen. Wir brauchen trag für Europa leistet. Nur wenn wir kein neues Europa, aber wir können alle zusammen arbeiten, wenn wir alle ein besseres Europa schaffen. kreativen Kräfte in diesem vielfältigen Europa nutzen, werden uns Fortschrit- Politische Studien: Was nun Europa? te gelingen. Das gilt sowohl für die Mit- Die großen Probleme der Union sind gliedstaaten, aber selbstverständlich eng miteinander verzahnt, und bereits auch für alle europäischen Institutio- 2007 mit der deutschen Ratspräsident- nen. Europa braucht keinen Führer schaft müssen Lösungen gefunden oder Retter. Was wir brauchen, ist ver- sein. Bis dahin freilich ist auch jemand trauensvolle Zusammenarbeit unter- gefragt, den man derzeit allerorten einander – dann ist Europa handlungs- schmerzlichst vermisst, ein europäi- fähig. scher Leader, ein produktiver Vor- denker und Vormacher, ein Aufmun- Politische Studien: Die Staats- und Re- terer und Antreiber. Könnte Deutsch- gierungschefs haben zu einer Denk- land oder könnten, ja müssten sogar pause aufgerufen, zu einer Pause des Deutschland und Frankreich diese Rol- Nachdenkens und des Dialogs. Dazu le wieder übernehmen oder werden Sie, bedarf es der Vermittlung und des Aus- Herr Bundeskanzler, in der Österreichi- gleichs. Der überfällige offene politische schen Ratspräsidentschaft 2006 der Dialog mit allen Bürgern muss verstärkt „Retter Europas“? werden. Welche Verantwortung und welchen Stellenwert sehen Sie bei die- Wolfgang Schüssel: Die Europäische sem Prozess für die eigenständigen po- Union besteht aus 25 Mitgliedsländern, litischen Stiftungen? Politische Studien-Zeitgespräch 9

Bundeskanzler Dr. Wolfgang Schüssel (Mitte), EU-Ratsvor- sitzender, Luxemburgs Premierminister Jean- Claude Juncker (links), Niederlands Premier- minister Jan Peter Balkenende (rechts) bei der Frühjahrs- tagung 2005 des Europäischen Rates mit den EU-Staats- und Regierungschefs, Außen- und Finanz- ministern in Brüssel. Bild: Bernhard J. Holzner © HOPI-MEDIA

Wolfgang Schüssel: Politische Stiftun- nicht nur um die geografischen Gren- gen sind ganz wesentliche Motoren, zen Europas, es geht – und dieses Un- um eine öffentliche Diskussion zu ini- behagen war bei den Referenden in tiieren, zu beleben und eine fundierte Frankreich und den Niederlanden ja Analyse zu erarbeiten. Politische Stif- spürbar – auch um die Grenzen der tungen und Akademien sind Ideen- Aufnahmefähigkeit der EU, ein Punkt, und Denkstätten, die in der politischen den ich im Rahmen der Türkei-Diskus- Meinungsbildung nicht weg zu denken sion ganz massiv thematisiert und in sind. die Schlussfolgerungen hinein rekla- miert habe. Politische Studien: Eine gemeinsame Sorge der Wahlbürger in Frankreich Angesichts der Terroranschläge in Mad- und den Niederlanden war die Auf- rid und jetzt in London stoßen wir nahme zahlreicher neuer Mitgliedstaa- auch an Grenzen, in dem Sinne, dass ten mit ungeklärten Konsequenzen für einige in Europa lebende Menschen den Arbeitsmarkt und den sozialen Zu- offenkundig nicht in Europa ange- sammenhalt in Städten und Gemein- kommen sind und unser europäisches den. Sollten während dieser Denkpau- Lebensmodell mit Attentaten und se auch die Grenzen Europas definiert Selbstmordanschlägen stören oder zer- werden? stören wollen. Da müssen wir Grenzen setzen und dem entschlossen entgegen Wolfgang Schüssel: Wir müssen über treten. die Grenzen Europas offen reden, wo- bei ich Grenzen in mehrfacher Hin- Politische Studien: Die Anschläge in sicht definiert wissen will. Denn es geht London haben Europa ins Herz ge- 10 Politische Studien-Zeitgespräch troffen. Wie soll bzw. wird die EU auf die Europäische Union zur Halbzeit der den Terror reagieren? Lissabon-Agenda, durch die Europa die wettbewerbsfähigste Region der Welt Wolfgang Schüssel: Mit Entschlos- werden sollte? senheit und ohne Zögern. Wir müssen diesen Netzwerken der Zerstörung eine Wolfgang Schüssel: Mein Bild von Union des Vertrauens und der Zusam- Europa ist bei weitem nicht so düster, menarbeit entgegen setzen. Was an kri- wie Sie das in Ihrer Frage suggerieren. minalistischen Maßnahmen notwen- Richtig ist, dass wir vor einer Reihe von dig ist, soll und wird gemacht werden. Herausforderungen stehen, etwa am Ar- Die Kooperation auf europäischer Ebe- beitsmarkt, etwa im Bereich der Struk- ne funktioniert gut und soll natürlich turreformen oder bei Forschung und noch intensiviert werden. Aber es muss Innovation. Wehklagen und Mutlosig- auch die Gesellschaft mithelfen und keit werden uns bei der Bewältigung ihre Freiheit und Sicherheit aktiv ver- dieser Aufgaben aber nicht helfen. Wir teidigen und den Behörden bei der brauchen ein Europa, das mutig und Ermittlung von terroristischen Netz- kreativ seine Handlungsfähigkeit be- werken helfen. weist. Dann werden wir auch die Bür- ger überzeugen können, dass Europa Politische Studien: Doch nicht nur die richtige Antwort auf die drängen- ein gescheiterter Gipfel ist das Pro- den Fragen der Zeit ist. Das kann und blem. Europa wird belastet von 20 Mil- wird uns gelingen. Die bisherige Er- lionen Arbeitslosen, Null-Wachstum in folgsgeschichte der EU sollte uns Mut Deutschland und nur wenig mehr in machen, den Weg fortzusetzen. Frankreich, Rezession in Italien und dunklen Zweifeln über die Zukunft des Politische Studien: Herr Bundeskanz- Euro. Welche Zukunft gibt es noch für ler, wir danken Ihnen für das Gespräch.

Die Fragen stellte Markus Russ, Leiter der Verbindungsstelle Brüssel der Hanns-Seidel-Stiftung e.V. Schwerpunktthema

60 Jahre CSU Geleitwort: Eine Union für Deutschland – Sechzig Jahre CSU

Angela Merkel

„An ihren Früchten sollt ihr sie erken- und CSU haben gemeinsam in den ver- nen“, heißt es im Neuen Testament – gangenen 60 Jahren einen beispiellos zweifellos auch ein geeigneter Maß- erfolgreichen politischen Weg zurück- stab zur Beurteilung von Parteien. Die gelegt. Von 56 Jahren Bundesrepublik Bilanz der Christlich-Sozialen Union hat die Union in 36 Jahren Regierungs- macht den Blick frei auf ihre einmali- verantwortung getragen. In dieser Zeit ge Erfolgsgeschichte: In über 40 Jahren hat sie alle wichtigen politischen Wei- alleiniger Regierungsverantwortung hat chenstellungen vorgenommen – von die CSU den Freistaat Bayern mit einer der Westbindung über die Einführung bürgernahen und leistungsgerechten der Sozialen Marktwirtschaft und die Politik für leistungsbereite Bürger von Ausgestaltung des Sozialstaates, von einem Agrarland zu einem der mo- der europäischen Einigung bis zur dernsten Industrie- und Dienstleis- Deutschen Einheit in Frieden und tungsstandorte in Europa entwickelt. Freiheit. Angesichts dieser Erfolgsge- Dabei ist es ihr immer auf einzigartige schichte stellt sich die Frage, aus wel- Weise gelungen, Innovationsfreude mit chen Quellen der gemeinsame Weg Heimat- und Traditionsbewusstsein zu von CDU und CSU erwachsen ist und verbinden. Große Persönlichkeiten wie auf welchen Säulen der Erfolg fußt? Hans Ehard, Hanns Seidel, Alfons Gop- pel, Franz Josef Strauß, Max Streibl, Theo Waigel und Edmund Stoiber mö- 1. Gemeinsame Verpflichtung gen dabei herausragen. Aber der Erfolg auf das Gemeinwohl Bayerns ist das Werk der CSU als Gan- zes und aller Bayern. Die CSU hat da- Der erste Grund für den Erfolg der Uni- her allen Grund, ihren 60. Geburtstag on liegt in der gemeinsamen politi- in Dankbarkeit, mit Stolz und mit Zu- schen Zielsetzung, dem Wohlergehen versicht für die Zukunft zu begehen. der Menschen zu dienen. Die Zusam- menarbeit zwischen CDU und CSU ge- Die Christlich Demokratische Union lingt trotz aller Unterschiedlichkeit aus- feiert den Geburtstag ihrer bayerischen gezeichnet, weil allen in der Union die Schwesterpartei gerne mit. Denn CDU Liebe zu Deutschland am Herzen liegt.

Politische Studien, Heft 403, 56. Jahrgang, September/Oktober 2005 14 Angela Merkel

Dabei ist es nur natürlich, wenn die desregierungen wie Hermann Höcherl, Schwesterparteien nicht immer einer und Friedrich Zim- Meinung sind, aber wir sind immer auf mermann stehen für diesen Mut, eige- einem gemeinsamen Weg. ne Überzeugungen auch gegen erheb- liche Widerstände zu behaupten und Insbesondere die CSU-Landesgruppe durchzusetzen. im Deutschen Bundestag nimmt hier- bei eine Schlüsselstellung ein. Ihre Vor- Dieser Mut zur klaren Meinung ist zu sitzenden wie Fritz Schäffer, Richard Beginn des 21. Jahrhunderts wieder ge- Stücklen, Wolfgang Bötsch und heute fragt. Wir müssen bereit sein, die Wei- Michael Glos haben stets darauf ge- chen für das Zeitalter von Globalisie- achtet, sowohl die institutionelle Basis rung und Wissensgesellschaft richtig zu des bundespolitischen Gestaltungs- stellen, auch wenn Widerstände dabei anspruchs der CSU zu verkörpern als zu überwinden sind. Heute werden un- auch einen starken „Brückenkopf“ zur sere Reformkonzepte als weit reichend CDU zu bilden. Denn alle in der Uni- empfunden und kontrovers diskutiert. on wissen: Es ist die Gemeinsamkeit Aber ich bin überzeugt: Morgen werden von CDU und CSU, die den Erfolg der diese Ordnungsideen die Grundlage für politischen Mitte in Deutschland ge- ein neues gemeinsames Verständnis währleistet. sein.

2. Gemeinsamer Mut zur klaren 3. Gemeinsame Kraft zur Meinung Integration

Die zweite große Stärke von CDU und Genau hierin liegt der dritte Grund CSU liegt in ihrem Mut zur klaren Mei- für den Erfolg der Union: in der Kraft, nung. Es waren nie einfache Zeiten, nach harten Kontroversen neue Ge- wenn die Weichen in der Bundesrepu- meinsamkeit zu stiften. Die Grün- blik Deutschland neu gestellt werden dungsimpulse von CDU wie CSU mussten. Immer waren dabei Ziele und zielten darauf ab, Brücken zu bauen. Wege umstritten. Die Union ist nie den Brücken zwischen den Konfessionen, einfachsten Weg gegangen. So war es zwischen Arbeitnehmern und Unter- bei und Franz Josef nehmern, zwischen den landsmann- Strauß, als sie gegen vielfältige Vorbe- schaftlichen Prägungen. CDU und halte für die Wertegemeinschaft des CSU waren nie Parteien einer bestimm- Westens und für die Wiederbewaffnung ten gesellschaftlichen Schicht, sie wa- votierten. Es war so bei Helmut Kohl ren von Anfang an im Bewusstsein und Theo Waigel, als beide die deut- christlicher Verantwortung eine Union sche Wiedervereinigung klug und um- für ganz Deutschland. sichtig gestalteten und die Europäische Einigung – insbesondere mit der Ein- Dafür stehen die Gründer der Unions- führung des Euro – als großes Werk parteien mit ihren Namen bis heute: des Friedens und der Versöhnung zum Kommunalpolitiker wie der Kölner Erfolg führten. Auch die zahlreichen Konrad Adenauer und der Münchner CSU-Minister in unionsgeführten Bun- Karl Scharnagl, christliche Gewerk- Geleitwort: Eine Union für Deutschland – Sechzig Jahre CSU 15 schafter wie aus Berlin und heit und Verantwortung. Genau diese Adam Stegerwald aus Unterfranken, en- Grundsatztreue ist auch heute wieder gagierte Frauen wie und gefragt. Politik muss gerade in Zeiten , Widerstandskämpfer wie schnellen Wandels den Menschen Ori- und Josef Müller, entierung und Halt geben. der gegen eine Verengung auf einen po- litischen Katholizismus in der Traditi- Sagen, was man tun will, und tun, was on der Bayerischen Volkspartei kämpf- man sagt – Klarheit und Verlässlichkeit te – sie alle machten den Charakter der waren schon immer zwei Maximen des Union als die große Volkspartei der politischen Handelns von CDU und Mitte erst möglich. CSU. Denn die Union besitzt einen klaren Kompass für ihre Politik: das Dieser Brückenschlag muss immer christliche Menschenbild, das den Ein- wieder neu geleistet werden – gerade zelnen in seiner Einzigartigkeit und heute. Wir dürfen niemals vergessen: seinem ganzen Potenzial an Entfal- Integration ist eine zentrale Aufgabe tungsmöglichkeiten in den Mittelpunkt der Union. Deshalb verfolgt unser Re- stellt. Daraus speist sich eine Politik, gierungsprogramm 2005-2009 zwei die nah bei den Menschen ist, die Schwerpunkte: Vorfahrt für Arbeit und ihre Talente und Ideen fördert und Zukunft für Familien. Für CDU wie die Erneuerung mit Grundsatztreue CSU ist alles wichtig, was mehr Men- verbindet. So gelingt es, Veränderung schen in Arbeit bringt und unseren gemeinsam mit den Menschen zu ge- Kindern bessere Zukunftschancen er- stalten. öffnet. Dazu gilt es aber, Freiräume zu ermöglichen und Leistungsanreize zu setzen – auf dem Arbeitsmarkt, in den CDU und CSU – gemeinsam dem Sozialsystemen, im Bildungsbereich Wandel Richtung geben und bei den Steuern. Nur so werden wir mehr Wachstum schaffen, nur so Der gemeinsame politische Erfolg von werden wir auch wieder mehr Solida- CDU und CSU fußt seit 60 Jahren auf rität und Gerechtigkeit leben können. vier Säulen: der gemeinsamen Ver- pflichtung auf das Gemeinwohl, dem Mut zur Kontroverse, der Kraft zur 4. Gemeinsames Bekenntnis zu Integration und dem Bekenntnis zu einem Kompass einem klaren Kurs. Diesem Gerüst ist es zu verdanken, dass die Union die Ge- Die vierte Stärke der Union liegt in schichte der Bundesrepublik Deutsch- ihrer Gemeinsamkeit in den Grund- land nach 1945 stärker geprägt hat als werten und Grundüberzeugungen. Die jede andere demokratische Partei. Nicht Politik von CDU und CSU hat sich nie zuletzt aus der historischen Leistung als „Abrücken von“ bestimmt, sondern unserer Vorgänger ziehen CDU und als „Einstehen für“: für das eigene CSU die Zuversicht, auch künftig als Land, für die europäische Einigung und große Volkspartei der Mitte „dem Wan- die transatlantische Partnerschaft, für del Richtung zu geben“, wie Edmund die Soziale Marktwirtschaft, für Frei- Stoiber es einmal formuliert hat. 60 Jahre CSU – Herkunft und Zukunft einer Volkspartei

Edmund Stoiber

In diesen Tagen feiern wir das 60-jäh- Josef Müller mit seiner Vorstellung von rige Bestehen der CSU. Im Herbst 1945 einer Partei der „offenen Türen“, in der – nur wenige Monate nach dem Ende sowohl Katholiken wie Protestanten, der nationalsozialistischen Gewalt- ehemalige Zentrumswähler und Libe- herrschaft – schlossen sich die Gründer rale als auch Gewerkschaftler und Kon- unserer Partei zusammen, um nach der servative willkommen sein sollten, auf größten Katastrophe der deutschen Ge- heftigen Widerstand in den eigenen schichte einen Neuanfang zu wagen. Reihen.

Gerade in der schwierigen Situation, Es dauerte, bis sich das Müllersche in der Deutschland heute steht, ist ein Konzept durchsetzte – mit Hilfe von Rückblick in unsere Geschichte hilf- kraftvollen Persönlichkeiten wie Fritz reich. Er gibt uns Orientierung, aber Zimmermann, Hanns Seidel, Richard auch Mut und Optimismus für die Stücklen und Franz Josef Strauß. Sie Gegenwart. 1945 standen die Männer schafften einen wahren Neuanfang: und Frauen der ersten Stunde, die die Zwar stand die CSU insofern in der Voraussetzung für die Gründung und Tradition der Bayerischen Volkspartei den Erfolg unserer Partei schufen, vor (BVP), als sie sich ausdrücklich als ei- noch größeren Herausforderungen als genständige christliche Partei gründe- wir heute. Doch die Gründungsväter te. Aber im Gegensatz zur BVP vor 1933 und -mütter unserer Partei gaben nicht schlossen sich in der CSU evangelische auf. Sie ließen sich durch Not und Leid und katholische Christen zusammen – nicht entmutigen, sondern stellten sich über die konfessionellen Grenzen hin- den Aufgaben. weg. Da gegen Hitler „als Träger des geistigen Widerstandes vor allem die aktiven Christen beider Konfessionen Bayerische Patrioten der ersten aufgestanden“ waren und dem Dikta- Stunde tor „die Gleichschaltung der Kirchen“ nicht gelang, sei die Überlegung zwin- Dabei war anfangs keineswegs voraus- gend gewesen, evangelische und katho- zusehen, dass die CSU eine so starke lische Christen zur politischen Arbeit und handlungsfähige politische Partei zusammen zu führen, sagte Josef Mül- werden würde, wie sie es heute ist. ler später über die Motive der Grün- So stieß unser erster Parteivorsitzender dungsväter. Der erste Vorsitzende der

Politische Studien, Heft 403, 56. Jahrgang, September/Oktober 2005 60 Jahre CSU – Herkunft und Zukunft einer Volkspartei 17

CSU selbst hatte nach eigener Aussage den stetig weniger. Gerade Familien den Entschluss, politisch für ein christ- mit Kindern leben nicht selten auf der liches Europa und Vaterland zu wirken, Schattenseite der Gesellschaft. während seiner Haft als Widerstands- kämpfer im nationalsozialistischen Die demografische Entwicklung droht Konzentrationslager Flossenbürg ge- das Verhältnis der Generationen unter- fasst. einander zu belasten: Bis 2050 wird die deutsche Bevölkerung voraussichtlich Die Union aus katholischen und evan- von 80 auf 65 Millionen schrumpfen. gelischen Christen war eine funda- Gleichzeitig wird sich der Anteil der mentale Neuerung in der Parteienge- über 60-Jährigen auf 40% vergrößern, schichte. Sie überwand den politischen der Anteil der unter 20-Jährigen auf Glaubensstreit von mehr als vier Jahr- etwa 15% sinken. Die Folge: Immer hunderten und den Parteienhader der weniger junge Menschen sollen für im- Weimarer Republik. Sie war weder eine mer mehr ältere Mitbürger finanziell Links- noch eine Rechtspartei. Sie ver- aufkommen. Unsere Sozialsysteme trat keine Klasseninteressen. Sie wurde müssen umgebaut, der Generationen- zur politischen Heimat für konservati- vertrag zwischen Jung und Alt neu ve, liberale und christlich-soziale Strö- gestaltet werden. Denn je ernster die mungen. Für Junge und Alte, Männer Lage, je weniger zu verteilen ist, desto wie Frauen, Arbeitnehmer und Unter- heftiger werden die Verteilungskämp- nehmer, Beamte und Selbstständige, fe: Zunehmender Wettbewerb in einer Bauern und Handwerker. Für Unter- globalisierten Welt, Wachstumsschwä- franken wie Oberbayern, Oberpfälzer che und demografische Entwicklung und Schwaben, Niederbayern, Mittel- bergen in ihrem Zusammenspiel ein ge- und Oberfranken. Für alteingesessene waltiges soziales Konfliktpotenzial, das Bayern wie für die Heimatvertriebenen. es für eine Volkspartei wie die unsere Sie wurde zur Integrationspartei der immer schwerer macht, den Interes- bürgerlichen Mitte, zur Volkspartei. senausgleich zu schaffen.

Die Unionsidee von damals brauchen Die Einbindung aller Bevölkerungs- wir auch heute und in der Zukunft. Für schichten und Altersgruppen, der Leis- unser Land, aber auch als Partei. Denn tungsstarken und -schwachen ist in der neue Fronten drohen die alten Gegen- Vergangenheit immer die Stärke der sätze abzulösen. Zu befürchten ist eine CSU gewesen. Diese Integrationskraft Spaltung zwischen Jung und Alt, Ost ist nicht selbstverständlich, sie muss und West, Singles und Familien und immer wieder neu erarbeitet werden. vor allem zwischen Arbeitslosen und Deswegen braucht unsere Partei die Arbeitsplatzbesitzern. Immer mehr ständige Erneuerung. Wir müssen Men- Menschen sind aus dem Erwerbsleben schen aus allen Schichten und Berufs- ausgeschlossen – in diesem Jahr fast gruppen mit den unterschiedlichen Le- fünf Millionen. Nur noch rund 26 Mil- benserfahrungen und Hintergründen, lionen Menschen in Deutschland ha- ältere Mitbürger, aber vor allem auch ben voll sozialversicherungspflichtige die Jugend für die CSU gewinnen. Wir Arbeitsstellen. Das ist nicht mehr als müssen weiterhin am Puls der Gesell- ein Drittel der Bevölkerung, und es wer- schaft bleiben. Wir dürfen soziale Aus- 18 Edmund Stoiber einandersetzungen nicht verschärfen, nehmen kommen nach Bayern, Glo- sondern müssen Brücken bauen. Es bal Players ebenso wie Mittelständler. bleibt die Aufgabe der CSU, auch künf- Über 99% der hiesigen Unternehmen tig für den sozialen Zusammenhalt in sind dem Mittelstand zuzurechnen, sie unserer Gesellschaft zu sorgen. stellen über zwei Drittel aller Arbeits- plätze und vier Fünftel aller Lehrstel- len. Diese breite Fächerung macht Bay- Für ein starkes Bayern ern stark.

Die CSU hat in ihrer 60-jährigen Ge- Von unserer wirtschaftlichen Aufbau- schichte gezeigt, dass sie es versteht, leistung und dem damit verbundenen erfolgreich Politik zu machen: im Bund, sozialen Fortschritt profitiert die ge- auf europäischer Ebene und vor allem samte bayerische Bevölkerung. Wir in unserer Heimat, in Bayern. Vor sech- haben das beste Bildungssystem in zig Jahren war Bayern ein Agrarstaat, Deutschland. Wir haben mit dem heute sind wir ein Hightech-Standort, Ausbau der Kinderbetreuung und dem der sich in europaweitem Maßstab Landeserziehungsgeld gute Rahmenbe- messen lassen kann. In den Vergleichs- dingungen für ein Leben mit Familie studien – sei es in der Bildungsstudie und Kindern geschaffen. Wir haben die PISA, im Prognos-Familienatlas oder im niedrigste Kriminalität in ganz Deutsch- Länderranking der Bertelsmann-Stif- land, eine gesunde Umwelt und eine tung, das die wirtschaftliche Leistungs- anspruchsvolle Kunst- und Kultursze- fähigkeit vergleicht – liegt Bayern re- ne mit höchst renommierten Theatern gelmäßig vorn: Wir haben das höchste und Orchestern, unschätzbaren Kunst- Wirtschaftswachstum, die niedrigste werken, aber auch gepflegte Traditio- Pro-Kopf-Verschuldung aller deutschen nen und ein lebendiges Brauchtum. Länder und mit Baden-Württemberg Deshalb ist die Lebenszufriedenheit in die niedrigste Arbeitslosenquote. Vor Bayern im bundesweiten Vergleich be- 60 Jahren war Bayern landwirtschaft- sonders hoch. lich geprägt – mit Ausnahme weniger industrieller Kerne beispielsweise in Diese Erfolge gründen auf den Leistun- Augsburg, Nürnberg-Fürth-Erlangen gen der Menschen und Unternehmen oder Schweinfurt. Heute arbeiten Un- in Bayern. Beigetragen dazu hat aber ternehmen der Autoindustrie, des Ma- auch eine zukunftsweisende, innova- schinenbaus und der Elektrotechnik tive Landespolitik, die nur möglich war, und Chemie im Freistaat. Hochtech- weil unsere Partei über Jahrzehnte hin- nologie-Firmen aus Luft- und Raum- weg immer wieder bei den Wahlen fahrt sind im Freistaat ansässig. In deutliche Mehrheiten für ihre Politik jüngster Zeit spielt die Biotechnologie gewinnen konnte. Das gab unserer Po- eine zunehmend wichtige Rolle. Versi- litik Kontinuität und Berechenbarkeit cherungen, Banken und Medien finden über die Legislaturperioden hinweg. hier einen erstrangigen Standort eben- Wir wollen Bewährtes erhalten, aber so wie Software-Produzenten und an- gleichzeitig sind wir offen für die Zu- dere Unternehmen aus der Informa- kunft, offen für Innovationen und neue tions- und Kommunikationstechnik. wissenschaftliche Entwicklungen, offen Deutsche und internationale Unter- für den gesellschaftlichen Wandel. Von 60 Jahre CSU – Herkunft und Zukunft einer Volkspartei 19

Franz Josef Strauß stammt das Wort: • den weitere zehntausende Arbeits- „Konservativ sein heißt an der Spitze plätze geschaffen. des Fortschritts marschieren.“ Die Ver- • Wir haben schon in den 60er-Jahren bindung von Tradition und Fortschritt auf alternative Energien zur damals war und ist das Markenzeichen der üblichen Kohle gesetzt, um Standort- CSU. nachteile Bayerns durch geringe Koh- levorkommen auszugleichen und • Wir haben von Anfang an auf das günstige Energiepreise zu sichern. Know-how der Menschen gesetzt, So wurde Anfang der 60er-Jahre das den „Rohstoff Geist“. Denn Bildung, Erdöl-Raffinerie-Zentrum in Ingol- Fähigkeiten und Wissen entscheiden stadt in Betrieb genommen. Zunächst mehr denn je über die Zukunft unse- waren die Pläne des Bayerischen Wirt- rer Wirtschaft und unseres Landes. schaftsministers Otto Schedl, in Bay- Unter den Ministerpräsidenten Hans ern eine leistungsfähige Mineralöl- Ehard, Alfons Goppel und Franz Jo- industrie mit Rohöl-Pipeline-Verbin- sef Strauß wurden die traditionellen dungen zum Mittelmeer aufzubauen, Landesuniversitäten in München, Er- als „groteske Fehlinvestition“ und langen-Nürnberg und Würzburg er- „bayerischer Schwabenstreich“ belä- weitert und neue Universitäten in chelt worden. Wenige Jahre später Regensburg, Augsburg, Bayreuth, Pas- verstummten die Kritiker, das jahr- sau und Bamberg sowie die katholi- zehntelang preisgünstige Öl hatte die sche Universität Eichstätt gegründet. teure Kohle als wichtigste Energie- Max Streibl begann mit dem Aufbau quelle abgelöst. Später nahm Bayern von Fachhochschulen im ganzen die Möglichkeit wahr, Erdgas aus der Land. Sowjetunion zu beziehen. Zum Ener- • Wesentlich für den Flächenstaat Bay- giemix in Bayern gehört unverzicht- ern war der konsequente Ausbau der bar die Kernkraft. Heute fördern wir Verkehrsinfrastruktur, insbesondere besonders Wasserkraft, Biomasse- und der Straßen ins Grenzland, der Fotovoltaik-Projekte. Bayern hält mit großen Verkehrsachsen quer durch weitem Abstand den Spitzenplatz bei Bayern sowie des Main-Donau-Ka- der Nutzung von regenerativer Ener- nals. Durch den anfangs so umstrit- gie in Deutschland. In Pocking ent- tenen Franz-Josef-Strauß-Flughafen ist steht derzeit das größte Solarkraft- München zum zweiten deutschen werk der Welt. Der pflegliche Um- Luftkreuz neben Frankfurt geworden. gang mit der Natur hat in Bayern ei- Diese Infrastrukturinvestitionen ha- ne lange Tradition. Bereits die Baye- ben zahlreiche Vorteile – nicht nur rische Verfassung von 1946 stellte für den Standort Bayern, auch für die „Denkmäler der Natur“ sowie einhei- Menschen in der Region: Tausende mische Tier- und Pflanzenarten unter von Unternehmen haben sich auf- Schutz. Schon 1970 schuf Alfons grund der leistungsfähigen Infra- Goppel das Bayerische Staatsministe- struktur in Bayern angesiedelt, seit rium für Landesentwicklung und Um- Jahren weist die Region um den weltfragen. Lange bevor die Grünen Münchner Flughafen die bundesweit als Partei entstanden, war Max Streibl geringste Arbeitslosenquote aus. Mit Umweltminister – der erste in ganz der geplanten dritten Landebahn wer- Europa. 20 Edmund Stoiber

• Wir haben die Luft- und Raumfahrt • geschnitten und in eine Grenzlage nach Bayern geholt, eine Branche, die gedrängt worden. Auch heute – nach heute weit über 20.000 Arbeitsplätze der Deutschen Einheit und dem Zu- bietet – ein Drittel aller Arbeitsplätze sammenbruch des Kommunismus – der deutschen Luft- und Raumfahrt- befindet es sich wieder durch das industrie insgesamt. In der ganzen Lohn- und Fördergefälle zu den Welt steht der Name „Oberpfaffen- östlichen Nachbarländern in einer hofen“ nicht für ein typisches baye- schwierigen Wettbewerbssituation. risches Dorf, sondern für das Luft- Die ausgewogene Entwicklung aller und Raumfahrtszentrum insgesamt. Landesteile ist der CSU ebenso wie Heute setzen wir mit der „Offensive verlässliche Zukunftsperspektiven für Zukunft Bayern“ und der „Hightech- die bäuerliche Landwirtschaft eine Offensive“ gezielt auf die Förderung besondere Verpflichtung. von Forschung und Entwicklung. Al- lein aus Privatisierungserlösen hat der Ob in der Bildungs- und Forschungs-, Freistaat über vier Milliarden Euro in in der Umwelt-, Energie- oder Wirt- die Modernisierung unseres Landes schaftspolitik – stets hat die CSU die investiert. Der Anteil der Forschungs- Zeichen der Zeit früh erkannt und die und Entwicklungs-Aufwendungen am Weichen für die Zukunft gestellt, nie Bruttoinlandsprodukt liegt in Bayern aber ist sie mit den Moden und dem mit 3% im internationalen Spitzen- Zeitgeist gegangen. Das gilt insbeson- feld. Das Ergebnis dieser Politik: 2004 dere in der Bildungspolitik. Die nivel- hatte Bayern mit 27,8% den höchsten lierende und niveausenkende Gemein- Anteil an den Patentanmeldungen in schaftsschulpolitik der 70er- und 80er- Deutschland. Der Anteil der High- Jahre haben wir – gegen viele Wider- tech-Branchen am Umsatz in Bayern stände – nie mitgemacht. Nun gibt uns liegt mittlerweile mit 65,1% weit PISA Recht. Nicht immer kann unsere über dem Bundesdurchschnitt von Politik populär sein, aber immer ist es 55,1%. Mit dem Forschungsreaktor eine Politik für die Zukunft unseres München II hat Bayern die moderns- Landes. te Neutronenquelle der Welt. Die Weltmarktführer der verschiedensten Heute zeigt die CSU mit ihrer Haus- Branchen sind wegen dieser guten Be- haltspolitik, dass sie sich weiterhin von dingungen nach Bayern gekommen. dem Grundsatz Franz Josef Strauß’ • Die CSU hat stets die Entwicklungs- leiten lässt, „zu sagen, worauf es an- perspektiven des ländlichen Raums kommt, und nicht was ankommt“. im Blick. Durch gezielte Förderung Wir haben uns bei unserem Ziel, 2006 der Infrastruktur ebenso wie gewerb- einen ausgeglichenen Haushalt ohne licher Investitionen, Bildungsaus- neue Schulden vorzulegen, nicht be- gaben und Hightech-Politik hat sie irren lassen durch Demonstrationen, Standortnachteilen entgegen gewirkt nicht durch die Proteste der Lobbyisten – insbesondere im nord- und ost- und verschiedenen Interessengruppen. bayerischen Grenzland. Letzteres war Denn wir wissen: Wir müssen den nach dem Zweiten Weltkrieg durch Marsch in den Schuldenstaat stoppen. den Eisernen Vorhang von den an- Wir müssen sparen, damit wir mehr gestammten Märkten im Osten ab- investieren können in die Zukunft, in 60 Jahre CSU – Herkunft und Zukunft einer Volkspartei 21

Wissenschaft, Forschung und Schulen. den, sondern auch als Partei für ganz Ein „weiter so“ gefährdet die Perspek- Deutschland. Bei allen wichtigen Ent- tive unseres Landes. Unsere Kinder und scheidungen auf bundespolitischer Enkel können die Lasten, die wir ihnen Ebene hat sie mitgewirkt. aufbürden, nicht mehr tragen. Für uns ist Nachhaltigkeit ein ganzheitlicher • Gegen den erbitterten Widerstand der Politikansatz und nicht allein auf die Sozialdemokraten hat die CSU ge- Umweltpolitik verengt. Im Dreiklang meinsam mit der CDU die konse- aus Sparen, Reformieren und Investie- quente Anbindung an den Westen, ren findet sie ihren Niederschlag. die transatlantische Partnerschaft und die Politik der europäischen Einigung Bei den Bundestagswahlen im Septem- durchgesetzt, von deren Notwendig- ber ist die Angst der Menschen deutlich keit Josef Müller und Franz Josef geworden, bei Reformen benachteiligt Strauß genauso wie Konrad Adenau- zu werden. Gleichzeitig wissen wir er zutiefst überzeugt waren. Für die aber, dass wir die Lösung der Probleme damalige Vision eines einigen, hand- unseres Landes nicht länger vertagen lungsfähigen Europas tritt die CSU dürfen. Fast fünf Millionen Menschen noch heute ein. Ein solches Europa sind arbeitslos, viele seit Jahren. Deut- ist nur möglich, wenn wir die euro- sche Unternehmen müssen sich einem päische Idee, so wie sie Josef Müller, verschärften internationalen Wettbe- Konrad Adenauer und Franz Josef werb in einer globalisierten Welt stel- Strauß verstanden haben, zu Grunde len. Die Staatsverschuldung der Bun- legen: Wir wollen ein von gemeinsa- desrepublik hat mittlerweile einen Re- men Werten und von der christlich- kordstand von 1,4 Billionen erreicht. abendländischen Geschichte und Renten- und Krankenkasse nehmen Tradition geprägtes Europa, ein Euro- zu wenig ein, geben aber zu viel aus. pa der Freiheit und Demokratie, der Immer weniger junge Menschen müs- Menschenrechte und der Bürgernähe. sen für immer mehr ältere Mitbürger Deshalb sprechen wir uns gegen eine finanziell aufkommen. Unsere Zukunft Aufnahme der Türkei in die EU aus. und die unseres Landes steht auf dem Ein starkes Europa braucht Grenzen Spiel. Deshalb braucht Deutschland – geografisch und kulturell. Die kom- eine Politik, die Veränderungen wagt, mende Diskussion über die Finalität aber nicht die Solidarität mit den Europas wird die CSU entscheidend Schwächsten der Gesellschaft vernach- mitprägen. lässigt. Deshalb braucht Bayern und • Heftigen Protest von Links gab es Deutschland eine Partei wie die CSU, auch gegen den deutschen Verteidi- die Reformen mit sozialer Verantwor- gungsbeitrag, der eng mit der Wie- tung verbindet. dererlangung der Souveränität der Bundesrepublik Deutschland verbun- den war. Den Aufbau der Bundeswehr Mutige Entscheidungen für und die Einbindung der westdeut- Deutschland und Europa schen Armee in die NATO, maßgeb- lich geleistet von Franz Josef Strauß, Seit ihrer Gründung hat sich die CSU hat die CSU damals verfochten, oh- nie nur als Partei für Bayern verstan- ne sich durch den Druck der Frie- 22 Edmund Stoiber

• densbewegung in den 50er-Jahren • und Vollbeschäftigung für Deutsch- beirren zu lassen. land brachte, ließ die SPD von ihren • An dem Anspruch auf die deutsche Planwirtschaftskonzepten ab. Dabei Wiedervereinigung hielt die CSU fest, war dieser wirtschaftliche Erfolg alles als der vermeintliche Zeitgeist die For- andere als ein Wunder, sondern Fol- derung nach der staatlichen Einheit ge der Grundsatzentscheidung für un- der deutschen Nation als Revanchis- ser auf Freiheit in Verantwortung ba- mus und als Gefahr für den Frieden sierendes Menschenbild. Es traut dem in Europa verächtlich machte, als Menschen etwas zu, sichert ihm Spiel- maßgebliche Politiker der SPD das räume und schafft folgerichtig eine Bekenntnis zur Wiedervereinigung als Ordnung, die nicht zwanghaft Frei- „Lebenslüge“ denunzierten. Es war heit beschränken will, sondern Frei- der bayerische „Gang nach Karls- heit als Voraussetzung für wirtschaft- ruhe“ – die Klage gegen den deutsch- liches Wachstum, Arbeit und soziale deutschen Grundlagenvertrag –, der Sicherheit begreift. die deutsche Frage offen gehalten • Ohne Markt und Wettbewerb, ohne hat. freies Unternehmertum und Privat- • Seit ihrer Gründung setzt sich die eigentum hätte die Union keine so er- CSU für die Wahrung eines lebendi- folgreiche Sozialpolitik leisten kön- gen Föderalismus ein – zuletzt bei den nen, wie sie es in ihrer Geschichte Bemühungen um eine Föderalismus- gemacht hat. Der Lastenausgleich reform. Im Unterschied zu den meis- zwischen Vertriebenen und Alteinge- ten anderen Bundesländern blickt sessenen und die umlagefinanzierte Bayern auf eine mehr als ein Jahrtau- Rente in den 50er-Jahren wären eben- send dauernde staatliche Kontinuität so wenig möglich gewesen wie die zurück. Dadurch hat sich eine eigen- Einführung von Kindergeld, Sozial- staatliche Identität und ein gesundes hilfe, Erziehungsgeld, Erziehungs- Selbstbewusstsein entwickelt, das urlaub und Pflegeversicherung. Un- auch die NS-Zeit überdauert hat. Des- bestritten gilt: Die soziale Stabilität halb ist es nur folgerichtig, dass mit ist ein wichtiger Standortfaktor für der CSU in Bayern eine eigenstän- Deutschland. dige christlich-bürgerliche Kraft ent- • Die Finanz- und Stabilitätspolitik standen ist – und eben kein Landes- wurde maßgeblich von der CSU mit- verband der CDU. Deshalb setzt sich bestimmt. Fritz Schäffer schuf die Fi- die CSU heute noch entschieden ge- nanzgrundlagen für das Aufbauwerk gen übertriebene Zentralisierungsbe- der Nachkriegszeit, Franz Josef Strauß strebungen ein. gab der Bundesrepublik eine neue • Konsequent war auch das Eintreten Finanzverfassung und das Stabili- der CSU für die Verbindung von Frei- tätsgesetz. Theo Waigel war Architekt heit und sozialer Gerechtigkeit, von der Europäischen Währung. Er sorg- Markt und sozialer Sicherheit in Lud- te für den „stabilen Euro“ und setzte wig Erhards Sozialer Marktwirtschaft. den Stabilitäts- und Wachstumspakt Sie war im Frankfurter Wirtschaftsrat durch, um Regierungen in ganz Eu- und anfangs im Bundestag höchst ropa zur Haushaltsdisziplin anzu- umstritten. Erst als die Soziale Markt- halten. Kein Staat sollte mehr als 3% wirtschaft zunehmend Wohlstand neue Schulden machen. Diese Marke 60 Jahre CSU – Herkunft und Zukunft einer Volkspartei 23

• hat Theo Waigel trotz der Lasten dieser Phase des Wandels Orientierung beim Aufbau Ost in den Jahren der und Vertrauen in die Zukunft geben deutschen Einheit immer erreicht. kann. Ich bin fest davon überzeugt: Das Seit 1998 hat Rot-Grün diese Stabi- christliche Menschenbild trägt nach litätspolitik aufs Spiel gesetzt! wie vor. Es hilft uns bei unseren Ent- scheidungen, vor allem bei den großen Wie vor 60 Jahren steht Deutschland Wertefragen in unserer Gesellschaft. Bei heute wieder vor großen Herausforde- den zentralen Fragen von Zentralismus rungen, wie vor 60 Jahren beweist die und Föderalismus, von Generationen- CSU Mut zur Wahrheit statt falscher gerechtigkeit und Solidarität, von Frei- Illusionen. Wir sind bereit, die Proble- heit und Eigenverantwortung. Beim Le- me anzupacken. Die CSU wird daher bensschutz, bei der Präimplantations- ihren ganzen Einfluss in Berlin geltend diagnostik, bei der Gentechnik, bei der machen, um nicht nur Bayern, son- Entscheidung über Kreuze in den Schu- dern ganz Deutschland nach vorn zu len, in der Familienpolitik. bringen. Aus den Strukturproblemen Deutschlands, die mit den Krisenmel- Wir müssen heute die richtige Balance dungen aus Wirtschaft und Arbeits- finden zwischen Innovationsfreudig- markt überdeutlich geworden sind, keit einerseits und ethisch begründeter muss endlich eine mutige Reformpoli- Ablehnung falscher wissenschaftlicher tik den Ausweg weisen! Experimente andererseits. Wir müssen die Grundsätze wirtschaftlichen Wett- bewerbs, Gewinn und Leistung, zum Politik aus christlicher Ausgleich bringen mit Gemeinsinn und Verantwortung sozialer Verantwortung. Wir wollen Ei- genverantwortung fördern, zugleich Bei ihrer Reformpolitik für Bayern und aber die Fürsorge für andere, die Hilfe Deutschland lässt sich die CSU durch für den Schwächeren nicht aus dem klare, vom Christentum geprägte Wer- Blick verlieren: Diejenigen zu unter- te leiten. Sie bewahren uns davor, stützen, die sich selbst zu helfen nicht im Jahresturnus Formeln, Parolen und in der Lage sind, ist für uns ein Gebot Metaphern zu wechseln, wie es andere menschlicher Solidarität und christli- Parteien getan haben und immer noch chen Gemeinsinns. Was der Einzelne tun. Sie geben unserer Politik Richtung, dagegen zumutbar selbst leisten kann, Begründung, Perspektiven, Ziel und muss er auch selbst leisten. Personalität, Zukunftsbild. Sie geben unserer Politik Subsidiarität und Solidarität, diese Prin- die große Linie. Eine Welt ohne Vision zipien aus der christlichen Soziallehre, wäre leer, eine Partei ohne Ziele eine sind Maßstab für unsere Politik. Farce, die CSU ohne christliche Werte zukunftslos. Wir müssen und wir werden unseren christlichen Wertekanon lebendig hal- Gerade in der Gegenwart müssen wir ten – auch oder gerade in einer Zeit, in uns fragen, was in einer von Zersplit- der die christliche und insbesondere die terung und heterogenen Interessen ge- kirchliche Bindung in der Gesellschaft prägten Gesellschaft gemeinsamen Sinn stark abgenommen hat, andererseits stiften und Ausgleich schaffen, was in aber immer mehr Menschen nach dem 24 Edmund Stoiber

Sinn der menschlichen Existenz, nach auf Probleme zu reagieren, modern und Orientierung und nach Werten fragen flexibel zu sein – ein Wissenschaftler und oftmals gerade in der Politik den hat hierfür den Begriff „Partei der Küm- ideellen Überbau vermissen. Ich bin da- merer“ geprägt (Andreas Kießling). von überzeugt: Selbst in einem säkula- risierten Umfeld wird es sich auf Dau- Aus dieser Politik resultiert die starke er als Stärke der CSU erweisen, ihren Identität zwischen Bayern und der Par- Kurs an festen Wertepositionen zu be- tei. Sie findet sich in der Symbolik wie- stimmen. Denn aus unseren klaren der – in Löwe und Raute im Emblem Werten folgt ein klarer Kurs, der den der CSU, in Plakaten und politischen christlich geprägten Wähler überzeugt, Veranstaltungen wie dem Aschermitt- aber auch dem Nicht-Christen eine Po- woch. Sie prägt aber auch das gesamte litik mit festen Leitlinien bietet. politische Selbstverständnis der CSU. Bayerische Eigenständigkeit zu pfle- gen und zu bewahren, sie nicht als an- Kommunalpolitische Veranke- tiquiert, sondern als Bereicherung zu rung sehen – das war schon immer eine Stär- ke der CSU. Und je mehr die Globali- Für unsere wert- und zukunftsorien- sierung mit ihren Begleiterscheinungen tierte Politik brauchen wir – so wie in materielle Gewissheit zerstört und Un- der Vergangenheit – den Rückhalt in sicherheit hervorruft und der Terro- der Bevölkerung. 173.000 ehrenamtli- rismus im Namen des Islam Ängste che Mitglieder und Mandatsträger hat schürt, desto wichtiger wird die Heimat unsere Partei. Mehr als zehntausend als Rückzugsmöglichkeit ins Vertraute. Gemeinderäte, mehr als zweitausend Kreisräte und rund tausend Landräte Unsere soziale Verankerung und unse- und Bürgermeister sind direkte An- re Volksnähe müssen wir erhalten, ge- sprechpartner für die Bürger vor Ort. rade angesichts der anstehenden Re- Sie sorgen für die Verankerung unse- formen. Nur wenn wir die täglichen rer Partei im Volk, in den Verbänden, Sorgen und Nöte der Menschen ken- in den Vereinen, in der Kirche, in der nen und berücksichtigen, nur wenn wir Kommunalpolitik. Sie bringen ihre das Vertrauen der Menschen haben, Ideen ein, sie vertreten die Umsetzung können wir eine Politik durchsetzen, der politischen Entscheidungen, sie die nach vorn schaut und Veränderun- sind ganz nah am Menschen. Mit ihren gen anstößt. Auf der „Nähe zum Men- 2.831 Ortsverbänden ist die CSU flä- schen“ basierten die Erfolge der CSU in chendeckend in ganz Bayern vertreten der Vergangenheit, auf ihrer sozialen und verfügt über eine gut funktionie- Verankerung basiert ihr Erfolg in der rende Kette von der Kommunalpolitik Zukunft. bis hin zur Landes-, Bundes- und Euro- papolitik. Sie weiß, was die Menschen In ihrer sechzigjährigen Geschichte umtreibt, „wo der Schuh drückt“. Sie hat die CSU Bayern geprägt, Politik in spricht die Sprache der Bürger: klar, Deutschland und Europa gestaltet. Wir deutlich und ehrlich. Ihr gelingt es im haben Mut bewiesen, Ideenreichtum Gegensatz zu anderen Parteien, gesell- gezeigt, aber auch eine klare Haltung schaftliche Strömungen aufzunehmen, auf Grund unseres Wertefundaments. 60 Jahre CSU – Herkunft und Zukunft einer Volkspartei 25

Wir haben Kontinuität und Verläss- • lungen erkennen, dürfen aber nicht lichkeit bewiesen und so Vertrauen ge- Moden und Trends unkritisch über- wonnen. Wir haben in der Bevölkerung nehmen, sondern müssen uns not- eine so breite Unterstützung gefunden falls gegen sie stellen. Geistig führen und so stabile Mehrheiten über Jahr- kann nur eine Partei, die ihre Politik zehnte hinweg erhalten wie keine an- auf ein festes Wertefundament auf- dere Partei in Deutschland. Während baut. Deshalb ist das christliche Men- andere Parteien über sinkende Mitglie- schenbild für die CSU gerade in einer derzahlen klagen, gelingt es uns, junge Zeit des Wandels unverzichtbare Menschen für unsere Politik zu ge- Grundlage und Orientierungshilfe für winnen. Wir sind einzigartig in der ihre Politik. Parteienlandschaft – und darauf kön- • Vor allem aber – und das ist die nen wir stolz sein. Allerdings wissen dritte Voraussetzung für den Erfolg wir auch, dass politische Erfolge uns der CSU in der Zukunft – müssen wir nicht geschenkt werden. Sie müssen weiter den engen Kontakt zu den immer wieder neu und hart erarbeitet Menschen pflegen. Erfolgreiche Poli- werden. tik muss „nah“ am Menschen sein, muss sie mitnehmen und sie über- Auch in sechzig Jahren wollen wir zeugen, um ihr Vertrauen und ihre noch die Volkspartei der Mitte sein, die Unterstützung zu erhalten. Ohne die Mehrheit der Bevölkerung hinter ihre gesellschaftliche Verankerung, sich hat. ohne das Engagement ihrer Mitglie- • Wichtig für die Zukunft der CSU ist der und Anhänger hätte die CSU nie daher, dass wir uns als Partei ständig die Kraft, Politik so erfolgreich in erneuern – personell und program- Land und Bund zu gestalten, wie es matisch. Nur so erhalten wir unsere ihr in den vergangenen sechzig Jah- Kraft, als Volkspartei Politik für das ren gelungen ist. ganze Land und alle seine Bürgerin- nen und Bürger zu gestalten. In unserer Geschichte haben wir • Die CSU hat von Anfang an Wert auf ein großes Erbe angesammelt. Darauf geistige Führung gelegt. Das muss können wir als Partei stolz sein. Die- auch in Zukunft so bleiben. Auch ses Erbe ist uns Auftrag für die Zu- künftig müssen wir richtige Entwick- kunft. Vom christlich-bürgerlichen und konservativen Widerstand gegen Hitler zur Gründung von CDU und CSU nach 1945

Horst Möller

I. „Vom Recht zum Widerstand – Dank Als Heuss diese Rede hielt, warb er und Bekenntnis“: So überschrieb der nicht allein um ein gerechtes Verständ- erste Bundespräsident nis des Widerstands, sondern wollte zu- die Rede, die er am 19. Juli 1954 in der gleich die fortwirkende Bedeutung des Freien Universität Berlin hielt. Es han- Widerstands für den neugegründeten delte sich nicht nur um eine der wich- demokratischen Staat und seine künf- tigsten Reden von Heuss, sondern auch tige politische Kultur zeigen. um einen Schlüsseltext über den deut- schen Widerstand gegen Hitler, der da- Der Widerstand hatte zwar keinen un- mals in weiten Teilen der deutschen mittelbaren Erfolg, weil Hitler alle der Bevölkerung noch keineswegs so po- etwa 40 Attentate überlebte und das pulär war wie heute. Die Angehörigen Regime schließlich nicht durch den des Widerstands besäßen ein Anrecht, Widerstand, sondern die Kriegsnieder- „dass der Dank ihr Opfer als ein Ge- lage zusammenbrach. Doch auch das schenk an die deutsche Zukunft wür- Attentat vom 20. Juli 1944 musste digt“. Und Heuss erklärte auch: „Der unternommen werden, koste es, was Dank weiß darum, dass die Erfolglosig- es wolle, coute que coute: So hat der keit ihres Unternehmens dem Sym- Generalmajor Henning von Tresckow bolcharakter des Opfergangs nichts nach der Überlieferung Fabian von von seiner Würde raubt: hier wurde in Schlabrendorffs gesagt, bevor er – um einer Zeit, da die Ehrlosigkeit und der andere Widerständler und die eigenen kleine und feige Machtsinn den deut- Familienangehörigen zu schützen – schen Namen besudelt und verschmiert nach dem Scheitern des Attentats am hatten, der eine Wille sichtbar, im Wis- 21. Juli 1944 in Polen Selbstmord be- sen um die Gefährdung des eigenen ging. Und tatsächlich stand damals Lebens den Staat der mörderischen und steht heute der Widerstand gegen Bosheit zu entreißen und, wenn es die nationalsozialistische Diktatur für erreichbar, das Vaterland vor der Ver- ein anderes, ein besseres Deutschland. nichtung zu retten.“ Es handelt sich zunächst also um ein

Politische Studien, Heft 403, 56. Jahrgang, September/Oktober 2005 Vom christlich-bürgerlichen und konservativen Widerstand gegen Hitler 27 moralisches Erbe, ein Erbe auch, das derholen, sondern gerade die Gründe allein schon durch die Existenz des ausschließen wollten, die in ihren Widerstands jede Kollektivschuldthese Augen das Scheitern der Demokratie widerlegt. verursacht hatten.

Handelt es sich auch um ein politisches Trotzdem ist ein Kriterium, das auch für Erbe, war es konstruktiv für die parla- den Neuaufbau der Bundesrepublik mentarische Demokratie in der Bun- fundamental war, so unterschiedlich desrepublik Deutschland? Diese Frage die politischen Ziele und Konzeptionen ist weniger einfach zu beantworten. Sie auch waren, für den sozialdemokrati- muss sowohl die Vielfalt des Wider- schen, den christlichen, den bürgerlich- stands als auch die konkrete Entwick- konservativen und den militärischen lung nach 1945 in den Blick nehmen. Widerstand gemeinsam: Diese Wider- Dabei sollten Kurzschlüsse und Miss- standskämpfer wollten die ethische verständnisse vermieden werden. So Grundlage des Staates erneuern und, übt man heute oftmals Kritik, weil vie- nicht weniger entscheidend, damit le Angehörige des Widerstands keine auch den Rechtsstaat wieder herstellen. Anhänger einer modernen parteien- Eine, nämlich die quantitativ sogar staatlichen Demokratie waren. Diese größte, politische Gruppe im Wider- Einschätzung trifft oftmals zu und geht stand fehlt hier, die Kommunisten. So doch fehl: Die Angehörigen des Wi- zweifellos Kommunisten zum Wider- derstands waren, wie wir alle, Kinder stand zählten, so wenig wollten sie ihrer eigenen Zeit. Sie hatten folglich Rechtsstaat und Demokratie, sie woll- teil am Denken dieser Epoche, nicht ten eine ideologiegeleitete Diktatur selten auch an ihren Irrtümern. So wa- durch eine andere ersetzen. Auch wenn ren nicht wenige derjenigen, die 1944 zahlreichen kommunistischen Wider- ihr Leben wagten, um das mörderische ständlern die Anerkennung für ihren System zu stürzen, 1933 selbst zunächst Kampf gegen das NS-Regime nicht Nationalsozialisten, bevor sie den kri- versagt werden kann, muss klar sein: minellen Charakter des Regimes er- Wer eine Diktatur errichten will, kann kannten. Vor allem aber waren sie 1930 niemals Vorbild für Rechtsstaat und bis 1933 Zeugen der katastrophalen Demokratie sein. Insofern lag im kom- Auflösung der Weimarer Republik, die munistischen Widerstand auch keine erst Voraussetzung für Hitlers Macht- konstruktive Wegweisung zur Bundes- ergreifung war. Mit anderen Worten: republik. Ihre Erfahrung mit der parteienstaat- lichen Demokratie, mit einer freien Marktwirtschaft, mit dem Weimarer II. Der Widerstand gegen Hitler setzte Parlamentarismus war negativ. Sie schon früh ein, ebenso das politische kannten weder die Stabilität noch die Exil als Form des Widerstands, auch ökonomischen, gesellschaftlichen und wenn anfangs noch Illusionen über politischen Erfolge, die nach 1949 un- eine nationale Wiedergeburt Deutsch- seren eigenen Erfahrungsraum prägten. lands bestanden. Unmittelbar mit der Was wundert es also, dass ihre Pläne für Etablierung des Regimes begann aber einen Neuaufbau nach Hitlers Sturz auch die terroristische Unterdrückung: nicht die Weimarer Erfahrungen wie- So gab Himmler bereits am 20. März 28 Horst Möller

1933 die Gründung des KZs Dachau hatte. Diese Fehleinschätzung erklärt bekannt. Zahlreiche weitere KZs und auch, warum sich der Widerstand erst Außenlager folgten, die zunächst nicht langsam entwickelte und warum die für soziale Minderheiten bestimmt wa- Militäropposition der späten 1930er- ren, sondern sich gegen tatsächliche Jahre, z.B. um den im August 1938 oder potenzielle Gegner des NS-Regi- zurückgetretenen Generalstabschef mes richteten. Wenngleich der größe- Ludwig Beck, erst nach dem Angriff auf re Teil nach kürzerer Haft wieder ent- die Sowjetunion am 22. Juni 1941 und lassen worden ist, zeigt doch schon das erst nach den dort erfolgten Massen- Jahr 1933, wie das Regime mit denen erschießungen von Zivilisten, vor allem umzugehen gedachte, die es nicht zu osteuropäischer Juden, ihre Entschlos- seinen Anhängern zählte. Schon im senheit zum Widerstand, zum Attentat ersten Jahr der Herrschaft wurden bis erhielt. Seit Spätsommer 1941 begann zu 100.000 Menschen zeitweilig ver- Generaloberst Henning von Tresckow haftet. Die Bedeutung dieser terroristi- diese Militäropposition neu zu formie- schen Einschüchterung und Bedrohung ren. Auch für ihn waren ethische Maß- potenzieller Regimegegner wird heute stäbe ausschlaggebend. oft unterschätzt. Zwar waren Verfüh- rung, ideologische Verblendung, Fana- Das galt selbstverständlich ebenso für tismus, Antisemitismus, zunächst Dis- die christlich motivierte Opposition ge- kriminierung und dann Verfolgung von gen das nationalsozialistische Regime. Minderheiten, schließlich eine insge- Sie besaß wie die der anderen Gruppen samt die Gesellschaft korrumpierende, sowohl die Form des Exils wie der Wi- doch erfolgreiche Arbeitsmarkt- und derstandsaktivitäten in Deutschland Sozialpolitik von Beginn an Kennzei- selbst. Das politische Exil aus Deutsch- chen des Regimes. Die neuen Macht- land umfasste etwa 30.000 Personen haber verdeutlichten durch diese Ver- und setzte bereits im Frühjahr 1933 ein. haftungswelle jedem von 1933, dass Dazu gehörten in unterschiedlichem jegliche Opposition Freiheit und Leben Ausmaß alle politischen, von christli- gefährdete. chen über sozialdemokratische bis hin zu kommunistischen Richtungen. Widerstand in einer Diktatur, in einer derart brutalen Diktatur, war alles an- Unter den Emigranten befanden sich dere als eine Selbstverständlichkeit. Auf aus dem politischen Katholizismus der anderen Seite ahnten 1933 die we- die ehemaligen Reichskanzler aus der nigsten, dass es dem Regime nicht bloß Zentrumspartei Heinrich Brüning und um eine Revision der von allen politi- Joseph Wirth, der ehemalige Parteivor- schen Lagern bekämpften Bestimmun- sitzende Prälat Ludwig Kaas, der da- gen des Friedensvertrags von Versailles mals jüngste Reichstagsabgeordnete der (1919) ging, sondern um eine natio- Zentrumspartei Johannes Schauff, der nalsozialistische Herrschafts- und Groß- vielen tausend Menschen zur Flucht raumordnung mit rassistisch motivier- verhalf; unter den Konservativen be- ter, brutaler Besatzungspolitik. Die fand sich u.a. der ehemalige Reichsmi- wenigsten ahnten 1933 auch, dass der nister Gottfried Reinhold Treviranus. In nationalsozialistische Antisemitismus Bayern wird man unter den emigrie- eine massenmörderische Konsequenz renden Sozialdemokraten natürlich an Vom christlich-bürgerlichen und konservativen Widerstand gegen Hitler 29 den späteren Ministerpräsidenten Wil- dann liegt die Zahl allein der aus poli- helm Hoegner oder an Waldemar von tischen Gründen Verurteilten schät- Knoeringen denken. Auch hier muss zungsweise bei annähernd 10.000: Sie gesagt werden: Der Weg ins Exil war ein gehörten i.w.S. zum politischen Wider- äußerst dorniger Weg, er war so wenig stand, zu denen die eben erwähnten selbstverständlich wie der Weg in den 30.000 aus politischen Gründen Exi- Widerstand. Ohne Einkommen, oft lierten hinzukommen, die zum Teil ver- ohne Kenntnis des Gastlandes, ohne suchten, vom Ausland her Widerstand Sprachkenntnis, mit meist nur befris- zu organisieren. teten Aufenthaltsgenehmigungen, oh- ne berufliche Chancen, in billigsten Aber auch eine andere Zahl ist aussa- Hotels, so sah die Realität für die meis- gekräftig und dürfte viele überraschen, ten der insgesamt mehr als 500.000 die Widerstand und Verfolgung vor- deutschsprachigen Emigranten aus, die nehmlich auf der politischen Linken zum Teil durch Dutzende von Staaten ansiedeln. weiterziehen mussten. So wurden während der nationalsozia- Heute wird oft beklagt, wie gering die listischen Diktatur insgesamt 154 Ab- Zahl der Widerständler gegen das na- geordnete des Bayerischen Landtags tionalsozialistische Regime war. Diese verfolgt, darunter 61 Sozialdemokraten, Einschätzung ist auch nicht zu bestrei- 57 Abgeordnete der Bayerischen Volks- ten. Doch Widerstand in einer Dikta- partei, 15 Kommunisten und 21 Abge- tur zu leisten ist immer eine andere Sa- ordnete anderer politischer Richtungen, che. Damals sein Leben und das seiner darunter bürgerliche Liberale, konser- Angehörigen zu riskieren ist etwas an- vative und bayerische Monarchisten. deres, als heute bequem im Sessel zu Die Zahl der oppositionellen Abgeord- sitzen und abstrakt zu fordern, dass neten aus der politischen Linken und man unter Lebensgefahr riskiert, für von Mitte/Rechts bzw. christlich oder seine ethischen oder politischen Über- föderalistisch motivierten Verfolgten zeugungen verhaftet, vertrieben oder hält sich fast die Waage. Aufgeschlüs- gehenkt zu werden. Tatsächlich waren selt nach SPD und BVP bedeutet dies selbst in den unter deutscher Besatzung einen etwas höheren prozentualen An- leidenden Ländern die Angehörigen des teil der SPD, bei der knapp 50 Prozent Widerstands oder des politischen Exils verfolgt wurden (61 von 123 Abgeord- kleine Minderheiten. nete), bei der BVP liegt der Anteil bei etwa 40 Prozent (57 von 143). Die BVP Eine andere Sichtweise: Allein der war aber nur eine der Parteien, aus der Volksgerichtshof für das Deutsche später die CSU entstand. Von den 154 Reich hat mehr als 6.000 Anklagen er- verfolgten bayerischen Abgeordneten, hoben und neben ca. 5.200 (von über die nach 1945 bzw. 1949 wiederum Ab- 27.000 Todesurteilen während des Drit- geordnete im Landtag, im Wirtschafts- ten Reiches) eine große Zahl weiterer rat, im Parlamentarischen Rat oder schwerer Strafen verhängt: Rechnen wir im Bundestag wurden, gehörten zur alle Verdächtigten, die zumindest zeit- CDU/CSU immerhin 15, das waren: weilig als Oppositionelle oder Wider- Curt Wilhelm Fromm, Georg Gehring, ständler vom Regime verfolgt wurden, Michael Horlacher, Alois Hundham- 30 Horst Möller mer, Konrad Kübler, Andreas Kurz, Ge- nicht allein aus dem positiv formulier- org Meixner, Anton Pfeiffer (nach dem ten christlichen Menschenbild herlei- Krieg übrigens Staatsminister und Mit- tete, sondern auch aus dem „christlich gründer des Instituts für Zeitgeschich- motivierten Widerstand gegen das na- te), Josef Piechl, Fritz Schäffer, Alois tionalsozialistische Terrorregime“ (So Schlögl, Karl Schmid, Georg Stang, Fritz heißt es noch im Hamburger Grund- Strobel, Hans Wutzlhofer. Natürlich be- satzprogramm der CDU von 1994). Auf sitzt dieser Anteil nur einen begrenzten der anderen Seite bestand in allen Aussagewert, weil er lediglich einen Teil demokratischen Lagern nach 1945 die der christlichen Oppositionellen um- nahe liegende Versuchung, ohne his- fasst, eben nur die, die vor 1933 bayeri- torische Brüche eine Ahnenreihe zur sche Landtagsabgeordnete waren. Deut- Verfassungsordnung und zur politi- lich wird das, wenn wir auf die Unions- schen Kultur der Bundesrepublik zu fraktion des 1. Bundestags schauen: konstruieren, die der historischen Rea- Von den 142 Christlich-demokrati- lität nicht entspricht. Denn schließlich schen bzw. Christlich-sozialen Abge- haben auch die Protagonisten der ordneten werden 61 als Verfolgte ein- demokratischen Parteien zum Teil gestuft, also 43 Prozent (Adalbert Hess). schmerzhafte Lernprozesse durchlau- fen müssen. Dieses Lernen aus der Ge- Diese wenigen Zahlen beweisen, ein schichte musste sogar bei den politisch wie großer Teil der späteren christlich- Unbelasteten die Frage einschließen, demokratischen Politiker, sofern sie warum die Demokratie von Weimar ge- schon vor 1945 bzw. vor 1933 tätig wa- scheitert ist, warum die damaligen De- ren, vom NS-Regime als oppositionell mokraten zu keiner gemeinsamen Ver- oder widerständig eingestuft wurde. Die teidigung gegen den Extremismus von Zahlen zeigen deutlich, dass die Zu- Links und Rechts fanden, warum selbst ordnung des Widerstands zur politi- die meisten Weimarer Demokraten den schen Linken nur einen Teil der Rea- terroristischen Kern und den brutalen lität trifft. Und insgesamt demons- Rassismus der nationalsozialistischen trieren diese Angaben schließlich, wie Ideologie verkannt hatten, warum so unsinnig die These von einer bloßen viele Deutsche dem Regime aus Über- politischen Restauration bzw. der Ver- zeugung gedient oder aus opportunis- drängung der NS-Vergangenheit durch tischen Motiven mitgemacht hatten, Elitenkontinuität in den Jahren 1933 warum schließlich die Zentrumspartei bis 1945 und 1949 ist. Vielmehr muss wie alle anderen Parteien – außer den für Unionsparteien und SPD insgesamt Sozialdemokraten – dem Ermächti- sogar von einer bedeutenden demo- gungsgesetz trotz größter Bedenken am kratischen Elitenkontinuität von vor 23. März 1933 zugestimmt hat. 1933 und nach 1945 über den Zivilisa- tionsbruch der NS-Diktatur hinweg ge- Zu den Lernprozessen der Christlichen sprochen werden. Demokraten zählte zudem, dass es trotz Anknüpfung an positive Traditionen von vor 1933 und den Widerstand III. Es war also nur konsequent, wenn gegen das NS-Regime nach 1933 gera- ein großer Teil der Christlichen Demo- de kein bloßes Anknüpfen geben konn- kraten ihr Selbstverständnis nach 1945 te: Tatsächlich sind CDU und CSU Vom christlich-bürgerlichen und konservativen Widerstand gegen Hitler 31

1945/46 echte Neugründungen gewe- mokraten aus Überzeugung. Die CSU sen, und zwar die einzigen wirklichen von heute hätte niemals wie die BVP Neugründungen der Nachkriegsjahre, von 1925 einen Hindenburg zum die von Dauer waren. Von den großen Reichspräsidenten gewählt. Und we- deutschen Parteitraditionen seit dem sentlich ist auch, dass die CSU nicht 19. Jahrhundert blieben nur die sozial- – wie noch die Weimarer BVP – starke demokratische und die liberale übrig. partikularistische Neigungen verspürt, Den Liberalen gelang sogar eine Eini- sondern im Rahmen einer positiven gung ihrer beiden Flügel, des linkslibe- deutschen Verfassungstradition föde- ralen und des nationalliberalen. Der ralistisch orientiert ist. Kommunismus verschwand ebenso von der Bildfläche wie der klassische So fundamental das Erbe von vor 1933 Konservativismus und auch die nach und der Widerstand gegen Hitler für 1945 nur noch kleineren Parteien wie die Christliche Demokratie auch ist, Zentrum, Bayerische Volkspartei eben- so sehr dieses Erbe den Neuanfang er- so wie die zeittypischen Neugründun- leichtert hat, so unverzichtbar waren gen BHE, WAV und andere. die neuen Wege, die 1945/46 – auch mit der Modifikation von Inhalten – Die Christlichen Demokraten gründe- beschritten wurden. ten, was wirklich eine fundamentale Neuerung in der deutschen Parteien- geschichte war, überkonfessionelle Par- IV. Worin aber bestand dieses spezi- teien von Katholiken und Protestanten. fische Erbe des Widerstands außer Beide Parteien, CDU und CSU, trotz ei- Rechtsstaat und Staatsethik, was waren nes katholischen Übergewichts, stell- seine Elemente und Fundamente, wer ten erstmals in der Geschichte des seit waren die Personen, die es nach der dem 16. Jahrhundert bi-konfessionel- deutschen Katastrophe wieder aufnah- len Deutschlands, gleichsam eine po- men, reflektierten und modifizierten? litische Ökumene her. Diese Parteien haben zwar konservative Demokraten Ausgangspunkt späterer Opposition integriert, sind aber nicht allein wegen war die Resistenz, die bestimmte poli- unterschiedlicher gesellschaftspoliti- tisch-kulturelle Milieus am Ende der scher Flügel aus Prinzip „Volksparteien Weimarer Republik dem Aufstieg des der Mitte“. Das besagt auch, dass sich Nationalsozialismus gegenüber stärker CDU und CSU anders als das für Teile immunisiert hatten als andere Bevöl- der Zentrumspartei und der Bayeri- kerungsteile: Zu dieser Resistenz gehör- schen Volkspartei nach 1919 galt, 1945 ten ganz unterschiedliche Werthaltun- vorbehaltlos auf den Boden einer par- gen, vor allem katholische, politisch in lamentarischen, demokratischen und der Zentrumspartei oder in der Bayeri- republikanischen Verfassungsordnung schen Volkspartei beheimatete, dann stellten. Plakativ gesagt: Christliche aber auch sozialdemokratisch-gewerk- Demokraten waren seit dem Zweiten schaftlich organisierte. Weltkrieg nicht mehr wie noch viele Zentrums- und BVP-Politiker nach dem Diese größere Resistenz äußerte sich Ersten „Vernunftrepublikaner“, sondern im Wahlverhalten in den letzten freien verfassungstreue republikanische De- Wahlen der Weimarer Republik und 32 Horst Möller sogar noch bei der Wahl vom 5. März Christen des Reichsbischofs Müller 1933, die bereits unter terroristischen stand die Bekennende Kirche, in der Begleiterscheinungen stattfand. So er- sich nach 1933 Widerstand gegen reichten die Nationalsozialisten in stark das Regime entwickelte und an den katholisch geprägten Wahlkreisen des nach 1945 angeknüpft werden konnte. Rheinlands und Westfalens Ergebnisse, Wenngleich Martin Niemöller nicht zu die weit unter dem Reichsdurchschnitt den Christlichen Demokraten stieß und der NSDAP lagen, der 43,9 Prozent be- Dietrich Bonhoeffer ermordet wurde, trug: Im Regierungsbezirk Köln-Aachen so zählen doch zu den frühen CDU- kamen die Nationalsozialisten sogar Gründern bzw. ihrem Umkreis zahlrei- nur auf 30,1 und in Berlin, wo die che Angehörige aus der Bekennenden sozialdemokratisch-gewerkschaftliche Kirche, beispielsweise der spätere Bun- Verankerung stark war, nur auf 31,3 destagspräsident Eugen Gerstenmaier Prozent der Stimmen. Noch deutlicher und Konrad Adenauers erster Innen- fällt die Differenz bei der vorletzten, minister Gustav Heinemann, der ja erst völlig freien Reichstagswahl aus, als 1950 wegen seines grundsätzlichen Hitler noch nicht Reichskanzler war. Pazifismus und Neutralismus die CDU Am 6. November 1932 erzielte die verließ. NSDAP 33,1 Prozent im Reich insge- samt, aber nur 22,5 Prozent in Berlin Religiöse und ethische Motive waren und 17,4 Prozent in Köln-Aachen. Mit auch bei diesen evangelischen Christen anderen Worten, die größere Resistenz das ausschlaggebende Motiv für ihre oder gar der Widerstand in der Diktatur Ablehnung des Nationalsozialismus. besaßen ihre ideellen Wurzeln schon Positiv ausgedrückt: Christliches Welt- vor 1933. Aus diesen durchaus unter- bild, das Postulat der Menschenwürde, schiedlichen Potenzialen entwickelten die Sicherung von Menschen- und Bür- sich Traditionen, die nach 1945 erneut gerrechten, die Wiedereinführung des ihre Kraft entfalten konnten. Auch Rechtsstaats zählten zu den über poli- wenn das Konkordat der Katholischen tische Unterschiede hinweg gültigen Kirche mit dem nationalsozialistischen Zielen der Widerständler aus diesem Deutschland 1933 und das generelle Umkreis. Verhalten der Kirche partiell zu kriti- sieren ist, machte sie bei aller Distanz Allerdings verbanden sich solche Mo- doch schmerzliche Kompromisse, um tive des Widerstands meist mit ande- die Kirche als Institution zu erhalten ren Überlegungen, seien es nun huma- und den Gläubigen einen gewissen nitäre, die auf den Massenmord an Schutz zu bieten. Aus heutiger Erfah- Juden und anderen Zivilisten mit Ab- rung war das vielfach illusionär, selbst scheu reagierten. Das galt beispiels- oppositionelle Pfarrer konnte die Kir- weise seit Herbst 1941 für den sich in che kaum vor der Hinrichtung retten. der Heeresgruppe Mitte des deutschen Ostheeres organisierenden Widerstand Und auch auf protestantischer Seite, gegen Hitler, zu der im Übrigen auch wo das Wählerverhalten im Allgemei- die Ablehnung von Hitlers militärischer nen sehr viel anfälliger für die NSDAP Strategie beitrug. Diese Offiziere teilten war, muss man die Unterschiedlichkeit auch nicht die deutsche Siegesgewiss- betonen: Gegen den sog. Deutschen heit, sondern sahen langfristig die Nie- Vom christlich-bürgerlichen und konservativen Widerstand gegen Hitler 33 derlage als unvermeidlich an. Bei den Reichskommissar wird über bayerische Geschwistern Scholl und der Weißen Grenzen nicht kommen“, erklärte der Rose insgesamt finden sich ebenso wie Ministerpräsident dem Reichsinnen- im Kreisauer Kreis, der sich auf dem minister Freiherrn von Gayl (DNVP). schlesischen Gut des Grafen Hellmuth Held und sein Gesandter Franz Sperr James von Moltke traf, neben politi- protestierten gegen die Gleichschaltung schen auch christliche und humanitä- Preußens und die Amtsenthebung der re Motive des Widerstands. Preußischen Staatsregierung unter dem Sozialdemokraten Otto Braun am 20. Bei den frühesten Vorkämpfern des Juli 1932. Wenige Monate später, im Widerstands ist ein im Rückblick oft Frühjahr 1933, intervenierte Sperr per- unterschätztes Motiv anzutreffen, näm- sönlich bei dem Reichspräsidenten von lich die Ablehnung des Zentralismus. Hindenburg, dem Reichskanzler Hitler Diese überzeugten Föderalisten sahen und seinem Innenminister Frick. die Transformation des Staates von einer rechts- und friedenssichernden Der bayerische Staatsrat und damalige Form staatlicher Herrschaft in ein BVP-Vorsitzende Fritz Schäffer – nach bloßes Herrschaftsinstrument der Dik- 1945 erster bayerischer Ministerpräsi- tatur ohne sittliche Grundlage voraus. dent, Mitgründer der CSU und nach Solche staatsethischen Motive, die sich 1945 Bundesfinanzminister Konrad ebenfalls mit christlichen, aber auch Adenauers – erklärte bereits im Juli sozialdemokratischen oder liberalen 1932, Deutschland drohe eine Partei- Prinzipien verbinden konnten, finden diktatur. Am 7. Juli 1932 veröffentliche sich besonders ausgeprägt bei Konser- Schäffer in der „Bayernwacht“ einen vativen wie dem Leipziger Oberbürger- Aufruf, in dem es hieß: „Die Bayerische meister Carl Goerdeler, der ebenfalls Volkspartei ist nicht gewillt, die Straße hingerichtet wurde, oder dem bayeri- den Terrorgelüsten einer durch macht- schen Föderalisten Franz Sperr. lüsterne Demagogen aufgepeitschte Parteisoldateska auszuliefern (...). Wir Sperr war zunächst Berufsoffizier im wollen, dass Bayern ein Land der Ord- Bayerischen Großen Generalstab, er nung, der Sicherheit, der Staatsautorität wirkte nach einer Laufbahn als hoher und der politischen Freiheit bleibt.“ Seit Beamter schließlich als Bayerischer dem Preußenschlag vom 20. Juli 1932 Bevollmächtigter beim Reich. Als der entwickelte sich bei Sperr die Überzeu- schließlich im deutschnationalen Spek- gung, Hitler wolle in Deutschland eine trum angesiedelte Reichskanzler Franz „faschistische Diktatur“ errichten und von Papen, nach dem 30. Januar 1933 zu diesem Zweck zunächst die durch Hitlers Vizekanzler, schon im Sommer die Reichsverfassung garantierte politi- 1932 mit Billigung des Reichspräsiden- sche Eigenstaatlichkeit der Länder be- ten von Hindenburg die Axt an die seitigen. Der Kampf für den Föderalis- Wurzel des deutschen Föderalismus leg- mus war nach Einschätzung von Sperr, te und so dazu beitrug, der national- Held und Fritz Schäffer zugleich der sozialistischen Machtergreifung den Kampf für die Freiheit und den Rechts- Weg zu bereiten, protestierte die Bayeri- staat. Auch bei ihnen mischten sich sche Regierung, geführt vom BVP-Poli- politische mit christlichen Überzeu- tiker Heinrich Held, entschieden: „Ein gungen. 34 Horst Möller

Als Sperr alle legalen Mittel, nämlich Diese grundsätzlichen Ziele, die nach durch Proteste auf Einhaltung der Ver- 1945 vor allem in der CSU und der fassung zu pochen, erschöpft hatte, CDU verfochten wurden, basierten wurde er immer stärker zum Verfechter wesentlich auf Aktivitäten von Wider- des Widerstands gegen Hitler. Aus Ber- standsgruppen und deren Angehörigen, lin nach München zurückgekehrt, ent- die für den Widerstand gegen die Dik- faltete er oppositionelle Aktivitäten. tatur ihr Leben hingaben. Seit 1934 sammelte er einen Kreis um sich, der das Hitler-Regime ablehn- te, darunter den Jesuitenpater Delp V. Wenden wir uns einigen der teil- und Pater Augustin Rösch. Sie hatten weise schon erwähnten Oppositionel- Kontakte zu einer Augsburger Wider- len zu, die nach 1945 dieses Erbe als standsgruppe und dem Freiherrn Fug- Verpflichtung empfanden, sei es, dass ger von Glött, dem Rechtsanwalt Frie- sie selbst zum Widerstand gehört hat- drich und dem Eisengroßhändler Lud- ten, sei es, dass sie an ihn anknüpften. wig Berz. Auf Grund früherer persön- Dabei ist nicht zu verkennen, dass es in licher Beziehungen nahm Sperr auch allen gesellschaftlichen und politischen Kontakte zu zwei ehemaligen Reichs- Lagern, in allen Kirchen durchaus eine ministern auf, Otto Geßler und Eduard vielfache Zahl an Nationalsozialisten Hamm. Im Krieg wurde er Kontakt- als Widerständler gab, umso mehr aber mann zum Kreisauer Kreis und schließ- verdienen jene Bewunderung, die sich lich 1942/43 zu Graf Stauffenberg, dem dem herrschenden Zeitgeist, die sich Attentäter des 20. Juli: Dies wurde ihm Terror und Verführung, Karrierechan- zum Verhängnis, zumal Sperr über die cen und Opportunismus entzogen Absicht des Attentats informiert war. haben. Auch nach 1945 konnte der Beim Bamberger Geheimtreffen mit Neuaufbau nicht allein auf den quanti- Stauffenberg fragte ihn dieser am 6. Ju- tativ kleinen Widerstandsgruppen oder ni 1944, also sechs Wochen vor dem Regime-Gegnern beruhen. Entschei- Attentat, welchen Beitrag das katholi- dend aber ist, dass der ideelle Neube- sche Deutschland zum Neuaufbau ginn wesentlich auf der Verbindung Deutschlands nach dem Sturz des rechtsstaatlicher, föderativer, parlamen- NS-Regimes leisten könne. Nach dem tarischer Traditionen Deutschlands vor 20. Juli wurde auch Sperr verhaftet und 1933, dem Lernprozess aus dem Schei- am 23. Januar 1945 in Plötzensee hin- tern der Demokratie sowie der Aner- gerichtet, nachdem er im Prozess sogar kennung des kriminellen Charakters gegenüber dem einschüchternd schrei- der Diktatur und des Widerstands ge- enden Freisler die Behandlung der gen sie beruhte. Unter den führenden Juden durch das NS-Regime kritisiert deutschen Nachkriegspolitikern finden hatte. sich tatsächlich nur wenige, die poli- tisch belastet waren, aber viele, die ge- Am christlich orientierten, demokra- genüber dem nationalsozialistischen tischen, föderativen und rechtsstaat- Regime resistent, oppositionell oder so- lichen Wiederbeginn in Westdeutsch- gar im Widerstand waren. land konnte Sperr wie die vielen er- mordeten Widerstandskämpfer nicht Das gilt beispielsweise für die Gründer- mehr teilnehmen, aber auch für sie gilt: generation der Unionsparteien: Vom christlich-bürgerlichen und konservativen Widerstand gegen Hitler 35

Konrad Adenauer wurde als Kölner Der Initiator der späteren Kartellge- Oberbürgermeister 1933 von den setzgebung, Franz Böhm, zählte zu den Nationalsozialisten entlassen, hatte Inspiratoren der sozialen Marktwirt- vorher als Präsident des Preußischen schaft und war Mitgründer der CDU Staatsrats gegen die nationalsozialisti- Baden. Vor 1940 Professor an der Uni- sche Gleichschaltung Preußens protes- versität Freiburg, gehörte der Jurist tiert und in Köln die Hakenkreuz- mehreren regimekritischen Zirkeln fahnen abhängen lassen. Obwohl er bzw. Widerstandsgruppen an. Böhm zurückgezogen lebte, musste er sich war mutig für verfolgte Juden einge- zeitweilig im Kloster Maria Laach in treten, daraufhin wurde er 1940 sus- der Eifel verstecken und war kurzzeitig pendiert und ihm die Lehrerlaubnis verhaftet. Diese überragende Gründer- entzogen. Im Auftrag Adenauers leite- persönlichkeit der Bundesrepublik te er die deutsche Delegation für die Deutschland, Mitbegründer der CDU Wiedergutmachungsverhandlungen Rheinland und ihr Vorsitzender, ver- mit Israel und war von 1953 bis 1965 bindet wie kein Zweiter die Tradition Bundestagsabgeordneter der CDU. Er des politischen Katholizismus vor 1933, war außer an der Kartellgesetzgebung die Opposition gegen das Regime und maßgeblich am Bundesentschädigungs- ganz neue Weichenstellungen nach gesetz beteiligt. 1945, u.a. in der Gründung einer über- konfessionellen christlichen Partei, die Im Folgenden wird sich auf die bloße entschiedene Westintegration und Nennung einiger wichtiger CDU-Poli- schließlich die prinzipienfeste christ- tiker, die aus dem Widerstand gegen lich-abendländische Wertorientierung das NS-Regime ihr politisches Engage- der Bundesrepublik gegen alle deut- ment entwickelten oder fortgeführt schen Traditionen des Sonderwegs. haben, beschränkt. Neben Adenauer, Auf der Weißen Liste der Westalliierten Arnold, Böhm, dem ersten Bundestags- stand er oben an. präsidenten und sei- nem Nachfolger Gerstenmaier waren Sein nordrhein-westfälischer innerpar- das in Hamburg beispielsweise Erik Blu- teilicher Widerpart und erster Minister- menfeld, in Berlin der zeitweilige Bür- präsident von NRW, Karl Arnold, eben- germeister , der falls kurzzeitig verhaftet, zählte zu wie aus dem Weimarer einem in Köln agierenden Wider- Linksliberalismus stammte, der erste standskreis, der auch Pläne für den Vorsitzende der CDU in der SBZ und Neuaufbau entwickelt hatte. Arnolds spätere Bundesminister Jakob Kaiser, Verbindungen wurden zum Glück in der Deutschland-, aber auch der So- nicht entdeckt. Die Kölner Leitsätze der zialpolitik ein innerparteilicher Wider- CDU vom Juni 1945 beruhten im We- sacher Adenauers, der Bundesinnen- sentlichen auf einer Schrift „Was nun?“ minister , der Staatssekretär des katholischen Sozialethikers Pater im Kanzleramt , der Bundes- Eberhard Welty aus dem Kloster Wal- vertriebenenminister Hans Lukaschek, berberg bei Köln. Dieser Text fasste der ursprünglich aus dem deutschna- Überlegungen und Gespräche dieser tionalen Spektrum stammende Hans Kölner Widerstandsgruppe zwischen Schlange-Schöningen, nach dem Krieg 1941 und 1944 zusammen. Direktor beim Frankfurter Wirtschafts- 36 Horst Möller rat, der Bundesarbeitsminister Anton der abschließend einige Bemerkungen Storch, der wegen Hochverrats noch folgen. 1945 zum Tode verurteilte, aber nicht mehr hingerichtete spätere Schleswig- Josef Müller, der Mitbegründer der Holsteinische Ministerpräsident Theo- CSU, war Jurist und vor 1933 BVP-Mit- dor Steltzer, die nordrhein-westfälische glied, danach bis zum Krieg juristischer Kultusministerin Christine Teusch, der und wirtschaftlicher Berater der Ka- bekannte Widerstandskämpfer Paul tholischen Kirche. Verschiedentlich ver- Graf York von Wartenburg, der die haftet, wurde er als Offizier im Ersten CDU in Berlin mitbegründete sowie Weltkrieg 1939 einberufen und war eine ganze Reihe weiterer Landesminis- dann bei der Abwehr im Umfeld von ter, Bundestags- und Landtagsabgeord- Admiral Canaris tätig. Für die Militär- neter und Kommunalpolitiker. Die Rei- opposition verhandelte Müller durch he kann ergänzt werden um die christ- Vermittlung des Vatikans mit der briti- liche Gewerkschaftsführerin Elfriede schen Regierung. Im April wurde er ver- Nebgen, den zeitweiligen CDU-Vorsit- haftet und wegen Hochverrats vor dem zenden und Landwirtschaftsminister Reichskriegsgericht angeklagt. Obwohl Andreas Hermes, den saarländischen er freigesprochen wurde, blieb er – zeit- Ministerpräsidenten Johannes Hoff- weilig im Konzentrationslager – in Haft, mann. bevor ihn 1945 amerikanische Truppen befreiten. Am 17. Dezember wurde er Aufzählungen sind immer tückisch, Vorsitzender des Vorläufigen Ausschus- da man unschwer eine Reihe weiterer ses der CSU, am 8. Januar 1946 wurde Beispiele anführen könnte: Es handelt er vorläufiger Landesvorsitzender und sich um eine kleine Auswahl aus einer von 1946 bis 1949 war er Landesvor- großen Zahl derjenigen, deren Weg aus sitzender. Eine ganze Reihe weiterer ho- dem christlichen oder auch konserva- her Mandate und Ämter hatte er da- tiven Widerstand nach 1945 zur Christ- nach inne, unter anderem war er 1947 lichen Demokratie führte. bis 1952 Bayerischer Justizminister und Stellvertretender Ministerpräsident. Der Was für die CDU gilt, gilt ebenso für die „Ochsensepp“ war einer der herausra- CSU: Auch in ihrem Fall führten viele genden Politiker aus dem Widerstand, Wege aus dem Widerstand zum ideel- der unter Einsatz seines Lebens ver- len, organisatorischen und personellen sucht hatte,das nationalsozialistische Neuaufbau. Neben dem schon erwähn- Regime zu stürzen. Trotz mehrjähriger ten Fritz Schäffer sind die bekanntesten KZ-Haft ungebrochen, verkörperte er Beispiele der Parteigründer Josef Mül- sowohl den personellen und organisa- ler, der „Ochsensepp“, der Kulturpoli- torischen Weg zur Christlich Sozialen tiker und zeitweilige Staatsminister Union als auch die christliche, huma- Alois Hundhammer, der Präsident des nitäre und rechtsstaatliche Kompo- Bayerischen Landtags Michael Horla- nente. Hinzu trat selbstverständlich cher, der Münchner Oberbürgermeister auch bei ihm die föderalistische Grund- Karl Scharnagl, der Staatsminister An- orientierung in ihrer spezifisch bayeri- ton Pfeiffer. Auch hier handelt es sich schen Form. Josef Müller stand aber lediglich um eine kleine Auswahl, zu parteigeschichtlich trotzdem für einen Vom christlich-bürgerlichen und konservativen Widerstand gegen Hitler 37

Neuanfang, für eine überkonfessio- partei entstanden und hatte in gewis- nelle, moderne christliche Volkspartei, ser Weise einen Sonthofener Weg ein- deren Charakter dann in seinem Sinn geschlagen: Sie agierte getrennt von der und von ihm gefördert Franz Josef Zentrumspartei, was den politischen Strauß weiter ausprägte. Katholizismus deutlich schwächte, ins- besondere bei der Reichspräsidenten- Insofern stand Müller innerhalb der wahl 1925. Die BVP kandidierte zwar CSU für eine andere, zukunftsträchti- auf Reichsebene, blieb im Reichstag gere Richtung als der ebenfalls aus der aber eine kleine Partei, die keine Frak- BVP und ebenfalls aus der Ablehnung tionsgemeinschaft mit dem Zentrum des Nationalsozialismus zum Mitbe- einging. Nach 1945 wurde in der CSU gründer der CSU werdende Alois Hund- nicht allein der überkonfessionelle Weg hammer, der 1900 geboren und folg- gewählt, sondern das Bundesengage- lich zwei Jahre jünger als Müller war. ment deutlich akzentuiert, was zwangs- Hundhammer wurde nach einem breit läufig eine Moderierung der föderali- angelegten Studium zum Doktor der stischen Komponente bedeutete. Hinzu Staatswissenschaften promoviert. Am kam, dass sich Politiker wie Schäffer Ende der Weimarer Republik war er un- nach dem Krieg zunehmend außerhalb ter anderem Landtagsabgeordneter der der bayerischen Landesgrenzen enga- BVP und kam 1933 kurzzeitig in Haft. gierten. Alle zuletzt genannten (Schäf- Danach schlug er sich mit Hilfe eines fer, Müller und Hundhammer) waren Schuhgeschäfts durch, bevor er von Mitglieder des Parlamentarischen Rates 1939 bis 1945 Soldat wurde. Nach der in Bonn und Schäffer seit 1949 Bun- amerikanischen Gefangenschaft enga- desminister. Auch die Fraktionsgemein- gierte er sich sofort für die Christlich schaft mit der CDU verstärkte diese Soziale Union, nahm eine Reihe wich- bundespolitische Tendenz und steiger- tiger Mandate wahr und gelangte in te – im Vergleich zur reichspolitischen hohe Ämter. Zeitweilig war er Vorsit- Genügsamkeit der BVP – die bundes- zender der CSU-Landtagsfraktion, von politische Bedeutung der CSU. 1946 bis 1950 Bayerischer Kultusminis- ter und von 1951 bis 1954 Präsident Auch Schäffer war nach 1933 mehrfach des Bayerischen Landtags, danach verhaftet worden, obwohl man bei ihm Landwirtschaftsminister und Stellver- und Hundhammer nicht wie bei Joseph tretender Ministerpräsident. Er stand Müller von einer ausgesprochenen Wi- bekanntlich für den konservativen und derstandstätigkeit reden kann, so doch klerikalen Flügel innerhalb der CSU, der von einer eindeutigen Opposition ge- im Übrigen noch dezidierter föderalis- gen das NS-Regime. tisch orientiert war als die Mehrheit der Partei. Zusammenfassung Wesentlich für den Neuanfang war, dass innerhalb der CSU eine wichtige Bei allen hier erwähnten Politikern Weichenstellung der Weimarer Jahre – und das gilt auch für die nur kurz zugleich beibehalten und doch modi- erwähnten wie Michael Horlacher (der fiziert wurde. Die BVP war 1919/20 aus 1933 aller Ämter enthoben, zeitwei- dem bayerischen Teil der Zentrums- lig inhaftiert war und 1944 ins KZ 38 Horst Möller

Dachau gebracht wurde) oder Karl schaft nicht gelungen wäre. Dazu trug Scharnagl (der 1944 verhaftet wurde) – damals auch die Überzeugung bei, war bemerkenswert: Trotz Inhaftierung dass über parteipolitische Gegensätze hielten sie, zum Teil unter Gefahr für hinweg in Bezug auf die Verteidigung Leib und Leben, unbeirrt an ihren reli- einer rechtsstaatlichen und demo- giösen, humanitären, staatspolitischen kratischen Verfassungsordnung die Ge- Grundüberzeugungen fest, allein da- meinsamkeit der Demokraten unver- durch riskierten sie wiederholte Ver- zichtbar ist. Sie resultierte in der haftungen, bei denen eine Entlassung CDU/CSU wie in der SPD aus Opposi- alles andere als gewiss war. Diese Pro- tion und Widerstand gegen die natio- tagonisten des neuen demokratischen nalsozialistische Diktatur. Der erste Deutschlands brachten nach Kriegsen- Parteivorsitzende der SPD Kurt Schu- de deshalb nicht allein ihre politische macher oder sein aus der Emigration Erfahrung unter der Weimarer Demo- zurückkehrender Nachfolger Erich kratie und der nationalsozialistischen Ollenhauer repräsentierten sie ebenso Diktatur in den Neuaufbau von CDU wie Konrad Adenauer, Josef Müller und CSU, den Neuaufbau Bayerns und oder Fritz Schäffer. Allein diese Namen der Bundesrepublik ein. Vielmehr kam zeigen, wie vielfältig Opposition und zu dem ideellen Erbe ein unschätzbares Widerstand gegen Hitler waren. Von moralisches Kapital, ohne welchem die diesem Erbe zehren wir noch heute, Entwicklung von Rechtsstaat und De- es handelt sich tatsächlich um ein „Ge- mokratie, schließlich die Wiederein- schenk an die deutsche Zukunft“ wie gliederung in die christlich-abendlän- Theodor Heuss vor fünfzig Jahren dische, die westliche Wertegemein- gesagt hat. Bayerische Akzente – Zum Gestaltungsanspruch der CSU auf Bundesebene

Heinrich Oberreuter

Bundespolitisch positionierte sich die regionale Verankerung. Ihren Doppel- CSU von Anfang an. In ihrer Grün- charakter hatte die CSU schon gewon- dungsgeschichte vermochten sich die nen, bevor es den neuen Staat über- Verfechter der nationalen und inter- haupt gab. konfessionellen Option gegen die tra- ditionalistische, radikal-föderalistische durchzusetzen. Damit war die Sonder- 1. Föderalistische Option und entwicklung der CSU zu einer autono- bayerische Identität men Landespartei „mit besonderem Bundescharakter“1 frühzeitig vorge- Diesen Staat befürwortete sie, auch zeichnet. Ohnehin war im Rahmen des wenn sie zum Grundgesetz Nein gesagt neuen politisch-strategischen Denkens, hat, weil es dem Bundesrat im Gesetz- in welchem die Parteien (endlich) zu gebungsverfahren keine Gleichberech- verantwortungsvoll gestaltenden Kräf- tigung mit dem Bundestag zubilligte. ten der parlamentarischen Demokratie Gleichwohl ist es ihr Ministerpräsident werden sollten, kein Platz mehr für Hans Ehard gewesen, der sich in die verengte Festungsmentalität („Bollwerk Verfassungsberatungen von allen Län- Bayern“). Wer mitgestalten und sich derchefs am intensivsten eingeschaltet nicht erneut historisch überspielen las- und zu dessen Ärger mit der SPD gegen sen wollte, musste für die neue Partei Konrad Adenauer das Bundesratsprin- in dem im Entstehen begriffenen neu- zip durchgesetzt hatte.2 Dass der Kanz- en politischen System grundsätzlich ler sich kurz darauf intensiv bemühte, eine konkurrenzfähige überregionale Ehards späteren Nachfolger Hanns Sei- Rolle reklamieren. Die gleichzeitige Be- del als Staatssekretär im Bundeskanz- wahrung politisch-organisatorischer leramt zu gewinnen3, belegt, wie wenig Selbstständigkeit sicherte zugleich die fundamentale Gegensätze in der Aus-

Politische Studien, Heft 403, 56. Jahrgang, September/Oktober 2005 40 Heinrich Oberreuter gestaltung des Föderalismus und eine Liberalisierung und die Identifizierung konstruktive Rolle in der Bundespolitik der CSU mit Bayern.5 Insgesamt ist die- einander ausschlossen. Bayern ist vom ser Erfolgsweg keineswegs geradlinig Beginn der Republik an stärkster Hort verlaufen. des Föderalismus. Innerhalb der Frakti- onsgemeinschaft mit der CDU hat sich Seit den Sechzigerjahren scheint er je- die CSU-Landesgruppe in Föderalis- doch irreversibel, als bürgerliche Klein- musfragen eine Vetoposition vertrag- parteien in der Bedeutungslosigkeit ver- lich zusichern lassen4, was angesichts sunken und die Chancen der SPD auf der erforderlichen Quoren für Verfas- einen Machtwechsel illusorisch gewor- sungsänderungen einer Vetoposition den waren. Diese Position stützt sich gleichkommt. Einer auf zentralstaat- nicht zuletzt auf die dritte Säule, die licher Ebene wirksamen autonomen Identifikation des Freistaats mit der Par- Landespartei kann die Position der tei, für die wiederum beides verant- Bundesländer nicht gleichgültig sein. wortlich zeichnet: ihre überwältigende, Nicht von ungefähr setzte sich die CSU politische, auch flächendeckend orga- auch seit den 90er-Jahren, nach jahr- nisatorisch abgestützte Position im zehntelanger Modernisierungspolitik Land und ihr sichtbar eigenständiges gestärkt, für einen leistungsorientierten Agieren im Bund, das von inneren Wettbewerbsföderalismus in Deutsch- Spannungen nicht frei ist; denn mit- land ein und ist nach wie vor am Erfolg unter bestehen Gegensätze zwischen der vorläufig gescheiterten Föderalis- den Akteuren auf Bundes- und Landes- muskommission interessiert. Denn ne- ebene, die von Interessen- und Rollen- ben ihrem Wahlerfolg ist eine funkti- konflikten bestimmt sind. Gleichwohl onsfähige bundesstaatliche Ordnung muss die Partei im Ergebnis dem eine wichtige Voraussetzung ihres po- Motto „Bayern zuerst“ huldigen; denn litischen Agierens in Land und Bund. ihrer ungebrochenen Mehrheit dort verdankt sie ihre Stellung im Bund. Zu welchem historischen Erfolg diese frühzeitige Festlegung ihres Doppel- charakters die Partei tragen sollte, 2. Die CSU im Parteiensystem konnte zur Gründerzeit niemand vor- hersehen. Tatsächlich ist diese Erfolgs- 2.1 Hegemonialstellung in Bayern – geschichte, so sehr politisch-kulturelle dritte Kraft im Bund und sozialstrukturelle Gegebenheiten begünstigend gewirkt haben mögen, Seit 1957 entscheidet die CSU in Bay- politisch erarbeitet. Denn die Partei hat ern die Bundestagswahlen mit absolu- gegebene Strukturen nicht traditiona- ten Mehrheiten für sich, abgesehen von listisch verteidigt, sondern moderni- dem historischen Einbruch 1998, als sie sierend fortentwickelt, ohne sich ag- mit 47,7% ihr schlechtestes Ergebnis gressiv gegen Traditionen zu stellen. seit Gründung der Bundesrepublik er- Damit schuf sie die Fundamente für zielte, nachdem sie bei den Landtags- jene drei Säulen, die nach Franz Josef wahlen zwei Wochen zuvor noch das Strauß ihre „einmalige Stellung“ tragen: übliche glänzende Ergebnis eingefah- die Zusammenführung der bürgerli- ren hatte. Insgesamt hatte sie trotzdem chen Kräfte, die Entklerikalisierung und ihre Hegemonialstellung behauptet Bayerische Akzente – Zum Gestaltungsanspruch der CSU auf Bundesebene 41 und sich vom Desaster der CDU abge- Bundestagswahlen: koppelt. Wo ihre eigenständige Politik Anteil der CSU im Bund in % im Lande betroffen war, erfuhr sie glän- zende Bestätigung. Wo es dagegen um CSU CDU/CSU Leistungen und Zukunftskompetenz 1949 5,8 31,0 der Berliner Koalition ging, vermochte 1953 8,8 45,2 sie sich dem bundespolitischen Ab- 1957 10,5 50,2 wärtstrend nicht zu entziehen, obgleich 1961 9,6 45,3 der Freistaat eine Unionsbastion ge- 1965 9,6 47,6 blieben und dort nur 3,5%, in Deutsch- 1969 9,5 46,1 land aber 6,2% verloren gegangen wa- 1972 9,7 44,9 ren. In ihrer Doppelposition hatte die 1976 10,6 48,6 CSU nicht nur die süßen, sondern auch 1980 10,3 44,5 die bitteren Früchte der Mitverantwor- 1983 10,6 48,8 tung zu schmecken bekommen. Ihr im- 1987 9,8 44,3 mer wieder erhobener Anspruch, die 1990 7,1 43,8 Unionslinie nachhaltig mitzugestalten, 1994 7,3 41,5 ist daher nicht nur Ausdruck von ei- 1998 6,7 35,1 genständigen, sondern auch von exis- 2002 9,0 38,5 tenziellen Interessen. Aus der Perspek- tive von CDU-Landesverbänden, die Quelle: Bundeswahlleiter weder die Chancen noch die Risiken einer derartigen Doppelrolle kennen, Zusammengefasst ergeben sich drei we- mag das gelegentlich schwer zu verste- sentliche Folgerungen für die Kräfte- hen sein. verhältnisse im Parteiensystem, von de- nen bisher seit dessen Konsolidierung Sogar in der Schwächung von 1998 ver- in den 60er-Jahren Abweichungen nur teidigte die CSU ihren dritten Rang im in Ausnahmefällen zu verzeichnen Parteiensystem vor FDP, Grünen und sind. Dabei muss offen bleiben, welche PDS, den sie mehrheitlich seit 1957 ein- Auswirkungen künftig ostdeutsche Son- nimmt und selbst nach der grundle- derentwicklungen und die neuen Zer- genden Veränderung der Verhältnisse faserungstendenzen der Linken haben nach der Wiedervereinigung vorläufig werden. zu befestigen scheint. Zwischen 1957 und 1990 erzielte die CSU mit ihren • Die Mehrheits- und Regierungsfähig- bayerischen Stimmen im Bund durch- keit der Union hängt numerisch vom gehend einen Anteil von etwa 10%, seit Stimmenpaket der CSU ab, die in 1990 etwa 7%, bei der Ausnahmewahl ihren Gestaltungschancen zugleich 2002 durch den Stoiber-Effekt wieder aber auch auf den Ergebnissen der 9%. Politik und Publizistik neigen da- CDU beruht. zu, diese Stärke im Bundeswählermarkt • Die mit wichtigen Rechten und Posi- und die daraus resultierende Selbstein- tionen im parlamentarischen Verfah- schätzung der Bayern zu unterschätzen. ren verbundene Stellung der CDU/ Zudem stabilisieren diese mit ihrem CSU als stärkste Bundestagsfraktion Anteil ganz erheblich die Position der kommt erst durch die Addition der Gesamtunion. CSU-Mandate zu Stande. 42 Heinrich Oberreuter

• Die CSU ist zumeist drittstärkste Bun- Rolle der Wortführerin zu wie z.B. nach destagspartei nach SPD und CDU, vor der Schlappe von 1998, als die CDU in allen anderen überregionalen Klein- ihrem Wahlgebiet nicht einmal 30% parteien. erreicht hatte, durch Affären tief er- schüttert und die Fortführung der Op- positionsarbeit im Grunde von bayeri- 2.2 Konkurrierende Kooperation im schen Kompetenzen und Initiativen Unionsverbund abhängig gewesen ist.6 In Folge dieser Situation, in welcher der bayerische Dieses numerische Gewicht muss in Ministerpräsident als der eigentliche Macht und Einfluss politisch erst Oppositionsführer galt, fiel Edmund umgesetzt werden, abhängig von Kom- Stoiber dann 2002 die Kanzlerkandida- petenz, Durchsetzungsfähigkeit und tur zu. Personalkonstellation. Die politische Münze, die aus Wahlergebnissen ge- Folgt man Franz Josef Strauß7, so liegt schlagen werden kann, ist daher nicht seit zwei Jahrzehnten der wichtigste zur Gänze liquide, kann es in einem Unterschied zwischen den beiden partnerschaftlichen Parteienverbund Schwesterparteien in der Klarheit der gar nicht sein, in dem Nutzenmaxi- politischen Führung. Die speziell in der mierung nur durch beiderseitigen Res- CDU strittigen Themenfelder, die er pekt originärer Interessen und durch benannte, scheinen einem Themen- Optimierungsstrategien zu erreichen katalog des Wahlkampfes von 2005 ist. Auch eine autonome Landespartei entlehnt: Arbeit, Soziales, Steuern. Die kann im Bund nicht nur Landesinter- Vielfalt der Arbeitsgemeinschaften und essen vertreten. Umgekehrt ist aber die Abwesenheit klarer Kursvorgaben auch von deren bundespolitischem führe zu einem dissonanten, die Be- Partner Rücksichtnahme statt Majori- völkerung verwirrenden Meinungsbild: tätsdenken einzufordern. Idealtypisch eine erstaunliche Kontinuität. Hat es hat die CSU beide Erfahrungen ge- die CSU kraft ihrer regionalen Konzen- macht. Speziell in Regierungskonstel- tration strukturell leichter? Man wird lationen vermochte sie vom Aktions- es kaum leugnen können. Andererseits bonus und Erfolg der von ihr mitge- scheint sie ihre Schlagkraft auch da- tragenen Bundesregierungen zu profi- durch gewonnen zu haben, dass die tieren und ist, wo es ihn gab, ohne den durchaus vorhandene Vielfalt der Mei- Kanzler zu stellen, selbst auch Nutz- nungen zusammengeführt, gebündelt nießerin eines Kanzlerbonus geworden. und politisch wirksam umgesetzt wor- Von einem Malus blieb sie umgekehrt den ist. Stichwort: Geschlossenheit. Die ebenso wenig verschont. Grenzen ihrer CSU ist seit Jahrzehnten charismatische Kritik- und Korrekturfähigkeit musste Führung gewohnt, die sich vom Mo- sie dann zur Kenntnis nehmen, wenn derieren unterschiedlicher Strömungen Landes- und Bundesinteressen in Kol- scharf unterscheidet. lision gerieten und eigene Exponenten als wichtige Rollenträger in der Bun- Schon zu Straußens Zeit war die Partei desregierung agierten. Andererseits fiel kein Monolith, wie er anlässlich des ihr in depressiven Krisen der größeren Milliardenkredits für die DDR erfahren Schwesterpartei im Unionslager die musste. Stoiber ist mit seinem rigoro- Bayerische Akzente – Zum Gestaltungsanspruch der CSU auf Bundesebene 43 sen Sparkurs nach der Landtagswahl 1998 war die CSU stark und meist über- 2003 und bei der Gesundheitspolitik proportional vertreten. Auf Regierungs- 2004 ebenfalls auf erhebliche Wider- bildung und Regierungsprogramme hat stände gestoßen. Anscheinend ver- sie erheblichen Einfluss ausgeübt. Dass zichtet die Partei im Ernst weder auf ihr Post-, Bundesrats- und Landwirt- Diskussion noch auf Führung. Deswe- schaftsministerium mit gewisser Regel- gen hat sie das Vakuum nach Strauß mäßigkeit zufielen, entspringt der Tra- nicht ertragen. Wenn jüngst die kom- dition. Dennoch waren über die Zeiten petitive Kooperation unterschiedlicher auch in diesen Ressorts wichtige Struk- Machtzentren – Partei, Staatsregierung, turveränderungen – sozialer Wandel in Landesgruppe, Landtagsfraktion – als der Landwirtschaft und Europäisie- zentrale Erfolgsbedingung der CSU be- rung der Agrarpolitik, Privatisierung der zeichnet worden ist, die ihre Erneue- Post – zu bewältigen. rungsfähigkeit und Geschlossenheit zugleich sichere,8 dann ist die weit ver- Bundespolitisch von besonderer Bedeu- breitete Annahme falsch, die Partei be- tung ist die Besetzung klassischer oder ziehe ihre äußere Kraft aus innerer auch neuer Politikfelder in besonders Lethargie. Je schwächer die Führungs- herausfordernden Situationen. So führ- kraft in der Schwesterpartei ausge- te die CSU das Finanzressort in drei prägt ist, desto stärker entwickelt sich schwierigen Phasen: beim Aufbau des der bundespolitische Mitsteuerungsan- neuen Staates (Fritz Schäffer), bei der spruch aus München. In der Doppel- Wiedervereinigung (Theo Waigel) und rolle ist dieser Prozess angelegt, der das bei der Bewältigung der ersten, als tief Selbstverständnis der Partei nicht ins greifend empfundenen Konjunktur- rein Bundespolitische verlagern muss. einbrüche, die sich zudem mit einer in Doppelrollen haben es an sich, situati- das Bund-Länder-Verhältnis einschnei- onsbedingt und -angemessen unter- denden Finanzreform verbanden (Franz schiedlich und abwechselnd interpre- Josef Strauß). Die Partei stellte den In- tiert werden zu können. Zusätzlich nenminister, der die Diskussion um die verstärkt die Fernsehdemokratie die po- Notstandsverfassung weit vorantrieb litische Personalisierung und lässt einer (Hermann Höcherl) und jenen, der die autonomen Partei im Rahmen eines Auseinandersetzung mit dem Terroris- Kooperationsverbunds, der durchaus mus in seiner späteren Phase zu führen wettbewerbsorientiert bleibt, grundsätz- hatte (Friedrich Zimmermann)9. Inno- lich nicht die Wahl, von vornherein vatorische Leistungen waren z.B. zu er- unter Hinweis auf Größenordnungen bringen bei der Aufstellung der Bun- auf Spitzenämter zu verzichten. Die deswehr und ihrer Eingliederung in konkurrierende Kooperation der Schwe- den demokratischen Staat (Franz Josef sterparteien wird sich auch in Zukunft Strauß) sowie beim Versuch, zeitge- entfalten. schichtlich bedingte Forschungslücken in der Kerntechnik zu schließen und internationalen Anschluss zu gewinnen 2.3 Gestaltungsverantwortung (Franz Josef Strauß, Siegfried Balke). Später stellte sich die Aufgabe der Re- In allen unionsgeführten Bundesregie- form des Sozialstaates und des Ge- rungen von 1949-1969 und von 1983- sundheitssystems (Horst Seehofer). 44 Heinrich Oberreuter

Politischer Einfluss erschöpft sich frei- scheut und ebenso wenig Konflikte mit lich nicht in solchen institutionellen politischen Partnern – von Gegnern und historischen Zuordnungen. Die ganz zu schweigen. Ein Beispiel ist der CSU hat sich zu keinem Zeitpunkt in einsame Gang nach Karlsruhe wegen ihrem Mitgestaltungswillen ressortspe- des Grundvertrags. zifisch einengen lassen. Derartiges „Zu- ständigkeitsdenken“ wäre das Ende Im Urteil des Verfassungsgerichtes wur- jedes umfassenden politischen An- den wesentliche Klarstellungen erzielt.10 spruchs. Weder in einer Fraktionsge- Danach war der Grundvertrag nicht meinschaft noch in einer Koalition schlechthin mit dem Grundgesetz ver- könnte es legitimerweise eingefordert einbar, sondern nur in der sich aus dem werden. Die bundespolitische Rolle ei- Richterspruch ergebenden Auslegung. ner autonomen Landespartei erzwingt Karlsruhe hielt an „Gesamtdeutsch- eigenständige bundespolitische Aussa- land“, Wiedervereinigungsgebot und gen, wenn sie substanziell und glaub- an der deutschen Staatsbürgerschaft würdig bleiben soll, wobei die regiona- für alle Deutschen, also auch für DDR- le Begrenzung der Parteiorganisation Bürger, fest und schob der völkerrecht- und -mitgliedschaft durchaus Vorteile lichen Anerkennung der DDR einen für die Ausprägung von Geschlossen- Riegel vor. Damit wurden prinzipiell heit und Profil bietet. Chancen offen gehalten. Als sie sich Jahre später praktisch ergaben, lag das Instrumentarium zur Realisierung be- 3. Politische Führung und reit. normative Orientierung In der themenverschleißenden, kurz- Von diesen Chancen pflegte die CSU atmigen und opportunistischen Fern- stets Gebrauch zu machen, keineswegs sehdemokratie ist es riskant, nach dem erst durch Franz Josef Strauß, so sehr Motto zu handeln, nicht was ankom- sich in diesem Politiker strukturelle und me solle politisch vertreten werden, persönliche Potenzen durchdrungen sondern worauf es ankomme. Natürlich haben mögen. Eine Partei, die sich in gilt auch für die CSU dieses Motto ihren Grundwertorientierungen (z.B. nicht ausnahmslos. Aber sie folgt er- §218), ihrem Selbstverständnis (z.B. kennbar deutlicher als andere Parteien Innere Sicherheit, Deutschlandpolitik normativen Orientierungen. Bei allem vor 1988) oder ihren außen- und si- Pragmatismus, an dem gesellschaftli- cherheitspolitischen Überzeugungen cher Wandel keineswegs vorüberge- herausgefordert sieht und darauf aus gangen ist, blieb sie im Kern doch auch Inkompetenz oder aus Fraktions- oder aus Überzeugung Programmpartei, die Koalitionsdisziplin nicht antwortete, Grundsatzarbeit nicht scheut. Nicht zu- hätte sich aufgegeben. Die CSU hat letzt Edmund Stoiber hat daran als Vor- zumeist versucht, sich durchzusetzen, sitzender der Grundsatzkommission zu ohne dabei stets zuerst nach Opportu- Beginn der 90er-Jahre sein innerpartei- nität, Erfolgsaussicht und Popularität liches Profil geschärft. Im Vorwort zu fragen: politische Führung, die das des fünften Grundsatzprogramms von Risiko der Folgebereitschaft der Wähler- 1993 heißt es deutlich, bei allem Wan- schaft bei essenziellen Themen nicht del und aller Auseinandersetzung mit Bayerische Akzente – Zum Gestaltungsanspruch der CSU auf Bundesebene 45 den geistigen Strömungen der Zeit parteiorganisatorisch längst eingefasste bestünde für die Partei kein Anlass, minoritäre Milieus abzielt, dürfte nicht „Standort, Orientierung und Richtung nur manchen Grundsätzen widerspre- ihrer Politik grundlegend zu verän- chen, sondern auch die eigene Anhän- dern“11. Damit wird prinzipiell nichts gerschaft irritieren – ohne bei der Ziel- weniger formuliert als die Priorität wert- gruppe Akzeptanz und Glaubwürdigkeit orientierter politischer Steuerung. Da- zu finden. raus entsteht eine Verlässlichkeit, wie sie kein Zeitgeistsurfen zu vermitteln Solange der eigene programmatische vermag. Für Grundsatztreue sind je- Kern noch etwas gilt, muss sich auch doch gelegentlich am Wählermarkt eine Volkspartei damit abfinden, das auch Preise zu entrichten. So hat die eine oder andere Milieu, die eine oder Anrufung des Bundesverfassungsge- andere soziale Gruppe nicht oder we- richts zur Begrenzung des Schwanger- niger gut zu erreichen. Keine Partei, die schaftsabbruchs eine Zeit lang die einen politischen Anspruch erhebt, jüngeren Frauen der Partei entfremdet. kann zur Dienstleistungs- oder Life- Sie hat darauf keine Rücksicht genom- style-Agentur degenerieren, die heute men. diesem und morgen jenem zu Willen ist – eine C-Partei schon gar nicht. In Bei aller Grundsatztreue gibt es kei- dieser vielfach widersprüchlichen Ge- nen programmatischen Stillstand. Das sellschaft gibt es seit langem Bedürf- Grundsatzprogramm von 1993 wird nisse nach Orientierung und Werten. gleichsam permanent überprüft. Die Manch beklagte materialistische und soziale Marktwirtschaft soll nicht neu säkularisierende Tendenz mag ihre Ur- definiert, sondern ihre Prinzipien sol- sache in politischen Sprachlosigkeiten len konsequent auf neue Herausfor- haben, die „modernisierenden“ Sinn- derungen angewendet werden. Alois stiftern das Feld freigeben. Glück propagiert die „aktive Bürger- gesellschaft“, die durch Partizipation, Andererseits sind natürlich die gesell- Chancengerechtigkeit und gegensei- schaftlichen Orientierungen und ak- tige Solidarität gekennzeichnet sein zeptierten Geltungsgründe nicht mehr soll.12 Anleihen an den Kommunitaris- identisch mit jenen in der Gründer- mus und an englische und amerikani- phase der Republik und ihres Parteien- sche Vordenker des „dritten Weges“ systems – nicht zu reden von dem Ver- sind unübersehbar. Selbstständigkeit änderungspotenzial durch die Inte- und Selbstverantwortung in der Wis- gration der Länder zwischen Elbe und sensgesellschaft scheinen mittlerweile Oder. zu verallgemeinerungsfähigen Eck- punkten der generellen Programmdis- In einer sich zunehmend entchristli- kussion zu werden. Sie finden sich chenden Gesellschaft wird es für Par- selbst zu Anfang des Wahlprogramms teien mutig, sich christlich zu nennen. der Union 2005 wieder. Aber sie müssen sich dennoch nicht entmutigen lassen, zu verdeutlichen, Dennoch ist das Profil der Schwester- was dieser Maßstab nicht nur für partei nicht gleich geschärft. Gesell- Bioethik, Genforschung und Lebens- schaftspolitische Erneuerung, die auf schutz, sondern auch für Familien-, 46 Heinrich Oberreuter

Wirtschafts-, Sozial-, Bildungs- und angesichts unserer historischen Erfah- Erziehungspolitik bedeutet – und nicht rungen keiner Glaubensakte, um die zuletzt für das Bild vom Menschen und Plausibilität dieses Maßstabs einzuse- sein Verhältnis zu Politik, Staat und hen und mit ihm wenigstens Gültig- Gesellschaft. Denn weithin bedarf es keiten zu begründen.

Anmerkungen 1 Mintzel, Alf: Geschichte der CSU. Ein Berlin 1989, S.530. Überblick, Opladen 1977, S.80. Ders.: Die 6 Oberreuter, Heinrich: Speerspitze der CSU-Hegemonie in Bayern. Strategie und Opposition – die Rolle der CSU seit 1998, Erfolg, Gewinner und Verlierer, Passau in: Tilman Mayer/Reinhard C. Meier- 1998. Walser (Hrsg.), Der Kampf um die 2 Morsey, Rudolf: Zwischen Bayern und der politische Mitte. Politische Kultur und Bundesrepublik. Die politische Rolle des Parteiensystem seit 1998, München 2002, bayerischen Ministerpräsidenten Hans S.89-101. Ehard 1946-1949, in: Juristen-Zeitung 7 Strauß, Franz Josef: Die Erinnerungen, 36/1981, S.366f. S.521f. 3 Löffler, Bernhard: Wirtschaftspolitische 8 Kießling, Andreas: Die CSU, S.337ff. Konzeption und Praxis Hanns Seidels, in: 9 Glos, Michael (Hrsg.): Festschrift zum 80. Alfred Bayer/Manfred Baumgärtel (Hrsg.), Geburtstag von Friedrich Zimmermann, Weltanschauung und politisches Han- München 2005. deln. Hanns Seidel zum 100. Geburtstag, 10 Blumenwitz, Dieter: Der Beitrag der CSU München 2001, S.56. zur staatlichen Einheit Deutschlands, in: 4 Mintzel, Alf: Geschichte, S.345ff. Ders.: Politische Studien Sonderheft 5/2000, Die Rolle der CSU-Landesgruppe im po- S.55-67. litischen Kräftespiel der Bundesrepublik 11 Grundsatzprogramm der Christlich So- Deutschland, in: Politische Studien zialen Union in Bayern, München 1993, Sonderheft 1/1989, S.113-134; Kießling, S.10. Andreas: Die CSU. Machterhaltung und 12 Glück, Alois; Verantwortung überneh- Machterneuerung, Wiesbaden 2004, men. Mit der aktiven Bürgergesellschaft S.135ff. wird Deutschland leistungsfähiger und 5 Strauß, Franz Josef: Die Erinnerungen, menschlicher, Stuttgart/München 2000. Die Wurzeln und geistigen Grundlagen der CSU Interview mit dem ehemaligen Parteivor- sitzenden der CSU und Bundesminister a.D. Dr. Theo Waigel

Renate Höpfinger

Renate Höpfinger: Die Unionspartei- Theo Waigel: Die Aussagen von Kardi- en CDU und CSU werden heuer 60 Jah- nal Meisner werden durch Wiederho- re alt. In vielen Veranstaltungen wird lungen nicht origineller. Kein Kardinal, landauf und landab der Unionsgrün- auch nicht Kardinal Meisner, hat ein dungen gedacht und dabei auch an Monopol auf die Definition dessen, was deren Wurzeln und Grundlegung er- christlich ist. Da halte ich mich lieber innert. Vor wenigen Wochen forderte an Papst Benedikt XVI. und das, was er der Kölner Kardinal Joachim Meisner früher als Kardinal und Theologiepro- die Unionsparteien auf, das „C“ aus fessor zu dem Thema theologisch an- ihrem Namen zu streichen, weil er die spruchsvoll gesagt hat. Wenn Kardinal christlichen Grundwerte bei ihnen ver- Meisner zum Ausdruck bringt, dass es misse – so sein Vorwurf. Außerdem er- ja immer schwerer werde, mit dem „C“ reiche in unserer säkularisierten Ge- Mehrheiten zu gewinnen, dann gilt das sellschaft eine christliche Volkspartei doch auch für die Kirchen. Insofern keine Mehrheiten mehr. Die Unions- finde ich seine Aussage unlogisch und parteien stehen erneut unmittelbar vor inkonsequent. Auch wenn die Kirche einer wichtigen Wahl. Hat Kardinal keine Mehrheit darstellt, wird sie doch Meisner Recht mit seinem Hinweis, nie von ihrem Anspruch, weltbewe- dass eine Partei, die sich auf christliche gend zu sein und die Botschaft Gottes Werte beruft, keine Mehrheiten mehr zu verkünden, abgehen. Und wenn wir erreichen kann? Und halten Sie den manchmal in der „C-Familie“ nicht so Vorwurf für gerechtfertigt, dass die miteinander umgehen, wie es das „C“ Unionsparteien im politischen Alltag gebietet, dann müssen wir die Kritik die Nähe zu den viel beschworenen akzeptieren und versuchen, die Dinge genuin christlichen Grundwerten (häu- zu verbessern. Aber so etwas findet fig) vermissen lassen? ja sogar unter Kardinälen und unter

Politische Studien, Heft 403, 56. Jahrgang, September/Oktober 2005 48 Theo Waigel

Bischöfen statt. Insofern sind wir da in CDU und CSU nicht möglich. Wer einer ganz guten christlichen Gesell- die Kirchen für überflüssig hält, hat in schaft. einer C-Partei nichts zu suchen.

Ich teile die Meinung von Kardinal Mir hat vor einigen Monaten ein Arti- Meisner nicht. Ich rate CDU und CSU, kel von Professor Held in der FAZ sehr mit einer solchen Aussage offensiv um- gut gefallen. Er wies darauf hin, dass zugehen und Kardinal Meisner zu ant- das „C“ und damit CDU und CSU ei- worten, dass wir nicht im Traum daran ner Primäridee entspringen und nicht denken, das, was 1945 in den Namen einer Sekundäridee. Liberalismus, So- gekommen ist, aufzugeben. Denn es zialismus, Ökologie sind Sekundär- würde auch eine Schwächung der Kir- ideen, die aus dieser Welt kommen, chen bedeuten, wenn es keine Partei während das „C“ aus der Verantwor- mehr gäbe, die dieses fordernde „C“ in tung vor Gott und daraus resultierend ihrem Namen hätte. Wir sind nicht Kir- der Verantwortung vor dem Nächsten chenpartei, wir sind nicht verlängerter kommt. Das ist eine gewichtige und Arm der Kirchen und die Kirchen sind schwer wiegende ideenpolitische Be- nicht verlängerter Arm der C-Parteien. gründung des politischen Handelns. Wie sind voneinander unabhängig. Wir Das unterscheidet CDU und CSU von stammen beide aus unterschiedlichen anderen Parteien. Und das gibt ihnen Welten, haben unterschiedliche Auf- auch die Chance, unabhängig zu sein träge, aber wir sind aufeinander ange- von Zeitströmungen, von dem Auf und wiesen. Ich glaube auch, dass die C-Par- Ab liberaler, sozialer und sonstiger Be- teien einiges dazu beitragen können, wegungen wie der Ökologie. Das ist um als Gesprächspartner der Kirchen etwas, was wir nicht vergessen dürfen, das, was die Kirchen in die Gesellschaft und das hat die Gründungsmitglieder und in die Welt zu sagen haben, um- in erster Linie bewegt. zusetzen und Sprachrohr zu sein. Renate Höpfinger: Die Gründung der Renate Höpfinger: Wen außer den C- Unionsparteien CDU und CSU vor 60 Parteien gäbe es denn, der in der Poli- Jahren, in der unmittelbaren Nach- tik diese Rolle als Sprachrohr sonst er- kriegszeit, war eine Antwort auf die NS- füllen könnte? Diktatur. Ihrem Selbstverständnis nach sehen die Unionsparteien ihre „ideelle Theo Waigel: Es gäbe sonst nur Ein- Gründung“ in den Zusammenkünften zelne, der eine oder andere in einer und Zirkeln des christlich motivierten konservativen oder liberalen Partei. Widerstandes und in den Gefängnissen Auch Liberale wie ha- des Dritten Reiches. Wer waren diese ben sich als Katholiken oder Protes- Menschen? Was bewog sie zum Wider- tanten verstanden. Und natürlich gibt stand? Was waren ihre Antriebskräfte, es gläubige Sozialdemokraten und gläu- was ihre Ziele? bige Grüne. Aber wenn ich dann auf der anderen Seite wieder sehe, wie Ver- Theo Waigel: Ich habe mich mit die- treter dieser Parteien sich so wenig von sen Fragen intensiv beschäftigt, in den den Kirchen sagen lassen und sie für letzten zehn Jahren noch vermehrt. Es überflüssig halten, dann wäre dies in ist in der Tat unglaublich, was Männer Die Wurzeln und geistigen Grundlagen der CSU 49 und Frauen aus der Zeit des Wider- Russen befreit, schlugen ihm diese ein standes für die Zeit nach 1945 mitge- Tauschgeschäft vor. Sie boten ihm an, bracht haben. Dies gilt in der CSU in seinen Sohn aus der Kriegsgefangen- erster Linie für Dr. Josef Müller, den schaft in Sibirien nach Berlin zu holen, Ochsensepp, dessen Leben und dessen wenn er dafür den Enteignungen in Widerstandskraft viel zu wenig gewür- Ostdeutschland zustimme. Sie sagten, digt werden, auch von der CSU. Ich der Sohn sei schon da, sei nur ein paar habe ihn noch persönlich erlebt, auf Kilometer entfernt von ihm. Darauf Parteitagen in den Sechzigerjahren. Er antwortete Andreas Hermes: „Ich hab war ein Mann mit seinen Schwächen, noch nie ein Knie vor Diktaturen ge- aber was er in der Zeit des Dritten beugt, und ich tue das auch hier nicht.“ Reichs im Widerstand geleistet hat, bei Daraufhin wurde der Sohn wieder fünf 15 Gestapoverhören niemanden ver- Jahre nach Sibirien zurückgebracht und raten, zwei Mal unter dem Galgen ge- kam mehr tot als lebendig zurück. Der standen, zusammengeschlagen und kei- Sohn schrieb dann dem Vater einen ne Sekunde aufgegeben, andere noch Brief: „Vater, es ist zwar bitter für mich, geschützt, das ist eine unglaubliche aber ich respektiere deine Gewissens- Leistung! Sein Buch „Bis zur letzten entscheidung. Du musst dich an dei- Konsequenz“ müsste wiederaufgelegt nem Gewissen orientieren.“ Aus einer und jedem Mandatsträger der CSU zur solchen Geisteshaltung erwachsen Pflichtlektüre gemacht werden. Wurzeln und ein großes Erbe für CDU wie für CSU. Ich habe mich mit seinem Leben, sei- nen Kontakten zum Vatikan und sei- Und die anderen Namen, die auch alle nem Verhältnis zu Papst Pius XII. nach bittere Erfahrungen machen mussten: dem Krieg beschäftigt. Seitdem würde Konrad Adenauer, der verfolgt wurde, ich auch seine kleineren Schwächen, Alois Hundhammer, der in Dachau war, die er in der Politik gezeigt hat, milder , der eine Denkschrift sehen. Er war wohl der Tapferste, je- über die Neuordnung Deutschlands denfalls so weit ich das sehen kann. verfasste, Fritz Schäffer, Fürst Fugger Sofort nach der Befreiung hat er einen aus meiner Heimat, der 1933 Joseph Kreis um sich geschart, den Mittwochs- Bernhart anlässlich seines mutigen Ar- kreis, wo Franz Josef Strauß, Hans tikels in einer Münchner Zeitung be- Weiß, Fritz Zimmermann, aber auch suchte, in dem er sich gegen die Na- Josef Baumgartner, Franz Heubl und zis wandte und der mit knapper Not andere CSU-Gründer zugegen waren. dem Tod entging. Aber auch Menschen wie Dr. Fridolin Rothermel, Landtags- Jemandem, dem ich bei der CDU mei- und Reichstagsabgeordneter, der in nen höchsten Respekt erweisen möch- Schutzhaft genommen wurde und dem te, ist Andreas Hermes. Ich habe ihn als promoviertem Volkswirt zwölf Jah- erlebt, als er 1955 in Ursberg bei der re seines Lebens gestohlen wurden. Beerdigung von Dr. Fridolin Rothermel Alle diese Männer und Frauen haben für den Bauernverband gesprochen hat. weltanschaulich Widerstand geleistet Erst später habe ich die Geschichte von und sich in der Stunde der Not trotz ihm genauer kennen gelernt. Im KZ des Berges von Leichen, der über den knapp dem Tod entgangen, von den Menschen lag, als Not-Wender gezeigt 50 Theo Waigel und damit das Notwendige getan. Sie ein Gegensatz, denn Christentum und taten dies nicht aus Ehrgeiz und nicht, Sozialismus passen nicht zusammen. um etwas zu werden, sondern um ihre Sozialismus ist eine Ideologie, und das Mitmenschen aus der Not und Lethar- Christentum passt nicht mit Ideologien gie wieder herauszuführen. zusammen. Das „C“ gab eine Idee, gab Grundwerte vor, das „C“ verpflichtete Das ist ein großartiges Erbe, das CSU zu Toleranz, das„C“ bedeutete Trans- und CDU verwalten, wobei ich auf das zendenz und damit Verantwortung Erbe anderer wie der Sozialdemokraten nicht nur in dieser Welt, sondern einer mit großem Respekt verweise. Wir neh- anderen Welt gegenüber. Es ist damals men da nicht für uns in Anspruch, dass gelungen – und das war eine großarti- wir die Besseren sind. Was ein Mann ge Leistung der Frauen und Männer der wie Otto Wels 1933 gegen das Ermäch- ersten Stunde –, sowohl in die Bayeri- tigungsgesetz gesagt hat „Das Leben sche Verfassung als auch in das Grund- könnt ihr uns nehmen, die Ehre aber gesetz die Verantwortung vor Gott zu nicht“, das ist ein bewegender Satz, den bringen. Das haben nicht nur die Poli- ich mit Ehrerbietung in vielen Reden tiker von CDU und CSU erreicht, son- zitiere. dern auch die Politiker der SPD und der FDP waren bereit, dies zu akzeptieren, Renate Höpfinger: Der Widerstand ge- vielleicht aus dem Gedanken heraus, gen das NS-Regime gab nach 1945 die dass wir eine übergreifende Idee brau- Kraft, eine neue christliche Volkspartei chen. Und wie immer ich nun den zu gründen und in der hoffnungslos er- Gott definiere, aber nur aus einer über- scheinenden Nachkriegszeit die politi- greifenden letzten Ordnung heraus schen Selbstbehauptungskräfte zu akti- lässt sich verhindern, dass eine solche vieren. Die Unionsgründer einte der Unordnung noch einmal geschieht. Wille zu einem christlichen Neuanfang im Geiste der christlichen Botschaft. Zur Frage des Parteikonzepts: Wichtig Ein „Weg der Wiedergeburt“ wurde an- war – und das war wiederum vor allem gestrebt, der Schluss machen sollte mit das Verdienst von Dr. Josef Müller, den politischen und geistigen Ursa- später von Franz Josef Strauß und an- chen, die zu dessen Entstehung geführt deren –, die CSU nicht zur Konfes- hatten. In keiner der anderen Parteien, sionspartei werden zu lassen, aus dem die nach 1945 wieder erstanden, war Elfenbeinturm hinauszugehen, keinen der Gedanke der geistlichen und sittli- Ständestaat anzustreben, keine Bau- chen Erneuerung so lebendig wie in der ernpartei, keine Bayernpartei, nicht Union. Wie sahen die Ideen und Kon- eine Partei, die ein Monopol auf etwas zepte aus? Was war das Neuartige an besaß, sondern eine breite Volkspartei, dieser Parteiformation? in der vom Arbeiter über den Landwirt bis zum Fabrikbesitzer, vom gläubigen Theo Waigel: Das „C“, das die aller- Christen über den humanen Agnosti- meisten bewegt hat, gab kein politi- ker jeder dabei sein konnte und dabei sches Lehrbuch ab. Der christliche So- sein durfte, der die Zielsetzungen, die zialismus, den einige in der CDU aus dem „C“ heraus entstanden, akzep- vertreten haben, war natürlich in sich tieren konnte. Die Wurzeln und geistigen Grundlagen der CSU 51

Renate Höpfinger: Die meisten Uni- andere weniger. Josef Müller und sei- onsgründer wollten keine der konfes- nen Freunden war klar, sie müssen et- sionellen Parteien der Weimarer Repu- was Neues wagen, sie können nicht blik wiederbeleben! Welche Bedeutung mehr nur dort weiter machen, wo sie hatte der Gedanke der Überkonfessio- 1933 aufgehört hatten. Dagegen woll- nalität? Das Ziel einer überkonfessio- ten Fritz Schäffer, Alois Hundhammer nellen Partei war zumindest in Grund- und viele aus dem bäuerlichen Flügel zügen auch schon in der Bayerischen die Bayerische Volkspartei fortführen. Volkspartei angelegt, wurde aber dort Das wäre mit Sicherheit der falsche nicht ernsthaft oder nachdrücklich ver- Weg gewesen. Damit wären wir in Bay- folgt. ern in die Irre gegangen, damit wäre die CSU isoliert gewesen. Es musste etwas Theo Waigel: Das war ganz wichtig, Neues entstehen. Das war auch deshalb um aus der Auseinandersetzung, die im notwendig, weil die interkonfessio- Grunde fast noch bis auf die Bismarck- nelle Idee in den Fünfziger- und Sech- Zeit zurückgeht, herauszukommen. Ich zigerjahren voll zum Tragen gekommen sage es ganz offen, die Katholiken sind ist. erst durch Luther richtig frei geworden. Der Satz von Luther „Der Christen- Renate Höpfinger: Auffällig ist die mensch ist ein freier Herr aller Ding Spontaneität, mit der die Unionsgrün- und niemandem untertan. Und der dungen unabhängig von Absprachen Christenmensch ist ein dienstbarer unmittelbar nach Kriegsende nahezu Knecht aller Ding und jedermann un- gleichzeitig in verschiedenen lokalen tertan“, ist eine Aussage, die Freiheit Zentren wie Köln, Berlin, München und Verpflichtung herrlich ausdrückt. und Würzburg erfolgten. Lag die Grün- Auch beim Grundsatzprogramm 1976 dung der Unionsparteien quasi in der haben wir überlegt, was ist der Ur- Luft? Hätte es Alternativen gegeben? grund. Das ist die Verantwortung vor Und wie hätten diese aussehen kön- Gott und die daraus resultierende Ver- nen? antwortung und Achtung vor dem Nächsten. Das ist die Primäridee, von Theo Waigel: Die Idee war nach Kriegs- der ich am Anfang sprach und die ende da, sie ist aber auch gereift. Die CDU und CSU wieder stärker diskutie- Frauen und Männer haben von 1933 ren, herausarbeiten sollten, weil sie bis 1945 viel nachgedacht. Sie hatten auch in einer säkularisierten Gesell- eine erzwungene Nachdenkphase, die schaft durchaus attraktiv ist und weil schlimmste im KZ, andere im Exil oder sie auch dem Agnostiker und Nicht- wie Fridolin Rothermel auf dem Bau- christen oder auch dem schwankenden ernhof. Sie hatten viel Zeit nachzu- Christen plausibel sein kann als letzte denken und zu überlegen, wo fangen Begründung für Politik. wir wieder an. Das war, wie man heute sagen würde, ein sehr konzentriertes Die Unionsgründer wussten natürlich Denken, spontan auf der einen Seite, auch, welche Fehler sie vor 1933 ge- aber auch ein Nachdenkprozess, der ge- macht hatten, auch welche Fehler die reift war und der dann zu einer frucht- Bayerische Volkspartei gemacht hatte. baren Entfaltung kam. Das erklärt auch Einige haben das stärker verinnerlicht, die Spontaneität – sie hatten ja wenig 52 Theo Waigel

Möglichkeit miteinander zu kommu- eine neue Partei schon besser gewesen, nizieren. In der Tat zeugt dies davon, wenn sie mit einer finanziellen Start- die Notwendigkeit war begriffen wor- hilfe in die Auseinandersetzungen von den, unabhängig davon, ob man zu- 1946/1949 oder 1953 gegangen wäre. sammen war oder nicht. Hier haben CDU und CSU bewusst abgeschlossen, auch nicht rekurriert Das gilt übrigens auch für den philoso- auf frühere Leistungen – das Zentrum phisch-theologischen Bereich. Wenn konnte auch auf beachtliche Zeiten ich mir vorstelle, Joseph Bernhart oder zurück schauen, hatte starke Politiker, Theodor Haecker waren von Gesserts- deren man sich wirklich nicht schämen hausen bis Türkheim Luftlinie 20 km musste! Man wusste, dass uns die Par- entfernt und wussten nicht, dass sie ne- teienzersplitterung im konfessionellen beneinander lebten. Und auch andere und im konservativen Bereich nicht große Denker im kirchlichen Bereich, weiter bringt. die noch Erinnerung und Erfahrung in der Weimarer Zeit hatten, sagten: Renate Höpfinger: Für den politischen „Macht um Gottes Willen nicht das Neubeginn in der Union waren über- Gleiche noch einmal, streitet euch wiegend christliche Demokraten ver- nicht wieder zwischen Zentrum und antwortlich, die ihre politische Prägung BVP, wo man verschiedene Reichs- im Kaiserreich und in der Weimarer präsidenten unterstützt hat mit ver- Republik erhalten hatten und bereits heerenden Konsequenzen“. Auch die politisch aktiv waren, nicht selten in Theologen der damaligen Zeit, aus führenden Positionen, bevor ihre Tätig- beiden Kirchen, gingen alle in diese keit durch die Nationalsozialisten be- Richtung. endet wurde. Einige wollten ihre Vor- stellungen in der neuen Partei nur Renate Höpfinger: Das Alte war dis- wenig modifiziert fortsetzen, was zu er- kreditiert, das Neue lag in der Luft. bitterten Richtungskämpfen führte und Hätte es überhaupt noch Alternativen vor allem mit der Neugründung der gegeben? Bayernpartei für die CSU sehr gefähr- lich wurde. Wie sehen Sie diesen Rich- Theo Waigel: Ja doch. Eine ganz ein- tungsstreit? Wann war er beendet? fache Erwägung: Man hätte die Baye- Wann hatte sich das neue Parteikon- rische Volkspartei wieder begründen zept auch bei den Anhängern einer können, dann hätte man ihr Vermögen Wiederbelebung der Bayerischen Volks- zurück bekommen. partei durchgesetzt?

Renate Höpfinger: Das wollte man Theo Waigel: Die Bayernpartei war doch aus anderen, gerade genannten nicht nur in Ober- und Niederbayern Gründen nicht! stark. Auch in Gegenden wie Schwa- ben hatte sie beachtliche Bastionen zu Theo Waigel: Andere Parteien – die verzeichnen. Manche davon kamen SPD und die Kommunistische Partei dann später zu uns. Entstanden ist die haben zu Recht beansprucht, dass sie Bayernpartei im Grunde aus persönli- entschädigt wurden für das, was ihnen chen Konflikten. Weil Baumgartner be- weggenommen wurde. Es wäre für stimmte persönliche Ziele im Bauern- Die Wurzeln und geistigen Grundlagen der CSU 53 verband wie auch im Wirtschaftsrat Richtung gestritten wird. Das Gift kam nicht verwirklichen konnte, ist er zur doch vor allem durch die persönlichen Bayernpartei, die bereits existierte, ge- Konflikte in diesen Richtungsstreit stoßen. Er war ein Volkstribun. Eine hinein. Rolle spielte auch das „Bauernbündle- rische“, das aus der Zeit von Dr. Heim Theo Waigel: Die einzelnen Kontra- stammte! Ich weiß von meinem Vater, henten gingen schon merkwürdig mit- dass er am Anfang von der CSU gar einander um, zum Teil offen, zum Teil nicht begeistert war. Ihm behagte das aber auch unverständlich, und nicht Bauernbündlerische, das Freidenkeri- immer besonders christlich. Und das sche mehr als das Klerikale. Er wollte hat abgeschreckt und hat zu dem fa- keine Partei, in der die Prälaten das Sa- talen Wahlergebnis geführt. Dass die gen haben. Ihm hat schon nicht ge- CSU sich aber daraus erholt hat, ist passt, dass der erste Fraktionsvorsit- eine große Leistung. zende der CSU im Bayerischen Landtag ein Prälat war. Renate Höpfinger: Wem war die Be- friedung der Partei zu verdanken? Wie Die Not der Menschen reichte tief in kam sie zu Stande? die Politik hinein. Die Heimatvertrie- benen schufen mit dem BHE ihre eige- Theo Waigel: Da nenne ich einmal ne Interessenpartei; darauf reagierten Hans Ehard, den ausgewogenen, klu- wiederum die Eingesessenen. Nicht je- gen, gebildeten, dem Streit abholden der war bereit zu teilen. Der Ausgleich Mann, den Grandseigneur der Politik. zwischen den Entrechteten und denen, Aber mit seinem Namen ist auch 1954 die noch etwas besaßen, der Lasten- der Verlust der Macht verbunden. Aus ausgleich war eine großartige Leistung, dieser, für die CSU völlig ungewöhnli- aber er vollzog sich nicht reibungslos. chen Situation hat Hanns Seidel die Das ergab eine explosive Mischung, es Partei befreit. Es war eine beachtliche war nicht alles friedlich in der Nach- Leistung von Hanns Seidel, als kluger, kriegszeit. Zudem leistete sich die CSU überzeugender Oppositionsführer die überflüssigerweise die Auseinanderset- damalige Regierung, bestehend aus zung zwischen dem Ochsensepp und SPD, FDP, Bayernpartei und BHE, in seinen Gegnern, was zu der dramati- ihrer Widersprüchlichkeit anzugreifen, schen Landesversammlung 1949 in aber auch zu zeigen, wie es besser ge- Straubing führte. Das alles wirkte ab- macht werden könnte. Und in diese schreckend auf die Menschen. Und da Zeit fällt auch die Tätigkeit von Franz darf man sich nicht wundern, wenn Josef Strauß. Der war zwar 1949 zu- man plötzlich von über 50% auf 27,4% sammen mit dem Ochsensepp in die absinkt. Zwickmühle geraten, aber Hans Ehard hatte die Stärke von Franz Josef Strauß Renate Höpfinger: Es kann aber doch erkannt und ihn gestützt. Franz Josef innerhalb einer derart breit angeleg- Strauß hat immer mit Erfolg für die ten Sammlungsbewegung gar nicht Entkonfessionalisierung der Partei ausbleiben, dass zwischen den Mit- gekämpft. Es war Hanns Seidel, der die- gliedern, die aus so verschiedenen sen Kampf begann, der uns mit seinen Richtungen kommen, um die neue Artikeln und Büchern wie „Weltan- 54 Theo Waigel schauung und Politik“ geistige Nah- Theo Waigel: Sie haben diesen Kurs in rung Mitte und Ende der Fünfzigerjah- den Fünfzigerjahren akzeptiert, sie ha- re geliefert und uns in eine moderne ben eingelenkt, das ist die eine Seite der Zeit hinein geführt hat. Seine Begrün- Medaille. Dann sind aber viele Junge dung, auch wer keiner Kirche angehört, nachgekommen, die noch mit 15, 16 kann in der CSU Mitglied werden, war Jahren in den Krieg gezwungen worden schon ungewöhnlich. Diese Öffnung waren, Vertriebene, die in der Partei war wichtig. Er hat den manchmal un- mitarbeiten wollten, aber nicht mehr gestümen Franz Josef Strauß geschickt in einer konfessionell orientierten. Das auf den richtigen Pfad gelenkt. war dann der Punkt, an dem die CSU eine liberalere Partei wurde und wo Hanns Seidel, wie vorher Hans Ehard, sie in Bayern in Bereichen wie Mittel- haben ihren Schwerpunkt in der franken Wählerstimmen gewann und bayerischen Politik gesehen. Damals Ideologien ablegte. Das war nicht mehr gab es in dem rückständigen Agrarstaat die Partei, die sich jeden Tag vom Kar- auch viel zu tun. Ihn in eine moderne dinal die Maxime abholt, wie man in Industriegesellschaft zu überführen, war den nächsten Wochen regiert, sondern eine riesige Herausforderung und Leis- sie war eine offene und moderne Par- tung, die diese beiden, und nach ihnen tei geworden. Alfons Goppel,erfolgreich angegangen sind. Es kamen aber noch ein paar ganz Renate Höpfinger: Sie haben mehrfach wichtige Politiker hinzu. Man sollte Ru- den dezidiert konfessionellen Charak- dolf Eberhard nicht unterschätzen, der ter der CSU bis 1949 betont. Josef Mül- zunächst als Landrat, dann als Finanz- ler hat aber doch gerade das Gegenteil minister seinen Part geleistet hat. Man propagiert und seine Gegenspieler ha- hat erkannt, wir brauchen die Protes- ben sich ja auch nicht durchgesetzt. tanten unabdingbar für das Profil der CSU. Ich will das gar nicht opportunis- Theo Waigel: Das ist wahr. Und Josef tisch sagen, auch um mehrheitsfähig Müllers Niederlage 1949 beruhte natür- zu sein in ganz Bayern. Wir hätten in lich auf persönlichen Fehlern. Aber bis Franken nicht die Spur einer Chance zu dem Zeitpunkt war die andere Rich- gehabt, wenn wir nur mit altbayeri- tung schon stark. Das bäuerliche Ele- schen Katholiken aufgetreten wären. ment war weit überproportional ver- Insofern war es von großer Wichtigkeit, treten. Andere Bereiche haben dagegen die Entkonfessionalisierung der Partei gefehlt. Der Zugang ins protestantische herbeizuführen und sie auf ein christ- Milieu, in Franken ins Reichsstädtische liches Fundament zu stellen und klar hinein, da waren wir am Anfang zu sagen, wir sind weder verlängerter schwach vertreten. Das konnte man Arm der Kirchen noch sind die Kirchen erst durch die neue, moderne Linie ver- von uns abhängig. bessern.

Renate Höpfinger: Waren dann die Er- Renate Höpfinger: Im Zusammenhang folge der Partei dafür ausschlaggebend, mit dem Richtungsstreit wurde bereits dass Leute wie Alois Hundhammer und angesprochen, dass die Bayernpartei der Fritz Schäffer auf diesen Kurs der Partei CSU sehr gefährlich wurde. Sie haben eingeschwenkt sind? die Wahlergebnisse erwähnt! Die CSU Die Wurzeln und geistigen Grundlagen der CSU 55 hat diese Klippe gemeistert. Wie wür- partei hat sich ihr eigenes Grab ge- den Sie die Auseinandersetzung mit der schaufelt. Es war halt nicht sehr glaub- Bayernpartei, ihr Aufkommen und ihr haft, mit dem BHE zusammen eine Ko- Verschwinden einschätzen? Die CSU alition einzugehen, nachdem man hat es geschafft, die Vertreter und An- vorher in jeder Versammlung über die hänger der Bayernpartei zu integrieren, Flüchtlinge gelästert hatte, und umge- sie hat es mit dem BHE geschafft. Und kehrt. Das war keine belastbare Zu- diese Entwicklung setzte sich später ja sammenarbeit. mit dem Diktum von Franz Josef Strauß fort, dass es rechts von der CSU keine Renate Höpfinger: Sehen Sie in Be- demokratisch legitimierte Partei geben zug auf die Entkonfessionalisierung dürfe. der Partei einen Zusammenhang mit den starken Säkularisierungstendenzen, Theo Waigel: Das war schon ein böser von denen unsere Gesellschaft seit der Bruderstreit, der weh getan hat. Und in Mitte des 20. Jahrhunderts geprägt manchen Bereichen ganz besonders. In wurde? Niederbayern waren die Wahlkämpfe 1950, 1954 und 1958 gnadenlos. Die Theo Waigel: Die Mündigkeit der Bayernpartei ist eher aus persönlichen Laien in der Kirche hatte sich verstärkt. Gründen entstanden, die vermeidbar Es kam das Zweite Vatikanische Konzil gewesen wären, wo die CSU ganz sicher mit der Selbstverantwortung des Laien auch Fehler gemacht hat. Ohne Baum- in der Kirche. Das alles hat auch in der gartner wäre die Bayernpartei nicht zu CSU zu einer Diskussion geführt. Die dem geworden, was sie war. Man hätte CSU hat ihre geistigen Wurzeln nie in dieser Zeit einen solchen Bruderstreit aufgegeben, war aber doch zu pragma- nicht entstehen lassen dürfen. Aber er tischen Lösungen bereit. ist entstanden, vielleicht auch, weil die CSU auf Grund der ersten Wahlergeb- Renate Höpfinger: Welche Faktoren, nisse überheblich geworden war. Das Ereignisse und Entwicklungen wurden hat dann 1949 zum ersten Schock ge- für das Fundament und die Grundsät- führt, als die Bayernpartei 17 Direkt- ze der CSU in der Folge wichtig? Wor- mandate erreichte. In erster Linie sorg- auf hatte die Partei zu reagieren? Was te Franz Josef Strauß dafür, dass die veränderte sie und ihr Selbstverständ- Bayernpartei nicht größer wurde, in- nis? Mit welchen Mitteln reagierte sie dem er strikt ablehnte, dass Adenauer darauf? die Bayernpartei 1949 in die Koalition aufnahm. Dem hätte das vielleicht ganz Theo Waigel: Im regionalen Bereich gut getan, um seine Mehrheit zu er- hat die CSU eine erfolgreiche regiona- weitern. le Strukturpolitik betrieben. Das war das Verdienst von Politikern wie Hanns Und dann wurden natürlich konse- Seidel, Rudolf Eberhard, dem früheren quent die Grenzen der Bayernpartei Ministerialdirektor Professor Barbarino, aufgezeigt. Dazu haben Strauß, Zim- Otto Schedl und Anton Jaumann. Da- mermann, Seidel, Eberhard und ande- zu kam das Sicherheitsbedürfnis der re ihren Teil geleistet, auch 1954 bis Menschen, nachdem der Kalte Krieg 1957 in der Opposition. Die Bayern- entflammt war und die Sowjetunion 56 Theo Waigel eine reale Gefahr für uns darstellte. Die eine entsprechende Kommission? Ist Aufstände in Ostberlin, Warschau, sie das entscheidende, ausschließliche Budapest und Prag, der Bau der Mauer, Gremium für die Diskussion und Wei- zeigten die Erschütterung und das terentwicklung der grundsätzlichen labile Kräfteverhältnis in Europa. Dar- Fragen? Werden hier die Fundamente um waren Westintegration und Europa der Partei neu gelegt und das geistige so wichtige politische Ziele, denn sie Navigationssystem neu justiert? Wo fin- dienten neben der Identität dem Selbst- det dies sonst noch statt? schutz. Diese Politik hat sicherlich dazu geführt, dass die CSU eine unge- Wie waren Ihre persönlichen Erfah- wöhnlich erfolgreiche Partei wurde. Das rungen? Wie kamen Sie überhaupt zu haben die Menschen akzeptiert, den dieser Funktion? Was war Ihr Auftrag, Wiederaufbau in Bayern, die Integra- Ihre Aufgaben? Was konnten Sie an tion der Heimatvertriebenen, die Ent- dieser Stelle leisten bzw. was kann und wicklung zu einem modernen Wirt- soll eine Grundsatzkommission nicht schafts- und Industriestaat, ohne dass leisten? die Bauern dabei untergegangen sind. Das war schon eine beispielhafte er- Theo Waigel: Grundwerte ändern sich folgreiche Politik. An der Spitze Minis- nicht, aber ihre Akzeptanz. Wie ich die terpräsidenten, die hohes Ansehen hat- Botschaft an die Menschen bringe, das ten, in der Bundespolitik ebenfalls Po- ändert sich in den Kirchen, und das än- litiker mit großem Einfluss wie Fritz dert sich natürlich auch in der Politik. Schäffer als Finanzminister, der die Mit den Wahlplakaten und den Bro- Finanzierung der Wiederbewaffnung schüren von 1949 und 1953, obwohl ohne größere Friktionen schultern sie nicht falsch waren, könnten wir konnte, Franz Josef Strauß als ein heute auf die Menschen nicht mehr überzeugender Verteidigungsminister zugehen. Der moderne Mensch, der und Finanzminister, das alles hat eine aufgeklärte Mensch verlangt eine an- Rolle gespielt. Auf der einen Seite gab dere Antwort als 1945 oder 1946. Wir es den ideologischen Überbau und auf brauchen uns der Grundsatzprogram- der anderen Seite den pragmatischen me von 1946 bis 1968 nicht zu schä- Unterbau für die tägliche Politik. men. Da steht nichts Falsches drin, auch nicht 1968, als zum ersten Mal Renate Höpfinger: Auch wenn sich die der Begriff entstand, die CSU sei auch grundlegenden Werte und Fundamen- eine konservative Partei. Das gab da- te der Partei nicht veränderten, musste mals die größte Auseinandersetzung auf doch die Programmatik an die Erfor- dem Parteitag. Natürlich sind wir auch dernisse der Zeit angepasst werden. Es eine konservative Partei. entstanden Defizite, die CSU sah sich Anfang der 70er-Jahre abgehängt von Nun hatten wir 1972 Bundestagswah- den Debatten. len, erreichten in ganz Deutschland 45%, aber das war zu wenig, in Bayern Sie waren 15 Jahre lang, von 1973 bis 55%, das war glänzend, aber es hat 1988, Vorsitzender der CSU-Grund- nicht ausgereicht. Natürlich hat das satzkommission. Welche Funktion er- Franz Josef Strauß umgetrieben. Was füllt ein Grundsatzprogramm bzw. ist der Grund, warum schaffen wir das Die Wurzeln und geistigen Grundlagen der CSU 57 im Moment nicht? Darum dann auch Arbeitnehmerbereich, und besonders später die Diskussion: Brauchen wir spürbar war, dass junge Leute und eine andere Parteienkonstellation? Ver- Frauen nicht mehr so stark auf unserer ständlich, von der Analyse her grund- Seite standen. Das war relativ wenig sätzlich richtig, obwohl ich anderer sichtbar in Bayern, aber deutlich im Meinung als Franz Josef Strauß war. Gesamtbild der Union. Und da wun- Dann die Frage: Spielen wir in der geis- dere ich mich heute noch über den tigen, theoretischen Auseinanderset- Mut von Strauß. Als Vorsitzender der zung noch eine Rolle? Sind wir An- Jungen Union hatte ich vorher mit ihm sprechpartner? Adaptieren wir das, was manchen Streit ausgetragen. Ich war in der modernen Welt diskutiert wird? nicht sein Kandidat, ich kam aus der Daraus entstand die Frage: Brauchen Jaumann-Ecke. Deshalb war er auch wir ein neues Grundsatzprogramm? nicht begeistert, als ich Landesvor- Franz Josef Strauß war am Anfang eher sitzender der Jungen Union wurde, hat skeptisch eingestellt und wollte nicht aber akzeptiert, dass ich in den Bun- so schnell, nach nur vier oder fünf Jah- destag kam. Ich habe ihn dann zu ei- ren, ein neues Grundsatzprogramm. nem ersten Grundsatzseminar der Jun- Denn es wäre ja sofort die Frage ent- gen Union nach Bad Tölz eingeladen. standen: Brauchen wir neue Grundsät- Dorthin hatten wir uns nach Neujahr ze? Natürlich nicht! Aber er wusste, eine ganze Woche lang zurückgezogen man muss sich der Diskussion stellen. und über Grundsatzfragen des Den- Und da war Strauß im Grunde ein In- kens, der politischen Philosophie, der tellektueller. Er war ein Mann, der viel Bildung und Ähnliches mehr diskutiert. las, ein Mensch, der sich mit den Din- Wir holten uns Referenten aus ganz gen auseinander setzte. Er hätte diese Deutschland, und am Schluss hatten Rolle übrigens noch viel stärker spielen wir eine Diskussion mit Strauß. Diese können. Aber da hat ihn bisweilen die Diskussion mit ihm war gar nicht ein- Lust an der Polemik überrollt. Er sprach fach, denn einige Teilnehmer gingen auf Marktplätzen Tausende von Men- mit ihm nicht so höflich um, wie man schen an. Wenn sie denen aber einen eigentlich mit einem Parteivorsitzen- philosophischen, zeithistorischen Vor- den verfährt. Ich dachte, er schmeißt trag halten, dann laufen die Leute da- alles hin, aber er hat diese kritische von. Er war der begabteste Mann auf Diskussion mit uns konstruktiv geführt! öffentlichen Plätzen nach 1945. Es gibt Und am Schluss sagte er: „Übrigens, keinen zweiten, der das so beherrscht Theodor Waigel, da ist viel Blech gere- hätte. Sein Metier war nicht das Fern- det worden, aber es waren auch ein sehen, sein Metier waren die großen paar Goldkörner darunter.“ Hallen und die Plätze. Er war auch der Mann, der nachdachte, ein gläubiger, Ein paar Monate danach sagte er im aber liberaler Katholik, der um die Aus- Landesvorstand: „Ich bin dafür, dass einandersetzung mit der modernen Zeit wir eine neue Grundsatzkommission wusste. Und er erkannte, dass uns 1972 installieren, und überlegen, was müss- etwas abhanden gekommen war: das te man neu ansprechen.“ Ich traute Gespräch mit der geistigen Welt. Es meinen Ohren nicht, als er fortfuhr: herrschte eine Diskrepanz zu vielen „Vorschlagen würde ich dafür Theo Kulturschaffenden, es gab Probleme im Waigel.“ Ich war baff erstaunt und 58 Theo Waigel habe mir das ganz ehrlich am Anfang gar gelungen, Professor Lorenz zu uns nicht zugetraut. Ich sagte, ich würde zu holen. gerne mitarbeiten, empfände es als eine hohe Ehre und nannte ihm ein Franz Heubl bearbeitete die Außenpo- paar Leute, Franz Heubl, Fritz Pirkl und litik. Er hat damals in Bonn Vertreter andere, die ich für erfahrener und bes- der Außenpolitik, aus der Wissenschaft, ser geeignet hielt als mich. Er meinte: aus der Publizistik zusammengeholt „Ja, die können alle mitarbeiten, da und das Kapitel erarbeitet. Hans Maier hab ich nichts dagegen. Aber ich bin hat ein fabelhaft formuliertes Kapitel dafür, dass Sie es machen.“ Im Nach- zu Bildung und Wissenschaft geliefert. hinein geht mir die Strategie schon auf. Peter Schmidhuber hat die Wirtschaft Erstens dachte er sich wohl, wenn er konzipiert, Fritz Pirkl das Soziale, Max den Vorsitzenden der Jungen Union Streibl Umweltpolitik. Und ich habe dazu ernenne, dann zeige das, dass er selber noch versucht, Jugend und Ge- für die junge Generation etwas übrig sellschaft einzubringen. Ein selbststän- habe. Zweitens: Würde ich es schaffen, diges Thema war noch Frauen und Po- dann hätte er mich vorgeschlagen. litik. Wir arbeiteten in Untergruppen, Und würde ich es nicht schaffen, dann sammelten die Ergebnisse in Werk- müsste ich für den Rest meines Lebens stattberichten, in gemeinsamen Ta- den Mund halten. Und drittens: Er hat gungen an verschiedenen Orten, oft in das Machtgefüge der CSU unter und München. Keinem der Beteiligten, ob- neben sich nicht durcheinander ge- wohl sie zum Teil Minister oder Staats- bracht. Hätte er damals Franz Heubl sekretäre waren, keinem war die Arbeit genommen, Max Streibl oder Fritz zu viel. Sie haben mich als den Jüngs- Pirkl, hätte jeder den nächsten Minis- ten als Vorsitzenden akzeptiert. So ha- terpräsidenten oder den nächsten Par- ben wir bis 1976 gearbeitet, dann war teivorsitzenden darin gesehen. das Programm fertig. Ich habe zwei Könner der Sprache, den Literaturkriti- In der Jungen Union hatte ich nie- ker Paul Konrad Kurz und Wilfried manden zur Verfügung, der mir hätte Scharnagl, damals noch junger Redak- helfen können. Es war, das sage ich teur beim Bayernkurier, gebeten, es ganz deutlich, die Hanns-Seidel-Stif- sprachlich zu überarbeiten, und das war tung, die mir damals geholfen hat, das ganz dringend notwendig. Es ist ein wissenschaftliche Umfeld zu erarbeiten. kompaktes, modernes Programm ent- Wir begannen mit der Arbeit, gründe- standen, das wir auf einem Sonderpar- ten Untergruppen, eine für Grundsatz- teitag 1976 verabschiedet haben. Auf fragen im engeren Sinne, mit Anton mein damaliges Redekonzept schrieb Jaumann. Das war ein tolles Arbeiten, mir Strauß „höchste Anerkennung, denn es ist Jaumann und mir gelungen, Respekt und Dank“. Das verwahre ich bekannte Theologen und Philosophen natürlich heute noch! der Zeit zu Diskussionen, Beiträgen und Vorträgen heranzuziehen. Damals war Wir haben damals in dieser Umbruch- schon Eugen Biser bei uns, ebenso die zeit, es war eine Umbruchzeit, viele wichtigsten Vertreter der protestanti- Geister gewonnen. Die Arbeit wurde schen Fakultät in München. Es ist so- fortgesetzt, die Arbeit der Grundsatz- Die Wurzeln und geistigen Grundlagen der CSU 59 kommission war nicht beendet, wir ha- ma hatte er vermerkt. Er hat sich für ben die Leute weiter zu uns eingeladen. diese Diskussion immer die Zeit ge- Daraus ist ein produktiver Dialog ent- nommen. Ich habe ihn kennen gelernt standen, den ich später als Vorsitzen- als einen Mann, mit dem man vieles der der Landesgruppe in Kreuth erwei- diskutieren kann. Das hat unser Ver- tert habe. Wir haben Gäste wie Reiner hältnis sehr geprägt. Er hat dann das Kunze, Martin Walser, Joachim Gauck Werk wohlgefällig betrachtet und sich oder zuletzt Wolf Biermann eingeladen auf einem Parteitag sehr positiv ge- und ich glaube, dass das der CSU sehr äußert. gut getan hat, und zwar nach beiden Richtungen hin. Diese Gäste stellten Renate Höpfinger: Sie haben geschil- plötzlich fest, dass man mit uns reden dert, wer alles an der Erarbeitung des kann, dass wir nicht so sind wie im Programms mitgewirkt hat. Wie ver- „Spiegel“ dargestellt. Und umgekehrt breitet war denn die Diskussion? Wer habe ich unsere Freunde gebeten, sich außer Historikern und Politikwissen- auch einmal ganz andere Argumente schaftlern liest ein Programm über- anzuhören. Daraus ist ein Dialog ent- haupt? Wer in der Partei befasst sich standen, der für die ganze CSU sehr damit? fruchtbar war. Theo Waigel: Man muss die Erarbei- Renate Höpfinger: Das Bedürfnis nach tung des Programms auf eine breite einem Grundsatzprogramm war nach Ebene stellen. Wenn man nur ein paar Ihrer Schilderung bei Strauß angesie- Interessierte nimmt und hier und da delt und bei Teilen der Jungen Union, einen Kurs über das neue Grundsatz- weniger beim Rest der Partei. Die programm anbietet, möglichst zentral Grundsatzdiskussion ist demnach eine in München oder in Kreuth, da kom- Art Selbstläufer geworden? men nur wenige Interessierte und einige Außenseiter, sonst niemand. Theo Waigel: Strauß war sich am An- Es mussten natürlich alle Mitglieder fang noch nicht sicher, wo das landen der Grundsatzkommission im ganzen soll. Ich habe ihn regelmäßig infor- Land präsent sein. Aber das hat nicht miert, und er hat gemerkt, das ist in gereicht. In jedem Bezirksverband guten Händen, wir sind auf einem gut- haben wir noch einmal eine eigene en Weg. Als das Programm im Entwurf Grundsatzkommission eröffnet, die von fertig war, sollte es an einem Montag uns alles Material bekommen hat und im Landesvorstand diskutiert werden. dies auch diskutierte. Da musste jedes Strauß kam herein, grantig, und be- Mal einer von uns dort auch für Dis- merkte: „Sie haben mir vielleicht ein kussionen zur Verfügung stehen. Diese Wochenende beschert!“ Ich dachte: Verantwortlichen wiederum waren be- „Um Gottes Willen, was ist denn wie- reit, in den Kreisverbänden und Orts- der schief gelaufen? Wer hat ihn denn verbänden die Diskussion zu führen. wieder geärgert?“ Er sagte nur: „Ich Ich bin jahrelang durchs ganze Land musste das Programm lesen.“ Er gehör- gezogen und habe Diskussionen und te zu den wenigen, die das ganze Pro- Vorträge dazu gehalten. Und dann gramm gelesen haben. Und sogar jede haben wir immer wieder Werkstattbe- grammatikalische Form oder ein Kom- richte gemacht, einzelne Kapitel ver- 60 Theo Waigel sandt, zur Diskussion aufgefordert, um dern die geistige Not. Und eine geisti- Rückmeldungen gebeten. Das hat dazu ge Not kann auch später wieder ent- geführt, dass wir eine Beschäftigung stehen, auch in Zeiten des materiellen auch mit einzelnen Kapiteln des Überflusses. Deshalb hielt ich es für Grundsatzprogramms erreichten und wichtig, die Arbeit fortzusetzen. Und sich fast die Hälfte der Partei an der ich war mir im Klaren, dass ich dies auf Diskussion beteiligte. Dauer nicht gleichzeitig als Parteivor- sitzender tun konnte, das hätte mich Renate Höpfinger: Strauß als Partei- überfordert, zumal dann später auch vorsitzender hat die Anregung zur noch die Arbeit als Bundesfinanzminis- Grundsatzdiskussion gegeben, Sie als ter hinzukam. Vorsitzender der Grundsatzkommis- sion haben sie organisiert und durch- Es war dann mein Vorschlag, weil ich geführt. Sie waren später selbst zehn bewusst die Partei integrieren wollte Jahre lang Parteivorsitzender der CSU. und auch jene, die sich nach dem Tod In dieser Funktion bestimmten Sie den von Franz Josef Strauß außerhalb der Kurs der Partei entscheidend mit. Wel- Parteihierarchie befanden, mit ein- chen Einfluss hat dieses Amt auf die binden wollte. Dazu gehörte Edmund Fundierung der Partei? Wie ist das Stoiber. Und darum habe ich ihn zum Wechselspiel zwischen Vorsitzendem Vorsitzenden der Grundsatzkommis- der Grundsatzkommission und dem sion vorgeschlagen, weil ich annahm, Parteivorsitzenden? Sie hatten ja nach- dass er sich mit derartigen Fragen be- einander beide Rollen inne. Als Sie schäftigte. Er musste früher schon im eine Grundsatzkommission einsetz- neu gegründeten Umweltministerium ten, geschah dies erneut in einer Um- neue Gedanken entwickeln. Ich habe bruchszeit? innerhalb der Partei ein nicht vorgese- henes Gremium gegründet, mit dem Theo Waigel: Zwischenzeitlich wa- Parteivorsitzenden, seinen Stellvertre- ren mehr als zehn Jahre vergangen. tern, den Fraktionsvorsitzenden und 1988/89 war schon ein Wetterleuchten ganz bewusst mit Edmund Stoiber und spürbar. Wir wussten noch nicht, was Gerold Tandler, weil ich sie als wichti- geschieht, aber dass etwas in Bewegung ge Politiker der Zeit zuvor auch in die kam, das war spürbar. Ich glaube nicht, Zeit danach integrieren wollte. dass man auf die Dauer mit pragmati- schen Entscheidungen gewinnen kann. Renate Höpfinger: Als Inhaber des Wahlen verliert man nicht am Wahl- Amtes oder der Funktion Parteivor- tag, sondern wenn man fünf bis zehn sitzender kann man also den Kurs der Jahre vorher die geistige Diskussion Partei schon sehr maßgeblich bestim- nicht bewältigt hat, die Fragen der Zeit men? nicht aufgegriffen hat und auf die drin- genden Probleme der Menschen keine Theo Waigel: Ja, das glaube ich schon, Antwort gegeben hat. Und zwar nicht wobei der Parteivorsitzende natürlich nur auf die materiellen, sondern auch auch selbst einen Beitrag dazu leisten auf die immateriellen. Und noch ein- muss. Wenn ich Strauß zu einer Grund- mal zurück zu 1946. Damals herrschte satztagung gebeten habe, dann war er ja nicht nur die materielle Not, son- dazu immer bereit und hat stets ein Die Wurzeln und geistigen Grundlagen der CSU 61 interessantes Referat geliefert. Auch wenn wachsende Bevölkerungsteile heute muss ein Parteivorsitzender oder und damit auch Wählerschichten kir- eine Parteivorsitzende immer wieder in chenfern, konfessionslos sind oder sich der Lage sein, ein geistiges Fundament zu nicht christlichen Glaubensgemein- zu skizzieren und darzustellen. Die Par- schaften bekennen? Soll sich die CSU tei zu ermuntern und zur Diskussion vor dem Hintergrund der wachsenden aufzufordern, das ist eine ganz wichti- muslimischen Gesellschaftsteile auch ge Aufgabe eines Parteivorsitzenden. für Nichtchristen öffnen, zumal der sprichwörtliche „türkische Gemüse- Renate Höpfinger: Wie definieren Sie händler an der Ecke“ von der Sozial- das christliche Politikverständnis der struktur usw. gut in die CSU passen CSU heute? würde?

Theo Waigel: Das „C“ ist eine wichti- Theo Waigel: Ich sehe hier überhaupt ge Komponente des Politikverständ- keine Gegensätze. Aus dem „C“ leitet nisses. Ich definiere die CSU als eine sich ja eine natürliche Ordnung, eine liberale Partei, d.h. offen für neue vernünftige Ordnung ab, der auch der Ideen, als eine konservative Partei, die Kirchenferne oder der Agnostiker zu- um ein tragendes, dauerhaftes Werte- stimmen kann. Im Gegenteil: Der star- und Ordnungssystem weiß, als eine so- ke Zustrom zu kirchlichen Schulen ziale Partei, und zwar solidarisch allen oder zu klösterlichen Internaten nicht Menschen gegenüber, nicht nur einer nur aus kirchentreuen Familien zeigt Gruppe und nicht nur einer Klasse. mit aller Deutlichkeit, dass dies durch- Und ich definiere das „C“ als über- aus hinein passt in eine moderne Zeit. greifende Idee, die Motiv und Grenze Man sieht ja auch mit aller Deutlich- der Politik darstellt. Motiv, Primäridee keit, wie in Amerika und anderen Län- heißt: Verantwortung vor Gott – und dern Präsidentschaftskandidaten mit Engagement und Liebe zum Nächsten. einer überzeugten christlichen Haltung Aber auch die Grenze der Politik, da Po- eine Mehrheit finden über kirchen- litik keine letzten Antworten geben nahe Bevölkerungskreise hinaus. Man kann, sondern nur vorletzte. Wenn darf das nicht missionarisch gegen die man um die letzte Verantwortung über Menschen tun, sondern wenn man diese Welt und über dieses Leben hi- überzeugt ist von einer Idee und diese naus weiß, dann ergibt sich daraus Idee auch zum Leitmaßstab seines Han- auch die Grenze für das, was man in delns macht, ohne dass man damit der Politik machen darf und wo man irgendjemanden diskriminiert. Insofern sich zurücknehmen soll. In einer belie- halte ich das für eine ganz moderne big gewordenen Zeit ist es Kompass, Idee in unserer Zeit und die verdanken Gegenpol zur Volatilität der Politik, wir denen, die das 1945 begonnen unverzichtbarer Kompass für CDU und haben. CSU. Renate Höpfinger: Damit haben Sie Renate Höpfinger: Wie kann die CSU fast schon meine nächste Frage beant- künftig ihre Mehrheiten gewinnen, wortet: Können die Unionsparteien ihr wenn die Säkularisierung der Gesell- Erbe ungebrochen weiterführen? Gilt schaft noch weiter voranschreitet, das, was 1945 grundgelegt wurde, im- 62 Theo Waigel mer noch? Oder muss heute, und wenn werden? Schreckt das Christliche und ja, in welcher Weise, das geistige Fun- Soziale im Namen nicht vielleicht ab? dament der Unionsparteien neu gelegt werden? Theo Waigel: Nein, im Gegenteil. Wenn es gelungen ist, in Sachsen Theo Waigel: Man muss die Sprache und in anderen neuen Bundeslän- übersetzen, der Jugend unvoreinge- dern Mehrheiten zu gewinnen, obwohl nommen gegenüber treten, die Jugend dort nur 20 oder 25% eingeschriebene nehmen, wie sie ist. Das ist eine ande- Christen leben, dann zeigt dies, das „C“ re Jugend als 1945! Aber so viel braver schreckt nicht ab. Es kommt an, wenn war die Jugend 1945 auch nicht. Dass wir es als Grundprinzip ernst nehmen wir heute eine junge Generation, un- und ehrlich umsetzen. Das Soziale sere Kinder ganz anders ansprechen muss man in unserer Zeit neu denken, müssen, dass sie mit uns ganz anders und alles Neue muss man sozial den- sprechen, ist richtig. Doch bevor wir ken. Das erfordert modernes soziales uns darüber beklagen, muss man Denken in einer globalen Zeit. In einer fragen, warum ist das so. Jugend ist so volatilen Zeit wie der unseren bedarf durch unser Verhalten geprägt, reflek- es eines archimedischen Punktes für tiert unser eigenes Verhalten. Wenn diese Welt. Das ist die Primäridee einer uns das nicht passt, müssen wir schau- aus christlicher Verantwortung heraus en, was wir selbst falsch gemacht ha- gestalteten Politik. Sie ist attraktiv, weil ben. sie sich der Freiheit, der unteilbaren Würde des Menschen, dem Frieden in Renate Höpfinger: Nicht das geistige der Welt und dem Schutz der Schöp- Fundament muss sich also ändern, fung verpflichtet füllt. sondern die Sprache muss angepasst werden. Müsste dann nicht der Partei- Renate Höpfinger: Herr Dr. Waigel, name auch geändert und angepasst ich danke Ihnen für das Gespräch. Glanz und Elend einer Weltorganisation – 60 Jahre Vereinte Nationen*

Peter J. Opitz

1. Einführung Sitz im Sicherheitsrat erhalten wird. Wäre dies der Fall und würde auch Der Zeitpunkt für die Behandlung die- Japan einen solchen ständigen Sitz ses Themas hätte kaum besser gewählt erhalten, so wäre dies auch in anderer sein können, ist er doch in doppelter Hinsicht eine Zäsur. Denn mit ihm wä- Hinsicht von Bedeutung: Erstens, wur- ren jene Art. 53 und 107 der VN-Char- de vor 60 Jahren, am 26. Juni 1945, die ta endgültig hinfällig, die sich auf die Charta der Vereinten Nationen (im so genannten „Feindstaaten“ des Zwei- Folgenden „VN“) unterzeichnet, die ten Weltkrieges beziehen und notfalls in der Millenniums-Erklärung der VN auch militärische Maßnahmen gegen vom 8. September 2000 von den Staats- sie erlauben, ohne damit gegen die Be- und Regierungschefs der 191 Staaten, stimmungen der Charta zu verstoßen. die sich inzwischen ihrer Geltung un- Gerade diese beiden Artikel, für deren terworfen haben, „als unverzichtbare Streichung auch Generalsekretär Kofi Grundlage einer friedlicheren, in größe- Annan in seinem jüngsten Reform- rem Wohlstand lebenden, gerechteren papier eintrat, erinnern daran, dass die Welt“ (A/54/2000) bezeichnet wurde. Weltorganisation sich aus einer Kriegs- Zweitens, weil derzeit die Bemühungen allianz gegen Deutschland und Japan um eine Reform dieser Charta, die ge- entwickelte, um dann in den nächsten legentlich als die größte Reform seit der Jahrzehnten zur größten Friedensorga- Gründung der VN bezeichnet wurde, nisation der Geschichte zu werden. in ihre kritische Phase eintreten. Damit dürfte sich auch bald zeigen, ob sich Im Folgenden sollen zwei Komplexe die großen Hoffnungen der deutschen behandelt werden: Außenpolitik, soweit sie die Welt- organisation betreffen, erfüllen wer- • Bezug auf den 60. Jahrestag der Grün- den, konkret, ob das wiedervereinigte dung der VN und die Entwicklung Deutschland den erstrebten ständigen dieser Weltorganisation

Politische Studien, Heft 403, 56. Jahrgang, September/Oktober 2005 64 Peter J. Opitz

• und die derzeit diskutierte Reform- • Geheimnis, dass die UN nicht als vi- Agenda, deren Umsetzung nicht nur tale Kraft der internationalen Politik über die Akzeptanz der Weltorganisa- überleben können, wenn sie nicht re- tion entscheiden wird, sondern à la formiert werden.“ longue auch über deren Zukunft. Denn kommt es zu keiner Reform, oder fällt diese in wesentlichen Punk- 2. Rückblick auf 60 Jahre ten unzureichend aus, dann wird die Akzeptanz der VN als internationales Ein Rückblick auf 60 Jahre Vereinte Na- Steuerungs- und Strategieinstrument tionen kann sich natürlich nicht auf abnehmen und parallel dazu neue das ganze breite Spektrum der Akti- bessere Netzwerke aufgebaut werden vitäten der Weltorganisation beziehen, müssen. In diesem Sinne äußerte sich sondern muss sich auf einige ihrer zen- im April 2005 die amerikanische tralen Tätigkeitsbereiche beschränken, Außenministerin C. Rice: „Es ist kein nachfolgend drei.

Abbildung 1: Das System der Vereinten Nationen

nach Hüfner, Klaus: Das System der Vereinten Nationen, in: APuZ 22/2005, S.12. Glanz und Elend einer Weltorganisation – 60 Jahre Vereinte Nationen 65

2.1 Weltfrieden und internationale gert wurde und inzwischen ausreicht, Sicherheit um die Menschheit auszulöschen und den Erdball für lange Zeit oder immer Zu ihnen gehört zuerst und vor allem unbewohnbar zu machen. Inzwischen die in der Präambel der VN-Charta an- hat sich auch die Hoffnung, dass diese gesprochene Hauptzielsetzung der VN, Aufrüstung mit dem Ende des Ost- „künftige Geschlechter vor der Geisel West-Konflikts aufhören würde, als des Krieges zu bewahren“ – und zwar haltlos erwiesen. In vielen Teilen der durch kollektive Maßnahmen, auf Welt, insbesondere in den USA, sind friedliche Weise und unter Beachtung die Rüstungsausgaben wieder deutlich des Völkerrechts. Gerade bei diesem im Steigen begriffen. 2004 betrugen sie Bereich zeigt sich am deutlichsten das laut dem neuen SIPRI-Jahrbuch welt- „Elend“ der Weltorganisation. Zwar weit 1.05 Billionen US$ (844 Mrd. €); kam es in den vergangenen sechs Jahr- davon belief sich der Anteil der USA auf zehnten nicht zu einem dritten Welt- 47%. Bei einem Anstieg global um krieg, doch dürfte dies weniger ein Ver- 2,4% pro Jahr und um 6% seit 2002 dienst der UNO gewesen sein als eine sind bald wieder die Margen des Kalten Folge des Gleichgewichts des Schre- Krieges erreicht. ckens zwischen den „Supermächten“ und ihren Verbündeten. Dafür aber Auch die Dämme, die gegen die Proli- kam es während des Ost-West-Kon- feration von Massenvernichtungswaf- flikts zu über 200 Kriegen, die in ihrer fen errichtet wurden, drohen zu bers- Wirkung – ca. 50 Millionen Tote, 80 ten. So dürften nach Indien, Pakistan Millionen Verletzte und mehrere 100 und Nordkorea bald weitere Staaten Millionen Vertriebene – einem dritten über A-, B- oder C-Waffen verfügen und Weltkrieg nur wenig nachstehen. In- damit aller Voraussicht nach einen neu- zwischen ist die Zahl der Kriege auf en Rüstungswettlauf auslösen. Exper- 216 gestiegen. ten schließen nicht aus, dass es in 15 Jahren bis zu 20 Atomwaffenstaaten Nicht minder desaströs ist die Bilanz geben wird. Eine Entwicklung, die auch der Bereiche „Abrüstung und Rüstungs- deshalb mit unkalkulierbaren Risiken regelung“. Zwar beauftragt die VN- verbunden wäre, als damit auch die Charta in Art. 26 den Sicherheitsrat (im Zugriffsmöglichkeiten terroristischer Folgenden „SR“), dafür Sorge zu tragen, Gruppen auf nukleare Waffen gefähr- „dass von den menschlichen und wirt- lich zunehmen würden. schaftlichen Hilfsquellen möglichst we- nig für Rüstungszwecke abgezweigt An all diesen Entwicklungen irritiert wird“. Doch dieser Auftrag konnte we- vor allem, dass gerade die ständigen der verhindern, dass sich die Ausgaben, Mitglieder des Sicherheitsrates, also die seit 1945 weltweit für Rüstung und jene Mächte, denen die Charta neben Militär ausgegeben wurden, auf unvor- besonderen Rechten die „Hauptver- stellbare Summen von vielen Billionen antwortung“ für die Wahrung des Dollar belaufen, noch, dass die Zer- Weltfriedens und der internationalen störungskraft der in dieser Zeit ent- Sicherheit auferlegt, nicht Vorbilder, wickelten Waffen immer weiter gestei- sondern Vorreiter sind. 66 Peter J. Opitz

Die Ursachen für dieses Versagen der gegen untersagt ist, sofern von ihnen Vereinten Nationen in ihrem wichtigs- keine Bedrohung der internationalen ten Tätigkeitsbereich sind bekannt. Sie Sicherheit ausgeht. Berücksichtigt man sind struktureller und mentaler Art, nun, dass es sich bei 179 der insgesamt wobei sich die strukturellen Ursachen 216 Kriege, die es weltweit zwischen letztlich auf die mentalen zurückführen 1945 und 2005 gab, um Bürgerkriege lassen. Mit strukturellen Ursachen sind handelte, also interne Konflikte, wird Strukturen gemeint, die schon von den deutlich, warum allein schon aus recht- Gründervätern der Vereinten Nationen lichen Gründen die Weltorganisation mit Billigung der Mehrzahl der Mit- so häufig zur Untätigkeit verdammt ist. glieder der Weltorganisation bewusst in Berücksichtigt man ferner, dass es un- die Charta eingebaut wurden, obwohl terhalb des Begriffs „Bürgerkriege“ zahl- von Anfang an erkennbar war, dass sie reiche spontane und systematische die friedensstiftende Tätigkeit der UNO Übergriffe von Regierungen und Regi- erheblich behindern und einschränken men gegen Teile der Bevölkerungen würden wie z.B. das Souveränitätsprin- ihrer eigenen Länder gibt, etwa gegen zip und das Veto-Recht der ständigen ethnische und religiöse Minderheiten, Ratsmitglieder. gegen Oppositionelle und Dissidenten, die diskriminiert, drangsaliert oder gar massakriert werden, so wird der Kreis Souveränitätsprinzip der Angelegenheiten, bei denen die Weltorganisation nicht eingreifen darf, Das Souveränitätsprinzip, verankert vor noch um vieles größer. Eine Verbesse- allem in Art. 2.7 der VN-Charta, besagt, rung der Lage könnte eine flexiblere dass aus der Charta „eine Befugnis der Auslegung des Souveränitätsprinzips VN zum Eingreifen in Angelegenhei- bringen, doch eine solche stößt bei der ten, die ihrem Wesen nach zur inneren weitaus überwiegenden Mehrzahl der Zuständigkeit eines Staates gehören, Mitglieder auf Widerstand. Bei den oder eine Verpflichtung der Mitglieder, Groß- und Mittelmächten sowieso, solche Angelegenheiten einer Regelung aber auch bei den kleinen Staaten, ins- auf Grund dieser Charta zu unterwer- besondere bei vielen Ländern des Sü- fen, nicht abgeleitet werden“ kann. Die dens, die im Souveränitätsprinzip einen einzige Ausnahme dieser Regel bilden Schutz vor Eingriffen und Bevormun- Zwangsmaßnahmen des Sicherheits- dungen größerer Staaten sehen. Den- rates nach Kap. VII der VN-Charta. An- noch, zu den großen Aufgaben einer gesichts der zunächst engen Auslegung Charta-Reform würde zum einen die des Begriffs „innere Angelegenheiten“ Entwicklung eines zeitgemäßen Ver- hieß das, dass sich die Zuständigkeit ständnisses von Souveränität gehören der Weltorganisation bei Maßnahmen und zum anderen die Schaffung von kollektiver Sicherheit in der Regel auf Verfahren, die korrespondierend die internationale Konflikte beschränkt, damit entstehenden Gefahren eines das Eingreifen in interne Konflikte da- Missbrauchs verhindern. Glanz und Elend einer Weltorganisation – 60 Jahre Vereinte Nationen 67

Kriege und gewaltsame Konflikte 1945-2005 nach Typen

(A) Antiregime-Kriege; (B) Innerstaatliche Religions-, Sezessions- und Stammeskriege; (C) Zwi- schenstaatliche Grenzkriege; (D) Entkolonisierungskriege.

Regionale Verteilung der 1990-2005 geführten Kriege und gewaltsame Konflikte

Quelle: Ferdowsi, Mir A.: eigene Berechnungen und Aktualisierung auf der Grundlage der Kriegslisten, in: Gantzel, Klaus Jürgen/Schwinghammer, Torsten: Die Kriege nach dem Zweiten Weltkrieg, 1945 bis 1992, Münster 1995. Arbeitsgemeinschaft Kriegsursachenforschung (AKUF): Das Kriegsgeschehen 2001, herausgegeben von Wolfgang Schreiber, Opladen 2002 sowie derselbe: Das Kriegsgeschehen 2002, Opladen 2003 und 2004.

Veto-Recht auch entzogen werden. Während des Kalten Krieges hat dies wesentlich zur Der zweite große, in die Charta einge- Blockade dieses für die internationale baute strukturelle Schwachpunkt, der Sicherheit hauptverantwortlichen Or- die Funktionsfähigkeit der VN wesent- gans der VN beigetragen. Dies fand lich beeinträchtigt, ist das im Art. 27.3 ihren äußeren Ausdruck in 232 Vetos angelegte Veto-Recht. Jedes ständige zwischen 1945 und 1989; erst nach Mitglied kann Beschlüsse des SR durch 1989 sank die Zahl der Vetos deutlich. ein Veto verhindern, und zwar ohne je- Doch die tatsächlich eingelegten Vetos de Angabe von Gründen. In der Praxis bilden natürlich nur die Spitze des Eis- heißt das, dass alle Konflikte, in denen berges. Denn zahlreiche Streitfälle wer- Interessen eines ständigen Mitglieds den erst gar nicht zur Abstimmung oder die seiner Verbündeten involviert vorgelegt, wenn schon im Vorfeld ab- sind, einer Regelung durch den SR ent- sehbar ist, dass ein ständiges Mitglied zogen werden können und de facto ein Veto einlegen würde. Jüngstes Bei- 68 Peter J. Opitz spiel war der Verzicht Washingtons auf Die eingeschränkte Handlungs- die Einbringung einer weiteren Resolu- fähigkeit tion zur Autorisierung des geplanten Angriffs auf den Irak, nachdem Frank- Eine weitere Schwachstelle liegt in der reich und Russland für diesen Fall ein eingeschränkten Handlungsfähigkeit Veto angekündigt hatten. Umgekehrt des SR. Der Rat verfügt nicht über verzichteten die Kriegsgegner auf eine die erforderlichen Mittel, um notfalls Verurteilung der USA im SR, denn ein schnell und militärisch effizient gegen solcher Antrag wäre an einem Veto einen Aggressor vorgehen zu können. Washingtons und Londons gescheitert. Solche Mittel waren in Art. 43 der VN- Charta zwar vorgesehen, demzufolge Die Kritik am Veto-Recht ist ebenso ver- die Mitglieder mit dem SR Sonderab- breitet wie berechtigt. Allerdings wird kommen schließen, die vorsehen, dass dabei zumeist übersehen, dass das Ve- sie ihm „auf dessen Ersuchen Streit- to-Recht das kleinere von zwei Übeln kräfte zur Verfügung stellen“. Doch der darstellt. So gehört, wie die Geschich- Artikel wurde nie implementiert und te des Völkerbundes gezeigt hat, zu den ungeachtet der Mahnung mehrerer Ge- Voraussetzungen für das Funktionieren neralsekretäre spricht nichts dafür, dass des Systems kollektiver Sicherheit die es in der Zukunft zum Abschluss sol- Beteiligung aller Großmächte. Deren cher Verträge kommen könnte. Wir ste- zentrale Bedingung war jedoch 1945 hen somit vor dem Paradox, dass die die Zubilligung eines Veto-Rechts. Oh- VN bzw. der SR zwar über das Monopol ne dieses Recht wären weder die Sow- auf legitime Gewaltausübung verfügt, jetunion noch die USA den Vereinten nicht aber über die dazu erforderlichen Nationen beigetreten, und ohne diese Mittel. Salopp gesprochen: Der SR ist beiden Mächte hätte es keine Weltor- letztlich ein zahnloser Tiger. Um seinen ganisation gegeben. An dieser Einstel- Beschlüssen Geltung zu verschaffen, lung hat sich, wie die gegenwärtige Re- muss er Mitglieder „mit Zähnen“ fin- formdebatte zeigt, bis heute nichts ge- den und sie mit der Umsetzung seiner ändert. Wie das Souveränitätsprinzip ist Beschlüsse beauftragen. Die Schwach- somit auch das Veto-Recht von konsti- punkte dieser Regelung liegen auf der tutiver Bedeutung und steht deshalb Hand: Findet er keine Mitglieder, die wie jenes auch bei der Reform der Welt- interessiert und fähig sind, für ihn zu organisation letztlich nicht zur Dispo- handeln, also keine „coalition of the sition. Was zur Debatte gestellt werden willing“, und ist auch keine der Regio- müsste, ist dagegen erstens die Fra- nalorganisationen gemäß Kap. VIII der ge nach dem Umfang eines solchen VN-Charta zur Übernahme eines sol- Rechts. So müssten Maßnahmen einer chen Mandats bereit oder in der Lage, vorsichtigen Einschränkung zentraler dann ist ein militärisches Eingreifen Gegenstand von Reformvorschlägen kaum möglich. Und da Staaten im All- sein sowie zweitens die Gefahren einer gemeinen nur dann bereit sind, für den Ausweitung des Kreises der Veto-Mäch- SR zu handeln, wenn eigene Interessen te. Eine solche Ausweitung muss auf je- auf dem Spiel stehen, und es derzeit den Fall vermieden werden, da sie die kaum handlungsfähige Regionalorga- Handlungsfähigkeit des Rates noch wei- nisationen gibt, bleiben zahlreiche ter einschränken würde. Konflikte ungelöst. Glanz und Elend einer Weltorganisation – 60 Jahre Vereinte Nationen 69

Zwischenbilanz ist die VN eine Organisation, in der vor allem die Regierungen vertreten sind Die Zwischenbilanz, die sich aus all ungeachtet der die Präambel der Char- dem ergibt, ist ernüchternd. Eine ta einleitenden Worte „Wir, die Völker internationale Organisation, deren der Vereinten Nationen (...)“. Es gilt führende Mitglieder ihren wichtigsten aber auch für die Bevölkerungen der Sicherheitsmechanismus jederzeit fol- meisten Mitgliedsstaaten. Auch sie ste- genlos blockieren können, die über hen größeren finanziellen oder gar keinerlei eigene Zwangsmittel verfügt, menschlichen Opfern zur Herstellung um ihre Beschlüsse notfalls gewaltsam des Weltfriedens im Allgemeinen re- durchsetzen zu können, ist strukturell serviert bis ablehnend gegenüber. Wir nicht in der Lage, weder den Frieden reden viel von „globaler Verantwor- zwischen den Nationen zu sichern tung“, und ein solches Gefühl ist in noch die Sicherheit der Völker und den vergangenen Jahren ohne Zweifel Menschen. Die fatale Folge dieser struk- weltweit gewachsen. Aber es ist noch turellen Defizite ist, dass die Staaten gut immer weit davon entfernt, zur leiten- beraten sind, auch weiterhin selbst für den Maxime der großen Mächte oder ihre Sicherheit zu sorgen, sei es durch größerer Teile der Weltbevölkerung zu den Aufbau entsprechender Rüstungen werden. (was die hohen Rüstungsausgaben erklärt), sei es durch den Abschluss Wenn sich diese Schattenseiten inzwi- schlagkräftiger Militärbündnisse, was schen ein wenig aufgehellt haben und wiederum die Daseinsberechtigung der etwas „Glanz“ sichtbar wird, so ist dies UNO untergräbt, die man dann bes- vor allem die Folge eines in der Charta tenfalls noch zur völkerrechtlichen Le- selbst gar nicht vorgesehenen Instru- gitimierung von Militäraktionen be- mentariums, das als Reaktion auf nötigt. diese strukturellen Defizite im Verlauf der vergangenen fünf Jahrzehnte ent- Dass es diese strukturellen Defizite gibt wickelt und in der Praxis erprobt wur- und dass sie bislang noch nicht be- de. Gemeint sind die VN-Friedenstrup- hoben wurden, ist kein Zufall, sondern pen, für die die VN 1988 den Friedens- gewollt. Damit sind wir bei den er- nobelpreis erhielten. wähnten mentalen Ursachen, die die Schwäche der Vereinten Nationen be- gründen. Wir leben noch immer im VN-Friedenstruppen Zeitalter des Nationalstaats, ungeach- tet fortschreitender Globalisierung und Schon Anfang der 50er-Jahre hatten mit ihr einhergehender internationaler Bemühungen eingesetzt, die Blockaden, Verflechtungen und Abhängigkeiten. zu denen das Veto-Recht im sich ver- Das Primat der nationalen Eigeninter- schärfenden Ost-West-Konflikt geführt essen ist noch immer ungebrochen, hatte, aufzulockern und eine gewisse und die VN sind für viele ihrer Mit- Handlungsfähigkeit des SR bei jenen glieder insoweit interessant, wie sie sich Konflikten zu gewinnen, bei denen kei- für diese nationalen Eigeninteressen ne vitalen Interessen einer der beiden instrumentalisieren lassen. Das gilt vor Seiten auf dem Spiel standen bzw. an allem für die Regierungen, und letztlich deren Lösung beide ein Interesse hat- 70 Peter J. Opitz ten. Sie liefen zunächst darauf hinaus, fliktparteien standen und von diesen für bestimmte internationale Konflikte ausgehandelte Waffenstillstände über- Rahmenbedingungen zu schaffen, die wachten. Zentrale Einsatzprinzipien eine weitere Eskalation verhindern und sind: Einverständnis der Konfliktpar- es zugleich den Konfliktparteien mit teien, Unparteilichkeit der „Blauhelme“ Hilfe der UNO ermöglichen sollten, sowie Anwendung von Gewalt nur zur ohne Gesichtsverlust die militärischen Selbstverteidigung. Geburtsstunde und Aktivitäten auszusetzen und sich ohne erster Anwendungsfall war die Suez- Zwang und ohne Zeitdruck auf völlig Krise von 1956, als es zur Aufstellung freiwilliger Basis um eine friedliche der ersten United Nations Emergency Streitbeilegung zu bemühen. Das An- Force (UNEF 1) kam, um die Beendi- gebot der VN bestand in der Entsen- gung der Feindseligkeiten zu überwa- dung so genannter „Blauhelme“, also chen. Ein weiteres Beispiel ist der Ein- von VN-Mitgliedern freiwillig gestell- satz auf Zypern, der 1964 begann und ten Truppen, die zwischen den Kon- bis heute andauert.

Figure 1: Number of peacekeeping operations, 1948-2004

in: Survival, Vol. 46, Nr. 4, Winter 2004/05. Glanz und Elend einer Weltorganisation – 60 Jahre Vereinte Nationen 71

Dieser so genannten „ersten Generati- international hochrangig besetzte Kom- on“ von ,peace keeping‘-Operationen mission unter der Leitung des ehe- folgten seitdem drei weitere. Ende der maligen algerischen Außenministers 80er-Jahre eine „zweite Generation“, Brahimi auf der Grundlage von nun die sich um die Befriedung innerstaat- 50-jähriger Erfahrung ein umfassendes licher Konflikte bemühte, u.a. durch Konzept zu den ,peace keeping‘-Mis- die Gewährleistung freier Wahlen, die sionen vor, von dessen Umsetzung Demobilisierung von Guerillas und die man eine weitere Verbesserung des Rückführung von Flüchtlingen (Na- Instrumentariums der ,peace keeping- mibia, Zentralamerika, Kambodscha). operations‘ verspricht. Dieses Konzept Eine neue wichtige Komponente war ist Teil des laufenden Reformprozesses. nun der Einsatz von Polizei (CIVPOL) und zivilem Personal. Eine „dritte Ge- neration“ entstand nach dem Ende des Neuinterpretation des Souveräni- Ost-West-Konflikts, mit Einsätzen in tätsprinzips zerfallenen und von Bürgerkriegen zerrissenen Staaten zum Schutz der Während mit dem Instrument der Zivilbevölkerung und zur Linderung ,peace keeping-operations‘, mit dessen humanitärer Katastrophen, wobei zur Hilfe die Vereinten Nationen an vielen Durchsetzung des Mandats sogar der Stellen der Welt Flagge zeigen können, Einsatz militärischer Gewalt erlaubt war eine Reihe beeindruckender Erfolge er- (Somalia, Bosnien-Herzegowina, Libe- zielt wurde, befinden sich die Arbeiten ria, Haiti); man sprach deshalb von an einer zeitgemäßen Neuinterpreta- robustem ,peace keeping‘. Und schließ- tion des Souveränitätsprinzips noch lich entstand noch eine „vierte Gene- immer im Anfangsstadium. Doch auch ration“, die derzeit letzte und vom An- hier sind Fortschritte unübersehbar, satz her anspruchsvollste. Bei ihr geht und sie zeigen sich sowohl in der Theo- es um den Wiederaufbau gänzlich zer- rie wie auch in der Praxis. störter Staaten, also um so etwas wie ,state-‘ bzw. ,nationbuilding‘. In ihr ver- Nachdem im vergangenen Jahrzehnt binden sich militärische mit der vorü- die Generalsekretäre der VN immer bergehenden Übernahme politisch und wieder vor einer Verabsolutierung des wirtschaftlich exekutiver Aufgaben zu Souveränitätsprinzips gewarnt und zu einer ,post conflict reconstruction‘ (Ko- einer zeitgemäßen Neuinterpretation sovo, Osttimor, Afghanistan). aufgefordert hatten, legte 2002 eine hochrangig besetzte internationale Zwischen 1945 und 2005 gab es 64 sol- Kommission, die Axworthy-Kommis- cher ,peace keeping-operations‘, davon sion, einen vielbeachteten Bericht vor, 13 vor 1989, die überwiegende Mehr- in dem eine solche Neuinterpretation zahl von 51 aber erst seit 1989. Derzeit im Einzelnen beschrieben und begrün- sind es weltweit 18 Missionen, an de- det wird. Der Bericht führt den be- nen ca. 80.000 Blauhelme sowie Tau- zeichnenden Titel „The Responsibility sende Polizisten und zivile Experten be- to Protect“. Er erinnert zum einen da- teiligt sind. Im Juni 2004 wurden 2,8 ran, dass Staatssouveränität nicht nur Milliarden US-$ für Blauhelm-Einsätze Rechte beinhaltet, sondern auch Ver- bewilligt. Im August 2000 legte eine pflichtungen, wobei die vornehmste 72 Peter J. Opitz

Pflicht der Schutz der Bevölkerung Anfang April 2005 seine Ermittlungen durch den Staat ist. Und er formuliert, offiziell aufnahm. Es war im Übrigen auf diesem ersten Prinzip aufbauend die erste Ratsresolution, mit der der In- und es gleichzeitig ergänzend, ein zwei- ternationale Strafgerichtshof mit einer tes Prinzip, das lautet: Wenn eine Be- solchen Strafverfolgung beauftragt wur- völkerung schwer wiegenden Schaden de. Wenn sich der SR, wie schon 1993 erleidet, sei es in Folge von Bürgerkrieg, in Ruanda, so auch in dieser Krise, in Aufruhr, Unterdrückung oder Staats- der der Tatbestand des Genozid erfüllt versagen, der betreffende Staat aber ist, schwer tut, so hat dies wieder sehr nicht fähig oder nicht willens ist, ein wesentlich mit den Interessenlagen Ende herbeizuführen oder das Unrecht einiger ständiger Mitglieder zu tun, abzuwenden, dann weicht der Grund- etwa mit den Ölinteressen der VR Chi- satz der Nicht-Intervention der inter- na im Sudan, aber auch mit dem Anti- nationalen Verpflichtung, Schutz zu Terror-Kampf der USA, zu dem sie die gewähren. Ebenso wie der Brahimi- Hilfe Karthums benötigen. Bericht, der mehr operativer Natur ist, ist auch der Axworthy-Bericht ein wich- tiger Beitrag der Vereinten Nationen zur Leistungsbilanz der VN Schaffung einer humaneren Welt. Ob die die Weltorganisation tragenden Die Leistungsbilanz der VN im Kern- Mächte bereit sind, dieser „Verantwor- bereich Weltfrieden und internationa- tung zum Schutz“ auch gerecht zu wer- le Sicherheit fällt gemischt aus. Wäh- den, werden die kommenden Jahre zei- rend mit den ,peace-operations‘ in- gen. Dass sie das tun, fordert auch Kofi zwischen ein Instrument vorliegt, das Annan in seinem jüngsten Bericht, in es dem SR ermöglicht, eine Vielzahl dem es heißt: „Ich bin der Überzeu- der kleineren Konflikte einzudämmen gung, dass wir uns die Schutzverant- bzw. zu entschärfen – immer vorausge- wortung zu Eigen machen und ent- setzt, der politische Wille dazu ist vor- sprechend handeln müssen, wenn dies handen –, sind den Handlungsmög- notwendig ist.“ (Ziffer 135) lichkeiten des Rats bei Konflikten, in denen Mittelmächte oder gar ständige Wie schwer sich der SR in der Praxis Ratsmitglieder involviert sind, enge mit dieser Verpflichtung tut, zeigte sich Grenzen gesetzt. Hier bleibt letztlich beispielhaft bei der Darfur-Krise. Erst nur die Möglichkeit, über Verhandlun- nachdem 300.000 Menschen umge- gen im Rat oder über den General- bracht und nahezu eine Million aus sekretär Kompromisse zu finden, die ihren Heimatgebieten vertrieben wor- einen offenen bewaffneten Konflikt den waren, beschloss der SR Sanktio- vermeiden helfen. Misslingt dies und nen gegen die Verantwortlichen für die ist eine Großmacht zur Anwendung Vertreibung und Menschenrechtsver- militärischer Gewalt entschlossen wie letzungen in Darfur. Ferner bestimmte im Irak-Konflikt von 2003, so ist der die Resolution 1593 (2005), dass sich Rat letztlich machtlos. Dies der Welt- die Verdächtigen für Kriegsverbrechen organisation als Schwäche anzulasten, gegen die Menschlichkeit im Sudan vor ist angesichts der aufgezeigten struktu- dem Internationalen Strafgerichtshof rellen Defizite unfair und unsinnig. Der in Den Haag verantworten müssen, der eigentliche Adressat ist der das Völker- Glanz und Elend einer Weltorganisation – 60 Jahre Vereinte Nationen 73 recht und die Autorität der VN miss- mussten auch in einer Charta, in deren achtende Aggressor. Andererseits zeigt Mittelpunkt die Wahrung des Weltfrie- jedoch die Tatsache, dass die Bush-Ad- dens stand, in angemessener Weise ministration bis heute darauf besteht, berücksichtigt werden. Das heißt: Zu ihre Militäraktion im Irak sei durch die den Zielsetzungen der Charta mussten Ratsresolution 1441 gedeckt gewesen, auch die Schaffung eines internationa- wie wichtig eine solche Legitimation len Menschenrechtsschutzes gehören durch den Rat inzwischen ist. sowie die Befreiung der kolonisierten Völker. Für die Fähigkeit des SR, Verhand- lungslösungen zu erreichen, wäre eine Wenn beides in ihr nur am Rande an- Stärkung seiner Autorität nützlich, und gesprochen wurde, so war dies nicht ein Mittel dazu ist zweifellos die Er- zuletzt auf den Widerstand der Groß- höhung seiner Repräsentativität und mächte zurückzuführen. So hatten die damit seiner Legitimität durch die Er- vom Krieg geschwächten europäischen weiterung der Zahl der Ständigen Mit- Kolonialmächte nicht das geringste In- glieder durch Staaten aus den bislang teresse an der Auflösung ihrer profi- unzureichend repräsentierten Welt- tablen Kolonien, deren Rohstoffe und regionen. Andererseits garantiert auch Märkte sie mehr benötigten als je zu- eine verbesserte Repräsentativität kei- vor. Und ebenso wenig waren sie bereit, ne höhere Handlungsfähigkeit. Erfah- den Kolonialvölkern jene Menschen- rungsgemäß ist häufig eher das Gegen- rechte zu gewähren, die in den Men- teil der Fall. schenrechtserklärungen Frankreichs und der USA aufgeführt waren. Letzte- Wenn im Mittelpunkt sowohl der Völ- res galt im Übrigen auch für die USA, kerbundsatzung wie auch der VN-Char- in deren Südstaaten noch immer Mil- ta der Weltfrieden und die Gewährleis- lionen farbiger Amerikaner grundle- tung internationaler Sicherheit stehen, gende Menschen- und Bürgerrechte so ist dies vor allem eine Folge der verweigert wurden. Und es galt noch Weltkriege. Doch zwischen 1919 und mehr für die Sowjetunion, die zu jener 1945 lag mehr als nur ein weiterer Zeit einem großen Vielvölkergefängnis Weltkrieg. Dazwischen lag auch die Er- ähnelte. Die große Mauer, hinter die fahrung mit totalitären Diktatoren, de- sich all diese Mächte zurückziehen ren Regime durch Konzentrationslager, konnten, war das Souveränitätsprinzip, Völkermord und Massenvertreibungen d.h. die Nichteinmischung in „innere geprägt waren. Und zwischen ihnen lag Angelegenheiten“. Es waren deshalb ferner die Erstarkung der Unabhängig- auch nicht die Regierungen der Groß- keitsbewegungen in den riesigen Kolo- mächte, die in San Francisco die Ein- nialreichen der europäischen Mächte beziehung von Menschenrechtsschutz in Asien und Afrika, mit Millionen ent- und Selbstbestimmungsrecht in die rechteter, häufig de facto versklavter Charta durchsetzten, sondern ameri- Menschen. Beide Themen waren schon kanische und britische Menschen- 1941 in die Atlantik-Charta eingegan- rechtsbewegungen sowie einige Staaten gen, in der die wichtigsten Ziele der des Südens. Im Rückblick zeigt sich, angestrebten Nachkriegsordnung auf- dass gerade auf diesen beiden Gebieten geführt worden waren. Und beide wesentliche Leistungen der VN liegen. 74 Peter J. Opitz

2.2 Internationaler Menschen- • schen ist, zeigt die Tatsache, dass es rechtsschutz Anfang des 21. Jahrhunderts mehr als 60 Verträge gab, deren wichtigste Das gilt insbesondere für den Bereich von der überwiegenden Mehrzahl der der Menschenrechte und des Interna- Staaten der Welt unterzeichnet und tionalen Menschenrechtsschutzes. Letz- ratifiziert worden sind. Bei diesen terer ist inzwischen nicht nur zu einem wichtigsten handelt es sich um die zentralen eigenständigen Handlungs- Antirassismuskonvention von 1969, feld der VN geworden, sondern ist in um die beiden Menschenrechtspakte Form der „humanitären Intervention“ von 1976, um die Frauenrechts- sowie der Internationalen Strafgerichts- konvention von 1981, um die Anti- höfe auch wichtige Verbindungen mit Folter-Konvention von 1987 und um dem Bereich der kollektiven Sicherheit die Kinderkonvention von 1990. Die eingegangen. Wenn gelegentlich von Chronologie lässt erkennen, dass einer „anthropozentrischen Wende“ ge- schon bald nach Gründung der VN sprochen wird, die sich in den VN voll- ein Prozess einsetzte, in dessen Ver- zogen hat, so ist vor allem diese Ent- lauf dieses dichte Netz von Men- wicklung gemeint. schenrechtsschutzverträgen geknüpft wurde. Die Aktivitäten der VN auf diesem • Ein drittes Feld bildet die internatio- Gebiet lassen sich in vier große Felder nale Kontrolle der Umsetzung der aufteilen: vertraglichen Verpflichtungen in na- tionales Recht und ihre Umsetzung • Ein erstes Feld bildet die Anerken- durch die Politik. Hier beginnen nun nung der Universalität der Men- die Probleme. So konstatiert Kofi schenrechte. Sie begann mit der All- Annan in seinem jüngsten Bericht: gemeinen Menschenrechtserklärung „Nirgendwo ist die Kluft zwischen am 10. Dezember 1948, und sie er- Rhetorik und Realität – zwischen reichte eine wichtige Bestätigung Worten und Taten – so tief und so 1993 auf der Zweiten Weltkonferenz tödlich wie auf dem Gebiet des hu- für Menschenrechte in Wien, auf der manitären Völkerrechts.“ (Ziffer 134) China und verschiedene islamische So legen zwar die meisten Staaten den Staaten dabei scheiterten, diese Uni- Vertragsüberwachungsgremien regel- versalität in Frage zu stellen. Mit der mäßig Berichte vor, in denen sie über Universalität verfügen wir über eine ihre Maßnahmen bei der Umsetzung normative Grundlage für so etwas wie dieser Verträge in nationales Recht die Entwicklung eines die Völker und und Politik berichten, und diese Jah- Kulturen verbindenden Weltethos. resberichte sind bei den wichtigsten • Ein zweites Feld bildet die Einbe- Konventionen auch obligatorisch. Al- ziehung der in dieser Allgemeinen lerdings sind die Kompetenzen der Erklärung aufgeführten Menschen- Überwachungsgremien, die Richtig- rechte in völkerrechtliche Verträge, in keit dieser Berichte und damit die Be- denen sich die Staaten zum Schutz folgung der Verträge zu überwachen, und zur Förderung dieser Rechte ver- sehr begrenzt. Das gilt auch für das pflichten. Wie dicht dieses Netz der im Dezember 1993 geschaffene Amt vertraglichen Verpflichtungen inzwi- des Hohen Kommissars für Men- Glanz und Elend einer Weltorganisation – 60 Jahre Vereinte Nationen 75

• schenrechte und für die jährlich in • konnte, sind auch die weltweit be- Genf tagende Menschenrechtskom- gangenen Menschenrechtsverletzun- mission (Art. 68) und ihre Debatten gen nur sehr schwach rückläufig wie über die Menschenrechtssituation in die Berichte der diversen Menschen- den verschiedenen Ländern, deren rechtsorganisationen zeigen. Resolutionen ebenfalls nur empfeh- lenden Charakter haben. • Noch schlechter bestellt ist es um das 2.3 Entkolonisierung vierte Feld, die juristische Untersu- chung und Ahndung schwerer Men- Eng beieinander liegen Glanz und schenrechtsverletzungen. Allerdings Elend der VN auch bei der Entkoloni- gibt es auch hier inzwischen Ansätze, sierung. Der Glanz liegt hier vor allem auf schwere Menschenrechtsverlet- auf deren völkerrechtlichen und insti- zungen zu reagieren. So hat der SR tutionellen Begleitung in den 50er- und zum einen die Möglichkeit, massive 60er-Jahren. Obwohl es die Kolonial- Menschenrechtsverletzungen und sie mächte 1945 verstanden hatten, den begleitende „humanitäre Katastro- Begriff der „Unabhängigkeit“ ebenso phen“ durch so genannte „humanitä- aus der Charta herauszuhalten wie den re Interventionen“ zu unterbinden. der „Kolonien“ – das Kapitel XI der Dies geschieht, zwar nur selten, doch VN-Charta ist lediglich eine „Erklärung es geschieht, und es könnte häufiger über Hoheitsgebiete ohne Selbstre- geschehen, wenn die Staaten bereit gierung“ und spricht nur von „self- wären, die dazu erforderlichen Mittel government“ –, gelangen in nur weni- aufzubringen. Das andere Instrument gen Jahren wichtige völkerrechtliche sind vom SR eingesetzte internatio- und institutionelle Weichenstellungen nale Gerichtshöfe, die in bestimmten für die Entkolonisierung. Ansatzpunkt Gebieten innerhalb bestimmter Zeit- dafür war das in den Zielsetzungen der räume begangene Menschenrechts- Charta enthaltene „Prinzip der Selbst- verletzungen juristisch verfolgen und bestimmung der Völker“, das von einer die Schuldigen zur Rechenschaft zie- Koalition von Drittweltstaaten und so- hen; die wichtigsten sind die für die zialistischen Staaten in der Generalver- Kriegshandlungen im ehemaligen Ju- sammlung in nur wenigen Jahren zu goslawien und Ruanda zuständigen einem „Recht auf Selbstbestimmung“ Gerichte. Trotz einiger Defizite gehört aufgewertet wurde. der Aufbau eines Internationalen Menschenrechtsschutzes in der Bilanz Meilenstein auf diesem Wege war die der VN zu ihren größten Positiva. „Erklärung über die Gewährung der Auch hier liegen Glanz und Elend Unabhängigkeit an koloniale Länder eng beieinander. Zum Glanz gehört und Völker“ (Res. 1514 (XV) vom 14. das Feld der Normensetzung, zum Dezember 1960, die so genannte „Ent- Elend die geringen Kompetenzen bei kolonisierungs-Charta“. Sie befand in der Durchsetzung der Rechte und bei Punkt 2 kategorisch: „Alle Völker ha- der Ahndung von Verstößen. Ähnlich ben das Recht auf Selbstbestimmung“, wie die Zahl der kriegerischen Kon- um daran anschließend in einer Art Le- flikte von den Vereinten Nationen galdefinition festzustellen: „Kraft die- nicht signifikant eingedämmt werden ses Rechts entscheiden sie frei über 76 Peter J. Opitz ihren politischen Status und gestal- Ruanda 1994 war eine erste trauma- ten in Freiheit ihre wirtschaftliche, so- tische Erfahrung; geprägt durch ein ziale und kulturelle Entwicklung“. Seit eklatantes Versagen des SR, der sich, 1966 bzw. 1976 steht dieses „Recht auf obwohl über das dortige Geschehen Selbstbestimmung“ auch an der Spitze unterrichtet, aus der Verantwortung der beiden Menschenrechtspakte. Da- stahl. Kongo und Darfur sind die der- bei brachte die Verwendung des dekla- zeit jüngsten Beispiele.Die Verantwor- ratorischen Präsens „Alle Völker haben tung für das Geschehen mag vor allem (...)“ zum Ausdruck, dass sich dieses bei den einheimischen Eliten liegen, Recht nicht nur auf Kolonialgebiete be- bei den Nachbarstaaten und bei zieht, sondern auf alle Völker. Wenn Großmächten, bei den Dritte Welt-Or- die Zahl der in die Unabhängigkeit ganisationen, aber sie liegt eben auch entlassenen Staaten Anfang der 60er- bei den VN, die den Entkolonisie- Jahre schnell stieg, so war dies aller- rungsprozess auf Druck all dieser Ak- dings nicht nur eine Frage dieser teure zu schnell durchführten und da- völkerrechtlichen Weichenstellungen, bei zu wenig die Lebensfähigkeit der in sondern vor allem eine Folge des Ost- die Unabhängigkeit entlassenen Staa- West-Konflikts und des zunehmen- ten in Rechnung stellten, die zumeist den Gewichts der Staaten der Dritten innerhalb der Grenzen der alten Kolo- Welt in den VN. Mit ihnen wurde die nialgebiete entstanden waren und UNO erst zur Weltorganisation. Zählte damit, da jene ohne Augenmaß auf sie 1945 erst 51 Mitglieder, so war ethnisch oder religiöse Lebensräume deren Zahl 1960 auf 100, 1970 auf entstanden waren, riesige Konfliktpo- 127 angestiegen, um schließlich mit tenziale enthielten. Es war somit nur der letzten großen Entkolonisierungs- eine Frage der Zeit, bis viele von ihnen welle 1989 nach dem Zusammen- auf Grund der inneren Konflikte im- bruch der Sowjetunion auf 188 zu plodierten und deren Teileinheiten klettern. unter Berufung auf das Selbstbestim- mungsrecht staatliche Unabhängigkeit Das Elend des Entkolonialisierungs- anstrebten. Das galt insbesondere für programmes wurde erst nach dem viele Länder Afrikas und Asiens, aber Ende des Ost-West-Konflikts sichtbar auch für die Teilrepubliken der jugos- und konfrontiert uns seit einigen lawischen Republik und für die ehe- Jahren mit einem Phänomen, das die malige Sowjetunion, deren südliche Staatengemeinschaft voraussichtlich Peripherie sich in einen Krisengürtel noch geraume Zeit beschäftigen wird, verwandelt hat, der von den neuen nämlich dem der so genannten „failed zentralasiatischen Republiken bis in die states“. Gemeint sind Staaten ohne Kaukasus-Region reicht. funktionierende Regierungsmacht, oh- ne leistungsfähige Wirtschaft, domi- Damit aber ist den VN eine neue ge- niert von um Macht und Ressourcen waltige Aufgabe erwachsen, von der kämpfenden Warlords, gespalten in nicht absehbar ist, wann sie beendet einander feindlich gegenüberstehende sein wird, vor allem aber, ob ihr die ethnische und religiöse Bevölkerungs- Weltorganisation überhaupt gewachsen gruppen und geprägt von Vertreibun- ist, nämlich konstruktiv eine Reihe gen und Genozid. Der Genozid in neuer Nationenbildungsprozesse zu Glanz und Elend einer Weltorganisation – 60 Jahre Vereinte Nationen 77 begleiten und zu gestalten. Dazu gehört aus komplexen und selbst für Experten zunächst einmal die Vermittlung und kaum noch überschaubaren Systems Überwachung von Friedensprozessen, zum „VN-System“. Wesentliche Ele- sodann die Demobilisierung von Mili- mente in dieser weiteren VN-Galaxy zen und Guerillas und ihre Wiederein- sind zum einen die so genannten gliederung ins Wirtschaftsleben sowie 19 Spezialorgane der Generalversamm- schließlich die Entstehung demokra- lung (im Folgenden „GV“), darunter tisch legitimierter Regierungen. Dazu UNCTAD, UNICEF, UNHCR sowie gehört ferner die Schaffung funktionie- 17 weitgehend autonome Sonderorga- render Minderheitensysteme (1992 nisationen wie FAO, ILO, UNESCO, Minderheitenschutz-Deklaration) und WHO, vor allem aber die drei Bretton- nicht zuletzt eine Neufassung des Selbst- Woods-Organisationen. In eine Bilanz bestimmungsrechts. Gefordert ist des- der VN muss diese Entwicklung in dop- sen Umwandlung in das, was man völ- pelter Weise eingehen, zum einen als kerrechtlich „innere Selbstbestimmung“ Beleg dafür, dass die VN kein starres nennt, insbesondere auf der Basis prag- und statisches Gebilde sind, sondern matischer Autonomieregelungen und ein überaus dynamisches und vitales föderativer Strukturen. Denn eine wei- System, das auf die Herausforderungen tere Aufsplitterung der Staatenwelt in einer sich wandelnden, inzwischen im- Dutzende von Mikrostaaten liegt weder mer stärker globalisierenden Welt fle- im Interesse der internationalen Staa- xibel und kreativ reagiert. Zum ande- tengemeinschaft noch in dem der ren, weil gerade viele dieser Institutio- betroffenen Staaten. Das Gegenteil ist nen und Organisationen, die zumeist der Fall, nämlich die Förderung größe- im Schatten der Weltöffentlichkeit ar- rer lebensfähiger Föderationen. Wie beiten, im sozialen, wirtschaftlichen, schwierig es ist, die beiden konfligie- kulturellen, humanitären und ökologi- renden Charta-Ziele, nämlich Schutz schen Bereich zu höchst aktiven und der territorialen Unversehrtheit souve- effektiven internationalen Akteuren ge- räner Staaten und das Recht der Völker worden sind, deren Leistungen etwa bei auf Selbstbestimmung, miteinander in der Entschärfung diverser Dritte Welt- Einklang zu bringen, zeigt in Europa das Probleme gar nicht hoch genug be- Kosovo-Problem, das 2005 einer end- wertet werden können. Eine Reihe gültigen Lösung entgegengeführt wer- von ihnen wurde in den vergangenen den soll, ohne dass eine solche Lösung Jahrzehnten mit Friedensnobelpreisen bislang in Sicht wäre. Bis heute stehen ausgezeichnet: 1954 und 1981 das Amt sich die Forderungen der Kosovaren des Hohen Flüchtlingskommissars auf Unabhängigkeit und das Angebot (UNHCR); 1965 das Kinderwerk UNI- Serbiens auf Gewährung weitgehender CEF; 1969 die Internationale Arbeits- Autonomie unversöhnt gegenüber. organisation (ILO); 1988 die UN-Frie- denstruppen. Und im Jahr 2001 – zum 100. Jahr seines Bestehens – ging der 3. Reform-Agenda Preis erstmals zu einer Hälfte an die Vereinten Nationen als Organisation Die VN entwickelten sich im Verlauf und zur anderen an ihren derzeitigen der vergangenen sechs Jahrzehnte zum Generalsekretär Kofi Annan. Diese ein- Zentrum eines sehr viel weiteren, über- drucksvolle Kette von Auszeichnungen 78 Peter J. Opitz belegt, dass die Arbeit der VN für den formprogramm“ (A/51/950) und einem Weltfrieden neben unübersehbaren De- zweiten Paket von 2002 „Stärkung der fiziten auch deutlich sichtbare positive Vereinten Nationen: Eine Agenda für Beiträge aufweist. weitere Veränderungen“ (A/57/387) hat GS Kofi Annan nun am 21. März 2005 Ungeachtet dieser Erfolge in den ein- sein drittes Reformpaket mit dem Titel zelnen Bereichen sei nicht verschwie- „In größerer Freiheit. Auf dem Wege zu gen, dass die Bemühungen der VN um Entwicklung, Sicherheit und Men- eine Weltwirtschaftsordnung, die die schenrechte für alle“ vorgelegt. Grund- Armut von weltweit derzeit 23,7% der lage dieses Papiers sind die Berichte Weltbevölkerung beseitigt und Pro- zweier Expertenkommissionen, die Ko- zesse nachhaltiger Entwicklung in den fi Annan nach dem Millenniums-Gipfel armen Regionen einleitet, bislang ge- 2000 eingesetzt hatte. Angestrebt wird scheitert sind. Sie mussten scheitern, „Freiheit von Mangel“, „Freiheit von weil die Auffassungen in Nord und Furcht“ und „Freiheit, in Würde zu Süd darüber, wie eine solche Weltwirt- leben“. Dabei dürfte der Anklang an schaftsordnung aussehen müsste, die Franklin D. Roosevelts „Four Freedoms“ dieses Ziel erreicht, weit auseinander kein Zufall sein, sondern ein Zuge- gehen. Und sie mussten auch deshalb ständnis an die USA, ohne deren Mit- scheitern, weil die VN weder in ihrer arbeit eine Verwirklichung dieser Re- ursprünglichen Zielsetzung noch in ih- form kaum durchführbar ist. Reduziert rer derzeitigen organisatorischen Struk- man das Reformpapier auf seinen Kern- tur in der Lage wären, dieses Ziel durch- gehalt, so sind ein halbes Dutzend zen- zusetzen. Die Forderungen aber, sie für traler Punkte erkennbar. diese Aufgabe fit zu machen, wie sie in den 90er-Jahren von einer Reihe hoch- rangiger Kommissionen und interna- 3.1 Die Erweiterung des Sicherheits- tionaler Konferenzen erhoben wurden, rates blieben ohne Echo. Es steht zu be- fürchten, dass den Empfehlungen der Die Notwendigkeit einer solchen Er- internationalen Konferenz über Ent- weiterung steht außer Frage, spiegelt wicklungsfinanzierung in Monterrey/ doch der Rat in seiner derzeitigen Zu- Mexiko 18. bis 22. März 2002 und des sammensetzung eher das internationa- Weltgipfels für nachhaltige Entwick- le Machtgefüge von 1945 als das von lung in Johannisburg/Südafrika (26. Au- 2005. Unzureichende Repräsentativität gust bis 4. September 2002) dasselbe droht jedoch, auf die Dauer Autorität Schicksal bevorsteht. und Legitimität der Weltorganisation zu unterminieren. Und ohne diese Die Vorschläge über eine Reform der kann die UNO die ihr zugewiesenen VN werden im Zentrum der Debatten Aufgaben nicht erfüllen. Eine Anpas- des im September 2005 stattfindenden sung an die Realitäten der heutigen Gipfels der Staats- und Regierungschefs Welt ist somit geboten und somit eine sowie der 60. Generalversammlung ste- Erweiterung des SR, die jedoch so vor- hen. Nach einem ersten Reformpaket zunehmen ist, dass die Handlungs- in seinem Bericht von 1997 „Erneue- fähigkeit des Rates nicht beeinträchtigt rung der Vereinten Nationen: Ein Re- wird. Dieses verbietet vor allem die Glanz und Elend einer Weltorganisation – 60 Jahre Vereinte Nationen 79

Erhöhung der Zahl ständiger, mit Veto- lichkeit der sofortigen und unbegrenz- Recht ausgestatteter Ratsmitglieder. ten Wiederwahl. Der Vorzug dieser Va- riante ist, dass durch das in diesem Vor- Der Vorschlag Kofi Annans in Einklang schlag enthaltene Rotationsprinzip auch mit den Kommissions-Empfehlungen mehr kleinere Mächte für längere Amts- sieht eine Erweiterung von bisher 15 zeiten in den SR gewählt werden könn- auf 24 Mitglieder vor und stellt dazu ten, insbesondere ein für europäische zwei Modelle zur Auswahl. Modell A Staaten interessanter Aspekt. Für Mo- sieht eine Erweiterung des Rates um dell A kämpft die so genannte „Vierer- drei nicht-ständige sowie um sechs bande“ – Deutschland, Japan, Indien, ständige Mitglieder vor, wobei offen Brasilien –, Mittelmächte also, denen bleibt, ob mit oder ohne Veto-Recht. wohl nicht zu Unrecht der Wunsch Das Modell B spricht sich für eine Er- nach einer Statuserhöhung nachgesagt weiterung des Rates um neun nicht- wird. Für Modell B setzt sich eine Grup- ständige Mitglieder aus, davon acht mit pe kleinerer Staaten ein, geführt von vierjähriger Amtszeit und mit der Mög- Italien, Pakistan und Mexiko.

Sicherheitsratsreform

Quelle: Eine sichere Welt: Unsere gemeinsame Verantwortung, Bericht der Hochrangigen Gruppe für Bedrohungen, Herausforderungen und Wandel, in: Vereinte Nationen 1/2005 (A/59/565). 80 Peter J. Opitz

Ob sich eine der beiden Gruppen im Japan, das andere ein Land des Südens Herbst 2005 durchsetzen wird, ist noch sein sollte, sowie um zwei bis drei wei- offen. Sicher ist nur, sie benötigen da- tere nicht-ständige Mitglieder. Da aber zu in der GV eine Zweidrittelmehrheit, China die Aufnahme Japans blockiert, d.h. die Zustimmung von 128 Staaten. wird vermutlich alles beim Alten blei- Wird diese erreicht, so muss der Be- ben oder als eine Art kleinster Kom- schluss von einer Zweidrittelmehrheit promiss die Aufnahme zweier Süd- aller Parlamente ratifiziert werden, staaten als ständige Mitglieder ohne einschließlich aller ständigen Ratsmit- Veto-Recht. Nicht umgesetzt werden glieder. Beides ist unsicher. Eine Zwei- wohl schließlich auch die unter Exper- drittelmehrheit für Modell A ist derzeit ten diskutierten strukturellen Reformen noch denkbar. Eine Ratifizierung durch wie die Schaffung von mehr Transpa- alle fünf Veto-Mächte ist dagegen we- renz, mehr Rechenschaftspflichtigkeit nig wahrscheinlich, nachdem sich in- darüber, ob der Rat der ihm zugewiese- zwischen schon zwei ständige Mitglie- nen Hauptverantwortung für den Welt- der gegen die Vorschläge des GS ausge- frieden gerecht geworden ist, sowie sprochen haben. So warnte als erstes eine vorsichtige Einschränkung des ständiges Mitglied China vor der vor- Veto-Rechts. Es ist zu befürchten, dass geschlagenen Erweiterung mit dem der SR weiterhin als ein gefährlicher Hinweis auf eine Gefahr der Spaltung Anachronismus erhalten bleibt. des Rates. Vor allem aber schloss Pe- king definitiv eine Aufnahme Japans als ständiges Mitglied aus. Das war 3.2 Eine umfassende Antiterror- nach den heftigen antijapanischen Aus- konvention schreitungen in einigen chinesischen Städten im Frühjahr 2005 keine Über- Auf der Grundlage einer neuen Terro- raschung mehr. Peking will keine zwei- rismus-Definition gilt jede Handlung te asiatische Macht als ständiges Mit- als Terrorismus, „die den Tod oder eine glied und schon gar nicht den ehema- schwere Körperverletzung von Zivil- ligen Kriegsgegner und das eng mit den personen oder Nichtkombatanten her- USA zusammen arbeitende Japan. beiführen soll.“ Eine solche Konven- tion dürfte zwar die Zustimmung der Wenig überraschend war auch die USA, Russlands, Chinas und großer etwas später zu Protokoll gegebene Ab- Teile der westlichen Welt finden, ob lehnung der USA durch den Außen- ihr aber auch die arabischen Staaten staatssekretär Nikolas Burnes. Mit Hin- zustimmen werden, ist offen. weis auf die gefährdete Effizienz des Rates bei einer Erweiterung von 15 auf 24 Sitze sowie auf die damit verbun- 3.3 Ein Abkommen zur Stärkung dene Unruhe in verschiedenen Welt- des Nichtverbreitungsvertrages regionen – würden sich doch einige von Massenvernichtungswaffen Staaten zurückgesetzt fühlen –, tritt Washington nur für eine Aufstockung Um der Gefahr zu begegnen, dass Staa- auf 19 bis höchstens 20 Mitglieder ein, ten unter dem Deckmantel ziviler Nut- nämlich um zwei ständige Mitglieder zung (die nach Art. IV erlaubt ist) Tech- ohne Veto-Recht, von denen eines nologien zur Urananreicherung oder Glanz und Elend einer Weltorganisation – 60 Jahre Vereinte Nationen 81

Plutoniumabtrennung entwickeln, ist werden. Kofi Annan seinerseits schlägt ein neuer Vertrag vorgesehen, nach in Einklang mit den Empfehlungen der welchem Staaten auf die eigenständige Kommission eine Resolution des SR mit Urananreicherung und nukleare Wie- Grundätzen vor, die die Zulässigkeit deraufbereitung verzichten und im Ge- von Präventivschlägen verbindlich re- genzug von der internationalen Ge- geln. Ob sich Präsident Bush und der meinschaft, unter Leitung der Inter- amerikanische Kongress in der Ausle- nationalen Atomenergiebehörde, spalt- gung des Selbstverteidigungsrechts in- bares Material für ihre Kernkraftwerke ternationalen Grundsätzen unterwer- erhalten. Das ist letztlich das Modell, fen werden, ist allerdings mehr als über das die EU mit dem Iran verhan- fraglich. Hier droht Dissens. delt. In diesen Verhandlungen findet die Probe aufs Exempel statt. Das Schei- tern der letzten Überprüfungskonferenz 3.5 Menschenrechtsschutz signalisiert allerdings, dass die davon betroffenen Staaten nur dann zu einem Dazu schlägt Kofi Annan vor, zum ei- solchen Abkommen bereit wären, nen das Hochkommissariat für Men- wenn im Gegenzug auch die fünf offi- schenrechte in die ganze Bandbreite ziellen Kernwaffenstaaten ihren eben- der Tätigkeiten der VN einzubeziehen falls im Nichtverbreitungsvertrag nie- und ihm die zur adäquaten Wahrneh- dergelegten Verpflichtungen zur nu- mung seiner Aufgaben entsprechenden klearen Abrüstung (Art. VI) mehr nach- finanziellen Ressourcen zuzuweisen. kommen, als dies bislang geschieht. (Ziffer 145) Gewichtiger ist jedoch sein Und dies wiederum ist wenig wahr- Vorschlag, die derzeit aus 53 Mitglie- scheinlich. dern bestehende Menschenrechtskom- mission durch einen kleineren, ständig tagenden Menschenrechtsrat zu erset- 3.4 Eine Klarstellung des Rechts auf zen, dessen Mitglieder von der GV un- Selbstverteidigung eines Staates ter Zugrundelegung höchster Men- im Falle eines bewaffneten An- schenrechtsstandards gewählt werden. griffs, bis der SR geeignete Maß- Dagegen ist im Prinzip nichts ein- nahmen getroffen hat zuwenden. Ob dadurch allerdings wirklich verhindert werden kann, dass Der betreffende Artikel 51 der VN-Char- in Zukunft in Menschenrechtsfragen ta ist durch den Angriff der USA auf diskreditierte Länder wie der Sudan, den Irak sowie die Bush-Doktrin in Zimbabwe oder Libyen in den Rat ge- eine hochkontroverse Diskussion gera- wählt werden, ist fraglich. Und noch ten. Dabei geht es im Kern um das Pro- fraglicher ist, ob eine bloß institutio- blem, ob präventive Gewaltanwendung nelle Regelung den Menschrechts- gegen – wie es die USA anstreben – schutz wirklich verbessern wird. Sinn- eine latente und in der Zukunft liegen- voller wäre es, das Amt des Hoch- de Bedrohung durch Art. 51 der VN- kommissars für Menschenrechte deut- Charta gedeckt ist, was von der Kom- lich aufzuwerten und den SR zu „hu- mission eindeutig verneint worden war. manitären Interventionen“ bei schwe- Ihr zufolge muss der Art. 51 weder ren Menschenrechtsverletzungen zu umgeschrieben noch neu interpretiert verpflichten. 82 Peter J. Opitz

3.6 Bereich Entwicklung hungrige Mittelmächte, die letztlich auch ohne ständigen Sitz mehr für den Hier geht es vor allem um die auf dem Weltfrieden und die Beseitigung der Millenniums-Gipfel 2000 beschlosse- extremen Armut tun könnten und nen acht Ziele, darunter die Halbierung sollten. der Armut, Grundschulausbildung für alle, signifikante Reduzierung der Kin- Der Eindruck, den die Vorschläge Kofi dersterblichkeit bis 2015. Um dies alles Annans hinterlassen, ist somit ambi- zu erreichen, ist eine doppelte Ver- valent. Er gefällt und er enttäuscht pflichtung vorgesehen. Von Seiten der zugleich. Er gefällt durch seine prag- Industrieländer die Erhöhung ihrer matische Bescheidung auf das Mach- Leistungen für Entwicklungshilfe auf bare und er enttäuscht, weil das Mach- 0,7% ihres BSP, von den Entwicklungs- bare nicht ausreichen wird, die ländern ,good governance‘, vor allem Effizienz der UNO wirklich zu verbes- entschlossenere Bekämpfung der Kor- sern, zumal absehbar ist, dass auch ruption. Solche Verpflichtungserklä- vieles von dem, was an sich machbar rungen wird es von beiden Seiten ge- wäre, am mangelnden guten Willen ben. Leider steht zu befürchten, dass sie zahlreicher Regierungen in Nord und ebenso folgenlos bleiben werden wie in Süd scheitern wird. der Vergangenheit. So wurde die Erhö- hung der Entwicklungshilfe auf 0,7% des BSP schon 1970 zum 25. Jahrestag 4. Fazit der VN beschlossen (A/Res/2626(XXV)). Die Zwischenbilanz des im Februar Am 4. Juli 1918 erklärte der amerikani- 2005 vorgestellten Sachs-Reports In- sche Präsident Woodrow Wilson, der venting in Development, der zu den maßgeblich an der Gründung des Völ- wichtigsten Grundlagen der Millenni- kerbundes beteiligt war, in einer Rede um+5 Konferenz der VN im September in Mount Vernon: „Was wir suchen, ist 2005 gehört, klingt nicht sonderlich die Herrschaft des Rechts, gegründet hoffnungsvoll. (siehe hierzu Tabelle auf die Zustimmung der Regierungen auf S. 83) und getragen von der organisierten Meinung der Menschheit.“ Darum geht Allerdings: Wenn in Sachen Entwick- es letztlich im Kern auch heute. Der lung alles beim Alten bliebe, würde Völkerbund ist an dieser Aufgabe ge- sich die Teufelsspirale weiter drehen. scheitert und löste sich am 18. April Denn ohne eine grundlegende Ver- 1946 selbst auf. Die VN sind auf diesem besserung der Lage vieler Länder des Wege schon sehr viel weiter gekom- Südens werden Bürgerkriege, Völker- men, sowohl und vor allem als „Ge- mord, Massenvertreibung und Terro- stalter“ des Völkerrechts wie auch als rismus, internationale Kriminalität und dessen „Garant“. Ungeachtet der Rück- die Verbreitung von Massenvernich- schläge, die es bei der Rechtssetzung tungswaffen weitergehen, ungeachtet und -durchsetzung gab und auch in einiger neuer Konventionen und Reso- Zukunft noch geben wird, wollen wir lutionen und auch ungeachtet der Er- nicht in einen Zustand der Anarchie weiterung des Rates um einige status- und blanker Machtpolitik zurückfallen, Glanz und Elend einer Weltorganisation – 60 Jahre Vereinte Nationen 83

Die Millenniums-Entwicklungsziele (MDG) und ihre Zielvorgaben Ziel 1: Beseitigung der extremen Armut und des Hungers Zielvorgabe 1: Zwischen 1990 und 2015 den Anteil der Menschen halbieren, deren Einkommen weniger als 1 Dollar pro Tag beträgt Zielvorgabe 2: Zwischen 1990 und 2015 den Anteil der Menschen halbieren, die Hunger leiden Ziel 2: Verwirklichung der allgemeinen Primarschulbildung Zielvorgabe 3: Bis zum Jahr 2015 sicherstellen, dass Kinder in der ganzen Welt, Jungen wie Mädchen, eine Primarschulbildung vollständig abschließen können Ziel 3: Förderung der Gleichstellung der Geschlechter und Stärkung der Rolle der Frauen Zielvorgabe 4: Das Geschlechtergefälle in der Primar- und Sekundarschulbildung beseitigen, vorzugsweise bis 2005 und auf allen Bildungsebenen bis spätestens 2015 Ziel 4: Senkung der Kindersterblichkeit Zielvorgabe 5: Zwischen 1990 und 2015 die Sterblichkeitsrate von Kindern unter fünf Jahren um zwei Drittel senken Ziel 5: Verbesserung der Gesundheit von Müttern Zielvorgabe 6: Zwischen 1990 und 2015 die Müttersterblichkeitsrate um drei Viertel senken Ziel 6: Bekämpfung von HIV/AIDS, Malaria und anderen Krankheiten Zielvorgabe 7: Bis 2015 die Ausbreitung von HIV/AIDS zum Stillstand bringen und allmählich umkehren Zielvorgabe 8: Bis 2015 die Ausbreitung von Malaria und anderen schweren Krankheiten zum Stillstand bringen und allmählich umkehren Ziel 7: Sicherung der ökologischen Nachhaltigkeit Zielvorgabe 9: Die Grundsätze der nachhaltigen Entwicklung in einzelstaatliche Politiken und Programme einbauen und den Verlust von Umweltressourcen umkehren Zielvorgabe 10: Bis 2015 den Anteil der Menschen um die Hälfte senken, die keinen nachhaltigen Zugang zu hygienischem Trinkwasser haben; Erweiterung des WSSD (World Summit on Sustainable Development) in Johannesburg: Bis 2015 den Anteil der Menschen halbieren, die keinen Zugang zu sanitärer Basisversorgung haben Zielvorgabe 11: Bis 2020 eine erhebliche Verbesserung der Lebensbedingungen von mindestens 100 Millionen Slumbewohnern herbeiführen Ziel 8: Aufbau einer weltweiten Entwicklungspartnerschaft Zielvorgabe 12: Ein offenes, regelgestütztes, berechenbares und nicht diskriminierendes Handels- und Finanzsystem weiterentwickeln (umfasst die Verpflichtung auf eine gute Regierungs- und Verwaltungsführung, die Entwicklung und die Armutsreduzierung sowohl auf nationaler als auch auf internationaler Ebene) Zielvorgabe 13: Den besonderen Bedürfnissen der am wenigsten entwickelten Länder Rechnung tragen (umfasst einen zoll- und quotenfreien Zugang für die Exportgüter der am wenigsten entwickelten Länder, ein verstärktes Schuldenerleichterungsprogramm für die hoch verschuldeten armen Länder und die Streichung der bilateralen öffentlichen Schulden sowie die Gewährung großzügigerer öffentlicher Entwicklungshilfe für Länder, die zur Armutsminderung entschlossen sind) Zielvorgabe 14: Den besonderen Bedürfnissen der Binnen- und kleinen Insel-Entwicklungsländer Rechnung tragen Zielvorgabe 15: Die Schuldenprobleme der Entwicklungsländer durch Maßnahmen auf nationaler und internationaler Ebene umfassend angehen und so die Schulden langfristig tragbar werden lassen Zielvorgabe 16: In Zusammenarbeit mit den Entwicklungsländern Strategien zur Beschaffung menschenwürdiger und produktiver Arbeit für junge Menschen erarbeiten und umsetzen Zielvorgabe 17: In Zusammenarbeit mit den Pharmaunternehmen erschwingliche unentbehrlich Arzneimittel in den Entwicklungsländern verfügbar machen Zielvorgabe 18: In Zusammenarbeit mit dem Privatsektor dafür sorgen, dass die Vorteile der neuen Technologien, insbesondere der Informations- und Kommunikationstechnologien, genutzt werden können

Quelle: UN (Vereinte Nationen). 84 Peter J. Opitz in dem die Mächtigen dieser Welt dik- genüberstehende Vertreter in die Gre- tieren, was Recht ist. Es gibt keine Al- mien schicken, solange sie versuchen, ternative, als auf diesem Weg weiter- die UNO zu instrumentalisieren oder zugehen. Wir sollten allerdings keine zu marginalisieren, solange sie die Zah- überzogenen Erwartungen haben. Die lung der vereinbarten Beiträge verzö- VN sind keine Weltregierung, dazu gern oder gar verweigern und solange fehlt ihnen sowohl das Mandat wie sie längst überfällige Reformen verta- auch die Macht und die Mittel. Die VN gen und verhindern, kann die Welt- sind vielmehr ein Angebot an die Staa- organisation ihre Ziele nicht erreichen ten der Welt, um die etwas problema- und ihre Grundsätze nicht verwirkli- tische Bezeichnung „Völkergemein- chen. Die Glaubwürdigkeitskrise der schaft“ oder „Staatengemeinschaft“ zu VN ist zumeist eine Glaubwürdigkeits- vermeiden, für kooperatives Handeln krise der Regierungen. Weniger die nach den Regeln des Völkerrechts zur UNO sind das Problem als die Regie- Schaffung einer friedlicheren und hu- rungen, die sie tragen, und eine Reform maneren Welt. Solange allerdings die der UNO wird und kann letztlich nur Regierungen der Welt, die diese Welt- dann gelingen, wenn es zuvor zu einer organisation tragen und aus deren De- Reform des Denkens in der Politik der legierten sich ihre Organe zusammen- Regierungen kommt, die sie tragen. setzen, dieses Angebot zu kooperati- Und da diese noch aussteht und wohl vem verantwortlichem Handeln nicht noch eine Zeit lang ausstehen wird, nutzen, d.h. solange sie gefassten Be- sollte man auch keine überzogenen Er- schlüssen nicht folgen oder diese sogar wartungen hinsichtlich der bevorste- blockieren, solange sie inkompetente, henden Reformschritte bei der Organi- korrupte oder den VN ablehnend ge- sation der VN haben.

Anmerkung * Bei dem vorliegenden Beitrag handelt es sich um den leicht gekürzten und bearbeiteten Text eines Vortrags, den der Autor am 22. Juni 2005 im Konferenzzentrum der Hanns- Seidel-Stiftung hielt. Auf Anmerkungen wurde aus Platzgründen verzichtet. Regionalkultur und Religion als innenpolitische Bestimmungs- faktoren amerikanischer Außenpolitik am Beispiel George W. Bush

Christian Hacke

1. Einleitung leren Westen ausdehnten und liberal- demokratisch wie auch ökonomisch Zu den innenpolitischen Grundlagen begründeten. Sie plädierten schon im der Außenpolitik der USA gehört auch 19. Jahrhundert gegen den Krieg mit der Einfluss unterschiedlicher Regio- Mexiko und waren in der ersten Hälfte nalfaktoren.1 Unterschiedliche Tradi- des 20. Jahrhunderts grundsätzlich pa- tionen, Kulturen und Wertvorstellun- zifistisch eingestellt. Charles Beard per- gen zwischen den Regionen der USA sonifiziert diese Haltung intellektuell, haben außenpolitischen Grundsatz- Henry Cabot Lodge, der republika- debatten in der Geschichte der USA oft nische Widersacher von Präsident besondere Prägnanz hinzugefügt. So Woodrow Wilson, sowie William E. gibt es zwischen dem Norden und dem Borah und Robert LaFollette stehen Süden Unterschiede in der politischen für diesen politischen Isolationismus. Kultur: Die Südstaatler neigten tradi- Senator Arthur Vandenberg wiederum tionell zu militärischer Intervention, repräsentiert die isolationistische Kul- während im Norden bzw. im Nord- tur zu Beginn des Kalten Krieges in den osten militärische Zurückhaltung be- 40er-Jahren des 20. Jahrhunderts und vorzugt wird. Folglich entwickelte sich zugleich die Hinwendung zu einer neu- die Tradition des außenpolitischen Iso- en außenpolitischen Gemeinsamkeit lationismus in den Neuengland-Staa- zwischen Republikanern und Demo- ten unter besonderem Einfluss der pro- kraten im Zeichen von Interventionis- testantischen weißen Eliten (WASP), die mus und Eindämmung des Kommu- dann ihren Einfluss in Richtung Mitt- nismus.

Politische Studien, Heft 403, 56. Jahrgang, September/Oktober 2005 86 Christian Hacke

Traditionell befürworten vor allem die der Anzahl der Militärakademien nie- Republikaner – besonders im Süden der. Ebenso ist die Befürwortung der To- und Westen – außenpolitische Inter- desstrafe im Süden höher als im Nor- vention mit militärischen Mitteln. Die den bzw. Nord-Osten. Vor allem gibt es Gründe für diese und andere Unter- im Norden und Süden gegensätzliche schiede und Gegensätze zwischen ei- Vorstellungen über den Einsatz mili- nem interventionistischen Süden und tärischer Mittel und über Amerikas Rol- isolationistischen Norden bzw. Nord- le in der Welt. So stammt die Idee von osten liegen nach Auffassung von Mi- der globalen Mission der USA („Mani- chael Lind2 in der Tatsache, dass sich fest Destiny“) aus dem Nord-Osten als die Amerikaner im Selbstverständnis säkularisierte Form der calvinistischen als Einwandererland weniger einer ein- Utopie eines perfekten puritanischen heitlichen amerikanischen Gesamtkul- Gemeinwesens, das in der Neuen Welt tur verpflichtet fühlen, sondern sich zu- in Distanz zu den korrumpierenden erst den Regionalkulturen anpassen. Einflüssen Europas errichtet werden soll.

2. Die drei Leitkulturen Diese utopische Tradition bezieht sich auf Werte, die im Süden lange auf Ab- Michael Lind unterscheidet grundsätz- wehr stießen wie Sklavenbefreiung, lich drei Kulturen: Alkoholverbot, Tierschutz, Pazifismus und Stimmrecht für Frauen. Noch heu- • Die sogenannte „Yankee-Kultur“, die te sind die Lebensformen der Südstaat- sich von Neuengland in Richtung ler bisweilen lässiger, lebensfroher und Westen ausgebreitet hat, martialischer als im Norden und Mitt- • eine „Quäker-Kultur“ mit dem Ur- leren Westen. Es waren die Südstaatler, sprung in Pennsylvania und die 1812 begeistert gegen England • eine „Kavaliers-Kultur“, die von den in den Krieg eintraten, nicht zuletzt Küstenländern des Südens ausging.3 um die Ehre der Nation, die durch die Briten verletzt worden war, zu retten. Ist die sogenannte Yankee-Kultur tradi- Michal Lind schreibt hierzu: „Süd- tionell stark isolationistisch-pazifistisch- staatler waren 1798 mit dem gleichen industriell geprägt, so gilt dies für die Enthusiasmus dabei, England zu helfen „Kavalierskultur“ des Südens weniger, und gegen Frankreich anzutreten, wie wie schon Alexis de Tocqueville be- sie in den Jahren 1812-1814 dabei wa- merkte: „Die Energie, die der Nord- ren, gegen Großbritannien zu kämpfen staatler darauf verwendet, Gewinne und den Franzosen zu helfen. Es gab zu machen, verwendet sein Nachbar Krieg in der Welt und die Südstaatler im Süden auf Liebhabereien wie Jagen, wollten mitkämpfen; gegen wen, das Fischen und militärische Übungen. Er war dann zweitrangig.“5 So gesehen liebt körperliche Strapazen und ist ver- läßt sich erklären, warum die „Tauben“ traut mit Waffen. Von früh auf setzt er mit der größten Friedensliebe im Senat sein Leben im Kampf Mann gegen und Repräsentantenhaus bei den libe- Mann aufs Spiel.“4 Diese „martialische“ ralen Demokraten und vor allem im Südstaatenkultur schlägt sich auch in Nordosten des Landes leben, während Regionalkultur und Religion als innenpolitische Bestimmungsfaktoren 87 die sogenannten „Falken“ in der ame- schen Grundvorstellungen und den rikanischen Geschichte vorzugsweise militärischen Eingriffen zugeneigten im Süden der USA und dort in republi- Interventionisten der südlichen Küs- kanischen Häusern siedeln. tenländer hin.

Diese Trennung zwischen liberal-pa- zifistisch-antimilitärisch eingestellten 3. Die unterschiedlichen wirt- Amerikanern der nördlichen bzw. nord- schaftspolitischen Interessen- östlichen Staaten und konservativ-he- lagen roisch eingestellten Bewohnern des Südens mit Hang zur militärischen Zu diesen unterschiedlichen Sichtwei- Intervention, ist fast so alt wie die sen und Einstellungen in der Außen- amerikanische Republik. Beide Lager und Sicherheitspolitik kommen unter- hatten ihre Anhänger jeweils in bei- schiedliche wirtschaftliche Interessen- den Parteien. Auch heute gibt es „Fal- lagen. Die Staaten im südlichen Son- ken“ bei den Demokraten und Isola- nengürtel treten traditionell für freien tionisten bei den Republikanern, doch Handel ein, während der industrielle befürworten Republikaner im Süden Norden und Nordosten, weniger vom eine entschiedene Außen- und Sicher- Export abhängig, sich isolationistisch heitspolitik mit Interventionsbereit- abschotten konnte. Wenn die ameri- schaft. Demokraten hingegen setzen kanische Wirtschaft boomt, bleiben sich entsprechend ihrer Wurzeln in diese Interessen und Wertekonflikte Neuengland und in den nördlichen wirtschaftlich gesehen verborgen, doch Nachbarstaaten eher für Kürzungen der im Zuge von Rezession oder sicher- Verteidigungsausgaben ein und war- heitspolitischer Bedrohung nimmt die nen vor Militärinterventionen. So gibt Polarisierung zwischen nördlichen Iso- es eine Jahrhunderte alte, antimilitä- lationisten und südlichen Interventio- risch ausgerichtete Tradition des Nicht- nisten zu. Es gibt im Augenblick keine eingreifens in den Vereinigten Staaten, Anzeichen dafür, dass sich die unter- deren Zentrum Neuengland ist. Dazu schiedlichen Auffassungen zwischen gehören das Gebiet der großen Seen, den Regionen Amerikas über die Au- der Mittlere Westen, die nördlichen ßenpolitik des Landes kurzfristig an- Prärien und der pazifische Nordwesten, nähern. Folglich gibt es heute auch soweit er von den Neuengländern be- regional differenzierte außenpolitische siedelt wurde. Als im 20. Jahrhundert Vorstellungen, die miteinander rivali- europäische Katholiken einwanderten sieren. Dieser fortdauernde Zwiespalt und der Einfluss der protestantischen zeigt sich sowohl bei den außenpoli- Yankees in den Neuenglandstaaten tischen Konzepten wie auch bei den selbst abschwächte, verschob sich das Institutionen in Washington und nicht Epizentrum der politischen Kultur der zuletzt bei den Parteien. Die Südstaat- Ostküste weiter nach Westen – in den ler sind überproportional stark auf der Mittleren Westen und den äußersten militärischen Führungsebene und in Westen. Über Generationen zog sich der Republikanischen Partei vertreten. der Streit zwischen der Großregion Deshalb haben sie die Tendenz, Mittel Neuengland mit ihren isolationisti- und Ziele der amerikanischen Außen- 88 Christian Hacke politik anders zu gewichten als die 4. In God We Trust: Die grund- Nordstaatler, die wiederum in den sätzliche Bedeutung der Reli- Universitäten, in der Demokratischen gion für die Außenpolitik der Partei und den Medien überstark ver- USA treten sind. Schon Alexis de Tocqueville zeigte Diese Polarisierung zeigt sich beson- sich nach seiner Reise durch die USA ders mit Blick auf die kontroverse Be- 1831/1832 vom Liberalismus der USA wertung der Außenpolitik von Präsi- beeindruckt: Freiheit, Schutz des Ei- dent George W. Bush. Das Projekt der gentums, Individualismus, begrenzte nationalen Raketenabwehr, der Krieg Staatsgewalt und ein dynamischer Wirt- gegen den Terror und nicht zuletzt schaftsgeist beförderten den Liberalis- der Krieg im Irak machen deutlich, mus zum herausragenden Kennzeichen dass nicht nur militärstrategische und Traditionsmuster. Im Unterschied Überlegungen zählen, sondern eben- zum europäischen Liberalismus musste so wirtschaftliche Interessen, die von sich der amerikanische nicht gegen den Republikanern im Süden und im Feudalismus und Absolutismus durch- Westen der USA forciert und pronon- setzen. Auch deshalb entwickelte sich ciert geäußert werden. Diesem mi- kein politischer Sozialismus in den litärisch-industriellen Komplex fühlt USA. Vielmehr entstand der amerika- sich Präsident Bush besonders ver- nische Liberalismus aus dem doppelten pflichtet. Deshalb stehen auch heute Erbe von religiösem Puritanismus und vereinfacht ausgedrückt zwei große klassischem Republikanismus und fand Regionalkulturen im Wettstreit um seine konstitutionelle Form in der ame- die amerikanische Außenpolitik: Die rikanischen Verfassung von 1789/91. südlichen und westlichen „Falken“ Jeffersons Theorie einer klassenlosen gegenüber den nordöstlichen „Tau- Gesellschaft, in der sich politische Frei- ben“.6 heit, demokratische Beteiligung und ökonomische Selbstständigkeit mit der Der Einfluss einer spezifischen kultu- Aussicht auf wirtschaftliche Prosperität rellen Eigendynamik einer Region auf verbinden, wurde zum liberalen Ver- das politische Handeln eines Präsiden- sprechen des amerikanischen Traumes. ten war noch nie so augenfällig wie bei „Amerikanismus“7, verstanden als Son- Präsident George W. Bush: Religiöser derweg und entsprechendes Sonder- Fundamentalismus der konservativ- bewusstsein, bezieht sich auf mehrere protestantischen weißen Südstaatler, Dimensionen: Vor allem ist die Distanz ein Lebensstil des ländlichen Laissez- zu Europa hervorzuheben. Im Gegen- Faire, das Vertrauen auf freie Märkte satz zur europäischen Geistesgeschich- und liberalen Welthandel, die martia- te und zur europäischen Politik des lische Pose, militärische Intervention, Absolutismus erscheint der „Ameri- die Orientierung an Feindbildern und kanismus“ als Reflex des neuartigen eine starke Abneigung gegenüber po- Ringens zwischen Liberalismus und litischen Utopien, ebenso aber auch ein Konservatismus auf nordamerikani- starker Glaube an religiöse Sendung schem Boden. „Amerikanismus“ wur- prägen sein Weltbild. de zur Zivilreligion, ist mehr als My- Regionalkultur und Religion als innenpolitische Bestimmungsfaktoren 89 thos oder Legendenbildung der Grün- das liberale Amerika in der Tradition dungszeit, mehr als die Rhetorik des der „Federalists“ im Zuge des 20. Jahr- göttlichen Auserwähltseins, sondern hunderts, vor allem nach dem Zweiten vor allem eine identitätsstiftende Welt- Weltkrieg, seine neue ordnungspoliti- anschauung, die das Selbstverständnis sche Legitimation also vom religiösen und das Weltbild der Amerikaner um- Sendungsbewusstsein und vom liberal- fasst. demokratischen Selbstverständnis ab. „Amerika macht nur Sinn mit einem Eine Fassette des sogenannten „Ameri- tiefen Glauben an Gott“, so Präsident kanismus“ betont bis heute das Neue: Eisenhower. Freiheit, vor allem religiös Eine neue moderne Gesellschaft, die verstanden als Abwehrrecht gegen ab- erste neue Nation, neue Grenzen und solute Herrscher, die sich in Europa auf vor allem das neue religiöse Moment: Staatskirchen stützten, wurde zur Reli- Religionsfreiheit als Voraussetzung für gionsfreiheit und in den USA zum Fun- alle staatsbürgerlichen Freiheiten. So dament der Meinungsfreiheit und da- glichen die USA am Anfang einem bun- mit zum Schlüssel aller Bürgerrechte.10 ten religiösen Flickenteppich.8 Dieses Die USA haben im Rahmen dieses frei- liberal-religiöse Selbstverständnis wur- heitlichen Selbstverständnis zugleich de politisch erstmals von Präsident eine auffallend religiöse Kultur und Woodrow Wilson zu Beginn des 20. Gesellschaft hervorgebracht, mit spezi- Jahrhunderts in globalem Anspruch fischen Auswirkungen für die Politik. mit dem Ziel formuliert, „die Welt si- Andererseits haben die USA früher, cher für die Demokratie zu machen“. nachhaltiger und schärfer als alle Na- Folgerichtig begründete der „Medien- tionen auf deutliche Trennung zwi- zar“ Henry Luce in der Zeitschrift Life schen Religion und Politik gepocht. am 17.2.1941 das „Amerikanische Jahr- Religiosität bezieht sich also erstens hundert“ als Konsequenz der neuen auf die Trennung zwischen Kirche und Weltführungsrolle. Jetzt wurde Libera- Staat und zweitens auf eine besonders lismus, religiös grundiert, zum selbst- ausgeprägte religiöse Grundhaltung bewussten Selbstverständnis, das den der Amerikaner, auf einen Glauben an Kampf mit den totalitären Mächten zur Gott, auf bestimmte überzeitliche Prin- Wahrung der Freiheit weltweit aufneh- zipien, die für das Christentum cha- men musste. Auch in diesem Sinne ver- rakteristisch, aber nicht auf dieses be- stehen sich die USA bis heute zur Welt- schränkt sind. In diesem Sinne kann macht verdammt.9 man das Diktum von Dwight Eisen- hower verstehen, dass die amerikani- Gerade in Phasen totalitärer Bedrohung sche Nation ohne Sinn sei, wenn sie wird dieser Selbstbehauptungswille mit nicht in einem tief empfundenen reli- der Sonderrolle der USA synergetisch giösen Glauben verankert ist, egal um verbunden. Dabei hat es in der Ge- welchen es sich dabei handele.11 schichte der USA immer wieder Phasen des religiösen Enthusiasmus und Be- Religion spielt im öffentlichen und im kennertums gegeben, die sich mit welt- politischen Leben in der Geschichte lichen und politisch-pragmatischen der USA eine wichtige Rolle, unterliegt Epochen ablösten. Im Unterschied zu jedoch kulturellen Wandlungen und den europäischen Demokratien leitet Phasen unterschiedlicher Intensität. 90 Christian Hacke

Das religiöse Erbe aus der Kolonial- en Covenant, einen Völkerbund im und Gründerzeit wurde vor allem in Weltmaßstab, in dem die Völker durch Zeiten der überragenden Wirkung der die Selbstverpflichtung auf die ameri- liberalen Tradition ausgeblendet. Aber kanischen Werte zum Frieden finden die amerikanische politische Kultur, würden. Auch für Woodrow Wilson auch in ihrer Auswirkung auf die Au- stand die religiös motivierte Auser- ßenpolitik, besitzt Amalgamcharakter, wähltheit der USA außer Frage.13 in die liberale, aber auch puritanische und andere religiöse, republikanische Auch die Übernahme des Bildes vom und kommunitäre, kapitalistische und Volk Israel, das, im Angesicht des ge- rassistische Elemente eingegangen sind. lobten Landes, den Schwur wechsel- Die dunklen Seiten von Amerika, Skla- seitiger Treue erneuert und sich auf verei, Indianerverfolgung, kapitalisti- den Weg durch das Meer oder wie z.B. sche Ausbeutung, soziale Ungerechtig- Präsident Clinton formulierte, über keit und undemokratische Praktiken eine Brücke in ein neues Jahrhundert und Allianzen werden dabei weitge- macht, ist und bleibt fester Topos der hend ausgeblendet. Vielmehr domi- Rhetorik amerikanischer Präsidenten.14 niert eine harmonisierende Traditions- John Winthrop prägte in seiner Predigt auffassung, in der Liberalismus, Reli- das Bild vom Bund, den das amerika- gion, Markt und Kapital zusammen nische Volk als „city upon the hill“ mit ein Selbstverständnis fördern, das seinem Gott geschlossen hat und das schon von Alexis de Tocqueville als un- dem amerikanischen Selbstverständnis kritischer Patriotismus apostrophiert eine heilsgeschichtliche Interpretation wurde.12 gibt.

Freiheit und Religion gehörten von Anfang an zusammen. Dieser quasi 5. Der Niedergang der USA als religiöse „Rausch der Freiheit“ erfüllte liberaler Hegemon? die Neuankömmlinge, die Siedler, die in Amerika das neue Jerusalem, das tau- Doch dominierte lange eine klassisch sendjährige Reich der Heiligen zu ent- liberale Einstellung, basierend auf den decken glaubten. Dieser Glaube an den Werten von Individualismus, Gleich- besonderen Bund Gottes mit seinem heit, Freiheit, Demokratie und Eigen- neuen auserwählten Volk steht am An- tum. Die Hegemonie dieser liberalen fang des amerikanischen Sendungsbe- politischen Kultur erstreckte sich auf wusstseins und bildet den Kern der alle Bevölkerungsteile und betonte den amerikanischen Zivilreligion. Auch Wert von Kapitalismus, Unternehmer- Woodrow Wilson hat als gläubiger tum, Wettbewerb und individueller Presbyterianer das amerikanische En- Leistungsethik. Auf der anderen Seite gagement im Ersten Weltkrieg durch dieser Medaille standen Misstrauen ge- religiös motivierte Prinzipien erhöht. gen zentralstaatliche Machtkonzentra- Der Kriegseintritt wurde als notwendi- tion in Washington, Ablehnung von ge Maßnahme für eine gerechte Welt- Wohlfahrtsstaat und Sozialprogram- ordnung interpretiert, für die sich die men. Dieses liberale Weltbild, aus dem USA aufgrund ihres Missionsgedankens 19. Jahrhundert entstammend, prägt einsetzen. Wilson hoffte auf einen neu- die USA heute noch, hat aber seine Regionalkultur und Religion als innenpolitische Bestimmungsfaktoren 91

Dominanz verloren. Die liberale Hege- vielen den Gesamteindruck, dass vor monie dominierte und siegte im Kampf allem moralisch-puritanische Grund- gegen die totalitären Regime des 20. sätze vernachlässigt wurden. Jahrhunderts, gegenüber Nationalso- zialismus, Kommunismus und japani- Kein Wunder, dass in den USA gegen schem Weltmachtsanspruch. Konse- Ende der 90er-Jahre eine Erneuerung quenterweise siegte Harry Truman als von politischem Anstand und gesell- Vertreter dieses erfolgreichen natio- schaftlicher Sittsamkeit über die Wie- nalen Liberalismus in den Präsident- derbewertung des religiösen Moments schaftswahlen 1948 über seine Kon- angestrebt wurde. Diese Krise hatte kurrenten, den links-liberalen Henry auch außenpolitische Implikationen. Wallace, den konservativen Thomas Präsident Clinton reduzierte Führung Dewey und über den rassistischen auf Globalisierung und diese wiederum Strom Thurmand. Doch die liberale auf das Ökonomische, wert- und sinn- Tradition von F.D. Roosevelt bis Lyn- bezogene Leitideen wie vormals die der don B. Johnson im Zeichen von kraft- Eindämmung des Kommunismus fehl- vollem, aber pragmatischem Interna- ten und führten zu einem moralischen tionalismus scheint Vergangenheit.15 Vakuum.

Seit dem Zusammenbruch des Sowjet- Vor diesem Hintergrund erscheint imperiums von 1989/90 ist erst im der Krieg gegen den Terror seit dem Zuge des 11. September 2001 in Form 11. September 2001 lediglich als Anlass des internationalen Terrorismus eine für die folgende Revolutionierung der neue Bedrohung aufgetaucht, die die Außenpolitik unter Präsident Bush, politischen und geistigen Kräfte der doch die Ursachen für den Um- USA erneut mobilisiert; nicht aber schwung reichen weiter zurück: Christ- mehr in einem antitotalitär-liberalen liche Rechte und Neokonservative Selbstverständnis, das seinerzeit zu forcierten den Niedergang des Libera- weltweiten Allianzen führte, Freunde lismus. Sie warfen bereits in den 90er- schuf und damit die totalitären Mäch- Jahren der Regierung Clinton vor, sie te zum Einsturz brachte. gefährde Amerikas Stärke und Führung und vermindere vor allem die außen- Die USA sind zwar immer noch eine politische Handlungsfreiheit. Mit ähn- ,opportunity society‘, während Europa lichen Argumenten hatten übrigens sich primär als ,security society‘ ver- rechte Republikaner schon in den 50er- steht. Auch haben soziale und Rassen- Jahren die Politik der Eindämmung unruhen, Wirtschaftsflauten, Arbeits- kommunistischer Macht von Präsident losigkeit und Armut den liberalen Truman und in den 70er-Jahren die Vorbildcharakter der USA vorüberge- Entspannungspolitik von Präsident hend beeinträchtigen können. Doch Nixon kritisiert. Seit den 70er-Jahren seit Mitte der 80er-Jahre und dann im forderte die politische und christliche Zuge der 90er-Jahre stiegen Unzufrie- Rechte zunehmend unduldsam die Er- denheit und Vertrauensverlust an, weil neuerung und Ausweitung von Ameri- politische Probleme Unzufriedenheit kas Führung in der Welt, gerade nach über Institutionen und Politiker an- dem Zusammenbruch des Sowjetimpe- fachten. Präsident Clinton verkörperte riums.16 92 Christian Hacke

6. Die außenpolitische Program- setzt auch einen geopolitischen Trend matik der christlichen und innerhalb der USA fort, der mit Ronald neokonservativen Rechten Reagan begann. Der schrittweise Rück- zug des Einflusses der liberalen Ostküs- Die außenpolitische Programmatik der tenkultur auf die USA und der sukzes- christlichen und neokonservativen siv wachsende Einfluss einer konser- Rechten ähnelt einer Mischung aus „Bi- vativ-republikanischen Denkhaltung, bel und Edmund Burke“,17 denn sie be- unter Präsident Reagan zunächst im ruft sich auf religiöse Grundvorstellun- Westen konzentriert, haben seit der gen und versteht die amerikanische Präsidentschaft von G.W. Bush über Außenpolitik als von Gott und Vorse- den Süden hinaus die gesamten USA er- hung dazu bestimmt, Amerikas Einfluss fasst. Dieser Trend konnte in den 90er- in der Welt schrittweise auszudehnen: Jahren nur vorübergehend durch Bill Zuerst über den nordamerikanischen Clinton gestoppt werden. Doch schon Kontinent, wobei die „Politik der Offe- vor dem 11. September 2001 gewann nen Tür“ den fernen Osten befreite, das konservative außenpolitische Pro- dann die Kubaner und die Philippinos gramm im Zeichen „von militärischer von spanischer Unterdrückung erlöste Stärke und moralischer Klarheit“18 von und im Zuge des Ersten Weltkrieges die G.W. Bush bundesweiten Einfluss. Die- westlichen Demokratien vor den Hun- ser zwischen hegemonial und imperial nen errettete. Im Zweiten Weltkrieg oszillierende selbstbewusste, ja aggres- wurden die faschistischen Achsen- sive Internationalismus wurde pro- mächte und Japan niedergerungen, grammatisch schon im Zuge der 90er- im Kalten Krieg wurde die Welt dank Jahre von den sogenannten Neokonser- Amerikas Führungsrolle vor dem Kom- vativen entwickelt. Schon die „defense munismus bewahrt, 1990 das Sowjet- planning guidance“ von 1992 unter der imperium besiegt und jetzt muss der Federführung von Paul Wolfowitz, dem Kampf gegen Terror und religiösen stellvertretenden Verteidigungsminister Fundamentalismus zur Sicherheit von der Regierung Bush sen., verweist auf Freiheit und Demokratie geführt wer- wesentliche Merkmale: Betonte mi- den. litärische Überlegenheit mit dem Ziel absoluter Sicherheit, politische und Es war Präsident Ronald Reagan, der strategische Unabhängigkeit, Unilate- im Kalten Krieg den Kampf gegen das ralismus und Absage an institutionelle Reich des Bösen zunehmend religiös multilaterale Einrichtungen, Absage an auflud. Er verschärfte die Systemkon- Eindämmung und Einführung einer kurrenz wie schon Außenminister John präventiven Militärdoktrin gegen sog. Foster Dulles zu Beginn der 50er-Jahre Schurkenstaaten, vor allem in Verbin- die Strategie der massiven Vergeltung dung mit der Bedrohung durch Mas- und eine Politik des „roll back“ zu ver- senvernichtungswaffen. Für die neo- wirklichen suchte. Prononcierter reli- konservativen Republikaner ging es giöser Glaube und militante Neigun- schon in den 90er-Jahren nicht um die gen werden zu Unrecht nur Bush zu- Frage, ob, sondern lediglich, wie die geschrieben, sie sind Teil der Südstaa- USA intensiver, schlagkräftiger und ten-, aber auch Teil der Ostküstenkul- nachhaltiger die Weltpolitik bestimmen tur. Doch Bushs Wahl zum Präsidenten könnten. Dabei deutete sich, von der Regionalkultur und Religion als innenpolitische Bestimmungsfaktoren 93

Öffentlichkeit zunächst weitgehend nun der christlichen Rechten neuen unbemerkt, ein Riss innerhalb der Sinn. Republikanischen Partei an. Auf der einen Seite dominierte noch der prag- matische Realismus, der die Außen- 7. Die Wirkung von Regional- politik von Präsident Bush sen. prägte kultur und religiöser Rechte und den Außenminister James Baker, auf die Außenpolitik von Sicherheitsberater Brent Scowcroft Präsident George W. Bush und General Colin Powell vertraten. Auf der anderen Seite begannen die In dieser Tradition ist ein militant auf- neokonservativen Strategen ihre par- geladener religiöser und selbstgerech- teiinterne Machtposition Schritt für ter Internationalismus rechtsrepubli- Schritt auszubauen. Zusammen mit kanischer Provinienz richtungsweisend der christlichen Rechten entstand der geworden. Folglich wurde die Präsi- „Herzland-Konservatismus“, vorwie- dentschaft von G. W. Bush zu einer be- gend im mittleren Westen der USA be- sonders glaubensorientierten Adminis- heimatet, der für eine Außenpolitik der tration in der amerikanischen Ge- freien Hand, Unilateralismus, Konzen- schichte. Bushs erste Amtshandlung tration auf die eigene Stärke und mi- war die Einrichtung des Büros für litärische Überlegenheit plädiert. Die- „Glaubensorientierte und gemeinde- sen „konservativen Imperialisten“ geht nahe Initiativen“ im Weißen Haus. Der es vor allem um nationale Sicherheit. Widerstand gegen die Stammzellen- Ihnen ist die Vorherrschaft der USA mit forschung von G.W. Bush ist hierfür missionarischem Auftrag zur Verwirk- typisch. Sie verspricht erfolgreiche The- lichung von Demokratie und die Über- rapien bei Alzheimer, Diabetes, Parkin- windung der Diktatoren der Schurken- son und Aids. Doch die Evangelikalen staaten vorrangig. kritisieren diese Forschung, Präsident Bush ebenfalls. Ebenso beunruhigend Die verschiedenen politischen Schat- ist der Missbrauch der Kirchen zu poli- tierungen von Neokonservativen sind tischen Zwecken. Einem Bericht der nicht immer leicht voneinander abzu- „New York Times“ zufolge wurden die grenzen, doch setzen sie sich alle vom Gläubigen zur Auflistung „konservati- klassischen republikanischen Pragma- ver Kirchen“ und ihrer Mitglieder auf- tismus und von der realistischen Welt- gefordert.19 sicht ab, wie sie etwa die Präsidenten Nixon, Ford und Bush senior ent- Hier liegt ein weiteres Charakteristikum wickelten. Nach Maßgabe der Wähler- des revolutionären Anspruchs der Prä- stimmen wurde George W. Bush 2000 sidentschaft Bush. Seine betonte Reli- ein Minderheitenpräsident. Lediglich giosität war nicht zwingend, denn die von den religiösen Fundamentalisten Gründerväter haben Gott in der Ver- und den Neokonservativen erhielt fassung nicht erwähnt. Präsident Ge- er ein klares Mandat. Erst im Zuge des orge Washington galt im Übrigen als 11. September 2001 verleiht das neue nur wenig gottesfürchtig.20 Auch Tho- Feindbild, der internationale islamische mas Jefferson, nicht ganz zu Unrecht Terrorismus, als Ersatz für das kom- als Atheist bezeichnet, verachtete or- munistische Feindbild im Kalten Krieg ganisierte Religiosität und gab im 94 Christian Hacke

Übrigen eine bereinigte Version des dem die religiöse Rechte ein Bündnis Neuen Testaments heraus, aus dem die mit den konservativen Katholiken z.B. Wunder gestrichen wurden. James Ma- in Sachen Abtreibung geschlossen und dison, Mitglied der Episkopalkirche, sich mit konservativen Juden mit Blick plädierte für Religionsfreiheit, so auch auf „Erez Israel“ verbündet haben. An als Autor des „Virginia-Statuts“ über die der religiösen Aufrichtigkeit von Präsi- Religionsfreiheit. Im 19. Jahrhundert dent Bush gibt es keinen Zweifel. Er sprachen die Präsidenten zwar regel- wäre heute nicht Präsident, wenn die mäßig von Gott und erbaten seinen religiöse Erfahrung seinem Leben nicht Segen, aber Religion nahm keinen be- Disziplin und neuen Sinn gegeben hät- herrschenden Platz in ihrem Leben ein. te. Doch sie geht in diesem Fall über Präsident Lincoln bildete eine Ausnah- das Persönliche hinaus. Seitdem, so Bob me. Er war in der Tat gottesfürchtig. Woodward, sah „der Präsident seine Vor allem benutzten die früheren ame- Mission und die des Landes im Licht rikanischen Präsidenten die Religion eines göttlichen Masterplans“. nicht zur Mobilisierung von Wählern: „Lieber lasse ich mich besiegen, als aus Unter allen amerikanischen Präsiden- meiner Religion Kapital zu schlagen“, ten war es allein Abraham Lincoln, der so Präsident James A. Garfield. mit ähnlich scharfem religiösen Be- wusstsein wie Bush jun. Politik mach- Erst einige Präsidenten des 20. Jahr- te. Doch im Gegensatz zu Bush war hunderts gaben sich betont gläubig: sich Lincoln der unüberbrückbaren Woodrow Wilson ließ keinen Zweifel, Distanz zwischen Gott und dem fehl- dass Gott die Vereinigten Staaten auf baren sterblichen Menschen schmerz- eine weltpolitische Mission gesandt hat lich bewusst und hätte die Behauptung, und vor allem ihn selbst zur Erlösung man kenne Gottes Wille, als Sünde der Menschheit erkoren hat. Auch Jim- verstanden. Der große amerikanische my Carter war wie G.W. Bush ein Wie- Theologe und außenpolitische Realist dergeborener. Ronald Reagan hatte des 20. Jahrhunderts Reinhold Niebuhr zwar unter den Evangelikalen viele be- erklärte zu Lincolns Religiosität: „Die- geisterte Anhänger, war aber kein re- se Kombination aus moralischer Be- gelmäßiger Kirchgänger. Doch unter stimmtheit mit religiösem Bewusstsein seiner Präsidentschaft gewannen die und Urteil ist das perfekteste Modell Neokonservativen und die religiösen einer schwierigen Balance zwischen der Fundamentalisten an Einfluss. Doch Loyalität gegenüber den moralischen seine Lässigkeit und sein pragmatischer Werten einer freien Zivilisation und Republikanismus hielt sie in Schach. dem religiösen Leitbild jenseits aller Auseinandersetzungen – (...) Wir ande- Weder Woodrow Wilson, noch Jimmy ren sind, wie alle gottesfürchtigen Men- Carter, noch Ronald Reagan modellier- schen zu allen Zeiten, nie gegen die ten ihre Politik derart religiös wie Prä- Versuchung gefeit, Gott zur Heilig- sident G.W. Bush. Erst die „Versüdli- sprechung all dessen, was wir am chung“ der Republikanischen Partei sehnlichsten wünschen, zu missbrau- und der Aufstieg der Evangelikalen als chen.“21 Es bleibt zu bezweifeln, ob politische Kraft haben die amerikani- G.W. Bush diese Bescheidenheit teilt, sche Politik nachhaltig verändert, seit- denn sein konservativ-religiöses Ver- Regionalkultur und Religion als innenpolitische Bestimmungsfaktoren 95 ständnis von Politik wirkt selbstsicher, mit der Römischen Republik nach dem ja selbstgerecht. Bush und seine Neo- Zweiten Punischen Krieg. konservativen gehen zwar von libe- ralen Überlegungen aus, ziehen aber Zeitgeschichtlich gesehen stehen neo- aus der Wertschätzung von Menschen- konservative Denker, besonders jüdi- rechten und Demokratie die Legitima- scher Provinienz, unter dem Eindruck tion, beides gegebenenfalls mit Gewalt des Holocaust. Daniel Bell und Irving durchzusetzen. Diese neue Logik der Kristol standen ursprünglich politisch Unipolarität, der machtpolitischen Ein- links, wanderten aber unter dem Ein- zigartigkeit und vor allem die bislang druck des Vietnamkrieges ins konser- unbekannte militärische Überlegenheit vative Lager und kritisierten schließlich haben viele moralische und machtpo- Linksliberale und Linke als antiameri- litische Hemmungen und Schranken kanisch. Zeitgeschichtlich ausgehend aufgehoben.22 vom Holocaust werden vor allem drei Faktoren, die Hitlers Aufstieg begünstigt Als neokonservativ kann man also haben, kritisiert und auf die heutige eine Außenpolitik umschreiben, die vor Zeit übertragen: Die Dekadenz des Li- allem die absolute Handlungsfreiheit beralismus in den USA, eine Politik des und absolute Sicherheit der USA ins Nachgebens, der militärischen Schwä- Zentrum stellt. Sie ist nicht nur in der che und die Gefahr des Isolationismus. amerikanischen Geschichte tief ver- Schon in den 70er-Jahren kritisierten wurzelt, sondern bestimmt auch ge- Neokonservative wie Verteidigungsmi- genwärtig die Außenpolitik von Präsi- nister Schlesinger die Entspannungs- dent Bush auf prägnante Weise, seit- politik von Präsident Nixon mit der dem sich Neokonservative und christ- Sowjetunion als Appeasement und liche Rechte im Kreuzzug gegen den scheuten vor dem Vergleich mit der Terrorismus gefunden haben. Neokon- Politik des britischen Premierministers servative bezeichnen sich selbst gerne Chamberlain 1938 in München nicht als Verantwortungsethiker mit idealis- zurück. tischen Zielen. Demokratisierung, Ver- breitung der Menschenrechte, freie Nachdrücklich fordern Neokonservati- Märkte und liberalen Handel als Ziele ve heute von der Regierung Bush, Dik- leiten sie aus dem amerikanischen taturen zu stürzen, die Welt zu demo- Wertekanon ab. Oft wird bei ihnen ein kratisieren und geostrategisch Amerikas militanter Glaube an die Machbarkeit Interessen weltweit zu sichern. Diese bzw. Durchsetzung ihrer Ziele in der In- religiös aufgeladene neokonservative ternationalen Politik sichtbar. Heute, Sicht der Welt hat im Zuge des 11. Sep- im Zeichen einer unipolaren Welt glau- tember zu einem kompromisslosen, ben die Konservativen zusammen mit militanten Patriotismus in den USA ge- der christlichen Rechten an die Idee ei- führt, zu einer manichäischen Welt- nes neuen amerikanischen Imperiums. sicht und zu einer militant-religiösen Tatsächlich war und ist kein Land in Definition nationaler Interessen mit der Geschichte der Welt heute allen weltweitem Anspruch im wiederer- übrigen Ländern so gewaltig überlegen weckten Glauben an die Auserwählt- wie die USA. Sie vergleichen die heuti- heit, Überlegenheit und weltpolitische ge Stellung der USA deshalb bevorzugt Mission der USA. 96 Christian Hacke

8. Schlussfolgerungen rikas Werte, Politik und Kultur.25 Um- gekehrt verlieren die liberalen, tradi- Als Präsident, der mit der Bibel aufsteht tionell demokratisch wählenden Bun- und früh zu Bett geht, mag Präsident desstaten im Nordosten seit Jahren an Bush für seine Anhänger unerschütter- Einfluss. Gewinner ist das republikani- liche Entschlossenheit verkörpern, sei- sche Amerika im Süden und Südwes- ne Kritiker hingegen leiten hiervon ten, wie die Präsidentschafts- und Kon- Engstirnigkeit ab. Vielmehr sind Lern- gresswahlen 2004 erneut gezeigt haben. fähigkeit, Klugheit und Instinkt für po- Noch vor 40 Jahren kontrollierten die litische Führung gefordert. Präsident Demokraten den Kongress und be- Bushs persönlich-politische Dispositi- stimmten die politische Tagesordnung. on lässt diese Eigenschaften nicht son- Heute, zu Beginn der zweiten Amtspe- derlich ausgeprägt hervortreten. Auch riode haben die Republikaner im Senat deshalb eignet er sich kaum als eini- und Repräsentantenhaus die Mehrheit. gende Symbolfigur, die gerade in der G.W. Bush, selbst ins Ostküstenesta- heutigen Weltpolitik so notwendig wä- blishment hineingeboren, entschied re. Bei ihm wird vielmehr der Einfluss sich für eine Karriere in Texas und per- einer spezifischen amerikanischen Süd- sonifiziert heute die Vorherrschaft die- staatenkultur augenfällig: eine konser- ser revolutionär-visionären und selbst- vativ-protestantische Religiosität, ein gerechten, konservativ-christlichen ländlicher Lebensstil des Laisser Faire, Grundhaltung. John Kerry konnte als das Vertrauen auf freie Märkte und li- realistischer, pragmatischer und intel- beralen Welthandel, die martialische lektueller Liberaler diesen Trend nicht Pose, Neigung zur militärischen Inter- stoppen. vention und eine starker Glaube an die religiös-politische Sendung der USA in George W. Bush hat offensichtlich die der Welt. Ronald Reagan verkörpert un- texanische Südstaatenkultur und die ter diesen Gesichtspunkten Bushs Vor- konservativ religiöse Grundeinstellung bild. Jener nahm Elemente des Süd- des amerikanischen Südens stärker ver- staatenkonservatismus auf und erwei- innerlicht als sein Vater George Herbert terte diesen nach Westen und machte Walker Bush. Der wesentliche Unter- ihn in Kalifornien als Gouverneur hei- schied zwischen den beiden Bush-Prä- misch.23 War Barry Goldwater für die sidenten liegt daher „in dem geschmei- elitär intellektuellen Konservativen digen, diplomatisch-geschickten, inter- noch inakzeptabel, so wurde Ronald nationalistisch denkenden Senior aus Reagan zum neuen Vorbild, auch der dem Nordosten und dem Macho, dem populistischen neuen Rechten und der überheblichen im Süden geborenen christlichen Rechten. protestantischen Sohn, kulturell ein echter Texaner,“26 der sich und die Folglich verbindet „der texanische Kon- amerikanische Nation als göttlich Aus- servatismus eines George W. Bushs die erwählte einer historischen Mission Religiosität des 17. Jahrhunderts, die sieht, einer neuen Vision von Manifest Wirtschaft des 18. Jahrhunderts und Destiny: Die Freiheit und die Sicherheit den Imperialismus des 19. Jahrhun- zurück zu gewinnen, die am 11. Sep- derts.“24 Amerikas gläubiger, traditi- tember durch die islamischen Terro- onsbewusster Süden formt heute Ame- risten verloren ging. Dabei verstört Regionalkultur und Religion als innenpolitische Bestimmungsfaktoren 97 vor allem die künstliche Verknüpfung • öffentliches Leben in den USA wird von religiös-überhöhtem Moralismus, früher oder später Abneigung erkenn- aggressivem Militarismus und ein ma- bar, einer bestimmten Auffassung von nichäisches Weltbild nach dem Motto: Religiosität dominanten Einfluss auf „Wer nicht mit uns ist, ist gegen uns.“ politische Prozesse zuzugestehen, weil dann religiöse und politische Min- Weiße Südstaatler unterstützten schon derheitenmeinungen eingeschränkt im 18. Jahrhundert eifriger als die werden. Nordstaatler amerikanische Kriege fern • Politisierte Religion, religiöse Politik, der Heimat.27 Neokonservative Über- Konflikte zwischen Glaubensrichtun- zeugungen allein und Religiosität sind gen und Konflikte zwischen politi- also historisch gewachsene Elemente schen Ausrichtungen, all diese Pro- amerikanischer Außenpolitik. Das Re- zesse, auch in ihrer Vermischung sind volutionäre bei Präsident Bush liegt für Amerikaner selbstverständlich. in der synergetischen Wirkung. Damit Doch der Verfassungszusatz, eine frei- hat Bush Washington seiner weltläu- heitsraubende Staatsreligion zu ver- figen liberalen Tradition und Identität hindern, ist Sicherheit genug, dass beraubt und zum Zentrum einer mili- die gegenwärtige politisch-religiöse tanten Südstaatenkultur ausgebaut. Ein Konstellation unter Präsident Bush sehr verspäteter Sieg der Dixies! nur eine vorübergehende sein wird. Während ein guter Teil der westlichen Die Bedeutung der Religion für die Poli- Sinnkrise darauf zurückzuführen ist, tik und die Außenpolitik der USA lässt dass die Religion gerade in Europa sich also wie folgt zusammenfassen: durch den Prozess der Säkularisierung verdrängt wird, bleibt die Religion • Religiöser Pluralismus gehört zur entscheidender Faktor für Stärke und politischen Tradition der USA. Die Selbstbehauptung der amerikanischen Aufladung der politischen Sprache Nation. mit religiösen Gehalten, der religiöse • Erfolgreicher religiöser Lobbyismus, Appell an nationales Sendungsbe- wie bei der christlichen Rechten der- wusstsein kann sowohl mit politisch zeit mit Blick auf die Regierung Bush konservativen wie auch liberalen zu konstatieren ist, bildet die Aus- Werten angefüllt werden. nahme. Das zweite Beispiel erfolg- • Je nach außen- und innenpolitischer reichen religiösen Lobbyismus ist der Konstellation haben die USA im Zu- jüdische, vielleicht der wirkungs- ge von Kontinuität und Wandel die- vollste Lobbyismus in den USA sen religiösen Pluralismus ständig schlechthin. England mag sich seiner neu austariert. In der gegenwärtigen historischen Sonderbeziehungen ge- Phase scheint die Verbindung zwi- genüber den USA rühmen, doch Is- schen politischem Liberalismus und rael ist seit der Staatsgründung 1948 Religiosität eher brüchig, während der engste und verlässlichste Bündnis- neokonservative Denkhaltungen und partner der USA. Dies lässt sich nicht christlicher Fundamentalismus der- allein durch die mächtige und ein- zeit dominieren. flussreiche jüdische Lobby in den • Bei der starken Bedeutung von all- USA erklären, auch nicht mit den gemeiner Religiosität für Politik und amerikanischen Interessen im Mitt- 98 Christian Hacke

• leren Osten, die dann vielmehr das Es besteht allerdings kein Anlass, das Bündnis mit ölreichen arabischen kirchlich religiöse Leben in den USA Staaten ins Auge fassen müssten. Das und seine Bedeutung für die Politik zu amerikanisch-israelische Bündnis ruht idealisieren. Auch der von Präsident auf tiefen Fundamenten, die sich „der Bush ausgerufene „Kreuzzug“ gegen Al außenpolitischen Vernunft und ihrer Qaida ist ein fragwürdiges Beispiel für wissenschaftlichen Grundierung ent- ein religiös aufgeladenes manichäisches ziehen“.28 Beiden Staatsgründungen Weltbild. Auch haben die Kirchen in lagen verwandte biblische Motive den USA ihre eigenen Probleme. Doch zugrunde: Die Puritaner hofften in hüllt sich die amerikanische Nation der Wildnis von Nordamerika ein nicht nur patriotisch in die Flagge, son- neues Jerusalem zu errichten. Diese dern Religion gilt grundsätzlich als Hu- religiöse Erwartung wurde dann auf mus und Kraftquelle der Gesellschaft. Israel projeziert und wurde zur Vor- aussetzung von fast bedingungsloser Doch steht hinter der selbstbewussten Solidarität amerikanischer funda- säkularen Einstellung der Europäer mental-christlicher Gruppen mit dem nicht auch Unkenntnis und Intoleranz? heutigen Israel. Beide Staaten speisen Angesichts der wissenschaftlichen Fort- sich auch aus einem kollektiven schrittsgläubigkeit erscheint uns alles Selbstbewusstsein, dass die Geschich- erlaubt und notwendig, ja in einem te, ja dass Gott auf ihrer Seite und da- neuen säkularen Sinne moralisch. Es mit letztlich auch für sie und gegen gibt offensichtlich kaum mehr Werte, den Rest der Welt sei. Diese Überzeu- die losgelöst vom Fortschrittsdenken gung vom auserwählten Volk teilen existieren können. Diese Überheblich- Amerikaner und Israelis. keit gegenüber religiös-moralischen • Eine weitere Form außenpolitischer Werten kann zu Orientierungslosig- Interessenvertretung durch religiöse keit, moralischer Beliebigkeit, ja zur Organisationen ist die der Nicht- Selbstzerstörung führen. Diese Gefahr regierungsorganisationen „NGOs“, droht Gesellschaften wie in Europa, die die international mit Hilfsprogram- offensichtlich die Religion immer we- men tätig sind wie z.B. Care, die ih- niger als Kraftquelle, sondern als Ana- ren religiösen Ursprung nicht immer chronismus verstehen. Mut zu neuer deutlich machen. Andere Hilfsorga- und größerer Verantwortung der Gläu- nisationen wie z.B. World Vision sind bigen auch mit Blick auf die Politik er- dagegen ihren evangelikalischen scheint nicht anachronistisch, sondern Wurzeln verpflichtet. Ohne World dringlich. Hier kann Europa von Ame- Vision hätte z.B. Präsident Clinton rika lernen, ohne dass dabei Europa in keine Hilfeleistungen an das Hunger eine religiöse Fundamentalismusfalle leidende Nordkorea vom Kongress geraten muss.30 bewilligt bekommen.29 Diese Organi- sationen mobilisieren das aus dem Heute zeigen sich die USA weniger als Glauben gespeiste Engagement für sanfter Hegemon, sondern der Krieg ein humanitäres Engagement, wobei gegen den internationalen Terror wird der Gedanke der christlichen Nation unter religiös aufgeladenem und selbst- hierdurch vorbildlichen Charakter gerechtem Vorzeichen geführt. Hinzu erhält. kommt, dass die neue, alles übertref- Regionalkultur und Religion als innenpolitische Bestimmungsfaktoren 99 fende Machtüberlegenheit die Regie- faktoren. Militärische Macht, pronon- rung Bush verführt hat, im Kampf ge- cierte Religiosität und martialische Süd- gen den Terror sogar einen Angriffs- staatenkultur scheinen in den Hinter- krieg wie gegen den Irak zu beginnen – grund zu rücken. „Ich verwende das ohne ausreichende Beweismittel, ohne Wort Macht im weiteren Sinne. Denn Bedrohung der nationalen Sicherheit noch wichtiger als militärische und und vor allem ohne Zustimmung der auch wirtschaftliche Macht ist die Weltöffentlichkeit und ohne Beistand Macht der Ideen, die Macht des Mitge- überzeugter Freunde. fühls und die Macht der Hoffnung“, so Condoleezza Rice in Paris. In diesem In der ersten Amtsperiode wirkte die Sinne entwickelt Präsident Bush derzeit betonte Religiosität nicht nur in Bushs eine weltpolitische Charmeoffensive Außenpolitik selbstgerecht, vielmehr und führt den neuen Primat der Di- erscheint die gesamte politische Kultur plomatie so gekonnt und geschmeidig der USA zunehmend illiberal. Dabei vor, wie es die Europäer allenfalls von vergrößern die religiös-politischen Zie- einem Präsidenten Kerry erwartet hät- le und Interessen der Regierung Bush ten. George W. Bush versteht seine auch die Gegensätze innerhalb der Außenpolitik jetzt primär im Zeichen USA, so dass man heute fast von zwei demokratischer Vorsehung. Von der gegensätzlichen politischen Kulturen samtenen Revolution 1989 zur pur- in den USA sprechen kann. Doch bei- purnen Revolution im Irak sieht Präsi- de Kulturen eint der Glaube an die dent Bush die USA als leuchtendes Vor- USA als demokratisches Vorbild und bild für Demokratie und Freiheit. Er beide zelebrieren, wenn auch auf un- stellt sich ganz in die idealistische Tra- terschiedliche Weise, die Bedeutung der dition. Als Theodor Wilson erinnert er Religiosität für die Politik. Die zwischen daran, wer an Amerikas Seite für Frei- Liberalismus und Konservatismus chan- heit kraftvoll und opferbereit eintritt. gierenden religiösen Wertvorstellungen Diplomatisches Geschick verweist zu beziehen sich vor allem auf Familie, Beginn der zweiten Amtszeit auf An- Freiheit, Eigenverantwortlichkeit, Ei- zeichen einer gemäßigteren Außen- gentum, freies Unternehmertum und politik. Vielleicht kehrt mit Außenmi- nicht zuletzt auf Amerikas Führung in nisterin Condoleezza Rice ein Stück der Welt. Realismus in die amerikanische Außen- politik zurück und drängt damit die Doch zeigen sich zu Beginn der zwei- neokonservativ-utopisch-idealistische ten Amtszeit auch die Grenzen dieser Ausrichtung der ersten Amtszeit in den beiden innenpolitischen Bestimmungs- Hintergrund.

Anmerkungen 1 „There is no more enduring, no more 2 Lind, Michael: Vietnam. The Necessary influential force in our history than the War, New York 1999. formation and interplay of the different 3 Vgl. Lind, Michael: Civil War by Other regions of the United States“, Frederick Means, in: Foreign Affairs, Sept./Okt. Jackson Turner, zit. nach Trubowitz, Peter: 1999, S.123-142, S.135f. Defining the National Interest, Conflict 4 Tocqueville de, Alexis, zit. nach: Lind, M.: and Change in American Foreign Policy, Civil War, S.136. Chicago/London 1998, S.87. 5 Ebd., S.139. 100 Christian Hacke

6 Vgl. hierzu grundsätzlich Trubowitz, P.: in: Michael Minkenberg/Herbert Dittgen Defining the National Interest; Lind, (Hrsg.), The American Impasse. US Do- Michael: The Next American Nation. The mestic and Foreign Policy after the Cold New Nationalism and the Fourth Ame- War, Pittsburgh 1996, S.6. rican Revolution, New York 1996. 18 So das Statement of Principles des neo- 7 Vgl. beispielsweise McCarthy, Kathleen konservativen „Project for the New Ame- D.: American Creed, Philanthropy and rican Century“: http://www.newamerican the Rise of Civil Society, 1700-1865, century.org/statementofprinciples.htm Chicago 2003. 19 Vgl. Kirkpatrick, David D.: Bush Appeal 8 Vgl. Prätorius, Rainer: In God We Trust: to Churches Seeking Help Raises Doubts, Religion und Politik in den USA, Mün- in: New York Times, 2.7.2004, S.A15. chen 2003, S.34. 20 Vgl. hierzu und im Folgenden Schlesinger 9 Hacke, Christian: Zur Weltmacht ver- jr., Arthur: Gottesfürchtig ist das nicht. dammt. Die amerikanische Außenpolitik Nie haben amerikanische Präsidenten von John F. Kennedy bis George W. Bush, so sehr mit Religion Politik gemacht 3. Aufl., München 2005. wie G.W. Bush, in: Die Welt, 30.10.2004, 10 Vgl. Prätorius, R.: In God We Trust, S.10. S.9. 11 Vgl. Hutcheson, Richard G.: God in the 21 Ebda. White House. How Religion Has Changed 22 Vgl. Dean, John: Das Ende der Demo- the Modern Presidency, New York/Lon- kratie. Die Geheimpolitik des George W. don 1989, S.52. Bush, Berlin 2004. 12 Vgl. Vorländer, Hans: Hegemonialer 23 Greven, Thomas: Republikaner, Anatomie Liberalismus. Politisches Denken und einer amerikanischen Partei, München politische Kultur in den USA 1776-1920, 2004, S.103. Frankfurt/New York 1997. 24 Lind, Michael: Made in Texas: George W. 13 Vgl. Prätorius, R.: In God We Trust, S.79. Bush and the Southern Takeover of Ame- 14 Vgl. Vorländer, Hans: Politische Kultur, rican Politics, New York 2004, S.183. in: Länderbericht USA, Band 357, S.280f. 25 Applebome, Peter: Dixie Rising. How the 15 Vgl. Lind, Michael: Up From Conser- South Is Shaping American Values, Po- vatism. Why the Right is Wrong for litics and Culture, Washington D.C.1997. America, New York 1996, S.261. 26 Lind, M.: Made in Texas, S.145. 16 Vgl. Amamann, Nancy: North American 27 Ebd., S.142. Protestant Fundamentalism, in: Martin 28 So Krippendorff, Ekkehart: Die Vereinig- Marty/Scott Appleby (Hrsg.), The Funda- ten Staaten und Israel. Projektionsflächen mentalism Project, Band 1, Chicago/ für Hoffnung und Hass, in: Blätter für London 1991, S.1-65; vgl. hierzu auch: deutsche und internationale Politik, Minkenberg, Michael: Neokonservatismus August 2002, S.943. und Neue Rechte in den USA, Baden- 29 Vgl. Prätorius, R.: In God We Trust, S.170. Baden 1990. 30 Vgl. hierzu Lucas, Hans Dieter: Vater un- 17 Vgl. Lowi, Theodore: American Impasse. ser vor dem Rodeo, Rheinischer Merkur, The Ideological Dimension at Eras End, 3.11.2004, S.12. Die Glaubwürdigkeit der „dpa“ sichern

Andreas Feser

„Schauen Sie sich an, welche Regional- Agenturen. Damit ist die Frage gestellt: zeitungen in Deutschland noch mit ei- Wem gehört eigentlich „dpa“, die im gener redaktioneller Komplettleistung Land mit den meisten Agenturen in arbeiten können, wie viele bis aufs Lo- der Landessprache4 trotz gelegentlicher kale abgemagert sind“, forderte Bundes- Kritik an ihrer Schwerfälligkeit5 mit wirtschaftsminister Clement die Kri- Abstand meistgenutzte6 und für ihre tiker seiner Gesetzentwürfe zur Locke- Kompetenz in den Redaktionen ihrer rung der Pressefusionskontrolle auf.1 Hauptkunden, den Tageszeitungen7, Und der vor kurzem verstorbene SPD- hochgeschätzte8 Presseagentur? Kon- Bundesgeschäftsführer Peter Glotz assis- kurrent „ddp“ hat nach der Eröffnung tierte: „Viele der kleineren Blätter (...) eines Insolvenzverfahrens im Herbst könnten bei der nächsten Krise so ver- 2004 einen neuen Investor gefunden.9 schlankt werden, dass sie nur noch aus „AP“, „reuters“ und „AFP“ sind deutsche dem Internet gezogene Nachrichten in Töchter ausländischer Agenturen.10 vorgefertigte Gefäße füllen würden.“2 Die Nachrichtenlieferung der großen Die 1949 als Zusammenschluss der Agenturen könne dann nicht mehr hin- Pressedienste11 aus den drei westlichen terfragt werden. So wenig überzeugend Besatzungszonen12 gegründete „Deut- solche Argumente für erleichterte Ver- sche Presseagentur“ befindet sich, so lagsfusionen sind – denn „zunehmende lässt sich auf den ersten Blick beruhigt Marktmacht zieht eine Gefährdung feststellen, von Anfang an zu 100% in der Presse- und Meinungsvielfalt nach Streubesitz. Kaum eine Gesellschaft mit sich“3, eine freie Presse lässt sich nur beschränkter Haftung hat einen so gro- über den Wettbewerb möglichst vieler ßen Gesellschafterkreis. Die aktuelle Ge- wirtschaftlich nicht miteinander ver- sellschafterliste zählt 200 Geschäfts- flochtener Verlage sichern – so bedeut- anteile, von denen 191 belegt sind.13 sam ist der Hinweis auf den Einfluss der Abgestimmt wird mit Mehrheit – ohne

Politische Studien, Heft 403, 56. Jahrgang, September/Oktober 2005 102 Andreas Feser

Sonderregeln wie etwa Einstimmig- den Größen der Zeitungsbranche ge- keitserfordernisse.14 Die Geschäftsan- funden. Die gewerkschaftlichen An- teile geben Einfluss im Verhältnis ihrer teilseigner stellen mit insgesamt Größe. Die Satzung begrenzt für jeden 784.720 € oder 4,95% im Gesellschaf- Gesellschafter den Anteil an dem ins- terkreis der „dpa“ einen großen Stim- gesamt 15.837.620 € umfassenden Ge- menblock. sellschaftskapital auf höchstens 1,5%. Die für die öffentlich-rechtlichen Rund- Gewerkschaften in der dpa funkanstalten zugelassenen Ausnah- 18 men (höchstens 15% pro Sender, ins- „dpa“-Geschäftsanteil gesamt höchstens 25%) werden nicht Nr. Eigentümer Wert voll ausgeschöpft – ZDF, NDR und 043 DGB 57.600 15 WDR sind mit je 4,05% beteiligt. 045 (ehem.) HBV 12.000 Eine Grauzone ergibt sich allerdings, 056 Sauer, Transnet-GdED 19.200 wenn rechtlich selbstständige Verlage 058 Wiesehügel, IG BAU 150.000 wirtschaftlich eine Einheit bilden. In 059 Peters, IG Metall 195.000 diesen Fällen und bei der Fusion von 060 Dr. Stange, GEW 19.200 Zeitungen kann es dazu kommen, dass Gesellschaftsanteile von mehr als 1,5% 078 (ehem.) DAG 75.000 einer einheitlichen Führung unterwor- 083 NGG 29.920 fen sind.16 092 Treuhandverwaltung der Nachfolge des Verbandes der Fabrik- Überraschend ist allerdings die Tat- arbeiter Deutschlands 150.000 sache, dass sich unter den Gesellschaf- 176 (ehem.) ÖTV 19.200 tern der „dpa“ zwei Partei-Unterneh- 177 (ehem.) IG Medien 57.600 men und einige wenige, sehr unaus- Gesamt: 784.720 gewogen ausgewählte gesellschaftliche Organisationen finden. Bedenklich sind die Größenverhältnisse, die sich dabei – Ein Geschäftsanteil im Wert von zeigen: 14.400 € (0,09%) wird mit Hinweis auf die „Mitteilungen des BDI“ von der – 11 Geschäftsanteile gehören dem „Industrie-Förderung GmbH“ des Bun- DGB und sieben der acht Einzelge- desverbandes der deutschen Industrie werkschaften:17 IG Metall, Transnet, gehalten.19 Der BDA, der ZDH und an- IGBAU, NGG, GEW und über Titel von dere wichtige Dachverbände der Wirt- Vorläuferorganisationen ver.di und schaft sind im Gesellschafterkreis der IGBCE. Auf diesem Weg haben Ver- „dpa“ ebenso wenig vertreten wie bei- bandsblätter wie die „DGB-Publikatio- spielsweise die großen Sozialverbände. nen“, „HBV-Ausblick“ und „HBV-Be- Auch die Kirchen, die allerdings eigene rater“, „GdED inform“, „Der Grund- Presseagenturen betreiben, gehören stein“, „Metall“, „Erziehung und Wis- nicht zu den „dpa“-Gesellschaftern. senschaft“, „DAG journal“, „Spek- – Die „Union-Betriebs-GmbH“, in de- trum“, „DAG“, „Einigkeit“, „Gewerk- ren Verlag die Mitgliederzeitschrift der schaftspost“, „ÖTV-Magazin“, „Kontra- CDU erscheint und die der CDU ge- punkt“ einen Platz in einer Reihe mit hört, ist mit 15.600 € (0,1%) und der Die Glaubwürdigkeit der „dpa“ sichern 103

Titelnennung „Deutsches Monatsblatt“ der 21 Zeitungsverlage und Privatra- in der Liste der Gesellschaftsanteile ver- dioveranstalter an der „dpa“ in Betracht zeichnet.20 zieht, an denen ihrerseits die SPD über – Für die Medienholding der SPD, die ihre Medienholding „DDVG“ mehr „Deutsche Druck- und Verlagsgesell- oder weniger große Anteile hält. Je schaft mbH“, wird mit der Erläuterung nach dem methodischen Ansatz, den „allgemein Druck und Verlag“ ein An- jeweiligen Geschäftsanteil insgesamt teil von 215.020 € (1,35%) ausgewie- oder nur anteilig entsprechend der der sen.21 SPD zuzurechnenden Beteiligung in Ansatz zu bringen, ergibt sich ein von Eine Vertretung unterschiedlicher ge- der SPD beeinflussbarer Kapitalanteil sellschaftlicher Akteure mit kleinen An- an der „dpa“ zwischen 5,29% und teilen im Kreis der Eigentümer einer 12,60%.22 Die auffälligen Unterschie- Nachrichtenagentur muss nicht von de bei der Beteiligungspolitik unter- vorneherein etwas Schlechtes sein – im schiedlicher Verlage und Unterneh- Gegenteil. Eine plurale Eigentümer- mensgruppen verstärken den Verdacht, struktur ist für eine moderne Nach- dass mit den Gesellschaftsanteilen der richtenagentur ein guter Ansatz, die Firmen mit SPD-Beteiligung in der Vielfalt der Gesellschaft widerzuspie- „dpa“ gezielt auf ein politisches Ein- geln. Voraussetzung ist allerdings, dass flusspotenzial spekuliert wird: wichtige gesellschaftliche Kräfte dabei auch einigermaßen repräsentativ ver- – Kaum einer der Gesellschafter der treten sind. Unter diesem Blickwinkel „dpa“ kommt aus den neuen Län- weist die geschilderte Situation bei der dern. Zwei Ausnahmen sind die Pri- „dpa“ allerdings erhebliche Defizite auf. vatradiosender „Hit-Radio“ aus Dres- den und Halle23 – an beiden hält die Der Eindruck einer Schieflage verstärkt „DDVG“ indirekt eine kleine Betei- sich noch, wenn man die Beteiligung ligung24. 104 Andreas Feser

Die SPD in der „dpa“

„dpa“-Geschäftsanteil25 Nr. Eigentümer Wert SPD-Beteiligung 011 Hoehl-Druck / Hersfelder Zeitung26 21.600 3,00% 648 015 Nordbayerischer Kurier, Bayreuth27 48.000 29,90% 14.352 025 Presse-Druck für Neue Westf., Bielefeld 150.000 100,00% 150.000 033 Schweiger & Pick/Cellesche Zeitung28 15.000 5,10% 765 034 Neue Presse, Coburg 222.000 30,00% 66.600 036 Cuxhavener Nachrichten 79.200 50,00% 39.600 042 Antenne Sachsen / Hit-Radio, Dresden 12.700 1,50% 190 052 Westfälische Rundschau, Dortmund29 30.000 13,10% 3.930 063 Frankfurter Rundschau 150.000 90,00% 135.000 070 Enke/Aller-Zeitung, Gifhorn30 71.320 20,39% 14.542 072 Göttinger Tageblatt31 70.350 20,18% 14.201 074 Antenne Hörfunk/Hit-Radio, Halle 12.700 3,85% 488 077 DDVG32 215.020 100,00% 215.020 085 Deister- und Weser-Zeitung, Hameln33 46.200 1,08% 499 088 Antenne Nieders./Hit-Radio, Hannover34 12.700 2,14% 271 089 Peiner Allgemeine35 225.000 20,39% 45.878 090 F&F NW-Deutschl./radio ffn, Hannover36 75.000 1,85% 1.388 091 Madsack/Hannoversche Allgemeine37 225.000 20,39% 45.878 100 Frankenpost, Hof 225.000 35,00% 78.750 118 Bing Verl./Waldeckische Landeszeitung38 30.000 20,39% 6.117 133 Hitzeroth/Oberhess. Presse, Marburg39 43.200 10,40% 4.492 149 Radio NRW, Oberhausen40 15.000 2,00% 300 Gesamt: 1.994.990 838.909

– Die „Neue Westfälische“ ist nicht Blättern wie dem „Westfälischen An- mit ihrer Verlagsgesellschaft im Kreis zeiger“ aus Hamm mit 22.500 € (Auf- der „dpa“-Gesellschafter vertreten, son- lage: 163.000)48 oder dem „Straubinger dern mit der „Presse-Druck-GmbH“41, Tagblatt“ mit 30.000 € (Auflage: die zum Kreis der SPD-Unterneh- 131.000)49. men gehört42 und für die Partei die – Die „Neue Presse“ aus Coburg und Mehrheitsbeteiligung an Verlag43 und die „Frankenpost“ aus Hof, zwei mit- Druckerei44 der Bielefelder Zeitung telgroße Regionalzeitungen (Auflagen hält. von 30.000 und 60.000) mit unmittel- – Die „Cuxhavener Nachrichten“, ei- barer Beteiligung der „DDVG“ (30%50 ne kleine Zeitung (Auflage: 13.00045) beziehungsweise 35%51) halten mit mit unmittelbarer Beteiligung der 222.000 € und 225.000 €52 größere „DDVG“ (50% des Kommanditkapi- „dpa“-Anteile als alle anderen ver- tals)46, hält an „dpa“ einen Geschäfts- gleichbaren Regionalzeitungen, auch anteil im Wert von 79.200 €47 – das ist wenn diese eine erheblich größere mehr als die Beteiligung von größeren Auflage haben. Die Glaubwürdigkeit der „dpa“ sichern 105

– Die Madsack-Verlagsgruppe, deren Glaubwürdigkeit einer Nachrichten- Zeitungen insgesamt eine Auflage von agentur unverzichtbaren Vertrauen in rund 500.000 erreichen, hält mit allen die Unvoreingenommenheit der Be- Titeln an „dpa“ Anteile von rund richterstattung wurden bei der „dpa“ 500.000 €53 – der Springer-Verlag, des- schon vor 50 Jahren in einem exem- sen Blätter täglich rund die zehnfache plarischen Fall ausgetragen: Chefre- Auflage haben, hält „dpa“-Geschäfts- dakteur und SPD-Mitglied Fritz Sänger anteile, die zusammen nur unwesent- musste vom Aufsichtsrat im Herbst lich größer sind54. Auch die anderen 1958 an den überparteilichen Status der großen Verlagsgruppen – wie etwa die Agentur erinnert werden und schied Südwest-Verlagsgruppe, Holtzbrinck zum 01.06.1959 aus.59 Angesichts der und Gruner und Jahr/Bertelsmann – Vielzahl der beeinflussenden Faktoren halten in der Summe aller Zeitungen, ist es im Regelfall allerdings nicht an denen sie beteiligt sind, jeweils möglich, einzelne Entscheidungen be- rund 3% bis 4% der „dpa“-Geschäfts- stimmten Einflussfaktoren ursächlich anteile55. zuzuordnen.60

Die Prozesse der Nachrichtenauswahl Die Öffentlichkeit, die Nutzer der Me- entscheiden über die vermittelte Wirk- dien und die Redaktionen, die Dienst- lichkeit und stellen Öffentlichkeit her. leistungen einer Nachrichtenagentur Die Nachrichtenagenturen spielen da- verarbeiten, müssen in die übermittel- bei eine zentrale Rolle.56 Die Forschung ten Daten und Berichte ihr Vertrauen hat drei Gruppen von Einflussfaktoren setzen können. Gegen das Bemühen identifiziert, die auf die Auswahlent- der dpa um Objektivität61 darf nicht scheidungen einwirken: Das sind zum die Saat des Zweifels gesät werden kön- Ersten die klassischen Nachrichtenfak- nen. Die beschriebene Schieflage im toren.57 Abhängig sind die Auswahl- Eigentümerkreis der „dpa“ muss korri- entscheidungen zum Zweiten von giert werden. Zwei denkbare Wege zu der Marktsituation – vom Budget der diesem Ziel sind: Die SPD unterwirft die Agentur bis hin zu den Erwartungen von ihr gehaltenen Geschäftsanteile ihrer Kunden. Bedeutsam ist zum Drit- einer über jeden Verdacht der partei- ten die Binnenstruktur der Agentur – politischen Einflussnahme erhabenen von der Hierarchie bis zu den persönli- Treuhandschaft – am besten gemein- chen Präferenzen der Journalisten. Be- sam mit der CDU. Oder die anderen sonders bedeutsam ist die Rolle der Parteien und große gesellschaftliche Schichtleiter.58 Zur dritten Gruppe der Gruppen können sich am Gesell- Binnenfaktoren kann auch die Rück- schaftskapital der „dpa“ so beteiligen, sichtnahme auf Anteilseigner gehö- dass dies in der Relation zu den Betei- ren. Spannungen zwischen persönli- ligungen von SPD und Gewerkschaften chen Überzeugungen und dem für die angemessen ist. 106 Andreas Feser

Anmerkungen 1 Clement, Wolfgang: Da kann einem Nr.017. Angst und Bange werden, SZ 26.5.2004 – 20 Amtsgericht Hamburg, HRB 68431, Interviewpartner des Bundesministers für Gesellschafterliste vom 11.02.2005, Wirtschaft: Hans-Jürgen Jakobs, Klaus Ott. Nr.165. 2 Glotz, Peter: Wenn sich Qualität nicht 21 Amtsgericht Hamburg, HRB 68431, rechnet, Der Tagesspiegel, 4.7.2004. Gesellschafterliste vom 11.02.2005, 3 Böge, Ulf: Dann sind wir in einer anderen Nr.077. Welt, FAZ, 11.02.2004 – Interviewpartner 22 Amtsgericht Hamburg, HRB 68431, des Präsidenten des Bundeskartellamts: Gesellschafterliste vom 11.02.2005. Werner Mussler, Holger Steltzner. 23 Amtsgericht Hamburg, HRB 68431, 4 Ebeling, Dieter: Die Position von dpa Gesellschafterliste vom 11.02.2005; im Nachrichtenmarkt, in: Jürgen Wilke Nrn.042, 074. (Hrsg.), Nachrichtenagenturen im Wett- 24 Angabe der „Verlagsgesellschaft Mad- bewerb. Ursachen-Faktoren-Perspektiven, sack“: http://www.madsack.de/content/ Konstanz 1997, S.25ff., S.27. unternehmen/hoerfunk.html. 5 Brechtel, Detlef: Kampf um die News, in: 25 Amtsgericht Hamburg, HRB 68431, Journalist. Das deutsche Medienmagazin, Gesellschafterliste vom 11.02.2005, Num- 4/2002, S.32ff., S.33. mern wie angegeben. 6 Hallerberg, Christian: Platzhirsch bleibt 26 Hoehl Druck GmbH & Co Hersfelder die dpa, in: Institut der deutschen Wirt- Zeitung KG, Amtsgericht Bad Hersfeld, schaft, Medienspiegel 8/2003. HRA 4, RA Bl.2. 7 Schuller, Sandra: Agenturjournalismus, 27 Nordbayerischer Kurier GmbH & Co Zei- Berlin 2003, S.54. tungsverlag KG, Amtsgericht Bayreuth, 8 Institut der dt. Wirtschaft: Nachrichten HRA 734, RA Bl.1/Druckhaus Bayreuth aus der Politik am stärksten gefragt, in: Verlagsgesellschaft mbH, Amtsgericht Medienspiegel 10/2004. Bayreuth, HRB 34, Gesellschafterliste. 9 „ddp Deutscher Depeschendienst GmbH“ 28 Cellesche Zeitung Schweiger & Pick – Amtsgericht Berlin-Charlottenburg, Verlag Pfingsten KG, Amtsgericht Celle, HRB 95362, Gesellschafterliste – Matthias HRA 2432, RA Bl.2. Kurp, ddp an Finanzinvestoren ver- 29 Zeitungsverlag Westfalen GmbH & Co kauft/Arques übernimmt Agenturgeschäft KG, Amtsgericht Dortmund, HRA 4739, und investiert Millionenbeträge, in: RA Bl. 1/Westfälische Verlagsgesellschaft www.medienmaerkte.de, Beitrag vom mbH, Amtsgericht Hamburg, HRB 81559, 08.11.2004. Gesellschafterliste. 10 Schuller, S.: Agenturjournalismus, S.114. 30 Böckelmann, Frank: Wem gehören die 11 Wilke, Jürgen: Nachrichtenagenturen, in: Zeitungen, Konstanz 2000, S.233. Ders., Mediengeschichte der Bundesre- 31 Göttinger Tageblatt GmbH & Co KG, publik Deutschland, Bonn 1999, S.469ff., Amtsgericht Göttingen, HRA 1575, RA S.473. Bl.1. 12 Dovifat, Emil: Zeitungslehre, I.Band, Ber- 32 Amtgsgericht Berlin-Charlottenburg, HRB lin 3./1955, S.68. 83297, Gesellschafterliste. 13 Amtsgericht Hamburg, HRB 68431, 33 Deister- und Weserzeitung Verlagsge- Gesellschafterliste vom 11.02.2005. sellschaft mbH & Co KG, Amtsgericht 14 Amtsgericht Hamburg, HRB 68431, Hameln, HRA 1707, RA Bl.2. Gesellschaftsvertrag, Akten Bl.21ff. 34 Angabe der „Verlagsgesellschaft Mad- 15 Amtsgericht Hamburg, HRB 68431, sack“: http://www.madsack.de/content/ Gesellschafterliste vom 11.02.2005, An- unternehmen/hoerfunk.html. teile Nr.079, 115, 131. 35 Böckelmann, F.: Wem gehören die Zei- 16 He, Jianming: Die Nachrichtenagenturen tungen, S.233. in Deutschland. Geschichte und Gegen- 36 Angabe der „Verlagsgesellschaft Mad- wart, Frankfurt am Main et.al. 1996, sack“: http://www.madsack.de/content/ S.246. unternehmen/hoerfunk.html. 17 Amtsgericht Hamburg, HRB 68431, 37 Verlagsgesellschaft Madsack GmbH & Co Gesellschafterliste vom 11.02.2005. KG, Amtsgericht Hannover, HRA 23210, 18 Amtsgericht Hamburg, HRB 68431, RA Bl. 8. Gesellschafterliste vom 11.02.2005, Num- 38 Wilhelm Bing Druckerei und Verlag mer wie angegeben. GmbH, Amtsgericht Korbach, HRB 205, 19 Amtsgericht Hamburg, HRB 68431, Gesellschafterliste. Gesellschafterliste vom 11.02.2005, 39 Hitzeroth Druck + Medien GmbH & Co Die Glaubwürdigkeit der „dpa“ sichern 107

KG, Amtsgericht Marburg, HRA 2208, RA Gesellschafterliste vom 11.02.2005, Bl.1. Nr.175-Auflagenangabe IVW 4-02. 40 radio NRW GmbH, Amtsgericht Oberhau- 50 Amtsgericht Coburg, HRB 82, Akten sen, HRB 1998, Akten Bl. 285 / Pressefunk Bl.393. Nordrhein-Westfalen GmbH & Co KG, 51 Frankenpost wieder beim SV, SZ Amtsgericht Düsseldorf, HRA 10818, RA 06.04.2005. Bl. 1. 52 Amtsgericht Hamburg, HRB 68431, 41 Amtsgericht Hamburg, HRB 68431, Gesellschafterliste vom 11.02.2005, Gesellschafterliste vom 11.02.2005, Nrn.034, 100. Nr.025. 53 Amtsgericht Hamburg, HRB 68431, 42 Amtsgericht Bielefeld, HRB 7126, Akten Gesellschafterliste vom 11.02.2005, Bl. 318. Nrn.070, 072, 089, 091. 43 Zeitungsverlag Neue Westfälische GmbH 54 Amtsgericht Hamburg, HRB 68431, & Co KG, Amtsgericht Bielefeld, HRA Gesellschafterliste vom 11.02.2005, 10753, RA Bl.1. Nrn.022, 023, 124. 44 J.D.Küster Nachf. + Presse-Druck GmbH 55 Amtsgericht Hamburg, HRB 68431, & Co KG, Amtsgericht Bielefeld, HRA Gesellschafterliste vom 11.02.2005. 10825, RA Bl.1. 56 Wilke, Jürgen/Rosenberger, Bernhard: Die 45 Auflagenangaben für Blätter mit SPD- Nachrichtenmacher. Zu Strukturen und Beteiligung nach Schütz, Walter J.: Sozial- Arbeitsweisen von Nachrichtenagenturen demokratische Zeitungen, Jahrbuch für am Beispiel von AP und dpa, Köln 1991, Kommunikationsgeschichte, Sonderdruck S.13. aus 6/2004, S.129ff., S.151ff. 57 Schulz, Winfried: Die Konstruktion von 46 Verlagsgesellschaft. Cuxhaven mbH & Co Realität in den Nachrichtenmedien, Frei- Cuxhavener Nachrichten KG, Amtsge- burg 1976, S.29ff., S.94ff. richt Cuxhaven, HRA 588, RA Bl.1. 58 Wilke, J./Rosenberger, B.: Die Nachrich- 47 Amtsgericht Hamburg, HRB 68431, tenmacher, S.103, S.137. Gesellschafterliste vom 11.02.2005, 59 Wilke, J.: Nachrichtenagenturen, S.469ff., Nr.036. S.478. 48 Amtsgericht Hamburg, HRB 68431, 60 Wilke, J./Rosenberger, B.: Die Nachrich- Gesellschafterliste vom 11.02.2005, tenmacher, S.199. Nr.086-Auflagenangabe IVW 4-02. 61 Ebeling, D.: Die Position von dpa, S.25ff., 49 Amtsgericht Hamburg, HRB 68431, S.33. Europas Antworten auf innerstaatliche Konflikte*

Klaus Brummer

1. Einleitung in Ländern, die entweder schon ge- scheitert („failed“) sind oder am Rande Mit dem Ende des Ost-West-Konflikts des Scheiterns stehen („failing“).1 Ge- hat sich die globale Sicherheitspolitik scheiterte oder scheiternde Staaten ih- grundlegend verändert. Neue Gefahren rerseits können zu Zufluchtsorten von und Bedrohungen für die internatio- Terroristen werden oder zum Aktions- nale Ordnung sind in den Vordergrund und Transitland für die Organisierte getreten. Zu diesen zählen nicht nur Kriminalität. Sollten kollabierende Staa- der internationale Terrorismus, die ten wiederum über hoch entwickelte Proliferation von Massenvernichtungs- Waffensysteme einschließlich ABC- waffen oder Regionalkonflikte. Ein Waffen verfügen, besteht die Gefahr, weiteres Sicherheitsrisiko, das oftmals dass diese in die Hände von Terroristen in enger Verbindung mit den bereits fallen. Nicht auszuschließen ist ferner genannten Bedrohungen steht, sind in- ein „spill over“ der von einem inner- nerstaatliche Konflikte. Diese umfassen staatlichen Krieg ausgehenden Instabi- gewaltsame bis hin zu kriegerischen lität auf Nachbarländer, wodurch eine Auseinandersetzungen innerhalb eines gesamte Region in Mitleidenschaft ge- Landes, die unterschiedlichen Motiven zogen werden kann. Die Aufzählung entspringen können (z.B. ethnische ließe sich fortführen. oder religiöse Auseinandersetzungen, Autonomie- oder Sezessionsbewegun- Dass derlei Entwicklungen begegnet gen, Kampf um Rohstoffe). werden muss, ist offensichtlich und wird auch von Seiten der Europäischen Die von innerstaatlichen Konflikten Union (EU) erkannt. Nicht zufällig ausgehenden Bedrohungen sind viel- führt die im Dezember 2003 von den fältig. Innerstaatliche Konflikte können europäischen Staats- und Regierungs- beispielsweise nicht nur Folge von chefs angenommene Europäische Si- Staatsscheitern sein, sondern umge- cherheitsstrategie die mit innerstaatli- kehrt auch zum Scheitern von Staaten chen Konflikten wie geschildert eng führen. Laut dem „Failed States Index“ verbundenen Aspekte Staatsscheitern leben derzeit zwei Milliarden Menschen und regionale Konflikte als zwei der

Politische Studien, Heft 403, 56. Jahrgang, September/Oktober 2005 Europas Antworten auf innerstaatliche Konflikte 109 fünf Hauptbedrohungen der Sicherheit tivitäten in den Bereichen Friedens- Europas an.2 Jenseits des Deklarato- schaffung, Friedenssicherung, Stabili- rischen vollzieht die EU auch in der sierung und Wiederaufbau in von Praxis einen Wandel, um sich diesen inneren Konflikten heimgesuchten Herausforderungen zu stellen. Offen- Staaten und dies zum Teil weit jenseits kundigste Belege hierfür sind die im Europas. Entsprechend müssen für die- Rahmen der Europäischen Sicherheits- se Aufgaben personelle Fähigkeiten ge- und Verteidigungspolitik (ESVP) seit schaffen werden. Um deren Einsatz zu 2003 durchgeführten Missionen der ermöglichen, braucht es zudem die pas- Union, etwa in Mazedonien, Bosnien- senden materiellen Kapazitäten (u.a. Herzegowina und im Kongo. strategischer Transport, Aufklärung) wie auch Strukturen zur Einsatzplanung Ziel dieses Beitrags ist es jedoch nicht, und -führung.5 die verschiedenen ESVP-Missionen dar- zustellen.3 Vielmehr werden die grund- Seitens der EU leitete man bereits di- sätzlichen Fähigkeiten der EU zur Be- verse in diese Richtung gehende Maß- arbeitung innerstaatlicher Konflikte nahmen ein – an deren Umsetzung untersucht, und zwar in den hierfür hakt es freilich noch in mehrfacher maßgeblichen Bereichen Militär, Poli- Hinsicht. Was die Schaffung von Trup- tik und Wirtschaft. Zur Beendigung der pen anbelangt, ist zunächst die Euro- gewaltsamen Auseinandersetzungen be- päische Schnelle Eingreiftruppe („Eu- darf es einer nennenswerten militäri- ropean Rapid Reaction Force“, ERRF) zu schen Komponente, die eng mit der nennen. Die ERRF geht auf das Helsin- Politik verbunden ist. Zudem ist die ki-Planziel („Helsinki Headline Goal“) politische Dimension im Zusammen- von 1999 zurück. In diesem hielten die spiel mit wirtschaftlichen Aspekten Staats- und Regierungschefs der EU- zentral für die Überwindung der Kon- Staaten fest, bis zum Jahr 2003 über fliktursachen oder wenigstens für eine Truppen von ca. 60.000 Mann ver- langfristige Stabilisierung. Nur beim fügen zu wollen, die schnell verlegt Einsatz aller Komponenten wird eine (innerhalb von 60 Tagen) und dann effektive Konfliktbearbeitung möglich.4 auch einsatzfähig gehalten werden könnten.

2. Militär Die ERRF hat das gesamte Spektrum der Petersberg-Aufgaben abzudecken. Sie Mit den geschilderten Veränderungen soll also dazu in der Lage sein, huma- der sicherheitspolitischen Herausfor- nitäre Aufgaben und Rettungseinsätze, derungen wandelten sich die Anforde- friedenserhaltende Aufgaben wie auch rungen an das Militär. Auch wenn zwi- Kampfeinsätze bei der Krisenbewäl- schenstaatliche Kriege für die Zukunft tigung, inklusive friedensschaffender nicht auszuschließen sind, die maß- Maßnahmen, durchzuführen. Im Mai gebliche Aufgabe des Militärs besteht 2003 erklärten die EU-Verteidigungs- nicht länger in der Landesverteidigung, minister die Union zur Erfüllung der verstanden als Abwehr des Angriffs an- Petersberg-Aufgaben bereit. Ob die EU derer Staaten. Dominierend sind heute tatsächlich hierzu fähig war – und wie auch in absehbarer Zukunft Ak- heute ist –, muss allerdings hinterfragt 110 Klaus Brummer werden. Nicht von ungefähr fügten Daneben kam es im Rahmen der ESVP die Verteidigungsminister ihrer Bereit- zum Aufbau ziviler Fähigkeiten, die vor schaftserklärung hinzu, dass es „Ein- allem für Stabilisierungsmaßnahmen schränkungen und Zwänge durch an- unmittelbar nach dem Ende der Ge- erkannte Defizite“6 gebe. walthandlungen wie auch längerfris- tig für Wiederaufbaumaßnahmen von Geschaffen wurden außerdem so ge- größter Bedeutung sind. Im Juni 2000 nannte „battle groups“. Deren auf eine legten die Staats- und Regierungschefs Initiative von Frankreich, Großbritan- auf dem Europäischen Rat von Feira die nien und Deutschland zurückgehende vier Kernbereiche des zivilen Krisen- Einrichtung, die im Zusammenhang managements der EU fest. Dies sind mit dem im Juni 2004 angenommenen Polizei, Rechtsstaatlichkeit, Zivilver- neuen Planziel („Headline Goal 2010“) waltung und Bevölkerungsschutz. Als zu sehen ist, wurde Ende November weitere Aufgabenfelder kamen später 2004 beschlossen. Nach der derzeitigen die Durchführung von Überwachungs- Planung sollen insgesamt 13, jeweils missionen und die Unterstützung der ca. 1500 Mann starke ,battle groups‘ EU-Sonderbeauftragten etwa in Men- gebildet werden. Zweck der hoch spe- schenrechtsfragen oder bei der Reform zialisierten, noch schneller als die ERRF des Sicherheitssektors hinzu.7 vor Ort einsatzbereiten (zehn Tage nach Beschlussfassung im Rat) und in der Die bisherigen Entwicklungen beim Regel auf der Grundlage eines UN- Aufbau von Kräften in diesen Bereichen Mandats agierenden Verbände ist es, sind beachtlich. Deutlich wurde das kurze eigenständige Missionen oder zuletzt auf der „Beitragskonferenz zu vorbereitende Tätigkeiten für sich ih- den zivilen Fähigkeiten“ im November nen anschließende UN-Missionen zu 2004, wo die von den Mitgliedstaaten leisten. zugesagten Kräfte aufgeführt wurden. Demnach wiesen die Mitgliedstaaten Zu beachten ist hierbei, dass im Rah- – unter deutlicher Überbietung der vom men der NATO in Form der NATO Europäischen Rat festgelegten Zielvor- Response Force (NRF) mit den ,battle gaben – 5761 Kräfte im Bereich Polizei, groups‘ vergleichbare Verbände ent- 631 für Rechtsstaatlichkeit, 562 für Zi- wickelt werden. Problematisch ist dies vilverwaltung, 4988 für Bevölkerungs- deshalb, weil sich die in den Mitglied- schutz, 505 für Überwachungsmissio- staaten der Organisationen zur Ver- nen sowie 391 für die Unterstützung fügung stehenden, die hochgesteck- der EU-Sonderbeauftragten zu.8 ten Anforderungen von ,battle groups‘ bzw. NRF erfüllenden Verbände mit Auf dem Papier verfügt die EU somit sich mehr oder minder duplizierenden bereits über ein nennenswertes Reser- Prozessen nicht gleichsam ebenfalls ver- voir an Kräften. Weiter vorangetrieben doppeln. Überschneidungen und Kon- werden soll der bedarfsorientierte Auf- kurrenzkämpfe infolge der „Doppel- bau der zivilen Fähigkeiten durch das hütigkeit“ der Truppen scheinen vor- im Dezember 2004 angenommene zi- programmiert, zumal bislang nicht ge- vile Planziel („Civilian Headline Goal klärt wurde, welche Organisation das 2008“). Entscheidend wird künftig frei- primäre Zugriffsrecht hat. lich sein, dass die Mitgliedstaaten ihren Europas Antworten auf innerstaatliche Konflikte 111

Zusagen auch Taten folgen lassen. Soll- ten Kräften zumindest derzeit nicht te dem so sein, kommt es ferner auf die möglich ist. tatsächliche Einsatzfähigkeit der Kräfte (z.B. bezüglich deren Entsendefähigkeit) Während man trotz der vorhandenen wie auch auf die passgenaue Zusam- Schwächen oder ungelösten Fragen bei mensetzung der Missionen an. Die Be- der Schaffung von den, gegenüber heu- arbeitung eines jeden Konflikts erfor- tigen Herausforderungen gewappneten dert eine andere Strategie und somit personellen Kräften zweifelsohne Fort- auch andere Expertise. Die Herausfor- schritte erzielt hat, nehmen sich die derung besteht folglich darin, im Rah- Entwicklungen beim Gerät bescheide- men von integrierten Kontingenten aus ner aus. Programme und Prozesse gibt dem zugesagten Arsenal an Fachleuten es mehrere, zum Beispiel das schon er- die jeweils passende Kombination zu- wähnte „Headline Goal 2010“ oder den sammen zu stellen. „European Capabilities Action Plan“ vom November 2001. Die Fähigkeits- Eine Brücke zwischen den militärischen lücken bestehen jedoch weiter fort, un- und zivilen Kräften ist die „European ter anderem beim strategischen Trans- Gendarmerie Force“ (EGF). Die para- port und im nachrichtendienstlichen militärische EGF geht auf eine Initia- Bereich.10 So ist die Auflage immer neu- tive Frankreichs zurück. Sie wurde im er Programme gerade als Eingeständnis September 2004 geschaffen, umfasst der weiterhin unzureichenden Fort- ca. 800 Mann9 und soll innerhalb von schritte zu bewerten. Inwieweit die – als 30 Tagen entsendefähig sein. Unmittel- institutionalisierte Konsequenz dieser bar nach einer Militäroperation kommt europäischen Schwäche – im Juli 2004 der Herstellung der öffentlichen Ord- geschaffene Europäische Verteidigungs- nung und Sicherheit größte Bedeutung agentur Abhilfe schaffen kann, bleibt zu. Indem sie sowohl militärische wie abzuwarten. auch zivile Fähigkeiten in ihrem Vor- gehen vereint, kann die EGF hierzu Unterfüttert werden musste der ge- einen gewichtigen Beitrag leisten. schilderte Aufbau von Truppen und Material durch die Entwicklung von Eine Besonderheit der EGF besteht Planungs- und Führungskapazitäten. darin, dass sie zwar von der EU für Zwar verfügt die EU noch immer nicht Missionen eingesetzt werden kann, über ein militärisches Hauptquartier. jedoch nicht in deren institutionellen Hieran änderte auch die im Jahr Früh- Rahmen integriert ist. Die EGF ist viel- jahr 2003 unter dem Schlagwort „Ter- mehr eine multinationale Einheit, vuren“, dem möglichen Sitz eines EU- die auch für die UNO oder die NATO Hauptquartiers, ausgetragene Debatte eingesetzt werden kann. Die Fortent- nichts. wicklung der grundsätzlich allen EU- Mitgliedstaaten offen stehenden EGF Zur Durchführung einer Operation ste- wird insgesamt dadurch eingeschränkt, hen der EU zwei Wege offen. Zum ei- dass es in einigen Staaten (z.B. Deutsch- nen kann sie auf Strukturen der NATO land) eine strikte Trennung zwischen zurückgreifen, sofern sich diese nicht Militär und Polizei gibt und folglich an einer Operation beteiligen will oder der Aufbau von für die EGF geeigne- kann. Ermöglicht wird dies durch das 112 Klaus Brummer im März 2003 in Kraft getretene „Ber- zitäten durchführen. Die primäre Op- lin-Plus-Abkommen“ zwischen EU und tion hierfür sind Hauptquartiere der NATO, welches als Sammelbegriff meh- Mitgliedstaaten, die man für ESVP-Mis- rere Vereinbarungen zwischen den bei- sionen multinationalisieren könnte. den Organisationen umfasst. Im Ab- Genutzt wurde diese Option bei der kommen werden unter anderem die Militärmission „Artemis“ im Kongo, wo Modalitäten geregelt, nach denen die Frankreich als „framework nation“ EU bei der Durchführung einer Opera- agierte. Sollte sich wiederum kein na- tion auf Mittel und Fähigkeiten sowie tionales Hauptquartier finden, ließe auf Planungskapazitäten der NATO zu- sich auch auf den EUMS zurückgreifen, greifen kann.11 Um diese Option besser in welchem dann die, gegebenenfalls umsetzen zu können, wurde eine personell verstärkte, „zivil-militärische „EU-Planungszelle“ im Rahmen von Zelle“ für die Entwicklung von Kapa- SHAPE (Supreme Headquarters Allied zitäten zur Planung und Führung einer Powers Europe) geschaffen wie auch autonomen EU-Mission verantwortlich umgekehrt Verbindungselemente von wäre. Die dadurch vorübergehend vor- SHAPE beim Europäischen Militärstab handenen EU-eigenen Kapazitäten wä- (EUMS) angesiedelt wurden. Anwen- ren jedoch kein permanentes Haupt- dung fand bzw. findet das Berlin-Plus- quartier, sondern dienten nur als Abkommen bei den Militärmissionen Operationszentrum für die jeweilige „Concordia“ in Mazedonien und „Al- Mission. thea“ in Bosnien-Herzegowina. Die bisherigen ESVP-Missionen zeigen, Ein verfolgenswerter Gedanke in die- dass die EU auch ohne ein eigenes sem Kontext ist, ob man das Berlin- Hauptquartier operieren kann. Bis heu- Plus-Abkommen nicht dahingehend te waren die Militärmissionen aller- weiterentwickeln sollte, auch der dings von eher geringem Umfang. Die NATO Zugriff auf die Fähigkeiten der größte Mission ist „Althea“ mit 7000 EU zu ermöglichen – und zwar vor al- Soldaten. Wenn es jedoch zu autonom lem auf diejenigen für Stabilisierungs- von der EU geführten Einsätzen in maßnahmen nach einem Konflikt.12 deutlich größerem Maßstab kommt, Vorausgesetzt, man kann sich inner- etwa zur Verwendung der wie erwähnt halb der NATO überhaupt über die 60.000 Mann umfassenden ERRF, wer- Schaffung solcher Fähigkeiten verstän- den die innerhalb der EU gegenwärtig digen, ließen sich so weitere Dopplun- vorhandenen Kapazitäten an ihre Gren- gen wie bei den ,battle groups‘/NRF ver- zen stoßen. Über kurz oder lang wird hindern. Was es jedoch unbedingt zu sich die Frage eines eigenen EU-Haupt- vermeiden gilt, ist eine mit diesen Zu- quartiers deshalb wieder stellen. griffsmöglichkeiten potenziell einher- gehende Arbeitsteilung nach dem Mus- ter, dass die USA für das Militärische 3. Politik zuständig ist und die Europäer an- schließend für die Folgenbewältigung. Auf der politischen Ebene sind folgen- de Aspekte von besonderer Relevanz für Alternativ kann die EU ihre Missionen eine erfolgreiche Konfliktbearbeitung: auch ohne Rückgriff auf NATO-Kapa- der Zugang der externen Partei zum Europas Antworten auf innerstaatliche Konflikte 113

Konflikt, die Fähigkeit, schnell zu Ent- EU als Versuch der Einmischung der scheidungen zu kommen sowie die ehemaligen Kolonialmacht gewertet Unterstützung durch weitere Akteure werden könnte. Aufgabe der EU ist es wie auch der Bevölkerung. demnach, die vorhandene Expertise für die eigenen Aktivitäten zur Bearbeitung Hinsichtlich der Zugangsmöglichkeiten innerstaatlicher Konflikte zu nutzen, zu einem Konflikt verfügt die EU über ohne dabei alte Wunden aufzureißen. diverse positive Anlagen. An erster Stelle ist hier ihre hohe Legitimation zu Neben der Geschichte beruht das An- nennen, und dies (zumindest gegen- sehen der EU auch auf den jüngsten wärtig) auch und vor allem im Ver- praktischen Erfolgen. Das Paradebei- gleich zu den USA. Die maßgebliche spiel ist der Balkan. Trotz der weiterhin Basis hierfür ist die Erfolgsgeschichte vorhandenen Probleme in der Region der europäischen Integration, mittels steht außer Zweifel, dass die Einsätze derer man in vergleichsweise kurzer der EU – die Polizei- und Militärmissio- Zeit die kriegsbeladene Vergangenheit nen in Mazedonien („Concordia“ und hinter sich ließ und in eine friedensge- „Proxima“) und in Bosnien-Herzego- prägte und wirtschaftlich prosperie- wina (EUPM und „Althea“) – einen Un- rende Zukunft schritt. Nicht von un- terschied zum Positiven machten und gefähr finden sich heute auf nahezu machen. Weitere EU-Missionen auf allen Kontinenten Organisationen, die dem Balkan – vor allem im Kosovo – sich bei ihren Aktivitäten zur Wohl- sind nicht auszuschließen. standsschaffung und Friedenssicherung auf die EU berufen. Man denke an die Wichtig ist ferner, dass sich die Bekun- Afrikanische Union oder an Mercosur. dungen der EU zur Übernahme globa- Das auf der eigenen Geschichte grün- ler Mitverantwortung zusehends auch dende Ansehen der EU öffnet ihr Türen in der geographischen Bandbreite der zur Bearbeitung von innerstaatlichen ESVP-Missionen widerspiegeln. Abge- Konflikten, die ihr andernfalls ver- sehen von „Althea“ rückten zuletzt schlossen wären. außereuropäische Einsätze verstärkt in den Blickpunkt. Hierzu zählen die Hinzu kommt, dass die EU über ihre Mission zur Stützung der Rechtsstaat- Mitgliedstaaten und deren koloniale lichkeit im Irak (Eujust Lex), die Poli- Vergangenheit auf vielfältige Weise zeimission EUPOL Kinshasa und die global vernetzt ist. Ergebnis dessen ist Mission zur Reform des Sicherheitssek- eine Vertrautheit oder zumindest eine tors (EUSEC RD Congo) im Kongo wie im Vergleich zu anderen global agie- auch die Unterstützungsaktivitäten renden Akteuren größere Kenntnis der für die Afrikanische Union in Darfur/ Eliten, Kulturen, etc. in den von Kon- Sudan. Inwieweit die EU hier positiv flikten heimgesuchten Staaten, vor Einfluss nehmen kann, bleibt abzu- allem in Afrika. Die koloniale Vergan- warten. Wo man außerhalb Europas genheit kann sich freilich auch als pro- bereits Ergebnisse erzielt hat, war im blematisch erweisen. Grund hierfür Kongo bei der Militärmission „Artemis“ könnten frühere Verfehlungen der (von Juni bis September 2003), die zu ehemaligen Kolonialherren sein, wie einer allerdings nur vorübergehenden auch insgesamt das Engagement der Beruhigung der Lage in der Provinz 114 Klaus Brummer

Ituri führte. Hier zeigt sich die Not- für eine differenzierte Integration in wendigkeit von probaten Exit-Strate- Fragen der ESVP. Für die Konfliktbear- gien, welche auch stets die Nachhal- beitung durch die EU sind vor allem die tigkeit der geschaffenen Situation mit ständige strukturierte Zusammenarbeit zu bedenken haben. sowie die Übertragung einer Mission an Mitgliedstaaten der Union wichtig. Ei- Während sich somit die Fähigkeit der ne weitere Neuerung wäre die im Ver- EU, sich als Akteur bei einer Konflikt- trag vorgesehene Erweiterung und Spe- bearbeitung zu etablieren, aus ver- zifizierung der Petersberg-Aufgaben, schiedenen Quellen speist und ins- wodurch das Handlungsgebiet der EU gesamt positiv bewertet werden kann, vergrößert würde. Von Bedeutung vor fällt das Fazit bezüglich der schnel- allem für die Außendarstellung der Uni- len Entscheidungsfindung deutlich on wären außerdem der Europäische schlechter aus. Bislang werden alle Außenminister und der Europäische maßgeblichen Entscheidungen im Be- Auswärtige Dienst. Durch den Verfas- reich der ESVP einstimmig getroffen. sungsvertrag oder auf alternativen We- So er denn jemals kommt, wird auch gen wie etwa einer vom Rat angenom- der Verfassungsvertrag hieran nichts menen Gemeinsamen Aktion. Für die ändern. Beschlüsse, welche die Zu- Fähigkeiten der EU zur Beilegung in- stimmung von heute 25 und bald 25+ nerstaatlicher Konflikte wäre es von Staaten erfordern, sind einer raschen Bedeutung, wenn diese Bestimmungen Entscheidungsfindung mehr als ab- kämen. träglich. Lange Abstimmungsschleifen sind für gewöhnlich die Folge. Ein po- Um erfolgreich Konflikte bearbeiten zu sitives Signal in dieser Hinsicht gab es können, muss die EU ferner Partner für jedoch Ende Mai 2005. Die EU-Ver- ihre Aktivitäten finden. Oft bemühte teidigungsminister beschlossen, Ent- Schlagwörter in diesem Kontext sind scheidungen zur Entsendung einer „strategische Partnerschaften“ und „ef- ,battle group‘ innerhalb von fünf Tagen fektiver Multilateralismus“. Die hinter treffen zu wollen. den Wendungen stehende Substanz ist jedoch in den meisten Fällen gering. So Prinzipiell böten sich für die künftige sind bislang die wenigsten Partner- Entwicklung der ESVP zwei Auswege schaften strategisch – inwieweit es sich aus der „Falle Einstimmigkeit“: Der überhaupt um Partnerschaften handelt, Übergang zu Entscheidungen mit qua- ließe sich ebenfalls diskutieren. Man lifizierter Mehrheit oder eine differen- denke an das Zusammenspiel der EU zierte Integration innerhalb des ins- mit Russland und China.13 Dennoch titutionellen Rahmens der EU. Der führt langfristig am Aufbau von wirk- Vertrag von Nizza sieht für die ESVP lich strategischen und zuvorderst in- weder das eine noch das andere teressengeleiteten Verbindungen vor al- vor. Der Verfassungsvertrag wiederum lem zu den maßgeblichen staatlichen brächte wie angeführt ebenfalls keine Akteuren (u.a. USA, China, Russland, nennenswerten Schritte hin zu qualifi- Indien) kein Weg vorbei. zierten Mehrheitsentscheidungen. Was der Verfassungsvertrag allerdings vor- Ebenso wichtig – und durch die fehl- sieht, ist die Ausweitung der Optionen geschlagenen Referenden in Frankreich Europas Antworten auf innerstaatliche Konflikte 115 und den Niederlanden abermals be- reich der Entwicklungspolitik. Von her- stätigt – ist schließlich, dass auch die vorgehobener Bedeutung sind die im Bevölkerung Europas vom Sinn und „Cotonou-Abkommen“ geregelten Be- Zweck europäischer Sicherheitsakti- ziehungen zu mehr als 70 Staaten Asi- vitäten überzeugt wird. Entsprechend ens, der Karibik und des Pazifiks (sog. muss deutlich gemacht werden, dass „AKP-Staaten“). Kern der Zusammen- ESVP-Missionen in mitunter fernab ge- arbeit ist, die wirtschaftliche Entwick- legenen Ländern zusätzlich zu den Leis- lung der AKP-Staaten zu fördern. Die tungen vor Ort in den Konfliktgebieten Verpflichtungen werden jedoch zuse- auch dem Schutz der Sicherheit wie hends zweigleisig gesehen. Für ihr auch den Interessen Europas dienen Engagement fordert die EU heute von und dadurch unmittelbar dem Wohle ihren Partnern die Einhaltung von der Bürger. Um die Bevölkerung zu ge- Menschenrechten und Rechtsstaatlich- winnen, bedarf es unter anderem einer keit, gute Regierungsführung sowie größeren Transparenz der europäischen zuletzt auch ein Engagement bei der Entscheidungsprozesse wie auch einer Bekämpfung von Proliferation. besseren Informationspolitik durch die europäischen und nationalen Eliten. Nicht zu vergessen ist schließlich, dass die EU im Verbund mit ihren Mit- gliedstaaten der mit Abstand größte Ge- 4. Wirtschaft ber von Entwicklungshilfe (55% aller Mittel weltweit)14 ist. Im Jahr 2004 stell- Um eine langfristige Wirkung zu ent- ten die EU-Staaten knapp 43 Milliarden falten, müssen militärische und poli- US-Dollar bereit. Die USA brachten es tische Maßnahmen zur Bearbeitung auf 19 Milliarden US-Dollar, Japan auf eines Konflikts durch Aktivitäten im 8,9 Milliarden, Norwegen auf 2,2 Mil- Wirtschaftsbereich abgesichert werden. liarden und die Schweiz auf 1,4 Milli- Der wirtschaftliche Wiederaufbau eines arden.15 Konfliktgebiets und die damit im Ideal- fall einhergehende Einleitung eines Das positive Bild wird allerdings durch ökonomischen Aufschwungs dienen mehrere Faktoren getrübt. Zu nennen der Stabilisierung eines Landes und da- sind beispielsweise die fortbestehenden durch auch der prospektiven Konflikt- Handelsbarrieren im Agrarbereich und prävention. somit gerade in jenem Feld, in dem die zumeist landwirtschaftlich geprägten Dass die EU im Wirtschaftsbereich Krisenländer ihre größten bzw. einzi- große Fähigkeiten besitzt, steht außer gen wirtschaftlichen Partizipations- Frage. Zu denken ist beispielsweise an chancen auf dem Weltmarkt hätten. die starke Stellung der Union innerhalb Eine grundlegende Reform der euro- der Welthandelsorganisation (WTO). päischen Agrarpolitik ist somit nicht Die Übernahme des Chefpostens der nur wegen deren zu hinterfragenden WTO durch den früheren Handels- Beiträgen für die wirtschaftliche Ent- kommissar der EU, Pascal Lamy, tat wicklung innerhalb Europas notwen- dem Einfluss der Union sicher keinen dig, sondern auch aus entwicklungs- Abbruch. Außerdem verfügt die EU politischer Sicht und aus der Perspek- über ein erhebliches Gewicht im Be- tive der Konfliktbearbeitung. 116 Klaus Brummer

Außerdem ließen sich die von der EU wachsen. Auf der Habenseite stehen und ihren Mitgliedstaaten zur Ver- beispielsweise die Entwicklung hoch- fügung gestellten Mittel zur Entwick- mobiler Verbände zur Beendigung von lungshilfe sowohl deutlich steigern wie Gewalthandlungen oder die Existenz auch wirksamer vergeben. Im Jahr 2004 einer Vielzahl von zivilen Experten zur erreichten mit Luxemburg, Dänemark, Stabilisierung von Konfliktgebieten. Schweden und den Niederlanden nur Ebenso positiv sind die Ausstrahlungs- vier EU-Staaten das seit Dekaden inter- effekte des europäischen Integrations- national fixierte Ziel, jährlich 0,7% des prozesses, welche der EU ein hohes Bruttonationaleinkommens (BNE) in Ansehen als Akteur verleihen. Wichtig die Entwicklungshilfe fließen zu las- sind ferner die wirtschaftlichen Poten- sen.16 Effektiver und effizienter ein- ziale der EU, unter anderem bei der gesetzt würde das Geld wiederum wer- Entwicklungshilfe. den, wenn nicht jeder Mitgliedstaat eigenständig und ohne größere Ab- Diesen positiven Aspekten stehen meh- stimmung mit den anderen EU-Staaten rere Mängel gegenüber. Die zumindest seine Gelder vergäbe – mit damit ver- theoretisch schnelle Einsatzfähigkeit bundenen Mehrkosten als zwangsläu- der Verbände droht durch fehlende Ka- fige Folge.17 pazitäten für deren Transport in Kon- fliktregionen konterkariert zu werden. Auf Seiten der EU scheint man mittler- Um die Handlungsfähigkeit der EU mit weile gewillt, diese Defizite offensiv an- 25+ Mitgliedern zu verbessern, bedarf zugehen. Ende Mai 2005 einigte man es generell an Möglichkeiten für ein sich beispielsweise auf einen ambitio- differenziertes Vorgehen im Bereich nierten Stufenplan, der die Verdopp- der ESVP. Der Vertrag von Nizza sieht lung der von den EU-Staaten bereitge- derlei allerdings nicht vor; der Verfas- stellten Entwicklungshilfe bis zum Jahr sungsvertrag täte dies, wird vielleicht 2015 vorsieht. Laut diesem Plan sollen jedoch nicht in Kraft treten. Im Wirt- die Entwicklungshilfeausgaben der 25 schaftsbereich sind ebenfalls Verbesse- EU-Staaten bis zum Jahr 2010 zunächst rungen möglich, beispielsweise mit 0,56% und bis 2015 dann 0,7% BNE er- Blick auf die Absenkung bzw. Abschaf- reichen.18 Außerdem regte die Kom- fung von Importbarrieren für Agrar- mission Mitte Juli 2005 die grundsätz- produkte. liche Überprüfung der Entwicklungs- hilfepolitik der EU-Staaten an mit dem So gut verschiedene Ansätze bereits sein Ziel, durch eine bessere Kooperation mögen, ein Mehr an Europa im Sicher- zwischen den Staaten wie auch zwi- heitsbereich – in erster Linie verstan- schen den Staaten und der Kommissi- den als gemeinsames zwischenstaatli- on zu einem wirksameren Einsatz der ches Handeln auf europäischer Ebene Mittel zu gelangen.19 – ist notwendig. Einzelne Staaten sind nicht länger dazu in der Lage, sich den gegenwärtigen Sicherheitsbedrohungen 5. Wie fähig ist die EU? unilateral entgegen zu stellen. Gefragt sind vielmehr gemeinsame europäische Die Fähigkeiten der EU zur Bearbeitung Antworten auf gemeinsame Herausfor- innerstaatlicher Konflikte sind durch- derungen wie eben auf innerstaatliche Europas Antworten auf innerstaatliche Konflikte 117

Konflikte und die oftmals damit ein- helfen. Identitäten bzw. Zugehörigkeits- hergehenden Phänomene Staatsschei- gefühle bilden sich schließlich nicht zu- tern und Regionalkonflikte. letzt über Positiverlebnisse.

Kommt die EU zu Erfolgen bei der Um solche im Bereich der Sicherheits- Bearbeitung von Konflikten, würde politik zu erzielen, bedarf es weiterer sich nicht nur die Sicherheit Europas Anstrengungen zum Aufbau der not- erhöhen. Darüber hinaus offenbarte wendigen Fähigkeiten auf der europäi- sich dann auch der Mehrwert Europas, schen Ebene wie auch innerhalb der der in den gescheiterten Verfassungs- Mitgliedstaaten. Neben den angeführ- referenden in Frankreich und den Nie- ten Einzelmaßnahmen scheint dabei derlanden vor allem mit Blick auf die auch ein grundlegender Einstellungs- Fragen Wirtschaft und Soziales hinter- wandel in Reihen der oftmals noch fragt wurde. Erfolge der EU bei der Bei- in – den heutigen Herausforderungen legung von Konflikten könnten somit nicht länger angemessenen – nationa- die Verbundenheit der Bürger zum eu- len Kategorien denkenden politischen ropäischen Integrationsprojekt steigern Eliten notwendig.

Anmerkungen * Dieser Artikel entstand im Rahmen des hungen, Brüssel, 19./20.5.2003. Projekts „Europas Weltpolitische Mitver- 7 Vgl. Rummel, Reinhardt: Wie zivil ist die antwortung“ der Bertelsmann Stiftung. ESVP?, in: SWP-Aktuell 10, Berlin 2003. 1 Der „Failed States Index“ wurde durch 8 Vgl. Civilian Capabilitys Commitment Foreign Policy und dem Fund for Peace Conference: Ministerial Declaration, erstellt, abrufbar unter www.foreignpolicy. Brüssel, 22.11.2004. com. Siehe auch Batt, Judy/ Lynch, Dov: 9 Diese kommen aus den fünf EGF-Grün- What is a ‚Failing State’, and when is it derstaaten Frankreich, Italien, Nieder- a security threat? Think Piece for the lande, Portugal und Spanien. EU-ISS Seminar „Failing States and the 10 Vgl. Capability Improvement Chart EU’s security agenda“, Paris, 8.11.2004. I/2005, Brüssel, o.D. 2 Europäische Sicherheitsstrategie, Ein 11 Vgl. http://www.nato.int/shape/news/ sicheres Europa in einer besseren Welt, 2003/shape_eu/se030822a.htm (Stand: Brüssel, 12.12.2003. 28.6.2005). 3 Siehe Lindstrom, Gustav: Im Einsatz- 12 Vgl. Binnendijk, Hans et al: A New Mi- gebiet: ESVP-Operationen, in: Nicole litary Framework for Nato, in: Defense Gnesotto (Hrsg.), Die Sicherheits- und Horizons, May 2005, S.14-15. Verteidigungspolitik der EU. Die ersten 13 Vgl. Brummer, Klaus: Strategien für eine fünf Jahre (1999-2004), Paris 2004, S.131- effektivere europäische Außenpolitik, 153. in: Gesellschaft – Wirtschaft – Politik, 4 Vgl. Brummer, Klaus: Konfliktbearbeitung 2/2005,S.142-145. durch internationale Organisationen, 14 Die Kommission verwaltet davon 20%. Wiesbaden 2005, Kap.4. Vgl. IP/05/902, Brüssel, 13.7.2005. 5 Siehe Lindley-French, Julian: A Chrono- 15 Vgl. www.oecd.org. logy of European Security and Defence 16 Ebd. 1945-2005, Genf 2005; Schmitt, Burkard: 17 Vgl. Brüne, Stefan: Braucht Europa natio- Europas Fähigkeiten – wie viele Divisio- nale Entwicklungsministerien?, in: Inter- nen?, in: N. Gnesotto, Die Sicherheits- nationale Politik, 11-12/2004, S.33-39. politik, S.105-130. 18 Vgl. FAZ, 25.5.2005, S.7. 6 Vgl. 2509. Tagung des Rats Außenbezie- 19 Vgl. IP/05/902, Brüssel, 13.7.2005. Aus dem „Chaos“ und aus der „Krise“: Die diplomatischen Beziehungen zwischen Deutschland und Israel und ihr Beginn vor vierzig Jahren Rezensionsessay über Asher Ben-Natan: Brücken bauen – aber nicht vergessen. Als erster Botschafter Israels in der Bundesrepublik (1965-1969), Droste Verlag, Düsseldorf 2005.

Peter L. Münch-Heubner

So wenig heute vor dem Hintergrund in der Bunderepublik (1965-1969) Dros- des Holocaust von einer „Normalität“ te Verlag GmbH, Düsseldorf 2005), die in den Beziehungen des jüdischen Staa- nun anläßlich des 40. Jahrestages der tes zu Deutschland gesprochen werden Aufnahme eben dieser diplomatischen darf, so wenig ,normal‘ waren auch Beziehungen erschienen sind, zeigen, jene Umstände, aus denen heraus sie dass dieses Kapitel damals kein politi- sich vor vierzig Jahren auf diplomati- sches Glanzstück, sondern das End- scher Ebene entwickelt haben. Der ers- produkt einer „Krise“ der deutschen te Botschafteraustausch zwischen bei- Außen- und Nahostpolitik gewesen ist. den Staaten war so nicht nur historisch Peinlich genug war dies nach den Er- vorbelastet, schwer wogen auf ihm eignissen der Shoa. Doch verantwort- auch jene Verwirrungen und „Pannen“, lich für diese „Krise“ war nicht Bonn von denen der Historiker Michael allein. Diesen Sachverhalt verschweigt Wolffsohn spricht und von denen auch Ben-Natan und seine Memoiren reihen Asher Ben-Natan zu berichten weiß. sich in diesem einen Punkt ein in die Ben-Natan war Israels erster Botschaf- bislang in der Literatur zu den deutsch- ter in Bonn. Seine Erinnerungen (Asher israelischen Beziehungen gängigen Ben-Natan: Brücken bauen – aber nicht Sichtweisen. Andererseits aber hält er vergessen. Als erster Botschafter Israels sich noch höflich zurück, schildert zwar

Politische Studien, Heft 403, 56. Jahrgang, September/Oktober 2005 Aus dem „Chaos“ und aus der „Krise“ – Ein Rezensionsessay 119 die israelische Kritik an der deutschen Denn diese Drohung erwies sich im Na- Politik in jenen Tagen, doch er lässt er- hen Osten als Boomerang, nur allzugut kennen, dass er sie nicht gänzlich für verstand es z.B. Nasser in Ägypten, den gerechtfertigt hält. Er tut dies wohl ,Spieß‘ einfach ,umzudrehen‘, und die auch aus verständlichen Motiven he- deutsche Politik mit der Drohung eben raus, denn der deutschen Seite erman- einer solchen Anerkennung zu erpres- gelte es damals durchaus nicht an gu- sen. Doch war diese Misere der deut- tem Willen Israel gegenüber, was die schen Außenpolitik zu diesem Zeit- eben nicht nur finanziellen Aufbauhil- punkt nicht nur eine ,hausgemachte‘ fen für den jüdischen Staat anbetraf. deutsche allein. So waren es die geheimen deutschen Waffenlieferungen an Israel, deren Be- Als Erhard sich unter dem Eindruck der kanntwerden im November 1964 die von seiten Nassers an Walter Ulbricht Bonner Diplomatie so sehr ins Stolpern ergangenen Einladung zu einem Staats- gebracht hatte. Doch eben die Tatsache, besuch dafür entschied, die Waffenlie- dass die Waffenhilfe bis zu diesem Zeit- ferungen an Israel einzustellen, war die punkt geheimgehalten werden musste, Reaktion im jüdischen Staat überdeut- deutet schon auf jene komplexen und lich oder wie Ben-Natan (S.48) schreibt, komplizierten Hintergründe hin, die „entsprechend“.„Westdeutschland wur- damals für so viel Missstimmung, Ir- de“, wie der Autor nachdrücklich be- rungen und Wirrungen sorgten. Ge- tont, „nicht zu Unrecht beschuldigt, heimgehalten werden musste sie vor aus rein wirtschaftlichen Interessen allen Dingen im Hinblick auf die Be- dem arabischen Druck nachzugeben.“ ziehungen Deutschlands zu den arabi- Diese Klage über einen ,ökonomischen schen Staaten. Doch waren es wirklich Opportunismus‘ wurde später zu einer nur jene „rein wirtschaftlichen Inter- Art ,Leitmotiv‘ in den Beziehungen des essen“ in der arabischen Welt, die die jüdischen Staates zur Europäischen deutsche Außenpolitik dann dazu Gemeinschaft. Doch 1964/65 traf sie brachten „dem arabischen Druck nach- durchaus nicht den Kern des damali- zugeben“ und die Lieferungen einzu- gen Problems. stellen, wie Ben-Natan (S.48) schreibt? Ben-Natan schreibt weiter, dass „Deutschland“ auf dem Höhepunkt der 1. Die deutsche Nahostpolitik in Krise in Israel „vielen wieder als be- der Zwickmühle der Deutsch- drohlich und antisemitisch“ erschien. landpolitik Er spricht auch von der „Kritik der USA an diesem Vertragsbruch.“ Zu al- Die Hallstein-Doktrin, derzufolge alle ledem waren die Verstimmungen über Staaten, die die damalige DDR aner- die Einstellung der Militärhilfe ja zu der kannten, mit Sanktionen aus Bonn zu bereits seit 1963 schwelenden Krise um rechnen hatten erwies sich im Kontext die Tätigkeit deutscher Wissenschaftler der deutschen Nahostpolitik in den in Ägypten hinzugekommen, die dort 60er-Jahren als ein selbst ausgelegter an Nassers Raketenprogramm gearbei- Fallstrick, in der man sich verfing, ja tet hatten. Diese Wissenschaftler hat- diese Doktrin nahm dieser Nahost- ten, wie Ben-Natan (S.45) betont „be- politik jeglichen Handlungsspielraum. reits in Peenemünde an einem ver- 120 Peter L. Münch-Heubner gleichbaren Projekt gearbeitet“ und vorstellig wurden, um von Ludwig Er- nicht nur in Israel „wurde die Bundes- hard eine „gemäßigtere“ Linie Nasser republik beschuldigt – und sei es nur gegenüber einzufordern. Deutschland indirekt (...) –, erneut an der möglichen solle jeden Schritt vermeiden, der es aus Vernichtung von Juden beteiligt zu sein der arabischen Welt quasi ,hinauskata- (S.46).“ pultieren‘ könnte.2 Dies scheint jenem Bild von der US-Politik zu widerspre- Dass die deutschen Raketenexperten chen, das Asher Ben-Natan seinem Le- Ägypten schließlich wieder verließen, ser am Beispiel der Washingtoner Re- nicht etwa, weil die Bonner Diploma- aktionen auf die Entscheidung Erhards tie hier, wie viele jüdische Organisatio- zur Einstellung der Waffenlieferungen nen das gefordert hatten, Schritte in an Israel vermittelt. Tatsächlich aber diese Richtung eingeleitet hätte, son- hat das State Department „überrascht“ dern weil das „Programm (...) ein glat- und „verärgert“ auf die diesbezügliche ter Fehlschlag gewesen“ (S.46) war, Ankündigung aus dem Kanzleramt rea- scheint Ben-Natan der deutschen Poli- giert.3 tik anzukreiden. Sicher war Ludwig Er- hard nicht der stärkste unter den deut- Zumindest ebenso „verärgert“ und vor schen Nachkriegskanzlern und er war allen Dingen wortwörtlich „enttäuscht“ auch kein Meister der Außenpolitik. So reagierte darauf wiederum aber auch war „die Regierung Erhard“ für den His- das offizielle Bonn. Regierungssprecher toriker Michael Wolffsohn in dieser Zeit von Hase bedauerte, dass Deutschland „nur noch mit dem Reparieren von in einer so wichtigen Frage von seinem Pannen, nicht aber mit der Gestaltung wichtigsten Verbündeten im Regen ste- ihrer eigenen Nahostpolitik beschäf- hen gelassen worden sei. Heinrich von tigt“ und der Bundeskanzler selber war Knappstein, der deutsche Botschafter ein Regierungschef, „der eher Zick-Zack in Washington, wünschte sich anläss- steuerte als Richtlinien bestimmte, lich eines Zusammentreffens mit US- (...)“.1 Doch diesen Zick-Zack-Kurs steu- Außenminister Dean Rusk ein größeres erte die deutsche Nahostpolitik auch Maß an „diplomatischer Unterstüt- deswegen, weil sie ,Seitenwind‘ bekom- zung“ durch die USA, als dies bis zu men hatte, und dies vor allen Dingen diesem Zeitpunkt der Fall gewesen war.4 aus dem eigenen Lager der westlichen Nur drei Tage zuvor hatte sich Bundes- Verbündeten. kanzler Erhard selbst beinahe ,flehent- lich‘ mit der Bitte an die Verbündeten gewandt „(...) dass auch die drei west- 2. Die deutsche Nahostpolitik im lichen Alliierten zu uns stehen und mit Spannungsfeld des Ost-West- uns eine gemeinsame und klare Spra- Konfliktes che sprechen.“5

Als die deutsch-ägyptischen Beziehun- Das von Michael Wolffsohn beschrie- gen in der Folge des Ulbricht-Besuches bene „Chaos“ der Erhardschen Nah- schon kurz vor ihrem Ende standen, ostpolitik war nicht nur ein von ihr waren es die Botschafter der USA, Groß- selbst geschaffenes, sondern auch eines, britanniens und Frankreichs, die im das seinen Ursprung in Washington März 1965 noch im Bundeskanzleramt hatte. Als dann am Ende die Entschei- Aus dem „Chaos“ und aus der „Krise“ – Ein Rezensionsessay 121 dung für die Aufnahme diplomatischer schenlösung“, dergestalt etwa, „(...) Is- Beziehungen am Ende dieses Wirrwarr rael die Errichtung eines Generalkon- stand, hatte in Bonn endlich eine sulats anzubieten, mit der Maßgabe, klare Linie die Oberhand gewonnen – dass dieses nach einer zeitlich vorher auch über die Interessen der von Er- zu fixierenden Zeitspanne in eine Bot- hard angesprochenen „Alliierten“. schaft umgewandelt werden sollte.“7

Bis heute hält sich in vielen Publika- In den weiteren Gesprächen zwischen tionen der ,Mythos‘, dass Deutschland Bundeskanzler Erhard, Rainer Barzel „auch angesichts des zunehmenden po- und Kurt Birrenbach obsiegten dann, litischen Drucks der USA, Israel die Auf- wie Birrenbach schon vor drei Jahr- nahme diplomatischer Beziehungen“ zehnten selbst festgestellt hat, die bei- angeboten habe.6 Asher Ben-Natan zi- den ersteren mit ihren Standpunkten. tiert in seinen Ausführungen den da- Für Barzel und Erhard standen „der maligen Fraktionsvorsitzenden der Uni- moralische Ausgangspunkt und der on, Rainer Barzel, als Zeugen für seinen Wunsch, jetzt zu einer klaren Ent- Blick auf die damaligen Geschehnisse scheidung zu kommen, im Vorder- herbei, wenn er schreibt, Barzel habe grund“.8 Als Ludwig Erhards Entschei- nach seiner Rückkehr von einer Reise dung gefallen war, stieß sie bei den in die USA dem Bundeskanzler eben westlichen Verbündeten auf wenig Ge- diese „scharfe Kritik der USA“ vor Au- genliebe. Wieder wurden deren Bot- gen geführt und damit zu verstehen ge- schafter im Kanzleramt vorstellig. Wie- geben, dass dem „internationalen An- der warnten sie vor einem Schritt, der sehen der Bundesrepublik“ bei Nicht- dazu angetan sein könnte, das „delika- aufnahme diplomatischer Beziehungen te“ Gleichgewicht im Nahen Osten zu mit dem jüdischen Staat Schaden dro- gefährden.9 he (S.48). Barzel jedoch schilderte Er- hard gegenüber keineswegs die offizi- Diese Widerstände hatte schon Konrad elle US-Position. Er war in Washington Adenauer vergegenwärtigen müssen, als mit den führenden Repräsentanten er noch kurz vor seinem Rücktritt 1963 amerikanisch-jüdischer Organisationen an einen ebensolchen Schritt gedacht zusammengetroffen. Mit offiziellen hatte, wie er dann von Erhard vollzo- Stellen in der amerikanischen Haupt- gen wurde. Nach Konsultationen mit stadt verhandelt hatte indes Kurt Bir- den ,Verbündeten‘ hatte er allerdings renbach, der Sonderbeauftragte des von seinem Vorhaben wieder ablassen Bundeskanzlers für die Verhandlungen müssen. Ohne jedoch einen ,konkreten mit Israel. In seinen Gesprächen in Namen‘ nennen zu wollen, hatte sich Washington hatte er die „Eindrücke“ Adenauer Felix Shinnar, dem dama- gewonnen, dass eine übereilte Aufnah- ligen Leiter der Israel-Mission in Köln me diplomatischer deutsch-israelischer – die im Zuge der Wiedergutmachung Beziehungen im State Department eingerichtet worden war – gegenüber nicht als optimale Lösung angesehen gemäß Shinnars Erinnerungen wie folgt wurde. Stattdessen arbeitete Birrenbach geäußert: „Der Versuch der vorbeugen- nach diesen Unterredungen, die ihn den Absicherung gegen die uner- auch in das Pentagon und das Weiße wünschte Reaktion der Araber sei ne- Haus geführt hatten, an einer „Zwi- gativ verlaufen. Eine der konsultierten 122 Peter L. Münch-Heubner westlichen Großmächte hätte zwar Denn es waren nicht nur – wie Ben- nicht abgeraten, aber doch so weitge- Natan schreibt – deutsche Passivität hende Befürchtungen über die Folgen und Inaktivität, die eine solche Tätig- der zu erwartenden arabischen Reakti- keit ermöglichten. Dafür mitverant- on geäußert, dass er mit diesem Schritt wortlich war auch eine willentliche eine außerordentliche Verantwortung US-amerikanische Passivität in dieser auf sich nehmen würde.“10 Frage. Als sich im April 1963 der jü- dische Kongressabgeordnete Leonard Doch welches Interesse hatten die Farbstein in dieser Angelegenheit an ,westlichen Alliierten‘ an einer Nicht- Averell Harriman, damals unter Präsi- Aufnahme dieser Beziehungen, deren dent Kennedy Unterstaatssekretär für Knüpfung doch, wie Igal Avidan meint, politische Angelegenheiten, wandte, eine eben von diesen Alliierten an die bekam er zur Antwort, dass Washing- deutsche Politik gestellte Vorbedingung ton Nazi-Wissenschaftler in Ägypten für die Gleichbehandlung Deutschlands lieber seien als sowjetische. als einem „gewandelten Staat“11 gewe- sen sei. Die Hintergründe dieses an- Würden diese Wissenschaftler abgezo- scheinend voller Widersprüche stecken- gen, wie Farbstein das wolle, wären ne- den politischen Verhaltens beleuchtet gative Konsequenzen für das Gleich- der Historiker Wolffsohn: „Seit Mitte der gewicht zwischen Ost und West im 50er-Jahre war der Einfluss der USA, Orient zu befürchten, denn: „Likewise Großbritanniens und Frankreichs in der it is by no means clear that they would arabischen Welt gesunken. Damit der not be replaced by Soviet-bloc person- Westen nicht völlig aus dem Nahen nel equally qualified in such work, Osten verdrängt würde, beknieten die- again forcing the U.A.R. (Vereinigte se Staaten die Bundesrepublik gerade- Arabische Republik, Anm. d. Verf.) in- zu, intakte Beziehungen zur arabischen to greater reliance on the U.S.S.R.“.13 Welt aufrechtzuerhalten und diese nicht durch die Aufnahme diplomati- Auf US-amerikanische Hilfe konnte scher Beziehungen zu Israel aufs Spiel die israelische Seite in dieser sowohl zu setzen. Bonn sei aufgrund der tradi- für den jüdischen Staat als auch für tionellen deutsch-arabischen Freund- Deutschland unangenehmen Angele- schaft bestens geeignet, die Interessen genheit nicht zählen. Und es war auch des Westens in der Region zu vertre- kein Druck aus Washington, der die ten.“12 Diese Politik fand ihre Erklärung Bundesregierung dazu gebracht hatte, im Kontext des Ost-West-Konfliktes Israel nun die Aufnahme regulärer di- und in dem Versuch, den sowjetischen plomatischer Beziehungen anzubieten. Einfluss im Nahen Osten zurück- und Ben-Natan kritisiert David Ben-Gurions einzudämmen. Hintangestellt wurden „Pragmatismus“ und „Zurückhaltung“ dabei auch israelische Interessen und z.B. gerade in der Frage der Raketenex- Wünsche. Konkret hatten dies Israel perten und er meint, gerade der israe- und die jüdischen Organisationen lische Regierungsschef habe hier mit zu schon im Falle der deutschen Raketen- wenig Rücksicht auf die „Gefühle und experten in Ägypten in Erfahrung brin- Erinnerungen der Holocaust-Überle- gen müssen. benden“ reagiert. (S.46). Aus dem „Chaos“ und aus der „Krise“ – Ein Rezensionsessay 123

Doch wenn Ben-Gurion hier „Zurück- genommenen Haltung abrückte und haltung“ übte, dann tat er dies viel- diese Militärhilfe sogar noch forciert leicht auch, weil er sich an den „Prag- sehen wollte quasi als „eine Kompen- matismus“ des Möglichen und des sation für amerikanische Waffenliefe- Machbaren gerade im Hinblick auf die rungen an Jordanien“. Haltung der USA gehalten hat. Ben- Natan selbst erwähnt ja zumindest an einer Stelle jene ,Hürde‘, die z.B. beim 3. Die „Krise“ der deutschen Abschluss des Geheimabkommens über Nahostpolitik als Folge der die deutschen Waffenlieferungen im Krise der westlichen Orient- März 1960 in New York zu überwinden politik war bzw. welche man auch schlicht zu umgehen versuchte. So sei es beinahe Vom ,Störfaktor‘ war die Bonner Israel- zu einem „Eklat“ gekommen, weil die Politik nun zum ,Ausputzer‘ US-ameri- „Waffenlieferungen getarnt werden kanischer Nahost-Strategien geworden. mussten“ und so „nachts amerikani- Neben einem anderen, nicht auf dem sche Hubschrauber auf israelische Schif- Krisen-Schauplatz Nahost anzutreffen- fe verfrachtet wurden, ohne die Ame- den Faktor – Vietnam nämlich, wo sich rikaner zu informieren. Als die Sache die USA nun militärisch engagiert hat- durchsickerte, protestierten die Ameri- ten und so an anderer Stelle ,Entlas- kaner beim deutschen Verteidigungs- tung‘ brauchten16 – war es aber vor al- minister, da sie dem Handel nicht zu- len Dingen Charles de Gaulle gewesen, gestimmt hatten.“ (S.42) der diese Kurskorrektur in den US-Stra- tegien bewirkt hatte. Denn bis zu Be- Auch Franz Josef Strauß, der damals als ginn der 60er-Jahre war Frankreich Verteidigungsminister maßgeblich am eben dieser ,Ausputzer‘ in der Region Zustandekommen dieses Geheimab- gewesen. Im Rahmen der in Washing- kommens beteiligt gewesen war, er- ton konzipierten ,Arbeitsteilung‘ zwi- innerte sich so in einem von Michael schen den Westmächten im Orient war Wolffsohn angeführten Dokument Paris die Rolle des Sicherheitsgaranten noch sieben Jahre später vor dem Lan- für Israel zugefallen. Im arabischen La- desvorstand der CSU nur allzu gut da- ger hoffte man so, selbst ,freie Hand‘ ran, dass damals „die Amerikaner die behalten zu können. Durch den Suez- ersten (gewesen)“ waren, „die dagegen Feldzug 1956 und das militärische Vor- protestierten (...) mit der Begründung, gehen gegen den damaligen ägypti- das schaffe nur Unruhe (...)“.14 Nur ein schen Staatspräsidenten Nasser sowie Jahr später allerdings sah das dann an- durch den Algerien-Krieg im arabischen ders aus, dann „sagten“, wie Strauß im Lager weitgehend diskreditiert, hatte Juni 1967 in München dem CSU-Vor- Frankreich nach Einschätzung der Geo- stand erzählte, „die Amerikaner (...): Sie strategen im Weißen Haus und im Pen- müssen jetzt weiterliefern, wir bewer- tagon in der islamischen Welt eh nichts ten die Lage doch anders.“15 mehr zu verlieren. Frankreich profi- tierte auf der anderen Seite von dieser Auch Ben-Natan erwähnt (S.42), dass Zusammenarbeit lange Zeit auf mili- Washington im weiteren Verlauf der tärischem Gebiet. Doch als General de Waffen-Affäre von der ursprünglich ein- Gaulle die Außen- und Nahostpolitik 124 Peter L. Münch-Heubner seines Landes in neue Bahnen lenkte Protest gegen das nunmehr nicht mehr und mit seiner „politique arabe“ eben geheime Geheimabkommen öffnete in den arabischen Staaten verlorenes Walter Ulbricht, öffnete der DDR und Terrain wiedergutmachen wollte, ,stör- nach ihr der UdSSR arabische Türen. te‘ nun er die Washingtoner Strategi- Die Hallstein-Doktrin und mit ihr der en.17 Die Bonner Militärhilfe, die zuvor Alleinvertretungsanspruch der Bundes- hier ,gestört‘ hatte, kam nun gerade republik waren über Nacht dahin. recht und nach dem Willen Präsident Johnsons sollte die Bundesrepublik Die Signale, die die westlichen Ver- Deutschland jetzt sogar „(...) die Waf- bündeten auf dem Höhepunkt dieser fenexporte an Israel (...) erhöhen und Krise in die Bundeshauptstadt ausge- auch Panzer (...) liefern.“18. sendet hatten, blieben auch zu diesem Zeitpunkt so widersprüchlich, wie es Dieses Vorgehen aber war ein eher hilf- das Gesamtkonzept der innerwestli- loser Versuch, den sich bereits mit der chen Arbeitsteilung längst geworden „politique arabe“ de Gaulles abzeich- war. Als die Felle längst davon zu nenden Einsturz des Kartenhauses der schwimmen drohten, ließ man Bun- westlichen Arbeitsteilung in Nahost deskanzler Erhard von Washington aus hinauszuzögern. Und dieser Einsturz noch wissen, dass „die Bundesregierung sollte die Bonner Nahostpolitik bei- (...) selbstverständlich frei“ sei, „alles zu nahe unter sich begraben. Nur weil tun, was ihr zweckmäßig erscheine, nur Washington noch nicht bereit war, würde es für die westliche Welt wichtig selbst Israel mit Waffenlieferungen zu sein, dass die Bundesrepublik nicht unterstützen, sollte Bonn dies tun, aus der gefährdeten Zone des Nahen gleichzeitig aber für den Westen im Ostens als Faktor der Mäßigung ausge- arabischen Lager den ,Fuß in der Tür‘ schaltet würde.“19 behalten. Die deutsche Nahostpolitik wurde so in ein Dilemma, in einen da- Bonn schien sich dann an solche mals schier unaufhebbar scheinenden Vorgaben zunächst halten zu wollen, Widerspruch hineinmanövriert, an als es die Einstellung der Waffenhilfe dem sie im Jahre 1965 zu scheitern an Israel ankündigte. Doch auch drohte. Wer für das Bekanntwerden des dies stieß – wie zuvor gesehen – auf deutsch-israelischen Geheimabkom- den heftigsten Protest der Johnson- mens verantwortlich zeichnete, wer je- Administration. Die Antwort auf die ner Informant war, der der New York Frage nach den Ursachen der Krise Times die diesbezüglichen Informatio- der deutschen Nahostpolitik 1963-65, nen zuspielte ist – anders als seit kur- dürfte maßgeblich in Washington zu zem im Falle Watergate – bis heute un- finden sein. bekannt. Es kursieren nur Vermutun- gen und Gerüchte. 4. Die „Krise“ und die „Chance“ Die Veröffentlichungen vom Novem- ber 1964 waren von weitreichenden Aus all diesem Wirrwarr heraus setzte Folgen auf der Ebene der internationa- die Bundesregierung, setzten Ludwig len Politik, die bis in die Deutschland- Erhard und Rainer Barzel dann zu Politik hineinreichten. Der arabische einem moralischen ,Befreiungsschlag‘ Aus dem „Chaos“ und aus der „Krise“ – Ein Rezensionsessay 125 an, als sie – und dies wiederum ent- deutschen Politikern gibt, schließt sei- gegen dem Willen der westlichen ne rückblickenden Betrachtungen mit Verbündeten – Israel die Aufnahme einem kritischen Seitenblick auf aktu- diplomatischer Beziehungen anboten. elle Entwicklungen. Kritisch betrachtet Die „Krise“ wurde damit, wie Asher er „seit 2000 eine Zunahme der anti- Ben-Natan wieder richtig feststellt, als israelischen Stimmung und auch des „Chance“ begriffen (S.47), die genutzt Antiamerikanismus“(S.155), warnt da- wurde beim Aufbau bilateraler Bezie- vor, dass bei aller womöglich ange- hungen, die seither immer als „Son- brachten Kritik an israelischer Politik derbeziehungen“ angesehen werden. „die Grenze zwischen Antisemitismus Auch vierzig Jahre nach diesen Vor- und Antizionismus (...) fließend“ sei kommnissen wehrt sich Ben-Natan da- (S.157) und er verwahrt sich gegen ak- gegen, heute von einer „Normalisie- tuelle „Versuche der Aufrechnung deut- rung“ derselben zu sprechen. Dem scher Toter des Zweiten Weltkriegs mit würde auch der gegenwärtige deutsche jüdischen Opfern der Shoa.“ (S.157) Botschafter in Tel Aviv zustimmen, der vor dem Hintergrund der Vergangen- Trotzdem bleibe er ein „Optimist“, der heit „vor dieser Begrifflichkeit“ warnt, glaubt, dass die Anstrengungen, die denn „,Normal‘ – der Norm entspre- vor vierzig Jahren zur Eröffnung eines chend –, anders ausgedrückt: vor- neuen Kapitels in den Beziehungen der schriftsmäßig oder gewöhnlich, üblich beiden Völker zueinander sich gelohnt oder durchschnittlich, können die haben und dass die damalige „Krise“ deutsch-israelischen Beziehungen nicht damit der Ausgangspunkt für eine neue sein.“20 und konstruktive Entwicklung war. Mit Blick auch auf jene Tage, in denen „die Der „erste Botschafter Israels in der erste Brücke nach Deutschland“ gebaut Bundesrepublik“, der in seinem Buch wurde, glaubt er feststellen zu können: einen lesenswerten Einblick in seine „(...) die Brücke trägt noch immer.“ Kontakte zur deutschen Politik, zu (S.158)

Anmerkungen 1 Wolffsohn, Michael: Ewige Schuld? 40 diplomatischen Beziehungen zwischen Jahre deutsch-jüdisch-israelische Bezie- der Bundesrepublik Deutschland und hungen, München 1994, S.35. Israel, in: Karl Hohmann, u.a. (Hrsg.): 2 Allies urge Bonn to stay in Cairo, in: The Ludwig Erhard. Beiträge zu seiner poli- New York Times, 7.3.1965. tischen Biographie. Festschrift zum fünf- 3 U.S. favoured arms sale to Israel, says undsiebzigsten Geburtstag, 1972, S.371. spokesman, in: The Jerusalem Post, 8 Ebda, S.372. 19.2.1965. 9 Bonn will seek formal tie, in: The New 4 Bonn regrets U.S. lagged in backing stand York Times, 8.3.1965. on Mideast, in: The New York Times, 10 Shinnar, Felix E.: Bericht eines Beauf- 20.2.1965. tragten. Die deutsch-israelischen Bezie- 5 Erhard appelliert an Westmächte, in: hungen 1951-1966, Tübingen 1967, Süddeutsche Zeitung, 17.2.1965. S.125. 6 Avidan, Igal: „Auch die dunkelste Nacht 11 Avidan, I.: „Auch die dunkelste Nacht endet mit einer Morgendämmerung“ – endet mit einer Morgendämmerung“. Die Feuerprobe der deutschen Demokra- 12 Wolffsohn, M.: Ewige Schuld?, S.30. tie, in: Das Parlament, 11.4.2005. 13 Cairo arms work is assayed by U.S., in: 7 Birrenbach, Kurt: Die Aufnahme der The New York Times, 12.4.1963. 126 Peter L. Münch-Heubner

14 Zitiert bei Wolffsohn, M.: Ewige Schuld?, hungen in dieser Zeit und zur Wende de S.139. Gaulles siehe: Crosbie, Sylvia Kowitt: 15 Ebda. A Tacit Alliance. France and Israel from 16 Vgl. dazu: U.S. and Germany Reaffirm Suez to the Six Day War, Princeton Agreement on East-West Problems; Joint 1974. communique released on June 12 at the 18 Wolffsohn, M.: Ewige Schuld?, S.33. conclusion of talks between President 19 Birrenbach, K.: Die Aufnahme der diplo- Johnson and Chancellor Ludwig Erhard matischen Beziehungen, S.370f. of the Federal Republic of Germany, in: 20 Dreßler, Rudolf: Gesicherte Existenz Is- The Department of State bulletin, June raels – Teil der deutschen Staatsräson, in: 29, 1964, S.993f. Aus Politik und Zeitgeschichte, 15/2005, 17 Zu den französisch-israelischen Bezie- S.5. Das aktuelle Buch

Schwarz, Hans-Peter: Republik ohne Kom- Europa sei schließlich ein von den USA er- pass – Anmerkungen zur deutschen Au- zwungenes Erfolgsrezept, welches nicht au- ßenpolitik. München: Propyläen, 2005, 352 tonom als (sozial konstruiertes) Erfolgsrezept Seiten, € 20,00. sui generis interpretiert werden dürfe.

Passend zur innen- und außenpolitischen Schwarz glaubt, dass die Mehrzahl der Zeitenwende – in Deutschland und nach der europäischen Staaten ihre nationale Identität französischen Ablehnung der EU-Verfassung bewahren will. Dies wird deutlich in dem – legt Adenauer-Biograf Hans-Peter Schwarz letzten Kapitel, in welchem Schwarz – unter eine kompakte Studie zur deutschen Außen- Bezugnahme auf Friedrich Meinecke – eine politik vor. Schwarz, der selber der realisti- postmoderne Staatsräson für Deutschland schen Schule der internationa- formuliert. len Politik entstammt, verknüpft in gewohnt souveräner Weise Vorher aber zeigt der Historiker, internationale und innerstaatli- dass der „deutsche Patient“ erst che Politikdeterminanten, die die wieder gesunden müsse, um deutsche Position in Europa und einen großen internationalen der Welt verstehbar werden las- Einfluss auszuüben. Die lahmen- sen. de Konjunktur sei ein Klotz am Bein der deutschen Europa- und Im Sinne Churchills beginnt Bündnispolitik. Schwarz damit, die außenpoliti- schen Bezugskreise der deut- Schwarz ist politischer Realist, schen Nation unter Helmut Kohl der fordert, dass eine Nation ihre zu definieren. Diese diagnosti- Ziele nach Maßgabe der ihr zur ziert er im vereinten Europa, der Verfügung stehenden Ressourcen Stärkung der transatlantischen formulieren müsse. Er vermisst in Gemeinschaft, einer Integration der unvermeidlichen deutschen der MOE-Staaten in Europa und der Herstel- Out-of-Area-Praxis eine konsistente Linie. lung einer entspannten Beziehung zu Russ- Deutschlands Außenpolitik reagiere auf spon- land. tane Impulse und Bedürfnisse, sei aber nicht geleitet von einer langfristigen Strategie. Aus Schwarz zeigt auf, wie die über ein halbes den Auslandsaufgaben könnten Niederlagen Jahrhundert gewachsenen Bezugskreise der oder kostenträchtige Daueraufgaben werden, deutschen Außenpolitik zu Beginn des 21. die die deutschen Fähigkeiten überreizten. Jahrhunderts ins Wanken geraten sind. Die Während der deutsche Militäreinsatz auf dem Ursachen dafür sind in einem unruhiger ge- Balkan nachvollziehbar sei, so drohe im Fer- wordenen internationalen Umfeld zu suchen, nen Osten der Tanz auf einem Pulverfass, das aber auch in falschen Prioritätensetzungen der Schwarz an das Serbien von 1914 erinnert. Er rot-grünen Regierung. Zwei Verhaltensstra- plädiert für ein Moratorium in Bezug auf Aus- tegien der Schröder/Fischer-Achse stören landseinsätze der Bundeswehr. Schwarz besonders: die brüske Art des Um- gangs mit den USA im Irak-Konflikt, obwohl Schwarzs Abhandlung schließt mit einem er die Politik der Bush-Administration keines- Höhepunkt. Der subtile Analytiker zeigt, dass falls gutheißt, und das starke Anlehnen an der deutsche Traum von einer Selbstauflösung Frankreich und andere Großmächte, die in Deutschlands in einem Großeuropa von den ihrer Strategie zur Herstellung einer multipo- europäischen Partnerstaaten nicht geteilt wird. laren Welt Deutschland in ein gefährliches Diese glaubten weiter an die in Deutschland Fahrwasser treiben könnten. weithin für antiquiert gehaltene Staatsräson. Auf S. 275 sagt er: „Die Hoffnung hat getro- Schwarz zeigt, dass der deutsch-französische gen, den veralteten Kompass ,Staatsräson‘ Versuch der Etablierung eines Kerneuropas durch ein ganz neuartiges, noch ungetestetes, nicht geeignet ist, um den Kontinent zu einen. hochkompliziertes supranationales Naviga- Er verweist auf die politischen und ökonomi- tionssystem zu ersetzen.“ schen Erfolge Europas der letzten sechzig Jahre und warnt vor einer Überdehnung der So mahnt Schwarz, Deutschland müsse sei- Kompetenzen Brüssels. Der Nationalstaat ne eigene Staatsräson wieder entdecken, die lebe und konstituiere weiterhin die EU. Und selbstverständlich maßgeblich aus integrati-

Politische Studien, Heft 403, 56. Jahrgang, September/Oktober 2005 128 Das aktuelle Buch ven Elementen bestünde. In Abgrenzung zur dern eine Interventionsarmee. Deren Zielvor- rot-grünen Bundesregierung stellt er die Rei- gaben und Ausrüstungsbedingungen wie de- henfolge der deutschen Kerninteressen um, ren politischen Ziele müssten deutlicher for- ohne sie völlig zu revidieren, aber er macht sie muliert werden, allein schon zur Herstellung explizit und damit nachvollziehbar. und Sicherung einer glaubwürdigen Bündnis- fähigkeit. Zusätzlich warnt Schwarz vor einer An erster Stelle fordert Schwarz die Restau- energiepolitischen Abhängigkeit von Russland ration des transatlantischen Bündnisses. Der und plädiert für eine strategische Diversifika- diplomatischen (multipolaren) Allianz mit tion in diesem Bereich. Frankreich, Russland und China erteilt er eine klare Absage und verweist darauf, dass Eine vierte Komponente der Staatsräson be- Deutschlands außenpolitische Stabilisierung steht aus der ökonomischen Leistungsfähig- eng mit dem Eingreifen der USA nach dem keit des Landes. Mit zunehmendem Reichtum, Zweiten Weltkrieg verbunden ist. Aber auch so der neoklassische Realist Fareed Zakaria, jenseits aller historischer Sentimentalitäten gelangt eine Nation zu mehr Einfluss und An- sei es ein Akt politischer Dummheit, sich die sehen. Um die hehren friedenspolitischen Zie- einzige Supermacht zum Gegner zu machen. le verwirklichen zu können, muss Deutschland sein eigenes Haus in Ordnung bringen. Zweitens plädiert Schwarz für eine angemes- sene deutsche Europapolitik. Dabei müssten Schwarz kann selber keine völlig konsistente die Deutschen einen wesentlichen Anteil am und widerspruchsfreie Staatsräson vermitteln, Aufbau einer „EU-Räson“ leisten. Nicht unbe- aber ihm gebührt das Verdienst, darauf ver- grenzte Erweiterung und eine klare Finalität wiesen zu haben, dass das Denken von der seien das Ziel, wenn Europa Zukunft haben Staatsräson nicht obsolet ist. Multilateralismus wolle: „Il n’y a que le provisoire, qui dure.“ steht im Dienst der Staatsräson, nicht umge- kehrt. Dies ist der erste Schritt auf dem Weg Dass Deutschland drittens „Weltpolitik mit zu einem neuen Kompass für die deutsche Maß und Ziel“ betreiben müsse, darauf deu- Republik. Es ist zu wünschen, dass ein brei- tet Schwarz hin und zeigt, dass schon die tes Publikum diesem Nachfolgewerk zu „Die alte Bundesrepublik weltpolitische Akzente Zentralmacht Europas“, das der Autor eine gesetzt habe. Man darf nur an die Bonner Dekade zuvor publizierte, seine Aufmerksam- Ostpolitik erinnern. Die Bundeswehr ist keine keit widmet. Armee der Territorialverteidigung mehr, son- Christoph Rohde Buchbesprechungen

Christian Hacke: Zur Weltmacht verdammt. seinem Optimismus im Wesentlichen auf zwei Die amerikanische Außenpolitik von J.F. Argumente. Zum einen widerspricht es der Kennedy bis G.W. Bush. Berlin: Ullstein Ver- Geschichte und der Natur der amerikanischen lag, 3. Aufl., 2005, 752 Seiten, € 9,95. Außenpolitik, die gegenwärtige militärische und politische Stärke zur Verfolgung einer im- Mit dieser aktualisierten und erweiterten Auf- perialen Politik auszunutzen und zum Zweiten lage seines klassischen Einführungsbandes in fehlt es in der amerikanischen Bevölkerung die amerikanische Außenpolitik seit J.F. Ken- auf Dauer an Unterstützung einer Politik, die nedy legt der an der Universität Bonn lehren- auf Partner und Verbündete keine Rücksicht de Politikwissenschaftler und Zeithistoriker nimmt und die Einbindung der USA in inter- Christian Hacke ein Studie vor, die Beachtung nationale und regionale Organisationen igno- verdient, weil sie zu Diskussionen über die riert (S.732-739). zukünftige Rolle der USA im internationalen System des 21. Jahrhunderts anregt. Mit dieser Argumentation reiht sich Christian Hacke ein in die Schar jener, die aus grund- Hacke, als profunder Kenner amerikanischer sätzlich demokratietheoretischen Argumenta- Außenpolitik nach dem 2. Weltkrieg einem tionen ein Abdriften der USA in eine imperia- breiten Publikum hinlänglich bekannt, blickt le Politik für wenig wahrscheinlich halten. Die- mit verhaltenem Optimismus auf die zukünfti- se Analyse bildet die Ausgangslage für die ge Entwicklung amerikanischer Außenpolitik verhalten positive Einschätzung des Verfas- unter der Bedingung systemweiter Unipola- sers hinsichtlich der Auswirkungen des uni- rität. Dies ist jedoch nicht der einzige Punkt, polaren Momentums der aktuellen internatio- an dem sich Hacke vom Mainstream der In- nalen Politik. Unter der Voraussetzung, dass ternationalen Politik abhebt (und es wird spä- die von Hacke identifizierten Selbstbeschrän- ter noch darauf zurückzukommen sein, wie kungskräfte der amerikanischen Demokra- Hacke seinen Optimismus begründet). Er bet- tie funktionieren werden, sieht er, im Gegen- tet die jüngsten Entwicklungen in der U.S.- satz zu anderen Autoren der realistisch/neo- Außenpolitik in die Geschichte amerikanischer realistischen Schule, durchaus die Möglich- Außenpolitik ein und ist somit in der Lage, die keit, dass ein „gütiger Imperator“ oder, wie weit verbreitete und falsche Auffassung von Hacke es nennt, „sanfter Hegemon“ durchaus der Einzigartigkeit der amerikanischen Außen- a) mehr Stabilität und Sicherheit im Interna- politik unter George W. Bush zu entkräften. In tionalen System produzieren kann, und b) die diesem Buch folgt Hacke nicht der Meinung exzeptionelle Stellung der USA im heutigen jener, die die Ursache der exzessiven ameri- System von anderen Staaten nicht nur als kanischen Machtausübung reduktionistisch legitim, sondern auch als wünschenswert er- dadurch erklären wollen, dass die Neocons in achtet wird. Washington das Ruder an sich gerissen ha- ben, sondern er bettet die Erklärung dieser Allerdings kann eine solche Entwicklung, so Politik in den historischen Verlauf amerikani- Hacke, nur dann stattfinden, wenn sie einge- scher Weltmachtpolitik seit den 60er-Jahren bettet ist in eine zivilisatorisch attraktive Le- ein und ist dadurch in der Lage, Kontinuitäts- bensweise (S.737). Da der American way of tendenzen aufzuzeigen, die bei der Diskus- life jedoch außerhalb des transatlantischen sion um die Amtsführung des 43. Präsidenten Raumes oftmals eher als Bedrohung denn als der Vereinigten Staaten oftmals zu Gunsten erlangenswerter Zustand wahrgenommen einer eher manichäischen Interpretation die- wird, gilt es für die USA zum Vorreiter demo- ser Politik übersehen werden. Hackes Buch kratischer und wirtschaftlicher Reformen, ins- lässt sich durchaus als der Versuch lesen, die besondere im Nahen und Mittleren Osten, zu ,long durée‘ (Braudel) aufzuzeigen (S.708-717), werden und eine führende Rolle bei der die sich in der U.S.-Außenpolitik finden las- Bekämpfung globaler Herausforderungen ein- sen. Durch diese Einbettung unterscheidet zunehmen (S.743). Sollte dies nicht der Fall sich der vorliegende Band wohl tuend von an- sein, so blieben die USA zwar weiterhin Welt- deren Studien zur amerikanischen Außenpo- macht, sie riskieren jedoch, dass sie – um litik seit 2001, die den deutschen Büchermarkt Hackes Buchtitel zu paraphrasieren – als ver- in den letzten Jahren überschwemmt haben. dammte Weltmacht wahrgenommen werden würden. Kehren wir an dieser Stelle zu dem bereits er- wähnten Optimismus von Hacke zurück. Wie Insgesamt kann man festhalten, dass Hacke wird dieser begründet? Hacke stützt sich in mit dieser erweiterten Auflage seines USA

Politische Studien, Heft 403, 56. Jahrgang, September/Oktober 2005 130 Buchbesprechungen

Buches das geliefert hat, was man von ihm er- gehend unberücksichtigt, ihre Bedeutung wartet, nämlich zum einen eine um eine erste freilich wird nicht in Abrede gestellt. Balcars Analyse der Bush-Präsidentschaft erweiterte Strukturanalyse erfasst insgesamt elf nach be- Fassung seines Klassikers, zum anderen eine sonderen Kriterien ausgewählte Landkreise Analyse amerikanischer Außenpolitik, die, und aus sechs Regierungsbezirken – Oberfranken dies hat die vorliegende Rezension versucht fehlt leider. Untersuchungszeitraum sind wie- deutlich zu machen, quer zu den landläufigen derum die Jahre 1945 bis 1972, die von der Erklärungsansätzen amerikanischer Außen- Besetzung durch amerikanische Truppen und politik (insbesondere von George W. Bush) der ersten Ölkrise eingerahmt werden. An drei liegt. Themenkomplexen versucht der Autor, den rasanten Wandel in den von ihm nach Ver- Das Buch spitzt zu und regt zum Denken und gleichbarkeit und Quellenlage ausgewählten Debattieren an. Und es bleibt dabei dennoch Kommunen zu exemplifizieren: „Erstens geht das, was es auch früher war: eine gelungene es um die Akteure der Politik auf dem Land, Einführung in die Außenpolitik der USA von um Bürgermeister und Landräte, Gemeinde- Kennedy bis heute, der man nur viele Leser und Kreisräte; zweitens um die Rolle der Par- wünschen kann. teien und deren Versuche, ihre Organisation auf den ländlichen Raum auszudehnen und Carlo Masala drittens um die Politik auf dem Land, ihre Um- setzung vor Ort sowie ihre Auswirkungen.“

Unter der Überschrift „Basisnahe politische Balcar, Jaromír: Politik auf dem Land. Stu- Eliten 1945-1972“ zeichnet Balcar Werdegän- dien zur bayerischen Provinz 1945 bis 1972. ge der Bürgermeister, Gemeinderäte, Landrä- München: R. Oldenbourg Verlag, 2004, 584 te und Kreisräte sowie der Abgeordneten des Seiten, € 39,80. Bayerischen Landtages aus den ausgewähl- ten Gebieten nach. Das Personal für diese Mit dem vorliegenden Werk erscheint bereits Aufgabenbereiche rekrutierte sich zunächst der fünfte Titel der im Jahr 2001 eröffneten, aus der durch Krieg und Entnazifizierung stark auf sieben Bände ausgelegten Reihe „Bayern begrenzten dörflichen Honoratiorenschicht, im Bund“, mit der das Institut für Zeitgeschich- „die traditionell die Politik auf dem Land be- te den rasanten sozialen, ökonomischen und stimmt hatte“ und zumeist einer selbstständi- kulturellen Wandel der Fünfziger-, Sechziger- gen Tätigkeit nachging. Eine Sonderrolle nah- und frühen Siebzigerjahre des vergangenen men die Flüchtlingsvertreter ein. Dieser ersten Jahrhunderts in Bayern darstellen und zugleich Landbürgermeister-Generation ist nicht selten regionale Unterschiede dieses Prozesses be- eine lange Amtszeit gemeinsam. Einen spür- leuchten will. baren Wandel der Politikertypen, die die Bür- germeistersessel der Landgemeinden besetz- Dem sehr allgemein gewählten Titel von Ja- ten, konstatiert der Autor erst für die Jahre romír Balcars Dissertation, die, angeregt und nach 1966. Vor allem in den von strukturellen gefördert vom Institut für Zeitgeschichte an Veränderungen am stärksten erfassten Ge- der Ludwig-Maximilians-Universität München, genden drängten spätestens in der zweiten bei Hans Günter Hockerts entstand, lässt sich Hälfte der 1960er-Jahre verstärkt Beamte und nicht entnehmen, inwiefern sich diese Studie Angestellte mit ihren speziellen Befähigungen von den bisher erschienenen Bänden inhalt- in die verschiedenen kommunalpolitischen lich unterscheidet. Ämter, nicht zuletzt, weil sie der zunehmen- den Bürokratisierung, mit der vor allem Bür- Wer dies wissen will, muss wenigstens einen germeister und Landräte konfrontiert wurden, Blick ins Inhaltsverzeichnis, besser aber in die eher gewachsen waren. Zusätzlich befördert Einleitung werfen. Dort erläutert der Autor prä- wurde dieser allgemeine Trend durch die in- zise die Zielsetzung seiner Arbeit, nachdem folge der Gebietsreform entstehenden größe- er im Prolog am Beispiel des im Landkreis ren Verwaltungseinheiten. So wurden schließ- Landsberg am Lech gelegenen Pfarrdorfes lich immer mehr Bürgermeisterstellen haupt- Erpfting exemplarisch darlegt, welche Berei- amtlich und somit auch für Beamte und An- che des gesellschaftlichen, ökonomischen und gestellte attraktiver. Politische Betätigung wur- politischen Wandels in den strukturschwachen de mehr und mehr zur entlohnten Beschäfti- ländlichen Gebieten Bayerns er in seiner ver- gung. gleichenden Studie darstellen möchte. Im Un- terschied zu bereits vorliegenden Studien will Der „Volksparteien auf dem Land“ betitelte Balcar die politischen Rahmenbedingungen zweite Teil der Untersuchung zeigt ebenfalls, des Strukturwandels auf dem Land analysie- dass der große Wandel der politischen Land- ren. Andere Faktoren bleiben dagegen weit- schaft mit der Gebietsreform in kausalem Zu- Buchbesprechungen 131 sammenhang steht. Mehr noch haben den Schuldendilemmas unserer Tage wieder der „Einzug“ der Parteipolitik in die Kommunal- Traum der heilenden Wirkung umfassender politik die im Laufe der Jahre aufgestellten Reformen geträumt, aber dabei der Blick auf staatlichen Förderprogramme beschleunigt. die tatsächliche Wirkung derselben mitunter Zuvor waren auf dem Land noch freie Wäh- vernebelt wird. lergemeinschaften dominierend. Der Erfolg eines Kommunalpolitikers bei der Akquirierung Insgesamt gelingt es Jaromír Balcar, auf brei- staatlicher Fördermittel korrespondierte nicht ter Quellenbasis überzeugend sein Anliegen selten mit seinen innerparteilichen Beziehun- umzusetzen. So stellt diese breit angelegte, gen zur Landes- und Bundespolitik. mit einem gesunden und die Lesbarkeit nicht beeinträchtigenden Maß an Statistik angerei- Schlüssig weist Balcar nach, wie und warum cherte Studie eine ausgezeichnete Informati- es der CSU gelang, die SPD dauerhaft als onsquelle sowohl für die Regionalgeschichts- Konkurrenten um die Wählergunst klar in forschung als auch für den an der bayerischen Schach zu halten. Nachkriegsentwicklung allgemein interessier- ten Leser dar. Im dritten Teil der Untersuchung geht es schließlich um „Politisches Handeln auf dem Ulrich Wirz Land“. Balcar richtet seinen Blick auf die Strukturpolitik und kommt zu dem freilich na- he liegenden Schluss, dass die ehrenamtlich tätigen Landbürgermeister überwiegend „als Backes, Uwe/Jesse, Eckhard (Hrsg.): Jahr- Träger der forcierten Infrastrukturpolitik nicht buch Extremismus und Demokratie 16. Ba- in Frage“ kamen – anders die als kommunale den-Baden: Nomos Verlag, 2004, 491 Seiten, Wahlbeamte hauptberuflich tätigen Landräte, € 44,00. die überwiegend der jüngeren Generation an- gehörten, „die ihre prägenden Erfahrungen vor Das Jahrbuch Extremismus und Demokratie allem im Zweiten Weltkrieg machten“, nicht an – mittlerweile im 16. Jahr von Uwe Backes „alten Idealen“ hingen und in der Regel einen und Eckhard Jesse herausgegeben – belegt relativ hohen Bildungsstand hatten. Sie waren erneut seinen Charakter als Standardwerk im schon eher in der Lage, die Vorgaben der Lan- Bereich der Extremismusforschung. Aber auch desplanung in praktische Politik umzusetzen. darüber hinaus liefert es wichtige Anregungen Als „Realtyp“ in dieser Beziehung porträtiert und Beiträge für weitere Arbeitsbereiche mo- Balcar den legendären Rodinger CSU-Land- derner Sozialwissenschaften wie politische rat Franz Sackmann, der in seinem Wirkungs- Partizipation oder innere Sicherheit. Die Be- kreis Triebkraft eines spektakulären Struktur- nutzerfreundlichkeit ergibt sich sowohl aus der wandels wurde. Der Autor übersieht aber sorgfältigen Ausarbeitung des Bandes wie nicht, dass Sackmann dank seiner glänzen- auch aus der Gliederung des Handbuchs in den politischen Beziehungen zu den Füh- drei Komplexe: Analysen; Daten, Dokumente, rungsspitzen seiner Partei sein Landratsamt Dossiers sowie Literatur. weit mehr als andere zu einer zentralen Schalt- stelle ausbauen konnte, „wo die von unten Im ersten Abschnitt finden sich immer wieder nach oben führenden Fäden mit denen zu- Beiträge, die am ehesten neue Forschungs- sammen(liefen), die von oben nach unten perspektiven eröffnen. In diesem Fall ist – reichten“. Die geradezu atemberaubende Er- neben dem Beitrag der Herausgeber über Ex- folgsbilanz, die Sackmann am Schluss seiner tremismen im Vergleich – besonders der Arti- Amtszeit ziehen konnte, bleibt im Bayern kel von Armin Pfahl-Traughber zu erwähnen, weiten Vergleich also doch eher singulär, der klassische Totalitarismuskonzepte von macht aber individuelle Möglichkeiten der Eric Voegelin, Karl Popper, Hannah Arendt einzelnen Politiker und Grundtendenzen gut und Carl Friedrich gegenüberstellt, quasi ein sichtbar. ex-post-Vergleich politikwissenschaftlicher Klassiker im Hinblick auf deren Aussagekraft Schließlich konstatiert Balcar, dass der so- in der Gegenwart. Der zweite Abschnitt bringt zioökonomische Strukturwandel auf dem Land die gewohnt zuverlässigen Überblicke über mit enormen Kosten verbunden war und vie- Wahlen und Organisationen im Berichtsjahr le Kommunen in eine Schuldenfalle liefen, die 2003. Es folgen ein Interview mit Heinz ebenfalls die Notwendigkeit einer umfassen- Fromm, dem Präsidenten des Bundesamts für den kommunalen Gebietsreform beförderte. Verfassungsschutz, sowie sehr interessante Heute wissen wir, dass damit die Problematik Artikel über die NPD nach dem gescheiterten „lediglich an die neu entstandenen größeren Verbotsverfahren (Lars Flemming) und das Verwaltungseinheiten weitergegeben worden“ neue Parteiprogramm der PDS (Viola Neu). Der ist. Es verwundert nicht, dass angesichts des Beitrag von Johannes Urban versucht die Ent- 132 Buchbesprechungen wicklung einer umfassenden Systematik der benden Glaubensgenossen des Jahres 1898, Terrorismusbekämpfung. Es folgt ein lesens- um sie zur Überwindung ihrer noch kultur- wertes biografisches Porträt über Andreas kampfbedingt vorherrschenden Engherzigkeit Baader (André Gottschling) und ein gutes aufzurufen. Wenig mehr als ein Jahrhundert Länderporträt zu Tschechien (Lukás Novotn´y). später darf mit postmoderner Heiterkeit kon- Wie intensiv das Handbuch alle Spielarten im statiert werden, dass noch nicht einmal Belle- linksextremen wie im rechtsextremen Spek- tristik schreiben muss, wer Verkaufsschlager trum behandelt, zeigt der Artikel von Sebas- wie „Harry Potter“ von der Höhe der Bestsel- tian Dittrich über die Zeitschrift „Bahamas“, lerlisten verdrängen möchte – vorausgesetzt das Sprachrohr einer „antideutschen“ Split- man trägt den Namen Joseph Kardinal Rat- tergruppe des Kommunistischen Bundes, die zinger. Doch trotz bemerkenswerter Verkaufs- sich vor allem durch pro-israelische, den Irak- zahlen läuft die hier anzuzeigende Sammlung Krieg verteidigende Aktionen zu profilieren ver- verstreuter Texte aus der Feder des vormali- sucht. gen „cardinale d’acciaio“ Gefahr, als Souvenir aus den Frühjahrstagen der Papsteuphorie Der Literaturteil bietet erneut beste Hinweise ungelesen auf den schmalen Bücherborden für weitere Forschungsarbeiten. Heraus ste- der „JPII“-Generation zu verstauben, weshalb chen (nicht nur wegen der Fülle der bearbei- eine Rezension dieses „Bestsellers“ gerecht- teten Literatur) der Literaturbericht von Tho- fertigt erscheint. mas Meyer zu Fundamentalismus, Islamismus und Terrorismus sowie die Sammelrezension Leichte Kost ist nicht zu erwarten, wenn sich von Eckhard Jesse über Literatur zum 50-jähri- ein Präfekt der vatikanischen Glaubenskon- gen Jubiläum des 17. Juni 1953. Überhaupt gregation an grundlegende Fragen heran- kommt sachliche Kritik an einzelnen Publika- schreibt. Und so ist zunächst das große tionen wie immer nicht zu kurz – in prägnan- Verdienst des Verlages hervorzuheben, die tester Form in der Reihe „Kontrovers bespro- unterschiedlichen Texte aus den Jahren 1992 chen“, wo es diesmal das Buch von Udo bis 2004 thematisch in drei große Blöcke ge- Ulfkotte über Islamismus in Deutschland trifft. gliedert zu haben, die sich im Verlauf der Lek- Aber auch das Rezensionsessay, die Rubriken türe gleichwohl zu einem kohärent geknüpf- „Wieder gelesen“ und „Literatur aus der Sze- ten Gedankenteppich fügen und in der ans ne“ haben sich bewährt. Die Fülle der Haupt- Ende gesetzten Gedenkpredigt zum 60. Jah- und Kurzbesprechungen sowie die kommen- restag der Landung der Alliierten in der Nor- tierte Bibliografie decken sicher das ab, was mandie ihren harmonischen Ausklang finden. man in Deutschland zu diesem Komplex an wissenschaftlicher Literatur in einem Jahr zur Unter der Leitfrage „Wonach handeln?“ ver- Kenntnis genommen haben kann. Das Perso- sammelt das Eingangskapitel zunächst vier nenverzeichnis erhöht zusätzlich die Benut- Beiträge Ratzingers zum Verhältnis von Poli- zerfreundlichkeit. tik und Moral. Geht es im ersten um den kriti- schen Blick des Alten und Neuen Testaments Man muss dem neuen Jahrbuch wieder ein- auf „politische Visionen“ und um die Frage, mal bestätigen, dass es für sein Fachgebiet was christlicher Glaube zu einem verantwort- und für wesentliche Teile der politikwissen- lichen politischen Handeln beisteuern kann schaftlichen Forschung in Deutschland un- – „er ersetzt nicht die Vernunft, aber er kann verzichtbar ist. Es wäre nur zu wünschen, dass zur Evidenz der wesentlichen Werte beitra- andere Felder des Faches über ein ähnlich gen“ –, bildet der zweite Beitrag gleich das in- qualifiziertes und nutzbringendes Handbuch tellektuelle Herzstück des schmalen Bandes. verfügen könnten. Für die Extremismusfor- Es handelt sich um Ratzingers Stellungnahme schung hat es Standards gesetzt und wird anlässlich des Gesprächsabends mit dem dies hoffentlich noch lange tun. Nestor der Frankfurter Schule, Jürgen Haber- mas, zum Thema „Vorpolitische moralische Gerhard Hirscher Grundlagen eines freiheitlichen Staates“. Die Argumentationslinie des äußerst dicht ge- schriebenen Textes läuft auf ein behutsames Ausbalancieren von Vernunft und Glaube hi- Ratzinger, Joseph Kardinal: Werte in Zeiten naus. Beide seien zu gegenseitiger „Heilung des Umbruchs. Die Herausforderungen der und Reinigung“ aufeinander angewiesen und Zukunft bestehen. Freiburg, Basel, Wien: müssten sich in einem unabschließbaren kom- Herder-Verlag, 2005, 156 Seiten, € 8,90. plementären Lernprozess gegenseitig ernst nehmen. Kuriert werden sollen je nach Bedarf „Steht die Katholische Belletristik auf der Höhe die Pathologien der Vernunft und die des der Zeit?“ – mit dieser Frage provozierte der Glaubens: die Hybris einer im Machbarkeits- streitbare Publizist Carl Muth seine schrei- wahn rotierenden Ratio ebenso wie der Fana- Buchbesprechungen 133 tismus eifernder Religiosität. Es gelte, so Beiträge, die der Autor als „Richtpunkte“ für Ratzinger, die anmaßende Vernunft an ihre den aktuellen Diskurs verstanden wissen will. Grenzen zu gemahnen, auf dass sie wieder Thematisch setzt sich Ratzinger hier zunächst Hörbereitschaft gegenüber den großen reli- mit der Frage nach dem subjektiven Gewis- giösen Überlieferungen der Menschheit lerne sen als oberster Norm auseinander – von – etwa da, wo sie den Menschen dazu verlei- einem Präfekt der Glaubenskongregation te, „hinab in die Brunnenstube der Macht, an erwartungsgemäß mit dem Hinweis auf die den Quellort seiner eigenen Existenz“ zu stei- Möglichkeit des „irrenden Gewissens“ und die gen, und sich selbst im genetischen Experi- „Letztinstanzlichkeit“ der unteilbaren „Wahr- ment neu zu entwerfen. Desgleichen sollten heit Gottes“ abgelehnt. Es folgt ein Redebei- aber auch die Auswüchse entfesselter Reli- trag über die moralischen Maßstäbe für einen gion „unter das Kuratel der Vernunft“ gestellt gerechten Krieg, die filigrane Trias von Frie- und sorgsam eingegrenzt werden – etwa da, den, Recht und Gerechtigkeit sowie das neue wo sie Terror zu legitimieren helfen. pathologische Phänomen des Terrors. An die- ser Stelle stößt man auf die schwächsten Pas- In eine ähnliche Richtung weisen auch die sagen des Buches, da dem Leser zahlreiche letzten beiden Texte dieses Kapitels, in denen Gedanken bereits aus dem ersten Kapitel ver- Ratzinger den moralischen Prinzipien in de- traut sind, was zu einigen Redundanzen führt. mokratischen Gesellschaften nachspürt, die Die letzten beiden Texte fragen schließlich Frage erörtert, wie eine Demokratie diejenigen noch einmal nach der spezifischen Verant- moralischen Werte in Geltung halten kann, die wortung der Christen für den Frieden in der von keiner Mehrheitsüberzeugung getragen Welt, erinnern im Angesicht der Gräber auf werden – „was Menschenrechte sind und wor- dem deutschen Soldatenfriedhof La Cambe in Menschenwürde besteht, liegt keineswegs bei Caen an die „Gnade der Versöhnung“ und immer für die Mehrheit offen zu Tage“ –, und die Wiederherstellung Europas nach dem einen Ausgleich zwischen individueller Freiheit Zweiten Weltkrieg „auf dem festen Boden des und gemeinschaftlichen Werten anmahnt. christlichen Ethos“ und münden in der Mah- Seine abschließende Aufforderung zur Rück- nung an die gegenwärtigen Baumeister eines besinnung auf unser sittliches und religiöses vereinigten Europa: „Auch heute sind Ver- Erbe präludiert dann bereits die Fragestellung antwortung vor Gott und Verwurzelung in des zweiten großen Kapitels „Was ist Europa? den großen, überkonfessionellen Werten und – Grundlagen und Perspektiven“. Wahrheiten des christlichen Glaubens die unverzichtbaren Kräfte für die Bildung eines In einem Parforceritt durch die Historie von Europa, das mehr ist als ein Wirtschaftsblock: Herodot bis weit in die Neuzeit hinein unter- eine Gemeinschaft des Rechts, ein Hort des nimmt Ratzinger hier zunächst den durchaus Rechts, nicht nur für sich selber, sondern für überzeugenden Versuch, eine „innere Iden- die Menschheit im Ganzen.“ tität“ Europas aus der Entstehungsgeschich- te dieses „Kontinents“ heraus zu bestimmen; Damit steht der scharfsinnige Religionsintel- was ihn mit Blick auf die Probleme der Ge- lektuelle Ratzinger mit seinen skizzierten Ge- genwart zu dem kaum überraschenden Re- danken einmal mehr „auf der Höhe der Zeit“ sultat führt, dass Europa – anders als der – und man kann diesem Buch nur wünschen, islamischen Welt – eine solche „tragfähige dass der gesteigerten Prominenz, die seinem geistige Grundlage“ in unseren Tagen abhan- Autor in der Sixtinischen Kapelle zugewach- den gekommen sei. Dies verurteile unseren sen ist, auch eine gesteigerte Bereitschaft zur Kontinent trotz seiner noch währenden politi- ernsthaften Lektüre seiner hier versammelten schen und wirtschaftlichen Macht langfristig Texte folgen möge. zu Abstieg und Untergang. Es sei denn, Euro- pa finde wieder zu einer neuen Annahme sei- Philipp W. Hildmann ner selbst, und das heißt für den vormaligen Professor für Dogmengeschichte in erster Linie: zu einer erneuten Zuwendung zu den Sanden, Joachim: Die Weiterentwicklung großen Konstanten seines christlichen Erbes, der föderalen Strukturen der Bundesrepu- zu einer erneuten ebenso kritischen wie de- blik Deutschland. Staatsrechtliche Studie mütigen Annahme seiner religiösen und sitt- zu einem postmodernen Ansatz der Bun- lichen Grundlagen. desstaatsreform. Berlin: Duncker & Humblot (=Schriften zum Öffentlichen Recht Band 986), Das dritte Kapitel vereinigt unter der Über- 1286 Seiten, 2005, € 128,00. schrift „Verantwortung für den Frieden“ noch einmal vier, in ihrer theologischen Tiefen- Kennzeichen von Bundesstaatlichkeit ist ihre schärfe allerdings recht unterschiedliche je eigene historische Einmaligkeit. Diese dür- 134 Buchbesprechungen fe jedoch nicht, so lautet die These einer von Allgemein lässt sich freilich diese Vielgliedrig- Joachim Sanden verfassten Lüneburger Ha- keit, die in der Eigenart eines Bundesstaates bilitationsschrift, dazu führen, sich dem Fata- im Allgemeinen und derjenigen des deutschen lismus einer verlaufsabhängigen Determi- Bundesstaates der Gegenwart im Besonde- niertheit zukünftiger Weiterentwicklung zu ren angelegt ist, als ein politischen Wettbe- ergeben. Stattdessen gelte es, rationale Steue- werb förderndes Mittel erachten. Diese An- rungsmethoden und Effizienzkriterien zu ent- sicht bezeichnet auch den Grundtenor der wickeln und vor allem anzuwenden, um die vorliegenden Arbeit. In ihrer gegenwärtigen Bundesländer neu zu ordnen, zumal die unhis- Form führe die bundesstaatliche Verfassung torische Künstlichkeit der meisten bereits von Deutschlands freilich zu hohe Opportunitäts- den Alliierten erschaffenen Länder offensicht- kosten herbei, um diese Effizienz zu rechtfer- lich ist. tigen. Der Autor empfiehlt in verschiedenen Zusammenhängen und Politikfeldern daher, Grundlegend setzt sich Sanden freilich zu- das Bundesgebiet neu zu gliedern. Hierzu nächst mit denjenigen Organisationsfragen liefert die Arbeit auch eingehende konkrete auseinander, die eine bundesstaatliche Ord- Vorschläge und versteht sich bewusst als nung zwingend mit sich bringt: Handelt es sich Beitrag zur gegenwärtigen politischen Dis- beim Bundesstaat um zwei getrennte und kussion. gleichberechtigte Staaten, nämlich Zentral- staat und Gliedstaat, die für ein Territorium und Kennzeichnendes Anliegen ist dabei, Grund- ein Volk nebeneinander regieren? Der Jurist annahmen über die Gegenwart als Postmo- beantwortet diese Frage vorsichtig: Die bei- derne und daraus abgeleitete gesellschaftli- den Staaten seien beide in ihren Kompetenz- che und politische Theorien der Postmoderne bereichen souverän und sollen miteinander ko- als Voraussetzung politischer und administra- operieren statt nebeneinander zu agieren oder tiver Planung zu verwenden. Der Autor geht gar gegeneinander zu konfligieren. Die ge- beispielsweise ganz entschieden davon aus, genwärtige bundesstaatliche Wirklichkeit in dass Integration nicht mehr Aufgabe moder- Deutschland sieht der Verfasser freilich pessi- ner Staatlichkeit sein könnte. Aber was ist die mistisch – möglicherweise allzu pessimistisch. Alternative: Ausschluss derer, die normierte Der Bund habe insbesondere im Bereich der Ziele nicht erreichen? Oder Sezession derer, konkurrierenden Gesetzgebung zahlreiche die sich von Trittbrettfahrern ausgenutzt se- Kompetenzen an sich gezogen. Vom Bund hen? Sanden antwortet, indem er von einem gingen häufig Gesetze aus, deren Erfüllung die Gerechtigkeitsbegriff ausgeht, der verstärkt Länder zu tragen hätten. unterschiedliche Fortschrittsgeschwindigkei- ten ermöglicht und das Postulat der „Gleich- Zudem stellt sich bereits seit dem Deutschen wertigkeit der Lebensbedingungen“ relativiert. Kaiserreich von 1871 wie in jedem anderen Im Einzelnen legt er dar, dass trotz der Refor- bundesstaatlich verfassten Gemeinwesen die men die Bundesländer über einen derart er- Frage, ob die Gesamtheit der Länder eine heblichen Teil ihrer Steuereinnahmen nicht frei eigenständige Größe bildet oder nicht. Der verfügen können und wirkungsvolle Anreize zu Verfasser bezieht sich in diesem Punkt auf die materieller Selbstständigkeit weithin fehlen. bereits 1961 formulierte Ansicht des Bundes- verfassungsgerichts, das eine solche Eigen- Um Reformen anstoßen zu können, muss der staatlichkeit der Länder als Gesamtheit ver- Bundesstaat stets selbst reformiert werden. neint. Freilich wird im Verlaufe der Studie Dann freilich ist er wohl die historisch anpas- deutlich, dass diese Aussage normativ ist und sungsfähigste und liberalstaatlichen Maßstä- nicht (mehr) die Wirklichkeit abbildet. So weiß ben angemessenste Form staatlicher Einwir- sie von „mehreren hundert“(S. 72) Arbeits- kung auf die Gesellschaft: Der Bundesstaat ist gemeinschaften und -kommissionen zu be- der Staat seiner Gesellschaft. richten, die die Länder gemeinsam unter- halten. Daniel Hildebrand

Von solch einer dritten Ebene muss für die Bundesrepublik Deutschland in praxi jedoch allein schon auf Grund des ausgeprägten Par- Gehler, Michael: Europa. Ideen – Institutio- teienstaates ausgegangen werden, der das nen – Vereinigung. München: Olzog-Verlag vom Verfasser eingehend untersuchte und als 2005, 477 Seiten, € 24,50. fortschritts- und effizienzhemmend kritisierte Phänomen stiller Nebenregierung der jeweili- Die Referenden in Frankreich und den Nie- gen Bundesopposition seit den 1970er-Jah- derlanden im Frühjahr 2005 haben den euro- ren hat entstehen lassen. päischen Verfassungsvertrag jäh gestoppt. Buchbesprechungen 135

Seitdem wird von einer tiefen Krise im eu- grube europäischen Denkens (von Dante über ropäischen Integrationsprozess gesprochen. Kant bis hin zum Karlspreis von Aachen). Die Ein Mitherausgeber der FAZ hat die europa- Intensität des Ringens um Europa wird dem politische Situation wie folgt beschrieben: Leser in einer beeindruckenden Dichte vor Au- „Das von oben verordnete Europa, in dem in gen geführt. Die Lektüre ist geradezu Motiva- konspirativen Zirkeln konträre Vorstellungen tion, den heute erreichten Stand der euro- zusammengepresst werden, ist tot. Die EU päischen Einigung nicht nur angemessen zu wird das sein, was ihre Bürger wollen, oder sie würdigen, sondern ihn auch zu schätzen und wird sich winselnd aus der Geschichte ver- vor Überdehnungen zu schützen. Der dritte abschieden“ (FAZ v. 23.6.2005, S. 1). Das mag Teil (S. 131-340) bietet eine solide informie- überspitzt formuliert sein, unzweifelhaft jedoch rende Darstellung der politischen Entwicklung dürfte sein, dass die EU eine Grundsatzdis- der europäischen Integration seit dem Zwei- kussion über ihr Wesen, ihre Werte und ihre ten Weltkrieg. In acht Unterabschnitten wird Zukunft („Finalität“) benötigt. Zu einer solchen der Weg Europas von den Römischen Verträ- Diskussion muss auch die Publizistik und die gen bis zum aktuellen Prozess des Entstehens intellektuelle Elite einen substanziellen Beitrag eines europäischen Verfassungsvertrages leisten. Es bedarf nicht nur einer für die Bür- nachgezeichnet und kommentiert. Insgesamt gerinnen und Bürger nachvollziehbaren Prä- hätte diesem Teil vielleicht etwas mehr Straf- sentation europapolitischer Themenstellungen fung gut getan. Positiv herauszuheben ist vor und Grundsatzfragen in den Medien (hier liegt allem, dass Gehler in wohltuender Weise auf eine wichtige Aufgabe insbesondere des öf- Pathos und Euphemismen verzichtet und ein fentlich-rechtlichen Rundfunks), sondern da- realistisches Bild der heutigen Europapolitik rüber hinaus auch einer europapolitischen skizziert, was insbesondere für die mit Skep- Literatur, die sich – frei von übertriebenem sis behandelte Frage nach einer Mitgliedschaft Pathos – der allgemein verständlichen Dar- der Türkei in der EU (S. 314 ff.), aber auch für stellung dessen widmet, was Europa bedeu- die Zukunft einer europäischen Verfassungs- tet, welche seine ideellen und geschichtlichen entwicklung (S. 307 ff.) gilt. Zutreffend dürften Wurzeln sind und wie sich daraus aktuelle Pro- die Thesen Gehlers sein, die europäische In- bleme verstehbar machen und lösen lassen. tegrationsdynamik sei an einem Wendepunkt Einem solchen Anspruch der Verknüpfung gei- (S. 333), die Integration sei in den harten na- stes- und politikgeschichtlicher, ideeller und tionalen Politikbereichen an den Grenzen ih- aktueller Aspekte der europäischen Integra- rer Gestaltungsmöglichkeiten und Gangbar- tion wird das hier anzuzeigende Werk in keiten angelangt (S. 337). Mindestens in der hohem Maße gerecht. Dies gilt vor allem für Wortwahl über das Ziel hinausgeschossen ist Sprache, Aufmachung und Konzeption des Gehler allerdings bei seiner Bewertung der jün- Buches. Es ist nicht für den Rechts-, Politik- geren Außenpolitik der USA („angloamerika- oder Geschichtswissenschaftler geschrieben, nischer Blitz- und Vernichtungskrieg gegen sondern so verfasst, dass es auch der „inter- das irakische Regime“ (S. 337); „Neoimperia- essierte Laie“ mit Gewinn lesen kann, zumal lismus“ (S. 338)). Insoweit hätte man sich bei eine Vielzahl von Grafiken, Abbildungen und aller berechtigten Kritik doch etwas mehr Dif- Karikaturen für Auflockerung und Abwechs- ferenzierung erwartet. lung sorgen. An den Textteil, der mit einem kritischen Aus- Im Einzelnen gliedert sich das Buch in drei blick schließt, fügt sich ein umfangreicher Teile. Im ersten Teil (S. 9-54) werden die „Ur- „Service“-Teil. Hervorzuheben ist das für den sprünge und Charakteristika“ Europas knapp in der Europapolitik nicht so bewanderten Le- und prägnant skizziert. Gehler, Professor für ser hilfreiche Glossarium (S. 387-405) sowie Neuere und Zeitgeschichte an der Universität eine ausführliche Chronologie (S. 405-427). Innsbruck, spannt den Bogen von der „Anti- Ein besonderer Service für den Leser ist ein ke als kulturellem Ausgangspunkt“ über die Verzeichnis von web-Adressen mit Europabe- „Säkularisierung der Herrschaftslegitimation“ zug. Die dort aufgeführten Links bieten dem bis hin zu den „Klöstern, Kirchen und Univer- Leser zusammen mit einem umfangreichen Li- sitäten als Prägestätten des Geistes und Wis- teraturverzeichnis ausgezeichnete Möglich- sens“. Dieses gemeinsame Erbe bietet ein keiten zur vertiefenden Information. tragfähiges und heute wieder stärker be- wusst zu machendes Fundament der euro- Fazit: Gehler hat ein insgesamt überzeugen- päischen Einigung. Im zweiten Teil (S. 55-130) des Werk vorgelegt, dem man weite Ver- werden „Europa-Ideen im Spannungsfeld von breitung nicht nur in den Fachbibliotheken Idee und Wirklichkeit“ zusammengestellt. Hier wünscht. bietet sich – wenn auch ohne Anspruch auf Vollständigkeit – dem Leser eine wahre Fund- Josef Franz Lindner 136 Buchbesprechungen

Hirn, Wolfgang: Herausforderung China. Festzustellen ist, dass Hongkong, Taiwan und Wie der chinesische Aufstieg unser Leben die Volksrepublik China sowie die Übersee- verändert. Frankfurt: S. Fischer Verlag GmbH, Chinesen immer schneller zusammenwach- 2005, 255 Seiten, kt., € 14,90. sen und damit das Wirtschaftspotenzial wei- ter erhöhen. Es kommt zu einer einmaligen Der bekannte Wirtschaftsreporter, der seit Kombination aus Know-how, Kapital und Ar- annähernd zwanzig Jahren regelmäßig nach beit. Dazu kommt noch, dass Entscheidungs- China reist und dort recherchiert, kommt nach prozesse in China eine sehr kurze Vorlaufzeit seiner ausführlichen Beschäftigung mit den haben. Die chinesischen Führungstechnokra- wirtschaftlichen, kulturellen, politischen und ten entscheiden rasch und sorgen für die gesellschaftlichen Kräften des „aufgewachten zügige Umsetzung der Beschlüsse. Dadurch Drachens“ zu dem Schluss, dass dort heute gewinnt China Strategievorteile gegenüber eigentlich kein „Kommunismus, kein Sozialis- westlichen Firmen. China wird so mehr und mus und kein Kapitalismus“, sondern ein op- mehr zur Produktions-Supermacht. Heute ist portunistischer „Pragmatismus“ als neue Re- China hinter den USA das viertgrößte Pro- gierungsform dominierend ist. Kennzeichnend duktionsland der Welt. China entwickelt sich für das heutige China ist „ein neo-autoritäres zum „Warenhaus der Welt“. In China produ- Staatsmodell, das dem Land einen gewaltigen zieren die Autogiganten General Motors und Modernisierungskurs verordnet und sich das Volkswagen. In China entstehen die größten Wohlwollen der 1,3 Milliarden Chinesen durch Chip-Fabriken. In China lässt Siemens die Mehrung des Wohlstandes sichert“. neuesten Handys zusammenbauen. Immer neue westliche Firmen gründen Niederlas- Markant und besonders auffallend sind nicht sungen in China. In Mexiko verdient ein Fa- nur die fundierten Fach- und Sachkenntnisse brikarbeiter im Schnitt 300 Dollar im Monat, des Autors, sondern auch die einprägsamen, ein Chinese dagegen nur 100 Dollar. Die Ja- kurzen und plakativen Formulierungen. Ex- paner stellen besorgt eine Verlagerung der emplarisch können folgende hervorgehoben Massenproduktion von den Inseln auf das werden: 700 bis 800 Millionen Chinesen sind Festland fest. In den letzten zwölf Jahren hat heute noch bereit, für zwei bis drei Dollar am Japan mehr als drei Millionen industrielle Ar- Tag zu arbeiten. Dieser Niedriglohn lockt im- beitsplätze verloren. Der chinesische Arbeits- mer mehr ausländische Firmen in das Rie- markt ist unersättlich. China wird außerdem senreich. Der heimische und der Weltmarkt für immer mehr Konzerne zu einer attraktiven werden mit Billigprodukten überschwemmt. Exportbasis. Eklatant und verlockend ist das China wird in Zukunft dramatisch zu einer gi- Lohngefälle zwischen Westeuropa und Fern- gantischen Umweltverschmutzung beitragen, ost. Eine neue und sehr interessante Arbeits- die CO2-Emissionen werden deutlich steigen teilung zeichnet sich zwischen China und und das Ozonloch wird sich beängstigend ver- Indien ab. Indien wird „das Dienstleistungs- größern. Das Verhältnis zwischen China und zentrum“ und China „die Werkbank“ der Welt. den USA wird in den nächsten Jahrzehnten Die beiden asiatischen Mächte verfügen die Weltpolitik bestimmen. Das heutige Chi- zusammen über eine gigantische Bevölke- na-Bild der westlichen Welt ist größtenteils rungszahl und ein nahezu unerschöpfliches antiquiert und realitätsfern. Bestimmend für Arbeitskräftepotenzial: 1,3 Milliarden Men- die aktuelle Situation ist die Herrschaft der schen in China und rund eine Milliarde Men- Technokraten. Die Führungspositionen wer- schen in Indien. Chinesen und Inder sind den von Naturwissenschaftlern und Ingenieu- heute bereit, um fast jeden Preis zu arbeiten. ren eingenommen, die alle über Erfahrungen Durch Chinas und Indiens Aufstieg wird un- im westlichen Ausland verfügen. Neuerdings sere westliche industrielle Basis immer stär- kommen noch Juristen und Wirtschaftswis- ker bröckeln. China und Indien gewinnen im- senschaftler hinzu. Die Führungselite huldigt mer mehr Bedeutung auf den internationalen einem Pragmatismus, der das hohe Wirt- Produktions- und Arbeitsmärkten. Die Ver- schaftswachstum in den Mittelpunkt stellt. lierer sind zunehmend Europa und die USA. Wolfgang Hirn kommt zu dem Schluss: „Wenn China weiter so rasant wächst, Europa wei- Inzwischen hat die intellektuelle Führungs- ter so vor sich hin dümpelt, die Japaner in elite in Peking erkannt, dass die Zukunftsent- ihrer Stagnation erstarren und die Amerikaner wicklung entscheidend von der Aktivierung nicht umdenken, dann wird China sie alle des kreativen Potenzials abhängt. Daher überholen. Es ist nur eine Frage der Zeit!“. Ent- kommt dem Bildungssystem eine Schlüssel- scheidend ist auch das riesige intellektuelle rolle für Chinas „Denkfabriken“ zu. Potenzial, über welches China verfügt und welches jetzt so schnell wie möglich aktiviert W. Hirn weist auch mit Nachdruck auf die werden soll. aktuellen Probleme hin, die mit Chinas wirt- Buchbesprechungen 137 schaftlicher und industrieller Prosperität zu- die Preise in die Höhe) und die Entwicklung sammenhängen. Dazu gehören riesige, un- neuer politischer Konfliktzonen. Es entstehen gelöste Umweltprobleme (verheerende Wüs- ganz neue politische Kraftfelder. Chinas Auf- tenstürme, Abnahme der Wasserqualität, Bo- stieg verändert auch unser Leben! denverseuchung usw.), der nahezu unstillba- re „Hunger nach Rohstoffen aller Art“ (China Gottfried Kleinschmidt kauft sämtliche Rohstoffmärkte leer und treibt Ausstellung

Hanns CSU plakativ – Seidel 60 Jahre gestaltete Politik Stiftung Eine Ausstellung des Archivs für Christlich-Soziale Politik der Hanns-Seidel-Stiftung

Im Jahr 2005 kann die Christlich-Soziale Union auf 60 Jahre Parteigeschichte zurück- blicken. Zu diesem Anlass greift die Hanns-Seidel-Stiftung das Thema „Plakate“ als Aus- druck politischer Kultur in ihrer Ausstellung „CSU plakativ – 60 Jahre gestaltete Politik“ auf.

Die Ausstellung ist thematisch konzipiert und beleuchtet schlaglichtartig, mit Hilfe von Plakaten und Flugblättern, 60 Jahre gestaltete Politik der CSU. Sie führt vor Augen, dass die in der Öffentlichkeit und den Medien oft sehr schnell abqualifizierten Parteien über sechs Jahrzehnte spannend und farbig Politik gestal- tet haben. Ausgewählt wurden die zentralen Sta- tionen und die wichtigsten politischen Themen der Parteigeschichte, die nicht nur für die CSU selbst, sondern weit darüber hinaus auch für die Geschicke Bayerns und Deutschlands prägend waren.

Virtuelle Ausstellung www.hss.de/7334.shtml Besuchen Sie uns im Internet ab 10. Oktober 2005

Als zeitgeschichtliche Zeugnisse dokumentieren Plakate die graphische und künstlerische Ent- wicklung dieses Mediums, beleuchten mit ihren Aussagen und Slogans aber auch historische Er- Landtagswahl 1954 eignisse ebenso wie die Denkweisen, Einstellun- gen, politischen Vorstellungen und Ziele ihrer Entstehungszeit. Die ausgestellten politischen Plakate der CSU vermitteln einen Eindruck von den großen Zeit- und Streitfragen, den politischen Auseinandersetzungen der vergangenen 60 Jahre, den Ideologien und Zielvorstellungen der politischen Parteien.

Zur Ausstellung ist ein Begleitband erschienen, der mit einer Reihe von Daten, Statisti- ken und Übersichten sowie einer Chronologie zur Geschichte der CSU 1945 bis 2005 angereichert ist. Auch diese sind plakativ, mit einer weiteren Auswahl von Plakaten, Flugblättern und Fotos, dokumentiert. Der Begleitband zur Ausstellung ist gegen eine Schutzgebühr von € 5,– ebenfalls über die Hanns-Seidel-Stiftung zu beziehen. Ankündigungen

Folgende Neuerscheinungen aus unseren Publikationsreihen können von Interessenten bei der Akademie für Politik und Zeitgeschehen der Hanns-Seidel-Stiftung e.V., Lazarettstraße 33, 80636 München (Telefon: 089/1258-241/266) oder im Internet www.hss.de/publikationen.shtml bestellt werden:

● aktuelle analysen – Zum Zustand des deutschen Parteiensystems – Eine Bilanz des Jahres 2004 – Reformzwänge bei den geheimen Nachrichtendiensten? Überlegungen angesichts neuer Bedrohungen – „Eine andere Welt ist möglich“: Identitäten und Strategien der altermondia- listischen Bewegung

● Argumente und Materialien zum Zeitgeschehen – Die Universalität der Menschenrechte – Reformfähigkeit und Reformstau – ein europäischer Vergleich

● Berichte und Studien – Islamistischer Terrorismus. Bestandsaufnahme und Bekämpfungsmöglich- keiten

● Weitere Publikationen – Franz Josef Strauß – Wesentliche Stationen seines Lebens (€5,00) – Bayerische Lebensbilder 2: Biografie, Erinnerungen, Zeugnisse. Franz Josef Strauß, Ludwig Bölkow, Sepp Hort (€5,00)

Über den Buchhandel zu beziehen: ● Hans Zehetmair (Hrsg.): Der Islam. Im Spannungsfeld von Konflikt und Dialog. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, 2005. (ISBN 3-531-14797-8)

● Hans Zehetmair (Hrsg.): Das deutsche Parteiensystem. Perspektiven für das 21. Jahrhundert. Wies- baden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, 2004. (ISBN 3-531-14477-4)

Politische Studien, Heft 403, 56. Jahrgang, September/Oktober 2005 Autorenverzeichnis

Brummer, Klaus, Dr. Münch-Heubner, Projektmanager bei der Peter, Dr. Bertelsmann Stiftung, Publizist und Lehrbeauf- Projekt „Europas welt- tragter an der Universität politische Mitverantwor- der Bundeswehr Mün- tung“, Gütersloh chen-Neubiberg

Oberreuter, Hein- Feser, Andreas, Dr. rich, Prof. Dr. Jurist, Wissenschaftlicher Mitarbeiter der Direktor der Akademie CSU-Landesgruppe der CDU/CSU Frak- für Politische Bildung tion im Deutschen Bundestag, Berlin in Tutzing, Lehrstuhl für Politikwissenschaft I, Passau Hacke, Christian, Prof. Dr. Opitz, Peter J., Prof. Dr. em. Inhaber des Lehrstuhls Geschwister-Scholl-Institut für Politische für Politikwissenschaft Wissenschaft der Universität München und Zeitgeschichte am Seminar für Politische Schüssel, Wolfgang, Wissenschaft der Univer- Dr. sität Bonn Bundeskanzler der Repu- blik Österreich, Vorsit- zender der ÖVP, Wien Höpfinger, Renate, Dr. (Bild: Bernhard J. Holzner © HOPI-MEDIA) Leiterin des Archivs für Christlich-Sozia- le Politik (ACSP), der Bibliothek, Infor- Stoiber, Edmund, mations- und Dokumentationsstelle der Dr., MdL Hanns-Seidel-Stiftung München Ministerpräsident des Freistaats Bayern, Vorsit- zender der CSU, Mün- Merkel, Angela, Dr., chen MdB Vorsitzende der CDU/ CSU-Fraktion im Deut- Waigel, Theodor, Dr. schen Bundestag, Vorsit- Bundesminister a.D., zende der CDU, Berlin Rechtsanwalt, Ursberg

Möller, Horst, Prof. Dr. Dr. h.c. Zehetmair, Hans, Direktor des Instituts für Dr. h.c. mult. Zeitgeschichte, München, Staatsminister a.D., Vor- Professor für Neuere und sitzender der Hanns-Sei- Neueste Geschichte an del-Stiftung, München der Ludwig-Maximilians Universität, München POLITISCHE STUDIEN Atwerb-Verlag KG Zweimonatszeitschrift für Politik und Zeitgeschehen

Abonnement Zeitschrift für Politik und Zeitgeschehen der Hanns-Seidel-Stiftung

Forum für neue Perspektiven und Konzeptionen, für Dialog und Diskussion in Wissenschaft und Politik – eine Informationsquelle für jede/n politisch interessierte/n Bürger/in mit wissenschaftlichen und politischen Beiträgen, Kommentaren zu grundlegenden und aktuellen Entwicklungen in Staat und Gesellschaft, Rezensionen aktueller Literatur.

Die POLITISCHEN STUDIEN verfolgen seit über fünf Jahrzehnten engagiert die Entwicklung der Bundesrepublik Deutschland und die internationale Lage. Sie verstehen sich als publizistisches Organ der Hanns-Seidel-Stiftung zur Verbreitung, Durchsetzung und Wahrung der Leitlinien des freiheitlichen, demokratischen und sozialen Rechts- staates und begleiten diesen mit kritischen wissenschaftlichen Analysen und politischen Fragestellungen.

Als Plattform des Dialogs zwischen Wissenschaft und Politik wollen die POLITISCHEN STUDIEN dazu beitragen, die Kluft zwischen Theorie und Praxis verringern zu helfen, die in Tagesfragen enthaltene grundsätzliche Auseinandersetzung darzustellen und be- gründete Antworten zu entwerfen.

Die POLITISCHEN STUDIEN wissen sich dem christlich-abendländischen Men- schenbild und seiner Wertordnung verpflichtet und versuchen, von diesem Fundament aus in die wissenschaftliche Diskussion und praktische Politik hineinzuwirken.

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