Utopien Aus Der Zweiten Hälfte Des Langen 19. Jahrhunderts, 1848 Bis 1
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Utopien aus der zweiten Hälfte des langen 19. Jahrhunderts, 1848 bis 1. Weltkrieg 3-10 1848 entfaltete sich erstmals eine große kommunistische Bewegung. In der Folge der Februarrevolution kam es in Frankreich zu einer eigenen Organisierung der Arbeiter*innen. Große Freiwilligenverbände machten sich auf den Weg, um die Revolution auch in Deutschland zu entzünden. Mit ihrer Niederlage in der Junischlacht ging dieser Kampf in Frankreich verloren 1. Im selben Jahr verfassten Marx und Engels das Kommunistische Manifest. Die kommunistische Arbeiterbewegung hat das Jahr deshalb als Jahr des Umschwungs markiert. Davor lag die Zeit des utopischen Frühsozialismus. 1848 begann die Zeit des wissenschaftlichen Kommunismus. Martin Buber verwies zurecht darauf, dass der von Marx und Engels u.a. im ‚Kommunistischen Manifest‘ gemachte Vorwurf des Utopismus ein Kampfbegriff war. Es war ein scharfer Pfeil zur Durchsetzung der marxistischen Ideologie innerhalb der sich kommunistisch nennenden Gruppen 2. Dass dieser Zeitpunkt allgemein akzeptiert ist, liegt sicher einerseits an der ‚erfolgreichen‘ Oktoberrevolution und der Existenz der UdSSR von 1917 bis 1990. Diese marxistische Sicht entspricht mit dem Datum 1848 aber auch der bürgerlichen Sicht. 1848 war auch das Jahr, in dem die studentischen Burschenschaftler auf dem Hambacher Fest die schwarz- rot-goldene Fahne schwangen und zur staatlichen Vereinigung der Deutschen aufriefen. Es war das Jahr der Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche. Demgegenüber fehlen große Erfolge von Anarchist*innen, eine herrschaftsfreie Gesellschaft zu realisieren. Aus anarchistischer Sicht sind zu dieser Zeit die sozialrevolutionären Kämpfe der (teils landlosen) Bäuer*innen und der Deklassierten in den Städten weit wichtiger. Für diese Kämpfe bedeuten die Niederlagen von 1848 zwar einen schweren Einschnitt, aber keinesfalls das Ende. In Europa war noch die spanische Revolution von 1936 stark davon geprägt. Im Globalen Süden werden diese Kämpfe bis heute geführt. Utopien in literarischer Form Sozialistische und anarchistische Utopien August Bebel – Die Frau und der Sozialismus Bebels offene Utopie vom Sozialismus, das Schlusskapitel von ‚Die Frau und der Sozialismus‘, erschien 1878. Sie hat ein wesentlich menschlicheres Antlitz als das, was in der UdSSR realisiert wurde. In der neuen Gesellschaft werden keine Waren produziert, vielmehr wird für die Lebensbedürfnisse produziert 3. „Gibt es in der neuen Gesellschaft keine ‚Waren‘, so gibt es schließlich auch kein Geld. Geld ist scheinbar der Gegensatz von Ware, aber es ist selbst Ware! Aber Geld, obgleich selbst Ware, ist zugleich die gesellschaftliche Äquivalenzform, der Wertmesser für alle anderen Waren. Die neue Gesellschaft produziert aber nicht Waren.“ 4 Einen Wertmesser jedoch meint er zu brauchen, die Arbeitszeit. Der gesellschaftliche Austausch braucht deshalb weiter ihre Verwaltung wie im Kleinen in einem Tauschring. Die Dinge bleiben damit doch Waren und das neue Geld ist der Zeitbon. Jede*r 1 S. 261 - 270 in: Otto RÜHLE: Die Revolutionen Europas, Band II (Orig. 1927; 1973) 2 vergl. S. 11 in: Martin BUBER: Der utopische Sozialismus (Orig. 1946; 1967) 3 vergl. S. 486 in: August BEBEL: Die Frau und der Sozialismus (Orig. 1878; 1953) 4 S. 487 in ebenda 1 „bekommt, was er der Gesellschaft leistet, nicht mehr, nicht weniger.“ 5 Die „Gleichheit der Arbeitspflicht für alle“ geht nicht in Richtung militärische Ordnung, sondern berücksichtigt auch im Zeitmaß die Interessen und Fähigkeiten jede*r Einzelne*n 6. Die Arbeit soll möglichst wenig Zeit erfordern, möglichst angenehm und möglichst effektiv sein 7. Er spricht auch von der „wohltuenden Wirkung einer Tätigkeit, die auf der Abwechslung von geistiger und körperlicher Arbeit beruht.“ 8 Die Bedürfnisse werden von den Menschen ausgehandelt und die dafür durchschnittlich notwendige Arbeitszeit wird dann berechnet 9. Die Gesellschaft, die Bebel entwarf, hat keine politische, sondern nur eine Verwaltungsstruktur. Vieles wird auf der lokalen Ebene organisiert. Die Verwalter*innen sind Vertrauenspersonen und erhalten keine besondere Vergütung. Mittels Statistik werden objektiv die gesellschaftlichen Bedürfnisse nach Produkten und Arbeitskräften ermittelt 10. Perspektivisch hielt Bebel es für möglich, die Verwaltung nach dem Rotationsprinzip zu organisieren 11. Bebel plädierte für eine Auflösung der großen Städte, zur Einrichtung von Kulturinstitutionen wie „Bildungsanstalten, Museen, Theater, Konzertsäle, Bibliotheken, Gesellschaftslokale usw.“ 12 auf dem Lande, damit die Menschen von den ungesunden, beengten Verhältnissen in der Stadt aufs Land ziehen. Industrie und Landwirtschaft sollen dezentral organisiert sein. Die Menschen werden sich sowohl im einen als auch im anderen einbringen und damit bei allen Vorteilen der Städte weit gesünder und angenehmer wohnen 13. „Der erste Akt, worin der Staat wirklich als Repräsentant der ganzen Gesellschaft auftritt – die Besitzergreifung der Produktionsmittel im Namen der Gesellschaft – , ist zugleich sein letzter, selbstständiger Akt als Staat.“ 14 Er wird in der Folge „überflüssig und schläft von selbst ein.“ 15 Zwischen diesen beiden Zitaten besteht ein Widerspruch. Nach dem ersten schafft sich der Staat mit seinem ersten Dekret ab, nach dem zweiten braucht es eine weitere institutionalisierte Staatlichkeit. In der UdSSR führte eine solche Struktur rasch in die Bürokratisierung. Das Absterben des Staates wurde auf eine unendlich ferne Zukunft verlegt. Angenehm ist Bebels Ablehnung von uniformer Gleichheit 16. Das führte dazu, dass er „die freie Entwicklung der Persönlichkeit“ 17 aller anstrebt. „Der Mensch soll unter der Voraussetzung, daß die Befriedigung seiner Triebe keinem anderen Schaden oder Nachteil zufügt, über sich selbst befinden. […] Niemand hat darüber einem anderen Rechenschaft zu geben und kein Unberufener hat sich einzumischen. Wie ich esse, wie ich trinke, wie ich schlafe, und mich kleide ist meine persönliche Angelegenheit.“ 18 Es gibt in seiner Utopie keine staatliche Schule. Eltern und Erzieher*innen organisieren gemeinsam Orte wie Kindergärten und Schulen 19. Er geht vom Absterben der Religionen aus. Aber Bebel gesteht denen, die religiöse Bedürfnisse haben, zu, dass sie ohne Eingriffe mit 5 S. 489 in ebenda 6 vergl. S. 489 in ebenda 7 vergl. S. 457 in ebenda 8 S. 484 in ebenda 9 vergl. S. 467 – 468 in ebenda 10 vergl. S. 458 – 459 in ebenda 11 vergl. S. 462 in ebenda 12 S. 527 in ebenda 13 vergl. S. 527 – 528 in ebenda 14 S. 531 in ebenda 15 S. 531 in ebenda 16 vergl. S. 537 in ebenda 17 S. 554 in ebenda 18 S. 568 in ebenda 19 vergl. S. 541 – 542 in ebenda 2 ihresgleichen diese befriedigen 20. „Die Frau der neuen Gesellschaft ist sozial und ökonomisch vollkommen unabhängig, […] steht dem Manne als Freie, Gleiche gegenüber und ist Herrin ihrer Geschicke.“ 21 Bebel plädierte für die Einrichtung von Einküchenhäusern 22, da die Privatküchen „eine große Verschwendung an Zeit, Kraft, Heiz- und Beleuchtungsmaterial, Nahrungsstoffen usw.“ 23 sind. Aber: Kindererziehung und Nahrungszubereitung bleiben selbstverständlich Frauenaufgaben und begrenzen ihre Möglichkeiten im Arbeitsprozess 24. Auch in manchem anderen ist Bebels Utopie sehr zu kritisieren. „Die Zivilisatoren [aus dem Norden sollen] den Barbaren und Wilden nicht als Feinde, sondern als Wohltäter erscheinen“ 25. Bebel verbleibt in dem rassistischen Glauben, dass d*ie gute, sozialistische Kolonisator*in wisse, was die Menschen aus dem globalen Süden wollten und bräuchten! Denn diese seien, so Bebel, indolent, also geistig träge, und ihre Kultur sei zu niedrig 26. Bebel prognostiziert, dass die Nahrungsmittelproduktion eine Tendenz zu pflanzlicher Kost haben wird 27 und auf der Industrialisierung der Landwirtschaft basieren wird. „In den Ernährungsfragen hat Chemie ein unerschöpfliches Feld der Entwicklung vor sich.“ 28 Ziel ist „ein chemisch zubereitetes Nahrungsmittel, das alle Eigenschaften eines Naturproduktes hat, denselben Zweck erfüllt.“ 29 Bebels Technikgläubigkeit treibt hier erstaunliche Blüten. Bebels Utopie vereint utopisch-emanzipatorische Elemente mit herrschaftsförmigen Elementen. Wenn heutige Sozialdemokrat*innen den Text lesen würden, würden sie den aber wohl eher einem linksradikalen Spinner, denn einem Sozialdemokraten zuordnen. Edward Bellamy – Ein Rückblick aus dem Jahr 2000 auf 1887 Der Anarcho-Kommunist Kropotkin erwähnte 1889, zwei Jahre nach Erscheinen von Bellamys Buch, in einer Rezension, dass bereits 179.000 Exemplare der US- und der GB- Auflage verkauft waren 30. In dieser so erfolgreich vermarkteten Utopie sind Geld und Eigentum nur vordergründig abgeschafft. Bellamy führt neues Geld ein: Ein ‚modernes‘ Buchgeld 31, das also nicht länger als Schein oder Münze existiert, sondern nur mehr als Kontobewegung. Über die Verwendung entscheidet jede* Einzelne*. Über den Eingang von Subskriptionen, also Vorausbestellungen, werden die Zugänge zu Rohstoffen und Arbeit geregelt 32. Dass nur Buchgeld existiert, ermöglicht eine weitgehende Überwachung und Kontrolle der Menschen. Der Staat lenkt die Arbeiten: „Die Arbeitsdienstpflicht dauert 24 Jahre, beginnt nach Abschluss der Erziehung mit dem 21. und endet bei Beginn des Alters mit dem 45. Jahre. Bis zum 55. Jahre jedoch kann jedermann noch zu wirtschaftlicher Tätigkeit einberufen werden, wenn ein Notfall größeren Mehrbedarf an Arbeitskräften erfordert.“ 33 Die staatlich organisierte Arbeit ist wie eine Armee mit militärischen Rängen verfasst 34. „Wenn sich 20 vergl. S. 534, 536 in ebenda 21 S. 567 in ebenda 22 vergl. S. 564