Kunst – Kapital Das Nietzsche-Archiv Und Die Moderne Um 1900 Klassik
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Kult – Kunst – Kapital Das Nietzsche-Archiv und die Moderne um 1900 Klassik Stiftung Weimar Jahrbuch 2020 Klassik Stiftung Weimar Jahrbuch 2020 Kult – Kunst – Kapital Das Nietzsche-Archiv und die Moderne um 1900 Herausgegeben von Ulrike Lorenz und Thorsten Valk Inhalt Ulrike Lorenz Vorwort 7 Thorsten Valk Einleitung Politik der Apotheose Die Vermarktungsstrategien des Nietzsche-Archivs 9 Helmut Heit Vom Kult zum Kapital Nietzsches Weg zum philosophischen Weltereignis 19 Ralf Eichberg Zwischen Betulichkeit und Monumentalität Die Anfänge des Nietzsche-Gedenkens in Naumburg und Röcken 49 Kerstin Decker Eine Linie mit Willen zur Macht? Die Architekturen des Neuen Weimar 63 Hansdieter Erbsmehl Moderne »Überkultur« in Weimar Harry Graf Kessler, Elisabeth Förster-Nietzsche und der erotische Nietzscheanismus 85 Gerrit Brüning Distanzierte Freundlichkeit Hugo von Hofmannsthals Beziehung zu Elisabeth Förster-Nietzsche 107 Milan Wenner Spannungsvolle Nähe Oswald Spengler und das Nietzsche-Archiv im Kontext der Konservativen Revolution 133 Ulrich Sieg »Sanft in der Form, hart in der Sache« Die Bedeutung Elisabeth Förster-Nietzsches für die universitäre Etablierung ihres Bruders 153 6 inhalt Johannes Waßmer Kampf um ein philosophisches Erbe Die Werkpolitik des Nietzsche-Archivs 171 Alexander Rosenbaum »Im Geist des Philosophen« Henry van de Veldes Einbandentwürfe zu den Nietzsche-Vorzugsausgaben des Leipziger Insel-Verlags 205 Anna-Sophie Borges Ecce Dementia? Friedrich Nietzsche in Fotografien und Radierungen von Hans Olde 225 Gerda Wendermann Der einsame Wanderer Edvard Munch malt Friedrich Nietzsche und dessen Schwester 249 Christoph Schmälzle Die ›Wahrheit‹ der Gesichtszüge Konkurrierende Nietzsche-Bilder in der Kunst um 1900 273 Andreas Urs Sommer Nietzsche in Erz Philosophie und Leben im Medium der Medaille Mit einem Katalog der Nietzsche-Prägungen bis 1945 297 Anhang Jahresbericht 327 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Bandes 379 Bildnachweis 380 Vorwort Als Friedrich Nietzsche am 25 August 1900 im Obergeschoss der Weimarer Villa Silberblick verstarb, stellte sich die dringende Frage, wer dem bereits kultisch verehrten Philosophen die Totenmaske abnehmen könne Elisabeth Förster-Nietzsche bemühte sich, den berühmten Leipziger Bildhauer Max Klin- ger für diese Aufgabe zu gewinnen Doch Klinger weilte zu diesem Zeitpunkt in Paris, sodass es dem Maler Curt Stoeving vorbehalten blieb, eine Gipsform mit den Gesichtszügen des Verstorbenen anzufertigen Ungeachtet ihrer tech- nischen Mängel wurde die Totenmaske in den von Henry van de Velde neu gestalteten Archivräumen der Villa Silberblick ab 1903 kunstvoll inszeniert Zuvor war sie bereits ausgewählten Künstlern zugänglich gemacht worden, um diese zur schöpferischen Auseinandersetzung anzuregen Für Max Klinger bildete die Totenmaske in der Tat den Ausgangspunkt einer langjährigen Beschäftigung mit dem markanten Gesicht des Philosophen Eine seiner ersten Nietzsche-Büsten schuf er für die Villa Silberblick, wo sie den zentralen Vortragsraum bis heute wie ein Kultbild dominiert Eine zweite Büste aus Klingers Werkstatt kam kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs nach Weimar Sie sollte die nie vollendete Nietzsche-Gedächtnishalle schmücken und ist seit dem vergangenen Jahr im Museum Neues Weimar zu sehen Dort illus- triert sie zusammen mit einer Vielzahl anderer Porträts aus dem frühen 20 Jahrhundert, wie Nietzsche zu einer Ikone der Moderne wurde Nach der ›Archivherme‹ von 1905 und der ›Hermenbüste‹ von 1914 gelangte im vergan- genen Jahr eine dritte Nietzsche-Büste des Leipziger Bildhauers nach Weimar Es handelt sich um Klingers früheste Nietzsche-Arbeit aus dem Jahr 1902, die sich anders als die späteren Porträts noch stark an der Totenmaske des Philo- sophen orientiert Sie gehörte zur Nietzsche-Sammlung von Martin Burger, die die Klassik Stiftung nach langen Verhandlungen und dank vielfältiger Unter- stützung erwerben konnte Die drei Klinger-Büsten, die nun in Weimar vereint sind, lassen die singuläre Bedeutung aufscheinen, die Nietzsche um 1900 für die Kunst der Moderne gewann Gleichzeitig verweisen sie auf die umfangreichen Nietzsche-Sammlun- gen, die von der Klassik Stiftung im Goethe- und Schiller-Archiv, in der Herzo- gin Anna Amalia Bibliothek und in den Museen betreut werden Diese Samm- lungen vergegenwärtigen die bewegte Geschichte Weimars im 20 Jahrhundert und erinnern zugleich an das von Elisabeth Förster-Nietzsche bis zu ihrem Tod gesteuerte Archiv, das bei der Edition von Nietzsches Nachlass bisweilen skrupellos fälschte und die Schriften des Philosophen für rechte Weltanschau- ungen anschlussfähig machte 8 vorwort Die Klassik Stiftung ist sich ihrer Verantwortung für diese Sammlungen be- wusst und bemüht sich daher um eine historisch differenzierte Auseinander- setzung mit dem Phänomen Nietzsche und seiner Wirkungsgeschichte In die- sem Zusammenhang steht auch die Eröffnung einer neuen Dauerausstellung in der Villa Silberblick am 27 März 2020 unter dem Titel »Kampf um Nietz- sche« Eingebettet ist die Ausstellung in einen »Parcours der Moderne«, zu dem die Klassik Stiftung ihre Besucherinnen und Besucher im ersten Halbjahr 2020 einlädt Flankiert werden die Nietzsche-Veranstaltungen der kommenden Mo- nate durch das vorliegende Jahrbuch, mit dem wir nicht nur neue Schlaglichter auf das Wirken des Nietzsche-Archivs um 1900 werfen, sondern auch die An- fänge und Voraussetzungen des Weimarer Nietzsche-Kults reflektieren Mein erster Dank gilt den Autorinnen und Autoren des Jahrbuchs, deren facettenreiche Beiträge vielfältige Erkenntnisse zutage fördern, indem sie bis- lang unberücksichtigtes Archivmaterial erstmals auswerten und in zuvor nur unzureichend erschlossene Kontexte rücken Danken möchte ich sodann auch den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Referats Forschung und Bildung, namentlich Frida Teichert, Lena Schröter und Friederike Schmid, in deren Händen das Lektorat und die Bildredaktion lagen Ein ganz besonders herz- licher Dank geht schließlich an meinen Mitherausgeber Thorsten Valk, der das Jahrbuch nicht nur konzipiert hat, sondern zugleich auch für dessen wissen- schaftlichen Anspruch einsteht Thorsten Valk hat die Jahrbücher der Klassik Stiftung seit 2007 zu einem Panorama der Weimarer Kulturgeschichte ent- wickelt, sodass die 14 inzwischen vorliegenden Bände nahezu alle Themen re- flektieren, die unsere Arbeit in den Museen, im Archiv und in der Bibliothek bestimmen Die epochengeschichtlichen Bögen reichen von Lucas Cranach bis zum neuen Bauhaus-Museum und von Goethes klassischem Weimar bis zur aktuellen Provenienzforschung Nach 14 Jahrbüchern und deren reicher Ernte wollen wir ab 2021 ein alter- natives Format erproben und ein Magazin ins Leben rufen, das die zentralen Themen der Stiftung für ein breites Publikum aufbereitet und zugleich aktuelle gesellschafts- wie kulturpolitische Fragen reflektiert, die uns am Herzen liegen Ich wünsche allen Leserinnen und Lesern unseres Jahrbuchs eine anregende Lektüre und hoffe auf vielfältige und erkenntnisfördernde Diskussionen über Nietzsche und seine Folgen in der wechselvollen Kulturgeschichte des 20 und 21 Jahr hunderts Weimar, im März 2020 Ulrike Lorenz Thorsten Valk Einleitung Politik der Apotheose Die Vermarktungsstrategien des Nietzsche-Archivs Als Henry van de Velde im August 1901 zum Grab Friedrich Nietzsches reiste, erwartete ihn eine herbe Enttäuschung Er hatte sich in geradezu religiöser Stimmung auf den Weg gemacht, um dem Autor des Zarathustra an dessen erstem Todestag seine Reverenz zu erweisen Doch die »Wallfahrt zu Nietz- sches Grab« führte ihn nicht, wie er gehofft hatte, an einen auratisch aufge- ladenen Ort mit prachtvoller Sepulkralarchitektur, sondern lediglich an ein schmuckloses Familiengrab auf einem unscheinbaren Kirchhof »Ich war tief betroffen«, so van de Velde, »mich nicht vor einer eindrucksvollen Gedenk- stätte oder einem Nietzsches würdigen Denkmal verneigen zu können« 1 Ge- nau dies hielt er indes für angemessen, und zwar nicht nur aufgrund der epo- chalen Bedeutung, die er dem Philosophen zumaß, sondern auch angesichts künftiger »Nietzsche-Verehrer«, die er vor seinem inneren Auge bereits zum Grab des Idols »pilgern« sah 2 Jene Gedenkstätte, die van de Velde am Ziel seiner »Wallfahrt« so schmerzlich vermisste, sollte er kurz darauf selbst errich- ten, allerdings nicht in Röcken, wo der Philosoph beerdigt worden war, son- dern in Weimar, wo sich Elisabeth Förster-Nietzsche seit 1896 niedergelassen hatte und wohin sie im Folgejahr auch ihren Bruder bringen ließ Drei Jahre waren dem geistig umnachteten Philosophen in der Villa Silberblick noch be- schieden, bevor er dort am 25 August 1900 verstarb Mit dem Tod Nietzsches gewann das Haus, in dem er seine letzten Jahre verbracht hatte, die Funktion einer Gedenkstätte und die Aura eines Wall- fahrtsortes, an dem man sich der geistigen Gegenwart des verstorbenen Philo- sophen vergewisserte: »Wer einmal in diesen Räumen geweilt, empfindet die Lebensnähe dieses großen Menschen«, konstatierte Paul Kühn bereits 1904 »Wir glauben ihm nahe zu sein, aus seinem Munde seine Lehren zu hören, hier, wo er verschied« 3 Mit seinen Schilderungen würdigte Kühn nicht nur das Haus, in dem Nietzsche gestorben war, sondern auch dessen aufwendige Neu- gestaltung, die van de Velde seit 1902 in engem Austausch mit Elisabeth Förster-Nietzsche und Harry Graf Kessler vorangetrieben hatte Als Resultat 1 Henry van de Velde: Geschichte meines Lebens Hg u übertragen v Hans Curjel München 1962, S 191 f 2 Ebd , S 191 3 Paul Kühn: Das Nietzsche-Archiv zu Weimar Darmstadt 1904,