Zivilrechtskultur der DDR

Band 2

Herausgegeben von

Rainer Schröder

Duncker & Humblot . I (A /F g~~;i.1, 2 Gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme

Zivilrechtskultur der DDR / hrsg. von Rainer Schröder. - Berlin : Duncker und Humblot Bd. 2 (2000) (Zeitgeschichtliche Forschungen ; Bd. 2 / 2) ISBN 3-428- 10 192-8

Umschlagbild: Zentrale Schöffenkonferenz des Ministeriums der Justiz der DDR 1976 in der Berliner Kongreßhalle Der Abdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung der Redaktion „Neue Justiz"

Alle Rechte, auch die des,auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Ubersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten 02000 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in ISSN 1438-2326 ISBN 3-428- 10192-8

Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 Begründungsverhalten des Reichsgerichts zwischen 1933 und 1945 in Zivilsachen verglichen mit Entscheidungen des Obersten Gerichts der DDR vor 1958

Von Hans-Peter Haferkamp

1. Problemstellung

Für die Frage, wie die Zivilsenate des Reichsgerichts im Nationalsozialismus mit juristischer Dogmatik umgingen, ergab die Habilitationsschrift von Bernd Rü- thers aus dem Jahr 1968 eine ehrtw wen dun^'. Unter Juristen wurden die Probleme des Justizunrechts einerseits in rechtsphilosophischer Perspektive diskutiert2, also etwa unter der zur Entlastungsstrategie stilisierten3 Aussage Radbruchs, der „Posi- tivismus [. . . ] mit seiner Überzeugung ,Gesetz ist Gesetz' " habe die Juristen wehr- los gemacht. Daneben stattfindende Methodendebatten verstanden sich zumeist4 als unpolitisch5. Rüthers stellte hiergegen das Politische jeder juristischen Methode in den Vor- dergrund seiner ~etrachtun~en~und wies aus diesem Blickwinkel nach, daß die

1 Bernd Rüther~s,Die unbegrenzte Auslegung. Zum Wandel der Privatrechtsordnung im Nationalsozialismus, 4. Aufl. Heidelberg 1991. Fortführung der Gedanken in ders., Wir den- ken die Rechtsbegriffe um . . . - Weltanschauung als Auslegungsprinzip, München 1987; ciers., Entartetes Recht. Rechtslehren und Kronjuristen im Dritten Reich, München 1988; ders., Recht als Waffe des Unrechts - Juristische Instrumente im Dienst des NS-Rassen- wahns, NJW 1988, S. 2825 ff. 2 Hierzu nun Eckhardt Buchholz-Schuster; Rechtsphilosophische Legitimation der Rechts- praxis nach Systemwechseln. Eine Untersuchung zur Funktion von „Juristenphilosophie" (= Berliner Juristische Universitätsschriften. Grundlagen des Rechts 8), Berlin 1998, S. 38 - 122 und passim. 3 Vgl. nur Manfred Walther; Hat der Rechtspositivismus die deutschen Juristen im „Dritten Reich" wehrlos gemacht?, in: Ralf DreierJWolfgang Sellert, Recht und Justiz im ,,Dritten Reich", Frankfurt a. M. 1989, S. 323 ff. 4 Politische Bezüge etwa bei Custav Boehrnec Grundlagen der bürgerlichen Rechtsord- nung, Bd. 11: Praxis der richterlichen Rechtsschöpfung, Tübingen 1952, S. 79 U.ö. 5 SO etwa Josef Essers Vorstellung eines vom Richter zu entwickelnden „unpolitischen Gemeinrechts". in: Grundsatz und Norm der richterlichen Fortbildung des Privatrechts, Tü- bingen 1956, S. 291 ff. 6 Rüthers, (wie Anm. I), S. I ff., 443 ff. sowie in den neueren Arbeiten. 16 Hans-Peter Haferkamp

,,Rechtserneuerung" der dreißiger Jahre in einem ,,~ethodenwettlauf'~ein ganzes Arsenal von Möglichkeiten herausgearbeitet hatte, um das Gesetz im nationalso- zialistischen Sinne umzuwerten und doch offene Entscheidungen Contra legem zu vermeiden. Die Untersuchung veröffentlichter Urteile zeigte, daß es der Zivil- rechtspraxis in Kombination dieser neuen mit traditionellen Gesetzesanwendungs- methoden gelungen war, unter Bezugnahme auf die Vorschriften des noch immer geltenden BGB die Wertungen des Nationalsozialismus in ihre Urteile einfließen zu lassen. Zum Umwertungsinstrumentarium gerieten dabei teilweise altehrwürdi- ge Topoi wie die „Natur der ~ache"~oder (pseudoempirisch oder metaphysisch ge- dachte) „~echtsinstitute"~ebenso wie neuentwickelte oder erweiterte Argumenta- tionstechniken, etwa die Bindung unbestimmter Rechtsbegriffe, insbesondere in Generalklauseln, an politische Vorgaben des Nationalsozialismus'". Rüthers verdichtete seine Warnung vor der Verschleierungsgefahr juristischer Methode nachfolgend zu konkreten „Lehren aus der Rechtsperversion des Natio- nalsozialismus"", die letztlich „Methodenbewußtsein als ~mdeutun~sbremse"'~ propagierten. Er warnte vor der Gefahr, daß ein weniger methodenkritischer Teil der Richterschaft, die „Zauberlehrlinge", im Gegensatz zu den bewußt lenkenden ,,~auberern"'~,an sozusagen subkutan, unter methodischen Floskeln untergescho- bene ideologische Wertungen gebunden werden könne14.

7 Bernd Rüthers, Entartetes Recht, München 1988, S. 18 ff. 8 Kntik bereits bei Ralf Dreie?; Zum Begriff der Natur der Sache, Berlin 1965, S. 71 ff., 114 ff. Einen prägnanten historischen Abriß bis zu Carl Schmitt lieferte Gustav Radbruch, Die Natur der Sache als juristische Denkform, erschienen 1948, wiederabgedruckt in: Win- fried Hassemer (Hg.), Gustav Radbruch. Gesamtausgabe, Bd. 3, Heidelberg 1990, S. 229 ff., hier 229 - 232; Literatur zu diesem Ewigkeitsproblem der Rechtsphilosophie erschließt sich über Arthur Kaufmann, Analogie und „Natur der Sache", 2. Aufl. 1982, S. 60 ff. 9 Bernd Rüthers, Institutionelles Rechtsdenken im Wandel der Verfassungsepochen, Berlin U.a. 1970; 2. Aufl. unter dem Titel „Wir denken die Rechtsbegriffe um . . ." (wie Anm. 1). 10 Im Anschluß an Carl Schmitt, Neue Leitsätze für die Rechtspraxis, JW 1933. S. 2793 = DR 1933, S. 201. 11 Entartetes Recht (wie Anm. I), S. 22 ff. mit insgesamt 24 Lehren. 12 Bereits Unbegrenzte Auslegung, Nachwort 199 1, S. 486. 1' So Rüthers in der Entgegnung auf Lübbe und Behrends: Aus der Geschichte lernen? Eine Erwiderung, RJ 8 (1989), S. 381 ff., 387: „[ . . .] Naivität der Zauberlehrlinge, die an solche Scheinbegründungen und Umdeutungskunststücke glauben und ihnen willig folgen." Weitergehend sieht Oliver Lepsius, Die gegensatzaufhebende Begriffsbildung. Methodenent- wicklungen in der Weimarer Republik und ihr Verhältnis zur Ideologisierung der Rechtswis- senschaft unter dem Nationalsozialismus, München 1994, S. 380 im Verlust spezifisch juristi- scher Kategorien (zugunsten (objektiv-idealistisch) gegensatzaufhebender Begrifflichkeit) den Grund dafür, daß die Juristen „unter dem Nationalsozialismus zu dessen wirklicher Er- kenntnis nicht mehr in der Lage waren".

14 Die Kritik an Rüthers' „Rechtslehren aus dem Nationalsozialismus" richtet sich einer- seits erkenntnistheoretisch an der Unmöglichkeit eines historia docet aus, so vor allem A. Lübbe, Aus der Geschichte lernen?, RJ 7 (1988), S. 417 ff.; zurückhaltender Michael Stolleis, Lehren aus der Rechtsgeschichte? Zur Auseinandersetzung mit den Thesen von Bernd Rü- thers, in: Rainer Eisfeld U. Ingo Müller (Hg.), Gegen Barbarei. Essays Robert M. W. Kemp- Begründungsverhalten des Reichsgerichts 17

Ein Blick auf die Bewertung, die nach 1989 der Gesetzesanwendung durch DDR-Richter aus nun gesamtdeutscher Sicht zuteil wird, zeigt, daß die Ergebnisse von Rüthers hierauf übertragen werden. Praktische Bedeutung hat dies zunächst in der Judikatur des BGH zur Rechtsbeugung durch DDR-Richter erhalten. Die Beur- teilung des DDR-Rechts schließt ein Verständnis der DDR-spezifischen Vorgaben für seine Anwendung mit eini5. Vor dem Hintergrund der Ergebnisse von Rüthers hob der BGH Generalklauseln und unbestimmte Rechtsbegriffe als Umwertungsin- strumentarien allgemein in „totalitären staaten"I6 besonders hervor und stellte an- sonsten, bei allem Einfluß anderer Wertvorstellungen und ~eitun~sstrukturen", „formalu Übereinstimmung mit heutigen Auslegungsmethoden festi8. Für Kraut, der diese Judikatur des BGH jüngst analysierte, gilt: „Die von Rüthers entwickel- ten Grundsätze hinsichtlich der Umwertung des Rechts und der Rechtsbegriffe durch den Nationalsozialismus lassen sich ohne größere Probleme auf die marxi- stisch-leninistische Staats- und Rechtstheorie übertragen."19 Für die Untersuchung der Zivilrechtspraxis der DDR liegt es auf den ersten Blick nahe, die Ergebnisse von Rüthers zugrundezulegen, da auch hier durch Fort- geltung des für eine liberale Warenverkehrsgesellschaft konzipierten BGB beim Übergang zu einer sozialistischen Planwirtschaft ähnliche Umwertungsprobleme in der Luft lagen. Besonders die traditionellen Anpassungsmechanismen, die Generalklauseln, de- ren Bedeutung auch Rüthers hervorhob, wurden in jüngerer Zeit diesbezüglich un- tersucht. So hat Jens Wanner die Judikatur zu 138 Abs. 1 BGB in beiden Epo-

ner zu Ehren, Frankfurt a. M. 1989, S. 385 ff. Kritik findet andererseits sein Methodenver- ständnis, so etwa Okko Behrends, Zum Problem einer rein etatistischen Rechtsbegründung gestern und heute, NJW 1988, S. 2862 ff., der mit einer Werteordnung argumentiert. Näher zu diesem Ansatz ders., Struktur und Wert. Zum institutionellen und prinzipiellen Denken im geltenden Recht, Rechtsdogmatik und praktische Vernunft. Symposion zum 80. Geburtstag von Franz Wieacker, Göttingen 1990, S. 138 ff.; ders, Von der Freirechtsschule zum konkre- ten Ordnungsdenken, in, Dreier ISellert (Hg.), Recht und Justiz im „Dritten Reich", Frankfurt a. M. 1989, S. 34 ff. Anderes Methodenverständnis wohl auch bei Klaus Luig, Macht und Ohnmacht der Methode, NJW 1992, S. 2536 ff. 15 Zu den damit verbundenen Streitpunkten Gerwin Udke, Verfahren und Methoden der Auslegung und deutsch-deutschen Rechtsangleichung, DtZ 1991, S. 52 ff.; Helge GraDau, Brauchen wir eine rückwirkende Methodenlehre, WR 1992, S. 440 ff.; Norbert Horn, Die heutige Auslegung des DDR-Rechts und die Anwendung des 9: 242 BGB auf DDR-Altverträ- ge, DWiR 1992, S. 45 ff.; Hartrnut Oetker; Rechtsvorschriften der ehemaligen DDR als Pro- blem methodengerechter Gesetzesanwendung, JZ 1992, S. 608 ff.; Georg Brunnel: Das kon- sumgenossenschaftliche Eigentum in der ehemaligen DDR und seine Behandlung als inter- temporales Recht, VIZ 1993, S. 285 ff. 16 BGH NJW 1995, S. 64 ff., 66; NJW 1995, S. 2734 ff., 2734; VIZ 1995, S. 461 ff., 463 = DtZ 1995, S. 366 ff. 17 BGH NJW 1995, S. 3324 ff., 3327. 18 BGH NJW 1995, S. 64 ff., 66. 19 Gerald M. Kraut, Rechtsbeugung? Die Justiz der DDR auf dem Prüfstand des Rechts- staates (Münchner Universitätsschriften 130), München 1997, S. 16 Anm. 83. I8 Hans-Peter Haferkamp chen einer gründlichen Durchsicht unterzogen2'. Er konstatiert bemerkenswerte Parallelen. Q 138 Abs. 1 BGB sei in beiden totalitären Staaten ein effektives Mittel gewesen, um politisch und ideologisch mißbilligten Rechtsgeschäften die rechtli- che Anerkennung zu versagen2'. Ausdehnende Eingriffe erfuhren nach Wanner der Maßstab, der heranzuziehende Zeitpunkt der Feststellung und der Anwendungsbe- reich der Norm. Wanner erblickt im Vergleich mit dem Nationalsozialismus auch für die DDR hier eine bewußte Strategie: „So bemühte man sich in beiden Systemen, den jeweils relevanten Auslegungsmaßstab der guten Sitten zu verschleiern. Hierdurch wurde es möglich, ihn einer kritischen Kon- trolle zu ent~iehen."~~

Ähnlich wie nach 1933 scheint es daher auch dem Obersten Gericht um Ver- schleierung des politischen Charakters der Entscheidungen unter Q 138 BGB ge- gangen zu sein. Es scheint, als habe Rüthers ein Grundproblem jeder totalitären Rechtsordnung im Übergangszeitraum entdeckt. Die Gefahren derartiger Schlußfolgerungen liegen auf der Hand. Während Rü- thers' Ergebnisse auf einer breiten Analyse nahezu des gesamten veröffentlichten Entscheidungsmaterials nach 1933 fußen, verleitet der konzentrierte Blick auf eine Generalklausel in der DDR dazu, ihre Bedeutung in der gesamten Rechtsprechung zu überschätzen und Rüthers' Ergebnisse sozusagen in die DDR-Judikatur hineinzutragen. Wanner verweist hinsichtlich ihrer gestiegenen Bedeutung auf die Ausweitung der ~all~ru~~en~'.Die vergleichsweise geringe Zahl der veröffentlich- ten Entscheidungen resultiere möglicherweise aus der geringen Einwohnerzahl der DDR und auch aus einer steigenden Zahl spezialgesetzlicher Regelungen, die die Vertragsfreiheit einschränktenz4. Näherer Beleuchtung bedarf auch der von Wanner betonte Aspekt der Ver- schleierung: Wem gegenüber galt es zu verschleiern, wer war „Betrachter6' mit „kritischer Kontrolle"? Zu fragen wäre dann etwa nach der Veröffentlichungspra- xis, also nach der Leserschaft der Urteile, dem avisierten Adressaten. Hier setzt die vorliegende Untersuchung an. Will man den Anteil juristischer Methode an der Umwertung der Privatrechtsordnung in der DDR beurteilen, so muß man zunächst die Bedeutung juristisch-dogmatischer Urteilsbegründung in

20 Jens Wanner; Die Sittenwidrigkeit der Rechtsgeschäfte im totalitären Staat. Eine rechts- historische Untersuchung zur Auslegung und Anwendung des § 138 Absatz 1 BGB im Natio- nalsozialismus und in der DDR (= Abhandlungen zur rechtswissenschaftlichen Grundlagen- forschung 79), München 1996; vgl. auch Andrea Deyerling, Die Vertragslehre im Dritten Reich und in der DDR während der Geltung des Bürgerlichen Gesetzbuches. Eine verglei- chende Betrachtung unter besonderer Berücksichtigung der Diskussion des faktischen Vertra- ges in der Bundesrepublik, Bayreuth 1996. 21 Wanner (wie Anm. 20), S. 3 1 1. 22 Wanner (wie Anm. 20), S. 310. 23 Wanner (wie Anm. 20), S. 315. 24 Wanner (wie Anm. 20), S. 308 f. Begründungsverhalten des Reichsgerichts 19 der richterlichen Tätigkeit überhaupt untersuchen. Wie also wurden Urteile durch das Oberste Gericht der DDR begründet? Was wurde als entscheidungstragendes Argument akzeptiert? Auf der einen Seite eines gedachten Spannungsbogens steht das traditionelle ,,justizförmige" Urteil. Juristische Methode dient hier als Argu- mentationstechnik. Mittels einer spezifischen Fachsprache und tradierter Anwen- dungstechniken und selten durch offene Eigenwertungen des Richters wird die Entscheidung nach außen abgeriegelt, so daß sie als höflich-unpolitische Umset- zung des Gesetzeswortlauts erscheint. Gegenbild ist die offene Eigenwertung des Richters oder die deutliche Ausrich- tung an situativen politischen Vorgaben, die dem Gesetzeswortlaut vorgesetzt wer- den. Wahrend der erste Begründungstyp den Richter als ausgebildeten Spezialisten voraussetzt und gegenüber dem Laien eine Über~etzun~sarbeitverlangt, könnte eine Entscheidung im zweiten Sinne auch von Laien oder politischen Funktionären in dieser Weise begründet werden. Die Bedeutung juristischer Methode folgt so betrachtet insbesondere aus dem ihr seitens der politischen Instanzen zugebilligten Begründungswert. Um also die argumentative Wertigkeit bestimmter methodischer Umwertungsinstrumentarien zu beurteilen, gilt es den Kontext, in dem diese Begründungen erfolgten, genauer zu rekonstruieren. Die zugrundegelegte These ist, daß bereits in den ersten Jahren des Bestehens der DDR eine deutliche Absage an den Begründungswert juristi- scher Dogmatik überhaupt erfolgte. Daraus resultierte ein gegenüber der Zeit des Nationalsozialismus deutlich differierender Begründungsstil, der mit den von Rü- thers erarbeiteten methodischen Aspekten nicht adäquat faßbar ist. Nachfolgend stehen vergleichend veröffentlichte Urteile der obersten Zivilin- stanzen während des Nationalsozialismus (Reichsgericht) und in der DDR (Ober- stes Gericht) im Vordergrund. Veröffentlichte Urteile stellen den Unrechtsgehalt der Zivilrechtsjudikatur während dieser Epochen nur verzerrt dar. Das „Normalur- teil" wurde kaum veröffentlicht. Gerade die gelenkte Veröffentlichungspraxis ver- mag jedoch die methodischen Vorgaben an die unteren Instanzen gut darzustellen, die besonders in der ersten politischen Umbruchsphase hier Orientierungspunkte fanden. Inhaltlich werden dabei ausschließlich solche Entscheidungen herangezo- gen, bei denen die Problematik des „neuen Weins in alten Schläuchen" virulent wurde, also die Anwendung alter Gesetze zur Umsetzung gewandelter politischer Vorgaben in Frage stand. Untersuchungszeitraum ist jeweils die erste, drängende Umbruchsphase, also für den Nationalsozialismus bis etwa 1938, für die DDR bis etwa 1958. Hans-Peter Haferkamp 2. Das Reichsgericht im Nationalsozialismus

2.1 Methode und Umwertung

Die Zivilrechtsjudikatur während des Nationalsozialismus wurde inzwischen ne- ben der Gesamtanalyse von Rüthers für das ~eichs~ericht'~und verschiedene Un- tergerichte26 unter einer Vielzahl von Einzelaspekten untersucht. Bereits § 1 der V0des Reichspräsidenten zum Schutze von Volk und Staat vom 28. 2. 1933~'suspendierte zivilrechtlich bedeutsame Verfassungsbestimmungen, wie die Eigentumsgarantie des Art. 153 WRV. Gleichzeitig gerieten der abstrakte Begriff der Person, die Vertragsfreiheit sowie eine Vielzahl einzelner Bestimmun- gen des Gesetzes mit dem totalitären Charakter des nationalsozialistischen Staates, der ein willkürlich zu bestimmendes Sonderrecht für selbstdefinierte „Feindeg' for- derte, in Konflikt. Da trotz Schlegelbergers vollmundiger Ankündigung eines „Ab-

25 Etwa Diemut Majei; Fremdvölkische im Dritten Reich, Boppard 1981; Wanner (wie Anm. 20); Hans-Jürgen V. Dickhuth-Harrach, „Gerechtigkeit statt Formalismus". Die Rechts- kraft in der nationalsozialistischen Privatrechtspraxis (= Prozeßrechtliche Abhandlungen 62), Köln 1886; Ralph Angermund, Deutsche Richterschaft 1919 - 1945, Frankfurt a. M. 1990, S. 104 ff.; Hans Wrobel, Die Anfechtung der Rassenmischehe nach 1933, KJ 1983, S. 349 ff.; Wolfgang Grunsky, Gesetzesauslegung durch die Zivilgerichte im Dritten Reich. Dargestellt anhand der in DR 1939 Band 2 1940 Band 1 enthaltenen Rechtsprechung, KJ 1969, S. 146 ff.; Friedrich Karl Kaul, Geschichte des Reichsgerichts, Bd IV (alles erschienene), Berlin (Ost) 1971, S. 63 ff.; Otto Kirchheimer; Politische Justiz. Verwendung juristischer Verfahrensmög- lichkeiten zu politischen Zwecken, Frankfurt a. M. 1981; Frant: L. Neumann, Der Funktions- wandel des Gesetzes im Recht der bürgerlichen Gesellschaft, in: ders., Demokratie und auto- ritärer Staat, Frankfurt a. M. 1967, S. 41 ff.; Jürgen Meinck, Justiz und Justizfunktion im Dritten Reich, ZNR 1981, S. 28 ff.; Andreas Rethmeier, „Nürnberger Rassegesetze" und En- trechtung der Juden im Zivilrecht (= Rechtshistorische Reihe 126), Frankfurt a. M. 1995; Dieter Niksch, Die sittliche Rechtfertigung des Widerspruchs gegen die Scheidung der zerrüt- teten Ehe in den Jahren 1938- 1944, Dissertation Köln 1990; Fritjqf Börnei; Die Bedeutung der Generalklauseln für die Umgestaltung der Rechtsordnung in nationalsozialistischer Zeit (= Europäische Hochschulschriften, Reihe 11, 828), Frankfurt a. M. 1989; Hans-Pefer Hafer- kamp, Die heutige Rechtsmißbrauchslehre - Ergebnis nationalsozialistischen Rechtsdenkens? (= Berliner Juristische Universitätsschriften. Zivilrecht 1) Berlin 1995, S. 23 1 ff. 26 Etwa Rainer Schrödei; „Aber im Zivilrecht sind die Richter standhaft geblieben . . .". Die Urteile des OLG Celle aus dem Dritten Reich (= Fundamenta Juridica 5), Baden-Baden 1988; Christoph Schiller; Das Oberlandesgericht Karlsruhe im Dritten Reich (= Schriften zur Rechtsgeschichte 69), Berlin 1996; Adolf Laufs, Die Berliner Justiz in der Zeit des NS-Regi- mes, in: Friedrich Ebel /Albert Randelzhofer (Hgg.), Rechtsentwicklungen in Berlin, Berlin U. a. 1988, S. 193 ff.; Bartels, Zivilrechtsprechung in Oldenburg 1933- 1945 - Dargestellt vor allem am Beispiel des Ehe- und Familienrechts, in: 175 Jahre Oberlandesgericht Olden- burg: 1814 Oberappellationsgericht, Oberlandesgericht 1989, Festschrift, 1989, S. 253 -288; Karl H. Dinslage, Das Oberlandesgericht in der Zeit von 1933 bis 1945. in: Wiesen (Hg.), Festschrift 75 Jahre Oberlandesgericht Düsseldorf, 1981, S. 67 - 83; Fleischer; Politische Ur- teile des Oberlandesgerichts Jena in den Jahren 1933 und 1934, in: Rudolstädter Heimathefte 17, 197 1, S. 65 - 67; Justizbehörde Hamburg (Hg.), Klaus Bästlein I Helge Grabirzl WolfRang Schefler (Red.), „Für Führer, Volk und Vaterland." Hamburger Justiz im Nationalsozialis- mus, Hamburg 1992. 27 RGBI. I, S. 83. Begründungsverhalten des Reichsgerichts 21 schied[s] vom BGB"'~ das geplante Volksgesetzbuch nicht zustande kam, mußte die Rechtsprechung die Wertungsdifferenzen zum alten BGB ausgleichen. Hierzu bot sich zunächst die schlichte Gesetzesablehnung „vorrevolutionären" Rechts unter Berufung auf gewandelte Wertvorstellungen an. Es ist charakteri- stisch für die hödtlstrichterliche Rechtsprechung während der ersten Jahre des Na- tionalsozialismus, daß sie diesen Weg nur ganz ausnahmsweise ging. Die seitens der Literatur vorgeschlagene ,,~am~fklausel"~~für derartige Fälle lautete etwa3': ,,Gesetzliche Bestimmungen, die vor der nationalsozialistischen Revolution erlassen sind, dürfen nicht angewandt werden, wenn ihre Anwendung dem heutigen gesunden Volks- empfinden ins Gesicht schlagen würde".

Die Rechtsprechung hielt demgegenüber an der strengen Gesetzesbindung auch gegenüber alten Gesetzen formal fest. Der 7. Zivilsenat stellte in einer Entschei- dung, die den ideologischen Druck, unter dem auch die Ziviljustiz zu diesem Zeit- punkt stand, verdeutlichte, am 6. Dezember 1934 fest3': „Wirtschaftliche Gesichtspunkte dürfen das Gericht nicht dazu veranlassen, eine Entschei- dung zu treffen, welche den klaren gesetzlichen Vorschriften zuwiderlaufen würde. Nach wie vor gilt der die allgemeine Rechtssicherheit verbürgende, an der Spitze des Gerichts- verfassungsgesetzes stehende Grundsatz, daß der Richter dem Gesetz unterworfen ist. Ebenso gilt noch jetzt 5 336 StGB, wonach die Beugung des Rechts mit Zuchthaus bis zu fünf Jahren bestraft wird. Einer solchen macht sich aber ein Richter schuldig, der vorsätz- lich zu Gunsten einer Partei eine Rechtsnorm verletzt. Wenn also das Ergebnis des Auf- wertungsverfahrens im vorliegenden Fall unbillig oder aus wirtschaftlichen oder sonstigen Gründen unerwünscht sein sollte, so kann im Hinblick auf die entgegenstehenden gesetz- lichen Vorschriften nicht durch Richterspruch Abhilfe geschaffen werden. Das wäre nur im Wege einer Gesetzesänderung möglich".

Auch die Vorgaben des Reichsjustizministeriums, als dessen Vertreter sich Ro- land Freisler in einigen Artikeln der Frage annahm, lagen zunächst auf dieser Linie. Freisler traute offensichtlich der Richterschaft 1933 eine derart politische Funktion nicht zu. Er sah die Gefahr, daß an Stelle des Führers der „zufällig amtie- rende Richter [ . . . ] mit allen Schwächen, Sonderansichten, mit seiner Auffassung vom Wesen des Nationalsozialismus und mit seiner Sonderauffassung von völki- schen und staatlichen ~otwendi~keiten"~~trete. Als Freisler unter dem Eindruck

28 Berlin 1937. 29 Vgl. zum folgenden Rüthers, Unbegrenzte Auslegung, S. 136 ff. 30 Dahm/Eckhardt/Hiihn/Ritterbusch/Siebert (im Auftrag von Hans Frank), Leitsätze über Stellung und Aufgaben des Richters, Leitsatz 4, Deutsche Rechts Wissenschaft I (1936), S. 123. 3' RGZ 144, S. 306 ff., 310 f. Hervorhebungen von mir. Der enge Zeitbezug ist deutlich. Bemerkenswert auch, daß Art. 102 WRV, der ebensfalls die Gesetzesbindung statuierte und formell nicht aufgehoben war, nicht erwähnt wird. Deutliche Bezugnahme hierauf dagegen durch das KG, DJ 1934, S. 193. 32 Freisler; Recht, Richter und Gesetz, DJ 1933, S. 694 ff., 695. 22 Hans-Peter Haferkamp

gestiegenen Vertrauens in die ideologischen Fähigkeiten der Rechtsprechung 1936 für eine freiere Stellung des Richters zu vor 1933 erlassenen Gesetzen eintrat33, hatte die Rechtsprechung bereits einen anderen, ebenso erfolgreichen Weg einge- schlagen. Dies sei nachfolgend an einem vielbesprochenen Beispiel, der Anfech- tung jüdisch-arischer Mischehen nach Fristablauf gem. 5s 1333, 1339 BGB, ver- de~tlicht~~. Nach 1933 erkannten nichtjüdische Ehepartner oftmals die Chance, sich ohne Unterhaltsverpflichtungen des jüdischen Ehegattens entledigen zu können. Ent- scheidende Norm war der später (1938) aufgehobene 1333 BGB, der eine An- fechtung U. a. erlaubte, wenn bei Eheschließung ein Irrtum über persönliche Eigen- schaften des anderen Ehegatten vorgelegen hatte, der den Anfechtenden bei Kennt- nis der Sachlage und bei verständiger Würdigung des Wesens der Ehe von der Ein- gehung der Ehe abgehalten hätte. RGZ 145, S. 1 ff. vom 12. Juli 1934 stellte sich im Fall einer Eheschließung aus dem Jahr 1930, bei dem die jüdische Konfession seiner Frau dem Ehemann be- kannt gewesen war, diesem von Untergerichten bereits wiederholt bejahten Tatbe- stand. Problematisch war zunächst die Frage, ob die ,,RassenzugehörigkeitL' der Beklagten eine persönliche Eigenschaft im Sinne des § 1333 BGB sei. Erfaßt wa- ren davon nur Tatsachen. Der Kläger hatte jedoch nicht über diese Tatsache geirrt, sondern über die Bedeutung dieser Tatsache - auch für sein persönliches Fortkom- men nach 1933~'. Der Irrtum betraf also den Wertungswandel nach 1933, nicht die Tatsache als solche. Noch 1933 hatte das Kammergericht mit diesem Argument eine Anfechtbarkeit verneint36. Vorliegend erklärte der Senat die „Rassenzugehö- rigkeit" jedoch zur persönlichen Eigenschaft der Beklagten, da die Eigentümlich- keit der Rasse nach „natürlicher Lebensauffassung" wesentlicher Bestandteil der Persönlichkeit sei37. Nach eigenem Verständnis des Senats war dies noch normale „Anwendung des Gesetzes", bei der jedoch dem „durch die Ariergesetzgebung staatlich anerkannten Rassenunterschied Rechnung zu tragen" sei". Gleichzeitig

33 Freislel; Recht und Gesetzgeber, DJ 1936, S. 153 ff. 34 Hierzu Rüthers, Unbegrenzte Auslegung (wie Anm. I), S. 155 ff., Majer (wie Anm. 25), S. 693 ff.; Wrobel (wie Anm. I); Kaul (wie Anm. 25), S. 69 ff.; Noam/Kropat, Juden vor Gericht 1933- 1945, Wiesbaden 1975, S. 56 ff.; auf OLG-Ebene bringen unveröffentlichte Urteile R. Schröder (wie Anm. 26), S. 51 ff.; Schiller (wie Anm. 26), S. 324 ff.; zum LG Hamburg: Reginald A. Puerschel, Trügerische Normalität. Die Rechtsprechung in Ehe- und Familiensachen der Landgerichte Hamburg und Altona 1933 - 1939, in: Justizbehörde Ham- burg (wie Anm. 26). S. 382 ff. Die Rechtslage ändert sich mit Erlaß der Nürnberger Rassege- setze und des Ehegesetzes 1938; hierzu die Arbeit von Rethmeier (wie Anrn. 251, S. 5 1 ff.; 217 ff. und Majer (wie Anm. 25), S. 696; eindrücklich zu den unmenschlichen Folgen be- kanntlich die Tagebuchaufzeichnungen von Victor Klemperel; Ich will Zeugnis ablegen bis zum Letzten, Berlin 1996. 3s Vgl. das Vorbringen des Klägers bezüglich der Nachteile infolge der Ariergesetzge- bung, RG, a. a. O., S. 5. 36 KG vom 2. 11. 1933, DJ 1933, S. 818 ff. 37 RG,a.a.O.,S.2. Begründungsverhalten des Reichsgerichts 23 stand damit jedoch fest, daß dem Kläger die Eigenschaft der Beklagten bereits zum Zeitpunkt der Eheschließung bekannt war, der Wortlaut also nicht einschlägig war. Eine Entscheidung gegen den Gesetzeswortlaut lehnte der Senat ab: ,,Solange daher die Bestimmung des 1333 BGB nicht geändert wird, und zwar mit rück- wirkender Kraft, ist die Anfechtbarkeit von Mischehen wegen Irrtums über die Rassenzu- gehörigkeit eines Ehegatten über die oben angegebenen Grenzen hinaus nicht möglich"'9.

Schrittweise wurde diese Rechtsprechung nun erweitert. Schon bald genügte auch die Bewertung dieser Tatsache zur Annahme einer persönlichen Eigen- schaft4'. Da dieser Umschwung erst 1933 eintrat, war jedem vor 1933 verheirate- ten Ehepartner diese persönliche Eigenschaft der jüdischen „Rasse" zum Zeitpunkt der Eheschließung nicht bekannt. Nun stellte sich jedoch das Problem des 8 1339 BGB, der eine sechsmonatige Anfechtungsfrist ab Kenntniserlangung vorsah. Als frühester Zeitpunkt bot sich der Erlaß des Parteiprogramms am 24. 2. 1920 an. Diesem Vorbringen hielt der 4. Senat in einer wenig später ergangenen Entschei- dung4' Q 203 BGB entgegen: Der Kläger habe vor 1933 in der Rechtsprechung mit seinein Vorbringen keine Aussicht auf Erfolg gehabt, es läge „höhere Gewalt" im Sinne der Vorschrift vor, und der Fristablauf sei gehemmt. Spätestens mit dem 7. 4. 1933, dem Erlaß des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums, war jedoch der Fristbeginn kaum noch zu verneinen. Auch lag es nahe, die Fortsetzung der Ehe nach diesem Termin als Verwirkungsgrund an- zusehen. Im Gegensatz zu Instanzgerichten fand an diesem klaren Wortlaut die Auslegung des vierten Senats seine Grenze, eine klare Durchbrechung des 5 1339 BGB findet sich in veröffentlichten höchstrichterlichen Entscheidungen nicht. Analysiert man dieses Begründungsverhalten, so zeigt sich, daß das Reichsge- richt überwiegend mit traditionellen Mitteln versuchte, zum politisch gewünschten Ergebnis zu kommen. Methodisch bewegte sich die dargestellte Gesetzesauslegung des Senats oft an der Grenze des üblicherweise Erlaubten. Zumindest nach außen beriefen sich die Begründungen aber weiterhin auf bekannte juristische Argumen- tationstechniken. Übergreifend kommt Rüthers zu dem Ergebnis, daß das Gros der untersuchten Urteile, unabhängig von ihrem Unrechtsgehalt, sich methodisch zum damaligen Zeitpunkt anerkannter Flexibilisierungsmechanismen bedienten wie ~bjektiver~~, teleologischer43 und red~zierender~~Auslegung, ~ückenbe~riff4~oder ~nalogie~~.

38 RG,a.a.O.,S.6. 39 RG,a.a.O.,S.7. 40 RG vom 29.4. 1937, DJ 1937, S. 901. 41 RGZ 145, S. 8 ff. 42 Rüthers, Unbegrenzte Auslegung, S. 183 ff. 43 Wie Anm. 42, S. 188 ff. 44 Wie Anm. 42, S. 208 ff. 45 Wie Anm. 42, S. 189 ff. 24 Hans-Peter Haferkamp

Hinzu kam eine sprunghafte Zunahme der bereits vor 1933 in ihren Möglichkeiten erkannten ~eneralklauseln~',die in Anlehnung an Carl Schmitt vom Reichsgericht mit einem politisierten Maßstab versehen wurden, der die nationalsozialistischen Interessen in Treu und Glauben, den guten Sitten und ähnlich wertausfüllungsbe- dürftigen Rechtsbegriffen era ankerte^^. Auch neue Umwertungstechniken kamen hinzu wie Sieberts Lehre vom ~echtsmißbrauch~~oder Haupts faktischer Ver- trag5'. Selten blieben jedoch offengelegte Verstöße gegen vorrevolutionäres Recht, wie sie in Anwendung vieler seitens der Literatur vorgeschlagener Gesetzesdurchbre- chungsgründe möglich gewesen wären. Weder das von Schmitt präferierte konkrete Ordnungsdenken noch Argumente wie Rasse und Volkstum, Führerwille oder Par- teiprogramm wurden öfter ohne legislative Rückbindung als ausschlaggebendes Argument für eine Nichtanwendung eines entgegenstehenden Gesetzes verwendet. Karriere in der Rechtsprechung machten vielmehr diejenigen seitens der Literatur im nach 1933 einsetzenden „MethodenwettlauF' angebotenen Umwertungstechni- ken, die zumindest äußerlich ein Judizieren in Anlehnung an den Gesetzeswortlaut ermöglichten5'. In ihrer juristischen Argumentation blieben die Urteile des Reichs- gerichts trotz der zunehmend nationalsozialistisch ausgerichteten Terminologie da- her äußerlich versucht traditionell und ,,justizförmig".

2.2 Nochmals: RGZ 145, S. 1 ff.

Neben dem Unrechtsgehalt fallen die Urteile des Reichsgerichts in der auf Rü- thers zurückgehenden Blickrichtung somit vor allem durch eine verschleiernde Nutzung juristischer Methode auf. „Aus geheimnisvollen [ . . . ] Gründen muß es die Juristen des Dritten Reichs beruhigt haben, daß sie, auch wenn das Ergebnis durch den Willen des Führers, der selbst Gesetz war, unverrückbar vorgegeben

46 Wie Anm. 42, S. 199 ff. 47 Analyse der Rechtsprechung auch bei Börner (wie Anm. 25), passim. 48 Schmitt, Fünf Leitsätze für die Rechtspraxis, DR 1933, S. 201 ff.; deutlich in diesem Sinne RGZ 150, S. 199 vom 3. 2. 1936; zum Ganzen auch Michael Stolleis, Gemeinwohlfor- meln im nationalsozialistischen Recht (Abhandlungen zur rechtswissenschaftlichen Grundla- genforschung 15), Berlin 1974, S. 100 ff. 49 Hans-Peter Haferkarnp, Die heutige Rechtsrnißbrauchslehre (wie Anm. 25), S. 224 ff. und passim. 50 Hauuts Lehre und ihre Vorläufer wurden iedoch erst nach Kriegsende- von der Recht- sprechung rezipiert, vgl. Peter Lambrecht, Die Lehre vom faktischen Vertragsverhältnis, Tü- bingen 1994. S. 70 ff.: Rainer Sehröder: Zur Rechtsgeschäftslehre in nationalsozialistischer Zeit, in, Salje (Hg.), Recht und Unrecht im Nationalsozialismus, Münster 1985, S. 8 ff. 51 Rüthers, Unbegrenzte Auslegung (wie Anm. I), passim. Diese Einschätzung auch be- reits in der bemerkenswerten Analyse von Lange, Die Entwicklung der Wissenschaft vom Bürgerlichen Recht seit 1933. Eine Privatrechtsgeschichte der neuesten Zeit, Tubingen 1941. hier S. 15. Begründungsverhalten des Reichsgerichts 25

war, immer noch glaubten, in der Lage zu sein, ihre Ergebnisse methodisch ein- wandfrei aus dem geschriebenen Recht zu gewinnen."52 Warum also gingen die Richter des Reichsgerichts nicht zu einer bekenntnishaf- ten, offen im Sinne der Machthaber politisierenden Urteilsbegründung über? Das oben herausgestellte Urteil des Reichsgerichts zu Q 1333 BGB aus dem Jahr 1934" bietet hierzu Anschauungsmaterial. Rüthers wertete das Urteil als ein Bei- spiel, welches die vorgegebene Gesetzestreue als Scheintreue entlarve und das „unmittelbare Einfließen weltanschaulicher Grundsätze in die Zivilrechtspre- chung" beweise54. Zieht man zur Methode erweiternd den Inhalt der Entscheidung heran, so fällt dagegen zunächst das Ergebnis auf: Die Anfechtungsklage wurde abgewiesen. Die Entscheidung sprach sich also zugunsten der jüdischen Ehefrau aus. Dogmatisch wurde dies, wie gezeigt, durch Gleichstellung der Tatsache (jüdische Konfession) mit der nach 1933 erfolgenden Wertung (Rassenlehre) erreicht. Diese Verankerung nationalsozialistischer Rassenideologie im Tatbestand der Norm führte jedoch nicht zu einem an eben dieser Ideologie ausgerichteten Ergebnis. Die nationalso- zialistische Wertung macht aus der Konfession rückwirkend eine Tatsache. Daraus folgte, daß der Kläger bereits mit Eheschließung um die persönliche Eigenschaft gewußt hatte und Q 1333 BGB tatbestandlich ausschied. Denkbar wäre auch die umgekehrte Argumentation gewesen, die spätere Urteile auch einschlugen: Die Wertung wird zur Tatsache, dann wäre die Kenntniserlangung später erfolgt und Q 1333 BGB einschlägig. Das Ergebnis war offenbar gewollt und durch nationalsozialistische Zugeständ- nisse iin Rahmen traditioneller Dogmatik legitimiert. Eine Eigenwertung des Se- nats wurde nach außen jedoch verneint, vielmehr folgte das Ergebnis lediglich der richterlichen Bindung ans Gesetz. Das Gericht zog unterstützend eine Analyse der wichtigsten damals geltenden Rassengesetze heran und stellte fest: „Daraus ergibt sich, daß sich der Gesetzgeber eines Eingriffs in den Bestand bereits vorhandener Mischehen mit Vorbedacht enthalten hat [ . . . ] Man würde also über die Absichten des Gesetzgebers hinausgehen, wenn man die Anfechtung früher geschlossener Mischehen über die Grenzen des Q 1333 BGB hinaus zulassen wollte"55. Metho- disch wäre es nun durchaus denkbar gewesen, das gefundene Ergebnis durch einen Einsatz von Generalklauseln wie Q 138 BGB zu korrigieren. Der Senat erkannte dies und stellt auch heraus, daß bei deren Anwendung „den Gerichten eine Weiter- entwicklung des Rechts im Sinne nationalsozialistischen Denkens" obliege. Ge- rade hier erfolgte jedoch erneut die Betonung der Gesetzesbindung, und scharf

52 Luig (wie Anm. 14), S. 2536. 53 RGZ 145, S. I ff. 54 Rüthers, Unbegrenzte Auslegung (wie Anm. I), S. 155 f. 55 RG,a.a.O.,S.6f. 26 Hans-Peter Haferkamp wurde klargestellt: „Die Anwendung sonstiger Generalklauseln kommt hier über- haupt nicht in ~ra~e."'~ Methode erscheint als bewußt eingesetzte und ergebnisorientierte Strategie. Der Senat nutzte Methode zur Rechtfertigung seines Verhaltens und suggerierte: Der Richter erfüllt nur seine Pflicht, die Entscheidung war unpolitische Subsumtion, nicht politische Dezision. Erhärtet wird dieser Verdacht durch die Vorgeschichte des alles'^. Schon vor dem Landgericht Heidelberg hatte der klägerische Anwalt den inzwischen aufge- tretenen Konflikt mit den „deutschen" Ansichten des Klägers herausgestellt, und auch das Landgericht hob die körperliche, geistige und charakterliche Verschieden- heit zwischen Juden und Deutschen in seiner Begründung hervor. In einer aufse- henerregenden ~ntscheidun~'~hatte dann das OLG Karlsruhe als Berufungsgericht den Fall zu grundsätzlichen und hetzerisch-antisemitischen Ausführungen genutzt, die in der Feststellung gipfelten, die „Paarung6' zwischen Deutschen und Juden sei nicht nur „nicht wünschenswert [ . . . 1, sondern verderblich, unnatürlich und wider- natürlich". Als erstes Oberlandesgericht hatte Karlsruhe damit der Anfechtung der Rassenmischehe stattgegeben. Dies erregte breites Aufsehen, Schiller verweist auf Besprechungen im Berliner Abendblatt, Karlsruher Tagblatt und der Frankfurter Zeitung. Die Bevölkerung reagierte mit Leserbriefen überwiegend verstört". Von nationalsozialistischer Seite wurde das Urteil dagegen als „Urteil, wie wir es spre- chen würden"60 gelobt, und auch Reichsrechtsführer Hans Frank hob das Rich- tungsweisende der Entscheidung vor dem Karlsruher Juristentag hervor6'. Das Reichsgericht entschied somit unter und gegen starken politischen Druck. Die Betonung der eigenständig juristischen Problematik erscheint aus dieser Per- spektive als Abwehrstrategie. Bei offener politischer Argumentation mußte das Reichsgericht mit Widerstand rechnen.

2.3 Methode als Abwehrstrategie?

Dieses Ergebnis darf nicht vorschnell verallgemeinert werden. Insbesondere darf von diesem Einzelurteil nicht auf richterlichen Widerstand beim Reichsgericht all- gemein geschlossen werden. Dies wurde durch eine Vielzahl verbrecherischer Ur- teile widerlegt. Interessant ist vielmehr der Aspekt des Einsatzes von Methode als Abwehrstrategie. Juristische Methode konnte gleichermaßen für wie gegen Gegner

56 RG, a. a. O., 7. 57 Dargestellt von Schiller (wie Anm. 26), S. 324 ff. 58 JW 1934, S. 1371. 59 Angaben bei Schillel; (wie Anm. 26), S. 330. 60 Jugend und Recht (Zeitschrift des BNSDJ), 8. Jahrgang, Heft 3, S. 28. Schiller verweist weiterhin auf den Völkischen Beobachter und den „Führere',a. a. O., S. 329. 61 Der Führer vom 22. 4. 1934; nach Schillel; a. a. O., S. 330. Begründungsverhalten des Reichsgerichts 27 und Verfolgte des Nationalsozialismus eingesetzt werden. In beiden Fällen diente sie jedoch auch gegenüber Nichtjuristen zur Legitimation. Keineswegs bietet sich diese Hypothese nur für Urteile mit politisch den Machthabern unliebsamen Ergeb- nissen an. Wie die inzwischen genau untersuchten Rahmenbedingungen der Zivil- justiz in den ersten Jahren nach 1933 und etwa die für die Oberlandesgerichte Celle und Karlsruhe erarbeitete ~innen~ers~erktive~~zeigen, fühlte sich die Justiz auch über Einzelentscheidungen hinaus bedroht. Trotz der Begünstigung der rech- ten Parteien durch weite Teile der Judikatur sah sich die Justiz von der nationalso- zialistischen Presse schon am Ende der Weimarer Republik scharf angegriffen63. Teilweise unter namentlicher Nennung mißliebig entscheidender Richter wurden Urteile kritisiert und politischer Druck auf die entscheidenden Richter ausgeübt64. Geschah dies auch überwiegend im Strafrecht, so wurde das Signal, der Angriff auf die richterliche Unabhängigkeit, wohl auch im Zivilrecht wahrgenommen. Die ersten Jahre nach der Machtergreifung waren geprägt von Kompetenzkonflikten zwischen Parteiorganisationen und der ~ustiz~~.Die aggressive Anfangszeit der Diktatur, die vereinzelt den Aufmarsch der SA in den Gerichtssälen zeigte, durfte dieses Gefühl der Verunsicherung und der Angst vor Kompetenzverlust zugunsten parteilicher Organisationen noch verstärkt haben66. Es bestand also ein generelles Interesse, die einzelnen Entscheidungen der öffentlichen und politischen Diskussi- on zu entziehen. In diese Zeit fällt es auch, daß die Justiz die seitens der Literatur vorgeschlagenen Argumentationsformen zur offenen Gesetzesdurchbrechung, wie die dargestellte „Kampfklausel" gegen das alte Recht, zugunsten traditioneller Fle- xibilisierungsmechanismen ablehnte67. Der Versuch, durch ein rechtsförrniges Er- scheinungsbild die Entscheidungen zu „entpolitisierenu, kam also aus Sicht der Richterschaft dem Bedürfnis entgegen, aus der politischen Schußlinie zu geraten und die Verantwortung auf die Legislative abzuwälzen. Gleichzeitig konnte dieses Vorgehen das Bemühen stützen, die Professionalität der Rechtsfindung gegenüber den Versuchen der Etablierung einer rein politischen Justiz hervorzuheben6'. Schwächer dürfte demgegenüber die bei RGZ 145, S. 1 ff. zutage tretende Wider- standstendenz zu werten sein. Die Richterschaft sympathisierte in weiten Teilen

62 Schiller (wie Anm. 26); Volker Kregel, Die Personalpolitik der Justiz im „Dritten Reich am Beispiel des Oberlandesgerichts Celle, in: Dreier1 Sellert (wie Anm. 3), S. 226 ff. 63 Vgl. Manfred Krohn, Die deutsche Justiz im Urteil der Nationalsozialisten 1920- 1933, Diss. Kiel 1989 (= Rechtshistorische Reibe 91), Frankfurt a. M. U. a. 1991. 64 Beispiele bei Schiller (wie Anm. 26), S. 35 ff. 6s Hierzu Lothar Gruchmann, Justiz im Dritten Reich 1933- 1940. Anpassung und Unter- werfung in der ~raGürtner (= Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte 28), München 1988. 66 Zur Verunsicherung der Anfangszeit Gruchmann, a. a. O., S. 471 ff. Von einer systema- tischen Justizbeeinflussung kann dabei keine Rede sein, vgl. Schröder (wie Anm. 26), S. 253 ff. 67 Hierzu auch Meinck (wie Anm. I), S. 34. 68 ZU den Versuchen, Parteimitglieder der ordentlichen Justiz zu entziehen Schiller (wie Anm. 26), S. 63 ff. 28 Hans-Peter Haferkamp bereits seit Weimar mit rechtem ~edankengut~~,wenn sie zumeist auch wohl dem Stahlhelm näher stand als der NSDAP. Auch offen politische Entscheidungen zu- gunsten der Machthaber waren jedoch angesichts der Unsicherheit darüber, was ei- gentlich die nationalsozialistische Ideologie im konkreten Fall forderte, kein siche- res Mittel, um die eigene Position zu festigen7'. Beachtlich scheint diesbezüglich sicher auch die im Kaiserreich oder Weimar erfolgte Ausbildung, die es vielen tra- ditionell an juristischer Technik geschulten Richtern schwer machte, frei politisch gegen das Gesetz zu argumentieren71. Dies bedürfte näherer ~ntersuchung~~. Insgesamt vermag diese Hypothese m. E. zu erklären, warum die Gerichte zu methodischen Begründungen griffen, die in der Kollegenschaft, wie auch heute, wohl überwiegend als Scheinargumentationen durchschaut wurden. Gedachtes Pu- blikum dieser Begründungsversuche waren neben den Fachkollegen auch Nicht- fachleute, insbesondere politisch gefährliche Gegner der Justiz. Diesen gegenüber galt es das alte Spezialistendogma zu verteidigen und gleichzeitig höflich-unpoliti- sche Tätigkeit zu suggerieren. Methode hatte insofern einen ganz zeitgebundenen Zweck.

3. Judikatur des Obersten Gerichts

3.1 Untersuchungsgegenstand

Mit Fortgeltung des BGB bei gleichzeitigem Aufbau sozialistischer Wirtschafts- strukturen stand die Zivilrechtsprechung der DDR auf den ersten Blick vor ver- gleichbaren Anwendungsproblemen. Im Gegensatz zur Ziviljustiz nach 1933 ist

69 Allgemein Kurt Sontheimea Antidemokratisches Denken in der Weimarer Republik, 4. Aufl. 1994; für das OLG Celle Schröder (wie Anm. 26), S. 272 ff. 70 Hubert Rottleuthner; Substanzieller Dezisionismus - Zur Funktion der Rechtsphiloso- phie im Nationalsozialismus, in: ders. (Hg.), Recht, Rechtsphilosophie und Nationalsozialis- mus. Vorträge aus der Tagung der deutschen Sektion der Internationalen Vereinigung für Rechts- und Sozialphilosophie in der Bundesrepublik Deutschland vom 11. und 12. Oktober 1982 in Berlin (West), Wiesbaden 1983, S. 20 ff. 71 Die Erfahrungen Weimars weisen insofern aber bereits auf ein freieres Selbstverständ- nis, wenn auch die Ergebnisse der konkret getroffenen Entscheidungen zumeist im traditio- nellen Rahmen verblieben; Rückert, Richtertum als Organ des Rechtsgeistes: Die Weimarer Erfüllung einer alten Versuchung, in: NörrlSchefoldlTenbruck (Hgg.): Geisteswissenschaf- ten zwischen Kaiserreich und Republik, Stuttgart 1994, S. 267 ff.; ders.: Richterrecht seit Weimar?, in: Festschrift für Sten Gagnkr zum 3. März 1996, Ebelsbach 1996, S. 203 ff.; K. W Nörr: Der Richter zwischen Gesetz und Wirklichkeit. Die Reaktion des Reichsgerichts auf die Krisen von Weltkrieg und Inflation, und die Entfaltung eines neuen richterlichen Selbst- verständnisses (= Juristische Studiengesellschaft Karlsruhe, B. 222). Heidelberg 1996. 72 Biographien zu den Richtern des Reichsgerichts fehlen weitgehend. Eine Ausnahme bietet Dieter Kolbe, Reichsgerichtspräsident Dr. Erwin Bumke (Studien und Quellen zur Ge- schichte des deutschen Verfassungsrechts) Karlsruhe 1975. Bumke war jedoch mit Strafrecht befaßt und saß dem 3. Strafsenat vor. Begründungsverhalten des Reichsgerichts 29 diese Frage für die DDR bisher nahezu ausschließlich aus rechtstheoretischer Per- spektive untersucht worden. Eine systematische Auswertung der Entscheidungstä- tigkeit des Obersten Gerichts fehlt bisher73. Diese Lücke kann hier nicht geschlos- sen werden. Die nachfolgende Untersuchung der Judikatur bedarf vielmehr der zweifachen Eingrenzung: (1) Als Untersuchungszeitraum werden nur die fünfziger Jahre herangezogen. Spätester Zeitpunkt ist das Jahr 1958, in dem die Babelsberger Konferenz auch die Position des Obersten Gerichts zum Umgang mit überkommenem Gesetzesrecht neu bestimmte. Die zeitliche Einschränkung rechtfertigt sich nicht nur arbeitsöko- nomisch, sondern auch aus dem besonderen Umwertungsbedürfnis dieser ersten Jahre. Mit steigender Normsetzungstätigkeit und mit Festigung der Judikatur nahm die Zahl und Bedeutung der Übergangsjudikatur naturgemäß ab. Auch orientiert sich der kurze Untersuchungszeitraum an der besonders engen Steuerung des DDR-Rechts durch Vorgaben der Partei. Weder aus einer allgemeinen „Rechts- theorie des Marxismus-Leninismus", noch aus einer Überschau der hierzu im Lau- fe von 40 Jahren veröffentlichten Stellungnahmen lassen sich sichere Aussagen über die theoretischen Vorgaben treffen. Die Rechtsprechung und ihr Verhältnis zum Gesetz war dem politischen Gezeitenwechsel, der in der DDR mitunter sehr kurz sein konnte, ausgesetzt. Weniger ist unter diesen Umständen mehr. (2) Untersuchungsgegenstand sind nur veröffentlichte Entscheidungen des Ober- sten Gerichts. Wie zu zeigen sein wird, Iäßt die besondere Stellung des Obersten Gerichts eine Kopplung mit Entscheidungen anderer Gerichte nicht zu. Die gesteu- erte Veröffentlichungspraxis erlaubt bei einem Leitungsorgan wie dem Obersten Gericht gleichzeitig eine bloße Analyse der Entscheidungssammlungen, um in der hochpolitischen Frage des Umgangs mit überkommenen Gesetzen zu richtungs- weisenden Aussagen zu gelangen.

73 Erste Auswertungen durch Heide Pfarr; Auslegungstheorie und Auslegungspraxis im Zivil- und Arbeitsrecht der DDR (Schriften zur Rechtstheorie 30), Berlin 1972, jedoch ohne genauere zeitliche Epochenbildung. Genauer nun die Beispiele bei Rainer Schröder; Zivil- rechtsprechung in der DDR während der Geltung des BGB, in: Heinz MohnhauptIDieter Si- mon, Vorträge zur Justizforschung, Frankfurt a. M. 1993, S. 527 ff., 563 ff. Weitgehend an der Rechtstheorie orientiert Inga Murkovits, Sozialistisches und bürgerliches Zivilrechtsden- ken in der DDR (= Abhandlungen zum Ostrecht 7), Köln 1969. Spätere Entwicklungen be- treffen Herbert Mück, Auslegung von Rechtsnormen in der DDR und der UdSSR, ROW 1978, S. 14 ff.; Brunner (wie Anm. 15), Abschnitt 11: Anwendung und Auslegung von DDR- Recht; Jörn Eckert, Das ZGB der DDR in der Rechtsprechung, in: ders. IHattenhauer, Das Zivilgesetzbuch der DDR vom 19. Juni 1975, Goldbach 1995, S. 208 ff.; Jürgen Löbbe, So- zialistische Rechtsanwendung. Dargestellt an der Rechtstheorie und der Rechtsprechung des OG der DDR zum ZGB (= Studien zur Rechtswissenschaft), Hamburg 1998. 30 Hans-Peter Haferkamp

3.2 Entstehungsphase

Das Oberste Gericht wurde dem Auftrag der Verfassung vom 7. 10. 1949 ge- am 8. 12. 1949 gegründet75. Zum Präsidenten wurde im Parteiproporz Kurt Schumann (NDPD), zu seiner Stellvertreterin (SED) ernannt, beide Volljuristen. Die eigentliche Leitung dürfte dabei Benjamin oblegen haben, die den politisch angreifbaren Schumann, dessen Vergangenheit als Kriegsgerichtsrat be- reits 1952 bekannt wurde, weitgehend umging und mit dem Vorsitz im ersten Straf- senat die politisch entscheidenden Fälle kontro~lierte~~.Von den verbleibenden 11 Richtern hatten vier die ersten Volksrichterlehrgänge in Brandenburg und Bad Schandau besucht77. Zumindest zwei weitere Richter waren sicher ~olljuristen~~. Leiter des 1. und bis 1952 einzigen Zivilsenats wurde Wilhelm Heinrich, Vollju- rist, langjähriger Rechtsanwalt und dann Ministerialrat im Justizministerium Sach- ~en~~. Gegen den Widerstand der LDP~' wurde das Gericht im Zivilrecht als reines Kassationsgericht konzipiert8'. Neben den Revisionsgründen der 88 549-551 ZPO war es daher immer dann zuständig, wenn „die Entscheidung der Gerechtig- keit gröblich widerspricht"82. Antragsberechtigt waren nicht die Parteien des

74 Art. 131 Abs. 1. 75 Gesetz über die Errichtung des Obersten Gerichtshofes und der Obersten Staatsanwalt- schaft der DDR vorn 8. 12. 1949 (OGStAG), GBI. S. 11 1, in Reaktion auf Art. 127 der Ver- fassung vom 7. 10. 1949, der die Errichtung eines Obersten Gerichtshofs vorsah. Zur Grün- dungsgeschichte Janke, Zur Gründung des Obersten Gerichts der DDR, NJ 1995, S. 564 ff.; Andreas Gängel, Das Oberste Gericht der DDR - Leitungsorgan der Rechtsprechung - Ent- wicklungsstationen, in: Hubert Rottleuthner, Steuerung der Justiz in der DDR, Köln 1994, S. 253 ff. 76 Hierzu Andrea Feth, Hilde Benjamin - Eine Biographie (= Schriftenreihe Justizfor- schung und Rechtssoziologie l), Berlin 1997, S. 79 ff. 77 Elfriede Göldnel; später Vorsitzende des Familienrechtssenats, 1. Lehrgang Branden- burg; Helene Drechslel; 2. Lehrgang Brandenburg; Maximilian Stegmann, Mitglied des Präsi- diums (Oberrichter), 1. Lehrgang Bad Schandau; Herr Trapp, 2. Lehrgang Bad Schandau; nach Gängel (wie Anm. 73, S. 255 Anm. 15; Sarge (Leiter), Das Oberste Gericht der DDR - Rechtsprechung im Dienste des Volkes: Mit einem Dokumentenanhang, Berlin (Ost), 1989, S. 20.. 78 Neben Heinrich (dazu sogleich) DI: Kurt Cohn (LDP), Ministerialrat im JMin Sachsen, später Vorsitzender des 2. Zivilsenats. 79 Nach Sarge (wie Anm. 77), S. 20. Vgl. auch W Heinrich, Politische Erinnerungen und Erkenntnisse, Berlin 1969. 80 Hierzu Janke, a. a. 0. 81 Zu den Vorarbeiten zu dieser Regelung auch Torsten Reich, Die Kassation in Zivilsa- chen. Maßnahmeakt oder Rechtsinstitut, http:llwww.rewi.hu-berlin.delFHIl97-Illreich-t.htm vom 24. 11. 1997. 82 5 12 b) OGStAG. Nach Fechner sollte es immer dann zur Kassation kommen, „wenn ein Urteil gegen das Gesetz des demokratischen Staates verstößt oder der Gerechtigkeit gründlich widerspricht", Provisorische Volkskammer der DDR, 6. Sitzung vom 7. 12. 1949, S. 83. Begründungsverhalten des Reichsgerichts 3 1

Rechtsstreits, sondern ausschließlich der Generalstaatsanwalt der DDR*' innerhalb eines Jahres nach ~echtskraft'~.Die von der 2. Parteikonferenz initiierte Justizre- form brachte mit dem GVG vom 9. 10. 19.52~' die Möglichkeit für den Präsidenten des Obersten Gerichts, eigenständig Kassationsanträge zu stellen. Gleichzeitig wurde das Oberste Gericht zweitinstanzliche Rechtsmittelinstanz gegen Entschei- dung des Bezirksgerichts (Protest, Berufung, ~eschwerde)'~. Wie klar sich die Gesamtkonzeption des Obersten Gerichts von der Stellung des Reichsgerichts unterschied, verdeutlichte die nun eingeführte Richtlinienkompe- tenzs7. Das Oberste Gericht wurde zum Anleitungsorgan. Auch wenn, wohl infolge des Widerstandes eines Teils der Volkskammer bei der Entstehung des OGStAG, die Möglichkeit, das Oberste Gericht zu einer traditionellen Revisionsinstanz aus- zugestalten, zunächst offengehalten wurdexs, so wurde doch von Anfang an deut- lich, daß das Oberste Gericht „nicht im Interesse der Partei geschaffen worden [war], sondern ausschliel3lich im Interesse der Allgemeinheit". Es ging um „Wah- rung der Rechtseinheit, [ . . . ] Beseitigung falscher Urteile und die Fortentwicklung des ~echts"'~.Das Oberste Gericht sollte eine ,,Waffe der Demokratieugo werden und zusammen mit der ~eneralstaatsanwaltschaft~'die Rechtsprechung, die be- sonders in den Oberlandesgerichten zunächst noch von übernommenen Richtern ausgeführt wurde, politisch anleiten. Richtlinien, individuelle ~nleitun~~'und Veröffentlichungen dienten ebenso diesem Ziel, wie die veröf- fentlichten Urteile des Gerichts. Gerade die Möglichkeit mißliebige Urteile auch ohne Mitwirkung der Parteien zu kassieren, sollte eine flächendeckende Kontrolle der Rechtsprechung gewährleisten94 und die Durchführung politischer Vorgaben sicherstellen9'.

P-

83 3$6 I b), I1 I1 OGStAG. 84 3 13 OGStAG. Bei Entscheidungen zwischen dem 8. Mai 1945 und Inkrafttreten des Gesetzes war dieser Termin Fristbeginn. 85 GBI. I S. 983 ff.; hierzu Benjamin, Das Gerichtsverfassungsgesetz, NJ 1952, S. 434 ff. 86 5 55 I GVG. 87 5 58 GVG. 88 Hans Nathan, Die obersten Rechtspflegeorgane der Deutschen Demokratischen Repu- blik, WJ 1949, S. 303 ff., 304. 89 So aber ebenfalls Nathan, a. a. O., S. 304. 90 Nathan, a. a. O., S. 305. 91 Im Zivilrecht korrespondierte hiermit die kontrollierende Mitwirkungsmöglichkeit des Staatsanwalts in Zivilsachen; hierzu Hans-Peter Haferkamp, Die Mitwirkung des Staatsan- walts im Zivilverfahren der DDR, in: Rainer Schröder (Hg.), Zivilrechtskultur in der DDR - Band 1, Berlin 1999, S. 367 ff.; jüngst Kar1 A. Mollnau, Die staatsanwaltschaftliche Gesetz- lichkeitsaufsicht in der DDR als gescheiterter Versuch eines sowjetischen Rechtstransfers, in: Gerd Bender U. Ulrich Falk (Hg.), Recht im Sozialismus, Bd. 3 (Ius Commune Sonderhefte 1 15), Frankfurt a. M. 1999, S. 241 ff., 255 ff. 92 5 58 GVG 1952. 93 Beispiele bringt Güngel (wie Anm. 75), S. 261, Anm. 36. 94 Dies gelang systematisch erst ab 1957, hierzu Reich (wie Anm. 81). 32 Hans-Peter Haferkamp

Während das Reichsgericht mit weitgehend96 übernommenem Personal, ohne systematische politische Schulung und im Kompetenzkampf mit der Partei judi- zierte, war das Oberste Gericht als Teil des Staatsapparats von Anfang an mit poli- tisch zuverlässigen Richtern besetzt und in enger Verzahnung mit dem Ministerium der Justiz und der Generalstaatsanwaltschaft als verlängerter Arm der Partei zur Kontrolle und Steuerung der übrigen Justiz berufen97. Die Ausgangsposition war demnach eine völlig andere.

3.3 Judikatur zu vor 1945 ergangenen Normen

Bemerkenswert ist, daß an der Spitze der neuen Institutionen, dem Obersten Ge- richt und der Generalstaatsanwaltschaft, gleichzeitig mit Hilde Benjamin, weniger Kurt ~chumann~~,und dem Generalstaatsanwalt Ernst Melsheimer Wortführer in Fragen der Rechtstheorie standen. Während die sozialistische Rechtswissenschaft zu Beginn der fünfziger Jahre noch keine Führungsrolle entwickeln konnte", ent- falteten Benjamin und Melsheimer; aber auch Schumann und die Oberrichter Cohn und Heinrich vor allem in der Neuen Justiz rege ~ublikationstäti~keit'~~.Das Oberste Gericht arbeitete dabei allgemein eng mit der Generalstaatsanwaltschaft zusammen, die im gleichen Gebäudekomplex untergebracht war. Wöchentlich fan- den gemeinsame Sitzungen statt'". Es wurden Publikationspläne erstellt. Gleich-

95 Deutlich Hans Nathan, Zwei Jahre Oberstes Gericht und Oberste Staatsanwaltschaft der Deutschen Demokratischen Republik, NJ 1951, S. 544 ff. Näher Rottleuthner (wie Anm. 75), passim. 96 Offene Regimegegner und Juden wurden jedoch schnell abgeschoben (Überblick bei Kregel (wie Anm. 62); hinzu kam ein zunehmend politisiertes Beförderungsrecht, vgl. Schrö- der (wie Anm. 25), S. 249 ff. 97 Rottleuthner (wie Anm. 75), S. 26 spricht wegen der dabei vorliegenden Kompetenzü- berlappung zwischen MinJ, GenStA und OG von den „wilden Jahren" der Justizsteuerung. 98 Zu Schumann, der 1960 wegen seiner ~oiitischenVerstrickungen im Nationalsozialis- mus (NSDAP, Kriegsgerichtsrat) vom Präsidentenamt zurücktrat, Rottleuthner (wie Anm. 75), S. 576. 99 Hierzu Hans-Andreas Schönfeldt, Zur Geschichte der Rechtswissenschaft in der SBZI DDR von 1945 - 1960. Eine Skizze. in: Heinz Mohnhauot I Hans-Andreas Schönfeldt. Norm- durchsetzung in Osteuropäischen ~achkriegs~esellschafkn(1944 -1989), Bd. I: Sowjetische

Besatzungszone in Deutschland - Deutsche Demokratische Re~ublik(1945- 1960), (=~ Ius ~ommunzSonderhefte 94), Frankfurt a. M. 1997, S. 190 ff.; ~ernhardDktelkamp, Zur Rol- le der Rechtswissenschaft in der Sowjetisch besetzten Zone Deutschlands und der frühen Deutschen Demokratischen Republik, ZNR 1996, S. 86 ff. 100 Nahezu vollständige Liste der Veröffentlichungen von Melsheimer und Benjamin in diesem Zeitraum bei Rottleuthner (wie Anm. 75), S. 637 ff. (Lit. Verz.); Kurt Schumann, Das Oberste Gericht der Deutschen Demokratischen Republik als Kassationsgericht, NJ 1950, S. 240 ff.; ders., Die erzieherischen Aufgaben des Obersten Gerichts in der gegenwärtigen Lage, NJ 1955, S. 708 ff.; Wilhelm Heinrich, Wesen und Wirkung der Kassation in Zivilsa- chen, NJ 1950, S. 333; ders., Volkseigentum und Mieterschutz, NJ 1953, S. 773 ff.; Kurt Cohn, Die Notwendigkeit der Kassationsfrist in Zivilsachen, NJ 1964, S. 108 ff. Begründungsverhalten des Reichsgerichts 33 zeitig hielten Dozenten der Akademie für Staats- und Rechtswissenschaft theoreti- sche Vorlesungen vor den Richtern des Obersten ~erichts"~.Benjamin bezeich- nete ihr Verhältnis zu Melsheimel; den sie „ständig6' in den verschiedenen Partei- organisationen traf, rückblickend als ,,gute Freund~chaft'"~~. Auch der Vorsitzende des 1. Zivilsenats, Wilhelm Heinrich, war als Mitarbeiter der Kommission der Humboldt-Universität zur Ausarbeitung des ersten Lehrbuchs über den sozialistischen Zivilprozeß ständig mit rechtstheoretischen Fragen be- faßtlo4. Die starke personelle und institutionelle Verflechtung des Obersten Ge- richts mit den maßgebenden sozialistischen Autoren führte, wie im folgenden zu zeigen sein wird, zu einer schnellen Ideologisierung der Urteilsbegründungen. Das Oberste Gericht nahm am 24. März 1950 seine Rechtsprechungstätigkeit auf''? Die ersten Urteile des Zivilsenats zeigten zunächst eine starke Orientierung an traditioneller Dogmatik. Die Bestimmungen wurden dem damaligen Stand der westlichen Rechtsprechung gemäß angewendet'06, wiederholt finden sich Verwei- se auf die Rechtsprechung des Reich~gerichts"'~,auf die Materialien zum BGB108 und auf Weimarer ~ornmentarliteratur'~~.Rückblickend warf Heinrich 1969 den unter seinem Vorsitz gefällten frühen Urteilen vor, noch zu stark den ,,überkomme- nen Rechtsbegriffen und Rechtsanschauungen" verpflichtet gewesen zu sein, die Umsetzung der neuen Anschauungen sei ,,leichter gesagt als getan" ge~esen"~. Stark von politischen Erwägungen durchzogen, zeigte sich dagegen bereits früh der Einsatz der Rechtswegverweigerung unter formelhafter Berufung auf Q 13 GVG, der einer Ersetzung des fehlenden Verwaltungsrechtswegs durch die Zivilju- stiz entgegenstehe"'. Diese Rechtsprechung trug viele Anzeichen von Willkür und

101 Vgl. Gänge1 (wie Anm. 75), S. 256. 102 ZU beidem Benjamin U. a., Zur Geschichte der Rechtspflege der DDR 1949- 1961, Berlin (Ost) 1980, S. 78. 103 Benjamin, Aus den ersten Jahren des Obersten Gerichts, StuR 1969, S. 386 ff., 387; zweifelnd Feth (wie Anm. 76). S. 81. 104 Heinrich (wie Anm. 79), S. 11 1 f. 105 Benjamin (wie Anm. 103), S. 388. Beispiel für dogmatisch saubere Argumentationen zum schwierigen Gebiet der $0 275, 323, 537,542 BGB ist OGZ 1, S. 9 ff. vom 5. 4. 1950. 107 Etwa OGZ I, S. 9 ff., 11 vom 3. 4. 1950. 108 Etwa OGZ 1, S. 19 ff., 21 vom 5. 7. 1950 auf Mugdan. LoQ Etwa OGZ 1, S. 30 f., 31 vom 12. Juli 1950; S. 40 ff., 42 vom 20. September 1950 auf die 9. Aufl. des Staudinger; erschienen zwischen 1925 und 1931. Die 10. und teilweise 11. Auflage, die während der Zeit des Nationalsozialismus erschien, wurden nicht herangezo- gen. 110 Heinrich (wie Anm. 79), S. 11 1 f. iii Zeitgenössisch: Herbert Krögei; Zur Frage der Zulässigkeit des ordentlichen Rechtswe- ges, NJ 1952, S. 259; Hans Nathan U.a., Das Zivilprozeßrecht der DDR, Berlin 1957, Bd. 1, S. 50 ff. Die Verwaltungsrechtsprechung stand faktisch ab 1941 still, vgl. Michael Stolleis, Die Verwaltungsgerichtsbarkeit im Nationalsozialismus, in: ders., Recht und Unrecht im 34 Hans-Peter Haferkamp neigte in ihren Leitsätzen zu ~iders~rüchlichkeiten"~.Unter politischen Opportu- nitätsgründen wurde eine öffentliche Pflicht Privater zur Denunziation von NS-Be- lasteten beim Arbeitgeber statuiert und der Rechtsschutz des Betroffenen dagegen unter Hinweis auf die hoheitliche Natur dieser Pflicht verwehrt"! Andererseits fielen Denunziationen während des Nationalsozialismus unter § 826 BGB"~.Spä- ter galt ganz allgemein, daß für Klagen, die bezweckten ,die Verklagte an der Er- füllung einer staatsbürgerlichen Pflicht zu hindern", der Rechtsweg unzulässig seiu5.

3.3.1 Form-Inhalt-These

Die Frage des Umgangs mit überkommenen Gesetzen tauchte erstmals für ge- setzliche Hemmungen der Verjährung auf, die zwischen 1939 und 1944 aus Kriegsgründen erlassen worden waren1I6.Formelhaft wurden als Gründe für eine

Nationalsozialismus. Studien zur Rechtsgeschichte im Nationalsozialismus, Frankfurt a.M. 1994, S. 190 ff., 215 mwN. Wie durch Kontrollratsgesetz Nr. 36 vom 10. 10. 1946 gefordert, befahl die SMAD mit Befehl 173 vom 8. Juli 1947 die Wiederherstellung der Verwaltungsge- richtsbarkeit. Vorher ergingen bereits entsprechende VOen von Sachsen, V0 vom 13. 4. 1946, GBVB S. 133; Sachsen-Anhalt, V0 vom 25. 11. 1946, VOBI. S. 503. Brandenburg folgte mit V0 vom 6. 2. 1947, GVOBI. S. 49. Hart umkämpft war die Frage, ob Zuständig- keit per Generalklausel oder Enumerationsprinzip (vgl. Heike Amos, Justizverwaltung in der SBZIDDR (= Arbeiten zur Geschichte des Rechts in der DDR, Bd. 1). Köln/ Weimar/ Wien 1996, S. 188 ff.). Einzig das OVG Thüringen war dabei nach seiner Wiedereröffnung am 22. Juni 1946 zunächst mit einer Generalzuständigkeit ausgestattet (LVerwO in der Fassung vom 29. 11. 1945, Gesetzblatt S. 53) und entfaltete bis zu seiner Schließung am 7. 11. 1948 eine den Machthabern höchst unliebsame Rechtsprechungstätigkeit, etwa wenn es unter Berufung auf $ 2 GVG den Volksrichtern die Befähigung zum Richteramt absprach (Jahrbuch der Ent- scheidungen des Thüringer Oberverwaltungsgerichts, 18. Bd. (1946/47), S. 220 ff.; hierzu Hilde Benjamin U. a., Zur Geschichte der Rechtspflege der DDR 1945- 1949, Berlin (Ost) 1976, S. 95). Es wurde am 7. 11. 1948 aufgelöst (Gesetz über Verwaltungsgerichtsbarkeit vom 7. 10. 1948, Regierungsbl. Thür. I, S. 203). Die übrigen Verwaltungsgerichte der Länder fielen, trotz der in Art. 138 der Verf. von 1949 garantierten Verwaltungsgerichtsbarkeit, still- schweigend der Territorialreform des Jahres 1952 zum Opfer; näheres bringen Friedrich Hel- le>; Aus 100 Jahren Verwaltungsgerichtsbarkeit, Recht in Ost und West 1963, S. 210-212 (die Auflösung erfolgte zumeist mündlich durch Beauftragte des Innenministeriums); Gerd Janke, Die Verwaltungsgerichtsbarkeit in der SBZ und in der DDR, NJ 1992, S. 429 ff., Amos, a. a. 0.. 112 Kritisch zu inkontingenten Entscheidungen bezüglich der Rechtsnatur der Verkehrssi- cherungspflicht an öffentlichen Wegen Werner Artzr (DASR), Die Rechtsprechung des Ober- sten Gerichts in Zivilsachen, NJ 1957, S. 710 ff., 71 1. 113 OGZ 1, S. 34 ff. vom 6. 9. 1950. 114 OGZ 1, S. 62 ff. vom 24. 11. 1950. 115 OGZ 2, S. 72 ff. vom 28. 1. 1953; auch hier ging es um die Offenlegung der NS-Ver- gangenheit eines Lehrers. Parteien, die nun versuchten, die Rechtsprechung zu 5 13 GVG zu ihren Gunsten zu nutzen, wurden oftmals enttäuscht. So konnte auch ein vom Wohnungsamt festgesetzter Zwangsmietvertrag als privatrechtliche Ausgestaltung interpretiert werden, so OGZ 2, S. 178 ff. 116 OGZ 1, S. 14 ff. vom 21. 6. 1950. Begründungsverhalten des Reichsgerichts 35

Weitergeltung angeführt, daß die Gesetze nicht offiziell außer Kraft gesetzt worden seien und kein nationalsozialistisches Gedankengut enthielten. Insofern lag die Rechtsprechung ganz auf der Linie von Art. I1 des Kontrollratsgesetzes Nr. 1117. Ende 1950 fand sich erstmals eine Auseinandersetzung mit der Problematik, die einen stärkeren Einfluß sozialistischer Rechtstheorie erkennen läßt. Am 1. Dezem- ber 1950 stellte der 1. Zivilsenat heraus: „Es ist ein wesentliches Prinzip der demokratischen Gesetzlichkeit, daß die Richter einer- seits an die geltenden Gesetze gebunden sind, andererseits aber diese im Sinne unserer an- tifaschistisch-demokratischen Ordnung anzuwenden haben.""8

1950 befand sich die sozialistische Rechtstheorie in schwieriger Lage. Das Ba- sis-Überbau-~heoremband die Rechtsentwicklung als bloßen Annex an die gesell- schaftlich-ökonomische Entwicklung der DDR"~. Gab es keinen Eigenwert des Rechts, so stand auch die Rechtstheorie grundlegend in Frage. Stalins Rechtsbe- griff, der vor allem von Wyschinski dargestellt worden war, maß naturgemäß auch überkommenen Gesetzen keine Bindungswirkung zu Lasten des Staates zu: „Der Sowjetstaat, der sich auf die Diktatur des Proletariats stützt, ist durch keinerlei Ge- setze der gestürzten Macht, die von einer anderen Klasse errichtet worden waren, gebunden" 12'. Doch war dies für die Gerichte insofern Theorie, als die formelle Geltung der übernommenen und nicht aufgehobenen Gesetze in der frühen DDR dennoch außer Zweifel stand12'. Es mußte also, ganz ähnlich wie nach 1933, die Anwendung der

117 „Keine deutsche Gesetzesverfügung gleichgültig wie oder zu welcher Zeit erlassen, darf gerichtlich oder verwaltungsmäßig zur Anwendung gebracht werden in irgendwelchen Fällen, in denen ihre Anwendung Ungerechtigkeit oder ungleiche Behandlung verursachen würde, entweder dadurch, daß a) irgend jemand auf Grund seiner Verbindung mit der NSDAP, ihren Formationen, angegliederten Verbindungen oder Organisationen, Vorteile ge- nießen würde; oder b) irgend jemand aufgrund seiner Rasse, Staatsangehörigkeit, seines Glaubens oder seiner Oppossition zu der NSDAP oder ihren Lehren Nachteile erleiden wür- de." 118 NJ 1951, S. 222 ff. = OGZ 1, S. 72 ff. 119 Hierzu Rainer Schröder; Marxismus und Recht am Beispiel des Zivilrechts der DDR, in: KöblerlNehlsen (Hg.), Wirkungen europäischer Rechtskultur. Festschrift für Karl Kroe- schell zum 70. Geburtstag, München 1997, S. 1155 ff. 120 Andrej J. Wyschinski, Die Lehre Leninsl Stalins von der proletarischen Revolution und vom Staat, Berlin 1949, S. 69. Darstellung der Entwicklung durch Karl A. Mollnau, Soziali- stische Gesetzlichkeit in der DDR - Theoretische Grundlagen und Praxis, in: BenderIFalk (Hg.), Recht im Sozialismus, Bd. 3 (Ius Commune Sonderhefte 115), Frankfurt a. M. 1999, S. 59 ff.; vgl. auch die kommentierte Auswahlbiographie von dems., in: MohnhauptlSchön- feldt (wie Anm. 99). S. 377 ff. 121 Vgl. die Darstellung von Kleine in Lehrbuch Zivilrecht 1954 (wie Anm. 131), S. 12 und Klinger in ebda., S. 93. Eine andere Ansicht vertrat, 1953 Hermann Klenner; der nicht von einer staatlichen Sanktion, sondern einer langsamen Ubernahme alter Gesetze in die Pra- xis sprach (Formen und Bedeutung der Gesetzlichkeit als eine Methode in der Führung des Klassenkampfes (= Große Schriftenreihe der DIR 111), Berlin 1953, S. 7 f., 43). Scharfer 36 Hans-Peter Haferkamp

Gesetze irgendwie mit ihrer Umwertung einhergehen. Von Anfang an wurden da- mit verbundene Probleme in Anlehnung an den der sowjetischen Debatte entlehn- ten Terminus ,,Demokratische Gesetzlichkeit" diskutiert. Die damit konkret ver- bundenen Forderungen für die Rechtsanwendung blieben jedoch angesichts wech- selnder Vorgaben unklar, „Demokratische Gesetzlichkeit" mutierte zur Chiffre, die den häufigen Wechsel der politischen Vorgaben in der jungen DDR reflektierteI2'. Wenn also Fechner 1949 einerseits den instrumentalen Charakter des Rechts unter- strich und andererseits die Entwicklung einer „klaren und festen Gesetzlichkeit" forderte, so standen die unzähligen Normativakte der SMAD und der jungen DDR in ~ordergrund'~'.Die Aufgabe, die „schwer erarbeiteten Grundlagen für die de- mokratische Entwicklung in Staat und Wirtschaft durch das volle Gewicht der Ge- setze zu s~hützen'"'~,konzentrierte sich in dieser Perspektive auf „neues" Recht, sei es Zivil- oder Strafrecht. Wurde etwa 1953 und 1956 „strengste Gesetzlichkeit" gefordert, so ging es um die zeittypische Anprangerung strafrechtlicher ~xzesse''~. Eine weitere Diskussion mit eigenständigen Konjunkturen formierte sich um die Gesetzlichkeitsaufsicht der ~taatsanwaltschaft"~.Den „historischenu und damit letztlich instrumentellen Charakter des Leitbegriffs der demokratischen (später so- zialistischen) Gesetzlichkeit gestand die SED 1956 ein: „Der Inhalt der Gesetzlich- keit [ . . . ] ist nicht für alle Zeiten gleich"'27.

Widerspruch durch Karl Heinz Schöneburg, Formen und Bedeutung der Gesetzlichkeit als einer Methode in der Führung des Klassenkampfes, NJ 1952, S. 293: „Widerspricht der bis- her bei uns allgemein anerkannten Auffassung". Zum Hintergrund um Klenners Schrift Moll- nau (wie Anm. 99), S. 395 f. 122 Insofern sind die Versuche problematisch, hier ohne enge zeitliche Anbindung Be- griffsklärung zu betreiben. So etwa Pfarr (wie Anm. 73), S. 34 f.; Kraut (wie Anm. 19) S. 15 ff.; Löbbe (wie Anm. 73), S. 22 ff. (allerdings überwiegend auf den gefestigten Diskus- sionsstand nach 1975 fixiert). Deutlich historisierend dagegen bereits Otto Kirchheimer; Die Rechtspflege und der Begriff der Gesetzlichkeit in der DDR, AöR 85 (1960), S. 34 ff.; jüngst auch Karl A. Mollnau (wie Anm. 120), 63 ff.; die frühe Entwicklung dieses Begriffs vor 1950 erschließt sich noch immer aus der schon damals umstrittenen Dissertation von Hermann Klenner (wie Anm. 121), S. 5 ff. 123 Verarbeitung der wichtigsten Normativakte durch Hans-Andreas Schönfeldt, Grundzü- ge der Entwicklung von Gesetzgebung und Rechtsprechung im Prozeß der gesellschaftlichen Transformation der SBZI DDR von 1945 bis 1960, in: Mohnhaupt / Schönfeldt (wie Anm. 99), S. 3 ff. 124 ; Für die Festigkeit der demokratischen Rechtsordnung, Ansprache vom 15. 1. 49 auf einer Arbeitstagung der leitenden Juristen, durchgeführt von der DJV, NJ 1949, S. 1 ff. 125 ZU 1953 etwa Ernst Melsheimer; Der neue Kurs und die Aufgaben der Staatsanwalt- schaft, NJ 1953, S. 576 ff.; zu 1956 etwa die Rede Otto Grotewohls auf der 3. Parteikonferenz vom 24.-30. 3. 1956, Protokoll der 3. Parteikonferenz der SED, Bd. 2, Berlin 1956, S. 641 ff., 676; hierzu auch die Diskussionsbeiträge in NJ 1956, S. 225 ff. 126 Hierzu Haferkamp in Schröder (wie Anm. 91), S. 375 ff. 127 Uber die Arbeit der SED nach dem XX. Parteitag der KPdSU und die bisherige Durch- führung der Beschlüsse der 3. Parteikonferenz, Bericht des Politbüros an die 28. Tagung des ZK vom 27.-29. Juli 1956, Berlin (Ost) 1956, S. 18; zu den verschiedenen Konjunkturen auch Haferkamp (wie Anm. 91), S. 375 ff. m. w. N. Begründungsverhalten des Reichsgerichts 37

Für die Rechtsanwendung im Zivilrecht ergaben sich zu Beginn der fünfziger Jahre jedenfalls ideologische Spannungsfelder. Offensichtlich mußte Demokrati- sche Gesetzlichkeit etwas anderes für übernommene, als für neu erlassene Gesetze bedeuten. Wendete man letztere nicht streng an, gefährdete man den Demokrati- schen Zentralismus, folgte man unreflektiert dagegen bürgerlichen Gesetzen, so gefährdete man den sozialistischen Charakter des Rechts. Generell war dabei das Vertrauen in die Richterschaft, die besonders auf der Ebene der Oberlandesgerichte noch unzureichend mit parteitreuen Richtern durch- setzt war1", zunächst noch gering. Für das Oberste Gericht ging es anfangs weniger um die Anwendung sozialisti- scher Bestimmungen, als um den Umgang mit bürgerlichen Gesetzen, wie dem BGB oder dem HGB. Die Anwendung dieser Gesetze erlangte schon deswegen Bedeutung, weil das Oberste Gericht als Kassationsgrund nur ausnahmsweise eine Überprüfung dann vornahm, wenn die Entscheidung „der Gerechtigkeit gröblich" widersprach und statt dessen zumeist pauschal die „unrichtige Anwendung der Ge- setze" ~u~rundele~te''~. Etwa ab 1950 zeigten sich in der Rechtswissenschaft Versuche, eine Lösung zur Problematik der überkommenen Gesetze in Anlehnung an die stalinistische Rechtstheorie zu entwi~keln'~~).Die nun häufiger auftauchende Vorstellung vom Fortbestand bürgerlicher Rechtsformen im dialektischen Bezug zum Wandel der diesen Formen zugrundeliegenden Inhalte, war altL3'.Sozialistische Rechtstheore- tiker wie Eugen Paschukanis hatten bereits in den zwanziger Jahren diese Vorstel- lung aus den Schriften von Marx, Engels und Lenin herausgelesen'32. Als erster Richter des Obersten Gerichts zeigte sich Kurt Schumann öffentlich von dieser Konzeption beeinflußt. Wer die Kassationsbefugnis des Obersten Gerichts mit der nationalsozialistischen Nichtigkeitsbeschwerde des Jahres 1940'" vergleiche, so

128 Hierzu die Nachweise des Einsatzes der ersten Volksrichterjahrgänge bei Hermann Wentker (Hg.), Volksrichter in der SBZIDDR 1945 bis 1952 (= Schriftenreihe der Vierteljah- reshefte für Zeitgeschichte 741, München 1997, S. 80 ff., bes. 87. 129 Näher Torsten Reich (wie Anm. 81) 111. d) 130 Vgl, auch Ralf DreierIJörn EckertlKarl A. Mollnau U. Hubert Rottleuthner (Hg.), Rechtswissenschaft in der DDR 1949 - 197 1. Dokumente zur politischen Steuerung im Grundlagenbereich, Baden-Baden 1996, S. 33 ff. 131 Hierzu Schröder (wie Anm. 119), S. 1160 ff.; Norbert Reich, Sozialismus und Zivil- recht, Berlin 1972, S. 33 ff.; Andrea Deyerling (wie Anm. 20), S. 54 ff.; deutlich auch Dorn- berger in: ders. U. a., Das Zivilrecht der Deutschen Demokratischen Republik, AT, Berlin (Ost) 1954, S. 101 ff. 132 Vgl. Eugen Paschukanis, Allgemeine Rechtslehre und Marxismus, 1924, Deutsche Ausgabe 1929, Neudruck (hg. von Hermann Klenner U. Leonid Mamut), Freiburg 1991, S. 44 ff. mit Nachweisen zu Marx und Lenin. Paschukanis, den Stalin ermorden ließ, taucht in der Debatte nicht auf. Die Angriffe Wyschinskis auf Paschukanis von 1938 lagen erst nach 1953 in Ubersetzung vor, hierzu Dreier I Eckert I Mollnau I Rottleuthner (wie Anm. 130), S. 40. 133 Hierzu nur Dickhuth-Harrach (wie Anm. 25), S. 211 ff.; Hans Popp, Die nationalsozia- listische Sicht einiger Institute des Zivilprozeß- und Gerichtsverfassungsrechts. Dargestellt 38 Hans-Peter Haferkamp

Schumann 1950, übersehe, „daß nicht die äußere Form dieser prozessualen Ein- richtung, sondern ihr Inhalt den nazistischen Charakter au~rnachte"'~~.Antworten für den praktischen Umgang mit überkommenen Gesetzen lagen somit bereit. Schub bekamen diese Entwicklungen 1951 durch die im Sommer 1950 in der Prawda veröffentlichten Linguistikbriefe ~talins'~~.Auch Stalin hatte dem plötzli- chen Umschlag zum Sozialismus ein evolutionäres Modell entgegengehalten, bei dem bürgerliche Formen im Übergang bestehen bleiben sollten'36. Diese Formen waren jedoch - und darin lag eine deutliche Schwerpunktverschiebung im Basis- Überbau-~erhältnis- gezielt zugunsten des herrschenden Proletariats einzusetzen. Stalin prägte das Wort von der „aktiven Kraft des Überbaus". Es war Hilde Benja- min, die bereits Anfang 1951 eine Rechtsanwendungstheorie vorstellte, die in der Folgezeit der Rechtsprechung des Obersten Gerichts zu überkommenem Gesetzes- recht zugrundelag. Auch dem Recht als Überbauphänomen galt es in Weiterfüh- rung der Gedanken Stalins nun eine lenkende Position zu sichern. Dies bedeutete auch den praktischen Einsatz der Form-Inhalt-These. Benjamin erläuterte ihr Konzept in einem Grundsatzreferat vor der ersten Ar- beitstagung des Obersten Gerichts mit den Oberlandesgerichtspräsidenten und Richtern der Oberlandesgerichte im März 1951137.Für den Umgang mit den über- kommenen Rechtsnormen griff sie auf die Vorschläge des polnischen Wissen- schaftlers Marian Muszkat, die kurz zuvor in deutscher Übersetzung erschienen waren13*, zurück. Hier glaubte sie das „Ei des ~olumbus"'~~gefunden zu haben.

am Beispiel des Gesetzes über die Mitwirkung des Staatsanwalts in Bürgerlichen Rechtssa- chen vom 15. 7. 1941, Diss. Frankfurt a. M. 1986. 134 Schumann (wie Anm. 100), S. 242; kurz zuvor bereits ähnlich Hans Such, Der Vertrag als Instrument der Planung, NJ 1950, S. 234 ff.; darauf Hans Nathan, Ein Jahr Gesetzgebung in der Deutschen Demokratischen Republik, NJ 1950, S. 378 8.; Stalins Ansichten ließen sich hier nahezu nahtlos einführen, vgl. Hans Gerars, Einige Fragen der Rechtswissenschaft und der Rechtspraxis im Lichte der Arbeiten Stalins über den Marxismus und die Fragen der Sprachwissenschaft, NJ 1951, S. 402 ff., 445 ff.. 135 ZU den Diskussionen Schröder (wie Anm. 119); Markovits (wie Anm. 119), S. 32 ff. und Klaus Westen, Die rechtstheoretischen und rechtspolitischen Ansichten Josef Stalins, 1958, S. 23 ff. Eine erste Übersetzung erschien bereits als Sonderbeilage zur ,,Einheitg' im August 1950. 136 J. W Stalin, Der Marxismus und die Fragen der Sprachwissenschaft, Berlin 1951, S. 34 ff. 137 NJ 1951, S. 150 ff. Benjamin reagierte demnach nicht erst im Dezember 1951 (Leipzi- ger Konferenz) auf die Linguistikbriefe, so aber Markovits (wie Anm. 135), S. 27. Bindeglied dürfte der von Benjamin genannte Aufsatz von Iwanofi Zu einigen Fragen der Rechts- und Staatstheorie im Lichte der Arbeiten des Genossen Stalin über den Marxismus in der Sprach- wissenschaft, gewesen sein, der den Kollegen des Obersten Gerichts bekannt sei, a. a. O., S. 152. 138 Marian Muskat (Muszkat), Am Rande einiger aktueller Probleme des polnischen Rechtslebens, Sonderheft der Mitteilungen der VdJ 1950. 139 Benjamin auf der rechtswissenschaftlichen Konferenz in Leipzig im Dezember 1951, nach Mollnau, in: MonhauptlSchönfeldt (wie Anm. 99), S. 390. Begründungsverhalten des Reichsgerichts 39

Benjamin forderte eine stärkere theoretische Fundierung der Rechtsprechung, der bewußt werden müsse, daß in ihr „in entscheidendem Maße die Rolle des Über- baus zum Ausdruck kommt, aktiv fördernd auf die Gestaltung der ökonomischen Verhältnisse einz~wirken"'~~.Es gehe um den Schutz des Staates gegen seine Geg- ner, die Lösung der wirtschaftlich-organisatorischen Aufgaben und Aufgaben auf kulturerzieherischem ~ebiet'~'.Jedes Urteil sei somit „eine politische ~at"'~~. Auch die Rechtsprechung müsse „rechtzeitig die Triebe des Neuen erkennen und an seiner Entwicklung mithelfen."'43 Diese Aufgabe trete auch in der Notwendig- keit entgegen, zunächst mit den überkommenen und von der DDR sanktionierten Gesetzen zu arbeiten. Unter Bezugnahme auf Muszkat erläuterte sie die Form-In- halt-These: Da der Staat den Inhalt seiner Rechtsordnung als bloßes Überbauphä- nomen bestimme, sei mit Wechsel der Staatsordnung dieser neue Inhalt automa- tisch in die Form der alten Gesetze eingerückt'44. Aufgabe der richterlichen Rechtsfeststellung war es demnach, durch die „Form" des alten Gesetzes hindurch den neuen „Inhaltg' zu ermitteln. Dieser konnte nur in „konkreten gesellschaftli- chen Erscheinungen", nicht in juristischen Eigengesetzlichkeiten oder einer mate- rialen Rechtsidee gefunden werden'45. Der Grundsatz der Parteilichkeit der Rechtsanwendung, für Benjamin immer deutlicher mit der „strengen Gesetzlich- keit" in der Demokratischen Gesetzlichkeit „dialektisch" verbunden, traf somit be- sonders auf überkommene Gesetze Das verlockende Angebot, selbst den polit-ökonomischen Entwicklungen nach- zuspüren, war ambivalent:

„Es ist nicht immer leicht, echte Keime des Neuen zu entdecken - man kann dabei ir- ren."147

Nicht zufällig diente ein Urteil eines Oberlandesgerichts als nachfolgend zur Abschreckung herausgestelltes Beispiel. Besonders die den Ländern unterstellten

140 Benjamin (wie Anm. 137), S. 150. Ein direkter Einfluß von Stalins Linguistikbriefen, die dem Überbau eine aktive Rolle zuwiesen, läßt sich bei ihr erst auf der Theoretischen Kon- ferenz am 15. U. 16. 12. 1951 in Leipzig nachweisen, näheres bringt Feth (wie Anm. 76), S. 122. 141 Benjamin (wie Anm. 137), S. 150. 142 Benjamin (wie Anm. 137), S. 155 unter Bezugnahme auf Melsheime~Vgl. auch Mels- heimel; Vom politischen und vom unpolitischen Richter, NJ 1950, S. 70 ff. 143 Benjamin (wie Anm. 137). S. 151. 144 Benjamin (wie Anm. 137), S. 152. 145 Näher Feth (wie Anm. 76), S. 122 zu Äußerungen Benjamins vom Dezember 195 1. 146 Benjamin (wie Anm. 137), S. 155. Deutlich wurde Benjamins Begriff der Demokrati- schen Gesetzlichkeit vor allem auf der Diskussionsrede auf dem IV. Parteitag der SED, NJ 1954, S. 223 ff. In Konsequenz der Babelsberger Konferenz kam es 1958 zu einer stärkeren Betonung der Parteilichkeit auch gegenüber neuen Gesetzen, vgl. Benjamin, Die Sozialisti- sche Einheitspartei Deutschlands - eine Partei der Gesetzlichkeit. Diskussionsbeitrag des Minsters der Justiz auf dem V. Parteitag der SED, NJ 1958, S. 509 f. 147 Benjamin (wie Anm. 137), S. 153. 40 Hans-Peter Haferkamp

Oberlandesgerichte waren staatlicherseits suspekt148. Scharf wurde in den ersten Jahren daher eine Bindung an Entscheidungen des Obersten Gerichts und an darin ausgesprochene Weisungen betont'49 Die Untergerichte wurden der „ParteilichkeitGGganz enthoben, sonst drohe „Ver- flachung und V~lgarisierung"'~~. „Wenn vor den unteren Gerichten in erster Linie die Aufgabe steht, den Tatbestand ein- wandfrei und nach allen Richtungen zu erforschen und festzustellen, dann steht vor uns, den oberen Gerichten, die Aufgabe der rechtlichen Meisterung der aufgeworfenen Fra- gen."

Gesetzlichkeit in den niederen Instanzen sollte mit politisch eng gesteuerter Par- teilichkeit des Obersten Gerichts in seiner Anleitungsfunktion einhergehen.

3.3.2 Methode der ,,offensiven Begründung "

Richtig entschied nun, wer „die Gesetze der gesellschaftlichen Entwicklung kennt und unsere Entwicklung selbst laufend be~bachtet"'~~.Es ging somit um die Umsetzung von Gesetzlichkeiten, nicht Gesetzen und schon gar nicht um bloße „Billigkeitsentscheidungen"'52. Dies hatte Folgen für den Begründungsstil der Urteile. Insbesondere in Auseinandersetzung mit den alten Gesetzen forderte Benjamin eine „Methode der offensiven Begründung", die davon auszugehen habe, „daß wir ein Gesetz nach unserer Ordnung, nach unseren Anschauungen anwenden und aus- legen"15! Keinesfalls sei mit den alten Gesetzen auch die präzisierende Judikatur des ~eichs~erichts'~~oder die bürgerliche ~echtsliteratur'~~mitübernommen wor- den oder argumentativ verwendbar. Im Rahmen der Form-Inhalt-These kam Benjamin auch auf die Generalklauseln, zuvor häufig als Umwertungsmechanismus gepriesen156,zu sprechen. 1946147

148 Vgl. auch Benjamin (wie Anm. 103), S. 392; Gänge1 (wie Anm. 75), S. 257 f. 149 Vgl. Abschlußthese Nr. 3 a) der 1. Arbeitstagung des Obersten Gerichts mit den Ober- landesgerichtspräsidenten, NJ 1951, S. 156 ff., 158. 150 A. a. O., S. 156. Zu diesem Ergebnis kommt auch Pfarr (wie Anm. 73), S. 152. 151 Benjamin (wie Anm. 137), S. 152. 152 Benjamin (wie Anm. 137), S. 153. 153 Benjamin (wie Anm. 137), S. 155 f. 154 Benjamin (wie Anm. 137), S. 156; hierzu auch die Anmerkung Benjamins zu einem Urteil des KG zu § 138 BGB in NJ 1952, S. 35 f., 36. 155 Benjamin (wie Anm. 137), S. 156. 156 Ernst MelsheimerlHans Nathanl Wolfgnng Weiss, Neue Rechtsprinzipien als Aus- druck der neuen demokratischen Ordnung, in: Max Fechner (Hg.), Beiträge zur Demokrati- sierung der Justiz, Berlin 1948, S. 95 ff., 100. Die Rundverfügung Fechners vom 23. 2. 1949 Begründungsverhalten des Reichsgerichts 41 habe man versucht, das Problem mit der Berufung auf Generalklauseln wie $5 157, 242 BGB zu lösen. Nun stelle sich die Frage: ,,Kann man bei solchen Gesetzen, die ihren Inhalt durch die Anderung der Staatsordnung erhalten haben, überhaupt von einer Auslegung sprechen?'

Benjamin stellte heraus, daß der Inhaltswechsel der Gesetze mit der Änderung der Staatsordnung bereits eingetreten sei, eine Entwicklung, die mit der Verände- rung der Bedingungen des Gesetzes, die von Generalklauseln üblicherweise ausge- glichen werden, nicht gleichgesetzt werden dürfe. ,.Wenn das Gesetz durch den neuen Staat seinen neuen Inhalt bekommt, dann ist das ein anderer Prozeß, als wenn innerhalb der gleichen Staatsordnung der Wechsel bestimmter ökonomischer oder sonstiger Faktoren zu einer neuen Auslegung eines Gesetzes führt.'"57

Auch die Generalklauseln wurden nun mit der „Geisterwelt" (~olak'~~)bürger- lichen Rechtsdenkens in Verbindung gebracht und eigentümlich sozialistischen Rechtsfindungsmethoden gegenübergestellt159. Benjamins Methode der ,,offensi- ven Begründung" deutete neue Wege an, die derartige Hilfsmittel entbehrlich machten. Dies hatte Auswirkungen auf die Anwendung der Generalklauseln in der Rechtsprechung des Obersten Gerichts. Bei Durchsicht der offiziellen Urteils- sammlung bis 1958 fallen zunächst die in diesem Kontext zumeist diskutierten Kriegslieferungsfälle auf, die über 138 BGB gelöst wurden. Die Rechtspre- chung zu dieser Frage ebbte bis 1952 abl6'. In den nächsten fünf Bänden finden sich außerhalb der Kriegslieferungsfälle in Band 1 ein politisch unauffälliger ~all'~~,in Band 2, 3, 4 und 6 kein Fall und lediglich in Band 5 eine Anwen- dung16'. Die übrigen Nennungen sind nicht entscheidungstragendK3 bzw. 5 138 BGB wird abgelehnt164.

(abgedruckt in Wentker (wie Anm. 128), S. 197) hatte die Generalklauseln noch als Gesetz- bestimmungen, die „ohne Änderung des Textes einen ganz anderen Sinn und eine andere Be- deutung erlangt haben", hervorgehoben. Eine Eigenschaft, die nach Benjamin nun jedem Ge- setz zukam. 157 Benjamin, a. a. O., S. 152. 158 Kar1 Polak, Marxismus und Staatslehre, in: Fechner (wie Anm. 156), S. 19 ff., 55. 159 Auch die Vorgeschichte der Generalklauseln im Nationalsozialismus war bekannt, vgl. nur Dornberger im Lehrbuch Zivilrecht von 1954 (wie Anm. 131), S. 304 ff. 160 OGZ 1, S. 51 ff. vom 8. November 1950; 54 ff. vom selben Tag und 100 ff. vom 21. 2. 1951. OGZ 1, S. 19 ff. vom 5. 7. 1950. 162 OGZ 5, S. 267 ff., 273 vom 6. 8. 1957. 163 OGZ I, S. 164 ff. vom 13. Juni 1951; die Entscheidung S. 48 ff. vom 18. 10. 1950 geht auf die im Leitsatz genannte Vorschrift nicht ein, sondern lediglich auf 9: 139 BGB, so daß insoweit wohl ein Druckfehler vorliegt. 164 Etwa OGZ I, S. 206 ff. (lehnt daneben auch 9: 242 BGB ab); OGZ 2, S. 5 ff., 7 vom 13. 2. 1952; OGZ 4, S. 240 ff. vom 10. 8. 1956. 42 Hans-Peter Haferkamp

Die damit häufigsten Kriegslieferungsfälle griffen auf eine, bereits 1948 in einer aufsehenemegenden Kontroverse in der Neuen Justiz auch ideologisch durchge- kämpfte Nachkriegsrechtsprechung Hier hatte vor allem Ernst Melshei- mer für § 138 BGB Partei bezogen'66. Insofern lag also keine eigenständige Kon- struktion des Obersten Gerichts vor. Bemerkenswert ist zudem, daß bereits früh da- neben § 134 BGB in Verbindung mit Verfassungsbestimmungen und dem Verbot des Angriffskrieges parallel herangezogen wurde167. Auch 242 BGB fand in der Rechtsprechung des Obersten Gerichts selten An- wendung. In der ideologisch unspezifischen Entscheidung vom 5. Juli 1950 war die Norm nicht ent~cheidun~stra~end'~~.In den ersten 6 Entscheidungsbänden finden sich lediglich im 3. Band drei weitere Anwendungsfälle, von denen zwei Fälle sich politischer Argumentation bedienen169.In allen anderen fraglichen Fäl- len wurde 242 BGB abgelehntl7'. Insgesamt sind die ohnehin niedrigen Pro- zentanteile an den in den Entscheidungsbänden veröffentlichten Urteilen rückläu- fig: Fielen in Band 1 und 2 noch knapp 4,2% der veröffentlichten Entscheidun- gen mit der Annahme des 138 BGB oder Q 242 BGB auf, so betrug dieser Pro- zentsatz in Band 3 nur noch 2,8%, Band 5 lediglich 1,5% und in Band 4 und 6 fanden sich gar keine Entscheidungen zu diesen Generalklauseln. Läßt sich auch über die unveröffentlichten Entscheidungen des Obersten Gerichts nichts sicheres sagen, so zeigte die gelenkte Veröffentlichungspraxis doch, daß nicht die General- klauseln im Zentrum der Umwertungsbemühungen standen, sondern lediglich Teil einer übergreifenden Konzeption für den Umgang mit überkommenem Gesetzes- recht waren. Das Oberste Gericht entwickelte, wohl unter Beteiligung von ~enjamin"~,die Form-Inhalt-These in der benannten „absolut bahnbre~henden""~Entscheidung vom 1. Dezember 195017" zu einem brauchbaren Instrument fort. Anlaß war das in Q 48 des Kontrollratsgesetzes Nr. 16 nahezu wortgleich von § 55 des nationalso-

165 Darstellung der Debatte bei Wanner (wie Anm. 18), S. 264 ff.; Pfarr (wie Anm. 73), S. 82 ff.; Diestelkamp (wie Anm. 100), S. 89; vgl. auch Mathias Schmoeckel, Der maßgebli- che Zeitpunkt zur Bestimmung der Sittenwidrigkeit nach 5 138 I BGB, AcP 1997, S. 1 ff., 14 mit Anm. 64,65. 166 Melsheimes Kriegslieferungsverträge sind nichtig!, NJ 1948, S. 11 ff. 167 Hierzu auch Pfarr (wie Anm. 73), S. 81 ff. 168 OGZ l3S.23ff. 169 Unter Zuhilfenahme politischer Kategorien OGZ 3, S. 191 ff., 196 vom 18. 10. 1954; S. 289 ff., 291 vom vom 3. 3. 1955; unauffällig dagegen S. 152 ff., 153 f. vom 25. 5. 1954. 170 OGZ 1,s. 164ff.vom 13.6. 1951;s. 174ff.vom29.6. 1951;206ff.vom29.8. 1951; OGZ 2, S. 43 ff. vom 24. 10. 1952. 171 Vgl. Benjamin (wie Anm. 129), S. 154. 172 Hans Nathan, Zwei Jahre Oberstes Gericht und Oberste Staatsanwaltschaft, NJ 1951, S. 544 ff., 547. 173 OG (wie Anm. 11 8). Begründungsverhalten des Reichsgerichts 43 zialistisch ausgerichteten EheG von 1938 übernommene Zerrüttungsprinzip. Schon im Ausgangspunkt war bemerkenswert, daß auch das Kontrollratsgesetz hier keine Gewißheit bringen konnte und gleichermaßen der Form-Inhalt-These unterfiel: „§ 48 des Ehegesetzes des Alliierten Kontrollrats ist ein Beispiel dafür, wie ein Gesetz gleichen Wortlautes verschiedenen Inhalt gewinnen kann, je nach der Staatsordnung, der es zu dienen hat."L74

Es gelte daher, den heute der Bestimmung zukommenden Inhalt zu ermitteln. In der Fassung der Vorschrift, derzufolge trotz tiefer, unheilbarer Zerrüttung ein Wi- derspruch eines der Beteiligten grundsätzlich beachtlich sei, sah der Senat eine wi- dersprüchliche Formulierung. Grundsätzlich dürfe man sich jedoch nicht mit einer „formalen Wortinterpretation" begnügen, sondern müsse eine Lösung dieses Ge- gensatzes finden. Die parallel in Westdeutschland ablaufende Diskussion der Pro- blematik erschöpfe sich in einer „unübersichtlichen Kasuistik", was Ausdruck des Fehlens einer „klar ausgesprochenen weltanschaulichen Grundlage für diese Ent- scheidungen" sei. In der DDR ergebe sich diese „aus dem Inhalt, den die Ehe in der Ordnung unseres Staates hat". Unter Bezugnahme auf Art. 30 der Verfassung, das „Gesetz über den Mutter- und Kinderschutz und die Rechte der Frau" und die einführende Rede Grotewohls hierzu, entwickelte der Senat nun ein ganzes Bündel von richtungsweisenden Argumenten. Die Ehe sei nicht nur eine individuelle An- gelegenheit der Eheleute, sondern habe auch gesellschaftliche Ziele und Ideale zu fördern: „Die Arbeitsfreude, das ständige Streben zur weiteren persönlichen Entwicklung, auch die Freude an der Familie [ . . . ] diese Ziele können aber in einer zerrütteten Ehe nicht erreicht werden."

Die Form-Inhalt-These führte damit zur von Benjamin geforderten ,,offensiven Begründung": Weder Wortlaut noch Entstehungsgeschichte der Norm waren bin- dend. Es bedurfte auch nicht der formalen Einhaltung des Normensystems, etwa durch Berufung auf Generalklauseln. Die Reduzierung überkommener Normen auf ihre „Form" ließ freie politische Inhaltskorrektur ebenso zu, wie einerseits Geset- zesablehnung oder auch Übernahme selbst nationalsozialistischer Gesetze. Weitere Urteile machten dies deutlich. So war auch der berüchtigte 9 1595 a BGB'~', trotz seiner Ausrichtung an der nationalsozialistischen Rassenpolitik, „sehr wohl geeignet, im Sinne unserer antifaschistisch-demokratischen Ordnung angewandt zu werden"'76. 5 128 HGB war demgegenüber nicht anwendbar, da bei

174 Ich zitiere im folgenden nach der Fassung in NJ 1951, hier S. 223. 175 „Hat der Mann die Ehelichkeit eines Kindes nicht innerhalb eines Jahres seit der Ge- burt des Kindes angefochten oder ist er gestorben oder ist sein Aufenthalt unbekannt, so kann der Staatsanwalt die Ehelichkeit anfechten, wenn er dies im öffentlichen Interesse oder im Interesse des Kindes oder seiner Nachkommenschaft für geboten erachtet." 176 OGZ 1, S. 68 ff., 70 ebenfalls vom 1. 12. 1950. Die Frage der Weitergeltung der Vor- schrift, die erst 1961 durch das Familienrechtsänderungsgesetz aufgehoben wurde, war auch 44 Hans-Peter Haferkamp

„konkret gesellschaftlicher" Anwendung der Vorschrift ohne weiteres erkennbar sei, „daß das Deutsche Handelsgesetzbuch einem Wirtschaftssystem angehört, das durch die seit dem Zusammenbruch des Hitlerregimes in der Deutschen Demokrati- schen Republik eingetretene gesellschaftlich-ökonomische Entwicklung weitge- hend überholt worden ist. Es ist damit zwar nicht ohne weiteres außer Kraft getre- ten, wohl aber muß bei der Anwendung solcher älteren gesetzlichen Bestimmungen auf rechtserhebliche Tatbestände in jedem Fall untersucht werden, ob und inwie- weit sich ihr Inhalt in Übereinstimmung bringen läßt mit dem Inhalt und den gesell- schaftlichen, also in erster Linie wirtschaftspolitischen Zielen, deren Verwirkli- chung die seit der Staatsumwälzung in der früheren sowjetischen Besatzungszone [. . . ] erlassene einschlägige Gesetzgebung zu erreichen bestimmt ist"'77. Auch die §§ 1360, 1361 BGB hatten durch die auch in der Verfassung ausgesprochene Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau „einen neuen Inhalt Die vielen Nennungen der Verfassung näherten die Argumentation gelegentlich einer formalen Berufung auf die Normenhierarchie an. Das dies nicht beabsichtigt war, verdeutlichte eine Entscheidung vom 13. Juni 195 1179.

„Diese Grundsätze [der Art. 24 U. 26 I1 der Verfassung, H. P. H.] haben nicht etwa erst mit der formalen Inkraftsetzung der Verfassung gemäß ihrem Art. 144 Abs. 1 Rechtswirkung erhalten, sondern sind unmittelbar Ausdruck eines neuen gesellschaftlichen Bewußtseins, dessen Bildung bereits mit dem Beginn des Wiederaufbaus nach dem Zusammenbruch einsetzte, und das jede Ausnutzung des im Privateigentum stehenden Grund und Bodens zur Erzielung übermäßiger Gewinne zum Schaden der auf die Mitbenutzung des Eigen- tums im Wege des Mietvertrages angewiesenen Bevölkerung als gesellschaftlich untragbar und daher mit der geltenden Rechtsordnung unvereinbar erachtet".

Es ging nicht um gängige methodische Instrumentarien, sondern um offene In- strumentalisierung des alten Normenmaterials für politische Vorgaben. Eine Rede von Grotewohl in der Volkskammer hatte mehr Gewicht, als eine Norm des Kon- trollrats. Zur Begründung der Nichthaftung der Gebietskörperschaften der DDR für vor 1945 entstandene Verbindlichkeiten genügte die Berufung auf das Lehr- buch für den demokratischen Staats- und Wirtschaftsaufbau von Walter ~lbrichtl~' und Beschlüsse des 3. ~arteita~es'".Die Gegenansicht des Landgerichts mußte sich entgegenhalten lassen: „Die Abstraktion und damit der leere Formalismus die- ser Begründung ist offensicht~ich"'~~.Generell liefen Vorinstanzen Gefahr, „mit Recht als formal und lebensfremd bezeichnet zu erden“'^'. in der Bundesrepublik umstritten, vgl. Palandtl Lauterbuch, 9. Aufl. 195 1, 3 1593, Vorbe- merkung. I77 OGZ 1, S. 94 ff.,98 f. vom 14. 2. 1951. 178 OGZ 2, S. 133 ff. vom 30. 3. 1953. 179 OGZ 1, S. I64 ff., 168. '80 Berlin 1950. 1x1 OGZ 1, S. 236 ff. vom 31. 10. 1951. 182 A. a. 0..S. 240. Begründungsverhalten des Reichsgerichts 45

Es verblieb offene politische Argumentation. Die wechselnden Vorgaben der Partei machten dieses Verfahren ~n~ewiß''~.Dies dürfte sich ausdrücken in dem Vorsatz des Obersten Gerichts, auch an eigene Entscheidungen nicht gebunden zu ein'^'. Auch die Wertungsvorgaben für untergeordnete Gerichte blieben daher zu- meist vage, ambivalent und auf den konkreten Fall fixiert. So im eingangs darge- stellten Fall zu 3 38 EheG: Die Schwäche und Abhängigkeit der Frau sei als Ver- letzung der Gleichberechtigung beachtlich''" gleichzeitig dürfe dies nicht dazu führen, in der Frau einen in „irgendeiner Weise gesellschaftlich minderwertigen oder gar diskriminierten Menschen" zu sehen. Einerseits träten im Alter die gesell- schaftlichen Anforderungen zugunsten der individuellen Entscheidungsfreiheit zu- rück, andererseits dürfe damit leichtfertiges Verhalten („mehrmalige Scheidun- gen") nicht geschützt werden. Die vom Richter geforderte Dialektik blieb vor al- lem politisch, mit den späteren Worten Ernst Melsheimers „höchst kompliziert"'87. Mit herkömmlichen methodischen Mustern Iäßt sich diese Rechtsprechung des Obersten Gerichts folglich nicht fassen. Eine methodische Verschleierung findet sich nicht. Die Form-Inhalt-These war vielmehr Ausdruck des Primats der Partei und daher gerade gegen den Begründungswert methodengerechter Urteilsfindung gerichtet. Für die Richterschaft bedeutete dies, wie jüngst Mollnau unter Hinweis auf die zeitgleich einsetzenden Kommentierungsverbote hervorgehoben hat, eine profunde Entprofessionalisiening ihrer Tätigkeit: „Der Rechtsdogmatik wurde der Garaus gemacht"'". Die im Begründungsstil scheinbar gewonnene Freiheit war in Wirklichkeit Zeichen der verlorenen richterlichen Unabhängigkeit. Juristisches In- strumentarium konnte eine Entscheidung nicht tragen. Das Prinzip der Gewalten- einheit trug Früchte. Dies zeigte sich in nachfolgenden Entscheidungen besonders auch dann, wenn das Oberste Gericht scheinbar für eine verbesserte Methode plädierte. In einem Ur- teil vom 1. März 1957Ix9nahm der erste Zivilsenat zu den Grenzen zulässiger Aus- legung Stellung. Scharf rügte der Senat die Begründung des Urteils der Vorinstanz, die bei einer Verordnung des Jahres 1954 eine „Lücke im Gesetz" angenommen hatte und ihr (vom Senat geteiltes) Ergebnis frei mit den Interessen der Gesamt- wirtschaft und „erzieherischen Gründen" begründet hatte. 9 5 des GVG aus dem Jahr 1952 binde den Richter an das Gesetz, das er seinem Wortlaut gemäß anzu- wenden habe. Die Pflicht, das Gesetz in Übereinstimmung mit „den Erfordernissen

183 OGZ 1, S. 197 ff., 200 vom 22. 8. 195 1. 184 Hierzu deutlich Dreier1 Eckertl Mollnau / Rottleuthner (wie Anm. 130), S. 27. 185 Vgl. Benjumin (wie Anm. 137), S. 156. 186 Dies und folgendes NJ 195 1 (wie Anm. 11 8), S. 224. 1x7 Ernst Melsheimer; Über die Arbeit der Staatsanwälte auf dem Gebiet des Zivil- und Arbeitsrechts, NJ 1955, S. 581. 188 Mollnuu (wie Anm. 120), S. 59 ff., 68 f., 71 f. (Ziel war der Richter als „werkzeughaft programmierter Exekutor der Politik der Parteiführung und ihres Apparates"). 189 OGZ5, S. 88 ff. 46 Hans-Peter Haferkamp unserer dem Aufbau des Sozialismus zustrebenden gesellschaftlichen Ordnung" auszulegen, finde seine Grenze, wenn dem juristischen Inhalt der Norm Merkmale hinzugefügt würden, die sie nicht enthalte. Dies laufe auf eine „unzulässige Bevor- mundung des Gesetzgebers hinaus". Offensichtlich ging es um ein von der DDR erlassenes Gesetz. Hier war strenge Bindung vom Demokratischen Zentralismus gefordert - ohne das der Senat jedoch auf die Unterschiede zwischen ,,altena und „neuen" Gesetzen hingewiesen hätte. Die juristische Methode wurde daher auch nur scheinbar aufgewertet. Am 5. April des selben Jahres ging es erneut um ein „altesu Gesetz. Nun galt für das ZVG: „Das Zwangsversteigerungsverfahren [ . . . ] ist seinem Wesen nach vom sogenannten ,frei- en Spiel der Kräfte' beherrscht. In Übereinstimmung mit den Produktionsverhältnissen seiner Entstehungszeit behandelt es den Grund und Boden als Ware und gab ihn dadurch zugleich jeder rücksichtslosen Spekulation preis. Dies änderte sich bereits durch den Erlaß der Verordnung über die Behandlung von Geboten in der Zwangsversteigerung vom 30. Juni 1941 [ . . .I. Ungeachtet der nazistischen Anschauungen, die dem Erlaß dieser V0 zu- grunde lagen, konnte sie von unserem Staat sanktioniert werden, weil sie in ihrem Erfolge den mit den ökonomischen Gmndanschauungen unseres Staates unvereinbaren schädli- chen Auswirkungen des Gesetzes [ . . . ] begegnete [ . . .I. Auch die Bestimmung des P 5 a der V0 [ . . . ] ist mit seinem sich aus den Grundlagen unserer Staatsverfassung ergebenden neuen Inhalt weiterhin voll anwendbar. Aber auch bei der Anwendung der übrigen allge- meinen Bestimmungen des Zwangsversteigerungsgesetzes muß jeweils geprüft werden, ob und inwieweit sie noch unseren neuen Rechtsanschauungen gerecht werden, bzw. ob und welche unserer Gesellschaftsordnung entsprechende, mit der Wahrung der sozialistischen Gesetzlichkeit zu vereinbarende Auslegung der Gesetzesbestimmungen sich erforderlich macht."190

Im Ergebnis waren die Richter des Obersten Gerichts somit bereits 195015 1 ei- ner grundlegenden Znfragestellung der herkömmlichen juristischen Methode über- haupt ausgesetzt. Der Demokratische Zentralismus ließ keine juristischen Eigenge- setzlichkeiten zu. Da die Richter nun mittels der alten Gesetze „die Keime des Neuen ent~ickeln"'~'mußten, konnten weder der Gesetzeswortlaut, noch über- kommene Rechtsfindungsmethoden die Richtigkeit der Entscheidung nach außen symbolisieren. Richtig Entscheiden hieß Weiterentwicklung und Anpassung der Gesetze an die ständige ökonomische Weiterentwickl~ng'~~. 1957 geriet die Form-Inhalt-These in den vieldiskutierten Fällen des im Sinne der $8 932 ff. BGB gutgläubigen Erwerbs von Volkseigentum in die ~ritik'~~.Das

190 A. a. O., S. 104. 191 Berljamin (wie Anm. 137), S. 155. 192 Benjamin (wie Anm. 137), S. 152. 193 Hierzu Pfarr (wie Anm. 73), S. 89 ff., die im Anschluß an die Terminologie von Rü- thers hier einen Fall der Berufung auf einen „normativen Institutsbegnff' sieht und nicht, was m. E. eher zutrifft, ein Beispiel für den generellen Umgang mit bürgerlichen Rechts- Begründungsverhalten des Reichsgerichts 47

Oberste Gericht nutzte gezielt das Mittel der Kassation zu einer grundlegenden Stellungnahme. Die Ablehnung der QQ 932 ff. BGB fußte nicht formal auf dem in vor allem in Befehlen der SMAD zum Ausdruck gekommenen Prinzip der Unan- tastbarkeit des Volkseigentums, sondern nutzte erneut die Möglichkeit politischer Inhaltsbestimmung der streitigen Normen: Nicht die „bisweilen undeutliche oder mehrdeutig abstrakte Fassung der positiven Gesetzesnormen" könne maßgeblich sein, sondern entscheidendes Kriterium sei „Wesen und Inhalt der einschlägigen polit-ökonomischen Kategorie", die von den Gesetzesnormen nur widergespiegelt werde'94. Nathan forderte demgegenüber keine ökonomische, sondern eine juristi- sche Begründung der ~ichtanwendun~'~~.Für ihn ergab sich die Nichtanwendung bereits daraus, daß das BGB Volkseigentum nicht regele und daher als Gesetz „gar nicht paßt"'966,eine Ansicht, die den 1. Zivilsenat zu deutlicher Selbstkritik verlei- tete und die etwas vage Behauptung evozierte, daß die streitigen Rechtsnormen wenigstens „für diesen Bereich nicht sanktioniert worden sind"'97. Diese Forderung nach einer Aufwertung eigenständig juristischer Argumentati- on fand sich angesichts der Verunsicherung nach dem XX. Parteitag der KPdSU 1956'~~auch bei anderen Autoren, wie dem Rektor der DASR Krögel; der eine zu starke Betonung der politischen und zu wenig der juristischen Seite des Rechts in der Rechtswissenschaft kritisierte. Hier setzten im Umfeld der Babelsberger Kon- ferenz vom 2.13. April 1958'~~die Vorwürfe Ulbrichts und Polaks anzoo. Der Rechtsprechung des Obersten Gerichts wurde nun „Liberalismusa vorgeworfen201. Damit steuerte 1958 die rechtstheoretische und politische Rahmendebatte in neues, rauheres Fahrwasser. Auch die Gleichung: Alte Gesetze = parteiliche Inhaltsbe- stimmung vs. neue Gesetze = strenge Gesetzesbindung geriet ins Wanken. Hilde normen. Ein metaphysisch aufgeladener Institutionenbegriff, etwa das ,,Wesen des Volksei- gentums", konnte den wechselnden Vorgaben der Partei jedenfalls nicht entgegengehalten werden. 194 OG NJ 1957, S. 776 f. 195 Nathan, Sozialistisches Eigentum und guter Glaube, NJ 1957, S. 749 ff. 196 A. a. O., S. 749. 197 OGZ 6, S. 159 ff., 163 vom 15. 4. 1958. 198 Hierzu auch die Debatte zwischen Bruno Haid, Wie kann der Meinungsstreit in der „Neuen Justiz" entfaltet werden?, NJ 1956, S. 561 ff. und dem Vizepräsident des Obersten Gerichts U'alter Ziegler; Zur Kritik am Obersten Gericht, NJ 1957, S. 715 ff. I99 Vgl. Ulrich Bernhardt, Die Deutsche Akademie für Staats- und Rechtswissenschaft „Walter Ulbricht" 1948- 1971 (= Lang, Rechtshistorische Reihe 160), Frankfurt a. M., S. 113 ff.; Stefan Güpping, Die Bedeutung der „Babelsberger Konferenz" von 1958 für die Verfassungs- und Wirtschaftsgeschichte der DDR, Berlin 1997. Zu diesen Zusammenhängen um Kröger und Polack vgl. Kar1 A. Mollnuu, in: Jörn Ek- kert (Hg.), Die Babelsberger Konferenz vom 2.13. April 1958. Rechtshistorisches Kollo- quium 13.- 16. Februar 1992, Baden-Baden 1993, S. 30 f.; zur Kritik an der Form-Inhalt- These Markovits (wie Anm. 135), S. 67 ff. 201 Bericht der Abteilung Staats- und Rechtsfragen vom Dezember 1957, nach Mollnau in: Eckert (wie Anm. 200), S. 20 f. 48 Hans-Peter Haferkamp

Benjamin, inzwischen Ministerin der Justiz, forderte infolge der Angriffe Ulbrichts in Babelsberg, nun auch neue Gesetze „parteilich an~uwenden"~~)'.Gleichzeitig ging damit die Form-Inhalt-These in die Defensive. Schon in Babelsberg von Ul- bricht als Relikt bürgerlicher Rechtsauffassung bekämpft, wurde sie 1961 endgül- tig von seinem juristischen Vordenker Kar1 Polak in einem Grundsatzreferat dem ideologischen Abstellgleis zugeschoben20'. Dialektisch sollte nun die Entwicklung eigenständig sozialistischer Begrifflichkeit auch die „Formen" alter bürgerlicher Begriffe überwindenzo4. Hier endet auch der zu untersuchende erste Abschnitt der Judikatur des Obersten Gerichts zu überkommenen Rechtsnormen. Zusammengefaßt zeigt sich die frühe Rechtsprechung des Obersten Gerichts als Absage an den Richtigkeitswert juristischer ~ethode~'~.Methode wurde wie Recht insgesamt instrumentell verstanden und am Ergebnis der Urteile gemessen. Rückblickend stellte Hilde Benjamin die Gefahren „positivistischer Rechtsanwen- dung", des „formalen bürgerlichen Legalitätsprinzips" heraus206: „Sollte aber mit Hilfe des Rechts und damit in Verwirklichung demokratischer Gesetzlich- keit der demokratische Neuaufbau geschützt und auf die Menschen erzieherisch gewirkt werden, so mußten die neuen gesellschaftlichen Anforderungen Bestandteil der Rechtspre- chung werden. Das Leben verlangte die Einheit von demokratischer Gesetzlichkeit und Parteinahme für den gesellschaftlichen Fortschritt. Die neuen Gesetze [ . . . ] konnten nur wirksam werden, wenn sie auch entsprechend diesen und nicht nach formaljuristischen Maßstäben angewandt wurden. Bei der Anwendung alter Gesetze im neuen demokrati- schen Geiste wurde noch deutlicher, daß es unerläßlich war, Partei für die Sache des Fort- schritts zu nehmen."

4. Ergebnis

Die Untersuchung mußte notwendig skizzenhaft bleiben, da der Reihe empiri- scher Studien, welche die Forschung zur Ziviljustiz im Nationalsozialismus inzwi- schen vorweisen kann, fast nichts vergleichbares für die DDR entgegengestellt

202 Benjamin, Die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands - eine Partei der Gesetzlich- keit. Diskussionsbeitrag des Ministers der Justiz auf dem V. Parteitag der SED, NJ 1958, S. 509 ff. 203 Polak, Über die weitere Entwicklung der sozialistischen Rechtspflege in der Deutschen Demokratischen Republik, StuR 1961, S. 607 ff.; vgl. ersteren, allerdings ohne genaue histo- rische Differenzierung Pfarr (wie Anm. 73), S. 61 ff. Gleiches galt für Benjamins noch 1958 vertretene dialektische Einheit von Gesetzlichkeit und Parteilichkeit (Polak, a. a. O., S. 609). 204 Polak, a. a. O., S. 61 1 205 So auch Robert Alexy, Walter Ulbrichts Rechtsbegriff, in: Eckert (wie Anm. 200), S. 191 ff., 196. 206 Benjamin U. a., Zur Geschichte der Rechtspflege der DDR 1945 - 1949, Berlin (Ost) 1976, S. 199. Begründungsverhalten des Reichsgerichts 49

werden kann. Weder die Dichte des herangezogenen Entscheidungsmaterials noch die Fixierung auf die frühe und veröffentlichte Rechtsprechung des Obersten Ge- richts lassen sichere und übergreifende Aussagen über die Urteilspraxis in der DDR zu.

Der untersuchte Ausschnitt verweist auf die Gefahr einer einseitigen Vergleichs- perspektive. Bei dem durchaus naheliegenden Vergleich der beiden Justizsysteme und der jeweils zu Beginn der Rechtsprechung zum BGB auftretenden Problemla- gen, besteht das Risiko, die inzwischen erarbeiteten Ergebnisse zur Umwertungs- rechtsprechung nach 1933 in die DDR-Justiz sozusagen hineinzulesen, bevor noch nähere Untersuchungen zum Vorgehen der Justiz in der jungen DDR vorliegen. Insbesondere die Untersuchung von Rüthers hat den Blick auf die Bedeutung juri- stischer Methode für die Umwertung des BGB verengt. Nur zu schnell werden da- bei die hierfür ausschlaggebenden Rahmenbedingungen nach 1933 negiert: Hier urteilte ein Richterstand, der zwar politisch dem Nationalsozialismus oftmals auf- geschlossen gegenüber stand, ansonsten jedoch dem traditionellen beamtennahen Richterbild verpflichtet war. Diese Richter waren daran gewöhnt, ihre Entschei- dungen in juristischen Kategorien höflich-unpolitisch abzusetzen. Auch das (mög- licherweise) gestiegene Selbstbewußtsein in Weimar hatte nicht zu einer offen poli- tischen Begründungsweise der Urteile geführt. Die Situation nach 1933 sah die Ju- stiz zudem in der Defensive. Die vielfältigen Angriffe seitens der Politik und die vielfach unklaren politischen Kategorien ließen es für die meisten Richter nicht ratsam erscheinen, sich auf das glatte Parkett unsicherer politischer Stellungnah- men zu begeben. Dies bedeutete nicht, daß nicht gerade unter dem Mantel juristi- scher Methode eine eigenständige Umwertungsleistung im Dienst des Nationalso- zialimus durch die Zivilrechtsprechung erbracht wurde. Eine Vielzahl von Un- rechtsurteilen ist belegt. Doch blieben die Urteile äußerlich ganz überwiegend justizförmig. Methode diente insofern zur Verschleierung der politischen Entschei- dungslast. Als Abwehrstrategie taugte Methode nicht zuletzt auch deshalb, weil damit dem alten Spezialistendogma Bestrebungen entgegengehalten werden konn- ten, die Justiz insgesamt oder in Teilbereichen zugunsten politischer Entschei- dungsträger zu entmachten.

Damit korrelierte in den ersten Jahren des Nationalsozialismus eine Restakzep- tanz dieser Art von Urteilsbegründung und Argumentation der Richter seitens der Machthaber. Trotz früher Säuberungen blieb der alte Personalbestand in weiten Teilen intakt und am Leitbild des weitgehend traditionell ausgebildeten Volljuri- sten orientiert. Auch eine systematische Anleitung und Überprüfung der Judikatur fand, trotz aller bekannten Leitungsmaßnahmen, in den ersten Jahren nicht statt. Waren auch die Ergebnisse der Urteile zunehmend politisch vorgegeben, so kamen sie dennoch in „alten Kleidern" daher.

Anderes deutet die vorliegende Untersuchung einiger Urteile aus der Anfangs- zeit des Obersten Gerichts an. Schon 1950 kam es zu einer grundlegenden Entwer- tung der Möglichkeit, mittels juristischer Methode die Richtigkeit der Entschei- 50 Hans-Peter Haferkamp dung zu symbolisieren. Die „Form-Inhalt-These" forderte eine „offensive", also offen politische Begründung. Ob und wie ein überkommenes Gesetz anzuwenden war, konnte nicht aus dem juristischen Methodenkanon gefolgert werden, sondern einzig polit-ökonomischen Kategorien und damit letztlich den wechselnden Vorga- ben der Partei entnommen werden. Um die Umsetzung dieser Vorgaben zu gewähr- leisten, kam es zu einer Auswechselung der juristischen Eliten, die nun in ihren Fühmngspositionen direkt mit der Partei verknüpft wurden. Der Primat der Partei wurde damit sehr viel direkter auf die Justiz übertragen als zu Beginn des Natio- nalsozialismus. Auch hier entsprachen die maßgeblichen Richter des Obersten Ge- richts in ihrer Ausbildung den Richtern vor 1945, es war also wohl nicht die Volks- richterausbildung, die den Bruch der Traditionen in dieser ersten Riege der Richter des Obersten Gerichts durchsetzte. Doch war die Parteitreue dieser Richter nun ständig überprüft und sichergestellt. Hierzu fanden sich die Richter des Obersten Gerichts einer intensiven Ausbildung in sozialistischer Rechtstheorie ausgesetzt und in ihrer praktischen Tätigkeit von Wortführern der rechtstheoretischen Debatte, wie Hilde Benjamin oder Ernst Melsheimel; kontrolliert. Umwertung kann gleichermaßen mit wie ohne traditionelle juristische Methode erfolgen. Die Argumentationsebene sagt etwas aus über das Diskursumfeld, in dem Juristen agieren, also insbesondere über die ideologische Durchdringung ihres Ar- beitsfeldes, über ihre Ausbildung und über den Grad ihrer Unabhängigkeit zu den politischen Instanzen. Schuldfragen, die hier ansetzen müssen, sind somit auf em- pirische Analysen der Urteilstätigkeit der Gerichte in der DDR und den einfließen- den Kontext verwiesen. Die Ergebnisse von Rüthers zeigen sich aus diesem Blick- winkel zwangsweise als NS-spezifisch und besitzen für die Justizforschung zur DDR so gerade in der Perspektive der Andersartigkeit ihren Wert.